In dieser Untersuchung wird analysiert, wie erfolgreich Kelsen bei der Formulierung einer Rechtstheorie war, die die rec
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German Pages 184 [185] Year 2019
Schriften zur Rechtstheorie Band 291
Kelsens Theorie der Rechtserkenntnis Zugleich eine kritische Betrachtung der Positivität als Eigenschaft des Rechts
Von
Matheus Pelegrino da Silva
Duncker & Humblot · Berlin
MATHEUS PELEGRINO DA SILVA
Kelsens Theorie der Rechtserkenntnis
Schriften zur Rechtstheorie Band 291
Kelsens Theorie der Rechtserkenntnis Zugleich eine kritische Betrachtung der Positivität als Eigenschaft des Rechts
Von
Matheus Pelegrino da Silva
Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. hat diese Arbeit im Wintersemester 2018/2019 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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© 2019 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: CPI buchbücher.de Gmbh, Birkach
ISSN 0582-0472 ISBN 978-3-428-15748-8 (Print) ISBN 978-3-428-55748-6 (E-Book) ISBN 978-3-428-85748-7 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2018/19 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg als Dissertation angenommen. Mein allererster Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Matthias Jestaedt, für die kritische und kompetente Durchsicht des Manuskripts, für seine jahrelange Unterstützung, sowie für den großzügig eingeräumten Freiraum, meinen eigenen – durch das Studium von Hans Kelsen Thesen angeregten – Überlegungen in meiner Forschungsarbeit nachgehen zu können. Für dies alles bin ich ihm zu tiefem Dank verpflichtet. Bedanken möchte ich mich auch bei Herrn Prof. Dr. Ralf Poscher für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens und die dort gegebenen Kommentare. Besonders dankbar bin ich der brasilianischen Organisation für die Wissenschaftsförderung CAPES (Coordenação de Aperfeiçoamento de Pessoal de Nível Superior), deren Unterstützung den erfolgreichen Abschluss dieser Arbeit ermöglichte. Ein ganz spezieller Dank gilt meiner Mutter, die mich in Allem vorbehaltlos unterstützt hat. Freiburg im Breisgau, Februar 2019
Matheus Pelegrino da Silva
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 1 Grundnorm, Normativität und Positivität als Grundprämissen der Reinen Rechtslehre
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A. Die Auffassung der Reinen Rechtslehre als Hypothese und die Natur der Grundprämissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Die drei angenommenen Prämissen und ihr Verhältnis zueinander . . . . . . . . . . .
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C. Die eventuelle Notwendigkeit der Annahme der Prämisse Grundnorm und die Anwendung des Begriffs „Recht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 2 Gegenstände der Rechtserkenntnis und des Rechts
32
A. Der Gegenstand der Rechtserkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
B. Die Anwendung von individuellen Normen als Ausgangspunkt der Rechtserkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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C. Die Rechtserkenntnis und das Ziel von Kelsens Rechtstheorie . . . . . . . . . . . . . . .
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D. Die Rechtswissenschaft und die Erzeugung der Gegenstände des Rechts . . . . . .
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E. Wissenschaftliche Debatte über die Gegenstände der Rechtswissenschaft bei Kelsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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F. Die Rolle der Geltung bei der Identifizierung der Gegenstände des Rechts . . . .
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G. Die Notwendigkeit der Postulierung der alternativen Ermächtigung für die Erklärung der Existenz einiger Rechtsphänomene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 3 Die Beschreibung der gültigen Normen und die Bedeutung der Geltung der Normen A. Die Rechtssätze und die Beschreibungsaufgabe der Rechtswissenschaft . . . . . .
53 53
8
Inhaltsverzeichnis
B. Die Zurechnung als normative Verknüpfung von Tatbeständen . . . . . . . . . . . . . . . 55 C. Rechtsfolge, Sanktion und die Zwangsnatur des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Verhältnis zwischen Rechtsfolge und Sanktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die selbständige Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Sanktion und Zwangsnatur des Rechtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Auffassung der Rechtsfolge angesichts der Wirksamkeit und der Bedeutung der Geltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
60 60 62 64 69
Kapitel 4 Ursprung und Begründung der Geltung der Normen
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A. Die Grundnorm und die Identifikation der gültigen Rechtsordnung . . . . . . . . . . . 76 I. Die Grundnorm und die Zusammenhänge zwischen Geltung und Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 II. Die Grundnorm und die Legitimierung der Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 B. Die alternative Ermächtigung und ihre Positivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Erzeugung von Normen dank der alternativen Ermächtigung . . . . . . . . . II. Die Arten und Grenzen der Positivierung der alternativen Ermächtigung . . . III. Positive oder vorausesetzte alternative Ermächtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die indirekte Positivität der alternativen Ermächtigung aufgrund der Ohnmacht hinsichtlich der Überprüfung der Normangemessenheit . . . . . . . . . . . .
82 83 87 93
C. Stufenbaulehre und Rechtserkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Rolle der Stufenbaulehre für die Rechtserkenntnis und die Begründung der Stufung der Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Wie viele Stufenbauten (Rangordnungen der Normen) kann eine Rechtsordnung enthalten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Bestimmung der rechtssetzenden Fähigkeit als Ermächtigung und die Problematik der alternativen Ermächtigung angesichts der Stufenbaulehre . . IV. Der Stufenbau nach derogatorischer Kraft, alternativer Ermächtigung und die Suspension als weitere Funktion der Rechtsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Ursprünge, Lösungen und Konsequenz der Normenkonflikte . . . . . . . . . . . . . 1. Die Ursprünge der Normenkonflikte und Kelsens Lösung für diese Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Status des Grundsatzes lex posterior derogat legi priori und die Anwendung des Gewohnheitsrechts für die Lösung der Normenkonflikten . . 3. Die Konsequenz der ungelösten Normenkonflikte für die Lehre vom Stufenbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Bildliche Darstellungen der Stufungen einer Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . 1. Bildliche Darstellung der Stufenbauten der Rechtsordnung nach absolut normgemäßer rechtssetzender Kraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
101
97
101 106 109 114 122 123 124 129 130 133
Inhaltsverzeichnis
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2. Bildliche Darstellung des Rechtserzeugungsspielraums dank alternativer Ermächtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 3. Bildliche Darstellung der Stufung der Rechtserzeugungsformen nach derogatorischer Kraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
Kapitel 5 Die Rechtserkenntnis und die Interpretation des Rechts
140
A. Die drei Arten von Interpretation und die Aufgabe der rechtswissenschaftlichen Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 B. Die rechtswissenschaftliche Interpretation und die Anwendung von Auslegungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Auslegungsmethoden und die Mehrdeutigkeit der Normtexte . . . . . . . . . II. Das ausgelegte Recht als beobachtbares Phänomen und die Nicht-Erforderlichkeit einer bestimmten Auslegungsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Überlegungen zur Anwendungspflicht einer bestimmten Auslegungsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Rechtsnorm als Sinn eines Willensaktes und der Sinn der Rechtsnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die demokratische Legitimität und die Nicht-Existenz der Anwendungspflicht einer bestimmten Auslegungsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
145 146 150 151 153 156
C. Der Aufbau des normativen Rahmens und das Problem der Mehrdeutigkeit . . . 160 D. Die Anwendung von nicht-positivierten Quellen beim Aufbau des normativen Rahmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
176
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Abkürzungsverzeichnis a. a. O. AJM-GS Anm. ARSP ATN (1979) Aufl. Bd. d. h. ders. ff. Fn. FS GS GTLS (1945) HKW Hrsg. JB M.P.S. Neud. OJLS ÖJZ ÖZöR Recht und Logik (1965) RJ RR1 (1934) RR2 (1960) RT
S. u. a. unver. WRS ZöR
am angegebenen Ort Adolf Julius Merkl – Gesammelte Schriften Anmerkung Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Allgemeine Theorie der Normen Auflage Band das heißt derselbe und die folgenden Seiten Fußnote Festschrift Gedächtnisschrift General Theory of Law and State Hans Kelsen Werke Herausgeber Juristische Blätter Matheus Pelegrino da Silva Neudruck Oxford Journal of Legal Studies Österreichische Juristen-Zeitung Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht Recht und Logik Ratio Juris Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik, Studienausgabe der 1. Auflage 1934 Reine Rechtslehre, Studienausgabe der 2. Auflage 1960 Rechtstheorie: Zeitschrift für Logik und Juristische Methodenlehre, Allgemeine Rechts- und Staatslehre, Kommunikations-, Normen und Handlungstheorie, Soziologie und Philosophie des Rechts Seite(n) unter anderen unverändert Die Wiener Rechtstheoretische Schule. Ausgewählte Schriften von Hans Kelsen, Adolf Julius Merkl und Alfred Verdross Zeitschrift für öffentliches Recht
Einleitung Hans Kelsens Rechtstheorie ist an dem Ziel orientiert, das Recht zu erkennen und zu beschreiben. Folglich existiert die Möglichkeit, seine Rechtstheorie angesichts seines Zieles zu analysieren, das heißt zu überprüfen, ob sie erfolgreich ist, ob ihre Beschreibung des Rechts kein fremdes Element miteinschließt oder relevante Elemente ausschließt, ob sie die nötigen theoretischen Mittel und Überlegungen anbietet, um das Recht zu erkennen und diese Rechtserkenntnis zu begründen. Das Hauptziel der vorliegenden Arbeit ist, zu analysieren, wie erfolgreich Kelsen bei der Formulierung einer Rechtstheorie war, die die rechtliche Natur von Rechtsphänomenen zu erkennen und zu beschreiben versucht. Dieses Ziel wird durch die Untersuchung seiner Theorie der Rechtserkenntnis hinsichtlich der Begründung der Hauptelemente dieses theoretischen Projekts entwickelt. Um diese Analyse durchzuführen, wird erforscht, wie Kelsen die Rechtserkenntnis darstellt, wie diese Erkenntnis mit seiner Auffassung der Rechtsnorm als objektiver Sinn eines Willensaktes verbunden ist, warum sich für ihn die Rechtserkenntnis durch die Annahme von drei Grundprämissen (Grundnorm, Positivität und Normativität des Rechts) konstituiert und welche Situationen existieren, in denen die Begründung der Erkenntnis des Rechts durch das punktuelle Ausschließen der Positivität, d. h. durch die Ablehnung der Erforderlichkeit der Anwendung von ausschließlich positiven Normen, erfolgt. Die ersten drei Kapitel dieser Untersuchung stellen die Hauptelemente der Reinen Rechtslehre als eine Theorie der Rechtserkenntnis dar, als Theorie, die auf die Beschreibung der Rechtsphänomene zielt, während die letzten beiden Kapitel auf die Präsentation und kritische Untersuchung der von Kelsen entwickelten Lehren zielen, um durch die Darstellung der Art und Weise, wie gültige Normen erzeugt und interpretiert werden, die Rechtserkenntnis zu erklären. Im ersten Kapitel wird erläutert, was Grundnorm, Normativität und Positivität als angenommene Prämissen in Kelsens Rechtslehre bedeuten, aus welchen Gründen sie nötig sind und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Das zweite Kapitel wird untersuchen, wie Kelsen die Gegenstände der Rechtserkenntnis und des Rechts darstellt und wie die rechtliche Natur dieser Gegenstände dank gültiger Normen und deren Inhalten anerkannt wird. Das dritte Kapitel zielt auf die Erklärung der Art und Weise, wie gültige Normen von der Rechtstheorie durch Rechtssätze beschrieben werden, sowie auf die Erklärung der Bedeutung der Geltung als Eigenschaft einer Norm in Hinblick auf die Zwangsnatur des
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Einleitung
Rechts. Im vierten Kapitel werden die Hauptelemente für die Begründung der Geltung der Normen, d. h. die Lehre von der Grundnorm und der alternativen Ermächtigung, die Stufenbaulehre sowie die Problematik der Normenkonflikte präsentiert und kritisch analysiert. Das letzte Kapitel wird unter Berücksichtigung der Notwendigkeit der Interpretation der gültigen Normen, um die rechtliche Bedeutung der Rechtsphänomene identifizieren zu können, die Rolle der Interpretation für die Erklärung der Rechtserkenntnis analysieren. Diese Überlegungen zielen auf zwei Ergebnisse: Erstens auf eine umfassende Darstellung und Analyse der Elemente von Kelsens Theorie der Rechtserkenntnis und zweitens auf eine kritische Behandlung von Kelsens Auffassung, dass die Positivität eine wesentliche Eigenschaft des Rechts sei, indem Situationen bearbeitet werden, in denen Rechtsphänomene als solche zu betrachten sind, obwohl bei der Zuschreibung der rechtlichen Bedeutung eine für die Erklärung dieser rechtlichen Bedeutung notwendige positive Norm fehlt. Die Durchführung dieses Projekts ist nicht mit dem Zweck verbunden, Kelsens Theorie der Rechtserkenntnis als Ganzes in Frage zu stellen, sondern zu zeigen, dass Kelsens Reine Rechtslehre in einigen Situationen mit einer Bifurkation konfrontiert wird, bei der zwischen der Beachtung des Grundsatzes der Positivität oder der Beschreibungsaufgabe entschieden werden muss. Im Einzelnen wird gezeigt werden, dass Kelsens Rechtstheorie ihrer angenommenen Aufgabe (in der Regel) treu geblieben ist, denn in mehreren problematischen Fällen wird sie den Grundsatz der Positivität nicht als erforderlich betrachten, um weiter in der Lage zu sein, das Recht, die Rechtsphänomene, nicht nur dank positiver Normen weiterhin beschreiben zu können.
Kapitel 1
Grundnorm, Normativität und Positivität als Grundprämissen der Reinen Rechtslehre Hans Kelsen präsentiert seine Reine Rechtslehre nicht als eine fertige Theorie des Rechts, sondern als einen Versuch, die wesentlichen Elemente und Eigenschaften des Rechts darzustellen und zu beschreiben. Weil Kelsen aber trotz der von ihm selbst getroffenen Einschränkung auf die Formulierung einer Theorie des Rechts zielt, werden in diesem ersten Kapitel die Grundelemente, von denen die Reine Rechtslehre ausgeht, dargestellt und analysiert. Zuerst wird dem Argument nachgegangen, warum die Reine Rechtslehre als eine Hypothese verstanden werden muss, und die drei angenommenen Prämissen (Grundnorm, Normativität und Positivität des Rechts) der Theorie von Kelsen werden ausführlich erörtert. Danach wird diskutiert, warum nach Kelsens Perspektive genau von diesen drei Prämissen ausgegangen werden muss und in welchem Verhältnis sie zu einander stehen. In der letzten Sektion werden in einem anderen Zusammenhang die Gründe dargestellt, warum die Grundnorm als eine der Prämissen der Reinen Rechtslehre anzunehmen ist, sowie die Konsequenzen ihrer eventuellen Ablehnung.
A. Die Auffassung der Reinen Rechtslehre als Hypothese und die Natur der Grundprämissen Kelsens Rechtslehre bestätigt sich als Hypothese über das Recht1, solange sie ihr Ziel erfüllt und eine Beschreibung des Rechts anbietet2. Bei allen Untersu1 Kelsens Rechtstheorie ist als Hypothese dargestellt, da sie eine Erklärung, einen Grund für das Einschließen mehrerer Phänomene anzubieten versucht, die als Rechtsphänomene identifiziert sind. Als Hypothese kann sie auf die Probe gestellt und ihr Erfolgsgrad eingeschätzt werden. Der Begriff „Hypothese“ wird in diesem Zusammenhang verwendet, um die wissenschaftliche Natur der Reinen Rechtslehre hervorzuheben, sowie um klarzustellen, dass die Reine Rechtslehre als Hypothese bestätigt (aber nicht verifiziert) oder widerlegt werden kann. Zu der Idee, dass wissenschaftliche Theorien Hypothesen sind, die falsifiziert oder bestätigt werden können, ist folgende Bemerkung zu berücksichtigen: „To say that a hypothesis is testable is at least to say that some prediction made on the basis of that hypothesis may confirm or disconfirm it. Science demands evidence. But, of course, the evidence accumulated that could confirm the hypothesis in question can never be complete (. . .); all the evidence is never in hand. Therefore, even when that supporting evidence is very strong, some doubt must remain, and certainty is unattainable. On the negative side, however, if the evidence shows indisputably that the predictions made on the basis of that hypothesis are false,
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Kap. 1: Grundprämissen der Reinen Rechtslehre
chungen geht es immer um die Bestätigung der Reine Rechtslehre als eine Theorie des Rechts, aber nicht darum, sie zu beweisen, denn diese Theorie zielt auf die Beschreibung des existenten Rechts, der existenten Rechtsphänomene und sie versucht nicht Behauptungen über die zukünftige Gestalt und Gestaltung des Rechts aufzustellen. Folglich können die Fakten, die das existente Recht umfassen, die Rechtsphänomene, Kelsens Rechtslehre bestätigen, aber sie können nicht beweisen, ob diese Rechtstheorie immer wahr und richtig sein wird3. Ist die Reine Rechtslehre erfolgreich, dann liegen gute (pragmatische) Gründe vor, um die angenommenen Prämissen dieser Theorie zu akzeptieren, die eine wesentliche Rolle bei der Erfüllung ihr Ziels spielen. Der Erfolg der Reinen Rechtslehre ist der entscheidende Grund für die Annahme ihrer Bestandteile – die in anderen Zusammenhängen nicht notwendigerweise sinnvoll oder nützlich sein müssen. In Kelsens Rechtslehre sind drei Grundprämissen, drei Elemente, zu identifizieren, die von ihm als wahr angenommen und als Argumente verwendet werden, um bestimmte Schlussfolgerungen ableiten zu können: die Grundnorm, die die Begründung dafür liefert, einer Rechtsordnung (sowie den Normen dieser Rechtsordnung) Geltung zuzuschreiben; die Normativität, die die Rechtserkenntnis von der Untersuchung der Verhältnisse abhängig macht, die durch rechtliche Normen erzeugt sind; und die Positivität, die festlegt, dass nur die tatsächlich gesetzten Normen als gültige Normen, als Gegenstände des Rechts anzusehen sind.
our confidence that the hypothesis must be rejected may be total.“ Copi/Cohen/McMahon, Introduction to Logic, S. 574. 2 Über das Ziel der Reinen Rechtslehre schreibt Kelsen: „(sie; M.P.S.) will (. . .) ausschließlich und allein ihren Gegenstand erkennen. Sie versucht, die Frage zu beantworten, was und wie das Recht ist, nicht aber die Frage, wie es sein oder gemacht werden soll. Sie ist Rechtswissenschaft, nicht aber Rechtspolitik.“ Kelsen, RR1 (1934), S. 15. Identisch in ders., RR2 (1960), S. 21. Und über die Beschreibungsaufgabe seiner Theorie führt er aus: „Die Rechtswissenschaft hat das Recht (. . .) zu erkennen und auf Grund ihrer Erkenntnis zu beschreiben.“ Ders., a. a. O., S. 142. Ähnliches schreibt Kelsen in der Allgemeine Theorie der Normen: „Als eine Wissenschaft kann die Rechtswissenschaft nur über ihr gegebene Normen erkennen und beschreiben, nicht Normen setzen, nicht etwas vorschreiben.“ Ders., ATN (1979), S. 123. 3 Dass Kelsen selbst seine Rechtstheorie nicht als eine definitive Theorie des Rechts anbieten wollte, dass er seine Reine Rechtslehre als Hypothese betrachtet hat, und dass durch die Nicht-Beachtung von relevanten Rechtsphänomenen Probleme auftreten können, ist aus folgender Bemerkung im Vorwort der zweiten Auflage der Reine(n) Rechtslehre zu erkennen: „Bei der im Laufe der Entwicklung stetig zunehmenden Vielfältigkeit des Inhalts der positiven Rechtsordnungen läuft eine allgemeine Rechtslehre stets Gefahr, mit den von ihr bestimmten Grundbegriffen des Rechts nicht alle Rechtsphänomene zu erfassen. Mancher dieser Begriffe mag sich als zu eng, mancher als zu weit erweisen. Dieser Gefahr bin ich mir bei dem vorliegenden Versuche durchaus bewußt und werde daher für jede Kritik in dieser Hinsicht aufrichtig dankbar sein. Auch die zweite Auflage der Reinen Rechtslehre will nicht als eine Darstellung endgültiger Ergebnisse, sondern als ein Unternehmen betrachtet werden, das einer Fortführung durch Ergänzungen und sonstige Verbesserungen bedarf.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 10 (Hervorhebung von mir: M.P.S.).
A. Die Auffassung der Reinen Rechtslehre als Hypothese
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Obwohl nach Kelsen diese Prämissen in den Gegenständen des Rechts beobachtet werden können, ist ihre Existenz nicht von diesen Gegenständen ableitbar, denn sie haben eine universelle, generelle Natur, und deshalb können sie nicht in der Realität der individuellen Rechtsphänomene gefunden werden, sondern sie können in dieser Realität nur instanziiert sein. Selbst wenn bei Kelsen keine vollkommen klare Erklärung der Natur der Normativität und der Positivität zu finden ist, hat er in seiner Allgemeine(n) Theorie der Normen einige Bemerkungen über die Natur der Grundnorm angeboten, welche die hier vertretene Auffassung unterstützen, nach der Grundnorm, Normativität und Positivität angenommene Prämissen seiner Rechtstheorie sind, und dass die Reine Rechtslehre als eine theoretische Hypothese anzusehen ist. In der eben genannten Schrift schreibt Kelsen, dass die Grundnorm nicht mehr als Hypothese betrachtet werden kann, da Hypothesen mit der Realität korrespondieren können (oder nicht) und die Grundnorm, als nie gesetzte sondern nur vorausgesetzte Norm, nie in der Realität zu finden ist4. Kelsen behauptet, dass die Grundnorm als ein „Denkbehelf“ (und auch als „Fiktion“, aber dieser Begriff könnte falsche Vorstellungen hervorrufen) zu betrachten ist, also als ein Mittel, um ein Ziel zu erreichen, das ohne dieses Mittel unerreichbar wäre. Der Kern der Idee des „Denkbehelf(s)“ ist die Existenz einiger Informationen, die so aussehen, als ob sie miteinander verbunden wären, aber diese Verbindung kann nur durch eine Abstraktion der konkreten Realität, der einzelnen Phänomene, beobachtet und beschrieben werden. Für Kelsen ist die Grundnorm ein „Denkbehelf“, weil sie – so wie die Normativität und die Positivität – als eine wissenschaftliche Prämisse vorgestellt ist. Die allgemeine Natur von Grundnorm, Normativität und Positivität schließt die Möglichkeit aus, sie als generelle Prämissen in der konkreten Realität der einzelnen Phänomene zu beobachten. Es ist unmöglich, eine gesetzte Grundnorm zu finden, denn die Positivität der Grundnorm könnte nur durch das Voraussetzen 4 „Die Grundnorm einer positiven Moral- oder Rechtsordnung ist – wie aus dem Vorhergehenden ersichtlich – keine positive, sondern eine bloß gedachte, und das heißt eine fingierte Norm, der Sinn nicht eines realen, sondern eines bloß fingierten Willensaktes. Als solche ist sie eine echte oder ,eigentliche‘ Fiktion im Sinne der Vaihingerschen Philosophie des Als-Ob (. . .). Eine Fiktion ist nach Vaihinger (. . .) ein Denkbehelf, dessen man sich bedient, wenn man den Denkzweck mit dem gegebenen Material nicht erreichen kann. (. . .) Der Denkzweck der Grundnorm ist: die Begründung der Geltung der eine positive Moral- oder Rechtsordnung bildenden Normen, das ist die Deutung des subjektiven Sinnes der diese Normen setzenden Akte als deren objektiven Sinn, das heißt aber als gültige Normen, und der betreffenden Akte als norm-setzende Akte. Dieses Ziel ist nur im Wege einer Fiktion zu erreichen. Daher ist zu beachten, daß die Grundnorm im Sinne der Vaihingerschen Als-Ob-Philosophie keine Hypothese ist – als was ich selbst sie gelegentlich gekennzeichnet habe – sondern eine Fiktion, die sich von einer Hypothese dadurch unterscheidet, daß sie von dem Bewußtsein begleitet wird oder doch begleitet werden soll, daß ihr die Wirklichkeit nicht entspricht“. Kelsen, ATN (1979), S. 206–207. Die Auffassung der Grundnorm als eine gedachte, aber nicht gewollte Norm ist schon in der zweiten Auflage der Reine(n) Rechtslehre zu finden. Siehe ders., RR2 (1960), S. 362–367.
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Kap. 1: Grundprämissen der Reinen Rechtslehre
einer nicht-positiven Norm erfolgen, welche die Positivität der Grundnorm begründen würde, aber gleichzeitig eine nicht-positive Norm voraussetzen müsste, mit dem Ergebnis, dass ein circulus vitiosus entstehen würde. Auch die Positivität der Positivität kann nicht erfolgreich nachgewiesen werden, denn eine positive Begründung der Positivität könnte nur als Scheinbegründung Bestand haben, weil die Positivität die Erforderlichkeit des Positivierens einer Norm bedeutet, um die Geltung dieser Norm anzuerkennen, und obwohl es nicht nur bei der Begründung der Geltung um das Positivieren geht, ist sie erforderlich. Müsste eine Norm die Positivität als allgemeine Norm (als Grundsatz) begründen, würde diese Norm nur gelten, wenn sie gesetzt wäre, und dann müsste sie auch positiviert sein, was bedeuten würde, dass die Positivität als Grund für die Geltung vorausgesetzt wäre. Normen können die Eigenschaft der Positivität zeigen, sie können die Positivität des Rechts instanziieren, aber diese Normen sind nicht die Positivität des Rechts. Die Positivität des Rechts ist durch das Isolieren einer allgemeinen Qualität der Rechtsphänomene behauptet, sodass positive Normen in der Realität identifizierbar sind, aber nicht die Positivität des Rechts, die nicht beobachtbar, sondern nur denkbar ist5. Darüber hinaus ist zu beachten, dass auch die Normativität aus demselben Grund keine absolute Begründung in der Realität finden kann, denn sie existiert als eine geeignete Weise, um beobachtete Phänomene zu deuten, welche auch durch die Kausalität (dieses Thema wird in Kapitel 3 Abschnitt B behandelt), also ohne Anwendung der Idee von normativen Verhältnissen, gedacht werden kann. Grundnorm, Normativität und Positivität werden in der Reinen Rechtslehre angewendet, als ob sie wahr wären. Nach Kelsen müssen diese drei Prämissen als notwendige Elemente für das theoretische Denken des Rechts angenommen und beachtet werden, sodass die Reine Rechtslehre eine explizite Hypothese über die Natur des Rechts anbieten kann. Sind diese „Denkbehelfe“ (nicht nur die Grundnorm, sondern auch die Normativität und die Positivität des Rechts) nützlich, dann ist ihre Annahme begründet, da das Ziel dieser Prämissen ist, das Recht zu verstehen und zu beschreiben. Es kann also bestritten werden, ob die Reine Rechtslehre als Hypothese bestätigt oder widerlegt ist; und auch die Frage der Bestätigung oder Widerlegung mit Blick auf die drei erwähnten Prämissen kann nicht endgültig beantwortet werden. Es sind Behauptungen über abstrakte Elemente, die eine Rechtstheorie (wie die Reine Rechtslehre Kelsens) möglich machen, die eine bestimmte Realität beschreiben, aber als allgemeine Behauptungen können sie in der Realität nie beobachtet werden. Was über sie eventuell behauptet werden kann, ist, dass durch ihre ausnahmslose Beachtung die Theorie nicht in die Lage versetzt wird, die rechtliche Natur von allen Phänomenen zu erklären, die als Rechtsphänomene betrachtet werden. 5 In den Kapiteln 4 und 5 werden einige Argumente entwickelt, um die Angemessenheit der Behauptung der Positivität als Grundsatz, als Bedingung der Geltung, in einigen Situationen in Frage zu stellen.
B. Die drei angenommenen Prämissen
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B. Die drei angenommenen Prämissen und ihr Verhältnis zueinander Die Positivität ist nach Kelsens Auffassung ein wesentlicher Aspekt des Rechts. Das Recht zu erkennen, bedeutet, das positive, gesetzte Recht zu erkennen, welches durch Willensakte gesetzt wird und gültig bleibt6. Deswegen findet man in der Allgemeine(n) Theorie der Normen folgende Aussage: „Kein Imperativ ohne Imperator, keine Norm ohne eine normsetzende Autorität“ 7. Nach dieser Auffassung stammt das von der Rechtstheorie zu erkennende Recht immer aus konkreten Akten, die von ermächtigten Individuen8 gesetzt werden, sodass es keine gültige Norm geben kann (abgesehen von der Grundnorm)9, die nicht auf gültige Weise (also durch Beachtung der Normen, die die Erzeugung von Normen disziplinieren) gesetzt wurde10. Der Hauptpunkt bezüglich der Normativität des Rechts ist die Idee, dass das Recht als Gegenstand der Rechtstheorie aus Rechtsnormen oder deren Inhalten 6 „Die Normen einer Rechtsordnung müssen durch einen besonderen Setzungsakt erzeugt werden. Es sind gesetzte, das heißt positive Normen, Elemente einer positiven Ordnung.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 354–355. „Eine durch einen in der Seinswirklichkeit stattfindenden Willensakt gesetzte Norm ist eine positive Norm. Vom Standpunkt eines Moral- oder Rechtspositivismus kommen als Gegenstand der Erkenntnis nur positive, d. h. durch Willensakte, und zwar durch menschliche Willensakte, gesetzte Normen in Betracht.“ Ders., ATN (1979), S. 4. 7 Kelsen, ATN (1979), S. 187. Hier muss hervorgehoben werden, dass in diesem Zusammenhang unter „Autorität“ nicht nur die Rechtsorgane (oder die Mitglieder dieser Rechtsorgane) zu verstehen sind, denn auch Privatpersonen können vom Recht ermächtigt werden, um Rechtsnormen zu erzeugen, beispielsweise wenn zwei Personen sich durch einen Vertrag gegenseitig zu etwas verpflichten. Siehe ders., RR2 (1960), S. 454– 458; ders., Geltung und Wirksamkeit des Rechts (2003), in: Walter/Jabloner/Zeleny (Hrsg.), Hans Kelsens stete Aktualität, S. 6–8. 8 Die Ermächtigung, die zugeschrieben wird, kann als ein rechtliches Können oder als ein rechtliches Müssen verstanden werden, als eine Erlaubnis oder als ein Gebot. „Der durch eine Moral- oder Rechtsnorm ermächtigte Akt kann – muß aber nicht – auch geboten sein. Nur wenn er auch geboten ist, ist seine Unterlassung moral- oder rechtswidrig. Zur Setzung genereller Rechtsnormen ist das Gesetzgebungsorgan von der Verfassung ermächtigt: aber die Setzung genereller Rechtsnormen ist ihm – in der Regel – nicht geboten. Indem das Gesetzgebungsorgan von der ihm erteilten Ermächtigung keinen Gebrauch macht, begeht es keine Rechtsverletzung. Der Richter ist durch Gesetze ermächtigt, generelle Rechtsnormen auf konkrete Fälle anzuwenden. Dies ist ihm in der Regel auch geboten. Er verletzt seine Amtspflicht, wenn er unterläßt, von seiner Ermächtigung in einem konkreten Fall Gebrauch zu machen, er verhält sich gebotswidrig, rechtswidrig.“ Kelsen, ATN (1979), S. 83. 9 Siehe Kelsen, RR2 (1960), S. 395–396. 10 „Als Rechtsnorm gilt eine Norm stets nur darum, weil sie auf eine ganz bestimmte Weise zustande gekommen, nach einer ganz bestimmten Regel erzeugt, nach einer spezifischen Methode gesetzt wurde. Das Recht gilt nur als positives Recht, das heißt: als gesetztes Recht. In dieser Notwendigkeit des Gesetzt-Seins und der darin gelegenen Unabhängigkeit seiner Geltung von der Moral und von gleichartigen Normsystemen besteht die Positivität des Rechts.“ Kelsen, RR1 (1934), S. 74–75.
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besteht. Aus diesem Grund ist zu beachten, dass „the principle according to which natural science describes its object is causality; the principle according to which the science of law describes its object is normativity.“ 11 Die Gegenstände des Rechts unter Berücksichtigung der Eigenschaft der Normativität zu verstehen, bedeutet, diese Gegenstände nicht durch die Anwendung von Kausalzusammenhängen – d. h. Zusammenhänge, die durch Gebrauch von Normen der Naturwissenschaften identifiziert werden – zu betrachten, sondern als Gegenstände, die Rechtsnormen sind oder eine spezifische Bedeutung aufgrund von Rechtsnormen bekommen haben. So wie die Naturwissenschaft aufgrund einer Norm (eines Naturgesetzes) zwei Phänomene verbindet, die unter der allgemeinen Idee der Kausalzusammenhänge stehen – wenn sie zum Beispiel durch die Anwendung einer von der Thermodynamik vorgegebenen Norm konstatiert, dass ein bestimmtes Objekt, eine Metallleiste, wegen der Änderung der Temperatur eine Änderung ihrer Größe erfahren hat –, verbindet die Rechtswissenschaft zwei Phänomene, zum Beispiel, dass eine Person eine Waffe auf eine andere Person gerichtet hat und deshalb die erste Person im Gefängnis sitzt, durch die Anwendung von Rechtsnormen, die diese zwei Tatsachen in einen direkten Zusammenhang bringen. Die Grundnorm ist eine wesentliche Prämisse von Kelsens Rechtstheorie, denn sie gestattet unter mehreren möglichen (nicht nur gedachten, sondern auch gesetzten) Rechtsordnungen die Identifizierung der gültigen Rechtsordnung12. Durch die Grundnorm können gültige von ungültigen Normen unterschieden werden. Diese Unterscheidung erfolgt durch die Überprüfung der Wirksamkeit der Rechtsordnung, die als Bedingung der Geltung dieser Rechtsordnung in der Grundnorm statuiert ist13. In diesem Zusammenhang können einige Erwägungen in Betracht gezogen werden, um den Grad von Ab- oder Unabhängigkeit zwischen den drei dargeKelsen, GTLS (1945), S. 46. Siehe ders., RR2 (1960), S. 182–185. Hier wird die Grundnorm nur in ihren Verhältnissen mit der Positivität und der Normativität einerseits sowie in ihrem Verhältnis mit der Beschreibungsaufgabe von Kelsens Rechtslehre andererseits betrachtet. Die unterschiedlichen von der Grundnorm disziplinierten Beziehungen zwischen Wirksamkeit und Geltung von Rechtsnormen werden im Kapitel 4 Abschnitt A behandeln. 13 „Grund der Geltung, das ist die Antwort auf die Frage, warum die Normen dieser Rechtsordnung befolgt und angewendet werden sollen, ist die vorausgesetzte Grundnorm, derzufolge man einer tatsächlich gesetzten, im großen und ganzen wirksamen Verfassung und daher den gemäß dieser Verfassung tatsächlich gesetzten, im großen und ganzen wirksamen Normen entsprechen soll. (. . .) Die Normen einer positiven Rechtsordnung gelten, weil die die Grundregel ihrer Erzeugung bildende Grundnorm als gültig vorausgesetzt wird, nicht weil sie wirksam sind; aber sie gelten nur, wenn, das heißt nur solange als diese Rechtsordnung wirksam ist. Sobald die Verfassung, und das heißt die auf ihrer Grundlage gesetzte Rechtsordnung als Ganzes ihre Wirksamkeit verliert, verlieren die Rechtsordnung und damit jede einzelne ihrer Normen ihre Geltung.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 383–384. 11 12
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stellten Prämissen zu identifizieren, sowie um die Natur dieser Prämissen besser zu verstehen. Laut Kelsen ist für die Behauptung der Existenz von gültigen Normen die Prämisse der Positivität nur in Verbindung mit der Prämisse der Grundnorm anwendbar. Deren Abhängigkeit von der Existenz von gültigen Normen ist eine Folge der Tatsache, dass nur durch die Anwendung von Normen die Möglichkeit besteht, gesetzte Normen zu identifizieren, sowie dem Handeln von Autoritäten, die diese Normen gesetzt haben, rechtliche Bedeutung zuzuschreiben. Die Anwendung der Prämisse der Positivität ist von der Existenz gültiger Normen abhängig und deswegen auch von den Prämissen der Normativität und der Grundnorm14. So wie es unmöglich ist, die Adoption der Prämissen der Grundnorm und der Positivität in Verbindung mit der Ablehnung der Prämisse der Normativität anzunehmen, da die gesetzten Normen als solche identifiziert sind, weil sie in einer gültigen Weise (d. h. durch die Beachtung von gültigen Normen) gesetzt wurden, ist es auch unmöglich zu behaupten, dass ein rechtssetzender Akt eine gültige Norm gesetzt hat, ohne gleichzeitig normative (nicht kausale) Verhältnisse zwischen erzeugender und erzeugter Norm in Betracht zu ziehen. Andererseits bedeutet die Annahme der Prämissen der Grundnorm und der Normativität nicht die logische Erforderlichkeit der Annahme der Prämisse der Positivität, denn es ist möglich, sich eine gültige und wirksame Rechtsordnung vorzustellen, die (zum Teil oder als Ganze) nicht (oder nicht nur) von gesetzten Normen konstituiert ist, sodass die Tatsache, dass Normen positiviert oder nicht positiviert sind, kein Grund für die Anerkennung der Zugehörigkeit dieser Normen zur Rechtsordnung sein muss. Das Ausschließen der Prämisse der Positivität kann berücksichtigt werden, wenn zum Beispiel das beobachtete Recht tatsächlich nicht nur von gesetzten, sondern auch von nicht gesetzten, nicht positivierten Normen konstituiert ist, d. h. durch die Identifizierung einer Rechtsordnung und einer bedeutungsvollen Anzahl von Rechtsphänomenen, die darauf hinweisen, dass bei der Rechtsanwendung beispielsweise Autoritäten in konsistenter Weise allgemeine Prinzipien, die aus den Rechtsnormen abgeleitet sind, als Grund für Entscheidungen angewendet haben15. Wie von Kelsen ausdrücklich festgestellt wird, entsteht die (rechtliche) Natur der Prämisse der Normativität – ebenso wie die der Grundnorm – durch die Möglichkeit, als Alternative adoptiert werden zu können. Über die Anwendung der Grundnorm schreibt Kelsen, dass das Recht mit einer normativen Bedeutung ver-
14 Diese Abhängigkeit ist nicht so zu verstehen, dass die Positivität des Rechts von der Grundnorm abgeleitet werden kann, sondern nur, dass die gleichen Voraussetzungen gelten wie bei der Anerkennung von Normativität und Grundnorm. Siehe dazu Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 289, Fn. 32. 15 Angesicht einer Lesart des Rechts, die auch durch nicht positivierte Rechtsquellen orientiert ist, wird dieses Thema in den Kapiteln 4 und 5 erneut behandelt.
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knüpfbar ist, aber dieselben Phänomene sind auch ohne die Idee der normativen Verhältnisse vorstellbar16. Diese Auffassung wird von Kelsen vertreten, weil die von der Rechtstheorie beschriebenen Phänomene auch unter einer bestimmten soziologischen Perspektive beschrieben werden können17, eine Perspektive, die die Rechtsphänomene angesichts kausaler Zusammenhänge als „Machtbeziehungen“ beschreibt, was dazu führt, dass diese soziologische Perspektive die Existenz von normativen Verhältnissen ablehnt und gleichzeitig den beobachteten Phänomenen eine Bedeutung zuschreibt. Ohne die Voraussetzung der Grundnorm könnte die Prämisse der Normativität nicht erklären, was das Recht ist, denn in konkreten Fällen würden mehrere zu einem bestimmten Zeitpunkt gültige Rechtsnormen Konflikte zwischen Normen verursachen und es würde kein Kriterium geben, um die Entscheidungen zu begründen, die für die Beschreibung des Rechts angesichts der in Konflikt stehenden Normen relevant sind. Die Prämisse der Grundnorm findet ihren Ursprung in der Idee, dass das Recht aus Normen besteht und durch Normen verstanden werden kann. Die Prämisse der Grundnorm versucht das Problem zu lösen, welche der Rechtsordnungen die gültige ist und wie eine Entscheidung zwischen den verschiedenen Rechtsordnungen getroffen werden kann. Obwohl die Anwendung der Normativität von der Grundnorm abhängig ist, obwohl die Normativität die Grundnorm braucht, um das Recht zu beschreiben, ist anzuerkennen, dass ohne die Voraussetzung der Normativität die Prämisse der Grundnorm unanwendbar bleibt, denn die Grundnorm verbindet die Identifizierung des Rechts mit der Beobachtung und Anerkennung der relevanten Phänomene durch die Idee von normativen Verhältnissen, durch das Voraussetzen der Möglichkeit, das Recht, die Rechtsphänomene, durch normative, nicht-kausale Verhältnisse zu beobachten. Konsequenterweise sind die Prämissen der Normativität und der Grundnorm in einer wechsel16 „Daß man die Grundnorm einer positiven Rechtsordnung nur voraussetzen kann, besagt, daß man die in Betracht kommenden zwischenmenschlichen Beziehungen normativ, das heißt als durch objektiv gültige Rechtsnormen konstituierte Pflichten, Ermächtigungen, Rechte, Kompetenzen usw. deuten kann, aber nicht so deuten muß; daß man sie voraussetzungslos, das heißt: ohne die Grundnorm vorauszusetzen, als Machtbeziehungen, als Beziehungen zwischen befehlenden und gehorchenden oder nicht gehorchenden Menschen, das heißt soziologisch, nicht juristisch deuten kann.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 393. 17 Hier ist Kelsens Auffassung dieser Art von Soziologie von seiner Auffassung der Rechtssoziologie zu unterscheiden. Die Art von Soziologie, die Kelsen hier erwähnt, beschreibt die von der Rechtstheorie untersuchten Phänomene ohne Anwendung der Ideen von Normativität oder Staat. Nach Kelsens Auffassung liegt andererseits eine solche Alternative für die Rechtssoziologie nicht vor, da sie die Normativität voraussetzen muss, um das Recht zu beschreiben. „The function of the legal norm for the sociology of law is to designate its own particular object, and lift it out of the whole of social events. To this extent, sociological jurisprudence presupposes normative jurisprudence.“ Kelsen, The Pure Theory of Law and Analytical Jurisprudence (1941), in: ders.: What is Justice? Justice, Law and Politics in the Mirror of Science: Collected Essays by Hans Kelsen, S. 270. Siehe ders., RR2 (1960), S. 198–207.
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seitigen Abhängigkeit, solange das Ziel der Anwendung dieser Prämissen die Beschreibung des Rechts ist.
C. Die eventuelle Notwendigkeit der Annahme der Prämisse Grundnorm und die Anwendung des Begriffs „Recht“ Im Verlauf dieses Abschnitts wird die Auffassung vorgetragen, dass die Grundnorm, so wie Kelsen sie angewendet hat, in Verbindung mit einer Vorstellung des Rechts sowie der Anwendung des Begriffs „Recht“ operiert. Aus diesem Grund sind die entwickelten Diskussionen über die Annahme der Grundnorm oder die konkurrierenden Auffassungen des Rechts – hier ist nicht nur an die oben erwähnte soziologische Auffassung gedacht, sondern auch an die Theorien, die das Recht auf Fakten oder Normen reduzieren – angesichts dieses Zusammenhanges durchgeführt. Es wird also diskutiert, welche Gründe es für die Annahme der Grundnorm geben kann, wie es durch die Berücksichtigung dieser Gründe möglich ist, eine Art von Kritik an der soziologischen Auffassung des Rechts (auch „ideal anarchism“ 18 genannt) zu entwickeln, nach welcher das Recht als Machtausübung zu verstehen ist. Und letztlich werden Kelsens Kritiken gegenüber zwei Auffassungen des Rechts analysiert: gegenüber den Theorien, die das Recht auf soziale Fakten oder auf Normen reduzieren. Kelsens Konzeption der Grundnorm ist in gewissem Grad die Konsequenz der Adoption einiger Ideen, die von Alfred Verdross und Leonidas Pitamic vertreten wurden, um einen Ausgangspunkt für die Rechtserkenntnis zu begründen19. Wie schon dargestellt, ist die Aufgabe der Grundnorm, die Geltung der Rechtsordnung in bestimmtem Sinne zu begründen, sodass gültige von ungültigen Normen, der objektive Sinn von Willensakten vom subjektiven unterschieden werden können20. Zwei der Probleme bezüglich der Durchführung dieser Aufgabe bestehen 18 Das jetzt entwickelte Argument ist in General theory of law and state zu finden und befasst sich mit der Perspektive der „ideal anarchist“ über das Recht und den Staat. In der zweiten Auflage der Reinen Rechtslehre hat Kelsen eine Unterscheidung hinzugefügt, zwischen der Auffassung eines Anarchisten und der Auffassung eines Soziologen, die das Recht als Machtbeziehung beobachten. Zu den Gründen, warum Kelsen die Auffassung des Rechts als Machtbeziehungen nicht mehr mit dem Anarchismus assoziiert hat, siehe Kelsen, RR2 (1960), S. 393–394, Fn. Für die hier durchgeführte Diskussion ist wichtig zu beachten, dass einige Behauptungen Kelsens, die in General theory of law and state zu finden sind, obwohl mit dem Anarchismus verbunden, eigentlich von einem Vertreter der soziologischen Auffassung des Rechts als Machtbeziehungen adoptiert werden könnten. 19 Für eine detaillierte Darstellung des Ursprungs der Theorie der Grundnorm, siehe Walter, Entstehung und Entwicklung des Gedankens der Grundnorm, in: ders. (Hrsg.), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre, S. 47 ff. 20 Diese Interpretation der Grundnorm findet Unterstützung in der Lesart, die Stanley L. Paulson in letzter Zeit vertreten hat. Früher hatte Paulson die Auffassung vertreten, dass die Funktion der Grundnorm darin bestand, die Existenz von gültigen Normen
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in der Tatsache, dass einer Norm Geltung zugeschrieben wird, weil eine Norm – oder einige andere Normen – existiert, dank derer die erste Norm gültig wird, sowie in der Möglichkeit, dass eine Norm, die nach einer Rechtsordnung gültig ist, nach einer anderen Rechtsordnung als ungültig zu betrachten ist. Durch die Anwendung der Grundnorm ist es möglich, die Frage zu beantworten, welche von mehreren Rechtsordnungen die gültige ist, denn nur nach der Identifikation der gültigen Rechtsordnung existiert die Möglichkeit, eine Norm als gültig zu betrachten, die Erzeugung einer gültigen Norm dank Anwendung einer anderen gültigen Norm zu erklären. Schon 1914 sah sich Kelsen mit diesem Problem konfrontiert21, aber damals hatte er die Idee der Grundnorm noch nicht zur Verfügung. Deswegen war für ihn die Identifizierung der gültigen Rechtsordnung keine juristische, sondern eine politische Entscheidung, die er als willkürlich bezeichnet hat22. Verdross hat zu begründen, sodass Kelsen mit der Grundnorm eine rechtliche Version des kantischen transzendentalen Arguments vertreten konnte. Neben der Darstellung dieser Interpretation hatte Paulson auch diese Art von Versuch kritisiert (siehe Paulson, On the KelsenKant Problematic, in: Garzón Valdés (Hrsg.), FS Alchourrón und Bulygin, S. 212–213). Später hat Paulson diese Kritik relativiert, indem er bei Kelsen zwei unterschiedlichen Funktionen für die Grundnorm identifiziert hat, die begründende und die explizierende Funktion (siehe ders., Die Funktion der Grundnorm: begründend oder explizierend? in: Jabloner u. a. (Hrsg.), GS Robert Walter, S. 553–573). In einem anderen Text aus derselben Periode hat Paulson diese zweite Lesealternative fast ohne Vorbehalt adoptiert (siehe ders., A ,Justified Normativity‘ Thesis in Hans Kelsen’s Pure Theory of Law? Rejoinders to Robert Alexy and Joseph Raz, in: Klatt (Hrsg.), Institutionalized Reason. The Jurisprudence of Robert Alexy, S. 93 und 111). In dieser Schrift behandelt Paulson die Interpretation der Grundnorm als transzendentales Argument nur „on the assumption“, dass Kelsen diese Auffassung vertreten würde (ders., a. a. O., S. 71. Siehe ders., a. a. O., S. 71–93, spezifischer S. 71–78), und am Ende einer Sektion des Textes behauptet er, dass diese Auffassung nur eine kleine Unterstützung in Kelsens Schriften finden könnte (siehe ders., a. a. O., S. 77). In diesem Beitrag hat Paulson die Auffassung der „nomological normativity“ vertreten, oder wie er es in einem anderen Beitrag ausgedrückt hat: die Idee der Verbindung der Grundnorm mit einer explizierenden Funktion. Siehe ders., Die Funktion der Grundnorm: begründend oder explizierend? in: Jabloner u. a. (Hrsg.), GS Robert Walter, S. 572. Zu diesem Thema ist die folgende Aussage Kelsens zu berücksichtigen: „Sie [die Grundnorm; M.P.S.] will nur ins Bewußtsein heben, was alle Juristen – zumeist unbewußt – tun, wenn sie im Begreifen ihres Gegenstandes zwar ein Naturrecht ablehnen, aus dem die Geltung der positiven Rechtsordnung abgeleitet werden könnte, dennoch aber dieses positive Recht als eine gültige Ordnung, nicht als bloßes Faktum von Motivationszusammenhängen, sondern als Norm verstehen.“ Kelsen, RR1 (1934), S. 77–78. 21 „Alle juristische Konstruktion muß von bestimmten Normen als gültigen Rechtssätzen ausgehen. Ob es sich dabei um die Beurteilung konkreter Tatbestände oder bestimmter Normen selbst und deren gegenseitiges Verhältnis handelt, immer muß von irgendeiner letztlich selbst als gültig vorausgesetzten und obersten Norm (oder einem Normensystem) der Ausgang genommen werden.“ Kelsen, Reichsgesetz und Landesgesetz nach österreichischer Verfassung (1914), in: HKW, Bd. III, S. 371. 22 „Diese letzten Endes als oberste vorausgesetzte Norm ist dann gleichsam der archimedische Punkt, von dem aus die Welt der juristischen Erkenntnis in Bewegung gesetzt wird. Die Auswahl dieses Standpunktes ist im Grund keine juristische, sondern
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in seiner Behandlung dieser Problematik angemerkt, dass der Ausgangspunkt für die Entwicklung einer Lösung tatsächlich keine rechtliche Natur hat23, aber anders als Kelsen hat er nicht nur auf die Idee eines politischen und unbeweisbaren Elements hingewiesen, sondern er hat die Notion eines sozusagen praktischen Zwecks als Kriterium eingefügt, um die Entscheidung zwischen möglichen Rechtsordnungen zu begründen, sodass das Ziel „auf das soziologische Faktum der wirkenden staatlichen Ordnungen aufbauend“ 24 erreichbar war. Das soziologische Faktum der Existenz einer „wirkenden staatlichen Ordnung“ wurde von Verdross als adoptiertes Kriterium vertreten, denn auf diesem Weg konnte die theoretische Konstruktion „ihre Aufgabe (verfolgen; M.P.S.), die staatlichen Erscheinungen rechtlich zu deuten“. Zusammengefasst besteht Verdross’ Argument aus folgender Aussage: Wenn angenommen wird, dass die Aufgabe des „juristische Konstrukteur(s)“ in einem rechtlichen Deuten der beobachteten Realität besteht, dann ist das adoptierte Kriterium für dieses Deuten das beobachtete „soziologische Faktum“, dass eine Rechtsordnung zusammen mit der Identifizierung des Verhältnisses zwischen Wirklichkeit und einer bestimmten Rechtsordnung angewendet wird. Die Willkürlichkeit dieses Ausgangspunktes wird von Verdross nicht bestritten, aber wesentlich ist hier seine Fokussierung auf einen anderen Aspekt, der später von Kelsen adoptiert wurde: die Hervorhebung der Tatsache, dass die vertretene Auffassung einer sozialen Tatsache entspricht und eine rechtliche Interpretation der beobachteten Phänomene ermöglicht. Der von Verdross vertretene Ausgangspunkt wurde von Pitamic in seiner Schrift „Denkökonomische Voraussetzungen der Rechtswissenschaft“ bearbeitet. In diesem Text hat Pitamic die von Verdross verwendete Idee eines Verhältnisses zwischen Wirksamkeit und Geltung einer Rechtsordnung angenommen, zusameine politische Frage und muß daher vom Standpunkt juristischer Erkenntnis immer den Anschein von Willkürlichkeit haben.“ Kelsen, Reichsgesetz und Landesgesetz nach österreichischer Verfassung (1914), in: HKW, Bd. III, S. 371. 23 „Diese Grundannahme ist aber immer eine ausserrechtliche, der juristischen Erkenntnis gegenüber dogmatische, unbeweisbare Voraussetzung.“ Verdross, Die Neuordnung der gemeinsamen Wappen und Fahnen in ihrer Bedeutung für die rechtliche Gestalt der österreichisch-ungarischen Monarchie, in: JB 45 (1916), S. 123. 24 „Die Wahl zwischen diesen (als oberste geltende Rechtssätze; M.P.S.) trifft daher der Konstrukteur niemals auf objektiver, wissenschaftlicher Basis, sie wird vielmehr bedingt durch den auf die politischen Machtverhältnisse sich stützenden, politischen Glauben. Vom Standpunkte der Rechtswissenschaft ist es daher eine jenseits der juristischen Erkenntnis liegende Zweckmäßigkeitsfrage, welche Konstruktionsbasis gewählt wird. Zweckmäßigerweise aber wird der juristische Konstrukteur auf das soziologische Faktum der wirkenden staatlichen Ordnungen aufbauend, nur solche Grundgesetze zum Ausgangspunkte erwählen, denen ein Gegenwurf in der Wirklichkeit entspricht. Denn sonst verfolgt die Konstruktion keine praktischen Zwecke mehr und verwirklicht nicht ihre Aufgabe, die staatlichen Erscheinungen rechtlich zu deuten.“ Verdross, Die Neuordnung der gemeinsamen Wappen und Fahnen in ihrer Bedeutung für die rechtliche Gestalt der österreichisch-ungarischen Monarchie, in: JB 45 (1916), S. 134.
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men mit der Darstellung eines anderen Arguments für die Adoption einer Grundnorm, welche die Geltung einer Rechtsordnung von seiner Wirksamkeit durch eine denkökonomische Voraussetzung bedingt, sodass Pitamic eine Art Lösung für das Problem der Willkürlichkeit der Wahl des Ausgangspunktes anbietet, zusammen mit einer Bearbeitung von Verdross’ Notion eines „soziologische(n) Faktum(s)“. So wie Kelsen und Verdross vor ihm hat auch Pitamic die Frage gestellt, welches der Ausgangspunkt für die Identifizierung des anzuwendenden Rechts ist. Für Pitamic war die Entscheidung für die wirksame Rechtsordnung als Ausgangspunkt von der Idee orientiert, dass die Annahme dieser Alternative denkökonomisch ist, denn die anderen Alternativen würden die Anwendung einer Rechtsordnung bedeuten, die in der faktischen Realität nicht angewendet ist. Die Denkökonomie operiert als Kriterium für die Entscheidung zwischen möglichen Rechtsordnungen, denn sie bietet eine begründete Erklärung für die Annahme der (von Verdross vertretenen) Idee der Identifikation der wirksamen Rechtsordnung als Maßstab für die Identifizierung der gültigen Rechtsordnung25. Nach Pitamics Auffassung bedeutet die Adoption der Wirksamkeit als Ausgangspunkt für die Identifikation der gültigen Rechtsordnung keine Ausübung eines politischen Glaubens (wie früher von Kelsen vertreten), und sie ist auch nicht nur durch den Hinweis auf die wirksame Rechtsordnung (wie von Verdross vertreten) begründet. Die Annahme des Ausgangspunktes, nach dem die gültige Rechtsordnung die wirksame Rechtsordnung ist, ist nach Pitamics Auffassung das Ergebnis eines denkökonomischen Prozesses26. Nach Pitamic ist es nicht aus25 „Die Frage lautet: Welcher von den vielen möglichen Normenkomplexen ist für einen bestimmten Staat in einem bestimmten Zeitpunkt als Erkenntnisquelle seines Rechts anzusehen? Ist das wirklich nur Sache des politischen Glaubens? Warum werte ich die Handlungen der Staatsorgane und die der Bürger jetzt in Österreich nicht nach den Gesetzen Hamu Rabbis oder nach dem römischen Rechte, warum lasse ich für Böhmen die ,vernewerte Landesordnung‘ vom Jahre 1627 ganz außer Betracht, welche in Kraft gesetzt zu wünschen doch ohneweiters meinem politischen Glauben entsprechen könnte? (. . .) Abgesehen von der Gefahr, für geistesgestört angesehen zu werden, würde ich bald zur Erkenntnis gelangen, daß eine solche Bewertung vollständig unbeachtet bleibt, daß kein Gericht nach den von mir herangezogenen Normen urteilt, sondern nach anderen. Ich erspare mir also eine überflüssige Arbeit, es ist ökonomisch, wenn ich die Erbgänge in Österreich nicht nach römisch-rechtlichen Normen, sondern nach jenen des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches werte, auch wenn nach meiner Überzeugung die römischen Sätze an sich zweckmäßiger wären. Mit anderen Worten: man muß bei der Wahl der materiellen Voraussetzungen für die theoretische Erkenntnis des Rechts eine Art Denkökonomie beobachten.“ Pitamic, Denkökonomische Voraussetzungen der Rechtswissenschaft (1917), in: Métall (Hrsg.), 33 Beiträge zur Reinen Rechtslehre, S. 303. 26 „In unserem Falle besteht (. . .) die Ökonomie (. . .) in der Vermeidung von Konstruktionen in dem Gebiete des Sollens, die sich mit Rücksicht auf das dem Sollen heterogene Gebiet eines bestimmten Seins als überflüssig erweisen. Nicht eine ökonomische Einschränkung der Erkenntniswege bei gleichem Ausgangspunkte und gleichem Ziele, sondern eine ökonomische Beschränkung schon bei der Wahl des Ausgangspunktes, der
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reichend, darauf hinzuweisen, dass die wirksame Rechtsordnung adoptiert ist, denn es muss geklärt werden, aus welchem Grund diese wirksame Rechtsordnung adoptiert ist. Auch wenn Verdross über ein „soziologische(s) Faktum“ geschrieben hat, hat er keine Begründung für die Anwendung dieses Faktums gegeben, sondern er hat nur diese Anwendung mit einem praktischen Zweck verbunden. Die von Pitamic vertretene denkökonomische Voraussetzung bietet eine Begründung für diese Entscheidung an. Auch wenn von Pitamic nicht ausdrücklich erwähnt, liegt hinter der Entscheidung für die denkökonomische Alternative zwischen möglichen Rechtsordnungen als angewendeter Maßstab eine soziale Tatsache, die Art und Weise, wie der Begriff „Recht“ verstanden wird27, welche Charakteristiken bei der Anwendung des Wortes „Recht“ eine Rolle spielen, welche Phänomene als Rechtsphänomene bezeichnet werden. Diese Auffassung der Wahl Pitamics zwischen mehreren Rechtsordnungen durch die Berücksichtigung der Wirksamkeit hat Kelsen in seinen Schriften adoptiert. In der unten zitierten synthetischen Formulierung, als er den Weg zur Erklärung der Bedeutung des Rechts referiert, hat Kelsen die Auffassungen von Verdross, Pitamic und seine eigene kombiniert, wenn er die Perspektive vertritt, dass seine Konzeption des Rechts verfeinerter ist als die oben erwähnte soziologische Auffassung28, weil sie die Fähigkeit behält, Rechtsphänomene von anderen Phäfür den gesamten Inhalt der Rechtskonstruktion und so für ein Ziel der Forschung bestimmend ist, bildet hier das Problem, welches seine Lösung dadurch erfährt, daß von den vielen möglichen Normensystemen jenes gewählt wird, welches mit den im tatsächlichen, zeitlich und örtlich bestimmten Geschehen sich äußerden Wirkungen von Sollvorstellungen am meisten in Einklang gebracht, vom Standpunkt dieser dem Sein angehörenden Tatsachen mithin als das ökonomischeste angesehen werden kann.“ Pitamic, Denkökonomische Voraussetzungen der Rechtswissenschaft (1917), in: Métall (Hrsg.), 33 Beiträge zur Reinen Rechtslehre, S. 304. 27 Siehe den in Fußnote 25 zitierten Text, insbesondere die folgende Bemerkung: „Abgesehen von der Gefahr, für geistesgestört angesehen zu werden, würde ich bald zur Erkenntnis gelangen, daß eine solche Bewertung vollständig unbeachtet bleibt, daß kein Gericht nach den von mir herangezogenen Normen urteilt, sondern nach anderen.“ 28 Kelsen kritisiert auch eine andere Auffassung des Rechts, die gegen die erwähnte soziologische Interpretation die Idee vertritt, dass nur ein Teil von dem, was als Recht bezeichnet wird, tatsächlich Recht ist, weil nach dieser Auffassung nur einige der Normen einer Rechtsordnung einer bestimmten moralischen oder politischen Weltanschauung entsprechen. „This is not to say that it would be illegitimate to frame a narrower concept of law, not covering all the phenomena usually called ,law.‘ We may define at will those terms which we wish to use as tools in our intelectual work. The only question is whether they will serve the theoretical purpose for which we have intended them. A concept of law whose extent roughly coincides with the common usage is obviously – circumstances otherwise being equal – to be preferred to a concept which is applicable only to a much narrower class of phenomena. Let us take an example. Even since the rise of Bolshevism, National Socialism, and Fascism, one speaks of Russian, German, and Italian ,law.‘ Nothing would prevent us, however, from including in our definition of a legal order a certain minimum of personal freedom and the possibility of private property. One result of adopting such a definition would be that the social orders prevailing in Russia, Italy and Germany could no longer be recognized as legal
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nomenen (genauer: Rechtsphänomene von einer größeren Reihe von Phänomenen, die als Machtverhältnisse bezeichnet werden könnten) zu unterscheiden. Darüber hinaus ist zu beachten, dass, auch wenn Pitamic die Denkökonomie nicht mit der Anwendung des Begriffs „Recht“ ausdrücklich verbunden hat, bei Kelsen diese Art von Verknüpfung leicht zu finden ist: „Any attempt to define a concept must take for its starting-point the common usage of the word, denoting the concept in question. In defining the concept of law, we must begin by examining the following questions: Do the social phenomena generally called ,law‘ present a common characteristic distinguishing them from other social phenomena of a similar kind? And is this characteristic of such importance in the social life of man that it may be made the basis of a concept serviceable for the cognition of social life? For reasons of economy of thought, one must start from the broadest possible usage of the word ,law.‘ Perhaps no such characteristic as we are looking for can be found. Perhaps the actual usage is so loose that the phenomena called ,law‘ do not exhibit any common characteristic of real importance. But if such a characteristic can be found, then we are justified in including it in the definition.“ 29
Kelsens Rechtstheorie unterscheidet Akte von Machtausübung, die in Rechtsnormen bestimmt sind (d. h. die in Rechtsnormen beschrieben sind), von Akten, die keine solche Bestimmung haben – und hier kann man Akte einschließen, die Rechtsnormen widersprechen. Durch diese Unterscheidung behauptet Kelsen, das Recht identifizieren zu können, und sagt, dass diese Notion der alltäglichen Anwendung des Begriffs „Recht“ entspricht30. Im Zusammenhang dieses Themas ist zu beachten, dass der Soziologe, der das Recht als Machtbeziehung sieht, dem
orders, although they have very important elements in common with the social orders of democratic-capitalistic States. (. . .) The concept of law is here made to correspond to a specific ideal of justice, namely, of democracy and liberalism. From the standpoint of science, free from any moral or political judgments of value, democracy and liberalism are only two possible principles of social organization, just as autocracy and socialism are. There is no scientific reason why the concept of law should be defined so as to exclude the latter. As used in these investigations, the concept of law has no moral connotation whatsoever. It designates a specific technique of social organization.“ Kelsen, GTLS (1945), S. 4–5. 29 Kelsen, GTLS (1945), S. 4 (Hervorhebung von mir: M.P.S.). Siehe ders., RR2 (1960), S. 71–73. 30 Kelsens Kriterium für die Identifizierung der Bedeutung des Wortes „Recht“ besteht aus der Beobachtung der „social phenomena generally called ,law‘“. Darüber hinaus ist zu beachten: Es ist möglich, dass die Individuen, die in diese sozialen Phänomene der Anwendung des Begriffes „Recht“ involviert sind, andere Vorstellungen davon haben, was dieser Begriff bedeutet (oder bedeuten sollte – und dann ist schon die Beschreibungsaufgabe missachtet), aber das Wesentliche hier ist die Anwendung des Begriffs (und die Konstanten hinter dieser Anwendung). Wie die Anwender dieses Begriffes ihn durch abstrakte Kategorien beschreiben, steht nicht im Vordergrund. Es kann auch nicht überraschen, dass dieselben Menschen, die das Recht mit Zielen wie (eine Auffassung von) Gerechtigkeit oder Gleichheit verbinden, auch Rechtsordnungen, die diese Ziele nicht erfüllen, als Rechtsordnungen bezeichnen.
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Wort „Recht“ in gewisser Weise einen Sinn geben wird – denn auch der Soziologe kann die soziale Tatsache der Art und Weise, wie dieses Wort angewendet wird, identifizieren –, und ohne normative neben kausalen Verhältnissen anzuerkennen, wird die Anwendung des Wortes „Recht“ als eine „Fiktion“ betrachtet, als etwas, was aus einem „Versuch (der Anwendung; M.P.S.) einer rechtfertigenden Ideologie“ für bestimmte Machtverhältnisse besteht31. Kelsens Bemerkungen weisen auf die Unmöglichkeit hin, eine Art und Weise vorzuschreiben, wie die Reine Rechtslehre das Recht konzipiert, oder wie eine Soziologie versucht, das Recht als Machtbeziehungen zu betrachten. Diese soziologische Perspektive unterscheidet nicht die Machtbeziehungen, die in Rechtsnormen beschrieben sind, von anderen Arten von Machtbeziehungen, sie unterscheidet beispielsweise nicht zwischen Straßenräubern und Staatsbeamten, oder Gangstern und Steuerbeamten32. Sie lehnt es ab, den Begriff „Recht“ anzuwenden, so wie dieser Begriff „normalerweise“ 33 angewendet wird, denn sie adoptiert nicht die Unterscheidung zwischen den Arten von Machtausübung, eine Unterscheidung, die bei der Anwendung des Begriffs „Recht“ normalerweise beachtet ist, denn nach der normalen Anwendung des Begriffs „Recht“ sind Straßenräuber und Staatsbeamte in der Tat nicht gleich zu betrachten. Im Blick auf die Grundnorm ist zu beachten, in welchem Sinne sie als eine Möglichkeit, als eine Alternative zur Deutung des Rechts existiert, und nicht als ein notwendiger Aspekt für alle möglichen Beschreibungen des Rechts. Deswegen ist zu diskutieren, ob die erwähnte soziologische Perspektive des Rechts als Machtverhältnis unter einer anderen Perspektive kritisiert werden kann. Hierbei ist die Frage zu beantworten, ob diese soziologische Perspektive neben der von Kelsen angebotenen Perspektive stehen kann, ob sie in der Lage ist, eine geeignete Beschreibung des Rechts anzubieten. Um diese Frage beantworten zu können, ist es nötig, eine Perspektive anzunehmen, eine bestimmte Vorstellung vom 31 „für einen Anarchisten, der die Geltung der hypothetischen Grundnorm des positiven Rechts negiert (. . .) (bedeuten; M.P.S.) die positiven Rechtsverhältnisse, wie die des Eigentums, des Dienstvertrages usw., nichts als nackte Machtbeziehungen (. . .), die in Sollnormen darzustellen eine bloße ,Fiktion‘, den Versuch einer rechtfertigenden Ideologie bedeutet.“ Kelsen, Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus (1928), in: WRS, S. 253. Für die hier betrachtete soziologische Perspektive liegt der Unterschied zwischen Straßenräubern und Steuerbeamten nur in der An- oder Abwesenheit einer Ideologie, die diese Handlungen unterstützt. Diese soziologische Auffassung soll nicht mit der Auffassung verwechselt werden, nach der Kelsens Reine Rechtslehre eine bestimmte Ideologie vertreten würde (siehe ders., RR1 (1934), S. 5–6). Hier geht es um etwas viel Grundlegenderes, denn hier wird die Idee vertreten, dass immer, wenn das Recht als normatives Phänomen betrachtet wird, eine (von vielen möglichen) Ideologie anwesend ist, die als Geltungsgrund für diese Rechtsordnung operieren wird. 32 Siehe Kelsen, Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus (1928), in: WRS, S. 264–265; ders., RR2 (1960), S. 30–33. 33 Siehe Kelsens Aussagen im zitierten Text der Fußnote 29.
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Kap. 1: Grundprämissen der Reinen Rechtslehre
Recht zu wählen, denn nur auf Grund dieser Wahl kann die von Kelsen erwähnte soziologische Perspektive bewertet werden. Die soziologische Lesart, die das Recht auf Machtverhältnisse reduziert und die Prämissen der Grundnorm und der Normativität ablehnt, resultiert in der Idee, dass es keinen Grund gibt, Straßenräuber von Staatsbeamten und Gangster von Steuerbeamten zu unterscheiden. Sich in gewissem Sinne gegen diese Auffassung positionierend bemerkt Kelsen über diese Art der Anwendung des Begriffs „Recht“ Folgendes: „Von ,Existenz‘ des Rechts ist in dem doppelten Sinne einer Sollgeltung der Rechtsnormen und einer Wirksamkeit – das heißt als Ursache und Wirkung auftretenden Funktion – der Rechtsnormen beihaltenden Vorstellungen, Wollungen der Menschen die Rede.“ 34 Der zweite Teil dieses Satzes enthält ein Element, dass angewendet werden kann, um eine Art von Kritik gegen die hier behandelte soziologische Auffassung des Rechts zu entwickeln. Durch seine Bemerkung über die „Wirksamkeit (. . .) der Rechtsnormen beihaltenden Vorstellungen, Wollungen der Menschen“ deutet Kelsen an, dass die Art und Weise, wie die Reine Rechtslehre das Recht konzipiert, einer Vorstellung des Rechts entspricht, die soziale Begründung findet, die tatsächlich identifizierbar ist. Konsequenterweise bleibt anzuerkennen, auch wenn die soziologische Betrachtung des Rechts als Machtverhältnisse unwiderlegbar ist, dass diese Betrachtung der alltäglichen Vorstellung des Rechts widerspricht. Aber neben diesem Argument kann auch ein anderer Aspekt der soziologischen Perspektive des Rechts als Machtverhältnisse berücksichtigt werden, nach dem der alltäglichen Anwendung der Notion „Recht“ eine Ideologie zu Grunde liegt. Kelsen lehnt die Idee ab, dass das Recht mit einer bestimmten Ideologie verbunden sei, zum Beispiel mit einer kapitalistischen oder kommunistischen Ideologie35. Aber das ist nicht dasselbe, wie zu behaupten, dass die Anwendung des Begriffs „Recht“ auf keinen Fall einer Ideologie entsprechen kann, die weder kapitalistische noch kommunistische Ideologie ist, sondern eine Art von Ideologie der Macht, die durch einen Legitimationsprozess gestützt wird. In diesem Sinn wird die Referenz zur alltäglichen Anwendung des Begriffs „Recht“ nicht als Gegenargument funktionieren, denn diese Anwendung des Begriffs wurde nicht aufgrund der Angemessenheit der Prämissen von Normativität und Grundnorm begründet, sondern wegen einer Ideologie, die die Konsistenz bei der Anwendung des Begriffs „Recht“ erklären könnte. Kurz zusammengefasst: Solange nicht geklärt wird, warum die dargestellte soziologische Perspektive und ihre Theorie des Rechts abgelehnt werden müssen – und Kelsen hatte nicht das Ziel, diese Aufgabe zu erfüllen –, bleibt sie als eine Alternative bestehen, die mit Kelsens Auffassung des Rechts konkurriert. 34 Kelsen, Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus (1928), in: WRS, S. 253. 35 Siehe Kelsen, GTLS (1945), S. 4–5; ders., RR1 (1934), S. 5–6.
C. Die Prämisse Grundnorm und die Anwendung des Begriffs „Recht‘‘
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In gewisser Weise anders ist der Fall bei der Anwendung der Grundnorm und einer Auffassung des Rechts im Gegensatz zu zwei (nach Kelsens Auffassung) Hauptalternativen für die Erklärung und Beschreibung des Rechts; die Lesarten, die das Recht auf soziale Fakten oder auf Normen ohne wesentliche Verbindung mit der sozialen Realität reduzieren36. Analysiert man die relevanten Texte, dann werden beide Alternativen von Kelsen abgelehnt. Gegen die Reduktion des Rechts auf soziale Fakten bietet Kelsens Rechtstheorie das Argument an, dass einige Phänomene als Rechtsphänomene zu betrachten sind, auch wenn sie kurz zuvor erzeugt wurden, sie also eine rechtliche Bedeutung enthalten, bevor sie zu sozialen Fakten werden konnten, um diese rechtliche Bedeutung zu begründen37. Konsequenterweise scheint der normative (im Gegensatz zum faktischen) Aspekt des Rechts umvermeidlich zu sein, denn nur durch ihn ist in einigen Fällen die Zuschreibung der rechtlichen Bedeutung möglich. Gegen die Reduktion des Rechts auf Normen durch die Nicht-Beachtung des faktischen Aspekts argumentiert Kelsen, dass diese Perspektive mindestens einen Teil der Rechtsphänomene ignoriert, weil angesichts der gesetzten Normen diese Phänomene Teil des Rechts sind, aber entsprechend einer Auffassung des Rechts, für die einige Normen keine rechtliche Bedeutung haben, wäre es nicht möglich, diese Phänomene als Rechtsphänomene zu identifizieren38. 36 Im Vorwort der zweiten Auflage der Hauptprobleme der Staatsrechtslehre hebt Kelsen diese Gegenüberstellung seiner Rechtstheorie angesichts der erwähnten Alternativen hervor: „Das Ziel, auf das die ,Hauptprobleme‘ gerichtet sind und das seither auch all meine anderen Arbeiten bestimmte, ist eine reine Rechtslehre als Theorie des positiven Rechts. Die Reinheit der Lehre oder – was gleichbedeutend ist – die Selbstständigkeit des Rechts als eines Gegenstandes wissenschaftlicher Erkenntnis bin ich schon in meiner Erstlingsarbeit bemüht, nach zwei Richtungen hin sicherzustellen. Einmal gegen die Ansprüche einer sogenannten ,soziologischen‘ Betrachtung, die sich des Rechts wie eines Stückes naturgegebener Wirklichkeit nach kausalwissenschaftlicher Methode bemächtigen will. Dann aber gegen die Naturrechtslehre, die – weil sie die ausschließlich und allein im positiven Recht gegebene Beziehungsgrundlage ignoriert – die Rechtstheorie aus dem Bereiche positiver Rechtssätze in den ethisch-politischer Postulate zieht.“ Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre: Entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze, 2. Aufl., (1923), S. V. Eine ähnliche Aussage ist in der Reine(n) Rechtslehre zu finden: siehe ders., RR2 (1960), S. 21–22. Zu den zwei erwähnten Alternativen für die Interpretation des Rechts, siehe Dias, Rechtspositivismus und Rechtstheorie, S. 103–111; Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, S. 27–42. 37 „es kann nicht geleugnet werden, daß es (. . .) zahlreiche Fälle gibt, in denen Rechtsnormen als gültig angesehen werden, obgleich sie nicht oder noch nicht wirksam sind.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 382–383. 38 „Das eine Extrem ist die These, daß zwischen Geltung als einem Sollen und Wirksamkeit als einem Sein überhaupt keine Beziehung besteht, daß die Geltung des Rechts von seiner Wirksamkeit völlig unabhängig ist. (. . .) (Diese These; M.P.S.) ist falsch, denn es kann nicht geleugnet werden, daß eine Rechtsordnung als Ganzes ebenso wie eine einzelne Rechtsnorm ihre Geltung verliert, wenn sie aufhört wirksam zu sein; und daß auch insofern eine Beziehung zwischen dem Sollen der Rechtsnorm und dem Sein der Naturwirklichkeit besteht, als die positive Rechtsnorm, um zu gelten, durch einen Seinsakt gesetzt werden muß.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 378–382.
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Kap. 1: Grundprämissen der Reinen Rechtslehre
Im Hinblick auf diese Stellungnahme Kelsens gegen die zwei erwähnten Arten von Rechtsauffassungen sind einige Bemerkungen notwendig. Erstens muss beachtet werden, dass seine Argumente gegen diese Alternativen mit dem Hinweis operieren, dass beide entweder der Prämisse der Normativität oder der Prämisse der Positivität des Rechts widersprechen, sodass sie aus diesen Gründen abgelehnt werden müssen. Es ist in der Tat unmöglich, diese zwei Prämissen (sowie mittelbar auch die Prämisse der Grundnorm) zu behaupten und eine der beiden erwähnten Auffassungen des Rechts zu vertreten. Aber eine oder beide Auffassungen müssen nur dann wirklich abgelehnt werden, wenn die Annahme der Prämissen begründet ist (d. h. wenn diese Annahme pragmatisch, angesichts der Anwendung des Begriffs „Recht“ begründet ist). Gegen die Lesart der Naturrechtslehre reicht es nicht, auf die Positivität des Rechts zu verweisen, denn es ist genau diese Eigenschaft des Rechts, die die Naturrechtslehre in Frage stellt, wenn sie eine andere Auffassung des Rechts entwickelt, nach der die Positivität des Rechts abzulehnen ist. Kelsens Argumente gegen die Reduktion des Rechts auf Fakten oder Normen können (in gewissem Sinn) begründet werden, solange seine Theorie tatsächlich erfolgreicher als diese antagonistischen Theorien bei der Aufgabe ist, das Recht zu erkennen und beschreiben, also eine Erklärungshypothese für das Recht anzubieten. Ist die Reine Rechtslehre erfolgreich und kann durch die Anwendung der drei erwähnten Prämissen das Recht (oder mindestens eine größere Anzahl von Rechtsphänomenen als bei anderen Rechtstheorien) erklären und beschreiben, dann, aber nur dann, ist sie tatsächlich geeigneter als die Theorien, die das Recht auf Fakten oder Normen reduzieren. Kelsen hat mehrere Variationen dieser Theorien kritisiert39, aber diese Kritiken sind nicht ausreichend, um alle Theorien abzulehnen, die das Recht auf Fakten oder Normen reduzieren. Auch wenn auf Widersprüche in diesen Theorien hingewiesen wird, bedeutet das nur die Unvollständigkeit dieser Theorien, und nicht, dass sie durch keinerlei Änderungen vervollständigt (oder vollständiger als die Reine Rechtslehre) werden könnten. Der Hauptgrund für die Ablehnung der antagonistischen Theorien ist der Erfolg von Kelsens Rechtstheorie, die kein (oder fast kein) Phänomen ohne rechtliche Natur als ein Rechtsphänomen behandelt und kein (oder fast kein) Rechtsphänomen als Phänomen ohne rechtliche Natur ausschließt, denn nur so können die Prämissen der Grundnorm, der Normativität und der Positivität mit guten Gründen bei der Durchführung von Kritiken an diesen anderen Theorien angewendet werden. Es muss aber auch angemerkt werden, dass Kelsens Rechtstheorie, sowie seine Grundprämissen, in der sozialen Anwendung des Begriffs „Recht“ (in gewissem 39 Hier können drei von mehreren Werken erwähnt werden, in welchen Kelsen diese Kritiken entwickelt hat: Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre: Entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze (1911), in: HKW, Bd. II; ders., Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus (1928), in: WRS; ders., Das Problem der Gerechtigkeit, in: ders., RR2 (1960).
C. Die Prämisse Grundnorm und die Anwendung des Begriffs „Recht‘‘
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Grad) Unterstützung bekommen, speziell bei der Konfrontation mit den zwei erwähnten Alternativen. Identifiziert man als Recht, als Gegenstand einer Rechtstheorie, „the social phenomena generally called ,law‘“, dann scheint es angemessen zu behaupten, dass Kelsens Theorie geeigneter ist als diese zwei Arten von antagonistischen Theorien, denn viele der Phänomene, die nach sozialem Gebrauch als Rechtsphänomene betrachtet werden, entsprechen nicht dem, was die Vertreter der Naturrechtslehre behaupten, Recht zu sein, so wie es auch mehrere Fälle gibt, wo Phänomene als Rechtsphänomene identifiziert werden, obwohl es kein soziales Faktum gibt, das die rechtliche Natur der Phänomene begründen kann. Angesichts dieses Aspekts entsteht für die Vertreter dieser Theorien eine Herausforderung, denn sie müssen (so wie bei der soziologischen Auffassung des Rechts als Machtausübung) erklären, warum Rechtsordnungen und Normen als Gegenstände des Rechts zu betrachten sind, mit dem Begriff „Recht“ beschrieben werden, als Rechtsphänomene gesehen werden, wenn sie (nach diesen Theorien) diese Natur eigentlich nicht haben. Anderseits wird auch Kelsens Theorie in einigen Fällen mit Problemen konfrontiert, denn wie gezeigt werden wird, existieren Situationen, in denen die Beschreibung der Rechtsphänomene den Ausschluss der Grundprämisse der Positivität involvieren, denn es können Fälle identifiziert werden, in denen einige Phänomene, die als Rechtsphänomene betrachten werden, ihre rechtliche Bedeutung nicht aufgrund positivierter Normen bekommen haben, sondern wegen Normen, die vorausgesetzt sind.
Kapitel 2
Gegenstände der Rechtserkenntnis und des Rechts Um das Recht zu beschreiben und die Beschreibung des Rechts zu evaluieren, ist es notwendig, eine Trennung vorzunehmen zwischen Phänomenen, die zur Reihe der Rechtsphänomene gehören, die die Rechtstheorie als ihre Gegenstände anerkennen muss, und anderen Phänomenen, die von den Beschreibungen der Rechtstheorie auszuschließen sind. Die korrekte Identifizierung der Gegenstände des Rechts ist wesentlich für den Aufbau und die Begründung einer Rechtstheorie, die das Ziel hat, das Recht ausschließlich zu beschreiben, und zwar nur die schon gegebenen Gegenstände zu beschreiben und keinen Gegenstand vorzuschreiben, d. h. keinen Gegenstand nur auf Grund irgendeiner Vorschrift unter die Gegenstände des Rechts einzureihen. In diesem Kapitel wird dargestellt, wie Kelsen die Problematik der Identifizierung der Gegenstände des Rechts (die auch Gegenstände der Rechtstheorie sind) behandelt hat. Es wird argumentiert, dass Kelsens Rechtstheorie einen festen Ausgangspunkt und eine feste Orientierung in den Gegenständen der Rechtserkenntnis findet, sodass seine Reine Rechtslehre eine Theorie der Gegenstände des Rechts (welche die Gegenstände der Rechtstheorie einschließt) umfasst, die von der Idee ausgeht, dass die Rechtstheorie ihre Gegenstände in gewissem Sinne „erzeugt“, denn sie identifiziert diese Gegenstände unter der Berücksichtigung von gültigen Normen oder deren Inhalten. Nach Kelsen ist die Rechtserkenntnis das Ergebnis eines konsistenten und umfassenden Begreifens ihrer Gegenstände, der Rechtsphänomene1. Diese Erkenntnis ergibt sich durch das Anerkennen und Berücksichtigen ihrer Gegenstände, den Gegenständen der Rechtserkenntnis sowie deren Eigenschaften. Es wird gezeigt werden, dass die Gegenstände des Rechts (genauer, einige von diesen, die generellen Normen) die Anerkennung der Existenz der Gegenstände der Rechtserkenntnis ermöglichen, denn diese letzten Gegenstände werden als gültige individuelle Normen verstanden und die Geltung dieser Normen ist von generellen Normen abhängig. Konsequenterweise ist es für die Untersuchung der Natur der Rechtserkenntnis bei Kelsen wesentlich zu analysieren, wie diese Erkenntnis stattfindet und welches die Elemente sind, die zu diesem Ergebnis führen.
1 „Die Erkenntnis des Rechts – wie jede Erkenntnis – (sucht; M.P.S.) ihren Gegenstand als sinnvolles Ganze(s) zu begreifen und in widerspruchslosen Sätzen zu beschreiben.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 369.
A. Der Gegenstand der Rechtserkenntnis
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A. Der Gegenstand der Rechtserkenntnis Im ersten Kapitel der ersten sowie der zweiten Auflage der Reine(n) Rechtslehre wird der Gegenstand der Rechtserkenntnis folgendermaßen charakterisiert: „(Ein; M.P.S.) Geschehen als solches, als Element des Systems Natur, ist nicht Gegenstand spezifisch juristischer Erkenntnis und sohin überhaupt nichts Rechtliches. Was diesen Tatbestand zu einem Rechts- (oder Unrechts-)Akt macht, das ist nicht seine Tatsächlichkeit, nicht sein natürliches, das heißt kausal-gesetzlich bestimmtes, im System der Natur beschlossenes Sein, sondern der objektive Sinn, der mit diesem Akt verbunden ist, die Bedeutung, die er hat. Den spezifisch juristischen Sinn, seine eigentümliche rechtliche Bedeutung, erhält der fragliche Tatbestand durch eine Norm, die sich mit ihrem Inhalt auf ihn bezieht, die ihm die rechtliche Bedeutung verleiht, so daß der Akt nach dieser Norm gedeutet werden kann. Die Norm fungiert als Deutungsschema. Mit anderen Worten: Das Urteil, daß ein in Raum und Zeit gesetzter Akt menschlichen Verhaltens ein Rechts- (oder Unrechts-)Akt ist, ist das Ergebnis einer spezifischen, nämlich normativen, Deutung.“ 2
Nach dieser Auffassung hat ein Geschehen rechtliche Bedeutung und konstituiert einen Gegenstand der Rechtserkenntnis, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: erstens muss aus Rechtstexten (oder Rechtsmaterialien) 3 und angesichts eines Tatbestandes (eines Geschehens) eine gültige Rechtsnorm erzeugt werden – ein „objektive(r) Sinn“ wird also „mit (. . .) (einem; M.P.S.) Akt verbunden“ 4; zweitens muss das untersuchte Geschehen mit dieser Norm konfrontiert werden, und weil diese Norm diesem Geschehen – diesem spezifischen Geschehen – rechtliche Bedeutung verleiht, kann dieses Geschehen als ein Gegenstand der Rechtserkenntnis verstanden werden. Kelsen, RR2 (1960), S. 25. Siehe ders., RR1 (1934), S. 18–19. Der Begriff „Rechtsmaterial“ wird von Kelsen in der ersten Auflage der Reine(n) Rechtslehre verwendet. Siehe Kelsen, RR1 (1934), S. 35 und 77. Als Rechtsmaterialien werden die Quellen der Rechtsnormen verstanden, hauptsächlich Rechtstexte, aber auch die Gewohnheiten, die Gewohnheitsnormen begründen. Der von Lippold empfohlene Begriff „Rechtstext“ stammt nicht von Kelsen, aber es ist möglich, ihn anzuwenden, da Kelsen den Begriff „Gesetzestext“ verwendet hat (siehe ders., ATN (1979), S. 104), und der Begriff „Rechtstext“ als allgemeine Kategorie betrachtet werden kann, der Gesetze aber auch andere Formen von Normen umfasst. Siehe Lippold, Recht und Ordnung, S. 350. Es ist auch zu bemerken, dass Robert Walter eine ähnliche Auffassung vertreten hat. Siehe Walter, Der Aufbau der Rechtsordnung, S. 46–48. In der hier vorliegenden Untersuchung wird der Begriff „Normtext“ verwendet, um die Texte zu bezeichnen, die in niedergeschriebenen Vorschriften zu finden sind. 4 In diesem Zusammenhang ist der Begriff „objektiv“ mit dem Begriff „gültig“ gleichzusetzen. Siehe dazu den in Fußnote 34 zitierten Text, sowie die folgenden Aussagen Kelsens: „(wir; M.P.S.) legen (. . .) dem Befehl des Rechtsorgans, nicht aber dem des Straßenräubers den objektiven Sinn einer den Adressaten bindenden Norm bei. Das heißt: wir deuten den Befehl des einen, nicht aber den Befehl des anderen als eine objektiv gültige Norm.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 96. „Daß eine Norm positiven, das heißt durch menschliche Akte gesetzten Rechts ,gilt‘, bedeutet, daß der subjektive Sinn des Aktes: daß sich Menschen in bestimmter Weise verhalten sollen, auch als sein objektiver Sinn gedeutet wird.“ Ders., Das Problem der Gerechtigkeit, in: ders., RR2 (1960), S. 616. 2 3
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Kap. 2: Gegenstände der Rechtserkenntnis und des Rechts
Diese Auffassung bedarf einer Erklärung. Kelsen beschreibt die Bedingungen der Existenz eines Geschehens, denen eine juristische Bedeutung zugeschrieben ist, und er erklärt welche Eigenschaften der Gegenstand der Rechtserkenntnis besitzt. Eine andere Aufgabe, die mit dieser (direkt) verbunden ist, muss noch durchgeführt werden, denn es ist noch nicht geklärt, wie die Rechtserkenntnis möglich ist. Der oben zitierte Text beschreibt ein Geschehen mit objektivem Sinn und behauptet, dass eine Norm diesem Geschehen objektiven Sinn verliehen hat, aber es bleibt zu erläutern, wie eine solche Norm erzeugt werden kann. Deswegen führt Kelsen aus, dass „der fragliche Tatbestand“ – ein konkretes Geschehen, nicht eine allgemeine Beschreibung, die in einer generellen Norm präsentiert wird, sondern ein „in Raum und Zeit“ stattfindendes Geschehen – „seine eigentümliche rechtliche Bedeutung (. . .) durch eine Norm“ erhält, weil sich der Inhalt dieser Norm „auf ihn bezieht“. Aber der Gegenstand der Rechtserkenntnis besteht nicht aus einem Geschehen, das rechtliche Bedeutung bekommt, weil eine generelle Norm so formuliert ist, dass behauptet werden kann, dass diese Norm ein Geschehen in einer bestimmten Weise reguliert. Der Gegenstand der Rechtserkenntnis kommt nicht durch die Konfrontation einer Tatsache mit einer generellen Norm zustande, sondern durch die Konfrontation einer Tatsache mit einer individuellen Norm, einer Norm, die sich auf diesen Tatbestand bezieht. Für die Existenz eines konkreten Gegenstandes mit rechtlicher Bedeutung – ein Rechtsphänomen – ist eine individuelle gültige Norm erforderlich, d. h. eine „Norm, die dem Akt die Bedeutung eines Rechts- (oder Unrechts-)Aktes verleiht“. Diese Norm kann nicht eine generelle Norm sein, denn eine generelle Norm wird einem spezifischen Akt keine juristische Bedeutung verleihen, sondern zu einer generellen Art von Akten führen, und das auch nur in einem gewissen (eingeschränkten) Sinn, da die konkreten Akte erst nach der Erzeugung einer direkten auf diese Akte bezogenen Norm als Akte mit einer rechtlichen Bedeutung angesehen werden können5.
B. Die Anwendung von individuellen Normen als Ausgangspunkt der Rechtserkenntnis Angesichts der oben dargestellten Elemente könnte gegen Kelsen argumentiert werden, dass diese Auffassung der Rechtserkenntnis der gewöhnlichen Vorstellung von Rechtserkenntnis widerspricht. Aber diese Kritik ist nicht angemessen, denn in dem oben zitierten Text hat Kelsen nicht versucht, die Rechtserkenntnis als Ganzes (alle Arten von Gegenständen des Rechts, alle Elemente der Rechtserkenntnis) zu beschreiben, sondern nur einen festen und sicheren Ausgangspunkt 5 Das Erzeugen einer generellen Norm ist auch Gegenstand der Rechtserkenntnis, aber nur dieser Akt, der normerzeugende Akt. Die erzeugte generelle Norm ist nicht Gegenstand der Rechtserkenntnis, da sie keinem in Zeit und Raum lokalisierbaren Geschehen entspricht.
B. Die Anwendung von individuellen Normen
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für seine Rechtstheorie zu identifizieren. Die Charakterisierung des Gegenstandes der Rechtserkenntnis als Geschehen, die in gültigen individuellen Normen beschrieben sind, ist ein Weg, um sicherzustellen, dass die Reine Rechtslehre die geeigneten Gegenstände als ihren Ausgangspunkt gewählt hat und wählt. Hätte Kelsen anders argumentiert, hätte er generelle Normen als Ausgangselement und Gegenstand der Rechtserkenntnis ausgewählt, dann würde immer das Risiko bestehen, dass diese Normen unterschiedlich interpretiert werden könnten, sodass nach einer Auslegung einer Norm ein Gegenstand mit einer bestimmten rechtlichen Bedeutung verbunden wäre, aber nach einer anderen Auslegung würde dieser Gegenstand eine andere (oder keine) rechtliche Bedeutung bekommen. Hätte Kelsen andererseits einfach individuelle Normen als Ausgangspunkt angenommen, ohne zu berücksichtigen, ob diese Normen gültige Normen sind, würde gleicherweise das Risiko bestehen, ein Geschehen als für die Rechtserkenntnis relevant anzuerkennen und aus diesem Geschehen Informationen für den Aufbau einer Rechtstheorie abzuleiten, obwohl dieses Geschehen keine rechtliche Bedeutung hat. Diese beiden Alternativen weisen auf zwei Probleme hin, die Kelsen bei der Identifikation der Gegenstände der Rechtserkenntnis vermeiden wollte. Diese zwei Probleme werden nicht durch die Betrachtung der Gegenstände der Rechtserkenntnis gelöst, sondern sie führen zu einem anderen Bereich. Es sind Probleme, die für die strenge Begründung der Möglichkeit der Rechtserkenntnis eine Lösung erfordern. Aber Kelsens Theorie, so wie schon hervorgehoben, operiert mit dem Voraussetzen einer (bestimmten) Auffassung des Rechts. Das bedeutet nicht, dass sie keiner Kritik ausgesetzt werden kann. Weil sie aber die gültigen individuellen Normen als ihre Gegenstände anerkennt, kann sie vermeiden, dass sie konkrete Rechtsphänomene nicht anerkennen wird, denn sie erkennt alle konkreten Rechtsphänomene an, alle Geschehnisse, die von individuellen gültigen Normen beschrieben werden. Ein Problem, das diese Auffassung verursachen kann, ist das Problem bezüglich der Anerkennung der generellen Normen als Gegenstände des Rechts6. Deswegen wird dieses Thema weiter unten behandelt, wenn das Verhältnis zwischen Geltung und Wirksamkeit untersucht wird7. Wegen der Existenz von individuellen gültigen Normen sind für die Reine Rechtslehre zwei Probleme bereits gelöst: das Problem der Identifizierung der rechtlichen Bedeutung des Geschehens, denn in jeder individuellen Norm liegt schon eine bestimmte rechtliche Bedeutung für ein bestimmtes Geschehen vor, sowie das Problem der Identifizierung der gültigen individuellen Norm, die die6 Auch wenn die Möglichkeit des Normenkonflikts angenommen wird, bleibt die Beschreibung durch Beachtung der individuellen gültigen Normen möglich. Anderseits kann die Beschreibung einiger Gegenstände des Rechts problematisch werden, wenn zwei generelle gültige Normen existieren, die miteinander in Konflikt stehen. Dieses Thema wird später behandelt. Siehe Kapitel 4, Abschnitt C, Unterabschnitt V. 7 Siehe Kapitel 4, Abschnitt A.
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Kap. 2: Gegenstände der Rechtserkenntnis und des Rechts
sem Geschehen eine spezifische Bedeutung zuschreibt. Hätte Kelsen diesen Ausgangspunkt nicht gewählt, würde für ihn ein Problem bestehen, das die Beispiele des Hauptmannes von Köpenick8 und des fehlerhaften Testaments9 verdeutlichen. Eine Eigenschaft eines Geschehens mit rechtlicher Bedeutung ist die Tatsache, dass gültige individuelle Normen existieren, die diesem Geschehen rechtliche Bedeutung verleihen. Die Beispiele des Hauptmannes von Köpenick und des Testaments mit einem Formfehler sind relevant, denn sie zeigen zwei Situationen, in denen aus einer (nicht für alle Seiten eindeutigen) Perspektive ein Gegenstand der Rechtserkenntnis vorliegt, obwohl objektiv gesehen (d. h. angesichts der Abwesenheit einer gültigen individuellen Norm) diese Situationen nicht die rechtliche Bedeutung haben, die ihnen jemand eventuell zuschreiben würde. Beide Beispiele haben zwei Elemente als Ausgangspunkt. Einerseits liegt eine individuelle Norm vor, wegen der die in den Beispielen beschriebenen Geschehnisse keine Gegenstände der Rechtserkenntnis konstituieren (genauer gesagt, haben die Befehle des Hauptmannes von Köpenick zwar rechtliche Bedeutung bekommen, aber nur weil sie als Elemente einer Straftat anerkannt wurden, sie erhielten aber nicht die Bedeutung, die ihnen nach einer subjektiven Perspektive zugeschrieben würde). Anderseits kann eine subjektive Perspektive existieren, eine oder mehrere subjektive (nicht gültige) individuelle Normen für möglich gehalten werden, nach der/denen diese Situationen rechtliche Bedeutung haben würden. Nimmt man als Ausgangspunkt der Rechtserkenntnis eine andere als die von Kelsen vertretene objektive Perspektive an und ist eine individuelle Norm angewendet, um ein Geschehen als Gegenstand der Rechtserkenntnis zu identifizieren, die keine gültige individuelle Norm ist, dann besteht immer die Gefahr, dass ausgehend von einem solchen Ausgangspunkt Geschehnisse als Gegenstände der Rechtstheorie identifizieren werden, die keine rechtliche Bedeutung haben. Es ist also erforderlich zu erklären, dass nach Kelsens Auffassung individuelle Normen auf zwei Wegen erzeugt werden können, weil gültige individuelle Normen auf Grund von Akten eines rechtsanwendeten Organes oder auf Grund von Akten von Privatpersonen erzeugt werden10. Das Thema der unterschiedlichen Arten von Ermächtigung, die Rechtsorgane oder Privatpersonen bekommen, wird später behandelt werden, aber hier ist es notwendig zu bemerken, dass wenn die erzeugte individuelle Norm von einem Rechtsorgan stammt, dann wird sie (in Regel) als gültig betrachtet werden11, auch wenn dieses Rechtsorgan die Grenzen der ihm zugeschriebenen Ermächtigung überschritten hat, solange diese indiviSiehe Kelsen, RR1 (1934), S. 18. Siehe Kelsen, RR2 (1960), S. 24. 10 Siehe Kelsen, Geltung und Wirksamkeit des Rechts (2003), in: Walter/Jabloner/ Zeleny (Hrsg.), Hans Kelsens stete Aktualität, S. 6–8. 11 Siehe dazu Kapitel 4, Abschnitt B. 8 9
B. Die Anwendung von individuellen Normen
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duelle Norm nicht aufgehoben ist. Stammt aber die individuelle Norm von einer Privatperson, dann ist sie nur als gültig zu betrachten, wenn sie im Rahmen der zugeschriebenen Ermächtigung erfolgt. Deswegen ist die folgende Situation zu berücksichtigen: Hat eine Privatperson beispielsweise ein mündliches Testament verfasst, nach der Rechtsordnung ist aber die schriftliche Form für Testamente erforderlich, dann ist dieses mündliche Testament als ungültig zu betrachten, solange nicht ein Rechtsorgan aus irgendwelchem Grund entschieden hat, dass das Testament gültig sei12. Wäre das nicht so, dann wäre es nicht mehr möglich, über gültige Testamente zu sprechen, bevor eine richterliche Entscheidung diese Testamente für gültig oder ungültig erklärt, und folglich würde es nicht mehr möglich sein, eine individuelle Rechtsnorm als gültig zu erkennen, die von einer Privatperson erzeugt war, bevor diese individuelle Norm von einem Rechtsorgan als solche anerkannt wäre, oder wenn sie niemals von einem Rechtsorgan analysiert würde. Kelsens Auffassung zeigt eine weitere Qualität, welche in der folgenden Überlegung hervorgehoben wird. Wenn nach einer Perspektive ohne Berücksichtigung einer gültigen individuellen Norm ein Geschehen als Gegenstand der Rechtserkenntnis identifiziert wird, dann besteht die Möglichkeit, dass irgendwann das unter dieser Perspektive behandelte Geschehen als geeigneter Gegenstand der Rechtserkenntnis betrachtet wird, weil später eine gültige individuelle Norm tatsächlich zustande gekommen ist, die diesem Geschehen eine rechtliche Bedeutung zuschreibt. Trotzdem besteht bei der Annahme dieser Perspektive immer die Gefahr, dass dieses Geschehen zu einem weiteren Zeitpunkt die rechtliche Bedeutung verliert, weil zum Beispiel die gültige individuelle Norm von einer höheren Instanz derogiert wurde. Kelsens Rechtstheorie nimmt andererseits als Gegenstände der Rechtserkenntnis nur die Geschehnisse an, die juristische Bedeutung haben, das heißt, wenn ein Geschehen die juristische Bedeutung verliert, ist dieses Geschehen nicht mehr Gegenstand der Rechtserkenntnis. Kelsens Be12 Hier sind zwei Behauptungen von Kelsen in Geltung und Wirksamkeit des Rechts zu beachten: „Wenn jemand, ohne hiezu ermächtigt zu sein, einen Akt setzt, für den nach geltendem Recht eine Ermächtigung erforderlich ist, wenn zB irgendein Mensch befiehlt, dass alle Männer, die über 21 Jahre alt sind, sich verehelichen sollen, hat dieser Akt nicht den Charakter einer Rechtsverletzung, einer Rechtswidrigkeit in dem spezifischen Sinn dieser Worte, da er nicht rechtlich verboten, dh nicht Bedingung einer Sanktion ist. Die Folge der Nicht-Ermächtigung des Aktes ist nicht, dass gegen den ohne Ermächtigung handelnden Menschen ein Zwangsakt als Sanktion gerichtet werden soll, sondern dass der Akt nicht den mit ihm intentionierten objektiven Sinn hat, dass dieser Befehl keine geltende Norm ist. Er ist rechtlich nicht vorhanden.“ Kelsen, Geltung und Wirksamkeit des Rechts (2003), in: Walter/Jabloner/Zeleny (Hrsg.), Hans Kelsens stete Aktualität, S. 15–16. „Die generelle Rechtsnorm: ,Alle Diebe sollen ins Gefängnis gesetzt werden‘ kann gelten, und die Aussage ,Schulze ist ein Dieb, denn er hat dem Maier ein Pferd gestohlen‘ kann wahr, ja sogar durch das Gericht festgestellt sein, und dennoch kann die individuelle Rechtsnorm: ,Schulze soll ins Gefängnis gesetzt werden‘ nicht gelten, wenn diese richterliche Entscheidung aus irgendeinem Grund nicht tatsächlich erfolgt.“ Ders., a. a. O., S. 19, Fn. 13.
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Kap. 2: Gegenstände der Rechtserkenntnis und des Rechts
gründung, warum ein unveränderter Gegenstand zu einem Zeitpunkt rechtliche Bedeutung haben kann, zu einem anderen Zeitpunkt aber nicht, operiert mit der Berücksichtigung der Geltung, sodass seine Rechtstheorie demzufolge nichts mehr über diese Situation erklären muss. Anders ist der Fall bei einer Rechtstheorie, die die Auffassung vertritt, dass ein Gegenstand der Rechtserkenntnis rechtliche Bedeutung hat, auch wenn dieser Gegenstand nicht mehr mit einer gültigen Norm verbunden ist. Vertreter dieser Auffassung müssen erklären, welchen Erkenntniswert eine solche Auffassung hat, angesichts der Tatsache, dass diese Theorie nicht versucht, die Bedeutung eines Gegenstandes der Rechtserkenntniss zu erkennen, sondern zu behaupten, dass etwas ein Gegenstand der Rechtserkenntnis sein soll.
C. Die Rechtserkenntnis und das Ziel von Kelsens Rechtstheorie Nach Kelsens Worten ist das Ziel seiner Theorie „ausschließlich und allein ihren Gegenstand (zu; M.P.S.) erkennen. Sie versucht, die Frage zu beantworten, was und wie das Recht ist, nicht aber die Frage, wie es sein oder gemacht werden soll, sie ist Rechtswissenschaft, nicht aber Rechtspolitik.“ 13 Ein möglicher Grund, warum es sinnvoll sein kann, über gültige oder ungültige individuelle Normen zu sprechen, etwas als Gegenstand der Rechtserkenntnis zu identifizieren, obwohl dieser Gegenstand in keiner gültigen individuellen Norm beschrieben ist, liegt in der Tatsache, dass viele Geschehnisse unter alltäglicher Vorstellung betrachtet werden können, als ob sie juristische Bedeutung hätten, auch wenn es keinen Grund gibt – d. h. keine gültige individuelle Norm schreibt diesen Geschehnissen diese Bedeutung zu –, um eine solche Betrachtung durchzuführen. Die Existenz einer subjektiven individuellen Norm ist als solches kein Problem, sondern sie zeigt nur, dass bei bestimmten Handlungen und Analysen rechtliche Aspekte berücksichtigt werden. Menschen beobachten eine Handlung und charakterisieren sie als Diebstahl, denn sie denken, dass diese Handlung die generelle Norm über Diebstahl betrifft. Hier liegt das Problem in der Verwechslung einer subjektiven Perspektive der rechtlichen Natur von Geschehnissen und den objektiven individuellen Rechtsnormen, die in einigen oder mehreren Situationen Geschehnisse anders deuten14. Bei der Beachtung der Vorschriften eines Gesetzbuches kann das Ziel darin liegen, ein bestimmtes juristisches Ergebnis zu 13 Kelsen, RR1 (1934), S. 15. Die gleiche Formulierung ist in der zweiten Auflage der Reinen Rechtslehre reproduziert. Siehe ders., RR2 (1960), S. 21. 14 Es ist angemessen, das in Fußnote 12 erwähnte Beispiel über eine richterliche Entscheidung bezüglich Diebstahl zu berücksichtigen, da in dieser Situation trotz Existenz einer generellen Norm, die Diebstahl mit Bestrafung verknüpft, und der Anerkennung der Tatsache, dass eine Person einen Diebstahl begangen hat, es nicht erforderlich ist, zu behaupten, dass diese Person bestraft wird, da die Existenz der individuellen Norm über die Bestrafung dieser Person immer von einer richterlichen Entscheidung abhängt.
C. Die Rechtserkenntnis und das Ziel von Kelsens Rechtstheorie
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erreichen, aber die Beachtung dieser Vorschriften reicht nicht, um behaupten zu können, dass das Ziel erreicht wäre, denn es kann immer passieren, dass z. B. in einer Rechtsordnung, in der es keine generelle Rechtsnorm über Elektrizitätsdiebstahl gibt, eine Person wegen dieser Art von Diebstahl bestraft wird15. Kelsens Auffassung des Gegenstandes der Rechtserkenntnis als von der Existenz einer gültigen individuellen Norm abhängig hat den Vorteil, eine Schwierigkeit zu vermeiden. Wäre einem Gegenstand rechtliche Bedeutung zugeschrieben, obwohl keine gültige individuelle Norm diese Bedeutung festgesetzt hatte, dann könnten drei Arten von Sachverhalten zustande kommen: 1. Es könnten Situationen auftreten, in denen ein Geschehen erstens wegen einer gültigen individuellen Norm eine bestimmte Bedeutung bekommen würde, aber später würde dasselbe Geschehen von einer anderen gültigen individuellen Norm behandelt, beispielsweise wegen einer Berufung, sodass ein einzelnes Geschehen in zwei Momenten zwei unterschiedlichen Bedeutungen haben könnte. Nach Kelsens Auffassung ist ein Geschehen Gegenstand der Rechtserkenntnis nur während der Zeit, in der über es eine gültige individuelle Norm vorliegt, sodass nur während dieser Zeit dieses Geschehen als ein Gegenstand der Rechtserkenntnis betrachtet werden kann. 2. Es könnte auch passieren, dass ein nach einer subjektiven Vorstellung als Gegenstand der Rechtserkenntnis identifiziertes Geschehen später von einer gültigen individuellen Norm behandelt wird, sodass dieses Geschehen nach eben dieser Norm eine andere Bedeutung bekommen könnte als die Bedeutung, die ihm bei der subjektiven (und deswegen nicht gültigen) individuellen Norm zugeschrieben wurde. 3. Es könnte sogar Fälle geben, bei denen Geschehnisse als Gegenstände der Rechtserkenntnis identifiziert würden, obwohl das unvorhersehbar war, weil angesichts der gültigen generellen Normen diese Gegenstände auf keinen Fall rechtliche Bedeutung bekommen könnten, so wie es beispielsweise passiert, wenn ein Dieb für einen bewiesenen Diebstahl nicht bestraft wird. Die Reine Rechtslehre versucht zu beschreiben, wie das Recht ist, wie das Recht erzeugt wird, ohne zu vertreten, „wie es sein oder gemacht werden soll.“ 16 Eine der Aufgaben von Kelsens Rechtstheorie ist dabei, zu erklären, wie ein un15 Das Beispiel des Elektrizitätsdiebstahls stammt von Kelsen selbst. Siehe Kelsen, RR2 (1960), S. 439–440. Über die Möglichkeit, eine Person schuldig zu erklären, wenn die Rechtsordnung diese Alternative nicht präsentiert, behauptet Kelsen folgendes: „The court is authorized by the legal order to decide the case at its own discretion, to condemn or to acquit the accused, to find for or against the plaintiff, to order or to refuse to order a sanction against the accused or defendant. The court is authorized to order a sanction against the accused or defendant in spite of the lack of a general norm violated by the latter, provided the court finds the lack of such a general norm stipulating the obligation of the accused or defendant claimed by the prosecutor or plaintiff to be unsatisfactory, unjust, or inequitable. That means that the court is authorized to create for the concrete case the norm of substantive law it considers satisfactory, just, or equitable. The court then functions as a legislator.“ Ders., GTLS (1945), S. 145. 16 Kelsen, RR1 (1934), S. 15.
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Kap. 2: Gegenstände der Rechtserkenntnis und des Rechts
veränderter Gegenstand zu einem Zeitpunkt Gegenstand der Rechtserkenntnis ist, aber danach keine juristische Bedeutung mehr hat, oder wie ein Geschehen rechtliche Bedeutung bekommt und behält, obwohl ihm diese Bedeutung durch Nichtbeachtung der für dieses Geschehen relevanten generellen Normen zugeschrieben wird. Kelsen akzeptiert nicht, dass bei der Formulierung einer Rechtstheorie Gegenstände mit rechtlicher Bedeutung mit der Ausrede ignoriert werden, diese Gegenstände hätten rechtliche Natur, obwohl sie diese Natur nicht haben sollten, denn sein Ziel war, zu vermeiden, dass die Rechtstheorie sich mit anderen Disziplinen vermengt, so wie es beispielsweise passiert, wenn durch Berücksichtigung irgendwelcher Gründe behauptet wird, dass ein bestimmter Gegenstand keine rechtliche Bedeutung haben sollte, da die Aufgabe der Beschreibung mit einer solchen Formulierung nicht vermengt werden sollte17. Ein Nachteil der kelsenschen Auffassung der Gegenstände der Rechtserkenntnis ist die Tatsache, dass sie eventuell in Konflikt mit einer alltäglichen Vorstellung dieser Gegenstände stehen kann. Danach haben einige Geschehnisse Bedeutung für die Rechtserkenntnis, obwohl keine gültige individuelle Norm vorliegt, sodass die Adoption von Kelsens Rechtstheorie bedeutet, eine Konzeption der Rechtserkenntnis zu vertreten, die in einigen Situationen einer alltäglichen Konzeption des Rechts widersprechen kann. Der Grund, warum Kelsens Auffassung trotz dieses Problems überzeugend bleibt, liegt darin, dass diese alltägliche Konzeption keine Antwort für Situationen wie die oben beschriebenen anbieten kann, wenn also unterschiedliche Entscheidungen über ein einzelnes Geschehen getroffen worden sind, ohne den Fehler des Methodensynkretismus zu begehen, ohne die Aufgabe der Beschreibung aufzugeben und etwas als Gegenstand der Erkenntnis zu identifizieren, nicht weil dieser Gegenstand existiert, sondern weil er nach einer bestimmten Auffassung existieren sollte. Kurzgefasst: Eine solche Konzeption kann nicht die Grundaufgabe einer Rechtstheorie erfüllen, denn die Geschehnisse, die nach dieser Konzeption rechtliche Bedeutung haben, haben eigentlich keine rechtliche Bedeutung, sondern sollten (nach dieser Konzeption) nur diese Bedeutung haben. Um ein Geschehen, dass zu unterschiedlichen Zeitpunkten von unterschiedlichen Normen behandelt wurde, mit einer spezifischen rechtlichen Bedeutung zu verbinden, muss diese Konzeption die Aufgabe der Beschreibung des Rechts als Sammlung von existenten Phänomenen, als positives Recht, nicht aber als erwünschte Phänomene, ablehnen.
17 Seit der ersten Auflage seiner Hauptprobleme der Staatsrechtslehre hat Kelsen das Ziel adoptiert, eine „freie Forschung“ (Kelsen, RR1 (1934), S. 7) durchzuführen und den Methodensynkretismus zu vermeiden. Dieses Ziel ist von Kelsen auf den ersten Seiten mehrere seiner Werke wiederholt worden. Siehe ders., Hauptprobleme der Staatsrechtslehre: Entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze (1911), in: HKW, Bd. II, S. 52–56; ders., Allgemeine Staatslehre (1925), S.VII–VIII; ders., RR1 (1934), S. 3–8; ders., GTLS (1945), S. xiii–xvii; ders., RR2 (1960), S. 9–11.
D. Die Erzeugung der Gegenstände des Rechts
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D. Die Rechtswissenschaft und die Erzeugung der Gegenstände des Rechts Über die Rechtswissenschaft behauptet Kelsen, dass sie „ihren Gegenstand ,rechtlich‘, das heißt: vom Standpunkt des Rechts aus zu begreifen (sucht; M.P.S.). Etwas rechtlich begreifen kann aber nichts anderes bedeuten, als etwas als Recht und das heißt: als Rechtsnorm oder als Inhalt einer Rechtsnorm, als durch eine Rechtsnorm bestimmt begreifen.“ 18 Nach Kelsens Auffassung ist die Beschreibungsaufgabe der Rechtstheorie durch das Begreifen von gültigen Rechtsnormen zu verwirklichen, und weil die Rechtsnormen auf zwei Arten zu unterscheiden sind, individuelle oder generelle Normen, ist der Gegenstand des Rechts und der Rechtswissenschaft von diesen zwei Arten von Normen konstituiert: gültige generelle Normen und gültige individuelle Normen. Die gültigen individuellen Normen als solche sind Gegenstände des Rechts und auch der Grund, warum einige Geschehnisse als Gegenstände der Rechtserkenntnis anzuerkennen sind, rechtliche Bedeutung bekommen. Deswegen bedeutet für Kelsen die Aufgabe, das Recht zu beschreiben, nicht nur gültige generelle Rechtsnormen zu identifizieren, denn ein Teil des Gegenstandes des Rechts liegt in den in Zeit und Raum stattgefundenen Geschehnissen, die rechtliche Bedeutung haben. Weil sich das Recht durch ein Verhältnis zwischen generellen und individuellen Normen konstituiert – gültige individuelle Normen können nur als gültige Normen angesehen werden, wenn gültige generelle Normen ihre Geltung begründen –, behauptet Kelsen, dass die Rechtswissenschaft ihren Gegenstand, das Recht, in einem bestimmten Sinne „erzeugt“. „Es ist auch richtig, daß, im Sinne der Kantschen Erkenntnistheorie, die Rechtswissenschaft als Erkenntnis des Rechts, so wie alle Erkenntnis, konstitutiven Charakter hat und daher ihren Gegenstand insofern ,erzeugt‘, als sie ihn als ein sinnvolles Ganzes begreift. So wie das Chaos sinnlicher Wahrnehmungen erst durch die ordnende Erkenntnis der Wissenschaft zum Kosmos, das heißt zur Natur als einem einheitlichen System wird, so wird die Fülle der von den Rechtsorganen gesetzten generellen und individuellen Rechtsnormen, das ist das der Rechtswissenschaft gegebene Material, erst durch die Erkenntnis der Rechtswissenschaft zu einem einheitlichen, widerspruchlosen System, zu einer Rechts-Ordnung. Aber diese ,Erzeugung‘ hat einen rein erkenntnistheoretischen Charakter. Sie ist etwas völlig anderes als die Erzeugung von Gegenständen durch menschliche Arbeit oder die Erzeugung des Rechts durch die Rechtsautorität.“19
Die zwei Arten von Gegenständen des Rechts (generelle und individuelle Normen) sind nach Kelsens Auffassung Grundelemente, da es nicht möglich ist, bei Verzicht auf eine von beiden das Recht vollständig zu beschreiben, aber auch weil sie nicht aus anderen, ursprünglichen Elementen derivativ sind. Wollte man 18 19
Kelsen, RR2 (1960), S. 139. Kelsen, RR2 (1960), S. 143.
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Kap. 2: Gegenstände der Rechtserkenntnis und des Rechts
das Recht als nur aus gültigen generellen Normen bestehend betrachten, würden – beispielsweise wegen Fehlern bei der Rechtsanwendung, hier kann etwa an die fehlerhafte Identifikation eines Straftäters gedacht werden – Situationen entstehen, in deren bestimmte Geschehnisse rechtliche Bedeutung bekommen würden, obwohl es angesichts der generellen Rechtsnormen nicht möglich wäre, diese Geschehnisse als Rechtsphänomene zu begreifen20. Deswegen unterscheidet Kelsen die Funktion der Rechtswissenschaft von der Funktion der Rechtsautorität, denn „die Rechtswissenschaft kann das Recht nur beschreiben, sie kann nicht, wie das von der Rechtsautorität (durch generelle und individuelle Normen) erzeugte Recht, etwas vorschreiben.“ 21 Die gültigen generellen Normen können nicht als einziger Gegenstand des Rechts betrachtet werden, denn Gegenstände des Rechts (und der Rechtserkenntnis) liegen z. B. auch wegen einer Rechtsanwendung vor, welche die generellen Normen nicht beachtet hat, die auf keinen Fall angesichts dieser Normen die rechtliche Bedeutung bekommen sollten, die sie tatsächlich haben. Gleicherweise ist der Versuch abzulehnen, das Recht als nur aus gültigen individuellen Normen bestehend zu betrachten, denn bei dieser Betrachtung wäre es unmöglich, die Geltung der individuellen Normen zu begründen, einige individuelle Normen als gültig und andere als ungültig zu identifizieren, denn diese individuellen Normen sind nur gültig, weil gültige generelle Normen ihnen Geltung verliehen haben, weil (dank gültiger Normen) ermächtigte Autoritäten oder Privatpersonen diese Normen durch Ausübung einer Ermächtigung (die in einer generellen Norm begründet ist) diese individuellen Normen erzeugt haben. Die Rechtswissenschaft erzeugt das Recht in dem Sinn, dass sie die Elemente dieses Gegenstandes – das „gegebene Material“, die generellen und individuellen Normen – in einer Einheit kombiniert, als notwendige Teile eines Ganzen betrachtet22. Die Gegenstände des Rechts sind nur durch die Verflechtung dieser Elemente zu begreifen, und gleicherweise sind diese Elemente anzuerkennen, ihre Eigenschaften identifiziert, solange sie angesichts ihrer Verhältnisse zueinander zu beobachten sind. Das Recht ist von der Rechtswissenschaft „erzeugt“, denn eine bloße Ansammlung und Darstellung ermöglicht noch nicht, das Recht „als ein sinnvolles Ganzes“ zu begreifen, alle seine Eigenschaften zu benennen. Nur durch die Anerkennung der Verhältnisse zwischen individuellen und generellen Normen ist zu verstehen, was und wie das Recht ist. Die Aufgabe, das Recht als Gegenstand einer Rechtstheorie, „als ein sinnvolles Ganzen“ zu verstehen, 20 Eine solche Situation könnte auftreten, wenn die erzeugte Norm außerhalb der direkten und der alternativen Ermächtigung liegen würde, die der Autorität zugeschrieben war, die die Norm erzeugt hat. Siehe dazu Kapitel 4, Abschnitt B. 21 Kelsen, RR2 (1960), S. 144–145. 22 Siehe dazu Jestaedt, Das Postulat einer streng wissenschaftlichen Erkenntnis des Rechts, in: Aliprantis/Olechowski (Hrsg.), Hans Kelsen: Die Aktualität eines großen Rechtswissenschaftlers und Soziologen des 20. Jahrhunderts, S. 5–6.
E. Rechtswissenschaft bei Kelsen
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besteht nicht nur in der unabhängigen und isolierten Identifikation der wesentlichen Elemente (z. B. eine individuelle und eine oder mehrere generelle Normen), sondern auch in der Betrachtung dieser Elemente angesichts ihrer Verhältnisse zueinander, als Bestandselemente einer Interaktion, die als Recht bezeichnet wird. Aus diesen Gründen kann behauptet werden, dass die Rechtswissenschaft ihre Gegenstände erzeugt.
E. Wissenschaftliche Debatte über die Gegenstände der Rechtswissenschaft bei Kelsen Bei der Darstellung seines Standpunkts über Kelsens Auffassung der Gegenstände der Rechtswissenschaft zitiert Carsten Heidemann einen Abschnitt aus Kelsens Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus, um zu beweisen, dass Kelsen in der von ihm so genannten Phase des „,transzendentale(n)‘ Ansatz(es)“ 23 die Auffassung vertreten hat, dass die Behauptung „judgments ,reflect‘ a pre-existing reality“ 24 falsch ist. Nach Heidemann hatte Kelsen in seiner sogenannten realistischen Phase, die ungefähr um 1940 begann, die oben präsentierte Auffassung aufgegeben und einen anderen Leitgedanken aufgegriffen25. Anders als in der (nach Heidemanns Interpretation) neo-kantischen Phase würde Kelsen in der neuen Phase nicht mehr die Meinung vertreten, dass die Urteile der Rechtswissenschaft ihre Gegenstände konstituieren, sondern dass diese Urteile die schon gegebenen Gegenstände beschreiben würden26.
23 Heidemann, Die Norm als Tatsache, S. 43. Heidemann nennt diese Phase auch „neo-Kantian“. Siehe ders., Norms, Facts, and Judgments. A Reply to S. L. Paulson, in: OJLS 19 (1999), S. 348. 24 Heidemann, Norms, Facts, and Judgments. A Reply to S. L. Paulson, in: OJLS 19 (1999), S. 346. Kelsens Text, den Heidemann übersetzt und zitiert hat (ders., a. a. O., S. 346) lautet: „It is impossible for cognition to play just a passive part in relation to its objects; it cannot be restricted to reflect things somehow existing ,in themselves‘, i. e. in a transcendent sphere. As soon as we can no longer assume objects to have a transcendent, i. e. knowledge-independent existence, cognition has to play an active, creative part in relation to these objects. It is cognition itself which creates its objects from the material given to it by the senses according to its immanent laws. Cognition’s being guided by rules guarantees the objective validity of its results.“ Ursprüngliche Quelle des zitierten Texts: Kelsen, Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus (1928), in: WRS, S. 275. 25 Siehe Heidemann, Die Norm als Tatsache, S. 103–104. 26 Siehe Heidemann, Die Norm als Tatsache, S. 106–109. Paulson präsentiert die Hauptidee dieser Auffassung Heidemanns folgendermaßen: „cognition in legal science amounts to a descriptive reproduction of objects previously given.“ Paulson, Four Phases in Hans Kelsen’s Legal Theory? Reflections on a Periodization, in: OJLS 18 (1998), S. 155. Eine ähnliche Behauptung ist in einem anderen Artikel von Heidemann zu finden: siehe Heidemann, Noch einmal: Stanley L. Paulson und Kelsens urteiltheoretischer Normbegriff, in: ARSP 93 (2007), S. 352.
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Kap. 2: Gegenstände der Rechtserkenntnis und des Rechts
Diese Auffassung Heidemanns wurde von Stanley L. Paulson kritisiert27, und für die Begründung seiner Auffassung hat Paulson Abschnitte von Kelsens Texten präsentiert, die belegen sollten, dass Kelsen grundsätzlich in beiden Phasen dieselbe Auffassung über die Rechtserkenntnis vertreten hat28. Heidemann hat diese Kritik von Paulson in seiner ersten Antwort nicht adressiert, sondern hat er sich darauf konzentriert, gegen Paulsons „presentation of the relation between judgment and object in Kelsen’s neo-Kantian theory“ 29 zu argumentieren. Einige Jahre später hat Heidemann Paulsons Kritik bezüglich der Kontinuität einer transzendentalen Erkenntnistheorie bei Kelsen in der nach Heidemanns Periodisierung dritten realistischen Phase behandelt30. In diesem Text hat Heidemann versucht, Paulsons Argument für die Kontinuität der transzendentalen Phase mittels einiger Zitate zu bestreiten und die Auffassung zu begründen, dass „das Erkenntnisurteil nur eine deskriptive Reproduktion des ihm vorgängigen und auch unabhängig von ihm existierenden Gegenstandes sei“ 31. Um diese Interpretation begründen zu können, hat Heidemann die zwei folgenden Abschnitte von Kelsen erwähnt: „Der Rechtssatz ist (. . .) ein Urteil, die Aussage über einen der Erkenntnis gegebenen Gegenstand.“ 32 „It is of the greatest importance to distinguish clearly between legal norms which comprise the object of jurisprudence and the statements of jurisprudence describing that object.“ 33 27 „What he goes on to say, however, is not correct. Heidemann would have us believe that Kelsen’s speculative work in an anthropological vein ,undermined his assumption that causality was an a priori concept of the understanding, a category in Kant’s sense‘. Kelsen’s texts, however, show no such thing. On the contrary, the arguments of the second, transcendental phase (1922–34) persist in Kelsen’s writings all the way through the third, realist phase (1935–62) of Heidemann’s periodization. Indeed, the arguments of the second, transcendental phase are prominent in the second edition of the Pure Theory of Law, first published in 1960 (and coming, then, at the end of the supposed realist phase).“ Paulson, Four Phases in Hans Kelsen’s Legal Theory? Reflections on a Periodization, in: OJLS 18 (1998), S. 159. 28 Siehe Paulson, Four Phases in Hans Kelsen’s Legal Theory? Reflections on a Periodization, in: OJLS 18 (1998), S. 159–160. Paulson zitiert auch einen Abschnitt der zweiten Auflage der Reinen Rechtslehre (Kelsen, RR2 (1960), S. 139), der oben schon referiert wurde. Siehe Fußnote 17. 29 Heidemann, Norms, Facts, and Judgments. A Reply to S. L. Paulson, in: OJLS 19 (1999), S. 345. Diesen Artikel Heidemanns hat Paulson mit einem anderen beantwortet: Siehe Paulson, Arriving at a Defensible Periodization of Hans Kelsen’s Legal Theory, in: OJLS 19 (1999), S. 351–364. 30 Siehe Heidemann, Noch einmal: Stanley L. Paulson und Kelsens urteiltheoretischer Normbegriff, in: ARSP 93 (2007), S. 345–362. 31 Heidemann, Noch einmal: Stanley L. Paulson und Kelsens urteiltheoretischer Normbegriff, in: ARSP 93 (2007), S. 352. 32 Kelsen, RR2 (1960), S. 157. Zitiert von Heidemann: siehe Heidemann, Noch einmal: Stanley L. Paulson und Kelsens urteiltheoretischer Normbegriff, in: ARSP 93 (2007), S. 353. 33 Kelsen, The Pure Theory of Law and Analytical Jurisprudence (1941), in: ders., What is Justice? Justice, Law and Politics in the Mirror of Science: Collected Essays by
E. Rechtswissenschaft bei Kelsen
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Aber trotz dieser Zitate ist Heidemanns Interpretation von Kelsens Erkenntnislehre abzulehnen, denn auch in der zweiten Auflage der Reine(n) Rechtslehre hat Kelsen Grundauffassungen des kantischen Denkens analogisch vertreten34. Zum Teil hat Paulson diese Darstellung entwickelt, aber auf jedem Fall ist es angemessen hervorzuheben, dass es um eine analogische Anwendung und nicht um die Umsetzung von Kants Auffassung der Erkenntnis im Rechtsbereich geht. Darüber hinaus ist auch zu beachten, dass die zwei oben zitierten Texte, wenn sie ohne Berücksichtigung des gesamten Zusammenhangs betrachtet werden, die Auffassung zu begründen scheinen, dass Kelsen – in der nach Heidemanns Periodisierung dritten realistischen Phase – tatsächlich eine andere Erkenntnislehre vertreten wollte. Wenn aber berücksichtigt wird, dass dieser Gegenstand, der für die „Erkenntnis gegeben“ war, ein Gegenstand ist, der nur nach der Identifizierung des Gegenstandes erkennbar ist, dann ist diese Auffassung unvertretbar (siehe unten, Abschnitt F), denn erstens wird die Rechtswissenschaft einen Gegenstand „erzeugen“, danach wird sie diesen Gegenstand beschreiben. Dass ein Gegenstand beschrieben wird, bedeutet das nicht, dass dieser Gegenstand von derselben Wissenschaft nicht zuerst „erzeugt“ werden kann. Deswegen scheint es sinnvoller, die Auffassung zu vertreten, Kelsen habe sich in einigen Sätzen nicht eindeutig ausgedrückt, als zu vertreten, er habe nicht bemerkt, dass er im Text der zweiten Auflage der Reine(n) Rechtslehre mehrere Mal schreibt, dass er eine Auffassung der Erkenntnis mit kantischer Inspiration vertreten hat.
Hans Kelsen, S. 268. Zitiert von Heidemann: siehe Heidemann, Noch einmal: Stanley L. Paulson und Kelsens urteiltheoretischer Normbegriff, in: ARSP 93 (2007), S. 353. Gegen Heidemanns Auffassung über Kelsens spätere Ablehnung des kantischen Einflusses ist ein Text Kelsens zu berücksichtigen, der in What is justice veröffentlich würde: „The term ,ought‘ expresses the specific meaning of the connection between condition and consequence established by a legal norm (a prescription or permission) as different from the connection between cause and effect. It may be designated as ,imputation.‘ It is the principle according to which the social sciences, the object of which are norms determining human behavior, describe their object. It is the principle which, in the field of certain social sciences, such as ethics and jurisprudence, corresponds to the principle of causality in the field of natural sciences. It is necessary to remember, of course, that when the principle of imputation is applied, and when it is stated that under the condition of certain behavior, other behavior ought to take place, the term ,ought‘ has not its usual moral, but a purely logical, meaning. It designates, like causality, a category in the sense of Kant’s transcendental logic.“ Kelsen, Science and Politics (1951), in: ders., What is Justice? Justice, Law and Politics in the Mirror of Science: Collected Essays by Hans Kelsen, S. 362–363. 34 „Sofern nur durch die Voraussetzung der Grundnorm ermöglicht wird, den subjektiven Sinn des verfassunggebenden Tatbestandes und der der Verfassung gemäß gesetzten Tatbestände als deren objektiven Sinn, das heißt: als objektiv gültige Rechtsnormen zu deuten, kann die Grundnorm in ihrer Darstellung durch die Rechtswissenschaft – wenn ein Begriff der Kant’schen Erkenntnistheorie per analogiam angewendet werden darf – als die transzendental-logische Bedingung dieser Deutung bezeichnet werden.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 360–361. Siehe ders., a. a. O., S. 365–366, Fn.
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Kap. 2: Gegenstände der Rechtserkenntnis und des Rechts
F. Die Rolle der Geltung bei der Identifizierung der Gegenstände des Rechts Nach der Reinen Rechtslehre besteht der Gegenstand des Rechts aus individuellen und generellen Normen, aber nicht alle individuellen oder generellen Normen sind Teil dieses Gegenstandes, sondern nur die gültigen individuellen oder generellen Normen. Weil die Geltung eine zwingende Bedingung für die Normen ist, die als Gegenstände des Rechts zu betrachten sind, spielt sie auch bei der Festsetzung der Gegenstände des Rechts eine wichtige Rolle. Um dieses Verhältnis darzustellen, um zu zeigen, wann individuelle Normen als gültige Normen zu betrachten sind, wie generelle Normen bei diesem Ergebnis eine Rolle spielen, und auch wie diese gültigen generellen Normen von anderen Normen ihre Geltung bekommen haben, hat Kelsen in seiner Reine(n) Rechtslehre ein Geschehen untersucht, welches Gegenstand des Rechts und der Rechtserkenntnis ist. Da Kelsens Beschreibung lange und komplexe Zusammenhänge präsentiert, wird sie jetzt in unterschiedlichen aufeinander folgenden Schritten analysiert. „Gehen wir von dem (. . .) Falle eines Urteils aus, mit dem wir die Tötung eines Menschen durch einen anderen als die Vollstreckung eines Todesurteils und nicht als Mord deuten. Dieses Urteil beruht darauf, daß wir den Akt der Tötung als Vollziehung einer Gerichtsentscheidung erkennen, die die Tötung als Strafe anordnet; das heißt: wir legen dem Akt des Gerichtes den objektiven Sinn einer individuellen Norm bei und deuten so die den Akt setzenden Menschen als Gericht.“ 35
Kelsen präsentiert in diesem Text die Gründe für zwei unterschiedliche Arten von Deutungen, welche in Kombination miteinander einen Gegenstand der Rechtserkenntnis konstituieren. Erstens, um die Tötung eines Menschen als Gegenstand der Rechtserkenntnis behandeln zu können, muss der „Akt der Tötung als Vollziehung einer Gerichtsentscheidung“ erkannt werden, also dieses Geschehen muss als das Geschehen betrachtet werden können, das in dem Inhalt einer individuellen Norm beschrieben ist. Als zweiter Schritt für das Erkennen der Geltung der individuellen Norm im Hinblick auf die Tötung eines Menschen muss diese Norm so betrachtet werden können, dass sie als eine gültige individuelle Norm identifiziert werden kann. Nach Kelsens Auffassung wird eine individuelle Norm als gültig betrachtet, weil sie von der ermächtigten Autorität erzeugt war, weil die „den Akt setzenden Menschen als Gericht“ anerkannt wird. Sind diese zwei Gründe vorhanden, dann liegt eine gültige individuelle Norm vor, die durch den Akt des dazu ermächtigten Gerichts erzeugt wurde und wegen dessen Inhalts ein Geschehen als Gegenstand der Rechtserkenntnis betrachtet werden muss. Im Hinblick auf den zweiten Grund für die Geltung der individuellen Norm hat Kelsen in dem oben zitierten Text deutlich geschrieben, dass die Geltung von der Existenz eines Aktes der ermächtigten Autorität abhängt. Trotzdem scheint 35
Kelsen, RR2 (1960), S. 97.
F. Die Rolle der Geltung
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Kelsen in der direkten Folge des oben zitierten Textes darauf hinzuweisen, dass die Bedingungen der Geltung der individuellen Norm andere sind. „Dies tun wir, weil wir den Akt des Gerichtes als Vollziehung eines Gesetzes, das heißt genereller, Zwangsaktes statuierender Normen erkennen, die wir nicht nur als den subjektiven, sondern auch als den objektiven Sinn eines Aktes ansehen, der von bestimmten Menschen gesetzt wurde, die wir eben darum als Gesetzgebungsorgan deuten.“ 36
Angesichts dieses Textes scheint der Grund für die Geltung der vom Gericht erzeugten Norm in den gültigen generellen Normen zu finden sein. Kelsen argumentiert hier, dass die individuelle Norm gültig ist, weil wir sie „als den objektiven Sinn eines Aktes ansehen“, die von einem (nach unserer Deutung) Gesetzgebungsorgan gesetzt wurde. Um diese Problematik behandeln zu können, werden in der Folge zuerst zwei Aufgaben identifiziert und unterschieden, die in dieser Behauptung präsentiert sind, und danach werden die Argumente selbst analysiert. Eine Aufgabe, die Kelsen untersucht hat, aber dann im zitierten Abschnitt nicht mehr erwähnt, besteht in der Begründung der Geltung einer individuellen Norm. Nach dem Text scheint es, als ob er die Auffassung vertreten wollte, dass eine individuelle Norm nur gültig ist, wenn sie in einer bestimmten Verbindung mit den gültigen generellen Normen steht. Weil Kelsen behauptet hat, dass „wir den Akt des Gerichtes als Vollziehung eines Gesetzes, das heißt genereller, Zwangsaktes statuierender Normen erkennen“, scheint es so zu sein, als ob nach seiner Auffassung eine gültige individuelle Norm nur vorliegen würde, wenn zwei Bedingungen erfüllt wären: zuerst müsste diese individuelle Norm von der ermächtigten Autorität erzeugt werden („wir legen dem Akt des Gerichtes den objektiven Sinn einer individuellen Norm bei und deuten so die den Akt setzenden Menschen als Gericht“), dazu müsste diese individuelle Norm in einer solchen Weise erzeugt werden, sodass sie „als Vollziehung eines Gesetzes“ angesehen werden könnte. Wollte Kelsen tatsächlich diese zwei Bedingungen festlegen, dann müsste seine Auffassung der Art von Ermächtigung eines Gerichtes folgenderweise interpretiert werden: ein Gericht ist nur ermächtigt, individuelle Normen zu erzeugen, wenn es die gültigen generellen Normen beachtet hat, denn das Gericht hat nur im Rahmen der generellen gültigen Normen die Macht, die Ermächtigung, individuelle Normen zu erzeugen. Aber Kelsen wollte eine solche Auffassung über die Ermächtigung eines Rechtsorgans (anders ist der Fall bezüglich der Ermächtigung von Privatpersonen) nicht vertreten. Hätte er das gewollt, würde es für ihn nicht mehr möglich sein, Gegenstände der Rechtserkenntnis anzuerkennen, die durch Rechtsanwendung außerhalb des normativen Rahmens – also, durch Nichtbeachtung der von 36
Kelsen, RR2 (1960), S. 97.
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Kap. 2: Gegenstände der Rechtserkenntnis und des Rechts
gültigen Normen etablierten (und hier sind nur Verhaltensnormen, aber keine Ermächtigungsnormen gemeint) Grenzen – erzeugt wären37. Angesichts der von Kelsen adoptierten Beschreibungsaufgabe ist es notwendig anzuerkennen, dass gültige individuelle Normen existieren, die ihre Geltung nicht durch die „Vollziehung eines Gesetzes“ (im Sinne eines Gesetzes, das diese Art von Geschehen diszipliniert) bekommen haben. Da die Beachtung dieser Art gültiger genereller Normen keine absolute Bedingung für die Geltung einer von einer ermächtigten normsetzenden Autorität erzeugten individuellen Norm ist, wird Kelsen später behaupten, dass die einzige Bedingung für die Geltung der individuellen Norm in der Ermächtigung der Autorität zu finden ist, die diese Norm gesetzt hat38. Eine zweite Aufgabe, die Kelsen in dem unten zitierten Text weiter behandelt hat, ist, zu erklären, wie eine generelle Norm gültig werden kann. Darüber schreibt Kelsen, dass eine generelle Norm gültig ist, weil sie von dem ermächtigten Gesetzgebungsorgan und nach der vom Beobachter zugeschriebenen Deutung („wir (. . .) als Gesetzgebungsorgan deuten“) erzeugt wurde. Aufgrund dieser Denkweise ist der Grund der Geltung der behandelten generellen Norm in der Identifizierung durch den ermächtigten Rechtserzeuger zu finden, sodass gültige generelle Normen identifizierbar sind, wenn sie von dem ermächtigten Gesetzgebungsorgan erzeugt wurden. „Dies tun wir darum (d. h. dass wir „bestimmte Menschen (. . .) als Gesetzgebungsorgan deuten“; M.P.S.), weil wir den Gesetzgebungsakt als die Vollziehung der Verfassung, das heißt genereller Normen ansehen, die ihrem subjektiven Sinn nach eben jene Menschen ermächtigen, generelle, Zwangsakte statuierende Normen zu setzen. So deuten wir diese Menschen als Gesetzgebungsorgan. Damit, daß wir die das Gesetzgebungsorgan ermächtigenden Normen nicht nur als den subjektiven, sondern
37 Wäre die Beachtung der generellen Normen immer eine Bedingung für die Geltung der erzeugten individuellen oder generellen Normen, dann wäre weder die Fehlerkalküllehre (Adolf Julius Merkls Auffassung des Themas) noch die Lehre von der alternativen Ermächtigung vertretbar, denn beide Lehren nehmen als Ausgangspunkt die Tatsache an, dass eine gültige individuelle oder generelle Norm vorliegt, die eine andere Norm nicht beachtet hat. Siehe dazu Kapitel 4, Abschnitt B. 38 Kelsens Lehre von der alternativen Ermächtigung wird später behandelt. Hier genügt es, zwei Texte zu beachten, die das Wesentliche dieser Lehre darstellen: „auch die Tatsache, daß die Entscheidung der erstinstanzlichen und jedes nicht letztinstanzlichen Gerichtes nach den Bestimmungen der Rechtsordnung nur vernichtbar, das heißt so lange gültig ist, bis sie von einer höheren Instanz vernichtet wird, bedeutet: daß diese Organe von der Rechtsordnung ermächtigt sind, entweder eine individuelle Rechtsnorm, deren Inhalt durch die generelle Rechtsnorm vorausbestimmt ist, oder eine individuelle Rechtsnorm zu erzeugen, deren Inhalt nicht vorausbestimmt, sondern durch diese Organe selbst zu bestimmen ist.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 475. „Die Prozeßparteien können mit der Tatsache rechnen, daß, wenn eine letztinstanzliche Entscheidung nach geltendem Recht in Rechtskraft erwächst, nicht verhindert werden kann, daß eine individuelle Rechtsnorm in Geltung tritt, deren Inhalt von keiner generellen Rechtsnorm vorausbestimmt ist.“ Ders., a. a. O., S. 477. Dazu ist auch das oben zitierte Beispiel über Diebstahl zu erwähnen (siehe Fußnote 12).
F. Die Rolle der Geltung
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auch als den objektiven Sinn eines von bestimmten Menschen gesetzten Aktes betrachten, deuten wir diese Normen als Verfassung.“ 39
Die gültigen generellen Normen, die ein Gericht bei seiner Entscheidung beachten sollte (obwohl sie, wie gezeigt, nicht immer beachtet werden), sind gültig, denn sie sind von der ermächtigten Autorität erzeugt, und diese Autorität ist ermächtigt, weil sie von gültigen Normen Ermächtigung bekommen hat. Diese Zuschreibung der Geltung der Normen ist in einer hierarchischen Weise strukturiert: eine Autorität bekommt eine Ermächtigung, weil eine andere Autorität ermächtigt ist, diese Autorität zu ermächtigen. Diese hierarchische Gestaltung spiegelt sich in den Verhältnissen der Normen zueinander wider, sodass eine Norm gültig ist, weil sie durch Beachtung der Normen einer höheren Instanz erzeugt wurde. Aber die hierarchische Begründung der Geltung und der Ermächtigung muss eine letzte Stufe haben. Die Geltung einer Norm (und gleicherweise die Ermächtigung einer Autorität) kann durch die Geltung einer anderen Norm begründet werden, aber nicht alle Normen können wegen anderen gültigen Normen als gültig betrachtet werden, so wie nicht alle Autoritäten ihre Ermächtigung von anderen Autoritäten bekommen können. Deswegen behauptet Kelsen, dass mindestens eine gültige Norm existieren muss, die nicht wegen einer anderen gültigen Norm ihre Geltung bekommen hat, und um diese Problematik zu behandeln, bietet er das folgende Argument an: „Handelt es sich um eine historisch erste Verfassung, ist dies nur möglich, wenn wir voraussetzen, daß man sich dem subjektiven Sinn dieses Aktes entsprechend verhalten, daß man Zwangsakte unter den Bedingungen und in der Weise setzen soll, wie es die als Verfassung gedeuteten Normen bestimmen; das heißt: wenn wir eine Norm voraussetzen, derzufolge der als Verfassung-Gebung zu deutende Akt als ein objektiv gültige Normen setzender Akt und die diesen Akt setzenden Menschen als verfassungsgebende Autorität anzusehen sind. Diese Norm ist (. . .) die Grundnorm einer staatlichen Rechtsordnung. Sie ist nicht durch einen positiven Rechtsakt gesetzt, sondern – wie eine Analyse unserer juristischen Urteile zeigt – vorausgesetzt, wenn der in Frage stehende Akt als verfassungsgebender Akt und die auf Grund dieser Verfassung gesetzten Akte als Rechtsakte gedeutet werden. Diese Voraussetzung festzustellen, ist eine wesentliche Funktion der Rechtswissenschaft. In dieser Voraussetzung liegt der letzte, aber seinem Wesen nach nur bedingte und in diesem Sinne hypothetische Geltungsgrund der Rechtsordnung.“ 40
Die letzte Norm in der hierarchischen Anordnung der Normen ist nach Kelsens Auffassung eine Norm, die nicht gültig ist, weil sie ihre Geltung von einer anderen Norm bekommen hat, sondern weil ihre Geltung „vorausgesetzt“ wurde. Nach dieser vorausgesetzten Norm sind einige „Menschen als verfassungsgebende Autorität anzusehen“ und infolgedessen sind bestimmte Verfassungsnor-
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Kelsen, RR2 (1960), S. 97–98. Kelsen, RR2 (1960), S. 98.
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Kap. 2: Gegenstände der Rechtserkenntnis und des Rechts
men gültig, weil diese Menschen von der Grundnorm Ermächtigung bekommen haben, diese Normen zu erzeugen. Gleicherweise sind nach Kelsens Auffassung die Unterverfassungsnormen gültig, weil sie durch Anwendung der gültigen Verfassungsnormen erzeugt wurden. Anders als bei allen anderen Normen der Rechtsordnung, bekommt die Grundnorm ihre Geltung nicht wegen einer hierarchischen Anordnung der Normen, denn sie ist gültig, obwohl der sogenannte Erzeuger dieser Norm nicht ermächtigt war, gültige Normen zu erzeugen41.
G. Die Notwendigkeit der Postulierung der alternativen Ermächtigung für die Erklärung der Existenz einiger Rechtsphänomene Nach der von Kelsen entwickelten Darstellung der Rechtsordnung sind alle Normen gültig, weil sie ihre Geltung von anderen Normen bekommen haben – abgesehen von der Grundnorm; der Norm, die einen Verfassungsgeber ermächtigt hat. Aber entsprechend den oben erwähnten Situationen von Rechtserzeugung außerhalb des normativen Rahmens ist es in einigen Situationen nötig, eine weitere Prämisse hinzufügen, um die Geltung einiger Normen zu begründen. Neben den Normen, die ihre Geltung durch das Voraussetzen der Ermächtigung des Verfassungsgebers erhalten, können auch gültige Normen existieren, die nicht unbedingt ihre Geltung durch die Beachtung der anzuwendenden gültigen Normen bekommen haben42, sondern durch Ausübung einer anderen Art von Ermächtigung und bei Überschreitung der Grenze der zugeschriebenen Ermächtigung. Die Situationen, in denen das passiert, zeigen, dass neben der von Kelsen erläuterten Grundnorm eine andere Norm vorausgesetzt werden muss (oder anders ausgedrückt: ein anderes Element bei der Darstellung der Grundnorm vorausgesetzt werden muss), um die Situationen zu erklären, in denen trotz Nichtbeachtung des normativen Rahmens der Ermächtigungsnormen (und hier kann der normative Rahmen der positiven alternativen Ermächtigung eingeschlossen werden) eine gültige Norm vorliegt, ein Phänomen als Rechtsphänomen bezeichnet wird. Dank der Grundnorm (d. h. dank der Tatsache, dass der Verfasser einer wirksamen Verfassung gültige Normen erzeugt) bekommt der Verfassungsgeber zwei Arten von Ermächtigung. Er bekommt die unproblematische Ermächtigung, Nor41 Die Grundnorm als Grund der Geltung der Rechtsnormen wird im Kapitel 4, Abschnitt A behandelt. 42 Hier ist die Art von alternativer Ermächtigung gemeint, die nicht in positiven Normen begründet ist. Die alternative Ermächtigung kann kontingenterweise in positiven Normen begründet werden, aber auch wenn sie nicht positiviert ist, muss sie in einigen Fällen angewendet werden, um die Geltung einiger erzeugter Normen zu begründen. Über die Problematik bezüglich der positiven und der vorausgesetzten (nicht positivierten) alternativen Ermächtigung siehe Kapitel 4, Abschnitt B.
G. Alternative Ermächtigung
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men zu erzeugen, die bestimmte Situationen disziplinieren, zum Beispiel Strafrechtsnormen, sowie eine problematische Ermächtigung, um festzusetzen, wer Ermächtigung bekommen wird und welches die Grenzen dieser Ermächtigung zur Rechtserzeugung durch Rechtsanwendung sind. Auch wenn der Verfassungsgeber die von ihm einer Autorität zugeschriebene Ermächtigung durch Normen begrenzen wollte, haben die von ihm gesetzten Begrenzungen in einigen Fällen eine bedingte Natur. Die vom Verfassungsgeber ermächtigten Autoritäten können sich ausnahmsweise außerhalb der Grenzen der zugeschriebenen Ermächtigung bewegen, sie können gültige Normen erzeugen, auch wenn sie für die Erzeugung dieser Normen keine ausdrückliche Ermächtigung bekommen haben. Diese Macht der ermächtigten Autoritäten kann der Verfassungsgeber nur zum Teil begrenzen, in dem die von dieser Autorität erzeugten Normen mit einer provisorischen Geltung verbunden werden, sodass es möglich bleibt, solange die Geltung dieser erzeugten Normen provisorisch ist, die Akte der ermächtigten Autoritäten zu überprüfen und die Geltung der von ihnen erzeugten Normen aufzuheben. Eine vollständige Begrenzung ist nicht möglich, weil der entscheidende Faktor für die Bestimmung der rechtlichen Natur einiger Phänomene außerhalb der Macht der Verfassungsgeber (sowie der Gesetzgeber) liegt, denn das wird durch die Praxis der Zuschreibung einer rechtlichen Bedeugung, durch die Anwendung des Begriffs „Recht“, durch die Betrachtung von Phänomenen als Rechtsphänomenen bestimmt. Eine vollständige Formulierung der Grundnorm bedarf eines Zusatzes über die alternative Ermächtigung, weil ohne dieses Element die Geltung einiger (individueller oder genereller) Normen unbegründet bleiben kann. Die erzeugte Verfassung kann tatsächlich eine Norm enthalten, nach welcher die Normen, die trotz Nichtbeachtung der Grenzen der Ermächtigung erzeugt worden sind, Geltung bekommen werden. Aber die Existenz dieser Norm in der Verfassung bedeutet nicht, dass der Verfassungsgeber entscheiden kann, dass diese Norm existieren wird. Diese Norm ist eventuell in einer Verfassung positiviert, aber sie existiert immer, wenn die von Kelsen präsentierte Grundnorm existiert, wenn die Reine Rechtslehre die Aufgabe angenommen hat, das Recht, die Rechtsphänomene zu beschreiben, da die Norm über alternative Ermächtigung eine mögliche Folgerung der Anwendung der Zuschreibung von Ermächtigung ist. Wie schon gezeigt, ist der entscheidende Grund für die Annahme der Grundnorm die Tatsache, dass durch sie die Reine Rechtslehre ihrer Beschreibungsaufgabe treu bleiben kann, sodass sie als Recht bezeichnen wird, was als Recht in der Realität betrachtet ist. Hat eine ermächtigte Autorität einer anderen Autorität begrenzte Ermächtigung zugeschrieben, dann liegt immer die Möglichkeit vor, dass diese zweite Autorität die Grenzen der Ermächtigung überschreiten wird. Eine niedergeschriebene Norm zu diesem Thema kann festsetzen, dass in solchen Fällen die Geltung der erzeugten Normen provisorisch ist, aber dass diese durch Überschreitung der Ermächtigung gesetzten Normen gültig sind, das ist in mehreren
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Kap. 2: Gegenstände der Rechtserkenntnis und des Rechts
Fällen unvermeidlich. Konsequenterweise hat die von der Grundnorm ermächtigte Autorität nur zwei Optionen: sie kann entweder keine Ermächtigungsnorm erzeugen, keine andere Autorität ermächtigen, oder sie erzeugt solche Normen, aber dann kann sie nicht vermeiden, dass die von ihr gesetzte Ermächtigung bei der Rechtsanwendung überschritten wird und es Situationen geben kann, in denen die durch Überschreitung der Grenzen erzeugten Normen als gültige Normen, als konstitutiv für Rechtsphänomene, zu betrachten sind.
Kapitel 3
Die Beschreibung der gültigen Normen und die Bedeutung der Geltung der Normen Dieses Kapitel konzentriert sich auf die Darstellung der Form, wie die Rechtstheorie ihre Gegenstände als gültige Rechtsnormen beschreibt. Da das Verstehen dieser Gegenstände des Rechts als gültige Normen von der Anwendung der sogenannten Zurechnung abhängt, wird Kelsens Lehre der Zurechnung als normative Verknüpfung zwischen zwei Elementen untersucht – zusammen mit einer Analyse der Lehre des Rechtssatzes als wesentliche Ausdrucksweise der Rechtswissenschaft, der Diskussion über die Bedeutung der Zwangsnatur des Rechts sowie die Konsequenzen dieser Auffassung für die Definition der Begriffe „Geltung“ und „Wirksamkeit“. Im Folgenden werden Kelsens Auffassungen der Zurechnung, des Rechtssatzes und der Zwangsnatur des Rechts analysiert, um die Frage zu beantworten, wie eine Rechtsnorm beschrieben werden kann und was diese Beschreibung umfassen muss. Die Beantwortung dieser Fragen ist wichtig, denn die Rechtserkenntnis erfolgt angesichts von Normen, und das Verstehen der Struktur der Normen ist ein Element für den Aufbau der Rechtserkenntnis und für die Beschreibung ihres Inhaltes, der durch gültige Normen konstituiert ist.
A. Die Rechtssätze und die Beschreibungsaufgabe der Rechtswissenschaft „Die Rechtswissenschaft hat das Recht (. . .) zu erkennen und auf Grund ihrer Erkenntnis zu beschreiben.“ 1 Die Beschreibung der Gegenstände der Rechtswissenschaft operiert durch Rechtssätze2, die die Aufgabe haben, die rechtliche Natur dieser Gegenstände zu begreifen und sie angesichts ihrer Natur zu beschreiben. In diesem Sinne beschreibt die Rechtswissenschaft „die durch Akte menschlichen Verhaltens erzeugten und durch solche Akte anzuwendenden und zu befolgenden Rechtsnormen und damit die durch diese Rechtsnormen konstituierten Beziehungen zwischen den von ihnen bestimmten Tatbeständen.“ 3 Die von Kelsen, RR2 (1960), S. 142. In der zweiten Auflage der Reine(n) Rechtslehre erklärt Kelsen, dass er nicht immer in seinen Schriften „den Unterschied zwischen Rechtssatz und Rechtsnorm (. . .) terminologisch zum Ausdruck gebracht“ hatte. Kelsen, RR2 (1960), S. 157–158, Fn. In der vorliegenden Arbeit werden diese zwei Begriffe immer im Sinne der späteren kelsenschen Anwendung verwendet. 3 Kelsen, RR2 (1960), S. 141. 1 2
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Kap. 3: Beschreibung und Geltung der Normen
der Rechtswissenschaft angewendeten Rechtssätze sind nach Kelsens Worten folgendermaßen definiert: „Rechtssätze sind hypothetische Urteile, die aussagen, daß im Sinn einer (. . .) der Rechtserkenntnis gegebenen Rechtsordnung unter gewissen von dieser Rechtsordnung bestimmten Bedingungen gewisse von dieser Rechtsordnung bestimmte Folgen eintreten sollen. Rechtsnormen sind keine Urteile, das heißt Aussagen über einen der Erkenntnis gegebenen Gegenstand. Sie sind, ihrem Sinne nach, Gebote und als solche Befehle, Imperative; aber nicht nur Gebote, sondern auch Erlaubnisse und Ermächtigungen.“4
Das Recht besteht aus Normen, die der objektive (d. h. gültige) Sinn von Willensakten sind, weil sie eine „imperative Bedeutung“ 5 haben. Deswegen muss die Rechtswissenschaft etwas beschreiben, was eigentlich keine rein sprachliche Natur hat, und in einigen Fälle, z. B. bei einigen Gewohnheitsnormen, überhaupt keine Sprachnatur. Die Rechtsnormen sind nicht über die Sprache als eines ihrer möglichen Mittel (andere Mittel sind nach Kelsen Gesten und Symbole)6 zu identifizieren, denn sie sind jeweils der objektive Sinn von Willensakten. Deswegen liegt die Aufgabe vor, einen Gegenstand zu verstehen und zu beschreiben, der nur durch eine Konvention beschreibar ist. Rechtsnormen sind keine sprachlichen Gegenstände, obwohl es möglich ist, sie durch diese zu beschreiben7, und Kelsen, RR2 (1960), S. 141. Auf Seite 141 (so wie auf den Seiten 27–28 und 44– 45) der Reine(n) Rechtslehre erwähnt Kelsen nicht die Derogation als eine Funktion der Rechtsnorm, was er auf Seite 114 desselben Buchs macht. Dazu hat Kelsen später argumentiert, dass in der zweiten Auflage der Reine(n) Rechtslehre die Derogation schon als eine der Funktionen der Rechtsnormen präsentiert wird. (Siehe ders., ATN (1979), S. 263, Anm. 76). Anders als in der Reine(n) Rechtslehre ist in der Allgemeine(n) Theorie der Normen die Derogation als Funktion neben den Funktionen Gebieten, Erlauben und Ermächtigen aufgelistet. Siehe ders., a. a. O., S. 3. In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass Kelsen in Geltung und Wirksamkeit des Rechts angesichts ihrer Funktion mit Bezug auf die Geltung einer Norm zwei Arten von Derogation unterscheidet: derogierende Normen, die „die Geltung einer Rechtsnorm aufheben oder einschränken“. Ders., Geltung und Wirksamkeit des Rechts (2003), in: Walter/Jabloner/Zeleny (Hrsg.), Hans Kelsens stete Aktualität, S. 5. 5 Kelsen, ATN (1979), S. 131. Dieser Ausdruck ist in der folgenden Formulierung zu finden: „Der Satz, dessen Bedeutung eine Aussage ist, beschreibt etwas. Er ist wahr oder unwahr; das heißt: er entspricht oder entspricht nicht dem, was er beschreibt. Der Satz, dessen Bedeutung eine Norm ist, schreibt etwas vor. Er ist weder wahr noch unwahr. Man drückt das auch so aus, daß man sagt: Aussagen haben eine indikative oder deklarative, Normen (allerdings nur Normen, die etwas gebieten) haben eine imperative Bedeutung.“ Ders., a. a. O., S. 131. Siehe ders., RR2 (1960), S. 144–145. 6 Siehe Kelsen, ATN (1979), S. 119–120. 7 Darüber hinaus muss beachtet werden, dass Rechtsnormen nicht nur durch Befehle bestimmtes Sollen setzen können: „Die Norm, daß Diebstahl bestraft werden soll, wird von dem Gesetzgeber häufig in dem Satz formuliert: Diebstahl wird mit Gefängnis bestraft; die Norm, die das Staatsoberhaupt ermächtigt, Staatsverträge abzuschließen, in der Form: Das Staatsoberhaupt schließt Staatsverträge ab. Worauf es ankommt, ist aber nicht die Sprachform, sondern der Sinn des das Recht erzeugenden, die Norm setzenden Aktes. Und der Sinn dieses Aktes ist ein anderer als der Sinn des das Recht beschreibenden Rechtssatzes. In der Unterscheidung von Rechtssatz und Rechtsnorm 4
B. Die Zurechnung als normative Verknüpfung von Tatbeständen
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aus diesem Grund unterscheidet Kelsen das Sollen in einem Rechtssatz von dem Sollen, das eine Rechtsnorm enthält. Das in einer Rechtsnorm enthaltene Sollen erfüllt die Funktion, etwas vorzuschreiben, während das Sollen in einem Rechtssatz das Sollen (einen „Imperativ (. . .)“) beschreibt, das eine Rechtsnorm vorgeschrieben hat8. Infolgedessen warnt Kelsen, dass die „Doppeldeutigkeit des Wortes ,Sollen‘“ übersehen würde, „wenn man Sollsätze mit Imperativen identifiziert“. 9 Durch Rechtssätze und mit der Anwendung eines beschreibenden Sollens wird die Rechtswissenschaft Rechtsnormen darstellen. Die Rechtssätze erfüllen das Ziel, Aussagen über das Recht als Gegenstand einer Wissenschaft zu ermöglichen. In diesem Sinne und angesichts der Tatsache, dass das in Rechtssätzen wiedergegebene Sollen nur ein beschreibendes Ziel erfüllt, nämlich die gültigen (objektiven) rechtlichen Imperative darzustellen, kann die Rechtswissenschaft die Rechtsnormen als untersuchte Gegenstände begreifen und in der Form von Rechtssätzen präsentieren.
B. Die Zurechnung als normative Verknüpfung von Tatbeständen Das Verstehen der Gegenstände des Rechtes wird nicht nur die Berücksichtigung eines deskriptiven Sollens erfordern, sondern auch die Anwendung eines Prinzips, durch welches die in einer Rechtsnorm (und in einem Rechtssatz) dargestellten Bedingungen und Folgen miteinander verbunden werden. Um den rechtswissenschaftlichen Konnektor darzustellen, der diese Aufgabe erfüllen wird, bietet Kelsen in der Reine(n) Rechtslehre eine Analogie an, die das Verhältnis zwischen Natur und Naturwissenschaft aufgreift, denn seiner Auffassung nach begreift die Naturwissenschaft die Natur und die Naturphänomene als „ein System von Elementen, die miteinander als Ursache und Wirkung, das heißt, nach einem Prinzip verknüpft sind, das man als Kausalität bezeichnet.“ 10 kommt der Unterschied zum Ausdruck, der zwischen der Funktion der Rechtserkenntnis und der von ihr völlig verschiedenen Funktion der Rechtsautorität besteht, die von den Organen der Rechtsgemeinschaft repräsentiert wird.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 142 (Hervorhebung von mir: M.P.S.). 8 „Dem steht nicht im Wege, daß diese Sätze (die Rechtssätze; M.P.S.) Sollsätze sind und Sollsätze sein müssen, weil sie Sollnormen beschreiben. Der Satz, der die Geltung einer Strafrechtsnorm beschreibt, die für Diebstahl Gefängnisstrafe vorschreibt, wäre unwahr, wenn er aussagen würde, daß dieser Norm gemäß Diebstahl mit Gefängnis bestraft wird; denn es gibt Fälle, in denen trotz Geltung dieser Norm Diebstahl tatsächlich nicht bestraft wird, z. B. weil der Dieb sich der Bestrafung entzieht. Der diese Strafrechtsnorm beschreibende Rechtssatz kann nur lauten: daß, wenn jemand Diebstahl begeht, er bestraft werden soll. Aber das Sollen des Rechtssatzes hat nicht, wie das Sollen der Rechtsnorm, einen vorschreibenden sondern einen beschreibenden Sinn.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 147–148. 9 Kelsen, RR2 (1960), S. 148. 10 Kelsen, RR2 (1960), S. 150.
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Kap. 3: Beschreibung und Geltung der Normen
Kelsen bezieht sich darauf, dass durch die Anwendung der Kausalität als Verknüpfungsprinzip Naturgesetze formuliert werden können, sodass es der Naturwissenschaft aus diesem Grund möglich ist, bestimmte Phänomene der Natur zu beschreiben11. Ohne Anwendung der Kausalität als Prinzip würden für die Naturwissenschaft nur individuelle Phänomene vorliegen, so dass, nach Kelsens Darstellung, ohne das Kausalitätsprinzip die Naturwissenschaft nur behaupten könnte, dass z. B. dieselbe Metallkugel zu einem Zeitpunkt eine bestimmte Größe und Temperatur hat und danach eine andere Größe und Temperatur. Durch diese bloßen Beschreibungen würde die Naturwissenschaft aber nicht in die Lage versetzt werden, ein Naturphänomen zu begreifen und darzustellen, sondern sie würde nur zwei Tatsachen über einen Gegenstand aussagen können. Das angeführte Beispiel ist nur als Phänom der Thermodynamik zu begreifen, wenn das Kausalitätsprinzip (als Mittel oder Denkweg für die Verknüpfung von zwei Tatsachen) sowie der Hauptsatz der Wärmeausdehnung (als spezifisches Verhältnis zwischen zwei Arten von Tatsachen) in der Analyse des Phänomens eine Rolle spielen. Nur weil bekannt ist, dass metallische Körper aufgrund der sogenannten Wärmeausdehnung größer werden, wenn sie erhitzt werden (hier liegt ein Verhältnis vor, das erst durch das Kausalitätsprinzip konstituiert wurde), und dass ein Verhältnis von Ursache und Wirkung (die Kausalität) die Formulierung dieses Hauptsatzes ermöglicht, ist es sinnvoll, zu behaupten, dass durch Temperaturänderung (d. h. angesichts des Hauptsatzes der Wärmeausdehnung) dieselbe Metallkugel zwei unterschiedliche Größen haben kann (d. h. angesichts des Kausalitätsprinzipes und des Hauptsatzes der Wärmeausdehnung sind diese zwei Tatsachen miteinander verbunden)12. Mit Bezug auf diesen Gedankengang behaup11 Dazu bietet Kelsen folgendes Beispiel an: „Da nach einem Naturgesetz ein metallischer Körper, wenn er erwärmt wird, sich ausdehnt, konnte die von einem bestimmten Physiker verwendete Metallkugel, die dieser von ihrer Erwärmung durch einen Holzring fallen ließ, nach ihrer Erwärmung den Ring nicht mehr passieren.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 160. 12 Dass für die Möglichkeit der Erfahrung beides, die Kausalität als Verknüpfungsprinzip und einige Hauptsätze über bestimmte Zusammenhänge, erforderlich ist, war schon von Kant anerkennt: „Ob wir gleich durch Erfahrung viel Gesetze lernen, so sind diese doch nur besondere Bestimmungen noch höherer Gesetze, unter denen die höchsten, (unter welchen andere alle stehen,) a priori aus dem Verstande selbst herkommen, und nicht von der Erfahrung entlehnt sind, sondern vielmehr den Erscheinungen ihre Gesetzmäßigkeit verschaffen, und eben dadurch Erfahrung möglich machen müssen. (. . .) Aber alle empirischen Gesetze sind nur besondere Bestimmungen der reinen Gesetze des Verstandes, unter welchen und nach deren Norm jene allererst möglich sind, und die Erscheinungen eine gesetzliche Form annehmen, so wie auch alle Erscheinungen, unerachtet der Verschiedenheit ihrer empirischen Form, dennoch jederzeit den Bedingungen der reinen Form der Sinnlichkeit gemäss sein müssen.“ Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 126–128. „Auf mehrere Gesetze aber, als die, auf denen eine Natur überhaupt, als Gesetzmässigkeit der Erscheinungen in Raum und Zeit, beruht, reicht auch das reine Verstandesvermögen nicht zu, durch blosse Kategorien den Erscheinungen a priori Gesetze vorzuschreiben. Besondere Gesetze, weil sie empirisch bestimmte Erscheinungen betreffen, können davon nicht vollständig abgeleitet werden, ob sie
B. Die Zurechnung als normative Verknüpfung von Tatbeständen
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tet Kelsen, unter analoger Anwendung von Kants Denken, dass die Rechtswissenschaft die Gegenstände ihrer Untersuchung erzeugt. Phänomene der Natur bekommen nur durch die Anwendung des Kausalitätsprinzips (aber nicht nur wegen dieses Prinzips, da auch andere allgemeine Regeln, wie der Hauptsatz der Wärmausdehnung, notwendig sind) eine Bedeutung für die Naturwissenschaft und instanziieren ein oder mehrere Naturgesetze, angesichts derer es möglich ist, zu behaupten, dass zwei unterschiedliche Situationen miteinander in Verbindung gebracht worden sind, sodass spezifische generelle Normen existieren, welche das Verstehen einer Bedeutung für diesen Zusammenhang als Naturphänomen ermöglichen. Für die Rechtswissenschaft liegt eine der Naturwissenschaft ähnliche Aufgabe vor, denn sie muss Tatbestände miteinander verbinden.13 Der Rechtssatz verknüpft Elemente, denn er behauptet: „(. . .) unter bestimmten, und zwar von der Rechtsordnung bestimmten, Bedingungen soll ein bestimmter, und zwar von der Rechtsordnung bestimmter, Zwangsakt erfolgen.“ 14 Aber die in Rechtssätzen begleich alle insgesammt unter jenen stehen. Es muss Erfahrung dazu kommen, um die letzteren überhaupt kennen zu lernen; von Erfahrung aber überhaupt und dem, was als ein Gegenstand derselben erkannt werden kann, geben allein jene Gesetze a priori die Belehrung.“ Ders., Kritik der reinen Vernunft, B 165. Angesichts dieser Zitate von Kant ist die Behauptung begründet, dass Kelsens Theorie in der Tat ein Element enthält, die Auffassung der Zurechnung, das Kants Auffassung der Kausalität strukturell sehr ähnlich ist. Über die Kausalität als Bedingung der Erfahrung bei Kant siehe Allison, Kant’s Transcendental Idealism. An Interpretation and Defense, S. 246–260. 13 Dazu schreibt Kelsen: „Im Wege einer Analyse des juristischen Denkens kann man zeigen, daß in den Rechtssätzen, das sind die Sätze, in denen die Rechtswissenschaft ihren Gegenstand, das Recht – sei es ein nationales Recht oder das internationale Recht – beschreibt, in der Tat ein Prinzip angewendet wird, das dem der Kausalität zwar analog ist, sich aber doch von ihm in charakteristischer Weise unterscheidet. Die Analogie besteht darin, daß das in Rede stehende Prinzip in den Rechtssätzen eine ganz ähnliche Funktion hat wie das Kausalitätsprinzip in den Naturgesetzen, mit denen die Naturwissenschaft ihren Gegenstand beschreibt. Ein Rechtssatz ist z. B. der Satz: Wenn ein Mensch ein Verbrechen begeht, soll eine Strafe über ihn verhängt werden; oder: wenn ein Mensch seine Schuld nicht bezahlt, soll eine Zwangsvollstreckung in sein Vermögen gerichtet werden; oder: wenn ein Mensch von einer ansteckenden Krankheit befallen wird, soll er in einer hiezu bestimmten Anstalt interniert werden. Allgemein formuliert: unter bestimmten, und zwar von der Rechtsordnung bestimmten, Bedingungen soll ein bestimmter, und zwar von der Rechtsordnung bestimmter, Zwangsakt erfolgen. Das ist die schon im Vorhergehenden aufgezeigte Grundform des Rechtssatzes. Ganz so wie ein Naturgesetz, verknüpft auch ein Rechtssatz zwei Elemente miteinander. Aber die Verknüpfung, die im Rechtssatz zum Ausdruck kommt, hat eine völlig andere Bedeutung als jene, die das Naturgesetz beschreibt: die Kausalität. (. . .) Im Rechtssatz wird nicht, wie im Naturgesetz, ausgesagt, daß, wenn A ist, B ist, sondern, daß, wenn A ist, B sein soll, auch wenn B vielleicht tatsächlich nicht ist. Daß die Bedeutung der Verknüpfung der Elemente im Rechtssatz verschieden ist von der der Verknüpfung der Elemente im Naturgesetz, geht darauf zurück, daß die Verknüpfung im Rechtssatz durch eine von der Rechtsautorität, also durch einen Willensakt gesetzte Norm hergestellt ist, während die Verknüpfung von Ursache und Wirkung, die im Naturgesetz ausgesagt wird, unabhängig von jedem solchen Eingriff ist.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 152–153. 14 Kelsen, RR2 (1960), S. 152.
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Kap. 3: Beschreibung und Geltung der Normen
schreibenden Verknüpfungen haben eine andere Bedeutung, als die von Naturgesetzen präsentierten Verknüpfungen: „Im Rechtssatz wird nicht, wie im Naturgesetz, ausgesagt, daß, wenn A ist, B ist, sondern, daß, wenn A ist, B sein soll, auch wenn B vielleicht tatsächlich nicht ist.“ 15 Hierbei muss daran erinnert werden, dass das in Rechtssätzen angewendete Sollen keine vorschreibende Natur hat, dass diese Rechtsätze also keine Imperative konstituieren, sondern Imperative beschreiben16. Sie sagen „nur, so wie das Naturgesetz, die Verknüpfung zweier Tatbestände, einen Funktionszusammenhang aus.“ 17 Die normative und in diesem Sinne rechtliche Verknüpfung zwischen Tatbeständen wird von Kelsen Zurechnung genannt18. Mit der Zurechnung wird der „von der Rechtsordnung als Bedingung bestimmte Tatbestand mit der von ihr bestimmten Folge“ verknüpft, so dass die „Zurechnung (. . .) ebenso wie die Kausalität ein Ordnungsprinzip menschlichen Denkens“ ist19. Aufgrund dieses Zurechnungsprinzips und einer oder mehrerer gültigen Normen entsteht die Möglichkeit, ein Rechtsphänomen zu begreifen, die rechtliche Natur von etwas zu beobachten, einen Gegenstand als Gegenstand des Rechts oder der Rechtserkenntnis (an)zuerkennen. So wie die Naturwissenschaft ein Phänomen mit naturwissenschaftlicher Relevanz nur beobachten kann, wenn sie die Kausalität als Verknüpfungsprinzip – zusammen mit spezifischen Naturgesetzen – anwendet, braucht die Rechtswissenschaft die Zurechnung als Verknüpfungsprinzip. Ohne Zurechnung ist es möglich festzustellen, dass jemand einen Diebstahl begangen hatte und dass diese Person deshalb für ein Jahr im Gefängnis war. Dass diese
Kelsen, RR2 (1960), S. 153. Siehe Kelsen, RR2 (1960), S. 158–160. 17 Kelsen, RR2 (1960), S. 158. Aus diesem Grund sind die Begriffe wahr/unwahr auf Rechtsätze anwendbar, aber nicht auf Rechtsnormen, welche nicht wahr oder unwahr sein können, sondern gültig oder ungültig. „Der Unterschied zeigt sich darin, daß die von der Rechtswissenschaft formulierten, das Recht beschreibenden, niemanden und zu nichts verpflichtenden und berechtigenden Sollsätzen wahr oder unwahr sein können, während die von der Rechtsautorität gesetzten – die Rechtssubjekte verpflichtenden und berechtigenden – Sollnormen weder wahr noch unwahr, sondern nur gültig oder ungültig sind.“ Ders., a. a. O., S. 145. 18 In einer Fußnote erklärt Kelsen die spezifische Bedeutung von „Zurechnung“, die er in der zweiten Auflage der Reine(n) Rechtslehre verwendet, dabei erwähnt er auch, dass er früher dieser Begriff für die Beschreibung von zwei Arten von Verknüpfungen angewendet hatte: „In früheren Schriften habe ich die in Frage stehende Gedankenoperation als ,Zurechnung‘ bezeichnet. Aber da mit diesem Worte vor allem die normative Verknüpfung zweier Tatbestände gekennzeichnet wird, die der kausalen Verknüpfung analog ist, mußte ich die Zurechnung einer Funktion zu einer Gemeinschaft als ,zentrale‘ Zurechnung von der normativen Verknüpfung zweier Tatbestände als der ,peripheren‘ Zurechnung unterscheiden. Diese Terminologie ist nicht sehr befriedigend und führt zu Mißverständnissen. Ich beschränke daher nunmehr den Gebrauch des Wortes ,Zurechnung‘ auf die normative Verknüpfung zweier Tatbestände.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 275, Fn. 19 Kelsen, RR2 (1960), S. 202. Siehe ders., RR1 (1934), S. 34. 15 16
B. Die Zurechnung als normative Verknüpfung von Tatbeständen
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Person wegen Diebstahls für ein Jahr im Gefängnis sitzen soll, das ist nur durch die Berücksichtigung der Zurechnung als Verknüpfungsprinzip feststellbar20. Durch die Zurechnung kann eine Rechtsnorm eine konkrete Bedingung mit einer konkreten Folge verknüpfen21, sie kann festsetzen, dass wegen der Anwesenheit eines bestimmten Tatbestand, ein anderer Tatbestand anwesend werden soll. Angesichts des Unterschieds zwischen Rechtsnorm und Rechtssatz ist zu beachten, dass in einer Rechtsnorm für eine Folge eine Bedingung gesetzt wird, während in einem Rechtssatz die Notwendigkeit einer Folge an eine Bedingung geknüpft ist22. Rechtssätze zeigen eine Struktur, bei der Bedingung und Folge durch Zurechnung verbunden sind. Aber im Blick auf diese zwei verknüpften Elemente ist zu beachten, dass sie nicht nur Tatsachen über faktische Elemente enthalten können, sondern auch über rechtliche Bedingungen, rechtliche Qualifikationen, die in diesen Elementen eine Rolle spielen. In der Allgemeine(n) Theorie der Normen schreibt Kelsen, dass die Norm drei Begriffe enthalten kann: „den Begriff eines zuständigen Organs, den Begriff eines bedingenden Tatbestandes und den Begriff einer Rechtsfolge.“ 23 Aber die Existenz des Elements „zuständiges Organ“ bedeutet nicht die Existenz eines dritten Elements in dem Rechtssatz, denn der Rechtssatz bleibt durch zwei Elemente konstituiert und die Ermächtigungsbedingungen können in einem oder beiden dieser Elemente auftauchen. In einer solchen Situation ist zum Beispiel als Rechtsbedingung nicht nur irgendeine Handlung oder Tatsache zu verstehen, sondern auch die Klausel, dass diese Tatsache von einer ermächtigten Autorität im Rahmen der in einer generellen Norm statuierten Tatbestände identifiziert wird24, sodass ein Rechtssatz Folgendes als Be20 Dazu schreibt Kelsen: „Indem die Rechtswissenschaft menschliches Verhalten nur insofern begreift, als es Inhalt von Rechtsnormen, das heißt von Rechtsnormen bestimmt ist, stellt sie eine normative Deutung dieser Tatbestände dar. Sie beschreibt die durch Akte menschlichen Verhaltens erzeugten und durch solche Akte anzuwendenden und zu befolgenden Rechtsnormen und damit die durch diese Rechtsnormen konstituierten Beziehungen zwischen den von ihnen bestimmten Tatbeständen.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 141. 21 Nach einer gerichtlichen Entscheidung lautet eine Norm über Diebstahl in etwa folgendermaßen: „Herr X soll wegen Diebstahls für ein Jahr ins Gefängnis.“ Im Unterschied dazu lautet nach einer Norm über Diebstahl in einem allgemeinen Gesetz etwa so: „Wer Diebstahl begeht, soll für ein Jahr ins Gefängnis.“ 22 „So wie das Naturgesetz eine die Natur beschreibende Aussage, nicht der zu beschreibende Gegenstand, so ist das Rechtsgesetz, das ist die das Recht beschreibende Aussage, nämlich der von der Rechtswissenschaft formulierte Rechtssatz, nicht der zu beschreibende Gegenstand, das ist das Recht, die Rechtsnorm.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 159–160. 23 Kelsen, ATN (1979), S. 212. 24 Wesentlich ist der Akt der Feststellung, nicht die Existenz der Tatsache: „Das Recht knüpft eine Sanktion als Folge weder an einen in der Wirklichkeit stattfindenden Vorgang an sich als Bedingung, noch an die Wahrheit der Aussage, die der Sinn der richterlichen Feststellungsaktes ist, sondern an den rechtskräftigen Feststellungsakt des
60
Kap. 3: Beschreibung und Geltung der Normen
dingung beschreiben könnte: „ein zuständiges Organ (hat; M.P.S.) festgestellt (. . .), daß ein Mensch mit einem anderen vertraglich vereinbart hat, ihm innerhalb einer bestimmten Frist eine bestimmte Geldsumme zu leisten, und diese Geldsumme (hat er; M.P.S.) nicht innerhalb der bestimmten Frist geleistet“ 25. Und als Folge würde der Rechtssatz nicht nur eine Tatsache beschreiben, sondern auch eine Ermächtigungsbedingung: „das zuständige Organ (soll; M.P.S.) auf Klage des Gläubigers eine individuelle Norm setzen, die vorschreibt, daß in das Vermögen des Schuldners eine Zwangsvollstreckung gerichtet werden soll.“ 26
C. Rechtsfolge, Sanktion und die Zwangsnatur des Rechts Kelsens Behandlung der Rechtsfolge und der Zwangsnatur des Rechtes (sowie der Sanktion) ist komplex und nicht immer einheitlich konstituiert, denn in seinen Schriften können zwei Arten von Zwangsnatur des Rechtes identifiziert werden, sodass die Rechtsfolge zwei unterschiedliche Charakterisierungen bekommt. Um diese Problematik zu behandeln, werden einige von Herbert Harts Argumenten gegen Kelsen analysiert: Zuerst wird argumentiert, dass eine von Harts Kritiken Kelsens Rechtstheorie nicht wirklich trifft, weil Kelsens Konzeption der Sanktion in Verbindung mit seiner Auffassung über die selbständige Norm analysiert werden muss. Danach wird untersucht, warum die Zwangsnatur des Rechtes bei Kelsen zwei unterschiedliche Interpretationen ermöglicht, von denen eine mittels eines anderen Arguments von Hart in Frage gestellt werden kann. I. Das Verhältnis zwischen Rechtsfolge und Sanktion Die Problematik bezüglich Kelsens Auffassung(en) der Rechtsfolge wird von Hart in seiner Schrift Kelsen visited durch die Behandlung der Schwierigkeiten im Blick auf die Identifikation der Rechtskategorie „Sanktion“ folgenderweise dargestellt: „Sanctions may take the form of compulsory money payments, e. g. fines; but taxes also take this form. In both cases alike, to use Kelsen’s terminology, certain behaviour of the subject is a condition under which an official or organ of the system ought to demand a money payment from the subject. So if we confine our attention to the contents of the law as represented in the canonical form ,If A, then B ought to be‘ it is impossible to distinguish a criminal law punishing behaviour with a fine from a revenue law taxing certain activities. Both when the individual is taxed and when he is fined the law’s provisions when cast into the Kelsenian canonical form zuständigen Gerichtes, dessen Sinn die Aussage ist, daß ein bestimmter, in der von dem Gericht anzuwendenden generellen Norm bestimmter, Vorgang stattgefunden hat.“ Kelsen, ATN (1979), S. 106. 25 Kelsen, ATN (1979), S. 212. 26 Kelsen, ATN (1979), S. 212.
C. Rechtsfolge, Sanktion und die Zwangsnatur des Rechts
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are identical. Both cases are therefore cases of delict unless we distinguish between them by reference to something that escapes the net of the canonical form, i. e. that the fine is a punishment for an activity officially condemned and the tax is not. It may perhaps be objected that a tax, though it consists of a compulsory money payment as some sanctions also do, is not a ,sanction‘ and that Kelsen’s juristic definition of delict refers to a ,sanction‘. But this does not really avoid the difficulty; it only defers it; for we shall have to step outside the limits of juristic definition in order to determine when a compulsory money payment is a sanction and when it is not. Presumably it is a sanction when it is intended as or assumed to be a punishment to discourage ,socially undesired behavior‘ to which it is attached; but this is precisely the element which Kelsen considers to be excluded from the juristic definition of delict.“ 27
Hart kritisiert Kelsen, weil es nach seiner Auffassung unmöglich ist, mit Kelsens Definition von Sanktion zu unterscheiden, wann eine Bezahlung als Sanktion anzuerkennen ist und wann sie nur die Beachtung (ohne Natur einer Bestrafung) einer Norm repräsentiert. Das Hauptproblem bei Harts Auffassung ist, dass er Kelsens Begriff von „Sanktion“ als Synonym für Kelsens Begriff „Folge“ (oder „Rechtsfolge“) interpretiert. Aber auch wenn alle Sanktionen Rechtsfolgen von Normen sind, sind nicht alle Rechtsfolgen Sanktionen, denn einige Folgen sind in anderen Zusammenhängen als Bedingung für andere Rechtsfolgen zu identifizieren. Das ist zu berücksichtigen, wenn überlegt wird, dass die Abwesenheit einer Steuerzahlung, um bei Harts Beispiel zu bleiben, eine Bedingung (und deswegen nicht eine Folge) für eine ganz andere Folge werden kann, zum Beispiel für die Pfändung von Eigentum des Schuldners. Angesichts von Kelsens Auffassung zum Thema ist es möglich zu behaupten, dass in der von Hart zitierten Steuernorm nicht der Zwang (oder die Sanktion) inbegriffen ist, eine bestimmte Summe zu bezahlen, sondern nur die Tatsache, dass eine Person, die eine bestimmte Summe verdient hat (1. Bedingung) und die daraus resultierende (festgelegte) Steuer nicht bezahlt hat (2. Bedingung), eine bestimmte Bestrafung erfahren soll (Folge). Dies würde eine mögliche Formulierung für die in dem Fall anzuwendende selbständige Norm repräsentieren. Nach Kelsens Argumentation folgen aus allen selbständigen Normen Zwangsakte (nicht immer Sanktionen)28, aber nicht alle Normen haben diese Folge, da auch unselbständige Normen existieren. Die Bezahlung der Steuer kann bei einer unselbständigen Norm die Natur einer Folge oder die Natur einer Bedingung haben – das hängt von den möglichen unterschiedlichen Formulierungen der betreffenden Norm ab –, aber sie ist nur als Sanktion anzusehen, wenn die Bezahlung zwangsweise erfolgt (zum Beispiel durch Pfändung von Geld auf einem Girokonto) und eine (andere) Norm diese Situation determiniert hat. Um dieses Argu-
27 Hart, Kelsen Visited, in: Paulson/Litschewski (Hrsg.), Normativity and Norms, S. 80–81 (Hervorhebung von mir: M.P.S.). 28 Siehe Fußnote 32.
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Kap. 3: Beschreibung und Geltung der Normen
ment vollständig klarzustellen, ist es nötig zwei Erklärungen zu berücksichtigen: eine über die Natur der selbständigen Norm und die andere über die Natur der Sanktion. II. Die selbständige Norm Am Anfang der Sektion „Unselbständige Rechtsnormen“ der Reine(n) Rechtslehre schreibt Kelsen, dass „wenn eine Norm ein bestimmtes Verhalten gebietet und eine zweite Norm für den Fall der Nichtbefolgung der ersten eine Sanktion statuiert, beide miteinander wesentlich verbunden sind.“ 29 Über diese „wesentliche“ Verbindung zwischen Normen bietet Kelsen einige Überlegungen und Beispiele an, die klarstellen können, warum Harts Beispiel gegen Kelsens Auffassung der Rechtsnorm und der Sanktion ungeeignet ist: „Enthält (1. Beispiel; M.P.S.) eine Rechtsordnung, etwa ein von dem Parlament beschlossenes Gesetz, eine Norm, die ein bestimmtes Verhalten vorschreibt, und eine andere Norm, die an die Nichtbefolgung der ersten eine Sanktion knüpft, ist die erste keine selbständige Norm, sondern mit der zweiten wesentlich verbunden; sie bestimmt nur – negativ – die Bedingung, an die die zweite die Sanktion knüpft; und wenn die zweite positiv die Bedingung bestimmt, an die sie die Sanktion knüpft, ist die erste vom Standpunkt legislativer Technik überflüssig. (2. Beispiel; M.P.S.) Enthält z. B. ein Zivilgesetzbuch die Norm, daß ein Schuldner das empfangene Darlehen dem Gläubiger vertragsgemäß zurückzahlen soll, und die Norm, daß, wenn ein Schuldner dem Gläubiger das empfangene Darlehen nicht vertragsgemäß zurückzahlt, eine Zivilexekution auf Klage des Gläubigers in das Vermögen des Schuldner geführt werden soll, so ist alles, was die erste Norm bestimmt, in der zweiten negativ als Bedingung enthalten. (3. Beispiel; M.P.S.) Ein modernes Strafgesetz enthält zumeist gar keine Normen, in denen, so wie in den Zehn Geboten, Mord, Ehebruch und andere Delikte verboten werden, sondern beschränkt sich darauf, an bestimmte Tatbestände Strafsanktionen zu knüpfen. Hier zeigt sich deutlich, daß eine Norm ,Du sollst nicht morden‘ überflüssig ist, wenn eine Norm gilt: ,Wer mordet, soll bestraft werden‘; daß die Rechtsordnung ein bestimmtes Verhalten eben dadurch verbietet, daß sie an dieses Verhalten eine Sanktion knüpft, oder ein bestimmtes Verhalten gebietet, indem sie an das gegenteilige Verhalten eine Sanktion knüpft. (4. Beispiel; M.P.S.) Unselbständige Rechtsnormen sind auch jene, die ein bestimmtes Verhalten positiv erlauben. Denn sie schränken nur den Geltungsbereich einer Rechtsnorm ein, die dieses Verhalten dadurch verbietet, daß sie an das Gegenteil eine Sanktion knüpft.“ 30
Kelsen formuliert keine direkte Definition von selbständiger Norm. Weil er aber die Natur der unselbständigen Norm definiert, ist es möglich, aus dieser Definition eine Definition der selbständigen Norm abzuleiten. Eine unselbständige Norm charakterisiert Kelsen mit dem Satz: denn „sie bestimmt nur (. . .) die Bedingung, an die die zweite (Norm; M.P.S.) die Sanktion knüpft“. Als selbständige Norm ist dementsprechend die Norm zu verstehen, die die Bedingung einer 29 30
Kelsen, RR2 (1960), S. 112. Kelsen, RR2 (1960), S. 112–113.
C. Rechtsfolge, Sanktion und die Zwangsnatur des Rechts
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Sanktion (oder eines Zwangsaktes) und die bedingte Sanktion (als spezifische Art von Folge) miteinander verknüpft. Wie Kelsen schreibt, können unselbständige Normen Bedingung und Sanktion in einer negativen oder positiven Weise verknüpfen, denn einige der unselbständigen Normen verknüpfen eine Bedingung mit einer Folge, welche nicht direkt, sondern durch die Abwesenheit dieser Folge indirekt in einer anderen Norm erwähnt ist. Das geschieht nach Kelsen im erwähnten Beispiel, wenn eine Norm die Pflicht der vertragsmäßigen Zurückzahlung des Darlehens bestimmt und eine andere Norm die Abwesenheit dieser Zurückzahlung mit einer Zivilexekution verbindet. Diese Struktur bietet einen Grund, warum Harts Kritik Kelsens Auffassung nicht trifft. Hart versucht Kelsens Auffassung der Sanktion zu kritisieren, indem er eine Norm präsentiert, die eine Folge ohne Sanktionsnatur darstellt. Dazu kann mit Kelsen argumentieren werden, dass die von Hart erwähnte Norm eine unselbständige Norm ist, da sie keine Verknüpfung zwischen Bedingung und Sanktion (als spezifische Art von Folge) präsentiert, obwohl sie eine Verbindung zwischen Bedingung und Folge darstellt. Bei der von Hart dargestellten Norm enthält die Folge keine Sanktion, denn sie ist eine Folge, die möglicherweise (Harts Beispiel bietet diese Information nicht) als Bedingung in einer anderen Norm erwähnt ist, die eine Sanktion für den Fall der Nichtbezahlung der Steuern statuiert. Über die wesentliche Verknüpfung zwischen selbständiger Rechtsnorm und Zwangsakt bietet Kelsen am Ende der Sektion „Unselbständige Rechtsnormen“ die folgenden Bemerkungen an, welche die Beschreibungsfunktion des Rechtssatzes in seine Auffassung über die selbständige Rechtsnorm integriert: „Aus dem Gesagten ergibt sich, daß eine Rechtsordnung, obgleich keineswegs alle ihre Normen Zwangsakte statuieren, dennoch als Zwangsordnung insofern gekennzeichnet werden kann, als alle Normen, die nicht selbst einen Zwangsakt statuieren und daher nicht gebieten, sondern zur Setzung von Normen ermächtigen oder positiv erlauben, unselbständige Normen sind, da sie nur in Verbindung mit einer einen Zwangsakt statuierenden Norm gelten. Aber auch nicht alle einen Zwangsakt statuierenden Normen, sondern nur jene, die den Zwangsakt als Reaktion gegen ein bestimmtes menschliches Verhalten, und das heißt als Sanktion statuieren, gebieten ein bestimmtes, nämlich das gegenteilige Verhalten. (. . .) Da eine Rechtsordnung in dem eben bestimmten Sinne eine Zwangsordnung ist, kann sie in Sätzen beschrieben werden, die aussagen, daß unter bestimmten, und das heißt von der Rechtsordnung bestimmten, Bedingungen bestimmte, und das heißt von der Rechtsordnung bestimmte, Zwangsakte gesetzt werden sollen.“ 31
Über Rechtssätze sagt Kelsen also aus, dass sie die Rechtsordnung (also nicht nur individuelle und in vielen Fällen unselbständige Normen) beschreiben können, solange sie Bedingungen beschreiben, die mit Zwangsakten32 verknüpft Kelsen, RR2 (1960), S. 117–118 (Hervorhebung von mir: M.P.S.). Kelsen identifiziert zwei Arten von Zwangsakten, von welchen die Sanktion einer ist: „(Es) müssen zwei Arten von Zwangsakten unterschieden werden: Sanktionen, das 31 32
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Kap. 3: Beschreibung und Geltung der Normen
sind. In einem der wichtigsten Sätze des oben zitierten Texts erklärt Kelsen, dass unselbständige Normen „nur in Verbindung mit einer einen Zwangsakt statuierenden Norm gelten“. Einerseits ist anzuerkennen, dass die Notwendigkeit dieser Verbindung mit der Tatsache assoziiert werden muss, dass eine Rechtsnorm, die eine bestimmte Handlung oder Situation gebietet, ohne für die Nichtbefolgung eine Folge einzubinden, eigentlich nichts gebietet, sondern nur eine Möglichkeit erwähnt. Etwas rechtlich gebieten – die moralischen Gebote haben nach Kelsens Auffassung nicht immer diese Struktur33 –, bedeutet für Kelsen Möglichkeiten abzugrenzen, sodass die Alternativen, die in diesem Gebot nicht eingeschlossen sind, mit einem Zwangsakt als Sanktion verbunden sind. Andererseits bleibt bis jetzt jedoch undeutlich, was genau eine Sanktion ist, welches Ziel sie erfüllt und in welchem Sinn sie als eine Art von Zwang anzuerkennen ist. Das muss untersucht werden, denn nur durch das Begreifen der Natur der Sanktion kann verstanden werden, warum und wie Sanktionen die Wirksamkeit einer Rechtsordnung (ein wesentliches Element bei dem später behandelten Thema der Grundnorm) garantieren können. III. Sanktion und Zwangsnatur des Rechtes Kelsens Charakterisierung der Sanktion kann nicht als eindeutig betrachtet werden. In einigen Situationen wird die Sanktion als eine Art von Zwangsakt definiert34, der das Ziel erfüllen soll, „die Wirksamkeit, einer „Ordnung (d. h. Rechtsordnung; M.P.S.) zu garantieren“35. In anderen Fällen verbindet Kelsen sind Zwangsakte, die als Reaktion gegen eine von der Rechtsordnung bestimmte Handlung oder Unterlassung statuiert sind, wie z. B. die auf Diebstahl gesetzte Gefängnisstrafe; und Zwangsakte, die nicht diesen Charakter haben, wie z. B. die zwangsweise Internierung von Individuen, die mit einer gemeingefährlichen Krankheit behaftet sind (. . .), oder die zwangsweise Vernichtung oder Entziehung von Eigentum im öffentlichen Interesse. In diesen Fällen befindet sich unter den Bedingungen des von der Rechtsordnung statuierten Zwangsaktes keine von der Rechtsordnung bestimmte Handlung oder Unterlassung eines bestimmten Individuums.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 208–209. 33 Über den Unterschied zwischen Pflichten der Moral und des Rechtes schreibt Kelsen: „Sie (Rechtspflichten und Moralpflichten; M.P.S.) unterscheiden sich (. . .) dadurch, daß das Recht ein bestimmtes Verhalten in der Weise gebietet (und das bedeutet, zur Rechtspflicht macht), daß es unter der Bedingung des gegenteiligen Verhaltens eine Sanktion als gesollt setzt, während die Moral ein bestimmtes Verhalten gebietet und so zur Moralpflicht macht und sowohl an das normgemäße wie an das normwidrige Verhalten eine Sanktion knüpft.“ Kelsen, ATN (1979), S. 108. 34 In diesem Zusammenhang sind die zwei folgenden Behauptungen zu beachten: „Sanktionen, das sind Zwangsakte“. „Zwangsakte sind Akte, die auch gegen den Willen der davon Betroffenen und, im Falle von Widerstand, unter Anwendung von physischer Gewalt zu vollstrecken sind.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 208. Siehe ders., a. a. O., S. 117–118. 35 Kelsen, ATN (1979), S. 111. Die Bedeutung der Wirksamkeit erklärt Kelsen folgendermaßen: „Die Wirksamkeit einer normativen Ordnung besteht – üblicher Anschauung nach – darin, daß ihre Normen, die ein bestimmtes Verhalten gebieten, tatsächlich befolgt und wenn nicht befolgt angewendet werden.“ Ders., a. a. O., S. 111.
C. Rechtsfolge, Sanktion und die Zwangsnatur des Rechts
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die Sanktion mit dem Zweck, eine bestimmte Handlung zu vermeiden, bzw. ein bestimmtes Verhalten durchzusetzen. Dann betont er: „Unter einer in einer normativen Ordnung statuierten Sanktion versteht man ein bestimmtes Verhalten gegenüber einem Menschen, das im allgemeinen als ein Übel empfunden wird“ 36 und das „als Inhalt einer Rechtspflicht ein Verhalten nur dann angesehen werden kann, wenn das gegenteilige Verhalten als Bedingung eines Zwangsaktes normiert ist, der gegen den sich so verhaltenden Mensch (oder Angehörige desselben) gerichtet ist.“ 37 Nach dieser letzten Version der Definition von Sanktion scheint es, dass Kelsens Auffassung von einer anderen Kritik Harts getroffen werden könnte. Hart argumentiert, dass angesichts der von Kelsen vertretenen Vermeidung des Methodensynkretismus – die Vermengung von rechtlichen Elementen mit Elementen anderer Wissenschaften38 –, Kelsen keine Definition von Sanktion anbieten konnte, die „social facts“ 39 als wesentliches Element enthält.40 Kurz zusammengefasst können zwei Fragen an Kelsens Definition von Sanktion formuliert werden: Ist es nötig, ein nicht-normatives Element (eine „als ein Übel“ empfundene Rechtsfolge) zu berücksichtigen, um in der Rechtsordnung eine Sanktion bzw. eine Sanktionsnorm zu identifizieren? Ist die Durchführung der (in der selbständigen Norm bestimmten) Rechtsfolge nicht ausreichend, um die Bewahrung der Wirksamkeit der Rechtsordnung zu garantieren? Angesichts der Struktur einer selbständigen Norm kann behauptet werden, dass das Recht in dem spezifischen Sinn eine Zwangsordnung ist, dass das Recht Bedingungen und Folgen (die Zwangsnatur haben) miteinander verknüpft. Aber diese Behauptung ist nicht gleichbedeutend mit der Behauptung, dass das Recht eine Zwangsordnung ist, weil das Recht die Rechtsunterworfenen zwingt (unter
36
Kelsen, ATN (1979), S. 108. Kelsen, RR2 (1960), S. 105 (Hervorhebungen von mir: M.P.S.). 38 „In general the Pure Theory insists that the clarificatory task of a normative science of law be performed with elements drawn from the law itself, and care must be taken in defining or analysing legal concepts to avoid using moral, political or psychological elements which are not, in Kelsen’s words, ,parts of the legal material‘.“ Hart, Kelsen Visited, in: Paulson/Litschewski (Hrsg.), Normativity and Norms, S. 78. 39 „Kelsen certainly does insist that we must not bring into the definition of delict such elements as the supposed desire of the legislator, or the fact that the delictual conduct is socially harmful or against the purpose of the law: the juristic definition of delict must be ,based entirely upon the legal norm‘, and he considers his own definition of it to be so based. But this leaves much unexplained. Suppose that in fact the laws of a given system always contained (as Bentham wished) an explanatory statement that the actions to which the law attached criminal sanctions were regarded as social evils and that was why they were punished. Would the juristic definition of delict then rightly include a reference to such social facts?“ Hart, Kelsen Visited, in: Paulson/Litschewski (Hrsg.), Normativity and Norms, S. 79. 40 Darüber siehe Kelsen, RR2 (1960), S. 159. 37
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Kap. 3: Beschreibung und Geltung der Normen
Androhung von Sanktionen), Handlungen zu vermeiden, die in den Bedingungen der Zwangsakte beschrieben sind. Das Problem einer solchen Auffassung ist, dass sie die Struktur der Rechtsnorm nicht in Betracht zieht. Als Ausgangspunkt für diese Aussage ist zu beachten, dass zwei Arten von Zwangsnatur des Rechts und der Rechtsnormen zu unterscheiden sind. Es könnte behauptet werden, dass eine Rechtsordnung Zwangsnatur hat, da sie wirksam ist, weil (erste Alternative) Wirksamkeit bedeutet, dass entweder die in den (selbständigen) Normen beschriebenen Bedingungen nicht erfüllt sind, oder dass die Bedingungen und die Folgen erfüllt sind; oder weil (zweite Alternative) die Rechtsordnung Menschen zu einer bestimmten Handlung zwingt, sodass hier Wirksamkeit (als Ganzes oder hauptsächlich) bedeutet, dass die Normen beachtet, sodass die Sanktion nicht stattfindet, weil die Bedingungen dieser Sanktionen unerfüllt bleiben. Kelsens Auffassung der Sanktion ist mit seiner Auffassung von der Zwangsnatur des Rechtes verbunden, da – wie oben präsentiert – die Sanktion eine Art von Zwang konstituiert. Darüber hinaus muss berücksichtigt werden, dass nach einigen unten präsentierten Texten Kelsen nicht nur die Sanktion, sondern eine ganze Reihe von Zwangsnormen mit dem Ziel verbindet, Handlungen oder Situationen zu vermeiden. Das bedeutet, dass nach Kelsens Auffassung (angesichts dieser spezifischen Definition von Sanktion) die Rechtsordnung nur zu einem Verhalten verpflichtet, nur eine Handlung befiehlt. Konsequenterweise ist nach dieser Auffassung das Ziel der Rechtsnormen hauptsächlich, Handlungen zu vermeiden, und nur sekundär existiert das Ziel der Rechtsnormen, diese Handlungen mit Sanktionen zu verbinden.41 In der Allgemeine(n) Theorie der Normen hat Kelsen deutlich Wirksamkeit und Gehorsam im Sinne von effizienter Vermeidung von Handlungen identifiziert, als er über die Natur des Rechts als Zwangsordnung Folgendes schrieb: „Das Recht ist wesentlich Zwangsordnung. Es schreibt ein bestimmtes Verhalten in der Weise vor, daß es an das gegenteilige Verhalten des Gesollt-Sein(s) eine(n) Zwangsakt (. . .) als Folge knüpft.“ 42 Da Kelsen die Wirksamkeit des Rechts entsprechend der oben erwähnten zweiten Alternative (Wirksamkeit als einseitige Verwirklichung der Norm) versteht, sagt er, dass es „die Funktion der Norm ist, einen anderen etwas wollen zu lassen, seinen Willen zu bestimmen, und zwar so zu bestimmen, daß sein durch sein Wollen verursachtes äußeres Verhalten der Norm entspricht.“ 43 Nach dieser Auffassung wird die rechtliche Bestimmung des Verhaltens der Rechtsunterworfenen folgendermaßen definiert:
41 Siehe dazu den Text der Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, der in Fußnote 50 referiert ist. 42 Kelsen, ATN (1979), S. 18 (Hervorhebung von mir: M.P.S.). 43 Kelsen, ATN (1979), S. 131.
C. Rechtsfolge, Sanktion und die Zwangsnatur des Rechts
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„Wenn eine normative Ordnung Sanktionen statuiert, wird vorausgesetzt, daß der Wunsch, das für den Fall der Normverletzung statuierte Übel zu vermeiden, das für den Fall der Normbefolgung statuierte Wohl zu erlangen, ein Motiv normgemäßen Verhaltens ist. Im Falle einer Rechtsordnung kommt – sofern man zwischen sekundären und primären Rechtsnormen unterscheidet – der Wunsch in Betracht, das für den Fall der Verletzung der sekundären Norm in der primären Norm statuierten Übel – die Strafe oder zivile Exekution – zu vermeiden.“ 44
Angesichts der Aussagen in der Reine(n) Rechtslehre und in der Allgemeine(n) Theorie der Normen, bei denen Kelsen Sanktionen (und Übel) mit dem Ziel verbindet, Handlungen zu steuern, wo ein Übel als „Motiv (des; M.P.S.) normgemäßen Verhalten(s)“ zu sehen ist, scheint es unvermeidlich, zu behaupten45, dass nach Kelsens Auffassung die Sanktion mit dem Zweck assoziiert werden muss, Handlungen zu vermeiden. Konsequenterweise wird diese Perspektive Kelsens über die Folge als Element einer selbstständigen Norm bedeuten, dass die Folge eingeführt wird, um einen Steuerungszweck zu erfüllen, sodass die Wirksamkeit einer Norm bedeutet, dass diese Norm die Menschen tatsächlich zu bestimmten Handlungen zwingt, dass sie „die Funktion“ hat, „einen anderen etwas wollen zu lassen, seinen Willen zu bestimmen“ 46. Wie schon gezeigt hat Hart Kelsens Auffassung der Sanktion kritisiert, denn nach Harts Perspektive würde Kelsens Auffassung „social facts“ berücksichtigen, obwohl das angesichts des Ziels der Vermeidung des Methodensynkretismus inakzeptabel ist. Im Blick auf diese Diskussion sind zwei Aspekte von Kelsens Auffassung zu berücksichtigen. Erstens ist, wie oben gezeigt, in Kelsens Schriften keine einheitliche Auffassung der Natur der Sanktion zu finden, denn in einigen Textstellen verknüpft Kelsen die Sanktion mit einem Steuerungszweck, in anderen versteht er die Sanktion aber als eine Reaktion. Zweitens, obwohl diese zwei Auffassungen in Konflikt miteinander stehen, bleibt es möglich, eine Antwort auf Harts Kritik anzubieten.
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Kelsen, ATN (1979), S. 111–112. Gegen diese Interpretation ist zu bemerken, dass in einer Schrift, in der Kelsen einige Kritiken beantwortet, er eine andere Auffassung des Zweckes der Sanktion angeboten hat: „Meine Definition des Rechts ist: eine Zwangsordnung in dem Sinne, daß sie auf bestimmte für unerwünscht, weil als sozialschädlich angesehene Umstände, insbesondere menschliches Verhalten dieser Art, mit einem Zwangsakt, das heißt, mit einem Übel, wie Entziehung von Leben, Gesundheit, Freiheit, wirtschaftlichen und anderen Gütern reagiert, einem Übel, das dem davon Betroffenen auch gegen seinen Willen, wenn nötig unter Anwendung physischer Gewalt, also zwangsweise zuzufügen ist.“ Kelsen, Die Problematik der Reinen Rechtslehre, in: ÖZöR 18 (1968), S. 144. Anders als in der zweiten Auflage der Reine(n) Rechtslehre und in der Allgemeine(n) Theorie der Normen interpretiert Kelsen hier das Übel als Reaktion, d. h. dass nach diesem Text ein Übel nicht in einer Norm festgesetzt ist, um Handlungen zu vermeiden, um einen Steuerungszweck zu erfüllen, sondern als Antwort auf eine Handlung. 46 Kelsen, ATN (1979), S. 131. 45
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Kap. 3: Beschreibung und Geltung der Normen
Das Problem bei Harts Kritik ist, dass für ihn, wenn eine Norm so verstanden wird, als ob sie einen Steuerungszweck hätte, bekannt sein müsste, wie Menschen gesteuert werden können, es müssten Kenntnisse über die effektiv wirkenden Motive bestimmter menschlicher Handlungen vorliegen. Kelsens Auffassung der Sanktion (d. h. das Verständnis der Sanktion als ein Weg für die Vermeidung bestimmter Handlungen) benötigt diese Kenntnisse aber nicht. Es ist möglich, Sanktionen zu identifizieren, die erfolgreich sind, ohne zu wissen, warum sie erfolgreich sind. Wesentlich für die Identifikation einer erfolgreichen Sanktion (nach einer der Auffassungen der Rechtsfolge) in einer Rechtsordnung ist die Tatsache, dass sie im Großen und Ganzen nicht angewendet wird, dass die zu vermeidenden Handlungen tatsächlich vermieden werden, und nicht das Wissen, aus welchem Grund diese Handlungen vermieden werden – ob wegen der Sanktion oder aus einem anderen Grund. Eine gewisse Kenntnis über „social facts“ ist nötig, aber nur, um zu wissen, was tatsächlich passiert, ob eine Norm wirksam (in diesen Zusammenhang bedeutet die Wirksamkeit entweder die erfolgreiche Steuerung oder die Abwesenheit der Bedingung und der Folge, d. h. der Sanktion) ist. Die „social facts“, die Kelsen braucht, sind reine Beobachtungen, Beschreibungen von feststellbaren Tatsachen. Es muss erkennbar werden, ob die Bedingungen von selbständigen Normen nicht anwesend waren, oder ob die Anwesenheit dieser Bedingungen im Großen und Ganzen von der Anwesenheit der Rechtsfolge (immer ein Zwangsakt, in einigen Situationen eine Sanktion) begleitet war. Sogar wenn Kelsens Auffassung der Wirksamkeit eine ist, nach der Normen nur wirksam sind, wenn sie bestimmte Handlungen motivieren, braucht Kelsens Theorie nicht das Wissen, warum diese Normen Handlungen motivieren. Die Wirksamkeit ist (nach beiden Auffassungen) durch eine Was-Frage zu identifizieren und sie erfordert keine Antwort auf eine Wie-Frage. Es ist nur retrospektiv behauptbar, dass das Recht Handlungen gesteuert hat, Menschen motiviert hat. Hätte Kelsen für die Identifizierung der Rechtsnormen (und der Sanktionen) mehr als das verlangt, dann würde er die von Hart erwähnten Fehler des Methodensynkretismus begehen, weil eine solche Behauptung nur erforderlich ist, wenn es Gründe gibt, zu erklären, warum bestimmte Normen Menschen motivieren, und das ist anders, als zu behaupten, dass sie die Handlungen vermutlich – denn vielleicht waren diese Handlungen nicht von den Normen motiviert – motiviert haben, weil die Handlungen diesen Normen entsprechen. Anders als bei Harts Auffassung kritisiert Joseph Raz Kelsens Rechtstheorie mit dem Argument, dass Kelsen die Tendenz zeige, alle Handlungen, die das gültige Recht berücksichtigen, als moralische Handlungen anzusehen, so dass konsequenterweise diese Handlungen moralische Perspektiven repräsentieren würden. Dazu schreibt Raz: „Kelsen tends to identify all normative attitudes and beliefs as moral ones. Hart takes pain to explain that moral reasons are only one type of reason for accepting rules and for having the kind of practical attitude
C. Rechtsfolge, Sanktion und die Zwangsnatur des Rechts
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manifested in internal statements.“ 47 Gegen die Behauptung von Raz, nach welcher Kelsen „all normative attitudes and beliefs“ als „moral ones (moral attitudes; M.P.S.)“ identifiziert, sind zwei Texte zu berücksichtigen, in denen Kelsens Position zu diesem Thema ganz klar präsentiert wird: „Sofern die Rechtswissenschaft überhaupt die Frage zu beantworten hat, ob ein konkretes Verhalten rechtmäßig oder rechtswidrig ist, kann ihre Antwort nur eine Aussage darüber sein, ob dieses Verhalten in der von ihr zu beschreibenden Rechtsordnung geboten oder verboten, ermächtigt oder nicht ermächtigt, erlaubt oder nicht erlaubt ist, unabhängig davon, ob dieses Verhalten von dem Aussagenden für moralisch gut oder schlecht gehalten, gebilligt oder mißbilligt wird.“ 48 „Das Motiv, eine Norm zu befolgen oder anzuwenden, muß aber nicht die Furcht sein, das für die Nichtbefolgung oder Nichtanwendung statuierte Übel zu vermeiden oder das für den Fall der Befolgung statuierte Wohl zu erlangen. Normen können aus ganz anderen Motiven befolgt und angewendet werden. Und die tatsächlichen Motive sind in vielen Fällen gar nicht feststellbar. Tatsächlich wird eine Norm als befolgt oder angewendet angesehen ohne Rücksicht darauf, aus welchem Motiv das tatsächliche Verhalten erfolgt, das die Befolgung oder Anwendung der Norm darstellt.“ 49
Kelsens rechtstheoretische Auffassung hat keine moralische Natur, da nur Fakten, Handlungen berücksichtigt werden, und nicht die Gründe, die Motive für die Existenz dieser Fakten und Handlungen. Sogar wenn es nach einer der beiden von Kelsen dargestellten Konzeptionen tatsächlich die Rolle der Sanktion wäre, Menschen zu motivieren, vertritt Kelsen (berechtigterweise) weiterhin die Perspektive, dass das in einer Norm dargestellte Übel nur ein mögliches Motiv der Handlungen ist. IV. Die Auffassung der Rechtsfolge angesichts der Wirksamkeit und der Bedeutung der Geltung Das Wichtige bei der Diskussion über die Kritiken von Hart und Raz ist, dass aufgrund der zwei unterschiedlichen Auffassungen von Rechtsfolge (so wie von Zwang und Sanktion) zwei Auffassungen der Geltung und der Wirksamkeit vorliegen. Weil sogar Kelsen selbst anerkennt, dass das Motiv für ein normentsprechendes Verhalten ein anderes sein kann als die Vermeidung des in der Norm statuierten Übels, scheint es so zu sein, dass eine seiner Auffassungen über die Rechtsfolge überflüssig ist. Auch wenn Kelsen in einigen Situationen die Rechtsfolge mit dem Ziel verbindet, bestimmte Handlungen zu vermeiden, erlaubt er angesichts anderen Behauptungen, nicht nur über die Rechtsfolge, sondern auch 47 Raz, The Purity of the Pure Theory, in: Paulson/Litschewski (Hrsg.), Normativity and Norms, S. 248. 48 Kelsen, RR2 (1960), S. 159. Zu Kelsens Ablehnung der Anerkennungstheorie als Begründungsweg der Geltung, siehe: ders., a. a. O., S. 394, Fn. 49 Kelsen, ATN (1979), S. 112. Eine ähnliche Behauptung ist in der Reine(n) Rechtslehre zu finden. Siehe ders., RR1 (1934), S. 43–44.
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Kap. 3: Beschreibung und Geltung der Normen
über die Motivation den Eindruck, dass es eigentlich das Wichtigste wäre, wenn die Rechtsfolge mit der Durchsetzung eines Zwangsaktes verbunden würde, auch wenn er in einigen Situationen anderes behauptet hat. In Einklang mit dieser Auffassung ist eine seiner Aussagen zu berücksichtigen, die in einem anderen Kontext formuliert wurde, aber trotzdem für diese Diskussion relevant scheint: „Die hier dargelegte Konstruktion, derzufolge jeder Rechtssatz (hier im Sinne von Rechtsnorm; M.P.S.) Pflichten des Staates statuiert und die Pflichten der übrigen Subjekte nur sekundär begriffen werden, indem die Verpflichtung dieser Subjekte nicht als wesentliches Moment jedes Rechtssatzes, sondern nur als Eigenschaft bestimmter Rechtssätze erkannt wird, wobei diese besondere Eigenschaft aus dem spezifischen Inhalte des im Rechtssatze ausgedrückten staatlichen Willens hervorgeht – diese Konstruktion bringt die Überzeugung von der staatlichen Natur alles Rechtes zum Ausdruck.“ 50
Nach dieser Auffassung gebieten die Rechtsnormen primär dem Staat (sowie den Individuen, die in seinem Namen handeln) die Pflichten (oder Rechtsfolgen), die in Normen beschriebenen Handlungen oder Unterlassungen vorzunehmen. Angesichts des oben zitierten Textes ist es aber nicht möglich, eine einheitliche Konzeption der Rechtsfolge bei Kelsen festzustellen. Einerseits behauptet Kelsen, dass Rechtsnormen das Ziel haben, menschliche Handlungen durch Androhung von Übeln zu steuern, anderseits hebt er hervor, dass das Wichtigste ist, dass die zu vermeidenden Handlungen vermieden werden, und dass die Motive dieser Vermeidung nicht wichtig sind, sodass die Normen auch gültig sind, wenn ihre Bedingungen von den enthaltenen Folgen begleitet sind. Diese Problematik wurde schon von Eugenio Bulygin behandelt, obwohl nicht direkt im Blick auf die Definition von Rechtsfolge, sondern mit Bezug auf eine Frage über die Natur der Geltung. Bulygin identifiziert drei Bedeutungen für Geltung in Kelsens Rechtstheorie: „Geltung als spezifische Existenz der Norm“ 51, „Geltung als Zugehörigkeit“ 52 und „Geltung als Verbindlichkeit“ 53. Nach dem 50 Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre: Entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze (1911), in: HKW, Bd. II, S. 371. 51 Bulygin, Das Problem der Geltung bei Kelsen, in: Paulson/Stolleis (Hrsg.), Hans Kelsen. Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, S. 82, Fn. 6. 52 Dazu schreibt Bulygin: „Die Behauptung, daß eine bestimmte Norm zu einem bestimmten Rechtssystem gehört, ist dagegen eine deskriptive Aussage, die wahr oder falsch ist, je nachdem ob dieses System die betreffende Norm enthält oder nicht. Geltung verstanden als Zugehörigkeit ist also ein deskriptiver Geltungsbegriff. Außerdem handelt es sich offenbar um einen relativen Begriff, er beschreibt eine Relation oder Beziehung zwischen einer Norm und einem bestimmten Rechtssystem.“ Bulygin, Das Problem der Geltung bei Kelsen, in: Paulson/Stolleis (Hrsg.), Hans Kelsen. Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, S. 82. 53 „Geltung als Verbindlichkeit besagt, daß es obligatorisch ist, sich der Norm gemäß zu verhalten.“ Bulygin, Das Problem der Geltung bei Kelsen, in: Paulson/Stolleis (Hrsg.), Hans Kelsen. Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, S. 82. „Eine Norm ist verbindlich, wenn man sich der Norm gemäß verhalten soll.“ Ders., a. a. O., S. 87.
C. Rechtsfolge, Sanktion und die Zwangsnatur des Rechts
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Zitieren eines Textes von Kelsen54 behauptet Bulygin, dass „die Rechtswissenschaft nicht mehr eine wertfreie Beschreibung des positiven Rechts (ist; M.P.S.), sondern eine Form der politischen Ideologie“ 55, und danach engagiert sich Bulygin in einer Art Verteidigung von Kelsens Rechtstheorie („gegen Kelsen selbst“ 56) durch den Vorschlag, Geltung als Verbindlichkeit durch Geltung als Anwendbarkeit zu ersetzen57. Über die Kelsensche Auffassung der Geltung als Verbindlichkeit behauptet Bulygin, dass in dieser Auffassung ein Dilemma zu identifizieren sei: „Wir stehen also vor einem Dilemma: Entweder ist die Behauptung ,Rechtsnormen sind verbindlich‘ inhaltsleer. Denn wenn mit Verbindlichkeit die Rechtspflicht gemeint ist, dann ist sie überflüssig, da es keinen Sinn hat vorzuschreiben, daß man tun soll, was man ohnehin tun soll. Oder es handelt sich bei der Verbindlichkeit um eine moralische Pflicht, was mit dem Kelsenschen Positivismus unvereinbar ist. Denn wenn man moralisch verpflichtet ist(,) die Rechtsnormen zu befolgen, dann ist jede bestehende Rechtsordnung moralisch richtig oder gerecht.“ 58
Die von Bulygin empfohlene Lösung operiert mit der Betrachtung der Anwendbarkeit als eine Art Ersatz für die Kelsenschen Verbindlichkeit. Und dazu schreibt er Folgendes: „Die Verbindlichkeit kann aber auch als eine rein rechtliche Pflicht gedeutet werden. (. . .) Eine bestimmte Norm ist anwendbar, wenn eine positive Rechtsnorm (,Anwendungsnorm‘) den Richter verpflichtet oder ermächtigt(,) diese bestimmte Norm auf einen Fall anzuwenden.“ 59 54 Dies ist der von Bulygin zitierte Text: „Daß eine sich auf das Verhalten eines Menschen beziehende Norm ,gilt‘, bedeutet, daß sie verbindlich ist, daß sich der Mensch in der von der Norm bestimmten Weise verhalten soll.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 346. Zitiert von Bulygin: siehe Bulygin, Das Problem der Geltung bei Kelsen, in: Paulson/Stolleis (Hrsg.), Hans Kelsen. Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, S. 81. In diesem Text von Kelsen wird nicht klar, ob er tatsächlich Geltung mit der Erfüllung eines Steuerungszwecks assoziieren wollte, aber die oben zitierten Texte, wo Kelsen die Idee des Übels behandelt hat, scheinen ausreichend zu sein, um Bulygins Kritik zu rechtfertigen. 55 Bulygin, Das Problem der Geltung bei Kelsen, in: Paulson/Stolleis (Hrsg.), Hans Kelsen. Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, S. 81. 56 Bulygin, Das Problem der Geltung bei Kelsen, in: Paulson/Stolleis (Hrsg.), Hans Kelsen. Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, S. 81. 57 Bulygin, Das Problem der Geltung bei Kelsen, in: Paulson/Stolleis (Hrsg.), Hans Kelsen. Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, S. 88. Bulygin erklärt den Begriff „Anwendbarkeit“ folgendermaßen: „Eine Norm ist anwendbar, wenn der Richter verpflichtet ist, sie auf einen bestimmten Fall anzuwenden. Diese Pflicht wird von positiven Rechtsnormen instituiert, die ich als ,Anwendungsnormen‘ bezeichne. Der Begriff der Anwendbarkeit ist wie der der Verbindlichkeit normativ; es besteht jedoch, wie wir sofort sehen werden, ein großer Unterschied zwischen den beiden Begriffen.“ Ders., a. a. O., S. 88–89. 58 Bulygin, Das Problem der Geltung bei Kelsen, in: Paulson/Stolleis (Hrsg.), Hans Kelsen. Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, S. 87. 59 Bulygin, Das Problem der Geltung bei Kelsen, in: Paulson/Stolleis (Hrsg.), Hans Kelsen. Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, S. 95. Zur Bedeutung der „Anwendungsnorm“ schreibt Bulygin: „Es handelt sich um eine positive
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Kap. 3: Beschreibung und Geltung der Normen
Hier scheint es angemessen zu beachten, dass es nicht um Kritik an Bulygins Lösung geht, sondern nur um die Hervorhebung, dass sie in Einklang mit einer alten Auffassung der Geltung bei Kelsen steht (siehe Hauptprobleme der Staatsrechtslehre). Es handelt sich in diesem Zusammenhang um die Idee, dass die Geltung (von selbständigen Normen) „primär“ Pflichten für die Staatsbeamten bedeutet, nicht für die Rechtsunterworfenen. Darüber hinaus kann hervorgehoben werden, dass auch in späteren Werken Kelsen diese Auffassung zum Teil vertreten hat, da er niemals über die Motive der Handlungen gesprochen hat. Man kann die Problematik der Definition der Geltung bei Kelsen nicht ignorieren, denn es ist notwendig, eine Definition von Geltung zu haben, um das unten behandelte Thema der Grundnorm untersuchen zu können. Nach Kelsens Auffassung ist die Geltung der Normen von der Wirksamkeit dieser Normen abhängig60, wenn nicht für das Zustandekommen als gültige Normen, so zumindest für das Weiterbestehen als gültige Normen. Eine Folge dieses Zusammenhangs zwischen Geltung und Wirksamkeit ist die Notwendigkeit der Erklärung der Bedeutung der Wirksamkeit, da die Existenz der Wirksamkeit eine (unmittelbare oder nach Ablauf eines Zeitraumes mittelbare) Bedingung der Existenz der Geltung ist. Konsequenterweise muss zuerst geklärt werden, was es für eine Norm bedeutet, gültig zu sein, um überprüfen zu können, ob diese Norm wirksam ist, ob das von ihr vorgeschriebene Sollen in der Realität beachtet ist. Ohne klarzustellen, was Geltung bedeutet, kann es passieren, dass nach einer Auffassung der Geltung eine Norm wirksam, sie aber nach einer anderen Auffassung als unwirksam zu betrachten ist. Das kann z. B. vorkommen, wenn die Geltung mit einem „einseitigen“ Steuerungszweck des Rechts (d. h. als Vermeidung der Situation, die in dem Tatbestand beschrieben ist) verbunden ist und in der Realität beobachtet wird, dass der Tatbestand und die Rechtsfolge, die diese Norm vorgeschrieben hat, gegeben sind. Angesichts der Vertretbarkeit der (zum Teil von Kelsen selbst verwendeten) Auffassung der Geltung als Anwendbarkeit (in Bulygins Terminologie) und weil bei dieser Interpretation der Geltung keine Gefahr besteht, den Fehler des Methodensynkretismus zu begehen, wird die vorliegende Untersuchung die Notionen von Geltung und Wirksamkeit in Verbindung mit der Geltung als Anwendbarkeit betrachten. Das bedeutet, dass die Rechtsfolge einer selbstständigen Norm so in-
Rechtsnorm und die von ihr instituierte Pflicht ist eine rechtliche, keine moralische Pflicht. Diese Pflicht ist auch nicht überflüssig (. . .), denn sie fällt nicht mit den durch andere Normen des Strafgesetzbuchs auferlegten Pflichten zusammen. Das Strafgesetzbuch verpflichtet den Richter dazu, den Angeklagten zu einer bestimmten Strafe zu verurteilen; die Anwendungsnormen bestimmen, welche von den Strafrechtsnormen anzuwenden ist. Der Richter muß zwischen verschiedenen Normen wählen. Dazu braucht er bestimmte Kriterien. Die Anwendungsnormen liefen solche Kriterien.“ Ders., a. a. O., S. 89–90. 60 Siehe Kelsen, RR2 (1960), S. 382–385.
C. Rechtsfolge, Sanktion und die Zwangsnatur des Rechts
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terpretiert werden muss, dass sie für die Rechtsorgane (als Individuen oder Gruppen, die im Namen des Staates handeln) Pflichten, Gebote statuiert, wenn die in derselben selbständigen Norm enthaltene Bedingung erfüllt ist. Bezüglich der Verbindung zwischen Rechtsfolge, Geltung und Wirksamkeit ist es nötig zu erklären: Diese Verbindung existiert als Konsequenz aus der Tatsache, dass die Wirksamkeit einer Norm mit der Geltung dieser Norm verbunden ist. Eine Rechtsnorm existiert als gültige Rechtsnorm (und nicht nur als ein Normtext, der vielleicht irgendwann Bestandteil einer Rechtsordnung war), weil das von ihr beschriebene Verhältnis zwischen Tatbestand (Rechtsbedingung) und Rechtsfolge existiert. Deswegen kann die Existenz dieses Verhältnisses durch zwei Tatsachen bewiesen werden: Entweder ist die Rechtsbedingung (im Großen und Ganzen) von der Rechtsfolge begleitet oder beide sind abwesend. Weil die Wirksamkeit mit der Beachtung der Rechtsnormen verbunden ist und die Beachtung dieser Rechtsnormen eine der beiden oben erwähnten Alternativen umfasst, ist das Ergebnis dieser Zusammenhänge, dass Rechtsfolge, Geltung und Wirksamkeit in Verhältnis miteinander stehen, sodass die Beschreibung der drei Begriffe dieses Verhältnis beachten muss. Angesichts dieser Definition von Wirksamkeit kann nicht behauptet werden, dass das Recht einen sozusagen „einseitigen“ Steuerungszweck erfüllt. Das Recht kann also nur einen „doppelseitigen“ Steuerungszweck erfüllen: Entweder zwingt das Recht die Menschen zu einer Handlung oder Unterlassung oder es zwingt diese Menschen, die Folge(n) dieser Handlung oder Unterlassung zu erleben. Das Ziel der Rechtserkenntnis ist, „ihren Gegenstand“, die Normen und die von Normen bestimmten Geschehen, „als sinnvolles Ganze(s) zu begreifen und in widerspruchslosen Sätzen zu beschreiben“ 61. Diese Beschreibung erfolgt durch Rechtssätze, die anhand der Rechtsnormen formuliert sind, sodass es zur Durchführung dieser Beschreibung notwendig ist, klarzustellen, was es für eine Norm bedeutet, gültig oder wirksam zu sein, denn nur durch das Verständnis der Bedeutung von Geltung und Wirksamkeit können Normen begriffen und beschrieben werden. Die Kelsensche schwebende Auffassung des Rechts als „doppelseitiger“ Steuerungszweck bietet einen Weg, um eine Theorie der Rechtserkenntnis zu vertreten, ohne den Fehler des Methodensynkretismus zu begehen. Aus diesem Grund ist die „doppelseitige“ Auffassung des Rechts und der verbundenen Begriffe Geltung und Wirksamkeit anzunehmen.
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Kelsen, RR2 (1960), S. 369.
Kapitel 4
Ursprung und Begründung der Geltung der Normen In Kelsens Rechtstheorie wird die Begründung der Geltung der Rechtsnormen durch die Lehre vom Stufenbau in Verbindung mit der Annahnme der Grundnorm (als letzte Quelle der Geltung) erklärt. Nach seiner Auffassung werden die gültigen Normen in eine Kette eingebunden, sodass die gültigen Normen mit anderen gültigen Normen verbunden und in ein System eingegliedert werden. Nach dieser Perspektive reguliert das Recht seine eigene Erzeugung1, d. h. die erzeugten Normen sind als gültige Normen zu verstehen, weil ein positivrechtlicher Grund existiert, um die neu erzeugten Normen als durch die Anwendung von gültigen Normen erzeugte Normen verstehen zu können. Neben diesem Aspekt der Stufenbaulehre, der in der überwiegenden Mehrheit der Fälle die Geltung der Normen problemlos begründet, sind andere Elemente zu berücksichtigen. Für eine vollständige Darstellung und Begründung der Rechtserkenntnis reicht die Erklärung nicht, dass Normen in der Regel (d. h. angesichts der allgemeinen Idee, dass das Recht seine eigene Erzeugung normiert) gültig sind, denn es muss auch explizit dargelegt werden, ob und unter welchen Bedingungen Rechtserkenntnis entstehen kann, wenn Ausnahmen zu finden sind, d. h. wenn entweder Normen erzeugt wurden, obwohl der positivrechtlich gegebene Erzeugungsspielraum nicht beachtet wurde, oder wenn Normenkonflikte stattfinden, denn ausschließlich aufgrund des anzuwendenden Rechts ist in diesen beiden Fällen nicht klar, welche Phänomene als Rechtsphänomene verstanden werden können. Im Folgenden wird argumentiert, dass die Geltung einer Norm nicht immer mit der Tatsache identisch ist, dass diese Norm in einer absolut normangemessenen Weise erzeugt wurde2. Wegen der Existenz der alternativen Ermächtigung können einige Normen gültig sein, auch wenn sie normwidrig sind, wie beispielsweise Gerichtsentscheidungen, die zwar nicht in den Rahmen der durch generelle Normen festgestellten Grenzen eingeordnet werden können, aber trotz der ÜberSiehe Kelsen, RR2 (1960), S. 140. Ist die alternative Ermächtigung positiviert, dann ist jede Norm, die wegen dieser positiven alternativen Ermächtigung gültig ist, in gewissem Sinn normgemäß, relativ normgemäß. Sie ist es aber nur dank dieser speziellen Form von Normangemessenheit und nicht weil der Inhalt der durch die alternative Ermächtigung erzeugten Norm der Folge entspricht, die angesichts der für den Fall anzuwendenden Norm berücksichtigt werden muss. Die Anwendung der Begriffe „normgemäß“ und „normwidrig“ wird in diesem Kapitel in Abschnitt B ausführlich behandelt. 1 2
Kap. 4: Ursprung und Begründung der Geltung der Normen
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schreitung der zugeschriebenen Ermächtigung als gültige Normen zu betrachten sind. Die Untersuchung der Rechtserkenntnis muss diese Unterscheidung zwischen Geltung und absoluter Normangemessenheit berücksichtigen, denn es ist in der Tat eine Eigenschaft des Rechts, nicht nur absolut normgemäße, sondern – in seltenen Ausnahmefällen – auch Einzelne normwidrige (aber nicht rechtsordnungswidrige) Normen enthalten zu können. Dazu ist zu bemerken: Es handelt sich hier nicht nur um die Anerkennung dieser Unterscheidung, sondern hauptsächlich um die Behandlung von Problemen im Hinblick auf die Vertretung einer positivistischen Auffassung des Rechts – also um die Behandlung von Problemen, die rechtsgültige, aber normwidrige Normen verursachen können3. Die Identifizierung der Grenzen der Rechtmäßigkeit (absolut normgemäß verstanden) ermöglicht keine sichere Vorhersage über die zukünftigen Handlungen von Autoritäten, die Entscheidungen auf der Basis von generellen Normen treffen sollen, da wegen der Mehrdeutigkeit des anzuwendendes Rechts (genauer: der anzuwendenden Normtexte), aber auch wegen der Existenz der alternativen Ermächtigung die Möglichkeit dieser Art von Vorhersagen begrenzt ist. Trotzdem bleibt die Identifizierung der Grenzen der Rechtmäßigkeit aus drei Gründen für die Erkenntnis von einigen Arten von Phänomenen relevant, die eine rechtliche Natur haben. 1. Individuelle Normen, die von Privatpersonen erzeugt sind, sind nur als gültige Normen zu beachten, wenn sie absolut normgemäß sind. 2. Handlungen von Staatsbeamten, die nicht als Rechtserzeugung, sondern nur als Rechtsanwendung von gültigen Normen zu interpretieren sind, sind nur als Handlungen von Staatsbeamten (und nicht als Handlungen von Privatpersonen) zu verstehen, wenn sie vollständig im Rahmen der anzuwenden Normen liegen. 3. Da – entsprechend dem Verständnis der Grundnorm – generelle Normen wegen Unwirksamkeit ihre Geltung verlieren können, muss die Überprüfung der Wirksamkeit dieser Normen durch die Berücksichtigung der Bedeutung dieser Normen erfolgen, was durch die Überprüfung der Wirksamkeit der in generellen Normen gesetzten normgemäßen Bestimmungen geschieht. Angesichts der oben erwähnten Aspekte der Rechtsphänomene werden in der Folge die kelsenschen Lehren der Grundnorm, der alternativen Ermächtigung und des Stufenbaus analysiert (bei der Behandlung dieses Themas werden auch die Problematiken der Derogation und der Normenkonflikte diskutiert). Zuerst wird durch die Analyse der Lehre der Grundnorm gezeigt, dass alle gültigen Normen ihre Geltung letztendlich einer Grundnorm verdanken, dass sie aber wegen Unwirksamkeit ihre Geltung verlieren können. Danach wird anhand der Darstellung der Lehre der alternativen Ermächtigung argumentiert, dass gültige Normen 3 Zwei der Probleme, die in diesem Kapitel behandelt werden, sind die notwendige Verfeinerung des Verständnisses der Begrenzung der Anwendung der Stufenbaulehre für die Darstellung der Rechtsphänomene sowie der Umgang mit der Existenz von Normenkonflikten.
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Kap. 4: Ursprung und Begründung der Geltung der Normen
nicht nur durch die Anwendung von gültigen Normen und aufgrund der Beachtung der Grenzen des absolut normgemäßen Zustandekommens dieser Normen verändert werden können, sondern auch (in einigen Fällen) ohne Berücksichtigung dieser Grenze, da für einige Arten von Normen die Möglichkeit existiert, trotzt Nichtbeachtung der erwähnten Grenzen als gültige Normen erzeugt zu werden. In diesem Zusammenhang wird die Auffassung dargestellt, dass die alternative Ermächtigung in der Rechtsordnung nicht immer positiviert ist, dass aber in einigen Fällen, wo das nicht der Fall ist, das Voraussetzen der alternativen Ermächtigung unvermeidlich ist. Zum Schluss wird die Lehre von der Rechtsordnung als Stufenordnung präsentiert und es werden die Hauptprobleme dieser Auffassung diskutiert. In diesem Kontext werden die wesentlichen Argumente von Adolf Julius Merkls Theorie der Rechtsordnung als Stufenordnung (oder als Stufenordnungen) dargestellt und kritisch behandelt. Dann werden die Rolle und die Grenzen der Stufenbaulehre für die Erklärung der Rechtserkenntnis analysiert, hauptsächlich angesichts der Probleme, die durch die Ausübung der alternativen Ermächtigung und die Existenz von Normenkonflikten verursacht werden können.
A. Die Grundnorm und die Identifikation der gültigen Rechtsordnung Wie schon argumentiert (siehe Kapitel 1 Abschnitt C), hat Kelsens Lehre von der Grundnorm das Ziel, die für die Rechtserkenntnis relevante Rechtsordnung von anderen möglichen Rechtsordnungen zu unterscheiden. Die Identifikation der Rechtsordnung, die die Rechtserkenntnis ermöglicht, also der gültigen Rechtsordnung, operiert mit der Grundnorm, da alle möglichen Rechtsordnungen als letzte Norm eine Grundnorm haben, die behauptet, dass, wenn die direkt unter ihr stehenden Normen wirksame Normen sind, diese Normen dann gültige Normen sind4. Diese Normen, die direkt unter der Grundnorm stehen, sind die Normen, die die Verfassung im materiellen Sinn konstituieren, und als Verfassung in materiellen Sinn meint Kelsen „die positive Norm oder die positiven Normen (. . .), durch die die Erzeugung der generellen Rechtsnormen geregelt wird.“ 5 Die Verfassungsnormen sind die ursprünglichen gültigen Normen, die angewendet werden, um andere gültige Normen zu erzeugen. Sie sind die ersten positiven Normen, sie sind die einzigen gültigen Normen, die nicht durch Anwendung anderer gültiger Normen erzeugt werden, sondern sie sind als gültige Normen zu betrachten, da die Grundnorm diesen Normen Geltung zuschreibt, wenn und solange sie wirksame Normen6 sind. Aufgrund dieser Idee behauptet Kelsen, RR2 (1960), S. 383–384. Kelsen, RR2 (1960), S. 399. 6 Hier und im Folgenden wird über die Wirksamkeit der Normen unter der früher behandelten Annahme gesprochen, dass eine Norm wirksam ist, solange der Tatbestand, den sie enthält, nicht anwesend ist, oder weil der Tatbestand und die Folge, die sie ent4 5
A. Die Grundnorm und die Identifikation der gültigen Rechtsordnung
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Kelsen, dass der Grund der Geltung der Normen nicht in der Wirksamkeit dieser Normen zu finden ist, sondern in der Annahme der Grundnorm, die behauptet, dass die Wirksamkeit der Normen, zusammen mit der Setzung dieser Normen (hier ist die von Kelsen vertretene Notwendigkeit der Beachtung des Grundsatzes der Positivität zu identifizieren), die Geltung dieser Normen begründet7. I. Die Grundnorm und die Zusammenhänge zwischen Geltung und Wirksamkeit Die Normen, die im materiellen Sinne die Verfassung bilden, können auf drei unterschiedliche Weisen konstituiert werden: durch positive Setzung von Normen, durch Gewohnheitsrecht oder durch eine Kombination von gesetzten und Gewohnheitsnormen8. Wesentlich ist in allen drei Fällen die Tatsache, dass diese Normen wirksam sein müssen. Keine der Normen, die im materiellen Sinne die Verfassung integrieren, kann eine Norm sein, die nicht wirksam ist. Das bedeutet, dass die Normen, die in materiellem Sinn die Verfassung konstituieren, sowie die Normen, die auch Teil der Verfassung werden, erst wirksam sein müssen, bevor sie als gültige Normen mit Verfassungsrang betrachtet werden können9. Dazu ist zu bemerken – wie weiter unten ausführlicher behandelt –, dass diese Normen nur als gültige Normen betrachtet werden können, solange sie wirksame Normen sind und bleiben. Anders ist der Zusammenhang zwischen Wirksamkeit und Geltung bei den Normen, die unterhalb der Stufe der materiellen Verfassung liegen. Bei diesen hält, anwesend sind. Die Problematik bezüglich der Bedeutung der Geltung bei Kelsen angesichts der Elemente Tatbestand und Folge wurde schon in Kapitel 3 Abschnitt C Unterabschnitt IV behandelt. 7 „Grund der Geltung, das ist die Antwort auf die Frage, warum die Normen dieser Rechtsordnung befolgt und angewendet werden sollen, ist die vorausgesetzte Grundnorm, derzufolge man einer tatsächlich gesetzten, im großen und ganzen wirksamen Verfassung und daher den gemäß dieser Verfassung tatsächlich gesetzten, im großen und ganzen wirksamen Normen entsprechen soll. Setzung und Wirksamkeit sind in der Grundnorm zur Bedingung der Geltung gemacht.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 383–384. 8 „Diese (materielle; M.P.S.) Verfassung kann im Wege der Gewohnheit oder durch einen darauf gerichteten Akt eines oder mehrerer Individuen, das ist durch einen Gesetzgebungsakt, erzeugt werden. Da sie im zweiten Falle stets in einem Dokument niedergelegt wird, spricht man von einer ,geschriebenen‘, zum Unterschied von einer ungeschriebenen, durch Gewohnheit erzeugten Verfassung. Die materielle Verfassung kann auch teils aus Normen geschriebenen, teils aus Normen ungeschriebenen, gewohnheitlich erzeugten Rechtes bestehen.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 399–400. 9 „In dem die Geltung einer Rechtsordnung begründenden normativen Syllogismus bildet der die Grundnorm aussagende Soll-Satz: Man soll sich der tatsächlich gesetzten und wirksamen Verfassung gemäß verhalten, den Obersatz; der die Tatsache aussagende Seins-Satz: die Verfassung wurde tatsächlich gesetzt und ist wirksam, das heißt: die ihr gemäß gesetzten Normen werden in großen und ganzen angewendet und befolgt, den Untersatz; und der Soll-Satz: man soll sich der Rechtsordnung gemäß verhalten, das heißt: die Rechtsordnung gilt, den Schlußsatz.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 384.
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Kap. 4: Ursprung und Begründung der Geltung der Normen
Normen ist im ersten Moment ihre Geltung die Regel, sodass sie gültig sind – das ist etwas anderes als zu behaupten, dass sie gültig bleiben werden –, solange sie durch die Anwendung von gültigen Normen erzeugt sind. Die Normen, die direkt unterhalb der Normen der materiellen Verfassung liegen, verdanken ihre Geltung den Verfassungsnormen, denn sie sind durch die Anwendung der Verfassungsnormen erzeugt. Und die erzeugten Normen, die mittelbar unterhalb den Normen der materiellen Verfassung stehen, d. h. die Normen, die durch Anwendung von Normen erzeugt sind, die nicht Normen der materiellen Verfassung sind, verdanken ihre Geltung unmittelbar den gültigen Unterverfassungsnormen, denn sie sind durch die Anwendung von Verfassungsnormen und Unterverfassungsnormen erzeugt. Die Normen, die mittel- oder unmittelbar durch die Anwendung der Verfassungsnormen erzeugt sind, sind ab dem ersten Moment ihrer Erzeugung gültig, sofern sie im Rahmen der anzuwendenden Normen erzeugt sind, sofern sie normgemäße Normen sind10. Das Zustandekommen dieser Normen ist von der Beachtung des Grundsatzes der Normativität abhängig11, aber nicht von der Wirksamkeit. Das bedeutet, dass Unterverfassungsnormen ab dem Moment ihrer Erzeugung als gültige Normen zu betrachten sind. Das bedeutet aber nicht, dass diese Normen gültig bleiben werden, nur weil sie durch die Anwendung von gültigen Normen erzeugt wurden12. Kelsens Lehre von der Grundnorm umfasst nicht nur die Behauptung, dass die Normen der materiellen Verfassung gültig sind, weil sie wirksam sind, sondern auch die Auffassung, dass die Unterverfassungsnormen gültig bleiben, solange sie nach einer gewissen Zeit nach ihrer Erzeugung immer noch wirksam sind13. Die Wirksamkeit – sowie die Grundnorm, die die Verhältnisse der Wirksamkeit mit der Geltung begründet – wird die gültigen Normen und die wirksamen Normen auf zwei unterschiedliche Weisen miteinander ver10 Ein weiteres Problem besteht in der Erklärung der Geltung der Normen, die durch die alternative Ermächtigung, d. h. außerhalb des Rechtserzeugungsspielraums der zitierten Ermächtigung erzeugt sind. 11 Die Gewohnheit kann nach Kelsens Auffassung die Quelle von Normen der materiellen Verfassung, als auch von Unterverfassungsnormen sein. Ist die Gewohnheit die Quelle einer Unterverfassungsnorm, dann muss die Rechtsordnung die Gewohnheit als gültige Quelle von Normen erst identifiziert haben. Nur so können Unterverfassungsnormen mit gewohnheitsrechtlicher Natur gültig werden. Siehe Kapitel 4 Abschnitt C Unterabschnitt V 2. 12 „die Wirksamkeit der Rechtsordnung als Ganzes und die Wirksamkeit einer einzelnen Rechtsnorm sind – ebenso wie der Normsetzungsakt – Bedingung der Geltung, und zwar Wirksamkeit in dem Sinne Bedingung, daß eine Rechtsordnung als Ganzes und eine einzelne Rechtsnorm nicht mehr als gültig angesehen werden, wenn sie aufhören wirksam zu sein.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 383. 13 Diese Bemerkungen über das Verhältnis zwischen Geltung und Wirksamkeit – nicht nur von Verfassungsnormen, sondern auch von Unterverfassungsnormen –, sind erst in der zweiten Auflage der Reine(n) Rechtslehre zu finden, wie Jestaedt nachgewiesen hat. Siehe Jestaedt, Ein Klassiker der Rechtstheorie. Die „Reine Rechtslehre“ aus dem Jahre 1960, in: Kelsen, RR2 (1960), S. LVI.
A. Die Grundnorm und die Identifikation der gültigen Rechtsordnung
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binden, je nach der Natur dieser Normen, d. h. unter Berücksichtigung der Tatsache, dass diese Normen Verfassungsnormen oder Unterverfassungsnormen sind. Die Beachtung dieses Unterschieds kann den Eindruck vermeiden, dass Kelsen widersprüchliche Aussagen über das Verhältnis zwischen Geltung und Wirksamkeit gemacht hätte14. In diesem Kontext müssen die folgenden Zitate analysiert werden: „Wirksamkeit ist als Bedingung der Geltung in der Grundnorm statuiert“ 15 und „es kann nicht geleugnet werden, daß es (. . .) zahlreiche Fälle gibt, in denen Rechtsnormen als gültig angesehen werden, obgleich sie nicht oder noch nicht wirksam sind.“ 16 Für das richtige Verständnis des Zusammenhangs zwischen Geltung und Wirksamkeit ist zu beachten, dass Kelsen den Ausdruck „noch nicht“ verwendet, wenn er über die Rechtsnormen im Allgemeinen schreibt, und bei der Darstellung des Verhältnisses zwischen Geltung und Wirksamkeit von Unterverfassungsnormen den Ausdruck „nicht mehr“ 17 verwendet. Werden diese drei Aussagen gleichzeitig in Betracht gezogen, dann wird deutlich, dass die Wirksamkeit „als Bedingung der Geltung in der Grundnorm statuiert ist“, aber nicht so, als ob alle gültigen Normen immer wirksam werden müssen, sondern in dem Sinne, dass alle gültigen Unterverfassungsnormen wirksam werden müssen, um weiter als gültige Normen betrachtet werden zu können, während die Verfassungsnormen wirksam sein müssen, um überhaupt als gültige Normen betrachtet werden zu können. Aus diesem Grund kann behauptet werden, dass in der Reine(n) Rechtslehre der Begriff Wirksamkeit zwei Bedeutungen umfasst, denn Kelsen präsentiert zwei unterschiedliche Verbindungen zwischen Geltung und Wirksamkeit18. Weil die Grundnorm als Bedingung für die Geltung aller Normen die Wirksamkeit konstituiert, kann auch behauptet werden, dass die Grundnorm als eine der Möglichkeiten des Geltungsverlustes der Normen betrachtet werden muss – neben der Derogation, die als weitere Möglichkeit ausführlich im Abschnitt C Unterabschnitt IV behandelt wird. Auch wenn es als zutreffend betrachtet werden kann, dass der Fortbestand der Normen die Regel ist19, solange die Rechtsordnung nicht vorbestimmt, dass diese Normen derogiert werden können, muss angesichts der Grundnorm anerkannt werden, dass alle Normen ihre Geltung verlie14 In diese Richtung argumentiert Santiago Nino in seinem Aufsatz: Siehe Santiago Nino, Some Confusions surrounding Kelsen’s Concept of Validity, in: Paulson/Litschewski (Hrsg.), Normativity and Norms, S. 253 ff. 15 Kelsen, RR2 (1960), S. 373. 16 Kelsen, RR2 (1960), S. 382–383. 17 Siehe Fußnote 12. 18 Zu diesem Argument siehe Silva, Grundnorm im Licht des Kelsenschen Begriffs „Wirksamkeit“, in: RT 46 (2015), S. 405 ff. 19 Dazu siehe Merkl, Die Unveränderlichkeit von Gesetzen – ein normlogisches Prinzip (1917), in: AJM-GS, Bd. I/1, S. 155 ff.
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Kap. 4: Ursprung und Begründung der Geltung der Normen
ren können, auch wenn die Rechtsordnung die Derogation dieser Normen nicht vorbestimmt oder ausgeschlossen hat. Deswegen ist der Verlust der Geltung als eine Situation zu verstehen, die auf zwei Wegen erfolgen kann: Eine Norm kann ihre Geltung verlieren, sie kann aufhören, als Rechtsnorm zu existieren, weil sie derogiert ist, und in diesem Fall muss die Rechtsordnung die Möglichkeit der Derogation dieser Art von Norm vorbestimmt haben; oder eine Norm kann ihre Geltung verlieren, und das sogar, wenn die Rechtsordnung die Derogation dieser Norm ausgeschlossen hat, weil sie unwirksam wird20. Die Grundnorm begründet nicht nur die Erzeugung von Rechtsnormen, sie ist nicht nur der Grund der Geltung der Rechtsnormen, sondern sie ist auch ein möglicher Grund für den Geltungsverlust der Normen. Die Rechtserkenntnis ist von der Existenz gültiger Normen abhängig. Sie kann nur Phänomene als Rechtsphänomene deuten, indem sie die Bedeutung der gültigen Normen berücksichtigt. Da die Anerkennung der gültigen Normen als gültige Normen vom Erkennen der Gründe der Geltung dieser Normen abhängt und weil der letzte Grund der Erklärung der Geltung aller Nomen von der Annahme und Anwendung der Grundnorm abhängt, ist die Rechtserkenntnis von der Grundnormlehre abhängig. Und weil die Grundnorm die Geltung aller Normen mit der Erforderlichkeit der Wirksamkeit dieser Normen verbindet – in der einen oder anderen Weise, nach einem gewissen Zeitraum oder ab der Erzeugung dieser Normen –, kann behauptet werden, dass dank der Grundnormlehre Kelsens Theorie der Rechtserkenntnis eine Art Flexibilität zeigt, die für eine beschreibungsorientierte Theorie des Rechts vorteilhaft sein kann. Der Vorteil dieser Verbindung zwischen Wirksamkeit und Geltung ist beispielsweise, erkennen zu können, wann in einer konkreten Rechtsordnung Normen als gültige Normen zu betrachten sind, obwohl diese Normen nicht gesetzte, sondern nur durch Gewohnheit zustande gekommene Normen sind. Diese Verbindung erklärt auch den Grund, warum zum Beispiel eine nicht-derogierbare Verfassungsnorm nicht beachtet wird: weil sie nicht mehr als gültige Norm zu sehen ist, da sie wegen der Unwirksamkeit dieser Norm als ungültig betrachtet werden muss. Wird die Grundnorm nicht angenommen und werden solche unwirksamen Normen als gültige, als existente Normen betrachtet, dann erscheint es mehr als schwierig, zu erklären, wie diese Normen existieren können, warum sie eine Bedeutung bei der Identifizierung der Rechtsphänomene haben, obwohl sie nicht angewendet werden. Nicht immer sind in der Rechtsordnung nur Normen zu finden, die durch 20 Angesichts von Kelsens Auffassung der Grundnorm sind sogar die Normen, die wegen einer Ewigkeitsklausel nicht derogierbar sind, nicht als für immer gültige Normen zu betrachten, denn auch diese Normen können wegen Unwirksamkeit ihre Geltung verlieren. Es darf aber daraus nicht der Schluss gezogen werden, dass die Ewigkeitsklausel die Anwendung der Grundnorm begrenzen könnte, da die Ewigkeitsklausel im Vergleich mit der Grundnorm nicht hochrangig ist, sondern niederrangig, weil sie nur dank der Grundnorm gültig ist.
A. Die Grundnorm und die Identifikation der gültigen Rechtsordnung
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das positiv vorbestimmte Verfahren für die Rechtserzeugung erzeugt sind. Nicht immer präsentieren sich Normen, die nicht derogiert sind, als gültige Rechtsnormen. Es ist die Grundnorm, die als eine vorherbestimmte Ausnahme für den Grundsatz der Positivität operiert, die für die Rechtserkenntnis die notwendige Flexibilität und Anpassungsfähigkeit anbietet, sodass die Ergebnisse der Rechtswissenschaft nicht so ausehen, als ob sie von der Realität der Rechtsphänomene getrennt existieren könnten. II. Die Grundnorm und die Legitimierung der Macht Die Natur der Grundnorm als letzter Grund der Geltung der Normen kann aus zwei Blickwinkeln betrachtet werden. Wie schon gesagt, stehen die gültigen Normen einer Rechtsordnung miteinander in einem Bedingtheitsverhältnis, sodass alle gültigen Normen, die nicht Verfassungsnormen sind, ihre Geltung anderen Normen verdanken. Abgesehen von den Verfassungsnormen und den Normen, die nur als Akte von Rechtsanwendung betrachtet werden können, besitzen alle Rechtsnormen ein „doppeltes Antlitz“ 21, sie sind gleichzeitig Ergebnis der Rechtserzeugung und Grund der Rechtsanwendung zur Erzeugung weiterer Normen. Es ist eine Konsequenz dieser Situation, dass aufgrund einer Grundnorm und einer oder mehrerer wirksamen Verfassungsnormen die Möglichkeit besteht, den Geltungsgrund der anderen gültigen Normen zu identifizieren, sowie auch, dass es von jeder gültigen Norm aus möglich ist, durch die Frage nach dem Grund ihrer Geltung (d. h. durch die Identifizierung der gültigen Norm, die angewendet wurde, um diese Norm zu erzeugen), in mittel- oder unmittelbarer Weise eine gültige Verfassungsnorm zu erreichen, die ihre Geltung nicht einer anderen gültigen Norm verdankt, sondern ihrer eigenen Wirksamkeit sowie der Grundnorm, die aussagt, dass die wirksamen Verfassungsnormen als gültige Verfassungsnormen betrachtet werden sollen. Angesichts dieser Situation kann festgestellt werden, dass die Rechtsordnung aus gültigen Rechtsnormen besteht, die als Teile einer von mehreren Geltungsketten betrachtet werden können. Diese Ketten können in eine Richtung (unbegrenzt) erweitert werden, solange das letzte Kettenglied keine Norm ist, die nur einen Spielraum für Rechtsanwendung, aber keinen Spielraum für Rechtserzeugung bietet. In der anderen Richtung sind diese Verkettungen begrenzt, ist die Anzahl von Kettengliedern begrenzt, da sie immer auf dem Grund eines letzten Kettengliedes stehen müssen, der Grundnorm. Aber anders als üblicherweise gedacht, wird die Grundnorm niemals als Legitimierung der Macht, als Legitimierung einer (eventuell auch undemokratischen, diktatorischen) Machtausübung,
21 Merkl, Das doppelte Rechtsantlitz (1918), in: AJM-GS, Bd. I/1, S. 234. Siehe dazu Kelsen, RR1 (1934), S. 92–93; ders., RR2 (1960), S. 419–420.
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Kap. 4: Ursprung und Begründung der Geltung der Normen
die mit dem Recht operiert, wirken22. Die Grundnorm erklärt, warum die gültigen Normen als gültige Normen betrachtet werden. Auf diese Frage bietet sie eine Antwort durch die Darstellung der zwei Arten, wie sie Wirksamkeit und Geltung verbindet. Da Kelsens Lehre von der Grundnorm immer klar macht, dass die gültigen Normen wirksame Normen werden müssen (sofort wirksam, wenn sie Verfassungsnormen sind, nach einem Zeitraum, wenn sie Unterverfassungsnormen sind), muss es als unbegründet bezeichnet werden, gegen diese Lehre den Vorwurf zu erheben, dass sie als Legitimierung der Macht fungieren kann. Auf Grund von Kelsens Auffassung der Grundnorm kann die Quelle der Ausübung von Macht durch das Recht niemals in der Grundnorm gefunden werden, denn die Grundnorm wird nicht behaupten, dass irgendeine ausgeübte Macht als gültiges Recht betrachten werden kann. Aber trotzdem bietet Kelsen einen Hinweis für die Beantwortung der Frage nach dieser Quelle, da er den Ursprung des Rechts – und hier ist der Ursprung eines diktatorischen Rechts eingeschlossen – mit der Existenz der Wirksamkeit von Verfassungsnormen verbindet. Will man wissen, warum das Recht die Eigenschaft besitzt, für die Ausübung von undemokratischer Macht angewendet zu werden, soll man sich nach Kelsens Perspektive mit der Frage nach den Gründen beschäftigen, warum diese Rechtsordnung, diese Verfassungsnormen wirksam sind. Dass Kelsen sich mit dieser Frage nicht beschäftigt hat, bedeutet nichts anderes, als dass seine Rechtstheorie ihrer Beschreibungsaufgabe treu bleibt. Die Erklärung der Gründe, warum bestimmten Normen wirksam sind, liegt nicht im Forschungsfeld der Rechtstheorie. Diese Gründe können nicht von einer Wissenschaft identifiziert werden, die sich mit der Untersuchung und Darstellung der normativen Rechtsphänomene beschäftigt.
B. Die alternative Ermächtigung und ihre Positivität Diese Sektion konzentriert sich auf die Behandlung der Problematik der Existenz von normwidrigen gültigen Normen anhand der Lehre Kelsens von der alternativen Ermächtigung. Zuerst wird geklärt, warum überhaupt eine Lehre der alternativen Ermächtigung für die Erklärung der Rechtserkenntnis einiger gültiger Normen notwendig ist. Danach wird diskutiert, ob und unter welchen Bedingungen über eine positive (nicht vorausgesetzte) alternative Ermächtigung gesprochen werden kann, sowie unter welchen Bedingungen das Gewohnheitsrecht als Quelle von gültigen Normen über alternative Ermächtigung betrachtet werden kann. Zuletzt wird eine (weitere) Alternative präsentiert, nach der auf einem indirekten Weg die Möglichkeit besteht, die Positivität der alternativen Ermächti22 Ein anderes Thema, erst kürzlich von Kletzer behandelt, ist die Frage, ob das Recht als eine Art Machtausübung verstanden werden kann. Siehe Kletzer, The Idea of a Pure Theory of Law, S. 21 ff.
B. Die alternative Ermächtigung und ihre Positivität
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gung aufgrund positivrechtlicher Bestimmungen über die Ohnmacht bei der Prüfung der Normangemessenheit bestimmter Normen zu begründen. I. Die Erzeugung von Normen dank der alternativen Ermächtigung Das von Merkl entwickelte Fehlerkalkül und die von Kelsen formulierte Version dieser Lehre, seine Lehre von der alternativen Ermächtigung23, spielen eine wesentliche Rolle bei der Untersuchung der Rechtserkenntnis, denn die Erkenntnis der erzeugten Normen als Rechtsnormen bedeutet das Verstehen dieser Normen als gültige Normen. Dazu ist zu beachten, dass bei der Identifizierung gültiger Normen ein Hauptweg und ein Nebenweg existieren, die erkannt werden müssen, um die Rechtserkenntnis in ihren vielfältigen Aspekten verstehen zu können. Der Hauptweg für die Anerkennung der Geltung einer Norm involviert die Notion der absolut normgemäßen Erzeugung einer Norm: Eine erzeugte Norm ist eine gültige Norm, weil die Erzeugung dieser Norm die Bedingungen erfüllt, die die Erzeugung einer gültigen Norm dieser Natur disziplinieren, weil diese erzeugte Norm im Rahmen der Möglichkeiten für die Erzeugung einer gültigen Norm liegt, weil die erzeugte Norm dank einer Ermächtigungsnorm, die diese Normerzeugung diszipliniert, durch die direkte Ermächtigung24 erzeugt wurde. Eine Norm ist absolut normgemäß erzeugt, wenn die Erzeugung dieser Norm durch Anwendung einer Ermächtigungsnorm erfolgt. Der Nebenweg für die Anerkennung der Geltung einer Norm umfasst Situationen, bei denen eine Norm als gültig anzuerkennen ist, obwohl diese Norm nicht im Rahmen der Ermächtigungsnorm erzeugt wurde, die die Erzeugung dieser Art 23 Die von Kelsen formulierte Lehre der alternativen Ermächtigung kann als eine Lesart von Merkls Lehre des Fehlerkalküls verstanden werden. Siehe Merkl, Justizirrtum und Rechtswahrheit (1925), in: AJM-GS, Bd. I/1, S. 369 ff.; ders., Die Lehre von der Rechtskraft. Entwickelt aus dem Rechtsbegriff, S. 293–302. Über das Verhältnis der Kelsenschen und Merklschen Auffassungen zu diesem Thema, siehe: Kletzer, Kelsen’s Development of the Fehlerkalkül-Theory, in: RJ 18 (2005), S. 46 ff.; Lippold, Recht und Ordnung, S. 407–420. 24 Die Anwendung des Ausdrucks „direkte Ermächtigung“ resultiert aus der Berücksichtigung der folgenden Aussagen Kelsens: „Die Verfassung ermächtigt den Gesetzgeber, auch in einem anderen Verfahren als jenem, das durch die Normen der Verfassung direkt bestimmt ist, generelle Rechtsnormen zu erzeugen und diesen Normen auch einen anderen Inhalt zu geben als jenen, den die Normen der Verfassung direkt bestimmen. Diese Normen der Verfassung stellen nur eine von zwei durch die Verfassung geschaffene Möglichkeiten dar. Die andere ist von der Verfassung dadurch geschaffen, daß sie keinem anderen Organ als dem Gesetzgeber die Entscheidung der Frage überläßt, ob die von ihm als Gesetz erlassene Norm Gesetz im Sinne der Verfassung ist. Die die Gesetzgebung regelnden Bestimmungen der Verfassung haben den Charakter von Alternativbestimmungen. Die Verfassung enthält eine direkte und eine indirekte Regelung der Gesetzgebung; und das Gesetzgebungsorgan hat die Wahl zwischen beiden.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 482.
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von Normen diszipliniert. In einer solchen Situation ist die erzeugte Norm gültig, weil eine Norm über die alternative Ermächtigung existiert, eine Norm, die einer anderen – außerhalb des Rahmens der direkten Ermächtigung erzeugten – Norm Geltung zuschreibt, sodass die erzeugte Norm doch als normgemäß verstanden werden muss. Die Ermächtigungsnorm operiert als Maßstab für die Identifizierung der normgemäßen Normen, da durch ihre Existenz eine Trennung zwischen absolut oder relativ normgemäßen Normen möglich ist25. Und immer wenn die jemandem zugeschriebene Ermächtigung keine unbegrenzte, universelle Ermächtigung bezüglich des Rechtserzeugungsspielraumes ist, existiert die Möglichkeit, dass die von dieser Privatperson oder Autorität erzeugte Norm als absolut normgemäß oder als relativ normgemäß (was auch normwidrig bedeuten kann) betrachtet werden kann. Genau an diesem Punkt kommt die Relevanz der alternativen Ermächtigung für die Rechtserkenntnis ins Spiel. Die Normen, die außerhalb des gesetzten Spielraumes (der gesetzten direkten Ermächtigung) erzeugt werden, sind in der Welt der Rechtsphänomene nicht immer (aber auch nie niemals) als ungültige Normen zu betrachten, sondern sie sind in einigen Situationen als gültige Normen anzuerkennen. Deswegen bestehen die Gegenstände der Rechtstheorie sowie die Phänomene, die als Rechtsphänomene zu betrachten sind, nicht nur aus Phänomenen, aus Normen, die absolut normgemäß sind. Die Frage, die die Lehre der alternativen Ermächtigung zu beantworten versucht, ist die Frage nach der Möglichkeit der Unterscheidung zwischen Rechtsphänomenen und Phänomenen, die keine rechtliche Natur haben, angesichts der Tatsache, dass es nicht immer wesentlich für die Identifizierung eines Phänomens als Rechtsphänomen ist, dass dieses Phänomen absolut normgemäß ist, sodass die erzeugte Norm, die dieses Rechtsphänomen konstituiert, wenn auch nicht absolut normgemäß, aber trotzdem gültig werden kann, denn sie ist relativ normgemäß, weil eine Norm über die alternative Ermächtigung ihr Geltung zuschreibt. Ein wichtiger Punkt bei der Diskussion der alternativen Ermächtigung bezieht sich auf die Bezeichnung, auf die Charakterisierung der Normen, die durch die alternative Ermächtigung erzeugt werden. Weil diese Normen nicht dank direkter Ermächtigung erzeugt werden, liegt ein Grund vor, um behaupten zu können, dass diese Normen mit anderen Normen in Konflikt stehen können, denn einerseits existiert eine Norm, die die Ermächtigung zur Erzeugung von Normen in einer bestimmten Weise begrenzt, aber anderseits existiert eine andere Norm, die die von der Ermächtigungsnorm festgesetzten Grenzen nicht beachtet hat. Oder aber es existiert einerseits eine Norm, die durch direkte Ermächtigung erzeugt 25 Die von der Grundnorm dem Verfassungsgeber zugeschriebene Ermächtigung, Verfassungsnormen zu erzeugen, ist eine begrenzte Ermächtigung, da diese Ermächtigung nicht irgendjemandem, sondern nur dem Verfassungsgeber Autorität gibt und auch nur, wenn und solange er wirksame Verfassungsnormen erzeugt.
B. Die alternative Ermächtigung und ihre Positivität
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wurde, die eine Situation in einer bestimmten Weise normiert, während eine dank alternativer Ermächtigung erzeugte Norm existiert, die dieselbe Situation in einer anderen Weise normiert. Im ersten Fall ist der Normenkonflikt nicht direkt zu sehen, es ist nicht ein Konflikt zwischen einer Norm, die beispielsweise X verbietet, und einer anderen Norm, die X erlaubt, sondern es ist ein Konflikt zwischen einer Ermächtigungsnorm und einer Norm, die nur gültig werden kann, wenn eine Ermächtigungsnorm postuliert ist (die Norm, die die alternative Ermächtigung setzt), die die Erzeugung dieser Norm ermöglicht hat. In dem zweiten Fall ist der Konflikt deutlich, denn eine einzelne Situation wird von unterschiedlichen Normen mit unterschiedlichen Rechtsfolgen geregelt. Kelsens Bezeichnung der Normen, die durch alternative Ermächtigung erzeugt sind, wird in Werken angeboten, in denen er die Auffassung vertreten hat, dass die Rechtserkenntnis von der Lösung von Normenkonflikten abhängig ist26. Aus diesem Grund wird er die Normen, die durch die alternative Ermächtigung erzeugt sind, nicht als normwidrige Normen bezeichnen, sondern als normgemäße oder als „normwidrige“ Normen – mit der Verwendung der Anführungszeichen, um die seiner Auffassung nach Ungeeignetheit dieser Bezeichnung hervorzuheben27. Die Behauptung der normgemäßen Natur der Normen, die durch die alter-
26 „Da aber die Erkenntnis des Rechts – wie jede Erkenntnis – ihren Gegenstand als sinnvolles Ganze(s) zu begreifen und in widerspruchslosen Sätzen zu beschreiben sucht, geht sie von der Annahme aus, daß Normenkonflikte innerhalb des ihr gegebenen – richtiger, aufgegebenen – Normenmaterials im Wege der Interpretation gelöst werden können und gelöst werden müssen.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 369. In derselben Richtung siehe auch ders., RR1 (1934), S. 96. In der Allgemeine(n) Theorie der Normen ist die Existenz von Normenkonflikten nicht mehr bestritten, aber in diesem Werk ist die Thematik der alternativen Ermächtigung nur kurz erwähnt und es findet sich keine Bemerkung über die eventuelle Angemessenheit der Verwendung von Begriffen wie „normwidrige Norm“ oder „rechtswidriges Recht“. Siehe ders., ATN (1979), S. 200. Zu Kelsens Aussagen über die Existenz von Normenkonflikte siehe auch ders., Recht und Logik (1965), S. 1206–1208. 27 Kelsen wollte auf keinen Fall zugeben, dass Normenkonflikte existieren können. Daher hat er für die Situation, dass zwei Normen vorliegen, die in Konflikt miteinander stehen, festgelegt, diese Normen sollten entweder als alternative Bestimmungen (und deswegen nicht in Konflikt miteinander) verstanden werden, oder als Fall, in dem „der Gesetzgeber etwas Sinnloses“ vorschreiben wollte. Kelsen, RR2 (1960), S. 371. In einer Situation, in der zwei Richter gleichzeitig individuelle Normen erzeugt haben, die in Konflikt miteinander stehen, behauptet Kelsen, dass unter Berücksichtigung der Grundnorm und der Unwirksamkeit eine der Normen als nicht gültig betrachtet werden sollte. Siehe ders., a. a. O., S. 372–373. Beide Versuche Kelsens können nur zum Teil überzeugen. Gegen die zweite Situation ist zu bemerken, dass keine der beiden Normen sofort als unwirksam betrachtet werden kann, sondern nur nach einer gewissen Zeit, mit der Konsequenz, dass vor diesem Zeitpunkt beide Normen gültig sind und in Konflikt miteinander stehen. Gegen die erste Situation ist nicht nur zu erwähnen, dass Kelsen selbst seine Auffassung über die mögliche Existenz von zwei generellen und in Konflikt miteinander stehenden Normen geändert hat, sondern auch, dass die Behauptung, wenn zwei Normen in Konflikt miteinander stünden, der Gesetzgeber etwas Sinnloses geschaffen hat, denn es kann davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber nie einen
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native Ermächtigung erzeugt sind, wird von Kelsen mit folgender Überlegung begründet: Weil die alternative Ermächtigung durch positivrechtliche Normen geregelt ist, sind die Normen, die dank der alternativen Ermächtigung erzeugt sind, nicht normwidrige, sondern normgemäße Normen. Kelsens Auffassung der Inexistenz von normwidrigen Normen ist eine Konsequenz der Annahme, dass alle gültigen Normen ihre Geltung anderen gültigen Normen verdanken, sodass es nicht möglich ist, eine gültige Norm zu finden, die normwidrig ist, weil (nach Kelsens Auffassung) kein Konflikt zwischen den Normen existiert und die erzeugten Normen im Rahmen der zu erzeugenden Normen erzeugt sind. Aber der Auffassung der Unmöglichkeit einer normwidrigen Norm kann nicht zugestimmt werden, denn es ist notwendig eine Unterscheidung zwischen der Tatsache zu machen, dass eine Norm durch die Anwendung einer anderen Norm erzeugt wurde (und in diesem Sinne ist die erzeugte Norm mindestens relativ normgemäß), und der Tatsache, dass diese Norm in Konflikt mit einer anderen Norm steht (und in diesem Sinne ist die erzeugte Norm, angesichts der schon gültigen Norm – aber nicht der gültigen Ermächtigungsnorm, die für die Erzeugung dieser Norm angewendet wurde –, normwidrig, also relativ normgemäß und deswegen nicht rechtsordnungswidrig). Solange in einer Rechtsordnung Normen existieren können, die in Konflikt mit anderen Normen stehen, ist es möglich, Ausdrücke wie „relativ normgemäße Norm“, „normwidrige gültige Norm“ oder „normwidrige (angesichts des Konflikts mit einer anderen Norm) normgemäße (angesichts der Tatsache, dass diese Norm im Rahmen einer Norm über alternative Ermächtigung erzeugt wurde) Norm“ anzuwenden. Wird über eine Norm gesagt, dass sie eine normwidrige gültige Norm ist, dann informiert diese Aussage über zwei Eigenschaften dieser Norm: erstens, dass die Norm gültig ist, da sie auf gültige Weise erzeugt wurde, d. h. durch Anwendung einer anderen Norm (in dem Fall, eine Norm, die die alternative Ermächtigung positiviert oder voraussetzt – diese Problematik wird weiter unten ausführlicher behandelt), und zweitens, dass die Norm in Konflikt mit einer anderen Norm steht. Die alternative Ermächtigung bietet eine Erklärung für den Grund, warum einige der normwidrigen Normen gültige Normen sind. Diese Erklärung umfasst nicht alle Normen, die mit dem Ziel erzeugt sind, als gültige Normen anerkannt zu werden, auch wenn sie nicht im Rahmen einer gegebenen Ermächtigung (eines gegebenen Rechtserzeugungsspielraums) erzeugt sind. Müssten alle Normen, die mit dem Ziel (mit dem subjektiven Sinn eines Willensaktes) erzeugt sind, als gültige Normen anerkannt zu werden, diese Bedingung erfüllen, dann würden viele Phänomene zu den Rechtsphänomenen zählen, die nach alltäglicher Auffassung des Rechts keine Rechtsphänomene sind. Diese Situation mögen zwei Beispiele veranschaulichen: Einerseits werden (in mehreren Situationen) die von Konflikt zwischen Normen verursachen wollte oder als mögliches Ergebnis der Normerzeugung akzeptieren könnte.
B. Die alternative Ermächtigung und ihre Positivität
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Autoritäten erzeugten Normen als gültige Normen betrachtet, auch wenn diese Normen nicht im Rahmen der gegebenen Ermächtigung erzeugt werden sind, sondern durch Überschreitung dieser Ermächtigung, wenn beispielsweise ein Richter eine unschuldige Person schuldig erklärt oder einen Straftäter unschuldig. Andererseits werden als ungültige Normen die Normen betrachtet, die Privatpersonen außerhalb der gegebenen Ermächtigung erzeugt haben, z. B. werden nicht alle Texte als gültige Testamente betrachtet, die sich als Testament präsentieren, aber die Normen für die Erzeugung von gültigen Testamenten nicht beachtet haben – solange es nicht der Fall ist, dass durch eine richterliche Entscheidung ein ungültiges Testament unter Anwendung der alternativen Ermächtigung zu einem gültigen Testament erklärt wird28. Die Anwendung der Lehre der alternativen Ermächtigung erweist sich als ein nötiges Mittel, um die rechtliche Natur einiger Phänomene zu begründen, da die Anwendung der Normen der direkten Ermächtigung nicht ausreichend sind, um alle Rechtsphänomene als solche anzuerkennen, um den Geltungsgrund aller gültigen Normen zu erklären. Aber die Tatsache, dass die alternative Ermächtigung für die Formulierung einer theoretischen Auffassung der Rechtsphänomene notwendig ist, reicht als Begründung für die Akzeptanz dieser Lehre nicht aus. Eine der von Kelsens Rechtstheorie angenommenen Grundprämissen ist die Positivität des Rechts, im Sinne des Erfordernisses, dass alle Normen, abgesehen von der Grundnorm, gesetzt werden müssen, wenn sie als gültige Normen anerkannt werden sollen. Das bedeutet, dass die Normen, die die Ausübung einer alternativen Ermächtigung ermöglichen, unter den positiven Normen zu finden sein müssen, oder es muss eine andere Lösung akzeptiert werden, sodass bei einigen Normen die Erzeugung mittels einer alternativen Ermächtigung vorausgesetzt werden kann, obwohl sie (in einigen konkreten Fällen) nicht positiviert sind, um die Erklärung der rechtlichen Natur einiger Rechtsphänomene zu ermöglichen, die in der Tat als Rechtsphänomen zu betrachten sind. II. Die Arten und Grenzen der Positivierung der alternativen Ermächtigung In Kapitel 2 wurden zwei Grundelemente festgehalten. Erstens: die rechtliche Bedeutung eines Aktes (sowie die Geltung einer durch einen solchen Akt erzeug28 In dieser Richtung schreibt Kelsen: „Diese rechtliche Bedeutung kann man dem Akt, als einem äußerlichen Tatbestand, nicht ohneweiteres ansehen oder anhören (. . .). Zwar, der vernunftmäßig handelnde, den Akt setzende Mensch verbindet mit seinem Akt einen bestimmten Sinn, der sich in irgendeiner Weise ausdrückt und von anderen verstanden wird. Dieser subjektive Sinn kann, muß aber nicht, mit der objektiven Bedeutung zusammenfallen, die der Akt von Rechts wegen hat. Jemand verfügt schriftlich für den Fall seines Ablebens über sein Vermögen. Der subjektive Sinn dieses Aktes ist ein Testament. Objektiv, von Rechts wegen, ist er es aber – gewisser Formfehler wegen – nicht.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 23–24. Siehe ders., a. a. O., S. 26.
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ten Norm) wird durch eine Konfrontation dieses Aktes mit den gültigen Normen einer Rechtsordnung anerkannt. Zweitens: angesichts des Grundsatzes der Positivität sollte diese Konfrontation nur mit Normen operieren, die zur Rechtsordnung gehören; nur positive Rechtsnormen können in dieser Konfrontation angewendet werden. Mit Rückgriff auf diese Elemente kann gefragt werden, wie es möglich ist, die Normen der indirekten, alternativen Ermächtigung innerhalb der positiven Normen zu identifizieren, oder anders formuliert: wo sind in der Rechtsordnung die Normen zu finden, die die Behauptung der Existenz der alternativen Ermächtigung begründen?29 Kelsen hat die Positivität der alternativen Ermächtigung nicht in Frage gestellt30, aber er hat einige Bemerkungen über die alternative Ermächtigung in Verbindung mit positivrechtlichen Normen geschrieben, die erlauben, drei mögliche Quellen einer positiv bestimmten alternativen Ermächtigung zu erwähnen. Die am häufigsten von Kelsen zitierte Quelle einer positivrechtlichen alternativen Ermächtigung ist die Eigenschaft von Entscheidungen, in Rechtskraft zu erwachsen. Hat eine positive Norm bestimmt, dass Entscheidungen in Rechtskraft erwachsen können (oder, was mit „in Rechtskraft erwachsen“ gleichbedeutend ist), hat eine positive Norm bestimmt, dass erzeugte generelle Normen unveränderbar (unaufhebbar in Sinne von unvernichtbar) werden können, dann existiert ein positivrechtlicher Grund für die Behauptung, dass Entscheidungen oder generelle Normen, die diese Bedingungen erfüllen, unveränderbar sind und bleiben sollen, d. h. die Rechtsordnung wird diese Normen mit rechtlichen Folgen verbinden, die den Folgen gleichen, die mit Normen verbunden sind, die dank direkter 29 Dass die alternative Ermächtigung positiviert werden muss, um die Anwendung dieser Art von Ermächtigung angesichts des Grundsatzes der Positivität zu begründen, wird von Lippold bemerkt, wenn er schreibt, dass es „keine für alle möglichen Rechtsordnungen gültige Antwort auf die Frage nach dem Fehlerkalkül für Gesetze gibt.“ Lippold, Gilt im deutschen Recht ein Fehlerkalkül für Gesetze?, in: Der Staat 29 (1990), S. 186. Lippolds Behauptung, dass die alternative Ermächtigung eine positivrechtliche Bestimmung braucht, ist zutreffend. Andererseits kann seiner gesamten Behandlung der Problematik nicht zugestimmt werden, denn nach seiner Auffassung müssten alle Situationen, in denen Normen von einer Autorität erzeugt werden, obwohl diese Autoritäten nicht die nötige (direkte oder alternative) Ermächtigung für die Erzeugung dieser Normen haben, als Fälle bezeichnet werden, in denen keine Norm erzeugt wurde. „Soweit im positiven Recht kein Fehlerkalkül nachweisbar ist, führt jedes Abweichen von den Ermächtigungsnormen zum Mißlingen des Rechtssetzungsaktes und damit zur Nichtigkeit.“ Ders., a. a. O., S. 198–199. Es kann auch nicht anerkannt werden, dass in allen Rechtsordnungen die alternative Ermächtigung für alle Situationen positiviert ist, und es ist auch nicht anzunehmen – abgesehen von der unbegründeten Annahme, dass die Positivität eine universelle Eigenschaft aller Rechtsphänomene ist –, dass in alle Situationen, in denen eine bestimmte Art von alternativer Ermächtigung nicht positiviert ist, alle erzeugten Normen in der Tat als nichtige, nicht-existente Normen zu betrachten sind. 30 Merkl hat die positivrechtliche Natur des Fehlerkalküles erwähnt und zwar mit dem Ausdruck „positivrechtliches Fehlerkalkül“. Merkl, Die Lehre von der Rechtskraft. Entwickelt aus dem Rechtsbegriff, S. 277.
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Ermächtigung erzeugt wurden. Haben die von Autoritäten erzeugten Normen die Bedingungen für die Unveränderbarkeit erfüllt, dann sind diese Normen gültig, auch wenn sie nicht innerhalb der Grenzen der direkten Ermächtigung erzeugt sind31. Die Bestimmungen über Rechtskraft können die rechtliche Natur von Akten begründen, die nicht dank direkter Ermächtigung erfolgt sind. Aber neben den normerzeugenden Akten, die die Bedingungen für „in Rechtskraft erwachsen“ oder für die Unveränderbarkeit erfüllen, sind zwei anderen Arten von Akten zu finden, also Entscheidungen, die die erwähnten Bedingungen für „in Rechtskraft erwachsen“ nicht erfüllen, und Akte, die generelle Normen erzeugen, die nach der Rechtsordnung unter bestimmten Bedingungen unveränderbar werden können, die aber diese Bedingungen nicht erfüllen. Für diese Arten von Normen ist nicht auszuschließen, dass positivrechtliche Normen ihnen rechtliche Bedeutung zuschreiben, auch wenn sie nicht dank direkter Ermächtigung erzeugt sind. In diesen Situationen wird die Positivität der alternativen Ermächtigung dank Bestimmungen über die Anfechtbarkeit, über die Möglichkeit der Aufhebung der normerzeugenden Akte erfolgen, sodass diese Akte eine rechtliche Bedeutung haben, weil die Rechtsordnung ihre rechtliche Existenz normiert, denn die Rechtsordnung verbindet diese Akte mit rechtlichen Konsequenzen. Nach dieser Rechtsordnung sind diese Normen, solange sie nicht aufgehoben sind, als gültige Normen, als provisorisch gültige Normen zu sehen32. Die dritte Quelle für eine positivrechtliche alternative Ermächtigung besteht in den Bestimmungen über die Abwesenheit von weiteren Instanzen, die einen normerzeugenden Akt ändern können, in Verbindung mit Bestimmungen über die Möglichkeit der Derogation der von letztinstanzlichen Autoritäten erzeugten Normen. Weil diese Bestimmungen nicht immer mit der Bestimmung über „in Rechtskraft erwachsen“ oder mit der Bestimmung über die begrenzte Art von Anfechtbarkeit der erzeugten Akte zu identifizieren sind, konstituieren sie eine dritte Alternative, denn eine Rechtsordnung kann für einige erzeugte Normen die Unveränderbarkeit ausschließen, und gleichzeitig kann sie eine Norm enthalten, nach der die spätere Norm die frühere Norm derogiert, wenn zwei Normen zum gleichen Thema existieren und in Konflikt miteinander stehen33. Deswegen ist Siehe Kelsen, RR1 (1934), S. 97 und ders., RR2 (1960), S. 475–476 und 481. Siehe Kelsen, RR1 (1934), S. 96 und ders., RR2 (1960), S. 476–483. 33 Dazu schreibt Kelsen: „Eine andere Frage ist, ob und in welchem Ausmaße das Institut der Rechtskraft im strikten Sinne dieses Wortes innerhalb einer bestimmten Rechtsordnung tatsächlich statuiert ist. Das ist dann nicht der Fall, wenn die Rechtsordnung die Möglichkeit eines Verfahrens nicht vollkommen ausschließt, in dem die Geltung einer individuellen Norm, die eine gerichtliche oder verwaltungsbehördliche Entscheidung darstellt, aufgehoben werden kann, wenn ein solches Verfahren immer, wenn auch unter besonders erschwerten Bedingungen, möglich ist. Ebenso, wenn eine rechtskräftige Entscheidung einer Gerichts- oder Verwaltungsbehörde durch einen Akt des Gesetzgebungsorgans aufgehoben werden kann.“ Kelsen, ATN (1979), S. 88. 31 32
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die Abwesenheit von weiteren Instanzen, die die Geltung einer Norm überprüfen können, nicht mit der Tatsache identisch, dass diese Norm unveränderbar ist. Konsequenterweise sind einige Normen als gültig zu betrachten, wenn sie von Autoritäten erzeugt sind, die keine direkte Ermächtigung für die Erzeugung dieser Normen haben, weil die Rechtsordnung vorbestimmt hat, dass die von diesen Autoritäten erzeugten Normen von anderen Normen zu einem späteren Zeitpunkt derogiert werden können, weil die Rechtsordnung die Möglichkeit des Verlustes der Geltung für diese Normen vorbestimmt hat34. Diese drei Arten von Positivierung der alternativen Ermächtigung müssen erwähnt werden, um die rechtliche Natur eines Aktes, die Geltung einer Norm, zu begründen. Aber allein das Erwähnen dieser Quellen reicht nicht, um die rechtliche Bedeutung aller von Autoritäten ausgeübten normsetzenden Akte zu beweisen. Hängt die rechtliche Bedeutung eines normsetzenden Aktes von der Konfrontation dieses Aktes mit einer gültigen Norm ab, dann muss gefragt werden, ob alle Normen, die Autoritäten mit irgendeiner Ermächtigung als Normen erzeugen, als gültige Normen zu betrachten sind. Hat die Rechtsordnung die Unveränderbarkeit, die Anfechtbarkeit oder den Verlust der Geltung für bestimmte Normen vorgeschrieben, die nicht durch direkte Ermächtigung erzeugt sind, die von Autoritäten erzeugt sind, die keine direkte Ermächtigung zur Erzeugung dieser Normen haben, kann dann behauptet werden, dass die Rechtsordnung allen von diesen Autoritäten erzeugten Normen Geltung zuschreibt? Kelsen wollte diese Fragen positiv beantworten, und das mit dem Argument, dass eine Norm, die als ungültig betrachtet wird, zuerst als gültig betrachtet werden muss, denn sonst würde kein Grund bestehen, über diese Norm zu sprechen, etwas über ihre Geltung zu sagen. Deswegen behauptet Kelsen, „daß es innerhalb einer Rechtsordnung so etwas wie Nichtigkeit nicht geben, daß eine zu einer Rechtsordnung gehörende Rechtsnorm nicht nichtig, sondern nur vernichtbar
34 Diese Auffassung wird von Kelsen vertreten, wenn auch nicht direkt in Verbindung mit der Diskussion über die alternative Ermächtigung: „Die Unaufhebbarkeit einer Norm bedeutet nicht, daß nicht eine andere Norm gesetzt werden und in Geltung treten kann, die mit der unaufhebbaren Norm in Konflikt steht. Wenn dies der Fall ist, d. h. wenn eine Norm A gilt, deren Geltung gemäß einer Bestimmung des positiven Rechts nicht aufgehoben werden kann, und dennoch eine Norm B gesetzt wird, die den durch die Norm A geregelten Gegenstand in anderer Weise regelt, bleibt die unabänderliche Norm in Geltung, und es besteht ein Konflikt zwischen der Norm A und der Norm B. Ein solcher Normen-Konflikt kann dadurch gelöst werden, daß die Bestimmung betreffend die Unaufhebbarkeit der Geltung der Norm A aufgehoben und sohin auch die Geltung der Norm A nach dem Prinzip der lex posterior derogat priori durch die Norm B oder daß die Geltung der Norm B aufgehoben wird.“ Kelsen, ATN (1979), S. 89. Nicht immer hat Kelsen diesen Aspekt berücksichtigt, wie z. B. in folgendem Zitat: „die Frage, ob die Entscheidung ,rechtswidrig‘ ist, ist nicht von den Prozeßparteien, sondern von dem Berufungsgericht zu entscheiden, und die letztinstanzliche Entscheidung erwächst auf alle Fälle in Rechtskraft.“ Ders., RR2 (1960), S. 477.
B. Die alternative Ermächtigung und ihre Positivität
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sein kann.“ 35 Das Problem mit dieser Behauptung ist, dass Kelsen von einem vorausgesetzten Schritt ausgeht. Er behauptet, „daß eine zu einer Rechtsordnung gehörende Rechtsnorm nicht nichtig (. . .) sein kann“, aber er berücksichtigt die wesentliche Frage nicht, die Frage, ob die erzeugte Norm zu einer Rechtsordnung gehört, ob diese Norm gültig ist, sondern er entwickelt seine Argumente auf Grund der Voraussetzung, dass eine positivrechtliche Normierung der in dem Fall ausgeübten alternativen Ermächtigung vorliegt. Der Punkt hier ist nicht, Kelsens Kritik an einer bestimmten Anwendung des Begriffes „nichtig“ in Frage zu stellen, sondern auf die Tatsache hinzuweisen, dass er die Positivität der alternativen Ermächtigung für absolut begründet hält. Kelsen liegt richtig, wenn er behauptet, dass beispielsweise eine erzeugte Norm, die zu einem späteren Zeitpunkt wegen Verfassungswidrigkeit für ungültig erklärt wird, keine nichtige Norm war, keine Norm, die niemals existiert hat. Geschah die Erzeugung dieser Norm durch die Ausübung einer positivrechtlich gesetzten alternativen Ermächtigung, dann war diese Norm gültig und deswegen kann nicht behauptet werden, dass diese Norm nichtig war, dass sie nie existiert hat. Das Problem mit Kelsens Auffassung der alternativen Ermächtigung, ein Problem, das Kelsens Anwendung des Begriffes „nichtig“ beeinflusst, liegt bei der Voraussetzung, dass die positivrechtlichen Bestimmungen über die alternative Ermächtigung immer so formuliert sind, dass alle normerzeugenden Akte von Autoritäten als Erzeugung von gültigen Normen betrachten werden müssen. Das Problem ist, dass nach Kelsen die positivrechtlichen Bestimmungen über die alternative Ermächtigung notwendigerweise alle Fälle von Ausübung eines normsetzenden Akts umfassen, er also nicht gefragt hat, ob die in einer Rechtsordnung positivierten Bestimmungen über die alternative Ermächtigung jede einzelne der durch die Ausübung der alternativen Ermächtigung erzeugte Norm begründen kann36. Kelsen, RR2 (1960), S. 488. Mit derselben problematischen Denkweise wird Kelsen auch behaupten: „Wenn die Rechtsordnung etwa bestimmt, daß eine Norm, die nicht von dem zuständigen Organ oder von einem Individuum, das überhaupt keine Organqualität hat, gesetzt ist.“ Ders., a. a. O., S. 490. 36 Die Abwesenheit von Zweifeln bezüglich der Fähigkeit der positiven Rechtsnormen, die durch alternative Ermächtigung erzeugten Normen zu begründen, verursacht Behauptungen wie die folgende: „Die Rechtsordnung kann nicht die Bedingungen festsetzen, unter denen etwas, das mit dem Anspruch auftritt, eine Rechtsnorm zu sein, a priori als nichtig und nicht als eine Norm zu gelten hat, die in einem von der Rechtsordnung bestimmten Verfahren zu vernichten ist. Wenn die Rechtsordnung etwa bestimmt, daß eine Norm, die nicht von dem zuständigen Organ oder von einem Individuum, das überhaupt keine Organqualität hat, gesetzt ist, oder daß eine Norm, die einen von der Verfassung ausgeschlossen Inhalt hat, als a priori nichtig anzusehen und daher kein Akt erforderlich ist, durch den sie aufzuheben ist, muß sie bestimmen, wer das Vorhandensein dieser Bedingungen der Nichtigkeit festzustellen hat; und da diese Feststellung konstitutiven Charakter hat, da die Nichtigkeit der in Frage stehenden Norm die Wirkung der Feststellung ist, vor der erfolgten Feststellung rechtlich nicht behauptet werden kann, bedeutet diese Feststellung, auch wenn sie in Form einer Nichtigkeitserklärung erfolgt, die rückwirkende Vernichtung einer bis dahin als gültig angesehenen 35
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Kap. 4: Ursprung und Begründung der Geltung der Normen
Kurz formuliert lautet die Frage folgendermaßen: Erfolgt die Behauptung der Geltung einer Norm, die die Grenzen der direkten Ermächtigung überschreitet, auf Grund einer positivierten oder einer vorausgesetzten Norm über die alternative Ermächtigung? Die Problematik bezüglich der kontingenten Natur der Positivität der alternativen Ermächtigung war Kelsen mindestens zum Teil bewusst, denn er hat gefragt, warum die von letztinstanzlichen Autoritäten erzeugten Normen, die außerhalb des normativen Rahmens liegen, als gültige Normen betrachtet werden können37. Kelsens Antwort auf diese Frage operiert mit der Annahme, dass das „Effektivitätsprinzip“, die Wirksamkeit38, die Geltung der außerhalb des normativen Rahmens erzeugten Normen begründet würde. Aber die strikte Auslegung von Kelsens Aussagen führt zu einer potentiell problematischen Auffassung: Hat eine letztinstanzliche Autorität eine Norm erzeugt, die außerhalb des normativen Rahmens liegt und auch von den positiven Normen über die alternative Ermächtigung nicht gedeckt ist, dann kann behauptet werden, dass diese Norm gültig ist, weil diese Norm wirksam ist. Aber was genau bedeutet diese Behauptung? Ist diese Norm gültig, weil sie zu einer Art von Normen gehört, die diese Autorität ständig erzeugt hat, sodass durch Gewohnheitsrecht eine Norm über die alternative Ermächtigung erzeugt worden ist, die die Geltung dieser Norm begründen Norm. In dieser Hinsicht gleicht das Recht dem König Midas. So wie alles, was dieser berührte, sich in Gold verwandelte, so nimmt alles, worauf sich das Recht bezieht, Rechtscharakter an. Innerhalb der Rechtsordnung ist Nichtigkeit nur der höchste Grad der Vernichtbarkeit.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 490. 37 „Die Frage der Gesetzmäßigkeit einer richterlichen Entscheidung oder die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes ist, allgemein formuliert, die Frage, ob ein Akt, der mit dem Ausspruch auftritt, eine Norm zu erzeugen, der ihre Erzeugung oder auch ihren Inhalt bestimmenden, höheren Norm entspricht. Wenn diese Frage von einem hiezu zuständigen, das heißt von einem durch eine gültige Norm hiezu ermächtigten Organ zu entscheiden ist, kann auch die Frage entstehen, ob das Individuum, das diese Entscheidung tatsächlich getroffen hat, das zuständige, das heißt von der gültigen Norm hiezu ermächtigte Organ ist. Diese Frage kann wiederum durch ein anderes Organ zu entscheiden sein, das eben darum als ein höheres Organ anzusehen ist. Dieser Regress zu einem höheren Organ muß jedoch ein Ende haben. Es muß höchste Organe geben, über deren Zuständigkeit nicht mehr durch höhere Organe entschieden werden, deren Charakter als höchste Gesetzgebungs-, Regierungs-(Verwaltungs-), Gerichts-Organe nicht mehr in Frage gestellt werden kann. Sie erweisen sich als höchste Organe dadurch, daß die von ihnen gesetzten Normen im großen und ganzen wirksam sind. Denn dann wird die sie zur Setzung dieser Normen ermächtigende Norm als gültige Verfassung vorausgesetzt. Das Prinzip, daß eine Norm nur von dem zuständigen, das ist durch eine höhere Norm hiezu ermächtigten Organ zu setzen ist, ist das Legitimitätsprinzip. Es ist, wie schon festgestellt, durch das Effektivitätsprinzip eingeschränkt.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 486–487. 38 Dass die Effektivität in diesem Zusammenhang mit der Wirksamkeit zu identifizieren ist, wird von Kelsen an einer anderen Stelle vertreten. Siehe Kelsen, RR2 (1960), S. 376–377. An dieser Stelle wird Kelsen einen Ausdruck verwenden, der mit dem oben zitierten Ausdruck sehr ähnlich ist: „Das Prinzip der Legitimität ist durch das Prinzip der Effektivität eingeschränkt.“ Ders., a. a. O., S. 377.
B. Die alternative Ermächtigung und ihre Positivität
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wird? Was passiert, wenn es keine wiederholte Praxis zu dieser Thematik gibt, wenn es nicht der Fall ist, dass eine auf Grund von Gewohnheit erzeugte Norm existiert, die die Erzeugung dieser Art von Normen begründen kann? Muss dann behauptet werden, dass diese Autorität eine universelle alternative Ermächtigung ausüben darf? Wie kann eine universelle alternative Ermächtigung als Rechtsquelle verstanden werden und welche Gewohnheiten würden die Behauptung der Universalität begründen? Oder ist hier der Begriff „Effektivität“ mit einer anderen Bedeutung verbunden, sodass nicht mehr über Wirksamkeit oder Gewohnheitsrecht gesprochen, sondern nur auf eine Situation hingewiesen werden sollte, die besagt, dass die von letztinstanzlichen Autoritäten erzeugten Normen in der Tat (effektiv) als gültige Normen zu betrachten sind? Die letzte dieser Alternativen scheint mit Kelsens rechtstheoretischer Auffassung nicht zusammenzupassen, hauptsächlich mit den Aussagen über die Normativität, und hier heißt das konkret, mit der Auffassung, dass Normen nur gültig werden können, wenn andere Normen die Geltung dieser Normen begründen. Aber auch wenn diese Alternative ausgeschlossen werden kann, bleibt ein Problem zu lösen, das mit den Aussagen zur Positivität verbunden ist. Wenn es nicht möglich ist, eine dank Gewohnheitsrecht erzeugte Norm über alternative Ermächtigung zu identifizieren, und auch keine Norm über diese spezifische Art von alternativer Ermächtigung positiviert ist, dann gibt es nur einen Weg, um die Geltung einer durch diese Art von alternativer Ermächtigung erzeugten Norm zu begründen: eine Ausnahme vom Grundsatz der Positivität, also das Ausklammern des Voraussetzens einer Norm, die die Geltung dieser Norm begründet. In den folgenden Sektionen werden zwei Elemente dieser Problematik behandelt. Zunächst wird gezeigt, dass es nicht immer der Fall ist, dass in der Rechtsordnung Normen zu finden sind, die alle mittels alternativer Ermächtigung erzeugten Normen begründen können. Es wird also Fälle geben können, in denen die Geltung der erzeugen Normen nur mittels einer vorausgesetzten Norm begründet werden kann. In der zweiten Sektion wird ein Argument vertreten, das einige der Situationen von Abwesenheit der Positivierung der alternativen Ermächtigung lösen kann, indem die Identifizierung der alternativen Ermächtigung durch die Positivität der Ohnmacht der Normadressaten vertreten wird. III. Positive oder vorausesetzte alternative Ermächtigung Kelsen schreibt, dass Entscheidungen und generelle Normen dank positivrechtlicher Bestimmungen unveränderbar oder anfechtbar werden können, sodass diese Bestimmungen die Erzeugung dieser Normen begründen, die rechtliche Bedeutung dieser normsetzenden Akte erklären. Das ist eine denkbare Möglichkeit, aber es muss gefragt werden, ob alle Akte, die in der Tat als rechtssetzende Akte verstanden werden, durch die Konfrontation dieser Akte mit positiven Normen identifiziert werden können. Es gilt die Frage zu beantworten, wie Entscheidun-
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Kap. 4: Ursprung und Begründung der Geltung der Normen
gen von Schein-Entscheidungen oder die Normsetzung von Schein-Normsetzung unterschieden werden können. Hat die Rechtsordnung einer bestimmten Autorität eine Art von alternativer Ermächtigung zugeschrieben, sodass alles, was diese Autorität als Norm setzt, als gültige Norm betrachtet werden muss? Wenn eine solche Art von alternativer Ermächtigung nicht vorliegt, sind dann diese normsetzenden Akte als Akte ohne rechtliche Bedeutung zu verstehen, oder sind sie in der Tat als Akte mit rechtlicher Bedeutung zu betrachten, weil eine Norm über alternative Ermächtigung vorausgesetzt worden ist? Das Problem der Positivität der alternativen Ermächtigung wird deutlicher werden, wenn man überlegt, unter welchen Bedingungen eine Rechtsordnung Autoritäten Ermächtigung zuschreibt. Sind in der Rechtsordnung Formulierungen zu finden wie: „die Autorität X ist ermächtigt, in Konformität mit dieser Verfassung (oder in Konformität mit den Normen A, B und C) Normen zu erzeugen“, dann kann gefragt werden, ob die von Autorität X erzeugten Normen tatsächlich als Normen gemäß den Bestimmungen der Verfassung zu verstehen sind. Hier geht es um Situationen, in denen Autoritäten normerzeugende Akte ausüben, die nicht im Rahmen der direkten Ermächtigung liegen. Die Frage ist, ob angesichts der positiven Normen über die alternative Ermächtigung solche Akte gültige Normen erzeugen, ob es durch die Konfrontation dieser Akte mit den positiven Normen möglich ist, zu behaupten, dass diese normerzeugenden Akte eine rechtliche Bedeutung haben, ob die Rechtserkenntnis in diesen Fällen trotz des Fehlens der Positivität erfolgen kann. Bei der Behandlung der alternativen Ermächtigung wurde diese Problematik von Kelsen nicht analysiert, aber er hat einige Bemerkungen hinterlassen, wie die alternative Ermächtigung in Rechtsordnungen formuliert werden könnte, also was berücksichtigt werden muss, um bestimmen zu können, welche Überlegungen zu dieser Thematik in der Reine(n) Rechtslehre zu finden sind. In Bezug auf die Erzeugung von individuellen Normen argumentiert Kelsen, dass Entscheidungen als Entscheidungen zu verstehen sind, auch wenn sie außerhalb des normativen Rahmens der direkten Ermächtigung liegen39, aber er hat 39 „Daß eine richterliche Entscheidung oder ein Verwaltungsbescheid rechtswidrig ist, kann nur bedeuten, daß das Verfahren, in dem die individuelle Norm erzeugt wurde, der dieses Verfahren bestimmenden, oder daß ihr Inhalt der ihren Inhalt bestimmenden generellen, durch Gesetz oder Gewohnheit erzeugten Norm nicht entspricht. (. . .) die Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichtes – und das heißt die mit dieser Entscheidung erzeugte individuelle Norm – ist nach geltendem Recht, auch wenn sie von dem zur Entscheidung der Frage zuständigen Gericht für ,rechtswidrig‘ angesehen wird, nicht nichtig. Sie ist nur vernichtbar, das heißt: sie kann nur in einem von der Rechtsordnung bestimmten Verfahren vernichtet werden.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 473–474. „Hat aber das Verfahren, in dem eine Gerichtsentscheidung angefochten werden kann, ein Ende, gibt es ein Gericht letzter Instanz, dessen Entscheidung nicht mehr angefochten werden kann, liegt eine Entscheidung vor, die in Rechtskraft erwachsen ist, dann kann die ,Rechtmäßigkeit‘ dieser Entscheidung nicht mehr in Frage gestellt werden.“ Ders., a. a. O., S. 474–475.
B. Die alternative Ermächtigung und ihre Positivität
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nicht die Frage gestellt, ob alle diese Entscheidungen dank einer Norm über die alternative Ermächtigung eine rechtliche Bedeutung bekommen würden. Anders ist die Situation, wenn man Kelsens Bemerkungen über die Erzeugung von generellen Normen berücksichtigt. Bei normsetzenden Akten von Gesetzgebern ist die Frage zu stellen, wer entscheidet, ob diese Akte rechtliche Bedeutung haben oder nicht. Kelsen hat eine der möglichen Antworten auf diese Frage abgelehnt, nach der „die Verfassung jedermann ermächtigen (könnte; M.P.S.), diese Frage zu entscheiden“ 40, denn für ihn konnte entweder „nur das Gesetzgebungsorgan selbst oder ein von ihm verschiedenes Organ – etwa die Gerichte, die das Gesetz anzuwenden haben, oder nur ein besonderes Gericht – ermächtigt sein, die Frage der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes zu entscheiden“ 41. Im Kontext der Antwort auf diese Frage hat Kelsen eine Hypothese formuliert, die eine mögliche (d. h. kontingente) positivrechtliche Bestimmung der alternativen Ermächtigung anbietet, also wie die Rechtsordnung die alternative Ermächtigung bestimmen könnte42. Die Problematik der Identifizierung der Normen (genauer, der von jemandem als gültige Normen gewollten) als gültige Normen hängt von der juristischen Definition von Norm ab. Um eine Norm beispielsweise als gültiges Gesetz identifizieren zu können, muss die Rechtsordnung eine Autorität ermächtigt haben, Gesetze wie das erzeugte Gesetz zu erzeugen. Die Möglichkeit, Gesetze immer Kelsen, RR2 (1960), S. 479. Kelsen, RR2 (1960), S. 479. 42 „Die Verfassung kann aber Organe ermächtigen, Gesetze anzuwenden und dabei von dieser Ermächtigung ausdrücklich die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der anzuwendenden Gesetze ausschließen. Verfassungen enthalten mitunter die Bestimmung, daß Gerichte und Verwaltungsbehörden die Verfassungsmäßigkeit der von ihnen anzuwendenden Gesetze nicht zu prüfen haben. Diese Einschränkung ist jedoch nur bis zu einem gewissen Grade möglich. Die zur Gesetzanwendung berufenen Organe können vernünftigerweise nicht ermächtigt werden, alles, was sich subjektiv als Gesetz ausgibt, als Gesetz anzuwenden. Ein Minimum von Prüfungsbefugnis muß ihnen gelassen sein. Wo Gesetze, um verbindlich zu sein, nach der Verfassung von der Regierung in einem offiziellen Gesetzblatt veröffentlicht werden müssen, bedeutet die Einschränkung der Prüfungsbefugnis nur, daß die zur Gesetzanwendung berufenen Organe, insbesondere die Gerichte, nur zu prüfen haben, ob das, was den subjektiven Sinn eines Gesetzes hat, im Gesetzblatt, das heißt in dem im Auftrag der Regierung gedruckten Dokument, als Gesetz publiziert ist. (. . .) ist nur das Gesetzgebungsorgan selbst ermächtigt zu entscheiden, ob das von ihm beschlossene Gesetz verfassungsmäßig, das heißt: ob das Verfahren, in dem es das Gesetz beschlossen hat, und der Inhalt, den es dem Gesetz gegeben hat, der Verfassung entspricht; dann ist die positive Entscheidung dieser Frage in der Erlassung eines Gesetzes durch das gesetzgebende Organ inbegriffen. Das bedeutet, daß alles, was das Gesetzgebungsorgan als Gesetz erläßt, als Gesetz im Sinne der Verfassung zu gelten hat, daß die Normen, die der subjektive Sinn eines von dem Gesetzgebungsorgan gesetzten Aktes sind, den objektiven Sinn von Rechtsnormen haben, auch dann, wenn das Gesetz – nach irgendjemandes Ansicht – nicht den das Verfahren der Gesetzgebung und den Inhalt der Gesetze regelnden Normen der Verfassung entspricht.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 480–481. 40 41
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Kap. 4: Ursprung und Begründung der Geltung der Normen
als Gesetze anzuerkennen, wenn diese Gesetze außerhalb des von der direkten Ermächtigung festgesetzten Rahmen liegen, hängt von einer positivrechtlichen alternativen Ermächtigung ab, die so formuliert sein muss, dass sie dem Normsetzer eine Art universelle Ermächtigung zuschreibt, sodass „alles, was das Gesetzgebungsorgan als Gesetz erläßt, als Gesetz im Sinne der Verfassung zu gelten hat“ 43. Ist in der Rechtsordnung eine solche alternative Ermächtigung zu finden, dann ist es in der Tat möglich, durch die Konfrontation der erzeugten Normen mit den gültigen Normen einer Rechtsordnung (sowie mit der Bestimmung einer universellen alternativen Ermächtigung) zu behaupten, dass die erzeugte Norm, obwohl normwidrig, gültig ist. In allen anderen Fällen, in denen die Rechtsordnung keine universelle alternative Ermächtigung für die Erzeugung von generellen Normen enthält, kann eine generelle, außerhalb des Rahmens der direkten Ermächtigung liegende Norm nur als gültig betrachtet werden, wenn die erzeugte Norm im Rahmen der Norm über die alternative Ermächtigung liegt. Die Existenz einer universellen alternativen Ermächtigung bezüglich individueller Normen wird von Kelsen nicht in der Sektion über „,gesetzwidrige‘ Gerichtsentscheidungen“ 44 behandelt, sondern in einem anderen Zusammenhang: bei der Untersuchung der „Beziehung zwischen der richterlichen Entscheidung und den anzuwendenden generellen Rechtsnormen“ 45. Bei der Behandlung dieser Thematik hat Kelsen behauptet46, dass es möglich wäre, aber nicht notwendig (in Kelsens hier behandeltem Text spielt das Wort „wenn“ die Hauptrolle), dass eine Autorität eine Art universelle Ermächtigung bekommen würde, sodass diese Ermächtigung keine inhaltlichen Grenzen enthalten würde. Ist die alternative Ermächtigung positiviert, dann kann die Rechtserkenntnis der rechtlichen Natur der erzeugten Normen unter Beachtung des Grundsatzes der Positivität erfolgen. Weil diese Situation kontingent ist, ist eine andere Alternative nicht auszuschließen, sodass es auch passieren kann, dass die Rechtserkenntnis der erzeugten Norm über das notwendige Voraussetzen einer Norm zur alternativen Ermächtigung erfolgen muss. Aber für das Festsetzen dieser Notwendigkeit reicht die Tatsache nicht aus, dass keine positive Norm zur alternativen Ermächtigung die Erzeugung einer bestimmten Norm begründen wird, denn wie in der nächste Sektion argumentiert wird, kann es einen anderen Weg geben, um die Geltung einer Norm zu begründen, die nicht durch Anwendung der direkten Ermächtigung erzeugt war. Kelsen, RR2 (1960), S. 481. Kelsen, RR2 (1960), S. 472. 45 Kelsen, RR2 (1960), S. 432. 46 „Die generelle Rechtsnorm ist stets nur ein Rahmen, innerhalb dessen die individuelle Rechtsnorm zu erzeugen ist. Aber dieser Rahmen kann enger oder weiter sein. Er ist am weitesten, wenn die positive generelle Rechtsnorm nur die Ermächtigung zur Erzeugung der individuellen Rechtsnorm enthält, ohne deren Inhalt vorauszubestimmen.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 437 (Hervorhebung von mir: M.P.S.). 43 44
B. Die alternative Ermächtigung und ihre Positivität
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IV. Die indirekte Positivität der alternativen Ermächtigung aufgrund der Ohnmacht hinsichtlich der Überprüfung der Normangemessenheit Obwohl es mittels Kelsens Auffassung der alternativen Ermächtigung nicht möglich ist, die Positivität der alternativen Ermächtigung als immer notwendig (nicht kontingent) zu betrachten – d. h. es ist nicht immer möglich zu erklären, warum der subjektive Sinn eines Willensaktes als objektiver Sinn dieses Willensaktes betrachtet werden muss, denn in konkreten Rechtsordnungen kann die Situation identifiziert werden, dass die erzeugten Normen nur als gültige Normen zu betrachten sind, wenn sie von Autoritäten und durch Rechtsanwendung erzeugte Normen (positiven direkten oder alternativen Ermächtigungsnormen) sind –, hat Kelsen in seinem Text einen Aspekt der Erzeugung von Normen mittels der alternativen Ermächtigung erwähnt, der angewendet werden kann, um eventuell auf einem anderen Weg eine Art von indirekter Positivität der alternativen Ermächtigung zu identifizieren. In der Reine(n) Rechtslehre wird eine Situation dargestellt, in der die Normadressaten (die Individuen und Organe, die von Rechts wegen verpflichtet sind, Normen durchzuführen, „die zur Gesetzanwendung berufenen Organe“ 47) von der Rechtsordnung keine Ermächtigung bekommen haben, um zu entscheiden, ob die erzeugten Normen normgemäß sind oder nicht, d. h. diese Normadressaten sind nicht ermächtigt, Normen nicht anzuwenden, weil nach ihrer Auffassung diese Normen normwidrig sind48. Diese Situation von Ohnmacht im Hinblick auf die Prüfung der Normangemessenheit von Normen hat eine praktische Konsequenz: Sind die Normadressaten Staatsbeamte, die die Aufgabe haben, also positivrechtlich verpflichtet sind, die von bestimmten Autoritäten erzeugten Normen anzuwenden, auch wenn diese Normen normwidrig sind, dann kann behauptet werden, dass durch die Positivierung der Ohnmacht zur Prüfung der Rechtmäßigkeit der von bestimmten Autoritäten erzeugten Normen die alternative Ermächtigung positiviert wird. In diesem Fall wird die Positivität der alternativen Ermächtigung nicht durch die Berücksichtigung der Normen bestätigt, die bestimmte Autoritäten ermächtigen, alles was als Normen von bestimmten Autoritäten erzeugt ist, als gültige Normen anzuerkennen – also die Normen, die Autoritäten einen unbegrenzten Erzeugungsspielraum, eine universelle alternative Ermächtigung anbieten –, sondern durch das Nachdenken über die Tatsache, dass die Rechtsordnung andere Kelsen, RR2 (1960), S. 480. Die Normwidrigkeit einer Norm kann in einigen Situationen als Ergebnis einer relativen Normangemessenheit betrachtet werden. Dabei geht es um die Problematik der Abwesenheit einer Positivierung der alternativen Ermächtigung. Dann sind die normwidrigen Normen so zu betrachten, dass sie nicht relativ normgemäß sind, da in dieser Situation keine Norm über die alternative Ermächtigung existiert, die die Geltung dieser Norm begründen würde. 47 48
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Autoritäten ermächtigt hat (im Sinne von verpflichtet), die von den ersten Autoritäten erzeugten Normen (oder einige dieser Normen) anzuwenden, auch wenn diese Normen normwidrig sind. Aus diesem Grund werden die normsetzenden Akte von bestimmten Autoritäten als Akte mit rechtlicher Bedeutung verstanden, obwohl diese Autoritäten keine Ermächtigung bekommen haben, diese Normen zu erzeugen, weil andere Autoritäten keine Ermächtigung (im Sinne von rechtlichem Können) bekommen haben, die Normangemessenheit dieser normsetzenden Akte zu überprüfen – oder anders gesagt: weil diese anderen Autoritäten die Ermächtigung (im Sinn einer rechtlichen Verpflichtung) bekommen haben, einen bestimmten Sinn eines Willensaktes einer determinierten Autorität immer als den objektiven Sinn des jeweiligen Willensaktes (d. h. als gültige Norm) zu betrachten. Darüber hinaus ist ein weiterer Aspekt dieser indirekten Art von positivrechtlicher alternativer Ermächtigung zu beachten. Weil in diesem Fall die alternative Ermächtigung durch die Positivierung der Ohnmacht zur Prüfung der Normangemessenheit der anzuwendenden Normen erfolgt, ist der durch die Ausübung der alternative Ermächtigung von einer bestimmten Autorität angebotene Rechtserzeugungsspielraum nicht immer als absolut unbegrenzt zu betrachten. Hier sind zwei Situationen zu berücksichtigen, die diesen Aspekt betonen: 1. Nach Kelsens Beispiel49 ist ein Richter immer verpflichtet, alle Gesetze anzuwenden, auch wenn er der Auffassung ist, ein Gesetz sei verfassungswidrig. D. h. ein Richter ist nicht ermächtigt, ein Gesetz nicht anzuwenden, nur weil es seiner Auffassung nach verfassungswidrig ist. Konsequenterweise kann der Gesetzgeber diesen Richter immer verpflichten, erzeugte Gesetze anzuwenden, sodass der Rechtserzeugungsspielraum dieses Gesetzgebers im Hinblick auf den Richter, diese Autorität, unbegrenzt ist. Seine alternative Ermächtigung für die Erzeugung von Gesetzen ist unbegrenzt, er kann Gesetze mit allen denkbaren Inhalten erzeugen, und Richter sind immer verpflichtet, diese Gesetze anzuwenden. Weil der Normadressat, in diesem Fall der Richter, von Rechts wegen alle erzeugten Gesetze anwenden muss, ist die alternative Ermächtigung der Gesetzgeber bezüglich dieser rechtsanwendenden Autorität unbegrenzt, auch inhaltlich. In Bezug auf diese Autorität (aber nicht unbedingt auf alle Normadressaten – siehe weiter unten) ist diese Ermächtigung unbegrenzt. In einem solchen Fall wird sogar die Positivität des verfassungswidrigen Gesetzes bestätigt, auch wenn der Gesetzgeber keine alternative Ermächtigung bekommen hatte, ein Gesetz mit diesem Fehler zu erzeugen. 2. Eine andere Art von alternativer Ermächtigung kann identifiziert werden, die nicht mit einer unbegrenzten, sondern mit einer begrenzten alternativen Ermächtigung verbunden ist. Wie schon angemerkt, ist die indirekte Positivität der alternativen Ermächtigung mit der Verpflichtung der Normadressaten ver49 Siehe Kelsen, RR2 (1960), S. 480–481, Text in Fußnote 42 zitiert. Siehe auch ders., ATN (1979), S. 83–84.
B. Die alternative Ermächtigung und ihre Positivität
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knüpft, gesetzte Normen unbedingt anzuwenden. Konsequenterweise kann die Situation vorliegen, in der eine Autorität versucht, eine Norm zu erzeugen, die sie durch direkte Ermächtigung nicht erzeugen dürfte, was in der Konsequenz dazu führt, dass diese Erzeugung nur einen subjektiven, nicht aber einen objektiven Sinn eines Willensaktes wiedergibt. Diese Situation kann durch folgendes Beispiel anschaulich gemacht werden: Ein Staatsbeamter kann ermächtigt sein, Bußgeldbescheide wegen unzulässigen Parkens auszustellen, sodass andere Staatsbeamte verpflichtet sind, die Vollstreckung dieser Bescheide zu veranlassen. Weil in diesem Fall die alternative Ermächtigung durch die Verpflichtung von anderen Autoritäten für die Exekution bestimmter Normen positiviert ist, ist diese alternative Ermächtigung inhaltlich begrenzt, sie ist die Zuschreibung einer alternativen Ermächtigung, um diese Art von Normen (Bußgeldbescheide wegen unzulässigen Parkens) zu erzeugen. Der Staatsbeamte, der ermächtigt ist, Bußgeldbescheide zu erlassen, bekommt die alternative Ermächtigung, Autofahrer zu bestrafen, aber dieser Staatsbeamte hat keine alternative Ermächtigung bekommen, um beispielsweise Bußgeldbescheide wegen Verstoßes gegen das Umweltrecht zu erlassen, weil kein Staatsbeamter verpflichtet ist, die von diesem Staatsbeamten erzeugten Bußgeldbescheide wegen Verstößen gegen das Umweltrecht umzusetzen. Hier kann gesagt werden, dass diese Autorität nicht mit diesen Staatsbeamten „kommunizieren“ kann. Dank einer positivrechtlichen Normierung werden einige Autoritäten in der Lage sein, für viele Adressaten Normen zu setzen, die diese Adressaten dann durchführen sollen, weil sie nicht ermächtigt sind, die Normangemessenheit dieser Normen zu überprüfen. Existiert in einer Rechtsordnung eine Autorität, die für alle möglichen Adressaten (dieses sind die Autoritäten, die verpflichtet sind, die von dieser Autorität erzeugten Normen auszuführen) Befehle durch erzeugte Normen erteilen darf, dann besitzt diese Autorität eine absolut unbegrenzte alternative Ermächtigung, sie kann zu allen Themen und Inhalten Normen erzeugen und sie kann für alle möglichen Adressaten Normen setzen, die diese Adressaten nicht überprüfen dürfen. Es muss aber noch erwähnt werden, dass eine Rechtsordnung auch einigen Autoritäten eine inhaltlich relative oder nur für bestimmte Adressaten geltende alternative Ermächtigung zuschreiben kann. Bei allen diesen Alternativen ist es wesentlich, dass durch die positivrechtliche Ohnmacht zur Prüfung der Normangemessenheit von Normen, was bestimmte Adressaten zur absoluten und direkten Umsetzung von Nomen verpflichtet, ein Weg identifiziert ist, um die indirekte Positivität der alternativen Ermächtigung zu begründen, wenn die Rechtsordnung nicht festlegt, dass alles, was eine bestimmte Autorität als Norm erzeugt, als Norm betrachtet werden soll, sondern nur, dass die Autoritäten ermächtigt sind, durch Rechtsanwendung Normen zu erzeugen. Die gestellte Frage nach dem Grund für die Annahme, dass die von Autoritäten außerhalb der direkten Ermächtigung erzeugten Normen gültige Normen sind, also als Rechtsakte zu betrachten sind, bekommt hier (neben der schon
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erwähnten) eine weitere mögliche Antwort. Diese Normen sind gültig, diese Akte haben eine rechtliche Bedeutung dank der positivrechtlich bestimmten Ohnmacht anderer Autoritäten, die rechtliche Bedeutung dieser Akte zu überprüfen. Angesichts der hier präsentierten Bedingungen (und konsequenterweise Grenzen) für die Anerkennung einer positivrechtlich bestimmten Ohnmacht sowie den früher dargestellten Bedingungen für die Anerkennung einer positivrechtlichen alternativen Ermächtigung kann zu Kelsens Auffassung der Nichtigkeit ein weiteres Argument angeführt werden. Kelsen hat behauptet, dass es in einer Rechtsordnung keine nichtige Norm geben kann, denn eine Rechtsordnung kann nur bestimmen, dass Normen als nichtig zu betrachten sind, wenn sie auch festlegt, wer diese Normen für nichtig erklären kann, mit der Konsequenz, dass diese Normen vor der Nichtigkeitserklärung als gültig zu betrachten sind50. Wenn aber die alternative Ermächtigung, wie gezeigt, nicht immer eine universelle Ermächtigung bedeutet, dann ist anzuerkennen, dass die Möglichkeit besteht, dass eine Autorität ohne positivierte oder vorausgesetzte51 alternative Ermächtigung eine Norm erzeugen kann, die außerhalb des Bereichs ihrer Ermächtigung liegt und von keinem Normadressaten als Norm betrachtet werden wird. In einem solchen Fall scheint es angemessen zu behaupten, dass diese erzeugte Norm eine nichtige Norm ist, da sie in keiner Weise mit Rechtsphänomenen verbunden sein kann. Zuletzt ist zu beachten, dass die Abwesenheit der positiven alternativen Ermächtigung (durch Normen, die Autoritäten eine alternative Ermächtigung zuschreiben, oder Normen, die für andere Autoritäten eine Ohnmacht zur Prüfung der Rechtmäßigkeit der von anderen Autoritäten erzeugten Normen setzen) nicht immer ein Hindernis für die Zuschreibung der rechtlichen Natur von Normen ist, die von Autoritäten erzeugt sind, sondern ein Grund, warum es nicht immer möglich ist, nur die Grundnorm als Ausnahme für den Grundsatz der Positivität zu identifizieren. Deswegen können einige der von Autoritäten erzeugten Normen als gültige Normen betrachtet, als Rechtsphänomene gesehen werden, auch wenn sie nicht durch die Ausübung einer positiven alternativen Ermächtigung erzeugt sind. Theoretisch gesprochen bieten diese Situationen zwei Alternativen: entweder wird akzeptiert, dass der Grundsatz der Positivität in einigen Fällen nicht zur Anwendung gelangt oder es ist anzuerkennen, dass durch die Beachtung dieses Grundsatzes einige der erzeugten Normen als ungültige Normen zu betrachten sind, obwohl sie in der Tat als gültige Normen, als konstitutiv für Rechtsphänomene verstanden werden müssen. Die Annahme dieser letzten Alternative existiert nur in einer Theorie, die nicht das Ziel hat, Rechtsphänomene zu beschreiSiehe Kelsen, RR2 (1960), S. 490. Text in Fußnote 35 zitiert. 51 Es kann behauptet werden, dass diese Autorität keine vorausgesetzte alternative Ermächtigung hat, weil es in der Realität nicht der Fall ist, dass die von dieser Autorität erzeugten Normen als gültige Normen zu betrachten, als Rechtsphänomene zu bezeichnen sind. 50
C. Stufenbaulehre und Rechtserkenntnis
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ben. Kelsens Rechtstheorie hat dieses Ziel, mit der Folge, dass es für seine Rechtstheorie nötig ist, den Grundsatz der Positivität in einigen konkreten Situationen auszuschließen, um durch das Voraussetzen einer Ermächtigungsnorm in der Lage zu sein, zu erklären, warum einige Phänomene die rechtliche Natur besitzen, die sie besitzen. Die Annahme der anderen Alternative, die uneingeschränkte Vertretung der Positivität, kann in konkreten Situationen zu dem Ergebnis führen, dass die entwickelte Rechtstheorie nicht mehr das Ziel verfolgt, die Realität zu beschreiben, sondern das Ziel, Behauptungen zu formulieren, wie die Realität sein sollte, wie die Gegenstände der Rechtswissenschaft sich präsentieren sollten. Dass diese Alternative abzulehnen ist, folgt aus Merkls Aussage: „Keine Wissenschaft kann über ihr Objekt hinaus; und sobald sie es versucht, über ihren Erkenntnisgegenstand hinauszukommen, wird sie ihrem Wesen, ihrem Berufe untreu.“ 52
C. Stufenbaulehre und Rechtserkenntnis In dieser Sektion werden die Aspekte der Stufenbaulehre analysiert, die in Verbindung mit der Erklärung der Gründe für die Geltung von Normen stehen. Da die Stufenbaulehre von Kelsen adoptiert wurde, aber von Merkl stammt53, werden mehrere mit dieser Lehre verbundene Themen angesichts der Überlegungen Merkls zur Thematik behandelt. Darüber hinaus wird auch die Problematik der Normenkonflikte untersucht, weil die Existenz von Normenkonflikten die Rechtserkenntnis beeinträchtigen kann und weil in einigen Situationen diese Konflikte dank der Überlegungen zu den hierarchischen Verhältnissen zwischen den Normen gelöst werden können. I. Die Rolle der Stufenbaulehre für die Rechtserkenntnis und die Begründung der Stufung der Normen Die Anerkennung der Rechtsordnung als Stufenordnung (oder als Stufenordnungen – die Problematik der Anzahl von Stufenbauten einer Rechtsordnung wird weiter unten behandelt) ist wesentlich für die Rechtserkenntnis, denn mittels der Anerkennung der Verhältnisse zwischen den Normen kann in mehreren Situationen begründet werden, ob eine Norm gültig oder ungültig ist. In den 52 Merkl, Das Recht im Lichte seiner Anwendung (1916), in: AJM-GS, Bd. I/1, S. 107. 53 Über die Relevanz von Merkls Stufenbaulehre für seine Reine Rechtslehre schreibt Kelsen: „Erst durch Merkls Stufentheorie haben wir Einsicht in die innere Struktur einer Rechtsordnung gewonnen. Wie ich schon in der Vorrede zur zweiten Auflage meiner ,Hauptprobleme der Staatsrechtslehre‘ (1923) hervorgehoben habe, ist Merkls Stufentheorie zu einem wesentlichen Bestandteil der von mir vertretenen Reinen Rechtslehre geworden; und so muß Adolf Merkl als einer ihrer Mitbegründer angesehen werden.“ Kelsen, Adolf Merkl zu seinem siebzigsten Geburtstag am 23. März 1960, in: ÖZöR 10 (1960), S. 313.
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Kap. 4: Ursprung und Begründung der Geltung der Normen
meisten Fällen findet die Rechtserkenntnis der Geltung einer Norm ihre Begründung in der Berücksichtigung der Verhältnisse zwischen dieser Norm und einer, einigen oder mehreren anderen gültigen Normen der Rechtsordnung, und in der Regel wird eine Norm als gültig anerkannt, wenn sie auf gültige Art und Weise erzeugt wurde (d. h. durch die Berücksichtigung des sogenannten Stufenbaus nach der rechtlichen Bedingtheit), gültig bleibt und nicht derogiert wurde (d. h. unter Berücksichtigung des Stufenbaus nach der derogatorischen Kraft). Wegen der Unvermeidbarkeit der Anwendung der alternativen Ermächtigung sowie der kontingenten Existenz einer positivrechtlichen Regelung der alternativen Ermächtigung ist es nicht möglich, ohne Vorbehalt zu behaupten, dass die Anerkennung der Rechtsordnung als Stufenordnung notwendig für die Erkenntnis von allen gültigen Normen ist. Findet man in einer Rechtsordnung eine gültige Norm, die nicht im Rahmen des anzuwenden Rechts liegt und existiert in dieser Rechtsordnung keine positivrechtliche Normierung der alternativen Ermächtigung für die Erzeugung dieser Norm, dann kann nicht behauptet werden, dass die Geltung dieser Norm durch die Berücksichtigung der Rechtsordnung als gestufte Ordnung, als hierarchische Ordnung zu erklären ist. Trotzdem wird mittels eines aus der Perspektive des Rechts als Stufenordnung stammenden Elements in einer solchen Situation die Rechtserkenntnis weiter bestehen, dass beispielsweise ein verfassungswidriges Gesetz gültig ist, denn wie schon bei der Behandlung der alternativen Ermächtigung argumentiert worden ist, kann nicht jede Person durch die Anwendung der alternativen Ermächtigung normwidrige und gleichzeitig gültige Normen erzeugen, sondern nur die von der Rechtsordnung ermächtigten Autoritäten. Und die Anerkennung, dass bestimmte Personen Autoritäten sind, kann nur aufgrund gültiger Normen erfolgen, die ihrerseits ihre Geltung von anderen gültigen Normen in einer solchen Weise bekommen haben, dass diese Geltungsableitung durch die Lehre vom Stufenbau geklärt werden muss, weil es ohne diese Erklärung nicht mehr möglich wäre, gültige von ungültigen Normen zu unterscheiden, subjektiven von objektivem Sinn von Willensakten, Autoritäten von Privatpersonen. Die Darstellung der Rechtsordnung als Stufenordnung in einer Stufenbaulehre ist nicht immer erforderlich, denn eine hierarchische Gliederung der Normen ist kein wesentlicher Aspekt des Rechts als solches, von allen Rechtsordnungen54. Die Rechtsnormen werden unter Berücksichtigung ihrer Rechtserzeugungsfor54 Dieser Aspekt wird von Merkl hervorgehoben: „Der rechtliche Stufenbau ist nicht etwas Rechtsimmanentes, das die Rechtssetzung hinnehmen müßte, sondern ist selbst ein willkürliches, verwandlungsfähiges Produkt der Rechtsordnung.“ Merkl, Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues (1931), in: AJM-GS, Bd. I/1, S. 482. „Konkret gesprochen hängt es ebenso von willkürlicher positivrechtlicher Satzung ab, ob überhaupt Gesetze, Verordnungen, Gerichtsurteile und Verwaltungsakte zum Bestande einer Rechtsordnung gehören, wie auch in welchem Verhältnisse diese Akte zueinander stehen.“ Ders., a. a. O., S. 464.
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men55 miteinander in einem Stufenverhältnis dargestellt, sie werden als hochrangig, gleichrangig oder unterrangig präsentiert, wenn diese Normen in einer konkreten Rechtsordnung diese Eigenschaft bekommen. Merkl hat diese Stufung der Normen angesichts ihrer rechtssetzenden Kraft als rechtliche Bedingtheit präsentiert, als ob dieses hierarchische Verhältnis zwischen zwei Normen mit einem Bedingtheitsverhältnis gleichbedeutend wäre, denn er hat die Ausdrücke „rechtssetzende (. . .) Fähigkeit“ und „derogierende Kraft“ als Synonyme behandeln56. Aber in dieser Form kann diese Auffassung nicht akzeptiert werden. Das Hauptproblem im Hinblick auf diese Behandlung des Themas liegt bei Merkls Gleichsetzung der rechtssetzenden Fähigkeit mit der derogatorischen Kraft, mit der Fähigkeit, durch Rechtssetzung Normen zu dero55 Merkl hat den Begriff „Rechtssatzformen“ angewendet, während Kelsen den Begriff „Rechtserzeugungsformen“ verwendet. Siehe Merkl, Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues (1931), in: AJM-GS, Bd. I/1, S. 437; Kelsen, RR2 (1960), S. 499. Für beide Autoren geht es um die Auffassung, dass durch Rechtserzeugung mehrere Arten von Normen erzeugen werden können, die voneinander nicht wegen des Inhalts, sondern wegen der Bedingungen, die von der Rechtsordnung gesetzt sind, um eine Norm beispielsweise als Gesetz oder Verordnung betrachten zu können, identifiziert und unterscheiden werden können. „Den Hauptanteil an der Differenzierung der Rechtssatzformen hat indes die Komplikation der Rechtserzeugung durch das je nach den verschiedenen Staats- und Regierungsformen wechselnde Zusammenwirken verschiedener Organe, z. B. verschiedener Faktoren der Gesetzgebung an der Staatswillensbildung. Je komplizierter die Staatswillensbildung, desto mannigfaltiger die in der Rechtserzeugung benutzten Rechtssatzformen.“ Merkl, a. a. O., S. 438–439. 56 „Zwischen den einzelnen derart verketteten Rechtssätzen besteht nicht etwa bloß zeitliche, sondern insbesondere auch logische Priorität bzw. Posteriorität. Insoferne, als ein Rechtssatz nicht ohne den vorgängigen Rechtssatz gedacht werden kann, also ihm seine Geltung verdankt, kann er als der höhere und der von ihm abhängige Rechtssatz als der niedrigere Rechtssatz oder mit den Ausdrücken Bierlings als superordinierte bzw. subordinierte Norm beurteilt werden. Als höher wird somit hier ein Rechtssatz qualifiziert, ohne dessen Existenz bestimmten Handlungen gar nicht der Sinn eines Rechtssatzes beigelegt werden könnte, und zwar kommt ihm selbstverständlich dieser höhere Rang nur im Verhältnis zu jenem Rechtssatze zu, der durch die Entsprechung mit ihm Rechtssatzcharakter annimmt. Die Reihe bedingender und bedingter Rechtssätze stellt sich demnach als eine Rangreihe, bildlich gesprochen als Hierarchie höherer und niedrigerer Akte dar. Rangunterschiede, welche eine Qualifikation der Akte als relativ höhere und niedrigere zulassen, stellen sich jedoch nicht bloß unter dem Gesichtspunkt einer logischen Beurteilung ihrer Abhängigkeitsbeziehungen, sondern auch einer juristischen Beurteilung ihrer rechtssetzenden Fähigkeit heraus. Ein Rechtssatz, der gegenüber einem anderen Rechtssatz derogierende Kraft hat, während dieser andere Rechtssatz ihm gegenüber keine derogierende Kraft hat, ist aus diesem Grunde von höherem Rang und der derogierbare Rechtssatz im Vergleich mit dem derogierenden Rechtssatz von niedrigerem Rang.“ Merkl, Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues (1931), in: AJM-GS, Bd. I/1, S. 468–469. Dieser Aspekt der Begründung der Rangunterschiede wird von Walter nicht identifiziert, denn er hat die Rangunterschiede nur aufgrund der Bedingtheitsverhältnisse dargestellt. „Für den Stufenbau der rechtlichen Bedingtheit kommt es aber nur auf das Bedingtheitsverhältnis von Bestandteilen des Rechts zu anderen Bestandteilen des Rechtes an. Jene Rechtsvorschrift, die im dargelegten Sinne bedingend ist, wird deshalb als die höhere, die bedingte Rechtsvorschrift als die niedere angesehen.“ Walter, Der Aufbau der Rechtsordnung, S. 61.
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gieren, denn diese Gleichsetzung kann nur vertreten werden, wenn in der konkreten Rechtsordnung die Lösung aller möglichen Normenkonflikte schon vorausbestimmt ist, sodass alle Akte, die Normen erzeugen, die in Konflikt mit anderen Normen stehen, immer gleichzeitig als Akte mit einer derogatorischen Fähigkeit betrachtet werden müssten. Ohne diese Voraussetzung – und hier ist wesentlich anzuerkennen, dass die Rechtsordnungen nicht immer Lösungen für alle Normenkonflikte anbieten – haben diese Ausdrücke nicht dieselbe Bedeutung; ohne diese Voraussetzung kann durch einen Akt, der rechtssetzende Fähigkeit hat, eine Norm erzeugt werden, die in Konflikt mit anderen Normen steht. Aufgrund der positiven Normen über Normenkonflikte sind in den meisten Fällen die bedingten Normen im Vergleich mit den bedingenden Normen untergeordnet, sodass beispielsweise eine Norm nur erzeugt werden kann, wenn sie nicht in Konflikt mit anderen Normen steht. Aber angesichts des Stufenbaus nach der rechtlichen Bedingtheit – genauer, angesichts des Stufenbaus nach rechtssetzender Fähigkeit – ist es nicht immer so, sondern Normen bekommen ihre hierarchische Position nur aufgrund einer generellen Bestimmung der Rechtsordnung, dank einer Bestimmung, die der Autorität, die diese Norm erzeugt hat, einen gewissen Rechtserzeugungsspielraum, eine gewisse rechtssetzende Fähigkeit (eine gewisse rechtssetzende Kraft) zuschreibt. Das Verhältnis zwischen zwei Normen muss als hierarchisches Verhältnis und nicht als bloße Reihenfolge verstanden werden, denn unter konkreten Umständen kann es vorkommen, dass zwei Normen auf Grund zweier Normen mit gleichem Rang erzeugt wurden, die im Verhältnis zueinander nicht gleichrangig sind, sondern auf unterschiedlichen Stufen stehen, da nicht immer eine erzeugte Norm im Vergleich zur erzeugenden Norm unterrangig ist. Diese Situation, die die Relevanz der Unterscheidung der Normen in Stufen darstellt, die die Verhältnisse zwischen Normen als ein hierarchisches Verhältnis präsentiert, kann mit folgendem Beispiel erläutert werden. In einer Verfassung sind drei Normen zu finden, sodass eine Norm die Erzeugung von Verfassungsnormen diszipliniert, eine andere die Erzeugung von Gesetzesnormen und eine dritte Norm eine bestimmte Handlung X verbietet. In dieser Verfassung ist auch bestimmt, dass Gesetze nur erzeugt werden dürfen, wenn sie nicht in Konflikt mit Verfassungsnormen stehen, sowie auch, dass für die Erzeugung von Verfassungsnormen diese Begrenzung nicht existiert, weil nach einer anderen Verfassungsnorm die späteren Normen als gültig zu betrachten sind, solange sie die Normen über die Erzeugung von Verfassungsnormen beachtet haben. Ist durch Anwendung einer Verfassungsnorm eine Verfassungsnorm erzeugt, die X erlaubt, dann ist diese Norm gültig (und absolut normgemäß). Ist ein Gesetz erzeugt, das X erlaubt, dann ist diese Norm angesichts der direkten Ermächtigung ungültig, denn anders als die erzeugte Verfassungsnorm hat diese Norm die Bedingung für ihre Geltung nicht erfüllt. Ist ein Gesetz erzeugt, das nicht X, sondern Y erlaubt,
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und existiert in der Verfassung keine Norm, die Y verbietet, dann ist dieses Gesetz gültig. Hier muss beachtet werden: Die erzeugte gültige Verfassungsnorm erhält ihre Geltung dank des Verhältnisses zu einer anderen Norm, aber sie ist nicht mit dem erzeugten gültigen Gesetz gleichrängig, sondern höherrangig. Beide Normen sind von Verfassungsnormen anhängig, also aufgrund von Verfassungsnormen erzeugt, aber sie sind nicht gleichrangig. Es ist nicht allein die Tatsache, dass eine Norm ihre Geltung einer anderen Norm verdankt, die die Stellung dieser Norm in der Hierarchie der Normen, in dem Stufenbau begründet. Eine Norm gehört zu einer Stufe und nicht zu einer anderen aufgrund der Bedingungen, die für die Erzeugung dieser Art von Normen (wegen der Fähigkeit der erzeugten Norm, als diese und nicht als eine andere Art von Norm zu existieren) vorliegen. Die erzeugte Gesetzesnorm liegt unter der erzeugten Verfassungsnorm, weil nach der Verfassung die Erzeugung von Verfassungsnormen weniger Begrenzungen unterliegt (ihre „rechtssetzende (. . .) Fähigkeit“ ist höher), als die Erzeugung von Gesetzesnormen. Das ist klar zu sehen, dass nach der in dem Beispiel dargestellten Verfassung (und angesichts der ausschließlich angewandten direkten Ermächtigung) keine absolut normgemäße Gesetzesnorm X erlauben kann, aber diese Verfassung erlaubt die Erzeugung einer Verfassungsnorm, die X erlaubt. Wegen ihrer „rechtssetzenden Fähigkeit“ kann diese Verfassungsnorm, nicht aber die Gesetzesnorm, als absolut normgemäß und aus diesem Grund gültig betrachtet werden. Würden die hierarchischen Verhältnisse aufgrund der Bedingtheitsverhältnisse und nicht angesichts der rechtssetzenden Fähigkeit der erzeugten Normen dargestellt, dann könnte angesichts der oben präsentierten Verfassung ohne Ewigkeitsklausel folgende Situation entstehen: Weil die Verfassungsnorm, die X verbietet, von keiner Norm erzeugt wurde (d. h. sie war nicht durch Anwendung einer Norm erzeugt), muss sie als höherrangig als die Verfassungsnorm betrachtet werden, die X erlaubt. Gäbe es eine Verfassungsnorm für die Lösung von Normenkonflikten, nach der die späteren gleichrängigen oder höherrangigen Normen die früheren Normen derogieren, dann würde trotzdem die frühere Norm weiter als gültig betrachtet werden müssen, da in dieser Rechtsordnung die logische Unmöglichkeit besteht (wegen der irrtümlichen Stufung angesichts der Bedingtheitsverhältnisse), eine Verfassungsnorm zu erzeugen, die mit dieser Norm gleichrangig ist, denn die Norm, die X verbietet, ist eine ürsprungliche, eine durch keine Norm bedingte Norm, während alle späteren Normen, die X regulieren, durch andere Normen bedingt sind. Gäbe es keine Verfassungsnorm für die Lösung dieser Normenkonflikte, dann müsste die spätere Norm als verfassungswidrig betrachtet werden, obwohl diese Norm das von der Verfassung gesetzte Erzeugungsverfahren beachtet hat (!) und die Verfassung selber deutlich gemacht hat, dass keine Verfassungsnorm unveränderlich ist! Angesichts von Merkls Behandlung der Stufungen in der Rechtsordnung kann nur vermutet werden – weil Merkl diese Voraussetzung nicht ausdrücklich er-
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wähnt –, dass er seine Aussagen über die Stufung nach rechtlicher Bedingtheit aufgrund des Voraussetzens einer Rechtsordnung ohne Normenkonflikte formuliert hat, denn ohne dieses Voraussetzen liegt kein Grund vor, um die rechtssetzende Fähigkeit als eine Fähigkeit mit wesentlicher Verbindung zur derogatorischen Kraft zu verstehen. Weil positivrechtliche Bestimmungen für die Lösung von Normenkonflikten kein wesentlicher Bestandteil einer Rechtsordnung sind, kann es in einer Rechtsordnung vorkommen, dass während einer gewissen Zeitspanne zwei gleichrangige Verfassungsnormen existieren: eine, die X erlaubt, und eine andere, die X verbietet. Die rechtssetzende Fähigkeit darf nicht – wie Merkl es gemacht hat – mit der derogatorischen Fähigkeit verwechselt werden57. Angesichts der Erzeugung von Rechtsnormen ist die hierarchische Eigenschaft der Normen im Verhältnis zueinander nicht durch die Bedingtheitsverhältnisse, sondern durch die rechtssetzende Fähigkeit bestimmt. II. Wie viele Stufenbauten (Rangordnungen der Normen) kann eine Rechtsordnung enthalten? Die Normen, die die rechtssetzende Fähigkeit bestimmen (von Merkl als bedingende Normen bezeichnet), können als Ermächtigungsnormen betrachtet werden, die eine oder mehrere Autoritäten ermächtigen, unter Beachtung bestimmter Bedingungen andere Normen zu erzeugen58. Diese Bedingungen für die rechtssetzende Fähigkeit sind in unterschiedlichen Formen zu finden, z. B. als Bestimmungen, nach denen die von einer Norm festgesetzte Ermächtigung nur eine Ermächtigung für die Erzeugung von Normen zu gewissen Themen umfasst, sodass die erzeugten Normen nur im Rahmen der schon erzeugten Normen erzeugt werden können; oder dass die erzeugten Normen die Kraft besitzen, bestimmte Arten 57 Auch bei Walters Darstellung der „rechtssetzenden Fähigkeit“ ist genau das der Fall. „Rangunterschiede, welche eine Qualifikation der Akte als relativ höhere und niedrigere zulassen, stellen sich jedoch nicht bloß unter dem Gesichtspunkt der erwähnten Abhängigkeitsbeziehungen, sondern auch bei einer juristischen Beurteilung ihrer rechtssetzenden Fähigkeit heraus. Bei der letzteren Beziehung entscheidet über den Rang die derogierende Kraft, bei den erstangeführten die Bedingtheit.“ Walter, Der Aufbau der Rechtsordnung, S. 54. 58 Die Darstellung der bedingenden Normen als Ermächtigungsnormen wurde von Nawiasky formuliert und später von Walter und Lippold angewendet. „(Es; M.P.S.) scheint (. . .) naheliegend, eine stufenweise Ermächtigung als gegeben anzunehmen. Denn das Gesetz leitet seine Gültigkeit aus der Verfassung, die Verordnung aus dem Gesetz, der rechtsgeschäftliche Akt aus Gesetz oder Verordnung, der Zwangsakt aus dem rechtsgeschäftlichen Akt oder der Verordnung oder dem Gesetz ab. Diese durchgehende Gültigkeitsabhängigkeit ist aber kein Moment eines Sollens oder Müssens, einer Verpflichtung, sondern eines Könnens, einer Ermächtigung. Das Gesetz ist gültig, wenn es den Voraussetzungen der Verfassung, die Verordnung, wenn sie den Voraussetzungen des Gesetzes usw. entspricht. Wir können also von einer Stufenfolge der Möglichkeiten, rechtserhebliche Normen zu schaffen, sprechen.“ Nawiasky, Kritische Bemerkungen zur Lehre vom Stufenbau des Rechtes, in: ZöR 6 (1927), S. 493–494. Siehe Lippold, Recht und Ordnung, S. 382; Walter, Der Aufbau der Rechtsordnung, S. 56, Fn. 100.
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von Normen (d. h. Normen mit einer bestimmten Rechtserzeugungsform) zu derogieren. Die bedingenden Normen (die Normen, die die Bedingungen der rechtssetzenden Fähigkeit bestimmen) können die Ermächtigung für die Erzeugung von Normen auf mehrere Art und Weisen bestimmen, dabei sind so viele Art und Weisen denkbar, wie die Anzahl von Funktionen, die die erzeugten Normen haben. Ist eine Autorität dank einer Ermächtigungsnorm ermächtigt, das Verhalten der Rechtsunterworfenen zu bestimmen, dann hat diese Ermächtigungsnorm diese Autorität ermächtigt, Normen mit Erlaubnisfunktion oder mit Ge- oder Verbotsfunktion zu erzeugen59. Gleicherweise kann eine Ermächtigungsnorm eine Autorität ermächtigen, Normen mit der Ermächtigungsfunktion zu erzeugen, so wie sie auch Autoritäten ermächtigen kann, Normen zu erzeugen, die andere Normen derogieren60, d. h. sie kann eine Autorität ermächtigen, Normen mit Derogationsfunktion zu erzeugen61. Angesichts der Tatsache, dass die Ermächtigungsnorm für die Erzeugung von Normen unterschiedliche Bestimmungen, Arten von Ermächtigung, Arten von Normfunktionen enthalten kann, behauptet Merkl, dass in konkreten Situationen die Rechtsordnung nicht durch einen Stufenbau, sondern durch zwei62 oder meh-
59 Über die Gleichbedeutung der Gebots- und Verbotsnormen, sowie über ihre Verhältnisse mit den Erlaubnisnormen, siehe Kelsen, ATN (1979), S. 76–80. Es ist auch Folgendes zu erwähnen: Weil die Derogierung einer Ge- oder Verbotsnorm mit dem Erlauben der von dieser Norm ge- oder verboten Handlung gleichbedeutend ist, besteht auch die Möglichkeit, indirekt, durch Derogationsnormen, Handlungen zu erlauben. 60 Ein Problem kann aus einer Ermächtigung nur für die Erzeugung von Derogationsnormen entstehen. Ist in einer Rechtsordnung bestimmt, dass die späteren Normen die früheren Normen derogieren, und ist in dieser Rechtsordnung auch bestimmt, dass eine Autorität ermächtigt ist, Gesetze zu derogieren oder Verordnungen zu erzeugen, solange diese Verordnungen im Rahmen der Gesetze stehen, dann sollte eine von dieser Autorität erzeugte Verordnung, die in Konflikt mit einem Gesetz steht, als ungültig betrachtet werden, auch wenn diese Autorität die Ermächtigung hatte, das Gesetz zuerst zu derogieren und danach eine solche Verordnung zu erzeugen. 61 Neben der Derogation als Funktion der Normen ist auch die Suspension zu erwähnen, so wie eine entsprechende Ermächtigung zur Suspension. Siehe dazu Kapitel 4 Abschnitt C Unterabschnitt IV. 62 „Abgesehen davon, daß die Abfolge bedingender und bedingter Akte im allgemeinen nur als eine Reihenfolge angesehen werden darf und die Deutung bedingender und bedingter Akte als Rangordnung nur dann Sinn hat, wenn die in dieser Reihenfolge auftretenden Akte Normcharakter haben, braucht der durch das Verhältnis der Bedingtheit begründeten Rangordnung durchaus nicht immer eine gleich gegliederte Rangordnung gemäß dem Ordnungsprinzip der rechtlichen Kraft der in Vergleich gestellten Rechtsnormen zu entsprechen. Ein bedingender und darum in gewissem Sinne dem bedingten Akt übergeordneter Akt kann zugleich in anderm Sinn dem bedingten Akt untergeordnet sein, wenn dieser ihm gegenüber derogatorische Kraft hat, während dem bedingenden Akt dieselbe derogatorische Kraft gegenüber dem bedingten Akt fehlen kann.“ Merkl, Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues (1931), in: AJM-GS, Bd. I/1, S. 471.
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rere63 Stufenbauten dargestellt werden muss. Die Idee, dass eine Rechtsordnung durch zwei Stufenbauten konstituiert werden kann, wird von Walter hervorgehoben und von ihm als Merkls Auffassung des Themas dargestellt64, aber diese Auslegung von Merkls Stufenbaulehre findet nur partielle Bestätigung in Merkls Schriften. Einerseits hat Merkl eine Situation präsentiert, in der die Rechtsordnung durch zwei Stufenordnungen dargestellt werden muss, anderseits hat er auch hervorgehoben, dass eine Rechtsordnung mehrere Stufenordnungen, „mehrere rechtliche Stufenfolgen“ 65, enthalten kann. Wesentlich für die Lösung der Frage der Anzahl von Stufenbauten sowie für die Auffassung, Merkl wollte die Darstellung der Rechtsordnung nicht nur durch die Anwendung von zwei Stufenbauten vornehmen, ist zuerst die Berücksichtigung von Merkls – nicht selten übersehener – Aussage, dass „innerhalb ein und derselben Staatsrechtsordnung mehrere rechtliche Stufenfolgen mit verschiedener Reihung der Rechtsstufen“ 66 herausgestellt werden können. Neben diesem textbasierten existiert ein zweites und wichtigeres Element, das die Auffassung der Möglichkeit von mehr als zwei Stufenbauten unterstützt.
63 „Die Rechtsnormen verschiedener Stufen sind begrifflich gleicherweise Rechtsnormen, gleichwertige Realisierungen der Rechtsidee. Sie unterscheiden sich aber nicht bloß durch die schrittweise Differenzierung des Norminhaltes, sondern auch durch ihre verschiedenen Geltungsbedingungen und ihre verschiedene Geltungskraft. Ein Gesetz z. B. verdankt seine Geltung bloß der Verfassung, dagegen ein Gerichtsurteil oder ein Verwaltungsakt nicht bloß der Verfassung, sondern auch Akten von Gesetzesstufe. Und ein Gesetz kann sowohl einem Gesetze als auch einer Vollzugsverordnung, eine Vollzugsverordnung aber nur einer anderen Vollzugsverordnung derogieren. Diese wenigen Beispiele zeigen, daß zwischen den Rechtsnormen verschiedener Stufe nicht bloß förmliche und inhaltliche Unterschiede, sondern auch Rangunterschiede bestehen, die die Reihe der Rechtssatzformen stufenförmig gegliedert erscheinen lassen. In der Rechtswelt herrscht nicht bloß – zwischen einzelnen Rechtssatztypen – Gleichordnung, sondern auch – zwischen anderen Rechtssatztypen – Über- und Unterordnung. Für diese ist der rechtliche Stufenbau das sprachliche Bild. Die systematische Stellung der einzelnen Rechtssatzformen im Stufenbau des Rechtes ist je nach den verschiedenen denkbaren und positivrechtlich verwirklichten Rangordnungsprinzipien wandelbar, so zwar, daß eine bestimmte Rechtssatzform der rechtlichen Kraft nach auf einer anderen Stufe stehen kann als nach dem Rangordnungsprinzip des Grades rechtlicher Bedingtheit. Es können sich demnach selbst innerhalb ein und derselben Staatsrechtsordnung mehrere rechtliche Stufenfolgen mit verschiedener Reihung der Rechtsstufen herausstellen.“ Merkl, Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues (1931), in: AJM-GS, Bd. I/1, S. 479–480. 64 „Für die Zwecke der folgenden Erwägungen ist vor allem zu betonen, daß Merkl zwei verschiedene Stufenordnungen ins Auge faßt: Eine Stufenordnung nach der derogatorischen Kraft und eine nach der rechtlichen Bedingtheit.“ Walter, Der Aufbau der Rechtsordnung, S. 54. Darüber hinaus wird Walter auch behaupten, dass wegen „Mißverständnissen (. . .) die Duplizität des rechtlichen Stufenbaues und die Bedeutung dieser Duplizität übersehen wird“. Ders., a. a. O., S. 53. 65 Siehe den in Fußnote 63 zitierten Text. 66 Siehe den in Fußnote 63 zitierten Text.
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Weil Normen unterschiedliche Funktionen erfüllen können und weil die Ermächtigung für die Erzeugung von Normen als eine begrenzte Ermächtigung existieren kann, d. h. als eine Ermächtigung nur für die Erzeugung von Normen, die beispielsweise die Derogationsfunktion ausüben, liegt die Anzahl von möglichen Stufenbauten nicht nur bei einer oder zweien. Die Darstellung einer Rechtsordnung kann durch einen Stufenbau oder zwei Stufenbauten erfolgen, aber sie kann auch, beispielsweise, drei Rangordnungen benötigen. So wäre es z. B., wenn in einer Rechtsordnung zwischen Verordnungen und Gesetzen folgende Verhältnisse existierten: a) Verordnungen mit den Funktionen Gebieten, Verbieten oder Erlauben67 können nur auf Grund eines Gesetzes erzeugt werden (d. h. angesichts dieses Stufenbaues sind Verordnungen im Vergleich mit Gesetzen untergeordnet); b) spätere Verordnungen können frühere Gesetze derogieren, die die Funktionen Gebieten, Verbieten oder Erlauben ausüben, so wie spätere Gesetze frühere Verordnungen mit denselben Funktionen derogieren können (d. h. angesichts dieses Stufenbaues sind Verordnungen im Vergleich zu Gesetzen gleichgeordnet)68; c) Verordnungen, die Autoritäten ermächtigen, d. h. Verordnungen, die als Ergebnis der Ausübung der Normfunktion Ermächtigen existieren, können nicht von Gesetzen derogiert werden, können aber Gesetze derogieren, die mit diesen Verordnungen in Konflikt stehen (d. h. angesichts dieses Stufenbaus sind Verordnungen im Vergleich zu Gesetzen übergeordnet). Aus der Möglichkeit der Existenz einer solchen Rechtsordnung folgt notwendigerweise die Konsequenz, dass in einigen Fällen die Darstellung einer Rechtsordnung mehr als nur zwei Stufenbauten erfordert. III. Die Bestimmung der rechtssetzenden Fähigkeit als Ermächtigung und die Problematik der alternativen Ermächtigung angesichts der Stufenbaulehre Nach der Stufenbaulehre sind erzeugende und erzeugte Normen in einem hierarchischen Verhältnis von höher- und niederrangig miteinander verbunden, weil die erzeugten Normen ihre Geltung den erzeugenden Normen verdanken, d. h. es ist für diese Normen nicht möglich, als gültig Normen erzeugt und anerkannt zu werden, ohne dass die bedingenden Normen (als Normen, die einen Spielraum für die Ausübung der rechtssetzenden Fähigkeit bestimmen) beachtet werden, 67 Auch diese Art von Ermächtigung konnte geteilt werden, sodass bestimmte Autoritäten nur ermächtigt wären, Erlaubnisnormen zu erzeugen, während andere Autoritäten auch die Ermächtigung bekommen würden, Ge- oder Verbotsnormen zu erzeugen. 68 Ein Beispiel kann diese Art von Situation verdeutlichen. In einer Rechtsordnung findet sich im ersten Moment ein Gesetz, das die Erzeugung von Verordnungen erlaubt, um die Besteuerung von Produkten zu regulieren, so wie ein anderes Gesetz, nach welchem ein Produkt A mit X % zu besteuern ist. Danach ist eine Verordnung auf Grund des zuerst erwähnten Gesetzes erzeugt, die festsetzt, dass das Produkt A mit Y % besteuern werden soll.
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und auch weil sie nicht in der Lage sind, die erzeugenden Normen zu ändern. Aber die Erkenntnis der Begrenzung des Erzeugungspielraumes von gültigen Normen ist durch die Lehre der alternativen Ermächtigung (oder des Fehlerkalküls) in Frage gestellt. Dank dieser Lehre sind Situationen anzuerkennen, in denen gültige Normen vorliegen, obwohl die Autoritäten, die diese Normen erzeugt haben, bei der Erzeugung dieser Normen die Grenzen ihrer direkten Ermächtigung nicht beachtet haben, sodass sie gültige Normen erzeugt haben, die nicht in ihrem Erzeugungsspielraum (in dem Spielraum, den die relevante Ermächtigungsnorm für eine absolut normgemäße Rechtserzeugung gesetzt hat) liegen. Angesichts dieser Situationen kann die Bedeutung der Anwendung der hierarchischen Verhältnisse zwischen Normen, der Kern der Idee, dass Normen in einem hierarchischen Verhältnis zueinander existieren und dass das Recht ihre Erzeugung reguliert, in Frage gestellt werden. Zu diesem Thema behauptet Rainer Lippold, dass der Stufenbau nach rechtlicher Bedingtheit (d. h. nach rechtssetzender Fähigkeit) trotz der Existenz von Phänomenen, die durch die Lehre vom Fehlerkalkül69 geklärt werden müssen, weiter vertreten werden kann. Nach Lippold kann die Behauptung angestellt werden, dass ein rechtliches hierarchisches Verhältnis zwischen zwei Normen existiert, auch wenn die Lehre vom Fehlerkalkül angenommen ist, solange die Normen, die wegen des Fehlerkalküls als gültige Normen bezeichnet sind, ihre Geltung von anderen Normen bekommen haben, von Normen, die das Fehlerkalkül für diese Situationen positivieren70. Aber Lippolds Argument für die Bewahrung der hierarchischen Unterscheidung zwischen Normen kann angezweifelt werden. Nach seiner Auffassung ist 69 Lippold wird dieses Argument angesichts der Fehlerkalküllehre, aber nicht der Lehre von alternativer Ermächtigung entwickeln. 70 „Der Stufenbau nach der rechtlichen Bedingtheit wird durch Regelungen des Fehlerkalküls nicht berührt. Insbesondere kann ein Fehlerkalkül für eine bestimmte Rechtsform nur auf der Ebene der sie bedingenden Rechtsform normiert werden. – Beispielsweise kann ein Fehlerkalkül für Gesetze nur auf der Ebene der Verfassung, nicht auf der der Gesetze, normiert werden. – Der Fehlerkalkül wirkt sich auf Rechtsvorschriften derselben Rechtsform (Stufe des Stufenbaus) aus; er beeinflußt ihre rechtliche Bedeutung. Im Falle des eingeschränkten Fehlerkalküls sind die Ermächtigungsvorschriften, die nicht die Minimalbedingungen der Rechtserzeugung normieren, nicht mehr Deutungsschemata für die Rechtserzeugung, sondern nur mehr Maßstab für die Entscheidung über die Aufhebung von Rechtsvorschriften wegen ihrer Fehlerhaftigkeit. Im Falle des uneingeschränkten Fehlerkalküls haben Ermächtigungsvorschriften, die über die Minimalbedingungen der Rechtserzeugung hinausgehen, allein noch die Maßstabsfunktion. Mit ihnen werden Maßstäbe für die Rechtserzeugung aufgestellt, aber ihre Mißachtung bleibt (zumindest unmittelbar) rechtsfolgenlos. Gerade eine positivistische Rechtslehre muß jedoch darauf bestehen, daß es sich gleichwohl um Rechtsvorschriften handelt, die zum Rechtssystem gehören – daß auch solche Rechtsvorschriften rechtliche Maßstäbe enthalten, die von außerrechtlichen Maßstäben wohl zu unterscheiden sind.“ Lippold, Recht und Ordnung, S. 417–418. In derselben Richtung ist die von Wiederin formulierte Kritik. Siehe Wiederin, Die Stufenbaulehre Adolf Julius Merkls, in: Griller/Rill (Hrsg.), Rechtstheorie: Rechtsbegriff – Dynamik – Auslegung, S. 120–121.
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eine Norm als gültig anzusehen, wenn die Autorität, die diese Norm erzeugt hat, keine direkte Ermächtigung für die Erzeugung dieser Norm besitzt – beispielsweise, weil diese Norm verfassungswidrig ist und ihr Erzeuger von der Rechtsordnung nur die Ermächtigung bekommen hat, verfassungsmäßige Normen zu erzeugen –, solange es eine Norm gibt, die das Fehlerkalkül für diese Autorität positiviert, sodass dank dieser Norm die erzeugte Norm gültig ist. Nach Lippolds Argument muss die Norm, die das Fehlerkalkül positiviert hat, höherrangig als die Norm sein, die dank dieser höherrangigen Norm gültig ist. Wäre das so, dann würde es in dem oben dargestellten Beispiel eine Verfassungsnorm geben, die das Fehlerkalkül positiviert, sowie eine andere Verfassungsnorm, die in Konflikt mit der ohne direkte Ermächtigung (dank alternativer Ermächtigung) erzeugten Norm stehen würde. Dann würde die Verfassung gleichzeitig für eine Autorität einen Spielraum für die Erzeugung von Normen setzen, sowie die Ermächtigung (eine Ermächtigungsnorm) für dieselbe Autorität, um außerhalb dieses Spielraums Normen zu erzeugen. Und weil beide Normen für die Darstellung des Spielraums der Ermächtigung berücksichtigt werden müssen, würde dann dieser Spielraum (diese rechtssetzende Fähigkeit) so weit gefasst sein, dass er (zumindest in einigen Fällen) alle möglichen normwidrigen Normen zu einer oder allen Thematiken umfassen könnte. Dann wäre es in einigen Situationen für bestimmte Autoritäten nicht möglich, eine ungültige (und normwidrige) Norm zu erzeugen. Es ist anzuerkennen, dass eine Autorität von der Rechtsordnung durch die Positivierung der alternativen Ermächtigung oder durch die Positivierung der Ohnmacht einen universellen Erzeugungsspielraum bekommen kann, bei dessen Ausübung Verpflichtungen für alle (anderen) Autoritäten erzeugt werden können und ihnen die Möglichkeit der Überprüfung der von der erstgenannten Autorität erzeugten Normen genommen wird. In diesen Situationen besteht die Unmöglichkeit, den Erzeugungsspielraum der Autorität mit dieser Art von Ermächtigung darzustellen, weil dieser Spielraum unendlich ist. Und weil er unendlich ist, kann kein Bild, das auf die Darstellung von Grenzen zielt, die Eigenschaft dieser Art von alternativer Ermächtigung darstellen. Die Darstellung der alternativen Ermächtigung durch das Bild eines Stufenbaus könnte nur die Fälle umfassen, in denen die alternative Ermächtigung begrenzt ist. Nur in solchen Fällen würde die Positivierung der Ohnmacht zur Überprüfung der Normangemessenheit der erzeugten Normen nicht alle Autoritäten umfassen, d. h. einige Autoritäten könnten diese erzeugten Normen als ungültige Normen, als nichtige Normen betrachten, oder alle Autoritäten sollen diese erzeugten Normen als gültige betrachten, aber nur wenn diese Normen sich mit bestimmten Thematiken beschäftigt haben. Darüber hinaus ist auch zu beachten: Obwohl in einer Rechtsordnung die Normierung der alternativen Ermächtigung ausdrücklich identifiziert werden kann, sodass die dank einer Norm über alternative Ermächtigung erzeugten Normen als gültig, aber auch als fehlerhaft bezeichnet werden, bleibt trotzdem am Ende die Tatsache, dass die Rechtsordnung auch ausdrücklich vorbestimmt haben muss,
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dass die Autoritäten die Ermächtigung besitzen, außerhalb des normativen Rahmens Entscheidungen zu treffen, sodass die von diesen Autoritäten erzeugten Normen gültig sind, auch wenn sie die Regelungen der direkten Ermächtigung nicht beachtet haben. Auch wenn eine Norm, die die alternative Ermächtigung positiviert, deutlich macht, dass die erzeugten Normen fehlerhaft sind, dass sie nur wegen einer Ausnahme als gültige Normen betrachten werden können, wird immer die Tatsache bestehen bleiben, dass die Verfassung ausdrücklich Autoritäten ermächtigt haben muss, außerhalb des normativen Rahmens, ohne Berücksichtigung der (sonstigen) positiven Rechtsnormen, Normen zu erzeugen. Angesichts einer solchen positiven Verfassungsnorm über die alternative Ermächtigung würde sogar nicht mehr die Möglichkeit bestehen, ein Gesetz als verfassungswidrig zu bezeichnen, denn dieses Gesetz könnte angesichts einer Verfassungsnorm diese Bezeichnung bekommen, aber angesichts einer anderen Verfassungsnorm – die die alternative Ermächtigung positiviert oder die Erzeugung einer Norm, die die alternative Ermächtigung positiviert, ermöglicht – könnte dieses Gesetz als verfassungsmäßig betrachtet werden. Die Verwendung der Begriffe „Minimalbedingungen“ und „Maximalbedingungen“ 71, die Bezeichnung der positivrechtlichen Normierung der alternativen Ermächtigung als minimale Bedingung, löst dieses Problem nicht, sondern wird vielmehr das Problem verstärken. Eine Norm, die durch die Erfüllung der maximalen Bedingungen erzeugt wird, ist genauso gültig wie eine Norm, die nur die minimalen Bedingungen erfüllt. Dass ein Akt die maximalen Bedingungen für die Bezeichnung dieses normerzeugenden Aktes als normgemäß erfüllt hat, wird auf keinen Fall die Anerkennung dieser rechtlichen Bedeutung gegenüber einer Autorität sicherstellen. Die Aussage, dass eine Handlung aufgrund der Erfüllung der maximalen Bedingungen gültig ist, bietet nur eine Information über die absolut normgemäße Natur eines Aktes, sagt aber nichts über eine zukünftige Anerkennung oder Weiteranerkennung oder Ablehnung der Geltung dieser Norm durch Autoritäten aus. Die Identifizierung eines Fehlers bei der Rechtsanwendung (d. h. einer Überschreitung der durch direkte Ermächtigung gesetzten Grenzen) ist kein wesentliches Element der Rechtsordnung, sondern eine der Hauptaufgaben der Rechtswissenschaft und eine wesentliche Bedingung für die Rechtserkenntnis. Rechtsphänomene, die Fehler enthalten, Fälle von Rechtsanwendung, die als Rechtsanwendung zu behandeln sind, auch wenn sie außerhalb des normativen Rahmens liegen, d. h. wenn sie normwidrige gültige Normen erzeugen, sind ein 71 „Die Minimalbedingungen einer gerichtlichen Entscheidung sind jene, die gegeben sein müssen, damit überhaupt von einer Gerichtsentscheidung die Rede sein kann. Sind noch nicht einmal diese Bedingungen erfüllt, so liegt eine Nichtentscheidung vor. Die Maximalbedingungen sind jene, die vorliegen müssen, damit die Entscheidung als fehlerfrei angesehen werden kann. Entscheidungen, die zwar die Minimalbedingungen erfüllen, die Maximalbedingungen jedoch nicht, sind zwar Gerichtsentscheidungen, jedoch fehlerhafte Gerichtsentscheidungen.“ Lippold, Recht und Ordnung, S. 408.
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Bestandteil des Rechts. Anders als von Lippold behauptet, wird Kelsens Theorie der alternativen Ermächtigung sowie ein positiviertes Fehlerkalkül, nicht fehlerfreie und fehlerhafte Rechtsakte als gleichwertig betrachten72, sondern wird klarstellen, dass Rechtsphänomene existieren, Normen zu finden sind, die gültig sind, obwohl sie normwidrig sind. Die Abwesenheit einer Positivierung der alternativen Ermächtigung ist ein Problem im Hinblick auf das Vertreten des generellen Grundsatzes der Positivität des Rechts, aber nicht für eine Unterscheidung zwischen normgemäßen und gültigen Akten. Diese Unterscheidung bleibt relevant, solange die Rechtsanwendung im Großen und Ganzen den positivrechtlichen, vorbestimmten Spielraum beachtet hat. Die Existenz einer alternativen Ermächtigung als solche zerstört nicht die Rechtsordnung als Ordnung73, sondern macht für den Rechtswissenschaftler nur klar, dass die Ergebnisse der Rechtsanwendung nicht immer in den Grenzen des Normgemäßen lokalisierbar sind. Die Ordnung bleibt bestehen, solange die normwidrigen Entscheidungen oder Setzungen von generellen Normen eine Ausnahme sind. Sie bleibt auch bestehen, weil diese Fälle von gültigen und gleichzeitig normwidrigen Normen nicht aus jeder möglichen Quelle stammen können, sondern nur von Autoritäten, die von der Rechtsordnung (und in der Regel durch Ermächtigungsnormen, die diese Autoritäten mittels direkter Ermächtigung ermächtigt haben) als Autoritäten eingesetzt worden sind. Die oben behandelte notwendige Existenz einer Lehre von der alternativen Ermächtigung sowie die kontingente Existenz einer positivrechtlichen Bestimmung der alternativen Ermächtigung stellen die Relevanz der Lehre vom Stufenbau für die Erklärung der Geltung aller Rechtsnormen in Frage. Diese Lehre kann (weiterhin) angewendet werden, um die Geltung der Normen zu erklären, die aufgrund der direkten Ermächtigung erzeugt wurden, aber sie kann nicht angewendet werden, um vorauszubestimmen, welche Normen gültig werden. Darüber hinaus ist auch anzumerken, dass aufgrund der alternativen Ermächtigung die hierarchische Darstellung der Rechtsordnung, der Phänomene der Rechtsselbsterzeugung und des angewendeten Spielraums tatsächlich teilweise in Frage gestellt wird, denn nicht immer sind gültige Normen dank direkter Ermächtigung er-
72 „Interessant in diesem Zusammenhang ist Kelsens weitere These, daß die Vorschriften des Fehlerkalküls den Charakter von Alternativbestimmungen haben, der Fehlerkalkül also eine Alternativermächtigung darstellt. Damit ist nichts anders behauptet, als die Gleichwertigkeit von fehlerfreien Rechtsakten und fehlerhaften Rechtsakten.“ Lippold, Recht und Ordnung, S. 414. 73 „Von dem Hintergrund der soeben diskutierten und von mir abgelehnten These Kelsens, wonach es nicht nichtige, sondern nur vernichtbare fehlerhafte Rechtsakte geben könne, hat diese Ansicht verheerende Konsequenzen für das Verständnis der Rechtsordnung. Denn sie bedeutet nichts anders als eine Absage an jegliche Ordnung des Rechts: Wenn jeder auch noch so fehlerhafte Rechtsakt einem fehlerfreien Rechtsakt gleichwertig wäre, dann hätten die Ermächtigungsregelungen keine Bedeutung.“ Lippold, Recht und Ordnung, S. 414.
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zeugt; oder anders ausgedrückt: Nicht immer sind die erzeugten Normen im vorgegebenen positivrechtlichen Spielraum zu finden. Abgesehen von konkreten Fällen, konkreten Rechtsordnungen, in denen kein (oder fast kein) Phänomen von gültigen, aber normwidrigen Normen identifizierbar ist, ist es notwendig anzuerkennen, dass die Lehre vom Stufenbau nicht in der Lage ist, immer die Geltung aller Normen unter Berücksichtigung der positiven Normen zu erklären, sowie auch nicht behauptet werden kann, dass in allen Rechtsordnungen die Geltung der Normen notwendigerweise aufgrund hierarchischer Verhältnisse der Normen untereinander erfolgen wird. Aber die Stufung der Rechtsordnung wird nicht deswegen als Ganzes in Frage gestellt, obwohl anzunehmen ist, dass ihre praktische Verwendbarkeit begrenzt ist. Die Stufung der Rechtsordnung angesichts der rechtssetzenden Fähigkeit erklärt den Grund, warum mehrere Normen gleichzeitig gültig sind, aber sie kann nicht in allen Fällen vorausbestimmen, welche möglichen gültigen Normen in einer Rechtsordnung erzeugt werden74. Sie kann den Beobachter informieren, wo die Grenzen der Normangemessenheit in einer konkreten Situation liegen, sie kann bei Voraussetzung der Ausübung einer direkten Ermächtigung vorausbestimmen, welche möglichen Entscheidungen, welche möglichen Normen erzeugt werden können, aber sie erlaubt keine Aussage darüber, welche gültigen Normen in konkreten Fällen zukünftigt erzeugt werden. IV. Der Stufenbau nach derogatorischer Kraft, alternativer Ermächtigung und die Suspension als weitere Funktion der Rechtsnormen Die Existenz von gültigen und gleichzeitig normwidrigen Normen wird nicht nur die Stufung angesichts der rechtssetzenden Fähigkeit beeinträchtigen, sondern auch eine andere mögliche Stufung der Rechtsordnung, die Stufung nach der derogatorischen Kraft der Normen. Die Grundidee bei dieser von Merkl dargestellten Stufung besteht in der Auffassung, dass wegen positivrechtlicher Bestimmungen Normen einer bestimmten Rechtserzeugungsform75 Normen einer anderen Rechtserzeugungsform derogieren können (oder nicht), und die Tatsache, dass eine Norm einer Form eine andere Norm einer anderen Form derogieren kann, während die andere Norm die erste Norm nicht derogieren kann, was
74 Öhlinger hat Recht, wenn er bemerkt, dass die alternative Ermächtigung die Nützlichkeit der Stufenbaulehre beeinträchtigen kann. Aber er hat Unrecht, wenn er behauptet, dass die Stufenbaulehre wegen der alternativen Ermächtigung ihre Bedeutung verlieren kann. Siehe Öhlinger, Der Stufenbau der Rechtsordnung, S. 22–26. 75 Gegen Walters Argument, dass die Rechtserzeugungsformen nur bei dem Stufenbau nach derogatorischer Kraft eine Rolle spielen würden, sind die Bemerkungen von Lippold zu beachten. Siehe Lippold, Recht und Ordnung, S. 394–399; Walter, Der Aufbau der Rechtsordnung, S. 62–64.
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das hierarchische Verhältnis zwischen diesen Normen bestimmt76. Durch die Berücksichtigung dieser Stufung ist es möglich zu behaupten: Weil eine Norm erzeugt wird, die das Ziel hat, eine andere Norm zu derogieren, und weil diese erste Norm eine Rechtserzeugungsform besitzt, die in der konkreten Rechtsordnung derogatorische Kraft gegenüber der anderen Norm hat, wird diese (erste) Norm die andere Norm derogieren. Ebenso kann in einer anderen Situation behauptet werden: Weil eine Norm eine bestimmte Rechtserzeugungsform hat, kann sie keine andere Norm einer bestimmten anderen Rechtserzeugungsform derogieren77. Die Darstellung der Verhältnisse zwischen den Normen angesichts der derogatorischen Kraft kann tatsächlich erläutern, wie das Phänomen der Derogation erfolgt. Aber die Möglichkeit der Erzeugung von Normen durch die Anwendung einer alternativen Ermächtigung kann auch eine uneingeschränkte Anwendung der Stufung der Rechtsnormen angesichts der derogatorischen Kraft in Frage stellen. Hier sind folgende Fragen zu berücksichtigen: a) Was passiert, wenn eine Norm erzeugt ist, mit dem Ziel, eine andere Norm zu derogieren, und die erzeugte Norm nur aufgrund einer alternativen Ermächtigung als gültige Norm betrachtet werden kann? b) Was kann in dieser Situation über die Geltung der früheren Norm ausgesagt werden? c) Ist die frühere Norm in dem Zeitraum als gültig zu betrachten, in dem die spätere Norm als gültig zu betrachten ist? d) Ist 76 „Ein Rechtssatz, der gegenüber einem anderen Rechtssatz derogierende Kraft hat, während dieser andere Rechtssatz ihm gegenüber keine derogierende Kraft hat, ist aus diesem Grunde von höherem Rang und der derogierbare Rechtssatz im Vergleich mit dem derogierenden Rechtssatz von niedrigerem Rang. Wenn dagegen – zum Unterschied von den besprochenen Fällen bloß einseitiger Derogierbarkeit – zwei Rechtssätze gegenseitig derogierbar sind, so ist dies Erkenntnisgrund ihres gleichen Ranges. Z. B. ist das Verfassungsgesetz von höherem Rang als das einfache Gesetz, das Grundsatzgesetz von höherem Rang als das Ausführungsgesetz, das einfache Gesetz wiederum und im besonderen das Ausführungsgesetz von höherem Rang als die Vollzugsverordnung, das Gesetz und die Vollzugsverordnung von höherem Rang als das Gerichtsurteil und der individuelle Verwaltungsakt, wenn und weil der jeweils zuerst genannte dem jeweils an zweiter Stelle genannten Akte derogieren kann, jedoch nicht umgekehrt. Und ein Bundes- und Landesgesetz oder ein einfaches Gesetz und eine sogenannte selbständige Verordnung sind darum als rangsgleich zu erkennen, weil sie einander gegenseitig derogieren können.“ Merkl, Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues (1931), in: AJM-GS, Bd. I/1, S. 468–469. Siehe Walter, Der Aufbau der Rechtsordnung, S. 55–60. 77 „Die Erörterung des Verhältnisses der beiden Ordnungen erfordert es nochmals, die mögliche Divergenz aufzuzeigen: Es ist möglich – und zeigt sich in den positiven Rechtsordnungen immer wieder –, daß ein Teil des Rechts im Stufenbau nach der rechtlichen Bedingtheit übergeordnet, im Stufenbau nach der derogatorischen Kraft aber gleich oder untergeordnet ist. Dies zeigt am deutlichsten der Hinweis darauf, daß nach bestimmten positiven Rechtsordnungen einer Rechtserzeugungsregel durch eine nach ihr erzeugte Regel derogiert werden kann. Die bedingende – und unter diesem Gesichtspunkt höhere – Erzeugungsregel ist dann nach dem Stufenbau der derogatorischen Kraft nicht übergeordnet. Daß die zu erzeugende Vorschrift der Erzeugungsregel entsprechen muß, bedeutet somit durchaus nicht, daß sie diese nicht aufheben kann.“ Walter, Der Aufbau der Rechtsordnung, S. 65–66.
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die spätere Norm in einem zweiten Moment derogiert, was kann dann über die frühere Norm im Hinblick auf den Zeitraum zwischen der Erzeugung und der Derogation der späteren Norm ausgesagt werden? e) Und wenn bei der Entscheidung die spätere Norm nicht als derogiert, sondern als von Anfang an ungültig bezeichnet wird? f) Was kann über die frühere Norm ausgesagt werden, wenn die spätere Norm in einer unwiderruflichen Entscheidung als gültig geklärt wird? g) Und wenn eine Entscheidung in diese Richtung getroffen ist, aber in ebendieser Rechtsordnung diese Art von Entscheidung immer angefochten werden kann? h) Ist in der Rechtsordnung nichts über diese Situationen bestimmt, kann die konkrete Entscheidung die Situation der früheren Norm in dem Zeitraum zwischen der Erzeugung und der Derogation der späteren Norm bestimmen? i) Könnte es passieren, dass eine in absolut normgemäßer Weise erzeugte derogatorische Norm ignoriert wurde, sodass die bis dahin absolut normgemäße zu derogierende Norm jetzt wegen einer Art von alternativer Ermächtigung gültig bleiben würde? Bevor diese Fragen beantwortet sowie erklärt werden kann, unter welchen Bedingungen diese Fragen beantwortet werden können, ist es notwendig zu erläutern, was Derogation und Suspension bedeuten und warum die Derogation von der Suspension zu unterscheiden ist. Nach Merkls Auffassung sind Rechtsnormen in der Regel unveränderlich und ihre Veränderlichkeit muss positiv bestimmt sein, d. h. ihre Änderung ist von einer Ermächtigung zur Derogation abhängig78. Neben der Derogation als definitive Vernichtung einer gültigen Norm hat Walter die Suspension als spezifische Art von Derogation beschrieben, als er sich mit der Problematik der Erzeugung von Normen durch die alternative Ermächtigung beschäftigt hat79. Aber Walters Auffassung der Suspension, die eine Lösung für die Problematik der Situation von Normen anbieten will, die aufgrund gültiger aber normwidriger Normen (d. h. wegen Normen, die nur dank alternativer Ermächtigung gültig sind) derogiert werden, kann nicht einfach akzeptiert werden, weil die Suspension als weitere Funktion der Rechtsnormen zuerst von der positiven Rechtsordnung vorbestimmt werden muss. Die Unvollkommenheit von Walters Konzeption der Suspension kann mittels einer Frage deutlich gemacht werden: Ist die Suspension eine notwendige Wir78 Siehe Merkl, Die Unveränderlichkeit von Gesetzen – ein normlogisches Prinzip (1917), in: AJM-GS, Bd. I/1, S. 155 ff. 79 „Eine gewisse (. . .) derogatorische Kraft käme den Anordnungen in einer bestimmten Rechtsform zu, wenn sie nach den Bestimmungen des positiven Rechts zwar die Geltung einer Anordnung beeinträchtigen, diese jedoch nicht vollständig vernichten können, da sie wegen dieser eintretenden Derogationswirkung fehlerhaft und deshalb zu beseitigen sind, wenn durch die Beseitigung die in ihrer Geltung beschränkte Anordnung wieder uneingeschränkte Rechtswirkung erlangt.“ Walter, Aufbau, S. 58. Walter benennt zwei Arten von Derogation: „Derogation als vollständige Vernichtung“ und „Derogation als beschränkte Beseitigung“. Ders., a. a. O., S. 57–58.
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kung der gültigen Erzeugung einer Norm, die das Ziel hat, eine andere Norm zu derogieren, aber nach den positivrechtlichen Bestimmungen keine derogatorische Kraft mit Bezug auf diese andere Norm hat, also nicht in der Lage ist, diese Norm zu derogieren? Zwei der Probleme bezüglich Walters Auffassung der Suspension sind einmal die Idee, dass die suspendierende Norm irgendwann notwendigerweise als normwidrig anerkannt werden wird, und zum anderen die Ansicht, dass die suspendierende Norm die Geltung der schon gültigen Norm notwendigerweise beeinflusst. Daher muss beachtet werden: Es kann über Suspension in einem konkreten Fall gesprochen werden, solange (a) eine mit derogierender Absicht erzeugte Norm80 definitiv beseitigt wird, da in dieser Situation behauptet werden kann, dass die vermeintliche, derogierte Norm als gültig betrachtet werden kann, und (b) diese Entscheidung die Geltung der zweiten Norm für den Zeitraum zwischen der Erzeugung der mit derogierender Absicht erzeugten Norm und der Erklärung, dass diese Norm ungültig ist, als provisorisch aufgehoben betrachtet wird, bzw. eine generelle positivrechtliche Bestimmung existiert81, oder auch wenn dank Gewohnheitsrecht eine Norm zustande gekommen ist, nach der die in dieser Situation zu derogierende Norm als provisorisch ungültig betrachtet werden soll82. Ausschließlich allgemein, d. h. ohne direkten Bezug auf generelle oder individuelle positive Normen, kann nicht über die Existenz der Suspension gesprochen werden83. Die Suspension als Funktion einer Norm muss zuerst (durch generelle 80 Diese Absicht kann auf zwei unterschiedliche Weisen erfolgen, denn es kann passieren, dass die zweite Norm nur das Ziel hat, eine andere Norm zu derogieren, aber es kann auch passieren, dass die zweite Norm denselben Tatbestand der ersten Norm mit einer von dieser Norm unterschiedlichen Folge verbindet, sodass die zweite Norm mittelbarerweise die erste Norm derogiert. 81 Bezüglich der österreichischen Rechtsordnung ist das der Fall. „Die Erkenntnis, daß Verfassungsgesetze durch Bundesgesetze nicht abgeändert werden dürfen, läßt sich aber auch eindeutig aus Art. 140 B-VG. ableiten. Danach ist ein Bundesgesetz – unter den angeführten Voraussetzungen – wegen Verfassungswidrigkeit aufzuheben, d. h. mit der Rechtswirkung zu beseitigen, daß das Verfassungsgesetz, dem es widersprach, wieder voll gilt. Dies zeigt, daß ein Bundesgesetz einem Verfassungsgesetz nicht endgültig zu derogieren vermag.“ Walter, Der Stufenbau nach der derogatorischen Kraft im österreichischen Recht, in: ÖJZ 20 (1965), S. 171. Darüber schreibt auch Walter: „Als Beispiel sei hier darauf verwiesen, daß nach österreichischer Rechtsordnung Anordnungen in Verordnungsform zwar eine Anordnung in Gesetzform zurückdrängen, aber nicht vollständig vernichten können. Dasselbe gilt für das Verhältnis von Gesetz und Verfassungsgesetz.“ Ders., Der Aufbau der Rechtsordnung, S. 58. 82 Ist keine dieser drei Alternativen anwesend, dann ist die in einer Entscheidung angewendete Suspension nur dank Alternativermächtigung als gültig zu betrachten. 83 Solange in einer Rechtsordnung die Suspension als Funktion der Normen identifiziert und reguliert ist, kann über die Suspension in dieser Rechtsordnung gesprochen werden. Da die positivrechtliche Normierung der Suspension kein wesentliches Element einer Rechtsordnung als solche ist, kann nicht behauptet werden, dass immer, wenn eine dank alternativer Ermächtigung erzeugte Norm das Ziel hat, eine andere Norm zu derogieren, die frühere Norm als suspendiert betrachtet werden muss.
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oder individuelle Normen) vorbestimmt (obwohl nicht unbedingt positiviert) werden, bevor es möglich ist, sie in einer Entscheidung als konkretisiert betrachten zu können. Wenn das nicht passiert, dann ist die obige Frage negativ zu beantworten und beide Normen sind gültig und stehen möglicherweise in Konflikt miteinander84. Ein weiteres Problem bezüglich Walters Auffassung der Suspension liegt in der Idee, dass die Suspension als eine Art Derogation betrachtet werden solle, sodass sie nicht als eine weitere Funktion der Rechtsnorm betrachtet werden könne. Walter präsentiert die Suspension als eine Art von Derogation, die eine unvollständige Vernichtung einer Norm bewirkt85, aber die Suspension kann nicht als eine Art von Derogation betrachtet werden, da ein wesentliches Merkmal der Derogation die Tatsache ist, dass die derogierte Norm nicht mehr gültig werden kann, dass sie vernichtet ist86. Es kann zwar über Teilvernichtung (und Teilderogation) gesprochen werden, da eine derogatorische Norm ein Gesetz (als Sammlung von Normen) zum Teil derogieren kann, aber die Idee einer provisorischen Vernichtung ist als contradictio in adjecto zu identifizieren87. Ist die Beeinträchtigung der Geltung einer Norm das Kriterium für die Klassifizierung, dann können Derogation und Suspension nebeneinandergestellt werden. Aber auch bei diesem Kriterium kann die Suspension nicht als eine Art Derogation betrachtet werden. Da die Suspension, nach Walter, die Geltung von Rechtsnormen provisorisch aufhebt, und diese Funktion die Derogation nicht ausüben kann, ist die Suspension als eine weitere Funktion der Rechtsnormen und nicht als eine Art von Derogation zu identifizieren. Hier ist der Punkt erreicht, wo eine Rechtstheorie, die allgemeine Natur hat (d. h. eine Theorie, die nicht darauf zielt, eine spezifische positive Rechtsord84 Zwei Normen sind in Konflikt miteinander, wenn eine Norm etwas vorschreibt und die andere Norm etwas anderes vorschreibt, aber nicht, wenn die zweite Norm das einzige Ziel hat, die erste Norm zu derogieren. Siehe dazu Kelsen, ATN (1979), S. 86. 85 Anfangs hatte Walter die Ansicht vertreten, dass beide Normen als gültig zu betrachten wären, aber auch später hat er die Situation nicht als Konflikt betrachtet, da für ihn eine der Normen zurückgedrängt war. Weil in diesem spezifischen Fall Walters Schrift die Problematik (ausschließlich) in Bezug auf die österreichische Rechtsordnung betrachtet hat, sind seiner Bemerkungen bezüglich dieser Rechtsordnung begründet. Siehe Walter, Können Verordnungen Gesetzen derogieren?, in: ÖJZ (1961), S. 3 und 7. 86 „The attempt to repeal the validity of a norm which has derogated the validity of another norm in regard to this norm, by means of a derogating norm, would be without effect. The norm whose validity was terminated by the first derogating norm would not regain its validity by the second derogating norm.“ Kelsen, Derogation (1962), in: WRS, S. 1170. 87 In einer früheren Schrift hat Walter geschrieben: „Anders als im Bereich der Natur kann die Vernichtung wieder vernichtet, das Gesetz rückwirkend wieder zum Leben erweckt werden.“ Walter, Können Verordnungen Gesetzen derogieren?, in: ÖJZ (1961), S. 3, Fn. 28. Walters Argument muss abgelehnt werden, da es unbegründet ist, eine neue Bedeutung des Wortes „vernichten“ zu schaffen, nur um die Suspension als eine Art Derogation klassifizieren zu können.
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nung darzustellen), angesichts der Wirkungen der Erzeugung einer derogatorischen Norm mittels alternativer Ermächtigung zwei Grundalternativen bezüglich der Suspension, sowie die daraus resultierenden Konsequenzen, berücksichtigen muss. Erste Alternative: Die Rechtsordnung hat die Suspension als Funktion der Normen identifiziert (oder auf Grund von Gewohnheitsrecht sind Normen über Suspension als Bestandteil der Rechtsordnung anzusehen), die dank alternativer Ermächtigung erzeugt sind und das Haupt- oder Nebenziel haben, andere Normen zu derogieren. In diesem Fall werden alle oder die meisten der neun oben aufgezählten Fragen eine Antwort bekommen. Dank einer positivrechtlichen Bestimmung der Suspension (oder dank des Gewohnheitsrechts, und in diesem Fall, wenn die Gewohnheit nicht als Rechtsquelle von der Rechtsordnung vorbestimmt wird, dann konstituiert diese Situation einen weiteren Fall des Ausklammerns des Grundsatzes der Positivität) kann beispielsweise behauptet werden, dass die später erzeugte Norm die frühere zu derogierende Norm suspendieren wird. In dieser Situation sind beide Normen als gültige, als existente Normen zu betrachten, aber die frühere Norm soll so verstanden werden, als ob sie nicht existierte. Ist die spätere Norm irgendwann derogiert, bedeutet das nicht, dass sie notwendigerweise als eine niemals gültige Norm verstanden werden muss. Wie diese Norm und die Folgen ihrer Anwendung zu verstehen sind, hängt von den generellen positivrechtlichen Bestimmungen der Situation oder von einer Entscheidung ab, die diese Norm als ungültig erklärt. Die positivrechtliche Normierung der Suspension kann auch vorbestimmen, was mit der früheren Norm passiert, wenn die suspendierende Norm unwiderruflich zur gültigen Norm erklärt wird, oder wenn die Rechtsordnung für diese Art von Entscheidung die Eigenschaft der Unveränderlichkeit nicht zuschreibt. Die Rechtsordnung kann auch bestimmen, dass die Effekte der Normen, die in einer Situation von Suspension involviert sind, keine allgemeine Vorbestimmung enthalten, sondern dass diese Effekte von der Autorität bestimmt werden sollen, die in der bestimmten Situation zur Entscheidung ermächtigt ist. Auch für die Konsequenzen der Kehrseite dieser Situation, das heißt, wenn eine normgemäße derogatorische Norm ignoriert wird, könnte von der Rechtsordnung eine generelle Behandlung vorgesehen sein. Deswegen wäre es beispielsweise auch möglich, zu behaupten, dass die normgemäße derogatorische Norm als nie existent, als ungültig betrachtet werden sollte, oder dass sie die zu derogierte Norm suspendiert hat. Eine weitere mögliche Konsequenz einer positivrechtlichen (oder dank Gewohnheitsrecht erfolgten) Normierung der Suspension ist die Existenz eines Stufenbaus nach suspensiver Kraft, der von den anderen Stufenbauten unterschieden werden muss, denn es kann sein, dass die Verhältnisse zwischen Rechtserzeugungsformen angesichts der derogatorischen Kraft anders bestimmt sind als die
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Verhältnisse zwischen denselben Rechtserzeugungsformen angesichts der suspensiven Kraft, sodass beispielsweise eine Verordnung ein Gesetz derogieren kann, aber anderseits keine suspensive Kraft gegenüber Gesetzen besitzt. Zweite Alternative: Die Rechtsordnung enthält keine Bestimmung über die Konsequenzen der Erzeugung einer mittels alternativer Ermächtigung erzeugten Norm, die das Haupt- oder Nebenziel hat, eine oder mehrere Normen zu derogieren, und es kann kein Gewohnheitsrecht zu diesem Thema identifiziert werden, d. h. das Gewohnheitsrecht bietet keine Norm zu dem Thema an. In diesem Fall ist es in der Regel nicht möglich (die Ausnahme ist die Situation, in der durch eine Entscheidung bestimmt wird, dass die frühere Norm als suspendierte Norm zu betrachten ist), über die Suspension der früheren Norm zu sprechen, da die Behauptung, diese Norm wäre suspendiert, keinen positivrechtlichen Grund haben kann. In diesem Fall müssen die oben gestellten Fragen unbeantwortet bleiben und suspendierende und suspendierte Norm stehen in Konflikt miteinander, weil beide Normen als gültige Normen betrachtet werden müssen. Aber anders als von Lippold behauptet88 wird diese Situation, dieser Normenkonflikt, keine Konsequenz für den Stufenbau nach derogatorischer Kraft haben. Wäre dieser Stufenbau in Frage gestellt, dann würden die durch direkte Ermächtigung erzeugten derogatorischen Normen nicht in der Lage sein, die derogierten Normen tatsächlich zu derogieren. Bei der mittels alternativer Ermächtigung erfolgten Erzeugung einer Norm mit einem derogatorischen Zweck ist das aber nicht der Fall. Die bloße Existenz solcher Normen beeinflusst den Stufenbau nach der derogatorischen Kraft nicht, sondern verursacht Normenkonflikte. Der Stufenbau nach der derogatorischen Kraft würde nur seine Relevanz verlieren, wenn die mittels alternativer Ermächtigung erzeugten derogatorischen Normen tatsächlich diese derogatorische Kraft gezeigt hätten. Geschieht es in der Regel aber nicht, dass die mittels alternativer Ermächtigung erzeugten Normen die früheren Normen derogieren, dann kann nicht behauptet werden, dass die Existenz dieser Normen den Stufenbau nach der derogatorischen Kraft in Frage stellt.
88 „Während der Stufenbau nach der rechtlichen Bedingtheit durch den Fehlerkalkül geradewegs bestätigt wird, wird der Stufenbau nach der derogatorischen Kraft vom Fehlerkalkül in Frage gestellt. Zumindest handelt es sich um eine deutliche Modifikation. Wenn im Fall des uneingeschränkten Fehlerkalküls Rechtsvorschriften der einen Rechtsform (zB Gesetze) die Geltung von Rechtsvorschriften einer anderen Rechtsform (die ersteren nach der rechtlichen Bedingtheit übergeordnet sind, hier der Verfassung) dauerhaft suspendiert können, so läßt sich nur noch mit großen Einschränkungen behaupten, letztere seien ersten hinsichtlich ihrer derogatorischen Kraft übergeordnet. Dies gilt zumal dann, wenn die Auslegung ergibt, daß die Abänderung ,höherrangiger‘ Rechtsvorschriften nicht die Derogation der abweichenden ,niederrangigen‘ Rechtsvorschriften bewirkt, sondern nur ihre Fehlerhaftigkeit zur Folge hat (sog Invalidation). Spätestens dann kann die derogatorische Kraft nicht mehr als Kriterium eines Stufenbaues herangezogen werden. Von einem Stufenbau nach der derogatorischen Kraft kann dann im strengen Sinn keine Rede mehr sein.“ Lippold, Recht und Ordnung, S. 418.
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Neben der Derogation und der Suspension ist eine weitere die Erkenntnis der Normen beeinträchtigende Situation zu erwähnen, die sogenannte „Invalidation“. Als eine Situation, bei der von Invalidation gesprochen werden könnte, erwähnt Walter den Fall, bei dem „eine (neuere) Verfassungsregelung nur zur Erzeugung von Normen bestimmter Art ermächtigt, jedoch – auf Grund bisheriger Verfassung – Gesetzesnormen bestehen, die nach der neueren Verfassungsregelung nicht erzeugt werden dürfen“ 89. In einer solchen Situation kann, wie Walter bemerkt hat90, nicht über Derogation gesprochen werden, da kein Normenkonflikt zwischen früheren und späteren Norm existiert, sondern die Tatsache, dass aufgrund der Erzeugung einer Norm mit einer Rechtserzeugungsform die Erzeugung von Normen mit einer bestimmten Rechtserzeugungsform und zu gewissen Themen nicht mehr möglich ist (oder für bestimmte Autoritäten nicht mehr möglich ist). Diese Sachlage provoziert die Frage, ob eine Norm, die vor der Erzeugung dieser erwähnten Norm in normgemäßer Weise erzeugt wurde, als eine gültige und normgemäße Norm oder als eine invalidierte Norm zu verstehen ist, da nach Walters Auffassung diese Norm als gültig und normwidrig betrachtet werden sollte91. Walters Darstellung der Thematik war mit dem Ziel verbunden, die Entscheidungen der Judikatur der österreichischen Verfassungsgerichtbarkeit zu diesem Thema zu analysieren. Deswegen kann seine Zusammenfassung92 – speziell angesichts des Ausdrucks „führen kann“ – als die Darstellung einer Möglichkeit verstanden werden. Trotzdem ist auch eine zweite Alternative zu erwähnen, die Walter am Anfang seines Textes präsentiert hat, nach der in Fällen wie den dargestellten keine Antwort im Blick auf den Status der früheren Norm vorliegt93, 89 Walter, Derogation oder Invalidation, in: Ermacora/Klecatsky/Marcic (Hrsg.), Hundert Jahre Verfassungsgerichtsbarkeit, fünfzig Jahre Verfassungsgerichtshof in Österreich, S. 218. 90 Siehe Walter, Derogation oder Invalidation, in: Ermacora/Klecatsky/Marcic (Hrsg.), Hundert Jahre Verfassungsgerichtsbarkeit, fünfzig Jahre Verfassungsgerichtshof in Österreich, S. 213–215. 91 „es (ist; M.P.S.) sinnvoll anzunehmen, daß jene älteren Gesetze, die der neuen Erzeugungsregel nicht entsprechen, nicht zu ordnungsgemäßen Gesetzen, sondern zu zwar geltenden, aber doch verfassungswidrigen Gesetzen werden.“ Walter, Derogation oder Invalidation, in: Ermacora/Klecatsky/Marcic (Hrsg.), Hundert Jahre Verfassungsgerichtsbarkeit, fünfzig Jahre Verfassungsgerichtshof in Österreich, S. 219. 92 „Wenn sich eine Divergenz zwischen späterem Verfassungsrecht und früherem, einfachem Gesetz zeigt, so muß – nach dem Inhalt dieser Rechtsvorschriften – geprüft werden, ob nach der Regel der lex posterior im Hinblick auf einen auftretenden ,Widerspruch‘ Derogation eingetreten ist, oder ob ein solcher ,Widerspruch‘ nicht vorliegt, sondern die Notwendigkeit der Einordnung älteren einfachen Rechts in ein neues verfassungsrechtliches Schema, was zur Annahme der Invalidation führen kann.“ Walter, Derogation oder Invalidation, in: Ermacora/Klecatsky/Marcic (Hrsg.), Hundert Jahre Verfassungsgerichtsbarkeit, fünfzig Jahre Verfassungsgerichtshof in Österreich, S. 220. 93 „Es könnte freilich auch sein, daß 3. (Alternative neben Derogation und Invalidation; M.P.S.) die beschriebene Situation zu keinerlei rechtlichen Auswirkungen führt, die Situation der Divergenz zwischen Verfassungsrecht und Gesetz rechtlich unauflös-
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sowie eine dritte Alternative, die die Möglichkeit der Invalidation durch die Auffassung ausschließt, dass die früheren Normen als gültig und normgemäß verstanden werden müssen, denn der Normerzeuger wusste von diesen Normen (oder er konnte von ihnen wissen), und obwohl er handeln konnte, um diese Normen zu vernichten, hat er das nicht getan. Ohne konkrete Situationen existieren aber sehr wenig Gründe, um diese Alternative anzunehmen, sowie um zu behaupten, dass der Normerzeuger wollte, dass diese früheren Normen als normwidrige Normen betrachtet werden sollten. Zuletzt ist zu beachten, dass die Invalidation – anders als die Suspension – nicht als eine Funktion der Rechtsnormen zu verstehen ist, denn die Erzeugung einer Norm, aufgrund derer eine andere Norm invalidiert wird, wird die Geltung der invalidierten Norm nicht beeinträchtigen, sondern die erste Norm wird vielleicht – d. h. solange Gründe existieren, um die Invalidation als eine konsistente Wirkung zu verstehen, die in Rechtsphänomenen tatsächlich zu beobachten ist – einen Einfluss auf die Erkenntnis der invalidierten Norm haben, sodass diese Norm als eine normwidrige Norm betrachtet werden wird94. V. Ursprünge, Lösungen und Konsequenz der Normenkonflikte Normenkonflikte sind ein Problem für die Rechtserkenntnis, weil die Rechtserkenntnis mit der Grundunterscheidung zwischen gültigen und ungültigen Normen operiert, und weil es bei Normenkonflikten vorkommen kann, dass angesichts einer Norm ein Phänomen eine rechtliche Bedeutung hat, aber angesichts einer anderen Norm hat dasselbe Phänomen eine andere Bedeutung. Angesichts dieser Problematik wird diese Sektion das Thema der Normenkonflikte mittels Untersuchung der möglichen Ursprünge und Lösungen für Normenkonflikte behandeln, um die Konsequenzen der Normenkonflikte klar darzustellen. bar bestehen bleibt – schärfer formuliert: sich rechtlich nicht als Divergenz erweist.“ Walter, Derogation oder Invalidation, in: Ermacora/Klecatsky/Marcic (Hrsg.), Hundert Jahre Verfassungsgerichtsbarkeit, fünfzig Jahre Verfassungsgerichtshof in Österreich, S. 209. 94 „Das B.-VG. kennt nicht nur den Typus des ordnungsgemäß erzeugten Bundesoder Landesgesetzes, sondern auch jenen des verfassungswidrigen Bundes- oder Landesgesetzes; ein solches verfassungswidriges Gesetz entfaltet volle Rechtswirkung und ist lediglich dadurch von den verfassungsmäßigen Gesetzen unterschieden, daß es angefochten und aufgehoben werden kann.“ Walter, Derogation oder Invalidation, in: Ermacora/Klecatsky/Marcic (Hrsg.), Hundert Jahre Verfassungsgerichtsbarkeit, fünfzig Jahre Verfassungsgerichtshof in Österreich, S. 219. Zu dieser Aussage Walters ist zu erwähnen: Invalidierte Normen können nicht auf Grund der Tatsache von anderen Normen unterschieden werden, dass die invalidierten Normen „angefochten und aufgehoben werden“ können, denn auch die anderen Normen können angefochten und aufgehoben werden, ohne dass diese Normen in einer Situation wie die einer Invalidation zu finden sind. Dazu ist auch zu bemerken, dass die Tatsache, dass eine Norm normgemäß ist, die Möglichkeit nicht ausschließt, dass diese Norm auf Grund der Anerkennung einer in dem Fall unbegründeten Normwidrigkeit aufgehoben wird.
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1. Die Ursprünge der Normenkonflikte und Kelsens Lösung für diese Probleme Es ist eine logische Folgerung aus der von Merkl identifizierten Tatsache, dass gültige Normen weiter als gültig betrachtet werden müssen, solange keine positivrechtliche (oder vorausgesetzte) Bestimmung über die Derogation dieser Normen existiert, dass zwei gültige Normen, die in Konflikt miteinander stehen, als gültig und in Konflikt miteinander stehend betrachtet werden müssen. Diese Grundregel für die Identifizierung und Behandlung von möglichen Normenkonflikten kann folgenderweise ausgedrückt werden: Die Rechtsordnung enthält gültige Normen, die inhaltlich in Konflikt miteinander stehen, solange in dieser Rechtsordnung keine Norm existiert, durch die eine Lösung für diese Art von Normenkonflikt vorbestimmt ist. Dazu muss auch erwähnt werden, dass Normenkonflikte aufgrund der Ausübung einer alternativen Ermächtigung erfolgen können, dank Ausübung der direkten Ermächtigung95 oder wegen der Erzeugung einer Norm, die eventuell (weil von rechtlichen Bestimmungen abhängig) eine andere Norm invalidiert. Bei Normenkonflikten bietet Kelsens Theorie nur eine vorbestimmte Lösung an (die Anwendung des Gewohnheitsrechts als andere mögliche Lösung wird weiter unten diskutiert), die Anwendung der Wirksamkeit als Kriterium für die Anerkennung der gültigen Norm und konsequenterweise für die Lösung des Normenkonflikts96. Diese Lösungsmöglichkeit existiert, wenn zwei Normen in Kon95 Dazu schreibt Kelsen: „Ein Konflikt kann auch zwischen zwei individuellen Normen, etwa zwei Gerichtsentscheidungen bestehen, insbesondere, wenn die beiden Normen von verschiedenen Organen gesetzt werden. Ein Gesetz kann zwei Gerichte ermächtigen, denselben Fall zu entscheiden, ohne der Entscheidung des eines Gerichtes die Macht zu verleihen, die Entscheidung des anderen Gerichtes aufzuheben. Das ist zwar eine sehr unzulängliche Rechtstechnik, ist aber nicht unmöglich und mitunter der Fall.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 372. 96 „es (kann; M.P.S.) vorkommen, daß ein Angeklagter von dem einen Gericht verurteilt, von dem anderen aber freigesprochen wird, das heißt: daß er nach der einen Norm bestraft, nach der anderen aber nicht bestraft werden soll; oder daß das eine Gericht einer Klage stattgibt, ein anderes Gericht aber dieselbe Klage abweist, das heißt: daß nach der einen Norm Zivilexekution in das Vermögen des Beklagten geführt werden soll, nach der anderen Norm aber, daß Zivilexekution nicht in das Vermögen des Beklagten geführt werden soll. Der Konflikt wird dadurch gelöst, daß das Exekutivorgan die Wahl hat, der einen oder der anderen Entscheidung zu entsprechen; das heißt: die Strafe oder Zivilexekution zu vollstrecken oder nicht zu vollstrecken, der einen oder der anderen individuellen Norm zu entsprechen. Wird der Zwangsakt vollstreckt, den die eine Norm als gesollt setzt, bleibt die andere Norm dauernd unwirksam und verliert so ihre Geltung; wird der Zwangsakt nicht vollstreckt, wird der Norm entsprochen, die den Angeklagten freispricht oder die Klage abweist, bleibt die andere Norm, die den Zwangsakt als gesollt setzt, dauernd unwirksam und verliert so ihre Geltung. Diese Deutung erfolgt grundnormgemäß. Denn die Grundnorm bestimmt: Zwang soll geübt werden unter den Bedingungen und in der Weise, wie es in der im großen und ganzen wirksamen Verfassung und den der Verfassung gemäß gesetzten, im großen und ganzen wirksamen generellen und den wirksamen individuellen Normen bestimmt wird. Wirk-
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flikt miteinander stehen, das bedeutet, dass eine der Normen einen Tatbestand mit einer Folge verbindet, während die andere Norm denselben Tatbestand mit einer anderen Folge verbindet. Ist eine gewisse Zeit abgelaufen und sind alle Umstände dieses Tatbestands identifiziert, dann besteht die Möglichkeit, dass eine der beiden Normen die rechtliche Verbindung zwischen Tatbestand und Folge präsentiert – so wie es in den meisten konkreten Fällen passiert –, während die Folge der anderen Norm unbeachtet bleibt. In diesem Fall kann behauptet werden, dass diese andere Norm wegen Unwirksamkeit ihre Geltung verloren hat und deswegen ist der Normenkonflikt gelöst. Hier ist nicht ein Fall von Derogation im engeren Sinne zu identifizieren, sondern eine Norm verliert wegen Unwirksamkeit ihre Geltung, sie wird aus diesem Grund vernichtet. 2. Der Status des Grundsatzes lex posterior derogat legi priori und die Anwendung des Gewohnheitsrechts für die Lösung der Normenkonflikten Positivrechtliche Regelungen, die Normenkonflikte normieren, können in der Lage sein, alle oder mehrere dieser Konflikte zu lösen, beispielsweise bei Fällen, bei denen zwei in Konflikt miteinander stehende Normen von unterschiedlichen Autoritäten, mit unterschiedlichen Rechtserzeugungsformen oder zu unterschiedlichen Zeitpunkten erzeugt wurden. Es ist hier noch anzumerken, dass auch eine positivrechtliche Bestimmung über die Suspension als eine Art von Norm zu betrachten ist, die Normenkonflikte löst, und dass eine andere mögliche vorbestimmte (aber nicht unbedingt positivierte) Lösung für Normenkonflikte existiert, die eine generelle Regelung wie den Grundsatz lex posterior derogat legi priori involviert. Kelsens Auffassung zum Status des Grundsatzes lex posterior derogat legi priori war schwebend97, aber in seinen letzten Schriften hat er die Ansicht vertreten, dass dieser Grundsatz nur anerkannt werden sollte, wenn er positiviert ist, d. h. ohne positivrechtliche Normierung einer solchen Norm für die Lösung von Normenkonflikte sollte der Rechtstheoriker die Tatsache anerkennen, dass zwei Normen in Konflikt miteinander stehen98, solange es nicht der Fall wäre – und samkeit ist als Bedingung der Geltung in der Grundnorm statuiert.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 372–373. 97 Über Kelsens frühere Auffassungen bezüglich des Grundsatzes lex posterior, aber ohne Rücksicht auf Kelsens spätere Interpretation dieses Grundsatzes, siehe Paulson, On the Status of the lex posterior Derogating Rule, in: Tur/Twining (Hrsg.), Essays on Kelsen, S. 229 ff. 98 „Daß es echte Normenkonflikte, d.h. Situationen, gibt, in denen zwei Normen gelten, von denen die eine ein bestimmtes Verhalten, die anderen ein mit diesem Verhalten unvereinbares Verhalten als gesollt setzt, kann nicht geleugnet werden. (. . .) auch innerhalb einer und derselben Rechtsordnung sind Normenkonflikte möglich und gar nicht selten (. . .). Für sie alle ist wesentlich, daß beide in Konflikt stehenden Normen gelten, so daß, wenn die eine befolgt wird, die andere verletzt werden muß.“ Kelsen, Recht und
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das ist eine gewaltige Änderung in Kelsens Behandlung der Thematik –, dass der Normerzeuger es „für selbstverständlich hält“ 99, dass er bei der Erzeugung einer Norm, die in Konflikt mit einer früheren Norm steht, die frühere Norm derogiert hat. Eine andere Behandlung der Problematik der Normenkonflikte wird von Lippold angesichts der Notion der „Abänderungsermächtigung“ vertreten100. Für Logik (1965), S. 1206–1207. Zu Kelsens anderer Auffassung, dass es keine Normenkonflikte geben kann, siehe ders., RR2 (1960), S. 368–369. 99 „Die Aufhebung der Geltung einer ein bestimmtes Verhalten vorschreibenden Norm, (. . .) und die Vorschreibung des gegenteiligen Verhaltens, (. . .) sind zwei voneinander wesentlich verschiedene Funktionen. Steht eine ein bestimmtes Verhalten vorschreibende Norm in Geltung und setzt der Gesetzgeber eine Norm, die ein mit diesem Verhalten unvereinbares Verhalten vorschreibt, mag er wohl die frühere Norm aufgeben wollen. Aber dieser Wille kommt in der späteren Norm, die auf ein bestimmtes Verhalten, nicht auf die Geltung einer anderen Norm gerichtet ist, nicht zum Ausdruck. Und dieser Wille muß in einer Norm zum Ausdruck kommen, die von der ein bestimmtes Verhalten vorschreibenden Norm verschieden ist; ganz ebenso, wie wenn die Geltung einer Norm durch eine derogierende Norm aufgehoben wird, ohne daß eine neue Regelung des Gegenstandes erfolgt, der durch die aufgehobene Norm geregelt war. Daß im Falle einer Neuregelung die derogierende Norm von dem Gesetzgeber nicht ausdrücklich formuliert wird, kommt daher, daß der Gesetzgeber für selbstverständlich hält, daß, wenn er eine Norm setzt, die mit einer älteren in Konflikt steht, er die Geltung dieser älteren Norm aufhebt; dies insbesondere unter dem Einfluß der von der traditionellen Jurisprudenz vertretenen Lehre: die jüngere Norm derogiere der älteren Norm. Aber auch eine Norm, die der Gesetzgeber für selbstverständlich hält und daher nicht ausdrücklich formuliert, sondern stillschweigend voraussetzt, ist eine gesetzte, positive Norm.“ Kelsen, Recht und Logik (1965), S. 1210. Eine ähnliche Aussage ist in dem Aufsatz Derogation zu finden. Siehe ders., Derogation (1962), in: WRS, S. 1180. In diesem Zusammenhang macht Kelsen deutlich, dass Normen für die Lösung von Normenkonflikten durch positivrechtliche Normierung oder durch andere Voraussetzungen identifiziert werden können. „In summary, it should be pointed out that the importance in legal theory is: that principles of derogation are not logical principles, and that conflicts between norms remain unsolved unless derogating norms are expressly stipulated or silently pressupposed.“ Ders., a. a. O., S. 1180. 100 „Der einfache Gesetzgeber bedarf der umfassenden Rechtserzeugungsermächtigung, die auch die Abänderungsermächtigung umfaßt, damit er neue Kodifikate erlassen kann. Der Verfassungsgesetzgeber bedarf einer umfassenden Rechtssetzungskompetenz nicht, für ihn reicht die Abänderungsermächtigung, weil er neue Kodifikate nicht zu erlassen braucht. Damit ist auch die Frage nach dem Status des Satzes von der lex posterior zu beantworten: Als expliziter positivrechtlicher Satz findet er sich in den Rechtsordnungen nicht. Es kann also nur so sein, daß er entweder nicht gilt oder aber seine Geltung vorausgesetzt wird. Die Rechtsordnung ist aufgrund des durch den rechtlichen Stufenbau hergestellten Zusammenhangs der verschiedenen Ermächtigungen eine zusammenhängende Textmenge. Wenn ein Rechtssetzer eine Rechtsvorschrift erlassen und dabei zugleich behaupten würde, er nähme keine Rechtsänderung vor, so stünde diese Behauptung in Widerspruch zu seinem Akt. Es gibt keine Rechtserzeugung ohne Rechtsänderung. Und dies nicht nur in dem Sinne, daß ein neuer Rechtstext die Gesamtmenge der Rechtstexte erweitert. Vielmehr kann stets genau angegeben werden, welche Kompetenzen welches Organs verändert werden. Das bedeutet aber: Wenn der Satz von der lex posterior nicht gelten würde, dann wäre Rechtserzeugung überhaupt nicht möglich. Und daraus folgt umgekehrt: Wenn und weil Ermächtigungen zur
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Lippold sind Normen wie der Grundsatz lex posterior als logische Gründe anzunehmen, da ohne ihre Annahme die Rechtsordnung als eine Sammlung von Ermächtigungen (Bestimmungen) verstanden werden müsste, die einander annullieren. Lippolds Argument operiert mit zwei Grundelementen: der vertretbaren Idee, dass die Ermächtigung zur Erzeugung einer Norm als eine die Rechtsordnung ändernde Ermächtigung verstanden werden soll, und die schon zitierte problematische Ansicht, nach der es „keine Rechtserzeugung ohne Rechtsänderung (gibt; M.P.S.). (. . .) Wenn der Satz von der lex posterior nicht gelten würde, dann wäre Rechtserzeugung überhaupt nicht möglich.“ 101 Das Problem bei Lippolds Argumentation liegt in der Gleichsetzung der Abänderungsermächtigung mit der Auffassung, dass die Rechtsordnung nur geändert werden kann, solange eine oder mehrere in dieser Rechtsordnung gültige Normen wegen der Erzeugung einer anderen Norm in ihrer Geltung beeinträchtigt sind. Aber das ist nicht unbedingt der Fall, denn in einer Rechtsordnung ohne Normen für die Lösung von Normenkonflikten kann eine Norm erzeugt werden, die in Konflikt mit einer anderen Norm dieser Rechtsordnung steht. Das bedeutet, dass in dem ersten Moment diese Rechtsordnung eine einzelne gültige Norm über X enthält, während in einem zweiten Moment dieselbe Rechtsordnung zwei unterschiedliche gültige Normen über X enthält. Die Rechtsordnung ist geändert, aber weil beide Normen gültig sind, ist sie nicht so geändert, als ob sie eine neue Norm über X bekommen und eine alte Norm über X verloren hätte. Es ist logisch sowie unwiedersprüchlich vertretbar, dass eine Rechtsordnung die Möglichkeit der Änderungsermächtigung anerkennt und dass in dieser Rechtsordnung Normenkonflikte existieren können. Es gibt keinen rein logischen102 Weg (d. h. ohne positivrechtliche Bestimmung), um einen Grundsatz wie die lex posterior als wesentlich für die Rechtsordnung zu vertreten. Die Idee, dass es einen Grund für die Auffassung geben könnte, ist der fehlerhafte Schluss aus der Tatsache (worauf schon Merkl korrekterweise hingewiesen hat), dass für Rechtsnormen die Unveränderbarkeit die Regel ist. Die Unveränderbarkeit der Rechtsnormen ist die Konsequenz der Abwesenheit einer positivrechtlichen Normierung der Derogation oder einer durch Gewohnheit zustande gekommenen Norm über Derogation. Anderseits erfordert die Unveränderbarkeit der Rechtsordnung ganz andere Bedingungen: Eine Rechtsordnung wird als unveränderbar betrachtet, nur solange
Rechtssetzung vorgesehen sind, muß der Satz lex posterior derogat priori vorausgesetz werden. – Dieser Zusammenhang ist so zwingend, daß die ausdrückliche Statuierung des Satzes von der lex posterior redundant wäre, er daher nicht eigens statuiert werden muß und somit zu Recht in den Verfassungen fehlt.“ Lippold, Recht und Ordnung, S. 407. 101 Lippold, Recht und Ordnung, S. 407. 102 Kelsen hat in seinen späteren Schriften die Idee abgelehnt, dass der Grundsatz lex posterior derogat legi priori eine logische Begründung bekommen könnte. Siehe Kelsen, Recht und Logik (1965), S. 1208–1210.
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es in dieser Rechtsordnung nicht möglich ist, neue Normen zu schaffen, nur wenn nach dieser Rechtsordnung keine Norm derogiert und keine Norm erzeugt werden kann. Obwohl Lippolds Lösung abgelehnt werden muss, liegen zwei weitere Alternativen vor, um die Problematik der Normenkonflikte zu behandeln. Aber vor der Darstellung dieser Lösungen ist eine wichtige Bemerkung zu machen. Diese Lösungen, die nicht dank positiver Normen erfolgen, involvieren eine Ausnahme vom Grundsatz der Positivität. Beide Lösungen für Normenkonflikte, die Identifizierung einer dank Gewohnheit konstituierten Norm103, sowie die eventuelle Tatsache, dass der Normerzeuger eine Norm wie lex posterior derogat legi priori für selbstverständlich gehalten hat, erfolgen dank einer oder mehrerer vorausgesetzter Normen. Ein erster möglicher Weg, um Normenkonflikte zu lösen, kann aus dem Gewohnheitsrecht stammen – es handelt sich um eine Möglichkeit, denn es kann immer passieren, dass die Rechtsordnung keine verallgemeinerbare Tendenz für die Behandlung der verschiedenen Arten von Normenkonflikten enthält. Ist in einer Rechtsordnung eine Gewohnheit, ein Gebrauch identifiziert, beispielsweise ein Gebrauch bezüglich der Normenkonflikte, der durch den Grundsatz lex posterior derogat legi priori ausgedrückt werden kann, dann besteht die Möglichkeit, dass die Rechtsordnung dank Gewohnheitsrecht Lösungen für Normenkonflikte anbieten kann, auch wenn in dieser Rechtsordnung das Gewohnheitsrecht nicht als Rechtsquelle anerkannt ist. In einer solchen Situation muss die Rechtsordnung als nicht nur von den geschriebenen Normen konstituiert verstanden werden, sondern auch als von einer oder mehreren Normen, die die Natur von Gewohnheitsrecht besitzen. Kelsens Auffassung des Gewohnheitsrechts als Quelle von Rechtsnormen wird diese Lösung im gewissen Grad anerkennen. Kelsen argumentiert nämlich, dass für ihn das Gewohnheitsrecht als Quelle von gültigen Normen unter zwei Umständen identifiziert werden kann: wenn die Rechtsordnung ausdrücklich anerkennt, dass das Gewohnheitsrecht eine mögliche Quelle von gültigen Rechtsnormen ist104, oder wenn diese Quelle durch die Anwendung der Grundnorm und die Anerkennung der Wirksamkeit der durch Gewohnheit konstituierten Normen
103 Das Gewohnheitsrecht kann in einigen Rechtsordnungen als Rechtsquelle positiviert werden, aber das ist nur möglich und nicht notwendig (siehe dazu den in Fußnote 105 zitierten Text), sodass die Tatsache, dass in einer Rechtsordnung das Gewohnheitsrecht als Rechtsquelle anerkannt ist, nicht genügt, um in einer Rechtsordnung ohne solche Bestimmungen über die Gewohnheit die eventuelle Notwendigkeit des Voraussetzens der Betrachtung der Gewohnheit als Rechtsquelle auszuschließen. 104 „Als objektiv gültige Norm kann aber der subjektive Sinn der die Gewohnheit konstituierenden Akte nur gedeutet werden, wenn die Gewohnheit durch eine höhere Norm als normerzeugender Tatbestand eingesetzt wird.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 34–35.
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ein Bestandteil der Rechtsordnung geworden ist105. Diese letzte Alternative enthält eine Auffassung, die als Teiländerung der Verfassung identifiziert werden kann, denn wegen dieser Situation wird die Verfassung auch von einer Norm konstituiert werden, die die Gewohnheit als Rechtsquelle anerkennt, sodass in diesem Fall behauptet werden kann, dass der Grundsatz der Positivität mit Bezug auf die Norm, die das Gewohnheitsrecht als Quelle bestimmt, ausgeklammert wird. Die zweite und schon erwähnte Lösungsalternative involviert das Voraussetzen, dass der Normerzeuger, der einen (vielleicht nur scheinbaren) Normenkonflikt verursacht hat, eigentlich das Ziel hatte, die frühere Norm zu derogieren, sodass er die Derogation dieser Norm „für selbstverständlich“ gehalten hat „und daher nicht ausdrücklich formuliert, sondern stillschweigend voraussetzt“ 106. Diese Situation zählt als einer der Fälle, in denen der Grundsatz der Positivität ausgeklammert wird, auch wenn Kelsen selbst (ohne Begründung) behauptet hat, dass eine vom Normerzeuger für selbstverständlich gehaltene Norm „eine gesetzte, positive Norm“ 107 ist. Dass Kelsens Behauptung, der Normerzeuger 105 „Wenn Gerichte als ermächtigt angesehen werden, auch Gewohnheitsrecht anzuwenden, so müssen sie hiezu – ganz so wie zur Anwendung der Gesetze – durch die Verfassung ermächtigt sein; das heißt: die Verfassung muß die Gewohnheit, die durch das habituelle Verhalten der der staatlichen Rechtsordnung unterworfenen Individuen – der Staats-Subjekte (oder Untertanen) – konstituiert wird, als rechtserzeugenden Tatbestand einsetzen. Wird die Anwendung von Gewohnheitsrecht durch die Gerichte als rechtsmäßig angesehen, obgleich die geschriebene Verfassung keine solche Ermächtigung enthält, kann die Ermächtigung (. . .) nicht in einer Norm der ungeschriebenen, durch Gewohnheit entstandenen Verfassung gegeben sein, sondern muß ebenso vorausgesetzt werden, wie vorausgesetzt werden muß, daß die geschriebene Verfassung den Charakter objektiv verbindlicher Norm hat, wenn die ihr gemäß erlassenen Gesetze und Verordnungen als verbindliche Rechtsnormen angesehen werden. Dann setzt die Grundnorm – als die Verfassung im rechtslogischen Sinne – nicht nur den Akt des Verfassunggebers, sondern auch die durch das Verhalten der der verfassungsmäßig erzeugten Rechtsordnung unterworfenen Subjekte konstituierte Gewohnheit als rechtserzeugenden Tatbestand ein.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 401. 106 Kelsen, Recht und Logik (1965), S. 1210. Schon zitiert in Fußnote 99. Diese Situation kann sich wiederholen, sodass sie nicht mehr als eine eigene Lösung zählt, sondern als eine durch Gewohnheit erzeugte Norm anerkannt wird. 107 Kelsen, Recht und Logik (1965), S. 1210. Kelsen hat dieselbe Position in der Allgemeine(n) Theorie der Normen vertreten und zwar mit der Wiederholung der Behauptung der Positivität der für selbstverständlich gehaltenen Norm: „Gegen die Behauptung, daß die einen Normenkonflikt lösende Derogation, insbesondere der Grundsatz, der formuliert wurde: lex posterior derogat priori kein logisches, sondern ein positivrechtliches Prinzip ist, könnte man einwenden, daß eine Norm, die die im Falle eines Normenkonflikts stattfindende Derogation regelt, als ausdrücklich gesetzte Norm in einer positiven Rechtsordnung sich zumeist nicht vorfindet. Dies ist daraus zu erklären, daß der Gesetzgeber manches ausdrücklich zu normieren unterläßt, weil er es, als selbstverständlich, stillschweigend voraussetzt. Es ist durchaus möglich, daß die drei Arten Normenkonflikte zu lösen, von den rechtsanwenden Organen als Interpretationsprinzipien so allgemein angewendet werden, daß ihre Geltung als selbstverständlich – auch von den Gesetzgebern – angesehen und daher stillschweigend als geltend voraus-
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würde eventuell für selbstverständlich halten, dass Normen für die Lösung von Normenkonflikten existieren, ist nicht zu bestreiten und kann in der Tat eine geeignete Beschreibung der Rechtsphänomene einschließen. Aber der wichtige Punkt ist, dass Kelsen keinen Grund angegeben hat – und keinen Grund angeben konnte –, um die Positivität dieser für selbstverständlich gehaltenen Normen anzuerkennen. Zwischen der Beschreibung der Rechtsphänomene und dem Festhalten am Grundsatz der Positivität hat sich Kelsen für die erste Alternative entschieden, obwohl er nicht ausdrücklich behauptet hat, dass der Grundsatz der Positivität in diesen Situationen unbeachtet bleiben müsste108. 3. Die Konsequenz der ungelösten Normenkonflikte für die Lehre vom Stufenbau Eine Rechtsordnung, die Normenkonflikte enthält, weil das Gewohnheitsrecht keine Lösung anbietet und der Normerzeuger eine Norm für die Lösung von Normenkonflikten für selbstverständlich gehalten hat, kann trotzdem durch die Lehre vom Stufenbau dargestellt werden, solange klar wird, dass in einem solchen Fall das Ergebnis der Darstellung nicht das von einer Norm Erlaubte, Gebotene, Verbotene, Ermächtigte oder Derogierte als eine absolute Grenze für die Identifizierung des Normgemäßen darstellt. Das, was nach einer gültigen Norm als normgemäß betrachtet werden muss, kann wegen einer anderen gültigen Norm als normwidrig betrachtet werden. Stehen zwei Normen in Konflikt miteinander, dann ist es nicht möglich, die Frage über die Grenze der Normangemessenheit vorbehaltlos zu beantworten. Eine Rechtsordnung enthält in allen Fällen deutliche Grenzen für das Normgemäße, wenn sie von Normen konstituiert ist, die für alle möglichen Normenkonflikte vorbestimmte Lösungen anbietet. In allen anderen Situationen ist die Darstellung der Rechtsordnung als gestufte Ordnung kein makelloser Weg, um alle Situationen als normgemäß oder normwidrig darstellen zu können. Die Lehre vom Stufenbau bietet einen wesentlichen Beitrag für die Rechtserkenntnis, aber sie kann keine vollständige Darstellung der eventuellen rechtlichen Bedeutung aller Phänomene anbieten. Die Lehre von Stufenbau ist nicht in der Lage, setzt werden, daß der Verfassungsgeber als selbstverständlich voraussetzt, daß ein späteres von dem Gesetzgeber gesetztes Gesetz, das mit der Verfassung in Konflikt ist, seine Geltung verliert; daß der Gesetzgeber, wenn er eine Norm setzt, als selbstverständlich annimmt, daß eine von ihm früher gesetzte Norm, die mit der späteren in Konflikt ist, ihre Geltung verliert, daß er als selbstverständlich annimmt, daß, wenn in einem von ihm erlassenen Gesetz zwei Normen miteinander in Konflikt stehen und er nichts für diesen Fall bestimmt hat, die normanwendenden Organe die Wahl zwischen beiden haben, oder daß beide ihre Geltung verlieren. Dann sind eben diese Derogationsprinzipien positive Rechtsnormen.“ Ders., ATN (1979), S. 103. 108 In beiden für die Diskussion relevanten Texte wird über das Voraussetzen einer Norm gesprochen. Siehe Kelsen, Recht und Logik (1965), S. 1210; ders., ATN (1979), S. 103.
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die Geltung aller Normen zu erklären, so wie sie auch nicht in der Lage ist, immer vorausbestimmen zu können, welche Phänomene als normgemäß oder normwidrig betrachtet werden müssen. Wegen der Existenz von Normenkonflikten sowie von Normen, die mittels alternativer Ermächtigung erzeugt sind, kann eine Rechtstheorie, die exklusiv auf die Beschreibung des Rechts zielt, nicht die Tatsache ignorieren, dass angesichts dieser Situationen die Rechtserkenntnis unvollständig ist, denn das wesentliche Element für die Rechtserkenntnis, die gültigen Normen, umfasst in einigen Situationen eine unbestimmte Gruppe von Normen, die durch die Darstellung der Rechtsordnung als Stufenverhältnisse nicht begriffen werden kann, oder sie enthält Normen, die in Konflikt miteinander stehen. VI. Bildliche Darstellungen der Stufungen einer Rechtsordnung Über die Adoption von Merkls Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung hat Walter geschrieben: „Eine solche Übernahme einer – bei genauer Betrachtung – höchst diffizilen These in die juristische Diskussion bringt stets die Gefahr einer gewissen Vereinfachung und des Auftretens von Mißverständnissen mit sich.“ 109 Diese Aussage bleibt immer wahr, wenn die gewöhnliche bildliche Darstellung des Stufenbaus110 (genauer wäre, der Stufenbauten) in Betracht gezogen wird. 109
Walter, Der Aufbau der Rechtsordnung, S. 53. Merkl selbst hat keine bildliche Darstellung seiner Theorie der Stufung der Rechtsordnung veröffentlicht, aber er hat in einigen Textstellen versucht, Aspekte dieser Theorie durch Analogien und Bilder zu erläutern. In dieser Hinsicht sind folgende Aussagen zu berücksichtigen: „Man wird an die Bilder des Nervensystems, das durch das Gehirn konstituiert wird, des Blutgefäßsystems, das im Herzen sein Zentrum hat, erinnert. Noch sprechender ist aber ein Bild, das nicht ein Sein, sondern ein Werden darstellt. Den Fluß, der in Katarakten abflällt, welche durch Klärungsbecken voneinander getrennt sind, gibt uns ein Vorbild der Rechtswerdung, an der erkenntnismäßige und schöpferische Auslegung zusammenwirken. Durch einen großen Schritt, einen förmlichen Sturz in der Entwicklungsreihe der Rechtsgenesis, ist der gegebene Rechtsstoff mächtig aufgewühlt. Da setzt die Klärungsarbeit der Rechtswissenschaft ein. Doch das Gewässer, die Rechtswerdung, steht nicht still; sie macht einen weiteren großen Schritt dem Endziel zu; und wieder gibt es Anlaß für wissenschaftliche Klärungsarbeit, und so fort, bis die Entwicklungsreihe der Rechtserscheinungen erschöpft, bis der Strom im Meer der Einzelheiten gemündet ist. Und noch ein sprechenderes Bild stellt uns der Strom dar, in den von Etappe zu Etappe fremde Gewässer münden; nicht anders nimmt die stufenweise Rechtserzeugung fremde Elemente in die Rechtsmaterie auf, die nach dieser Rezeption zwar formell unverändert ist, der Wissenschaft aber nun reichlich Assimilationsarbeit zu leisten übrig läßt. Doch nach der Klärung tritt wieder eine Vermischung ein, bis auch auf diesem Wege das Meer der Einzelheiten, das ist das völlig individualisierte, völlig konkretisierte Recht erreicht ist.“ Merkl, Das Recht im Lichte seiner Anwendung (1916), in: AJM-GS, Bd. I/1, S. 115. „Blicken wir von der Etage, auf der wir uns mit dem Gesetze befinden, hinab, so eröffnet sich der Blick auf die gemeinsame Basis alles Rechtlichen, auf die Verfassung. Über uns hinaus sehen wir aber die Treppe des Rechtsgebäudes um eine wechselnde Zahl von Etagen hinansteigen. Wir gelangen ins Bereich der Verordnungen, welches sich meist – je nach der Hierarchie der Behörden – mehrstufig gegliedert erweist; und gekrönt wird das Rechtsgebäude durch eine Unzahl von Entscheidungen, Verfügungen, Erkenntnissen und wie 110
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Die Lehre von den Stufungen der Rechtsordnung wird fast ausnahmslos mit dem Zeichen eines Dreiecks wiedergegeben, das durch einige horizontalen Linien unterteilt ist. In dieser Sektion wird gezeigt, wie informationsarm und missverständnisanfällig diese bildliche Darstellung des Stufenbaues ist, und es wird auch eine alternative bildliche Darstellung einiger der vielen möglichen Stufungen in einer Rechtsordnung durch geeignetere Bilder angeboten, sowie die nötigen Erklärungen und Bemerkungen hinzugefügt, die zur Erläuterung einer solchen Präsentation erforderlich sind. Vier Gründe erklären, warum die Darstellung des Stufenbaus (genauer: die Darstellung der Stufenbauten der Rechtsordnung) als ein Dreieck ungeeignet ist, wenn als Ziel angenommen wird, die hierarchischen Verhältnisse der Rechtserzeugungsformen bildlich darzustellen. 1. Die Darstellung als Dreieck geht davon aus, dass eine Rechtserzeugungsform immer mittels der Anwendung einer oder mehrerer anderer Rechtserzeugungsformen erfolgt, die so präsentiert werden können, als ob diese (unten oder oben liegenden) Rechtserzeugungsformen (auch die gewählten Positionen der Normen sind gewöhnlich nicht geklärt) immer angewendet würden, um eine Norm mit einer anderen Rechtserzeugungsform zu erzeugen. Das ist aber nicht immer der Fall, denn es ist zum Beispiel möglich, dass eine Verordnung nicht durch Anwendung irgendeines Gesetzes erzeugt wird, sondern direkt durch die Anwendung einer Verfassungsnorm111. Gleicherweise wird eine individuelle Norm nicht immer auf Grund, d. h. durch die Anwendung eines Gesetzes erzeugt, sondern nur dank einer Verfassungsnorm, wenn beispielsweise ein Verfassungsgericht entscheidet, dass ein Gesetz verfassungswidrig ist. In einem solchen Fall ist die übliche Darstellung der individuellen Normen unter (oder über) den Gesetzen eindeutig falsch, denn das genaue Gegenteil erfolgt, wenn wegen einer individuellen Norm ein Gesetz als ungültig betrachtet wird. Dass einige individuelle Normen dank Anwendung von Verfassungs-, Gesetzes- und Verordnungsnormen erzeugt sind, darf nicht so verstanden werden, als ob individuelle Normen nur dank der Anwendung aller dieser Rechtserzeugungsformen erzeugt werden könnsonst diese individuellen Rechtserscheinungen alle heißen mögen. Mit Rücksicht auf die Fülle gerade dieser Rechtserscheinungen, welche, wenn man sie an die Spitze stellt, die Rechtspyramide nach obenhin erweitert erscheinen läßt, mag man übrigens nach Belieben sie sich an der Basis vorstellen, wodurch die im ersten Bilde an der Basis vorgestellte Verfassung an die Spitze der Pyramide rückt.“ Ders., Das doppelte Rechtsantlitz (1918), in: AJM-GS, Bd. I/1, S. 228. „Unter den zum Vergleich herangezogenen Bildern, wie dem einer Kette, eines Stammbaues oder Wasserlaufes, eines technischen Produktionsprozesses usw., ist wohl das einer Stufenfolge, eines Stufenbaues, das schmuckloseste, aber sinnfälligste und bezeichnendste.“ Ders., Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues (1931), in: AJM-GS, Bd. I/1, S. 478. 111 Über die Irrelevanz der Anwesenheit aller Rechtserzeugungsformen, die angesichts der hierarchischen Position möglicherweise zwischen zwei Rechtserzeugungsformen liegen, siehe Lippold, Recht und Ordnung, S. 392–395; Walter, Der Aufbau der Rechtsordnung, S. 62–65.
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Kap. 4: Ursprung und Begründung der Geltung der Normen
ten, oder dass es durch die Erzeugung von individuellen Normen nicht möglich wäre, beispielsweise Gesetze zu derogieren. 2. Die Darstellung als Dreieck bildet einen wesentlichen Aspekt der Vorstellung einer Stufung sowie eine Eigenschaft der Rechtserzeugung durch Rechtsanwendung falsch ab. Das Aufsteigen in der Rechtsordnung ist eine Situation, in der auf Grund einer Norm, die einen gewissen Rechtserzeugungsspielraum anbietet (angesichts dieses Aspekts ist es angemessen, die Verfassung als breiteste Stufe des Stufenbaus zu repräsentieren112), eine andere Norm erzeugt wird. Es ist eine Eigenschaft dieser zweiten Norm, dass sie für eine weitere Rechtserzeugung durch Rechtsanwendung einen engeren Rechtserzeugungsspielraum anbietet. Bildlich gesprochen reproduziert dieses Auf- und Absteigen, diese Unterscheidung zwischen den Normen der verschiedenen Stufen, keine stetige Verteilung, sondern eine diskrete Stufung. Dieses Aufsteigen entwickelt sich durch diskrete Schritte, durch signifikante Verengungen, so wie jede Stufe einer Pyramide deutlich kleiner ist als die darunterliegende Stufe und daher von den anderen Stufen leicht (weil ein signifikantes Aufsteigen erfolgt) unterschieden werden kann. 3. Die Dreiecks-Darstellung ist informationsarm, denn in der üblichen Darstellung sind die Bedingungen für die Stufung der Rechtsordnung nicht ge- oder erklärt, und die Behauptung der Existenz einer Hierarchie zwischen Verfassung, Gesetzen und Verordnungen wird nicht begründet, sondern schlicht als Tatsache präsentiert. Genau das Gegenteil muss aber erfolgen, wenn die Darstellung der unterschiedlichen Rechtserzeugungsspielräume das Ziel ist. Da und wenn in einer konkreten Rechtsordnung Verordnungen nur im Rahmen der Gesetze erzeugt werden dürfen, sind Verordnungen hierarchisch niederrangiger als Gesetze. Dieses hierarchische Verhältnis ist durch die positiven Rechtsnormen bestimmt und bedingt. Aus diesem Grund kann auch folgen, dass in einer anderen Rechtsordnung Verordnungen und Gesetze denselben Normerzeugungsspielraum besitzen. 4. Nach der rechtssetzenden Kraft wird nicht immer über einen Stufenbau, sondern möglicherweise über mehrere Stufenbauten gesprochen werden113, denn in einigen Fällen liegen Normen mit einer Rechtserzeugungsform zwischen zwei Normen mit unterschiedlichen Rechtserzeugungsformen, z. B. liegen einige Gesetze zwischen Verfassungsnormen und Verordnungen, aber anderseits sind auch Normen mit einer Rechtserzeugungsform zu finden, die in keinem Kontakt mit einer Norm einer bestimmten Rechtserzeugungsform stehen, sondern mit einer Norm einer anderen Rechtserzeugungsform, z. B. sind einige Verordnungen nur auf Grund Verfassungsnormen erzeugt, sodass kein Gesetz existiert, das zwi112 Dass die Stufe der Verfassung als unterste positivrechtliche Stufe dargestellt wird, ist ausschließlich das Ergebnis der üblichen Vorstellung über das Bauen eines mehrstufigen Gegenstandes. 113 Merkl selbst hat diese Auffassung beeinflusst, da er, wie oben zitiert, von der Rechtsordnung als einem „Rechtsgebäude“ gesprochen hat.
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schen diesen Verordnungen und den Verfassungsnormen identifiziert werden kann. Die Existenz mehrere Stufenbauten ist auch anzuerkennen, wenn überlegt wird, dass einige individuelle Normen auf Grund von Verfassungs-, Gesetz- und Verordnungsnormen erzeugt sind, während andere Normen nur auf Grund von Verfassungs- und Verordnungsnormen erzeugt sind. Die vielfältigen hierarchischen Verhältnisse der Normen können nicht durch einen einzigen Stufenbau dargestellt werden, denn die Pluralität der Verhältnisse kann nur bildlich dargestellt werden, wenn man von der Auffassung ausgeht, dass die juristische Konstruktion der Rechtsordnung nicht aus einem Stufenbau besteht, sondern aus mehreren Stufenbauten (aus mehreren „Rechtsgebäude(n)“), die ein gemeinsames Stockwerk (die Verfassung als Sammlung von Verfassungsnormen) haben. 1. Bildliche Darstellung der Stufenbauten der Rechtsordnung nach absolut normgemäßer rechtssetzender Kraft
= Baufeld, d. h. Grenze des normgemäßen Normerzeugungsspielraums = Hinweise auf die Kontinuität sowie auf das Ende einer Stufe der Stufenbauten Bild 1
Die in Bild 1 dargestellten individuellen Normen sind folgenderweise zu verstehen: Individuelle Norm 1 – Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, dass ein Gesetz C ungültig, weil verfassungswidrig ist – es verstößt gegen die Verfassungsnorm A. Die Identifizierung des Bundesverfassungsgerichts als ermächtigte Autorität, um diese Art von Situation zu entscheiden, erfolgt auf Grund der individuellen Norm 5, die bestimmte Personen als Mitglieder dieses Gerichtes ermächtigt hat. Die individuelle Norm 2 – Entscheidung der Steuerverwaltung, dass auf Grund der generellen Steuergesetznorm D, die die Höhe der Einkommensteuer festlegt, sowie der Informationen über die Jahreseinnahmen einer Person, diese Person die Summe X als Steuer bezahlen soll. Die individuelle Norm 3 – Entscheidung der Steuerverwaltung, die auf Grund der generellen Steuergesetznorm E, die durch allgemeine Bedingungen die Besteuerung von Produkten regu-
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Kap. 4: Ursprung und Begründung der Geltung der Normen
liert, sowie der wegen dieser Norm erzeugten generellen Steuerverordnungsnorm F, nach der gewisse Produkte P mit einer bestimmten Steuerbelastung besteuert werden, festlegt, dass aufgrund des Verkaufs des Produktes P ein Besteuerung in der Höhe von Y % erfolgen soll. Die individuelle Norm 4 – Entscheidung der Steuerverwaltung, die auf Grund der generellen Steuergesetznorm E, die durch allgemeine Bedingungen die Besteuerung von Produkten reguliert hat, sowie der wegen dieser Norm erzeugten generellen Steuerverordnung G, nach der gewisse Produkte Q mit einer bestimmten Steuerbelastung besteuert werden, entschieden hat, dass aufgrund des Verkaufs des Produkts Q ein Besteuerung in der Höhe von Z % erfolgen soll. Zu diesem Bild ist zuerst zu bemerken, dass abweichend von den anderen Normen die Verfassungsnormen keinen Normerzeugungsspielraum haben, weil sie als Grundbestimmungsmaßstab für die Beobachtung der absolut normgemäßen Normen anzuwenden sind. Das ist aber nicht so zu verstehen, als ob die existenten Verfassungsnormen nicht geändert werden könnten, denn die Änderbarkeit einer oder mehrerer Normen der Verfassung wird von Verfassungsnormen bestimmt, die diese Situation normieren. Eine andere notwendige Bemerkung bezieht sich auf die unterschiedlichen Höhen der Stufenbauten. Diese Variationen haben keine Relevanz in Bezug auf die rechtssetzende oder derogatorische Kraft der Normen, denn eine individuelle Norm wird in einer höheren Stufe als eine andere Norm (als eine andere individuelle oder generelle Norm) erscheinen, einfach weil sie durch normgemäße Anwendung einer größeren Anzahl von Rechtserzeugungsformen als die andere Norm erzeugt wurde. Zuletzt ist zu beachten, dass die Hinweise auf die Kontinuität der Stufenbauten nicht so zu verstehen sind, als ob dieses Baufeld unendlich ist. Das Baufeld der Stufenbauten nach absolut normgemäßer rechtssetzender Kraft (oder Fähigkeit) ist immer endlich, denn der Normerzeugungsspielraum ist von der Verfassung bestimmt, da die Verfassung determiniert, dass normgemäße Normen mittels anderer Rechtserzeugungsformen erzeugt werden können. Aber diese Endlichkeit ist wiederum nicht so zu verstehen, als ob der von der Verfassung angebotene Normerzeugungsspielraum nicht geändert werden könnte. Solange die Verfassung (zum Teil oder als Ganze) geändert werden kann, ist dieser Spielraum auch veränderbar. Die Funktion der bildlichen Darstellung der Stufenbauten der Rechtsordnung nach absolut normgemäßer rechtssetzender Kraft ist, zu zeigen, welche Normen die ermächtigten Autoritäten in absolut normgemäßer Weise erzeugen können, sowie zu erklären, warum bestimmte Autoritäten in einer absolut normgemäßen Weise die Ermächtigung bekommen haben, Normen zu erzeugen. Die oben erwähnten individuellen Normen werden immer von der Voraussetzung ausgehen, dass sie von ermächtigten Autoritäten erzeugt wurden. Das bedeutet aber nicht immer, dass eine erwähnte individuelle Norm, die normgemäß werden konnte, überhaupt gültig ist. Eine individuelle Norm ist als eine normgemäße und gültige Norm zu betrachten – es ist eine der Bedingungen ihrer rechtlichen Existenz –,
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dass sie von einer Autorität erzeugt wurde, die ermächtigt war, diese Norm zu erzeugen. Die Bedingungen der absolut normgemäßen Erzeugung sind nicht nur die Bedingungen, die mit den inhaltlichen Aspekten der konkreten Situation zu tun haben, sondern umfassen auch die Ermächtigungsbedingungen, d. h. die Bedingungen, die mit dem Erzeuger der (individuellen oder generellen) Norm zu tun haben. In diesem Sinne ist die Frage nach der absolut normgemäßen Natur einer individuellen Norm nicht nur angesichts der anzuwendenden Normen zu dieser Thematik zu beantworten, sondern auch angesichts der anzuwendenden Normen über die Kompetenz für die Anwendung der Normen, die diese Thematik regulieren. Ein weiteres Thema in Bezug auf die bildliche Darstellung der Stufenbauten und einer Verfassung, die keine Ewigkeitsklausel enthält, ist die Notwendigkeit der Anerkennung der Unmöglichkeit des Einbindens einer Verfassungsnorm, die die Erzeugung von Verfassungsnormen normiert. Die Normen über die Erzeugung von Verfassungsnormen müssen als Ausnahme für die bildliche Darstellung der Stufenbauten nach absolut normgemäßer rechtssetzender Kraft verstanden werden, denn die bildliche Darstellung der Verfassungsnormen als zweite Stufe der Stufenbauten (auf der ersten Stufe ist die Grundnorm zu finden) kann nicht die Norm oder die Normen bildlich repräsentieren, die die Erzeugung von Verfassungsnormen disziplinieren, wenn diese mit den anderen Normen gleichrangig sind, d. h. wenn sie auch verändert werden können. Das ist eine Konsequenz der Tatsache, dass die bildliche Darstellung der Verfassungsnormen auf das Ziel orientiert ist, die Grenzen des normgemäßen Normerzeugungsspielraums darzustellen. Der angebotene Blickwinkel stammt aus einem Bestimmungsmaßstab, der von den gegebenen Verfassungsnormen angeboten wird – so wie dieser Bestimmungsmaßstab danach von den Gesetzesnormen oder Verordnungen angeboten wird –, und dieser Blickwinkel richtet sich nach oben. Aus diesem Grund sind zwischen den bildlich dargestellten Verfassungsnormen die Verfassungsnormen über die Erzeugung von Verfassungsnormen nicht eingeschlossen, wenn diese Normen verändert werden können. Diese Normen bieten einen Bestimmungsmaßstab, der für die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der anderen Rechtserzeugungsformen nicht angewendet wird, sondern der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der erzeugten Verfassungsnormen dient. Die Verfassungsnormen, die die Erzeugung anderer Verfassungsnormen disziplinieren, könnten nur in das angebotenen Bild mit eingeschlossen werden, wenn eine Ausnahme dargestellt würde, sodass es unter der Stufe der Verfassungsnormen eine Verfassungsnorm gäbe, die den angebotenen normgemäßen Rechtserzeugungsspielraum von Verfassungsnormen darstellte, aber mit dem wesentlichen Hinweis, dass anders als in den anderen Stufenverhältnissen in diesem Fall eine Norm der höheren Stufe die Norm der niedrigen Stufe modifizieren könnte, d. h. eine erzeugte Verfassungsnorm könnte die Verfassungsnorm ändern, die die Erzeugung von Verfassungsnormen positiviert.
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Kap. 4: Ursprung und Begründung der Geltung der Normen
2. Bildliche Darstellung des Rechtserzeugungsspielraums dank alternativer Ermächtigung
Bild 2
In Bild 2 ist eine von mehreren möglichen Darstellungen des Rechtserzeugungsspielraums dank alternativer Ermächtigung repräsentiert. In diesem Fall geht es um die Darstellung des Spielraums der alternativen Ermächtigung für zwei Autoritäten bei einer Art von Normadressat. Die alternative Ermächtigung kann nicht in der bildlichen Darstellung der Stufenbauten nach absolut normgemäßer rechtssetzender Kraft (Bild 1) eingeschlossen werden, denn diese Darstellung hat die Funktion, die Grenze der absolut normgemäßen Rechtserzeugung zu präsentieren, und die alternative Ermächtigung ist per Definition als ein Fall von normwidriger (oder relativ normgemäßer, weil in Konflikt mit einer Norm stehender) Rechtsanwendung zu verstehen. Trotzdem besteht die Möglichkeit, durch ein anderes Bild die in einigen Fällen existenten Grenzen für die Ausübung der alternativen Ermächtigung zu repräsentieren (siehe Bild 2). In diesem Fall kann nicht über einen Stufenbau gesprochen werden, sondern über die Breite der Ermächtigung zur Erzeugung von Normen, die Autoritäten verpflichten, diese Normen durchzuführen, ohne dass diese Autoritäten die Ermächtigung bekommen, die Normangemessenheit der erzeugten Normen in Frage zu stellen und aus diesem Grund diese Normen nicht beachten, nicht durchführen könnten. Deswegen kann in diesem Fall eine Situation darstellt werden, in der unterschiedliche Autoritäten unterschiedliche Spielräume für die Erzeugung von relativ normgemäßen (normwidrigen), aber gültigen Normen besitzen. Bezüglich dieses Themas muss ein weiterer Punkt erwähnt werden: In den meisten Fällen wird eine Autorität dank alternativer Ermächtigung einen endlichen Rechtserzeugungsspielraum besitzen, aber es besteht auch die Möglichkeit, dass eine Autorität einen unendlichen Rechtserzeugungsspielraum besitzt. Es könnte also beispielsweise eine Situation entstehen, wie sie in Bild 2 dargestellt ist. In diesem Fall hat der Bundesgesetzgeber die Ermächtigung bekommen, Ge-
C. Stufenbaulehre und Rechtserkenntnis
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setze zu erlassen, wobei in der Verfassung steht, dass der Bundesgesetzgeber nur Gesetze erlassen darf, die den Normen der Verfassung nicht widersprechen. Aber in dieser Verfassung steht auch, dass exklusiv das Bundesverfassungsgericht ermächtigt ist, nicht aber andere Richter oder Rechtsunterworfene, Gesetze für verfassungswidrig zu erklären und deshalb diese Gesetze nicht angewendet werden müssen. Konsequenterweise müssen Richter alle von diesem Bundesgesetzgeber veröffentlichten Gesetze als gültige Gesetze betrachten, als gültige Normen verstehen – solange die Autorität, die angesichts dieses Gesetzes das Recht anwenden soll, nicht das Bundesverfassungsgericht ist –, auch wenn das Verstöße gegen Verfassungsrechte einschließt. Es muss aber angemerkt werden, dass diese dargestellte Situation nur unter einer Perspektive als eine universelle Ermächtigung zu verstehen ist. Normalerweise besitzen die Bundesgesetzgeber keine Ermächtigung, individuelle Normen zu erzeugen, die direkt durchgeführt werden sollen – diese theoretische Möglichkeit ist nicht auszuschließen, sowie die Tatsache, dass ein Gesetz nicht als individuelle Norm verstanden werden sollte, aber sie ist nicht erheblich, solange niemand ermächtigt ist, die Geltung dieses Gesetzes in Frage zu stellen –, sodass auch, wenn ein verfassungswidriges Gesetz gewisse Handlungen determiniert, dieses Gesetz von Richtern angewendet werden muss, um eine individuelle Norm zu erzeugen, die ihrerseits einer Autorität befehlen wird, den Inhalt der individuellen Norm durchzuführen. An dieser Stelle kann ein anderer Aspekt der Durchführung von Befehlen als Anwendung von individuellen Normen wichtig sein: Entsprechend dem präsentierten Beispiel ist die alternative Ermächtigung des Bundesgesetzgebers angesichts einer Perspektive, angesichts eines Maßstabs unbegrenzt. Aber es kann auch passieren, dass – weil in der Rechtsordnung die Durchführung von individuellen Normen nicht unbegrenzt ist, d. h. dass nicht immer die Autoritäten, die verpflichtet sind, die individuellen Normen durchzuführen, auch verpflichtet sind, verfassungswidrige Normen durchzuführen – die Situation eintreten kann, dass eine individuelle Norm nicht beachtet werden wird, weil sie verfassungswidrig ist114. 114 Das deutsche Soldatengesetz, § 11 Abs. 1 („Der Soldat muss seinen Vorgesetzten gehorchen. Er hat ihre Befehle nach besten Kräften vollständig, gewissenhaft und unverzüglich auszuführen. Ungehorsam liegt nicht vor, wenn ein Befehl nicht befolgt wird, der die Menschenwürde verletzt oder der nicht zu dienstlichen Zwecken erteilt worden ist; die irrige Annahme, es handele sich um einen solchen Befehl, befreit den Soldaten nur dann von der Verantwortung, wenn er den Irrtum nicht vermeiden konnte und ihm nach den ihm bekannten Umständen nicht zuzumuten war, sich mit Rechtsbehelfen gegen den Befehl zu wehren.“), bietet ein solches Beispiel, da die Soldaten verpflichten sind, Befehle nicht auszuführen, wenn die Ausführung eines Befehls einen Verstoß gegen die Menschenwürde bedeuten würde. Konsequenterweise könnte es passieren, dass ein Vorgesetzter durch Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes ermächtigt war, einen Befehl zu erteilen, aber der Soldat nicht verpflichtet war, diesen Befehl durchzuführen, oder genauer gesagt: er verpflichtet war, den Befehl nicht durchzuführen.
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Kap. 4: Ursprung und Begründung der Geltung der Normen
Zur bildlichen Darstellung des Rechtserzeugungsspielraums dank alternativer Ermächtigung für zwei Autoritäten bei einer Art von Normadressat sind auch die folgenden Bemerkungen relevant. In einer Rechtsordnung, in der Richter verpflichtet sind, die Gesetze des Bundesgesetzgebers anzuwenden, auch wenn diese verfassungswidrig sind, sowie auch Gesetze von Landesgesetzgebern anzuwenden, solange diese Gesetze verfassungsmäßig sind und nicht in Konflikt mit Bundesgesetzen stehen, kann der Rechtserzeugungsspielraum dieses Gesetzgebers bezüglich der Richter durch den ersten Balken im Bild 2 dargestellt werden. In diesem Fall, weil der Bundesgesetzgeber, aber nicht der Landesgesetzgeber, Zugang zu einer unbegrenzten alternativen Ermächtigung für die Erzeugung von Gesetzen hat, ist es nicht möglich, das Ende des Rechtserzeugungsspielraums sowie den kompletten Umfang dieser Ermächtigung darzustellen. In Bild 2 ist auch eine andere Art von Verhältnis zwischen Rechtserzeuger und Rechtsanwender (als Normadressat) dargestellt. Selbst wenn ein Richter auf Grund eines verfassungswidrigen Gesetzes die Todesstrafe für bestimmte Personen festlegen sollte, sind die Staatsbeamten, die zur Durchführung der Entscheidungen der Richter verpflichtet sind, nicht verpflichtet, verfassungswidrige Normen durchzuführen, d. h. diese Entscheidung ist für diese Normadressaten, die Staatsbeamten, als ungültig zu betrachten, und das auch, wenn angesichts der Rechtsordnung die Entscheidung gültig ist. 3. Bildliche Darstellung der Stufung der Rechtserzeugungsformen nach derogatorischer Kraft
Verordnungsnormen Gesetze veränderbareVerfassungsnormen unveränderbare Verfassungsnormen
Gesetze/Verordnungsnormen veränderbareVerfassungsnormen unveränderbare Verfassungsnormen Bilder 3 und 4
Zwei mögliche Darstellungen des derogatorischen Spielraums der Rechtserzeugungsformen sind in den Bilder 3 und 4 präsentiert. Anders als bei der Dar-
C. Stufenbaulehre und Rechtserkenntnis
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stellung der Stufenbauten nach der absolut normgemäßen rechtssetzenden Kraft besteht im Fall der Darstellung der hierarchischen Verhältnisse angesichts der derogatorischen Kraft die Möglichkeit, diese hierarchischen Verhältnisse in einem Stufenbau zu präsentieren. Es muss aber beachtet werden: Es kann passieren, dass in einer Rechtsordnung nicht alle Normen mit einer Rechtserzeugungsform nur ein hierarchisches Verhältnis zu den Normen anderer Rechtserzeugungsformen haben, sodass wegen einer eventuell positivrechtlich bestimmten Pluralität der hierarchischen Verhältnisse auch eine Pluralität von Stufenbauten nötig werden kann. Bei der bildlichen Darstellung des Stufenbaus nach derogatorischer Kraft ist zu beachten, dass auch hier das Auf- und Absteigen durch diskrete Stufen und nicht durch stetige Verteilung erfolgt. Deswegen ist der in den Bildern 3 und 4 angebotene Rechtserzeugungsspielraum von derogatorischen Normen mit der Rechtserzeugungsform veränderbarer Verfassungsnormen deutlicher breiter als derselbe Spielraum mit Bezug auf Gesetzesnormen. Zur Darstellung der unveränderbaren Verfassungsnormen (diese Normen könnten auch als nicht-derogierbare Normen bezeichnet werden, da die Änderbarkeit einer Norm immer der Tatsache entspricht, dass eine Norm derogiert und eine andere Norm erzeugt wurde, um den Platz der früheren Norm einzunehmen) als breiteste Stufe ist zu bemerken, dass diese Rechtserzeugungsform so dargestellt ist, weil sie die Kraft besitzt, von keiner anderen Rechtserzeugungsform derogiert zu werden115, und auch weil die Normen mit der Rechtserzeugungsform unveränderbare Verfassungsnorm Normen aller anderen Rechtserzeugungsformen derogieren können, wenn der Fall eintritt, dass neue unveränderbare Verfassungsnormen erzeugt sind, die in Konflikt mit Normen einer anderen Rechtserzeugungsform stehen116. Zu diesem Thema ist auch zu beachten, dass auf Grund der Tatsache, dass die unveränderbaren Verfassungsnormen keine unveränderbare Norm derogieren können, die bildliche Darstellung des Stufenbaues nach der derogatorischen Kraft neben den Stufen zwei Signale anwenden muss, beispielsweise und , um klarzustellen, ob die Normen einer Stufe die anderen Normen derselben Stufe derogieren können oder nicht.
115 Die Grundnorm ist nicht in die bildliche Darstellung eingeschlossen, da sie nicht als ein Grund für die Derogation einer Norm zählt, obwohl sie der Grund für den Geltungsverlust einer Norm werden kann. 116 In einer Verfassung, in der keine unveränderbare Verfassungsnorm erzeugt werden kann, ist diese Situation (diese Stufe) auszuschließen, aber die unveränderbaren Verfassungsnormen bleiben an derselben hierarchischen Stelle, da sie von Normen mit anderen Rechtserzeugungsformen nicht derogiert werden können.
Kapitel 5
Die Rechtserkenntnis und die Interpretation des Rechts Es ist notwendig zu beachten, dass die Erkenntnis der Normen als gültige Normen nicht nur von den Lehren von Grundnorm, alternativer Ermächtigung und Stufenbau abhängt, sondern auch von der Anwendung einer Interpretationslehre. Kelsens Lehre der Interpretation des Rechts wird in diesem Kapitel analysiert, aber die Interpretation war ein wesentliches Element auch für die Themen, die in den vorherigen Kapiteln behandelt wurden. Deswegen ist beispielsweise die Tatsache, dass das Recht seine Erzeugung normiert, nach der Lehre vom Stufenbau zu behandeln, aber diese Theorie kann nur verstanden werden, indem die Beziehungen von erzeugenden und erzeugten Normen angesichts der Bedeutung dieser Normen einerseits und der in der Realität beobachteten Phänomene anderseits berücksichtigt werden. Dieses Vergleichen kann nur erfolgen, wenn die für den Fall relevanten Normen interpretiert sind und ihre jeweilige Bedeutung mit der Realität konfrontiert wird. Darüber hinaus muss beachtet werden, dass Kelsens Grundnormenlehre mit der Auffassung operiert, dass die gültigen Verfassungsnormen wirksame Verfassungsnormen werden müssen. Es ist eine unmittelbare Konsequenz dieser Auffassung, dass die Erkenntnis der gültigen Verfassungsnormen von der Tatsache abhängt, dass diese Normen wirksam sind; es ist eine mittelbare Konsequenz, dass Rechtserkenntnis über gültige Verfassungsnormen nur erfolgen kann, wenn Verfassungsnormen interpretiert und mit einer Realität konfrontiert werden, um zu überprüfen, ob sie wirksame Normen sind. Die Lehre von der Interpretation wurde in dieser Untersuchung nicht bei der Behandlung der anderen Lehren Kelsens erwähnt, aber diese Lehren können ihre praktische Relevanz nur zeigen, wenn sie nicht nur mit Normen und Beziehungen zwischen Normen arbeiten, sondern auch in der Lage sind, dank Anwendung einer Interpretation von bestimmten Normen die Realität der Rechtsphänomene erfolgreich zu beschreiben. Die Interpretation ist also eine der Grundlagen für die Erklärung, warum Rechtserkenntnis besteht, warum etwas als ein Rechtsphänomen betrachtet werden kann, auch wenn diese allein nicht ausreichend ist. Wie oben argumentiert (siehe Kapitel 2), erfolgt nach Kelsens Theorie die Identifikation der Rechtsphänomene – die Erkenntnis, dass bestimmte Phänomene Rechtsphänomene sind – durch die Berücksichtigung und Anwendung von gültigen Rechtsnormen, d. h. für die Existenz der Rechtserkenntnis müssen zwei Bedingungen erfüllt sein: 1. Es muss eine klare Erkenntnis vorliegen, welche Normen gültig sind und aus welchen Gründen sie als gültige Normen betrachten werden müssen (siehe Kapitel 4);
A. Die Aufgabe der rechtswissenschaftlichen Interpretation
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2. diese gültigen Normen müssen interpretiert werden, sodass angesichts einer Interpretation dieser Normen Phänomenen rechtliche Bedeutung zugeschrieben werden kann, oder erklärt wird, warum (bestimmte) Phänomene als Rechtsphänomene zu betrachten sind. Neben der Darstellung der Gründe, warum Normen als gültig betrachtet werden müssen, ist deswegen zu klären, was die Interpretation einer Rechtsnorm bedeutet, wie sie erfolgt, sowie auch – weil nicht alle Phänomene als Rechtsphänomen betrachtet werden können; denn sonst würde immer die Möglichkeit bestehen, entsprechend irgendeiner Interpretation Phänomene als Rechtsphänomene zu betrachten –, angesichts welcher Maßstäbe behauptet werden kann, dass Ergebnisse der Interpretation als richtig oder falsch betrachtet werden können und wie diese Maßstäbe begründet sind. Als letzter Schritt muss Kelsens Auffassung der Interpretation mit der Realität der Rechtsphänomene verglichen werden, da seine Auffassung nur anzunehmen ist, solange sie der Realität der Interpretation des Rechts entspricht und diese korrekt darstellt. In diesem Kapitel wird zuerst präsentiert, wie und warum Kelsen bei der Interpretation des Rechts drei Arten von Interpretation unterschieden hat. In der Folge wird Kelsens Stellung zum Thema Auslegungsmethode behandelt sowie seine Auffassung, dass das Ergebnis der rechtswissenschaftlichen Interpretation als ein Rahmen verstanden werden muss, der angesichts aller möglichen Bedeutungen der interpretierten Normen (Normtexte) aufgebaut werden muss. In Verbindung mit dieser Thematik werden Kelsens Argumente für die Auffassung dargestellt, dass die Normen nicht als Inhalte von Willensakten, sondern als der jeweilige Sinn von Willensakten verstanden werden müssen. Es wird also geklärt, warum und wie Kelsen eine Rechtsnorm als den Sinn eines Willensaktes definiert. Danach wird anhand der Berücksichtigung der von Kelsen selbst adoptierten Auffassung, dass die Rechtstheorie die Aufgabe hat, das Recht, die Gegenstände des Rechts (die gültigen Normen) sowie die Rechtsphänomene zu beschreiben, Kelsens Position zu den Kriterien für den Aufbau des normativen Rahmens sowie über die Erforderlichkeit einer Pluralität von Auslegungsergebnissen kritisch betrachtet. Zuletzt wird diskutiert, ob und unter welchen Bedingungen nicht-positivierte Normquellen (und die von ihnen abstammenden Normen), wie die Analogie, die Interessensabwägung und die Prinzipien, beim Aufbau des normativen Rahmens eine Rolle spielen.
A. Die drei Arten von Interpretation und die Aufgabe der rechtswissenschaftlichen Interpretation In der Reine(n) Rechtslehre unterscheidet Kelsen zuerst zwei Arten von Interpretation: die authentische („rechtsschaffend(e)“ 1) und die nichtauthentische2 1 2
Kelsen, RR2 (1960), S. 606. Kelsen, RR2 (1960), S. 597.
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Kap. 5: Die Rechtserkenntnis und die Interpretation des Rechts
Interpretation. Erst danach präsentiert er die „rechtswissenschaftliche Interpretation“ 3 als spezifische Art von nichtauthentischer Interpretation, die von einer anderen Art von nichtauthentischer Interpretation, die „eine rechtspolitische Funktion“ 4 erfüllt, unterschieden werden muss. Nach Kelsen ist die nichtauthentische rechtswissenschaftliche Interpretation eine „rein erkenntnismäßige Feststellung des Sinnes von Rechtsnormen“ 5, denn sie „kann nichts anderes als die möglichen Bedeutungen einer Rechtsnorm herausstellen, sie kann als Erkenntnis ihres Gegenstandes keine Entscheidung zwischen den von ihr aufgezeigten Möglichkeiten treffen“ 6; also ihre Rolle ist nur, den normativen Rahmen darzustellen. Andererseits zielt die nichtauthentische Interpretation mit rechtspolitischer Funktion darauf, „Einfluß auf die Rechtserzeugung zu gewinnen“ 7, was z. B. passiert, wenn ein „Rechtsanwalt, der im Interesse seiner Partei dem Gericht nur eine von mehreren möglichen Interpretationen der in diesem Fall anzuwendenden Rechtsnorm nahelegt“, oder wenn „ein Schriftsteller, der in einem Kommentar eine ganz bestimmte unter mehreren möglichen Interpretationen als die allein ,richtige‘ auszeichnet“ 8. Die rechtswissenschaftliche Interpretation ist die Art von Interpretation, die berücksichtigt werden muss, wenn es darum geht, zu erklären, warum ein Phänomen eine rechtliche Bedeutung hat. Diese Interpretation wird Phänomenen rechtliche Bedeutung nicht erst zuschreiben, denn sie bedeutet die Ausübung einer Erklärungs- im Gegensatz zu einer Begründungsaufgabe; denn sie erklärt, warum Rechtsphänomene als Rechtsphänomene anerkannt sind. Wie schon gesehen, ist es nicht die Aufgabe von Kelsens Rechtstheorie, Gegenstände der Rechtserkenntnis, also Rechtsphänomene, zu schaffen (siehe Kapitel 1), sondern zu erklären, warum diese Phänomene die rechtliche Bedeutung enthalten, die sie enthalten. Auch wenn in einem bestimmten Sinn über die Erzeugung der Gegenstände der Rechtserkenntnis gesprochen werden kann (siehe Kapitel 2), handelt es sich um eine passive Erzeugung, als eine Erzeugung von Gegenständen als Gegenstände des Rechts und der Rechtserkenntnis durch eine passive Handlung, durch die Anerkennung, dass bestimmte Phänomene angesichts der Konfrontation dieser Phänomene mit gültigen Rechtsnormen als Rechtsphänomene zu betrachten sind. Die rechtswissenschaftliche Interpretation als Bestandteil von Kelsens Rechtstheorie ist in die Erfüllung dieser Beschreibungsaufgabe eingeschlossen. Deswegen muss sie so formuliert werden, dass sie es schaffen kann, nicht nur zu 3 4 5 6 7 8
Kelsen, RR2 (1960), S. Kelsen, RR2 (1960), S. Kelsen, RR2 (1960), S. Kelsen, RR2 (1960), S. Kelsen, RR2 (1960), S. Kelsen, RR2 (1960), S.
607. 608. 607. 608. 608. 608.
A. Die Aufgabe der rechtswissenschaftlichen Interpretation
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erklären, warum die Phänomene, die als Rechtsphänomene zu betrachten sind, so betrachtet werden müssen, sondern auch klarzustellen, warum Phänomene, die nicht als Rechtsphänomene zu betrachten sind, so verstanden werden müssen. Es ist die Aufgabe einer Theorie, die auf das Erkennen und Beschreiben der Rechtsphänomene zielt, Parameter anzubieten, die diese wesentliche Unterscheidung ermöglichen. Nach Kelsens Theorie bieten die gültigen Normen diese Funktion an. Weil aber Rechtsphänomene nicht als gültige Normen verstanden werden, sondern dank der Inhalte der gültigen Normen9 als Rechtsphänomene gelten, ist es immer nötig, die für den Fall relevanten Normtexte zu interpretieren, um Rechtsphänomene als solche erkennen zu können. Die Aufgabe der rechtswissenschaftlichen Interpretation ist es, zu erklären und zu begründen, warum angesichts der gültigen Normen (der gültigen Normtexte) einige Phänomene ja, andere aber nicht, als Rechtsphänomene zu betrachten sind. Wie weiter unten kritisch behandelt wird, hat nach Kelsens Auffassung die rechtswissenschaftliche Interpretation als Ergebnis einen Rahmen anzubieten, der so aufgebaut sein muss, dass die Grenzen des Rahmens durch die Berücksichtigung der Bedeutung der Wörter und Sätze, die diese Normtexte konstituieren, zu identifizieren sind. Im Kontext dieser Aufgabe hat Kelsens Theorie ein Problem zu lösen, denn sie muss erklären, ob, wie und warum in den Fällen, in denen Autoritäten Normen erzeugen10, über Interpretation gesprochen werden muss. Situationen, in denen beispielsweise ein Richter ein Urteil fällt, werden unter gewöhnlicher Perspektive als Situationen verstanden, in denen die relevanten Rechtsnormen interpretiert und angesichts der Ergebnisse dieser Interpretation eine Entscheidung getroffen wird. Die Aktivität des Urteilens, die Richter ausüben, wird normalerweise in dem Sinn als eine verbundene Aktivität verstanden, weil die Richter verpflichtet sind, im Rahmen der generellen Normen Entscheidungen zu treffen, und weil ihre Entscheidungen als Fälle verstanden werden müssen, bei denen für den konkreten Fall durch Rechtsanwendung Recht erzeugt wird. Aber wie schon bei der Behandlung der alternativen Ermächtigung gezeigt, werden Normen nicht immer im Rahmen der anzuwendenden Normen erzeugt, und nicht immer sind gültige Normen absolut normgemäß. Aus diesen Gründen sagt Kelsen über die authentische Interpretation, dass durch sie eine Norm erzeugt werden könnte, „die völlig außerhalb des Rahmens liegt, den die anzuwendende Norm darstellt.“ 11 9 In Kapitel 3 wird ausführlich beschrieben, was es für eine Norm bedeutet, eine gültige Norm zu sein. 10 Zur Art und Weise wie die Normenerzeugung erfolgt, siehe Kapitel 4. 11 Die vollständige Formulierung Kelsens lautet folgendermaßen: „Dabei ist zu beachten, daß im Wege authentischer Interpretation, das heißt Interpretation einer Norm durch das Rechtsorgan, das diese Norm anzuwenden hat, nicht nur eine der durch die erkenntnismäßige Interpretation der anzuwendenden Norm aufgezeigten Möglichkeiten realisiert, sondern eine Norm erzeugt werden kann, die völlig außerhalb des Rahmens liegt, den die anzuwendende Norm darstellt. Durch solch eine authentische Interpretation kann nicht nur in dem Falle Recht geschaffen werden, in dem die Interpretation
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Kap. 5: Die Rechtserkenntnis und die Interpretation des Rechts
Kelsen definiert die authentische Interpretation als die Art von Interpretation, die nicht unbedingt als ein mögliches Ergebnis der zu interpretierenden Quellen (d. h. der für den Fall anzuwendenden Normtexte) existiert, sondern als eine Art von Interpretation, die in einigen Situationen die für die Lösung des Falles vorliegenden Normen nicht interpretiert! Die Überraschung angesichts dieser Definition muss sogar noch größer werden, wenn berücksichtigt wird, dass am Anfang des Kapitels VIII der Reine(n) Rechtslehre die Interpretation als eine Aktivität, als „ein geistiges Verfahren“, beschrieben wird, die angesichts der Normen (Normtexte) erfolgt12. Zu dieser Auffassung Kelsens sind zwei Bemerkungen notwendig. Weil es erstens für Autoritäten möglich ist, außerhalb des normativen Rahmens Entscheidungen zu treffen, ist nach Kelsens Perspektive die Anwendung des Begriffs „Interpretation“ auch so zu verstehen, dass mit diesem Begriff nicht nur eine Handlung gemeint ist, die durch eine – sagen wir mal – „Konfrontation“ einer Situation mit einer zu interpretierenden Rechtsquelle (normalerweise einem Normtext) erfolgt, sondern auch die Handlungen von ermächtigten Autoritäten, bei denen keine Überlegung, keine Interpretation der zu interpretierenden Quellen des für die Lösung des Falles anzuwendenden Rechts stattfindet, obwohl eine Antwort auf eine Frage gegeben wird, also eine Reaktion stattfindet. Weil zweitens die authentische Interpretation als die Art von Interpretation zu verstehen ist, die so erfolgen kann, dass sie gleichzeitig als Interpretation und als nur teilweise
generellen Charakter hat, also authentische Interpretation im üblichen Sinne des Wortes vorliegt, sondern auch in dem Falle, in dem durch ein rechtsanwendendes Organ eine individuelle Rechtsnorm erzeugt wird, sobald der Akt des rechtsanwendenden Organs nicht mehr aufgehoben werden kann, sobald er in Rechtskraft erwachsen ist.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 606. 12 Kelsen definiert die Interpretation folgenderweise: „Wenn das Recht von einem Rechtsorgan anzuwenden ist, muß dieses den Sinn der von ihm anzuwendenden Normen feststellen, muß es diese Normen interpretieren. Interpretation ist somit ein geistiges Verfahren, das den Prozeß der Rechtsanwendung in seinem Fortgang von einer höheren zu einer niedrigeren Stufe begleitet. In dem Fall, an den zumeist gedacht wird, wenn von Interpretation die Rede ist, im Falle der Gesetzesinterpretation, soll die Frage beantwortet werden, welcher Inhalt der aus der generellen Norm des Gesetzes in ihrer Anwendung auf einen konkreten Tatbestand zu deduzieren individuellen Norm eines richterlichen Urteils oder eines Verwaltungsbescheides zu geben ist.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 596. Ein möglicher Grund für das Problem bezüglich der Definition von Interpretation liegt in der Tatsache, dass die in der zweiten Auflage der Reine(n) Rechtslehre angebotene Definition von Interpretation mit der Definition von Interpretation der ersten Auflage fast identisch ist (siehe ders., RR1 (1934), S. 100), sodass die Definition der ersten Auflage weiter angewendet wurde, obwohl zwischen den zwei Auflagen eine wesentliche Änderung erfolgt ist, denn in der ersten Auflage war die authentische Interpretation als eine Entscheidung zwischen Möglichkeiten verstanden und dargestellt, die innerhalb des normativen Rahmens liegen (siehe ders., a. a. O., S. 104–105), während in der zweiten Auflage behauptet wird, dass durch die authentische Interpretation Normen erzeugen werden können, „die völlig außerhalb des Rahmens“ (ders., RR2 (1960), S. 606) liegen.
B. Die Anwendung von Auslegungsmethoden
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Rechtsauslegung betrachtet werden kann, kann in diesem Fall die ungewöhnliche Situation eintreten, dass auf Grund einer Entscheidung eine Interpretation existiert, aber keine Rechtsanwendung im Sinn der Anwendung der Normen, die diese Thematik disziplinieren. Es könnte gegen Kelsen behauptet werden, dass in den Fällen von Entscheidungen außerhalb des normativen Rahmens eigentlich keine Interpretation existiert. Aber gegen diesen Einwand sind zwei Aspekte zu berücksichtigen. Erstens: Auch wenn die authentische Interpretation außerhalb des normativen Rahmens erfolgt, ist sie nicht so zu verstehen, als ob die Autorität, die diese Interpretation ausübt, überhaupt kein Recht, keine Rechtsnorm interpretiert. Solange die Autorität, die eine Entscheidung trifft, sich als zuständig für das Entscheiden erkennt, liegt eine (vielleicht auch geringe) Interpretation des Rechts vor, obwohl diese Interpretation die generellen Bestimmungen für den Aufbau der Entscheidung des Falles nicht berücksichtigt hat. Zweitens: Obwohl die authentische Interpretation Situationen einschließt, in denen durch Anwendung von generellen Normen zur Thematik eine (neue) Norm erzeugt wird, kann trotzdem argumentiert werden, dass in diesen Fällen die generellen Normen möglicherweise interpretiert – obwohl nicht angewendet – sind, denn bei der Rechtserzeugung kann es (dank alternativer Ermächtigung) passieren, dass die Entscheidung die generellen Normen interpretiert, aber nicht anwendet. Deswegen kann behauptet werden, dass für Autoritäten die Möglichkeit besteht, die gültigen generellen Normen zu interpretieren und sie trotzdem bei der Entscheidung eines Falles nicht anzuwenden. Angesichts dieser Aspekte ist festzuhalten, dass die von den Autoritäten angewendete Interpretation so ausgeübt werden kann (und darf, solange die alternative Ermächtigung positiviert ist), dass Entscheidungen getroffen und gültige Normen erzeugt werden können, die außerhalb des normativen Rahmens liegen. Andererseits muss die Rechtswissenschaft (müssen die Rechtswissenschaftler) immer eine „erkenntnismäßige Interpretation“ 13 vollziehen, denn angesichts der Beschreibungsaufgabe ist es Rechtswissenschaftlern nicht erlaubt, etwas als Recht zu präsentieren, eine Norm als gültige Norm zu betrachten, bevor diese Norm als gültige Norm verstanden werden kann.
B. Die rechtswissenschaftliche Interpretation und die Anwendung von Auslegungsmethoden Laut Kelsen ist es der rechtswissenschaftlichen Interpretation nicht erlaubt, etwas als Ergebnis der Interpretation darzustellen, ohne dabei Normtexte auszulegen, d. h. die Ergebnisse der rechtswissenschaftlichen Interpretation müssen die Rechtsquellen interpretieren und auf Grund dieser Quellen aufgebaut werden. Wie aber erfolgt das? Wie wird ein Normtext interpretiert? Wie kann auf Grund 13
Kelsen, RR2 (1960), S. 606.
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Kap. 5: Die Rechtserkenntnis und die Interpretation des Rechts
eines Normtextes etwas als Norm präsentiert werden? Es ist die Anwendung einer (oder mehrerer) Auslegungsmethoden, die ermöglicht, in einem Normtext eine Norm zu identifizieren; die Norm zu sehen, die hinter dem Text steht. Deswegen ist die Diskussion über die Anwendung von Auslegungsmethoden für die Erklärung von Kelsens Theorie der Rechtserkenntnis wesentlich, da es nur dank der Anwendung von Auslegungsmethoden möglich ist, Normen zu erkennen, die ihrerseits wesentliche Bedingungen für die Erklärung der Rechtserkenntnis sind. I. Die Auslegungsmethoden und die Mehrdeutigkeit der Normtexte Die Erzeugung von Rechtsnormen erfolgt meistens durch die Erzeugung von Zeichen oder Signalen, durch die Schaffung von Mitteln, Seinswesen, die auf die Schaffung von Normen als Sollenswesen zielen14. Die Normen sind nicht diese Mittel, die Normen sind nicht die Normtexte, durch die sie normalerweise mitgeteilt werden. Weil aber Kommunikation unbedingt durch Mittel erfolgt, muss auch die Kommunikation der Normen, d. h. die Erzeugung, Ankündigung und Rezeption von Normen, von Sollen, durch Mittel erfolgen, die dank ihrer Natur keine Sollenswesen sind. Es ist eine Konsequenz der Tatsache, dass Normen nicht Seins- sondern Sollenswesen sind, dass es keine unmittelbare Mitteilung von Normen geben kann. Aus diesem Grund sind die Rechtsnormen nur durch Anwendung von Auslegungsmethoden aus den Rechtsquellen (normalerweise Normtexten) zu identifizieren. Da aber mehrere Auslegungsmethoden existieren, hat das in nicht wenigen Fällen zur Folge, dass aus einem Normtext mehr als eine Norm identifiziert werden kann, zum einen wegen der unterschiedlichen Art und Weise, wie die Auslegungsmethoden die auszulegenden Texte behandeln, was zu unterschiedlichen Ergebnisse führen kann15, zum anderen auch, weil es passieren kann, dass die Anwendung einer Auslegungsmethode zu mehreren Ergebnissen führt16. Siehe Kelsen, RR2 (1960), S. 28. Dazu schreibt Kelsen: „Allein von einem auf das positive Recht gerichteten Standpunkt aus gibt es kein Kriterium, auf Grund dessen die eine der im Rahmen des anzuwendenden Rechts gegebenen Möglichkeiten der anderen vorgezogen werden könnte. Es gibt schlechthin keine – als positivrechtlich charakterisierbare – Methode, nach der von mehreren sprachlichen Bedeutungen einer Norm nur die eine als ,richtig‘ ausgezeichnet werden könnte; vorausgesetzt natürlich, daß es sich um mehrere mögliche, das heißt: im Zusammenhang mit allen anderen Normen des Gesetzes oder der Rechtsordnung mögliche Sinndeutungen handelt. Es ist trotz aller Bemühungen der traditionellen Jurisprudenz bisher nicht gelungen, den Konflikt zwischen Wille und Ausdruck in einer objektiv gültigen Weise zugunsten des einen oder des anderen zu entscheiden. Alle bisher entwickelten Interpretationsmethoden führen stets nur zu einem möglichen, niemals zu einem einzig richtigen Resultat.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 602. 16 „Sometimes even one and the same method, especially the so-called grammatical interpretation, leads to contradictory results.“ Kelsen, The Law of the United Nations (1950), S. xiii. Nach Kelsen ist der zu interpretierende Normtext mehrdeutig, sodass – solange er Wörter enthält, die mehr als eine Bedeutung haben – die Anwendung der 14 15
B. Die Anwendung von Auslegungsmethoden
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Über die Anwendung von Auslegungsmethoden wird Kelsen die Situationen analysieren, in denen eine Auslegungsmethode von der Rechtsordnung selbst als anwendungspflichtig betrachtet wird. Nach Kelsens Perspektive müssen in diesen Fall die Normtexte durch die Anwendung dieser normativ bestimmten Auslegungsmethode ausgelegt werden17, aber dazu und angesichts einer Bemerkung Merkls18 kann gefragt werden, ob diese Auffassung tatsächlich begründet werden kann. Merkl argumentiert, dass auch die positivrechtliche Bestimmung, nach welcher ein oder mehrere Normtexte durch die Anwendung einer (bestimmten) Auslegungsmethode interpretiert werden sollen, selbst interpretationsbedürftig ist, und angesichts einer (der möglichen) Auslegungsmethoden interpretiert werden muss, um durch diese Interpretation etwas als Sollen erkennen und vorschreiben zu können. Konsequenterweise kann behauptet werden, dass wenn (erstes Argument) Normtext 1 durch die Anwendung der Auslegungsmethode A ausgelegt wird, dann ist die Norm 1 anzuerkennen, und wenn (zweites Argument) Normtext 2 die Anwendung der Auslegungsmethode A als verpflichtend bestimmt, dann ist die Auslegung des Normtextes 1 unter Anwendung dieser Auslegungsmethode A normgemäß. Das Problem bei dieser Begründung, worauf Merkl selbst hingewiesen hat, liegt im zweiten Teil der Begründung. Das zweite Argument kann tatsächlich die Annahme des ersten Arguments erzwingen. Was aber macht die Annahme des zweiten Arguments zwingend? Das zweite Argument stammt aus der Auslegung des Normtextes 2 und die Frage, die beantwortet werden muss, ist die Frage zur Art und Weise wie dieser Normtext interpretiert werden soll, denn die Erforderlichkeit der Auslegung des Normtextes 2 kann nicht vom Normtext 2 selbst stammen, auch wenn die Situation durch den Normtext normiert wird. Die Existenz einer gebotenen Auslegungsmethode allein kann nicht die Anwendung dieser Auslegungsmethode nach rein positivrechtlichen Bestimmungen erzwingen, denn ausschließlich aufgrund der Voraussetzung, dass diese Bestimmungen nur in einer Weise, nur nach einer Auslegungsmethode interpretiert werden dürfen, wird die Beachtung dieser Bestimmungen erforderlich. Ist diese Voraussetzung nicht gegeben und liegt kein positivrechtlicher Grund für diese Annahme vor, dann bleibt es aus logischer Perspektive auch möglich, unmittelbar Auslegung nach dem Wortlaut nicht zu einer, sondern zu mehreren Ergebnissen führen wird. 17 „Traditional jurisprudence distinguishes various methods of interpretation (. . .). None of these methods can claim preference unless the law itself prescribes the one or the other.“ Kelsen, The Law of the United Nations (1950), S. xiii. 18 „Die Auslegung, der doch offenbar die Rolle eines Werkzeugs der Rechtserkenntnis zukommt, kann doch nicht gleichzeitig ein Gegenstand der Rechtserkenntnis sein! Mit welchem Werkzeuge würde man denn dieses besonderen rechtlichen Erkenntnisobjektes Herr werden? Doch wieder nur mit Auslegung. Doch diese Auslegung des rechtlichen Interpretationsproblems kann doch selbst nicht wieder juristischer Natur sein.“ Merkl, Das Recht im Lichte seiner Anwendung (1916), in: AJM-GS, Bd. I/1, S. 87.
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Kap. 5: Die Rechtserkenntnis und die Interpretation des Rechts
Normtext 2 und mittelbar Normtext 1 anders auszulegen, durch eine andere Auslegungsmethode, z. B. angesichts der Behauptung, dass Normtext 2 nur für Friedenszeiten gedacht war, sodass der Gesetzgeber in der Tat nicht überlegt hat, ob die Anwendung des Normtexts 2 in Kriegszeiten angemessen wäre. Dass eine solche Auslegung in konkreten Fällen als deutlicher Widerspruch in Bezug auf den Willen eines Gesetzgebers erkannt werden kann, liegt auf der Hand. Aber es ist auch anzuerkennen, dass Gesetzgeber – unabhängig von der Macht, die sie besitzen – keine Macht haben, etwas, das logisch möglich ist, unlogisch – und damit unmöglich – zu machen. Normtext 2 kann Menschen verpflichten, Normtext 1 in einer bestimmten Weise auszulegen. In diesem Fall sind die Menschen verpflichtet, Normtext 1 in einer bestimmten Weise auszulegen, weil Normtext 2 diese Pflicht festgesetzt hat (genauer, weil die Norm, die Normtext 2 angekündigt hat, diese Pflicht festgesetzt hat). Der Grund der Pflicht, Normtext 1 in einer bestimmten Weise auszulegen, ist im Normtext 2 zu finden. Genau weil der Grund der Pflicht einer bestimmten Vorgehensweise bezüglich Normtext 1 in einem anderen Normtext liegen muss – da kein Normtext seine Geltung selbst begründen kann –, ist es unmöglich, durch Anwendung von Normtexten eine bestimmte Auslegung absolut anwendungspflichtig zu machen. Wie bei der Frage der Begründung der Geltung der Normen, ist auch hier die Situation so zu identifizieren, dass keine endgültige Begründung gerechtfertigt werden kann. Entweder ist ein Normtext als gültig vorausgesetzt, oder es muss die relative Begründungsfähigkeit der Normtexte akzeptiert werden. Wenn diese Situation etwas beweist, dann, dass Rechtsordnungen nicht in der Lage sind, eine vollständige Kontrolle über ihre Auslegung auszuüben. Die Rechtsordnung kann in einem extremen Fall die Auslegung aller ihrer Normen – abgesehen von einer – vorbestimmen. Weil aber die Auslegung dieser einen Norm, die die Auslegung aller anderen Normen reguliert, nicht vorbestimmt werden kann, bleibt die Auslegung dieser Norm rechtlich unkontrollierbar, so wie auch die Auslegung der anderen Normen in einer mittelbaren Weise rechtlich unkontrollierbar bleibt. Da Normtexte durch unterschiedliche Auslegungsmethoden interpretiert werden können, kann es aufgrund der Eigenschaften dieser Normtexte – wegen der Worte und Kombinationen von Worten, die sie enthalten – vorkommen, dass die Interpretation dieser Normtexte nicht zu einer Norm führt, sondern zu zweien oder mehreren. Das ist einer der Gründe, warum Normtexte als mehrdeutig bezeichnet werden müssen. Zu diesem Thema muss zuerst festgehalten werden: Kelsen schreibt an einer Stelle, dass Normtexte mehrdeutig sind19, und an einer
19 „Hier steht in erster Linie die Mehrdeutigkeit eines Wortes oder einer Wortfolge, in denen sich die Norm ausdrückt: Der sprachliche Sinn der Norm ist nicht eindeutig; das Organ, das die Norm anzuwenden hat, steht vor mehreren möglichen Bedeutungen.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 599.
B. Die Anwendung von Auslegungsmethoden
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anderen Stelle, dass Normen vieldeutig sind20. Letzteres ist aber nicht der Fall, denn die Normen sind nicht Gegenstand der Interpretation, sondern deren Ergebnis21. Die Interpretation eines Normtextes kann zu einer Pluralität von Normen führen, d. h. nach einer Interpretation wird ein Normtext als die Setzung einer Norm verstanden, aber nach einer anderen Interpretation wird derselbe Normtext als die Setzung einer anderen Norm verstanden. Die Normen selbst sind nicht mehrdeutig, es sind die Normtexte, die mehrdeutig sind. Die Auslegung eines Normtextes kann in mehreren möglichen Normen resultieren, aber jede dieser Normen enthält nur ein bestimmtes Sollen. Deswegen sind Normtexte als mehrdeutig zu verstehen, nicht aber Rechtsnormen. Die Mehrdeutigkeit eines Normtextes ist in einigen Situationen die Konsequenz der Möglichkeit, diesen Normtext durch unterschiedliche Auslegungsmethoden zu interpretieren. Hier ist zu überlegen, ob die Möglichkeit der Anwendung mehreren Auslegungsmethoden immer in einer Pluralität von Auslegungsergebnissen, in einer Pluralität von Normen resultiert. Angesichts der Auslegungsmethoden, die Kelsen analysiert hat (Auslegung nach dem Willen des Gesetzgebers und Auslegung nach dem Wortlaut)22, kann es passieren, dass das Ergebnis der Anwendung beider Auslegungsmethoden dasselbe ist; entweder weil die wörtliche Bedeutung des Normtextes mit der Bedeutung übereinstimmt, die der Verfasser dieses Normtextes (vorausgesetzt, dass diese Information existiert und bewiesen wird) mit ihm intendiert hat, oder weil – trotz ausdrücklicher Nichtberücksichtigung des Willens des Gesetzgebers – die Natur der Elemente eines Normtextes nur ein Ergebnis zulässt. Die Mehrdeutigkeit eines Normtextes kann aber auch das Ergebnis der Anwendung einer einzigen Methode sein, wenn z. B. die Auslegung nach dem Wortlaut zu mehreren Ergebnissen führt, weil die Worte, die den Normtext bilden, mehr als eine Bedeutung enthalten23. Angesichts dieser Argumente ist festzustellen, dass Normtexte mehrdeutig sein können, mit der Folge, dass das Ergebnis der Auslegung eines einzelnen Normtextes mehrere Normen hervorbringen kann. Aber allein diese Situation reicht 20 „Rechtswissenschaftliche Interpretation muß auf das sorgfältigste die Fiktion vermeiden, daß eine Rechtsnorm stets nur eine, die ,richtige‘ Deutung zuläßt. Das ist eine Fiktion, deren sich die traditionelle Jurisprudenz zur Aufrechterhaltung des Ideals der Rechtssicherheit bedient. Angesichts der Vieldeutigkeit der meisten Rechtsnormen ist dieses Ideal nur annährungsweise realisierbar.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 608–609. 21 Dazu schreibt Kelsen selbst: „Denn die Norm ist ein Sollen, der Willensakt, dessen Sinn sie ist, ein Sein.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 28. 22 Siehe Kelsen, RR2 (1960), S. 602–603. Diese zwei Auslegungsmethoden werden auch als subjektive oder objektive Auslegung bezeichnet. Eine Analyse von Kelsens Auffassung der Auslegungsmethoden angesichts der üblichen vier Auslegungsmethoden (historische, teleologische, systematische und logisch-grammatische Auslegung) wurde von Lippold durchgeführt. Siehe Lippold, Reine Rechtslehre und Strafrechtsdoktrin, S. 159–177. 23 Siehe den in Fußnote 16 zitierten Text.
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nicht, um zu behaupten, dass die Normtexte immer mehrdeutig sind 24, immer eine Pluralität von möglichen Normen enthalten, denn es ist nicht auszuschließen, dass ein Normtext mit nur einer Norm verbunden wird, sodass in konkreten Situationen nur ein Ergebnis der Rechtsauslegung als erkenntnismäßig zu verstehen ist. II. Das ausgelegte Recht als beobachtbares Phänomen und die Nicht-Erforderlichkeit einer bestimmten Auslegungsmethode Auf der ersten Seite des ersten Kapitels der Reine(n) Rechtslehre sagt Kelsen über das Ziel seiner Theorie: „Als Theorie will sie ausschließlich und allein ihren Gegenstand erkennen. Sie versucht, die Frage zu beantworten, was und wie das Recht ist, nicht aber die Frage, wie es sein oder gemacht werden soll. Sie ist Rechtswissenschaft, nicht aber Rechtspolitik.“ 25 Obwohl Kelsen selbst hervorgehoben hat, dass eine rechtspolitische Tendenz identifizierbar ist, wenn jemand behauptet, dass ein Normtext nur eine bestimmte Norm als die richtige Norm enthält, auch wenn die Auslegung dieses Normtextes zu einer Pluralität von Ergebnissen führen kann, ist Kelsens Theorie der Interpretation häufig missinterpretiert worden. Deswegen muss als erstes klargestellt werden: Kelsens Rechtstheorie zielt auf die Beschreibung des Rechts, der Rechtsphänomene; seine Theorie der Interpretation, die ein Element seiner Rechtstheorie ist, zielt auf die Beschreibung eines Aspekts des Rechts, eines Aspekts der Rechtsphänomene, sie zielt auf die Beschreibung der Interpretation des Rechts. 24 In Kelsens Schriften ist die Auffassung der Mehrdeutigkeit als eine Möglichkeit an einigen Stellen zu finden. „That there is almost always a possible interpretation different from that adopted by the law-applying organ in a concrete case, is made clear by the practice of courts.“ Kelsen, The Law of the United Nations (1950), S. xiv. „Versteht man unter ,Interpretation‘ die erkenntnismäßige Feststellung des Sinnes des zu interpretierenden Objektes, so kann das Ergebnis einer Rechtsinterpretation nur die Feststellung des Rahmens sein, den das zu interpretierende Recht darstellt, und damit die Erkenntnis mehrerer Möglichkeiten, die innerhalb dieses Rahmens gegeben sind. Dann muß die Interpretation eines Gesetzes nicht notwendig zu einer einzigen Entscheidung als der allein richtigen, sondern möglicherweise zu mehreren führen, die alle – sofern sie nur an dem anzuwendenden Gesetz gemessen werden – gleichwertig sind.“ Ders., RR2 (1960), S. 601. Angesichts dieser Äußerungen Kelsens wird Robert Walter behaupten: „Das, was Kelsen uns zutreffend gezeigt hat, ist, daß es eine Grenze der wissenschaftlichen Rechtserkenntnis geben kann, die oftmals überschritten wurde. Das, was er zwar auch gesagt hat – jedoch viel weniger deutlich – ist, daß es auch die einzig richtige Lösung gibt.“ Walter, Das Auslegungsproblem im Lichte der Reinen Rechtslehre, in: FS Klug, S. 191. Aber neben diesem zitierten Text ist es notwendig, eine andere Behauptung Kelsens zu berücksichtigen, wo die Mehrdeutigkeit als eine Tatsache und nicht als eine Möglichkeit dargestellt wird. „Denn die Notwendigkeit einer Interpretation ergibt sich gerade daraus, daß die anzuwendende Norm oder das System von Normen mehrere Möglichkeiten offen läßt, d.h. aber: noch keine Entscheidung darüber enthält, welches der im Spiele stehenden Interessen das höherwertige ist, die Entscheidung, diese Rangbestimmung der Interessen vielmehr einem erst zu setzenden Akt der Normerzeugung – dem richterlichen Urteil z. B. – überläßt.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 603. 25 Kelsen, RR2 (1960), S. 21.
B. Die Anwendung von Auslegungsmethoden
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Der Grund für Kelsens Darstellung der oben erwähnten drei Arten von Interpretation ist nicht, dass nach seiner Meinung die Autoritäten, die Entscheidungen treffen, die Erlaubnis haben, Entscheidungen zu treffen, die in keiner Weise den generellen gültigen Normen entsprechen, sondern weil Rechtsphänomene beobachtbar sind, wo Autoritäten diese Art von Entscheidungen treffen und diese Entscheidungen als Rechtsphänomene gelten, als Rechtsphänomene zu betrachten sind. Solange akzeptiert ist, dass Entscheidungen von Autoritäten als Interpretation zu bezeichnen sind (das ist nicht notwendig, aber es ist eine Möglichkeit und entspricht der normalen Anwendung des Ausdrucks „Interpretation des Rechts“ 26), auch wenn diese Entscheidungen in keiner Weise als Rechtsanwendung der für die Behandlung des Falles relevanten Normen betrachtet werden können, ist es angesichts der Annahme der Beschreibungsaufgabe erforderlich zu behaupten, dass die Interpretation auch ohne die Berücksichtigung der positivrechtlichen Bestimmungen erfolgen kann. Dies ist eine Behauptung in Bezug auf eine Realität (solange dieses Phänomen in der Realität der Rechtsordnungen erfolgt) und als solche enthält diese Behauptung nur eine Beschreibung, kein Sollen in einem „vorschreibenden (. . .) Sinn“ 27. 1. Überlegungen zur Anwendungspflicht einer bestimmten Auslegungsmethode Walter hat ein Argument mit dem Ziel entwickelt, Kelsens Auffassung der Interpretation zu ergänzen, sodass es möglich wäre, die Anzahl der Ergebnisse der auf einen Fall anzuwendenden Auslegungsalternativen zu begrenzen oder auf ein einziges Ergebnis zu reduzieren28. Walters Auffassung nach sind die Rechtsnormen von Menschen durch „menschliche Willensakte“ erzeugt und sie enthalten einen „Soll-Sinn“, d. h. sie bestimmen, dass etwas in einer bestimmten Weise sein soll29. Walter behauptet: Weil Normen mit dem Ziel erzeugt sind, ein Sollen Kelsen, RR2 (1960), S. 597. Kelsen, RR2 (1960), S. 148. 28 „Der Mangel von Kelsens Ausführungen zur Interpretation ist, daß er es nicht unternommen hat, aus seinen Voraussetzungen eine diesen entsprechenden Interpretationsfestsetzung bzw. Interpretationslehre zu entwickeln um zur einzig richtigen Lösung oder zur Festlegung jenes ,Rahmens‘ zu gelangen, innerhalb dessen die möglichen richtigen Lösungen liegen.“ Walter, Das Auslegungsproblem im Lichte der Reinen Rechtslehre, in: FS Klug, S. 191. 29 Darüber schreibt Walter: „Wichtig aus diesen Grundposition für die Entwicklung einer – der Reinen Rechtslehre adäquaten – Auslegungslehre, ist der Umstand, daß das positive Recht, der Gegenstand des kritischen Rechtspositivismus, als eine von Menschen – genauer: durch menschliche Willensakte – gesetzte (erzeugte) Ordnung aufgefaßt wird. Wie dies zu verstehen ist, soll im Folgenden kurz skizziert werden. Als rechtserzeugender Tatbestand von – ermächtigenden – Rechtserzeugungsnormen kommen also nur menschliche Willensakte in Betracht; seien es Willensakte eines einzelnen Menschen (z. B. eines Monarchen), einer Gruppe von Menschen (z. B. eines Parlaments) oder einer Vielheit von Menschen, die ihren Willen etwa durch ständige Übung (kon26 27
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zu bestimmen – diese Auffassung ist von Kelsen bestritten worden, wie gleich unten gezeigt wird –, sollten diese Normen mit Blick auf dieses Ziel interpretiert werden30. Diese Perspektive der Auslegung der Normtexte und der Anwendung von Auslegungsmethoden hat die Auffassung als Grundlage, dass das Ziel der Rechtsauslegung darin liegt, den Inhalt des Willensaktes des Normerzeugers zu erkennen31. Aus diesem Grund bietet Walter am Ende seines Aufsatzes fünf Regeln für die Anwendung von Auslegungsmethoden an32. Aber diese Auffassung der Anwendung von Auslegungsmethoden und der Interpretation des Rechts kann mit drei unterschiedlichen Argumenten bestritten werden. Erstens: Walters Auffassung der Interpretation und der Beachtung einer Reihenfolge bei der Anwendung von Auslegungsmethoden ist das Ergebnis der Idee, dass Normtexte auf Grund der in diesen Normtexten enthaltenen Soll-Inhalte verkludent) zum Ausdruck bringen (Gewohnheitsrecht). Der Rechtserzeugungstatbestand ist also ein Willens-Akt und damit ein Seins-Akt; aber er hat – soll er objektive Bedeutung erlangen – einen bestimmten Soll-Sinn. Dieser liegt darin, daß der Gebietende will, daß sich andere Menschen in bestimmter Weise verhalten sollen. Da dieser – an sich subjektive – Willensakt (Befehlsakt) mit Normsinn Tatbestand einer Rechtserzeugungsnorm ist, erhält er einen objektiven Sinn. Das (subjektiv) Gewollte ist durch die Ermächtigung der Rechtserzeugungsnorm objektiv gesollt.“ Walter, Das Auslegungsproblem im Lichte der Reinen Rechtslehre, in: FS Klug, S. 191–192. 30 „Die dargestellte Überlegung, wonach die (. . .) Norm nichts anders ist, als der Sinn eines Willensaktes, zwingt dazu anzunehmen, daß eine konsequente positivistische Auslegungstheorie auf die Erfassung des Inhalts dieses Willensaktes gerichtet sein muß: Alle Mittel sind interpretationstheoretisch zulässig, die darauf abzielen, diesen Willen zu erfassen. (. . .) Mit dieser Überlegung ist bereits eine gewisse auslegungstheoretische Konsequenz verbunden: Daß nämlich als ,Mittel‘ der Interpretation alles ausscheidet, was nicht auf die Erkenntnis des normsetzenden Willensaktes gerichtet ist.“ Walter, Das Auslegungsproblem im Lichte der Reinen Rechtslehre, in: FS Klug, S. 192. 31 „Als ,Auslegungsmethode‘ kann (. . .) nur ein planmäßiges Vorgehen verstanden werden, das der Erfassung des normsetzendes Willens dient.“ Walter, Das Auslegungsproblem im Lichte der Reinen Rechtslehre, in: FS Klug, S. 194. 32 „Geht man von der hier entwickelten Grundlage aus und betrachtet man somit die ,subjektive‘ Interpretation als die – weil vorab theoretisch so festgesetzt – primäre, die ,objektive‘ als eine durch das positive Recht hinzugefügte ,sekundäre‘ ,Auslegungsmethode‘ (welche nicht soweit geht, die „subjektive“ Auslegung zu verbieten), so ergibt sich folgendes: 1. Wenn subjektive Absicht und objektiver Ausdruck übereinstimmen, ergibt sich kein Problem. 2. Wenn subjektive Absicht und objektiver Ausdruck vollständig divergieren, d. h. das Gewollte in der Gesetzform in keiner Weise zum Ausdruck kommt, gilt das Kundgemachte. Denn nach der üblichen (hier zugrundegelegten) positivrechtlichen Regel kann nicht etwas, was nicht kundgemacht ist, Gesetz sein. 3. Die subjektive Absicht ist feststellbar, der objektive Ausdruck undeutlich, aber im Sinne der subjektiven Absicht deutbar. Diesfalls ist die subjektive Absicht maßgebend. 4. Die subjektive Absicht ist undeutlich, der objektive Ausdruck deutlich; diesfalls ist letzterer maßgeblich. 5. Subjektive Absicht und objektiver Ausdruck sind in gleicher Weise undeutlich. Dann besteht – innerhalb der gegebenen Unbestimmtheitsrelation – die Funktion des zur Vollziehung berufenen Organs darin, die ihm ,richtig‘ erscheinende Entscheidung zu treffen.“ Walter, Das Auslegungsproblem im Lichte der Reinen Rechtslehre, in: FS Klug, S. 196.
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standen werden müssen, sodass Walters Argument den folgenden Gedankenweg anwendet: Wenn Normen erzeugt sind, ist etwas als gezielter Soll-Inhalt gewollt, d. h. ein bestimmtes Etwas ist gewollt, in vielen Fällen ein Verhältnis von Tun oder Unterlassen, und deswegen sind diese Normen richtig verstanden (Walter versucht, richtige Lösungen zu erreichen), solange sie so verstanden sind, wie ihre Erzeuger es gewollt haben. Aber es muss hier gefragt werden, warum die Normtexte angesichts des von den Erzeugern dieser Normtexte Gewollten interpretiert werden müssen? Weil dann ein Maßstab für richtig und falsch vorliegen würde? Warum ist das Ergebnis einer Rechtsauslegung richtig, wenn diese Auslegung zum Inhalt des Willens der Rechtsnormerzeuger führt? Die Tatsache, dass der Erzeuger eines Normtextes eine bestimmte Norm erzeugen wollte, ist als solches kein Grund zu behaupten, dass dies bei der Interpretation dieses Wollens beachtet werden muss. Diese Auffassung wird von Walter nicht begründet, sondern nur vorausgesetzt. Zweitens: Walter scheint eine Theorie entwickeln zu wollen, die Kelsens Rechtslehre ergänzen würde33. Aber wenn das der Fall ist, warum bietet Walter dann Regeln für die Anwendung von Auslegungsmethoden an, die nicht notwendigerweise nur aus der Beobachtung der Realität hervorgehen – und dabei konsequenterweise eventuell die Beschreibungsaufgabe ignorieren –, sondern die versuchen, die Aktivitäten der Interpreten des Rechts zu steuern? Drittens: Wenn Walter das Ziel hat, Kelsens Rechtslehre darzustellen, warum hat er nicht beachtet, was Kelsen mit dem Ausdruck „Sinn eines Willensaktes“ tatsächlich gemeint hat, sondern versucht, Kelsens Anwendung dieses Ausdrucks auszuklammern und den Begriff „Sinn“ in direkte Verbindung mit dem Inhalt des Willens der Autor des normsetzenden Aktes zu bringen?34 2. Die Rechtsnorm als Sinn eines Willensaktes und der Sinn der Rechtsnorm Kelsen definiert die Rechtsnorm als den objektiven (d. h. gültigen, in Gegensatz zu einem subjektiven, ungültigen) Sinn eines Willensaktes. Aber anders als von Walter suggeriert, ist der Ausdruck „Sinn eines Willensaktes“ in der Definition der Norm nichts anderes als ein Synonym für „Bedeutung eines Willensaktes“ und muss von dem „Inhalt eines Willensaktes“ unterschieden werden. „Sinn eines Willensaktes“ ist ein Ausdruck, der besser erklärt, um was es geht, wenn berücksichtigt wird, dass auch über den „Sinn eines Denkaktes“ gesprochen werden kann35. Als Kelsen behauptet hat, dass die Rechtsnorm der objektive Sinn 33
Siehe den in Fußnote 28 zitierten Text. Siehe den in Fußnote 30 zitierten Text. 35 Dazu schreibt Kelsen: „Wenn der Angesprochene die Bedeutung eines Wortes oder den Sinn des Satzes, d. h. dessen, was ich zu ihm gesagt habe, nicht verstanden hat, kann er mich fragen: was bedeutet dieses Wort? oder was meinst du mit dem, was 34
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Kap. 5: Die Rechtserkenntnis und die Interpretation des Rechts
eines Willensaktes ist, meinte er nicht, dass die Rechtsnorm die gültige Bedeutung eines Willensaktes ist, dass sie so verstanden werden müsste, als ob sie der Ausdruck eines Willensaktes ist, sondern nur, dass Rechtsnormen als gültiger Ausdruck von Sollen verstanden werden müssen – im Gegensatz zu Fragen, Aussagen oder anderen Formen von Äußerungen. Für Kelsen ist die Bedeutung einer Norm (eines Normtextes) der Inhalt des Sollens, das durch diese Äußerung (durch diesen Normtext) kommuniziert wird; die Bedeutung einer Norm ist nicht der Inhalt eines Willensaktes, wie Walter behauptet36. Der Unterschied zwischen „Sinn eines Willensaktes“ (bei Kelsen ist dieser Ausdruck als Synonym für „Sollen“ zu verstehen) und „Inhalt eines Willensaktes“ wird klar werden, wenn die folgende Aussage über die Zustimmung zu einem Gesetzentwurf berücksichtigt wird: „Wenn ein Parlamentsmitglied für einen Gesetzesentwurf stimmt, dessen Inhalt es nicht kennt, ist der Inhalt seines Willens eine Art Ermächtigung. Der Abstimmende will, daß Gesetz werde, was immer der Gesetzentwurf enthält, für den er stimmt.“ 37 Für die Zustimmung zu einem Gesetzesentwurf ist es erforderlich, dass das Parlamentsmitglied wolle, das ein Text als normsetzender Text, als Sollen, als Sinn eines Willensaktes betrachtet wird. Aber für diese Zustimmung ist es nicht notwendig, dass das Parlamentsmitglied wolle, was Inhalt des Gesetzentwurfs ist. Auf Grund dieser Überlegung Kelsens kann nicht behauptet werden, dass „(d)ie dargestellte Überlegung, wonach die (. . .) Norm nichts anders ist, als der Sinn eines Willensaktes, (dazu; M.S.P.) zwingt (. . .) anzunehmen, daß eine konsequente positivistische Auslegungstheorie auf die Erfassung des Inhalts dieses Willensaktes gerichtet sein muß“.38 Aus der Tatsache, dass nach Kelsens Auffassung die Norm als der Sinn eines Willensaktes zu verstehen ist, folgt nicht, dass die Erfassung des Inhaltes der Norm mit der Erfassung des Inhaltes des Willensaktes wesentlich verbunden ist. Beide sind nicht notwendigerweise miteinander verbunden, da eine von beiden, die Existenz des Wollens – etwas als ein Sollen (als den Sinn eines Willensaktes) zu präsentieren –, anwesend sein kann, während der andere, die Existenz des Wollens – etwas als Inhalt eines Sollens (als Inhalt eines Willensaktes) zu definieren –, abwesend ist. Die Unterscheidung zwischen der Norm (dem Normtext) als Äußerung eines Willensaktes, und dem (eventuell gewollten) Inhalt des Sollens (des Willensaktes), der auf die Erzeugung der Norm gerichtet ist, ist ein wesentliches Element du gesagt hast, was ist sein Sinn? Ist es der Sinn eines Denkaktes, das heißt: eine Aussage, oder der Sinn eines Willensaktes, d. h. ein Befehl?“ Kelsen, ATN (1979), S. 27. Über den Gegensatz zwischen Denkakt und Willensakt, siehe auch ders., RR2 (1960), S. 35 und 363. 36 Siehe Fußnote 30. 37 Kelsen, RR2 (1960), S. 31, Fn. Siehe ders., ATN (1979), S. 244, Anm. 38. 38 Walter, Das Auslegungsproblem im Lichte der Reinen Rechtslehre, in: FS Klug, S. 192.
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für das Verstehen von Kelsens Definition der Norm als objektiver Sinn eines Willensaktes sowie für die Anerkennung, dass diese Definition der Norm die Problematik der Interpretation und die konkreten Phänomene der Interpretation implizit berücksichtigt39. Wegen dieser Unterscheidung verwendet Kelsen ein Paar von Ausdrücken: die Norm als Sinn eines Willensaktes und der Sinn (oder Sinngehalt40, oder Inhalt41) der Norm42. Wie schon gezeigt, ist eine Norm der Sinn eines Willensaktes. Das bedeutet aber nur, dass sie ein Sollen ist, dass der Normtext ein Sollen und nicht eine Frage, eine Behauptung oder eine andere Form von Kommunikation äußert. Der Inhalt einer Norm, der Sinn einer Norm (eines Normtextes), kann mehrdeutig sein, auch wenn der Normerzeuger das Ziel hatte, durch die Erzeugung dieses Normtextes ein ganz spezifisches Sollen zu bestimmen. Kelsen schließt damit nicht die Möglichkeit aus, dass der Normerzeuger keinen Erfolg hat, wenn er ein bestimmtes Etwas als Gesolltes kommunizieren will. An diesem Punkt muss Walters Ziel, die Bewahrung des Inhalts des Willens des Normerzeugers, unter Berücksichtigung einer Überlegung noch einmal analysiert werden. Solange die von Kelsens Theorie angenommene Beschreibungsaufgabe respektiert wird, muss Walters Ziel abgelehnt werden. Kelsens Behaup39 Wesentlich für diese Diskussion ist der folgende Text: „Ein auf das Verhalten eines anderen gerichteter Willensakt wird zumeist sprachlich, d. h. in gesprochenen oder geschriebenen Worten, ausgedrückt. Wer einen Befehl gibt, meint etwas. Er erwartet, daß der andere dieses Etwas versteht. Er meint mit seinem Befehl, daß sich der andere in bestimmter Weise verhalten soll. Das ist der Sinn seines Willensaktes. Wie sich der andere verhalten soll, das Verhalten des anderen muß sich der Befehlsgeber vorher vorstellen. Er muß wissen, was er will, was er von dem anderen will, welches Verhalten des anderen er will. Dieses dem Wollen vorangehende Wissen, das der Sinn eines Denkaktes ist, ist von dem, was mit dem Willensakt gemeint ist, verschieden. Der Befehlsgeber erwartet, daß der Befehlsadressat den Befehl versteht, d. h., daß er den Sinn der Äußerung des Befehlsgebers als Befehl versteht, das heißt, daß er weiß: 1. daß er sich in bestimmter Weise verhalten soll; und 2. wie er sich verhalten soll, was er tun oder unterlassen soll. Das eine ist der Sinn, das andere der Inhalt des einen Befehl darstellenden Willensaktes.“ Kelsen, ATN (1979), S. 25–26. 40 „Die Norm ,ändert‘ nicht ihre Bedeutung; sie hat mehrere verschiedene Bedeutungen (oder Singehalte).“ Kelsen, ATN (1979), S. 221, Anm. 1. Siehe ders., RR2 (1960), S. 200. 41 „Der Inhalt des Sollens, das ist dasjenige, was eine positive Moral- oder Rechtsordnung vorschreibt, wird durch Willensakte bestimmt und, wenn so bestimmt, erkannt.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 29, Fn. 42 „Der sprachliche Sinn der Norm ist nicht eindeutig; das Organ, das die Norm anzuwenden hat, steht vor mehreren möglichen Bedeutungen.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 599. „Daß das Verhalten der Norm entsprechen soll, ist der Sinn der ,Norm‘, die zusammen mit dem ,Verhalten‘ und ,Entsprechen‘ ein Element des Begriffes des guten Verhaltens ist, nicht der Sinn des Begriffes.“ Ders., a. a. O., S. 49, Fn. „Man kann von der Norm als einem Sinn – dem Sinn eines Willensaktes – und auch von dem Sinn einer Norm sprechen. Der Sinn einer Norm wird zum Problem, wenn der sprachliche Ausdruck, in dem die Norm auftritt, nicht klar ist. Den Sinn dieser Norm festzustellen, ist der Zweck der Interpretation der Norm.“ Ders., ATN (1979), S. 221, Anm. 1.
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Kap. 5: Die Rechtserkenntnis und die Interpretation des Rechts
tung, „(d)er sprachliche Sinn der Norm ist nicht eindeutig“, ist nicht auf Grund der Unmöglichkeit eines Zugangs zum Inhalt des Willens des Normerzeugers formuliert, sondern auf Grund einer beobachtbaren Situation: In mehreren Fällen, in denen die zu interpretierenden Normtexte durch die historische Auslegung ein klares Ergebnis anbieten, sind diese Normtexte trotzdem nicht durch die Anwendung der historischen Auslegung interpretiert. Das ist eine beobachtbare Tatsache und dieses Verhalten bezüglich der Auslegung der Normtexte konstituiert einen bedeutungsvollen Teil der durch Rechtsauslegung beobachteten Rechtsphänomene. Diese Tatsache sowie die Aufgabe, die Interpretation des Rechts zu beschreiben, führen zu der Aussage Kelsens, dass es keinen Grund gibt, eine (bestimmte) Auslegungsmethode als anwendungspflichtig zu betrachten, weil in der Realität keine Auslegungsmethode auf relevante Weise bevorzugt wird. Solange die Realität der beobachteten Rechtsphänomene keine Änderung zeigt, solange es nicht der Fall ist, dass in den meisten Fällen nur eine Auslegungsmethode angewendet wird, ist es für eine beschreibungsorientierte Rechtstheorie nicht möglich, die Anwendung einer Auslegungsmethode (oder, nach Walters Auffassung, einer Reihe von Auslegungsmethoden) als absolut erforderlich zu bezeichnen43. 3. Die demokratische Legitimität und die Nicht-Existenz der Anwendungspflicht einer bestimmten Auslegungsmethode In Verbindung mit dem Thema der Anwendung von Auslegungsmethoden und gegen die von Kelsen vertretene Auffassung, dass keine Auslegungsmethode anwendungspflichtig ist, könnte erwähnt werden, dass in demokratischen Staaten die Gesetzgebung darauf ausgerichtet ist, die Interessen der Mehrheit der Rechtsunterworfenen auszudrücken, sodass bei der Auslegung der demokratisch erzeugten Normtexte nur eine Methode zulässig wäre: die historische, subjektive Auslegungsmethode – denn nur diese Methode könnte sicherstellen, dass der von Normerzeugern gewollte Inhalt eines Sollens bei der Rechtsanwendung berücksichtigt würde. Das Ziel dieser Argumentation ist, die Legitimität der Anwendung einer anderen als der historischen Auslegungsmethode in Frage zu stellen, und das mit der Behauptung, dass, wenn ein Normtext mit dem (demokratisch legitimierten) Ziel erzeugt wurde, ein bestimmtes Etwas als Gesolltes zu setzen, jede Auslegung 43 Diese Überlegung kann eine Frage provozieren: Wie sollen in einer Realität, in der die Auslegung in den allermeisten Fällen durch eine einzelne Methode durchgeführt wird, die wenigen Fälle betrachtet werden, bei denen die Auslegung durch eine andere Methode erfolgt? Hier existieren zwei mögliche Antworten: Entweder existiert ein gemeinsamer Grund, warum diese Fälle mit einer anderen Methode interpretiert werden, oder diese Situationen sind als Fälle zu verstehen, in denen eine andere Auslegungsmethode aus willkürlichen Gründen (weil von den Gründen abweichend, die in den Rechtsphänomenen normalerweise anwesend sind) angewendet wird.
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dieses Normtextes, die nicht zu dem Ergebnis, zu dem Sollen führt, das vom Normerzeuger gewollt war, einen Mangel an Legitimität entstehen lässt. Zuerst ist anzuerkennen, dass diese Situation tatsächlich eintreten könnte, sodass in der Tat die Nicht-Erforderlichkeit der Anwendung einer (bestimmten) Auslegungsmethode in direkter Verbindung mit einem Mangel an demokratischer Legitimität stehen würde. Dieser Mangel kann existieren, aber weil es die Aufgabe von Kelsens Rechtstheorie ist, das Recht, so zu beschreiben, wie es ist, muss seiner Theorie nach auch die eventuelle Existenz dieses Mangels berücksichtigt und ihre Konsequenzen (dass die historische Auslegung in mehreren Fällen nicht angewendet wird) beschrieben werden. Aber auch wenn angenommen wird, dass die Interpretation der Normtexte (nur) durch die historische Auslegung erfolgt, kann trotzdem bestritten werden, dass durch diese Auslegung ein demokratisch legitimes Ergebnis erreicht wird. Die Vertretung der Erforderlichkeit der Auslegung nach dem Willen des Gesetzgebers (Normtexterzeuger), also die historische Auslegung, operiert mit folgendem Gedanken: Eine gültige Norm (ein gültiger Normtext) wurde mit dem Ziel erzeugt, ein bestimmtes Sollen als juristisches Sollen zu setzen, und die Tatsache, dass dieser gültige Normtext existiert, ist eine direkte Konsequenz eines demokratischen Verfahrens, in dem die Mehrheit der demokratisch gewählten Abgeordneten für die Erzeugung dieses Normtextes (und für die Erzeugung einer bestimmten Rechtsnorm, die diese Abgeordneten wollten) gestimmt hat. Weil die Zustimmung zur Erzeugung des Normtextes auf Grund einer bestimmten Interpretation desselben erfolgte, soll der Normtext nur mit dieser Interpretation ausgelegt werden. Es ist nicht auszuschließen, dass diese Situation eintreten kann, aber es ist auch notwendig zu beachten, dass zwei andere Situationen auftreten können, die die Vertretung der Präferenz der historischen Auslegung in Frage stellen. Als erstes ist zu beachten, dass nicht immer, wenn eine Norm erzeugt wird, eine tatsächliche Mehrheit hinter der Zustimmung der Erzeugung dieser Norm existiert. Ein Normtext kann erzeugt werden, weil die Mehrheit der Abgeordneten die Existenz dieses Normtextes und einer bestimmten Norm (d. h. eine bestimmte Auslegung des Normtextes) will44, aber es kann auch passieren, dass die nötige Anzahl von Stimmen für die Erzeugung der Norm durch einen Stimmentausch (logrolling) erfolgt, sodass keine authentische Mehrheit existiert, die für die Erzeugung dieser Normtext stimmt, sondern es liegt eine Minderheit von Abgeordneten vor, die mit einer anderen Minderheit verbunden ist, um zwei oder mehrere Normtexte zu erzeugen. 44 Ein weiteres Problem kann erwähnt werden: Mitglieder der Mehrheit könnten aus unterschiedlichen Gründen, wegen unterschiedlicher Auslegungen desselben Normtextes die Existenz dieses Normtexts wollen. In einem solchen Fall wäre es nicht möglich, durch Anwendung der historischen Auslegung ein eindeutiges Ergebnis zu erreichen.
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Aber auch wenn kein Stimmentausch vorliegt, wenn in der Tat die Mehrheit der Abgeordneten durch die Erzeugung eines Normtextes eine bestimmte Norm erzeugen wollte, kann gegen die Erforderlichkeit der Anwendung der historischen Auslegung ein Argument präsentiert werden45. Die Anwendung der Auslegung nach dem Willen des Gesetzgebers involviert die Behauptung, dass ein Normtext gültig ist, rechtliche Existenz hat, weil die demokratisch gewählten Abgeordneten durch die Erzeugung dieses Normtextes eine bestimmte Norm erzeugen wollten. Gäbe es tatsächlich eine Mehrheit von Abgeordneten, die die Erzeugung eines Normtextes wollten, dann kann behauptet werden, dass während eines gewissen Zeitraums eine demokratisch legitime Auslegung des Normtextes – d. h. nicht auf Grund der Beschreibungsaufgabe, aber wegen der (Kelsens Auffassung nach) nicht erforderlichen Annahme des Zieles, die demokratische Legitimität der Normerzeugung zu bewahren – notwendigerweise die Berücksichtigung dieser Absicht involvieren müsste. Für die Diskussion ist die Aussage „während eines gewissen Zeitraums“ wesentlich. Es ist anzuerkennen, dass, auch wenn Normtexte mit einer bestimmten Absicht erzeugt werden, diese Normtexte in den meisten Fällen gültig bleiben, nicht nur wenn die Absicht weiter existiert, sondern auch wenn es kein Interesse mehr an der Thematik gibt, oder, was hier wichtiger ist, wenn sich später keine Gruppe von Abgeordneten für die Derogation dieses Normtexts entscheidet. Die Abwesenheit der Derogation eines Normtextes – also das Weiterexistieren des Normtextes –, ist von der Situation zu unterscheiden, die die Erzeugung des Normtextes motiviert hat. Auch wenn ein Normtext dank einer authentischen Mehrheit und wegen des Wollens, eine bestimmte Norm zu setzen, erzeugt wurde, bedeutet das nicht, dass die kontinuierliche Existenz des Normtextes wegen der Kontinuität der Existenz eines demokratischen Willens der ursprünglich gewollten Norm erfolgt. Der Normtext existiert ja weiter, weil er nicht derogiert wurde. Warum er nicht derogiert wurde, das ist eine Frage, die auf drei verschiedene Arten und Weisen beantwortet werden kann, sodass es wegen einiger der Antworten nicht möglich ist, weiter die Idee der demokratischen Legitimität einer Auslegung des Normtextes durch die historische Methode zu vertreten. In einer Situation, in der über die Derogation eines Normtextes diskutiert wurde, dann aber entschieden wurde, den Normtext nicht zu derogieren, weil so wie früher die Existenz einer bestimmten Norm durch die Existenz dieses Normtextes von der Mehrheit der Abgeordneten gewollt war, kann behauptet werden, dass bei einer Auslegung dieses Normtextes, die den Willen des Gesetzgebers nicht berücksichtigt, ein Mangel an demokratischer Legitimität existiert46. 45 Zu diesem Argument siehe: Silva, Nach dem Willen welchen Gesetzgebers? Kelsens Rechtslehre und die Relevanz der Bedingungen der Geltung für die Diskussion über Auslegungsmethoden, in: ARSP 103 (2017), S. 180 ff. 46 Es muss aber beachtet werden: Eine Anwendung des Normtextes durch eine Auslegung dieses Normtextes, die die Absicht der Normerzeuger nicht berücksichtigt,
B. Die Anwendung von Auslegungsmethoden
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In einer ähnlichen Situation, in der der Normtext nicht derogiert wurde, aber nicht wegen des Willens, die ursprüngliche Norm als gültige Norm beizubehalten, sondern wegen des Willens, eine andere Norm als gültige Norm zu haben – weil der Normtext mehrdeutig ist –, kann es passieren, dass eine zu einem späteren Zeitpunkt konstituierte Gruppe von Abgeordneten denselben Text mit einem anderen gewollten Sollen verbindet. Dann ist die Vertretung der Anwendung der Auslegung nach dem Willen des (ursprünglichen) Gesetzgebers mit dem Argument der demokratischen Legitimität nicht mehr angemessen. In diesem Zusammenhang könnte die Anwendung dieser Methode nur weiter vertreten werden, wenn die Methode nicht mehr bedeutet, dass die Normtexte angesichts des Willens des ursprünglichen Gesetzgebers, sondern angesichts des Willens des Gesetzgebers – d. h. der Mehrheit der Abgeordneten –, der sich zuletzt über die Bedeutung des Normtextes geäußert hat, angewendet wird. In einer dritten und häufigeren Situation liegt ein gültiger Normtext vor und es ist nicht bekannt, warum dieser Normtext nicht derogiert wurde, denn die aktuellen Abgeordneten haben sich nicht zu dem Thema geäußert. In einem solchen Fall ist es nicht möglich, den Normtext mit einer bestimmten Norm zu verbinden, denn es liegt keine Information vor, die aktuell die eine oder eine andere Verbindung des Normtextes mit einer Norm (einer oder einer anderen Auslegung des Normtextes) begründen kann. Ist schon eine gewisse Zeit seit der Erzeugung des Normtextes vergangen, dann ist in einem solchen Fall das Argument der Erforderlichkeit der Auslegung nach dem Willen des Gesetzgebers in Bezug auf die demokratische Legitimität unmöglich. Wenn es keinen Grund mehr gibt, einen Normtext mit einer Norm zu verbinden, besteht auch keine Pflicht mehr, den Normtext mit der ursprünglich gewollten Norm zu verbinden, selbst wenn die Argumentation der Relevanz der Bewahrung der demokratischen Legitimität angenommen wird, denn es gibt sehr wenige Gründe, um das Weiterbestehen dieser Verbindung zu behaupten, wenn es keinen Beweis mehr gibt, dass die Verbindung weiterexistiert, es sei denn, dass der Normtext nicht wegen der Weiterannahme seiner ursprünglichen Auslegung, sondern wegen einer anderen Auslegung nicht derogiert wurde. Rein logisch betrachtet kann nicht über eine Beweislast gesprochen werden, nach welcher die Annahme oder die Ablehnung der Erforderlichkeit der historischen Auslegung bewiesen werden muss. Deswegen existiert ab einer gewissen Zeit nach der Erzeugung eines Normtextes kein Grund für die Präferenz einer Auslegungsmethode, vor allem wenn es keine Information darüber gibt, wie der aktuelle Gesetzgeber diesen Normtext interpretieren würde47. würde einen Mangel an demokratischer Legitimität enthalten, aber diese Anwendung würde trotzdem rechtlich genauso legitim sein, wie die Anwendung des Normtextes, die sich an der Absicht der Normerzeuger orientiert. 47 Eine andere Alternative ist zu überlegen, wenn der demokratisch erzeugte Normtext (grundsätzlich) nicht derogierbar ist. In diesen Fall kann nicht darüber diskutiert werden, warum der Normtext nicht derogiert wurde. Aber es bleibt möglich zu fragen,
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Die Auffassung, dass ein Normtext entsprechend der historischen Auslegung interpretiert werden muss, macht – neben der Grundannahme, dass die Interpretation der Normtexte das Ziel haben muss, einen Mangel an demokratischer Legitimität zu vermeiden – die Begründung von drei Annahmen notwendig: 1. Der erzeugte Normtext ist nicht auf Grund eines Stimmentausches zustande gekommen; 2. die authentische Mehrheit der Abgeordneten repräsentiert die Meinung der Mehrheit der Wähler; und 3. die Meinung der Mehrheit der Wähler (auch wenn dies andere Menschen sind) ist zu einem späteren Zeitpunkt die gleiche wie früher. Aber auch wenn diese drei Annahmen begründet vorliegen, wird die erwähnte Grundannahme (also die Pflicht, die demokratische Legitimität der erzeugten Normen zu bewahren) immer in gewissem Sinn unbegründet bleiben48, sodass Kelsens Behauptung, dass keine Auslegungsmethode notwendigerweise angewendet werden muss, angesichts der Beschreibungsaufgabe weiter vertreten werden kann.
C. Der Aufbau des normativen Rahmens und das Problem der Mehrdeutigkeit Nach Kelsens Auffassung besteht die Interpretation bei der Rechtsanwendung aus einem Erkenntnis- und einem Willensakt49, denn in konkreten Fällen bietet welchen Grad von demokratischer Legitimität ein Normtext behalten würde, der die Ausübung der demokratischen Freiheit, Normen zu erzeugen, begrenzt hat. 48 Diese Grundannahme könnte eine relative positivrechtliche Begründung haben, beispielsweise wenn in einer Rechtsordnung entsprechend einem Normtext die Interpretation des Willens des Gesetzgebers oder immer die Interpretation die Bewahrung der demokratischen Legitimität beachtet werden soll. Eine solche Begründung könnte akzeptiert werden, aber nur bei der Anerkennung ihrer Relativität, da wie oben argumentiert, auch eine positivrechtliche Bestimmung über die Auslegung der Normtexte interpretiert werden muss, sodass es in einer Rechtsordnung unmöglich ist, vorab zu bestimmen, wie alle ihre Normtexte interpretieren werden sollen. 49 „(Der Richter) ist ein Rechtsschöpfer und auch er ist bei dieser Funktion relativ frei. Eben darum ist die Gewinnung der individuellen Norm im Verfahren der Gesetzesanwendung, sofern dabei der Rahmen der generellen Norm erfüllt wird, Willensfunktion. Sofern bei der Gesetzesanwendung über die dabei nötige Feststellung des Rahmens, innerhalb dessen sich der zu setzende Akt zu halten hat, hinaus noch eine Erkenntnistätigkeit des rechtsanwendenden Organs Platz greifen kann, ist es nicht eine Erkenntnis des positiven Rechts, sondern anderer Normen, die hier in den Prozeß der Rechtserzeugung einmünden können; Normen der Moral, der Gerechtigkeit, soziale Werturteile, die man mit den Schlagworten Volkswohl, Staatsinteresse, Fortschritt usw. zu bezeichnen pflegt. Über deren Geltung und Feststellbarkeit läßt sich vom Standpunkt des positiven Rechts nichts aussagen. Von hier aus gesehen, lassen sich alle derartigen Bestimmungen nur negativ charakterisieren: es sind Bestimmungen, die nicht vom positiven Recht selbst ausgehen. Im Verhältnis zu diesem ist die Setzung des Rechtsaktes innerhalb des Rahmens der anzuwendenden Rechtsnorm frei, das heißt im freien Ermessen des zur Setzung des Aktes berufenen Organs; es wäre denn, daß das positive Recht selbst irgendwelche metarechtlichen Normen wie Moral, Gerechtigkeit usw. delegiert. Aber dadurch würden diese zu positivrechtlichen Normen umgestaltet. (. . .) In der Anwendung des Rechtes durch ein Rechtsorgan verbindet sich die erkenntnismäßige Inter-
C. Normativer Rahmen und das Problem der Mehrdeutigkeit
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das anzuwendende Recht eine Pluralität von möglichen anzuwendenden Normen an, weil das Recht in jeden Fall als ein Rahmen dargestellt werden kann, sodass die rechtsanwendenden Autoritäten angesichts einer der möglichen Normen eine Entscheidung treffen sollen – und konsequenterweise müssen sie durch einen Willensakt eine der möglichen Normen auswählen. Die Behauptung, dass das anzuwendende Recht eine Pluralität von Normen anbietet, ist nur als eine Teilwahrheit zu verstehen, denn Kelsen selbst hat anerkannt50 (wenn auch nur an einer Stelle – denn an einem anderen Punkt hat er, wie gezeigt werden wird, behauptet, die Normtexte wären immer mehrdeutig), dass es auch für einen Normtext möglich ist, nicht mehrdeutig, sondern eindeutig zu sein, sodass der Normtext keine Pluralität von anzuwendenden Normen anbieten würde, sondern nur eine Norm, mit der Folge, dass die Rechtsanwendung, die angesichts dieses Normtext erfolgt, als reiner Erkenntnis- und nicht als Willensakt verstanden werden kann. Aber auch wenn es nicht immer der Fall ist, dass die anzuwendenden Normtexte einen Rahmen aufbauen und mehrere rechtserkenntnismäßige Möglichkeiten für die Rechtsanwendung anbieten, bleibt es in der Mehrheit der Fälle wahr, dass die Normtexte in der Regel einen Rahmen aufbauen. Aber diese Behauptung muss überprüft werden, sie muss angesichts der Realität der Rechtsphänomene bestätigt werden, und das bedeutet, dass zuerst erklärt werden muss, wie ein normativer Rahmen aufgebaut werden kann und welche Elemente der Normtexte berücksichtigt werden müssen, um die möglichen anzuwendenden Normen zu erkennen, unter denen bei der Rechtsanwendung und durch einen Willensakt eine Norm ausgewählt wird. Kelsen behauptet, dass auf Grund der Mehrdeutigkeit der Normtexte51 das auf den Fall anzuwendende Recht als ein Rahmen verstanden werden muss, aber er erklärt nicht, warum und angesichts welcher konkreten Situation ein Normtext mehrdeutig ist. Dass Texte mehrdeutig sein können, ist nicht zu bestreiten, aber pretation des anzuwendenden Rechtes mit einem Willensakt, in dem das rechtsanwendende Organ eine Wahl trifft zwischen den durch die erkenntnismäßige Interpretation aufgezeigten Möglichkeiten. Mit diesem Akt wird entweder eine Norm niederer Stufe erzeugt oder ein in der anzuwendenden Rechtsnorm statuierter Zwangsakt vollstreckt.“ Kelsen, RR2 (1960) S. 604–605. 50 Siehe dazu Fußnote 24. 51 „In allen diesen Fällen beabsichtigter oder unbeabsichtigter Unbestimmtheit der niederen Stufe bieten sich der Rechtsanwendung mehrere Möglichkeiten. Der vollziehende Rechtsakt kann so gestaltet werden, daß er der einen oder der anderen der verschiedenen sprachlichen Bedeutungen der Rechtsnorm, daß er dem irgendwie festzustellenden Willen des Normsetzers oder aber dem von ihm gewählten Ausdruck (. . .) entspricht (. . .). Das anzuwendende Recht bildet in allen diesen Fällen nur einen Rahmen, innerhalb dessen mehrere Möglichkeiten der Anwendung gegeben sind, wobei jeder Akt rechtmäßig ist, der sich innerhalb dieses Rahmens hält, den Rahmen in irgendeinem möglichen Sinn ausfüllt.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 600–601 (Hervorhebung von mir: M.P.S.).
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allein diese Situation reicht nicht, um die Behauptung zu begründen, dass die Normtexte immer mehrdeutig sind. Ist die Reine Rechtslehre und ihre Theorie der Interpretation auf die Beschreibung des Rechts, der Rechtsphänomene orientiert, dann kann sie nicht ausschließen – auch wenn angesichts aller möglichen konkreten Anwendungen bestimmte Wörter und Sätze mehr als eine Bedeutung haben –, dass bei einigen spezifischen Fällen der Anwendung dieser Wörter und Sätze in einem Kontext der Rechtsphänomene, diese Mehrdeutigkeit nicht identifiziert werden kann. „Punkt“ und „Linie“ sind zwei Wörter, die mehr als eine Bedeutung haben, die allgemein gesprochen mehrdeutig sind, aber das bedeutet auf keinen Fall, dass bei der Anwendung dieser Wörter in Texten über Geometrie diese Mehrdeutigkeit anwesend ist. Ein Wort kann mehrdeutig sein, ohne dass in allen Fällen, in allen Zusammenhängen, in denen es verwendet wird, dieses Wort als mehrdeutig verstanden werden muss. Die Mehrdeutigkeit eines Wortes bedeutet nicht, dass es notwendigerweise in allen Situationen der Anwendung als ein mehrdeutiges Wort verstanden werden muss. Darüber hinaus ist zu beachten, dass auch, wenn allgemein behauptet werden kann, dass es keine Anwendungspflicht für eine bestimmte Auslegungsmethode gibt, in konkreten Fällen beobachtet werden kann, ob ein bestimmter Normtext durch beide oben erwähnten Auslegungsmethoden interpretiert wurde, oder nur mittels einer der Methoden oder aber mit nur einem der Ergebnisse der Anwendung einer Auslegungsmethode, denn wie erwähnt, kann es vorkommen, dass die Anwendung einer Auslegungsmethode zu einer Pluralität von Ergebnissen führt. Kurz zusammengefasst: Allgemein gesprochen sind Normtexte mehrdeutig, und es existiert keine Auslegungsmethode, die notwendigerweise angewendet werden muss, aber angesichts der Beschreibungsaufgabe kann nicht ausgeschlossen werden, dass Situationen existieren können, in denen spezifische Normtexte eindeutig sind (weil diese Normtexte immer oder fast immer mit nur einer Bedeutung, einer Norm verbunden sind) oder spezifische Normtexte nur durch Anwendung einer Auslegungsmethode zu interpretieren sind. Die Tatsache, dass Kontexte existieren, in denen der anzuwendende Normtext keine Pluralität von Normen anbietet, dass es Normtexte geben kann, die nicht mehrdeutig sind, wird von Kelsen – wie schon gezeigt – an einer Stelle selbst anerkannt, wurde aber von ihm nicht (umfassend) berücksichtigt, als er über den Aufbau des normativen Rahmens und über das auf einen Fall anzuwendende Recht geschrieben hat. In diesem Zusammenhang hat Kelsen hervorgehoben, dass der normative Rahmen Möglichkeiten anbietet, dass es keinen Grund gibt, eine davon zu bevorzugen52. Neben dieser möglichen Art von normativem Rah52 „Die der traditionellen Interpretationstheorie zugrunde liegende Vorstellung, daß die von der anzuwendenden Rechtsnorm nicht geleistete Bestimmung des zu setzenden Rechtsaktes durch irgendeine Art Erkenntnis des schon vorhandenen Rechts gewonnen werden könne, ist eine widerspruchsvolle, weil gegen die Voraussetzung der Möglichkeit einer Interpretation verstoßende Selbsttäuschung. Die Frage, welche der im Rah-
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men existiert aber auch eine andere Art von normativem Rahmen, nämlich der Rahmen, der auf Grund eines eindeutigen (nicht mehrdeutigen) Normtextes oder einer eindeutigen Anwendung eines Normtextes in den Kontext der Rechtsphänomene eingebaut wird, sodass in diesem Fall der normative Rahmen nur eine Alternative anbietet und konsequenterweise die Möglichkeit besteht, eine einzige Anwendung (und Auslegung) eines Normtextes als richtig und alle anderen als falsch zu bezeichnen. Kelsens Behauptung, dass nicht über richtige und falsche Rechtsanwendung gesprochen werden kann, solange der normative Rahmen Möglichkeiten enthält, ist wahr, so wie auch wahr ist, dass, wenn der normative Rahmen nur eine Möglichkeit enthält, weil der anzuwendende Normtext eindeutig ist oder weil er im Kontext der Rechtsphänomene der Anwendung dieses Normtextes nur mit einer Norm verbunden sein kann, dann die Möglichkeit vorliegt, über richtige oder falsche Rechtsanwendung zu sprechen, auch wenn der anzuwendende Text, der als Normtext erzeugt war, mehrdeutig ist.
D. Die Anwendung von nicht-positivierten Quellen beim Aufbau des normativen Rahmens Es könnte behauptet werden, dass der Aufbau des normativen Rahmens nicht nur die positiven (gesetzten) Normen berücksichtigen würde, die mittel- oder unmittelbarerweise die Struktur Tatbestand-Rechtsfolge enthalten oder zum Teil konstituieren, sondern auch andere Arten von Normen. Zu diesen Normen würden die Normen zählen, die durch die Auffassung der Notwendigkeit der Anwendung der Interpretationsmitteln Analogie, argumentum a contrario oder Interessensabwägung entstanden sind, sowie auch die Normen, die auf Grund der Berücksichtigung von Prinzipien und Werten formuliert werden können. Kelsen hat diese Arten von Kandidaten für Rechtsquellen abgelehnt, und in allen Fällen, in denen er sich kritisch damit beschäftigt hat, hat er zur Begründung der Ablehnung auf die Tatsache hingewiesen, dass bei der Anwendung dieser vermutlichen Rechtsquellen keine Konstanz identifiziert werden kann, sodass men des anzuwendenden Rechtes gegebenen Möglichkeiten die ,richtige‘ ist, ist – voraussetzungsgemäß – überhaupt keine Frage der auf das positive Recht gerichteten Erkenntnis; ist kein rechtstheoretisches, sondern ein rechtspolitisches Problem. Die Aufgabe: aus dem Gesetz das allein richtige Urteil oder den allein richtigen Verwaltungsakt zu gewinnen, ist im wesentlichen dieselbe wie diese: im Rahmen der Verfassung die allein richtigen Gesetze zu schaffen. So wenig wie man aus der Verfassung durch Interpretation die allein richtigen Gesetze, kann man aus dem Gesetz durch Interpretation die allein richtigen Urteile gewinnen. Gewiß besteht ein Unterschied zwischen diesen beiden Fällen, aber es ist nur ein quantitativer, kein qualitativer, und er besteht nur darin, daß die Bindung des Gesetzgebers in materieller Hinsicht eine viel geringere ist als die Bindung des Richters, daß jener bei der Rechtsschöpfung verhältnismäßig viel freier ist als dieser.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 604.
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Kap. 5: Die Rechtserkenntnis und die Interpretation des Rechts
sie eigentlich nicht als Gründe für Entscheidungen operieren würden, in denen sie erwähnt sind, sondern erst nach den Entscheidungen erwähnt würden, um diese nachträglich zu begründen; oder es wäre sogar der Fall, dass die Autorität, die diese Quelle angewendet hat, ohne objektiven Grund einen möglichen mit einem notwendigen analogischen Schluss verwechselt hätte53. Nicht ausdrücklich von Kelsen aufgestellt, aber trotzdem aus seinen Aussagen ableitbar, ist die Idee, dass bei der Interpretation der positiven Normen (Verfassungsnormen, Gesetze, Verordnungen usw.) Kriterien identifizierbar sind, d. h. Tendenzen, Konstanten, sodass beispielsweise das Wissen, dass Autoritäten Entscheidungen auf Grund einer Vorschrift des Steuergesetzesbuches getroffen haben, in den meisten Fällen genügt, um zu wissen, was entschieden wird, aber das Wissen, dass Autoritäten Entscheidungen auf Grund von Analogien getroffen haben, nicht dieselbe Vorhersehbarkeit ermöglicht. Ist Kelsens Auffassung über die erwähnten vermutlichen Rechtsquellen tatsächlich korrekt, dann müssen diese Kandidaten für Rechtsquellen bei der rechtswissenschaftlichen Interpretation unberücksichtigt bleiben. Ob Kelsens Auffassung korrekt ist, das muss aber erst bei jedem einzelnen Kandidaten untersucht werden. In der Reine(n) Rechtslehre werden die Analogie und das argumentum a contrario54 zusammen mit der Interessensabwägung als mögliche Auslegungsmittel kritisiert55, denn nach Kelsens Auffassung ist es unmöglich, durch die Beobach53 Dazu siehe Fußnote 55, insbesondere bezüglich der Verwendung der Ausdrücke „kein Kriterium“ und kein „objektiven Maßstab“. 54 Das argumentum a contrario muss nicht als ein Interpretationsmittel verstanden werden, das die Fähigkeit hat, Normen darzustellen, die nicht positiviert sind. Dieses Argument hat zwei unterschiedliche Bedeutungen, von denen Kelsen nur eine kritisiert – obwohl er selbst nicht klar macht, dass der Ausdruck „argumentum a contrario“ zwei Bedeutungen enthalten kann. Die Anwendung dieses Arguments wird keine Norm schaffen und konsequenterweise ist es für den Kontext der Diskussion nicht relevant, wenn dieses Argument so verstanden wird, wie die Bestimmung, dass das Gegenteil eines Normgebotes nicht erlaubt ist, oder dass das Gegenteil eines Verbotes erlaubt ist, sowie ähnliche Schlussfolgerungen. Anderseits ist die Anwendung dieses Arguments problematisch, wenn das Ziel ist, wie bei der Argumentation mit der Analogie, etwas als Norm zu bestimmen, das der Normerzeuger als gesollt bestimmt hätte, wenn er sich dazu geäußert hätte. Z. B. wird in einem Fall der Analogieanwendung gesagt: „Weil der Normerzeuger den Verkauf der Produkte der Art X verboten hat, würde er auch verbieten, die Produkte der Art Y zu verkaufen, da die Produkte der Arten X und Y zur selben Gattung gehören“, während in einem Fall von Anwendung des argumentum a contrario behauptet wird: „Weil der Normerzeuger den Verkauf der Produkte der Art X erlaubt hat, aber nichts über den Verkauf der Produkte der Art Y ausgesagt hat, und weil die Produkte der Arten X und Y zur selben Gattung gehören, wäre es die Absicht des Normerzeugers, den Verkauf der Produkte der Art Y zu erlauben.“ Dazu siehe Klug, Juristische Logik, S. 109–143. 55 „Daß die üblichen Interpretationsmittel des argumentum a contrario und der Analogie völlig wertlos sind, geht schon daraus zur Genüge hervor, daß beide zu entgegengesetzten Resultaten führen und es kein Kriterium dafür gibt, wann das eine oder das
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tung der Fälle von Anwendung dieser Auslegungsmittel irgendeinen allgemeinen Maßstab zu identifizieren. Die Analogie und das argumentum a contrario können in der Begründung der Entscheidungen erwähnt werden, aber das allein reicht nicht, so argumentiert Kelsen, um zu beweisen, dass diese Mittel beim Aufbau des normativen Rahmens berücksichtigt werden müssen, solange es der Fall ist, dass auf Grund derselben positiven Normtexte und der Anwendung der Analogie (oder des argumentum a contrario) ähnliche Fälle in unterschiedlicher (in den normativen Rahmen eingeschlossener) Weise entschieden werden. Wenn es nicht möglich ist, durch die Berücksichtigung konkreter Fälle von Rechtsanwendung irgendeine generelle Norm (oder irgendwelche generellen Normen) aufzubauen, da beispielsweise in einigen Fällen bestimmte Gegenstände als analog zu betrachten sind, aber in anderen nicht, und wenn keine Gemeinsamkeit bei der Diskrepanz zu identifizieren ist, dann sind die Analogie und das argumentum a contrario – laut Kelsen – nicht für den Aufbau des normativen Rahmens relevant. Anderseits ist es angesichts eines Arguments, das Kelsen bezüglich der Anwendung von Prinzipien und der Positivierung von Prinzipien verwendet hat, möglich, ein Argument für die Positivierung der Analogie oder des argumentum a contrario mit Bezug auf spezifische Normtexte zu formulieren. Die Schlussfolgerung, dass Analogie und argumentum a contrario für den Aufbau des normativen Rahmens unbeachtet bleiben müssen, erfolgt, wenn die konkreten Entscheidungen zwischen den Möglichkeiten, die im normativen Rahmen vorliegen, durch die Interpretationsmittel der Analogie oder des argumentum a contrario begründet sind, solange keine allgemeine Tendenz identifizierbar ist, solange es nicht der Fall ist, dass ähnliche Fälle ständig angesichts einer der im normativen Rahmen gegebenen Alternativen und einer spezifischen Anwendung der Analogie oder des argumentum a contrario entschieden sind. Sind solche Tendenzen, Konstanten vorhanden, dann liegt ein Grund für die Behauptung vor, dass diese Interpretationsmittel zumindest in einigen Fällen für den Aufbau des normativen Rahmens berücksichtigen werden müssen, und deshalb eine beschreibungsorientierte Darstellung der Rechtsphänomene diese Situation berücksichtigen muss. Das Abwägen von Interessen beim Aufbau des normativen Rahmens wird von Kelsen mit demselben Argument nicht beachtet, wie das Argument für die Ablehnung der Anwendung der Analogie und des argumentum a contrario. In der Tat reicht die Tatsache allein nicht, dass bei der Entscheidung bezüglich der Anwendung der einen oder anderen im normativen Rahmen zur Verfügung stehenandere zur Anwendung kommen soll. Auch der Grundsatz der sogenannten Interessenabwägung ist nur eine Formulierung, keine Lösung des Problems, das hier vorliegt. Es liefert nicht den objektiven Maßstab, nach dem entgegengesetzte Interessen miteinander verglichen und demnach Interessenkonflikte entschieden werden können. Dieser Maßstab ist insbesondere nicht aus der zu interpretierenden Norm oder dem diese enthaltenden Gesetz oder der ganzen Rechtsordnung zu holen, wie die Lehre von der sogenannten Interessenabwägung meint.“ Kelsen, RR2 (1960), S. 603.
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den Möglichkeit die Autorität eine Wahl wegen einer Interessensabwägung treffen wird, um die Auffassung zu begründen, dass die Interessensabwägung beim Aufbau des normativen Rahmens wesentlich ist. Solange kein allgemeines Kriterium identifizierbar ist, solange ähnliche Fälle mittels Abwägung unterschiedliche, nicht verallgemeinerbare Ergebnisse zeigen, ist die Interessensabwägung kein wesentliches Element für die Darstellung des normativen Rahmens, auch wenn es wahr sein kann, dass die Entscheidungen zwischen den im normativen Rahmen angebotenen Alternativen immer oder meistens durch Interessensabwägung getroffen werden. Ein strukturell ähnliches Argument verwendet Kelsen, wenn er Josef Essers Auffassung kommentiert, dass die Rechtsanwendung auch von Prinzipien und Werten beeinflusst wird56. Gegen die Idee, dass „die Erzeugung von generellen und individuellen Rechtsnormen (. . .) durch Prinzipien der Moral, Politik und Sitte beeinflußt“ 57 wird – genauer, dass diese Prinzipien in einer konsistenten Weise die Erzeugung von Normen, den Aufbau des normativen Rahmens beeinflussen –, vertritt Kelsen die Auffassung, dass, auch wenn diese Prinzipien Entscheidungen beeinflussen können, sie weiter als Prinzipien ohne rechtliche Natur verstanden werden müssen, solange es nicht der Fall ist, dass diese Prinzipien wegen ständiger und gleichartiger Anwendung zu Rechtsnormen geworden sind58. Zu Kelsens Auffassung der Rechtsprinzipien ist zu bemerken, dass er die Erforderlichkeit der Anerkennung einiger Kandidaten als Rechtsprinzipien mit dem Argument abgelehnt hat, dass keine konsequente Anwendung dieser Prinzipien identifizierbar ist59. Diese Ablehnung ist als eine Art Instanz der Anwendung des 56 In den meisten Fällen diskutiert Kelsen in diesem Zusammenhang über Prinzipien, auch wenn er an einer Stelle auch „Rechtswerte“ erwähnt hat. Siehe Kelsen, ATN (1979), S. 96. Es ist zu bemerken, dass Kelsen selbst keine Definition von Prinzip angeboten hat und es auch der Fall zu sein scheint, dass er Prinzipien und Werte als gleichbedeutend betrachten wollte. Dazu ist angesichts des in Fußnote 59 zitierten Textes zu erwähnen, dass für Kelsen Prinzipien wahrscheinlich nicht als eine Art von Norm neben den Regeln verstanden wurden, sondern als Normen, die keine rechtliche Natur haben, aber durch Rechtsnormen positiviert werden können. 57 Kelsen, ATN (1979), S. 92. 58 „Dadurch, daß gleiche Fälle ständig in gleicher Weise durch richterliche Urteile entschieden werden und auf Grund des Prinzips der Rechtskraft in Geltung treten, wird eine generelle Rechtsnorm erzeugt, deren Inhalt dem Prinzip entspricht, das die richterlichen Entscheidungen beeinflußt hat.“ Kelsen, ATN (1979), S. 93. 59 „Die Beeinflussung der Rechtserzeugung durch Prinzipien der Moral, Politik, Sitte, ist bald mehr, bald weniger konsequent. Das Moral-Prinzip der individuellen Freiheit z. B., kommt in einer positiven Rechtsordnung als Vertragsfreiheit zum Ausdruck. Aber eine Rechtsordnung, von der man sagt, daß sie das Prinzip der Vertragsfreiheit realisiert, läßt nicht alle Vereinbarungen, die zwischen Individuen getroffen werden, gelten. Ein von einer Partei der anderen gegebenes und von dieser angenommenes Eheversprechen ist nach manchen positiven Rechtsordnungen nicht verbindlich; ebenso Verträge, in denen ein moralwidriges Verhalten vereinbart wird. Die dem Recht unterworfenen Subjekte sind nicht ,frei‘, das heißt: durch die Rechtsordnung ermächtigt, ver-
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adoptierten Zieles zu verstehen, das Recht und die Rechtsphänomene (einschließlich der Phänomene der Interpretation des Rechts) zu beschreiben. Wenn es also nicht möglich ist, aus den Anwendungsfällen eines Prinzips – das Kandidat als (zukünftige) Rechtsquelle ist –, eine allgemeine Norm abzuleiten oder eine Tendenz in eine Richtung zu identifizieren, dann kann nicht behauptet werden, dass in bestimmten Situationen die Interpretation der Normtexte von einem bestimmten Prinzip beeinflusst wird, und aus diesem Grund kann dieses Prinzip nicht als Teil der Rechtsordnung identifiziert werden. So interessant wie Kelsens Argument gegen die Prinzipien, ist die Kehrseite seiner Auffassung, nämlich dass Prinzipien zum Bestandteil einer Rechtsordnung werden können, immer und solange sie ständig und in konsistenter Weise von Autoritäten bei der Interpretation angewendet werden. Das bedeutet, dass Prinzipien in der Tat für den Aufbau des normativen Rahmens eine Rolle spielen können, vorausgesetzt, dass diese Prinzipien rechtliche Natur bekommen haben. Wenn man nun die beiden Ziele Kelsens in den Blick nimmt, nämlich: die Positivität als ausnahmslosen Grundsatz beachten und die Rechtsphänomene verstehen und beschreiben, dann wird sich seine Theorie im Konfliktfall eindeutig für die zweite Alternative entscheiden. Existiert eine konsistente Anwendung eines Prinzips bei den Entscheidungen von vergleichbaren Fällen, dann ist dieses Prinzip als Teil der Rechtsordnung zu sehen, auch wenn dieses Prinzip in keiner positiven Norm identifiziert werden kann. Hier muss festgehalten werden, dass in Kelsens Rechtstheorie die Erklärung der rechtlichen Natur der Phänomene das Hauptziel ist, nicht die (ausnahmslose) Positivität des Rechts. Zuletzt muss zu Kelsens Strategie gegen die Anerkennung von nicht-positivierten Normquellen beim Aufbau des normativen Rahmens erwähnt werden, dass sein Argument mit einer Voraussetzung operiert, die nicht notwendigerweise angenommen werden muss. Es muss zwischen einer Anwendungspraxis eines Prinzips (oder auch der Analogie, des argumentum a contrario, der Abwägung oder eines Wertes) unterschieden werden, die nur erfolgt, um ein willkürliches – weil ohne positivrechtliche Begründung erfolgtes – Element einiger Entscheidungen zu decken, und einer konsistenten Anwendung einer dieser nicht-positivierten Quellen, die keine universelle und einheitliche allgemeine Bedeutung enthält, sondern eine von mehreren identifizierbaren Bedeutungen. Kelsen kritisiert die Auffassung des Rechts, die die Naturrechtslehre vertritt, mit dem Argument, dass bindliche Verträge solchen Inhalts zu schließen. Der Verfassungsgeber mag, durch das politische Prinzip der Gewaltenteilung beeinflußt, für die Funktionen der Gesetzgebung, d. i. die Funktion der Erzeugung genereller Rechtsnormen, der Rechtssprechung und Verwaltung verschiedene Organe einsetzen. Dennoch können gemäß einer solchen, auf Grund des Prinzips der Gewaltenteilung errichteten Verfassung generelle Rechtsnormen unter gewissen Bedingungen auch von Verwaltungsorganen gesetzt werden. Auch können die Prinzipien, die die Rechtserzeugung beeinflussen, miteinander in Konflikt stehen.“ Kelsen, ATN (1979), S. 93.
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Kap. 5: Die Rechtserkenntnis und die Interpretation des Rechts
keine absolute und einheitliche Notion von Gerechtigkeit in der Realität zu finden ist60. Wie er selbst bemerkt, ist leicht zu sehen, dass mehrere Auffassungen von Gerechtigkeit existieren, aber allein der Beweis, dass keine einheitliche Anwendung einer Notion existiert, genügt nicht, um den Schluss zu ziehen, dass keine konsistente (obwohl nicht universelle) Anwendung dieser Notion identifiziert werden kann. Schon die Tatsache, dass Kelsen mit den Ausdrücken „kapitalistisch-individualistisches“ und „sozialistisch-kollektivistisches Gerechtigkeitsideal“ etwas kommuniziert – diese Ausdrücke also Bedeutung haben –, beweist die Möglichkeit einer konsistenten und gleichzeitig nicht universellen Anwendung einer Notion beim Aufbau des normativen Rahmens. Eine Theorie der Rechtserkenntnis, die nicht auf die Untersuchung einer spezifischen Rechtsordnung orientiert ist, kann nicht behaupten, dass nicht-positivierte Quellen ohne Ausnahme keine Rolle beim Aufbau des normativen Rahmens spielen, in keiner konsistenten Weise die konkreten Entscheidungen beeinflussen. Es besteht die (sehr unwahrscheinliche) Möglichkeit, dass diese Quellen in einigen Situationen in einer konsistenten Weise angewendet werden, sodass es unproblematisch wird, sie als Bestandteil der Rechtsordnung zu verstehen, denn sie können als Gewohnheitsrecht verstanden werden und das auch, wenn z. B. die Gerechtigkeit nicht als Rechtsquelle in einer Norm positiviert wird. Und es be-
60 „Es ist ein wesentliches Element der Naturrechtslehre, daß sie nur eine – und deshalb absolute – Gerechtigkeit voraussetzt, die im Naturrecht zum Ausdruck kommt. Das tut auch Esser. Er behauptet a. a. O. (Josef Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, Tübingen, 1956; M.P.S.), S. 69, ein Prinzip sei nur dann ,zu rechtlicher Normbildung tauglich, wenn es spezifisch juristischer Argumentation aus den Gesichtspunkten der Gerechtigkeit und Angemessenheit zugänglich ist.‘ In Fußnote 214 sagt er, ,die dem Richter gestellte Aufgabe muß eine Entscheidung nach Gesichtpunkten der Gerechtigkeit und Sachangemessenheit . . . erlauben‘. Das ist die alte Forderung, das positive Recht solle dem Gerechtigkeitsideal entsprechen. Aber welchem Gerechtigkeitsideal? Dem kapitalistisch-individualistischen oder dem sozialistisch-kollektivistischen Gerechtigkeitsideal? Entspricht sie dem einen, gerät sie mit dem anderen in Konflikt; aber gültig ist das positive Recht, ob es dem einen oder dem anderen Gerechtigkeitsideal entspricht oder nicht entspricht. ,Sachangemessenheit‘ ist die ,Natur der Sache‘, auf die Esser immer wieder hinweist und die er als ,Transformator rechtsethischer Postulate‘ bezeichnet (a. a. O., S. 69). Daß aus der ,Natur der Sache‘ Rechtsnormen hervorgehen, ist spezifisch naturrechtliches Denken. Man kann, ein Goethe-Wort variierend, sagen: Was man ,Natur der Sache‘ heißt, das ist der Herren eigener Geist, d. h. was die verschiedenen Vertreter der Lehre von der ,Natur der Sache‘ für Naturrecht halten und was nach der Ansicht der verschiedenen Naturrechtsgläubigen ebenso verschieden ist wie die verschiedenen Religionen. Innerhalb einer auf der ,Natur der Sache‘ beruhenden Naturrechtslehre hat ein kommunistisches ebenso wie ein kapitalistisches, ein demokratisches ebenso wie ein autokratisches Rechtssystem Platz. Daher ihre Beliebheit. Mit ihr kann man alles rechtfertigen. Das ist das wesentliche Argument, das der Rechtspositivismus gegen die Naturrechtslehre vorbringt, auch wenn sie – wie die Essersche Transformationstheorie – in irgendeiner Verkleidung auftritt.“ Kelsen, ATN (1979), S. 98.
D. Die Anwendung von nicht-positivierten Quellen
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steht auch die Möglichkeit, dass einige dieser Quellen von Autoritäten bei der Rechtsanwendung erwähnt werden, aber nicht in einer einheitlichen Weise (d. h. nicht in Verbindung mit einer einzigen Bedeutung), sondern in einer solchen Weise, dass es beispielsweise möglich ist, zu identifizieren, mit welcher Notion von Gerechtigkeit (z. B. mit einer „kapitalistisch-individualistischen“ oder einer „sozialistisch-kollektivistischen“) eine von diesen Quellen verbunden ist. So wie Wörter und Texte (und eben auch Normtexte) mehrdeutig sein können, ohne bedeutungslos zu sein, ist es nicht auszuschließen, dass nicht-positivierte Normen die Eigenschaft der Mehrdeutigkeit besitzen. Wenn die Mehrdeutigkeit eines Normtextes kein Grund ist, diesem Text keine rechtliche Bedeutung zuzuschreiben, warum dürfen dann ständig angewendete Prinzipien keine rechtliche Bedeutung bekommen, nur weil sie mehrdeutig sind?61 Existiert in einer Rechtsordnung eine konsistente Anwendung von nicht-positivierten Quellen und ist die Beschreibungsaufgabe weiter beachtet, dann liegt kein Grund vor, diese Elemente der Rechtsanwendung nicht zu berücksichtigen. Das Gegenteil zu vertreten bedeutet, dem Grundsatz der Positivität Präferenz vor der Beschreibungsaufgabe zu geben. Dies ist eine real existierende Möglichkeit, aber die Konsequenz dieser Wahl ist die Adoption einer Theorie, die in Konflikt mit der Realität steht, die nicht mehr in der Lage ist, ihren Gegenstand zu begreifen und zu beschreiben. Obwohl nach bestimmten naturrechtlichen Auffassungen des Rechts bestimmte Normen als gültig betrachtet werden müssen, auch wenn sie nicht positiviert sind, ist dies allein kein Grund auszuschließen, dass einige Normen gültig werden können, auch wenn sie nicht positiviert sind, oder aber zu behaupten, dass das Vertreten der Existenz von nicht-positivierten gültigen Normen notwendigerweise als Vertretung einer Version der Naturrechtslehre verstanden werden muss. In konkreten Rechtsordnungen können Normen als gültig betrachtet werden, auch wenn sie nicht positiviert sind – diese Situation ist auch von Kelsen akzeptiert, wenn er sagt, dass Prinzipien durch Gewohnheit62 positiviert werden kön61 Es ist durchaus möglich, dass eine Rechtsordnung eine positive Norm (einen positiven Normtext) über das Begehen von Straftaten unter Anwendung von Waffengewalt enthält, und dass in dieser Rechtsordnung bei der Wahl zwischen den positivrechtlich möglichen Lösungen für ähnliche Fälle Entscheidungen häufig aufgrund bestimmter (konsistenter, aber nicht einheitlicher) Auffassungen der Gerechtigkeit getroffen werden. Wäre nun die Mehrdeutigkeit ein gültiger Grund für die Ablehnung einer möglichen Rechtsquelle, dann sollten auch die positivrechtlichen Bestimmungen über Straftaten unter Anwendung von Waffengewalt nicht als gültige Normen betrachtet werden, sofern die Entscheidungen dieser Fälle keine einheitliche Auslegung des Begriffes „Waffe“ gebracht haben. Beides, die positivrechtliche Bestimmung, die den Begriff „Waffe“ anwendet, sowie z. B. eine nicht-positivierte Pflicht der Bewahrung der Gerechtigkeit, können in einer Rechtsordnung als Rechtsquelle, als wesentliche Elemente für die Identifizierung der rechtlichen Bedeutung der Phänomene verstanden werden, solange ihretwegen Phänomene als Rechtsphänomene betrachtet werden können. 62 Siehe Fußnote 58.
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Kap. 5: Die Rechtserkenntnis und die Interpretation des Rechts
nen –, aber nur auf Grund der beobachteten Phänomene und nicht aufgrund der Auffassung, dass es andere Arten von Gründen geben müsste, um diese Normen als gültig zu bezeichnen. Die rechtswissenschaftliche Interpretation als wesentliches Element für die Erklärung der rechtlichen Natur von Phänomenen, die als Rechtsphänomene verstanden werden, muss ihrer Aufgabe der Erklärung der Rechtserkenntnis treu bleiben und das Ziel verfolgen, die in konsistenter Weise angewendeten Rechtsquellen zu identifizieren, auch wenn unter Berücksichtigung dieser Rechtsquellen Normen identifiziert werden, die nicht positiviert wurden, solange diese Normen in der Tat eine bedeutende Rolle bei den Phänomenen der Interpretation des Rechts spielen.
Schluss Mit seiner Rechtstheorie hat Kelsen das Ziel verfolgt, das Recht zu erkennen und zu beschreiben, die Rechtserkenntnis zu erklären und zu begründen. Für die Durchführung dieses Projekts hat er eine Theorie entwickelt, die als eine Wissenschaft des Rechts, als eine Rechtswissenschaft verstanden werden soll, und das in einer solchen Weise, dass seine Theorie durch die Auffassung bestimmt ist, dass sie die Normen als ihre Gegenstände nur beschreiben und niemals vorschreiben darf. Die Reine Rechtslehre ist als eine wissenschaftliche Hypothese konzipiert, um eine theoretische Erklärung für die Existenz von Phänomenen anzubieten, die als Rechtsphänomene zu bezeichnen sind. Die Reine Rechtslehre operiert dabei mit drei angenommenen Prämissen: der Grundnorm, der Normativität und der Positivität des Rechts. Diese sind als begründet zu verstehen, solange es durch diese Annahme möglich ist, die rechtliche Natur von Phänomenen, die als Rechtsphänomene verstanden werden, zu begreifen und beschreiben. Dass die Grundnorm anzunehmen ist, folgt direkt aus der Annahme der Beschreibungsaufgabe, denn die Grundnorm verbindet die Wirksamkeit mit der Geltung der Normen, mit der Konsequenz, dass die Normen, die unwirksam sind (oder unwirksam bleiben, wenn über Unterverfassungsnormen gesprochen wird), von der Rechtstheorie bei der Erklärung der Rechtsphänomene nicht berücksichtigt werden. Weil die Grundnorm so formuliert ist, weil sie die übliche Vorstellung des Rechts als Orientierungspunkt aus einem denkökonomischen Grund annimmt, ermöglicht sie die Verknüpfung der Reinen Rechtslehre mit der Beschreibungsaufgabe, denn es sind die wirksamen Normen, die den Phänomenen entsprechen, die gewöhnlich als Rechtsphänomene betrachtet werden. Andererseits ist die Annahme der Positivität, wie in der Entwicklung dieser Untersuchung gezeigt, nicht immer erforderlich, denn es können Situationen existieren, in denen die Annahme dieser Prämisse zu einer Beschreibung führt, die die Realität der Rechtsphänomene nicht begreift. Aus diesem Grund wird die Auffassung vertreten, dass die Positivität eine mögliche und häufig angewendete, aber keine ausnahmslos notwendige Bedingung für die Existenz und die Anerkennung der Phänomene ist, die rechtliche Natur haben. Wie gezeigt, muss Kelsens Theorie für die Durchführung ihrer Beschreibungsaufgabe in der Lage sein, ihre Gegenstände, d. h. die Phänomene, die als Rechtsphänomene zu betrachten sind, identifizieren zu können. Die Anerkennung der Gegenstände der Rechtserkenntnis und des Rechts erfolgt mittels Konfrontation der Phänomene mit gültigen Normen und dies ist der Grund, dass die Gegen-
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stände, die die Rechtswissenschaft erkennt, von ihr angesichts gültiger Normen erzeugt werden. Diese Erzeugung der Gegenstände der Rechtserkenntnis resultiert aus Beobachtungen, die angesichts gültiger Normen erfolgen, sodass diese Erkenntnis von der Identifizierung der gültigen Normen, sowie dem Begreifen und Beschreiben ihrer Bedeutung, abhängig ist. In diesem Zusammenhang formuliert die Reine Rechtslehre eine Lehre des Rechtssatzes, um klarzustellen, wie und angesichts welcher Elemente sie in der Lage ist, die Rechtsnormen zu beschreiben, die rechtliche Natur von Phänomenen zu erklären. Weil nur gültige Normen die Rechtserkenntnis konstituieren und da die Rechtswissenschaft ihre Gegenstände nur angesichts gültiger Normen erzeugen kann, musste geklärt werden, was es für eine Norm bedeutet, gültig zu sein. Wie gezeigt, ist Kelsens Auffassung der Geltung nicht eindeutig, aber eine seiner beiden Konzeptionen der Geltung konnte den Vorwurf des Methodensynkretismus vermeiden und eine Auffassung der Geltung anbieten, die für die Durchführung der Beschreibungsaufgabe und für die Identifizierung der wirksamen Normen angewendet werden kann – unter der Berücksichtigung der Tatsache, dass die Identifizierung der wirksamen Normen von der Situation abhängig ist und davon dass festgelegt ist, was es für eine Norm bedeutet, gültig zu sein, d. h. welche Art von Sollen durch diese Norm gesetzt wird. Die Annahme der Grundnorm in der späteren Formulierung der zweiten Auflage der Reine(n) Rechtslehre, nach der alle gültigen Normen sofort oder nach einem gewissem Zeitraum wirksam werden, bedeutet für Kelsens Rechtstheorie die Fähigkeit, die rechtliche Natur der Phänomene zu identifizieren, die in der Realität als Rechtsphänomene zu betrachten sind, sodass es nicht passieren wird, dass die Rechtstheorie bei der Erklärung der Rechtserkenntnis Normen (und mittelbarerweise Phänomene) als ihre Gegenstände betrachten wird, die nicht (mehr) gültig sind. Obwohl die Geltung der erzeugten Normen in der Regel durch die Beachtung von Ermächtigungsnormen – also von Normen, die die direkte oder die alternative Ermächtigung positivieren – erklärt werden kann, treten Situationen ein, in denen die konkreten Rechtsordnungen nicht alle Fälle von Rechtserzeugung außerhalb des normativen Rahmens der direkten Ermächtigung durch Normen über alternative Ermächtigung normieren, und einige dieser erzeugten Normen sind als gültige Normen zu betrachten, obwohl die Möglichkeit ihrer Erzeugung von keiner positiven Norm der Rechtsordnung vorbestimmt war. Es ist also nötig anzuerkennen, dass in solchen Ausnahmesituationen die Reine Rechtslehre nur in der Lage ist, diese Rechtsphänomene zu beschreiben, wenn sie Normen über alternative Ermächtigung voraussetzt, die die rechtliche Bedeutung dieser erzeugten Normen erklären. Konsequenterweise bedeuten diese Situationen, dass der Grundsatz der Positivität in einigen Fällen ausgeklammert werden muss, da die Positivität keine wesentliche Eigenschaft aller Rechtsphänomene ist und auch keine unbedingt erforderliche Eigenschaft des Rechts.
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Die allgemeinüblichen Fälle von Rechtserzeugung, die Situationen der Erzeugung von Normen dank direkter Ermächtigung, sowie die Eigenschaft des Rechts, seine eigene Erzeugung zu normieren, können mittels Merkls Stufenbaulehre dargestellt und erklärt werden. In diesem Zusammenhang wurde hervorgehoben, dass die Erkenntnis der Phänomene von Rechtserzeugung nicht unbedingt durch die Auffassung eines Stufenbaus erfolgen wird, denn es ist durchaus möglich, dass die verschiedenen Arten von Rechtserzeugung durch die Rechtsanwendung nicht mittels eines Stufenbaus, sondern mittels zweier oder mehr Stufenbauten verstanden werden müssen. Weil die Rechtserzeugung in einigen Situationen zu Normenkonflikten führen kann, bieten die Normen, die diese Konflikte lösen, wichtige Informationen für die Begründung der Rechtserkenntnis an, denn sie erklären, welche der miteinander in Konflikt stehenden Normen, als gültig betrachtet werden muss. Weil nicht alle Fälle von Normenkonflikten eine vorbestimmte Lösung in der Rechtsordnung finden, ist auch festzuhalten, dass einige Normenkonflikte für eine gewisse Zeit (wegen der Grundnorm verlieren die unwirksamen Normen nach einiger Zeit ihre Geltung) als ungelöst betrachtet werden müssen, mit der Konsequenz, dass in diesen Situationen die Rechtserkenntnis begrenzt wird, weil ein Phänomen, das nach einer gültigen Norm eine rechtliche Bedeutung hat, angesichts einer anderen gültigen Norm, die in Konflikt mit der erste Norm steht, eine andere rechtliche Bedeutung bekommen wird. In diesem Kontext ist es nötig, zwischen Situationen zu unterscheiden, in denen Normenkonflikte stattfinden, und Situationen, in denen eigentlich kein Konflikt vorliegt, da die zu einem späteren Zeitpunkt erzeugte Norm nicht in Konflikt mit der früheren Norm steht, denn die spätere Norm hat die frühere derogiert. Hier geht es um die Fälle, bei denen die Rechtsordnung den Grundsatz lex posterior derogat legi priori nicht ausdrücklich enthält, aber trotzdem angesichts der Rechtsphänomene seine Annahme und Anwendung identifiziert wird. Diese von Kelsen hervorgehobenen Situationen sind auch als Fälle anzusehen, bei denen bei der Beschreibung des Rechts die Positivität als keine ausnahmslos notwendige Eigenschaft der Normen betrachtet wird. Die Erklärung und Begründung der rechtlichen Natur eines Phänomens, die Beschreibung einer Rechtserkenntnis, erfolgt angesichts gültiger Normen und durch die Konfrontation dieser Normen mit bestimmten Phänomenen. Das bedeutet, dass für diese Erklärung nicht nur begründet werden muss, warum Normtexte gültig sind, sondern auch aus welchen Gründen diese Normtexte als Normen mit bestimmten Inhalten zu interpretieren sind. Angesichts dieser häufig identifizierten Mehrdeutigkeit der auszulegenden Normtexte ist anzuerkennen, dass die Phänomene der Interpretation des Rechts in mehreren Fällen nicht zu einem einzigen, sondern zu einer Pluralität von Ergebnissen führen. Als Konsequenz dieser Pluralität ist es in bestimmten Situationen nicht möglich, ein Phänomen ohne Vorbehalt mit einer rechtlichen Bedeutung zu verbinden, da dieses Phänomen diese Bedeutung dank einer, aber nicht wegen einer anderen Ausle-
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gung des Normtextes bekommt. Bei Kelsens Behandlung der Interpretation ist auch zu bemerken, dass seine Auffassung des Ergebnisses der Interpretation eines Normtextes ein Rahmen für eine notwendige Konsequenz der Annahme der Beschreibungsaufgabe ist, immer und solange die interpretierten Normtexte in der Tat mit mehreren Bedeutungen, mit mehreren Normen verbunden sind. Genau aus diesem Grund ist es in einige Situationen auch möglich, Kelsens Auffassung zu kritisieren, nach welcher nur positive Normtexte als Rechtsquellen für den Aufbau eines normativen Rahmens relevant wären, denn nicht-positive Rechtsquellen können unter Umständen zum Bestandteil der Rechtserkenntnis werden, solange sie in konsistenter Weise die Rechtsanwendung beeinflussen. Allein die Abwesenheit einer einzigen Bedeutung für die von diesen Quellen angebotenen Ergebnisse kann kein Grund sein, um sie als wesentlich für die Erklärung der Rechtsphänomene auszuschließen, denn auch die positiven Normtexte enthalten in nicht wenigen Fällen eine Pluralität von Bedeutungen. Aus diesem Grund ist es auch bei der Analyse der Phänomene der Interpretation des Rechts nicht möglich, die Positivität als eine wesentliche Eigenschaft aller Phänomene von Rechtsauslegung darzustellen. In der vorliegenden Untersuchung wurde die Annahme des Grundsatzes der Normativität nie in Frage gestellt, denn auch in den (meisten) Fällen, in denen der Grundsatz der Positivität ausgeklammert werden sollte, beispielsweise bei der Problematik der lex posterior, erfolgt die Lösung der Probleme immer durch das Voraussetzen einer Norm, dank welcher die rechtliche Bedeutung von Rechtsphänomene geklärt war. Zur Positivität ist anderseits zu beachten, dass die Normen, die die Prämisse der Positivität erfüllen, gültige Normen sind, sie beeinflussen die Rechtserkenntnis. Aber nicht nur diese Normen spielen bei der Bildung von Rechtserkenntnissen eine Rolle, denn in einige Situationen werden Phänomene zum Teil dank nicht-positivierter Normen als Rechtsphänomene identifiziert. Wie gezeigt, kann diese Situation auf Grund einer nicht-positivierten alternativen Ermächtigung sowie wegen einer nicht-positivierten Norm für die Lösung von Konflikten erfolgen, beispielsweise aufgrund des Grundsatzes lex posterior derogat priori. Die Erforderlichkeit der Positivität bei der Beschreibung der Rechtsphänomene ist auch in einer anderen Situation in Frage zu stellen, nämlich bei den Fällen, in denen die Rechtsanwendung in einer konsistenten Weise auf Grund nicht-positiver Normen erfolgt. Diese Fälle des Ausklammerns der Positivität haben eine Eigenschaft gemeinsam, den Respekt für die Anwendung des Begriffes „Recht“, die Beachtung der Tatsache, dass einige Phänomene als Rechtsphänomene zu betrachten sind, auch wenn es unter Berücksichtigung der positiven Normen nicht möglich ist, diese Phänomene mit dieser rechtlichen Bedeutung zu verbinden. Wie gezeigt, ist es für Kelsens Theorie als beschreibungsorientierte Theorie in einigen Situationen nötig, die Positivität als nicht-wesentliche Eigenschaft des Rechts zu betrachten, denn ausnahmsweise können Phänomene als Rechtsphäno-
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mene anerkannt, als Phänomene mit einer rechtlichen Natur betrachtet werden, obwohl keine positive Norm existiert, die diese rechtliche Bedeutung begründen kann. Aus diesem Grund kann behauptet werden, dass Kelsens Reine Rechtslehre eine Theorie der Rechtserkenntnis anbietet, die in der Tat in der Lage ist, durch die Anwendung von drei angenommenen Prämissen – Grundnorm, Normativität und Positivität – die rechtliche Natur der Phänomene, die als Rechtsphänomene zu betrachten sind, in aller Regel zu erklären und zu begründen, solange sie bereit ist, in einigen Situationen auf die ausnahmslose Erfüllung der Bedingung der Positivität zu verzichten.
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Sachverzeichnis Abänderbarkeit 134, 138 f. Akt – als Willensakt 17, 57, 59, 151 f., 160 f. – Denkakt 153 ff. – fehlerhafte Rechtsakte 113 – Inhalt eines Willensaktes 141, 152 ff. – normerzeugender 33 f., 36, 47 ff., 54, 59, 77 f., 88 ff., 93 ff., 98, 104, 112, 128, 150 ff., 160 – Sinn des Aktes 33 f., 37, 47, 49, 54, 86 f., 102 f., 141 – Sinn eines Willensaktes 10, 21, 54, 97 ff., 102, 141, 151, 153 ff. Analogie 141, 163 ff., 167 Anarchismus 21, 27 argumentum a contrario 163 ff., 167 Auslegungsmethoden 141, 145 ff., 162 Bedingtheit – rechtliche 81, 102 ff., 115, 120 Befehl 33, 36 f., 54, 99, 137, 152, 154 f. Befolgung der Normen 62 ff., 67 ff. Beschreiben – und Vorschreiben 14, 42, 55, 58, 147, 151, 171 Beschreibungsaufgabe 11 ff., 18, 20 f., 26 f., 29, 31 ff., 41 f., 46, 48, 51 ff., 63, 68, 71, 73, 80, 82, 129 f., 142, 145, 150 f., 153 ff., 169 ff. Demokratie 156 ff., 168 – undemokratische Macht 81 f. Denkökonomie 23 ff., 171 Derogation 54, 75, 79 f., 89, 107, 109, 115 ff., 120 ff., 139, 158 – und Invalidation 121 f. – und lex posterior 123 ff.
– und Stufung nach derogatorischer Kraft 102 ff., 114 ff., 138 f. – und Suspension 114 ff. Deutungsschema 33, 110 Erkenntnisobjekt 147 Ermächtigung – als rechtliches Können oder als rechtliches Müssen 17 – alternative 12, 42, 48, 50 ff., 74 ff., 82 ff., 102, 109 ff., 123, 140, 143, 145, 172, 174 – alternative Ermächtigung und Stufenbaulehre 109 ff. – bildliche Darstellung der alternativen 78, 130, 136 ff. – direkte oder alternative 42, 83 ff., 87 ff., 92 ff., 99, 104 f., 110 ff., 120, 123, 172 – indirekte Positivität der alternativen Ermächtigung 97 ff. – Maximalbedingungen und Minimalbedingungen 110 ff. Ermessen 160 Fähigkeit – rechtssetzende 109 ff., 114, 134 Fehlerkalkül 48, 83, 88, 110 ff., 120 – Stufenbau der Rechtsordnung und 109 ff. Fiktion 15, 27, 149 Gegenstand – der Rechtserkenntnis 11, 17, 29, 32 ff., 54, 57 f., 73, 85, 142, 147, 165, 171 f. – der Rechtstheorie 17, 31, 53, 84, 101, 150, 169, 171 f.
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Sachverzeichnis
– des Rechts 11, 14 f., 18, 31 f., 46 ff., 53 ff., 57 ff., 141 f., 171 Geltung 14, 16 f., 22, 27, 32, 38, 160 – als Verbindlichkeit oder als Zugehörigkeit 70 ff. – Bedeutung der 11, 53 ff., 172 – Begründung der Geltung 12, 15 f., 18, 21, 41 f., 46 ff., 74 ff., 148 – und Wirksamkeit 18, 23 f., 29, 35, 69 ff., 171 Geltungsgrund des Rechts 27, 49, 81, 87 Gewohnheitsrecht 33, 54, 77 f., 80, 82, 92 ff., 117 ff., 123 ff., 152, 168 f. Grundnorm – als Fiktion 15 – als Hypothese 15 Grundprämissen 11, 13 ff., 87, 171, 175 Hierarchie 49 f., 101 ff., 109 f., 113 ff., 131 ff., 139 Hypothese 95 – hypothetische Urteile 54 – Reine Rechtslehre als 13 ff., 30, 171 Interessenabwägung 141, 163 ff. Interpretation – als Erkenntnis- und Willensakt 160 ff. – Arten von 141 ff. – authentische 141 ff. – Definition von 144 f. – demokratische Legitimität und 156 ff. – erkenntnismäßige 142 f., 145, 150, 160 f. – Gegenstand der 149 – historische siehe subjektive Interpretation – Interpretationsmitteln 163 ff. – Mehrdeutigkeit und 75, 146 ff., 160 ff., 169, 173 – Methoden der 145 ff. – nichtauthentische 141 f. – Notwendigkeit der 12, 150 – objektive 146, 149, 152
– Phänomenen der 141 ff., 150 f., 155 f., 161 ff., 165, 167, 169 f. – rechtswissenschaftliche 141 ff., 145 ff., 170 – subjektive 149, 152, 156 – und Wille des Gesetzgebers 149, 157 ff. Invalidation 120 ff. Kausalität 16, 55 ff. Kausalwissenschaften 29 Kraft – derogatorische Kraft 102 f., 114 ff., 120, 132, 134, 138 f. – rechtssetzende Kraft 102 ff., 132 ff. – suspensive Kraft 119 f. Legitimierung der Macht 28, 81 ff. Legitimität – demokratische 156 ff. lex posterior 90, 121, 124 ff., 173 f. Macht und Recht 20 ff., 26 ff., 31, 81 ff. Mehrdeutigkeit 75, 146 ff., 155, 159 ff., 169, 173 Mehrheit – Interessen der 156 ff. – und Minderheit 157 Methodensynkretismus 40, 65, 67 f., 72 f., 172 Midas 92 Naturgesetze 18, 56 ff. Naturrechtslehre 29 ff., 167 ff. Naturwissenschaften 18, 55 ff. Nichtigkeit siehe Vernichtbarkeit Norm – absolut und relativ normgemäße 74 ff., 83 ff., 97, 104 f., 110 ff., 116, 133 ff., 139, 143 – individuelle oder generelle 32 ff., 46 ff., 51, 56, 60, 63, 75, 85, 89, 94, 96, 117 f., 123, 131 ff., 144, 160, 166
Sachverzeichnis – selbständige und unselbständige 60 ff., 68, 72 f. Normadressat 93, 97 f., 100, 136, 138 Normativität des Rechts 11, 13 ff., 28, 30, 78, 93, 171, 174 f. Normbefolgung siehe Rechtsnorm, Befolgung und Nichtbefolgung Normenkonflikte 12, 35, 74 ff., 85, 101, 104 ff., 120 ff., 173 Normtext 33, 73, 75, 141, 143 ff., 165, 167, 169, 173 f. Normwidrigkeit 64, 74 f., 82, 84 ff., 96 ff., 102, 111 ff., 117, 121 f., 129 f., 136 Ohnmacht der Normadressaten 83, 93, 97 ff., 111 Positivität 11 ff., 30 f., 77, 81 f., 87 ff., 91 ff., 97 ff., 113, 119, 127 ff., 167, 169, 171 ff. Prämissen 11, 13 ff., 50, 87, 171, 174 f. Rahmen – normativer 47, 50, 59, 74 f., 78, 83 ff., 92 ff., 102, 106 f., 112, 132, 141 ff., 160 ff., 172, 174 Rechtmäßigkeit 94, 97, 100 – als absolut normgemäß 75 Rechtsantlitz – doppeltes 81 Rechtsanwendung – und Rechtserzeugung 51 f., 75, 81, 97, 99, 112 f., 132, 136, 138, 143 ff., 151, 156, 160 f., 163, 165 f., 173 f. Rechtserzeugungsformen 102 f., 107, 114 f., 119 ff., 124, 131 f., 134 ff., siehe Rechtssatzformen Rechtsfolge 59 ff., 85, 110, 163 Rechtskraft 48, 59, 88 ff., 94, 144, 166 Rechtsmaterial 33 Rechtsnorm – als Deutungsschema siehe Deutungsschema
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– als Gegenstand siehe Gegenstand – als objektiver Sinn eines Willensaktes siehe Willensakt – Befolgung und Nichtbefolgung 62, 64, 67, 69 – primäre und sekundäre 67 Rechtsorgane 17, 33, 36 f., 41, 47, 73, 143 f., 160 Rechtsphänomen 11 ff., 19 f., 25 f., 29 ff., 42, 50 ff., 58, 74 f., 80 ff., 100, 112 f., 122, 129, 140 ff., 150 f., 156, 161 ff. Rechtspyramide 131 f. Rechtsquellen 19, 93, 119, 127 f., 144 ff., 163 f., 167 ff., 174 Rechtssatz 11, 22 f., 29, 44, 53 ff., 63, 70, 73, 103, 115, 172 Rechtssatzformen 103, 108, siehe Rechtserzeugungsformen Rechtsselbsterzeugung 113 Rechtssoziologie 20 Rechtsunterworfenen 65 f., 72, 107, 137, 156 Rechtswissenschaft 14, 18, 23, 38, 41 ff., 49, 53 ff., 69, 71, 81, 101, 112 f., 130, 145, 171 f., siehe rechtswissenschaftliche Interpretation Reinheit 29 Sanktion 37, 59 ff. Sollen 24, 29, 72, 106, 146 f., 149, 151, 154 ff., 172 – deskriptives 54 f., 58, 151 Staat 20 f., 23 f., 70, 73, 103, 156, 160 Stufenbau 12, 74, 76, 101 ff., 140, 173 – Analogie und bildliche Darstellung 130 ff. – derogatorischen Kraft, nach der 106 ff. – rechtlichen Bedingtheit, nach der 106 ff. Stufungen 101 ff., 114 f. – bildliche Darstellung der 130 ff.
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Sachverzeichnis
Tatbestand 22, 33 f., 45, 53 ff., 62, 72 f., 76 f., 87, 117, 124, 127 f., 144, 151 f., 163
– Nichtigkeit oder 88, 90 ff., 110 ff.
Unabänderbarkeit 88 ff., 93, 126, 134, 138 f.
– fingierter 15
Verfassung 18, 45, 48 f., 76 ff., 91 f., 94 ff., 104 ff., 120 ff., 130 ff., 140, 163 f. – im formellen und materiellen Sinne 76 ff. – Verfassungswidrigkeit 91 f., 98, 102, 105, 111 f., 117, 121 f., 131 ff. Vernichtbarkeit 48, 64, 90 ff., 116 ff., 122, 124
Willensakt 11, 17, 57, 160 f. – Inhalt und Sinn des 141, 149, 152 ff. – objektiver und subjektiver Sinn eines 21, 54, 86, 97 ff., 102, 153 ff. Wirksamkeit 18 f., 23 ff., 28 ff., 35 ff., 50, 53, 64 ff., 75 ff., 92 f., 123 f., 140, 171 ff. Zurechnung 53, 55 ff. Zwangsakt 37, 47 ff., 57, 61, 63 ff., 106, 123, 161