Karl Marx und die Menschlichkeit [1 ed.]
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Karl Marx und die Menschlichkeit Von Hubert Kiesewetter

Duncker & Humblot · Berlin

HUBERT KIESEWETTER

Karl Marx und die Menschlichkeit

Karl Marx und die Menschlichkeit Von Hubert Kiesewetter

Duncker & Humblot · Berlin

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Leopold Schwarzschild (1891–1950) zur Erinnerung

Vorwort Im Jahr 1913 gaben der Führer der deutschen Sozialdemokratie, August Bebel (1840–1913), und der sozialistische Revisionist Eduard Bernstein (1850–1932), die Engels vor seinem Tod am 6. August 1895 als Erben seines literarischen Nachlasses sowie des gesamten Briefwechsels eingesetzt hatte, eine vierbändige Ausgabe des Briefwechsels zwischen Karl Marx und Friedrich Engels heraus. Aus falscher Pietät gegenüber den Begründern des revolutionären Marxismus oder weil sie deren Handschriften nicht richtig entziffern konnten, ist dieser Briefwechsel lückenhaft und viele Briefe wurden weggelassen, die ein charakterlich ungünstiges Licht auf diese Heroen des marxistischen Sozialismus hätten werfen können. In seinen einleitenden Bemerkungen („Anmerkungen“) zum 1. Band schrieb Bernstein beschönigend und verfälschend: „Nur wo besonders intime Verhältnisse behandelt wurden, an die sich kein allgemeineres Interesse irgendwelcher Art knüpft, wo gleichgültige Dinge über ganz und gar gleichgültige Personen erwähnt werden, schienen Streichungen gerechtfertigt. Fortgelassen sind auch hier und dort mißfällige Bemerkungen über dritte Personen, doch betrifft dies nur solche Äußerungen, die kein politisches oder wissenschaftliches Urteil einbegriffen, das nicht schon in vorhergegangenen Briefen deutlich ausgesprochen ist.“ Es ist das große Verdienst des Leiters des Marx-EngelsInstituts in Moskau, David Rjazanov (1870–1938), daß er seit 1924 nicht nur die Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) herausgab, sondern auch den vollständig erhaltenen Briefwechsel zwischen Marx und Engels. Als marxistischer Kommunist geriet er wegen seiner Kontakte zu im Exil lebenden Menschewiki in einen unüberbrückbaren Konflikt zum russischen Diktator Jossif W. Stalin (1879–1953) und wurde am 21. Januar 1938 nach einer 15minütigen geheimen Gerichtsverhandlung in Saratow erschossen.

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Vorwort

Der vollständige Briefwechsel, der zum größten Teil auch in die in der Deutschen Demokratischen Republik veröffentlichten Marx-Engels-Werke (MEW) eingegangen ist und dort neun voluminöse Bände umfaßt, enthüllt die tatsächlichen Intentionen der beiden Begründer des sogenannten ,wissenschaftlichen Sozialismus‘ und der ,materialistischen Geschichtsauffassung‘ bzw. des ,dialektischen Materialismus‘. Er zeigt aber vor allem, daß Karl Marx weder arbeiter- noch menschenfreundlich war und daß sein vielgelobtes Eintreten für die angeblich unterdrückte und ausgebeutete Arbeiterklasse weitgehend taktisch motiviert war, um das verdammte kapitalistische System durch eine gewaltsame Revolution zu beseitigen. Wenn heute, über zwei Jahrzehnte nach dem erdrutschartigen Zusammenbruch marxistisch-leninistischer Staaten, politische Linksromantiker und hohe kirchliche Würdenträger die unmenschlichen Lehren von Marx rehabilitieren zu können glauben, dann kann man ihnen nur empfehlen, sich gründlicher mit dessen enthüllendem Briefwechsel auseinanderzusetzen. Um der Legendenbildung nicht noch größeren Raum zu geben, versuche ich in den folgenden Ausführungen die eigentlichen Hintergründe von Marx’ unerbittlichem Kampf gegen seine wirklichen und eingebildeten Feinde anhand des Briefwechsels und einiger wichtiger Schriften aufzudecken. Marx’ historische Bedeutung liegt nämlich nicht in seinem selbstzerfleischenden Kampf für die materiellen Interessen der Arbeiterklasse, sondern in der vielseitigen Propaganda für die endgültige Vernichtung der kapitalistischen Staaten, die in der totalitären Sowjetunion und anderen kommunistischen Herrschaftssystemen über 70 Jahre lang vergeblich versucht wurde. Ich widme diese Abhandlung Leopold Schwarzschild, der am 8. Dezember 1891 als Sohn einer alten Frankfurter jüdischen Kaufmannsfamilie geboren und 1933 von den Nationalsozialisten aus Berlin vertrieben wurde, nachdem sein Vermögen beschlagnahmt und seine Schriften verboten worden waren. Von seinem Exil in Paris, wo er mit anderen Schriftstellern den Bund Freie Presse und Literatur gründete, um sich gegen jede totalitäre Bevormundung durch nationalsozialistische oder

Vorwort

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stalinistische Machthaber zu wehren, emigrierte er 1940 nach New York. Schwarzschild war einer der ersten, der den vollständigen Briefwechsel zwischen Marx und Engels systematisch auswertete und in seinem zuerst 1947 veröffentlichten Buch The red Prussian einer interessierten Öffentlichkeit kenntlich machte. Eichstätt, im April 2010

Hubert Kiesewetter

Inhaltsverzeichnis I.

Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II.

Jugend und Studium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III.

Redakteur der Rheinischen Zeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV.

Mit Arnold Ruge in Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V.

Die Entdeckung der Arbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VI.

Abrechnung und Exil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VII. Revolution, Kommunismus, Diktatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VIII. Terror gegen Freund und Feind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IX.

Die Vernichtung des kapitalistischen Systems . . . . . . . . . . . . . .

78

X.

Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Vorbemerkung Der unerwartete und erdbebenartige Zusammenbruch kommunistischer Herrschaftssysteme vor zwei Jahrzehnten, vor allem der Sowjetunion (UdSSR) sowie der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), war verkoppelt mit der anscheinend endgültigen Desavouierung des Marxismus. In den kommunistischen Staaten war mit großer Deutlichkeit sichtbar geworden, daß die marxistisch-leninistische Ideologie einer Befreiung der Menschen von kapitalistischer Unterdrückung in der politischen Realität der UdSSR oder der DDR zu totalitären Formen menschlicher Ausbeutung unter Verachtung von Freiheitsrechten geführt hat. Der theoretische Urvater aller dieser kommunistischen Systeme, Karl Marx (1818–1883), die „sich in der Existenz Sowjetrußlands manifestiert“1 hatten, hätte eigentlich ebenso in diesen totalitären Abgrund hineingerissen werden müssen wie diese Staaten, die sich von Anfang bis zum Ende auf seine Lehren beriefen. Aber eigentümlicherweise wird Marx heute nicht nur von der politischen Linken wieder zu rehabilitieren versucht, sondern auch höchste Würdenträger der katholischen Kirche sehen in ihm einen vorbildhaften Kämpfer gegen soziale Ungerechtigkeiten, obwohl Marx und der Marxismus einen intoleranten Atheismus gepredigt und durchgesetzt haben, der nur schwer mit einer christlichen Ethik vereinbart werden kann. So schreibt etwa sein Namensvetter, der Erzbischof von München und Freising, daß wir Marx Unrecht täten, „wenn wir bestreiten würden, dass es auch ihm um die Verwirklichung der Freiheit gegangen ist“.2 1 Leopold Schwarzschild: Der rote Preuße. Leben und Legende von Karl Marx, Stuttgart 1954, S. 9. 2 Reinhard Marx: Das Kapital. Ein Plädoyer für den Menschen, München 2008, S. 40. Marx stünde auf dem Boden der aufklärerischen Freiheitsphilosophie, die die tatsächlichen Lebensbedingungen der Men-

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I. Vorbemerkung

Sie können ja eigentlich nicht die Aussage von Marx und Engels im Kommunistischen Manifest gemeint haben: „Der christliche Sozialismus ist nur das Weihwasser, womit der Pfaffe den Ärger des Aristokraten einsegnet.“3 Papst Benedikt XVI. kritisiert zwar an Marx, daß er wegen seines materiellen Denkens die eigentliche Tiefe der Entfremdung nicht ermessen habe, doch hätte er „ein anschauliches Bild für den Menschen geliefert, der unter die Räuber gefallen ist“.4 Und neuerdings fordert sogar die Vatikanzeitung Osservatore Romano eine Rückbesinnung auf die Lehren von Karl Marx, weil die sozialistischen Diktaturen seine Lehren „bis zur Unkenntlichkeit entstellt“5 hätten. Wenn wir aber die haßerfüllten Angriffe auf Freunde wie Feinde Revue passieren lassen, dann reicht auch nicht die verständnisvolle Entschuldigung, um Marx zu rehabilitieren: „Marx vertrat in allen diesen Kämpfen die Sache des wissenschaftlichen Kommunismus, das Prinzip der proletarischen Diktatur.“6 Dieser offenbar unausrottbaren Legende von dem menschen- bzw. arbeiterfreundlichen Karl Marx und seiner Lehren bzw. seiner Theorien sollen hier ein paar kritische Argumente entgegengestellt werden. schen verbessern wollte. „Marx wollte statt einer bloß formellen Freiheit die reale Freiheit aller Menschen verwirklicht sehen.“ (S. 42) 3 Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei (1848), in Karl Marx/Friedrich Engels: Werke (abgekürzt: MEW). Bd. 4, Berlin 1971, S. 484. 4 Joseph Ratzinger. Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth. 1. Teil: Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung, Freiburg im Breisgau 2007, S. 240. 5 So der deutsche Jesuit Georg Sans von der Päpstlichen GregorianaUniversität in Rom. Zitiert in: Vatikanzeitung lobt Karl Marx, in: Donaukurier vom 22. Oktober 2009. 6 David Rjazanov: Einleitung zu Karl Marx/Friedrich Engels: Historisch-kritische Gesamtausgabe. III. Abteilung, Bd. 1: Briefwechsel, Berlin 1929, S. XXVI. Selbst wenn die rechtfertigende Aussage richtig wäre: „Alles, was Marx so eifrig verschwieg, was er auch seinen nächsten Ideengenossen verheimlichte: lange Jahre bitterer Not, politischer Isoliertheit, hingebungsvoller Arbeit, das qualvolle Märtyrertum der unerbittlichen kleinen Schicksalsschläge“ (S. XL); dies käme in dem Briefwechsel ans Tageslicht. Trotzdem kann man daraus nicht die moralische Berechtigung ableiten, die engsten Freunde zu denunzieren und sie der erniedrigenden Lächerlichkeit preiszugeben.

II. Jugend und Studium Karl Marx entstammte väterlicherseits einer Familie, die 150 Jahre lang jüdische Rabbiner in Trier gestellt hatte, ehe sein Vater, der Rechtsanwalt am Trierer Ober-Appellationshof Herschel Marx, sich im Herbst 1816 protestantisch taufen ließ und den Vornamen Heinrich annahm. Seine Mutter, Henriette Preßburg aus dem holländischen Nimwegen, konnte in ihrer Familie ebenfalls auf Generationen von Rabbinern zurückblikken. Sie wollte sich nach ihrer Heirat mit Heinrich Marx jedoch nicht taufen lassen. Als Karl Heinrich Marx am 5. Mai 1818 geboren wurde, gehörte deshalb seine Mutter dem jüdischen und sein Vater dem protestantischen Glauben an, aber am 26. August 1824 wurden alle sieben Kinder protestantisch getauft, während die Mutter erst am 20. November 1825 die evangelische Religion annahm. Karl bewunderte seinen Vater, aber gegenüber seiner Mutter hegte er einen gewissen Widerwillen, da sie ein fehlerhaftes Deutsch mit starkem holländischem Akzent sprach und schrieb.7 In der Schule und auf dem humanistischen Gymnasium, das er im Herbst 1835 mit dem Abitur abschloß, brillierte er mit guten Kenntnissen und gewandter Rede, aber sein arrogantes Verhalten und sein höhnisches Gehabe führten dazu, daß er zu seinen Mitschülern fast

7 Eine kurze Kostprobe des Stils der Mutter in einer Nachschrift an einen Brief von Marx’ Vater von Anfang 1836: „lieber theurer Carl! Dein unwohlseyn hat uns sehr betrübt, doch hoffe und wünsche ich das du wieder hergestellt seyn wirst – und obschon ich seher ängstlich in hinsicht der gesundheit meiner lieben Kinder bin, so bin ich doch überzeugt das wen du lieber Carl vernünftig ha[n]delst du ein hohes alter erreichen kanst – aber dazu must du alles vermeiden was das übel steigeren kan, du darfst dir nicht zu sehr erhitzen nicht viel Wein noch Cafée trinken und nichts scharfes viel pfeffer oder sonst gewürts genießen, darfs kein taback rauchen nicht zu lang aufbleiben abends und früh aufstehen . . .“. MEW, Ergänzungsband. 1. Teil, Berlin 1977, S. 622.

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II. Jugend und Studium

keinen menschlichen Kontakt aufbauen konnte und keine Freundschaften entwickelte. Der junge Marx fühlte sich eher zu dem Geheimen Regierungsrat Ludwig von Westphalen hingezogen, der Leiter der Königlich Preußischen Provinzregierung war und dessen Tochter Jenny mit Karls älterer Schwester Sophie in die gleiche Schule ging. Karl war nicht nur ein aufgeweckter und kluger Kopf, sondern sein Lesehunger und sein ständiges Exzerpieren, seine „Lettern- und Tintengier war auch: Flucht“.8 Er entwickelte eine beeindruckende Kunst des scharfsinnigen Argumentierens und Diskutierens, die selbst einem preußischen Aristokraten wie Westphalen imponierte. Man kann es für einen jungen und hübschen Mann als eine ungewöhnliche Fähigkeit ansehen, bei einer normalen Unterhaltung philosophische und literarische Zitate einzustreuen. Doch davon war wohl auch die vier Jahre ältere und bildhübsche Jenny von Westphalen beeindruckt, eine Enkelin des schottischen Duke of Argyll, die trotz heftigen Widerstandes ihrer Familie Karl Marx am 19. Juni 1843 heiratete. Vor allem der Halbbruder von Jenny, Ferdinand Otto Wilhelm von Westphalen (1799–1876) – von 1850 bis 1858 preußischer Innenminister –, sah die ganze Familienehre beschmutzt, wenn ein Atheist, getaufter Jude und Zeitungsschreiber in diesen Großadel einheiraten würde. Marx schrieb dazu am 13. März 1843 an Arnold Ruge: „Ich bin schon über sieben Jahre verlobt, und meine Braut hat die härtesten, ihre Gesundheit fast untergrabenden Kämpfe für mich gekämpft, teils mit ihren pietistisch-aristokratischen Verwandten, denen ,der Herr im Himmel‘ und der ,Herr in Berlin‘ gleiche Kultusobjekte sind, teils mit meiner eignen Familie, in der einige Pfaffen und andere Feinde von mir sich eingenistet haben.“9

8 Fritz J. Raddatz: Karl Marx. Der Mensch und seine Lehre (1975). 2. Aufl., München 1978, S. 282. 9 Karl Marx/Friedrich Engels: Historisch-kritische Gesamtausgabe (abgekürzt: MEGA). I. Abteilung, Band 1, 2. Halbband (1929). Neudruck Glashütten im Taunus 1970, S. 307.

II. Jugend und Studium

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Mit 17 Jahren begann für Karl Marx das Studentenleben an der Universität Bonn im Fach Philosophie und nicht Rechtswissenschaft, wie sein Vater es gewünscht hatte. Die ersten Monate waren allerdings weniger mit eifrigem Studium ausgefüllt, sondern eher mit übermütigen Jungenstreichen bzw. üblen Studentensitten. Die Bonner Polizei belangte ihn wegen „nächtlichen ruhestörenden Lärmens und Trunkenheit“,10 worauf er von der Universität mit einer Disziplinarstrafe belegt wurde. Marx’ Vater, der dieses Treiben finanzierte und außer dem Monatswechsel ständig von seinem Sohn zu weiteren Geldzahlungen aufgefordert wurde, verlor zunehmend die Geduld über dessen liederliches Verhalten und teilte ihm mit, daß eine blendendste Karriere weniger wichtig sei als ein anständiger Charakter: „Ich lasse Dir viel Gerechtigkeit widerfahren, aber ich kann mich nicht ganz des Gedankens entschlagen, daß Du nicht frei von Egoismus bist, etwas mehr, als zur Selbsterhaltung nötig . . . Entschuldige Dich nicht mit Deinem Charakter. Klage die Natur nicht an. Sie hat Dich gewiß mütterlich behandelt . . . Nein, Schwachheit, Verzärtlung, Eigenliebe und Dünkel allein reduzieren so alles auf sich und lassen die teuersten Gebilde in den Hintergrund treten!“11 Schließlich sickerte die Geschichte durch, deren Hintergründe nie ganz aufgeklärt werden konnten, daß Karl in Köln ein Duell mit Pistolen bestritten habe. Als er die Bonner Universität einige Monate später verließ, wurde in seinem Abgangszeugnis vom 22. August 1836 vermerkt, daß er „verbotene Waffen in Köln getragen habe. Die Untersuchung schwebt noch.“12 10 Abgangszeugnis der Universität Bonn für Marx vom 22. August 1836, in ebd., S. 194. 11 Ebd., S. 206. Brief des Vaters an Marx vom 12. August 1837. 12 Ebd., S. 194. Nach einem Jahr Studium von Karl Marx in Berlin waren dem Vater, der einen tuberlosekranken Sohn und noch fünf minderjährige Töchter versorgen mußte, die überschäumenden Ausgaben des Sohnes zuviel geworden, weshalb er anklagte: „Als wären wir Goldmännchen, verfügt der Herr Sohn in einem Jahre für beinahe 700 Taler, gegen alle Abrede, gegen alle Gebräuche, während die Reichsten keine 500 ausgeben.“ MEW, Ergänzungsband. 1. Teil, Berlin 1977, S. 639. Brief von Heinrich an Karl Marx vom 9. Dezember 1837.

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Der besorgte Vater, der nicht herausfinden konnte, ob sein Sohn bei dem Duell verwundet worden war, erinnerte diesen noch kurz vor seinem Tod daran, daß er in einer problematischen Sache, nämlich dem Duell in Köln, von ihm keine Aufklärung erhalten hätte. In dem resignierten Bewußtsein einer verlorenen väterlichen Autorität schrieb er Mitte 1836 an den Sohn in Bonn halb ironisch, halb zornig: „Und ist denn das Duellieren so eng mit der Philosophie verwebt? Es ist Achtung, ja Furcht vor der Meinung. Und welcher Meinung? Nicht grade immer der Besseren, und doch!!! So wenig ist überall im Menschen Konsequenz.“13 Karl Marx ging im Herbst 1836 an die 1810 nach dem Konzept der Einheit von Forschung und Lehre Wilhelm von Humboldts gegründete Friedrich-Wilhelm-Universität zu Berlin, wo er sich in der Leipziger Straße ein Zimmer mietete. Bei Eduard Gans (1797–1839), einem Schüler und Anhänger des am 14. November 1831 in Berlin gestorbenen Georg Wilhelm Friedrich Hegel, hörte Marx im Wintersemester 1836/37 Kriminalrecht und im Sommersemester 1837 Preußisches Landrecht mit der jedesmaligen Benotung „ausgezeichnet fleißig“.14 Aber ansonsten arbeitete er fast ununterbrochen an Manuskripten und Gedichtbänden und wollte sogar eine Zeitschrift für Theaterkritik gründen, für die bereits „sämtliche ästhetischen Berühmtheiten der Hegelschen Schule“15 ihre Mitwirkung zugesagt hätten, wie er dem Vater schrieb. Einige Zeitschriften, denen er Manuskripte zugesandt hatte, schickten diese ohne eine Bemerkung zurück, d.h. der sehnliche Wunsch, ein berühmter Dichter oder Schriftsteller zu werden, zerschellte an der uneinsichtigen Wirklichkeit. Darauf versank er in Selbstmitleid und in Größenwahn, behauptete, schwierigste wissenschaftliche Werke gründlich gelesen und exzerpiert, Werke aus dem Lateinischen und Griechischen übersetzt so13 MEGA. I. Abteilung, Band 1, 2. Halbband (1929). Neudruck Glashütten im Taunus 1970, S. 192. 14 Abgangszeugnis der Universität Berlin vom 30. März 1841, in ebd., S. 247 f. 15 Ebd., S. 220. Brief an den Vater vom 10. November 1837.

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wie zwei wissenschaftliche Werke über Rechtsphilosophie und Metaphysik verfaßt zu haben, die er allerdings alle verbrannt hätte, weil er damit unzufrieden gewesen sei. Der Vater wußte natürlich, daß kein Mensch – nicht einmal ein neunzehnjähriges Genie – eine solche Arbeitsleistung innerhalb eines Jahres vollbringen konnte und wies den Sohn zurecht, sich nicht bei dem kleinsten Sturm dem Herzensschmerz zu überlassen und kränkelnder Empfindlichkeit nachzugeben, sondern sein glückliches Talent in die Hand zu nehmen: „Möge der Allgütige es, soviel die gebrechliche Menschlichkeit es gestattet, treu Deinen Fersen folgen lassen. Aber auch der Glücklichste sieht trübe Stunden; keinem Sterblichen lächelt ewige Sonne. Aber von ihm, dem Glücklichen, darf man mit vollem Rechte fordern, daß er dem Sturm männlichen Mut, Fassung, Resignation, Heiterkeit entgegensetze. Mit Fug darf man fordern, daß das verflossene Glück ein Panzer werde gegen momentane Leiden.“16 Nachdem Marx’ Vater am 10. Mai 1838 gestorben war, blieb Karl noch drei Jahre in Berlin und lebte von dem Kapital, das seiner Mutter geblieben war. Eine willensmäßige Lähmung schien ihn ergriffen zu haben, zumindest was das Studium anbelangt, das er weitgehend vernachlässigte: „Er tat nichts, er schrieb nichts, er verfolgte keinerlei konkretes Ziel.“17 Er traf sich im Kaffehaus mit Gleichgesinnten, die sich scherzhaft der „Doctorklub“ nannten, weil einige von ihnen promoviert waren und an Gymnasien oder Universitäten Dozentenstellen innehatten, wie der Pastor Bruno Bauer, der Lehrer Karl Friedrich Köppen oder der Jung-Hegelianer Arnold Ruge. Nach fünf Jahren Studium ermahnte ihn sein Freund Bauer in Bonn, „daß Du mit dem lumpigen Examen fertig wirst und Dich ganz ungehindert Deinen logischen Arbeiten hingeben kannst“.18 Das ,lumpige Examen‘ bedeutete damals eine Pro16

Ebd., S. 207. Brief des Vaters an Marx vom 12. August 1837. L. Schwarzschild: Der rote Preuße (wie Anm. 1), S. 48. 18 MEGA. I. Abteilung, Band 1, 2. Halbband (1929). Neudruck Glashütten im Taunus 1970, S. 234. Brief von Bruno Bauer an Marx vom 11. Dezember 1839. 17

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motion, d.h., Marx schrieb eine Dissertation über die griechischen Philosophen Demokrit und Epikur, die er aber nicht in Berlin, sondern in Jena einreichte. Im Großherzogtum Weimar gab es damals die Möglichkeit, eine Dissertation mit den Gutachten per Post an eine dortige Universität zu schicken und wenige Tage später das Doktordiplom zu erhalten. Marx sandte am 6. April 1841 seine Dissertation, Gutachten und einen Bewerbungsbrief an den Dekan der philosophischen Fakultät der Universität Jena, der neun Tage später die Doktorurkunde für Carolus Enricus Marx, Trevirensis, unterzeichnete.19 Nun wollte sich Marx, der gerne eine Universitätslaufbahn als Philosoph eingeschlagen hätte, habilitieren, aber dazu bedurfte es einer gedruckten wissenschaftlichen Arbeit, um die Lehrerlaubnis, die venia legendi, zu erhalten. Bruno Bauer hatte eine theologische Professur an der Universität Bonn in Aussicht gestellt bekommen, und wenn Marx erst einmal habilitiert sei, könne er als Privatdozent in Bonn mit ihm zusammenarbeiten. Marx bereitete deshalb seine Dissertation zum Druck vor und schrieb zwei Widmungsblätter, die er seiner Arbeit voranstellen wollte und die vom Drucker probeweise gesetzt wurden. Das erste Blatt lautete: „Seinem teuern väterlichen Freunde, dem Geheimen Regierungsrate Herrn Ludwig von Westphalen zu Trier widmet diese Zeilen als ein Zeichen kindlicher Liebe der Verfasser.“20 Die zweite Widmung galt ebenfalls Westphalen: „. . . Möchten alle, die an der Idee zweifeln, so glücklich sein als ich, einen jugendstarken Greis zu bewundern, der jeden Fortschritt der Zeit mit dem Enthusiasmus und der Besonnenheit der Wahrheit begrüßt und mit jenem überzeugungstiefen, sonnenhellen Idealismus, der allein das wahre Wort kennt, vor dem alle Geister der Welt erscheinen, nie vor den Schlagschatten der retrograden Gespenster, vor dem oft finstern Wolkenhimmel der Zeit zurückbebte, son-

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Vgl. ebd., S. 256. MEW, Ergänzungsband. 1. Teil, Berlin 1977, S. 259. Das nächste Zitat auf S. 260. 20

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dern mit göttlicher Energie und männlich-sicherm Blick stets durch alle Verpuppungen hindurch das Empyreum schaute, das im Herzen der Welt brennt . . .“. Das Buch wurde aber nicht gedruckt, denn der Theologe Bauer hatte in seinen Bonner Vorlesungen seinen atheistischen Anschauungen freien Lauf gelassen, worauf die theologische Fakultät in außerordentlicher Empörung seine Bewerbung für eine Professur einstimmig ablehnte.21 Damit war auch die akademische Karriere von Karl Marx gestorben und die persönliche Enttäuschung auf einem dramatischen Höhepunkt angelangt. Dahinter konnte doch nur eine bösartige Verschwörung feindlicher Mächte stecken, Gottgläubige im Berliner Kultusministerium und feige Unterwürfigkeit der Bonner Theologen. Marx’ extreme Religionsfeindschaft und sein verdammender Atheismus schienen voll bestätigt worden zu sein.

21 Nachdem Bauer in Bonn Vorlesungen über die Kritik der protestantischen Theologie und das Leben Jesu angekündigt hatte, schrieb er am 5. April 1840 an Marx: „Die Katastrophe wird furchtbar und muß eine große werden, und ich möchte fast sagen, sie wird größer und ungeheurer werden, als diejenige war, mit der das Christentum in die Welt getreten ist. Und hier sollte man mit den Lumpen sich in persönliches, unendliches Disput einlassen?“ MEGA. I. Abteilung, Band 1, 2. Halbband (1929). Neudruck Glashütten im Taunus 1970, S. 241.

III. Redakteur der Rheinischen Zeitung Herr Dr. Karl Marx, bald 24 Jahre alt, mußte sich nun um eine andere Beschäftigung kümmern, und da traf es sich gut, daß ab 1. Januar 1842 in Köln die Rheinische Zeitung, die liberale Kaufleute mit einem Startkapital von 20.000 Talern gegründet hatten, mit dem Erscheinen begann. Es sollte ein politisches Gegengewicht gegenüber der Kölnischen Zeitung geschaffen werden, die katholische Interessen vertrat und mit der protestantischen preußischen Regierung über Kreuz lag. Die neue Zeitung erhielt vom Berliner Ministerium eine provisorische Konzession für ein Jahr, währenddessen der preußische Zensor die geschriebenen Artikel überprüfte, und stellte junge Kölner Intellektuelle als Redakteure ein. Auch Marx, der wieder in der Nähe seiner Verlobten in Trier weilte, wo seine Mutter von ihm verlangte, auf eigenen Füßen zu stehen und nicht von ihrer schmalen Rente zu leben, wurde aufgefordert, gelegentlich Artikel für die Zeitung zu schreiben, aber er hatte damit keine Eile. Auch Arnold Ruge war an ihn herangetreten mit der Bitte, einen Aufsatz für seine philosophische Zeitschrift Hallische Jahrbücher für Kunst und Wissenschaft zu verfassen, der das mildere Zensur-Edikt des 1840 an die Regierung gelangten preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. einer kritischen Betrachtung unterziehen sollte. Beides wurde von Marx auf die lange Bank geschoben, obwohl seine Mutter das weitere Parasitendasein ihres Sohnes nicht länger dulden und seine Bezüge kürzen bzw. demnächst ganz streichen wollte, weil sie jüngere Kinder zu versorgen hatte. Nun beklagte sich Marx bei Ruge über seine finanziellen Schwierigkeiten und bezeichnete das Verhalten seiner Mutter als eine „Lumperei“, weswegen er unfähig sei, etwas zu Papier zu bringen: „Ich bin, wie ich Ihnen schon einmal geschrieben, mit meiner Familie zerfallen und habe, solang meine Mutter lebt, kein Recht auf mein Vermögen.“22

III. Redakteur der Rheinischen Zeitung

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Der rheinische Kaufmannssohn Moses Hess (1812–1875), der 1841 das Buch Die europäische Triarchie23 veröffentlicht hatte und mit seinem 1862 erschienenen Werk Rom und Jerusalem24 zum Vorläufer des Zionismus und der Forderung nach einem eigenen sozialistischen Staat für die Juden wurde sowie als Mitbegründer der Rheinischen Zeitung unter Kölner Intellektuellen hervorragte, leitete für Marx eine entscheidende berufliche und intellektuelle Wende ein. Friedrich Engels nannte Hess, der ihn vom Kommunismus überzeugt hatte, „the first communist of the party“,25 doch die kommunistische Überzeugung von Hess entsprang der inneren Überzeugung, den Armen zu helfen, während Marx im Sommer 1843 Sozialist geworden war, um sich an den Mächtigen zu rächen. Die politischen Vorstellungen von Hess waren von denen Marx’ und Engels’ himmelweit entfernt, wie ein einziges Zitat belegen

22 Ebd., S. 294. Brief vom 25. Januar 1843. Es heißt dort weiter: „Ich bin ferner verlobt und kann und darf und will nicht aus Deutschland ohne meine Braut . . . In Deutschland kann ich nichts mehr beginnen. Man verfälscht sich hier selbst.“ 23 Vgl. Moses Hess: Die europäische Triarchie (1841). Reprint Amsterdam 1971. Hess meinte mit der ,europäischen Triarchie‘ Deutschland, Frankreich und England. 24 Vgl. Moses Hess: Rom und Jerusalem. Die letzte Nationalitätenfrage – 1862 –. Verkürzt, neugeordnet und eingeleitet von Theodor Zlocisti, Tel Aviv 1939. 25 Zitiert in MEGA. I. Abteilung, Band 2 (1930). Neudruck Glashütten im Taunus 1970, S. LXXVII (Einleitung). Von der Verehrung für Hess war bald nichts mehr zu spüren, nachdem dieser sich von den extremen Ansichten von Marx und Engels distanziert hatte. Engels schrieb am 15. Januar 1847 an Marx: „Ich habe mir hier in Paris einen sehr unverschämten Ton angewöhnt, denn Klimpern gehört zum Handwerk . . . Aber dies genotzüchtigte Exterieur des ehemals so welterschütternden Überfliegers Heß hätte mich fast entwaffnet . . . Genug, er ist von mir so kalt und spöttisch behandelt worden, daß er keine Lust haben wird wiederzukommen.“ MEW, Bd. 27, Berlin 1973, S. 74. Und dann noch einmal am 9. März 1847: „Gott weiß und Moses [Hess, H. K.] desgleichen, daß ich ihn bei unsrer zweiten und letzten Entrevue am Passage Vivienne mit offnem Maule stehenließ, um mit dem Maler K[örner] zwei Mädel abseiten zu führen, die dieser aufgegabelt!“ Ebd., S. 81.

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kann: „Europa ist ein Heiligthum. Entweihet es nicht durch profane Vergleichungen mit Nordamerika. Lästert es nicht durch schielende Hindeutungen auf Rußland. Europa ist ein Land, wie keines auf Erden! – Wie Christus, sein Vorbild, hat es sich für die Menschheit geopfert. Der Kelch des Leidens war ihm in reichem Maße beschieden. Noch ist es bleich, noch träufelt Blut aus seinen Wunden. – Aber in drei Tagen feiert es seine Auferstehung! Zwei Mal ist bereits die Sonne aufgegangen, seitdem es gekreuzigt worden. Die deutsche Reformation und die französische Revolution sind die beiden ersten Auferstehungstage. Noch Ein Tag, wie diese beiden ersten, und vollendet ist der Sieg Christi in der Weltgeschichte! – Das römisch-germanische Europa ist der auserwählte Welttheil, der unter Gottes besonderem Schutze steht.“26 Hess, der in Köln mit Marx zusammengetroffen war, schrieb an einen befreundeten Dichter eine imposante Lobeshymne über die philosophische Exzellenz dieses aufgehenden Fixsterns am sozialistischen Himmel: „Dr. Marx, so heißt mein Abgott, ist noch ein ganz junger Mann (etwa 24 Jahre höchstens alt), der der mittelalterlichen Religion und Politik den letzten Stoß versetzen wird; er verbindet mit dem tiefsten philosophischen Ernst den schneidendsten Witz; denke Dir Rousseau, Voltaire, Holbach, Lessing, Heine und Hegel in Einer Person vereinigt; ich sage vereinigt, nicht zusammengeschmissen – so hast Du Dr. Marx.“27 In der Novembernummer 1827 der Zeitschrift Cooperative Magazine des englischen Fabrikanten und Sozialreformers Robert Owen (1771–1858), der durch die Einrichtung von Fabrikinspektoren die ersten britischen Arbeiterschutzgesetze von 1832 anregte, mit denen die Kinderarbeit eingeschränkt wurde, stand die Aussage „wir Kommunisten und Sozialisten“.28 Der Philosoph Marx wußte davon noch nichts, auch 26

M. Hess: Die europäische Triarchie (wie Anm. 23), S. 53. MEGA. I. Abteilung, Band 1, 2. Halbband (1929). Neudruck Glashütten im Taunus 1970, S. 261. Hervorhebung im Original. Brief von Moses Hess am Berthold Auerbach vom 2. September 1841. 28 Vgl. Werner Sombart: Der proletarische Sozialismus („Marxismus“). 1. Bd.: Die Lehre, Jena 1924, S. 4. 27

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wenn sich die Berliner Mitarbeiter der Rheinischen Zeitung (RZ) immer wilder gebärdeten und den preußischen Zensor sowie die Berliner Gerichte auf den Plan riefen. Im Mai 1842 lieferte Marx – wie bei allen anderen Zeitungsartikeln in der RZ anonym – seinen ersten Artikel für diese Zeitung über das königliche Zensuredikt. Und obwohl er die preußische Regierung in diesem Artikel als „Gewaltregime“ bezeichnete, wurde er nicht zensiert. Der zweite Artikel über den Kölner Kirchenstreit, d.h. die fünfjährige Auseinandersetzung zwischen der katholischen Kirche und dem preußischen Staat, bei dem Friedrich Wilhelm IV. 1841 schließlich einlenkte, passierte den Zensor nicht. Zwar verteidigte Marx den preußischen König, aber seine scharfen Argumente waren nicht gegen den Kölner Klerus als vielmehr gegen die Religion gerichtet, „da die Religion an sich inhaltslos nicht vom Himmel, sondern von der Erde lebt und mit der Auflösung der verkehrten Realität, deren Theorie sie ist, von selbst stürzt“.29 Trotzdem oder gerade deswegen legte der Zensor sein Veto ein. Nach neun Monaten lag der Absatz der Zeitung immer noch bei nur 800 Exemplaren, während die Kölnische das Zehnfache absetzte. Die preußische Regierung war offenbar nicht bereit, die Konzession zu verlängern, wenn die irreligiösen Tendenzen in dem Blatt sich nicht änderten. Karl Marx wurde daraufhin am 1. Oktober 1842 einem Ausschuß der Besitzer der Rheinischen Zeitung vorgestellt und danach gefragt, ob er die Zeitung so führen könne, daß Konflikte mit der preußischen Regierung

29 MEGA. I. Abteilung, Band 1, 2. Halbband (1929). Neudruck Glashütten im Taunus 1970, S. 286. Brief von Marx an Arnold Ruge vom 30. November 1842. Hervorhebung im Original. Am 18. Oktober 1841 hatte Georg Jung an Arnold Ruge geschrieben: „Dr. Marx, Dr. Bauer und L. Feuerbach assoziieren sich zu einer theologisch-philosophischen Zeitschrift, dann mögen alle Engel sich um den alten Herrgott scharen und er sich selber gnädig sein, denn diese drei schmeißen ihn gewiß aus seinem Himmel heraus und hängen ihn noch obendrein einen Prozeß an den Hals, Marx wenigstens nennt die christliche Religion eine der unsittlichsten, übrigens ist er, obgleich ein ganz verzweifelter Revolutionär, einer der schärfsten Köpfe, die ich kenne.“ Ebd., S. 261 f.

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vermieden würden. Als er sich dazu fähig und willig bekannte, wurde er noch am gleichen Tag – obwohl er bisher nur vier Artikel für die RZ geschrieben und vorher keinen einzigen Beruf ausgeübt hatte – zu deren Chefredakteur ernannt mit einem Jahresgehalt von 600 Talern. Marx schrieb an die preußische Regierung, daß die Entfernung seines Vorgängers Dr. Adolf Rutenberg (1808–1869) – mit dem er in Berlin befreundet war, dem er aber jetzt einen gänzlichen „Mangel an Kritik, Selbständigkeit und Fähigkeit“30 bescheinigte – zwar nicht juristisch erzwungen, aber in die Wege geleitet würde. Die Rheinische Zeitung würde den Weg des Fortschritts, „auf welchem Preußen dem übrigen Deutschland vorangeht, bahnen helfen“31 und von nun an „möglichst von allen kirchlichen und religiösen Gegenständen abstrahieren, wo nicht andere Zeitungen und die politischen Verhältnisse selbst eine Bezugnahme auf dieselben notwendig machen“.32 Marx wies den Vorwurf zurück, die Zeitung würde französische Ideen im Rheinland verbreiten, sondern sie habe sich als Hauptaufgabe gestellt, „die Blicke, welche noch bei so vielen auf Frankreich hafteten, auf Deutschland zu richten und statt eines französischen einen deutschen Liberalismus hervorzurufen, der der Regierung Friedrich Wilhelm IV. gewiß nicht unangenehm sein kann“.33 Und als die Augsburger Allgemeine Zeitung, in der Heinrich Heine seine begeisternden Berichte aus Paris veröffentlichte, ironisch darauf hinwies, daß einige Söhnchen aus reichen Familien in der RZ sich auf Kosten des väterlichen Bankguthabens einem kommunisti30 Ebd., S. 285. Brief an Arnold Ruge vom 30. November 1842. Rutenberg kritisierte seinerseits nach seiner Entlassung Marx’ Opportunismus, der für schäbige zwölf Silberlinge die heiligen Prinzipien von Berlin verraten hätte, was Marx in seinem Brief an Ruge zu der denunzierenden Bemerkung veranlaßte, Rutenberg gebärde sich als „der neue Märtyrer, der schon in Physiognomie, Haltung und Sprache das Märtyrerbewußtsein mit einiger Virtuosität darzustellen weiß“ (ebd., S. 286). 31 Ebd., S. 282. Brief von Marx an den Oberpräsidenten der Rheinprovinz von Schaper vom 17. November 1842. 32 Ebd., S. 284. 33 Ebd., S. 282.

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schen Snobismus hingäben, antwortete Marx mit einem längeren Artikel in der RZ vom 16. Oktober 1842, in dem er u. a. feststellte: „Wir haben die feste Überzeugung, daß nicht der praktische Versuch, sondern die theoretische Ausführung der kommunistischen Ideen die eigentliche Gefahr bildet, denn auf praktische Versuche, und seien es Versuche in Masse, kann man durch Kanonen antworten, sobald sie gefährlich werden, aber Ideen, die unsere Intelligenz besiegt, die unsere Gesinnung erobert, an die der Verstand unser Gewissen geschmiedet hat, das sind Ketten, denen man sich nicht entreißt, ohne sein Herz zu zerreißen, das sind Dämonen, welche der Mensch nur besiegen kann, indem er sich ihnen unterwirft.“34 Der entlassene Redakteur Rutenberg kehrte nach Berlin zurück und schilderte einigen Mitgliedern des früheren „Doctorklubs“ bzw. den „Freien“, wie Marx sich verhalten hatte, worauf diese Marx androhten, ein Femegericht über ihn abzuhalten und künftig keine Artikel für die RZ mehr schreiben zu wollen. Marx war empört und schrieb am 30. November 1842 an Arnold Ruge, daß die „Freien“ aufhören sollten, der Zeitung weiterhin „weltumwälzungsschwangre und gedankenleere Sudeleien in saloppem Stil, mit etwas Atheismus und Kommunismus (den die Herrn nie studiert haben) versetzt“,35 zuzusenden. Solange er Chefredakteur sei, würde er „das Einschmuggeln kommunistischer und sozialistischer Dogmen, also einer neuen Weltanschauung, in beiläufigen Theaterkritiken etc. für unpassend, ja für unsittlich“36 halten und ihre Manuskripte unbarmherziger zensieren als der Zensor. Das existentielle Ultimatum der preußischen Regierung gegenüber der RZ und das opportunistische Auftreten ihres Chefredakteurs bewirkten, daß die Auflage auf 1.800 Exemplare ge-

34 [Karl Marx]: Der Kommunismus und die Augsburger „Allgemeine Zeitung“, in: MEW, Bd. 1, Berlin 1970, S. 108. Hervorhebungen im Original. 35 MEGA. I. Abteilung, Band 1, 2. Halbband (1929). Neudruck Glashütten im Taunus 1970, S. 285. 36 Ebd., S. 286.

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steigert wurde, was der Chefredakteur auf sein unermüdliches Bemühen zurückführen konnte und vielleicht auch darauf, daß er einen kompetenten Stellvertreter, Karl Heinzen, eingestellt hatte. In seinen Erinnerungen schilderte Heinzen Marx als scharfsinnigen Kopf, von dem sich einige Leute eine Weile haben täuschen und benutzen lassen: „Regelmäßig aber kehrten sie ihm nach einiger Zeit als Feinde den Rücken. Sein Talent hatte sie angezogen, doch sein Charakter trieb sie wieder fort.“37 Noch kurz vor Ablauf des Probejahres hatte der Zensor nach Berlin berichtet, „im Vergleich zu früheren Perioden ist der Ton der Zeitung . . . ohne Zweifel bedeutend ruhiger geworden“.38 Zur gleichen Zeit hatte jemand Marx einen aus dem Berliner Ministerium entwendeten Entwurf eines neuen Ehescheidungsgesetzes übergeben, das vom preußischen König demnächst erlassen werden sollte, aber bisher geheimgehalten worden war. Marx erkannte darin die Absicht des Königs, wie Friedrich Engels 1843 in seiner Charakteristik Friedrich Wilhelms IV. schrieb, „das Christentum unmittelbar in den Staat wieder einzuführen, die Gesetze des Staates nach den Geboten der biblischen Moral einzurichten“.39 Er druckte das zweifelhafte Dokument am 20. Oktober 1842 in der RZ ab und schrieb in einem kommentierenden Artikel, „daß die ganze Fassung des Entwurfes an logischer Konsequenz, Präzision, Klarheit und

37 Karl Heinzen: Erlebtes. Zweiter Theil: Nach meiner Exilirung, Boston 1874, S. 422. Und nach einer physiognomischen Beschreibung von Marx heißt es: „Man begreift sofort, daß eine so gebildete Natur einen Feind nicht offen und ehrlich zu Leibe geht, sondern daß ihre entsprechendsten Mittel Lüge und Verleumdung, Tücke und Intrigue sein müssen. Von Treue und Verlaß, Ehrlichkeit und Gewissenhaftigkeit, Ehre und Charakter ist bei einem solchen Menschen keine Rede, darauf muß man von vorn herein verzichten. Bei allem Talent ist Herr Marx geistig ein bloßer Dialektiker und Sophist und den übersetzt sein gemeiner Charakter in die Praxis unmittelbar als Lügner und Intrigueanten.“ (S. 424 f.) 38 Zitiert in MEGA. I. Abteilung, Band 1, 1. Halbband (1927). Neudruck Glashütten im Taunus 1970, S. LXII (Einleitung). 39 Zitiert in ebd., S. LIX.

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durchgreifenden Gesichtspunkten viel zu wünschen übriglasse“,40 worauf der rheinische Oberpräsident in seinem Bericht nach Berlin den Rückfall in eine atheistische Obsession des Blattes konstatierte. Nach Einberufung des Kabinettsrats unter Vorsitz des Königs wurde am 21. Januar 1843 der Bescheid ausgefertigt, daß die Konzession für die Zeitung Ende März beendigt sei und jedes weitere Erscheinen verboten wurde. Dieses königliche Verbot kam einer deutschen und europäischen Sensation gleich und die Rheinische Zeitung wurde von vielen als Symbol der deutschen Demokratie angesehen, die vom preußischen Despotismus zerschlagen worden war. Der immer noch anonyme Chefredakteur Marx nutzte diese von Tausenden unterzeichneten Petitionen zum Erhalt seiner Zeitung und veröffentlichte eine persönliche Erklärung, daß er „der jetzigen Zensurverhältnisse wegen aus der Redaktion der ,Rheinischen Zeitung‘ mit dem heutigen Tage ausgetreten ist“.41 Nun wußte fast alle Welt, nicht nur, wie er sich allem opportunistischem Gehabe verweigert, sondern auch, welchen standhaften Charakter er bewiesen hatte, und der Name Karl Marx war in aller Munde. „Die Legende von der extraordinären demokratischen Radikalität und Rigorosität des Kölner Blattes und seines letzten Leiters wird sich über ein Jahrhundert fortsetzen.“42

40 [Karl Marx]: Der Ehescheidungsgesetzentwurf, in: MEW, Bd. 1, Berlin 1970, S. 148. Rheinische Zeitung Nr. 353 vom 19. Dezember 1842. 41 Karl Marx: Erklärung, in ebd., S. 200. RZ Nr. 77 vom 18. März 1843. Hervorhebung im Original. 42 L. Schwarzschild: Der rote Preuße (wie Anm. 1), S. 83.

IV. Mit Arnold Ruge in Paris Marx war arbeitslos und schrieb einen Brief an Arnold Ruge (1802–1880), ob dieser ihm nicht im Ausland eine Stelle verschaffen könne, denn in Preußen oder Deutschland wolle er nicht länger sein Dasein fristen. Ruge, ein demokratischer Revolutionär, der im völligen Gegensatz zu Marx demokratisches und freiheitliches Gedankengut verteidigte und deshalb sechs Jahre in ein preußisches Gefängnis gesperrt worden war, hatte publizistisch ein ähnliches Schicksal erlitten wie Marx. Seine inzwischen in Deutsche Jahrbücher umbenannte Zeitschrift, die im Königreich Sachsen gedruckt wurde, durfte nicht mehr nach Preußen eingeführt werden, weil auch in ihnen der Atheismus einen breiten Raum eingenommen hatte. Ruge entwikkelte deshalb die Idee, seine Jahrbücher zusammen mit Marx im Ausland neu zu verlegen und schrieb am 3. Januar 1843 an seinen Bruder Ludwig: „Nun ist Marx ganz ein ausgezeichneter Kopf und nebenbei in Noth wegen seiner Zukunft und zwar der nächsten Zukunft. Die Fortsetzung der Jahrbücher mit ihm ist daher eine Sache, die sich von selbst darbietet.“43 Doch Ruge war, wie wir bereits gehört haben, alles andere als ein Sozialist oder Kommunist, sondern er verurteilte die sozialistische Ordnung und war sich über deren unmenschlichen Schwächen klar bewußt: „Weder die complicirten Vorschläge der Fourieristen noch die Eigenthumsaufhebung der Communisten sind klar zu formuliren. Beides läuft immer auf einen

43 Arnold Ruges Briefwechsel und Tagebuchblätter aus den Jahren 1825–1880. Hrsg. von Paul Nerrlich. 1. Bd.: 1825–1847 (1886). Neudruck Aalen 1985, S. 295. Hervorhebung im Original. Dort heißt es weiter: „Ich habe Marx, der mich um Rath fragt, den Vorschlag gemacht, und wir werden in einigen Wochen einen neuen Prospect ausgeben und Alles genau verkündigen; denn es leidet keinen Zweifel, daß er darauf eingeht.“

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förmlichen Polizei- oder Sklavenstaat hinaus.“44 Ein schweizerischer Verleger war bereit, die Zeitschrift in Frankreich zu veröffentlichen, wenn Ruge 20.000 Francs Gründungskapital aufbringe, und Marx sollte 1.800 Francs pro Jahr als Mitherausgeber und zusätzliche Honorare für seine Beiträge erhalten. Im November 1843 trafen Karl und Jenny Marx in Paris ein, wo Ruge im Faubourg St. Germain, 38, Rue Vaneau, ein Haus gemietet hatte, in dem sie alle wohnen sollten, um gemeinsam die neuen Deutsch-Französischen Jahrbücher. Herausgegeben von Arnold Ruge und Karl Marx – wie auf dem Deckblatt des ersten Heftes stand – erscheinen zu lassen. Marx sollte für die Zeitschrift bekannte deutsche und französische Autoren gewinnen und selbst brillante Beiträge verfassen, aber das erste Heft vom Februar 1844 enthielt keinen einzigen Beitrag eines bekannten Franzosen und von den Deutschen hatte neben Beiträgen von Engels und Hess nur Heinrich Heine ein Gedicht beigesteuert. Marx hatte zwei längere, ziemlich abstrakte Abhandlungen bereits während seines Aufenthaltes im Hause seiner Schwiegermutter in Kreuznach geschrieben, nämlich über Hegels Rechtsphilosophie und über die Judenfrage. Um nur ein Beispiel dieser abstrakten Überlegungen zu zitieren, mit denen wohl nur wenige Leser etwas anfangen konnten: „Wie die alten Völker ihre Vorgeschichte in der Imagination erlebten, in der Mythologie, so haben wir Deutsche unsre Nachgeschichte im Gedanken erlebt, in der Philosophie. Wir

44 Ebd., S. 346. Brief an Ludwig Feuerbach vom 15. Mai 1844. Dort gibt Ruge eine treffende Charakteristik der schwankenden Launen von Marx: „Marx, mein Mitredacteur, kämpfte immer mit Verlegenheiten und erwartete mit Unrecht seine Hülfe von dem Unternehmen. Alsdann ist er eine eigne Natur, die ganz zum Gelehrten und Schriftsteller geeignet, aber zum Journalisten vollständig verdorben ist. Er liest sehr viel; er arbeitet mit ungemeiner Intensivität und hat ein kritisches Talent, das bisweilen in Uebermuth ausartende Dialektik wird, aber er vollendet nichts, er bricht überall ab und stürzt sich immer von neuem in ein endloses Büchermeer. Er gehört seiner gelehrten Disposition nach ganz der deutschen Welt an, und seiner revolutionären Denkweise nach ist er von ihr ausgeschlossen.“ (S. 343, Hervorhebung im Original).

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sind philosophische Zeitgenossen der Gegenwart, ohne ihre historischen Zeitgenossen zu sein. Die deutsche Philosophie ist die ideale Verlängerung der deutschen Geschichte. Wenn wir also statt die œuvres incomplètes unsrer reellen Geschichte die œuvres posthumes unserer ideellen Geschichte, die Philosophie, kritisieren, so steht unsere Kritik mitten unter den Fragen, von denen die Gegenwart sagt: That is the question.“45 In dem Aufsatz Zur Judenfrage versuchte sich Marx nicht nur von seiner jüdischen Herkunft ganz loszusagen: „Die Judenemanzipation in ihrer letzten Bedeutung ist die Emanzipation der Menschheit vom Judentum.“46 Sondern er entdeckte auch die „politische Revolution“,47 d.h. die Anwendung von vernichtender Gewalt zur Durchsetzung sozialistisch-politischer Ziele, die sich in schönen Worten verkleidet ohne Einschränkung unmenschlicher Mittel bedienen kann: „Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.“48 Natürlich kommen in diesem Zusammenhang die Arbeiter ins Spiel, die Proletarier, die als Klasse einer anderen Klasse gegenüberstehen und diese in einer sozialen Revolution vernichten müssen, um sich aus ihrer unverschuldeten Unterdrückung und Ausbeutung zu befreien. Das Proletariat, das Marx bisher nicht kennengelernt hatte und von dessen Nöten 45 Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1844), in: MEW, Bd. 1, Berlin 1970, S. 383. Hervorhebungen im Original. 46 Karl Marx: Zur Judenfrage (1844), in: MEW, Bd. 1, Berlin 1970, S. 373. Oder: „Die gesellschaftliche Emanzipation des Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum.“ (S. 377). Hervorhebungen im Original. 47 Ebd., S. 367. Wieso F. J. Raddatz: Karl Marx (wie Anm. 8), S. 111 f., behaupten kann: „Karl Marx wollte keine sozialistische Revolution . . . Karl Marx’ strategischer Plan hieß die proletarische Revolution“, ist mir unverständlich und wohl eher ein Mythos bzw. eine Wortklauberei als ein Mißverständnis. 48 K. Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (wie Anm. 45), S. 385.

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und Sorgen er nicht die geringste Erfahrung mitbrachte und dem von einem revolutionären Sozialismus oder Kommunismus eines Louis Blanc, Charles Fourier, Pierre Joseph Proudhon oder Claude Henri de Saint-Simon kein Wort zu Ohren gekommen war, wurde ausbeuterisch idealisiert. Nach Marx schmachtete das deutsche Proletariat unter „radikalen Ketten“49 oder „universellen Leiden“, unter dem „Unrecht schlechthin“, d.h., es bedurfte eines ,wissenschaftlichen Sozialismus‘, um sich von den sklavenhalterischen Ketten zu befreien. Somit war das Proletariat auserwählt als Vollstrecker der philosophischen Revolutionäre, denn wie „die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen“50 – ob es dabei zugrunde geht, kann der Philosophie gleichgültig sein. „Erst in dem Sozialismus kann ein philosophisches Volk seine entsprechende Praxis, also erst im Proletariat das tätige Element seiner Befreiung finden.“51 Oder: „Ohne Revolution kann sich aber der Sozialismus nicht ausführen. Er bedarf dieses politischen Aktes, soweit er der Zerstörung und der Auflösung bedarf.“52 Diese unverhohlene Propaganda für eine bewaffnete Revolution bzw. für den proletarischen Klassenkampf rief die erzkonservative preußische Regierung auf den Plan, die fast nichts mehr fürchtete als revolutionäre Umtriebe, d.h., Marx wurde wegen Aufwiegelung zum bewaffneten Aufstand unter Anklage gestellt. Am 18. April 1844 wurden die Oberpräsidenten aller preußischen Provinzen darauf hingewiesen, daß es sich hier um Hochverrat handele, weswegen schärfste Gegenmaßnahmen allzu berechtigt seien. Heine, Marx und Ruge sollten sofort verhaftet werden, wenn sie die deutsche Landesgrenze überschritten; außerdem wurde die Einführung der Jahrbücher nach Preußen verboten und 200 Exemplare an der französisch49 Ebd., S. 390. Dort auch die nächsten Zitate. Hervorhebungen im Original. 50 Ebd., S. 391. Hervorhebungen im Original. 51 K. Marx: Kritische Randglossen (wie Anm. 68), S. 405. Hervorhebung im Original. 52 Ebd., S. 409. Hervorhebungen im Original.

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pfälzischen Grenze beschlagnahmt. Der Züricher Verleger erklärte sich daraufhin als bankrott und das Rugesche Kapital als verloren bzw. verbraucht. Karl Marx hatte erneut kein Einkommen mehr, seine Frau war schwanger und gesundheitlich angeschlagen. Die Mutter von Jenny schickte das 21jährige Bauernmädchen Lenchen Demuth nach Paris, um für den Haushalt zu sorgen, aber das machte die finanzielle Situation noch prekärer. Der Schweizer Verleger bot Ruge an, die Zeitschrift weiterzuführen, wenn er weiteres Kapital einschösse, aber Ruge besaß nicht mehr genug Geld, um erneut ein solches publizistisches Abenteuer einzugehen. Marx setzte ihn daraufhin unter Druck, denn er habe ihn ja aus dem sicheren Kreuznacher Refugium seiner Schwiegermutter nach Paris gelockt und könne ihn jetzt nicht einfach auf dem Trockenen sitzen lassen. Doch Ruge blieb unnachgiebig und beklagte die zunehmende Verschlechterung seiner Beziehung zu Marx: „Marx hat, trotz meiner Bemühungen die Differenz in den Schranken des Anstandes zu halten, sie überall zum Exceß getrieben, er schimpft überall in beliebigen Ausdrücken auf mich, er hat zuletzt seinen Haß und seinen gewissenlosen Ingrimm drucken lassen, und alles das warum?“53 „Marx bekennt sich zum Communismus, er ist aber der Fanatiker des Egoismus und mit mehr heimlichem Bewußtsein als [Bruno, H. K.] Bauer.“54 Es ist „dahin gekommen, daß die tödtlichste Feindschaft fertig ist, ohne daß ich meinerseits einen andern Grund weiß als den Haß und die Verrücktheit meines Gegners.“55

53 Arnold Ruges Briefwechsel und Tagebuchblätter. 1. Bd. (wie Anm. 43), S. 380. Brief an Julius Fröbel vom 6. Dezember 1844. Hervorhebung im Original. 54 Ebd., S. 381. Und weiter: „Der heuchlerische Egoismus und die geheime Geniesucht, das Christusspielen, das Rabbinerthum, der Priester und die Menschenopfer (Guillotine) kommen daher sogleich wieder zum Vorschein . . . Zähnefletschend und grinsend würde Marx alle schlachten, die ihm, dem neuen Babeuf, den Weg vertreten.“ (Ebd.). Hervorhebungen im Original. 55 Ebd., S. 380.

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Alle diese gegenseitigen Anschuldigungen halfen nichts, denn Marx brauchte dringend Geld zum Überleben und erhielt es von Georg Gottlieb Jung (1814–1886), einem Junghegelianer, der Geld bei den früheren Aktionären der Rheinischen Zeitung für den leidenden Intellektuellen und gestrandeten Marx in Köln sammelte. Es waren insgesamt 4.400 Francs, d.h. im Vergleich zu der vom französischen König ausgesetzten jährlichen, geheimen Rente für Heinrich Heine 400 Francs weniger. Außerdem erhielt Marx Geld von seinem holländischen Vetter Mijnheer Philips und von seiner Schwiegermutter. Trotzdem tauchte immer dringender die Frage auf, was ein freier Intellektueller wie Marx ohne eigenes Einkommen in Paris machen sollte. Gab es Gelegenheiten, sich als Sozialist oder Kommunist außerhalb der literarischen Salons von Eugène Sue oder George Sand sein Brod zu verdienen? War es denn möglich, durch den sensationellen Nachweis der historischen Notwendigkeit des Zusammenbruchs des Kapitalismus bzw. des herrschenden ökonomischen Systems an Geld zu kommen?

V. Die Entdeckung der Arbeiter Marx machte sich an die theoretische Arbeit, um sich bessere Kenntnisse der ökonomischen Verhältnisse zu verschaffen. Die Erforschung der politischen Ökonomie, schrieb er 15 Jahre später, „die ich in Paris begann, setzte ich fort zu Brüssel, wohin ich infolge eines Ausweisungsbefehls des Herrn Guizot übergewandert war“.56 Und er besuchte Versammlungen französischer Arbeiter, die von bürgerlichen französischen Intellektuellen über die Vorzüge des Sozialismus aufgeklärt werden sollten und Marx wie Engels machten folgende erstaunliche Beobachtung: „Man muß das Studium, die Wißbegierde, die sittliche Energie, den rastlosen Entwicklungstrieb der französischen und englischen Ouvriers kennengelernt haben, um sich von dem menschlichen Adel dieser Bewegung eine Vorstellung machen zu können.“57 Auch zu dem von Wilhelm Weitling mitbegründeten Geheimbund der deutschen Arbeiterbewegung, dem Bund der Gerechten, der in Paris seinen Stammsitz hatte mit Filialen in anderen europäischen Hauptstädten, fand Marx Zugang, ohne die Lage der Arbeiter wirklich zu kennen. Der Bund war gegründet worden, um den im Ausland tätigen Arbeitern – dies waren in den 1840er

56 Karl Marx: Zur Kritik der Politischen Ökonomie (1859), in: MEW, Bd. 13, Berlin 1975, S. 8 (Vorwort). 57 Friedrich Engels/Karl Marx: Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Konsorten (1845), in MEW, Bd. 2, Berlin 1970, S. 89. Hervorhebung im Original. Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: MEW, Ergänzungsband. 1. Teil, Berlin 1977, S. 554, idealisierte schon früher die sozialistischen französischen Arbeiter: „Die Gesellschaft, der Verein, die Unterhaltung, die wieder die Gesellschaft zum Zweck hat, reicht ihnen hin, die Brüderlichkeit der Menschen ist keine Phrase, sondern Wahrheit bei ihnen, und der Adel der Menschheit leuchtet uns aus den von der Arbeit verhärteten Gestalten entgegen.“

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Jahren noch überwiegend Handwerker auf der Wanderschaft und keine Industriearbeiter – sozialistisches Gedankengut nahezubringen, das sie nach Rückkehr in ihre Heimat verbreiten sollten. Diese Pariser Versammlungen bestanden allerdings meistens nur aus einem Dutzend Teilnehmern, weshalb die Marxsche Begeisterung über die ,deutschen Kommunisten‘ von Ruge höhnisch kommentiert wurde: „Marx hat sich in den deutschen hiesigen Communismus gestürzt – gesellig heißt das, denn unmöglich kann er das traurige Treiben politisch wichtig finden. Eine so partielle Wunde, als die Handwerksbursche, und nun wieder diese anderthalb hier eroberten, zu machen im Stande sind, kann Deutschland aushalten, ohne viel daran zu doctern.“58 Aber diese konkrete Begeisterung für die unterdrückten Arbeiter – die ja später das ideologische Rückgrat für die soziale Revolution stellten – kühlte sich bald ab, denn als Friedrich Engels Anfang 1848 kommunistische Propaganda im Bund der Kommunisten in Paris machte, teilte er Marx am 14. Januar 1848 resigniert mit, daß es nur miserabel vorangehe: „Solche Schlafmützigkeit und kleinliche Eifersucht der Kerls untereinander ist mir nie vorgekommen.“59 Trotzdem war Marx in London noch zehn Jahre später in einem Brief an Engels vom 8. Oktober 1858 felsenfest von der irrigen Ansicht überzeugt: „Auf dem Kontinent ist die Revolution imminent und wird auch sofort einen sozialistischen Charakter annehmen“.60 Marx war Mitte der 1840er Jahre immer noch ein ziemlich unbekannter Denker oder Schriftsteller, sowohl in Deutschland und erst recht in Frankreich. Seine wenigen, ziemlich abstrakten Aufsätze in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern hatten nur geringe Resonanz gefunden und von einem führenden Sozialisten oder Kommunisten war er meilenweit entfernt, als ihm ein ungewöhnlicher Zufall zu Hilfe kam. Pierre Joseph 58 Arnold Ruges Briefwechsel und Tagebuchblätter. 1. Bd. (wie Anm. 43), S. 359. Brief an Moritz Fleischer vom 9. Juli 1844. Hervorhebungen im Original. 59 MEW, Bd. 27, Berlin 1973, S. 111. 60 MEW, Bd. 29, Berlin 1973, S. 360.

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Proudhon, der in seiner 1840 in Französisch erschienenen Schrift Was ist das Eigentum61 das Schlagwort geprägt hatte: „Eigentum ist Diebstahl!“, wollte die Hegelsche Philosophie kennenlernen, war aber der deutschen Sprache nicht mächtig genug, um dessen unverständliches Deutsch lesen zu können. Es wurde ihm der Philosoph Marx empfohlen, der ja gerade einen Aufsatz über Hegel in den Jahrbüchern veröffentlicht hatte, der sich bestens in dieser Materie auskenne. Marx ließ sich wenig später nicht gerade freundlich über Proudhon aus: „Er exkommuniziert als Heiliger, als Papst die armen Sünder und singt Ruhmeshymnen auf das Kleinbürgertum und die elenden, patriarchalischen Liebesillusionen des trauten Heims.“62 Auch Michail Aleksandrowitsch Bakunin (1814–1876), der spätere Theoretiker des marxismusfeindlichen Anarchismus, der von Weitling vom Kommunismus überzeugt worden war, trat 1844 mit Proudhon und Marx in Paris in Kontakt.63 Der russische Aristokrat Bakunin eroberte mit seinem spontanen Enthusiasmus die Herzen der Arbeiter, aber mit Marx konnte er sich nicht anfreunden: „Wir trafen uns ziemlich häufig, denn ich bewunderte ihn sehr wegen seines Wissens und 61 Vgl. Pierre Joseph Proudhon: Was ist das Eigentum. Erste Denkschrift, Nachdruck Graz 1971. In der deutschen Übersetzung von 1896 wurde Diebstahl mit Raub übersetzt. „Warum also kann ich auf die Frage: ,Was ist das Eigentum?‘ nicht ebensogut antworten: ,Es ist Raub!‘, ohne allgemein unverstanden zu bleiben?“ (S. 1, Hervorhebungen im Original). 62 MEW, Bd. 27, Berlin 1973, S. 462. Brief an Pawel Wassiljewitsch Annenkow vom 28. Dezember 1846. 63 Ausführlich dazu Ricarda Huch: Michael Bakunin und die Anarchie, Leipzig 1923, S. 84 ff. (Frankfurt am Main 1988, S. 68 ff., Zitate S. 73 und S. 75), die über Marx schrieb: „Marx, der Sprößling von Rabbinern, verfügte über den scharfen, zerteilenden, durchdringenden Verstand seiner Rasse. Alles, was er vornahm, unterwarf er seinem Verstande und machte es dadurch zum Leichnam; was er bearbeitete, wurde Vergangenheit, wenn es auch Zukunft war.“ (S. 89 f.). „Der wissenschaftliche Begründer des internationalen Sozialismus war ein unvolkstümlicher, unwohlwollender Mensch; die breite, umfassende, chaotische Natur Michels [Bakunin, H. K.] war ihm unverständlich und stieß ihn eher ab.“ (S. 92)

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seiner leidenschaftlichen und ernsten Hingabe für die Sache des Proletariats [Bakunin ließ sich wie viele andere nach ihm von den Worten Marx’ täuschen, H. K.], obwohl sie immer eine Beimischung von persönlicher Eitelkeit hatte . . . Aber es gab niemals wirkliche Intimität zwischen uns. Unsere Temperamente erlaubten dies nicht. Er nannte mich einen sentimentalen Idealisten; und er hatte recht. Ich nannte ihn mißmutig, eitel und verräterisch; und auch ich hatte recht.“64

64 Zitiert von Edward Hallet Carr: Michael Bakunin (1937), New York 1975, S. 129 f. In einem Brief an den Schriftsteller Georg Herwegh schrieb Bakunin: „Die Deutschen, diese Handwerker Bornstedt, Marx und Engels – vor allem Marx –, treiben ihren gewohnten Unsinn hier. Eitelkeit, Bösartigkeit, Streitigkeiten, theoretische Intoleranz und praktische Feigheit . . . In einem Wort, Lügen und Dummheit, Dummheit und Lügen. In solcher Gesellschaft kann man nicht frei atmen.“ Zitiert ebd., S. 146. Meine Übersetzung. Und dieser Bakunin hatte 1868 in Genf nach langer Gefangenschaft in Sibirien eine Internationale Allianz der sozialistischen Demokratie gegründet, deren Sektionen der I. Internationale beitreten wollten. (Außerdem hatte er, nachdem er einen Vertrag mit einem russischen Verleger abgeschlossen hatte, der ihm 300 Rubel Vorschuß gegeben hatte, damit begonnen, Marx’ Kapital ins Russische zu übersetzen, aber nach einiger Zeit gab er seine unvollendete Übersetzung an den Verleger zurück.) Marx war über diese Gründung einer neuen Arbeiterorganisation entsetzt, weil er befürchten mußte, daß dieser begeisternde Agitator seine führende Stellung in der IAA untergraben könnte. Er schrieb am 15. Dezember 1868 über die Allianz an Engels: „Diese Scheiße existiert seit 2 Monaten . . . Herr Bakunin – im Hintergrund dieser Geschichte – ist so herablassend, die Arbeiterbewegung unter russische Leitung nehmen zu wollen.“ MEW, Bd. 32, Berlin 1974, S. 234. Hervorhebungen im Original. Am 22. Dezember 1868 schrieb Marx einen Zirkularbrief, in dem er eine zweite internationale Organisation ablehnte und die Satzung der Allianz „für null und nichtig“ erklärte. Wenn jeder anderen Gruppe von Personen das Recht eingeräumt würde, eine Organisation zu gründen, die der IAA beitreten wolle, dann würde die IAA „bald zum Spielball der Intriganten aller Racen und Nationalitäten“. Karl Marx: Die Internationale Arbeiterassoziation und die Allianz der sozialistischen Demokratie, in: MEW, Bd. 16, Berlin 1973, S. 340. Und als Bakunin versuchte, Einfluß auf die IAA zu nehmen, schrieb Marx am 27. Juli 1869 an Engels: „Dieser Russe will offenbar Diktator der europäischen Arbeiterbewegung werden. Er soll sich in acht nehmen. Sonst wird er offiziell exkommuniziert.“ Und dann noch einmal am 17. Dezember 1869

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Außerdem kam Friedrich Engels (1820–1895), der Sohn eines erfolgreichen Textilfabrikanten aus Barmen (heute Wuppertal), auf der Rückreise von der Zweigniederlassung einer Baumwollfabrik seines Vaters in Manchester, zu Besuch nach Paris. Aber neben seiner Arbeit im Kontor von Ermen & Engels in Manchester, die ihm mit eigenem Reitpferd Fuchsjagden im roten Rock ermöglichten, hatte sich Engels während seiner Militärzeit in Berlin den Junghegelianern um Arnold Ruge angeschlossen. In seinem Aufsatz Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie von 1844, der zuerst in den DeutschFranzösischen Jahrbüchern erschien, übersteigerte er die Rolle des Industrieproletariats beim Aufbau einer kommunistischen Gesellschaft und bereits ein Jahr später erschien Die Lage der arbeitenden Klasse in England, in der er die elenden Lebensverhältnisse der vorindustriellen Zeit in England glorifizierte und die menschenunwürdige Lage der englischen Industriearbeiterschaft in den schwärzesten Farben malte.65 Er tischte seinen deutschen und später englischen Lesern die historische Lüge auf, daß in der von Hungersnöten, Seuchen, Armut und hoher Kindersterblichkeit durchzogenen vorindustriellen Zeit die englischen Weber und Landarbeiter viel bessere Lebensbedingungen gehabt hätten als die Industriearbeiter im 19. Jahrhundert: „Auf diese Weise vegetierten die Arbeiter in einer ganz behaglichen Existenz und führten ein rechtschaffenes und geruhiges Leben in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit, ihre materielle Stellung war bei weitem besser als die ihrer Nachfolger; sie brauchten sich nicht zu überarbeiten, sie machten nicht mehr, als sie Lust hatten, und verdienten doch, was sie brauchten, sie hatten Muße für gesunde Arbeit in ihrem Garten oder Felde, eine Arbeit, die ihnen selbst schon Erholung war, und konnten außerdem noch an den Erholungen

an Engels: „Sobald so ein Russe sich einnistet, ist gleich der Teufel los.“ MEW, Bd. 32, Berlin 1974, S. 351 und S. 423. 65 Vgl. Friedrich Engels: Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie (1844), in: MEW, Bd. 1, Berlin 1970, S. 499–524; ders.: Die Lage der arbeitenden Klasse in England (1845), in: MEW, Bd. 2, Berlin 1970, S. 225–506.

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und Spielen ihrer Nachbarn teilnehmen; und alle diese Spiele, Kegel, Ballspiel usw., trugen zur Erhaltung der Gesundheit und zur Kräftigung ihres Körpers bei. Sie waren meist starke, wohlgebaute Leute, in deren Körperbildung wenig oder gar kein Unterschied von ihren bäurischen Nachbarn zu entdekken war. Ihre Kinder wuchsen in der freien Landschaft auf, und wenn sie ihren Eltern bei der Arbeit helfen konnten, so kam dies doch nur dann und wann vor, und von einer achtoder zwölfstündigen täglichen Arbeitszeit war keine Rede.“66 Und dieser Sproß eines von Marx später in den schärfsten Ausdrücken verdammten Unternehmertums war mit unbezweifelbarer Sicherheit davon überzeugt, daß die sozialistische Revolution auf den britischen Inseln unmittelbar bevorstehe, weil sich das erbärmliche Elend der ausgebeuteten, arbeitenden Massen sich immer mehr vergrößern müßte. Mit Marx und Engels hatten sich zwei seelenverwandte Naturen gefunden, die in den nächsten 40 Jahren die unfehlbare Gesetzmäßigkeit der bewaffneten Revolution der staunenden Welt verkünden werden. Engels versorgte Marx aus den industriellen Gewinnen der Fabrik seines Vaters mit reichlich Geld zum Leben, Marx lieferte Engels die abstrusesten Theorien über den unvermeidlichen Zusammenbruch kapitalistischer Gesellschaften. Am 31. Juli 1865 schrieb Marx von London an Engels in Manchester: „Es ist wahrhaft niederschmetternd, sein halbes [richtiger wäre gewesen, „sein ganzes“, H. K.] Leben abhängig zu bleiben. Der einzige Gedanke, der mich dabei aufrecht hält, ist der, daß wir zwei ein Compagniegeschäft treiben, wo ich meine Zeit für den theoretischen und Parteiteil des business gebe.“67

66 F. Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse (wie Anm. 65), S. 238. Zu den tatsächlichen Verhältnissen vgl. Hubert Kiesewetter: Das einzigartige Europa. Wie ein Kontinent reich wurde, Stuttgart 2006, S. 88 ff. 67 MEW, Bd. 31, Berlin 1974, S. 131.

VI. Abrechnung und Exil Aber es gab ja immer noch diesen Arnold Ruge, der in der zweimal wöchentlich in Paris vom Januar bis Dezember 1844 erscheinenden deutschen Zeitschrift Vorwärts! unter dem Pseudonym „Ein Preuße“ Artikel veröffentlichte. Ruge hatte für diese Zeitschrift einen Artikel „Der König von Preußen und die Sozialreform“ verfaßt, in dem er über den Aufstand der schlesischen Weber vom 4. bis 6. Juni 1844 u. a. etwas zu pathetisch schrieb: „Es ist unmöglich, die partielle Not der Fabrikdistrikte einem unpolitischen Lande, wie Deutschland, als eine allgemeine Angelegenheit, geschweige denn als einen Schaden der ganzen zivilisierten Welt zur Anschauung zu bringen. Das Ereignis hat für die Deutschen denselben Charakter, wie irgendeine lokale Wassers- oder Hungersnot. Deshalb nimmt es der König als einen Verwaltungs- oder Mildtätigkeitsmangel . . . Armut und Verbrechen sind zwei große Übel; wer kann sie heilen? Der Staat und die Behörden? Nein, aber die Vereinigung aller christlichen Herzen.“68 Zu diesem Artikel schrieb Karl Marx in Nr. 63 und Nr. 64 des Vorwärts! vom 7. und 10. August 1844 eine lange Replik, in der er seinen atheistischen Gefühlen und seinen kommunistischen Überzeugungen freien Lauf läßt: „Der orthodoxe Katholik steht dem orthodoxen Protestanten feindlicher gegenüber als dem Atheisten, wie der Legitimist dem Liberalen feindlicher gegenübersteht als dem Kommunisten.“69 Und ist es da nicht menschlich angemessen und verständlich, daß Ruge, der „überkluge ,Preuße‘“ und seine „merkantilistische Zigeunersprache“, mit

68 Zitiert von Karl Marx: Kritische Randglossen zu dem Artikel „Der König von Preußen und die Sozialreform. Von einem Preußen“, in: MEW, Bd. 1, Berlin 1970, S. 392 f. Hervorhebungen im Original. 69 Ebd., S. 393.

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der „er selbst nicht einmal in Redensarten sich über den bornierten politischen Standpunkt zu erheben weiß“, kräftig eins ausgewischt bekommt? Marx fackelte nicht lange und stellte die rhetorische Frage: „Ist von einem so unlogischen Kopfe eine Einsicht in soziale Bewegungen zu erwarten?“70 Oder: „Die einzige Aufgabe eines denkenden und wahrheitsliebenden Kopfes, angesichts eines ersten Ausbruchs des schlesischen Arbeiteraufstandes, bestand nicht darin, den Schulmeister dieses Ereignisses zu spielen, sondern vielmehr seinen eigentümlichen Charakter zu studieren. Dazu gehört allerdings einige wissenschaftliche Einsicht und einige Menschenliebe, während zu der andern Operation eine fertige Phraseologie, eingetunkt in eine hohle Selbstliebe, vollständig hinreicht.“71 Man kann nicht gerade behaupten, daß eine solch bittere Abrechnung mit dem Mann, der ihn als Mitherausgeber der Jahrbücher vorgeschlagen und eingestellt hatte, ein großes Maß an Menschenliebe oder Menschlichkeit ausdrückt. Marx rechtfertigte seine weitläufigen Ausführungen damit, daß nicht alle Leser die Bildung und die Zeit besäßen, „sich Rechenschaft über solche literarische Scharlatanerie abzulegen“,72 wie sie Ruge geboten hätte. Ruge selbst gab er den zweifelhaften Rat, „vorläufig aller Schriftstellerei in politischer und sozialer Hinsicht, wie den Deklamationen über die deutschen Zustände zu entsagen, und vielmehr mit einer gewissenhaften Selbstverständigung über seinen eigenen Zustand zu beginnen“. Leopold Schwarzschild kommentierte Marx’ verbalen Ausfälle und persönlicher Ranküne gegenüber Ruge mit der Aussage: „Es gab kein Halten, Marx mußte dieses Reptil zertreten, es totschlagen mit seinem eigenen Geschreibsel.“73 Dagegen re70 Ebd., S. 394 f. Die vorhergehenden Zitate auf S. 399, S. 403 und S. 408. Hervorhebungen im Original. 71 Ebd., S. 405 f. Hervorhebungen im Original. 72 Ebd., S. 409. Dort auch das nächste Zitat. Marx schrieb auch: „So vieler Weitläufigkeiten bedurfte es, um das Gewebe von Irrtümern, die sich in eine einzige Zeitungsspalte verstecken, zu zerreißen.“ Hervorhebungen im Original. 73 L. Schwarzschild: Der rote Preuße (wie Anm. 1), S. 122.

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agierte Ruge etwa ein Jahr vorher gelassener und schrieb am 23. November 1843 an seinen „vielgeprüften Freund“ Moritz Fleischer: „Marx hat mehrere Kleinigkeiten im V[orwärts] geschrieben, anonym und ohne Werth, immer in dem alten geschraubten Hegelschen Jargon und mit seinem hohlen Hochmuth.“74 Ein Attentat auf den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. wurde im Vorwärts! dazu benutzt, den Wunsch nach einem geschickteren Schützen auszusprechen, worauf die preußische Regierung diplomatisch in Paris vorstellig wurde. Die preußische Regierung verlangte das Verbot der Zeitung, schließlich erbot sich nach monatelangen Verhandlungen über eine angemessene Lösung der französische Außenminister François Guizot (1787–1874), alle nichtnaturalisierten Ausländer, die jemals etwas in dieser Zeitschrift veröffentlicht hatten, ausweisen zu lassen. Ganz ernst kann es die französische Regierung damit aber nicht gemeint haben, denn auch Bakunin, Heine und Ruge wurde diese Ausweisungsorder zugestellt, aber sie vertrauten auf die französische liberté und blieben in Paris. Marx hingegen wollte sich einer brutalen bourgeoisen Regierung nicht beugen, weshalb die Pariser Polizei im Januar 1845 verfügte, daß Marx innerhalb von vier Wochen Frankreich verlassen müsse. Am 2. Februar 1845 siedelte Marx mit seiner dreiköpfigen Familie von Paris nach Brüssel über, obwohl der sozialistische Publizist Karl Theodor Ferdinand Grün (1817–1887), der ebenfalls in Paris lebte, Marx kritisiert hatte, daß er keinerlei Anstrengungen unternommen habe, seine Ausweisung annullieren zu lassen. Und als Engels am 15. August 1846 nach Paris ging, um dort den sogenannten wissenschaftlichen Kommunismus unter die Arbeiter des Bundes der Gerechten zu bringen, propagierte Karl Grün auf diesen Versammlungen ebenfalls Ideen eines Weitlingschen Arbeiterkommunismus. Engels bezichtigte ihn wohl deshalb in einem Brief an Marx 74 Arnold Ruges Briefwechsel und Tagebuchblätter. 1. Bd. (wie Anm. 43), S. 378. Hervorhebungen im Original.

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vom 19. August 1846, „durch ein abwechselnd kriechendes, abwechselnd hochfahrendes Betragen . . . die Arbeiter um ca. 300 fr. beschissen“75 zu haben. Die belgische Polizei blieb nicht untätig und eröffnete dem ausgewiesenen Literaten Marx, daß er zwar keiner Zensur unterliege, sich aber verpflichten müsse, nichts über die innere belgische Tagespolitik zu veröffentlichen, wenn er eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen wolle, was Marx wohl oder übel akzeptierte. Er vermutete allerdings, daß hinter allen diesen politischen Intrigen die preußische Regierung steckte, weshalb er seinen sofortigen Austritt aus dem preußischen Staat beantragte und auch prompt erhielt. An den Landrat und Trierer Oberbürgermeister Franz Damian Görtz schrieb Marx am 17. Oktober 1845 wegen seiner Entlassung aus dem „Königl. Preuß. Untertanenverband“, daß er darum bitte, „von der kgl. hochlöblichen Regierung zu Trier mir einen Auswanderungsschein nach den Vereinigten Nordamerikanischen Staaten auswirken zu wollen“!76 Später versuchte Marx mehrere Male mit großer Intensität, in Deutschland oder in Preußen eingebürgert zu werden, was allerdings nicht gelang und ihn zu einem Staatenlosen machte. Als Engels von der Ausweisung aus Frankreich erfuhr, teilte er Marx am 22. Februar 1845 aus Barmen mit, daß er es für nötig gehalten hätte, „gleich eine Subskription zu eröffnen, um die Dir dadurch verursachten Extrakosten auf uns alle kommunistisch zu repartieren“,77 d.h. Geld zu sammeln bei Barmer und Elberfelder Kommunisten. Engels war nämlich selbst durch seine fast ununterbrochenen kommunistischen

75

MEW, Bd. 27, Berlin 1973, S. 32. Ebd., S. 602. 77 Ebd., S. 19. Dort heißt es weiter: „Die Hunde sollen wenigstens das Pläsier nicht haben, Dich durch ihre Infamie in pekuniäre Verlegenheit zu bringen. Daß man Dich gezwungen hat, die Hausmiete für die Zukunft noch zu bezahlen, ist doch die Krone der Scheußlichkeit. Ich fürchte aber, man wird Dich am Ende in Belgien auch molestieren, so daß Dir zuletzt nur England übrigbleibt.“ 76

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Aktivitäten in eine prekäre finanzielle Situation geraten, weil sein Vater nicht länger bereit war, diese unternehmensfremden Tätigkeiten seines Sohnes zu tolerieren, wie Engels Marx am 17. März 1845 aus Barmen schrieb: „Ich lebe Dir jetzt ein wahres Hundeleben. Durch die Versammlungsgeschichten und die ,Liederlichkeit‘ mehrerer unsrer hiesigen Kommunisten, mit denen ich natürlich umgehe, ist der ganze religiöse Fanatismus meines Alten wieder erweckt, durch meine Erklärung, den Schacher definitiv dranzugeben, gesteigert – und durch mein offnes Auftreten als Kommunist hat sich nebenbei noch ein glänzender Bourgeoisfanatismus in ihm entwickelt . . . Ich kann nicht essen, trinken, schlafen, keinen Furz lassen oder dasselbe vermaledeite Kindergottesgesicht steht mir vor der Nase. Ich mag ausgehen oder zuhause bleiben, stillschweigen oder sprechen, lesen oder schreiben, lachen oder nicht, ich mag tun, was ich will, gleich setzt mein Alter diese infame Fratze auf . . . Es ist rein zum Tollwerden. Von der Malice dieser christlichen Hetzjagd nach meiner ,Seele‘ hast Du keine Ahnung.“78 Trotzdem war Engels bereit, daß das Honorar für die englische Ausgabe der Lage der arbeitenden Klasse in England, das „ich hoffentlich bald wenigstens teilweise ausbezahlt bekomme und für den Augenblick entbehren kann, da mein Alter mir pumpen muß, Dir mit dem größten Vergnügen zur Disposition steht“,79 damit Marx nicht darben mußte. Und schließlich fuhr Engels nach Brüssel, um neben Marx in der Rue d’Alliance eine Wohnung zu beziehen und erlebte eine Überraschung, die er sich wohl nicht in seinen kühnsten Träumen vorgestellt hätte. Marx hatte nämlich eine gedankliche Rohfassung des Manifest der Kommunistischen Partei,80 „eines der bedeutsamsten programmatischen Dokumente des wissenschaftlichen Kommunismus“,81 entworfen. Noch 40 Jahre nach 78

Ebd., S. 26 f. Ebd., S. 19. 80 Vgl. K. Marx/F. Engels: Manifest der Kommunistischen Partei (wie Anm. 3), S. 459–493. 81 So in MEW, Bd. 4, Berlin 1971, S. 648, Anm. 297. 79

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Erscheinen der Erstausgabe des Manifest – also fast fünf Jahre nach dem Tod von Karl Marx – schrieb Engels in der Vorrede zur englischen Ausgabe 1888: „Als ich aber im Frühjahr 1845 Marx in Brüssel wiedertraf, hatte er ihn [den Gedanken, daß die ganze Geschichte der Menschheit eine Geschichte von Klassenkämpfen gewesen ist, H. K.] fertig ausgearbeitet“.82

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Ebd., S. 581.

VII. Revolution, Kommunismus, Diktatur Die Geschichte der Menschheit aus der Geschichte der ökonomischen Verhältnisse abzuleiten, d.h. die materiellen Verhältnisse als Basis aller menschlichen Verhältnisse anzusehen, war für Marx und Engels eine einmalige historische Enthüllung, die mindestens auf der theoretischen Stufe der evolutionären Theorie von Charles Darwin (1809–1882) stand. Bereits in einem Brief an Pawel Wassiljewitsch Annenkow vom 28. Dezember 1846 hatte Marx geschrieben: „Die Produktivkräfte sind also das Resultat der angewandten Energie der Menschen, doch diese Energie selbst ist begrenzt durch die Umstände, in welche die Menschen sich versetzt finden, durch die bereits erworbenen Produktivkräfte, durch die Gesellschaftsform, die vor ihnen da ist, die sie nicht schaffen, die das Produkt der vorhergehenden Generation ist.“83 Noch allgemeiner drückte er dies im Vorwort seines Buches Zur Kritik der Politischen Ökonomie in einer oft zitierten Redewendung aus: „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“84 Doch nicht einmal die neuesten Erkenntnisse der Neurophysiologie können eine begründete Aussage darüber treffen, ob die Ideen in unseren Köpfen ihren Ursprung im ökonomischen System haben oder nicht. Solche Thesen waren ähnliche philosophische Hirngespinste von Marx und Engels wie die Behauptung: Weil die Produktivkräfte bzw. die Produktionsverhältnisse bestimmend sind für die gesellschaftlichen Systeme, entwickelte der industrielle Kapitalismus Eigentümer dieser Produktivkräfte, d.h. die herr-

83 84

S. 9.

MEW, Bd. 27, Berlin 1973, S. 452. K. Marx: Zur Kritik der Politischen Ökonomie (wie Anm. 56),

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schende Klasse. Wer also im Besitz von Produktiveigentum ist, muß notwendigerweise alle anderen, die abhängigen Bevölkerungsgruppen unterdrücken und ausbeuten und dadurch entstehen Klassengegensätze und Klassenkämpfe. Nur eine klassenlose, eine eigentumslose, eben die kommunistische Gesellschaft, mache es möglich, Unterdrückung, Armut und Ausbeutung der arbeitenden Klasse endgültig zu beseitigen! Hinter diesen Ideen steht die weitverbreitete Vorstellung einer kollektiven Gesellschaft, in der die Individuen nichts weiter sind als notwendiger Bestandteil des politischen Systems. Dieser Kollektivismus ist der ärgste Feind aller demokratischen Bestrebungen, denn er setzt Individualismus mit Egoismus gleich, obwohl echter Individualismus mit einer altruistischen, d.h. sich um die Leiden der anderen kümmernden, Einstellung ganz leicht zu vereinbaren ist. Um dieses Ziel einer klassenlosen, kollektiven Gesellschaft durch eine zerstörerische Revolution möglichst bald zu erreichen, mußte Marx nicht nur die Philosophie praktisch werden lassen – die 11. Feuerbach-These lautet: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern“85 –, sondern die historische Realität durch wilde Übertreibungen auf den Kopf stellen: „Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol, d.h. auf der Seite der Klasse, die ihr eignes Produkt als Kapital produziert.“86 Als Marx diese bedrückende Schilderung des ausbeuterischen kapitalistischen Systems veröffentlichte, hatte sich die materielle und gesundheitliche Lage eines großen Teils der arbeitenden Klasse in allen industrialisierenden Staaten erheblich gegenüber der frühindustriellen Situation verbessert.87 Und in ihren verbalen Ausfällen gegenüber Her85 Karl Marx: [Thesen über Feuerbach] (1845), in: MEW, Bd. 3, Berlin 1962, S. 7. Hervorhebungen im Original. 86 K. Marx: Das Kapital. 1. Bd. (wie Anm. 90), S. 675. 87 Vgl. Hubert Kiesewetter: Industrielle Revolution in Deutschland. Regionen als Wachstumsmotoren, Stuttgart 2004, S. 29 ff.

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mann Kriege, der sich in New York den Ansichten der amerikanischen Nationalreformer angeschlossen hatte, daß jedem Bauern 160 Acre Land zur Verfügung gestellt werden sollte, schrieben Marx und Engels, dies sei alles andere als ein kommunistischer Wunsch, sondern: „Kein anderer als der, alle Menschen in Privateigentümer zu verwandeln, ein Wunsch, der ebenso ausführbar und kommunistisch ist, wie der, alle Menschen in Kaiser, Könige und Päpste zu verwandeln.“88 Der Staat, das politische System, die Gesetze, die Ideen, die moralischen Einstellungen etc. sind lediglich der Überbau; die aus den ökonomischen Verhältnissen der jeweiligen Epoche entspringenden Strukturen. In den Worten Engels, „daß also die jedesmalige ökonomische Struktur der Gesellschaft die reale Grundlage bildet, aus der der gesamte Überbau der rechtlichen und politischen Einrichtungen sowie der religiösen, philosophischen und sonstigen Vorstellungsweise eines jeden geschichtlichen Zeitabschnittes in letzter Instanz zu erklären sind“.89 Die ethischen Prinzipien „Du sollst nicht lügen“, „Du sollst den Armen helfen“, „Du sollst gegenüber Deinem Nächsten tolerant sein“, „Du sollst nicht töten“, sind demnach ausschließlich aus der ökonomischen Struktur erwachsen! Eine solche realitätsfremde Vereinfachung der ökonomischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit wurde tatsächlich von Marx und Engels und von Tausenden ihrer Epigonen als das wahre und unumstößliche Gesetz der historischen Entwicklung angesehen. Was aber macht die ausgebeutete und unterdrückte Klasse eines unübersehbaren Heeres von Arbeitern, wenn sie immer 88 Karl Marx/Friedrich Engels: [Zirkular gegen Kriege], in: MEW, Bd. 4, Berlin 1971, S. 10. Am 14. August 1851 schrieb Marx an Engels: „Je mehr ich aber den Dreck treibe, um so mehr überzeuge ich mich, daß die Reform der Agrikultur, also auch der darauf basierten Eigentumsscheiße, das A und O der kommenden Umwälzung ist.“ MEW, Bd. 27, Berlin 1973, S. 314. 89 Friedrich Engels: Herrn Eugen Dühring’s Umwälzung der Wissenschaft [abgekürzt: Anti-Düring] (1878), in: MEW, Bd. 20, Berlin 1973, S. 25. Hervorhebung von mir.

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stärker ausgebeutet und unterdrückt wird? Eigentlich nichts, denn zum einen müssen sich die Arbeiter darum kümmern, daß sie und ihre Familien genug zum Leben haben, zum anderen hat das historische Gesetz das kapitalistische System zum unvermeidlichen Untergang verurteilt, d.h., die Arbeiter können bei der mit totsicherer Gewißheit eintretenden, die gesamte Gesellschaft umstürzenden Revolution höchstens „die Geburtswehen abkürzen und mildern“.90 Die Hegelsche Dialektik bietet auch hier eine raffinierte Lösung aus diesem Dilemma. Wenn es richtig ist, daß in der vergangenen Geschichte alle die Staatsmacht benutzten, „die konzentrierte und organisierte Gewalt der Gesellschaft, um den Verwandlungsprozeß der feudalen in die kapitalistische Produktionsweise treibhausmäßig zu fördern und die Übergänge abzukürzen“91 – „Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht“ –, dann gibt wohl auch die Geschichte den furchtbar ausgebeuteten Volksmassen das moralische Recht, sich zu wehren. Bei den angeblich um maximale Gewinne streitenden Kapitalisten ist die Sache ja ohnehin klar: „Je ein Kapitalist schlägt viele tot.“92 Bei dieser allseitigen Gewaltorgie muß es zur planmäßigen Ausbeutung der Erde kommen, müssen alle Völker im Netz des Weltmarktes verschlungen werden, damit der internationale Charakter des kapitalistischen Systems seine eigentliche Fratze enthüllt: „Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren, wächst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinigten und organisierten Arbeiterklasse. Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produk-

90 Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. 1. Bd. (1867), Berlin 1962, S. 16. 91 Ebd., S. 779. Dort auch das nächste Zitat. 92 Ebd., S. 790.

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tionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert.“93 Dies ist keine Beschreibung der zukünftigen Entwicklung von unterentwickelten Staaten, sondern die schicksalhafte Zukunft aller hochindustriellen kapitalistischen Systeme, „das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft“94! Ist das eine menschliche Einstellung, wenn man bereit ist, Millionen Menschenleben zu opfern – wie das Jossif Wissarionowitsch Stalin (1879–1953) als Generalsekretär der Kommunistischen Partei Rußlands seit den 1920er Jahren in seiner blutigen ,Säuberung‘ praktizierte –, um ein System zu beseitigen, das in den 150 Jahren nach Erscheinen von Marx’ Kapital zumindest in den europäischen Staaten einen materiellen Lebensstandard erzeugt hat, der jahrtausendelang unvorstellbar war?95 1847 gründeten Marx und Engels in Brüssel den Bund der Kommunisten, um die schriftstellerische Arbeit in der Gelehrtenstube zu verlassen und in die aktuelle europäische Politik hineinzuwirken, die inmitten einer scharfen Wirtschaftskrise unter allseitigem Beschuß stand. Der Bund hatte anfänglich nur 17 Mitglieder, darunter den Lyriker Ferdinand Freiligrath (1810–1876), den uns bereits bekannten Moses Hess, den Bruder von Jenny Marx, Edgar von Westphalen, den vormaligen Königlich Preußischen Artillerieleutnant Joseph Weydemeyer (1818–1866) und andere unbekannte Literaten. Weydemeyer sollte nach 15jähriger Offizierslaufbahn zum Hauptmann befördert werden, als man entdeckte, daß er sich kommunistisch betätigte und für die Trier’sche Zeitung sozialistische Artikel schrieb, weswegen er seinen Abschied vom Militär-

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Ebd., S. 790 f. Ebd., S. 15. 95 Vgl. H. Kiesewetter: Das einzigartige Europa (wie Anm. 66), S. 106 ff. 94

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dienst nehmen mußte und den Beruf eines Geometers ausübte. Auf einer Reise traf er in Brüssel mit seinem alten Bekannten Engels zusammen und erbot sich, beiden behilflich zu sein, was auch gleich begonnen werden konnte. Marx und Engels hatten nämlich eine zweibändige Deutsche Ideologie96 geschrieben, in denen sie die deutschen Philosophen Bruno Bauer, Ludwig Feuerbach und Max Stirner sowie einige Spielarten des Sozialismus kritisch sezierten. Weydemeyer bot seine Hilfe an, seinen Kontakt zu den sozialistischen Kaufleuten Julius Meyer und Rudolph Rempel in Westfalen zu nutzen, um mit deren finanzieller Unterstützung einen sozialistischen Verlag zu gründen, in dem nicht nur dieses Werk, sondern auch andere sozialistische Literatur erscheinen sollte. Die Kaufleute waren selbst schriftstellerisch tätig und Marx sollte die redaktionelle Leitung der zukünftigen Veröffentlichungen übernehmen. Weydemeyer setzte sich dafür ein, daß die Deutsche Ideologie die erste Veröffentlichung in diesem Verlag sein sollte. Die Ausführungen in dem Buch sind allerdings so abstrakt und unsystematisch, daß die beiden Kaufleute, deren Geschäfte angeblich erhebliche Verluste gemacht hatten, in einem Brief an Marx vom 13. Juli 1846 die Finanzierung ablehnten. Obwohl sich die beiden Autoren mehrmals um die Veröffentlichung dieses Buches bei verschiedenen deutschen Verlagen bemühten, wurde es erst 1932 durch das MarxEngels-Lenin-Institut in Moskau in deutscher Sprache herausgebracht. Weydemeyer startete gleich nach der Ablehnung der Veröffentlichung eine neue Geldsammlung für den darbenden Marx in Brüssel, aber selbst damit konnte er sich keinerlei Sympathien mehr zurückgewinnen, denn Engels schrieb am 19. August 1846 an Marx: „Weyd[emeyer], dieser Lump, hatte einen westfälisch tränenvollen Brief an B[ernay]s geschrieben, worin die Edlen M[eyer] und R[empel] als Märtyrer der guten Sache dargestellt, die gern ihr Alles geopfert, die wir aber mit Verachtung zurückgestoßen hätten usw.“.97

96 Vgl. Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, Berlin 1962.

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Ähnlich bzw. aus menschlicher Sicht noch schlimmer erging es dem Journalisten Hermann Kriege (1820–1850), der Mitglied des Bundes der Gerechten wurde, aber 1845 nach New York auswanderte, um in der von ihm gegründeten deutschen Wochenzeitung „Der Volks-Tribun“, die vom 5. Januar bis 31. Dezember 1846 erschien, die deutschen Arbeiter in den USA vom Kommunismus zu überzeugen. Noch am 22. Februar 1845 schrieb Engels an Marx über Kriege: „Der Kerl ist ein famoser Agitator.“98 Am 11. Mai 1846 wurde in Brüssel von dem dort ansässigen kommunistischen Korrespondenz-Komitee ein „Zirkular gegen Kriege“99 beschlossen – nur der Magdeburger Schneidergeselle Wilhelm Weitling stimmte dagegen –, das Kriege auf heftigste Weise angriff und dann noch von ihm verlangte, dieses Zirkular in seiner Zeitung abzudrucken. Die von Kriege in seinem „Volks-Tribun“ vertretene Tendenz sei „nicht kommunistisch“,100 er predige eine „phantastische Gemütsschwärmerei“, die „im höchsten Grade demoralisierend auf die Arbeiter wirken“ müsse. Und als sei dies noch nicht genug an persönlicher Denunziation, heißt es unter Nr. 2: „Die kindisch-pomphafte Weise, in der Kriege diese Tendenz vertritt, ist im höchsten Grade kompromittierend für die kommunistische Partei in Europa sowohl als in Amerika, insofern er für den literarischen Repräsentanten des deutschen Kommunismus in New York gilt.“ Auf den nächsten Seiten des Zirkulars wurden die vorher erschienenen Artikel im „VolksTribun“ kritisch kommentiert und ihnen unterstellt, daß „Kommunismus in Liebesduselei“ verwandelt würde, daß 97 MEW, Bd. 27, Berlin 1973, S. 32. Und in einem weiteren Brief an Marx vom 18. September 1846: „Der süße Kohl Weyd[emeyer] ist rührend. Der Kerl erklärt erst, ein Manifest abfassen zu wollen, worin er uns für Lumpen erklärt, und wünscht dann, das möge keine persönlichen Differenzen absetzen. So was ist selbst in Deutschland nur an der hannöversch-preußischen Grenze möglich. Daß Dein Geldpech noch immer anhält, ist schändlich.“ (S. 47) 98 Ebd., S. 19. 99 Vgl. K. Marx/F. Engels: [Zirkular gegen Kriege] (wie Anm. 88), S. 3–17. 100 Ebd., S. 3. Dort auch die nächsten Zitate.

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„metaphysische Fanfaronnaden“ geblasen bzw. „religiöse Tändeleien“ ausgeführt würden. Und wenn Kriege etwas metaphysisch den Geist der Gemeinschaft beschwor, kritisierten seine anscheinend echt kommunistischen Widersacher: „Hier predigt also Kriege im Namen des Kommunismus die alte religiöse und deutsch-philosophische Phantasie, die dem Kommunismus direkt wiederspricht.“101 Der Aufruf von Kriege, daß reiche deutsche Kaufleute in den USA hungernden Familien eine Arbeit verschaffen sollten, bezeichneten Marx und Engels als einen „infamen und ekelhaften Servilismus“,102 der „Wollust der Kriecherei und die Selbstverachtung predigt“ sowie die „Religion des unendlichen Erbarmens“. Kriege hätte sich den wahren Kommunismus aneignen sollen, wenn er es überhaupt wagte, seine Stimme zu erheben, denn dieser habe die endgültige Vernichtung des Kapitalismus auf seine Fahnen geschrieben, aber stattdessen geriere sich Kriege als sentimentaler Liebesapostel: „Als echter Prophet und Liebesoffenbarer spricht er die ganze hysterische Gereiztheit einer geprellten schönen Seele über die Spötter, die Ungläubigen und die Menschen der alten Welt aus, die sich nicht durch seine süße Liebeswärme in ,selige Himmelsbewohner‘ umzaubern lassen.“103 Marx und Engels kommen deshalb zu dem nicht gerade humanen Schluß: „Diese feige, heuchlerische Darstellung des Kommunismus nicht als ,Zerstörung‘, sondern als ,Erfüllung‘, der bestehenden schlechten Verhältnisse und der Illusionen, die sich die Bourgeois darüber machen, geht durch alle Nummern des ,Volks-Tribunen‘.“104 Kriege kehrte 1848 in seine Heimat zurück, wo er zum Mitglied des Zentralausschusses der Demokraten Deutschlands ge101

Ebd., S. 12. Hervorhebungen im Original. Ebd., S. 15. Dort auch die nächsten Zitate. 103 Ebd., S. 17. 104 Ebd., S. 7. Oder später: „Nachdem so die revolutionäre kommunistische Bewegung in das ,Suchen‘ nach dem heiligen Geist und dem heiligen Abendmahl verwandelt ist, kann Kriege natürlich auch behaupten, daß dieser Geist ,nur erkannt zu sein braucht, um alle Menschen in Liebe zu verbinden‘.“ (S. 11, Hervorhebung im Original). 102

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wählt wurde, ging aber nach der Revolution wieder in die USA, wo er bald darauf starb. Gerechtfertigt werden diese intoleranten Verleumdungen früherer Weg- und Gesinnungsgefährten von Marx damit: „Nur durch die äußerste Grobheit kann man sich diese Narren vom Leib halten.“ 105 Was dieses Verhalten allerdings mit Menschlichkeit bzw. einer Verwirklichung von Freiheit zu tun haben soll, können wohl nur diejenigen vertreten, die Marx gegen jegliche Angriffe auf seine menschliche Integrität verteidigen wollen, doch bereits damals wurde Marx der „Proletarische Diktator“106 genannt. Am 22. Februar 1848 begann in Paris die nächste große französische Revolution – etwas mehr als einen Monat, nachdem Marx und Engels das Kommunistische Manifest vollendet hatten und weniger als zwei Wochen, nachdem Marx’ Mutter 6.000 Francs seines Erbes an ihn hatte auszahlen lassen –, die Europa erschüttern sollte und für Marx mit mathematischer Gewißheit das endgültige Ende des kapitalistischen Systems einleitete. Von vielleicht geringerer welthistorischer Bedeutung, wenn auch für Marx’ Lebenslauf fundamental, war das Erscheinen eines belgischen Polizeikommissars am 3. März bei der Familie Marx mit der Anweisung, daß sie Belgien innerhalb von 24 Stunden zu verlassen hätte. Karl und Jenny Marx wurden um 1 Uhr nachts auf die Brüsseler Präfektur gebracht und dort einige Stunden festgehalten, um vernommen zu werden. Und der gleiche Marx, der in seiner sozialen bzw. sozialistischen Revolution den gewaltsamen Tod von Millionen unschuldiger Menschen in Kauf nahm, regte sich nun entsetzlich auf über die belgische Regierung und ihr „reaktionäres Wüten“, über die „Brutalitäten, die ich erlitten habe“ bei dieser „skandalösen Angelegenheit“.107 Leopold Schwarzschild kom105 Brief von Karl Marx an Georg Herwegh vom 8. August 1847, in: MEW, Bd. 27, Berlin 1973, S. 466. 106 Vgl. Edward Hallet Carr: Karl Marx. A Study in Fanaticism (1934), London 1938, S. 60, der diesen Ausdruck Pawel W. Annenkow zuschreibt. 107 Karl Marx: [Brief an den Redakteur der Zeitung „La Réforme“] vom 8. März 1848, in: MEW, Bd. 4, Berlin 1971, S. 536 f.

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mentiert dies etwas spöttisch: „Ein Abgrund von charakteristisch bourgeoiser Brutalität war enthüllt worden. Sechs Stunden unlegitimierter Haft! Wie notwendig es war, daß dieses System der Gewalt und der Greuel von der Humanität des Kommunismus ersetzt wurde!“108 Das Manifest wurde als die herausragende Kampf- und Programmschrift der neuen kommunistischen Partei angesehen, mit dem „dem Märchen vom Gespenst des Kommunismus ein Manifest der Partei“109 entgegengesetzt werden sollte, mit der internationalen Aufforderung an alle Parteien in den europäischen Staaten: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“110 Dies war aber erst möglich geworden, nachdem der Feudalismus des Mittelalters durch die moderne bürgerliche Gesell-

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L. Schwarzschild: Der rote Preuße (wie Anm. 1), S. 193. K. Marx/F. Engels: Manifest der Kommunistischen Partei (wie Anm. 3), S. 461. F. J. Raddatz: Karl Marx (wie Anm. 8), S. 102 f., schreibt: „Die rund 9600 Wörter des ,Kommunistischen Manifests‘ werden eine stärkere Wirkung haben als alle Gebete, Gebote und Gesetze je zuvor, als das Vaterunser mit seinen 56 Wörtern, die zehn Gebote mit ihren 297 Wörtern und die amerikanische Unabhängigkeitserklärung mit ihren 300 Wörtern.“ Hervorhebung im Original. 110 K. Marx/F. Engels: Manifest der Kommunistischen Partei (wie Anm. 3), sowohl auf dem Deckblatt als auch am Ende der Abhandlung, S. 493. Da außer in Großbritannien weit über die Hälfte aller Arbeiter in den europäischen Staaten in der Landwirtschaft tätig waren, die für eine Revolution nicht in Frage kam, war diese Floskel 1848 reichlich übertrieben. Außerdem war sie ein rein taktisches Instrument, denn als Otto von Bismarck mit seinem nationalistischen Krieg gegen Frankreich die Gründung des Deutschen Reiches vorbereitete, schrieb Marx am 20. Juli 1870 an Engels: „Die Franzosen brauchen Prügel. Siegen die Preußen, so die Zentralisation der state power nützlich der Zentralisation der deutschen Arbeiterklasse. Das deutsche Übergewicht würde ferner den Schwerpunkt der westeuropäischen Arbeiterbewegung von Frankreich nach Deutschland verlegen, und man hat bloß die Bewegung von 1866 bis jetzt in beiden Ländern zu vergleichen, um zu sehn, daß die deutsche Arbeiterklasse theoretisch und organisatorisch der französischen überlegen ist. Ihr Übergewicht auf dem Welttheater über die französische wäre zugleich das Übergewicht unsrer Theorie über die Proudhons etc.“ MEW, Bd. 33, Berlin 1973, S. 5. Hervorhebung im Original. 109

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schaft in einer revolutionären bzw. zerstörerischen Weise abgelöst worden, d.h. an die Stelle der Manufaktur die moderne große Industrie entstanden war: „An die Stelle des industriellen Mittelstandes traten die industriellen Millionäre, die Chefs ganzer industrieller Armeen, die modernen Bourgeois,“111 die an die Stelle „der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt“112 haben. Mit der Eroberung aller Weltteile, mit der Ausbeutung des Weltmarktes, mit der fortwährenden Umwälzung der Produktion hat die Bourgeoisie „massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen“113 und damit ihre ökonomische und politische Herrschaft etabliert. Kann denn eine solche ökonomische und politische Machtclique jemals gestürzt oder vertrieben werden? Ja, denn „die Bourgeoisie hat nicht nur die Waffen geschmiedet, die ihr den Tod bringen; sie hat auch die Männer gezeugt, die diese Waffen führen werden – die modernen Arbeiter, die Proletarier“.114 Diese ausgebeuteten Arbeiter, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, die allen ökonomischen Wechselfällen ausgesetzt sind, die mit ihrer Hände Arbeit keine Familie ernähren können und in den Fabriken „bloßes Zubehör der Maschine“ sind, die „als gemeine Industriesoldaten unter die Aufsicht einer vollständigen Hierarchie von Unteroffizieren und Offizieren gestellt“115 werden, sie sollen die mächtige Bour-

111 K. Marx/F. Engels: Manifest der Kommunistischen Partei (wie Anm. 3), S. 463. Und die zerstörende Bourgeoisie „hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt“ (S. 464 f.). 112 Ebd., S. 465. 113 Ebd., S. 467. 114 Ebd., S. 468. Hervorhebung im Original. Dort auch das nächste Zitat. Oder: Die Bourgeoisie „produziert vor allem ihren eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich.“ (S. 474) 115 Ebd., S. 469.

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geoisie ausrotten? Wie kann dies bewerkstelligt werden? Marx und Engels, wir haben es schon einige Male gehört, sind in ihren Mitteln, die sie den ausgebeuteten Arbeitern anempfehlen, nicht zimperlich, weil sie überhaupt nicht an einer besseren Lage der Arbeiter interessiert waren, sondern diese lediglich als taktische Waffe ansahen.116 Angeblich vernichten diese außer Rand und Band geratenen Arbeiter „die fremden konkurrierenden Waren, sie zerschlagen die Maschinen, sie stecken die Fabriken in Brand“117 und schließlich organisieren sie „den gewaltsamen Umsturz aller

116 Die Arbeiterklasse als taktisches Instrument ist keine bösartige oder gar verleumderische Idee von mir, sondern bereits von dem Naturwissenschaftler Karl Vogt (1817–1895) nach einem Gespräch mit Marx um 1850 niedergeschrieben worden, in dem er auch dessen üblen Charakter treffend und ohne übelwollende Tendenz wiedergibt: „Wir tranken zuerst Porto, dann Claret d. h. rothen Bordeau, dann Champagner. Nach dem Rothwein war er vollständig besoffen. Das war mir sehr erwünscht, denn er wurde offenherziger, als er sonst vielleicht gewesen wäre. Ich erhielt Gewissheit über Manches, was mir sonst nur Vermuthung geblieben wäre. Trotz diesem Zustande beherrschte er bis ans Ende die Unterhaltung. Er hat mir den Eindruck nicht nur einer seltenen geistigen Ueberlegenheit, sondern auch einer bedeutenden Persönlichkeit gemacht. Hätte er ebensoviel Herz wie Verstand, ebensoviel Liebe wie Hass, dann würde ich für ihn durchs Feuer gehen, trotzdem dass er mir seine vollständigste Geringachtung nicht nur verschiedentlich angedeutet, sondern zuletzt ganz unumwunden ausgesprochen hat . . . Aber ich habe die Ueberzeugung, dass der gefährlichste persönlichste Ehrgeiz in ihm alles Gute zerfressen hat. Er lacht über die Narren, welche ihm seinen Proletarier-Katechismus [das Kommunistische Manifest, H. K.] nachbeten, so gut wie über die Communisten à la Willich [August Willich (1810–1878), ehemaliger preußischer Leutnant und Mitglied des Bundes der Kommunisten, H. K.], so gut wie über die Bourgeois. Die einzigen, die er achtet, sind ihm die Aristokraten, die reinen und die es mit Bewusstsein sind. Um sie von der Herrschaft zu verdrängen, brauche er eine Kraft, die er allein in den Proletariern findet, deshalb hat er sein System auf sie zugeschnitten.“ Carl Vogt: Mein Prozess gegen die Allgemeine Zeitung. Stenographischer Bericht, Dokumente und Erläuterungen, Genf 1859, S. 151 f. Hervorhebungen im Original. 117 K. Marx/F. Engels: Manifest der Kommunistischen Partei (wie Anm. 3), S. 470.

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bisherigen Gesellschaftsordnung“.118 Das ist der anscheinend unvermeidliche Klassenkampf der unterdrückten gegen die herrschende Klasse, und so verwandelt sich das Proletariat in „eine wirklich revolutionäre Klasse“.119 Die Kommunisten vertreten offenbar die Interessen des gesamten Proletariats, aber die Mittel dazu sind unmenschlich und mörderisch, nämlich „Sturz der Bourgeoisieherrschaft, Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat“120 und „Aufhebung des Privateigentums“.121 Und da die kommunistische Revolution, die Arbeiterrevolution, die radikalste Abrechnung „vermittelst despotischer Eingriffe in das Eigentumsrecht“122 ist, kann sie nur durchgeführt werden durch die „Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der Demokratie“.123 Marxistische und nichtmarxistische Denker haben deshalb ver-

118 Ebd., S. 493. Danach heißt es ziemlich naiv und sentimental: „Die Proletarier haben nichts zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen.“ (Ebd.). So als ob ein gewaltsamer Umsturz ohne ein schreckliches Blutvergießen und Blutbad durchgeführt werden könnte. 119 Ebd., S. 472. 120 Ebd., S. 474. 121 Ebd., S. 475. 122 Ebd., S. 481. Dort auch das nächste Zitat. Hervorhebung von mir. Der sozialistische Arzt Dr. Andreas Gottschalk wandte sich am 25. Februar 1849 in einem scharfen Artikel gegen Marx, in dem es u. a. hieß: „Wozu aber eine Revolution, wozu sollen wir Männer des Proletariats, unser Blut verspritzen, müßten wir wirklich, wie Sie, Herr Prediger uns verkünden, um der Hölle des Mittelalters zu entgehen, uns freiwillig in das Fegfeuer einer dekrepiden Kapitalherrschaft stürzen, um von dort in den nebelhaften Himmel Ihres ,kommunistischen Glaubensbekenntnisses‘ zu gelangen.“ Zitiert von Hans Stein: Der Kölner Arbeiterverein (1848–1849). Ein Beitrag zur Frühgeschichte des rheinischen Sozialismus (1921). Neudruck Glashütten im Taunus 1972, S. 96. 123 Auch der bedeutende Ökonom Wilhelm Roscher: Politik. Geschichtliche Naturlehre der Monarchie, Aristokratie und Demokratie (1892). 3. Aufl., Stuttgart/Berlin 1908, S. 13, glaubte: „Die Demokratie artet zuletzt aus: der Mittelstand, auf dem sie beruhte, schmilzt von oben und unten her immer enger zusammen; das Volk spaltet sich in einen Gegensatz überreicher Kapitalisten und gänzlich vermögensloser Arbeiter.“

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mutet, Marx und Engels hätten 1848 irgendetwas mit Demokratie im Sinn gehabt. Der Ruf nach gelebter Demokratie im Deutschland des Jahres 1848/49 war aber vor allem der sehnliche Wunsch nach individueller Freiheit, Verfassung, Parlament, Pressefreiheit, allgemeines Wahlrecht, kurz nach einem bürgerlichen Parteienstaat, den Marx und Engels gerade vernichten wollten. Die Demokratisierungsforderungen des Frankfurter Parlaments, die in einer Verfassung für ganz Deutschland niedergeschrieben worden waren, betrachteten die Vorreiter einer proletarischen Diktatur als arbeiterfeindliche Auswüchse einer kapitalistischen Ausbeuterklasse. Der Bund der Kommunisten hatte ganz andere Ziele, er wollte alle feudalen Landgüter, Banken, Bergwerke, alle Transportmittel etc. verstaatlichen – wie dies ja dann die sich auf Marx berufenden Kommunisten in der DDR getan haben – und eine allgemeine Volksbewaffnung durchführen, denn die „Armeen sind in Zukunft zugleich Arbeiterarmeen“.124 Diese radikale Verstaatlichungsorgie wurde damit begründet, daß „die Millionen, die bisher in Deutschland von einer kleinen Zahl ausgebeutet wurden und die man weiter in der Unterdrückung zu erhalten suchen wird, zu ihrem Recht“125 kommen und die politische Herrschaft übernehmen. Die herrschende proletarische Klasse ist aber nichts anderes als die Diktatur des Proletariats – ein Begriff, den Marx und Engels später von dem französischen Sozialisten Louis Auguste Blanqui (1805–1881) übernommen haben und der wirklich überhaupt nichts mit Demokratie zu tun hat.126 124 Karl Marx/Friedrich Engels: Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland (1848), in: MEW, Bd. 5, Berlin 1969, S. 3. 125 Ebd., S. 4 f. 126 Wie sehr die marxistische Strategie die Arbeiter als taktisches Mittel einsetzte, geht aus einem Brief von Friedrich Engels vom 27. Januar 1887 an Florence Kelley-Wischnewetzky in New York hervor: „Als wir [Marx und Engels, die gerade vorher die kommunistische Revolution propagiert hatten, H. K.] im Frühjahr 1848 nach Deutschland zurückkehrten, schlossen wie uns der demokratischen Partei an, als dem einzig möglichen Mittel, das Ohr der Arbeiterklasse zu gewinnen“. MEW, Bd. 36, Berlin 1973, S. 598. Schon in Engels Brief an Marx

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Folgerichtig schrieb Marx 1875 in seinem Angriff auf das Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei: „Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andre. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nicht andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats.“127 Es bedarf schon einer raffinierten dialektischen Verdrehungsmethode, wenn man aus dieser Marxschen Aussage wie Karl Kautsky den Schluß ziehen zu können glaubt: „Die Diktatur des Proletariats war ihm ein Zustand, der bei überwiegendem Proletariat aus der reinen Demokratie notwendig hervorgeht.“128

in Köln vom 25. April 1848 kommt die ganze Hinterhältigkeit dieser Strategie deutlich zum Ausdruck: „Wenn ein einziges Exemplar unsrer 17 Punkte [das waren die kurz zuvor veröffentlichten Forderungen der Kommunistischen Partei, H. K.] hier verbreitet würde, so wär’ hier alles verloren für uns. Die Stimmung bei den Bourgeois ist wirklich niederträchtig. Die Arbeiter fangen an, sich etwas zu regen, noch sehr roh, aber massenhaft.“ MEW, Bd. 27, Berlin 1973, S. 126. Und Marx schrieb aus London an Engels in Manchester am 13. Juli 1851, daß ihre Ansprache an den Bund „nichts als ein Kriegsplan gegen die Demokratie“ (ebd., S. 278) gewesen sei. 127 Karl Marx: Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei (1875), in: MEW, Bd. 19, Berlin 1974, S. 28. Hervorhebung im Original. Schon in einem Dokument zur „Weltgesellschaft der revolutionären Kommunisten“ vom April 1850 lautete der Art. 1: „Das Ziel der Assoziation ist der Sturz aller privilegierten Klassen, ihre Unterwerfung unter die Diktatur des Proletarier, in welcher die Revolution in Permanenz erhalten wird bis zur Verwirklichung des Kommunismus, der die letzte Organisationsform der menschlichen Familie sein wird.“ MEW, Bd. 7, Berlin 1969, S. 553. 128 Karl Kautsky: Die Diktatur des Proletariats (1918), Berlin 1990, S. 32.

VIII. Terror gegen Freund und Feind Im März 1848 reiste Marx von Paris, wohin er nach seiner Ausweisung aus Brüssel geflohen war, nach Köln, wo es noch Pressefreiheit gab, und beteiligte sich an der Gründung der Kölner Demokratischen Gesellschaft, während er gleichzeitig die Neue Rheinische Zeitung (NRZ) ins Leben rief, die ab 1. Juni 1848 erschien. In dieser Zeitung, die neben der kommentierenden Berichterstattung der turbulenten Ereignisse der Revolutionszeit vor allem den revolutionären Elan in der Arbeiterschaft wachrufen wollte, finden wir in der ersten Zeit trotzdem keine kommunistisch-revolutionären Artikel. Marx wiegte sich wohl immer noch in der Hoffnung, daß die preußische Regierung seinem wiederholten Antrag auf Einbürgerung stattgeben würde, allerdings vergeblich. Ein Beamter der preußischen Regierung in Köln teilte Marx am 11. Mai 1849 mit, daß die Neue Rheinische Zeitung, der er als Chefredakteur und wesentlicher Finanzier vorstand, wegen „Aufreizung zur Verachtung der bestehenden Regierung, zum gewaltsamen Umsturz und zur Einführung der sozialen Republik“129 ihr Erscheinen einstellen müsse und Marx, der sein Gastrecht „so schmählich verletzt“, Preußen „binnen 24 Stunden zu verlassen“ habe. Marx antwortete darauf in der letzten roten Ausgabe der NRZ vom 19. Mai 1849, die in 20.000 Exemplaren gedruckt wurde, mit der Wiederholung eines früheren Artikels, um zu zeigen, daß er den Kannibalismus der Konterrevolution schon lange bekämpft habe. Er vertrat die Ansicht, „daß es nur ein Mittel gibt, die mörderischen Todeswehn der alten Gesellschaft, die heutigen Geburtswehn der neuen Gesellschaft ab-

129 Zitiert in: MEW, Bd. 6, Berlin 1968, S. 503. Dort auch die nächsten Zitate.

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zukürzen, zu vereinfachen, zu konzentrieren, nur ein Mittel – den revolutionären Terrorismus“.130 Nach den gescheiterten revolutionären Aufständen in Deutschland, der Vertreibung der Nationalversammlung aus Frankfurt und nach den enttäuschenden Erfahrungen mit den deutschen Arbeitern, die sich gar nicht mit ihrer kommunistischen Mission anfreunden wollten, wurde Marx aus Preußen ausgewiesen, weil er seit seinem Brüsseler Austrittsantrag kein preußischer Staatsbürger mehr war und auch nie mehr werden sollte. Er suchte nach kurzem Aufenthalt in Paris, wo er unter dem Namen Ramboz in der Rue de Lille wohnte, seit Ende August 1849 Zuflucht in London. Die brutale Aufforderung zu einem Bürgerkrieg – wie er ja bereits in den Tagen nach dem 23. Juni 1848 in Paris mit Tausenden von Toten ausgefochten worden war – konnte den kommunistischen Revolutionären nicht genügen. In dem letzten Artikel in der NRZ legte Marx deshalb noch nach: „Wir sind rücksichtslos, wir verlangen keine Rücksicht von euch. Wenn die Reihe an uns kömmt, wir werden den Terrorismus nicht beschönigen. Aber die royalistischen Terroristen, die Terroristen von Gottes- und Rechts-Gnaden, in der Praxis sind sie brutal, verächtlich, gemein, in der Theorie feig, versteckt, doppelzüngig, in beiden Beziehungen ehrlos.“ Das ungeheure Ausmaß der ideologischen Verblendung einer bevorstehenden Revolution wich aber auch in Paris nicht von Marx, der zwar die schamlose „royalistische Reaktion“131 in der französischen Hauptstadt beklagte, aber trotzdem glaubte, es stünde „ein kolossaler Ausbruch des Revolutionskraters nie näher bevor als jetzt zu Paris“. Erst einige Zeit nach der gescheiterten Revolution 1848/49 besannen sich Marx und Engels auf eine neue revolutionäre Strategie, nämlich die Revolution in Permanenz, 130 Ebd., S. 505. Dort auch das nächste Zitat. Hervorhebungen im Original. In völliger Verkennung der politischen Verhältnisse der von preußischen Truppen niedergeschlagenen revolutionären Aufstände behauptete Marx: „Wir haben die revolutionäre Ehre unsers heimischen Bodens gerettet.“ (S. 506) 131 MEW, Bd. 27, Berlin 1973, S. 137. Dort auch das nächste Zitat.

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wie sie ja auch in der Sowjetunion und in der DDR permanent beschworen wurde. Die erschreckende Unfähigkeit, die nüchternen Tatsachen in das ideologische Kalkül miteinzubeziehen, zeigte sich in dieser neuerlichen Flucht vor der widerborstigen Realität. Weil die demokratischen Kleinbürger eine Revolution möglichst schnell beenden wollten, sei es ihre Aufgabe, „die Revolution permanent zu machen, so lange, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind, die Staatsgewalt vom Proletariat erobert und die Assoziation der Proletarier nicht nur in einem Lande, sondern in allen herrschenden Ländern der ganzen Welt so weit fortgeschritten ist, daß die Konkurrenz der Proletarier in diesen Ländern aufgehört hat“.132 Die Pariser Polizei entdeckte jedoch bald Marx’ kommunistischen Umtriebe und sandte ihm die unabänderliche Anordnung zu, seinen Wohnsitz nach Vannes in der Bretagne zu verlegen, worauf Marx an Engels schrieb: „Du begreifst, daß ich auf diesen verkleideten Mordversuch nicht eingehe. Ich verlasse also Frankreich.“133 Das industrialisierte England, der in Politik und Ökonomie am weitesten fortgeschrittene europäische Staat in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, war von der französischen Revolution völlig unberührt geblieben, aber es war liberal genug, neben Hunderten von anderen Emigranten den beiden größten Revolutionären und Terroristen Asyl zu gewähren. Doch Marx in London brauchte Geld – obwohl er Engels geschrieben hatte, „in London werden wir Geschäfte machen“ –, denn er hatte kein Einkommen, und das Erbkapital aus dem Grundstück in Trier, das seine Mutter für ihn verkauft hatte, war der sprichwörtliche Tropfen auf einen heißen Stein. Da kam es Marx gelegen, daß ein junger Anwalt, Ferdinand Lassalle (1825–1864), der in Paris die sozialistischen Ideen von Louis 132 Karl Marx/Friedrich Engels: Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850, in: MEW, Bd. 7, Berlin 1969, S. 248. 133 Brief vom 23. August 1849, in: MEW, Bd. 27, Berlin 1973, S. 142. Dort auch das nächste Zitat.

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Blanc kennengelernt hatte und durch den von ihm übernommenen Scheidungsprozeß der Sophie Gräfin von Hatzfeldt bekannt und wohlhabend geworden war – nachdem er ein halbes Jahr Gefängnis wegen seiner revolutionären Aktivitäten abgesessen hatte –, für Marx Geld sammelte. Denn die Familie Marx sollte vom Vermieter ihrer Wohnung in London gepfändet werden, worauf Conrad Schramm, Mitglied des deutschen Bildungsvereins für Arbeiter in London, die Mietzahlung vorschoß. Und auch Friedrich Engels sah sich genötigt, nach sechsjährigem „Berufsleben“ als Revolutionär, wieder in das Geschäft seines Vaters Ermen & Engels in Manchester einzusteigen, um sich und Marx finanziell über Wasser halten zu können.134 134 Am 31. August 1864, dem Todestag Lassalles, war Engels zum Teilhaber der Fabrik seines Vaters in Manchester ernannt worden. Es war ihm klar, daß er in dieser Stellung für sozialistische oder kommunistische Arbeiter ein rotes Tuch sein mußte, weshalb er am 13. Februar 1865 an Marx schrieb: „Paß auf, die Knoten [d.h. die Arbeiter, H. K.] werden sagen, was will der Engels, was hat der die ganze Zeit getan, wie kann der in unsrem Namen sprechen und uns sagen, was wir tun sollen, der Kerl sitzt in Manchester und exploitiert die Arbeiter usw. Das ist mir nun zwar total Wurst, aber das kommt sicher, und das haben wir dem Baron Itzig [Lassalle, H. K.] zu verdanken.“ MEW, Bd. 31, Berlin 1974, S. 69. Auch Marx waren die Ansichten der Arbeiter völlig gleichgültig: „Was die deutschen Knoten angeht, so mögen sie schreien, soviel sie wollen.“ Brief an Engels vom 18. Februar 1865, ebd., S. 77. Engels unablässige Bereitschaft, Marx finanziell zu unterstützen, war zwar als Teilhaber der Firma gestiegen, aber seine schriftstellerische Tätigkeit war eingeschränkt, weshalb er möglichst bald aus dem Geschäft aussteigen wollte. Er glaubte irrigerweise, daß die Honorare aus dem Verkauf von Marx’ Kapital alle Geldnöte beseitigen könnten und wenn nicht, dann wäre ja noch die bevorstehende Revolution, die „allen Finanzprojekten ein Ende macht“. „Ich sehne mich nach nichts mehr, als nach Erlösung von diesem hündischen Commerce, der mich mit seiner Zeitverschwendung vollständig demoralisiert. Solange ich da drin bin, bin ich zu nichts fähig, besonders seitdem ich Prinzipal bin, ist das viel schlimmer geworden, wegen der größeren Verantwortlichkeit. Wenn es nicht wegen der vermehrten Einkünfte wäre, möchte ich wahrhaftig lieber wieder Kommis sein.“ Brief an Marx vom 22. April 1867, in ebd., S. 293. Als Gottfried Ermen Engels anbot, zum Ablauf des Vertrags am 30. Juni 1869 aus dem Geschäft auszusteigen

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Zwar schrieb ihm sein Vater, er „verbrauche viel zuviel Geld und müsse mit £ 150 auskommen. Ich werde mir diese lächerliche Zumutung natürlich nicht gefallen lassen, um so weniger, als sie mit der Drohung begleitet ist, nötigenfalls die Ermens anzuweisen, mir nicht mehr als diese Summe auszuzahlen.“135 Aber Marx verdiente 1851 gar nichts, erst 1852 wurde er Korrespondent der New York Daily Tribune, die zwei seiner Artikel – die zuerst fast alle von Engels geschrieben wurden – pro Woche drucken wollte, was ihm höchstens £ 100 pro Jahr einbrachte, aber er hatte „während der letzten Jahre mehr als 350 £ gebraucht“.136 Am 31. März 1851 schrieb Marx an Engels, er habe „keinen farthing [ein Viertelpenny, H. K.] im Haus, um so mehr Rechnungen dagegen von dem kleinen commerce, Metzger, Bäcker and so forth“.137 Engels, der Marx bis zu dessen Tod ununterbrochen Geld und Wein zusandte, erfuhr dann auch: „Du weißt, daß ich am 23. März 31 £ 10 sh. an den alten Bamberger und am 16. 10 £ an den Juden Stiebel zu zahlen hatte, alles auf kursierende Wechsel. Ich hatte erst bei meiner Schwiegermutter durch Jenny direkt anfragen lassen . . . Dann schrieb ich und ihn mit einem großzügigen finanziellen Angebot abzufinden, wenn er sich bereit erklärte, fünf Jahre lang keine Konkurrenzfirma zu eröffnen, schrieb Engels am 29. November 1868 an Marx: „Kannst Du mit £ 350 für die gewöhnlichen regelmäßigen Bedürfnisse im Jahr auskommen (wobei ich Extrakosten durch Krankheit und unvorhergesehene Ereignisse ausschließe), d.h. so, daß Du dabei keine Schulden zu machen brauchst . . . Was nach obigen 5–6 Jahren geschehen wird, ist mir freilich selbst noch nicht klar. Wenn alles so bleibt, wie es jetzt ist, würde ich dann allerdings nicht mehr imstande sein, Dir jährlich £ 350 oder gar mehr zu überweisen, aber immer noch mindestens £ 150.“ MEW, Bd. 32, Berlin 1974, S. 215 f. Hervorhebung im Original. 135 Engels an Marx am 8. September 1851, in: MEW, Bd. 27, Berlin 1973, S. 336. Er müsse sich aber etwas einschränken, „da ich summa summarum hier schon £ 230 vermöbelt habe und bis zum November, wo ich ein Jahr hier bin, diese Summe nicht zu sehr steigern darf“ (ebd.). 136 Brief an Engels vom 30. November 1868, in: MEW, Bd. 32, Berlin 1974, S. 217. 137 MEW, Bd. 27, Berlin 1973, S. 227.

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an meine Mutter, drohte ihr, Wechsel auf sie zu ziehn und im Nichtzahlungsfall nach Preußen zu gehn und mich einsperren zu lassen.“138 Diese unverhohlene Drohung gegenüber seiner Mutter, daß sie bei seiner Verhaftung mit dem rufschädigenden sozialen Makel eines kriminellen Sohnes leben müsse, hatte keine Wirkung, da Henriette Marx nicht mehr so wohlhabend war, um ihrem Sohn finanziell unter die Arme greifen zu können. Und so geht es Jahr für Jahr weiter, etwa im Brief an Engels vom 27. Februar 1852, in dem Marx seinem Gönner mitteilte, daß „ich aus Mangel an den im Pfandhaus untergebrachten Röcken nicht mehr ausgehe und aus Mangel an Kredit kein Fleisch mehr essen kann. Das alles ist nun Scheiße, aber ich fürchte, daß der Dreck einmal mit Skandal endet.“139 Erst als Jennys Mutter 1856 gestorben war und 120 Pfund Erbschaft ausgezahlt wurden, konnten die Marx aus ihrer Zweizimmerwohnung in 28, Dean Street, Soho, in ein geräumiges Häuschen in 9, Grafton Terrace, Maitland Park, umziehen. Aber 138 Ebd., S. 226. Später heißt es: „Du wirst zugeben, daß diese Gesamtscheiße passablement angenehm ist und daß ich bis an die Wirbelspitze meines Schädels im kleinbürgerlichen Dreck stecke. Und dabei hat man noch die Arbeiter exploitiert! und strebt nach der Diktatur!“ (S. 227) 139 MEW, Bd. 28, Berlin 1973, S. 30. Oder am 8. September 1852 an Engels in Manchester: „Meine Frau ist krank, Jennychen ist krank, Lenchen hat eine Art Nervenfieber. Den Doktor kann und konnte ich nicht rufen, weil ich kein Geld für Medizin habe. Seit 8–10 Tagen habe ich die family mit Brot und Kartoffeln durchgefüttert, von denen es noch fraglich ist, ob ich sie heute auftreiben kann.“ (Ebd., S. 138). „Endlich, in den letzten 8–10 Tagen, habe ich einige Schilling und Pence, was mir das Fatalste ist, aber es war nötig, um nicht zu verrecken, von Knoten [das waren die ausgebeuteten Arbeiter, H. K.] gepumpt.“ (S. 129). Noch fast zehn Jahre später, am 18. Juni 1862, schrieb Marx an Engels: „Meine Frau sagt mir jeden Tag, sie wünschte, sie läge mit den Kindern im Grab, und ich kann es ihr wahrlich nicht verdenken, denn die Demütigungen, Qualen und Schrecken, die in dieser Situation durchzumachen sind, sind in der Tat unbeschreiblich. Die 50 £ sind, wie Du weißt, für Schulden ausgegeben worden, von denen nicht die Hälfte damit bezahlt werden konnte.“ MEW, Bd. 30, Berlin 1972, S. 248.

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die finanziellen Kalamitäten waren damit nicht beseitigt, denn schon am 20. Januar 1857 schrieb Marx an Engels: „Ich weiß absolut nicht, was ich anfangen soll, und bin in der Tat in einer verzweifelteren Situation als vor 5 Jahren. Ich glaubte die Quintessenz des Drecks verschluckt zu haben. Mais non. Dabei ist das schlimmste, daß diese Krise nicht temporär ist. Ich sehe nicht, wie ich mich herausarbeiten soll.“140 Was könnte man unter solchen widrigen Umständen von einem Menschen erwarten, der völlig auf finanzielle Unterstützung seiner Mitbürger angewiesen ist? Etwas mehr Menschlichkeit, mehr Toleranz, mehr Verständnis für die Nöte seiner sozialistischen Mitstreiter? Genau das Gegenteil trat bei Marx ein, er wurde verbitterter, hysterischer und aggressiver, klagte außer Engels viele seiner langjährigen kommunistischen Freunde einer hinterhältigen Verschwörung gegen ihn an.141 Dazu einige wenige Beispiele, die zeigen sollen, daß Marx 140 MEW, Bd. 29, Berlin 1973, S. 97. Am 9. Mai 1864 war Wilhelm Wolff in Manchester gestorben, der Marx in seinem Testament zum Haupterben eingesetzt hatte. Engels übernahm die Testamentsvollstrekkung und teilte Marx am 11. März 1865 mit, daß an ihn £ 824.14.9 ausgezahlt würden. Vgl. MEW, Bd. 31, Berlin 1974, S. 97. Marx zog daraufhin mit seiner Familie in ein neues Haus, No. 1, Modenas Villas. 141 Aber auch Engels wurde von dieser rücksichtslosen Haltung Marx’ nicht verschont, denn als seine langjährige Lebensgefährtin Mary Burns gestorben war, schrieb er am 7. Januar 1863 an Marx: „Ich kann Dir gar nicht sagen, wie mir zumute ist. Das arme Mädchen hat mich mit ihrem ganzen Herzen geliebt.“ Marx antwortete einen Tag später in einem kurzen Satz, die Nachricht vom Tod der Mary habe ihn „ebenso sehr überrascht als bestürzt. Sie war sehr gutmütig, witzig und hing fest an Dir.“ Aber danach lamentierte er eine Seite lang über seine vergeblichen Versuche, „in Frankreich und Deutschland Geld aufzutreiben“ und „daß wir nichts mehr kreditiert erhalten“. Engels wartete bis zum 13. Januar, ehe er sich aufraffte, zu antworten, da „mein eignes Pech und Deine frostige Auffassung desselben“ ihm den Hals zugeschnürt hätten: „Alle meine Freunde, einschließlich Philisterbekannte, haben mir bei dieser Gelegenheit, die mir wahrhaftig nahe genug gehen mußte, mehr Teilnahme und Freundschaft erwiesen, als ich erwarten konnte. Du fandest den Moment passend, die Überlegenheit Deiner kühlen Denkungsart geltend zu machen.“ MEW, Bd. 30, Berlin 1972, S. 309, S. 310 und S. 312.

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und Engels nicht nur in ihren politischen und ökonomischen Theorien, sondern auch in ihrem persönlichen Umgang jede Menschlichkeit vermissen ließen. Der Dichter Gottfried Kinkel (1815–1882), der sich schon während der 1848er Aufstände revolutionär gebärdet hatte, wurde am 29. Juni 1849 verwundet, dann gefangen und von einem Kriegsgericht in Rastatt, wo die letzte Schlacht der badischen Revolutionstruppen gegen preußisches Militär stattgefunden hatte, zu lebenslanger Zuchthausstrafe verurteilt. Der Student Carl Schurz (1829– 1906) – der im amerikanischen Bürgerkrieg eine bis heute in den USA unvergessene Rolle bei der Bekämpfung der Sklaverei spielte und später amerikanischer Innenminister wurde – hatte im November 1850 Kinkel auf abenteuerliche Weise aus der Festungshaft in Spandau befreit, indem er einen Wächter bestochen hatte, und ihn wohlbehalten nach England gebracht.142 Dort schloß sich Kinkel nicht dem kommunistischen Bund an, sondern verdiente seinen Unterhalt, indem er an Kinder- und Mädchenschulen unterrichtete, bevor er im September 1851 kurzfristig in die USA ausreiste. Mit der Gefängnisflucht Kinkels waren nicht nur der preußische König und seine politische Polizei blamiert, sondern es wurde umgehend verlangt, daß ein Prozeß gegen die Hintermänner dieser unglaublichen Verschwörung eingeleitet würde, die die staatliche Autorität eines der mächtigsten europäischen Herrscherhäuser untergraben hatten; eine Reihe von Kölner Sympathisanten wurden tatsächlich verurteilt. Marx und En142 Vgl. ausführlich dazu Carl Schurz: Lebenserinnerungen. Vom deutschen Freiheitskämpfer zum amerikanischen Staatsmann, Zürich 1988, S. 196 ff. Über Marx, dem er 1848 in Köln begegnete, äußerte sich Schurz folgendermaßen: „Was Marx sagte, war in der Tat gehaltreich, logisch und klar. Aber niemals habe ich einen Menschen gesehen von so verletzender, unerträglicher Arroganz des Auftretens. Keiner Meinung, die von der seinigen wesentlich abwich, gewährte er die Ehre einer einigermaßen respektvollen Erwägung. Jeden, der ihm widersprach, behandelte er mit kaum verhüllter Verachtung. Jedes ihm mißliebige Argument beantwortete er entweder mit beißendem Spott über die bemitleidenswerte Unwissenheit oder mit ehrenrühriger Verdächtigung der Motive dessen, der es vorgebracht.“ (S. 110 f.)

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gels nahmen eine 1850 erschienene Selbstbiographie Kinkels, Wahrheit ohne Dichtung, zum geeigneten Anlaß, um mit ihm und anderen gründlich abzurechnen.143 Kinkel sei „vom Embryo an ein großer Mann“144 gewesen, bei dem die „trivialsten Dinge, wie sie allen trivialen Leuten vorkommen“, zu bedeutenden Ereignissen werden, zu „verhängnisvollen Weltbegebenheiten“, d.h. Kinkel sei „kurz, die ganze testamentarische Erscheinung des Propheten Elias“.145 Nicht nur der predigende Theologe Kinkel wurde durch den zynischen Kakao gezogen, sondern das Christentum habe „in Deutschland eine Reihe von deklamatorischen Pfaffen zutage gefördert, deren letzte Ausläufer naturgemäß in die Demokratie führen mußten“.146 Gottfried Kinkels Engagement bei der republikanischen Partei und seine Teilnahme am Sturm der Bonner Demokraten auf das Zeughaus in Siegburg am 10. Mai 1849 war für Marx und Engels nichts weniger als verachtenswert, denn darin enthüllte sich „der ganze kontrerevolutionäre Demokrat“,147 der „zuerst demokratisch-konstitutionell, sodann demokratisch-republikanisch“148 wurde, also demokratische Verhaltensweisen, mit denen die marxistischen Revolutionäre nicht das Geringste zu tun haben wollten. Und natürlich wurde Kinkels persönlicher Einsatz bei der badischen Revolutionsarmee, wo er von einer Kugel getroffen wurde, mit bitterem Hohn bedacht: „Bei Rastatt aber sollte dieser lautere Zeuge für Wahrheit und Recht jene Prüfung bestehn, aus der er seitdem als Märtyrer unter der Bewunderung des ganzen deutschen Volkes unbe-

143 Vgl. Karl Marx/Friedrich Engels: [Die großen Männer des Exils], in: MEW, Bd. 8, Berlin 1972, S. 233–335. 144 Ebd., S. 236. Dort auch die nächsten Zitate. 145 Ebd., S. 237. Kinkel hatte Theologie studiert, bevor er sich mit kommunistischen Ideen angefreundet hatte, weshalb er angeblich „zum Heiland und Welterlöser berufen war“ (S. 238), aber gleichzeitig bezeichneten sie ihn als einen „heuchlerischen Pfaffen“ (S. 242). 146 Ebd., S. 249. Hervorhebung im Original. 147 Ebd., S. 253. 148 Ebd., S. 255.

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fleckt hervorgegangen ist.“149 Seine Verhaftung eröffnete nach Marx und Engels für Kinkel einen neuen Lebensabschnitt, „der zugleich Epoche macht in der Entwicklungsgeschichte des deutschen Spießbürgertums“.150 Das Kriegsgericht hätte ihm Gelegenheit gegeben, sich „wieder in einem jener rührenden Appelle an die Tränendrüsen seines Auditoriums zu versuchen, worin er früher schon als Hülfsprediger in Köln so erfolgreich gewesen war“. Kinkel hatte vor dem Kriegsgericht in Rastatt am 4. August 1849 eine Verteidigungsrede gehalten, die zwei bzw. drei Tage später in der Berliner Abend-Post abgedruckt wurde. Marx und Engels kommentierten diese Rede unter vergnüglichem Verzicht „auf die wohlfeile demokratische Popularität“151 u. a. so: „Wir wissen im voraus, daß wir die allgemeine Entrüstung der sentimentalen Schwindler und demokratischen Deklamatoren hervorrufen werden, indem wir diese Rede des ,gefangenen‘ Kinkel unsrer Partei denunzieren. Dies ist uns vollständig gleichgültig.“ In der Londoner Emigration fand Kinkel Kontakt zu Charles Dickens, veröffentlichte Artikel in der Wochenschrift Der Kosmos und hielt Vorlesungen, beteiligte sich aber nicht an der intensiven Vorbereitung einer wirklichen sozialen Revolution, weshalb Marx und Engels sarkastisch schrieben: „Je mehr dieser Menschenkehricht durch eigne Impotenz wie durch die bestehenden Verhältnisse außerstand gesetzt war, irgend etwas Wirkliches zu tun, desto eifriger mußte jene resultatlose Scheintätigkeit betrieben werden, deren eingebildete Handlungen, eingebildete Parteien, eingebildete Kämpfe und eingebildete Interessen von den Beteiligten so pomphaft ausposaunt

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Ebd., S. 260. Ebd., S. 261. Dort auch das nächste Zitat. 151 Karl Marx/Friedrich Engels: Gottfried Kinkel (1850), in: MEW, Bd. 7, Berlin 1969, S. 299. Dort auch das nächste Zitat. Franz Mehring: Karl Marx. Geschichte seines Lebens (1964). 5. Aufl., Berlin 1983, S. 207, äußerte 1918 volles Verständnis für den Widerwillen von Marx und Engels gegenüber Kinkel: „Dergleichen spießbürgerliche Spektakelstücke sind ihnen immer unausstehlich gewesen.“ 150

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worden sind.“152 Aber es war nicht nur Kinkel, der den heiligen Zorn dieser beiden Heroen des wissenschaftlichen Kommunismus hervorrief, sondern alle diejenigen, die den humanitären Mut aufbrachten, sich mit Kinkel zu solidarisieren. Als z. B. Ferdinand Freiligrath, langjähriger Freund und Weggenosse von Marx, zusammen mit Kinkel als Redner der Hundertjahrfeier des Geburtstages von Friedrich Schiller am 10. November 1859 angekündigt wurden, wollte Marx mit allen Mitteln verhindern, daß beide zusammen auftraten. Er beschwor nicht nur Freiligrath, auf diese elende geistige Verbrüderung mit diesem unwürdigen Kinkel zu verzichten, sondern zog in seinen Briefen an Engels unflätig über ihn her. Aber Freiligrath, „der dicke Philister“,153 lehnte dieses Ansinnen von Marx, nicht mit Kinkel aufzutreten, ab, worauf Marx ihm unterstellte, daß er „öffentlich Arm in Arm mit unsren Feinden geht“.154 Schon vorher, in einem Brief an Engels vom 7. Juni 1859, hatte Marx Freiligrath massiv angegriffen, weil er nicht bereit war, sich von Kinkel zu distanzieren: „Unter uns gesagt, ein Scheißkerl“.155 Freiligrath mußte etwa zur gleichen Zeit einen schweren Schicksalsschlag verkraften, denn seine Frau Johanna war am 15. November 1858 aus dem Fenster gestürzt und gestorben; ob es Selbstmord war oder ein Unglücksfall blieb unklar. Aber Marx kannte kein menschliches Mitleid, nicht einmal gegenüber einem so loyalen Freund, der für ihn immer wieder Geld beschafft hatte, sondern schrieb am 16. April 1860 an Engels: „Es ist mir ,öklig‘, mit dem Burschen zusammenzukommen, und doch muß in den Apfel gebissen werden. Schon aus Politik nach unsern wechselseitigen Freundschaftsversicherungen.“156

152 K. Marx/F. Engels: [Die großen Männer des Exils] (wie Anm. 143), S. 267. 153 So Marx in einem Brief an Engels vom 3. November 1859, in: MEW, Bd. 29, Berlin 1973, S. 499. 154 Ebd., S. 501. 155 Ebd., S. 448. 156 MEW, Bd. 30, Berlin 1972, S. 47.

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Und da war ja immer noch dieser Ferdinand Lassalle in Düsseldorf, Sohn eines reichen jüdischen Seidenhändlers aus Breslau, der sich 1848 der radikalen Bürgerwehr angeschlossen hatte und für die Einführung einer demokratischen Verfassung eingetreten war. Lassalle war wegen einer aufreizenden Rede am 22. November 1848 in Neuß zu sechs Monaten Haft verurteilt worden. Nach dem gewonnenen Prozeß für die Gräfin Hatzfeldt 1854 ging Lassalle drei Jahre später nach Berlin, um sein zweibändiges Werk Die Philosophie Herakleitos des Dunklen von Ephesos157 fertigzustellen, das 1858 erschien, aber als Jude war ihm die akademische Laufbahn verschlossen. Die baldige Fertigstellung dieses Werkes teilte er seinem Freund Marx mit, für den er schon früher Geld zum Überleben gesammelt hatte und dem er zu Neujahr 1858 £ 30 zukommen ließ.158 Und obwohl dieses Buch überhaupt nichts 157 Vgl. Ferdinand Lassalle: Die Philosophie Herakleitos des Dunklen von Ephesos (1858). 2 Bände in 1 Band. Nachdruck Hildesheim/ New York 1973. 158 Marx verbrachte ab 17. März 1861 mehrere Wochen in Lassalles Wohnung in Berlin, wo einige gemeinsame Projekte eines neuen Zeitungsprojekts und der Parteiarbeit besprochen, aber vor allem große Empfänge abgehalten wurden. Marx hatte am 7. März 1861 von Holland aus, wo er seinen geldgebenden Onkel besuchte, an Lassalle geschrieben: „Ich bezwecke, wie ich Dir schon früher schrieb, von hier nach Berlin zu kommen, um mit Dir persönlich über etwaige gemeinschaftliche literarisch-politische Unternehmungen zu sprechen, namentlich aber auch, um Dich wiederzusehn.“ MEW, Bd. 30, Berlin 1972, S. 587. Nach seiner Rückkehr nach London schrieb er am 10. Mai an Engels: „Apropos. Lassalle-Lazarus . . . Lazarus, der Aussätzige, ist also der Urtyp des Juden und Lazarus-Lassalle. Nur ist unserm Lazarus der Aussatz ins Hirn geschlagen. Seine Krankheit war ursprünglich schlecht kurierte sekundäre Syphilis.“ Ebd., S. 165. Als Lassalle im Juli 1862 nach London kam und Marx besuchte, wahrscheinlich auch dessen elende finanzielle Situation erlebte, gab er ihm £ 15 in bar und £ 60 in Form eines Wechsels. Doch Marx schüttete in einem Brief an Engels vom 30. Juli 1862 seinen abgrundtiefen Haß über Lassalle aus: „Der jüdische Nigger Lassalle, der glücklicherweise Ende dieser Woche abreist, hat glücklich wieder 5000 Taler in einer falschen Spekulation verloren. Der Kerl würde eher das Geld in den Dreck werfen, als es einem ,Freunde‘ pumpen, selbst wenn ihm Zinsen und Kapital garantiert würden. Dabei geht er von der Ansicht aus, daß er als jüdischer Baron oder

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mit sozialistischen oder kommunistischen Ideen zu tun hatte, schrieb Marx an Engels am 8. Mai 1857 wegen Lassalles Brief, der sein Buch ankündigte: „Wie soll ich es mit dem Kerl halten? Antworten oder nicht? Die komische Eitelkeit des Burschen, der mit Gewalt berühmt werden will und ohne allen Anlaß 75 Bogen über griechische Philosophie schreibt, wird Dich amüsieren.“159 Und Engels antwortete drei Tage später, als er den Brief von Lassalle zurückschickte: „Dorch und dorch der läppische Jüd. Es werden schöne Geschichten sein, die er zusammengeschrieben hat . . . Daß nichts an dem Kerl ist, das wissen wir freilich, es ist aber schwer, einen positiven Grund zu finden, woraufhin mit ihm direkt brechen“.160 In der Tat, denn Lassalle hatte sich mit Erfolg bemüht, für Marx’ Kritik der Politischen Ökonomie einen Verleger, Franz Gustav Duncker (1822–1888) in Berlin, zu finden, der auf Drängen von Lassalle ein außergewöhnlich großzügiges Honorar zu zahlen bereit war, was selbst der bitterböse Autor anerkennen mußte: „Nur dem außerordentlichen Eifer und Überredungstalent von Lassalle ist es gelungen, Duncker zu diesem Schritt zu bewegen.“161 Lassalle, ein mitreißender Redner und

baronisierter (wahrscheinlich durch die Gräfin) Jude leben muß.“ . . . „Nun, diese Verbindung von Judentum und Germanentum mit der negerhaften Grundsubstanz müssen ein sonderbares Produkt hervorbringen. Die Zudringlichkeit des Burschen ist auch niggerhaft.“ Ebd., S. 257 und S. 259. 159 MEW, Bd. 29, Berlin 1973, S. 132. Und nachdem er das Buch erhalten hatte, bezeichnete er es in einem Brief an Engels vom 1. Februar 1858 als „ein sehr läppisches Machwerk . . . Man sieht, wie sonderbar grauß der Kerl sich selbst in diesem philologischen Flitterstaat erscheint“ (ebd., S. 274). Dagegen schrieb Marx am 31. Mai 1858 an Lassalle: „Ich habe während meiner Leidenszeit Deinen ,Herakleitos‘ durchstudiert und finde die Wiederherstellung des Systems aus den zerstreuten Reliquien meisterhaft, wie mich nicht minder der Scharfsinn in der Polemik angesprochen. Was ich auszusetzen habe, ist hauptsächlich nur formell.“ (Ebd., S. 561). 160 Ebd., S. 134. 161 Brief von Marx an Joseph Weydemeyer vom 1. Februar 1859, in: MEW, Bd. 29, Berlin 1973, S. 572. Der Vertrag mit Duncker & Humblot wurde im März 1858 unterschrieben und Marx sollte ein Teilma-

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geschickter Agitator, glaubte auch im Sinne von Marx und Engels zu handeln, wenn er als Pendant zur Fortschrittspartei eine demokratische Partei gründete, die sich um die soziale Frage, d.h. vor allem um die Nöte der Arbeiter, kümmern sollte. Als Lassalle am 12. April 1862 auf einer großen Arbeiterversammlung einen entsprechenden Vortrag hielt, wurde er wegen Gefährdung des öffentlichen Friedens etc. angeklagt und am 16. Januar 1863 zu vier Monaten Gefängnis verurteilt, aber in zweiter Instanz freigesprochen. Etwa einen Monat später wurde er vom Arbeiterkomitee in Leipzig aufgefordert, einen allgemeinen deutschen Arbeiterkongreß einzuberufen, worauf er mit einer Broschüre antwortete, in der er sein sozialistisches Programm entwickelte. Am 23. Mai 1863 wurde in Leipzig der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein mit 600 Mitgliedern gegründet, der mit Hilfe des allgemeinen Wahlrechts die Arbeiter als staatliche Macht einsetzen wollte, und Lassalle zum Präsidenten gewählt. Dieser Arbeiterverein war ein Vorläufer der Sozialistischen Arbeiterpartei bzw. der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands,162 die 1875 bzw. 1890 gegründet wurden und lange Zeit marxistische Positionen vertraten. nuskript im Mai liefern. Aber er lieferte erst Anfang Februar 1859 zwei Kapitel an den Verleger, der zu diesem Zeitpunkt keine Druckmaschinen mehr frei hatte. Also verdächtigte Marx Lassalle, das Erscheinen seines Werkes verhindern zu wollen und stattdessen sein Pamphlet Der italienische Krieg und die Aufgabe Preußens drucken zu lassen. Marx schrieb deswegen am 25. Mai 1859 an Engels über Lassalle: „Aber der verfluchte eitle Narr hat das Embargo verordnet, damit die Aufmerksamkeit Publici nicht geteilt würde. Duncker, der Schweinhund, aber ist seelenvergnügt, daß er neuen Vorwand hat, die Zahlung meines Honorars aufzuschieben. Ich vergesse dem Jüdchen diesen Streich nicht.“ (Ebd., S. 442). 162 Wilhelm Liebknecht, der zusammen mit August Bebel auf dem Eisenacher Kongreß vom 7.–9. August 1869 die Sozialdemokratische Arbeiterpartei gründete und später zu einem der eifrigsten Verfechter der marxistischen Orthodoxie emporstieg, wurde von Marx nicht gerade freundlich beurteilt. Am 24. Oktober 1868 schrieb er an Engels über Liebknecht: „Dieses Vieh scheint ganz verrückt.“ Und am 10. August 1869: „Das Vieh glaubt an den zukünftigen ,Staat der Demo-

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Lassalles agitatorische Tätigkeit für diesen Verein endete allerdings abrupt, nachdem er von dem Verlobten der Tochter eines bayerischen Diplomaten, Janko von Rakowitz, der vermutete, daß Lassalle ein Verhältnis mit dieser hübschen Helene von Dönniges gehabt hatte, zu einem Pistolenduell gefordert und am 28. August 1864 in Genf im Alter von 39 Jahren tödlich verwundet worden war. Dieses plötzliche Ableben eines der größten Arbeiterführer war so sensationell, daß selbst Marx an Engels schrieb, es sei schwierig „zu glauben, daß so ein geräuschvoller, stirring, pushing Mensch nun maustot ist und altogether das Maul halten muß“.163 Lassalle, der keine revolutionären Aktionen der Arbeiterklasse als eigentliche Triebkraft zur Lösung der sozialen Frage ansah, aber die Beteiligung der Arbeiter an den Produktionsgewinnen sowie ein allgemeines und gleiches Wahlrecht forderte, zog sich nichtdestotrotz nach seinem Tod den vernichtenden Zorn von Marx zu, der am 3. Februar 1865 an Engels schrieb: „Es ist nichts zu machen mit dem Arbeiterverein, wie Baron Itzig [das war Lassalle, H. K.] ihn versucht hat. Je rascher er aufgelöst wird, um so besser.“164 Mit anderen Worten: „In dem Kopf des Sozialisten Marx reifte der Plan, die erste sozialistische Arbeiterpartei der Welt zu ruinieren.“165

kratie‘! Unterderhand ist das bald das konstitutionelle England, bald die bürgerlichen Vereinigten Staaten, bald die elende Schweiz. Von revolutionärer Politik hat ,es‘ keine Ahnung.“ MEW, Bd. 32, Berlin 1974, S. 189 und S. 360. Hervorhebung und Fettdruck im Original. 163 Brief an Engels vom 7. September 1864, in: MEW, Bd. 30, Berlin 1972, S. 432. 164 MEW, Bd. 31, Berlin 1974, S. 52. 165 L. Schwarzschild: Der rote Preuße (wie Anm. 1), S. 331.

IX. Die Vernichtung des kapitalistischen Systems Mit dem Austausch des vielverwendeten Begriffs „Bourgeoisie“ durch „Kapitalismus“ war Marx eine zündende Idee gekommen, denn nun konnte man ein ganzes System angreifen und nicht nur eine ,Klasse‘, die es so in Reinformat niemals gegeben hatte. Es war nun auch eher möglich, den Umsturz des gesamten kapitalistischen Systems vorauszusagen, wozu sich bereits nach dem 18. Februar 1863 eine Gelegenheit bot, als auf der Sitzung des preußischen Abgeordnetenhauses die liberale Mehrheit die reaktionäre Politik der preußischen Regierung in der polnischen Frage verurteilte. Marx war sich wegen dieser außenpolitischen Spannungen sicher: „Wir werden bald Revolution haben.“166 Nachdem am 28. September 1864 in London die Internationale Arbeiter Association (IAA), die sogenannte I. Internationale, gegründet worden war, in der sich sozialistische bis anarchistische Gruppierungen aus 13 europäischen Staaten und den USA zusammengeschlossen hatten, schrieb Marx eine Adresse an die Arbeiterklassen.167 Sie war von ihm zuerst in englischer Sprache verfaßt worden und erschien auf Deutsch in der Zeitschrift Der Social-Demokrat in Berlin vom 21. und 23. Dezember 1864, doch in dieser Adresse kamen die Begriffe Sozialismus und Kommunismus nicht ein einziges Mal vor.168 166 Brief an Engels vom 21. Februar 1863, in: MEW, Bd. 30, Berlin 1972, S. 333. 167 Vgl. Karl Marx: Inauguraladresse der Internationalen ArbeiterAssoziation, gegründet am 28. September 1864 in öffentlicher Versammlung in St. Martin’s Hall, Long Acre, in London, in: MEW, Bd. 16, Berlin 1973, S. 5–13. 168 Die Zeitschrift Sozial-Demokrat, dessen Miteigentümer und Redakteur Johann Baptist von Schweitzer Präsident des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins war, wurde von Marx und Engels mit stei-

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Während sich zu dieser Zeit in allen industrialisierenden Staaten die materielle Lage der Arbeiter nach den elenden Verhältnissen des Frühkapitalismus allmählich verbesserte – im englischen Parlament wurde schon am 8. Juni 1847 ein Gesetz über einen zehnstündigen Arbeitstag von Jugendlichen und Arbeiterinnen verabschiedet –, war Marx von dem Hungertod der ganzen Arbeiterklasse überzeugt: „Und so ist es jetzt in allen Ländern Europas eine Wahrheit, erwiesen für jeden vorurteilsfreien Geist und nur geleugnet durch die interessiert klugen Prediger eines Narrenparadieses, daß keine Entwicklung der Maschinerie, keine chemische Entdeckung, keine Anwendung der Wissenschaft auf die Produktion, keine Verbesserung der Kommunikationsmittel, keine neuen Kolonien, keine Auswanderung, keine Eröffnung von Märkten, kein Freihandel, noch alle diese Dinge zusammengenommen das Elend der arbeitenden Massen beseitigen können, sondern daß vielmehr umgekehrt, auf der gegenwärtigen Grundlage, jede frische Entwicklung der Produktivkräfte der Arbeit dahin streben muß, die sozialen Kontraste zu vertiefen und den sozialen Gegensatz zuzuspitzen.“169 Marx und Engels waren überhaupt nicht interessiert an der schrittweisen Verbesserung der materiellen Lage des arbeitenden Volkes, sondern in ihrer ideologischen Verblendung vergendem Mißtrauen betrachtet. Schweitzer schrieb an Marx am 15. Februar 1865: „Wenn Sie mir, wie im letzten Schreiben, über theoretische Fragen Aufklärung geben wollen, so werde ich solche Belehrung von Ihrer Seite immer dankbar entgegennehmen. Was aber die praktischen Fragen momentaner Taktik betrifft, so bitte ich Sie zu bedenken, daß, um diese Dinge zu beurteilen, man im Mittelpunkt der Bewegung stehen muß.“ (Zitiert in: MEW, Bd. 31, Berlin 1974, S. 625, Anm. 104). Eine solche selbstbewußte Anmaßung eines unbedeutenden Juristen und Journalisten konnten die Weltrevolutionäre Marx und Engels natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Sie schickten deshalb drei Tage später eine Erklärung an die Redaktion des Sozial-Demokraten, in der sie ihre Mitarbeit aufkündigten mit dem Argument: „Sie [Marx und Engels, H. K.] forderten aber wiederholt, daß dem Ministerium und der feudal-absolutistischen Partei gegenüber eine wenigstens ebenso kühne Sprache geführt werde als gegenüber den Fortschrittlern.“ (Ebd., S. 77). 169 K. Marx: Inauguraladresse (wie Anm. 167), S. 9.

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drehten sie die historische Realität, weil sie unbeirrt behaupteten, die immer noch unwürdige Situation der industriellen Arbeiterschaft müßte zwangsläufig dazu führen, daß den Landeigentümern und Kapitalisten vorgeworfen würde, diese würden „ihre politischen Privilegien stets gebrauchen zur Verteidigung und zur Verewigung ihrer ökonomischen Monopole“.170 Damit die ausgebeutete Arbeiterklasse die politische Macht überhaupt revolutionär erobern kann, was nach Marx ihre „große Pflicht“ ist, muß man sich nicht nur eines realpolitischen Opportunismus bedienen, sondern die IAA könne eine nützliche Rolle als Steigbügelhalter spielen, wie der realitätsblinde Marx am 11. September 1867 an Engels schrieb: „Und bei der nächsten Revolution, die vielleicht viel näher ist, als es aussieht, haben wir (d.h. Du und ich) diese mächtige engine in unsrer Hand.“171 Nach 23 Jahren mehr oder weniger intensiver Arbeit – Marx hatte 1845 einen Vertrag über sein ökonomisches Buch, der „ganzen ökonomischen Scheiße“ bzw. das „,verdammte‘ Buch“, mit dem Leske Verlag in Darmstadt geschlossen und 1.500 Francs Vorschuß erhalten172 – hatte Marx im Frühjahr 1867 wenigstens den 1. Band seines Hauptwerks, Das Kapital,173 die Bibel der Arbeiterklasse, wie es häufig genannt 170 171

Ebd., S. 12. Dort auch das nächste Zitat. MEW, Bd. 31, Berlin 1974, S. 342 f. Hervorhebungen im Origi-

nal. 172 Am 1. August 1846 schrieb Marx einen vierseitigen Brief an den Verleger Carl Friedrich Julius Leske, in dem er seinen Vertragsbruch mit unterschiedlichen Argumenten beschönigte, aber auch versprach: „Die Umarbeitung des ersten Bandes wird zum Druck fertig sein Ende November. Der 2te Band, der mehr historisch ist, kann rasch folgen.“ MEW, Bd. 27, Berlin 1973, S. 450. Hervorhebung im Original. Die Ausdrücke „der ganzen ökonomischen Scheiße“ und „,verdammtes‘ Buch“ finden sich in Briefen an Friedrich Engels vom 2. April 1851 (MEW, Bd. 27, Berlin 1973, S. 228) und vom 13. Februar 1866 (MEW, Bd. 31, Berlin 1974, S. 178). 173 Vgl. Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. 1. Band (1867), Berlin 1962 (MEW, Bd. 23). 802 Seiten Text. Der 2. Band erschien zuerst 1885 (MEW, Bd. 24, Berlin 1964). 518 Seiten Text, der 3. Band 1894 (MEW, Bd. 25, Berlin 1966). 893 Seiten Text. Die beiden

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wurde, fertiggestellt. Aber die „breimäuligen Faselhänse der deutschen Vulgärökonomie“174 wagten es zu kritisieren, obwohl nach Marx niemand die literarischen Mängel „strenger beurteilen [kann] als ich selbst“. Der Verlag Otto Meißner in Hamburg hatte mit Marx einen Verlagsvertrag, allerdings über drei Bände, abgeschlossen und ihm für die 1.000 Exemplare des 1. Bandes £ 60 Vorschuß gezahlt. In diesen Bänden entfaltet Marx in fast unverdaulicher Langatmigkeit seine ökonomischen Theorien mit einem wahren Wust von empirischem Material und seitenlangen Zitaten, deren methodologische Unhaltbarkeit schon früh erkannt und kritisiert wurde.175 Ich möchte hier keineswegs eine halbwegs stimmige Interpretation der Marxschen Theorien vorlegen, sondern lediglich mit ein paar Bemerkungen auf seine inhumane Einstellung gegenüber seinen wichtigsten Kronzeugen, den Arbeitern, auch in diesem Werk eingehen. Schon gegenüber Meißner hatte Marx mit falschen Karten gespielt, denn statt mit drei Bänden war er nur mit dem Manuskript des 1. Bandes nach Hamburg gereist, worauf Meißner ziemlich abweisend reagierte und gar nichts von Marx veröffentlichen wollte. Doch Marx versicherte seinem Verleger offenbar glaubwürdig die baldige Lieferung der anderen beiden Bände und schrieb an Engels: „Endlich verlangt Meißner den 2. Band für spätestens Ende Herbst. Die Schanzerei muß also sobald als möglich beginnen, indem namentlich für die Kapitel über Kredit- und Grundeigentum viel neues Material seit der Abfassung des Manuskripts geliefert worden ist. Im Winter soll der dritte Band fertig werden, so daß bis nächstes Früh-

letzten Bände wurden von Friedrich Engels aufgrund des handschriftlichen Nachlasses von Marx in redigierter Form herausgegeben. 174 Ebd., S. 22, Anm. 1. Dort auch das nächste Zitat. 175 Vgl. dazu etwa Julius Wolf: Sozialismus und kapitalistische Gesellschaftsordnung. Kritische Würdigung beider als Grundlegung einer Sozialpolitik, Stuttgart 1892, S. 125 ff. Dazu die entsprechende Interpretation in Hubert Kiesewetter: Julius Wolf 1862–1937 – zwischen Judentum und Nationalsozialismus. Eine wissenschaftliche Biographie, Stuttgart 2008, S. 112 ff.

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jahr das ganze opus abgeschüttelt.“176 Es dauerte allerdings noch 18 bzw. 27 Jahre, bevor diese beiden Bände des Kapital das veröffentlichte Licht der Welt erblickten, lange nachdem Marx am 14. März 1883 gestorben war, während der 1. Band am 2. September 1867 erschien.177 Wenn nach den revolutionären Versuchen von 1848/49 „das deutsche Proletariat bereits ein viel entschiedneres theoretisches Klassenbewußtsein besaß als die deutsche Bourgeoisie“,178 dann war es offenbar nicht sehr schwierig, daß es auch eine praktische Revolution durchführen konnte. Es bedurfte nur der zerstörerischen Kritik eines Marx, um der Arbeiterklasse, „deren geschichtlicher Beruf die Umwälzung der kapitalistischen Produktionsweise und die schließliche Abschaffung der Klassen ist“,179 zum Sieg zu verhelfen. Etwas anderes blieb den ausgebeuteten und unterdrückten Arbeitern ja scheinbar 176

Brief vom 7. Mai 1867, in: MEW, Bd. 31, Berlin 1974, S. 296. Ludwig Kugelmann aus Hannover hatte sich angeboten, eine Rezension des Kapital „in einer politischen Zeitschrift“ zu veröffentlichen. Daraufhin bat Marx Engels in einem Brief vom 10. Oktober 1867, diesem zu schreiben: „Du mußt ihm ans Herz legen, daß alles aufs ,Lärmemachen‘ ankommt, viel mehr als auf das Wie oder die Gründlichkeit.“ Ebd., S. 360. Engels hatte einen Monat vorher, am 11. September, Marx vorgeschlagen: „Was meinst Du, soll ich, um die Sache in Zug zu bringen, das Ding vom bürgerlichen Standpunkt angreifen? Meißner oder Siebel brächten das schon in ein Blatt.“ Ebd., S. 345. Mit dem ,Ding‘ war Marx’ Kapital gemeint und Engels fand es eventuell verkaufsfördernd, wenn er das Buch heftig kritisierte. Und dann Engels zweiter Anlauf am 13. Oktober: „Ich habe dem K[ugelmann] zwei Artikel von verschiednen Standpunkten über das Buch geschrieben und zugeschickt; ich denke, sie sind so, daß fast jede Zeitung sie nehmen kann, und danach kann er dann andre machen.“ Ebd., S. 362. Alle diese opportunistischen Bemühungen halfen wenig bis gar nichts, selbst die realisierte Drohung von Engels, „ich werde die Artikel selbst schreiben müssen“ (Brief an Marx vom 5. November 1867, in ebd., S. 377). Dies tat er auch und verfaßte unter verschiedenen Pseudonymen Rezensionen von Marx’ Buch, doch im ersten Jahr nach Erscheinen des Kapital waren gerade einmal 200 Exemplare verkauft worden. 178 Karl Marx: Das Kapital. 1. Bd., nach der 4. Auflage von 1890, in: MEW, Bd. 23, Berlin 1962. Nachwort zur 2. Auflage 1873, S. 21. 179 Ebd., S. 22. 177

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nicht übrig, als sich aus dem „Sumpf der Verzweiflung einer dauernden und chronischen Depression“180 am eigenen Schopf herauszuziehen. Marx ging davon aus, daß sich die Länge des Arbeitstages innerhalb physischer und sozialer Schranken bewege, d.h. zwischen acht und achtzehn Stunden!, aber der achtstündige Arbeitstag war 1867 längst zum Programm englischer Gewerkschaften erhoben worden. Deshalb entsprach Marx’ Vorstellung, der unternehmerische Kapitalist beute die Arbeitskraft seiner Arbeiter weit über die Grenzen, was diese an Arbeitslohn erhielten, und des menschlich Möglichen hinaus aus, nicht mehr der konkreten historischen Realität: „Als Kapitalist ist er nur personifiziertes Kapital. Seine Seele ist die Kapitalseele. Das Kapital hat aber einen einzigen Lebenstrieb, den Trieb, sich zu verwerten, Mehrwert zu schaffen, mit seinem konstanten Teil, den Produktionsmitteln, die größtmögliche Masse Mehrarbeit einzusaugen . . . Konsumiert der Arbeiter seine disponible Zeit für sich selbst, so bestiehlt er den Kapitalisten.“181 Der angeblich so gute Kenner der industriellen Verhältnisse in England und den USA interpretierte aus reinem Kapitalistenhaß so arbeiterfreundliche Unternehmer wie Robert Owen falsch oder blendete Cyrus McCormick und viele andere seiner Zeit einfach aus. Marx verdrehte die

180 Friedrich Engels: Vorwort zur englischen Ausgabe des 1. Bandes vom Kapital vom 5. November 1886, in ebd., S. 40. Angeblich müßten in Kontinentaleuropa „die Arbeitslosen die Geduld verlieren und ihr Schicksal in ihre eignen Hände nehmen“ (ebd.), d.h. den Kapitalismus durch eine gewaltsame Revolution vernichten, während „England das einzige Land ist, wo die unvermeidliche soziale Revolution gänzlich mit friedlichen und gesetzlichen Mitteln durchgeführt werden könnte“ (ebd.). Engels hatte inzwischen auch bemerkt – obwohl er in seiner Hörigkeit gegenüber Marx nicht bereit war, sich aus dem Dilemma von Reform und Revolution zu lösen –, daß in England das kapitalistische System seit den 1830er Jahren ohne jede revolutionäre Bewegung sich unaufhörlich reformiert hatte! 181 K. Marx: Das Kapital. 1. Bd. (wie Anm. 178), S. 247. „Aber in seinem maßlos blinden Trieb, seinem Werwolfs-Heißhunger nach Mehrarbeit, überrennt das Kapital nicht nur die moralischen, sondern auch die rein physischen Maximalschranken des Arbeitstags.“ (S. 280, Hervorhebung von mir).

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Forderung nach einem Achtstundenarbeitstag zu einem ausbeuterischen Hirngespinst der Kapitalisten, die über ein Monopol an Produktionsmitteln verfügten und deshalb aus den Arbeitern immer mehr herauspreßten. Das ungleiche Resultat konnte deshalb für Marx nur lauten: „Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt.“182 Marx und die Marxisten erkannten bereits, daß die kapitalistische Produktionsweise die Weltwirtschaft beherrschen wird, wie wir dies ja heute in großen Teilen der Welt durch die ökonomische Globalisierung mit allen ihren negativen Auswirkungen erleben. Doch schon Marx zog daraus den falschen Schluß, daß nicht nur die „zukünftige Verfaulung der Menschheit“183 das Resultat sein würde, sondern es wird „den barbarischen Greueln der Sklaverei, Leibeigenschaft usw. der zivilisierte Greuel der Überarbeit aufgepfropft“.184 Es ist wenig bekannt, daß in deutschen Staaten schon über zwei Jahrzehnte vor dem Erscheinen des 1. Bandes des Kapital nicht nur Vereine zur Verbesserung der Lage der arbeitenden Klassen gegründet wurden, wie der Central-Verein für das Wohl der arbeitenden Klassen 1844 in Berlin. Auch in den Krisenjahren nach 1845 glaubten Innungsmeister aus Crimmitschau ähnlich wie Marx, durch die Einführung der Gewerbefreiheit würden „die Habe, Gut und Blut von Millionen auf’s Spiel“ gesetzt und übrig blieben nur zwei Klassen, „der an Baarmitteln reiche Fabricant und der Lohnarbeiter, der von der Gnade des reichen Fabrikbesitzers lebt und abhängig ist“.185 Außerdem kümmerten sich Kolpingvereine um die materiellen und seelischen Sorgen und Nöte von Arbeitern und von staatlichen Behörden eingesetzte Kommissionen machten den Regierungen Vorschläge, wie diese materiellen und gesundheitlichen Probleme reduziert werden könnten. Alle diese kon-

182

Ebd., S. 249. Ebd., S. 285. 184 Ebd., S. 250. 185 Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden: Ministerium des Innern, Nr. 2336a, Blatt 170. 183

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kreten Bemühungen um die allmähliche Verbesserung der Lage der Arbeiter interessierten Marx bei seinem haßerfüllten Kampf gegen das kapitalistische System überhaupt nicht. Er wollte nur zeigen, daß die Unternehmer ihre Arbeitnehmer ausbeuteten und unterdrückten, dem Hungertod und der Selbstvernichtung preisgaben und außerdem eine industrielle Reservearmee schufen: „Die industrielle Reservearmee drückt während der Perioden der Stagnation und mittleren Prosperität auf die aktive Arbeiterarmee und hält ihre Ansprüche während der Periode der Überproduktion und des Paroxysmus im Zaum.“186 Um dieses moralische Unwerturteil gegenüber der Kapitalistenklasse zu untermauern, bediente er sich schaudererregender Verdrehungen, die mit der Arbeits- und Lebenswelt der Industriearbeiter im 19. Jahrhundert nichts zu tun hatten: „Den gesunden Schlaf zur Sammlung, Erneurung und Erfrischung der Lebenskraft reduziert es [das Kapital, H. K.] auf soviel Stunden Erstarrung, als die Wiederbelebung eines absolut erschöpften Organismus unentbehrlich macht. Statt daß die normale Erhaltung der Arbeitskraft hier die Schranke des Arbeitstags, bestimmt umgekehrt die größte täglich mögliche Verausgabung der Arbeitskraft, wie krankhaft gewaltsam und peinlich auch immer, die Schranke für die Rastzeit des Arbeiters. Das Kapital fragt nicht nach der Lebensdauer der Arbeitskraft. Was es interessiert, ist einzig und allein das Maximum von Arbeitskraft, das in einem Arbeitstag flüssig gemacht werden kann.“187 Wenn die meisten Unternehmer so gehandelt hätten, dann wären sie sehr bald von der harten Konkurrenz verdrängt worden, denn ohne eine motivierte Ar-

186 K. Marx: Das Kapital. 1. Bd. (wie Anm. 178), S. 668. Oder: „Der Pauperismus bildet das Invalidenhaus der aktiven Arbeiterarmee und das tote Gewicht der industriellen Reservearmee . . . Dies ist das absolute, allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation.“ (S. 673 f., Hervorhebung im Original). 187 Ebd., S. 280 f. „Die kapitalistische Produktion . . . produziert die vorzeitige Erschöpfung und Abtötung der Arbeitskraft selbst.“ (S. 281)

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beiterschaft, die hochwertige Produkte herstellte, hätten keine Gewinne erwirtschaftet werden können. Oder der unternehmerische Despotismus verwirklichte sich nach Marx, der gerne militärische und gewaltsame Assoziationen benützte, auch im gesellschaftlichen Arbeitsprozeß, obwohl damit nur schwer erklärt werden kann, wie es dann zu diesen enormen Produktionssteigerungen in der Industrie kommen konnte: „Wie eine Armee militärischer, bedarf eine unter dem Kommando desselben Kapitals zusammenwirkende Arbeitermasse industrieller Oberoffiziere (Dirigenten, managers) und Unteroffiziere (Arbeitsaufseher, foremen, overlookers, contre-maîtres), die während des Arbeitsprozesses im Namen des Kapitals kommandieren.“188 In Wirklichkeit erließen alle industrialisierenden Staaten in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts Gesetze zur allmählichen Eindämmung der fabrikatorischen Auswüchse eines liberalkapitalistischen Systems, d.h., die Arbeitszeit wurde reduziert, die Kinderarbeit eingeschränkt, die Löhne erhöht und Fabrikinspektoren kontrollierten die Einhaltung von Sicherheitsvorschriften. Im Deutschen Kaiserreich wurde in den 1880er Jahren ein Sozialversicherungssystem eingeführt, das durch Krankenversicherung (1883), Unfallversicherung (1884) und Alters- sowie Invalidenversicherung (1889) wenigstens die größten Lebensrisiken abmilderte.189 Man weiß nicht, worüber man sich mehr wundern soll, über die ideologische Realitätsblindheit von Marx oder über die seiner antikapitalistischen Heerschar von Epigonen, die bis heute ihren gutgläubigen Anhängern weißmachen wollen, daß Marx auf der Seite der Arbeiter gestanden habe.

188 Ebd., S. 351. Oder: „Der Oberbefehl in der Industrie wird Attribut des Kapitals, wie zur Feudalzeit der Oberbefehl im Krieg und Gericht Attribut des Grundeigentums war.“ (S. 352) 189 Vgl. H. Kiesewetter: Industrielle Revolution in Deutschland (wie Anm. 87), S. 92 ff.

X. Resümee Es ist hoffentlich etwas deutlich geworden, daß Marx’ eigentliche Intentionen und bombastisch falsche Theorien nicht einem humanistischen oder freiheitlichen Impuls entsprungen sind, sondern zeitlebens darin bestanden, seine konkreten und abstrakten Feinde, ob dies nun ehemalige Freunde, Unternehmer oder das kapitalistische System war, zu vernichten. In der ganzen Wissenschaftsgeschichte gibt es wohl keinen ähnlichen Fall von einer ungeheuren geistigen Potenz, die gepaart ist mit zerstörender Vernichtungswut und abgrundtiefem Haß gegenüber realen und imaginierten Gegnern. Ob seine Charakterisierung als „eines humanitär und edelgesonnenen Idealisten“190 der historischen Wirklichkeit und der Person von Karl Marx entspricht, muß nach allem, was hier anhand der Äußerungen von Marx geschildert worden ist, mehr als bezweifelt werden. Die Charakterisierung durch seinen Mitarbeiter und verantwortlichen Redakteur der Rheinischen Zeitung, wenn Marx in Trier weilte, Karl Heinzen, scheint mir den wirklichen Marx eher zu treffen. Neben verschiedenen Unstimmigkeiten über die redaktionelle Ausrichtung der Zeitung, wollte Marx Heinzen für eine Intrige benutzen, um „vom Kosmos für die gefährlichste Feder des Universums gehalten zu werden“.191 Die Heinzensche Beurteilung von Marx lautete: „Ich hielt daher in 190 F. J. Raddatz: Karl Marx (wie Anm. 8), S. 205. Raddatz sieht in Marx’ Kapital „neben der Motorik des humanitären Appells auch die Dialektik eines theoretischen Exerzitiums“ (S. 309) angelegt. 191 K. Heinzen: Erlebtes. 2. Theil (wie Anm. 37), S. 431. Heinzen sollte einen gefälschten Bericht über Marx’ Tätigkeit bei der Rheinischen Zeitung schreiben, weigerte sich aber, dies zu tun, worauf er sich Marx’ Zorn einhandelte: „Eine gelungene Intrigue oder ein wirksamer Angriff gegen einen Schriftsteller und Politiker, den er als Rivalen ansieht, gilt ihm mehr, als jedes siegreiche Prinzip, und die größte Freude, die dieser bübische Egoist in der Welt kennt, ist die Schadenfreude.“ (S. 441)

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der That große Stücke auf ihn und hätte in meinem jungfräulichen Schriftstellerenthusiasmus sein bester Freund werden können, wenn ich nicht herausgebracht hätte, daß er ein unzuverlässiger Egoist und lügnerischer Intrigueant war, der keine Uebereinstimmung von Gesinnungen und kein aufrichtiges Wohlwollen an eine fremde Persönlichkeit attachiren konnte, sondern der Andere nur auszubeuten suchte und fast noch mehr von gemeinem Neid gegen fremde Leistungen, als von eigenem Ehrgeiz beherrscht wurde.“192 Die theoretische Einzigartigkeit dieses jahrzehntelangen verbissenen Kampfes gegen eine tatsächliche Welt, die sich im vollständigen Gegensatz zu Marx’ Theorien entwickelte, kann m. E. nur durch einen menschenfeindlichen Dogmatismus und Fanatismus erklärt werden. Darin besteht wohl auch der tiefere Grund, warum Marx mit seiner höchst negativen Weltsicht nie versucht hat, ein konkretes Gesellschaftssystem des Sozialismus oder Kommunismus zu entwerfen. Was er und Friedrich Engels als Ideal einer kommunistischen Gesellschaft ansahen, war die romantische Verklärung eines unrealisierbaren Zustandes, in der „die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden“.193 Die antikapitalistischen Propheten

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Ebd., S. 425 f. K. Marx/F. Engels: Die deutsche Ideologie (wie Anm. 96), S. 13. Auch der marxistische Theoretiker Kautsky (1854–1938) erwartete vom Sozialismus wahre Wunderdinge, nämlich ein völlig neues Proletariat: „Er wird den Menschen Sicherheit, Ruhe und Muße bringen, er wird ihren Sinn über die Alltäglichkeit erheben, weil sie nicht mehr alltäglich darauf werden sinnen müssen, woher das Brod für morgen zu beschaffen. Er wird die Persönlichkeit unabhängig machen von anderen Persönlichkeiten und so das Knechtsgefühl wie die Menschenverachtung ausrotten.“ Karl Kautsky: Die Soziale Revolution (1902). 2. durchges. und verm. Aufl., Berlin 1907, S. 112. Die konkrete sozialistische Realität in der UdSSR und der DDR war dagegen geprägt von individueller Unfreiheit und dürftigem Auskommen. 193

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aber haben ihren revolutionären Honig aus diesen unrealistischen Lehren gezogen und wie in der UdSSR oder im maoistischen China einen menschenverachtenden Vernichtungskrieg gegen alle Gegner oder Kritiker dieser Systeme in die Tat umgesetzt. Die These vom gesetzmäßigen und unumstößlichen Untergang des Kapitalismus, die 150 Jahre lang von Marxisten mit wissenschaftlicher Gewißheit verbreitet wurde, kann auch durch die menschenfreundlichsten Demokratien nicht widerlegt, aber sie könnte nach dem kläglichen Zusammenbruch der meisten kommunistischen Herrschaftssysteme eigentlich ad Acta gelegt werden. Aber es scheint weiterhin, nicht nur von kirchlicher Seite, ein großes Bedürfnis zu geben, die konkrete Wirklichkeit auszublenden zugunsten von antikapitalistischen Phrasen und ausbeuterischen Beschwörungen.

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Personenregister Karl Marx und Friedrich Engels wurden nicht in das Personenregister aufgenommen. Annenkow, Pawel Wassiljewitsch 38, 48, 56 Argyll, Duke of 16 Auerbach, Berthold 24 Babeuf, François Noël 34 Bakunin, Michail Aleksandrowitsch 38 f., 44 Bamberger, Simon 67 Bauer, Bruno 19–21, 25, 34, 53 Bebel, August 7, 76 Benedikt XVI., Papst, siehe Ratzinger, Joseph Bernays, Karl Ludwig 53 Bernstein, Eduard 7 Bismarck, Otto von 57 Blanc, Jean Joseph Louis 33, 66 Blanqui, Louis Auguste 61 Bornstedt, Adalbert von 39 Burns, Mary 69 Carr, Edward Hallet 39, 56 Christus, siehe Jesus Darwin, Charles 48 Demokrit (griechischer Philosoph) 20 Demuth, Lenchen 34, 68 Dickens, Charles 72

Dönniges, Helene von 77 Duncker, Franz Gustav 75 f. Elias (Prophet) 71 Epikur (griechischer Philosoph) 20 Ermen, Gottfried 66 f. Feuerbach, Ludwig 25, 31, 49, 53 Fleischer, Karl Moritz 37, 44 Fourier, Charles 33 Freiligrath, Ferdinand 52, 73 Freiligrath, Johanna 73 Friedrich Wilhelm IV. (preuß. König) 22, 25 f., 28, 44 Fröbel, Julius 34 Gans, Eduard 18 Görtz, Franz Damian 45 Gottschalk, Andreas 60 Grün, Karl Theodor Ferdinand 44 Guizot, François 36, 44 Hatzfeldt, Sophie Gräfin von 66, 74 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 18, 24, 31, 38, 44, 51 Heine, Heinrich 24, 26, 31, 33, 35, 44

Personenregister Heinzen, Karl 28, 87 Herwegh, Georg 39, 56 Hess, Moses 23 f., 31, 52 Holbach, Paul Heinrich Dietrich 24 Huch, Ricarda 38 Humboldt, Wilhelm von 18 Jesus 21, 24 Jung, Georg Gottlieb 25, 35 Kautsky, Karl 62, 88 Kelley-Wischnewetzky, Florence 61 Kiesewetter, Hubert 9, 41, 49, 52, 81, 86 Kinkel, Gottfried 70–73 Köppen, Karl Friedrich 19 Körner, A. F. 23 Kriege, Hermann 50, 54 f.

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Nerrlich, Paul 30 Owen, Robert 24, 83 Philips, Mijnheer 35 Preßburg, Henriette, siehe Marx, Henriette Proudhon, Pierre Joseph 33, 38, 57 Raddatz, Fritz J. 16, 32, 57, 87 Rakowitz, Janko von 77 Ratzinger, Joseph 14 Rempel, Rudolph 53 Rjazanov, David 7, 14 Roscher, Wilhelm 60 Rousseau, Jean-Jacques 24 Ruge, Arnold 16, 19, 22, 25–27, 30 f., 33 f., 37, 40, 42–44 Ruge, Ludwig 30 Rutenberg, Adolf 26 f.

Kugelmann, Ludwig 82 Lassalle, Ferdinand 65 f., 74–77 Leske, Carl Friedrich Julius 80 Lessing, Gotthold Ephraim 24 Liebknecht, Wilhelm 76 Marx, Heinrich (Herschel) 15, 17 Marx, Henriette 15, 68 Marx, Jenny 16, 31, 34, 52, 56, 67 f. Marx, Reinhard 13 Marx, Sophie 16 McCormick, Cyrus H. 83 Mehring, Franz 72 Meißner, Otto 81 f. Meyer, Julius 53

Saint-Simon, Claude Henri de 33 Sand, George 35 Sans, Georg 14 Schaper, Justus Wilhelm Eduard von 26 Schiller, Friedrich 73 Schramm, Conrad 66 Schurz, Carl 70 Schwarzschild, Leopold 5, 8 f., 13, 19, 29, 43, 56 f., 77 Schweitzer, Johann Baptist von 78 f. Siebel, Carl 82 Sombart, Werner 24 Stalin, Jossif Wissarionowitsch 7, 52 Stein, Hans 60

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Personenregister

Stiebel 67 Stirner, Max 53 Sue, Eugène 35 Vogt, Karl 59 Voltaire, François Marie 24

Westphalen, Jenny von, siehe Marx, Jenny Westphalen, Ludwig von 16, 20 Weydemeyer, Joseph 52–54, 75 Willich, August 59 Wolf, Julius 81

Weitling, Wilhelm 36, 38, 44, 54 Westphalen, Edgar von 52 Westphalen, Ferdinand Otto Wilhelm von 16

Wolff, Wilhelm 69

Zlocisti, Theodor 23

Sachregister Akkumulation (Kapitalanhäufung) 49, 51, 85 Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein 76–78 Anarchismus 38 Arbeiter, siehe auch Industriearbeiter, Proletariat 32, 36–38, 40, 44 f., 50 f., 54, 57–63, 65 f., 68, 76 f., 79, 81–86 Arbeiter, deutsche 54, 57, 63 f., 66, 77, 82 Arbeiter, englische 36, 40 f., 57, 66 Arbeiter, französische 36, 57 Arbeiterbewegung 36, 39, 57 Arbeiterklasse 8, 36, 39, 49–51, 57, 59, 61, 77, 79 f., 82 Arbeiterschutzgesetze 24, 86 Arbeitszeit 41, 79, 83–86 Aristokraten, Aristokratie 14, 16, 38, 59 Atheismus, Atheisten 13, 16, 21, 25, 27–30, 42, 55 Ausbeutung 8, 13, 32 f., 41, 49– 51, 58 f., 61, 66, 79 f., 82, 85 Bauer, siehe Landwirt Bourgeoisie 46, 55 f., 58–60, 62, 78, 82 Brüderlichkeit 36 Bund der Gerechten 36, 44, 54 Bund der Kommunisten 37, 52, 59, 61 f., 70 Christentum 21, 24, 28, 71

Demokratie 29, 39, 55, 60–63, 71– 73, 76 f., 89 Deutsch-Französische Jahrbücher 31, 33 f., 37 f., 40, 43 Diktator, Diktatur 7, 14, 39, 56, 68 Diktatur des Proletariats 14, 61 f. Duell 17 f., 77 Egoismus 17, 34, 39, 43, 49, 58 f., 87 f. Eigentum, siehe auch Privateigentum 30, 38, 48–50, 60, 81 Entfremdung 14 Erste Internationale, siehe Internationale Arbeiter Association Ethik, christliche 13, 42, 49 f., 55 Feudalismus 51, 57, 86 Freiheit 13 f., 44, 56, 61, 87 f. Geldnot von Marx 14, 22, 34 f., 41, 45 f., 53 f., 65–69, 74 Geschichte, deutsche 32 Geschichtsauffassung, materialistische 8 Geschichtsgesetz 35, 40 f., 47 f., 50–52, 85, 89 Gesellschaft, bürgerliche 57 f., 60 f., 63 Gesellschaft, kapitalistische 41, 62 f. Gesellschaft, klassenlose 49 Gesellschaft, kommunistische 40, 49, 62, 88 f.

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Sachregister

Handwerker 37, 39 Idealismus, Idealisten 20, 39, 87 Ideologie, marxistisch-leninistische 13, 27, 65, 79, 86 Individualismus 49 Industriearbeiter 37, 40, 58, 80, 85 Industriestaaten 49, 52, 65, 79, 83, 86 Intellektuelle, deutsche 23 Intellektuelle, französische 36 Internationale Allianz der sozialistischen Demokratie 39 Internationale Arbeiter Association (IAA) 39, 78, 80 Intoleranz 23, 26, 39, 46, 54–56, 69–71, 73–76, 78, 87 Juden (frage) 8, 16, 23, 31 f., 67, 73–76 Judenemanzipation 32 Judenverfolgung 8 Junghegelianer 19, 35, 40 Kapitalismus, Kapitalisten, siehe auch System, kapitalistisches 35, 48, 51, 55, 58, 60, 78–80, 83– 86, 89 Kinderarbeit 24, 41, 86 Kindersterblichkeit 40 Kirche, katholische 13, 25 Klasse, herrschende 49, 58, 60 f., 65 Klassengegensätze 32, 49, 60, 79, 82, 84 Klassenkämpfe 33, 47, 49, 60 Kleinbürgertum 38, 65, 68, 72 Knoten, siehe Arbeiter Kollektivismus 49

Kommunismus, Kommunisten 7, 17, 23 f., 27, 30, 33–35, 37 f., 42, 44–46, 50, 52, 54–57, 59–62, 78, 88 Kommunismus, wissenschaftlicher 14, 44, 46, 73 Kommunisten, deutsche 37, 45 f. Kommunistisches Manifest 14, 46 f., 56 f., 59 Kritik 26, 30, 32, 44, 55, 81 f., 88 f. Landwirt, Landwirtschaft 40 f., 50, 57, 80, 86 Liberalismus 26 Linke, politische 8, 13 Manifest der Kommunistischen Partei, siehe Kommunistisches Manifest Marxismus, Marxisten 7, 13, 84, 89 Materialismus, dialektischer 8 Menschlichkeit 8, 14, 19, 23, 28, 32, 34, 38, 42 f., 52–57, 59, 68– 70, 72–74, 87 f. Ökonomie, politische 36, 81 Opportunismus 26 f., 29, 61–63, 71, 73, 75, 80, 82 Partei, demokratische 61, 76 Partei, kommunistische 52, 54, 57, 62 Partei, republikanische 71 Pfaffen (Priester) 14, 16, 71 Philosophen, Philosophie 13, 17– 20, 24, 31–33, 38, 49, 53, 75 Polizeistaat 31, 56 f. Pressefreiheit 61, 63

Sachregister Privateigentum 50, 52, 60 Produktionsverhältnisse 48, 51 f., 58, 82 Produktivkräfte 48, 58, 79 Proletariat, deutsches 33, 82 Proletariat, Proletarier 32 f., 39 f., 57–60, 62, 65, 88 Rabbiner 15, 34, 38 Regierung, preußische 16, 22, 25– 27, 33, 44 f., 63, 70, 78 Religion 24–26, 28, 46, 50, 55, 71 Religion, jüdische 15 Religion, katholische 42 Religion, protestantische 15, 21, 42 Reservearmee, industrielle 85 Revolution 32 f., 37, 57, 60, 62– 66, 78, 80, 82 f. Revolution, deutsche 1848/49 56, 60, 63 f., 70 f., 82 Revolution, französische 1789 24 Revolution, französische 1848 56, 64 f. Revolution, gewaltsam-zerstörerische 8, 32 f., 41, 49, 51, 59, 83 Revolution, proletarische 32, 60 Revolution, soziale bzw. sozialistische 32, 37, 41, 56, 61, 72, 83 Revolution in Permanenz 62, 64 f. Sklaverei 33, 49, 70, 84 Sozialdemokratische Arbeiterpartei 62, 76 Sozialdemokratische Partei Deutschland 76

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Soziale Frage 42, 55, 76 f., 84 f. Sozialismus, christlicher 14 Sozialismus, internationaler 38, 57, 65 Sozialismus, revolutionärer 33 Sozialismus, Sozialisten 7, 24, 30, 33, 35–37, 53, 77 f., 88 Sozialismus, wissenschaftlicher 8, 33 Sozialistische Arbeiterpartei 76 Staaten, kapitalistische 8, 49, 65, 79 Staaten, kommunistische 8 f., 13 f., 89 System, gesellschaftliches 48 System, kapitalistisches 8, 49, 51 f., 56 f., 78, 83–87, 89 System, ökonomisches 35, 48, 50 Terrorismus, Terroristen 64 f. Theologen, Theologie 20 f., 71 f. Unterdrückung 8, 13, 32, 37, 49 f., 61, 82, 85 Unternehmer 24, 40 f., 46, 51, 57, 83–85, 87 Vater-Sohn-Beziehung 15, 17–19 Wahlrecht, allgemeines 61, 76 f. Weberaufstand, schlesischer 42 f. Zensur 22, 25, 27–29, 45 Zionismus 23

Seit Generationen wird von Wissenschaftlern, Marxisten und Kommunisten sowie neuerdings auch von höchsten kirchlichen Würdenträgern die These verbreitet, daß Karl Marx in seinen Schriften und seinen politischen Aktivitäten an der Seite der unterdrückten und ausgebeuteten Arbeiter gestanden habe und für die menschliche Freiheit eingetreten sei. Dabei wird vielfach ausgeblendet, daß in kommunistischen Herrschaftssystemen, wie beispielsweise der UdSSR, deren politisches Handeln sich auf die Lehren von Marx, Engels und Lenin gründete, im Namen des Marxismus Millionen von Menschen umgebracht wurden. Aufgrund einer genaueren Analyse einiger Schriften dieser Protagonisten des sogenannten wissenschaftlichen Kommunismus, vor allem aber des Briefwechsels zwischen Marx und Engels, zeigt der Autor, daß das Eintreten für die Nöte der Arbeiter rein taktisch motiviert war. Neben einer kurzen Beschreibung des politischen Werdegangs von Karl Marx führt der Autor Beispiele an, die veranschaulichen, mit welch menschenverachtender Grausamkeit Marx auch diejenigen Freunde und kommunistischen Mitstreiter verfolgt hat, die ihn finanziell und ideologisch auf seinem materiellen Leidensweg unterstützt haben. *** Hubert Kiesewetter, geboren am 11. Juli 1939 in Dessau, im Juli 1945 Übersiedelung nach Bensheim-Auerbach an der Bergstraße. Nach Besuch der Volksschule Lehre als Maschinenschlosser bei der Deutschen Bundesbahn und anschließend Ausbildung zum Dampflokomotivführer. Studium der Ökonomie, Philosophie, Geschichte und Wissenschaftstheorie in Frankfurt am Main, Kiel, London und Heidelberg. 1973 Promotion in Philosophie und 1985 Habilitation in Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Gastprofessuren in Urbana-Champaign (Illinois), Oxford und Paris sowie 1987 / 88 Konrad-Adenauer-Professor an der Georgetown University in Washington, D.C. Von 1990 bis 2004 Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.