Kindheiten in europäischen Migrationsgesellschaften: Orientierungen von Kindern im Kontext von Migration und Differenz [1. Aufl.] 978-3-658-26224-2;978-3-658-26225-9

Karin Kämpfe geht in ihrer qualitativ-rekonstruktiven Studie der Pluralisierung von Kindheiten in Migrationsgesellschaft

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Kindheiten in europäischen Migrationsgesellschaften: Orientierungen von Kindern im Kontext von Migration und Differenz [1. Aufl.]
 978-3-658-26224-2;978-3-658-26225-9

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XI
Einleitung (Karin Kämpfe)....Pages 1-11
Front Matter ....Pages 13-14
Kindheitsforschung – interdisziplinär betrachtet (Karin Kämpfe)....Pages 15-25
Das Child Well-Being-Konzept (Karin Kämpfe)....Pages 27-60
Kindheit und Migration (Karin Kämpfe)....Pages 61-96
Zusammenführung: Kindheit, Wohlbefinden, Migration (Karin Kämpfe)....Pages 97-101
Front Matter ....Pages 103-103
Methodisches Vorgehen und Methodologie (Karin Kämpfe)....Pages 105-143
Front Matter ....Pages 145-145
Orientierungen von Kindern im Migrationskontext (Karin Kämpfe)....Pages 147-278
Diskussion und Ausblick (Karin Kämpfe)....Pages 279-298
Back Matter ....Pages 299-330

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Kinder, Kindheiten und Kindheitsforschung

Karin Kämpfe

Kindheiten in europäischen Migrationsgesellschaften Orientierungen von Kindern im Kontext von Migration und Differenz

Kinder, Kindheiten und Kindheitsforschung Band 21 Reihe herausgegeben von Sabine Andresen, Frankfurt am Main, Deutschland Isabell Diehm, Frankfurt am Main, Deutschland Christine Hunner-Kreisel, Vechta, Deutschland Claudia Machold, Wuppertal, Deutschland

Die aktuellen Entwicklungen in der Kinder- und Kindheitsforschung sind ungeheuer vielfältig und innovativ. Hier schließt die Buchreihe an, um dem Wissenszuwachs sowie den teilweise kontroversen Ansichten und Diskussionen einen angemessenen Publikationsort und breit gefächertes -forum zu geben. Gegenstandsbereiche der Buchreihe sind die aktuelle Kinderforschung mit ihrem stärkeren Akzent auf Perspektiven und Äußerungsformen der Kinder selbst als auch die neuere Kindheitsforschung und ihr Anliegen, historische, soziale und politische Bedingungen des Aufwachsens von Kindern zu beschreiben wie auch Theorien zu Kindheit zu analysieren und zu rekonstruieren. Die beteiligten Wissenschaftlerinnen sind mit unterschiedlichen ­Schwerpunkten in der Kinder- und Kindheitsforschung verankert und tragen zur aktuellen Entwicklung bei. Insofern versteht sich die Reihe auch als ein neues wissenschaftlich anregendes Kommunikationsnetzwerk im nationalen, aber auch im internationalen Zusammenhang. Letzterer wird durch eine größere Forschungsinitiative über Kinder und ihre Vorstellungen vom guten Leben aufgebaut. Entlang der beiden Forschungsperspektiven – Kinder- und Kindheitsforschung –­ geht es den Herausgeberinnen der Reihe „Kinder, Kindheiten und Kindheitsforhistorischen schung“ darum, aussagekräftigen und innovativen theoretischen, ­ wie empirischen Zugängen aus Sozial- und Erziehungswissenschaften zur Veröffentlichung zu verhelfen. Dabei sollen sich die herausgegebenen Arbeiten durch teildisziplinäre, interdisziplinäre, internationale oder international vergleichende Schwerpunktsetzungen auszeichnen. Reihe herausgegeben von Sabine Andresen Goethe-Universität Frankfurt am Main, Deutschland

Christine Hunner-Kreisel Universität Vechta Deutschland

Isabell Diehm Goethe-Universität Frankfurt am Main, Deutschland

Claudia Machold Bergische Universität Wuppertal Deutschland

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/12221

Karin Kämpfe

Kindheiten in europäischen Migrationsgesellschaften Orientierungen von Kindern im Kontext von Migration und Differenz

Karin Kämpfe Frankfurt am Main, Deutschland Dissertation an der Universität Kassel unter dem Titel „Kindheiten in europäischen Migrationsgesellschaften. Kollektive Orientierungen von Kindern in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden“, Fachbereich Humanwissenschaften, 31. Juli 2017

ISSN 2512-0964 ISSN 2512-0972  (electronic) Kinder, Kindheiten und Kindheitsforschung ISBN 978-3-658-26225-9  (eBook) ISBN 978-3-658-26224-2 https://doi.org/10.1007/978-3-658-26225-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Danksagung

Viele Menschen haben mich bei der Fertigstellung dieser Arbeit ganz wesentlich unterstützt. Mein Dank gilt zuallererst den Kindern in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden, die durch ihre Stimme diese Studie möglich gemacht und unglaublich bereichert haben. In diesem Zusammenhang sei auch den Schulen und Bildungsinstitutionen gedankt, die der Realisierung der Studie einen Raum gegeben haben. Ich danke ganz besonders meiner Doktormutter Manuela Westphal, die meinen Weg schon seit vielen Jahren begleitet und mich stets in meinem Vorhaben bestärkt, mich fachlich und emotional hervorragend unterstützt und schließlich auch dazu ermutigt hat, „den Sack irgendwann mal zuzumachen“. Für wertvolle Beratung und Reflexion danke ich ebenso herzlich meiner Zweitbetreuerin Mechtild Gomolla. Zudem haben die jeweiligen erziehungswissenschaftlichen Perspektiven in den DoktorandInnenkolloquien meiner Betreuerinnen sowie von Tanja Betz und deren migrationspädagogisch beziehungsweise kindheitstheoretisch orientierten Impulse die Entwicklung meiner Arbeit auf sich ergänzende Weise sehr positiv beeinflusst. Für die hilfreiche Unterstützung und Begleitung zu unterschiedlichen Phasen der Dissertation bedanke ich mich bei Samia Aden, Hélène Beaucourt, Birgit Burkhardt, Nicoletta Eunicke, Laura Kayser, Britta Menzel, Sina Motzek-Öz, Simone Pairan, Sarah Schönweitz, Yasemin Uçan und Jutta Zinnen. Danke für bereichernde Diskussionen, konstruktive Rückmeldungen, gewissenhaftes Korrekturlesen und vieles mehr! Kai Lassche, Ummatha Ramesh und Emmanuelle Richard danke ich für ihren engagierten Einsatz mit mir im Feld. Besonders hervorheben möchte ich darüber hinaus Katharina Boettcher und Benjamin Schäfer, die den Gesamtverlauf der Arbeit begleitet und durch ermutigende, anregende und geduldige Gespräche auch so manche Durststrecke mit mir durchgestanden haben. Auch geht mein Dank an das Französische Ministerium für Auswärtige und Europäische Angelegenheiten sowie die Rudolf und Ursula Lieberum-

VI

Danksagung

Stiftung, die mit ihrer Förderung zur Umsetzung meiner Forschungsaufenthalte in Frankreich und den Niederlanden beigetragen haben. Nicht zuletzt danke ich meinem Mann Jason von Herzen für seinen unermüdlichen und großartigen Rückhalt.

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung........................................................................................ 1 TEIL I: Kindheit, Wohlbefinden, Migration – Theoretische Verortungen und Forschungsstand .............. 13 2 Kindheitsforschung – interdisziplinär betrachtet ......................... 15 2.1 Historische Entwicklungen in internationaler und interdisziplinärer Perspektive ................................................................ 15 2.2 Kindheit und Agency – eine relationale Konzeptualisierung .......... 20 3 Das Child Well-Being-Konzept ..................................................... 27 3.1 Child Well-Being auf der wissenschaftlichen und politischen Agenda ...................................................................................................... 27 3.2 Theoretische Konzeptualisierung und Formen der Operationalisierung ................................................................................ 30 3.3 Forschung zu Kindheit und Wohlbefinden........................................ 37 3.3.1 Die UNICEF-Studien – Vergleich Deutschland, Frankreich und Niederlande ......................................................... 37 3.3.2 Child Well-Being-Forschung in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden.................................................................... 45 3.4 Kritische Perspektiven und Implikationen für das Konzept Child Well-Being ..................................................................................... 51 3.5 Perspektiven von Kindern auf Wohlbefinden – erkenntnistheoretischer und methodologischer Zugang .................. 54

VIII

Inhaltsverzeichnis

4 Kindheit und Migration ................................................................ 61 4.1 Theoretische und empirische Zugänge aus interdisziplinärer Perspektive ............................................................................................... 62 4.1.1 Erziehungs- und Selbstkonzepte im Kontext von Interkulturalität ............................................................................... 62 4.1.2 Akkulturationseinstellungen und Umgang mit Differenz ........ 66 4.1.3 Hybride Identitäten, Mehrfachzugehörigkeiten, Transnationalität ............................................................................. 69 4.1.4 Migrationsbezogene Akteurschaft und migrationsgesellschaftlicher Kontext........................................... 73 4.2 Migrationsgesellschaftliche Kontextualisierungen ............................. 77 4.2.1 Migration in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden 77 4.2.2 Integrationspolitik und Diskurse.................................................. 86 5 Zusammenführung: Kindheit, Wohlbefinden, Migration ............. 97 TEIL II:

Anlage der Studie........................................................... 103

6 Methodisches Vorgehen und Methodologie ............................... 105 6.1 Untersuchungsfeld und Sample .......................................................... 105 6.2 Erhebung – Gruppendiskussionen mit Kindern ............................. 110 6.2.1 Gruppendiskussionsverfahren .................................................... 110 6.2.2 Zur Besonderheit von Gruppendiskussionen mit Kindern ... 115 6.2.3 Leitfaden und Erhebung: Kinderkonferenz „Sprache und das gute Leben“ ............................................................................ 121 6.2.4 Methodenreflexion – Erkenntnisse aus drei Ländern............. 125 6.3 Auswertung – Dokumentarische Methode....................................... 131 6.3.1 Von der formulierenden Interpretation zur sinngenetischen Typenbildung........................................................... 131 6.3.2 Kontextuierter Ländervergleich ................................................. 136 6.4 Herausforderungen eines internationalen und interkulturellen Vergleichs ............................................................................................... 137 6.4.1 Standortgebundenheit und Perspektivität................................. 137 6.4.2 Übersetzungsprozesse.................................................................. 140

Inhaltsverzeichnis

IX

TEIL III: Empirischer Teil ............................................................ 145 7 Orientierungen von Kindern im Migrationskontext ................... 147 7.1 Übersicht über die sinngenetischen Typen ....................................... 147 7.2 Typ 1: Selbstpositionierung als planvolle AkteurInnen .................. 151 7.2.1 Gruppe Kupfer (D) – Konformität und Differenzminimierung................................................................................... 151 7.2.2 Gruppe Fenster (NL) – Mehrfachzugehörigkeit und Multioptionalität ........................................................................... 171 7.2.3 Gruppe Komet (F) – Selbstverwirklichung, Teilhabe und Verantwortung im transnationalen Raum................................. 197 7.3 Typ 2: Selbstpositionierung als irritierte/unsichere AkteurInnen........................................................................................... 215 7.3.1 Gruppe Schneeball (D) – Ungewisse Akteurschaft im Übergang ........................................................................................ 215 7.3.2 Gruppe Bogen (F) – Machtvolle Fremdpositionierungen im Kontext von Zugehörigkeit und Differenz ........................ 240 7.3.3 Gruppe Stift (NL) – Ungewisse Akteurschaft in den Unwägbarkeiten des Alltags ........................................................ 257 7.4 Zusammenfassung ................................................................................ 274 8 Diskussion und Ausblick ............................................................ 279 8.1 Diskussion der Ergebnisse .................................................................. 279 8.1.1 Aufwachsen im Migrationskontext – Zugehörigkeiten und Differenzerfahrungen ......................................................... 279 8.1.2 Konzeptualisierungen von Agency ............................................ 285 8.1.3 Vorstellungen von einem guten Leben und Child WellBeing ............................................................................................... 286 8.1.4 Ländervergleich und andere Kontextualisierungen................. 288 8.2 Ausblick .................................................................................................. 292 8.2.1 Wo kann die Forschung ansetzen? ............................................ 294 8.2.2 Was lässt sich für die Praxis ableiten? ....................................... 296 Literaturverzeichnis ......................................................................... 299

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Lebensbedingungen: Rang entlang der Well-BeingDimensionen ....................................................................................... 39 Tabelle 2: Well-Being-Dimension Bildung ....................................................... 40 Tabelle 3: Lebenszufriedenheit und Beziehungen ........................................... 42 Tabelle 4: Gegenüberstellung von Lebensqualität und Lebenszufriedenheit........................................................................................ 43 Tabelle 5: Durchschnittlicher Rang entlang der Ungleichheitsdimensionen ........................................................................................ 44 Tabelle 6: Konzeptualisierung von Wohlbefinden aus Kindersicht nach Fattore, Mason und Watson ................................................... 59 Tabelle 7: Ausländische Bevölkerung nach Staatsangehörigkeit ................... 85 Tabelle 8: Gegenüberstellung der Milieutypen und ihrer Merkmale .......... 150 Tabelle 9: Übersicht über die Milieutypen und Gruppen ............................. 274

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Modell zum Wohlbefinden aus Kindersicht von Fattore, Mason und Watson ................................................ 57 Abbildung 2: ZuwanderInnen und im Inland geborene Kinder von ZuwanderInnen ............................................................................. 83 Abbildung 3: Altersstruktur der Staatsangehörigen und Nichtstaatsangehörigen der EU-28, in % .................................. 84 Abbildung 4: Klassifizierung der OECD- und EU-Zielländer entsprechend der Merkmale ihrer ZuwanderInnenbevölkerung .................................................................................... 85 Abbildung 5: Themen-Sonne Gruppe Fenster (NL) .................................... 124

1 Einleitung

17,1 Millionen, 13,1 Millionen, 3,75 Millionen – das ist die Anzahl an Personen, denen in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden statistisch ein Migrationshintergrund zugeordnet wird (DESTATIS 2017, INSEE 2017, CBS 2016b).1 Im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung sind das jeweils rund 20 Prozent. Noch höher ist aufgrund der vergleichsweise jungen MigrantInnenpopulation der Anteil an Kindern mit eigener oder familiärer Migrationserfahrung. Wenngleich die Zuordnung eines Migrationshintergrundes per definitionem über die Migrationsgeneration und Staatsangehörigkeit noch keine Aussage über die Relevanz für den Einzelnen oder die Einzelne beinhaltet, unterstreichen die Zahlen zweierlei: die Migrationsbewegungen in Europa tragen in den einzelnen Ländern zu einem gesellschaftlichen Wandel bei und sind zugleich Normalität. Die Themen Migration und Integration stehen dabei nicht erst seit den jüngsten Fluchtbewegungen, terroristischen Anschlägen und dem (Wieder)Erstarken des Rechtspopulismus im Fokus von Gesellschaft, Politik und Wissenschaft. Sie haben sich zuletzt jedoch zu einem „gesellschaftsstrukturierende[n] Metanarrativ“ entwickelt (Foroutan/İkiz 2016: 139). Kinder spielen in den gesellschaftspolitischen und wissenschaftlichen Debatten eine besondere Rolle (vgl. Stošić 2017; Radtke 2013). Empirisch belegt ist, dass Kinder, denen ein Migrationshintergrund zugeordnet wird, im Hinblick auf Bildungs- und gesellschaftliche Teilhabechancen benachtei1

Die Definitionen der länderspezifischen Bezeichnungen Person mit Migrationshintergrund, immigré/ descendant d’immigré und allochtoon umfassen die erste und zweite ZuwanderInnengeneration. Zu den Feinheiten in der Definition sowie den genauen Zahlen siehe Kapitel 4.2.1. Im Folgenden wird der Begriff Migrationshintergrund synonym für die Begriffe (descendant d’)immigré und allochtoon genutzt. Zudem schließe ich mich in Bezug auf migrationsgesellschaftliche Zugehörigkeitsordnungen Paul Mecherils Begriff natio-ethnokulturell an, der darauf verweist, „dass die Konzepte von Nation, Ethnie/Ethnizität (und Rassekonstruktionen) sowie Kultur (und Religion) in Wissenschaft und Alltagsverständnissen oftmals diffus und zum Teil in unklarer Abgrenzung voneinander Gebrauch finden“ (Mecheril 2016: 15).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Kämpfe, Kindheiten in europäischen Migrationsgesellschaften, Kinder, Kindheiten und Kindheitsforschung 21, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26225-9_1

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Einleitung

ligt sind (vgl. OECD 2016). Wie internationale Vergleichsstudien aufzeigen, dokumentiert sich in allen drei Ländern eine systematische Reproduktion migrationsbezogener Bildungsungleichheit, wobei es den jeweiligen Bildungssystemen offensichtlich unterschiedlich gut gelingt, diese zu bewältigen (z. B. OECD 2018; Crul/Schneider/Lelie 2012). Diese Befunde gewinnen für die Betroffenen insbesondere im Entwicklungsverlauf an Brisanz, insofern als erfolgreiche Bildungswege und formale Abschlüsse eine der wichtigsten Grundlagen für gesellschaftliche Teilhabe darstellen. Der Migrationshintergrund markiert – in Abhängigkeit von der sozialen Schicht – damit die ihm zugeordneten Personen als Zugehörige einer benachteiligten Gruppe. Darüber hinaus sind Debatten über Kinder und Kindheiten im Kontext Migration überwiegend durch eine Defizitperspektive gekennzeichnet. Potenziert wird das Label der Benachteiligung in Bezug auf Kinder zudem durch die gesellschaftliche Positionierung von Kindern innerhalb der generationalen Ordnung (siehe Kap. 2.2) (vgl. Himmelbach/Schröer 2014: 496–499). Unterdessen ruht auf den Kindern die Hoffnung für die Integration ganzer Familien. So regelt etwa § 25a des deutschen Aufenthaltsgesetzes die „Aufenthaltsgewährung bei gut integrierten Jugendlichen und Heranwachsenden“, womit unter bestimmten Bedingungen die Option der Aufenthaltsgewährung der gesamten Familie verbunden ist. Kindern von Anfang an eine gute Entwicklung angedeihen zu lassen, ist eines der zentralen Ziele nationaler Integrationspolitik (D: BMBF 2015; F: Escafré-Dublet 2014; NL: Ersanilli 2014).2 Bildung und Sprache wird dabei eine bedeutende Rolle zugeschrieben. Als bildungs- und integrationspolitische Maßnahmen sind hier beispielhaft die Bereiche Sprachförderung, frühe Bildung, Betreuung und Erziehung, Elternbildungsprogramme, Konzepte interkultureller Bildung und Antidiskriminierung sowie wachsende Eigenverantwortung von Schulen zu benennen (z.B. SVR 2015; Thomauske 2015; Schelle/Hollstein/ Meister 2012). Auch hat sich ein breites interdisziplinäres Forschungsfeld etabliert, das sowohl innerhalb der Länder als auch länderübergreifend einen hohen Stellenwert einnimmt. In Schulleistungsuntersuchungen (z. B. IGLU, TIMSS) und quantitativen Kindersurveys (z. B. für D: Cinar et al. 2013) wird die Kategorie Migrationshintergrund für die mittlere Kindheit zunehmend als 2

Deutschland, Frankreich und die Niederlande werden an ausgewählten Stellen mit D, F und NL abgekürzt.

Einleitung

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bedeutsame Differenzlinie markiert. Fern der empirischen Bildungsforschung gleicht die Schnittstelle von Migrations- und Kindheitsforschung international bislang jedoch noch einem „scattered terrain“ (Huijsmans 2011: 1307). So zeigt sich differenziert nach Kindheitsphasen ein Ungleichgewicht in der empirischen Betrachtung in Bezug auf die Phase der mittleren Kindheit (vgl. Eßer 2016: 59). Deutlich umfassender als die mittlere Kindheit werden die Lebensphasen der frühen Kindheit und der Adoleszenz in den Blick genommen, wie auch die die mittlere Kindheit umgebenden Sozialisationsinstanzen, das heißt Eltern, professionelle AkteurInnen und Institutionen (z. B. für D: Machold 2015; Riegel/Geisen 2007; SVR/BIM 2017; Neumann/Schneider 2011).3 Diese Gewichtung offenbart unverkennbare Parallelen zu politischen Programmatiken, die unter anderem die Frühe Bildung, Erziehung und Betreuung, Bildungs- und Erziehungspartnerschaften, die Professionalisierung pädagogischer Fach- und Lehrkräfte und Organisationsentwicklung fokussieren (z. B. Bildungs- und Erziehungspläne der Länder in Deutschland). Anschließen lässt sich an den von Sabine Andresen (2013: 31) für Kindheiten im Allgemeinen formulierten Bedarf an „dichte[n] Beschreibungen von Kindheiten, von Praktiken in unterschiedlichen Regionen und Kontexten“, der für Kindheiten in Migrationskontexten umso mehr Bestand hat (vgl. Herwartz-Emden/Schurt/Waburg 2010: 93). Das Paradigma der Kindheitsforschung, Kindern als sozialen AkteurInnen um ihrer selbst willen eine Stimme zu geben, zeigt zwar auch Wirkung in Bezug auf Kindheiten in Migrationskontexten. Dennoch bleibt mit der Fokussierung von Integration, Bildung und Sprache primär eine zukunftsbezogene Fokussierung auf Kinder als Werdende (becomings) verbunden. Daneben zeichnen sich zwei stärker akteurInnenbezogene Forschungslinien ab: Unter der Betrachtung von 3

Studien etwa in Bezug auf unbegleitete minderjährige Flüchtlinge/AusländerInnen (UMF/UMA), die international – da die UN-Kinderrechtskonvention als Kinder all diejenigen bezeichnet, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben – mitunter an der Schnittstelle von Migrations- und Kindheitsforschung verortet werden, finden hier keine Berücksichtigung, da es sich nach einer Unterscheidung von früher, mittlerer Kindheit und Adoleszenz vorwiegend um Jugendliche handelt. Zudem erfahren aufgrund des Forschungsgegenstands nur Studien Berücksichtigung, die Kontexte von Migration in so genannten westlichen Gesellschaften betrachten. Das Themenfeld ist aber weitaus breiter (zum Beispiel zurückgelassene beziehungsweise rückgewanderte Kinder in Herkunftskontexten sowie Migrationsbewegungen in so genannte nicht-westlichen Gesellschaften), siehe u. a. Hashim/Thorsen (2011) Child Migration in Africa.

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Einleitung

Resilienz (z.B. Ensor/Goździak 2010) oder Kindern als Motoren und MediatorInnen in der Migration (z.B. Tyrrell 2015) wird erstens eine zukunftsbezogene Perspektive eingenommen, die stärker auf Kinder als soziale AkteurInnen und deren Agency4 abhebt. Zweitens wird mit der Fokussierung der Aspekte Zugehörigkeit, Identität und damit verbundenen kreativen und eigensinnigen Aneignungsprozesse kultureller Praktiken (z.B. Scherer 2015; Ní Laoire et al. 2010; Pollock/van Reken 2010; Christopoulou/Leeuw 2008) eine gegenwartsbezogene Perspektive auf Kinder als beings eingenommen. Insgesamt handelt es sich bisher jedoch um einige wenige Studien für unterschiedliche Länder. Schließlich lässt sich in Bezug auf Kindheiten in Migrationskontexten konstatieren, dass Kinder aus Migrationsfamilien nach wie vor sehr homogenisiert dargestellt werden, meist in bipolarer Kontrastierung zu Kindern ohne Migrationshintergrund beziehungsweise unter Rekurs auf die nationale Herkunft der Familien (vgl. Betz 2009: 464). Studien, die die subkulturelle Vielfalt im Kontext Migration (für Erwachsene in D: vhw 2016; in F: Benabdallah/Jolibert 2013) sowie unterschiedliche Akkulturationseinstellungen (für die Adoleszenz: u. a. D, F, NL: Berry et al. 2006; Schachner/ Van de Vijver, Fons J. R./Noack 2014) aufzeigen oder die Bearbeitung migrationsbezogener Differenzerfahrung (für türkeistämmige Jugendliche in D: Nohl 2001), stehen für Kinder noch aus. Dabei wissen wir aus der Forschung mit Kindern (z.B. Krüger et al. 2008; Kramer/Thiersch/Helsper 2014) wie auch aus biographisch angelegten Studien in Migrationskontexten (z. B. Bildungsaufstiegsforschung Aden/Kämpfe 2017), dass sich bereits für die Lebensphase der mittleren Kindheit zum Teil ganz unterschiedliche handlungsleitende Orientierungen aufzeigen lassen, beispielsweise im Kontext von Peerkulturen oder dem Bildungshabitus. Konkret fehlt es, so lässt sich bilanzieren, an grundlegenden und differenzierten Erkenntnissen zum konjunktiven und zugleich vielschichtigen Erfahrungsraum5 von (mittlerer) Kindheit in Migrationskontexten aus Perspektive der sozialen AkteurInnen selbst.

4 5

Im Rahmen der Arbeit werden die Begriffe Agency und Akteurschaft synonym verwendet. Zum Begriff des konjunktiven Erfahrungsraums nach Karl Mannheim (1980) und in seiner Verwendung in der Dokumentarischen Methode siehe Kap. 6.3.

Einleitung

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Skizzierung von Forschungsinteresse, Fragestellung und theoretischer Rahmung Mein Forschungsinteresse knüpft an diese grundlegenden Forschungslücken an und ist damit im Bereich der Grundlagenforschung zu verorten. Dabei schließe ich an Theorien der sozial- und erziehungswissenschaftlichen Kindheits- und Migrationsforschung an, konkret an die Childhood Studies, das Child Well-Being-Konzept sowie verschiedene migrationsbezogene Ansätze, wie etwa Akkulturation, hybride Identitäten und Transnationalität. Ziel ist die empiriegestützte Vermittlung dieser unterschiedlichen theoretischen Stränge. Ausgehend von der dargestellten Leerstelle hinsichtlich dichter Beschreibungen von Kindheiten und Perspektiven von Kindern in Migrationskontexten gehe ich der forschungsleitenden Frage nach, welche handlungsleitenden (kollektiven) Orientierungen sich für den konjunktiven Erfahrungsraum (Bohnsack 2010) von Kindheit im Kontext Migration rekonstruieren lassen. Der subkulturellen Vielfalt wird dabei nicht über den Vergleich natio-ethno-kulturell kodierter Zugehörigkeitsordnungen nachgegangen. Vielmehr soll verglichen werden, wie der gemeinsame Erfahrungsraum milieutypisch (ebd.) unterschiedlich bearbeitet und bewältigt wird. Zentrale Fragen, die sich dabei unter anderem stellen sind: wonach streben die Kinder, was ist ihnen wichtig, was lehnen sie ab. Ziel ist es, den handlungsleitenden Orientierungen von Kindern in Migrationskontexten in ihrer Differenziertheit Rechnung zu tragen und sie auf ihre Kontextbezogenheit hin zu befragen. Mit Anschluss an die Childhood Studies fasse ich Kindheit als soziale Konstruktion und Kinder als beings sowie soziale AkteurInnen, „active in the construction and determination of their own social lives, the lives of those around them and of the societies in which they live“ (James/Prout 1990: 8). Dabei interessiert sich die Kindheitsforschung auch dafür, wie Kinder – vor dem Hintergrund der generationalen Strukturierung des Sozialen (Alanen 2009) und dem strukturellen, gesamtgesellschaftlichen Kontext (Qvortrup 2014) – überhaupt zu AkteurInnen werden und wie sich ihre Akteurschaft ausdrückt (Betz/Eßer 2016). Ausgehend von dieser Konzeptualisierung von Kindern als sozialen AkteurInnen nehmen innerhalb der Kindheitsforschung akteurInnenbezogene Betrachtungsweisen von Kindern und Kindheiten, die sich für die Lebenswelten und Perspektiven von Kindern interessieren, eine bedeutende Stellung ein. Die Childhood Studies bilden daher meinen methodologischen und erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt (vgl. Fattore/Mason/Watson 2017). Mit Blick auf die zentrale Fragestellung

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Einleitung

gehe ich der Teilfrage nach, inwiefern die Kinder sich selbst als AkteurInnen begreifen, d. h. welche akteurInnenbezogenen Selbstpositionierungen in die handlungsleitenden Orientierungen eingelassen sind. Perspektiven auf Kindheit und Akteurschaft sind begleitet von normativen Fragen zur Qualität von Kindheiten, etwa in Hinblick darauf, was Kindheiten (in unterschiedlichen Kontexten) zu ‚guten’ oder ‚weniger guten’ Kindheiten macht und welche Implikationen sich hieraus für unterschiedliche gesellschaftliche Teilbereiche ergeben (vgl. Bühler-Niederberger 2011: 293). Mit der hier für den heterogenen Migrationskontext eingenommenen akteurInnenbezogenen Perspektive sind dabei im Besonderen die soziale und kulturelle Bedingtheit und Kontextabhängigkeit von Wohlbefinden6 sowie Vorstellungen von (‚guter‘) Kindheit relevant (u.a. Weisner 2014; Kağıtçıbaşı 2002). Das multidimensionale Child Well-Being-Konzept (BenArieh et al. 2014a), das diese und weitere Fragen bearbeitet, möchte ich in der Studie um ein empirisches Verständnis von Wohlbefinden erweitern. Eine weitere Teilfrage widmet sich daher den Vorstellungen von Kindern von einem ‚guten Leben‘ und der Frage, was aus ihrer Sicht Wohlbefinden hervorbringt. Die Forschung zu Kindheit und Migration wird bislang dominiert durch entwicklungspsychologische und sozialisationstheoretische Zugänge mit primär zukunftsgerichteten Perspektiven auf Kinder als Werdende. Eine besondere Herausforderung für das Aufwachsen im Kontext Migration wird in der Konfrontation und notwendigen Auseinandersetzung mit unterschiedlichen kulturellen Sinn- und Bezugssystemen vermutet (vgl. HerwartzEmden/Strasser 2013: 374). Durch diese Konfrontation und Auseinandersetzung mit unterschiedlichen kulturellen Kontexten sind die Konstruktionsleistungen zur Aneignung kulturellen Wissens in besonderer Weise herausgefordert (vgl. Westphal 2006: 60). Diese Konstruktionsleistungen sind zudem vor dem Hintergrund der von Mecheril (2016: 15) beschriebenen „wechselseitig konstitutive[n] Dynamik von Grenzformationen und Zugehörigkeitsordnungen“ in Migrationsgesellschaften und damit verbundenen (machtförmigen) Differenzerfahrungen zu betrachten. Diese wirken auf unterschiedlichen Ebenen auf die Lebenswelten der Kinder und ihrer Familien sowie die spezifischen Bezüge zu Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft ein (u.a. Tyrrell 2015; Otyakmaz/Westphal 2013; Huijsmans 2011; Keller 6

Die Begriffe Wohlbefinden und (Child) Well-Being werden in der Arbeit synonym verwendet.

Einleitung

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2008; Faulstich Orellana et al. 2001; Berry 1997). Um der Frage nachzugehen, inwieweit sich Kinder im Migrationskontext selbst mit der Verarbeitung unterschiedlicher kultureller Sinn- und Bezugssysteme sowie machtförmiger Dynamiken konfrontiert sehen, fokussiert eine dritte Teilfrage daher unterschiedliche Zugehörigkeitsdimensionen sowie Bearbeitungs- und Bewältigungsformen migrationsbezogener Differenzerfahrung. Mein empirisches Feld ist der Kontext Migration, konkret das Aufwachsen in einer europäischen Migrationsgesellschaft vor dem Hintergrund eigener oder familiärer, freiwilliger oder unfreiwilliger Migrationserfahrung. Mit dem Begriff der Migrationsgesellschaft schließe ich mich Paul Mecheril (2016: 13) an, der damit neben vielfältigen gegenwärtigen und historischen Wanderungsbewegungen Phänomene erfasst, „die für die gesellschaftliche Wirklichkeit kennzeichnend sind wie beispielsweise die Entstehung von transnationalen Zwischenwelten und neuen und Mehrfach-Zugehörigkeiten, Phänomene der Zurechnung auf Fremdheit, Strukturen und Prozesse alltäglichen Rassismus, Erschaffung neuer Handlungsformen und Selbstverständnisse“ (siehe weiterführend Foroutan/İkiz 2016).

Dieser multiperspektivische Begriff steht damit in Kontrast zu eher eindimensionalen Begriffen, wie Einwanderungsgesellschaft oder Zuwanderungsgesellschaft. Mit Deutschland, Frankreich und den Niederlanden habe ich exemplarisch drei europäische Migrationsgesellschaften gewählt, die sich angesichts ihrer unterschiedlichen integrationspolitischen Umgangsweisen als nationalstaatliche Vergleichskontexte für das Forschungsinteresse gut eignen. Grob dargestellt entsprachen die Integrationsbemühungen Frankreichs bis in die 1990er Jahre überwiegend dem Assimilationsprinzip, während in den Niederlanden ein Multikulturalismus angestrebt wurde. Deutschland hingegen dementierte den Status eines Einwanderungslandes de facto über mehrere Jahrzehnte. Die drei gegensätzlichen Integrationsmodelle mündeten im Zuge der Europäisierung um die Jahrtausendwende in der Einführung obligatorischer Integrationsprogramme mit unverkennbaren sukzessiven Annäherungstendenzen und ähnlichem Integrationsverständnis (Sprache, Teilhabe am Arbeitsmarkt, Bekenntnis zur demokratischen Grundordnung) (vgl. Hanewinkel/Oltmer 2015; Ersanilli 2014; Michalowski 2007). Die Vergleichbarkeit der Länder für den Bereich Migration und Integration wird nicht zuletzt bestätigt durch mehrere Policy-Analysen (Michalowski 2007; Joppke 2007) und Studien (u. a. ELITES (Crul et al. 2017); EURISLAM (2017); TIES (Crul/Schneider/Lelie 2012), SCIICS

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Einleitung

(Koopmans/Ersanilli o.J.), Sackmann 2004; Schiffauer et al. 2002), welche Deutschland, Frankreich und die Niederlande zum Gegenstand ihrer vergleichenden Analysen gemacht haben. Mit dem Ländervergleich gehe ich der Frage nach, inwiefern die identifizierten handlungsleitenden Orientierungen der Kinder in nationalstaatlichen Ordnungen zu klären sind (vgl. Himmelbach/Schröer 2014: 493). Diese Frage beruht auf der Annahme, dass landesspezifische Politiken oder auch gesellschaftliche Strömungen nicht nur strukturgebend sind für Kindheit und Akteurschaft in der Migration, sondern möglicherweise auch eingelassen in handlungsleitende Orientierungen der sozialen AkteurInnen. Zugleich zeigen sich neben einer zunehmenden europäischen Harmonisierung im Bereich der Migration und Integration für westliche Wohlfahrtsstaaten auch übergreifende Muster was die Lebensphase der Kindheit betrifft, wie etwa die Etablierung moderner Kindheitsmuster in Form einer langen geschützten Kindheitsphase, einer ausdifferenzierten, institutionalisierten Altershierarchie als Strukturprinzip sowie Prinzipien der Familialisierung und Scholarisierung (siehe weiterführend Mierendorff 2010; vgl. Andresen 2013: 22; Huijsmans 2011: 1313). Daher sollen neben landesspezifischen Differenzen insbesondere auch länderübergreifende Muster in den Blick genommen werden. Methodisches Vorgehen Die handlungsleitenden Orientierungen der Kinder habe ich anhand von Gruppendiskussionen rekonstruiert (Bohnsack 2003). Eine wesentliche Stärke des Gruppendiskussionsverfahrens liegt in dem Potenzial, kollektive Wissensbestände, Orientierungen und Strukturen rekonstruieren zu können, was in der Folge auch Zugang zur Handlungspraxis derjenigen AkteurInnen zu eröffnen vermag, die diese handlungsleitenden, teils inkorporierten Wissensbestände und Orientierungen teilen (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 91; Bohnsack/Przyborski/Schäffer 2010b: 7). Die konkrete Diskussionsgruppe wird dabei „nicht als der ausschließliche soziale Zusammenhang für die Genese von gemeinsamen handlungsleitenden Orientierungen betrachtet, wohl aber als ein Ort, an dem gemeinsame und strukturidentische Erfahrungen besonders eindrücklich artikuliert und exemplifiziert werden können“ (Liebig/Nentwig-Gesemann 2009: 103). Zugang zu den kollektiven Orientierungen wird mit Hilfe der von Ralf Bohnsack entwickelten Dokumentarischen Methode (Bohnsack 1989) hergestellt. Unter Berücksichtigung des gesamten Diskursprozesses wird der

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dem Gesagten zugrundeliegende dokumentarische Sinngehalt erschlossen und begrifflich-theoretisch expliziert, um so das (situationsunabhängige) kollektive Sinnmuster der Erforschten freizulegen. Für die Analyse von Gruppendiskussionen bedeutet dies, die gegenseitigen, auf konjunktiv geteiltem, atheoretischem Wissen basierenden Verstehensleistungen der Teilnehmenden, ihre metaphorische Entfaltung in den Redebeiträgen und schließlich den „Zusammenhang von Kollektivvorstellungen und dahinter liegenden Erlebnisprozessen und Erlebniszusammenhängen“ zu rekonstruieren (Bohnsack 2010: 43). Der auf der Dokumentarischen Methode aufbauende Mehrebenenvergleich (Nohl et al. 2006) dient als Grundlage für den kontextuierten Ländervergleich. Der Mehrebenenvergleich reagiert auf die Kritik des „methodologischen Nationalismus“, der zufolge „der Nationalstaat soziale Phänomene, die (teilweise) innerhalb seines Territoriums vorzufinden sind, nicht in jedem Fall rahmen“ kann (Weiß/Nohl 2012: 55). Das Vorgehen, Nationalstaaten wie selbstverständlich als theoretisch fundierte Vergleichskontexte zu setzen, beruht dabei auf dem Irrtum, dass der Ort der Genese sozialer Phänomene in jedem Fall auf nationalstaatlicher Ebene zu kontextualisieren ist. Überdies wird dabei die Binnenheterogenität der Länder selbst übergangen. Der Zusammenhang sozialer Phänomene mit nationalstaatlichen Kontexten ist in der Realität jedoch oft nicht derart eindeutig zu rekonstruieren. Insbesondere für Orientierungen und Handlungsweisen vor dem Erfahrungshintergrund von Migration zeigt sich zudem, dass diese sich – auf undurchsichtige Art und Weise Ländergrenzen überschreitend – als transnational, aber auch nicht-national dokumentieren (vgl. ebd.: 58). Untersuchungsfeld und Sample Im Rahmen der Studie habe ich im Zeitraum von März 2013 bis Juni 2014 zehn Gruppendiskussionen mit 8- bis 12-jährigen Kindern durchgeführt, davon vier in Deutschland (Gruppe Kupfer, Schneeball, Karo, Klang), drei in Frankreich (Gruppe Bogen, Komet, Welle) und drei in den Niederlanden (Gruppe Stift, Wind, Fenster). Die Wahl der Altersgruppe begründet sich durch das dargelegte Forschungsdesiderat sowie die kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten der Kinder im Hinblick auf die Durchführung von Gruppendiskussionen mit dem Ziel, kollektive Orientierungsrahmen zu rekonstruieren (Bohnsack 2010). Bei sechs von zehn Gruppen bin ich anschließend den kollektiven Orientierungen mittels der Dokumentarischen

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Methode empirisch nachgegangen (zur Fallauswahl siehe Kap. 6.1). Themen der als Kinderkonferenz konzipierten Gruppendiskussion waren Vorstellungen von einem ‚guten Leben‘ sowie zur Rolle von Sprache und Sprachförderung (siehe Kap. 6.2.3). Die Gruppendiskussionen wurden in den jeweiligen Verkehrssprachen der Länder, d. h. in Deutsch, Französisch und Niederländisch durchgeführt. Als Untersuchungskontexte dienten soziodemographisch vergleichbare Städte in den drei Ländern. Zudem wurden Bildungsinstitutionen in Stadtvierteln mit einer hohen Konzentration an Personen mit statistisch zugewiesenem Migrationshintergrund angesprochen. Adressiert wurden insbesondere Kinder, die aufgrund eines diagnostizierten Sprachförderbedarfs an einer Fördermaßnahme teilnehmen. Hintergrund ist, dass sich im Bereich Sprache migrationsbedingte Herausforderungen abbilden, die sozialstrukturell relevant sind. Zum anderen gelingt durch das Auswahlkriterium des Sprachförderbedarfs eine Entkopplung von den zunächst rein definitorischen Begriffen Migrationshintergrund, descendant d’immigré und allochtoon.7 Die Teilnahme an Sprachförderung steht nicht nur in Verbindung mit dem Aufwachsen in einem multilingualen (familiären) Umfeld und damit im Kontext von Migration. Über die Teilnahme wird zudem auf institutionellem Wege (migrationsbedingte) Differenz hergestellt. Das Auswahlkriterium der Teilnahme an additiver Sprachförderung ließ sich jedoch nicht für alle Erhebungsorte gleichermaßen realisieren, da nicht nur jedes Land, sondern auch jede Schule unterschiedliche Konzepte von Sprachförderung anbietet. Insgesamt wurden im Rahmen der Gruppendiskussionen 65 Kinder befragt. Die befragten Kinder verfügen über eigene oder familiäre Migrationserfahrung. Ihre Familien stammen aus Afrika, Asien und Europa. Mindestens 26 verschiedene natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeiten wurden festgestellt, die damit die kulturelle, religiöse und sprachliche Heterogenität bestimmter Quartiere in den drei Ländern repräsentieren. 7

Trotz dieser begrifflichen Entkopplung werden im Untersuchungsdesign Kindheiten in Migrationskontexten in Differenz zu Kindheiten ‚ohne Migrationskontext‘, hier stehend für keine eigene oder elterliche Migrationserfahrung, konstruiert. Diese dichotomisierende Relevanzsetzung der Kategorie Migration birgt die Gefahr der Reifizierung von natio-ethno-kulturell codierter bzw. migrationsbezogener Differenz (vgl. Diehm/ Kuhn/Machold 2010). Um der Gefahr der Reifizierung von Differenz produktiv zu begegnen, wird die eigene Standortgebundenheit systematisch kontrolliert (siehe weiterführend Kap. 6.4.1).

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Aufbau der Arbeit Im ersten Teil erfolgt die theoretische Verortung und die Darstellung des Forschungsstands im Hinblick auf die Konzepte Kindheit (2), Child WellBeing (3) und Kindheit in der Migration sowie eine Hinführung zu den Migrationsgesellschaften Deutschland, Frankreich und Niederlande (4). In einer Zusammenführung der theoretischen Grundannahmen, des Forschungsstands sowie offener Fragen werden abschließend Überlegungen darüber angestellt, welchen Beitrag die vorliegende Studie an der Schnittstelle von Kindheits-, Well-Being- und Migrationsforschung leistet sowie die Forschungsziele konkretisiert (5). Der zweite Teil dokumentiert das methodische Vorgehen sowie methodologische Überlegungen (6). Nach einer Skizzierung des Untersuchungsfeldes und des Samples wird ein Überblick über die Erhebungs- und Auswertungsinstrumente gegeben. Unter Reflexion des eigenen Vorgehens werden dabei Besonderheiten und Herausforderungen herausgestellt, die sich zum einen durch die Forschung mit Kindern, zum anderen durch den internationalen und -kulturellen Vergleich ergeben. Im dritten Teil werden die empirischen Ergebnisse präsentiert (7). Die rekonstruierten kollektiven Orientierungen von Kindern in Migrationskontexten werden anhand von zwei kontrastierenden Typen (Typ 1 „Selbstpositionierung als planvolle AkteurInnen“, Typ 2 „Selbstpositionierung als irritierte/unsichere AkteurInnen“) abgebildet. Einer Übersicht über die sinngenetischen Typen folgen die detaillierten Fallbeschreibungen. In den Fallbeschreibungen erfolgt eine verdichtende und vermittelnde Darstellung der kollektiven Orientierungen vor dem Hintergrund ihrer dramaturgischen Entfaltung und der formalen Diskursorganisation. In der anschließenden Diskussion werden die Fälle kontrastiert und mittels eines kontextuierten Ländervergleichs Ländertypiken herausgestellt. Nach einer Diskussion und Einbettung der Ergebnisse in den Theorieund Forschungskontext werden abschließend Implikationen für die Kindheits-, Well-Being- und Migrationsforschung sowie den Praxistransfer formuliert, Erträge diskutiert und Forschungsdesiderata aufgezeigt (8). Folgerungen für die Praxis beziehen sich dabei insbesondere auf den Umgang mit Heterogenität in Bildungs- und Lernarrangements sowie Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit.

TEIL I:

Kindheit, Wohlbefinden, Migration – Theoretische Verortungen und Forschungsstand

Im ersten Teil werden die Konzepte Kindheit, Child Well-Being sowie Kindheit in der Migration theoretisch verortet und es wird ein Überblick zu den Migrationsgesellschaften Deutschland, Frankreich und den Niederlanden gegeben. Nach einer kurzen Skizzierung der historischen Entwicklung der Kindheitsforschung in internationaler und interdisziplinärer Perspektive zeige ich mit Anschluss an die Childhood Studies in groben Zügen die Konzeptualisierung von Kindern als sozialen und kompetenten AkteurInnen auf, die eingebettet ist in ein relationales Verständnis von Kindheit und Agency. Hieran anschließend setze ich mich mit dem normativen und multidimensionalen Child Well-Being-Konzept auseinander. Dabei beleuchte ich, in Verknüpfung mit aktuellen Befunden aus der Forschung, Wege und Unwägbarkeiten der Konzeptualisierung und Operationalisierung. Schließlich arbeite ich heraus, wie Kindheiten im Kontext von Migration in unterschiedlichen Disziplinen konzeptualisiert werden und welche Besonderheiten beziehungsweise besonderen Herausforderungen dem Aufwachsen in der Migration für Kindheiten und Agency zugeschrieben werden. Das Kapitel mündet in einer sozialstrukturellen Betrachtung der Lage von Kindern und Kindheiten in der Migration in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden. Dem Forschungsinteresse entsprechend fokussiert der Forschungsüberblick im Besonderen internationale Vergleichsstudien sowie Studien aus Deutschland, Frankreich und den Niederlanden, in denen Kindheit (und Wohlbefinden) im Kontext von Migration untersucht werden. In einer Zusammenführung der theoretischen Grundannahmen, des Forschungsstandes sowie offener Fragen werden abschließend Überlegungen darüber angestellt, welchen Beitrag die vorliegende Studie an der Schnittstelle von Kindheits-, Well-Being- und Migrations-Forschung leistet. Soziokulturell und strukturell bedingt werden für westliche und nichtwestliche Kontexte unterschiedliche Implikationen für die Konzeptualisierung von Kindheit, Child Well-Being und Kindheit in der Migration

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Teil I: Theoretische Verortungen und Forschungsstand

angenommen (z.B. Punch 2016). Entsprechend des Forschungsgegenstandes wird in den theoretischen und empirischen Darlegungen eine Fokussierung auf westliche, wohlfahrtsstaatliche Strukturen beziehungsweise transnationale (westliche und nicht-westliche) Strukturen vorgenommen. Von einer unmittelbaren Übertragbarkeit der hier dargelegten Konzeptualisierungen auf nicht-westliche Kontexte wird Abstand genommen.

2 Kindheitsforschung – interdisziplinär betrachtet

2.1 Historische Entwicklungen in internationaler und interdisziplinärer Perspektive Kinder wurden in wissenschaftlichen Abhandlungen bis in die 1970er Jahre disziplinübergreifend in erster Linie als Werdende (becomings) und eher passive AdressatInnen konzeptualisiert (James 2009: 34–37; Thole/Göbel/ Milbradt 2013: 24–32): Die Entwicklungspsychologie interessierte sich für das Kind vor allem in Hinblick auf dessen kognitive Entwicklung, Bindung und emotionales Verhalten, zunächst weitgehend losgelöst von historischem, kulturellem und gesellschaftlichem Kontext.8 VertreterInnen sind unter anderem Erik H. Erikson (1950, 1959), Jean Piaget (1926) und Charlotte Bühler (1928). In den Erziehungswissenschaften – zu den wichtigsten VertreterInnen zählen Jean-Jacques Rousseau (1762) und Johann Heinrich Pestalozzi (1801) – zeigten sich seit der Aufklärung zwar Versuche, Kinder als Subjekte zu konzipieren, erhalten blieb dabei aber immer die Konzeptualisierung von Kindern „als noch zu erziehende Wesen“, adressiert als „Objekt erzieherischer Eingriffe“ (Thole/Göbel/Milbradt 2013: 31). In der Soziologie galt das Interesse der Sozialisation und konkret der Art und Weise, wie Kinder – zur Herstellung sozialer Ordnung – zu ‚vollwertigen‘ Gesellschaftsmitgliedern werden (u.a. Émile Durkheim 1903, 1922). Unterschiedliche Strömungen trugen nach Allison James und Alan Prout (1990) zu einem Paradigmenwechsel in der Konzeptualisierung von Kindern und Kindheiten bei (vgl. Eßer et al. 2016; James 2009): Neue Ansätze in den Sozialwissenschaften in den 1950er und 60er Jahren, die die soziale Konstruktion von Wirklichkeit diskutierten, bildeten die Grundlage dafür, auch Kindheit als soziale Konstruktion zu begreifen. Als ein wichtiger Vertreter 8

Eine Ausnahme bildet unter anderem das Buch „Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung“ (1925) des Psychoanalytikers und Pädagogen Siegfried Bernfeld.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Kämpfe, Kindheiten in europäischen Migrationsgesellschaften, Kinder, Kindheiten und Kindheitsforschung 21, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26225-9_2

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Teil I: Theoretische Verortungen und Forschungsstand

wird der Franzose Philippe Ariès (1975) genannt, dessen historische Darstellung des Kindes (am Beispiel des Mittelalters) unterschiedliche Konstruktionen von Kindheit aufzeigte. Die feministischen und (britischen) antikolonialen Gegenbewegungen der 1960er Jahre, die die Hegemonie bestehender sozialer und politischer Verhältnisse herausforderten, brachten angesichts der Betrachtung unterschiedlicher subkultureller Gruppen Aufwind in den Sozialwissenschaften. In diesem Zusammenhang verwies Charlotte Hardman als eine der ersten darauf, „that children, too, might inhabit a ‚self-regulating, autonomous world which does not necessarily reflect early development of adult culture’ in which they could be seen as social actors“ (Hardmann 1973: 87 zit. nach James 2009: 38). Das Jahr 1979, das zum Internationalen Jahr des Kindes erklärt wurde, brachte auch eine wissenschaftliche Debatte um heterogene Kindheiten in der Welt hervor. Die Folgen von Krieg, Armut, Hunger sowie Kindermisshandlung wurden problematisiert und erste Kritik gegenüber den traditionellen Perspektiven auf Kinder und Kindheit kam auf. Als am theoretisch bedeutsamsten für den Paradigmenwechsel betrachten James und Prout die Versöhnung derjenigen Theoriestränge, die die Struktur des Gesellschaftslebens zu erklären suchten mit denjenigen, die die Handlungen und Orientierungen von Individuen untersuchten. Als wichtiger Vertreter gilt Anthony Giddens mit seiner Strukturationstheorie (1986), die zur Erklärung von gesellschaftlichen Prozessen das Verhältnis von Akteurschaft und Struktur betrachtet. Die Debatte zur Interaktion von Akteurschaft und Struktur brachte auch für die Kindheitsforschung wichtige Fragen hervor, wie etwa über die Rolle von Kindern, die sie in ihrem eigenen Sozialisationsprozess, aber auch in der sozialen Ordnung spielen. Der mit den unterschiedlichen Strömungen verbundene Paradigmenwechsel führte zum Aufkommen der Soziologie der Kindheit, die aufgrund ihrer interdisziplinären Rezeption und konzeptuellen Weiterentwicklung mittlerweile vielfach von der internationalen Bezeichnung Childhood Studies abgelöst wird. James und Prout (1990: 8) fassen die wichtigsten konzeptionellen Kernaspekte wie folgt zusammen: - Kindheit als soziale Konstruktion ist weder naturgegeben noch universell - Kindheit ist als eigenständige Variable sozialer Analysen anzusehen in Verschränkung mit anderen Variablen wie soziale Herkunft, Geschlecht oder Ethnizität

Kindheitsforschung – interdisziplinär betrachtet

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- Kinder sind „active in the construction and determination of their own social lives, the lives of those around them and of the societies in which they live“ (James/Prout 1990: 8) - Es geht um eine Untersuchung von kindlichen Beziehungen und Kulturen um ihrer selbst willen unabhängig von Belangen Erwachsener - Es geht um eine Untersuchung von Kindheit über ethnographische, partizipative Zugänge sowie um die - Rekonstruktion von Kindheit vor dem Hintergrund von Akteurschaft und Struktur. Durch die Betrachtung von Kindheit als soziale Konstruktion werden „die diskursiven, institutionellen oder wohlfahrtspolitischen Prozesse“ in den Blickpunkt gerückt, die Kindheit in einer bestimmten Gesellschaft und damit verbundenen Machtverhältnissen determinieren (Eßer 2017: 73). Auf Grundlage dieser Kernaspekte wurden unterschiedliche Ansätze hervorgebracht (vgl. Alanen 2014: 134–137): - akteurInnenbezogene, (mikro)soziologische Betrachtungsweisen von Kindern und Kindheiten, die partizipativ angelegt sind und sich vor allem für die Lebenswelten von Kindern und Kinderkulturen interessieren, - dekonstruktive Ansätze, die die (historisch-kulturellen) Konstruktionen von Kindheit dechiffrieren, indem sie sich textanalytischer Methoden wie der Diskursanalyse bedienen, - strukturelle Ansätze, die vor allem auf der Makroebene Kindheit strukturell-kategorial beziehungsweise strukturell-relational in den Blick nehmen. Die vorliegende Studie nimmt in erster Linie eine akteurInnenbezogene und strukturell-relationale Perspektive ein (siehe hierzu Kap. 2.2, zu dekonstruktiven Ansätzen siehe u. a. Betz 20139). Strukturell-kategoriale Ansätze, vor allem vertreten durch Jens Qvortrup, betrachten Kindheit im strukturellen, gesamtgesellschaftlichen Kontext als eine Strukturform der Gesellschaft, die 9

Die dekonstruktive Kindheitsforschung beschreibt Betz (2013: 655) als einen nach wie vor vernachlässigten Bereich, jedoch sieht sie in einer dekonstruktiven Betrachtungsweise des Child indicators movement unter anderem das Potenzial, der „amalgamation of research and politics“ empirisch nachzugehen.

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Teil I: Theoretische Verortungen und Forschungsstand

„permanent, dynamisch und integral“ ist (Qvortrup 2014: 674). Die Perspektive auf die als eine in materieller, sozialer und kultureller Hinsicht generationale Gruppe der Kinder geht weg von der Disposition des individuellen Kindes hin zur Position von Kindern in der Sozialstruktur einer Gesellschaft. Gesucht wird nicht „nach dem sich wandelnden Kind, sondern nach den sich wandelnden Lebensumständen der Kinder“ (Qvortrup 2005: 29). In dieser sozialstrukturellen Analyse stellt Kindheit (in Relation zu anderen generationalen Gruppen) den Untersuchungsgegenstand und Gesellschaft die Analyseebene dar. Dabei werden strukturelle Parameter wie Ökonomie, Politik, soziales Leben, Kultur, Religion, Technologie sowie deren Wandel in Hinblick auf deren Folge für die Lebenswelten der Kinder betrachtet und hinterfragt, inwiefern bestimmte Ressourcen unterschiedlichen Generationen zur Verfügung stehen. Neben einem Vergleich der Verhältnisse zwischen Generationen erlaubt die Einnahme der strukturellen Perspektive auch einen (generationsbezogenen) historischen und internationalen Vergleich von Kindheit (ebd.: 28; Qvortrup 2014: 673). Jedoch ist die strukturell-kategoriale Perspektive für sich allein genommen durch die homogenisierende Betrachtung von Kindheit dem Risiko mangelnder interner Differenzierung ausgesetzt (Alanen 2005: 77). Am Beispiel von Deutschland, Frankreich und den Niederlanden zeigen Helga Zeiher (2010), Régine Sirota (2010) und Rineke van Daalen (2010), dass die Kindheitsforschung in den Ländern auf ganz unterschiedliche Weise an die vor allem angelsächsischen und skandinavischen Diskurse anschließt (international siehe weiterführend The Palgrave Handbook of Childhood Studies von Qvortrup/Corsaro/Honig 2009). In Deutschland brachten der soziale Wandel und Demokratisierungsprozesse nach dem Zweiten Weltkrieg erste Untersuchungen zur sozialen Position von Kindern und später auch zum Wandel von Kindheiten hervor (Zeiher 2010: 294). Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre bildete sich im deutschsprachigen Raum eine stetig wachsende Community an ForscherInnen heraus, die Kinder und Kindheit zunehmend unter dem Aspekt von Akteurschaft sowie generationaler Ordnung in den Blick nahm (vertiefend zur sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung in Deutschland u. a. Honig 2009; Grunert/ Krüger 2006). In den 1990ern profitierte die Kindheitsforschung zudem von einer sich intensivierenden internationalen Anbindung und Vernetzung. Eine große Vielfalt an einschlägigen Veröffentlichungen, an Bücher- und Zeitschriftenreihen sowie theoretischen Abhandlungen und empirischen

Kindheitsforschung – interdisziplinär betrachtet

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Arbeiten untermauert den Stellenwert, den die Kindheitsforschung disziplinübergreifend in Deutschland einnimmt.10 Sie stellt eine stetig wachsende Subdisziplin der Soziologie dar – verkörpert unter anderem durch die Sektion Soziologie der Kindheit in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie – bleibt Zeiher (2010: 303) zufolge insgesamt aber nach wie vor ein Randthema innerhalb der Disziplin. In den Erziehungswissenschaften, in denen sich die neue Kindheitsforschung fast zeitgleich entwickelte, ist eine im Vergleich stärkere Verankerung auszumachen (vgl. Andresen/Diehm 2006). In Frankreich erlangte die Kindheitsforschung durch die Arbeit des Historikers Philippe Ariès zur sozialen Konstruktion von Kindheit Anfang der 1960er Jahre früh internationale Anerkennung. Doch es brauchte fast 40 weitere Jahre bis zur Entwicklung einer französischen Kindheitssoziologie und Etablierung einer multidisziplinären, wenn auch nach wie vor fragmentierten Kindheitsforschung (Sirota 2010: 250) (kritisch hierzu: Lévêque 2017). Ausgehend von der Bildungssoziologie, die – an interpretative Theorien und den symbolischen Interaktionismus anschließend – SchülerInnen als soziale AkteurInnen (métier d’élève) entdeckte, wurde der Blick sukzessive auf Settings außerhalb des Klassenzimmers und Schulhofs (métier d’enfant) gelenkt. Auch soziologische Individualisierungstheorien trugen zu einer neuen Perspektive auf Kinder und Kindheiten bei.11 Die französische Kindheitsforschung, im Speziellen die Kindheitssoziologie, ist in ein internationales, frankophones Netzwerk eingebunden, die Association internationale des sociologues de langue française (AISLF). Sie findet jedoch nach Sirota bisher noch wenige Berührungspunkte mit den englischsprachigen Diskursen (Sirota 2010: 254). In den Niederlanden erweist sich die Kindheitsforschung nach Rineke van Daalen (2010: 352) nach wie vor als rar und lückenhaft sowie ohne stabile wissenschaftliche Grundlage, Institutionalisierung und konstante Community an ForscherInnen. Angesichts der mangelnden Institutionalisie10

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Thematische Schwerpunkte sind unter anderem die Modernisierung von Kindheit und soziale Ungleichheit, Institutionalisierungs- und Individualisierungsprozesse, Lebenswelten und Räume von Kindern, intergenerative Untersuchungen sowie die Dekonstruktion von Kindheitsdiskursen. Folgende thematische Schwerpunkte der Kindheitsforschung zeichnen sich gegenwärtig ab: Re- und Dekonstruktion von Expertenwissen, das Kind als soziale/r AkteurIn (in unterschiedlichen Kontexten), Sozialpolitik und Kindheit, Kulturen von Kindheit. Fragen der sozialen Ungleichheit kamen erst mit den Unruhen in den Pariser Banlieues im Jahr 2005 auf.

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Teil I: Theoretische Verortungen und Forschungsstand

rung der Kindheitsforschung wird die Realisierbarkeit von Forschungsprojekten vielfach durch politische Interessen bestimmt.12 Ausnahmen zeigen sich angesichts von ForscherInnen, die stärker in internationale Netzwerke eingebunden sind, so wie beispielsweise Manuela du Bois-Reymond, die in den 1990er Jahren in einem deutsch-niederländischen Vergleich die Modernisierung von kindlichen Lebenswelten untersuchte (Du Bois-Reymond et al. 1994). Die neuen, zunächst kindheitssoziologischen Perspektiven können als Ergänzung und nicht als Widerspruch zu den bisherigen entwicklungspsychologischen sowie sozialisationstheoretisch ausgerichteten soziologischen und erziehungswissenschaftlichen Perspektiven verstanden werden (vgl. Thole/ Göbel/Milbradt 2013: 32; Tillmann 2010: 361–363).13 Eine Verbindung kindheitssoziologischer und sozialisationstheoretischer Perspektiven sieht Klaus-Jürgen Tillmann (2010: 363) etwa in ungleichheitstheoretischen Fragestellungen, Fragen zur generationalen Ordnung oder zu normativen Mustern ‚guter Kindheit‘ eingelöst (vgl. Sünker/Bühler-Niederberger 2014: 46). 2.2 Kindheit und Agency – eine relationale Konzeptualisierung Wissenschaftliche und politische Aufmerksamkeit erhält vor allem ein Konzept, das bereits von James und Prout (1990) zu den wichtigsten Kernaspekten gezählt wurde, das Konzept des Kindes als sozialem/r AkteurIn. Die unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen, die unter dem Dach der Childhood Studies vereint sind, nehmen einen analytischen Blick auf die Akteurschaft von Kindern ein, die sie zu rekonstruieren suchen, unter anderem indem sie Kindern eine Stimme geben. Politische Prozesse wie die UNKinderrechtskonvention aus den 1980er-Jahren zielen darauf ab, die Situation und Positionierung von Kindern weltweit zu verbessern. James (2009: 41) unterscheidet mit Bezug auf Berry Mayall (2002) die miteinander verschränkten Konzepte Agency und AkteurIn: Demnach ist 12

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So zeigt sich eine thematische Fokussierung auf die Folgen mangelnder Bildung und Erziehung, Armut sowie auf abweichende Verhaltensweisen von Kindern (van Daalen 2010: 362). Zum Streit zwischen den VertreterInnen der neuen kindheitssoziologischen Ansätze mit VertreterInnen sozialisationstheoretischer Ansätze siehe weiterführend Tillmann (2010: 355–363).

Kindheitsforschung – interdisziplinär betrachtet

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ein/e AkteurIn „someone who does something“, während Agency sich auf eine/n AkteurIn bezieht, „who does something with other people, and, in so doing, makes things happen, thereby contributing to wider processes of social and cultural reproduction“. William A. Corsaro (2014) spricht in diesem Zusammenhang von „interpretive reproduction“. Mit dem Begriff möchte er, basierend auf Feldforschung zu Peerbeziehungen von Kindern aufzeigen, „that children are not simply internalizing society and culture but are actively contributing to cultural production and change“ (ebd.: 709). Akteurschaft dokumentiere sich unter anderem darin, wie Kinder bereits früh hochkomplexe Peerkulturen bilden und damit auch aktiv zu ihrem eigenen sozialen und emotionalen Wohlbefinden beitragen, aber etwa auch darin, wie sie sich auf kreative Weise elektronische Medien zu eigen machen (ebd.: 733). Zugleich möchte Corsaro mit dem Begriff darauf verweisen, dass die kreative Mitwirkung von Kindern an Gesellschaft durch die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse sozialer Reproduktion determiniert ist. Diese Determinierung, nicht nur was die kreative Mitwirkung an Gesellschaft, sondern auch, was die Akteurschaft von Kindern insgesamt betrifft, wird – so eine immer stärker aufkommende Kritik – in der Forschungspraxis zu häufig ausgeblendet. Die Annahme „that the child simply ‚is‘ an actor“ versperre den Blick auf die sozialen Bedingungen von Kindheit und Kindern in unterschiedlichen (gesellschaftlichen) Kontexten, so Florian Eßer et al. (2016: 6): „A substantialist concept of the actor and the child is based on a de-historicised, de-socialised, individual-centred idea of action. Action becomes, simply, a human capability“ (vgl. auch Punch 2016: 186; Raithelhuber 2016: 94). Neben der Kritik substantialistischer, de-kontextualisierter und individualisierter Konzeptualisierung von Akteurschaft, beruht das Verständnis „that the child simply ‚is‘ an actor“ zudem auf einer eurozentrischen Perspektive. Tanja Betz und Florian Eßer (2016: 305) bezeichnen als unhinterfragtes „Selbst(miss)verständnis“ zahlreicher agencybezogener Studien, „dass Kinder einfach ‚Agency haben‘“. Diese westlichnormative, an weißer Mittelschicht orientierte Vorstellung einer individuellen und autonomen Agency ist dabei nicht zuletzt auch für die westliche Welt selbst zu hinterfragen und differenzieren. Akteurschaft, die durch die Idee gestalterischer, kreativer, eigen- sowie widerständiger Handlung von Kindern als quasi maximal kontrastierend zur früheren Konzeptualisierung von Kindern als passiven AdressatInnen ent-

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Teil I: Theoretische Verortungen und Forschungsstand

worfen wird, ist dem Vorwurf einer überhöhten Darstellung ausgesetzt, die reale Machtverhältnisse, heterogene Kindheiten sowie die fundamentale (juristische, ökonomische und emotionale) Abhängigkeit von Kindern weitgehend ignoriert (Bühler-Niederberger 2013: 319). So fragt Doris BühlerNiederberger (2013: 317): „wann ‚handeln‘ Kinder tatsächlich und wie ‚handeln‘ sie, und inwiefern und unter welchen Bedingungen wird dieses ihr Handeln relevant für den Gang der Dinge […]?“. Samantha Punch (2016: 184) wirft weiter die Frage auf, was Akteurschaft tatsächlich für unterschiedliche Gruppen von Kindern bedeutet und erklärt: „By scrutinising children’s situated agency in context, it is possible to disentangle the type and nature of their agency as well as the outcomes and consequences attached to asserting agency or not“. Zentrale Fragen der Childhood Studies sind demzufolge, wie Kinder zu AkteurInnen werden, was Akteurschaft in unterschiedlichen Kontexten genau bedeutet und wie sie zum Ausdruck kommt. Theoretisch wie empirisch, so der Tenor, ergeben sich mit Blick auf das Konzept kindlicher Akteurschaft weiterhin Leerstellen. Einigkeit herrscht zudem über das Erfordernis einer relationalen Konzeptualisierung von Kindheit und Akteurschaft, ein Aspekt der – wie nachfolgend gezeigt wird – primär angesichts der generationalen Strukturierung des Sozialen von Bedeutung ist (Alanen 2005: 65, 2009: 161). Kindliche Akteurschaft ist durch das relationale Konzept der gesellschaftlich konstruierten und institutionalisierten generationalen Ordnung zu kontextualisieren, das Kindern und Erwachsenen ungleiches Handlungsvermögen und ungleiche Teilhabe zuteilwerden lässt. Generationale Ordnung wird als eine Form sozialer Ordnung in modernen Gesellschaften gefasst. Generation arbeitet Leena Alanen in einer relationalen Konzeptualisierung von Kindheit mit Rekurs auf Karl Mannheims Generationenkonzept sowie auf relationale Klassen- und Gendertheorien als ein zentrales relationales Konzept heraus (Alanen 2005: 66–79). Die relationale Sichtweise betrachtet Struktur (im Kontext von Klasse, Geschlecht, Generation) „als ein System von Beziehungen zwischen sozialen Positionen“ (ebd.: 75). Der Begriff der generationalen Struktur bezieht sich dabei „auf die komplexe Menge sozialer (relationaler) Prozesse, durch die einige Personen zu ‚Kindern‘ werden (oder als solche ‚konstruiert‘ werden), während andere zu ‚Erwachsenen‘ werden (oder ‚konstruiert‘ werden)“ (ebd.: 79). Die sozialen Prozesse, in denen generationale Kategorien durch die beteiligten AkteurIn-

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nen (das heißt Erwachsenen und Kinder) hergestellt werden, können als generationing-Praxen bezeichnet werden. Generationale Akteurschaft von Kindern ist dabei „untrennbar mit der ‚Macht‘ (oder deren Fehlen) verbunden, die diejenigen haben, die als Kinder positioniert sind, um Ereignisse in ihrer Alltagswelt zu beeinflussen, zu organisieren, zu koordinieren und zu beherrschen“ (Alanen 2005: 80). Die sozialen Positionen in generationalen Strukturen sind interdependent und – wie am Beispiel Familie oder der Beziehung Lehrkraft und SchülerInnenschaft ersichtlich wird – durch eine Asymmetrie positionaler Macht gekennzeichnet, die gesellschaftlich konstruiert und institutionalisiert ist (vgl. Bühler-Niederberger 2013: 319). Das heißt, die generationalen Strukturen sind in größere (institutionelle) Zusammenhänge eingebunden, die wiederum in einer bestimmten gesellschaftlichen, nationalstaatlichen und letztlich auch global verankerten Struktur zu verorten sind. Bühler-Niederberger (2013: 319–322) erweitert den Diskurs zu Akteurschaft von Kindern im generationalen Arrangement um das Konzept der kompetenten Gefügigkeit. In Verbindung mit dem, ebenso von ihr entworfenen Konzept des sozialen Alleskönners führt sie aus, „dass Kinder an sozial geordneten Situationen mitwirken, dass sie Handlungsbeiträge leisten, die ein Verständnis der jeweils geltenden Ordnung und der Handlungen, die sie verlangt, voraussetzen“ (ebd.: 319). Dies tun sie bereits sehr früh und in unterschiedlichen institutionellen Ordnungen, sei es beispielsweise in Ordnungen der Familie, (vor)schulischer Institutionen oder im freien Spiel (z.B. Huf 2013). Das kompetente Mitwirken innerhalb der durch die generationale Ordnung erzeugten und begrenzten Handlungsräume zeigt eine hohe Auffassungsgabe bezüglich der jeweils geltenden Regeln und eine hohe Adaptabilität. Mit Verweis auf Pierre Bourdieus Konzept der Komplizenschaft zur Erklärung symbolischer Herrschaftsformen verdeutlicht BühlerNiederberger die Funktionalität asymmetrischer sozialer Ordnungen durch die Akzeptanz und Kooperation auch derjenigen, die in eben diesen Konstellationen ‚beherrscht‘ werden. Die Handlungsbeiträge von Kindern liegen unter anderem darin, die jeweiligen Arrangements zu erkennen, den ihnen zugedachten Part einzunehmen sowie die Anderen in ihren Parts zu unterstützen und dabei Zufriedenheit zu empfinden (Bühler-Niederberger 2013: 320). Akteurschaft von Kindern ist daher „stets im Rahmen der generational vorstrukturierten Handlungsoptionen“ zu betrachten (ebd.: 333; vgl. Betz 2009).

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Teil I: Theoretische Verortungen und Forschungsstand

Alanen (2009: 170) führt drei zentrale Aspekte an, nach denen die generationale Rahmung von Kindheit empirisch zu beleuchten ist: - „Structures that can be identified as specifically generational, - the interdependent positions that these generational structures define for generational groups to take and to act from, and - the social and cultural practices of positioning – both self- and otherpositioning – through which the current generational structures, and the generational order as their composite structure, are generated, maintained and (occasionally) transformed“. Die relationale Konzeptualisierung von Kindheit und Akteurschaft, das ist an dieser Stelle wichtig zu betonen, schließt neben generationalen Strukturen auch andere relationale Strukturen wie Klasse, Gender, Migration/Ethnizität usw. ein. Gerade durch die Fokussierung auf die durch generationale Ordnung hervorgerufenen Asymmetrien können andere Differenzlinien aus dem Blick geraten. Durch eine intersektionale Perspektive, die bisher in der Kindheitsforschung noch nicht sehr stark Berücksichtigung findet, kann die Verwobenheit unterschiedlicher Differenzlinien in der Kindheit theoretisch gefasst und empirisch beleuchtet werden (vgl. Alanen 2016; Betz/Eßer 2016). Auf Grundlage relationaler Sozialtheorien nimmt Florian Eßer (2014a) eine relationale Konzeptualisierung von Akteurschaft von Kindern anders als oben dargestellt fern der Dualismen Kinder – Erwachsene, Akteurschaft – Sozialisation, Handlung – Struktur, Akteur – Gesellschaft vor (vgl. auch Raithelhuber 2016). Das Soziale – und somit auch der soziale Status des Kindes – wird auf diese Weise aus den Beziehungen, das heißt den dynamischen und situativen Relationen zwischen den AkteurInnen, erklärt. Akteurschaft von Kindern ergibt sich nach Eßer (2014a: 236) „immer erst in den sozialen Beziehungen […], in die Kinder eingebunden sind“ und ist dementsprechend „aus den konkreten Beziehungen heraus zu analysieren“. Anhand des Modells des Netzwerks verdeutlicht er, dass die Knoten, also AkteurInnen des Netzwerks und ihre Positionierungen „erst durch die unterschiedlichen Relationen definierbar“ werden (ebd.: 237). Nicht der Akteur oder die Akteurin, der oder die Beziehungen zu anderen AkteurInnen unterhält sind Ausgangspunkt, sondern die Beziehungen zwischen ihnen, die durch unterschiedliche Machtverhältnisse gekennzeichnet und im Falle von Kindern in hohem Maße generational strukturiert sind. Akteurschaft stellt

Kindheitsforschung – interdisziplinär betrachtet

25

somit „einen Effekt sozialer Beziehungen“ dar (ebd.). Bei den Knoten handelt es sich neben menschlichen AkteurInnen um nicht-menschliche Entitäten wie rechtliche Regelungen, Institutionen, Dokumente, dingliche Objekte. Die kontextabhängigen Akteurspositionen von Kindern als Kinder und die damit verbundenen Handlungsfähigkeiten und -möglichkeiten werden in unterschiedlichen Netzwerken hergestellt.

3 Das Child Well-Being-Konzept

Der Blick auf Lebenswelten von Kindern wird von normativen Fragen zur Qualität von Kindheiten begleitet. Fragen ergeben sich zum Beispiel im Hinblick darauf, was Kindheiten (in unterschiedlichen Kontexten) zu ‚guten‘ oder ‚weniger guten Kindheiten‘ macht, was Kinder im Hier und Jetzt und für ihre Entwicklung brauchen, was ihnen guttut, was ihnen schadet und nicht zuletzt, welche Implikationen sich aus diesen Aspekten für unterschiedliche gesellschaftliche Teilbereiche ergeben. Diese und weitere Fragen zu Lebensbedingungen, Entwicklungsperspektiven, aber auch zu subjektiven Gefühlen und Erfahrungen von Kindern werden durch die Child WellBeing-Forschung zu ergründen gesucht. Durch das anwaltschaftliche Ansinnen, die Position der Kinder zu verbessern, zeigen sich Wissenschaft und Politik im Child Well-Being Diskurs eng verzahnt. 3.1 Child Well-Being auf der wissenschaftlichen und politischen Agenda Die Etablierung des Well-Being-Konzepts ist im Social Indicators Movement der 1960er Jahre zu verorten.14 Als Grundstein der Bewegung hin zu einem damals neuen Konzept, dem der Lebensqualität, bezeichnen Asher BenArieh et al. (Ben-Arieh et al. 2014b: 7) das Buch Social indicators von Raymond A. Bauer (1966). Unter Lebensqualität wurden verschiedene objektive und subjektive, das heißt materielle wie auch psychosoziale, Indikatoren individueller Lebensbedingungen gefasst. Eine Sozialberichterstattung mit dem Ziel, gesellschaftliche Entwicklungen sichtbar zu machen, indem sie 14

Das Well-Being-Konzept hat sich zunächst weitgehend unabhängig von den Sozialwissenschaften auch in den Gesundheitswissenschaften etabliert. Die Verfassung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hält bereits 1946 fest: „Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease of infirmity“.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Kämpfe, Kindheiten in europäischen Migrationsgesellschaften, Kinder, Kindheiten und Kindheitsforschung 21, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26225-9_3

28

Teil I: Theoretische Verortungen und Forschungsstand

objektive und subjektive Indikatoren zu Lebensbedingungen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen erfasst, verlieh der Well-Being-Forschung von Anfang an einen interdisziplinären Charakter. Aus dem Social Indicators Movement entstand Jahrzehnte später schließlich auch das so genannte Child Indicators Movement. Ben-Arieh (2008: 5–8) benennt drei zentrale normative und theoretische Entwicklungen als ausschlaggebend für die Herausbildung des Child Indicators Movement: (1) Kinderrechte als normativer Rahmen, (2) die Soziologie der Kindheit, (3) die Ökologie der Kindesentwicklung. Die UN-Kinderrechtskonvention (1989) rahmt das Konzept des Child Well-Being auf normative Weise, insbesondere Artikel 2 „Achtung der Kinderrechte/Diskriminierungsverbot“, Artikel 3 „Wohl des Kindes“, Artikel 6 „Recht auf Leben“ sowie Artikel 12 „Berücksichtigung des Kinderwillens“. Durch die Kinderrechtskonvention wurde die Position von Kindern in den Gesellschaften auch dadurch gestärkt, dass Indikatoren geschaffen wurden, um die Umsetzung der Kinderrechte in den Unterzeichnerstaaten15 zu untersuchen (siehe auch Doek 2014). Die Soziologie der Kindheit hat vor allem durch die Anerkennung von Kindheit als eigener Lebensphase wesentlich zum Child Indicators Movement beigetragen. Häufig wurde in der Sozialberichterstattung die Erfassung der aktuellen Lebenssituation von Kindern zugunsten der zukunftsgerichteten Entwicklungsperspektive vernachlässigt beziehungsweise wurde ihr Aussagekraft in erster Linie über zu erwartende Entwicklungen verliehen. Unterstrichen wird damit nicht nur das Erfordernis, das Kind als eigenständige Untersuchungseinheit zu sehen, sondern auch dessen gegenwärtiges Leben um seiner selbst willen in den Blick zu nehmen. Konzeptualisiert wird Child Well-Being über Aspekte des Well-Being ebenso wie des Well-Becoming. Zur Herausbildung einer Palette an Indikatoren im Rahmen des Child Indicators Movement hat zudem die ökologische Perspektive, die kindliche Entwicklung in Interaktion mit ihrer Umwelt versteht, beigetragen, konkret Urie Bronfenbrenners bio-ökologisches Modell menschlicher Entwicklung (1981) und seine Unterscheidung von Einflussfaktoren entlang der miteinander verwobenen Ebenen Mikro-, Meso-, Exo- und Makrosystem.

15

Die UN-Kinderrechtskonvention wurde außer von Somalia, dem Süd-Sudan und den USA von allen 193 UN-Mitgliedsstaaten ratifiziert (Doek 2014: 194). Die Ratifizierung in Frankreich erfolgte 1990, in Deutschland 1992 und in den Niederlanden 1995.

Das Child Well-Being-Konzept

29

Folgende Entwicklungsprozesse ordnet Ben-Arieh (2010: 15–17) im Rahmen des Child Indicators Movement inhaltlich und methodologisch als zentral ein: - From Survival to Well-Being, das heißt von einer Formulierung von Mindeststandards durch Fokussierung existentieller Grundbedürfnisse und möglicher Kindeswohlgefährdungen zur Ausweitung auf Lebensqualität, - From Negative to Positive, das heißt ein Perspektivwechsel von einer Fokussierung auf Risikofaktoren zu einem zunehmenden Ausgleich von Risiko- und Schutzfaktoren, - From Well-Becoming to Well-Being, das heißt von einer zukunftsgerichteten Perspektive auf das Kind als Werdendem hin zu einer Perspektive, die das Kind sowohl im Hier und Jetzt als auch als Werdenden sowie dessen Zusammenspiel in den Blick nimmt, - From Traditional to New Domains, das heißt eine Erweiterung der traditionellen Bereiche wie Gesundheit, Bildung, Demografie um kindzentrierte, interdisziplinäre Bereiche wie kindliche Aktivitäten, Akteurschaft und Partizipation, - From an Adult to a Child Perspective, das heißt ein Perspektivwechsel weg von Erwachsenen festgelegten Indikatoren zum kindlichen Wohlbefinden hin zu einem sukzessiv stärkeren Einbezug der Perspektiven von Kindern auf Vorstellungen von Wohlbefinden mit Implikationen für die Ausgestaltung von Forschungsdesigns.16

16

Diese klar umrissene, auf Dichotomisierung aufbauende Programmatik empfiehlt Eßer (2014b: 513), stärker zu differenzieren (kritisch dazu auch Betz 2013). Anhand einer historischen Rekonstruktion von Kindheitskonzepten konstatiert er beispielsweise für den Entwicklungsprozess vom Well-Becoming zum Well-Being: „Gegenwärtigkeit wurde bis hinein in die Antike als Privileg und ein Element von Kindheit gefasst, das gemeinsam mit Entwicklungsperspektiven funktionierte“. Mit Blick auf die historischen Entwicklungen verweist Eßer auf unterschiedliche Kodierungen von Well-Being. So sind etwa die Vorstellungen einer glücklichen Kindheit in den Kinderschutzdiskussionen um 1900 „nicht zu verwechseln mit der Idee eines individuellen Glücksstrebens („pursuit of happiness“), die in der aktuellen internationalen Well-Being-Diskussion oftmals impliziert ist.“ (Eßer 2014b: 510). Zudem wurde glückliche Kindheit in engem Zusammenhang mit einer sehr hierarchischen generationalen Ordnung und erheblichen Anpassungsleistungen auf Seiten der Kinder betrachtet.

30

Teil I: Theoretische Verortungen und Forschungsstand

Das Child Indicators Movement hat eine breite Basis an administrativen Daten sowie unterschiedlichen Datenquellen (u. a. Zensus, Umfragen, wissenschaftliche Längs- und Querschnittstudien, sowohl quantitativ als auch qualitativ) zu Kindheiten und kindlichem Wohlbefinden in der ganzen Welt hervorgebracht. Dimensionen des Child Well-Being haben sich zu einer festen Größe in der Sozialberichterstattung etabliert. Die beteiligten AkteurInnen stammen aus Politik, Nichtregierungsorganisationen (u. a. UNICEF, OECD) und unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen (u. a. Erziehungs- und Sozialwissenschaften, Psychologie, empirische Bildungsforschung, Sozialpolitik, Sozialgeografie). Auf den Umstand „dieser vielschichtigen Entwicklungen und der Mannigfaltigkeit der Akteure“ führen Andresen und Betz (2014: 501) die bisher noch unzureichende „theoretisch konzeptionelle Auseinandersetzung mit dem Konzept und seiner ihm inhärenten, expliziten oder impliziten Normativität“ zurück. Zudem kritisiert Betz (2013: 654), dass die Verwobenheit von Politik und Wissenschaft in konzeptuellen Ausrichtungen und empirischen Zugängen zum Child WellBeing bislang zu wenig kritische Reflexion erfährt und selbst zum Gegenstand von Untersuchung wird (zu Kritik am Well-Being-Konzept siehe Kap. 3.3). 3.2 Theoretische Konzeptualisierung und Formen der Operationalisierung Enzyklopädien beschreiben den Begriff Well-Being etwa als „the state of being comfortable, healthy, or happy“ (Oxford Dictionairies o.J.) oder im philosophischen Sinne „to describe what is non-instrumentally or ultimately good for a person“ (Crisp 2013). Ben-Arieh et al. (2014b: 20) fassen Wohlbefinden als „encompassing problems of subjective well-being and happiness, Aristotelian perspectives on the good life, and the rights of the subject to a voice and to freedom of choice“. Zusammengenommen bildet sich in den begrifflichen Annäherungen Wohlbefinden als medizinisch-psychologischer Zustand, als moralisch-ethisches Konzept und als Recht des Subjekts darauf, gehört zu werden und über Entscheidungsfreiheit zu verfügen, ab. Jonathan Bradshaw, Petra Hoelscher und Dominic Richardson (2007: 8) nehmen eine gerechtigkeitstheoretische Rahmung, indem sie Wohlbefinden in der Kinderrechtsperspektive definieren:

Das Child Well-Being-Konzept

31

„as the realisation of children’s rights and the fulfilment of the opportunity for every child to be all she or he can be in the light of a child’s abilities, potential and skills, and as a result of the effective protection and assistance provided by families, community, society and state“.

Die unterschiedlichen Zugänge verweisen auf Wohlbefinden als dynamischen und multidimensionalen Prozess, der objektive und subjektive Dimensionen auf komplexe Weise vereint.17 Die Komplexität wird in Bezug auf Kinder durch die Verschränkung von Well-Being und Well-Becoming noch verstärkt (vgl. Ben-Arieh/Frønes 2011: 464). Umgekehrt lässt sich auch sagen: „the complexity of children’s well-being produces a variety of perspectives, dimensions and a corresponding variety of indicators“ (ebd.: 461). Die theoretische Konzeptualisierung von Wohlbefinden und im Besonderen von Child Well-Being bringt damit unterschiedliche Herausforderungen und Fragen hervor, unter anderem: Welche Indikatoren sind zur Erfassung subjektiven und objektiven Wohlbefindens geeignet18 und wie sind diese in ein Verhältnis zueinander zu bringen? Welche Erkenntnisse liefert eine Momentaufnahme über das Hier und Jetzt und über mögliche Folgen für die Zukunft? Wie ist das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft zueinander zu erfassen? Wie ist das Wohlbefinden in einem Bereich (zum Beispiel in der Familie) ins Verhältnis zu bringen zu mangelndem Wohlbefinden in anderen Bereichen (zum Beispiel in der Schule)? (vgl. BenArieh et al. 2014b: 3). Was zudem die valide Erfassung und Vergleichbarkeit von subjektiven Dimensionen so schwierig macht ist, dass Selbstauskünfte zum Wohlbefinden durch persönliche Merkmale sowie kulturelle und situationsabhängige Aspekte beeinflusst werden. Zudem können bestimmte 17

18

Während objektives Wohlbefinden beobachtbare Faktoren wie unter anderem Haushaltseinkommen, Bildungsbeteiligung und Infrastruktur umfasst, wird subjektives Wohlbefinden nach Ed Diener, Richard E. Lucas und Shigehiro Oishi (2009: 63) definiert als „a person’s cognitive and affective evaluations of his or her life“. Neben dem Erleben angenehmer Emotionen wird subjektives Wohlbefinden über geringe negative Stimmungen und einen hohen Grad an Lebenszufriedenheit konzeptualisiert. Die Forschung zum subjektiven Wohlbefinden, die schwerpunktmäßig Konstrukte wie Glück, Lebenszufriedenheit und Zufriedenheit in unterschiedlichen Lebensbereichen erfasst, wird als hedonistische Perspektive bezeichnet. Konzepte wie der Sinn des Lebens, Lebensziele und Selbstverwirklichung – auch als psychologisches/psychisches Wohlbefinden bezeichnet – bilden demgegenüber die eudämonistische Perspektive (Casas 2011: 561). Auch eine Übertragbarkeit auf Kinder in besonderen Lebenslagen, zum Beispiel Kinder mit Behinderung, Kinder auf der Flucht beziehungsweise mit Fluchthintergrund, ist zu hinterfragen.

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Teil I: Theoretische Verortungen und Forschungsstand

hohe Erwartungen (zum Beispiel Schönheitsideale), adaptive Tendenzen (Gewöhnung an bestimmte Umstände, zum Beispiel Armut) und relationale Vergleiche (zum Beispiel durch Flucht und Migration, überstandene Krankheiten) auf die Lebenszufriedenheit weitgehend unabhängig der objektiv gemessenen Lebensbedingungen einwirken. Mögliche Verzerrungen können im internationalen Vergleich zudem durch kulturelle Faktoren, unter anderem in der Übersetzung der Items, in der Interpretation der Ergebnisse wie auch bei der Beantwortung der Fragen, entstehen. So können soziale und religiöse Normen das Antwortverhalten verzerren, da zum Beispiel Kritik in unterschiedlichen Ländern und Kontexten unterschiedlich sozial erwünscht ist (Bradshaw et al. 2013: 7). In Anbetracht dessen, dass das umfangreiche Datenmaterial des Child Indicators Movement und die darauf aufbauenden Erkenntnisse zum Child Well-Being vielfach auf einer (undurchsichtigen) Mischung aus empirisch, theoretisch und politisch begründeten Annahmen basieren, sind eine noch stärkere konzeptionelle Auseinandersetzung und ein einheitliches Grundverständnis dringend erforderlich (vgl. Ben-Arieh et al. 2014b). Konzeptualisierungsbemühungen werden auf unterschiedlichen Ebenen vollzogen: auf theoretischer Ebene innerhalb der beteiligten wissenschaftlichen Disziplinen (u. a. Philosophie, Erziehungswissenschaften, Psychologie, Rechtswissenschaften, Politikwissenschaften, Geographie, Soziologie) beziehungsweise disziplinübergreifend sowie auf empirischer Ebene. Auch wurden bereits Überlegungen zu einem einheitlichen Modell (z.B. Ben-Arieh/Frønes 2011) und erste Versuche der Modellierung von Child Well-Being (z.B. Minkkinen 2013) unternommen, ohne aber, dass sich ein Modell hätte durchsetzen können. Einen wichtigen Beitrag für die theoretische Konzeptualisierung liefert das internationale und interdisziplinäre fünfbändige Handbook of Child WellBeing – Theories, Methods and Policies in Global Perspective von Asher Ben-Arieh, Ferran Casas, Ivar Frønes und Jill E. Korbin (2014a). Unter anderem setzen sich darin VertreterInnen unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen in Einzelbeiträgen mit disziplinären Fragestellungen zum Child Well-Being auseinander. Vor dem Hintergrund des Forschungsinteresses sei beispielhaft auf die Philosophie und die Erziehungswissenschaften verwiesen. Wohlbefinden ist in der Philosophie ein fester Fachbegriff, der verbunden ist mit Vorstellungen von einem moralischen Leben, Gerechtigkeit sowie der gerechten Verteilung von Gütern und der an utilitaristische, deontologische

Das Child Well-Being-Konzept

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und eudämonistische Theorien19 anschließt. Alexander Bagattini (2014), der die Übertragbarkeit dieser theoretischen Stränge auf ein Konzept von Child Well-Being auslotet, sieht Einwände bei allen drei Richtungen vorliegen (u. a. Paternalismus, das Individuum und die Vulnerabilität sowie Abhängigkeit des Kindes vernachlässigend/ausschließend, die Bestimmung der für Kinder notwendigen Grundgüter beziehungsweise Capabilities, die Fokussierung der Entwicklungsperspektive). In einem ergänzenden empirischen Zugang (in Verbindung mit der Psychologie und der Soziologie) sieht er einen wichtigen Beitrag, um Erkenntnis über die intrinsischen Güter („intrinsic goods“, ebd.: 176) der Kindheit zu erlangen und die theoretische Diskussion weiter voranzubringen. In den Erziehungswissenschaften wird von Sabine Andresen (2014) die Notwendigkeit eines breiteren Bildungsverständnisses verhandelt, als es in Konzeptualisierungen von Child Well-Being und empirischen Zugängen überwiegend vermittelt wird. Die Dimension Bildung wird bisher vor allem schul- und leistungsbezogen konzeptualisiert und operationalisiert. Zudem rahmt sie Child Well-Being in erziehungswissenschaftlicher Perspektive durch die Konzepte der Gerechtigkeit, der Ökonomie und der Kinderrechte. Wie an den skizzierten Auseinandersetzungen mit Child Well-Being in der Philosophie und den Erziehungswissenschaften ersichtlich wird das Konzept disziplinübergreifend unter dem Aspekt der Gerechtigkeit verhandelt. Dabei wird insbesondere eine Verbindung mit dem gerechtigkeitstheoretischen Capability Approach als aussichtsreich beschrieben (Fegter/ Richter 2014; Andresen/Schneekloth 2014; Ben-Arieh/Frønes 2011; Biggeri/Ballet/Comim 2011). Der von Amartya Sen (ab 1979; 2010) entwickelte und von Martha Nussbaum (ab 1986; 2012) weiterverfolgte Ansatz basiert auf Überlegungen zum gerechten Wohlfahrtsstaat und zum menschlichen Wohlbefinden in aristotelischer Tradition. Ingrid Robeyns (2005: 93) beschreibt den Ansatz als „a broad normative framework for the evaluation and assessment of individual well-being and social arrangements, the design of policies, and proposals about social change in society“. Zentraler Bestandteil des Ansatzes ist die Frage nach dem ‚guten Leben‘. Kennzeichnend ist die Unterscheidung zwischen Ressourcen beziehungsweise tatsächlich erreichten Funktionen (functionings: beings und doings) sowie den Freiheiten beziehungsweise Verwirklichungschancen (capabilities), die ein Mensch hat, 19

Zur Gegenüberstellung der drei philosophischen Theoriestränge siehe Bagattini (2014: 172–175).

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Teil I: Theoretische Verortungen und Forschungsstand

das heißt, zu was er oder sie mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen zu tun oder zu sein in der Lage ist. Denn neben der tatsächlichen Lebensweise trägt nach Sen (2010: 47) die tatsächliche Freiheit, zwischen verschiedenen Lebensweisen wählen zu können, maßgeblich zum Wohlbefinden einer Person bei. Unterschieden wird „zwischen der Freiheit, zielgerichtet zu Handeln (agency freedom), der Freiheit, Wohlergehen anzustreben (wellbeing freedom), dem Erreichen von gesteckten Zielen (agency achievement) und Erreichen von Wohlergehen (well-being achivement [sic]).“ (Oelkers/ Schrödter 2010: 156; weiterführend: Hart 2009). Ausgehend von dieser am Individuum orientierten Betrachtungsweise werden soziale Gerechtigkeit und Wohlfahrt anhand der akkumulierten „gesellschaftlich eröffneten Befähigungen und Verwirklichungschancen von AkteurInnen, das heißt ihrer Fähigkeiten und Machtpotenziale, um ihre Absichten und Ziele verwirklichen zu können“ beurteilt (Oelkers/Otto/Ziegler 2010: 87). Zu berücksichtigen ist dabei, dass Menschen zur Erlangung tatsächlicher Verwirklichungschancen unterschiedliche Ressourcenausstattungen und Rahmenbedingungen benötigen, das heißt Ressourcen und Güter eröffnen weder die gleichen Gelegenheiten für jeden Menschen, noch geht aus ihnen das gleiche Maß an Wohlbefinden hervor. Kindheitstheoretische Diskussionen zu ‚guter Kindheit‘ schließen an diese gerechtigkeitstheoretischen Überlegungen zum ‚guten Leben‘ an. Child Well-Being kann demzufolge im Kontext von Verwirklichungschancen konzeptualisiert werden (Ben-Arieh/Frønes 2011: 464). Gefragt wird danach, was Kinder mit den ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen in einem bestimmten Kontext zu tun oder zu sein in der Lage sind, sprich welche Entscheidungs- und Handlungsfreiheiten und tatsächlichen Verwirklichungschancen sie haben. Über die Unterscheidung von tatsächlich erreichten Funktionen und tatsächlichen Verwirklichungschancen wird eine Verbindung von Struktur und Subjekt geschaffen (Fegter/Richter 2014: 745). Da die individuelle Bestimmung des ‚Guten‘ dem Einzelnen selbst überlassen bleibt, steht zum einen die Frage nach individuellen Vorstellungen eines ‚guten Lebens‘ resp. einer ‚guten Kindheit‘ im Fokus und zum anderen die Einschätzung der Chancen, dieses Leben (vor dem Hintergrund eines bestimmten sozialen Kontexts) zu erreichen. Die Konzeptualisierung von Child Well-Being als Verwirklichungschancen schließt damit auch an

Das Child Well-Being-Konzept

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die Erfassung von subjektiven und objektiven Dimensionen an.20 Diese relationale Perspektive eröffnet zudem die Möglichkeit, die Beziehung zwischen den subjektiven Einschätzungen und dem sozialen Kontext in Hinblick auf adaptive Präferenzen systematisch zu beleuchten (ebd.). Adaptive Präferenzen beschreiben die Anpassung eines Menschen an seine Lebensverhältnisse, mit der Folge, dass etwa soziale oder ethnische Ungleichheiten hingenommen und als legitim akzeptiert werden (vgl. Betz 2010: 24). Mit der Bestimmung des ‚Guten‘ durch den Einzelnen hebt der Capability Approach auf die Autonomie und Selbstbestimmung der Individuen ab. Uneinigkeit herrscht darüber, inwieweit Kindern diese Autonomie und Selbstbestimmung bereits zugesprochen werden kann und inwieweit sie über die notwendige Fähigkeit und Reife bereits verfügen, das ‚Gute‘ zu bestimmen und kritisch zu reflektieren (Fegter/Richter 2014: 747; Ballet/ Biggeri/Comim 2011: 166–170).21 Kinder sind daher nicht nur als aktive GestalterInnen ihrer Lebenswelt in den Blick zu nehmen, sondern auch vor dem Hintergrund ihrer Abhängigkeiten und ihrer Vulnerabilität (Fegter/ Richter 2014: 744; Andresen/Ben-Arieh 2016: 17). Durch die relationale Konzeptualisierung bietet der Capability Approach zudem einen analytischen Rahmen zur Sichtbarmachung generationaler Beziehungen, aber auch generationaler Ungleichheiten (Andresen/Schneekloth 2014: 539). So kann etwa aufgezeigt werden, innerhalb welcher generationaler Strukturen und Ungleichheiten Verwirklichungschancen eröffnet und begrenzt werden. Es werden Bedenken bezüglich der Vereinbarkeit des Capability Approach mit einem Child Well-Being-Konzept im Sinne der Childhood Studies angesichts der zukunftsbezogenen Perspektive artikuliert, auf die der Ansatz aufgrund der angestrebten Ausweitung von Freiheiten und Verwirklichungschancen gerichtet ist (Fegter/Richter 2014: 746; Bagattini 2014: 175; 20

21

Die dem Ansatz inhärente Normativität stellt den Capability Approach vor ähnliche Herausforderungen wie das Child Well-Being-Konzept. Konkret geht es hier um die Bestimmung relevanter Verwirklichungschancen für ein ‚gutes Leben’. Nussbaum (2000: 78–80) hat eine Liste von zehn Grundbefähigungen formuliert: (1) life, (2) bodily health, (3) bodily integrity, (4) senses, imagination and thought, (5) emotions, (6) practical reason, (7) affiliation, (8) other species, (9) play, (10) control over one’s environment. Nussbaum hat die einzelnen Punkte sehr vage gehalten und betrachtet sie als Anregung und Orientierung für unterschiedliche Kontexte. Sen verzichtet darauf, universelle Grundbefähigungen zu bestimmen. Nussbaum (2000: 79) spricht in ihrer Liste der Grundbefähigungen von der Fähigkeit, „to form a conception of the good and to engage in critical reflection about the planning of one’s life“.

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Teil I: Theoretische Verortungen und Forschungsstand

Ballet/Biggeri/Comim 2011: 172–174). Nach Susann Fegter und Martina Richter (2014: 746) wird Entwicklung von Armatya Sen als „increasing the degrees of freedom of people in a society“ gedacht und nicht in entwicklungspsychologischer oder sozialisationstheoretischer Perspektive als Entwicklung eines Kindes zu einem Erwachsenen. Zudem sind in dem Ansatz gegenwarts- und zukunftsbezogene Perspektiven auf spezifische Weise miteinander verwoben: „The opportunity to decide, for the good reasons one values, either for or against a specific lifestyle is, in each case, given only in a concrete and therefore here-and-now-situation“ (ebd.: 747). Vor allem am Beispiel der Bildung lässt sich die Verwobenheit nachvollziehen, insofern als Bildung als wichtige Voraussetzung für weitere Verwirklichungschancen gilt wie auch für die Fähigkeit, im Hier und Jetzt das ‚Gute‘ zu bestimmen und kritisch zu reflektieren (siehe Nussbaums Liste). An der Schnittstelle von Capability Approach und Well-Being von Kindern sind mit Bezug auf die dem Ansatz inhärente dominierende Entwicklungsbezogenheit weitere theoretische Diskussionen zu führen (vgl. ebd.: 748). Wenngleich auch der Capability Approach nicht die Herausforderungen der theoretischen Konzeptualisierung und Operationalisierung von Wohlbefinden vollständig auflöst – sondern im Gegenteil noch weitere Herausforderungen damit verbunden sind22 –, bilden die gerechtigkeitstheoretische Perspektive auf ‚gutes Leben‘ beziehungsweise ‚gute Kindheit‘ und das Verständnis von Child Well-Being als Verwirklichungschancen eine aussichtsreiche analytische Perspektive, ‚gute Kindheit‘ und Wohlbefinden vor dem Hintergrund ungleicher Kindheiten zu konzeptualisieren (weiterführend zum Capability Approach in der Forschung zu und mit Kindern siehe zum Beispiel Biggeri/Ballet/Comim 2011).

22

So ist zudem das Ausmaß an tatsächlichen Entscheidungs- und Handlungsfreiheiten sowie Verwirklichungschancen einer Person in seiner Komplexität nur schwer zu erfassen (vgl. Hart 2009: 399; Bartelheimer 2009: 52; Leßmann 2011: 23). In jedem Fall bietet sich eine Methodentriangulation an. Während quantitative Methoden zur Erfassung tatsächlich erreichter Funktionen sinnvoll sind, werden für die Erfassung von tatsächlichen Freiheiten und Verwirklichungschancen insbesondere qualitative Methoden als erkenntnisreich erachtet.

Das Child Well-Being-Konzept

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3.3 Forschung zu Kindheit und Wohlbefinden Im Folgenden werden Erkenntnisse zum Wohlbefinden von Kindern in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden präsentiert. Dabei wird mit den UNICEF-Studien zunächst ein vergleichender Zugang gewählt.23 Im zweiten Schritt wird die Child Well-Being-Forschung innerhalb der drei Länder aufgezeigt. 3.3.1

Die UNICEF-Studien – Vergleich Deutschland, Frankreich und Niederlande

Die UNICEF, die für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention eintritt, verantwortet auch das Monitoring der Lebensumstände von Kindern im Ländervergleich. Die UNICEF gibt in diesem Zusammenhang regelmäßig einen Bericht zur Lage von Kindern24 in Industrieländern (2007, 2010, 2013) heraus. Ihren jüngsten Bericht beschreiben sie als „the best currently available statistical snapshot of children’s lives across the developed world“ (UNICEF Office of Research 2013: 38). Mit dieser Selbstbeschreibung dokumentieren sie zweierlei: Erstens handelt sich bei dem Bericht demzufolge um die umfassendste Zusammenschau von Daten zur Beschreibung und Gegenüberstellung von kindlichem Lebensbedingungen und Wohlbefinden (Lebensqualität und Lebenszufriedenheit) in fast 30 Industrieländern aus EU und OECD. Zweitens zeigt das Zitat aber auch, dass die Darstellung und Erkenntnislage zu kindlichem Wohlbefinden in internationaler Perspektive durch die gegenwärtig für die Länder verfügbaren (und vergleichbaren) Daten bestimmt und begrenzt werden.25 23

24

25

Neben den UNICEF-Studien gibt es weitere groß angelegte internationale Vergleichsstudien zum Child Well-Being, unter anderem von der OECD (2009) sowie die gesundheitsbezogenen Studien KIDSCREEN von 13 europäischen Projektpartnern und Health Behaviour in school-aged children (HBSC) der Weltgesundheitsorganisation. Zudem widmet sich die OECD (2017) in ihrer jüngsten PISA-Untersuchung neben den Leistungen von SchülerInnen auch deren Wohlbefinden. Gemäß der UN-Kinderrechtskonvention erfassen die Studien all diejenigen als Kinder, die das 18. Lebensjahr noch nicht erreicht haben. Einige (zukunftsgerichtete) Items (zum Beispiel im Bereich Bildung) beziehen auch bis zu 19-jährige in die Datenlage ein. Die den Analysen zugrundeliegenden materiellen, sozialen und leistungsbezogenen Daten stammen aus den Jahren 2009 und 2010 und setzen sich zusammen aus Daten von

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Teil I: Theoretische Verortungen und Forschungsstand

Die Operationalisierung und Messung kindlichen Wohlbefindens stützt sich auf folgende Prämissen: - Die Einigkeit über die multidimensionale Beschaffenheit des Konzepts wirft die Frage danach auf, welche Dimensionen und welche Daten erhoben werden sollen und in vergleichbarer Weise überhaupt erhoben werden können. - Zu erfassen sind sowohl positive als auch negative Messgrößen von Lebensbedingungen (Risiko- und Schutzfaktoren). - Die Lage der Kinder soll so kindzentriert wie möglich erfasst werden. Es werden daher neben objektiven auch subjektive Dimensionen erfasst und miteinander in Zusammenhang gebracht. - Die Nutzung einzelner Messgrößen zur Beschreibung von kindlichen Lebensbedingungen steht angesichts ihrer eingeschränkten Aussagekraft in der Kritik. Auf der anderen Seite erhöhen einzelne Messgrößen die Möglichkeit internationaler Vergleichbarkeit (Martorano et al. 2013: 6–8). Der Bericht zur Lage von Kindern in Industrieländern (2013) unterscheidet die sechs Dimensionen materielles Wohlbefinden, Gesundheit und Sicherheit, Bildung, Verhalten und Risiken/Risikoverhalten, Wohnen und Umwelt, subjektives Wohlbefinden.26 Die subjektiven Einschätzungen der Kinder wurden zunächst getrennt von den objektiven Dimensionen betrachtet und erst im zweiten Schritt in Beziehung zueinander gesetzt.

26

Eurostat, der OECD, PISA, der Weltgesundheitsorganisation sowie der Weltbank Deutsches Komitee für UNICEF e.V. (2013: 2). Folgende Komponenten und Indikatoren (ohne Gewichtung) sind den Dimensionen zugeordnet: Dimension 1: Materielles Wohlbefinden (Monetary deprivation: Relative child poverty rate, Relative child poverty gap; Material deprivation: Child deprivation rate, Low family affluence rate), Dimension 2: Gesundheit und Sicherheit (Health at birth: Infant mortality rate, Low birthweight rate; Preventive health services: Overall immunization rate; Childhood mortality: Child death rate, age 1 to 19); Dimension 3: Bildung (Participation: Participation rate (early childhood education, further education age 15-19), NEET rate (% age 15-19 not in education, employment or training); Achievement: Average PISA scores in reading, maths and science), Dimension 4: Verhalten und Risiken (Health behaviours: Being overweight, Eating breakfast, Eating fruit, Taking exercise; Risk behaviours: Teenage fertility rate, Smoking, Alcohol, Cannabis; Exposure to violence: Fighting, Being bullied), Dimension 5: Wohnen und Umwelt (Housing: Rooms per person, Multiple housing problems; Environmental safety: Homicide rate, Air pollution) (UNICEF Office of Research 2013: 5; Martorano et al. 2013: 9).

Das Child Well-Being-Konzept

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Ausgewählte Ergebnisse des jüngsten Berichts (2013) werden im Folgenden mit Fokus auf die Länder Deutschland, Niederlande und Frankreich dargelegt. Objektive Dimensionen Die folgende Tabelle zeigt die Platzierung der drei Länder im Gesamtranking und in den einzelnen Dimensionen. Land

Rang ges. von 29

Materielles Wohlbefinden

D 06 F 13 NL 01 Tabelle 1: Lebensbedingungen: Rang 2013: 2)

Gesundheit Sicherheit

Bildung

Verhalten Risiken

Wohnen Umwelt

09 12 03 06 13 10 10 15 13 16 01 05 01 01 04 entlang der Well-Being-Dimensionen (UNICEF Office of Research

Die Niederlande schneiden im Gesamtvergleich der 29 Länder am besten ab. Deutschland erreicht mit Platz 6 noch einen Platz im ersten Drittel. Frankreich landet mit Platz 13 im mittleren Drittel. Die Betrachtung der einzelnen Dimensionen zeigt bei den Niederlanden und Frankreich ein recht ausgewogenes Verhältnis der einzelnen Dimensionen: Die Niederlande findet sich jeweils zwischen dem ersten und dem fünften Platz wieder. Frankreich befindet sich durchweg zwischen dem 10. und dem 16. Platz. Bei den Ergebnissen von Deutschland fallen die vergleichsweise großen Unterschiede zwischen den einzelnen Dimensionen ins Auge. Während Deutschland im Bereich Bildung auf Platz 3 landet, erzielt es in den Bereichen Gesundheit/Sicherheit und Wohnen/Umwelt nur Platz 12 beziehungsweise 13. Gemäß den objektiven Daten, die für die Analysen herangezogen wurden, hätten dementsprechend Kinder, die in den Niederlanden aufwachsen, im Ländervergleich betrachtet insgesamt die besten Rahmenbedingungen für und Chancen auf eine ‚gute Kindheit‘, das heißt die Chance auf materielles Wohlbefinden, ein gesundes Leben, Teilhabe an Bildung, geringeres Risikoverhalten und ein angenehmes und sicheres Wohnumfeld. Differenzierungen innerhalb der Länder lassen die Daten nicht zu. Auch geben diese Daten allein zunächst keine Auskunft über das tatsächliche Wohlbefinden von Kindern.

40

Teil I: Theoretische Verortungen und Forschungsstand

Da die Vergleichbarkeit der 29 Länder nur über international vergleichbare Messgrößen gewährleistet werden kann, wird die Rangfolge in den einzelnen Dimensionen anhand weniger Messgrößen bestimmt. Am Beispiel der Dimension Bildung soll im Folgenden das Zustandekommen der Platzierung im Ranking illustriert werden. Die Dimension Bildung setzt sich zusammen aus den Komponenten Bildungsteilhabe und Leistung. Deutschland Rang Bildungsteilhabe Vorschulische Bildung & Betreuung27 Weiterführende Bildung28 Nicht-Teilnahme in Schule, Beruf & Ausbildung29 Leistung PISA-Test30 Lesen Mathematik Naturwissenschaften Bereich Bildung insgesamt (von 29)

Frankreich Rang

Niederlande Rang in % 02 99,6

09

in % 96,2

01

in % 100,0

10

88,5

19

84,0

07

89,7

08

3,8

16

6,9

06

3,6

Ø 06

Ø 15

497,3 512,8 520,4 03

Ø 03

495,6 496,8 498,2 15

508,4 525,8 522,2 01

Tabelle 2: Well-Being-Dimension Bildung (Martorano et al. 2013: 24–26)

Im Bereich Bildung belegen die Niederlande den 1., Deutschland den 3. und Frankreich den 15. Rang. Doch wie ist diese Rangordnung einzuordnen? Betrachtet man die einzelnen Indikatoren differenziert, wird deutlich, dass 27 28 29 30

Zwischen vier Jahren und dem Eintrittsalter in die verpflichtende Schule (Daten von Eurostat, 2010) Teilnahme an weiterführender Bildung (15- bis 19-Jährige) (Daten von Eurostat (2009) und OECD (2011)) Nicht-Teilnahme in Schule, Beruf oder Ausbildung (15- bis 19-Jährige) (Daten von OECD (2011) und Eurostat (2009)) Die Rangplatzierung bezieht sich auf das durchschnittliche Abschneiden (in Punkten) 15jähriger Schülerinnen und Schüler in der OECD PISA-Studie (2009) in den Bereich Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften.

Das Child Well-Being-Konzept

41

die Platzierungen mitunter sehr unterschiedlich ausfallen. So zeigt Frankreichs Bildungssystem zwar die höchste Betreuungsrate im Bereich der vorschulischen Bildung und Betreuung auf, aber eine im Vergleich geringere Teilnahmequote an weiterführender Bildung sowie an Beruf und Ausbildung bei den15- bis 19-Jährigen, und schlechtere PISA-Ergebnisse führen schließlich zu einem Platz im Mittelfeld. Dass hohe Betreuungsraten in der frühen Bildung und Betreuung nicht zwingend mit besseren Leistungen korrelieren, zeigt auch das Beispiel Finnland. Finnland landet mit einer frühkindlichen Betreuungsquote von 73,1 Prozent auf dem letzten, bei den PISA-Ergebnissen jedoch deutlich auf dem ersten Platz (Lesen 535,9; Mathematik 540,5; Naturwissenschaften 554,1) (siehe hierzu UNICEF Office of Research 2013: 21). Die Niederlande und Deutschland sind im Bereich Bildung an der Rang-Spitze platziert. Jedoch zeigen die einzelnen Indikatoren, dass die Platzierung vor allem aufgrund des heterogenen Abschneidens aller Vergleichsländer zustande kommt. Aussagen über gute und auf Chancengleichheit basierende Bildung lassen sich anhand der Platzierungen nicht treffen. Auf die Fairness-Studie der UNICEF (2016a), die hierzu Erkenntnisse liefert, wird im Anschluss noch eingegangen. Subjektive Dimensionen Die einzige Quelle, auf die UNICEF zur Beurteilung des subjektiven Wohlbefindens von Kindern im internationalen Vergleich zurückgreifen kann, sind Daten der Health Behaviour in School-aged Children Survey aus den Jahren 2009/10. Auf Grundlage ausgewählter Daten, die mit 11-, 13- und 15jährigen Kindern und Jugendlichen erhoben wurden, wurde ein Index für subjektives Wohlbefinden mit vier Komponenten (Lebenszufriedenheit, Beziehungen, Bildung und Gesundheitsempfinden) und acht Indikatoren entwickelt. Der Hauptbericht greift nur die Komponenten Lebenszufriedenheit und Beziehungen auf und stellt schließlich die Komponente Lebenszufriedenheit mit der Platzierung in den objektiven Dimensionen gegenüber.31 Die Lebenszufriedenheit wird auf einer Skala von 0 bis 10 abgebildet. 31

In einem ergänzenden Bericht (Bradshaw et al. 2013) werden auch die Komponenten Bildung (Druck durch Hausaufgaben; Kinder, die die Schule sehr mögen) und Gesundheitsempfinden (Gesundheit mittelmäßig oder schlecht; gesundheitliche Beschwerden) dargestellt. Es ist anzunehmen, dass aufgrund der begrenzten Datenlage darauf verzichtet wurde, den Index weiter zu verwenden und stattdessen die als am validesten angenom-

42

Teil I: Theoretische Verortungen und Forschungsstand Deutschland

Frankreich

Niederlande

Rang

in %

Rang

in %

Rang

in %

Lebenszufriedenheit Lebenszufriedenheit (auf Skala von 0-10, mind. 6)

22

84,2

18

85,5

01

94,2

Beziehungen Leichtigkeit mit der Mutter zu reden

16

81,5

28

71,2

01

91,7

16

64,5

28

50,3

01

81,5

Leichtigkeit mit dem Vater zu reden

Die KlassenkameradIn04 77,9 24 56,6 01 nen sind nett und hilfsbereit Tabelle 3: Lebenszufriedenheit und Beziehungen (UNICEF Office of Research 2013: 39–41)

80,4

Während fast 95 Prozent der befragten Kinder in den Niederlanden ein gutes und sehr gutes Wohlbefinden (mind. 6 von 10) angaben, was den Niederlanden wiederum den Spitzenplatz im Ranking bescherte, landen Frankreich und Deutschland im mittleren beziehungsweise unteren Drittel. Die Differenz zwischen den befragten Kindern in Frankreich und Deutschland im Vergleich zu den Niederlanden, die ein gutes und sehr gutes Wohlbefinden angaben, beträgt ca. 10 Prozent. Auch die Beziehung zu Eltern und KlassenkameradInnen spiegeln ein ähnliches Bild wider. Die Niederlande nimmt erneut Platz 1 ein, während Deutschland und Frankreich im mittleren und untersten Drittel landen. In der Gegenüberstellung mit der Platzierung zu den Lebensbedingungen zeigt sich, dass Lebensbedingungen (objektives Dimensionen) und Lebenszufriedenheit (subjektives Wohlbefinden) nicht unbedingt miteinander einhergehen.

mene Komponente Lebenszufriedenheit als einziger Wert für das subjektive Wohlbefinden herangezogen wurde.

Das Child Well-Being-Konzept Land

Lebensbedingungen (objektive Dimensionen)

43 Lebenszufriedenheit (subjektives Wohlbefinden)

D 06 22 F 13 18 NL 01 01 Tabelle 4: Gegenüberstellung von Lebensqualität und Lebenszufriedenheit (UNICEF Office of Research 2013: 40)

Während sich in den Niederlanden die im Vergleich guten Lebensbedingungen mit einer vergleichsweise hohen Lebenszufriedenheit zu decken scheinen, zeigt sich besonders deutlich am Beispiel Deutschland eine sehr große Diskrepanz von vergleichsweise guten Lebensbedingungen und einer deutlich geringeren Lebenszufriedenheit. Diese Diskrepanz ist für andere Länder auch umgekehrt zu beobachten.32 Kindliches Wohlbefinden und soziale Ungleichheit Die Fairness-Studie der UNICEF (2016a) schließt an die zuvor dargelegten Ergebnisse an und zeigt die sozialen Ungleichheiten in den 41 Industrieländern der EU und OECD in ebenfalls vergleichender Perspektive auf.33 Fokussiert wird auf die „bottom-end inequality“ (ebd.: 2), das heißt die Kluft zwischen Kindern „am unteren Ende der Gesellschaft und jenen in der Mitte“ (UNICEF Office of Research 2016b: 1) in den Bereichen Einkommen, Bildung, Gesundheit und Lebenszufriedenheit.34 Untersucht wird, „how far rich countries allow their most disadvantaged children to fall behind the ‘avarage’ child“ (UNICEF Office of Research 2016a: 4; Hervorhebung im Original). Die zugrundeliegenden Daten stammen aus Mikrodaten der EU-Statistikbehörde (EU-SILC 2013), nationalen Einkommensuntersuchungen, Datensätzen von PISA (2006, 2009, 2012) sowie dem Health Behaviour in School-aged Children Survey (HBSC 2013/2014).

32 33 34

Zum Beispiel Spanien: Lebensbedingungen Platz 19, Lebenszufriedenheit Platz 3; Griechenland: Lebensbedingungen Platz 25, Lebenszufriedenheit Platz 5 Siehe weiterführend auch die UNICEF-Studie Building the future: Children and the sustainable development goals in rich countries (UNICEF Office of Research (2017)). Nicht für alle Bereiche liegen Daten zu allen beteiligten Ländern vor.

44

Teil I: Theoretische Verortungen und Forschungsstand

Einkommen (von 41) Einkommenskluft35 Armutsrate bei Kindern (50 % des Medianwerts) (in %)

Deutschland

Frankreich

Niederlande

Rang 12

Rang 13

Rang 8

Bildung (von 37) Leistungskluft36 In PISA-Test unter Level 2 in allen drei Bereichen (in %)

28

Gesundheit (von 35) Kluft bei der Gesundheit37 Eine oder mehr gesundheitliche Probleme täglich

2

Lebenszufriedenheit (von 35) Kluft bei Lebenszufriedenheit38 Lebenszufriedenheit 4 von 10 oder geringer

29

Rang ges. (von 35)

14

43,11 7,2

43,95 9

35 -0,56 8,8

24,76 19,6

29,58 8,4

30 -1,36 12,7

23

28

28

40,64 5,7

29,18 30,7

29,56 8,5

-0,70 8,6

8

1

26,74 19,9

24,03 4,4

6

Tabelle 5: Durchschnittlicher Rang entlang der Ungleichheitsdimensionen (UNICEF Office of Research 2016a: 4–12)

35

36

37

38

Einkommenskluft bedeutet, dass zum Beispiel in Deutschland das Haushaltseinkommen der 10 Prozent der ärmsten Kinder um 43,11 Prozent niedriger ist, als das ihrer Altersgenossen in der Mitte (UNICEF Office of Research 2016b: 7). Die Leistungskluft „zeigt im Vergleich zwischen den Ländern wie stark die schwächsten Schüler zurückbleiben. Positive Werte über 0,5 repräsentieren einen Wert über dem Durchschnitt; Werte unter -0,5 liegen unter dem Durchschnitt“ (UNICEF Office of Research 2016b: 8). Kluft bei der Gesundheit bedeutet, dass zum Beispiel in Frankreich das gesundheitliche Wohlbefinden der Kinder am unteren Ende der Verteilung um 29,18 Prozent niedriger liegt als bei den Kindern in der Mitte (UNICEF Office of Research 2016b: 9). Die Kluft bei der Lebenszufriedenheit zeigt, „wie weit die Kinder mit der schlechtesten Lebenszufriedenheit in ihrer Selbsteinschätzung hinter der ihrer Altersgenossen in der Mitte zurückbleiben. In den Niederlanden ist der Wert der persönlichen Lebenszufriedenheit am unteren Ende der Verteilung beispielsweise um 24 Prozent niedriger als in der Mitte.“ (UNICEF Office of Research 2016b: 10).

Das Child Well-Being-Konzept

45

Die Platzierung richtet sich nach der Kluft zwischen den unteren zehn Prozent und dem Durchschnittswert in den Bereichen (Familien-)Einkommen, schulischen Leistungen, Gesundheitsempfinden und Lebenszufriedenheit. Bei der Gesamtplatzierung landen die Niederlande im oberen, Deutschland im mittleren, Frankreich im unteren Drittel. Besonderes Augenmerk ist auf die relationale Position in den Bereichen Bildung und Lebenszufriedenheit zu richten. Der Bericht zur Lage von Kindern in Industrieländern (UNICEF Office of Research 2013) ordnete den Niederlanden und Deutschland einen Spitzenplatz in der Bildung zu, Frankreich nur einen mittleren Platz. Jedoch besteht in allen drei Ländern – gemessen an den PISA-Daten – eine im internationalen Vergleich hohe Bildungskluft. In puncto Lebenszufriedenheit können die Niederlande ihren Spitzenplatz verteidigen. Deutschland und Frankreich erreichen im Bereich Lebenszufriedenheit nur einen mittleren Platz. Zudem zeigt sich eine hohe Kluft bei der Lebenszufriedenheit, was ihnen einen Platz im unteren Drittel einbringt. Mit Hilfe der UNICEF-Studien konnte anhand der gegenwärtig verfügbaren und vergleichbaren Daten die Erkenntnislage zu Child Well-Being für Deutschland, Frankreich und die Niederlande in vergleichender Perspektive aufgezeigt werden. Dabei wurde – exemplarisch auch für andere internationale Vergleichsstudien – deutlich, wie die UNICEF Child Well-Being operationalisiert und welchen Herausforderungen sie bei der Bestimmung der Indikatoren begegnet (zur kritischen Einordnung siehe Kapitel 3.3). 3.3.2

Child Well-Being-Forschung in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden

In nationalen Sozialberichterstattungen und Studien können die Lebensbedingungen von Kindern weit differenzierter dargestellt werden als es die international vergleichenden UNICEF-Studien vermögen (für D weiterführend Bertram 2013). Dennoch soll der Überblick, den die UNICEF-Studien in Hinblick auf die Lebensbedingungen (materielles Wohlbefinden, Gesundheit und Sicherheit, Bildung, Verhalten und Risiken, Wohnen und Umwelt) bieten, an dieser Stelle genügen. Im Folgenden soll ein kurzer Überblick über die Child Well-Being Forschung in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden gegeben werden, wobei aufgrund des Forschungsin-

46

Teil I: Theoretische Verortungen und Forschungsstand

teresses vor allem solche Studien fokussiert werden, die die Perspektiven von Kindern erfassen. Die Child Well-Being-Forschung hat sich in Deutschland fest etabliert. Das Child Well-Being-Konzept ist Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Projekte und Studien und wurde auch im 14. Kinder- und Jugendbericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2013) als konzeptioneller Zugang gewählt. Mit Sabine Andresen, Doris Bühler-Niederberger, Christine Hunner-Kreisel und Susann Fegter sind beispielhaft Wissenschaftlerinnen aus Deutschland benannt, die in internationale Forschungsnetzwerke (u. a. Children’s Worlds – International Survey of Children’s Well-Being (ISCWeB39), Children’s Understandings of Well-being – global and local Contexts (CUWB40)) eingebunden sind und die am internationalen (erziehungs- und sozialwissenschaftlichen) Diskurs zu Child Well-Being und ‚guter Kindheit‘ maßgeblich mitwirken. Auf nationaler Ebene werden Lebensqualität und Wohlbefinden von Kindern in mehreren großangelegten Surveys regelmäßig erfasst (u. a. World Vision Kinderstudien (2018), Aufwachsen in Deutschland/DJI Kinderpanel (2012), LBS-Kinderbarometer (2016)).41 Zudem nehmen qualitative und quantitative Studien bestimmte Teilaspekte von Wohlbefinden in den Blick, wie z. B. Wohlbefinden im Kontext von Schule (u.a. Nicklaussen 2012; Schubarth/Speck 2008), Familie (u.a. Gerarts 2015; Beisenkamp/Hallmann/Klöckner 2004), Peer (u.a. Krüger et al. 2008), Migration und Flucht (u.a. Gerarts et al. 2016; Kämpfe/ Westphal 2018), (psychische) Gesundheit (u. a. BELLA-Studie (RavensSieberer/Klasen/Petermann 2016), Elefanten-Kindergesundheitsstudie (PROSOZ Institut für Sozialforschung - PROKIDS 2012)), Räume ‚guter Kindheit‘ (u.a. Fegter 2014; Richter 2014) und Armutserfahrungen beziehungsweise ungleiche Kindheiten (u.a. Chassé/Zander/Rasch 2010; Andresen/Fegter 2011; Kreher/Marr/Keller 2010). Auch in Frankreich ist das Child Well-Being-Konzept Gegenstand wissenschaftlicher Forschung und Sozialberichterstattung. Die UNICEF Frankreich hat in Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Partnern einen nationalen Bericht (2015) zu drängenden Themen wie Armut, Bildung und 39 40 41

http://www.isciweb.org/ (Zugriff am 19.04.2017) http://www.cuwb.org/ (Zugriff am 19.04.2017) Kindheit in Deutschland wurde erstmals repräsentativ von Zinnecker und Silbereisen (1998) in einer Studie mit bundesweit 700 Kindern im Alter von zehn bis 13 Jahren untersucht.

Das Child Well-Being-Konzept

47

sozialer Ungleichheit, Kindeswohl, Diskriminierung, Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge vorgelegt. Die Ergebnisse der nationalen und internationalen UNICEF-Studien werden von der Nationalen Beobachtungsstelle für Kinderschutz (Observatoire national de la protection de l’enfance, ONPE) rezipiert. Von der Regierung wurde unter Beteiligung mehrerer Ministerien jüngst der gesundheitsbezogene Aktionsplan „Wohlbefinden und Gesundheit der Jugend“ (2016) veröffentlicht. Unter Vertretung von Philippe Guimard und Agnès Florin wirkt Frankreich am internationalen Forschungsnetzwerk Children’s Worlds mit. Die französischsprachige Zeitschrift Enfance (Kindheit) beleuchtet in ihrem jüngsten Themenheft „Die Lebensqualität der Kinder“ (2017) das Wohlbefinden von SchülerInnen aus unterschiedlichen Perspektiven. In der wissenschaftlichen Forschung zeigt sich als Themenschwerpunkt das schulische Wohlbefinden (u.a. Guimard et al. 2016; Guimard et al. 2015; Fenouillet et al. 2014; Bavoux/Pugin 2013; Pereira/ Blicharski/Compagnone 2003). Daneben finden sich vereinzelt Untersuchungen, welche einen umfassenderen Blick auf zentrale Dimensionen von Wohlbefinden aus Kindersicht einnehmen (u.a. Coudronnière et al. 2015). Für die Niederlande ist zunächst einmal auffällig, dass sie in den international vergleichenden Child Well-Being-Studien am besten abschneiden. In den Niederlanden selbst, so scheint es, wird an die UNICEF-Studien jedoch kaum angeschlossen, während hingegen international das gute Abschneiden der Niederlande stark rezipiert wird.42 Stärkere Aufmerksamkeit erfährt dagegen die niederländische Teilstudie der HBSC-Studie43 (Vollebergh et al. 2014), auf deren Ergebnisse sich auch das Niederländische Jugendinstitut bezieht. Es scheint, dass international stärker an den gesundheitsbezogenen (psychologisch-medizinischen) Child Well-Being-Netzwerken partizipiert wird als an den oben genannten erziehungs- und sozialwissenschaftlich orientierten Netzwerken. Insgesamt finden sich nur wenige Studien, die an den 42

43

“Why are Dutch children the world’s happiest?” (Voce 2017, online unter: http://www.childinthecity.org/2017/01/12/why-are-dutch-children-the-worldshappiest/ Zugriff am 29.04.2017) Die “Health Behaviour in School-aged Children”-Studie, kurz HBSC-Studie, ist ein internationales Forschungsprojekt unter der Schirmherrschaft der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Gegenstand der Studie sind Daten zu Gesundheit und Gesundheitsverhalten von 11- bis 15-jährigen SchülerInnen, die im Vierjahres-Turnus in mittlerweile über 40 Ländern erhoben werden. Themenschwerpunkte sind unter anderen: Subjektive Gesundheit, Ernährung, körperliche Aktivitäten, soziale Ressourcen, Peergruppe und Freizeitverhalten, Schule.

48

Teil I: Theoretische Verortungen und Forschungsstand

Begriff des Child Well-Being (welzijn/welbevinden van kinderen, jeugdwelzijn, jongerenwelzijn) anschließen, wenngleich – wie zahlreiche Internetseiten offenbaren – das Konzept in der pädagogischen Praxis von großer Bedeutung und Namensgeber unterschiedlicher Initiativen und Stiftungen ist (z. B. Stiftung WelZijnKinderen; Initiative Welbevinden op School). Auf nationaler Ebene wird die Lebensqualität von Kindern unter anderem im Jeugdmonitor (CBS 2016a), dem nationalen Kinder- und Jugendmonitoring, erfasst und dem Kinderrechtenmonitor (De Kinderombudsman 2016), welche die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention prüfen. Einzelne Teilaspekte von Wohlbefinden werden in folgenden Studien in den Blick genommen: Wohlbefinden und Zufriedenheit im Kontext von Schule (u.a. Verkuyten/Thijs 2002), (psychische) Gesundheit (u.a. Dirks et al. 2008), Räume ‚guter Kindheit‘ (u.a. Caro et al. 2016), Armutserfahrungen (u.a. Roest/Lokhorst/Vrooman 2010; van der Hoek 2005). Nachfolgend werden ausgewählte Erkenntnisse zum subjektiven Wohlbefinden dargelegt. Die Studien bestätigen und ergänzen sich gegenseitig in Bezug auf Zusammenhänge von subjektivem Wohlbefinden und sozialen Determinanten wie Alter, Geschlecht, Soziale Herkunft, Migrationskontext oder familiäre Situation, die sich länderübergreifend auf ähnliche Weise darstellen. In der 3. World Vision Kinderstudie (Andresen/Hurrelmann 2013) wurden 2.535 Kinder in Deutschland im Alter von sechs bis 11 Jahren zu ihrem Wohlbefinden und Gerechtigkeitsempfinden befragt44 sowie 12 Tiefeninterviews mit Kindern zu ihren Lebenswelten geführt.45 Insgesamt ist anhand der Selbstauskünfte eine hohe generelle Zufriedenheit zu konstatieren. Das Item „Wie zufrieden ich insgesamt mit meinem Leben bin“ beantworten 91 Prozent der Kinder mit positiv oder sehr positiv (ebd.: 51). Jedoch zeigt sich eine Korrelation mit der sozialen Herkunftsschicht: Während 95 Prozent der Oberschicht ihre Lebenszufriedenheit als (sehr) positiv bewerten, trifft dies auf nur 72 Prozent der Unterschicht zu. Differenziert 44 45

Die Befragung erfolgte mittels eines Fragebogens mit 60 Fragen mit Hilfe von InterviewerInnen. Gegenstand der repräsentativen Studie sind die Themen Familie, Schule, Freunde und Freizeit sowie als Schwerpunktthema Gerechtigkeit. Das Konzept des Wohlbefindens wird in der World Vision Kinderstudie abgebildet über die Dimensionen Fürsorge durch die Elternteile/Eltern, Freiheiten im Alltag, Anerkennung und Mitbestimmung, generelle Zufriedenheit mit den (Bildungs-)Institutionen, Freizeit, Freundschaften, subjektives Wohlbefinden (generelle Lebenszufriedenheit) (Andresen/Hurrelmann 2013: 32).

Das Child Well-Being-Konzept

49

nach Teilbereichen zeigt sich das höchste Wohlbefinden (positiv oder sehr positiv) im Freundeskreis und in der Familie (94 Prozent bzw. 91 Prozent), das geringste Wohlbefinden im schulischen Bereich (79 Prozent). Zudem zeigt sich, dass die Beurteilung von Gerechtigkeit mit Erleben eigener Benachteiligung, etwa aufgrund von Alter, Geschlecht, Aussehen, sozialem Hintergrund oder Migrationshintergrund, korreliert (ebd.: 75–78).46 Zu ähnlichen Ergebnissen in Bezug auf allgemeines Wohlbefinden und die einzelnen Teilbereiche kommt auch das LBS-Kinderbarometer (2016)47. Befragt wurden insgesamt 10.657 Kinder in Deutschland im Alter von neun bis 14 Jahren zu mehr als 100 Aspekten aus ihrem Leben. Anders als in der World Vision Kinderstudie wird im LBS-Kinderbarometer nicht nach sozialer Herkunft, sondern nach besuchter Schulklasse/Alter differenziert. Dabei zeigt sich, dass mit zunehmendem Alter das allgemeine Wohlbefinden sinkt (ebd.: 43).48 Höhere Ausprägungen im allgemeinen Wohlbefinden zeigen sich bei Kindern mit hoher Selbstwirksamkeitserwartung49, einem größeren Interesse an neuen Dingen und einer höheren Zufriedenheit mit sich selbst (ebd.: 65). Einen Zusammenhang von Persönlichkeit und Wohlbefinden stellt auch das Kinderpanel des Deutschen Jugendinstituts (Alt/Lange 2014) heraus. So zeigt sich: „Extravertierte Kinder sind in einem überdurchschnittlichen Ausmaß gerne mit anderen zusammen, finden schnell Freunde und mögen es, wenn um sie herum viel passiert. Je extravertierter, desto glücklicher sind die Jungen und Mädchen. Introvertierte Kinder hingegen wollen tendenziell lieber alleine sein – was tendenziell mit weniger Kindheitsglück einhergeht“ (Alt/Lange 2014: 354).

Persönlichkeit wird im Zusammenspiel mit Struktur gedacht: Die spezifische Konstellation wirkt sich auf soziale Netzwerke, Schulerfolg, Freizeitge46

47

48 49

Korrelationen zeigen sich zudem bei Zugehörigkeit zur Unterschicht, der Arbeitslosigkeit eines oder beider Elternteile, einem Migrationshintergrund, dem Aufwachsen in einer 3und Mehr-Kind-Familie oder bei nur einem Elternteil. Das LBS-Kinderbarometer wurde seit 1997 in Nordrhein-Westfalen durchgeführt. Seit 2007 wird die vom PROSOZ Institut für Sozialforschung – PROKIDS durchgeführte Studie im 2-Jahresrhythmus repräsentativ im gesamten Bundesgebiet durchgeführt. Zum Verhältnis von subjektivem Wohlbefinden und Alter siehe auch die Studie von Coudronnière et al. (2015). Der Selbstwirksamkeit widmet sich auch die zweite World Vision Kinderstudie und kommt zu vergleichbaren Befunden (Hurrelmann/Andresen/Schneekloth 2011: 328).

50

Teil I: Theoretische Verortungen und Forschungsstand

staltung, innerfamiliäre Aktivitäten etc. aus. Dabei verweist das DJIKinderpanel als bedeutsamem strukturellen Aspekt, der die Lebensqualität maßgeblich beeinflusst, auf die soziale und wirtschaftliche Lage der Regionen (Alt/Lange 2014: 355). Regionale Wirkfaktoren, die sich in Deutschland insbesondere zwischen Ost- und Westdeutschland in einem Stadt-Land-Gefälle sowie zwischen strukturschwachen und wirtschaftlich florierenden Gegenden zeigen, werden auch vom 14. Kinder- und Jugendbericht (2013) bestätigt (vgl. 11. Kinder- und Jugendbericht 2002: 249). Besonders eindrücklich zeigen sich die regionalen Disparitäten beispielhaft im 2. Kinder- und Jugendbericht des Bundeslandes Rheinland-Pfalz (Ministerium für Integration, Familie, Kinder, Jugend und Frauen 2015: 207–242), worin die einzelnen Regionen (kreisfreie Städte und Landkreise) anhand eines Index für Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen (Lebensbedingungen, Wohlfahrt, Handlungsräume) bewertet werden. An der jüngsten niederländischen HBSC-Teilstudie (Vollebergh et al. 2014) nahmen insgesamt 1.597 SchülerInnen aus der Grundschule (GS) und 5.571 SchülerInnen aus weiterführenden Schulen (WS) teil. Da die UNICEF-Studien Daten der HBSC-Studie nutzen, ist es nicht verwunderlich, dass sich die generelle hohe Zufriedenheit der SchülerInnen bestätigt. Analog zu den Erkenntnissen der deutschen Studien zeigt sich ein Zusammenhang zwischen Wohlbefinden (Lebenszufriedenheit) und unterschiedlichen sozialen Merkmalen (ebd.: 80–92): GrundschülerInnen (GSuS) bewerten ihre Lebenszufriedenheit mit durchschnittlich 8,2 von 10 Punkten, SchülerInnen der weiterführenden Schulen (WSuS) mit 7,6. Die große Mehrheit gibt an, eine gute Gesundheit zu haben (89 Prozent GSuS), jedoch berichten nur 87,3 Prozent Mädchen aber 91,1 Prozent der Jungen von einer guten körperlichen und geistigen Gesundheit. Mit zunehmendem Alter ist diese Diskrepanz noch stärker ausgeprägt. Zudem bestätigt sich auch in dieser Studie eine Korrelation zwischen Gesundheit beziehungsweise Lebenszufriedenheit und sozialer Herkunftsschicht: Nur 84,8 Prozent der GrundschülerInnen aus ärmeren Familien aber 89,9 Prozent der GrundschülerInnen aus mittleren und höheren sozialen Schichten bewerten ihre Gesundheit als gut. Ihre Lebenszufriedenheit bewerten Erstere mit durchschnittlich 7,8 von 10 Punkten, gegenüber 8,2 Punkten bei GrundschülerInnen aus mittleren und höheren sozialen Herkunftsschichten. Darüber hinaus geben Kinder, die mit beiden Elternteilen aufwachsen häufiger eine gute

Das Child Well-Being-Konzept

51

Gesundheit (89,9 Prozent) und ein höhere Lebenszufriedenheit (8,3) an als Kinder von alleinerziehenden Eltern (86,9 Prozent; 7,7). Für den Kontext Migration zeigt sich, dass 90,4 Prozent der autochthonen aber nur 83,7 Prozent der allochthonen GrundschülerInnen eine gute Gesundheit angeben. In Bezug auf die Lebenszufriedenheit werden keine Unterschiede konstatiert.50 Einen expliziten Fokus auf Migration und Flucht weist die qualitative Studie „Angekommen in Deutschland – wenn geflüchtete Kinder erzählen“ (Gerarts et al. 2016: 747) auf, die mit Hilfe einer Methodentriangulation51 folgende Dimensionen für subjektives Wohlbefinden für geflüchtete Kinder herausarbeitete: Erinnerungen und Verluste, Familie und Freunde (Beziehungen und Begegnungen), Bildung und Sprache, Sicherheit und Schutz, gesundheitliche, soziale und materielle Versorgung, Privatsphäre und Selbstbestimmung. Diese Dimensionen ordnen die Autorinnen den allgemeinen Dimensionen von Child Well-Being zu (Bildung, Gesundheit, Familie, Sicherheit).52 3.4 Kritische Perspektiven und Implikationen für das Konzept Child Well-Being Die dem Konzept des Child Well-Being inhärente Normativität stellt die heterogenen wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen AkteurInnen vor große Herausforderungen. Konzeptualisierungen und empirische Zugänge unterliegen vielfach dem Vorwurf eines westlichen, mittelschichtsorientierten und adultistischen Bias. Erkenntnisse zu Wohlbefinden von Kindern innerhalb eines Landes oder im Länderranking sind erstens häufig Vorstellungen von ‚guter Kindheit‘ unterlegt, die kulturelle Diversität ausblenden und westliche, mittelschichtsorientierte Standards implizieren. Kulturell divergierende Vorstellungen von (‚guter‘) Kindheit und unterschiedli50 51

52

Zu Wohlbefinden in Familie, Peer, Schule etc. siehe weiterführend Vollebergh et al. (2014). An der Untersuchung nahmen neun Kinder mit unterschiedlichem Fluchthintergrund teil. Eingesetzt wurden als erzählgenerierende Methoden die Netzwerk-Methode, die Life-Line-Methode und die Memory-Methode (ebd. 748f.) Hierzu ergänzend ist der Themenschwerpunkt Flucht und Migration der 4. World Vision Kinderstudie (2018) interessant, bei dem Kinder zu ihren Erfahrungen im Umgang mit geflüchteten Kindern befragt werden.

52

Teil I: Theoretische Verortungen und Forschungsstand

che Bewertungen von Wohlbefinden finden noch nicht genügend Berücksichtigung (vgl. Weisner 2014, weiterführend Kap. 4.1) Zudem konstatiert Bühler-Niederberger (2011: 294), dass Rangplatzierungen in international vergleichenden Child Well-Being-Studien „im Wesentlichen das jeweilige Ausmaß wieder[geben], in dem ein Land behütete, lange und geförderte Kindheiten garantiert, Kindheiten eben, die stärker mittelschichtstypisch sind“. Zweitens findet zwar die Perspektive der Kinder mehr und mehr Berücksichtigung bei der Erfassung subjektiven Wohlbefindens, jedoch bleiben die zugrunde gelegten Konzeptualisierungen, die (von ErwachsenenBefragungen adaptierten) Items, Fragestellungen, Erhebungsverfahren und die aus den Daten gezogenen Schlüsse in der Regel in der Hand von Erwachsenen (Andresen/Ben-Arieh 2016: 17; Fattore/Mason/Watson 2012: 425; Fegter/Richter 2014: 741). Dieses adultistische Vorgehen wirft ähnliche Fragen der Validität (sowie des Paternalismus) auf wie die (adaptierte) Anwendung westlicher Konzepte in nicht-westlichen Kontexten (vgl. Punch 2016). Vor dem Hintergrund, dass Wohlbefinden sozial und historisch bedingt ist, ist es mehr als wahrscheinlich anzunehmen, dass sich Vorstellungen von Wohlbefinden von Kindern und Erwachsenen unterscheiden. Dieser Umstand mag umso mehr gelten, wenn sich neben der Zugehörigkeit zu einer bestimmten generationalen Gruppe weitere Differenzlinien wie etwa ethno-kulturelle Zugehörigkeit oder soziale Herkunft zwischen den erwachsenen Forschenden und dem Forschungssubjekt Kind unterscheiden. Damit wird nicht zuletzt auch die Vielfalt und Bedingtheit, die sich in den heterogenen Erfahrungen und Ansichten von Kindern abbildet, überblendet (vgl. Fattore/Mason/Watson 2012: 429). Daran anschließend kann drittens festgestellt werden, dass Kinder in den Konzeptualisierungen als auch empirischen Zugängen vielfach als homogene Gruppe abgebildet werden (vgl. Betz 2010: 18). Auf konzeptueller Ebene wird in Anschluss an die Childhood Studies auf die generationale Gruppe der Kinder abgehoben. Vor dem Hintergrund, dass „children allegedly have more in common than they do not“ (ebd.), wird in Abgrenzung zu anderen generationalen Gruppen auf das Konstitutive der Gruppe rekurriert. Auf empirischer Ebene sind Homogenisierungstendenzen besonders in international vergleichenden Studien auszumachen, in denen die Länderebene die primäre Vergleichsdimension darstellt. Differenzierungen nach sozialer Herkunft oder Ethnizität bilden (auch in nationalen Studien) nach wie vor

Das Child Well-Being-Konzept

53

die Ausnahme. Das Geschlecht tritt als analytische Differenzlinie am häufigsten in Erscheinung. Die Alterskategorie ist insofern kritisch in den Blick zu nehmen, als beispielsweise subjektives Wohlbefinden häufig von Teenagern, nicht aber von jüngeren Kindern, erfasst wird, wobei letztere bei Aussagen zu den Ergebnissen dennoch mitgedacht werden. Schließlich ist kritisch zu hinterfragen, auf welcher Datengrundlage Aussagen über Kinder und Child Well-Being getroffen werden. Ausgehend von den in Kapitel 3.1 skizzierten Entwicklungsprozessen des Child Indicators Movement53 dekonstruiert Betz (2013) mittels eines diskursanalytischen Ansatzes drei der einflussreichsten Berichte zum Child Well-Being (UNICEF-Bericht 2007, OECD-Bericht 2009, KIDS COUNT Bericht 2011) in Hinblick auf Konzeptualisierung und Darstellung von Kindern, Kindheiten und Child Well-Being und stellt fest: „Analysis consistently shows that the dominant representations are of children as future members of society, as becomings, partly as problems, and as vulnerable. In addition, children often are represented by (the problematic) teens […] and only occasionally by infants or toddlers“ (Betz 2013: 653).

Eine Diskrepanz zwischen den Berichten zugrundeliegenden Konzeptualisierungen und den Darstellungen anhand der generierten Daten sieht sie darin begründet, dass die Anlage der groß angelegten Vergleichsstudien nicht allein konzeptionell gesteuert ist (concept driven), sondern auch durch die Verfügbarkeit valider und vergleichbarer Daten (data driven) sowie politischer Interessen (policy driven). Diese Verwobenheit gilt es stärker in den Blick zu nehmen. Ein vertiefender empirischer Zugang zu Child Well-Being ist nur über die Verbindung (vergleichender) quantitativ-standardisierter sowie qualitativer Verfahren herzustellen (vgl. Ben-Arieh et al. 2014b: 16; Andresen/Betz 2014: 499). Dabei sind neben sozial-strukturellen Faktoren zu Lebensbedingungen und Lebensqualität unterschiedliche Akteursgruppen zu berücksichtigen. Eine zentrale Akteursgruppe sind die Kinder selbst und ihre Vorstellungen von einem ‚guten Leben‘, ihre Sicht auf ihr eigenes Leben sowie ihr subjektives Wohlbefinden.54 53 54

From Survival to Well-Being, From Negative to Positive, From Well-Becoming to Well-Being, From Traditional to New Domains, From an Adult to a Child Perspective. Weitere relevante AkteurInnen sind beispielsweise Eltern, pädagogische Fach- und Lehrkräfte sowie ihre Sichtweisen und Einschätzungen zu einer ‚guten Kindheit‘ und kindli-

54

Teil I: Theoretische Verortungen und Forschungsstand

Zudem verweisen die Fallstricke der Normativität in der konzeptuellen und empirischen Erschließung von Child Well-Being auf die Notwendigkeit einer Perspektive, die sensibel bezüglich der historischen und kulturellen Bedingtheit sowie der Kontextabhängigkeit von Child Well-Being ist und dabei reflexiv bezüglich der eigenen Standortgebundenheit und Perspektivität vorgeht (Fattore/Mason/Watson 2012: 427; Eßer 2014b: 515). Ein exploratives Vorgehen wird hierfür als besonders aussichtsreich angesehen: „For the most part, there is limited empirical evidence on the outcomes, positive and negative, of most cultural practices. Understanding the consequences to child well-being in particular cultural and contextual settings is a matter for empirical study rather than for judgments measured against a presumed universal standard.“ (Ben-Arieh et al. 2014b: 12).

Kontextualisierungen sind dabei sowohl für unterschiedliche als auch innerhalb kultureller Kontexte vorzunehmen. Kontextualisierung bedeutet aber auch, Bedingungen und Erleben von Kindheit in unterschiedlichen Kontexten, beispielsweise in Settings der privaten und der öffentlichen Sphäre (gegebenenfalls auch in ihrer Widersprüchlichkeit) zu erfassen. Der Ansatz, der mir hier geeignet erscheint und an den ich mich erkenntnistheoretisch und methodologisch im Besonderen anlehnen möchte, ist der Ansatz, den auch das australische ForscherInnenteam Tobia Fattore, Jan Mason und Elizabeth Watson verfolgt haben und der im Folgenden vorgestellt werden soll. 3.5 Perspektiven von Kindern auf Wohlbefinden – erkenntnistheoretischer und methodologischer Zugang Die Besonderheit des Ansatzes von Fattore, Mason und Watson (2009; 2012, 2017) liegt in der Art und Weise, wie die Prämissen der Childhood Studies im Forschungsdesign Berücksichtigung finden. Zwar fühlt sich die Child Well-Being-Forschung generell der Childhood Studies verpflichtet, chen Lebensbedingungen. Nicht zuletzt sind nicht-menschliche Entitäten zum Gegenstand einer diskursanalytischen Child Well-Being-Forschung zu machen, etwa durch Dekonstruktion von Kinderbildern in Regierungsdokumenten sowie politischen Diskursen und politisch-wissenschaftlichen Verstrickungen, z.B. Bischoff/Betz (2011); Betz (2013).

Das Child Well-Being-Konzept

55

doch unterscheidet sich der Ansatz der AutorInnen in dem Ausmaß, in dem er der Anerkennung von Kindern als „authorities on their own lives“ (Fattore/Mason/Watson 2012: 428) auf allen Ebenen des Forschungsprozesses Ausdruck verleiht.55 Zur Grundlage ihres Forschungsansatzes nehmen sie ein Verständnis von Akteurschaft, das Kinder als kompetente AkteurInnen und damit auch als kompetent in der Deutung ihrer eigenen Lebenswelt fasst. Dem relationalen Verständnis von kindlicher Akteurschaft folgend legen sie ihr Augenmerk zudem auf strukturelle Ungleichheitsverhältnisse im Gesamtverlauf des Forschungsprozesses, die insbesondere durch die generationale Ordnung bestimmt sind.56 Die erkenntnistheoretische Position ist durch die Childhood Studies wie folgt bestimmt: - Erwerb von Wissen, das emisch und marginalisiert ist; Kinder nehmen als Wissende eine zentrale Position ein - Bedeutsamkeit kultureller, sozialer und generationaler Kontexte - Intersubjektive Beschaffenheit von Wirklichkeit Methodologisch werden folgende Schlussfolgerungen gezogen: - Der Standpunkt des Kindes bietet Zugang zu kindlichen Interpretationen. - Der Standortgebundenheit und Perspektivität der Forschenden ist mit Reflexivität zu begegnen. - Die Erhebungsmethoden sind minimal zu strukturieren, „to allow for children to convey their own constructions through dialogue with the researcher“ (Fattore/Mason/Watson 2012: 427). Ausgangspunkt ihres Forschungsprojektes war das sozialpolitische Anliegen der New South Wales Commission for Children and Young People (CCYP), das kindliche Verständnis von Wohlbefinden zu untersuchen, um auf Grundlage dieses (ko-konstruktiven) Wissens Erkenntnisse für die Messung kindlichen Wohlbefinden ableiten zu können (Fattore/Mason/Watson 55

56

Die Forderung, Kinder zu beteiligen und als (Ko-)Konstrukteure von Wissen anzuerkennen, stellen die AutorInnen auch an Politikentwicklung in Bezug auf Themen, die Kinder direkt betreffen (Fattore/Mason/Watson 2012: 428). Einen ähnlichen partizipativ angelegten Ansatz wählen auch Mario Biggeri; Jérôme Ballet und Flavio Comim (2010) unter Anwendung des Capability Approach in einer Studie zu (ehemaligen) Straßenkindern in Uganda.

56

Teil I: Theoretische Verortungen und Forschungsstand

2012: 429). Insgesamt nahmen 126 Kinder zwischen acht und 15 Jahren an der Erhebung teil. Die Studie folgt damit dem Ziel zu untersuchen, welches Verständnis Kinder vom Konzept des Wohlbefindens haben, was aus ihrer Sicht Wohlbefinden hervorbringt und inwieweit sich aus diesem Verständnis heraus unterschiedliche Dimensionen und Bereiche des Wohlbefindens identifizieren lassen, von denen wiederum politische Implikationen abgeleitet werden können. Ein weiteres Ziel bezieht sich auf den methodologischen Ertrag für die Kindheitsforschung, durch Reflexion des eigenen Vorgehens zur Weiterentwicklung kindzentrierter Forschungsmethoden beizutragen (ebd.: 429). Die Studie basierte auf einem dreistufigen Erhebungsverfahren: - Stufe 1: (Gruppen-)Interviews mit Fragen zur Konstitution von Wohlbefinden und Bezügen zu den Lebenswelten der Teilnehmenden - Stufe 2: Dialogisches Gespräch, in denen Teilnehmende und Forschende gemeinsam zentrale Themen der vorherigen Interviews identifizieren. Diesem Schritt weisen Fattore, Mason und Watson als besonders erkenntnisreich aus, um Einblick darin zu gewinnen, was den Kindern in Bezug auf kindliches Wohlbefinden besonders wichtig ist und um die eigenen Interpretationen rückversichern zu können. - Stufe 3: Sachbezogenes Projekt, in dem die Teilnehmenden ausgewählte Themen auf eine bestimmte Weise (zum Beispiel Photographie, Collagen, Zeichnungen) erforschen; Austausch zwischen Kindern und Forschenden über die Bedeutung ihrer Kreationen, um die Interpretationen der Kinder herauszustellen (Fattore/Mason/ Watson 2017: 21–23). Die Kinder wurden bereits früh in den Forschungsprozess involviert und ihnen wurde größtmögliche Steuerung der Prozesse überlassen. Die Methoden, mit denen die Kinder ausgewählte Themen bearbeiten möchten, konnten sie selbst wählen. Besonderer Wert wurde zudem auf unterschiedliche partizipative Zugangsweisen, die Minimierung möglicher sprachlicher Barrieren sowie den Dialog zwischen den Kindern und den Erwachsenen gelegt.57 57

Zum Beispiel wurden die Kinder gefragt: „What sorts of questions would you ask if you were doing this project?“ (Fattore/Mason/Watson 2009: 60).

Das Child Well-Being-Konzept

57

Die Ergebnisse zeigen auf der inhaltlichen Ebene, dass Kinder Wohlbefinden als komplex und facettenreich begreifen. Auf Grundlage der Ergebnisse wurde ein Modell zum kindlichen Wohlbefinden entwickelt, das nicht nur die einzelnen Aspekte von Wohlbefinden kategorisiert, sondern auch deren Verwobenheit veranschaulicht. Emotional/ relational Well-being

Health

Safety and Security

Self and Identity

Economic Well-being

Agency and Autonomy

Leisure Abbildung 1: Modell zum Wohlbefinden aus Kindersicht von Fattore, Mason und Watson (2017: 46)

Als allen Dimensionen und Themen von Wohlbefinden zugrundeliegend werden das Erleben signifikanter Beziehungen und das emotionale Erleben, sprich das Wohlbefinden auf emotionaler und Beziehungsebene, gefasst. Identifiziert wurden zudem drei übergeordnete Dimensionen des Wohlbefindens: Agency und Autonomie, Sicherheit und Schutz, Selbstbild und Identität. Diese drei Dimensionen wurden von den Kindern als von bedeutsamem Wert für Wohlbefinden eingeordnet. Weitere weitere Themen bilden konkrete Lebensbereiche ab, die mit den übergeordneten Dimensionen zusammenwirken: wirtschaftliches/materielles Wohlbefinden, Gesundheit, Freizeit. Aus den differenzierten Erkenntnissen wurden wiederum unterschiedliche Dimensionen für Wohlbefinden herausgearbeitet, die die Basis für die

58

Teil I: Theoretische Verortungen und Forschungsstand

Entwicklung von messbaren Indikatoren bilden. In Tabelle 6 sind einige dieser Dimensionen für die Bereiche Agency und Autonomie, Sicherheit und Schutz, Selbstbild und Identität beispielhaft erfasst. Well-being domain

Theme and sensitising concepts

Agency

Agency as self-determination -

e.g. „Children have the opportunity to engage in decisionmaking about day-to-day interactions important to the child or in which the child is involved“

Agency as making a difference within relational contexts -

e.g. „Extent to which signifi cant adult-child relationships are characterised by respectful engagement, which provide a basis for negotiating everyday decisions“

Intergenerational determinants of agentic well-being - e.g. „Degree of inequality in institutional status and power

between adults and children (labour force participation, access to fi nancial resources, scholarisation)“

Security/safety

Ontological security -

e.g. „Degree to which children experience a sense of ontological security, based on trust in and dependence upon those tasked with their care“

Safety at home -

e.g. „Degree to which children experience home as a place where they feel safe“

Safe public spaces - e.g. „Degree to which public environments facilitate opportunities for children’s autonomous exploration, including those defined as child-specific and those that are not“

Self and identity Moral self -

e.g. „Children have opportunities to develop their capabilities as moral agents, as part of the process of developing their sense of being a ‚moral self‘“

Purposeful self -

e.g. „Degree to which children are supported in developing a sense of purpose that links self-identity with a sense of an imagined future“

Das Child Well-Being-Konzept

59

The authentic self -

e.g. „Children develop a sense of self in which they recognise their own uniqueness and capabilities as worthy and a source of esteem“

Families as sites of dialogue, affective solidarity -

e.g. „Degree to which families are experienced as a site of trust and intimacy in which children feel their self-identity is given recognition“

Friends, mutual acceptance and belonging -

e.g. „Children have some close friendships in which they experience a sense of intimacy and closeness, in which they can trust to share their inner thoughts and feelings“

Cultural identity and abstract values associated with well-being -

„Degree to which children have opportunities to connect with larger social and cultural group identifications“

The private self -

„Children have opportunities for tim alone for self-reflection“

Tabelle 6: Konzeptualisierung von Wohlbefinden aus Kindersicht nach Fattore, Mason und Watson (2017: 252-254)

Als Ergebnis auf der methodologischen Ebene zeigt sich, „that children’s perspectives validate and confirm existing measures of well-being but also extend and challenge these understandings by giving new meaning to issues already in our focus and by drawing our attention to issues that are currently not receiving attention“ (Fattore/Mason/Watson 2009: 58).

Erkenntnisse zum subjektiven Wohlbefinden, die durch herkömmliche Methoden gewonnen werden, werden durch die hier gewonnenen Erkenntnisse sowohl bestätigt als auch herausgefordert und erweitert. So sehen die AutorInnen vor allem Aspekte im Bereich Agency, soziale Verantwortung, Aktivitäten sowie emotionales Wohlbefinden bisher noch nicht genügend berücksichtigt. Für die Aspekte Selbstbild, die Bewältigung von schwierigen Situationen und das Umfeld konstatieren sie sowohl herkömmliche Indikatoren als durch die Perspektive der Kinder bestätigt wie auch Desiderate. Zudem verweisen die AutorInnen auf die Bedeutsamkeit erweiterte Kontexte des Wohlbefindens, wie etwa das Wohlbefinden von Eltern/Familie und der Gemeinschaft (Fattore/Mason/Watson 2009: 70–72). Herausforderungen sehen die AutorInnen unter anderem in der ‚Übersetzung‘ der qualitati-

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Teil I: Theoretische Verortungen und Forschungsstand

ven Erkenntnisse in quantitativ messbare Indikatoren und in dem damit verbundenen Verlust an Komplexität und Differenziertheit, vor allem in Hinblick darauf, dass „well-being dimensions can take different forms in different contexts and for different groups of children. For example, the needs for autonomy and security may be experienced in different ways by different children at different times in their lives but nevertheless may be universal throughout lifetimes. The ambiguity resulting from this situation points to an ongoing challenge in developing indicators meaningful to children generally, but allowing for flexibility in application“ (Fattore/Mason/Watson 2009: 74).

Den skizzierten erkenntnistheoretischen und methodologischen Zugang nutzt auch das multinationale Forschungsprojekt Children's Understandings of Well-being – global and local Contexts (CUWB) um Tobia Fattore, Susann Fegter und Christine Hunner-Kreisel.58 Forschende in Afrika (Algerien, Südafrika), Asien (Indien, Kirgisistan, Nepal, Pakistan), Australien, Europa (Deutschland, England, Estland, Malta, Norwegen, Portugal, Rumänien, Schweiz, Spanien, Türkei), dem Nahen Osten (Israel) und Nord- und Südamerika (Kanada, USA, Argentinien, Chile) sind daran beteiligt. Ziele sind vergleichend zu untersuchen, wie Kinder im Alter von acht bis 14 Jahren Wohlbefinden konzeptualisieren und erleben sowie die Bedeutung lokaler, nationaler und weiterer sozialer und kultureller Kontexte herauszuarbeiten. Aktuell befindet sich das Projekt in der mehrstufigen Erhebungsphase. Wie der Ansatz in der hier vorliegenden Studie Anwendung findet, wird in Kapitel 6 erläutert.

58

http://www.cuwb.org/ (Zugriff am 19.04.2017)

4 Kindheit und Migration

Kinder und Kindheiten im Kontext Migration finden nach wie vor insbesondere in Defizitdiskursen Beachtung. Thematisiert werden Kinder mit zugewiesenem Migrationshintergrund vor allem in Hinblick auf ungleiche Bildungs- und gesellschaftliche Teilhabechancen unter den Stichworten Integration und Bildung.59 Fokussiert werden sie vor allem in zukunftsbezogener Perspektive als AdressatInnen früher Bildung, Betreuung und Erziehung sowie im Übergang in die Adoleszenz. Die Phase der mittleren Kindheit erfährt vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit. Dies gilt umso mehr für kindheitstheoretische Zugänge, wenngleich durch die interdisziplinär aufgekommene Haltung, Kindern eine Stimme zu geben, sich auch hier Veränderungen beobachten lassen. Das Forschungsfeld gleicht bisher noch einem Flickentepppich (vgl. Huijsmans 2011: 1307), Schwerpunkt der wissenschaftlichen Betrachtung bilden für die Phase der mittleren Kindheit jedoch die Aspekte Zugehörigkeit und Identität.60 Hybride Identitäten und Mehrfachzugehörigkeiten werden als kennzeichnend für ein Aufwachsen im Migrationskontext herausgestellt (z.B. Christopoulou/Leeuw 2008; Ní Laoire et al. 2010; Scherer 2015; Sarcinelli 2015; Leser 2015) und verweisen auf transnationale Bezugssysteme und Praktiken (z.B. Faulstich Orellana et al. 2001; Tyrrell 2015). Spezifische Bezüge zu Herkunfts- und Aufnahmekontexten 59

60

In Verknüpfung mit Geschlecht, sozialer Lage sowie natio-ethno-kultureller Herkunft sind Debatten zu Kindheiten im Migrationskontext unterschiedliche Opfer- und TäterInnenkonstruktionen unterlegt, unter anderem als Opfer von (institutioneller) Diskriminierung und mangelnder gesellschaftlicher Chancengleichheit, von Gewalt und Unterdrückung in der Familie, von Kinderehen, von mangelnder Integrationswilligkeit beziehungsweise ungünstiger Kapitalausstattung in der Familie, von Traumatisierung, als (potenzielle) TäterInnen in der Reproduktion mangelnder Integrationswilligkeit, in der Ausübung von Gewalt und Unterdrückung, etc. (vgl. Betz/Bischoff 2013; Niedrig/Seukwa 2010). Aufgrund des Gegenstands der Studie werden wie oben angezeigt ausschließlich Beiträge herangezogen, die Kontexte von Migration in so genannten westlichen Gesellschaften betrachten.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Kämpfe, Kindheiten in europäischen Migrationsgesellschaften, Kinder, Kindheiten und Kindheitsforschung 21, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26225-9_4

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Teil I: Theoretische Verortungen und Forschungsstand

sind in den Lebenswelten der Kinder miteinander verwoben. Im Folgenden wird das Aufwachsen im Migrationskontext aus der Perspektive unterschiedlicher Forschungsbereiche betrachtet, die sich mit dieser Thematik beschäftigen. Hierzu zählen insbesondere entwicklungspsychologische, sozialisations- sowie kindheitstheoretische Zugänge. Da es bislang nur wenige Studien zur mittleren Kindheit in den drei Migrationsgesellschaften gibt, werden für den empirischen Zugang exemplarisch auch Studien aus anderen europäischen Ländern (Belgien, Griechenland, Großbritannien, Italien) sowie Studien mit Jugendlichen herangezogen. Im zweiten Schritt werden die Migrationsgesellschaften Deutschland, Frankreich und die Niederlande historisch und strukturell näher beleuchtet. 4.1 Theoretische und empirische Zugänge aus interdisziplinärer Perspektive 4.1.1

Erziehungs- und Selbstkonzepte im Kontext von Interkulturalität

Dominiert wird die Forschung zu Kindheit und Migration durch entwicklungspsychologische und sozialisationstheoretische Zugänge mit primär zukunftsgerichteten Perspektiven auf Kinder als Werdende. Entwicklungspsychologisch betracht wird in einem „Prozess aktiver Aneignung und Konstruktion“ in den ersten Lebensjahren „die Architektur der menschlichen Psychologie erworben“ (Keller 2008: 3). Diese umfasst die für die Handlungsfähigkeit in den jeweiligen kulturellen Sinn- und Bezugssystemen notwendigen Handlungskompetenzen und Wissensbestände – das kulturelle Wissen. Dieser Prozess wird auch Enkulturation genannt. Das Aufwachsen im Kontext Migration bedeutet infolgedessen, dass neben allgemeinen Entwicklungsaufgaben weitere Herausforderungen bewältigt werden müssen, die an den Migrationskontext gekoppelt sind (vgl. Herwartz-Emden/Strasser 2013: 374; Tillmann 2010). Eine Besonderheit stellt die Konfrontation und notwendige Auseinandersetzung mit den kulturellen Sinn- und Bezugssystemen von Herkunfts- und Aufnahmekontexten dar. Dieser Aspekt wird in der interkulturellen und kulturvergleichenden Sozialisationsforschung und Entwicklungspsychologie über den Begriff der Akkulturation verhandelt. Durch die Konfrontation und Auseinanderset-

Kindheit und Migration

63

zung mit unterschiedlichen Kulturen wird der primäre Prozess der Enkulturation durch den Prozess der Akkulturation überlagert. Eine frühe Konfrontation mit Interkulturalität führt zur Verwobenheit von Enkulturations- und Akkulturationsprozessen. Die Transmission kulturellen Wissens vollzieht sich unterstützt durch und in Interaktion mit den Eltern, anderen Erwachsenen in nahweltlichen Beziehungen wie auch in institutioneller Funktion der Peer, Medien usw. In besonderem Maße sind die kindliche Entwicklung und Enkulturation bzw. Akkulturation dabei durch die elterlichen Sinn- und Bezugssysteme und darin eingelassene Vorstellungen zu Kindheit, Entwicklung und Erziehung beeinflusst (Westphal/Motzek-Öz/Otyakmaz 2017: 144). Eine zentrale Grundlage in der Erziehung stellen beispielsweise die zwei konträr gelagerten Grundbedürfnisse Autonomie und Verbundenheit/Relationalität dar, die Teil der psychologischen Ausstattung eines jeden Menschen und jeder Kultur sind. Je nachdem, welcher der beiden Dimensionen in der Erziehung höherer Stellenwert beigemessen wird, kann sich das Selbstkonzept des Kindes stärker als relationales oder autonomes Selbst mit fließender beziehungsweise distinkter Ich-Identität herausbilden (Keller 2008: 105; Markus/ Kitayama 2010: 425). So genannte kulturelle Modelle sind durch das je spezifische Zusammenspiel der beiden Dimensionen gekennzeichnet und prägen entscheidend Wahrnehmungen und Gefühle, soziale Beziehungen und nicht zuletzt das subjektive Wohlbefinden einer Person beziehungsweise Gruppe. Erziehungs- und Selbstkonzepte können in der Migration mit substanziell oppositionellen Modellen konfrontiert werden und dabei „die normativen Standards des einen kulturellen Modells pathologische Varianten des anderen darstellen“ (Keller 2008: 108). Dies zeigt sich etwa dann, wenn eher relationale Erziehungs- und Selbstkonzepte auf die in westlichen Gesellschaften „forcierte Betonung von Autonomie als gesellschaftliches und politisches Programm“ treffen (ebd.), zum Beispiel konkret, wenn elterliche Vorstellungen von Kindheit als Schonraum in frühkindlichen Betreuungseinrichtungen auf strukturell verankerte Vorstellungen möglichst früher Entwicklungsförderung und Autonomieunterstützung treffen (Otyakmaz/Westphal 2013). Das spezifische Zusammenspiel von Autonomie- und Verbundenheitsorientierung geht auch mit unterschiedlichen Vorstellungen von (kindlicher)

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Teil I: Theoretische Verortungen und Forschungsstand

Akteurschaft einher. Akteurschaft kann stärker individuell oder relational gedacht und gestaltet werden: „the ideas and/or practices in one setting place relatively more emphasis on the attributes of the individual and their expression as the form of agency, whereas the ideas and practices of the comparison setting place relatively more emphasis on relationships and social responsiveness and the maintenance of these relationships as the form of agency“ (Markus/Kitayama 2010: 425).

Handlungen liegen je nach Orientierung jeweils unterschiedliche Bedeutungen zugrunde. Eine westliche, mittelschichtsorientierte Perspektive, die von der normativen Vorstellung autonomer Akteurschaft getragen ist, das heißt einer Akteurschaft, die vor allem auf die eigenen Gedanken, Gefühle, Ziele und Errungenschaften gerichtet ist, läuft wiederum Gefahr, ein stärker relational ausgerichtetes Akteursverständnis61, bei dem Gedanken, Gefühle, Ziele und Errungenschaften eher in Beziehung zur Gemeinschaft gesetzt werden, zu ‚pathologisieren‘. Neben heterogenen Vorstellungen darüber, welche Formen von Akteurschaft angestrebt werden, zeigen sich Unterschiede auch darin, in welchem Alter AkteurInnen im Rahmen kindlicher Entwicklung spezifische Aspekte von Akteurschaft zugedacht werden (Hitlin/Long 2009: 140). Unterschiedliche Entwicklungserwartungen und daran anschließende Erziehungskonzepte und -strategien beruhen etwa auf divergierenden Vorstellungen über die Verstandes- oder Bedürfnisgeleitetheit von Kleinkindern (Otyakmaz 2013). Kindliche Akteurschaft kann demnach beispielsweise an unterschiedliche Konzepte von Eigenverantwortung geknüpft werden (Kämpfe/Westphal 2016: 78). Erziehungs- und Selbstkonzepte sind nicht statisch. Veränderungsprozesse sind zum Beispiel auf soziokulturelle und sozioökonomische Veränderungen zurückzuführen. Çiğdem Kağıtçıbaşı (2002: o.S.) beschreibt in ihrem Model of family change einen Wandel relationaler Erziehungs- und Selbstkonzepte in Teilen kollektivistischer Gesellschaften. Mit der Zunahme sozioökonomischer und soziokultureller Ressourcen etwa durch Urbanisierung zeigt sich innerfamiliär eine Abnahme materieller Interdependenzen, wohingegen psychologische Interdependenzen fortbestehen. Diese Gleichzeitigkeit der Prototypen Independenz/Autonomie und Interdependenz/ Verbundenheit konnte sie erstmals in den 1970er Jahren im Rahmen der Value of Children Studie in urbanen Gebieten der Türkei empirisch nachwei61

Nicht zu verwechseln mit dem relationalem Akteurskonzept nach Eßer (Kap. 2.2).

Kindheit und Migration

65

sen. Zudem bringen Migrationsprozesse, so zeigen internationale Studien, einen Wandel elterlicher Erziehungskonzepte hervor (zum Beispiel zu türkisch-deutschen bzw. türkisch-niederländischen Müttern, Otyakmaz 2013; Durgel 2011). Erziehungskonzepte sind „nicht als unidirektional, uniform und dauerhaft durch ein kulturelles Bezugssystem geprägt anzusehen, sondern als individuell gefärbte Rekonstruktionen kultureller Denk- und Handlungsoptionen“ (Westphal/Motzek-Öz/Otyakmaz 2017: 145). Die individuelle Färbung wird durch soziale Dimensionen wie Bildungs- und sozialen Hintergrund, Geschlecht sowie biographische (Migrations-)Erfahrungen bestimmt. Jede Person verhält sich in Konfrontation mit mehreren Kulturen in irgendeiner Form zu den jeweiligen kulturellen Bezugssystemen. Diese Haltung spiegelt sich wiederum in Erziehungs- und Selbstkonzepten wider. John W. Berry (1997) hat ein Akkulturationsmodell entwickelt, in dem er entlang eines zweidimensionalen Bezugssystems je nach Bezugsgrad zu Herkunftskultur (cultural maintenance) und Aufnahmegesellschaft (contact and participation) vier Akkulturationsstrategien unterscheidet: Integration, Assimilation, Separation/Segregation und Marginalisierung. Kritik an dem eher gruppenbezogenen Modell wird dahingehend geäußert, dass „den komplexen Veränderungen der Individuen in unterschiedlichen Kontexten nicht gänzlich Rechnung getragen wird“ und es „schwer auf individuelle Akkulturationsverläufe und deren je individuelle Gestaltung anwendbar“ ist (Herwartz-Emden/ Schurt/Waburg 2010: 49). Hartmut Esser betrachtet demgegenüber in seinem Modell der Sozial-Integration „die individuelle gesellschaftliche Integration als komplexes Zusammenspiel verschiedener Integrationsprozesse“, die er auf unterschiedlichen Dimensionen der Integration anordnet (strukturell, kulturell, sozial, emotional) (ebd.; Esser 2004). Zu erweitern sind diese entwicklungspsychologisch und sozialisationstheoretisch geprägten Betrachtungsweisen um sozialkonstruktivistische und postkoloniale Perspektiven, welche die gesellschaftlichen Machtbeziehungen und Herrschaftsverhältnisse in den Blick nehmen, in die kulturelle Sinn- und Bezugssysteme eingewoben sind und in denen sich Akkulturationsprozesse vollziehen. Paul Mecheril (2016: 15) problematisiert die „wechselseitig konstitutive Dynamik von Grenzformationen und Zugehörigkeitsordnungen“ in Migrationsgesellschaften. Diese wirkt auf unterschiedlichen Ebenen auf die Lebenswelten der Kinder und ihrer Familien sowie die spezifischen Bezüge zu Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft ein. Kindheitstheoretisch

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Teil I: Theoretische Verortungen und Forschungsstand

betracht vollziehen sich die Akkulturationsprozesse von Kindern dabei innerhalb einer (mindestens) doppelt machtförmigen Zugehörigkeitsordnung (double marginality) durch Zugehörigkeit zur allochthonen Bevölkerung sowie zur generationalen Gruppe der Kinder. Weitgehend offen ist die Frage, wie die machtförmigen Dynamiken auf die Verarbeitung unterschiedlicher kultureller Sinn- und Bezugssysteme von Kindern einwirken. 4.1.2

Akkulturationseinstellungen und Umgang mit Differenz

Inwieweit das an Erwachsenen getestete Akkulturationsmodell von Berry (1997) auch auf Akkulturationsdynamiken von Kindern übertragbar ist, ist unklar, jedoch wurde eine Übertragbarkeit des Modells auf Jugendliche von Berry et al. (2006) im Rahmen einer internationalen Vergleichsstudie (ICSEY) überprüft. Die Stichprobe umfasste 5.366 Jugendliche mit Migrationshintergrund der ersten und zweiten Generation in 13 Ländern, darunter auch Deutschland, Frankreich und die Niederlande.62 Anhand einer Clusteranalyse wurden die Akkulturationseinstellungen integratives (36,4 %), nationales (18,7 %), ethnisches (22,5 %) und diffuses Profil (22,4 %) identifiziert. Die ersten drei Profile weisen Analogien zu den oben genannten Strategien Integration, Assimilation und Separation/Segregation auf, insofern als sie eine jeweils stärkere Orientierung an Herkunftskultur, Aufnahmegesellschaft beziehungsweise beiden kulturellen Kontexten zum Ausdruck bringen. Das diffuse Profil vereint hingegen in Widerspruch zueinanderstehende Akkulturationseinstellungen (Assimilation, Marginalisierung und Separation). Die Autoren schlussfolgern hierzu: „This inconsistent pattern suggests that these young people are uncertain about their place in society“ (ebd.: 316). Die Unsicherheit angesichts der eigenen Positionierung und Orientierung bringen die Autoren mit persönlichen und sozialen Problemen in Verbindung. So lässt sich ein eindeutiger Zusammenhang zwischen den Akkulturationseinstellungen (integrativ, ethnisch, national, diffus) und psychischem Wohlbefinden sowie soziokultureller Adaption (schulisch und sozial) feststellen.63 62 63

Teil des Samplings waren darüber hinaus 2.631 Jugendliche ohne Migrationshintergrund. Die Jugendlichen waren zwischen 13 und 18 Jahre alt. Die Kategorien Geschlecht, Aufenthaltsdauer, Zusammensetzung der Nachbarschaft und Differenzierung nach klassischen Einwanderungsländern und europäischen Ländern zeigen weitere Zusammenhänge hinsichtlich der Akkulturationseinstellungen.

Kindheit und Migration

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Integrative Einstellungen bei Jugendlichen gehen demnach mit dem im Vergleich höchsten psychischen Wohlbefinden und soziokultureller Adaption einher, diffuse Einstellungen mit dem niedrigsten (ebd.: 320; vgl. auch Nekby/Rödin/Özcan 2009). Offenbar hängt zudem wahrgenommene Diskriminierung negativ mit psychischer und soziokultureller Adaption zusammen. Jugendliche mit diffusem Profil berichteten am häufigsten von wahrgenommener Diskriminierung, Jugendliche mit integrativem und nationalem Profil am seltensten (Berry et al. 2006: 321). Die Akkulturationsstrategie Marginalisierung, so könnte vermutet werden, ist allein schon durch den hohen zeitlichen Anteil an verpflichteter Teilhabe an Schule für Jugendliche ebenso wie für Kinder als unwahrscheinlich anzunehmen. Für die Phase der frühen Jugend zeigt eine Studie zu familiären Bedingungen für die Akkulturationsorientierung sowie psychologische und soziokulturelle Adaption in der Schule (Schachner/Van de Vijver, Fons J. R./ Noack 2014: 1619), dass Akkulturationseinstellungen in diesem Alter (noch) weitgehend mit den von ihnen wahrgenommenen elterlichen Einstellungen und Erwartungen übereinstimmen.64 Wenngleich entsprechende Studien zu Akkulturationseinstellungen von Kindern bislang nicht vorliegen, so bietet die Studie von Leser (2015) hierzu interessante Erkenntnisse. Leser zeichnet die familiären Migrationserfahrungen und Zugehörigkeitspositionierungen aus der Perspektive von achtjährigen Kindern in Deutschland anhand von drei Einzelfallanalysen nach.65 Während zwei der Fälle sich offensichtlich analog zu den wahrgenommenen Handlungen der Eltern positionieren (eher kosmopolitisch beziehungsweise eher assimilatorisch), handelt ein aus dem Vietnam stammendes Mädchen die uneindeutigen beziehungsweise widersprüchlichen Positionierungen innerhalb der Familie aus und zeigt sich damit konfrontiert, „mit dem Widerspruch der familiären Orientierung, ihren Traditionen und Werten und denen der Mehrheitsgesellschaft umzugehen und ihre subjektive Zugehörigkeitspositionierung zu erarbeiten“ (ebd.: 17). Es deutet sich hier ein Zusammenhang zwischen der (frühen) Aushandlung

64

65

Befragt wurden insgesamt 695 Jugendliche mit Migrationshintergrund im Durchschnittsalter von elf Jahren in Deutschland. Inwieweit sich die Einstellung der Eltern mit den Wahrnehmungen der Befragten deckt und/oder inwieweit die Einstellungen der Befragten auf die elterlichen Vorstellungen projiziert werden, bleiben offene Fragen. Diese Fälle sind Teil ihrer partizipativ angelegten Dissertationsstudie zum Thema „Grundschule aus der Sicht von Kindern mit Migrationshintergrund“ (Leser 2017).

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Teil I: Theoretische Verortungen und Forschungsstand

einer eigenen Positionierung und der (Un)Eindeutigkeit der vorgefundenen familiären Akkulturationseinstellungen an. Ein weiterer wichtiger Aspekt, der Akkulturationseinstellungen bestimmt, ist das Differenzempfinden. Kinder nehmen Differenz und damit verbundene Machtasymmetrien bereits in der frühen Kindheit wahr und setzen sich damit auseinander (vgl. Machold 2015; York 2003). Für die Jugendphase zeigen Bohnsack und Nohl (2001: 22–28) am Beispiel (männlicher) Jugendlicher türkischer Herkunft in Deutschland eine so genannte Sphärendifferenz, das heißt Differenzerfahrungen zwischen den Bereichen der Familie, Verwandtschaft, natio-ethno-kulturellen Community (innere Sphäre) und der gesellschaftlichen Öffentlichkeit und ihrer Institutionen (äußere Sphäre), als charakteristisch für einen migrationsspezifischen Erfahrungsraum auf. Diese Differenzerfahrungen werden vor dem Hintergrund habitueller Unsicherheiten häufig als konflikthaft erlebt. Die Konflikthaftigkeit stellen die Autoren als entwicklungstypisch heraus, das heißt sie ordnen sie als kennzeichnend (erst) für die Phase der Adoleszenz ein (vgl. Nohl 2001). Die (konflikthaften) Differenzerfahrungen werden milieutypisch unterschiedlich bearbeitet und bewältigt.66 El-Mafaalani (2013) schließt an diese Erkenntnisse an und erweitert sie für die Phase der Kindheit. Anhand einer exemplarischen Fallanalyse zeigt er, dass bereits Kinder „vom Erleben unterschiedlicher Regelwerke und Anerkennungsmodi in Schule und Familie“ irritiert werden (ebd.: 124). Ein weiteres, besonders eindringliches Beispiel von Differenz- und dabei auch Diskriminierungserfahrung zeigt Alice Sophie Sarcinelli (2015) in ihrer ethnographischen Studie zur Transmission kulturellen Wissens und kindlichen Erfahrungen transnationaler Bezugsräume anhand der Roma in Italien auf. Die Transmission kulturellen Wissens sieht sie im Fall der Roma vor eine besondere Herausforderung gestellt, „because of the very negative stereotypes and moral judgements surrounding these minorities […]. To preserve their identities, Roma parents need to transmit to their children a strong sense of belonging to their community, while at the same time teaching them how to hide their identity“ (ebd.: 126). Bei den Kindern beobach66

Nach Bohnsack und Nohl (2001: 24) zeigen sich folgende Bearbeitungs- und Bewältigungsformen der (konflikthaften) Differenzerfahrungen als milieutypisch 1. Rückzug auf die innere Sphäre (Exklusivität der inneren Sphäre bzw. Primordialität der inneren Sphäre); 2. Zwischen innerer und äußerer Sphäre (Sphären(dif)fusion bzw. die Suche nach einer dritten Sphäre).

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tet sie ein starkes Zugehörigkeitsempfinden zur Herkunftskultur und ein Verantwortungsbewusstsein darüber, das kulturelle Wissen der Herkunftscommunity zu erhalten. Zugleich wachsen die Kinder mit dem Bewusstsein der negativen Stereotypisierung auf. Es zeigen sich Strategien der Aushandlung dieses Dilemmas über zum Beispiel adaptive Darstellungspraktiken, etwa durch den Wechsel zwischen unterschiedlichen Vornamen. Wie Kinder Differenz milieutypisch unterschiedlich verhandeln und bearbeiten, bleibt jedoch eine weiterhin ungeklärte Frage (siehe hierzu weiterführend ein auf der Dissertationsstudie aufbauender Beitrag zur heterogenen Bearbeitung migrationsbezogener Differenzerfahrungen im Kontext von Sprache und Sprachförderung: Kämpfe/Westphal 2018). 4.1.3

Hybride Identitäten, Mehrfachzugehörigkeiten, Transnationalität

Die Aneignung kulturellen Wissens ist im Sinne der in Kapitel 2.2 beschriebenen „interpretive reproduction“ (Corsaro 2014) mit aktiven Konstruktionsleistungen des Individuums verbunden (Ní Laoire et al. 2010: 156; Westphal 2006: 60). Durch Konfrontation und Auseinandersetzung mit unterschiedlichen kulturellen Sinn- und Bezugssystemen erfahren diese Konstruktionsleistungen eine besondere Komplexität. Akkulturationsprozesse wurden lange vorrangig unter dem Aspekt ihres Konflikt- und Krisenpotentials betrachtet. Beständig wurde das Bild des Aufwachsens ‚zwischen zwei Stühlen’ bemüht, um auf eine Zerrissenheit zwischen den Kulturen zu verweisen. Akkulturationsprozesse – ebenso wie Enkulturationsprozesse – können mit Stress verbunden sein, erstere vor allem dann, wenn vorausgehende und neue Erfahrungen wenig Übereinstimmung aufweisen, vorgefundene normative Erwartungen mit bisher bekannten kulturellen Wissensbeständen und Überzeugungen divergieren oder unterschiedliche kulturelle Einflüsse gleichzeitig einwirken (vgl. Oerter 2013: 73). Zahlreiche Studien stützen jedoch mittlerweile die zum passiven Bild der Zerrissenheit gegenläufige These, dass im Akkulturationsprozess als Prozess der „produktiven Realitätsverarbeitung“ die aktiven und kreativen Konstruktionsleistungen „innerhalb mehrerer Kulturen und Kontexte gestaltet“ und die kulturellen Kontexte zu etwas Neuem werden (Westphal 2006: 60). Kindheitstheoretisch gesprochen heißt dies, Kinder „create new codes along with the existing ones, and produce cultural knowledge by mediating between differ-

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Teil I: Theoretische Verortungen und Forschungsstand

ent cultures and establishing a hybrid foundation upon which they can build their lives in their new surroundings“ (Christopoulou/Leeuw 2008: 242). In den Cultural Studies hat sich in diesem Zusammenhang der Begriff der hybriden Identität herausgebildet. Dieser bezeichnet nach Sara Fürstenau und Heike Niedrig (2007: 247) angelehnt an Stuart Hall „einen spezifischen diskursiven Modus der Selbstverortung in (dominanten) national-kulturellen Repräsentationssystemen“.67 Hergestellt werden dabei „Verbindungen zwischen offenkundig disparaten und widersprüchlichen Deutungsangeboten“, wodurch auch „die Bedeutungen der re-artikulierten Elemente transformiert werden“ (ebd.: 259). Unterstrichen wird „the fluid and dynamic nature of migrant children’s and young people’s meaningful connections and identifications“, wobei Identität sich dabei nicht nur vielfältig und intersektional, sondern auch kontextabhängig gestaltet (Ní Laoire et al. 2010: 158). Eine bedeutsame Zugehörigkeitsdimension stellt der transnationale soziale Raum dar (Pries 2016).68 Kindheiten im Kontext Migration sind häufig in transnationale Bezugssysteme eingebettet und werden in internationalen Diskursen daher zunehmend unter dem Stichwort transnational childhoods (Faulstich Orellana et al. 2001) beachtet. Sozialisation und soziale Reproduktion vollziehen sich häufig über nationale Grenzen hinweg: „Even children who never return to their parent’s ancestral homes are brought up in households where people, values, goods and claims from somewhere else are present on a daily basis. […] For these individuals, the generational experience is not territorially bounded. It is based on actual and imagined experiences that are shared across borders regardless of where someone was born or now lives“ (Levitt/Glick Schiller 2004: 1017). Unter den Begriff transnational childhoods, der in Zusammenhang mit dem Begriff transnational family (Bryceson/Vuorela 2002) steht, werden Kindheiten in unterschiedlichsten Lebenslagen gefasst sowohl im Aufnahme- als auch im Herkunftskontext.69 Der Begriff geht damit weg von einer Gegenüberstellung von 67 68

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Siehe hierzu weiterführend auch die Konzepte der (kulturellen) Hybridität (hybridity) und des dritten Raumes (third space) von Homi K. Bhabha (2012). Eine weitere bedeutsame Zugehörigkeitsdimension, auf die hier zunächst nicht weiter eingegangen werden soll, stellt Religion dar, siehe hierzu weiterführend Hunner-Kreisel/ Andresen (2010) und Allenbach (2016). Unter anderem Kinder, die von ihren (temporär begrenzt) migrierten Eltern beziehungsweise Elternteilen im Herkunftsland zurückgelassen wurden oder später nachgeholt werden, die – unbegleitet von ihren Eltern – in ein anderes Land migriert sind, die zusammen mit (einem Teil) der Familie migriert sind, die in einem anderen Land als dem Her-

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Herkunfts- und Aufnahmekontexten und hin zur Betrachtung von transnationalen Beziehungsstrukturen und Verbindungen (Gardner 2012: o.S.). Direkte und indirekte transnationale Beziehungsstrukturen „tie together local places separated by long distances (multilocality), encourage the pursuit of daily life in two or more places at once (simultaneity), and support the construction of overlapping and shifting identity positions (multiplicity)“ (Bailey 2009: 410). Das Aufwachsen im transnationalen sozialen Raum wird in der Kindheits- wie in der Migrationsforschung bislang sehr selektiv erforscht (Emond/Eßer 2015: 100; Ní Laoire et al. 2010: 156). In der Kindheitsforschung haben sich die children’s geographies zunehmend der Thematik verschrieben und fungieren daher als eine Art Schnittstelle von Kindheits- und Migrationsforschung. Ausschnitthaft werden nachfolgend empirische Erkenntnisse aus Großbritannien, den USA und Frankreich zu transnationalen Kindheiten und Familien vorgestellt. Anhand von Alltagsschilderungen von sechs bis elfjährigen „ethnic minority children“ in Großbritannien zeigt Scherer (2015) auf, wie Transnationalismus untrennbar mit den kindlichen Lebenswelten verwoben ist und arbeitet die Emotionen heraus, die für die Kinder an bestimmte transnationale (das heißt sprachliche, kulturelle, religiöse, soziale) Praktiken sowie unterschiedliche Bilder aus eigenen Erfahrungen oder überlieferten Geschichten gebunden sind. Die Schilderungen der Kinder verweisen zum einen auf einen „transgenerational sense of belonging“ (ebd.: 136); die Herkunftsgeschichte der Eltern nehmen sie auch als ihre eigene Geschichte an. Zugleich zeigt sich das Empfinden transnationaler Zugehörigkeit in ein Empfinden von Mehrfachzugehörigkeit eingebettet. Dies dokumentieren affektive Äußerungen wie „our country“ (unter anderem im Kontext kriegerischer Auseinandersetzungen im Herkunftsland) neben Äußerungen wie „our queen“ (im Kontext der königlichen Hochzeit in Großbritannien). Transnationalismus ist an unterschiedliche Emotionen geknüpft und wird unter anderem affektiv, pragmatisch, mit Stolz, aber auch mit Sorge sowie ambivalent verhandelt (vgl. Gardner 2012: o.S; Zeitlyn 2016: 173–175). Transnationale Beziehungsstrukturen und Praktiken werden von den Eltern häufig vor allem auch um der Kinder willen gepflegt. Faulstich Orellana et al. (2001: 588) beschreiben am Beispiel zugewanderter Familien in den kunftsland der (Groß)Eltern geboren und aufgewachsen sind, die mobilen Gruppen angehören (vgl. Gardner 2012: o.S; Faulstich Orellana et al. 2001: 572).

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USA als mögliche Gründe „because they want their children to know and value their relatives, their roots, and their home language; as a way of marking deliberate ‚difference’ from the mainstream U.S. […]; because parents want to be able to invoke ‚transnational disciplining’; or simply to keep open a range of options to provide for their children’s varied needs and future“.70 Auch die Kinder selbst treten als transnationale AkteurInnen in Erscheinung: „Children help constitute and reconfigure transnational social fields, and transnational practices, in turn, shape the contours of particular childhoods“ (ebd.: 572). Der transnationale Bezugsrahmen kann auch als Referenzfolie dienen. Catherine Delcroix (2009) begleitete über mehrere Jahre eine maghrebinische, zehnköpfige Arbeiterfamilie in Frankreich ethnographisch und arbeitete unter anderem die Transmission der transnationalen Familienbiographie und des historischen Gedächtnisses als elterliche Erziehungsstrategie zur Vermittlung subjektiver Ressourcen heraus. Der Vater nutzt den transnationalen Bezugsrahmen als erzieherisches Mittel, indem er anhand von autobiographischen Erzählungen71 seine Werte (unter anderem familiäre Verbundenheit, Pfiffigkeit, Mut, Anstrengung, das Positive erkennen) vermittelt und damit versucht, die Kinder vor dem Hintergrund erfahrener Ungerechtigkeit und Stigmatisierung im Aufnahmeland Frankreich zu ermutigen. Transnationale Kindheiten fordern machtvolle, westliche Ideologien wie normative Konzepte zu Kindheit, Familie, Heimat/Zuhause oder Sesshaftigkeit heraus. Als soziale Konstruktion wird Kindheit nicht nur kulturell unterschiedlich gefasst, auch viele Lebensrealitäten von Kindern im Kontext Migration weichen vom westlichen Ideologien von Kindheit ab (Emond/ Eßer 2015: 101; Faulstich Orellana et al. 2001: 587). Westliche Konzepte von Familie sind nach wie vor von der Vorstellung einer Kernfamilie, die innerhalb eines Land zusammen oder in räumlicher Nähe lebt, getragen. Nach Christopoulou und de Leeuw (2008: 243) ist jede Migrationsfamilie „a broken family“. Migration reißt erweiterte familiäre Netzwerke, häufig aber 70

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Gegenstand der zugrundeliegenden ethnographischen Studie waren Kindheiten in zwei kontrastierenden städtischen Gebieten Kaliforniens. Durch die Erstellung von Maps wurde die Konstruktion vielfältiger Kinderwelten rekonstruiert und dabei aufgezeigt, dass Kindheiten im Migrationskontext sich oft über nationale Grenzen erstrecken, was zur Einführung des Begriffs „transnationale Kindheiten“ geführt hat. Zum Beispiel darüber, dass er bereits im Alter von zehn Jahren als Schafhirte arbeiten musste, aber auch, was für ein ausgezeichneter Reiter er war, der in der Dorfgemeinschaft anerkannt war.

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auch Kernfamilien, räumlich auseinander. Zugleich bringt Migration Familien psychologisch-emotional sehr eng zusammen, auch über die Kernfamilie hinaus. Die Konzeptualisierung von Familie im Kontext Migration heißt daher nicht nur unterschiedliche kulturelle Normen in Familien zu berücksichtigen, sondern auch transnationale familiäre Verbindungen sowie verwandtschaftliche und nicht-verwandtschaftliche Bezugspersonen außerhalb der Kernfamilie (Mazzucato/Schans 2011: 706; siehe auch den Sammelband „The transnational family“ von Bryceson/Vuorela 2002). Zudem wird in westlichen Gesellschaften bei Kindern von einem natürlichen Bedürfnis nach Stabilität und Sicherheit ausgegangen, das unmittelbar geknüpft wird an die häusliche und familiäre Umgebung, sprich das Zuhause. Transnationalität „decouples the concept of ‚home’ from a distinct physical location and instead positions it as a mobile concept in relation to multiple social fields of attachment and belonging“ (Ní Laoire et al. 2010: 157). Diese Konstruktion von Zuhause als translokalem72, sozialem Feld zeigt Moskal (2015) am Beispiel von Kindern polnischer ArbeitsmigrantInnen in Schottland. Nicht zuletzt stehen (transnationale) Migrationsbiographien oft in Konflikt zu Normerwartungen von Sesshaftigkeit (Bailey 2009: 409). Wohlfahrtsstaaten stehen zu ihren BürgerInnen in einer lebenslangen, institutionalisierten Beziehung. Individuelle Lebensläufe summieren sämtliche strukturelle Partizipation in Form von Bildungszertifikaten, Arbeitszeugnissen etc. (Bommes 2011: 239). Ein späterer Zugang zu oder Unterbrechungen der institutionalisierten Beziehung weichen von dieser Norm ab und sind mit einem erhöhten Exklusions- und Ungleichheitsrisiko verbunden. Dies wird beispielsweise deutlich an der Voraussetzung eines muttersprachenähnlichen Sprachstands in der Verkehrssprache für schulischen Erfolg. 4.1.4

Migrationsbezogene Akteurschaft und migrationsgesellschaftlicher Kontext

Migration geht mit Veränderungen innerhalb der Familie einher, wobei auch generationale Ordnungsverhältnisse zum Teil herausgefordert werden. So72

Der Begriff translokal wird in der Transnationalitätsforschung für multilokale Beziehungen eingesetzt, insofern als diese häufig an konkrete Orte gebunden sind (Moskal 2015: 144).

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wohl was die Migrationsprozesse als auch was die Situation im Aufnahmekontext angeht, nehmen Kinder innerhalb der Familie häufig neue (machtvolle) Rollen ein. Denn Eltern sind oft nicht länger in der Position, „to fully undertake the responsibility of passing on knowledge, as they are also faced with uncertainty“ (Christopoulou/Leeuw 2008: 242). Wenngleich es in der Regel die Eltern sind, die die Entscheidung zur Migration treffen, treten auch Kinder im Migrationsprozess als AkteurInnen auf. Kinder stellen häufig eines der Hauptmotive für Migration dar und wirken am Verlauf familiärer Migrationserfahrungen aktiv mit (Faulstich Orellana et al. 2001: 587). Vor allem im Kontext von Flucht übernehmen sie verantwortungsvolle Aufgaben für das Familienwohl und durchleben dadurch frühe Reifungsprozesse. Migrationsbezogene Akteurschaft von Kindern im Aufnahmekontext zeigt sich unter anderem dadurch, dass sie als VermittlerInnen und ÜbersetzerInnen zwischen ihren Eltern und der Aufnahmegesellschaft fungieren.73 Aufgrund ihrer im Vergleich zu den Eltern höheren Erfahrung, was Gepflogenheiten im Aufnahmekontext angeht, wird ihnen zudem höhere Entscheidungsmacht in der Familie zugesprochen, etwa bei der Schulwahl (vgl. Tyrrell 2015: 12). Innerhalb dieser neuen Rolle in der Familie sehen sie sich dabei zum Teil dem Druck ausgesetzt, Verantwortung für das Wohl der gesamten Familie zu tragen. Ein von Christopoulou und de Leeuw (2008: 247) beschriebener Fall eines 11-jährigen afghanischen Mädchens, das mit seiner Familie in Griechenland lebt, verdeutlicht die Notwendigkeit einer weiteren theoretischen Auseinandersetzung mit dem Agency-Konzept insbesondere auch für den Migrationskontext (siehe Kap. 2.2). Das Mädchen arbeitet neben der Schule im elterlichen Straßenkiosk mit: „The parents at first do not consider it inappropriate, and perceive it as a contribution to the family life and as a private issue, not to be discussed outside the family. The situation changes only when teachers and social workers caution them, as it has started affecting Mozde’s school performance as well as some aspects of her social life“.74

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Rückblickend führen BildungsaufsteigerInnen wichtige individuelle Handlungsfähigkeiten und Kompetenzen auf diese frühe Verantwortungsübernahme zurück (Kämpfe/ Westphal 2014: 63f.). Dieses Fallbeispiel stammt aus dem EU-Forschungsprojekt CHICAM (Children in communication about migration, 2001-2004). Im Rahmen eines Medienprojektes wurden in sechs europäischen Ländern (darunter Deutschland und die Niederlande) in Medien-

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Zur Perspektive des Mädchens schreiben die Autorinnen, dass sie angesichts einer Vielzahl an Problemen und Verantwortungen, mit denen die Eltern konfrontiert sind, die Möglichkeit, zum Familienleben beitragen zu können glücklich und zufrieden macht und mit Stolz erfüllt (Christopoulou/Leeuw 2008: 248). Herausgefordert wird hier nicht nur die westlich-normative Vorstellung einer individuellen und autonomen Agency, sondern es ruft ganz allgemein die Frage auf, was Akteurschaft für unterschiedliche Gruppen von Kindern bedeutet. Christopoulou und de Leeuw (2008: 246) sprechen für den Migrationskontext von der Entwicklung einer „double agency“75: Die Kinder sind einerseits oft die ersten RepräsentantInnen in der Aufnahmegesellschaft, andererseits führen sie ihre Eltern in die Praktiken und Gebräuche dieser neuen Gesellschaft ein. Doch auch für die wissenschaftliche ‚Neuentdeckung‘ von kindlicher Agency im Migrationskontext ist auf die Gefahr zu verweisen, diese unkritisch als substantialistisch, de-kontextualisiert und individualisiert zu konzeptualisieren. So kann man nur Huijsmans (2011: 1317) beipflichten, der pauschalisierende Aussagen zu migrationsbezogener kindlicher Akteurschaft als ebenso unzulänglich bezeichnet wie pauschalisierende Opferkonstruktionen. Empirisch wie auch theoretisch gibt es hierzu jedoch mehr offene Fragen als Antworten. Die Bedeutung des Aufnahmekontexts Schließlich heißt es auch für Kindheit in der Migration: „context matters for understanding children's agency“ (Huijsmans 2011: 1312). Kindheit und Akteurschaft im Kontext Migration sind durch Rahmenbedingungen und Dynamiken in der Migrationsgesellschaft beeinflusst.76 Sie werden zum ei-

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clubs die sozialen und kulturellen Lebenswelten von neun- bis 14-jährigen Kindern mit Migrations- oder Fluchthintergrund multimedial (digitale Fotografie, Video, Internet) bearbeitet und durch teilnehmende Beobachtung und Interviews begleitet. Das Konzept der „double agency“ stellen Christopoulou und de Leeuw (2008: 241) dem Konzept der „double marginality“ gegenüber, auf das in Zusammenhang mit Kindern mit Migrationshintergrund (als Kinder und als MigrantInnen) häufig abgehoben wird. Im Gegensatz zu klassischen Einwanderungsländern wie den USA, Kanada oder Australien, bei denen Immigration das Fundament der Staatsbildungsprozesse darstellte und sich als integraler Bestandteil in der Bevölkerung und der Migrationspolitik widerspiegelt, ist die Zuwanderung im Westeuropa des 20. und 21. Jahrhunderts vor allem durch den Zuzug von Minderheiten (als Folge von Entkolonialisierung, Arbeitsmigration, Flucht

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nen grundlegend durch formale Strukturen (zum Beispiel Aufenthalts- und Staatsangehörigkeitsrechte, Integrations- und Sprachpolitik) bestimmt. So können Kinder mit Fluchthintergrund zugleich Teil und nicht Teil von Gesellschaft sein, indem sie zwar die Schule besuchen, durch ihre Unterbringung in einer Flüchtlingsunterkunft dann aber wieder segregiert werden (ebd.: 1314). Die Bedeutung des Aufnahmekontexts zeigt sich besonders eindringlich in der TIES-Studie (The Integration of the European Second generation) (Crul/Schneider/Lelie 2012), die danach fragt, welche Rolle der Aufnahmekontext für die Lebensgestaltung der zweiten Migrationsgeneration spielt (unter anderem in Bezug auf Bildung, Arbeitsmarkt, Partnerwahl, Identität und Zugehörigkeit, Religion). Für die acht betrachteten europäischen Länder – darunter Deutschland, Frankreich und die Niederlande – werden erhebliche Unterschiede aufzeigt und zwar nicht nur auf Länderebene, sondern auch zwischen Städten innerhalb eines Landes.77 Im Vergleich zeigt sich beispielsweise, dass Türkeistämmige der zweiten Generation in Deutschland im Bereich der Bildung wesentlich schlechter abschneiden als in den anderen Ländern. Zudem zeigt sich in Deutschland eine deutlich stärkere Kopplung an die soziale Herkunft, insbesondere was die Aufnahme eines Studiums angeht (Crul/Schneider 2012: 378-380). Dabei sind auch stereotype Zuschreibungen und Ideologien sowie der Umgang mit (kultureller) Differenz und sozialer Ungleichheit, dies wurde mehrfach deutlich, relevante Dynamiken einer Aufnahmegesellschaft. Diese politischen und gesellschaftlichen Dynamiken fallen nicht nur für unterschiedliche natio-ethno-kulturelle Gruppen und Statusgruppen (zum Beispiel Flüchtlinge, (Spät)AussiedlerInnen, hochqualifizierte MigrantInnen) sehr ungleich aus, sondern auch regional sehr unterschiedlich.78 Karin Eli-

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etc.) zu einer bereits staatlich organisierten Mehrheitsgesellschaft zu beschreiben (vgl. Bommes 2011: 232; Han 2000: 151). Befragt wurden insgesamt 6.145 junge Menschen türkischer, marokkanischer und jugoslawischer Herkunft im Alter von 18 bis 35 Jahren sowie eine Vergleichsgruppe von 3.626 Personen. Zur Adaptation von türkeistämmigen Erwachsenen an die Kulturen der Migrationsgesellschaften Deutschland, Frankreich und Niederlande im Vergleich siehe die Studie von Evelyn Ersanilli und Ruud Koopmans (2009) mit 941 Befragten. Die Befunde zeigen, dass „die Bewahrung der Kultur des Herkunftslandes am deutlichsten in den Niederlanden ausgeprägt ist, wo lange Jahre eine Politik des Multikulturalismus verfolgt wurde. Die Übernahme der Kultur des Wohnlandes hingegen ist am deutlichsten in Frankreich, ei-

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nor Sauer (2007: 205f.) weist in ihrer mixed method Studie – einem Vergleich der Situation von neun- bis 14-jährigen Kindern im Migrationskontext in Baden-Württemberg und Kalifornien – auf die Bedeutung integrationsfördernd gestalteter Stadtteile für die aktive Teilhabe von Kindern mit Migrationshintergrund hin. 4.2 Migrationsgesellschaftliche Kontextualisierungen 4.2.1

Migration in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden

Europa ist Schauplatz vielfältiger und umfangreicher Migrationsbewegungen. Die Migrationsgesellschaften Europas lassen sich dabei entsprechend ihrer Migrations- und Integrationspolitik grob in die Regionen Nord-/ West-, Süd- und Osteuropa einteilen (siehe weiterführend Doomernik/ Bruquetas-Callejo 2016).79 Neben den nationalstaatlichen Reglements tritt die EU als weiterer Akteur in Erscheinung. Die migrationsgesellschaftlichen Verhältnisse in der Region Nord-/Westeuropa sollen mit besonderem Fokus auf Deutschland, Frankreich und die Niederlande anhand der zentralen Migrationsbewegungen und -formen im Folgenden skizziert werden (detailliert z. B.: Garcés-Mascareñas/Penninx 2016a; Bade et al. 2013). Migration stand in den 1950er und 60er Jahren in enger Verbindung mit dem Wirtschaftswachstum in Nord- und Westeuropa und war zu diesem Zeitpunkt überwiegend positiv konnotiert (van Mol/Valk 2016: 33). Der wachsende Bedarf an Arbeitskräften vor allem im Industriesektor führte in allen drei Ländern zu Anwerbeabkommen unter anderem mit Algerien, Griechenland, Italien, Jugoslawien, Marokko Portugal, Spanien, Tunesien und der Türkei. Die Abkommen waren indes in keinem der drei Länder auf einen dauerhaften Aufenthalt ausgerichtet. Die gesellschaftliche Integration der ausländischen Arbeitskräfte spielte kaum eine Rolle. Mit der Ölkrise 1973/74 kam es schließlich zum Anwerbestopp. Der Schatten der Krise

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nem stärkeren Verfechter der Assimilation zumindest im öffentlichen Raum“ (ebd.: o.S.) (siehe weiterführend Kap. 4.2.1). Die Region Nord- und Westeuropa ist durch die frühe und systematische, zunächst temporär angelegte Anwerbung von GastarbeiterInnen gekennzeichnet und ist Hauptzielregion von MigrantInnen und Geflüchteten in Europa.

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zeigte sich auch darin, dass die ausländischen Arbeitskräfte angesichts ihrer „konjunkturellen Pufferfunktionen“ (Bade/Oltmer 2008: 160) vom Stellenabbau in den oft wettbewerbsschwachen und konjunkturabhängigen Positionen auch nach langjähriger Beschäftigung besonders stark betroffen waren. Statt der Rückkehr und trotz staatlicher Rückkehranreize entschieden sich viele der ausländischen Arbeitskräfte wegen prekärer Situationen in den Herkunftsländern sowie den mittlerweile erworbenen aufenthalts-, arbeitsund sozialrechtlichen Ansprüchen zum dauerhaften Aufenthalt. „The end of the guest worker era actually meant the beginning of substantially larger migration flows“ schreiben Jeroen Doomernik und María Bruquetas-Callejo (2016: 59) und beziehen sich damit unter anderem auf den daraufhin einsetzenden Familiennachzug.80 Mit dem Zuzug von (überwiegend) Ehefrauen und Kindern vollzog sich soziodemographisch betrachtet eine Feminisierung und Verjüngung der MigrantInnenbevölkerung. Bisher Anwerbestaaten, gingen Deutschland, Frankreich und die Niederlande aufgrund der Wirtschaftslage und der unerwartet hohen dauerhaften Niederlassungen und Familiennachzüge indes zu einer wesentlich restriktiveren und selektiveren Migrationspolitik über (Penninx 2013: 12). In Frankreich und den Niederlanden fanden Zuwanderungen zudem im Zuge der Dekolonialisierung statt. Mit der Unabhängigkeit der niederländischen Kolonien Indonesien (1945) und Surinam (1975) kamen niederländisch-indonesische RückwanderInnen, MolukkerInnen und SurinamerInnen in die Niederlande. Eine weitere Gruppe an ZuwanderInnen stammt von den Niederländischen Antillen, die weiterhin Teil des niederländischen Königreichs sind (Ersanilli 2014: 2). Bei den niederländisch-indonesischen RückwanderInnen handelt es sich um NiederländerInnen, die sich dauerhaft in der Kolonie niedergelassen und dabei häufig interethnische Ehen geschlossen hatten sowie deren Nachkommen. Die MolukkerInnen, BewohnerInnen einer indonesischen Inselgruppe, hatten in der niederländischen Kolonialarmee gekämpft und wurden im Zuge der Demobilisierung der Streitmacht als provisorische Lösung in die Niederlande gebracht. Die Unterbringung war nicht auf einen dauerhaften Aufenthalt ausgelegt und durch 80

Für die Niederlande stellt Evelyn Ersanilli (2014: 2) zum Beispiel fest: „Seit dem Ende der Anwerbung ist die marokko- und türkeistämmige Bevölkerung infolge von Familienzusammenführung, Familiengründung und Geburten stark gewachsen. Zwischen 1975 und 2014 stieg die Zahl der in den Niederlanden lebenden Türkeistämmigen von 55.639 auf 396.414 und die Zahl der Marokkostämmigen von 30.481 auf 374.996.“

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eine isolierte Wohnsituation gekennzeichnet. Erst Anfang der 1970er Jahre erfolgte das Eingeständnis der niederländischen Regierung, dass es sich nicht um einen temporär begrenzten Aufenthalt handelt. Schätzungsweise 250.000 bis 300.000 Personen kamen in Folge der Unabhängigkeit Indonesiens in die Niederlande. Die Zahl der MolukkerInnen wird heute auf ca. 40.000 Personen geschätzt (van Amersfoort/van Niekerk 2003: 137–148). Die SurinamerInnen und die BewohnerInnen der niederländischen Antillen bekamen Mitte der 1950er Jahre die niederländische Staatsangehörigkeit zugesprochen und damit freie Einreise- und Aufenthaltsmöglichkeit in den Niederlanden. Angesichts der Unabhängigkeitsbewegungen Surinams um 1975 kam es aus Furcht vor dem Verlust der niederländischen Staatsangehörigkeit zu großen Migrationsbewegungen. Bis 1980 gewährten die Niederlande SurinamerInnen noch eine freie Einreise, was Ende der 1970er Jahre erneut zu einer großen Einwanderungswelle führte. Beide Einwanderungswellen ereigneten sich zu wirtschaftlich schwachen Zeiten, was neben der oft geringen Qualifizierung der EinwanderInnen eher schwierige soziale Positionen und Stigmatisierungen zur Folge hatte (ebd.: 148–153). Für AntillanerInnen herrschen bis heute keine Einreisebeschränkungen. Die Zuwanderung konzentrierte sich vor allem auf die 1980er und 90er Jahre. Kamen zuvor vor allem Studierende und Fachkräfte, so brachten die Zuwanderungswellen am Ende des 20. Jahrhunderts vor allem den Zuzug von gering qualifizierten Personen, die in den Niederlanden vermehrt mit sozialen Problemen konfrontiert wurden (ebd.: 154–158). In Frankreich stellt die Zuwanderung aus Algerien die umfangreichste postkoloniale Migration dar (Moch 2008: 136). AlgerierInnen konnten seit 1946 frei nach Frankreich einreisen. Die Migration mit dem Ziel der Erwerbstätigkeit wurde im Zuge der GastarbeiterInnenmigration auch gezielt gefördert. Leslie Page Moch (2008) beschreibt die Situation der AlgerierInnen in Frankreich in den 1960er Jahren dann wie folgt: „Als ab 1960 der Algerienkrieg in seine härteste Phase trat, wurden Algerier in Frankreich zu Opfern von Diskriminierung, Hetze und gewalttätigen Polizeiaktionen, die am 17. Oktober 1961 in der Ermordung von mindestens 200 Personen bei der Niederschlagung einer friedlichen Demonstration in Paris kulminierten. Algerier galten als Verräter und Feinde Frankreichs und wurden auch zum Ziel rechtsgerichteter Anti-Einwanderungspolitik. In den 1960er Jahren kamen überwiegend arabische Algerier ins Land, aber auch deren frühere Gegner: zum einen die ‚Pieds Noirs’, europäische Siedler, die zum Teil ihre anti-arabischen Aktivitäten in Frankreich fortsetzten, zum anderen die ‚Harkis’, die als Soldaten oder als Verwaltungspersonal mit der Kolonialmacht kollaboriert hatten.“

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Nach der Unabhängigkeit Algeriens kehrten die AlgerierInnen nicht wie erhofft zurück, sondern holten ihre Familien ins Land. Die Anfeindungen dauerten in den 1970er Jahren fort. Bis zum Anwerbestopp 1974 kamen zudem zahlreiche ZuwanderInnen aus den anderen (ehemaligen) Kolonien (Subsahara-Afrika, Maghreb-Staaten, Indochina), die später auch ihre Familien nachholten (Moch 2008: 135). Personen aus den ehemaligen französischen Kolonien in Subsahara-Afrika und den Maghreb-Staaten bilden heute darüber hinaus den überwiegenden Anteil der schätzungsweise 200.000 bis 400.000 Personen, die zum Teil seit Jahren in Frankreich leben ohne legalen Aufenthaltsstatus – die so genannten sans papiers (ohne Papiere) (Engler 2017: o.S.).81 Frankreich besitzt weiterhin Überseegebiete (u. a. Martinique, La Réunion), deren BewohnerInnen französische StaatsbürgerInnen sind. In Deutschland stellt die Gruppe der (Spät)AussiedlerInnen ein Spezifikum dar. Ihre Zuwanderung geht auf deutschstämmige Siedlungen zurück, die sich bis ins 19. Jahrhundert im ostmittel-, ost- und südosteuropäischen Raum sowie im russischen Vielvölkerstaat gebildet haben. Obgleich bereits im Grundgesetz (1949) die politischen Grundlagen für eine Aussiedlung nach Deutschland und der Anspruch auf die deutsche Staatsangehörigkeit gegeben waren, erreichte die Zuwanderung bis in die 1980er Jahre unter anderem aufgrund restriktiver Ausreisebestimmungen in den Herkunftsländern keine aufsehenerregenden Ausmaße.82 Mit der Öffnung des Eisernen Vorhangs und der Lockerung der Ausreisebestimmungen in der ehemaligen UdSSR erreichte die AussiedlerInnenzuwanderung mit 400.000 Zuwande81

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Die letzten 35 Jahre sind durch unterschiedliche Legalisierungs- und Abschiebepraktiken durch die französischen Regierungen gekennzeichnet. Nach unterschiedlichen Legalisierungsprogrammen Anfang der 1980er, Ende der 1990er und um 2006 setzte die Regierung unter Nicolas Sarkozy (2007-2012) auf verschärfte Abschiebepraktiken, v. a. in Bezug auf die ethnische Minderheit der Roma. Mit François Hollande (2012-2017) wurden wieder etwas liberalere Legalisierungspraktiken eingeführt (Engler 2017: o.S.). Die Schätzungen für Deutschland belaufen sich auf 180.000 bis 520.000 Papierlose (Vogel 2016: 4). Die rechtliche Grundlage für die Integration und Gleichstellung auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens bildete zunächst das Bundesvertriebenengesetz (BVFG), ab 1993 das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz. Neben dem Anspruch auf Rente, Arbeitslosenunterstützung und Krankenversicherungsleistungen wurden AussiedlerInnen unter anderem auch zusätzliche berufsabhängige Eingliederungshilfen (Fortbildungs-, Umschulungs- und Sprachkursmaßnahmen) bewilligt. Gleichwohl regelte das BVFG die Anerkennung von im Herkunftsland erworbenen beruflichen Qualifikationen. Mit zunehmenden Zuzugszahlen nahmen die Unterstützungsleistungen ab (Dietz 2008: 397–404).

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rInnen im Jahr 1990 ihren Höhepunkt. Die politischen Reaktionen in Form von restriktiveren Aufnahmeregelungen und einem sukzessiven Abbau von Eingliederungshilfen folgten auf dem Fuße und führten zu einem vehementen Rückgang der AussiedlerInnenzuwanderung (Dietz 2008: 397–401). Insgesamt kamen seit den 1950er Jahren mindestens 4,5 Millionen Menschen im Rahmen des AussiedlerInnenzuzugs in die Bundesrepublik Deutschland (Bade/Oltmer 2008: 166). Die restriktivere und selektivere Migrationspolitik, die in allen drei Ländern seit dem Anwerbestopp in den 1970ern verfolgt wurde, galt nicht in gleicher Weise für EU-BürgerInnen. Während sich die EU-Außengrenzen verfestigten, fielen die europäischen Binnengrenzen mehr und mehr. Seit 1985 wird der Abbau innereuropäischer Grenzkontrollen stetig vorangebracht. Durch das EU-Freizügigkeitsgesetz (seit 2004)83 haben EU-BürgerInnen das Recht auf freie Einreise, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit innerhalb der Mitgliedsstaaten. Die EU-Binnenmigration stellt in NordWesteuropa zahlenmäßig die bedeutendsten und dynamischsten Wanderungsbewegungen dar. Dabei sind Migrationsprozesse und -motive sehr vielfältig. Christof Van Mol und Helga de Valk (2016: 47–50) zeigen am Beispiel der polnischen MigrantInnen, dass diese Gruppe an ZuwanderInnen in den Niederlanden signifikant jünger (mehrheitlich zwischen 20 und 35 Jahren) und von der Geschlechterverteilung ausgeglichener ist als in Deutschland, wo Männer im Alter zwischen 20 und 59 Jahren die Gruppe dominieren. Die Vergemeinschaftung der Asyl- und Flüchtlingspolitik stellt ein weiteres zentrales Ziel der EU dar. Seit den 1980ern, vor allem aber in den 1990ern kam es vor dem Hintergrund der Öffnung des Eisernen Vorhangs und dem Bürgerkrieg in Jugoslawien zu bedeutenden Fluchtbewegungen in Richtung Nord-Westeuropa. Hinzu kamen Geflüchtete aus Krisenregionen wie der Türkei, dem Irak, Afghanistan und Afrika. In Deutschland, wo über den gesamten Zeitraum die meisten Geflüchteten ankamen, wurden im Jahr 1992 438.191 Asylanträge gestellt (BAMF 2017). Angesichts der empfundenen Belastung kam es in der Folge zu einer restriktiveren Asylpolitik in den einzelnen Ländern (für D: Asylkompromiss 1993). Seit 1999 arbeitete die EU an einem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) (Nuscheler 2011: 300). Das so genannte Dublin-Verfahren regelt unter anderem die 83

Der Grundstein wurde bereits im Vertrag von Paris (1951) gelegt. Das Gesetz wurde schrittweise ausgebaut.

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Teil I: Theoretische Verortungen und Forschungsstand

Zuständigkeit für die Prüfung von Asylanträgen.84 Während ab Mitte der 1990er Jahre die Zahlen an Asylsuchenden stetig zurückgingen, war ab 2010 erneut ein Anstieg zu verzeichnen, der 2015/2016 seinen Höhepunkt erreichte (745.545 Asylanträge in Deutschland im Jahr 2016; BAMF 2017). Im Jahr 2015 waren in Deutschland AsylbewerberInnen aus Syrien, Albanien, dem Kosovo, Afghanistan und dem Irak am stärksten vertreten, in Frankreich aus dem Sudan, Syrien, dem Kosovo, dem Kongo und Bangladesch sowie in den Niederlanden aus Syrien, Eritrea, dem Irak, Afghanistan sowie Staatenlose (eurostat 2017). Die Anerkennungsquoten sind für die einzelnen Gruppen sehr unterschiedlich. Nicht nur innerhalb der Länder wurde die jüngsten Fluchtbewegungen sehr kontrovers verhandelt, auch die vergemeinschaftete Asyl- und Flüchtlingspolitik der EU wurde ernsthaft auf die Probe gestellt und von einzelnen Ländern massiv torpediert. Die europäische Migrations- und Asylpolitik – so lässt sich zusammenfassen – ist geprägt durch den Abbau innereuropäischer Beschränkungen und die Abschottung nach außen. Migration – vor allem außer-, aber auch innereuropäische – wird dabei immer stärker mit Sicherheitsfragen und potentiellen Bedrohungen (Kriminalität, Terrorismus) in Verbindung gebracht (vgl. Penninx 2013: 12). Angesichts der gezielten Steuerung und Restriktion von Migration zeigen sich alle drei Länder darum bemüht, ihre Attraktivität für hochqualifizierte MigrantInnen zu steigern und eröffnen entsprechende Zugangswege (Bluecard). Weiterhin gilt zu beachten, dass ein beträchtlicher Teil an Menschen mit Migrationshintergrund häufig über mehrere Generationen bereits in den Ländern beheimatet ist. Schließlich sind Migrationsbewegungen in Europa heute gekennzeichnet durch „more fluid practices of international mobility [...] new practices of residence, integration and community formation“ und zudem eingebettet in transnationale Strukturen (ebd.: 11). Die Zusammensetzung der Migrationsbevölkerung in den drei Ländern und der EU soll im Folgenden anhand von ausgewählten Daten veranschaulicht werden. Der Anteil an Personen, denen in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden ein Migrationshintergrund zugeordnet wird, beträgt jeweils ca. 20 Prozent (DESTATIS 2017; INSEE 2017; CBS 2016b). Abbildung 2 gibt einen Überblick über die Zusammensetzung der Personen der ersten und 84

In der Regel ist derjenige Staat zuständig, der von den Asylsuchenden zuerst betreten wurde.

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zweiten Migrationsgeneration in den drei Ländern und der EU.85 Dabei fällt auf, dass die Migrationsbevölkerung sich in Frankreich zum überwiegenden Teil aus Personen der zweiten Migrationsgeneration zusammensetzt, während in Deutschland die Gruppe der im Erwachsenenalter zugewanderten Personen klar dominiert. In den Niederlanden ist das Verhältnis der ersten und der zweiten Migrationsgeneration nahezu ausgeglichen. Darüber hinaus ist in Frankreich und den Niederlanden im Gegensatz zu Deutschland bei der zweiten Generation der Anteil an Personen, bei denen nur ein Elternteil zugewandert ist, deutlich höher. 35 25

Native-born with two foreign-born parents Native-born with mixed backround Foreign-born who arrived as children Foreign-born who arrived as adults

15 5 -5 Abbildung 2: ZuwanderInnen und im Inland geborene Kinder von ZuwanderInnen, 2012/13, in % (OECD 2015: 17)

Wie Abbildung 3 veranschaulicht, handelt es sich bei der Bevölkerung mit ausländischer Staatsangehörigkeit in der EU um eine vergleichsweise junge Bevölkerungsgruppe. Sie sind insbesondere in der erwerbsfähigen Altersgruppe der 25- bis 50-jährigen überproportional vertreten.

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Wenngleich die Werte Frankreichs hinsichtlich des Anteils von Personen mit Migrationshintergrund an der Gesamtbevölkerung von den eigenen Berechnungen und auch denen von Engler (2017 o.S.) um ca. 5 % abweichen, lassen sich dennoch Tendenzen in der Zusammensetzung ausmachen. Wo diese Abweichung herrührt, ist nicht auszumachen. Jedoch werden die eigenen Berechnungen auf Grundlage von Daten des Institut national de la statistique et des études économiques als gesichert angenommen (INSEE 2017).

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Teil I: Theoretische Verortungen und Forschungsstand

Abbildung 3: Altersstruktur der Staatsangehörigen und Nichtstaatsangehörigen der EU-28, in % (eurostat 2016)

Die ausländische Bevölkerung in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden stammt, so verdeutlicht Tabelle 7, überwiegend aus europäischen Herkunftsländern, insbesondere Nachbarländern sowie ehemaligen Anwerbestaaten. In allen drei Ländern gehört die Türkei zur Top 5 der Herkunftsländer der ausländischen StaatsbürgerInnen, was auch vorrangig auf die GastarbeiterInnenbewegung und den anschließenden Familiennachzug zurückzuführen ist. In Frankreich gehören zudem Personen aus den ehemaligen Kolonien Algerien und Marokko zu den größten ausländischen Bevölkerungsgruppen. Zu beachten ist, dass eingebürgerte Personen, die in den Ländern einen großen Anteil ausmachen, hier nicht erfasst sind.

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in Tsd. Deutschland Türkei Polen Italien Rumänien Griechenland

in Tsd. Frankreich Portugal Algerien Marokko Türken Italiener

Niederlande 1.372,1 519,2 Polen 640,3 476,3 Türkei 537,6 443,1 Deutschland 345,8 216,4 Marokko 304,6 176,7 Ver. Königreich Andere 4.339,4 Andere 2.133,9 Andere Tabelle 7: Ausländische Bevölkerung nach Staatsangehörigkeit (eurostat 2016, INSEE 2013)

in Tsd. 99,6 77,5 71,8 44,9 43,0 436,6

Die OECD klassifiziert Migrationsgesellschaften entlang unterschiedlicher Merkmale. Abbildung 4 kontrastiert beispielhaft zwei Gruppen von Migrationsgesellschaften mit „many recent and high-educated immigrants“ auf der einen und „longstanding lower-educated migrants“ auf der anderen Seite. Deutschland, Frankreich und die Niederlande sind der zweiten Gruppe zuzuordnen.

Abbildung 4: Klassifizierung der OECD- und EU-Zielländer entsprechend der Merkmale ihrer ZuwanderInnenbevölkerung, ca. 2013, in % (OECD 2015: 30)

Kennzeichnend ist eine im Vergleich bereits längere Aufenthaltsdauer und geringere Qualifizierung der ZuwanderInnen. Für Deutschland zeigt sich dennoch ein vergleichsweise hoher Anteil an ZuwanderInnen aus Ländern

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Teil I: Theoretische Verortungen und Forschungsstand

mit hohem Einkommen. Für Frankreich zeigt sich ein überproportionaler Anteil an französischsprachigen und älteren ZuwanderInnen. 4.2.2

Integrationspolitik und Diskurse

Im Folgenden werden die integrationspolitischen Vorgehensweisen der einzelnen Länder kontrastiert und schließlich vor dem Hintergrund einer zunehmenden europäischen Harmonierung betrachtet. Grob dargestellt entsprachen die Integrationsbemühungen Frankreichs bis in die 1990er Jahre überwiegend dem Assimilationsprinzip, während in den Niederlanden ein Multikulturalismus angestrebt wurde. Deutschland hingegen dementierte den Status eines Einwanderungslandes de facto über mehrere Jahrzehnte. Die niederländische Integrationspolitik galt mit dem verfolgten Prinzip des Multikulturalismus in den 1990er Jahren noch als Musterbeispiel. Das Prinzip der staatlich unterstützten Erhaltung der Herkunftskultur geht in den Niederlanden auf das im 19. Jahrhundert implementierte Gesellschaftssystem der Versäulung (verzuiling) zurück, das auf der Idee basiert, „dass jede Glaubensgemeinschaft und später auch politische Gemeinschaften wie die Sozialisten oder die Liberalen eine eigene ‚Säule’ darstellen“ (Ersanilli 2014: 5). Dem Beispiel der Implementierung eigener Infrastrukturen mit eigenen Organisationen in unterschiedlichen Bereichen des öffentlichen Lebens (u. a. Gewerkschaften, Kultur- und Sportvereine, Zeitungen, Schulen) folgten, unterstützt durch staatliche Förderung, ab den 1980er Jahren auch zugewanderte natio-ethno-kulturelle und religiöse Minderheiten. Ab Anfang der 1980er Jahre wurde dem Bedarf einer zielgerichteten Integrationspolitik in den Niederlanden systematisch nachgegangen als sich herauskristallisierte, dass für einen Großteil der Zugewanderten von einem langfristigen Aufenthalt auszugehen sein musste. Als zentraler Ausgangspunkt gilt der 1979 veröffentlichte Bericht des Wissenschaftlichen Beirats der Regierung zu ethnischen Minderheiten, der sich mit dem Ziel einer multikulturellen Gesellschaft unter anderem für eine „Integration unter Beibehaltung der eigenen Kultur“ aussprach (Michon 2010: 143). Unter staatlicher Förderung wurden die politische Partizipation ethnischer Minderheiten, der Ausbau von muttersprachlichem Unterricht, die Errichtung von muslimischen und hinduistischen Schulen, von eigenen Friedhöfen, Metzgereien, Medienorganisation etc. unterstützt. Weitere Maßnahmen galten der

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Verbesserung der rechtlichen Stellung sowie der sozialen und wirtschaftlichen Lage von Angehörigen ethnischer Minderheiten und der Bekämpfung von Diskriminierung und Vorurteilen (Michalowski 2007: 29). Mit der Erkenntnis, dass diese Form der staatlichen Minderheitenpolitik soziale Ungleichheit nicht aufzulösen vermochte – „die sozioökonomische Position der vier größten nicht-westlichen Einwanderergruppen (TürkInnen, SurinamerInnen, MolukkerInnen und AntillanerInnen) schlecht blieb und Jugendliche aus diesen Bevölkerungsgruppen in den Kriminalitätsstatistiken überrepräsentiert waren“ (Ersanilli 2014: 6) – wurde in den 1990er Jahren der Fokus auf eine stärkere bildungs- und arbeitsmarktbezogene Förderung gelegt.86 Der Fokuswechsel äußerte sich auch in einem Wechsel des Begriffs Minderheitenpolitik in Integrationspolitik sowie in der Einführung der Begriffe allochtonen und autochtonen, die Individuen und nicht mehr in erster Linie Gruppen in den Blick nehmen (Michalowski 2007: 32). Die Förderung der Herkunftskulturen der ethnischen Minderheiten hingegen wurde nicht mehr als staatliche Aufgabe betrachtet, spezifische Fördermaßnahmen wurden reduziert. Dagegen erhielt die Förderung der niederländischen Sprache einen höheren Stellenwert (ebd.). 1998 wurde mit dem Gesetz über die Erstintegration von NeuzuwanderInnen (Wet Inburgering Nieuwkomers, WIN) ein staatliches Eingliederungsprogramm mit 600 Stunden Sprach- und Gesellschaftskundekurs, beruflichen Orientierungsmaßnahmen und individuellen Begleitungsmaßnahmen für NeuzuwanderInnen eingeführt. Nach mehrfachen Änderungen ist die Kursteilnahme seit 2007 nicht mehr verpflichtend, verpflichtend bleibt aber ein Integrationstest, um die dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung zu erwerben (weiterführend Michalowski 2006: 72; Joppke 2007: 249). Ersanilli (2014: 7) bilanziert, dass sich „der Blickwinkel der Gesellschaft auf die unterschiedlichen Kulturen der Einwanderer [...] verschoben“ hat und Kultur nun stärker als Integrationshemmnis betrachtet wird. Seit den 1980er Jahren bildeten sich einwanderungsfeindliche Bewegungen und Parteien heraus. Jedoch sorgten vor allem die Vorkommnisse Anfang der 2000er – die Terroranschläge am 11. September 2001 in den USA, die Ermordung des Rechtspopulisten Pim Fortuyn in 2002 und des Filmemachers Theo van Gogh in 2004 – für eine aufgeheizte Stimmung im Land mit zunehmenden – wellenförmigen – vor allem islamfeindlichen Tenden86

Grundlegende Politische Absichtserklärung zur Integrationspolitik Ethnischer Minderheiten (1994)

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Teil I: Theoretische Verortungen und Forschungsstand

zen (Joppke 2007: 250). Einen Höhepunkt bildete dabei die Gründung der Partij voor de Vrijheid (PVV) unter Geert Wilders im Jahr 2006, die auf Anhieb ins Parlament einzog und bei der jüngsten Parlamentswahl (März 2017) sogar zweitstärkste Kraft wurde (13,1 %). Charakteristisch für Frankreichs Integrationspolitik ist das republikanische Selbstverständnis, das auf die Französische Revolution 1789 zurückgeht: Grundlage der „gesamtgesellschaftlichen Integrationsstrategie [...] ist ein politisches Nationenkonzept, welches alle Staatsbürger vor dem Gesetz gleichstellt und ethnische oder religiöse Identitäten ausblendet“ (Engler 2017: o.S.). Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (2015: 97) beschreibt den Republikanismus als Staatsphilosophie und sein Prinzip der Gleichheit (égalité) als indifferent gegenüber Differenz und „damit als ‚farben- und kulturblind‘ konzipiert“. Kennzeichnend ist eine starke Trennung von privater und öffentlicher Sphäre, wobei identitätsstiftende Merkmale wie natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsdimensionen als privat eingestuft werden und den Staat nach seinem Selbstverständnis nicht zu interessieren haben. Diese klare Trennung zeigt sich besonders deutlich anhand eines weiteren französischen Grundprinzips, dem der Laizität (laïcité, seit 1905), das heißt der Trennung von Religion und Staat. Außerdem zeigt es sich auch darin, dass Probleme und Benachteiligungen im Migrationskontext in erster Linie als rein sozialpolitische Themen bearbeitet wurden, wie zum Beispiel die Einrichtung bildungspolitischer und stadtplanerischer Prioritätszonen (zone d’éducation prioritaire (ZEP), zone d’urbanisation prioritaire (ZUP)) (SVR 2015: 97; Michalowski 2007: 40).87 Dem Gleichheitsprinzip steht die Bürgerschaft (citoyenneté) gegenüber und mit ihr die assimilatorisch orientierte Forderung an den/die BürgerIn (citoyen/citoyenne), die Grundwerte und Gesetze der Republik zu achten und Zugehörigkeit zu empfinden. Dies erklärt auch, warum Integration besonders stark mit Einbürgerung in Verbindung gebracht wird, was durch ein vergleichsweise liberales Einbürgerungsgesetz und das Geburtsortsprinzip ius soli befördert wird (Göbel 2016: 5; Tucci 2011: 117; Michalowski 2007: 38– 40).

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Ines Michalowski (2007: 40) schreibt hierzu: „obwohl es sich tatsächlich in beiden Fällen um Gebiete bzw. Schulen mit vielen Migranten handelt, wird – zumindest auf konzeptueller Ebene und in den offiziellen Dokumenten – jeglicher Hinweis auf migrantenspezifische Maßnahmen vermieden“.

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Integrationsbezogene Debatten kommen vor allem Mitte der 1980er Jahre auf. Zunehmende gesellschaftliche Spannungen – unter anderem gewaltsame Konflikte, an denen Jugendliche aus Migrationsfamilien im Besonderen beteiligt waren, das Erstarken rechtsextremer Kräfte und einem zunehmenden Zwiespalt zwischen dem republikanischen Wert der Laizität und dem Recht auf freie Religionsausübung – machen dabei ein Umdenken in Bezug auf das republikanische Integrationsmodell erforderlich (Engler 2017: o.S.). Im Jahr 1989 wird der Hohe Integrationsrat (Haut Conseil à l’Intégration) gegründet, ein Zusammenschluss von PolitikerInnen und weiteren ExpertInnen, der zentrale Integrationsfragen bearbeitet und den Präsidenten berät. Der Hohe Integrationsrat kennzeichnet Integration entgegen des bisher vorherrschenden Assimilationsverständnisses als zweiseitigen Prozess (Sackmann 2001: 84). Mit dem 2006 erlassenen Gesetz für Chancengleichheit (loi pour l’égalité des chances) und in Reaktion auf die starken Unruhen in den Banlieues im Jahr 2005 werden in den letzten zehn Jahren zunehmend Maßnahmen geschaffen, die Diskriminierung entgegenwirken und die Integrationschancen von vor allem jungen Menschen aus Migrationsfamilien verbessern sollen (Engler 2017: o.S.). Zudem wurde in dem 2006 verabschiedeten Einwanderungsgesetz (loi relative à l’immigration et à l’intégration) mit dem so genannten Aufnahme- und Integrationsvertrag (contrat d’accueil et d’intégration; heute: contrat d’intégration républicaine) ein Instrument geschaffen, das für AusländerInnen, die sich dauerhaft im Land niederlassen möchten, obligatorische Sprach- und StaatsbürgerInnenkurse vorsieht. Als ein wesentliches Thema französischer Integrationspolitik stellt sich zudem der Umgang mit dem Islam dar. Frankreich beheimatet die größte muslimische Gemeinde der EU. 2003 wird der nationale Islamrat (Conseil français du culte musulman, CFCM) gegründet, der als Vertretung der in Frankreich lebenden MuslimInnen fungieren soll. Mit dem Gesetz zum Verbot religiöser Symbole in Schulen (2004) und dem Gesetz zum Verbot der Vollverschleierung in der Öffentlichkeit (2011) erfährt indes der laizistische Grundwert wieder stärker Betonung. Konfrontiert sieht sich Frankreich mit dem Thema Islam nicht zuletzt aufgrund der jüngsten islamistischen Terroranschläge unter anderem in Paris (2015) und Nizza (2016) und der zunehmenden Radikalisierung junger Menschen der zweiten Migrationsgeneration. Diese Entwicklungen werden mitunter auf eine verfehlte Integrationspolitik und die oft problematischen und segregierenden Lebensbedingungen in den Banlieues zurückgeführt (Engler 2017: o.S.).

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Eine Radikalisierung in Bezug auf einwanderungskritische und islamfeindliche Einstellungen zeigte sich zwar bereits seit den 1970ern – 1972 gründete Jean-Marie Le Pen die rechtsextremistische Partei Front National – mit den aktuellen Parlamentswahlen (2017) hat diese jedoch eine neue Dimension erreicht. Der Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen wurden ernsthafte Chancen zugerechnet, Präsidentin Frankreichs werden zu können. Sie erreichte schließlich ein Drittel der gültigen Stimmen (Ministère de l'Intérieur 2017). Die Entwicklung der bundesdeutschen Integrationspolitik beschreibt Ines Michalowski (2007: 34) wie folgt: „Anders als in den beiden Nachbarländern Frankreich und den Niederlanden ist in Deutschland weder jemals ein positives Bild der eigenen Integrationspolitik noch die Idee einer einheitlichen methodologisch und ideologischen Herangehensweise entstanden“. Kennzeichnend für Deutschland ist, dass es sich bis in die 1990er Jahre weigerte, den Status eines Einwanderungslandes offiziell anzuerkennen und sich damit auch einer zielgerichteten, föderal gesteuerten Integrationspolitik weitgehend verwehrte (Hanewinkel/Oltmer 2015: 10). Dabei hatte neben Stimmen aus der Wissenschaft der erste Ausländerbeauftrage der Bundesregierung, Heinz Kühn, bereits 1979 in einem Memorandum deutlich auf Mängel und Bedarfe in der deutschen Integrationspolitik verwiesen. Dieses Versäumnis handelte Deutschland den Ruf ein, komplexe Probleme (u. a. mangelnde Chancengleichheit, ethnische Segregation, Rechtsextremismus) viel zu spät erkannt sowie Integrationschancen versäumt zu haben. Die Folge war eine ‚nachholende’ Integrationspolitik (Bade 2007). Zwar gab es auch zuvor schon Integrationsförderung, diese war jedoch vielmehr ein Sammelsurium an Einzelmaßnahmen mit zersplitterten Zuständigkeitsstrukturen. Als bedeutsame AkteurInnen traten unter staatlicher Förderung die Wohlfahrtsverbände in Erscheinung (Michalowski 2007: 36). Ab den 1990er Jahren wurde mit der Reform des Ausländergesetztes zur Regelung unterschiedlicher Aufenthaltsgenehmigungen (1990), der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, das Einbürgerungen erleichterte (2000), und schließlich mit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes (2005) der offiziellen Anerkennung als Einwanderungsland Schritt für Schritt Ausdruck verliehen. Die Steuerung der Integrationsförderung eingebettet in ein Prinzip des „Förderns und Forderns“ wurde dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) übertragen. Mit dem Zuwanderungsgesetz wird die Umsetzung eines bundesweiten für NeuzuwanderInnen und bestimmte

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weitere Gruppen verpflichtenden Integrationskurses (Deutschkurs und Orientierungskurs) geregelt (Bade/Oltmer 2008: 169). In den Folgejahren wurden in regelmäßigen Integrationsgipfeln mit VertreterInnen unter anderem aus Politik, Medien, MigrantInnen- und ArbeitsgeberInnenverbänden Initiativen zur Integration diskutiert sowie überprüfbare Zielvorgaben formuliert und im Nationalen Integrations- (2007) und Aktionsplan (2012) gebündelt. Zudem finden regelmäßig Islamkonferenzen mit VertreterInnen von Bund, Ländern, Kommunen, VertreterInnen muslimischer Verbände und Einzelpersonen statt, um einen langfristigen Dialog anzuregen (Hanewinkel/Oltmer 2015: 10; Fereidooni 2012: 31). Kontroverse Debatten beispielsweise als Reaktion auf Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ (2010), auf Aussagen wie „Der Ansatz für Multikulti ist gescheitert.“ (Angela Merkel, 2010), „Der Islam gehört zu Deutschland“ (Christian Wulff, 2010; Angela Merkel 2015), die Diskussion einer Obergrenze (Horst Seehofer, 2016) oder einer deutschen Leitkultur („Wir sind nicht Burka“, Thomas de Maizière, 2017) offenbaren stetig aufs Neue das nach wie vor gespaltene Verhältnis hinsichtlich einer Selbstpositionierung als Einwanderungsland. Auch Deutschland vollzieht – dies zeigen das Erstarken der rechtspopulistischen Partei Alternative für Deutschland (AfD), der BürgerInnenbewegung Pegida88 und der Anstieg fremdenfeindlicher Straftaten – gegenwärtig einen deutlichen Rechtsruck (vgl. FES Pressestelle 2017). Migration und Integration in Richtung einer europäischen Harmonisierung In Bezug auf die Migrations- und Integrationspolitik in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden zeigt sich in den letzten zwanzig Jahren eine zunehmende europäische Harmonisierung (vgl. Garcés-Mascareñas/ Penninx 2016b: 1). Diese zeigt sich erstens aufgrund von europäischen Abkommen, unter anderem in den Bereichen der EU-Freizügigkeit, der Asylund Grenzpolitik und der Antidiskriminierung.89 Zu beobachten sind vergleichbare, sehr dynamisch verlaufende Migrationsprozesse im Zuge der EU-Binnenmigration sowie wellenförmiger Migrationsbewegungen im Kon88 89

Abkürzung für: Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes Supranationale Abkommen sind in erster Linie im Bereich der Migrationspolitik zu finden. Integrationspolitisch zeigen die EU-Länder bislang wenig Interesse an einer verbindlichen EU-Lösung, wenngleich Bemühungen hin zu einem gemeinsamen europäischen Ansatz in Gang sind (Garcés-Mascareñas/Penninx 2016b: 2).

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text von Flucht und Asyl. Es zeigt sich zweitens durch ländervergleichende Berichte, Sozialberichterstattungen und Studien, in denen länderspezifische Vorgehensweisen, Rahmen- und Gelingensbedingungen etc. zueinander ins Verhältnis gesetzt werden und damit der Blick geöffnet wird über den eigenen (nationalstaatlichen) Kontext hinaus im Sinne von best practiceBeispielen, wie zum Beispiel die Implementierung eines Integrationsprogramms in den Niederlanden Ende der 1990er Jahre. Die drei gegensätzlichen Integrationsmodelle mündeten um die Jahrtausendwende in der Einführung obligatorischer Integrationsprogramme90, im Zuge der Europäisierung mit unverkennbaren sukzessiven Annäherungstendenzen und ähnlichem Integrationsverständnis (Sprache, Teilhabe am Arbeitsmarkt, Bekenntnis zur demokratischen Grundordnung) (vgl. Hanewinkel/Oltmer 2015: 10; Tucci 2011: 119; Joppke 2007: 247–254). Einigkeit besteht auch darüber, dass Integration ein zweiseitiger Prozess ist, der sowohl Personen mit Migrationshintergrund als auch die aufnehmende Migrationsgesellschaft betrifft (Garcés-Mascarenas/Penninx 2016: 1f.). Integration, auch hier zeigen sich Parallelen, läuft sehr kommunal gesteuert ab. Die Stadtentwicklung spielt dabei eine bedeutsame Rolle, beispielsweise das städtebauförderliche Programm Soziale Stadt in Deutschland oder die stadtplanerischen Prioritätszonen (ZUP) in Frankreich. Aktuell sehen sich die drei Länder neben Fragen der Regulierung von Migration weiterhin mit Fragen zu gelingender Integration und in diesem Zusammenhang mit ähnlichen Problemlagen konfrontiert: - Das Ziel einer gleichberechtigten Teilhabe von Personen mit Migrationshintergrund ist bei Weitem nicht erreicht. In allen drei Ländern ist – in unterschiedlichem Ausmaß – nach wie vor eine Benachteiligung von Personen, denen ein Migrationshintergrund zugeschrieben wird, festzustellen. Migrationsbezogene Benachteiligung findet sich für alle gesellschaftlichen Teilbereiche sowie für unterschiedliche Lebenslagen und Lebensalter wieder und ist eng gekoppelt an soziale Ungleichheit (OECD 2015).

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Als Kausalfaktoren für die Implementierung der Integrationsprogramme sieht Michalowski (2007: 216) in allen drei Ländern „die Perzeption einer synchronen Krise der Integration, der Integrationspolitik und des Wohlfahrtsstaates, die das Humankapital der Zuwanderer in den Mittelpunkt rückt, sowie die Kommunikation einer wiederhergestellten staatlichen Handlungsfähigkeit im Bereich der Integration von Zuwanderern“.

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- Herausforderungen stellen sich, das zeigte sich angesichts der hohen Anzahl angekommener Geflüchteter in 2015/16, bei der Integration von Neuankommenden (z. B.: Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016: 192–202). - Die Länder sehen sich im Umgang mit dem Islam herausgefordert. Als besonders problematisch stellen sich aber zunehmende islamistische Radikalisierung und Terrorismus dar. - Problematisch ist schließlich die Verbreitung einwanderungs- und islamfeindlicher Einstellungen und Praktiken und der starke Aufwind, den rechtspopulistische, -extremistische sowie antieuropäische Parteien und Bewegungen erfahren. Es sind klare Annäherungstendenzen erkennbar, wenngleich die traditionell unterschiedlichen Handlungsweisen in den Ländern nach wie vor verankert sind. Zielgruppe Kinder und Jugendliche – Fokus auf Bildung, Erziehung und Sprache Kindern von Anfang an eine gute Entwicklung angedeihen zu lassen ist eines der zentralen Ziele nationaler Integrationspolitik (siehe z. B. Nationaler Integrationsplan in Deutschland). Kinder und Jugendlichen stehen dabei auch insofern als Zielgruppe im besonders Fokus der Integrationspolitik, als möglichst frühe erfolgreiche gesellschaftliche Teilhabe wie etwa ein erfolgreicher Bildungsweg auch die späteren Integrationschancen verbessert. Fokussiert werden vor allem die Bereiche Bildung, Erziehung und Sprache. Empirisch belegt ist, dass Kinder und Jugendliche, denen ein Migrationshintergrund zugeschrieben wird, unter anderem in Hinblick auf Bildungsund gesellschaftliche Teilhabechancen benachteiligt sind (vgl. OECD 2016: 9).91 In allen drei Ländern dokumentiert sich eine systematische Reproduktion herkunftsspezifischer Bildungsungleichheit und institutioneller Diskriminierung (vgl. Felouzis/Fouquet-Chauprade/Charmillot 2015; Gomolla/ Radtke 2009), wobei es Studien zufolge den Ländern offensichtlich unterschiedlich gut gelingt, diese zu bewältigen (vgl. Crul/Schneider/Lelie 2012). 91

Für einen umfassenden Überblick siehe zum Beispiel für Deutschland unter anderem Kinder-Migrationsreport (Cinar et al. 2013) und 6. Bildungsbericht (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016), für die Niederlande den Bericht zur Bildung in nichtwestlichen Einwanderungsfamilien „Opvoeden in niet-westerse migrantengezinnen“ (Sociaal en Cultureel Planbureau 2015).

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Teil I: Theoretische Verortungen und Forschungsstand

Als Folge der internationalen Vergleichsdaten von PISA, IGLU und Co., die das unterschiedliche Abschneiden in der Bewältigung sozialer und migrationsbezogener Bildungsungleichheit regelmäßig deutlich machen, werden Gelingensbedingungen zunehmend länderübergreifend in den Blick genommen. Die Länder zeigen sich mit ähnlichen bildungspolitischen Herausforderungen konfrontiert und ziehen daraus ähnliche Schlüsse. Das heißt, auch in der Bildungspolitik vollziehen sich trotz divergierender Bildungstraditionen Prozesse der europäischen Harmonisierung (vgl. BMBF 2007).92 Mit dem Ziel der Bildungsgerechtigkeit und der Chancengleichheit zeigen sich in den drei Ländern unter anderem folgende bildungspolitische Entwicklungen, von denen vor allem auch Kinder mit Migrationshintergrund profitieren sollen: Ebene der Organisationsstrukturen Es zeigen sich in unterschiedlichem Ausmaß Entwicklungen hin zu einer stärker dezentralen Organisationsstruktur und kommunalen Steuerung sowie einer stärkeren Autonomisierung der Einzelschulen, mit dem Ziel bedarfsgerechterer Gestaltung von Bildungsarrangements. Diesen Ansatz verfolgen im Besonderen die Niederlande, wo unter anderem die Verantwortlichkeit über die Verwendung der staatlichen Mittel und eine hohe Entscheidungsgewalt auf die lokale Ebene übertragen werden. Auch Frankreich lockert, wenn auch sehr verhalten, seine zentralistischen Strukturen, beispielsweise durch Einrichtung der prioritären Bildungsnetzwerke und zonen. Durch die föderal organisierte Bildungslandschaft in Deutschland 92

Unterschiede in den Bildungstraditionen zeigen sich beispielsweise in Bezug auf Organisation (zentral/dezentral), Zeitpunkt der Einschulung, Aufbau des Bildungssystems, Zeitpunkte der Selektion, Trägerschaften oder Schulformen (Ganztag/Halbtag). Spezifika für Deutschland stellen unter anderem die Dreigliedrigkeit und frühe Selektion des Bildungssystems sowie der Bildungsföderalismus dar. Besonderheiten des französischen Bildungswesens sind unter anderem die zentrale Steuerung, die Konzeption als Ganztagsschule, der frühe Zeitpunkt der Einschulung. Die als Teil der Grundschule betrachtete École Maternelle für Kinder im Alter von zwei bis fünf Jahren wird, wenngleich nicht verpflichtend, von nahezu 100 Prozent der Kinder besucht. In den Niederlanden stellt vor allem die Trägerschaft eine Besonderheit dar. Basierend auf dem gesellschaftsstrukturierenden Prinzip der Versäulung (verzuiling) finden sich neben Schulen in Trägerschaft durch die Gemeinde unter anderem christliche, muslimische und hinduistische Schulen in freier Trägerschaft (z. B. Kirchen, Stiftungen, Vereine). Mit dieser Organisationsform ist zudem ein hoher Grad an Dezentralisierung verbunden (siehe BMBF 2007: 56-67, 7275).

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werden die Zuständigkeiten innerhalb der Bundesländer unterschiedlich gehandhabt (BMBF 2007: 58). Während Frankreichs Schulsystem traditionell als Ganztagsschule konzipiert ist, wird das Konzept auch in Deutschland und den Niederlanden zunehmend umgesetzt, insbesondere im Grundschulbereich mit explizit sozialpädagogischem Angebot. So wurde in den Niederlanden in den 1990er Jahren die brede school (deutsch: breite Schule) geschaffen, unter anderem für „ein durch Zusatzangebote bereichertes Curriculum für Vorschul- und Grundschulkinder [...] in lokal verankerten Netzwerkschulen“ (Du BoisReymond 2011: 208).93 In allen drei Ländern wurden Förderstrukturen implementiert, die Stadtvierteln und Bildungsinstitutionen, die aufgrund eines hohen Anteils an Personen sozial schwacher Herkunft und mit Migrationshintergrund als besonders benachteiligend gelten, zusätzliche Ressourcen und Unterstützungsleistungen zur Verfügung stellen. In Frankreich wurden in den 1980er Jahren die zones und réseaux d’éducation prioritaires (ZEP, REP) eingerichtet, die prioritären Bildungszonen und -netzwerke mit kleineren Klassen, ergänzenden Fördermaßnahmen etc. (BMBF 2007: 57). Zudem gibt es in allen drei Ländern zahlreiche unterstützende Initiativen sowie Maßnahmen im Bereich der Antidiskriminierung und der interkulturellen Bildung. Sprachförderung als Förderung der Verkehrssprache (und der Familiensprachen) Die Beherrschung der Unterrichtssprache – als „Sprache der Schule“ mit ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten (Gogolin 2013: 40) – ist für den gesamten Bildungserfolg von maßgeblicher Bedeutung. Sprache wird vielfach als „Schlüssel für Integration“ proklamiert.94 Die Förderung der Verkehrssprache hat daher hohe Priorität. Überwiegend gestaltet sich Sprachförderung als additives Angebot zur Kompensation sprachlicher Defizite, in Frank-

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Manuela du Bois-Reymond (2011) beleuchtet in ihrem Beitrag „Chancen und Widerständiges in der Ganztagsbildung. Fallstudie Niederlande“ die mit dem Ganztagsausbau verbundenen Spannungen im niederländischen Bildungssystem. Sprachförderung ist eines der Kernthemen der bundesdeutschen Integrationsdebatte: „‘Gute Kindheit‘ ist im Integrationsdiskurs implizit und explizit durch ‚Integration‘ definiert, wobei die Sprachkompetenz im Allgemeinen und die Fähigkeit, die deutsche Sprache zu sprechen, im Besonderen als Voraussetzung für ‚Integration‘ gelten.“ (Maeße 2011: 25).

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Teil I: Theoretische Verortungen und Forschungsstand

reich und Deutschland vor dem Hintergrund des „monolingualen Habitus“ des Bildungswesens (ebd.: 39; Thomauske 2015: 95). Die Förderung der Mehrsprachigkeit durch Förderung der Familiensprachen ist zwar von der Europäischen Kommission explizit erwünscht und deren Unterstützung und Wertschätzung wird innerhalb der Länder auch vertreten, in der Umsetzung zeigen sich aber große Unterschiede (Allemann-Ghionda et al. 2010: 8). In Zweifel gezogen wird beständig der unter Aspekten der Schuleffektivität erwartete Mehrwert (kritisch dazu: Fürstenau/Gomolla 2011: 14). Vor allem in den Niederlanden, aber auch Deutschland wird muttersprachlicher Unterricht nach Bedarf und Ressourcen als optionaler Kurs außerhalb der regulären Schulzeit angeboten. In Frankreich wird kein muttersprachlicher Unterricht angeboten (BMBF 2007: 202–204). Frühe Bildung, Betreuung und Erziehung Dem Ziel einer möglichst frühzeitigen Anbahnung von Chancengleichheit soll durch den quantitativen und qualitativen Ausbau der frühen Bildungsangebote Rechnung getragen werden. Eine Erhöhung der Beteiligungsquoten von Kindern mit Migrationshintergrund konnte in allen drei Ländern bereits erreicht werden. So bilanziert etwa der aktuelle deutsche Bildungsbericht (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016: 204): „Im frühkindlichen Bereich hat im letzten Jahrzehnt eine Angleichung der Beteiligungsquoten zwischen Kindern mit und ohne Migrationshintergrund vor allem im Kindergartenalter stattgefunden“. Gezielt wird im Bereich der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung auf eine noch engere Zusammenarbeit mit den Eltern und dabei auf vielfältige Formen der Einbindung der Eltern gesetzt, unter anderem zur Förderung der Entwicklung des Kindes, der Stärkung der Erziehungskompetenz sowie der Mitgestaltung und Mitbestimmung der Eltern. Uneinigkeit herrscht über die Umsetzbarkeit der Idee einer „Partnerschaft auf Augenhöhe“ (vgl. Betz et al. 2017; Kämpfe/Westphal 2013).95

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Zu Elternbeteiligung im schulischen Bereich siehe weiterführend Fürstenau/Gomolla (2009).

5 Zusammenführung: Kindheit, Wohlbefinden, Migration

Im Folgenden werden die theoretischen Grundannahmen, der Forschungsstand und offene Fragen thesenartig zugespitzt und zusammengeführt. Diese Zusammenführung bildet die theoretische Verortung der Dissertation. Vor diesem Hintergrund werden die Forschungsfragen der Dissertation und der erwartete Ertrag der Arbeit formuliert. These 1: Kinder sind als soziale und kompetente AkteurInnen um ihrer selbst willen in den Blick zu nehmen Den Childhood Studies folgend ist, wie Kapitel 2 ausführt, Kindheit als soziale Konstruktion zu fassen. Kinder werden als beings konzeptualisiert, als mit Agency ausgestattete soziale und kompetente AkteurInnen, die an Hervorbringung und Wandel von Gesellschaft und Kultur aktiv mitwirken. Kindheit und Agency sind dabei durch das relationale Konzept der gesellschaftlich konstruierten und institutionalisierten generationalen Ordnung zu rahmen, das Kindern und Erwachsenen ungleiches Handlungsvermögen und ungleiche Teilhabe zuteilwerden lässt. Ein weiterer zentraler Rahmen ist durch den strukturellen, gesellschaftlichen Kontext gegeben. Diese Machtverhältnisse und Abhängigkeiten sind vor dem Hintergrund heterogener Kindheiten mitzudenken und (westlich-normative, an weißer Mittelschicht orientierte) Vorstellungen einer individuellen und autonomen Agency von Kindern auch für westliche Kontexte zu differenzieren. Empirisch wie auch theoretisch ergeben sich Leerstellen in Bezug auf das relationale Konzept der Akteurschaft zum Beispiel dahingehend, was Akteurschaft für unterschiedliche Gruppen von Kindern und in unterschiedlichen Kontexten bedeutet. Von Bedeutung sind in diesem Zusammenhang akteurInnenbezogene Betrachtungsweisen von Kindern und Kindheiten, die sich für die Lebenswelten und Perspektiven von Kindern um ihrer selbst willen interessieren, unabhängig von den Belangen Erwachsener. Die Childhood Studies bilden daher meinen methodologischen und erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Kämpfe, Kindheiten in europäischen Migrationsgesellschaften, Kinder, Kindheiten und Kindheitsforschung 21, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26225-9_5

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Teil I: Theoretische Verortungen und Forschungsstand

These 2: Kinder sind am Diskurs, was Kindheiten zu ‚guten Kindheiten‘ macht, zu beteiligen In Kapitel 3 wurde gezeigt, dass der Blick auf Kindheit und Agency begleitet ist von normativen Fragen zur Qualität von Kindheiten, etwa in Hinblick darauf, was Kindheiten (in unterschiedlichen Kontexten) zu ‚guten‘ oder ‚weniger guten Kindheiten‘ macht und welche Implikationen sich hieraus für unterschiedliche gesellschaftliche Teilbereiche ergeben. Die Child WellBeing-Forschung, die diese und weitere Fragen theoretisch wie empirisch bearbeitet, sieht sich in Bezug auf die Konzeptualisierung von Child WellBeing und ‚guter Kindheit‘ vor zahlreiche Herausforderungen gestellt. Eine besondere Herausforderung stellt die dem Konzept inhärente Normativität dar. Konzeptualisierungen und empirische Zugänge unterliegen vielfach dem Vorwurf eines westlichen, mittelschichtsorientierten und adultistischen Bias. Dies bedeutet, dass sie kulturelle Diversität ausblenden, westliche, mittelschichtsorientierte Standards implizieren und allein durch Erwachsene bestimmt und gesteuert werden. Letzteres führt auch dazu, dass die Vielfalt und Bedingtheit, die sich in den heterogenen Erfahrungen und Ansichten von Kindern abbildet, überblendet wird. Vor allem internationale Vergleichsstudien, deren primäre Vergleichsebene die Länderebene darstellt, sind zudem durch Homogenisierungstendenzen in Bezug auf heterogene Kindheiten innerhalb der Länder gekennzeichnet.96 Die Forderung einer stärkeren konzeptuellen Auseinandersetzung und vertiefender empirischer Zugänge zu Child Well-Being über Methodentriangulation beinhaltet als zentrales Erfordernis, Kinder und ihre Vorstellungen von einem ‚guten Leben‘, ihre Sicht auf ihr eigenes Leben sowie ihr subjektives Wohlbefinden zu berücksichtigen und sie als (Ko-)Konstrukteure von Wissen ernst zu nehmen. Diesem Erfordernis kommt die vorliegende Arbeit über ein exploratives Vorgehen nach, das sich – verortet innerhalb der Childhood Studies – an den akteurInnenbezogenen Ansatz von Fattore, Mason und Watson (2017) anlehnt.

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Während etwa die UNICEF-Vergleichsstudien die Länderkontexte als bedeutsam für Kindheit ausweisen, liefern die Studien innerhalb der Länder vielfältige Erkenntnisse zu heterogenen Kindheiten, beispielsweise zu Zusammenhängen von Wohlbefinden und sozialer Herkunft, Alter, Geschlecht, Migrationshintergrund, Persönlichkeit und Region (siehe Kap. 3.2).

Zusammenführung: Kindheit, Wohlbefinden, Migration

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These 3: Kindheiten im Kontext Migration sind in ihrer Vielschichtigkeit Ausdruck zu verleihen Das Aufwachsen im Kontext Migration – dies wurde in Kapitel 4 verdeutlicht – bedeutet, entwicklungspsychologisch betrachtet, neben allgemeinen Entwicklungsaufgaben weitere Herausforderungen bewältigen zu müssen, die an den Migrationskontext gekoppelt sind. Durch Konfrontation und Auseinandersetzung mit unterschiedlichen kulturellen Sinn- und Bezugssystemen erfahren die aktiven und kreativen Konstruktionsleistungen zur Aneignung kulturellen Wissens eine besondere Komplexität. Diese (Ko-) Konstruktionsleistungen sind vor dem Hintergrund der von Mecheril (2016: 15) beschriebenen „wechselseitig konstitutive[n] Dynamik von Grenzformationen und Zugehörigkeitsordnungen“ in Migrationsgesellschaften und damit verbundenen (machtförmigen) Differenzerfahrungen zu betrachten. Wie der Forschungsstand zeigt, wirken diese Dynamiken und Differenzerfahrungen auf unterschiedlichen Ebenen auf die Lebenswelten der Kinder und ihrer Familien ein. Um eine kindheitstheoretische Perspektive erweitert bewegen sich Kinder damit innerhalb einer (mindestens) doppelt machtförmigen Zugehörigkeitsordnung durch Zugehörigkeit zur allochthonen Bevölkerung sowie zur generationalen Gruppe der Kinder. Komplementär dazu bleiben Fragen nach sozialen Konstruktionen von Kindheit und Akteurschaft in Migrationskontexten sowie nach eigenen Konzeptualisierungen weithin ungeklärt. Strukturgebend für Kindheit und Akteuschaft in der Migration sind unter anderem länderspezifische Integrations-, Bildungs- und Sozialpolitiken oder auch gesellschaftliche Strömungen. Migrationsgesellschaftliche Strukturen stellen damit eine bedeutsame analytische Dimension dar. Zugleich zeigen sich für westliche Wohlfahrtsstaaten übergreifende Muster. In Europa spiegelt Migration gesellschaftlichen Wandel und Normalität wider. Kinder mit zugewiesenem Migrationshintergrund sind von sozialer Ungleichheit und Diskriminierung betroffen, mit Folgen nicht nur für ihr Leben im Hier und Jetzt und ihrer Zukunft, sondern auch mit dem Nebeneffekt, dass sie als Zugehörige zu einer benachteiligten Gruppe gelabelt sind. Zugleich gelten sie als Hoffnungsträger für die Integration ganzer Familien.

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Teil I: Theoretische Verortungen und Forschungsstand

Zusammenführung, Konkretisierung der Forschungsfragen und erwarteter Ertrag Zusammengefasst ergeben sich an der Schnittstelle von Migrations- und Kindheitsforschung entscheidende empirische Leerstellen. Forschungsdesiderate sind in Bezug auf die Perspektiven von Kindern und speziell für die Lebensphase der mittleren Kindheit zu konstatieren. Zudem werden Kinder im Migrationskontext nach wie vor vorrangig mit Fokus auf Integration, Sprache und Bildung als becomings in den Blick genommen. Schließlich ergibt sich ein Forschungsdesiderat aus den zumeist homogenisierten Darstellungsweisen von Kindern und Kindheiten im Migrationskontext. Konkret fehlt es an grundlegenden und differenzierten Erkenntnissen zum konjunktiven und zugleich vielschichtigen Erfahrungsraum von (mittlerer) Kindheit im Migrationskontext beziehungsweise in unterschiedlichen migrationsgesellschaftlichen Kontexten aus Perspektive der sozialen AkteurInnen selbst. Hier setzt die vorliegende Arbeit an. Ziel ist es, Kindheiten im Migrationskontext in ihrer Differenziertheit Rechnung zu tragen und sie auf ihre Kontextbezogenheit hin zu untersuchen. Ausgehend von den dargestellten Erkenntnissen und Desideraten leitet sich folgende zentrale Forschungsfrage ab: - Welche handlungsleitenden (kollektiven) Orientierungen lassen sich für den konjunktiven Erfahrungsraum von Kindheit im Kontext Migration rekonstruieren? Die forschungsleitende Frage wird ergänzt um weitere Teilfragen: - Welche unterschiedlichen Zugehörigkeitsdimensionen sowie Bearbeitungs- und Bewältigungsformen migrationsbezogener Differenzerfahrung lassen sich rekonstruieren? - Welche Selbstpositionierungen in Bezug auf Akteurschaft sind eingelassen in die handlungsleitenden (kollektiven) Orientierungen? - Welche Vorstellungen von einem ‚guten Leben‘ haben die Kinder und was bringt aus ihrer Sicht Wohlbefinden hervor? Schließlich werden mit dem Ländervergleich die handlungsleitenden Orientierungen auf ihre migrationsgesellschaftliche Kontextabhängigkeit hin befragt: - Inwiefern sind die rekonstruierten handlungsleitenden Orientierungen in nationalstaatlichen Ordnungen zu klären?

Zusammenführung: Kindheit, Wohlbefinden, Migration

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Für die Grundlagenforschung an der Schnittstelle von Kindheits-, WellBeing- und Migrationsforschung leistet die Arbeit unter anderem folgenden Beitrag: Erstens bildet die im Rahmen der Arbeit eingenommene akteurInnenbezogene Perspektive auf Kindheiten und Akteurschaft im Migrationskontext für alle drei Forschungsrichtungen – vor allem aber für die Migrationsforschung – einen Erkenntnisgewinn im Hinblick auf die Pluralisierung von Kindheiten. Mit der eingenommenen akteurInnenbezogenen Perspektive werden zweitens die kulturelle Bedingtheit und Kontextabhängigkeit von Wohlbefinden sowie Vorstellungen von ‚guter Kindheit‘ respektive einem ‚guten Leben‘ für den heterogenen europäischen Migrationskontext in den Blick genommen. Die Rekonstruktion handlungsleitender (kollektiver) Orientierungen von Kindern, die mit Hilfe der Dokumentarischen Methode durch Erschließen und begrifflich-theoretisches Explizieren der dem Gesagten zugrundeliegenden dokumentarischen Sinngehalte erfolgt, findet in der Kindheitsforschung bisher kaum Anwendung.97 Damit geht die vorliegende Arbeit auch über den Ansatz von Fattore, Mason und Watson hinaus, insofern als sie die Vorstellungen von einem ‚guten Leben‘ an die zugrundeliegenden Orientierungen rückbindet. Nicht zuletzt wird mit dem internationalen Vergleich in einer qualitativen Studie zu Kindheit weitgehend Neuland betreten.

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Neben der Rekonstruktion handlungsleitender Orientierungen vermag die Dokumentarische Methode zudem die eigene Standortgebundenheit und Perspektivität – das heißt implizite westliche, mittelschichtsorientierte oder auch adultistische Annahmen – systematisch zu kontrollieren (siehe Kap. 6.3.1, 6.4.1).

TEIL II: Anlage der Studie

Im zweiten Teil werden das methodische Vorgehen sowie methodologische Überlegungen präsentiert. Zunächst erfolgt die Skizzierung des Untersuchungsfeldes und des Samples. Im Anschluss daran wird das Gruppendiskussionsverfahren dargelegt, wobei ein Fokus auf die Herausforderungen des Verfahrens in der Anwendung mit Kindern gelegt wird. Diese Erkenntnisse aufgreifend, werden der für die Studie entwickelte Leitfaden präsentiert sowie Erfahrungen mit Anwendung und Verlauf der Gruppendiskussionen in den drei Ländern reflektiert. Im folgenden Schritt wird das Vorgehen bei der Auswertung mit der Dokumentarischen Methode dargelegt. Den Kern bilden dabei die sinngenetische Typenbildung sowie der kontextuierte Ländervergleich mittels des auf der Dokumentarischen Methode aufbauenden Mehrebenenvergleichs. Unter Reflexion des eigenen Vorgehens werden schließlich die Herausforderungen, die sich durch den internationalen und -kulturellen Vergleich ergeben, herausgestellt.

6 Methodisches Vorgehen und Methodologie

6.1 Untersuchungsfeld und Sample Die Studie umfasst zehn Gruppendiskussionen, die ich im Zeitraum von März 2013 bis Juni 2014 in Deutschland (Gruppe Kupfer, Schneeball, Karo, Klang), Frankreich (Gruppe Bogen, Komet, Welle) und den Niederlanden (Gruppe Stift, Wind, Fenster) durchgeführt habe.98 Für sechs der zehn Gruppen habe ich mittels der Dokumentarischen Methode die kollektiven Orientierungen (Kap. 6.3.1) herausgearbeitet.99 Die Fallauswahl erfolgte kriteriengeleitet nach dem Prinzip des qualitativen Stichprobenplans, auch als selektives Sampling bekannt (Kelle/Kluge 2010: 50). Dabei werden auf Grundlage theoretischer Vorüberlegungen sozialstrukturell bedeutsame Auswahlmerkmale und Merkmalskombinationen definiert. Im Vorfeld der Datenerhebung wurden für die Fallauswahl folgende theoretische Grundannahmen als relevant eingestuft: (1) die Heterogenität von Kindheiten und die Relevanz des Migrationskontextes für Kindheiten (vor allem in Verbindung mit der sozialen Lage), (2) das Wissen um unterschiedliche handlungsleitende Orientierungen bereits in der mittle-

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Die Namen der Gruppen bilden einen allein der Autorin zugänglichen Bezug zur jeweiligen Gruppe, ohne dabei deren Anonymität zu gefährden oder eine Orientierung in irgendeiner Form abzubilden. Der Name Stift etwa bezieht sich auf eine Situation nach der Gruppendiskussion, als die kleinen Dankesgeschenke (Bleistifte mit unterschiedlichen Mustern und Farben) verteilt wurden und angesichts der mangelnden Verfügbarkeit eines beliebten (und ‚umkämpften‘) Modells ein Kind, das bereits eben dieses Modell bekommen hatte, diesen mit einem anderen Kind getauscht hat. Grundlegend für die Auswahl der sechs Gruppen waren die metaphorische Dichte der Diskussionen, das heißt selbstläufige Erzählungen und Beschreibungen, sowie ein sich wechselseitig steigernder Diskurs, und die Emergenz kollektiver Orientierungen, die sich zudem als von den anderen Gruppen jeweils eindeutig abgrenzbar konstituierte (Kap. 6.3.1). Im Ergebnisteil werden die Orientierungen anhand von Fallbeschreibungen in ihren milieutypischen Ausprägungen dar- und gegenübergestellt (Kap. 7).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Kämpfe, Kindheiten in europäischen Migrationsgesellschaften, Kinder, Kindheiten und Kindheitsforschung 21, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26225-9_6

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TEIL II: Anlage der Studie

ren Kindheit und (3) die für Bedeutsamkeit struktureller Kontexte für Kindheiten (im Migrationskontext). Da handlungsleitende Orientierungen von Kindern im Kontext von Migration bislang kaum erforscht sind, wurde keine kontrastierende Fallauswahl in Bezug auf unterschiedliche Merkmalskombinationen gewählt, wie es die Dokumentarische Methode klassischerweise vorsieht (siehe Kap. 6.3.1).100 Vielmehr habe ich mich bei der Fallauswahl auf eine theoretisch begründete Merkmalskombination gestützt, mit dem Ziel, explorativ eine Binnendifferenzierung in der gemeinhin homogenisiert dargestellten ‚Gruppe von Kindern mit Migrationshintergrund‘ herzustellen und der subkulturellen Vielfalt (Bohnsack 1989: 12f.) von Orientierungsmustern von Kindern im Migrationskontext empirisch nachzuspüren. Ausgehend von den theoretischen Vorannahmen wurden folgende sozialstrukturell bedeutsamen Merkmale in der Fallauswahl kombiniert anvisiert: - Migration o Als Merkmal für die Fallauswahl wurde die Teilnahme an einer additiven Sprachförderung bestimmt.101 Zum einen bilden sich im Bereich Sprache migrationsbedingte Herausforderungen ab, die sozialstrukturell relevant sind. o Zum anderen gelingt durch dieses Auswahlkriterium eine Entkopplung von den zunächst rein definitorischen Begriffen Migrationshintergrund, descendant d’immigrés und allochtoon, durch die Personen in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden pauschalisierend ein Migrationsbezug zugeschrieben wird. Die Teilnahme an Sprachförderung steht nicht nur in Verbindung mit dem Aufwachsen in einem multilingualen (familiären) Umfeld und damit im Kontext von Migration, über die Teilnahme wird zudem auf institutionellem Wege (migrationsbedingte) Differenz hergestellt (vgl. Dirim/Pokitsch 2018).

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Die Stichprobengröße begrenzt hier die Auswahl weiterer theoretisch begründeter Merkmalskombinationen. Eine Kontrastierung etwa in Bezug auf das (Nicht)Vorhandensein eines Migrationshintergrundes, unterschiedliche Alterskohorten, den Bildungshintergrund könnten weiterführende Forschungsgegenstände sein. Forschungspraktisch war es dabei von Bedeutung, dass die Teilnehmenden über ausreichende Sprachkenntnisse in der Verkehrssprache des jeweiligen Landes verfügen, um an einer Gruppendiskussion aktiv mitwirken zu können. Die Leistungsstärke der Kinder sowohl im Sprachförder- als auch im Regelunterricht wurde nicht als relevant gesetzt.

Methodisches Vorgehen und Methodologie

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- Soziale Schicht o Bei der Fallauswahl wurde für eine benachteiligende soziale Schicht die soziodemographische Lage der Viertel, in denen sich die Bildungsinstitutionen befinden, als Indikator herangezogen. In ausgewählten mittelgroßen Städten bis Großstädten102 mit einem etwa durchschnittlichen Anteil an BewohnerInnen, denen statistisch ein Migrationshintergrund zugeschrieben wird, wurden Institutionen in Stadtvierteln mit einer hohen Konzentration an Personen mit zugeschriebenem Migrationshintergrund angesprochen. Zudem zeigte sich in den Quartieren eine Korrelation zwischen MigrantInnenanteil und sozialer Lage. - Alter o Fokussiert wurde zudem die Phase der mittleren Kindheit. Konkret beläuft sich die Fallauswahl auf Kinder im Alter von acht bis 12 Jahren. - Nationalstaatliche Verortung o Die Merkmalskombination Migration, soziale Schicht und Alter wird mit der Komponente des nationalstaatlichen Kontexts um strukturelle Betrachtungen der Makroebene erweitert. Als Untersuchungskontexte dienen soziodemographisch vergleichbare Städte in den europäischen Migrationsgesellschaften Deutschland, Frankreich und den Niederlanden. Reflexionen zur Überwindung des Methodologischen Nationalismus finden sich in Kapitel 6.3.2. Darüber hinaus wurden bei der Fallauswahl Realgruppen adressiert, das heißt dass sich die Kinder aus dem Kontext der Sprachförderung oder der Klasse kannten. Insgesamt wurden im Rahmen der Gruppendiskussionen 65 Kinder befragt, die mindestens 23 verschiedene natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeiten103 anzeigen und damit die reale natio-ethno-kulturelle, reli102

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Fokussiert wurden Städte mit durchschnittlichem Charakter. Millionenstädte, Kleinstädte und der ländliche Raum wurden aufgrund der spezifischen soziodemographischen und infrastrukturellen Gegebenheiten nicht in die Erhebung einbezogen. Die Kinder und ihre Familien stammen aus Afghanistan, Algerien, Angola, Armenien, Bulgarien, China, Deutschland, Eritrea, Guinea, dem Irak, Kasachstan, dem Kosovo, dem Libanon, Marokko, Pakistan, Polen, Russland, Serbien, Somalia, dem Tschad, Tschetschenien, der Türkei, Uganda. Hinzu kommen weitere ethno-kulturelle Zugehörigkeiten.

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TEIL II: Anlage der Studie

giöse und sprachliche Heterogenität bestimmter Quartiere repräsentieren. Heterogenität zeigt sich auch in Bezug auf die familiären Migrationsmotive und damit verbundenen Aufenthaltsbestimmungen. Knapp jedes dritte Kind verfügt über eigene Migrationserfahrung. Die anderen Kinder sind in Deutschland, Frankreich beziehungsweise den Niederlanden geboren. Die überwiegende Mehrheit der Kinder nahm zum Zeitpunkt oder im Vorfeld der Befragung aufgrund eines diagnostizierten Sprachförderbedarfs an einer entsprechenden Fördermaßnahme teil.104 Der Feldzugang wurde über Bildungsinstitutionen in Form persönlicher, telefonischer und schriftlicher Ansprachen realisiert. Die Wege ins Feld gestalteten sich zum Teil ähnlich wie von Simone Kreher (2015: 107) beschrieben als „Ambivalenz von Irritation, des Unvorhersagbaren, des scheinbar Unbeherrschbaren auf der einen Seite und dem Versuch, methodisch begründet vorzugehen, Ordnung herzustellen oder Kontrolle zu behalten, auf der anderen Seite“.105 Während der Zugang zu den deutschen Institutionen sowie deren Bereitschaft zur Teilnahme zügig über Kontakte ins Feld sichergestellt werden konnten, erwies sich der Zugang zum Untersuchungsfeld in Frankreich und den Niederlanden zunächst als schwierig. In den Niederlanden wurden in zahlreichen telefonischen Anfragen die Absagen vor allem mit einer hohen Dichte an Befragungen und Testverfahren begründet. Für Frankreich verlief die Akquise aus der Ferne zunächst erfolglos, so dass im zweiten Schritt zunächst mehrere ExpertInnengespräche vor Ort geführt und dann gezielt auf Institutionen zugegangen wurde.106 Die

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Der Aspekt der Teilnahme an additiver Sprachförderung ließ sich nicht für alle Erhebungsorte gleichermaßen realisieren, da nicht nur jedes Land, sondern auch jede Schule unterschiedliche Konzepte von Sprachförderung anbietet. Sowohl die Kinder der Gruppe Bogen als auch die der Gruppe Fenster nahmen an keiner additiven Sprachfördermaßnahme teil. Die damit verbundene institutionelle Differenzherstellung ist somit in dieser Weise nicht gegeben. Doch auch die Kinder dieser beiden Gruppen wachsen in einem von Mehrsprachigkeit gekennzeichneten Umfeld auf. Migrationsbezogene Differenzherstellung und -erfahrung ist bei der Gruppe Fenster aufgrund des Besuchs einer islamischen Schule anzunehmen. Die Schule, die die Kinder der Gruppe Bogen besuchen, wurde nach ExpertInnengesprächen aufgrund des hohen Migrationsanteils und bestimmter Problemlagen im Viertel ausgewählt. Vielfältige Reflektionen und Anregungen zum Feldzugang finden sich bei Poferl/ Reichertz (2015). Dabei wurde ich bei einem nicht angekündigten Betreten eines Schulhofes und -gebäudes einmal durch die Direktorin – trotz Aufklärungsversuchen – mit dem sofortigen Verweis

Methodisches Vorgehen und Methodologie

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Schulen, die sich in Frankreich und den Niederlanden dann zur Teilnahme bereit erklärten, zeigten sich dann sehr an der Fragestellung der Studie sowie möglichen Erkenntnissen für ihre eigene pädagogische Handlungspraxis interessiert. Formal waren für die Erhebung in den Bildungsinstitutionen außer der Zusage durch die entscheidungsbefugten Personen, das heißt die Schulleitung, keine weiteren institutionellen Schritte (Anfrage beim Schulamt o. Ä.) erforderlich. Im Vorfeld wurden in einem persönlichen Gespräch mit der Schulleitung und/oder der zuständigen Lehrkraft Hintergründe zur Studie und der konkrete Ablauf der Erhebungssituation abgeklärt. In Deutschland wurde darüber hinaus die Einverständniserklärung der Eltern eingeholt, was in Frankreich und den Niederlanden, wo die Eltern bereits im Vorfeld ihr generelles Einverständnis zu Befragungen ihrer Kinder unterzeichnet hatten, nicht notwendig war. In diesem Fall wurden die Eltern über Gegenstand und Ablauf der Erhebung in einem Brief informiert. Die Bereitschaft der Kinder zur Teilnahme wurde im Rahmen eines Kennenlerntreffens beziehungsweise vor der Gruppendiskussion sichergestellt. Ein vorheriges Kennenlernen zwischen den Kindern und den ModeratorInnen war – in Verbindung mit einer Hospitation im (Sprachförder)Unterricht – bei der Hälfte der Gruppen möglich. Die Kinder zeigten sich sehr an dem Setting der Gruppendiskussion und an deren Teilnahme interessiert und neugierig in Bezug auf den Verwendungszweck der Daten. Bei allen Gruppendiskussionen wurde darüber hinaus am Anfang genügend Raum zum Warmwerden eingeplant. Die Gruppendiskussionen fanden in den Bildungsinstitutionen statt. Die Zusammensetzung der Gruppen erfolgte zum einen nach den realen Gruppen des Sprachförderunterrichts, zum anderen nach Zusammenstellung durch eine Lehrkraft in Absprache mit den ModeratorInnen.

vom Gelände gestraft. Dazu ist relevant zu wissen, dass in Frankreich Eltern oft nur eine sehr eingeschränkte Zugangserlaubnis zu Schule und Schulhof haben.

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TEIL II: Anlage der Studie

6.2 Erhebung – Gruppendiskussionen mit Kindern 6.2.1

Gruppendiskussionsverfahren

Im Folgenden werden Erhebungsmethode sowie methodologische Schlussfolgerungen für das konkrete Forschungsanliegen dargelegt. Das Gruppendiskussionsverfahren, das je nach Erkenntnisinteresse vielfältige Umsetzungsformen107 kennt und unterschiedlichste Anwendungsbereiche108 bedient, hat sich mittlerweile auch in der Kindheitsforschung etabliert. Eine wesentliche Stärke der Methode liegt in dem Potenzial, kollektive Wissensbestände, Orientierungen und Strukturen rekonstruieren zu können, was in der Folge auch Zugang zur Handlungspraxis derjenigen AkteurInnen zu eröffnen vermag, die diese handlungsleitenden, teils inkorporierten Wissensbestände und Orientierungen teilen (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 91; Bohnsack/Przyborski/Schäffer 2010b: 7). Für die theoretische und konzeptionelle Ausgestaltung des Gruppendiskussionsverfahrens im deutschsprachigen Raum sind vor allem die Arbeiten von Friedrich Pollock (1955), Werner Mangold (1960), Manfred Nießen (1977) und Ralf Bohnsack (1989) als richtungsweisend zu bewerten.109 Eine der ersten Untersuchungen ist Friedrich Pollocks Studie zum politischen Bewusstsein im Nachkriegsdeutschland (Pollock 1955). Die Gruppendiskussionsmethode trug Pollock zufolge einem Irrtum Rechnung, dem die herkömmliche repräsentativ-quantitative Meinungsforschung aufgesessen war, nämlich, dass Meinungen sich isoliert „im luftleeren Raum kristallisieren und fortbestehen“ (ebd.: 19). Die Entstehung und Wirkung erfolge vielmehr „in ständiger Wechselbeziehung zwischen dem Einzelnen und der unmittelbar und mittelbar auf ihn einwirkenden Gesellschaft“ (ebd.: 32). Die Methode sah er als möglichen Ansatz zur „klare[n] Unterscheidung zwischen dem oberflächlichen und dem latenten Inhalt der Aussage“ (ebd.: 33). Im Auswertungsverfahren wurden die Äußerungen durch Pollock jedoch wie107 108

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Siehe Lamnek (2005). Unter anderem in der Jugend-, Milieu-, Geschlechterforschung, in der interkulturellen Forschung sowie in der Medien-, Markt und Evaluationsforschung, siehe hierzu Przyborski/Wohlrab-Sahr (2014: 93); Lamnek (2005: 79–83). Einen umfassenden Überblick über die Umsetzung von Gruppendiskussionen in unterschiedlichen Forschungssettings liefern Bohnsack/Przyborski/Schäffer (2010a). Vertiefend siehe Bohnsack (2010), Lamnek (2005).

Methodisches Vorgehen und Methodologie

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der voneinander isoliert. Im Gegensatz zu Pollock begriff Werner Mangold (1960) den Erkenntnisgewinn dieses Verfahrens in der Ermittlung von Gruppenmeinungen, die nicht als „‚Summe‘ von Einzelmeinungen“, sondern als „Produkt kollektiver Interaktionen“ (ebd.: 49) zu verstehen seien und verwies bereits auf die Potenziale von Typenbildung durch Auswahl ‚typischer‘ (kontrastierender) Diskussionsgruppen.110 Die in den Diskussionen freigelegten Gruppenmeinungen seien kein beliebiges Produkt einer bestimmten Untersuchungssituation, sondern werden auf Basis kollektiver Vorerfahrungen dort lediglich aktualisiert und situativ entfaltet (vgl. Bohnsack 2003: 493). Das Gruppendiskussionsverfahren erlaube es daher, „Einsicht in die inhaltliche Struktur der informellen Gruppenmeinungen zu gewinnen, die für die entsprechenden Kommunikationsgruppen in der Realität charakteristisch“ sind (Mangold 1960: 113). Mangold lieferte damit einen Hinweis auf deren Reproduzierbarkeit.111 Reproduzierbarkeit und Validität erreicht das Gruppendiskussionsverfahren aber nur dann, wenn es gelingt, die Strukturen zu erschließen, die dem Gesagten (immanenter Sinngehalt) in der Gruppe zugrunde liegen. Im Rahmen eines von Mangold und Bohnsack Ende der 1980er Jahre durchge110 111

Mangold (1960: 113) sprach von Typen informeller Kommunikationsstrukturen. Manfred Nießen (1977: 61) zufolge vernachlässigte Mangold bei seiner Konzeption zur Ermittlung informeller Gruppenmeinungen „interaktionistische Prämissen“. Im Sinne des „interpretativen Paradigmas“ verfügen Handelnde über situationsspezifische Interpretations- und Definitionsleistungen des eigenen und des fremden Handelns, die auch in der Forschungssituation Anwendung finden. Nießen (1977: 63) zufolge war die „Fundierung des Gruppendiskussionsverfahrens auf situationsunabhängige Meinungen sozialer Großgruppen nur mit Einschränkungen verträglich“, nämlich maximal dann „wenn es sich um Realgruppen handelt, die vom Gegenstand der Diskussion in ihrem Handeln als Gruppe betroffen sind“ (Nießen (1977: 67)). Andernfalls sei eine Übertragung der generierten Gruppenmeinungen auf Realsituationen auszuschließen und die Diskussionsergebnisse allein als situationsabhängige Gruppenmeinungen jener spezifischen Forschungssituation zu bewerten. Bohnsack zufolge sind Nießens Arbeiten, ebenso wie die von Volmerg (1977), der ähnliche Rückschlüsse zog, „innerhalb der zugrunde liegenden methodisch-theoretischen Prämissen gründlich beobachtet und methodisch reflektiert. Ihre Beobachtungen der Prozesshaftigkeit, Dynamik und Emergenz einer interaktiven Artikulation von Meinungen führt dann jedoch bei beiden dazu, Prozesshaftigkeit mit Strukturlosigkeit gleichzusetzen“ (Bohnsack 2010: 110). Diese scheinbare Strukturlosigkeit bezieht sich Bohnsack zufolge jedoch allein auf das Gesagte, nach Karl Mannheim den „immanenten Sinngehalt“ (Mannheim 1980 zit. nach Bohnsack 2003: 495). Die Kritik der Prozess- und Situationsabhängigkeit haftet dem Gruppendiskussionsverfahren mitunter dennoch bis heute an (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 91).

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TEIL II: Anlage der Studie

führten Forschungsprojektes mit Jugendlichen konnte durch die Forscher schließlich aufgezeigt werden, dass sprunghafte, strukturlos erscheinende Themenwechsel in Gruppendiskussionen auf gegenseitigen Verstehensleistungen der Teilnehmenden basieren (vgl. Bohnsack 1989: 22). Das zugrundliegende Orientierungsmuster und miteinander geteiltes, handlungsleitendes Hintergrundwissen werden nicht direkt verbalisiert, jedoch wird deren Struktur metaphorisch in den Redebeiträgen, das heißt in Erzählungen und Beschreibungen der TeilnehmerInnen sowie in deren Zusammenspiel, repetitiv entfaltet (Bohnsack 2003: 495). Bohnsack spricht hier vom Modell der kollektiven Orientierungen. Die Erschließung kollektiver Orientierungen im Gruppendiskussionsverfahren setzt Bohnsack zufolge jedoch eine theoretisch-methodische und grundbegriffliche Fundierung voraus, die bisherige Ansätze nicht zu leisten in der Lage waren: Voraussetzung ist zum einen ein methodischer Zugang, „der zwar der Prozesshaftigkeit [von Gruppendiskussionen, KK] Rechnung trägt, dennoch aber – das heißt auf der Grundlage der Rekonstruktion dieser Prozesshaftigkeit – Strukturen herauszuarbeiten vermag“ (Bohnsack 2010: 111). Zum anderen erfordert es einen theoretischen Zugang, der „jener in Gruppendiskussionen sich dokumentierenden spezifischen Sozialität gerecht zu werden vermag“ (ebd.). Theoretisch-methodische Fundierung stellt Bohnsack durch Rekurs auf wissenssoziologische Überlegungen Karl Mannheims (1980) sowie dessen grundlagentheoretisches Konzept des „konjunktiven Erfahrungsraums“ her (Liebig/Nentwig-Gesemann 2009: 103).112 Bohnsack spricht in diesem Zusammenhang von praxeologischer Wissenssoziologie, insofern als sie methodischen Zugang zum handlungsleitenden Wissen und damit auch zu habitualisierten Praktiken – dem modus operandi – eröffnet (Bohnsack/ Przyborski/Schäffer 2010b: 11). Das Konzept des konjunktiven Erfahrungsraums bezeichnet nach Mannheim (1980: 214) einen Raum „in dem und auf den bezogen die Erfahrungen eine konjunktive, nicht objektive, Gültigkeit bekommen“. Dabei ist der „Mittelbarkeitsbereich dieser Erfahrungen auf jene beschränkt, die an der gesamtexistentiellen Beziehung, in der und aus der diese Erkenntnis aufsteigt, teilhaben“ (ebd.). Die Teilhabe am Erfahrungsraum, das heißt einer gemeinsamen „Erlebnisschichtung“

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Bohnsack (1989: 10) stützt sich des Weiteren auf die phänomenologische Soziologie, den Symbolischen Interaktionismus sowie die Ethnomethodologie.

Methodisches Vorgehen und Methodologie

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(Bohnsack 2003: 497)113, und damit verbundenen Bedeutungsstrukturen bleibt indes nicht auf ein konkretes „gruppenhaftes Erleben“ beschränkt, sondern umfasst gleichwohl „strukturidentisches Erleben“, wie etwa bei Personen derselben Generation114 (Bohnsack/Przyborski/Schäffer 2010b: 12; Hervorhebung im Original). Insofern lässt sich der konjunktive Erfahrungsraum als „analytisch von der Gruppe getrennt“ (Bohnsack 2003: 497) und damit „übergemeinschaftlich“ (Bohnsack 2010: 112) begreifen. Das Individuum ist für Mannheim (1980: 231) ein „vergemeinschaftete[s] Individuum“115, das an unterschiedlichen konjunktiven Erfahrungsräumen teilhat. Konjunktive Erfahrungsräume werden unterschieden unter anderen in Bezug auf Generation, Geschlecht, Bildung, soziale Herkunft, Lebensalter und Migration (Bohnsack 2010). Vor dem Hintergrund meiner Untersuchung bilden Migration und Lebensalter (mittlere Kindheit) zusammen mit dem migrationsgesellschaftlichen Kontext (Nation) den konjunktiven Erfahrungsraum. Das handlungsleitende Erfahrungswissen bezeichnet Mannheim als „konjunktives Wissen“ (Bohnsack/Przyborski/Schäffer 2010b: 11; Hervorhebung im Original). Dieses Wissen ist atheoretisch und implizit, das heißt, dass es unter den am konjunktiven Erfahrungsraum Teilhabenden zum gegenseitigen Verstehen keiner begrifflich-theoretischen Explikationen bedarf; dass eine begrifflich-theoretische Explikation des konjunktiven Wissens mitunter gar nicht möglich ist. Vielmehr kommt dieses kollektiv geteilte Wissen vor allem in Erzählungen und Beschreibungen zum Ausdruck.116 Analog zu Mangolds früheren Schlussfolgerungen wird von Bohnsack „die konkrete Diskussionsgruppe […] nicht als der ausschließliche soziale Zusammenhang 113

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Die gemeinsame Erlebnisschichtung erzeugt Verbundenheit durch „Gemeinsamkeiten des Schicksals, des biographischen Erlebens, Gemeinsamkeiten der Sozialisationsgeschichte“ Bohnsack (2010: 111). Hierzu ist anzumerken, dass vor dem Hintergrund von Migration die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generation nur bedingt strukturidentisches Erleben abbildet. Mannheim (1980: 239–242) unterscheidet neben dem „Kollektivsubjekt in uns“ (auch Gemeinschaftssubjekt) zwei weitere Subjektkreise in uns: das „Bewußtsein überhaupt“ und das „persönliche Selbst“:„In unserem Gemeinschaftsbewußtseinskreis aktualisieren wir also stets Gehalte, und zwar in einer spezifischen Weise des Erlebnisvollzuges, die ihren Ort in einem über das besondere Subjekt hinausragendem Bedeutungszusammenhang haben“. Alltägliche Erfahrungs- und Begriffsbildung unterliegt einer Doppelstruktur. Neben dem konjunktiven Wissen bezeichnet „kommunikatives“ Wissen öffentlich-gesellschaftliches Bedeutungswissen (Bohnsack/Przyborski/Schäffer 2010b: 12; Hervorhebung im Original).

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TEIL II: Anlage der Studie

für die Genese von gemeinsamen handlungsleitenden Orientierungen betrachtet, wohl aber als ein Ort, an dem gemeinsame und strukturidentische Erfahrungen besonders eindrücklich artikuliert und exemplifiziert werden können“ (Liebig/Nentwig-Gesemann 2009: 103). Die konkrete (Real-) Gruppe, die von Forschenden zur Diskussion angeregt wird und in der sich die übergemeinschaftlichen kollektiven Orientierungen dokumentieren, stellt sich demzufolge als Epiphänomen dar (Bohnsack 2003: 497; Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 92). Valider Zugang zu den kollektiven Orientierungsmustern wird mit Hilfe der Dokumentarischen Methode erlangt (Kap. 6.3.1). Unter Berücksichtigung des gesamten Diskursprozesses117 wird dessen dokumentarischer Sinngehalt stellvertretend durch den/die Forschende/n interpretiert und begrifflich-theoretisch expliziert, um so das (situationsunabhängige) kollektive Sinnmuster der Erforschten freizulegen. Dabei bedarf es einer genauen Rekonstruktion von Diskursorganisation und Dramaturgie des Diskurses. Prozesshaftigkeit und Struktur müssen gleichermaßen Beachtung finden (Bohnsack 2010: 110; Bohnsack 2003: 496). Aus den beschriebenen theoretisch-methodischen Überlegungen zum Gruppendiskussionsverfahren ergeben sich umfassende forschungspraktische Konsequenzen. Bohnsack (2010: 208) beschreibt als wichtige, wenngleich paradox erscheinende Prämisse für die Durchführung von Gruppendiskussionen, die Aufgabe an den/die ForscherIn „einen Diskurs […] zu initiieren, ohne diesen nachhaltig zu strukturieren“. Interventionen durch die Diskussionsleitung sind in der Hauptphase der Diskussion nur vorzunehmen, um Selbstläufigkeit zu evozieren und aufrecht zu erhalten (siehe weiterführend Liste reflexiver Prinzipien der Initiierung und Leitung von Gruppendiskussionen (ebd.: 208–211). Der Einstieg in die Diskussion erfolgt über einen von der Diskussionsleitung geäußerten Eingangsstimulus, einen Grundreiz basierend auf einer allgemeinen Frage(reihung) beziehungsweise einem pointierten Statement (vgl. Lamnek 2010: 377), der bzw. das die Diskussion der GesprächsteilnehmerInnen untereinander anregen soll und bei zu geringer Diskussionsbeteiligung um weitere Reizelemente erweitert werden kann. Je nach Forschungsinteresse gibt es zwar Variationsmöglichkeiten im Hinblick auf den weiteren Steuerungsgrad und Gesprächsführung durch die Diskussionslei117

Das heißt wie in der Gruppendiskussion und -interaktion „die einzelnen Redebeiträge aufeinander bezogen sind“ (Bohnsack 2003: 496).

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tung (vgl. ebd.: 404). Zugang zum Kollektiven lässt sich jedoch in erster Linie über eigenständige Relevanzsetzungen sowie detaillierte (wechselseitige) Darstellungen durch die Gruppe und damit eine selbstläufige Dynamik erschließen (Bohnsack 2010: 210). In der Entfaltung der Diskussion ist die Diskussionsleitung nach dem Entsenden des Grundreizes folglich dazu angehalten, eine unterstützende ZuhörerInnenrolle118 einzunehmen und an eigenen inhaltlichen Einwürfen, immanenten Fragen (wenn, dann erzählgenerierend) und sonstigen Steuerungsmechanismen zunächst Zurückhaltung zu üben. Dies erfordert eine non-direktive Diskussionsleitung. Gleichwohl verfolgen Forschende eine bestimmte Fragestellung sowie Erkenntnisziele, die sie durch die Gruppendiskussionen zu erreichen suchen und die den Grad der Steuerung zwangsläufig mitbestimmen. 6.2.2

Zur Besonderheit von Gruppendiskussionen mit Kindern

Mit der zunehmenden Adressierung von Kindern in der qualitativen Forschung findet auch das Gruppendiskussionsverfahren Einzug in die Kindheitsforschung. Den AdressatInnen die größtmögliche inhaltliche und strukturelle Steuerung zu überlassen erweist sich gerade in Untersuchungen mit Kindern insofern als aussichtsreich, als man nicht Gefahr läuft, sie als bloßes „Sprachrohr“ (Vogl 2005: 29) Erwachsener abzubilden (vgl. Michalek 2006b: 87). Da die Kinder im Vergleich zu Einzelinterviews den Erwachsenen gegenüber in der Überzahl und im besten Fall miteinander vertraut sind, können zudem Hemmnisse aufgrund generationaler Ordnungsverhältnisse und der fremden Forschungssituation minimiert werden. Außerdem liefert das Gruppensetting die Ausgangsbasis für eine Interaktion der Kinder untereinander, bei der die Anwesenheit von Erwachsenen zumindest zeitweise an Bedeutung verlieren kann (vgl. Billmann-Mahecha/ Gebhard 2014: 150). In der deutschsprachigen Forschung mit Kindern finden sich in den letzten fünfzehn Jahren in unterschiedlichen Disziplinen einige Studien, die das Gruppendiskussionsverfahren mit Kindern – zum Teil in Triangulation mit anderen qualitativen und/oder quantitativen Methoden – in verschiedenen Themenfeldern angewendet haben. Im Fokus der Studien standen unter 118

Zu Verhalten und Rolle der Diskussionsleitung während des Diskussionsverlaufs siehe Lamnek (2010: 402).

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TEIL II: Anlage der Studie

anderem Kindheit und Kinderwelten (Fürstenau 2011; Bock 2010), Alltagspraxen (z. B. Rituale, Spielpraxis) (Wagner-Willi 2005; Nentwig-Gesemann 2002), Einstellungen (z. B. naturästhetische Positionen, Humorverständnis) (Billmann-Mahecha/Gebhard 2014; Neuß 2003); familiäre Erziehung (Gerarts 2015), Freundschaftsbeziehungen (Krüger et al. 2008; Breitenbach 2000), Schule und Bildung (El-Mafaalani/Waleciak/Weitzel 2013), Geschlechterorientierungen (Wopfner 2012; Westphal/Schulze 2012; Michalek 2006a), Interkulturalität und Diversität (Waburg/Herwartz-Emden 2015). Auch in internationalen Vergleichsstudien ist der Einsatz des Gruppendiskussionsverfahrens mehr und mehr zu beobachten, in erster Linie als heuristisches Instrument zur Bildung von Ideen und Thesen, beispielsweise zur Entwicklung von Indikatoren, Fragebögen oder zur Evaluation (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 89).119 Die vielfältigen Studien verleihen der methodischen Anwendbarkeit des Gruppendiskussionsverfahrens mit Kindern unterschiedlichen Alters Legitimität und Aussagekraft. Dies gilt vor dem Hintergrund des eigenen Forschungsinteresses im Besonderen für diejenigen Studien, die kollektive Orientierungen und Handlungspraxen zum Untersuchungsgegenstand haben. Zugleich liefern die Forschenden, die ihre Forschungserfahrungen transparent und reflektiert darlegen, wichtige Hinweise darauf, was bei der Durchführung von Gruppendiskussionen mit Kindern besonders zu beachten ist. Auf drei Aspekte, die sich als besonders bedeutsam für den Einsatz des Verfahrens mit Kindern zeigen, möchte ich im Folgenden genauer eingehen: die diskursiven Fähigkeiten und die Diskurspraxis von Kindern, die Interaktion von Forschenden und Beforschten sowie die Atmosphäre des Forschungssettings. Diskursive Fähigkeiten und Diskurspraxis Susanne Vogl (2005) hat die altersspezifischen Besonderheiten in Gruppendiskussionen untersucht. Sie führte Gruppendiskussionen mit SchülerInnen der 1., 3., 5., 7. und 9. Klasse durch, indem sie alltagsrelevante Themen und 119

Zum Beispiel in einer Studie zu Kindheit in benachteiligten Lebenslagen in acht europäischen Ländern (Speak up: Schuurman 2012; Brunnberg/Visser-Schuurman 2015), ebenso wie in der Forschung zu Wohlbefinden, Lebensqualität und Verwirklichungschancen (Biggeri/Ballet/Comim 2010; Detmar et al. 2006). Auch die weltweit größte unabhängige Kinderrechtsorganisation Save the children setzt sich für den Einsatz von Gruppendiskussionen als ein partizipatives Verfahren in ihren weltweiten Forschungsprojekten ein.

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Frageformen wählte und diese durch jeweils altersgerechte spielerische Elemente (zum Beispiel Gesprächsball, Handpuppe, Fantasiegeschichte) ergänzte. Die zusätzlichen Materialien und spielerischen Elemente erwiesen sich als Abstraktionshilfen vor allem bei den jüngeren Kindern als sehr hilfreich. Vogl beobachtete ein mit zunehmendem Alter ruhigeres Auftreten und deutete dies mit wachsendem Konformitätsdruck mit Eintreten der Pubertät. Auch stiegen die Kompromissbereitschaft und -fähigkeit mit steigendem Alter an. Bei den jüngeren TeilnehmerInnen registrierte sie eine hohe Diskussionsbeteiligung, die sich – wie von ihr konstatiert – aufgrund der geringeren interaktiven und diskursiven Fähigkeiten in der Tiefe der Themen jedoch schnell zu erschöpfen vermochte (ebd.: 50). In diesem Punkt weichen andere Studien und auch meine eigenen Erfahrungen von den Schilderungen Vogls insofern ab, als auch Kinder im Grundschulalter unter den geeigneten Rahmenbedingungen sehr gut in der Lage waren, Themen vertiefend darzulegen und zu diskutieren (vgl. Bock 2010; Michalek 2006a). Eine weitere Dimension, die die Diskurspraxis in Gruppen bestimmen kann, ist das Geschlecht.120 Friederike Heinzel (2003) befragte ExpertInnen für Kinderinterviews zu forschungstechnischen Problemen und Möglichkeiten in der Interviewführung mit Kindern. Ihre interessante Zusammenschau erweist sich auch als anschlussfähig für das Gruppendiskussionsverfahren. Gesprächssituation, Gesprächsgegenstand und Art der Thematisierung entscheiden maßgeblich über die narrative Erzählweise, Motivation und Konzentration der Kinder. „Je konkreter die Gegenstände des Interviews waren und je näher an der aktuellen Lebenssituation, desto besser“, wird Charlotte Büchner zitiert (zit. nach ebd.: 405). Stimuli und Fragen sollten im Vorfeld mit Kindern getestet und gemeinsam reflektiert werden. Zudem verweisen die ExpertInnen je nach Alter der Kinder auf weitere erzählanregende Elemente wie Erzählen nach selbstgemachten Bildern, Erzählkiste, Traumreisen, Foto-Geschichten sowie den Einsatz von handelnden Äußerungsmöglichkeiten wie Spielen, Malen oder Bewegung (ebd.). Die kindliche Diskurspraxis dokumentiert sich als von einer eigenen Logik geleitet. Die der Gesprächsstruktur der Kinder zugrundeliegenden Regel- und Bezugssysteme erschließen sich häufig erst bei genauerer Analyse. Zur Wirkung von Geschlecht in der Zusammensetzung von Gruppen am Beginn ihrer geschlechtsidentitären Entwicklung siehe Westphal/Schulze (2012). 120

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TEIL II: Anlage der Studie

So untersuchte Ruth Michalek (2006a) im Rahmen von neun Gruppendiskussionen mit männlichen Drittklässlern deren Geschlechtervorstellungen. Die möglichen Inszenierungen von Jungen als Jungen zeigten sich dabei nicht nur inhaltlich, sondern auch in Formen der Interaktion der Jungen untereinander. Michalek schreibt den Drittklässlern zudem eine hohe kommunikative Kompetenz zu: „Die Jungen sind sehr lebhaft, es wird viel geredet, auch parallel, die Jungen fallen einander ins Wort. Dennoch schließen die Redebeiträge aneinander an, die Jungen sprechen miteinander, obwohl vieles parallel gesprochen wird und viele Sequenzen auf den ersten Blick unübersichtlich wirken. Die Jungen nehmen auch aufeinander Rücksicht, erteilen Rederecht und übernehmen phasenweise die Gesprächsleitung“ (Michalek 2006a: 48).

Lautes, gleichzeitiges Sprechen und Interagieren können auf eine besondere Betroffenheit der Beteiligten hindeuten, die wiederum von einer metaphorischen Dichte zeugen, die Bohnsack im Sinne der Dokumentarischen Methode als Fokussierungsmetapher begreift (Michalek 2006a: 95). Neben sprachlichen Darstellungsweisen haben in der kindlichen Diskurspraxis performative Ausdrucksformen eine hohe Bedeutung: „Kinder erzählen und beschreiben ihre Handlungspraxen und Erlebnisse weniger, als dass sie diese vor- beziehungsweise aufführen“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 102). Iris Nentwig-Gesemann (2010: 28), die Analysen der Spielpraxis und Diskursorganisation bei Mädchen und Jungen im Vor- und Grundschulalter durchführte, sieht das Wechselspiel zwischen „sprachlichem Diskurs und korporierten Praktiken“ für diese Altersklasse als unerlässlich für die Selbstläufigkeit und schließlich auch Aussagekraft der von Erwachsenen konstruierten Interaktionsform an. Der eigenen Logik kindlicher Diskurspraxis ist in der Leitfadengestaltung und Diskussionsleitung demgemäß mit noch spezifischeren Herangehensweisen und zugleich mehr Flexibilitätsspielraum zu begegnen. Michalek (2006b: 88) unterstreicht, dass die „für Erwachsene fremden interaktiven und kommunikativen Strukturen“ zudem bei der Analyse besonders beachtet und „auf ihre Funktion innerhalb kindlicher Interaktion hin befragt werden müssen [Hervorhebung im Original]“. Eine videografische Dokumentation der Gruppendiskussionen ist für die Rekonstruktion der nicht sprachlichen Ausdrucksformen unabdingbar. Trotz Audio- und Videoaufnahme können besonders dichte und spannende Gesprächsinhalte und Performatives, etwa aufgrund hoher Lautstärke oder paralleler Schauplätze, mitunter nicht hinreichend entschlüsselt und somit transkribiert und rekonstruiert werden, was

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forschungsmethodologische Fragen aufwirft. Forschende stehen in der konkreten Gesprächssituation daher vor der Herausforderung, regulierende Interventionen abzuwägen, die jedoch soweit möglich zu vermeiden sind. Interaktion von Forschenden und Beforschten Karin Bock (2010) arbeitet in ihrer Studie zu Kinderwelten sechs- bis elfjähriger Kinder die in Gruppendiskussionen hergestellten Wirklichkeitskonstruktionen als „Interaktion zwischen den Generationen“ heraus (Heinzel 2012: 113). Die Verschränkung zweier Diskurse, das heißt zum einen zwischen den Beforschten untereinander, zum anderen zwischen Beforschten und Forschenden, stellt sich in Gruppendiskussionen mit Kindern als „Verschränkung eines kindlichen Diskurses mit einem Diskurs zwischen Kindern und Erwachsenen“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 106) dar. Die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Generationen wird zudem begleitet durch eine mitunter ungewohnte Interaktionssituation. Die methodische Anlage des Gruppendiskussionsverfahrens, die eine selbstläufige und strukturierte Diskussion unter den teilnehmenden Kindern anvisiert und eine non-direktive erwachsene Diskussionsleitung erfordert, widerspricht geläufigen intergenerationalen Interaktionsstrukturen, die durch generationale Ordnungsverhältnisse geleitet sind, was bei den Kindern für Irritation sorgen kann (vgl. Michalek 2006b: 85). Heinzel (2012: 109) verweist jedoch darauf, dass durch so genannte Kreisgespräche ähnliche kommunikative Settings im Grundschulalltag mehr und mehr Einsatz finden. Die Anregung zur selbstläufigen und -strukturierten Diskussion der Kinder untereinander kann sich auch für die Forschenden als ungewohnte und herausfordernde Situation herausstellen. Den geläufigen generational geordneten Interaktionsstrukturen, die hier durchbrochen werden, unterliegen auch die erwachsenen, häufig pädagogisch geschulten Forschenden. Interventionen durch Erwachsene – auch gut gemeinte – stören den anvisierten quasi-natürlichen Diskussionsprozess der Kinder. Dennoch können etwa gravierende Konfliktsituationen in der Gruppe, wenngleich sie kollektive Handlungsmuster dokumentieren und damit für den Forschungszweck von Interesse sind, aus forschungsethischer Perspektive eine Intervention erforderlich machen. Auch im Hinblick auf den Forschungszweck können Interventionen in Betracht gezogen werden, beispielsweise dann, wenn, wie oben angesprochen, aufgrund hoher Lautstärke und gleichzeitigen Schauplätzen eine mangelnde Rekonstruierbarkeit angenommen oder zu stark von

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TEIL II: Anlage der Studie

Forschungsthemen abgewichen wird. Generell gilt, Interventionen mit Bedacht vorzunehmen und wenn möglich zu vermeiden (vgl. Michalek 2006a: 75). Der Überlagerung der beiden Diskurse ist analytisch nachzugehen. So ist beispielsweise zu reflektieren, welche Reaktionen die Forschenden und ihre Gesprächsimpulse und Interventionen bei den Beteiligten hervorrufen. Die Beeinflussung kindlicher Diskurse durch Überlagerung mit intergenerationalen Interaktionen ist dabei nicht als methodologischer Makel des Gruppendiskussionsverfahrens zu begreifen, sondern als „zusätzliche Erkenntnisquelle“ (Nentwig-Gesemann 2010: 29). Atmosphäre des Forschungssettings In einer altersgemäßen Methodik ist schließlich das Gelingen von Forschungszugängen zu Kindern verankert. Teil einer empirischen Untersuchung zu sein ist für Kinder einerseits spannend, andererseits mitunter auch eine unbekannte und unsichere Situation. Umso wichtiger ist es, neben den oben bereits ausgeführten Aspekten zu Ausgestaltung von Gruppendiskussionen mit Kindern eine angenehme und vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen. Die zahlenmäßige Dominanz der Kinder gegenüber den erwachsenen Forschern ist dabei nur ein Aspekt, der dem zuträglich ist. Vertrautheit wird darüber hinaus durch Realgruppen, einen vertrauten Ort und ein gegenseitiges Kennenlernen, das über den Untersuchungstag hinausgeht, befördert, beispielsweise durch Vortreffen, Hospitationen oder ein informelles Eintauchen in die Lebenswelten der Kinder durch die Forschenden. Das Forschungsvorhaben sollte so transparent wie möglich gemacht und die Kinder in ihrer ExpertInnenrolle bestärkt werden. Inhaltlich sollte an alltagsrelevante Themen, Praktiken und Orientierungen der Kinder angeschlossen und je nach Altersgruppe und Erkenntnisinteresse sollten spielerische Handlungen und szenische Darstellungen als zusätzliche dramaturgische Mittel genutzt werden (vgl. Heinzel 2012: 110). Wie auch in Gruppendiskussionen mit Erwachsenen ergeben sich die „Grenzen der Methode […] überall dort, wo man annehmen kann, dass der Äußerung subjektiver Deutungsmuster durch die Gruppensituation unüberwindliche Barrieren entgegengestellt werden“ (Kölbl/BillmannMahecha 2005: 331). Kohäsive Dynamiken (Gruppensolidarität), Hemmungen in der öffentlichen Meinungsäußerung oder Anpassungsmechanismen können individuelle Meinungsbilder vor allem in Realgruppen verdrängen.

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Nicht zuletzt muss die Tatsache, dass es sich um durch Erwachsene künstlich hervorgerufene und begleitete Gesprächssituationen handelt, die zudem meist noch einer schulischen Rahmung unterliegen, Berücksichtigung in den Analysen finden (vgl. Heinzel 2012: 108). 6.2.3

Leitfaden und Erhebung: Kinderkonferenz „Sprache und das gute Leben“

Ähnlich wie Fattore, Mason und Watson (siehe Kap. 3.4) habe ich Kinder bereits in der Entwicklungsphase meines Erhebungsinstruments einbezogen. Ich habe gemeinsam mit einer Gruppe an Kindern den Leitfaden entwickelt und dabei Fragestellungen und Formulierungen diskutiert und didaktisch ansprechende Zugangsweisen zur Zielgruppe der Kinder erprobt. Zudem wurde der Leitfaden im Rahmen eines DoktorandInnenkolloquiums diskutiert. Die Übersetzung des Leitfadens ins Niederländische und Französische erfolgte jeweils in bilingualen Dreierteams (siehe weiterführend Kap. 6.4.2). Der Leitfaden ist minimal strukturiert und prozesshaft gestaltet „to allow for children to convey their own constructions through dialogue with the researcher“ (Fattore/Mason/Watson 2012: 427). Der eigenen Logik kindlicher Diskurspraxis wird, in Anlehnung an die obigen Darstellungen, mit altersspezifischen Herangehensweisen (methodisch, inhaltlich, sprachlich) und ausreichend Flexibilitätsspielraum Rechnung getragen. Um forschungsmethodisch eine Vergleichbarkeit der drei Kontexte zu gewährleisten, folgt der Leitfaden dennoch einer (wenn auch nicht starren) Regelhaftigkeit. Die Gruppendiskussion wurde in Form einer Kinderkonferenz durchgeführt, um bei den Kindern Interesse und Neugier zu wecken und zugleich auch ihrer ExpertInnenrolle Gewicht zu verleihen. Der Name der Konferenz lautete in Anlehnung an die Aspekte Sprachförderung und Wohlbefinden „Sprache und das gute Leben“.

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TEIL II: Anlage der Studie

Der Leitfaden umfasst folgende Eckpunkte: Allgemeiner Einstieg und Einführung in das Thema Bevor die Diskussion startet, erfolgt ein kurzer Austausch zu Thema und Anliegen. Besonders wird dabei die ExpertInnenrolle der Kinder hervorgehoben. Darüber hinaus folgen allgemeine Hinweise zu Ablauf und Vorgehen (‚Kommunikationsregeln‘, etc.), zu Aufnahmetechnik und Anonymität und es wird Gelegenheit gegeben, Fragen zu stellen. Es werden Namensschilder mit einem Wunschnamen oder dem eigenen Namen erstellt. Warm-Up Nach den Vorbereitungen und der Einführung erfolgt ein Auflockerungsspiel. Bei dem Spiel Wollknäuel werfen sich die TeilnehmerInnen nacheinander ein Wollknäuel zu, dessen Faden sie jeweils festhalten. Dabei stellen sie sich gegenseitig Fragen zu Hobbys, Vorlieben usw. Die Verbindung, die sich durch das entstehende Netz zwischen den TeilnehmerInnen symbolisch entspinnt, eignet sich als Überleitung zum ‚offiziellen‘ Konferenzbeginn. Teil 1 der Konferenz – Das gute Leben Der Eingangsstimulus führt in das Hauptthema der Konferenz ein. Zentral ist hier die Frage, was aus Sicht der befragten Kinder Wohlbefinden hervorbringt: „Stellt Euch mal vor, wir sind jetzt also auf einer Kinderkonferenz und Ihr wollt uns Erwachsenen nun erklären, was für Euch Kinder wichtig ist. Wir interessieren uns dafür, was für Euch ein gutes und schönes Leben ausmacht. Also was braucht man Eurer Meinung nach dazu, um sagen zu können, das ist ein gutes Leben und vor allem auch warum. Erzählt doch mal.“ 121

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Implizit fließt hier die Vorannahme ein, dass sich die Vorstellungen von einem guten Leben bei Kindern und Erwachsenen unterscheiden und Erwachsene über die Ansichten der Kinder nicht Bescheid wissen. Außerdem wird eine Assoziation zwischen einem guten Leben und Wohlbefinden („tut gut“, „macht glücklich“) hergestellt.

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Die niederländische und französische Übersetzung lautet folgendermaßen: „Stel je eens voor dat we op een kindercongres zitten en je wilt de volwassenen uitleggen wat voor jullie als kind belangrijk is. Wij zijn geïnteresseerd in wat voor jullie een gelukkig en mooi leven betekent. Dus wat is er volgens jullie nodig om te kunnen zeggen dat het leven goed is en vooral ook waarom. Vertel dat eens.“ „Imaginez, vous êtes donc à la conférence pour enfants et vous voulez nous expliquer qu’est-ce qui est important pour vous, les enfants. Nous nous intéressons à tout ce qui vous semble important pour une belle et agréable vie. Alors, à votre avis, qu’est-ce qu’il faut pour pouvoir dire que c’est une agréable vie et pourquoi ? Racontez un peu.“

Des Weiteren bietet der Leitfaden einen Folgereiz zur Erzählanregung, der optional eingesetzt werden kann: „Für uns ist alles spannend, was Euch dazu so einfällt. Also was sind das für Dinge, von denen Ihr sagt, das tut mir gut, das macht mich glücklich und das ist mir wichtig? Wer möchte anfangen?“ 122

Weitere exmanente Fragen, die bei Bedarf ergänzt werden können, beziehen sich unter anderem auf Vorstellungen für das weitere Leben, Zukunftsträume und Vorbilder. Schließlich wird als spielerisches Element eine Papiersonne eingesetzt, auf deren Strahlen Bereiche und Themen geschrieben werden können, in denen sich aus Sicht der TeilnehmerInnen „die Politiker123 mehr für die Kinder einsetzen sollten“.

122 123

Erzählstimulus und Folgereiz sind an die Ausführungen von Bock (2010: 127) angelehnt. Der Begriff „Politiker“ war den Kindern nicht immer bekannt und wurde bei Bedarf durch den Begriff „Erwachsene“ beziehungsweise in den Niederlanden durch den Begriff „König“ (Willem-Alexander) ersetzt.

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TEIL II: Anlage der Studie

Abbildung 5: Themen-Sonne Gruppe Fenster (NL)

Teil 2 der Konferenz – Sprache und Sprachförderung Im zweiten Themenfeld wird der Frage nachgegangen, wie die Kinder die Teilnahme am Sprachförderunterricht und die Rolle der (Verkehrs)Sprache allgemein thematisieren.124 „Erzählt doch nun bitte mal ein bisschen von Eurem Sprachförderunterricht. Was macht Ihr hier genau? Was lernt Ihr hier? Und was gefällt Euch oder gefällt Euch nicht so gut? Ihr dürft alles sagen.“

Exmanente Fragen nehmen weitere positive und negative Erfahrungen in Bezug auf Sprache, Mehrsprachigkeit und Sprachförderung in Augenschein. Aufgrund der individuellen Gruppenkonstellationen, die sich nicht immer aus Sprachfördergruppen im engeren Sinne zusammensetzten, wurde dieser Thementeil in den konkreten Situationen variabel eingesetzt. Abschluss Nach der Diskussion gibt es Raum, sich darüber auszutauschen, wie die Diskussion (und Forschungssituation) erlebt wurde. Die Kinder bekommen als Dankeschön ein kleines Geschenk überreicht. Dieser Teil ist nicht Gegenstand der vorliegenden Dissertation, sondern wird nur selektiv für die Rekonstruktion der kollektiven Orientierungen herangezogen (siehe hierzu Kämpfe/ Westphal 2018). 124

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Im Kurzfragebogen werden in knapper Form Daten zur Person und zur Familie erfragt, so unter anderem Alter, Geburtsland, gesprochene Sprache(n) in der Familie, Angaben zu Geschwistern, Bildungshintergrund und Beschäftigungssituation der Eltern. Die deutsche Version enthält aufgrund der Besonderheit des deutschen Schulsystems auch ein Feld zur Angabe, welche Übergangsempfehlung in die weiterführende Schule dem Kind ausgestellt wurde. Im Untersuchungsdesign werden Kindheiten im Migrationskontext in Differenz zu Kindheiten ohne Migrationskontext konstruiert. In der Gruppenzusammensetzung und im Leitfaden wird der Migrationskontext von Beginn an durch Verweis auf die Sprachförderung als konstituierendes Element explizit. Der Einstieg in die Diskussion mit dem Stimulus zur Frage nach dem ‚guten Leben‘ erfolgt jedoch ohne entsprechende Bezugnahme. Andere Bezüge sind lediglich dann vorgesehen, wenn sie von den Kindern selbst eingebracht werden. Bei der Suche nach kollektiven Orientierungen ist insbesondere interessant zu erfahren, welche Bedeutung die Kinder selbstläufig den vielschichtigen Kategorien Migration und Differenz beimessen. Um der Gefahr der Reifizierung von (migrationsbezogener) Differenz produktiv zu begegnen, bedarf es einer systematischen Kontrolle der eigenen Standortgebundenheit (Kap. 6.4.1): „In der Analyse muss nachvollziehbar sein, wann es sich um Konstruktionen der Akteure im Feld handelt und wann der Bezug auf die Konstruktionen der Forschenden geschieht“ (Michalek 2009: 95, vgl. Waburg 2009: 103; Diehm/Kuhn/Machold 2010). Besonderes Augenmerk wird daher in der Analyse darauf gerichtet, welche Differenzkonstruktionen durch die Teilnehmenden selbst, welche durch die ModeratorInnen hervorgebracht und wie diese im Diskursverlauf verhandelt werden und diesen beeinflussen. 6.2.4

Methodenreflexion – Erkenntnisse aus drei Ländern

Der Einsatz des Gruppendiskussionsverfahrens mit Kindern im Alter von acht bis 12 Jahren erwies sich im Rahmen der Untersuchung in allen drei Ländern nicht nur als äußerst erkenntnisreich und bestätigend hinsichtlich der kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten von Kindern dieses Alters. Die Mehrheit der teilnehmenden Kinder zeigte zudem großes Interesse an Methode und Thema sowie der ihnen zugeschriebenen ExpertInnenrolle

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TEIL II: Anlage der Studie

und äußerte den Wunsch, derartige Diskussionsformen und -foren häufiger in den Schulalltag einzubinden. Gruppendiskussionen mit Kindern unterliegen jedoch auch zahlreichen unsicheren Faktoren, die auf den Verlauf und damit auch auf die Ergebnisse entscheidend Einfluss nehmen. Vor allem der unvorhersehbare Verlauf der auf Selbstläufigkeit angelegten Forschungsmethode stellt eine Herausforderung für die Forschungspraxis dar. Dabei ist den Erfahrungen von Bock (2010: 148) und Michalek (2006b: 84) über die zum Teil starke Variation von Selbstläufigkeit und metaphorischer Dichte in den Gruppendiskussionen oder bestimmten Passagen zuzustimmen. Während die Mehrheit der Gruppen von Anfang an sehr engagiert in die Diskussion fand, gingen die Diskussionen in anderen Gruppen stellenweise stockend und wenig selbstläufig voran oder verloren sich gehäuft in Nebenschauplätzen. Die Ursachen für die unterschiedlichen Dynamiken sind vielfältig und komplex. Gründe, die bereits benannt wurden, können unter anderem die künstliche durch Erwachsene hervorgerufene und begleitete Situation, das teils ungewohnte Diskussionsformat, die Gruppenkonstellation oder auch persönlichkeits- oder situationsspezifische Hemmnisse sein. Unterschiedliche Dynamiken können nicht zuletzt auch Ausdruck des Interesses sein, das die Kinder einem Thema beimessen oder eben nicht. Einige, jedoch nicht alle der Ursachen konnten im Laufe der Diskussionen aufgelöst werden. Im Folgenden sollen ergänzend zu den oben benannten Erkenntnissen aus der rekonstruktiven Kindheitsforschung potenzielle Unwägbarkeiten in Bezug auf Leitfaden und Kurzfragebogen, Gruppenkonstellation und Setting sowie die ModeratorInnenrolle in Gruppendiskussionen mit Kindern aufgezeigt und Überlegungen für eine reflektierte Forschungspraxis dargelegt werden. Leitfaden und Kurzfragebogen Der für diese Studie entwickelte Leitfaden, die Formulierung der Fragen und die Inszenierung als Kinderkonferenz haben sich insgesamt als sehr praktikabel erwiesen und konnten überwiegend eine sehr selbstläufige Diskussion initiieren. Vor allem wenn die Diskursorganisation und weniger kollektive Handlungs- und Spielprozesse im Vordergrund stehen, spielt die Aufrechterhaltung der Konzentration der Kinder eine nicht zu unterschätzende Rolle für den Diskursverlauf. Die Erwähnung, dass die Kinder als ExpertInnen gefragt und die (internationalen) Ergebnisse in einem Buch

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verfasst werden, hat die Konzentration der Kinder und deren Partizipation an der Diskussion positiv beeinflusst.125 Der Leitfaden zeigte durch die Aufteilung in zwei themeninitiierende Eingangsstimuli (Thema 1 und 2) sowie weitere optionale Fragen die notwendige Flexibilität, um den einzigartigen Gruppendynamiken adäquat zu begegnen. Abwandlungen wurden beispielsweise auch bei der zum Teil sehr zeitaufwendigen Gestaltung der Namensschilder und der Erstellung der Themen-Sonne vorgenommen sowie beim zweiten Themenblock Sprache und Sprachförderung. Da nicht alle befragten Kinder zum Zeitpunkt der Befragung an einer Sprachfördermaßnahme teilnahmen, wurden die Fragen in dem Fall leicht variiert und die Rolle von Sprache in den Fokus gerückt. Der Kurzfragebogen zur Erfassung ausgewählter soziodemographischer Daten erwies sich aufgrund der lückenhaften Eintragungen als nur begrenzt verwertbar. Fragen zu Bildungsstand und (beruflicher) Tätigkeit der Eltern wurden von den Kindern und den begleitenden Lehrkräften oft nicht oder nicht eindeutig beantwortet. Für die Auswertung sind sie nicht von tragender Relevanz. Je nach Forschungsanliegen ist zu überlegen, ob die genaue Erfassung überhaupt erforderlich ist und falls ja, ob in dem Fall die Eltern selbst dazu Auskunft geben sollten. Gruppenkonstellation Die Gruppenzusammensetzung hat sich in den Diskussionen als sehr einflussreich für den Diskursverlauf erwiesen. Bei allen Gruppen handelte es sich um Realgruppen, deren Mitglieder entweder gemeinsam an einer Sprachfördermaßnahme teilnahmen oder die gleiche Klasse/Klassenstufe besuchten. Je stärker sich die Kinder mit der Gruppe identifizierten und auch außerhalb dieses Settings als Gruppe betrachteten, desto selbstläufiger und homologer entfalteten sich und desto eindeutiger zeichneten sich kollektive Orientierungen ab. Auch in heterogeneren Gruppen beziehungsweise Gruppen, die sich weniger vertraut waren, dokumentierten sich kollektive Orientierungen, jedoch in der Regel unter geringerer Selbstläufigkeit im Diskursverlauf. Ob es sinnvoll ist, die Gruppenzusammensetzung noch stärker zu steuern, sie den Kindern zu überlassen, nach teilnehmender Be125

Abschweifungen und Nebenschauplätze wurden durch andere Kinder mit dem Verweis auf die weite Anreise der ModeratorInnen oder die Wichtigkeit der Situation kommentiert. Inwieweit sich durch eine derartige Einführung über den Verwertungszweck auch eine Verzerrung der Ergebnisse einstellen kann, ist anhand des Materials zu reflektieren.

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TEIL II: Anlage der Studie

obachtung selbst vorzunehmen oder der Lehrkraft klare Vorgaben bezüglich der Auswahl der Kinder zu geben, muss im jeweiligen Forschungskontext entschieden werden. Im Rahmen dieser Studie wurde eine gezielte Steuerung hin zu einer noch homogeneren Gruppenzusammensetzung weder in Bezug auf spezifische soziale Dimensionen wie Geschlecht oder natioethno-kulturell codierte Zugehörigkeitsdimensionen noch in Bezug auf Peerzugehörigkeit in Betracht gezogen. Die Gruppen bilden vielmehr Realgruppen des schulischen Kontexts ab, die sich mal homogener, mal heterogener gestalten. Ein weiterer kritischer Punkt in Hinblick auf die Befragungssituation ist die Frage nach der Anwesenheit einer Lehrkraft. Die (diskrete) Anwesenheit wurde als vertrauensbildende Maßnahme für den ersten Teil der Diskussion zugelassen. Für den zweiten Teil wurden die Lehrkräfte hinausgebeten. In einzelnen Diskussionen in Deutschland und Frankreich waren Lehrkräfte zumindest im ersten Teil der Diskussion teils zur Wahrung ihrer Aufsichtspflicht, teils aus Interesse anwesend. Auch hierin ist ein womöglich gewichtiger Einfluss auf die Gruppendynamik und eine Gefahr der Verzerrung der Ergebnisse zu sehen, die bei der Analyse zu berücksichtigen sind. Die (individuelle) Beziehung zur Lehrkraft kann dazu führen, dass Kinder sich in ihrem Antwortverhalten entweder gehemmt oder angespornt fühlen. Nach Möglichkeit sollte aufgrund dieser Risiken die Anwesenheit von Lehrkräften bei den Diskussionen vermieden werden. Dies erfordert jedoch ein hohes Vertrauensverhältnis zwischen Schule und Forschenden. Setting Die zahlenmäßige Überlegenheit der Kinder und eine vertraute und zugleich lockere Atmosphäre können als für die Dynamik der Diskussion sehr förderlich bestätigt werden. Gruppendiskussionen mit Kindern zeigen sich jedoch in besonderem Maße als störanfällig und die Kinder mitunter als leicht abzulenken. Es sollte daher ein möglichst reizarmes Umfeld geschaffen werden, etwa durch die Minimierung möglicher Störungen von außen, zum Beispiel durch das Vermeiden von Räumen mit Glastüren oder in Erdgeschosslage. Auch Ablenkungen im Raum sollten nach Möglichkeit weitgehend reduziert werden, zum Beispiel dadurch, dass Materialien, die nicht mehr benötigt werden, direkt weggeräumt werden. So bemalten sich beispielsweise mehrere Kinder in einer Gruppe während der Diskussion die Hände mit Permanentmarkern und nutzten dann die Möglichkeit, sich diese

Methodisches Vorgehen und Methodologie

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an einem Waschbecken, das sich im Raum befand, wieder abzuwaschen, was für Unruhe und Brüche in der Diskussion sorgte. Zwar ist der Umgang mit Ablenkung auch unter Gesichtspunkten kollektiver Orientierung zu deuten und verweist auf Handlungsmuster. Für die Diskussion, die an Selbstläufigkeit und wie oben bereits dargelegt weniger an Handlungsprozessen als an Diskursorganisation interessiert ist, sind derartige Störungen jedoch wenig förderlich. Eine weitere Erkenntnis aus der Forschungspraxis ist die Notwendigkeit, vorab Störungen wie etwa hohe Lautstärke, die von der Gruppe ausgehen könnte, an die AnsprechpartnerInnen in den Schulen zu kommunizieren. Hier erscheint es hilfreich, die Forschungsmethode kurz zu erläutern, mit dem Hinweis, dass die Kinder in ihren natürlichen Handlungsweisen möglichst nicht eingeschränkt werden. Die mitunter hohe Lautstärke sorgte teils für Irritation. Im Glauben, die lärmenden Kinder tanzten der externen Forschenden auf der Nase herum und die Forschungssituation laufe aus dem Ruder, startete eine der AnsprechpartnerInnen folgenden Rettungsversuch: [Es klopft.] I [dreht sich zur Tür]: Hallo. […] Lehrerin [steckt Kopf zur Tür rein]: Es hört sich nicht ganz in Ordnung an. [besorgt] I: Ist zu laut? Lehrerin: Ist es für Sie ok? I: Ach, für mich? Jaja, klar. FRm: Natürlich! I: Ach so nein, alles ist gut! FRm: Ich bin ein Engel. [fasst sich selbst auf die Brust] Lehrerin: Vielleicht -. Nebenan ist ´ne Fachkonferenz. I: Ach so, ok. [FRm hustet absichtlich laut] Lehrerin: ( ) Lehrer sind da. […] Lehrerin: Nicht alle auf einen Haufen reden! […] I: Wie ihr seht, wir sind zwar auch eine Konferenz, aber wir dürfen nicht so laut reden. (Gruppe Karo, Z. 1188-1213)

Diese in Wahrheit nicht existente Lehrerkonferenz stellte sich im Nachhinein als Versuch der Ansprechpartnerin heraus, die scheinbar misslingende

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TEIL II: Anlage der Studie

Forschungssituation wieder in ‚geregelte Bahnen‘ zu lenken. Die Diskussion wurde dadurch jedoch in ihrer Dynamik verändert. Mehrfach wurde die vermeintliche Fachkonferenz von der Moderatorin daraufhin thematisiert, um die Kinder zu mehr Ruhe zu bewegen. Darauf entgegnete ein teilnehmendes Kind: „Aber hier ist auch Konferenz!“ (Gruppe Karo, Z. 1420). ForscherInnen- und ModeratorInnenrolle Die Herausforderung in der Moderation liegt darin, möglichen Widerspruch zwischen angestrebter Selbstläufigkeit und Ergebnisgenerierung weitestgehend zu minimieren. Die hochkomplexen und oft schwer durchschaubaren Situationen erfordern reflektierte Vorgehensweisen, die methodische und situative Erfordernisse flexibel ausbalanciert. Die Moderation erfolgte mit dem Ziel größtmöglicher Zurückhaltung. Intervention erweist sich jedoch als angebracht und notwendig, wenn die Diskussion zum Erliegen oder gar nicht erst in Gang kommt. Auch in kritischen Situationen wie beispielsweise Eskalation von Streit, Beleidigungen, Mobbing kann die Notwendigkeit einer Intervention gegeben sein. Zwar bilden vor allem auch diese kritischen Situationen die Lebenswelten der Kinder ab und sind demzufolge von wissenschaftlicher Relevanz. Aus forschungsethischer Perspektive und vor dem Hintergrund, dass es sich um Kinder handelt, erfordern gewisse Situationen jedoch eine schützende Intervention durch die ModeratorInnen. Zum Teil wird eine Intervention von den Kindern sogar eingefordert.126 Drittens wurde Intervention als legitim erachtet, wenn die nachträgliche Rekonstruktion der Diskurse durch eine zu hohe (parallele) Geräuschkulisse behindert geglaubt wurde. Stellenweise ist die Transkription nicht möglich, wenn mehrere Schauplätze parallel stattfinden. Das Auftreten kritischer Situationen und hoher Geräuschkulissen ist sehr wahrscheinlich, wenn das Ziel einer möglichst realitätsnahen und wenig regulierenden Situation erreicht wird. Regulierende Interventionen stören die Gruppenatmosphäre und sind daher nur im Notfall und mit Bedacht anzuwenden, schließlich werden die Kinder explizit aufgefordert sich als Kinder und nicht in ihrer Rolle als SchülerInnen oder etwa als kleine Erwachsene zu präsentieren.

126

Häufigster Streitpunkt war eine Spaltung in der Gruppe zwischen Kindern, die sich ernsthaft an der Diskussion beteiligen wollten und anderen, die herumalberten.

Methodisches Vorgehen und Methodologie

131

6.3 Auswertung – Dokumentarische Methode 6.3.1

Von der formulierenden Interpretation zur sinngenetischen Typenbildung

Ziel der Dokumentarischen Methode ist es, die dem Gesagten (immanenter Sinngehalt oder Ausdruckssinn) zugrundeliegenden Orientierungsstrukturen (dokumentarischer Sinngehalt oder Dokumentsinn) zu erschließen und theoretisch-begrifflich zu explizieren.127 Für die Analyse von Gruppendiskussionen bedeutet dies, die gegenseitigen, auf konjunktiv geteiltem, atheoretischen Wissen basierenden Verstehensleistungen der Teilnehmenden, ihre metaphorische Entfaltung in den Redebeiträgen und schließlich den „Zusammenhang von Kollektivvorstellungen und dahinter liegenden Erlebnisprozessen und Erlebniszusammenhängen“ zu rekonstruieren (Bohnsack 2010: 43). Die vorliegende Arbeit verfolgt die Schritte der Dokumentarischen Methode bis zur sinngenetischen Typenbildung. In der Ergebnisdarstellung werden die Fälle vor dem Hintergrund des identifizierten Typus nach ihren milieutypischen Variationen kontrastiert. Im Folgenden wird das Vorgehen anhand der einzelnen Auswertungsschritte erläutert. Vorgehen Durch das sequentielle Vorgehen im Rahmen der Dokumentarischen Methode wird sowohl der Prozesshaftigkeit als auch der Struktur des Diskurses und dessen Sinngehalten Rechnung getragen (Bohnsack 2010: 134, 1989). Im ersten Schritt, der formulierenden Interpretation, wird der Gesamtverlauf der Gruppendiskussion thematisch strukturiert, das heißt es geht um eine „zusammenfassende (Re-)Formulierung des immanenten, des kommunikativ127

Die Dokumentarische Methode, die forschungsmethodisch in den 1980er Jahren von Ralf Bohnsack unter Mitwirkung von Werner Mangold ausgearbeitet wurde, findet ihre zentralen methodologisch-theoretischen Grundlagen vor allem in der Wissenssoziologie Karl Mannheims sowie daran anschließenden erkenntnistheoretischen Überlegungen der Ethnomethodologie, vertreten durch Harold Garfinkel, und dem Habituskonzept der praxeologischen Kultursoziologie von Pierre Bourdieu (Bohnsack 2012: 120, 1989). Methodologie und Grundbegriffe gehen darüber hinaus auf die Phänomenologische Soziologie und die Chicagoer Schule zurück. Siehe hierzu weiterführend Bohnsack (2010).

132

TEIL II: Anlage der Studie

generalisierten oder alltagssprachlich ausgedrückt – des allgemein verständlichen Sinngehalts“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 293). Hierzu habe ich auf Grundlage der vollständig transkribierten Gruppendiskussionen das Gesagte nach Ober- und Unterthemen gegliedert und inhaltlich zusammengefasst.128 Besonders dichte Stellen wurden detaillierter erfasst. Die Ebene des immanenten Sinngehalts wird bei diesem Schritt nicht verlassen (Bohnsack 2010: 134). Im Fokus stehen nicht die einzelnen SprecherInnen, sondern die Themen in ihrer kollektiven Hervorbringung und Entfaltung. Interventionen der Diskussionsleitung werden notiert, etwa um zu differenzieren, ob Themen selbstläufig oder durch die Diskussionseinleitung eingebracht wurden (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 292). Auf Grundlage dieser gegliederten Inhaltsangaben habe ich metaphorisch und interaktiv dichte Passagen – so genannte Fokussierungsmetaphern129 – ausgewählt, um sie daraufhin mit Hilfe der reflektierenden Interpretation weiter zu analysieren. Die reflektierende Interpretation verfolgt das Ziel, den Rahmen, „innerhalb dessen das Thema abgehandelt wird, auf die Art und Weise, wie, das heißt mit Bezug auf welches Orientierungsmuster, welchen Orientierungsrahmen das Thema behandelt wird“, zu rekonstruieren und begrifflich-theoretisch zu explizieren (Bohnsack 2010: 135; Hervorhebung im Original). Der kollektive Orientierungsrahmen, der in die Beschreibungen, Erzählungen und Interaktionen eingelassen ist, lässt sich durch die Rekonstruktion der Rahmenkomponenten erschließen. Als wichtigste zu identifizierende Rahmenkomponenten bezeichnet Bohnsack (1989: 27) die einander begrenzenden positiven und negativen Gegenhorizonte sowie die Enaktierungspotenziale. Übersetzt man diese Komponenten in konkrete Fragestellungen an das Dokument, so könnten diese wie folgt lauten: - Wohin/wonach wird gestrebt? (positiver Gegenhorizont) - Wovon wird sich abgewendet beziehungsweise abgegrenzt? (negativer Gegenhorizont) 128

129

Die Transkription erfolgte in Anlehnung an Bohnsacks Prinzip des „Talk in Qualitative Research“, das im Zusammenhang mit dem Gruppendiskussionsverfahren und in Hinblick auf rekonstruktive Verfahren entwickelt wurde und neben dem Gesprochenen unter anderem auch gleichzeitiges Sprechen sowie nonverbale Aspekte erfasst (Bohnsack 2010: 236). Fokussierungsmetaphern bilden „dramaturgische Höhepunkte“ ab, in deren dichten Beschreibungen, Erzählungen oder Interaktionen die kollektiven Orientierungen durch die Gruppe besonders prägnant hervorgebracht werden (ebd.: 123).

Methodisches Vorgehen und Methodologie

-

133

Wie werden die Möglichkeiten der Umsetzung dieser Orientierungen eingeschätzt? (Enaktierungspotenzial) (vgl. Przyborski/ Wohlrab-Sahr 2014: 296).

Durch die Identifizierung der Gegenhorizonte und Enaktierungspotenziale kann der Orientierungsrahmen abgesteckt werden. Kollektive Orientierungen werden prozesshaft und in interaktiver Bezugnahme hervorgebracht und entfaltet. Der Sinngehalt von Äußerungen und Handlungen ist erst durch Reaktionen anderer Beteiligter zu erschließen. Inwieweit ein hervorgebrachter Orientierungsgehalt auch kollektiv geteilt und prozesshaft weiter entfaltet wird, ist nur durch die Rekonstruktion so genannter Diskurseinheiten zu ermitteln (Bohnsack 2010: 138). In den selektierten Passagen wurden daher die Diskurseinheiten hinsichtlich ihrer Diskursbewegungen, das heißt der Relationen und Verschränkungen aufeinander folgender Äußerungen, sequenzanalytisch untersucht.130 Ein weiterer Aspekt, der die Rekonstruktion der formalen Diskursorganisation zu einem wichtigen Analyseschritt macht, ist das „zirkuläre[...] Wechselspiel von formaler Diskursorganisation und inhaltlicher Semantik“ (Bohnsack/Przyborski 2010: 235). Das Kollektive zeigt sich auch in der Performanz, im Besonderen in den Fokussierungsmetaphern, aber auch im Gesamtdiskurs (vgl. Bohnsack/Schäffer 2013: 309). Daher stellt die Diskursorganisation der Gesamtstruktur, der Diskursmodus, eine bedeutsame Analyseebene dar.131 Schließlich wurde der Fokus auf das Charakteristische des Kollektivs, das heißt „die Besonderheit oder Gesamtgestalt des Falles“ (Bohnsack 2010: 137) gerichtet, auf homologe Muster, die sich innerhalb des Diskursverlaufs 130

131

Eine Diskurseinheit zeichnet sich durch mindestens drei Diskursbewegungen aus: 1. Der Orientierungsrahmen wird von einer Person oder arbeitsteilig implizit hervorgebracht beziehungsweise angerissen (Proposition), 2. Die Orientierung wird von weiteren Beteiligten elaboriert (Elaboration), differenziert (Differenzierung), validiert (Validierung) beziehungsweise es werden in Form einer Antithese gegenläufige Aussagen getroffen, 3. Die Gruppe gelangt zu einer Konklusion beziehungsweise Synthese (Bohnsack 2010: 125; Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 291–301; Przyborski 2004: 61–76). Für einen umfassenden Überblick über das Begriffsinventar zur Bestimmung der Diskursbewegungen empfiehlt sich Przyborski (2004). Der Diskursmodus bezeichnet die Art und Weise, wie Orientierungsgehalte im Diskursverlauf zueinander ins Verhältnis gebracht werden. Differenziert wird in der Dokumentarischen Methode dabei zwischen dem parallelisierenden, antithetischen, univoken, divergenten und oppositionellen Modus (siehe vertiefend Przyborski (2004)).

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TEIL II: Anlage der Studie

in unterschiedlichen Themen und Interaktionen immer wieder dokumentieren. Die Identifizierung dieser Homologien basiert auf der Grundlage eines fallinternen Vergleichs mit der Frage, „welche Sinnmuster, welche Sinnstruktur über die Themen eines Diskurses hinweg immer wieder artikuliert werden“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 300). Die Charakteristik des Falls gewinnt schließlich vor allem aber in komparativer Analyse mit anderen Fällen an Kontur. Der reflektierenden Interpretation folgt die Typenbildung.132 Die sinngenetische Typenbildung ist auf die homologen Sinnmuster, den Orientierungsrahmen, gerichtet. Die Generierung der Typik erfolgte über zwei Teilschritte, die Abstraktion und die Spezifizierung des Orientierungsrahmens. Im ersten Schritt wurden thematisch ähnliche Passagen unterschiedlicher Gruppen vergleichend auf ein homologes Muster hin untersucht und zu einer übergeordneten „Klasse von Orientierungen“ und somit sukzessive zu einem Typus abstrahiert (Bohnsack 2013: 251). Im zweiten Schritt wurde dieser Typus in gegenläufiger Richtung in seinen unterschiedlichen Ausprägungen spezifiziert, das heißt es wurde dem „Kontrast in der Gemeinsamkeit“ nachgegangen (Bohnsack 2010: 143; Hervorhebung im Original). Dazu wurden anhand der einzelnen Fälle die unterschiedlichen Bearbeitungs- und Bewältigungsmodi des typisierten, fallübergreifenden Orientierungsrahmens herausgearbeitet (vgl. Bohnsack 2013: 254; Nentwig-Gesemann 2013: 314). Im fallinternen Vergleich zeigt sich deren generelle Bedeutung für die Orientierung der Gruppe schließlich daran, inwieweit sie jeweils als homologes Muster in unterschiedlichen Themen in Erscheinung treten. Die Spezifizierung des Orientierungsrahmens führte zur Identifizierung milieutypischer Variationen – so genannten Milieutypen – der Basistypik (Bohnsack 2013: 257). Alle Schritte der Interpretation und der Typenbildung erfolgten in komparativer Analyse. Vergleichsfälle lagen dabei auf der Ebene fallimmanenter Vergleichshorizonte, themenbezogen, sowie auf der Ebene der Orientierungsrahmen (vgl. Nohl 2013a: 273–279). Dementsprechend wandelte sich auch das tertium comparationis, das den Fällen gemeinsame Dritte: „Das 132

Da dem Gegenstand Dokumentarischer Interpretation und Typenbildung, das heißt dem Sinngehalt von Handlungen und Äußerungen, über die Struktur seines „handlungspraktischen Herstellungsprozesses“ nachgegangen wird, spricht Bohnsack von praxeologischer Typenbildung (Bohnsack 2013: 248). Zur Abgrenzung von anderen Formen der Typenbildung siehe unter anderem Nentwig-Gesemann (2013).

Methodisches Vorgehen und Methodologie

135

tertium comparationis, […] konstituiert sich in der jeweiligen Gemeinsamkeit, vor deren Hintergrund sich Unterschiede zwischen den einzelnen Fällen abzeichnen“ (Nohl 2009: 100). Ein im Vorfeld gesetztes tertium comparationis kann maximal eine erste Orientierung bei der Suche des eigentlichen Vergleichshorizontes sein, denn dieser ist nicht Ausgangspunkt, sondern „Produkt des Vergleichs“ und gewinnt mit jedem Schritt weiter an Abstraktion und Präzision (Nohl 2013a: 279). Durch die frühe komparative Analyse unterschiedlicher Fälle wurde auch der standortgebundene Vergleichshorizont der Interpretin schrittweise ergänzt. Dieser quer zu den anderen Analyseschritten angelegte Vorgang leistet einen wichtigen Beitrag zum methodisch kontrollierten Fremdverstehen (Bohnsack 2010: 64; Asbrand 2009a: 5) (siehe Kap. 6.4.1). In der Ergebnisdarstellung habe ich die Fälle nach ihren milieutypischen Variationen kontrastiert. Die Fallbeschreibungen umfassen eine verdichtende und vermittelnde Darstellung der kollektiven Orientierungsgehalte und konstitutiven Komponenten vor dem Hintergrund ihrer dramaturgischen Entfaltung und der formalen Diskursorganisation. Die Darstellung des Diskussionsverlaufs erfolgt auf die homologen Orientierungsmuster hin zugespitzt, die im Rahmen der Reflektierenden Interpretation rekonstruiert wurden. Zentrale Diskurseinheiten und Schlüsselstellen wurden in den Fallbeschreibungen als Zitate übernommen, um den Verlauf zu veranschaulichen und die daran anschließenden Interpretationsschritte nachvollziehbar und transparent zu gestalten. Zwischenüberschriften zeigen an, anhand welcher Themen sich die Orientierungen über den Verlauf der Diskussion hinweg entfalten. Das Charakteristische des Falls ist in der Darstellung des Diskursverlaufs stetiger Bezugspunkt (vgl. Bohnsack 2010: 137–141). Wie bereits erklärt habe ich keine von vornherein kontrastierende Fallauswahl in Bezug auf unterschiedliche Merkmalskombinationen vorgenommen, sondern habe das Anliegen verfolgt, auf Grundlage einer theoretisch begründeten Merkmalskombination zunächst die milieuspezifische Vielfalt in einer homogenisiert dargestellten Gruppe herauszuarbeiten. Wenngleich der Ort der sozialen Genese der Orientierungen (soziogenetische Typenbildung) damit nicht eindeutig rekonstruiert werden kann, können jedoch erste Hinweise in Bezug auf mögliche relevante Erfahrungsdimensionen identifiziert werden (vgl. Nohl 2013a: 279).133 133

„Im Falle der sinngenetischen Typenbildung wird zwar sichtbar, dass unterschiedliche Erfahrungsdimensionen im Spiel sind, ohne aber zu wissen, um welche genau es sich

136

TEIL II: Anlage der Studie

6.3.2

Kontextuierter Ländervergleich

Die Frage, die ich in meiner Analyse an den Ländervergleich stelle, ist, inwiefern die rekonstruierten handlungsleitenden Orientierungen in nationalstaatlichen Ordnungen zu klären sind und inwieweit sie sich gegebenenfalls auch als transnational oder länderübergreifend verorten lassen. Nachdem die sinngenetische Typenbildung, die nicht nach Ländergruppen getrennt durchgeführt wurde, bereits zeigen wird, dass länderübergreifend zahlreiche Homologien in den Orientierungen zu erkennen sind, soll vor allem der Bedeutung spezifischer nationaler Kontexte nachgegangen werden. Der Ländervergleich erfolgt in Orientierung an dem von Nohl und KollegInnen (2010) entwickelten und auf der Dokumentarischen Methode aufbauenden Mehrebenenvergleich.134 Der Mehrebenenvergleich reagiert mit dem kontextuierten Ländervergleich auf die Kritik des methodologischen Nationalismus, der zufolge „der Nationalstaat soziale Phänomene, die (teilweise) innerhalb seines Territoriums vorzufinden sind, nicht in jedem Fall rahmen“ kann (Weiß/Nohl 2012: 55). Das Vorgehen, Nationalstaaten wie selbstverständlich als theoretisch fundierte Vergleichskontexte zu setzen, basiert dabei auf dem Irrtum, dass der Ort der Genese sozialer Phänomene in jedem Fall auf nationalstaatlicher Ebene zu kontextualisieren ist. Überdies wird dabei die Binnenheterogenität der Länder selbst übergangen. Der Zusammenhang sozialer Phänomene mit nationalstaatlichen Kontexten ist in der Realität jedoch oft nicht derart eindeutig zu rekonstruieren. Im Besonderen für Orientierungen und Handlungsweisen vor dem Erfahrungshintergrund von Migration zeigt sich, dass diese sich – auf undurchsichtige Art und Weise Ländergrenzen überschreitend – als transnational, aber auch nicht-national dokumentieren (vgl. ebd.: 58).

134

handelt.“ (Bohnsack 2013: 262). Die Rekonstruktion der zugrundeliegenden, sich überlagernden existenziellen Erlebnis- und Erfahrungszusammenhänge erfolgt über die Abgrenzung der Basistypik von anderen Typiken in der soziogenetischen Typenbildung. Hierzu werden Vergleichsfälle nach dem Prinzip des maximalen Kontrasts (in Bezug auf Migration, Geschlecht, Alter, Bildungshintergrund, etc.) herangezogen, die als Vergleichsfolie an die Bedeutungsschichten eines Falles angelegt werden. Siehe weiterführend Bohnsack (2013) und Przyborski/Wohlrab-Sahr (2014). Ausführlich dazu Nohl (2013b). Der Ansatz wurde in Rahmen eines internationalen Forschungsprojekts (Nohl et al. 2010) über hochqualifizierte EinwanderInnen auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland, Kanada, Großbritannien und der Türkei entwickelt.

Methodisches Vorgehen und Methodologie

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In der vorliegenden Untersuchung werden ähnlich situierte Fälle aus jeweils zwei oder drei Ländern miteinander verglichen, um durch Rekonstruktion von kontextabhängigen und kontextübergreifenden Unterschieden zwischen den Ländern länderspezifische (und -unspezifische) Aspekte zu identifizieren. Als ähnlich situierte Fälle betrachte ich zum einen Fälle, die im Hinblick auf ihre handlungsleitenden Orientierungen dem gleichen Milieutyp zugeordnet werden, aber auch Fälle, die eine bestimmte Charakteristik teilen, wie zum Beispiel die muslimische Religionszugehörigkeit. Das heißt die zu vergleichenden Untersuchungseinheiten werden erst im Untersuchungsprozess bestimmt (vgl. Nohl 2013b: 122–129; Weiß/Nohl 2012: 56–67; Nohl et al. 2006: 47). Aufgrund der kleinen Fallzahl sind empirisch gesicherte Aussagen zu Ländertypiken nur bedingt zu erwarten. Im Zusammenspiel von empirischen Erkenntnissen und theoretischen Überlegungen können jedoch erste Spuren verdichtet werden. 6.4 Herausforderungen eines internationalen und interkulturellen Vergleichs Im Folgenden möchte ich zwei Aspekte gesondert hervorheben, die, wenngleich sie in gewisser Weise Gegenstand jeder Art empirischer Forschung sind, im Fall eines internationalen und interkulturellen Vergleichs besonders zum Tragen kommen: Standortgebundenheit und Perspektivität sowie Übersetzungsprozesse. 6.4.1

Standortgebundenheit und Perspektivität

Mit seiner Frage „Von welcher kulturellen Position aus betreibe ich das Interpretieren der Kulturen?“ rekurriert Paul Mecheril (2009: 193) auf einen der zentralen Fallstricke qualitativer Vergleichsforschung, die eigene Standortgebundenheit und Perspektivität.135 Karl Mannheim ([1929] 1985: 229) spricht hier von der Seinsverbundenheit des Wissens und Denkens.

135

Als Problem im Zusammenhang mit der Standortgebundenheit gilt die Gefahr der Nostrifizierung, wonach Fremdes „in das Muster der eigenen Selbstverständlichkeiten eingeordnet“ wird (Nohl 2013a: 272).

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TEIL II: Anlage der Studie

Einstellungen „haben ihren Ursprung nicht in erster Reihe im bewußtwerdenden Willen des jeweils denkenden Einzelindividuums, vielmehr im kollektiven, hinter dem Denken dieses Individuums stehenden Willenszusammenhang einer Gruppe, an deren vorgegebenen Aspekten dieses Individuum mit seinem Denken nur partizipiert“ (Mannheim [1929] 1985: 231).

Folgerichtig ist auch mein Standort, mein Wissen und Denken seinsgebunden und in Zusammenhängen sozialer Strukturen kritisch zu reflektieren. Dies gilt umso mehr, wenn – wie hier in international und interkulturell vergleichender Perspektive – unterschiedliche Aspektstrukturen136 aufeinandertreffen und wenn darüber hinaus die Aspektstrukturen von Forscherin und Beforschten „gesellschaftliche Verhältnisse repräsentieren, die als Strukturen materieller und symbolischer Ungleichheit zu verstehen sind“ (Mecheril 2009: 193). Wie lässt sich vom eigenen Standort, von der eigenen Perspektive aus dennoch valide Vergleichsforschung praktizieren? Mannheim spricht von einer auf Umwegen herstellbaren Objektivität, „indem man nämlich hier das in beiden Aspektstrukturen richtig, aber verschieden Gesehene aus der Strukturdifferenz der beiden Sichtmodi zu verstehen bestrebt ist und sich um eine Formel der Umrechenbarkeit und Übersetzbarkeit dieser verschiedenen perspektivischen Sichten ineinander bemüht“ (Mannheim [1929] 1985: 258).

Die Umwege und Übersetzungsleistungen, die Mannheim hier avisiert, finden in den aufeinander aufbauenden Schritten der Dokumentarischen Methode und der frühen Gegenüberstellung von Vergleichshorizonten ihre praktische Umsetzung. Zugleich erfährt in der systematischen komparativen Analyse die eigene Standortgebundenheit methodische Kontrolle (vgl. Fritzsche 2012: 97). Ein erster wichtiger Schritt aber liegt im Bewusstsein über den eigenen Standort und die Reflexion der eigenen Perspektivität (vgl. Cappai 2005: 58; Mannheim [1929] 1985: 259).137 Der eigene Standort ist vielschichtig und 136

137

Der Begriff Aspektstruktur bezeichnet nach Mannheim ([1929] 1985: 234) „die Art, wie einer eine Sache sieht, was er an ihr erfaßt und wie er sich einen Sachverhalt im Denken konstruiert“. Asbrand (2009b: 112) verweist unter Offenlegung eigener Forschungsprozesse zudem auf die Gefahr der Parteilichkeit angesichts normativ besetzter Forschungsgegenstände.

Methodisches Vorgehen und Methodologie

139

wird durch (natio-)ethno-kulturell codierte Zugehörigkeiten und Positionen, soziale Position, Alter, Geschlecht, Weltanschauung, wissenschaftliche Positionierung, Forschungsintention und -motivation, nationalen Kontext und viele weitere Zugehörigkeiten bestimmt (vgl. Mecheril 2009: 195). Der auf dem eigenen Standort beruhenden Perspektivität kann darüber hinaus durch eine Standortserweiterung in Form eines heterogenen ForscherInnenteams Einhalt geboten werden (vgl. Mannheim [1929] 1985: 259; Asbrand 2009b: 117), indem eine Multiperspektivität entgegengesetzt wird. Alle hier vorliegenden Gruppendiskussionen wurden in enger Zusammenarbeit mit drei ForschungspraktikantInnen sowie im Rahmen von Methodenworkshops, DoktorandInnenkolloquien und einem Master-Seminar interpretiert und besprochen. Heterogenität war dabei unter anderem in Bezug auf (natio-)ethno-kulturelle Zugehörigkeiten, Geschlecht, Religion, eigene Migrationserfahrung, familiären Bildungshintergrund und Sprache gegeben, nicht aber in Bezug auf Generation. Das heißt, Kinder wurden nicht in den Auswertungsprozess einbezogen (wohl aber in den Planungsprozess). Auch blieb die Auswertung auf den universitären Kontext beschränkt.138 Die eigene Position wirkt sich jedoch nicht nur bei der Interpretation und dem Vergleichen aus. Bereits in der Erhebungssituation – konkret in der AkteurInnenkonstellation – ist die Standortgebundenheit angesichts ungleicher sozialer, kultureller und sprachlicher Positionen virulent.139 Als offen-

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139

Neben der Dokumentarischen Methode als methodische Kontrollinstanz sieht sie hierbei das ForscherInnenteam als wichtiges Korrektiv. Um auch die Perspektive der Kinder und die außeruniversitäre Perspektive zu erfassen und die Standortgebundenheit damit noch stärker zu kontrollieren, erweist sich der von Fritzsche (2012: 93) angewandte reflexiv-responsive Ansatz des Kulturvergleichs als aussichtsreich. In ihrem Projekt zu Beziehungen zwischen Lehrkräften und SchülerInnen in Londoner und Berliner Grundschulen führte sie in den beteiligten Schulen so genannte „responsive Gespräche“ durch, das heißt die AkteurInnengruppen bekamen Videosequenzen der jeweils anderen Schule vorgespielt sowie Zwischenergebnisse präsentiert und beides wurde diskutiert. Diese Aufnahmen wurden wiederum interpretiert, mit dem Ziel, die bereits rekonstruierten Orientierungen weiter zu differenzieren und zu erweitern. Siehe hierzu beispielsweise Martín Pérez (2006), der anschaulich schildert, wie er als weißer, spanischer Forscher der Mittelschicht versuchte, Kontakt und Vertrauen zu Wartenden vor einer Ausländerbehörde in Spanien aufzubauen und dabei vielfach den Eindruck erweckte, womöglich Mitarbeiter der Ausländerbehörde, Vertreter oder Zivilpolizist zu sein.

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TEIL II: Anlage der Studie

sichtlich weiße Akademikerin der Mittelschicht und Mehrheitsgesellschaft zugehörig sind die Unterschiede zu den sozialen und kulturellen Positionen der Befragten denkbar groß. Diese Machtasymmetrien werden durch generationale Ordnungsverhältnisse verstärkt. Der Erwachsenenstatus verlieh mir selbst im Ausland quasi natürliche Autorität über die minderjährigen Befragten. Die intersektionale Betrachtung bringt ein erhebliches Ungleichgewicht zu Tage. Fraglich ist, inwiefern sich dieses auf die Forschungssituation und die Ergebnisse auswirkt. Sichtbare oder vermeintliche Zugehörigkeiten, aber auch Aussagen und nonverbale Signale der ModeratorInnen können bei den Teilnehmenden bestimmte Reaktionen hervorrufen und umgekehrt. Mögliche Auswirkungen auf den Diskursverlauf sind in der Analyse in beidseitiger Richtung zu berücksichtigen (vgl. Baumann 2009: 70). Die Dokumentarische Methode bezieht durch Rekonstruktion des Diskurses der Beforschten in Verschränkung mit dem Diskurs zwischen Beforschten und Forschenden sowie frühen Fallvergleichen diese Perspektive systematisch in die Analyse ein. 6.4.2

Übersetzungsprozesse

Der Übersetzungsprozess begleitet den Forschungsprozess von der Entwicklung des Leitfadens bis zur Auswertung der Ergebnisse. Die Qualität der Übersetzungen bestimmt damit auch maßgeblich die Qualität der Forschungsergebnisse. Bisher scheint die qualitative Sozialforschung methodologisch jedoch wenig sensibilisiert für die Herausforderungen, die Übersetzungen im Erhebungs- und Auswertungsprozess mit sich bringen (Wettemann 2012: 103). Auch einschlägige Studien zeigen bezüglich des Vorgehens in der Regel bislang wenig Transparenz (vgl. Enzenhofer/Resch 2011). Dies erstaunt insofern, als dass Übersetzen in Anbetracht der Kulturund Kontextbezogenheit von Sprache als „interpretativer Akt“ gilt, was Fragen der methodischen Kontrolle hervorruft: „Fremde Sprachen zu verstehen bedeutet also fremden kulturellen Sinn zu rekonstruieren“ (Kruse et al. 2012a: 46; Kruse et al. 2012b: 16). Sehr zu begrüßen sind daher die Beiträge des Sammelbandes von Kruse, Bethmann, Niermann und Schmieder (2012c) „Qualitative Interviewforschung in und mit fremden Sprachen“ sowie der Beitrag von Enzenhofer und Resch (2011) „Über-

Methodisches Vorgehen und Methodologie

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setzungsprozesse und deren Qualitätssicherung in der qualitativen Sozialforschung“ mit Fragen zur forschungspraktischen Umsetzung. In Anbetracht der komplexen Herausforderungen, die Übersetzungen von qualitativem Datenmaterial mit sich bringen, ist der Einsatz von ausgebildeten ÜbersetzerInnen zu bevorzugen. Forschungspraktisch, vor allem aus forschungsökonomischen Gründen, ist dies jedoch häufig nicht zu realisieren, so auch in diesem Projekt. Bei der Suche nach geeigneten Personen, die den Forschungsprozess in Frankreich und den Niederlanden sprachlich begleiten sowie Übersetzungsprozesse vornehmen können, wurde, neben muttersprachlichen Französisch- beziehungsweise Niederländisch-Kenntnissen, vor allem auf folgende weitere Kenntnisse und Fähigkeiten Wert gelegt: Kenntnisse der französischen beziehungsweise niederländischen Kultur, Gesellschaft, zudem der (Integrations- und Bildungs-)Politik, den Erfahrungen in qualitativer Forschung, im Transkribieren und Übersetzen und soziale Kompetenzen und EDV-Kenntnisse (vgl. Enzenhofer/Resch 2011: 22–41).140 Darüber hinaus wurden alle Projektbeteiligten im Hinblick auf das genaue Erkenntnisinteresse des Projektes sowie die jeweiligen Aufgaben, das heißt Interviewführung beziehungsweise Moderation, Transkription und Übersetzung intensiv geschult und bei jedem Schritt stetig begleitet. Auch erfolgte eine enge Zusammenarbeit im Analyseprozess. Für die Erhebung in Frankreich wurden die Übersetzungsarbeiten wie folgt ausgeführt: Da ich selbst über fließende Französisch-Kenntnisse verfüge, war ich an allen Übersetzungsprozessen aktiv beteiligt. Die Übersetzung des Leitfadens erfolgte in Zusammenarbeit mit zwei französischen MuttersprachlerInnen. Um mich meiner eigenen sprachlichen Fähigkeiten zu vergewissern, habe ich die erste Gruppendiskussion in Frankreich gemeinsam mit einer entsprechend geschulten französischen Muttersprachlerin durchgeführt. Die beiden anderen Diskussionen wurden dann von mir allein moderiert. Die Transkription des Audio- und Videomaterials erfolgte im Zweierteam in französischer Sprache. Auch die Analysen 140

Neben der sprachlichen Expertise und zum Teil weitreichenden Erfahrungen in Übersetzung in unterschiedlichen Kontexten wiesen die beteiligten Personen aufgrund der Einbindung in ein pädagogisches beziehungsweise sprachwissenschaftliches Studium (Lehramt, Niederlandistik, Französisch als Fremdsprache, Germanistik) sowohl Forschungserfahrung als auch Kenntnisse in Bezug auf die zu befragende Zielgruppe der Kinder und den soziokulturellen Kontext auf.

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TEIL II: Anlage der Studie

wurden am französischen Material vorgenommen und lediglich Auszüge zu einem späteren Zeitpunkt übersetzt. Die Erhebung in den Niederlanden wurde ebenfalls im Team realisiert. Der Leitfaden wurde auch hier zusammen mit zwei niederländischen MuttersprachlerInnen ins Niederländische übertragen. Die Moderation der Gruppendiskussionen erfolgte in Duos. Die Hauptmoderation wurde einem niederländisch-sprachigen Mitarbeiter übertragen, der für diese Funktion im Vorfeld intensiv geschult wurde. Ich beteiligte mich an den Gruppendiskussionen als stille Beobachterin und intervenierte lediglich im Hintergrund, beispielsweise um den Moderator auf immanente Nachfragen hinzuweisen. Unmittelbare Übersetzungen und Absprachen während der Diskussion erfolgten nur geringfügig. Die Transkription erfolgte in Form einer direkten Übersetzung nach gemeinsamer Sichtung und Besprechung des Videomaterials. Da die Vorgehensweise der direkten Übersetzung eine höhere Anfälligkeit für Fehler aufweist, wurde die Übersetzung durch eine weitere sprachkundige Person mit dem Audio- und Videomaterial abgeglichen und darüber abgesichert (vgl. Enzenhofer/Resch 2011: 108; Kruse et al. 2012a: 60). Für die Übersetzung des Datenmaterials galten folgende Regelungen als richtungsweisend (vgl. Wettemann 2012; Enzenhofer/Resch 2011; Kruse et al. 2012a): Übersetzunsziel Kontextualisierter Übersetzungsprozess: Da die Übersetzungen einer Analyse durch die Dokumentarische Methode zugeführt werden sollten, wurde das Übersetzungsprinzip der Adäquatheit gewählt, das heißt dass nicht allein „die größtmögliche Übereinstimmung mit dem Ausgangstext die Richtlinie für die Translation [ist], sondern die Übereinstimmung von Translat mit dem Kommunikationsziel“ (Wettemann 2012: 108). Als Übersetzungsform liegt eine Mischform des dokumentarischen und des instrumentellen Übersetzungstyps zugrunde. Gemäß einer dokumentarischen Übersetzung werden „Inhalte des Ausgangstextes […] mit den grammatikalischen und stilistischen Mitteln der Zielsprache unter größtmöglicher Berücksichtigung der Satzstrukturen des Originals abgebildet“ (ebd.: 110). Zugleich soll der Text gemäß einer instrumentellen Übersetzung „als Instrument kommunikativer Handlungen in der Zielsituation fungieren“ (ebd.: 111). Flüssiges Sprechen muss ebenso adäquat übertragen werden wie etwa Wortabbrüche, Sprechpausen, sprachliche Fehler, Konnotationen. Erklärende Zusätze und situative

Methodisches Vorgehen und Methodologie

143

Merkmale, so auch nonverbale Kommunikationsmittel, werden erklärend in eckigen Klammern beziehungsweise Fußnoten hinzugefügt. Unübersetzbare Begriffe werden in der Ausgangssprache hinzugefügt. (vgl. Enzenhofer/ Resch 2011: 57). Orientierung an AdressatInnen: Bei der Übersetzung ist der Erfahrungs- und Wissenshintergrund der RezipientInnen zu berücksichtigen. Äußerungen, die kontextspezifisches und (sozio)kulturelles Wissen voraussetzen, müssen gegebenenfalls entsprechend kommentiert werden (Wettemann 2012: 112). Nicht zuletzt aufgrund der Befragung von Kindern, noch dazu unterschiedlicher (natio-)ethno-kultureller und sozialer Herkunft ist nicht davon auszugehen, dass dieses Wissen dem/der ÜbersetzerIn vollumfänglich zugänglich ist. Von den ÜbersetzerInnen wird keine Deutungshoheit erwartet (vgl. Kruse et al. 2012a: 33).

TEIL III:

Empirischer Teil

Im dritten Teil werden die empirischen Ergebnisse präsentiert und diskutiert. Die rekonstruierten kollektiven Orientierungen von Kindern im Migrationskontext werden anhand von zwei kontrastierenden Milieutypen abgebildet. Auf die Übersicht über die sinngenetischen Typen folgen die detaillierten Fallbeschreibungen. In den Fallbeschreibungen erfolgt eine verdichtende und vermittelnde Darstellung der kollektiven Orientierungen vor dem Hintergrund ihrer dramaturgischen Entfaltung und der formalen Diskursorganisation. Dem Milieutyp 1 sind dabei die Gruppen Kupfer (D), Fenster (NL), Komet (F) und dem Milieutyp 2 die Gruppen Schneeball (D), Bogen (F) und Stift (NL) zugeordnet. Anschließend werden ausgewählte Ergebnisse unter Rückbindung an die Theorie und den Stand der Forschung diskutiert sowie Erkenntnisse für Migrations-, Kindheits- und Well-Being-Forschung abgeleitet. In einem Ausblick werden abschließend Forschungsdesiderate und Potenziale für die pädagogische Praxis aufgezeigt.

7 Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

7.1 Übersicht über die sinngenetischen Typen Die von Bohnsack und Nohl (2001: 22-28) aufgezeigte Sphärendifferenz141, die sie als charakteristisch für einen migrationsspezifischen Erfahrungsraum ausweisen, wird milieutypisch unterschiedlich bearbeitet und bewältigt. Zum Problem, so Bohnsack und Nohl, werden „die Differenz zwischen innerer und äußerer Sphäre und die damit verbundenen habituellen Unsicherheiten [...] erst in der Adoleszenzphase [...] und dort ganz besonders im Bereich der Geschlechterverhältnisse“ (ebd.: 24, Hervorhebung im Original). Die Autoren stellen für den migrationsspezifischen Erfahrungsraum somit eine Entwicklungstypik heraus, als sie die mit der Sphärendifferenz häufig verbundene Konflikthaftigkeit erst für die Lebensphase der Adoleszenz als kennzeichnend einordnen. Auch im Kindesalter, so zeigt nun die Rekonstruktion der Gruppendiskussionen mit acht- bis zwölfjährigen Kindern, dokumentieren sich Differenzerfahrungen in unterschiedlicher Ausprägung als migrationsspezifischer Erfahrungsraum, wenn auch nicht in der Konflikthaftigkeit, die von Bohnsack und Nohl für Jugendliche mit Migrationshintergrund als entwicklungstypisch beschrieben wird. Die Erfahrung als im interkulturellen und mehrsprachigen Raum aufwachsende „Migrationsandere“ (Mecheril 2010b: 17) dokumentiert sich als konjunktiver Erfahrungsraum der Kinder. Als gemeinsames Orientierungsproblem (Basistypik) kann die Selbstpositionierung als AkteurInnen vor dem Hintergrund migrationsbezogener Differenzerfahrung identifiziert werden.

141

Der Begriff der Sphärendifferenz bezieht sich auf Differenzerfahrungen an der Schnittstelle der Bereiche Familie, Verwandtschaft, natio-ethno-kulturellen Community einerseits (innere Sphäre) und gesellschaftlicher Öffentlichkeit und ihrer Institutionen andererseits (äußere Sphäre).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Kämpfe, Kindheiten in europäischen Migrationsgesellschaften, Kinder, Kindheiten und Kindheitsforschung 21, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26225-9_7

148

TEIL III: Empirischer Teil

Konjunktiver Erfahrungsraum

Sich als im interkulturellen und mehrsprachigen Raum aufwachsende Migrationsandere erfahrend

Basistypik

Selbstpositionierung als AkteurInnen vor dem Hintergrund migrationsbezogener Differenzerfahrung

Dem gemeinsamen Orientierungsproblem wird milieutypisch in unterschiedlichen Bearbeitungs- und Bewältigungsweisen begegnet. Zwei Wege des Umgangs lassen sich rekonstruieren: die Selbstpositionierung als planvolle beziehungsweise irritierte/unsichere AkteurInnen. Die Selbstpositionierung von Kindern als AkteurInnen im Kontext Migration zeigt sich dabei durch unterschiedliche Konzepte von Eigenverantwortung und Selbstwirksamkeitsüberzeugung gerahmt (vgl. Alt/Lange 2017: 228). Ferner wirken sich die milieutypischen Bearbeitungs- und Bewältigungsmodi des gemeinsamen Orientierungsproblems auf Vorstellungen darüber aus, was ein ‚gutes Leben‘ ausmacht und die Art und Weise, wie die Bedeutung von Sprache und Sprachförderung gefasst wird.142 Milieutyp: Selbstpositionierung als planvolle AkteurInnen Die Gruppen Kupfer (D), Fenster (NL) und Komet (F) sind dem Milieutyp Planvolle AkteurInnen zuzuordnen. Die Positionierung als AkteurInnen vollzieht sich vor dem Erleben eigener Handlungsfähigkeit resp. dem Glauben an die eigene Handlungsfähigkeit. Kennzeichnend für diesen Typ ist eine Orientierungssicherheit verbunden mit einem hohen Maß an Eigenverantwortung und Selbstwirksamkeitsüberzeugung sowie der Formulierung konkreter Ziele und Pläne. Kindheit wird dabei weniger als eigene Lebensphase mit spezifischen Ansprüchen formuliert. Ein gutes Leben wird vor allem durch das eigene Zutun zu realisieren geglaubt. Akteurschaft wird in weitgehender Vereinbarkeit mit Positionierungen und Erwartungen von innerer und äußerer Sphäre gefasst. Zur Balance zwischen den Sphären wird dabei aktiv beigetragen. Differenzerfahrungen werden dethematisiert beziehungsweise lösungsorientiert gewendet. Als handlungsleitend zeigen sich Orientierungen an Konformität und Differenzmi142

Auf diese Aspekte wird in der Diskussion der Ergebnisse näher eingegangen.

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

149

nimierung (Gruppe Kupfer), an Mehrfachzugehörigkeit und Multioptionalität (Gruppe Fenster), an Anstrengung und Leistung (Gruppe Komet). Milieutyp: Selbstpositionierung als irritierte/unsichere AkteurInnen Dem Milieutyp irritierte/unsichere AkteurInnen können die Gruppen Schneeball (D), Bogen (F) und Stift (NL) zugeordnet werden. Die Selbstpositionierung als AkteurInnen vollzieht sich vor dem Hintergrund wirkmächtiger Irritationen und Unsicherheiten innerhalb einer kindlichen Lebenswelt, die sich vor allem mit Orientierung am Hier und Jetzt abspielt. Akteurschaft wird stärker über den Aspekt der Vulnerabilität ausgehandelt. Die eigene Akteurschaft wird dabei als schwer zu positionieren gefasst. Weniger konkrete Ziele denn Probleme beziehungsweise diffuse Problemlagen bestimmen die Orientierung, die sich dabei als Orientierungsdilemma beziehungsweise -unsicherheit artikuliert. Wirkmächtige Irritationen und Verunsicherungen zeigen sich etwa angesichts lebensphasenspezifischer Veränderungen am Übergang Kindheit-Jugend (Gruppe Schneeball) oder gruppenbezogener Stigmatisierungsprozesse (Gruppe Bogen). Zum Teil werden Lebenswelten überlagert durch komplexe soziale Belastungen und Unsicherheiten, dabei stellen migrationsbezogene Differenzerfahrungen einen Teilaspekt dar (Gruppe Stift). Bearbeitung und Bewältigung des Orientierungsproblems gehen mit einer eher gering angenommenen Eigenverantwortung und Selbstwirksamkeit bis hin zu erfahrener Ohnmacht einher. Die handlungsleitende Orientierung dokumentiert sich in diesem Zusammenhang als unsicher-verweilend-passiv bis unsicher-widerständig. Differenzerfahrungen werden thematisiert und problematisiert. Kindheit wird als bedeutsame Lebensphase sowie Schutzund Schonraum stark gemacht. Erwachsene werden über Vorstellungen von Sorge, Sicherheit und Kompetenz konzeptualisiert.

150

TEIL III: Empirischer Teil

Selbstpositionierung als planvolle AkteurInnen Orientierungssicherheit

Selbstpositionierung als irritierte/unsichere AkteurInnen Orientierungsdilemma/-unsicherheit

Glaube an die eigene Handlungsfähigkeit

Unsicherheit angesichts der eigenen Handlungsfähigkeit

Eigenverantwortung und Selbstwirksamkeitsüberzeugung Konkrete Ziele und Pläne

Eher gering angenommene Eigenverantwortung und Selbstwirksamkeitsüberzeugung

(migrations bezogene) Differenzerfahrung

Vereinbarkeit von innerer und äußerer Sphäre, u. a. durch aktives Ausbalancieren

Wirkmächtige Irritationen/ Verunsicherungen, die von einer bzw. beiden Sphären ausgehen

Dethematisieren bzw. lösungsorientiertes Wenden von Differenzerfahrungen

Thematisieren und Problematisieren von Differenzerfahrungen

Lebensphase Kindheit

Kindheit weniger als eigene Lebensphase mit spezifischen Ansprüchen

Kindheit als Schutz- und Schonraum

Gruppen

Kupfer (D), Fenster (NL), Komet (F)

Schneeball (D), Bogen (F), Stift (NL)

Vergleichsdimensionen Akteurschaft

Tabelle 8: Gegenüberstellung der Milieutypen und ihrer Merkmale

Die Milieutypen werden im Folgenden anhand von Fallanalysen verdeutlicht. Dabei wird dargelegt, wie sich die Orientierungen im Verlauf der Gruppendiskussionen entfalten. Die Darstellung des Diskussionsverlaufs erfolgt auf die homologen Orientierungsmuster hin zugespitzt, die im Rahmen der Reflektierenden Interpretation rekonstruiert wurden. Die Zwischenüberschriften zeigen auf, anhand welcher Themen sich die Orientierung über den Verlauf der Diskussion hinweg entfaltet. Die länderspezifische Kontextualisierung erfolgt im Anschluss an die einzelnen Falldarstellungen in der Ergebnisdiskussion. In den Falldarstellungen soll es zunächst nicht primär darum gehen aufzuzeigen, was konkret aus Sicht der Kinder zu einem guten Leben und da-

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

151

mit Wohlbefinden beiträgt oder was zum Thema Sprache und Sprachförderung gesagt wird. Fokussiert wird mit der kollektiven Orientierung und dem handlungsleitenden Wissen das, was dem Gesagten zugrunde liegt. So wird etwa am Beispiel der Gruppe Kupfer gezeigt, wie anhand unterschiedlicher Themen und Kontexte der Umgang mit Normen und die Bedeutung von Konformität verhandelt werden. Die Falldarstellungen beziehen sich schwerpunktmäßig auf den Hauptteil des Leitfadens zur Frage nach dem guten Leben. 7.2 Typ 1: Selbstpositionierung als planvolle AkteurInnen 7.2.1

Gruppe Kupfer (D) – Konformität und Differenzminimierung

„Man muss einfach normal sein wie alle anderen Menschen und so leben“ (Galina) Zusammensetzung der Gruppe Die Gruppe Kupfer wurde im Rahmen des Sprachförderunterrichts einer 4. Klasse in einer deutschen Grundschule befragt. Die Gruppenzusammensetzung erfolgte entlang der realen Zusammensetzung der Sprachfördergruppe, die aus zehn Kindern bestand. Fünf Mädchen und drei Jungen143, die zum Zeitpunkt der Befragung zwischen neun und elf Jahren alt waren, nahmen an der Gruppendiskussion teil.144 Die Kinder stehen zum Zeitpunkt der Befragung kurz vor dem Wechsel auf die weiterführenden Schulen. Innerhalb der Gruppe sind vom Gymnasium bis hin zur Hauptschule alle Formen von Übergangsempfehlungen vertreten. Der überwiegende Teil der Kinder strebt einen Wechsel auf eine Gesamtschule an. Zu Bildungshintergrund und gegenwärtigen beruflichen Tätigkeiten der Eltern können die Kinder nur wenige Angaben machen. Es ist anhand der Schilderungen jedoch überwiegend auf eine schwächere sozi-

143 144

Anja (ANf), Galina (GAf), Gesa (GEf), Leon (LEm), Magnus (MGm), Rosalie (ROf), Simon (SIm), Wiebke (WBf) Zwei Kinder konnten an der Diskussion nicht teilnehmen.

152

TEIL III: Empirischer Teil

ale Lage zu schließen.145 Alle Kinder geben an, in Deutschland geboren zu sein. Ihre Familien stammen überwiegend aus Kasachstan und Russland und haben einen Aussiedlerhintergrund. Die Familie eines Kindes stammt aus China. Die Familie eines weiteren Kindes stammt aus Deutschland. Der Sprachförderunterricht, an dem die Kinder teilnehmen, wird im Anschluss an den regulären Unterricht zweimal wöchentlich von der Klassenlehrerin durchgeführt. Die zwei Moderatorinnen besuchen die Kinder zunächst im Rahmen der Sprachförderung, um sich gegenseitig kennenzulernen, vom Projekt zu berichten und um sich zugleich ein Bild vom Ablauf des Sprachförderunterrichts zu machen. Die Kinder haben hierfür zusammen mit der Lehrkraft einen Sitzkreis aufgestellt und üben in dieser Unterrichtsstunde das Vorlesen. Am Tag der Gruppendiskussion, einem Freitag im Februar 2013, treffen die Moderatorinnen am Klassenraum ein, als die Kinder und die Lehrkraft gerade dabei sind, begleitet von lauter Musik und tanzend, den Klassenraum aufzuräumen. Es herrscht bereits eine lockere und freudige Atmosphäre, als die Kinder den Konferenzraum betreten. Für die Durchführung der Gruppendiskussion stellt die Lehrkraft einen echten Konferenzraum zur Verfügung, der sonst den Erwachsenen vorbehalten ist. Dies und das Schild an der Tür, dass hier eine Kinderkonferenz tagt, verstärkt bei den Kindern womöglich noch das sich Hineinfinden in ihre Funktion als ernstzunehmende ExpertInnen. Kamera und Aufnahmegerät sind bereits aufgebaut, als die Kinder ihre Plätze einnehmen. Es herrscht eine erwartungsvolle Stimmung, was nun auf die Gruppe zukommen wird. Diskursorganisation Die Gruppendiskussion zeugt von einer hohen Selbstläufigkeit und metaphorischen Dichte. Es bedarf nur einer sehr geringen Intervention durch die Moderatorinnen. Der Aufforderung zur eigenständigen Diskursorganisation wird von Anfang an voll entsprochen, vor allem von Seiten der Mädchen, allen voran Galina und Rosalie. Die Jungen äußern sich nur, wenn sie explizit 145

Die Mütter sind als Reinigungskraft, in einem produzierenden Unternehmen bzw. im eigenen Geschäft tätig oder arbeitssuchend. Die Väter sind im Transportwesen, in einem produzierenden Unternehmen, im eigenen Geschäft tätig, arbeitssuchend beziehungsweise zeitweise arbeitsunfähig.

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

153

von den Moderatorinnen oder den Mädchen in die Diskussion einbezogen werden, beispielsweise folgendermaßen: GAf: ROf:

Aber es ist auch -. ∟Könnte ich mal eben kurz unterbrechen? Ich glaub, jetzt haben wir eigentlich alles schon gesagt, was wichtig ist. GAf: ∟Nur noch, nur noch i::ch, bitte. ROf: Vielleicht die Jungs, weil die haben noch gar nichts gesagt. GEf: Die sind so leise und so still. ROf: ((zu GAf)) Und du bist die ganze Zeit am Plappern, so wie ich und Anja. (Gruppe Kupfer, Z. 1262-1270)

Die Interaktion innerhalb der Gruppe gestaltet sich im gesamten Verlauf als sehr respektvoll. Es herrscht eine sehr gute und harmonische Atmosphäre bei paralleler Diskursorganisation. Die Diskussion wird ernst genommen, es wird zwischendurch auch gelacht, aber nicht herumgealbert. Der Diskursverlauf ist durchweg sehr diszipliniert, es finden kaum Nebenschauplätze oder -gespräche statt. Etwaige Abweichungen werden von anderen TeilnehmerInnen kommentiert mit der Aufforderung, sich an die Vorgaben zu halten. Die Moderatorinnen werden als Autoritätspersonen anerkannt und selbst bei kleineren Regelverstößen146 nicht in Frage gestellt. Die Klassenlehrerin wohnt dem ersten Teil der Diskussion im Hintergrund diskret bei. Nachdem die Klassenlehrerin den Raum verlassen hat, können keine erkennbaren Veränderungen in der Interaktion der Kinder ausgemacht werden. Die Redebeiträge in Form detaillierter Ausführungen, beispielhafter Schilderungen sowie die Art des aufeinander Bezugnehmens und das Wechselspiel zwischen den Ebenen „ich/wir“ und „man“ zeugen von hohen kommunikativen Fähigkeiten. Es zeigen sich nur geringfügige grammatikalische und lexikalische Schwierigkeiten. Diskursbeschreibung Zu Beginn wird nach einem kurzen Austausch über die Aufzeichnung der Kinderkonferenz auf Video zu dem Aufwärmspiel Wollknäuel übergeleitet. 146

So wird am Anfang die Regel aufgestellt, dass die Kinder sich selbst organisieren und nicht durch die Moderatorinnen aufgerufen werden. Diese Regel wird im Verlauf einige Male durch die Moderatorinnen gebrochen, was von den Kindern widerstandslos hingenommen wird.

154

TEIL III: Empirischer Teil

Die Kinder berichten dabei von ihren Hobbys beziehungsweise Lieblingsspeisen.147 Über das Bild der Vernetzung, das durch das Festhalten der Wolle entstanden ist, wird zu der nun folgenden Kinderkonferenz übergeleitet. Die Kinder erzählen, was sie unter einer Konferenz verstehen und bereiten ihre Namensschilder mit den von ihnen gewählten Wunschnamen vor. Ihre Wunschnamen orientieren sich an bekannten Persönlichkeiten (Fußballer, Popkünstlerin), haben einen sehr geheimnisvollen Klang oder sind klassische Vornamen. Vier Mädchen ergänzen ihre Wunschnamen noch um die englische Anredeform Misses. Diese gewählte Form der Anrede kann als Versuch gedeutet werden, die Dinge erwachsenhaft zu betrachten. Der inszenierte Konferenzcharakter kann gewissermaßen auch als Aufforderung zu einem Rollenspiel interpretiert worden sein. Sie sprechen sich gegenseitig ab und zu mit dieser Anrede an, die Jungen werden vereinzelt mit Herr angesprochen. Eine der Moderatorinnen fragt zunächst in die Runde, ob sich jemand etwas unter dem Titel der Kinderkonferenz „Sprache und das gute Leben“ vorstellen kann. Geäußert werden folgende Vermutungen: ROf: […] ROf:

⌊ Ähm, dass wir in Deutschland das, gut leben können, weil die -,

die Angela Merkel und die anderen sich für uns einsetzen und Beispiel in Afrika, dass sich, sich -, da setzen sie sich nicht so ein, weil da haben die kein Geld. I1: Mhm ((ja)). ANf: Und die mö-, die tragen äh also keine Schuhe und die müssen dort sehr hart arbeiten und haben nicht so viel Geld. (Gruppe Kupfer, Z. 336-344)

Das Leben in Deutschland wird im Gegensatz zum Leben in Afrika pauschal als gut bezeichnet. Das Engagement der Regierung für die Bevölkerung und für Wohlstand wird als Indikator für ein gutes Leben beschrieben und in Kontrast gestellt zu einem Leben, das geprägt ist von Armut, Entbehrungen und mangelnder politischer Unterstützung. Wohlstand und Fürsorge deuten sich hier zum ersten Mal als positiver Gegenhorizont an. Auf den Impuls Sprache wird von den Kindern nicht eingegangen.

147

Genannt wurden als Hobbys Computer, mit Freundin spielen, Ferngucken, Tischtennisspielen, Fußball, Malen sowie eine russische Speise als Lieblingsspeise.

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

155

Nach einer kurzen Erläuterung der Kommunikationsregeln wird der erste Themenkomplex mit dem erzählgenerierenden Eingangsstimulus eingeleitet. Werte und Normen im Kontext von Familie Der Einstieg in die Diskussion orientiert sich inhaltlich zunächst eng an dem von der Moderatorin gesetzten Impuls, gelingt dabei von Beginn an sehr selbstläufig und unter reger Beteiligung. Ein gutes Leben wird einführend über die Bedeutung von Familie elaboriert: I1:

GEf:

I1: ROf: GAf:

GEf: WBf: ROf:

ANf:

GEf:

Super! Schön! Okay, dann starten wir mal. Und zwar ähm, stellt euch mal vor, ihr wollt uns Erwachsenen erklären oder wenn ihr euch überlegt, wie kann man jetzt den Erwachsenen erklären, was für euch Kinder wichtig ist. Also was ist für euch ein gutes Leben? Was braucht man dazu? Was tut euch gut? Und was macht euch glücklich? Also man, also mir tut=s gut, wenn meine Mutter und mein Papa mir Mut geben, wenn ich Problem hab oder zum Beispiel die Mathearbeit nicht machen will. Die geben mir dann Mut und sagen zum Beispiel: „Du schaffst das! Du schaffst das! Du musst nur gut üben.“ Mhm ((ja)). Für ein gutes Leben finde ich, muss man auch Eltern haben. Und die keine Eltern haben die sind ja in einem Waisenheim und die ha-, die trauern bestimmt, dass sie keine Eltern haben oder eine Familie. (3) Fürs gute Leben braucht man nicht nur Spielzeug, sondern auch Freude an dem Leben. Nicht nur, dass man sich nur freut, dass man so viel Spielzeug von den Eltern kriegt, sondern man muss sie auch lieb haben, mit dem Herz. Und für ein gutes Leben braucht man auch gute Nahrung und nicht immer Schokolade. Für ein gutes Leben braucht man ne Familie. Ohne Familie ist man au-, ist man ja im Waisenhaus und da ist man auch manchmal ganz traurig. (3) Ich glaub so ein Leben, wenn man keine Familie hat, dann ist das Leben einsam und man braucht ja auch Freunde, damit das Leben leichter fällt. Sonst, wenn ich Beispiel, ähm Misses Geheimnisvoll nicht hätte, hätte ich Beispiel auch nicht, könnt ich, hätte ich vielleicht auch niemanden zum Spielen oder (.) die anderen. Da könnte man sich einfach nicht vorstellen ohne sie zu leben. (2) Zum eigenen Leben gehört auch. Ähm wie heißt? Ähm:::, eigentlich auch Freu::de daran und eigentlich auch Freude und eine schöne Familie. Wenn man keine hätte ((schaut zu Gesa rüber)), dann müsste man eigentlich nur. Wie heißt? ∟ Im Waisenhaus.

156

TEIL III: Empirischer Teil ANf:

∟ Im Waisenhaus blei::ben u:::nd da hat man ja eigentlich keine Familie. Da passen ja nur Leute auf sie auf. Und bald kommen dann da Eltern und holen die vielleicht ab, aber da werden sie ja nur alle adoptiert. (.) GAf: Manch-, manchmal streitet sich man oft in der Familie, aber trotzdem sollte man nicht so Schimpfwörter zu seiner Mutter sagen, zum Beispiel: „Ich hasse dich.“ oder so schlimmere Wörter die Jugendliche meistens benutzen. GEf: Dann kann es auch schnell führen, dass die auch der -. Wenn das die Mutter, wenn die Jugendliche so etwas sagen, ganz schnell aus dem Haus schmeißen würden. (4) (Gruppe Kupfer, Z. 373-420)

Der Einstieg in die Auseinandersetzung mit Vorstellungen zum guten Leben erfolgt über das Thema Familie. Am Beispiel der Angst vor der Bewältigung einer Mathearbeit wird gezeigt, dass Wohlbefinden unter anderem dadurch hergestellt wird, dass Eltern in der Lage sind, dem Kind bei einem Problem Sicherheit und Zuversicht zu spenden, indem sie an die Fähigkeiten („Du schaffst das!“) und an die Selbstwirksamkeit des Kindes („nur gut üben“) appellieren und das Selbstbild des Kindes damit positiv beeinflussen. Die Handlungsfähigkeit wird durch den Zuspruch der Eltern als positiv eingeschätzt. Die Eltern werden in diesem Kontext als kompetente AkteurInnen konstruiert. Als positiver Gegenhorizont dokumentiert sich in dieser auf den Eingangsstimulus folgenden ersten Proposition ein Zusammenspiel von Handlungsfähigkeit, einem positiven Selbst sowie (familiärer) Sicherheit und Fürsorge (vgl. Fattore/Mason/Watson 2009). Der Aspekt der familiären Sicherheit und Fürsorge wird dann von Rosalie, Galina, Wiebke und Anja weiter differenziert. Eine grundlegende Bedingung für ein gutes Leben wird zuallererst darüber definiert, überhaupt Eltern zu haben. Der Beziehung zu den eigenen Eltern wird eine besondere Qualität zugeschrieben („schöne Familie“). Der positive Gegenhorizont wird über den negativen Gegenhorizont exemplifiziert: Argumentativ wird wiederholt zwischen den Extremen Familie und der Metapher des Waisenhauses gewechselt, dabei gilt Familie als Sinnbild für Liebe und Fürsorge, das Waisenhaus für Verwahrung und Einsamkeit.148 Die (ehrliche) Liebe zu 148

Der Begriff Waisenhaus, der auf ein (temporäres) Aufwachsen ohne Eltern verweist, ist heute weniger gebräuchlich, taucht jedoch in Geschichten, Verfilmungen etc. auf. Es ergibt sich aus der Bezugnahme auf die Unterbringung von Kindern außerhalb der Familie kein Hinweis auf eigene Erfahrungen oder Erfahrungen im direkten Lebensumfeld.

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

157

den Eltern wird zugleich durch eine Abgrenzung von einer zu starken Fokussierung auf Materielles verbildlicht: Die (kindliche) Freude darüber, viel Spielzeug von den Eltern zu bekommen, soll nicht über die Liebe zu den Eltern gestellt werden. Die Forderung nach einem maßvollen Genuss von Schokolade bleibt von der Gruppe an dieser Stelle unberücksichtigt, kann in einer ersten Lesart jedoch, da es sich an das Beispiel Spielzeug anschließt, als ähnliche Form der Selbstbegrenzung und -disziplinierung gedeutet werden. Dass Familie nicht als etwas Selbstverständliches anzunehmen ist, wird weiter elaboriert. Das zunächst einheitlich beschriebene Bild von der schönen eigenen Familie wird insofern differenziert, als der Aspekt von Konflikten thematisiert wird, der in Form von Streit in Familien „manchmal […] oft“ vorkommt. Dazu werden bestimmte Regeln für Kinder im Umgang mit Streit in der Familie formuliert, zum Beispiel keine schlimmen Schimpfwörter der Mutter gegenüber zu sagen („zum Beispiel: Ich hasse dich.“). Solch schlimme und noch schlimmere Schimpfwörter werden Jugendlichen zugeschrieben. Die Überlegungen werden zu der Konklusion gebracht, dass non-konformes Verhalten gegenüber den Eltern schlimmstenfalls einen Ausschluss aus der Familie zur Folge haben kann. Dies gilt als härteste Strafe, da dem guten Leben damit die Grundlage – die Einbettung in Familie – entzogen wird. Die Sicherheit, die Familie zu leisten im Stande ist, erhält damit auch etwas Fragiles. Diese Fragilität wird im Kontext generationaler Ordnung und damit verbundener Positionierungen thematisiert. Angedeutet wird die Befürchtung, dass eine Trennung von den Eltern durch das eigene Fehlverhalten herbeigeführt werden kann. Die Metapher Waisenhaus erhält somit eine neue Dimension. Der Erhalt des positiven Gegenhorizonts Familie wird damit auch an das Prinzip der Eigenverantwortung geknüpft. Während Eltern in der Eingangsproposition als Akteurschaft verleihend dargestellt wurden, verweisen die innerfamiliären generationalen Strukturen in diesem Beispiel auf Machtasymmetrien, innerhalb derer Eltern Handlungsmacht begrenzen und Sanktionsmacht ausüben können. Die Strafe des Rauswurfs wird nicht hinterfragt, sondern als natürliche Folge dargestellt. Kinder sind von dieser Form der Sanktionierung (noch) ausgenommen. In der Abgrenzung von grenzüberschreitenden Verhaltensweisen von Jugendlichen deutet sich nicht zuletzt aufgrund der befürchteten Konsequenzen ein Konformitätsdruck innerhalb der Familie an. Als positiver Gegenhorizont zeigt sich ein familiäres Klima, das geprägt ist von Liebe, Fürsorge und Sicherheit sowie Orientierung bietet. Negativer

158

TEIL III: Empirischer Teil

Gegenhorizont ist der Verlust beziehungsweise die (selbst verursachte) Trennung von Familie. Familie wird konzeptualisiert als Ort, an dem Eigenverantwortung, aber auch Selbstwirksamkeitsüberzeugung unter anderem daran erlernt werden, dass regelkonformes Verhalten Handlungsfreiheiten eröffnet, während regelwidriges Verhalten negative Konsequenzen nach sich ziehen kann. Bedeutung und Verständnis von Familie bleiben in dieser Eingangspassage zentrales Thema. Der Einschub zur Bedeutung von Freunden wird von den anderen Diskussionsbeteiligten nicht weiter aufgegriffen. Insgesamt ist von SpielgefährtInnen wenig die Rede, auch nicht von Geschwistern, die allenfalls unter dem Sammelbegriff Familie thematisiert werden. Bildung und Arbeit als gesellschaftliche Normen Auf die sich anschließende Frage nach weiteren Aspekten für ein gutes Leben werden Arbeit und Schule genannt (Z. 418-465). Als zentrale Motive einer Erwerbsarbeit werden die Abwendung von Armut („Hartz IV“, „auf der Straße leben“, Z. 428, 453) und damit verbundene Begrenzungen und Entbehrungen sowie mögliche Handlungsfreiheiten, die sich durch Geld realisieren lassen („was sie wollen“, „Urlaub“, „[Freizeit]Park“, Z. 435), beschrieben. Als positiver Horizont dokumentiert sich das Rollenbild als berufstätige Mutter und Ehefrau, die Familie und Beruf selbstverständlich vereinbart und auf Formen der Kinderbetreuung außerhalb der Kernfamilie zurückgreift, die durch die aus der Erwerbsarbeit resultierenden Freiheiten für die Familie legitimiert werden. Es wird ein Zusammenhang zwischen Arbeit und Schule hergestellt. Schule wird als Ort der Wissens- und Kompetenzvermittlung beschrieben, zugleich wird die Verwertbarkeit des Wissens auf dem Arbeitsmarkt an formale Bildungsabschlüsse, konkret an das Abitur, geknüpft: „Ohne Schule kann man auch gar nicht arbeiten gehen. Man muss ja Abitur und so machen“ (Z. 455). Dem positiven Gegenhorizont Abitur wird eine heteronome Konnotation verliehen. Wem gegenüber diese Norm erfüllt werden „muss“, bleibt indes unklar. Gesteigert wird dieser positive Horizont noch von Magnus: „Für mich gehört ein gutes Leben, wenn ich=n Schulabschluss mache und dann noch Abitur mache und ne Arbeit kriege.“ (Z. 461-462). Seine Aussage – diese deckt sich auch mit den Angaben im Kurzfragebogen zur erteilten Übergangsempfehlung („Gesamt/Haupt[schule]“) – dokumentiert, dass das Bildungsziel Abitur, selbst wenn es nicht auf direktem Wege zu erreichen ist, weiterhin angestrebt

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

159

wird.149 Die in der Zukunft liegenden potenziellen Handlungsfreiheiten werden antizipiert, indem sie an die Erfordernisse im Hier und Jetzt (gute Bildung) rückgebunden werden. Zugleich zeigt sich in Magnus‘ Aussage, dass das Erreichen dieser Handlungsfreiheiten auch über Umwege als möglich erachtet wird. Anknüpfend an die Schilderungen zur Berufstätigkeit zielt die Moderatorin darauf ab, die Vorstellungen guter Arbeit weiter auszuloten. Dabei gibt sie implizit vor, dass es neben dem genannten Aspekt des Geldverdienens noch weitere Aspekte guter Arbeit geben muss. I1:

Jetzt haben wir schon ganz viel gehört von guter A::rbeit, zu Geld verdienen. Habt ihr denn da schon Vorstellungen, was jetzt ne gute Arbeit ausmacht? ((Galina meldet sich)) Geht=s da nur um das Geld oder? GAf: └ Äh, eine gute Arbeit fin-. Also, eine gute Arbeit finde ich zum Beispiel ähm wo man auch nicht so wenig Geld kriegt, sondern auch viel. Man muss ja nicht nur mit Geld, weil wenn man zu viel Geld hat, dann hat man nur Freunde, die von einem Geld verlangen. Man muss einfach normal sein wie alle anderen Menschen und so leben, also ne gute Ar-. Also ich will mal später vielleicht in einem Laden arbeiten, wo Klamotten verkauft werden, weil ich mich damit besser auskenne. I1: Mhm ((ja)). ROf: Also ich finde noch dazu, zu der Arbeit gehört noch, dass man dabei Spaß hat und nicht einfach nur das arbeitet, weil man Geld verdienen muss für die Kinder. Und Geld ist ja auch (noch) eine Sache, aber man muss ja auch daran Spaß haben. Ohne Spaß macht man die Sachen einfach nicht so gut und deswegen verdient man auch meistens dann auch nicht so viel Geld. GAf: Und wenn man, und wenn man mal zu einem Vorstellungsgespräch könnte, man auch die Arbeit haben will, da muss man sich nicht so anziehen mit so=m Schlabber-T-Shirt und so Schlabberhosen, sondern man muss richtig gepflegt aussehen, dass sie den auch annehmen wollen. Und dann auch ähm ganz fröhlich ähm zur Arbeit gehen und nicht so ((verstellt die Stimme ganz tief)): „Hallo, was wollen Sie haben?“ Sondern man muss mit Fröhlichkeit: „Kann ich Ihnen bitte behilflich sein?“ Also so mein ich das. I1: Mhm ((ja)). (4) ANf: Eigentlich ist Geld auch nicht so:: wichtig, aber es ist eigentlich schon gut, wenn man Geld hat, weil sonst kann man die Kinder nicht ernä::hren und wer weiß sie dann essen und trinken müssen. I1: Mhm ((ja)). (3) (Gruppe Kupfer, Z. 469-501)

149

Auch ist auffällig, dass in Magnus‘ Aussage Abitur mit Arbeit und nicht mit einem möglichen Studium verknüpft wird.

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TEIL III: Empirischer Teil

Der suggestive Einschub von I1 („Geht=s da nur um das Geld oder?“) impliziert neben der Frage nach weiteren Aspekten guter Arbeit einen zweideutigen Sinngehalt in Richtung „Geht’s euch nur um Geld?“ und damit einen Rechtfertigungsdruck. Zudem wird das Thema in seiner Ausrichtung explizit von der Moderatorin und nicht von den Kindern selbst gesetzt. Die Beantwortung erfolgt wiederum pflichtgemäß, führt dabei selbstläufig aber zu mehreren inhaltlichen Wenden. Die Bedeutung des Geldverdienens wird zunächst validiert und gute Arbeit anhand der Höhe des Einkommens („viel“ im Sinne von genug) bewertet. Gleichzeitig wird in der Begrenzung des Einkommens nach oben ein negativer Gegenhorizont aufgespannt. Dieser wird weniger prinzipiell gegen ein hohes Einkommen gerichtet als gegen die dadurch möglicherweise aufkommenden Begehrlichkeiten im sozialen Umfeld. In der folgenden Erklärung „Man muss einfach normal sein wie alle anderen Menschen und so leben“ zeichnet sich als positiver Gegenhorizont eine an den gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen orientierte Lebensweise ab. Die Orientierung an Konformität, die sich bereits in Bezug auf familiäre Handlungsmuster sowie Bildungsqualifikationen zeigte, kann umso mehr als homologes Muster identifiziert werden als auch das Übertreffen von Normen negativ konnotiert wird.150 Von Galina wird weiterführend eine selbstgewählte Tätigkeit als gute Arbeit beschrieben. Die Berufswahl findet im Rekurs auf die eigenen Fähigkeiten statt. Die eigene Willensäußerung und Entscheidungsfreiheit vollzieht sich dabei in dem Gestaltungsspielraum, der durch die Normvorstellungen eröffnet und begrenzt wird. Insofern dokumentiert sich im Wunschberuf der Einzelhandelskauffrau im Textilgewerbe die Vorstellung einer weiblichen Normal-Berufsbiografie. Zwar validiert auch Rosalie das Geldverdienen-Müssen (zur Versorgung der Kinder151) als zentralen Aspekt, macht zudem aber die Bedeutung von Spaß an der ausgeübten Tätigkeit deutlich. Arbeit wird damit zwar neben der Versorgungsfunktion auch die Funktion zugeschrieben, dass die Tätigkeit Spaß macht, zugleich wird Letztere aber durch zu erwartende bessere Leistungen und den finanziellen Mehrwert determiniert. 150 151

Auslöser kann an dieser Stelle zwar auch der von der Frage hervorgehende Rechtfertigungsdruck sein. Das gleiche Muster tritt jedoch noch an einigen weiteren Stellen auf. Die starke Fokussierung auf die Versorgung zukünftiger Kinder könnte an die antizipierte Norm der Generationenversorgung und -verpflichtung anschließen.

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

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Als Zwischenkonklusion wird auch für den Arbeitsmarkt als allgemeingültige Regel und wichtige Zugangsvoraussetzung die gesellschaftliche Norm der Konformität formuliert. Es wird ausgeführt, dass nicht nur die Qualifikation („Abitur“, „Studium“ usw.) über den Zugang zum Arbeitsmarkt entscheidet, sondern sich dieser auch von gesellschaftlichen Normalitätserwartungen bestimmt zeigt („richtig gepflegt aussehen“, „mit Fröhlichkeit“). Bereits in der Kindheit auf den späteren Arbeitsmarktzugang hinzuarbeiten und damit an sich selbst zu arbeiten, wird nicht nur qualifikationsbezogen gedacht, sondern auch in Bezug auf Auftreten und Erscheinungsbild. Die Orientierung an Konformität wird dabei nicht als Druck, sondern als Chance formuliert. Mit Verweis auf das Wissen um die impliziten Regeln des Arbeitsmarktes und ihre damit angenommene Eigenverantwortung in der Kindheit erfolgt eine Positionierung als handlungsfähige AkteurInnen. Die Ausgangsfrage, was eine gute Arbeit ausmacht, mündet damit in Reflexionen darüber, was eine Person zu einer guten Arbeitskraft macht. Es entspinnt sich im direkten Anschluss eine Diskussion über mögliche Folgen mangelnder Anpassung: ROf:

Einige ver-, ähm verhungern ja auch wegen dem Geld, weil sie nicht arbeiten wollen und einfach zu faul sind und leben auf der Straße, obwohl dass sie da geben könnte, wenn sie nicht so faul wären und früher richtig gut geübt hätten in der Schule oder gelernt hätten, hätten sie auch jetzt ein besseres Le:ben gehabt. Also ich, ich finde, man muss sich auch Ziele setzen dafür. I1: Mhm ((ja)). GEf: Manchmal ist es auch so, dass ähm, zum Beispiel Punks oder ähm (.) Gruftis nicht arbeiten können, weil die Leute die nicht annehmen, weil die so gefährlich aussehen, aber manchmal ist es auch so, dass die Gruftis oder Punks ganz nett sind, aber trotzdem nicht angenommen werden. I1: Mhm ((ja)). GAf: Manche Gruftis und Punks wollen auch einfach nicht arbeiten. Die wollen immer durch die Straße laufen und machen, was sie wollen. (Gruppe Kupfer, Z. 502-518)

Armut, die bereits angesichts des Themas der Kinderkonferenz als negativer Gegenhorizont eingestuft wurde, stößt im Fall von Armut aufgrund von selbst gewählter Arbeitslosigkeit auf noch stärkere Ablehnung. Erneut wird dabei die Verantwortung für ein gutes (Erwachsenen)Leben und damit verbundene Teilhabe am Arbeitsmarkt zum Teil bereits in der Kindheit verortet („früher richtig gut geübt hätten“). Die in der Kindheit zu erwerbenden

162

TEIL III: Empirischer Teil

Eigenschaften Fleiß, Disziplin und Zielstrebigkeit, die als Grundstein für die Erfüllung der Regeln des Arbeitsmarktes präsentiert werden, bestärken die Selbstpositionierung als handlungsfähiger Akteur bzw. handlungsfähige Akteurin und die Selbstwirksamkeitsüberzeugung. Gesa bestätigt Konformität als wichtige Handlungsstrategie zur erfolgreichen Teilhabe am Arbeitsmarkt, betont dabei aber, dass bestimmte Menschen(gruppen), die freiwillig oder unfreiwillig von Normalitätsmustern abweichen (hier: „Gruftis oder Punks“), unabhängig von ihrer Leistung, Persönlichkeit und Motivation stigmatisiert und exkludiert werden. Durch den Verweis auf Mechanismen von Ausgrenzung und Diskriminierung entsteht ein Moment der Irritation, denn Aspekte von Passung und NichtPassung werden erstmals kritisch konnotiert. In der Darstellung des Verhaltens „manche[r] Gruftis und Punks“ nimmt Galina dann zwar von einer Pauschalisierung Abstand, erkennt aber in Anspielung an die Aussage von Gesa und analog zu Rosalie das Ausüben einer Erwerbsarbeit als gesellschaftliche Norm und Pflicht an. Die Reglementierung und Einschränkung der Selbstbestimmung im Arbeitskontext wird als gerechtfertigt eingestuft. Der Grund für den Ausschluss mancher Personen(gruppen) vom Arbeitsmarkt, denen es nach ihrer Darstellung nur an der notwendigen Anpassungsbereitschaft mangelt, wird unter Entkräftung des Vorwurfs der Ausgrenzung und Diskriminierung durch Arbeitgeber letztlich wieder dem eigenen Verantwortungsbereich zugeordnet, ohne, dass dem durch die Gruppe noch etwas entgegengesetzt wird. Reziprokes Sorge- und Versorgungsverhältnis als familiäre Norm Mit dem Verstoß gegen die gesellschaftliche Norm wird daran anschließend auch auf einen Verstoß gegen familiale Normen verwiesen. Es wird damit ein thematischer Wechsel von der Forderung nach Konformität in der äußeren Sphäre zur Forderung nach Konformität in der inneren Sphäre, der Familie, vollzogen. GAf:

I1:

Aber, aber zum Beispiel, dann haben die [Gruftis und Punks, die nicht arbeiten wollen; KK] auch Streit in der Familie, dann, dann meckern die immer, dass sie nicht arbeiten gehen wollen und die und die Eltern werden können ja auch nicht immer für die arbeiten gehen. Weil die werden ja auch immer älter und dann müssen die ähm Kinder von denen, denen helfen. Zum Beispiel, ich muss meinen Eltern auch helfen Mhm ((ja)).

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext GAf:

I1: ANf:

ROf:

ANf: GAf: ANf: GAf:

ANf:

GAf: I1: WBf:

163

∟wenn die alt sind. Dann mach ich das auch gerne. Aber arbeiten muss ich dann auch trotzdem. Und wenn ich das nicht mehr, und wenn ich das nicht mehr kann, für die sorgen, ähm dann können die vielleicht auch in Altersheim. Weil es gibt ja Altersheim, wenn die ähm Anderen sich nicht mehr um die kümmern können, wenn die immer bis spät arbeiten gehen und dann geben sie die halt im Altersheim ab. Mhm ((ja)). (5) Man muss auch eigentlich auf die Eltern auch ähm. Wie heißt? Mal denen auch=n bisschen helfen, wei::l die helfen ja auch uns mit dem Le::ben weite::r und das ist auch schön, dass man sie hat. Und ohne Eltern haben da::nn. Wäre es halt schön wenn ma, wär, wär eigentlich nicht schön, wenn man alleine leben würde. Da wäre ja, wär man ja einsam. Und einige Eltern haben ja auch keine Rücksicht an den El-, äh Kindern, dass die sich gar nicht interessieren, welchen Notendurchschnitt du Beispiel hast, oder so. Wie du in der Schule übst. Einige Eltern sagen so: „Ach, ist mir doch egal, wie die lernen. Ist mir doch egal, was die aus ihrem Leben machen!“ Und eigentlich muss man auch Rücksicht haben, dass man. Die Eltern müssen auch Rücksicht haben vor den Kindern und die Kinder vor den Rück-, äh vor den Eltern Rücksicht haben. Weil wenn man den. Und wenn die Eltern schon den Kindern helfen früher, dann wirkt sich das auf den Kindern, wenn sie ganz normal sind, werden sie es sel-, das nachher auch ausfüllen, dass sie auch den Eltern helfen. Gut. Ähm. Ach, red du zuerst. Hab schon so viel gesagt. Mhh, kann=ste. Wenn du, wenn du Streit mit deinen Eltern hast, dann ist das nicht gut, weil in deinem späteren Leben ähm vertrauen sie dir nicht mehr und geben dir gar nichts, keine Rücksicht mehr. Dann musst, dann sagen die einfach: „Komm selber klar! Du hast uns, du hast uns nie, keine Rücksicht auf uns genommen.“ Aber wenn du weiter mit deinen Eltern also normal sprichst und die auch gut behandelst, dann werden sie dir weiterhin helfen und wenn du mal in Schwierigkeiten bist und die Miete nicht bezahlen kannst, dann helfen die dir wohl. Aber so nicht. Die Eltern arbeiten auch ähm ha::rt, damit die auch äh, damit die auch zusammen ähm, also in einer Familie zusammen a- ähm. Wie heißt=en? In Urlaub fa::hren können, deswegen arbeiten die auch so ha::rt. Und die wollen ja auch gut Geld verdienen fürs Le::ben und, dass sie auch mal in Urlaub fahren können. Und wenn -. Hier. Stopp. Misses Wiebke wollte erst mal schnell was sagen. Und ähm ich, und zum Beispiel wenn ähm man, wenn die Eltern die, äh die Kinder nicht gut benehmen, wenn die schon jugendlich sind, und man und die haben Freunde und dann. Ich hab das schon mal. Also ich hab das gehört, wo ähm, wo=s jugendlich war, da ähm mh wollte ihr Vater ihr, sie überf-, überfahren. Aber sie ist dann noch mit ihrem. Also und ihre Mutter. Wollten die bei-, wollten sie überfahren. Und ähm das

164

TEIL III: Empirischer Teil ist aber ein Glück nicht passiert, aber sie konnte sich noch retten. Das kann auch da rau-, dabei rauskommen, wenn man, wenn ähm die Eltern Streit mit der, mit der Tochter haben. (Gruppe Kupfer, Z. 518-582)

Im Übergang von der äußeren zur inneren Sphäre und sphärenspezifischen Konformitätsanforderungen werden unterschiedliche Ebenen der ElternKind-Interaktion sowie damit verbundene generationen- und lebensphasenbezogene Positionierungen besprochen. Familie wird als lebenslanges reziprokes Sorge- und Versorgungsverhältnis konzeptualisiert (vgl. Nohl 2001: 62–68), das Rücksichtnahme auf beiden Seiten einfordert. In Abgrenzung zu Personen, die „nicht arbeiten gehen wollen“, wird zunächst die Position der generationalen Gruppe der Kinder in unterschiedlichen Lebensaltern abgesteckt: die Aufgabe erwachsener Kinder wird unter anderem in der Sorge für und Versorgung der inzwischen älteren Eltern, die Aufgabe jüngerer Kinder unter anderem in der Mithilfe in und Entlastung der Familie gesehen. In Galinas Schilderungen zur Versorgung ihrer Eltern im Alter wird eine Idee von Akteurschaft transportiert, die die innerfamiliär geltenden Sorge- und Versorgungsverpflichtungen (den Eltern, aber auch eigenen Kindern gegenüber) innerhalb der sich bietenden und akzeptierten Gelegenheitsstrukturen (hier: Altersheim, oben: Kinderbetreuung) mit Selbstverständlichkeit zu bewältigen vermag. Der reziproke Charakter innerfamiliärer Sorge wird durch Anja anschließend auf die Gegenwart bezogen, insofern als sie andeutet, dass die Art und Weise der Selbstpositionierung von Kindern als AkteurInnen in Beziehung zu den Leistungen der Eltern und dem negativen Gegenhorizont des Aufwachsens ohne Familie zu setzen ist („man muss [...] denen auch=n bisschen helfen“). Indem Rosalie argumentiert, dass mangelnde Sorge für die Kinder negative Entwicklungen nach sich ziehen kann, erweitert sie die Diskussion um die Bedeutung der Selbstpositionierung von Eltern. Gegenseitige Rücksicht werde anhand dessen erlernt, wie sie von Eltern in der Kindheit vorgelebt werde. Während abweichendes Verhalten bisher unter die Eigenverantwortung der jeweiligen Person gestellt wurde, wird hier ein Zusammenhang zwischen elterlicher Erziehung und konformem Handeln von Kindern sowohl im Hier und Jetzt als auch als Erwachsene – in Bezug auf die spätere Fürsorge – hergestellt. Die Forderung nach konformem Handeln in der Familie, das von Rosalie mit den Worten „ganz normal“ sein bezeichnet wird, wird hier auf alle Familienmitglieder bezogen. Im weiteren Verlauf der

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

165

Diskussion wird Rosalies Argument, dass nicht nur Kinder, sondern auch Eltern sich normabweichend und fehlerhaft verhalten können, jedoch kaum weiterverfolgt. So unterstreicht Galina am Beispiel von Streitigkeiten mit den Eltern, die pauschal problematisiert werden („Streit mit deinen Eltern [...] nicht gut“), dass das reziproke Sorge- und Fürsorgeverhältnis angesichts von Vertrauensverlust von den Eltern aufgekündigt werden kann. Steigerung findet diese Sorge noch in der Schilderung einer überlieferten Geschichte durch Wiebke, in der scheinbar schwerwiegende Regelmissachtungen einer Jugendlichen extreme Reaktionen durch die Eltern zur Folge hatten. Angedeutet wird ein Mordversuch durch die Eltern. Die Regelverstöße „nicht gut benehmen“ und „haben Freunde“ werden in der Geschichte nicht weiter spezifiziert, doch die beschriebene Reaktion durch die Eltern, die Tochter überfahren zu wollen, wird ähnlich wie in dem Beispiel zu Schimpfwörtern oben als natürliche Folge dargelegt. Die Orientierung an Konformität dokumentiert sich in dieser Geschichte als dramaturgischer Höhepunkt. Die Schlussfolgerung, Ursachen für Streit in der Familie seien möglichst zu vermeiden und die Orientierung an Konformität werden von Galina dann in konkrete Situationen in der Kindheit zurückgeführt. GEf:

Aber zum Leben gehört auch, auch Arbeit und und ähm Lebensmittel dazu. Nicht Urlaub oder Anziehsachen. Ganz wichtig ist Ernährung für kleinere und größere Kinder. I1: Mmh. GAf: Und wenn man mal. Und wenn deine. Und wenn die Eltern mal Hartz IV leben, dann muss man aber zusammenhalten und nicht einfach sagen, „Ja und? Ich will das aber.“ Man muss auch verstehen, dass die Eltern nicht so -, dass sie zum Beispiel nicht so viel Geld haben für dieses Spielzeug. Zum Beispiel ein Mädchen hat so, so ein tolles Pferdchen gesehen und das will sie haben. Aber das kostet für die Eltern zu viel, dann sa-, dann sagen die dem Mädchen: „Nein, wir haben nicht so viel Geld, wir müssen gleich für 60 oder 70 Euro einkaufen, damit wir was für drei Wochen haben und mehr können wir auch nicht kaufen, weil wir so viel so äh so wenig Geld bekommen von Hartz IV“. Aber das Mädchen versteht das nicht und dann ist dann auch irgendwie (.), das führt auch irgendwie zu einem Streit. (Gruppe Kupfer, Z. 580-596)

Galina validiert die Aussage von Gesa über die Vorrangstellung von Grundbedürfnissen gegenüber Sonderwünschen einzelner Familienmitglieder anhand des Beispiels von Hartz IV und argumentiert weiter, dass im innerfa-

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TEIL III: Empirischer Teil

miliären Sorge- und Versorgungsverhältnis für das Wohl der Familie die eigenen Wünsche zurückgestellt werden müssen. In der detailreich dargelegten Geschichte von dem Mädchen, dass ein „tolles [Spielzeug-]Pferdchen“ haben möchte, fordert Galina von Kindern Einsicht und Vernunft ein, die kindlichen Wünsche in für die Familie schwierigen Zeiten nicht nur zurückzustellen, sondern – um Streit zu vermeiden – noch dazu nicht zu kommunizieren. Dabei zeigt sich, dass konformes Handeln mit erheblichem Druck verbunden sein kann. Die Detailliertheit der Geschichte legt die Vermutung nahe, dass Galina selbst das Mädchen in der Geschichte sein könnte, dass um Einsicht und Vernunft zu ringen hat. In dem Zitat dokumentiert sich eindrücklich, wie die Akteurschaft nicht nur durch generationale Ordnung bedingt, sondern auch eng mit sozialen Konditionen verwoben ist. Wieder wird dabei auf Armut, hier symbolisiert durch Hartz IV, als negativem Gegenhorizont verwiesen. Hartz IV steht dabei für Begrenzungen in Bezug auf die Befriedigung kindlicher Wünsche und damit verbundene Entbehrungen. Selbstreflexion als Korrektiv non-konformen Handelns Die Auseinandersetzung mit Formen non-konformen Handelns mündet schließlich selbstläufig in einer Darstellung eines korrekten Umgangs mit Fehlern. ROf:

Eigentlich sind auch die meisten Streits auch die Kinder Schuld, weil sie sich einfach nicht an die Regeln halten wollen und deswegen nehmen sie keine Rücksicht dann und machen das dann nur noch schlimmer. Und eigentlich ist das-. Das Leben kann man auch noch verbessern, wenn man nicht so viel Fehler macht versucht zu machen. Wenn man einmal einen Fehler gemacht hat, macht doch nix! Verbesser den Fehler, dann du hast doch dann was draus gelernt. Wenn du aber nix daraus gelernt hast, wie willst du dich dann da steigern, dass du ein gutes Leben hast und nicht nur die Eltern betriffst auch die Schule, die Kinder. Beispiel, neu-, äh wir haben einen neuen Klassenkameraden bekommen und der macht die ganze Zeit Quatsch bei uns und so. Da können wir doch. Da könnten wir uns doch auch mal ihm was helfen, der kann auch noch n-, der kann auch nicht so gut sein. Der hat Beispiel jetzt kein wunderschönes Leben wie wir. Beispiel wie reich der ist oder so. Das ist ein Unterschied. Da kann man manchmal. Die arm sie sind, sind vielleicht, haben ein besseres Leben als die Reichen oder umgekehrt. Das ist immer der Grund, wie man sich behandelt und wie, wie man einen bekenntnet h-, ähm wie man Schuldgefühle hat oder nicht. Und ob man noch. (.) Wie heißt das? Einfach Verständnis hat oder. (2)

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

167

ANf:

Aus Fehlern lernt man ja auch. Also wenn man Fehler macht, dann weiß man: „Oh, ich hab das falsch gemacht.“ Und dann weiß ich genau, wie das geschrieben wi::rd und das ist auch wichtig im Leben. Also nicht so viele Fehler zu machen, aber dass man nicht schon so:: viele macht, aber auch nicht, nicht so wenig macht. ((lacht leicht)) GAf: Es gibt ja auch so viele -, es gibt ja auch so viele Menschen, die eine, einen ermorden und ins, ins Gefängnis müssen und dann verstehen sie im G-, und dann denken sie im Gefängnis drei Jahre oder mehr Jahre darüber nach, was sie wirklich getan haben ähm und sagen: „Ich schließ dieses Kapitel ab und fang ein neues Leben an. Ich geh arbeiten und dann mach nicht diesen großen Fehler“. Wie ähm (.) ähm Anja und Rosalie schon gesagt haben. Fehler kann man, jeder machen. Ob irgendwas. Jeden Fehler kann man. (.) ROf: Also ich würde das auch nicht so machen, dass man einfach ei-, aus seinem Leben schmeißt, dass man einfach sagt: „Nein, dieser Junge ist Scheiße, dieses ist, dieser ist so.“ So fängt man auch Kriege an oder so. Da hat man auch kein wunderschönes Leben. Da hat man Beispiel: Meine Oma hat mal im Weltkrieg ähm wurde geboren oder so, ihre Schwester. Und da war das auch nicht. Sie war erst mal fünf Jahre alt oder so und musste schon arbeiten. Das ist auch nicht das Leichteste. Und da als im Weltkrieg das war, das war nicht das Leichteste für die. Beispiel Deutschland und Russland haben gekämpft jetzt und des so und das muss man jetzt reichen mit diesem Kriegen, oder dass man nicht mehr gut leben kann. (.) (Gruppe Kupfer, Z. 601-648)

In der Erklärung, dass die Schuld an Streit in der Familie meist den Kindern zuzurechnen ist, wird Kindern pauschal ein mitunter noch unvernünftiges, da non-konformes Handeln („Rücksicht“ als Norm) zugeschrieben. Erwachsene werden demgegenüber als vernünftige AkteurInnen konzeptualisiert, die zudem über korrektes und fehlerhaftes Verhalten befinden. Die Diskussion erlangt in den unterschiedlichen Darstellungen von Fehlverhalten und dem Umgang damit einen dramaturgischen Höhepunkt. Die Darstellungen möglicher Folgen – hier im sozialen Miteinander – steigern sich in Reichweite und Intensität angefangen vom Streit in der Familie über Schwierigkeiten unter KlassenkameradInnen, Gewaltverbrechen bis hin zu Krieg. In den Erzählungen und Schilderungen wird das Eskalationspotenzial individuellen und kollektiven Fehlverhaltens verdeutlicht. Dabei vermischen sich konkrete Erfahrungen („einen neuen Klassenkameraden“, „meine Oma“) mit Abstraktionen („viele Menschen, […] die einen ermorden“). Gemein ist den beispielhaften Darstellungen, dass Fehler als korrigierbar eingestuft werden. Als grundlegende Bedingung wird ein einsichtiges und

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TEIL III: Empirischer Teil

korrektives Verhalten durch Selbstreflexion ausgemacht. So bezeichnet Rosalie Fehler als menschlich und nur schlimm, wenn sie nicht zur Verbesserung genutzt werden. Die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis und die Bereitschaft zur eigenen Steigerung und Anstrengung, so konstatiert sie weiter, sind in unterschiedlichen Lebensbereichen bestimmend für ein gutes Leben. Der Überzeugung, dass Fehler zum Leben dazugehören und man daraus lernen kann und soll, schließen sich auch Anja und Galina an. Galinas Beispiel über Mord, Inhaftierung und Resozialisierung zeigt, dass die Regeln zu einem adäquaten Umgang mit den eigenen Fehlern auch auf extremes Fehlverhalten anwendbar sind. Wer die Regeln der Gemeinschaft respektiert, so stellt sie fest, kann auch mit der Solidarität der Gruppe rechnen. Die den Diskurs dominierende Individualisierung non-konformen Verhaltens wird durch Rosalie erweitert um den Hinweis sozialer Einflussfaktoren. Am Beispiel des neuen Klassenkameraden wird eine soziale Kontextualisierung vorgenommen. Besondere Lebenslagen werden – ähnlich wie der Einfluss elterlicher Erziehung – als das Verhalten beeinflussend und erklärend dargestellt. Die Tatsache, dass der Junge aus Sicht von Rosalie „die ganze Zeit Quatsch“ macht, ordnet sie seinem nicht so „wunderschöne[n] Leben“ zu. Der Gemeinschaft – hier der Klasse – wird Mitverantwortung für die Integration eines Individuums in die Gemeinschaft zugeschrieben. Später führt Rosalie am Beispiel der Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs und der Erlebnisse ihrer Großmutter weiter aus, dass der Ausschluss von Personen das gute Leben der gesamten Gemeinschaft riskieren kann. Es dokumentiert sich ein Verständnis von Gemeinschaft, das geprägt ist von gegenseitiger Solidarität. Sowohl das Individuum als auch die Gruppe tragen, ähnlich wie in den Schilderungen zu Familie deutlich wurde, wechselseitig Verantwortung dafür, diese Solidarität und damit eine zentrale Grundlage für ein gutes Leben aufrechtzuerhalten. Zusammenfassende Darstellung des Orientierungsrahmens In der Gruppe Kupfer dokumentieren sich themenübergreifend mehrere zusammenhängende, homologe Muster, die der Selbstpositionierung als planvolle AkteurInnen Ausdruck verleihen. Angesichts der stringenten, themenübergreifenden Entfaltung des Orientierungsrahmens zeugt die Selbstpositionierung dabei von einer hohen kollektiven Orientierungssicherheit.

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

169

Es dokumentiert sich erstens eine Orientierung an Konformität, das heißt ein an die in unterschiedlichen Settings identifizierten Normvorstellungen angepasstes Handeln als Teilhabe und Handlungsfähigkeiten eröffnendes Prinzip. Dieses Muster findet sich sowohl für die innere als auch für die äußere Sphäre wieder, sowohl im Hier und Jetzt als auch bezogen auf Zukunftsvorstellungen. Handlungsfähigkeit wird dabei bereits früh mit (kindlicher) Anpassungsfähigkeit und -bereitschaft sowie Selbstoptimierung verbunden, kindliches Handeln als kompetentes Mitwirken in einer durch Erwachsene strukturierten Lebenswelt gedacht (siehe Kap. 2.2). Innerhalb des Orientierungsrahmens formulierte Pläne und Ziele, wie zum Beispiel das Abitur zu machen, zeigen dabei zum Teil eine heteronome Konnotation auf. Eng verknüpft wird die Orientierung an Konformität mit dem Prinzip der Eigenverantwortung. In der Verknüpfung von Eigenverantwortung und Wissen um die Existenz expliziter und impliziter Regeln unterschiedlicher Settings erfolgt eine Selbstpositionierung als selbstwirksame und handlungsfähige AkteurInnen. Akteurschaft wird innerhalb der Möglichkeiten und Begrenzungen der jeweiligen Normvorstellungen zu realisieren geglaubt: Die Fähigkeit, flexibel nach den Spielregeln zu spielen, die in unterschiedlichen Kontexten und Settings Bestand haben, wird als eine wichtige Grundlage für ein gelingendes Leben beschrieben. Dies zeigt sich innerfamiliär beispielsweise an dem reziproken Sorge- und Versorgungsverhältnis, von dem alle (kooperierenden) Familienmitglieder profitieren, auf der anderen Seite aber auch an Befürchtungen, durch non-konformes Verhalten Konflikte in der Familie zu verursachen, die bis zur Trennung von den Eltern reichen können. Für die äußere Sphäre werden beispielhaft die impliziten Spielregeln des Arbeitsmarkts (Auftreten und Erscheinungsbild etc.) als Zugang zum und Verbleib am Arbeitsmarkt herangezogen. Die an Eigenverantwortung geknüpfte, vor allem individualisierte Darstellung von (kindlichem) Handeln und Handlungsfähigkeit wird neben generationsbezogenen Wirkfaktoren vereinzelt durch mögliche sozialisatorische, soziale und strukturelle Einflüsse kontextualisiert. So werden benachteiligende Faktoren, wie negatives elterliches Erziehungsverhalten, besondere soziale Lebensumstände sowie Mechanismen von Ausgrenzung und Diskriminierung als das Handeln und die Handlungsfähigkeit von AkteurInnen beeinflussend und begrenzend aufgezeigt. Die kollektive Selbstpositionierung der Gruppe Kupfer erfolgt hingegen aus einer aus eigener Sicht privilegierteren Position heraus. Benachteiligende Faktoren werden

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TEIL III: Empirischer Teil

am Beispiel von MitschülerInnen oder bestimmten Personengruppen (hier: Gruftis, Punks) aufgezeigt, nicht aber eine eigene Betroffenheit thematisiert. Die Orientierung an Konformität und das Prinzip der Eigenverantwortung sind zudem eng verwoben mit einer weiteren Orientierung, dem Prinzip wechselseitiger Rücksichtnahme und Verbundenheit, das nicht nur für die Familie, sondern ebenso für die Gemeinschaft allgemein (Schulklasse, Gesellschaft etc.) Bestand hat. Sowohl das Individuum als auch die Gruppe tragen wechselseitig Verantwortung für das Wohl der Gemeinschaft, aber auch einzelner Mitglieder. Dies zeigt sich zum einen in der Konzeptualisierung von Familie als reziprokes Sorge- und Versorgungsverhältnis, zum anderen in der Forderung nach Unterstützung benachteiligter Gruppenmitglieder wie dem Klassenkameraden. Akteurschaft wird in Vereinbarkeit und Balance von innerer und äußerer Sphäre gefasst. Etwaige Differenzen und Divergenzen werden dethematisiert, was jedoch nicht heißt, dass hierzu keine Erfahrungen vorliegen. So äußern sich migrationsbedingte Differenzerfahrungen unter anderem in „wir“- und „die Anderen“-Konstruktionen in Zusammenhang mit dem Sprachförderunterricht sowie damit verbundener Stigmatisierung (wir = DaZ152-Kinder/ die Anderen = Nicht-DaZ-Kinder, Z. 950-1199). Jedoch wird die erfahrene Stigmatisierung durch Hervorhebung des durch die Teilnahme am Sprachförderunterricht erfahrenen Mehrwerts der Selbstoptimierung positiv gewendet (siehe Diskussion der Ergebnisse; vgl. Kämpfe/ Westphal 2018). Das Ziel der Selbstoptimierung kann dabei wieder unter dem Aspekt der Konformitätsbestrebungen und der Vermeidung von Normabweichungen gedeutet werden, was letztlich auch die Vermeidung beziehungsweise Minimierung von (migrationsbezogener) Differenz impliziert.

152

Deutsch als Zweitsprache

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

7.2.2

171

Gruppe Fenster (NL) – Mehrfachzugehörigkeit und Multioptionalität „Ja. Ich kann alles machen.“ (Rajesh), „Ja. Oder fliegen. Oder zaubern.“ (Selin)

Zusammensetzung der Gruppe Die Kinder der Gruppe Fenster besuchen zum Zeitpunkt der Befragung gemeinsam die groep 6 (entspricht der 4. Klasse) einer niederländischen Grundschule (basisschool). Die Gruppe besteht aus drei Jungen und vier Mädchen.153 Da in dieser Schule kein separater Sprachförderunterricht erfolgt, sondern sprachliche Heterogenität und Leistungsheterogenität über Binnendifferenzierung im Unterricht bearbeitet werden, wurde die Gruppe durch die Klassenlehrerin zusammengestellt.154 Zum Bildungs- beziehungsweise beruflichen Hintergrund der Eltern ist bekannt, dass die Mütter gegenwärtig überwiegend Hausfrauen sind, die Väter als Arbeiter, Imam und Metzger tätig beziehungsweise arbeitssuchend sind. Die Kinder und ihre Familien stammen aus der Türkei, Pakistan, Marokko und Tschetschenien. Mindestens drei Kinder, Meltin, Rajesh und Ruslan, sind nicht in den Niederlanden geboren worden. Eine Besonderheit der Schule ist, dass es sich um eine konfessionsgebundene Grundschule handelt, und zwar um eine islamische Grundschule.155 Die beiden ModeratorInnen besuchen die Kinder zunächst in der Klasse und nehmen an einer Unterrichtsstunde teil. Interessant zu beobachten ist der kooperative Umgang der Kinder miteinander, die darin bestärkt werden, sich bei den Aufgaben gegenseitig zu unterstützen. Außerdem dürfen sie sich auch während des Unterrichts frei bewegen sowie selbstständig beschäftigen oder den Raum verlassen, wenn sie die Aufgaben gelöst haben. Schließlich fällt die technische Ausstattung ins Auge – im Klassenraum befinden sich unter anderem Beamer, Leinwand, PCs, Tablets, WLAN. Die

153 154

155

Lisa (LIf), Meltin (MEf), Mesut (MTm), Nina (NIf), Rajesh (RAm), Ruslan (RNm), Selin (SEf) Die Zusammenstellung der Gruppe durch die Lehrkraft erfolgte nach dem Kriterium ethnisch-kultureller Heterogenität. Trotz dieser gewählten möglichst heterogenen Zusammenstellung zeigt sich in Hinblick auf die kollektiven Orientierungen weitgehend Kongruenz. Zum Bildungssystem in den Niederlanden siehe Kapitel 4.2.2.

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TEIL III: Empirischer Teil

Frühstückspause wird genutzt, um gemeinsam die nationalen Kindernachrichten zu schauen und zu diskutieren. Der Raum, in dem die Gruppendiskussion stattfindet, ist eine kleine Bibliothek. Die Stimmung ist mit Betreten des Raumes freudig und erwartungsvoll. Diskursorganisation Die Kinder finden selbstläufig in die Diskussion und zeigen Spaß an der Beantwortung der Fragen und dem Konferenzcharakter. Der Aufforderung zur eigenständigen Diskursorganisation wird überwiegend entsprochen. Mehrfach übernehmen Rajesh und Mesut die Moderation. Insgesamt sind wenige Impulse von Seiten der ModeratorInnen notwendig, um die Diskussion aufrecht zu erhalten. Zudem zeigen die Kinder relativ klar an, wann ein Thema ihrer Meinung nach ausdiskutiert wurde. Der Themenwechsel wird dann entweder selbstständig eingeleitet oder aber bei den ModeratorInnen eingefordert. Die Diskursorganisation gestaltet sich als Wechselspiel aus Humor und Ernsthaftigkeit. Mesut, Nina und Rajesh dominieren nicht nur quantitativ die Diskussion, sondern treten auch als EntertainerInnen in Erscheinung. Demgegenüber treten Selin, Lisa und Meltin mehrfach als moralische Instanzen auf und fordern ihre KlassenkameradInnen auf, sich der Situation angemessen zu verhalten.156 Ruslan nimmt eine Sonderrolle ein, auf die im Verlauf der Diskursbeschreibung näher eingegangen wird. Die Gruppenkonstellation sorgt insgesamt für ein angenehmes Gesprächsklima. Die Kinder scheinen sich, obwohl sie in der Gruppendiskussion unterschiedliche Rollen einnehmen und darüber in Diskussion geraten, freundschaftlich gesinnt zu sein. In den Darstellungen wird verstärkt die Phantasie als Symbolisierungsform genutzt. Propositionen werden dabei teils so überspitzt, dass es erst im Gesamtbild möglich ist, darin eingelagerte Orientierungen zu identifizieren. Der Einsatz von Phantasien, Abstraktionen sowie konkreten Erzählungen und Beschreibungen als Darstellungsformen erfolgt wechselseitig und in 156

So moniert beispielsweise Selin: „Das hier ist eine ernsthafte Konferenz. Wir sollten uns nicht wie Kindergartenkinder verhalten“ (Z. 460-461). Vorausgegangen waren Äußerungen wie „Ich möchte 500 Babys, jede Minute kommt eins raus.“ (Nina, Z. 452), „Ich möchte einfach alles, das ist es. Fertig!“ (Mesut, Z. 453), „Ich möchte all das Geld der Welt.“ (Nina, Z. 454).

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

173

sich verwoben. In den häufigen SprecherInnenwechseln zeigt sich, dass die Kinder sich dabei gegenseitig verstehen, zum Teil ohne dass den ModeratorInnen der Gegenstand ihrer Darstellungen eindeutig zugänglich gemacht wird. So sind einige Äußerungen beziehungsweise Anspielungen für die Außenstehenden erst auf Nachfrage hin zu entschlüsseln. Zu beobachten ist auch, dass das vielfach scherzhafte Antwortverhalten von der Intention getragen ist, sich gegenseitig zu übertrumpfen, dass sich die Kerninhalte zugleich aber stetig wiederholen. Die kommunikativen und reflexiven Fähigkeiten der Kinder der Gruppe Fenster sind insgesamt hoch. Einzig Ruslan gibt zuweilen sprachlich bedingte Verständnisschwierigkeiten an. Die ModeratorInnen werden als Respektpersonen geachtet, zugleich werden die Grenzen des Sagbaren ausgetestet. Da I1 die Moderation übernimmt und I2 sich eher im Hintergrund hält, wenden sich die Kinder vor allem an I1. Diskursbeschreibung Zu Beginn nehmen die ModeratorInnen zunächst noch einmal eine offizielle Begrüßung vor und erklären ihr Vorhaben und den Ablauf. Nachdem noch kurz einige Fragen geklärt wurden, werden die Namensschilder angefertigt und das Aufwärmspiel gespielt. Gutes Leben als Raum individueller Möglichkeiten und sozialer Anbindung Während von der Gruppe Kupfer im Eingangsstimulus der Teilaspekt „mir tut gut“ als Ausgangspunkt ihrer Vorstellungen von einem guten Leben genommen wurde, werden in der Gruppe Fenster Wünsche als Aufhänger und roter Faden für die folgende Aufzählung genommen. I1:

Also, stell dir vor, dass wir auf einer Kinderkonferenz sind und du willst einem Erwachsenem erklären was für euch als Kind oder Kinder wichtig ist. Wir sind neugierig was für euch ein glückliches und schönes Leben bedeutet. Was braucht ihr, um sagen zu können, dass das Leben gut ist, dass das Wohlbefinden gut ist und vor allen Dingen warum. (.) Ja, erzählt mal. (.) Habt ihr das verstanden? Mehrere: Ja! RAm: Ich will frei sein. RNm: Um frei zu sein, möchte ich Geld. NIf: Ich möchte sehr viel Geld. Schwimmbad im Garten, Trampolin und zwei Schwestern. MEm: Ich möchte Villen, ich will reich sein, ich will alles.

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TEIL III: Empirischer Teil RAm: LIf:

Ich möchte ein schönes Leben erleben. Ich möchte eine Villa mit einem Schwimmbad. Ich möchte eine Villa, mit einem Schwimmbad und ich möchte ein gutes Leben. SEf: Ich möchte mit meinen Freundinnen immer beieinanderbleiben. Freundinnen beieinanderbleiben. NIf: Ich möchte erst ein Schwimmbad im Garten, mit einem Trampolin, Zwillingsschwestern, eine Villa, drei Brüderchen und einen Welpen und zwei Kätzchen. RAm: Ich möchte zum Himmel, zu Gott. MEm: Ich möchte Zauberei. NIf: Ich möchte fliegen können. RAm: Ich möchte ein Haus voll mit Schokolade. RNm: Ein Delfinarium. NIf: Limousine. RAm: Ich bin der König. NIf: Villa, Schwimmbad, Zwillingsschwestern, Trampolin, Wii, drei Kätzchen, zwei Kaninchen, zwei Welpen, eine Limousine und ein Zwilling von einem Bruder und einer Schwester. MEm: Ich will alles, was du hast, außer einer Schwester. Ich will noch Geld. RAm: Ich möchte drei Enten, die Tick, Trick und Track heißen. Ich möchte in Geld schwimmen, zwei Autos, wenn das eine schmutzig wird. Und ein Haus. RNm: Ich will der Nachbar sein von Ronaldo, Messi und Ronaldino und ich möchte Geld. (Gruppe Fenster, Eingangspassage protokolliert)

Initiiert wird die Wunschliste durch die Proposition von Rajesh „Ich will frei sein“. Was Rajesh selbst damit verbindet bleibt zunächst unklar. Für Ruslan scheint die Bedeutung indes klar zu sein. Er greift den Wunsch nach Freiheit auf und bringt ihn in direkten Zusammenhang mit Geld, was auch von Nina, Mesut und schließlich auch Rajesh validiert und gesteigert wird durch Aussagen wie „Ich möchte sehr viel Geld“, „Ich möchte reich sein, ich möchte einfach alles“ oder „Ich möchte in Geld schwimmen“. Die Ausgangsproposition vom Wunsch nach Freiheit wird somit kollektiv zunächst vor allem materiell elaboriert und dabei in den Kontext von Exklusivität, Spiel, Spaß und Unterhaltung im Hier und Jetzt gesetzt. Inwieweit Wohlstand beziehungsweise Luxus in dieser Passage als positiver Gegenhorizont markiert werden, ist nicht eindeutig zu klären. Denkbar ist, dass die genannten materiellen Wünsche weniger für die konkret genannten Dinge als für die Idee scheinbar unbegrenzter, nicht verstandesgeleiteter Möglichkeiten stehen. Der Wunsch nach Freiheit, der hier wechselseitig elaboriert wird, könnte – so eine erste vorsichtige Auslegung – demnach vor allem als

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

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Handlungs- und Entscheidungsfreiheiten und damit als Teil von Akteurschaft in der Kindheit übersetzt werden. Wohlstand wird zwar als ein entscheidendes Mittel angesehen, bestimmte Freiheiten – hier Exklusivität, Spiel, Spaß, und Unterhaltung – zu realisieren. Als dominierendes homologes Muster dieser Eingangspassage stellt sich jedoch – auch in Äußerungen wie „Ich möchte Zauberei“, „Ich möchte fliegen können“, „Ich bin der König“ – metaphorisch die Idee bedürfnisgeleiteter Grenzenlosigkeit dar. Nicht zuletzt durch die Bezugnahme auf märchenhafte Welten wie die von Donald Duck („Ich möchte drei Enten, die Tick, Trick und Track heißen. Ich möchte in Geld schwimmen“) mag aus adultzentrischer Perspektive der Eindruck entstehen, die Kinder nehmen das Setting nicht ernst. Eingelagert in die unverfängliche, zum Teil scherzhafte und stark abstrahierte Eingangspassage finden sich jedoch auch Antworten, deren Sinngehalt auf einen größeren Realitätsbezug hinweisen, wie etwa „Ich möchte mit meinen Freundinnen immer beieinanderbleiben“, „Ich möchte zum Himmel, zu Gott“ oder auch die mehrfach artikulierten Wünsche nach Geschwistern und Haustieren. Die vielfältigen Symbolisierungsformen, die miteinander zu verschmelzen scheinen, deuten auf eine für Außenstehende zunächst nicht zugängliche, eigene Diskurslogik hin. Die Wandlungsfähigkeit der Diskurslogik zeigt sich in der darauffolgenden Passage. Mit der Frage „Sind das jetzt echt alles Dinge, die für euch als Kinder wichtig sind?“ macht I1 den Kindern gegenüber Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Antworten und zugleich auch die Erwartungshaltung einer ernsthaften Diskussion deutlich und versucht, der Diskussion eine Wende zu geben.157 Dieses regulierende Moment, das die generationale Asymmetrie machtvoll hervortreten lässt, führt tatsächlich vorübergehend zu der anvisierten Wende. I1: Mehrere: I1: NIf:

RNm:

157

Sind das jetzt echt alles Dinge, die für euch als Kinder wichtig sind? Ja nee. Was ist für euch als Kind jetzt wirklich wichtig? Äh:m, dass ich äh: eine Schwester be-, ja Zwillingsschwester, denn ich bin ja ja nicht wirklich äh:::m, ja, ich bin oft alleine denn ich habe nur zwei Freundinnen die mit mir draußen spielen und noch eine Freundin die ein Kaninchen hat. (jetzt bin ich)

Es dokumentiert sich hier der Zwiespalt zwischen Forschenden- und Moderationsrolle, siehe Kap. 6.2.4.

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TEIL III: Empirischer Teil RAm:

Ich möchte auch eine Schwester denn ich bin immer ausgeschlossen mit zwei kleinen Brüderchen. Also. Und noch frei sein und draußen spielen. MTm: (Du sagst doch, du willst immer draußen spielen) ((zu Ruslan)) Er sagt doch, er will draußen spielen. Wir kommen zu ihm hin und fragen ihn, komm draußen spielen. Er sagt: Nein, ich habe keine Lust. ((andere Kinder lachen)) RNm: Ich möchte gerne einen Vertrag unterzeichnen, dass ich später Fußballer werde. MTm: ((zu Rajesh)) Denk doch mal nach, Junge! SEf: Für mich ist das wichtigste, mit meiner Freundin zusammen zu bleiben und keinen Streit zu haben. NIf: Warum Fußball? ((in die Runde)) LIf: Für mich ist das wichtigste, gesund zu bleiben und ein gutes Zusammenleben zu bekommen. RNm: Für mich ist das wichtigste (.) Fußball RAm: └ Du musst auch gesund essen. Gut essen LIf: Gut arbeiten und so. RAm: └ Aber du darfst jeden Tag drei Flaschen Cola trinken. NIf: Nein! Da ist Alkohol drin. RAm: Ja Ja ((i.S.v. „erzähl mal nicht“)) RNm: └ Ich möchte einen Vertrag unterzeichnen, dass ich später Fußballer werde. NIf: Das ist wirklich wahr. ((zu Rajesh)) ((unverständliche Äußerungen 3 Sekunden)) MEf: Ich finde es wichtig, dass meine Familie gesund und glücklich bleibt. (.) Und dass ich mit meinen Freunden gut umgehe. LIf: Ja NIf: ((atmet hörbar/genervt aus)) RAm: Und ich möchte einfach draußen spielen und damit fertig. MTm: Das kann ich eigentlich auch einfach sagen. RAm: Ja, dann bin ich draußen und sage: Fri:sche Lu::ft! MTm: Aber wenn wir bei dir vorbeischauen und dich fragen: „Kommst du draußen spielen?“ Sagst du: „Nein, keine Lust!“ ((ein wenig Unruhe)) Ernsthaft! RAm: Immer, wenn es fünf bis sechs Uhr ist, mache ich erst einmal ein Schönheitsschläfchen! ((lacht dabei)) Echt! NIf: Du und Schönheit? ((schüttelt den Kopf)) RAm: ((zeigt mit dem Finger auf Nina)) Ich schwöre Junge, ich schwöre! (Gruppe Fenster, Z. 1-50)

Dem impliziten Vorwurf mangelnder Ernsthaftigkeit wird nachgegeben und im fortlaufenden Diskurs die Bereitschaft demonstriert, das Argumentationsverhalten den Erwartungen von I1 (zunächst) anzupassen. Die Anpassung an die von I1 (machtvoll) eingeleitete Wende kann im Sinne BühlerNiederbergers relationalem Agency-Konzept der kompetenten Gefügigkeit

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

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gelesen werden (siehe Kap. 2.2). Zugleich zeigt sich in dem flexiblen Wechsel zwischen phantasierter und realer Alltagsbetrachtung – mal verschmolzen, mal klar voneinander getrennt – eine hohe Adaptabilität. Nina wirft – wie bereits mehrfach in der Eingangspassage – das Bedürfnis nach Gemeinschaft und Geselligkeit auf, das von anderen Kindern validiert sowie für unterschiedliche Kontexte abgehandelt wird und sich als positiver Gegenhorizont dokumentiert. Es wird die Bedeutung von Gleichaltrigen als Bezugspersonen und SpielgefährtInnen hervorgehoben, zum einen innerhalb von Familie, zum anderen „draußen“, das heißt außerhalb von Familie in der Peer. Rajesh validiert Ninas erfahrene Einsamkeit („oft alleine“) und beklagt, dass er sich innerfamiliär „immer ausgeschlossen“ fühle.158 Erneut wirft er den Wunsch „frei sein“ auf, den er hier nun mit „draußen“ und „spielen“ sowie später mit „Fri:sche Lu::ft“ in Verbindung bringt. Dies stützt die Überlegung, den Wunsch nach Freiheit als Wunsch nach Handlungs- und Entscheidungsfreiheiten und damit stärker als Autonomiebestreben zu deuten. Nicht zuletzt Mesuts Schilderungen über seine und Ruslans Versuche, Rajesh zum Spielen abzuholen und dessen widersprüchliche, scheinbar ausweichende Erklärungen „keine Lust“ und „Schönheitsschläfchen“ verfestigen diese Lesart. Die Bedeutsamkeit von Gemeinschaft und Geselligkeit wird insofern weiter elaboriert, als auf Qualitätsaspekte von Beziehungen innerhalb und außerhalb von Familie abgehoben wird („zusammen bleiben“, „keinen Streit“, „ein gutes Zusammenleben“, „Familie gesund und glücklich“, „mit meinen Freunden gut umgehe“). Dabei wird dem eigenen Handeln eine Bedeutung für die Qualität dieser Beziehungen zugeschrieben. Die Bedeutsamkeit des eigenen Handelns wird auch in Hinblick auf die positiven Gegenhorizonte Gesundheit („gesund essen“) sowie Leistung („gut arbeiten“) hergestellt. Akteurschaft wird somit auch dem Prinzip der Eigenverantwortung unterworfen. Rajeshs Beweggrund für den Einwurf, dass drei Flaschen Cola am Tag in Ordnung seien, ist nicht eindeutig zu klären. Nina scheint ihn mit ihrer Erklärung des darin enthaltenen Alkohols jedoch beim Wort zu nehmen und vom Gegenteil überzeugen zu wollen.159 Ruslans mehrfach geäußerter 158 159

Die Schilderungen von Nina und Rajesh und deren Wunsch nach gleichaltrigen Geschwistern lassen vermuten, dass Freizeit sich bei ihnen vor allem zuhause abspielt. Auch zu dieser Aussage, die Nina mit Nachdruck äußert, fehlt der Forschenden zunächst der Zugang, da ein Verweis auf den in Cola enthaltenen Alkohol als abwegig erscheint,

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TEIL III: Empirischer Teil

Wunsch, einen Vertrag als Profifußballer zu unterschreiben und seine Leidenschaft für Fußball werden von der Gruppe nicht weiter aufgegriffen. Wenngleich in dieser Passage Orientierungen individuell artikuliert werden, zeigt sich dennoch ein kollektives Muster: Gemeinschaft und Geselligkeit werden als kollektive Orientierung geteilt, individuell aber als unterschiedlich eingelöst wahrgenommen. Entfaltet wird damit ein anderer kollektiver Orientierungsrahmen als in der Eingangspassage. Während zunächst eine eher individualisierte Sichtweise vertreten wurde, werden mit dem positiven Gegenhorizont der Gemeinschaft und Geselligkeit nahweltliche Beziehungen als bedeutsamer Zugehörigkeitsraum in den Blick gerückt.160 Religionszugehörigkeit als normativer Rahmen I1 schließt erneut an den Eingangsstimulus an und wirft unterschiedliche Teilfragen auf, die zu weiteren Erzählungen anregen sollen. I1: RNm: I1: RAm: I1: RAm: MTm: LIf: RAm: MTm: LIf:

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Also, für uns ist es also ganz spannend zu wissen, was euch spontan dabei einfällt. Eben eine Frage, was ist „spontan“? ((andere Kinder lachen)) Also was dir so auf einmal einfällt, was dir so in den Kopf schießt. Was sind also Dinge, wovon du sagst, das tut mir gut, das macht mich glücklich, das ist für mich wichtig? Kein Geld, ne! ((zeigt etwas provokant auf Nina)) Also einfach spontan! Was dich glücklich macht Klugheit (.) macht dich glücklich. Ja Ein gebrochener Arm, das macht dich glücklich. Ich möchte behindert werden, dann gehe ich später zu (.) Ihr wisst schon. Du willst nur behindert werden, um nach cennet ((Türkisch: Paradies)) zu gehen.

Zucker wäre als Erklärung als wahrscheinlicher anzunehmen. Die Erklärung ergibt erst durch Internetrecherchen Sinn. Eine Studie des französischen Verbraucherschutzinstituts INC, die international vor allem bei MuslimInnen für Aufsehen gesorgt hat, ergab, dass Cola geringe Mengen von Alkohol enthält. http://www.focus.de/gesundheit/ ernaehrung/zuckeranteil-aber-wesentlich-schockierender-cola-enthaelt-spuren-von-alkohol_aid _774000.html (Zugriff am 19.04.2017). Angesichts der offensiven Ansprache durch I1 („wirklich wichtig“) ist zu überdenken, inwieweit das Antwortverhalten in dieser Passage durch Aspekte sozialer Erwünschtheit beeinflusst ist. Die konkreten Schilderungen und gegenseitigen Bezugnahmen lassen jedoch nicht darauf schließen.

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MTm: SEf: RAm:

Toll, nicht? Alles was ich möchte! Das sagt man nicht. Was sagst du denn? Du musst froh sein über den Körper, den du hast. Schau mal, großer Arm ((nimmt den linken Arm von Mesut und hebt ihn an)) großer Kopf ((gibt ihm einen leichten Klaps auf den Hinterkopf)) MTm: Und du denn? Großen Mund! (Gruppe Fenster, Z. 82-104)

Nachdem im Vorfeld eine heitere Stimmung herrschte und Fragen zum Teil sehr phantasievoll beantwortet wurden, gibt Rajesh mit der Aussage „Kein Geld, ne!“ in Richtung Nina einen normativen Rahmen vor. Möglicherweise handelt es sich dabei um eine Anspielung auf den eher materialistischen Einstieg in die Diskussion oder eine gezielte Stichelei gegen seine Klassenkameradin. Möglich ist auch, dass dies ein Signal ist, die Frage – wie von I1 zuvor eingefordert – ernsthaft und auch mit Vernunft zu beantworten. Er selektiert dann die Teilfrage „was dich glücklich macht“, mit der Folge, dass damit die Richtung für die nachfolgenden Propositionen bestimmt wird. Zunächst wird durch Mesut und Lisa Klugheit als ein positiver Gegenhorizont markiert. Klugheit wird nicht nur die Fähigkeit zugeschrieben, ein glückliches Leben zu bewirken. Sie wird als sicherer Faktor zum Glücklichsein präsentiert („Klugheit (.) macht dich glücklich“, Z. 91). Da dieser Aspekt an der Stelle nicht weiter ausgeführt wird, greift ihn I1 im Rahmen einer impliziten Nachfrage später erneut auf. Dass laut Rajesh „ein gebrochener Arm“ glücklich mache, ist vor dem Hintergrund seiner Ansage an Nina irritierend, da er nun selbst eine Sache hervorbringt, die – zumindest auf den ersten Blick – nicht als ernsthafte Antwort klassifiziert werden kann. Denkbar ist jedoch, dass der gebrochene Arm eine Art der Freiheit symbolisiert. Denn wenngleich dieser mit Schmerzen und Einschränkungen verbunden ist, werden offenbar auch positive Assoziationen hervorgerufen, vielleicht die Befreiung von unliebsamen Aufgaben und Pflichten im Haushalt oder Sportunterricht. Ähnlich irritierend mutet Mesuts sich anschließender Wunsch nach einer Behinderung an. Indem er seine Erklärung nur denjenigen zugänglich macht, die dem konjunktiven Erfahrungsraum angehören, zeigt sich, dass er sich der normativen Wirkung seiner Aussage bewusst ist. Die Proposition offenbart für Außenstehende zunächst nur, dass die gewünschte Behinderung in Zusammenhang gebracht wird mit einem in der Zukunft liegenden Ereignis (und unterscheidet sich insofern von dem Wunsch nach einem gebrochenen

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TEIL III: Empirischer Teil

Arm). Die Behinderung wäre dann ein Mittel, das Glück in Aussicht stellt und dafür in Kauf genommen würde. Lisa, die Mesuts angedeutete Intention aufdeckt, ‚übersetzt’ das konjunktive Wissen für die außenstehenden ModeratorInnen. Der konjunktive Erfahrungsraum, auf den durch den hergestellten Zusammenhang von Zugang zum Paradies und Glück abgehoben wird, ist die religiöse Orientierung, wobei der Zugang zum Paradies den positiven Gegenhorizont darstellt. Nach der religiösen Vorstellung der Kinder genießen Menschen mit Behinderung einen erleichterten Zugang zum Paradies. Im Umkehrschluss ist der Weg zum Paradies mit bestimmten Prüfungen, das heißt Hürden, Herausforderungen, Verantwortungen im Hier und Jetzt verbunden. Lisas Erklärung folgend ist Mesuts Idee der Wunsch unterlegt, sich diesen Prüfungen entziehen zu können. Während sich in ihrer Äußerung bereits eine kritische Distanz zu dieser Orientierung andeutet, zeigt Mesut sich über seinen tollen Einfall sichtlich erfreut und sinnt nach Zustimmung in der Gruppe. Die Aussicht auf „Alles was ich möchte!“ kann sich dabei sowohl auf das Jenseits als auch auf das Hier und Jetzt beziehen. Die Schattenseiten, bedingt durch die mit einer Behinderung verbundenen Einschränkungen, Stigmatisierungen etc., werden von ihm nicht entgegengestellt. Im Vordergrund stehen ein möglichst garantierter Zugang zum Paradies bei gleichzeitig größeren Handlungsfreiheiten sowie eine Verringerung der von ihm beziehungsweise den Kindern wahrgenommenen Restriktionen und Pflichten zu Lebzeiten. Auch in diesem Fall wird somit eine Befreiung von unliebsamen Aufgaben und Pflichten anvisiert, etwa eine Befreiung von der Verantwortung für die eigenen Taten. Selin, die daraufhin Mesut (und Rajesh) zurechtweist, macht deutlich, dass die mit dem Wunsch nach Behinderung (beziehungsweise Verletzung) entsendete Botschaft die Grenzen des Sagbaren überschreitet. Empörung über Mesuts Aussage signalisiert auch Rajesh, der soeben selbst noch den Wunsch nach einem gebrochenen Arm äußerte. Indem er Mesut darüber belehrt, dass er froh sein muss über seinen (gesunden) Körper – „großer Arm“ und „großer Kopf“ als Symbole für Stärke und Klugheit – verweist er auf den positiven Gegenhorizont Gesundheit.161 Angesichts der religiösen Bezüge

161

Mesuts Reaktion „Und du denn? Großen Mund!“ ist aller Wahrscheinlichkeit nach eine Anspielung auf dessen ‚große Klappe‘.

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ist anzunehmen, dass der Kritik eine religiöse Perspektive unterlegt ist.162 Akteurschaft wird demnach durch religiöse Werte und Normen gerahmt, über die man sich nicht hinwegzusetzen hat. Sowohl der gebrochene Arm als auch die Behinderung werden mit weniger Pflichten und Verantwortung sowie einem Mehr an Freiheiten assoziiert. Hieraus lassen sich Hinweise auf einen erfahrenen Druck zur Regelbefolgung lesen. Eine Behinderung hat im Gegensatz zu einem gebrochenen Arm jedoch etwas Endgültiges und damit Schwerwiegenderes, dafür ist der vermeintliche Ertrag aus Mesuts Sicht höher. Es scheint, als wolle er mit seinem Einfall (wie auch an anderen Stellen in der Diskussion) Rajesh übertrumpfen. Wahrscheinlicher als der tatsächliche Wunsch ist, dass auch behindert sein hier als Metapher für ein Mehr an Handlungs- und Entscheidungsfreiheiten, eine Befreiung von unliebsamen Aufgaben und Verpflichtungen fungiert. Zu einem späteren Zeitpunkt in der Diskussion wird im Rahmen der Frage nach Träumen der Zukunft die religiöse Orientierung untermauert und weiter elaboriert. Meltin formuliert ihren Traum „zu Allah zu gehen“ (Z. 284), der von Selin und Mesut geteilt und von I1 zum Anlass einer impliziten Nachfrage genommen wird. I1:

SEf, kannst du deine Aussage noch einmal wiederholen, ich habe es leider nicht verstanden. SEf: Mein Traum ist es, in den Himmel aufzusteigen. NIf: Zu Gott. ((laute, undeutliche Zwischengespräche 5 Sekunden)) RNm: Wer hat den Traum denn nicht? Jeder hat den Traum. LIf: ((zu Ruslan)) Du denn, hast du den Traum? RNm: Ja ((nickt)), auch von Waffen. ((Die drei anderen Mädchen führen Zwischengespräche, die beiden anderen Jungen unterhalten sich)) LIf: Wenn du jemanden tötest, dann gehst du nicht nach cennet (Gruppe Fenster, Z. 296-307)

162

Hierfür spricht, dass die Religionszugehörigkeit als normative Rahmung auch an anderer Stelle herangezogen wird, etwa angesichts verbaler Grenzüberschreitungen, die im Zuge von Dynamiken des sich gegenseitigen Übertrumpfenwollens vollzogen werden. So formuliert Nina den Wunsch: „Ich möchte ein überdecktes Schwimmbad im Garten und ein Trampolin. Und wenn ich sage: Jetzt Schnee, dann soll es schneien und wenn ich sage: Sonne, Son-“ (Z. 434-437), der von Lisa mit den Worten „Das macht Allah“ (Z. 438) quittiert wird.

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TEIL III: Empirischer Teil

Selin wiederholt den Traum „zu Allah zu gehen“ mit den Worten „in den Himmel aufzusteigen“, möglicherweise als Übersetzungsleistung für I1, der angegeben hatte, den Traum nicht verstanden zu haben. Ninas Zwischenruf „Zu Gott“ kann sowohl als Validierung als auch als weiterer Übersetzungsversuch gedeutet werden. Durch Ruslans Einwurf „Wer hat den Traum denn nicht? Jeder hat den Traum“ wird dieser (universell oder zumindest für alle Diskussionsteilnehmenden) als Normalitätsvorstellung markiert. Zwar scheint auch Lisa diese Normalitätsvorstellung zu teilen, zugleich offenbart sie mit ihrer Rückfrage Zweifel daran, ob Ruslan selbst diesen Traum hat. Seine Validierung, die gefolgt wird von dem wiederholt genannten Traum „Waffen“, scheint ihren Zweifel aufzugreifen, indem er diese beiden Träume gewissermaßen widerspruchslos nebeneinanderstellt.163 Damit demonstriert er ein Bewusstsein über die Wirkung seiner Äußerung auf andere. Lisa, die eine Verknüpfung zwischen den beiden Aspekten herstellt, zeigt sich in ihren Zweifeln bestätigt und versucht, ihm die Unvereinbarkeit seiner Träume aufzuzeigen, indem sie auf eine allgemeingültige Gesetzmäßigkeit rekurriert. Der Waffenwunsch als solcher wird nicht offen in Frage gestellt. Die Nutzung des türkischen Begriffs „cennet“ zeigt, dass I1 in das Gespräch zwischen Lisa und Ruslan nicht einbezogen oder adressiert wird. Ruslan reagiert nicht auf Lisas Einwand. Seine Äußerung wirkt wie ein Bruch und bietet für die anderen wenig Anschlussmöglichkeit. Wenngleich der positive Gegenhorizont, in den Himmel aufzusteigen, als Element der religiösen Orientierung kollektiv validiert wird und damit von einer Relevanz für die gesamte Gruppe auszugehen ist, wird durch die Frage keine erzählanregende Wirkung erzielt, womöglich da dieser Umstand als kommunikatives Wissen und damit nicht erklärungsbedürftig angenommen wird. In dem positiven Gegenhorizont dokumentiert sich die Verbundenheit von Hier und Jetzt und Zukunft (bis über den Tod hinaus). Ein gutes Leben wird demgemäß auch durch die Aussicht auf das Erreichen des positiven Gegenhorizontes bestimmt. Wie die Formulierung „Traum“ zeigt, wird 163

Ruslan bringt das Thema Waffen wiederholt in die Diskussion ein. Er ist vor nicht allzu langer Zeit gemeinsam mit seiner Mutter aus Tschetschenien geflüchtet. Nach Information der Lehrkraft wurde sein Vater ermordet. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er auf reale Bezüge zurückgreift. Inwieweit Ruslan an Debatten anschließt, die unter dem Stichwort Islam geführt werden und den Zugang zum Paradies mit Gewalt in Verbindung setzen, ist unklar.

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

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dieses nicht als gesichert, wohl aber als Plan angesehen. Als wesentlich für das Erreichen des Plans wird das eigene konforme Handeln gefasst. I1’s nachfolgender, etwas ungelenker Versuch, mehr über die Gelingensbedingungen, im Speziellen über die Zugangsbarrieren und -regelungen zum Himmel in Erfahrung zu bringen („Aber, wovon (.) Wovon ist das alles abhängig?“, Z. 308), wird zunächst nicht verstanden und, nachdem er die Frage weiter präzisiert („Zum Himmel zu gehen“, Z. 315), durch Rajesh hin zu den Motiven gewendet. RAm: Warum will man das? I1: Ja, Warum? LIf: Ich bin Muslimin. ( ) ((Alle antworten durcheinander/gleichzeitig)) RAm: Schönes Leben. ( ) I1: Setzt das mal fort! MEf: Ich bin Muslimin und da sind sehr schöne Dinge und man kann alles tun was man möchte. Mehrere: Ja RAm: Ja. Ich kann alles machen. SEf: Ja. Oder fliegen. Oder zaubern. NIf: └ Oder Babys bekommen. ((Unruhe 3 Sekunden)) RAm: Wir gehen nach dem Uhrzeigersinn! LIf: Ich fang an. ??: NIf! NIf: Ok, ich möchte gerne, ä:h:, 4 Kinder ((Unruhe)) (Gruppe Fenster, Z. 308-332)

Auf die Frage nach den Motiven nimmt Lisa eine untrennbare Verkettung mit ihrer Position als Muslimin vor. Erneut wird den ModeratorInnen die Selbstverständlichkeit vergegenwärtigt. Die Erklärung „Schönes Leben“ kann sich sowohl auf das Leben auf der Erde als auch auf das Jenseits beziehen. Die erste Deutung könnte darauf verweisen, dass einem durch die Achtung religiöser Regeln ein schönes Leben auf der Erde zukommt, während letztere darauf hindeuten könnte, dass sich mit dem Zugang zum Himmel ein schönes Leben im Jenseits eröffnet. Der Himmel wird mit etwas sehr Schönem, Erstrebenswertem verbunden. Die weiteren Erklärungen schließen an den positiven Gegenhorizont der Handlungs- und Entscheidungsfreiheiten und das Bild des Raums individueller Möglichkeiten an. Als Anreiz wird die Aussicht auf „sehr schöne Din-

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TEIL III: Empirischer Teil

ge“ geschildert und „man kann alles tun was man möchte“. Die IchBezogenheit von Rajeshs Aussage bestärkt die Vorstellung von unbegrenzter akteurInnenbezogener Freiheit im Gegensatz zur (gegenwärtigen) Begrenztheit im Diesseits. Darüber hinaus geht eine Faszination von der Vorstellung aus, dass sogar das im Diesseits Unmögliche/ Unvorstellbare möglich ist, wie zum Beispiel „fliegen“ und „zaubern“. Die Dimension von „alles“ wird hier noch einmal gesteigert. Ninas Einwurf „Babys bekommen“ dokumentiert zudem die zeitlose Vorstellung vom Paradies, das als Raum der unbegrenzten Möglichkeiten erträumt wird. Die Diskussion wird selbstständig zu der Frage nach den Zukunftsträumen zurückgeführt. Durch die erneute Nennung des Wunsches „Kinder“ zu bekommen, stellt Nina eine Verbindung zwischen realer Welt und der Vorstellung vom Paradies her. Bei dem positiven zukunftsbezogenen Gegenhorizont handelt es sich nicht nur um einen wichtigen Bestandteil des praktizierten Glaubens und den Wunsch danach bei Gott zu sein. Auch von der angenommenen Aussicht darauf, grenzenlose Handlungsfreiheiten und Selbstbestimmung zu erlangen, geht große Faszination aus. Die Regeln, die den Zugang bedingen – ihr Handeln im Hier und Jetzt – sind den Kindern bekannt und liegen (zumindest teilweise) in der eigenen Verantwortung. Negativer Gegenhorizont ist demgegenüber die Gefahr, den Zugang zum Paradies selbst zu verspielen. Die Überzeugung über die Eigenverantwortlichkeit ist ein Hinweis auf die Selbstwirksamkeitsüberzeugung der Kinder. Die Religion bietet dabei Orientierung darüber, was richtig und was falsch ist. Gleichzeitig geht hiermit ein Konformitätsdruck einher – ein guter Moslem, eine gute Muslimin zu sein –, der sich unter anderem in Mesuts Anspielung auf seinen vermeintlichen Wunsch nach Behinderung dokumentierte. Wenngleich die Passagen zur religiösen Orientierung im Vergleich zu anderen Passagen weniger selbstläufig sind, ist hier eindeutig ein konjunktiver Erfahrungsraum Gegenstand der Diskussion. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass das Thema eigenständig eingebracht und die zugrundeliegende Orientierung von allen validiert wurde. Bildung als Eröffnung von Möglichkeiten Der positive Gegenhorizont Klugheit, der von Mesut hervorgebracht, dann aber unterbrochen wurde, wird von I1 mit den Worten „Aber Klugheit, warum?“ (Z. 105) im direkten Anschluss an die Passage erneut aufgegriffen (Z. 105-175). Dabei wird der Zusammenhang von Klugheit und Glück zu-

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nächst als Selbstverständlichkeit kenntlich gemacht, als eine Art Gesetzmäßigkeit, als kommunikatives Wissen („Einfach so.“, Mesut, Z. 106). Dieser Zusammenhang, der kollektiv validiert wird, wird dann weiter elaboriert. Klugheit wird als Basis für eine glückliche Zukunft und Voraussetzung unter anderem für ein Studium an einer Universität oder weiterer Bildungsmöglichkeiten sowie die Einmündung in und Etablierung am Arbeitsmarkt gefasst. Mit Klugheit sind demgemäß Handlungs- und Entscheidungsfreiheiten verbunden, sich beispielsweise für ein Studium beziehungsweise für etwas Anderes entscheiden zu können („Dann kannst du zur Universität, Studium und so weiter“, Rajesh, Z. 107). Die Bedeutung von Klugheit für ein glückliches (zukünftiges) Leben wird darüber hinaus um die Aspekte „viel verdienen“, „eine gute Arbeit“/„eine gute Arbeitsstelle haben“ (Nina, Mesut, Lisa, Z. 110-114) erweitert, der Verdienst wiederum in Verbindung mit der Versorgung der Kinder gebracht. Als positive Gegenhorizonte treten hier eine gute Arbeit, ein guter Verdienst sowie die Vorstellung von Mutterschaft hervor. Die Versorgung der Kinder wird durch Klugheit aufgrund (höherer) Bildungs- und Berufsabschlüsse, Arbeit und eines guten Verdienstes als gesichert vermutet, Mutterschaft und Erwerbstätigkeit als vereinbar angesehen. Mesut konkludiert die Erklärungen der Gruppe, indem er erneut Glück als zu erwartende Konsequenz von Klugheit konzeptualisiert: „Klugheit bringt dir einfach Glück.“ (Z. 116). Der Orientierungsgehalt, dass Klugheit (in der Zukunft) Wege eröffnet, die glücklich machen, impliziert damit auch einen Hinweis auf die Gegenwart. Das Wissen um die eigene (potenzielle) Klugheit und damit verbundene Zukunftschancen kann Zuversicht spenden und damit auch das Wohlbefinden im Hier im Jetzt beeinflussen. Der Ausspruch „Klugheit (.) macht dich einfach glücklich“ (Z. 91) kann somit auch im Hier und Jetzt Bestand haben. Der positive Gegenhorizont Klugheit wird auf die Frage von I1 hin, ob man Klugheit „lernen“ kann oder das „einfach so“ kommt164 von der Gruppe weiter elaboriert. I1: RAm: (Alle): 164

Die Klugheit, kann man das lernen (.) oder kommt das einfach so? Ja └ Ja

I1 stellt den Kindern in Form einer entweder/oder-Frage zwei Alternativen zur Verfügung, was impliziert, dass die Kinder sich für eine der beiden Möglichkeiten entscheiden sollen. Entweder ist Klugheit demzufolge erlernbar oder angeborenes Talent, wobei ersteres von den Kindern bereits vor Fertigstellung der Frage validiert wurde.

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TEIL III: Empirischer Teil LIf: RAm: LIf: RAm: RNm: LIf: RNm: LIf: […] RAm:

└ Das kommt einfach von dir selber. Du musst Gemüse essen. Gemüse essen. Zum Beispiel am Wochenende, da musst du deine Hausaufgaben schon erledigen. Gesund essen. Selbstvertrauen. Was? Selbstvertrauen. Ja, Selbstvertrauen.

Da musst du bei unserem Jungen sein. ((Zeigt in Richtung Klassenraum)) Wenn der eine Aufgabe macht -, Arbeitsblatt -, 5 Sekunden -, fertig. MTm: Echt ey! In unserer Klasse ist ein Junge, die Lehrerin erklärt etwas und die Lehrerin sagt ihr dürft anfangen - Kari:::::m ((Gestik)) RAm: Kari:::::m ((Allgemeine Unruhe, es wird über den Jungen gesprochen, 10 Sek.)) […] RAm: Was macht dich schlau? [Koppie, Koppie] MTm: ((zu Rajesh)) Schlau, was macht dich schlau? NIf: Oh ja, gesund essen! RAm: Jeden Tag Sport machen. Nicht lange Musik hören, Hausaufgaben machen. NIf: Wie? Musik?! LIf: Musik ist schon noch in Ordnung. RNm: Etwas Cooles [vets] machen. MTm: ((Schaut zu Ruslan und lächelt)) RNm: ( ) MTm: Trottel, du machst dir die Beine kaputt. RNm: ((zu Mesut)) Du wirst wohl kaum den ganzen Tag mit deiner Klugheit [slimheid] auf dem Sofa sitzen? MTm: Intelligenz bringt dir Glück, da du auf einmal etwas Neues erfinden kannst. Du hast ein iPhone 5 und auf einmal machst du ein iPhone 10. Kari:::::m! ((Alle lachen)) LIf: Folgende Frage. (Gruppe Fenster, Z. 121-175)

Die Proposition „Das kommt einfach von dir selber“ könnte in zwei Richtungen fortgeführt werden. Die erste Interpretation verweist auf Selbstwirksamkeit. Klugheit kommt demnach aus einem selbst und der eigenen Anstrengung und Aneignung heraus. Die zweite Interpretation verweist auf mangelnde Selbstwirksamkeit und den Glauben an eine (angeborene) innere Disposition. Die weiteren Nennungen, wie gesundes Essen, die Erledigung

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der Hausaufgaben, Selbstvertrauen, Sport, etwas Cooles machen, verweisen indes auf die Veränderbarkeit von Klugheit und damit Selbstwirksamkeitsüberzeugung. Lisas Hinweis, dass auch Disziplin und persönlicher Einsatz durch die Erledigung der Hausaufgaben notwendig sei, löst die Uneindeutigkeit ihrer vorherigen Äußerung und zugleich die entweder-oder-Frage von I1 auf, indem sie eine sowohl-als auch-Logik entgegensetzt. Eine bestimmte innere Disposition voraussetzend, ‚muss‘ diese durch Disziplin und Einsatz genutzt, gepflegt und ausgebaut werden. Gesunde Ernährung, Sport oder etwas Cooles machen als Klugheit begünstigende Faktoren zu fassen, verweist auf ein Erziehungsumfeld, das auf einem weiten Bildungsverständnis basiert. Eine unmittelbare Selbsterfahrung dieser Wirkungskette ist nur schwer möglich, so dass die Transmission elterlicher beziehungsweise schulischer Bildungsstrategien für die Argumentation hier als wahrscheinlicher anzunehmen ist. Der positive Gegenhorizont Klugheit wird durch eine Mischung aus einem gesunden, ausgeglichenen Lebensstil und Wohlbefinden (gesunde Ernährung, Sport, maßvoller Musikgenuss, etwas Cooles machen165), Disziplin und persönlichem Einsatz (Hausaufgaben) sowie Machbarkeitsüberzeugung (Selbstvertrauen) zu realisieren geglaubt. Einen dramaturgischen Höhepunkt bildet die exemplarische Darstellung des außergewöhnlich klugen Mitschülers. Seine Klugheit, die unter anderem durch die sekundenschnelle Erledigung von Aufgaben belegt wird, wird als sehr außergewöhnlich eingestuft. Die Schilderungen sind dabei weder neidvoll noch kompetitiv. Vielmehr finden dessen Leistungen kollektive Anerkennung, was den positiven Gegenhorizont Klugheit einmal mehr unterstreicht. In der Konklusion von Mesut, die Klugheit (hier: „Intelligenz“) erneut als Glücksgarant ausweist, wird dem Mitschüler eine solch glückliche Entwick165

Ruslans Proposition „etwas Cooles machen“ legt die Interpretation nahe, dass er dies als Kontrast und damit Ausgleich zu formaleren Aspekten des Alltags sieht. Auf was genau er anspielt, bleibt akustisch zwar unverständlich, jedoch ist aufgrund Mesuts Reaktion von etwas Riskantem, zum Beispiel einer sportlichen Aktivität wie Skateboarden, auszugehen. Die Schon- und Sicherheitsperspektive, die durch Mesut vertreten wird, steht in Opposition zu Ruslans Risikoorientierung. Mit der Äußerung: „wohl kaum den ganzen Tag mit deiner Klugheit auf dem Sofa sitzen“ zeigt er sich skeptisch darüber, sein Leben ausschließlich der Klugheit zu widmen und sich Ausgleich beziehungsweise Spaß zu verwehren. Zwar widerspricht dem Mesut nicht direkt, hält aber an seinem Argument fest, Klugheit als Garant für Glück zu stilisieren.

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lung zugedacht. Abgehoben wird auf die Möglichkeit innovativer Erfindungen. Gemäß der Argumentationslogik ist dem Erfinder beziehungsweise der Erfinderin Glück sicher, das durch die eigene Intelligenz begründet ist, etwa in Form von Erfolg, Ansehen, Anerkennung, vielleicht auch Berühmtheit und Vermögen. Mit dem iPhone als Referenzpunkt wird auf ein weltweit hoch angesehenes, technologisch komplexes und innovatives High-endProdukt verwiesen. In der Zuversicht und Begeisterung, die von dieser wiederholt formulierten Glücksformel ausgeht, lässt sich auch hier ein Plan für die Gegenwart ablesen. Die Ausbildung von Klugheit wird als komplex dargestellt und zu einem großen Teil der Eigenverantwortung zugeschrieben. An anderer Stelle dokumentiert sich, dass der Weg zu einem glücklichen und erfüllten Leben in diesem Zusammenhang mit Anstrengungen und Druck im Hier und Jetzt verbunden ist. Im Zuge der Frage, „was die Politiker verändern müssen für die Kinder“ (Z. 498-499) im Rahmen der Übung Sonne wird das Für und Wider von Hausaufgaben diskutiert.166 I1: RNm: LIf: RNm: I1: SEf: MTm:

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Macht mal weiter. Äh::::m, mal eben schauen. Weniger Hausaufgaben. Ja, weniger Hausaufgaben. Ich hatte in letzter Zeit echt viele Hausaufgaben, ich konnte noch nicht einmal atmen. ∟Weniger Hausaufgaben, weniger Hausaufgaben. Ja, weniger Hausaufgaben. ((stehend, zu I1)) Nein! Nicht weniger Hausaufgaben. Sonst wird man da nicht klug von.

Die Übung Sonne, die nicht Teil der Fallbeschreibung ist, bringt auf die Frage „was die Politiker verändern müssen für die Kinder?“ (Z. 498-502) vor allem schulische Aspekte hervor. Es werden folgende Punkte diskutiert und auf den Sonnenstrahlen notiert: bessere Toiletten, längere Pausen, jeden Freitag einen Film schauen, weniger Hausaufgaben, kein Krieg, jeden Donnerstag zum Tierbauernhof, zwei bis dreimal pro Woche Sport, Schulfußball, Schülerlotsen, mehr Parkplätze, bessere Straßen für Sicherheit mit dem Fahrrad, Kinder sollen nicht gemobbt werden. Genannt werden zudem: Unterricht draußen wenn es warm ist, Schwimmunterricht, bessere Spielgeräte und mehr Spielplätze, günstigere Fahrräder für Kinder. Die Aspekte beziehen sich vor allem auf die Ausgestaltung des Schulalltags und dabei konkret auf erlebnispädagogische Elemente. Dennoch wird sich explizit gegen einen Verzicht auf Schule oder eine drastische Reduzierung der Hausaufgaben ausgesprochen, da dadurch – so die Argumentation – der Ausbildung von Klugheit und der gesamten Persönlichkeit geschadet würde („Dann bist du nichts“, Z. 507). Die non-formalen und informellen Bildungsangebote sind in Balance zu den regulären formalen Bildungsangeboten zu sehen.

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LIf: RNm:

Ja aber was müssen ( ) Aber schau mal, hier Hausaufgaben, dort, dort ((klatscht mit der flachen Hand auf verschiedene Bereiche des Tisches direkt vor seinem Sitzplatz)) MTm: Ja okay. Mach mal etwas weniger. Vielleicht eine Hausaufgabe pro Tag. ((Unruhe 3 Sekunden, Nina übergibt einen „Sonnenstrahl“ an I1)) RNm: ((zu I1)) Weniger Hausaufgaben. LIf: ( ) Zwei Hausaufgaben pro Woche. Am Montag oder ( ) MTm: O:M:G: you! RAm: Also jetzt müssen wir alle ruhig sein und einer darf etwas sagen. (Gruppe Fenster, Z. 603-627)

Hausaufgaben werden in ihrer Funktion grundsätzlich anerkannt. Der Vorschlag zur Reduzierung wird auf eine hohe Arbeitsbelastung und Überforderung zurückgeführt. Ruslan beschreibt, dass ihm die Masse an Hausaufgaben in letzter Zeit schlicht die Luft zum Atmen genommen und ihn damit an seine Grenzen gebracht habe.167 Mit seinem vehementen und lautstarken Widerspruch versucht Mesut indes zu verhindern, dass der vorgebrachte Vorschlag auf einem Zettel notiert wird und damit als Gruppenmeinung quasi offiziellen Charakter und Legitimität erhält. Die mit den Hausaufgaben verbundene Arbeitsbelastung wird unter Berufung auf den positiven Gegenhorizont Klugheit durch ihn entemotionalisiert. Klugheit wird dabei dichotom in Abgrenzung zu „nicht klug“ dargestellt. Der aktuelle Umfang an Hausaufgaben wird von ihm als notwendig für die Entwicklung der Klugheit angenommen. Die Lehrkräfte, die die Hausaufgaben aufgeben, werden in Hinblick auf eine optimale Entwicklung als kompetent eingestuft. In dem darauffolgenden Aushandlungsprozess, in dem Mesuts versachlichter Darstellung erneut das Ohnmachtsgefühl ob der unermüdlichen Aufgabenbewältigung entgegengestellt wird, wird ein Konsens bezüglich des hohen Arbeitspensums erzielt. Durch Mesuts Einlenken wird „weniger Hausaufgaben“ auf einem Sonnenstrahl aufgenommen und somit als Handlungsempfehlung an die Politik formuliert. Die Gruppe zeigt sich mit dem

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Möglich ist, dass die Anzahl der Hausaufgaben in der Klasse („Ich hatte [...] echt viele Hausaufgaben“) variiert. Dies könnte beispielsweise (auch objektiv) dadurch begründet sein, dass er häufiger als andere KlassenkameradInnen Aufgaben im Unterricht nicht fertigstellen konnte, die er dann zu Hause erledigen musste oder dass er womöglich aufgrund seiner kürzeren Aufenthaltsdauer in den Niederlanden noch zusätzlich Aufgaben erhält.

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TEIL III: Empirischer Teil

Ergebnis der Aushandlung zufrieden und bittet I1, den Punkt „weniger Hausaufgaben“ auf dem Zettel zu vermerken.168 Auch in dieser Passage wird eine Entlastung von alltäglichen Belastungssituationen, hier Hausaufgaben, thematisiert. Dem gegenübergestellt wird die angestrebte Ausbildung von Klugheit, die durch die Bearbeitung von Hausaufgaben gefördert wird. Der Wunsch nach weniger Hausaufgaben soll nicht zu einem Weniger an Klugheit führen. Eine (geringfügige) Reduzierung kann, so der Orientierungsgehalt, demzufolge nur in dem Rahmen erfolgen, der von den als kompetent wahrgenommenen Lehrkräften als angemessen erachtet wird. Mehrsprachigkeit als Schlüssel für Mehrfachzugehörigkeit und Multioptionalität Nachdem der erste Themenblock durch die Bearbeitung der Sonne abgeschlossen wurde, leitet I1 zum Thema Sprache über. Da in der Schule kein separater Sprachförderunterricht stattfindet, bezieht sich die Frage auf die Einstellung zu Sprache im Allgemeinen: „Ihr dürft einfach mal etwas loswerden über Sprache. Was euch so in den Sinn kommt.“ (Z. 843-844). Als nachgefragt wird, welche Sprache I1 meint, ergänzt er wie folgt: „Einfach über Sprache. Also über den Begriff Sprache. Was du darüber sagen möchtest“ (Z. 846-847). Zwei Argumentationsrichtungen werden dabei zu Anfang verfolgt (Z. 848-880). Ruslan spricht sich dafür aus, extra Englischunterricht zu bekommen, was mehrfach kritisch hinterfragt wird, da es bereits Englischunterricht gibt. Ihm scheint dies jedoch ein wichtiges Anliegen zu sein, was möglicherweise mit seiner späten Einreise in die Niederlande und einem Wissensrückstand zu tun hat. Mesut spricht sich für extra Türkischunterricht aus, was ebenso kritisch hinterfragt wird, da er bereits einen Türkischunterricht besucht.169 Bei beiden bleiben die Motive zunächst im Unklaren. 168

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Zwar validiert auch Lisa die Bedeutung von Hausaufgaben, jedoch sinnt sie danach, diese noch deutlicher zu reduzieren. Mesut, der sich zuvor selbst von unliebsamen Aufgaben und Verpflichtungen befreien wollte, gibt Lisa indes zu verstehen, dass sie mit ihrem Vorschlag über das Ziel hinausschießt und die Konsequenzen nicht bedenkt. Die jugendsprachliche Äußerung in Chatsprache („O:M:G you!“ = Oh my god, you!) kann dabei übersetzt werden in ‚Du spinnst!‘ oder ‚Jetzt übertreibst du’s aber!‘. Rajesh verkündet die Aushandlung für beendet, indem er die Moderationsrolle wieder an sich nimmt und alle – sich eingeschlossen – zur sofortigen Ruhe und mehr Ordnung auffordert. Weitere vereinzelte Vorschläge sind chinesisch (Rajesh) und hawaiianisch (Nina).

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

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Die weitere Diskussion wird dann stärker davon bestimmt, welche Bedeutung die einzelnen Sprachen, das heißt Englisch als Weltsprache, die Herkunftssprachen und die Verkehrssprache am Lebensmittelpunkt haben. Die englische Sprache wird als internationale Verkehrssprache und damit wichtige universelle Ressource konzeptualisiert, durch die weitere Handlungsfreiheiten erlangt werden, insofern als sie einen Schlüssel für grenzüberschreitende Kommunikation und Begegnung darstellt: „da haben die Menschen auch Englisch gelernt, mit denen kann man dann Englisch sprechen, an Stelle von der (dortigen) Sprache“ (Z. 884-885). Dieser Überlegung liegt eine Orientierung zugrunde, die eine weltweite Verständigung als wichtig erachtet. Die Vorstellung, dass wenn alle Menschen Englisch können, das Beherrschen der jeweiligen Landessprache überflüssig wird, wird dabei als sehr einfache und effiziente Lösung präsentiert. Fraglich ist zunächst, ob gemäß Mesuts Aussage „Dann brauchst du nicht die anderen Sprachen lernen“ (Z. 885-886) damit auch die familiären Herkunftssprachen und die Verkehrssprachen am Lebensmittelpunkt obsolet werden, schließlich hatte er sich zuvor selbst für Extra-Türkischunterricht ausgesprochen. Es ist I1, der auf diese Proposition hin die Frage nach der Verkehrssprache Niederländisch aufwirft. Es erscheint fraglich, ob die Gruppe dies selbst hervorgebracht hätte, was an die Nicht-Thematisierung von Selbstverständlichkeiten erinnert, die sich bereits angesichts der religiösen Orientierung und der Bedeutung von Klugheit zeigte. Niederländisch wird – vor dem Hintergrund dessen, dass die Mehrheit der Kinder in den Niederlanden geboren wurden – insgesamt als eine „einfache Sprache“ bezeichnet. Lisa verweist noch darauf, dass nicht alle Menschen dies so empfinden mögen, doch selbst diejenigen in der Gruppe, die nicht in den Niederlanden geboren sind, greifen dies auch auf Nachfrage nicht wesentlich auf. Die Frage erscheint für die Gruppe kaum von Relevanz, jedoch wird im Folgenden im Kontrast dazu selbstläufig auf die Bedeutung der Herkunftssprache(n) hingeführt. RAm:

Herr [meneer] ((zu den anderen)) Ruhe! Es wichtig, wie man seine eigene Sprache spricht, nicht seine eigene Sprache -. Das ist das wichtigste. Wenn du in dein eigenes Land gehst und jemand fragt dich: Wie geht es dir? Dann bist du ganz ruhig, dann weißt du nicht was du sagen sollst. MTm: Also du musst einfach Englisch. RAm: Wieso Englisch? Amerikanisch und Englisch sind das gleiche. MTm: Englisch, dann kannst du in allen Ländern. ((Unruhe))

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TEIL III: Empirischer Teil SEf:

Dann gehst du nach Marokko oder in ein Arabisches Land und kommst du mit: How are you? MTm: Wartet, Ruhe. Darf ich bitte? MEf: Du brauchst nicht schreien, wir sind nicht doof. MTm: ((zu Nina)) Oh weh, du bekommst einen Schlag! SEf: Herr [meneer] ( ) seriös sein ( ) MTm: Wenn du Englisch lernst, die anderen werden auch Englisch lernen. Wenn du mit Erwachsenen, nicht mit Kindern, sprichst, einfach Englisch sprichst, kannst du in alle Länder. RAm: Herr [meneer], er ist nicht dumm. In China sprechen sie nur mit -, dort können nur zwei Schulen Englisch sprechen. Also ich weiß echt nicht was er sagt. ((zu Mesut)) Nur zwei Schulen in China können Englisch sprechen. LIf: Rajesh ((echter Name)), aber in China sprechen die meisten Menschen auch Englisch. MTm: Du kannst einfach in alle Länder, weil die meisten Länder verstehen Englisch. Also. Englisch istLIf: Ist eine sehr bekannte. MTm: Ein bekanntes Land. Deshalb sprechen sie Englisch. Dann lernen sie das auch und dann ä:h:m LIf: Ich will wohl nach England gehen. MTm: Ja ich auch. RNm: Wer denn nicht? LIf: Nach Londo:n:. RAm: Wir werden abstimmen! Wer möchte seine eigene Sprache lernen? ((zeigt auf)) ((Unruhe)) I1: Aber Rajesh, deine eigene Sprache, warum ist das wichtig? RAm: Also wenn du zu deiner Muttersprache gehst, deine eigene Sprache, MEf: ( ) zum eigenen Land gehst ( ) RAm: Ja okay, also wenn du zu deinem eigenen Land gehst, dann kannst du mit den anderen Menschen sprechen und da kann man sich verständigen. Wenn du Niederländisch sprichst und du vergisst die eigene Sprache. ??: ( ) Rajesh RAm: Ruhe. RNm: Dann können die Leute auch Englisch. Also dann kann man genauso gut Englisch reden ( ) LIf: Das sagt mein Vater auch immer, du kannst besser deine eigene Sprache lernen, aber ich weiß es auch (nicht ) I1: Und der Rest? LIf: Mein Onkel sagt: Niederländisch ist wichtig, da du in den Niederlanden lebst. RAm: Das stimmt auch wieder. Das stimmt auch wieder. Aber wenn du in einem anderen Land bist, musst du auch deine eigene Sprache lernen.

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

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MTm:

( ) ((zu Lisa)) Du bist da geboren aber du bleibst türkisch. LIf: Ich bleibe auch türkisch. MTm: Ja ich auch. ((Unruhe)) (Gruppe Fenster, Z. 913-972)

Rajesh vergewissert sich zunächst der Aufmerksamkeit aller Anwesenden, um dann die Bedeutsamkeit der Herkunftssprache zu betonen, die er als „das wichtigste“ und damit besonders wertvoll beschreibt. Er nimmt in puncto Sprache eine klare Unterscheidung zwischen dem „eigene[n] Land“ und anderen Ländern vor und problematisiert die Reise ins Herkunftsland ohne grundlegende Kenntnisse der Sprache. Rajesh verweist hier auf transnationale Bezugssysteme und Praktiken mit der „eigene[n] Sprache“ als bedeutsamem Element von symbolischem Wert. Mesut preist in Opposition dazu erneut Englisch als internationale Verkehrssprache an, die er als „in allen“ und folglich auch im Herkunftsland einsatzfähig darstellt und präsentiert sich damit als einer modernen, globalisierten, durch Pluralisierung gekennzeichneten Welt zugehörig. Diese rein funktionale Betrachtungsweise von Kommunikation versucht Selin mit ihrer kritischen Rückfrage ad absurdum zu führen, indem sie das NichtBeherrschen der Herkunftssprache (zumindest angesichts eines Besuchs des Herkunftslandes) noch einmal ganz konkret als unangemessen und schambehaftet herausstellt. Der Diskursverlauf erfährt an dieser Stelle einen weiteren dramaturgischen Höhepunkt. Die oppositionellen Positionierungen sind von intensiven Emotionen begleitet. In seinem Plädoyer für die englische Sprache als weltweite Kommunikationssprache und universelle Ressource scheint es so, als könne Mesut gar nicht nachvollziehen, warum dies für das eigene Land nicht gelten solle. Eine Einschränkung wird lediglich in Bezug auf Kinder vorgenommen, die der englischen Sprache womöglich (noch) nicht mächtig seien. Die Gegenseite stellt – vermutlich von einem konjunktiven Wissensbestand ausgehend – ihre Position indes ohne eine weitere Erklärung dar. Auch fern des Herkunftskontextes zweifelt Rajesh die universelle Wirkmacht der englischen Sprache an und verweist als Beleg auf eines der größten Länder der Welt, China, in dem die englische Sprache kaum verbreitet sei. Die Kritik bringt Mesut jedoch nicht von seinem Standpunkt ab, der bestärkt durch Lisa und Ruslan seine Theorie weiter vertritt. Wenngleich er einräumt, dass noch nicht alle Menschen auf der Welt der englischen Spra-

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TEIL III: Empirischer Teil

che mächtig seien, so ist sein Blick in die Zukunft von der Erwartung getragen, dass die Anderen es ebenfalls lernen würden. Zwei scheinbar oppositionelle Standpunkte werden hier vertreten. Dass sich die beiden Meinungen jedoch nicht unbedingt ausschließen, zeigt der weitere Verlauf. Die Theorie, dass die Herkunftssprache angesichts von Englisch überflüssig wird, will Rajesh durch eine Meinungsabfrage prüfen („Wer möchte seine eigene Sprache lernen?“). Die dann entstehende Unruhe bringt zunächst keine eindeutigen Orientierungen hervor, jedoch schaltet sich I1 ein, um Rajesh nach den Gründen für das Festhalten an der eigenen Sprache zu befragen. Die familiäre Herkunftssprache wird als wichtiges Medium transnationaler Beziehungen gekennzeichnet. Das Praktizieren der Aufnahmesprache könne zum Verlust der Herkunftssprache und damit auch zum Verlust kultureller Zugehörigkeit führen. Lisa drückt ihre Ambivalenz aus: Während auch ihr Vater ihr die Bedeutung der Herkunftssprache näherbringen möchte, betont ihr Onkel die Bedeutung des Niederländischen. Angesichts dieser Ambivalenz ist es Rajesh, der hier eine Synthese bildet, indem er die Bedeutung beider Sprachen anerkennt. Dies erfährt schließlich auch Beistand von Mesut, der konstatiert: „Du bist da geboren aber du bleibst türkisch“. Damit wird kollektiv die Bedeutung und enge Verknüpfung von familiärer Herkunftskultur und -sprache validiert. Anzumerken ist, dass auch Mesut zuvor die Bedeutung des Türkischen hervorgehoben hatte. Mehrsprachigkeit wird als Normalität markiert, wobei die Sprachen unterschiedliche Funktionen einnehmen: die Herkunftssprache ist eher von symbolischem Wert als Ausdruck ethno-kultureller Zugehörigkeit, während Verkehrssprachen und im Besonderen Englisch ein funktionaler Wert als Schlüssel grenzüberschreitender Zugehörigkeit und Multioptionalität zugeschrieben wird. Die Bedeutung des Niederländischen wird eher zweckmäßig gefasst. Wie sich im direkten Anschluss zeigt, wachsen fast alle Kinder zuhause mit der Herkunftssprache oder mehrsprachig auf. Nur Rajesh gibt an: „Ich bin in die Niederlande gekommen als ich drei war und ich habe alles vergessen und jetzt kenn ich alle schwierigen niederländischen Wörter“ (Z. 991993), wohingegen sein Vater von ihm erwartet, dass er auch die Herkunftssprache beherrscht: „Wenn dein Vater dich fragt: Wie geht’s? Und wenn du das nicht weißt, dann sagt er: Komm wir gehen zurück in unser eigenes Land, denn du musst das lernen.“ (Z. 988-991). Der positive Gegenhorizont wird durch den Erwerb der Herkunftssprache markiert, aber von Rajesh

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heteronom konnotiert. Rajesh, der angibt, seine Herkunftssprache nicht gut zu beherrschen, sieht sich – unter dem Druck des Vaters – stärker hiermit konfrontiert. Die Rolle der Herkunftssprachen wird mehrfach in einem Zug mit den Vorstellungen der Eltern thematisiert, was darauf hindeutet, dass eigene Positionen hierzu noch ausstehen. Kulturelle Zugehörigkeiten – hier verkörpert durch Sprache – stellen einen normativen Rahmen dar, den es zum Teil noch auszuloten gilt. Insgesamt zeigt sich, dass die Bedeutung des Niederländischen und der Herkunftssprachen – sofern sie beherrscht werden – relativ unbestimmt ist. Hervorzuheben ist die hohe Bedeutung, die dem Englischen zugeschrieben wird. Diese Position kann als Teil des Strebens nach Handlungsfreiheiten (durch Bildung) interpretiert werden. Der positive Gegenhorizont ist dadurch markiert, dass durch das Beherrschen einer Sprache, die weltweit gesprochen wird, nicht nur Grenzen überwunden, sondern auch weitere Perspektiven eröffnet werden, beispielsweise in Hinblick auf einen transnationalen Arbeitsmarkt. Die Kinder positionieren sich im Terrain der Sprachen und den damit verbundenen Möglichkeiten der Teilhabe als handlungsfähige AkteurInnen, die, nicht zuletzt mit Hilfe dieser Sprachen, an unterschiedlichen Settings partizipieren und sich flexibel zwischen diesen Settings von Aufnahme-, Herkunfts- und anderen globalen Kontexten bewegen können. Zusammenfassende Darstellung des Orientierungsrahmens Auch in der Gruppe Fenster können mehrere Muster themenübergreifend identifiziert werden, die sich unter eine Selbstpositionierung als planvolle AkteurInnen subsumieren lassen: Es dokumentiert sich zunächst die Bedeutung von Freiheit, konkret Handlungs- und Entscheidungsfreiheiten, in unterschiedlichen Kontexten und in unterschiedlicher Gestalt. Handlungs- und Entscheidungsfreiheiten werden als bedeutsamer Teil von Akteurschaft im Hier und Jetzt und in der Zukunft festgemacht. Transportiert wird eine Idee von Multioptionalität, das heißt von den vielfältigen Möglichkeiten, was man zu tun, zu sein und zu haben in der Lage ist. Die muslimische Religionszugehörigkeit bildet einen zentralen normativen Rahmen. Akteurschaft wird insofern gerahmt, als sie Orientierung unter anderem dahingehend bietet, abzuwägen, was richtig und was falsch ist. Der Jenseitsglaube, der durch die Überzeugung begleitet ist, dass der Alltag sich

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TEIL III: Empirischer Teil

als Prüfung darstellt, impliziert das Prinzip der Verantwortung für das eigene (nicht-)konforme Handeln. Der positive Gegenhorizont, mit Übertreten in das Jenseits ins Paradies und zu Gott zu gelangen, ist dabei nicht nur Teil des praktizierten Glaubens, sondern auch durch die angenommene Aussicht auf grenzenlose Handlungsfreiheiten und Selbstbestimmung begründet. Umgekehrt sind die im Diesseits angestrebten Freiheiten insofern durch die religiöse Orientierung bedingt, als man sich stets vor Gott dafür verantworten muss. Handlungsfreiheiten werden unter anderem über Bildung zu realisieren geglaubt. Mit dem Ausspruch „Klugheit bringt dir einfach Glück“ wird ein Bild der unbegrenzten Möglichkeiten durch Bildung gezeichnet, nicht nur in Hinblick auf gute Arbeit und einen guten Verdienst, sondern auch auf Möglichkeiten etwas zu bewegen, etwa durch innovative Erfindungen. Der Orientierungsgehalt, dass Klugheit (in der Zukunft) Wege eröffnet, die glücklich machen, hat dabei auch Bestand für die Gegenwart. Während Glück eher an etwas Schicksalhaftes erinnert, ist dieser Glücksformel Selbstwirksamkeitsüberzeugung unterlegt. Über Disziplin und persönlichen Einsatz, einen gesunden und ausgeglichenen Lebensstil sowie den Glauben an die eigene Handlungsfähigkeit wird ein Plan für die Ausbildung von Klugheit formuliert. Parallel zur religiösen Orientierung zeigen sich auch für die Orientierung an Bildung Eigenverantwortung, Disziplin sowie die Inkaufnahme von Pflichten und Einschränkungen als handlungsleitend. Handlungsfreiheiten werden zudem durch Sprachkenntnisse begünstigt geglaubt, Mehrsprachigkeit als Normalität markiert. Die englische Sprache und die Herkunftssprache werden als wichtige Mittel transnationaler Kommunikation gekennzeichnet. Die unterschiedlichen Funktionszuweisungen – funktionaler vs. symbolischer Wert – verweisen auf unterschiedliche (transnationale) Zugehörigkeitsdimensionen. Zum einen wird unter Verweis auf die Herkunftssprachen die Bedeutung der ethno-kulturellen Zugehörigkeit validiert. Zum anderen wird über die englische Sprache als internationale Verkehrssprache ein kosmopolitischer Bezugsrahmen vermittelt. Dem lokalen Kontext wird über die Bedeutung nahweltlicher Beziehungen Zugehörigkeit zugesprochen. Über die Kennzeichnung der eigenen (geplanten) Mehrsprachigkeit erfolgt eine Selbstpositionierung als AkteurInnen, die an unterschiedlichen Settings zu partizipieren und flexibel zwischen diesen Settings von Aufnahme-, Herkunfts- und anderen globalen Kontexten zu wechseln in der Lage sind.

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

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Der flexible Wechsel zwischen den sprachlichen und kulturellen Codes unterschiedlicher Sphären findet sich auch sehr ausgeprägt im Diskursverlauf in der Interaktion der Kinder untereinander und mit den ModeratorInnen wieder (auch in Bezug darauf, was Letzteren zugänglich gemacht wird und was nicht). Zudem zeigt es sich in dem Wechselspiel zwischen phantastischer, bedürfnisgeleiteter Darstellungsweise bestimmter Themen auf der einen und einer ernsthafteren, vernunftsgeleiteteren Betrachtungsweise anderer Themen auf der anderen Seite. Der Weg zu einem glücklichen und erfüllten Leben wird auch mit Anstrengungen und Druck verbunden, beispielsweise durch schulische, religiöse oder familiäre Pflichten und Konventionen. Wenngleich ein Bemühen erkennbar wird, diese rational zu betrachten, drücken sich in den vereinzelt geäußerten Wünschen nach Entlastung und Alltagserleichterungen Hinweise auf Ambivalenzen und noch ausstehende Aushandlungsprozesse aus. Auffällig ist auch in dieser Gruppe, dass (migrationsbezogene) Differenz kaum thematisiert und noch weniger problematisiert wird. Vielmehr wird hier Differenz als Normalität gefasst und sprachlicher wie auch ethnokultureller Vielfalt mit Selbstverständlichkeit begegnet. Zudem fällt auf, dass bis auf die normative Rahmung der Religionszugehörigkeit kaum Kontextualisierungen von Handeln und Handlungsfähigkeit verhandelt werden. Auch bleibt eine Positionierung in generationalen Strukturen weitgehend aus, was die Aspekte der Eigenverantwortung und der Selbstwirksamkeit noch unterstreicht. 7.2.3

Gruppe Komet (F) – Selbstverwirklichung, Teilhabe und Verantwortung im transnationalen Raum „selbst wenn das hart ist, also wenn es das ist, was du willst, musst du das eben machen“ (Abiola)

Zusammensetzung der Gruppe Die sieben Jungen und zwei Mädchen der Gruppe Komet besuchen die Klassen CE 2 beziehungsweise CM1 (entspricht der 3. bzw. 4. Klasse) einer

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TEIL III: Empirischer Teil

französischen Grundschule (école élémentaire).170 Alle Kinder haben bereits an additiver Sprachförderung teilgenommen oder nehmen zum Zeitpunkt der Diskussion daran teil. Der Sprachförderunterricht, an dem die Kinder teilnehmen beziehungsweise teilgenommen haben, findet im Rahmen des Ganztagsschulbetriebs statt und richtet sich an neu zugewanderte Kinder. Die Kinder kennen sich zum Teil untereinander nicht. Die Diskussionsgruppe wurde durch die Sprachförderlehrkraft zusammengestellt. Zum Bildungs- und beruflichen Hintergrund der Eltern ist nichts bekannt. Die Kinder und ihre Familien stammen aus Algerien, Armenien, Guinea, Kasachstan, Russland, Somalia und dem Tschad. Alle Kinder sind außerhalb Frankreichs geboren worden und leben zum Teil seit weniger als zwei Jahren in Frankreich. Die Kinder sind zwischen sieben und zehn Jahren alt.171 Der Erstkontakt zwischen Kindern und Moderatorin (Forscherin) erfolgt mit Beginn der Gruppendiskussion. Die Kinder nehmen in der Sitzecke in der Schulbibliothek Platz und verhalten sich sehr ruhig. Die Stimmung ist erwartungsvoll. Die Kinder und die Moderatorin lernen sich kennen und tauschen sich über den Ablauf der Gruppendiskussion aus.172 Bevor die Diskussion startet, wird noch über die Fußball-WM gesprochen, die zum Zeitpunkt der Diskussion stattfindet. Diskursorganisation Die Diskussion verläuft insgesamt weniger selbstläufig als in anderen Gruppen. Antworten werden eher zaghaft hervorgebracht, wodurch zum Teil längere Pausen zwischen den Antworten entstehen. Trotz der Pausen hält

170 171

172

Abiola (ABm), Birhane (BIm), Daouda (DAm), Jona (JOm), Maksim (MAm), Selina (SEf), Tanja (TAf), Timur (TIm), Yasser (YAm) Bei Daouda (7 Jahre) und Timur (9 Jahre) äußert die Lehrkraft Zweifel an deren Alter. Aus ihrer Sicht – und dies beobachte sie häufiger im Kontext von Flucht – stimmt das Alter in den Papieren vermutlich nicht mit dem wahren Alter überein. Sie vermutet, dass Daouda einige Jahre älter, Timur dagegen etwas jünger ist als offiziell angegeben. Deutliche Zweifel an Daoudas Alter äußern auch die Kinder. I erklärt unter anderem, dass sie aus Forschungszwecken nach Frankreich gekommen sei und dass sie sich dafür interessiere, was wichtig für die Kinder sei, um die (pädagogische) Arbeit für Kinder verbessern zu können. Zudem erklärt I, was genau in der Diskussion passieren soll. Es soll um die Frage gehen, was den Kindern wichtig ist und es soll ein wenig über die (französische) Sprache gesprochen werden.

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

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sich I mit inhaltlichen Impulsen und immanenten Fragen zurück und damit die Diskursorganisation durch die Gruppe aufrecht. Das Verhalten untereinander ist freundlich. Der Moderatorin gegenüber besteht eine respektvolle Zurückhaltung. Charakteristisch für die Gesprächssituation ist, dass insgesamt sehr leise gesprochen wird, obwohl I die Kinder mehrfach bittet, etwas lauter zu sprechen und sie dabei auf den geschützten Rahmen verweist. Abiola, Jona und Yasser beteiligen sich am meisten an der Diskussion. Daouda, der Nackenschmerzen hat, bleibt trotz seiner Schmerzen im Raum, beteiligt sich jedoch kaum.173 Die Mädchen halten sich nahezu komplett im Hintergrund.174 Die heterogene Gruppenzusammensetzung und die Gruppengröße könnten mit ihrer Zurückhaltung zu tun haben. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass Tanja auch an einer anderen Gruppendiskussion teilnimmt, die nur aus zwei Mädchen besteht und in der sie sich sehr aktiv einbringt. Zudem fällt auf, dass Daouda, Tanja und Selina größere sprachliche Schwierigkeiten im Französischen haben als die anderen Kinder, was ebenso zu ihrer Zurückhaltung beitragen kann. Ein vorheriges Kennenlerntreffen und eine kleinere Gruppengröße wären möglicherweise sinnvoll gewesen. Die Bereitschaft zur Diskussion ist jedoch klar erkennbar, und das Format des gemeinsamen Diskutierens scheint bekannt. Die Diskursorganisation verläuft parallel mit gegenseitiger Bezugnahme und eindeutigen homologen Mustern. Trotz des eher reservierten Gesprächsklimas wird häufiger miteinander gelacht und an mehreren Stellen metaphorisch dicht diskutiert. Inhaltlich ziehen sich Bezüge zum Herkunftskontext durch den Gesamtverlauf der Diskussion.

Auf Nachfrage von I erklären die Kinder, dass der Lehrer über Daoudas Nackenschmerzen Bescheid weiß, aber nichts unternimmt. 174 Da ihre Haltung in Bezug auf die verhandelten Themen in keiner Weise erkennbar wird, sie sich zum Teil auch bewusst aus der Diskussion ausklinken, indem sie etwa ein Buch ansehen, werden sie im Sinne der Dokumentarischen Methode nicht als Teil der rekonstruierten kollektiven Orientierung betrachtet (siehe Kap. 6.3.1). 173

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TEIL III: Empirischer Teil

Diskursbeschreibung Gutes Leben und gute Entwicklung fangen bei den Grundbedürfnissen an Der Einstieg erfolgt auch in dieser Gruppe über das Aufwärmspiel mit der Wolle. Auf den darauffolgenden Eingangsstimulus folgt eine schlagwortartige Aufzählung, die ein einvernehmliches Bild zeichnet: I:

ABm: I: JOm: ABm: MAm: JOm: YAm: MAm: BIm: I: ABm: I: ABm: YAm: BIm: TIm: ABm: I: ABm: BIm: ABm: I: BIm: YAm:

Stellt euch vor, ihr wollt uns erklären, was für Kinder wichtig ist, also, wir interessieren uns für alles, was euch für ein schönes und angenehmes Leben wichtig erscheint. Also, was braucht man, um -, um gut leben zu können; was muss man haben oder sein, um sagen zu können, das ist ein angenehmes Leben und warum? Also, das ist meine große Frage und ich bitte euch, ein bisschen zu erzählen, untereinander zu diskutieren, was -, was euch wichtig erscheint. Genug zu essen zu haben [D’avoir bien à manger] Ok. Sich anzuziehen (, zu leben) [De s’habiller (, de vivre)] Jemanden beziehungsweise etwas sehr lieb haben/geliebt beziehungsweise gemocht werden [Bien aimer/bien aimé]. In die Schule gehen. Tja, in die Schule gehen, Sport treiben. Lernen, studieren, weil man muss Abitur machen. └( ) Danach einen Beruf ausüben. Und dann reich sein. Mhm, ok. Vielleicht, die Eltern sollen für uns Sorge tragen, wenn wir einen (bestimmten) Beruf machen möchten, wenn wir groß sind, unseren Traum und nicht dafür sorgen, wenn wir es nicht mögen/können. Mhm, ok. Frei sein. Die Anderen respektieren. (…) Die Lehrer respektieren, die Erwachsenen. Die Eltern respektieren. (…) Beteiligt sein/zu einer Gemeinschaft gehören/teilhaben. [Être associé]. Mhm, was heißt das [être associé]? Zum Beispiel, es gibt Eltern, die nicht wollen, dass ihre Kinder mit anderen sind und trotzdem hat man/haben wir [on a] das Recht Freunde zu haben. ((meldet sich)) Gut aufwachsen/heranwachsen [Bien grandir]. Gepflegt sein/Versorgt sein [Être soigné]. Mhm ((zu Bim)) Was heißt das für dich, gut aufwachsen/heranwachsen [bien grandir]? ( ) sich gut/gesund/ausreichend ernähren [bien se nourrir]. └ Und Menschen (be)schützen, Tiere (be)schützen [protéger].

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

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JOm: Anderen helfen. YAm: Helfen. (Gruppe Komet, Z. 128-171)

Die erste Proposition „Genug zu essen zu haben“ hebt darauf ab, dass ein gutes Leben nur dann erreicht werden kann, wenn existenzielle Grundbedürfnisse gestillt sind. Die Proposition kann zudem dahingehend gelesen werden, dass es für ein gutes Leben nicht viel mehr braucht als grundlegende Dinge. Denkbar ist, dass der positive Gegenhorizont der Stillung grundlegender Bedürfnisse sowohl als notwendige als auch als hinreichende Bedingung für ein gutes Leben angenommen wird. Jedoch liest sich die nachfolgende Aufzählung wie eine Kette von Ereignissen, die einem erfolgreichen sozialen Aufstieg nachempfunden ist, was für die erste Lesart spricht: Ausgehend von existenziellen Bedürfnissen (Nahrung, Kleidung) über den sozialen Aspekt der Liebe/des Geliebt Werdens hin zu sozialem Aufstieg durch die Möglichkeit des Schulbesuchs und von Freizeitaktivitäten, durch Lernen und Studium einen Beruf zu ergreifen und schließlich Reichtum zu erlangen. Das Abitur wird als Norm markiert, der soziale Aufstieg als positiver Gegenhorizont. Das Ziel einer selbstbestimmten Berufswahl wird in den Kontext generationaler Ordnung gestellt. Eltern werden in der Verantwortung gesehen, die Berufswünsche der Kinder zu unterstützen und nicht Berufe zu diktieren, die nicht den eigenen Fähigkeiten oder Wünschen entsprechen. Abiola ergänzt seine Ausführung zu selbstbestimmten, aber durch Eltern unterstützten Entscheidungsprozessen (hier: Berufswahl) um den Aspekt „Frei sein“. Denkbar ist, dass zwischen den beiden Propositionen eine Verbindung besteht. „Frei sein“ könnte dann gelesen werden im Sinne von Handlungs- und Entscheidungsfreiheiten. Diese Lesart lässt sich auch durch die vorausgehenden Aufzählungen bestärken. Die Vorstellungen von einem guten Leben werden erweitert um den Aspekt der sozialen Beziehungen. Ein gutes Zusammenleben wird auf horizontaler Beziehungsebene durch Teilhabe in der Peer und auf vertikaler Ebene durch ein respektvolles Verhalten gegenüber Erwachsenen (vor allem gegenüber Lehrern und Eltern) bestimmt. Dem Bedürfnis nach Teilhabe wird durch das formulierte Recht auf Freunde Kraft verliehen.175 Eltern sollen dem Wunsch und dem Recht auf Teilhabe in der Peer nachkommen. Elterliches Handeln, das dem entgegensteht, wird kritisiert. Die horizontale 175

An anderer Stelle wird verwiesen auf „das Recht sich zu amüsieren“ (Yasser, Z. 217).

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TEIL III: Empirischer Teil

Beziehungsebene wird damit durch die vertikale Ebene machtvoll gerahmt. Elterliche Handlungen werden bereits zum zweiten Mal in Hinblick auf Einschränkungen der Selbstbestimmung ihrer Kinder kritisch hinterfragt. Der sich anschließende Aspekt „Gut aufwachsen/heranwachsen“ kann als Konklusion gelesen werden. Auf Nachfrage von I wird zusammengeführt, dass ein gutes Leben sich zum einen dadurch auszeichnet, sich gut zu entwickeln (durch Stillung der Grundbedürfnisse, Fürsorge, Bildung, soziale Beziehungen, Handlungsfreiheiten, etc.) und zum anderen dadurch, sich zu einem guten, moralisch handelnden Menschen zu entwickeln (Menschen und Tiere zu achten und zu beschützen, zu helfen etc.). In den Vorstellungen von einem guten Leben wird das wirkmächtige Zusammenspiel von strukturellen Rahmenbedingungen, dem Handeln der Eltern und dem eigenen Handeln deutlich. Der Einstieg über Existenzielles wie Nahrung, Kleidung, Schulbesuch steht in starkem Kontrast zu den anderen Gruppen, in denen zunächst etwa Familie und Freunde sowie Handlungsfreiheiten unter anderem in Form von Freizeitaktivitäten, von Spiel, Spaß und Genuss als bedeutsam für ein gutes Leben/eine gute Kindheit aufgerufen werden. Eine Verbindung zur eigenen Migrations- beziehungsweise Fluchterfahrung als transnationaler Bezugsrahmen – dies zeigen auch weitere Passagen – kann als wahrscheinlich angenommen werden. Akteurschaft im Kontext von gesellschaftlicher Verantwortung, eigener Entwicklung und Peer I bittet die Gruppe, die einzelnen Punkte noch weiter auszuführen beziehungsweise noch zu erklären, warum diese als wichtig erachtet werden (Z. 172-250). In den Ausführungen wird an das formulierte Ziel angeschlossen, sich gut und zu einem guten Menschen zu entwickeln beziehungsweise ein guter Mensch zu sein. Dabei wird der individuelle Beitrag zu einem guten Leben – dem eigenen, aber auch einem guten gesellschaftlichen Zusammenleben – in den Fokus gestellt. Das Handeln im Privaten, im nahweltlichen Umfeld und auf gesellschaftlicher Ebene wird wie folgt normativ gerahmt: YAm: MAm: JOm: I:

Man soll keinen Krieg führen. Man soll keinen Krieg führen, weil das noch mehr Gebiete zerstört und Geld verschwendet. Gute Bürger sein. (…) Mhm, was bedeutet das für dich?

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext JOm: YAm: ??m: YAm: JOm: TIm: YAm: MAm: I: MAm: JOm: ABm: JOm: ABm:

I: MAm: […] YAm:

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Na, also seine Stadt respektieren, seine Nachbarn respektieren, seinen Nachbarn helfen. Und nicht stehlen. Keine Spiele ab 18 spielen. ((die Kinder lachen)) Also wer spielt GTA5? ((Jona, Yasser und Maksim melden sich.)) Ich. Ich habe das gespielt. ( ) hat gespielt, ich bin hingegangen. [( ) jouait, je suis parti.] Man hat das Recht/Es ist normal Angst zu haben [On a le droit d’avoir peur.] Ja, aber so viele Sprachen wie möglich lernen. Warum? Na dann später hilft uns das, um in den anderen Ländern zu arbeiten. Und die Sprache beherrschen, wo du lebst. Also zuhause sollen wir └ Um mit den Anderen zu kommunizieren. - sollen wir nicht Französisch sprechen oder eine andere Sprache (oder so), wir sollen unsere Sprache sprechen, aber wenn man mit den Kumpels ist, kann man die Sprache sprechen, die man will. Mit meinen Eltern sprechen wir unsere Sprache. Mhm Ansonsten werden wir unsere Sprache verlieren.

Ähm, das Recht zu wählen, denn in manchen Ländern wählen sie nicht und als ich ( ) war ( ) ((Nebengespräche)) I: Mhm YAm: Nicht, nicht die Lebensmittel wegwerfen, weil es gibt Menschen, die -, Länder, die haben nicht ( ). I: Mhm BIm: Und man darf Babys nicht wehtun. I: Mhm (.) YAm: └ Und die Mülltrennung. (Gruppe Komet, Z. 175-250)

Es werden in den Propositionen unterschiedliche Missstände als negative Gegenhorizonte gekennzeichnet, bei denen gesellschaftliche und individuelle Ebene ineinandergreifen: Kriege, kein Wahlrecht, Lebensmittelverschwendung, Gewalt gegen (Klein)Kinder, mangelnder Umweltschutz. Die Missstände werden zum Teil vage kontextualisiert (zerstörte Kriegsgebiete, Misswirtschaft, Länder ohne Wahlrecht, hungerleidende Menschen in bestimmten Ländern), wobei unklar bleibt, inwiefern eigene Erfahrungsräume zugrunde liegen. Als positiver Gegenhorizont wird auf individueller Ebene das Bild verantwortungsvoller BürgerInnen skizziert und an die Eigen-

204

TEIL III: Empirischer Teil

verantwortung der Menschen, auch der Kinder, appelliert. Kinder werden damit als handlungsfähige BürgerInnen mitgedacht, die ebenso wie Erwachsene in der Verantwortung sind, die eigene Stadt zu respektieren, sich in der Nachbarschaft zu unterstützen und damit zu einem friedlichen und solidarischen Zusammenleben beizutragen, nicht zu stehlen, Lebensmittel wertzuschätzen, kleine Kinder gut zu behandeln oder durch Mülltrennung die Umwelt zu schützen. Wenngleich Kinder vom Wahlrecht noch nicht Gebrauch machen können, impliziert die Forderung des Wahlrechts den Wunsch auf politische Mitbestimmung, aber auch die Verantwortung der (wahlberechtigten) BürgerInnen, dem Recht auf politische Mitbestimmung nachzukommen. Zusätzlich zu den eher abstrakten Propositionen werden für Kinder zwei weitere Regeln sehr lebensnah formuliert. Im Anschluss an die Regel nicht zu stehlen, wird erstens mit dem Verbot Computerspiele mit einer Altersbeschränkung ab 18 Jahren zu spielen durch Yasser auf eine altersbedingte Norm verwiesen. Konkret wird auf das Spiel GTA 5 angespielt, das, wie sich herausstellt, trotz der Altersnorm von mehreren Jungen bereits gespielt wurde, auch von Yasser selbst. Das Spiel, das kriminelle Handlungen und Gewalt zum Gegenstand hat, schließt argumentativ damit an die kriminelle Handlung des Stehlens – wenn auch in einer virtuellen Welt – an. Wahrscheinlich ist, dass auch Yassers Einwurf „Man hat das Recht/Es ist normal Angst zu haben“ hieran anschließt, etwa da ihn die realitätsnahen Bilder des Spiels verängstigt haben. Nach dieser Lesart bekommt die Wahrung der Altersbeschränkung – die sich zunächst wie eine heteronome Norm liest – noch mehr Gewicht. Zweitens wird auf die Bedeutung von Sprachen abgehoben. Maksims Proposition, „so viele Sprachen wie möglich [zu] lernen“ wirkt an dieser Stelle etwas losgelöst von den anderen Themen, findet jedoch Anschluss in der Gruppe. Sprachen werden als gewinnbringend für einen erweiterten transnationalen Arbeitsmarkt erachtet. Zugleich wird die Bedeutung der Verkehrssprache am (neuen) Lebensmittelpunkt („um mit den Anderen zu kommunizieren“) und die Bedeutung der Herkunftssprache als Teil kultureller Identität („Ansonsten werden wir unsere Sprache verlieren“) betont. Anhand Abiolas Schilderungen zu den sprachlichen Praktiken in Familie und Peer wird die Ambivalenz in Hinblick auf die vorgegebene Kommunikation in der Herkunftssprache in der Familie im Gegensatz zur selbstbestimmten Sprachwahl in der Peer deutlich. Es lässt sich festhalten, dass Sprachkennt-

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

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nisse einen positiven Gegenhorizont darstellen, wenngleich sich anhand dieses kurzen Auszugs die genaue Bedeutung, die den Sprachen zukommt, noch nicht ganz eindeutig rekonstruieren lässt.176 Auf diese Passage folgen die Fragen, was den Kindern im alltäglichen Leben guttut und was sie glücklich macht (Z. 251-291). Genannt werden: „schlafen“, „Fußball spielen“, „seinen Traum realisieren“ (Fußballer zu werden), „gute Noten bekommen“, „wenn die Eltern uns wecken, uns zur Schule bringen und wenn sie uns sagen, dass wir unsere Hausaufgaben machen sollen“. Folgende Aspekte machen die Kinder nach eigener Aussage glücklich: „Freunde haben, beteiligt sein/zu einer Gemeinschaft gehören/teilhaben [être associé]“, „Geschenke bekommen“ (Superhelden, Fußball, Fahrrad, Inlineskates). Ausgehend von der Eingangsproposition, die Stillung existenzieller Bedürfnisse als Grundlage für ein gutes Leben kennzeichnete, werden im alltäglichen Leben im Hier und Jetzt Wohlbefinden und Glück über qualitative Aspekte gerahmt: Erholung und Freizeit, gute Noten, fürsorgliche Eltern, gute soziale Beziehungen, eine gute Zukunft durch Selbstverwirklichung, beschenkt zu werden. Im Rahmen der Übung Sonne werden auf die Frage, in welchen Bereichen Erwachsene sich noch mehr für die Kinder einsetzen sollen, schließlich die verschiedenen Dimensionen von Wohlbefinden miteinander vereint. Einzelne Punkte werden noch einmal bestärkt beziehungsweise weitere Punkte ergänzt. Vier zentrale Themen werden hervorgebracht: - Dass Kinder frei sind: Auf Nachfrage wird erklärend genannt, dass Kinder genügend zu essen zu haben sowie die Möglichkeit auf Teilhabe und sich zu amüsieren. Der Freiheitsbegriff steht demzufolge für die Forderung nach einer Kindheit frei von existenziellen Sorgen und mit grundlegenden Rechten. - Mit der Forderung, dass Menschen mit Behinderung Rechte haben, wird Partei für eine benachteiligte Gruppe ergriffen. - Dass Kinder glücklich sind: Glück wird durch die Gewährung von Kinderrechten sowie einen bestimmten Lebensstandard beschrieben. Auf Nachfrage wird ausgeführt, dass man Kindern Rechte 176

Auf die Frage nach den gesprochenen Sprachen (Z. 386-435) bestätigen die Kinder, dass sie alle mehrere Sprachen beherrschen. Es zeigt sich Uneinigkeit darüber, ob die familiäre Herkunftssprache oder die Verkehrssprache des Aufnahmelandes als die leichtere Sprache betrachtet wird. Die Kinder geben zudem an, neben Herkunfts- und Aufnahmesprache noch weitere Sprachen beziehungsweise Begriffe in anderen Sprachen zu beherrschen (Englisch, Spanisch). Die Herkunftssprachen werden im familiären Umfeld und im Viertel als zum Teil sehr präsent dargestellt.

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TEIL III: Empirischer Teil

-

zusprechen soll, zum Beispiel das Recht auf berufliche Selbstverwirklichung („droit à un projet professionnel à réalisier“). Zudem wird auf materielle Aspekte abgehoben, beispielsweise Kindern Geschenke zu machen und Dinge zu kaufen (zum Beispiel Videospiele, aber nicht unbegrenzt), dass Kinder Haustiere bekommen und ein schönes Zimmer haben. Dass Kinder nicht zu sehr verwöhnt werden: Auf Nachfrage wird erklärt, dass, wenn Eltern den Kindern alle materiellen Wünsche sofort erfüllen, die Kinder es nicht respektieren werden, wenn sie zum ersten Mal nein gesagt oder den Wunsch nicht sofort erfüllt bekommen. Es erfolgt eine Abgrenzung von als verwöhnt empfundenen Kindern, die Entscheidungen ihrer Eltern nicht respektieren. Die Begrenzung durch die Eltern wird als erzieherische Notwendigkeit formuliert.

Mit Eigeninitiative und Anstrengung zum Ziel Auf die Frage, inwieweit die Kinder eine Idee davon haben, wie sie ihre Ziele und Träume erreichen können, dokumentiert sich ein hohes Maß an Selbstwirksamkeitsüberzeugung und Zielgerichtetheit. I:

Und wisst ihr schon, wie ihr eure Ziele erreichen könnt, wenn ihr Träume habt? Ja, nur zu. ABm: Na nicht nur -, na nicht nur vor dem Fernseher bleiben. Selbst wenn JOm: └ Arbeiten. ABm: Wenn man Fußballer werden will, muss man trainieren, man muss nicht immer warten, jede Woche -, zum Beispiel, wir haben jede Woche, haben wir Training, aber so nicht, so wird man kein Fußballer werden, man muss trainieren, selbst, wenn man ganz allein ist, rausgehen, trainieren, um, ähm, um zu, ähm (.) MAm: └ Um sich zu verbessern. ABm: Und so, wenn du mehr trainierst, kannst du noch stärker als die anderen werden, während die anderen nur am -, nur jede Woche trainieren ( ). JOm: Das ist das Gleiche für die Schule, wenn du übst, wenn du bei dir [chez toi] noch mehr arbeitest, na dann wirst du stärker. I: Mhm. Ok. JOm: Man muss stark/gut/tüchtig [fort] sein, um erfolgreich zu sein [pour réussir]. I: Mhm. Ok und man muss daher also viel zuhause arbeiten? ABm: Nicht faul sein. Man muss -, selbst, wenn das hart ist, also wenn es das ist, was du willst, musst du das eben machen. (Gruppe Komet, Z. 364-385)

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

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Es werden nicht nur konkrete und ehrgeizige Ziele anvisiert177, sondern auch die Wege dahin klar umrissen. Leistungsbezogener Erfolg wird als einfache Formel entworfen: Außergewöhnliche Leistung wird durch außergewöhnliche Eigeninitiative und Anstrengung erreicht. Die Devise heißt mehr zu trainieren beziehungsweise zu arbeiten als die Anderen, um noch stärker zu werden, „selbst, wenn man ganz allein ist“ und „selbst, wenn das hart ist“. Erfolg wird damit in erster Linie der Eigenverantwortung zugeschrieben. Dem Bild von aktiven und zielorientierten AkteurInnen, die ihre Ziele durch eigene Anstrengung und sportliche beziehungsweise schulische Leistung erreichen, stehen als negativer Gegenhorizont Faulheit und Passivität (fernsehen, Training nur zu Vereinszeiten) gegenüber. Wenngleich keine Garantie für das Erreichen der Ziele formuliert wird (im Gegensatz zur Glücksformel Klugheit der Gruppe Fenster), wird zumindest als gesichert angenommen, dass mangelndes oder nur standardmäßiges Engagement nicht zum Erfolg führt. Die hohe Selbstwirksamkeitsüberzeugung zeigt sich unter anderem auch darin, dass bis auf Fußballverein und Schule, die den Grundstein legen, keine weiteren (förderlichen oder hinderlichen) Rahmenbedingungen benannt werden, sondern leistungsbezogene Erfolge quasi allein aus der eigenen Kraft heraus zu erreichen geglaubt werden. Es dokumentieren sich eine optimistische Grundhaltung sowie Vertrauen in das Prinzip der Meritokratie und die eigene Handlungsfähigkeit. Nicht auszuschließen ist, dass diese Orientierung unter anderem auch die Überzeugung bzw. Erfahrung impliziert, als Zugewanderte mehr leisten müssen als Kinder ohne zugeschriebenen Migrationshintergrund. Die Parallele, die zwischen Sport und Schule gezogen wird, ist insofern interessant, als sie zeigt, dass trotz individueller Ziele die Strategie zur Erreichung der eigenen Ziele und die zugrundeliegende Orientierung kollektiv geteilt werden. Neuanfang mit Hindernissen – Von der Verletzlichkeit in der Fremde Als es im zweiten Teil der Diskussion um den Sprachförderunterricht geht, wird intensiv über das Erleben der Ankunft in Frankreich diskutiert und dieses in Kontrast zu der zuvor entfalteten optimistischen Grundhaltung 177

Als Vorbilder für den Traum, Profifußballer zu werden, werden große Namen aufgerufen von Fußballern mit (nord)afrikanischen Wurzeln, die es bis in die französische Nationalmannschaft und internationale Top-Clubs geschafft haben. Weitere Berufswünsche, die genannt werden, sind Arzt, Unternehmer, Ingenieur, Feuerwehrmann (Z. 292-340).

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TEIL III: Empirischer Teil

entworfen (Z. 436-723). Mehrere Kinder berichten, dass sie mit Ankunft in Frankreich eine Klasse wiederholen mussten, da sie die französische Sprache nicht beherrschten.178 Die Anfangszeit ist von Unsicherheitsempfinden begleitet, mehrfach wird von Scham gesprochen („Ich habe die erste Klasse [CP] wiederholt, weil ich kein Französisch konnte, danach, ähm, das war hart und ich hab mich geschämt.“, Yasser, Z. 450-454; „es war mir ein bisschen peinlich zu sprechen“, Abiola, Z. 492). Als förderlich wird eine Lehrkraft beschrieben, die im Rahmen des Unterrichts, während die anderen beispielsweise Matheaufgaben lösten, den neuzugewanderten Kindern Arbeitsblätter für Französisch ausgeteilt und sie dann Schritt für Schritt an den Regelunterricht herangeführt hat. Auch, dass eine Cousine, die bereits länger in Frankreich lebte, die gleiche Klasse besuchte und bei den Aufgabenstellungen half, wird rückblickend als hilfreich beschrieben. Zudem berichtet Abiola, dass in seiner Schule in Guinea Französisch gesprochen werden musste, was er als selten bezeichnet und dieses Vorgehen damit begründet, „da es uns eines Tages nützlich sein wird“ (Z. 484-485). Auf die Bitte von I, noch weiter auszuführen, wie die Situation der Ankunft erlebt wurde, werden komplexe Problemlagen aufgezeigt und Gefühle von Angst, Scham und Einsamkeit offenbart. I: TIm: I: ABm:

JOm: ABm: JOm: 178

Mhm. Aber wie war das für euch, dieses Gefühl als ihr hier angekommen seid und ihr die Sprache und die Leute nicht kanntet? Das war doch bestimmt ein bisschen └ Schwierig. Schwierig. Also erklärt mal ein bisschen die Situation, damit ich mir das vorstellen kann, wie das war. Ich -, zuerst ist mein Vater gekommen und dann hat er Arbeit gefunden und hat Geld gespart, damit wir auch kommen und ich habe geglaubt, sobald ich komme, wäre alles cool, alles gut. Aber das war nicht so gut wie gedacht, weil ich Schiss hatte [j’avais le trac], ich konnte nicht sprechen ((lacht)), ich hab in meiner Ecke gehockt, ganz allein; außer wenn es jemanden gab, der ein Rennen mit mir gemacht hat, aber ich habe ihre Rennen gewonnen. Was? Ich hab mich geschämt. └ Welche Rennen?

Daouda jedoch gibt an, drei Klassen übersprungen zu haben, was bei den Anderen für Gelächter und Irritation sorgt und eine Diskussion über Alter und Größe der Kinder hervorbringt. Hintergrund könnte sein, wie auch die Lehrkraft andeutete, dass die Schule Daouda älter schätzt als offiziell in seinen Papieren angegeben.

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

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ABm: JOm: MAm: YAm: DAm:

Wettrennen in der Schule. Ah. Rennen, die du Der Beste der Schule. [meldet sich] Bei mir, bei mir ist es zuerst mein Vater, er war da, jetzt ist er ( ), danach ist mein Vater dahingegangen, aber weil wir kommen sollten/gekommen sind, aber, aber (weil wir dort Leute kannten), danach ist mein Vater gekommen und danach ( ) sind wir dort ( ). YAm: O::h, ich habe nichts verstanden. DAm: Du hast nichts verstanden? YAm: Das hast nur du verstanden ((macht Daouda nach)). Also, ich bin dahingekommen, danach hat mein Vater gesagt, nein, wir gehen dahin, danach hat er gesagt, nein, ich werde dorthin gehen, danach, hat er gesagt, nein, wir werden dorthin gehen, danach sind sie dort geblieben ((die Kinder lachen)). Stimmt das so? ABm: Es gab Polizisten, die dich und deine Schwestern am Flughafen festhalten wollten? DAm: Mhm? ABm: Am Flughafen, als ihr aus dem Flugzeug ausgestiegen seid. DAm: Mhm. I: Und wie war es für dich hier anzukommen? Und ähm, hier zu sein, unter den anderen Kindern, die du nicht kanntest? ((Die Kinder lachen und machen sich ein wenig über Daouda lustig. Es ist nicht möglich zu verstehen, was genau gesagt wird. Daouda erzählt, dass ihn die Polizei am Flughafen kontrolliert hat und er Angst hatte.)) ABm: Mein Onkel war in Frankreich und danach hat man ihn eingesammelt, man hat ihn vertrieben [balayé], man hat ihn wieder zurückgebracht nach Afrika. I: Ach so? ABm: Und danach mein Vater. Mein Onkel war nicht wirklich ohne Papiere. Das waren die Papiere meines Vaters. Und danach ist mein Vater gekommen, danach ist mein Onkel angekommen, der Onkel, der dann abgeschoben wurde, danach sind wir gekommen und jetzt ist gerade mein neuer Onkel angekommen. Er ist seit einer Woche da. Und es bleiben noch viele Leute, die kommen werden. Weil wir sind dort viele. Und meine Großmutter ist nicht mehr dort, sie ist weggegangen. Es gibt nur ( ). Es gab 15, jetzt sind noch 13 dort, weil ich und meine kleine Schwester nicht mehr dort sind.179 (Gruppe Komet, Z. 530-590)

179

Die Lehrkraft hatte ebenfalls erzählt, dass Teile der Familie von Abiola zum Zeitpunkt der Gruppendiskussion noch in Afrika sind.

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TEIL III: Empirischer Teil

Sowohl von Abiola als auch von Daouda wird die Migration nach Frankreich als Teil einer Kettenmigration beschrieben. Die Väter, die zunächst alleine migrieren, holen die Familien in Abhängigkeit der finanziellen Ressourcen schrittweise nach. Die familiäre Migration wird damit zum jahrelangen Projekt. Die Familien werden als broken families (vgl. Kap. 4.1.2) gekennzeichnet. Die Migrationsprozesse sind eingebunden in soziale Netzwerke im Aufnahme- und Herkunftskontext. Die Ankunftsphase wird von Abiola, anders als er es sich zuvor ausgemalt hat („ich habe geglaubt, sobald ich komme, wäre alles cool, alles gut“), als sehr schwierig empfunden. Betont wird vor allem die Hürde mangelnder Sprachkenntnisse und zwar nicht im Unterricht, sondern auf der Ebene der Peer. Den mangelnden sozialen Anschluss in der Anfangszeit schreibt er dabei sich selbst zu. Aus Angst und Scham bleibt er zurückgezogen, erst über den Sport und seine sehr guten sportlichen Leistungen gelingt ihm der Anschluss. Damit wird die integrative Wirkung von Sport und sportlichen Leistungen betont, die dazu beitragen, sprachliche Barrieren zu überwinden. Daoudas Schilderungen zu den Stationen des Vaters und seine eigene Angst bei der Polizeikontrolle am Flughafen deuten ebenso auf einen schwierigen Einstieg hin. Da er noch Schwierigkeiten hat, komplexe Äußerungen in der französischen Sprache zu formulieren, necken die Kinder ihn ein wenig. Abiola springt ihm bei, indem er die Situation von Daouda und seinen Schwestern am Flughafen erklärt und als bedrohlich markiert, auch, da es den Anschein macht, dass die Kinder in der Situation auf sich allein gestellt waren.180 Der Bedrohlichkeit, die mit der Polizeikontrolle verbunden wird, wird durch eine weitere beispielhafte Erzählung Gewicht verliehen, die Abschiebung von Abiolas Onkel. Mit der Angst vor oder dem Erleben von Abschiebung und illegalen Praktiken (falsche Papiere) werden die Kinder unmittelbar mit der Macht der aufnehmenden Migrationsgesellschaft, über Inklusion und Exklusion zu entscheiden, konfrontiert. Zugleich werden die möglichen Zugänge nach Frankreich als Gelegenheitsstrukturen wahrgenommen. Abiola berichtet mit Zuversicht von den vielen Angehörigen, die in nächster Zeit noch erwartet werden. Mit der Formulierung „wir sind dort viele“ unterstreicht er seine transnationalen Familienstrukturen und das Zugehörig180

Auch bei der Kontrolle könnte die Diskrepanz zwischen dem offiziellen Alter im Pass und der Größe des Jungen eine Rolle gespielt und die Situation sich daher als besonders bedrohlich dargestellt haben.

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

211

keitsgefühl, das trotz der eigenen Migration zum Herkunftskontext besteht. Auffällig ist, dass in den Erzählungen nur von den Vätern gesprochen wird. Was mit den Müttern ist und wo sie sich befinden, ist unklar. Als weitere kritische Situation bei der Ankunft stellen sich Machtkämpfe im Viertel heraus. Daouda und Abiola berichten von erfahrenen Bedrohungen und Beleidigungen durch Jungen aus der Nachbarschaft: DAm:

Wenn wir nach draußen gehen, gibt es einen Jungen, er ist groß, er hört nicht auf, er sagt, er wird mich schlagen; ich renne und er ABm: └ Ja, bei mir auch, als ich hier angekommen bin DAm: └ Er ist groß, aber ABm: Sie haben mir gesagt, dass sie mich schlagen werden. DAm: └ Er ist groß, aber ABm: └ Ich hab nichts von dem verstanden, was er gesagt hat. DAm: └ Wenn ich renne, wenn ich renne ABm: └ Er sagt zu mir, der ist behindert. DAm: Wenn ich renne, er ist groß, aber er rennt nicht so schnell und ich renne und er sagt Schimpfwörter zu mir und so, aber ich verstehe nichts. (Gruppe Komet, Z. 662-674)

Die empfundenen Bedrohungen durch andere (größere) Kinder, die den Neuankömmlingen gegenüber ihre Positionierung im Viertel machtvoll demonstrieren, werden potenziert durch das Gefühl von Hilflosigkeit aufgrund mangelnder Verständigungsmöglichkeiten. Der Verzicht auf eine körperliche Auseinandersetzung wird dabei auch durch die unterschiedlichen Körpergrößen begründet, die ungleiche Stärke und vermutlich unterschiedliches Alter symbolisieren. Beide Jungen entfliehen der Situation, indem sie wegrennen. Die Gefühlswelt, die in Bezug auf die Anfangsphase vermittelt wird, ist geprägt von Ernüchterung, vielfältigen konkreten und diffusen Ängsten, Scham und Einsamkeit sowie von komplexen Problemlagen und transnationalen Familienstrukturen. Differenzerfahrungen werden in dieser Zeit insbesondere aufgrund von Selbst- und Fremdzuschreibungen von Fremdheit sowie mangelnde Verständigungsmöglichkeiten ausgemacht. Endlich angekommen – Die Sehnsucht nach dem Vertrauten bleibt Nach dem eher schwierigen Prozess des Ankommens wird die Gegenwart als eine Zeit beschrieben, in der sich die Dinge allmählich normalisiert haben:

212

TEIL III: Empirischer Teil I: YAm: […] JOm:

Und fühlt ihr euch jetzt wohler? Ja!

Als ich gekommen bin, bin ich sofort hierhergekommen181, weil ein Freund meines Vaters hier wohnte. Zuerst haben wir bei ihm gewohnt, danach haben wir eine Wohnung gefunden, danach sind wir dreimal kurz nacheinander umgezogen, in sechs Monaten sind wir dreimal umgezogen, danach, in der zweiten Klasse ungefähr, haben wir dort drüben gewohnt ((zeigt mit dem Finger)) und jetzt wohnen wir in dem großen Turm. I: Mhm. Ok. JOm: Jetzt wohnen wir alleine. I: Und wie kommt es, dass ihr euch jetzt wohler fühlt als am Anfang? MAm: Na weil wir Französisch sprechen und alles. I: Mhm. TIm: Jetzt können wir den anderen sagen ( ) um ihnen zu helfen, na zu arbeiten. I: Mhm, mhm. YAm : Ich möchte gehen. ABm: Also mir fehlt Afrika ein bisschen. I: Was fehlt dir? ABm: Na Freunde, meine Brüder. JOm: Wir fahren in den Ferien immer nach Afrika. ABm: In den Wäldern, wenn wir -, wir haben Vögel mit der Steinschleuder abgeschossen ((lacht)), so ((macht eine Geste, so als ob er mit einer Steinschleuder schießt)) YAm: Das ist nicht nett. DAm: Ja, genau ( ). MAm: Selbst ich hab das gemacht. TIm: Mit einer Pistole. MAm: ( ) Steinschleuder. (Gruppe Komet, Z. 684-723)

Mit zunehmendem Aufenthalt zeigt sich das Wohlbefinden der Kinder deutlich verbessert. Jona nennt beispielhaft für eine wesentliche Verbesserung der strukturellen Rahmenbedingungen seine Wohnsituation. Während die Familie zuvor bei Bekannten untergekommen war und in kurzer Zeit mehrfach umziehen musste, scheint mit der Aussage „Jetzt wohnen wir alleine“ langsam ein Gefühl des Sesshaft Werdens und so etwas wie Normalität eingekehrt. 181

Andere Kinder hatten zuvor angegeben, zunächst in anderen Orten in Frankreich gelebt zu haben.

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

213

Zweitens wird auf das angeeignete kulturelle Kapital verwiesen, das kontextbezogene Wissen und Können. „Na weil wir Französisch sprechen und alles“ betont die Schlüsselrolle von Sprache und anderem kontextabhängigen Wissen für Akteurschaft. Während sich die Kinder in der Anfangsphase rückblickend als hilfebedürftig und vulnerabel positionieren, erfolgt hier eine Selbstpositionierung als soziale und kompetente AkteurInnen. Das beschriebene Unsicherheits- und Ohnmachtsempfinden in der Anfangsphase wurde zu weiten Teilen auf mangelnde Sprachkenntnisse und Fremdheit zurückgeführt. Sprache „und alles“ – im Sinne von Vertrautheit mit den Strukturen und Abläufen – verbessern damit nicht nur die Handlungsfähigkeit in Bezug auf die eigene Teilhabe. Auch wird die Rolle des/der Hilfebedürftigen umgekehrt in eine Rolle des/der Helfenden. Ambivalent äußert sich schließlich Abiola, indem er angibt, dass Afrika ihm fehlt. Die Sehnsucht nach der Heimat, konkret nach Freunden und Brüdern, die noch dort leben und den gemeinsamen Unternehmungen zeigen die fortwährende enge emotionale Verbindung zum Herkunftskontext auf. Angesichts des mehrfach geäußerten Wunschs auf soziale Teilhabe („être associé“) könnte seine Aussage auch darauf hindeuten, dass entsprechende soziale Beziehungen und Unternehmungen sich am neuen Lebensmittelpunkt noch nicht realisiert haben. Zusammenfassende Darstellung des Orientierungsrahmens Bei der Gruppe Komet können folgende Muster themenübergreifend identifiziert werden: Die kollektive Orientierung zeigt sich von den erfahrenen Höhen und Tiefen der Migration und den transnationalen Familienbiographien und strukturen maßgeblich geprägt. Dies zeigt sich erstens in einer starken transnationalen Orientierung und einer weiterhin starken emotionalen Verbundenheit zum Herkunftskontext, zum Teil auch vor dem Hintergrund, dass familiäre Migrationsprojekte noch nicht abgeschlossen sind. Zweitens wird das Konzept von Akteurschaft in der Kindheit in Kontrast zu existenzieller Bedrohung (womöglich im Herkunftskontext) und Vulnerabilität ob der empfundenen Sprach- und Orientierungslosigkeit (mit Ankunft in Frankreich) entfaltet. Wichtige Voraussetzungen für ein gutes Leben werden zunächst ganz grundlegend in der Stillung existenzieller Bedürfnisse und einer guten Entwicklung ausgemacht. Die Kinder positionieren sich – endlich vertraut mit der neuen Heimat – als aktive AkteurInnen mit dem Ziel

214

TEIL III: Empirischer Teil

des sozialen Aufstiegs182 und der Selbstverwirklichung als Ausdruck von Freiheit. Es dokumentiert sich dabei ein hohes Maß an Selbstwirksamkeitsüberzeugung und Zielgerichtetheit. Nicht nur klare leistungsbezogene Ziele werden anvisiert, auch die Wege dahin werden klar umrissen: Außergewöhnlicher Leistung geht außergewöhnliche Eigeninitiative und Anstrengung voraus, lautet das Motto. Erfolg wird in erster Linie der Eigenverantwortung zugeschrieben. Die Verwirklichung der eigenen Ziele ist dabei vom Vertrauen in das meritokratische Prinzip (unter wohlfahrtsstaatlichen Bedingungen) und dem Glauben an die eigene Handlungsfähigkeit getragen, wenngleich nicht auszuschließen ist, dass diese Orientierung auch von der Überzeugung bzw. Erfahrung getragen ist, als Zugewanderte mehr leisten müssen als Kinder ohne zugeschriebenen Migrationshintergrund. Akteurschaft in der Kindheit wird darüber hinaus durch das Prinzip sozialer Verantwortung gekennzeichnet. Über das Bild „gute[r] Bürger[Innen]“ werden Kinder in der Verantwortung gesehen, Gesellschaft – unabhängig der Herkunft – mitzugestalten, zu einem friedlichen und solidarischen Miteinander beizutragen, Umwelt und Tiere zu schützen und vieles mehr. Verbildlicht wird das Konzept sozialer AkteurInnen auch im Rollenwechsel von Hilfebedürftigem zu Helfendem. Daneben wird der Bedeutung sozialer Teilhabe, konkret der Beziehung zu Gleichaltrigen, wiederholt Ausdruck verliehen. Die Bedeutung sozialer Beziehungen erhält vor allem vor dem Hintergrund der mit Ankunft in Frankreich erfahrenen sozialen Isolation Brisanz. Sprache wird in diesem Zusammenhang eine Schlüsselrolle zugeschrieben. Zudem sind Eltern aufgefordert, Kindern das Bedürfnis nach sozialer Teilhabe nicht zu verwehren. Migrationsbezogene Differenzerfahrungen dokumentieren sich in der Kontrastierung von Herkunfts- und Aufnahmekontext sowie retrospektiv in der empfundenen Fremdheit und Verletzlichkeit bei Ankunft in Frankreich. Mit zunehmendem Aufenthalt und Zugehörigkeitsempfinden zeigen sich fortbestehende Differenzerfahrungen eher implizit.

182

Dieser positive Gegenhorizont wird nicht zuletzt durch die Anmerkungen gestärkt, dass gewisse Extras wie Geschenke, Haustiere oder ein schönes Zimmer glücklich machen, die hier als Symbole eines bürgerlichen Lebens gelesen werden können. Die Stillung existenzieller Bedürfnisse bietet dafür die Grundlage beziehungsweise den Ausgangspunkt.

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

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7.3 Typ 2: Selbstpositionierung als irritierte/unsichere AkteurInnen 7.3.1

Gruppe Schneeball (D) – Ungewisse Akteurschaft im Übergang

„am meisten ist das wichtigste, dass man einfach nur Spaß haben soll, Familie ist für die Kindheit auch wichtig und eine gute Zukunft finde ich auch wichtig.“ (Hatice) Zusammensetzung der Gruppe Bei der Gruppe Schneeball handelt es sich um eine reine Mädchengruppe.183 Der einzige Junge, der zusammen mit den Mädchen den Sprachförderunterricht im Rahmen der 4. Klasse besucht, konnte an der Diskussion nicht teilnehmen. Die Gruppenzusammensetzung erfolgte entlang der realen Zusammensetzung zweier kleiner Sprachfördergruppen. Die Mädchen kennen sich gut, sind teilweise sehr eng miteinander befreundet. Der Übergang in die weiterführenden Schulen steht in Kürze bevor. Neben Feli, die eine Gymnasialempfehlung erhielt, bekamen Maya, Hatice, Enisa und Lima eine Realschulempfehlung und Dana und Iana eine Hauptschulempfehlung. Die Mütter sind überwiegend Hausfrauen beziehungsweise als Reinigungskraft tätig. Eine Mutter betreibt gemeinsam mit dem Vater ein Café. Die anderen Väter sind als angelernte Arbeiter und Facharbeiter (Bau, KZF-Mechanik, Heizungsinstallation) tätig. Alle Mädchen sind in Deutschland geboren. Ihre Familien stammen aus der Türkei, Marokko und Serbien. Der Sprachförderunterricht, an dem die Kinder teilnehmen, findet im Rahmen des Ganztagsschulbetriebs statt und wird von einem externen Bildungsverein ausgerichtet. Es findet zunächst ein Treffen mit der Moderatorin im Rahmen des Sprachförderunterrichts statt. Schon bei diesem Treffen zeigen sich die Mädchen sehr offen und an der Teilnahme interessiert. Am Tag der Gruppendiskussion betreten die Kinder den Raum – ein regulärer Klassenraum, der von I umfunktioniert wurde – und nehmen sofort neugierig die Kamera und das Aufnahmegerät in Beschlag. Die Stimmung ist erwartungsvoll und heiter.

183

Dana (DAf), Enisa (ENf), Feli (FEf), Hatice (HAf), Iana (IAf), Lima (LMf), Maya (MAf)

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TEIL III: Empirischer Teil

Diskursorganisation Die Gruppendiskussion zeugt von Anfang an von einer hohen Selbstläufigkeit. Der Aufforderung zur eigenständigen Diskursorganisation wird voll entsprochen. Insgesamt kann sich die Moderatorin sehr zurückhalten, nur wenige inhaltliche Impulse beziehungsweise immanente Nachfragen sind notwendig. Jedoch greift I aufgrund aufkommender Mobbingtendenzen in der Gruppe wiederholt in die Verteilung der Redebeiträge ein. Hatice, Lima und Iana, die eng befreundet sind, dominieren die Diskussion. Enisa nimmt darüber hinaus aufgrund ihrer dominanten Art eine Sonderstellung ein. Feli und Dana halten sich eher im Hintergrund und kommen fast ausschließlich mit I’s Hilfe zu Wort. Auch Maya möchte sich häufig einbringen, wird jedoch von den die Diskussion dominierenden Mädchen immer wieder verbal und nonverbal angegriffen. Die Gesprächssituation und die Gruppenkonstellation sorgen für ein sehr offenes Gesprächsklima sowie viele Kongruenzen. Es wird viel gelacht und herumgealbert. Die überwiegend heitere Stimmung droht durch verbale Ausschreitungen beziehungsweise gezielte diskreditierende Angriffe aber mehrfach zu kippen. Charakteristisch für den Diskursverlauf sind darüber hinaus die vielen Ablenkungen, gegenseitigen Unterbrechungen und die hohe Lautstärke. Auch die nonverbale Interaktion fällt in dieser Gruppe sehr ins Auge. Sie wird vor allem zur Demonstration freundschaftlicher Verbundenheit respektive Abneigung und Ausgrenzung eingesetzt und unterstreicht den Orientierungsgehalt. Trotz der nach außen Unruhe und Chaos ausstrahlenden Situation gelingt eine sehr angeregte Diskussion nach eigener Diskurslogik. Zur Moderatorin besteht eine geringe Distanz. Sie wird von der Gruppe mit einbezogen, beispielsweise um Insiderwissen mit ihr zu teilen. Teilweise benehmen sich die Kinder wiederum, als ob sie nicht im Raum wäre. So erfolgen verbale Angriffe innerhalb der Gruppe in ihrer Gegenwart ebenso wie in der Gegenwart der anfangs anwesenden Lehrkraft.184 Mitunter kommt der Verdacht auf, dass deren Anwesenheit und die Anwesenheit der Kamera die intragruppale Dynamik sogar befördert. Dies zeigt sich auch daran, dass der Kamera stärkere Präsenz als in anderen Gruppen zukommt. 184

Die junge Lehrkraft des externen Bildungsvereins, die ruhig im Hintergrund Platz genommen hat, scheint die Dynamik der Diskussion nicht zu beeinflussen. Als sie nach einiger Zeit den Raum verlässt, sind keine Veränderungen im Verhalten der Kinder bemerkbar.

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

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Mit Betreten des Raumes werden die Haare gerichtet, die Kamera wird direkt angesprochen und ‚angespielt‘. Während der Diskussion ist die Kamera Teil des Publikums, wenn auch weniger präsent. Nach der Diskussion gehen die Kinder wieder offensiv auf die Kamera zu, um vor und hinter der Kamera zu agieren. Die Mädchen offenbaren angesichts ihrer hohen Redebereitschaft gute kommunikative und reflexive Fähigkeiten. Die Antworten nehmen direkt oder indirekt aufeinander Bezug. Jedoch ist die Kommunikation untereinander, auch unter Freundinnen, häufig wenig respektvoll und in hartem Ton (zum Beispiel scherzhaft „Du Opfer!“, abwertend „Nachmacher“). Insgesamt sind Sprache und nonverbale Kommunikation durch extreme Gefühlsäußerungen geprägt. Diese kommunizierte Intensität der Gefühle spiegelt sich auch im Orientierungsgehalt wider. Die Diskursorganisation verläuft überwiegend parallel. Es zeigt sich, dass die Art und Weise, wie an Propositionen angeschlossen wird, weniger von dem hervorgebrachten Orientierungsgehalt als von der Person abhängt, die die Proposition äußert. Die Themen Familie, Freunde, Religion, Spaß und Zukunft treffen auf einen sehr starken Konsens und werden metaphorisch dicht diskutiert. Dies ist jedoch möglicherweise zum Teil auch auf die Selektion der immanenten Nachfragen von I zurückzuführen. Diskursbeschreibung Nachdem die Mädchen zunächst ein wenig mit der aufgestellten Kamera und dem Aufnahmegerät herumgealbert haben, nimmt I eine offizielle Begrüßung vor und erklärt Verlauf, Organisation und Gesprächsregeln der Gruppendiskussion. Nach der Klärung offener Fragen folgen auch hier das Anfertigen der Namensschilder185 und das Aufwärmspiel. Bereits beim Einnehmen der Plätze wie auch beim Spiel kommen erste Spannungen auf. Als Hatice im Spiel auf die Frage hin, was sie richtig mag und wofür sie sterben würde, zu ausufernd antwortet, reagieren mehrere Mädchen genervt, woraufhin Hatice das Wollknäul beleidigt zu Iana wirft und die vergleichsweise triviale Frage nach Ianas Alter stellt. Diese zeigt sich durch Hatices Verhalten ebenfalls beleidigt, wirft das Knäul nach ihrer Antwort aggressiv zu Maya und fordert sie rabiat auf, die Anzahl ihrer Freunde zu nennen. Als Maya 185

Das Anfertigen der Namensschilder nimmt aufgrund der von den Mädchen gewünschten künstlerischen Gestaltung verhältnismäßig viel Raum ein.

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TEIL III: Empirischer Teil

nicht direkt antwortet, wird sie von mehreren Mädchen gedrängt und ihr wird unterstellt, dass sie maximal eine Freundin habe. Die Frage deutet an, dass die Anzahl der Freunde ein Kriterium für Anerkennung ist. Zudem wird deutlich, – dies zeigte sich auch beim Einnehmen der Plätze - dass Maya zum Teil eine Außenseiterstellung innehat. Kindliche Akteurschaft als Möglichkeitsraum für Spiel, Spaß und Genuss Der Erzählstimulus wird mit folgendem Wortlaut frei vorgetragen: I:

Jetzt haben wir ja schon so ein bisschen was über euch erfahren. Ihr habt ja auch so ein bisschen gesagt, was euch wichtig, was ihr gut findet, Freunde und so weiter. Und wenn ihr euch jetzt also vorstellt, wir sind hier auf der Kinderkonferenz äh und ihr wollt den Erwachsenen mal erklären was-, was ist euch jetzt wichtig, also alles was euch so einfällt was euch wichtig ist, erklärt das mal einfach, was-, was euch gut tut und so weiter und wie gesagt ihr könnt (.) euch selber organisieren, also ich muss euch nicht immer dran nehmen, aber wenn es zu durcheinander ist, können wir nochmal gucken. (Gruppe Schneeball, Z. 1-10)

Der Erzählstimulus weicht unter anderem dahingehend vom Original ab, dass der Begriff ‚gutes Leben‘ nicht genannt wird. Durch die Teilfragen und das Beispiel „Freunde“ wird implizit stärker auf die Kindheitsphase und das Hier und Jetzt rekurriert. Jedoch wurde kurz zuvor über das Thema der Konferenz bereits Bezug auf den Begriff ‚gutes Leben‘ genommen, so dass nicht davon auszugehen ist, dass hierdurch eine erhebliche inhaltliche Verschiebung eintritt. Zudem finden auch hier die Generationsdifferenz und die Zuschreibung der unterschiedlichen Positionen Betonung. Ähnlich wie in der Gruppe Fenster erfolgt zunächst eine schlagwortartige Aufzählung von Dingen, die als wichtig erachtet werden. Während in der Gruppe Fenster auf abstrakte Weise auf Wünsche vor allem materieller Art abgehoben wird, erfolgt hier eine Aneinanderreihung unterschiedlichster Dinge, die eng an die konkrete Lebenswelt der Kinder geknüpft zu sein scheinen. Die einzelnen Propositionen werden dabei zum Teil schon in Ansätzen elaboriert, bevor I dann später einige der Themen zum Gegenstand immanenter Nachfragen nimmt. Da es sich um eine sehr lange Passage handelt (Z. 13-269), werden Sequenzen, die weniger Anschluss in der Gruppe hervorrufen beziehungsweise wiederholenden Charakter haben, zum Teil paraphrasiert beziehungsweise auf die neuen Aspekte beschränkt.

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DAf: I: DAf: LMf: HAf: LMf: HAf I: LMf: HAf:

Darf ich anfangen? Ja dann fang mal an. Ähm, mir ist wichtig Schokolade. ((lacht)) ((lacht)) Merkt man. ((zeigt auf Dana)) Mir ist wichtig meine ganze Familie und∟ Können wir eine Runde machen? ((zu Lima)): Lima, unterbrich mich bitte nicht. Ihr könnt so nacheinander einfach. Achso ( ) Mir ist meine Familie wichtig und meine Freunde. Fertig. Und und auch, natürlich Schokolade ((lacht)). LMf: ((zeigt auf Hatice)) Nicht vergessen, Schokolade ((lacht)). HAf: ∟ und Zukunft IAf: Ähm, mir ist wichtig meine Zukunft, meine Familie, meine Freunde, Schokolade ((Gelächter)), Bonbons, ähm HAf: ∟ Ja natürlich (.) Pizza ((lacht)) ENf: ((zu HAf)) Hallo? Du darfst die aber unterbrechen, ne? ((wirkt sauer)) IAf: Oh Pizza, Döner und Essen sagen wir mal. Essen. Und ähm meine Zukunft oh und soll ich auch sagen so was mir die deutsche Sprache sagt oder so? I: Das machen wir später. (Gruppe Schneeball, Z. 13-33)

Die einzelnen Sprechakte, die eine stetige Bezugnahme auf Vorangegangenes aufzeigen, werden begleitet von spitzen Bemerkungen, Unterbrechungen und Zurechtweisungen. Charakteristisch für den gesamten Diskursverlauf ist zudem, dass Propositionen gefolgt werden von Kommentierungen durch andere Teilnehmende, die anzeigen, inwieweit Orientierungen geteilt werden. Zudem könnte I’s Hinweis zur Diskursorganisation („Ihr könnt so nacheinander einfach.“) verantwortlich dafür sein, dass es jeweils eine Hauptsprecherin gibt, die dann, nachdem sie signalisiert hat, dass sie fertig ist, selbstläufig durch eine andere Sprecherin abgelöst wird. Die erste Proposition „Schokolade“ irritiert zunächst, da unklar ist, wie die Proposition einzuordnen ist. Möglicherweise werden I und das Setting nicht ernst genommen. Möglich ist aber auch, dass zunächst etwas Unverfängliches geäußert wird oder dass es sich bei Schokolade um ein Genussmittel handelt, dass etwa von den Eltern begrenzt wird und daher besonders reizvoll ist, oder aber der Reiz darin besteht, dass man es sich selbst schon kaufen kann. Da Schokolade und andere Süßigkeiten auch von anderen Mädchen in einem Zug mit weiteren wichtigen Dingen genannt werden, kann die erste Lesart fallengelassen werden. Vielmehr verfestigt sich die

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TEIL III: Empirischer Teil

Deutung, dass Schokolade Genuss symbolisiert und Genuss damit einen positiven Gegenhorizont darstellt. Neben der Nennung Schokolade sind weitere Nennungen von Hatice und Iana „Familie“, „Freunde“, „Zukunft“ sowie weitere Genussmittel wie „Pizza“ oder „Döner“. Iana wechselt dann, indem sie die besondere Bedeutung von Freunden (und Familie) aus der Liste heraushebt und weiter entfaltet, vom Modus der Aufzählung in den Modus der Elaboration und Differenzierung. Auch lässt sich argumentieren, dass von einer Quantifizierung zu einer Priorisierung übergegangen wird. IAf: HAf: LMf: HAf: IAf: […] IAf:

Okay, dann sage ich, ähm warte ich hab was, und wenn mir wenn es mir zum Beispiel schlecht geht, muss ich meine Freunde anrufen und irgendwo hingehen. Also meine -, ich. Ich bin echt die (.) Ich liebe sie ja. ((steht auf und umarmt Iana, schaukelt sie dabei hin und her)) ((zerrt an Ianas Arm)) Ich liebe dich. Ich hab schon, ich hab (.) Wir sind schon verlobt ((Gelächter)). ((umarmt Iana immer noch und deutet mit ihrer Hand auf Ianas Kopf)) Die ist meine aller aller erste Freundin und ich mag sie echt und ich wohne sogar neben ihr. ∟ Okay. Okay. Ich muss reden! ((deutet auf die Kamera))

Und ähm und bin ich ( ) Und äh ja, mir ist ((ballt theatralisch eine Faust)) sehr wichtig, sehr sehr wichtig, sehr wichtig meine Familie, meine Freunde und -. Haf: ((zeigt auf sich)) Ich, ich. Welche Freunde am besten? IAf: Soll ich das jetzt sagen? HAf: Ja. IAf: Okay. ((zählt an ihren Fingern ab)) Hatice, S., A., Lima, HAf: ∟ Wuhuu, das bin ich ne?! LMf: ∟ Das bin ich! ((Haut auf den Tisch und steckt danach beide Arme in die Luft)) IAf: Okay ja. Das ist alles. LMf: Enisa? ((zupft an Enisas Jacke)) IAf: Ja, okay sehen wir sie mal ((klopft ihr auf die Schultern, lacht)). Und, und ich mag Fernseher gucken. ((Gelächter)) LMf ((zeigt auf IAf)) Du Opfer! ((lacht)) (Gruppe Schneeball, Z. 34-70)

Freunde und Familie werden als besonders bedeutsam benannt. Beispielhaft wird erklärt, dass Freunde einem helfen, wenn es einem schlecht geht. Hatice, Iana und Lima demonstrieren verbal und nonverbal ihre enge Freundschaft und Verbundenheit. Es wird von Liebe und scherzhaft von Verlo-

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bung gesprochen. Das offene Bekenntnis und die Zurschaustellung von Zugehörigkeit demonstrieren Anerkennung und zeigen, dass es eine Rolle spielt, wer sich als dazugehörig betrachten darf und wer nicht. Freundschaftsbezogene Zugehörigkeit und Anerkennung werden als positive Gegenhorizonte markiert. Qualität von Freundschaften wird durch gegenseitiges Vertrauen und füreinander da sein, intensive Zuneigung sowie Konstanz und (räumliche) Nähe gekennzeichnet. Mit dem Themenwechsel „Fernseher gucken“ wird wieder stärker auf den Modus der Aufzählung zurückgegangen. Die Aspekte Freunde und Familie bleiben aber weiterhin fester Bestand der folgenden Aufzählungen, was auf einen kollektiven Orientierungsgehalt hindeutet, so dass I diese später zum Gegenstand impliziter Nachfragen nimmt. Von Enisa werden „eine gute Kindheit“ und „PC“ als wichtig beschrieben (Z. 73-80). Während der Aspekt gute Kindheit186 von der Gruppe nicht weiter aufgegriffen wird, spricht sich Hatice im Namen aller Kinder für die Bedeutung von PCs aus: „Ist doch allen Kindern [wichtig, KK] heutzutage, die Kinder, oder?“. Die Bedeutung neuer Medien („Fernseher gucken“, „PC“) wird von Lima (Z. 81-98) erweitert um den Aspekt „Handy“ (Lima „Und ich kann nicht ohne Handy leben“, Enisa „Kann ich auch nicht“), der in der Gruppe validiert wird. Zudem wird von Lima ein Punkt angebracht, der in der Gruppe besondere Aufmerksamkeit und Zustimmung hervorruft: „Und mir ist wichtig, dass ich bete“. Während bisher Dinge und Beziehungen in ihrer Bedeutsamkeit hervorgehoben wurden, rückt mit dem Beten das eigene Handeln in den Fokus. Neben dem religiösen Bekenntnis zeigt sich, dass das Wohlbefinden demnach auch durch das eigene (religiöse) Handeln bestimmt wird. Mit Hatice („Das stimmt“) und Enisa („Tu ich auch“) schließen sich zwei der Teilnehmerinnen direkt an. Im weiteren Verlauf werden religiöse Zugehörigkeit und Praktiken mehrfach auf sehr emotionale Weise verhandelt. 186

Mit dem Begriff und der Kontrastierung von „gute[r] Kindheit“ nimmt Enisa anders als ihre Vorrednerinnen Kinder und Kindheiten von der Metaebene aus in den Blick. Zudem problematisiert sie ungleiche Kindheiten vor dem Hintergrund von sozialer Ungleichheit. Ungleichheit wird von ihr dabei nicht prinzipiell in Frage gestellt, sondern für Kinder, die schutzlos und krank „in der Straße leben“ gefordert, dass sie – wenn auch weiterhin in der Straße lebend – dennoch eine gute Kindheit erleben können. Damit verbunden ist die Annahme, dass sich selbst unter widrigen Umständen eine gute Kindheit realisieren lässt, sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind, die sie jedoch nicht näher benennt. I nimmt auch diesen Aspekt später zum Anlass einer impliziten Nachfrage.

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TEIL III: Empirischer Teil

So scheint es beispielsweise Hatice ein sehr wichtiges Anliegen zu sein, nach Limas Proposition ihre vorherige Auflistung um den Aspekt der Religionszugehörigkeit zu erweitern und sich damit explizit zu positionieren. HAf:

Ähm ich wollte noch was sagen für mich ist auch noch wichtig, ähm wie gesagt, Koran ist für mich wichtig also unser Koran (.) so wie LMf: ∟ Wie Bibel HAf: ∟So wie Bibel oder so. Unser Koran und ähm unser unsere alle Propheten. (Gruppe Schneeball, Z. 114-119)

Hatice beruft sich mit der Betonung der Bedeutsamkeit des Korans („unser Koran“) und der Propheten („unsere alle Propheten“) auf einen konjunktiven Erfahrungsraum. Mit der Gleichstellung von Koran und Bibel, was als Übersetzungsleistung gedeutet werden kann, wird auf das Gemeinsame zwischen der Moderatorin und der Gruppe abgehoben, das kommunikative Wissen über die Bedeutung religiöser Schriften. Diese Bezugnahme deutet darauf hin, dass I als Christin positioniert wird, der der Islam fremd ist. Die vorangegangenen Propositionen werden durch Feli zusammengeführt. Trotz der für Außenstehende eigenwilligen Reihenfolge lässt sich anhand der Bezugnahmen der anderen Teilnehmerinnen die herausragende Bedeutung von Familie und Freunden bestätigen. FEf:

Okay. Für mich ist Spaß wichtig. Dann äh Süßigkeiten, Computer, ((…)) Koran, meine Propheten und so weiter, ähm dann, dann dann (.) Tiere, auf jeden Fall Katzen und Babyhunde. Mehrere: ∟ O::::h. LMf: Hund Hund so Welpen HAf: Oh Welpen, grandiös ((theatralische Geste, Fingerspitzen zum Mund und Kuss)) grandiös IAf: Hunde und Katzen sind mein Leben ((legt ihre Hände auf die Brust)) FEf: Und ich hatte zwei Vögels, Wellensittiche- und dann ist für mich Schmuck, Schmuck sehr wichtig. MAf: ∟ Ich hatte auch zwei Vögel. HAf: Hallo, du hast nicht mal deine Familie gesagt ((deutet auf Feli und schlägt auf den Tisch)) FEf: Oh und meine Familie IAf: Familie ist doch am Ersten! […] FEf: Und meine Freunde natürlich (Gruppe Schneeball, Z. 157-176)

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

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Erweitert wird die Liste durch Feli um die Themen „Spaß“, „Tiere“ und Aussehen („Schmuck“). Validiert wird die Bedeutung von Genussmitteln, neuen Medien, die religiöse Zugehörigkeit sowie die besondere Stellung von Familie und Freunden. Angesichts der zunächst fehlenden Erwähnung von Familie wird eine Priorisierung hier von außen vorgenommen: „Familie ist doch am Ersten!“ Die nachrangige Betrachtung der anderen Aspekte wird kollektiv geteilt. Zusammengefasst lässt sich aus der individuellen und doch gemeinschaftlichen Beantwortung des Eingangsstimulus folgender positiver Gegenhorizont ableiten: Akteurschaft in der Kindheit wird konzeptualisiert über die Freiheit, die eigenen Vorlieben, hier Spiel, Spaß und Genuss im Hier und Jetzt, intensiv ausleben zu können. Die Selbstpositionierung als AkteurInnen erfolgt über eher freizeitbezogene Interessen außerhalb von Schule. Familie, Freunde und Religionszugehörigkeit stellen besondere Bezugspunkte dar, die mit den Vorstellungen von kindlicher Akteurschaft auf spezifische Weise zusammenwirken. Dieses Zusammenwirken erweist sich zum Zeitpunkt der Gruppendiskussion als besonders verletzlich, denn herannahende Übergänge sind – wie sich im Folgenden zeigt – mit zum Teil großer Ungewissheit und Unsicherheit verbunden. Beständigkeit und Fragilität von Freundschaften Die Konzeptualisierung von kindlicher Akteurschaft als Möglichkeitsraum für Spiel, Spaß und Genuss steht in engem Verhältnis zu Peer-Beziehungen. Auf eine immanente Nachfrage von I hin wird das hohe Gut der Freundschaft elaboriert und vor dem Hintergrund von Beständigkeit und Fragilität verhandelt (vollständige Passage Z. 403-946). I:

Und wie schautsn aus? Ihr habt auch alle gesagt, dass euch eure Freunde so wichtig sind. FEf: Wei:::l, also mit den hat ich fast alles unternommen. (Ballspieln) und so weiter. […] Ja. Alles unternommen u:::::nd ähm:::::::::. Wie soll ich sagen? Mit denen, mit denen machts einfach nur Spaß. Ohne Freunde -. (.) ENf: ⌊fühlt man sich einsam. I: °geht aber schwer wieder ab° ((zu Enisa und Lima, die sich die Hände mit Edding bemalen)) FEf: ⌊Ja! Fühlt man sich einsam. So wie Enisa gesagt hat. Ist man ganz allei:::n. Hat man kein Spa:::ß. Und für mich ist Spaß wichtig. Und so weiter. Lima du kannst jetzt. (Gruppe Schneeball, Z. 403-442)

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TEIL III: Empirischer Teil

Der enge Zusammenhang von Freundschaften und Spaß wird als positiver Gegenhorizont und wichtige Formel für kindliches Wohlbefinden gekennzeichnet. Der negative Gegenhorizont „ohne Freunde“ wird mit Einsamkeit und kein Spaß verbunden. Von der Dichotomisierung Freunde = Spaß vs. ohne Freunde = kein Spaß wird erneut auf die Qualitätskriterien von Freundschaften abgehoben und dabei die Metapher der „Familie“ herangeholt. HAf: LMf: HAf: I: HAf: I: HAf: IAf: HAf: LMf: ((…)) HAf:

Okay. Äh wie ich schon sagte. Also meine Freunde sind mir sehr wichtig. Die sind so wie eine Familie für mich. Und das ist ⌊Schwester ((zeigt dabei ein V-Zeichen in Richtung Hatice, was von Hatice erwidert wird)) Und ähm. Am meisten ist sie mir sehr wichtig. ((streichelt den Kopf von Iana)) Weil ich mag sie echt richtig sehr. ⌊Aber was magst du denn? Was, was ist denn wichtig? Also ähm::. Die sind so wie Schwester! So, so Geschwister. Weißt du? ⌊Mhm. Mhm. ((ja, nickt)) So. Und ähm Geschwister liebt man ja so so. Und ich, ich auch. Und ähm keine Ahnung wir sind lustig, wir sind manchmal bisschen aus dem Wind. ⌊Ballaballa. ((grinst)) Ballaballa. Wir sind alle gleich. Wir sind alle gleich im Kopf.

(.) es macht mir richtig Spaß. Und ich werd bald bei ne andre Schule gehen und ich werd sie ((IAf)) und meine andere Freundin nicht mehr sehen. Wir werden nicht mehr gleich sein, weil das schon sicher. […] Und ich werd die richtig vermissen und das wird dann nicht mehr so viel Spaß machen. […] Und ich möchte auch keine neuen Freunde mehr, wenn ich bei einer anderen Sch-, Schule bin. Mir ist richtig wichtig. Und immer, wenn die-, zum Beisp-, ich mein jeder hat ja mal Streit mit Freunde, näh? Und wenn wir mal so Streit haben, dann (.) seh ich das schon an den Augen. ((schaut Lima in die Augen)) (Gruppe Schneeball, Z. 552-655)

Die für die Freunde empfundene Verbundenheit und Liebe wird als vergleichbar mit den Gefühlen gegenüber der Familie beschrieben. Freundschaften unterliegen dabei einer Rangordnung, wobei bestimmte Freundschaften durch die Metapher „Schwester“ als besonders eng und exklusiv gekennzeichnet werden. Die Freundschaftsbekundungen werden erneut performativ begleitet von einer internen Zugehörigkeitssymbolik (hier: V-

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

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Zeichen, körperliche Nähe). Freundschaft wird vor dem Hintergrund des positiven Gegenhorizonts Spaß darüber gekennzeichnet, auf einer Wellenlänge zu sein („Wir sind alle gleich im Kopf.“). So beschreiben Hatice und Iana sich und ihre Freundinnen beispielhaft als „bisschen aus dem Wind“ und „ballaballa“. Die engen freundschaftlichen Bindungen und Beziehungen werden durch den herannahenden Wechsel auf unterschiedliche Schulen als bedroht angenommen.187 Die befürchteten Folgen („nicht mehr sehen“, „nicht mehr gleich sein“) deuten darauf hin, dass die weiterhin nachbarschaftliche Wohnlage dem scheinbar nicht genügend entgegensetzen kann. Es zeigt sich, dass Freundschaft eng an den schulischen Kontext geknüpft ist und Schule dafür einen wichtigen Raum darstellt. Dem Spielerischen und Leichten von Kindheit steht ein Wandel bevor, der mit Ungewissheit verbunden ist. Die von äußeren Faktoren herbeigeführte Veränderung wird eher pessimistisch betrachtet, der nahenden Zukunft mit Verunsicherung und Traurigkeit entgegengeblickt. Es zeichnet sich eine passive Hinnahme ab, so als fühlten sich die Mädchen dem Schicksal der Trennung ausgeliefert ohne den Glauben daran, selbst irgendeinen Einfluss auf den Fortbestand der Freundschaften nehmen zu können. Hieraus lässt sich ein Hinweis auf mangelnde Selbstwirksamkeit herauslesen. Dem positiven Gegenhorizont von Beständigkeit von Freundschaften stehen Fragilität und Endlichkeit gegenüber. Dass Freundschaften als Familienbeziehungen gesehen werden, macht dieses Spannungsfeld noch stärker. Die Trennung über die schulische Selektion wird nicht in Frage gestellt. Der Übergang von der Grundschule auf die weiterführenden Schulen stellt damit nicht nur eine Statuspassage hinsichtlich schulischer Anforderungen dar, auch Freundschaften werden sich in dieser bedeutsamen Übergangs- und Entwicklungsphase mitunter neu sortieren müssen. In dem blinden Verstehen im Falle eines Streits („seh ich das schon an den Augen“), das von Hatice exemplarisch angeführt wird, dokumentiert sich zum einen die Exklusivität der Freundschaft, zum anderen die Zeit und Mühe, die dem Aufbau einer solchen Freundschaft zugrunde liegt. Der Verlust guter Freundinnen geht demzufolge nicht nur mit dem Verlust ge-

187

Diese Befürchtung äußert zuvor auch schon Lima: „Und ich vermisse meine Freunde, wenn sie auf der andere Schule gehen. Und ich kann einfach nicht ohne sie.“ (Z. 521522).

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TEIL III: Empirischer Teil

schätzter Spielgefährtinnen, sondern vor allem auch mit dem Verlust vertrauter Bezugspersonen einher.188 Der Tragweite der Befürchtungen wird durch Exemplifizierungen bereits erfahrenen Trennungsschmerzes Gewicht verliehen. ENf:

Ja und ähm::: wo::: ich und meine Freundin noch auf der Sch-, also wo meine Freundin noch hier auf der Schule war, meine allerbeste Freundin LMf: Wer? ENf: M. [...] Ja und, und das war auch voll sch-, äh voll scheiße. Also die (Hatice?) hat auch voll geweint und so wegen ihrer Freundin und so. Weil sie halt nicht mehr sehen konnte:::. Ja und so find ich auch eigentlich ne richtige Freundin die (.) manchmal weint die, weil die sich so richtig so gernhaben und so. Also nicht so mit Beziehung, sondern so freundschaftlich so. (Gruppe Schneeball, Z. 709-756)

Verdeutlicht wird nicht nur der Schmerz, der durch Trennungen entsteht.189 Zugleich dokumentiert sich das Weinen umeinander als anerkannter Freundschaftsbeleg, als Beweis für echte Gefühle und Zuneigung.190 Interessant an diesem Zitat ist, dass Enisa auch nach dem Schulwechsel M. als allerbeste Freundin beschreibt. Zusammenfassen lässt sich, dass die Peergroup und dabei vor allem gute und aufrichtige Freundschaften einen wichtigen Bezugspunkt und zentralen positiven Gegenhorizont der Gruppe Schneeball darstellen. Gute Freundschaften erweisen sich als ein wertvolles Gut, da sie sich über einen längeren 188

189

190

Vertrautheit und Vertrauen – dies wird mehrfach validiert – stellen zentrale Komponenten von Freundschaft dar, die sich erst über die Zeit herausbilden und gute Freundschaften daher so besonders und exklusiv machen. Zum Beispiel könne man mit der besten Freundin „über die Gefühle sprechen oder Geheimnisse sagen ((...)) zum Beispiel die Streits in der Familie“ (Enisa, Z. 689-691, siehe auch Iana, Z. 929-945). Auch Maya berichtet von Trennungsschmerz. Ihre beste Freundin sei vor einigen Jahren in eine andere Stadt gezogen. Nur selten sehen sie sich noch: „Einmal als sie hier war und dann wieder weggegangen ist, hab ich sehr geweint, weil ich dachte die kommt dann nie mehr wieder. Sie hatte dann auch voll geweint ((…)) Und ich will einfach, dass sie wieder, dass sie wieder hier bleibt in T-Stadt.“ (Z. 915-922). Hatice erzählt von den vergossenen Tränen, als sie erfährt, dass sie und ihre Freundinnen auf getrennte Schulen gehen werden und resümiert: „Und das ist halt wahre Freundschaft, dann weiß ich ganz genau, auch die kann ich vertrauen, die hat wegen mir geweint. Ich, ich hab wegen ihr geweint.“ (Z. 790-792). Durch Dana, die signalisiert, dass sie nicht wegen Hatice weinen würde, werden wiederum Peer-Zugehörigkeiten und Nicht-Zugehörigkeiten markiert.

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Zeitraum entwickeln und bewähren müssen. Sie zeichnen sich durch Beständigkeit aus und können Konflikte überstehen. Vor dem Hintergrund unterschiedlicher Freundschaftsgrade und der Markierung von NichtZugehörigkeiten nimmt die exklusive Bedeutung bester Freundinnen Kontur an. Diese besonderen Freundschaften sind durch Verbundenheit, Ehrlichkeit und gegenseitiges Vertrauen gekennzeichnet, beste Freundinnen werden metaphorisch mit Schwestern gleichgesetzt. Freundschaftsbezogene Zugehörigkeit und Anerkennung wirken sich positiv auf das Wohlbefinden aus. Freundschaft zeichnet sich darüber hinaus auch dadurch aus, dass man durch die gemeinsamen Interessen und Vorlieben Handlungsfreiheiten gemeinsam erschließen und erleben kann. Vor dem Hintergrund der Kindheit als Schonraum, der mit einer gewissen Narrenfreiheit einhergeht, erweist sich die Peergroup als Möglichkeitsraum auch von Normen abweichend zu agieren („verrückte Dinge machen“, Z. 932; „Ballaballa“, Z. 568). Freundschaften aus der Kindheit erleben mit dem Übergang auf die weiterführenden Schulen Veränderungen, die aus Sicht der Gruppe mit Unbehagen betrachtet werden. Der Schmerz über die bevorstehende Trennung ist vor dem Hintergrund dessen zu deuten, was sich über die Bedeutung von Freundschaften dokumentiert. Zugleich ist dieser in Bezug zu setzen mit der passiven Haltung, die sich in diesem Zusammenhang andeutet und die Frage aufwirft, wie Freundschaft unter Bedingungen von (schulischer) Trennung aufrecht zu erhalten ist. Das Kopftuch als verkörperte Endlichkeit des Schonraums Kindheit Vorstellungen von Akteurschaft zeigen sich auch vor dem Hintergrund von Religionszugehörigkeit im Umbruch befindlich und mit Ungewissheit behaftet. Als Maya im Rahmen der Beantwortung des Eingangsstimulus selbstkritisch die Bedeutsamkeit und Herausforderung des regelmäßigen Betens hervorhebt, löst sie eine kontroverse Diskussion aus, die das Spielerische und Leichte der Kindheit in Kontrast zu Vorstellungen späterer Lebensphasen bringt.191 191

Die Diskussion nimmt, als Maya an der Reihe ist, eine neue Dynamik auf, die konkret an ihre Person gebunden zu sein scheint (Z. 174-230). Noch bevor sie sich überhaupt zum Eingangsstimulus äußern kann, wird ihr Missbilligung entgegengebracht: „Und jetzt spüre ich schon, dass für Maya nichts wichtig ist“ (Lima); „Maya ist nur seine Schönheit wichtig“ (Hatice); „Äh die hat nicht mal Style, Alter.“ (Enisa). Maya äußert sich nach au-

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TEIL III: Empirischer Teil MAf:

Und ich bete jetzt ja und ich hoffe ich mache weiter so, dass ich das nicht aufhöre. ((Die Mädchen sprechen durcheinander und machen Maya Vorwürfe)) IAf: Ja, und Kopftuch an und dann wieder aus ((genervt)) LMf: Aber du machst immer Kopftuch und dann wieder aus! MAf: Ja aber, ich bete jetzt und Kopftuch ziehe ich erst sechste siebte an. IAf: ((vorwurfsvoll zu Maya)) ( ) Oh es wird Zeit zu beten und dann auf einmal doch nicht mehr oder was? HAf: ((zu I)) Guck mal, sie hat immer-, immer Kopftuch gemachtMAf: Hä? In der vierten Klasse habe ich nicht gebetet IAf: (Wo du gesagt hast,) oh es ist Zeit, es ist Zeit wieder Kopftuch zu tragen ENf: Hallo::::! Wollt ihr mich verarschen? Hört jetzt au:::f! HAf: ((zeigt auf Maya)) Sie hat gesagt es ist Zeit Kopftuch zu getragen, ENf: ∟ Hallo:: HAf: Dann hat sie Kopftuch gemacht. Hat sie ein Tag später wieder abgemacht, ENf: ∟ Hallo:: HAf: Hat sie wieder dran gemacht, hat sie wieder abgemacht, hat sie wieder dran gemacht. MAf: Nee. IAf: ∟ Wir kennen dich doch! MAf: Ich habe das fünf Tage lang getragen und dann ausgezogen. HAf: Ja wieso? ( ) LMf: ((zeigt auf Maya)) Maya, ich hab ( ) ENf: Hallo! Es wird alles aufgenommen! HAf: ((zu Maya)) Ist alles haram ja. MAf: Nee. DAf: Uff, hallo ( ) HAf: Na klar! Man darf nicht Kopftuch an aus. DAf: Doch HAf: Man muss das für sein Rest seines Lebens. Wenn man in Moschee geht MAf: Meine Tante hat gesagt ich bin noch zu klein dafür. (Gruppe Schneeball, Z. 194-230) ßen hin unberührt von den Kommentaren und benennt zunächst „das Koran und die Propheten und meine Familie natürlich u::nd PC, Süßigkeiten“ als bedeutsam. Damit schließt sie wie die Teilnehmerinnen vor ihr an bereits genannte Aspekte an, jedoch wird die Wiederholung in ihrem Fall mit dem Vorwurf „Nachmacher“ (Hatice, Lima) quittiert. Es verstärkt sich der Verdacht, dass Maya von einigen Teilnehmerinnen angegriffen wird, unabhängig davon, was sie sagt oder tut, ohne aber dass von außen klar wird warum. Dabei wird Maya fortlaufend mit negativen Eigenschaften belegt und als nicht zugehörig positioniert. I interveniert nicht, zeigt zunächst keine Grenzen auf. Dies kann womöglich auch als Einladung interpretiert werden, die Erniedrigungen noch weiter zu treiben, quasi unter Legitimation von I. Das Publikum (die Gruppe, die Moderatorin, die Kamera) scheint bei der Diskreditierung eine wesentliche Rolle zu spielen.

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Indem Maya angibt, dass Beten ihr ein wichtiges Anliegen ist, das sie durchzuhalten erhofft, antizipiert sie zugleich selbstkritisch ein mögliches Scheitern. Dass sie „jetzt“ bete, deutet darauf hin, dass die nun praktizierte Form des Betens für sie neu ist. Worin sich die Angst vor dem Scheitern begründet, ist nicht eindeutig zu rekonstruieren, jedoch sieht sie durch das regelmäßige Beten ihre Selbstdisziplin und Eigenverantwortung herausgefordert („ich hoffe, ich mache weiter so, dass ich das nicht aufhöre“). Maya äußert sich auf einer persönlichen Ebene wie vor ihr keines der Mädchen. Die selbstkritische Verhandlung der religiösen Praktiken erzeugt eine hitzige und moralisierende Debatte. Maya wird mit einem zurückliegenden Ereignis, dem Scheitern am Tragen des Kopftuchs, konfrontiert, aus dem Iana und Lima auch das sichere Scheitern für das Beten ableiten. Hatice springt ihren Freundinnen bei, indem sie I zu den Geschehnissen erklärt, Maya habe, nachdem sie sich entschieden habe, das Kopftuch zu tragen, dieses „gemacht […] wieder abgemacht […] wieder dran gemacht […] wieder abgemacht […] wieder dran gemacht“. Trotz mehrerer Erklärungsversuche durch Maya, sie verfolge unter dem Schutz ihrer Tante mit dem Plan des regelmäßigen Betens nun einen schrittweisen Einstieg in die religiösen Praktiken192, halten Iana, Lima und Hatice an ihrer Position fest („Wir kennen dich doch!“). Mayas Scheitern wird in den Fokus gerückt, nicht etwa ihr Mut, das Kopftuch als eine der Ersten im Umfeld getragen zu haben. Unklar ist, inwieweit das Beten beziehungsweise das Kopftuch tatsächlich Stein des Anstoßes sind. Unklar bleibt auch, wie die anderen Mädchen – die sich alle zum muslimischen Glauben bekennen, aber (bisher) kein Kopftuch tragen – sich selbst in Bezug auf das Tragen des Kopftuchs positionieren. Interessant ist aber, dass über den ganzen Verlauf hinweg nur der Anlass des Kopftuches diskutiert wird, nicht aber der Sinn und Zweck. Äußerungen wie „man sollte“ oder „man muss“ lassen darüber hinaus auf eher heteronome Haltungen schließen. Zudem wird nicht klar, vor wem man sich wie angesichts eines möglichen Scheiterns zu verantworten hat (in Kontrast dazu Gruppe Fenster). 192

Welches Motiv zum Tragen und schließlich zum Abnehmen des Kopftuchs nach fünf Tagen geführt hat, ist unklar. Jedoch mag in der Erklärung, sie sei noch zu klein dafür, ein Hinweis für eine Überforderung liegen. Zudem wurde mit der Tante eine Person in der erweiterten Familie benannt, die Mayas Position machtvoll legitimiert.

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TEIL III: Empirischer Teil

Enisa durchbricht die Auseinandersetzung, indem sie angibt, die wahren Regeln des Kopftuchtragens zu kennen und mit der nachfolgenden Erklärung Maya indirekt beipflichtet. ((Lautes Durcheinander)) ENf: Hallo::::::::::! ((Alle beruhigen sich wieder)) ENf: Das ist eigentlich so, wenn ihr eure (2) Dings kriegt […] eure Regel […] dann müsst, fängt an eure Dings anzufangen, eure Sünden, […] also eure was ihr was ihr falsch macht- […] Ja und danach sollte man auch anfangen Kopftuch zu tragen […] Und wenn man noch das noch nicht bekommen hat sollte man, dann ist es egal. […] Mischt euch einfach nicht ein. ((Durcheinander)) HAf: Wir machen das in der Pause! Diskutieren wir das in der Pause! Diskutieren wir das! Ruhe! (Gruppe Schneeball, Z. 231-259)

Als Anlass des Kopftuchtragens wird das Eintreten der Regelblutung, das den Übergang vom Mädchen zur Frau und den Beginn der „Sünden“ symbolisiert, beschrieben. Mit der Statuspassage, so die Argumentation, setzt eine stärkere Verantwortlichkeit für das eigene Handeln ein. Vor dieser geschlechtsbezogenen Folie konkretisieren sich Vorstellungen von Akteurschaft im Hier und Jetzt, die demnach vor dem Hintergrund noch mangelnder Eigenverantwortung konstitutiv ist. Nach diesem Verständnis stellt die abrupt zunehmende Übernahme an Verantwortung für das eigene Handeln („anzufangen [...] was ihr falsch macht“) eine Einschränkung bisheriger Vorstellungen von Akteurschaft dar. Mit der Forderung „Mischt euch einfach nicht ein“ nimmt Enisa für den Moment machtvoll eine Konklusion des Streits im Modus einer Synthese vor. Hatice setzt an Enisas Synthese jedoch noch eine rituelle Konklusion an, indem sie angibt, die Diskussion – die für sie noch nicht abgeschlossen scheint – in die Pause zu verlagern. In der hitzigen Diskussion bildet sich nicht nur die Bedeutungsschwere ab, die dem Scheitern zugeschrieben wird („Ist alles haram“, „Man muss das für sein Rest seines Lebens“), sondern auch die Bedeutungsschwere, die mit dem Übergang von den Handlungsfreiheiten im Schonraum Kindheit hin zu zunehmenden religionsgebundenen Handlungserwartungen und wachsender Eigenverantwortung verbunden wird. Mayas Versuch der Adaptation religiöser Normen und ihr Scheitern konfrontiert die Mädchen – so eine mögliche

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

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Lesart193 – mit den bevorstehenden Herausforderungen ihrer eigenen Zukunft, unabhängig davon, ob sie selbst ein Kopftuch tragen werden oder nicht. Maya verkörpert durch ihr Handeln damit den Übergang in eine neue Lebensphase und die damit verbundene Ungewissheit. Diese Lesart ist auch vor folgendem Hintergrund zu betrachten: Zwar zeigt sich Gewohnheit im Explizieren der religiösen Orientierung gegenüber Andersgläubigen: „guck ma (.) Deutsche haben ja auch so ein Glauben und wir haben auch so=n Glauben und darum ist mir das so wichtig“. Jedoch erinnern die Schilderungen zum Teil an die Wiedergabe von Unterrichtsinhalten (zum Beispiel der Versuch einer historischen Herleitung des muslimischen Glaubens, Z. 1137-1224) und stützen die Lesart von einer heteronomen und noch auszuhandelnden eigenen religionsbezogenen Orientierung. Auch wird deutlich, dass die religionsbezogenen Selbstpositionierungen, anders als in der Gruppe Fenster, der Moderatorin gegenüber eher defensiv und absichernd geführt werden: „Wenn das bei eurer Bibel steht, dann stimmt’s genauso. Bei uns [im Koran] ist auch so, weil ähm uns-, das sagt unsere Lehrer und so alle auch, das sagt jeder“. Möglich ist, dass bereits erfahrene islamkritische Fremdpositionierungen diese Haltung bedingen. So erklärt Lima: „Also ähm eine Frau hat in Internet so ein Film gemacht, also wenn die Welt untergeht, dann hilft uns kein Glauben mehr ähm so und alles, dass uns kein Glauben mehr hilft und so und das ist gar nicht wahr […] Und die sagt, ja wir wissen gar nicht wie die Muslime ticken und vor allen Dings die Türken […] und und die Albaner alles so […] und die Serben“ (Z. 1259-1284). Über Religionszugehörigkeit wird hier eine Differenzierung und gegebenenfalls auch Diskriminierung entlang nationaler Herkunft in Verbindung mit Religion angesprochen. Religiosität erweist sich als konjunktiver Erfahrungsraum, normativer Bezugspunkt und bedeutet Sicherheit und Zugehörigkeit („Teil von unserem Leben“, Z. 1154), jedoch zeigen sich in den Selbst- und Fremdpositionierungen auch Aspekte der Unsicherheit, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der zunehmenden bevorstehenden religionsbezogenen Verantwortungsübernahme.

193

Diese Lesart wird bestärkt durch die Heftigkeit der Reaktionen.

232

TEIL III: Empirischer Teil

Kindheit und Entwicklung in elterlicher Verantwortung Die Deutung, dass mangelnde Eigenverantwortung und Selbstwirksamkeitsüberzeugung die zukunftsbezogenen Verunsicherungen wirkmächtig bedingen, gewinnt an Kontur vor dem Hintergrund, wie Eigenverantwortung in der innerfamiliären generationalen Ordnung verhandelt wird. Die Konzeptualisierung von Kindheit als Schonraum vollzieht sich in dem Vertrauen, dass Eltern durch gute Erziehung eine gute Entwicklung anbahnen, das heißt die Verantwortung für eine gute Zukunft wird zu großen Teilen bei den Eltern verortet. Das Moratorium der Kindheit wird indes verbunden mit geringer Eigenverantwortung. Die Kinder positionieren sich in der Entwicklungsperspektive anders als zum Beispiel in den Gruppen Kupfer und Fenster weniger selbst als AkteurInnen, sondern als von den Kompetenzen ihrer Eltern abhängige Objekte. Die Konzeptualisierung von Familie und innerfamiliären Rollenzuschreibungen werden angesichts der Frage nach einer guten Kindheit elaboriert. Den Begriff der guten Kindheit hatte Enisa im Rahmen des Eingangsstimulus eingebracht. Im Nachfrageteil wird sie gebeten, weiter auszuführen, was sie darunter versteht. Die Frage wird durch Lima umformuliert in: „Was ist dir wichtig für eine gute Kindheit?“: I:

Erstens (.) also zwei Sachen würde ich gerne noch wissen. Die könn=wer ganz schnell besprechen. LMf: ⌊Was, was, was? I: ⌊Erstens Enisa du hattest gesagt eine gute Kindheit ist dir wichtig. ENf: Ja. I: ⌊Kannst du nochmal n paar Sätze dazu sagen? Was du drunter verstehst oder oder in zwei Sätzen vielleicht. ((Enisa lacht)) LMf: Was ist für dir wichtig? Was ist dir wichtig für eine gute Kindheit? ENf: Nein, eine Kindheit ist wichtig damit auch wenn man groß ist (.) auch dann ähm ja wenn man groß ist, dann hat wenn man also zum Beispiel jetzt wenn man als Kind eine gute Kindheit hat und dann größer mal auch Kinder bekommt und so dann, dann soll, dann haben die auch so gelernt wie man, dann könnten die auch so Kindern zeigen auch ne gute Kindheit geben oder so. Wie wie früher die mhm ja zum Beispiel also jetzt äh ja (.) ja eine gute Kindheit ist eig-, eigentlich immer wichtig ((...)) Weil zum Beispiel, es gibt zum Beispiel jetzt ganz so schlimme Kinder und so und wenn die groß sind können die vielleicht Alkohol trinken, kiffen, rauchen LMf: Gras rauchen

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext ENf: LMf: ENf: MAf: ENf: […] LMf:

233

Alkohol trinken irgendwie Bier oder so ⌊(Kocks) ⌊ja, dann dann hatten die, wenn man als kleines Kind war eine schlechte Kindheit und wenn man jetzt eine gute Kindheit hat ⌊Und manche töten sogar, weil sie nicht so ⌊dann macht man nicht solche, so etwas.

Ah ah, aber nicht immer! Ein Mann hat eine gute Kindheit, der ist richtig reich als Kind, er hat immer alles bekommen, aber der hat ein Raubüberfall ein Kind entführt. Das heißt aber nicht (Gruppe Schneeball, Z. 953-997)

Kindheit wird als wichtige Lebensphase beschrieben, die über die weitere Entwicklung entscheidet. Eltern werden in der Kompetenz gesehen, Kindern eine gute Kindheit zu bereiten. Gute Kindheit wird somit in Zusammenhang mit guter Erziehung und guter Entwicklung gesetzt. Zudem wird auf die soziale Reproduktion elterlicher Erziehungsmuster verwiesen: „und dann größer mal auch Kinder bekommt und so dann haben die auch so gelernt wie man, dann könnten die auch so Kindern zeigen, auch ne gute Kindheit geben oder so“. Inwieweit noch weitere Aspekte, zum Beispiel strukturelle oder soziale Rahmenbedingungen, in die Vorstellung einer guten Kindheit eingeschlossen sind, geht aus den Äußerungen zunächst nicht eindeutig hervor. Positiver Gegenhorizont ist eine auf guter Erziehung beruhende gute Kindheit und Entwicklung. Eine „schlechte Kindheit“ wiederum, so die Argumentation, produziert und reproduziert negative Entwicklungen wie etwa deviantes Verhalten in der Jugend. Beispielhaft für negative Entwicklung werden Alkohol, kiffen, rauchen genannt. Uneindeutig bleibt, ob „schlimme Kinder“ mit „schlechte[r] Kindheit“ gleichgestellt werden und was Kinder zu schlimmen Kindern macht. Der Argumentation von oben folgend ist das elterliche Erziehungsverhalten zumindest daran beteiligt. Im Umkehrschluss wird deviantes Verhalten auf eine schlechte Kindheit zurückgeführt. Hieraus ist nicht zu schlussfolgern, dass jedes Kind mit einer schlechten Kindheit später deviantes Verhalten zeigt, umgekehrt wird jedoch angenommen, dass eine gute Kindheit hiervor schützt. Der Grundstein für diese stark schicksalhaft beschriebenen Entwicklungsprozesse in die eine oder die andere Richtung wird dabei sehr früh gelegt („als kleines Kind“). Negativer Gegenhorizont

234

TEIL III: Empirischer Teil

ist eine auf schlechter Kindheit und Erziehung basierende negative Entwicklung. Mit ihrem Gegenbeispiel differenziert Lima die dichotome Darstellung der Entwicklungsverläufe. Eine gute Kindheit stelle demnach keine Garantie für eine gute Entwicklung und konformes Handeln dar. Dabei wird von ihr gute Kindheit über Wohlstand und damit verbundene unbegrenzte Handlungsfreiheiten begründet. Elterliche Erziehung oder andere Rahmenbedingungen werden nicht angeführt. Unklar bleibt, inwiefern sie in Opposition zur Argumentation der mangelnden Eigenverantwortung von Kindern in der Kindheit und ihrer Entwicklung tritt. I schließt eine Frage nach den Voraussetzungen für eine gute Kindheit an. I:

Aber was ist denn dann wichtig in der Kindheit, damit man das also damit man das vielleicht nicht macht? ((Mehrere Kinder melden sich)) LMf: Ich weiß es, ich weiß es! I: Ja, Enisa zuerst und dann gehen wir gleich weiter.194 ENf: Also dass die, also für eine gute Kindheit müssen eigentlich die Eltern sorgen. Damit die aufpassen sollen MAf: ⌊ Ihre Kinder. ((Lima schlägt auf den Tisch und schaut Maya genervt an)) ENf: ⌊ was die auch machen. Zum Beispiel jetzt ähm die sollen abfragen und so: Hast du n Freund oder so? Kiffst du? Weil die manchen, manchen die kann man ja einfach so vertrauen und so, da sollte man das erzählen. FEf: ((meldet sich)) Und und ENf: Da kann man wenn man das so erzählt und die meisten kriegen ja auch die Eltern sind ja meistens so streng und so. Das sollte man nicht. Man sollte immer locker mit den Kindern umgehen. LMf: Ja chill. ((lacht)) […] LMf: Es ist sehr wichtig für die Kindheit, dass die Eltern ihre Kinder nicht schlagen, dass sie nicht ähm beleidigen nur weil die schlechte Note haben, also bei mir passiert das natürlich nicht ((gespielt erleichterten Gesichtsausdruck)) Uff (.) und man soll nicht einfach ähm Kindern so was Schlimmes machen, sie nicht beachten, sie nicht ähm nichts geben wenn

194

Da vor allem Hatice sehr dominant auftritt und die anderen durchweg unterbricht, bricht I in Einzelfällen die Regel der selbstständigen Organisation der Diskussion der Kinder, was wiederum von Hatice moniert wird („Wir dürfen doch durcheinander reden ((…)) aber ohne melden hast du gesagt“, Z. 1036-1039).

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

235

sie nicht gut in Schule sind. Die sollen immer alles ähm ge-, die sollen ähm die Eltern sollen einfach alles geben was sie möchten die Kinder. ENf: ⌊Die Liebe schenken ((legt ihre Hand auf die Brust)) LMf: Meine Mama hat gesagt egal, egal was du brauchst, ich kauf dir egal wie viel das kostet, nur du bist nett, gut in Schule und ja das bin ich auch. A::h! ((schreit heraus und schleudert ihre Haare)) (Gruppe Schneeball, Z. 1014-1062)

Für die Herstellung und Sicherstellung einer guten Kindheit werden die Eltern in der Verantwortung gesehen, konkret das elterliche Erziehungsverhalten (in Opposition zu Limas vorherigem Einwand, der gute Kindheit vor allem an Wohlstand festmachte). Gute Erziehung wird durch elterliche Sorge und den Schutz vor schlechten Einflüssen und Gefahren gekennzeichnet. Als negativer Gegenhorizont wird ein elterliches Verhalten beschrieben, das bei den Kindern Angst auslöst und sie aus diesem Grund daran hindert, sich den Eltern zu öffnen. Dem steht als positiver Gegenhorizont ein Erziehungsverhalten gegenüber, dass auf Fürsorge und Schutz, Vertrauen, Verständnis und Gelassenheit beruht und dabei auch Struktur und Orientierung vermittelt. Die Kriterien guter Erziehung werden von Lima noch durch den Aspekt der Gewaltfreiheit konkretisiert. Kinder sollen weder geschlagen noch aufgrund von Nichtigkeiten beleidigt werden.195 „Schlechte Noten“ werden als Nichtigkeit angeführt. Demgegenüber gebe es schlimmere Vergehen, wo das „Beleidigen“ gerechtfertigt sei. Um nicht den Anschein zu erwecken, dass sie aus eigener Erfahrung spricht, fügt Lima hinzu, „bei mir passiert das natürlich nicht“, was entweder bedeutet, dass ihre Eltern über Nichtigkeiten hinweggehen oder aber, dass sie gar keinen Anlass für Beleidigungen oder andere Bestrafungen bietet. Auch Lima fordert von Eltern anstelle von Bestrafungen („den Kindern nicht so was Schlimmes machen“) mehr Nachsicht ein. Dabei rekurriert sie auf sanktionierende Erziehungsweisen wie beispielweise „nicht beachten“ oder „nichts geben“. Im Gegenteil sollten Eltern die Bedürfnisse und Wünsche der Kinder achten: „die Eltern sollen einfach alles geben was sie möchten die Kinder“. Am Beispiel des familieninternen Belohnungssystems wird deutlich, dass sich die von ihr angesprochenen kindlichen Bedürfnisse ähnlich wie in der Geschichte zur guten 195

Der Begriff „beleidigen“ ist etwas irreführend. Unklar ist, ob tatsächlich Beleidigungen im Sinne von Beschimpfungen gemeint sind oder ob die Eltern die Kinder ausschimpfen.

236

TEIL III: Empirischer Teil

Kindheit auf Materielles beziehen. Zugleich zeigt sich, dass die Vereinbarung mit ihrer Mutter an Bedingungen geknüpft ist. Diese familieninterne Regelung bewertet sie als gerecht. Enisa ergänzt Limas Ausführungen durch das Stichwort „Liebe schenken“. Einem strafenden, unnachsichtigen Erziehungsverhalten wird eine gewaltfreie, nachsichtige und liebevolle Erziehung als positiver Gegenhorizont entgegengesetzt. Als positiv werden familieninterne Vereinbarungen bewertet, die nachvollziehbar, verlässlich und gerecht sind. Die Diskussion um Bestrafungen und Belohnungen impliziert Momente der Eigenverantwortung und Selbstwirksamkeit, ohne aber, dass eine eindeutige Positionierung zu identifizieren wäre. Uneindeutigkeit ob der Verantwortung über das eigene Handeln im Kontext intergenerationaler Beziehungen zeigt sich auch in folgender Passage: FEf:

Und ähhm (.) also nicht nur die Eltern müssen nett sein auch die Kinder müssen dazu nett sein weil ähm HAf: ⌊Äh, nein! Mehrere: ⌊Doch! LMf: Wenn ein Kind böse ist, warum sollte die Mutter dann so sein? FEf: Ja, ja. Wenn ein Kind böse ist, warum sollten die Eltern dann was Gutes tun? I: Mhm ((ja)) ?: Ja genau. LMf: Das sind ja keine Maschinen. So ja okay, du bist gemein so. (Gruppe Schneeball, Z. 1113-1123)

Während zuvor die Eltern in der Pflicht gesehen wurden, sich dem Kind gegenüber nachsichtig und liebevoll zu verhalten, schließt Feli mit ihrer Äußerung „auch die Kinder müssen dazu nett sein“ an Limas Argument eines Mindestmaßes an Eigenverantwortung an. Hatices gegenteiliger Ansicht wird von mehreren Kindern widersprochen und damit Felis Proposition kollektiv gestützt. Anhand eines möglichen Szenarios in Form einer rhetorischen Frage („Wenn ein Kind böse ist, warum sollten die Eltern dann was Gutes tun?“) wird argumentiert, dass schlechtes Handeln auch im Kindheitsalter Konsequenzen nach sich zieht und ziehen muss. Auch dies wird als wichtiges Erziehungsverhalten markiert. Das zweite Argument, dass Eltern „keine Maschinen“ sind, legitimiert, dass Eltern selbst unabhängig von Verantwortungszuschreibungen auf Fehlverhalten durch Kinder wie etwa Gemeinheiten nicht immer nachsichtig reagieren können. Die unterschiedlichen Mo-

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

237

mente von Eigenverantwortung, die in den Beispielen eingebracht werden, deuten darauf hin, dass Eigenverantwortung als sukzessiver Lernprozess gedacht wird, der mehr und mehr Einzug in ihr Leben nimmt. Eine Verknüpfung von elterlicher Veranwortung und Eigenverantwortung in Kindheit und Entwicklung wird von Hatice in Bezug auf die Aussicht auf eine gute Zukunft durch Bildung eingebracht (Z. 1075-1107). So wird dem guten Erleben der Kindheit auch zugerechnet, gute schulische Leistungen zu erbringen, „damit man die Zukunft auch gut erlebt also gut äh machen kann“ (Z. 1777-1778).196 Es dokumentiert sich die Überzeugung, dass schulische Bemühungen von heute (in der Kindheit) Auswirkungen auf das Leben von morgen (als Jugendlicher und Erwachsener) haben. Die Verantwortung für die eigene Zukunft wird dabei als eine gemeinsame, familiäre Angelegenheit formuliert, während es in den Gruppen Komet, Kupfer und Fenster deutlich stärker der Eigenverantwortung zugerechnet wird. Analog zu den zuvor elaborierten Aspekten wird gute Kindheit von Hatice zusammenfassend wie folgt konzeptualisiert: HAf:

Das ist also bei Kindheit sehr wichtig, dass man am meisten ist das wichtigste, dass man einfach nur Spaß haben soll, Familie ist für die Kindheit auch wichtig und eine gute Zukunft finde ich auch wichtig. Manche sind so, manche möchten gar keine gute Zukunft und machen einfach ach egal ((abwinkende Handbewegung)) Für mich ist es aber nicht egal, ich möchte das echt gut und darum. Das ist also für die Kindheit sehr wichtig. […] (Gruppe Schneeball, Z. 1100-1107)

Die Aspekte Spaß, Familie und gute Zukunft, die hier additiv nebeneinanderstehen, sind – so zeigt die vorhergehende Argumentation – eng miteinander verquickt. Kindheit soll Raum zum Genießen bieten (Handlungsfreiheiten), aber auch den Grundstein für eine gute Zukunft legen (durch Bildung und gute Erziehung). Zugespitzt kann die Proposition 196

Der Wunsch einer guten Zukunft (durch Bildung) wird durch Hatice in Kontrast zu den begrenzten Möglichkeiten der Elterngeneration gestellt: „Meine Mama sagt auch immer, wenn ich schlechte Zensuren schreibe: Du hast, Hauptsache hast du dein Bestes gegeben. Das möchte ich nicht, aber sie möchte auch gern ähm, dass ich halt auch gute Zensuren schreibe das möchte ja [...] jede Eltern, Mütter, Väter und weil die das nicht geschafft haben [...] Das haben die dann gesagt, dann soll-, dann sollen unsere Kinder das für uns tun und ich wollte eigentlich auch eine gute Zukunft, weil damit ich meine Eltern [...] stolz mache, aber ich mache das ja nicht nur für sie, ich mache das ja auch für mich selbst.“ (Z. 1078-1100).

238

TEIL III: Empirischer Teil

so gelesen werden, dass Kindheit nur dann gut sein kann, wenn der Handlungsraum eine Ausgewogenheit zwischen den Möglichkeiten des Kindseins und der Zukunftsvorsorge herstellt. Die Familie bietet den notwendigen Gestaltungs- und Freiraum aber auch Schutzraum. Den Eltern wird in großem Maße die Verantwortung für diese Balance zugeschrieben. Zusammenfassende Darstellung des Orientierungsrahmens Folgende Muster können bei der Gruppe Schneeball themenübergreifend identifiziert werden: Akteurschaft in der Kindheit wird in der Gruppe Schneeball über die Freiheit konzeptualisiert, die eigenen Vorlieben für Spiel, Spaß und Genuss intensiv ausleben zu können. Die Peergroup sowie freundschaftsbezogene Zugehörigkeit und Anerkennung bilden innerhalb dieser eher freizeitbezogenen Orientierung wichtige Bezugspunkte.197 Akteurschaft wird zudem durch das Prinzip noch weitgehend ausstehender Eigenverantwortung gekennzeichnet. Während zum Beispiel in der Gruppe Kupfer einem verantwortungsvollen, das heißt in dem Fall regelkonformen und adaptiven Handeln bereits in der Kindheit eine hohe Bedeutung zugeschrieben wird, fasst die Gruppe Schneeball Kindheit vielmehr als eine Art Schonzeit, die mit einer gewissen Narrenfreiheit einhergeht. Diese Vorstellung von Akteurschaft wird als spezifisch für die Lebensphase Kindheit begriffen. Insgesamt zeigt sich bezogen auf das Hier und Jetzt eine hohe Orientierungssicherheit. Dieser Orientierungssicherheit im Hier und Jetzt steht jedoch eine Orientierungsunsicherheit angesichts des bevorstehenden Übergangs in eine neue Lebensphase gegenüber. Vorzeichen des Übergangs sind unter anderem der Wechsel auf die weiterführenden Schulen, die Neusortierung der Freundschaften, geschlechtsspezifische Veränderungen sowie zunehmende religionsgebundene Handlungserwartungen. Diese Veränderungen werden mit wachsenden Anforderungen an das Selbst in Bezug auf Eigenverantwortung und Konformität verbunden. Dabei zeigt sich Ungewissheit in Bezug auf die eigene zukunftsbezogene Akteurschaft. Denn das Akteurskonzept muss insofern neu verhandelt werden, als gegenüber bisherigen Vorstellungen die zunehmende Verantwortung für das eigene Handeln Einschränkun197

Diese eher freizeitbezogene Orientierung schließt eine Bildungsorientierung nicht aus. Ein gutes Leben wird auch über die Aussicht auf eine gute Zukunft durch Bildung konzeptualisiert. Die Verantwortung für die eigene Zukunft wird als eine gemeinsame, familiäre Angelegenheit formuliert

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

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gen von Handlungsfreiheiten impliziert. Die mit dem Übergang verbundene Unsicherheit wird begleitet von einer eher geringen Selbstwirksamkeitsüberzeugung. Diese äußert sich beispielsweise in der Art und Weise, wie die Folgen schulischer Trennung für Freundschaften eingeschätzt werden. Familie wird eine sehr hohe Bedeutung beigemessen. Eine gute Kindheit und Entwicklung werden in hohem Maße einer guten elterlichen Erziehung zugeschrieben, konkret einem liebevollen, nachsichtigen und gewaltfreien Erziehungsverhalten, das darüber hinaus auf Fürsorge und Schutz, Vertrauen, Verständnis und Gelassenheit beruht und dabei auch Struktur und Orientierung vermittelt. Aus der Art und Weise, wie Eigenverantwortung in der Familie verhandelt wird, lässt sich schließen, dass das Muster hier Legitimität erhält. Die Selbstpositionierung in der Entwicklungsperspektive erfolgt in erster Linie als von den Kompetenzen ihrer Eltern abhängige Objekte. So ist den Eltern auch die Funktion zugedacht, Balance zwischen den Möglichkeiten des Kindseins und der Vorsorge für spätere Lebensphasen und eine gute Zukunft zu schaffen. Migrationsbezogene Differenzerfahrung wird in Bezug auf die Religionszugehörigkeit thematisiert. Die religionsbezogene Selbstpositionierung wird der Moderatorin gegenüber eher defensiv und absichernd geführt und in den Kontext kritischer Fremdpositionierungen gestellt. Die religiöse Orientierung deutet sich dabei als eher heteronomer Bezugsrahmen an, in dem der Konfrontation mit religiösen Normen eine noch weitgehend ausstehende autonome Aushandlung vor dem Hintergrund kritischer Fremdpositionierungen gegenübersteht.

240

7.3.2

TEIL III: Empirischer Teil

Gruppe Bogen (F) – Machtvolle Fremdpositionierungen im Kontext von Zugehörigkeit und Differenz

„Das stimmt, das was wir sagen, entspricht nicht unserem Alter, aber wenn man das sieht, ist man schockiert und man versucht das eben auszudrücken.“ (Busra, Z. 725-726) Zusammensetzung der Gruppe Die fünf Mädchen und zwei Jungen der Gruppe Bogen besuchen die vierte Klasse (CM1) in derselben Grundschule wie die Gruppe Komet.198 Die Kinder nehmen nicht an der Sprachförderung teil, sie gehören zu einer Gruppe von Kindern, die nachmittags länger in der Schule bleiben. Die Zusammenstellung der Gruppe Bogen erfolgte durch die Schulleitung.199 Die Kinder kennen sich untereinander. Die Kinder sind in Frankreich geboren. Ihre Familien stammen aus Algerien, Guinea, Marokko und dem Tschad. Zum Bildungs- und Berufshintergrund der Eltern ist nichts bekannt. Der Erstkontakt erfolgt mit Beginn der Gruppendiskussion. Die Kinder nehmen in der Sitzecke in der Schulbibliothek Platz, sind sehr aufgeweckt und stellen bezüglich des Ablaufs viele Fragen (unter anderem zur Audiound Videoaufnahme, zum Projekt allgemein, zur Herkunft von I1 und I2200). Als I1 erklärt, dass sie sich für Kinder in Frankreich interessiert, fragt eine Teilnehmerin, ob es ihr um „ausländische“ Kinder geht. Es macht den Anschein, dass bei der Zusammenstellung der Gruppe den Kindern gegenüber die Bedeutung der Migration betont wurde. Diskursorganisation Charakteristisch für die Gesprächssituation ist, dass sich die Kinder nicht nur thematisch über den Gesamtverlauf der Konferenz, sondern auch in der Interaktion mit I1 und I2 intensiv an Differenzen in Bezug auf natio-ethnokulturelle Zugehörigkeiten, Religion und Hautfarbe abarbeiten. Die ZugehöBusra (BUm), Laila (LAf), Mahmut (MAm), Mélina (MEm), Neyla (NEf), Said (SAm), Tal (TAf). 199 Im Vorfeld hatte ein Gespräch mit der Schulleitung stattgefunden, in dem die Auswahlkriterien besprochen wurden (Alter der Kinder, Migrationskontext, Mehrsprachigkeit). 200 I1 ist die Autorin der vorliegenden Arbeit, I2 stammt aus Frankreich. 198

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

241

rigkeit der Moderatorinnen zur Mehrheitsgesellschaft (in Frankreich und Deutschland) erregt zunächst Misstrauen, besonders die deutsche Herkunft von I1 sorgt für Anstoß. Noch bevor die Diskussion startet fragt Mélina, ob Hitler noch lebt. Sowohl Mahmut und Said als auch I1 erklären, dass er vor langer Zeit gestorben ist. Folgende Diskussion schließt sich an: BUf: SAm: LAf: SAm: I1: LAf: TAf: I1: BUf: LAf: [...] I1:

Der ist Rassist! Rassist, eher Nazi, ja. Aber, warum habt ihr den denn auch als Präsident akzeptiert? Ich schwöre! Aber das liegt wirklich zurück. Er ist rassistisch euch gegenüber und ihr wählt ihn. Sind Sie Jüdin? Nein. Und er tötet euch weil ihr schlecht ( ) seid? Er hat euch in Gaskammern gesteckt.

Ja, das liegt schon sehr, sehr weit zurück, also ähm, jetzt, existiert das nicht mehr. Wir haben das verstanden. Wir haben auch aus dieser Geschichte gelernt, also ähm, glaubt mir, dass die Deutschen auch sehr Kummer haben. LAf: Aber die haben doch ein Gehirn, die Deutschen. Die haben ein Gehirn. (Gruppe Bogen, Z. 151-176)

Gezeichnet wird das Bild von den Deutschen, die einen Rassisten (beziehungsweise „Nazi“), der wissentlich unschuldige Menschen tötete, als Präsidenten akzeptiert und sogar gewählt haben. Neben dem Unverständnis darüber, wie ein Volk dies zulassen kann, wird die Position von I1 ausgelotet. Sie wird auf Seiten derjenigen positioniert, die ihn gewählt und das Unheil akzeptiert haben (Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen dabei), während I1 sich und die Deutschen selbstkritisch in Bezug auf diesen Teil der Geschichte ihres Landes positioniert. Zwei politische Ereignisse, die sich kurz zuvor zugetragen haben, könnten die aufgeheizte Stimmung in der Gruppe zum Teil erklären: der rechtsextreme Front National wird bei der Europawahl stärkste Partei in Frankreich und die Feierlichkeiten anlässlich 70 Jahre D-Day erinnern an die Befreiung Frankreichs von den Deutschen durch die Alliierten. Zudem zeigen sich die Kinder zum einen sehr interessiert daran, zu erfahren, was I1 mit ihrer Studie bezweckt und zum anderen die Einstellung von I1 zu als ausländisch markierten Kindern zu klären. So möchte Busra wissen, ob es I1 in ihrer Studie um Kinder geht „wie uns, die Schwierigkei-

242

TEIL III: Empirischer Teil

ten in fremden Ländern haben oder Kinder, denen es gut geht“. I1 erklärt daraufhin, dass sie sich dafür interessiert, ob die Kinder „hier gut leben“ und was sie brauchen, „um gut zu leben“, mit dem Ziel die Situation der Kinder zu verbessern (Z. 239-267). Wie sich später klärt, hat das anfängliche Misstrauen mit erfahrener Stigmatisierung zu tun: BUf:

Zum Beispiel, wir haben euch gerade kennengelernt, wir mögen euch, wir werden uns sagen, dass die uns verstehen und dass wir das mögen. Aber wenn wir andere Leute sehen, werden wir nicht sofort sagen, „Oh, man ist Rassist“, wir versuchen uns anzunähern, sehen wir danach, dass sie uns nicht mögen, na dann werden wir – TAf: └ uns zurückziehen. (Gruppe Bogen, Z. 710-715)

Die Kinder treten gegenüber den Moderatorinnen sehr selbstbewusst und offen auf und konfrontieren sie mit provokanten Themen. Dabei sind sie sehr respektvoll und zeigen sich in hohem Maße interessiert an den Anliegen. Zum Beispiel fordern Laila und Mélina in einem Moment der Unruhe die anderen Kinder zu Respekt auf, da I1 nur für sie so weit angereist ist. Die Diskussion ist sehr selbstläufig und die Themen werden wechselseitig entfaltet. Es sind kaum Impulse der Moderatorinnen nötig. In erster Linie bestimmen Busra, Laila, Mélina und Tal die Diskussion. Mahmut, Neyla und Said beteiligen sich auch von Zeit zu Zeit, führen jedoch mehrfach Nebengespräche. Die Stimmung ist insgesamt ausgelassen, zugleich werden schwerpunktmäßig unabhängig der Fragestellungen sehr ernste Themen angesprochen. Dabei sind klare homologe Muster erkennbar, die metaphorisch dicht diskutiert werden. Diskursbeschreibung Im Aufwärmspiel wird über Hobbys und Vorlieben gesprochen. Das Netz, das sich zwischen den Teilnehmenden aufspannt, wird von Mélina als Verbindung aller Kinder in der Welt interpretiert. Im Anschluss an das Spiel werden die Namensschilder mit Wunschnamen erstellt. Ein gutes Leben vor dem Hintergrund unterschiedlicher Differenzkonstruktionen Mit Beginn der Konferenz wird der Eingangsstimulus im Original verlesen. I1:

Also ähm, jetzt beginnt die Konferenz. [...] Also, stellt euch vor, ihr seid auf einer Kinderkonferenz und ihr wollt uns erklären, was für euch Kin-

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

BUf: MEf: TAf: NEf:

[…] MEf:

243

der wichtig ist. Wir interessieren uns für alles, was euch wichtig erscheint für ein gutes Leben [belle et agréable vie]. Also. Was braucht man, um sagen zu können, das ist ein gutes Leben und warum? [...] Was mir wichtig ist, ist, dass der Rassismus gegen Muslime aufhört. Mir ist wichtig, dass ein Kind von seinen Eltern geliebt wird und dass, und dass es nicht von ihnen geschlagen wird. [...] Also, schonmal, dass es, dass es etwas zu essen hat, etwas anzuziehen hat, dass es ein Dach über dem Kopf hat, das ist wichtig, und dann ähm ((zuckt mit den Schultern)). Ja, ja, genau, mhm. Und, äh, und, es gibt Menschen, die arm sind und wir hingegen haben super tolle Klamotten [des fringues hyper classes] und sie, sie haben nur/zwar Lumpen [habits, enfin, pourris], aber ähm, ja, sie sind arm und gehen nicht zur Schule und so weiter.

Und für ein Kind ist auch wichtig, dass es in die Schule geht, dass es lesen lernt, dass es schreiben lernt, also dass es eben lernt. Denn es gibt im Leben ( ) also, zum Beispiel in meinem Dorf, ähm, in meinem Dorf gibt es Kinder, die können nicht, die können nicht essen, weil ihre Eltern nicht genug Geld haben. Sie müssen sich in dreckigem Wasser waschen, während wir ( ). Das ist das, was meiner Meinung nach wichtig ist. BUf: ( ) Die sollen schonmal aufhören, mir zu sagen, dass ich in mein Land zurückkehren soll, das find ich merkwürdig. TAf: Man darf nicht rassistisch sein. BUf: Genau, der Rassismus, das ist nicht gut und auch, dass unsere Religion respektiert wird, so wie wir die christliche Religion respektieren und dass auch ( ) TAf: Und auch, dass ein Kind nicht schlecht behandelt wird [pas maltraité]. Wichtig ist, dass es etwas zum Essen hat und dass ähm, es einen Platz zum Schlafen hat, es darf nicht schlecht behandelt werden, wichtig ist, wie sie gesagt hat, eine gute Hygiene, dass es sich nicht mit schmutzigem Wasser waschen muss etc. MEf: └ Und dass ein Kind TAf: └ und es ist wichtig, dass es arbeitet und tja, etwas erreicht [qu’il réussisse quoi]. MEf: └ Und dass ein Kind auch nicht von seinen Eltern aufgegeben/verlassen wird [abandonné], weil das Kind schmutzig oder so ist, weil die Eltern sich nicht gut um das Kind gekümmert haben und warum würden Eltern wollen, dass ihr Kind, ähm, ähm, weggeht von ihnen, dass verstehe ich nicht. [...] Es gibt ein Heim, wo man sich um sie kümmert, ähm, aber manchmal würden sie noch mehr ihre Eltern brauchen und man braucht vor allem eine richtige Familie (aber sie haben niemanden mehr). NEf: Ja. (Gruppe Bogen, Z. 309-386)

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TEIL III: Empirischer Teil

Die erste Proposition „Was mir wichtig ist, ist, dass der Rassismus gegen Muslime aufhört“ schließt an die bereits im Vorfeld der Konferenz thematisierten Rassismuserfahrungen an und konkretisiert diese in Hinblick auf die Gruppe der MuslimInnen. In dem negativen Gegenhorizont, der auf die zwischenmenschliche Ebene abhebt, werden Menschen problematisiert, die sich anderen Menschen gegenüber aufgrund deren Religionszugehörigkeit rassistisch verhalten, das heißt sich in herabwürdigenden Denk- und Handlungsweisen MuslimInnen gegenüber machtvoll als überlegen positionieren. Ein gutes Leben ist demzufolge durch soziale Anerkennung gekennzeichnet. Die Proposition ist als klares Statement formuliert. Rassismus gegen MuslimInnen wird als verbreitetes Phänomen („der Rassismus“) gekennzeichnet. Wie der Rassismus genau kontextualisiert wird, ist zunächst unklar. In der zweiten Proposition wird die Bedeutung von Liebe und Fürsorge in der Familie für ein gutes Leben betont. Liebende Eltern werden als positiver Gegenhorizont markiert. Demgegenüber steht die Vorstellung beziehungsweise Erfahrung, dass es Eltern gibt, die ihre Kinder nicht zu lieben scheinen. Wie sich mangelnde Liebe ausdrücken kann, wird durch den negativen Gegenhorizont elterlicher Gewalt gegenüber Kindern exemplifiziert. Mit der Thematisierung von Gewalt werden Kinder im Schutzraum Familie von elterlichen Handlungsweisen abhängig als vulnerabel positioniert.201 Drittens wird ein gutes Leben ähnlich wie in der Gruppe Komet grundlegend an der Stillung existenzieller Bedürfnisse, konkret Nahrung, Kleidung, Unterkunft, Schulbildung/Bildung, Hygiene, Liebe sowie körperlicher und geistiger Unversehrtheit festgemacht. Neyla veranschaulicht den Aspekt der Armut am Beispiel von Kleidung. Mit der Gegenüberstellung der eigenen „super tolle[n] Klamotten“ mit den „Lumpen“, in die andere Kinder gekleidet sind, zeigt sie ein Bewusstsein für unterschiedliche Ressourcenausstattungen und positioniert die Gruppe als einer sozialen Schicht zugehörig, die nicht existenziell bedroht ist. Mélina exemplifiziert das Vorangegangene mit Bezug auf „mein[]“ Dorf202, wo es Kindern zum Teil an Essen und Möglichkeiten grundlegender Körperpflege mangelt. In ihrer Schilderung stellt sie zugleich Zugehörigkeit und Differenz sowie Nähe und Distanz her. Obwohl sie sich dem Dorf zugehörig fühlt, zeigt sie an, dass sich die Lebens201 202

Die Problematisierung elterlicher Verhaltensweisen wird speziell von Mélina wiederholt hervorgebracht und zieht sich durch die gesamte Diskussion. Es ist davon auszugehen, dass es sich um das Dorf handelt, aus dem ihre Familie stammt.

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

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bedingungen der Kinder hier (der Gruppe) gegenüber den Lebensbedingungen der Kinder dort stark von ihren unterscheiden. Busras nachfolgende (anfangs unverständliche) Äußerung, man solle aufhören ihr zu sagen, „dass ich in mein Land zurückkehren soll“, lässt sich auf unterschiedliche Weise lesen. Zum einen schließt sie an ihre eigene Proposition zum Thema Rassismus an, den sie – wie hier deutlich wird – offensichtlich selbst erlebt, insofern als sie sich von bestimmten Menschen in Frankreich dazu aufgerufen sieht, das Land zu verlassen. Mit der Formulierung „mir zu sagen“ begibt sie sich, anders als in der Eingangsproposition, auf eine sehr persönliche Ebene. Sie schließt sich zum anderen auch an Mélinas Hinweise bezüglich Nähe und Distanz zum Herkunftskontext an. Die Einordnung als „merkwürdig“ könnte über eine weitere Zugehörigkeitsdimension zu klären sein, die empfundene Zugehörigkeit zu Frankreich. Differenz wird in Bezug auf diese Zugehörigkeitsdimension durch diejenigen hergestellt, die hier als rassistisch beschrieben werden. Rassismus wird von Tal und Busra erneut verurteilt und es wird hervorgehoben, dass es wichtig ist, anderen Religionen mit Respekt zu begegnen. In einer erneuten Differenzherstellung von „wir“ und „den Anderen“ wird vor dem Hintergrund der Religionszugehörigkeit auf divergierende Umgangsweisen mit Respekt verwiesen. Tal schließt daraufhin noch einmal an die oben beschriebenen Aspekte des Kindeswohls (innerhalb der Familie) und existenzielle Grundbedürfnisse an und erweitert diese Argumentation durch eine zukunftsgerichtete Perspektive („es ist wichtig, dass es [das Kind, KK] arbeitet und tja, etwas erreicht“). Die Aussicht auf eine gute Zukunft – etwas zu erreichen – dokumentiert sich damit als weiterer bedeutsamer Aspekt für ein gutes Leben. Mélina greift erneut den positiven Gegenhorizont liebender und fürsorglicher Eltern auf. Als negativer Gegenhorizont werden Eltern beschrieben, die ihre Kinder vernachlässigen und sogar weggeben. Schmutz steht hier nicht für Folgen von Armut, sondern für elterliche Vernachlässigung. Ihr Unverständnis – wenn nicht sogar ihre Verzweiflung – über Eltern, die ihr Kind weggeben, ist vor dem Hintergrund der existenziellen Bedeutung von Familie und der Annahme einer innigen Verbindung von Eltern und Kind zu deuten. Wie auch in der Gruppe Kupfer wird die Alternative Heim als Schreckensszenario beschrieben.203 203

Anders als in der Gruppe Kupfer geht dem imaginierten Heimaufenthalt hier jedoch kein Selbstverschulden durch die Kinder voraus. Die Schuld wird bei den Eltern verortet.

246

TEIL III: Empirischer Teil

Es werden in der Eingangspassage drei zentrale Argumentationsstränge aufgeworfen, die auch den Fortgang der Diskussion bestimmen: - Rassismuserfahrungen und die Bedeutung sozialer Anerkennung vor dem Hintergrund natio-ethno-kultureller/religiöser Zugehörigkeit(en) und Differenz, - Armut und die Stillung existenzieller Grundbedürfnisse in Auseinandersetzung mit dem Herkunftskontext und - die Bedeutung von Familie und liebevollen, fürsorglichen Eltern.204 In der Argumentation werden drei dichotome Differenzlinien im Sinne von ‚wir’ und ‚die Anderen’ aufgemacht: - ‚wir’ und ‚die RassistInnen im Aufnahmekontext’ als VertreterInnen von Gruppen mit ungleichen Machtpositionen innerhalb von Gesellschaft - ‚wir’ und ‚die Kinder im Herkunftskontext’ als Gruppen mit ungleichen Ressourcen und Zukunftsaussichten, - ‚wir’ und ‚die Eltern’ als VertreterInnen generationaler Gruppen, deren Beziehung durch Machtasymmetrien gekennzeichnet ist. Der erste Argumentationsstrang, der im Verlauf der Diskussion schwerpunktmäßig elaboriert wird, soll im Folgenden in Verknüpfung mit den beiden anderen anhand von ausgewählten Passagen weiter veranschaulicht werden. Die Frage nach dem guten Leben vor dem Hintergrund gruppenbezogener Benachteiligung Die folgende Passage ist auch im Zuge der Beantwortung des Eingangsstimulus entstanden. Darin werden Folgen von Rassismus und Diskriminierung, Fragen der Schuld sowie Rechte unterschiedlicher Personengruppen verhandelt.

204

Auf die Frage „Was tut euch gut, wo sagt ihr, das tut mit gut, das mag ich?“ werden liebende und fürsorgliche Eltern als positiver Gegenhorizont bestätigt (z. B. „Es tut uns gut, das Gefühl zu haben, dass unsere Eltern uns lieben wie wird sind.“, Tal, Z. 537-538) und es wird die Bedeutung von Freunden und Teilhabe betont (z. B. „Na Freunde zu haben [...] wir möchten nicht die ganze Zeit ganz allein sein, das, das würden wir nicht mögen.“, Tal, Z. 506-509).

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext MEf:

TAf: MEf: [...] TAf:

247

Unsere Eltern sind, ich weiß nicht, sie kommen aus anderen Ländern und wir haben ihre Hautfarbe, wir sind fast, also, wir ähneln ihnen, wir machen alles wie sie und das ist nicht unsere Schuld, wenn es Menschen gibt, die uns schlecht behandeln nur deswegen. Und das ist nicht gut, denn dann wird sich ein Kind schlecht fühlen, es wird sich sagen, dass es in sein Land zurückkehren muss und dass (.) └ niemand es mag. Genau.

Aber wichtig ist auch, äh, dass es keine Gesetze gibt, die es Menschen, die keine Papiere haben, verbieten, nach Frankreich zum Arbeiten zu kommen. Weil ich kenne Leute, die nach Frankreich kommen wollten, um zu arbeiten, daher haben sie bei uns gewohnt und weil sie die französische Staatsangehörigkeit nicht haben, will man nicht, dass sie in Frankreich arbeiten. BUf: Und gut leben heißt auch TAf: └ Um gut zu leben, na, da hast du nicht ( ) BUf: Ein gutes Leben ist, wenn die Frauen gut leben und man ihre Religion respektiert, wie bei uns Moslems, muslimische Frauen, die eine Burka tragen und die man ( ) TAf: Egal, ob du die Burka trägst oder behindert bist 205 oder ob du kein Franzose bist, ob du klein bist oder ob du etwas nicht tun kannst. [...] Sie haben Rechte. (Gruppe Bogen, Z. 410-440)

In der Reflektion über Rassismus setzt sich Mélina mit der Frage von Schuld auseinander. Sie erklärt, dass sie angesichts der elterlichen Herkunft, konkret der vererbten Hautfarbe und der übernommenen kulturellen Praktiken, auf Rassismus und Diskriminierung stoße. Dabei stellt sie zwar heraus, dass sie keine Schuld trifft, dass Menschen sie „schlecht behandeln nur deswegen“. Mit dem Verweis auf die Eltern, die es waren, die nach Frankreich gekommen sind und ihre eigene Zugehörigkeit zur zweiten Migrationsgeneration macht sie aber auch den Zwiespalt deutlich, der sich angesichts des erfahrenen Rassismus in ihr auftut: Sie selbst (als Vertreterin der zweiten Generation) kann nichts für ihre Herkunft und dass die Familie nach Frankreich gekommen ist. Implizit platziert sie die Schuld damit ‚zwischen‘ den Menschen, die sie „schlecht behandeln nur deswegen“ und den zugewanderten Eltern (als VertreterInnen der ersten Generation). Es lässt sich schlussfolgern, dass Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen, unabhängig von 205

Vorausgegangen war unter anderem auch die Forderung, Kinder, die behindert sind, nicht „ab[zu]ziehen“ und sich nicht über sie lustig zu machen.

248

TEIL III: Empirischer Teil

der Schuldfrage, bei Kindern durch Verinnerlichung der erfahrenen Fremdpositionierungen sowie des entstandenen Gefühls der Ablehnung zu mangelndem Wohlbefinden führen. In Tals anschließender Forderung Menschen trotz fehlender Papiere206 Rechte zu gewähren, wird Partei für eine Personengruppe ergriffen, die angesichts staatlicher Restriktionen noch schlechter behandelt und positioniert wird als sie selbst: Menschen ohne Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis. Diesen staatlich regulierten Ausschluss bestimmter Personen, deren Migrationsmotiv die Teilhabe am Arbeitsmarkt ist, betrachtet sie als ungerecht. Analog zu den Schilderungen der Gruppe Komet, bei der Ankunft in Frankreich bei Bekannten untergekommen zu sein, beschreibt Tal ihre Familie als Teil ebensolcher transnationaler Unterstützungsstrukturen, in denen sie die Schicksale unmittelbar miterlebt. Als eine besonders benachteiligte Personengruppe bezüglich Rassismus gegen MuslimInnen werden von Busra muslimische Frauen hervorgehoben, die eine Burka tragen. Was in ihrer Aussage aufgrund der unverständlichen Stelle nicht deutlich wird, wird kurz darauf von Laila aufgegriffen: Diese Frauen sind besonderem Spott ausgesetzt und werden nicht mit dem notwendigen Respekt für ihren Glauben behandelt („Aber, was ich, was ich eigentlich sagen wollte, ist, dass wenn es Leute gibt, die diejenigen verspotten [qui se moquent], die die Burka tragen, wie Busra gesagt hat -.“; Z. 474475).207 Der Respekt gegenüber der Religionszugehörigkeit und den damit verbundenen religiösen Praktiken wird damit erneut explizit als positiver Gegenhorizont herausgestellt.208 Konkludierend stellt Tal einen Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Gruppen her, die bezogen auf Religionszugehörigkeit, Körper und Geist (Behinderung, Körpergröße209), Staatsangehörigkeit beziehungsweise 206 207

208

209

In Frankreich steht der Ausdruck sans papiers (ohne Papiere) als Symbol für illegalisierte EinwanderInnen. Keines der Mädchen trägt zum Zeitpunkt der Gruppendiskussion ein Kopftuch. Denkbar ist, dass die Situation der Mütter und womöglich auch eine eigene bevorstehende Verschleierung reflektiert werden. Das Tragen einer Burka ist in Frankreich seit 2011 per Gesetz verboten (Gesetz zum Verbot der Gesichtsverschleierung im öffentlichen Raum; LOI n° 2010-1192 interdisant la dissimulation du visage dans l'espace public: https://www.legifrance.gouv.fr/eli/loi/2010/ 10/11/JUSX1011390L/jo/texte). Mit „klein“ könnten auch Kinder gemeint sein. Dann wäre an dieser Stelle auf die Benachteiligung qua generationaler Ordnung verwiesen.

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

249

Leistungsfähigkeit von der gesellschaftlichen Norm abweichen. Es werden unterschiedliche Dimensionen von Benachteiligung angesprochen und bilanziert, dass all diese Gruppen Rechte haben. Damit werden nicht Normabweichungen problematisiert, sondern der gesellschaftliche Umgang damit. Schließlich wird in dieser Passage herausgestellt, dass innerhalb der Gruppe an Personen, denen ein Migrationshintergrund zugeschrieben wird, unterschiedliche Formen der Benachteiligung erfahren werden. Personen mit zugeschriebenem Migrationshintergrund werden nicht per se als benachteiligt dargestellt, sondern in Abhängigkeit ihrer Hautfarbe, Religion, religiöser Praktiken und Aufenthaltserlaubnis. Umgang mit und Folgen von Rassismuserfahrungen In einer späteren Sequenz werden die Folgen von Rassismus für das Wohlbefinden von Kindern weiter elaboriert und ihr Beitrag sowie ihre Wünsche in Bezug auf ein friedliches und egalitäres Zusammenleben kenntlich gemacht. MEf:

BUf:

LAf: [...] TAf: BUf:

LAf: [...] BUf: LAf:

[...] Was ich als Kind möchte – es geht um die Politik von Marine Le Pen – was ich als Kind möchte, ist, dass Marine Le Pen, also, dass sie aufhört, rassistische Sachen zu sagen, weil das tut man nicht, weil wir -, es gibt Kinder, Kinder, die das traumatisiert, es gibt Kinder, die aus diesem Grund └ Das ist hart und schon, als, als sie die Sache über die Ratten da gesagt hat, um sie zu schlagen, sie wollte es wie wir machen, ((zeigt auf sich)) wir Muslime. Wir respektieren ähm (2) die französische ( ). Wir respektieren ihre Religion und sie respektieren unsere Religion nicht. Das ist das, was ( ) Es gibt Kinder, die illegal hierherkommen, weil es sonst nicht geht und so und es schmerzt sie zu sehen, dass es Leute aus der Politik gibt, die sagen, dass sie in ihr Land zurückkehren sollen. Wie meine kleine Cousine, sie ist nicht mal sechs Jahre alt [...]. Sie kennt schon diese rassistischen Sachen, das ist schockierend. Sie ist nicht mal, ich weiß nicht mal wie alt genau, und jetzt ist sie jedes Mal misstrauisch, sobald sie jemanden sieht, der nicht die gleiche Herkunft hat wie sie. Wir sind nett, wir respektieren sie, sie respektieren uns nicht, weil – Wir wollen gern über Jesus Christus sprechen, ( ), das machen wir gern. └ aber sie können nicht über unsere Sache sprechen, weil das beschämend/schändlich [honteux] ist für sie.

250

TEIL III: Empirischer Teil BUf:

Für uns, was für uns respektvoll ist, also was wir ihnen gegenüber machen, ist, dass wir nicht über unseren Propheten sprechen und dass wir versuchen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen TAf: └ Wir versuchen uns an ihre Dinge zu gewöhnen, zum Beispiel, wir ((zeigt auf Mélina und sich)) sind nicht gleich. Sie ist so, ich bin so. Und trotzdem sind wir Freundinnen, so ist es, wir sind Freundinnen. BUf: Wir schaffen es, uns zu verstehen ((zeigt auf Mélina und sich)). Und für sich, ähm, denke ich, dass TAf: └ Wir würden uns wünschen, dass es die anderen Menschen genauso machen. (Gruppe Bogen, Z. 617-668)

Mit Nachdruck werden die Folgen von Rassismus für Kinder verdeutlicht. Es wird argumentiert, dass rassistische Aussagen von Marine Le Pen – möglicherweise auch angesichts ihrer mächtigen politischen Position als Vorsitzende des Front National, der kurz zuvor die Europawahl für sich entscheiden konnte – Kinder traumatisieren.210 Es dokumentiert sich in Mélinas Schilderung die Macht von Sprache: Äußerungen auf politischer Ebene wirken machtvoll bis in die Lebenswelten der Kinder hinein.211 Folge von Le Pens „Botschaft“, wie Mélina an späterer Stelle weiter ausführt, sind zunehmende Rückzugstendenzen in die eigene Gruppe (gleiche Hautfarbe, gleicher Kontinent) und Misstrauen gegenüber Personen, die dieser Gruppe nicht angehören: MEf:

210

211

[...] Also, als Marine Le Pen, also, als sie ihr Ding gesagt hat, dass sie ( ) nicht wollte. Also mich hat das danach, das hat mich, ich weiß nicht [...] Ich bin nicht rassistisch, aber ich wollte nicht mehr mit Menschen bleiben, die, die nicht wie ich sind, die -, genau. Sie zum Beispiel ((zeigt auf andere Teilnehmende)), sie sind afrikanisch wie ich, mit ihnen wollte ich bleiben, sie verstehen mich gut. Aber dann gibt es andere, die

Ein Ereignis, das die Kinder darüber hinaus sehr betroffen gemacht hat, sind Vorfälle gegenüber Christiane Taubira, der damaligen Justizministerin, die mit Bezugnahme auf ihre schwarze Hautfarbe in den sozialen Medien von Marion Maréchal-Le Pen, der Nichte von Marine Le Pen, rassistisch beleidigt und bei einer Veranstaltung mit Bananen beworfen wurde. Konkrete Rassismuserfahrungen vollziehen sich jedoch auch im unmittelbaren Umfeld. Als Beispiele werden unter anderem Beleidigungen genannt: „zum Beispiel hat heute Morgen ein Junge, ich möchte seinen Namen nicht nennen, aber, es gibt etwas, das er gesagt hat, er hat die Afrikaner beleidigt“ (Mélina, Z. 700-702). Einer Anspielung bezüglich rassistischer Nachbarn folgend, wird von den Kindern angedeutet, dass Said in diesem Zusammenhang von konkreten Erfahrungen zu berichten weiß: „Rassisten! Warum sprichst du denn nicht mal davon?“ (Neyla, Z. 393).

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

251

mich nicht verstehen, die nicht die gleiche Hautfarbe haben wie ich, die nicht vom -, vom gleichen Kontinent stammen wie ich, so dass ich nicht mit ihnen bleiben wollte aufgrund der Botschaft von Marine Le Pen. (Gruppe Bogen, Z. 817-827)

Mélina hebt auf die Verletzlichkeit der Kinder ab. Die Rückzugstendenzen können damit als Folge verwehrter Akteurschaft in bestimmten interkulturellen Beziehungsstrukturen gelesen werden. Zugleich wird über die natioethno-kulturelle Zugehörigkeitsdimension ein neuer (womöglich jedoch marginalisierter) Handlungsraum eröffnet. Busra und Laila schließen an Mélinas Schilderung an. Mit Anspielung auf eine Äußerung von Le Pen über MuslimInnen wird die Macht der Worte validiert und zwar in Hinblick auf die Menschen, die Le Pens Worten Glauben schenken: Den Respekt, den Busra und Laila den FranzösInnen und ihrer Religion212 entgegenbringen, fühlen sie in Bezug auf die eigene Religionszugehörigkeit nicht erwidert. In dem erfahrenen Widerspruch dokumentiert sich ein Gefühl der Verzweiflung. Zwar könnte die dargestellte Haltung auch als aktives Handeln gelesen werden, der erfahrenen Missachtung mit Respekt entgegenzutreten, jedoch deutet sich diese Haltung an anderer Stelle als zunehmend fragil an.213 Am Beispiel von Kindern, die in der Illegalität leben, wird die Wirkmächtigkeit von Sprache schließlich ein weiteres Mal verdeutlicht. Es zeigt sich im Bezug auf diese Kinder eine besondere Verletzlichkeit, die sich aus ihrer unsicheren Position als illegalisierte EinwanderInnen sowie der prekären Zustände in ihrem Herkunftsland konstituiert. Mit Verweis auf ihre Cousine, die „nicht mal sechs Jahre alt“ ist und „diese rassistischen Sachen“ bereits kennt, wird die Tragweite durch Busra auf eine weitere Gruppe ausgeweitet. Es handelt sich um Kinder, die noch einige Jahre jünger sind als sie selbst. Es wird ein Kontrast hergestellt zwischen den beiden Altersstufen. Der Umstand, dass kleine Kinder in einem von Rassismus geprägten Umfeld aufwachsen müssen und ihre Schlüsse – 212 213

FranzösInnen werden pauschal als ChristInnen positioniert. „Wenn ich größer bin, denke ich, werde ich mich stärker politisch engagieren, um diesen Zirkus zu beenden, solche Sachen. Zu verstehen geben, dass wir uns auch aufregen können und dass wir nach einer Weile auch anfangen können, rassistisch zu sein. Jetzt im Moment sind wir nicht rassistisch, nur wir mögen es nicht, wir sind nicht dabei rassistisch zu werden, aber es ist nur so, dass man nach einer Weile rassistisch werden wird.“ (Busra, Z. 858-864). Interessant ist die Verwendung des Begriffs rassistisch – Rassismus als Gegenreaktion auf Rassismus – das heißt in dem Fall Rassismus gegen die Weißen.

252

TEIL III: Empirischer Teil

auch in diesem Fall Misstrauen – daraus ziehen, wird als besonders schockierend gekennzeichnet.214 Verschiedene Handlungsweisen werden mit dem Ziel der friedlichen Begegnung mit als rassistisch gekennzeichneten Personen angeführt: (1) Pflege eines netten und respektvollen Umgangs, (2) die Bereitschaft über Jesus Christus, aber (als Zeichen des Respekts) nicht über den eigenen Propheten zu sprechen, (3) Versuche, miteinander ins Gespräch zu kommen und (4) eigene Adaptionsbestrebungen. In der Schilderung des eigenen Vorgehens werden Maximalkontraste zu den als rassistisch beschriebenen Personen gezeichnet. Aus der eingenommenen „Wir“-Perspektive geht nicht hervor, ob für die Gesamtheit der MuslimInnen oder nur die Teilnehmenden der Gruppendiskussion gesprochen wird. Zudem scheinen sich konkrete und diffuse Erfahrungshorizonte zu durchmischen. Die Freundschaft zwischen Mélina mit zentralafrikanisch-katholischer Zugehörigkeit und den Mädchen mit nordafrikanisch-muslimischer Zugehörigkeit wird schließlich als Beleg präsentiert, dass trotz Unterschiedlichkeit freundschaftliche Verbundenheit entstehen kann. Ausgehend von dieser positiven Erfahrung wird der Wunsch formuliert, Gleiches auch mit den anderen Menschen zu erfahren. Verbunden ist dieser Wunsch mit der Botschaft, dass sie selbst ihren Teil bereits dazu beitragen, alles andere jedoch nicht in ihrer Macht steht. Sowohl in der Darstellung der unterschiedlichen Handlungsweisen als auch in den Freundschaften zwischen Angehörigen unterschiedlicher natioethno-kultureller Zugehörigkeiten wird Akteurschaft verkörpert. Diese wird jedoch in Hinblick auf das Ziel eines friedlichen Zusammenlebens im Aufnahmekontext für sich allein genommen nicht als wirkmächtig empfunden. Zugehörigkeit und Differenz zu Aufnahme- und Herkunftskontext Die bisher sehr pauschalisierenden beziehungsweise wenig konkreten Aussagen zu Personen, die als rassistisch eingestuft werden, werden in einer anderen Passage ausdifferenziert, wobei auch ein differenzierteres Bild vom Lebensmittelpunkt Frankreich gezeichnet wird: MEf:

214

[...] Und auch, was mich -, was mich auch -, dass es, also, es gibt Leute, also in der Straße, es gibt Leute in der Straße, die du nicht kennst und

Aus dieser Kontrastierung lässt sich schließen, dass sie in dem gleichen Alter Rassismus nicht in diesem Ausmaß erfahren hat.

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

[...] BUf :

253

äh, die nett zu dir sind, selbst wenn du nicht die gleiche Hautfarbe wie sie hast. Sie sind trotzdem nett zu dir und akzeptieren dich. Sie werden dich nicht -, sie werden dir nicht sagen: „Eh du, verzieh dich, ich will dich hier nicht“. Sie werden dir nicht sagen: „Du hast nicht die gleiche Hautfarbe wie ich“.

Also ich hab mir gesagt, dass eigentlich ähm, nicht alle gleich sind. Zum Beispiel, die Hälfte der Franzosen sind uns gegenüber rassistisch und dagegen, dass wir in Frankreich sind, sie sagen, dass das ihr Land ist. Und dann gibt es die andere Hälfte, die uns versteht, das ist gut und das freut uns. MEf : Ich sage, dass die andere Hälfte immerhin, die andere Hälfte -. Ich sage, dass ich Frankreich deshalb mag, genau. BUf: Ich wohne -, wir wohnen immerhin in Frankreich. MEf: Es gibt viele Sachen hier, die man haben kann, während in unseren Ländern man viele Sachen nicht bekommen kann und es gibt Kinder, die nicht wie wir sind. (Gruppe Bogen, Z. 795-840)

Von den zufälligen, freundlichen Begegnungen in der Straße mit Menschen anderer Hautfarbe zeigt sich Mélina geradezu überwältigt. Sie stellt den bis dahin negativen Schilderungen positive Erlebnisse mit Menschen gegenüber, die sich nicht der Kategorie rassistisch zuordnen lassen. Zugleich dokumentiert sich, dass sie Ablehnung angesichts normabweichender Hautfarbe als Normalität annimmt. Von ihr zunächst als Ausnahmeerscheinungen deklariert, teilt Busra die französische Bevölkerung in zwei gleichgroße Gruppen ein: in rassistische und in verständnisvolle Personen. Mit Blick auf die zweite Gruppe ist ein wichtiger positiver Gegenhorizont benannt, der das Leben als Person mit zugeschriebenem Migrationshintergrund in Frankreich lebenswert macht. Dieses Bekenntnis zu Frankreich gewinnt zudem an Kontur vor dem Hintergrund, dass ein Leben in den Herkunftsländern trotz starkem Zugehörigkeitsgefühl – dies deutet Mélinas Vergleich an – vermutlich keine Option darstellt.215 Im Zuge der Frage „Wie wollt ihr leben, wenn ihr erwachsen seid oder jugendlich?“ werden Nähe und Distanz zum Herkunftskontext erneut bekräftigt. MEf:

215

Ich würde gern unter guten Bedingungen leben, dass es keinen Rassismus mehr gibt und dass schonmal die Leute, die sich rassistisch verhal-

In diese Argumentation reiht sich unter anderem die Aussage „Wir haben Glück, dass wir so eine Schule besuchen können“ (Tal, Z. 542) ein.

254

TEIL III: Empirischer Teil

[...] BUf:

ten, na also, dass die damit aufhören, weil wir, vielleicht sind wir hierhergekommen, aber wenn wir gekommen sind, dann, weil es in unserem Land nichts gibt, man kann nicht –

Und auch, in unseren Ländern gibt es Armut und es ist wahr, da machen wir uns nichts vor, in Frankreich, in ganz Frankreich, habt ihr schon ein bisschen, ein bisschen Reichtum. LAf: Aber den haben wir in unseren Ländern nicht. (Gruppe Bogen, Z. 865-884)

Der positive Gegenhorizont guter Lebensbedingungen wird über soziale Anerkennung in Kontrast zu den Rassismuserfahrungen im Aufnahmekontext sowie über materielle Sicherheit in Kontrast zu den Armutserfahrungen im Herkunftskontext konzeptualisiert. Beide Erfahrungen sind insofern miteinander verknüpft, als dass die Kinder Verständnis für die Notwendigkeit der Migration aufseiten der aufnehmenden Migrationsgesellschaft einfordern. Wenngleich ein Leben im Herkunftskontext keine Option darstellt, wird dem starken Zugehörigkeitsempfinden durch die transnationalen Familienstrukturen Ausdruck verliehen. TAf:

Und ich möchte gern, ich möchte gern, also, dass ich meine Familie, die nicht in Frankreich ist, sondern in Marokko, häufiger sehe. Ich würde sie gern häufiger sehen, weil ich sehe sie nur zwei Monate in den Sommerferien. Ich fahre nach Marokko und sehe ich zwei Monate lang, aber den Rest des Jahres sehe ich sie nicht. ((…)) Weil sie keine französischen Papiere haben, können sie nicht kommen und so weiter und ich möchte sehr, dass sich das ändert. LAf: Meine Großmutter und mein Großvater zum Beispiel sind krank und ich sehe sie nicht und das ist traurig und ähm, ich möchte sie gern sehen, aber ich kann nicht. Die Reise ist lang und wir können nicht dahin gehen. Vor zwei Jahren bin ich das letzte Mal dort hingefahren und mein Großvater und meine Großmutter fehlen mir, deshalb. Ich sehe sie nicht mehr, ich höre nur ihre Stimmen [...]. (Gruppe Bogen, Z. 551-567)

In dem geäußerten Wunsch216, die Familie in den Herkunftsländern häufiger zu sehen, dokumentiert sich die tiefe emotionale Verbundenheit über die große räumliche Distanz und die Ländergrenzen hinweg. Das Ausmaß die216

Vorausgegangen war die Frage „was ihr gerne mögt und was ihr gern haben oder sein würdet“.

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

255

ser Entbehrung wird verdeutlicht anhand der sehr begrenzten Möglichkeiten sich zu sehen. Diese werden erneut über die exkludierende Wirkung fehlender Papiere elaboriert und als ungerecht markiert.217 Durch den Umstand der Krankheit von Lailas Großeltern erhält die räumliche Trennung noch größere Dramatik. Zusammenfassende Darstellung des Orientierungsrahmens Für die Gruppe Bogen dokumentieren sich themenübergreifend folgende homologe Muster: Die Dominanz der Themen Zugehörigkeit und Differenz mögen zwar damit zu tun haben, dass die Kinder sich im Rahmen der Konferenz als Kinder mit Migrationshintergrund adressiert fühlen. Spezifisch ist jedoch die Art und Weise, wie sie sich zu dem Thema verhalten. Zudem zeigt sich die kollektive Orientierung von den Erfahrungshorizonten im familiären Aufnahme- und Herkunftskontext maßgeblich geprägt. Grundsätzlich scheinen die Kinder über eine genaue Vorstellung darüber zu verfügen, was ihnen wichtig ist. Ein gutes Leben und Wohlbefinden werden über soziale Anerkennung und Teilhabe, gute Lebensbedingungen und Zukunftsaussichten sowie liebende und fürsorgliche Eltern konzeptualisiert. Sie positionieren sich als mehrfachzugehörig in einem transnationalen Raum. Als positive Gegenhorizonte werden zum einen soziale Anerkennung in Kontrast zu Rassismuserfahrungen im Aufnahmekontext und zum anderen gute Lebensbedingungen und Zukunftsaussichten in Kontrast zu Armutserfahrungen im Herkunftskontext gesetzt. Der positive Gegenhorizont der sozialen Anerkennung gewinnt insbesondere vor dem Hintergrund der Rassismuserfahrungen und mangelnder Anerkennung an Kontur. Auch das Akteurskonzept wird vor dem Hintergrund der spezifischen Rahmenbedingungen des Migrationskontextes diskutiert: Im Vergleich zu Kindern im Herkunftskontext wird ein Mehr an Akteurschaft ausgemacht. Die Teilnehmenden sehen sich ihnen gegenüber in einer privilegierteren und glücklicheren Position. Auf der anderen Seite wird eine im Vergleich zur Mehrheitsgesellschaft im Aufnahmekontext eingeschränkte Akteurschaft ausgemacht. Sie erleben sich hier in einer benachteiligten Position, die durch

217

Innerhalb der natio-ethno-kulturellen Community werden Untergruppen mit unterschiedlichen Status und Privilegien festgestellt.

256

TEIL III: Empirischer Teil

die machtvolle Fremdpositionierung als nicht-zugehörig begründet ist.218 Da der Aufnahmekontext den primären Bezugsrahmen darstellt – anders als in der Gruppe Komet, wo die eigene Migrationserfahrung den Bezug zum Herkunftskontext noch verstärkt – ist die Wahrnehmung der eingeschränkten Akteurschaft und einer benachteiligten Position vordergründig. Das Aberkennen von Zugehörigkeit in ihrer Heimat Frankreich irritiert. Zugehörigkeit wird damit nicht nur zu einer Frage von Papieren, Aufenthaltsdauer oder Sprache. Aus diesem wirkmächtigen Erleben heraus positioniert sich die Gruppe, die sonst recht sicher in ihrer Orientierung auftritt, als verunsicherte AkteurInnen. Das Gefühl der Ablehnung führt zu Traurigkeit, Traumatisierung, Wut, Verinnerlichung der herabwürdigen Fremdpositionierungen, zunehmendem Misstrauen gegenüber Personen, die nicht der gleichen Gruppe angehören sowie Rückzugstendenzen in die eigene Gruppe. Das eigene Handeln im Hinblick auf das Ziel eines friedlichen Zusammenlebens im Aufnahmekontext wird für sich allein genommen als nicht wirkmächtig empfunden. Zwar positioniert die Gruppe sich als für ein gutes Zusammenleben mitverantwortlich, in Bezug auf die konkrete Problemlage wird jedoch eine eher geringe Selbstwirksamkeit angenommen. Nicht zuletzt wird die eigene Haltung des Respekts in diesem Zusammenhang als zunehmend fragil angesehen. Eingeschränkte Akteurschaft ergibt sich auch aus der Zugehörigkeit zur generationalen Gruppe der Kinder. Wenn sie älter sind, glauben sie, etwa durch politisches Engagement und Aufbegehren stärkere Wirkmacht entgegen der erfahrenen Ungerechtigkeit erzielen zu können. Insgesamt betrachtet scheint die Verunsicherung bezüglich der eigenen Akteurschaft explizit an die konkreten Differenzerfahrungen geknüpft zu sein. Zugleich dokumentiert sich die Bereitschaft, aktiv zu einem Wandel beizutragen.

218

Inwieweit damit auch Formen institutioneller Diskriminierung verbunden werden, geht außer für die Gruppe der illegalen ZuwanderInnen aus der Argumentation nicht hervor.

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

7.3.3

257

Gruppe Stift (NL) – Ungewisse Akteurschaft in den Unwägbarkeiten des Alltags

Zusammensetzung der Gruppe Die Kinder der Gruppe Stift besuchen zum Zeitpunkt der Befragung gemeinsam die groep 5 (entspricht der 3. Klasse) einer niederländischen Grundschule (basisschool). Die Gruppe besteht aus drei Jungen und vier Mädchen.219 Die Sprachspielgruppe, an der die Kinder teilnehmen, wird im Rahmen einer verlängerten Lehrzeit zwei Stunden pro Woche angeboten und umfasst kulturelle Aktivitäten, die im Zusammenhang mit dem Sachunterricht stehen (zum Beispiel Wortschatzarbeit über Theater, Musik, Texte, Handarbeit). Zudem werden sprachliche und leistungsbezogene Heterogenität über Binnendifferenzierung im Unterricht bearbeitet. Die Zusammenstellung der Gruppe für die Diskussion erfolgte durch die Klassenlehrerin. Zum Bildungs- beziehungsweise beruflichen Hintergrund der Eltern ist Folgendes bekannt: die Mütter sind Hausfrauen, in einer Bibliothek beziehungsweise als Reinigungskraft tätig. Die Väter sind Bauarbeiter, Fabrikarbeiter, Straßenbauer, im Gastgewerbe tätig beziehungsweise arbeitssuchend. Die Kinder und ihre Familien stammen aus der Türkei, Serbien, China, Angola, Indien und Eritrea. Es ist nicht bekannt, ob die Kinder in den Niederlanden oder in einem anderen Land geboren wurden. Der Erstkontakt erfolgt mit Beginn der Gruppendiskussion. Die Kinder betreten freudig den kleinen Mehrzweckraum, in dem Hocker im Halbkreis aufgestellt wurden und zeigen sich neugierig und zugleich etwas unsicher angesichts dessen, was auf sie zukommt. Die Stimmung ist von Anfang an sehr lebendig und heiter. Die Kinder und die beiden ModeratorInnen lernen sich kennen und tauschen sich über den Ablauf der Gruppendiskussion aus. Wie auch in Gruppe Fenster ist es I1, der die Moderation übernimmt, während I2, da sie der niederländischen Sprache nicht mächtig ist, eher im Hintergrund bleibt. Diskursorganisation Der Einstieg in die Diskussion ist weniger selbstläufig als in anderen Gruppen. Es braucht einen Moment, bis die Kinder mit dem Setting vertraut 219

Asane (ASf), Boon (BOm), Carl (CAf), Coralie (COf), Esra (ESf), Mobi (MBm), Trixi (TRf)

258

TEIL III: Empirischer Teil

sind. Dies mag unter anderem daran liegen, dass im Vorfeld kein Kennlerntreffen mit den ModeratorInnen stattfand. I1 wird anfangs mit „Herr Lehrer“ angesprochen, später als „Herr Kay“ und schließlich überwiegend mit „Kay“. Auch scheint den Kindern zunächst nicht ganz klar zu sein, was von ihnen erwartet wird. Mit Verlesen des Eingangsstimulus tritt Stille ein bis I1 diesen durch den Folgereiz ergänzt. Der etwas zögerliche Einstieg veranlasst I1 sehr bestätigend vorzugehen (zum Beispiel „Das sind schon gute Punkte“), was – wie man an einem veränderten Antwortverhalten erkennen kann – augenscheinlich zu mehr Selbstsicherheit bei den Kindern führt.220 Insgesamt bleibt I1 über den Verlauf hinweg jedoch präsenter als in anderen Gruppen. Das Gesprächsklima ist insgesamt sehr lebhaft. Es wird viel gelacht. Zudem wird sehr frei auch über sensible Themen gesprochen, zum Beispiel über die Scheidung der Eltern, Tränen, Ängste. Spezifisch für die Gruppe ist außerdem, dass Erzählungen häufig durch performative Handlungen in Form von Rollenspielen veranschaulicht werden. Es wird insgesamt fast ausschließlich an die konkrete Lebenswelt angeschlossen und in den Erzählungen auf Erfahrungen Bezug genommen, die allen Kindern bekannt sind. Carl dominiert die Diskussion in der Anzahl der Redebeiträge, der Lautstärke sowie den performativen Inszenierungen. Boon und Mobi verhalten sich sehr ruhig, werden von Carl jedoch von Zeit zu Zeit in die Diskussion und als Statisten in die Rollenspiele einbezogen. Zudem wird Mobi von Carl wiederholt provoziert. Unter den Mädchen beteiligen sich vor allem Esra, Coralie und Trixi sehr aktiv an der Diskussion und interagieren mit Carl, formieren mitunter gemeinsam aber auch ein Gegengewicht zu seiner den Diskursverlauf dominierenden Art. Diskursbeschreibung Nachdem die Kinder den Raum betreten und ihre Plätze eingenommen haben, stellen sich I1 und I2 vor, erklären das Vorhaben sowie Verlauf und Gesprächsregeln der als Kinderkonferenz gestalteten Gruppendiskussion und verweisen auf die ExpertInnenrolle der Kinder. Nach der Klärung offener Fragen und der Anfertigung der Namensschilder folgt das Aufwärm-

220

Inwieweit diese Äußerungen die Dynamik der Diskussion auf inhaltlicher Ebene beeinflussen, ist am Material zu prüfen.

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

259

spiel. Die über das Wollknäul entstandene Vernetzung wird als Überleitung zur Kinderkonferenz genutzt. Der Eingangsstimulus wird wie folgt vorgetragen: I1:

Also, Ihr dürft euch also nun vorstellen, dass wir uns auf einer Kinderkonferenz befinden. Und ihr müsst nun den Erwachsenen erklären, zum Beispiel uns, ihr den Erwachsenen erklärt, was für euch als Kind wichtig ist, zum Beispiel: Wir sind daran interessiert, was für euch ein glückliches und schönes Leben ist und was das bedeutet. Und was braucht man eurer Meinung nach, um zu sagen, dass das Leben gut ist und vor allen Dingen auch warum? Also, erzählt mal. Könnt ihr euch ein wenig vorstellen, was ich damit meine? ESf: Ja! Andere: Nein ((Trixi schüttelt den Kopf)) [...] I1: (Einfach) anfangen, ihr dürft einfach was sagen. ((Schweigen, 14 Sekunden, Kinder schauen an die Decke, drehen sich weg)) (Gruppe Stift, Z. 30-49)

Die Kinder kichern zwischendurch und schauen sich leicht aufgeregt an. Die Rückfrage, ob sie sich etwas unter der beziehungsweise den Fragen vorstellen können, verneinen mehrere Kinder. Esra gibt zwar an, dass sie sich etwas darunter vorstellen kann, gefragt ob jemand anfangen möchte, schlägt sie jedoch vor, bei anderen Kindern anzufangen. Während I1 nochmals auf die freie Kommunikation ohne Vergabe einer Reihenfolge verweist, setzt Stille ein, die Kinder drehen sich zum Teil weg oder schauen an die Decke, wodurch deutlich wird, dass der komplex formulierte Eingangsstimulus vermutlich nicht verstanden wurde. Wohlbefinden durch schulische und außerschulische Aktivitäten Der Eingangsstimulus wird daraufhin von I1 zugespitzt auf die Frage: „Also, was sind für euch Dinge, von denen ihr sagt, dass das macht mich glücklich, das find ich, das tut mir gut?“. Ähnlich wie in anderen Gruppen setzt dann zunächst eine schlagwortartige Aufzählung ein. I1: CAm: I1: CAm: I1:

Also, was sind für euch Dinge, von denen ihr sagt, dass das macht mich glücklich, das find ich, das tut mir gut? Ich weiß es! Und was ist dann für mich ver-. Ja, sag mal! ((zu Carl)) Fussball. Fussball. ((Carl nickt)) ok.

260

TEIL III: Empirischer Teil TRf: I1: CAm:

Jeden Tag zur Schule gehen. Jeden Tag zu Schule gehen. Okay. Das sind schon gute Punkte. ( ) So wie das hier. ((zeigt auf den Boden)) und Schulausflug und Rechnen. I1: Zur Schule gehen, Rechnen. CAm: So wie das hier, das macht auch Spaß, wir sprechen einfach. ESf: Ja, das macht Spaß. TRf: Wochenende. CAf: ((zu Boon)) Warum hast du noch nichts gesagt? Du wolltest doch auch was sagen. Herr Lehrer, er will was sagen. BOm: Ja, das möchte ich. I1: Ja, sag mal. BOm: Draußen spielen. ESf: Malen. MBm: Sport machen. I1: Sport machen. CAm: Du kannst keinen Sport machen. ((zu Mobi)) ((kurze Pause, 2 Sekunden)) TRf: Malen. I1: Malen. Gehört das für euch alles zu einem guten Leben? Bei eine:::- was euch glücklich macht? ((zu Asane, die aufzeigt)) ja, sag mal. ASf: Sprachspielgruppe [Taalspeelgroep] CAm: Nein, Sprachspielgruppe ist langweilig. ASf: Ne:in! I1: Ihr dürft einfach-, ihr braucht nicht die Finger hoch zu - , ihr dürft einfach was sagen. Schießt einfach drauf los.221 ESf: Malen. ASf: In der Klasse müssen wir unbedingt aufzeigen. I1: Das braucht ihr hier nicht, wir sind nun nicht im Unterricht [...] Ihr dürft einfach – Also wir sind nun, sagen wir, außerhalb der Schule, also dürft ihr einfach ruhig was sagen. [...] ESf: Freies Schwimmen. I1: Freies Schwimmen? ((Esra nickt)) CAm: Ich hab auch, ich hab noch einen (.) Tanzen! I1: Tanzen. ESf: Ta:nse:n. ((grinst)) ASf: °das kann ich auch ganz gut° TRf: Musik hören. I1: Musik hören. Ok. Was denkt ihr sonst so? CAm: Zuhause mit (Justin Bieber ) TRf: Nein stimmt nicht! Du hörst K3! ((Musikgruppe mit Popliedern für Kinder)) ((Gelächter 7 Sekunden))

221

Frei übersetzt.

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

261

CAm: O:h, K3. ((lachen 4 Sekunden, I1 und I2 beraten sich)) ESf: Wer hört K3? TRf: Na er! ((zeigt auf Carl)) (Gruppe Stift, Z. 50-107)

Mit seinem Einwurf „Ich weiß es!“ signalisiert Carl, dass die Frage nun verstanden wurde, und nachdem die ersten Propositionen von I1 als angemessene Antworten markiert und sogar positiv konnotiert werden, nimmt die Sicherheit im Antwortverhalten unter allen Teilnehmenden zu. Dennoch verbleiben die Kinder zunächst eng am vertrauten schulischen Modus sich zu melden, was I1 dazu veranlasst, diese schulische Kommunikationsregel für das Setting der Gruppendiskussion erneut aufzuheben. Formulierungen wie „Ihr dürft“ und „In der Klasse müssen wir“ verweisen darauf, dass sowohl I1 als auch die Kinder sich der Wirkmacht dieser generational strukturierten Kommunikationsregel in der Schule bewusst sind. Zugleich spielen sie mit der vorgefundenen Komplizenschaft (vgl. Kap. 2.2). Obwohl jeweils nur Stichworte genannt werden, beziehen sich diese aufeinander und ergeben ein einheitliches Bild. Aufgezählt werden unterschiedliche Dinge, die Spaß machen und unter dem Begriff Aktivitäten subsumiert werden können: Es deutet sich eine hohe Freizeitorientierung an, zugleich stellen Nennungen wie „jeden Tag zur Schule gehen“, „Schulausflug“, „rechnen“, „das hier“ (Diskussionsgruppen wie diese) und „Sprachspielgruppe“ einen schulischen Bezug her. Möglich ist, dass auch Aktivitäten wie Malen, Sport/Fußball oder draußen spielen Bezug zum schulischen Kontext haben. Bis auf „rechnen“ werden jedoch Aktivitäten genannt, die zwar den schulischen Kontext berühren, aber außerhalb des Regelunterrichts liegen und eher sportliche und kreative Bereiche betreffen. Auch ist auffällig, dass es sich vor allem um weniger formal organisierte Formen der Freizeitgestaltung mit geringem monetärem Aufwand handelt.222 Zum Teil werden einzelne Nennungen von anderen Kindern kommentiert, etwa um diese zu validieren, zu hinterfragen oder um einen gegenteiligen Geschmack zu äußern. Die im Vergleich zu anderen Gruppen starke Präsenz durch I1 (durch Wiederholung und Kommentierung von Antworten, Metakommunikation und weitere Versuche der Erzählanregung) und

222

Siehe dazu freizeitbezogener Habitus in Milieus mit geringeren Kapitalien bei Betz (2009: 17).

262

TEIL III: Empirischer Teil

damit auch Steuerung der Diskussion hält noch eine Weile an.223 Selbstläufigkeit ergibt sich vor allem dann, wenn auf bestimmte Ereignisse Bezug genommen wird, die dann wechselseitig elaboriert werden.224 Da weitere Fragen und Versuche der Konkretisierung dazu, was sie „sonst noch glücklich“ macht und ihnen „sonst noch wichtig“ ist, keine weiteren Erkenntnisse hervorzubringen scheinen, ist es schließlich Esra, die darum bittet, mit anderen Fragen fortzufahren. Die genannten Aktivitäten in und außerhalb von Schule werden mit Spaß in Verbindung gebracht und in dieser Verbindung als positive Gegenhorizonte markiert. In ihrer Positionierung bezüglich ihrer Interessen scheinen sie sicher. Jedoch lässt sich, da die Propositionen kaum über den Aufzählcharakter hinausgehen, nicht rekonstruieren, wie sich die Bedeutung für das Wohlbefinden begründet. Ungewöhnlich ist auch, dass trotz der offenen Fragestellungen außer Aktivitäten kaum weitere Aspekte benannt werden, die wichtig sind, guttun, glücklich machen etc.225 Hierin könnte wie 223

224

225

Auch I1’s Bitte, die genannten Aspekte noch ein wenig zu erklären, bringt nur geringe Selbstläufigkeit hervor (Z. 108-147). Carl benennt Rechnen als sein Lieblingsfach. Konkret auf den Punkt „gerne zur Schule“ angesprochen, folgen die Antworten: um zu lernen, um nicht dumm zu sein, um schlau zu sein. Die Rolle von Hausaufgaben und Prüfungen wird hervorgehoben. Zudem benennt Carl Thaiboxen als weiteres Lieblingsfach, wobei auch auf Nachfrage unklar bleibt, ob dies als Fach beziehungsweise AG in der Schule angeboten wird. Es entwickeln sich Nebengespräche, die an das Thaiboxen anschließen und unter anderem dazu dienen zu klären, wer wen schlagen kann. Esra fragt zudem in die Runde, wer Facebook hat und gibt selbst an, Facebook zu haben. Dies ist zum Beispiel der Fall, als Carl auf die Nachfrage von I1 „Und das sind alles Dinge die euch glücklich machen?“ als negativen Gegenhorizont das Thema Scheidung der Eltern einbringt („Dass dein Vater und deine Mutter sich nicht scheiden“) (Z. 148184). Trixi erklärt daraufhin, „Da ist er ((Carl)) sehr traurig drüber“ – was von Coralie und Asane validiert wird – und dass er deswegen geweint hat. Carls Konter „Du auch, wenn ich dich schlage“ validiert die erfahrene Scheidung der Eltern und seine Tränen aufgrund des seelischen Schmerzes. Zugleich spielt er auf Tränen aufgrund körperlicher Schmerzen an, die er in einer Art Drohung in Richtung Trixi formuliert, womöglich, da sie über seine Gefühle gesprochen hat. Carls Reaktion sorgt für Lacher in der Gruppe und führt zum Themenwechsel über körperliche Schmerzgefühle. Die Kinder kneifen sich gegenseitig und unterhalten sich darüber. Asane und Esra fordern die Gruppe dazu auf, das Gespräch fortzusetzen („wir machen wieder weiter“; „Quatscht ihr mal nicht so viel“). Das Thema Scheidung dokumentiert sich hier nicht als konjunktiver Erfahrungsraum, jedoch zeigt sich in der Art und Weise, wie das Thema verhandelt wird, ein solidarischer Umgang miteinander. Als „Träume der Zukunft“ werden genannt: „erst zum Fußball, wenn ich da zu alt bin, gehe ich zu Jura“, „Holland’s Got Talent werden“, „Journalistin werden“, „eine Ärztin

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

263

bereits angesprochen ein Hinweis auf Unsicherheit liegen, was das Setting und mögliche Erwartungen der ModeratorInnen angeht. In dem Fall müssen auch die genannten Antworten unter dem Aspekt der Annahme einer bestimmten Erwartungshaltung betrachtet werden. Diese Unsicherheit könnte dabei, so eine erste vorsichtige Deutung, auf eine Orientierungsunsicherheit im Allgemeinen zurückzuführen sein. (Nicht-)Angemessenheit bestimmter Handlungsfreiheiten in der Kindheit In der nachfolgenden Frage wird die Lebensphase der Kindheit in Kontrast zu Erwachsenen- und Jugendphase gesetzt. I1: CAm: I1: CAm: ESf: COf: CAm: ASf: TRf: ASf: TRf: ASf: CAm: ??: TRf: ASF: CAm: ESf: ASf: ??: TRf: [...] ESf:

226

Wir haben nun schon gefragt, was für euch als Kind wichtig ist für ein gutes Leben. [...] Habt ihr noch eine Idee, was für Erwachsene wichtig ist oder für junge Leute? Für jüngere Leute? Ja, für Jüngere, also. Für Jüngere. Kein Red Bull trinken. Kein Energydrink, so wie sie das tut. ((zeigt auf Esra)) Ich darf Red Bull, ich darf Coca Cola ( ), ich darf Energydrinks. Carl, ich mag Anisgetränk ( ) ich darf alles. ((zeigt auf Esra)) Sie hat Red Bull Kaugummi. ( ) Rebecca Timmerman226 darf Bier trinken seitdem sie acht ist. Wer? Rebecca. Das Mädchen? Ja. Wer ist Rebecca? (vom Tanzkurs ) Meiner Meinung nach ist sie zehn Jahre. Oder ist sie schon elf? Nein elf, ja, zwölf. Bier trinken? Das ist eklig. Sie zeigt den Jungs auch ((zeigt auf ihren Bauch)) wie heißt das nochmal? Nabelpiercing! (Was? ) Hat sie das jetzt schon? Ok. Ruhe. Wir machen weiter.

oder eine Rechtsanwältin werden“. Bis auf einzelne Kommentare wie „Holland’s Got Talent ist was für Kindergartenkinder“ oder „Rechtsanwältin? ((...)) Das wirst du nie“ werden die Träume nicht weiter ausgeführt (Z. 261-277). Name geändert.

264

TEIL III: Empirischer Teil (Gruppe Stift, Z. 226-258)

Carls Rückfrage, ob es sich bei „junge Leute“ um „jüngere Leute“ handelt, wird von I1 bejaht, wenngleich nicht klar ist, von welcher Altersspanne das Gegenüber jeweils ausgeht. Das Wort „also“ deutet an, dass I1 sich dieses Umstandes bewusst ist, aber es Carl überlässt, sich nach seinen Vorstellungen zu äußern. Statt auf die Frage danach, was wichtig ist, Bedürfnisse und damit positive Gegenhorizonte zu benennen, wird mit „Kein Red Bull trinken. Kein Energydrink“ eine Regel für „Jüngere“ aufgerufen. Mit seinem Verweis auf Esra, die sich dieser Regel offensichtlich widersetzt, wird deutlich, dass er sich mit „Jüngere“ auf Kinder seines Alters bezieht. Statt der von I1 intendierten Zukunftsperspektive verbleibt er mit seiner Proposition damit im Hier und Jetzt. Denkbar ist, dass die Kontrastierung der Lebensphasen in der Fragestellung so verstanden wurde, Erwachsenen-Dinge zu benennen, die für „Jüngere“ nicht erlaubt beziehungsweise angebracht sind. Der Konsum von Energydrinks wird für die generationale Gruppe der Kinder als unangemessen respektive verboten pauschalisiert. Carls Positionierung hinsichtlich dieser von ihm aufgerufenen Regel ist nicht eindeutig zu erkennen. Auch bleibt unklar, wer sie aufgestellt hat. Die Relevanzsetzung zeigt jedoch, dass Energydrinks eine Bedeutung für Erwachsene und/oder Jugendliche zugeschrieben wird und dass von den Getränken offensichtlich auch ein Reiz für Kinder ausgeht. Mit ihrer Erklärung, dass sie Red Bull und weitere Getränke trinken darf, validiert Esra die Existenz dieser Regel und zeigt zugleich an, dass sie für sie keinen Bestand hat, da ihr in diesem Bereich keine Grenzen gesetzt werden („ich darf alles“). Damit gilt die Regel nicht pauschal, sondern ist abhängig von Erwachsenen – aller Wahrscheinlichkeit nach den Eltern –, die diese Regel aufstellen oder nicht. Die Regelwidrigkeit, die ihr unterstellt wird, nimmt Esra nicht als Stigma an, vielmehr positioniert sie sich – belegt auch durch Coralie – als Akteurin mit für ihr Alter außergewöhnlichen Handlungsfreiheiten. Interessant ist, dass der Hintergrund des Gebots nicht verhandelt wird. Exemplifiziert am Verhalten eines Mädchens, das mehreren Teilnehmenden bekannt ist, erfolgt eine Steigerung regelwidrigen Verhaltens im Kindheits-/ Jugendalter vom Konsum von Energydrinks hin zu Konsum von Alkohol. Auch hier erfolgt das von den altersbedingten Normvorstellungen abweichende Verhalten den Schilderungen zufolge mit Erlaubnis. Die Schilderungen kennzeichnen den erlaubten Alkoholkonsum – auch vor

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

265

dem Hintergrund des jungen Alters – in seiner besonderen Art als extrem. Carl kommentiert das Biertrinken als „eklig“, wobei nicht eindeutig herauszulesen ist, ob er dies auf Geschmack bezieht oder auf die Tatsache, dass eine Achtjährige Bier trinken darf. Das Mädchen steigert den Erzählungen zufolge ihr abweichendes Verhalten noch insofern, als sie – mittlerweile elfoder zwölfjährig – ein Bauchnabelpiercing hat und dieses darüber hinaus noch den Jungen zeigt. Nicht nur, dass ein Piercing als nicht altersgemäß markiert wird, abweichendes Verhalten wird auch in einer sexualisierten Annäherung an Jungen ausgemacht. Zwar ist auch diesen Schilderungen keine eindeutige Positionierung zu entnehmen, jedoch wird die Angemessenheit dieser Form der als nicht altersgemäß konnotierten Akteurschaft in Ansätzen in Frage gestellt. In der Passage dokumentiert sich eine Orientierung an Regeln beziehungsweise die Suche nach für die Kindheit verlässlichen Regeln. Es zeigt sich, dass Verhaltensweisen, die an bestimmte Lebensphasen geknüpft werden, als in der Kindheit nicht regelkonform konnotiert werden. Dabei bleibt weitgehend unklar, wie die Kinder sich bezüglich dieser Abweichungen positionieren. Es deutet sich hier eine Orientierungsunsicherheit an. Diese Unsicherheit kann auch vor dem Hintergrund gelesen werden, dass Erwachsene diese Regeln offensichtlich unterschiedlich handhaben. Auch in weiteren Passagen dokumentiert sich das generationale Verhältnis von Kindern und Erwachsenen als von Unsicherheitsempfinden begleitet. Unheimliche Begegnungen in der Nachbarschaft als Unsicherheitsfaktor Im Rahmen der Übung Sonne werden auf die Frage, in welchen Bereichen sich Politiker beziehungsweise der König227 mehr für die Kinder einsetzen sollen („Also der König wird etwas ändern und ihr dürft entscheiden was“, Z. 379-380), unter anderem verschiedene Sicherheitsaspekte im nahweltlichen Umfeld benannt (zum Beispiel keine Gewalt, keine Einbrüche, keine Penner).228 Der Punkt „Keine Penner“ ruft eine weitere selbstläufige Erzählung zu Erwachsenenrollen und Unsicherheitsempfinden hervor. 227 228

I1 ersetzt den Begriff „Politiker“ zur Vereinfachung und mit Bezug auf den niederländischen König Alexander durch den Begriff „König“. Notiert werden außerdem: keine Umweltverschmutzung, schöne Natur, jeder wird Chef (dieser Punkt wird nicht mehrheitlich geteilt), keine Sklaven (auf Rückfrage stellt sich heraus, dass nicht der König der Niederlande, sondern Könige aus Geschichten als Vorlage für diesen Vorschlag dienten), mehr Geld für Eltern.

266

TEIL III: Empirischer Teil COf: CAM: COf: ESf: CAm: MBm: ESf: I1:

Keine Penner rumhänge-, rumhängen. Dass es keine Penner gibt. Da in der Nähe gibt es einen Penner, also keine Penner. Ja, der ist so unheimlich. Er hat einen blauen Zahn. Er ist super lustig. Ich mag den alten Mann. Hey Esra, ich hatte keine Angst vor ihm. Halt einfach deinen Mund. Könnt ihr das mal erklären? Denn I2 kennt das nicht. Was das ist, ob hier in der Gegend jemand ist. ESf: Ja bei mir. TRf: Ja bei ihr in der Nähe. MBm: Ja du hast Angst vor dem Penner. CAm: Er ist am meisten bei ihr. Er ist am meisten bei ihr. ((zeigt auf Esra)) Da gegenüber ist ein Hochhaus, da wohnt er. ASf: Ja ich wohne im selben Hochhaus, wie sie. ESf: Ja aber weißt du was er immer macht [...] Weißt du was er immer macht? Er fragt immer, möchtest du Geld? Ich sag nein, dann sagt er, ich lege es auf den Boden. Ich sag Nein. COf: Du musst Wörter sagen und dann deinen Namen. ESf: Er spricht ( ) – CAm: Weißt du was er sagt? Er sagt zu dir. Er ist meiner Meinung nach Muslim. Das bin ich auch. Tut er was, so ein muslimisches Ding. Du musst das, dies. ESf: Und was ist dein Name? Ich hab au CAm: ( ) Sie ist so dumm, dass sie einfach ihren Namen sagt. COf: Dass sie ihren Namen sagt. Ja. ESf: Was weiß ich. CAm: Und jetzt kommt der Moment, dass er ihren Namen aufgreift. ESf: Ja. [...] Aber er ist so unheimlich. I1: Er ist unheimlich. TRf: Ja, aber dann musst du auch nicht deinen Namen sagen. So weiß er auch wo du wohnst. ((zu Esra)) (Gruppe Stift, Z. 553-594)

Mit der Proposition „Keine Penner“ werden negative Assoziationen aufgerufen, die unmittelbar an einen gemeinsamen Erfahrungshintergrund geknüpft sind, konkret an eine Person im nahweltlichen Umfeld, die kollektiv als „Penner“ eingestuft wird. Das heißt, entweder gibt es nur diesen einen oder er fällt besonders auf. Dass dessen „Rumhängen“ und das weiterer „Penner“ unerwünscht ist verweist darauf, dass nicht Mitgefühl für mittelund obdachlose Menschen im Vordergrund steht, sondern ein anderes, ein persönliches Motiv. Der Mann wird als unheimlich empfunden. Das Gefühl

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

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des Unbehagens wird zunächst an seinem Erscheinungsbild („blauer Zahn“) festgemacht. Carl hingegen bestätigt das Unbehagen von Esra in Bezug auf den Mann nicht, sondern bezeichnet ihn im Gegenteil sogar als „super lustig“ und gibt an, ihn zu mögen. Anstatt von „Penner“ spricht er von dem „alten Mann“, was seine Haltung gegenüber der konkreten Person unterstreicht. Unklar ist, ob sich lustig eher auf die sonderbare oder humorvolle Art des Mannes bezieht. Die Verkündung seiner Sympathie für den Mann könnte für Letzteres sprechen. Mobi validiert, dass der Mann einen unheimlichen Eindruck macht, um sich dann jedoch in Kontrast zu Esra als mutig zu positionieren.229 Während der Mann bei Esra Unbehagen auslöst und Carl den Mann als harmlos einstuft, ordnet er die Situation als eine Frage von Mut ein. Auf I1’s Nachfrage hin wird die Geschichte über den alten Mann aus dem Viertel wechselseitig weiter elaboriert und sehr dicht diskutiert. Esra scheint aufgrund der räumlichen Nähe, dies wird kollektiv bestätigt, am stärksten betroffen. Die Angst vor dem alten Mann wird durch seine aufdringliche Art gegenüber Kindern begründet: „Er fragt immer, möchtest du Geld? Ich sag nein, dann sagt er, ich lege es auf den Boden. Ich sag Nein.“. Das Angebot von Geld erweckt Misstrauen auch vor dem Hintergrund, dass das eigene „Nein“ machtvoll übergangen wird. Dieses Gefühl von Vulnerabilität im Kontext generationaler Machtasymmetrien beschreibt auch Coralie in der Aufforderung des Mannes, Wörter zu sagen und den eigenen Namen zu nennen („Du musst“). Verhandelt wird dabei nicht die Frage, was der alte Mann damit bezwecken könnte, sondern welches Gefühl dieses machtvolle Handeln, mit dem sie unfreiwillig konfrontiert werden, auslöst, indem durch eine machtvollere Person Anweisungen formuliert werden, denen nicht zu folgen als schwierig empfunden wird.. Demgegenüber stellt Carl das Handeln des Mannes wie etwa die Aufforderung zur Benennung von Wörtern in einen religiösen Kontext („Tut er was, so ein muslimisches Ding. Du musst das, dies.“). Mit Verweis auf die Religion rekurriert er auf eine gemeinsame Zugehörigkeitsdimension. Trotz 229

Die Intention seiner direkten Ansprache von Esra bleibt uneindeutig. Möglich ist, dass er sie mit seinem Mut beeindrucken, ihr Mut zusprechen oder sie mit ihrer Angst herabwürdigen möchte. Esras Reaktion löst dies nicht auf. Denkbar ist, dass sie sich provoziert sieht angesichts der von ihr offenbarten Ängste, möglich ist aber auch, dass sie häufiger so mit ihm verfährt, während er sich um ihre Anerkennung bemüht. Dieser Verdacht entsteht, da Mobi häufiger forsche Reaktionen erfährt.

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TEIL III: Empirischer Teil

dieser Relativierung kritisiert er Esras Verhalten, den Aufforderungen des Mannes Folge geleistet und ihren Namen genannt zu haben als dumm. Indem ihr vorgehalten wird, falsch reagiert und dem Mann Informationen über sich gegeben zu haben, werden Esras Ängste noch verstärkt. Zugleich wird deutlich, dass auch die anderen Kinder davon ausgehen, Carl eingeschlossen, dass von dem Mann eine gewisse Gefahr ausgehen könnte. Demzufolge bleibt eine (nicht nur für Esra noch zu klärende) Frage, wie man mit solch unheimlichen, machtasymmetrisch strukturierten Situationen adäquat umgeht. Die Konklusion der Passage wird herbeigeführt durch Carl, für den der Punkt offensichtlich ausdiskutiert wurde und der angibt, noch eine weitere Idee für eine Verbesserung zu haben (Z. 589-597). I1 steigt darauf ein und erteilt ihm das Rederecht, obwohl Esra noch etwas erzählen wollte. Das Thema wird danach nicht mehr aufgegriffen, auch nicht von Esra. Der Punkt „keine Penner“ wird von I1 auf einem Zettel notiert, nachdem er gemeinschaftlich als wichtiger Punkt anerkannt wurde. In der Proposition „Keine Penner“ dokumentiert sich als positiver Gegenhorizont Sicherheitsempfinden im Wohnumfeld. Der negative Gegenhorizont wird weniger pauschal auf eine bestimmte Personengruppe bezogen als auf die Bedrohlichkeit, die in konkreten Situationen beziehungsweise bei bestimmten Personen damit verbunden wird. Der Begriff „Penner“ wird dabei über den Aspekt des Rumhängens und bestimmte Zuschreibungen, nicht aber über Obdachlosigkeit definiert.230 Es geht weniger darum, dass es keine Penner geben soll als um die konkrete Person, die unheimlich ist. Der alte Mann verkörpert etwas, das den Kindern in unterschiedlichem Ausmaß Unbehagen bereitet und sie wirkmächtig mit ihrer Vulnerabilität konfrontiert. Diese Vulnerabilität vollzieht sich im Kontext generationaler Machtasymmetrien. Als weiterer positiver Gegenhorizont kann ein erfolgreiches Bewältigungshandeln im Falle der Konfrontation mit derartigen machtasymmetrisch strukturierten Situationen ausgemacht werden. Hilfe durch andere Erwachsene oder die Möglichkeit als Gruppe zu agieren werden nicht thematisiert.231

230 231

Der alte Mann wird nicht als obdachlos beschrieben. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass die Interaktionen mit dem Mann immer als Eins-zu-Eins-Situationen beschrieben werden.

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

269

Existentielle Bedürfnisse der Familie vor den Handlungsfreiheiten der Kinder In einer weiteren Passage werden über den positiven Gegenhorizont der materiellen Sicherheit die Rollen von Kindern und Eltern ausgelotet. I1: CAm:

ESf: CAm: TRf: CAm: ESf: TRf: COf: CAm: ESf: CAm: ASf: [...] TRf: ESf: [...] I1: TRf: [...] ESf:

Was ist für dich als Kind wichtig? Dass die Eltern mehr Geld bekommen. [...] Dass die Gemeinde ((Behörde)) immer auf das gleiche Konto überweisen muss. Denn das ist bei meiner Mutter passiert und sie hat ihr Geld bekommen, aber das ging auf eine andere Bank, auf das alte, das ist geschlossen von der Rabobank. Nein, gerade andersrum. Die Kinder müssen Geld bekommen. Natürlich nicht. Natürlich nicht. Die wissen nicht, was sie mit dem Geld tun müssen. Schuhe kaufen. Shoppen. Was weiß ich. Kleidung kaufen. Was die Mütter alles kaufen. Ok. Nur die Mädchen. Die Jungs nicht. Ja. Tschüss. Dann mach mal lieber die Einkäufe für deine Mutter. Weißt du wie dumm du dann bist? Was machst du denn dann? Mütter machen Einkäufe. Und Leute können es so wegnehmen ( ) ((schauspielert einen Überfall nach)) Ja:Ja: Und dann weg ((spielt jemanden nach, der sich Geld in die Jackeninnentasche steckt)) Das ist mal bei meiner Oma passiert. Kinder sind noch viel zu jung für Geld. Nein, ich hab sau viel Geld zuhause. Also es ist wichtig für Eltern, nicht für Kinder? Ja, nicht für Kinder. Nur für Eltern.

Carl, beim Zuckerfest bekomme ich doch auch Geld. [...] Das ist doch ein Kind, oder nicht? CAm: Ja, das ist einfach bei einem Fest. Sei mal ein wenig klug. [...] (Gruppe Stift, Z. 598-647)

Mit der Proposition „Dass die Eltern mehr Geld bekommen“ wird das Kind im Kontext von Familie in den Blick gerückt. Der Appell nach „mehr Geld“ verweist darauf, dass die derzeitigen finanziellen Mittel als nicht ausreichend

270

TEIL III: Empirischer Teil

empfunden werden.232 Am Beispiel ausbleibender Zahlungen wird die existenzielle Angewiesenheit der Familie auf die monatlichen Unterstützungsleistungen kenntlich gemacht.233 Dabei wird die Proposition als generelles Anliegen formuliert und nicht nur auf den Einzelfall bezogen. Dass Eltern Geld „bekommen“ sollen, kann als Hinweis auf (ergänzende) Sozialleistungen gelesen werden.234 Die Notwendigkeit der Aktivierung wird nicht auf Seiten der Eltern, sondern bei den Geldgebern („Gemeinde“) ausgemacht, (bedürftige) Familien besser zu unterstützen. Esras Einwurf „Nein, gerade andersrum. Die Kinder müssen Geld bekommen.“, der – da er sich auf Carls Ausgangsproposition bezieht – auf den ersten Blick als oppositionelle Meinung wirkt, lässt später erkennen, dass hierbei unterschiedlich gelagerte Orientierungsgehalte verhandelt werden. Die Zuspitzung der vermeintlich kontrastierenden Positionen wirft dabei Licht auf Konzeptualisierungen von Kindheit und Elternschaft in ihrer Interdependenz. Esras Forderung nach Geld für Kinder – im Gegensatz zu Geld für die Eltern – erfährt starken Widerspruch. Unklar ist, ob Esra das familiäre Budget insgesamt als unzureichend empfindet oder nur den Betrag, der den Kindern zu Gute kommt beziehungsweise über den sie frei verfügen können. Vor allem der Ausspruch „gerade andersrum“ sorgt für Unklarheit, da er eine Gegensätzlichkeit suggeriert, die angesichts der von Carl beschriebenen Konstellation Eltern-„Gemeinde“ nicht passt.235 Herauslesen lässt sich damit zunächst nicht, ob auch für die Eltern beziehungsweise die Familien

232 233

234 235

Zuvor wurde erklärt, dass die Eltern von Carl geschieden sind, was ihn sehr traurig macht. In den Schilderungen zeigt sich, dass Carl gut über die finanzielle Situation der Familie sowie die Prozesse staatlicher Hilfen („Gemeinde“, Missverständnisse bzgl. der Konten) informiert ist. Erstaunlich ist, mit welcher Offenheit die persönliche Geschichte geteilt wird. Dies kann zum einen als Offenlegung gedeutet werden, um anzuzeigen, wie ernst ihm die Angelegenheit ist. Er zeigt damit, dass er sich um seine Mutter und die finanzielle Situation seiner Familie sorgt, dass er Verantwortung übernimmt, aber zugleich auch seine empfundene Hilflosigkeit. Möglich ist zum anderen, dass die von ihm skizzierte soziale Lage als konjunktiver Erfahrungsraum angenommen wird. Die Art der Formulierung lässt darauf schließen, dass nicht die Höhe des Gehalts gemeint ist. Die Formulierung „gerade andersrum“ könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Eltern den Kindern mehr Geld geben sollen und dass Esra nicht unbedingt staatliche Geldgeber vor Augen hatte.

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

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ein Bedarf gesehen wird oder nur für die Kinder und von wem die Kinder das Geld bekommen sollen. Carl, der annimmt, Esra möchte, dass Kinder über das familiäre Budget verfügen, versucht ihr zu veranschaulichen, warum dies keine Option darstellt: Die Verwaltung des (knappen) Geldes, das heißt Dinge, die „sie mit dem Geld tun müssen“, wird als komplex beschrieben. Kindern wird die Kompetenz, das Geld angemessen zu verwalten und dafür Sorge zu tragen, dass alle notwendigen Dinge des Alltags besorgt und bezahlt werden, abgesprochen. Eltern – hier konkret die Mütter – werden als kompetente AkteurInnen im Bereich der Verwaltung von Finanzen gefasst und Kinder im konkreten Vergleich pauschal als unwissend („die wissen nicht“). Carls Argument bezieht sich auf die Verantwortung, die mit dem Geld für die Familie einhergeht, während Esra Geld für die Kinder vor dem Hintergrund von Handlungsfreiheiten zu betrachten scheint. Esras Reaktion, die Jungen aus ihrem Vorschlag auszuschließen, kann zum einen weitgehend unabhängig von Carls Argumentation als Konter in seine Richtung gelesen werden, zum anderen als Versuch der Annäherung, indem sie die Kompetenz der Mütter geschlechtsbezogen begründet und Mädchen damit sehr wohl diese Kompetenz zurechnet. Das Festhalten an der Argumentation und die eingenommene Geschlechterperspektive rufen neben Carl auch Trixi und Coralie auf den Plan. Mit der provokanten Aufforderung, sich selbst davon zu überzeugen, dass sie den Anforderungen nicht gewachsen ist, wird vergegenwärtigt, dass es keine Frage des Geschlechts ist. Als weiteres Argument für die mangelnde Fähigkeit von Kindern wird die Herausforderung angeführt, das Geld angemessen zu sichern und vor Kriminellen zu schützen. Zwar scheint Esra diese Gefahr in Zweifel zu ziehen, nicht ganz eindeutig ist jedoch, ob sie ihren Standpunkt unbehelligt beibehält. Asane belegt die Gefahr mit einem Erlebnis, das ihrer Oma widerfahren ist. Trixis pauschalisierender Aussage, dass Kinder viel zu jung für Geld seien, widerspricht Esra, indem sie angibt, selbst „sau viel Geld zuhause“ zu haben. Als sich aufklärt, dass sie von Geldgeschenken spricht, die sie beispielsweise im Rahmen des Zuckerfestes von Bekannten und Verwandten erhalten hat, löst sich das Missverständnis der divergenten Positionen auf (Z. 630-647).

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TEIL III: Empirischer Teil

Die kontroverse Diskussion, die angesichts des Missverständnisses um finanzielle Ressourcen aufgemacht wird, stellt existenzielle Bedürfnisse von Familien Handlungsfreiheiten von Kindern gegenüber. Der von Esra vertretene positive Gegenhorizont wird – spätestens nach der Aufklärung – nicht per se in Abrede gestellt, jedoch wird die Stillung grundlegender Bedürfnisse vorangestellt (u. a. allgemeine Einkäufe, Kleidung). Die argumentierte Herausforderung, verantwortungsvoll mit dem Geld für die Familie zu wirtschaften, die Komplexität zu bewältigen, das Geld vor Kriminellen zu sichern und die heftigen Reaktionen der Teilnehmenden gegenüber Esras Position sind folglich vor allem vor dem Hintergrund knapper finanzieller Ressourcen zu betrachten. Die innerfamiliäre Rollenverteilung wird über die Annahme unterschiedlicher Kompetenzausstattung von Erwachsenen und Kindern legitimiert. Die sich dokumentierende Hilflosigkeit von Kindern (und Eltern) wird begleitet von einem Gefühl der Schicksalshaftigkeit. Während sich die Kinder der Gruppe Schneeball in Hinblick auf ihre Entwicklung als von den Kompetenzen ihrer Eltern abhängige Objekte positionieren, positionieren sich die Kinder der Gruppe Stift in Hinblick auf materielle Sicherheit als von Ressourcen der Eltern abhängig, die wiederum in Abhängigkeit von externen Faktoren stehen. An dieser Stelle wird deutlich, wie stark die generationalen Strukturen in größere gesellschaftliche Zusammenhänge verstrickt sind (vgl. Kap. 2.2). Zusammenfassende Darstellung des Orientierungsrahmens Bei der Gruppe Stift können folgende Muster identifiziert werden, die auf eine Selbstpositionierung als eher unsichere AkteurInnen verweisen: Es dokumentiert sich ein hohes Interesse an Aktivitäten mit Freizeitcharakter innerhalb und außerhalb von Schule. Die Art der Aktivitäten, vor allem selbstgestaltete Formen mit geringem monetärem Aufwand beziehungsweise schulische Aktivitäten, kann als Indiz für die Zugehörigkeit zu einem Milieu mit geringerer Kapitalausstattung gelten. Zwar positionieren sich die Kinder als sicher in Bezug auf diese Interessen, implizite Wissensbestände in Hinblick auf die Bedeutung der Aktivitäten für Wohlbefinden lassen sich jedoch nicht rekonstruieren. Dass außer Aktivitäten kaum weitere Aspekte benannt werden, die kollektiv als wichtig für ein gutes Leben respektive Wohlbefinden betrachtet werden, deutet nicht nur Unsicherheit

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in Bezug auf das Setting der Kinderkonferenz, sondern auch eine Orientierungsunsicherheit im Allgemeinen an. Hierfür sprechen auch die positiven Gegenhorizonte der sozialen und materiellen Sicherheit, die über Erzählungen der Verletzlichkeit, hervorgerufen durch äußere Faktoren, entfaltet werden. In unterschiedlichen individuellen und kollektiven Erfahrungen auch über die dargestellten Passagen hinaus werden Gefühle von Unsicherheit, Angst und Traurigkeit vermittelt.236 Häufig tragen dabei Erwachsene zum Unsicherheitsempfinden bei, etwa wenn Regeln unterschiedlich vermittelt werden oder die Kinder innerhalb der generationalen Machtasymmetrien wirkmächtig mit ihrer Vulnerabilität konfrontiert werden. Insgesamt positionieren sich die Kinder der Gruppe Stift vor dem Hintergrund wirkmächtiger Unsicherheiten in ihrer kindlichen Lebenswelt als eher unsichere AkteurInnen. Diese Positionierung ist eingelassen in eine Orientierung an beziehungsweise Suche nach verlässlichen Regeln. Ein Mehr an Handlungsfreiheiten wird nicht per se positiv konnotiert. Dies gilt etwa für Handlungsfreiheiten, die, insofern als sie für ihr Alter als nicht angemessen angenommen werden, zu noch mehr Verunsicherung beitragen. Zudem wird eine Priorisierung von existenziellen Bedürfnissen gegenüber Handlungsfreiheiten vorgenommen. Dass Orientierungen in Hinblick auf negative Gegenhorizonte stärker zum Ausdruck gebracht werden als positive Gegenhorizonte zeigt ein Problembewusstsein auf. Bearbeitung und Bewältigung der Probleme deuten dabei auf eine eher gering angenommene Eigenverantwortung und Selbstwirksamkeitsüberzeugung hin. Kindheit wird angesichts der empfundenen Vulnerabilität als Schutzraum konzeptualisiert. Diese Konzeptualisierung erfolgt auch in der Annahme unterschiedlicher Kompetenzausstattung von Erwachsenen und Kindern. Anhand von Carls Beispiel über die ausbleibenden Unterstützungsleistungen zeigen sich dabei generationale Strukturen durch größere gesellschaftliche Zusammenhänge bestimmt. Transportiert wird in diesem Zusammenhang ein Gefühl der Schicksalshaftigkeit und der Hilflosigkeit von Kindern (und Eltern). 236

Erzählungen u. a. über das unsichere soziale Umfeld („Penner“, Überfälle, Einbrüche, Taschendiebe etc.), materielle Unsicherheit, Scheidung der Eltern, Mobbing durch MitschülerInnen, Gewalt in der Familie, Unsicherheit bzgl. des Fortbestands der Schule, eine sehr strenge Lehrkraft.

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TEIL III: Empirischer Teil

Migrationsbedingte Differenzerfahrungen werden in der Gruppe ausschließlich in Bezug auf sprachliche Aspekte herausgestellt.237 Die Teilnahme an der Sprachspielgruppe wird auf mangelnde Kompetenzen in der niederländischen Sprache zurückgeführt („Wenn du schlecht bist in Sprache, gehst du zur Sprachspielgruppe.“, Carl, Z. 1036-1037). Weiterführend werden jedoch nicht Sprache und Differenz, sondern die Rahmenbedingungen der additiven Förderung diskutiert. Denkbar ist, dass migrationsbedingte Differenzerfahrungen in die komplexen sozialen Problemlagen eingelagert sind, jedoch nicht als solche erkannt oder thematisiert werden. 7.4 Zusammenfassung In den sechs Fallanalysen wurden der zentralen Fragestellung folgend handlungsleitende kollektive Orientierungen aufgezeigt, die sich für den konjunktiven Erfahrungsraum von Kindheit im Kontext Migration und Differenz rekonstruieren lassen. Milieutyp 1: Selbstpositionierung als planvolle AkteurInnen Konformität und Mehrfachzugehörigkeit Selbstverwirklichung, Differenzminimierung und Multioptionalität Teilhabe und VerantworGruppe Kupfer (D) Gruppe Fenster (NL) tung im transnationalen Raum Gruppe Komet (F) Milieutyp 2: Selbstpositionierung als irritierte/unsichere AkteurInnen Ungewisse AkteurMachtvolle FremdpositioUngewisse Akteurschaft schaft im Übergang nierungen im Kontext von in den Unwägbarkeiten Gruppe Schneeball (D) Zugehörigkeit und Diffedes Alltags renz Gruppe Stift (NL) Gruppe Bogen (F) Tabelle 9: Übersicht über die Milieutypen und Gruppen

Als gemeinsame Basistypik (Orientierungsproblem) wurde mittels komparativer Analyse die Selbstpositionierung als AkteurInnen vor dem Hintergrund migrationsbezogener Differenzerfahrung identifiziert. Es konnte gezeigt 237

Vereinzelt wird die Religion als Zugehörigkeitsdimension beschrieben, jedoch nicht in Zusammenhang mit Differenz verhandelt.

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

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werden, dass dem gemeinsamen Orientierungsproblem milieutypisch unterschiedlich begegnet wird. Eingelassen in die handlungsleitenden kollektiven Orientierungen zeigte sich a) eine Selbstpositionierung als planvolle AkteurInnen und b) eine Selbstpositionierung als irritierte/unsichere AkteurInnen. Die unterschiedlichen Bearbeitungs- und Bewältigungswege des Orientierungsproblems werden im Folgenden überblicksartig kontrastiert, um schließlich in Kapitel 8 ausgewählte Aspekte vor der theoretischen Folie zu diskutieren und Erträge für Forschung und Praxis auszuloten. Die dem Typ I zugeordneten Gruppen positionieren sich vor dem Hintergrund migrationsbezogener Differenzerfahrung in ihren Orientierungen als sicher und zielgerichtet. Es zeigt sich anhand der Orientierungen an Konformität und Differenzminimierung (Gruppe Kupfer, D), Mehrfachzugehörigkeit und Multioptionalität (Gruppe Fenster, NL) sowie Selbstverwirklichung, Teilhabe und Verantwortung im transnationalen Raum (Gruppe Komet, F) ein vielfältiges Spektrum. In der Gruppe Kupfer dokumentiert sich unter anderem eine Orientierung an Konformität, das heißt ein an die in unterschiedlichen Settings identifizierten Normvorstellungen angepasstes Handeln als Teilhabe und Akteurschaft eröffnendes Prinzip. Akteurschaft wird dabei bereits früh mit Anpassungsfähigkeit und -bereitschaft sowie Selbstoptimierung verbunden. Der Umgang mit migrationsbezogenen Differenzerfahrungen, wie sie sich in der Gruppe Kupfer beispielsweise durch die Feststellung eines Sprachförderbedarfs zeigen, folgt der Logik dieser handlungsleitenden Orientierung. Zum einen wird die Differenzerfahrung und erlebte Stigmatisierung durch Hervorhebung des durch die Teilnahme am Sprachförderunterricht erfahrenen Mehrwerts der Selbstoptimierung positiv gewendet. Zum anderen kann das Ziel der Selbstoptimierung wiederum unter dem Aspekt der Konformitätsbestrebungen und der Vermeidung von Normabweichungen gedeutet werden, was letztlich auch die Vermeidung beziehungsweise Minimierung von (migrationsbezogener) Differenz impliziert. In der Gruppe Fenster dokumentiert sich als handlungsleitend eine Orientierung an Handlungs- und Entscheidungsfreiheiten sowohl im Hier und Jetzt als auch in der Zukunft. Transportiert wird eine Idee von Multioptionalität vor dem Hintergrund unterschiedlicher Zugehörigkeitsdimensionen (u. a. lokaler Kontext, natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit, muslimische Religionszugehörigkeit, kosmopolitischer Bezugsrahmen). Bildung und Sprachkenntnisse werden als Teilhabe und Akteurschaft eröff-

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TEIL III: Empirischer Teil

nende Prinzipien gefasst. Über die Kennzeichnung der eigenen (geplanten) Mehrsprachigkeit erfolgt eine Selbstpositionierung als AkteurInnen, die an unterschiedlichen Settings zu partizipieren und flexibel zwischen diesen Settings zu wechseln in der Lage sind. Von dieser handlungsleitenden Orientierung ausgehend wird migrationsbezogene Differenz als Normalität gefasst und sprachlicher wie auch kultureller Vielfalt mit Selbstverständlichkeit begegnet. Die Kinder der Gruppe Komet positionieren sich als aktive AkteurInnen mit dem Ziel des sozialen Aufstiegs und der Selbstverwirklichung als Ausdruck von Freiheit. Diese Orientierung zeigt sich von den erfahrenen Höhen und Tiefen der eigenen Migrationserfahrung und den transnationalen Familienbiographien und -strukturen maßgeblich geprägt. Akteurschaft wird in Kontrast zu existenziellen Bedrohungen (womöglich im Herkunftskontext) und dem Empfinden von Vulnerabilität (mit Ankunft in Frankreich) konzeptualisiert. Getragen vom Optimismus des Meritokratieglaubens (unter wohlfahrtsstaatlichen Bedingungen) und dem Glauben an die eigene Akteurschaft werden klare leistungsbezogene Ziele anvisiert. Zwei Bilder stehen in diesem Zusammenhang auch für den Umgang mit migrationsbezogener Differenz: der Wandel vom Hilfesuchenden zum Helfenden und das Bild von Abiola, dem schnellen Läufer, der mit Ankunft in Frankreich vor den Kindern aus der Nachbarschaft erst davonläuft und schließlich an ihnen vorbei. Gemeinsam ist den drei Gruppen ein hohes Maß an Eigenverantwortung und Selbstwirksamkeitsüberzeugung. Die Positionierung als AkteurInnen vollzieht sich vor dem Erleben von Akteurschaft beziehungsweise dem Glauben an die eigene Akteurschaft. Differenzerfahrungen werden dethematisiert oder lösungsorientiert gewendet. Die dem Typ II zugeordneten Gruppen positionieren sich – nicht durchweg – jedoch in Bezug auf bestimmte Erfahrungen von Differenz als in ihrer Akteurschaft irritiert beziehungsweise verunsichert. Diese Orientierungsunsicherheit vollzieht sich vor dem Hintergrund konkreter beziehungsweise diffuser Problemlagen, die sich vordergründig als lebensphasenspezifisch, natio-ethno-kulturell codiert beziehungsweise sozial gelagert artikulieren. Die Selbstpositionierungen dokumentieren sich als ungewisse Akteurschaft im Übergang (Gruppe Schneeball, D), vor dem Hintergrund machtvoller Fremdpositionierungen im Kontext von Zugehörigkeit und

Orientierungen von Kindern im Migrationskontext

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Differenz (Gruppe Bogen, F) sowie als ungewisse Akteurschaft in den Unwägbarkeiten des Alltags (Gruppe Stift, NL). In der Gruppe Schneeball dokumentiert sich Orientierungsunsicherheit angesichts des bevorstehenden Übergangs in eine neue Lebensphase. Der Übergang stellt – in Überlagerung mit sozialen, ethno-kulturell codierten und geschlechtsbezogenen Aspekten – einen Raum der Differenzerfahrung dar. Akteurschaft in der Kindheit wird in der Gruppe Schneeball über die Freiheit konzeptualisiert, die eigenen Vorlieben für Spiel, Spaß und Genuss intensiv ausleben zu können. Dabei wird Akteurschaft durch das Prinzip noch weitgehend ausstehender Eigenverantwortung gekennzeichnet und Kindheit als Schonraum gefasst, der mit einer gewissen Narrenfreiheit einhergeht. Bezogen auf das Hier und Jetzt zeigt sich insgesamt eine hohe Orientierungssicherheit. Das Akteurskonzept muss mit Übergang in die neue Lebensphase jedoch insofern neu verhandelt werden, als gegenüber bisherigen Vorstellungen die zunehmende, unter anderem religionsgebundene, Verantwortung für das eigene Handeln Einschränkungen von Handlungsfreiheiten impliziert. Die religiöse Orientierung deutet sich dabei als eher heteronomer Bezugsrahmen an, in dem der Konfrontation mit religiösen Normen eine noch weitgehend ausstehende Aushandlung vor dem Hintergrund kritischer Fremdpositionierungen gegenübersteht. Die Kinder der Gruppe Bogen, die insgesamt recht sicher in ihrer Orientierung auftreten, zeigen Unsicherheit angesichts machtvoller Fremdzuschreibungen von Differenz und Nicht-Zugehörigkeit respektive Rassismus. Die Gruppe strebt vor dem Hintergrund des Herkunftskontextes nach einem Leben unter guten Lebensbedingungen im Aufnahmekontext. Angesichts der Rassismuserfahrungen gewinnt dabei die Bedeutung sozialer Anerkennung an Kontur. Das eigene Handeln in Hinblick auf ein friedliches Zusammenleben und die eigene soziale Anerkennung wird für sich allein genommen als nicht wirkmächtig empfunden. Eingeschränkte Akteurschaft ergibt sich in diesem Zusammenhang auch aus der Zugehörigkeit zur generationalen Gruppe der Kinder. Im Hier und Jetzt sehen sie sich dieser Situation weitgehend ausgeliefert. Das wirkmächtige Gefühl der Ablehnung führt zu Traurigkeit, Traumatisierung, Wut, Verinnerlichung der herabwürdigen Fremdpositionierungen, zunehmend Misstrauen gegenüber Personen, die nicht der gleichen Gruppe angehören, und Rückzugstendenzen in die eigene Gruppe.

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TEIL III: Empirischer Teil

Die Kinder der Gruppe Stift positionieren sich vor dem Hintergrund wirkmächtiger sozialer Belastungen und Unsicherheiten in ihrer Lebenswelt als eher unsichere AkteurInnen. In Bezug auf ihre vor allem freizeitbezogenen Interessen positionieren sie sich zwar als sicher, implizite Wissensbestände in Hinblick auf die Bedeutung der Aktivitäten für Wohlbefinden lassen sich jedoch nicht rekonstruieren. Dass außer Aktivitäten kaum weitere Aspekte benannt werden, die kollektiv als wichtig für ein gutes Leben respektive Wohlbefinden betrachtet werden, deutet auf eine allgemeine Orientierungsunsicherheit hin. Hierfür sprechen auch die positiven Gegenhorizonte der sozialen und materiellen Sicherheit, die über Erzählungen von Verletzlichkeit entfaltet werden. Zum Unsicherheitsempfinden tragen dabei häufig auch Erwachsene bei, etwa wenn Regeln unterschiedlich vermittelt werden oder die Kinder innerhalb der generationalen Machtasymmetrien wirkmächtig mit ihrer Vulnerabilität konfrontiert werden. Migrationsbedingte Differenzerfahrungen werden kaum artikuliert. Denkbar ist, dass diese in die komplexen sozialen Problemlagen eingelagert sind, jedoch nicht als solche erkannt oder thematisiert werden. Parallelen zeigen sich bei den drei Gruppen in Bezug auf die konkreten beziehungsweise diffusen Problemlagen in einer eher gering angenommenen Selbstwirksamkeitsüberzeugung. Die Positionierung als AkteurInnen vollzieht sich vor dem Hintergrund wirkmächtiger Irritationen und Unsicherheiten innerhalb einer Lebenswelt, die sich vor allem mit Orientierung am Hier und Jetzt abspielt. Akteurschaft wird stärker über den Aspekt der Vulnerabilität ausgehandelt. Differenzerfahrungen werden thematisiert und problematisiert. Die eigene Akteurschaft wird dabei als schwer zu positionieren gefasst. Die Orientierungen sind nicht statisch. Durch weitere Aushandlungsprozesse können sich auch planvolle und irritierte Selbstpositionierungen im Verlauf noch stark wandeln. So können planvolle Selbstpositionierungen etwa durch tatsächliche Entscheidungs- und Handlungsfreiheiten irritiert werden, ebenso können Irritationen neue Selbsterkenntnisse (z. B. Ablösungsprozesse) hervorbringen.

8 Diskussion und Ausblick

8.1 Diskussion der Ergebnisse Im Folgenden werden – den (Teil)Forschungsfragen folgend – ausgewählte Ergebnisse unter Anbindung an die Theorie und den Stand der Forschung diskutiert sowie Erkenntnisgewinne für Migrations-, Kindheits- und WellBeing-Forschung abgeleitet. 8.1.1

Aufwachsen im Migrationskontext – Zugehörigkeiten und Differenzerfahrungen

Akkulturationseinstellungen Das Aufwachsen im Migrationskontext wird theoretisch über das Konzept der Akkulturation gefasst. Es dokumentieren sich auf der Ebene der Einzelfälle je spezifische Bezüge zu Herkunfts- und Aufnahmekontexten, die entlang der von Berry et al. (2006) für Jugendliche entwickelten Akkulturationsprofile (integratives, ethnisches, nationales, diffuses Profil) gelesen werden können. Insgesamt bilden sich in den von mir herausgearbeiteten Handlungsorientierungen für das Gesamtsample mehrheitlich integrative Einstellungen ab, die sowohl Aufnahme- als auch Herkunftskontexte als wichtige Zugehörigkeitsdimensionen markieren. Der bei Berry et al. relativ hohe Anteil an Jugendlichen mit ethnischem und diffusem Profil (44,9 %) kann für die von mir befragten Kinder so nicht bestätigt werden. Einzig die Gruppe Bogen zeigt – wie auch bei Berry et al. im Zusammenhang mit Diskriminierungserfahrungen (vgl. Jobst/Skrobanek 2009) – separative Tendenzen, die sich in Richtung eines ethnischen oder diffusen Profils lesen lassen. Die abweichenden Befunde könnten auf die unterschiedliche Stichprobenbreite (13 Länder vs. 3 Länder), das unterschiedliche Alter (13-18 Jahre vs. 8-12 Jahre) sowie die methodische Anlage der Studie (quantitativ vs. qualitativ) zurückzuführen sein. Nach den Items der quantitativen Stu© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Kämpfe, Kindheiten in europäischen Migrationsgesellschaften, Kinder, Kindheiten und Kindheitsforschung 21, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26225-9_8

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TEIL III: Empirischer Teil

die, so ist zu vermuten, würde die Gruppe Fenster beispielsweise aufgrund ihrer herkunftssprachlichen, kulturellen sowie religiösen Praktiken und ihrer Eingebundenheit in ein (zumindest im schulischen Kontext) muslimisch geprägtes Netzwerk dem ethnischen Profil zugeordnet werden. Die sich für die Gruppe dokumentierenden Mehrfachzugehörigkeiten legen aus qualitativer Perspektive jedoch ein integratives, wenn nicht gar eine Art kosmopolitisches Profil nahe. Die Akkulturationseinstellungen erweisen sich insgesamt als deutlich vielschichtiger als es die Eindeutigkeit der Typologie zu erfassen vermag. Die Akkulturationseinstellungen der Kinder deuten sich in Anschluss an Schachner, van de Vijver und Noack (2014) weitgehend konform zu den wahrgenommenen elterlichen Einstellungen und Erwartungen an. Mehrfach dokumentieren sich bestimmte kulturelle, religiöse oder sprachliche Praktiken oder auch Bildungsziele als heteronom konnotiert, wobei eigene Aushandlungen zum Teil noch auszustehen scheinen. Nur bedingt bestätigt sich die aus Lesers (2015) Ergebnissen abgeleitete Hypothese, dass es einen Zusammenhang geben könnte zwischen einer frühen Aushandlung einer eigenen Positionierung und der Eindeutigkeit beziehungsweise Uneindeutigkeit der vorgefundenen Akkulturationseinstellungen im (erweiterten) familiären Umfeld. Uneindeutige Orientierungen von Erwachsenen in nahweltlichen Beziehungen führen nicht notwendigerweise zu einer eigenen Positionierung, sondern können die eigene Positionierung auch stark verunsichern (Beispiel Gruppe Stift). Bestätigt wird dieser Zusammenhang indes beispielsweise bei Fatima aus der Gruppe Schneeball, deren Tante ihr eine alternative Orientierung angesichts des Zeitpunkts zum Beginn des Kopftuchtragens bietet. Differenzerfahrungen Anschließen lässt sich des Weiteren an die von Bohnsack und Nohl (2001) für türkeistämmige Jugendliche herausgearbeitete Sphärendifferenz als Ausdruck der Differenzerfahrung zwischen der inneren (privaten) und der äußeren (öffentlichen) Sphäre. Differenzerfahrungen lassen sich auch für die Phase der mittleren Kindheit als charakteristischen migrationsspezifischen Erfahrungsraum bestätigen. Alltagspraktisch wird Differenz jedoch zum Teil nicht als sehr bedeutsam markiert oder problematisiert beziehungsweise lassen sich die Differenzerfahrungen nicht in der Eindeutigkeit wie für die Jugendphase an der Schnittstelle von innerer und äußerer Sphäre feststellen. Differenz erscheint vielschichtiger, diffuser und stärker intersektional mit

Diskussion und Ausblick

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lebensphasen-, geschlechtsbezogenen, soziokulturellen und transnationalen Differenzen verwoben. Dabei wird Differenz – dies zeigen die Gruppen des zweiten Milieutyps und im Besonderen die Gruppe Bogen – zum Teil bereits in der Kindheit als sehr konflikthaft und machtförmig erlebt. Weniger eindeutig zeigt es sich bei den Gruppen Schneeball und Stift. Bei der Gruppe Schneeball dokumentiert sich Differenzerfahrung eingelagert in den Übergang von Kindheit in die Adoleszenzphase und verwoben mit sozialen, kulturellen und geschlechtsbezogenen Aspekten. In der Gruppe Stift scheinen die kulturellen Differenzen sehr stark sozial überlagert und treten kaum zu Tage. Zugehörigkeitsdimensionen Kennzeichnend für ein Aufwachsen im Migrationskontext sind Mehrfachzugehörigkeiten und hybride Identitäten (siehe Kap. 4.2.2). In den kollektiven Orientierungen dokumentieren sich unterschiedliche, ineinander verwobene Zugehörigkeitsdimensionen, und es zeigt sich ein flexibler Wechsel zwischen den kulturellen und sprachlichen Codes. Dabei zeigt sich auch, wie die kulturellen Kontexte durch aktive und kreative Konstruktionsleistungen zu etwas Neuem werden (vgl. Westphal 2006): Zugehörigkeiten werden hergestellt beispielsweise durch - interethnische Freundschaften („wir [...] sind nicht gleich. Sie ist so, ich bin so. Und trotzdem sind wir Freundinnen.“, Gruppe Bogen), - sportliche Leistungen („ich hab in meiner Ecke gehockt, ganz allein; außer wenn es jemanden gab, der ein Rennen mit mir gemacht hat, aber ich habe ihre Rennen gewonnen.“, Gruppe Komet) oder auch - Anschluss an eine weltweite englischsprachige Community („Du kannst einfach in alle Länder, weil die meisten Länder verstehen Englisch“, Gruppe Fenster). Als zwei bedeutsame Zugehörigkeitsdimensionen werden im Folgenden die transnationale Zugehörigkeit und die Religionszugehörigkeit beispielhaft herausgestellt: Transnationale Zugehörigkeit Eine bedeutsame Zugehörigkeitsdimension stellt die transnationale Zugehörigkeit dar. Die Kindheiten dokumentieren sich in unterschiedlichem Maße

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TEIL III: Empirischer Teil

als in transnationale Bezugssysteme eingebettet. Dabei zeigt sich – in Verknüpfung mit der Migrationsgeneration (eigene respektive familiäre Migrationserfahrung) – ein Zusammenhang zwischen transnationalen Orientierungen und Vorstellungen von einem guten Leben. Es zeigt sich bei Gruppen, die eine hohe transnationale Orientierung aufweisen, insbesondere bei Gruppen, in denen der überwiegende Teil der Kinder selbst Migrationserfahrung hat, dass ein gutes Leben in Relation zur vergleichsweise schwierigen Lage der Kinder in den Herkunftskontexten konzeptualisiert wird. Diese Situation wurde entweder selbst erfahren oder wird aufgrund der engen transnationalen Beziehungen als besonders präsent erlebt und in Bezug auf (materielle) Sicherheit und Verwirklichungschancen in Kontrast zum Aufnahmekontext gestellt. Transnationale Zugehörigkeiten äußern sich vor allem über sprachliche, kulturelle, religiöse und soziale Praktiken, konkret den Erwerb und Gebrauch der Herkunfts- beziehungsweise Familiensprachen, telefonische Kontakte, den (regelmäßigen) Besuch des Herkunftslandes, ein hohes Verbundenheitsgefühl, aber auch perspektivisch im Hinblick auf einen erweiterten transnationalen Arbeitsmarkt. Wie von Scherer (2015) herausgearbeitet, werden mit den transnationalen Lebenswelten intensive Emotionen verbunden. Vor allem für die beiden französischen Gruppen Komet und Bogen ist die transnationale Orientierung eng an transnationale Familienbeziehungen gekoppelt. Familien, auch Kernfamilien, wurden durch die Migration getrennt. Großeltern und in Einzelfällen auch Geschwister leben noch immer im Herkunftsland. Die räumlichen Trennungen werden vor dem Hintergrund restriktiver Zugangsbedingungen und Aufenthaltsbestimmungen im Aufnahmekontext verhandelt. Die Kinder wirken dabei an den transnationalen Beziehungsstrukturen und Sozialräumen aktiv mit. Mit Formulierungen wie „wir sind dort viele“ (Abiola, Gruppe Komet) wird das Zugehörigkeitsgefühl unterstrichen. Zum Teil dokumentieren sich bestimmte transnationale wie etwa sprachliche Praktiken als heteronom konnotiert, wobei eigene Aushandlungen zum Teil noch ausstehen („Das sagt mein Vater auch immer, du kannst besser deine eigene Sprache lernen, aber ich weiß es auch (nicht)“, Lisa, Gruppe Fenster). Religionszugehörigkeit Religion stellt in den Gruppen Fenster (NL), Bogen (F) und Schneeball (D) eine bedeutsame Dimension von Zugehörigkeit und Differenz dar. In allen drei

Diskussion und Ausblick

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Gruppen ist die muslimische Religionszugehörigkeit Teil der kollektiven Orientierung.238 Interessant ist, wie unterschiedlich die Religionszugehörigkeit in den Gruppen vor dem Hintergrund von Selbst- und Fremdpositionierung verhandelt wird. Die Teilnehmenden der Gruppe Fenster besuchen eine islamische Grundschule in den Niederlanden. Religion dokumentiert sich als zentraler normativer Rahmen. Akteurschaft wird insofern gerahmt als die Religionszugehörigkeit Orientierung unter anderem dahingehend bietet, abzuwägen, was richtig und was falsch ist. Der Jenseitsglaube, der durch die Überzeugung begleitet wird, dass der Alltag sich als Prüfung darstellt, impliziert das Prinzip der Verantwortung für das eigene (nicht-)konforme Handeln. Der positive Gegenhorizont, mit Übertreten in das Jenseits „zu Allah zu gehen“, ist dabei nicht nur Teil des praktizierten Glaubens, sondern auch durch die im Paradies angenommene Aussicht auf grenzenlose Handlungsfreiheit und Selbstbestimmung („Alles was ich möchte“) begründet. Umgekehrt sind die im Diesseits angestrebten Freiheiten insofern durch die religiöse Orientierung bedingt, als man sich stets vor Gott dafür verantworten muss. Mit der normativen Rahmung der Religionszugehörigkeit geht damit auch Konformitätsdruck einher, ein guter Moslem, eine gute Muslimin zu sein. Wenngleich ein Bemühen erkennbar wird, die Pflichten und Konventionen rational zu betrachten, drücken sich in den vereinzelten (scherzhaft) geäußerten Wünschen nach Entlastung und Alltagserleichterungen Hinweise auf Ambivalenzen und noch ausstehende Aushandlungsprozesse aus. Insgesamt dokumentiert sich aber ein selbstverständlicher und selbstbewusster Umgang mit der eigenen Religionszugehörigkeit, der sich in die Argumentation von Differenz als Normalität nahtlos einreiht. Auch für die Mädchen der Gruppe Schneeball bildet die muslimische Religionszugehörigkeit einen bedeutsamen konjunktiven Erfahrungsraum und normativen Bezugspunkt („Teil von unserem Leben“). Jedoch geht die religiöse Orientierung mit Aspekten der Unsicherheit einher. Diese Unsicherheit ist unter anderem auf die spezifische Konzeptualisierung von Akteurschaft in der Kindheit zurückzuführen. Kindheit wird als Schonzeit gefasst, die mit einer gewissen Narrenfreiheit einhergeht. Akteurschaft in der Kindheit unterliegt dem Prinzip noch weitgehend ausstehender Eigenverantwor238

In der Gruppe Bogen wird das Thema Religion nur von den drei muslimischen Mädchen verhandelt, stellt jedoch – eingebettet in die Argumentation zu Rassismuserfahrungen – eines der dominierenden Themen dar.

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TEIL III: Empirischer Teil

tung. Die religiöse Unsicherheit ist eingelassen in eine allgemeine Orientierungsunsicherheit angesichts zunehmender bevorstehender Verantwortungsübernahme mit Übergang in eine neue Lebensphase. Die zunehmenden religionsbezogenen Handlungserwartungen (u. a. Beten, Kopftuch tragen) werden mit wachsenden Anforderungen an das Selbst in Bezug auf Eigenverantwortung und Konformität verbunden („wenn ihr eure Dings kriegt […] eure Regel […] fängt an eure Dings anzufangen, eure Sünden […] was ihr falsch macht“). Akteurschaft muss vor diesem Hintergrund neu verhandelt werden. Die religionsbezogene Selbstpositionierung wird der Moderatorin gegenüber eher defensiv und absichernd geführt („Wenn das bei eurer Bibel steht, dann stimmt’s genauso. Bei uns [im Koran] ist auch so, […] das sagt jeder“). Zudem wird sie in den Kontext kritischer Fremdpositionierungen gestellt („eine Frau hat in Internet so ein Film gemacht […] die sagt, wir wissen gar nicht wie die Muslime ticken“). Die religiöse Orientierung deutet sich dabei als eher heteronomer Bezugsrahmen an („man sollte“, „man muss“), in dem der Konfrontation mit religiösen Normen eine noch weitgehend ausstehende autonome Aushandlung vor dem Hintergrund kritischer Fremdpositionierungen gegenübersteht. Anders als in den Gruppen Fenster und Schneeball wird in der Gruppe Bogen nicht verhandelt, welche Bedeutung die Religion in ihrem Leben spielt, sondern welche Bedeutung negative Zuschreibungsprozesse angesichts ihrer Religion in ihrem Leben spielen und wie sie sich aufgefordert sehen, sich dazu zu verhalten. An ihrem Lebensmittelpunkt, an dem sie sich heimisch fühlen, werden Rassismus und Islamfeindlichkeit als verbreitete und wirkmächtige Phänomene gekennzeichnet („Was mir wichtig ist, ist, dass der Rassismus gegen Muslime aufhört.“). Die negativen Zuschreibungsprozesse wirken machtvoll in die Lebenswelten der Kinder hinein („gibt Kinder, Kinder, die das traumatisiert“). Folgen der (religionsbezogenen) Anfeindungen und des Gefühls der Ablehnung sind Traurigkeit, Traumatisierung, Wut, Verinnerlichung der Fremdpositionierungen, zunehmend Misstrauen gegenüber Personen, die nicht der gleichen Gruppe angehören und Rückzugstendenzen in die eigene Gruppe. Die Selbstpositionierung als Musliminnen erfolgt defensiv („die denken, dass wir alle böse sind, aber im Grunde sind wir nett“). Mit dem Ziel friedlicher Begegnung und sozialer Anerkennung positionieren sie sich zwar als aktiv Handelnde. Das eigene Handeln (u. a. Respekt, Dialog- und Kompromissbereitschaft, Adaption) wird – vor dem Hintergrund ungleicher Machtpositionen im Aufnahmekontext sowie gene-

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rationaler Ordnung – für sich allein genommen dabei aber als nicht wirkmächtig empfunden. Nicht zuletzt wird die eigene Haltung des Respekts in diesem Zusammenhang als zunehmend fragil angesehen. Gestärkt sehen sie sich von Teilen der autochthonen Bevölkerung, die ihnen und ihrer Religion gegenüber Verständnis entgegenbringen („die andere Hälfte, die uns versteht, das ist gut“). Am Beispiel der drei Gruppen zeigen sich drei unterschiedliche Selbstpositionierungen in Bezug auf die Religionszugehörigkeit, die – wie später gezeigt wird – länderspezifische Bezüge aufweisen.239 8.1.2

Konzeptualisierungen von Agency

Kinder werden als mit Agency ausgestattete soziale und kompetente AkteurInnen gefasst, die an Hervorbringung und Wandel von Gesellschaft und Kultur aktiv mitwirken. Wie Kinder Agency konzeptualisieren und was Agency für bestimmte Gruppen von Kindern bedeutet sind weitgehend offene Fragen in der Kindheitsforschung (vgl. Punch 2016: 184). In den handlungsleitenden Orientierungen der Kinder dokumentieren sich unterschiedliche AkteurInnenkonzepte und Selbstpositionierungen als AkteurInnen im Kontext von Migration und migrationsbezogener Differenzerfahrung. Eine zentrale Unterscheidung zeigt sich in den Selbstpositionierungen als AkteurInnen in der Bedeutung von Eigenverantwortung. Besonders kontrastreich zeigt sich dies an der Gegenüberstellung der Gruppen Kupfer, Fenster und Komet mit der Gruppe Schneeball. Die Gruppen Kupfer, Fenster und Komet verbinden Akteurschaft in der Kindheit bereits früh mit einer hohen Eigenverantwortung in Bezug auf religiöse Praktiken, soziale Verantwortung, die eigene Leistung etc. Kindheit wird dabei von den Kindern weniger als eigene Lebensphase mit spezifischen Ansprüchen formuliert. Nach dem AkteurInnenkonzept der Gruppe Schneeball hingegen entlastet das kindliche Dasein noch weitgehend von Verantwortung für das eigene Handeln. Akteurschaft in der Kindheit wird vor allem vor dem Hintergrund der eigenen Vorlieben thematisiert. Die Verantwortung für die eigene Zukunft wird eher als eine gemeinsame, familiäre Angelegenheit angesehen. Kindheit wird als 239

Siehe weiterführend auch Hunner-Kreisel/Andresen (2010) und Allenbach (2016).

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exklusive und bedeutsame Lebensphase stark gemacht (vgl. Kämpfe/ Westphal 2016). Die sich hier dokumentierenden Agency-Konzepte unterlaufen zum Teil westliche, mittelschichtsorientierte Vorstellungen von Agency, wie beispielsweise das Prinzip der Konformität, das die Gruppe Kupfer verfolgt. Dabei ist Konformität nicht als Ausdruck mangelnder Agency misszuverstehen, sondern als aktives Handeln im sozialen Raum. Was sich für Kindheit als Prinzip der kompetenten Gefügigkeit (Bühler-Niederberger 2013) lesen lässt, geht bei der Gruppe Kupfer als Handlungsstrategie über die generationale Gruppe der Kinder hinaus. Zudem lässt sich mit Bezug die die Rückzugstendenzen der Gruppe Bogen die Frage aufwerfen, inwiefern aus eingeschränkter Akteurschaft durch alternatives Handeln Akteurschaft entstehen kann (z. B. in Form einer Gegenkultur/Subkultur), die dann wiederum relevant ist für den Gang der Dinge bis hin zu Folgen für die Gesellschaft. Es zeigt sich an den beiden Beispielen, dass Akteurschaft sowohl in Verbindung gebracht wird mit widerständigem, eigensinnigen Verhalten, als auch mit Komplizenschaft (ebd.). Hierzu bietet das Material noch viele spannende Einsichten, die es in einem nachfolgenden Schritt noch weiter zu analysieren und zugleich in den Kontext generationaler Machtverhältnisse und Abhängigkeiten einzuordnen gilt. 8.1.3

Vorstellungen von einem guten Leben und Child Well-Being

In den Fallbeschreibungen wurden heterogene Vorstellungen von Kindern von einem guten Leben aufgezeigt und es wurde rekonstruiert, was aus Sicht der Kinder Wohlbefinden hervorbringt (im Sinne positiver Gegenhorizonte). In den Rekonstruktionen bildet sich nicht nur die Vielfalt an Ansichten, Erfahrungen und Orientierungen in Bezug auf ein gutes Leben ab, sondern auch die Komplexität von Wohlbefinden. Die Dimensionen des Modells von Fattore, Mason und Watson (2017) finden sich auch in dem vorliegenden Material wieder (siehe Kap. 3.5). Zugleich kann das Modell, und damit nicht zuletzt auch die Child Well-Being-Forschung, wie die folgende Zusammenschau zeigt, für den Migrationskontext erweitert und konkretisiert werden: - Entscheidend für das individuelle Wohlbefinden von Kindern ist das Wohlbefinden der Gruppe, z. B. der natio-ethno-kulturellen Community,

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und zwar sowohl im Aufnahme- als auch im Herkunftsland. Im Aufnahmekontext können beispielsweise Diskriminierung, Rassismus oder ein unsicherer Aufenthalt das Wohlbefinden der Gruppe beeinträchtigen, im Herkunftsland kriegerische Unruhen oder Armut. Wohlbefinden von Kindern ist durch das Wohlbefinden der Familie gerahmt. Fragen, die sich hier stellen sind, unter anderem: was heißt für ein Kind eigentlich Familie, wer gehört dazu, wie stellt sich die Situation der (erweiterten) Familie im Aufnahme- und Herkunftskontext dar, wie stellen sich die Rollenverteilungen in der Familie dar, etc. Wohlbefinden von Kindern – dies schließt an die beiden ersten Punkte an – ist im transnationalen Raum zu erfassen. Sowohl transnationale Praktiken und Beziehungsstrukturen als auch die Situation im Herkunftskontext bestimmen das Wohlbefinden. Wohlbefinden von Kindern ist vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Zugehörigkeitsdimensionen in ihrer Verwobenheit und auch in ihrer Ambivalenz zu analysieren. Dabei spielen auch (divergierende) Vorstellungen von einem guten Leben in der inneren, der privaten und der äußeren, der öffentlichen Sphäre eine Rolle. Wohlbefinden von Kindern ist vor dem Hintergrund von migrationsbezogener Differenz und Machtasymmetrien im Migrationskontext zu betrachten. Dieser Aspekt schließt an ungleichheits- und gerechtigkeitstheoretische Diskurse zu ungleichen Kindheiten (z. B. Betz 2008) an. Wohlbefinden im Migrationskontext ist dabei intersektional in den Blick zu nehmen (Alanen 2016). Wohlbefinden von Kindern im Migrationskontext ist nicht zuletzt eng gekoppelt an den Aspekt Sprache. Auch diese Kopplung gilt es verschärft in den Blick zu nehmen (weiterführend Kämpfe/Westphal 2018).

Eine Rückbindung an die rekonstruierten kollektiven Orientierungen zeigt, dass Eigenverantwortung und Selbstwirksamkeitsüberzeugung, das heißt inwiefern geglaubt wird, dass zum eigenen Wohlbefinden selbst beigetragen werden kann, auch sehr stark zum eigenen Wohlbefinden beiträgt (vgl. Alt/ Lange 2017: 228; LBS-Kinderbarometer 2016).

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Insbesondere mit Blick auf die konzeptuelle Weiterentwicklung der Child Well-Being-Forschung ist weiterführend zu diskutieren, wie die hier gewonnenen Erkenntnisse im Verhältnis von objektiven und subjektiven Aspekten des Wohlbefindens, von Well-Being und Well-Becoming, von Individuum und Gesellschaft, von (mangelndem) Wohlbefinden in unterschiedlichen Bereichen zu bewerten sind (vgl. Ben-Arieh et al. 2014). Gerechtigkeitstheoretisch betrachtet ist dabei etwa zu fragen, was die Kinder mit den ihnen (objektiv) zur Verfügung stehenden Ressourcen in einem bestimmten Kontext sowohl jetzt als auch in der Zukunft zu tun oder zu sein in der Lage sind, das heißt welche Entscheidungs- und Handlungsfreiheiten und tatsächlichen Verwirklichungschancen sie haben (vgl. Fegter/Richter 2014). Dass beispielsweise Kinder, die sich als planvolle AkteurInnen positionieren, migrationsgesellschaftliche Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnisse nicht problematisieren heißt nicht, dass diese objektiv nicht existieren und die eigene Selbstwirksamkeitsüberzeugung nicht durchkreuzen können. 8.1.4

Ländervergleich und andere Kontextualisierungen

Über einen kontextuierten Ländervergleich (Nohl et al. 2006) wird der Frage nachgegangen, inwiefern die rekonstruierten handlungsleitenden Orientierungen in nationalstaatlichen Ordnungen zu klären sind. Die nationalen Ordnungen fasse ich über die migrationsgesellschaftlichen Kontexte mit ihren Integrations-, Bildungs- und Sozialpolitiken sowie gesellschaftlichen Strömungen (siehe Kap. 4.2). Zunächst lassen sich mehrere länderübergreifende Muster für das Aufwachsen im Migrationskontext feststellen. Beide Milieutypen finden sich in den drei Ländern wieder. Die Vorstellungen von einem guten Leben werden an ähnlichen Dimensionen festgemacht. Im Kern bestätigt die Untersuchung damit, dass Kindheiten im Migrationskontext kein in erster Linie nationales Konstrukt darstellen, sondern durch einen größeren – westlichen und wohlfahrtsstaatlichen – Gesamtkontext gerahmt werden (Stichwort ‚moderne Kindheiten’, vgl. Mierendorff 2010). Kindheiten und darin eingelagerte kollektive Orientierungen scheinen stärker von übergeordneten sowie querliegenden Faktoren abhängig. Übergeordnete Faktoren sind etwa die Etablierung moderner Kindheitsmuster in Form einer langen geschützten Kindheitsphase, einer ausdifferenzierten, institutionalisierten Altershie-

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rarchie als Strukturprinzip oder das Prinzip der Schulpflicht (siehe Kap. 2). Die Länder fühlen sich zudem gegenüber der UN-Kinderrechtskonvention verpflichtet. Hinzukommt ferner die zunehmende europäische Harmonisierung unter anderem im Hinblick auf Integrations-, Bildungs- und Sozialpolitiken (siehe Kap. 4.2). Querliegende Faktoren sind soziale Determinanten, die – auch in Verschränkung mit dem nationalstaatlichen Kontext – Kindheiten und Orientierungen von Kindern bedingen (Stichwort ‚ungleiche Kindheiten’, vgl. Betz 2008). Vereinzelt lassen sich jedoch Spuren finden, die darauf hindeuten, dass sich die länderspezifischen Strukturen und gesellschaftlichen Dynamiken in den Selbstpositionierungen der Kinder abbilden und machtvoll auf deren handlungsleitenden Orientierungen einwirken. Dies soll am Beispiel der Zugehörigkeitsdimension Religionszugehörigkeit (siehe oben) verdeutlicht werden. Die Rekonstruktion von kontextabhängigen und kontextübergreifenden Unterschieden zwischen den Ländern erfolgt über die vergleichende Analyse ähnlich situierter Fälle aus den Ländern. Im Hinblick auf ihre muslimische Religionszugehörigkeit sind die Gruppen Fenster (NL), Schneeball (D) und Bogen (F) ähnlich situiert. Die Kinder der Gruppe Fenster besuchen in den Niederlanden eine rein muslimische Schule. Hintergrund der konfessionsgebundenen Schulen in den Niederlanden ist die Kombination des gesellschaftsstrukturierenden Prinzips der Versäulung und des Multikulturalismus. Glaubensgemeinschaften und politische Gemeinschaften wurden – als jeweils eigene Säulen gefasst – seit dem 19. Jahrhundert mit dem Recht versehen, eigene Infrastrukturen in unterschiedlichen Bereichen des öffentlichen Lebens zu implementieren. Die Erhaltung der Herkunftskulturen stellte ein wesentliches Element der multikulturell ausgerichteten Integrationspolitik dar. Mit der Erkenntnis, dass soziale Ungleichheit dadurch nicht aufzulösen war, wurde in den 1990er Jahren zwar ein Fokuswechsel hin zu einer stärkeren bildungs- und arbeitsmarktbezogenen Förderung vorgenommen, spezifische Maßnahmen zur Förderung der Herkunftskulturen wurden reduziert und auch einwanderungskritische sowie islamfeindliche Stimmen lauter. Dennoch haben sich hierdurch spezifische Strukturen und eine (mehrheits)gesellschaftliche Haltung etabliert, die sich insofern in der kollektiven Orientierung der Gruppe Fenster widerspiegeln, als dass die muslimische Religionszugehörigkeit mit Selbstverständlichkeit und Selbstbewusstsein vertreten und Differenz als Normalität markiert werden.

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Der mit dem Multikulturalismus in den Niederlanden verbundenen Hervorhebung von Differenz steht in Frankreich das Gleichheitsprinzip gegenüber, das natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsdimensionen als privat einstuft und sich Differenz gegenüber indifferent verhält. Dieses Grundprinzip zeigt sich besonders deutlich an der Trennung von Religion und Staat (Laizität), die durch das Verbot religiöser Symbole in Schulen (2004) und das Gesetz zum Verbot der Vollverschleierung in der Öffentlichkeit (2010) in den letzten Jahren erneut bekräftigt wurde. Diese jüngsten Positionierungen der Regierung sind in erster Linie in Zusammenhang mit einer Problematisierung der Gruppe der MuslimInnen entstanden. Hinzu kommen starke islamfeindliche Tendenzen, die sich im Wahlkampf und der gewonnenen Europawahl des rechtsextremen Front National (2014) zuspitzten, die kurz vor der Gruppendiskussion stattgefunden hatte. Wie oben beschrieben, verhandelt die Gruppe Bogen nicht die Bedeutung der Religion als bedeutsame Zugehörigkeitsdimension, sondern die Bedeutung negativer Zuschreibungsprozesse, die sie angesichts ihrer muslimischen Religionszugehörigkeit erfährt. Diese Zuschreibungen wirken machtvoll in die Lebenswelten der Kinder hinein und äußern sich in defensiven und verunsicherten Selbstpositionierungen. Das Gleichheitsprinzip sieht die Gruppe nicht nur für die MuslimInnen, sondern auch für andere von der Norm abweichende Gruppen nicht eingelöst: „Egal, ob du die Burka trägst oder behindert bist oder ob du kein Franzose bist, ob du klein bist oder ob du etwas nicht tun kannst. […] Sie haben Rechte.“. Anstatt für Gleichheit plädieren sie für die Anerkennung von Differenz.240 Während die niederländische und die französische Regierung relativ klare Positionen einnehmen, bleibt in Deutschland der Umgang mit dem Islam ähnlich ambivalent wie das Bekenntnis zum Status quo ein Einwanderungsland zu sein und sorgt immer wieder für hitzige Debatten. Auch die Gruppe Schneeball positioniert sich in Bezug auf ihre religionsbezogene Positionierung ambivalent. Die religionsbezogene Selbstpositionierung erfolgt eher defensiv und absichernd und wird in den Kontext kritischer Fremdpositionierungen gestellt. Eine autonome Aushandlung der religiösen Orientierung scheint in Konfrontation mit religiösen Normen auf der einen Seite und 240

Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass Frankreich sich im Bereich der Antidiskriminierung engagiert. Zugleich wurde mit den eingerichteten stadtplanerischen und bildungsbezogenen Prioritätszonen weitere Stigmatisierung für diejenigen geschaffen, die in diesen Gebieten leben beziehungsweise die Bildungseinrichtungen besuchen (siehe Kap. 4.2.1).

Diskussion und Ausblick

291

kritischen Fremdpositionierungen auf der anderen Seite noch weitgehend auszustehen.241 Die nationalstaatliche Kontextualisierung der drei divergierenden religionsbezogenen Selbstpositionierungen ist natürlich nicht repräsentativ und soll nicht auf alle Kinder mit muslimischer Religionszugehörigkeit projiziert werden. In allen drei Ländern sind ganz unterschiedliche Selbstpositionierungen in Bezug auf die eigene Religionszugehörigkeit anzunehmen. Hinweise auf eine nationalstaatliche Relevanz sind jedoch anhand dieses Beispiels klar erkennbar. Durch den internationalen Vergleich werden Befunde verdichtet, denn sie werden nicht nur für einen nationalen Kontext, sondern ländervergleichend herausgearbeitet. Dabei zeigen sich vor allem länderübergreifende Muster, vereinzelt – wie am Beispiel der muslimischen Religionszugehörigkeit – deuten sich aber Spuren von Ländertypiken an. Auch in Zusammenhang mit den Rassismuserfahrungen und der Bezugnahme auf den Umgang mit den illegalisierten sans papiers in Frankreich oder dem bevorstehenden Schulwechsel in Deutschland (aufgrund der frühen Selektion und eines mehrgliedrigen Bildungswesens) zeigen sich Spuren nationalstaatlicher Relevanz. Es zeigen sich nicht zuletzt auch innerhalb der einzelnen Länder unterschiedliche Rahmenbedingungen und Kontexte. Schauen wir uns beispielsweise die Gruppen Bogen und Komet in Frankreich an, so ist zunächst von ähnlichen Rahmenbedingungen auszugehen: die Gruppen besuchen dieselbe Grundschule, haben ähnliche natio-ethno-kulturelle und religiöse Zugehörigkeiten. Unterschiede zeigen sich in Bezug auf die Migrationsgeneration. Die Kinder der Gruppe Komet verfügen über eigene Migrationserfahrung. Die Kinder der Gruppe Bogen sind in Frankreich geboren. Mit der Migrationsgeneration gehen unterschiedliche Vergleichshorizonte einher. Während diejenigen der zweiten Generation stärker den Vergleich zur Situation am Lebensmittelpunkt, das heißt im Aufnahmekontext, suchen, ist der Vergleichshorizont der ersten Generation eher durch den Herkunftskontext bestimmt. Der Blick auf den Aufnahmekontext ist vor dem Hintergrund der Situation im Herkunftskontext getragen von Hoffnung und Optimismus. Negative Differenzerfahrungen werden von der Gruppe Komet dabei kaum thematisiert. Demgegenüber sind für die Gruppe Bogen die Differenzerfahrungen und Zuschreibungsprozesse im Aufnahmekontext dominierend, die 241

Unsicherheit in Bezug auf die religiöse Orientierung ist dabei auch auf die spezifische Konzeptualisierung von Akteurschaft in der Kindheit zurückzuführen (siehe oben).

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TEIL III: Empirischer Teil

sie in eine im Vergleich zur Mehrheitsbevölkerung benachteiligte Position rücken. Der Blick auf den Aufnahmekontext ist angesichts dieses Missverhältnisses getragen von Resignation. Elizabeth Raleigh und Grace Kao (2010) kommen für den US-amerikanischen Kontext und bestimmte ZuwanderInnengruppen zu ähnlichen Befunden. Sie beobachten eine im Generationenverlauf relativ konstant bleibende hohe Bildungsaspiration bei schwarzen, hispanischen, asiatischen und weißen Migrationsfamilien, stellen jedoch fest, dass bei den ersten drei Migrationsgruppen der Optimismus mit der Zeit deutlich abnimmt. Offenbar werden sie, so die Schlussfolgerung, von strukturellen und individuellen Diskriminierungen und Benachteiligungen sowie daraus resultierenden zusätzlichen Anstrengungen eingeholt. Die Migrationsgeneration wird anhand dieser Befunde als bedeutsamer Bezugsrahmen für die kollektiven Orientierungen bestätigt. 8.2 Ausblick Kinder spielen in den gesellschaftspolitischen und wissenschaftlichen Debatten zum Thema Migration und Integration eine besondere Rolle. Zum einen gelten sie als Hoffnungsträger, zum anderen haftet ihnen das Label der Benachteiligung an. Beide plakativen Sichtweisen nehmen Kinder im Migrationskontext eher als becomings, als zukünftige Erwachsene, in den Blick. In der vorliegenden Arbeit wurde das Ziel verfolgt, Kinder im Migrationskontext als beings um ihrer selbst willen in den Blick zu nehmen und dabei der Differenziertheit von Kindheiten im Migrationskontext Rechnung zu tragen. Den methodologischen und erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt bildeten dafür die Childhood Studies mit ihrer Konzeption von Kindern als sozialen AkteurInnen. Diese akteurInnenbezogene Perspektive wurde über Fragen nach einer ‚guten Kindheit‘ respektive einem ‚guten Leben‘ mit dem Child Well-Being Konzept gerahmt. Der Spezifik des Aufwachsens im Migrationskontext wurde in interdisziplinärer Perspektive nachgegangen. Ziel war es, mit der Untersuchung die Schnittstelle von Kindheits-, Well-Being- und Migrationsforschung um grundlegende und differenzierte Erkenntnisse zum konjunktiven und zugleich vielschichtigen Erfahrungsraum von (mittlerer) Kindheit im Migrationskontext aus Perspektive der sozialen AkteurInnen selbst zu erweitern. Die leitende For-

Diskussion und Ausblick

293

schungsfrage lautete: Welche handlungsleitenden (kollektiven) Orientierungen lassen sich für den konjunktiven Erfahrungsraum von Kindheit im Kontext Migration rekonstruieren? Fokussiert wurden insbesondere unterschiedliche Zugehörigkeitsdimensionen sowie Bewältigungs- und Bearbeitungsformen migrationsbezogener Differenzerfahrung. Schließlich wurden mit einem Ländervergleich die handlungsleitenden Orientierungen auf ihre migrationsgesellschaftliche Kontextabhängigkeit hin befragt. Mit Deutschland, Frankreich und den Niederlanden wurden dafür exemplarisch drei westeuropäische Migrationsgesellschaften gewählt, die sich angesichts ihrer unterschiedlichen integrationspolitischen Traditionen und ihrer zunehmenden Harmonisierung als nationale Vergleichskontexte im Hinblick auf das Forschungsinteresse gut eignen. Der Dokumentarischen Methode folgend konnten in sechs Gruppendiskussionen mit 8 bis 12-jährigen Kindern in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden handlungsleitende Orientierungen rekonstruiert und eine sinngenetische Typenbildung vollzogen werden. Die rekonstruierte Typologie stellt eine erste Systematisierung unterschiedlicher Bearbeitungs- und Bewältigungsmodi des Aufwachsens im Migrationskontext vor dem Hintergrund von Differenzerfahrungen dar. Sie soll als Ausgangspunkt für weitere Diskussionen und Forschung dienen. Vor dem Hintergrund migrationsbezogener Differenzerfahrungen konnten kontrastierende Selbstpositionierungen als AkteurInnen aufgezeigt werden: zum einen Selbstpositionierungen als planvolle AkteurInnen (Milieutyp I) und zum anderen Selbstpositionierungen als irritierte/unsichere AkteurInnen (Milieutyp II). Die Rekonstruktion handlungsleitender (kollektiver) Orientierungen von Kindern mit Hilfe der Dokumentarischen Methode, die bislang in der Kindheitsforschung kaum Anwendung findet, hat sich als sehr tragfähig erwiesen, nicht zuletzt weil sie die Möglichkeit bietet, zugleich die Standortgebundenheit und Perspektivität der Forschenden systematisch zu kontrollieren. Aufgrund des hohen Anteils an nonverbalen und performativen Ausdrucksformen sind mit Blick auf die spätere Transkription sowie die anschließende Rekonstruktion der kollektiven Orientierungen Videoaufnahmen unbedingt zu empfehlen. Der von Nohl et al. (2006) auf Grundlage der Dokumentarischen Methode entwickelte Mehrebenenvergleich ließ sich für den von mir vorgenommenen Ländervergleich aufgrund der geringen Fallzahl nur eingeschränkt anwenden. Der Ansatz diente daher lediglich als Orientierung, um Hinweise auf Ländertypiken herauszuarbeiten.

294

8.2.1

TEIL III: Empirischer Teil

Wo kann die Forschung ansetzen?

Das Gruppendiskussionsverfahren bietet das Potenzial, durch möglichst geringe Steuerung zu den kollektiven Orientierungen der Kinder vorzudringen. Der Gruppe wird die größtmögliche Steuerung selbst überlassen. Dadurch können in der Diskussionssituation generationale Ordnungsverhältnisse, zumindest teilweise, an Bedeutung verlieren. Der Einsatz des Gruppendiskussionsverfahrens erwies sich in allen drei Ländern nicht nur als äußerst erkenntnisreich und bestätigend hinsichtlich der kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten von Kindern dieser Altersgruppe. Die Mehrheit der teilnehmenden Kinder zeigte zudem großes Interesse an Methode und Thema sowie der ihnen zugeschriebenen ExpertInnenrolle. Grenzen des Verfahrens sind hingegen für Forschungsinteressen anzunehmen, die sich strikt für bestimmte Themen interessieren. Gerade die in der Untersuchung aufgezeigten thematischen Relevanzsetzungen der Kinder können jedoch als Ausgangspunkt für vertiefende, themenbezogene Forschung von Bedeutung sein, um nicht der Gefahr eines adultistischen Bias aufzusitzen. So können sie etwa für leitfadengestützte Interviews oder für reflexivresponsive Ansätze, die Erkenntnisse mit Kindern (länderübergreifend) diskutieren, als Ausgangspunkt dienen (vgl. Fattore/Mason/Watson 2017). Schließlich ist, bedingt durch die Gruppensituation und die Tatsache, dass es sich um durch Erwachsene künstlich hervorgerufene und begleitete Gesprächssituationen im schulischen Setting handelt, davon auszugehen, dass bestimmte private oder kritische Themen nicht angesprochen werden und/oder dass thematische Schwerpunktsetzungen erfolgen, die beispielsweise im Kontext von Peer oder Familie unterschiedlich wären. Auch hierfür gilt es andere Zugänge zu finden. Weiterführend bietet es sich zudem an, den Orten der sozialen Genese der Orientierungen empirisch nachzugehen. Anhand einer größeren Stichprobe mit Maximalkontrasten in Bezug auf Alter, Geschlecht, eigene/familiäre Migrationserfahrung oder auch in Kontrastierung mit Kindern in den Herkunftsländern sowie Kindern ‚ohne’ familiäre Migrationserfahrungen könnten Entwicklungs-, Geschlechts-, Migrationsgenerations- und Migrationstypiken herausgearbeitet werden. Einen möglichen Anschluss bieten dabei auch die in Kapitel 3.3.2 aufgezeigten Zusammenhänge zwischen subjektivem Wohlbefinden und sozialen Determinanten. Zudem ist die Beobachtung der Orientierungen im Entwicklungsverlauf am Übergang

Diskussion und Ausblick

295

von der mittleren Kindheit in die Adoleszenz angesichts der Befunde von Berry et al. (2006) zu Akkulturationseinstellungen sowie von Bohnsack und Nohl (2001) zu Differenzerfahrungen in der Jugendphase als aussichtsreich anzunehmen. Dieser Aspekt ist nicht nur relevant vor dem Hintergrund, dass die Kinder im Kontext Migration unter den Eindrücken unterschiedlicher (machtförmiger) kultureller Sinn- und Bezugssysteme stehen. Relevant ist auch der Befund von Schachner et al. (2014), dass die Orientierungen von Kindern dieses Alters noch weithin den angenommenen Orientierungen der Eltern gleichen und eigene Aushandlungsprozesse zum Teil noch ausstehen.242 Eine weitere Anschlussstelle bilden die groß angelegten nationalen und internationalen Surveys der Kindheits- und Child Well-Being-Forschung. Die Ergebnisse dieser qualitativen Untersuchung können in Zusammenhang zu den wenig differenzierten – auch innerhalb der Länder auf wenigen Indikatoren aufbauenden – Aussagen und ländervergleichenden Rankings zu Kindheit und Wohlbefinden gesetzt werden, ähnlich wie ich es im vorherigen Kapitel am Beispiel der Studie von Berry et al. (2006) zu Akkulturationseinstellungen umrissen habe. Auch ist zu diskutieren, inwiefern die für Migrationskontexte rekonstruierten Aspekte des Wohlbefindens als Indikatoren ‚übersetzt‘ Berücksichtigung in quantitativen Surveys finden könnten und sollten. Ferner liefern die gewonnenen Erkenntnisse zu heterogenen Vorstellungen von einem guten Leben einen Anstoß, der dem Child WellBeing-Konzept inhärenten Normativität auf den Grund zu gehen und diese produktiv zu bearbeiten. Schließlich verweisen die ersten Befunde zu Auswirkungen der handlungsleitenden Orientierungen auf Bedeutungen, die Sprache und Sprachförderung zugeschrieben werden, auf eine weitere bedeutsame Forschungslücke. Diesem Zusammenhang gilt es weiter nachzugehen, nicht zuletzt, da Sprache und Sprachförderung wiederum in engem Zusammenhang mit Agency und Wohlbefinden (Well-Being und Well-Becoming) stehen (vgl. Kämpfe/Westphal 2018).

242

Zum Vergleich siehe die Rekonstruktion von SchülerInnenhabitus im Entwicklungsverlauf bei Helsper, Kramer und Thiersch (2014).

296

TEIL III: Empirischer Teil

8.2.2

Was lässt sich für die Praxis ableiten?

Anhand der im Rahmen der Untersuchung rekonstruierten handlungsleitenden Orientierungen von Kindern im Migrationskontext ergeben sich Erkenntnisse, die unter anderem weiterführend sind für Debatten zum Umgang mit Heterogenität vor dem Hintergrund von Diskriminierung und Ungleichheit in Bildungsarrangements sowie für eine differenzsensible Soziale Arbeit. Heterogenität und Organisation: Heterogenität wird immer mehr zur Querschnittsaufgabe pädagogischer Organisationen.243 Doch wo setzt eine heterogenitätsbewusste Organisationsentwicklung an und inwiefern sind dabei die Perspektiven von Kindern und deren handlungsleitenden Orientierungen von Belang? Mechtild Gomolla (2013) diskutiert im Anschluss an Nancy Frasers dreidimensionales Konzept von Gerechtigkeit, das Aspekte von Verteilungsgerechtigkeit, Anerkennung und Repräsentation verbindet, tragfähige Strategien heterogenitätsbewusster Organisationsentwicklung (siehe auch Gomolla 2005).244 Anhand des Projekts Kinderwelten, einem deutschen Praxisprojekt zur Vorurteilsbewussten Bildung und Qualitätsentwicklung in Kindertageseinrichtungen, zeigt sie beispielhaft auf, wie die Aspekte Verteilungsgerechtigkeit, Anerkennung und Repräsentation integrativ bearbeitet werden. Das Projekt verfolgt eine Kultur des Aufwachsens, „in der Verschiedenheit von sprachlichen Voraussetzungen, Identitäten,

243

244

Es lässt sich dabei zunehmend ein Perspektivwechsel weg von der Fokussierung einzelner Differenzaspekte oder AdressatInnengruppen hin zu intersektionalen Betrachtungsweisen beobachten, das heißt hin zu einer Betrachtung von zugleich identitätsstiftenden als auch Diskriminierung und Bildungsungleichheit hervorrufenden Differenzmerkmalen in ihrer Vielfalt und Interaktion. Zudem geht die Argumentation weg von spezialisierten Maßnahmen für bestimmte AdressatInnengruppen hin zu gesamtorganisatorisch verankerten Strategien, die „unterschiedliche Ansätze einer differenzsensiblen und diskriminierungskritischen demokratischen Erziehung und Bildung mit Initiativen zum Abbau von Bildungsungleichheit verbinden“ (Gomolla 2013: 54). Verteilungsgerechtigkeit, Anerkennung und Repräsentation als Bedingungen gleichberechtigter Teilhabe zielen ab, erstens auf „eine Verteilung materieller Güter, die die Unabhängigkeit der Gesellschaftsmitglieder sicherstellt“, zweitens auf „institutionalisierte kulturelle Wertmuster [, die] allen Partizipanden gegenüber den gleichen Respekt zum Ausdruck bringen“ und drittens auf eine dialogische und diskursive Anwendung der „Norm partizipatorischer Parität“ (Gomolla 2013: 60).

Diskussion und Ausblick

297

Erfahrungen und Lebenshintergründen anerkannt und als Ressource genutzt wird“ (Gomolla 2013: 65).245 Vor dem Hintergrund ungleicher Verteilungsgerechtigkeit, Anerkennung und Repräsentation sind Organisationsstrukturen, institutionalisierte Normen und Routinen auf ihren Umgang mit heterogenen handlungsleitenden Orientierungen von Kindern (in ihren Kontextbindungen) hin zu befragen (vgl. Dirim/Mecheril 2010: 147). Ausgehend von den in der vorliegenden Studie herausgearbeiteten Handlungsorientierungen kann beispielsweise reflektiert werden, welches Verständnis von Eigenverantwortung in der Kindheit dem pädagogischen Handeln unterlegt ist. In Bezug auf eine differenzierende Pädagogik und eine adressatInnenorientierte Ausgestaltung von Bildungs-, Erziehungs- und Lernarrangements sind Handlungsorientierungen von Kindern ebenfalls von Belang (vgl. Bremer 2008: 1535). So wurden in den Gruppendiskussionen – in Abhängigkeit von den handlungsleitenden Orientierungen – unterschiedliche Erwartungen an das Lernen innerhalb eines additiven Sprachförderunterrichts gestellt: von einer möglichst unterrichtsnahen und effizienten bis hin zu einer möglichst spielerischen, freizeitpädagogischen Ausrichtung (weiterführend Kämpfe/Westphal 2016). Die vorliegende Arbeit ist damit – auch in Anlehnung an Frasers Gerechtigkeitsaspekt der Repräsentation – als Plädoyer für den Einbezug der Perspektiven von Kindern bei Fragen der Organisationsentwicklung zu verstehen. Differenzsensible Soziale Arbeit: Was die Kinder- und Jugendhilfe und speziell die Soziale Arbeit betrifft, so wird durch die Erkenntnisse zum Wohlbefinden von Kindern im Migrationskontext Sensibilität für ganz unterschiedliche Belange geschaffen. Die Erkenntnisse bestätigen die Bedeutung differenzierter sowohl migrationsspezifischer als auch unspezifischer Angebote, seien es Angebote für Neuzugewanderte, für Mädchen, spezifische Beratungsangebote, Angebote zu Empowerment, Antirassismus, Quartiersmanagement oder auch transnationale Projekte. Differenzsensibilität bedeutet 245

In dem Projekt werden Kinder, Eltern und pädagogische Fachkräfte in ihren Kontextbindungen in den Blick genommen. Respekt und Eintreten gegen Diskriminierung werden konsequent als erzieherische Werte vermittelt. Dabei werden unter anderem gängige binäre Unterscheidungsschemata wie Geschlecht oder Hautfarbe auf spielerische Weise dekonstruiert (z.B. durch den Einsatz von Persona Dolls). Zudem wird Wert gelegt auf die konsequente Reflexion des eigenen professionellen Handelns durch die Fachkräfte, aber auch durch die Infragestellung von Arbeitsstrukturen und pädagogischen Arrangements (Gomolla 2013: 65–74). Weiterführend zum Projekt Kinderwelten, siehe https://situationsansatz.de/fachstelle-kinderwelten.html (Zugriff am 10.05.2017).

298

TEIL III: Empirischer Teil

dabei auch, kritisch zu reflektieren, „wann Differenz genannt wird, wann sich interkulturelle Fragen überhaupt stellen […], um nicht ungewollt zu einer Fortsetzung von Diskriminierung beizutragen“ (Freise 2013: 53; weiterführend Mecheril 2010a: 187–190; Lamp 2010). Heterogenität und professionelles Handeln: Erkenntnisreich sind die Befunde damit auch für die Professionalisierung von pädagogischen Fach- und Lehrkräften in Hinblick auf ein differenzsensibles, subjektorientiertes und selbstreflexives, professionelles Handeln. Zusammenarbeit mit Eltern: Implikationen sind nicht zuletzt auch für die Zusammenarbeit mit Eltern gegeben. So werden durch den Blick auf die heterogenen Handlungsorientierungen von Kindern auch Zugänge zu elterlichen Erziehungskonzepten geschaffen, etwa hinsichtlich Entwicklungserwartungen, Autonomie- beziehungsweise Verbundenheitsorientierung sowie damit verbundene Vorstellungen von Akteurschaft von Kindern oder auch relevanten Zugehörigkeitsdimensionen. Wie in Kapitel 4.1.1 aufgezeigt, läuft eine westliche, mittelschichtsorientierte Perspektive, die von der normativen Vorstellung möglichst früher Entwicklungsförderung und Autonomieunterstützung getragen ist, Gefahr, ein stärker relational ausgerichtetes AkteurInnenverständnis, wie es etwa die Gruppe Kupfer zeigt, oder Vorstellungen von Kindheit als Schonraum, der mit einer gewissen Narrenfreiheit einhergeht – wie bei der Gruppe Schneeball –, zu ‚pathologisieren‘. Die vielfältigen Handlungsorientierungen von Kindern können daher nicht nur den Ausgangspunkt für eine reflexive Auseinandersetzung mit elterlichen Erziehungskonzepten, sondern auch für den Austausch mit Eltern und Kindern bilden (vgl. Kayser/Eunicke 2016).

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