Kein siebenter Tag: Kindheit in der Einschicht 9783205790891, 9783205785804

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Kein siebenter Tag: Kindheit in der Einschicht
 9783205790891, 9783205785804

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Damit es nicht verlorengeht … 63

Begründet von Michael Mitterauer. Herausgegeben vom Verein „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien

Elisabeth Glettler

Kein siebenter Tag Kindheit in der Einschicht Bearbeitet von Edith Auer

BÖHLAU VERLAG WIEN · KÖLN · WEIMAR

Gedruckt mit Unterstützung durch das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung das Amt der Steiermärkischen Landesregierung die Diözese Graz-Seckau Bildnachweis: Titelbild: Elisabeth Glettler mit Ziehbruder Walter (links) und zwei Nachbarbuben (etwa 1949) Foto auf Buchrückseite: Die Schloßmoarhütte (1980er Jahre), das Haus steht seit über 50 Jahren leer Alle Fotos stammen aus dem Besitz der Autorin oder ihrer Angehörigen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78580-4 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, ­insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von ­­Abbil­dungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ­ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur ­auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2010 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H und Co. KG., Wien . Köln . Weimar http://www.boehlau.at Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier Druck: Arrabona Print, H-9027 Györ

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Grabenleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Wie die Mutter in den Graben zog . . . . . . . . . . . . . . 9 Frühe Pflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Als die Tiefflieger kamen – Ostern 1945 . . . . . . . . . . 16. Der Krieg ist aus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Kind – Stiefkind – Ziehkind – Pflegekind . . . . . . . . . . 25 In der Dorfkirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 In der Dorfschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Der erste Schultag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Das Schulgebet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44. Lesen – Schreiben – Rechnen . . . . . . . . . . . . . . . 45. Wahre und unwahre Geschichten . . . . . . . . . . . . 48 Geschicklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Von der Reinlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Schulausflüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Beim Kaufmann Wieser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56. Einkaufen in der Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . 56 Weit mehr als ein Kramerladen . . . . . . . . . . . . . . 61 Häuser und Höfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Keuschen, Hütten und Huben . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Die Kästen waren niemals voll . . . . . . . . . . . . . . 69. Zwischen Dorf und Graben . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Die Schloßmoarhütte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Daheim im Graben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80. Essen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Orangen zu Weihnachten 1945 . . . . . . . . . . . . . . 84 Nachkriegsbrot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Erdäpfel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

Sonntagskleid und Werktagsgewand . . . . . . . . . . . . 99 Kein siebenter Tag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Kranksein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Ferndiagnosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Kein Schutz vor Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . 119. Salben und Wickel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Frühes Sterben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Vielerlei Gebrechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Der letzte Grabensommer . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Aussiedeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

Im Jahreslauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Frühling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ostern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Osterei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Georgitag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von Lämmern und Kitzen . . . . . . . . . . . . . . . . Almauftrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fronleichnam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sommer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beerenzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Kuckuck lernt fliegen . . . . . . . . . . . . . . . . Von den Höhen ins Dorf . . . . . . . . . . . . . . . . . Ernten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Winter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorweihnachtszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heilige und unheilige Gestalten . . . . . . . . . . . . . . Die Weihnachtsauslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . Holzführen und Schlittenfahren . . . . . . . . . . . . . Abstechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das lange Warten am 24. Dezember . . . . . . . . . . Als das Christkind endlich kam . . . . . . . . . . . . . Christtag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

147 152 156. 158 166 168 169 171 173 180 180 181 183 186 187. 190 195 197 201 204 211 214

Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

Vorwort Im Alter von sechs Monaten kam ich 1940 als Ziehkind in die Familie Pojer, und fortan sollte sie meine Familie sein, mit Ziehvater, Ziehmutter und drei Ziehgeschwistern. „Kannst du dich erinnern?“ Mit dieser Frage begannen wir häufig die Gespräche, wenn wir viel später bei der Mutter zusammenkamen oder an einem der Orte, wo wir uns niedergelassen hatten, nachdem wir erwachsen geworden waren. Wir merkten, dass der Faden zu unserer Kinderheimat im Graben nicht abgerissen war. Manche Ereignisse – gute wie schlechte – hatten sich in einer Intensität eingeprägt, als ob sie erst gestern gewesen wären, andere wieder waren verschollen, Gott weiß warum! Gemeinsam blätterten wir im Buch der Erinnerungen, und manche Seiten „lasen“ wir unseren jetzigen Familien vor. So wollten wir es noch lange halten. 1986 starb der ältere Ziehbruder Karl mit nur vierundfünfzig Jahren, 1998 starb auch die Ziehmutter im neunundachtzigsten Lebensjahr. Wir, die wir übrig geblieben waren, trafen uns nun bei der älteren Schwester bzw. Ziehschwester Herta in Pöls. Noch häufiger als bisher verwendeten wir die Redewendung vom Erinnern und bedauerten, dass die Mutter und der Bruder uns nichts mehr sagen konnten. Im August 2007 musste der jüngere Ziehbruder Walter wegen eines Kopftumors operiert werden. „Du musst wieder gesund werden, wir möchten gemeinsam den Weg in den Graben gehen zu Peter und Paul, wenn der Almrausch blüht“, das war der Wunsch von Herta. Er sollte sich nicht mehr erfüllen. Da wusste ich es! Ich musste Walter, dem kleinen Ziehbruder von damals, die Geschichten irgendwie erzählen, sie ihm aufgeschrieben bringen. Sie ihm vorlesen und ihm damit aus 7

der Krankenstube heraushelfen, ihn hineinbegleiten in die lichte Zeit der Kindheit im Graben. So manche Geschichte entlockte ihm noch ein Lächeln. Er starb vor der Zeit, im November 2008, im Alter von siebenundsechzig Jahren. Die Geschichten, wie sie hier aufgeschrieben sind, haben ihn nicht mehr erreicht. Sie sind mit dem Titel „Kein siebenter Tag“ überschrieben. Dieser Satz ist ein Fragment aus der Antwort meiner Mutter auf das Sonntagsgebot: „Am siebenten Tage sollst du ruhen!“ Ich widme sie meinem kleinen Ziehbruder Walter, der mich in längst vergangenen Tagen durch unsere Grabenkindheit begleitete.

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Grabenleben Wie die Mutter in den Graben zog „Im 36er-Johr woa’s dann so weit, mia san endgültig zsaumzogn.“ Wie oft mag die Mutter diesen Satz gesagt haben, immer dann, wenn sie daranging, ihr Leben aufzurollen. Sie teilte es ein in das „Zuvor“ bis 1936, in die Spanne eines guten Jahrzehnts Familienleben bis zum Tod des Vaters 1948 und schließlich in das „Danach“, das ein halbes Jahrhundert währen sollte. Je älter sie wurde, desto genauer vermochte sie die Zeit zu schildern, als sie jung war. 1915 war sie, kaum sechsjährig, ihrem Vater frühmorgens durch die taunasse Wiese nachgelaufen, um sich noch einmal zu verabschieden, bevor er in den Krieg zog, aus dem er nicht mehr zurückkehren sollte. Als sie zwölf Jahre alt war – eine Reihe von Geschwistern tummelte sich in den niedrigen Räumen und drängte sich um den Tisch, an dem es kaum ein Sattwerden gab –, verließ sie das enge Haus, die Mutter und die Geschwister. Beim Ertl, einem Großbauern in Gusterheim, wurde sie sozusagen aus Barmherzigkeit aufgenommen, geradeso wie zwei Jahre vorher der ältere Bruder Franz beim Großbauern Hainzl. Nicht mehr Schulkind und noch nicht Dirn, ohne Recht und ohne Lohn, war sie doch froh, sich satt essen und sich sogar für die Mutter und die jüngeren Geschwister noch etwas „vom Mund absparen“ zu können. Der Kindheit entwachsen, verdingte sie sich auf wechselnden Plätzen bei Bauern, Wirtsleuten und in einem vornehmen jüdischen Haushalt, freute sich über die karge Freizeit und über das wenige Geld, das sie verdiente. Sie träumte von einem vornehmen Stadthaushalt, in dem sie Kochen und Nähen lernen könnte, was zur damaligen Zeit aber Töchtern aus vornehmen Familien und Bauerntöchtern vorbe9

halten war. Auch manche Lustbarkeit, worunter sie Tanzen und Singen verstand, erträumte sie sich, und eine heimliche Liebschaft mit einem feschen, jungen Burschen, die sie auskosten wollte. Als im Dreißigerjahr ihre Tochter Herta zur Welt kam, war der Traum von der Stadt ausgeträumt. Die Ausgesteuerten gaben sich landauf, landab bei der Bitte nach Brot und Arbeit die Klinke in die Hand. Niemand wusste, ob er seine Arbeit behalten würde, auch nicht der Vater des Kindes, der in der Papierfabrik Pöls arbeitete. Er erhoffte sich eine bessere Zukunft draußen im Reich, wo mit Hitler eine neue Zeit anzubrechen schien. Somit war sie wieder allein angekommen. Froh, das Kind bei ihrer Mutter aufgehoben zu wissen, arbeitete sie weiterhin in der dörflichen Welt. Ohne Wohnung, worunter sie sich ohnehin nur Zimmer und Küche vorstellte, war auch dann nicht an Heirat zu denken, als 1932 ein weiteres Kind, ein Bub, zur Welt kam, der den Namen Karl erhielt. Der Vater des Buben war als uneheliches Kind einer schon etwas älteren Magd in der Schloßmoarhütte geboren worden und hatte – mit kurzen Unterbrechungen – immer dort mit seiner Mutter, die inzwischen hochbetagt war, gelebt. Er verdingte sich als Bauernknecht, später als Holzknecht und wollte, dass die Tini, die Mutter seines Buben und meine spätere Ziehmutter, in den Graben ziehe, es werde schon genug Platz sein. Sie scheute jedoch den Graben und seine Abgeschiedenheit, weil sie sah, dass sie dann nichts mehr verdienen konnte. So kam der Bub vorerst zu Frau Rinder in Pflege, die neben den eigenen Kindern immer auch fremde Kinder betreute, und die Ziehmutter verdingte sich nun beim selben Bauern wie „der Pojer“, wie sie den Kindsvater und meinen späteren Ziehvater zu nennen pflegte. Ihre Erzählungen haben sich mir in der Art und in der Sprache eingeprägt, wie sie der Mutter zu eigen waren: „Sie hot guat auf’n Buam gschaut, die Rinderin, und später a sei Großmuatta drin im Grobn, oba i wollt amol selber auf meine zwoa Kinder schaun. So hob i dem Pojer zuagsogt, wollt in Gotts Naum in Grobn einiziagn und ’s Dirndl nochkumman lossn. 10

Im 36er-Johr san Haus und Stall abbrennt. Mit dem, wos ma am Leib ghobt haum, san ma dogstaundn. Da Schloßmoar hot ois aufbaun lossn. Schea woa des neiche Haus, in des ma ­hiatz einzogn san, da Vatta, i und die zwoa Kinder. Und es hätt a guate Zeit anbrechen kennan. Vül alloan woa i holt, wia die Schwiegamuatta gstorbn is. Der Grobn woa so still und fremd, die kloan Kinder woan mi net gwöhnt, sie haum vül grehrt dozumol. Langsam is as besser worden, mia haum vom Heiraten gredt. Mit’n Hitler is die Heiratsbeihülf kemman, so haum ma gheirat, am 30. September ’39, an Monat, nochdem da Kriag an­gfangan hat. Net mit an weißen Gwand, wia i mia’s datramt hob, oba kirchli haum ma gheirat, waun a die Nazi im Dorf des net gern gsegn haum. Beim Gasthaus Wieser woa die Unterholtung, die zwoa Kinder und die Verwandten haum si mit uns gfreit. Mia haum uns a Schlofzimmer kaft und a Nähmaschin, die olte is jo abbrennt. Später haum ma uns a Kuah angschofft. Mein Gott, woa des a Freid. ’s erste Mal hot ma denken kennan, dass ma aus’n Gröbsten heraußen san, trotz’n Kriag. Im 41er-Johr is der Walter auf d’ Welt kumman, a holbs Johr vorher hob i die Lisi als Ziehkind angnumman. Im 42er-Johr hot da Vatta einrucken miassn und erscht im 45er-Johr, im Herbst, is er hoamkumman. G’orbeitet haum ma, nix wie g’orbeitet. Na, ganz so woa’s net, i hob mi angwöhnt ghobt im Grobn, es woa unser Dahoam, die Leit haum zsaumgholtn und haum si gegenseiti gholfn. Die großen Kinder haum vül orbeitn miassn, wia überoll holt. Haum eh net immer wollen, wia Kinder holt san. Do hob i streng sein miassn. So woa’s holt. In der Welt draußen muass es ja furchtbar zuagangen sein im Kriag. Je länger dass er dauert hot, je mehr hot ma nur mehr davon gredt, ob denn da Mau, da Vatta bold hoamkammat. Drei Johr haum ma dann miteinander noch ghobt, schwere und scheane zgleich. Sei Krankheit hot er mitbrocht aus der Gfangenschaft, des raue Leben do drinnen im Grobn hot mit­ gholfn, dass er friah hoamgangen is, wia ma sogt. So woa’s holt.“ 11

Wir Kinder lebten und erlebten den Graben auf unsere Weise. Häufig verstand es die Mutter, die Härte des Grabenlebens zu mildern, manchmal wurde sie uns aber auch zugemutet. Die Lebenslust und die Fantasie ließen uns unsere kleine, enge Welt oft aufregend und einmalig erscheinen, manches Mal bedauerten wir die Abgeschiedenheit. Als wir aus dem Graben ausgezogen waren, tat es weh, bis die Vertrautheit mit dem Dorf wuchs. Vergessen haben wir die Grabenkindheit nie.

Frühe Pflichten Die Geschwister hatten kaum die Küche betreten, waren müde, und das beileibe nicht von den vier Stunden Unterricht, sondern von dem, was genauso selbstverständlich war wie jeden Tag in die Schule zu gehen: von den Arbeiten, die ihnen täglich von der Mutter aufgetragen wurden. Der Vater, der sich neben seiner Arbeit als Holzknecht und der Arbeit auf dem eigenen kargen Feld auch um die Tiere des Dienstherrn Schloßmoar gekümmert hatte, war im zweiten Kriegsjahr eingezogen worden. Der Mutter war neben der Sorge um die vier Kinder die ganze Arbeit geblieben. Wenn sie, wie an jenem Sommertag, frühzeitig die Kühe vom Schloßmoar gemolken hatte, waren auch die älteren Ziehgeschwister – noch lange nicht vierzehn Jahre alt – schon aufgestanden, hatten die Frühsuppe gelöffelt, das Jausenbrot eingepackt und die Schultasche auf den Rücken genommen. „Passts ma auf, dass’ ka Milch vaschütts, mia kimmp fia, ihr holtats ’n Stecken schief“, mahnte die Mutter, wenn die Geschwister mit Hilfe eines Stockes die Milchkanne in die Mitte nahmen und sich auf den Weg machten. Den Sommer über musste auf diese Weise fast jeden Tag Milch aus dem Graben über die Murbrücke hinüber zum Schloßmoar in Nußdorf getragen werden. Dabei musste man gleichzeitig schnell und ruhig gehen, damit die Milch nicht überschwappte. Um acht Uhr, pünktlich mit dem Glockenton, hatten sie dann in der Schule zu sein, wollten sie nicht vom Oberlehrer Auer bestraft werden: 12

durch Kopfstücke, die er sich für Buben ausdachte, und durch kräftiges Reißen an den Zöpfen der Mädchen. Trafen sie die Schloßmoarin selbst an, gab es manches Mal etwas Gutes als Belohnung. Am Wochenende galt es, nach der Schule vom Kaufhaus Wieser Lebensmittel, Soda, Petroleum oder Hühnerfutter mitzubringen sowie die Schuhe vom Schuster abzuholen, die wegen des steinigen Weges ins Dorf ­häufig neu genagelt werden mussten. Am Tisch stand dann gewöhnlich ein Teller mit einfacher Kost wie Erdäpfelgulasch oder Erdäpfelsterz, manchmal auch eine Leibspeise wie Schmarren und Preiselbeersauce, das erste warme Essen nach acht Stunden. Der kleine Bruder lag im Kinderwagen, ich stand auf wackeligen Beinen daneben. Wir sollten „ausgeführt“ werden, den holprigen Weg entlang und wieder zurück. Wenn ich müde sei, solle der Ziehbruder mich tragen oder vorne auf den Kinderwagen setzen, im Übrigen sollten die großen Geschwister Acht geben und keine Dummheiten machen. Die beiden machten sich auf, schoben den Wagen und trugen mich abwechselnd, setzten mich schließlich auf den Kinderwagen. Zum Spielen war selten Zeit, daher suchten sie sich Nischen, wo es trotzdem möglich war. Sie fuhren abwechselnd mit dem Kinderwagen, wer schneller war, hatte gewonnen. Auf eins, zwei, drei lief jeweils einer von ihnen mit dem Wagen los, drehte um, bei zehn sollte er wieder zurück sein – sollte! Es lief vortrefflich, bis sich ein größerer Stein den Rädern entgegenstellte. Wir wurden aus dem Wagen geworfen und landeten unsanft am Abhang. Sie luden uns wieder ein, beruhigten uns, untersuchten uns auf Verletzungen, schaukelten uns, brachten uns mit Späßen zum Lachen. Sie konnten sich nicht genugtun, uns gut gelaunt nach Hause zu bringen, konnten aber ihre Unruhe kaum vor der Mutter verbergen. Sie hatte nämlich schon öfters erzählt, dass jemand „dumm“ geworden war, weil er mit dem Kopf aufgefallen war. Die Mutter konnte sich das auffällige Bemühen der beiden um uns, das sie noch länger fortsetzten, nicht erklären. Viel später, als auch mein kleiner Ziehbruder zu sprechen anfing, stellten beide zufrieden fest: „Sie sind nicht 13

dumm geworden!“ Warum sie uns ein mögliches „Dummsein“ ängstlich zugesprochen hatten, sagten sie damals nicht, zu hart wären die Strafen ausgefallen. Nach dieser Ausfahrt wartete die Mutter schon mit neuer Arbeit, die dann bis zum Abend anhielt. Holz hacken war es häufig für den Bruder, Windeln waschen für die Schwester, meist mussten wir nebenbei beaufsichtigt werden. Die Aufgabe wurde bei Petroleumlicht gemacht. Der nächste und alle weiteren Tage liefen gleich ab: Arbeit, Schule, Arbeit, am Sonntag Heimstunde der Hitlerjugend, Heilkräutersammeln für die Soldaten draußen im Feld und ab und zu ein bisschen Freizeit – zu wenig für Kinder. Beide Geschwister wären wohl gerne nach dem Unterricht noch eine Weile im Dorf geblieben, um mit den Dorfkindern zu spielen, weg von der Einsamkeit des Grabens, weg von der Arbeit und den Verpflichtungen. Sie liebten uns kleine Geschwister, die, obwohl sie so viel Arbeit machten, der Mutter näher standen als sie. Die Mutter war auf verschiedenen Höfen „im Dienst“ gewesen, auch dann noch, als die beiden älteren Ziehgeschwister Herta und Karl schon da waren, die sie in den ersten Lebensjahren nicht bei sich behalten konnte. Herta war bei der Großmutter in Enzersdorf in Pflege, Karl bei Frau Rinder in Pichlhofen. So freute sie sich nun, dass sie unserem Wachsen zusehen konnte. Die Großen wurden von der Mutter streng gehalten wie in anderen Familien auch. So war es schon bei ihrer Mutter gewesen und bei der Großmutter ebenso. „Des woa holt so“, mit diesem Satz wurde ein Gespräch über Kindheit früher beendet. So zogen das dritte und vierte Kriegsjahr ins Land, das fünfte und sechste. Die Tage gingen gleichmäßig dahin, waren mit Arbeit angefüllt. Die Geschwister träumten oft von einer besseren Kindheit und teilten diesen Traum mit den meisten anderen Kindern in den Gräben, in den Keuschen und Hütten, aber auch mit jenen, die Ziehkinder oder Pflegekinder bei Bauern waren. Als Ausnahme bezeichneten wir Jahre später die Leitnereltern mit ihren fünf Kindern. Dort gab es keine Schläge und keine übermäßigen Belastungen, obwohl auch dort die Kinder viel arbeiten mussten. Frau Leitner hatte nur die Arbeit mit dem „Ei14

genen“, war also nicht von einem Dienstherrn abhängig wie die Mutter, so drückte sie wohl auch nicht die gleiche Last. Mit so viel Arbeit vertraut, geschickt in vielen Belangen, wurden die beiden großen Ziehgeschwister später tüchtige Menschen. Sie erzählten von der Kindheit im Graben und davon, dass es ein mühevolleres Leben war als jenes der meisten Dorfkinder. Sie erzählten aber auch von den kargen Freuden, dass die Mutter trotz aller Sorge häufig mit ihnen sang und „ein gutes Herz hatte“. Sie erzählten, wie Mutter sie stets verteidigte, wenn jemand etwas Schlechtes über die Geschwister zu sagen wagte. Als die Ziehschwester Herta mit knapp vierzehn Jahren von zu Hause fortging, musste der große Ziehbruder Karl noch vier Jahre ausharren. Er war oft für uns verantwortlich, lehrte uns verschiedene Arbeiten, schnitzte uns aber auch Maipfeiferln und Holztiere, faltete aus Zeitungspapier kleine Schiffchen, die wir im Brunnentrog fahren ließen. Karl nahm uns, häufig nicht ganz freiwillig, mit in den Wald, wo er uns – auf sich allein gestellt – oft stundenlang beaufsichtigen musste. Er mag etwa dreizehn Jahre alt gewesen sein und ich fünf, als er mich zum Schwarzbeerensuchen mitnehmen musste. Er hatte wohl nicht mit meinem schlechten Orientierungsvermögen gerechnet und mit meiner Ungeduld, wenn etwas länger dauerte. Ich hatte ihm eine Zeit lang beim Riffeln geholfen, als er mir befahl, bei einem bestimmten Baum sitzen zu bleiben, bis er mich wieder abhole. Ich versprach es ihm. Er wollte noch höher hinaufgehen, dorthin, wo er vor Wochen viele Schwarzbeeren gesehen hatte, die zum Pflücken aber noch zu grün gewesen waren. Als er längere Zeit nicht zurückkam, entschloss ich mich, ihn suchen zu gehen. Da er ja gesagt hatte, er wolle bergauf gehen, tat ich dasselbe. Nach einiger Zeit hörte das Schwarzbeerlaub auf, das dichter werdende Himbeergestrüpp ließ keinen Weg frei. Ich begann, seinen Namen zu rufen, aber es kam nur gelegentlich das Echo zurück, sonst nichts. Ich ging abwärts und erreichte wieder das Schwarzbeerlaub, aber es sah hier fremd aus, den Baum, bei dem er mich zurückgelassen hatte, fand ich nicht mehr. 15

Mir fielen Geschichten von Wilderern ein, die die Mutter häufig erzählte, die Geschichte von Zigeunern, die einmal das Kind von Bauern mitgenommen hätten. Ich glaubte, verdächtige Geräusche zu hören, wich zurück, begann zu laufen, blieb stehen, rief immer wieder den Namen meines Bruders, lief weiter. Müde von dem Bergauf und Bergab, das Gesicht vom Weinen nass – ich erinnere mich, dass ich mir die Tränen und den Rotz immerfort mit der Schürze abwischte – und heiser vom Rufen, muss ich wohl eingeschlafen sein. Es war schon fast dunkel, als er mich fand. Dann ging es den weiten Weg nach Hause. Die Mutter, froh, dass wir endlich da waren, machte dem Bruder Vorwürfe, nicht genug aufgepasst zu haben. Am nächsten Tag versuchte ich, von Schuldgefühlen geplagt, alles zu tun, wovon ich wusste, dass es ihn freute: Holz tragen, Schuhe putzen, ihm, der ständig hungrig war, etwas vom Essen abgeben. Es geschah leider zu oft, dass wir Karl „Umstände machten“, ihn bei der Mutter verklagten, also „schiagen“ gingen. Sie hielt fast immer zu uns Jüngeren, und wir wussten dies auszunützen. So hat er häufig unsertwegen Strafen bekommen. Damals haben wir das nicht verstanden, eine Ausnahme war dieser Tag im Schwarzbeerschlag, als ich verloren ging.

Als die Tiefflieger kamen – Ostern 1945 Wie jedes Jahr zuvor schaute der Winter noch grimmig vom Weißeck herunter. Beim Haus aber, dort, wo an schönen Tagen die Sonnenstrahlen schon hinreichten, wagte sich zaghaft das erste Grün heraus, und draußen auf der Wiese, wo weit und breit kein Schatten hinfiel, konnte es passieren, dass schon ein Leberblümchen aufgeblüht war. Ostern nahte. Die Mutter begann, die Wiese aufzurechen und das Feld von Steinen zu säubern. Wir waren angehalten zu helfen, wo es nur ging. Aber als Kinder, die noch klein waren, nahmen wir die Arbeit nicht so ernst, wie es die Mutter gerne gehabt hätte. Herta war im Pflichtjahr von 1944 bis 1945 der Verwalterfamilie Pötsch zugeteilt worden, mit der sie in einem 16

schönen Blockhaus mitten im Dorf wohnte. Karl war an den wenigen ruhigen Tagen, an denen es noch Unterricht gab, in der Schule. Meist war er aber – trotz seiner erst dreizehn Jahre – damit beschäftigt, Kleinholz herbeizuschaffen oder den Stall zu putzen, also alle Männerarbeiten zu machen, weil der Vater lange schon im Krieg war. Während der ganzen Karwoche war es immer nur für kurze Zeit möglich, mit der Arbeit fortzufahren. In die Stille hinein, die sonst im Graben herrschte, drang nun häufig ein lang gezogenes Heulen, ein Surren, das zu einem Dröhnen anschwoll – dann waren sie da, die silbernen Vögel. Sie zogen über das Weiß­eck und verschwanden wieder, den Lärm nahmen sie mit, der Spuk war vorbei. Er sollte sich wiederholen für Stunden und Tage. Was für uns Kinder in der Einöde in unserer Unwissenheit eine höchst willkommene Abwechslung darstellte, war ein Teil des Krieges, der draußen tobte. Die Flugzeuge, beladen mit Bomben, suchten sich immer neue Ziele, nun schon ganz nahe. Der große Krieg hatte unser Tal erreicht. Die Mutter wurde von Unruhe ergriffen, sobald wir weiter von ihr fortgingen. Wir liebten dieses Schauspiel, konnten ihre Angst nicht verstehen und gehorchten unwillig, wenn wir wieder einmal das Haus nicht verlassen durften. Karsamstag. Ein Tag, der, wie wir in Friedenszeiten erfahren sollten, ausgefüllt war mit geschäftigen Vorbereitungen auf das Osterfest. Auf die Fleischweihe – waren die Körbe auch bescheiden –, die Auferstehungsfeier in der Dorfkirche, die Prozession durch das Dorf und das Halleluja in der Kirche freuten sich die Dörfler ebenso wie die Bewohner der Gräben. Wir hatten von all dem noch nichts verstanden, liebten aber das ganze Gepränge rundherum. Durch die Politik und die damit verbundenen schweren Zeiten, wie es der Pfarrer unvorsichtigerweise einmal in Anwesenheit eines überzeugten Nationalsozialisten ausdrückte, war manchen Menschen der Glaube abhandengekommen, die Tradition aber war eingemeißelt. Für uns Kinder war der Karsamstag, frei von allen Nöten, der Tag des Moossuchens für das Osternest, wenn man wollte, dass der Osterhase am frühen Ostermorgen die bunten Eier hineinlegte. 17

Karsamstag 1945. Die großen Geschwister waren nach Hause gekommen und hatten hastig erzählt, was sie im Dorf vernommen hatten: Überall im Land waren während der Karwoche schon Bomben gefallen, niemand wusste, wann das eigene Haus, das eigene Leben dran war. Zu der Zeit, zu der wir uns auf den Weg ins Dorf machen mussten, wenn wir bei der Fleischweihe und später bei der „Auferstehung“ dabei sein wollten, sagte die Mutter mit leiser, aber fester Stimme, die keine Entgegnung zuließ: „Mia bleiben dahoam, der Herrgott wird’s verzeihen!“ Als es dunkel geworden war, band sie sich eine frische Schürze um, richtete uns ein sauberes Gewand, band uns Kleinen die Schuhe zu und nahm den Weihkorb. Die Großen trugen die Stalllaterne, die Kerze, das Anzündholz und altes Zeitungspapier. Auf einer kleinen Anhöhe nahe beim Haus hatte der große Bruder einen Stoß aus „Prügeln“ und kleinen Fichtenästen aufgeschichtet. Auf diese Arbeit hatte Karl sich schon die ganze Woche gefreut. Unsere Hilfsangebote nahm er nur ungern an, wir durften zwar die Zweige zusammentragen, aufschichten wollte er sie allein, ohne unser Zutun. Galt es doch, einen ebenmäßigen Haufen zustande zu bringen, so fest geschichtet, dass ihn kein Windstoß verwehen konnte, aber so luftig, dass das Feuer genug Nahrung hatte. Im Schein der Laterne waren seine gespannten Gesichtszüge zu erkennen, als er das Papier entzündete und das Feuer rasch auf die trockenen Äste übergriff. Dann stellte er sich hin, ruhig, wie in der Kirchenbank. Herta drückte Walter die Kerze in die Hand und ermahnte ihn leise, sie gerade zu halten. Die Mutter stellte den Weihkorb vorsichtig ab, bekreuzigte sich und begann zu beten, wie sie es auch zu Weihnachten zu tun pflegte. Ich weiß nicht mehr, wer mit ihren Gebeten bedacht wurde, es ist mir nur noch in Erinnerung geblieben, wie sie sagte: „Herrgott, loss Frieden werdn und ’n Vatta gsund aus’n Kriag hoamkemman!“ Sie bekreuzigte sich wieder und zündete die Kerze an, die mein kleiner Bruder mit großer Ernsthaftigkeit hielt. Dann tauchte sie einen Zweig in das Weihwassergefäß, das ich halten durfte, besprengte damit den Weihkorb und schließlich auch uns, wir bekreuzigten uns nochmals. Nun war 18

es endgültig so feierlich geworden wie in der Kirche! Die Kerze war bald zur Hälfte heruntergebrannt. „Lösch ab“, sagte die Mutter zum großen Bruder, „wer woaß, ob’s nächste Ostern scho welche zan Kafn gibt!“ Da wurde die Aufmerksamkeit meines kleinen Bruders auf den Himmel gelenkt. Über dem Dorf draußen hatte er sich orangerot verfärbt, und wenn man genauer hinsah, schienen Flammen zu züngeln. Die Mutter und wohl auch die großen Geschwister wussten, dass wahr geworden war, was die Menschen draußen im Dorf und in den Städten immer gefürchtet hatten: Der Bahnhof in Knittelfeld brannte und mit ihm die ganze Stadt. Ein gigantisches Osterfeuer, das sich niemand gewünscht hatte, das uns Kindern aber wundersam vorkam, auch wenn wir aus den Mienen der Großen den Ernst ablesen konnten, den gleichen Ernst und die Gespanntheit, die unsere Mutter schon während der ganzen Karwoche 1945 begleitet hatten. Sie hielt den großen Bruder an, das Osterfeuer auszudämpfen und löschte die Kerze. Wir mussten uns hastig aufmachen, die Anhöhe hinunter, hinein in das verdunkelte Haus. Zu gefährlich erschienen ihr nun das Osterfeuer und der Schein der Kerze, die kurz zuvor noch einen geheimen Glanz verbreitet hatten. Wir Kleinen schüttelten in der vertrauten Stube die Gespenstigkeit ab und freuten uns über das lang ersehnte Ostermahl. Still war es, stiller als an den Feiertagen vorher und nachher. Am frühen Ostermorgen ging es ans Eiersuchen, damit war für uns Kinder die Welt wieder in Ordnung.

Der Krieg ist aus Da wir des Lesens und der Schriftsprache noch unkundig waren und die Stimme aus dem Radio bisher erst ein einziges Mal im Forsthäusl vom Baumgartner, das der Jäger und Förster Lackner bewohnte, gehört hatten, erfuhren wir selten Neuigkeiten, und wenn, dann von Menschen, mit denen wir im Dorf zusammentrafen, vornehmlich aber durch die Mutter und die großen Geschwister. Dennoch hat sich uns ein Satz so fest wie 19

das Vaterunser eingeprägt. Es mag ein Freitag gewesen sein, die Mutter kam vom wöchentlichen Einkauf aus dem Dorf nach Hause und sprach ihn aus, den Satz, gewichtig wie das Amen in der Kirche: „Der Krieg ist aus.“ Hunderte Male hatte sie diesen Satz wohl schon gedacht und vor uns ausgesprochen, immer mit der Frage: „Wann wird das sein?“ Frieden war für sie der Inbegriff alles Guten, das damit beginnen sollte, dass der Vater aus dem Krieg heimkehrte, und dass es beim Kaufmann im Dorf wieder etwas zu kaufen gab. Es war nicht der ungeheure Luxus neuer Schuhe, den sie begehrte – nein, so verwegene Gedanken hatte sie nicht. Es sollte ein Laib Brot sein, saftig, braun, rund und groß, ausreichend für uns alle, der nicht gleich auseinanderfiel, weil er längst nicht mehr aus gutem Getreide gebacken wurde. Mit diesen Wünschen ging sie schlafen und träumte, träumte von diesem guten Brot, und dass der Vater bald vom Krieg heimkäme. Am nächsten Morgen erzählte sie uns diesen Traum und ging auf den Kartoffelacker, der in der Maisonne dalag, braun und frisch, entfernte hier einen Stein, der noch herumlag, zerteilte dort eine Krume. Sie war heiter gestimmt und sagte verheißungsvoll: „Heuer werden wir alles schon in Frieden ernten, und der Vater wird dabei helfen.“ Unsere kindlichen Vorstellungen davon, was nun alles passieren sollte in dem jungen Frieden, stiegen ins Unermessliche. Es sollte viel geschehen und das gleich. So wurde mein kleiner Bruder zusehends ungeduldig, als am nächsten Tag, aber auch an den folgenden Tagen nichts Aufregendes passierte. Dieser Zustand sollte sich bald ändern. In immer kürzeren Abständen traten Ereignisse ein, die man so nicht erwartet hatte. Sie schnitten hinein in die Stille des Grabens, schnitten das Leben auseinander, teils aufregend und schön, teils trotz des Friedens gefahrvoll. Kaum eine halbe Gehstunde von unserem Haus entfernt, erreichte man auf dem nun steiler ansteigenden, schmalen Weg eine Almhütte, die einem Bauern in Pichlhofen gehörte. Soweit wir Kinder uns erinnern konnten, hausten dort in den Sommermonaten der Almhalter Friedl und die Sennerin Bibi, ein höchst 20

ungleiches Paar. Wenn nicht gerade ein Notfall bei den Tieren eintrat, es zur Heumahd oder ans Beerenpflücken ging, wurden die beiden von den Bauersleuten kaum besucht. Eines Tages, es mag noch früh am Vormittag gewesen sein, bewegte sich eine Gruppe Leute, meist Frauen und Kinder, eilig den Weg herauf. „Die Russen san do“, sagte die Jungbäuerin, quengelnde Kinder unseres Alters vor sich herschiebend, denen der weite, steile Weg wohl zu beschwerlich geworden war. In Rucksäcken und Kraxen hatten sie mit, so viel sie tragen konnten: Kleider, Bettzeug, Gläser mit verschiedenen Inhalten, in Papier Gewickeltes. Auch von den Rucksäcken baumelten noch Schuhe und andere notwendige Dinge. Nach ein paar hastig herausgesagten Sätzen trieben sie die Kinder wieder zur Eile an. Die Mutter bot ihre Hilfe an und gebot uns, das Gleiche zu tun. Mit der aufgeteilten Last erreichten wir die Hütte. Die erstaunte Sennerin begrüßte die Schar. In jahrelangem Dienen geübt, machte sie bereitwillig Platz. Sie sollte ihn lange nicht zurückbekommen. Die Bauersleute waren vor den Russen geflüchtet. Dem Altbauern war die Flucht nicht mehr gelungen, und nur ein Zufall – eine geschickte Aktion – rettete ihn vor dem sicheren Tod durch die Gewehrkugel eines nun zum Besatzer gewordenen russischen Soldaten. Geübt im Zuhören, wenn die Mutter sich im Dorf mit den Frauen unterhielt, konnten wir Kinder uns bald aus den Gesprächen zusammenreimen, dass es hier um Vergeltung ging. Russische Kriegsgefangene waren neben Polen und Franzosen auf den Bauernhöfen anzutreffen, sie sollten die Arbeitskraft des Bauern und seiner Knechte, die im Krieg waren, ersetzen. Beim Altbauern auf der Sonnseite sollen sie es nicht gut gehabt haben, erzählten sich die Leute im Dorf. Er musste nicht mehr einrücken und bewirtschaftete den Hof mit Hilfe russischer Kriegsgefangener. Die Mutter hatte es im Dorf gehört, von jemandem, der erzählt bekommen hatte, was eine Frau ganz genau zu wissen glaubte. Es wurde weitererzählt, erst hinter vorgehaltener Hand, später auch jedem, der es wissen wollte: Der Altbauer soll der Meinung gewesen sein, dass die „gfangenen Russen“ so ganz ohne jede Kultur, „grad wie das Vieh“, eh nur zum 21

Arbeiten da seien, mehr nicht. Und wie das Vieh würden sie leben, mussten sie leben, ja, schlechter als das Vieh, das jeden Tag genug zum Fressen hatte. So soll er ihnen die Zigaretten aus dem Mund geschlagen haben, wenn er sie „nichtsnutzig“, wie er sagte, beim Rauchen antraf. Dann, als feststand, dass der Krieg für die Deutschen verloren war, hatten sich die Gefangenen eiligst versucht abzusetzen, aber die Erfahrungen, die sie mit den Dienstherrn gemacht hatten, nahmen sie mit und erzählten sie ihren Militärs, die immer weiter vorrückten und das Land besetzten. Als die Russen auf ihrem Zug durchs Murtal schließlich Pichlhofen erreichten, wussten sie längst, wie es ihren gefangenen Landsleuten beim Altbauern ergangen war. Sie stürmten Haus und Hof und nahmen den Altbauern gefangen, suchten nach versteckten Gütern, plünderten und leerten Vorräte, schlachteten Schweine und Geflügel. Es ging das Gerücht um, dass Nachbarn, die unter dem Geiz des Altbauern gelitten hatten, wenn er ihnen die heimlich in seinem Obstgarten zusammengeklaubten Äpfel nicht gönnte, den Russen seine Verstecke verraten hatten und dafür mit Lebensmitteln belohnt worden waren. Lange nach dem Krieg erzählte man sich im Dorf die Geschichte der Plünderung immer wieder und manchmal wohl auch mit dem Unterton der Befriedigung, dass der Herrgott Neid und Geiz immer noch bestraft hat. Die lebhaften Schilderungen der Plünderungen, die häufige Erwähnung von Gewehren, von Flucht und möglichem Tod machte uns Angst, vor allem, wenn die Dämmerung hereinbrach. Erstmals war uns der Schein der Petroleumlampe nicht mehr ausreichend, in jeder finsteren Ecke vermuteten wir eine Bedrohung, einen Feind. Und weil wir in unserer Abgeschiedenheit keine Feinde kannten, waren es einfach „die Russen“. Von wirklicher Not, wie sie Kinder anderswo erleben mussten, oder von leibhaftigen Feinden erfuhren wir erst viel später. Bald hatten wir die Geschichte vergessen und waren mit den neuen Bewohnern der Almhütte beschäftigt, wollten am liebsten bei ihnen einziehen, um nur ja nichts zu versäumen. Die strenge Erziehung hat es uns nicht erlaubt, Wünsche geradehe22

raus zu sagen. So sagten wir nicht, dass wir neugierig waren, was dort gesprochen wurde und was sie aßen. Wir versuchten dagegen beinahe täglich, unsere Mutter davon zu überzeugen, dass wir doch wieder einmal nachsehen müssten, wie es den neuen Bewohnern erginge hier herinnen im Graben. Den Kindern aus der Bezirksstadt Judenburg oder gar aus Graz mögen die Bauernkinder von der Sonnseite ländlich bescheiden vorgekommen sein – in unseren Augen, die wir im Graben wohnten, der aber genauso wie Pichlhofen zum Dorf St. Georgen gehörte, waren die Kinder von der Sonnseite etwas Besonderes. Schon ihre Kleidung, die sie am Wochentag trugen, unterschied sich von unserer. Sie trugen auch im Sommer Schuhe, und die Mädchen hatten Bänder in die Zöpfe geflochten, so schön, wie ich sie nur vom Fronleichnamstag kannte. Zum Frühstück aßen sie Bauernbrot mit Butter und Marmelade. Kirschenmarmelade! Der große Bruder hatte einmal eine Handvoll Vogelkirschen, klein wie Schwarzbeeren, nach Hause gebracht – einmal nur. So war uns ganz feierlich zumute, als wir ein ganzes Glas feiner Kirschenmarmelade geschenkt bekamen. Ein anderes Mal führte eines der Mädchen ihre Puppe in einem Puppenwagen spazieren, ein Junge mit einem umgehängten Gewehr ging daneben her, so als ob er sie beschützen wollte. Auf die Frage, wo man denn all diese Herrlichkeiten kaufen könnte, sagten die Kinder, das Christkind hätte alles gebracht. Diese Auskunft irritierte uns sehr. Warum brachte das Christkind den Kindern vom Dorf all diese Dinge und uns nicht? Die Mutter musste es wissen: „Muatta, warum bringt ’s Christkindl denen draußen im Dorf glei so vül?“, wollten wir wissen. „Jo mei“, war ihre Antwort, „die Kinder kennan holt scho an Briaf ans Christkindl schreiben!“ Jetzt wussten wir es, am Schreiben lag es, das wir noch nicht konnten. Wir waren mit der Antwort zufrieden. Das Christkind blieb das liebe Christkind und so gerecht, wie es in unseren Augen nun wieder war, brachte es nächste Weihnachten einen Puppenwagen und ein hölzernes Pferd auf Rädern. Was wir nicht wussten, war, dass die Mutter den Puppenwagen bei der Frau Strasser im Dorf ge23

gen Speck und Butter eingetauscht hatte und das hölzerne Pferd bei der Frau Palzenberger. War die Frage nach einem möglichen Unterschied zwischen Dorf- und Grabenkindern, zwischen Arm und Reich für diesmal aufgehoben, gab es doch immer wieder Gelegenheiten, sie erneut zu stellen. Denn damals begannen unsere Zweifel an der unterschiedlichen Bewertung von „Grabenkindern“ und „Dorfkindern“, von Bauernkindern und jenen, deren Eltern zur Miete oder wie wir weitab vom Dorf in einem Graben auf einer Hube wohnten. Warum war im Dorf bei den Bauernkindern etwas ein selbstverständliches Gut, was bei uns im Graben als Luxus galt? Wir stellten die Frage nicht wörtlich, dazu waren wir wohl noch nicht fähig, und Fragen dieser Art stellte man gemeinhin nicht in unserer Kindheit, sie bewegten uns aber innerlich. Das Seltsame war, dass wir der Armut etwas entgegenzusetzen wussten. Wir entwickelten das Gefühl des Privilegiertseins, aus dem einfachen Grund, weil wir für uns festlegten, dass uns die Welt so weit gehörte, bis das nächste Haus anfing – und das war weit weg! Uns trieb niemand aus einem Garten fort, niemandem waren wir zu laut, niemand plünderte das Haus oder bedrohte den Großvater. Wir gingen so weit, dass wir es als ungeheuren Vorteil empfanden, dass der erste Weg des Christkinds wohl über unser Haus führen musste, war doch oberhalb von uns im Winter kein Haus bewohnt. Denselben kurzen Weg nahm auch der Nikolaus. Dass auch der Krampus, der unter den „Kempföfen“, einem angeblichen Kampfplatz aus der Türkenzeit, residierte, uns aus der geringen Entfernung heraus jährlich ausgiebig heimsuchte, versuchten wir zu verdrängen. So waren wir nach gelegentlichen, bohrenden Fragen doch jeden Abend wieder froh, wenn alles wieder im Lot war. In den folgenden Monaten wurde es immer stiller um den freudigen Ausruf der Mutter, dass nun der Krieg aus sei. Wenn sie mit den Frauen im Graben und draußen im Dorf vorm Kaufhaus Wieser redete, hörte man Klagen, dass es nun noch viel schlechter geworden sei; rein gar nichts mehr gebe es zum Kaufen, und man wisse nicht, wie man über den Winter kom24

men soll. Das tägliche Trachten um das ohnehin karge Leben ließ die Freude über den Frieden nicht hochkommen, noch lange nicht.

Kind – Stiefkind – Ziehkind – Pflegekind An die Inhalte der Schreibaufgaben in der Volksschule kann ich mich nur mehr bruchstückhaft erinnern, nur, dass es häufig Sätze zu schreiben gab. Sätze mit den verschiedensten Wörtern, die mit unserem Leben zu tun hatten, mit den Jahreszeiten und den Festen, mit Berufen. Diesmal sollte es um die Familie gehen, um die Vornamen und die Nachnamen, also die Familiennamen. Das Fräulein schrieb die Worte auf die Tafel, wir sprachen sie nach und mussten sie schließlich auswendig schreiben. In der Bubenreihe gelang dies Günther fehlerlos. Wem es in der Mädchenreihe gelang, weiß ich nicht mehr, jedenfalls war ich nicht dabei. So durfte Günther die beiden Worte und einen seiner Aufgabensätze auf die Tafel schreiben: Vorname, Nachname! Die Aufgabe lautete nun aber nicht, die beiden Worte x-mal zu schreiben, sondern: Ich heiße: … Meine Mutter heißt: … Günther schrieb: „Ich heiße Günther Peinhaupt.“ „Fräulein, was muss ich schreiben, weil ich wohne bei der Ziehmutter?“, wollte ich wissen. Nun zeigten gleich mehrere auf, und nacheinander erfuhren wir, dass da bei jemandem der Vater gefallen war, es dort einen Stiefvater gab und die Traude bei der Großmutter wohnte. Das Fräulein blieb freundlich, wollte aber schließlich die Erklärungen zu Ende bringen, indem sie sagte: „Fragt zu Hause, wie sie alle heißen und was sie sind, morgen dürft ihr eure Sätze vorlesen.“ Ich wollte immer vorlesen, mein Ziehbruder war meist froh, wenn das Fräulein ihn übersah; er war ein Stiller, wie die Mutter sagte. Fräulein Pechmann erkundigte sich am nächsten Schultag, ob wir denn alle unsere Eltern um Hilfe gebeten hätten, und kontrollierte die Aufgaben, indem sie einige vorlesen ließ. Man25

che Kinder waren mit vier oder fünf Sätzen fertig. Da gab es die Eltern und drei Kinder, und alle hatten den gleichen Familiennamen. Viele waren es aber nicht, die eine so leichte Aufgabe hatten. Da gab es welche, die schrieben zehn und mehr Sätze, weil auch die Großeltern bei ihnen wohnten, es eine große Kinderschar gab oder sie bei Bauern wohnten mit Knecht und Dirn und deren Kindern. Manche hatten nur drei verschiedene Familiennamen stehen, dazu gehörte auch ich. Die Ziehmutter, der Ziehvater und die beiden Ziehbrüder hatten den Familiennamen Pojer, die Ziehschwester hieß Gams. In meinem Heft stand nun schwarz auf weiß, wie mich niemand, aber auch gar niemand nannte: Elisabeth Horn. Es wimmelte nur so von verschiedenen Namen! Was aber das Verwirrende war: Es gab zusätzlich zu den Wörtern Vater und Mutter noch die Wörter Ziehvater, Ziehmutter, Pflegevater, Pflegemutter und Stiefvater zur Auswahl. Die Stiefmutter wurde nicht genannt, wahrscheinlich gab es die nur im Märchen. Bei den Wörtern Ziehvater und Ziehmutter nahm das Fräulein mein Heft in die Hand: „Weißt du auch, was Ziehmutter heißt?“, fragte sie mich. Wusste ich nicht. Ich wusste nur, dass ich drüben in Nußdorf eine leibliche Mutter hatte, aber es war nicht bekannt, wo mein Vater sich aufhielt. Fräulein Pechmann tadelte meine Unwissenheit nicht, wie gesagt, sie war ein gutes Fräulein. Für mich war alles einfach, ich war es so gewohnt und mir ging es gut, wenn auch mein Ziehvater nicht viel Notiz von mir nahm, ganz im Gegensatz zu seiner Stieftochter Herta, die ihn mit ihrer Geschicklichkeit beeindruckte. Auch für meinen Ziehbruder Walter hatte es so, wie es war, seine Ordnung. Ich war im Alter von sechs Monaten von meiner Ziehmutter aufgenommen worden. Ich war also ein Ziehkind. Vor mir hatte sie bereits zwei Pflegekinder betreut. Ein Bub, der nur ganz kurz bei ihr war, hatte wohl durch mehrere Pflegeplätze Schaden genommen und konnte mit drei Jahren weder reden noch war er rein. Er wurde schließlich von einer Verwandten aufgenommen. Gut erging es ihm nie. Vor mir hatte sie das Kind ihrer Schwester in Pflege, das unheilbar krank war und mit zwei Jahren verstarb. 26

Als sich mein erster Pflegeplatz, auf den ich im Alter von sieben Tagen kam, als untragbar erwies, sprach meine Taufpatin, die gleichzeitig die Dienstherrin meiner leiblichen Mutter und meines zukünftigen Ziehvaters war, diesen an, ob er nicht ein Ziehkind aufnehmen würde. Im Graben wäre ja genug Platz, und ein bisschen Geld gäbe es auch von der Fürsorge. Meine leibliche Mutter hatte bereits einen Sohn auf einem Pflegeplatz untergebracht, zwei Kinder – zwei Mädchen – hatte sie bei sich, mehr Kinder gingen sich bei der Arbeit einer Dirn nicht aus. Nein zu sagen wäre dem Ziehvater nicht möglich gewesen, denn er war vom Schloßmoar abhängig, hatte Wohnung und Arbeit dort. So kam ich in diese Familie, die fortan meine bleiben sollte. Wenn ich nun meine Schulzeit von der ersten bis zur fünften Klasse hernehme, ist sie wahrscheinlich ein Abbild des Dorfes, der Höhen und Gräben rundum. Am häufigsten wohnten wohl Geschwister unter einem Dach, gefolgt von Halbgeschwistern. Nicht selten brachte die Frau ein lediges, häufig auch mehrere ledige Kinder in die Ehe mit, und es wurden dann eheliche geboren, die allesamt miteinander aufwuchsen. So war es auch bei meiner Ziehschwester. Bis sie ihrer Mutter in den Graben folgte, lebte sie bei der Großmutter in Enzersdorf. Sie war fünf Jahre alt, als sie Großmutter, Onkel, Tanten und Spielgefährten verlassen musste. Die gleichzeitige Gewöhnung an ihre Mutter, die sie nur von sonntäglichen Besuchen kannte, an einen jüngeren Halbbruder und den Stiefvater fiel ihr schwer wie auch das Leben in der Einsamkeit. Die Mutter konnte mit dem Kind, das seine Verzweiflung über das Verlorene in Aufsässigkeit zeigte, nicht umgehen, ebenso wenig wie mit dem ständigen Weinen des Zweijährigen, der sich nicht anders ausdrücken konnte. Sie war selbst mit ihrem Einzug im Graben in eine neue Welt gestellt worden – als Ehefrau, als Mutter von zwei ihr fast fremden Kindern, nun für alle verantwortlich, und dazu kam noch zusätzlich die Betreuung der Tiere des Bauern. Trotz aller Widrigkeiten war sie dennoch froh, endlich die Kinder bei sich zu haben. Sie versuchte, ihnen eine gute Mutter zu sein, nach den Prinzipien der damals strengen Erziehung. 27

Die Strafen und Verbote, wie sie sie aus ihrer eigenen Kinderzeit kannte, waren allerdings kein guter Weg; es gab häufig Tränen, Aufbegehren, aber auch Ducken unter die gestrenge Hand der Mutter. Der Vater hatte Freude an der aufgeweckten, praktisch begabten Stieftochter Herta. Zu Karl, dem eigenen kleinen Sohn, der ihm mit dem häufig tränennassen Gesicht so gar keine Aussicht auf einen furchtlosen Buben bot, war er streng und zeigte sich wenig interessiert an ihm. Als mein jüngerer Ziehbruder Walter 1941 auf die Welt kam, war ich bereits ein halbes Jahr in der Familie. Der Ziehvater musste 1942 einrücken und kehrte 1945 aus der Gefangenschaft zurück. Zu dieser Zeit war meine Ziehschwester bereits nicht mehr zu Hause, weil sie, noch nicht vierzehn Jahre alt, das in der Nazizeit verordnete Pflichtjahr antreten musste. Sie wendete dort ihre früh erworbenen Kenntnisse im Haushalt an. Zu Hause im Graben hatte sie in den Kriegsjahren davor unverhältnismäßig viel Arbeit leisten müssen im Haushalt mit zwei kleinen Geschwistern, im Stall, im Garten und auf dem Feld. Ein Los, das Kinder in fast allen Familienkonstellationen auf dem Land traf. Karl, der ältere der beiden Ziehbrüder, hatte es immer noch schwer bei den Eltern, wenn er nun auch kräftig geworden war und jede Arbeit geschickt ausführte. In der Vorstellung des Vaters jedoch war er noch immer klein und hilflos. Die Mutter schützte Karl nicht, sie fügte sich mit seltenen Ausnahmen den Wünschen des Vaters. Walter, der Jüngste, hatte die Liebe beider Elternteile für sich. Als der Vater aus dem Krieg heimkehrte, war er zu einem aufgeweckten, aber braven Kind herangewachsen und konnte schon gut mit einfachen Werkzeugen umgehen. Im Laufe der folgenden zwei Jahre lernte er unter der Anleitung des Vaters mit Geräten umzugehen, sägte gemeinsam mit ihm kleine Stämme zu Ofenholz, ging ohne Scheu zu den Tieren im Stall und auf der Weide, kannte mit der Zeit eine Reihe von Vögeln und Pflanzen. Ich habe an den Ziehvater keine negativen Erinnerungen. Er nahm mich, so glaube ich, kaum wahr, schlug mich nicht, schimpfte höchstens mit mir, wenn ich mich bei der gemeinsa28

men Arbeit ungeschickt anstellte. Und das geschah häufig. Ich hatte so gar nichts von der Geschicklichkeit der älteren Ziehgeschwister, sogar Walter war schon geschickter als ich; ich war also bei der Arbeit keine große Hilfe. Die finanzielle Situation trug sicher auch nicht dazu bei, sich über eine zusätzliche Esserin zu freuen. Meine leiblichen Eltern zahlten nicht für mich, und das Fürsorgegeld war gering. Es war ein Wochentag, und ich sollte allein in die Schule gehen, weil Walter krank war. Dieser Tag blieb mir im Gedächtnis als der Tag, an dem ich mich mit dem Ziehvater doch einmal verbunden fühlte. Es sollte der letzte Tag sein, an dem der Vater noch aus eigener Kraft den Graben verließ. Er hatte sich mit mir auf den Weg ins Dorf gemacht und war mit dem Autobus zum Doktor nach Unzmarkt gefahren. Er hatte schon einige Zeit von der Arbeit zu Hause bleiben müssen, mit einer großen Müdigkeit behaftet, von Fieber und Schwitzen geplagt und häufigem Husten in der Nacht. Den Heimweg gingen wir gemeinsam, langsam, immer wieder rastend, bis er sich auf mich stützte, weil er vor Ermattung nicht mehr weiterkonnte. Schließlich trug er mir mit einer Stimme, die er so vorher nie an mich gerichtet hatte, auf, doch die Mutter zu holen. Er legte sich auf die Weide, die zu Beginn des Frühjahrs erst stellenweise aper war. Ich lief, so schnell ich konnte, rief der Mutter den Auftrag zu und rannte mit ihr zurück zum Vater. Auf die Mutter gestützt kam er zu Hause an. Die schwere Krankheit, an der er noch im selben Jahr sterben sollte, war nicht dazu angetan, dass sich diese Vertrautheit, der Klang seiner Stimme auf dem gemeinsamen Nachhauseweg, wiederholt hätte. Als er starb, bekam die Mutter von der Verwandtschaft und von gut meinenden Dorfbewohnern oft den Rat, sich doch nicht die zusätzliche Plage mit dem Ziehkind – also mir – anzutun, sie habe genug Sorgen mit den eigenen Kindern. Als eine Dorfbewohnerin wieder einmal die Sprache auf die zusätzliche Last brachte, sagte die Mutter mit fester Stimme: „I hob des Dirndl ois mei Ziglkind aufgnomman, und hiatz schau i drauf!“ So war mein Verbleiben wieder einmal gesichert und sollte es trotz weiterer Hindernisse auch bleiben. 29

Es gab in der Schule noch weitere Kinder, die Ziehkinder waren. So war eine Lisi von der Sonnseite das Kind einer Dirn, das weiter auf dem Hof geblieben war, während seine Mutter bei einem anderen Bauern in den Dienst trat. Es war ein geschicktes Mädchen, also für die Bauernarbeit gut zu gebrauchen. Dass es im Dorf durchaus auch üblich war, dass Kinder, der Schule entwachsen, als Mägde oder Knechte bei demselben Bauern arbeiteten, bei dem die leibliche Mutter in Dienst stand, verriet ein Gespräch im Dorf. Meine Ziehmutter wurde von einer Dörflerin gefragt: „Na, Pojerin, wo wird ’n ’s Dirndl hinkommen, wenn s’ aus da Schul is? Zan Schloßmoar oder zan Zoiggn, wo ihr Mammi hiatz is?“ Ich muss sehr erschrocken gewesen sein und antwortete ungefragt: „I geh nirgends hin!“ Die Mutter antwortete, nachdem sie mir ein „Stüll bist!“ zugezischt hatte: „Do is noch lang Zeit, mia brauchen uns no net entscheiden!“ Sie verabschiedete sich schnell von der Dörflerin, hieß mich gehen, wir hätten es eilig. Auf dem Weg in den Graben ging sie auf meine Sorge ein, indem sie feststellte: „Loss di net ausfragen, du brauchst nirgends hingehn. I hob ma gschworn, meine Kinder solln wos lernan!“ Sie zählte mich zu ihren Kindern, ich brauchte mich nicht zu fürchten! Es wird in der ersten oder zweiten Klasse gewesen sein, als zwei fremde Kinder in die Klasse kamen. Sie wurden uns vorgestellt, es wurden ihnen Plätze in den Bänken zugewiesen. Wir waren alle einfach gekleidet, viele auch dürftig, diese beiden aber machten einen erbarmungswürdigen Eindruck mit ihrer Kleidung, den Schuhen und den wirren Haaren. Sie besaßen kein Heft und keinen Bleistift. Der Oberlehrer versorgte sie mit allem, sodass sie dem Unterricht folgen konnten. Sie konnten noch nicht schreiben, sie sprachen nicht und blieben nicht lange in der Schule. Das Fräulein sagte, dass die beiden nun „Gott sei Dank“ in ein Kinderheim kämen. Sie hätten schon eine Reihe Pflegeplätze hinter sich, nirgendwo sei es ihnen gut gegangen, und niemand wollte sie behalten. In meinem krausen Kinderhirn stand nun fest, dass es mir als Ziehkind gut ging, besser als den Pflegekindern, ja, besser oft als den eigenen Kindern, wie jenem Buben aus einer Holzknechtfamilie im Graben, der nicht 30

nur für das kleinste Vergehen streng bestraft wurde, sondern auch für sein „Versagen“ bei Arbeiten, die er als Kind noch nicht leisten konnte. Erwachsen geworden, blieb er häufig allen Belustigungen fern, war scheu und in sich gekehrt. Ein anderes Kinderschicksal hatte meine um zwei Jahre ältere Halbschwester Heli, die es auf elf Pflegeplätze brachte, gute und schlechte, die sie immer wieder verlassen musste, bis sie schließlich bei der Mutter am Bauernhof bleiben durfte. Sie war beliebt, weil sie lustig war und schon tanzen konnte. Wie durch ein Wunder hatte sie alle Fährnisse einer ungesicherten Kindheit gut überstanden. So gab es im Dorf, in den dazugehörigen Häusern und Höfen, in den kleinen Keuschen, in den Hütten und Huben des Grabens, gleichmäßig verteilt, Kinder mit ihren eigenen Eltern oder nur mit der Mutter, mit Pflegeeltern oder Pflegemutter und Zieheltern oder Ziehmutter. Von Kindern, die eine Stiefmutter hatten, wusste ich nur aus Märchen, ich wusste allerdings von Stiefvätern. Ein Nachbarssohn, älter als meine Ziehgeschwister, hatte einen Stiefvater, der „kein gutes Haar“ an ihm ließ. Er bezichtigte ihn häufig des Lügens und Stehlens, wie er das ungefragte Abschneiden eines Stücks Brot nannte. Später, als wir schon im Dorf wohnten, erhielten die Kinder vom Mühlbauern, die auch im Graben wohnten, eine gute Stiefmutter, nachdem ihre Mutter gestorben war. Es mag andere Erfahrungen gegeben haben, ich habe jene gemacht, dass sowohl im Dorf als auch im Graben Kinder lebten, die es gut oder schlecht hatten. Für die meisten galt, dass sie streng erzogen wurden. Das bedeutete, dass die Kinder nicht nur gelegentlich arbeiten mussten, sondern festgelegte Aufgaben in Haus, Hof und Stall übernehmen mussten; nur Kinder von größeren Bauern und die Tochter des Oberlehrers waren davon ausgenommen. Mädchen mussten häufig auf kleinere Geschwister aufpassen; gab es einmal nichts zu tun, sahen die Mütter – auch meine – es gerne, wenn sie sich mit einer Handarbeit beschäftigten. Pflicht war jedenfalls, die ständig anfallenden löchrigen Strümpfe, Stutzen und Socken zu stopfen. Für die Nichterfüllung der Aufgaben, für Streitereien untereinander 31

und häufig fürs Zerreißen von Kleidung gab es für mich Schelte, Verbote und auch Schläge. In unserer näheren Umgebung gab es eine Ausnahme: Bei der Leitnerfamilie, die in einem dunklen Holzhaus nahe am Bach wohnte, umgeben von steil aufsteigenden Wiesen und kleinen Äckern, gab es wenig Schelte und keine Schläge. An einem späten Nachmittag, es war schon Herbst und empfindlich kalt, hatten wir, wie schon oft, auf das Heimgehen „vergessen“ und spielten mit den Leitnerkindern, als der Seppl rief: „Lafts, die Muatta kimmp!“ Wir liefen den Hügel hinauf und über das Brückel und kamen keuchend zu Hause an. Dort warteten wir auf die Mutter und darauf, dass es Schläge gab. Sie betrat das Haus, legte die Rute auf die Kredenz, stellte uns einen Teller mit Suppe hin und schwieg. Dieses Schweigen war beinahe gleich schlimm wie die erwarteten Schläge. Ihr Schweigen hielt an. Wir gingen unaufgefordert zu Bett. Es war stockdunkel, als wir uns auszogen, die Mutter hatte uns nicht wie sonst mit der Petroleumlampe hinaufbegleitet. Schon im Bett stellte mir der kleine Ziehbruder die Frage: „Warum ­kriagn ma heit net Wix?“ Ich wusste es nicht. „Warum kriagn die Leitnerkinder goa nia Wix, san die braver ois mia?“ Auch das wusste ich nicht. Erst viel später erfuhren wir, warum uns die Mutter an diesem Abend nicht gestraft hatte. Frau Leitner hatte sie gebeten, die Rute zu verbrennen, wenn es auch verständlich wäre, dass sie sich nicht mehr zu helfen wisse: Die Arbeit, der Vater todkrank und Kinder, die nie nach Hause fänden. Nach diesem Tag gab es seltener Schläge. In späteren Jahren, als wir schon im Dorf lebten, begegneten wir Kindern, meist jüngeren, die keine Rute mehr besaßen. Die Zeiten hatten sich geändert, in vielem zum Besseren.

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In der Dorfkirche „St. Georgen hat drei große Häuser: die Kirche, die Schule und den Wieser und noch ein paar!“ Das war meine Antwort, als das Fräulein Pechmann, das 1947 als neue Lehrerin an die Volksschule gekommen war, uns am Schulanfang der zweiten Klasse fragte, ob wir ihr etwas von St. Georgen erzählen könnten. Von diesen wichtigen Orten meiner Kindheit möchte ich hier berichten – in der Reihenfolge meiner damaligen Aufzählung. Heute, nach mehr als sechzig Jahren, in denen ich in vielen Kirchen aus und ein gegangen bin, kann ich die St. Georgener Kirche sehr gut in ihrer Einzigartigkeit beschreiben. Steige ich aber in meine Kinderzeit hinab, tauchen hauptsächlich Bilder auf, ein paar helle glänzende, aber noch mehr ganz nebensächliche, und Ereignisse, die sich mir, warum auch immer, eingeprägt haben. Ganz gleich, von welcher Seite man kam, den Zwiebelturm konnte man schon von weitem sehen. Er gehörte zur gelb gefärbelten Dorfkirche, die, vom Friedhof eingesäumt, im Dorf stand. Die Kirche war an Wochentagen, wenn sich nur ein paar fromme Frauen zur Frühmesse einfanden, groß genug. Auch am Sonntag war genug Platz für alle, die den Tag des Herrn heiligten, wie der Herr Pfarrer sich auszudrücken pflegte. An Feiertagen aber, da strömten sie alle hinein in die Kirche, die Dorfleute, die von der Sonnseite hoch oben am Wetzelsberg, von Pichlhofen und von der Wöll, von Edling und Schütt und die von den Gräben. Sie füllten die Bänke, die schmalen Seitengänge und den Mittelgang, sie scharten sich sogar noch am Chor um die Orgel. Das Gedränge war so arg, dass manche Männer „Mitleid“ mit den Bedrängten empfanden und freundlich zu den Umstehenden sagten: „Gehts nur glei eini, mia mochn eich Plotz!“ Sie setzten den Hut wieder auf und kehrten gleich beim Wieser ein, wo schon einige saßen, die den Weg in die Kirche gar nicht gefunden hatten. Wenn der Herr Pfarrer nun so am Altar stand und auf seine Schäfchen hinuntersah, auch auf die vielen, die sonst nie da waren, war dies sicher ein hehres Gefühl für ihn 33

und gleichsam eine Entschädigung für die leeren Kirchenbänke an gewöhnlichen Sonntagen. Für uns Kinder war die Kirche ein heiliger Ort. So hörten wir es von der Mutter, vom Pfarrer und von Lehrerinnen, die gläubig waren. Nur, was „heilig“ bedeutete, war uns nicht ganz klar, aber das machte weiter nichts aus, auch andere Wörter waren uns nicht geläufig. Die Heiligkeit fing schon am Friedhof an, wo man sich still zu verhalten hatte, um die Friedhofsruhe nicht zu stören. „Passts jo schen auf, dass de armen Seelen net außakumman“, sagte einer von der Sonnseite, der im Ruf stand, mit denen da drüben in Kontakt zu stehen. Unsere Kirche betrat man durch eine kleine Tür und stand dann im Vorhaus, wie man den heiligen Raum natürlich nicht nennen durfte. Ich wusste aber keinen anderen. Das tatsächliche Tor kam erst danach, und es erschien uns Kindern riesengroß. Über eine Stufe hinunter erreichte man den Kirchenraum mit den Seitenaltären und dem Hauptaltar in der Mitte. Nie, aber auch gar nie, sah ich jemanden, der am Weihbrunn­ kessel vorbeigegangen wäre. Drei Finger der rechten Hand wurden in den Weihbrunn getaucht, dann folgte das Kreuzzeichen auf Stirn, Mund und Brust, gleichzeitig beugte man das rechte Knie bis zum Boden, als erste und wichtige Ehrerbietung vor dem Herrn. So lernten wir es beim Herrn Pfarrer. Viele Erwachsene hielten sich an diese Vorschrift der Ehrerbietung, andere wieder schienen mit der Hand gar nicht bis zum Weihwasser zu kommen, schon folgte ein geschwindes Kreuzzeichen, „überhaps“, wie die Mutter sagte, und zur Kniebeuge reichte es auch nur andeutungsweise. Wahrscheinlich war Gott damit zufrieden, wenn Leute, alt geworden, von Gicht und Rheuma geplagt, nicht mehr bis zum Boden kamen. Nur, häufig schwindelten sich Junge und auch wir Schulkinder, beileibe nicht von Krankheiten, sondern von Aberwitz geplagt, mit einem Knicks in die Kinderbänke. Verzieh er auch das großzügig? Wo wir keine Zurückhaltung kannten, war die Zeremonie mit dem Weihwasser. Wir glaubten, dass die paar Tropfen Weihwasser, die man mit drei Fingern zu behalten vermochte, niemals genügen konnten. Einmal war es mir geglückt, eine 34

ganze Faust voll Weihwasser zu schöpfen, aber es sollte nicht den ersehnten Erfolg einbringen. Ich spürte ein starkes Ziehen an den Zöpfen, gefolgt von einer strengen Zurechtweisung: „Hiatz heast stantape auf, mit’n Weihwosser woscht ma si net ’s ganze Gsicht!“ Zu wem diese strenge Stimme gehörte, wusste ich nicht. Es gelang mir wie auch anderen Kindern häufig nicht, nach den Vorstellungen zu handeln, die Lehrerinnen, der Herr Pfarrer und die Eltern mit respektvollem Handeln in der Kirche verbanden. An den großen Feiertagen hatten jene ihren fixen Sitzplatz in der Kirche, die ein Namensschild auf der Kirchenbank ihr Eigen nannten. Das waren meist Bauern und Bürger, deren Altvordere schon in St. Georgen ansässig waren wie Baumgartner und Wieser, Zoigg, Weinke und noch eine Reihe weiterer. Die anderen Kirchenbesucher setzten sich hin, wo Platz war, hatten aber häufig auch einen gewohnten Platz, den ihnen niemand streitig machte. Die Frauen saßen links, die Männer rechts, die Kinder vorne in den Kinderbänken, wieder Mädchen links und Buben rechts. Frau Rinder hatte ihren festen Platz vorne in der Bubenreihe, wenn sie auch kein Schild dort auswies. Wir hatten Ehrfurcht vor der Frömmigkeit der Frau Rinder und hätten uns nie auf ihren Platz gesetzt. Sie stand im Ruf, für alle im Dorf zu beten, für die Lebenden und die Verstorbenen. Angesichts der häufigen Schelte, die wir zu Hause und in der Schule bekamen, hatte sie recht oft Anlass, auch für uns Kinder ein gutes Wort da oben einzulegen. Auf groben, unregelmäßigen Steinfliesen ging man nach vorne zum Speisgitter, das den Altar von der übrigen Kirche trennte. Der Altar war der Platz des Herrn Pfarrer und der Ministranten. Ich hatte oft den leisen Verdacht, dass es der liebe Gott schon so eingerichtet hatte, dass die Ministrantenbuben dort engelsgleich ohne viel Mühe und Plage brav sein konnten, sich an gewöhnlichen Schultagen aber aufs Raufen verstanden wie alle anderen Buben auch. Der Gedanke, dass auch Mädchen Ministranten sein könnten, wäre mir damals nie gekommen. Mir, der das Wort „Teppich“ im häuslichen Sprachschatz nie unterkam, wurde das Besondere an der Kirche noch unterstri35

chen durch den Teppich, der auf den Stufen des Altares lag und später, zum Priesterjubiläum des Herrn Pfarrers Jäger, durch einen noch viel schöneren ersetzt wurde. Im Mittelgang der Kirche, an vier gut zwei Meter langen Stangen befestigt, aus glänzendem Stoff und verziert mit Stickereien, prangte über den Köpfen der Durchschreitenden wie ein prunkvolles Dach der Himmel. Einige Male im Jahr schritt der Herr Pfarrer mit der Monstranz in der Hand unter diesem Himmel durch das Dorf, gefolgt von einer langen Prozession. Dann wurden auch die Fahnen auf ihren langen Stangen mitgetragen, die das ganze Jahr über wie Wächter ihren Platz neben dem Himmel hatten. An den beiden Längsseiten der Kirche waren die vierzehn Kreuzwegbilder angebracht, in ihrer Plastizität schön und schauerlich anzusehen. Ich höre noch Herrn Pfarrer Jäger, wie er beim Kreuzweg, den wir Station für Station abgingen, jeweils ein Gebet sprach, auf das wir immer gleich zu antworten pflegten: „Denn durch dein heiliges Kreuz hast du die ganze Welt erlöst!“ Neben dem Hauptaltar mit dem heiligen Georg erinnere ich mich noch an vier Seitenaltäre, deren Bilder und Gestalten uns kaum erklärt wurden. Wir haben sie einfach angeschaut, auf unsere Weise gedeutet und weiter nicht gefragt. Der Herr Pfarrer predigte häufig von der Kanzel. Er tat es eindringlich und mit großem Ernst. Nachdem ich an meinem Namenstag, dem Bitttag am 19. November, erstmals die Bitte: „Bewahre uns vor dem Feuer der Hölle, führe alle Seelen in den Himmel, besonders jene, die am meisten deiner Barmherzigkeit bedürfen“, mitbeten konnte, war ich ganz sicher, dass er alle im Dorf, auch die Erwachsenen, vor den Qualen der Hölle bewahren wollte. Er trug den stehenden Gläubigen das Evangelium vor und erklärte es, was ich aber selten verstand. Wenn es trotzdem vorkam, war es eine recht krause Geschichte, die ich mir vorstellte. Damit war ich, mit einigen möglichen Ausnahmen, in meiner Klasse in bester Gesellschaft. Kamen wir einmal etwas früher zum Gottesdienst, verfolgten wir interessiert das Kommen und Gehen beim Beichtstuhl. Zur damaligen Zeit war es streng geboten, vor jeder heiligen 36

Kommunion zur Beichte zu gehen und diese nüchtern zu empfangen. Wenige folgten dieser Einladung. Über eine Stiege erreichte man den erhöhten Chorraum, in dem die Orgel stand, die von Frau Rosa Frodl gespielt wurde. Die Ministranten hatten oft die Aufgabe, den Blasebalg zu treten. Dauerte eine Messe sehr lange, war ich häufig damit beschäftigt, den Kreuzweg zu studieren oder die Texte auf den Kirchenfenstern zu lesen. Ich konnte die Aufschriften lange Zeit auswendig: „Gespendet von Angela Santner 1929“, war auf einem mit bemalten Glasscheiben geschmückten Fenster zu lesen. Das Allerheiligste wurde im Tabernakel am Hauptaltar aufbewahrt. Früh lernten wir, uns davor zu verneigen, der Herr Pfarrer, die Ministranten taten es unentwegt. Wäre ich damals nach den wichtigsten Teilen der heiligen Messe gefragt worden, hätte ich wohl nur eine Zweiteilung vorgenommen: den Teil vor der Opferung und den Teil danach. Die Mutter achtete immer darauf, dass wir ein Zehnerl eingesteckt hatten, Opfer genug für Kinder armer Leute. An gewöhnlichen Sonntagen wurde das Zehnerl bei der Opferung in den Klingelbeutel geworfen, der an einer langen Stange baumelnd vom Mesner jedem ohne Ausnahme hingehalten wurde. Wenn wir des Beutels ansichtig wurden, drehten wir das Zehnerl nervös in den Händen. Nicht selten entglitt es uns und rollte unter die Vorderbank, wo es liegen blieb, so sehr wir auch danach angelten. Wenn wir dieses Ungeschick zu Hause beichteten, entlud sich sonderbarerweise kein Gewitter über unseren Köpfen. „Die Mesnerin wird’s scho zsaumklauben, geopfert is geopfert!“, war der kurze Kommentar der Mutter. Einige Male im Jahr aber gab es während der heiligen Messe die große Opferung oder den großen Opfergang, wie der Herr Pfarrer sagte, an hohen Festtagen wie dem Christtag, zu Neujahr, am Ostersonntag, am Georgitag und am Pfingstsonntag, aber sicher gab es auch noch andere Gelegenheiten im Jahreslauf. An diesen Tagen sollten die Leute etwas mehr als an anderen Sonntagen opfern, weil das Geld für dringende Ausgaben benötigt wurde. Außerdem, so die Aussage des Herrn Pfarrer, zeige das Opfern dem Herrn die Dankbarkeit der Menschen für 37

sein Kreuzesopfer. Ob die Erwachsenen das besser verstanden als ich und viele meiner Schulfreundinnen, weiß ich nicht. Bei der großen Opferung ging man auf der rechten Seite hinter den Altar, legte das Opfergeld in einen irdenen Topf und kam auf der linken Seite wieder heraus. In strenger Ordnung gingen zuerst die Männer, dann die Frauen, gefolgt von jenen Kindern, die schon bei der Erstkommunion gewesen waren, in einer langen Reihe nach vorne zum Altar. Vor dem Altar machten die einen eine würdige, tiefe Kniebeuge, andere nur ein schnelles Knickserl, bevor sie hinter den Altar gingen. Gelegentlich konnte man das Klirren hören, wenn das Kleingeld in den irdenen Topf fiel. Wie die Schulkinder erzählten, wurden große Summen geopfert; Kinder warfen gut und gerne einen ganzen Schilling hinein, und die Sunnitsch Lisi, der nichts entging, wollte gesehen haben, wie die Frau Baumgartner und ein Bauer von der Wöll Papiergeld hineinwarfen. Das war in der Zeit, bevor die Kirchenglocken gekauft wurden, für die kein Opfer zu groß sein sollte, wie der Herr Pfarrer sagte. Als mein kleiner Ziehbruder das hörte, entschied er, dass unsere Mutter nicht so viel hineinwerfen brauchte, „weil mia im Grobn hörn die Glockn eh net, mia san vül zu weit von der Kirchn weg.“ Wir durften also erst nach der Erstkommunion an der großen Opferung teilnehmen. Bis dahin vertrieben wir uns die Zeit während des Opfergangs einerseits damit zu schätzen, wie viel jeder in den Topf legte; andererseits überlegten wir, ob es eine große Sünde wäre, der Mutter zu verschweigen, dass man sein Opfergeld nicht hineinwerfen konnte in den Tontopf, weil man ja gar nicht zugelassen war. Ungeahnte Möglichkeiten taten sich auf, was man für ein oder gar zwei Zehnerl alles kaufen könnte, aber man konnte hin- und herrechnen, es gingen sich immer nur einige Zuckerln beim Wieser aus. Ich war schon lange neugierig, wie es hinter dem Altar aussah, und an einem Festtag nach meiner Erstkommunion war es endlich so weit. Es dauerte einige Zeit, bis wir dran waren. Ich hielt die beiden Zehnerl fest und konnte es kaum erwarten, hinter den Altar zu schauen. Meine Annahme, dass wegen seiner heiligen Aufgabe der Altar auf der Rückseite zumindest ebenso 38

schön sein müsse wie vorne, bestätigte sich nicht: „Wos host ’n glaubt, bei uns is es a vorn schöner als hinterm Kastn“, ließ sich ein älteres Mädchen aus der Wöll vernehmen, das neben mir in der Kirchenbank saß. Wo ich nur ein einziges Mal Zutritt hatte, das war die Sakristei. Ich hätte zu gerne gesehen, wo die vielen schönen Kirchengewänder hingen, die Messbücher lagen, der Klingelbeutel aufgestellt war. Wo stand die Krippe im Sommer, wo das heilige Grab? Später einmal erzählte der Köck Manfred, einer der auserwählten Ministranten, wie es dort aussah. Seinem Empfinden nach war die Sakristei mit den heiligen Gegenständen für den Gottesdienst – dem Kreuz, den Hostien, den Messbüchern, den glänzenden Messgewändern, die sich auf Haken, in versperrbaren Laden und Kästen befanden – der Vorraum zur Kirche, in der sich die glänzende Herrlichkeit noch steigerte. Ob sie beheizbar war, oder ob im Winter das Weihwasser wie in der Kirche einfror, hat er nicht gesagt. Wichtig war ihm noch zu bemerken, dass er und die anderen Ministranten dem Herrn Pfarrer die lateinischen Gebete aufsagen mussten, bevor sie die Glocke zum Einzug läuten durften. Fast während meiner ganzen Volksschulzeit hörten wir nur die kleine Kirchenglocke läuten, weil die großen Glocken im Krieg eingeschmolzen worden waren. Nach dem Krieg gab es landauf, landab Glockenweihen, so auch 1951 in Scheiben, in St. Georgen war es 1953 so weit. Lese ich heute in einem Kirchenführer, fallen im Vergleich dazu meine Erinnerungen an die Kirche in St. Georgen recht jämmerlich aus. Es muss wohl am geringen Verstand gelegen sein und an der gänzlichen Unkenntnis dessen, was man als Kunst bezeichnet, an der fehlenden Ehrfurcht und der Langeweile beim Stillsitzen, vielleicht auch an allem zusammen, dass die Beschreibung nicht mehr hervorbringt.

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In der Dorfschule Der erste Schultag „In Gotts Naum, gehts hiatz!“ Mit diesen Worten entließ uns die Mutter in den ersten Schultag an jenem 16. September 1946. Der große Bruder, für den das letzte Schuljahr angebrochen war, begleitete mich an meinem ersten Schultag. Die Zöpfe waren noch fester geflochten als an anderen Tagen, der Faltenrock war herausgelassen und aufgebügelt worden. Mein Wunsch nach Schuhen ging nicht in Erfüllung, weder gab es beim Wieser welche zu kaufen noch irgendwo alte aufzutreiben. So mussten die schon viel zu klein gewordenen Schuhe geputzt und geglänzt werden. Hinter dem älteren Bruder, der mit großen Schritten unterwegs war, stolperte ich den Weg hinaus, der Schule zu. Dass ich mit ihm nicht Schritt halten konnte und die Schuhe drückten, machte mir an diesem aufregenden Tag weiter nichts aus. Die meisten Erstklassler kamen mit der Mutter, einige so wie ich mit den größeren Geschwistern oder mit einer Dirn, wenn sie Bauernkinder waren, manche kamen auch allein. Die Schultasche, die meine Ziehschwester acht Jahre lang getragen hatte, war tags zuvor mit Schuhcreme eingestrichen und auf Hochglanz poliert worden. Sie blieb am ersten Tag zu meinem Bedauern noch zu Hause. Beim Mühlbauer im Graben und beim Leitner stießen die zwei Seppln dazu, die bereits in die dritte und vierte Klasse gingen. Beim Torbauer trafen wir auf Kinder, die ich noch nicht kannte. Beim Dorfbrunnen draußen gesellten sich weitere Kinder hinzu, die ich vorsichtig beäugte. Im Schulhof angekommen, stellte mich der Bruder zu einer Reihe von Kindern, die auch in die erste Klasse gehörten. „Da bleibst hiatz und wartest, bis d’ vom Fräulein aufgruafn wirst. Hör genau zua, wos gsogt wird.“ Sprach’s und stellte sich zu einer Gruppe großer Buben. Das Fräulein kam nicht. Ein Mädchen aus der letzten Klasse schob uns, die wir planlos herumstanden, in eine Zweierreihe. „So bleibts hiatz und schwätzts net“, war ihr Befehl. Wir blieben und wir schwätzten nicht, nicht auf dem Weg in die Kirche und auch in der Kirche nicht. 40

Der Gottesdienst ist mir nicht mehr in Erinnerung, nur, dass wir eng beieinandersaßen. Der Herr Pfarrer sprach eindringlich und schaute würdig drein. Nur die eine Frage, wann wir denn endlich in unserer Klasse sein würden, und ob das Fräulein dort schon auf uns warten würde, beantwortete niemand. Nichts dergleichen geschah. Als es doch so weit war, dass wir uns endlich hätten in die Bänke setzen können, betrat die Schulaufräumerin – Frau Pacher, wenn die Erinnerung mich nicht täuscht – die Klasse. Eiligst standen wir auf. „Setzts eich wieder nieder, i bin net ’s Fräulein. Bis der Herr Oberlehrer kimmp, zag i eich amol des Abortgehn! Aufstehn, in ana Zweierreih vor der Aborttür anstellen!“, lautete ihr Kommando. „I muaß net!“, ließ das Mädchen neben mir verlauten. Es ging das zweite Mal in die erste Klasse. „Wenn i sog, du gehst hiatz, dann gehst!“, war die gestrenge Antwort der Frau ­Pacher. „Damits as wissts: Abort gangen wird nur in der Pause, neamp rennt ma in der Stund umanand. Mit’n Klopapier wird net gwia­stet, da Abortdeckel wird zuagmacht, die Aborttür a!“ Damit war gesagt, wie man sich am Abort, wie das Klo genannt wurde, zu benehmen hatte. Es dauerte noch ein wenig, bis wir all die wichtigen Worte in unseren Köpfen eingeordnet hatten, da erschien der Herr Oberlehrer, er sprach so würdig wie der Herr Pfarrer. Er sei der Oberlehrer, der die letzte Klasse unterrichten würde. Unser Fräulein würde erst in drei Wochen kommen, bis dahin würde er uns unterrichten. Bei ihm müssten wir mit dem Griffel auf der Schiefertafel schreiben, beim Fräulein würde es dann Hefte geben. So vergingen drei Wochen, in denen wir fleißig auf der Schiefertafel schrieben, Ziffern malten und zeichneten. Die Tafel wurde am Ende des Unterrichts in die Schultasche gesteckt, der Schwamm durfte an der Schnur außen herunterbaumeln. Am zweiten Tag gab es bereits eine Aufgabe. Wir hatten auf einer Seite der Schiefertafel Zwetschken zu malen, auf der Rück­seite, Zeile für Zeile, Einser zu schreiben. Die Dobernigg Lisi, die ja eigentlich Sunnitsch hieß, saß in der Bank vor mir. Sie hatte einen kurzen Schulweg, weil sie im Dorf wohnte. An 41

diesem zweiten Schultag begleitete sie mich in den Graben, bis zum kleinen Maschinenhäuschen am Hügel, das zum E-Werk gehörte. „I zeichn dir die Zwetschgn, i waß, wia sie ausschaun“, machte sie sich erbötig, wohl in der Annahme, dass wir im Graben keine Obstbäume, daher auch keine der köstlichen Früchte unser Eigen nannten, sie also auch nicht zeichnen konnten. Sollten wir im Graben „Grabnbölli“ sein, wie der Lehrer Auer vor Jahren zu den beiden großen Ziehgeschwistern zu sagen pflegte, nicht so ganz hell im Kopf? Jedenfalls setzte ich mich, als die Lisi wieder ins Dorf zurücklief, auf einen Stein, tauchte den Schwamm ins Bachwasser und löschte alles von der Tafel ab, um anschließend alles neu zu schreiben. Dabei war viel Zeit vergangen. Als ich die Schiefertafel in die Schultasche steckte, kam der Bruder schon des Weges, und wir gingen den Rest gemeinsam nach Hause. „Wann bringst denn amol a Lesebuch hoam?“, lautete die Frage der Mutter. Ich wusste es nicht. „Frag den Herrn Oberlehrer“, riet sie mir. An einem der nächsten Schultage zog der Siegi – wie er noch hieß, weiß ich nicht mehr – ein Buch aus seiner Schultasche. „Herr Oberlehrer, die Mammi moant, ob ma des Lesebuch net verwenden kenntn, es is noch wia nei!“ Der Herr Oberlehrer brauchte das Buch nicht lange zu prüfen, schon die erste Seite sagte es ihm: Das geht nicht! Und so sagte er dem Siegi: „Sag deiner Mutter, danke schön, aber es wird nur mehr ein paar Wochen dauern, bis wir die neuen Bücher bekommen.“ Der Siegi war damit zufrieden. In der Pause zeigte er uns das Buch. Auf einer Seite befand sich ein Hitlerbild, wie wir es alle von zu Hause kannten, das aber nun schon lange nicht mehr an der Wand hing. Der Bruder kannte es: „Das Deutsche Lesebuch.“ Es musste nach Ende des Krieges verbrannt werden, ob die Mutter es getan hat, weiß ich nicht. Der Oberlehrer wusste sich zu helfen, damit wir zu Lesestoff kamen. Der dritten Klasse, also der fünften bis achten Schulstufe, stellte er die Aufgabe, für die erste und zweite Schulstufe ein Leseheft zu schreiben. In schönster Schrift hatte dies zu geschehen, damit das Ergebnis Buchseiten ähnlich sah. Mein Bruder 42

Karl machte ein Geheimnis aus dieser Arbeit, kein einziges Mal ließ er mich zusehen. Eines Morgens war es so weit. Der Herr Oberlehrer kam mit einem Stoß geschriebener Hefte in die Klasse, um sie Bank für Bank auszuteilen. Er trichterte uns ein, auf das Heft aufzupassen, man wisse nicht, wann wieder Schulbücher gedruckt würden. Wir freuten uns über die Hefte und versuchten darin zu lesen. Der anfängliche Erfolg wird nicht allzu groß gewesen sein. Der Herr Oberlehrer brachte wohl deshalb häufig eine Schülerin aus seiner Klasse mit, die uns beim Lesen und Schreiben half. Eigentlich wäre das nicht nötig gewesen. Mehr als im, am, Mimi, Mami, Mia, Imi – was immer das heißen mochte – ließ sich mit drei Buchstaben nicht schreiben. Eines Morgens kam der Herr Oberlehrer nicht allein, das Fräulein kam mit. Es war ein sehr junges Fräulein, das in unsere verwunderten, vielleicht auch misstrauischen Gesichter schaute, hatten wir uns doch an den Herrn Oberlehrer gewöhnt. Nach einer Ermahnung, brav und fleißig zu lernen und das Fräulein nicht zu ärgern, verließ er die Klasse. Nun waren wir mit dem Fräulein allein, das uns kennenlernen wollte. Es war mucksmäuschenstill, als sie unsere Namen aufrief. Wir hatten beim Hören des Namens aufzustehen und „Hier!“ zu sagen. „Horn Elisabeth!“ Niemand stand auf, kein „Hier!“ war zu hören. „Wer heißt hier Elisabeth?“ Wir waren unser fünf, die aufzeigten. „Wer heißt noch Horn dazu?“ Niemand! Das Fräulein befragte nun ein Buch. Sie legte das Buch wieder zur Seite, zeigte auf mich, um noch einmal eine Frage zu stellen: „Wie heißt du?“ – „ Pojer Lisi!“ Nun war es heraußen, leider war die Antwort falsch! Das Fräulein sah freundlich drein, sagte aber streng: „Im Buch steht: Horn Elisabeth, Zieheltern: Johann und Christine Pojer! Also, wie heißt du?“ Nun wusste ich es und wiederholte: „Ich heiße Horn Elisabeth, meine Zieheltern heißen …“ – „Setzen“, hörte ich noch, danach wiederholte sich dieselbe Prozedur noch einige Male. Der Erfolg dieses Buches, zu dem sie Katalog sagte, war, dass ein halbes Dutzend Erstklassler mit einem ihnen fremden Namen, der aber dem Fräulein so wichtig war, nichts anfangen konnte. Das Fräulein klappte den Katalog zu und teilte mit der deutlichen 43

Ermahnung, nicht das Jausenbrot daraufzulegen, jedem Kind zwei Hefte aus, ein Rechenheft und ein Schreibheft. Das Schreibheft wurde gleich verwendet. Ab nun schrieben wir neue Wörter und lernten neue Buchstaben. Nach der letzten Zeile hatte immer eine Schmuckzeile zu kommen, ordentlich ausgemalt. Das gelang sehr oft nicht. Buntstifte waren ein ebenso großer Luxus wie ein Bleistiftspitzer. Nicht, dass es sie nicht manches Mal zu kaufen gegeben hätte, aber das Geld war bei vielen Eltern knapp, und wir waren Meister im Verlieren. Wir spielten auf dem Nachhauseweg und machten die Aufgabe beim Bach, da konnte es schon vorkommen, dass etwas hineinfiel. Im Winter verwendeten wir häufig die Schultasche als Schlitten. Sie wurde dabei glänzend und glatt, nur den Schulsachen war diese Verwendung abträglich, sie wurden nass und die Schrift unleserlich.

Das Schulgebet Das Fräulein nahm die Arbeit ernst. Das begann am Morgen mit einem Gebet und endete nach der letzten Stunde wieder mit einem Gebet: „Wir gehen aus der Schule fort, Herr, bleib bei uns mit Deinem Wort Und gib uns Deinen Segen auf allen unseren Wegen. Amen!“ Wir standen gerade, beteten laut, ja plärrten geradezu, und ich verdächtige die Buben sicher nicht zu Unrecht, wenn ich sage, sie waren immer froh, wieder für einen Tag der Schule entronnen zu sein. Viel später sprach mein kleiner Ziehbruder Walter von einer Erleichterung nach dem erlösenden Amen und dem Läuten der Schulglocke. Nach dem Frühgebet, an das ich mich nicht mehr erinnere, sah das Fräulein die Aufgaben an und beurteilte das Geschriebene. Da gab es Abstufungen: Einige Male heimste ich einen 44

Querstrich über die ganze Seite ein, weil ein großer Fettfleck auf der Seite prangte. Damit war die Seite so viel wert wie eine Unzahl Fehler, nämlich gar nichts! Die Seiten wurden recht oft durchgestrichen, besonders die der Buben. Als Aufstieg galt schon, wenn ein Haken unter der Aufgabe war. Nicht wenige Kinder fanden einen Einser unter der Aufgabe, manche auch einen römischen Einser. Als das Schuljahr fortgeschritten war, wurden die Einser und die römischen Einser von uns gezählt, es kam zu einem Wettbewerb, bei dem ich häufig mitmachte. Der Heli machte nicht mit, er hatte oft das Heft vergessen, was ihm wiederum eine Strafe eintrug. Er wurstelte sich durch, so gut es ging, auf der Schulwiese jedoch war er der Beste, er wirbelte über die Turnstange und fing jeden Ball. Darum beneidete ich ihn, ich hätte ihm gerne ein paar römische Einser geschenkt für dieses Können.

Lesen – Schreiben – Rechnen Wir lasen die Seiten im Leseheft und später im Lesebuch immer wieder, ja, ich konnte sie auswendig, ebenso die Traude Keil und der Günther Peinhaupt. Beide erfüllten die Anforderungen in allen Gegenständen, was ich von mir nicht behaupten konnte. Wäre ich nur dabei geblieben, einfach mitzulesen! Ich begann im Leseheft, später im Lesebuch zu blättern, las voraus, schaute dann nach hinten zu den Bänken der zweiten Schulstufe und scharrte mit den Schuhen auf dem Boden. Dafür gab es Strafen. So konnte es sein, dass ich an den Zöpfen gezogen wurde, in der Ecke stehen oder bei den Buben sitzen musste. Die Strafen wurden gleichmäßig verteilt, und da wir alle sie auch von zu Hause gewohnt waren, trafen sie uns nicht weiter schlimm und nicht in der Weise, dass wir braver, fleißiger, klüger geworden wären. Wir lernten Gedichte auswendig, sagten sie vor der Klasse auf, vor dem Christbaum, zum Muttertag. Häufig bemerkte das Fräulein ärgerlich: „Warum leiert ihr schon wieder so?“ Mir war bisher das Wort „leiern“ nur vom Milchzentrifugieren geläufig, das gemeinhin Leiern genannt wurde; das Fräulein verwende45

te dieses Wort häufig, wenn es andeuten wollte, dass wir ohne Punkt und Beistrich ein Wort auf das andere folgen ließen. Das Fräulein ließ uns nicht nur im Schreibheft schreiben und im Rechenheft rechnen, sondern ab dem zweiten Schuljahr, soweit ich mich erinnere, auch auf der Tafel vor ihren gestrengen Augen. Das war gleichermaßen beliebt und gefürchtet, je nachdem, ob man schon recht flink richtige Buchstaben und Zahlen auf die Tafel schreiben konnte oder ob man den Buchstaben nicht ansah, zu welchem Wort sie eigentlich gehörten. Es war am Ende des Schuljahres, wir konnten schon recht flüssig schreiben, Wörter und Sätze gleichermaßen, als das Fräulein eines Morgens ganz und gar unzufrieden war mit dem, was wir als Aufgabe „zusammengeschrieben“ hatten. Dass es ihr mit dem Tadel diesmal ernst war, war schon an der Lautstärke zu ermessen, in der sie über die verunglückte Aufgabe sprach. In Windeseile mussten Wörter an die Tafel geschrieben werden, sie fielen selten richtig aus. Vor mir war der Adi aus der Wöll dran. Er hatte in der Aufgabe das Wort „Butter“ falsch geschrieben. Auf Geheiß des Fräuleins sollte er es nun richtig auf die Tafel schreiben. Adi schrieb langsam und in großen Buchstaben: „BUTER“ – eigentlich fast richtig, es fehlte doch nur das zweite „t“. „Fast richtig“ existierte nicht im Sprachschatz des Fräuleins – falsch oder richtig, so einfach war das! „Das ist ja wieder falsch! Setz dich!“ Adi setzte sich. Jetzt war meine Zeit gekommen, ich meldete mich, um diesen Fehler auszubessern. Das Fräulein ließ mich gewähren. Mit einer großen Sicherheit malte ich ein großes hartes „P“ auf die Tafel, gefolgt von einem kleinen „u“, einem kleinen weichen „d“ und als Abschluss einem „a“: „Puda“! Das Fräulein war anfangs ganz ruhig, sodass man glauben konnte, die Glanzleistung wäre geglückt! Dann überschlug sich ihre Stimme: „Da ist ja nur mehr das ‚u’ richtig!“ Sie nahm die Kreide und schrieb, indem sie das Wort laut mitsprach: „B u t t e r!“ Ich glaube, trotz meiner Schwäche bei der „p“- und „t“-Schreibung habe ich mir die Schreibweise des Wortes „Butter“ für mein ganzes Leben eingeprägt, nachdem ich als Strafe damit die Heftseite vollschreiben musste. Mein 46

kleiner Bruder Walter, der bereits weit zählen konnte, zählte die Wörter: Es waren mehr als hundert! Hundert Mal „Butter“! Schreiben hatte aber noch weit größere Tücken. Konnten wir Wörter richtig schreiben, sogar Sätze und Gedichte, kam mit der Errungenschaft des zweiten Halbjahres – dem Schreiben mit Stielfeder und Tinte – eine entscheidende Erschwernis dazu. Wir mussten anfangs der Meinung gewesen sein, dass festes Andrücken die Feder dazu anspornen würde, ein rundes „o“, aber auch ein gerades „t“ zu schreiben. Dem war nicht so! Das „o“ weitete sich häufig unter dem Druck der ungelenken Finger zu einem Patzen aus, beim „t“ hingegen spritzte die Tinte, sodass sich der Patzen an einer anderen Stelle niederließ. Es gab trotzdem Kinder, die schon in der ersten Klasse makellose Seiten hatten, ich gehörte nicht dazu. Keine Seite kam ohne Patzen aus, sie häuften sich auf manchen Seiten, zerrannen in längliche Muster. Die Versuche, ihnen mit dem Radiergummi beizukommen, gingen nie gut aus. Woher das Fräulein die Gewissheit bezog, ich täte gut lernen und sollte einmal nicht wie meine Mutter beim Bauern arbeiten müssen, weiß ich nicht. Gänzlich unklar ist mir auch, wofür ich im Zeugnis in „Äußere Form der Arbeiten“ einige Male mit einem „Sehr gut“ belohnt wurde. Einige von uns waren am Schulanfang stolz, bis hundert oder noch weiter zählen zu können, gewissermaßen die Mathematik schon begriffen zu haben. Die Praxis erwies sich als etwas komplizierter. Da hieß es in der ersten Klasse zwar nur, wir müssten den Zahlenraum bis dreißig kennen und darin rechnen können. Aber wie sollte dies gehen, wenn man einzig und allein im Kopf „dreizehn weniger fünf“ auszurechnen hatte? In den seltensten Fällen war das gleich einmal acht. Das Aufschreiben der Rechengesätzerln ab der zweiten Klasse erwies sich als äußerst schwierig. Sie wurden entweder immer breiter oder schmäler. Wäre ja nicht weiter schlimm gewesen, wenn die Rechnung stimmte. Fing man an auszubessern, war es um die Richtigkeit geschehen. Karl, mein großer Ziehbruder, versuchte, ein wenig Ordnung in meine „Gesätzerlreihen“ zu bringen, indem er mir mit dem Lineal Striche zog. 47

„Wenns d’ as dalernst, bis zum Strich schreiben und net weiter, kannst as später a ohne Strich, probier’s aus!“ Ich probierte! Noch in der vierten Klasse beim Herrn Lehrer Felfer waren die „Gesätzerln“ meist verdächtig schief. Der Haken darunter zeigte an, dass sie richtig waren. Der Einser für die Form stand aber selten darunter.

Wahre und unwahre Geschichten Eine Einrichtung in der Schule, die uns allen gefiel, war der Schulfunk. Wir, die zu Hause mit der Petroleumlampe das Auslangen fanden, weil der elektrische Strom nicht eingeleitet war, hatten deshalb auch keinen Radioapparat. So waren wir allemal verzaubert, wenn aus dem kleinen Kästchen, das in der Ecke des Klassenzimmers hoch oben angebracht war, Musik ertönte oder ein Märchen zu hören war. Dass das mit dem Verstehen nicht immer so ganz klappte, weil sich die Leute in dem kleinen Kästchen der Schriftsprache bedienten, erfuhren wir erst, als wir der Mutter die Geschichte nacherzählen sollten. So höre ich die Mutter einmal sagen: „Host heit a wieder a Gschicht ghört? Woa sie schen?“ – „Jo“, war meine bestätigende Antwort. „Und wia is sie gangen?“, wollte die Mutter noch wissen. „Woaß i net, i hob die Wörter net verstanden“, erwiderte ich. Nichts konnte mich aber abhalten, mich weiterhin auf den Schulfunk zu freuen, das Verstehen ist wahrscheinlich mit der Zeit gekommen. Das Fräulein las oder erzählte häufig, auch zur Belohnung, wie sie sagte, Geschichten, Märchen und Sagen. Eine dieser Geschichten trug mir eine große Enttäuschung ein. Das Fräulein las vor, im Schlaraffenland sollte es von Milch und Honig fließen, im Bach würde Milch plätschern, auf den Bäumen würden Kipferln wachsen, der Schnee auf der Wiese wäre reinster Zucker. Man brauchte sich nur etwas zu wünschen, schon würde es dastehen. Man hätte den lieben langen Tag weiter nichts zu tun als zu essen. Die Schulglocke läutete. Das Fräulein versprach, am nächsten Tag weiterzulesen. Auf dem ganzen Heimweg hinein in den Graben kreiste die 48

Geschichte in meinem Kopf. Dass sie wahr war, dessen war ich gewiss. Nur, wie konnte es sein, dass bei uns zu Hause alles so anders war? So vieles war überhaupt nicht vorhanden, es stand auch nicht auf den Lebensmittelkarten. Stand schwarz auf weiß auf der Lebensmittelkarte „Zucker“, hieß das noch lange nicht, dass es auch welchen zu kaufen gab, weil er beim Wieser längst ausgegangen war. Und alles, was es beim Wieser gab, musste ganz im Gegensatz zum Märchen bezahlt werden! Wollte man außerhalb der Essenszeiten etwas zu essen haben, war die Antwort der Mutter: „Es is eh glei zum Essen!“ Weiter wollte ich mich an diesem Tag nicht mit unserer Geld- und anderweitigen Not beschäftigen. Ich begann mir auszumalen, was ich mir im Schlaraffenland wünschen wollte. Vielleicht einen ganzen Eimer voll Pudding? Aber einen aus dem Pulver im Sackerl, das es beim Wieser zum Kaufen gab, auch wenn die Mutter immer sagte, das sei ein chemisches Glumpert. Oder vielleicht zehn Paar Würstel für mich allein? Lieber nicht, da würde mir schlecht werden. Nein, ich würde mir einen ganzen Wäschehäfen voll Zucker wünschen! Dann konnte die Mutter jeden Tag Kuchen backen, ohne sich sorgen zu müssen, nachher keinen mehr für schlechtere Zeiten zu haben. Die Marmelade würde nicht mehr schimmlig werden, und im Grießkoch wäre Zucker. Nachdem der Wunsch feststand, ging ich eiligen Schrittes nach Hause. Ich konnte es kaum erwarten, dass der Tag verging. Am nächsten Morgen verabschiedete ich mich von der Mutter und schlich mich in die Waschhütte. Der Häfen war mit Lauge gefüllt. Gut, dann nehme ich eben die Gießkanne, ist ja ohnehin vorteilhafter mit ihrem Ausgießer. Ich kam nicht weit. „Wos zahst ’n do mit?“, ließ sich die Mutter vernehmen. Das Geheimnis wollte ich nicht verraten, so stotterte ich etwas Unverständliches und rückte schließlich mit dem Grund heraus: Ich wollte aus dem Schlaraffenland Zucker mitnehmen, so viel ich tragen konnte. „Loss die Kaundl do, des is jo nur a schens Märchen, die Fräuln wird’s eich scho noch sogn!“ – „Na ja“, dachte ich, „die Mutter kann es nicht wissen, sie ist ja auch nicht das Fräulein, sondern nur die Mutter!“ Mit dieser Feststellung ging es 49

wieder den Graben hinaus in Richtung Schule. Zur Not konnte ich mir bei der Frau Strasser im Dorf eine Kanne ausleihen. Das erübrigte sich. Das Fräulein hielt so gar nichts von meiner Idee und war derselben Meinung wie meine Mutter: Märchen sind Märchen, das ist so! Ich glaubte ihr nicht, das durfte man aber nicht sagen. So hoffte ich noch eine Zeit lang, dass das Märchen wahr würde, schließlich lügen auch die Erwachsenen manchmal. Aber es blieb dabei, Zucker musste beim Wieser gekauft werden, sofern es überhaupt einen gab.

Geschicklichkeit Im zweiten Schuljahr wurde ich von Fräulein Pechmann unterrichtet. Walter war nun im ersten Schuljahr, er hatte die Schultasche vom großen Bruder Karl übernommen, der ausgeschult worden war. Wieder waren wir an die fünfzig Kinder in der Klasse. Die Strenge unseres Fräuleins aus der ersten Klasse hatte anscheinend Früchte getragen, wir konnten schon recht gut lesen, und das Umsteigen vom Federstiel auf die Füllfeder schien keine Probleme zu machen, zumindest den Geschickten nicht. Für die Mutter war der Kauf der Füllfeder eine große Ausgabe, also sollte ihr ein langes Leben beschieden sein. Ich hatte so meine liebe Not, wie immer, wenn es um Geschicklichkeit ging. Die Füllfeder sollte immer, wenn das Röhrchen leer war, mit Tinte aus dem Tintenfass nachgefüllt werden. Wollte ich, dass es ohne Pannen verlief, überließ ich das Füllen dem kleinen Bruder. Musste ich es selber machen, drehte ich an ihr mit der gleichen Kraft, die ich gebrauchte, um die Haustüre aufzudrücken. So war die erste Füllfeder bald kaputt. Wie es der Mutter gelang, Geld für eine neue abzuzweigen, weiß ich nicht mehr. Während das Erlernen neuer Rechnungen so gleichmäßig dahinlief wie das Lernen von Wörtern und Sätzen, waren Handarbeiten, Musik und Turnen für mich Gegenstände, die mir Angst machten. Das blieb auch in der dritten und in allen weiteren Klassen gleich. 50

Ich lernte mit Mühe, ein Lied richtig zu singen, ein gelungener Überschlag auf der Turnstange gehörte zu den seltenen Ereignissen. Die guten Noten in diesen Fächern hatte ich wohl der Güte der Lehrer zu verdanken und ihrer Auffassung, dass es Nebengegenstände waren. Das Fräulein der ersten Klasse hatte ich auch in der dritten Klasse. Sie sagte zu meiner Mutter, dass sie sich keine Sorgen machen brauche, ich würde alles noch erlernen. Damals wurde häufig festgestellt, dass Buben das Rechnen leicht erlernen würden, in Lesen und Schreiben hingegen oft ihre liebe Not hätten, und bei den Mädchen verhielte es sich umgekehrt. Ich weiß nicht mehr, was davon stimmte, bei meinem Bruder schien es zuzutreffen, seine Freude am Lernen bezog sich nicht auf Schreiben und Lesen. Er tat sich nicht hervor, hatte aber gute Noten. Er konnte gut singen, spielte bald recht gut auf der Harmonika, konnte Schifahren und war später Mitglied der Fußballmannschaft, die der Herr Lehrer Felfer ins Leben rief. In der vierten Schulstufe hatte ich den Herrn Lehrer Felfer. Heute würden die Leute sagen, dass er ein moderner Lehrer war. Ich kann mich nicht erinnern, dass er einmal geschrien oder Strafaufgaben ausgeteilt hätte. Er war immer gut aufgelegt, liebte die Musik und den Sport. Er konnte einige Instrumente spielen, und nicht wenige Kinder gingen in die Musikschule, die der Herr Oberlehrer gegründet hatte, so auch mein Bruder. Es wurde viel gesungen, und wir fanden uns jede Turnstunde auf dem Sportplatz ein, auch wenn dieser nur mit einer Turnstange ausgerüstet war. Im Winter wurde Ski gefahren und gerodelt. Die Heimatkundestunde gestaltete er, ausgerüstet nur mit einer Landkarte und mit Erzählungen von Reisen, die er gemacht hatte, zu einem Erlebnis. Er spielte in der örtlichen Musikkapelle und wurde schließlich Kapellmeister. Vor allem die Buben, die in der Fußballmannschaft mitspielten, sprachen von ihm als „ihrem“ Lehrer.

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Von der Reinlichkeit Es war bekannt, dass der Herr Lehrer Felfer immer wieder einzelnen Schülern den Friseur bezahlte, wenn die Eltern es sich nicht leisten konnten. Wie sehr er aber am allgemeinen Wohlergehen der Kinder interessiert war, zeigte sich bei einer Aktion, die ich nie vergessen werde. Es gab kaum Häuser, in denen es schon ein Bad gab. Meist lebten mehrere Leute in einem Raum, und es gab in der Küche nur eine Waschschüssel, in der sich die Familienmitglieder nacheinander wuschen. Am Sonntag wurde die Wäsche gewechselt. Die Mädchen besaßen meist einige Kleider, über denen immer eine Schürze getragen werden musste, die ärmeren Buben nannten kaum mehr als eine gute Stoffhose ihr Eigen, die Lederhose musste ohnehin für Jahre halten. Im Winter wurde die Kleidung schmutzig, darunter blieb der Körper einigermaßen sauber, im Sommer aber schaute die Haut unter Hemden und Hosen heraus, außerdem ging man meist barfuß. So war es nicht verwunderlich, dass der Schmutz, der sich beim Spielen und bei der Arbeit am Bauernhof wie ein Mantel über die Haut legte und häufig erfolgreich der abend­ lichen Katzenwäsche trotzte, dem Herrn Lehrer schon in der ersten Schulstunde in die Augen sprang. Es ereignete sich, was mir heute so gegenwärtig ist, als wäre es erst gestern gewesen. Nach dem Schulgebet ließ er uns, obwohl keine Turnstunde bevorstand, in einer Zweierreihe vor der Wasserleitung, die an der Hausmauer des Schulhauses angebracht war, anstellen. Spätestens als er mit einer Bürste, einem Stück Seife und einem großen, blau gewürfelten Handtuch ausgerüstet beim Brunnen ankam, hätten wir wissen müssen, was uns bevorstand. Wir ahnten es nicht oder verdrängten die schreckliche Ahnung. Er begann, unsere Ohren, den Hals, die Hände und Arme, schließlich die Knie auf etwaigen Schmutz zu kontrollieren und wurde bei mehr als der Hälfte der Klasse fündig. Ich kann nicht mehr sagen, wie es mir gelang, der Großwäsche zu entgehen, die nun auf uns niederrinnen sollte. Er seifte ein, jeder Einzelne musste sich schrubben, nicht selten half er mit der Bürste nach. Mit dem Tuch in der Hand 52

überzeugte er sich vom Erfolg der Prozedur, die erst vor dem Pauseläuten zu Ende war. Wieder in der Klasse, die nun nach Waschküche roch, lieferte er die Erklärung für das seltsame Tun nach und ermahnte uns eindringlich, des Öfteren Wasser und Seife und, wenn es sein musste, eine Bürste zu verwenden. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich davon zu Hause erzählt hätte, auch die anderen taten es nicht. Es wäre wohl möglich gewesen, dass wir Vorwürfe gehört hätten: „Siachst as, hiatzt merkt scho der Lehrer, dass d’ di net woschn mogst, gschiacht da scho recht!“ Ob die Attacke unseres Lehrers eine Ära seriöser Gepflegtheit einleitete, wage ich nicht zu sagen, für die nächsten Tage war sie aber als geglückt zu betrachten. Die Meinungen der „Gepflegten“ liegen nicht vor. Nach der vierten Klasse gingen, soweit ich mich erinnern kann, die Renate vom Rack, die eigentlich Steiner hieß, und der Werner Schocklitsch in die Hauptschule, der Günther vom Peinhaupt und die Ingrid vom Oberlehrer ins Gymnasium in Judenburg. Alle Übrigen gingen weiter in die fünfte Klasse. Nicht, dass alle anderen ein zu schlechtes Zeugnis gehabt hätten. Auch mit einem guten Volksschulzeugnis konnte man die Berufe erlernen, die sich die Eltern vorstellten. Häufig war aber das Geld zu knapp, auch wenn der Wunsch vorhanden gewesen wäre, in die Hauptschule oder gar ins Gymnasium zu gehen. Ich kam ein Jahr später gleichzeitig mit Walter in die Hauptschule. Wie sich die Mutter das leisten konnte, kann ich nicht mehr sagen. Mein Bruder fühlte sich in der Hauptschule nicht wohl, er hatte Angst vor den Lehrern. Er sprach nicht darüber, sondern begann, die Schule zu schwänzen. Die Mutter bekam den blauen Brief, der bedeutete, dass er in die Volksschule zurückversetzt wurde. Die Mutter kränkte sich und schämte sich. Der Herr Oberlehrer nahm ihr alle Sorgen, indem er ihr versprach, dass Walter von den Schülern seiner Klasse nicht ausgelacht werde und auch in der Volksschule alles lernen könne, was er für einen Beruf brauche. Er werde wieder Freude am Schulgehen haben. So war es dann auch. Er lernte gut und gerne, hatte wieder gute Noten und lernte später problemlos den Beruf des Tischlers. 53

Der Oberlehrer muss ein guter Pädagoge gewesen sein. Er kannte die Schwächen und Stärken seiner Schüler und wusste um ihr Elternhaus Bescheid, in dem es oft an Geld fehlte. Sie lernten neben den schulischen Gegenständen auch Praktisches, wie die Grundlagen der Bienenzucht, ein Buch binden, ein Fahrrad reparieren. Außerdem sorgte er für musische Bildung, indem er eine Musikschule und einen Chor gründete. Die Idee eines Schulgartens wird nicht zur Zufriedenheit der Mädchen ausgefallen sein, weil sie statt Turnen häufig darin arbeiten mussten, ohne die Früchte für sich ernten zu können.

Schulausflüge Für die meisten Kinder waren die Schulausflüge wie heute Reisen in die weite Welt. Im zweiten Schuljahr verriet uns das Fräulein Pechmann, dass wir einen Schulausflug auf den Bösenstein machen würden. Von diesem Berg, der gar nichts mit „böse“ zu tun hat, sondern mit der Pölsen, dem Gebirgsbach, der dem Tal den Namen gab, hatten wir zwar schon gehört, aber niemand war noch dort gewesen. Wir mussten zwei Schilling für die Fahrt bezahlen. Ich höre noch die Mutter sagen: „Dafür könnt ma zwa Kilo Brot kafn, oba fohrts nur, i bring’s scho auf!“ Es war ein nebelverhangener, kalter Tag. Wir warteten aufgeregt vor dem Schulhaus, als sich ein Lastauto durch das laute Knattern des Motors ankündigte. Es war ein Lastwagen, auf dem zwei Reihen Holzbänke standen, darüber spannte sich eine Plane. Hätte das Fräulein nicht eingegriffen, hätten wir uns am liebsten alle zur gleichen Zeit auf die Plätze gestürzt. Nachdem das Fräulein durch lautes Zählen festgestellt hatte, dass niemand fehlte, fuhr das Auto los. Es beutelte uns gehörig durch, der Motor dröhnte, der Wind pfiff durch die Bankreihen. In Hohentauern angekommen, machten wir uns auf den Weg bergauf, der Nebel war geblieben. Wie lang würde der Weg sein, was würde es im Gasthaus zu essen geben? Wichtige Fragen! Die Kälte war wohl schuld daran, dass es statt Kracherl Tee gab. Manche Kinder hatten 54

Geld für ein Frankfurter Würstel von zu Hause mitbekommen, wir gehörten nicht dazu. Wir packten die Jause aus, wie wir es von der Schule gewohnt waren. Den Bösenstein haben wir nur aus der Ferne gesehen, der Nebel ließ die Besteigung nicht zu, was unserer Freude über den ersehnten Ausflug aber keinen Abbruch tat. Unterwegs zurück zum Lastauto setzte sich mein kleiner Bruder von der Bubengruppe ab und ging mit mir weiter: „I will a bissl niederliegen, mir is so worm, i kimm nach!“ Stellte es fest und legte sich hin. Das Fräulein fühlte seine Stirn und gleich auch meine. Sie war heiß. Ich erinnere mich, dass wir den ganzen Weg mit dem Fräulein gehen durften, was mir wie eine besondere Auszeichnung vorkam. Der Lastwagen brachte uns wieder vor das Schultor in St. Georgen. Nach vielen Rastpausen, die wir auf dem Heimweg in den Graben einlegten, kamen wir im Dunkeln zu Hause an. Beide hatten wir vierzig Grad Fieber, dann hielten uns die Masern im Bett fest. „Wenigstens haum ma beim Schulausflug mitfahren können“, stellte der kleine Ziehbruder fest. Somit war er trotz aller Hindernisse ein Erlebnis. Der Schulausflug in der fünften Schulstufe sollte zwei Tage dauern – ein Ereignis, dem wir entgegenfieberten. Das Ziel sollte Mariazell sein. Wir fuhren mit dem Zug und mit dem Autobus. Die Kirche wurde bestaunt, vielleicht waren wir angesichts der Pracht in der hell erleuchteten Kirche auch ein wenig andächtiger als in der Dorfkirche in St. Georgen. Von großer Bedeutung waren die Standln vor der Kirche. „Des schaut jo aus wia bei uns am Gjurgitog“, stellte die Waltraud fest und zählte das Geld, das sie zum Andenkenkaufen mitbekommen hatte. Sie hatte wie ich noch nie eine größere Veranstaltung als den Festtag des heiligen Georg, der bei uns „Gjurgitog“ hieß, erlebt und maß alle Ereignisse daran. „Kaufen kannst du morgen“, stellte die Frau Lehrerin Eder klärend fest, „wir schauen uns jetzt die mechanische Krippe an.“ – „Hiatz im Summer?“, ließ sich mein Bruder verwundert, aber leise vernehmen. Ihn interessierten die vielen Figuren weniger als das „Werkel“ dahinter. Maria und Josef mit dem Jesuskind erschienen mir, anders als in unserer Krippe in der Dorfkirche, so gar nicht arm und ein55

sam in der Kälte des nächtlichen Stalles, sondern eher wie der Mittelpunkt des Jahrmarkttreibens in Mariazell. Aber schön war sie schon, die Krippe, wie auch alles andere schön und interessant war: die Bürgeralpe, der Erlaufsee, alle Orte, durch die wir fuhren. Auf der Heimfahrt wurden die Dinge ausgebreitet, die wir bei den zahlreichen Buden erstanden hatten. Da fanden sich Kerzen und Wachsstöcke, Lebkuchenherzen, Kaffeehäferln, jeweils mit dem Bild der Gnadenkirche, wie der Herr Pfarrer die Mariazeller Kirche zu benennen pflegte, weiters Fingerhüte und ein Rosenkranz. Die Buben hatten mit einigen Ausnahmen, so ein Sohn vom Rinnofner, eher Unheiliges gekauft. Da fanden sich Taschenfeiteln, eine Anstecknadel für den Hut oder Blechbildchen, die auf einen Wanderstock genagelt werden konnten. Weil es das Allerbilligste war, was man zu kaufen bekam, trotzdem aber auf die Heiligkeit des Ortes hinwies, fand sich bei ­allen ein Breverl, ein blechernes, groschengroßes Abbild der Mariazeller Muttergottesstatue. Wie es sich gehörte, zeigten wir am nächsten Tag die Breverln und sonst noch einiges dem Herrn Pfarrer. Ob die Taschenfeiteln auch dabei waren, weiß ich nicht mehr.

Beim Kaufmann Wieser Einkaufen in der Nachkriegszeit Nicht, dass es in St. Georgen nur ein Kaufhaus gegeben hätte, es gab zwei: das Kaufhaus Dürrnberger und das Kaufhaus Wieser, wo wir einkauften. Die Mutter hielt es wie die meisten Leute im Dorf: Wo sie das Büchel hatte, dort kaufte sie vorwiegend ein. Gab es beim Dürrnberger etwas Außergewöhnliches, wurde auch dort eingekauft, natürlich nur gegen Barzahlung. „Verlierts ma die Marken net!“, klang es uns noch im Ohr, als wir über die Wiese hinausgingen, der Schule zu. Der Auftrag bedeutete nichts anderes, als nach der Schule zum Kaufmann Wieser zu gehen und einen Wecken Brot zu kaufen, manchmal 56

noch eine Kleinigkeit dazu wie Zündhölzer, Schuhschmiere oder ein Würferl Germ. Wir bekamen höchst selten Geld mit, brauchten wir auch nicht, wir ließen wie fast alle Leute im Dorf im Büchel aufschreiben. Das Büchel war ein schmales, dünnes Buch, halb so groß wie ein Schulheft, mit linierten Seiten, die noch Längsstriche hatten, damit Schilling und Groschen fein säuberlich getrennt eingetragen werden konnten. Die Mutter hatte die Artikel meist schon ins Büchel geschrieben, gegen das Vergessen, wie sie sagte. Dann brauchte vom Kaufmann nur mehr das Gewicht oder die Stückzahl und natürlich der Preis dazugeschrieben werden. Wir luden alles in oder auf die Schultasche und machten uns mit der Semmel, die wir uns kaufen durften, auf den Heimweg. Ich erinnere mich noch genau an das Büchel und an die Bezugsscheine, jedes nähere Wissen um die bis zum Jahre 1949 gültigen Lebensmittelkarten ist mir aber abhandengekommen. Wie viel man einkaufen konnte, hing nach dem Krieg nämlich nicht nur von der gefüllten Geldtasche ab, sondern auch von dem Wenigen, das da war, von der Menge der ausgegebenen Lebensmittelmarken, auf die man Anspruch hatte, sowie von der geringen Anzahl der Bezugsscheine vor allem für Kleidung und Schuhe. Beides, Lebensmittelkarten und Bezugsscheine, war ein häufig beklagter Gegenstand der Gespräche zwischen den Dörflern und den Grablern. Alle sehnten die Zeit herbei, wenn sie endlich „eingestellt“ sein würden und man endlich nach freien Stücken das Nötigste einkaufen konnte. Beim Wieser gingen wir höchst aufmerksam und gesittet­hinein und vor allem voller Neugier. Ich kann mich nicht ­erinnern, auf ein lautes „Grüß Gott!“, das aber eher wie ein „’s Gott!“ klang, vergessen zu haben, wenn die Glocke an der Ladentüre klingelte. Die alte Frau Wieser war eine große, würdige, uns Kindern Respekt einflößende Frau, wenn sie in ihrem strengen, dunklen Kleid, mit einer Schürze darüber, vor uns stand. Sie war schon lange Witwe, ihr Sohn Franz Wieser, der sie längst unterstützen sollte, war seit dem Krieg in Russland in Gefangenschaft. So war sie mit Voitl, einem kleinen, rührigen Mann, der vor vielen Jahren als Lehrling hier angefangen hatte, allein an57

gekommen. Sieben Tage in der Woche standen sie im Geschäft und verkauften alles, was die Menschen im Dorf brauchten, vom Zündholz bis zum Werkzeug, Kleidung und Schuhe, Lebensmittel und Viehfutter. In der unmittelbaren Zeit nach dem Krieg blieb trotz des Einfallsreichtums und der großen Bemühungen der Wiesers die Frage, wo man denn noch etwas herbekommen konnte, häufig offen und das Lager halbleer. Wenn ich mich an die vielen Gespräche mit meiner Ziehmutter erinnere, die sich in den Jahren nach dem Krieg ums Einkaufen drehten, muss die Frau Wieser eine bedeutende Frau gewesen sein. Nicht nur, dass sie jeden Tag im Geschäft stand, sie legte immer wieder auch den Grablern und den Bewohnern der Höhen, zu denen die Kunde vom Eintreffen neuer Ware und insbesondere von Schuhen nicht so schnell vordrang, etwas auf die Seite. So kam ich im Winter 1946, nachdem ohne passende Schuhe kein Schulgehen mehr möglich war, zu funkelnagelneuen Schuhen. Viele der St. Georgener werden Ähnliches zu berichten wissen. Meine Mutter konnte öfters mit Lebensmitteln bezahlen, was bedeutete, dass sie ein Stück Butter, Schmalz, Speck oder im Herbst Preiselbeeren etwa gegen Mehl oder gar Zucker, Petroleum, Nähnadeln oder ein Stück Stoff eintauschen konnte. Der Voitl, wie ihn alle nannten, war ein umsichtiger Kaufmann. Er war klein gewachsen, die älteren Schulkinder waren bereits auf Augenhöhe mit ihm. Ich habe ihn fröhlich in Erinnerung, wenn er geschäftig zwischen Budel und Laden, zwischen Mehlsäcken und Petroleumkanistern hin und her lief. Nichts, aber auch gar nichts übersah er, auch nicht unsere begierigen Blicke auf die drei Zuckerlgläser und andere Dinge, die unsere Neugierde weckten. Wenn die Mutter mit anderen Frauen zusammenstand und Neuigkeiten besprach, kamen sie häufig auf die Frau Wieser zu sprechen und auf ihr sehnsuchtsvolles Warten, dass der Sohn aus der Gefangenschaft heimkomme. „Wos muass die orme Frau noch datrogn?“, war die Frage einer Dörflerin, als auch im zweiten Jahr nach dem Krieg der junge Herr Wieser noch immer nicht unter den Heimkehrern war. Dieses Warten berührte 58

die Dörfler, ließ sie mit ihr hoffen. Als sie schwer krank wurde, ging im Dorf die Rede um, sie wolle ihn am Sterbebett erwarten und dann getrost „heimgehen“. Sie hat seine Heimkehr nicht mehr erlebt. Als er endlich heimkam, bedankte er den Voitl und entlohnte ihn gut, wurde im Dorf gesagt. Machten wir auf dem Nachhauseweg von der Schule immer schon gerne einen Umweg über das Kaufhaus, dehnten wir die Besuche nun aus. Häufig wurde gesagt: „Beim Wieser gibt’s jetzt …“, „der Wieser hat ...“, was bedeutete, dass er die Errungenschaften der Wirtschaft, den Aufschwung ins Dorf brachte. Meiner Mutter blieb am Ende des Monats nie so viel übrig, als dass sie hätte große Sprünge machen können. So blieb es meist beim Wünschen. Es war an einem Samstag nach dem Ersten eines Monats, also ein Tag, an dem die Mutter das Büchel abrechnen ließ, die Schulden bezahlte und sich für uns eine Süßigkeit ausging, als Herr Wieser so beiläufig sagte: „Frau Pojer, wenn S’ amol wos Größeres kaufen möchten, wie wär’s mit monatlichen Raten, do täten S’ Ihna leichter!“ Die Mutter war nach den langen Jahren, wo es nicht einmal für das Nötigste gereicht hatte, nach diesem Angebot erleichtert. „Dank recht schen, Herr Wieser, i tät wohl allerhand brauchen, i werd scho pünktli zohln!“, kam es aufgeregt aus ihr hervor. Sie konnte nun nötige Anschaffungen machen. Der Gipfel dieser Anschaffungen waren Tuchenten, weich und warm, sowie Flanell für ein richtiges Nachtgewand. Beides hatten wir bisher nicht besessen. Man schlief unter einer Decke, auf der im Winter noch Kotzen lagen, ein langärmeliges Hemd beim Bruder und ein Unterhemd bei mir mussten es für die Nachtruhe tun, und da niemand ein eigenes Bett für sich beanspruchen konnte, wärmte die Nähe der anderen. Die Überlegung unseres Kaufmanns Franz Wieser, das zu verwerten, was der Wald bot und damit gleichzeitig den Dorfbewohnern ein Zugeld zu verschaffen, brachte es mit sich, dass im Sommer, so um den Annatag herum, eine gute Zeit begann, in der wir Kinder etwas verdienen konnten, und die bis weit in den August hinein andauerte: die Himbeerzeit. Dort, wo vor 59

Jahren Holz geschlägert worden war, hatten sich neben den Baumstümpfen und über den Frattenhaufen Himbeerstauden ausgebreitet, die im Sommer die köstlichen roten Beeren trugen. Mit einer größeren Kanne – besonders geübte „Brocker“ nahmen auch Eimer mit und ein kleines Gefäß zum Hineinbrocken, das man sich um die Mitte band – machte man sich auf den Weg. Wichtig war, kein Fleckchen Haut unbedeckt zu lassen, weil die Himbeerstauden stachen und sich immer in der Gefolgschaft eines ganzen Heeres von Brennnesseln befanden. Hatte man ihnen erfolgreich getrotzt und einige Stunden fleißig Beere für Beere in das Geschirr geklaubt und auf dem holprigen Boden die Himbeeren nicht durch Unachtsamkeit verschüttet, machte man sich auf den Weg zum Wieser. Durch die ständige Erschütterung beim Gehen sanken die Himbeeren im Behälter zusammen, sodass es aussah, als hätte man nur halb voll gepflückt. „Na, wia schaut’s aus?“, höre ich den Herrn Wieser noch sagen, „habts fleißi brockt oder nur gjausnet?“ Daraufhin kam unsere Entschuldigung: „Jo, oba es sinkt immer so zsaum!“ – „Mochts eich nix draus, es gilt jo eh ’s Gwicht“, lenkte der Herr Wieser ein. Unter unseren neugierigen Blicken wog er die Beeren, zog das Gewicht des Geschirrs ab und nannte endlich das Gewicht der Beeren. Im Kopf rechneten wir mit. Bei drei Kilo Beeren machte der Erlös die ungeheure Summe von zehn Schilling und fünfzig Groschen aus, die uns sogleich ausbezahlt wurden. Nun öffnete er den Deckel eines Fasses, das gut und gerne 300 Liter fasste, leerte die Himbeeren hinein und schloss den Deckel wieder. Mein kleiner Ziehbruder schwor einmal, nie mehr in seinem Leben eine Himbeere zu essen und nie mehr Himbeersaft zu trinken, seit er wisse, wie die Würmer zu Hunderten im Fass herumschwimmen – er aß wie ich weiter Himbeeren und trank den Saft. Die Mutter gab den kurzen Kommentar ab: „Do derfat ma jo gor nix mehr essen, san jo überall Viecher dabei!“ Waren die Fässer voll, wurden sie von einem Lastauto abgeholt. Der Herr Wieser zeigte uns einmal eine Flasche, auf der schwarz auf weiß „Gebirgshimbeersaft“ stand und beteuerte, dass unsere Himbeeren auch dabei seien. 60

In dieser Zeit roch es beim Wieser nicht nach Petroleum, sondern nach Himbeeren, aber auch nach Gärung, wenn die Fässer schon lange standen. „Hörts ma auf mit dem siaßn Zeug“, ließ der Simmerl, ein Knecht beim Baumgartner, verlauten, als er dem Diskurs der einkaufenden Frauen über den Nutzen der Himbeeren für das Einkochen von Marmelade und das Saftmachen gefolgt war, „do is ma der Himbeergeist scho liaber!“

Weit mehr als ein Kramerladen Die Geschäfte in Judenburg hatten bereits eine große Auswahl, von Kastner & Öhler in Graz gar nicht zu reden, meinten die, die schon einmal dort waren. Das Kaufhaus Wieser hatte aber den ungeheuren Vorteil, dass es im Dorf war, dass man jederzeit aus und ein gehen konnte, schauen und manches Mal etwas kaufen. Betrat man das Geschäft, läutete eine Glocke. Wochentags stand ich meist unter Hausfrauen und Bäuerinnen im Geschäft, und ich wäre gerne so groß gewesen wie sie, um alles genau sehen zu können. Am Samstag waren viele Leute da, und es hieß warten vor der Budel, die tief in den Raum hineinreichte. Etwas erhöht stand darauf eine kleine Stellage, auf der sich drei Gläser befanden, die mit einem Glasdeckel verschlossen waren. Darin lagen dicht gedrängt Zuckerln, deren Namen wir auswendig wussten: „Schweizer Kreuz“, Orangenspalten und Pfefferminzzuckerln. Später kamen noch Firnzuckerln dazu. An der Wand hingen, an einer Schnur aufgereiht, Papiersäcke verschiedener Größe, in die die unterschiedlichsten Artikel eingewogen wurden, etwa Mehl, Grieß, Polenta, aber auch Soda und Hühnerfutter. Eine Besonderheit waren die papierenen Stanitzel, die für kleinere Mengen bis zu einem viertel und halben Kilo einer Ware verwendet wurden. Zuckerln und Rosinen gab es bereits ab einer Menge von fünf Dekagramm zu kaufen. Kein Handgriff der Wiesers entging unserer Aufmerksamkeit, wenn sie mit einem kleinen Schauferl in eines der Gläser hineinlangten, um die Zuckerln herauszuwiegen und anschließend das Stanit61

zel sorgsam zu verschließen. „Essts net alle glei auf amol auf, sunst kriagts Bauchweh!“, meinte der Voitl schmunzelnd. Der junge Herr Wieser und bald auch seine Frau fügten häufig ein Zuckerl extra hinzu. Was sich unter der Budel befand, entzog sich unseren neugierigen Blicken. Hinter der Budel war der Platz eng, weil sich über die ganze Wand ein hoher Kasten erstreckte mit vielen verschieden großen Schubladen, die ursprünglich in Kurrentschrift angeschrieben waren. Teilweise waren sie noch immer in Kurrentschrift angeschrieben, was wir Kinder kaum entziffern konnten, doch mit der Zeit merkten wir uns einige Laden, die interessanten eben. Manche Laden bargen Schätze wie Rosinen, Zucker, Würfelzucker und Haferflocken und zu Weihnachten Nüsse, Mohn, später Arancini und Zitronat oder gar Kakao, der in kleinen Schachterln abgepackt war. Auf dem Boden standen Säcke und Kannen, an Haken hingen Ketten für die Tiere, „Melchsechter“ und Mausefallen. Beim Wieser habe es alles gegeben, sagte unsere Mutter noch, als sie schon sehr alt war. Ein anderes Mal erinnerte sie sich aber, dass der Voitl im Jahr nach dem Krieg einmal gesagt hatte: „Schauts her, wenns as net glaubts, es is ois leer und es kummt no immer nix noch!“ In allen Häusern wurde gestopft, genäht und ausgebessert, da waren wohl jene Laden wichtig, die so Praktisches enthielten wie Zwirn, Knöpfe, Hafteln und Druckknöpfe, Gummi für Strumpfbänder, Köperbänder in blau und weiß, Stopfnadeln und Stopfwolle. Und Haarspangen für die vielen Zöpfe der Dorfmädchen sowie Haarnadeln für ihre Mütter und Großmütter. Die „beinernen“, wie die braun glänzenden aus Rinderhorn genannt wurden, waren noch sehr schwer zu bekommen. Einmal, ich hatte wieder einmal alles verloren, was die widerspenstigen Haare zusammenhalten sollte, war die Geduld meiner Mutter zu Ende, sie nahm ein Köperband und flocht es ein. Wie durch ein Wunder ging dieses nicht verloren. Beim Wieser gab es auch zu kaufen, was wir für die Schule brauchten, Hefte, Bleistifte und Radiergummi. Die Hefte für die Schule wurden nach dem Krieg zum Schutz vor Fettflecken, die die Jause häufig hinterließ, in Ermangelung von etwas Besserem 62

in Zeitungspapier eingebunden. Wir verwendeten dafür bereits kurz nach dem Krieg weißes und sogar gemustertes Papier, weil wir den ungeheuren Vorteil hatten, dass Onkel Franzl in der Pölser Papierfabrik arbeitete. Es mag in der zweiten Klasse gewesen sein, als es beim Wieser auf einmal blaues Packpapier gab und den Luxus von weißen Heftschildern. Man brauchte sie auf der Rückseite nur befeuchten, und schon klebten sie. Wo die Budel um die Ecke reichte, lag Käse, an der Wand waren Haken angebracht, an denen Würste hingen, wahrscheinlich allerdings nicht gleich nach dem Krieg. Daneben stand ein Glas mit Essiggurkerln. Ich erinnere mich an ein besonderes Einkaufserlebnis, nachdem der Vater gestorben war. Konnte bisher nur gekauft werden, wofür man Marken oder einen Bezugsschein erhalten hatte, gab es zusehends mehr Artikel auch frei zu kaufen – wenn Geld da war. Durch den Tod des Vaters, seine Überführung nach St. Georgen und die Begräbniskosten war kaum mehr Geld im Haus. An einem Sonntag nach dem Kirchgang sagte die Mutter ganz gegen ihre Gewohnheit: „Heit geh ma beim Wieser hinten eini a Kloanigkeit kafn.“ Es war nicht zu sehen, was so wichtig gewesen wäre, dass es am Sonntag gekauft werden musste. Wir gingen hinten hinein, was bedeutete, den Hauseingang der Familie Wieser zu benutzen, vorbei an verschiedenen Kannen und Schachteln. Der junge Herr Wieser war schon aus der Gefangenschaft heimgekehrt und stand hinter der Budel. In einer der Schachteln, die er vor die Mutter hinstellte, lagen Schürzen, Taschentücher und Kopftücher, in einer anderen rosa Unterhosen. Schließlich ließ sich die Mutter aus einer weiteren Schachtel grüne Stutzen für den kleinen Bruder geben und für mich weiße Socken mit Ringelmuster. Aber das war noch nicht alles: „Geben S’ bitt schen de zwoa Kinder a Wurstsemmel mit an Gurkerl drauf!“, bat sie. Die Mutter ließ diesmal nichts aufschreiben, sie bezahlte bar und befand, dass sich noch etwas Kleines ausging – Bensdorp-Schokolade! Die große Schwester, die in Vorarlberg arbeitete, hatte Geld geschickt und bescherte uns, ohne dass ein besonderer Anlass gegeben war, die gekauften Herrlichkeiten. 63

Wir verabschiedeten uns, der Herr Wieser rief der Mutter nach: „Es wird scho wieder!“ Ich verstand den Satz nicht. „Schaun S’ wieder amol eina, es gibt immer mehr schene Sachen“, verstand ich aber sehr wohl und malte mir aus, was denn die anderen Schachteln enthielten. In den folgenden Jahren gab es immer mehr zu kaufen, die Auslagen wurden oft neu eingeräumt. „Der Wieser kann ja nichts dafür“, lautete ein häufig geäußerter Satz der Erwachsenen in der unmittelbaren Nachkriegszeit zum armseligen Angebot in der Auslage. Dann wurde von den Friedensjahren vor dem Krieg erzählt, wo es angeblich alles zu kaufen gegeben hatte. Wir Kinder fanden, dass es beim Wieser viel mehr „Schätze“ gab, als wir zu kaufen vermochten, weil uns das Geld fehlte. Von manchen Kindern ist mir bekannt, dass sie so lange bei der Mutter „bettelten“, bis sie den Kauf erlaubte. So kamen Buben mit einem neuen Taschenmesser in die Schule, und Mädchen trugen die neuartigen Haarreifen. Wir hätten das „Betteln“ nicht gewagt, sondern hofften auf ein „Später“, eine Zeit also, die nach den Aussagen der Mutter auch für uns besser sein würde und allerlei Überraschungen bereithalten würde. Die Ausdehnung unserer gewohnten Welt auf Judenburg und darüber hinaus ließ später die Wünsche wachsen, aber noch kannten wir es nicht anders und waren zufrieden.

Häuser und Höfe Es mag vor Weihnachten 1947 gewesen sein, wir drückten gerade unsere Nasen an der Auslagenscheibe des Kaufhauses Wieser platt, als uns eine vornehme Frau – es war Frau Strainz aus Schütt, wie wir später erfuhren – freundlich ansprach: „Wie heißt ihr denn, und wo kommt ihr her?“ Wir antworteten artig wie in der Schule, sagten unsere Namen und, wie wir es gewohnt waren, unser Zuhause: beim Mühlbauer, in der Schloßmoarhütte, bei der Libmingerhuben. „Ja, habt ihr denn keine Hausnummern?“, lautete die verwunderte Frage der vornehmen Frau. Wir hatten Hausnummern, viel geläufiger waren 64

uns aber bestimmte Ausdrücke, die meist die Art des Hauses bezeichneten. Wir kannten die Unterschiede von Haus, Hof und Hütte, Hube und Keusche, und verwendeten wie unsere Eltern und die anderen Leute im Dorf diese Bezeichnungen. Sie waren uns vertraut. So war Günther, der längst nicht mehr unter uns weilt, beim Peinhaupt aufgewachsen, einem stattlichen Bauernhof mit ­einem Wirtshaus, der mitten im Dorf stand und wo alljährlich einer der Fronleichnamsaltäre aufgebaut wurde. Im Dorf gab es etliche solcher stattlichen Häuser, einige – der Chronik nach zu schließen – sind weit über hundert Jahre alt, wie Baumgartner, Wieser und Irregger. In ihnen wohnten Bauern, die manchmal gleichzeitig Wirte waren, mit ihrer Familie. Der Großbauer Baumgartner hatte eine Reihe von Bediensteten. Ledige Bedienstete, meist Knechte und Mägde, wohnten in den dafür vorgesehenen Knechtkammern und Mägdestuben, wenn sie aber Familie hatten, wohnten sie häufig wie beim Baumgartner in einem Nebengebäude. So wohnte Johann Köck, der Moar beim Baumgartner war, mit seiner ständig wachsenden Familie in einem kleinen Haus neben der Tennbrücke in nur zwei Räumen. Erst viel später kam noch ein kleines Zimmer dazu. Die Familie Umundum wohnte über der Schmiede, der Melker Kofler in einem am Stall angebauten Haus. Unter dem Dach dieses Hauses wohnte ab 1949, nachdem unser Vater gestorben war und wir den Graben verlassen hatten, auch die Mutter mit mir und Walter. Häuser, in denen mehrere Arbeiterfamilien wohnten, meist Sägearbeiter vom Baumgartner, gab es nur vereinzelt. Die Häuser im Besitz der Familie Baumgartner im Ort, in den dazugehörigen Gräben und auf den Anhöhen zusammengezählt, hätten ein eigenes kleines Dorf ergeben, diese Feststellung war oft zu hören. Die überwiegende Zahl der Bauernhäuser hatte Vulgonamen, also Hausnamen, die sich nicht mit den Familiennamen der jeweiligen Besitzer deckten. So bewohnte die Familie Reichsthaler in Nußdorf das Bauernhaus mit dem Hausnamen Schloßmoar. Beim Schloßmoar arbeitete meine leibliche Mutter als Magd. Mit meinen zwei Halbgeschwistern wohnte sie dort 65

in der Mägdekammer und musste mit Bett, Nachkastl und Kasten ihr Auslangen finden. Mehr gab es nicht. Andere Kinder wieder wohnten in Zwei- oder Mehrfamilienhäusern mit unterschiedlichen Besitzern. Sie wohnten meist bei den Eltern und waren die Kinder vom Schuster Oswald Stark, von der Schneiderin, Frau Stampfer, oder vom Müller Knoll. Ingrid, die Tochter des Oberlehrers, wohnte im Parterre des Schulhauses, darüber befanden sich die Schulklassen. Ich durfte manchmal im Winter, wenn es bitterkalt war, mich zu ihr anwärmen gehen oder zu Mittag nach der Schule auch eine Weile dort spielen. Sie hatte ein eigenes Zimmer, wo neben einem Kleiderkasten noch ein Schubladkasten stand und ein Nachtkästchen neben dem Bett. Ein Tisch mit Sessel vervollkommnete die Einrichtung. Spielsachen gab es da, überall im Zimmer verteilt, und sie hatte alle diese Schätze für sich alleine. Ich sehe die Dinge heute noch vor mir, spüre die Verwunderung über all die Pracht, die ich nur in Märchen vermutete. Traude wohnte in einem winzigen Haus neben dem Sägewerk, in dem ihr Großvater Vorarbeiter war. Ihr gehörte die Dachkammer. Ein weiteres Mädchen, ich glaube, sie hieß Rosi, wohnte in einem Bahnwächterhaus, ganz nahe an den Schienen, auf denen auch damals schon Tag und Nacht Züge vorüberbrausten. Im Straßenmeisterhaus in Pichlhofen wohnte Norbert, ein Schulkamerad meines kleinen Bruders. Wenn sich der Schulweg in Walters Vorstellung dehnte und kein Ende nahm, wünschte er sich manchmal, bei Norbert im Haus zu wohnen, ganz nahe neben der Straße eben. Zwei Schulkameraden meiner älteren Ziehgeschwister, die Kinder des E-Werkbetreuers Weinke, wohnten über dem E-Werk, in dem Tag und Nacht die Maschinen hämmerten. Unser Schulweg führte daran vorbei, und meinen beiden Ziehbrüdern hatten es diese Maschinen angetan. Walter hätte sie allzu gern aus der Nähe gesehen, der Eintritt war aber strengstens verboten, wie ein Schild verkündete. Neben der Kirche stand der Pfarrhof, ein stattliches Haus mit mehreren Zimmern, die aber nur der Herr Pfarrer Jäger und seine Köchin Rosa Frodl bewohnten. Es musste schon mit dem 66

Beruf des Pfarrers als Gottesmann zusammenhängen, dass er so viel Platz beanspruchen konnte. Ich war jedenfalls fest davon überzeugt. Das Baumgartnerhaus, das wir nach dem Auszug aus dem Graben näher kennenlernen sollten, ist in meiner Erinnerung groß und prächtig. Die Anzahl der Zimmer erschien mir damals unwirklich, ebenso die Ausstattung. Überall gab es Lampen, viele mit gleich mehreren Birnen, Teppiche auf den Böden und Vorhänge an den Fenstern. Auf den Bänken lagen Pölster genauso wie auf einer Anzahl größerer Sessel – Fauteuil und Couch wird man in höheren Kreisen auch damals dazu gesagt haben. Ich hätte mir diese Ausdrücke damals nicht merken können, dessen bin ich mir gewiss. Die Zimmer der Köchin und der Hausmädchen, in die ich einmal einen Blick werfen durfte, erschienen mir herrschaftlich. Wenn sie auch nur das Notwendigste an Mobiliar enthielten, so war dieses meist aus schönerem Holz, als wir es gewohnt waren. Es stand ein Waschtisch im Zimmer, der Luxus schlechthin, an den Fenstern hingen Vorhänge, und von der Decke baumelte eine elektrische Lampe. Diese Lampe wird es gewesen sein, die mir den Hauch des Edlen vermittelte, weil ich immer, wenn ich ein Zimmer besichtigen durfte, darum bat, das Licht einschalten zu dürfen. Den Knechtstuben haftete hingegen gar nichts Edles an. Auf den Betten lagen statt Überdecken nur Kotzen, kein Vorhang zierte die Fenster, der Geruch von alten Kleidern und Tabak lag darüber. Beim Wieser, Dobernigg und Peinhaupt kannten wir die Gaststuben und Küchen. Sie waren immer um einiges besser eingerichtet als zu Hause, und was nicht zu übersehen war: Es gab riesige Pfannen und Töpfe auf einem großen Herd. Im Vorhaus stand meist der Eisschrank, in den ich nur zu gerne einmal hineingeschaut hätte. Das Küchenpersonal aß in der Küche, die Knechte in der Knechtstube. Die Wohnräume dieser Familien waren, wie ich es später empfunden habe, immer schöner als zu Hause. In den Häusern der Handwerker wird es wohl selten so edel und vornehm wie beim Baumgartner gewesen sein, sicher aber vielfältiger und gehobener als bei Arbeiterfamilien. 67

Einmal durfte ich meine Mutter begleiten, als sie die bestellten Schwarzbeeren in einem schönen Haus draußen im Dorf ablieferte. Die Tochter, die mir von der Schule her bekannt war, zeigte mir das Haus und führte mich in alle Räume. Mein ganzes Augenmerk fiel auf das Bad mit Badeofen, Waschbecken und der großen Badewanne, einem Spiegel mit Etagere, auf dem sich allerlei Tuben und Tiegel befanden. Für die Seife gab es ebenso einen Becher wie für Franzbranntwein und den Rasierpinsel des Vaters. In der Küche stand eine große Eckbank, neben der dreifenstrigen Kredenz stand noch ein extra Speiskasten und eine Abwasch mit zwei Becken, aus denen das Wasser automatisch abfließen konnte. Gab es Besuch, wurde im anschließenden Zimmer gegessen, erfuhr ich. Meine Mutter erhielt in der Küche ein Häferl mit Kaffee. Was keinerlei Eindruck auf mich machte, war die Feststellung meiner Mutter, dass es in diesem Haus nur Hartholzmöbel gab und ebensolche glänzende Böden. Da haben mich eher die Teppiche beeindruckt, die Vorhänge, die Bilder und das Licht. Es gab keine finsteren Winkel, überall hätte man lesen können. Was ich vorher nicht wusste, es gab wie beim Post-Wieser ein englisches Klosett. Als die Frau mein Staunen sah, meinte sie: „Na ja, ich sehe, dass ihr da drinnen im Graben schon recht arm seid.“ Was sie weiter noch zu sagen hatte, ist mir nicht in Erinnerung geblieben, weggefegt war meine Bewunderung, verflogen meine Neugier. Ich wollte heim! Auch meine Mutter verabschiedete sich, nicht ohne sich mehrmals für das Beerengeld und den Kaffee bedankt zu haben. Da musste doch etwas sein, das mich an diesem Daheim im Graben festhielt wie ein unsichtbares Band. Ich träumte weiterhin von schönen Dingen, nur tauschen wollte ich mit niemandem.

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Keuschen, Hütten und Huben Die Kästen waren niemals voll Bis jetzt war immer von Häusern und Höfen die Rede, es fehlen in meiner Aufzählung noch zahlreiche Gebäude um den Ort herum, verstreut auf Anhöhen, in Gräben, am Bach und auf der Alm: die Hütten, Huben und Keuschen. Meine ganze Volksschulzeit hindurch machte ich die Erfahrung, dass es – von einigen Besonderheiten abgesehen – überall in den Häusern der einfachen Leute, der Holzknechte, Sägearbeiter und Landarbeiterfamilien, ob im Dorf, im Graben oder auf den Höhen, die gleichen Einrichtungsgegenstände gab. Und doch war es jedes Mal ein eigenes Wohnen, das sich die Leute schufen. Viele Jahre später nannte ein bekannter Städtebauer die Stuben der einfachen Leute das „Juwel“ eines jeden Landes, weil sie mit dem Wenigen, das sie hatten, Kultur verwirklichten, mochte darüber auch gelächelt werden. Diese Sätze hätten meine Mutter mit Freude erfüllt. In der Küche stand ein gemauerter Herd oder ein Tischherd, um den Tisch Bänke und Sessel oder, wenn es hoch herging, eine Eckbank, eine Kredenz und ein Wasserbankl, auf dem der Wassereimer stand und darunter die Waschschüssel, die Lavoir genannt wurde. Vorhänge gab es nicht überall. Das Besteck lag in der Tischlade, in der Kredenz befanden sich obenauf Teller und Häferln, Kompottschüsserln für den Sonntag, ein paar Gläser und ganz oben die „schönen Häferln“ mit Goldrand oder gar einem goldumrandeten, erhabenen Muster, wie sie zu Hochzeiten und Namenstagen geschenkt wurden. War es noch so dürftig – wenn Besuch kam, wurde von irgendwoher, wo die Kinder keinen Zutritt hatten, ein „besseres“ Geschirr und Besteck hervorgeholt und Gläser. Ein selbst gesticktes Tischtuch vervollständigte die Reverenz an den Besuch. Die Töpfe und Pfannen fanden im Unterteil der Kredenz Platz oder in der Speis. Eine oder mehrere Stellagen dienten dem Aufstellen von Gläsern und der Petroleumlampe in den Häusern ohne elektrischen Strom. 69

Ich erinnere mich an kein Haus, in dem das Kreuz gefehlt hätte. Manche Leute hatten auch einen Weihbrunnkessel in Kleinformat neben der Küchentüre hängen. Wir nicht. Was uns Kindern weiter nicht auffiel, war, dass mit jenem 8. Mai 1945 eine neue Zeit begann. Bis dahin hing sieben Jahre lang in allen Wohnungen ein Hitlerbild. „Um Gottes willen, da Kriag is aus, warum host es net scho längst obagramt, des Hitlerbild, waun des wer siacht, wirst gstroft a noch!“, rief die Mutter aus, als sie mit uns einer Witwe im Dorf einen Krankenbesuch abstattete. Über dem Altarl hing wie bei uns auch das Kreuz, links ein Muttergottesbild und rechts – das Hitlerbild! Mir wäre dies wohl nicht in Erinnerung geblieben, hätte ich mir nicht in meiner Fantasie alle Strafen vorgestellt, die nun auf diese Frau herabkämen, würde sie nicht „stantape“ das Hitlerbild verbrennen. Nirgendwo mehr habe ich es in den Jahren danach gesehen, wenn ich auch noch so sehr darauf achtete. Im Zimmer, worunter man meist das gemeinsame Schlafzimmer der Eltern und Kinder verstand, standen die Ehebetten, die Zusatzbetten für die Kinder, zwei oder drei Kästen, der Schubladenkasten, der Tisch mit einem Tischtuch und die Sessel. Die Kästen konnten ohne Mühe die Kleidung und die Bettwäsche fassen, denn sieben Jahre Krieg und die Nachkriegszeit mit dem Angewiesensein auf Bezugsscheine waren nicht dazu angetan, sie zu füllen. Ein Ofen stand im Zimmer, an der Wand hing eine Uhr, häufig ein Hochzeitsgeschenk, über den Ehebetten ein Bild der Muttergottes oder „Jesus am Ölberg“, „Jesus der Auferstandene“ oder das Bild eines Heiligen. Fast immer gab es ein Hochzeitsbild, Bilder der Eltern, allesamt vom Fotografen, seltener waren es Kinderbilder. Zu Kinderbildern ist man nur gekommen, weil man dem Vater ein Foto an die Front geschickt hat, damit ihn das Heimweh nicht so drückt. Dafür musste das Geld da sein, und man hatte selber auch eines. Die vielen Jahre, die mich nun schon von der Kindheit trennen, ließen mich vieles vergessen. Es verwundert mich aber heute, wie wenig wir doch zum Leben brauchen, wenn es in ein paar Kästen und Laden Platz findet. 70

In den Jahren 1945 bis 1949, also die Jahre von Kriegsende bis zu unserem Auszug aus dem Graben, lebten nur mehr wenige Familien das ganze Jahr über im Graben. Es waren zum ­Großteil Familien, wo der Vater, aber auch die Brüder als Holzknechte beim Baumgartner und gelegentlich beim Prommer aus St. Peter im Holzschlag arbeiteten. Daneben bewohnten noch der Jäger und Förster mit seiner Familie und eine Witwe mit ihrer Mutter und ihrer Tochter ein Haus im Graben. Die Frauen waren Hausfrauen und versorgten – häufig als Gegenleistung für das Wohnrecht – im Sommer das Vieh jenes Bauern, dem das Haus gehörte. Fast alle hielten daneben eine oder zwei Kühe und Kleinvieh, bearbeiteten einen Garten und immer ein Kartoffelfeld.

Zwischen Dorf und Graben Ich versuche nun, den Weg vom Dorf in den Graben nachzuzeichnen, und möchte, soweit ich mich daran erinnern kann, dabei die Häuser kurz beschreiben, ihre Besonderheiten und das Leben in ihnen, wie es sich die Bewohner zurechtgerichtet hatten. Es geht um den Blickwinkel von Kindern, die sich ihre Welt zusammenreimten, wohl wissend um ein schöneres Haus, ebene Wiesen und weniger Einsamkeit. Aus eigener Erfahrung und aus den Gesprächen der Erwachsenen wussten wir um Kargheit und Not, um Entbehrung und Unrecht, das wir manchmal unbeholfen zu besprechen versuchten, wenn wir kritisch das Leben draußen im Dorf mit unserem Leben verglichen. Meist aber fanden wir Wege, Nachteile in Vorteile umzumünzen, unser Zuhause zu verteidigen. Wir wurden dabei mit wenigen Ausnahmen stark und stolz auf das Wenige, das wir besaßen. Zur damaligen Zeit gab es in St. Georgen keinen eigentlichen Dorfplatz. Zwischen Dobernigg und der Baumgartner-Mühle gab es einen Dorfbrunnen, der vom Georgnerbach gespeist wurde. Bei diesem Brunnen trennten sich die Wege. Auf die Sonnseite bog man, von der Schule aus gesehen, nach rechts ab 71

und kam auf der geschotterten Tauernstraße über die Murbrücke weiter. Links vom Brunnen aber bog der Grabenweg, ein Fahrweg, in den Georgnergraben ab, vorbei an mehreren Häusern, Ställen und Gärten. Vom Grabenweg nach links gelangte man nach dem Torbauerhaus steil bergauf zum Libminger, einer Keusche, die, wie man sagte, auch schon bessere Tage gesehen hatte. Ich habe sie aber nie von innen gesehen. Sie wurde von einer kinderreichen Familie bewohnt. Gleich nach dem E-Werk bog rechts ein kleiner Fußweg ab, der zum Ehrenbauer, einem ehemaligen Bauernhof, hinaufführte. Das Haus wurde damals von einer Forstarbeiterfamilie bewohnt. Wir haben das Haus nur einige Male von innen gesehen. Die Frau wirtschaftete wie eine Bäuerin und zog aus dem Boden, was die große Familie brauchte, niemand musste hungern oder frieren. Der älteste Sohn aber wurde besonders streng gehalten. Alle im Dorf wussten, dass er häufig Schläge bekam, mit allem, was der Mutter im Weg lag, schlug sie zu. Ich erinnere mich nicht mehr, ob sich nicht irgendjemand einmal des Buben erbarmte und die Fürsorge auf den Berg hinaufschickte, die bei mir als Ziehkind – unnötigerweise, wie sie zur Erleichterung der Mutter feststellte – Nachschau hielt. Dieser Familie folgte in den Fünfzigerjahren die Familie Spitzer nach, eine ebenso kinderreiche Forstarbeiterfamilie. Die Mutter, eine, wie allseits behauptet wurde, gütige und fleißige Frau, hielt ihre Kinderschar zusammen, am Sonntag war der Vater immer mit mehreren „gekampelten und geschnäuzten“ Kindern in der Kirche vertreten. Im Brandnerhaus wohnten zu dieser Zeit nur noch die ­Eltern, die Söhne waren bereits ausgezogen – ausgewandert. Das Haus verfügte über eine große Stube mit mehreren kleinen Fenstern. Davor hingen im Sommer Tröge mit Fenstergugerln, jenen orangefärbigen Blumen, die weithin leuchteten. Im Winter duckte sich das Haus unter den schneebedeckten Bäumen. Beim Brandner kehrten wir immer nur im Gefolge unserer Mutter ein. Wir erhielten ein Butterbrot und saßen ordentlich bei Tisch, etwas anderes hätten wir uns in dieser guten Stube nicht erlaubt. Auf der anderen Seite des Weges stand ein stillgeleg72

tes Sägewerk, ein in Kinderaugen wuchtiger Bau, der oben eine Wohnung enthielt. Linde, die mit der Mutter und der Großmutter dort wohnte, ging im Dorf zur Schule. Beim Brandnerhaus zweigte ein Weg vom Fahrweg nach rechts ab, der bald steil anstieg und bei einem mächtigen Steinhaus endete. Die Familie Zeiler verfügte nicht nur über einen großen Gemüsegarten, sondern auch über eine Reihe von ­Ribiselsträuchern. Die Beeren wurden eingekocht, aber auch an Nachbarn, zu denen auch wir gehörten, verkauft. Wir konnten es kaum erwarten, bis sie, viel später als in den Dorfgärten, reif wurden. Dann machten wir uns mit unserer Mutter auf, gingen zuerst die Viehweide bergauf, dann den Steig bergab, schließlich wieder den Fußweg bergauf, bis wir vor dem wuchtigen, weiß getünchten Haus ankamen, das vormals ein Bauernhaus und in ganz ferner Zeit sogar eine Brauerei gewesen war. Die Ribiseln leuchteten schon rot. Wir hatten den Auftrag, so lange zu pflücken, bis die mitgebrachte Kanne voll war. Ich beeilte mich, aß aber unentwegt, wohl aus der diffusen Angst heraus, die mich das ganze Kinderleben begleitete: nicht genug zu bekommen. Mein Bruder, auch sonst wählerisch und nicht von der gleichen Angst gequält, spuckte die Beeren häufig aus, weil sie ihm zu sauer waren. Mit dem Pflücken fertig, ging es nicht gleich nach Hause. Wir saßen noch eine Weile in der Küche, bekamen Ribiselsaft zu trinken, hörten den Gesprächen zu, die sich häufig darum drehten, wie man denn alles richtig einteilen könnte in der schlechten Nachkriegszeit. Neben den Ribiseln gab es im Hause Zeiler noch einen unbezahlbaren Vorteil gegenüber unserem Zuhause: Es gab elektrisches Licht. Der Strom kam nicht etwa vom E-Werk im Dorf, sondern wurde selbst erzeugt. Dem Vater Zeiler war es gelungen, unter Mithilfe seiner Söhne, ohne jede Vorbildung, ein kleines E-Werk zu bauen, das jahrelang funktionierte. Da hatte es keine Bedeutung, dass zwei von den Söhnen, der Much und der Sepp, des Lesens und Schreibens nicht mächtig, nie ­einen Schulabschluss geschafft hatten und als Erwachsene beim Baumgartner im Dorf als Knechte dienten. Wir versuchten, wenn gerade niemand auf uns achtete, am Lichtschalter zu drehen, was frei73

lich nicht viel nützte, weil am helllichten Tag kein Strom erzeugt wurde. Wir kamen aber öfters in den Genuss einer hell erleuchteten großen Stube, die uns dann vornehm erschien, weil das Licht die Möbel anstrahlte und die Häferln und Heiligenbilder genauso hervorhob wie die Wasserleitung. „Des tät i ma holt a wünschen, net mehr Wosser trogn“, war ein viel benützter Satz meiner Ziehmutter. Ging man nach dem Brandnerhaus den Grabenweg weiter, dauerte es nicht lange, bis man knapp am Georgnerbach schon das Leitnerhaus sah. Es war ein dunkles Holzhaus mit hellen Fensterrahmen. Links und rechts von Haus, Stall und Hütte gab es steil bergauf Wiesenflecken, die in mühevoller Arbeit der Natur abgerungen werden mussten. Im Leitnerhaus kehrten wir ständig ein: in der Früh auf dem Weg in die Schule, den wir dann mit den Leitnerkindern zurücklegten; auch auf dem Heimweg machten wir dort pünktlich Rast und setzten uns, kaum wurde uns dies erlaubt, an den Tisch. Niemals ließ uns Frau Leitner beim Essen zusehen, wir bekamen auch „unseren Teil“, wie sie sagte. So war es mit dem Hunger nicht weiter schlimm, wenn wir noch blieben. Wir kannten uns in Haus und Stall aus und waren immer wieder aufs Neue verwundert, dass das Haus neben Zimmer und Küche, so wie wir es gewohnt waren, noch weitere zwei Zimmer unter dem Dach besaß. Die gekalkten Wände hatten wie bei uns auch Blumenmuster. Die Böden in den Zimmern musste man nicht reiben, sie waren eingelassen und glänzten. Im Stall, den sie sich noch mit Schweinen und Hühnern teilten, standen zwei Kühe. Auch bei der ­Familie Leitner gab es ein kleines E-Werk, Vater Leitner hatte es mit den beiden älteren Söhnen selbst gebaut. Konnte man im Sommer auf einem Abkürzungsweg zum nächsten Haus, dem Mühlbauern, gelangen, musste man im Winter den Fahrweg nehmen. Der Graben war hier so eng, dass neben dem Bach nur mehr der Fahrweg und das kleine Anwesen, das sich an einen felsigen Hang lehnte, Platz fanden. Das Haus hatte dicke Mauern, auf die ein Holzteil aufgesetzt war. Es wurde bewohnt von einer Holzknechtfamilie, ebenfalls mit dem Namen Leitner, die beiden Väter waren Geschwister. In meiner 74

Erinnerung war das Haus geräumig, beherbergte es doch einmal eine Großfamilie. Die alte Leitnermutter lebte damals noch mit im Haus. Mit der Küche verbinde ich nur mehr ein Heiligenbild, das in meiner Erinnerung beinahe so schön war wie die Bilder in der Kirche. Ans Haus war eine Hütte angebaut, daneben stand ein Stall. Seppl, einer der Söhne, war ein paar Jahre älter als ich. Er musste häufig auf den steilen Wiesen, auf dem Feld und im Stall schwer arbeiten, weil seine Mutter viel krank war. Sie starb früh, bald nach der Leitnermutter, und hinterließ eine kaum sechsjährige Tochter. Ging man beim Mühlbauer nicht den Graben entlang, sondern links hinauf, kam man zu einem Anwesen, das weder als Hube noch als Hütte oder Keusche bezeichnet wurde. Es war das Haus, das der Revierjäger vom Baumgartner mit Frau und Adoptivkind bewohnte, auch ein Dienstmädchen und ein Forstgehilfe gehörten dazu. Es stand auf einem sonnigen Platz, eine Stiege führte hinauf in das erhöht liegende Parterre des Hauses, das Küche, Zimmer und Speis enthielt, und es hatte auch Zimmer unter dem Dach. Die Familie Lackner war „schön eingerichtet“, verfügte über Strom und besaß ein Radio, ein Privileg und in Kinderaugen nahezu ein Wunder. Im Stall standen zwei Kühe und Kleinvieh. Als Jäger besaß Herr Lackner auch einen Hund. In unseren Augen waren sie damit „bessere“ Leute. Meine großen Ziehgeschwister erzählten von armen Keuschlern, die noch weiter drinnen im Graben wohnten. Sie hatten meist mehrere Kinder, der Vater ohne Arbeit, die Mutter häufig krank. Man erzählte sich auch, dass manche dem Alkohol zusprachen. Mein Ziehvater sagte, dass sie arme Teufel seien, die aus Not wilderten, dabei erwischt wurden und das Wild abgeben mussten. Den Sommer über waren kleinere, aber auch stattliche Hütten und Huben bewohnt und meist von einer Sennerin oder einem Halter bewirtschaftet. Sie mussten hart arbeiten, es fehlte aber nicht an Essen. Ich erinnere mich an die Baumgartnerhütte, die Zoiggnhütte und die Schatznhütte. Einige Hütten waren jedoch bereits verwaist. 75

Die Schloßmoarhütte Beim Mühlbauer bog ein schmaler Weg vom Grabenweg ab und führte über eine kleine Brücke zur Schloßmoarhütte, einer Hube, die dem Bauern Reichsthaler in Nußdorf gehörte. Hier war unser Zuhause. Schon die Mutter meines Ziehvaters hatte hier gewohnt, der Ziehvater wurde hier geboren. 1936 zog meine Ziehmutter mit ihren beiden Kindern ein, mein jüngerer Ziehbruder wurde in diesem Haus geboren. Der Ziehvater war Holzknecht bei verschiedenen Dienstherren, zuletzt beim Prommer, der in St. Peter ein Sägewerk besaß. Die Mutter versorgte im Sommer das Vieh, das dem Schloßmoar gehörte, dann standen im Stall auch die Kühe und Kälber des Bauern, im übrigen Jahr nur unsere Tiere, die dann reichlich Platz fanden. Das Haus stand auf einem leicht hügeligen Grund. Es war im vorderen Teil gemauert, im rückwärtigen Teil war auf die Mauer ein hölzerner Stock aufgesetzt. Im Unterstock war das Vorhaus untergebracht, in dem es einen beheizbaren Kessel gab. Ich erinnere mich, dass dort das warme Futter für das Schwein und die Hühner gekocht wurde. Links davon lag die Küche. Sie war geräumig, ein gemauerter Herd war Kochstelle, Wärmequelle und im Winter Trockner für Schuhe und Kleider zugleich. Die Wände waren weiß gekalkt und erhielten beim Ausweißen meist ein neues Blumenmuster. Sie war wie alle Küchen bei ärmeren Leuten eingerichtet, ich kannte wenig andere: eine Kredenz, ein Tisch, eine Bank und die nötigen Sessel, das Wasserbankl, auf dem der Wassereimer stand und unter dem das Lavoir seinen Platz hatte. Das wichtigste Stück war neben dem gemauerten Herd eine Rast & Gasser-Nähmaschine, das teuerste Stück der Einrichtung, aber ein ebenso notwendiges, wie die Mutter sagte. Als der Vater krank war, stand sein Bett dicht neben dem Herd. Wir hielten uns im Sommer viel im Freien auf, wo rund um das Haus, am Bach und im Wald Platz zum Spielen war, im Winter aber war die Küche auch unser Wohnraum. Dort wurde gekocht, gegessen, gespielt und die Aufgabe gemacht. Im Winter, wenn durch die zwei Fenster mit dem eisernen Fens76

terkreuz und den zusätzlichen „Winterfenstern“ zu wenig Licht einfiel, brannte die Petroleumlampe als einzige Lichtquelle oft den ganzen Tag, auch das Feuer im gemauerten Herd brannte von früh bis abends und verbrauchte das aufgestapelte Holz schneller, als es der Mutter lieb war. In der Küche wurde gekocht, alles besprochen, dort wurde erzählt, genäht, gestrickt. Die Küche war auch der Raum, wo wir bestraft wurden, wenn wir wieder einmal den Weg nach Hause nicht gefunden hatten, auf das Arbeiten vergaßen oder uns stritten. In der Küche wurde aber auch gesungen – heilige und unheilige Lieder, wie die Mutter zu sagen pflegte – und in der Früh vor dem Altarl gebetet. Von Besuchen in Bauernhäusern weiß ich, dass oft eine Ecke der Stube wie eine Kapelle mit einem Kreuz, Statuen der Muttergottes und der Namens­patrone, einem Weihbrunnkessel und einer Betbank oder einem Betschemel ausgestattet war. Daneben nahm sich unser Altarl bescheiden aus. In einer Ecke der Küche war in Augenhöhe ein kleines Gestell aus Holz angebracht, das sich in der Form eines Viertelkreises in den Winkel einfügte. Darauf standen in der Weihnachtszeit die Papierkrippe und das ganze Jahr über ein schwarzes Holzkreuz mit einem silbernen Christus, ein Wachsstock aus Mariazell, den Walter und ich gar zu gerne aufgerollt hätten, und ein „Andenkenhäferl“ mit Weihwasser. Ein Weihwasserkessel, jenes silberne Gefäß, aus dem das Weihwasser zum Bekreuzigen am Morgen genommen wurde, hing in vielen Bauernhäusern, manchmal auch in einfachen Wohnungen und Häusern. Auch beim Leitner gab es einen. Als die Mutter schon alt war, brachte sie sich von einer Wallfahrt aus Mariazell einen Weihwasserkessel mit. Links daneben hing ein Marienbild an der Wand. Bis Kriegsende hing wohl in den meisten Wohnungen rechts vom Kreuz in einem größeren Abstand ein Bild von Adolf Hitler. Diese seltsame Koexistenz wurde nie besprochen, oder wir haben sie nicht verstanden. Unser Hitlerbild nahm ein unrühmliches Ende, wie Herta viel später zu erzählen wusste. Dem Schloßmoar, dem Dienstherrn meiner Ziehmutter, waren drei gefangene Franzosen als Arbeiter zugeteilt worden. Als sie 1944 zur Heumahd in den 77

Graben kamen, zog einer von ihnen, als er die Küche betrat, sein Taschenmesser und stach, begleitet von wütenden Worten auf Französisch, mitten in das Bild hinein. Das Glas klirrte, das Bild fiel zu Boden und lag nun inmitten der Scherben. Niemand soll ein Wort gesprochen haben, die Mutter habe hastig die Scherben zusammengekehrt. Als sie wieder mit uns Kindern alleine in der Küche stand, habe sie gesagt: „Is ka Schad um eam.“ Es sei kein neues Bild aufgehängt worden. Der Einsamkeit im Graben und dem Schweigen der Beteiligten wird es wohl zu verdanken gewesen sein, dass das Vorkommnis kein Nachspiel hatte. Die eher seltenen Besuche wurden am Küchentisch bewirtet. Auf einem Sessel, den sie an kalten Wintersonntagen an den gemauerten Herd rückte und im Sommer an das offene Küchenfenster, rastete sich die Mutter aus und las in der „Murtaler Zeitung“, in einem der wenigen Bücher oder in einem Romanheft, wenn irgendwo eines aufzutreiben war. Rechts vom Vorhaus kam man in einen großen Raum, halb Speisekammer, halb Keller, in dem es statt eines Fensters nur eine kleine Luke gab. Alles, was in der Kredenz nicht Platz fand oder einen kühlen Ort benötigte, wurde in der Speisekammer aufbewahrt. Es war nicht viel, was man nach dem Krieg aufzubewahren hatte. Mehl und Zucker, Grieß und Polenta konnte man mit den Lebensmittelkarten nicht auf Vorrat kaufen. So standen in der Speisekammer und im Keller ein Topf mit Butterschmalz, ein wenig Butter, die Milch, der große irdene Topf mit dem Schweinefett, in dem bis Ostern noch Würstel und ein Stück Fleisch lagen. In einem weiteren irdenen Topf lagen immer ein paar Eier. Im Herbst wurden Kraut und Rohnen, Bohnen, Möhren und natürlich Kartoffel im Keller eingelagert, nach dem Abstechen im Dezember hingen hier auch Selchfleisch und Würste. Alles, was im Keller Platz fand, musste für ein Jahr reichen, es war streng eingeteilt und nichts, aber auch gar nichts, durfte verderben. Gegen ungebetene Gäste wie Mäuse wurde eine Mausefalle aufgestellt, es wurde gegen Ungeziefer und Fäule angekämpft, es wurde ständig ausgeklaubt, umgelegt und ausgeschnitten. Angefaultes, Schimmliges wurde entfernt, das ver78

bleibende Gute zum Kochen verwendet. Ich kann mich an keine Zeit erinnern, wo nur annähernd genug da gewesen wäre, um wenig Ansehnliches an die Tiere verfüttern zu können oder gar wegzuwerfen. Über eine steile Stiege hinauf erreichte man rechts im Oberstock das Zimmer, der Ausdruck „Schlafzimmer“ war uns nicht geläufig. Darin standen die Ehebetten, zwei Einzelbetten, zwei Kästen und ein kleiner Eisenofen. In den Ehebetten lagen bereits Rosshaarmatratzen, in den Einzelbetten Strohsäcke. Tuchenten besaßen wir lange keine. Ein Luxus, den sich die Eltern leisteten, war ein Schubladkasten, nicht etwa aus gewöhnlichem Fichtenholz, sondern aus dem weitaus beständigeren Lärchenholz. Ein Tisch mit drei Sesseln, der in meiner Erinnerung nur den einen Zweck hatte, uns am Heiligen Abend als gemütlicher Platz vor dem Christbaum zu dienen, vervollständigte die Einrichtung. Dann wurden am Tisch die Geschenke ausgebreitet, es wurde Tee getrunken und erzählt. Am Fenster hing eine Draperie, wie der kleine Vorhang genannt wurde. Er war von der Mutter mit Blumen ausgestickt worden und ist in meiner Erinnerung so schön und einzigartig wie die Kuckucksuhr, die an der Wand hing. Vorhänge zum Zuziehen haben wir ebenso wenig besessen wie Teppiche. Wie ein Luxus erschienen mir die matt grün und braun gemusterten glänzenden Bettüberdecken, Kuvertdecken nannte sie die Mutter. Sie hatten Fransen an den Längsseiten, die wir immer zu zählen versuchten, wenn uns eine Krankheit im Bett festhielt und uns die Langeweile plagte. Es gelang uns aber nie, wenn wir es auf einige Hundert gebracht hatten, gaben wir schließlich auf. Wir besaßen nur eine Petroleumlampe, die immer dort stand, wo sich die Mutter befand. So war es eben. Die Böden waren aus Fichtenbrettern, ebenso die Stiegen. Über dem gemauerten Küchenteil des Hauses befand sich der Dachboden; hätten meine Zieheltern das Geld gehabt und die Kenntnisse, hätten sie wohl ein Zimmer daraus gemacht, wie sie immer bedauernd feststellten. Gleich neben dem Haus stand ein geräumiger Stall, in dem unsere Kuh, mehrere Schafe und Ziegen, ein Schwein und Hühner untergebracht waren. 79

Am Stall angebaut war das Klosett, der Abort, wie wir sagten. Ich erinnere mich an kein Haus im Graben, welches das Klosett im Haus gehabt hätte. Einige Meter davon entfernt stand die Selchhütte. Wieder einige Meter weiter gab es einen Brunnen. Dort, wo der Steig zur Zoiggnhütte steil anstieg, hatte der Vater schon vor Jahren eine Quelle entdeckt und in vielen Stunden eine Rinne gegraben, in der er das Quellwasser bis zum Haus leitete und es dort in ein Rohr fasste. Einen Baumstamm hatte er zu einem Brunnentrog ausgehöhlt, eine Arbeit, die einem Holzknecht nicht fremd war. Es plätscherte nun in den Brunnentrog und versorgte Mensch und Tier mit Quellwasser. Nur an kalten Wintertagen, wenn das Quellwasser in der offenen Wasserrinne eingefroren war, musste das Wasser vom Bach geholt werden. Um das Haus lagen auf fast ebener Fläche die Gartenbeete, die die Zieheltern selbst angelegt hatten, ein Kartoffelacker, ein Gersten- und ein Rübenacker. Die Hügel und Raine durften meine Zieheltern mähen; die Erträge der Wiesen hingegen wurden dazu verwendet, das Vieh vom Schloßmoar zu füttern. Erst wenn dieses Heu aufgebraucht war, wurden die Tiere in den heimatlichen Stall in Nußdorf getrieben.

Daheim im Graben Wenn wir auch dies und jenes in anderen Häusern bewunderten, auch gerne elektrisches Licht gehabt hätten und häufig unser Zuhause mit dem anderer Kinder verglichen, liebten wir unser Haus und alles, was dazugehörte. In guter Erinnerung blieb mir zum Beispiel etwas, was eigentlich mit einer ungeliebten Arbeit verbunden war. Die Böden im Haus waren aus Fichtenbrettern gezimmert. Sie mussten wie alle Stufen, Sesselfüße, Kochlöffel, Schneidbretter und das Nudelbrett jede Woche mit Seifenlauge gerieben werden. Danach wurde zur Schonung der Böden Zeitungspapier ausgelegt, am Sonntagmorgen wurde es wieder entfernt. Obwohl ich häufig dazu ausersehen war, bei der wöchentlichen Reinigung mitzuhelfen oder einiges 80

auch selbständig zu erledigen, was häufig zu Unstimmigkeiten mit meiner Mutter führte, breitete sich am Samstagabend und Sonntagfrüh ein Gefühl der Zufriedenheit in mir aus über die Sauberkeit und die Frische, die man roch. Wir zogen frische Kleidung an, die Zöpfe wurden mit einer Haarmasche gebunden, und an ganz hohen Feiertagen musste ich keine Schürze tragen – ein Ereignis, das mich glauben ließ, etwas Besonderes zu sein. Es gab statt Erdäpfelsterz oder Polenta Brot mit Butter und Schwarzbeermarmelade und manches Mal sogar Honig, an Feiertagen Woaza, ein selbstgebackenes Weißbrot mit Rosinen. Und es bestand die Aussicht, dass die Mutter ein wenig Zeit für uns hatte. Was immer dies auch bedeutete, der Sonntag war eine gute Zeit. Die Jahre, die ich hier beschreibe, waren gekennzeichnet durch harte Arbeit, die während der Woche von der Mutter und den Kindern geleistet werden musste, weil der Vater im Holzschlag arbeitete und unter der Woche auch häufig in einer­Holzknechthütte wohnte. Lange Wege zum Kaufmann, zur Schule im Dorf, zum Arzt im Nachbarort waren vor allem im Winter beschwerlich. Die Versorgung mit Gütern, die nicht selbst erzeugt werden konnten, war im Graben auch deshalb schwierig, weil in der Nachkriegszeit auf Karten gekauft werden musste und man oft erst ins Dorf kam, wenn alles bereits verkauft, „ausgegangen“ war. Auf einen Hausbesuch des Arztes konnte nicht gehofft werden, je weiter drinnen im Graben man wohnte. Im Kapitel „Frühes Sterben“ ist von der Ohnmacht die Rede, die meine Ziehmutter verspürte, als der schwerkranke Zieh­ vater ohne ärztliche Hilfe blieb. Was war es, was das Leben trotzdem lebenswert machte? Alle Menschen, an die ich mich erinnere, haben es mehr oder minder verstanden, sich mit den oft schwierigen Gegebenheiten zu arrangieren. Sie nutzten jedes Fleckchen in den Behausungen; sie rangen der Natur Gärten und Felder ab, die sie bearbeiteten; sie hielten Haustiere, kostete es auch noch so viel Mühe. Sie hatten aber auch einen Vorteil den Dorfbewohnern gegenüber: Sie hatten es im Sommer nicht weit zu Schwämmen und Beeren. An einem Freitag, als wir unsere Mutter zum Einkaufen 81

ins Dorf begleiteten, hörten wir, wie eine Dorfbewohnerin zu ihr sagte: „Du hast es leicht, Pojerin, hast Viecher, die Schwarzbeeren vor der Haustür und einen Garten.“ Die Antwort meiner Mutter fiel recht freundlich aus, gemessen an dem, was sie später zu meinem Ziehvater sagte. Bei ihm beklagte sie sich bitter, dass die schwere Arbeit nicht gesehen werde, die, wie sie sagte, von vielen nicht geleistet werden wollte – nur für den Erfolg werde sie beneidet. Einige Tage später rückte sie die Aussage ins Positive, als sie fast heiter feststellte, dass man auch im Graben „wer sein konnte“, weil man sein Leben dort meisterte. Ihrer Abgeschiedenheit begegneten die meisten Grabenbewohner, indem sie sich mit Nachbarn trafen, gemeinsam sangen, Musik machten, ihre Sorgen und Nöte, aber auch Erfreuliches besprachen. Die Nachbarn halfen sich gegenseitig aus, ein länger währender Streit wäre nicht möglich gewesen, wenn auch Streitigkeiten vorkamen. Darüber hinaus entwickelten sie eine besondere Kreativität im Gestalten der Feiertage. Wenn zur vermehrten Arbeit auch die Kinder herangezogen wurden, deckte dieser Umstand nie die Vorfreude auf Weihnachten und Ostern zu. Das Unterste wurde zuoberst gekehrt, der Geruch von Seife war zu bemerken, vor Weihnachten aber auch jener von Zimt, zu Ostern der Duft von Geselchtem, und an Geburtstagen der untrügliche Duft einer bestimmten Mehlspeise, eines Biskuits. Die Mutter sang vor und an den Feiertagen weltliche Lieder und Kirchenlieder, immer und immer wieder. Die Texte kannte ich bald auswendig, nur mit dem Singen hatte ich meine liebe Not – ich sang falsch, ein Makel, der mir viel Traurigkeit bereitete. Neben der Arbeit erzählte sie uns Geschichten, es waren häufig immer wieder die gleichen. Aber es störte uns nicht, wir warteten auf die vertrauten Geschichten aus dem vorigen Jahr. In der Vorfreude auf das Weihnachtsfest vergaßen wir, dass das Essen vor den Festen bescheidener ausfiel, die Lampe weniger oft angezündet wurde, die Mutter gleichsam mit erhobenem Zeigefinger herumlief. Sie sagte zwar kaum einmal die Gebote im Wortlaut, aber sie schwangen in ihren Ermahnungen mit. Häufig hieß es: „Wenn du nicht …, bringt das Christkind 82

nichts!“, „ … holt dich der Krampus!“ oder: „ … läuft der Osterhase bei uns vorbei und vergisst, etwas in das Nest zu legen!“ Viele klingen mir heute noch im Ohr. Im Geheimen strickte, nähte und bastelte sie Geschenke. Häufig war ein Kasten, eine Türe versperrt, und dahinter befanden sich halbfertige Geschenke. Fast alle Frauen konnten nähen und lernten ihren Kindern schon früh nützliche Handgriffe, erzogen sie zur Selbständigkeit, mussten sie doch mit sechs Jahren oft allein den Schulweg bewältigen. Die Väter und meist auch die älteren Brüder waren handwerklich geschickt, zwei Familien brachten es bis zu einem eigenen E-Werk. Mein Ziehvater tischlerte mir ein Puppenbett, meinem kleineren Bruder Holzautos und einen Flieger. Als es in Judenburg, Fohnsdorf und Pöls, also in den Industrieorten, aufwärts ging und dieser Umstand auch im Dorf zu bemerken war, überlegten die Grabenbewohner, ob es möglich wäre, draußen zu wohnen, also Hütte, Hube und Keusche zu verlassen. Sie wollten und konnten aus gesundheitlichen Gründen die Nachteile gegenüber dem Dorf, die immer augenscheinlicher wurden, nicht mehr in Kauf nehmen. Den beiden Leitnerbrüdern zum Beispiel gelang es, ein Eigenheim zu bauen, näher zu Kaufmann, Arbeit und Schule, um es einmal leichter zu haben. Mein Ziehvater starb, bevor er sich diesen Wunsch verwirklichen konnte, Herr Lackner erlag einem Magenleiden. Herr Hochreiter war noch für Jahre sein Nachfolger im „Jagerhäusl“, seine beiden Buben waren bei den letzten Kindern, die vom Graben aus die Schule besuchten. Fast alle anderen fanden im Dorf eine Wohnung oder bauten sich ein Haus. So leerte sich der Graben in den Fünfzigerjahren. Alle, die „aussiedelten“, nahmen die Erinnerungen mit heraus, Erinnerungen an eine eigene Welt.

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Essen Orangen zu Weihnachten 1945 Er hatte sich gerade verabschiedet, denn er wollte noch vor Einbruch der Dunkelheit im Dorf sein, mit dem Halb-6-Uhr-Zug zurück nach Thalheim fahren und die Tauernstraße nach Pöls hinaufgehen. Onkel Franzl hatte am Stephanitag den weiten Weg in den Graben gemacht, um seiner Schwester Tini, unserer Mutter, frohe Weihnachten zu wünschen, die ersten Weihnachten im Frieden. Er war Fabrikarbeiter in der Pölser Papierfabrik, die Beziehungen zum Siegerland Italien hatte. Wie alle Arbeiter hatte er als Deputatszuteilung Orangen ausgefasst – ein wertvolles Gut zu Weihnachten 1945. So hatte er im Rucksack einen Sack Orangen mitgebracht. Müde von dem beschwerlichen Weg, immer bergauf durch den tiefen Schnee, breitete er, kaum angekommen, die Herrlichkeit auf dem Küchentisch aus und sagte, dass sich die Früchte lange halten würden. Es war klar, dass die Mutter die Orangen wie alle Lebensmittel einteilen würde, wenn der Onkel wieder gegangen war. Wir nahmen eine Frucht in die Hand, rochen daran, legten sie wieder auf den Tisch zurück, nahmen eine andere. Die Mutter war mit Kaffeekochen beschäftigt, ins Gespräch vertieft, schien sie unsere Prüfung der seltsamen Frucht nicht wahrzunehmen. Wir lauschten den Erzählungen des Onkels eher ungeduldig, weil wir hofften, dass uns die Mutter nach seinem Weggehen endlich erlauben würde, die Orangen zu kosten. Als sich der Vater vom Onkel verabschiedete, um nach der Kuh zu schauen, machte auch der Onkel Anstalten zu gehen. Eilig steckte ihm die Mutter Fleisch und Speck, Schweinefett und Grantenmarmelade – „grad so viel zum Kosten“ – in den Rucksack, ließ die Großmutter und alle Verwandten grüßen und ihnen ein gutes neues Jahr wünschen. Sie hielt uns zum Vergelt’s-Gott-Sagen an und begleitete den Onkel hinaus in den kalten Wintertag. 84

Nun gab es kein Halten mehr, Walter, der wie ich zum ersten Mal Orangen sah, wartete die Rückkehr der Mutter erst gar nicht ab, biss kräftig in eine Orange hinein, verzog das Gesicht und – ließ sie fallen. „Pfui Teifl!“, mehr sagte er nicht. Die Orange rollte auf den Boden und lag noch dort, als die Mutter wieder in die Küche kam. Ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit sprach sie nicht von: „Ihr hobts zan Warten, bis i des Essen erlaub!“ Sie musste lachen und klärte den Irrtum auf: „Orangen muass ma zerscht obschäln, dann isst ma sie!“ Geschält schmeckten sie uns und hielten bis zum Dreikönigstag, weil eine einzige Orange für jeden Tag bemessen war. Dieses Ereignis ist mir ganz deutlich in Erinnerung geblieben, ich sehe sie noch vor mir liegen, diese seltsamen Früchte, die uns gehörten in einer dürftigen Zeit. Karl, der kurz darauf aus dem Dorf heimkam, rückte das Ereignis etwas nüchtern zurecht, als er sagte: „Na, do wird der Vatta a Freid ghobt haum, wenn die Muatta wos hergibt, wo ma selber nix haum. Orangen muass ma net hobn!“ – „Der Vatta hot’s eh net gsegn“, ließ sich der kleine Ziehbruder vernehmen. Dass der große Ziehbruder nur zu gerne auch Orangen aß, merkten wir am nächsten Tag. Meine Erinnerungen an das Leben im Graben in meinen ersten Lebensjahren, die gleichzeitig die Kriegsjahre waren, wurden wohl eher durch die Erzählungen der Ziehmutter und der Ziehgeschwister Herta und Karl gespeist. Ab Kriegsende aber habe ich eine äußerst lebendige Erinnerung. Sie dreht sich häufig um die Beschaffung von Nahrungsmitteln und um das Essen selbst. Glaubt man Psychologen, wurde dieses lebhafte Interesse aus der Not heraus geboren, aus der Erfahrung, nie genug bekommen zu haben. Wenn ich mich jedoch an die kleinen, für mich aber so bedeutsamen Geschichten erinnere, die sich um das Essen ranken, kann ich in ihren Aussagen nur die halbe Wahrheit erkennen. Die Freude über Erhaltenes war allemal größer als die gelegentliche Trauer über Entgangenes. So erinnere ich mich nur an wenige Anlässe, wo wir neidvoll auf andere Kinder geschaut haben, auf reichere oder allgemein auf jene im Dorf. Wir lebten in unserer eigenen Welt, die dann brüchig wurde, wenn die Ziehmutter, von Sorgen geplagt, schlecht 85

aufgelegt war; sie war heil, wenn alles in Ordnung schien. Die Tatsache, dass nie genug da war, wurde ohne viel Aufhebens hingenommen. Wenn ich mich an Gespräche jener Zeit erinnere, die zu Hause, bei den Nachbarhäusern, im Dorf oder beim Kaufmann geführt wurden, ging es neben der bangen Frage nach den Kriegsgefangenen immer auch um Essen, Kleidung, Schuhe, um Krankheiten und um fehlende „Medizin“. Die Nachkriegszeit war überall im Land gekennzeichnet durch Mangel an den wichtigsten Nahrungsmitteln, die häufig nur über Lebensmittelkarten zu bekommen waren. Ganz sicher gab es auch Unterschiede zwischen Stadt und Land, zwischen reichen und armen Leuten. Soweit ich mich erinnern kann, gab es kleinräumige Unterschiede zwischen Dorf und Graben, zwischen dem Dorf und den Häusern auf der fruchtbareren Sonnseite, und es gab Unterschiede von Familie zu Familie. Es gab Frauen, die aus dem Nichts etwas schufen, und andere, welche, wie die Ziehmutter sagte, sich die Mühe mit Tieren, mit Feld und Garten ebenso wenig antaten wie das Nähen und Stricken von Kleidung. Kinder waren von der Geschicklichkeit ihrer Eltern abhängig. Konnten sich fast alle Grabenbewohner durch die Zeit „fretten“ und den Ihren das Nötigste zum Leben garantieren, waren Krankheit und ihre Folgen im Graben die Not schlechthin und durch nichts wirklich zu erleichtern. Darauf werde ich in einer anderen Erzählung zurückkommen. „Und dann haum s’ as zan Safnsiadn gnommen, so a Frevel!“ Dieser Satz aus dem ersten Friedensjahr ist mir klar in Erinnerung geblieben. Karl musste jeden Samstag dem Almhalter vom Zoiggn, Zugger Friedl hieß er, vom Postamt die Zeitung mitbringen. Die Ziehmutter warf jedes Mal schnell einen Blick hinein, bevor sie der Bruder die Anhöhe hinauftrug, wo die Zoiggnhütte stand. Diesmal las sie den Artikel auf der ersten Seite einmal, dann noch einmal, weil sie glaubte, sie habe sich „verlesen“. Der Satz stand aber schwarz auf weiß da: „Tonnenweise Speck verdorben!“ Sie erinnerte sich lebhaft, wie noch im letzten Kriegsjahr der Ortsgruppenleiter von St. Georgen den weiten Weg in den Graben auf sich genommen hatte, um zu 86

kontrollieren, wie genau sie die Ablieferungsbedingungen von Fleisch und Speck einhielt. Er hatte sich im Haus und im Stall umgesehen, ob nicht irgendwo etwas versteckt war oder nicht doch mehr Tiere als angegeben im Stall standen. Also war auch der vom einzigen Schwein mühsam abgesparte Speck zu Seife verarbeitet worden, weil die Verteilung im letzten Kriegsjahr zusammengebrochen war. Eine Ungeheuerlichkeit in den Augen der Mutter; von den viel größeren Ungeheuerlichkeiten hat sie in der Abgeschiedenheit des Grabens nie oder erst viel später erfahren. Der Artikel wurde überall, wo wir hinkamen, besprochen. Er regte auf und forderte heraus, zeigte uns Kindern aber nichts von den größeren Zusammenhängen, sondern nur von den kleinen, vom Angewiesensein auf das, was man selber erzeugte, und der Ohnmacht, wenn es einem weggenommen wurde. Im Gegensatz zu den Kriegsjahren wurden Gespräche nun laut und nicht mehr versteckt geführt, und wir Kinder wurden nicht mehr unter Androhung der Rute angehalten, nur ja nichts weiterzusagen, was unter den Erwachsenen gesprochen wurde. Als der Krieg dem Datum nach vorbei war, waren es die für die Bevölkerung damit verbundenen belastenden Umstände noch lange nicht. In den Gesprächen vor der Haustür und auf dem gemeinsamen Weg der „Grabler“ ins Dorf wurde von den Ehemännern, den Vätern und den Brüdern gesprochen, die noch längst nicht alle aus dem Krieg heimgekommen oder gefallen waren, aber auch von den täglichen Bedrängnissen wie der Sorge um das tägliche Brot, von den häufigen Krankheiten der Kinder, ja, dass vieles nach dem Krieg noch schlechter sei. Daraus war nicht herauszuhören, dass sie etwa sein Ende bedauerten, den Sieg hatte längst niemand mehr erwartet, aber diese Verschlechterung auch nicht. Die Kartenwirtschaft war drei Jahre nach dem Krieg noch aufrecht, die spärliche Anlieferung von Polentamehl, von Zucker und Brot, von Nähnadeln und eigentlich allem Zubehör, von Kleidung, besonders aber von Schuhen, erreichte die Leute im Graben oft zu spät. Hätten sie nicht mit ihren eigenen Er87

zeugnissen gelegentliche Gefälligkeiten der Dörfler bezahlen können, und hätte nicht die alte Frau Wieser und ihr Angestellter Voitl die Hochherzigkeit und eine Ahnung von der Not der Berg- und Grabenbewohner besessen, die sie immer wieder etwas „auf die Seite legen“ ließ, wir wären wohl häufig zu kurz gekommen. Die Ziehmutter teilte beim Schlachten in Gedanken bereits ein, wofür die einzelnen Stücke bestimmt waren, wer was bekommen sollte und was unbedingt für die nächsten Monate reichen musste. Die Milch von der einzigen Kuh konnte nicht zur Gänze getrunken oder verkocht werden, sondern musste zu Butter und in weiterer Folge zu Butterschmalz verarbeitet werden. Aus Topfen wurde Steirerkäse gemacht, oder er wurde zum Kochen gebraucht. Die Grabenbewohner halfen sich mit Milch aus, wenn die eigene Kuh trockenstand, also trächtig war. Das Fleisch vom geschlachteten Schwein wurde zum Großteil geselcht, ebenso der Speck; ein Teil des Specks wurde „ausgelassen“, um Fett zu gewinnen. Die Innereien wurden zur Gänze zum Kochen verwendet, Knochen und Schwarten, alles, was vom Schwein nicht gegessen wurde, war wertvolle Grundlage für Seife, die selbst erzeugt wurde. Für selbst hergestelltes Fett und Butterschmalz und für Milch von der eigenen Kuh wurde aber die Anzahl der Lebensmittelmarken empfindlich gekürzt. Um zu dem, was einem auf Marken trotzdem zustand, Zugang zu bekommen, musste man auf Hilfe hoffen, die die Mutter auch gerne belohnte. Geselchtes, Fett, ein Stück Kitzerlfleisch, ein halber Hase, Eier, Milch und Käse, im Sommer auch Beeren waren Tauschobjekte für Gefälligkeiten der Dörfler, auf die wir im Graben angewiesen waren. Gab es beim Wieser Zucker, weißes Mehl, Rosinen oder später gar Kakao, endlich wieder normales Schwarzbrot oder Schuhe, Nähnadeln, Zünder, das dringend notwendige Petroleum, verhalfen auch hier die Tauschobjekte zu den lang ersehnten Artikeln. „Es hot im Dorf vül guate Leit gebn, die ollweil a an uns im Grobn denkt haum, des hob i ihnen nia vergessen. Die Steinerin, die Strasserin, jo, und die Wieser woan guate Leit“, sagte die Mutter später noch oft. 88

Dass ihr beim Einteilen der Tauschobjekte oft die Bitterkeit das Gesagte diktierte, hatte sie wohl vergessen oder sie behielt es für sich, weil in ihren Worten und Sätzen häufig mitschwang, dass man ehrlich, mitleidig und vor allem dankbar gegen Gott und die Welt zu sein habe. Aber ich habe ihre Bemerkungen als etwas in Erinnerung, das ihre Miene verdüsterte: „Wir täten alles selber notwendig brauchen.“ – „Draußen im Dorf weiß niemand, wie schwer ich mir im Graben tu!“ – „Schwer arbeiten und dann so viel davon hergeben müssen, was soll man machen?“ Walter sagte einmal: „Rühr net in der Vergangenheit, es könnt was Trauriges heraufkommen!“ Die Frauen im Graben klagten oft untereinander über die Widrigkeiten, wollten wir Kinder einmal mitreden, wurden wir aber streng darauf hingewiesen, was auch in den Zeitungen stand: Die Städter litten ungeheure Not, nicht zu vergleichen mit der unseren, denn uns bekamen die Eltern immer noch irgendwie satt. Auf ihre Art wollten sie uns „mitleidig“ erziehen, wie sie soziales Mitgefühl zu benennen pflegten.

Nachkriegsbrot Das Wort Frühstück wurde mir erst in späteren Jahren vertraut. Nach dem Aufstehen, dem Waschen und „Kampeln“ ging man „Suppenessen“, auch wenn es keine Suppe, sondern Milch oder mit Saccharin gesüßten Kaffee gab. Es handelte sich beim Kaffee freilich nicht um echten Bohnenkaffee, sondern um Kaffee aus Gerste oder getrockneten Rübenschnitzeln. Beide Sorten wurden selbst hergestellt. Die Gerste und die klein geschnetzelten Rüben – Erstere zweigte die Mutter vom Hühnerfutter ab, die Rüben vom Schweinefutter – wurden im Rohr getrocknet, bis alles resch war, und anschließend in der Kaffeemühle fein gemahlen. Später gab es Linde-Kaffee oder Franck-Feigenkaffee zu kaufen. Dazu gab es häufig Erdäpfelsterz. Ich habe noch eine klare Erinnerung an den Geschmack und die Zähigkeit dieses Essens, das wir Kinder nicht liebten und daher darin herumstocherten. Wir freuten uns, wenn die Mutter endlich wieder 89

Polentamehl heimbrachte. Daraus wurde Sterz gekocht, der mit Butter abgeschmalzt wurde. Das Besondere daran war die Kruste, die sich auf dem Reindlboden bildete. Schüttete man Kaffee oder Milch darauf, ergab sich ein köstliches Gemisch. Am Sonntag gab es Butterbrot zum Kaffee, an Festtagen das schon erwähnte Woaza. Wenn die Mutter ins Dorf einkaufen ging, brachte sie manches Mal Semmeln mit, für jeden eine. Sie wurden trocken gegessen. Wenn sie altbacken waren, wurden sie in den Kaffee eingebrockt. Dass man sie auch mit Butter, Marmelade oder gar Honig bestreichen hätte können, wäre uns damals wie ein ungeheurer Luxus vorgekommen. Brot war zwar ein Grundnahrungsmittel, war aber in der ersten Zeit nach dem Krieg beileibe nicht ausreichend vorhanden. Es gab, wenn es hoch herging, wochenlang überhaupt nur trockenes Weißbrot, von dem behauptet wurde, dass es nur zum kleineren Teil aus Mehl bestand; oder es gab Polentabrot, das schon während des Transports im Rucksack auseinanderfiel. Am Freitag ging die Mutter meist mit der bangen Frage ins Dorf zum Einkaufen: „Gibt es überhaupt noch Brot, wenn ich hinauskomme, und wenn ja, wie viel?“ Ich erinnere mich aber auch, dass Walter und ich uns trotzdem heimlich wünschten, dass sie keines bekäme, weil sie dann selbst Brot buk. In meiner Erinnerung ist dieses Brot etwas ganz Seltenes gewesen, wenn es auch nur aus einem Gemisch aus Kleie, ganz wenig echtem Mehl, Kartoffeln, Wasser, Milch und Salz bestand. Wenn es gebacken wurde, verbreitete sich in der Küche ein Duft wie an Feiertagen. Im Sommer, wenn die Schloßmoarleute zum Mähen in den Graben hineinkamen, brachten sie Brot mit – Bauernbrot! Unaufgefordert machten wir uns nützlich, wohl um der Jause willen, die aus Brot und Speck oder Butter bestand. Einmal, als die Schloßmoarin, die auch meine Taufpatin war, selbst den Weg in den Graben mitmachte, brachte sie ein Glas Rübensirup mit, eine Köstlichkeit, die mit nichts zu vergleichen war. Diesen Sirup mochte auch mein Bruder. Er aß weder Speck noch Butter oder Käse, seinen Anteil daran bekam ich und er nahm 90

im Tausch mein Brot, das er „leer“ aß. Ich mochte Speck und Fleisch am liebsten ohne Brot – ein Luxus in der Nachkriegszeit. Im Jahr, als der Vater starb, muss alles noch schwieriger geworden sein. Von dem geringen Krankengeld, das der Mutter während seines langen Krankenhausaufenthalts blieb, sparte sie noch einiges, um ihn einmal im Monat besuchen zu können. Dann briet und buk sie, um die schmale Krankenhauskost aufzubessern. Sie aß dann tagaus, tagein Seiersuppe mit Brocken zum Frühstück. Erst als sie eines Tages auf unsere Bitte um ein wenig Rahm für die gepflückten Erdbeeren antwortete: „ Mit’n besten Willen, heit kaun i eich nix geben, i brauch’n morgen für’n Vatta“, wurde uns ein wenig bewusst, wie sparsam sie mit allem umgehen musste. Für sie selbst war es die Wiederholung ihrer eigenen Kinderzeit, von der sie oft erzählte. Sie gehörten damals im Ersten Weltkrieg zu den armen Familien, wo es höchstens sonntags Milch zu trinken gab, häufig auch dann nur durch die Milchzentrifuge „heruntergetriebene“, also entrahmte Milch, und an Wochentagen eben Seiersuppe. Ab Herbst 1947, ich war in der zweiten Klasse, muss die Versorgung mit Brot schon besser gewesen sein. Es musste aber weiterhin auf Marken gekauft werden. Dass ich keine Erinnerung daran habe, je Brot übrig gelassen oder mich je daran satt gegessen zu haben, mag wohl daran gelegen sein, dass allgemein für Überfluss kein Geld vorhanden war. Als Schuljause gab es meist ein Doppelbrot mit Butter oder Butterschmalz, mit Steirerkäse oder manchmal sogar mit Speck; da mein Bruder auch den Kakao von der Schulausspeisung nicht mochte, blieb ihm als Schuljause wieder nur ein leeres Brot. War das Brot mit Marmelade bestrichen, sog es sich voll und klebte an den Fingern. Häufig kamen auch die Hefte damit in Berührung, was Schelte von der Lehrerin eintrug. Wenn es zur Ausspeisung Suppe gab, wurde mitgebrachtes Brot dazu gegessen. Meist aßen wir das Jausenbrot in der Schule auf, auf dem Nachhauseweg waren wir dann hungrig. So erging es allen Kindern, die weit weg auf Anhöhen und in Gräben wohnten und bis zu neun Stunden von zu Hause abwesend waren. In einem Seitengraben wohnte eine Familie mit vielen Kin91

dern, drei davon gingen mit uns in die Schule. Sie trugen beinahe jeden Tag einen Brotwecken auf der Schultasche nach Hause. Die Schläge, die sie dafür einheimsten, hielten sie nicht davon ab, immer wieder vom Wecken abzubeißen, bis schließlich nur mehr die Hälfte davon vorhanden war. Mein Ziehbruder und ich wären eingedenk der lockeren Hand der Mutter wohl nicht in Versuchung gekommen, dasselbe zu tun, konnten aber nicht widerstehen, doch etwas von der verführerischen Last zu kosten. Wir verfielen auf die Idee, mit einem Bleistift, oder wenn dieser schon zu kurz war, mit einem dünnen Stock den Wecken anzubohren und aus dem Inneren köstliches Brot herauszuholen. So brachten wir einen immer noch wohlgeformten Wecken nach Hause, und als uns diese Machenschaft durchging, versuchten wir es wieder. Wenn die Rute dafür in Aktion trat, hatten wir doch etwas Gutes gehabt, und ab und zu gab es daraufhin ein Doppelbrot zusätzlich. Diese Ration wurde aber gleich wieder gekürzt, wenn wir für den Nachhauseweg nicht die üblichen eineinhalb Stunden brauchten, sondern drei oder vier, weil wir im Dorf spielten oder uns mit den Leitnerkindern auf dem Heimweg am Bach oder im Wald aufhielten, Erdbeeren suchten, auf Bäume kletterten. Da uns Frau Leitner immer etwas zu essen gab, sodass der Hunger wieder verflog, konnten wir weiterspielen. Gab es zu Hause für die Verspätung Strafen, Verbote oder Schläge, beeilten wir uns am nächsten Tag wieder. Auf Dauer konnten uns Hunger, Kälte und Strafen aber nicht davon abhalten, bei den Nachbarskindern im Dorf zu verweilen. Mein Ziehvater steckte, wenn er Beeren suchen oder die Zäune richten ging, meist nur ein Stück Brot in den Hosensack, das den halben oder ganzen Tag reichen musste. Walter, der selbst in der schlechten Zeit überaus heikel war, vermutete wie ich, dass die Mutter noch viel heikler sein musste, weil sie das Brot meist leer aß und nie Hunger zu haben schien. Seltsamerweise aß sie aber, was übrig blieb oder angebrannt war. Später, als es wieder Schokolade und Schnitten gab, verschmähte sie auch diese, was uns gänzlich unverständlich war. 92

Wenn draußen gearbeitet wurde oder wenn Besuch kam, gab es manchmal eine gute Jause. Ein besonderes Brot war das Woaza zu Ostern, das es zunehmend aber auch an anderen Feiertagen, ja sogar an Sonntagen gab. Das Stanitzel mit den Rosinen lag nie offen da – die Mutter wusste warum. Aber manchmal fanden wir das Versteck! Wir lernten von der Mutter schon früh viel Praktisches, ein Brot selbst abzuschneiden lernten wir jedoch erst spät. Das Brot, das Essen überhaupt, verteilte sie selbst, solange wir im Graben wohnten. Es war nie so viel da, als dass sorglos damit umgegangen werden konnte. Eine Ausnahme davon gab es, die für uns so bedeutend war, dass sie gleich nach Nikolaus, Weihnachten und Ostern gereiht wurde, das war unser Geburtstag. Als wir schon in die Schule gingen, wussten wir den Tag des Geburtstages schon Wochen vorher. Am Vorabend des Geburtstages mussten wir zeitig ins Bett gehen. Die Mutter ließ dann den Herd länger eingeheizt und buk einen Kuchen aus mehreren Eiern in der immer gleichen Rehrückenform. Lagen wir noch wach, rochen wir ihn schon am Abend. In der Früh stand er dann am Tisch vor dem Geburtstagskind. Er war ganz zu unserer eigenen Verfügung, konnte also am gleichen Tag aufgegessen werden oder eine Woche „halten“. Dass wir nicht in ein geiziges Verhalten verfielen, wundert mich noch heute. Wir teilten aus und nahmen ein Stück mit in die Schule, um es herzuzeigen. An diesem Tag hatte das Leben eine andere Ordnung, schon deswegen, weil nach Herzenslust gegessen werden konnte.

Erdäpfel Herr Lackner, der Revierjäger vom Baumgartner, besaß wahrscheinlich als einziger Grabenbewohner vor 1950 ein Radio, wohl aber hatten die meisten eine Tages- oder Wochenzeitung, aus der sie Neues erfuhren. Die „Murtaler Zeitung“ fand sich beinahe in jedem Haus, das katholische „Sonntagsblatt“ in vielen Häusern. Beim Kaufmann, auf der Dorfstraße und am Sonntag nach der Kirche wurden die Neuigkeiten ausgetauscht. So 93

wurde erzählt, wie schwer es die Stadtleute hätten, allen voran die Wiener, ihre Familien zu ernähren. Nicht nur deswegen, weil sie kein Geld gehabt hätten, sondern weil es auch noch zwei Jahre nach Kriegsende einfach an Nahrungsmitteln fehlte. Zur Erntezeit wären letztes Jahr auf den Äckern im Umland von Wien Leute von der Polizei aufgegriffen worden, die bei Nacht und Nebel Kartoffeln ausgegraben hätten, Kraut und Zwiebel hätten sie noch vor der Reife genommen. Wir hörten diesen Erzählungen meist mit offenem Mund zu, konnten uns aber nicht vorstellen, keinen Acker zu haben, wenn uns die Arbeit auch selten gefiel. Wir hatten mehrere kleine Äcker, die die Zieheltern einmal den Weiden und dem Wald abgerungen hatten. Einer davon war der Erdäpfelacker, das Wort Kartoffel war bei uns nicht sehr gebräuchlich. Im Herbst wurden die Erdäpfel gleich nach der Ernte ausgeklaubt. Große Erdäpfel ohne Schrammen kamen in das Abteil „Esserdäpfel“, kleine und angeschlagene ins Abteil „Futtererdäpfel“. In das kleinste Abteil wurden die Saaterdäpfel gelegt, die auch im nächsten Jahr eine gute Ernte garantieren sollten. In guten Jahren, so wussten wir aus den Erzählungen der Mutter, konnte es sein, dass die beiden großen Abteile voll gefüllt waren und im Abteil für Saaterdäpfel sich nur die besten, also jene mit vielen „Augen“ befanden. Das vorige Jahr war ein schlechtes Erntejahr gewesen. Im Erdäpfelkeller schwand der Vorrat dahin. Davon, dass sie bis zur Ernte der Früherdäpfel für Mensch und Vieh reichen würden, war schon lange nicht mehr die Rede. Die Kälte ließ im ­außerordentlich kalten Winter die Erdäpfel an den Wänden des Abteils anfrieren, sodass viele ungenießbar wurden. Immer häufiger verlangte der kranke Vater nach Erdäpfelgerichten, und einem Kranken konnten Wünsche nicht abgeschlagen werden, meinte die Mutter. So wurden von den Erdäpfeln, die für das Schwein und die Hühner gedacht waren, die besseren ausgeklaubt; als auch die zu Ende gingen, musste auf die Saat­ erdäpfel zurückgegriffen werden. Dieser Umstand bereitete der Mutter große Sorgen, zudem konnte auch von den Nachbarn keine Hilfe erwartet werden, weil auch sie eine schlechte Vorjahresernte hatten. 94

Eines Abends, wir lagen schon in den Betten, hörten wir ein Gespräch, das die Mutter in der Küche mit dem kranken Vater führte. Sie sprach laut und schnell, schilderte ihm, wie sie sich außerstande fühle, mit den Erdäpfeln auszukommen. Und was noch schlimmer wäre: Wie sollte sie dieses Jahr den Erdäpfel­ acker bestellen? Diese Worte schrie sie beinahe. Wir mussten uns in Vaters Gegenwart ständig ruhig verhalten und flüstern, weil er keinen Lärm ertrug – sie schrie! Wir hörten den Vater zwar sprechen, verstanden aber die Worte nicht. Dazwischen hörten wir einige Male die Mutter fragen: „Und wos daun?“ Nachdem eine Weile der kranke Vater zu Wort gekommen war, hörten wir ein: „In Gotts Naum, daun probier i’s holt!“ Dann hörten wir nichts mehr. Am nächsten Morgen machte sie sich mit uns auf den Weg, wir gingen zur Schule, und sie wollte zum Schloßmoar nach Nußdorf hinübergehen. Neben dem Bett des Vaters hatte sie alles aufgelegt und hingestellt, was er in ihrer Abwesenheit brauchen könnte. Ich erinnere mich nur an den Franzbranntwein, den Teehäfen am Herdrand, den Topf unter dem Bett, die stinkende Salbe und eine Reihe alter Tücher, wohl zum Auftragen der Salbe. Wir gingen eiligen Schrittes den Graben hinaus, die Mutter trug den großen Rucksack des Vaters am Rücken und in der Hand noch eine Tasche. Auf unsere Frage, wozu sie denn das alles brauche, sagte sie nur: „Ihr werds as scho noch segn.“ Als wir aus der Schule kamen, wartete sie schon beim Dobernigg auf uns. Neben sich hatte sie den kleinen Sack stehen, der sich am Morgen im Rucksack befunden hatte, daneben die halb gefüllte Tasche, und auf dem Rücken trug sie den prall gefüllten Rucksack. Während wir in der Schule saßen, war sie schweren Herzens zum Schloßmoar hinüber „betteln“ gegangen, wie sie sagte. Es war ihr nichts anderes übrig geblieben, wenn wir mit den Erdäpfeln über das Frühjahr und die erste Zeit des Sommers kommen wollten, und im Mai sollten wir auch welche zum Anbauen haben. Beim Schloßmoar hatten sie „gar nicht so schiach getan“ und hatten ihr vorerst einmal so viele Erdäpfel gegeben, wie sie tragen konnte, nächste Woche würden sie mit dem 95

Fuhrwerk noch welche mitgeben. Sie zog aus dem Schürzensack zwei Buchteln, die sie ebenfalls mitbekommen hatte und die wir auf dem Nachhauseweg verspeisten, in ganz kleinen Stücken nur, damit sie ganz lange anhielten. Ob sie auch welche bekommen hatte, wussten wir nicht. Sie lud uns abwechselnd den kleinen Sack auf die Schultasche und ermahnte uns, mit ihr Schritt zu halten, der Weg sei weit und der Vater warte. Unter der ungewohnten Last zog sich der Weg, sodass wir immer öfter abrasten mussten. Als das Haus näher kam, ging die Mutter immer schneller, sodass wir kaum mithalten konnten. Die Aussicht auf zwei Äpfel, die sich noch in ihrer Tasche befinden sollten, trieb uns an, und wir erreichten schließlich das Haus. Das Öffnen der Türe hatte den Vater geweckt. Alles stand noch dort, wo es die Mutter am Morgen hingestellt hatte. Er war zu matt zum Aufstehen gewesen. Die Mutter stellte den Rucksack vor ihn hin, hieß uns das Gleiche mit unserer Last tun. Das Lob, das wir erwarteten, kam nicht. Zur Mutter sagte er nur: „Is guat, tuats morgen setzen.“ – „Vatta, morgen is Sunntog!“, wandte die Mutter verwundert ein. Er erklärte ihr, dass sie am Sonntag uns zum Helfen habe, also diesen Umstand ausnützen müsse. Wir hatten den Vater immer für fromm gehalten, weil er am Sonntag zur Kirche ging, und die Mutter für weniger fromm, weil sie weniger oft ging. So erschien es uns. Vaters sonderbaren Satz, der nun folgte, konnten wir damals nicht deuten: „Sogts zum Herrn Pfarrer, für uns orme Leit kann’s kan siebenten Tog geben, der is wos für die reichen Leit!“ Daraufhin schwieg er. „Am siebenten Tage sollst du ruhen“, dieser Satz aus der Schöpfungsgeschichte war dann wohl nichts für arme Leute! Es war der 9. Mai 1948, ein Sonntag. „Heier is ois a weani spot“, sagte die Mutter und meinte damit den siebenten Geburtstag von Walter am 5. Mai, den wir an diesem Sonntagmorgen mit dem Kuchen nachfeierten. Im Graben war es noch empfindlich kalt, vom Weißeck schaute noch der Schnee herunter, die Wiesen ließen sich mit dem Grünwerden Zeit. Der Mandlkalender zeigte kein günstiges Wetter an, sogar das Zeichen für 96

Schnee war noch abgebildet, jenes für Sonne ließ sich nicht oft ausnehmen. Trotzdem entschloss sich die Mutter, Vaters Anordnung Folge zu leisten. Er hatte den Acker noch im Herbst umgepflügt, auch der Mist war angestreut. Vor dieser Arbeit drückten wir uns seltsamerweise mit Erfolg. Die Mutter sprach oft von Ahnungen, die sie habe, so auch diesmal, als sie feststellte, dass der Vater – ganz anders als sonst – diese Arbeit schon im Herbst gemacht hatte. Er habe damals schon gewusst, dass er im Frühjahr nichts mehr machen könne. Sie hatte schon vor Tagen die Erde gelockert, das Furchenziehen sollte auch ohne Pflug nicht mehr so schwer sein. Kaum hatte die Mutter die Tiere im Stall versorgt und dem Vater das Bett aufgebettet, ging es nach dem morgendlichen Suppenessen hinaus auf den Erdäpfelacker. Sie klaubte da und dort einen Stein auf die Seite und begann, mit dem großen Heindl handbreite, tiefe Furchen in den Ackerboden zu ziehen, immer und immer wieder, bis sie am oberen Rand des Ackers ankam. Genau nach ihrer Anweisung mussten wir neben ihr hergehen, immer in gleichen Abständen einen Erdapfel, eigentlich ein abgeschnittenes Stück Erdapfel mit mehreren „Augen“, in die Furche hineinlegen, in die eine Furche mein kleiner Ziehbruder, in die nächste ich. Die Mutter häufelte geschwind Erde darauf und zog die Furche weiter. Wer gerade nicht an der Reihe war, musste Erdäpfel für die nächste Furche herbeischaffen. Unsere Schuhe waren als Maß für die Entfernung zwischen zwei Erdäpfeln noch zu kurz, daher nahm sie Maß an ihren Schuhen und brach zwei Weidenstäbchen auf ihre Schuhlänge ab, das war nun das gültige Maß. Wir konnten natürlich schon zählen, also zählten wir leise mit und wussten am Ende der Furche, wie viele Erdäpfel wir hineingelegt hatten. Die Neugierde, wer mehr zusammenbringen würde, beflügelte uns und ließ uns zeitweilig vergessen, welch langweilige Arbeit dies war. Ohne Streit ging es beim Arbeiten auch diesmal nicht ab. Wir bezichtigten uns gegenseitig, die Erdäpfel zu eng gelegt zu haben, um Erster zu sein. 97

Am Schluss blieben noch einige Erdäpfel übrig, deshalb legte die Mutter am Rand des Ackers einige ganz kurze Querzeilen an, da hinein taten wir die restlichen Erdäpfel. Es sollte unser Erdäpfelacker sein. Der Mutter war das Wort Pädagogik genauso fremd wie uns, aber sie verstand wohl etwas davon, da sie immer wieder einmal trachtete, uns den Wert der Arbeit wie des Besitzes auf ihre Art zu erklären. Ein prüfender Blick überzeugte die Mutter, dass alle Erdäpfel mit Erde bedeckt waren. Eine Last war von ihr genommen, dafür begann jetzt die Sorge um eine gute Erdäpfelernte im Herbst. Es gab keinen wirklichen Schutz gegen die Widrigkeiten der Natur: Schädlinge konnten sich ebenso über die jungen Pflanzen hermachen wie das Wild, die gefürchtete Schafskälte konnte die jungen Triebe vernichten oder ein Dauerregen die Erdäpfel in der Erde verfaulen lassen. Wie schon gesagt, die Mutter war, gemessen am Vater und an den braven Kirchengehern, nicht sehr fromm. Wie abhängig sie sich aber von der Gunst des Herrgotts fühlte, zeigte sich im Zusammenhang mit der Natur, die einmal freigebig und dann wieder – und das war im Graben eher die Regel – zurückhaltend war. Die Mutter betete beim Säen, Setzen und Pflanzen, sie betete während des Wachstums. Sie betete um Regen, aber nicht zu viel, um reichlich Sonne, aber keine Dürre, um Abwendung von Blitz und Unwetter, um Verschonung von Schädlingen und schließlich um reichen Erntesegen im Herbst. Die ersten Palmzweige aus dem Palmbuschen wurden am unteren Rand des Ackers mit einem „In Gotts Naum!“ in die Erde gesteckt. Es war spät geworden an diesem Tag, wir waren hungrig, und die Finger waren in der Kälte steif geworden. Wir hätten gerne über alle Unbill gejammert, hatten aber wie so oft bei der gemeinsamen Arbeit mit der Mutter das Gefühl, in dieses Gefüge von Sorgen um das Tägliche hineinverwoben zu sein, was keine Ungeduld und kein Jammern erlaubte. Wie immer, wenn wir uns aus freien Stücken den Erwachsenen gegenüber wohlgesittet verhalten hatten, vor allem der Mutter brav erschienen waren, brach es aus uns heraus: Wenn wir allein waren, stritten wir, schlugen und balgten uns wegen jeder Kleinigkeit, beschul98

digten uns gegenseitig wegen des Streits – die wirkliche Not, die ja jene der Mutter war, vermochten wir nicht anzusprechen. War die Wut verraucht, schlossen wir wieder Frieden und begleiteten unser Tun mit heute seltsam anmutenden Erklärungen meinerseits: „Waun ma immer streiten und zuahaun, schickt der Herrgott a Strof“, oder: „Wannst net orbeitn hilfst, wird die Mutter krank.“ Mein Bruder versuchte mich zu erinnern, dass die Mutter ja mich weggeben könne, wenn sie sich nicht zu helfen wisse: „Sei net so zwider, weil dann schreibt die Mutter deiner Mammi und sie holt di ab!“ In den kommenden Monaten kam es nicht oft vor, dass wir zu spät aus der Schule heimkamen, wir wollten der Mutter keine Sorgen machen. Ihr Dulden stand wortlos im Raum, ließ sie beinahe sanft erscheinen. Wir machten uns freiwillig draußen nützlich, hielten beinahe täglich Nachschau, ob die Erdäpfel schon aufgingen, um es dem Vater zu melden. Ansonsten mieden wir die Nähe des Vaters, den die Krankheit immer mehr in Besitz nahm, empfindlich machte gegen Lärm und gegen jede Aufregung. Er nahm aber noch Anteil an der Arbeit, erkundigte sich, ob die Tiere gesund seien, trug uns auf, beim Unkrautjäten zu helfen. Die Erdäpfel wuchsen, das Kraut wurde hoch und sah gesund aus. Der Vater erfuhr vom „Aufgehen“, als er schon im Spital lag, von der Ernte nicht mehr. Sie war gut ausgefallen, und wir waren uns sicher, wir hatten daran unseren Anteil.

Sonntagskleid und Werktagsgewand „Kleider machen Leute“, heißt es bei Gottfried Keller. Über die Kleidung weisen sich Menschen aus, sagen damit, wo sie sich zugehörig fühlen, stelle ich heute fest. Damals erlebte ich das Anziehen und den Besitz von Kleidung, aber vor allem ihr Fehlen, als lebensnotwendiges Thema, weil es nie genug gab. Auch in meinem Heimatort St. Georgen gab es eine unterschiedliche Kleiderregelung, die aber durch verschiedene Umstände wie den Krieg und seine Folgen immer mehr durchei99

nandergeriet. Sie hing mit der Stellung im Dorf und mit den ausgeübten Berufen zusammen, hatte aber zunehmend auch einen finanziellen Hintergrund. Eine weitere Unterteilung war eine geografische, so kleinräumig diese auch war. Bauernknechte und Mägde stellten in ihrer Erscheinung oft ein Abbild ihrer Dienstherren dar, da sie deren Kleidung häufig „erbten“. Holzknechte dagegen waren mit ihren Familien in den Gräben gewissermaßen frei. Sie mussten aber im Gegensatz zu den Bauernknechten für die Ernährung selbst sorgen; hatten sie große Familien, war das Geld knapp, das noch für Kleidung blieb. Sie standen zwischen Bauernknechten und Arbeitern, und dies drückte sich auch in ihrer Kleidung aus. Ich erinnere mich an einen Mann, groß, in Kinderaugen eher alt, der an einem Wochentag schön gekleidet seinen Blick über den Dorfplatz schweifen ließ und schließlich nach einer Adresse fragte. Meinen Vorstellungen nach musste er zumindest ein Lehrer, ein Doktor oder ein Holzhändler sein. Zugleich wusste ich aber auch, was er nicht sein konnte, nämlich weder Bauer noch Gendarm, kein Handwerker, kein Briefträger, kein Pfarrer, denn die erkannte man an ihrer Kleidung. Der Doktor, ein kleiner, rundlicher Gemeindearzt aus Unzmarkt, immer mit einer bauchigen Doktortasche unterwegs, trug einen Arztmantel, anders kannten wir ihn nicht. „Das Holzhandeln bringt viel ein“, höre ich meinen Ziehvater sagen. So war der Holzhändler – nicht Jäger und nicht Bauer – meist in edles Tuch in Braun oder Grün gekleidet und hob sich damit von den Holzknechten ab, wenn er einmal mit ihnen zusammentraf. Diese trugen Sommer wie Winter zur Arbeit eine Hose aus lederähnlichem Stoff oder eine grobe, meist mehrmals geflickte Wollhose, seltener eine Lederhose. Als „Irchene“ wurden häufig fälschlicherweise auch Hosen aus dem weitaus billigeren lederähnlichen Stoff bezeichnet. Ein Janker aus ebensolchem Stoff wie die Hose musste sich bei Regen und Schnee bewähren. Meist wurde ein ehemaliges Sonntagsgewand aufgetragen, das neue war aus demselben, selten aus einem feineren Stoff gefertigt, sollte es doch einmal den gleichen Weg vom Sonntagsgewand zum „Werchtagsgwand“ gehen. In späteren 100

Jahren sah man die Holzknechte ähnlich gekleidet wie Sägearbeiter, die häufig eine blaue Montur trugen. Schaute man sonntags über die Kirchenbänke, gab es in der Männerreihe ein einheitliches Bild. Meist dunkle Steireranzüge, seltener eine Joppe und Lederhose. Es konnte aber auch sein, dass jemand in schwarzem Tuch darunter war, dann konnte der Träger alles sein, ein besserer Bauer oder Handwerker, ein Gendarm oder Briefträger in Zivil, auch ein Knecht, der von seinem Dienstherrn den alten Anzug „geerbt“ hatte. Eine besondere Stellung hatte der Pfarrer inne. Er trug immer Schwarz, war es nicht die Soutane, war es ein schwarzer Anzug, den er jahraus, jahrein trug. Der weiße Kragen wies ihn dann als Pfarrer aus. Frauen waren vielfältig gekleidet, farbiger. Auch bei ihnen spielten Tradition und Stand sowie die finanziellen Möglichkeiten eine große Rolle. Frauen, die keine Schürzen trugen – feine Frauen also, wie meine Mutter sie zu nennen pflegte –, waren Lehrerinnen, arbeiteten wie die Frau Lewine auf der Gemeinde, spielten wie Frau Rosa, die Pfarrersköchin, auf der Orgel oder waren von der Fürsorge. Mehr Verschiedenheiten kannte ich nicht. Und so, stellte ich mir vor, ist es überall. Von den Frauen mit schwarzen, glänzenden Schürzen gab es damals eine ganze Reihe. Allesamt hatten sie gemein, dass sie würdig und Respekt einflößend auf uns Kinder wirkten: die alte Frau Baumgartner und die alte Frau Wieser vom Gasthaus, aber auch die vom Kaufgeschäft. Eine Halbschürze oder Dirndlschürze trugen die junge Frau Baumgartner und sicher auch andere größere Jungbäuerinnen sommers wie winters zum entsprechenden Dirndlkleid; arbeiteten sie in der Küche mit, konnte es auch eine weiße Überschürze sein, mit Spitzen verziert und ausgestickt. Die dazu nötige Stickkunst hatten sie sicher in der Haushaltungsschule gelernt. Die Mütter meiner Schulfreunde trugen einfärbige oder bunte Schürzen. Sie waren Kleinbäuerinnen und Keuschlerinnen wie meine Mutter, manchmal Sennerinnen, häufig Mägde bei Bauern wie meine leibliche Mutter und Mägde im Gasthaus. Zu schmutzigen Arbeiten trugen sie noch eine Vorbindschürze, die meist geflickt war, über der üblichen Schürze. So schützte die 101

Schürze das Kleid, die Vorbindschürze die bunte Schürze. Die Frauen auf dem Sägewerk trugen blaue Schürzen oder Arbeitshosen wie die Männer. Das Sonderbare war, dass die Sonntagskleidung der ärmeren Leute nicht immer im selben Maße einfacher war als jene der Begüterten. Am Sonntag konnte es schon sein, dass auch eine Bewohnerin des Grabens in einem Festkleid in der Kirche saß, wie meine große Schwester, die sich dieses Kleid „in der Fremde“ erarbeitet hatte. Es gab einige ehemalige „Grabenkinder“, die auswärts in verschiedenen Berufen arbeiteten und den zu Hause gebliebenen Eltern und Geschwistern Kleidung kauften und nach Hause schickten. So kam ich in meiner Volks- und Hauptschulzeit auf einmal zu städtischer Kleidung, die meine ältere Ziehschwester von einer gütigen und begüterten Dienstherrin in der Schweiz geschenkt bekommen hatte. Eines Sonntags, die Leute standen nach der Messe vor der Kirche herum, fragte die Sera vom Dobernigg eine Frau: „Haum S’ gor noch an Stoff aus Friedenszeiten ghobt, weil S’ heit gor so schen beinand san?“ Hatte sie, und die Frau Stampfer hatte ein Kleid daraus genäht. Einmal erhielt die Mutter im Tausch gegen ein Kitzerl einen Stoff, aus dem sich der Vater noch einen Rock beim Schöffmann anmessen lassen wollte. Es kam nicht mehr dazu. Die Mutter wusste aus der Zeitung, dass es Stoffe aus Brennnesseln geben soll. Dazu hatte sie kein Vertrauen, wollte diesen Stoff nicht kaufen. Es erübrigte sich aber ohnehin, weil es ihn bei uns nicht zu kaufen gab. Trotzdem wurde die Versorgung zunehmend besser, der Kaufmann Wieser hatte schon Stoffe in den Regalen, und in Judenburg konnte man auch wieder zwischen vielen verschiedenen Geweben wählen. Die Kleidung des Lehrers oder der Lehrerin war in den Augen von uns Kindern auch am Wochentag schön. Lehrerinnen trugen niemals Schürzen, und Lehrer trugen lange Hosen und Hemden, die immer wie Sonntagshemden aussahen. Der Herr Lehrer Felfer trug auch Knickerbockerhosen. Ich erinnere mich, dass mich meine Mutter einmal gefragt hat, was denn die Lehrerin beim „Umgang“ angehabt habe. Meine Antwort war kurz 102

und ohne Emotionen: „Das Gleiche wie in der Schule.“ Anders sah dies beim Oberlehrer aus, der gleichzeitig Kapellmeister war. Die Musikkapelle rückte bei verschiedenen Anlässen am Sonntag aus, etwa bei kirchlichen Prozessionen und bei Festen. Er trug, wie später auch der Herr Lehrer Felfer, den gleichen Steireranzug mit breiten Lampas wie die übrigen Musikanten, darüber die gestickte Schärpe des Musikvereins. Am Kopf trug er einen Steirerhut und in der Hand den Dirigierstab. Damit nahm er für mich einerseits die höchste Stelle im Dorf ein, andererseits wurde er mir dadurch vertrauter, hatte doch mein Ziehvater, der nur ein Holzknecht war, auch einen Steireranzug. Wenn ich heute über die längst vergangene Kinderzeit nachsinne, weiß ich, dass sie karg und ärmlich war. Die Kleidung unmittelbar nach dem Krieg wird für die Mehrheit vor allem an Wochentagen dürftig gewesen sein, gestopft, geflickt und den Kindern oft zu klein. Neues gab es nur auf Bezugsscheine und oft in minderer Nachkriegsqualität. Dass Flicken und Stopfen das Selbstverständlichste der Welt war, dessen war ich damals gewiss. Meine Mutter war ständig damit beschäftigt, und es drohte auch mir, denn eine der ersten Arbeiten in der Handarbeitsstunde war das Stopfen von Socken und Strümpfen. Dieser Aufgabe folgte ab der vierten Klasse das Flicken einer Schürze. Beide Arbeiten nahmen ein trauriges Ende. Sah ein Loch in den Augen meiner Mutter erbärmlich aus, bedachte sie meine Stopfund Flickkünste mit einem vernichtenden Blick und beigefügter Erklärung: „Wos soll denn des sein? Des kaun jo hiatz gor ­neamp mehr anziagn, schau, dass d’ as auftrennst!“ Meine Hoffnung ruhte auf dem Nun-nicht-mehr-Anziehen-Können – weit gefehlt! Die Mutter half ein bisschen nach, nur, gut ausgenommen haben sich die derart behandelten Kleidungsstücke nicht mehr. Die Handarbeitslehrerin tadelte mich zwar in Schriftsprache, aber der Inhalt ähnelte dem meiner Mutter. In meinen Erinnerungen nehmen sich aber nicht alle Kleider so ärmlich aus: Sonntage und Feiertage rangen uns Kindern meist Bewunderung ab, Bewunderung für die Kleidung und das Gepränge einiger Leute, wenn sie vor der Kirche standen, in den vorderen Kirchenbänken saßen, auf dem jährlichen Markt 103

zu Georgi vor den Buden standen und einkauften. Sie nötigten mich aber auch zur Verteidigung. So antwortete ich einmal einem Dorfkind auf die Frage, ob ich denn auch ein Jankerl, also eine Weste von der „Triebener Strickerin“ bekäme, jener Maschinstrickerin aus Trieben, die im Ruf stand, nur gute Wollqualität zu gediegenen Westen fern aller „neumodischen Ideen“ zu verarbeiten, dies sei nicht nötig. Wir hätten zwei Schafe, die wir selber scherten, die Wolle würde die Mutter spinnen, daraus bekäme ich eine Weste – rot gefärbt, mit Silberknöpfen! Dass sie schrecklich kratzte, diese selbst gestrickte Weste, habe ich nie zugegeben. Sonn- und Feiertage waren die Tage der glänzenden Halbschürzen, die zu Dirndl- und Bürgerkleidern gehörten. Bäuerinnen, Wirtinnen und die Frauen der Kaufleute besaßen Bürgerkleider aus feinem Stoff, die in der kalten Jahreszeit getragen wurden; in den Kästen der Arbeiterfrauen, Arbeiterinnen und Bauernmägde ebenso wie bei den Holzknechtfrauen fehlten hingegen solche Kleider. Im Sommer trugen sie an Sonntagen ein dünnes Kleid, einfärbig, gestreift oder geblümt und ohne Schürze, darüber eine selbst gestrickte Weste, und als die Zeiten nach dem Krieg wieder besser wurden, eine Stoffjacke. Wenn ich mich an Kirchgänge erinnere oder an Fahrten mit dem Autobus nach Judenburg oder Unzmarkt, sehe ich junge und ältere Frauen in diesen Kleidern. Großbäuerinnen trugen aber sommers wie winters großteils Tracht in Form von Dirndln, aus dünnem Stoff im Sommer, aus dickem im Winter. Bald konnten sich auch Arbeiterfrauen ein warmes Winterdirndl leisten, so auch meine Mutter. Im Winter war das Dirndl aus einem dickeren Stoff gefertigt, meist aus Barchent. Seltener gab es Kleider aus Wollstoff, meine Mutter besaß, als wir noch im Graben wohnten, ein solches Kleid. Es hatte einen großen Kragen, der aber ihren Kropf nicht ganz verdecken konnte, was sie oft bedauerte. Es war vorne geknöpft. Diese Knöpfe hätte ich für mein Leben gern auf meinem Sonntagskleid gesehen. Wie bei anderen Frauen war es bei meiner Mutter einmal ihr Hochzeitskleid gewesen. In „Weiß“ zu heiraten war Frauen wie meiner Mutter, die bereits vor der Hochzeit 104

Kinder hatten, von der Kirche nicht erlaubt. Nicht alle Frauen, und schon gar nicht Kinder, nannten einen Wintermantel ihr Eigen. Wie waren wir Kinder angezogen? Wir waren meist ein Abbild unserer Eltern. Bauernmädchen, deren Eltern vermögender waren, hatten im Sommer bunte Dirndlkleider aus Leinen, im Winter solche aus Barchent oder Wollstoff. Meist wurde so viel Stoff gekauft, dass er nicht nur für die Mutter, sondern auch für die Tochter reichte. Im Dorf gab es zwei Schneiderinnen und einen Schneider, die häufig mit dem Nähen von Kleidung beauftragt wurden. Es gab aber auch Stoffkleidchen, einfärbig oder gemustert, und Faltenröcke, wie sie Kinder in der Stadt trugen. Diese wurden entweder in Judenburg gekauft oder aber auch auf dem Georgimarkt. Der Stolz meiner Mutter war eine Nähmaschine, sie nähte, wann immer sie zu einem Stück Stoff kam, was dringend gebraucht wurde. Älter geworden, aber immer noch in der Volksschule, stellte ich Vergleiche an, die zum Nachteil meiner Mutter ausfielen. „Kafte Kitteln san scho schena, und die von der Frau Stampfer a“, lautete die Bemerkung der Mitzi Pürzl. Ob sie gekaufte Kleidung bekam oder auch nur davon träumte, weiß ich nicht. Niemals hätte ich es gewagt, der Mutter von dieser Feststellung zu berichten, so gerne ich es auch getan hätte. Daher war ich froh, dass mein Erstkommunionkleid von der Frau Stampfer geschneidert wurde. In den meisten Familien waren mehrere Kinder, und die Kleidung wurde an die kleineren Kinder weitergegeben. Es gab aber auch begüterte Familien wie die Familie Baumgartner, wo die Kinder immer gleichzeitig neu eingekleidet wurden, also nichts nachtragen mussten. In meine Klasse ging die einzige Tochter des Oberlehrers. Sie besaß mehrere schöne Kleider, Westen und einen dunkelblauen Mantel, für mich der Inbegriff von Reichtum. Was aber alle Mädchen einte, war die Schürze, die tagaus, tagein getragen werden musste. Eine Schürze selbst zu nähen war fester Bestandteil der Handarbeitskünste aller Landmädchen. Der Unterschied zwischen Arm und Reich bestand darin, dass es hier meist mit Rüschen und reichen Verzie105

rungen, Litzen und schönen Knöpfen besetzte Kleiderschürzen waren, während es dort auch so manche Verzierung, häufig aber auch Flicken gab. Arme Mädchen waren oft recht unterschiedlich gekleidet, farblich und der Größe nach „kreativ“. Es musste alles so lange getragen werden, bis es „herunterfiel“. Kleider, Schürzen und Jacken wurden ungeachtet ihrer Größe über- und untereinander getragen, die Strümpfe waren zu kurz. Wir trugen Strumpfgürtel mit vier festgenähten Gummibändern, die mit Klipsen die Strümpfe festhielten. Häufig waren sie abgerissen, und wir behalfen uns mit Strumpfbändern. Der lange Schulweg über den holprigen Weg durch den Graben trug nicht dazu bei, dass wir unbeschadet in der Schule ankamen. War das Wetter schlecht, waren die Schuhe lehmig, die Strümpfe nass und mit Dreck bespritzt, die Kleidung nass – es gab noch keinen Regenschutz. Meine Mutter, die schon einmal, zehn Jahre vor uns, zwei Kinder in die Schule geschickt hatte, wollte nicht, dass wir als „Grabnbölli“, als schlecht gekleidete, „minderbemittelte“ Kinder, was mit finanziell arm und geistig schwerfällig gleichgesetzt wurde, im Dorf ankamen. Was sie dafür tun konnte, tat sie und machte ihrem Wahlspruch Ehre: „Wenn wir schon arm sind, dann sind wir doch ordentlich!“ Sie wusch und stopfte, flickte, nähte auf, ließ Aufschläge bei Kleidern und Röcken herunter. Mein kleiner Bruder Walter war ordentlich und auch geschickt, es passierte ihm kaum, dass er etwas zerriss. Ich hingegen hatte meine liebe Not. Häufig zerriss ich Strümpfe oder verlor Taschentücher, Kopftücher, Handschuhe und vor allem Zopfspangen, die teuer waren. Das Geld war immer knapp, so zerschnitt meine Mutter einmal zwei Krawatten, die mein Ziehvater von einem Verwandten aus der Stadt geschenkt bekommen hatte, auffallend bunt und somit nicht für einen Holzknecht passend. Sie machte bunte, glänzende Haarmaschen daraus und säumte sie ein. Ich trug sie stolz, und sie wurden in der Schule bestaunt, so lange, bis ein älteres Mädchen erkannte, dass es zweckentfremdete Krawatten waren. 106

Mit der Kleiderlänge hatten wir manchmal unsere liebe Not. Sittsam war es, wenn die Knie bedeckt waren. Manchen Müttern konnte es gar nicht sittsam genug sein, also waren die Kleider wadenlang. Meine ältere Ziehschwester nähte sich dann eben ein Kleid heimlich auf, ich konnte mit dieser Fertigkeit nicht aufwarten, so blieb es lang. War man schon „hinausgewachsen“, konnte man die Klipse des Strumpfgürtels sehen, die Gummibänder oder gar die Unterhosen, die in meiner Kinderzeit leider – wohl auch wegen großer Sittsamkeit der Mütter – immer recht groß bemessen waren. Ich erinnere mich an Unterwäsche aus einem dünnen Stoff im Sommer und aus Flanell im Winter. Auch die Unterwäsche teilte das Schicksal der Kleider, sie war anfangs übergroß, bis man schließlich herauswuchs und sie angestückelt wurde. „Muatta, die Frau Stampfer kann Kittel einstickln, so schen, wia nei schaut a hiatz aus, i möcht es a so hobn!“ Damit meinte ich das Kleid einer Mitschülerin, in das zwei Streifen eines anderen Stoffes eingestückelt worden waren, und das nun wieder normal lang war. „Des bring i a zsaum“, war die kurze Antwort der Mutter. So konnte ich bald mit einem derart aufgebesserten Kittel in die Schule gehen, eine Freude, an die ich mich noch heute erinnere. Ein Kleid von „herausragender Schönheit“ besaßen fast alle – reiche und arme Mädchen. Es war das Kleid, das wir zur Erstkommunion, zum Umgang am Fronleichnamstag, am kleinen Ostersonntag eine Woche nach Ostern und am Skapulierfest im Juli trugen. Wir merkten uns die seltsamen Bezeichnungen der Feste, verbanden sie mit weißem Kleid und Musik. Es war im besten Fall weiß, im schlechteren Fall hell geblümt. Meine Schwester hatte einen wunderschönen Stoff aus Vorarlberg geschickt, aus dem mir die Frau Stampfer ein Erstkommunionkleid nähte. Betrachte ich heute Bilder aus dieser Zeit, erscheint mir unsere damalige Einschätzung von Schönheit als große Übertreibung, ich hege aber nachträglich noch Bewunderung für unsere Kraft, alles so auszulegen, dass es uns hinaufhob und nicht niederdrückte. War diese Haltung ein Teil des Geheimnisses unserer Heiterkeit? 107

Buben trugen häufig Lederhosen, im Sommer dazu Stutzen. Im Winter zogen arme Buben darunter Strümpfe an, die von Gummibändern gehalten wurden. Das Sinnen und Trachten meines kleinen Ziehbruders ging nach einer Knickerbockerhose, wie sie der große Ziehbruder besaß, und er bekam sie. Damit war er den Strumpfbändern entronnen, und die lange Hose konnte warten. Über dem Hemd wurde ein handgestrickter Pullover getragen, darüber im Winter eine Joppe, ärmere Buben trugen nur Hemd und Pullover. Es gab einen Unterschied zwischen Kindern von Bauern und Kindern aus den Gräben, es gab aber kaum einen Unterschied zwischen uns, unseren zwei Nachbarskindern, den Leitnerkindern, und den Dorfkindern. Unsere Mütter wendeten alle Mühe auf, uns „schön“ zu kleiden. Solche Einzelfälle konnten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es vereinzelt Kinder in den Gräben gab, die die Schule im Winter nicht besuchten, weil keine Schuhe da waren und es überhaupt an Kleidung fehlte. Mit viel Fantasie konnte aus verschiedenen alten Kleidern ein neues geschneidert werden und aus Erwachsenenkleidung Kinderkleidung, die Versorgung mit Schuhen war hingegen großteils problematischer. Die Kriegs- und Nachkriegsjahre brachten, wie schon öfter erwähnt, auch in der Kleidungsfrage Notlagen mit sich. Diese waren für Grabenbewohner ungleich schwerer zu lösen als für Dorfbewohner. Zwar schien die Verbreitung wichtiger Nachrichten im Dorf zu funktionieren, nur bis zu uns in den Graben drangen sie selten durch. Wir waren darauf angewiesen, dass wir Kinder es auf dem täglichen Schulweg erfuhren, oder jemand vom Dorf ließ „Post sagen“, was bedeutete, dass jemand auf schnellstem Wege die Benachrichtigung übernahm. Das Kaufhaus Wieser war, wie vielleicht schon aus dem bisher Erzählten herauszulesen ist, kein Kaufhaus im heutigen Sinn. 1946 war es, als ein kalter, schneereicher Winter hereinbrach. Ich besuchte die erste Klasse der Volksschule. Die Schuhe waren eng geworden und konnten auch nicht gegen größere eingetauscht werden, weil sie der jüngere Bruder Walter bekommen sollte. So hieß es, ab dem Nikolaustag von der Schule 108

zu Hause bleiben und sich im Haus aufhalten. Nachdem ich jeden Freitag, wenn die Mutter vom Einkaufen im Dorf heimkam, vergeblich nach Schuhen im Rucksack gesucht hatte, war es ein paar Tage vor Weihnachten wie vorgezogene Weihnachten. Im Rucksack lagen Schuhe – neu, nach Leder duftend, mit echten Schuhbändern! Nicht nur, dass Voitl welche für mich auf die Seite gelegt hatte, Mutter musste sie erst bezahlen, wenn es am Monatsanfang Geld gab. Ich zog sie an, umrundete oftmals den Küchentisch, stellte sie schließlich vor mein Bett hin, um sie am Morgen gleich wieder anzuziehen. Wie Walter zumute war, der ja meine alten Schuhe nachtragen musste, kann ich heute nur erahnen. In der Zeit nach dem Krieg bis hinein in die Fünfzigerjahre war bei uns Kindern die „Kleiderregelung“ quasi aufgehoben. Es wurde angezogen, was da war. Die neuen Lederhosen gingen den Buben anfangs über die Knie und endeten nach Jahren speckig glänzend weit oberhalb der Knie der nun groß gewordenen Buben. So verhielt es sich auch mit der Kleidung der Mädchen. Es konnte aber auch vorkommen, dass Kinderfüße nackt in viel zu großen Schuhen staken und ein verwaschenes Sommerkleid beinahe den Boden erreichte. Nach dem Kriegsende im Mai 1945 hatte die Mutter von flüchtenden Soldaten Soldatenuniformen oder Teile davon im Tausch gegen Zivilkleidung erhalten. In mühsamer Arbeit trennte sie die Nähte auf, wendete die Stoffteile und nähte Hosen und Jacken für den Winter, die sie verschieden einfärbte. Mein Bruder Walter erhielt die dunkelblauen Hosen, ich die weinrot gefärbten. Sie hielten auf dem langen Schulweg die Kälte von uns fern und erlaubten uns auch eine gewisse Privilegiertheit: Sie sahen neu aus, anders und enthoben uns dem Ruf, arm an Besitz zu sein. Die Farben verblassten nach und nach, schien der Soldatenstoff allzu sehr durch, wurde eben nachgefärbt. Keine neue Einführung bedeutete die Kleidergabe an bedürftige Kinder, und deren gab es viele. So waren wir in einer bunten Vielfalt angezogen. Ich habe – wieder ein Versuch, mein Leben als ein besonderes zu sehen – schon als Kind besonders gerne Geschichten gelesen. Das Gemeindeamt, das in der Schu109

le untergebracht war, wurde umsichtig von Frau Lewine geleitet. Sie kannte meine Lesefreudigkeit, weil ich ständig Bücher aus der Gemeindebibliothek ausborgte. Sie kannte aber auch unsere finanzielle Lage, nachdem der Ziehvater gestorben war. Bei jeder Kleiderlieferung der Fürsorgestelle in Judenburg suchte sie für mich Fürsorgezögling etwas Passendes heraus. Im ständigen Verfahren des „Nachtragens“ ging die Kleidung von bekannten und fremden Leuten auf uns über, ich wiederum gab sie teilweise an meinen Bruder weiter. Meist hatten Kleidungsstücke aber bei uns ihre letzte Station erreicht. Der lange Schulweg und die Arbeit zerrten an ihrer Beständigkeit wie quengelige Kinder an den Nerven ihrer Mutter.

Kein siebenter Tag Religionsstunde: Wir wetzten auf den Bänken hin und her und schabten mit den Füßen auf dem geölten Schulboden, wie wir es immer taten, wenn uns langweilig war, weil wir die gehobene Sprache unseres Pfarrers nicht verstanden. Unser Pfarrer las aus einem Buch vor, groß wie ein Messbuch, und muss den folgenden Satz wohl eindringlicher gesagt haben, getragener, langsam und deutlich – wie in der Kirche eben –, weil wir plötzlich zuhörten: „An sechs Tagen sollst du arbeiten, am siebenten Tage sollst du ruhen!“ Der Satz wiederholte sich in meinem Kopf, ich ging mit ihm aus der Klasse, nahm ihn mit nach Hause. Aus dem Satz war eine Frage geworden: „Mutter, wann ist der siebente Tag?“ Ich brauchte eine Weile, ihr die dazupassende Geschichte noch einmal aufzurollen. Dann verstand die Mutter. „Mein Gott, der Sunntog, wia der Herr Pfarrer sogt, der siebente Tog, der is bei uns Grobnleit rar!“, höre ich sie antworten, „des Rasten is wos für die bessern Leit!“ Ich hatte verstanden. Ich kannte niemanden im Graben, der nicht arbeiten musste, wochentags wie sonntags. Das Arbeitsleben im Graben spielte sich für alle Bewohner ähnlich ab, das glaube ich aus der Anschauung eines Kindes, das ich damals war, zu wissen, und aus 110

den Gesprächen, die wir mithörten. Einzelheiten sind mir verborgen geblieben, die Arbeit in meiner Ziehfamilie sehe ich aber noch heute vor mir. Mein Ziehvater arbeitete meist sechs Tage im Holzschlag, schlief in der Holzknechthütte und kam dann nur am Wochenende nach Hause. Als die „Holzpartie“ einmal in der Nähe des Hauses arbeitete, durften wir eine Weile bei der Arbeit zuschauen. Mit einer langen Zugsäge hatten die Männer den Baumstamm etwa einen halben Meter über dem Boden von zwei Seiten angesägt und trieben Keile in die Einschnitte. Als der Baum sich zu neigen begann, riefen sie sich Befehle zu und verrückten die Keile. „Hiatz!“, rief mein Ziehvater laut. Der Baum neigte sich immer schneller, bis er mit lautem Krachen zu Boden fiel. Der Ziehvater lächelte. Es muss wohl die Erleichterung nach den bangen Sekunden des Fallens gewesen sein, die ihn dazu bewog. Sie nahmen einige Schlucke aus einer Flasche, es wird eine Schnapsflasche gewesen sein, und aßen das Brot, das sie mitgebracht hatten. Dann hackten sie die Äste vom Stamm herunter, schlichteten sie auf einen Haufen, entrindeten den Baum und sägten ihn zu langen Stämmen. Als es dunkel wurde, machten sie sich auf den Heimweg. Sie arbeiteten bei jedem Wetter, kamen sie dann nach Hause, wartete auch dort Arbeit auf sie. Es hing von der Jahreszeit ab, was gerade zu tun war. War es im Frühjahr das „Umbauen“, wie das Pflügen genannt wurde, oder das Ausbessern der Zäune und die Instandsetzung des Brunnens, galt es im Sommer zu mähen und das Heu einzuführen. Im Herbst erwartete die ganze Familie das Einbringen der oft dürftigen Ernte, wenn „das Wetter wieder einmal nicht mitgetan hatte.“ Das Holz, das sich der Ziehvater für den eigenen Gebrauch nehmen durfte, musste nach Hause gebracht werden. Dafür stand nur ein kleiner Leiterwagen zur Verfügung, den er selber zog, später tat es die Mutter mit dem großen Ziehbruder. Das Holz musste gehackt und der Mist vor dem Winter ausgeführt werden. In einer Ecke des Stalles stand eine Hobelbank, dort reparierte der Vater Geräte, die infolge des Alters und der Beanspruchung sehr oft zu Bruch gingen. Als eine Art Erholung muss er 111

es angesehen haben, wenn er einmal etwas „bastelte“, wie er es nannte, wenn er Küchengeräte wie Schneidbretter und Kochlöffel erneuerte, neue Besen band, ein Pfeiferl schnitzte oder im Herbst Granten brocken ging. Er arbeitete schweigsam, meist wusste man nicht, ob ihm die Arbeit leicht fiel oder manches nicht doch zu viel wurde. In seinem letzten Jahr merkten auch wir Kinder, dass sie ihm zusehends schwerer fiel, immer öfter kam er schon früh am Tag wieder vom Wald nach Hause und legte sich hin, bis er schließlich die Arbeit ganz aufgeben musste. Nach langen Wochen zu Hause wurde er schließlich ins Krankenhaus eingeliefert. Es gab aber keine Hilfe mehr für ihn, mit vierundvierzig Jahren starb er. Meine Mutter arbeitete von früh bis spät. Wenn wir aufstanden, kam sie schon aus dem Stall und hatte die Tiere versorgt und gemolken. Wenn wir aus der Schule nach Hause kamen, war sie meistens im Garten oder auf dem Feld beschäftigt, ging den Tieren auf die Weide nach, wusch und flickte. Am Abend arbeitete sie wieder im Stall, bis tief in die Nacht war sie oft mit der Wäsche beschäftigt. Es blieb auch noch genug schwere Arbeit übrig, wenn der Ziehvater während der Woche nicht heimkam. Viel Zeit musste im Sommer für das Vieh vom Schloßmoar, auf dessen Hube wir ja wohnten, aufgewendet werden. Teils war es auch in der Nacht draußen, das Jungvieh musste aber jeden Abend in den Stall gebracht werden. Es brauchte Pflege wie das Striegeln und die Kontrolle der Gesundheit; das heißt, man musste die Hufe auf etwaige Entzündungen absuchen, das Fell auf Verknotungen, die auf das Vorhandensein von lästigen Blutsaugern gedeutet hätten, und das Euter auf Knoten, die ö ­ fters Schmerzen bereiteten. Zusätzlich mussten die Zäune ständig auf Löcher kontrolliert werden. Bei der Heumahd, dem Einbringen des Heus, das für die Tiere des Bauern bestimmt war, kamen die Bauersleute mit den Knechten in den Graben. Die Arbeit musste schnell gemacht werden, weil immer die Sorge vorhanden war, ob nicht ein lang anhaltender Regen das Gras auf der Wiese faulen ließ, ein Unwetter oder ein zerstörerischer Hagel allem, was heran112

wuchs, ein Ende machte. Gab es einmal unter den Tieren einen Krankheitsfall, war dies Anlass zur Besorgnis und brachte viel zusätzliche Arbeit. Im Winter kamen das tägliche Schneiden des Heus dazu sowie das Kochen von Schweinefutter, wenn es kein frisches Gras gab. Meine große Ziehschwester Herta war zu dieser Zeit nicht mehr zu Hause. Sie hatte bereits alle Arbeiten gekonnt und war eine große Hilfe gewesen, die nun wegfiel. Mein älterer Ziehbruder Karl ging bis 1947 noch in die Schule. Kaum vom täglichen Unterricht zu Hause, begann für ihn ein ganz normaler Arbeitstag. Die Mutter wartete schon auf ihn, schimpfte mit ihm, wenn er sich wieder einmal verspätet hatte, weil er mit seinem Schulfreund Fritz häufig im Wald nach Relikten aus dem Krieg suchte – sich herumtrieb, wie die Mutter oft feststellte. Dieses lange Ausbleiben war die einzige Möglichkeit für ihn, für einige Zeit der Arbeit und der Kritik der strengen Mutter und des überstrengen Vaters zu entgehen, obwohl es oft harte Strafen dafür gab. Er hackte Holz, arbeitete auf dem Feld mit und im Stall. Wenn auch der Ziehvater ständig mit der Holzarbeit beschäftigt war, hieß das nicht, dass das Deputatholz für uns ausreichte. Deshalb war mein Ziehbruder immer damit beschäftigt, „Prügel“, wie die Äste genannt wurden, die beim Holzfällen abfielen, nach Hause zu bringen. Er hatte sie von den kleinen Ästen und Nadeln zu befreien und aufzuschlichten. Er arbeitete „wie ein Großer“, ich kann mich nicht daran erinnern, dass er wochentags einmal gespielt hätte, auch nicht, dass er Aufgaben machte, obwohl er ein guter Schüler war. Als mein Ziehvater krank wurde, lastete alle Arbeit auf Karl und auf der Mutter. Nachdem er eine Arbeit bei einem Bauern bekommen hatte und schließlich eine Lehre als Fassbinder begann, kam er nur mehr sonntags nach Hause. So blieb der Mutter die ganze Arbeit, mein älterer Bruder half ihr am Sonntag fleißig. Ab dieser Zeit sah ich meine Mutter nie mehr untätig. Es ist bekannt, dass Kinder oft schon mit Schulbeginn, spätestens aber, wenn sie stark genug und verständig geworden waren, schwer arbeiten mussten. Es gab aber auch – und das traf für das Dorf St. Georgen ebenfalls zu – die anderen Kin113

der, denen nur das Lernen als Pflicht aufgetragen wurde. Ich habe so im Rückblick das Gefühl, dass wir, Walter und ich, 1940 und 1941 geboren, im Verhältnis zu den älteren Ziehgeschwistern nicht sehr belastet waren. Es gab gemeinsame Zuständigkeiten für Arbeiten, aber auch klar getrennte. Gemeinsam war uns aufgetragen, täglich das Holz für den Küchenherd ins Haus zu tragen, im Sommer die Tiere auf die Weide zu treiben, dem Ziehvater und dem großen Bruder beim Holzschlichten zu helfen und nach der Mahd das Gras anzustreuen, also das gemähte Gras zum Trocknen auszubreiten. Und im August hieß es, Schwarzbeeren auszuklauben, eine äußerst unbeliebte Arbeit. Ich erinnere mich an keine Arbeiten, die zum festen Programm meines kleinen Bruders gehört hätten, aber er machte sich im Stall nützlich. Er hatte viel weniger Scheu vor Tieren als ich, er fütterte freiwillig die Kleintiere, streute ein, striegelte die Ziegen. Mein Arbeitsfeld war vielfältiger. Täglich mussten Zimmer, Küche und Vorhaus gekehrt werden. Wenn die Mutter den Boden rieb, hatte ich ihn aufzuwischen, Geräte aus Holz mussten mit Lauge gereinigt und täglich musste das Geschirr abgetrocknet werden. Gelegentliches Unkrautjäten gehörte ebenso zu den Aufgaben wie das Waschen und Schwemmen kleiner Wäschestücke. Die Ziehmutter lehrte mich ganz früh das Stricken, Nähen und Stopfen. Ich denke heute noch daran, wie sie manchmal die Geduld verlor, weil ich mich dabei äußerst ungeschickt anstellte. Wichtig war, überall, wo es Arbeit gab, mitzuhelfen, möglichst unaufgefordert, was kaum funktionierte. Ich kann nicht sagen, dass wir die Arbeit gerne gemacht haben, wir mussten es einfach. Wir kamen deshalb oft absichtlich spät von der Schule nach Hause, weil es im Dorf und auf dem Schulweg genug Abwechslung gab. Gab es überhaupt keine Freizeit? Es gab sie, wenn sie auch nicht so benannt wurde. Der Vater betrachtete es als Freizeit, wenn er die Wochenzeitung lesen konnte, wenn er auf Wiesen und Feldern nachschaute, ob alles gedieh, hier und dort etwas richtete oder an schönen Sonntagen aufs Weißeck wanderte. Ich sehe ihn noch, wie er an warmen Tagen, an die Stallwand gelehnt, Zigaretten auf Vorrat wuzelt. Manches Mal besuchte er in 114

der Dorfkirche den Gottesdienst. Meist gingen wir mit, die Mutter ging aus Zeitmangel nur zu den Feiertagen in die Kirche. Selten gingen sie gemeinsam ins Dorf zu einer Veranstaltung, weil der Weg weit war und das Geld fehlte. Im Winter ging der Vater nach dem Gottesdienst manchmal Eisschießen. Wir durften mitgehen und sahen zu, bis uns die Zehen gefroren, auf dem weiten Weg nach Hause tauten sie dann wieder auf. Für die Mutter bedeutete Freizeit, wenn sie sich am Sonntagnachmittag zu einer Strickerei hinsetzen oder die Zeitung lesen konnte. Dann sagte sie: „Heute hatte ich eine schöne Abwechslung.“ Es kam vor, dass sie mit uns spielte, im Sommer draußen „Schneider, Schneider, leih ma d’Scher“, drinnen „Mensch ärgere dich nicht“. Wir gingen nachschauen, ob die Schwarzbeeren schon reif waren, und sie zeigte uns Plätze, wo Erdbeeren wuchsen. Meine Mutter, aber auch meine Ziehgeschwister waren musikalisch, und so wurde viel gesungen. Noch heute kenne ich viele Volkslieder, die mir durch meine Mutter vertraut wurden. Ich sang meistens falsch, was in der musikalischen Familie nicht gut ankam. Manchmal besuchten uns auch die Nachbarn, oder wir gingen zu ihnen, das war für alle eine willkommene Abwechslung. Am Abend, bei Petroleumlicht, las die Mutter häufig im Traumbuch, einem vom vielen Umblättern unansehnlich gewordenen kleinen Buch. Hatte die Mutter das Gefühl, wir könnten es verstehen, las sie vor, was sich bei den einzelnen Sternzeichen Gutes wie Böses in den nächsten Tagen zutragen sollte, oder sie studierte den Mandlkalender, weil sie das Wetter und den Mondstand wissen wollte. Sie besaß auch ein paar Bücher, in denen sie gerne las. Im Sommer freute sie sich auf das Beerensuchen, sie betrachtete diese Tätigkeit eher als willkommene Abwechslung. Ob sie das Anfertigen von Weihnachtsgeschenken, etwa das Stricken von Pullovern, das Nähen von Kleidung, aber auch das Basteln von Spielzeug wie Puppen oder einem Kasperl für Walter als Arbeit oder als Zerstreuung gesehen hat, kann ich nicht beantworten. Wir glaubten daran, dass Weihnachtsgeschenke ausnahmslos – wie überall – vom Christkind gebracht wurden. 115

Wenn ich diese Zeit heute überschaue, war es für die Mutter eine arbeitsreiche Zeit, tagaus, tagein, besonders, als der Ziehvater nicht mehr helfen konnte und die großen Geschwister aus dem Haus gegangen waren. Alle Grabenbewohner waren an schwere Arbeit gewöhnt. Sie hatten sich das Leben im Graben nicht ausgesucht, und es war nur möglich, weil sie selber Lebensmittel anbauten und erzeugten, Kleidung selber nähten oder aus der eigenen Schafwolle herstellten. Und sie sammelten, was der Wald hergab. Ich erinnere mich nicht daran, dass sie viel geklagt hätten, sie arbeiteten einfach. Abwechslung, wie sie es nannten, war die Zusammenkunft mit Nachbarn. Dann wurde gesungen, manchmal auch getanzt. Meist lernten die Eltern den Kindern auch Tanzschritte zu Walzer, Polka und Landler. Sie erzählten sich Geschichten, lachten und scherzten, gingen sichtbar fröhlich heim und zehrten wieder lange Zeit von der gemeinsamen Freude. Von diesen Zusammenkünften, aber auch aus den Gesprächen, wenn sie sich auf dem Weg ins Dorf trafen, weiß ich, dass sie stolze Menschen waren, stolz auf die Arbeit, die sie leisteten, und auf das, was sie selbst erzeugten. Daneben wurde aber immer häufiger die Redewendung „Wir sind alle ausgeschunden“ gebraucht und die Frage gestellt: „Wie lange werden wir die Arbeit noch schaffen?“ Die Frage wurde uns so vertraut, dass wir häufig vom „Außiziagn“ sprachen, ohne das wahre Ausmaß der Entscheidung zu begreifen. Der Wunsch, es einmal leichter zu haben, entwickelte sich bei allen, manchen gelang der Schritt ins Dorf, anderen nicht. Der Vater starb, bevor der Schritt hinaus in die Tat umgesetzt werden konnte, vor Weihnachten 1948. Heute glaube ich aber, dass er, der den Graben nur während des Krieges verlassen hatte, es nie wirklich so gut haben wollte wie die Leute im Dorf, zu sehr war er im Graben verwurzelt. Der Wunsch meiner Ziehmutter war es aber gewiss.

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Kranksein Ferndiagnosen Es war draußen schon hell geworden, als der kleine Ziehbruder endlich einschlief. Von Schmerzen geplagt, hatte er die halbe Nacht geweint. Zwei Tage hielt das hohe Fieber nun schon an, im Hals hatte sich ein Knoten gebildet, rot und hart, der sich heiß anfühlte und noch immer wuchs. Die Mutter, die sich nicht erinnern konnte, dass der Doktor aus Unzmarkt je einen Krankenbesuch im Graben gemacht hätte, wusste nun nicht mehr, was sie noch tun konnte. Sie hatte Nachschau im „Doktorbuch“ gehalten, aber keinen Rat gefunden. Sie hatte Umschläge mit Topfen gemacht, die der Bruder trotz guten Zuredens nicht aushielt, hatte ihm verdünnte „Hollersuissen“ gegen das Fieber eingeflößt, was leider auch nicht geholfen hatte. So entschloss sie sich, den großen, noch nicht der Schule entwachsenen Bruder zum Dr. Holla nach Judenburg zu schicken. Aus Erzählungen einer Dörflerin wusste sie, dass er Krankheiten aus Beschreibungen erkennen könne und arme und reiche Leute gleich behandle. Karl musste sich beeilen, wenn er den Zug nach Judenburg noch erreichen und bei den schlechten Zugsverbindungen am selben Tag wieder zurück sein wollte. Sie beschrieb auf einem Zettel, so ausführlich und deutlich sie es vermochte, das Erscheinungsbild der Krankheit, wo sie sich ausbreitete, und welche Beschwerden der Bruder hatte. Sie vergaß auch nicht zu bemerken, dass sie, obwohl nur der Kräuter und Wickel kundig, halt einiges ausprobiert hätte. Das Bübl habe alles abgelehnt, würde immer an den Hals greifen, nichts essen wollen, nur weinen. Sie sei schon ganz verzweifelt und bitte den Herrn Doktor, dem sicher schon derlei Krankheiten untergekommen wären, etwas zu verschreiben. Der große Bub könnte es in der Apotheke holen. So müsste das Bübl nicht noch eine Nacht leiden. Sie entschuldigte sich für die Schrift und die Fehler, bedankte sich schon im Voraus und schloss mit „Hochachtungsvoll, Christine Pojer“. 117

„Karl, kimm her“, sagte sie hastig und las dem Bruder den Brief vor, damit er wisse, worum es gehe, falls der Herr Doktor noch etwas fragen würde. Sie hielt ihn an, sich schnell anzuziehen und zu kämmen, steckte ihm noch ein Stück Brot in den Sack und hieß ihn, den Weg hinaus zu laufen, um den Zug noch zu erreichen. „Loss di net wegschicken, bitt den Herrn Doktor, dass er wos verschreiben tät und sog ihm, i werd ois begleichen.“ In den nächsten Stunden wich die Mutter kaum vom Bett des kleinen Ziehbruders. Als sie die Tiere versorgen musste, hätte ich ihn trösten sollen, was mir leider nicht gelang. Ich weinte mit ihm, weil ich glaubte, dass er sterben müsse. Krankheit und Sterben beherrschten im Krieg und lange danach häufig die Gespräche der Erwachsenen, aus denen man auch den Tod von Kindern herauslesen konnte. Noch vor dem Abend kam Karl wieder heim. „Pulverln san’s und wos zum Auflegen“, stellte er fest und legte alles auf den Tisch. Darauf hatte die Mutter gewartet. „Der Doktor hot gsogt, des Gschwür is a Abszess und in vierundzwanzig Stunden muass as aufbrechen, sunst muass er ins Spital.“ Es ging noch eine Nacht vorüber, in der die Mutter kein Auge zutat, weil Walter schrie. Am Vormittag des nächsten Tages bäumte er sich im Bett auf und schrie so laut wie nie vorher, ließ sich ins Bett zurückfallen und wurde plötzlich still. Die Mutter rief: „Herrgott hilf, er stirbt ma!“ Sie hob ihn aus dem Bett und drückte ihn an sich – er war eingeschlafen! Der Hals erschlaffte, wurde dünner und dünner, die Geschwulst war innen aufgebrochen. Nach Stunden wachte er auf, war gut aufgelegt und verlangte, auf den Topf zu gehen. Die Mutter glaubte, dass aller Eiter abgegangen wäre. Die richtigen Zusammenhänge erschlossen sich ihr nicht, aber der Bruder hatte es überstanden. Irgendwann in den nächsten Wochen fuhr sie mit ihm nach Judenburg, damit der Doktor den Erfolg seiner Medizin sehe, womit sie wohl auch seine Diagnose der Krankheit meinte. Er war sichtlich erfreut, dass es geholfen hatte und sagte der Mutter, sie solle wiederkommen, wenn jemand krank sei in der „Einschicht“. Die Mutter hatte Vertrauen zu dem Mann gefasst, 118

„der net lang frogt und tuat“, obwohl: „Wos is, waun er si irrt? Do tät er jo gstroft werden!“ Sie suchte noch einige Male bei ihm Hilfe. Warum jedoch der Vater in seiner Krankheit ihn nicht aufsuchte, kann ich nicht sagen. In St. Georgen gab es keinen ständigen Arzt, Dr. Pöltl aus Unzmarkt ordinierte einmal in der Woche im ehemaligen Extrazimmer der Familie Baumgartner. Im Vorhaus, einem länglichen Raum, warteten dann immer schon viele Leute. Als wir einmal zum Impfen im Dorf waren, hatten sich schon viele im Wartezimmer des Arztes niedergelassen. Krankheiten schlugen im Krieg und in den Jahren nach dem Krieg häufig zu, in unserer Familie und auch bei den anderen „Grablern“. Ob es bei uns öfter der Fall war als bei den Leuten im Dorf, weiß ich nicht. Wenn die Mutter wieder einmal zum Einkaufen ins Dorf ging oder die Zeitung zu Gesicht bekam, wenn Besuch aus Pöls oder einmal sogar aus Wien kam, wurde über die Nöte draußen in der Welt gesprochen, über den Hunger und auch über die Krankheiten, die häufig die Folge waren. „San ma froh, dass ma immer noch wos zum Hoazn und zum Essen haum“, war ein häufiger Kommentar. „Waun ma nur besser zu ana ärztlichen Hilfe kammat, wa ois leichter“, bemerkte die junge Mühlbäuerin, die, schon bettlägerig, Jahre später an einem „schweren inneren Leiden“ sterben sollte.

Kein Schutz vor Krankheit Was am meisten beklagt wurde, war die Unmöglichkeit, sich gegen Kälte und Nässe zu schützen, im Dorf, aber vor allem am Berg und in den Gräben. Ich war nicht die Einzige, die im kalten Winter des Jahres 1946 wochenlang von der Schule zu Hause bleiben musste, weil sie keine passenden Schuhe mehr besaß. Mein großer Bruder war stolz, als Treiber bei der Treibjagd vom Baumgartner eine gute Jause und ein paar Schilling zu verdienen. Der Erfolg war, dass ihm die Zehen an den schon zu engen Schuhen anfroren, drei Wochen lang war nicht daran zu denken, Schuhe anzuziehen. Hatten wir Schuhe an den 119

Füßen, gingen wir bei jedem Wetter in die Schule, ohne wirklichen Schutz gegen Regen und Schnee, Gummistiefel oder Regenmäntel waren uns fremd. Die Folge war, dass wir oft stundenlang in den nassen Kleidern unterwegs waren, was häufig zu Verkühlungen mit hohem Fieber, zu Halsentzündungen und Ohrenentzündungen führte. Es gab Tage, an denen die ganze Familie krank war. Dann bettete uns die Mutter in der Küche nieder, wie dort alle Platz fanden, weiß ich nicht mehr. Allein die Mutter schien nie krank zu sein. Später jedoch erzählte sie oft, dass sie irgendwie versucht hatte, auf den Füßen zu bleiben. Wer hätte die Familie gepflegt, wer für die Tiere gesorgt, nachdem Herta, die wie durch ein Wunder kaum krank war, mit vierzehn Jahren zur Arbeit fortging? Vier Wörter, die nichts Gutes bedeuteten, kannte jedes Kind: Ischias, Rheuma, Gicht und Gelenksentzündung. Sie durchzogen die Gespräche, wurden wohl auch einmal falsch zugeschrieben, und es gab sicher auch Leute, auf die alle Bezeichnungen passten. Erkältungen wurden zu spät behandelt, Verletzungen, die durch die schwierige Handhabe von Geräten entstanden waren, wurden oft bagatellisiert. Als die Mutter einer Nachbarin dringend riet, sich doch endlich beim Doktor eine Medizin gegen das Kreuzweh zu holen, entgegnete diese erregt: „ Es hilft jo ois nix, wenn i mi net holtn kaun!“ „Nicht halten können“ bedeutete eben, sich im unwirtlichen Graben bei Regen und Schnee nicht vor Erkältungen schützen zu können, die wieder Krankheiten nach sich zogen. War eine Krankheit einmal ausgebrochen, hätte es Medikamente gebraucht und Zeit, sich auszukurieren. Beides war nicht ausreichend vorhanden. Die Arbeiten im Wald, im Garten und auf dem Feld führten dazu, dass die Wirbelsäule überstrapaziert wurde. Alles, was eingekauft wurde, musste mit einem Rucksack heimgetragen werden, Holztragen war eine tägliche Aufgabe schon der Vierjährigen. In zu kleinen Schuhen wurde der Fuß zusammengepresst, in zu großen hatte er keinen Halt. Beeren suchen, jäten, Kuh oder Geiß melken konnte ebenso nur mit gekrümmtem Rücken erledigt werden wie Holz schlägern und schneiden. 120

Ständige Nässe bei der Arbeit im Freien, das Schwitzen und das anschließende Verbleiben in den nassen Kleidern waren Garanten für Kreuzweh, wofür es auch immer stand. Ich erinnere mich an eine Reihe von Leuten, die bucklig waren. Sie erschienen uns unheimlich und manchmal bedrohlich, wenn sie uns nach einer Neckerei den Stock nachwarfen. Es gab kaum eine Familie, die von Krankheiten verschont blieb. Wenn es möglich war, wurde der Doktor aufgesucht, damit er etwas gegen die Schmerzen verschrieb, eine Einreibung oder auch ein Pulverl. Daneben wurde aber auch mit Hausmitteln behandelt, es wurde geschmiert und warm aufgelegt, wozu man allerlei, oft auch selbst gerührte Salben verwendete. Die Mutter hatte früh mit Rheuma zu tun, aber auch mit Ischias. Sie klagte in unserer Gegenwart wenig, wenn sie sich aber unbeobachtet glaubte, ging sie oft gebückt und blieb kurz stehen. Die schwere händische Arbeit trug nicht zu einer Besserung bei, und ich kann mich an keinen Gang vom Dorf in den Graben erinnern, bei dem sie nicht einen schweren Rucksack getragen hat. Als der Vater starb, schien alle Kraft aus ihr gewichen zu sein, sie sprach vom Elend des Grabens, der alle krank mache. Eine Gelenksentzündung gesellte sich zum bekannten Rheumaschmerz, beide hielten den ganzen Winter an. Eine Sennerin, die den Sommer auf der Alm verbrachte, hatte, wie die Mutter sagte, „Gichtfinger“, mit denen sie aber immer noch geschickt stricken konnte. Ein Nachbar, dem der ­Ischias schon den Stock aufgezwungen hatte, arbeitete bei jedem Wetter auf seinem Kartoffelacker. Die Kritik der Vorbeigehenden, sich nicht der Nässe auszusetzen, tat er ab: „Jo, soll i warten, bis die Erdäpfelkäfer ois obgfressn haum?“ „Sich net holtn können“ war die Krankheit vor der Krankheit, wie es später einmal der Frauenburger Arzt, Dr. Petz, ausdrückte. „Wenn der Doktor Petz nur friara sei Ordination aufgmocht hätt, wär uns vül Not ersport bliebn!“ Dieser Satz machte die Runde im Dorf, und er kam wohl aus tiefster Überzeugung. Häufig wurden wir, aber auch andere Graben- und Dorfbewohner von Abszessen geplagt und von Ausschlag, manche Kinder hatten „Krätzen“. Ich erinnere mich an zwei Leute, die 121

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Gewächse am Kopf und am Ellbogen aufwiesen, die von uns Kindern ängstlich beäugt wurden, was jene zur Erklärung veranlasste: „Brauchst di net firchtn, Dirndl, is net ansteckend!“ Ansteckung war ein gefürchtetes Wort meiner Kinderzeit! Nicht nur „Krätzen“ – wie aus Unwissenheit beinahe jeder Ausschlag genannt wurde – konnte man sich durch Ansteckung holen. Genauso unangenehm waren die Läuse, die häufig die Kinderköpfe in der Nachkriegszeit bevölkerten. Die Mutter fiel, wie andere Mütter auch, mit Petroleum erfolgreich über sie her. Mit winzig kleinen Tabletten, die der Dr. Holla verschrieb, rückte sie dem ansteckenden eitrigen Ausschlag zu Leibe, der bei mir während der ganzen Ferienzeit des 1947er-Jahres Hände und Arme überzog. Viel schwerer aber wog, als wir uns in der Schule gegenseitig mit Keuchhusten ansteckten. Ich kann mich an Hustensaft aus Maiwipferl ebenso erinnern wie an die nächtlichen Brustwickel, die mit Pech und Honig bestrichen waren. Sie konnten jedoch nicht verhindern, dass sich beim Gehen die Anfälle einstellten, an denen man zu ersticken drohte. Dass es wirklich arg gewesen sein muss, lese ich daraus ab, dass die Mutter nie die Bemerkung machte: „Hiatz sei net so empfindli!“, sondern sagte: „Wirst segn, es wird bold besser!“ Der Vater war nicht der Einzige, der im Jahre 1948 an Tuberkulose erkrankte und schließlich daran starb. Die Mutter erzählte von Leuten im Graben, die die Krankheit früher schon ereilt hatte, obwohl sie immer viel an der frischen Luft waren. Karge und ungesunde Ernährung hatte wohl ebenso Anteil daran wie Nässe und Kälte, und davon hatten die „Grabler“, die häufig Holzknechte waren, mehr als genug.

Salben und Wickel Wie alle „Grabler“, aber auch die Frauen im Dorf, hatte die Mutter eine große Pflanzenkenntnis und kannte die Heilkräuter, die zur richtigen Zeit gepflückt und anschließend getrocknet werden mussten. Was auf unserer Höhe noch wuchs, säte 122

sie im Garten aus. Uns Kinder ereilte dann meist die Aufgabe des Pflückens, des Zupfens und des akkuraten Auflegens von Kamille, Frauenmantel und Spitzwegerich sowie von Minze und Baldrian. Für ein Stück Butter oder Speck erhielt die Mutter von einer Dörflerin Lindenblüten, die sie sorgsam trocknete. Als Tee waren sie ein ebenso beliebtes Mittel bei Fieber wie die Hollersuissen. Sie pflückte Arnika und stellte Arnikaschnaps her, der auf der wunden Haut höllisch brannte, aber dazu gut war, „damit’s net zum Eitern anfangt!“ Der Vater brachte wie andere Holzknechte verschiedene Pechsorten nach Hause und ganz hinten im kühlen Kellerkastl standen Tiegel mit verschiedenen Fetten, denen Heilkraft zugeschrieben wurde. Ich erinnere mich an verschiedene Pech-, Zwiebel-, Speckund Fettmischungen, die, heiß aufgetragen und von Stoffwickeln umhüllt, bei verschiedensten Beschwerden helfen sollten. Allen war gemeinsam, dass sie fürchterlich stanken. Mein kleiner Bruder war der Einzige, der sich den Wickeln manchmal durch Schreien entziehen konnte, mir gelang es nie. Mitten im Winter war es, als die Mutter mich durch Auflegen einer ihrer Mischungen auskurieren wollte, nachdem der Herr Dr. Holla die Ferndiagnose „doppelseitige Rippenfellentzündung“ gestellt hatte. Der Ofen im Zimmer wurde geheizt, zusätzlich lag ich unter Decken, stundenlang, wie es mir vorkam. Die einzige Abwechslung war das Rufen des Kuckucks in der Uhr an der Wand. Die Mutter hatte kaum Zeit, uns die Krankentage zu verkürzen. Wenn man mit dem Nötigsten versorgt war, war es nicht üblich, dass man unterhalten wurde. Unangenehmes auszuhalten musste gelernt werden. Wir lernten es schwer. Als ich mir einmal beim Spielen am Mittelfinger eine Quetschwunde bis auf den Knochen zuzog, vertraute die Mutter auf ein Stück Hasenbalg, das sie auf die Wunde legte. Es heilte tatsächlich, nur eine knötrige Narbe blieb mir als Erinnerung. Die Leute rückten den Krankheiten aber nicht nur mit Salben, Pulvern und Wickeln zu Leibe, es gab noch andere Mittel, auf die man hoffte und vertraute. In den Messen am Sonntag, 123

in den Litaneien zu Heiligenfesten, am Anbetungstag – einige Anlässe habe ich sicher vergessen – wurde um Verschonung vor Krankheit und Tod gebetet; den Palmkatzerln im Verein mit einem bestimmten Öl, Weihrauch und Wacholder beim „Rachn“ am Heiligen Abend sollte ebenfalls Kraft zur Heilung innewohnen; und der Wachsstock, in Mariazell geweiht, soll mit seinem Licht eine besondere Hilfe bedeutet haben. Was nie vor uns Kindern ausgebreitet, häufig „in der größten Not“ aber hervorgekramt wurde, war das Wissen um Sympathiemittel, das Wissen über seltene Produkte wie Hundssalbe, Pulver aus einem bestimmten Horn oder Tierhäute, die immer irgendjemand herzustellen oder zu beschaffen wusste. Über Vermittlung einer Dorfbewohnerin war die Mutter ebenfalls an ein solches Zaubermittel gelangt. An einem Freitag nahm die Mutter den kleinen Ziehbruder zum Einkaufen ins Dorf mit. Ich sollte beim kranken Vater zu Hause bleiben und mich in seiner Nähe aufhalten, um ihm behilflich zu sein, falls er etwas brauchte. Als sie, wieder heimgekommen, die dämmrige Küche betraten, schlief der Vater. Noch bevor die Mutter den Rucksack wegstellte, sagte sie halblaut zum Ziehbruder: „Dass d’ ja nix zum Vatta sogst, wos i mit’n Eirama gredt hob!“ – „Na, i sog eh nix“, war seine Antwort. Er setzte sich auf die Stiege, wirkte seltsam verstört. Als die Mutter zum Abendessen rief, sagte er: „I mog heit nix mehr!“ Als wir schon im Bett lagen, erzählte er stockend, immer ängstlich zur Tür blickend, damit die Mutter ihn nicht hörte, dass sie vom Einräumer, der weit hinten im Graben wohnte und zu den Dorfleuten kaum Kontakt pflegte, etwas in eine Zeitung Gewickeltes erhalten hatte, das sie schnell im Rucksack verschwinden ließ. Sie habe ihm Fleisch und Geld gegeben, dann habe der Einräumer noch einen Tiegel aus dem Hosensack gezogen, der auch in Mutters Rucksack verschwand. Als sie sich zum Gehen wandten, habe er gesagt: „Koch eam’s und red nix drüber, schmeckt wie Gulasch, wirst segn, dann is ’n Hans glei leichter. Dass d’ Hundsfettn hilft, waß d’ eh, schmier s’ a poar Mol am Tog – und verratst mi net!“ Den Tiegel bekamen wir nie zu Gesicht, aber es roch in der 124

Küche auf einmal anders, ja, es stank. Das durfte man aber nicht sagen. Mein Bruder war, nachdem er das Gespräch mitgehört hatte, der festen Überzeugung, dass der Vater Hundefleisch zu essen bekam und im Tiegel Hundsfett war. Er rührte, weil man ja nicht wissen konnte, in den nächsten Tagen kein Fleisch an, und als er mit einer Verkühlung von der Schule zu Hause bleiben musste, war er ängstlich darauf bedacht, nicht eingeschmiert zu werden, wie es die Mutter sonst tat, wenn wir krank waren.

Frühes Sterben „Glabst, dass ma ’n Vatta unterwegs no treffen werden?“, lautete die bange Frage meines Bruders, damals am 3. Juni des Jahres 1948. Wir konnten schon das Brandnerhaus sehen, als uns ein Pferdegespann mit einem Leiterwagen entgegenkam. Darauf lag der Vater, notdürftig in zwei Decken gehüllt. In der Helligkeit des Tages erschien uns sein Gesicht eingefallen und noch blasser als in den letzten Monaten, seit ihm Dr. Pöltl die Diagnose „doppelseitige Lungen- und Rippenfellentzündung“ gestellt hatte. Mit dem Auftrag, er möge sich niederlegen und auskurieren, hatte er ihn entlassen, wohl wissend, dass dies einen Fußmarsch von zehn Kilometern bedeutete. Der Knecht ließ das Pferd anhalten, als er uns sah. „Schau Vatta, die Kinder san do, sie wolln si von dir verabschieden“, meinte die Mutter. Walter streckte ihm zaghaft die Hand entgegen, ich tat es ihm nach. Der Vater hob den Kopf ein wenig, schaute uns aus müden Augen an, hob die Hand zu einem kleinen Winken und sagte kaum hörbar: „Es tuat scho, Kinder, gehts gschwind hoam. Tuats der Muatta folgen und tuats brav helfen!“ Es waren die letzten Worte, die der Vater an uns richtete. Wir winkten ihm lange nach, sahen noch, wie die Mutter ihm half, die Decke unter seinem Rücken zu befestigen, damit er das Poltern der eisenbeschlagenen Räder nicht gar so hart spürte. Die schon bald ein halbes Jahr dauernde Krankheit hatte alle Kraft aus seinem Körper gesogen. 125

Wir eilten nach Hause. Als die Mutter spätabends heimkam, fand sie alles in Ordnung vor. Der Bruder hatte die Tiere gefüttert, ich hatte alles, so gut ich konnte, an seinen Platz geräumt. Seit Wochen hatte die Mutter den Vater neben dem Küchenherd hingebettet, damit er es warm habe und sie allezeit zur Stelle sein konnte. Drei Monate waren seit der Diagnose vergangen. In dieser Zeit hatte ihn der Arzt nie besucht, daher fuhr die Mutter häufig mit dem Autobus nach Unzmarkt, wo Dr. Pöltl seine Ordination hatte. Häufig lief sie in der halben Zeit den Weg hin und zurück, um den Vater nicht zu lange alleine zu lassen. Bei einem dieser Besuche schilderte sie dem Doktor die Not des noch nicht einmal vierundvierzig Jahre alten kranken Vaters, dass sich sein Zustand immer mehr verschlechtere, dass er schrecklich huste, häufig keine Luft bekäme, ja, dass er immer „weniger“ würde, wie sie das Schwinden jeglicher Lebenskraft bezeichnete. Sie nahm allen Mut zusammen und bat, ob denn der Herr Doktor nicht einmal selber nachschauen möchte und dann besser die richtige Medizin verschreiben könnte. Sie würde schon zur Stärkung einen guten Kaffee kochen und eine Jause bereitstellen. Der Herr Doktor fuhr von seinem Stuhl in die Höhe, sodass die Mutter schlagartig verstummte: „Ja, was glauben Sie denn, ich kann doch nicht die Ordination zusperren, nur um Ihrem Mann die Medizin zu bringen! Nehmen S’ die Medizin da und geben Sie sie ihm genau nach Vorschrift!“ Als er zur Bekräftigung seiner Aussage über den unmöglichen Wunsch noch einmal den Kopf schüttelte, hatte die Mutter allen Mut verloren, ihn noch einmal inständigst um einen Besuch zu bitten. Sie nahm hastig die Medizinflasche und machte sich zu Fuß auf den Weg. Einmal schöpfte sie noch Hoffnung in den nächsten Wochen, als ihr der Doktor versprach, die Frau Gekle, eine fast fertige Doktorin, zu schicken. Sie besuchte den Vater bald. In ihrer Doktortasche trug sie eine Spritze, die sie ihm verabreichte. Als sie auf der Fensterbank eine Reihe von Flaschen und Tiegeln stehen sah, ließ sie die Mutter über die Anwendung der Inhalte erzählen. Die Mutter war einerseits erfreut, dass sich die ange126

hende Doktorin nach ihrem Bemühen um Heilung erkundigte, andererseits fürchtete sie aber die Geringschätzung der Hausmittel. Sie erzählte, wie sie dem Vater warme Wickel über einem Pech- und Honiggemisch auf die Brust, die Rippen und den Rücken aufzulegen pflegte. Weiters berichtete sie, dass der Vater täglich mehrmals Tees trank, Kamillentee, Eibischtee, Huflattich- und Salbeitee, Schafgarbe habe sie auch schon ausprobiert, die es jedes Jahr in Flur und Feld, auf Anhöhen und im Wald zu ernten gab. Sie lasse ihn täglich mit verschiedenen Tees, in die ein Spritzer Eukalyptus hineinkomme, gurgeln. Dass sie den Vater auch mit Hundssalbe behandelte, verschwieg sie ebenso wie die Anwendung von Sympathiemitteln. Die Monate, in denen der Vater krank zu Hause lag, waren gekennzeichnet durch ständiges Bemühen der Mutter, dem Vater täglich ein kräftiges Essen zu gewährleisten. Er sollte viel Fettstoff zu sich nehmen, auch wenn er, erschöpft wie er war, sich zum Essen förmlich zwingen musste. In seiner Not beschuldigte er die Mutter, es nicht richtig zu machen mit dem Essen und der Medizin, sonst müsste es doch einmal besser werden. Angst und Unkenntnis waren ein treues Gespann, das jene nicht auflösten, die darüber Bescheid wussten – die Mediziner. Was die Mutter immer freute, war die Hilfe, die ihr die Nachbarn im Graben, aber auch die Dörfler angedeihen ließen. Die Leitnerleute draußen am Bach trugen sich an, etwas mit einzukaufen und gaben von ihren Lebensmitteln ab, etwa ein Glas Honig oder ein Stück Hendlfleisch. Sie halfen auch bei der schweren Arbeit. Demut und Dankbarkeit hatte die Mutter von Kind auf gelernt, weit über das Notwendige hinaus. Sie fragte kaum, was ihr für die viele Arbeit zustand, sondern zeigte sich dankbar. „Die Schloßmoarleut woan nia geizig“, höre ich sie sagen, wenn sie von ihnen wieder einmal Brot oder Hühnerfutter bekam, ein Glas Sirup oder Marmelade heimtrug. Sie arbeitete von Sonnenaufgang bis tief in die Nacht, hatte dreimal so viel Wäsche zu waschen wie in normalen Zeiten, weil der Vater jeden Tag das Bettzeug durchschwitzte. An Samstagen und Sonntagen kamen die Grabler oft beim Vater vorbei, brachten – „Gott weiß, woher“, wie die Mutter zu sagen pflegte 127

– ein Flascherl Wein vorbei und setzten sich zu ihm, um ihn aufzuheitern. „Wirst segn, Hans, du derpackst as“, versuchten sie ihm Mut zuzusprechen. Ende Mai, als der Vater immer hinfälliger wurde, kam die Rede auf das Krankenhaus in Judenburg. Ich weiß nicht, ob es großer Überredungskünste bedurft hatte, um dem Vater, der in der Krankheit noch verschlossener, ja, eigensinniger geworden war, die Einwilligung abzuringen, das Spital aufzusuchen. Am 3. Juni 1948 war es jedenfalls so weit. Das Rettungsauto übernahm ihn in St. Georgen vom Pferdegespann und brachte ihn in das Krankenhaus Judenburg. Er sollte nur einige Tage dort bleiben; wegen der Schwere der Krankheit wurde er anschließend in das Lungenkrankenhaus „Reckheim“ in Graz überstellt. Die Mutter war von neuer Hoffnung erfüllt, dass ihm dort geholfen werde. Sie begann Lebensmittel wie Honig, Speck, Fleisch und Butterschmalz aufzusparen, sott und briet für den Tag, an dem sie den Vater in Graz besuchen wollte, um ihm ­etwas Nahrhaftes mitzubringen. Es war allgemein bekannt, dass eine Zubuße zum bescheidenen Essen in der kargen Nachkriegszeit den Patienten gut tat. An einem solchen Besuchstag fuhr sie mit dem Halb-5-Uhr-Zug nach Graz, um ein paar Stunden bei ihm zu verweilen und ihm Mut zuzusprechen. Der Zug zurück kam erst um halb neun Uhr abends wieder in St. Georgen an. Meist erwarteten wir die Mutter sehnlichst, wenn sie nach zehn Uhr zu Hause ankam, müde und erschöpft. Die Schwere der Krankheit, die Unkenntnis darüber, die Unmöglichkeit, als einfache Frau – wie man die Dörfler in der Stadt zu nennen pflegte – mit einem kompetenten Arzt zu sprechen, erlaubten ihr wohl nie, den Zustand des Vaters richtig einzuschätzen. Später erfuhr die Mutter von einer Krankenschwester, die in ihren ersten Jahren Dienst bei Tuberkulosekranken getan hatte, dass Heilung nur mit Penicillin, das aber nur wenigen Reichen über Kontakte in der Schweiz zur Verfügung stand, möglich gewesen wäre. Bei ihrem letzten Besuch erkannte er die Mutter nicht mehr. Nach Auskunft der Schwestern war er ruhelos durch den großen Schlafsaal geirrt, fantasierte, wollte ständig mit einem Mes128

ser, das er bei sich trug, von einem Bauernbrot abschneiden, das er aber längst aufgegessen hatte. Zum Schutz der anderen wurde er daraufhin in ein Gitterbett gesperrt. Eines Tages, er hatte Besuch von einer Frau aus St. Georgen, schien sich alles zum Besseren gewendet zu haben. Er redete klar und sprach davon, bald nach Hause zu kommen. Die Mutter war glücklich, als sie davon erfuhr. Am 21. November, es war ein Sonntag, kam bereits am Vormittag ein Nachbar zu uns. Er war äußerst schweigsam. Auf die Frage der Mutter, was ihn so früh schon zu uns führe, nahm er einen Zettel aus der Tasche, legte ihn der Mutter umständlich hin und ließ sich einen Satz entlocken: „Auf der Post haum s’ ma des Telegramm mitgeben. Der Pojer is in der Nocht verstorben, mei Beileid, Tini!“ Wir standen da, zwischen dem Nachbarn und der Mutter, und hofften, dass sie etwas sagte. Sie nahm das Telegramm vom Tisch auf, las es aber nicht. „Sepp, du mogst sicher an Tee!“ Sagte es in die Stille hinein und machte sich am Herd zu schaffen. Nach einer schier endlos langen Zeit, in der der Nachbar den Tee trank, rannen ihr die Tränen herunter. „Kinder, setzts eich her zu mir!“ Sie hielt uns fest und ließ den Leitner gehen, der noch ihre Hand nahm. „Es wird si ois reimen“, sagte er und ging über die Wiese talwärts. Hundertmal selbst gesagt, wenn jemanden ein Unglück traf, war ihr der Spruch diesmal kein Trost, das Leid blieb. Wir konnten es nicht begreifen, nur, dass es vielleicht gut sei, der Mutter jetzt keine Sorgen zu machen. Wir weinten, weil sie weinte, und machten uns nützlich, weil sie das Nützlichsein liebte. Wir lachten und stritten uns, wenn wir alleine waren, sonst waren wir uns fremd und der Mutter fremd. Nach dem Begräbnis hörten wir sie einmal sagen: „Der Vatta tät sicher a Freid hobn, waun ma wieder was singen tatn!“ Am 24. November 1948, es war ein kalter Wintertag, der Tauernwind fegte über den Friedhof, kam der Leichenwagen aus Graz. Sie trugen den Vater in die Kirche und stellten den Sarg in der Mitte ab. Ich erinnere mich nicht mehr an die Gebete, nur an die zwei Leuchter, die am Kopfende standen, an unsere Angst 129

um die Mutter und mein gleichzeitiges Unvermögen, selbst zu trauern. Die Arbeitskameraden ließen den Sarg des Vaters in die Erde hinunter. Es erklang das Lied „Ich hatt’ einen Kameraden“. Der Herr Pfarrer drückte als Erster der Mutter, dann uns sein Beileid aus. Wir wurden angehalten, mit einer kleinen Schaufel zum Abschied Erde auf den Sarg zu werfen. Ich erinnere mich nicht an alle Leute, die beim Begräbnis waren und mit uns beim Dobernigg auf ein Gulasch einkehrten. Es war eine seltsam heitere Stimmung, die wir im Moment nicht zu deuten wussten. Die Leute erzählten Geschichten von früher, in denen der Vater vorkam, und lobten seinen Fleiß. Karl war zu unserer Freude von Unzmarkt gekommen, wo er in der Lehre war. Herta, die in Vorarlberg arbeitete, konnte nicht kommen. So waren wir auf dem Heimweg in den Graben allein mit der Mutter, die uns beinahe den ganzen Weg fest an der Hand hielt. Sie weinte in der folgenden Zeit oft, sprach von der Sorge, wie es denn nun weitergehen solle. Der Graben war zur Last geworden; die Arbeit in Haus und Stall, die nun auf ihr allein lastete, war aber nicht die größte Sorge, sondern dass sie nun ganz ohne Geld angekommen war. Die Überführung des Vaters auf den heimatlichen Friedhof, das Begräbnis und das bescheidene Essen beim Dobernigg hatten alle Ersparnisse verschlungen. Mit der Hilfe von den Schloßmoarleuten konnte sie wenigstens die Schulden bezahlen. Der Herr Vostry, der beim Baumgartner eine gute Stelle innehatte, sah unser Leid und unsere Not. Er brachte bei einer Sammlung, die er unter den Holzknechten veranstaltete, eine stattliche Summe zusammen, die er der Mutter überreichte, damit auch für sie und für uns Weihnachten werde.

Vielerlei Gebrechen Es wird schon im Frühling des Neunundvierzigerjahres gewesen sein, der Vater war bereits an der Miliartuberkulose gestorben. Die Not des Krieges, das karge Essen danach, das Rauchen und die schlechte Wohnqualität waren wohl am Anfang der 130

Krankheit gestanden. Die Leute im Dorf meinten es gut mit der Mutter, wenn sie sagten: „Pojerin, schau, dass d’ im Dorf a Wohnung kriagst und a Orbeit. Bei der nossn Wohnung im Grobn wean dir a noch die Kinder krank!“ Sie wussten um die Zusammenhänge von Lebensbedingungen und Krankheiten, so wie es auch die Mutter wusste. Sie erzählte häufig, dass das neu erbaute Haus zu schnell bezogen werden musste, keine Zeit zum Austrocknen hatte und sich vom ersten Jahr an Feuchtigkeit auf den Wänden gebildet hatte. Die Mutter hatte mit Rheuma zu tun, bei uns Kindern war sie ängstlich darauf bedacht, Verkühlungen von uns fernzuhalten, was ihr aber nicht gelang. Die Mutter erzählte öfter Geschichten aus ihrer Kindheit, die sie in Reifenstein und Gusterheim bei Pöls verbrachte. Es waren meist traurige Geschichten, geprägt von Not und Entbehrungen, von Krankheiten, Behinderungen und körperlichen Einschränkungen, die nie behandelt wurden. Viele dieser Schwierigkeiten waren uns fremd; was jedoch durchaus noch bestand und beinahe selbstverständlich hingenommen wurde, waren Fehlsichtigkeit, Sprachfehler und nicht selten eine durchgehende körperliche Ungeschicklichkeit. Und häufig hieß es auch, dass ein Kind eine Lernschwäche aufweise. In jeder Klasse waren Kinder mit einer oder mehreren dieser Schwächen anzutreffen. Ich vereinigte gleich drei davon auf mich. Die Fehlsichtigkeit teilte ich mit einigen Kindern in der Klasse. „Schiagln“ war allen ein vertrauter Begriff. Es gab Witze und Spötteleien darüber, die die Mädchen hinnahmen oder sich darüber kränkten so wie ich. Körperlich starke Buben wurden meist nur einmal gehänselt – sie wehrten sich auf ihre Weise. Als ich in späteren Jahren die erste Brille bekam, hatte ich das Gefühl, eine neue Sicht der Welt zu erleben. Es überlagerte sich kein Bild mehr, es wanderten keine Buchstaben mehr, was ich bisher unbewusst durch kurzes Blinzeln erfolgreich verhindert hatte. Schlimmer war das Einwärtsdrehen des linken Fußes. Ich höre noch die Aufforderung der Mutter und der großen Ziehgeschwister: „Drah den Fuaß net eini, geh grod.“ Die Zurechtweisungen halfen nicht, die Auswirkungen des schlechten Ganges waren jeden Tag 131

sichtbar. Die Schuhe waren vertreten, ich stolperte dahin, die Strümpfe waren häufig auf den Knien zerrissen, ein Zustand, der in der schlechten Zeit keine Nebensache war. Die Gegenstände Turnen und Handarbeiten habe ich wegen meiner Ungeschicklichkeit gefürchtet, so gerne ich auch in die Schule ging. Ich habe es nicht ein einziges Mal geschafft, auf der Turnstange einen Überschlag zu machen, über ein Hindernis zu springen oder gar einen Handstand zu machen. Als in der Handarbeitsstunde Stopfen angesagt war, stellte die Handarbeitslehrerin verärgert fest: „Wenn du stopfst, ist das Loch nachher größer als vorher.“ Das hat mir weiter nichts ausgemacht, aber über das Gelächter in der Klasse habe ich mich gekränkt. Ein Trost war ein Satz von meiner damaligen gestrengen Lehrerin, die ansonsten keinen Fehler übersah: „Rechnen, schreiben und lesen, das kannst du, und das andere wirst auch noch lernen!“ In den ersten Jahren nach dem Krieg litten wir einige Male unter Abszessen, die mit einer schwarzen Zugsalbe behandelt wurden. Wunden, die man sich beim Spielen durch Unvorsichtigkeit zuzog, waren meist Anlass für Rügen durch die Mutter. War dabei auch etwas zu Bruch gegangen, wurde zuerst dies bedauert, erst dann galt die Aufmerksamkeit dem Schmerz, den man sich zugefügt hatte. Deshalb versuchte man, kleinere Wunden zu verstecken, mit dem zweifelhaften Erfolg, dass sie sich oft ausweiteten. Die Welt des Grabens und später des Dorfes fassten wir als einen vielfältigen Spielplatz auf, wo auch gerauft wurde. Dabei hatte sich Herta einmal einen Arm gebrochen. Gemeinsam mit dem an Angina erkrankten Bruder, der den Unfall verursacht hatte, machte sie sich auf Geheiß der Mutter auf den Weg zum zehn Kilometer entfernten Doktor in Unzmarkt, der ihr die Hand einrichtete, dem Bruder Pulverln gab und sie den weiten Weg zu Fuß wieder heimschickte. Sie erwarteten nicht, dass sie jemand dorthin begleitete, sie gingen, weil sie froh waren, die Schmerzen loszuwerden, das war genug. In den letzten Kriegsmonaten waren eine Reihe Fliegerbomben auf die Berge und Wälder niedergegangen. Sie hatten Gott 132

sei Dank kein einziges Haus getroffen, lagen aber verstreut in den Wäldern herum, wo sie sich tief in die Erde hineingebohrt hatten. Karl, damals um die vierzehn Jahre alt, war wie sein Freund, der Leitner Fritz, von Neugier getrieben in den Wäldern unterwegs. Sie wollten möglichst viele Bombenkrater ausfindig machen und schauen, was herumlag. Sie wurden wiederholt fündig, sammelten alles und versteckten heimlich Munition und Gewehre. Auf keinen Fall wollten sie alles abliefern, wie der Aufruf der Gemeinde an die Bewohner lautete. Die Eltern machten sich große Sorgen über die Neugierde und Sorglosigkeit, mit der die Buben an die Funde herangingen. Verhindern konnten sie die gefährlichen Ausflüge nicht. Krankheiten waren ein gewichtiger Grund, warum die Grabler immer mehr den Wunsch hegten, im Dorf zu wohnen. Einige erlebten – wie schon erwähnt – das Leben im Dorf dann nur mehr für kurze Zeit oder so wie der Vater gar nicht mehr. Als zwei ehemalige Grabenkinder, die sich erfolgreich ein Haus erarbeitet hatten, freiwillig aus dem Leben schieden, glaubten nicht wenige, dass sich wohl eine bestimmte, im Graben erworbene Schwermut dem Leben entgegengestellt hatte. Von den meisten Weggezogenen, die wie ich die Grabenkindheit erlebt haben, weiß ich, dass sie sich, mit körperlicher Zähigkeit ausgestattet, im Leben draußen eingerichtet haben; einige, von Fernweh getrieben, sind ausgewandert. Sie arrangierten sich, kämpften gegen gesundheitliche sowie allgemeine Probleme und erkannten manches als Schicksal an, das man eben zu tragen hatte wie drückende Schuhe.

Der letzte Grabensommer „Zu Peter und Paul seh ma uns!“, hörten wir die Mutter noch zu Dorfleuten sagen, dann ging es eilig heim in den Graben. Der Himmel war schon verhangen und der Weg weit. Die Kuh, die Ziegen und die Schafe warteten schon am Gatter. „Sie spüren das Wetter“, meinte die Mutter und ließ die Tiere in den Stall. Im Haus angekommen, donnerte und blitzte es fast gleichzei133

tig, was die dunkle Stube gespenstisch erhellte. Als wir bei der Abendsuppe saßen, prasselte es auf das Dach. Eines der zahlreichen Gewitter, die mein Bruder so fürchtete, suchte uns heim. Die Mutter holte die Palmzweige und hielt uns an, mit ihr ein Vaterunser zur Abwendung von Hagel und Feuer zu beten. Wir beteten und brachen ängstlich ab, wenn das Grollen des Donners die abendliche Stille zerriss. Am nächsten Tag strahlte die Sonne vom Himmel und beschien die Salatköpfe, die der Regen stark mitgenommen hatte, die tiefen Rinnen im Weg, die wieder geglättet werden mussten, und die Zaunlatten, die nun noch etwas schiefer standen und auf eine Erneuerung warteten. Der Sommer war ins Land gezogen. Das Gras stand hoch, die Margeriten blühten mit den Glockenblumen um die Wette, und auch im Garten blühte es. Wir Kinder brachten der Lehrerin Blumen, trugen sie durch den Graben hinaus – wie sie ankamen, weiß ich nicht mehr. Nur dass es alle Kinder taten, weiß ich. Wo mag sie, die beim Dobernigg nur ein kleines Zimmer bewohnte, die ganze verblühte Herrlichkeit hingetan haben? Gute Tage standen nun bevor: Die „Herrenleute“, also der Schloßmoar und seine Dienstboten, kamen in den Graben zum Mähen. Das bedeutete zwar zusätzliche Arbeit für die Mutter: Jause richten, hinter den Mähern anstreuen, zusammenrechen, kochen und – wenn das Wetter mittat – wenden und schließlich „heign“. Ich glaube aber, sie freute sich trotz allem über die arbeitsreichen Tage. Die Bäuerin gab den Dienstboten immer auch etwas extra für uns mit, einen Laib Brot, Most oder ein Stück Speck. Darüber hinaus brachten sie Neuigkeiten aus dem Dorf und aus der weiteren Umgebung mit. Wir besaßen eine Kuh, die einen mit nichts aufzuwiegenden Besitz darstellte. Das Sinnen und Trachten meiner Zieheltern ging dahin, im Sommer genug Futter für sie zusammenzubringen, damit sie im Winter genauso durchgefüttert werden konnte wie die Ziegen und Schafe. Sie mähten, häufig auch der große Ziehbruder, erstmals im Juni die Raine rundherum und die Abhänge zum Bach, jedes Fleckchen, das etwas hergab, im August das Grummet und – wenn es das Wetter gut meinte – später noch das Ingerlgrummet. Von der Mahd des Dienstherrn durfte 134

nichts genommen werden, die gehörte nur seinen Tieren. Die Heuarbeit und das Heueinführen für die Tiere der Zieheltern war reine Handarbeit. War das Heu auf den Hiefeln getrocknet, wurde es eingeführt und gleichmäßig im Stadel aufgeschüttet. Dabei mussten wir Kinder fleißig helfen. Nur die gestrenge Stimme der Mutter konnte uns davon abhalten, um die Hiefel herum Fangen zu spielen und von den Heuhaufen zu springen. Die Zieheltern nahmen die Arbeit hin, so beschwerlich sie auch war. Was ihnen Sorgen machte, war das Wetter. Es konnte schon vorkommen, dass der Regen das Trocknen der Mahd nicht zuließ. „Wenn’s no amol draufregnt, dann könn ma des Heu zum Einstrahn nehmen“, stellte die Mutter fest, wenn der Himmel wieder einmal offen war und mehrmaliger Regen das Heu zu einem bräunlichen Gestrüpp verkommen ließ. Ich habe die Mutter eigentlich unentwegt in Haus und Stall arbeitend in Erinnerung; an den langen Tagen, an denen die Petroleumlampe kaum angezündet werden musste, arbeitete sie von früh bis spät draußen, im Garten, auf dem Feld, beim Heuen, im späteren Sommer im Beerenschlag. Himbeeren und Schwarzbeeren mussten eingekocht werden sowie roter Holler – der eigentlich Holunder hieß, wie ich in der Schule erfuhr – als unentbehrlicher Helfer bei Erkältungen. Neben dem Schwarz der Heidelbeermarmelade, dem Dunkelrot der Himbeeren nahm sich das sanfte Rot des Holunders freundlich aus. Aber damit ist das Gute auch schon gesagt. Schon beim Einkochen der roten Beeren verbreitete sich ein unangenehmer Geruch, der Geschmack ähnelte dem von Lebertran, und Lebertran wurde von allen Kindern verabscheut, da half kein Mischen mit Milch oder gar mit Zucker. Traf uns wieder einmal eine Verkühlung, hätten wir Kinder am liebsten gleich die Flucht ergriffen, wenn die Mutter zielstrebig nach einem Glas mit Hollersuissen griff. Mein Ziehbruder versuchte es mit Mundzupressen, mit Ausspucken, ich mit zufälligem Verschlucken, es half nichts! Die Suissen musste geschluckt werden. Manches Mal, glaube ich, hat die Angst vor einer neuerlichen Bedrohung allein schon den Gesundungsprozess gefördert! 135

In der dritten Klasse mussten wir als Aufgabe Sätze zu Krankheiten und ihrer Bekämpfung schreiben. Es war die Zeit, als der Ziehvater krank darniederlag, Walter eine Halsentzündung hatte und mich der Keuchhusten plagte. So gab es keinen Mangel an wichtigen Wörtern, die sich dann auch in meinem Aufgabenheft fanden. Das Fräulein besserte sichtbar mit einem roten Stift aus, schrieb das richtige Wort hin und sparte nicht mit Rufzeichen. Ich erinnere mich an mehrere Ausbesserungen, darunter befand sich das Wort „Hollersuissn“. Es war durchgestrichen, daneben stand: „Das heißt Holundersalsa! Italienisch!“ Ein Vierteljahrhundert später wäre mir das Wort ohnehin untergekommen. Dass ich das Wort „Patient“ mit dem Wort „Medikament“ verwechselte, wusste die Ziehmutter schon im Vorfeld der Aufgabe zu verhindern. Kamillenpflücken war Kinderarbeit, ebenso das Pflücken von Frauenmantel und Spitzwegerich, überhaupt das Sammeln von Kräutern wie Kümmeldolden bis in den Herbst hinein, galt es doch, die nötigen „Medizinen“ und Gewürze für das ganze Jahr daraus zu bereiten. Auch Futter für die Hasen musste gesammelt werden, mein Ziehbruder kannte mit der Zeit alle Kräuter, die sie liebten, und jene, die sie verschmähten. Eine nie enden wollende Arbeit war das Sammeln von Kleinholz und „Prügeln“, der Holzvorrat für den Winter musste wachsen. Ich weiß die Anzahl der Tiere, die die Mutter im Sommer zu betreuen hatte, nicht mehr, aber ich habe mir die tägliche Arbeit gemerkt, die sie verursachten. Sie mussten am Morgen auf die Weide getrieben werden und am Abend wieder zurück in den Stall, sie wurden regelmäßig gestriegelt und auf Verletzungen hin kontrolliert, auch die Klauen mussten angeschaut werden. Hatte sich doch einmal bei einem Jungtier eine Klaue entzündet, dokterte die Mutter so lange herum, bis es wieder mit den anderen Tieren auf die Weide gehen konnte. Große Umstände bereiteten auch trächtige Kühe. Sie sollten zum Kalben zeitgerecht in den heimatlichen Stall nach Nußdorf getrieben werden, nur: Wie ließ sich das genau sagen? Wenn die errechnete Zeit herankam, beobachtete die Mutter die Kuh genau. Wurde sie unruhig, fraß sie unregelmäßig, begann sie 136

hin und her zu trippeln, war das für die Mutter ein sicheres Zeichen, dass es nun nicht mehr lange dauern konnte. Eines Nachmittags, es sah nach Gewitter aus, war es wieder einmal so weit. Ziera, eine gemütliche, fast weiße Kuh, zeigte durch ein untrügliches Verhalten, dass es bald losgehen musste. Schnell nahm die Mutter den Rucksack und trug uns auf, eine leichte Rute mitzunehmen. Sie band der Ziera einen Strick an den Halsriemen und zog sie hinter sich her, weil die Kuh keine Anstalten machte, ohne Aufforderung weiterzugehen. Die Mutter redete ihr gut zu, schlug zwischendurch einen Befehlston an: „Kimm Ziera, geh ma hoam außi in Stoll, dann kriagst dei Kaiberl, kimm, kimm!“ Dann: „Hiatz gehst amol weiter, dummes Viech!“ Ziera ließ sich ziehen. Wir hatten den Auftrag, ihr immer wieder einmal mit der Rute sanft über die Hinterfüße zu streichen, aber auch das half nichts. Nach schier endlosen zwei Stunden kamen wir in Nußdorf an. Nach der Murbrücke – man konnte den Stall vom Schloßmoar schon sehen – ging sie zusehends schneller, begann zu laufen, der dicke Körper schwankte dahin, die dünnen Beine schienen kaum mehr genug Kraft zu haben, als wir den Stall erreichten, wo der Bauer die Ziera in Empfang nahm. Die Schloßmoarin hieß uns, in der Küche Platz zu nehmen und abzurasten. Die Mutter bekam Kaffee, wir Kinder Apfelsaft und alle drei ein Fleischbrot dazu, eine seltene Köstlichkeit. Die Schloßmoarin lobte die Mutter für ihre Arbeit, gab ihr einen Laib Brot und einen Sack Hühnerfutter, beides tat die Mutter in den Rucksack, nicht ohne sich mehrmals bedankt zu haben. Es war das Jahr, als der Vater schon Monate in Graz im Spital lag. Das Krankengeld war knapp und ging fast zur Gänze für die Besuche beim Vater auf, für die Zugfahrt und die Lebensmittel, die sie ihm mitbrachte. So war die Mutter froh, wenn sie Lebensmittel bekam und verschmerzte, wie sie sagte, die viele unbezahlte Arbeit, wenn es nur irgendwie weiterging. Als wir uns auf den Weg machen wollten, kam der Bauer herein: „’s Kaibl is do, a Stierl is“, stellte er gut gelaunt fest. Wir sahen es uns an, die Mutter beglückwünschte die Ziera, und die schien es zu verstehen. 137

Mit dem schweren Rucksack am Rücken und mit uns an der Seite ging es heimzu. Vor dem Gatter hatten sich die Tiere schlafen gelegt, die in der Eile nicht mehr in den Stall gebracht worden waren. Mein Bruder hielt die Stalllampe in der Hand, die Mutter und ich trieben die aufgeschreckten Tiere in den Stall, noch bevor der Gewitterregen einsetzte. Als wir am nächsten Tag erwachten, es war schon weit im Vormittag, war die Mutter längst draußen bei der Arbeit. Am Nachmittag mussten wir beim Jäten der Erdäpfel helfen und der Mutter die Nägel zureichen, denn der Zaun musste gerichtet werden, damit die Viecher nicht ausbrachen. So reihte sich Arbeit an Arbeit. Dieses Jahr wollte sie kein Ende nehmen. Der große Bruder war in Unzmarkt beim Fassbinder in der Lehre, die Schwester in Vorarlberg, der Vater im Spital. Sie war mit uns alleine angekommen – eine nicht ausreichende Hilfe. Nach dem Krieg trieben meiner Erinnerung nach nur mehr Baumgartner und Zoiggn, vielleicht noch Schatzn, über den Sommer das Vieh auf ihre Hütten, eben auf die Baumgartnerhütte, die Zoiggnhütte und die Schatznhütte. Auf der Baumgartnerhütte waren im Sommer immer die Melkerleute und der Friedl, beim Zoiggn war es die Sennerin Bibi und der Zugger Friedl als Halter. Sie hatten für die Tiere zu sorgen, sie zu melken und bei der Heuernte zu helfen. In den übrigen Jahreszeiten waren sie beim Bauern im Dorf und auf der Sonnseite. Wir waren die Einzigen, die das ganze Jahr auf der Schloßmoarhütte wohnten. Die übrigen Grabenbewohner wohnten in Häusern, die vorwiegend dem Besitzer Baumgartner gehörten. Sie bearbeiteten Wiesen und Äcker rund ums Haus, hielten meist eine oder zwei Kühe, zwei Schweine, Schafe, Ziegen, Hühner. Auch sie hatten während des Sommers viel Arbeit, weil auch für den Winter vorgesorgt werden musste. Die meisten Arbeiten wurden händisch verrichtet, Erleichterungen brachten Zugtiere, die manchmal beim Baumgartner ausgeborgt werden konnten. Die größte Erleichterung war die gegenseitige Hilfe unter den Grabenbewohnern. So konnte der Vater der Leitnerkinder geholt werden, wenn die Muttertiere sich 138

schwertaten, ihre Jungen zu bekommen. Hilfe gab es auch, als Vater in seinem letzten Jahr krank darniederlag. Wie schon erwähnt, fielen das Suchen von Schwarzbeeren und Himbeeren sowie das Schwammerlbrocken in den Sommer. Die Preiselbeeren, Granten hießen sie bei uns, wurden erst Anfang Herbst gebrockt. Die schönsten wuchsen unter dem Schafkogel, der Weg dorthin war aber so weit, dass wir Kinder nicht mitgenommen wurden. Neben der vielen Arbeit brachte der Sommer auch Freuden. Eine davon war das Almrauschbrocken rund um den 29. Juni, das Fest Peter und Paul. Es war damals zumindest bei uns noch keine Rede davon, dass der Almrausch nicht gepflückt werden darf. So machten sich an diesem Tag im Jahre 1948 eine Reihe Dörfler auf den weiten Weg aufs Weißeck, das vom Dorf aus in gut drei Stunden, von unserem Haus aus in eineinhalb Stunden zu erreichen war. Von weitem schon konnte man die rote Pracht sehen. Strauch reihte sich an Strauch, Blüte an Blüte. Der steile Hang unter der Schatznhütte war ein Blütenmeer. Die Mutter hatte vor Tagen einigen Dörflern zugerufen, dass es zu Peter und Paul ein Wiedersehen auf dem Weißeck geben würde, und so meinte sie es auch. Sie wollte zeitig in der Früh oben sein, in der Stille den Anblick genießen und sich später mit den nachkommenden Dörflern unterhalten. Der Vater sollte in diesem Jahr das Weißeck nicht mehr sehen. Früher als sonst gab es die Morgensuppe. In den Rucksack wurden Brote getan, bestrichen mit Butter und belegt mit Steirerkäse, nur für Walter gab es Brot ohne Käse. Dazu gab es Feigenkaffee, alles erschien so sonntäglich. Wie immer, wenn wir uns besonders freuten, liefen wir den Weg entlang. Die Mahnung der Mutter, nicht gleich die ganze Kraft zu verbrauchen, war bald nicht mehr notwendig, denn es ging steil bergauf. Der Weg zog sich und nahm an Steilheit zu. Auf unsere ständigen Fragen, wie weit es denn noch sei, kam immer die gleiche Antwort: „A Stückerl no, dann segts ’n Almrausch.“ Wir hätten gerne gesagt, dass wir ihn nicht unbedingt bräuchten, wenn es nur bald wieder bergab ginge. Aber die Mutter war auf eine eigentümliche Art froh, da hätte unser Ansinnen nicht gepasst. 139

Schließlich kamen wir oben an. Leute aus Unzmarkt waren schon da, auch welche aus der Feßnach. Nach der Jause, auf die wir schon sehnlichst gewartet hatten, durften wir Almrausch pflücken. Er durfte nicht abgerissen, sondern nur vorsichtig abgeknickt werden. Mittlerweile waren auch Dörfler gekommen. Sie begrüßten die Mutter und bald waren freundliche Gespräche im Gange. Wir hatten aufgehört zu pflücken, sahen den Leuten zu und hörten ihre Geschichten, ihr Lachen, sahen die Mutter lachen. Sie, die meist ernst war, lachte fröhlich. Viel später erst wurde uns klar, wie eingespannt sie in die tägliche Arbeit war, wie sehr von Sorgen geplagt, weil der Vater krank war. In der Gemeinschaft mit den Dörflern, weg von der Arbeit, konnte sie ein wenig froh sein. Als alle einen Strauß Almrausch beisammen hatten, zusätzlich ein Sträußerl auf den Rucksack gebunden und eins auf einen Männerhut gesteckt hatten, setzten sie sich vor der schon recht unansehnlichen Hütte hin und begannen zu singen. Ich erinnere mich noch an viele Liedtitel, an Liedzeilen, wenn es auch kaum zusammenhängende sind. Bezeichnenderweise wurde das Lied „Wann i auf d’ Alma geh“ zuerst gesungen. „Vor mein Hütterl steht a Bankerl“ wurde ebenso gesungen wie „Wohl in da Wiederschwing“. Aber nicht nur Lieder in Mundart wurden gesungen, es folgten die Lieder „Wahre Freundschaft soll nicht wanken“, „ Ännchen von Tharau“ und „Auf der Lüneburger Heide“. Wie umfassend deutsche Volkslieder schon Eingang gefunden hatten, konnte ich damals nicht beurteilen. Ebenfalls äußerst beliebt waren Küchenlieder und Lieder zum Thema Wildern. Alle sangen mit beim Lied „Mariechen saß weinend im Garten“, auch bei „Am Brunnen vor dem Tore“. „Da Summa is außi“ passte zwar nicht zum Sommerbeginn, wurde aber gleich zwei Mal gesungen, wohl als Reverenz an die Schwoagerinnen und Almhalter. Meine Ziehmutter wischte sich bei diesem Lied mehrmals über die Augen, sie fühlte sich wohl besonders angesprochen. Jahrzehnte später äußerte sie den Wunsch, dass dieses Lied einmal an ihrem Grab gesungen werden solle. Der Wunsch wurde ihr erfüllt. 140

Es schien, als hätten an diesem Tag alle die Sorgen im Tal gelassen und die Sonnenseite des Lebens hervorgeholt in den recht rauen Tagen der Nachkriegszeit. Am Nachmittag brachen wir auf, es ging wieder talwärts. Die Almrauschsträußerln auf den Hüten der Männer wackelten beim zügigen Bergabgehen, andere schwenkten die Sträußerln, wenn sie jemandem begegneten. Immer wieder wurde ein Lied angestimmt. Wir Kinder hüpften den Weg entlang, lachten und freuten uns über den schönen Tag, an dem alle fröhlich waren. Bei unserem Haus angekommen, ging es ans Verabschieden von den Dörflern. Die Mutter winkte ihnen noch einmal und sagte einen für mich bedeutungsvollen Satz: „Waun ois guat geht, san mia nächstes Johr a schon draußen, Gott gib’s!“ Warum wollte sie draußen im Dorf sein, und wo? Für mich, die „drinnen bleiben“ wollte, klang diese Äußerung beunruhigend. Der Mutter war es ein Jahr später gegönnt, ins Dorf zu kommen und es dort leichter zu haben. Welch traurige Ereignisse sich vorher noch einstellen sollten, war damals noch nicht vorhersehbar. An Sommersonntagen trafen sich die Grabler häufig beim Leitner, beim Mühlbauer oder beim Lackner. Dabei wurde gesungen und zum Harmonikaspiel getanzt, Neuigkeiten erzählt, Ratschläge ausgetauscht. Dieses Jahr sagte die Mutter, wenn sie darauf angesprochen wurde, etliche Male: „Nix für unguat, mia is net danoch.“ Die Schulferien dauerten nun schon eine Weile. Freute ich mich anfangs noch darüber, nicht so früh aufstehen zu müssen und nicht jeden Tag dieselbe Ermahnung zu hören: „Kummts ma nur jo schnell von der Schul hoam“, war die Freude an der schulfreien Zeit doch recht bald verflogen. Mit den Ferien kamen noch mehr Pflichten auf uns zu, und die Schulfreunde fehlten uns. Wir mussten bei allen Arbeiten helfen, für die wir stark genug waren, und deren gab es viele in Haus, Garten, Feld und Stall. Ich weiß nicht mehr, wie es Walter erging, ich jedenfalls hatte immer zwiespältige Gefühle, wenn es wieder einmal hieß, dies und jenes wäre zu erledigen. Einerseits tat mir die Mutter leid, die von früh bis spät arbeitete, weil alles auf ihr allein las141

tete, und ich wollte ihr helfen. Andererseits hatte ich das Bild der Leitnerkinder vor Augen. Sie mussten nur wenig helfen, besaßen unter anderem eine Hutsche, die ihnen ihr Vater in einen starken Baum gehängt hatte, und wurden kaum getadelt. In späteren Jahren sollten wir erfahren, dass ihr Leben wohl etwas leichter war, aber längst nicht ohne Bedrängnis. Unter den Freuden, die der Sommer mit sich brachte, hingen einige mit Essen zusammen. Ende Juni bis in den August hinein waren es die Erdbeeren, die wir an verschiedensten Plätzen fanden, im August die Himbeeren und bis in den September hinein die Schwarzbeeren, an denen wir uns nie satt essen konnten. Zu Schulbeginn Anfang September, den wir schon zum Herbst rechneten, wurden die Haselnüsse reif. Wenn die Mutter auch mahnte: „Lossts as do reif werden, müassts ois alser greana abreißen?“, wurden sie doch immer vor der Zeit von uns geerntet. Wenn unsere vielfältigen Aufgaben wie Beeren ausklauben, Tiere hüten oder einfach „helfen“ es zuließen, waren wir im nahen Wald unterwegs. Wir spielten mit Zapfen und Hölzern, wie es wäre, selber Bauer zu sein, leiteten im Bach Wasser ab oder spielten E-Werk – elektrischer Strom war einer unser sehnlichsten Kinderwünsche. Häufig durften wir auch zu den Leitnerkindern gehen oder zur Zoiggnhütte, wo der Almhalter, der Zugger Friedl, eine Zeitung hatte. Ich durfte sie lesen, aber was ich davon verstand, wird wohl nicht viel gewesen sein. In den Sommerferien freuten wir uns immer auf den Freitag, dann gingen wir mit der Mutter ins Dorf zum „Fassen“: Sie kaufte ein, was die Geldbörse erlaubte und was es bis 1948 auf Karten zu kaufen gab. Als der Vater noch nicht krank war, war dies Rindfleisch für den Sonntag, weiters Brot, Polenta, selten Zucker. Am Monatsanfang gab es ein Stanitzel mit fünf Dekagramm Zuckerln, „Schweizer Kreuz“, Pfefferminz oder Zitronenspalten – eine seltene Köstlichkeit. Auf dem Weg zum Wieser schaute ich hinüber zum Schulhaus und wünschte mir, dass die Schule bald wieder beginnen möge. Wenn sie dann begonnen hatte, zog auch bald der Herbst ins Land.

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Aussiedeln Weihnachten 1948 war ein trauriges, aber seltsam friedliches Fest gewesen, es schien, als wären der Vater und die Geschwister nur in der Arbeit und kämen am Abend wieder nach Hause. Im neuen Jahr wurde die Mutter von einer sonderbaren Unruhe ergriffen. Sie hatte den Vorsatz gefasst, im kommenden Jahr dem Graben endgültig Lebewohl zu sagen. Die Aufregung und die Trauer um den Vater hatten dazu geführt, dass sie an einer Entzündung in den Händen litt, die sie daran hinderte, der Arbeit in Haus und Stall nachzukommen. Wir halfen so recht und schlecht und warteten auf unseren Bruder Karl, der nun samstags und sonntags fleißig half. Als das Brennholz ebenso zu Ende ging wie das Heu für die Tiere, als das Tauwetter einsetzte und ein starker Wind an den Dachschindeln und den Zäunen zerrte, wurde ihr bewusst, dass sie mit den schmerzenden Händen nichts dagegen unternehmen konnte. Sie weinte nicht, sie war wütend, schimpfte auf das Wetter, beklagte sich, dass der Herrgott sie verlassen habe und schrie den Satz hinaus: „Do holtet uns nix mehr, morgen ziagn ma außi!“ Wir erwarteten ängstlich das Morgen, aber die Mutter hatte sich beruhigt. Am Samstagabend kam Karl nach Hause, er führte mit der Mutter lange Gespräche. Trotz seiner sechzehn Jahre schien er Mutters Absicht, den Graben Hals über Kopf zu verlassen, nicht gutzuheißen. Er würde helfen kommen, wann immer es ihm möglich sei, aber das Aussiedeln solle sie überdenken. Ihre Vorstellung war, dass sie beim Baumgartner, „denen ja das halbe Dorf gehört“, eine Wohnung bekäme und sie auch die Kuh, die ihren ganzen Besitz darstellte, mitnehmen könne. Mit diesem Ansinnen hatte sie wenig Erfolg. Dass Frau Baumgartner ihr eine vernünftige Lösung versprach, schien bei der Mutter keinen Eindruck hinterlassen zu haben. Als im Frühjahr die Wiesen aper wurden, wurde uns immer klarer, dass sie dieses Jahr nichts mehr anbauen und sich auch nicht mehr auf die Tiere vom Schloßmoar einrichten wollte. Als sich beim Baumgartner weder ein Arbeitsplatz noch eine Wohnung für sie ergab, 143

ließ sie den Plan zum Aussiedeln nicht fallen, wie wir es gerne gehabt hätten, sie wollte einen anderen Weg finden. Ostern ging vorüber, ohne dass die üblichen Putzarbeiten gemacht wurden. Die Mutter schimpfte nicht, sie war geradezu mild, aber es machte uns nicht froh, sondern beunruhigte uns. Als sie an einem Freitag ein Paket in Empfang nahm, das die große Schwester aus Vorarlberg geschickt hatte und das einen wundervollen Stoff für mein Erstkommunionkleid und wie immer auch kleine, essbare Geschenke enthielt, schien alles wieder seine Ordnung zu haben: „Miass ma zur Frau Stampfer gehen a Gwand mochn lossn, dass ois ferti wird bis zur Erstkommunion.“ Lange sollte diese Gewissheit nicht anhalten. Am darauffolgenden Sonntag las die Mutter die „Murtaler Zeitung“, und ich erinnere mich an die Unruhe, die uns erfasste, als sie sagte, sie glaube, etwas gefunden zu haben. Zu Wochenbeginn ging sie mit uns den Graben hinaus und trug uns auf, nach der Schule gleich nach Hause zu gehen, sie würde bald nachkommen, sie habe etwas zu erledigen, etwas Gutes. „Wirst segn, sie schaut si um an Platz um“, sagte mein Bruder auf dem Heimweg immer wieder. Wir scheuten uns, über das angekündigte Gute zu reden, fast schweigend gingen wir den langen Weg heim, wir stritten uns nicht und taten, was uns aufgetragen worden war. Es war beinahe dunkel, als sie heimkam. Sie war heiter, beinahe beschwingt, als sie sagte: „Hiatz wird ois besser, mia haum wieder an Plotz und die Viecher kennan ma mitnehmen.“ Nun war es gesagt. Wir würden nach Greith bei Neumarkt ziehen, wieder in eine Hube. Die Mutter müsse wieder auf die Tiere schauen, auf Kühe, Kälber und Pferde. Sie bekäme auch ein Deputat, worunter wir uns nichts vorstellen konnten. Anfang Juni, also in einem Monat, solle es so weit sein. Ich habe keinerlei Erinnerung an diesen Monat zwischen der Nachricht vom Auszug aus dem Graben und dem tatsächlichen Auszug im Juni. Ich erinnere mich nicht an den Abschied von der Schule, der Lehrerin, den Nachbarn und nicht einmal an den Abschied von den vertrauten Nachbarskindern. An diesem 9. Juni, es war Vaters Geburtstag, saß ich am Zaun 144

und schaute noch einmal rundherum. Nichts wies darauf hin, dass wir hier gewohnt hatten, alles war aufgeräumt, das Gegacker der Hühner war verstummt, sie waren auf dem Wagen mit unseren Habseligkeiten, den zwei Pferdepaare zogen. Die Mutter führte die Kuh am Strick und redete ihr, weil sie sich wehrte, gütig zu. „Dirndl geh weiter, mia kennan net olle auf di wortn“, rief sie mir zu. Den ganzen Weg redete mein kleiner Bruder mit der Kuh; sie bekäme einen schönen Stall, versprach er. Wir wussten nicht, was uns erwartete und wie es woanders zuging. Wir wurden für ein halbes Jahr in Greith bei Neumarkt sesshaft, in einer Welt, die uns vorkam wie ein fremdes Land, und wo die Kargheit erst recht sichtbar wurde. Im Herbst 1949 kamen wir nach St. Georgen zurück, ins Dorf, und fanden es gut.

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Im Jahreslauf Frühling Der Frühling beginnt laut Kalender am 21. März, bei uns im Graben, auf 1100 Metern Höhe, hatte er meist Verspätung. Wir gingen so um den Josefitag herum mit dem Fräulein, also unserer Lehrerin, auf die Sonnseite hinüber, um Frühlingsknotenblumen, die bei uns Schneeglöckchen heißen, zu pflücken. Das durfte man, sie waren noch nicht geschützt. Mit einem Strauß Schneeglöckchen gingen wir wieder heim in den Graben, der sich noch sehr winterlich ausnahm. Da standen sie nun auf dem Küchentisch, ihr Weiß strahlte mit dem Weiß des Schnees vor dem Küchenfenster um die Wette. Wir gingen seit ein paar Wochen wieder zu Fuß zur Schule, nachdem die Mutter mit Nachdruck festgestellt hatte: „Der Winter is uma, und aus is es mit’n Schlittenfahrn!“ In der Früh war der Weg häufig noch eisig, zu Mittag aber taute es bereits. In schmalen Rinnsalen rann das Schneewasser den Weg entlang, die Erde wurde stellenweise sichtbar, Steine standen heraus. Auf schattigen Stellen aber lag noch viel Schnee. Der Vorteil unserer genagelten Schuhe zeigte sich beim Rutschen über eisige Stellen nur mäßig. Wir fielen häufig hin und kamen daher selten unbeschadet in die Schule, nasse Flecken auf der Kleidung und aufgeschundene Handflächen zeugten von der Bewältigung unseres Schulwegs. Als es dann noch einmal schneite, nahmen wir ohne Wissen der Mutter den Schlitten. Zunächst ging es flott dahin, aber dann bremste es auf einmal gewaltig. Wir waren auf eine apere Stelle gekommen und saßen auf der aufgeweichten Erde, der Schlitten rutschte ohne Last den Hang hinunter, wo er im Bach landete. Wir trotteten weiter den Weg hinaus, mein Ziehbruder 147

weinte wegen des entschwundenen Schlittens. Mit viel Mühe angelten wir ihn nach der Schule mit Hilfe eines Stockes aus dem Bachbett. Daraufgesetzt haben wir uns nicht mehr. Auch der Nachhauseweg war mühsam, der Schlitten rutschte und bremste abwechselnd, ließ sich bergauf nur schwer ziehen. Zu Hause empfing uns die Mutter mit dem Vorwurf, ihren Rat nicht befolgt zu haben. Wir würden wie „Zottenklescher“ ausschauen, das Gewand nass, die Schuhe aufgeweicht, ebenso die Schulhefte. Wenn es aper wird, hätte der Schlitten zu Hause zu bleiben, punktum! Wir besaßen keine Gummistiefel, auch die Mutter nicht. So wurden die Schuhe in dieser Zeit besonders stark beansprucht, sie wurden häufig „durchnass“, trockneten während der Nacht nicht und mussten am nächsten Tag im nassen Zustand angezogen werden, ein zweites Paar gab es nicht. Am 25. März wurde das Fest Maria Verkündigung bei den Bauern wie alle Marienfeiertage als halber Feiertag gefeiert. Wir wussten nicht, was das Wort Verkündigung eigentlich bedeutete oder hatten es gleich wieder vergessen. Was wir wussten, war, dass die Schwalben nun endlich aus dem Süden zurückkommen mussten, wenn das Sprichwort „Zu Mariä Verkündigung kommen die Schwalben wiederum“ Bestand haben sollte. Meist kamen sie in die Gräben später – wenn überhaupt. Die Ziehmutter sagte, dass es ihnen im Graben zu kalt sei. Meinen Geburtstag einen Tag später habe ich als fast noch zum Winter gehörig in Erinnerung, auch wenn er schon in das Frühjahr fiel. Er wurde ebenso wie der Geburtstag des Bruders Anfang Mai mit einem Kuchen, der „uns ganz allein“ gehörte, gefeiert. Der Tag erscheint mir heute noch licht, er hob uns heraus aus dem Alltag und hinein in eine Wichtigkeit, die wir sonst nicht kannten. Auch in der Schule wurde er gefeiert, mehr noch aber der jeweilige Namenstag. Wir erhielten dann vom Fräulein einen Bleistift, ein Heft, später auch Zuckerln, die man gegen den üblichen Brauch ganz alleine aufessen durfte. Nach einigen Sonnentagen ging es dann schnell. Der Schnee rann nun in Bächen davon, die Wiesen wurden aper – der Frühling war auch im Graben eingezogen! Es dauerte zwar noch einige Zeit, bis die letzten Schneeflecken endgültig verschwun148

den waren, aber am Bach begannen nach und nach die gelben Butterblumen zu blühen; am abschüssigen Wiesenrain leuchteten hunderte Huflattiche, auf den Waldlichtungen und auf den Hängen blühten Buschwindröschen; daneben stand Klee, dessen weiße Blüten uns vorzüglich schmeckten. Oft gebärdete sich der Frühling auf dieser Höhe aber auch recht unfreundlich. Der Wind blies über die erst aufkeimenden Viehweiden und rüttelte an den Zäunen, wollte wohl den kranken Vater daran erinnern, dass sie ausgebessert werden mussten. Steine, die niemals weniger zu werden schienen, mussten von Feldern und Weiden entfernt, der Mist angestreut werden – beides eine ungeliebte, aber häufige Kinderarbeit. Der Brunnen wurde wieder instand gesetzt, die Rinnen wurden ausgeputzt oder sogar erneuert, weil sie unter der Schneedecke brüchig geworden waren. Schließlich war es gegen Mitte April endgültig Frühling geworden. Je wärmer es wurde, desto wichtiger wurde es uns, nach und nach die Winterkleidung abzulegen. Dieses Bestreben endete damit, dass wir die Strümpfe gegen Stutzen tauschen durften, immer aber erst, wenn der Monatsname kein „r“ mehr beinhaltete. Da half kein Betteln, die Mutter blieb dabei. Wir rollten, wenn sie außer Reichweite war, einfach die Strümpfe hinunter und strickten die Ärmel auf. Als sie wieder einmal am Freitag ins Dorf zum Fleischholen ging, sprach sie die Frau Steiner aus dem oberen Dorf an: „Pojerin, i hob ma scho denkt, dass du leichtsinnig bist, losst die Kinder halb nackert aus’n Grobn außagehn!“ Nun wusste sie von unseren Machenschaften, und aus war es mit unserer eigenmächtigen Entscheidung, Stutzen und Socken gab es nur im Verein mit Monaten ohne „r“! In den Frühling fielen zwei bedeutende Ereignisse: das Osterfest mit der vorhergehenden Fastenzeit und die Geburt von Jungtieren. Meine Zieheltern waren wie viele Leute aus unserer Umgebung mit einer dörflichen Gläubigkeit ausgestattet. Ihr Glaube war an kirchliche Feste angebunden, die sie christlich gestalteten. Sie hielten manche Gebote streng ein, andere beachteten sie weniger und hinterfragten sie nur gelegentlich, nämlich dann, wenn der Pfarrer auf der Kanzel wieder eindringlich 149

auf die Zehn Gebote hinwies. Das Freitagsgebot hielten sie streng ein, das Sonntagsgebot konnte wohl wegen der großen Entfernung zur Kirche nur teilweise eingehalten werden. Gebetet wurde jeden Tag vor dem Altarl. Ich erinnere mich an einen Ausspruch meiner Ziehmutter, der da hieß: „Die Fastenzeit is uns arme Leut vorgeben!“ So war es auch. Beim Schlachten im Dezember war in einem großen irdenen Topf ein Stück Bratl in Schweinefett eingelegt worden, dazu Würstel – für jeden nur eines, kein Paar. Zu Ostern lagen dann, wie die Mutter sagte, „gerecht aufgeteilt“, Züngerl, Geselchtes, Bratl und ein Würstel als Osterfleisch auf jedem Teller rund um ein rotes Osterei. Ein Löffel Kren durfte auch nicht fehlen. War es im Jänner und im halben Februar mit den Vorräten meist noch gut bestellt, gingen sie, je weiter das Jahr fortschritt, zur Neige. Häufig blickte die Ziehmutter sorgenvoll in die Abteile, wo die Erdäpfel lagerten, und klaubte die angefaulten heraus. Der bessere Teil davon wurde als Hühnerfutter und Schweinefutter gekocht, ebenso die Rüben, die schon unansehnlich geworden waren. Die Mutter stellte Mausefallen auf, weil es immer öfter vorkam, dass die Luder, wie sie sagte, sich an allem gütlich taten, was für Mensch und Haustier vorgesehen war, davon war auch das Geselchte nicht ausgenommen. „Gott allein weiß, wie sie auf die aufgehängten Stücke hinaufkommen“, lautete ihr ärgerlicher Kommentar dazu. Der Stadel war „licht“ geworden, und es dauerte noch lange, bis frisches Gras wuchs. Häufig wurde nun Streu dazugefüttert, die Kuh wie auch die Ziegen und die Schafe fraßen aber erst davon, wenn sie der Hunger zu sehr plagte. Die Kuh stand in dieser Zeit häufig trocken, daher gab es keine Butter, aber auch das Butterschmalz ging einmal zur Neige. Wir Kinder litten nie Hunger, die Mutter aber ganz gewiss. Die Fastenzeit wurde also von Mensch und Tier eingehalten – zwangsweise. Eine lebhafte Erinnerung habe ich an den Speisezettel der Fastenzeit, meistens eine gute. Die Mutter sann nach, was es denn noch Essbares jenseits üblicher Rezepte geben könnte. Oft gab es gute Überraschungen, manchmal weniger gute. Ge150

trocknete Rübenschnitzel fanden sich nicht nur im Brot und als Kaffeeersatz, sondern auch in faschierten Fleischlaibchen. Wir hatten aber keine Einwände, wenn das Fleisch nur einen verschwindenden Anteil ausmachte. Beim Wieser gab es bereits wieder Puddingpulver, die Garantie für eine köstliche Speise – meinten wir! Die Ziehmutter hielt nichts von dem „chemischen Glumpert“, also wurde weiterhin an Feiertagen die Stiermilch gekocht. Das chemische Glumpert hätte besser geschmeckt! Äpfel waren rar, so gab es eben Marmeladestrudel, Schmarren mit Schwarzbeersauce, an Gemüse war nur mehr Kraut vorhanden. Schließlich kam die Karwoche heran. Als frohes Ereignis zwischen der Fastenzeit und der Karwoche stand der Palmsonntag. Einen Tag vorher hatte die Mutter schon den Palmbuschen gebunden. Er war nicht nach einer strengen Tradition gefertigt wie in den Bergbauerngemeinden des oberen Murtals, es wurde hineinverarbeitet, was zur Verfügung stand. So band die Ziehmutter Weidenkätzchen mit Buchsbaumzweigen um einen Stock herum zu einem Buschen. Geschmückt wurde er mit ­schmalen Bändern aus buntem Krepppapier, zusätzlich mit meiner seidenen Haarmasche und den Myrtensträußerln, die die Kleidung der Zieheltern bei der Hochzeit geschmückt hatten. Wenn er der Ziehmutter groß genug erschien, durfte Walter den Buschen zur Palmweihe in die Kirche tragen, vor ihm war dies Karl vorbehalten gewesen. Mädchen trugen keine Palmbuschen. Im Graben durfte ich ihn zwar tragen, aber sobald wir des Kirchturms ansichtig wurden, wieder der kleine Bruder. Das war eben so. Sobald sich alle Gläubigen am Platz vor der Kirche versammelt hatten, fand die Palmweihe statt. Trotz ihrer Last beugten die oft noch sehr kleinen Buschenträger beim Läuten des Glöckchens die Knie und hielten die Buschen gesenkt. Ich erinnere mich an keinen Sturz, die Feierlichkeit hätte keinen zugelassen. Danach zogen die Buschenträger in die Kirche ein, die „einfachen“ Gläubigen folgten ihnen erst nach dem Herrn Pfarrer. Die Kinderbänke, während des Jahres oft nur spärlich besetzt, bildeten nun einen fröhlichen Anblick, die Buben verschwanden beinahe hinter und unter den bunten Buschen. 151

Vorne im Altarraum saßen die Pfarrgemeinderäte, die wie der Pfarrer in feierliches Rot gekleidet waren. Sie lasen mit verteilten Rollen die Leidensgeschichte, die wir schon gut kannten. Saßen wir während des Jahres in den Kirchenbänken bei den Erwachsenen, so hatten wir freien Blick auf die Kreuzwegstationen, die wir einschließlich der darunter stehenden Texte fleißig studierten. Die lateinischen Texte der Messe haben uns nie dazu verleitet, aufmerksam zuzuhören, so sehr es uns von den Eltern und dem Herrn Pfarrer auch aufgetragen wurde. Nach dem feierlichen Hochamt ging es schnell nach Hause, wo mein Ziehbruder drei Mal Haus und Stall umrundete. Die Mutter betete dabei ein Vaterunser und ein Gegrüßet-seist-duMaria und bat den Herrgott, dass er die Saat vor Blitz und Unwetter verschonen und uns im Herbst eine gute Ernte schenken möge. Für den Palmbuschenträger hatte sie schon ein rotes Osterei hergerichtet. Nur dieses eine! Das war eben so. Die ersten drei Tage der Karwoche gingen vorüber wie andere Tage auch. Der Gründonnerstag, den wir irrigerweise mit Grün in Zusammenhang brachten, war am Vormittag der Suche von frischen grünen Kräutern gewidmet; ein fragliches Unterfangen, wenn an schattigen Stellen noch Schnee lag. Ich erinnere mich, dass es aber immer Brennnesselspinat und Kartoffeln mit Spiegelei als Mittagsspeise gab – eine Köstlichkeit jenseits allen Fastens. Der Karfreitag wurde streng eingehalten, es gab meistens Brennsuppe und Erdäpfelsterz und keine Jause. Erst viel später habe ich erfahren, dass für viele Kinder die Nachkriegszeit eine einzige Fastenzeit war.

Ostern Ostern war wie Weihnachten in jeder Hinsicht ein großes Fest. In der Osterwoche wurde alles geputzt und unter unserer unfreiwilligen Mithilfe in Haus und Stall und rundum Ordnung gemacht. Die Ziehmutter dachte in größeren Zusammenhängen. Ordnung machen, putzen galt für „inwendig“ und „auswendig“ gleichermaßen. Sie hielt es für nützlich, dass wir 152

Kinder den Regeln der Kirche, wie sie uns der Pfarrer auftrug, folgten. In unserem letzten Grabenjahr wurde ich bereits auf die Beichte vorbereitet, da ging es erneut ums „Inwendig-rein-Werden“. Diesen Auftrag begrüßte sie. Sie meinte, der Herr Pfarrer würde mir schon so manchen Fehler austreiben, die Flausen, wie sie sagte. Ich fürchte, es ist ihm nicht gelungen. So war die Karwoche also eine gute Zeit zum Angewöhnen von Tugenden, was immer sie darunter verstand. Im Unterschied zu manchen Eltern, die streng bigott waren, verwendete sie Gott nicht als Erziehungsmittel, wohl aber Krampus und Nikolo, wie ich es in einer anderen Geschichte schildern werde. Am Karsamstag, wenn endgültig alles gekehrt und geputzt war – auch wir waren schon am Karfreitag geschrubbt worden –, wartete eine Aufgabe auf uns, die wir herbeigesehnt hatten: das Richten der Osternester. Es sollten mehrere sein, man wusste ja nie, welches der Osterhase im Finstern und in der Eile fand. War die Erde aufgetaut, holten wir Moos aus dem Wald und machten – abhängig von der Beschaffenheit des Bodens – hinter dem Gartenzaun oder hinter dem Haus, hinter der Waschhütte, bei Schlechtwetter in der Holzhütte, in unseren Augen wunderschön geformte Nester. Zu Mittag waren sie dann endgültig fertig. Alle Feierlichkeiten im Vorfeld der Auferstehung wurden damals bereits am Vormittag des Karsamstags abgehalten, auch die Fleischweihe. Wir haben sie nie erlebt – zwei Mal an einem Tag ins Dorf zu gehen wäre zu mühsam gewesen. Das Osterfest im Jahre 1945, von dem ich schon erzählt habe, haben wir wegen der drohenden Bomben überhaupt nur auf der Anhöhe vor dem Haus mit einem Osterfeuer gefeiert. Als wir schon zur Schule gingen, wollte die Mutter, dass wir uns bei der Auferstehungsprozession zu den Schulkindern einordneten, was uns nur bedingt gefiel. Trotz regelmäßiger Belehrung in der Religionsstunde, aber auch zu Hause, wussten wir nicht wirklich Bescheid, warum wir mitgingen, warum gesungen wurde und die Musik spielte. Die Kinder gingen in der ­Prozession ganz vorne, der Pfarrer und alle anderen Grup153

pen waren weit hinter uns; sich aus Neugierde umzudrehen war ganz und gar unerwünscht. Wir hörten die Musik spielen, die Leute beten, die Glocken klingeln und die Böller krachen, waren aber nicht wirklich dabei. Gingen wir dagegen mit der Mutter, sahen wir alles und hörten alles, wenn wir es auch nicht verstanden. Ab und zu konnte man die Mutter fragen, aber sie liebte es nicht sehr, es wurde als Störung empfunden. Wenn man als Kind klug war, wenig fragte, alles hinnahm, wie es kam, war das Leben unkomplizierter. Was ich heute noch an Gutem in Erinnerung habe, ist die Feierlichkeit, in die das ganze Dorf getaucht schien. Alles sah festlich aus, die Häuser schöner, die Straßen und Wege geputzt, auch die Gesichter der Menschen schienen freundlicher als an gewöhnlichen Wochentagen. Nach den dürftigen Nachkriegsjahren gab es Kinder, die neue Schuhe trugen, Mädchen mit ­einem neuen Kleid, einer neuen Weste, Buben mit einem neuen Janker, Buben und Mädchen mit neuen Strümpfen. Meist war es schon Sommerkleidung, und sie froren darin jämmerlich. Sie würden es aber wohl nie zugegeben haben, zu einmalig war es für die meisten Kinder auch noch in der späteren Nachkriegszeit, ein neues Gewand zu erhalten. Wir haben, solange wir im Graben wohnten, zu Ostern nie neue Kleidung bekommen, und wenn wir abends zur Auferstehung ins Dorf gingen, trugen wir meist noch unser warmes Gewand. Das focht uns aber nie an, so lange, bis wir nicht mehr an den Osterhasen glaubten. Nach dem Ende der Prozession standen die Leute vor der Kirche zusammen, wünschten sich ein schönes Fest und meinten dies auch so. Uns gefiel die Buntheit im Dorf, die Musik, die sonntäglichen Menschen. Gingen wir beim Dobernigg vorbei dem Graben zu, sahen wir in den Gärten schon die gefüllten Osternester der Kinder und wunderten uns, wie das geschehen konnte, wo doch der Osterhase bei uns vorbei den Weg in das Dorf nahm. Gab es vielleicht mehrere Osterhasen? 1949, nachdem der Vater bereits gestorben war, war alle Freudigkeit einer eigenartigen Trauer gewichen. Unsere Familie war zusammengeschrumpft, die Schwester war in Vorarlberg, der Bruder in Unzmarkt. Während der Prozession blieben 154

wir dicht bei der Mutter, auch die Geschichte von Tod und Auferstehung hatte für uns einen eigenartigen Klang bekommen. Der Tod war so nahe, „Auferstehung“ verstanden wir nicht. Die Dorfleute zeigten der Ziehmutter ihre Anteilnahme, indem sie sie „schonten“, kaum Fragen stellten, ihr höchstens über die Schulter strichen. Uns ermahnten sie, brav zu sein und ihr keine zusätzlichen Sorgen zu machen. Die Dobernigg Sera, eine fleißige, vielleicht etwas einfältige Verwandte der Wirtsleute, die wir Kinder auf dem Schulweg häufig neckten, hat die Mutter nach der Auferstehungsprozession 1949 aus der sichtbaren Traurigkeit für eine kurze Zeit herausgeholt. Unter ihrer Schürze, die sie nie abzulegen schien, zog sie eine kleine Flasche mit Wacholderschnaps heraus, hielt sie der Ziehmutter hin und sagte: „Do host Pojerin, es hilft bei olle Leiden!“ Wir erhielten eine Handvoll bunter Eierzuckerln. Die Mutter bedankte sich mit dem seltsamen Satz: „I dank dir, Sera, dass d’ mei inwendige Not anredst, des tut guat!“ Wir bedankten uns und schämten uns insgeheim, weil wir immer vorne mit dabei waren, wenn es darum ging, Sera mit Spötteleien zu ärgern. Die Stille des Grabens holte uns ein und die Dämmerung. Endlich zu Hause, entzündete der große Bruder, der nun doch nach Hause gekommen war, ein Osterfeuer. Danach wurde das Weihfleisch gegessen. Der Pfarrer hatte es nach der Prozession, wie allen anderen Nachzüglern auch, geweiht. Dieses Jahr glaubte ich nicht mehr an den Osterhasen, ich wusste, dass die Mutter die Eier ins Nest legte, Walter zuliebe sollte ich mein Wissen aber nicht verraten. So lief die Ostereiersuche ab wie in den vergangenen Jahren auch. Nach einer kurzen Nacht sollte der Osterhase etwas ins Osternest gelegt haben. Das Warten am Morgen zerrte an unserer Geduld. Wir waren früh wach und wären gerne zum Nest gelaufen. Die Mutter ließ aber keinen Zweifel daran, dass vorher die Tiere, die ja keinen Verstand hatten, also auch nicht warten konnten, gefüttert werden mussten. Wir sollten uns waschen und sonntäglich ankleiden. Gekämmt durften wir endlich auf die Suche gehen. Ich erinnere mich nicht daran, dass außer bunt gefärbten Eiern und einigen bunten Eierzuckerln etwas im Nest gelegen 155

wäre. In Bezug auf Ostergeschenke konnten wir erst, nachdem wir dem Osterhasenglauben entsagt hatten, Betrachtungen über Gerechtigkeit anstellen; denn dann war es erklärbar, warum die einen viel geschenkt bekamen und die anderen wenig. Es fügte sich aber, dass die Mutter ab 1949 beim Baumgartner Arbeit hatte, 1950 im Frühjahr die Witwenpension für fünfzehn Monate nachbezahlt bekam und sie weiterhin monatlich bezog. Sie kaufte ein, und in unseren Nestern lagen neben den bunten Ostereiern Geschenke. Als es in Judenburg Osterhasen aus Schokolade zu kaufen gab, erhielten wir auch einen. Am Brauch des Eierpeckens haben wir uns selten beteiligt, weder ich noch mein Ziehbruder konnten dem etwas abgewinnen. Wir hatten wochenlang auf die Ostereier gewartet, hüteten sie dann ängstlich, aßen sie langsam, und dabei blieben wir.

Das Osterei Ostern 1945 war vorbeigegangen. Von den unmittelbaren Ereignissen des zu Ende gehenden Krieges blieben wir verschont. Wissend geworden, also viel später, wurde ich mir des ungeheuren Vorteils bewusst, meine Kindheit in Abgeschiedenheit erlebt zu haben, fern von vielen Annehmlichkeiten, aber auch fern von unmittelbarer Not und vielfachem Leid. Wenn die Ziehmutter mit einem Seufzer die Redewendung „Wenn da Kriag scho bold amol aus wär, dann …“, begleitete, wussten wir nur zum Teil, was sie damit meinte. Der Vater sollte gesund vom Krieg heimkommen, und es müsste endlich wieder alles zum Kaufen geben, waren ihre häufigsten Wünsche. Begründete Wünsche. Als immer mehr Nachrichten von der Bedrängnis nach dem Krieg auch in den hintersten Graben gelangten, wurde klar, welche Vorteile der Graben zu dieser Zeit hatte. Nur einige Jahre später sollten sie sich leider in Nachteile verkehren. Die großen Ziehgeschwister, vor allem Herta, begannen sich langsam an einer größeren Welt zu orientieren. Wir Jüngeren lebten ganz nach dem Beispiel der Mutter. Wir hatten uns danach unsere Welt zurechtgezimmert, teilten ein, was gut und 156

was schlecht war, glaubten an Belohnung und Bestrafung nach einer strengen Gesetzlichkeit, genauso wie eins und eins eben zwei ist. So war es auch mit dem Osterei, das die Ziehschwester aus dem Dorf mitbrachte. Sie hatte es von der Frau Pötsch bekommen, in deren Familie sie das Pflichtjahr ableistete. War für uns schon verwunderlich, dass sie das Ei einfach herschenkte, war noch verwunderlicher, dass es anscheinend zweierlei Ostereier gab: Jene, die der Osterhase im Graben brachte – rote, blaue und grüne Eier –, und jene, die er im Dorf ins Nest legte – bunt bemalte! Die Mutter trug nichts zur Entschlüsselung des Rätsels bei. Als ich es wieder einmal in Händen hielt und sie dabei wieder nach der eigentümlichen Verteilpraxis des Osterhasen befragte, sagte sie nur: „Frog net so vül, pass gscheiter auf, dass es net obifollt!“ Die Mutter hatte die Angewohnheit, alles einzuteilen, vorzusorgen, für später aufzuheben. So wurde auch das Ei aufgehoben, Tage, schließlich eine ganze Woche lang. Als wir ihr beim Anlegen der Gartenbeete zusahen, ganz ohne die übliche Frage, wann es denn nun Jause gäbe, erlaubte sie uns überraschenderweise, gemeinsam das bunte Ei aufzuessen. Freudig liefen wir zur Kredenz, holten das Ei heraus und liefen zu ihr in den Garten, damit sie es öffne. Wir schauten es noch einmal an, bewunderten das Muster, dann „tutschte“ die Mutter das Ei am Gartenzaun an – und der Inhalt lief den Zaun herunter, nicht ohne einen unangenehmen Geruch zu verbreiten. Ich erinnere mich nicht mehr an unsere Reaktion auf dieses Ungeschick, nur an Mutters Kommentar: „Des kimmp davon, wenn ma unbescheiden is!“ Wir verstanden nichts! Die Mutter hielt sich an einen Verhaltenskodex, der neben Folgsamkeit und Dankbarkeit auch das Wort Bescheidenheit enthielt, damit war sie aufgewachsen. Sie erduldete in Bescheidenheit das harte Leben, verlangte diese Bescheidenheit aber auch von uns. Manchmal behauptete sie von anderen Menschen, vornehmlich einigen im Dorf, dass sie wohl nicht bescheiden genug wären. Sie war überzeugt, dass Gott irgendwann Unbescheidene bestrafen und Bescheidene be157

lohnen wird. Sie stieg nun auf unsere Osterhasenfantasien ein, stellte so halb und halb die Frage, ob nicht einige unbescheidene Dörfler sich bemalte Ostereier sogar gewünscht hatten. Dass dieses hier ungekocht war, war nun die Strafe dafür. Jetzt war es klar: Auch der Osterhase hielt etwas von Bescheidenheit. Unsere Eier waren zwar nicht bemalt, aber gekocht! Die Welt war wieder in Ordnung. Die Ursache für dieses Malheur hätte uns klar sein müssen: Das Ei war von Frau Pötsch aus Vergesslichkeit nicht gekocht, wohl aber bemalt worden, dann hatte sie es unserer Ziehschwester geschenkt. Der unbedingte Glaube an Wunder aber war stärker als alle Logik, und das war wohl gut so. Die moralischen Kategorien, die wir verinnerlicht hatten, waren später manchmal nützlich, häufig behinderten sie uns aber, bevor wir zu einer Ausgewogenheit fanden.

Georgitag War es, weil den Zieheltern der Weg aus dem Graben zu weit war oder sie kein Geld zu erübrigen hatten, ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls, so richtig Freude über den Namenstag unseres Pfarrpatrons hatten wir erst, als wir in das Dorf gezogen waren, wo die Mutter nach dem Tod des Vaters beim Baumgartner Arbeit und Wohnung gefunden hatte. Wenn die Schulglocke die erste Stunde einläutete, war die Frau Lehrerin Pauline Eder bereits in der Klasse. Nach dem morgendlichen Schulgebet rief sie uns einzeln auf, um unsere Anwesenheit festzustellen. Wie im Klassenbuch schwarz auf weiß festgehalten, waren zuerst die Buben aufzurufen: „Günter Knoll!“ – „Hier!“, „Walter Pojer!“ – „Hier!“, „Fritz Schäfer!“ – „Hier!“, „Franz Stocker!“ – „Hier!“ Soviel ich mich noch erinnern kann, gab es des Weiteren noch zwei Buben mit dem Namen Rudi, einen mit dem Namen Manfred, sicher auch einen mit dem Namen Josef und eine Reihe weiterer Buben – ein Georg war nicht dabei. Auch unter den Erwachsenen war der Name wenig verbreitet. Viel später gab es beim Baumgartner 158

einen Georg. Dabei war unser Heimatort nach dem heiligen ­Georg benannt. Viel wussten wir damals nicht über den großen Heiligen, gerade so viel, dass er ein Schwert besaß und auf einem feurigen Pferd daherritt. Der Herr Pfarrer, der sich ja bei allen Heiligen auskennen musste, hätte sicher etwas zu erzählen gewusst. Die Kriegszeit und die Zeit danach waren offenbar nicht dazu angetan, sich um alle Heiligen zu kümmern, man rief sie aber bei verschiedenen Nöten an, wie den heiligen ­Leonhard für das Vieh oder die heilige Barbara um einen guten Mann. Der Namenstag des heiligen Georg, der an seinem Sterbetag, also dem 23. April, angesetzt worden war, wurde auf alle Fälle in Ehren gehalten. Nicht, dass an diesem Tag die Arbeit stillgestanden oder der Unterricht ausgefallen wäre wie am Tag des heiligen Josef, am 19. März, nein! Fiel der 23. April in die erste Wochenhälfte, war der Georgitag am Sonntag vor dem eigentlichen Namenstag, fiel er in die zweite Wochenhälfte, dann wurde er eben hinterher gefeiert. Schon am Tag zuvor, also am Samstag, wurde der Mandl­ kalender befragt: Welches Wetter stand für morgen bevor? Davon hingen die Freuden des Georgisonntags ab. Wir – das waren die Kinder der Leute, die allesamt beim Baumgartner beschäftigt waren – wollten auf Nummer sicher gehen. So fragten wir noch zusätzlich den Friedl, einen Knecht vom Baumgartner: „Friedl, wos glabst, wird’s morgen regnen?“ Friedl, der es nie eilig hatte, schaute uns etwas misstrauisch an, überlegte wohl, ob es uns ernst war mit der Frage. „Jo mei, wenn ma des so genau wissert ...“, Friedl ließ den Blick über den Himmel schweifen, rieb an einem unscheinbaren Steckerl und schwieg. „Wos is Friedl, woaßt es net?“, ließ der Umundum Heinzi verlauten. „I glab“, so der Friedl, „am Vurmittag wird’s scho no ausholtn!“ Die Auskunft reichte uns. „Dank dir!“, riefen wir und ließen den Friedl weitersinnieren. In einer lichten Stunde hatte uns die Mutter versprochen: „Wenns alleweil ordentli auframts und jeden Tog ohne Schimpfen ’s Holz aufatrogts, gibt’s was am Gjurgimarkt!“ So trachteten wir an diesem Samstagnachmittag, alles, aber auch alles zu 159

berücksichtigen, was die Mutter so in Richtung Arbeit sagte. Es war recht viel! Das Aufwecken zum Kirchengehen wäre nicht nötig gewesen. Schon lange vor der Sonntagsmesse schien es zu beben, Böllerschüsse schreckten die letzten Langschläfer aus den Betten. Es war ein sonniger Tag geworden. Die Mutter war im Stall und hatte uns schon die Sonntagskleidung bereitgelegt. Wir trachteten, möglichst bald fertig zu sein. Zu gerne wären wir noch vor dem Gottesdienst bei den Standln vorbeigeschlichen, um uns ein Bild zu machen, was es denn so gab und wie viel es kostete. Mein kleiner Ziehbruder wusch sich oberflächlich, fuhr ein paarmal mit dem Kamm durch die Haare, lief die Stiege hinunter, vorbei am Kuhstall. „Wo lafst’n hin?“ Das war die Mutter, die mit der Arbeit fertig war. Sie blieb sonderbar ruhig, machte sich zum Kirchgang fertig, flocht mir die Zöpfe, zog dem Bruder den Scheitel gerade und bog den Hemdkragen zurecht. Sie kontrollierte noch einmal den Stand in der Geldbörse, erinnerte uns, das Ersparte mitzunehmen, das wir der großen Schwester zu verdanken hatten, und gab uns ein Zehnerl für den Klingelbeutel. Auf dem Weg zum Jahrmarkt konnte man schon etwas vom fröhlichen Treiben vernehmen. Trat man beim Gebhart auf die Tauernstraße hinaus, befand man sich mitten im Geschehen. Vom Fleischerhaus bis hinauf zur Bundesstraße standen dicht gedrängt die Standln. Vielleicht waren es aber auch nur sechs oder zehn, die sich in meiner Erinnerung einfach vermehrt haben. Etliche Käufer standen schon davor. „Muatta schau, do derfn scho welche wos kafn“, warf der Bruder vorsichtig ein. „Des san die Leit von da Frühmess, die derfn“, war ihre knappe Antwort. Jetzt war es klar: Dem heiligen Georg musste zuvor die Ehre erwiesen werden. Schnell wurde am Grab des Vaters ein Licht angezündet, dann drückten wir uns in die Kirchenbank, die Mutter bei den Frauen, ich bei den Mädchen, der Bruder in der Bubenbank. Die Kirche war gesteckt voll, weil auch die Leute aus der Scheiben und aus Nußdorf da waren, sozusagen als Gratulanten zum Ehrentag des heiligen Georg und der Pfarre, wie sich der Herr Pfarrer in der Predigt ausdrückte. 160

Er nützte die Gelegenheit, seine Gläubigen zu ermahnen, mutig zum Glauben zu stehen, wie es der heilige Georg getan hatte, und aus dem vergangenen Kriegsgeschehen eine Lehre zu ziehen. Und den heutigen Feiertag nicht ausarten zu lassen. Wir hörten zu und verstanden vorerst nichts, was uns weiter kein Kopfzerbrechen machte. Neben mir saßen die Sunnitsch Lisi und die Keil Traude. Als der Herr Pfarrer nach der Predigt an unserer Bank vorbei wieder feierlich zum Altar schritt, schob die Lisi ihr Geldtascherl schnell unter ein Betbüchel, das auf der Bank lag. Er hätte es nicht gesehen, so würdig und geradeaus schritt er dahin. Als die Messe wieder in Gang war, zog sie es wieder hervor und zeigte uns etliche Schilling in Kleingeld, die sie auf dem Markt verbrauchen durfte. Ich hatte nur das Zehnerl eingesteckt, das ich gerade noch hineinwerfen konnte, bevor der Klingelbeutel an mir vorbeizog. Das Ersparte lag sicher im Kittelsack. Die Erziehung schien Früchte zu tragen, ich wollte aufmerksam zuhören und mitsingen, aber es gelang mir nur zum Teil. In der gegenüberliegenden Bubenbank war der Vergleich des Kapitals für den Jahrmarkt schon sehr weit gediehen, sie steckten die Köpfe zusammen und zählten. Da geschah beinahe ein Unglück. Auf dem Rückweg kam der Herr Rinnofner mit dem Klingelbeutel an der Bubenbank vorbei, in der mein Bruder saß. Als der den Klingelbeutel erblickte, zeigten sich auch bei ihm die Auswirkungen der moralischen Einflüsterungen, denen wir ausgesetzt waren. Er schilderte seinen Gemütszustand angesichts des Entscheidungsnotstandes, als die Kirche längst aus war: „Wia der Rinnofner mit’n Klinglbeitl kemman is, hob i mir denkt: ‚Hiatz hot er mei ganzes Geld gsegn und net nur ’s Zehnerl, des is die Strof, weil i nur den Markt im Kopf hob, i will ’s ganze Geld einischmeißn.’ Da hot der Rudi mi grettet, bis auf a poar Zehnerln hob i no ois!“ Vom Chor ergoss sich diesmal ein feierlicher Gesang über die Gläubigen. Wir verdrehten die Köpfe, um die Ursache zu erkunden. Die Leute aus der Scheiben sangen kräftig mit, wechselten sich mit der Frau Dirrnberger ab, die alleine so schön sang, wie ich es einmal im Radio gehört hatte. Dann setzte der 161

Chor wieder ein. Ich weiß nicht mehr, ob auch diesmal die Heiligenlitanei gebetet wurde oder ob die Musikkapelle auch in der Kirche aufspielte, draußen am Platz zwischen Wieser und Friedhof tat sie es gewiss. Der feierlichste Augenblick kam, als alle miteinander das „Großer Gott, wir loben dich“ sangen. Die Leute standen in ihren Bänken und vergewisserten sich noch einmal, ob sie am Beginn der Messe jemanden übersehen hatten. Die Birnen im Luster strahlten mit dem Kerzenlicht um die Wette, Weihrauch zog noch einmal über unsere Köpfe. Dann waren wir entlassen. Diesmal standen die Leute nicht sehr lange vor der Kirche zusammen. Die kleinen Kinder zogen mit einem monoton sich wiederholenden Satz am Kittel der Mutter: „Geh ma Mammi, geh ma wos kafn!“ – „Dati, geh ma hiatz glei?“ Eine Gruppe größerer Kinder ging allein die Stände entlang, andere wieder gingen brav an der Seite der Eltern, die verhindern wollten, dass die Kinder einen „Tschantsch“ und „Zuggalwerch“ kauften. Bis die wichtigen Dinge eingekauft waren, mussten auch wir an der Seite der Mutter bleiben, dann durften wir für den berüchtigten „Tschantsch“ unser eigenes Geld ausgeben. Jedes Jahr war der Markt ein bisschen moderner geworden, und die St. Georgener – zumindest einige – wuchsen mit. Wovor die Mutter uns bewahren wollte, weiß ich nicht mehr, jedenfalls stellte sie beim Anblick des ersten Standls fest: „Do brauch ma nix!“ Vor dem zweiten Stand herrschte reges Treiben. Ich kann nicht mehr sagen, ob es ein halbes Jahrzehnt nach dem Krieg tatsächlich große Mengen und auch bereits eine reiche Auswahl gab – mir erschien es jedenfalls unüberschaubar. Da gab es karierte Herrenhemden und Unterwäsche für ­Männer und Buben, Unterröcke und Unterwäsche für Frauen und Mädchen, Unterleiberln für beide. Die Standlerin zog gleich die ganze Aufmerksamkeit auf sich, als sie einer Bäuerin, die ein Mädchen neben sich stehen hatte, einen in meinen Augen wunderschönen rosa Unterrock anbot. Das Auffallendste an ihm war, dass er glänzte. „Sie werden in ganz Judenburg nicht so was Schönes finden“, ließ die Standlerin verlauten. „A na“, warf die Bäuerin entrüstet ein, „wia des ausschauert für so 162

a Schuladirndl, dazua is später a no Zeit, und überhaupt: Er is a z’ teier!“ Sprach’s und zog das Mädchen hinter sich her zum nächsten Stand. So sicher, wie der Tag auf die Nacht folgt, schien mir, dass meine Ziehmutter diesen Kauf auch nie getätigt hätte. (Ich täuschte mich. Heimlich hatte sie den Unterrock gekauft, an meinem Namenstag im November sollte er mir gehören.) „Geh ma schaun, ob’s eppa wo Schuach gabert in eichara Größ“, meinte die Mutter im Weitergehen. Es gab einen Stand, wo es schöne Schuhe gab – glaubte ich! Die Mutter prüfte bei einem Paar das Oberleder, die Nähte, die Stärke der Sohle, desgleichen bei einem anderen Paar, das dem kleinen Ziehbruder ins Auge stach. Sie legte die Schuhe zurück und tat so, als ob sie sich den Kauf noch einmal überlegen wolle. „Dank schen, mia miassn uns des no überlegen, nix für unguat!“ Sprach es und ging schnellen Schrittes weiter, wir enttäuscht hintennach. Sie sah unsere enttäuschten Gesichter, und wir werden ihr wohl leid getan haben, weil sie sagte: „Schuach muaß ma in an Gschäft kafn, die tragt ma lang, do miassn s’ passen. Ihr kriagts scho welche! Hiatz geh ma amol rundumadum, schau ma, was es überhaupt ois gibt.“ Wir taten es. Beim Zuckerlstand wären wir, hätte es uns jemand erlaubt, so lange stehen geblieben, bis wir alles, aber auch alles gesehen hätten: „Schweizer Kreuz“, Orangenspalten, Firnzuckerln und welche mit Pfefferminzgeschmack in Weiß und Rosa, Stollwerck, die kannten wir vom Wieser, ebenso die Mannerschnitten und den 1-Schilling- und 2-Schilling-BensdorpRiegel. Aber da gab es noch ganz andere Zuckerln, welche mit Schokoladeüberzug, Kokosstangerln, Seidenzuckerln und bunte, sicher zwei Finger lange Zuckerstangerln. „Nehmts was, des kaf i“, sagte die Mutter. Unser gespartes Geld blieb uns damit für andere Dinge. Walter entschied sich für türkischen Honig, klebrig und süß, von dem er mir auch etwas abgab, weil ich mich für ein Lebkuchenherz entschieden hatte, das sicher schon die Reise durch viele Jahrmärkte überstanden hatte, ohne je in die engere Wahl gezogen worden zu sein. Der nächste Stand erregte die Neugier aller männlichen Marktbesucher. Da gab es Messer aller Größen, aber auch Feitel 163

und verschiedene Werkzeuge, mit denen jeder sich als Meister erweisen würde, wie der Verkäufer garantierte. „Des kaf i ’n Karl“, beschloss der kleine Ziehbruder, und schon hatte er ein sogenanntes Schnitzmesser erstanden, wenn es auch eher wie ein Taschenfeitel aussah. Er probierte das Messer an einem Stück Holz aus. Als das geschnitzte Ergebnis eher unserer alten Henne als dem Hund vom Jäger ähnlich sah, schloss er das Kapitel ab: „I kaf mir die Sochn nächstes Mol beim Wieser, vom Morkt is ois a Glump!“, stellte er enttäuscht fest. Gleich daneben gab es einen Stand, vor dem sich die Mädchen tummelten. Was gab es da für Schätze! Es glänzte wie sonst nur in der Kirche – einen Juwelierladen hatte ich damals noch nicht gesehen. Ringe in allen Größen und Steine in allen Farben, Armbänder, Halsketten, Ohrringe, Anstecknadeln und Broschen lagen nebeneinander aufgereiht. Die Mutter, meist auf die pure Wahrheit bedacht und aus der Not heraus sparsam, hätte wohl gerne ihre Meinung kundgetan, als die Standlerin in kurzen Abständen ausrief: „Alles echt Silber, echte Steine, echtes Gold!“ Sie tat es nicht, sondern ließ mir die Freude an der vermeintlich wertvollen Kette. Beim nächsten Stand wurde ein Kochtopf für alle Herde angeboten. Brauchten wir nicht, wir hatten nur einen Sparherd. Das sollte sich ändern, als die Mutter im darauffolgenden Jahr eine elektrische Kochplatte erstand – ein ungeahnter Aufschwung. „Hiatz kimmp des neimodische Zeig a scho zu uns außa“, ließ sich eine Frau, die wir nicht kannten, vernehmen und meinte damit wohl unsittliche, weil luftige Sommerkleider mit Kimonoärmeln und einem gestrickten Bolero dazu: „Do is ma die Triebener Strickerin scho liaber!“ Sie machte noch weitere Bemerkungen, die ich nicht mehr verstand. Sie konnte aber nicht verhindern, dass eine Reihe von jungen Marktbesucherinnen bei diesem Standl verwerfliche Stücke erstand und damit am nächsten Sonntag auch in die Kirche ging. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass auch mich das Unglück des Einkaufs bei der „Triebener Strickerin“ ereilen sollte. Die Mutter war aufmerksam gemacht geworden, dass 164

besagte Standlerin irgendwo zu finden sein sollte. Kurz hielten wir uns noch bei einem Stand mit Spielzeug auf, wo die Mutter leider glaubte, dass wir dafür schon zu groß wären. Waren wir nicht! Zu gerne hätte ich eine Frisiergarnitur für die Puppe heimgetragen, gar nicht zu reden von einer, wenn auch kleinen, „italienischen Puppe“ mit pechschwarzen Haaren und Schlafaugen, die man auf das schön gemachte Bett setzte. Mein Bruder besah sich ein Auto, das dem Jeep vom Baumgartner sehr ähnlich sah. Für irgendein Tier aus Blech zum Aufziehen fühlten wir uns ebenfalls nicht zu groß. Es nützte nichts! Wir standen nun vor dem Stand der Strickerin aus Trieben. Eine recht vornehme Frau, wie die Mutter später feststellte, die von oben bis unten „bestrickt“ war, begrüßte sie freundlich, und die Muttter begann, alle Westen zu sichten, die mir passen könnten. Als ich auch hier einen Bolero entdeckte, kam dies der Strickerin offenbar nicht ganz schicklich vor. „Das passt für dich noch nicht“, sagte sie, „die Frau Mutter findet schon was Schönes, Passenderes“, meinte sie wohlwollend. Sie fand! Ich kann ja nicht sagen, dass die Weste nicht schön gewesen wäre – blau, mit einem schönen Muster, in der Mitte ein Gürtel –, aber der Bolero … Die Weste erfüllte alle Ansprüche und war so groß, dass sie auch in zwei Jahren noch passen würde. Mein Ziehbruder war weit ärmer dran, sein Wunsch nach einem Pullover sollte nicht in Erfüllung gehen. Die Mutter hatte ein „Steirerjankerl“ entdeckt, in der unempfindlichen Farbe grau, rundherum grün eingestrickt und mit silbernen Knöpfen, allein das schon ein Luxus. Er entzog sich später diesem Jankerl, indem er das alte anzog und sich weiter nicht darüber aufregte. Fast schon bei der Bundesstraße angekommen, hörten wir, wie die Sera vom Dobernigg sichtlich aufgebracht die Frage stellte: „Wos mochn S’ do vorm Haus für an Bahö?“ Damit meinte sie den Anpreiser von fünf absolut sicheren Schüssen aus einem Wundergewehr, mit denen man mindestens eine Rose fürs Dirndl ergattern konnte. Für zehn Schüsse wäre es gar eine wertvolle Kassette mit Fliederseife und Parfüm oder ein Taschenmesser mit fünf verschiedenen Eigenschaften gewesen. 165

Die Buben bedauerten, nicht schießen zu dürfen, wo doch alle schon einmal ein Gewehr in der Hand gehalten hatten. „I geh hiatz hoam kochen, kemmps noch’n Zwölfeläuten noch“, sagte die Mutter. Den Luxus eines Gasthausbesuches konnten wir uns nicht leisten, aber auch andere aus dem Dorf nicht. Wir liefen den Markt hinauf und wieder hinunter, sahen, wie die Leute einkauften, je nach Stand und Verdienst. Manche, wie unsere Mutter, hatten für den Markttag schon lange vorher gespart. Sie waren zufrieden mit dem Angebot vom Wieser und zusätzlich eben vom Markttag, ganz selten kamen sie nach Judenburg. Die reicheren Leute im Dorf wie Baumgartner und Peinhaupt habe ich nie auf dem Markt gesehen, sie fuhren nach Judenburg oder gar nach Graz. In den folgenden Jahren zog es immer mehr Dorfbewohner nach Judenburg, wo es mehr Geschäfte gab. Das Ereignis des Georgimarktes blieb aber sicher noch lange bestehen. Wenn die Marktfieranten, wie die Standler laut unserem Oberlehrer richtig hießen, je nach Witterung langsam begannen, ihre Standln abzubauen, war der Georgitag noch lange nicht zu Ende. Die Musik hatte schon am Vormittag aufgespielt, es wurde getanzt und gesungen und auch fleißig ausgeschenkt. Vor allem die Buben wollten sich den Abbau der Standln nicht entgehen lassen. Der Weg nach Hause führte sie an der Knechtstube vom Baumgartner vorbei, wo der Krenn Hans sein Instrument putzte, da es doch heute im Einsatz war und gepflegt werden wollte. „Rafn s’ scho vorm Dobernigg?“, wollte er wissen. „Na, i hob nix gsegn und nix ghört“, sagte mein Bruder. „A daun is no net aus“, war die kundige Feststellung von Hans, der sicher früher einmal auch mitgerauft hatte, wenn der Georgitag zu Ende ging.

Von Lämmern und Kitzen Nach Ostern kam für uns ein Ereignis zum anderen. Wir hatten, gemessen an manch anderen Keuschlerverhältnissen, einen geräumigen Stall. Als Haus und Stall 1936 abbrannten, wurde bei166

des schnell wieder aufgebaut. Im Haus waren die gemauerten Wände nur im Hochsommer trocken, in den übrigen Jahreszeiten waren die Wände oft derart feucht, dass die Möbel davor zu schimmeln begannen. Der gänzlich aus Holz gebaute Stall blieb immer trocken. Der vordere Teil war dem Vieh des Dienstherrn vorbehalten und wurde nur vom Sommer bis in den Herbst hinein genutzt. Dahinter hatte der Vater eine einfache Hobelbank aufgestellt. Auf der linken Seite des Eingangs stand mit einer losen Kette um den Hals die Kuh, vor sich den „Graundner“. Unweit davon war der „Umadumstall“, ein eingegrenztes Geviert für das Kalb. Daneben befanden sich der Schweinestall, der Geißenstall und der Schafstall, welche eigentlich nur Abteile mit einem halbhohen Türl waren. Daneben und teilweise darüber lag der Hühnerstall. Im Gegensatz zu meinem Bruder hielt ich mich wenig im Stall auf, ich fürchtete mich vor allem Getier, so lieb ich es auch fand. Das änderte sich auch nicht, wenn es überall Junge gab. Mein Bruder saß meist oben auf der Ecke, die das Türl mit der Trennwand des jeweiligen Abteils bildete, und sah den Tieren zu. Die Mutter war immer besorgt um die Tiere. Die Besorgnis stieg, wenn Nachwuchs zu erwarten war. Sie ließ uns an der Wartezeit teilhaben, indem sie vom langsamen Zunehmen des Tierbauches das baldige Kommen der Jungen ableitete. Der Ziehbruder sah zu, wenn die Kitzerln auf die Welt kamen, er war der Erste, der die jungen Lämmer begrüßte. Er konnte es kaum erwarten, bis er sie streicheln durfte. Waren nach einundzwanzig Tagen die kleinen Küken geschlüpft, ging er, sobald sie ins Freie durften, geduldig neben ihnen her und bewahrte sie vor Gefahren, wenn dies die Gluckhenne auch nicht gerne sah und ihn hackte. Auch das Mutterschaf oder die Ziege stießen ihn schon einmal mit den Hörnern, trotzdem ließ er in seiner Fürsorge nicht nach. Er verbrachte viel Zeit beim Kalb und bei den jungen Hasen, streichelte sie und sprach mit ihnen. Lange wurde die Wahrheit von ihm ferngehalten. Als er – nun schon Schulbub geworden – erfuhr, dass das Fleisch in der Pfanne meist von unseren eigenen Tieren stammte, war er durch nichts zu bewegen, davon zu essen. Mit Ende des Früh167

lings waren die Jungtiere meist schon geschlachtet oder verkauft worden. Die Zieheltern hätten einige Tiere gerne behalten, und im Sommer wäre es ja auch möglich gewesen, aber im Winter hätte das wenige Futter nicht gereicht. Das Fleisch der Tiere war einerseits in den Haushaltsplan eingerechnet, andererseits ermöglichte der Verkauf des Kalbes, eines Kitzes oder eines Lammes überhaupt erst unumgängliche Anschaffungen. Für meinen Bruder war diese ereignisreiche Zeit Quelle für Freude und Leid gleichzeitig. Er genoss die Anwesenheit der jungen Tiere und den Spaß, den er mit ihnen hatte. Die Zärtlichkeit, die er gab, erhielt er reichlich zurück. Er litt, wenn sie nicht mehr da waren, und weinte, als er die ganze Wahrheit über ihren Tod erfuhr. Neben ihm fand ich mich distanziert, wie man heute sagen würde. Damals hatte ich manchmal ein Schuldgefühl, wenn mich der Tod der Tiere nicht im gleichen Maße bedrückte wie meinen Bruder, und wenn ich keine Bedenken hatte, ihr Fleisch zu essen. Der nachmalige Schloßmoar, damals noch Jungbauer, meinte, ich könnte Bäuerin werden, weil ich mich mit dem Kreislauf von Leben und Sterben bei Tieren abfinden könnte; der Bruder sollte es lieber nicht werden, denn dann würde er leiden wie er, der Bauer werden musste, weil es das ungeschriebene Gesetz für den Ältesten so vorsah. Wir sind beide keine Bauern geworden.

Almauftrieb Eines Vormittags, wir waren auf dem Weg in die Schule, trafen wir unterwegs auf die Tierherde, die der Schloßmoar, unterstützt von seinen Knechten, in den Graben hineintrieb. Nach der Schule beeilten wir uns heimzukommen. Die Tiere waren schon auf der Weide: Kühe, die gerade trockenstanden, Jungvieh, aber auch einige Kälber. Während des ganzen Sommers bis in den Herbst hinein hatte nun die Mutter die Aufgabe, auf sie aufzupassen, sie zu striegeln, mit Salz und Wasser zu versorgen, zu schauen, dass sie genug Futter fanden, sich nicht 168

verletzten und zum Kalben rechtzeitig in den heimatlichen Stall nach Nußdorf kamen. Damit wartete viel Arbeit auf die Mutter, aber auch auf uns Kinder. Es bedeutete für uns ein Dach über dem Kopf, Platz und Futter für eine eigene Kuh und Kleinvieh. Schloßmoar waren, wie die Mutter sagte, gute Herrenleute. Einige Male im Jahr, immer wenn wir wegen der Tiere ins Bauernhaus nach Nußdorf kamen, erhielt sie Hühnerfutter, einen Laib Brot und in guten Jahren ein wenig Obst. Dafür arbeiteten sie, der Ziehvater und auch die großen Ziehgeschwister den ganzen langen Sommer bis hinein in den Herbst. Wir wurden mit dem Vieh vertraut, sahen es ein wenig als das unsere an und erzählten in der Schule davon so, als gehörte alles uns – ein Besitz eben, wenn auch tief drinnen im Graben.

Fronleichnam Ein Fest, knapp vor Beginn des Sommers, erwartete ich mit Ungeduld – das Fronleichnamsfest. Ich kann mich an keine Erklärung für dieses Fest erinnern, weder für den seltsamen Namen noch für den Inhalt. Das Fest gab es einfach, wir konnten es nicht hinterfragen, unsere Eltern taten es wohl auch nicht. Es war das Fest der Mädchen. Ich besaß, meiner Erinnerung nach, vor der Erstkommunion nur ein Kleid für diesen Anlass, so muss es anfangs wohl zu lang und zu weit gewesen sein, und als es durch das Erstkommunionkleid ersetzt wurde, ­sicher schon zu klein. Wie auch immer – es war ein schönes Kleid, weiß und seidig glänzend, mit kleinen aufgedruckten Blumen. Am Nachmittag vor dem großen Tag wickelte die Mutter die nassen Haare auf viele kleine Röllchen aus Zeitungspapier, und band sie mit Zwirn daran fest. Über Nacht trocknete das Ganze, die Röllchen drückten auf die Kopfhaut, aber niemals hätte ich darüber geklagt. Am nächsten Tag, zeitig in der Früh, wurden die entstandenen Stoppellocken gleichmäßig um den Kopf gelegt, über einen kleinen Teil wurde noch jene Seidenmasche gebunden, die auch den Palmbuschen schmückte. Das Kleid wur169

de erst knapp vor Erreichen des Dorfes angezogen, bis dahin musste es ein Werktagskleid tun. Ich reihte mich mit den Mädchen aus meiner Klasse in die Prozession ein. Wir sahen uns gegenseitig bewundernd an, manchmal auch geringschätzig oder mitleidig; wir hatten es wohl so von den Älteren gelernt. Ich empfand keine Zurücksetzung gegenüber den Dorfkindern, was sonst schon vorkam. Es hing davon ab, woher wir stammten, was sich die Eltern leisten konnten, was uns Zieh- oder Pflegeeltern zudachten, aber auch, wie geschickt die Mütter mit Zwirn und Faden umgingen. So hatten Mädchen aus ärmerem Hause oft hübschere Kleider an als Bauernmädchen. Ich erinnere mich an Mädchen, die zu Fronleichnam die Zöpfe genauso geflochten bekamen wie an einem Wochentag, andere wieder trugen „Waschrumpelwellen“, ein Ergebnis von in feuchtem Zustand geflochtenen Haaren; mit Locken waren wir nur wenige. Darüber wurde ein Myrtenkranz getragen, selten einer „nur“ aus Margeriten. Ich hatte weder Mitleid noch Geringschätzigkeit auszuhalten. Erzählte meine Ziehschwester noch, dass Grabenkinder auch auf Grund ihrer Kleidung oft als „Grabnbölli“ bezeichnet wurden, betraf uns das nicht. Nicht, weil die Ziehmutter mehr Geld zur Verfügung hatte, sondern weil sie sich bemühte, für uns zu nähen. Der Umgang, wie wir die Prozession auch nannten, dauerte lange, doch ich bedauerte dies nicht. Der Herr Pfarrer schritt unter dem Himmel, der von den Pfarrgemeinderäten getragen wurde, die wie zu Ostern in rote Umhänge gehüllt waren. Er trug die Monstranz vor sich her. An die Reihenfolge in der Prozession erinnere ich mich nicht mehr, nur an die Einteilung in Buben, Mädchen, Jungfrauen, Vereine, die Musikkapelle, Frauen und Männer. Vor jedem der vier festlich geschmückten Altäre wurde Halt gemacht und ein Evangelium gelesen, die Musik spielte, dazwischen wurde gebetet. Ich glaube, dass auch wir beten sollten, zumindest das Vaterunser und das Gegrüßetseist-du-Maria. Ich blieb aber eher stumm und war nur damit beschäftigt, heil den Umgang abzuschließen. Langweilig wurde mir nie. Es mag wohl auch daran gelegen sein, dass wir nicht mit Ereignissen verwöhnt waren. Vor dem 170

Heimweg in den Graben gab es beim Dobernigg ein Kracherl. Das Kleid musste zu Hause sofort ausgezogen werden, die Locken blieben und erinnerten noch am nächsten Tag an den Umgang. Bleibende Religiosität möchte ich nicht daraus ableiten, Freude aber schon.

Sommer Die Blumen am Küchenfenster blühten schon, im Garten gab es bereits Salat, das Gras auf der Wiese wurde immer höher, und das Besondere für uns Kinder war: Rundherum gab es Plätze, auf denen die Erdbeeren sich rot färbten – es war Sommer geworden. „Des san Kuckucksblumen!“, antwortete mein kleiner Ziehbruder auf die Frage des Oberlehrers nach dem blauen, kugelartigen Gebilde in seinen Händen. Er hatte die blauen Blumen in die zahlreichen Öffnungen eines Fichtenzapfens gesteckt, sodass eine Kugel entstanden war. Auf diese Weise sollten die Blumen frisch bleiben, bis er sie seinem Fräulein, der Lehrerin Pechmann, überreichen konnte. Vom Vater wussten wir, dass der Name der Blume mit dem ersten Ruf des Kuckucks im Frühling zusammenhing. Der Herr Oberlehrer belehrte uns, dass es schon passe, wenn wir weiter Kuckucksblume sagten, richtigerweise hieße sie stängelloser blauer Enzian. Sie blühten nun schon hundertfach auf dem Hang unweit des Hauses und entfalteten ihre Pracht bis in den Sommer hinein. Frühling und Sommer gaben sich auf der Höhe, auf der wir wohnten, die Hand. Wenn es regnete, konnte es sehr kalt sein. Der Wind klatschte uns den Regen auf die nackten Füße und ließ die Finger klamm werden. Gleichzeitig sah man schon, wie die Erdbeeren rot wurden. Wenn unter dem Weißeck der Almrausch den Hang in rote Farbe tauchte, war es endgültig Sommer geworden. Am 29. Juni, dem Namenstag der Apostelfürsten Peter und Paul, wurde es im sonst so stillen Graben lebendig. Dörfler, aber auch Leute aus der weiteren Umgebung strebten dem Weißeck zu, um das Blü171

hen des Almrausches zu sehen oder einen Strauß mit nach Hause zu nehmen. Mein Ziehvater war misstrauisch, wenn er die vielen Leute sah, die sich auf dem Berg tummelten. Er machte sich Sorgen, dass sie „alles zusammentreten“ und die Waldtiere stören würden. Die Mutter schloss sich seiner Meinung an. Wir Kinder waren in der Meinung gespalten. Wir freuten uns über die Abwechslung durch die vielen Leute, glaubten aber auch, dass sie „ohne zu fragen“ den Almrausch von „unserem“ Berg forttrugen. Als an einem Frühsommertag auf dem Heimweg von der Schule die Sonne besonders heiß schien, beschlossen wir gemeinsam mit den Leitnerkindern, im Georgenbach ein kühles Bad zu nehmen. Wir entledigten uns der Stutzen und Jacken – beides stopften wir in die Schultaschen –, die Schuhe zogen wir aus und banden sie auf der Schultasche fest. Wir wateten so lange im kalten Wasser den Bach entlang, bis es die Ver­ engung des Bachbettes und die Steigung nicht mehr zuließen. Noch nass, kleideten wir uns wieder an und streiften die Schuhe über. Rechts vom Weg wussten wir Plätze mit Erdbeeren, die wir nicht verließen, bevor nicht die Ausspeisungshäferln damit gefüllt waren. Nach einer letzten Rast bei der Leitnerkeusche machten wir uns endgültig auf den Heimweg. Der solcherart verlängerte Schulweg machte bei der Ziehmutter keinen guten Eindruck. Unsere Erwartung, endlich zu Hause angekommen, zu den gepflückten Erdbeeren auch noch süßen Rahm zu erhalten, erwies sich als Irrtum, es gab eher Schelte. Wir hatten – wie so oft – über den Ablenkungen, die der Heimweg durch den Graben bot, den Auftrag der Mutter vergessen, nur ja schnell aus der Schule nach Hause zu kommen. Wenn sie in der warmen Jahreszeit noch zusätzlich die Tiere vom Schloßmoar zu betreuen hatte, arbeitete sie von frühmorgens bis spätabends. Trotzdem blieb noch genug Arbeit, bei der sie unsere Hilfe benötigte: Holz tragen, bestimmte Gräser und Kräuter für die Hasen pflücken, die Kuh, die Ziegen und Schafe in den Stall treiben. Am Wochenende mussten wir beim Reinigen des Hauses und des Stalles helfen, beim Kehren oder Kamillenbrocken. 172

„Kratzln“, längliche, beidseitig verwendbare Bürsten zum Reinigen des Geschirrs, wurden ebenso selbst gebunden wie Fußabstreifer und die Besen für Haus, Stall und Vorplatz. Alles musste in mehrfacher Ausgabe angefertigt werden, um damit ein ganzes Jahr auszukommen. Dazu wurden verschiedene Sträucher sowie Zweige von Lärchen und Birken verwendet, die um diese Jahreszeit besonders saftig waren und sich leicht bearbeiten ließen. Von den Sträuchern und Birkenzweigen wurden die Blätter entfernt, die Zweige der Lärchen mussten so gründlich von den grünen Nadeln befreit werden, dass sie gelblich glänzten und sehr glatt waren. Dies musste schnell geschehen, solange sie noch geschmeidig waren. Danach band die Mutter die Kratzln, indem sie Ästchen in einer Länge von fünfzehn Zentimetern dicht an dicht legte und in der Mitte mit einem Draht so fest abband, dass der entstandene Kratzl jeder Beanspruchung durch Kratzen und Reiben standhielt. Das Binden von Besen und Fußabstreifern musste die Ziehmutter nach dem Tod des Ziehvaters ebenfalls übernehmen, eine Arbeit, die ihr viel Kraft abverlangte. Unsere Aufgabe bestand darin, ihr rechtzeitig die passenden Stücke zuzureichen, was mir im Gegensatz zu meinem Ziehbruder schlecht gelang. Sie waren häufig zu lang oder zu kurz. „Woaß Gott, wo du immer hinschaust!“, war der häufige Ausspruch meiner Mutter. Der Berg aus den zugerichteten Ästen gebärdete sich ähnlich wie die Schwarzbeeren, die ausgeklaubt werden mussten – sie nahmen nie ein Ende. Auch die Arbeit der Mutter schien nie ein Ende zu finden, hieß es doch, fast alles für den täglichen Gebrauch herzustellen und für einen langen Winter vorzusorgen.

Beerenzeit „I hob’s jo gwisst, dass s’ wieder kumman und alles scho alser greana zsaumbrockn werden!“, war der enttäuschte Ausruf der Ziehmutter an einem Sonntag Ende August des Jahres 1946. Der Almhalter vom Zoiggn hatte ihr beim Vorbeigehen gesagt, dass 173

sie wieder da seien, die aus der Stadt, sie hätten einen „Haufen Gschirr zum Einibrocken mit“. Sie erschrak und ging vor das Haus, um Ausschau zu halten, machte sich am Herd zu schaffen, konnte sich nicht beruhigen, wiederholte ihre Befürchtung. Was war geschehen? Wie an ein ungeschriebenes Gesetz hielten sich die Grabler und die Dorfbewohner daran, uns auf dem unserem Haus gegenüberliegenden Schwarzbeerschlag, der dem Dienstherrn Schloßmoar gehörte, nichts „wegzupflücken“. Sie gingen auf andere Plätze, so hatte die Mutter immer reichlich Schwarzbeeren für den Schloßmoar und für die eigene Familie zur Verfügung gehabt. Diesen Plan durchkreuzten die Städter. Schon in der Kriegszeit, vermehrt aber in den ersten Jahren nach dem Krieg, kamen Frauen, Männer und Kinder, mit Rucksäcken und Kannen, um in den Wäldern nach Pilzen und Beeren zu suchen. Sie stammten aus Judenburg und Knittelfeld, es sollen auch welche aus Leoben dabei gewesen sein. Sie kamen in der Früh mit dem ersten Zug. Wie Bienen schwärmten sie aus, teilten sich auf die Schläge auf, riffelten so lange, bis sie alle Geschirre gefüllt hatten, und eilten wieder davon, um den Zug zu erreichen. Dies wiederholte sich so lange, bis die Beerenzeit, vornehmlich die der Schwarzbeeren, vorbei war. Wieder zurück zum Jahr 1946, zu jenem Sonntag im August: Es dauerte nicht lange, kamen mehrere Leute den Weg neben dem Bach herauf, wohl jene, die der Almhalter angekündigt hatte. Sie verteilten sich auf den Schwarzbeerschlag, der links vom Weg anstieg. Nun gab es bei der Mutter kein Halten mehr. Sie legte die Vorbindschürze zur Seite, lief den Weg hinunter bis zu der Stelle, wo es in den Schlag bergauf ging. Teils aus Angst, nun alleine im Haus zu sein, teils aus Neugierde, was nun geschehen würde, liefen wir ihr nach. Wir hörten nicht, ob sie die Leute gegrüßt hatte. In ungewohnt lautem Ton warf sie ihnen vor, ihr vor der Haustür die Beeren „wegzubrocken“, auf die sie Anspruch habe, wo der Schlag doch dem Schloßmoar gehöre, ihrem Dienstherrn. Sie wüssten als Stadtleute nicht, was es bedeute, tief im Graben zu „hausen“, alles selbst erarbeiten zu müssen. Sie hätten das Kaufgeschäft vor der Tür, wo sie etwas 174

kaufen könnten, oder Bauern ringsum, bei denen es Obst gab. Sie sollten sich einen anderen Schwarzbeerschlag suchen! Die Antworten der Städter konnten wir kaum verstehen – sie erschienen uns aber bedrohlich wie alles, was sich gegen die Mutter richtete. Das Streitgespräch wäre sicher noch eine Zeit lang weitergegangen, hätte es nicht ein Mädchen, etwa so groß wie Walter, unterbrochen. Es kam den Schwarzbeerschlag herunter, stieg vorsichtig über einen Frattenhaufen, griff in eine Milchkanne, die es um den Bauch gebunden trug, holte eine Handvoll Schwarzbeeren heraus und reichte sie Walter. Er hielt seine Hände aber fest am Rücken verschränkt, nicht gewillt, die Beeren anzunehmen. Das Mädchen hielt sie ihm weiter hin. In die entstandene Stille hinein sprach die Mutter halb zu dem Mädchen, halb zu einer jungen Frau hin gewandt, den erlösenden Satz: „Loss ma’s guat sein, habts ja selber nix!“ Als das Mädchen scheinbar unbeirrt meinem Bruder noch immer die Hand mit den Schwarzbeeren hinhielt, sagte die Mutter ungewohnt leise zu ihm: „Kimm hiatz, nimm’s und bedank di, wia si’s ghört!“ Als er flink die Beeren in den Mund steckte, lächelte das Mädchen, drehte sich um und lief die wenigen Schritte zu der jungen Frau hinauf, die wohl seine Mutter war. Wir sahen dem Mädchen nach und bemerkten, dass seine nackten Füße in viel zu großen, aus Autoreifen gefertigten Sandalen steckten. Solche wurden auch im Dorf getragen, sie ­waren besser als gar nichts, nur: Wie sollte man damit auf steilen Hängen weiterkommen, wie damit die nackten Füße vor Brennnesseln und Dornen schützen? Das Mädchen war ungemein dünn und blass. Die Mutter sagte jedes Mal, wenn sie später im Dorf davon erzählte, dass wir daneben wie Blas­engel ausgesehen hätten, kräftig und mit roten Wangen. Wir sahen die Mutter selten weinen – nun weinte sie, gebot uns, „Pfüat Gott!“ zu sagen, drehte sich zu der jungen Frau um, verabschiedete sich mit ­einem „Nix für unguat!“, und ging mit uns zurück zum Haus. An diesem Tag wurde nicht mehr viel gesprochen, es wurde nicht auf die fremden Städter geschimpft. Walter war unschlüssig, wie er das Ereignis deuten sollte. Sollte er weiter seinen Wächterplan ausführen und melden, wenn jemand den Steig 175

zum Haus heraufkam oder direkt auf dem Weg in den Schwarzbeerschlag ging? Die Mutter verneinte. Sie meinte, dass es arme Leute seien wie wir oder noch ärmer. Wir würden wohl noch genug Schwarzbeeren finden, auf unserem Schlag oder woanders. So war es dann auch. Wir machten andere, weiter entfernte Plätze ausfindig. Die Schwarzbeeren wurden auch von uns meist nicht gepflückt, sondern geriffelt. Die Riffel ist ein etwa zwanzig Zentimeter langes, kammähnliches Gebilde, das an ein Kistchen genagelt ist. Kämmte, also riffelte man eine Schwarzbeerstaude, fielen die Beeren in das Kisterl, eine ungeheure Zeitersparnis gegenüber dem Pflücken mit der Hand – meinte unsere Mutter. Mit den reifen Beeren fielen aber immer auch unreife hinein, kleine Zweige, Blätter und Grashalme fanden sich in der Riffel. Das mühsame Ausklauben verschlang die Zeitersparnis wieder. Der Vorteil lag darin, dass man sich nicht so lange im Beerenschlag aufhalten musste und in kurzer Zeit viel gepflückt werden konnte. Wir Kinder, denen die lästige Arbeit des Ausklaubens aufgetragen wurde, erinnerten uns viel später wieder an diese ungeliebte Tätigkeit, und dass wir uns damals manchmal gewünscht hatten, es wären doch gleich gar nicht so viele gewachsen. Laut haben wir diesen Wunsch aber nie geäußert. In den Kriegsjahren mussten die großen Ziehgeschwister häufig allein zum Schwarzbeerpflücken gehen und sie anschließend ausklauben – stundenlang. Sie füllten Eimer und Kannen, trugen sie zum Schloßmoar und waren froh, dafür eine Jause zu bekommen. Wir Jüngeren gingen, alt genug geworden, also nach dem Krieg, mit der Mutter, aber auch mit dem großen Ziehbruder in den Schwarzbeerschlag. Wenn wir Karl beim Brocken, beim Riffeln helfen mussten, durften wir Pausen machen; er musste das Geschirr, das er mit sich trug, aber voll machen. Erst dann machte er sich auf den Heimweg. Oft brachte die Mutter auch nach dem Krieg noch einen Kübel voll Schwarzbeeren, den sie im Rucksack aus dem Graben hinaustrug, zum Schloßmoar und bekam dafür Brot, Futter für die Hühner oder – was uns Kinder besonders freute – Äpfel oder Birnen. 176

So ab dem sechsten Lebensjahr war dann das Ausklauben der Schwarzbeeren auch eine Aufgabe für Walter und mich. War das Wetter schön, geschah dies vor dem Haus, bei schlechtem Wetter, soweit ich mich erinnern kann, unter dem Dachvorsprung des Stadels. Auf dem Tisch wurde ein Nudelbrett mit Hilfe von Holzscheiten schräg gestellt, davor hatten wir uns hinzusetzen. Wir stellten eine breite Schüssel auf die Knie und ließen auf dem Nudelbrett, das mit einem groben Sack bedeckt war, der das Laub zurückhalten sollte, nur so viele Schwarzbeeren herunterrollen, dass wir den Rest des anhaftenden Mistes noch ausklauben konnten. Eine Hilfe stellten dabei zwei glatte Hölzer dar, die in Form eines „V“ auf das Nudelbrett gelegt wurden und immer nur wenigen Schwarzbeeren auf einmal den Weg in die Schüssel erlaubten. Der Vorgang – Beeren ­hinaufleeren, ausklauben, in die Schüssel rollen lassen – musste so oft wiederholt werden, bis alle Schwarzbeeren ausgeklaubt waren. Diese Arbeit ging häufig schlecht aus. War es in den Augen der Mutter nicht weiter schlimm, wenn einmal einige Beeren auf den Boden rollten – die Hühner warteten schon darauf –, wurde die Situation jedoch ernst, wenn wir in Anbetracht eines Schwarzbeerkübels, der sich niemals zu leeren schien, ungeduldig wurden. Wir fingen an, uns gegenseitig zu beschuldigen, nur schöne Beeren aus dem Kübel zu schöpfen und den Mist dem jeweils anderen zu überlassen. Dann warfen wir uns den verbliebenen Mist ins Gesicht und schließlich auch die Beeren. Von solchen Streitereien nicht gerade begeistert, setzte die Mutter dem Treiben ein Ende, indem es Schelte, häufig auch Ohrfeigen gab. Es muss wohl so gewesen sein, dass sie uns dann half, mit der Arbeit zu einem Ende zu kommen. Die ausgeklaubten Beeren wurden eingekocht, ein Teil zu Marmelade, ein kleinerer zu Kompott. Zucker war in den ersten Nachkriegsjahren ein kostbares Lebensmittel, das nicht nur teuer war, sondern – natürlich auf Marken – nur spärlich zugeteilt wurde. Obwohl die Mutter damit sparsam umging und für den morgendlichen Kaffee meist nur Saccharin verwendete, war niemals genug vorhanden, um die Marmelade im Verhältnis 1:1 177

einkochen zu können. So kochte sie eben viele Schwarzbeeren mit wenig Zucker ein, was sich bald rächte: Die Marmelade und das Kompott schimmelten. Der Schimmel wurde abgeschöpft, die Marmelade „überkocht“. Aber auch nach dieser Prozedur gab es keine Garantie. Meine Ziehschwester, die schon in anderen Haushalten Erfahrung gesammelt hatte, riet der Ziehmutter, weniger Schwarzbeeren mit der richtigen Zuckermenge einzukochen, den Rest der Beeren zu trocknen und im Winter zu Kompott aufzukochen. Der Ratschlag kam bei der Ziehmutter nicht gut an, zu sehr war sie überzeugt, dass es doch irgendwie gehen müsse. Sie trocknete zwar Schwarzbeeren, aber nur als Medizin, wie sie sagte. Bei Preiselbeeren hatte sie mit ihrer Methode mehr Glück, sie hielten auch mit wenig Zucker. Sie wurden weniger zu Marmelade als zu Kompott verkocht und hielten jahrelang. Die Plätze, wo Preiselbeeren wuchsen, waren weit von unserem Haus entfernt, wir wurden deshalb zum Pflücken nie mitgenommen. Der Vater ging häufig allein, nahm einen Polsterbezug mit, später eine Buckelkraxe. Das Stück Brot, das er in den Hosensack steckte, sollte für den ganzen Tag reichen. Erst wenn es dunkel wurde, kam er heim, meist hatte er die Kraxe bis oben voll. Gingen die Zieheltern gemeinsam, brachten sie noch mehr Beeren nach Hause. Die Mutter beklagte sich dann, dass der Vater den ganzen Tag kaum ein Wort geredet hatte, schweigend gingen sie auch den weiten Weg vom Schafkogel wieder nach Hause. Zu Hause war er wieder gesprächig. Die Mutter nahm dieses Schweigen nicht gerne hin, tröstete sich aber damit, dass wir nun so viele Preiselbeeren hatten, dass es auch für das nächste Jahr noch reichen würde. Als der Vater 1948 starb, sagte sie mit einem Blick auf die gefüllten Gläser: „Der Vater hat noch vorgesorgt!“ Himbeeren wuchsen überall, wo vor Jahren Holz geschlägert worden war. Somit gab es sie fast jedes Jahr reichlich. Sie wurden zu Saft verkocht, teilten aber meistens das Schicksal der Schwarzbeeren: Mit zu wenig Zucker eingekocht, neigten sie zu Schimmelbildung. Ich erinnere mich gern an den Himbeersaft, 178

den die Mutter über den Pudding goss – eine seltene Köstlichkeit. Ich habe schon von Herrn Wieser erzählt, der in seinem Kaufhaus große Fässer aufgestellt hatte, in denen er die Himbeeren sammelte, die von Frauen des Dorfes, vornehmlich aber von größeren Kindern, gepflückt worden waren. Die vollen Fässer wurden von einer Verarbeitungsfirma abgeholt. Während der Kriegsjahre gingen die zwei älteren Ziehgeschwister Herta und Karl ebenfalls häufig Beeren pflücken und verkauften sie beim Wieser. Was sie damit verdienten, war nicht nur eine willkommene Zubuße, sondern eine Notwendigkeit, da Geld immer knapp war. Ich weiß nicht, ob die Ziehgeschwister etwas von ihrem Verdienst behalten durften; ich glaube, eher nicht. Als wir bereits im Dorf wohnten, waren Walter und ich schon über zehn Jahre alt. Wir durften das Geld, das das Himbeerpflücken einbrachte, behalten und uns damit Wünsche erfüllen. Die Zeiten waren eben besser geworden. Der Bauer und Sägewerksbesitzer Baumgartner, die Gastund Landwirte Peinhaupt und Wieser, die Bauern Weinke und Doberer, die Bauern auf der Sonnseite, Zoigg in Pichlhofen, Schloßmoar in Nußdorf, alle besaßen Obstbäume. Im Graben gab es keine Obstbäume, daher waren Beeren eine unersetzliche Nahrungsquelle. Ich erinnere mich an Frau Zwinger, die Frau eines Holzknechts und Mutter einer größeren Kinderschar, wie sie mit einem großen Korb auf dem Kopf, der je nach Erntezeit mit Himbeeren, Schwarzbeeren oder Preiselbeeren gefüllt war, den Graben hinausging und dabei noch zusätzlich an einem Socken oder Fäustling strickte, um, wie sie sagte, keine Zeit zu vergeuden. Ihre Strenge sorgte dafür, dass die älteren Kinder die jüngeren versorgten, in Haus und Stall arbeiteten, während die Mutter mit den Beeren Geld verdiente. Soweit ich mich erinnern kann, haben alle Grabenbewohner auch Pilze und Schwämme zu schätzen gewusst. Sie kochten sie, trockneten sie für den Winter, verkauften sie und schufen sich damit ein Zubrot, wenn es auch mit viel zusätzlicher Arbeit verbunden war. Meine Ziehmutter hatte leider, weil sie in ihrer Jugend einmal verdorbene 179

Eierschwammerl gegessen hatte, eine unüberwindliche Abscheu gegen jegliche Art von Pilzen und Schwämmen. Sie kochte sie zwar für uns, aß sie selber aber nicht. Ich weiß nicht, wie es anderen Grabenkindern erging – für mich, aber auch für Walter, bedeutete der Wald mit seinen Früchten einen Besitz, der uns gehörte. Es gab keine Zäune wie bei den Obstgärten im Dorf und keine Verbote. Man konnte pflücken, so viel man wollte, und sich satt essen. Die Beerenzeit war eine schöne Zeit, ich glaube mich erinnern zu können, dass auch der strenge Ziehvater sich daran erfreute, die Ziehmutter ganz bestimmt.

Herbst Ein Kuckuck lernt fliegen Wenn am Morgen der Nebel wie ein dichter Schleier über den Wiesen und dem Wald lag und auch den nahen Stall mit einschloss, nahte der Herbst. Der Frauentag, der 8. September, war schon vorbei, die Schwalben hatten sich an die Bauernregel gehalten: „Zu Maria Geburt fliegen die Schwalben furt.“ Auch der junge Kuckuck hatte die Reise in den Süden angetreten. Er war, nachdem ihn ein Drosselpaar aus dem Nest geworfen hatte, vom großen Ziehbruder entdeckt worden. Wochenlang versorgte er ihn mit Nahrung, was bedeutete, dass täglich nach Fliegen, Würmern und Raupen gesucht werden musste. Diese Aufgabe fiel uns jüngeren Geschwistern zu. Es dauerte nicht lange, bis er meinem Ziehbruder aus der Hand fraß und uns überallhin folgte. Als er begann die Flügel zu spreizen, setzte ihn der kleine Ziehbruder auf seine Hand, kletterte auf Stiegen und Zäune, hielt die Hand zum Fenster hinaus und ermunterte ihn mit einem hundertmal wiederholten „Flieg, flieg, flieg doch!“ Dann war es so weit: Der junge Kuckuck flog! Flog einen halben Meter und kam unsanft am Boden auf. Es dauerte dann nicht mehr lange, und er flog auf einen nahe stehenden Baum. 180

Er blieb nun den ganzen Tag draußen im Freien und kam nur zum Fressen und Schlafen in die Küche zurück. An einem Sommertag blieb er über Nacht aus, kam auch die nächste Nacht nicht – Grund für eine große Verstörung bei meinem Ziehbruder. Blieb er nun für immer fort, der Spielgefährte der Ferienwochen? Aber im nächsten Frühjahr war er wieder da, er saß auf seinem Baum, von dem er sich zum ersten Mal in die Lüfte erhoben hatte. Dort blieb er auch, als der Ziehbruder sich an den Baum lehnte, ihn begrüßte und lockte. Er setzte sich nicht auf seine Hand, sondern flog auf den Waldrand zu, wo er sich niederließ und seinen Ruf erschallen ließ – immer und immer wieder.

Von den Höhen ins Dorf Wenn sich einzelne Laubbäume zu verfärben begannen, wurde überall zum Almabtrieb gerüstet. Die Essigbeeren leuchteten rot von den Sträuchern, ihnen folgten die Moschbeeren. Ich weiß nicht mehr, ob der Tag auch bei uns schulfrei war oder ob wir einfach von der Schule daheimblieben. Den Almabtrieb im Jahre 1948 mit den aufgeputzten Kühen und Kalbinnen erlebten wir auf dem Weg zur Baumgartnerhütte. Geduldig warteten wir, bis sie an uns vorüberzogen, Tier und Mensch. Von weitem war schon das Geläute der Kuhglocken zu vernehmen, das Juchzen eines Knechtes, das Klappern eines Wagenrades. Alle Tiere waren aufgekranzt, die Leitkuh trug die große Glocke und einen Kranz um den dicken Hals, die Hörner überragte ein Bäumchen, das mit bunten Krepppapierbändern geschmückt war. Die Sonne leuchtete im Spiegel, den sie auf der Stirn trug. Im Gegensatz zur Leitkuh, die den Schmuck mit Würde trug, versuchten einige Kalbinnen, sich des Schmuckes zu entledigen, es gelang ihnen aber nicht. So trotteten sie alle talwärts, gefolgt vom Friedl, dessen Milchwagerl ebenfalls geschmückt war. Als einziges Zugeständnis an den Almabtrieb trug Friedl einen Lärchenzweig mit einer Papierrose auf dem löchrigen Hut. Dann folgte die Melkerin mit einem ansehnlichen Korb, in dem sie 181

Rumpelnudeln trug. Niemand bezeichnete diese kirschgroßen, in Fett herausgebackenen Teigkügelchen anders. Jeder am Wegrand bis vor den heimatlichen Stall erhielt eine Handvoll davon, Kinder manchmal auch mehr. Nur die Kekse zu Weihnachten und den Kuchen zu meinem Geburtstag habe ich als ähnlich wohlschmeckend in Erinnerung. Wir liefen neben der Tierprozession her, liefen ihr nach, bis wir des Dorfes ansichtig wurden. Dann drehten wir um, immer noch ein paar Kügelchen von den Rumpelnudeln in der Faust haltend, die wir der Mutter schenken wollten. Der Schloßmoar beteiligte sich nicht am Almabtrieb, wir mussten die Tiere auf der Weide und dann im Stall so lange behalten, bis das ganze Heu, das im Sommer eingebracht worden war, verbraucht war. Walter, der mir in praktischen Dingen immer voraus war, sah dies mit einem lachenden und einem weinenden Auge: „Wenn die Schloßmoarleit a beim Almobtrieb mittatn, kennt i die aufputzten Viecher außitreiben. Unser Kuah, die Schnepferl, und die andern Viecher hätten nocha das Heu, wos übrig bleibt, ganz allan!“ – „Und mia hätten eigene Rumpelnudeln, so vül ma wolln!“, war mein Beitrag zu dieser praktischen Feststellung. Als wir die Mutter in unsere Vorstellungen einweihten, meinte sie: „So wos derf ma net denken und scho gor net beim Schloßmoar sogn!“ Sie wird es heimlich wohl hundertmal ähnlich gedacht haben. Nach diesem Tag war es seltsam still im Graben geworden. Auf dem Schulweg trafen wir statt dem Milchführer Friedl höchstens den Jäger oder ein paar Grantenbrocker, die auf dem Weg zum Schafkogel waren. Wenn wir abends zur Baumgartnerhütte hinaufblickten, blieb dort alles dunkel, kein Ton einer Kuhglocke war mehr zu vernehmen, kein Vogelzwitschern und kein Kuckucksruf. Um die Grabenhäuser herum war aber geschäftiges Treiben.

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Ernten Im Sommer galt es, die Wiesen zu mähen und das Heu einzuführen, Holz für den Winter an der Stallwand aufzustapeln, später dann die Gerste und bei manchen Grablern den Hafer zu mähen, zu Garben zu binden und diese zu „Tocken“ aufzustellen, einzuführen und zu dreschen. Die Mutter ließ stolz die Körner zwischen den Fingern durchrinnen und malte sich aus, wie lange sie mit dem Getreide für Hühner und Schweine auskam, wenn sie einiges auch für den menschlichen Gebrauch zu Mehl vermahlen ließ. Nun kam die Erdäpfelernte. Dafür wünschte sich die Mutter einen sonnigen Tag. Der Erdäpfelkeller war ausgekehrt, der Rest der vorigen Ernte hatte in einem kleinen Eimer Platz, manches Mal waren die Erdäpfel aber auch längst verbraucht. Das bereits trockene Kartoffelkraut war schon Tage vorher ausgerauft und auf einen Haufen geschichtet worden. In dem Jahr, in dem der Vater starb, musste die Mutter bei der Arbeit auf unsere Mithilfe zählen. Sie trug uns auf, nach der Schule eiligst nach Hause zu kommen. Diesmal hielten wir uns daran. Die Mutter hatte bereits zeitig am Morgen begonnen, die Erdäpfel auszugraben. Nach einem eiligen Mittagessen ging es weiter. Für uns hieß es, die ausgegrabenen Erdäpfel, die in der Sonne glänzten, in Säcke zu klauben und einen Sack nach dem anderen zu füllen. Die Sonne war längst untergegangen, Nebel zog den Graben herauf, und die Kälte brannte auf den nackten Füßen, als die Mutter das erlösende Wort sprach: „Gnuag is.“ Den Rest wollte sie am nächsten Tag alleine ausgraben und klauben. Als sie daranging, das trockene Erdäpfelkraut anzuzünden, war unsere Müdigkeit verflogen. Wir legten Kartoffeln so ins Feuer, dass sie nicht verbrannten, sondern nur außen allmählich eine schwarze, verkohlte Schicht bekamen. Auf einem Kartoffelsack sitzend, streckten wir die klammen Füße beim wärmenden Feuer aus, spürten, wie die Wärme aufstieg und die Hände erfasste. Mit Ungeduld warteten wir auf den ersten gebratenen Erdapfel, entfernten die verkohlte Schicht, genossen Geruch und 183

Geschmack gleichermaßen. Wir aßen einen nach dem anderen und fühlten uns auf dem kleinen, warmen Platz am Feuer in der Nähe der Mutter geborgen. Die Finsternis und Kälte rundherum, die Unsicherheit des weiteren Lebens vor einem langen Winter schienen in diesen Minuten auch von der Mutter abgefallen zu sein. Sie sang ihr Lieblingslied, „Da Summa is außi“, und hieß uns beinahe sanft, noch schnell die Aufgabe zu machen, währenddessen sie die Kuh melken werde. Am nächsten Tag, als wir von der Schule heimkamen, war der Rest des Erdäpfelackers abgeerntet. Die Mutter war dabei, eine letzte Kontrolle zu machen, ob kein fauler Erdapfel dabei war, der die anderen „anstecken“ konnte. Nun war beinahe alles abgeerntet, der Erdäpfelacker lag ebenso brach da wie das Gerstenfeld, nur die Rüben steckten noch in der Erde. Die Astern, die der Reif übrig gelassen hatte, streckten ihre Köpfe in die Herbstsonne. Immer auf der Suche nach etwas Essbarem, kosteten wir, trotz des Verbots der Mutter, gelegentlich auch die nicht genießbaren, aber häufig kräftig leuchtenden Beeren – giftige waren nie darunter. Manchmal fand sich eine verspätete Himbeere auf einem Strauch oder Erdbeeren am Wegrand und reife Haselnüsse. Wir versuchten es aber auch mit Essigbeeren, Moschbeeren und Hagebutten; allen war gemein, dass sie vor dem ersten Reif hart und sauer waren. Schulkinder, vornehmlich jene von der Sonnseite, hatten Äpfel und Birnen zur Schuljause mit. So kamen wir nicht selten in die glückliche Lage, einen Apfel geschenkt zu bekommen oder im Tausch für einen Farbstift oder gar ein Haarspangerl; beides sah die Mutter nicht gerne. Eine Schulfreundin, deren Mutter die Halbschwester vom Baumgartner war und Zugang zum Obstgarten hatte, ging eines Herbsttages mit mir ein Stück des Weges. Auf meine Frage, wohin sie ginge und was sie im Topf trage, antwortete sie, dass es Apfelschalen seien, die sie der Frau Steiner bringe für ihre Hasen. „Für die Hasen?“, fragte ich ungläubig. „Magst du sie?“, fragte sie zurück. Und ob ich wollte! Sie leerte alle in meine Schürze, verabschiedete sich und lief zurück. 184

Als ich das Dorf hinter mir gelassen hatte, setzte ich mich an den Wegrand, aß einige Schalen und teilte die anderen für die Wegstrecke auf. Dies war einer der seltenen Tage, wo ich ohne Hunger zu Hause ankam. Der Ziehbruder, der schon zu Hause war, wunderte sich darüber. Als er den Grund für mein Sattsein erfuhr, wusste er nicht so recht, ob er nächstes Mal vielleicht auch etwas davon haben wollte. Ich jedenfalls liebte diese „Essensquelle“ und konnte auch weiterhin nie verstehen, warum Äpfel abgeschält werden mussten. Ging das Jahr auf Allerheiligen zu, mussten auch die Rüben geerntet werden und alles Holz, das nur zu Brennholz taugte, vor dem Stall und vor der Waschhütte aufgeschlichtet sein. Die Bauern hingegen schlichteten ihr Holz meistens auf einem eigenen Holzplatz am Wegrand auf, wo es ordentlich austrocknen konnte, teilten es ein in Bauholz, das verkauft wurde, und in Brennholz, das weniger wertvoll war. Weil es so spät im Jahr nur mehr spärlich Gras als Futter für das Schwein zu mähen gab, mussten schon Rüben und Kartoffeln aus dem Vorrat gekocht werden, sollte es bis Weihnachten genug Speck ansetzen. Wir trugen schon lange die kratzigen Wollstrümpfe, Buben und Mädchen gleichermaßen. Lange Hosen – abgesehen von der Schihose – erhielt mein Bruder erst, als wir schon im Dorf wohnten. Die Schuhe waren im Herbst häufig zu klein geworden, und neue waren schwer zu bekommen, davon habe ich bereits erzählt. Nach Allerheiligen tat die Mutter geheimnisvoll, sperrte Kästen ab, verbot uns, nach dem Schlafengehen noch einmal in die Küche zu kommen, kaufte mehr Petroleum als sonst. Später erst erfuhren wir, dass beinahe alle Weihnachtsgeschenke in den Wochen nach Allerheiligen hergestellt wurden. Im Graben war es im fortschreitenden Herbst noch stiller geworden. Die Väter waren wochentags im Holzschlag, die Mütter in Haus und Stall beschäftigt. Wir Kinder kamen oft erst von der Schule nach Hause, wenn es schon dämmerte. Es war die Zeit, wo wir uns häufig im Haus aufhielten, im Heu spielten oder im Stall. 185

Im Spätherbst wurde es im Graben winterlich, der Wind heulte in den Baumwipfeln. Ich höre die Mutter sagen: „Es is Zeit, dass der Schnee kimmp, des is ka Sein bei dem Wind!“ Als ich jedoch den Wunsch äußerte, dass der Schnee bald kommen möge, lautete ihr Kommentar: „Dumms Dirndl, host vorigs Johr net gnuag ghobt vom langen Winter mit der Költn?“ Hatte sie vergessen, dass sie vor ein paar Tagen noch den Schnee dem Wind vorgezogen hatte?

Winter Der Winter kam vor der Zeit. Wenn am 23. November die Holzknechte ihren Schutzheiligen, den heiligen Klemens feierten, wurde im Dorf noch einmal getanzt. Zur Klementifeier, die jedes Jahr am 23. November beim Baumgartner stattfand, gingen die Grabler schon auf dem festgefrorenen Weg ins Dorf, und eine Woche darauf schneite es. Wir drückten die Nase an das Küchenfenster und sahen zu, wie die weiße Pracht langsam alles überzog. Am Abend zerrte ich den Schlitten aus seinem Sommerquartier, denn am nächsten Morgen sollte es pfeilschnell auf dem Grabenweg hinaus zur Schule gehen – dachte ich. Der große Ziehbruder räumte den Schlitten wieder auf seinen Platz zurück und bemerkte ärgerlich: „Willst, dass die Kufen glei hin san?“ Dass dies nicht geschehen durfte, wurde mir schnell klar. Also blieb der Schlitten vorläufig noch im Trockenen. Zum ersten Mal durfte aber die Schihose angezogen werden. Darunter trug man die dicken, handgestrickten Wollstrümpfe, die genauso bissen wie die Schafwollhaube. Da half kein Kratzen, man musste sich einfach daran gewöhnen. Beim Schultor stand bereits die gestrenge Frau Pertuch, unsere Schuldienerin. „Dass’ die Schuach jo ordentli obstreifts, glaubts, i renn jedn Einzelnen noch!“ Sie war über den frühen Wintereinbruch genauso wenig erfreut wie die Lehrerin, der Einräumer und unsere Mutter. Aber alle diese kritischen Stimmen in Bezug auf Winter und Schnee konnten meine Freude über die neue Pracht nicht bremsen. 186

Der Nachhauseweg war aber dann doch recht anstrengend; der Schnee war zwar nur schuhtief, aber noch nicht festgetreten und nass. Er kroch in die Schuhe hinein, durchnässte die Strümpfe und ließ die Zehen langsam zu Eiszapfen werden. Ich weiß nicht mehr, was mehr schmerzte, die Kälte und die Nässe oder doch die Müdigkeit, die mich beschlich. Nur kurz wollte ich mich an den Wegrand setzen. Der große Ziehbruder, der Stunden später des Weges kam, nahm mich mit nach Hause, nicht ohne mir eine Strafpredigt zu halten wegen des Erfrierens und so. Es sollte noch viel Schnee fallen in diesem Winter 1946/47.

Vorweihnachtszeit Vom Unterschied zwischen dem astronomischen und dem meteorologischen Winterbeginn wurde damals noch nicht gesprochen. Dezember war Winter! Er war mit Heiligengedenktagen gefüllt. Dem heiligen Franz Xaver verdankten viele Leute im Dorf ihren Namenstag, vornehmlich jene, die nicht auf den heiligen Franziskus „zurückgetauft“ werden durften, was bekanntlich Unglück bedeutete. Die heilige Barbara, deren Name am 4. Dezember im Kalender stand, hatte bei uns nicht die Bedeutung wie in Bergbaugebieten, wohl aber wusste jeder über den Brauch Bescheid, am Barbaratag Kirschzweige einzufrischen. Blühten sie zu Weihnachten, würde es im nächsten Jahr in der Familie eine Hochzeit geben. Wir besaßen keinen Kirschbaum, und niemand war im Heiratsalter. Dass gewisse Bedingungen bei uns gar nicht vorhanden waren, hielt mich aber nie davon ab, in Sprichwörtern und Zukunftsdeutungen die absolute Wahrheit zu sehen, die man nicht anzuzweifeln hatte. Ich glaubte an das Eintreffen der Vorhersagen mit derselben Sicherheit, mit der die Nacht dem Tag folgte. Den selbstverständlichsten Platz in der Reihe der Heiligen nahm der heilige Nikolaus ein, wenn er seine Wichtigkeit auch mit einem weniger heiligen Gesellen teilen musste. Meine Frage, warum der Krampus nicht im Kalender stehe, trug mir ei187

nen strengen Blick unseres Pfarrers ein. Mit dem Thomastag begannen die Rauhnächte, wie die Mutter sagte, eine Zeit, in der man sich nichts zuschulden kommen lassen dürfe. Was damit gemeint war, konnte ich damals nicht im Detail ergründen. Denke ich zurück, fällt mir auf, dass ich nicht nur von einem starken Wunderglauben beseelt, sondern auch von einem „Nutzendenken“ geprägt war. Das brachte es mit sich, dass mir zum Beispiel alle Kinder, die den Namen Adam oder Eva trugen, leidtaten, weil sie am 24. Dezember ganz sicher kein Namenstagsgeschenk erhielten, da doch an diesem Tag das Christkind an der Reihe war. Der Advent hinterließ keine Spuren in meiner Erinnerung. Die Dorfleute gingen vereinzelt zur Roratemesse in die Pfarrkirche, uns war der Weg zu weit. Ich erinnere mich auch an keinen Adventkranz in unserem Haus, um den herum wir gesessen wären und gesungen hätten, wohl aber an jenen in der Kirche: Ich hätte gerne einmal gesehen, wie so hoch oben die Kerzen angezündet wurden. Das erlebte ich nie, weil wir häufig zu spät in die Kirche kamen. Ich bemaß die Tage bis Weihnachten nicht am Abbrennen der Kerzen am Adventkranz, sondern eher an ganz weltlichen und handfesten Dingen wie der Geschäftigkeit der Mutter, an ihrer Heimlichtuerei, am Vorbeiziehen des Krampustages, an der Weihnachtsdekoration der Auslage beim Kaufmann Wieser, an den weihnachtlichen Sätzen in meinem Schreibheft. Die Erwachsenen schien eine allgemeine Unruhe erfasst zu haben, vornehmlich die Mütter. Sie reinigten, was ihnen unter die Finger kam, und ließen uns Kinder reichlich an dieser Arbeit teilhaben. So gründlich fiel der Weihnachtsputz aber nie mehr aus wie im Jahre 1947. Ich erinnere mich an einen Tag bald nach dem Krampustag. Wir sollten vom Kaufmann Wieser Brot, Zündhölzer und ein halbes Kilo Soda heimbringen – kein ungewöhnlicher Auftrag, wenn in meinem Bruder nicht die Frage aufgetaucht wäre, wer denn das alles tragen soll. Vielleicht jeder die Hälfte, aber wo lag die Hälfte? Wir einigten uns, dass mein Bruder die Schulsachen trug und ich den Einkauf. Das mehrmalige Umpacken bei Schneefall 188

brachte es mit sich, dass die Mutter, als wir endlich zu Hause ankamen, meiner Schultasche ein mit Soda vermischtes, aufgeweichtes Brot und ebenso aufgeweichte Zünder entnahm. Ein Laugengeruch zog durch das Haus, das Brot wurde nicht einmal den Tieren zugemutet, die Zünder wurden zum Trocknen aufgelegt. Mit Soda und Bürste „durfte“ ich nun alles abreiben, was die Mutter als schmutzig empfand, und das war alles, was im Haus stand und lag. Ich rieb und schwemmte, legte Kochlöffel, Schneidbretter und Kochtöpfe zum Trocknen auf, drehte Sessel und Laden um, nicht ohne einige Dinge nur nass zu machen, wenn sie in meinen Augen ohnehin neu aussahen. Warum hatte ich den Einkauf nicht unversehrt nach Hause gebracht? Selten bescherte mir Putzarbeit ein Erfolgserlebnis, diesmal aber war es so. Die Mutter lobte und ermahnte mich gleichzeitig, künftig besser aufzupassen. Mein Bruder werkte im Stall, striegelte die Tiere mit ruhiger Hand, sprach mit ihnen und diesmal auch davon, wie streng die Mutter sei, wegen ein bisschen Brot, das nun ungenießbar geworden war. Er wurde sichtlich von den Tieren verstanden und geliebt. So war das Malheur mit Brot und Soda zum Anlass geworden, dass Haus und Stall vor der Zeit im weihnachtlichen Glanz erstrahlten. Am Heiligen Abend schloss die Mutter schließlich die Putzorgie mit der gründlichen Wäsche unserer Körper ab. In der Schule lernten wir Weihnachtslieder wie „O Tannenbaum“, „Leise rieselt der Schnee“, „Ihr Kinderlein kommet“ und „Stille Nacht“. Sie wurden so häufig gesungen, dass wir sie bald auswendig konnten. Die Strophen von „O Tannenbaum“ und „Stille Nacht“ kann ich wohl bis ans Ende meiner Tage auswendig singen. Dafür sorgte das damalige Fräulein Wess, unsere Lehrerin, die die eigenartige Gabe besaß, Wörter von unseren Mündern abzulesen und – was noch erstaunlicher war – stumme oder sich unmerklich verziehende Münder als nicht singende zu erkennen. Also half es nichts, sich auf eine ungefähre Mundbewegung zu beschränken. Es wurde erkannt und geahndet. Hätte nur auch später eine Lehrperson diese eigenar189

tige Gabe des Ablesens beherrscht, wie viel mehr Texte hätten sich in meinen Kopf festgesetzt. Gewöhnlich war einen Tag vor dem Heiligen Abend der letzte Schultag. In jeder Klasse stand ein geschmückter Christbaum, vor dem alle gelernten Weihnachtslieder, allen voran „Stille Nacht, heilige Nacht“, gesungen wurden. Die Süßigkeiten vom Christbaum wurden vor dem Nachhausegehen an die Kinder verteilt. Wie vor dem Heiligen Abend ein Christbaum in die Schulklasse kam, wo doch das Christkind erst am 24. seinen großen Tag hatte, kümmerte mich nicht weiter, wohl aber, wie Weihnachten in einer Geschichte von Peter Rosegger beschrieben wurde. In der dritten Klasse wird es gewesen sein, wir lasen in der Schule die Geschichte „Als ich die Christtagsfreude holen ging“. Ich muss wohl die dumme Frage gestellt haben, wie denn der Herr Rosegger wissen konnte, wie es bei uns zu Weihnachten ist. Die Antwort des gestrengen Fräuleins war: „Bei euch zu Hause ist Weihnachten, wie es bei Rosegger war, und nicht umgekehrt!“ Nun wusste ich, was ich eigentlich gar nicht wissen wollte: Unser Graben war nicht so einzigartig. Es ging dort zu wie in anderen Gräben auch, also auch bei dem Dichter Rosegger, der schon längst gestorben ist, wie das Fräulein sagte. Was sie aber nicht wusste, dessen war ich mir ganz sicher: Das Fräulein wusste nicht Bescheid über den Georgnergraben. Wie hätte sie ihm sonst seine Einzigartigkeit absprechen können!

Heilige und unheilige Gestalten Möchte man neben dem Heiligen Abend einen bedeutsamen Tag hervorheben, ist es beileibe nicht der Tag des heiligen Nikolaus, sondern ein recht unheiliger: der 5. Dezember, der Krampustag. Schon am Morgen beschlich mich ein seltsames Gefühl, das zwischen Angst und Erwartung lag. Alle unheilschwangeren Ankündigungen meiner Mutter fielen mir ein, die während des Jahres in dem Ausspruch gipfelten: „Passts nur auf, waun der Krampus kimmp!“ Sie multiplizierten sich und legten sich wie 190

ein eiserner Reif um mein Inneres, verstörten mich, ließen mich aber nicht folgsamer werden, sondern lauter, lästiger – vorlaut eben, wie es das Fräulein Wess zu bezeichnen pflegte. Ich besuchte die erste Klasse, erste Abteilung, als ich am morgendlichen Schulweg, der noch im Dunkeln lag, den Krampus hinter jedem Baum lauern sah und deutlich die Kette rasseln hörte. Ich muss meine Ängste wohl laut gedacht haben, weil mir auch Antworten meines großen Ziehbruders in den Sinn kommen: „Hiatz hör amol auf mit de Gschichten, do auf’n Weg gibt’s kan Krampus und überhaupt, es is hiatz in da Fruah, do kimmp a net!“ Die Antwort könnte mich ja beruhigt haben, wenn da nicht die Ankündigung des Fräuleins in meinem Kopf herumgespukt wäre: „Der Nikolaus weiß ganz genau, wer Fettflecken auf dem Heft hat und immer schwätzt.“ Was nützte es, wenn sie vom Nikolaus und nicht vom Krampus sprach, wenn es die beiden nur im Doppelpack gab? In der Klasse war es am Krampustag auffallend still, auch die, welche zum Anwärmen um den Ofen saßen, schwiegen heute, sie verzichteten aufs Weinen und Jammern. Beim leisesten ungewohnten Ton ging ein ängstliches „Hiatz kimmp a!“ durch die Bankreihen. Die Hefte lagen aufgeschlagen auf der Bank, heute sollte wohl die ohnehin gestrenge Beurteilung der Lehrerin durch die des noch strengeren Nikolaus ersetzt werden, oder vielleicht doch durch die des Krampus? Nein, der Krampus würde keinen Haken in mein Heft machen – er konnte es nicht. Wo täte er denn seinen Sack hin? Und die Kette würde er nie und nimmer fallen lassen! Weiter kam ich nicht in meinen stummen Erörterungen, als sie plötzlich da waren. Kein Kettenklirren hatte sie angekündigt. Es schien, als hätte der Nikolaus dem Krampus, der gerade noch von einem Fuß auf den anderen gehüpft war, eine Rüge erteilt. Er stand auf einmal still. Wir standen auch still, bewegungslos, den Kopf demütig gesenkt. Auf Geheiß beteten, nein, plärrten wir gemeinsam das Vaterunser, als ob dies die kommenden Strafen von uns hätte fernhalten können. Den Kopf vorsichtig gehoben, hatte ich Zeit, die beiden Gestalten zu betrachten: Der Nikolaus in einem unwirklich glän191

zenden weißen Kleid und einem ärmellosen, rot und gold glänzenden Überwurf, der dem Messgewand des Herrn Pfarrers täuschend ähnlich sah. Die Mütze sei eine Bischofsmütze, sagte die Frau Lehrerin, und auch der Stab wäre von ihm geliehen. Den Krampus anzuschauen vermied ich, zu gefährlich schienen mir seine Blicke, nur: Wie kam es, dass im vorigen Fasching einer von den jungen Bauernburschen vom Wetzelsberg genauso aussah? Verwegene Gedanken, die es immer abzutöten galt, wie der Herr Pfarrer betonte. Hintereinander wurden wir vom Nikolaus aufgerufen, gelobt oder mit erhobenem Zeigefinger getadelt. Als der Heli, ein kleiner, flinker Bub, an der Reihe war, tat der Krampus einen Satz nach vorne, ergriff ihn und ließ die Rute auf seinen Rücken niedersausen. Heli schrie nicht und weinte nicht. Als der Nikolaus mit tiefer Stimme ein „Genug!“ in Richtung Krampus sprach, zog dieser die Rute zurück. Heli blieb geduckt stehen. Später erfuhr ich, dass er Schläge gewohnt war und sich das Weinen und Schreien – was wir taten, wenn es Schläge gab – abgewöhnt hatte. Es hatte ihm nur noch mehr Strafen eingetragen. Ich erinnere mich an keine weiteren Worte des Nikolaus, nur, dass ich den geschenkten Apfel und die Nuss nach Hause trug und verwundert zu Hause erzählte, dass auch Heli einen Apfel erhalten hatte, trotz der Schläge. Er hatte den Apfel in der Pause gleich aufgegessen und war dabei vergnügt. Freude und Leid lagen damals ganz eng beieinander, wir verschwendeten sichtlich keine Zeit auf Traurigkeit, sondern waren bemüht zu ergreifen, was sich uns bot. Es war Mittag geworden. Nach der vierten Stunde machte ich mich allein schnell auf den Heimweg, der große Bruder hatte bis ein Uhr Schule. Es schien, als ob es an diesem Tag früher als sonst dunkel würde. Zu Hause baten wir die Mutter schon „am helllichten Tag“, doch die Petroleumlampe anzuzünden, wohl, weil wir das Warten auf das ungleiche Paar nicht mehr ertragen konnten. An all den Krampustagen im Graben, an die ich mich erinnere, hätte mein kleiner Ziehbruder sich nicht fürchten müssen, der Nikolaus stellte immer befriedigt fest, dass er ein braver, folgsamer Bub sei. Ich vernahm nichts dergleichen. Mei192

ne Unarten, mein Hang zu zerrissenen Strümpfen, gelegentlichen Lügen und schlecht abgewaschenem Geschirr hatten sich immer bis zum Nikolaus herumgesprochen. Am Krampustag des folgenden Jahres, also 1947, muss ich wohl etwas ganz Ungehöriges gesagt haben, weil die Mutter gar so erzürnt war und mich in den Stall verbannte, wo ich genug Zeit hätte, über meine Fehler nachzudenken. Als es bereits dunkelte, holte sie mich in die Küche zurück. Der große Ziehbruder war verschwunden, wohin, das wusste die Mutter nicht. So saßen Walter und ich ohne seinen beruhigenden Zuspruch verängstigt da. Die Blicke lenkten wir abwechselnd auf das Herdfeuer, das den Raum spärlich erhellte, dann wieder in Richtung Türe, durch die Krampus und Nikolaus kommen würden. Die Tür war kaum auszunehmen, nachdem die Mutter die Petroleumlampe in den Stall mitgenommen hatte und uns so zu aller Not noch der Finsternis aussetzte. In die Stille hinein ertönte plötzlich ein Kettenklirren. Der Krampus sprang herein, die Mutter leuchtete dem Nikolaus den Weg und bat ihn, beim Herd stehen zu bleiben. Wir begannen unaufgefordert zu beten, äugten auf den Sack des Nikolaus und ängstlich auf die Kraxe des Krampus. Sein Gesicht glänzte wie Wagenschmiere, den Körper bedeckten verschieden lange Felle, bei genauer Betrachtung schauten zwei ungleich große Schuhe hervor, einer war mit Spagat zugeschnürt, wie es der große Bruder zu tun pflegte, wenn die Schuhbänder gerissen waren. In Sekundenschnelle schossen mir diese Gedanken durch den Kopf, um gleich wieder der Überzeugung Platz zu machen, dass der Krampus geradewegs der Hölle entsprungen war, die sich zweifellos unter den Kempföfen befand. Ich habe mir nicht gemerkt, was der Nikolaus, nachdem wir geschwind noch ein Vaterunser und ein Gegrüßet-seist-du-Maria hervorgestottert hatten, alles zu sagen hatte. Nur den einen Satz habe ich mir für ewige Zeiten eingeprägt: „Dich“, und da meinte er fraglos mich, „wird heute der Krampus mitnehmen!“ Während er nun, den Finger über die Seiten führend, alle meine Sünden aufzählte, stellte der Krampus die Kraxe vor mich hin und machte mit der rechten Hand, die auch die Kette hielt, 193

eine Bewegung, die nur bedeuten konnte: „Steig hinein.“ Als es mir nicht gelang, mich hinter den Holzscheiten zu verstecken, erfolgreich an der Tür und am Fensterkreuz zu rütteln, und ich schließlich unter dem Tisch Schutz suchte, begann Walter heftig zu weinen. Begütigend sprach der Nikolaus auf ihn ein, dass er sich nicht fürchten müsse, er sei ja brav gewesen, da rief er dem Nikolaus zu: „Loss die Lisi do, loss sie do, bitt schen, loss sie do!“ Krampus und Nikolaus hielten inne, und eine kurze Stille legte sich über den Raum. Eine Stille, wie ich sie mir auch beim Jüngsten Gericht, das der Herr Pfarrer aufgrund unseres so fehlerhaften Kinderlebens häufig heraufbeschwor, äußerst dramatisch vorstellte. Dann befahl der Nikolaus dem Krampus, die Kraxe wieder auf den Rücken zu nehmen, er wolle die Bitte des kleinen Bruders erfüllen – diesmal noch. Während dieser bangen Minuten war die Mutter still dabeigestanden. Sie, die in ihrer Kinderzeit dem Krampus immer schutzlos ausgeliefert gewesen war, hatte wohl seine Erziehungsgewalt in schwierigen Situationen, wie mein Verhalten es darstellte, auf ewige Zeiten anerkannt. Als sich die beiden Gestalten verabschiedeten, mussten wir uns für ihr Kommen bedanken. Wir taten es. Ich empfand eine große Erleichterung darüber, dass der Nikolaus so gütig war, und war weit davon entfernt, sein Verhalten und das der Ziehmutter anzuzweifeln. Sie kamen in meinem Verständnis gleich nach dem lieben Gott und vereinten alle guten Eigenschaften, von denen ich mich weit entfernt wähnte. Als wieder Ruhe eingekehrt war, aß ich zum zweiten Mal an diesem Tag einen roten, glänzenden Apfel, einen Nikolausapfel eben. Ich war mit dem Schicksal versöhnt und machte mich daran, die Schuhe auf Hochglanz zu bringen, auf dass er mir in der Nacht als Zeichen seiner Güte etwas einlege. Das tat er denn auch. Am nächsten Morgen lagen in den sorgsam geputzten Schuhen kleine Geschenke und eine Rute, die wir der Mutter zu geben hatten. Sie sollte im kommenden Jahr ihre Dienste tun. Die Angst war verflogen, ich hütete die Geschenke, biss vor dem Schulgehen vom Semmelkrampus ab – es war alles noch einmal gut ausgegangen. 194

Diese Tage mit der großen Angst und dem Ausgeliefertsein sind mir in Erinnerung geblieben. Die Jahre haben sich darübergelegt wie eine lindernde Salbe, und sie erlauben mir nun auch einen frohen Blick zurück.

Die Weihnachtsauslage „Geh mit, beim Wieser haum s’ die Auslag nei eigramt“, ließ die Traude verlauten, wartete gar nicht meine Zustimmung ab, sondern zog mich vorwärts, geradewegs auf die Straße hinaus. Dort standen schon andere Schulkinder herum, die beim Pausenläuten aus den Klassen gekommen waren. Die Neuigkeit hatte sich schnell verbreitet, so zogen wir, nicht gerade in einer Zweierreihe, Richtung Wieser, um die neue Auslage zu bestaunen. Es war die Weihnachtsauslage, die dieses Interesse erweckte. Sie war hoch wie ein Kirchenfenster und so breit, dass wir Kinder leicht zu zehnt nebeneinander stehen konnten, wenn wir es nur getan hätten. Nein! Wir drückten unsere Nasen an der Scheibe platt und schupften uns gegenseitig, um nur ja nichts zu übersehen. Beinahe hätte die Freude an all den ausgestellten Herrlichkeiten ein jähes Ende gefunden. Durch unser Geschupfe und Gedränge aufmerksam geworden, kam die Frau Gebhart, eine wegen ihrer Größe beeindruckende Frau, die ganz in der Nähe wohnte, näher und bemerkte sofort, dass hier bald einmal die Scheiben klirren würden. „Hiatz schauts aber, dass’ weiterkemmps, Lausfrotzn, wer soll denn des zohln, waun die Scheiben springen von derer Drängerei!“ Sprach’s, stemmte die Arme in die Seite und wartete. So schnell wir konnten, entfernten wir uns in Richtung Friedhof und blieben dort lauernd stehen. Frau Gebhart richtete sich zum Gehen, indem sie uns noch eine moralische Aufmunterung zurief: „Derfts jo schaun, aber net so wild, hintereinander gehts zuwi und wünschts as eich vom Christkindl, wos eich gfolln hot!“ So machten wir es auch, einige zumindest. Was gab es da alles zu sehen! „Schauts, a kloane Sog für Kinder“, erklärte Heinz 195

den Umstehenden. „Des is ka Kindersog, des is a Laubsäge zum Figurenausschneiden“, korrigierte Seppi fast feierlich. Er musste es wissen, sein Vater konnte allerhand basteln. Daneben lagen Bausteine, in mehreren Farben bemalt, ein papierener Ausschneidebogen für eine Puppe mit den dazugehörigen Kleidern, ein Holzkreisel und – was uns alle magisch anzog – eine Maus aus Blech mit einem Schlüssel zum Aufziehen. Dann gab es noch Taschentücher und braune Baumwollstrümpfe, jene, die nicht kratzten, dünn und fast glänzend waren. Sich die zu wünschen wäre nutzlos gewesen, sie waren zu teuer und viel zu groß. Wir stellten häufig fest: „Des is z’ teuer.“ Aber: Warum stellten wir solche Überlegungen an, wenn wir doch fast alle noch ans Christkind glaubten? Ich weiß es nicht. An der Auslagenwand war Packpapier mit wunderschön aufgemalten Tannenzweigen angebracht. Sonderbar, das Christkind verwendete jedes Jahr das ganz gleiche Papier für die Pakete. Dann lag noch Essbares in der Auslage, unerschwinglich, wie die Mutter später sagte. „Mit echtem Bohnenkaffee“ stand auf einem Sackerl, „Kakao“ war auf einem anderen zu lesen. Es gab noch einige andere Dinge, die ich nicht mehr zu benennen weiß, ja, ich glaube, auch damals nicht zu benennen wusste. Als wir der Mutter zu Hause davon erzählten, meinte sie: „Vielleicht hilft’s was, wauns eich vom Christkindl davon wos wünschts.“ Viel verstanden wir nicht von ihren Erklärungen, das machte aber nichts. Es störte uns weiter nicht, dass in unseren Köpfen die krause Vorstellung von einem Christkind auftauchte, das einerseits über alle Herrlichkeiten in der himmlischen Werkstatt verfügte, andererseits aber doch wieder beim Wieser einzukaufen schien. Die Auslage blieb bis in den Jänner hinein gleich, sie verlor auch nicht unsere Aufmerksamkeit. Häufig verglichen wir Dinge, die dann tatsächlich in der gleichen Ausführung unter dem Christbaum lagen. „Do brauchst di net wundern“, meinte der um zwei Jahre ältere Sigi, „der Wieser hot immer mehr davon!“ Dass er das Christkind nicht erwähnte, wird wohl daran gelegen sein, dass er längst nicht mehr an selbiges glaubte, sondern an die meist schmalen Geldbörsen der Eltern. Wir Jüngeren je196

denfalls hielten es noch einige Zeit mit unserem Kinderglauben, wo das Wünschen noch unkontrolliert erlaubt war.

Holzführen und Schlittenfahren Wenn der Schnee hoch genug lag, wurden beim Baumgartner schon früh am Morgen bis zu sechs Pferdepaare eingespannt, die das geschlägerte Holz aus dem Graben heraus zur Säge führten. Zwei Pferde zogen jeweils einen kleinen Pferdeschlitten, auf dem etliche Ketten mit großen eisernen Haken hingen. Waren die Fuhrwerke bei einem der zahlreichen Holzstöße im Graben angekommen, wurde auf dem Schlitten eine Reihe von Blochen mit den Ketten gut befestigt. Zusätzlich wurden die Haken in einzelne Bloche hineingeschlagen, mit den Ketten am Schlitten angehängt und hinterhergezogen. Das Aufladen des Holzes war nicht nur anstrengend, sondern dauerte auch lange. Der Schnee hatte sich in kleinen Klumpen an die Gamaschen, an die Hüte oder Hauben der Knechte geheftet. Der Atem gefror zu kleinen Kristallen, die sich in ihre Bärte legten. War fertig aufgeladen, zog ein Pferdepaar eine lange Fuhre aus dem Graben hinaus. Auf steilen Strecken bergab mussten die Pferde zurückgehalten werden, damit sie nicht, von der Last vorwärts geschoben, in immer schneller werdender Fahrt in den Abgrund gerissen wurden. Ich habe noch die Ermahnungen der Mutter im Ohr, die sie uns während des Winters auf den Schulweg mitgab: „Passts auf, dass’ die Glockn net überhörts, springts auf d’ Seiten außi und wartets im Schnee, bis olle Ross vorbei san!“ Es war noch stockdunkel, als schon von ferne die Glocken der Pferde hörbar wurden und bald auch ein kleiner Lichtschein zu sehen war. Mein großer Ziehbruder riss dann unseren Schlitten hoch und schob mich in den tiefen Schnee. Kaum hatte ich dort Halt gefunden, erschien über mir ein Pferdekopf, noch einer und wieder einer. Wie im Takt bewegten sie die schweren Köpfe auf und ab, aus den Mäulern und Nüstern dampfte es. Nachdem alle Gespanne vorbeigezogen waren, war ich vor Angst wie er197

starrt und stolperte ungeschickt auf den Weg zurück, als ich die Stimme des Bruders vernahm, der mir ein kurzes „Aufsitzen!“ zurief. Dann ging es weiter Richtung Schule. Karl steigerte die Geschwindigkeit des Schlittens manchmal noch dadurch, dass er sich mit Schlittschuhen an den Füßen auf den Schlitten setzte und mit den Kufen den glatt gepressten Schnee noch „gführiger“ machte. In der Schule angekommen, wurde die Kälte erst richtig spürbar. Das Gesicht brannte, die Finger und Zehen waren klamm geworden. Die warme Luft in der Klasse erzeugte „Groanägl“, einen starken Schmerz in den Fingern, der erst durch ihr Eintauchen in lauwarmes Wasser nachließ. Nicht selten weinte die halbe Klasse, wenn sie zum Anwärmen um den Schulofen saß, weil viele Kinder einen weiten Schulweg hatten und kaum genügend warme Kleidung besaßen. Es muss einer der kältesten Tage im Winter 1946/47 gewesen sein, der Schnee unter den Kufen knirschte so laut, dass ich nicht verstehen konnte, was mein großer Ziehbruder mir während der Fahrt zurief. Er konnte den Schlitten auf dem glatten, gefrorenen Schnee nicht mehr bremsen und wollte, dass ich mich noch besser an ihm festhielt und – so wie er – zum Bremsen vor einer Kurve die Füße in den Schnee stemmte. Ich hörte ihn nicht, hielt mich nicht fest und bremste nicht. An einer steilen Stelle flog ich vom Schlitten, landete beim E-Werk unsanft am Wegrand in der festgefrorenen Schneewand, Haube, Fäustlinge und Schultasche blieben im Schnee liegen. Nach dem Bruder zu rufen, stellte sich als sinnlos heraus. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er mich „verloren“ hatte, stellte den Schlitten im Schulhof ab und ging in die Klasse. Er suchte mich nicht und hoffte, dass ich schon nachkommen würde, was ich auch tat. Beim Waschen am Abend entdeckte die Mutter Abschürfungen auf meiner Haut. „Morgn is’ wieder guat“, befand sie und legte die feuchten Schulhefte zum Trocknen ins Rohr. Ich hatte Kopfschmerzen und das Gefühl, dass es mich ständig drehte. Davon wurde kein Aufhebens gemacht, das raue Leben erforderte das Einfügen in die Gegebenheiten – ausnahmslos. Davon waren wir alle überzeugt. 198

Als mein großer Ziehbruder Karl ausgeschult wurde, rückte der kleine Ziehbruder Walter 1947 in die erste Klasse nach, sodass ich nie allein ankam. Hatte sich der große Bruder, wenn er auch manchmal wegen meiner Ungeschicklichkeit fluchte, auf dem Schulweg um mich gekümmert, fiel nun mir die Aufgabe zu, dem kleinen Bruder in der Unbill eines kalten Winters beizustehen. Er war geschickt, sprang beim ersten Ton der Glocken auf die Seite und fand es unterhaltsam, das schnaubende Pferd über sich zu entdecken. Er ließ die Pferde mit den Schlitten vorbeiziehen, ohne sich je zu fürchten. Wenn wir das Glück hatten, die Pferdegespanne auf ihrer nachmittäglichen Fahrt in den Graben noch zu erreichen, erlaubten die meisten Fuhrknechte das Aufladen der Schultaschen auf den Pferdeschlitten. Unseren Schlitten durften wir anhängen, so konnten wir frei und leicht dahinter herlaufen. Manche Fuhrleute hatten Mitleid mit uns. „Sitzts holt auf, sunst kemmps jo gor nix weiter, de poar Kilo wird ’s Ross wohl da­ ziagn!“, erlaubten sie uns sogar das Aufsitzen auf den niedrigen Pferdeschlitten. Es gab an solchen Wintertagen keine größere Freude, als von Pferden gezogen werden. Das lange Stillsitzen auf dem Pferdeschlitten führte aber bald dazu, dass die Kälte in die Kleider kroch, die Füße und Finger gleichermaßen gefrieren ließ. Um das Privileg des Aufsitzens nicht zu verlieren, hätten wir jedoch die Pein der Kälte nie zugegeben. Häufiger kam es aber vor, dass die Pferde schon längst wieder auf dem Weg in den Graben waren, wenn nach der letzten Schulstunde die Glocke das Unterrichtsende ankündigte. Dann hieß es eben, den Schlitten nach Hause zu ziehen. Als wollten wir den langen Nachhauseweg hinausschieben, schlossen wir uns – trotz des guten Vorsatzes, schnell heimzugehen – freudig den Dorfkindern an, die ihre Schlitten den Grabenweg bis zum E-Werk-Häuschen hinaufzogen, dort umdrehten und lachend und gestikulierend bis zum Dorfbrunnen hinunterfuhren, immer und immer wieder – so lange, bis sie nach der Reihe mit strenger Stimme nach Hause gerufen wurden. Häufig machten wir uns erst auf den Heimweg, wenn sich das letzte Kind vom Weg entfernte und uns allein zurückließ. 199

Wir mussten dann die Wegstrecke beinahe zur Gänze in der Dunkelheit zurücklegen. Die Müdigkeit kroch in unsere Glieder, wir hatten Hunger und Durst. Wenn beim Ziehen des Schlittens die Finger vor Kälte steif wurden, stellte sich nicht selten ein bestimmter Unmut ein und Bedauern, dass wir so weit weg von den Freuden der Dorfkinder wohnten. Mein kleiner Ziehbruder weinte oft, was wiederum mich wütend machte, sodass ich ihn anschrie: „Rehr net, geh liaber schneller!“ Ich lief voraus, was zur Folge hatte, dass er immer mehr weinte. Dann tat er mir leid, meine Wut verwandelte sich in ein unbestimmtes Traurigsein und vermischte sich mit der Angst vor dem Zorn der Mutter, die spätes Heimkommen oft mit Schlägen bestrafte. Wenn wir zu Hause ankamen, war es bereits stockdunkel, die Kleidung war ebenso nass wie die Schuhe, die bis zum nächsten Tag kaum trocknen würden. Wenn die Mutter uns in diesem erbarmungswürdigen Zustand sah, hielt sie sich manchmal mit den Schlägen zurück und versuchte uns zu erklären, dass ständige Nässe zu Verkühlungen führte. Wir müssten doch bei dem langen Fernbleiben von zu Hause auch Hunger und Durst leiden, und sie wüsste nicht, wie sie neue Kleidung und vor allem neue Schuhe beschaffen sollte, wenn jene, die wir anhatten, vor der Zeit zerschlissen waren. Wir sahen alles ein, aber unser Versprechen, nie mehr so lange auszubleiben, hielt nicht. Zu verlockend war schon nach ein paar Tagen voll des guten Willens zur Besserung die Aussicht auf ein lustiges Zusammensein mit den Dorfkindern. Weder gutes Zureden noch Strafen konnten uns auf Dauer von der Notwendigkeit eines zügigen Heimgehens überzeugen. Die Einsamkeit im Graben muss schon sehr groß gewesen sein, wenn wir solche Strapazen auf uns nahmen. Wir konnten sie nicht in Worte fassen. Sie machte uns traurig, aber auch diesen Zustand konnten wir nicht deuten.

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Abstechen Eine gute Woche vor Weihnachten, um den Thomastag herum, sollte sich das Schicksal unseres Schweins erfüllen. Schon am Vorabend war in der Küche und im Stall sowie in der Waschhütte ein geschäftiges Treiben zu bemerken. Der Dämpfer musste bis oben mit Wasser gefüllt und davor ein ganzer Holzstoß aufgeschlichtet werden, damit das viele Wasser erhitzt werden konnte, das für die Schlachtung nötig war. Der „Haartrog“ wurde vor dem Stall aufgestellt und sicher noch eine Reihe anderer wichtiger Dinge bereitgelegt, an die ich mich aber nicht mehr erinnern kann. Vielleicht auch deshalb, weil die Mutter das erst tat, wenn wir in der Schule waren. Bestimmt wollte sie Walter nicht erschrecken, der immer traurig und verstört war, wenn den Tieren Unheil drohte. Außer Schnepferl, wie unsere Kuh genannt wurde, wurden alle Tiere in längeren oder kürzeren Abständen vom Tod heimgesucht. Wenn auch die Umstände des Fehlens dieses oder jenes Tieres von meiner Mutter verschleiert wurden, erriet mein Bruder dennoch, dass ihr Leben gewaltsam beendet worden war. Gab es dann frisches Fleisch, ohne dass die Mutter am Freitag zum Einkaufen im Dorf war, wusste er: Eines unserer Tiere – eine Henne, ein Zicklein, ein Hase oder gar ein Schwein – war nun nicht mehr im Stall anzutreffen. So war es auch an einem Wintertag im Jahre 1947. Als wir von der Schule heimkamen, leuchtete uns schon ein roter Fleck im weißen Schnee entgegen. Die Mutter hatte wohl vergessen, ihn zuzudecken. Mein Ziehbruder lief, ohne die Schultasche abzulegen, in den Stall. Das Schwein fehlte! Es lag nicht mehr in der Ecke seines Stalles, dafür lag im kleinen Abteil daneben ein Ferkel, das meine leibliche Mutter am Tag zuvor gebracht hatte. Der aufgebrachte Bruder rief dem kleinen Ferkel zu: „Du bist schuld, dass unser Putscherl tot is!“ Damit hatte er einen Schuldigen für den Tod des Schweins gefunden und brauchte nicht mehr auf die Mutter böse sein oder auf den Vater, der es mit Hilfe des Nachbarn geschlachtet hatte. 201

Auf der Stalltür hingen die beiden rosa Schweinehälften. Im Vorhaus stand eine „Rein“, aus der uns der Schweinskopf dumpf anstarrte, daneben lagen die vier Schweinsfüße, weiß und glatt rasiert. Auf dem Herd stand der große Topf, der seinen Platz das übrige Jahr irgendwo in einer Ecke hatte. Darin sollte der Speck ausgelassen werden. In einer Pfanne brutzelte die Leber, in einer anderen ein Blutgröstl. Dazwischen bewegte sich die Mutter, sie hatte ein Kopftuch auf und eine mir sonst nicht vertraute Schürze an. Sie scheuchte mich weg, wenn ich mit den Fingern zu nahe an all die Köstlichkeiten kam, verbreitete aber sonst eine gute, ja, hoffnungsvolle Stimmung im Hinblick auf das ungewohnte, verspätete Mittagessen, wie es sonst nicht einmal an hohen Feiertagen aufgetischt wurde. Mich beherrschte die Freude über das kommende Festessen, und es wäre ein feierliches geworden, wenn nicht den kleinen Bruder diese Traurigkeit wegen des toten Schweines erfasst hätte. Er kauerte sich auf die Stiege und war nicht dazu zu bewegen, die Herrlichkeiten anzusehen oder sie gar zu essen. Schließlich begnügte er sich mit einem trockenen Erdäpfelsterz. Erst nach geraumer Zeit griff er auch bei Fleischspeisen zu. Ich hatte diese Bedenken nicht, aber als es ein Jahr später vor der ersten Beichte hieß, das Gewissen zu erforschen, überkam mich der bange Gedanke, ob es nicht doch besser gewesen wäre, wie mein Bruder mit dem toten Schwein Mitleid zu haben, statt es zu essen. Nur: Gegen welches der Zehn Gebote hatte ich gehandelt? Die nächsten Tage waren angefüllt mit der Verarbeitung aller Teile, die das Schwein hergab. Einige Fleischstücke waren dazu auserkoren, als Schweinsbratl auf dem Weihnachtstisch zu landen, ein großes Stück Gebratenes kam in den irdenen Topf und wurde zusammen mit einigen Würsten mit flüssigem Fett übergossen. Zu Ostern, wenn das Fett im Topf immer weniger wurde, kam es wieder zum Vorschein und wurde als Osterfleisch aufgeschnitten. Ein großer Teil des Fleisches und die Speckhälften wurden tagelang geselcht. Das Kopffleisch wurde zum Teil gekocht und mit Semmelkren gegessen, ein anderer Teil gehörte zum Wurstfleisch. Die Mutter stand stundenlang 202

in der Küche, um den Speck klein zu schneiden und auszulassen. Das gewonnene Fett landete im besagten irdenen Topf und sollte das ganze Jahr „geschmalzenes“ Essen garantieren. Der Topf musste immer zugedeckt werden, um unliebsame Gäste wie etwa flinke Mäuse abzuhalten. Das Kopffleisch, aber auch andere, weniger ansehnliche Teile von Fleisch und Speck machten den Weg durch die Fleischmaschine. Wenn in der Waschhütte ein unangenehmer Geruch in der Luft lag, wusste man, dass die Gedärme des Schweines gewaschen wurden. Wenn sie schließlich graurosa glänzend im Topf lagen, baute die Mutter die Fleischmaschine zusammen und erklärte mir genau, wie ich die Kurbel drehen musste. Mit einer Hand hielt sie den Anfang des Darmstücks geschickt auf einem trichterförmigen Eisenstück fest, das an der Fleischmaschine befestigt war, und ließ den übrigen Darm herunterhängen; mit der anderen Hand füllte sie die Wurstmasse in den Bauch der Maschine. Nun musste ich die Arbeit des Kurbeldrehens exakt ausführen. Wenn mir das gelang, wurde der Darm gleichmäßig mit der Masse gefüllt und garantierte schöne, gleichmäßige Würste. Ich hatte aber offenbar schon damals nicht das rechte Gefühl für exakte händische Arbeit, also platzte der Darm oder es gab ein schlaffes Würstel. Beides war in den Augen der gestrengen Mutter ein großer Fehler, gleichzusetzen mit einer schweren Sünde. Nach mehreren „Pass do auf!“, „Drah schneller!“ oder „Drah laungsamer!“ und einem Reißen an den Zöpfen kam ein resigniertes „Loss aus!“ aus dem Mund der Mutter. Ich war aus der peinlichen Pflicht entlassen, und es gab fürderhin wieder gleich lange und gleich dicke Würste, die jeweils nach etwa achtzehn Zentimetern abgebunden wurden. Wahrscheinlich war die Mutter erst in der Nacht mit dem Wurstmachen fertig geworden, aber am Morgen lagen sie da, die Würste, Paar an Paar, und wanderten auf Stecken, die in die Selch gehängt wurden. Ich weiß nicht mehr alle Schritte, bis das ganze Schwein endlich aufgearbeitet war. Ich erinnere mich aber noch an schon nicht mehr gut riechende Knochen sowie an die Reste wie Haut, Ohren und Zehen. Sie wurden später zum Seifensieden verwendet. 203

Die Mutter war angespannt und nervös, die Ohrfeigen lagen förmlich in der Luft, aber am Ende dieser Arbeit war sie zufrieden, gut aufgelegt, weniger streng und legte schon einmal ein Stück Würfelzucker vor uns auf den Tisch. Im hohen Alter erzählte sie vom Abstechen wie von einem großen Geschenk. Das muss es wohl auch gewesen sein in der Kargheit des Grabenlebens nach dem Krieg. Es hat sie für kurze Zeit in die Reihe von Besitzenden gestellt, die gut für sich und die Ihren sorgen konnten. Dieses Gefühl ließ sie Mitleid empfinden mit denen, die, wie sie sagte, viel weniger besaßen als wir. Nach dem Ende der Geschäftigkeit rund ums Abstechen brauchte man nur mehr eine Hand zum Zählen der Tage, bis das Christkind kam.

Das lange Warten am 24. Dezember In meinen Kindertagen hatte die Kuckucksuhr eine wichtige Aufgabe. An Sonn- und Feiertagen mussten wir erst aufstehen, wenn der kleine hölzerne Kuckuck sieben Mal rief. Die Mutter würde dann bald in der Tür erscheinen, uns mit der Petroleumlampe die Stiege hinunterleuchten, und wir würden schlaftrunken hinterherstolpern. Am Heiligen Abend war alles anders. Es hätte des Weckens nicht bedurft. Wir, Walter und ich, hatten den Kuckuck schon um sechs Uhr rufen gehört und waren leise aufgestanden. Im Schein des Feuers, das trotz der frühen Stunde schon im kleinen Eisenofen knisterte, schlichen wir zum Fenster. Es gelang uns, ein Loch in das Eis zu kratzen, das sich als kalte Blumenpracht über die Scheiben ausgebreitet hatte. Durch die Öffnung versprachen wir uns, etwas Geheimnisvolles zu sehen, ein paar Engel vielleicht, die vorbeihuschten, wenn schon das Christkind so zeitig noch nicht unterwegs war. Nichts dergleichen geschah. Nur Mutter und Vater, die von der Stallarbeit kamen, ließen sich draußen ausnehmen. „Brauchts net schauen, ’s Christkindl losst si net anschauen, von gor neamp, tuats eich gscheiter anziagn“, sagte der große Bruder, den die Mutter schickte, damit er uns aufwecke. 204

Das einzige Zimmer, unser aller Schlafzimmer, musste so schnell wie möglich verlassen werden, damit das Christkind nicht gestört würde, von dem niemand wusste, wann es kam. Schon am Vortag hatten wir neben dem kleinen Eisenofen dreimal so viel Holz aufgestapelt wie an gewöhnlichen Tagen. Wir wussten nicht, dass die Mutter dem Vater diesen ungeheuren Luxus abringen musste, denn trotz des Wohnens im Wald blieb Holz für arme Leute ein rares Gut. Das Feuer sollte den ganzen Tag nicht ausgehen, damit das Christkind nur ja nicht friere, wie die Mutter extra betonte. Nichts, aber schon gar nichts, durfte „herumliegen“, damit es vor Schreck nicht gleich wieder umdrehte, wo es doch die Ordnung vom Himmel her gewohnt war. Die Mutter hatte bereits die Frühsuppe – Sterz und Gerstenkaffee – aufgestellt. Zuvor hieß es, vor dem heute seltsam leeren Altarl das feiertägliche Vaterunser zu beten. „Des is unser Kirchgang“, pflegte die Mutter zu sagen, „fürs Kirchengehn is as z’ weit.“ Wir beteten laut, aßen die Frühsuppe, nicht ohne unser erstes „Waun kimmpn ’s Christkindl?“ anzubringen. „No net so glei“, war die knappe Antwort des Vaters. Er drängte zum Aufbruch, Karl sollte ihn begleiten. Wohin sie gingen, erfuhren wir erst viel später. Sie hatten einen weiten Weg vor sich. Der Vater hatte bei der Arbeit im Holzschlag ein Bäumchen ausfindig gemacht, das unser Christbaum werden sollte. Es war freilich nur eine Fichte, aber schön gewachsen. Er hatte auch einen Tannenwipfel gesehen, wusste aber, dass der Baumgartner-Förster häufig im Wald unterwegs war und es sehr genau nahm mit seinen Aufgaben, zu denen auch das Anzeigen von Diebstählen zählte. Er wollte die Fichte abschneiden und von einer Tanne ein paar Äste nehmen. Der große Bruder war eingeweiht und sollte helfen, was er als Auszeichnung durch den strengen Vater ansah. Wir schauten den beiden nach, wie sie hintereinander den Steig hinaufgingen, um sich bald im Wald zu verlieren. In unserem Lesebuch gab es eine Geschichte, wie der Christbaum vom Vater aus dem Wald geholt wurde. Sollte vielleicht doch der Ziehvater …? Ich wollte diese Überlegung nicht fertig denken. Sollte doch das Christkind wie bisher den Christbaum bringen! 205

Die Mutter schien mir vor Weihnachten eine besonders lange Liste im Kopf zu haben, auf der – wie die Gebote im Katechismus – alles aufgeschrieben stand, was es zu tun gab vor den kommenden Festtagen, die erst mit dem Tag der Heiligen Drei Könige zu Ende sein würden. Man konnte sich darauf verlassen, sie vergaß nichts, nichts Gutes und nichts Schlechtes, wozu ich hauptsächlich die mir zugedachte Arbeit zählte, wenn ihr Ausmaß auch längst nicht an das meiner großen Ziehschwester Herta heranreichte. So hatte die Mutter das Haus geputzt, gewaschen und es zuwege gebracht, mit den wenigen vorhandenen Zutaten Kletzenbrot, eine Putitze und Kekse zu backen. Sie hatte alles vorsorglich hoch oben in der Speis versteckt, was freilich nie geheim blieb. Als Belohnung für die erfolgreiche Suche gab es häufig Strafen und die Androhung: „Passts nur auf, ’s Christkindl siacht ois und wird am End eure Gschenke braveren Kindern bringen!“ Vom Weißbrot, dass sie nun doch noch backen konnte, weil der Vater von der Mühle ein Sackerl Mehl heimgebracht hatte und für ein Stück Butter Rosinen eintauschen konnte, schnitt sie ein Stück ab und legte es in einen irdenen Topf, wo schon gewöhnliches Brot für das Vieh lag. Dann hieß es, ihr in den Stall zu folgen. Für sie war klar, dass alle Tiere genauso von der Feierlichkeit des Tages erfahren sollten wie wir im Haus. Und zur Feierlichkeit gehörte dann eben auch ein warmer, geputzter Stall. Sie ging prüfend an den verschiedenen Abteilen vorbei, befand, dass die Kuh noch nicht ausreichend gestriegelt war, im Schafstall zu wenig Einstreu lag. Ganz gegen ihre alltägliche Gewohnheit aber setzte sie sich dann auf den Melkschemel und begann – wie jedes Jahr – zu erzählen. Sie tat es in den immer gleichen Worten, aber uns schien die Geschichte, dass in der Heiligen Nacht die Tiere sprechen könnten, jedes Jahr neu. Sie würden um Mitternacht eine große Konferenz abhalten und berichten, wie es ihnen im letzten Jahr beim Bauern, aber auch bei uns Keuschlern ergangen sei. Nichts würden sie verschweigen. Je nachdem, wie man nun die Tiere behandelt hatte, würde das neue Jahr ausfallen. 206

Man konnte haufenweise Glück haben oder eben tief abstürzen. Walter, der ganz ohne Scheu zu jedem Tier hinging, striegelte, so hoch er hinaufreichen konnte, die Kuh so lange, bis er einen besonderen Glanz in ihrem Fell zu entdecken glaubte. Mir überließ er das weniger gefährliche Einstreuen. Dabei schauten wir immer wieder einmal scheu auf die Tiere und hofften, dass sie unsere gelegentlichen Schläge mit der Rute oder der Peitsche vergessen hätten und bei ihrer Besprechung um Mitternacht auch etwas Gutes zu sagen wüssten. Als die Mutter befand, dass alles, aber auch alles seine Ordnung hatte, ließ sie uns aufhören. Sie sagte noch, dass die Tiere am Abend ein besonderes Fressen bekommen würden, damit sie auch etwas von Weihnachten spüren konnten, lag doch das Jesuskind in einer Krippe zwischen Ochs und Esel. Wieder in der Küche angekommen, hatte es die Mutter sonderbar eilig und trug uns auf, darauf zu achten, dass das Herdfeuer in der Küche nicht ausging. Vor allem aber sollten wir es uns nicht einfallen lassen, auch nur einen Schritt ins Zimmer zu tun! Sie verschwand und ließ uns in der Küche zurück. Weil auch die große Schwester, wie die Mutter sagte, „irgendwo“ war, war es doch recht unheimlich. Unentwegt glaubten wir etwas zu hören, ein Rauschen, ein Singen, Töne einer Glocke. Wir sahen draußen im Schnee etwas glitzern, etwas vorbeifliegen, ja, über die Stiege huschen. Mutter und Schwester hatten ganz normale Erklärungen dafür, die sie uns, wenn sie nach uns schauten, auch mitteilten. Aber einmal war ihre Geduld zu Ende und sie geboten uns, endlich zu schweigen, sonst … So still, wie sie fortgegangen waren, waren der Vater und der große Ziehbruder wieder heimgekommen. An den Schuhen und Gamaschen klebten noch Eisstücke, die Hände waren blau gefroren. Nach dem kargen Mittagessen, das, wie die Mutter es ausdrückte, die Vorfreude auf das weihnachtliche Abendessen erhöhen sollte, verbrachten sie den halben Nachmittag im Stall an der Hobelbank. Was sie taten, erfuhren wir erst, als der Glaube ans Christkind geschwunden war. 207

Nachdem die Geschwister schon tags zuvor den großen Kessel mit Wasser gefüllt hatten, das sie mühevoll aus dem bereits zum Großteil zugefrorenen Bach holen mussten, hatte die Schwester die Aufgabe, das Wasser zu erhitzen und es eimerweise in die Küche zu tragen. Denn eine Prüfung vor den Feierlichkeiten des Heiligen Abends stand noch bevor: Das Bad in der Küche, das die Kopfwäsche mit einschloss. Mein kleiner Ziehbruder, der lediglich eine kurze Scheitelfrisur trug, hatte weiter nichts dagegen, er liebte die Prozedur sogar. Bei mir ergoss sich das Wasser wie ein Sturzbach über das Gesicht und schwemmte mir die Seife in die Augen. Jedes einzelne Haar wurde anschließend durch den Lauskamm gezogen, man konnte ja nicht wissen. Schließlich hingen die Zöpfe fest geflochten herunter und trugen zur Feier des Tages die Sonntagsmasche. In frische Kleidung gesteckt, warteten wir auf den Abend. Als es langsam dunkel wurde, waren wir bis auf den Vater endlich alle in der Küche versammelt. Die Mutter brachte eine flache Schachtel herein, die sie vorsichtig aufmachte. Was zum Vorschein kam, war die Papierkrippe. Da saßen Maria und ­Josef, in der Mitte das Jesuskind in der Krippe, dahinter lagerten Ochs und Esel. Links waren die Könige auf die Knie gefallen und rechts die Hirten. Dahinter breitete sich Bethlehem aus, und darüber stand der große Stern. Alle Farben, wenn auch schon ein bisschen ausgebleicht, waren darauf vereint, auch Gold fehlte nicht. Ich wusste nicht, welche Krippe mir besser gefiel, die in der Kirche oder doch unsere, die die Mutter nach unserer ausgiebigen Betrachtung auf das Altarl stellte. Rundherum wurden Tannenzweige gelegt, ein großer Zweig fand seinen Platz hinter dem Kreuz, und ein paar Palmzweige durften auch nicht fehlen. Als besonderen Aufputz legte sie noch ein paar Lamettafäden darüber. So sollte es nun bis zum Lichtmesstag bleiben. „A bissl hoch oben is as holt, des Kripperl, do segn s’ jo rein gor nix“, meinte der Vater, der mit einer Eisenpfanne in die Küche getreten war. Um diesen Fehler auszugleichen, stiegen wir eben auf den Küchensessel, so ließ sich die Pracht bewundern, die ja doch größer war als in der Dorfkirche. 208

Neugierig beäugten wir, was der Vater nun tat: Er stellte die Pfanne an den Herdrand, legte behutsam glühende Holzstücke hinein und schichtete geweihte Palmkatzerln vom Palmsonntag darauf, was ein fröhliches Knistern und Flammenzucken in der Pfanne verursachte. Aus einem Papiersack mit der Aufschrift „Hausfrauengold“, der das ganze Jahr über in einer Ecke der Kredenz stand, streute er nun eine Handvoll des Inhalts in die Pfanne – Weihrauch. Eine Wolke stieg auf und durchzog die Küche, man kam sich vor wie bei einem feierlichen Gottesdienst in der Kirche. Der kleine Bruder, der seine liebe Not mit fremden Gerüchen und Geschmäckern hatte, ließ ein leises „Des stinkt!“ vernehmen. Die Mutter überhörte es, sie sagte – nein, sie befahl uns: „Tuats ordentli durchschnaufen, der Rach, der mocht gsund!“ Ich glaubte daran, wenngleich sich ein leiser Zweifel in mir regte, wo ich doch im letzten Jahr so viel krank gewesen war, obwohl wir geräuchert hatten. „Muatta kimm, es is Zeit zan Rachn“, sagte der Vater bedächtig. Dieser Satz schloss nun das eifrige Tun der Erwachsenen ab, das immer den Keim für Ohrfeigen in sich trug, weil wir in unserer Erwartung des Christkinds da und dort im Weg standen, kleine Aufträge wieder vergaßen oder den monotonen Satz „Waun kimmp ’s Christkindl endli?“ von uns gaben. Schließlich aber ging doch alles in eine lichte Feierstimmung über. Die Mutter hatte eine neue Schürze angelegt, und auch sonst war sie so gekleidet, wie sie immer ins Dorf ging. In der einen Hand hielt sie einen Fichtenzweig, in der anderen ein rotes Blechhäferl, das ebenfalls während des ganzen Jahres nie zum Einsatz kam. Es war schon ein wenig ausgeschlagen, gehörte aber zu den heiligen Dingen, die geschont werden mussten. Sie hatte es halb mit Weihwasser gefüllt, das sie beim letzten Kirchgang nach Hause getragen hatte. Der Vater drückte dem kleinen Bruder die Stalllampe in die Hand und setzte zu einem Monolog an, der uns in seiner Länge fremd war: „Hiatz geh ma rachn, wia si’s ghört. Du trogst die Latern, passt auf, dass as Liacht jo net ausgeht, gehst ma immer a poar Schriatt voraus, hearst auf des, wos i sog, und vergisst net aufs Mitbetn!“ So geschah es denn auch. Der Vater folgte 209

ihm mit der Räucherpfanne, in der es nun fröhlich knisterte und aus der unaufhörlich Rauch aufstieg. Ihm schloss sich die Mutter mit dem Weihwasser an. Ich hatte meinen Platz nach den großen Ziehgeschwistern. Der Zug bewegte sich zuerst in den Stall, vorbei an der Kuh, die verwundert den Hals über den „Graundner“ herausreckte, vorbei an den Ziegen, vom Schaf zu den Hühnern. Der Vater hielt die Pfanne über die Köpfe der Tiere und stocherte mit einem Haken in der Glut, sodass es gewaltig rauchte. Die großen Geschwister machten den Tieren wohl die größte Freude, indem sie ihnen Brot und Salz, kleine Köstlichkeiten wie Rübenschnitzel und ein kleines Stück vom Woaza zusteckten, nachdem die Mutter alle mit Weihwasser besprengt hatte. Während des „Rachns“ wurde gebetet. Ich erinnere mich an die Gebete nicht mehr. Es werden wohl eine Reihe Vaterunser und Gegrüßet-seist-du-Maria gewesen sein, immer und immer wieder. Dass ich kein „Amt“ innehatte, wird daran gelegen sein, dass meine Mutter aus Erfahrung wusste, dass beten, gehen und gleichzeitig noch eine Aufgabe ausführen zu einem Malheur geführt hätte. So stolperte ich betend hinterdrein, sah die neugierigen Blicke der Tiere wegen des seltsamen Zuges und hoffte, dass sie zu mitternächtlicher Stunde nichts Böses über uns sagen würden. Viele Räume hatte unser Haus nicht. Der Zug bewegte sich, nachdem die Stalltüre verschlossen worden war, ins Vorhaus, in die Speis und in den Keller, die Stiege hinauf auf den Dachboden, selbstverständlich an der Zimmertüre vorbei wieder die Stiege hinunter. Ob auch im Schlafzimmer geräuchert wurde, eben ohne meinen kleinen Ziehbruder und mich, habe ich nicht erfahren. In der Küche angekommen, nahmen der Vater und die Brüder die Hüte vom Kopf, desgleichen taten wir mit den Kopftüchern. Wir hielten sie über die rauchende Pfanne, schöpften gleichsam den Rauch hinein und beeilten uns, sie wieder aufzusetzen. Dass dies Wunder wirken würde, dessen war ich nun ganz sicher.

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Als das Christkind endlich kam Neuerlich erfasste uns Unruhe und gipfelte in der bangen Frage: „Waun kimmp hiatz des Christkindl?“ – „Es kimmp scho“, sagte der Vater und zog bedächtig den Überrock und die Schuhe aus. Wir hatten noch gar nicht bemerkt, dass auf dem Tisch das schöne Tischtuch lag, ein Zeichen dafür, dass es ein besonderer Tag war. Vom Herd her roch es nach Würstel und Kraut. Jeder erhielt einen Schöpfer Kraut auf den Teller, dazu ein Würstel und Kartoffeln. So sehr wir uns auf das seltene Essen freuten, hätten wir es doch für ein paar Kartoffeln eingetauscht, wenn die Zeit bis zum Kommen des Christkinds dadurch nur ein wenig kürzer geworden wäre. Dem Vater schmeckte es, er schien gar keine Eile zu haben, auch die großen Geschwister nicht. Sie glaubten längst nicht mehr an das Christkind als Gabenbringer. Sie wussten, dass ihre Wünsche nach einem Mantel, ein Paar guter Schuhe, ein Paar Schi sich nicht erfüllen würden, wenn die Mutter sich auch große Mühe gab, sich etwas „vom Mund abzusparen“. Da hielten sie sich lieber an das gute Essen und hatten keine Eile, es hinter sich zu bringen. Die Mutter aß ein paar Bissen, tat dann so, als hätte sie noch im Stall zu tun und verließ die Küche. ­„Hiatz wird’s glei so weit sein“, sagte der Vater, schaute immer wieder zur Tür und hieß uns still zu sein, damit das Christkind sich hertraue. Da läutete es! Wir sprangen auf, stolperten in Richtung Stiege, wo die Mutter stand. Wir drückten uns an sie, als ob es was zu fürchten gäbe. „Kemmps, i glab, ’s Christkindl wor do“, sagte sie, ging uns voraus die Stiege hinauf und öffnete die Zimmertür. Da standen wir nun und schauten wie gebannt auf den hell erleuchteten Christbaum. Der Schein der Kerzen lag warm auf unseren Gesichtern, fiel in jeden Winkel und auf die Pakete, die unter dem Baum lagen. Die grünen Zweige des Baumes waren täuschend echt auch auf dem Papier aufgedruckt, ein schmales goldenes Band hielt jedes Paket zusammen. Wir dachten nicht daran, die Pakete gleich zu öffnen. So sicher, wie auf die Nacht der Morgen folgte, waren in uns die feierlichen 211

Stationen eingeschrieben. Es wurde nicht die Weihnachtsgeschichte erzählt – das geschah irgendwann vorher, und in der Schule besorgten es die Frau Lehrerin und der Herr Pfarrer –, wir sangen „Stille Nacht, Heilige Nacht“. Die Mutter stimmte an, die Schwester fiel mit ihrer schönen Stimme ein, als auch die Brüder die richtige Zeile gefunden hatten, klang es beinahe wie in der Kirche. Der Vater und ich hatten das Gefühl, dass es weitaus klüger wäre, nicht zu singen. So schwiegen wir. Es klang so schön, dass die Mutter noch einmal die erste Strophe anstimmte. Erst jetzt bekreuzigte sie sich und begann, ein Vaterunser zu beten, der Vater folgte, dann auch wir Kinder. Die Zahl der Gegrüßet-seist-du-Maria kann ich nicht mehr sagen, nur, dass es viele waren: für alle verstorbenen Verwandten eines, für jene, die im Krieg gefallen waren, und für die, die noch in Gefangenschaft waren. Bald hatten wir vergessen mitzubeten. Unsere Blicke hielten die Pracht des Christbaums fest, schweiften von den Kugeln zu den Figuren, registrierten, dass es diesmal mehr in weißes Papier gewickelte Süßigkeiten als im Vorjahr gab und die Kekse wohl jene sein mussten, die die Mutter dem Christkind auf dem Waschhüttendach zum Abholen bereitgestellt hatte. Ich brach meine Betrachtung jäh ab, als ich bemerkte, wie mein kleiner Bruder nach jedem Amen ein kurzes Kreuzzeichen machte, die Hand aber wieder zurückzog, als die Mutter ein neues Gebet anfing. Er hatte wohl auf ein baldiges Ende gehofft. Die Mutter blieb davon unbeeindruckt, sie betete. Nach dem letzten Amen wünschte sie dem Vater und dann uns Kindern „Frohe Weihnachten!“ und sagte den erlösenden Satz: „Tuats schaun, wos des Christkindl brocht hot!“ Sie gab jedem von uns sein Paket. Sie brauchte uns nicht zu ermahnen, das Papier ja nicht zu zerreißen. Das Auspacken gehörte zur Freude dazu, es wurde zelebriert. 1947 erhielt ich ein großes Paket, es fühlte sich hart an und dann doch wieder nicht. Es enthielt ein Puppenbett aus Fichtenholz, mit einem Bettzeug wie das unsrige. Die Puppe hatte die gleichen Zöpfe wie meine große Schwester. Mein kleiner Bruder erhielt ein Lastauto aus Holz, das jenem, das zu Allerheiligen plötzlich verloren ge212

gangen war, bis auf die rote Farbe täuschend ähnlich sah. Die großen Geschwister erhielten Pullover, der Vater einen Tabakbeutel und eine Haube. Es war nie auszumachen, ob die Mutter auch ein Geschenk erhielt. Darüber machte ich mir keine Gedanken. Wahrscheinlich verhielt es sich so wie mit allen guten Sachen, von denen die Mutter behauptete, dass sie ihr gar nicht schmeckten. Es sollte noch Jahre dauern, bis ich begriff, dass für die Mütter in Notzeiten kaum etwas blieb. Der Vater stellte die Petroleumlampe auf den Tisch, das Zeichen für die Mutter, die Kerzen am Christbaum auszublasen. Sie sollten noch für das Anzünden am Silvesterabend und am Vorabend des Dreikönigstages aufgespart werden. Langsam, vorsichtig blies sie eine Kerze nach der anderen aus und setzte sich an das Ende ihres Bettes. Für mich waren diese Minuten, die halbe Stunde unter dem Christbaum, den Blick auf das Geschenk gerichtet, die seligste Zeit, an die ich mich erinnern kann. Die Mutter saß ruhig da wie sonst nie, schaute auf unsere Freude, tat verwundert, wie das Christkind alles so wundersam und leise hereingebracht hat. Immer und immer wieder sahen wir unsere Geschenke an, bewunderten den Christbaum, der doch tatsächlich den gleichen Schmuck trug wie im vorigen Jahr. Wir sahen, wie der Vater, der wohl schon den Keim der Krankheit in sich trug, müde wurde und schließlich sagte: „Muatta, i glab, hiatz mögn ma olle a Kletzenbrot und an Tee.“ Für eine Stunde verließen wir das Zimmer Richtung Küche, wo für jeden ein Teller mit Kletzenbrot und Keksen bereitstand, eine Köstlichkeit, die nie übertroffen wurde. Beim Essen erzählten die Eltern von ihrer Kinderweihnacht. Die Mutter hatte dabei Tränen in den Augen, und es schien, als wären es Tränen der Trauer über die schmerzliche Erinnerung an eine harte Zeit. Bald war die Stimmung aber gelöst, die traurigen Erlebnisse beiseite geschoben. Als wir uns nützlich machen wollten, sagte sie: „Tuats spieln, damit ’s Christkindl siacht, dass’ a Freid habts“, als hätte sie alle Strenge vergessen. Wir taten es, hörten nebenbei die großen Geschwister und die Eltern sich unterhalten, spielten uns in den Abend hinein, bis die Mutter zum Schlafengehen mahnte. Die Spielsachen in der Hand folgten wir 213

ihr ins Zimmer. Der Lichtschein aus dem kleinen Ofen fiel auf die Zweige des Christbaums, spiegelte sich in den Kugeln und tauchte das Zimmer noch einmal in den Zauber der Weihnacht. Wir bemerkten damals nichts von der Kargheit der Zeit, nichts von der besonderen Härte des Grabens, nichts von der Mühe, die die Mutter dieses Leben kostete und die die großen Geschwister mittragen mussten. Wir bemerkten nichts von den Unstimmigkeiten zwischen den Eltern, die in der Sorge um das tägliche Brot manchmal nicht aus und ein wussten, und vergaßen schnell die Tage vor Weihnachten, an denen es nicht ratsam gewesen war, die Mutter zu ärgern. Da konnte sie Sätze sagen, die uns tief verunsicherten: „Wauns net braver werds, kummt ’s Christkindl sicher net!“, oder: „Bleibts glei draußen im Dorf, vielleicht nimmt eich wer auf!“ Wir lebten die Seligkeit des Heiligen Abends, fühlten uns reich in dieser kleinen Welt und hätten mit niemandem getauscht. Erwachsen geworden, erkannten wir, dass uns die Eltern und die großen Geschwister von der Not der Zeit ferngehalten hatten.

Christtag Über den Feiertagen schien ein Glanz zu liegen. Dies begann schon am Morgen mit dem Blick auf den Christbaum. Wenn der Kuckuck zum Aufstehen rief, suchten wir schnell alle Kleidungsstücke zusammen, um das kalte Schlafzimmer gegen die warme Küche einzutauschen, aber am Nachmittag konnten wir beim warmen Ofen unter dem Christbaum im Zimmer spielen. Ich erinnere mich nicht mehr, ob wir am Christtag 1947 den Weg in die Kirche mit dem Vater zu Fuß zurücklegten oder mit dem Schlitten fuhren. Es war ein kalter Wintertag. Die Mutter befahl uns jedenfalls, alles anzuziehen, was sie uns hergerichtet hatte. Dazu gehörten auch die dicken, selbst gestrickten Wollstrümpfe, die im Kratzen und Beißen der Haube und den Fäustlingen um nichts nachstanden. Die Schuhe mussten wir am Tag davor einfetten, trotzdem wärmten sie nicht. 214

Vor der Kirche standen schon viele Leute, sie kamen von der Sonnseite, von den steilen Leiten am Wetzelsberg, aus den Gräben auf der Schattseite, aus den Weilern im Tal um St. Georgen und schließlich aus St. Georgen selbst. Sie trugen alle das Beste, das sich nach dem langen Krieg noch in den Kästen und Truhen fand. Wenn es nicht gerade die größeren Bauern und Handwerker waren, die da herumstanden, sah man ihrer Kleidung die Dürftigkeit an. Häufig war sie nicht geeignet, die große Kälte abzuhalten. Sie wünschten sich frohe Feiertage und „im Voraus“ ein gutes, gesundes neues Jahr, redeten – flüchtig betrachtet – nur Belangloses, so kurz nach dem Krieg aber doch Wichtiges und Entscheidendes. Die Frauen fragten uns Kinder, ob denn das Christkindl brav war, ob es etwas gebracht habe. Vielleicht gar ein neues Paar Schuhe? Freudig oder kleinlaut waren die Antworten, je nachdem, ob hinter dem Christkindl eine reiche Bäuerin oder eine Keuschlerin stand. Als von den Ministranten zusammengeläutet wurde, was vor 1953 nur mit einer kleinen Glocke möglich war, die den Krieg überstanden hatte, hieß es: „Bis nocha beim Wieser“, was nichts anderes bedeutete als eine kurze Einkehr auf einen Schnapstee und ein Kracherl für die Kinder. Im Gegensatz zu den gewöhnlichen Sonntagen strömte es am Christtag nur so hinein bei der Kirchentüre, die Männer in die rechten Kirchenbänke, die Frauen in die linken. Wir Kinder hätten unsere Plätze in den Kinderbänken gehabt, drängten uns aber in die Bänke der Erwachsenen, um während des Gottesdienstes einen besseren Blick auf das Kripperl zu haben. Der kleine Bruder blieb beim Vater, ich bekam einen Platz bei der Frau Steinberger, deren Tochter mit mir in die Schule ging. Der Atem der vielen Leute stieg in der kalten Kirche wie Rauch auf; kaum hatten wir uns in die Bänke gezwängt und unseren Platz eingenommen, läutete schon die Glocke an der Sakristeitüre. Die elektrischen Birnen im Luster flammten auf und mischten sich mit dem Kerzenschein am Altar. Die Orgel setzte ein, als der Herr Pfarrer im prächtigen Ornat nach den Ministranten in ihren rot-weißen Gewändern in die Kirche einzog. Ihnen 215

folgten vier gestrenge Herren, es werden wohl die Pfarrgemeinderäte gewesen sein, angetan mit roten, ärmellosen Mänteln und Kerzen in den Händen, so groß, wie sie beim Wieser nie zum Kauf angeboten wurden. Die Glocke in der Hand des kleinsten Ministranten verstummte erst, als die Orgel erneut aufbrauste. Die Organistin, die gleichzeitig auch die Pfarrersköchin war, muss alle Register gezogen haben, als sie das Gloria anstimmte. Ich wusste nur, dass es eine große Feierlichkeit war, und muss wohl vergessen haben, die Hände zu falten, weil Frau Steinberger mir halblaut zuflüsterte: „Dirndl, schau zua, wia i tua und daun mochst as noch!“ Ich tat es, stand auf beim Halleluja und beim Evangelium, kniete nieder beim Kyrie, bei der Wandlung und beim Segen. Es war ein ständiges Auf und Ab. Der Herr Pfarrer drehte uns immer den Rücken zu, sodass man die goldenen Stickereien auf seinem Ornat bewundern konnte, ja, man konnte die Anzahl der Blüten zählen, die sich um den aufgestickten Kelch rankten. Der Herr Pfarrer, der nach meinem dürftigen Verständnis keine Arbeit im Sinne von Holzhacken und Stallputzen zu erledigen hatte, also jederzeit beten konnte, tat dies unermüdlich und verneigte sich unzählige Male vor dem Altar. Er betete und sang lateinisch, auch die Ministranten antworteten in dieser Sprache, die nur wenige verstanden haben werden. Niemand schien dies zu stören. Die Frauen schauten „demütig“, wie Frau Rosa Frodl, die Organistin und Pfarrersköchin, es von uns verlangte. Wir wussten nur nicht, was das bedeuten sollte – demütig. Die Männer hatten die Hüte auf den Haken der Vorderbank aufgehängt und stützten sich mit den Ellbogen auf, die Finger zum Beten fest ineinander verschlungen. Demütig sahen sie nicht drein, eher streng, wie unser Vater. Frau Rosa Frodl nannte es „würdig“. Auch dieser Begriff war mir fremd. Als wieder ein lautes „Amen!“ zu vernehmen war, richtete der Herr Pfarrer den Blick auf uns und schritt an den Kinderbänken vorbei zur Kanzel, auf die er hinaufstieg. Zuerst betete er noch einmal lateinisch, hob dann die Hand zum Kreuzzeichen, und alle standen auf zum Evangelium. Ob 216

es der Herr Pfarrer las oder sang, weiß ich nicht mehr. Es klang so ganz anders als alle übrigen Kirchenlieder zusammengenommen, aber ich glaube, es war schon feierlich. Dann durften wir uns wieder setzen, eine lange Predigt folgte. Anfangs hörte ich aufmerksam zu, weil es mir Frau Steinberger erneut auftrug. Mein Interesse ließ aber schnell nach, und ich vertiefte mich in die Betrachtung des Kripperls, das unweit meiner Kirchenbank aufgebaut war. Da lag es, das Christkind in der Krippe, ob auf gewöhnlichem Stroh, konnte ich nicht sagen. Maria war rot und blau gekleidet, bis auf den Boden fielen das Kleid und der seidene Umhang. Josef hatte ein dunkles Gewand an und trug einen Bart. Es sah aus, als sagte er zum König mit der goldenen Kasse, der auf die Knie fallen wollte: „Da, Eminenz, liegt der neue König!“, wobei er auf das Kind in der Krippe deutete. Und der Hirtenfrau, die etwas Essbares gebracht hatte, wird er wohl auch etwas gesagt haben. Hinter der Maria schaute aus dem Seitenstall ein Ochse heraus. Oder war es doch der Esel? In der Stallwand standen die nackten Ziegel heraus, geradeso wie beim Huberhaus nach dem Krieg. Ja, es muss sehr kalt gewesen sein damals in Bethlehem, wie heute bei uns im Graben. Und dessen war ich mir sicher: Das Jesuskind war ein göttliches Kind, ein anderes wäre längst erfroren. Aber vielleicht hatte die Maria es nur zum Herzeigen in die Krippe gelegt, und die ganze übrige Zeit war es ohnehin unter ihrem Mantel versteckt, wer weiß? Als ich der Mutter daheim von meinen Überlegungen erzählte, meinte sie nur: „Tua aufpassen, aus de Flausn in dein Kopf wird nix Gscheits. Des Christkindl ghört in die Krippn und basta, so is as aufgschriebm, i hob’s a so glernt.“ Über der langen Krippenbetrachtung verging die Zeit. Am Schluss der Predigt ermahnte der Herr Pfarrer die Leute noch, auch an den anderen Sonntagen in die Kirche zu kommen, kein ausschweifendes Leben zu führen und die Kinder anzuhalten, demütig und gehorsam zu sein. Wieder – demütig! „Das Jesuskind hat uns den Himmel verdient!“, sagte er zum Schluss. Und wir sagten: „Amen!“ Das Sanctus erklang, bei der Wandlung knieten wir lange nieder. Als bei der Kommunion die Leute 217

nach vorne gingen, war mir der Blick auf die Krippe verstellt. Das machte weiter nichts, weil ich nun zählen konnte, wie viele Leute in den Bänken sitzen blieben. Wahrscheinlich waren sie auch nicht bei der Beichte wie mein Ziehvater. Nach dem Schlusssegen, bei dem wir uns noch einmal zu bekreuzigen hatten, sangen alle „Stille Nacht, Heilige Nacht“. So schön erschien es mir und so laut, wie ich es noch nie gehört hatte. Jetzt wusste ich wieder, dass es bei uns in St. Georgen sicher schöner war als in Pöls oder Judenburg oder noch weiter draußen in der Welt. Zum letzten Mal brauste die Orgel auf, und die Leute sangen laut mit, auch der Vater. Mein kleiner Ziehbruder hatte ihn gehört, also konnte er doch singen. Dann hatten es alle eilig. Die Leute schoben die Kinder vor sich her, Frau Steinberger sagte noch: „Geh husi außi, Dirndl, und nimm ordentli Weihbrunn.“ Einige machten eine tiefe Kniebeuge, die meisten aber nur einen Knicks und hudelten ein Kreuzzeichen herunter. Neben der Frau Steinberger fiel mein Kreuzzeichen ordentlich aus. „Dirndl, verschau di net!“, ließ sich Frau Steinberger nun zum letzten Mal vernehmen, „er wird holt scho friah hobm aufstehn miassn und so weit obagehn, do is er holt a weng eingnickt“, meinte sie, weil ich unentwegt auf einen Stuhlpfarrerbuben schaute, der in der Bank sitzen geblieben war. Ganz nahe an das Kripperl kam ich nun nicht mehr heran, weil der Vater sagte: „Kimm, mia haum’s eilig.“ Eigentlich stimmte es gar nicht, weil wir auch zum Wieser gingen. Er trank einen Tee, und wir Kinder zusammen auch einen, aber ohne Schnaps. Eine Semmel wurde geteilt. „Grod so vül, dass’ ma net dahungerts“, sagte der Vater. Er erzählte dem Herrn Kreuzer von der Baumgartner-Säge und davon, dass er nicht wisse, wie er die „Viecher“ übern Winter bringen solle, weil das Futter so knapp sei. Die Tini, damit war die Mutter gemeint, dränge, „endlich ausn Grobn außa ’ziagn, sunst tät ma olle krank wern bei der feichtn Kuchl!“ Dieser Satz ließ mich nicht mehr los. Ich wollte nicht heraus ins Dorf, Walter auch nicht. Er fügte gleich hinzu: „Wo tät ma denn heraußen die Viecher hin?“ Nun gingen wir wieder hinein in den Graben, die Ohren waren noch voll von der Musik, der Weihrauchduft begleitete uns 218

ebenso wie der Eindruck des gleißenden Lichts und des vielen Golds in der Kirche. Jahre später, nachdem wir stattlichere Kirchen und mehr Prunk gesehen hatten, Leuchten mit unzähligen Lichtern, wurde in meinem Kopf die Herrlichkeit von damals in der Erinnerung noch größer. Mir war nicht bewusst, dass die Pracht die herrschende Kargheit zugedeckt hatte. Daheim stand ein Festtagsessen auf dem Tisch: Lungenstrudelsuppe, Schweinsbratl mit mitgebratenen Erdäpfeln, knusprig und braun, Krautsalat und Stiermilch, eine Köstlichkeit, die wir ganz langsam löffelten, damit wir lange etwas davon hatten. Wir nahmen den Geschmack mit in die gewöhnlichen Wochentage, nach dem Spruch der Mutter: „Alle Tog is net Sunntog“, und freuten uns, wenn wieder ein Sonntag oder gar ein Feiertag ins Haus stand.

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1. Erste Schritte – Elisabeth Glettler, damals Lisi Horn, im ersten Jahr als Ziehkind bei der Familie Pojer (1941)

2. Elisabeth Glettler (rechts vorne) mit ihrer Ziehmutter Christine Pojer, dem jüngeren Ziehbruder Walter und den älteren Ziehgeschwistern Karl und Herta am Aussichtsplatz (1942)

3. Dieses Foto war ein Lebenszeichen vom Ziehvater aus dem Krieg (1944) – Johann Pojer musste 1942 einrücken und kam erst 1945 wieder nach Hause:

4. Die Ziehmutter und Walter vor dem Wohnhaus (1944)

5. So sieht das Haus heute aus, es steht seit etwa fünfzig Jahren leer – Karl und seine Frau bei einem Besuch im Graben (1975)

6. Zwischen zwei Fliegerangriffen wurde beim Fotografen in Judenburg ein Familienbild für den eingerückten Vater gemacht, von links nach rechts: Walter, Herta, die Ziehmutter, Elisabeth, Karl (1944)

7. Die Familie an einem Sonntag im Sommer (1947)

8. Der Ziehvater Johann Pojer (links) bei der Holzarbeit (1946)

9. Ziehbruder Karl (ganz links) lernt das Binderhandwerk (1949)

10. Elisabeth Glettler (1. Reihe, 2. von rechts) und ihr Ziehbruder Walter (3. Reihe, 2. von rechts) in der Volksschule Greith bei Neumarkt (1949)

11. Der Lehrer und Kapellmeister Felfer mit der Musikkapelle St. Georgen bei der Fronleichnamsprozession (1950)

12. Neu eingekleidet für die Bischofsvisitation – Elisabeth Glettler mit Ziehmutter und Ziehbruder Walter vor der Kirche in St. Georgen (1950)

Glossar Diese Sammlung ist einerseits als kleines Nachschlagewerk gedacht, das Mundartausdrücke sowie wenig oder nicht mehr gebräuchliche Begriffe beinhaltet; andererseits finden die Leserinnen und Leser hier auch eine Reihe von Wörtern in dialektspezifischer Schreibweise mit ihren hochsprachlichen Entsprechungen. Grundsätzlich orientierte sich die redaktionelle Bearbeitung des Erzähltextes am Österreichischen Wörterbuch und am Duden; wenn zu bestimmten mundartlichen oder umgangssprachlichen Ausdrücken der Autorin in diesen beiden Standardwerken keine Anhaltspunkte gefunden werden konnten, wurde deren Schreibweise vor allem mit den nachstehend angeführten Wörterbüchern abgestimmt. Werner Strahalm: Das steirische Wörterbuch, Graz 1994. Konrad Maritschnik: Steirischer [Mundart]-Wortschatz, Weishaupt Verlag, Gnas 2009. Theodor Unger, Ferdinand Khull: Steirischer Wortschatz, Graz 2009 (vollständiger Reprint der Ausgabe von 1903). Mehr über den Ort der Kindheit von Elisabeth Glettler kann man nachlesen in: Walter Brunner: St. Georgen ob Judenburg mit Scheiben, Pichlhofen und Wöll. Geschichte eines Lebensraumes und seiner Bewohner. Eigenverlag der Ortsgemeinde St. Georgen ob Judenburg 1997.

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abrasten – eine längere Rast halten, ausrasten Altarl – Herrgottswinkel angekommen (v. a. allein angekommen) sein – hier im Sinne von: allein sein, übrig geblieben sein antutschen – anstoßen, zusammenstoßen, aneinanderschlagen (auch: tutschen) aufkranzen – das Vieh zum Abtrieb von der Alm schmücken aufstricken – die Ärmel aufrollen, aufkrempeln ausgeschult (sein, werden) – die Schule beenden, weil die Schulpflicht erfüllt bzw. eine entsprechende Altersgrenze erreicht wurde ausgesteuert (sein, werden) – ausgeschlossen von Versicherungsleistungen, speziell der Arbeitslosenunterstützung, nach länger dauernder Arbeitslosigkeit (v. a. in den 1930erJahren) ausraufen – ausrupfen, ausreißen Ausspeisungshäferl – ein kleines Geschirr, das von zu Hause mitgebracht werden musste, um an der Schulausspeisung teilnehmen zu können auswendig – außen Bahö – Tumult, Lärm, Wirbel Barchent – ein Mischgewebe aus Baumwolle auf Leinenkette, das glatt, auf einer oder auf beiden Seiten aufgeraut ist Bloch – gefällter und entrindeter Baumstamm Blutgröstl – ein Gericht aus Blutwurst und Erdäpfeln; dafür werden zuerst die Erdäpfel angebraten, anschließend wird die Blutwurst mitgeröstet (auch: Blunzengröstl) Bolero – ein kurzes, vorne offenes Jäckchen Brennsuppe – Einbrennsuppe: in Fett geröstetes Mehl (Einbrenn) wird mit Wasser verquirlt, fallweise werden noch Eier eingerührt Breverl, auch: Breferl – Wallfahrtsandenken; eine Miniatur-Devotionalie, hauptsächlich in Österreich und Süddeutschland verbreitet brocken – pflücken Buchteln – Mehlspeise aus Germteig Buckelkraxe – Rückentragekorb 222

Budel – Ladentisch Dati – Vater daun – dann Deputat, auch: Deputatszuteilung – Gehalts- oder Lohnanteile, die nicht in Geld, sondern in Form von Sachleistungen abgegolten werden derfat – dürfte derpacken – etwas schaffen, bewältigen durchnass – durch und durch nass eam – steht für: ihn bzw. ihm einstrahn – einstreuen; Sägespäne, gehacktes Stroh oder kurz geschnittene Zweige auf den Stand- bzw. Liegeplatz der Tiere im Stall streuen Eirama – Einräumer, hält die Straßen instand eppa – etwa, vielleicht Erdäpfelsterz – steirisches Gericht, wird zu saurer Rahmsuppe gegessen; die Erdäpfel werden in Salzwasser gekocht, mit Mehl zusammengestampft und anschließend in reichlich Schmalz geröstet. Essigbeeren – Beeren der Berberitze (berberis vulgaris), rote Beeren, säuerlich und vitaminreich Etagere – Stellage, Gestell fassen – groß einkaufen Feitel – Taschenmesser mit Holzgriff und nur einer Klinge Franck-Feigenkaffee – eine Markenbezeichnung Franzbranntwein – zum Einreiben, besteht meist aus reinem Alkohol, Kampfer, Menthol und verschiedenen Duftstoffen wie Fichtennadel- oder Latschenkieferöl Frattenhaufen – angelegte Haufen aus abgefallenem oder abgeschnittenem Reisig, Laub usw.; zusammengeschlichtetes, auf dem Holzschlag zurückgelassenes Geäst (auch: Fratten, Fratthaufen) Frauentag – Marienfeiertag Fräuln – von Fräulein; hier die Bezeichnung bzw. Anrede für eine Lehrerin fretten – sich abarbeiten, sich abmühen, sich kümmerlich durchbringen 223

friara – früher Frühsuppe – Morgenmahlzeit gführig, von: geführig – besser befahrbar (gführiger Schnee) Gjurgitog – Georgitag, Fest des heiligen Georg am 23. April glabn – glauben Glumpert, auch: Glump – wertloses Zeug Grabnbölli – ungehobelter, grober Mensch; jemand, der durch unmögliches Benehmen und/oder begrenzten Horizont auffällt (Bölli ist ein altsteirisches Wort für: Stier, Bulle) Granten – Preiselbeeren Graundner – Trog, Futtertrog (auch: Grand, Grander) grehrt, von: rehren – weinen, brüllen Groanägl – schmerzhaftes Prickeln in Fingern und Zehen, verursacht durch Frost und Kälte (auch: Boanägl) Grummet – die zweite Mahd, der zweite Grasschnitt gschiacht – geschieht Haartrog – Trog, in dem ein geschlachtetes Schwein enthaart wird Haftel – Verschluss, bestehend aus einer Öse und einem Häkchen heier – heuer heign – heuen, Heu machen, Heu einbringen Heindl – Haue, Harke, Gerät zur Garten- und Feldarbeit Hendlfleisch – Hühnerfleisch hiatz – jetzt Hiefel – Holzstangen mit Sprossen, auf denen das Heu zum Trocknen aufgehängt wird (auch: Hüfel, Hiefler) Hollersuissen – aus Holunder hergestelltes Heilmittel, siehe auch „Suisse“ Hube – kleineres bäuerliches Anwesen Hundssalbe, auch: Hundsfett – Hundefett; Hausmittel, z. B. gegen Lungenleiden und Schwindsucht husi – schnell, rasch, geschwind Hutsche – Schaukel in Gotts Naum – in Gottes Namen Ingerlgrummet – von Enkel (Ingerl), die dritte Mahd im Jahr inwendig – innen 224

Irchene – Kniebundhose aus Leder (weißgegerbtes Bocksleder) italienische Puppe – in den Fünfzigerjahren begehrtes Mitbringsel aus Italien; eine Puppe mit Kulleraugen, langen Locken und einem prächtigen, langen, gerüschten Seidenkleid, die nicht zum Spielen gedacht war, sondern meistens als Zierde auf das gemachte Bett gesetzt wurde. Jankerl – Trachtenjacke, hier gestrickt; das Steirerjankerl ist grau mit grüner Einfassung kafn – kaufen Kaiberl, Kaibl – Kalb kampeln, gekampelt – kämmen, gekämmt Kastner & Öhler – seit 1883 in Graz bestehendes Groß- und Versandkaufhaus Kaundl – Kanne, Gefäß mit Henkel kemman; kemmps – (sie) kommen; (ihr) kommt Keusche – ärmliche Unterkunft, kleines Haus, vor allem der Landbevölkerung ohne eigenen Grundbesitz kimm; kimmp – ich komme, komm!; (er, sie, es) kommt Kletzenbrot – Brot mit eingebackenen gedörrten Früchten, vor allem Birnen (Kletzen) Költn – Kälte Köperband – festes Band aus Gewebe in Köperbindung; die Köperbindung ist eine Grundbindungsart und am schräg verlaufenden Grat zu erkennen. Das bekannteste Gewebe dieser Art ist der Jeansstoff. Kotze – grobe Wolldecke Krätzen – Schorf kumman; kummt – kommen, gekommen; (er, sie, es) kommt Lampas – seitlicher grüner Streifen an der Hose des Steireranzugs leiern – Bezeichnung für das manuelle Antreiben der Milchzentrifuge zum Entrahmen der frischen Milch; in übertragener Bedeutung für das ausdruckslose, langweilige Vortragen, zum Beispiel von Gedichten (auch: herunterleiern) Linde-Kaffee – eine Kaffeemarke; eine Mischung aus Gerstenmalz, Roggen und Zichorien Maipfeiferl – Pfeifchen aus jungem Birken- oder Weidenholz 225

Maiwipferl – die jungen Triebe von Tannen und Fichten, aus denen ein Hustensaft gewonnen wird Mandlkalender – Bauernkalender, benannt nach den „Mandln“, kleinen Abbildungen von Heiligen; darüber hinaus enthält er auch Symbole für das zu erwartende Wetter Marktfieranten – Wanderhändler Melchsechter – Melkeimer Miliartuberkulose – Form der Tuberkulose, bei der neben der Lunge weitere Organe befallen werden; unbehandelt liegt die Sterblichkeit bei nahezu 100 Prozent Moar – von Maier; Erster bzw. Erste in der Hierarchie der Dienstboten eines Hofes (auch: Moarknecht, Moardirn) Moschbeere – Vogelbeere neamp – niemand ois – alles, als Pflichtjahr – in der Zeit des Nationalsozialismus mussten alle unverheirateten Frauen zwischen dem 14. und 25. Lebensjahr vor dem Eintritt ins Erwerbsleben (ausgenommen Arbeitsplätze in der Land- und Hauswirtschaft) für die Dauer eines Jahres verpflichtend einen Dienst verrichten, vor allem auf Bauernhöfen oder in kinderreichen Familien Polenta – Maisgrieß Post-Wieser – Bezeichnung eines Hauses in St. Georgen, zur Unterscheidung von anderen Familien mit dem Namen Wieser Putitze – eine Mehlspeise; fingerdick ausgerollter Germteig wird mit einer Nuss- oder Mohnfülle belegt und so von beiden Seiten zusammengeschlagen, dass die offene Mitte nach oben zeigt (auch: Potitze) Putscherl – Schweinchen rachn – rauchen; in den Rauhnächten mit Weihrauch durch Haus, Hof und Stall gehen, um Unheil abzuhalten Rain – unbebauter Grenzstreifen zwischen Feldern Rast & Gasser – eine der ältesten und bedeutendsten österreichischen Nähmaschinenfabriken Rauhnächte – Bezeichnung für vier Nächte um die Jahreswende: Thomasnacht (21./22. Dezember), Christnacht (24./25. De226

zember), Silvesternacht (31.12./1.1.) und die Nacht vor dem Dreikönigstag (5./6. Jänner), in denen nach dem Volksglauben durch verschiedene Bräuche Unheil von Haus und Hof abgehalten oder in die Zukunft geblickt werden kann. rehren, auch: grehrt – weinen, brüllen; geweint reimen (es wird si ois reimen) – es wird alles wieder recht, es wird sich alles fügen Rein – flacher Topf Riffel – eine kleine, oben offene Holzkiste mit kammartigen Zähnen an einer Seite; wird als Pflückgerät für Schwarzbeeren oder Granten (Preiselbeeren, Moosbeeren) verwendet: Man fährt damit durch den Beerenbusch und rebelt die Beeren ab, die Äste werden durch den Drahtkamm gezogen, und die Beeren bleiben in der Riffel. Rohnen – rote Rüben Roratemesse – tägliche Frühmesse im Advent; benannt nach dem Eröffnungsvers: „Rorate caeli desuper“ (Jesaja 45,8: „Tauet, ihr Himmel, von oben“) Rumpelnudeln – werden nach einem „guten“ Sommer von Sennerinnen zum Almabtrieb aus Mürb- oder Germteig hergestellt; die lange Teigwurst wird in kleine Stücke geschnitten, in Schweineschmalz herausgebacken und danach mit Zucker und Zimt bestreut. Safnsiadn – Seifensieden Salse – eine säuerliche, hausgemachte Marmelade schiagen – verraten, anschwärzen, verpetzen schiagln – schielen Schulausspeisung – Versorgung von Kindern mit warmem Essen, vor allem nach den beiden Weltkriegen Schwarzbeeren – Heidelbeeren, Blaubeeren Schweizer Kreuz – runde, weißlich-durchsichtige Zuckerl mit einem erhabenen Kreuz Schwoagerin – Sennerin segn – sehen Seiersuppe, auch: Seisuppe – Mehlsuppe, mit saurer Buttermilch angerührt, dazu kommt ein wenig Rahm Semmelkren – Beilage zu Fleischspeisen, besteht aus in Sup227

pe zu einem Brei gekochten Semmeln und gerissenem Kren (Meerrettich) siachst – siehst Skapulierfest – katholisches Fest am 16. Juli: „Gedächtnis Unserer Lieben Frau vom Berge Karmel“; seit dem Ende des 14. Jahrhunderts begingen die Karmeliter dieses Fest zugleich als Skapulierfest. Ein Skapulier (lat. Schulterkleid) ist ein körperbreiter Tuchstreifen, der nach vorn und hinten abfallend über der Kutte als Zeichen der besonderen Marienverbundenheit getragen wird. Benedikt XIII. dehnte das Fest 1726 auf die ganze Kirche aus. Soda – ein Salz, das als Waschmittel verwendet wird Sog – Säge Sparherd – kleiner, transportabler Herd, im Gegensatz zum traditionellen eingemauerten Küchenherd Speis – Speisekammer Speisgitter – Kommuniongitter in einer Kirche, trennt den Altarraum vom Kirchenschiff; oft ein schmiedeeisernes Gitter mit einer niedrigen Holzbank zum Knien stantape, von: stante pede – sofort, sogleich, auf der Stelle Stephanitag – der zweite Weihnachtsfeiertag (26. Dezember) Steirerkas – sehr würziger Käse; hergestellt wird der Steirerkäse aus gereiftem Magertopfen, dem Gewürze (Kümmel, Salz, Pfeffer) und Milch hinzugefügt werden Stiermilch – gesulzte Milch; altes Bauernrezept: Von der kalten Milch ein wenig in ein Häferl geben und das Mehl damit verrühren. Die restliche Milch erhitzen, die Mehlmilch eingießen, Salz und Zucker dazugeben und unter Rühren zu einem dicklichen Brei verkochen. Zum Schluss die verquirlten Eier und die Rosinen beimengen, heiß servieren. Stollwerck – kleines, klebriges Karamell-Kauzuckerl, eingewickelt in weißes Papier; benannt nach dem Hersteller Suisse(n), auch: Hollersuissen, von: Salse – Fruchtgelee, zu Mus verkochte Früchte Suppenessen – Bezeichnung für die Morgenmahlzeit Sympathiemittel – Hausmittel, volkstümliches (Wunder)heilmittel, oft auch geheim gehalten 228

Taschenfeitel – einfaches Taschenmesser Tocken – Gebilde aus mehreren Getreidegarben, die zum Trocknen aufgestellt wurden (auch: Docken) trockenstehen – Bezeichnung für den Umstand, dass Nutztiere keine Milch geben, wenn sie trächtig sind Tschantsch – Tand, wertloses Zeug, Spielzeug überhaps – oberflächlich, beiläufig uma – vorbei, herum Umadumstall – Stall, in dem die Tiere in kleineren Abteilungen um einen in der Mitte stehenden Futtertrog herumgehen können und aus dem der Mist nur in längeren Abständen entfernt wird Umgang – Prozession, Fronleichnamsprozession Viecher – das Vieh, Tiere im Allgemeinen vül – viel Wachsstock – mit Wachs überzogene Dochte, die zu verschiedenen Gebilden geformt und oft kunstvoll verziert wurden wean – werden weani – wenig Weihbrunn – Weihwasser, auch: Gefäß für das Weihwasser Weihfleisch – wird zu Ostern in der Kirche geweiht (Speisenweihe, Fleischweihe); das erste nach der Fastenzeit zum Verzehr vorgesehene Schweinefleisch Weihkorb – enthält Fleisch (Geselchtes oder Schinken), Würste, Ostereier, Brot, Salz und Kräuter und wird zu Ostern zur Speisensegnung bzw. Speisenweihe in die Kirche getragen Werchtagsgwand – Werktagsgewand wiastn, von: wüsten – verschwenden, vergeuden Winterfenster – häufig wird bei älteren Häusern mit einfachen Außenfenstern im Winter ein zweites Fenster dahinter montiert, das im Frühling wieder entfernt wird Wix, von: wichsen – Schläge woa, woan – war, waren Woaza – Weißbrot, auch gefüllt (zum Beispiel mit Rosinen) wuzeln – eine Zigarette drehen zahn – tragen, schleppen zan – zum 229

zerscht – zuerst ziagn – ziehen Ziglkind – Ziehkind Zottenklescher – Lumpensammler, schlecht gekleideter Mensch Zuggalwerch – Zuckerl, Zuckerwerk zurücktaufen – man darf Kinder nicht nach Heiligen benennen, deren Jahrestag im Kalender zum Zeitpunkt der Geburt schon vorüber ist, weil das Unglück bringt; man darf aber dem Kind jenen Namen geben, der am Tauftag im Kalender steht. zuwi – hinzu

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„Damit es nicht verlorengeht ...“ ist ein Leitmotiv vieler Menschen, die sich im fortgeschrittenen Alter verstärkt mit ihrer Lebensgeschichte beschäftigen und selbst Erlebtes in der einen oder anderen Form zu dokumentieren versuchen. Daran orientiert sich der Titel dieser Buchreihe, die seit 1983 besteht und vom Verein „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ herausgegeben wird. Persönliche Erinnerungstexte bieten vielfältige Einblicke in vergangene Lebens-, Arbeits- und Beziehungsverhältnisse und können das Verständnis für Alltagsgeschichte und historischen Wandel sowie für unterschiedliche Denkweisen und Traditionen erweitern. Über den privaten Familienkreis hinaus haben solche Selbstzeugnisse in den letzten Jahrzehnten in vielen gesellschaftlichen Bereichen als sozial-, kultur- und zeitgeschichtliche Dokumente Aufmerksamkeit gefunden. Aus diesem Grund wurde am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien die „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ eingerichtet, ein Textarchiv, in dem schriftliche Lebensaufzeichnungen aller Art (Autobiographien, kürzere Erinnerungstexte, Tagebücher, Familiengeschichten, Chroniken usw.) gesammelt, wissenschaftlich genutzt und für fachlich Interessierte bereitgestellt werden. Die Leserinnen und Leser sind eingeladen, Beiträge zu dieser Textsammlung zu leisten, indem sie eigene lebensgeschichtliche Texte oder überlieferte Aufzeichnungen von Vorfahren zur Verfügung stellen oder uns auf entsprechende Materialien in Privatbesitz aufmerksam machen. Ebenso freuen wir uns über Kontakte zu schreibfreudigen Menschen, die sich durch das Motto der Buchreihe angesprochen fühlen. Kontaktadresse: Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ Dr.-Karl-Lueger-Ring 1, 1010 Wien (z. H. Mag. Günter Müller) Tel. +43 (0)1/4277-41306; E-mail: [email protected] http://lebensgeschichten.univie.ac.at http://MenschenSchreibenGeschichte.at