Kants Theorie des geometrischen Gegenstandes: Untersuchungen über die Voraussetzungen der Entdeckbarkeit geometrischer Gegenstände bei Kant 9783110843293, 3110076446, 9783110076448

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Kants Theorie des geometrischen Gegenstandes: Untersuchungen über die Voraussetzungen der Entdeckbarkeit geometrischer Gegenstände bei Kant
 9783110843293, 3110076446, 9783110076448

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
I. Kapitel: Transzendentalphilosophie und Wissenschaftstheorie. §§ 1–2
II. Kapitel Das Raumproblem und einige Bedingungen seiner Lösbarkeit. A. Eine spezielle Manifestationstheorie Kants. §§ 3–7
II. Kapitel: Das Raumproblem und einige Bedingungen seiner Lösbarkeit. B. Der Intentionsbereich der reinen räumlichen Anschauung. §§ 8–11
III. Kapitel: Kontext und Kontextinvarianz in Kants Raumtheorie. §§ 12–19
IV. Kapitel: Der geometrische Gegenstand. §§ 20–23
Zusammenfassung und Ausblick
Literaturverzeichnis
Stellenverzeichnis
Namenverzeichnis
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Rainer Enskat Kants Theorie des geometrischen Gegenstandes

W G DE

Quellen und Studien zur Philosophie Herausgegeben von Günther Patzig, Erhard Scheibe, Wolfgang Wieland Band 13

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1978

Kants Theorie des geometrischen Gegenstandes Untersuchungen über die Voraussetzungen der Entdeckbarkeit geometrischer Gegenstände bei Kant von Rainer Enskat

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1978

D 7 Göttinger philosophische Dissertation

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Enskat, Rainer: Kants Theorie des geometrischen Gegenstandes : Unters, über d. Voraussetzungen d. Entdeckbarkeit geometr. Gegenstände bei Kant. - 1. Aufl. - Berlin, New York : de Gruyter, 1978. (Quellen und Studien zur Philosophie ; Bd. 13) ISBN 3-11-007644-6

©

1978 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung · J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer · Karl J . Trübner · Veit & Comp., Berlin 30, Genthiner Straße 13. Printed in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Walter de Gruyter & Co., Berlin Einband: Lüderitz & Bauer, Berlin

Dem Andenken meiner Mutter

Könnte man sagen, daß die . . . geometrischen Probleme immer so ausschauen, oder fälschlich so aufgefaßt werden können, als bezögen sie sich auf Gegenstände im Raum, während sie sich auf den Raum selbst beziehen? Raum nenne ich das, dessen man beim Suchen gewiß sein kann. Ludwig Wittgenstein Philosophische Grammatik (Wittgenstein 1969, S. 365)

Vorwort Diesem Buch liegt meine Dissertation zugrunde. Sie hat im Sommersemester 1976 der Philosophischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen vorgelegen. Gerne danke ich bei dieser Gelegenheit meinem Lehrer Professor Wolfgang Wieland dafür, daß er mir sein Interesse an meiner Arbeit durch Rat und Tat immer wieder hat zugute kommen lassen. Einigen Kollegs von Herrn Professor Klaus Reich verdanke ich wertvolle sachliche und methodische Belehrungen nicht nur im Hinblick auf Kant. Herr Professor Günther Patzig und Herr Professor Erhard Scheibe haben mich dankenswerterweise rechtzeitig vor der Drucklegung in gezielter Weise angeregt, einige Thesen und methodische Züge meiner Untersuchung zu verdeutlichen. Den Herausgebern der Reihe, in der dieses Buch erscheint, danke ich für ihren Entschluß, mich mit meinem Versuch an dieser Stelle zu Wort kommen zu lassen. Köln im Oktober 1977

R. Enskat

Inhaltsverzeichnis Vorwort

VII

Einleitung

1

I.Kapitel: Transzendentalphilosophie und Wissenschaf tstheorie . . § 1. § 2.

37

Kant und die heutige Wissenschaftstheorie 37 Die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der euklidischen Geometrie 41

II. Kapitel: Das Raumproblem und einige Bedingungen seiner Lösbarkeit A. Eine spezielle Manifestationstheorie Kants

49 49

§ 3. § 4. § 5.

Kants anfängliches Problem 49 Eine Bedingung der Entdeckbarkeit der Inkongruenz . . . 54 Methodische Probleme des Studiums von Kants Raumtheorie 68 § 6. Kants erkenntnistheoretisches Raumproblem 72 § 7. Pragmatische und semantische Voraussetzungen von Inkongruenzbehauptungen 81

B. Der Intentionsbereich der reinen räumlichen Anschauung . . § 8. Semantische und ontologische Voraussetzungen von Inkongruenzbehauptungen § 9. Der operationale und Orientale Sinn von Inkongruenzbehauptungen § 10. Kants wichtigste Orientale Handlungscharakteristik . . . . §11. Eine Bedingung der Entdeckbarkeit anschaulicher Strukturen und eine Bedingung der Entdeckbarkeit logischer Strukturen

87 87 104 117

127

III. Kapitel: Kontext und Kontextinvarianz in Kants Raumtheorie . . 138 § 12. §13. § 14. § 15.

Der Kontext oriental bestimmter Sätze Eine spezielle Manifestationsfunktion Reine und empirische räumliche Anschauung Über transzendentale Grammatik

138 154 167 173

X

Inhaltsverzeichnis

§ 16. Die Kategorien als spezielle Invarianzbedingungen 185 § 17. Bedingungen der Kontextinvarianz (I) 197 § 18. Der Begriff der Handlungsorientierung und die Definitionen geometrischer Gegenstandsbegriffe 226 § 19. Der Raum als formale Anschauung 232 IV. Kapitel: Der geometrische Gegenstand § 20. Kongruenzbehauptungen § 2 1 . Die geometrischen Gegenstände § 22. Bedingungen der Kontextinvarianz (II) a) Zur metaphysischen Deduktion der Kategorien b) Zur transzendentalen Deduktion der Kategorien . . . . c) Die Kategorien der geometrischen Gegenstände . . . . § 23. Der Raum als Gegenstand

243 243 248 257 257 277 286 293

Zusammenfassung und Ausblick

299

Literaturverzeichnis

309

Stellenverzeichnis

314

Namenverzeichnis

317

Stich Worteverzeichnis

319

Einleitung Wenn eine Forschungsdisziplin lehrbuchreif geworden ist, fällt es ihren Jüngern normalerweise leichter als zuvor, auch solche Autoren ernsthaft wieder zu berücksichtigen, die mit ihren Überlegungen zur Formulierung und Begründung von ganz andersartigen Sätzen beigetragen haben als sie in der Lehre auch schon mit guten Gründen vertreten werden könnten. Die gewachsene Sicherheit des Lehrers im wissenschaftlichen Umgang mit neuen, aber hinreichend erforschten Gegenständen seines Interesses kann so auch noch nachträglich der Verdeutlichung der Sache dienen, für die Autoren der Vergangenheit sich mit ihren manchmal nicht ganz hinlänglichen Mitteln Gehör zu verschaffen versucht haben. Scheinbar Obsoletes kann auf diese Weise plötzlich in einem ganz neuen Licht erscheinen. Eine bloße Alternative kann einen Weg eröffnen, auf dem man sich in einem scheinbar durch und durch vertrauten Gegenstandsbereich ganz neu zu orientieren lernt. W e r unter diesen Umständen Texte aus der Geschichte der Philosophie auch einmal unter Gesichtspunkten der Wissenschaftstheorie zu verstehen versucht, wird daher schon um der Wissenschaftstheorie willen mit der Möglichkeit rechnen, daß dabei nicht nur Interpretationshypothesen bestätigt oder widerlegt werden, sondern auch die Wissenschaftstheorie bereichert wird. Ohnehin liegt es ja inzwischen auf der Hand, daß Versuche, eine Wissenschaft im einzelnen oder im ganzen zu analysieren, nicht ganz unabhängig vom jeweiligen Alter dieser Wissenschaft zu ihren Ergebnissen führen. Eine Wissenschaft kann in ihrem Kindesalter nicht nur teilweise dasselbe wie in ihrer reifen Gestalt lehren; die Gestalt, in der sie in jungen Jahren das vergleichsweise wenige lehrt, was sich auch später immer wieder als haltbar erweist, kann ihrem Metatheoretiker auch wichtige Züge offenbaren, die in der Fülle des später Lehrbaren nur allzu leicht verschwimmen. Dies ist ja einer der Gründe, weswegen einige Stücke der Mathematik beispielsweise aus Piatons Umkreis in jeder späteren Mathematik wie selbstverständlich enthalten sind und weswegen Piatons Metamathematik jeden um die Grundlagen seiner Wissenschaft bemühten Mathematiker

2

Einleitung

gleichwohl auch später noch über Strukturen seines Gegenstandes verständigen kann, die er ohne Piatons Hilfe schwerlich manifest zu machen versuchen möchte. Piaton kannte einige wichtige Sätze der elementaren Geometrie bzw. Arithmetik. Aber Piaton wußte nichts von alledem, was heute bereits zum täglichen Brot eines jeden Mathematikstudenten gehört. Daher brauchte Piaton sich aber auch noch nicht um eine Metamathematik zu bemühen, die selber eine mathematische Disziplin wäre und jeweils lehrte, die Gegenstände verschiedener mathematischer Lehrstücke mit prinzipiell denselben, wiederum mathematischen, beispielsweise gruppenalgebraischen Mitteln zu beherrschen. So konnte Piaton auch in der Metamathematik noch nicht von einer Vielfalt mathematischer Gegenstände in Atem gehalten werden. Dafür konnte er gründlich über die von ihm entdeckte Einzigartigkeit der mathematischen Gegenstände nachdenken. Piaton fragt als erster, inwiefern die Gegenstände der Mathematik dazu beitragen, daß die Sätze, wie wir sie ζ. B. in der Geometrie formulieren, behaupten und beweisen können, ganz unabhängig vom Wandel der Umstände gültig sind, unter denen wir jeweils auf die Gegenstände zu sprechen kommen, von denen in unseren Definitionen, Axiomen und Theoremen sowie in deren Beweisen die Rede ist. Zu der Theorie, in der auf diese Frage geantwortet werden kann, hat nun Kant einen Beitrag geliefert. Vielleicht wundert es den Außenstehenden, daß Kant eine die Geometrie prinzipiell betreffende Frage ernsthaft noch für ganz offen halten konnte, nachdem Mathematiker und Philosophen — aber auch Physiker — während mehr als zweitausend Jahren immer wieder Gelegenheit genommen hatten, vor allem auch im Lichte dieser Frage eine mathematische Lehre zu untersuchen, auf die sie sich in der kanonischen Gestalt der axiomatisierten euklidischen Geometrie in unmißverständlicher Weise beziehen konnten. Kann es doch so scheinen, als stehe der Nicht-Mathematiker Kant den Grundlegungsbedürfnissen der Mathematiker seiner Zeit fremd gegenüber und täusche sich daher über die Relevanz, die ein von ihm entwickelter Ansatz für die Geometrie noch haben kann. Man könnte daher sogar versucht sein, Kants Beitrag in erster Linie nach der Tragweite zu beurteilen, die sein Ansatz seither für die Grundlegung der Geometrie gezeitigt hat. In der Tat spielen Kants Überlegungen zur Geometrie in der nachfolgenden Grundlagendiskussion eine zumindest ambivalente Rolle. Kant hat seine einschlägigen Bemerkungen zwar stets entschieden und bestimmt getroffen. Mathematiker, die wie Johann Schultz (Schultz 1789, 1792) und

Einleitung

3

Gottlob Frege (Frege 1884) um die Grundlagen ihrer Disziplin bemüht waren, konnten sich insofern gelegentlich auch einmal gut an die eine oder andere markante Formulierung Kants halten, wenn sie in möglichst unverwechselbarer Weise solche Voraussetzungen der Arbeit an der Geometrie erwähnen wollten, von denen sich nach ihrer Einsicht jeder Mathematiker von vornherein hat leiten lassen, wenn er einen Zugang zu seinen Gegenständen gefunden hat (vgl. Frege 1884, §§ 13/14, 64). Nun hat man hier zwar meistens auch richtig gesehen, daß man mit den von Kant entwickelten Mitteln der transzendentalen Reflexion nicht sinnvoll versuchen kann, in eine Erörterung mathematischer Sachfragen einzugreifen; aber es fällt doch auf, daß der gelegentliche Rückgriff auf Kants Lehre von der reinen Anschauung oder auf seine konstruktivistische Methodenvorstellung von der Geometrie auch in der Grundlagendiskussion der Mathematiker merkwürdig unverbindlich geblieben ist. Die Thesen, zu denen man im Zuge dieses Rückgriffs auf Kant gelangen konnte, sind zumeist weder ernsthaft bestritten worden, noch sind sie ernsthaft für unbestreitbar gehalten worden. Bestenfalls ging es im Anschluß an die Formulierung solcher Thesen um die Frage, inwiefern die transzendentale Reflexion streng genommen auch noch zur Lösung der jeweils verhandelten metamathematischen Probleme überflüssig sei (Reidemeister 1946). Daß man die Kunst des sparsamen Umgangs mit Voraussetzungen auch in der Grundlagendiskussion der Geometrie noch nicht gehörig beherrsche, solange man hier so etwas wie transzendentale Reflexion zu üben versuche, stand dabei in der Regel von vornherein fest. Im Lichte der Erfahrungen, die grundlagenorientierte Mathematiker beim Studium von Kants einschlägigen Überlegungen machen konnten, kann in der Tat deutlich werden, daß Kant sich mit seinem transzendentalen Ansatz weiter als gewöhnlich von den Grundlegungsbedürfnissen distanziert hat, wie sie sonst immer wieder einmal auch durch die unmittelbare Arbeit an mathematischen Sachfragen hervorgerufen und durch die Entwicklung neuer mathematischer Methoden befriedigt worden sind. Allerdings darf man daraus noch nicht ohne weiteres schließen, daß Kants Ansatz gänzlich verfehlt oder in diesem Zusammenhang ganz unerheblich sei. Hat man sich nämlich erst einmal auf die Untersuchung eines Textes eingelassen, dessen Autor mit seinen Formulierungen einen Wahrheitsanspruch verbunden hat, dann wird man zunächst konsequenterweise nicht unterlassen, auch nach den Bedingungen zu fragen, unter denen dieser Wahrheitsanspruch nach dem Urteil dessen, der ihn authentisch erhoben hat, eingelöst werden kann. Sieht man in diesem Sinne

4

Einleitung

einmal genauer hin, dann wird man alsbald feststellen können, daß es gar nicht einmal so sehr darauf ankommt, Kants Metamathematik zu attestieren, daß das Tagwerk des Mathematikers und seine Grundlagenreflexion von ihr offenbar in einem erstaunlichen Maße unberührt bleiben können. E s könnte ja immerhin vielleicht nur eine Frage der Zeit und der hier aufzuwendenden Mühe sein, bis unser Urteil über diese Dinge wesentlich modifiziert werden muß. Wichtiger erscheint es vielmehr, daran zu erinnern, daß Kant sich im Gegensatz zu fast allen, die später bei seiner transzendentalen Theorie Rat zu finden versucht haben, über diese Art der Irrelevanz seiner Theorie sogar völlig im klaren war (vgl. KdrV, A 87, Β 120ff.; WW IV, Prol., S. 327f.). 1 Wie reimt sich all das zusammen? Man muß hier in erster Linie Kants Raumtheorie berücksichtigen. Auch Kant fragt zwar sinngemäß, wie geometrische Sätze ganz unabhängig von allen Umständen ihrer Formulierung, nämlich a priori gültig sein können und darüber hinaus einen 'synthetischen' Informationsgehalt haben können. Jedoch macht Kant die Möglichkeit einer befriedigenden Antwort bekanntlich vorzugsweise davon abhängig, daß man auch über eine Bedingung Rechenschaft ablegen kann, wie erstmals Kant selber sie mit Hilfe seiner Raumtheorie zur Sprache gebracht hat. Nun war ja schon die Rede davon, daß Kants Reflexion auf die Geometrie bei den Mathematikern eher wie im Zwielicht fortgelebt hat. Das liegt aber vor allem an Kants Theorie vom Raum als reiner Anschauung. Denn in der Tat ist ja bei weitem nicht klar, in welchem Sinne man überhaupt noch beim Thema ist, wenn man die Frage nach den Bedingungen beispielsweise der eigentümlichen Geltungsweise von Sätzen über das Dreieck, den Kreis und dergleichen teilweise mit einer Theorie beantwortet, in der zentral von einer Bedingung wie der reinen räumlichen Anschauung die Rede ist. Denn was haben Geltungsbedingungen von Sätzen mit einer Bedingung wie der reinen Anschauung zu tun, wie sie offenbar nur vom Autor der jeweiligen Formulierung dieser Sätze, aber nicht von einem dieser Sätze selber bzw. von irgendeinem Gegenstand dieser Sätze erfüllt werden kann? Handelt diese Raumtheorie nicht vielleicht zumindest in dem Sinne sogar von einem Scheinproblem, daß der Metamathematiker überhaupt nicht auf

1

Ich zitiere Kant hinfort fast durchweg nach der Akademie-Ausgabe nach dem Schema: WW I f f . , Titelstichwort bzw. Titelabkürzung, S. I f f . ; eine Ausnahme bilden nur die Zitate aus der „Kritik der reinen Vernunft": hier beziehe ich mich durchweg auf die von R. Schmidt besorgte Ausgabe in der Philosophischen Bibliothek Bd. 37, Hamburg 1956, und zitiere nach der A- und B-Paginierung der ersten bzw. zweiten Auflage von 1781 bzw. 1787.

5

Einleitung

eine Bedingung wie die reine räumliche Anschauung hinaus will, wenn er beispielsweise der Gültigkeit geometrischer Sätze schon einmal auf den Grund gehen möchte? Da Kants Ansatz bei der reinen Anschauung sich so leicht wie ein Fremdkörper ausnimmt, sobald andere Autoren auf ihn zurückgreifen, scheint es ratsam, einmal den Kontext zu studieren, in dem Kant selber seine Theorie der reinen Anschauung ausgearbeitet hat. Uberraschenderweise zeigt sich dabei nun, daß Kant bei der Ausarbeitung seiner Lehre von der reinen Anschauung zeitweise selber in ein metamathematisches Scheinproblem verwickelt war. Hierzu muß man beachten, daß Kant in der Philosophie der Mathematik nicht nur in der platonischen

Tradition

des

Geometrieproblems

weitergearbeitet

hat,

sondern auch und zunächst mit einem pseudoplatonischen Vorschlag zur Lösung dieses Problems bekannt war. Dessen Haupttradition ist mit den Namen von Proklos, Johannes Kepler und Ralph Cudworth verknüpft. 2

2

Wir wissen, daß Kant das opus magnum von Ralph Cudworth, The True Intellectual System, of the World (London 1678) in der lateinischen Ubersetzung durch den Kirchenhistoriker K. Mosheim (Jena 1732) besessen und studiert hat (vgl. hierzu Warda 1932, S. 47). Spuren von Kants Lektüre finden sich vor allem auch in der Dissertation von 1770. Hierzu ist zunächst folgendes zu bemerken: Kant findet sich auf Grund seiner neuen, intuitionistischen Raum- und Zeittheorie berechtigt, die überlieferte erkenntnistheoretische Zuordnung zwischen den Gegenstandsklassen der phaenomena oder sensibilia und der intelligibilia auf der einen Seite und der Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit einer dem jeweiligen Gegenstandsbereich gewidmeten erfolgreichen Bemühung um wissenschaftliche Erkenntnis auf der anderen Seite aufzulösen. Gegen diejenigen Denker der Vergangenheit, von denen es heißt, daß sie „scientiam phaenomenis denegasse" (WW II, De mundi, S. 398), behauptet Kant jetzt nämlich auf Grund seiner neuen intuitionistischen Lehrstücke: „Sensualium (sive phaenomenorum, R. E.) . . . datur scientia" (ib.); und als „sensitivae cognitionis prototyp(us)" (a. a. O . S. 395) wird von Kant jetzt bekanntlich gerade auch die „geometria" (ib.) herausgestellt. Kant beschreibt also sowohl den Gegenstandsbereich der Geometrie wie auch den charakteristischen Erkenntnismodus der Geometer auf Grund seiner neuerarbeiteten intuitionistischen Raumtheorie mit Hilfe von Ausdrücken („sensibilia" und phaenomena" bzw. „sensitivum"), die in der traditionellen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie terminologisch gerade im umgekehrten Sinne verwendet worden waren, um einen Gegenstandsbereich (sensibilia, phaenomena) zu fixieren, im Hinblick auf den eine Erkenntnis von wissenschaftlichem Rang prinzipiell gerade nicht erworben werden könne, bzw. um einen Erkenntnismodus (sensitivum) auszuzeichnen, dem prinzipiell keine wissenschaftliche Erkenntnis entspringen könne. Gerade die geometrischen Gegenstände hatten in dieser traditionellen erkenntnistheoretischen Zuordnung zu den intelligibilia und die geometrischen Erkenntnisse zu den intellectualia gehört. — In diesem Zusammenhang läßt sich Kanu Cudworth-Lektüre dadurch ausmachen, daß Kant die Lehrtradition derjenigen, von denen es in der Philosophiehistorie seiner Zeit heißt, daß sie „scientiam phaenomenis denegasse" (loc cit.), bis auf diejenigen zurückgehen läßt, „qui e schola Eleatica hauserunt" (ib.). In Kants unmittelbarem Kontext schließt aber die Rede davon, daß jemand die Wissenschaft von den Phänomenen leugne, unmittelbar ein, daß der Betreffende beispielsweise und vor allem die Geometrie als eine Wissenschaft von

6

Einleitung

Auch diese Autoren fragen nach den Gründen der eigentümlichen, umstandslos möglichen, apriorischen Gültigkeit geometrischer Sätze; aber sie tun dies, indem sie vor allem auch die Berechtigung untersuchen, mit der wir uns darauf verlassen, daß geometrische Sätze und Begriffe überhaupt sinnvoll auf sinnenfällige Gegenstände angewandt werden können. Denn es ist ja durchaus fraglich, inwiefern dies sinnvoll möglich ist, wenn sich immer wieder herausstellt, daß der sinnenfällige Gegenstand, auf den ein geometrischer Satz angewandt wird, sieht man nur genau genug hin, noch nicht einmal unter den einschlägigen geometrischen Begriff fällt. Dann kann aber zu Recht auch zweifelhaft werden, wie die Rede von so etwas wie einem genuinen geometrischen Gegenstand noch als sinnvoll gerechtfertigt werden kann. Denn dies kann ja offenbar nicht mehr naiv so verstanden werden, daß geometrische Gegenstände sich wie sinnenfällige Dinge „vorfänden" und datiert oder lokalisiert werden könnten. Ebensowenig geht es dann noch an, die Bildung geometrischer Begriffe auf gemeinsame Eigenschaften sinnenfälliger Dinge zurückzuführen. Und in welchem Sinne können schließlich Sätze, die nicht aus logischen Gründen gültig sind, dennoch unabhängig von allen Umständen ihrer Formulierung, a priori gültig sein, wenn die von ihnen formulierten geometrischen Bedingungen auch von den sinnenfälligen Gegenständen nicht erfüllt zu werden brauchen, im Hinblick auf die wir immer wieder von ihnen Gebrauch machen? Autoren wie Proklos betonen in diesem Zusammenhang also zunächst nur eine Trivialität: man kann mit geometrischen Sätzen legitimerweise nur dann einen Anspruch auf gegenständliche Gültigkeit verbinden, wenn man auch über die Seinsweise der Gegenstände dieser Sätze einsichtig Rechenschaft ablegen kann. Die ontologischen Theorien, mit denen man der Forderung nach einer solchen Rechtfertigung im Laufe der Zeit zu genügen versucht hat, sind recht unterschiedlich ausgestaltet worden. Wir brauchen auf die historische Folge von ontologisch konzipierten Matheden Intelligibilien auffaßt. Wenn Kant diese Auffassung aber den Vertretern der eleatischen Schule (um Parmenides) zuschreibt, so reproduziert er nur eine philosophiehistorische Fehlinformation, wie sie schon von Cudworth im Kap. IV, § 21 seines ,,Systema intellectuale" gegeben wird; zu Kants Behauptung „Sensualium . . . datur scientia" (loc. cit.) vgl. Cudworth, 1. Kapitel, § 39. Zu Kants Behauptung ,,. . . nobilissimum illud antiquitatis de phaenomenorum et noumenorum indole institutum" (a. a. O. S. 395) vgl. die Quelle bei Cudworth, 1. Kapitel, § 36. — Worauf es in unserem Zusammenhang vor allem ankommt: man darf auf Grund von Kants Cudworth-Lektüre unterstellen, daß Kant mit den wichtigsten Zügen der neuplatonischen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie vertraut war, als er seine intuitionistische Raumtheorie zum ersten Mal skizziert hat.

Einleitung

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matiktheorien hier allerdings gar nicht näher einzugehen (vgl. hierzu Becker 1927, bes. § 6). Denn es ist interessant festzustellen, daß schon der Autor, der unter den Stiftern der neuplatonischen Tradition des Geometrieproblems am energischsten systematische Ziele verfolgt hat, in hinreichend lehrreicher Weise gestattet, eine Situation zu skizzieren, aus der verständlich wird, inwiefern Kant sich mit seiner Theorie der reinen Anschauung auch noch im 18. Jahrhundert in origineller und fruchtbarer Weise in die Diskussion um die Struktur des geometrischen Gegenstandes einschalten konnte. Proklos versucht nämlich, ein Kriterium für die Seinsweise der Gegenstände beweisbarer geometrischer Sätze zu formulieren, indem er u. a. die Bedingungen ins Spiel bringt, die die Suche nach solchen Gegenständen überhaupt erst sinnvoll machen: einige von den Bedingungen, auf die man in der Geometrie charakteristischerweise jedesmal rekurriert, wenn man einen ihrer Sätze beweist, sind für Proklos von derselben Art wie die Bedingungen, unter denen man überhaupt nur sinnvoll und erfolgreich nach so etwas wie geometrischen Gegenständen suchen kann (Proklos S. 14, 2 . 4/6). Denn zu den Bedingungen, unter denen man in der Geometrie überhaupt nur beweisen, entdecken und sinnvoll forschen kann, gehören stets auch solche Bedingungen, wie sie charakteristischerweise von den Instanzen oder „Subjekten" erfüllt sein müssen, die geometrische Theoreme beweisen und die solche Theoreme und deren Gegenstände entdecken und die überhaupt sinnvoll nach ihnen fragen und sie gezielt erforschen können. Wäre es anders, dann gäbe es ja gar niemand, der erfolgreich oder auch nur sinnvoll geometrische Untersuchungen und Forschungen anstellen könnte. Den Inbegriff solcher „subjektiven" Bedingungen möglichen Forschens und Entdeckens auch in der Geometrie nennt Proklos, wie wir übersetzen, „Seele" (a.a.O. S. 12/16). Allerdings begnügt Proklos sich nicht damit, die Seinsweise der geometrischen Gegenstände zu charakterisieren, indem er auf eine Forschungsund Entdeckungsfunktion der Seele rekurriert. Proklos weiß aus der Geschichte der Geometrie nur zu gut, daß diese Seele auch dem geometrisch Beflissensten die Entdeckungen nicht garantieren kann, wie sie den geometrischen Gegenständen seit den Zeiten des halblegendären Thaies nach und nach in dem für Proklos definitorischen Sinne das Sein insofern verliehen haben, als sie sie überhaupt erst einmal als solche manifest gemacht haben. Andernfalls bedürften die geometrischen Gebilde und ihre Eigenschaften ja gar keiner Forschung und Untersuchung, sondern wären wie von selbst manifest, indem sie sich unter den unfehlbaren Intentionen

8

Einleitung

einer kontemplativen Instanz nach und nach entfalten. Andererseits findet Proklos es aber auch nötig, Möglichkeiten zu erwägen, wie ein geometrischer Gegenstand jeweils vor der Auffassung bewahrt sei, daß die Seele seinen Begriff nur zufällig konstruiert habe und nicht durchweg von etwas Wohlbestimmtem ausgegangen sei (a.a.O. S. 13, Z. 20/21). Mit einem Ausdruck unserer Tage könnte man Proklos' Problem hier auch so formulieren, daß er nach den günstigsten Randbedingungen fragt, wie sie für die Bildung geometrischer Begriffe und Theoreme durchweg charakteristisch sind. Das Material der Sinneswahrnehmung kommt hierfür bei Proklos von vornherein nicht in Frage; denn auch die versuchsweise Anwendung geometrischer Begriffe auf dieses Material lehre immer nur dies eine, daß nämlich dieses Material im Gegensatz zu den geometrischen Begriffen nicht von der Seele abstamme (a.a.O. S. 13); es ist insofern schon von Hause aus nicht geeignet, in einer Theorie berücksichtigt zu werden, die über Bedingungen verständigen soll, die dem Geometer garantieren, daß er die geometrischen Gegenstände und deren Eigenschaften, nach denen er ohne die Seele noch nicht einmal sinnvoll suchen kann, auch finden kann. Daher findet Proklos sich an dieser Stelle berechtigt, die Alternative zu Hilfe zu nehmen, wie er sie in seiner Theologie ausgearbeitet hat: die Seele hat am göttlichen Geist teil (Proklos 2 , S. 22 f.), der von Hause aus über die geometrischen Gegenstände verfügt und sie insofern auch jedem, der sich sinnvoll und hinreichend um den rechten kognitiven Zugang zu ihnen bemüht hat, zum Entdecken zur Verfügung stellen kann. In der Sprache der Tradition, die Proklos mit solchen Überlegungen stiften geholfen hat, könnte man dies auch so ausdrücken: Gott ist der eminente Geometer und jeder, der irgendwie mit Erfolg nach Einblick in irgendwelche geometrischen Sachverhalte gestrebt hat, erweist sich insofern als sein Günstling. 3 An dieser Stelle kann Kant sich dank seiner Theorie der reinen räumlichen Anschauung mit einer Überlegung zu Won melden, aus der, wenn sie richtig ist, zweierlei klar werden kann: 1) ist es implausibel, die Frage nach Bedingungen der Entdeckbarkeit geometrischer Gegenstände wie Proklos u. a. durch einen Rekurs auf eine vom Geometer verschiedene, göttliche Instanz zu beantworten; und 2) ist es noch nicht einmal nötig, diese Frage überhaupt 3

Die klassische Stelle eines Gedankens dieses Typs bietet bekanntlich Piaton, Tim. 53 d 8, w o Piaton den Studenten seiner mathematischen Physik der Elemente mit der Bemerkung Hoffnung macht, die noch weiter zurück zu verfolgenden Anfänge dieser Elemente kenne zunächst zwar nur Gott, aber immerhin auch jeder unter den Menschen, der sich seiner Huld erfreut.

Einleitung

9

so zu verstehen, daß einem der Rückgriff auf eine solche göttliche Instanz überhaupt noch wie eine sinnvolle Alternative vorkommen kann. Denn, wenn Kant die reine räumliche Anschauung als eine Bedingung hervorhebt, ohne die geometrische Einsichten überhaupt nicht erworben oder intendiert werden können, dann kann sich insofern auch keine Instanz, die sich mit entsprechenden Erkenntnissen ausweisen kann, von irgendeiner Instanz unterscheiden, die sich genauso ausweisen kann; zwei Instanzen gehören dann ja gerade insofern, als sie eine und dieselbe („subjektive") Bedingung der Entdeckbarkeit geometrischer Gegenstände, nämlich die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllen, zu derselben Klasse von Instanzen. Man könnte Worte wie „ G o t t " und „göttliche Instanz" auf Grund von entsprechenden Konventionen zwar auch im Rahmen von Kants Theorie der reinen räumlichen Anschauung noch immer sinnvoll verwenden. So könnte man hier beispielsweise das Wort „ G o t t " als denjenigen Term einführen, mit dessen Hilfe man die leere Klasse der Instanzen erwähnt, die über alle möglichen geometrischen Erkenntnisse bzw. Sätze verfügt haben, bevor irgend jemand anderes auch nur über irgendeine geometrische Erkenntnis — und sei sie auch noch so elementar — verfügt hat. Aber es wäre implausibel, wenn man die Frage nach Bedingungen der Entdeckbarkeit geometrischer Gegenstände beantworten würde, indem man einen nur scheinbar bestehenden Sachverhalt wie die allumfassende geometrische Kenntnis eines vermeintlichen Stammvaters aller Geometer berücksichtigt und indem man dabei auf eine Instanz rekurriert, die selber schon per definitionem mindestens alle diejenigen Bedingungen erfüllt, nach denen man im Hinblick auf den kompetenten Geometer gerade fragt, und die gerade insofern, als sie überhaupt über irgendwelche geometrischen Erkenntnisse verfügt, genau dieselben Bedingungen, beispielsweise die Bedingung der reinen Anschauung erfüllt wie jeder noch so arachaische und jeder noch so kompetente Geometer. Wenn man Kants Ansatz bei der reinen Anschauung in dieser Weise auffaßt, dann kann man schon leichter als sonst verstehen, inwiefern Kant davon überzeugt sein konnte, daß dieser Ansatz fruchtet, wenn man sich mit seiner Hilfe überlieferter Fragen der Mathematiktheorie annimmt. Hat man nämlich überhaupt erst einmal eine konkrete Bedingung der Entdeckbarkeit geometrischer Gegenstände wie die reine räumliche Anschauung herausgearbeitet, dann sieht man alsbald, inwiefern auch eine immerhin nichtwiderspruchsvolle Rede wie die von einem „göttlichen Geometer" keine plausible Antwort auf die Frage nach solchen Bedingungen abgeben kann. Denn durch eine Rede wie die von einem „göttlichen Geometer" ist

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Einleitung

allenfalls die Anzahl der Gelegenheiten, die einen zu genau dieser Frage provozieren können, u m eine bestimmte sprachliche Gelegenheit vergrößert w o r d e n . N u n liegt es auf der H a n d , daß Kant sich noch nicht zufrieden geben kann, wenn man feststellt, daß man mit Hilfe seiner Lehre von der reinen A n s c h a u u n g einsehen kann, inwiefern der Rückgriff auf theologische und quasi-theologische Hilfstheorien in der Metamathematik ein Indiz für Scheinlösungen ist. Man braucht sich hier ja nur einmal an das zwielichtige Schicksal zu erinnern, das Kants Theorie vor allem in den K ö p f e n von A u t o r e n gehabt hat, die sich für Prinzipien der Mathematik so interessiert haben, wie beispielsweise Leibniz sich in vielen seiner Manuskripte, Bernhard B o l z a n o sich in seiner „Wissenschaftslehre" und Frege sich in seinen „ G r u n d l a g e n der Arithmetik" für die syntaktischen, semantischen und logischen Vorzeichen mathematischer Sätze interessiert haben. Im Sinne dieser Tradition liegt die Vermutung ja nur allzu nahe, daß der Sinn v o n Kants R e d e von der „reinen A n s c h a u u n g " sich zwar schön eigne, wenn man theologisch orientierten Autoren von metamathematischen Scheinlösungen andeuten möchte, inwiefern sie Grenzen für plausibles F r a g e n nicht respektiert haben, wenn sie im Hinblick auf mathematische G e g e n s t ä n d e nach Entdeckbarkeitsgarantien fragen und dabei in dem skizzierten Sinne noch hinter die kognitiven Bedingungen zurückzugehen versuchen, wie sie vom jeweiligen Entdecker selber erfüllt werden müssen. I m übrigen, s o könnte man hier weiter zu bedenken geben, sei aber ohne weiteres noch gar nicht ausgemacht, daß Kants Rede von der „reinen A n s c h a u u n g " überhaupt zu mehr tauge als dazu, solche Autoren darauf a u f m e r k s a m zu machen, daß man auch in diesem Zusammenhang Grenzen f ü r sachlich plausibles Fragen ziehen kann. Denn schließlich, so könnte m a n hier sogar argwöhnen, sei Kants Rekurs auf die reine Anschauung ohne weiteres selber noch nicht gegen den Verdacht gefeit, auch lediglich auf eine Scheinlösung hinauszulaufen, die bloß so lange nicht als solche durchschaut werden könne, wie man sich auch in der Philosophie der Mathematik die Grenzen sinnvollen Fragens noch nicht rigoros durch die Arbeitshypothese zieht, nach der beispielsweise Prinzipienprobleme der G e o m e t r i e letzten Endes nur im Hinblick auf geometrische Sätze sinnvoll und fruchtbar erörtert werden können. In dieser Situation ist es daher nur konsequent, wenn man versucht, K a n t mit dessen eigenen Mitteln auch insofern zu Hilfe zu kommen, als dies auch solche Kritiker befriedigen kann. Immerhin fand Kant sich auf G r u n d seiner Lehre von der reinen Anschauung nicht nur berechtigt, an

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bestimmten metamathematischen Überlegungen so Kritik zu üben, daß sie als Scheinlösungen entlarvt werden können. Darüber hinaus hat Kant die mögliche Tragweite dieser Lehre für die Mathematiktheorie bekanntlich von vornherein an die Voraussetzung geknüpft, man müsse den Sinn der Rede von der reinen räumlichen Anschauung letzten Endes auch im Hinblick auf die Struktur mathematischer Sätze ausweisen können. So ist ja die Meinung Kants zu verstehen, man müsse und könne sich auf die Richtigkeit seiner Theorie der reinen räumlichen Anschauung verlassen, wenn man die Behauptung plausibel machen und begründen können will, daß die Axiome und Theoreme der euklidischen Geometrie zwar nicht aus empirischen, aber auch nicht aus logischen Gründen wahr sein können und dennoch unabhängig von allen Umständen ihrer Formulierung wahr sein müssen; sie gehören zu jenen Sätzen, die Kant „synthetische Urteile a priori" nennt (vgl. hierzu KdrV § 3, Β 40/41). Von hier aus sieht man aber auch schon, inwiefern Kant in diesem Zusammenhang nicht nur auf eine Scheinlösung der charakterisierten Art aufmerksam machen kann, sondern auch noch über eine Voraussetzung verständigen kann, unter der man sich fast zwangsläufig in solche Scheinlösungen verwickelt: wer nach Bedingungen der Entdeckbarkeit geometrischer Gegenstände fragt und sich dabei nicht ständig an die Frage nach der Struktur geometrischer Sätze, sondern an etwas anderes hält, läßt sich alleine schon insofern nur allzu leicht von einem Scheinproblem leiten, ob er dies weiß oder nicht, und fragt bestenfalls noch wie beispielsweise Proklos nach den für geometrische Entdeckungen günstigsten faktischen Randbedingungen. Die Theorie, die im ganzen hinter Kants Behauptung steht, daß geometrische Sätze zu den synthetischen Urteilen a priori gehören, ist von Kant nicht nur äußerst spärlich ausgestaltet worden, sondern allem Anschein nach auch recht kompliziert. Uber ihren Komplikationsgrad sind wir insoweit informiert, als Kant den systematischen Ort markiert hat, an dem man diese Theorie im Rahmen seiner Transzendentalen Logik sinnvoll in Angriff nehmen kann: dies setzt nämlich bereits Kants Raumtheorie, seine Zeittheorie, seine Theorie der Urteilsformen und seine Kategorienlehre voraus. Hinzu kommt, daß sich im Licht von Kants Ansatz nicht nur die Axiome und Theoreme, sondern auch die Gegenstandsbegriffe der Geometrie wie die der Geraden, des Winkels, des Kreises, der Kugel und dergleichen als solche als interessant erweisen. Damit wird aber zusätzlich und zunächst die Frage nach der Struktur der geometrischen Gegenstände bzw. nach dem Satz typ geometrischer Definitionen wichtig. Der Bezug zu den zentralen Sätzen der Geometrie,

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zu den Theoremen, also zu ihren beweisbaren Sätzen, bleibt bei dieser Frage insoweit gewahrt, als die Gegenstandsausdrücke der Geometrie ja als grammatikalische Subjekte in diesen Theoremen fungieren. Es erscheint daher methodisch geboten und um der größeren Einfachheit willen ohnehin zweckmäßig, Kants Theorie der Geometrie in einem ersten Umlauf gerade so weit herausarbeiten zu wollen, wie dies zu dem von Kant intendierten Verständnis der Struktur der Gegenstände der euklidischen Geometrie beitragen kann. Dabei soll zunächst gezeigt werden, inwiefern die Kant unterstellte Leitfrage nach den Bedingungen der Entdeckbarkeit dieser geometrischen Gegenstände in der heutigen Diskussion um Prinzipienfragen der Geometrie eine noch offene und untersuchungsbedürftige Frage ist (§§ 1/2). — Es ist verständlich, daß Kant das Interesse der Wissenschaftstheorie unserer Tage zunächst vor allem dadurch gewinnen konnte, daß er seine zentrale mathematiktheoretische These auch im Hinblick auf Merkmale zugespitzt hatte, wie sie für sprachlich zu formulierende Sätze und nicht unmittelbar beispielsweise für Gegenstände der Mathematik eigentümlich sein sollen. Denn die Philosophie und ihre Disziplinen haben in unserem Jahrhundert aus kaum einer anderen Quelle so viele Anregungen und Belehrungen empfangen wie aus dem Versuch, tunlichst auch jedes ihrer überlieferten Probleme so weit wie möglich ausdrücklich im Horizont der Sprache zu thematisieren. Manche Probleme haben sich dabei als sprachlich bedingte Probleme herausstellen lassen. Andere Probleme haben sich erst unter diesen expliziten sprachlichen Vorzeichen wieder fruchtbar als Sachprobleme formulieren lassen; vor allem die formale Logik und die Kategorienlehre haben bis jetzt von dieser Möglichkeit profitiert. Wieder andere Probleme konnten wenigstens präziser formuliert oder auf dem Umweg über klassische Beispiele aus der Geschichte der Philosophie eindeutig gemacht werden. Aus diesem Blickwinkel kann Kant sich aber allein schon durch die Tatsache, daß es ihm gelungen ist, ein Ergebnis seiner Untersuchungen als eine Einsicht zu formulieren, die die Struktur geometrischer Sätze betrifft, vorteilhaft von allen Autoren unterscheiden, denen es nicht gelungen ist, ihre einschlägigen Einsichten so mitzuteilen, daß man sich leicht über die sprachlichen Gebilde einigen kann, im Hinblick auf die die jeweils analysierten Strukturen sollten ausgewiesen werden können. So kann man beispielsweise im Anschluß an einen Vorschlag von Heinrich Scholz (Scholz 1969) fragen, ob durch die Satzmerkmale des Synthetischen und des Apriorischen die Art der Gründe angedeutet sein soll, aus denen auch geometrische Sätze wahr sind (Scholz,

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S. 194/195), und kann infolgedessen am Leitfaden dieser Frage solche Sätze und die von ihnen dargestellten Sachverhalte untersuchen, ohne auch nur in Versuchung geraten zu können, sich letzten Endes nicht auch stets für die charakteristischen Merkmale geometrischer Sätze zu interessieren. N u n fällt allerdings auf, daß in der Begrifflichkeit, die von der primär an der Satzstruktur orientierten Sprachanalyse entwickelt worden ist, kein Platz für Kants Rekurs auf eine „reine Anschauung" zu sein scheint. Wo es thematisch beispielsweise um die Formen der Gründe der Wahrheit von Sätzen, um die Ableitbarkeit von Sätzen aus anderen Sätzen, um Bedingungen für die satzmäßige Wohlformuliertheit sprachlicher Ausdrücke oder um die formale Struktur der gegenständlichen Bedeutung satzmäßig verwendeter sprachlicher Ausdrücke geht, kann ein Rückgriff auf eine reine Anschauung leicht wie ein unnötiger Rückfall unter ein mühsam erarbeitetes Niveau begrifflicher und methodischer Strenge aussehen. Hatte man sich doch vor allem auch deswegen auf die in den Strukturen der Sprache manifestierbaren Probleme konzentriert, weil man insbesondere die als Hypothek empfundenen Aussagen der Metaphysik der Subjektivität wenigstens bis auf weiteres auf sich beruhen lassen wollte. Kants Rede von der „reinen Anschauung" signalisiere aber nur, so mag man von hier aus argwöhnen, daß ein Autor, dessen Ergebnisse durchaus schon im Einzugsbereich eines an Satzstrukturen orientierten Arbeitsprogrammes liegen, sich bei seinen konkreten Überlegungen noch auf Wegen halten kann, die durch die Gefilde jener zumindest sehr problematischen Theorie der Subjektivität führen. Es scheint hier daher aus methodischen Gründen gar nichts anderes übrig zu bleiben, als die Probleme der Subjektivität in ihrer Eigenart zu respektieren und im übrigen jeden, der möchte, auch weiterhin auf Mittel und Wege sinnen zu lassen, wie beispielsweise auch Kants Rekurs auf eine reine Anschauung als plausible und legitime Antwort auf eine Sachfrage verständlich wird, die man sich nötigenfalls auch noch nachträglich zu eigen machen könnte. Es ist freilich nicht zufällig, daß man nicht ohne weiteres einsieht, inwiefern die Struktur geometrischer Sätze überhaupt noch weiter soll verständlich werden können, wenn man wie Kant eine reine räumliche Anschauung ins Spiel bringen kann, als wenn man nicht über Gründe verfügt, dies zu tun. Sieht man nämlich genauer hin, dann stellt sich heraus, daß prinzipielle Einsichten in Satzstrukturen auch bisher nur selten haben gewonnen werden können, ohne daß man sich zunächst manchmal lange Zeit irrtümlich auf die Richtigkeit der Meinung verlassen hätte, mit gänzlich sprachfrei vermittelbaren Sachverhalten zu tun zu haben. Man

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denke etwa an die lange formelhaft tradierte Lehrmeinung, Wahrheit bestehe in einer Ubereinstimmung zwischen Erkenntnis und Gegenstand. V o r noch gar nicht allzu langer Zeit hätte man noch nicht einmal genau verstanden, inwiefern Gegenstände denn überhaupt, geschweige denn grundsätzlich zur Struktur von stets sprachlich zu formulierenden Sätzen gehören können. Zwar wissen wir inzwischen auf Grund von Einsichten Alfred Tarskis (Tarski 1935) und Rudolf Carnaps (Carnap 1942), inwiefern der Gegenstand einer Erkenntnis als ein solcher Erkenntnisgegenstand grundsätzlich in einer Erfüllungsrelation zu den Wahrheitsbedingungen eines jeweils ganz bestimmten sprachlich formulierten Satzes steht. Aber vermutlich hat noch nicht einmal Frege (Frege 1891) geahnt, daß er den wichtigsten Schritt auf dem Weg zu dieser semantischen Explikation des Wahrheitsbegriffes tat, als er bei Überlegungen zum mathematischen Funktionsbegriff herausgefunden hatte, wie man den Begriff des Satzes definieren kann, wenn man eingesehen hat, inwiefern die Struktur eines Satzes analog aus einer Funktion verständlich gemacht werden kann, aus der er gleichsam entsteht, wie die Struktur einer Gleichung aus einer Funktion verständlich gemacht werden kann, aus der auch sie gleichsam entsteht. Damit soll nur daran erinnert werden, daß auch der Umgang mit Einsichten in die semantische und syntaktische Struktur von Sätzen zur Selbstverständlichkeit werden kann. Denn diese Selbstverständlichkeit kann vergessen lassen, daß die Ausdrücke, mit deren Hilfe man diese Einsichten formuliert, immer nur indirekt und praktisch niemals so unauflöslich mit diesen Einsichten zusammenhängen wie die sachlichen Uberlegungen, die der Autor erstmals angestellt hat, dem man diese Einsichten verdankt. W e r in der Zeit nach Frege bzw. nach Tarski und Carnap von „Funktionen" bzw. „Gegenständen" redet, bekundet daher alleine damit ebenso wenig, daß er semantische Satzstrukturen durchschaut, wie man es für ausgemacht halten darf, daß Kants Rede von der „reinen Anschauung" die Struktur von Sätzen, speziell von geometrischen Sätzen allein deswegen nicht in irgendeinem sachlich ernstzunehmenden Sinne betreffe, weil sie auf den ersten Blick alle einschlägigen Implikationen vermissen läßt. Will man unter diesen Umständen entscheiden, ob und wenn ja inwiefern Kants Theorie der reinen Anschauung etwas für eine genauere Kenntnis der Struktur speziell von geometrischen Sätzen hergeben kann, dann wird man zunächst herauszufinden versuchen, welche speziellen Sachfragen Kant provoziert haben, seine These über die reine Anschauung so ins Spiel zu bringen, daß ihre Tragweite für die Theorie des geometrischen Gegen-

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standes bzw. für ein genaueres Verständnis der Struktur geometrischer Sätze auf der Hand liegen kann. Denn vom Standpunkt einer reifen Theorie stellen sich die Probleme, die unmittelbar zu ihrer Formulierung geführt haben, in der Regel ja als spezielle Anwendungsprobleme dar. Daher kann man schwer verständliche Formulierungen einer Theorie kaum irgendwo sonst so authentisch und sachnah verstehen lernen wie dort, w o ihr Autor spezielle Sachprobleme der intendierten Theorie so diskutiert, daß er sie anschließend zum erten Mal und insofern wenigstens paradigmatisch durch Überlegungen ins reine bringen kann, die fortan zum Kern dieser Theorie gehören. In diesem Sinne soll zunächst ausführlich auseinandergesetzt werden, inwiefern die Aufgabe, den Unterschied zwischen Links und Rechts am Beispiel von rechter und linker Hand zu charakterisieren, Kant in paradigmatischer Weise mit einem Problem konfrontieren konnte, zu dessen Lösung er seine These über die reine räumliche Anschauung aufgestellt hat (§§ 3/7). Im Anschluß daran kann man sich klar machen, daß Kant mit seiner Theorie dadurch Licht in die Struktur geometrischer Sätze bzw. von Sätzen bringen möchte, in denen zentral geometrische Begriffe wie die der Geraden, des Kreises und dergleichen fungieren, daß er über den charakteristischen Gegenstandsbereich solcher Sätze verständigt. Denn die einschlägigen geometrischen Ausdrücke können, wie Kant andeutet, in gegenständlicher Hinsicht nur dann adäquat verwendet werden, wenn sie im Hinblick auf Handlungen verwendet werden. Handlungen geben insofern den gegenständlichen Kernbereich geometrischer und geometrisch relevanter Sätze ab. N u n gibt es aber, wie Kant richtig hervorhebt, Sätze wie die logischen Theoreme, die wegen ihrer zentralen Ausdrücke, nämlich wegen der logischen Funktoren, nur im Hinblick auf einen ganz anderen Bereich, nämlich im Hinblick auf die durch sie formal definierten sprachlichen Ausdrücke sinnvoll behauptet werden können. Daher muß eine Instanz, die Handlungen eindeutig von logisch charakterisierbaren sprachlichen Ausdrücken unterscheiden kann, selber eine ganz andere Bedingung erfüllen, sofern sie Handlungen manifest machen kann, als sofern sie logisch charakterisierbare sprachliche Ausdrücke manifest machen kann. Die Bedingung, die ein Autor geometrischer Sätze in diesem Sinne erfüllt, nennt Kant „reine Anschauung". Man kann diese Bedingung der reinen Anschauung insofern als eine spezielle Manifestationsbedingung also als eine Bedingung auffassen, unter der jemand, der sie erfüllt, eine Handlung überhaupt jemals als solche und daher auch erstmals als solche charakterisieren, d. h. entdecken kann.

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Man müßte daher die Behauptung, die reine Anschauung habe nichts mit der Struktur von Sätzen, auch nicht mit der von geometrischen Sätzen zu tun, in folgender Weise qualifizieren und korrigieren: Kant fragt in diesem Zusammenhang in der Tat nicht, was für Bedingungen sprachliche Ausdrücke erfüllen, wenn sie einen bestimmten Satz darstellen, der im Hinblick auf eine bestimmte Alternative soll entschieden werden können; und Kant fragt hier auch nicht, wie die Relation zu qualifizieren ist, in der ein Satz zu den von seinem Autor intendierten Gegenständen steht, wenn dieser Satz wahr bzw. falsch ist; aber Kant antwortet hier auf die Frage, was für eine Bedingung der Autor eines bestimmten Satzes erfüllt, wenn er diesen Satz überhaupt im Hinblick auf bestimmte Gegenstände sinnvoll behaupten kann. Kant fragt also weder unter syntaktischen, noch unter semantischen, sondern unter pragmatischen Gesichtspunkten nach der Struktur von bestimmten Sätzen. Entsprechend verständigt Kant einen hier auch weder über die satzmäßige Wohlformuliertheit bestimmter sprachlicher Ausdrücke noch über die Erfüllungsrelation oder über die Korrespondenzrelation zwischen Sätzen und deren intentionalen Korrelaten, sondern über den Gegenstandsbereich bestimmter Sätze. Es zeigt sich hier nämlich, inwiefern der charakteristische Gegenstandsbereich geometrischer Sätze nur unter einer ganz bestimmten, von ihrem Autor zu erfüllenden Bedingung für diesen Autor manifest sein kann und inwiefern die zentralen geometrischen Ausdrücke überhaupt in einem bestimmten gegenständlichen Sinne von ihm verwendet werden können. Nun liegt es auf der Hand, daß ein geometrischer Satz auch dann, wenn Handlungen seinen gegenständlichen Kernbereich bilden, eine Handlung nicht lediglich als Handlung und als nichts sonst betreffen kann. Andernfalls wäre nämlich von hier aus noch nicht einmal zu verstehen, wieso es überhaupt mehrere, nichtäquivalente geometrische Sätze geben kann und wieso es wenigstens ebenso viele geometrische Sätze geben kann wie es nichtäquivalente Begriffe von geometrischen Gegenständen wie dem Kreis, dem Dreieck, der Kugel und dgl. gibt, im Hinblick auf die diese geometrischen Theoreme aufgestellt und bewiesen werden können. Man muß daher zunächst auch untersuchen, wie Kant auf der Linie einer Theorie, mit der man über die Bedingungen verständigt wird, unter denen der charakteristische Gegenstandsbereich geometrischer Sätze überhaupt nur manifest werden kann, auch der Vielfalt geometrischer Gegenstände Rechnung tragen kann. Man kann in diesem Zusammenhang einen Gedanken konsequent fruchtbar machen, mit dem Kant an zwei Schlüsselstellen seiner Theorien-

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bildung gearbeitet hat. Denn sowohl aus Kants Versuch, den Unterschied zwischen Links und Rechts zu charakterisieren, als auch aus seinem Vorschlag, die Dreidimensionalität des euklidischen Raumes zu charakterisieren, kann man lernen, inwiefern man dies beides mit prinzipiell denselben Mitteln leisten kann. In beiden Fällen trifft Kant nämlich Formulierungen, durch die Handlungen im Hinblick auf räumliche Orientierungen charakterisiert werden, wie jemand, der handelt, sie auszeichnet, wenn er so handelt, wie Kant es in seinen Formulierungen charakterisiert: der Unterschied zwischen Links und Rechts wird als der Unterschied zwischen genau zwei widersinnig orientierten Handlungen charakterisiert und die Dreidimensionalität des euklidischen Raumes wird als die Tatsache charakterisiert, daß nur genau drei einerleisinnig orientierte Handlungen (drei „Geraden") senkrecht aufeinander hin orientiert sein können. Die Tatsache, daß Kant hier explizit auf solche Orientalen Merkmale von Handlungen zurückgreift, ist deswegen wichtig, weil man sich von hier aus den systematischen Zusammenhang klar machen kann, in dem Kant seine Raumtheorie einführt. Man kann diesen Zusammenhang nämlich verstehen, wenn man unterstellt, daß Kant durch diesen Rekurs die Frage beantwortet, ob und wenn ja wie Handlungen manifest gemacht werden können, wenn man sie so charakterisiert, daß jede solche Charakteristik zwei Anforderungen genügt: 1) durch die dabei erwähnten Merkmale werden räumliche Merkmale von Handlungen manifest gemacht und 2) die so erwähnten räumlichen Merkmale können sinnvoll jedenfalls im Hinblick auf Handlungen erwähnt werden. Da dies, wie sich wenigstens am Beispiel der Rede von den widersinnig orientierten Handlungen zeigen läßt, effektiv möglich ist, kann Kant die als Manifestationsbedingung von Handlungen definierbare Bedingung der reinen Anschauung differenzierter als „reine räumliche Anschauung" ansprechen; sie läßt sich entsprechend als die Bedingung auffassen, unter der jeder, der sie erfüllt, Handlungen insofern manifest machen kann, als er sie räumlich charakterisieren kann, indem er jedenfalls im Hinblick auf sie Orientale Merkmale erwähnt (§§ 8/11). Inwiefern kann man nun von hier aus eine Brücke zu Kants Theorie des geometrischen Gegenstandes schlagen? Man kann hier zunächst berücksichtigen, daß Kant letzten Endes auf eine Theorie hinaus möchte, aus der hervorgeht, warum geometrische Sätze aus Gründen, die nicht logischer Art sind, dennoch unabhängig von allen faktischen Umständen ihrer Formulierung wahr sein können. In jener Tradition der Mathematiktheorie, aus der Kant sich herausgearbeitet hat, liegt es, wie schon

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erläutert, nahe, bei der Existenzweise der geometrischen Gegenstände anzusetzen; man fragt dann, in welcher Weise solche Gegenstände wohl existieren, wenn es für sie charakteristisch ist, daß man im Hinblick auf sie beweisbare Behauptungen aufstellen kann. Man sieht nun aber schon leicht, inwiefern Kant die Frage nach der gegenständlichen Struktur demonstrablen, geometrischen Wissens von vornherein ganz anders anschneiden kann als jemand, der nicht schon wie Kant primär voraussetzt, daß der gegenständliche Kernbereich geometrischer Sätze von Handlungen gebildet wird. Kant kann nämlich allgemein und gleichwohl noch bestimmt fragen, wie Handlungen zu charakterisieren sind, wenn geometrische Definitionen als Handlungscharakteristiken sollen aufgefaßt werden können und wenn plausibel soll gemacht werden können, daß geometrische Theoreme durchweg im Hinblick auf Gegenstände bewiesen werden, die als spezielle Handlungscharaktere und als nichts anderes sonst aufzufassen sind. Im Unterschied hierzu ist die schlichte Frage nach der Existenzweise der geometrischen Gegenstände bereits als Frage nur scheinbar hinreichend bestimmt formuliert. Denn, wer lediglich fragt, in welcher Weise die Gegenstände existieren, im Hinblick auf die die geometrischen Theoreme bewiesen werden, hat entweder darauf verzichtet, den Sinn seiner Rede von geometrischen Gegenständen auch nur in einem ersten Schritt zu konkretisieren; oder er könnte dies nur in dem Maße tun wie er über geometrische Sätze verfügt, die er auch effektiv beweisen kann. Man könnte dann zwar noch versuchen, den Begriff des geometrischen Gegenstandes beispielsweise wie G. W. F. Hegel (Hegel 1816) dadurch zu bestimmen, daß man ihn durch die möglicherweise endlos zu erweiternde Menge von jeweils verfügbaren effektiv bewiesenen geometrischen Sätzen bestimmt (vgl. Hegel, S. 467f.). Aber dieser Ansatz bleibt — auch von Kant aus betrachtet — grundsätzlich unbefriedigend. Denn lediglich im Hinblick auf eine Menge von bewiesenen Sätzen unterscheidet sich der Sinn der Rede von einem geometrischen Gegenstand noch längst nicht vom Sinn der Rede von einem nichtgeometrischen, ζ. B. arithmetischen Gegenstand, im Hinblick auf den auch eine Menge von bewiesenen Sätzen ζ. B. über natürliche bzw. rationale Zahlen zur Verfügung steht. Durch den Rückgriff auf eine solche Menge bewiesener geometrischer Sätze gewinnt man also keine Bedingung, die hinreichend wäre, geometrische Gegenstände als solche von nichtgeometrischen Gegenständen zu unterscheiden, im Hinblick auf die ebenfalls Sätze bewiesen werden können. Andererseits bleibt auch ganz unklar, warum ζ. B. der Kreis nur dann zu den geometrischen Gegenständen sollte gehören können, wenn im

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Hinblick auf ihn irgendein Satz schon bewiesen ist. Es ist vielmehr durchaus legitim, wenn man von der Definition des Begriffs des geometrischen Gegenstandes verlangt, daß sie einem im Gegenteil gestattet, ζ. B. den Kreis in plausibler Weise als geometrischen Gegenstand ganz unabhängig davon aufzufassen, ob man im Hinblick auf ihn schon irgendeine Behauptung aufstellen und beweisen kann oder nicht. Mehr noch: Wenn es nicht wenigstens prinzipiell möglich wäre, beispielsweise den Kreis auch ganz unabhängig davon sinnvoll und eindeutig als geometrischen Gegenstand aufzufassen, ob man auch schon über eine beweisbare oder bewiesene Behauptung im Hinblick auf ihn verfügt oder nicht, dann könnte man offenbar noch nicht einmal plausibel machen, inwiefern man ein Wort wie „Kreis" überhaupt sinnvoll und eindeutig zur Formulierung einer geometrischen Behauptung als solcher und nicht stattdessen zur Formulierung einer arithmetischen Behauptung als solcher oder stattdessen zur Formulierung irgendeiner anderen gegenständlich orientierten Behauptung verwenden kann. Durch den Rückgriff auf eine Menge bewiesener geometrischer Sätze gewinnt man also jedenfalls auch keine Bedingung, wie sie nötig ist, wenn man entscheiden können möchte, inwiefern denn nun so etwas wie z . B . der Kreis zu den geometrischen Gegenständen gehört. Man sieht: der Hinweis auf die Tatsache, daß im Hinblick auf irgendwelche geometrischen Gegenstände Sätze bewiesen werden können, bietet keinen Ausweg, auf dem man die ganz unbestimmte Rede von einem geometrischen Gegenstand oder etwa Kants hier ebenso einschlägiges, insofern auch noch ganz unbestimmtes Prädikat ,ist eine reine Gestalt' (vgl. KdrV A 141, Β 180ff.) in der nötigen und in einer hinreichenden Weise konkretisieren könnte. Wer die Frage nach den Gründen für die Beweisbarkeit geometrischer Sätze unter diesen Umständen dadurch zu beantworten versucht, daß er zunächst nach der Existenzweise geometrischer Gegenstände oder „reiner Gestalten" fragt, provoziert insofern im günstigsten Fall noch die Belehrung, daß er noch nicht einmal wisse, nach der Existenzweise wovon er überhaupt fragt. Es ist deutlich, inwiefern Kant von vornherein ganz anders ansetzt, wenn er Handlungen als den gegenständlichen Kernbereich geometrischer Sätze zur Sprache bringt. Kant informiert auf diese Weise nämlich sogleich eindeutig über den Bereich, in dem man dann sinnvollerweise im einzelnen nach geometrischen Gegenständen suchen kann. Daher tut er auch nicht gleichsam den zweiten vor dem ersten Schritt, wie es sich offenbar so leicht ergibt, wenn man von der Beweisbarkeit von Sätzen über diese Gegenstände ausgeht und unvermittelt fragt, was für eine Existenzweise

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wohl für Gegenstände charakteristisch sei, im Hinblick auf die im Gegensatz zu bestimmten anderen Gegenständen grundsätzlich beweisbare Sätze aufgestellt werden können. Man muß an dieser Stelle noch nicht entscheiden, ob ontologische Fragen in diesem Zusammenhang überhaupt abwegig sind oder nicht. Es genügt festzustellen, daß Kant solche Fragen an dieser Stelle nicht zu formulieren braucht und gleichwohl das Problem hinreichend genau bestimmen kann, das er lösen muß, wenn er über die nichtlogischen Bedingungen der Beweisbarkeit geometrischer Sätze im ersten Schritt dadurch verständigen will, daß er eine Theorie des geometrischen Gegenstandes liefert. Kant braucht zu diesem Zweck zunächst nämlich nur zu fragen, ob und wenn ja inwiefern von geometrischen Gegenständen sinnvoll und eindeutig die Rede sein kann, wenn man die geometrischen Begriffe wie z . B . die der Geraden, des Kreises, der Kugel und dgl. im Rahmen von Formulierungen definiert, die sämtlich in einem noch zu ermittelnden speziellen Sinne Charakteristiken von Handlungen liefern. Man kann sich den für die kantische Lösung dieses Problems wichtigsten Leitgedanken am besten klar machen, wenn man berücksichtigt, wie Kant in diesem Zusammenhang selber zum ersten Mal im operationalen Sinne angesetzt hat. Kant hat hier zunächst herausgestellt, daß man den Unterschied zwischen Links und Rechts, wie er am Beispiel von linker und rechter Hand manifest werden kann, dadurch charakterisieren kann, daß man auf den Unterschied der beiden Handlungen zurückgreift, wie man sie ausführen kann, wenn man den Unterschied zwischen Links und Rechts vor Augen führen möchte. Solche zwei Handlungen unterscheiden sich nämlich jedenfalls durch ihre Orientierung: genau eine von ihnen ist linksorientiert und genau die andere ist rechtsorientiert. Allerdings informiert die Rede von einer „linksorientierten Handlung" bzw. einer „rechtsorientierten Handlung" wegen der dabei verwendeten Ausdrücke „ l i n k s " und „rechts" als Teilausdrücke niemand schon ohne weiteres genau darüber, wie die so erwähnten Handlungen konkret ausgeführt werden bzw. konkret auszuführen sind. Denn es kommt hierfür bekanntlich auf die Kenntnis der konkreten Umstände an, unter denen von einer „linksorientierten Handlung" bzw. von einer „rechtsorientierten Handl u n g " mit eben diesen Worten die Rede ist. So hängt ja beispielsweise die Eindeutigkeit der Aufforderung, nach links zu gehen, von der Lage ab, in der sich der Adressat einer solchen Aufforderung und der, der sie an ihn richtet, jeweils befinden. Die Eindeutigkeit der Rede von einer „linksorientierten Handlung" bzw. „rechtsorientierten Handlung" hängt mithin

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vom Kontext ab, in dem die dabei verwendeten Teilausdrücke „links" und „rechts" jeweils geäußert werden. Nun dürfen wir in dieser Einleitung wohl auch einmal ausdrücklich auf ein Ergebnis unseres Versuchs vorgreifen, um in seinem Licht zu betonen, worauf es ankommt, wenn man Kants Theorie des geometrischen Gegenstandes vor allem aus Kants gelegentlicher Praxis verständlich machen und beurteilen lernen will, Handlungen zu charakterisieren, indem er räumliche Orientierungen im Hinblick auf sie erwähnt. Auf der Linie von Kants Intentionen ist es nämlich, wie gezeigt werden soll, möglich, Definitionen geometrischer Begriffe grundsätzlich als Formulierungen aufzufassen, durch die Handlungen oriental, d. h. in der Weise charakterisiert werden, daß im Hinblick auf sie bestimmte räumliche Orientierungen erwähnt werden. Geht man nun wie Kant vom Beispiel der Linksorientierung einer Handlung oder der Rechtsorientierung einer Handlung aus, dann ist leicht zu sehen, was man von einer Orientalen Handlungscharakteristik in formaler Hinsicht zu fordern hat, wenn ihre Formulierung sich zur Definition eines geometrischen Begriffs soll eignen können: im Gegensatz nämlich zur Rede ζ. B. von einer „linksorientierten Handlung" dürfte man Handlungen mit einer solchen Formulierung nicht mit von Kontext zu Kontext variierenden Bestimmungen intendieren, sondern müßte sie kontextinvariant eindeutig treffen können. Denn, wenn man sich beispielsweise auf die Kugel und den Kreis unter der Hypothese, daß sie bloß gleichsam verbal maskierte Orientale Handlungscharaktere sind, nur dann sprachlich eindeutig beziehen könnte, wenn man auch noch jeweils einen stets von neuem zu bestimmenden Kontext berücksichtigt, in dem die Terme „Kugel" und „Kreis" gerade verwendet werden mögen, dann könnten die geometrischen Theoreme, die ja mit Hilfe dieser Terme formuliert werden, gar nicht beweisbare Sätze sein; denn ihre Formulierungen würden ja prinzipiell vieldeutig ausfallen und könnten insofern noch nicht einmal Vollsätze darstellen, sondern würden lediglich Gebilde darstellen, die mit den sog. Satzfunktionen auf einer Stufe stehen. Aber ein von einem Satz verschiedenes Gebilde wie gerade eine Satzfunktion kann jedenfalls auch kein beweisbarer Satz sein. Von hier aus kann man die Aufgabe, die Kant sich mit der von ihm intendierten Theorie des geometrischen Gegenstandes gestellt hat, offenbar gut präzisieren, indem man sie in der Frage zusammenfaßt: .Können Orientale Handlungscharakteristiken insofern, als sie Definitionen geometrischer Begriffe sollen abgeben können, kontextinvariant eindeutig formuliert werden oder nicht?' (§§ 12/15).

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Wenn man diese Frage in Kants Sinne beantworten möchte, muß man in erster Linie einen methodischen Grundsatz berücksichtigen, wie Kant ihn in der Transzendentalen Logik nicht nur einmal streng zu beobachten versucht hat. Kant hat nämlich offenbar eingesehen, daß man den Sinn eines sprachlichen Ausdrucks nur dann so definieren kann, daß er auch einsichtigermaßen kontextinvariant eindeutig verwendet werden kann, wenn es einem gelingt, den Sinn der Verwendung dieses Ausdrucks ganz unabhängig von jedem Kontext zu definieren, in dem er im Sinne dieser Definition verwendet werden kann. Dies ist keine triviale Aufgabe. Denn zum einen kann nicht jeder sprachliche Ausdruck in dieser Form eingeführt werden — beispielsweise ja gerade nicht die Orientalen Terme „links" und „rechts", wohl dagegen solche Ausdrücke wie ζ. B. „alle", „wenn . . . dann" und „nicht". 4 Andererseits kommt es in diesem Zu4

Mit Hilfe der Ausdrücke „alle", „wenn . . . dann" und „nicht" sollen selbstverständlich die logischen Funktoren angedeutet werden, mit deren Hilfe die von Kant in seiner Urteilstafel berücksichtigten logischen Funktionen der Allgemeinheit, des Hypothetischen und der Negation ausgedrückt werden können. Dagegen versteht es sich in der KantForschung nicht von selbst, daß und was für einen Gewinn man erzielen kann, wenn man bei der Erörterung von Kants Thesen immer auch darauf zu achten versucht, ob und wenn ja inwiefern sowohl der Wahrheitsanspruch wie auch der Informationsgehalt der jeweiligen These zusätzlich dadurch überprüft werden kann, daß man untersucht, inwiefern durch diese These etwas über formale Eigenschaften von sprachlichen Ausdrücken einer bestimmten Klasse oder über formale Eigenschaften der Relationen ausgesagt wird, in denen solche sprachlichen Ausdrücke zu ihren Benutzern oder zu den von ihren Benutzern intendierten Sachverhalten stehen. Man hat zwar immer wieder einmal zutreffend darauf hingewiesen, „. . . wie wenig . . . Kant darüber nachgedacht zu haben scheint, daß unsere Erfahrung durch die besondere Eigenart unserer Sprachsysteme beeinflußt wird" (Patzig 1966, S. 126). Aber man hat nicht immer ebenso nachdrücklich festgehalten, daß dies nicht etwa darauf zurückgeführt werden kann, daß Kant in dieser Sache etwa einem gründlichen Irrtum zum Opfer gefallen wäre. Vielmehr kann dies darauf zurückgeführt werden, daß Kant beim Nachdenken über solche Zusammenhänge ganz einfach nicht in dem nötigen Umfang praktisch konsequent gewesen ist. Denn Kant war sich durchaus beispielsweise darüber im klaren, daß „. . . wir . . . uns auch zu Urtheilen, die wir nicht für Sätze ausgeben (d. h. nicht mit einem gegenständlich orientierten Wahrheitsanspruch verbinden, R. E.), in Gedanken der Worte bedienen (müssen)" (WW VIII, Streitschrift, S. 193 Anm., Hervorhebung von mir, R. E.). Wir können hier die Frage auf sich beruhen lassen, ob man zu nichttrivialen, mit dem kantischen Text verträglichen und auf der Linie seiner Intentionen liegenden Einsichten gelangen kann, wenn man die Transzendentale Logik in der Darstellung, die Kant ihr gegeben hat, nachträglich Schritt für Schritt noch einmal im Hinblick auf vielleicht mitintendierte syntaktische, semantische und pragmatische formale Strukturen von sprachlichen Ausdrücken durchdenkt. Für die Zwecke unserer Untersuchung wollen wir uns darauf beschränken, eine pragmatische Devise zu beherzigen: wir wollen ganz einfach überall dort, wo es sich als möglich erweist und wo es für die Klärung von Kants Gedanken im Hinblick auf die von ihm verhandelte Sache förderlich sein kann, überlegen, was man von Kant an der fraglichen Stelle auch über eine bestimmte ζ. B. syntaktische, semantische oder pragmatische Formalstruktur bestimmter sprachlicher Ausdrücke lernen kann.

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sammenhang ersichtlich nicht etwa bloß darauf an, einen Kontext zu ermitteln, in dem der jeweils fragliche Ausdruck lediglich nicht verwendet würde. Dies ist im Rahmen der gestellten Aufgabe zwar eine notwendige Bedingung dafür, daß sie auch mit berechtigter Aussicht auf Erfolg bearbeitet werden kann. Denn die Forderung, den Sinn der Verwendung beispielsweise des Ausdrucks „alle" nicht innerhalb eines Kontextes seiner sinnvollen Verwendung zu definieren, ist offenbar zunächst nur eine abstrakte Version der konkreteren Forderung, man solle den Ausdruck „alle" nicht im Definiens seiner Definition verwenden. Auf diese Weise wird also zunächst lediglich in abstrakter Form auch der Zirkelhaftigkeit von Definitionsvorschlägen vorgebeugt. Würde man diesen Bezug auf die konkrete Definitionsregel des zu vermeidenden Zirkels aber ignorieren und würde man diese abstrakte Version ganz wörtlich nehmen und auch für das letzte Wort in dieser Angelegenheit halten, dann könnte man es, genau genommen, auch schon für überflüssig halten, daß man wie Kant im Hinblick auf den Sinn von Ausdrücken wie „alle", „wenn . . . dann" und „nicht" überhaupt eine eigene, komplizierte Theorie zu entwickeln versucht. Dann könnte nämlich auch jede Formulierung eines Satzes, in der ζ. B. das Wort ,,alle" schlichtweg nicht vorkommt, allein schon deswegen einen Kontext bilden, in dem der Sinn der Verwendung von „alle" definiert wird. Aber niemand verfügt alleine schon deswegen über eine Definition des Allquantors, weil er einen konkreten Satz sinnvoll formulieren kann, ohne bei seiner Formulierung diesen Quantor zu verwenden. Die Nichttrivialität der Aufgabe, einen für die Definition ζ. B. von Quantoren geeigneten Kontext herauszufinden, rührt bei Kant aber vor allem daher, daß der gesuchte Kontext sich nicht nur eignen soll, eine im übrigen kontextinvariant mögliche eindeutige Verwendung dieser Quantoren zu charakterisieren; vielmehr soll in diesem Kontext auch noch klar werden können, inwiefern man überhaupt darauf angewiesen ist, z.B. über die von Kant intendierte Quantorenlogik zu verfügen. Man könnte an dieser Stelle zwar versucht sein, darauf hinzuweisen, daß Kants Quantorenlogik zusammen mit seiner übrigen Theorie der logischen Funktoren in eine umfassende Theorie eingespannt ist, in der sie dazu dienen, die Antwort auf die Frage „Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?" vorzubereiten. Aber so richtig dieser Hinweis auf diesen Zusammenhang an sich auch sein mag, er hilft hier doch nicht weiter. Denn bei näherem Hinsehen erweist sich, daß Kants berühmte Frage jedenfalls gar keine Leitfrage im heuristischen Sinne abgeben kann, die auch geeignet wäre, Kants Funktortheorie oder auch seine Kategorienlehre als Teilantworten

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a b z u d e c k e n , die d u r c h sie p r o v o z i e r t werden könnten. Die F r a g e ,

wie

s y n t h e t i s c h e U r t e i l e a priori möglich sind, die Kant i m m e r wieder als seine Schlüsselfrage v o r g e t r a g e n hat, w i r d vielmehr allein durch die Auskunft, d a ß solche U r t e i l e mittels eines „transzendentalen S c h e m a t i s m u s " möglich sind,

unmittelbar

befriedigt.

Mit

dieser F r a g e kann man daher

zwar

i m m e r n o c h gleichsam die N a g e l p r o b e einleiten, mit der man die „ M e n g e v o n U n t e r s u c h u n g e n " ( K d r V Β 19), die mit der Schematismuslehre abgeschlossen w e r d e n , g a n z pointiert im Hinblick auf eine ganz bestimmte F o r m ihrer sachlichen Leistungsfähigkeit, gleichsam auf ihren transzendentalen D i a m a n t g e h a l t hin überprüfen kann. A b e r man wird diese Frage n i c h t gut b e m ü h e n k ö n n e n , w e n n m a n den K o n t e x t überhaupt erst einmal erschließen m ö c h t e , in d e m einsichtig gemacht w e r d e n kann,

inwiefern

a u c h eine F u n k t o r e n t h e o r i e und eine Kategorienlehre v o m kantischen T y p unverzichtbar sind.5 H i e r hilft v i e l m e h r der A n s a t z weiter, durch den K a n t seine T r a n s zendentale L o g i k v o n v o r n h e r e i n in den K o n t e x t der K o r r e s p o n d e n z - und 5

In die Richtung dieser Beurteilung von Kants Frage kann man auch durch zwei biographische Zeugnisse gelenkt werden. Nach dem Zeugnis der „Logik Donah-Wundlacken" (WW XXIV. 1.2, S. 687/784) hat Kant gegenüber seinen Studenten gelegentlich auch ,aus der Werkstatt' berichtet und ζ. B. betont, „wieviel Mühe es ihm gemacht, da er mit dem Gedanken, die Kritik der reinen Vernunft zu schreiben, umging, zu wissen, was er eigentlich wolle" (S. 783/784). Dabei scheint Kant sich in chronologischer Hinsicht relativ bestimmt geäußert zu haben: „Zuletzt habe er gefunden, alles ließe sich in die Frage fassen: Sind synthetische Sätze a priori möglich?" (S.784, Hervorhebung von mir, R. E.). (Lassen wir einmal die nicht unerhebliche sehr wahrscheinliche Inkorrektheit des Textes, nicht die wie-Frage zu geben, auf sich beruhen!) Die relative chronologische Angabe dieses sekundären Zeugnisses wird aber noch näher bestimmt und erhärtet durch die Tatsache, daß Kant die Frage, wie synthetische Urteile a priori möglich sind, in der ersten Auflage der KdrV überhaupt noch nicht als solche herausgestellt und mit einer besonderen Funktion bedacht hatte. (In einem anderen Zusammenhang ist diese Tatsache auch von G. Prauss (1973) zu Recht betont worden, vgl. Prauss S. 66 7 .) Erst während der Arbeit an den „Prolegomena" hat Kant diese Frage als solche und in der ihr von ihm zugedachten Funktion herausgearbeitet, vgl. WW IV, Prol., S. 275/276. Und erst von hier aus hat Kant sie zusammen mit ganzen wörtlichen Passagen aus den „Prolegomena", in die „Einleitung" zur zweiten Auflage der KdrV übernommen, vgl. KdrV Β 19ff. Dieser Umstand erlaubt einem aber ersichtlich zunächst einmal festzustellen, daß Kant sich weder die Gedanken noch die Darstellung der KdrV am heuristischen Leitfaden dieser Frage erarbeitet hat. Vielmehr hat Kant die hierin enthaltene Theorie und deren systematische Darstellung offenbar auch auf andere Weise finden können und hat daran auch nach der Formulierung dieser Frage nichts ausgemacht, was er hätte ändern wollen. Wenn sich mit Hilfe der Frage, wie synthetische Urteile a priori möglich sind, aber nur zwischen die Schematismuslehre und die Lehre von den Grundsätzen in eindeutiger Weise ein Schnitt legen läßt, dann wird man erneut überlegen müssen, unter welchen von Kant ausdrücklich markierten Gesichtspunkten man eine Frage formulieren kann, die sich effektiv zum .Leitfaden der Entdeckung* nicht nur der Urteilsformen und der Kategorien, sondern auch der Schemata und der Grundsätze eignet.

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Adäquatheitstheorie der Wahrheit einbezogen hat (vgl. KdrV A 57, Β 82/A 62, Β 86). Diesem Ansatz läßt sich eine Leitfrage zuordnen, die wie folgt formuliert werden kann: ,Wie sind die Bedingungen zu charakterisieren, die notwendig und hinreichend dafür sind, daß zwischen einem irgendwann und irgendwo sprachlich formulierten wahren oder falschen Satz und einem Gegenstand, den sein Autor intendiert, eine Korrespondenz· bzw. Adäquatheitsrelation besteht?'. In diesem Rahmen hat zuerst Klaus Reich (Reich 1932) der Sache nach gezeigt, inwiefern durch die zwölf urteilbildenden Funktoren aus Kants „Urteilstafel" zunächst einmal formale Bedingungen angedeutet sind, wie sie von einem sprachlichen Ausdruck müssen erfüllt werden können, wenn er überhaupt ein Urteil soll darstellen können und insofern im Hinblick auf die Alternative wahr-falsch überhaupt sinnvoll und eindeutig soll entschieden werden können. Freilich verkennt man über den unmittelbaren Sachfragen — sie betreffen u. a. die Auswahl der Funktoren, den Anwendungsbereich der Funktoren und die Vollständigkeit der Funktoren — nur allzu leicht die methodischen Probleme und Eigenarten der kantischen Theorienbildung. Mit Hilfe von Reichs Untersuchung fällt es aber leichter als vorher, gerade auch den uns hier interessierenden Methodengedanken Kants an einem wichtigen Beispiel zu belegen und zu verdeutlichen. Denn mit Reichs Arbeit vor Augen kann deutlich werden, von welcher heute fast schon trivial anmutenden Voraussetzung bei Kant die Möglichkeit abhängt, in seinem Rahmen logische Funktoren zu definieren. Man braucht hier nämlich bloß an die Tatsache zu denken, daß man alle diese Funktoren charakterisieren kann, ohne daß man in Gestalt irgendeines konkreten Satzes auch nur ein einziges Beispiel ihrer effektiven urteilbildenden Verwendung heranziehen müßte (vgl. Reich, § 5). Aber genau dann, wenn ein sprachlicher Ausdruck unabhängig von jedem Kontext seiner sinnvollen Verwendung als ein wohlbestimmter Satzfunktor unverwechselbar charakterisiert werden kann, ist auch nachgewiesen, inwiefern er in den Kontexten, in denen er dann überhaupt sinnvoll verwendet wird, auch kontextinvariant eindeutig verwendet wird. Andernfalls könnte man prinzipiell nicht ausschließen, daß ζ. B. der Quantor „alle" in dem Satz „Nicht alle Menschen sind fleißig" schon deswegen in einem anderen Sinne verwendet wird als in dem Satz „Nicht alle Säugetiere leben im Wasser", weil er sich im ersten Beispiel über ein anderes Prädikat erstreckt als im zweiten Beispiel. Für den heutigen Studenten von Kants Theorie der Urteilsfunktoren ist das von Reich entwickelte Verfahren, diese Funktoren einzuführen, darüber hinaus deswegen interessant, weil es gestattet, kon-

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textunabhängig vorzugehen, ohne daß man in irgendeinem Fall den Weg über charakteristische Wahrheitswertverteilungen einschlagen dürfte oder könnte. Man kann an Hand dieser Andeutungen schon sehen, daß man auf diesem Weg wohl auch im kantischen Sinne dasjenige leisten kann, was man von kontextinvariant eindeutig zu formulierenden Orientalen Handlungscharakteristiken in formaler Hinsicht fordern kann: denn ein sprachlicher Ausdruck, dessen Sinn unabhängig von allen Kontexten definiert werden kann, in denen er sinnvoll verwendet werden mag, kann alleine schon aus diesem Grund garantieren, daß ein Satz, der mit seiner Hilfe formuliert ist, wenigstens insoweit auch invariant gegenüber diesen Kontexten eindeutig formuliert ist; und ein Satz, der ausschließlich mit Hilfe solcher Ausdrücke formuliert ist, ist mithin ein kontextinvariant eindeutig formulierter Satz. Kann man nun aber mit Kants Mitteln Formulierungen treffen, die Handlungen oriental charakterisieren und die im Kern ausschließlich mit Hilfe von Ausdrücken gebildet sind, die ihnen aus den angedeuteten Gründen kontextinvariante Eindeutigkeit garantieren? Kant hat ein Lehrstück, das in diesem Zusammenhang für uns besonders wichtig ist, mit dem Stichwon „Metaphysische Deduktion der Kategorien" angedeutet. Diese metaphysische Deduktion soll bekanntlich einen Schritt über den Nachweis hinausführen, inwiefern sprachliche Ausdrücke wie ζ. B. „alle", „wenn . . . dann" und „nicht" dem sprachlichen Ausdruck, in dem sie als Teilausdrücke sinnvoll verwendet werden, den Stempel eines entscheidbaren Satzes aufdrücken. Im Rahmen der metaphysischen Deduktion der Kategorien soll nämlich plausibel gemacht werden, daß — noch nicht: inwiefern — mit Hilfe solcher satzbildenden Funktoren von etwas jeweils ganz bestimmtem Nichtsprachlichen sinnvoll als von einem Gegenstand die Rede sein kann: nach Kant ist genau dann von einem Gegenstand die Rede, wenn ein sprachlicher Ausdruck, der im Zusammenhang mit einem bestimmten urteilbildenden Funktor ζ. B. als Subjekt fungiert, durch etwas Nichtsprachliches — andeutbar durch „x" — eineindeutig belegt werden kann. Eine Kategorie ist nämlich bei Kant nichts anderes als eine Klasse der nichtsprachlichen Korrelate von sprachlichen Ausdrücken, die im Wirkungsbereich eines bestimmten urteilbildenden Funktors z . B . als Subjekte fungieren. Wenn man in diesem Zusammenhang einmal die begrifflichen Mittel zu Hilfe nimmt, wie Frege sie im Rahmen seiner allgemeinen Funktionentheorie auch für die Arbeit an der allgemeinen Lehre vom Gegenstand entwickelt hat, dann kann man das Ergebnis von Kants metaphysischer Deduktion der Kategorien auch so

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zusammenfassen: eine Kategorie ist eine Klasse von Argumenten einer jeweils ganz bestimmten logischen Funktion. Beschreibt man denselben Zusammenhang, indem man nicht betont, wie in diesem Licht die Kategorien zu charakterisieren sind, sondern indem man betont, wie die entsprechenden logischen Funktionen zu charakterisieren sind, dann kann man feststellen: die von Kant herausgestellten logischen Funktionen haben Gegenstände zu ihren Argumenten. Gegenstände sind Argumente von bestimmten logischen Funktionen. 6 Wir brauchen hier nicht weiter ins einzelne zu gehen. Es genügt vorläufig, im Hinblick auf Kants metaphysische Deduktion der Kategorien lediglich die Hypothese aufzustellen, daß sie u. a. auf den Versuch zurückgeht, die Kategorien analog wie die Satzfunktoren so einzuführen, daß die entsprechenden kategorialen Ausdrücke wie „Ursache", „Notwendigkeit" und dgl. wiederum garantieren, daß die Formulierungen, in denen sie jeweils sinnvoll verwendet werden, wenigstens insoweit kontextinvariant eindeutig ausfallen, wie sich der Wirkungsbereich der jeweils verwendeten kategorialen Ausdrücke erstreckt. Um es nur wieder an einem Beispiel nach dem Muster der Negativkopie zu erläutern: wenn sprachliche Ausdrücke wie ζ. B. „Ursache", deren gegenständlichen Sinn Kant im Auge hat, nicht kontextinvariant eindeutig verwendet werden könnten, dann wäre ζ. B. eine hinreichend starke Abkühlung von Luft alleine schon deswegen in einem ganz anderen Sinne Ursache des Gefrierens des Wassers, das von dieser Luft umgeben ist, als ζ. B. Feuer in einem Ofen Ursache der Erwärmung der diesen Ofen in hinreichend geringem Abstand umgebenden Luft ist, weil Luft und ihre Abkühlung ein ganz anderer Zustand der Materie bzw. eine ganz andere Zustandsänderung ist als das Brennen eines Feuers. Man könnte nicht in beiden Fällen in demselben Sinne von so etwas wie einer Ursache reden und könnte überhaupt nur in einem einzigen Fall, d. h. im Hinblick auf eine einzige Zustandskiasse eindeutig von einer Ursache reden. Man unterstellt Kant also lediglich ein Minimalprogramm, wenn man davon ausgeht, daß seine metaphysische Deduktion der Kategorien nicht nur im Falle der Kausalkategorie, sondern auch in allen anderen Fällen einsichtig machen soll, daß die kontextinvariante eindeutige Verwendbarkeit von sprachlichen Ausdrücken

6

Die Frage nach dem möglichen Bezug der so charakterisierten Gegenstände zur reinen Anschauung, speziell zur reinen räumlichen Anschauung, umgehe ich hier der Einfachheit halber. Ich komme hierauf im Zusammenhang und speziell im Zusammenhang mit den Quantitätskategorien ausführlich zurück, vgl. hierzu § 22.

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sichergestellt ist, die im Sinne der von ihm deduzierten Kategorien gegenständliche Valenz besitzen sollen. Unter dieser Hypothese soll gezeigt werden, daß diejenigen Orientalen Handlungscharakteristiken, die geometrische Definitionen abgeben können, unter Rekurs auf die drei von Kant ausgezeichneten Quantitätskategorien und insofern kontextinvariant eindeutig formuliert werden können (§ 22). Damit ist dann aber auch bereits nachgewiesen, daß die geometrischen Gebilde bei Kant schon insofern, als sie unter Rückgriff auf bestimmte Kategorien charakterisiert werden können, Gegenstände sind. Es zeigt sich aber auch, daß der Rekurs auf diese Kategorien noch nicht genügt, um eine Orientale Handlungscharakteristik im ganzen kontextinvariant eindeutig ausfallen zu lassen. Man muß und kann zunächst noch zusätzlich auf die von Kant herausgestellten Reflexionsbegriffe der Einerleiheit und Verschiedenheit sowie der Einstimmung und des Widerstreits zurückgreifen, um die Formulierungen solcher Charakteristiken gänzlich kontextinvariant eindeutig ausfallen zu lassen (§ 17). Wenn alle diese Überlegungen richtig sind, dann ergibt sich hauptsächlich dies: 1. Definitionen von Gegenstandsbegriffen der euklidischen Geometrie sind kontextinvariant eindeutige Orientale Handlungscharakteristiken. 2. Geometrische Gegenstände sind kontextinvariant eindeutig bestimmbare Orientale Handlungscharaktere. 3. Geometrische Zeichnungen sind Dokumente von Handlungen, sofern diese Handlungen kontextinvariant eindeutig orientiert sind. Am Ende einer Ausarbeitung von Kants Theorie des geometrischen Gegenstandes, wie ich hier in sie einzuführen versucht habe, kann man einmal auf andere Versuche zurückblicken, Kants mathematiktheoretische Ansätze zu verstehen, im Zusammenhang plausibel zu machen und mit Argumenten fortzuführen. Hier fallen nun zunächst die Untersuchungen auf, in denen Kants Theorie des geometrischen Gegenstandes schwächer abschneidet als sie sich im Lichte der hier vorgeschlagenen Durchführung darbietet. Man war oft viel eher bereit, Kant bei diesem Thema Inkonsistenzen, abwegige Intentionen, implausible Gedanken oder Sterilität zu attestieren, als dies nötig ist, wenn man sich von Kant in der hier entwickelten Weise vor allem auch über inhaltliche Gesichtspunkte belehren läßt, unter denen seine Theorie des geometrischen Gegenstandes auch noch beurteilt werden kann. Wir haben ja gesehen, wie sich der geometrische Gegenstand nach Kant in erster Linie operational und oriental konzipieren läßt. Diese

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beiden Schlüsselgedanken in Kants Theorie sind bisher, wenn ich nichts übersehen habe, nur von dem Mathematiker Johann Schultz (Schultz 1789, 1792) in dessen von Kant wenigstens angeregter, wenn nicht informell sogar autorisierter Auseinandersetzung mit der „Kritik der reinen Vernunft" als solche berücksichtigt worden. 7 Freilich hält Schultz vor allem Kants operationalen Ansatz nicht immer mit der nötigen Strenge durch; Schultz spricht nämlich gelegentlich im Hinblick auf einen geometrischen Gegenstand wie ζ. B. die Gerade so, als wenn sie auch noch im strengen kantischen Sinne als das Ergebnis einer Bewegung eines Punktes gedacht werden könnte (Schultz 1789, S. 64). Aber Kant versucht nun einmal gar nicht wie ζ. B. Spinoza (Spinoza 1677) und Christian Wolff (Wolff 1736) eine genetische Auffassung im Bereich der geometrischen Definitionen zu rechtfertigen (vgl. Spinoza, S. 55, 81, 83; Wolff §§263/265). Schultz' Rede von der Bewegung eines Punktes könnte systemimmanent allenfalls als ein ungenaues Referat aus dem Zusammenhang von Kants Theorie der Bahnbewegung der Materie verstanden werden, wie Kant sie unter dem Titel „Phoronomie" in seinen „Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft" entwickelt hat. Hier rechtfertigt Kant den Entschluß, Körper durch Punkte und Bahnen der Bewegung von Körpern durch jeweils ganz bestimmte Linien zu charakterisieren, bekanntlich mit dem Hinweis darauf, daß dies jedesmal dann legitim sei, wenn es wie bei rein kinematischen Betrachtungen gar nicht darauf ankomme zu wissen, in welchem Umfang oder in welcher Gestalt die jeweils berücksichtigten Körper den Raum erfüllen. Es ist zwar mit Händen zu greifen, daß Kant sich in diesem Zusammenhang gerade auf das Orientale Konzept aus seiner Theorie des geometrischen Gegenstandes stützt, wenn er Typen der Bahnbewegung der Materie nach kategorial bestimmbaren Richtungen differenziert. Aber jedenfalls treibt Kant hier nicht mehr Grundlagentheorie der Geometrie, sondern führt höchstens vor, wie man diese Geometrie auch anwenden kann, wenn man ihre Gegenstandsbegriffe oriental konzipiert hat. Aber beispielsweise die operationale Komponente kommt in diesem Zusammenhang schon gar nicht mehr als solche zum Zuge. Man kann diesem Zusammenhang daher auch nicht, ohne systematische Fehler zu begehen, wie Schultz Formulierungen entnehmen, die einen ganz anderen Gegenstand intendieren als die geometrischen Definitionen dies tun, und 7

Vgl. hierzu Kants Briefe an J. Schultz vom 26. Aug. 1783, 17. Febr. 1784, 25. Nov. 1788, 29. Jan. 1790 und 2. Aug. 1790, in: WW X , Briefe, S. 350ff., 366ff. bzw. 554ff. und W W X I , Briefe, S. 183ff. bzw. S. 184ff., sowie Schultz' Brief an Kant vom 28. Aug. 1783, W W X , Briefe, S. 352ff.

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mit ihnen dennoch geometrische Gegenstände als solche charakterisieren wollen. Jedoch noch wichtiger als Schultz' treffliche Akzentuierung des operationalen und des Orientalen Moments in Kants Ansatz und auch noch wichtiger als Schultz' gelegentliche begriffliche Unscharfen ist vielleicht, daß bei Schultz die Tatsache schon ganz im Dunkeln bleibt, daß Kant den gegenständlichen Charakter der geometrischen Gebilde mit Hilfe der Einsichten seiner Kategorienlehre — und nur mit ihrer Hilfe — plausibel machen kann. Zwar ist dieser Zusammenhang auch bei Kant wenigstens im einzelnen alles andere als klar. Aber Kant hat doch immerhin noch alle begrifflichen Unterscheidungen ausdrücklich getroffen, auf die es ankommt, wenn man die Konstitutionsbedingungen des geometrischen Gegenstandes möchte aufhellen können. Es liegt aber auf der Hand, daß man nur schwer überschätzen kann, wie schwach Kants Theorie des geometrischen Gegenstandes abschneiden muß, wenn man ihre Überlegungen nachzuvollziehen und fortzuführen versucht, nachdem man sie von vornherein von der Kategorienlehre gleichsam abgenabelt hat. Denn dieser Versuch läuft unter Kants Vorzeichen offenbar auf das widersinnige Unterfangen hinaus, die gegenständliche Struktur der geometrischen Gebilde ohne Rekurs auf die Bedingungen durchsichtig machen zu wollen, die der Rede von dem Dreieck, dem Kreis, der Kugel und dergleichen überhaupt erst gegenständliche Valenz sichern können. Von hier aus kann es auch kaum noch verwundern, daß es in der Geschichte der euklidischen Geometrie vor Kant niemand in systematisch überzeugender Weise gelungen ist, Richtungsmerkmale — vor allem in Zusammenhang mit Euklids Winkeldefinition und dem Parallelenaxiom — als Wesensmerkmale zumindest einiger geometrischer Begriffe zu berücksichtigen (vgl. Heath 1908, S. 167, 179, 191/194). Ohne die zusätzliche Entdeckung des operationalen Gegenstandsbereiches und ohne eine hinreichend leistungsfähige Kategorienlehre konnten solche Gelegenheitsreflexionen offenbar noch nicht in die Einheit einer diskutablen Theorie gefügt werden. So besehen, stellt Schultz' Auseinandersetzung mit Kants Mathematiktheorie allerdings sogar schon wieder einen Rückfall hinter das von Kant in der Theorie des geometrischen Gegenstandes mühsam erarbeitete Reflexionsniveau dar. In einem Atemzug damit bildet sie den Auftakt in der Geschichte von Kants Mathematiktheorie, die fast durchweg eine Folge von Mißverständnissen ist. Hermann Helmholtz (Helmholtz 1878) hat den Versuch, in der Definition eines geometrischen Begriffs wie ζ. B. des Begriffs der Geraden

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das Merkmal der Richtung zu berücksichtigen, durch den Vorwurf kritisiert, daß man auf diese Weise einem Zirkel zum Opfer falle, weil man genötigt sei, das Prädikat „ist eine Gerade" wiederum bei der Definition des Begriffs der Richtung zu verwenden (Helmholtz, S. 58/59). Aber sowohl Helmholtz als auch die von ihm so kritisierten Studenten von Kants Mathematiktheorie übersehen jedenfalls auch, daß der Begriff der Richtung bei Kant in einem Rahmen, nämlich in der Theorie von der reinen räumlichen Anschauung eingeführt werden kann, die unabhängig von der Theorie ist, in der bei Kant geometrische Gegenstandsbegriffe konzipiert werden können. Der Begriff der Richtung ist in Kants System mithin ein schon definierter Begriff, wenn man hier auf ihn zurückgreift, um geometrische Gegenstandsbegriffe zu definieren. Daher ist an dieser Stelle beim Definieren auch kein Zirkel möglich. Kurt Laßwitz (Laßwitz 1883) hält das Merkmal der Richtung irrtümlich bereits für ein Beispiel eines räumlichen Merkmals, das im Rahmen von Kants Raumtheorie mit genau demselben Recht angeführt werden könne wie Beispiele für andere Typen räumlicher Merkmale (vgl. Laßwitz, S. 58/59, 158/162). Daher verkennt Laßwitz, daß in Kants Lehre von der Definition geometrischer Gegenstandsbegriffe der Begriff der Richtung der Grundbegriff ist. Konrad Marc-Wogau (1932) hat bei seinen sehr umsichtig und detailliert durchgeführten Untersuchungen zu Kants Theorie über den Raum und die geometrischen Gegenstände nicht erkannt, daß Kants an der räumlichen Form von Handlungen orientierte Gelegenheitsreflexionen Voraussetzungen enthalten, die sich vor allem mit Hilfe seiner Kategorienlehre im einzelnen zu einer Theorie ausgestalten lassen, in der geometrische Gegenstände als spezielle Handlungsorientierungen beschrieben werden. Dieser Mangel macht sich bei Marc-Wogau vor allem dann bemerkbar, wenn er im engeren Rahmen seiner Darstellung von Kants Raumtheorie Kants notorisch vertrackte Unterscheidungen zwischen einer reinen räumlichen Form der Anschauung und einer formalen Anschauung des Raumes erörtert. Denn da diese Unterscheidungen bei Kant gebildet werden, indem der Reflexionsbegriff der Form nicht nur einfach angewendet, sondern sogar iteriert wird, muß man stets auch nach der charakteristischen (intentionalen) Materie der hier beschriebenen Anschauung fragen. Wenn man aber am Leitfaden von Kants einschlägigen Reflexionen nach dieser charakteristischen intentionalen Materie sucht, dann bleiben nur Handlungen übrig, sofern sie unter der charakteristischen räumlichen Form der Orientierung manifest werden. Da Marc-Wogau aber ohne Zu-

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h i l f e n a h m e v o n V o r a u s s e t z u n g e n darüber z u arbeiten versucht, w o r i n die c h a r a k t e r i s t i s c h e intentionale Materie der reinen räumlichen A n s c h a u u n g bei K a n t besteht, ist es nicht verwunderlich, daß er angesichts der letzten E n d e s leerlaufenden Reflexionen über F o r m und Materie meint in Kants R a u m t h e o r i e eine „ D i a l e k t i k " (vgl. S. 1 7 7 , 2 0 1 , 2 6 4 , 2 9 7 ) diagnostizieren zu können. J a a k k o H i n t i k k a ( H i n t i k k a 1 9 6 6 1 ; 1 9 6 6 2 , 1 9 6 6 3 , 1 9 7 3 ) ist es bis jetzt n o c h n i c h t gelungen, an K a n t s T h e o r i e des geometrischen Gegenstandes weiterzuarbeiten,

ohne

vorauszusetzen,

daß

die

Gegenstände

geome-

trischer Sätze existieren o d e r existieren können (vgl. H i n t i k k a 1 9 6 6 t , bes. S. 1 1 4 / 1 1 8 ; 1 9 6 6 2 , bes. S. 1 3 6 / 1 4 3 ; 1 9 6 6 3 , bes. S. 1 9 4 / 1 9 6 -

hier aller-

dings das arithmetische A n a l o g o n ; 1 9 7 3 , bes. S. 2 0 7 / 2 1 1 , 2 1 5 / 2 1 8 ) . Diese V o r a u s s e t z u n g steht jedoch im W i d e r s p r u c h mit einschlägigen kantischen L e h r s t ü c k e n . D e n n im H i n b l i c k auf die geometrischen Gegenstände lehrt K a n t n u n einmal klipp u n d klar, d a ß es noch nicht einmal der

Existenz

eines

geometrischen

Gegenstandes

zu

sinnvoll

sprechen,

sei, v o n ,,da

in

i h r e m Begriffe nichts, was ein Dasein ausdrückte, gedacht w i r d " ( W W IV, Μ . Α . , S. 4 6 7 A n m . ; 8 vgl. auch K d r V A 7 1 9 , Β 7 4 7 ; W W V, K d p V , S. 5 2 ;

8

Diese Bemerkung Kants im Hinblick auf die Begriffe geometrischer Figuren scheint trivial zu werden, wenn man als Voraussetzung Kants bekannte Lehre hinzunimmt, daß „Sein . . . kein reales Prädikat (ist)" (KdrV A 598, Β 626), d. h. daß man von einem Gegenstand „mehr . . . sage, als im (d. h. in seinem, R. E.) Begriffe gedacht war" (WW IV, KdpV, S. 139), wenn man von ihm sagt, daß er existiere (vgl. ib.). Denn, wenn in keinem Begriff von irgendeinem Gegenstand die Existenz dieses Gegenstandes gedacht wird, dann exemplifiziert man diesen allgemeinen negativen Satz ja nur in trivialer Weise, wenn man ausdrücklich hervorhebt, daß dann auch nicht im Begriff irgendeines geometrischen Gegenstandes die Existenz dieses Gegenstandes gedacht wird. Aber Kants Bemerkung aus den Μ. Α., wonach die Existenz eines geometrischen Gegenstandes im Begriff dieses geometrischen Gegenstandes jedenfalls nicht enthalten ist, wird doch auch unter Zuhilfenahme von Kants allgemeiner Lehre, wonach in keinem Begriff irgendeines Gegenstandes die Existenz dieses Gegenstandes enthalten ist, wenigstens nicht völlig trivial. Das liegt daran, daß unter den verschiedenartigen Begriffen von Gegenständen die Begriffe geometrischer Gegenstände insbesondere zu den „reinen sinnlichen Begriffen" (KdrV A 140, Β 180, Hervorhebung von mir, R. E.) gehören. Im Hinblick auf die Gegenstände dieser reinen sinnlichen Begriffe kann man aber noch nicht einmal in sinnvoller Weise von ihrer Existenz reden, weil überhaupt „in der reinen Mathematik nicht von der Existenz . . . die Rede sein kann" (WW V, KdU, S. 366 Anm.). Denn diesen reinen sinnlichen Begriffen liegt gar nicht die Existenz irgendwelcher Gegenstände zugrunde, sondern ihnen „liegen . . . Schemata zum Grunde" (KdrV A 140, Β 180). Im Hinblick auf diese Schemata kann man aber allenfalls in einem metaphorischen Sinne Existenzaussagen treffen und beispielsweise davon sprechen, daß das „Schema des Triangels . . . niemals anderswo als in Gedanken existieren (kann)" (A 141, Β 180) (vgl. zu dieser Metaphorik auch S. 252 8 ). Daher wird man die zitierte Bemerkung Kants aus den M.A. durch die der Sache nach stärkere Behauptung ergänzt

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K d U , S. 366 Anm.). Aber Hintikka weiß selber gut genug, wie ruinös das Auftauchen eines Widerspruches für den Wahrheitsanspruch ist, den jemand mit der Satzmenge verbindet, in der dieser Widerspruch vorkommt. Dabei ist es bekanntlich ganz gleichgültig, ob es sich bei den Sätzen dieser widerspruchsvollen Satzmenge nun um Sätze einer empirischen oder einer nichtempirischen Wissenschaft handelt oder ob es sich bei den einander widersprechenden Sätzen um Sätze handelt, von denen einer zu einem bestimmten interpretierten Text gehört und von denen der andere zu dem entsprechenden interpretierenden Text gehört. Es ist nicht leicht auszumachen, ob und wenn ja wie Hintikka seine bisherigen Vorschläge vielleicht nur mit einem verhältnismäßig geringen Aufwand an Mühe so revidieren kann, daß der herausgestellte Widerspruch verschwindet. Aber wie dem auch sein mag — jede ernstzunehmende Auseinandersetzung mit Kants Mathematiktheorie wird sich auch einen Reim auf Kants Lehre zu machen versuchen müssen, wonach im Hinblick auf die , reinen Gestalten' der Geometrie nicht sinnvoll von Existenz die Rede sein kann. 9 Dieser Anforderung versucht die vorliegende Abhandlung, wie

9

denken müssen, daß man im Hinblick auf Gegenstände geometrischer Begriffe noch nicht einmal in sinnvoller Weise von ihrer Existenz sprechen kann. Das hat auch Parsons (1969), teilweise in Auseinandersetzung mit Hintikkas Thesen, übersehen, vgl. bes. S. 573, 584, 587. In der durch Hintikkas Thesen angeregten Diskussion hat vor allem Thompson (1972/73) darauf aufmerksam gemacht, daß jede Existenzvoraussetzung im Hinblick auf geometrische Gegenstände mit Kants Mathematiktheorie unverträglich ist, vgl. bes. S. 338/343. Von Kant aus betrachtet, kann es sich also durchaus konsequent ausnehmen, wenn man Hintikkas Interpretation gelegentlich darstellt, ohne Hintikkas unhaltbare Existenzvoraussetzung ausdrücklich noch als solche zu erwähnen, vgl. ζ. B. Scheibe (1976), S. 26/27. Freilich kann man über einen Gedanken eines philosophischen Autors gelegentlich auch ein viel härteres Urteil aussprechen, indem man diesen Gedanken einfach ignoriert als wenn man ihn noch einer sachlich orientierten Kritik würdigt. — Auf andere bedenkliche Thesen oder Leithypothesen von Hintikkas Kant-Interpretation können wir hier nicht näher eingehen. Nur beispielsweise sei die Tatsache erwähnt, daß Hintikka den synthetischen Charakter ausschließlich von ganz bestimmten Schritten in mathematischen Beweisen herauszuarbeiten versucht, indem er zunächst präzisiert, inwiefern die bei diesen Beweisschritten benutzten quantorenlogischen Lehrsätze selber gar nicht, wie man bisher fast durchweg angenommen hatte, analytisch, sondern synthetisch aufzufassen sind (vgl. Hintikka 1966i, bes. S. 148/149). Demgegenüber konzentriert sich der synthetische Charakter ,der' Mathematik für Kant gerade nicht in deren Beweisen, sondern ausschließlich in ihren beweisbaren bzw. beweisunbedürftigen Sätzen („Urteile"); vgl. hierzu Kants klares Votum WW IV, Prol., S. 268ff.; KdrV Β 14; vgl. zu diesem Problemkreis auch schon die Klarstellung von Beck (1956), bes. S. 18/20. — Bei alledem sollte aber keineswegs das Verdienst außer acht gelassen werden, wie Hintikka es sich mit der Ausarbeitung der systematischen Ansätze erworben hat, mit denen er dann darüber hinaus auch noch der kantischen Mathematiktheorie beizukommen versucht. Nur wird man dieses Verdienst vorerst noch nicht auf der Linie der Intentionen von Kants Mathematiktheorie,

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schon skizziert, durch die These gerecht zu werden, daß im Hinblick auf die geometrischen Gegenstände nach Kant deswegen nicht sinnvoll von Existenz gesprochen werden könne, weil die geometrischen Gegenstände nichts anderes als in einer bestimmten Weise ausgezeichnete Handlungen sind. P. F. Strawson (Strawson 1966) entwickelt zunächst zwar in klarer Weise triftige grundsätzliche Einwände gegen verschiedenartige Kritiken an Kants Behauptung, die geometrischen Theoreme seien synthetisch und apriorisch (Strawson, S. 277/290). Aber Strawson versieht seinen eigenen Vorschlag, die geometrischen Gegenstände in Kants Sinne als „phänomenale" Gebilde aufzufassen (Strawson, S. 281/287), mit solchen Vorbehalten (a. a. O . S. 287/291), daß am Ende nurmehr ein Vorschlag für eine Sprachregelung übrig bleibt, die geeignet sein soll, die seltsamen Eigentümlichkeiten von Kants Theorie auch verbal noch einmal zu betonen und sie auf diese Weise sowohl gegen vorschnelle Zustimmung wie auch gegen desorientierte Kritiker abzuschirmen. Es erscheint jedoch fraglich, ob man die Berechtigung, mit der man Kants Theorie des geometrischen Gegenstandes sachlich ernst nimmt, dann überhaupt noch dürftiger ausweisen kann als Strawson es damit tut. Denn man wird schwerlich leugnen können, daß Kants eigene Ausdrucksweise auch in der Mathematiktheorie schon hermetisch genug ausgefallen ist, um zu verhindern, daß sachliche Zustimmung und Kritik bloß aus den Quellen hermeneutischen Vorwitzes entspringen. Aber es ist immerhin bemerkenswert, daß ein Student von Kants Mathematiktheorie, der wie Strawson auch durch die Schule der formalen Logik und Metalogik gegangen ist und sondern zunächst auf dem Gebiet einer nichtkantischen Theorie geometrischer Beweise sowie auf dem Gebiet der Philosophie der Logik finden können, wie sie seit Frege und Russell erarbeitet worden ist. Auf den Wegen, die man in dieser Tradition bisher gegangen ist, nehmen die Thesen Hintikkas über den synthetischen Charakter bestimmter quantorenlogischer Lehrsätze fast schon revolutionäre Züge an. Denn zweifellos ist es der ungewöhnlichen Findigkeit Hintikkas zuzuschreiben, wenn man in einem bald hundert Jahre alten und bekannten logischen System wie der Quantorenlogik noch Lehrsätze ausmachen kann, die sich eindeutig von allen anderen Lehrsätzen desselben Systems so unterscheiden, daß man einer ebenso alten einschlägigen und praktisch allseits akzeptierten These über den analytischen Charakter aller quantorenlogischen Lehrsätze mit der Antithese entgegentreten kann. Aber auch schon von hier aus könnte Hintikka klärend in die Diskussion um Kants Mathematiktheorie eingreifen. Denn wenn einige Lehrsätze der Quantorenlogik auch in Kants Sinne nicht analytisch sind, dann kann man Kants These über den synthetischen Charakter mathematischer Sätze auch nicht mehr mit der Behauptung angreifen, daß die Lehrsätze der Quantorenlogik, auf die man beim Beweisen dieser Sätze zurückgreift, sämtlich analytisch seien. O b die fraglichen quantorenlogischen Lehrsätze dann auch genau in dem Sinne und genau aus den Gründen synthetisch sind, wie dies nach Kant für die Sätze der Mathematik charakteristisch ist, braucht man dann zu diesem Zweck noch gar nicht entschieden zu haben.

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die Texte von Kants Transzendentalphilosophie auch in einem sachlich günstigen Licht zu interpretieren gelernt hat, sich am Ende damit begnügt, terminologische Warnschilder aufzustellen. Man sollte Konsequenzen von der Art, wie Strawson sie vorsichtig zu ziehen bereit ist, nicht leicht nehmen. Man kann sich zwar — und wohl zu Recht — des Eindrucks nicht erwehren, daß Kants Mathematiktheorie sich damit auf einem Niveau ihrer Einschätzung wiederfindet, auf dem Kants eigene systematische Ansprüche eindeutig unterboten werden. Aber es bleibt doch zu fragen, ob Strawson hier so alleine steht, wie man zunächst vielleicht meinen möchte, wenn man sich von seinem verklausulierten resignativen Fazit (Strawson, S. 291/292) beeindrucken läßt. Man ist vielleicht geneigt, Strawsons enttäuschendes Resümee mit der Methode in Zusammenhang zu bringen, nach der Strawson Kants Texte von vornherein hat analysieren und die Ergebnisse seiner Analyse beurteilen wollen (vgl. Strawson, S. 11/12). Man kann hier vor allem an Strawsons Entschluß denken, nicht in dem Maße ins Detail von Kants Text und Gedankengang zu gehen, wie die bedeutenden Kant-Kommentatoren unseres Jahrhunderts — Hans Vaihinger (Vaihinger 1922), H . J. de Vleeschauwer (Vleeschauwer 1933ff.) und Herbert J. Paton (Paton 1936) — dies vorgeführt haben. Mit der Anzahl der ausdrücklich berücksichtigten Textstellen wächst ja zunächst einmal ganz einfach die Anzahl der Gelegenheiten, eine Interpretationshypothese nicht nur zu testen, sondern möglicherweise auch zu differenzieren. Es liegt daher nahe, die großen Kant-Kommentare zu konsultieren, um herauszufinden, ob ihre Autoren alleine auf Grund ihrer größeren Textnähe zu Ergebnisse gelangen konnten, die ein günstigeres Urteil über Kants Mathematiktheorie rechtfertigen. Damit soll nicht etwa unterstellt werden, daß Strawson sich schon deswegen um den Bestand seiner Interpretation sorgen müßte, weil auch er einer enger am Text orientierten Kritik nicht aus dem Weg gehen kann. Aber da wir die von Kant intendierte Theorie des geometrischen Gegenstandes detaillierter als gewöhnlich darstellen und plausibel machen wollen, kann man fragen, ob denn ein Autor wie Strawson im Lichte unserer Interpretation überhaupt finden konnte, daß dank der mühevollen Kleinarbeit von Vaihinger, Vleeschauwer und Paton wichtige Probleme aus dem Kontext dieser Theorie so geklärt seien, daß man dies nur um den Preis vernachlässigen könnte, sich selber oder seine Leser über Forschungsergebnisse im Dunkeln zu lassen, die mindestens das Verständnis von Kants Theorie, aber insofern vielleicht auch ein prinzipielles Verständnis der euklidischen Geometrie fördern könnten.

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Einleitung

Es zeigt sich nun, daß Vaihinger, Vleeschauwer und Paton jeweils über einen der drei verschiedenartigen Sachverhalte im Unklaren geblieben sind, auf die es zentral ankommt, wenn man sich, wie wir zeigen wollen, im Sinne Kants über die Struktur des geometrischen Gegenstandes verständigen möchte. Vaihinger verkennt, daß das Problem, die Inkongruenz eines Paares sinnenfälliger Gegenstände eindeutig zu charakterisieren, und das Problem, mögliche Bahnbewegungen von Materie eindeutig zu unterscheiden, für Kant insofern zusammenhängen, als man in beiden Fällen auf Unterschiede von Richtungen zurückgreifen kann (vgl. Vaihinger, S. 523, Anm. 1). Dadurch versperrt auch Vaihinger sich den Blick für die Tatsache, daß der Richtungsbegriff ein Grundbegriff in Kants Konzeption des geometrischen Gegenstandes ist. Vleeschauwer verwechselt die von Kant gelegentlich „Handlung" genannten kategorialen Funktionen mit den Handlungen, die charakteristischerweise das räumliche Merkmal der Orientierung manifest zu machen gestatten (vgl. Vleeschauwer, S. 128/129). Vleeschauwer kann unter diesen Umständen ersichtlich nicht zu einem hinreichend scharfen Begriff von dem nach Kant primär charakteristischen, operationalen Anwendungsbereich geometrischer Sätze gelangen. Paton verwechselt — und man ist vor allem bei ihm geneigt zu finden: unverständlicherweise — Kants allgemeine, kategoriale Anforderungen an die gegenständliche Valenz eines Begriffs mit den speziellen Anforderungen, wie Kant sie im Hinblick auf Begriffe von Gegenständen möglicher Erfahrung entwickelt hat (vgl. Paton, S. 390, Anm. 2). Paton kann daher auch nicht klarstellen, daß geometrische Gebilde hier schon insofern Gegenstände sind, als sie kategorial bestimmt werden können, und niemals insofern Gegenstände sein können, als sie auch Gegenstände möglicher Erfahrung und also z.B. auch Ursachen von bestimmten Materiezuständen sein könnten. Es scheint mir daher auch vor dem Forum der gelehrten Kant-Forschung nicht überflüssig zu zeigen, wie Kants Texte im einzelnen zugunsten der These zum Sprechen gebracht werden können, Kant habe unter dem Namen der reinen räumlichen Anschauung eine notwendige Manifestationsbedingung für die geometrischen Gegenstände entdeckt und diese geometrischen Gegenstände als Orientale Handlungscharaktere herausgestellt, die grundsätzlich kontextinvariant eindeutig manifest gemacht werden können.

I. Kapitel

Transzendentalphilosophie und Wissenschaftstheorie

5 1. Kant und die heutige

Wissenschaftstheorie

Kant fragt in den „Prolegomena" bekanntlich auch, wie Mathematik und reine Naturwissenschaft möglich sind. In den §§ 6—39 umreißt er seine Antwort. Damit hat Kant sich eine auch wissenschaftstheoretische Aufgabe gestellt, deren Lösbarkeit sich heutzutage wenigstens nicht von selbst versteht; sie darf ohne weiteres noch nicht einmal eindeutig oder gar unbestritten für sinnvoll gehalten werden. Denn wissenschaftstheoretische Bemühungen um Mathematik und Physik haben in der Zeit nach Kant vorzüglich auf Grund einer sinnreichen Bindung an die formale Logik und jene formalen metalogischen Disziplinen Früchte zu tragen begonnen, wie sie vor allem seit den Tagen Freges und des Wiener Kreises in den Gestalten von Syntax, Semantik und Pragmatik ins Leben gerufen worden sind. In der ständigen Auseinandersetzung mit konkreten Beispielen sprachlich formulierter Ergebnisse und Voraussetzungen mathematischer und physikalischer Forschungen haben die Studenten dieser formalen Disziplinen inzwischen ein vorbildlich strenges Methodenbewußtsein entwickeln können. Es gestattet ihnen, logische Einsichten in formale Gründe der Wahrheit von Sätzen, syntaktische Einsichten in Bedingungen der Wohlformuliertheit sprachlicher Ausdrücke bzw. der Entscheidbarkeit satzmäßiger Formulierungen, semantische Einsichten in objektive und pragmatische Einsichten in subjektive Wahrheitsbedingungen von Sätzen jeweils auch um ihrer selbst willen zu intendieren. Der Logik und der Metalogik gelingt in diesem Sinne selber schon der in Kants Augen so charakteristische sichere Gang der Wissenschaft. Diese Entwicklung ist auch der Arbeit an der Wissenschaftstheorie zugute gekommen. Denn jetzt kann der Wissenschaftstheoretiker mit den vielfältigen Ergebnissen und Methoden der Logik und Metalogik planmäßig unter der Hypothese zu arbeiten versuchen, daß er in den Sätzen, in

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Transzendentalphilosophie und Wissenschaftstheorie

den Gefügen von Sätzen und in den anderen sprachlichen Formulierungen der Wissenschaften gerade auch dasjenige wiederfinden kann, wonach er im Lichte jener Ergebnisse und Methoden suchen kann. Da diese formalen Disziplinen sich für die Bedingungen und Gründe der prinzipiellen Entscheidbarkeit und der Wahrheitsdefinitheit von Sätzen interessieren, kann der Wissenschaftstheoretiker sie nämlich auch wie eine Instanz zu Rate ziehen, die die unmittelbare Wahrheitsintention der Wissenschaftler und deren Verpflichtung, Forschungsresultate und deren wichtige Voraussetzungen nur in prinzipiell entscheidbaren Sätzen niederzulegen, ständig als solche ernst genommen haben und nun außerdem lediglich mit Erfolg nach den Minimalbedingungen gefragt haben, unter denen Wahrheit und Entscheidbarkeit charakteristischerweise auch in diesen Dokumenten der wirklichen Wissenschaft möglich sind. Auf diese Weise ist schon eine Vielzahl mannigfaltiger Einsichten erarbeitet worden; sie betreffen vor allem den formalen Aufbau wissenschaftlicher Theorien und Formen des Umgangs, wie Wissenschaftler ihn mit Sätzen und Begriffen dieser Theorien üben können, wenn sie mit den Mitteln der Sprache Behauptungen über die nichtsprachlichen Entitäten aufstellen, die sie im Lichte dieser Sätze und Begriffe jeweils intendieren können. Auf die Physik, wie sie sich seit Kants Tagen entwickelt hat, kann auf diesem Weg prinzipiell dasselbe Licht geworfen werden wie auf die galileische Mechanik und auf die newtonsche Dynamik, wie sie Kant schon vor Augen gestanden haben. In diesen Dingen könnte Kant von der Wissenschaftstheorie unserer Tage zunächst sogar nur lernen. Es liegt aber auch auf der Hand, daß Kants Frage nach der Möglichkeit reiner Wissenschaften so lange gleichsam im toten Winkel, mindestens aber im Zwielicht liegen bleiben muß, wie die Methoden, mit denen man Wissenschaftstheorie treibt, am Leitfaden der Frage nach Bedingungen entwickelt werden, die unter den Gesichtspunkten von Logik und Metalogik für die Wirklichkeit paradigmatisch er Wissenschaften kennzeichnend sind. Nun darf man freilich nicht erwarten, daß man Kants gelegentliche Intentionen in Richtung auf eine transzendentale Wissenschaftstheorie schon verstanden hat, wenn man seiner Frage nach der Möglichkeit reiner Wissenschaften wenigstens tendenziell schon die Antwort auf die Frage nach einem logisch und metalogisch gleichsam bereinigten Bild von der wirklichen Wissenschaft entgegenstellen kann. Kants transzendentaler Begriff von Wissenschaft und der Begriff von Wissenschaft, wie er mit den bislang zuverlässigsten Mitteln logischer und metalogischer Reflexion bisher gewonnen werden konnte, sind ja nicht etwa bloß Glieder einer

Kant und die heutige Wissenschaftstheorie

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vollständigen Alternative, die einfach durch Negation auseinander hervorgehen könnten. Es hat sich vielmehr gezeigt, daß die nichttranszendentale Wissenschaftstheorie schon in sich ein viel zu komplexes Gebilde ist, als daß man sich von hier aus im Hinblick auf den Lehrgehalt einer vielleicht möglichen transzendentalen Wissenschaftstheorie mit einfachen begrifflichen Gegensatzpaaren fruchtbar oder auch nur eindeutig verständigen könnte. Nun haben die Umstände es bekanntlich gefügt, daß in jüngster Zeit ein wissenschaftstheoretischer Ansatz ausgearbeitet werden konnte, der auch im Hinblick auf Mathematik und Physik noch ganz diesseits der Grenze zu einer Wissenschaftstheorie zum Zuge kommt, die sich selbst schon transzendental konzipiert, und der gleichwohl helfen kann, Einseitigkeiten im Bild von der Wissenschaft nicht nur zu vermeiden, sondern dieses Bild durch neugewonnene prinzipielle Einsichten zu bereichern. Ich denke hier an die operationale Begründung, wie sie zuerst von Paul Lorenzen (Lorenzen 1968) teilweise auf Anregung durch die Philosophie Hugo Dinglers versucht worden ist. Das neue Erlanger Programm zielt vor allem auf die praktischen Komponenten im Aufbau jeder Wissenschaft. Seine Grundsätze sind zunächst im Hinblick auf Logik und Arithmetik ausgearbeitet worden. Vorschläge für eine operationale Fundierung von Geometrie und Physik sind inzwischen zur Diskussion gestellt worden. Die Möglichkeiten dieses Ansatzes dürften kaum schon bis in alle wichtigen Einzelheiten erschöpft sein. In welchem Umfang neben den Formalwissenschaften und den Naturwissenschaften auch noch die Denkmalswissenschaften und die an der Praxis orientierten Wissenschaften in den Einzugsbereich dieses operationalen Konzeptes gehören, muß sich allerdings erst noch in der Detailarbeit erweisen. Allerdings kann es hier nicht in jeder Hinsicht Schranken prinzipieller Art geben. Das lehrt sofort ein Blick auf die besonders weit gediehene operationale Begründung der formalen Logik, deren relativ große wissenschaftstheoretische Tragweite hier vor allem ins Gewicht fällt. Denn bereits die gelungene operationale Fundierung der formalen Logik berechtigt ja zu der Behauptung, daß in jeder Wissenschaft mindestens in dem Maße operative Komponenten vorkommen wie in ihr sprachliche Formulierungen von Sätzen vorkommen, über deren Ansprüche auf Entscheidbarkeit und Wahrheit alleine mit den Mitteln der so fundierten Logik entschieden werden kann. Aber Wissenschaften, deren logische Struktur einfacher wäre als die einfachsten logischen Strukturen sind, die die operationale Logik charakterisieren kann, gibt es nicht. Denn in der

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Transzendentalphilosophie und Wissenschaftstheorie

Tat wäre eine Wissenschaft, die aus einem einzigen logisch unzerlegbaren Satz bestünde, ein Widerspruch in sich. Aber jedem sprachlichen Dokument, das nicht weniger als zwei durch „und" verknüpfbare Sätze enthält und z . B . aus einer kontingenten und einer nichtkontingenten Aussage besteht, kann mit den Mitteln der operativen Logik bereits ein operatives Fundament nachgewiesen werden. Solche Dokumente liefert aber jede Wissenschaft durch jeden ihrer kompetenten Vertreter jederzeit. Durch die Arbeiten auf dem Felde des Erlanger Konzeptes ist nun aber keineswegs lediglich belegt, daß die Möglichkeiten der nichttranszendentalen Wissenschaftstheorie noch längst nicht erschöpft sind. Für die Weiterarbeit an Kants transzendentaler Wissenschaftstheorie, speziell an seiner Theorie der Geometrie, dürfte es darüber hinaus wichtig sein festzustellen, daß man im Zuge der praktizistischen Erörterung der Wissenschaften, speziell der Geometrie, gelegentlich auch ausdrücklich versucht hat, Berührungspunkte mit Kants Intentionen zu markieren. Zwar hat Kant hier in den meisten Fällen eher Anregungen terminologischer Art geben können und man sollte solche Zusammenhänge niemals überbewerten. So wird man ja auch in elementaren didaktischen Situationen immer wieder einmal gerne auf Kants Rede von der „reinen Anschauung" zurückgreifen, wenn man die unverwechselbare Form des Zugangs zu den geometrischen Gegenständen kennzeichnen möchte (vgl. Reidemeister 1946, S. 188 ff.); aber kaum jemand wird sich in solchen Situationen auch ernsthaft anheischig machen, Schwierigkeiten bei der Vermittlung von Geometrie in der Lehre durch Exkurse in die Geschichte der Metamathematik zu bewältigen oder mit Aussicht auf Erfolg zu kompensieren. Einen von vornherein wissenschaftstheoretisch geprägten Kontext wird man allerdings auch in kategorialer Hinsicht ernster nehmen dürfen. Dies braucht sich nicht immer in der Weise abzuspielen, daß die zitierte „reine Anschauung" die Forderung provozieren müßte, von ihrem Begriff auch sogleich „die transzendentale Deduktion zu suchen" (KdrV A 88, Β 120). Auch bei Kant selber ist die Theorienbildung, die er unter dem Namen der Transzendentalen Logik mitgeteilt hat, ja schon relativ weit gediehen, bevor auch im Hinblick auf die Geometrie sachliche Gründe beigebracht werden können, aus denen hervorgehen soll, weswegen man nunmehr unumgänglich darauf angewiesen sei, über den Begriff des Raumes auch mit den Mitteln der transzendentalen Reflexion Rechenschaft abzulegen (vgl. KdrV A 87, Β 119/A 89, Β 121). Umso vorsichtiger wird man vorgehen müssen, wenn man in ganz anders orientierten wissenschaftstheoretischen Kontexten die kategorialen Stellen ausfindig machen will, an denen sich

Die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der euklidischen Geometrie

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eine so problematische Begründungslast ernsthaft dingfest machen ließe. So deuten die gelegentlichen terminologischen Anleihen der Erlanger bei Kant auch keineswegs etwa auf eine Bereitschaft oder eine Verpflichtung hin, Kants uneingelöste oder nur mangelhaft erfüllte Begründungspflichten zu übernehmen, um nun überzeugend darzutun, wie man sich ihrer ganz legitim in origineller, nämlich operationaler Weise entledigen könnte; sie können daher hier zunächst auch bloß als Indiz für eine unmittelbare Nachbarschaft zu Kant verstanden werden, in die man sich begeben kann, wenn man auf die praktischen Momente im Aufbau der Wissenschaft zurückkommt. In der Tat bieten die vorläufigen Ergebnisse der wissenschaftstheoretischen Arbeiten aus dem Erlanger Umkreis — speziell auch zur Geometrie — aber auch jetzt schon eine vorzügliche Gelegenheit, gerade Kants Frage nach der Möglichkeit reiner Wissenschaften — speziell der Geometrie — zu konkretisieren. Denn unbeschadet der Leitfunktion, die die operationale Fundierung der formalen Logik im Erlanger Wissenschaftskonzept in der angedeuteten Weise erfüllen kann, läßt sich jede Wissenschaft — Arithmetik, Geometrie, Physik, aber auch die Logik selbst, — im Anschluß an die praktizistische Reflexion noch einmal zum Gegenstand einer Frage machen, die sich in diesem Zusammenhang inzwischen fast schon zu einer Hauptfrage des neuen Erlanger Programms ausgewachsen hat: ,Womit muß der Anfang in der jeweiligen Wissenschaft gemacht werden?' (vgl. Kamlah/Lorenzen 1967, § 2). Aber gerade die Antworten auf die hier zu stellenden konkreten Fragen sind im Blick auf Kant deswegen von Belang, weil sie in der operational orientierten Interpretation der Erlanger jeweils auch Einsichten in Bedingungen der Möglichkeit einer Wissenschaft gewähren sollen. Gleichzeitig kann man von hier aus genauer als es sonst vielleicht möglich ist verdeutlichen, wieso man die Aufgaben von Kants transzendentaler Wissenschaftstheorie grundsätzlich erst jenseits der Grenze zu meistern versuchen kann, wie auch die Erlanger sie sich vorläufig noch gezogen haben. Aber was hat sich im Erlanger Rahmen zunächst speziell für die Geometrie ergeben?

§ 2. Die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der euklidischen Geometrie Man kann dem Versuch einer operationalen Fundierung der euklidischen Geometrie bescheinigen, daß es hier gelungen ist, in Strenge darzutun, inwiefern diese Geometrie nicht grundsätzlich in wohlformu-

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Transzendentalphilosophie und Wissenschaftstheorie

Herten Sätzen, geschweige denn in einer deduktiv geordneten Menge solcher Sätze Gestalt anzunehmen braucht. Diese Geometrie wird also nicht erst dort manifest, wo ausschließlich von Punkten, Linien, Flächen und ihren ein- oder mehrstelligen Eigenschaften als solchen ausdrücklich die Rede ist. Die planmäßige Suche nach Handlungen und Handlungstypen, die längst vertraute wissenschaftliche Gegenstände in möglichst unverwechselbarer Weise operativ sollten vermitteln können, hat im neuen Erlanger Programm eine Möglichkeit eröffnet, auch dies plausibel zu machen. Denn selbst am simpelsten Artefakt oder Halbzeug aus der praktischen Lebenswelt des Menschen lassen sich immer wieder Merkmale aufweisen, die nicht mehr alleine aus dem bloßen Faktum der Handlung des Urhebers dieser Gebilde verständlich gemacht werden können. Ein banales, aber adäquates Beispiel für ein Merkmal, das sogar nur aus der Tatsache der Handlung einer bestimmten Instanz erklärt werden kann, bietet ja das Merkmal der Existenz solcher artifiziellen Gebilde. Beispielsweise ein Ziegelstein existiert ja überhaupt und so, wie er existiert, nur deswegen, weil jemand überhaupt und so gehandelt hat, wie er gehandelt hat. Aber gerade bei allen in die Geometrie einschlägigen Merkmalen genügt das nicht mehr. Für das volle Verständnis dieser Merkmale müssen nicht nur zusätzliche Voraussetzungen außer dem Faktum einer Handlung, sondern auch Voraussetzungen einer ganz anderen Art verantwortlich gemacht werden. Hierher gehört vor allem die Voraussetzung, daß der Urheber eines geometrisch geprägten Gebildes seine handlungsleitenden Intentionen von vornherein jeweils so an einer bestimmten N o r m orientieren kann, daß das Ergebnis seines Umgangs mit seinem Material stets zugleich auch ein Dokument für das Maß ist, in dem ihm die Normierung seines Tuns auch effektiv gelungen ist. Wo ζ. B. die Kanten eines Ziegelsteines möglichst gerade ausfallen sollen oder wo die Flächen dieses Ziegelsteines möglichst eben ausfallen sollen oder wo die Fläche eines anderen Gebildes möglichst rund ausfallen soll — in allen diesen Fällen wird Geometrie manifest, ohne daß der Urheber solcher Gebilde sich in wohlformulierter Weise Rechenschaft über die Form und den Inhalt der N o r m ablegen müßte, an der er sich orientiert, wenn er mit seinem Material operiert. Erst allenfalls nachträglich kann er mit den Mitteln einer Reflexion, die sich um Form und Inhalt solcher Normen Schritt für Schritt auch um ihrer selbst willen bemühen kann, versuchen, die Bedingungen ausfindig zu machen und zu formulieren, die stets erfüllt sind, wenn die Kanten ζ. B. eines Ziegelsteines gerade, seine Flächen eben sind oder die Fläche eines anderen Gebildes rund ist.

Die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der euklidischen Geometrie

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Hier hat Paul Lorenzen zuerst unmißverständlich klar gemacht, inwiefern es sich bei diesen Bedingungen um Homogenitätsbedingungen handelt: jeder Punkt einer geraden Linie ist mit allen anderen Punkten einer solchen Linie in dem Sinne homogen, daß eine solche Linie zu allen ihren Punkten gleichmäßig liegt; und jede Linie einer ebenen Fläche ist mit allen anderen Linien einer solchen Fläche in dem Sinne homogen, daß eine solche Fläche zu allen ihren Linien gleichmäßig liegt (vgl. Lorenzen 1968, S. 126ff.)· 1 Wir können die präzisierenden Formalisierungen dieser Homogenitätsprinzipien, wie Lorenzen sie mit Hilfe von Leibnizens Substituierbarkeitskriterium „salva veritate" vorgeschlagen hat, hier auf sich beruhen lassen.2 Denn so viel ist schon klar: weder in Gestalt einer wortsprachlichen Formulierung noch in einer ihrer formalisierten Versionen braucht man sich über Homogenitätsbedingungen explizit Rechenschaft abzulegen, wenn man ein geeignetes Material ζ. B. gerade oder eben gestalten will. Wer Geometrie in dem angedeuteten Sinne bloß praktisch übt, braucht also zu dem operational ausgezeichneten Kern dieser Geometrie gar nicht erst in ein schon zur Sprache und auf Begriffe gebrachtes kognitives Verhältnis getreten zu sein; es genügt, wenn er lediglich ein bestimmtes pragmatisches Verhältnis zu diesem Kern hat, das sich in erster Linie darin manifestiert, daß er ζ. B. die angedeuteten Homogenitätsbedingungen des Geraden und des Ebenen von Fall zu Fall immer wieder praktisch trefflich fungibel macht. Umgekehrt eröffnet, wie sich gerade gezeigt hat, der operationale Reduktionsversuch eine Möglichkeit, gewisse geometrische Formen, nämlich das Gerade und das Ebene als Grundformen auszuzeichnen. Diese Auszeichnung kann nun damit gerechtfertigt werden, daß diese Formen sich als die einfachsten Formen nachweisen lassen, an denen ein gestaltendes Handeln sich im werktätigen Umgang mit den Dingen vorsätzlich orientieren läßt und Homogenität für seine Resultate intendieren kann. Auf diese Weise wird zugleich jener Spielraum restlos geschlossen, der dem Belieben in der Geometrie dort noch offenzubleiben scheint, wo man 1

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Zu einer möglichen Kritik an dem Anspruch auf Eindeutigkeit, wie Lorenzen ihn mit seinen Definitionsvorschlägen im Hinblick auf die Begriffe des Geraden und des Ebenen verbindet, vgl. Hermann Schmitz (1967), wo Schmitz vorsichtig auf die eventuelle Ununterscheidbarkeit der so charakterisierten geraden Linie von der Kreislinie bzw. der so charakterisierten ebenen Fläche von der Kugelfläche aufmerksam macht (vgl. Schmitz, S. 350/351). Leibniz selbst zieht es in geometrischen Kontexten freilich vor, mit einem Substitutionskriterium ,salva congruentia' statt mit einem Substitutionskriterium ,salva veritate' zu arbeiten (vgl. Leibniz,, S. 172ff., 178/183, 183/211).

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Transzendentalphilosophie und Wissenschaftstheorie

sich aüf Fragen konzentriert, die vorzugsweise deduktiv mögliche Wohlordnungen von Mengen geometrischer Sätze betreffen. Denn unter operationalen Vorzeichen muß der Anfang in der Geometrie offensichtlich mit der Formulierung von Homogenitätsbedingungen wie dem Geraden und dem Ebenen gemacht werden. Auch für Euklids Tendenz im Definitionenteil des ersten Buches der „Elemente", vom Einfachen zum Komplizierteren überzugehen, ist damit eine mögliche sachliche Rechtfertigung gefunden. An dieser Stelle kann nun die operationale Theorie der Geometrie in Schärfe eine Aussicht auf die Grenze bieten, jenseits von der man erst anfangen kann, die Fragen von Kants transzendentaler Theorie der Geometrie im einzelnen zu verstehen. Das hängt damit zusammen, daß die Erlanger ihre Entdeckung, wie man die angedeuteten Homogenitätsprinzipien mit Hilfe einer operationalen Rechtfertigung in die Geometrie einführen kann, mit der Frage nach der Möglichkeit von Geometrie in Verbindung gebracht haben. Nun ist, wie man wohl leicht sieht, die Rede von einer „Möglichkeit der Geometrie" noch viel zu unbestimmt, als daß es nicht von vornherein schon wahrscheinlich sein könnte, auf die Frage nach der Möglichkeit von Geometrie mehrere Antworten zu erhalten, von denen jede für sich legitim sein und lehrreich ausfallen kann. So kann man grundsätzlich gar nichts einwenden, wenn etwa festgestellt wird: ,Geometrie ist im Unterschied zu anderen Wissenschaften nachweislich charakteristischerweise schon dann möglich, wenn gewisse relativ einfache Homogenitätsbedingungen formuliert werden können und als Voraussetzungen werktätiger Gestaltung von naturwüchsigem Material einsichtig gemacht werden können'. Man kann mit den Mitteln des operationalen Konzeptes sogar noch von einer anderen Warte aus eine zutreffende Behauptung über Voraussetzungen der Möglichkeit von Geometrie aufstellen; denn von hier aus läßt sich dann ja auch noch klar machen, daß eine ihrem Inhalt nach euklidische Geometrie nur dann möglich ist, wenn diese Wissenschaft mit der Formulierung der Homogenitätsbedingungen des Geraden und des Ebenen angefangen wird. Hier wird Geometrie also zunächst durch eine hinreichende Bedingung ihrer Möglichkeit charakterisiert und dadurch gegen andere Wissenschaften abgegrenzt (vgl. schon Dingler 1955, S. 134; vgl. auch Lorenzen 1973, S. 166/168; vgl. Mittelstraß 1974, S. 29/55); sodann wird Geometrie im Hinblick auf ihre Euklidizität durch eine notwendige Bedingung ihrer Möglichkeit ausgezeichnet. Zusammenfassend kann man also auch feststellen, daß die Formulierung dieser operationalen Homogenitätsprinzi-

Die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der euklidischen Geometrie

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pien eine notwendige und hinreichende Bedingung dafür ist, daß man die euklidische Geometrie anfangen kann. Weder die Möglichkeit eines wirklichen Anfangs noch die Legitimität eines operational legitimierten Anfangs dieser Wissenschaft lassen sich sinnvoll bezweifeln. Es ist aber weiterhin problematisch, ob damit denn auch schon Kants Frage nach der Möglichkeit der Geometrie beantwortet ist. Man sollte erwägen, daß Kants Frage vielleicht zumindest auch umfassender gestellt ist als sie erscheinen würde, wenn man ihr die skizzierte operationale Antwort ernsthaft zuordnen wollte. So kann ja schon eine einfache formale Überlegung zeigen, daß bei diesem operationalen Ansatz die charakteristischen geometrischen Anfänge selber von der Frage nach der Möglichkeit, nämlich ihrer Möglichkeit noch ausgenommen bleiben. Diese Anfänge sind zwar in einem präzisierbaren Sinne Bedingungen der Möglichkeit von Geometrie, aber sie haben keine Bedingungen ihrer Möglichkeit, über die man im Einzugsbereich dieser operationalen Fundierung verständigt würde. Man sollte daher bis auf weiteres damit rechnen, daß auf der Linie von Kants Intentionen auch diese Anfänge noch einmal in sinnvoller Weise zum Gegenstand einer wissenschaftstheoretischen Erörterung gemacht werden können. Wenn man das wissenschaftstheoretische Problem des Anfangs der Geometrie am Leitfaden von Kants Frage zunächst zu verallgemeinern versucht, muß man sich freilich auch vor den hier irreführenden Implikationen hüten, auf die man mit der Rede von den „Anfängen" der Geometrie unter den Vorzeichen des Erlanger Programms eindeutig festgelegt wäre. Denn, wenn Kant im Zusammenhang mit seiner Leitfrage auf Anfänge der Geometrie zu sprechen kommt, dann geht es grundsätzlich nicht um Probleme möglicher systematischer Anfänge, gleichgültig, ob man darunter nun Probleme der deduktiv oder reduktiv legitimierbaren Wohlordnung einer Menge geometrischer Formulierungen versteht. Es ist insofern zwar teilweise verständlich, aber auch nicht ohne weiteres ganz berechtigt, wenn man gerade im Umkreis des neuen Erlanger Programms gelegentlich schon bemängelt hat, daß nirgendwo bei Kant steht, wie man denn nun im Sinne seiner Theorie die überlieferten Obersätze der euklidischen Geometrie einzeln und Schritt für Schritt als solche auszeichnen und ihre Auszeichnung rechtfertigen könne (vgl. Lorenzen 1968, S. 126). Wo Kant wie beispielsweise in der Vorrede zur zweiten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft" überhaupt so etwas wie einen Anfang der Geometrie erörtert, da geht es zunächst um die historischen oder halblegendären Stammväter der Geometrie, deren eminenter Origi-

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Transzendentalphilosophie und Wissenschaftstheorie

nalität wir nach den Dokumenten der Wissenschaftsgeschichte die gelungene Initiative zu jenen Bemühungen verdanken, die zunächst vor allem in einer auch um ihrer selbst willen betreibbaren geometrischen Wissenschaft gegipfelt haben (vgl. KdrV Β X/XII; vgl. auch WW V, KdU, S. 363/364). Aber das ist hier noch nicht alles und noch nicht einmal am wichtigsten. Wichtiger noch ist der Umstand, daß Kant sich für den halblegendären thaletischen Anfang der Geometrie aus denselben und zwar wissenschaftstheoretischen Gründen interessiert, aus denen er sich überhaupt für „das Charakteristische aller Sätze der Geometrie" (KdrV A 47, Β 64f.) interessiert. Denn die Charakteristik, die Kant der Leistung des Pseudo-Thales schon im Sinne seiner eigenen transzendentalen Theorie angedeihen läßt, trifft insoweit ja offensichtlich auf jede Formulierung der euklidischen Geometrie zu, ganz gleich, ob es sich bei der jeweiligen Formulierung ihrem Status nach um eine Definition, ein Axiom oder ein Theorem handelt. 3 Denn ersichtlich ist es im Hinblick auf den Autor eines jeden solchen ,Satzes' sinnvoll festzustellen: „. . . er fand, daß er nicht dem, was er in der Figur sah, oder auch dem bloßen Begriffe derselben nachspüren und gleichsam davon ihre Eigenschaften ablernen, sondern . . . das, was er nach Begriffen selbst a priori hineindachte und darstellte (durch Konstruktion), hervorbringen müsse, und daß er, um sicher etwas a priori zu wissen, . . . der Sache nichts beilegen müsse, als was aus dem notwendig folgte, was er seinem Begriffe gemäß selbst in sie gelegt hat" (KdrV Β XI/XII). N u n wird man es dem Autor einer so anspruchsvollen Geometrietheorie wie der kantischen nicht verargen wollen, wenn er ihre Leistungsfähigkeit durch einen paradigmatischen Anwendungsfall anzudeuten versucht und dabei den geometrischen Satz erwähnt, bei dessen Beweis jemand vielleicht gerade zum allerersten Mal von den Voraussetzungen trefflich Gebrauch gemacht hat, mit denen Kants Theorie sich vornehmlich beschäftigt. Freilich ist auch ein gewisser Zug zur Stilisierung unübersehbar, wenn Kant gerade in der Vorrede zur zweiten Auflage der „Kritik 3

Ich schließe hier die geometrischen Definitionen zunächst mit ein und denke dabei an den Typ der auch von Kant so genannten Nominaldefinition (vgl. KdrV A 241 Anm.), ζ. B. der Form, ein Dreieck sei eine Figur, die in drei Winkel eingeschlossen sei und drei gerade Seiten habe. Als eines der Sachprobleme in Kants Theorie des geometrischen Gegenstandes wird sich nämlich gerade auch die Frage erweisen, ob und wenn ja wie solche geometrischen Nominaldefinitionen in einsichtiger Weise mit Hilfe von so wenigen Grundbegriffen wie möglich und mit Hilfe so vieler Grundbegriffe wie nötig in - evtl. sprachlich kompliziertere — von Kant so genannte Realdefinitionen (vgl. ib.) übergeführt werden können; vgl. hierzu auch die klärenden Bemerkungen von Beck (1956).

Die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der euklidischen Geometrie

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der reinen Vernunft" ein Schema der Ursprungsgeschichte der Wissenschaften entwirft und seine eigenen wissenschaftstheoretischen Einzellehren wie Theorien aristotelischer, euklidischer bzw. galileischer Originalität vorstellt (KdrV Β VII/XIV). Läßt man sich von dieser Tendenz aber nicht über Gebühr einnehmen, dann kann man dieser Stilisierung sogar noch ein sachliches Motiv abgewinnen, das — hier zunächst im Hinblick auf Kants transzendentale Theorie der Geometrie — eine vielleicht fruchtbare Arbeitshypothese zu formulieren gestattet. Wenn nämlich für jeden geometrischen ,Satz' prinzipiell dasselbe charakteristisch ist, was auch für die pseudothaletischen Anfänge charakteristisch sein soll, dann kann insofern zwar auch jeder andere solche Satz für das pseudothaletische Beispiel eingesetzt werden. In diesem Sinne fragt Kant die Geometer ja ganz allgemein: „. . . woher nehmt ihr dergleichen Sätze . . .?" und antwortet selber: „ Es ist kein anderer Weg als durch . . . Anschauungen" (KdrV A 47, Β 64f.), nämlich durch reine räumliche Anschauungen. Aber man kann Kants Entschluß, dennoch überhaupt so etwas wie einen faktisch unhintergehbaren geschichtlichen Anfang der Geometrie zu fingieren, zur Rechtfertigung auch immer noch die These unterlegen, daß jeder Geometer mit der Leistung, die er erbringt — sei es nun ein Theorem und sein Beweis, ein Axiom oder ein Axiomensystem oder eine definitorische Reduktion —, in einem gewissen Sinne einen neuen Anfang macht. Das gilt nämlich sogar noch für den fiktiv ersten Satz aus der Geschichte der Geometrie; denn auch ein einziger geometrischer Satz ist bereits ein geometrischer Satz mehr. Von hier aus kann man sich ohne allzu große Mühe verständlich machen, in welchem gegenüber dem operationalen Ansatz modifizierten Sinne Kants Geometrietheorie das wissenschaftstheoretische Problem des Anfangs noch intendieren kann. Kant braucht hier nämlich gar nicht nach denjenigen charakteristischen geometrischen Anfängen zu fragen, die als solche selber erst notwendige und hinreichende Bedingungen der euklidischen Geometrie als systematischer Wissenschaft sind. In solchen Bedingungen der euklidischen Geometrie ist diese Geometrie ja von vornherein selber schon teilweise manifest und man braucht die Frage nach der Möglichkeit von Geometrie von hier aus lediglich ganz schematisch zu iterieren, um auch noch nach den Bedingungen der Möglichkeit dieses operational legitimierten, wenn auch für die Euklidizität vielleicht noch so charakteristischen Teiles dieser Geometrie fragen zu können. Wenn unser Versuch, zu Kants Fragestellung eine Brücke zu schlagen, trägt, dann reichert Kants Ansatz diese zunächst ganz schematisch gewonnene Rück-

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Transzendentalphilosophie und Wissenschaftstheorie

frage aber gerade mit einem minimalen inhaltlichen Sinn an. Kant kann dann nämlich erst einmal noch nach den Bedingungen fragen, unter denen überhaupt irgendwelche Anfänge der Geometrie, also auch immer wieder neue geometrische Sätze möglich sind. Erst mit dieser Fragestellung hat man offenbar die Grenze überschritten, jenseits von der man so etwas wie Bedingungen der Möglichkeit von Geometrie formulieren kann, ohne dabei auch schon Sätze zu gewinnen, die bereits als solche in diese Geometrie einschlägig wären. Es ist nicht nötig und auch nicht möglich, von vornherein anzugeben, wie die konkreten geometrischen Sätze an diesen Bedingungen präzise „teilhaben" — ob beispielsweise so, daß die Gegenstände, die sie intendieren, diese Bedingungen erfüllen, oder ob so, daß diese Sätze diese Bedingungen erfüllen, oder ob so, daß jeder sachverständige Autor eines solchen Satzes diese Bedingungen erfüllt. Zunächst reicht es erst einmal aus, eine Frage zu stellen, deren Formulierung mit der noch nicht so weit präzisierten Formulierung von Kants Leitfrage verträglich ist und mit der man den Bereich der geometrischen Sätze und Gegenstände so anvisieren kann, daß keiner dieser Sätze und Gegenstände von der Frage nach den Bedingungen seiner Möglichkeit mehr ausgenommen bleibt. Daher soll hier auch einmal untersucht werden, wie der Kern von Kants transzendentaler Theorie der Geometrie ausfällt, wenn Kant in dem Sinne nach der Möglichkeit von Geometrie fragt, daß er nach den notwendigen oder nach den hinreichenden oder nach den notwendigen und hinreichenden Bedingungen der Möglichkeit beliebiger geometrischer Anfänge in der Geometrie fragt.

II. Kapitel

Das Raumproblem und einige Bedingungen seiner Lösbarkeit A. Eine spezielle Manifestationstheorie

Kants

§ 3. Kants anfängliches Problem Kant hat nie einen transzendentalen Traktat über die Geometrie geschrieben. Was in diesem Zusammenhang aus seiner Feder vorliegt, umfaßt Reflexionen, deren Formulierungen über viele, teilweise recht verschiedenartige Texte verstreut sind. Sie sind hauptsächlich in der Zeitspanne der zwanzig Jahre zwischen der Inaugural-Dissertation „De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis" von 1770 und der „Kritik der Urteilskraft" von 1790 entstanden und publiziert worden. Alle diese Reflexionen bilden gleichsam jene Knotenpunkte im ungeschrieben gebliebenen Text von Kants transzendentaler Theorie der euklidischen Geometrie, für die der Student von Kants Philosophie immer erst noch im einzelnen zu entscheiden versuchen muß, welcher Stellenwert ihnen speziell in Kants metamathematischer Theorienbildung zukommt. Die Überlegungen, die den Kern seiner reifen Geometrietheorie ausmachen, hat Kant aber zweifellos in der zweiten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft", in den §§ 17, 20, 24/26 der „Transzendentalen Deduktion der Kategorien" sowie im „Schematismus"-Kapitel mitgeteilt. Jede Bemühung um diese Theorie wird daher gut beraten sein, wenn sie sich bei ihrer Hypothesenbildung und bei der Arbeit mit ihren Hypothesen letzten Endes an diesem Kontext orientiert. 1 Es ist bekannt, daß Kant seine Lehre vom Wesen der Geometrie und ihrer Gegenstände entwickeln konnte, während er zum Zweck der Inaugural-Dissertation an der Theorie gearbeitet hat, in der er den Raum 1

Dies ist vor allem auch von Ebbinghaus (1954) betont worden, vgl. Ebbinghaus, S. 107; ebenso urteilt Cramer (1966), bes. Anm. 11.

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Das Raumproblem und einige Bedingungen seiner Lösbarkeit

als eine reine Anschauung charakterisiert.2 Allerdings hat zwischen dieser Raumlehre und der Geometrietheorie von Anfang an nicht bloß ein enger zeitlicher Zusammenhang bestanden. Das kann sich für Kants Leser erweisen, wenn er Kants unmittelbar vor der Inaugural-Dissertation veröffentlichte Schrift „Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Räume" (WW II, S. 375/383) studiert. Mit dieser Schrift versucht Kant, der wissenschaftsbezogenen Grundlagenreflexion seiner Zeit eine neue Richtung zu geben. Kant schlägt hier vor, sich über die Struktur des Realraumes zumindest nicht ausschließlich dadurch verständigen zu wollen, daß man Prinzipien der Erkenntnis der Physik untersucht, sondern vorzugsweise auch einmal dadurch, daß man Fakten zur Kenntnis nimmt, die der schlichte Augenschein bezeugen kann bzw. über die einen die Naturkunde unterrichten kann. 3 Kant selber möchte zeigen, inwiefern man in der Kontroverse um die an grundlagentheoretischen Bedürfnissen der Physiker orientierte Alternative ,absoluter Realraumrelationaler Realraum' zugunsten der These vom absoluten Realraum argumentieren kann, wenn man diese Alternative einmal im Lichte einer Tatsache überprüft, die grundsätzlich nicht ohne Zuhilfenahme von geometrischen Begriffen adäquat beschrieben werden kann. Kant denkt hier an die Tatsache, daß auf jeden von zwei Körpern wie ζ. B. eine rechte und eine linke Hand zwar ein und dieselbe geometrische Charakteristik wie auf den jeweils anderen paßt; gleichwohl paßt keiner von beiden Körpern in die den jeweils anderen umschließenden räumlichen Grenzen (vgl. S. 378ff.). Solche „inkongruenten Gegenstücke" ( a . a . O . S. 382) sind in dem Sinne geometrisch ununterscheidbar, daß sie denselben figürlichen Bestimmungen genügen — „ähnlich" sind — und daß sie denselben Größenbestimmungen genügen — „gleich" sind. Nun geht Kant hier hypothetisch von einem Begriff des relationalen Realraumes aus, wie er durch die nichtleere Allklasse der sinnenfälligen, d. h. lokalisierbaren und datierbaren Dinge definiert ist, sofern jedes von diesen Dingen zu jedem beliebigen anderen von ihnen in einer jeweils ganz

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Zu der Frage, welche Randbedingungen die Trefflichkeit der Neigung begünstigt haben, mit der Kant gerade in dem Kontext auf seine Raumtheorie gestoßen ist, in dem dies nach dem Zeugnis der Texte der Fall war, vgl. vor allem Reich (1958), S. VII/XVI, bes. S. X I V / X V I . Nachdem Newton die These von der Realität des absoluten Raumes in der Grundlegung der Dynamik benutzt hatte, Euler die These von der Realität des relationalen Raumes unter Gesichtspunkten der Mechanik kritisiert hatte, zieht Kant in der Kontroverse um die Struktur des Raumes nun also die „physische Geographie" zu Rate.

Kants anfängliches Problem

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bestimmten Relation steht.4 Nun ist es aber offenbar praktisch nicht möglich, inkongruente Gegenstücke wie eine linke und eine rechte Hand innerhalb ihrer räumlichen Grenzen füreinander zu substituieren; daher findet Kant sich berechtigt, daran zu zweifeln, daß man endgültig zugunsten der These, der Realraum sei relational, argumentieren könne. Denn, wenn es unter den Dingen, die im Sinne des relationalen Begriffs vom Realraum Fundamente in räumlichen Relationen abgeben, auch inkongruente Gegenstücke gibt, dann kann gerade dieses Beispiel der inkongruenten Gegenstücke lehren, daß es unter den sinnenfälligen Dingen auch solche Dinge gibt, die nicht nur zueinander in einer räumlichen Relation stehen. Eine Erörterung des Beispiels inkongruenter Gegenstücke könne nämlich darüber hinaus klar machen, inwiefern inkongruente Gegenstücke gerade insofern als sie inkongruent sind, zu etwas in einer räumlichen Beziehung stehen, das selber kein sinnenfälliges Ding sein könne. Dieses insofern transmundane Fundament der Relation, in der Dinge stehen, sofern sie inkongruente Gegenstücke sind, sei aber, so versucht Kant mit Hilfe einer schöpfungstheologischen Überlegung (a. a. O. S. 383 ff.) einsichtig zu machen, jedenfalls dann so etwas wie ein absoluter Realraum, wenn man unter den diskutablen Raumtypen nur zwischen dem relationalen und dem absoluten Realraum wählen kann. Die Theorie vom relationalen Realraum versagt hier angesichts eines handfesten Beispiels inkongruenter Gegenstücke schon aus begrifflichen Gründen. Das liegt vor allem daran, daß mit dem Begriff dieses relationalen Realraumes die Voraussetzung verbunden ist, daß die Dinge auch existieren, die in den für diesen Raum charakteristischen Relationen zueinander stehen. Unter den Dingen, die in den für den relationalen Realraum definitorisch eigentümlichen Relationen stehen, kommen auch solche Dinge faktisch vor, die ganz unabhängig davon inkongruente Gegenstücke bilden, daß im relational definierten Realraum inkongruente Gegenstücke in dem Sinne gar nicht vorkommen können, daß von ihnen hier noch nicht einmal sinnvoll die Rede sein kann. So windet sich 4

Damit soll selbstverständlich noch keine formal ganz emst zu nehmende Definition dieses im wesentlichen Leibnizschen Raumbegriffes gegeben sein. Vielmehr soll diese Formulierung nur informell über die wichtigsten inhaltlichen Bedingungen verständigen, die man zu berücksichtigen hat, wenn man diesen Raumbegriff mit förmlicher Strenge zu definieren versucht. Diese informelle Version braucht dann aber auch gerade nur so scharf formuliert zu sein, daß es hinreicht, um den Ansatzpunkt für Kants Kritik bzw. für eine Kritik in Kants Sinne genau zu markieren. Für eine detailliertere und auch formal noch strengere Erörterung von Leibnizens Raumbegriff vgl. jetzt Böhme (1974), bes. S. 216/218.

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Das Raumproblem und einige Bedingungen seiner Lösbarkeit

beispielsweise jedes Exemplar der Hopfenpflanze, wie es Kant aus der Erfahrung vertraut ist, „von der Linken gegen die Rechte um seine Stange" (a. a. O . S. 380). Es gibt insoweit also kein Exemplar des Hopfens, das sich im umgekehrten Sinne, nämlich von der Rechten gegen die Linke um eine Stange winden würde. Daher kann im Einzugsbereich des relationalen Begriffs vom Realraum eine als Inkongruenz charakterisierbare Relation gar nicht sinnvoll als räumliche Relation angesprochen werden. Denn der räumliche Charakter einer Relation ist hier ja unter anderem dadurch definiert, daß alle möglichen Inhaber der Stellen einer räumlichen Relation auch (sinnenfällig) existieren. Beispielsweise von einem Mann, der kleiner ist als sein Sohn, kann so nur dann sinnvoll die Rede sein, wenn er selber und sein Sohn noch leben. Wenn es aber gar keine Exemplare des Hopfens gibt, die sich von der Rechten gegen die Linke winden würden, dann kann ein Hopfenexemplar, das sich von der Linken gegen die Rechte windet, auch nicht in einem räumlichen Sinne in einer Relation zu einem Hopfenexemplar stehen, das sich von der Rechten gegen die Linke winden würde, wenn ein solches Hopfenexemplar existieren würde. Trotzdem ist es, wie Kant deutlich zu machen versucht, nicht schon deswegen sinnlos, die Inkongruenz als räumliches Merkmal aufzufassen, weil ein bestimmtes Definitionssystem nicht gestattet, mit dem Ausdruck „Inkongruenz" bzw. „inkongruent" einen räumlichen Sinn zu verbinden. So spricht Kant beispielsweise auch von „völlig ähnliche(n) und gleiche(n) und doch inkongruente(n) Räumen" (a.a.O. S. 382). Durch diese Ausdrucksweise fordert Kant die Vertreter der Theorie vom relationalen Realraum aber offenbar auch auf, plausibel zu machen, daß man so nicht sinnvoll sprechen könne und daß man auch nicht sinnvoll davon reden könne, daß zum Beispiel eine exemplarische Hopfenpflanze, wie sie sich von der Linken gegen die Rechte windet, „nicht in ebendenselben (räumlichen, R.E.) Grenzen kann beschlossen werden" (a.a.O. S. 382) wie ihr inkongruentes Gegenstück, wenn ein solches inkongruentes Gegenstück gar nicht existiert. Denn, wenn die Inkongruenz nicht allein insofern ein räumliches Attribut ist, als sie ein zweistelliges Attribut sinnenfällig existierender Dinge ist, und wenn also räumliche Attribute nicht als solche mehrstellige Attribute sinnenfällig existierender Dinge sind, dann ist man im Einzugsbereich des relationalen Begriffs vom Realraum streng genommen genötigt, bestimmte Tatsachen wie z.B. die Inkongruenz zwischen linker und rechter Hand aus definitorischen Gründen zu ignorieren (vgl. hierzu auch S. 92 ff.).

Kants anfängliches Problem

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Konzediert man nun aber wie Kant die Vollständigkeit der einfachen aus der Diskussion historisch vorgegebenen Alternative , absoluter Realraum — relationaler Realraum' zunächst wenigstens hypothetisch, dann bleibt einem aus methodischen Gründen gar nichts anderes übrig, als seine Konsequenzen einstweilen zugunsten der These vom absoluten Realraum zu formulieren (vgl. a . a . O . S. 383ff.). Denn von den beiden diskutierten Raumtypen ist nur der absolute Realraum nicht so definiert, daß unter den in ihm vorkommenden Dingen inkongruente Gegenstücke schon aus definitorischen Gründen nicht berücksichtigt werden könnten; nur der absolute Realraum ist nämlich so definiert, daß man sinnvoll auch noch von einem leeren Raum und insofern von einem Ubergang zum nichtleeren Raum reden kann, wie ihn eine göttliche Schöpfungsinstanz durch eine jeweils ganz bestimmte kreative Aktion vollzieht, wenn sie zuallererst eine rechte oder stattdessen zuerst eine linke Hand erschafft. Solange aber nicht begründet werden kann, daß man den Unterschied beispielsweise zwischen einer linken und einer rechten Hand anders charakterisieren muß als durch den Unterschied zwischen den beiden kreativen Aktionen, wie eine fiktive Schöpfungsinstanz sie ausführen muß, wenn sie entweder zuerst eine linke oder stattdessen zuerst eine rechte Hand erschafft — so lange ist es zumindest legitim, diesen Unterschied dadurch zu charakterisieren, daß man auf das schöpfungstheologisch charakterisierbare Verhältnis inkongruenter Gegenstücke zum leeren absoluten Realraum rekurriert. Immerhin kann man im Einzugsbereich der Definition des absoluten Realraumes — im Gegensatz zu der des relationalen Realraumes — offenbar noch Voraussetzungen angeben, unter denen man auch schon eine einzige existierende Hand sinnvoll als inkongruentes Gegenstück von etwas ansprechen kann, was weder überhaupt noch so zu existieren braucht, wie diese einzige existierende Hand — „obgleich es nicht an Schwierigkeiten fehlt, die diesen Begriff (des absoluten Realraumes, R . E . ) umgeben . . . " ( a . a . O . S. 383). Gleichwohl kann Kant also die Möglichkeit nicht ausschließen, daß es unter andersartigen sachlichen Voraussetzungen zulässig und vielleicht sogar auch nötig wird, die vorgeschlagenen Definitionen des Realraumes als zu eng oder als sonstwie verfehlt und die ganze Alternative als unvollständig oder illegitim zu kritisieren und daher sowohl die Definitionen als auch die ganze Alternative zu verwerfen. Kant hat seine Argumentation mit allen Kautelen versehen, wie sie wichtig sind, wenn man verhindern möchte, daß ein Zwischenbericht über bestimmte vorläufige Untersuchungsergebnisse mit einer Theorie verwechselt wird, die man für richtig hielte. Es kommt hier daher nicht nur

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Das Raumproblem und einige Bedingungen seiner Lösbarkeit

darauf an, aus dem Kontext von Kants Darstellung Voraussetzungen hervorzuheben, unter denen das hier Behauptete richtig ist; mindestens ebenso sehr wird es darauf ankommen, im Kontext von Kants fertiger Raumtheorie die Überlegungen herauszufinden, unter deren Voraussetzung einiges von dem, was in der Schrift über die „Gegenden" vielleicht bedingt richtig ist, auch wichtig ist. Davon soll noch die Rede sein (vgl. §§ 6/9).

5 4. Eine Bedingung der Entdeckbarkeit

der

Inkongruenz

Kant hat den Hauptgedanken seiner endgültigen Raumtheorie bekanntlich zum ersten Mal im § 15, Abschnitte Α-D seiner InauguralDissertation mitgeteilt. Die Schwierigkeiten, in die diese Theorie ihre Studenten immer wieder verwickeln kann, rühren in den meisten Fällen noch gar nicht einmal von Sachproblemen der Art her, wie Kant sie im Anschluß an die Kontroverse zwischen Newton und Leibniz in der Schrift über die „Gegenden" erörtert hat. Wo die Raumtheorie der InauguralDissertation Reaktionen auf solche Sachfragen provoziert hat, stammen lehrreiche Beiträge auch aus der Feder praktizierender oder jedenfalls studierter Mathematiker wie Hermann Weyl (Weyl 1928) und Hans Freudenthal (Freudenthal 1963) bzw. Kurt Reidemeister (Reidemeister 1957). Im Mittelpunkt dieser Auseinandersetzung mit Kants Raumtheorie steht vor allem die Frage nach der Rolle, wie sie das Beispiel inkongruenter Gegenstücke bei der Rechtfertigung einer ,subjektivistisch' und ,idealistisch' konzipierten Raumtheorie spielen könne oder spielen müsse. Vor allem H e r m a n n Weyl hat Kants Feststellung, daß die Einsicht in die eigentümliche Inkongruenz bestimmter Paare von Dingen an eine reine Anschauung gebunden sei, als Antwort auf die Frage verstanden, ob der Unterschied zwischen Links und Rechts in einen mathematisch charakterisierbaren Unterschied abgebildet werden könne oder nicht und dann stattdessen nur durch den Rekurs auf eine reine Anschauung charakterisiert werden könne. N u n läßt sich aber in der Tat ein algebraisches Äquivalent dieses Unterschiedes konstruieren (vgl. Weyl, S. 104/112). Dieses Ergebnis einer Untersuchung, in der darauf abgestellt wird, über Richtigkeit und Falschheit von Kants Theorie zu entscheiden, ist daher auch konsequent zuungunsten von Kants Theorie ausgelegt worden. Anders steht es hier mit den Schwierigkeiten, zu denen nicht erst diese ausdrücklich gestellte Wahrheitsfrage, sondern schon die ausdrücklich

Eine Bedingung der Entdeckbarkeit der Inkongruenz

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gestellte Sinnfrage führen kann. Im Mittelpunkt steht hier die Frage, in welchem Sinne in einer Theorie wie der kantischen überhaupt noch von so etwas wie dem Raum die Rede sein kann, wenn gerade dort, wo in überlieferten Kontexten der Raumtheorie vom Raum die Rede ist, bei Kant charakteristischerweise oft von „reiner räumlicher Anschauung" die Rede sein kann. In diesem Zusammenhang kann nun gerade das Interesse an Kants Theorie des geometrischen Gegenstandes eine günstige Aussicht eröffnen. Hier ist es nämlich grundsätzlich nicht mehr möglich, daß Schwierigkeiten beim Versuch, die Wahrheitsfrage zu beantworten, deswegen entstehen, weil man die Sinnfrage nicht ausdrücklich gestellt und zu beantworten versucht hätte, oder umgekehrt. Denn hier ist es einerseits nötig, sich von vornherein an den Erkenntnissen und Gegenständen zu orientieren, wie sie einem aus der euklidischen Geometrie auch ganz unabhängig davon vertraut sein können, ob man über eine Metatheorie verfügt, die ihnen zugeordnet ist, oder nicht. Diese methodisch gebotene sachliche Vertrautheit mit den Elementen der Geometrie kann insofern von vornherein auch eine zusätzliche Kontrollinstanz bilden, wenn es im Rahmen der Wahrheitsfrage darum geht, die Argumente zu überprüfen, mit denen Kant seine subjektivistische und idealistische Raumkonzeption zu rechtfertigen versucht hat; vor allem auch im Sinne einer solchen Rückkontrolle hat Kant ja selber gefragt: „Was muß die Vorstellung des Raumes denn sein, damit eine solche (nämlich synthetische und doch apriorische, geometrische, R . E . ) Erkenntnis von ihm möglich sei?" (KdrV Β 40 Ende). Andererseits kann einen dieser Versuch Kants, seinen Raumbegriff im Hinblick auf die geometrischen Erkenntnisse und deren Gegenstände wissenschaftstheoretisch fruchtbar zu machen, daran erinnern, daß man auch schon Kants anfänglichen Rückgriff auf geometrische Beispiele und auf Beispiele aus der angewandten Geometrie prinzipiell ernst nehmen sollte und sie nicht irrtümlich als grundsätzlich entbehrliche Illustrationen aus dem Kindesalter seiner Raumtheorie bagatellisieren sollte. Denn gerade die Möglichkeit, den Raumbegriff zugunsten eines prinzipiellen Verständnisses der euklidischen Geometrie transzendental fruchtbar zu machen, hat Kant von der Voraussetzung abhängig gemacht, daß seine ,subjektivistische' und ,idealistische' Raumkonzeption auch schon als solche und ganz unabhängig von einer exemplarischen Anwendung gerechtfertigt werden k ö n n e ; gerade im Hinblick auf diese Geometrie müsse der Begriff des Raumes nämlich von vornherein in dem Sinne subjektivistisch ausgewiesen sein, daß der Raum „ursprünglich Anschauung sein (muß)" (B 40 Ende);

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Das Raumproblem und einige Bedingungen seiner Lösbarkeit

und in demselben speziellen metamathematischen Kontext müsse dieser Raumbegriff in dem Sinne bereits idealistisch ausgewiesen sein, daß „diese Anschauung . . . reine, nicht empirische Anschauung sein (muß)" (ib.)· Man sieht, weswegen es auch methodisch nicht mehr zulässig ist, entweder nicht ausdrücklich nach dem Sinn von Kants Rede von der reinen räumlichen Anschauung oder stattdessen nicht ausdrücklich nach der Richtigkeit von Kants Raumtheorie zu fragen, wenn man sich für Kants transzendentalen Begriff des geometrischen Gegenstandes interessiert: Kant selber hat die Richtigkeit seiner Raumtheorie auch von der Bedingung abhängig gemacht, daß sie über eine wichtige Voraussetzung der Möglichkeit geometrischer Erkenntnisse verständigen könne; und er hat den Sinn seiner Rede vom Raum dadurch definiert, daß der Raum nur als reine Anschauung diese wichtige Voraussetzung der Möglichkeit geometrischer Erkenntnisse abgeben könne. Aber wir wollen hier noch nicht gleich im einzelnen untersuchen, inwiefern die Fragen nach Sinn und Richtigkeit von Kants Raumtheorie nicht beantwortet werden können, wenn man bei dem Versuch einer Antwort planmäßig von der transzendentalen Funktion abstrahiert, wie diese Theorie sie ζ. B. im Hinblick auf die Erkenntnisse der euklidischen Geometrie soll erfüllen können. Es kommt im Zusammenhang mit Kants Geometrietheorie zunächst lediglich darauf an, nicht zu übersehen, daß man sich noch nicht einmal mehr im Sinne einer bloß methodisch zulässigen Fiktion erlauben könnte, eine dieser beiden Fragen nicht ausdrücklich an seine Raumtheorie zu richten. Da aber die Sinnfrage der Wahrheitsfrage systematisch vorgeordnet ist, kann man zunächst fragen, in welchem Sinne Kant den Ausdruck „reine räumliche Anschauung" überhaupt als einen Hauptterminus der Sprache eingeführt hat, in der er seine Raumtheorie fortan formuliert hat. Kant führt den Begriff der reinen räumlichen Anschauung in der Weise ein, daß er den Gebrauch des Ausdrucks „reine Anschauung" zunächst in einer bloß exemplarischen Weise im Hinblick auf die merkwürdige Inkongruenz normiert, wie sie für einige Paare geometrisch ähnlicher und gleicher Dinge aus der sinnenfälligen Welt eigentümlich ist. Habe man Beispiele inkongruenter Gegenstücke erst einmal unter den wichtigsten Gesichtspunkten sorgfältig erwogen, dann könne vor allem auch klar geworden sein, daß die hier charakteristische Inkongruenz ohne eine reine Anschauung noch nicht einmal (als solche) bemerkt werden könne: „ . . . patet hic nonnisi quadam intuitione pura diversitatem, nempe

Eine Bedingung der Entdeckbarkeit der Inkongruenz

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discongruentiam, notari posse" (WW II, De mundi, S. 403 f.). Als Kant die Probleme der Ubersetzung aus der Sprache seiner neu erarbeiteten Theorie der reinen Anschauung in die überlieferte Sprache der Raumtheorie schon leichter beherrschte als am Anfang, hat er im Hinblick auf diese reine Anschauung gelegentlich festgehalten, daß sie bloß „Raum heißt" (WW IV, Prol., S. 322). Aber im Gegensatz zur leibnizschen bzw. im Gegensatz zur newtonisch-clarkeschen Rede vom Raum ist für den Gegenstand von Kants Rede vom Raum charakteristisch, daß er „subiectivum et ideale" (WW II, De mundi, S. 403) aufzufassen ist: er ist also weder in dem Sinne real, daß die Existenz zutreffend oder auch nur sinnvoll von seinem Begriff prädiziert werden könnte oder dann so von ihm prädiziert werden könnte, wenn es auch nicht einen einzigen Gegenstand in dem Sinne im Raum gibt, daß man ihn lokalisieren könnte — der Raum ist also nicht im Sinne eines existierenden Behälters lokalisierbarer Entitäten real, wie Kant Newton/Clarke versteht (vgl. ib.); noch ist der Raum in dem Sinne real, daß er in den Relationen bestünde, von denen jeweils vielen Dingen mit Hilfe von jeweils einem vielstelligen Prädikat genau eine Relation zutreffend zugesprochen wird — er ist also nicht im Sinne eines Gefüges von Relationen zwischen lokalisierbaren Dingen real, wie Kant Leibniz versteht (vgl. a. a. O . S. 404). Wenn Kant den Raum im Gegensatz hierzu als etwas ,Ideales' auffaßt, so kann man zur Erläuterung in erster Linie an den Umstand denken, daß nach dem in der Inaugural-Dissertation belegten Stand von Kants Einsicht die eigentümliche Inkongruenz einiger Paare von sinnenfälligen Dingen nicht ohne eine reine Anschauung soll bemerkt werden können: „nonnisi . . .posse" (loc. cit.). Wenn der Raum aber insofern etwas Ideales sein soll, als er eine reine Anschauung ist, dann kann man Kants Formulierung auch so verstehen, daß diese reine Anschauung eine notwendige Bedingung („nonnisi") der Möglichkeit („posse") ist, diese Inkongruenz zu bemerken. Von hier aus kann man sich dann nämlich auch sogleich die andere Kennzeichnung leicht verständlich machen, mit der Kant den Raum als etwas ,Subjektives' bezeichnet hat: wenn nämlich die reine Anschauung, die „Raum" heißt, eine notwendige Bedingung der Möglichkeit ist, die eigentümliche Inkongruenz einiger Paare von Dingen zu bemerken, dann kann diese Bedingung als solche ja grundsätzlich gar nicht von irgendeinem Ding, einem Objekt als solchem, sondern stets nur von einer Instanz, einem ,Subjekt' erfüllt werden, wie dies dann der Fall ist, wenn jemand die Eigenschaft, wie sie Paaren geometrisch ähnlicher und gleicher, aber füreinander praktisch nicht substituierbarer Dinge zu-

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kommt, gerade so und damit als Inkongruenz charakterisiert. Ganz konsequent stellt Kant denn auch in einer viel späteren Reflexion noch einmal klar, daß auch die reine räumliche Anschauung „in der formalen Beschaffenheit des Subjekts, nicht in der des Objekts, zu suchen (ist)" (WW X X , Fortschritte, S. 268, Hervorhebung von mir, R. E.). Daß die reine räumliche Anschauung aber eine subjektive Bedingung ist, sagt Kant bekanntlich immer wieder (vgl. ζ. Β. KdrV A 26, Β 42; A 28; A 43, Β 60; A 48, Β 65; A 48, Β 66). Nun hat man aber, genau genommen, eine wichtige gedankliche Stufe übersprungen, wenn man Kants Bemerkung, daß der Raum insofern, als er eine reine Anschauung ist, auch etwas Ideales sei, ohne weiteres durch die Bemerkung erläutert, daß diese reine räumliche Anschauung eine Bedingung ist, wie sie von irgendwelchen Instanzen erfüllt wird, sofern diese Instanzen zu bestimmten Erkenntnissen, vor allem ζ. B. zur Erkenntnis der Inkongruenz gelangen können. Man muß zwar, wenn man diese gedankliche Stufe nachträglich erst gebührend berücksichtigt hat, nicht etwa widerrufen, daß die reine räumliche Anschauung als eine solche Bedingung aufzufassen ist. Aber man darf auch nicht etwa meinen, daß diese reine räumliche Anschauung insofern und nur insofern eine solche Bedingung ist, als sie von Kant als etwas ,Ideales' angesprochen wird. Der Bedingungscharakter der reinen räumlichen Anschauung ist nämlich nicht etwa dadurch definiert, daß sie etwas Ideales ist. Wenn Kant diese Anschauung an der fraglichen Stelle der Inaugural-Dissertation als etwas Ideales anspricht, dann darf man vielmehr unterstellen, daß Kant diese Bedingung der Möglichkeit, Sachverhalte wie die Inkongruenz zu bemerken, in diesem Kontext in der Weise erörtert, daß er planmäßig nicht fragt, ob diese Bedingung erfüllt ist oder nicht, genauer: ob diese Bedingung von irgendjemand erfüllt wird oder nicht. Kants Feststellung, daß die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung etwas Ideales ist, stellt also, so gesehen, erst das Ergebnis einer nachträglichen Reflexion auf eine ganz bestimmte Betrachtungsweise dar, der er die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung in diesem Zusammenhang unterzogen hat. Es geht daher nicht nur mit rechten Dingen zu, sondern Kant geht sogar nach den wohlverstandenen Regeln der Reflexion auf die impliziten Voraussetzungen dessen vor, was man jeweils tut oder behauptet, wenn er auf diesen Zusammenhang erst in der „Kritik der reinen Vernunft" ausdrücklich eingegangen ist. Denn Kants Feststellung aus der InauguralDissertation, daß der Raum etwas Ideales sei, bildet offenbar nur die noch nicht ganz zu Ende durchdachte eine Hälfte seiner späteren These, daß der

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Raum — wie auch die Zeit — transzendental ideal und empirisch real sei (vgl. KdrV bes. A 27, Β 43 Ende/A 30, Β 45 und A 35, Β 52/A 41, Β 58). Wenn man sich zunächst weiter an die Sinnfrage hält und noch nicht sogleich die Wahrheitsfrage im Hinblick auf diese bekanntlich auch für Kant vertrackte These stellt, dann läßt diese These sich mit Hilfe der bisher entwickelten Voraussetzungen in überraschend einfacher Weise plausibel machen. Zunächst deutet Kant mit Hilfe des Stichwortes „transzendental" lediglich an, daß der Raum insofern als etwas Ideales charakterisiert wird, als die reine räumliche Anschauung hier überhaupt im Rahmen einer transzendental orientierten Überlegung erörtert wird. Denn im Rahmen einer transzendentalen Überlegung versucht man ja, „ . . . die subjektiven Bedingungen ausfindig zu machen, unter denen wir zu Begriffen (beispielsweise zum Begriff der Inkongruenz, R. E.) gelangen können" (KdrV A 260, Β 316). Nun ist allerdings soviel schon klar: auch dann, wenn die Bedingung, die „reine räumliche Anschauung" heißt und unter der jeder, der sie erfüllt, zu Begriffen wie dem Begriff der Inkongruenz gelangen kann, nur im Rahmen einer transzendentalen Untersuchung ausfindig gemacht werden kann, ist ja noch nicht nachgewiesen, daß man in diesem Rahmen die Frage ganz programmgemäß auf sich beruhen lassen könne oder müsse, ob diese Bedingung auch von irgendjemand erfüllt werde oder nicht. Hier hilft es nun weiter, wenn man einfach darauf achtet, in welcher Form Kant die Feststellung getroffen hat, die er in der komplementären Behauptung resümiert, der Raum sei empirisch real. Wenn man diese Behauptung nämlich nach demselben Schema analysieren darf wie die Behauptung, daß der Raum transzendental ideal sei, dann darf man erwarten, daß die Behauptung, der Raum sei empirisch real, nur am Ende einer empirischen Untersuchung formuliert werden kann. Dieser Zusammenhang geht besonders deutlich aus den Bemerkungen hervor, mit denen Kant seine Behauptung, die Zeit sei empirisch real, erläutert und begründet hat. Auf die Klärung dieser These hatte Kant ja auch zusätzliche Mühe verwendet, nachdem er mit seiner Zeittheorie, wie er sie in der Inaugural-Dissertation dargestellt und benutzt hatte, alsbald auf Einwände gestoßen war, die er ernst genommen hatte. 5 Diese Be5

Vgl. hierzu KdrV A 36, Β 53ff. und Kants Brief an Marcus Herz vom 21. Febr. 1772, WW X , Briefe, S. 129/135, wo Kant Johann Schultz und Johann Heinrich Lambert als schärfste Kritiker dieser in der Inaugural-Dissertation entwickelten Lehre von der Zeit würdigt, bes. S. 133/134; vgl. auch Lamberts Brief an Kant vom 13. Okt. 1770, a . a . O . S. 103/111, bes. S. 107/110.

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merkungen Kants zur Zeit braucht man aber offenbar nur entsprechend zu modifizieren, wenn man mit ihrer Hilfe Kants These, der Raum sei empirisch real, in konsistenter Form verständlich machen möchte: Der Raum „ist allerdings etwas Wirkliches, nämlich die wirkliche Form der (äußeren) Anschauung. (Die reine räumliche Anschauung) hat also subjektive (empirische, R. E.) Realität . . . d. i. ich habe wirklich die Vorstellung von (dem Räume) und (den Dingen, sofern sie mir erscheinen,) in (ihm)" (KdrV A 37, Β 53/54, Hervorhebung von mir, R. E.)· Wenden wir diesen Gedanken der Konkretisierung halber gleich einmal auf die Beispiele der Inkongruenz und der inkongruenten Gegenstücke an, die wir im Anschluß an die Inaugural-Dissertation in den Mittelpunkt unserer Erörterung gestellt haben! Wenn mithin die reine räumliche Anschauung genau dann etwas ,Wirkliches' ist, wenn jemand beispielsweise inkongruente Gegenstücke als solche oder die Inkongruenz als solche bemerkt, 6 dann ist es damit verträglich, wenn man präziser auch davon spricht, daß die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung genau dann erfüllt ist, nämlich von jemand erfüllt ist, wenn es jemand gibt, der beispielsweise inkongruente Gegenstücke oder einen Sachverhalt wie die Inkongruenz bemerkt, indem er sie als solche charakterisiert. Von hier aus kann nun auch sogleich verständlich werden, was Kant der Sache nach meint, wenn er seine komplementäre These, der Raum sei transzendental ideal, durch die Bemerkung erläutert: „Gehen wir von der subjektiven Bedingung ab . . . so bedeutet die Vorstellung vom Räume gar nichts" (KdrV A 26, Β 42 Ende). Wenn nämlich diese subjektive Bedingung der reinen räumlichen Anschauung in Kants Theorie „den Namen Raum führt" (A 27, Β 43, Hervorhebung von mir, R. E.), „Raum heißt" (WW IV, Prol., S. 322, Hervorhebung von mir, R. E.), wenn also das Wort „ R a u m " insofern die Bedingung ausdrückt, wie sie von jeder Instanz, von jedem ,Subjekt' erfüllt wird, das beispielsweise inkongruente Gegenstücke als solche bzw. Sachverhalte wie die Inkongruenz als solche bemerken kann, 7 dann »bedeutet' dieses Wort „Raum" im Hinblick auf 6

Die einschlägigen Erörterungen in den „Prolegomena", WW IV, S. 285/286, erlauben einem ja, diese Beispiele ausdrücklich auch in die Diskussion von Thesen aus der „Kritik der reinen Vernunft" einzubeziehen, die ja entwicklungsgeschichtlich nun einmal jünger und auch reifer ist als die Inaugural-Dissertation. — Die Frage, aus was für Gründen man nach Kant im übrigen streng zwischen inkongruenten Gegenstücken als solchen und der Inkongruenz als solcher unterscheiden kann und muß, wird uns noch ausführlich beschäftigen.

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Bekanntlich entstehen zusätzliche begriffliche und sachliche Probleme dadurch, daß Kant auch im Hinblick auf die von ihm so genannte „formale Anschauung" (KdrV Β 160

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Objekte als solche deswegen ,nichts', weil man nicht nur nicht zutreffend, sondern noch nicht einmal sinnvoll feststellen könnte, daß diese Objekte, ζ. B. inkongruente Gegenstücke selber diese Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllen. Denn inkongruente Gegenstücke geben ja nicht selber Instanzen ab, die inkongruente Gegenstücke bemerken könnten. Der Begriff des Raumes, von dem Kant sich leiten läßt, wenn er davon spricht, daß der Raum transzendental ideal sei, ist also zunächst ganz einfach so definiert, daß man von der Bedingung, die von dem Wort „Raum" ausgedrückt wird, nicht sinnvoll sagen kann, daß sie „den Dingen als Bedingung . . . anhinge" (KdrV A 36, Β 52), d. h. von ihnen erfüllt werden könnte. Man kann im Anschluß an diese Definition sinnvollerweise vielmehr nur davon sprechen, daß diese Bedingung der reinen räumlichen Anschauung „bloß am Subjekte (hängt)" (a. a. Ο. A 37/38, Β 54), d. h. von jeder Instanz erfüllt wird, die beispielsweise inkongruente Gegenstücke als solche bemerken kann. Darüber hinaus geht nun aber die Frage, ob irgendein konkreter Jemand, ζ. B. Kant oder irgendein Leser des Textes von Kants Raumtheorie, diese Bedingung der reinen räumlichen Anschauung auch erfüllt oder nicht. Diese Frage braucht im Rahmen einer transzendentalen Uberlegung dann aber offenbar gar nicht ausdrücklich gestellt, geschweige denn, ausdrücklich beantwortet zu werden. Denn da diese Frage die .empirische Realität' der reinen räumlichen Anschauung betrifft, kann sie auch nur im Rahmen einer empirischen Untersuchung beantwortet werden. Kants Beispiele der inkongruenten Gegenstücke bzw. der Inkongruenz können einen hier ja sehr klar darüber belehren, wie eine solche empirische Untersuchung anzustellen ist. Man sieht jetzt nämlich leicht, daß sie gar nicht mit irgendwelchen mehr oder weniger unscharfen Methoden einer wie auch immer zu beherrschenden , Introspektion' durchgeführt zu werden bräuchte oder durchgeführt werden könnte.8 Vielmehr ist eine solche Untersuchung offenbar in der Weise anzustellen, daß untersucht wird, ob ein Kandidat für die Rolle einer Instanz, die die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt, beispielsweise inkongruente

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Anm.), in der die Dreidimensionalität des euklidischen Raumes beschrieben wird, ebenfalls von „Raum" (vgl. ib.) spricht. Darauf werden wir noch ausführlich eingehen, vgl. S. 240/241 und § 23. Vor allem Fichte hat Kants transzendentalen Ansatz mit Methoden weitergeführt, die in Fichtes eigener Darstellung einer empirisch orientierten Introspektion zum Verwechseln ähnlich sind, vgl. Fichte (1797), S. 422ff.

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Gegenstücke als solche bzw. Sachverhalte wie die Inkongruenz als solche bemerken kann oder nicht. Und das Kriterium, mit dessen Hilfe festgestellt bzw. entschieden wird, ob nun jemand existiert oder nicht, der diese Bedingung erfüllt, besteht offenbar darin, daß festgestellt wird, ob jemand existiert oder nicht, der einen Sachverhalt wie die Inkongruenz eindeutig als solchen charakterisieren kann bzw. der beispielsweise inkongruente Gegenstücke eindeutig als solche charakterisieren kann.9 Wenn es aber erst noch einer eigenen, nichttranszendentalen Untersuchung bedarf, um die so verstandene empirische Realität der reinen räumlichen Anschauung feststellen zu können, dann gilt offenbar, daß im Rahmen einer transzendentalen Untersuchung die Frage, ob die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung von irgendjemand erfüllt wird oder nicht, auf sich beruhen bleibt. Hier wird diese Bedingung zunächst lediglich als solche, also, wie Kant sich ausdrückt, ,idealiter' erörtert. 10 9

Das schließt ersichtlich nicht aus, daß die untersuchende Instanz mit dem untersuchten Kandidaten auch einmal identisch ist. Ein Fall, in dem die untersuchende Instanz mit dem untersuchten Kandidaten identisch ist, wird ja gerade durch Bemerkungen Kants wie die belegt, daß „ich . . . wirklich die Vorstellung von (ζ. B. dem Räume, R.E.) (habe)" (KdrV A 37, Β 53/54, Hervorhebung von mir, R.E.). Denn Kant teilt hier einfach das Ergebnis einer empirischen Untersuchung mit, bei der die untersuchende Instanz und der untersuchte Kandidat mit dem Autor der „Kritik der reinen Vernunft" identisch sind. Besondere Sachprobleme kommen in diesem Zusammenhang erst wieder dadurch ins Spiel, daß man fragen kann: (1) Kann jemand eine transzendentale Untersuchung zum Raumproblem wie die kantische bzw. eine empirische Untersuchung über das Erfülltsein der Bedingung der reinen räumlichen Anschauung nur dann anstellen und mit berechtigter Aussicht auf Erfolg durchführen, wenn er selber diese Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt? (2) Kann jemand die Sätze, in denen die Ergebnisse solcher Untersuchungen formuliert und mitgeteilt werden mögen, nur dann übeiprüfen, also auch nur dann verifizieren bzw. falsifizieren, wenn er selber diese Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt? Und schließlich ist dies eine von den systematischen Stellen, an denen man bei Kant das Evidenzproblem ins Spiel bringen könnte. Denn, wenn jemand nur dann solche Untersuchungen anstellen und durchführen kann bzw. nur dann ihre satzmäßig belegten Ergebnisse überprüfen kann, wenn er die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt, dann kann man fragen: können die Sachverhalte, wie sie in den eventuell wahren Sätzen beschrieben werden, in denen die Ergebnisse solcher Untersuchungen niedergelegt werden mögen, für den und nur für den evident sein, der selber die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt?

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Auf diesem Weg hätte man dann wenigstens in diesem Punkt auch klargestellt, was nach Victor Kraft (1960) noch nicht klar geworden sei, nämlich, ob es in Kants transzendentaler Erkenntnislehre denn nun um reale oder um nichtreale, speziell um logische Bedingungen möglichen Erkennens gehe, vgl. Kraft, bes. S. 20 ff. Zunächst wird man im Anschluß an unsere Begriffsanalyse feststellen können, daß die von Kraft aufgestellte Alternative zwischen realen und logischen Bedingungen möglichen Erkennens (vgl. ib.) als solche im Hinblick auf Kant zumindest mißverständlich formuliert ist. Denn, wenn es sich in Kants Terminologie bei einer Bedingung genau insofern um eine reale Bedingung handelt, als sie erfüllt ist, dann kann man den logischen Charakter einer Bedingung hier nicht gut durch

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Nun ist selbstverständlich nicht zu verkennen, daß man noch nicht unmittelbar zur Klärung von Sachfragen beigetragen hat, wenn man eine begriffliche Klärung wie die hier gerade entwickelte vorgenommen hat. Denn auch dann, wenn man sich auf das Ergebnis unserer Begriffsanalyse verlassen kann, und mit ihr das von Kant Gemeinte getroffen hat, kehren doch die von der Kant-Forschung immer wieder einmal von neuem verhandelten Sachprobleme auch in unserem Zusammenhang wieder zurück. Allerdings kehren sie in abgewandelter Gestalt zurück und vor allem kann man ihnen in dieser abgewandelten Gestalt, wie mir scheint, präziser formulierte Fragen zuordnen. Wenn in unserem Zusammenhang einige Sachfragen präziser formuliert werden können als außerhalb dieses Zusammenhanges, so liegt dies bis jetzt vor allem an zwei Voraussetzungen: einmal kann man der Inaugural-Dissertation wie auch den „Prolegomena" entnehmen, daß man Kants Theorie der reinen räumlichen Anschauung auch in der Weise erörtern darf, daß man sich auf das Beispiel der Inkongruenz bzw. der inkongruenten Gegenstücke konzentriert; andererseits kann man den gnoseologischen Status der von Kant so genannten reinen räumlichen Anschauung korrekt bestimmen, indem man sie als die Bedingung beschreibt, wie sie von jedem erfüllt wird, der beispielsweise inkongruente Gegenstücke als solche bzw. Sachverhalte wie die Inkongruenz als solche bemerken kann, indem er sie eindeutig charakterisiert. Mit Hilfe dieser beiden Voraussetzungen kann man dann jedoch sogleich den Gegenstandsbereich, den jemand sich nach Kant erschließen kann, wenn er die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt, wenigstens in exemplarischer Weise umschreiben. Denn dieser gegenständliche Intentionsbereich der reinen räumlichen Anschauung ist, wenn Kant die Beispiele der Inkongruenz und der inkongruenten Gegenstücke in diesem Rahmen zu Recht herausgestellt hat, offenbar schon dann nicht vollständig umschrieben, wenn die Inkongruenz und die inkongruenten Gegenstücke im Licht einer einen Gegensatz zum realen Charakter einer Bedingung bestimmen; denn auch eine logische Bedingung kann ja erfüllt sein, nämlich durch jeden der Sätze, die ihr genügen. So erfüllt beispielsweise der Satz „Es regnet und es regnet nicht" die logische Bedingung, daß ein Satz dann falsch ist, wenn seine Wahrheitsbedingungen zutreffend durch das Schema „ p und nicht-p" beschrieben werden können. Im Rahmen von Kants Terminologie kann man diese logische Bedingung daher ganz konsequent auch allein schon insofern, als sie durch den Satz „Es regnet und es regnet nicht" erfüllt wird, als eine reale logische Bedingung ansprechen. Daß nun die reine räumliche Anschauung auch nach Kant nicht eine logische Bedingung möglicher Erkenntnisse ist, ist bekannt. Aber es kommt in Kants transzendentaler Erkenntnislehre eben auch nicht unmittelbar darauf an, ob diese Bedingung der reinen räumlichen Anschauung in dem Sinne real ist oder nicht real ist, daß sie von irgendjemand erfüllt wird oder nicht von irgendjemand erfüllt wird.

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hier vorgeschlagenen Umschreibung des Intentionsbereiches der reinen räumlichen Anschauung gar nicht mehr sinnvoll als Beispiele zugelassen werden können. Aber hier fangen die gewandelten Sachprobleme auch schon an. So entpuppt sich das zentrale Problem hier alsbald, wenn man nur fragt, wie man den gegenständlichen Intentionsbereich der reinen räumlichen Anschauung denn nun inhaltlich beschreiben muß, wenn Inkongruenz und inkongruente Gegenstücke (1) überhaupt sinnvoll und eindeutig als Beispiele für Gegenstände aus diesem Intentionsbereich fungieren können und wenn sie (2) nicht als die beiden einzigen Beispiele fungieren müssen, sondern (3) lediglich zwei unter mehr als zwei möglichen Beispielen abgeben, von denen jedes die geforderte Beschreibung des gegenständlichen Intentionsbereiches der reinen räumlichen Anschauung einschließt. Mit anderen Worten: kann der gegenständliche Intentionsbereich der reinen räumlichen Anschauung nicht nur exemplarisch, sondern auch in allgemeiner Form eindeutig beschrieben werden, d. h. kann er definiert werden? Man kann die Vorteile unschwer übersehen, die man sich einhandelt, wenn man sich an diese Leitfrage hält. In erster Linie kann man so nämlich die sachliche Berechtigung schärfer kontrollieren, mit der Kant von der reinen räumlichen Anschauung redet. Denn, wenn man wie Kant nach formalen subjektiven Bedingungen fragt, unter denen jeder, der sie erfüllt, auch zu jeweils ganz bestimmten Erkenntnissen gelangen kann, dann kann man selbstverständlich niemand verbieten, hier auch einmal so anspruchslos wie nur irgend möglich vorzugehen. Darüber hinaus sieht man ja von vornherein auch noch gar nicht, im Hinblick auf was für Erkenntnisse man hier überhaupt mit berechtigter Aussicht auf Erfolg nach den Bedingungen fragen kann, unter denen jeder, der sie erfüllt, sich auch ganz bestimmte Erkenntnisse aneignen kann. Wenn man hier nicht schon ins einzelne gehende Erwägungen angestellt hat, sieht man nämlich noch gar nicht, weswegen man der Erkenntnis beispielsweise der Kongruenz von vornherein nicht ebenso eine eigene Bedingung sollte zuordnen können, unter der jeder, der sie erfüllt, sich diese Erkenntnis erwerben kann, wie Kant der Erkenntnis der Inkongruenz die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung zugeordnet hat. Wenn man mit dem dabei verwendeten Schema der Zuordnungsdefinition aber nur konsequent genug arbeitet, dann ist, wie man leicht absehen kann, der Einführung ganz beliebiger Erkenntnisbedingungen Tür und Tor geöffnet; die Erkenntnistheorie könnte von mindestens ebenso vielen angeblichen Erkenntnisbedingungen

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bevölkert werden, wie man satzmäßig formulierte Erkenntnisse beibringen kann, denen sie sich in eineindeutiger Weise zuordnen lassen. Solche anspruchsloseren Versuche haben sich denn ja auch immer wieder einmal die wohlverdiente Kritik, ja, man kann wohl sagen, Spott zugezogen. 11 Wenn man aber im Sinne der Bedingungen (1)—(3) (vgl. S. 64) nach der Definition des gegenständlichen Intentionsbereiches der reinen räumlichen Anschauung fragt, dann hat man im Rahmen von Kants Theorie der reinen räumlichen Anschauung jedoch bereits einen wichtigen Schritt getan, durch den sie gegen den Argwohn geschützt werden kann, ihr Autor habe diese Bedingung der reinen räumlichen Anschauung in der angedeuteten Weise bloß ganz schematisch nach den Grundsätzen der Zuordnungsdefinition eingeführt. Denn jetzt wird die sachliche Berechtigung, so etwas wie eine reine räumliche Anschauung als eine wohlbestimmte Bedingung zu berücksichtigen, unter der jeder, der sie erfüllt, sich ganz bestimmte Erkenntnisse aneignen kann, von der Voraussetzung abhängig gemacht, daß diese Erkenntnisse einen Gegenstandsbereich betreffen, der allgemein und eindeutig charakterisiert werden kann. Unsere erste Aufgabe wird daher im wesentlichen darauf hinauslaufen, Kants Texte zugunsten einer solchen Charakteristik des gegenständlichen Intentionsbereiches der reinen räumlichen Anschauung zum Sprechen zu bringen. Nun braucht man sich in diesem Zusammenhang aber nicht damit zu begnügen, bloß Probleme zu formulieren und Kants Begriffe des Subjektiven und des Idealen zu analysieren. Denn Kants Feststellung, daß ein Sachverhalt wie die Inkongruenz ohne die reine räumliche Anschauung überhaupt nicht bemerkt werden könne, läßt sich in konsistenter Form durch einen ganz bestimmten Schritt so konkretisieren, daß man sich die sachliche Tragweite erst so recht vor Augen führen kann, wie dieser wichtige Satz aus den Anfängen von Kants klassischer Raumtheorie sie mit sich bringt. Diese sachliche Tragweite springt nämlich alsbald in die Augen, wenn man sich erst einmal klar gemacht hat, daß auch jemand, der die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt, einen Sachverhalt wie die Inkongruenz stets nur irgendwann bemerken kann. Konkretisiert man Kants Gedanken, indem man sich daran erinnert, daß man das Bestehen eines bestimmten Sachverhaltes stets nur zu einer bestimmten 11

Vgl. hierzu vor allem Nietzsches (1886) beißenden Spott über die angeblich von Kant ins Leben gerufene Manie von Erkenntnistheoretikern, für jede angebbare kognitive Leistung ein ,Vermögen' zu postulieren, .vermöge' dessen diese kognitive Leistung angeblich zustande kommt (vgl. S. 18/20). Daß Nietzsche hier lediglich seine eigenen Vorurteile über die Möglichkeiten der Erkenntnistheorie parodiert, steht auf einem anderen Blatt.

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Zeit bemerken kann, und indem man berücksichtigt, daß auch die Inkongruenz nicht von der Bedingung ausgenommen ist, daß jeder, der sie bemerkt, sie auch nur zu einer jeweils ganz bestimmten Zeit bemerken kann, dann gilt im Anschluß an Kants Behauptung offenbar auch das Folgende: wenn jemand einen Sachverhalt wie die Inkongruenz nicht ohne die reine räumliche Anschauung irgendwann bemerken kann, dann kann er einen solchen Sachverhalt, ohne die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung zu erfüllen, auch nicht irgendwann zum ersten Mal bemerken, d. h. dann kann er ihn noch nicht einmal entdecken. Nur, wer die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt, kann Sachverhalte wie die Inkongruenz auch erstmals bemerken, kann sie auch entdecken. Von hier aus kann man die reine räumliche Anschauung ersichtlich auch ganz konsequent als eine Manifestationsbedingung ansprechen, wie sie von jedem erfüllt wird, der Sachverhalte wie die Inkongruenz entdecken, sie überhaupt als solche erstmals manifest machen kann. 12 Was für ein besseres sachliches Verständnis von Kants Raumtheorie hat man nun aber gewonnen, wenn man Kant auch in diesem Sinne von der reinen räumlichen Anschauung reden läßt? Mir scheint, daß man hauptsächlich fünf Vorteile hervorheben sollte, deretwegen es sich lohnt, vor allem an diesem Sinn der Rede Kants von der reinen räumlichen Anschauung festzuhalten: (1) Die sachliche Tragweite der von Kant intendierten Raumlehre kann genauer abgeschätzt werden; (2) der Typ von Erkenntnistheorie, wie Kants Raumlehre sie enthält, kann genauer charakterisiert werden; (3) der von Kant anvisierte Erkenntnisbegriff kann konkretisiert werden; (4) man kann sich klarmachen, inwiefern der so konkretisierte Erkenntnisbegriff wichtig dafür ist, daß man Kants Raumtheorie im Hinblick auf ihre sachliche Haltbarkeit bzw. Unhaltbarkeit in kontrollierbarer Weise beurteilen kann; (5) die Möglichkeiten der Erkenntnistheorie können, wenn Kants Raumtheorie und die darin enthaltene Erkenntnislehre richtig sind oder nicht, klarer beurteilt werden. 12

Eine förmliche Definition des Begriffs der Entdeckung schenke ich mir in diesem Zusammenhang. Ich verlasse mich hier darauf, daß das zeitliche Merkmal Zum-ersten-Mal auch intuitiv deutlich genug darüber orientiert, worauf es beim Begriff der Entdeckung zunächst vor allem ankommt. Kant betont selber, daß genau von jedem, der die Bedingung der reinen (räumlichen) Anschauung erfüllt, „dasjenige . . . entdeckt ... werden kann" (B 73, Hervorhebung R. E.), worüber ihn die bloße Analyse des einschlägigen Begriffs, also ζ. B. des Begriffs der Inkongruenz, gar nicht informieren kann (vgl. ib.).

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Wenn man nämlich den kognitiven Bedingungszusammenhang zwischen der reinen räumlichen Anschauung und Sachverhalten wie der Inkongruenz, wie Kant ihn beschreibt, konkreter so beschreibt, wie wir vorgeschlagen haben, dann kann man sogleich sehen, daß die Sätze der in Kants Raumlehre enthaltenen Erkenntnistheorie dann und nur dann auf die mit ihnen beschriebenen Erkenntnisse zutreffen, wenn sie auf Erkenntnisse auch insofern zutreffen, als diese Erkenntnisse Entdeckungen sind, d. h. von jemand auch zum ersten Mal erworben sein können. Auf diese Weise ist aber ad 1) die sachliche Tragweite von Kants Raumlehre insofern genauer abgeschätzt als sonst als nunmehr klar sein kann, inwiefern Kant mit dieser Raumlehre überhaupt in die erkenntnistheoretische Diskussion eingreifen kann; denn auf diese Weise ist ad 2) der Typ der in Kants Raumtheorie erhaltenen Erkenntnislehre insofern genauer beschrieben als sonst als nunmehr deutlich ist, daß diese Erkenntnislehre vor allem in einer Theorie von den Bedingungen der Entdeckbarkeit von Sachverhalten wie der Inkongruenz besteht; auf diese Weise ist ad 3) der von Kant in Anspruch genommene Erkenntnisbegriff insofern konkretisiert, als jetzt deutlich ist, daß eine Erkenntnis nur dann unter diesen Erkenntnisbegriff fällt, wenn jemand sich diese Erkenntnis auch zum ersten Male angeeignet haben kann, d. h. wenn jemand den Sachverhalt auch entdeckt haben kann, den die sprachliche Formulierung beschreibt, durch die seine Erkenntnis bezeugt ist; der so konkretisierte Erkenntnisbegriff ist ad 4) deswegen für das Urteil darüber wichtig, ob Kants Raumlehre sachlich haltbar ist oder nicht, weil im Lichte dieses konkretisierten Erkenntnisbegriffes deutlich wird, daß die in dieser Raumlehre intendierte Erkenntnistheorie schon dann nicht gelungen ist, wenn sie nicht auch die Bedingungen der Entdeckbarkeit von Sachverhalten wie der Inkongruenz verständlich machen kann; und schließlich kann es auf diese Weise ad 5) deswegen leichter fallen als sonst, die Möglichkeiten der Erkenntnistheorie zu beurteilen, weil einen das Gelingen bzw. Mißlingen der kantischen Intentionen in Richtung auf eine solche spezielle Theorie der Entdeckung jedenfalls auch über eine Bedingung mehr informieren kann, unter denen solche Intentionen gelingen bzw. mißlingen können.

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Aus diesen Gründen scheint es mir vorzugsweise zweckmäßig zu sein, wenn man die sachliche Erörterung von Kants Behauptung, die Inkongruenz könne ohne die reine räumliche Anschauung nicht bemerkt werden, von vornherein in dem Sinne zuspitzt, daß man diese reine räumliche Anschauung als die Bedingung auffaßt, wie jeder sie erfüllt, der Sachverhalte wie die Inkongruenz entdecken kann.

§ 5. Methodische Probleme des Studiums von Kants Raumtheorie Man braucht sich in diesem Zusammenhang, wie schon bemerkt, nicht damit zu begnügen, eine hermeneutische Hypothese vorzuschlagen, mit der auch die Frage nach dem Sinn wichtiger Redeteile aus der Sprache von Kants Raumtheorie beantwortet werden kann. Kant hat gerade im Kontext der Inaugural-Dissertation und auch noch in dem der Schrift über die „Gegenden" einiges Material hinterlassen, das einem Versuch, auch die Frage nach der Richtigkeit seiner Raumtheorie zu beantworten, nur zugute kommen kann. Überdies kann das Studium dieser beiden Abhandlungen in diesem Punkt auch noch viel hilfreicher sein als vor allem das Studium der „Kritik der reinen Vernunft". Denn dem Abstraktionsniveau, das Kant in der „Kritik der reinen Vernunft" auch für seine Transzendentale Ästhetik angestrebt hat (vgl. vor allem KdrV A 22, Β 37/A 30, Β 45), sind vorzugsweise auch alle jene konkreten Beispiele zum Opfer gefallen, die so etwas wie kritische Fälle abgeben könnten, an Hand von denen man versuchen könnte, die Argumente auf die Probe zu stellen, mit denen Kant gerechtfertigt hat, daß er seiner Raumtheorie schließlich ein für alle Mal den Vorzug vor allen anderen ihm vertrauten Raumtheorien gegeben hat. 1 3 Studiert man Kants Raumtheorie aber ausschließlich in einer so abstrakten Gestalt, wie sie sie ζ. B. im Text der Transzendentalen Ästhetik in der „Kritik der reinen Vernunft" angenommen hat, dann kann man nur allzu leicht geneigt werden, überhaupt nur noch die Sinnfrage zu stellen und statt der letztlich entscheidenden Alternative , richtig-falsch' vor allem die alternierenden Vorschläge für eine mögliche Interpretations-

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Vuillemin (1969) stellt in diesem Zusammenhang zutreffend fest: „ H e abandoned in the Critique of pure reason the argument concerning the incongruity of symmetrical figures . . . " , betont jedoch im Hinblick auf Kants Entschluß, dieses Beispiel auf sich beruhen zu lassen: „ B u t , he abandoned the accessory in order to save the essential in this example" (S. 150). Das „essential in this example" vermag allerdings auch Vuillemin dann nur mit den Mitteln der Gruppenalgebra darzustellen.

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hypothese ernst zu nehmen. Diese Neigung kann hier nämlich zusätzlich dadurch begünstigt werden, daß Kant seine Raumtheorie ja gerade in der Transzendentalen Ästhetik von vornherein hauptsächlich unter Vorzeichen zur Diskussion stellt, die jeden Teilnehmer an dieser Diskussion auf das spezielle &«nproblem festlegen, welche transzendentale Funktion die Raumtheorie erfüllen kann, über die man verfügt, wenn man Kants Theorie der reinen Anschauung schon akzeptiert hat (vgl. KdrV, § 3, „Transzendentale Erörterung des Begriffs vom Räume"). 14 Angesichts der knappen und abstrakten Darstellung, die Kant dem Lehrgehalt seiner Raumtheorie dann auch noch ganz unabhängig davon gegeben hat, ob sie so eine transzendentale Funktion erfüllen kann oder nicht (vgl. KdrV, § 2 „Metaphysische Erörterung dieses Begriffs" vom Raum), ist es nämlich nicht ganz unverständlich, wenn man im Anschluß an eine mögliche Antwort auf die Frage nach dem Sinn der Sprache von Kants Theorie der reinen räumlichen Anschauung nun mit der Wahrheitsfrage auch sogleich bei einem speziellen, dem transzendentalen Anwendungsproblem Zuflucht sucht. Auf diese Weise wird die Wahrheitsfrage aber bloß übersprungen. Eine hermeneutische Hypothese wie ζ. B. die, daß unter „reiner räumlicher Anschauung" eine bestimmte Bedingung der Möglichkeit bestimmter Entdeckungen verstanden werden sollte, kann zwar zusätzlich überprüft werden, wenn man untersucht, ob diese Deutung dem Verständnis auch dann noch mehr als jede andere Deutung hilft, wenn man Kants Raumtheorie in Gestalt einer bestimmten Anwendung, ζ. B. der Geometrietheorie studiert. Wenn dabei jedoch überhaupt eine Wahrheitsfrage 14

Der klassische Versuch, Kants Theorie vom Raum als reiner Anschauung als transzendentale Theorie zu interpretieren, liegt bekanntlich mit dem Buch von Hermann Cohen, Kants Theorie der Erfahrung (1871) vor. Markant ist in diesem Zusammenhang etwa die Formulierung Cohens: „So scheint das Verständnis der Transzendentalen Ästhetik bedingt durch dasjenige der Transzendentalen Logik" (S. 237). — Es ist bemerkenswert, daß Martin Heidegger (1962) diesen „Versuch der Marburger Kantinterpretation" zwar „unhaltbar" (S. 133) findet, aber gleichwohl in seiner in Buchgestalt erschienenen Vorlesung „Die Frage nach dem Ding" (1962) behauptet: „. . . reine Anschauung ist transzendental" (S. 157). — Freilich scheint Cohen den vielleicht doch unbeabsichtigten Eindruck, er halte Kants Begriff vom Raum als reiner Anschauung als solchen für einen transzendentalen Begriff, später korrigieren zu wollen. In seiner Untersuchung „Das Prinzip der Infinitesimalmethode und seine Geschichte" (1883) stellt C. fest, daß „doch vielmehr der Schwerpunkt (in der Lehre vom Raum, R.E.) deutlich und bestimmt in der transzendentalen Erörterung liegt: daß der Raum die Bedingung der Geometrie sei" (S. 189, Hervorhebung von mir, R.E.). Zumindest hier bemerkt Cohen unmißverständlich, daß Kant die Raumlehre in der literarischen Gestalt der „Kritik der reinen Vernunft" deutlich im gezielten methodischen Hinblick auf den transzendentalen Kontext mitgeteilt hat, in dem er von ihr vor allem Gebrauch zu machen gedenkt.

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beantwortet werden kann, dann gilt sie aber jedenfalls gar nicht unmittelbar dieser Raumtheorie, sondern allenfalls einer bestimmten auf sie zugeschnittenen Interpretationshypothese. Trotzdem hat Kant wie jeder andere philosophische Autor einer Theorie mit seiner Raumtheorie auch einen Wahrheitsanspruch erhoben. Dieser Wahrheitsanspruch geht aber über den bloßen Lehrgehalt, den gerade die Interpretationshypothesen als solche intendieren, stets hinaus. Uber diesen Wahrheitsanspruch kann man daher auch niemals allein mit dem Hinweis auf den Inhalt der jeweiligen Theorie bzw. der jeweiligen Interpretationshypothese — und sei sie als solche noch so gut bestätigt — entscheiden. Hier könnte man sich also grundsätzlich auch nicht mehr mit dem Nachweis begnügen wollen, daß eine bestimmte Interpretationshypothese im Gegensatz zu allen anderen wichtigen Interpretationshypothesen mit jedem einschlägigen Satz aus Texten des jeweils fraglichen Autors nicht im Widerspruch steht und auch verträglich ist. Denn die Formulierungen einer gelungenen Interpretation sind mit Formulierungen des Ausgangstextes zunächst lediglich äquivalent. Aber die Feststellung, daß zwei sinnvolle Formulierungen, von denen die eine eine interpretierende und die andere die interpretierte Formulierung ist, denselben Wahrheitswert haben, informiert noch nicht über ihren konkreten Wahrheitswert. Im Rahmen einer Äquivalenz kann dies nämlich sowohl das Wahre als auch stattdessen das Falsche sein. Hier wird eine Entscheidung erst möglich, nachdem man die Wahrheitsfrage ausdrücklich gestellt hat. Aber die Frage nach der Richtigkeit der Theorie, deren Text man zunächst zu verstehen versucht, modifiziert von vornherein auch den Status der interpretierenden Formulierungen und der ihnen zugeordneten Formulierungen des interpretierten Textes. Denn hier hat man es prinzipiell nicht mehr — wie noch unter den ausschließlichen Vorzeichen der Sinnfrage — mit Äquivalenzen nach dem Schema „. . . dann und nur dann, wenn . . . " zu tun, bei dem auf der einen Seite eine Formulierung eines wahren oder falschen Satzes des interpretierten Textes und auf der anderen Seite eine Formulierung des entsprechend wahren oder falschen Satzes der Interpretation vorkommt, die diese Äquivalenz selbst wahr machen. Im Horizont der Wahrheitsfrage muß man vielmehr allein mit Hilfe der Formulierungen der Interpretation letzten Endes auch selbständige Behauptungen aufstellen können, die selber aus denselben Gründen wahr oder stattdessen falsch sind wie jene Behauptungen aus der Theorie des Autors, für deren Formulierungen man zunächst Äquivalente vorgeschlagen hat, die zwar anders formuliert sind, aber dafür auch leichter verständlich sein

Methodische Probleme des Studiums von Kants Raumtheorie

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sollten als die Formulierungen des Ausgangstextes. In diesem Sinne sollte z.B. Kants Rede von der reinen räumlichen Anschauung nicht nur äquivalent sein mit der hier vorgeschlagenen Rede von bestimmten notwendigen Bedingungen der Möglichkeit bestimmter Entdeckungen; darüber hinaus sollte Kants Behauptung, der Raum sei eine reine Anschauung, aus denselben Gründen wahr oder stattdessen falsch sein wie die Behauptung, der Raum sei als reine Anschauung eine bestimmte notwendige Bedingung der Möglichkeit, bestimmte Entdeckungen zu machen. Mit alledem soll selbstverständlich nicht dem Phantom einer hypothesenfreien Entscheidung über den Wahrheitsanspruch von Kants Raumtheorie das Wort geredet werden. Es scheint in diesem Zusammenhang aber zweckmäßig zu sein, wenn man sich noch einmal vergegenwärtigt hat, daß die Gründe dafür, daß eine Interpretation eine mögliche Interpretation ist, von ganz anderer Art sind als die Gründe dafür, daß eine Theorie eine richtige Theorie ist. Denn in der hermeneutischen Situation sind die Bedingungen, die eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn eines Textes bzw. nach der Richtigkeit der in diesem Text greifbaren Theorie gestatten, von vornherein ungewöhnlich kompliziert. Die wichtigste Komplikation kommt hier dadurch zustande, daß man auch die Wahrheitsfrage selber als Interpretationsfrage behandeln muß. Denn auch eine Antwort auf die Wahrheitsfrage kann hier prinzipiell nur auf Grund von Interpretationen gefunden werden, mit denen man bei einem ernstzunehmenden Studium einer überlieferten Theorie immer nur hypothetisch umgehen darf. So hängt die Entscheidung, daß ζ. B. Kants Raumtheorie richtig ist oder nicht, stets auch davon ab, von welchen Formulierungen Kants man annimmt, daß sie die wichtigsten Voraussetzungen für die Entscheidung über den Wahrheitsanspruch dieser Theorie exponieren. Es liegt aber auf der Hand, daß man zwischen Voraussetzungen, die wichtig sind, und Voraussetzungen, die unwichtig sind, immer nur unterscheiden kann, wenn der Text, der dabei zur Debatte steht, bereits im Lichte einer bestimmten Interpretationshypothese verstanden worden ist. Denn Formulierungen, die noch nicht eindeutig verstanden worden sind, sind auch noch nicht unter Gesichtspunkten der Relevanz des von ihnen Formulierten definit. Bevor Kant mit seiner Theorie des geometrischen Gegenstandes in methodisch sinnvoller Weise zu Wort kommen kann, soll daher zunächst die Frage nach der Richtigkeit seiner Raumtheorie unter der Hypothese verfolgt werden, daß die wichtigste von Kant selbst formulierte Voraussetzung für die Entscheidung dieser Frage das Faktum der von ihm so genannten inkongruenten Gegenstücke abgibt.

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§ 6. Kants erkenntnistheoretisches

Raumproblem

Kant deutet in der Inaugural-Dissertation mit keinem Wort an, daß er zu der hier vorgetragenen Raumtheorie dadurch gelangt sei, daß er eine Raumtheorie korrigiert oder sonstwie modifiziert habe, wie er sie zuvor selber vertreten hätte. Das ist nur konsequent. Denn in der Schrift über die „Gegenden" hatte Kant die These von der Realität des absoluten Raumes in eine lediglich hypothetische Argumentation eingebunden. Auf diese Weise hatte Kant sich aber vorläufig auch hinreichend von allen raumtheoretischen Positionen distanziert, die ihm zunächst wenigstens noch ernsthaft diskutabel erschienen sind. So konnte er in der Diskussion um die richtige Raumtheorie auch keine prinzipiell falsche Position beziehen. 15 Gleichwohl wird man vermuten dürfen, daß Kant sich mit seiner Theorie der reinen räumlichen Anschauung eine Basis erarbeitet hat, von der aus man auch noch die hypothetische Argumentation kritisieren kann, wie Kant sie zugunsten der These über den absoluten Realraum möglichst vorsichtig entwickelt hatte, als er in einer bestimmten Situation der Prinzipienforschung seiner Zeit vorübergehend ratlos war. Denn in der Raumtheorie, die Kant schließlich für richtig hält, fungiert das Beispiel der inkongruenten Gegenstücke ja zugunsten einer ganz anderen als einer Raumtheorie vom newtonschen Typ. 1 6 Inwiefern kann man sich aber mit Hilfe einer Theorie, die den Raum als eine reine Anschauung, d. h. als eine bestimmte Bedingung der Möglichkeit bestimmter Entdeckungen auffaßt, auch noch über ein Versehen verständigen, wie es Kant offenbar unterlaufen sein muß, als er das Beispiel inkongruenter Gegenstücke zu verwenden versucht hat, um hypothetisch zugunsten der These vom absoluten Realraum zu argumentieren? In diesem Zusammenhang ist es vor allem lehrreich, noch einmal das schöpfungstheologische Gedankenexperiment näher zu untersuchen, mit dessen Hilfe Kant die Alternative absoluter Realraum — relationaler Realraum vorläufig zu entscheiden versucht hatte. Kant bindet hier nämlich das Werk der göttlichen Schöpfungsinstanz, die zuerst eine linke oder stattdessen zuerst eine rechte Hand erschafft, an zwei Voraussetzungen, die Kant weder als solche noch inhaltlich zur Sprache bringt. Denn damit, daß diese Instanz eines von irgend zwei inkongruenten Ge15 16

Das hat auch ζ. B. Max Jammer (1954), S. 143/144, übersehen. Louis Couturat (1904) vermutet, daß daher wenigstens eine der beiden Theorien falsch sein müsse, und führt Kants Haltung in den Fragen der Raumtheorie darauf zurück, daß Kants Gefühle für Leibniz einem Wandel unterworfen gewesen seien (S. 370f.).

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genstücken aus dem leeren, absoluten Raum hervorbringe, setzt Kant auch voraus, daß sie diese Schöpfung ζ. B. einer rechten Hand vollbringe, ohne, wie Kant in einem verwandten Kontext einmal formuliert hat, „das Muster dazu aus irgendeiner Erfahrung geborgt zu haben" (KdrV, A 713, Β 741 Ende). Außerdem setzt Kant hier dann aber auch noch stillschweigend voraus, daß eine Instanz, deren Handeln sich entweder in einem linksorientierten oder stattdessen in einem rechtsorientierten materiellen Gebilde niederschlägt, auch ganz unabhängig von der Existenz irgendwelcher Muster für solche Gebilde schon über eine Charakteristik inkongruenter Gegenstücke verfügen kann. Denn nur, wenn sie über eine solche Charakteristik von vornherein verfügt, kann sie auch schon vor aller effektiven kreativen Gestaltung eindeutig zwischen einem linksorientierten und einem rechtsorientierten Gebilde unterscheiden und wahlweise zugunsten der Gestalt von einem von beiden kreativ tätig werden. Man braucht diese beiden Voraussetzungen nur einmal zu erwähnen, um einzusehen, wieso die Vorsicht berechtigt ist, von der Kant selber sich beim Umgang mit Formulierungen, die den Begriff des absoluten Realraumes betreffen, deswegen leiten ließ, weil es nach seinen Erfahrungen in der einschlägigen Prinzipienerörterung „nicht an Schwierigkeiten fehlt, die diesen Begriff umgeben" (WW II, Gegenden, S. 383). Man sieht jetzt nämlich leicht, daß der wichtigste Mangel in Kants eigener hypothetischer schöpfungstheologischer Argumentation schon darin besteht, daß er diese beiden Voraussetzungen in diesem Zusammenhang nicht erwähnt und zumindest ihre raumtheoretische Relevanz nicht durchschaut. Nimmt man die erwähnten Voraussetzungen nämlich explizit in diese Argumentation herein, dann kann man alsbald einsehen, daß die begrifflichen Mittel der Schöpfungstheologie streng genommen gar nicht ausreichen, wenn man eine mögliche Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis inkongruenter Gegenstücke zum Raum finden und formulieren möchte. Hat man in einem weniger streng konzipierten Kontext diese Voraussetzungen einmal vernachlässigt, dann kann es einem zwar immer noch gelungen sein, schöpfungstheologisch sinnvolle Formulierungen zu treffen, die dieses Verhältnis zum Gegenstand haben sollen. Wenn nicht wenigstens dies der Fall wäre, dann könnte man Kants Argumentation in der Schrift über die Gegenden ja noch nicht einmal eindeutig oder auch nur sinnvoll kritisieren. Aber wenn man die beiden erwähnten, von Kant jedoch vernachlässigten Voraussetzungen ausdrücklich als solche berücksichtigt, kann man darüber belehrt werden, daß man andernfalls wohl fast unvermeidlich gleichsam die Disziplin verfehlt, in der man sich der Probleme, zu denen

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sie gehören, überhaupt mit berechtigter Aussicht auf Erfolg annehmen kann. Denn auch mit den begrifflichen Mitteln der Schöpfungstheologie kann man das Raumproblem, wie es sich unter diesen zusätzlichen expliziten Voraussetzungen darbietet, nur dann nicht verfehlen, wenn man fragt, auf was für kognitive Bedingungen denn auch eine göttliche Instanz sich mindestens müßte verlassen können, wenn sie beispielsweise zu inkongruenten Gegenstücken in ein demiurgisches Verhältnis wollte treten können, ohne auch schon über konkrete Muster solcher Gebilde zu verfügen. In dieser Version erweist sich Kants schöpfungstheologisch formuliertes Problem aber lediglich als ein Ergebnis des prinzipiell erst nachträglich möglichen Versuches, eine ganz bestimmte erkenntnistheoretische Frage unter schöpfungstheologischen Prämissen zu wiederholen: ,Kann man Bedingungen angeben, die jedesmal im Spiel sind, wenn jemand zu der Einsicht gelangen kann, wie sie in der Charakteristik der Inkongruenz ζ. B. einer linken und einer rechten Hand formuliert ist, wenn man einmal vom Vorhandensein solcher konkreten Gebilde abstrahiert hat?'. Man sieht von hier aus, wie Kant schon in der Schrift über die „Gegenden" dahin hätte kommen können, gerade die Frage zu formulieren, auf die man mit der Raumtheorie seiner Inaugural-Dissertation adäquat antworten kann. Aber Kant war es noch nicht gelungen, so zu fragen. Das liegt hauptsächlich daran, daß Kant sich die beiden Voraussetzungen nicht klar gemacht hat, am Leitfaden von denen man auch schon im Zusammenhang mit dem Begriff des leeren, absoluten Realraumes den speziellen erkenntnistheoretischen Kern des Raumproblems durchschauen kann, wie Kant es sich zunächst im Gewand einer schöpfungstheologischen Formulierung vorgelegt hat. Auf diese Weise hätte Kant seine subjektivistische und idealistische Raumtheorie selber zwar wohl nicht zwangsläufig gewonnen. Aber man wird vermuten dürfen, daß es das „große Licht" (WW XVIII, Metaphys. Reflexionen, Nr. 5037), in dem Kant diese Raumtheorie schließlich entdeckt hat, in einem verläßlicheren Maße begünstigt hätte, wenn er seine klassische, erkenntnistheoretische Antwort auf das Raumproblem auch so früh wie möglich schon durch die adäquate, erkenntnistheoretische Frage provoziert hätte. 17 17

W e r sich wie z . B . Hermann Schmitz (1967) vor allem für die phänomenologische Erörterung aus dem ersten Teil der Schrift über die „Gegenden" interessiert, wird geneigt sein, den möglichen Ertrag von Kants schöpfungstheologischer Überlegung gering einzuschätzen, und eher bedauern, daß sich insofern Kants „Gedankengang an dieser Stelle durch eine abstrus-scholastische Spekulation" (S. 465) verdunkele. Aber selbst, wenn man

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Wenn man Kants hypothetische schöpfungstheologische Argumentation angreift, indem man Voraussetzungen dieser Argumentation ans Licht bringt, die Kant ohne Not auf Kosten von Fragen vernachlässigt hat, die im Sinne seiner späteren, klassischen Raumtheorie adäquat gewesen wären, dann hat man allerdings noch nicht Voraussetzungen in der Hand, die auch schon ausreichen würden, um über Wahrheit oder Falschheit dieser Theorie zu entscheiden. Denn einerseits kann man auch allein aus Kants abschließendem Vorschlag, das Raumproblem subjektivistisch und idealistisch zu lösen, entnehmen, daß es sich dabei um einen speziellen erkenntnistheoretischen Lösungsversuch handelt. Andererseits präjudiziert die bloße Formulierung einer hier einschlägigen Frage nach bestimmten Bedingungen dafür, daß bestimmte Entdeckungen überhaupt gemacht werden können, weder eine Antwort noch schließt sie aus, daß eine positive Antwort gar nicht gegeben werden könne. Wenn es aber trotzdem nicht nur aus entwicklungsgeschichtlichen, sondern vor allem auch aus sachlichen Gründen interessant ist, sich mit Kants Schrift von 1768 auseinanderzusetzen, so deswegen, weil man hier mit den Mitteln der immanenten Kritik immerhin an Hand eines paradigmatischen Beispiels dahin gelangen kann, eine Alternative zu formulieren, die dann erst durch die Theorie der reinen räumlichen Anschauung entschieden worden ist. Denn, wenn man fragt, ob man Bedingungen angeben könne oder nicht, unter denen jeder, wenn sie erfüllt sind, Sachverhalte wie die Inkongruenz entdecken kann, dann kann man, wenn hier überhaupt eine positive Antwort möglich ist, grundsätzlich mehrere in Frage kommende Antworten erwägen: unter formalen Gesichtspunkten kann man versuchen, entweder notwendige Bedingungen oder hinreichende Bedingungen oder notwendige und hinreichende Bedingungen der Entdeckbarkeit solcher Sachverhalte wie der Inkongruenz zu ermitteln; unter inhaltlichen Gesichtspunkten kann man fragen, ob die Instanzen, die solche Sachverhalte sich zunächst vor allem für die in dieser Schrift erörterten phänomenal ausweisbaren Tatsachen interessiert, darf man nicht ohne weiteres ausschließen, daß das sachliche Verständnis von Kants Gedankengang dadurch gefördert werden kann, daß man auch einmal nach der Funktion fragt, wie sie im Kontext dieser Schrift jene Formulierungen erfüllen können, mit denen Kant die freilich ganz und gar nichtphänomenalen Elemente seiner fiktiven Schöpfungssituation einführt. Erst, wenn man so gefragt hat, kann man aber, wie sich weiterhin näher zeigen soll, in eine Diskussion eintreten, in der auch noch im Hinblick auf Kants schöpfungstheologische Argumentation Pro und Contra eindeutig verteilt sind und Implikationen dieser Argumentation sinnvoll zur Sprache gebracht werden können, die gerade im Hinblick auf Kants Theorie der reinen Anschauung eine eindeutige wegweisende Rolle spielen.

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wie die Inkongruenz entdecken können, hierfür bestimmte Bedingungen erfüllen müssen oder ob Sachverhalte wie die Inkongruenz insofern, als sie entdeckt werden können, bestimmte Bedingungen erfüllen müssen oder ob die sprachlichen Formulierungen, mit denen die Entdeckung von Sachverhalten wie der Inkongruenz dokumentiert werden kann, bestimmte Bedingungen erfüllen müssen. Von diesen möglichen Fragen hat Kant in der Inaugural-Dissertation also zwei Fragen klar beantwortet, indem er unter formalen Gesichtspunkten zu verstehen gegeben hat, daß er sich für notwendige Bedingungen der Entdeckbarkeit von Sachverhalten wie der Inkongruenz interessiert, und indem er unter inhaltlichen Gesichtspunkten zu verstehen gegeben hat, daß er sich für Bedingungen interessiert, wie sie von jeder Instanz erfüllt werden müssen, die solche Entdeckungen machen kann. Unklar ist hier noch geblieben, was für Bedingungen die Sachverhalte im allgemeinen erfüllen müssen, unter denen die Inkongruenz lediglich ein mögliches Beispiel dafür ist, was für Sachverhalte man im Intentionsbereich der reinen räumlichen Anschauung im allgemeinen entdecken kann. Vor allem in diesem Punkt wollen wir ja zunächst versuchen, Klarheit zu schaffen (vgl. unsere Aufgabenstellung S. 64/65). Die Frage, was für Bedingungen die sprachlichen Formulierungen erfüllen müssen, in denen die Entdeckung von Sachverhalten wie der Inkongruenz dokumentiert werden kann, hat Kant entsprechend dem mangelhaft entwickelten Interesse seiner Zeit an Problemen der logischen Syntax gar nicht berührt. Bei Formulierungen der Inkongruenzcharakteristik hat er sich offenbar schlicht auf seine grammatikalische Bildung verlassen. Es hat sich also gezeigt, daß man dem Kern von Kants Raumproblem schon mit den Mitteln der Schrift von 1768 eine erkenntnistheoretische Frage zuordnen kann. Zuletzt hat sich gezeigt, daß man dieser Frage nach den Bedingungen der Entdeckbarkeit von Sachverhalten wie der Inkongruenz, wenn man sie überhaupt positiv beantworten kann, einige Alternativen zuordnen kann, aus denen die Antwort stammen muß. In beiden Fällen zeigt sich, daß man Kants hypothetische schöpfungstheologische Argumentation mit Erfolg auf Voraussetzungen untersuchen kann, die bei der Suche nach einer Raumtheorie wie der kantischen Theorie der reinen räumlichen Anschauung eine wegweisende Funktion erfüllen können. Sie gestatten nämlich einmal, von vornherein die gleichsam disziplinarisch adäquate, nämlich die erkenntnistheoretisch orientierte Frage zu formulieren. Andererseits gestatten sie, an diese Frage die möglichen positiven Antworten anzuschließen.

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N u n können solche Überlegungen selbstverständlich nicht eine Untersuchung ersetzen, in der der Zusammenhang zwischen Kants Schrift über die „ G e g e n d e n " und seiner Inaugural-Dissertation unter entwicklungsgeschichtlichen Gesichtspunkten studiert würde. Der Beitrag von Klaus Reich (vgl. S. 50 2 ) macht deutlich, was für lehrreiche Hypothesen man auch heute immer noch rechtfertigen kann, wenn man nach Dokumenten von Randbedingungen sucht, wie sie für das Verständnis einer Theorienbildung wichtig sind, die im knappen Zeitraum von nur zwei Jahren einen radikalen Wandel durchgemacht hat. 1 8 Daher soll es in diesem Zusammenhang auch gar nicht darum gehen, mit den möglichen Ergebnissen solcher Untersuchungen zu konkurrieren. Es ist hier zunächst nur um den Nachweis zu tun, daß eine Raumtheorie wie Kants Theorie der reinen räumlichen Anschauung auch ganz unabhängig von irgendeiner Gunst der biographischen Umstände im Bereich der Möglichkeiten liegt, wie man sie prinzipiell schon im Rahmen der Schrift über die „Gegenden" aus sachlichen Gründen intendieren kann. Man kann sogar noch ein weiteres Argument für die These entwickeln, daß die Theorie der reinen räumlichen Anschauung eindeutig im Einzugsbereich jener Implikationen von Kants schöpfungstheologischer Argumentation liegt, die Kant vernachlässigt hat. Zu diesem Zweck braucht man sich zunächst nur klarzumachen, daß es gar nicht unbedingt nötig ist, Kants schöpfungstheologische Argumentation ausschließlich als Argumentation ernst zu nehmen, die auch ausschließlich mit Anspruch auf formale oder inhaltliche Triftigkeit vorgetragen wird. Es gibt nämlich gar keine einschlägigen raumtheoretischen Gründe, mit denen man das Verbot rechtfertigen könnte, speziell z . B . nach den kognitiven Bedingungen zu fragen, wie auch eine göttliche Schöpfungsinstanz selber sie erfüllen müßte, wenn sie zwischen inkongruenten Gegenstücken, wie sie einmal ihr Werk sein sollen, eindeutig unterscheiden kann und daher unter ihnen auch wählen kann. 1 9 18

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Markant ist vor allem Kants spätere zusammenfassende Darstellung dieses Wandels, wenn er feststellt: „ D a s spatium absolutum, dieses Ratzel der Philosophen, ist ganz was richtiges (aber nicht reale, sondern ideale)" (WW XVII, Met. Refl., N r . 4673, S. 639). D a s braucht freilich niemand daran zu hindern, den Sinn seiner Rede von einem Schöpfergott auch einmal dadurch zu definieren, daß es bei Strafe der Sinnlosigkeit solcher Fragen verboten sei, nach solchen von der bloßen Kreativität verschiedenen, kognitiven Bedingungen zu fragen, wie eine solche Instanz sie erfüllen mag. In diesem Sinne hat Kant ja in der KdrV das „ U r w e s e n " gelegentlich dadurch definiert, daß es anschaut, indem es erschafft, und erschafft, indem es anschaut, und ihm insofern einen „intuitus originarius" (KdrV Β 71/72) zugeschrieben. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß Kant zu

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Diese an sich schon erlaubte Frage kann aber in unserem Zusammenhang noch darüber hinaus gerechtfertigt werden. Es kommt hier bei Kant ja hinzu, daß die Existenz konkreter inkongruenter Gegenstücke aus dieser Begriffsbildung gelangt ist, indem er gerade seine schöpfungstheologische Fiktion aus der Schrift von 1768 noch einmal direkt im Licht seiner reifen Raumtheorie durchdacht hat; vgl. hierzu vor allem Refl. 6317: „So führt die Theologie auf die ästhetische Critik" (WW, XVIII, Met. Refl., S. 627). Nach der hier im Anschluß an die Inaugural-Dissertation, § 15 C, von uns vorgeschlagenen Deutung der Rede von der reinen räumlichen Anschauung als einer bestimmten Bedingung der Möglichkeit bestimmter Entdeckungen ist diese reine räumliche Anschauung zwar ebenfalls nicht ein „intuitus originarius", aber sie ist doch immer noch so etwas wie ein ,intuitus secundum onginaliter possibile quid' (vgl. zu dieser Deutung auch Hans Vaihinger (1892), S. 505/511). — Daß Kants Theorie der reinen räumlichen Anschauung u.a. an die Lösungsbedürftigkeit des Problems gebunden ist, wie die subjektiven Bedingungen der Entdeckbarkeit von Sachverhalten wie der Inkongruenz zu charakterisieren sind, hat Martin Heidegger (1929) auf Kosten der inhaltlichen Bestimmtheit seiner Überlegungen vernachlässigt, wenn er im Anschluß an Kant vor allem den Unterschied zwischen „endlicher" und „unendlicher" Erkenntnis erörtert (vgl. S. 30/39). Angesichts des schon erwähnten hohen Abstraktionsniveaus der KdrV ist es vielleicht eine didaktisch elegante Lösung, wenn man versucht, sich Kants Theorie der reinen Anschauung dadurch verständlich zu machen, daß man Kants Nebenbemerkung über einen paradox charakterisierbaren Typ von Anschauung ausführlich zu Hilfe nimmt. Ein erfahrener Interpret wie Heidegger wird dabei auch nicht leicht entgleisen; in den wesentlichen Punkten stimmen Heidegger und z . B . Vaihinger (vgl. Vaihinger 1892, S. 511 unten) überein. Aber man sollte jedenfalls im Auge behalten, daß hinter Kants Rede von so etwas wie einem „intuitus originarius" in der KdrV weder ein Sachproblem noch ein begriffliches Problem steckt, die unabhängig davon gelöst oder auch nur eindeutig formuliert werden könnten, wie weit Kants Theorie der reinen Anschauung gediehen ist. Hier herrschen ganz analoge sachliche und methodische Verhältnisse wie ζ. B. zwischen der aristotelischen Theorie des Kontinuums und seiner Modi Zahl, Zeit und Bewegung auf der einen Seite und auf der anderen Seite gewissen Versuchen der Hochscholastik, auch noch über Sachverhalte wie Engelbewegungen, die per definitionem nicht mehr am Kontinuum der anschaulichen Welt Anteil haben, zu sinnvollen Aussagen zu gelangen; vgl. hierzu neuerdings Wieland (1973). Denn ebenso, wie man sinnvolle Aussagen über diese transkontinuierliche Engelwelt erst dann präzise und widerspruchsfrei treffen kann, wenn man bereits über eine ins einzelne gehende Kontinuumstheorie wie die aristotelische verfügt, kann Kant seine Rede von einem „intuitus originarius" oder von der „intellektuellen Anschauung" (KdrV Β 72) prinziell auch nur in dem Maße verständlich machen, wie seine Theorie der reinen Anschauung auch schon ausgearbeitet ist. So rührt ja beispielsweise ein nicht unbeträchtlicher Teil der Schwierigkeiten, in die Fichte und Schelling ihre Studenten, aber auch sich selbst, gelegentlich gebracht haben, gerade daher, daß diese Autoren vorschnell bereit waren, die Durchsichtigkeit von Kants — so besehen — Standardtheorie der reinen Anschauung vorauszusetzen, wenn sie an dieser Theorie ausdrücklich weiterarbeiten wollten und gleichwohl zugunsten der These argumentierten, Menschen seien Wesen, die eine Bedingung erfüllen, die ganz angemessen auch als intellektuelle Anschauung bezeichnet werden könne. Auch im Hinblick auf solche Probleme dürfte es zweckmäßig sein, Kants Theorie der reinen Anschauung einmal im Zusammenhang mit einem der speziellen Sachprobleme zu untersuchen, die Kant im Vertrauen auf die Richtigkeit dieser Theorie zu lösen gedachte.

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methodischen Gründen von vornherein nicht von Belang sein kann. Denn mit der Voraussetzung, der reale Raum sei leer, wird zumindest hypothetisch auch ausgeschlossen, daß die sinnenfällige Existenz inkongruenter Gegenstücke als Bedingung der Möglichkeit, die Inkongruenz zu entdecken, in Betracht kommen könnte. Abstrahiert man aber in dieser Weise von bestimmten Existenzvoraussetzungen der Entdeckbarkeit der Inkongruenz, dann kann man auch einmal nach bestimmten nichtontischen, speziell z . B . nach jenen kognitiven Bedingungen ihrer Entdeckbarkeit fragen, wie sie von jeder Instanz erfüllt werden, die Sachverhalte wie die Inkongruenz entdecken kann. Aber selbstverständlich kann man die Frage, ob solche subjektiven Bedingungen der Entdeckbarkeit charakterisiert werden können oder nicht, wenn bestimmte Existenzbedingungen hier irrelevant sein sollen, grundsätzlich auch ganz unabhängig davon formulieren, ob man nun in einem schöpfungstheologischen oder in einem anderen Kontext angeregt worden ist, gerade so und nicht anders zu fragen. Daher kann man Kants schöpfungstheologische Argumentation als solche auch einmal auf sich beruhen lassen und versuchen, lediglich die Schöpfungssituation ernst zu nehmen, wie er sie in diesem Zusammenhang fingiert. Diese Situation kann dann nämlich immer noch ein Gleichnis der Situation bieten, in der der Prinzipientheoretiker sich befindet, wenn er von der sinnenfälligen Existenz inkongruenter Gegenstücke abstrahiert hat und nun fragt, ob man wohl nichtontische Bedingungen der Entdeckbarkeit von Sachverhalten wie der Inkongruenz charakterisieren könne, auf die er und seinesgleichen sich gerade zugunsten der Entdeckbarkeit solcher Sachverhalte wie der Inkongruenz müßten verlassen können (vgl. hierzu die weitergehende Analyse auf S. 95/104). Das bloß Gleichnishafte der Schöpfungssituation kommt hier selbstverständlich dadurch zustande, daß einige Instanzen sich im Unterschied zur Schöpfungsinstanz grundsätzlich niemals deswegen auf solche Bedingungen müßten verlassen können, weil sie eine wahlweise Schöpfung inkongruenter Gegenstücke ,ex nihilo' intendieren könnten. Der Kant der Inaugural-Dissertation hätte bekanntlich behauptet, daß man sich auf solche Bedingungen wie die reine räumliche Anschauung wenigstens dann müsse verlassen können, wenn man Sachverhalte wie die Inkongruenz wolle bemerken können; und der Kant der „Kritik der reinen Vernunft" hätte behauptet, daß man sich dann auf diese reine räumliche Anschauung müsse verlassen können, wenn man mit Aussicht auf Erfolg Transzendentale Logik, euklidische Geometrie und Naturwissenschaften im galileischen Stil wolle treiben können, aber

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auch schon dann, wenn man im Hinblick auf die anschauliche Welt bloß überhaupt immer wieder neue und neuartige Entdeckungen wolle machen können. Man kann also in der Schöpfungssituation, wie Kant sie in seiner schöpfungstheologischen Argumentation fingiert, auch einmal vor allem den Umstand akzentuieren, daß es sich bei den Bedingungen, die im Hinblick auf die Entdeckbarkeit von Sachverhalten wie der Inkongruenz als irrelevant abgetan werden, gerade um bestimmte Existenzvoraussetzungen und keine anderen Bedingungen handelt. Von hier aus kann man dann aber den Spielraum, in dem hier dann überhaupt noch andersartige Bedingungen der Möglichkeit solcher Entdeckungen in Frage kommen können, auch einmal auf die kognitiven, subjektiven Bedingungen einschränken, also auf Bedingungen, wie sie von jedem erfüllt werden, der solche Entdeckungen machen kann oder macht oder gemacht hat. Man muß in diesem Zusammenhang zunächst aber auch noch berücksichtigen, daß die Abstraktion von der sinnenfälligen Existenz inkongruenter Gegenstücke auch nötigt, eine ganz bestimmte Frage konsequenterweise nicht mehr zu stellen. Zieht man sinnenfällig existierende Gegenstände nämlich überhaupt nicht mehr in Betracht, dann muß man konsequenterweise auch darauf verzichten, nach bestimmten Bedingungen zu fragen, wie sie im Hinblick auf die Möglichkeit notwendig sind, ζ. B. sinnenfällig existierende inkongruente Gegenstücke wie eine linke und eine rechte Hand als inkongruente Gegenstücke zu erkennen. Denn es ist trivial, daß zu den notwendigen Bedingungen, bestimmte sinnenfällig existierende Gegenstände als solche erkennen zu können, jeweils auch noch die Existenz eben dieser Gegenstände selbst gehört. Diese Differenz gilt es aber zu beachten, wenn man das Problem nicht von vornherein verfehlen will, das Kant gerade in der Inaugural-Dissertation mit seiner neuen Raumtheorie vorerst vor allem lösen will. Denn Kant behauptet an der zentralen Stelle zunächst nur, daß man die Inkongruenz, er behauptet nicht auch, daß man sinnenfällig existierende inkongruente Gegenstücke nur entdecken könne, wenn man auch von einer reinen Anschauung, die „Raum" heiße, Gebrauch machen könne (vgl. WW II, De mundi, S. 403). Diese Abstraktion von sinnenfällig existierenden Gegenständen ist daher die wichtigste von Kant selber eingeführte Bedingung, die man respektieren muß, wenn man wissen will, im Hinblick worauf Kant mit seiner Theorie einen Wahrheitsanspruch hier auch verbindet, und wenn man über den Wahrheitsanspruch dieser Theorie der reinen räumlichen Anschauung will entscheiden können, ohne sich über den unmittelbar

Pragmatische und semantische Voraussetzungen von Inkongruenzbehauptungen

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intendierten Anwendungsbereich dieser Theorie zu täuschen. Aber gerade diese Anwendungsintention Kants aus der Inaugural-Dissertation berührt unmittelbar die Anwendungsintention, wie man sie schon im Anschluß an die Schrift über die „Gegenden" entwickeln kann; denn die schöpfungstheologisch vermittelte Abstraktion von der Existenz sinnenfälliger Dinge ist auch hier die wichtigste von Kant selber ins Spiel gebrachte Bedingung, die man respektieren muß, wenn man lediglich die adäquate Frage nach der Theorie der reinen räumlichen Anschauung will formulieren können, ohne sich schon hier über den Anwendungsbereich zu täuschen, den man mit dieser Theorie unmittelbar intendieren kann, wenn man von aller sinnenfälligen Existenz zunächst einmal abstrahiert hat: ,Kann man die subjektiven Bedingungen charakterisieren, die für die Möglichkeit, auch Sachverhalte wie die Inkongruenz zu entdecken, notwendig oder hinreichend oder notwendig und hinreichend sind und die als subjektive Bedingungen von jedem erfüllt werden, der solche Sachverhalte entdecken kann?' 2 0

5 7. Pragmatische behauptungen

und semantische

Voraussetzungen

von

Inkongruenz-

Wir haben bisher nachzuweisen versucht, inwiefern der sachliche Zusammenhang zwischen Kants ,subjektivistischer' Raumtheorie und Intentionen, wie man sie schon mit einigen Implikationen seiner schöpfungstheologischen Argumentation verbinden kann, eindeutig ist. Dabei hat sich herausgestellt, daß Kant seine klassische Raumtheorie in der Inaugural-Dissertation in Gestalt einer Kernthese einführt, an der unter anderem das Abstraktionsniveau bemerkenswert ist. Versucht man, dieses Abstraktionsniveau inhaltlich näher zu bestimmen, dann kann man unter Zuhilfenahme der Schrift über die „Gegenden" in Erfahrung bringen, daß Kant schon hier in seiner schöpfungstheologischen Argumentation die Existenz sinnenfälliger Dinge nicht voraussetzt. Darüber hinaus behandelt Kant nicht nur im Kontext dieser Schrift aber auch noch die Existenz der 20

Daß man auch im Schöpfungsmythos nicht ohne die — in die Erkenntnistheorie einschlägige — Voraussetzung auskomme, auch der ,Vater von allem' könne von vornherein über einen anschaulichen Plan (parädeigma) der Dinge verfügen, die er intendiert, läßt Piaton als etwas durchblicken, was für ihn selbstverständlich ist, wenn er Tim. 28c/29d lediglich noch einmal kurz die für ihn an sich problemlose Alternative durchspielen läßt, ob in diesem Plan des Demiurgen denn nun die wandelbaren oder stattdessen die unwandelbaren Züge der Dinge berücksichtigt sind (vgl. ib.).

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Instanz, die die Entdeckung von Sachverhalten wie der Inkongruenz jeweils sinnvollerweise anstreben kann oder schon gemacht hat, als eine Voraussetzung, die in diesem Zusammenhang irrelevant ist. Nun ist die Existenz einer solchen Instanz zwar nicht irrelevant für die Möglichkeit solcher Entdeckungen. Es ist sogar trivial, daß die Existenz einer solchen Instanz eine notwendige Vorausetzung dafür ist, daß solche Entdeckungen gemacht, nämlich von jemand gemacht werden können. Aber Kant treibt hier Prinzipienforschung und nicht beispielsweise Wissenschaftshistorie; hier könnte die ausdrückliche Frage nach der Existenz eines bestimmten Autors ja gelegentlich einmal wichtig werden, wenn es etwa Indizien dafür gibt, daß der offizielle Entdeckerkalender zugunsten eines bislang übersehenen Autors korrigiert werden muß. Daß aber Entdeckungen ihre Väter haben, ist in der Prinzipienforschung nicht weniger trivial als in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung. Aber gerade weil dies trivial ist, ist es für die Suche der Prinzipienforschung nach anderen, subjektiven Voraussetzungen der Entdeckbarkeit bestimmter Sachverhalte auch überflüssig, diese Existenzvoraussetzung noch einmal ausdrücklich als solche zur Sprache zu bringen. Kant kann also nicht nur von der Existenz sinnenfälliger Dinge deswegen abstrahieren, weil sie für die Antwort auf die Frage nach den subjektiven Bedingungen der Entdeckbarkeit von Sachverhalten wie der Inkongruenz irrelevant ist; außerdem kann Kant hier auch noch die Existenz des Autors einer Formulierung, mit der ein Sachverhalt wie die Inkongruenz charakterisiert wird und mit der über seine Entdeckung Rechenschaft abgelegt wird, deswegen unberücksichtigt lassen, weil die Voraussetzung seiner Existenz trivial ist. Wenn man in diesem Zusammenhang bestimmte Entitäten als irrelevant behandelt, so kann diese Form des Umgangs mit bestimmten Existenzvoraussetzungen allerdings auch Fragen provozieren, die zusätzliche Überlegungen nötig machen, bevor man Kants Rede von der Inkongruenz und von inkongruenten Gegenstücken unter diesen Umständen für voll verständlich halten darf. Man darf nämlich nicht übersehen, daß ohne die Möglichkeit, auf irgendwelche datierbaren und lokalisierbaren Entitäten zu rekurrieren, gar nicht mehr klar sein kann, im Hinblick worauf eigentlich der Sache nach und im allgemeinen die Rede ist, wenn man die Ausdrücke „Inkongruenz" und „inkongruent" zwar verwendet, wenn man aber diese Verwendung wenigstens hypothetisch auch nicht mit einem Wahrheitsanspruch im Hinblick auf sinnenfällige Entitäten verbinden darf. Es gäbe dann unter anderem die Ausdrücke „Inkongruenz" und „inkongruent", wie man sie verwenden mag, wenn

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man einen bestimmten Satz formuliert; und im Hinblick auf eine solche Formulierung könnten dann jeweils noch Feststellungen getroffen werden, die die syntaktischen Regeln betreffen, von denen der Autor dieser Formulierung entweder einen trefflichen oder einen verfehlten Gebrauch gemacht hat. Darüber hinaus könnte dann noch zutreffend festgestellt werden, daß es Autoren wie ζ. B. Kant und Hermann Weyl gibt, die die Ausdrücke „Inkongruenz" und „inkongruent" in einigen ihrer Schriften verwendet haben. Aber offenbar kann man es wenigstens noch nicht ohne weiteres semantisch rechtfertigen, wie Kant von „Inkongruenz" zu reden. Wenn unsere bisherige Interpretation möglich ist, dann läuft Kants Ansatz zwar unter Gesichtspunkten der Pragmatik auf die Einsicht hinaus, daß man mit der Rede von der Inkongruenz einen Sachverhalt intendiert, der zu den Sachverhalten gehört, wie sie nur dann von jemand entdeckt werden können, wenn er die insofern subjektive Manifestationsbedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt. Aber man kann fragen, ob man in diesem Zusammenhang nur insofern von sinnenfälligen Entitäten und ihren möglichen Bestimmungen abstrahieren kann, als es zunächst eben ausschließlich darum geht, die Relation zu charakterisieren, in der ein trefflicher Benutzer des Wortes „Inkongruenz" zum Sachverhalt der Inkongruenz stehen muß, oder ob man hier nicht nur aus methodischen Gründen von sinnenfälligen Entitäten abstrahieren kann, sondern vielleicht deswegen sogar genötigt ist, von ihnen zu abstrahieren, weil die Inkongruenz wenigstens nicht primär für sinnenfällige Entitäten charakteristisch ist. Selbstverständlich soll damit nicht unterstellt werden, daß Kant sich diese Alternative in dieser Fassung vorgelegt habe, als er auf seine Raumtheorie hingearbeitet hat. Kant braucht auch gar nicht so gefragt zu haben. Denn, da wir hier gar nicht in erster Linie dazu beitragen wollen, die Genese von Kants Raumtheorie durch Hinweise auf literarische Zeugnisse irgendwelcher von Kant ausdrücklich gestellter Fragen weiter aufzuhellen, kommt es auch gar nicht darauf an, ob Kant so gefragt hat oder nicht. Entscheidend ist vielmehr, daß Kant durch seine schöpfungstheologische Überlegung einen Kontext eröffnet hat, in dem man zugunsten einer erkenntnistheoretisch orientierten Formulierung des Raumproblems in einem Maße profitieren kann, wie es ganz unabhängig von diesem Kontext nicht so leicht möglich ist. Denn man kann sich von Kants reifer Raumtheorie nicht nur darüber belehren lassen, daß dieser schöpfungstheologische Kontext des Raumproblems weder eine notwendige noch eine hinreichende Voraussetzung dafür abgibt, daß man die von Kant

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vorgeschlagene Lösung des erkenntnistheoretischen Raumproblems akzeptieren kann. Darüber hinaus hat sich ja gezeigt, inwiefern man nachträglich zu einer konkreteren und genaueren Formulierung dieses Raumproblems gelangen kann, wenn man untersucht, ob und wenn ja wie die in diesem schöpfungstheologischen Kontext getroffenen Unterscheidungen sich eindeutig zugunsten von erkenntnistheoretisch wichtigen Unterscheidungen fruchtbar machen lassen. Hier hat sich nun beim ersten Schritt herausgestellt, daß man der schöpfungstheologischen Prämisse, ein göttlicher Demiurg könne inkongruente Gegenstücke aus dem leeren Raum hervorbringen, die erkenntnistheoretisch ausgerichtete Frage nach den Bedingungen zuordnen kann, wie sie von jeder Instanz erfüllt werden, wenn sie einen Sachverhalt wie die Inkongruenz entdecken, d. h. überhaupt erstmals in einer trefflichen Formulierung intendieren kann, „ohne das Muster (hier: in Gestalt inkongruenter Gegenstücke, R.E.) dazu aus irgendeiner Erfahrung geborgt zu haben" (KdrV A 713, Β 741 Ende). Nun ist wohl klar, daß man dem von Kant zunächst schöpfungstheologisch formulierten Kontext des Raumproblems weder nach Belieben noch nach einem schematischen Verfahren erkenntnistheoretisch orientierte Fragen zuordnen kann. Daß man hier nicht schematisch verfahren kann, sieht man ja schon daran, daß es sich gar nicht von selbst versteht — und sich auch nicht für Kant von selbst verstanden hat —, daß und wie man eine Lösung des Raumproblems, wie Kant es in der Schrift über die „Gegenden" noch exponiert hat, überhaupt unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten versuchen kann. Andernfalls hätte Kant ja ζ. B. von vornherein gewußt, daß man allenfalls gleichnishaft redet, wenn man von einem göttlichen Demiurgen redet, wie er inkongruente Gegenstücke aus dem leeren Raum hervorbringt. Aber selbst, wenn man versichert bekäme, daß man so nur im Gleichnis sinnvoll reden kann, wüßte man ja immer noch nicht, inwiefern die skizzierte schöpfungstheologische Situation überhaupt ein Gleichnis abgeben kann. Denn über den Gleichnischarakter einer Rede kann ja auch erst dann Klarheit entstehen, wenn man bereits wie Kant im Falle seiner endgültigen Raumtheorie über eine Theorie verfügt — und sei sie noch so rudimentär entwickelt —, die einen bestimmten Sachverhalt mit Anspruch auf Wahrheit darstellt und in deren Licht der gleichnishafte Charakter einer anderen Rede als solcher offenkundig wird. Aber eine solche Theorie zu ermitteln, ist keine triviale Aufgabe. Denn, so hat Kant sich diese Zusammenhänge klargemacht, bei einer gleichnishaften schöpfungstheologischen Überlegung hält man sich von vornherein an eine ganz andere ,Regel der Reflexion' (vgl. WW V,

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KdU, S. 352 f.) als bei der entsprechenden nichtgleichnishaften erkenntnistheoretischen Überlegung. Bei einer erkenntnistheoretischen Überlegung, wie man sie im Rahmen von Kants Raumtheorie anstellt, richtet man sich nämlich in der Weise nach einer Regel, daß man sich „anschickt, um die subjektiven Bedingungen (hier: die reine räumliche Anschauung, R.E.) ausfindig zu machen, unter denen wir zu Begriffen (hier: ζ. B. zum Begriff der Inkongruenz, R.E.) gelangen können" (KdrV A 260, Β 316). Dagegen orientiert man sich bei einer schöpfungstheologischen Überlegung, wie Kant sie in der Schrift über die „Gegenden" angestellt hat, offenbar in der Weise an einer Regel, daß man versucht, die demiurgischen Bedingungen ausfindig zu machen, unter denen eine göttliche Instanz zu Geschöpfen wie einer linken und einer rechten Hand gelangen kann; dabei kann sich dann herausstellen, daß, „um die eine (Hand) hervorzubringen, (. . .) eine andere Handlung der schaffenden Ursache nöthig (war), als die, wodurch ihr Gegenstück gemacht werden konnte" (WW II, Gegenden, S. 383). 2 1 Wie immer man sich hier in der Sache zu entscheiden haben mag — weder ist es trivial, daß man auch im Hinblick auf eine göttliche Schöpfungsinstanz sinnvoll nach den von ihr zu erfüllenden kognitiven Bedingungen fragen kann, unter denen sie zur Einsicht in die Inkongruenzstruktur gelangen kann, wie sie für einige von ihr hervorzubringende und auch hervorgebrachte Paare von Geschöpfen charakteristisch ist; noch ist es trivial, daß man das Raumproblem, wie Kant es in der Schrift über die „Gegenden" anschneidet, nicht in einem schöpfungstheologischen Kontext lösen kann, sondern stattdessen in einem erkenntnistheoretischen Kontext zu lösen versuchen muß. Damit ist man aber auch schon bei der Frage, inwiefern man jenem schöpfungstheologischen Kontext des Raumproblems erkenntnistheoretisch orientierte Fragen nicht nach Belieben zuordnen kann. Wir brauchen dies hier nicht grundsätzlich zu klären. Wir können uns vorerst mit der Erinnerung begnügen, daß wir hier Kants klassische Raumtheorie unter21

Vor allem in seinen Vorlesungen über Rationaltheologie (vgl. W W X X V I I I . 2. Iff.) hat Kant im Hinblick auf die Schöpfungsinstanz feinere Unterscheidungen getroffen; insbesondere unterscheidet er eine Instanz, die in dem eingeschränkten Sinne schöpferisch tätig ist,"daß sie bloß die vor allem auch geometrisch charakterisierbaren Gestalten, Formen der sinnenfälligen Dinge hervorgebracht hat, von einer Instanz, die sowohl die so gestalteten Materialien geschaffen wie auch diese Materialien so gestaltet hat — die nur gestaltende vorweltliche Instanz denkt Kant in Analogie zum Architekten; nur die Instanz, die sowohl die Materialien wie auch die Gestalten der Stoffe hervorbringt, faßt Kant im strengen Sinne als Schöpfer auf; vgl. W W X X V I I I . 2.2, Met. und rationaltheol. Vöries., S. 1093ff„ 1194ff. und 1299ff.

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suchen. Dadurch sind der Beliebigkeit von vornherein aus methodischen Gründen Grenzen gezogen. Denn die erkenntnistheoretisch orientierten Fragen, wie wir sie hier zu rekonstruieren versuchen, müssen offenbar gewissen Adäquatheitsbedingungen genügen, über die man sich von Anfang an beim Studium von Kants Raumtheorie Klarheit verschafft haben muß. So liegt es auf der Hand, daß im Anschluß an Kants schöpfungstheologisch formulierten Kontext des Raumproblems nur solche erkenntnistheoretisch modifizierten Fragen zulässig sind, als deren Antworten auch Formulierungen aus Kants klassischer Raumtheorie fungieren können. Darüber hinaus hat sich beim ersten Schritt in dieser Richtung schon gezeigt, wie man hier nicht nur einer solchen hermeneutischen Adäquatheitsbedingung entsprechen kann. Denn wir haben in einem Atemzug damit auch noch plausibel zu machen versucht, inwiefern die von uns rekonstruierte unausdrückliche Leifrage Kants so ausfällt, daß Kants Antwort auch von einem heute wünschenswert erscheinenden formalen Reflexionsniveau aus betrachtet sogar sachlich interessant ausfällt. Denn in diesem Sinne hat sich ja zunächst unter Gesichtspunkten der Pragmatik herausgestellt, daß Kant mit seiner Theorie der reinen räumlichen Anschauung auf die Frage antwortet, was für eine Bedingung jede Instanz erfüllt, die mit dem Ausdruck „Inkongruenz" bzw. „inkongruent" insofern sinnvoll und eindeutig, also sachverständig umgehen kann, als sie einen Sachverhalt wie die Inkongruenz überhaupt als solchen entdecken kann. Es kommt bei diesem Stand der Dinge nun vor allem darauf an, sich klarzumachen, daß es einem von der Sache her gar nicht mehr freigestellt ist, beim nächsten Schritt alle Fragen auf sich beruhen zu lassen, wie man sie hier unter Gesichtspunkten der Semantik formulieren kann. Das liegt ersichtlich daran, daß man noch längst nicht eine entscheidbare Theorie vor sich hat, wenn man lediglich weiß, daß Kant in seiner Raumtheorie zunächst eine unter Gesichtspunkten der Pragmatik sinnvolle Behauptung aufstellen kann und wie diese Behauptung genau lautet. Denn, wie immer man diese Behauptung auch im einzelnen zu formulieren und zu präzisieren versucht — man kommt an Hand der frühen, rudimentären Fassung von Kants Raumtheorie über eine bloß paradigmatische Bestimmung des unmittelbaren Manifestationsbereiches der reinen räumlichen Anschauung an Hand des Beispiels der Inkongruenz streng genommen nicht hinaus. Es ist daher noch gar nicht klar, in welchem Gegenstandsbereich ein Sachverhalt wie die Inkongruenz, allgemein betrachtet, manifest gemacht werden kann, wenn die Inkongruenz lediglich eines unter mehreren ver-

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schiedenen Beispielen für die Sachverhalte abgibt, wie sie sich von jedermann nur vermöge der von ihm zu erfüllenden Bedingung der reinen räumlichen Anschauung als solche ausfindig machen lassen. Und im Zusammenhang mit dieser vorläufig bestehenden Unklarheit hatte uns das Abstraktionsniveau von Kants schöpfungstheologisch formuliertem Kontext sogleich veranlaßt die Fragestellung zu differenzieren, wie man sie hier verfolgen kann. Denn, wenn eine Instanz insofern, als sie ein göttlicher Demiurg ist, inkongruente Gegenstücke ohne Rückgriff auf entsprechende sinnenfällige Muster schaffen kann, dann kann man hier unter Gesichtspunkten der Semantik fragen, ob und wenn ja inwiefern eine Instanz, die die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt und insofern Sachverhalte wie die Inkongruenz entdecken kann, prinzipiell ohne Rekurs auf sinnenfällige Entitäten eindeutig und allgemein den Gegenstandsbereich beschreiben kann, in dem solche Sachverhalte dann eigentümlicherweise einschlägig sind. Erst, wenn man nachgewiesen hat, daß man von sinnenfälligen, also datierbaren und lokalisierbaren Entitäten gänzlich abstrahieren und gleichwohl einen Gegenstandsbereich in unverwechselbarer Weise charakterisieren kann, im Hinblick auf den unter anderem auch die Ausdrücke „Inkongruenz" und „inkongruent" sinnvoll und eindeutig verwendet werden können, ist Kants Raumtheorie aber aus ihrer rudimentären, an einzelne Beispiele gebundenen Gestalt in eine Form übergeführt worden, in der sie außer unter Gesichtspunkten der Pragmatik auch noch unter Gesichtspunkten der Semantik einen entscheidbaren Hauptsatz zu formulieren gestattet. Wir müssen daher zunächst noch untersuchen, ob und wenn ja inwiefern die Rede von der „Inkongruenz" im Anschluß an Kant unter Gesichtspunkten der Semantik als sinnvoll gerechtfertigt werden kann.

B. Der Intentionsbereich § 8. Semantische und ontologische Inkongruenzbehauptungen

der reinen räumlichen Voraussetzungen

Anschauung von

Wir wollen zunächst an den von Kant hervorgehobenen Umstand anknüpfen, daß durch das Feststellen einer Inkongruenz jeweils „zwei Geschöpfe können unterschieden werden" (WW II, Gegenden, S. 380). Wählt man statt Kants schöpfungstheologisch geprägter Ausdrucksweise,

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die an dieser Stelle sachlich belanglos ist, einen neutralen Ausdruck, mit dessen Hilfe man im übrigen aber im gleichen Umfang Allgemeinheit intendieren kann wie mit der Rede von Geschöpfen, dann kann man mit Kant auch feststellen, daß durch das Merkmal der Inkongruenz jeweils genau zwei sinnenfällige Gegenstände unterschieden werden können. Die Pointe, die Kant hier im Hinblick auf die Inkongruenz im Auge hat, besteht nämlich, wie man sich klar machen kann, darin, daß man in ihrem Einzugsbereich jeweils nicht mehr und nicht weniger als zwei, also genau zwei sinnenfällige Gegenstände intendieren kann, ohne zu diesem Zweck auch noch Begriffe zu Hilfe zu nehmen zu müssen, in deren Umfang solche Gegenstände im übrigen vielleicht fallen. Wer z . B . , ohne selber unmittelbar Zeuge zu sein, den Augenzeugen einer Tatsache angesichts dieser Tatsache äußern hört „Dieser Gegenstand ist blaß" und „Dieser Gegenstand ist ungewöhnlich klein" und „Dieser Gegenstand ist fünfgliedrig", weiß noch nicht ohne weiteres, ob mit Hilfe dieser Äußerungen ein und derselbe lokalisierbare Gegenstand, ζ. B. eine Hand, dreimal nacheinander zutreffend oder unzutreffend intendiert wird oder ob zwei oder ob drei verschiedene lokalisierbare Gegenstände zutreffend oder unzutreffend intendiert werden. Wer in einer solchen Situation aber durch die Äußerungen „Dieser Gegenstand ist von der Linken gegen die Rechte gewunden" und „Dieser Gegenstand ist von der Rechten gegen die Linke gewunden" informiert wird, der weiß nach Kant offenbar auch schon ohne weiteres, daß mit Hilfe dieser beiden Äußerungen auch genau zwei verschiedene lokalisierbare Gegenstände intendiert werden. Diese Informiertheit über die Zweizahl der Dinge, von denen die Rede ist, wenn z. B. in einer wahren Konjunktion von der linksgewundenen Gestalt eines Gegenstandes und von der rechtsgewundenen Gestalt eines Gegenstandes die Rede ist, ist hier dann also auch ganz unabhängig davon gesichert, ob diese Dinge nun jeweils auch noch zutreffend oder unzutreffend klassifiziert werden können oder nicht und ob sie eindeutig oder vieldeutig gekennzeichnet oder namentlich erwähnt werden können oder nicht. Man kann die Charakteristik durch Inkongruenz demnach gerade auch dann verwenden, wenn man sinnvolle und eindeutige Formulierungen im Hinblick auf nicht weniger und nicht mehr als zwei sinnenfällig existierende Gegenstände treffen will, die im übrigen weder durch einen Namen, noch durch eine Kennzeichnung, noch durch einen allgemeinen oder einen singulären Term bestimmt werden können. Damit sind aber die wichtigsten Möglichkeiten, wie man die Charakteristik inkongruenter Gegenstücke im Anschluß an den phänomeno-

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logischen Teil von Kants Untersuchung über die „Gegenden" verwenden kann, noch nicht erschöpft. Eine weitere Form ihrer Verwendung kann man sich noch einmal an Hand der Tatsache überlegen, daß es ζ. B. Pflanzenarten wie den von Kant angeführten Hopfen gibt, deren Exemplare sich nach Kants Beobachtungen sämtlich von der Linken gegen die Rechte wie um eine Achse winden. Das Beispiel dieser Tatsache ist in diesem Zusammenhang — wie schon angedeutet (vgl. S. 51/52) - deswegen wichtig, weil es veranlassen kann festzustellen, daß man auch im Hinblick auf einen entweder links- oder stattdessen rechtsgewundenen sinnenfällig existierenden Gegenstand, zu dem es ein inkongruentes Gegenstück gar nicht gibt, noch in sinnvoller Weise von seinem inkongruenten Gegenstück sprechen kann. Andernfalls wäre es ja schon aus semantischen Gründen nicht eindeutig möglich zu versuchen, ein inkongruentes Gegenstück zu den ausnahmslos ζ. B. links-rechts-wüchsigen Exemplaren einer Pflanzenart zu züchten. Ebenso wäre es, um an Kants Beispiel aus den „Prolegomena" (vgl. WW IV, Prol., § 13, S. 286ff.) anzuknüpfen, auch schon aus semantischen Gründen nicht möglich, nach dem verloren gegangenen Gegenstück eines Handschuhs suchen zu wollen; denn ohne die Inkongruenzcharakteristik wäre es aus semantischen Gründen noch nicht einmal möglich, eindeutig zu bestimmen, welchen von zwei Handschuhen eines Paares man überhaupt verloren hätte. Man könnte zwar immer noch feststellen, daß man nunmehr nur noch einen statt wie bisher zwei Handschuhe bei sich habe. Aber man könnte auch immer nur auf dem quasiexperimentellen Umweg des Ausprobierens festzustellen versuchen, auf welche Hand der übrig gebliebene Handschuh noch am leichtesten paßt, und ob ein zweites, angebliches Fundstück ebenso leicht auf die andere Hand paßt. Ohne die Möglichkeit, auf die Charakteristik durch Inkongruenz zurückzugreifen, könnte man Formulierungen, die das linksgestaltete Gegenstück eines vorgelegten Dinges als solches betreffen sollen, weder im Hinblick auf abhanden gekommene noch im Hinblick auf Gegenstände eindeutig verwenden, wie sie bis zum Zeitpunkt der jeweils einschlägigen Äußerung noch nicht einmal existiert haben. Denn man könnte Ausdrücke wie „links" und „rechts" nicht nur nicht eindeutig, sondern noch nicht einmal sinnvoll im Hinblick auf Elemente von inkongruenten Paaren von irgendwelchen Gegenständen verwenden.22 Daher 22

Auch Smart (1968) hat unter Gesichtspunkten der Semantik festgestellt, daß ein Vertreter der Theorie vom relationalem Realraum finden müsse, daß es, wenn es nur ein Ding, nämlich eine Hand, in der Welt gäbe, sinnlos wäre, sie eine rechte bzw. linke Hand zu nennen (vgl. Smart S. 217); vgl. aber Earmans (1971) Kritik, daß Smart nicht zwischen semantischen, ontologischen und epistemologischen Aspekten unterscheide (S. 4/5).

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kann man die Inkongruenzcharakteristik gerade auch dann verwenden, wenn man sinnvolle und eindeutige Formulierungen einmal im Hinblick auf genau zwei Gegenstände treffen will, von denen bis dahin überhaupt nur ein einziger zeitweilig existiert zu haben braucht, also auch hat lokalisiert werden können müssen. 23 23

G . Neriich (1973) hat in diesem Zusammenhang bemerkt, daß Kant im Rahmen der schöpfungstheologischen Fiktion, es sei zunächst bloß eine einzige von den beiden Händen hervorgebracht worden, wie sie uns aus der Erfahrung paarweise vertraut sind, darauf aus war, „not at showing the hand to be a right hand or a left hand, but at showing that it is enantiomorph" (S. 341). O b Neriich aber auch einleuchtende Gründe für sein Urteil hat, daß die von Kant fingierte Schöpfung einer einzigen Hand „shows this (i.e. that it is an enantiomorph, R . E . ) perfectly clear" (ib.), kann allerdings bezweifelt werden (vgl. hierzu im einzelnen S. 104 29 und S. llOff.). Unabhängig davon ist es allerdings auch nicht leicht zu entscheiden, ob Kant hier wirklich darauf aus war („aimed at") oder nicht zu zeigen, daß irgendeine von zwei Händen, wie wir sie paarweise aus der Erfahrung kennen, dann, wenn sie das allererste Schöpfungswerk ist, vor allem als inkongruentes Gegenstück („enantiomorph") einer anderen Hand und nicht als linke Hand oder stattdessen als rechte Hand bestimmt werden könne. Kant sagt jedenfalls, daß dann „das erste Schöpfungsstück . . . nothwendig entweder eine Rechte oder ein Linke (ist)" (WW II, Gegenden, S. 383). Damit ist Neriichs Auffassung aber immer noch verträglich. Denn Worte wie „links" und „rechts" können und müssen, wie sich noch herausstellen soll (vgl. vor allem § 12), auf Grund ihrer formalen semantischen und pragmatischen Eigenschaften streng genommen von jedem, der sie überhaupt sinnvoll in den Mund nehmen kann, jedesmal, wenn er sie in den Mund nimmt, von neuem auf ihre eindeutige Verwendung festgelegt werden. Jeder, der diese Worte überhaupt sinnvoll verwenden kann, nimmt dann wenigstens bei der ersten Gelegenheit ihres sinnvollen und eindeutigen Gebrauches gleichsam einen bestimmten .Taufakt' vor (vgl. hierzu die lehrreichen Erörterungen bei Kripke (1972), bes. S. 302ff., Anm. 44, S. 328ff.). Dieser Taufakt besteht in einer sprachlichen Handlung, durch die genau einem Element aus einem Paar Gegenständen irgendeines Bereiches (bei Kant: Hände, Schnecken, Schrauben, Hopfenexemplare usw.) entweder das Wort „links" oder stattdessen das Wort „rechts" eineindeutig zugeordnet wird (vgl. auch S. 93 2 4 ). Ein solcher Sprechakt und seine Taufrolle geben an sich aber noch überhaupt nicht irgendwelche erkenntnistheoretischen Probleme etwa von der Art auf, mit Hilfe von welchem Kriterium man beispielsweise den Linkscharakter irgendeines Gegenstandes erkennen könne. Denn eine Sprechpraxis, die darin besteht, daß jemand immer dann und auch erstmals dann, wenn er im Hinblick auf irgendeinen Gegenstand entweder das Wort „links" oder stattdessen das Wort „rechts" äußern kann, auch effektiv entweder das W o n „links" oder stattdessen das Wort „rechts" äußert, braucht jedenfalls gar nicht eine entsprechende Einsicht in einen nichtsprachlichen Sachverhalt vorauszusetzen, sondern kann auch bloß auf den Entschluß zurückgeführt werden, von der Fähigkeit zu solchen sprachlichen Äußerungen in der charakterisierten Weise Gebrauch zu machen. Gleichwohl kann man sich aber anhand dieser Beschreibung einer bestimmten sprachlichen Praxis noch einmal unter einem anderen Gesichtspunkt als bisher genau klar machen, worin das erkenntnistheoretische Problem Kants in diesem Zusammenhang besteht. Es besteht nämlich in der Frage, wie die Bedingungen im einzelnen zu beschreiben sind, die einem ermöglichen, einen nichtsprachlichen Unterschied zwischen dem „Rechts"-Charakter irgendeines Gegenstandes und dem „Links"-Charakter irgendeines Gegenstandes als solchen zu entdecken, und die einem ermöglichen, mit dieser Entdeckung auch eine Sprechpraxis in einsichtiger Weise zu rechtfertigen, die darin be-

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Studiert m a n K a n t s U n t e r s u c h u n g in diesem Sinne weiter, dann kann m a n auf eine Möglichkeit geführt w e r d e n , die Inkongruenzcharakteristik z u v e r w e n d e n und dabei die semantischen Voraussetzungen der definiten Klassifizierung, der definiten K e n n z e i c h n u n g und der definiten n a m e n t lichen E r w ä h n u n g v o n sinnenfällig existierenden Gegenständen sowie die ( o n t o l o g i s c h e ) V o r a u s s e t z u n g der sinnenfälligen E x i s t e n z

inkongruenter

G e g e n s t ü c k e in einem n o c h umfassenderen Sinne z u vernachlässigen als es in d e n ersten beiden Schritten gerechtfertigt w e r d e n konnte. Diese M ö g lichkeit hat K a n t nämlich, genau g e n o m m e n , auch n o c h zugelassen, w e n n er im R a h m e n seiner schöpfungstheologischen Fiktion probeweise auch einmal

die

Konsequenz

erörtert,

wie sie sich ergibt,

wenn

man

die

steht, daß man strikt und eindeutig zwischen dem Gebrauch des Wortes „links" und dem Gebrauch des Wortes „rechts" unterscheidet. — Von hier aus betrachtet, wäre Kant der Sache nach jedenfalls konsequent gewesen, wenn er deutlich genug herausgestellt hätte, daß jemand irgendeinen Gegenstand dann und nur dann sinnvoll beispielsweise auf seinen „Links"-Charakter hin ansprechen kann, wenn er diesen Gegenstand auch im Hinblick auf den eigentümlichen Unterschied hin zutreffend ansprechen kann, wie er für ein Paar charakteristisch ist, von dem der mit „links" angesprochene Gegenstand ein und nur ein Element ist. Aber ich finde, daß bei Kant nicht deutlich genug, und schon gar nicht „perfectly clear", herauskommt, ob er nun darauf aus war („aimed at") oder nicht, (1) diesen Voraussetzungszusammenhang oder (2) die Voraussetzungsfunktion der Inkongruenzcharakteristik oder plausibel zu machen, (3) daß jemand einen Gegenstand auch dann sinnvoll in einer Linkscharakteristik beschreiben kann, wenn er nicht auch eine gegenständlich orientierte Rechtscharakteristik treffen und den Unterschied charakterisieren kann, wie er zwischen einem Gegenstand, sofern er zutreffend von einer Linkscharakteristik beschrieben wird, und einem Gegenstand besteht, sofern er zutreffend von einer Rechtscharakteristik beschrieben wird. Da ich finde, daß dies nicht deutlich herauskommt, unterstelle ich bis zum Nachweis des Gegenteils, daß Kant jedenfalls den unter (3) erwähnten, sachlich unhaltbaren Gedanken nicht entwickeln wollte. Man sollte aber auch zumindest mit der Möglichkeit rechnen, daß Kant auch die unter (1) und (2) erwähnten Gedanken nicht entwickeln wollte. Kant wollte in der Schrift von 1768 vor allem die These vom relationalen Charakter des Realraumes ad absurdum führen und einmal hypothetisch zugunsten der Theorie vom absoluten Realraum zu argumentieren versuchen. Daher beschreibt man die Weise, in der sich die von Neriich angeschnittenen Probleme in Kants Intentionen einfügen, wohl auch angemessener, wenn man davon spricht, daß Kant von Voraussetzungen, wie Neriich sie zu rekonstruieren versucht, vielleicht Gebrauch gemacht hat; Kant hat sie aber weder inhaltlich noch als solche „perfectly clear" entwickelt. Eine ganz andere Frage ist es dann immer noch, welches der Sache nach die tragfähigsten Voraussetzungen sind, auf die der Autor eines Gedankenganges wie des kantischen sich stützen kann. Aber jedenfalls: wenn man sieht, wie hier die Sachlage, Kants Darstellung und die hermeneutische Situation ineinanderspielen, dann ist es nicht verwunderlich, daß in der Diskussion um diese Dinge auch die zu Neriichs Auffassung konträre Auffassung vertreten worden ist. Danach kommt es für Kant nur auf die Unterscheidung zwischen einer „Links"-Charakteristik und einer „Rechts"-Charakteristik und gar nicht mehr auf eine gegen diese verbalen Unterscheidungen an sich indifferente Inkongruenzcharakteristik an; vgl. ζ. B. Ishiguro (1972), S. 87ff.

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Schöpfungsinstanz mit einem strikten Vertreter der Theorie vom relationalen Realraum identifiziert und fragt, wie sich bestimmte sinnenfällige Dinge denn im Schöpfungsplan einer solchen Instanz dargeboten hätten. Kant hebt hier ja vor allem das abwegige kognitive Verhältnis hervor, in dem diese Instanz zu einigen Gegenständen der sinnenfälligen Welt stünde, wenn sie deren Schöpfung nach Grundsätzen der Theorie vom relationalen Realraum geplant hätte. Denn, wenn sie zuerst genau eine von den Händen hätte erschaffen wollen, wie sie uns aus der sinnenfälligen Welt paarweise vertraut sind, dann hätte sie im Hinblick auf die Grenzen der Räume, wie sinnenfällig existierende Hände sie einnehmen, über die geplante Hand behaupten müssen: „. . . sie würde auf jede Seite des menschlichen Körpers passen . . (WW II, Gegenden, S. 383). Für jede Hand, wie sie im strikt relational konzipierten Plan einer Schöpfungsinstanz vorkommen kann, gilt nämlich ausschließlich, daß von zwei bestimmten ihrer Glieder je eines neben vier anderen ihrer Glieder und nicht zwischen irgendwelchen ihrer Glieder liegt und daß eines ihrer Glieder zwischen zwei Paaren ihrer Glieder liegt usw., „. . . sie mag", wie Kant die kognitive Indifferenz eines solchen Schöpfungsplanes gegenüber einigen Gegenständen der sinnenfälligen Welt kritisiert, „eine Rechte oder eine Linke sein" (ib.). Diese Überlegung Kants ist deswegen so wichtig, weil die Tragweite des Verfügens oder Nichtverfügens über die Inkongruenzcharakteristik hier unter der schöpfungstheologisch vermittelten Voraussetzung plausibel gemacht werden soll, daß es noch nicht einmal einen einzigen Gegenstand gebe, der sinnenfällig angetroffen werden könnte. Eine Instanz, die unter dieser Voraussetzung über die Inkongruenzcharakteristik verfügen kann, kann aber wenigstens noch eine Alternative sinnvoll formulieren und sich eindeutig fragen, ob sie das von ihr mit dem Wort „links" oder stattdessen das von ihr mit dem Wort „rechts" erwähnte Element aus einem inkongruenten Paar von Gegenständen intendieren wolle, und sie kann sinnvoll und eindeutig antworten. Eine Instanz, die über diese im Sinne von Kant .anschaulichen' Unterscheidungsmittel grundsätzlich nicht verfügt, muß sich dagegen mit einem durchweg paritätischen ,Weltbild' begnügen und muß letzten Endes auch in Kauf nehmen, daß sie sich sogar über Tatsachen wie das Faktum sinnenfälliger inkongruenter Gegenstücke hinwegtäuscht. Denn auch sie kann sprachliche Ausdrücke wie „links" und „rechts" nicht nur nicht eindeutig, sondern noch nicht einmal sinnvoll im Hinblick auf Elemente von inkongruenten Paaren von irgendwelchen Gegenständen verwenden. Daher kann man die Inkongruenzcharakteristik gerade auch dann ver-

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wenden, wenn man sinnvolle Formulierungen im Hinblick auf genau zwei Gegenstände eindeutig will treffen können, von denen noch keiner jemals sinnenfällig, d. h. lokalisierbar und datierbar existiert hat und von denen auch keiner schon klassifiziert, gekennzeichnet oder namentlich erwähnt werden könnte. 2 4 Wir waren vorläufig von der Feststellung ausgegangen, daß es nicht ohne weiteres möglich zu sein scheint, Kants Rede von der „Inkongruenz" semantisch zu rechtfertigen. Wir sind daher zur weiteren Klärung auf einige Überlegungen Kants aus der Schrift über die „Gegenden" eingegangen, indem wir sie in den erkenntnistheoretischen Kontext einbezogen haben, den Kant in der Inaugural-Dissertation für das Raumproblem eröffnet hat, indem er in seiner klassischen Theorie nach bestimmten Bedingungen der Möglichkeit fragt, Sachverhalte wie die Inkongruenz zu entdecken. Wenn uns dabei kein entscheidender Fehler

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Vielleicht ist nicht sofort klar, unter welchen Umständen man außerhalb der Schöpfungstheologie auf ein solches Kriterium der Zweizahl von Gegenständen angewiesen sein kann. A b e r wenn Kant im Rahmen seiner Kategorienlehre u. a. eine Distributionstheorie des Subjekts plurativer kategorischer Urteile voraussetzt, wie es von M . Frede und L. Krüger (1970) insoweit trefflich herausgearbeitet worden ist, dann liegt es auf der H a n d , daß es f ü r K a n t aus systematischen Gründen wünschenswert sein muß, über ein Kriterium zu verfügen, das einem gestattet, auch unter Abstraktion von allen semantisch wichtigen Unterschieden (vgl. hierzu S. 194 2 2 meiner Arbeit) eindeutig zwischen vielen, also zwischen wenigstens zwei (vgl. Frede/Krüger, S. 44, A n m . 55) möglichen nichtsprachlichen Korrelaten des Subjektausdrucks eines plurativen kategorischen Urteils zu unterscheiden. Kant hat zwar, wie Frede/Krüger richtig feststellen, eine entsprechende Distributionstheorie nicht voll durchgeführt (vgl. S. 44); dennoch erscheint es mir nicht aussichtslos, eine solche Theorie u. a. mit Hilfe der in dieser Untersuchung zu rekonstruierenden Theorie des geometrischen Gegenstandes zu entwerfen. — Wenn unter den Vorzeichen von Kants schöpfungstheologischer Fiktion nicht wenigstens irgendein Gegenstand existiert, dann scheint man in begriffliche Schwierigkeiten geraten zu müssen, wenn man versuchen wollte, den erstmaligen sinnvollen und eindeutigen Gebrauch entweder des Wortes „ l i n k s " oder stattdessen des Wortes „ r e c h t s " im Hinblick auf irgendeinen nichtsprachlichen Sachverhalt noch als Taufakt aufzufassen (vgl. S. 90 2 3 ). D e n n , wenn nicht wenigstens irgendein Gegenstand existiert, den man überhaupt irgendwie ansprechen könnte, dann existiert offenbar auch nicht irgendein Gegenstand, den man erstmals sinnvoll und eindeutig mit Hilfe von genau einer dieser beiden Vokabeln ansprechen, also gleichsam taufen könnte. Allerdings bereitet es keine prinzipiellen Schwierigkeiten, auch diesem Zusammenhang in begrifflicher Hinsicht gerecht zu werden. Denn, wenn man hier zwar nicht sinnvoll einen T a u f ^ i unterstellen kann, so kann man dennoch sinnvoll so etwas wie einen T a u f p l a n unterstellen, über den der göttliche Demiurg neben dem Schöpfungsplan verfügen könnte. Von diesem Taufplan, in dem jedenfalls die Worte „ l i n k s " u n d „ r e c h t s " vorkommen, unterscheidet sich der Schöpfungsplan offenbar dadurch, daß er nicht diese beiden Worte, sondern nur die vom Gebrauch solcher Worte unabhängige Inkongruenzcharakteristik enthält. Zu der Frage, wie ein Tmiplan, in dem jedenfalls die Worte „ l i n k s " und „ r e c h t s " vorkommen, genau ausfällt, vgl. S. 2 1 4 2 9 .

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unterlaufen ist, dann hat sich vor allem ergeben, daß zunächst der Definitheitsanspruch der Rede von inkongruenten Gegenstücken unter bestimmten semantischen Gesichtspunkten gar nicht gerechtfertigt zu werden braucht. Denn es hat sich herausgestellt, daß der Sinn der Rede von inkongruenten Gegenstücken nicht voraussetzt, daß klassifikatorische, kennzeichnende oder namentliche Wahrheitsbedingungen von Sätzen angegeben werden können, wie sie von sinnenfällig existierenden Gegenständen erfüllt werden können. Es hat sich insofern also gezeigt, daß der Sinn der Rede von „Inkongruenz" und „inkongruenten Gegenstücken" auch darin besteht, die Eindeutigkeit einer Formulierung zu garantieren, mit der man genau zwei Gegenstände intendieren möchte, ohne im Hinblick auf diese Gegenstände von Wahrheitsbedingungen von Sätzen Gebrauch machen zu müssen, wie sie von Gegenständen erfüllt werden mögen, wenn sie in namentlicher, kennzeichnender oder klassifikatorischer Form erwähnt werden können. Wer in so verhältnismäßig hoch abstrakter Weise von inkongruenten Gegenstücken spricht, deutet aber jedenfalls immerhin doch noch Bedingungen an, die jedem, der diese Bedingungen trefflich formulieren kann, gestatten, gerade auch noch unter diesen Vorzeichen der Abstraktion zwischen genau zwei Gegenständen zu unterscheiden. Nimmt man noch das schöpfungstheologische Gedankenexperiment hinzu, wie Kant es mit der Theorie vom relationalen Realraum veranstaltet, dann stellt sich heraus: wenn irgendjemand über die ausführliche Charakteristik der Bedingungen verfügt, wie inkongruente Gegenstücke als solche sie erfüllen, so ist dies eine notwendige und hinreichende Voraussetzung dafür, daß derjenige, der über sie verfügt, solche inkongruenten Gegenstücke jedenfalls auch unter sinnenfälligen Dingen überhaupt entdecken kann. Wenn diese Überlegungen triftig sind, dann hat man damit zwar noch nicht in allgemeiner Form einen bestimmten Gegenstandsbereich ausgezeichnet, in dem man für die Inkongruenzcharakteristik eine adäquate intentionale, .anschauliche' Materie finden kann. Aber man hat in diesem Rahmen doch schon deutlich machen können, daß man nur im Hinblick auf Elemente von (ungeordneten) Paaren von Gegenständen jeweils sinnvoll von Inkongruenz reden kann, ganz gleichgültig, in welchem charakteristischen Gegenstandsbereich man die Elemente eines solchen inkongruenten Paares jeweils manifest machen kann. Wenn wir nun versuchen, aus Kants Texten eine Semantik der Ausdrücke zu rekonstruieren, zu denen beispielsweise auch die Ausdrücke „Inkongruenz" und „inkon-

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gruent" gehören, so wollen wir uns unbeschadet der für diese Semantik angestrebten Allgemeinheit insofern auch weiterhin an Kants paradigmatisches Beispiel der Inkongruenz halten, als wir uns zunächst vor allem für die gegenständliche Interpretation interessieren wollen, wie gerade diese und keine anderen Ausdrücke sie in Kants Semantik womöglich erfahren. Dabei wollen wir beachten, daß wir uns diesen Versuch noch ein wenig vereinfachen können. Man braucht im Rahmen der gesuchten Antwort nämlich gar nicht die ganze Charakteristik der Inkongruenz im Auge zu haben und etwa einsichtig zu machen, inwiefern in dem fraglichen Gegenstandsbereich auch die an der Inkongruenz beteiligten Bedingungen der Gleichheit und Ähnlichkeit erfüllt werden können. Denn die Elemente eines inkongruenten Paares unterscheiden sich von den Elementen eines kongruenten Paares ja gerade nicht im Hinblick auf Gleichheit und Ähnlichkeit. Es kommt daher, was die Inkongruenz anlangt, zunächst auch nur darauf an, verständlich zu machen, inwiefern Kant eine Semantik umrissen hat, aus der hervorgeht, was für Elemente von inkongruenten Paaren im Unterschied, zu Elementen von kongruenten Paaren charakteristisch ist. Allerdings fällt diese Vereinfachung vergleichsweise doch eher geringfügig aus, wenn man bedenkt, daß man andererseits auch eine nicht unerhebliche Komplizierung in Kauf nehmen muß. Diese Komplizierung kommt hier dadurch ins Spiel, daß das semantische Problem sich in diesem Zusammenhang noch einmal verschärfen läßt, wenn man hier eine Voraussetzung konsequent berücksichtigt, von der Kant selber zwar Gebrauch gemacht hat, die er aber weder als solche noch in inhaltlich bestimmter Weise formuliert hat. Denn es hatte sich ja herausgestellt, daß Kant im Rahmen seiner schöpfungstheologischen Hilfsüberlegung von der Voraussetzung Gebrauch macht, es sei sinnvoll, zwei Gegenstände als inkongruente Gegenstücke zu charakterisieren, ohne daß man im Hinblick auf irgendeinen von diesen beiden Gegenständen die Existenz voraussetzen könnte. Denn es verhält sich hier ja nicht so, daß nur im Hinblick auf nichtexistierende Elemente irgendeines Gegenstandsbereiches Behauptungen, nämlich Inkongruenzbehauptungen aufgestellt werden, während im Hinblick auf irgendwelche existierenden Elemente irgendeines Gegenstandsbereiches Behauptungen lediglich nicht aufgestellt würden, obwohl ζ. B. wahre Existenzbehauptungen aufgestellt werden könnten. Im Hinblick auf existierende Elemente irgendeines Gegenstandsbereiches können ja immerhin prinzipiell immer noch Existenzbehauptungen, und zwar sogar wahre Existenzbehauptungen, aufgestellt werden, wenngleich man ge-

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rade im Hinblick auf diese existierenden Gegenstände Behauptungen, insbesondere Existenzbehauptungen, vorerst ganz einfach überhaupt nicht aufstellt. Fingiert man dagegen wie Kant eine Schöpfungsinstanz, die als allererstes Schöpfungsstück eines von zwei inkongruenten Gegenstücken intendiert, dann unterstellt der Autor einer solchen Fiktion zutreffenderweise und konsequenterweise offenbar auch, daß diese Schöpfungsinstanz vor ihrem ersten Schöpfungsakt auch nicht eine einzige wahre Existenzbehauptung im Hinblick auf die von ihr intendierbaren Geschöpfe aufstellen kann. Denn auch ein einziges Element irgendeines Gegenstandsbereiches existiert dann ja gar nicht. Im Hinblick auf nichtexistierende Elemente irgendeines Gegenstandsbereiches, also im Hinblick auf die Elemente eines ,leeren' Gegenstandsbereiches fällt jede positive Existenzbehauptung falsch aus.25 Unter diesen Vorzeichen kann im Zuge einer schöpfungstheologischen Argumentation aber vor allem ein bestimmter Fehler auftauchen, den man von vornherein in zweierlei Formen beschreiben kann: entweder kann man nämlich feststellen, daß der Autor der schöpfungstheologischen Argumentation der fiktiven Schöpfungsinstanz wenigstens eine falsche Existenzbehauptung in den Mund gelegt habe, wenn er sie vor ihrem ersten Schöpfungsakt behaupten oder unterstellen läßt, wenigstens ein Element eines inkongruenten Paares von irgendwelchen Gegenständen existiere; oder man kann ebenso gut feststellen, daß der Autor der schöpfungstheologischen Überlegung sich in einen (formalen) Widerspruch mit seiner eigenen der Sache nach zutreffenden (expliziten oder impliziten) Voraussetzung verwickelt habe, vor dem ersten Schöpfungsakt existiere auch nicht wenigstens ein Element eines inkongruenten Paares von irgendwelchen Gegenständen, wenn er trotzdem — vielleicht aus Unachtsamkeit — behauptet oder unterstellt, vor dem ersten Schöpfungsakt existiere wenigstens ein Element eines inkongruenten Paares von Gegenständen, indem er die fiktive Schöpfungsinstanz vor ihrem ersten Schöpfungsakt unzutreffenderweise unterstellen oder behaupten läßt, wenigstens ein Element eines inkongruenten Paares von irgendwelchen Gegenständen existiere.26

25

Vgl. hierzu Menne (1954), § 29, bes. S. 121 ff; vgl. auch S. 111: 26.17.

26

So behauptet beispielsweise Ishiguro (1972), Kant argumentiere im Rahmen seiner schöpfungstheologischen Fiktion „ b y surreptitiously thinking of a world in which there are two bodies . . . " (S. 87). Zu der Frage, weswegen diese Behauptung Ishiguros nicht zutrifft, vgl. S. 104 2 9 .

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Nun taucht dieser Fehler in Kants schöpfungstheologischer Argumentation nicht auf. Trotzdem ist diese Argumentation deswegen noch längst nicht problemlos. Das liegt nicht etwa nur daran, daß die Schöpfungssituation bloß fingiert ist, 27 oder daran, daß die Rede von einer Schöpfungsinstanz bloß metaphorisch ausgefallen ist, oder daran, daß die Formulierung einer schöpfungstheologischen Analogie ebenso wie die Formulierung jeder anderen Analogie in diesem Zusammenhang eine zwar mehr oder weniger hilfreiche, jedenfalls aber eine bloß vorläufige Verlegenheitslösung bietet. In diesem Punkt waren wir ja auch schon weitergekommen. Denn wir hatten uns klar gemacht, von welcher Sachfrage jemand sich — ausdrücklich oder unausdrücklich — streng genommen leiten läßt, wenn er zunächst eine schöpfungstheologische Analogie zu Hilfe nimmt und dann bei der nächsten sich bietenden literarischen Gelegenheit eine erste Skizze von der Theorie der reinen räumlichen Anschauung publiziert — nämlich: ,was für eine Bedingung erfüllt jede Instanz, die einen Sachverhalt wie die Inkongruenz als solchen oder Gegenstände wie inkongruente Gegenstücke als solche überhaupt entdecken kann, während jede positive Existenzbehauptung falsch ausfällt?'. Wenn man aber nun darüber hinaus speziell auch das angedeutete semantische Problem angeschnitten hat, dann genügt es offenbar nicht mehr, daß man in Gestalt einer solchen Frage über eine Formel verfügt, die so allgemein (,. . . jede Instanz . . .') ist, daß man von Kants reifer 27

Es kann sich übrigens systematisch irreführend auswirken, wenn man behauptet oder unterstellt, Kant beschreibe im Rahmen seiner schöpfungstheologischen Fiktion ein ,counterfactual' (vgl. ζ. B. Ishiguro (1972), S. 87). Wie man spätestens seit den von S.A. Kripke (1972) angestellten Überlegungen wissen kann, handelt es sich bei einer Formulierung, mit der jemand den Anspruch verbindet, ein ,counterfactual' zu beschreiben, schon dann um eine sinnlose Formulierung, wenn diese Formulierung eine unerfüllte Voraussetzung, also eine Voraussetzung enthält, die nicht eine Tatsache (.factual') darstellt, also nicht wahr ist, und deren Negation ebenfalls nicht wahr ist (vgl. Kripke, S. 254/77; vgl. auch Lewis (1973), bes. S. 24/26). Aber offensichtlich beschreibt die Voraussetzung des von Kant im Rahmen seiner schöpfungstheologischen Fiktion benutzten Antecedens-Satzes ,Wenn Gott zuerst eine linke oder stattdessen eine rechte Hand hervorgebracht hätte', nämlich der Satz S, ,Gott hat zuerst nicht eine linke oder stattdessen eine rechte Hand hervorgebracht', nicht eine Tatsache; und auch die Negation von S, beschreibt nicht ein Tatsache. Es ist zwar ein Problem für sich, wie man den semantischen Status eines Satzes aufzufassen hat, der weder eine Tatsache noch ein ,counterfactual' beschreibt und dennoch in grammatikalischer Hinsicht im irrealen Konditional formuliert werden kann — also ζ. B. der Satz ,Wenn Gott zuerst entweder eine rechte oder stattdessen eine linke Hand hervorgebracht hätte, dann . . .'. Aber es dient nicht der begrifflichen Klarheit, wenn man wie Ishiguro einem Satz mit einem so problematischen semantischen Status einen semantischen Status attestiert, der jedenfalls ein ganz andersartiges Verhältnis zwischen diesem Satz und dem von ihm beschriebenen Sachverhalt voraussetzt.

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Raumtheorie eine sachlich tragfähige Brücke zu seiner interessantesten vorläufigen Verlegenheitslösung schlagen kann. Wenn man nämlich gefragt hat, in welchem Gegenstandsbereich Ausdrücke wie „Inkongruenz" und „inkongruent" ihre charakteristische Interpretation finden, und wenn man dabei unterstellt, daß im Hinblick auf die Elemente dieses Gegenstandsbereiches ausschließlich falsche positive Existenzbehauptungen aufgestellt werden könnten, dann hat man dasjenige Merkmal der fingierten Schöpfungssituation noch gar nicht gebührend berücksichtigt, das hier die möglichen Antworten auf die Frage nach einem adäquaten Interpretationsbereich für jene Ausdrücke einer verschärfenden Bedingung unterwirft: bei genauer Analyse von Kants schöpfungstheologischer Argumentation stellt sich nämlich heraus, daß man im Hinblick auf die fingierte Schöpfungsinstanz konsequenterweise auch noch fragen kann, ob sie im Hinblick auf die Elemente des Gegenstandsbereiches, zu dem auch das von ihr intendierte Element irgendeines inkongruenten Paares gehört, denn nun überhaupt über irgendeinen Existenzbegriff verfügen kann. Wenn nämlich jemand, der — wie z . B . eine Schöpfungsinstanz vor dem ersten Schöpfungsakt per definitionem — nur falsche positive Existenzbehauptungen aufstellen könnte, weil kein Element irgendeines Gegenstandsbereiches existiert, dann existiert ersichtlich auch kein Element irgendeines Gegenstandsbereiches, im Hinblick auf das er die Existenz erstmals sinnvoll behaupten könnte. Denn man kann ja auch die Existenz immer nur irgendwann sinnvoll im Hinblick auf irgendeinen Gegenstand behaupten; wer die Existenz sinnvoll aber immer nur irgendwann im Hinblick auf irgendeinen Gegenstand behaupten kann, der kann die Existenz auch immer nur irgendwann erstmals sinnvoll im Hinblick auf irgendeinen Gegenstand behaupten. Wer aber stets und ausschließlich im Hinblick auf nichtexistierende Elemente irgendeines Gegenstandsbereiches positive Existenzbehauptungen aufstellt und mit jeder von ihnen einen Wahrheitsanspruch verbindet — wie eine fiktive Schöpfungsinstanz dies ja tut, wenn sie vor ihrem ersten Schöpfungsakt solche Existenzbehauptungen aufstellt —, der verfügt offenbar weder über einen wohldefinierten Existenz&egriff, noch trifft er im Zuge seiner Existenzbehauptungen jemals in sinnvoller Weise irgendeine Existenzbehauptung. Denn ein wohldefinierter Existenzbegriff legt jedenfalls auch die Bedingungen fest, unter denen eine bestimmte Existenzbehauptung sinnvoll, d. h. so getroffen werden kann, daß sie entweder wahr oder stattdessen falsch ausfällt. Offenbar kann eine positive Existenzbehauptung also auch nur dann in sinnvoller Weise getroffen werden, also entweder wahr oder stattdessen falsch ausfallen, wenn wenigstens

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ein Element irgendeines Gegenstandsbereiches existiert. Denn nur, wenn wenigstens ein Element irgendeines Gegenstandsbereiches existiert, kann eine positive Existenzbehauptung auch entweder wahr ausfallen — wenn das verwendete Prädikat f a u f irgendeinen existierenden Gegenstand χ zutrifft — oder falsch ausfallen — wenn dieses Prädikat auf χ nicht zutrifft. Nun stellt aber eine Schöpfungsinstanz, die vor ihrem ersten Schöpfungsakt positive Existenzbehauptungen trifft, diese Existenzbehauptungen wie jemand auf, der gar nicht zwischen Bedingungen unterscheiden kann, unter denen Existenzbehauptungen sinnvoll, nämlich so getroffen werden können, daß sie entweder wahr oder stattdessen falsch ausfallen, und Bedingungen unterscheiden kann, unter denen Existenzbehauptungen nicht sinnvoll, nämlich nur so getroffen werden können, daß sie jedenfalls nicht entweder wahr oder stattdessen falsch ausfallen, sondern stets falsch ausfallen. Denn sie stellt positive Existenzbehauptungen auf, während nicht wenigstens ein Element irgendeines Gegenstandsbereiches existiert. Wer aber Existenzbehauptungen unter Bedingungen aufstellt, unter denen sie im Lichte eines wohlbestimmten Existenzbegriffes nicht entweder wahr oder stattdessen falsch ausfallen, d. h. unter denen sie auch gar nicht in sinnvoller Weise getroffen werden können, der trifft Existenzbehauptungen eben nicht nur nicht in sinnvoller Weise, sondern verfügt offenbar noch nicht einmal über einen wohlbestimmten Existenzbegriff. Was gibt diese Überlegung für unseren Zusammenhang her? Man kann mit Hilfe dieser Überlegung in unserem Zusammenhang vor allem genau deutlich machen, wodurch sich das semantische Problem der Frage nach einem adäquaten Interpretationsbereich für Ausdrücke wie „Inkongruenz" und „inkongruent" verschärft, wenn man dabei alle wichtigen Merkmale der von Kant fingierten Schöpfungssituation angemessen berücksichtigen möchte. Zunächst ist jetzt klar, daß die fiktive Schöpfungsinstanz vor ihrem ersten Schöpfungsakt noch nicht einmal in sinnvoller Weise im Hinblick auf Elemente eines inkongruenten Paares von Gegenständen positive Existenzbehauptungen aufstellen könnte, weil nämlich eine notwendige Bedingung dafür gar nicht erfüllt ist, daß eine positive Existenzbehauptung sinnvoll, d. h. entweder wahr oder stattdessen falsch ausfallen kann — die Bedingung nämlich, daß wenigstens ein Element irgendeines Gegenstandsbereiches existiert. Dieses Merkmal der von Kant fingierten Schöpfungssituation bestimmt allerdings noch gar nicht einmal in allzu einschneidender Weise die genaue Formulierung des semantischen Problems. Denn Kant behauptet ja gar

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nicht und Kant unterstellt auch gar nicht, daß seine fiktive Schöpfungsinstanz Existenzbehauptungen aufstelle. Wenn sie aber Existenzbehauptungen gar nicht erst aufstellt, dann kann man hier auch nicht zutreffend davon sprechen, sie stelle Existenzbehauptungen nicht in sinnvoller Weise auf. Wenn wir falsche Existenzbehauptungen trotzdem verhältnismäßig ausführlich analysiert haben, so deswegen, weil man dabei eine Fallunterscheidung entwickeln kann, die weiterhilft. Wir haben nämlich zwischen einem Fall, in dem jemand Existenzbehauptungen gar nicht in sinnvoller Weise trifft, und einem Fall unterschieden, in dem jemand nicht über einen wohldefinierten Existenzbegriff verfügt. Zwischen beiden Fällen besteht zwar, wie wir gesehen haben, auch ein bestimmter Bedingungszusammenhang: wer Existenzbehauptungen durchweg nicht in sinnvoller Weise aufstellt, kann auch nicht über einen wohldefinierten einschlägigen Existenzbegriff verfügen. Es gilt aber offenbar nicht, daß jemand, der über einen wohldefinierten Existenzbegriff verfügt, alleine deswegen auch schon sinnvolle positive Existenzbehauptungen aufstellen könnte. Denn dafür, daß man positive Existenzbehauptungen in sinnvoller Weise aufstellen kann, reicht es deswegen nicht aus, daß man über einen wohldefinierten Existenzbegriff verfügt, weil es hierfür, wie wir überlegt haben, jedenfalls auch nötig ist, daß wenigstens ein Element irgendeines Gegenstandsbereiches auch existiert. Andererseits ist aber damit, daß jemand Existenzbehauptungen überhaupt nicht aufstellt, immerhin ja durchaus noch verträglich, daß er über einen wohldefinierten Existenzbegriff verfügt. Auf diese Verträglichkeit kommt es in unserem Zusammenhang nun vor allem an. Wenn es nämlich nicht schon aus formalen Gründen abwegig ist zu fragen, ob jemand, der positive Existenzbehauptungen gar nicht in sinnvoller Weise aufstellen könnte, über einen wohldefinierten Existenzbegriff verfügen kann, dann kann es sich vielleicht lohnen, nach nichtformalen Gründen zu suchen, die einen berechtigen oder vielleicht sogar nötigen, genau diese Frage zu stellen. Die Frage selbst müssen wir in unserem Zusammenhang zunächst wieder in die beiden Versionen aufspalten, die wir dem engeren schöpfungstheologischen und dem weiteren erkenntnistheoretischen Kontext zuzuordnen haben: 1) ,kann — oder muß — eine Schöpfungsinstanz, die als erstes die Schöpfung eines Elementes aus einem inkongruenten Paar von irgendwelchen Gegenständen intendiert, über einen wohldefinierten Existenzbegriff im Hinblick auf solche Gegenstände verfügen oder nicht?'; 2) ,kann — oder muß — jemand, der ein Element aus einem inkongruenten Paar von irgendwelchen Gegenständen überhaupt charakterisieren kann

Semantische und ontologische Voraussetzungen von Inkongruenzbehauptungen

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und insofern auch erstmals charakterisieren, d . h . entdecken kann, ohne deren Existenz voraussetzen zu können, über einen wohldefinierten Existenzbegriff im Hinblick auf diese Gegenstände verfügen oder nicht?'. Man kann von hier aus zunächst sofort sehen, daß sich das semantische Problem der Frage nach dem adäquaten Interpretationsbereich für Ausdrücke wie „Inkongruenz" und „inkongruent" hier insofern verschärft, als dieses Problem mit einem anderen, nämlich mit einem ontologischen Problem belastet ist. Freilich kann auch zugegeben werden, daß hier mit Recht der Argwohn aufkommen kann, man belaste die Erörterung dieses semantischen Problems unnötigerweise mit einem ontologischen Problem. Denn selbst dann, wenn man den ontologischen Status nichtexistierender Elemente eines inkongruenten Paares irgendwelcher Gegenstände mit Hilfe eines wohldefinierten Existenzbegriffes genau beschreiben kann, ist ja noch längst nicht ausgemacht, daß man über eine solche ontologische Beschreibung gerade auch dann schon verfügen müsse, wenn man den Gegenstandsbereich adäquat zu beschreiben versucht, zu dem die Elemente eines inkongruenten Paares irgendwelcher Gegenstände charakteristischerweise gehören. Bei Kant — und das heißt für uns ja vor allem auch: im Hinblick auf Kants Theorie des geometrischen Gegenstandes — liegen die Dinge aber noch anders. Denn Kant hat im Hinblick auf den ontologischen Status der geometrischen Gegenstände klipp und klar festgestellt, daß „in ihrem Begriffe nichts, was ein Dasein ausdrückte, gedacht wird" (WW IV, Μ.Α., S. 467 Anm.). Unter diesen Umständen muß man aber darauf achten, daß man Kant nicht einen Inkongruenzbegriff unterstellt, der einen darauf festlegt, nur solche Inkongruenzbehauptungen im Hinblick auf einschlägige geometrische Gegenstände zu treffen, die auch die Existenz dieser Gegenstände implizieren. Denn solche Existenzimplikationen sind offenbar unverträglich mit Kants knapper und unmißverständlicher Lehre, daß man im Hinblick auf geometrische Gegenstände gar nicht sinnvoll davon sprechen könne, daß sie existieren. Man wird daher vielmehr im Gegenteil darauf zu achten haben, aus welchen konkreten Gründen man Kant einen Inkongruenzbegriff unterstellen darf, der garantiert, daß Inkongruenzbehauptungen im Hinblick auf geometrische Gegenstände nicht die Existenz dieser Gegenstände implizieren. Immerhin stellt Kant ja gelegentlich sogar selber Inkongruenzbehauptungen im Hinblick auf geometrische Gegenstände auf, so, wenn er beispielsweise erwähnt, daß „zwei sphärische Triangel von beiden Hemisphären, die einen Bogen des Äquators zur gemeinschaftlichen Basis haben (und von denen keines gleichschenklig ist,

Das Raumproblem und einige Bedingungen seiner Lösbarkeit

102

R . E . ) , . . . völlig gleich sein ( k ö n n e n ) , in Ansehung d e r Seiten s o w o h l als W i n kel, . . . u n d d e n n o c h . . . ( k ö n n e n ) (sie) nicht k o n g r u i e r e n " ( W W IV, P r o l . , S. 2 8 5 / 2 8 6 ) . A b e r wie kann durch Kants Inkongruenzbegriff dafür gesorgt sein, d a ß eine I n k o n g r u e n z b e h a u p t u n g

über geometrische

Gegenstände

w i e z . B . z w e i sphärische D r e i e c k e nicht die E x i s t e n z eines v o n diesen beiden G e g e n s t ä n d e n impliziert? W e n n m a n diesen Z u s a m m e n h a n g gebührend im A u g e behält, dann liegt es auch s c h o n auf der H a n d , daß es nicht müßig, sondern nötig ist, sowohl

z u fragen, w i e d e r adäquate Gegenstandsbereich für A u s d r ü c k e wie

„ I n k o n g r u e n z " und „ i n k o n g r u e n t " zu beschreiben ist, als auch z u fragen, was

f ü r einen ontologischen

Status die E l e m e n t e dieses

Gegenstands-

bereiches h a b e n . D e n n , w e n n die E l e m e n t e des Gegenstandsbereiches, in d e m A u s d r ü c k e wie „ I n k o n g r u e n z " und „ i n k o n g r u e n t " ihre charakteristische

Interpretation

finden,

mit geometrischen

Gegenständen

identisch

sind, im H i n b l i c k auf die m a n nach Kants T h e s e ja gar nicht sinnvoll die E x i s t e n z b e h a u p t e n kann, dann muß

die A n t w o r t auf die F r a g e nach dem

c h a r a k t e r i s t i s c h e n Interpretationsbereich

für solche A u s d r ü c k e

offenbar

d a m i t verträglich sein, daß m a n im Hinblick auf die Elemente des Gegenstandsbereiches,

in d e m solche A u s d r ü c k e ihre charakteristische

Inter-

p r e t a t i o n 2 8 finden, nicht sinnvoll davon sprechen kann, daß sie existieren. 28

Wer gelernt hat, solche Probleme mit den formalen Mitteln der Semantik zu behandeln, wird mit Recht aufmerken, wenn hier von .Interpretation', .Gegenstandsbereich', .Interpretationsbereich' und dgl. die Rede ist. Man kann dann nämlich fragen, ob hier in demselben Sinne beispielsweise von Interpretation gesprochen wird wie in der Semantik und speziell in der semantischen Modelltheorie. Dazu ist zunächst an folgendes zu erinnern: in der Semantik knüpft man u. a. an den Umstand an, daß man sinnvoll von einer Funktion sprechen kann, wie jemand sie ausübt, wenn er einem sprachlichen Ausdruck a etwas von diesem sprachlichen Ausdruck a Verschiedenes α als dessen Bedeutung zuordnet. Daher expliziert man hier den Interpretationsbegriff in einleuchtender Weise durch den Begriff einer einstelligen Funktion Ψ, die einem sprachlichen Ausdruck a etwas von diesem sprachlichen Ausdruck Verschiedenes α als dessen Bedeutung zuordnet (wobei das von diesem sprachlichen Ausdruck Verschiedene α selber als Element eines noch näher bestimmbaren Bereiches G von Gegenständen aufgefaßt werden darf). Um nun die möglichen Ergebnisse einer Interpretation ψ eines sprachlichen Ausdrucks möglichst einfach und möglichst eindeutig beurteilen zu können, orientiert man sich in der Semantik vorzugsweise an solchen sprachlichen Ausdrücken, die den Status eines Satzes haben. Insofern besteht das mögliche Ergebnis einer Interpretation eines satzförmigen sprachlichen Ausdrucks S entweder in einem wahren Satz oder stattdessen in einem falschen Satz. Eine Interpretation, die in diesem Sinne zu einem wahren Satz führt, heißt auch eine gültige Interpretation oder auch ein Modell. — Nun liegt es auf der Hand, daß man nicht unmittelbar nach einer Interpretation von Sätzen fragt, wenn man nach der adäquaten Interpretation für Ausdrücke wie „inkongruent" und „Inkongruenz" fragt. Aber wir haben gerade auch gesehen, wie man im Rahmen von Kants Raumtheorie nach der adäquaten Interpretation solcher nicht satzförmigen Ausdrücke fragen kann und gleichwohl, wenig-

Semantische und ontologische Voraussetzungen von Inkongruenzbehauptungen

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Unter diesen Umständen können wir die schöpfungstheologische Frage (1)) und deren schöpfungstheologisch neutrale, erkenntnistheoretische Version (2)) aber noch einmal modifizieren: 1') ,was für Gegenstände intendiert eine Schöpfungsinstanz überhaupt, wenn sie zuallererst ein Element aus einem inkongruenten Paar von Gegenständen hervorbringen will und wenn sie im Hinblick auf keinen von diesen Gegenständen über einen Existenzbegriff verfügen kann?'; 2'), was für Gegenstände intendiert jemand, wenn er ein Element aus einem inkongruenten Paar von Gegen-

stens indirekt, schon die Interpretation von einschlägigen satzförmigen Ausdrücken berücksichtigen kann. Denn ein Ausdruck wie „inkongruent" kann, wie Kant ausdrücklich erwähnt und auch durch Beispiele belegt (vgl. S. 101/102), verwendet werden, um mit Hilfe entsprechender satzförmiger Ausdrücke Behauptungen über geometrische Gegenstände aufzustellen. Diesem Zusammenhang kann man nun formal offenbar leicht in der Weise Rechnung tragen, daß man die Adäquatheit der Interpretation eines nicht satzförmigen Ausdrucks wie „inkongruent" zusätzlich von der Bedingung abhängig macht, daß eine Inkongruenzbehauptung über geometrische Gegenstände bei der gesuchten Interpretation von „inkongruent" eine wahre, genau: beweisbare Behauptung bleibt. — Auf Fragen, die einen syntaktischen oder semantischen Formalismus für solche satzförmigen sprachlichen Ausdrücke betreffen, brauchen wir hier nicht einzugehen. Solche Fragen sind auf der Linie auch von Kants Intentionen wenigstens so lange vergleichsweise unwichtig, wie eine adäquate Interpretation für Ausdrücke wie „inkongruent" noch nicht vorgeschlagen und noch nicht als solche gerechtfertigt worden ist. Aber aus einem anderen Grund ist in diesem Zusammenhang Vorsicht geboten. Es kommt hier nämlich nicht nur darauf an, daß eine adäquate Interpretation von „inkongruent" auch eine gültige Interpretation von Sätzen zuläßt oder gewährleistet, mit denen Inkongruenzbehauptungen im Hinblick auf geometrische Gegenstände aufgestellt werden können. Denn, wenn man eine solche Interpretation vorgeschlagen hat, ist ja noch nicht ohne weiteres ausgeschlossen, daß auch noch wenigstens eine andere adäquate Interpretation für „inkongruent" gefunden werden kann, die ebenfalls eine gültige Interpretation eines Satzes zuläßt oder gewährleistet, mit dem ebenfalls eine Inkongruenzbehauptung im Hinblick auf geometrische Gegenstände aufgestellt werden kann. Auf Grund des Lehrgehaltes von Kants Raumtheorie ist man vielmehr von vornherein gehalten, nach einer gültigen Interpretation, d. h. nach einem Modell zu suchen, das ein in einem bestimmten Sinne ausgezeichnetes Modell ist. Denn, wenn man die reine räumliche Anschauung als die Bedingung auffaßt, unter der jeder, der sie erfüllt, Sachverhalte wie die Inkongruenz als solche entdecken kann, dann rührt die Auszeichnung des gesuchten Modells ersichtlich daher, daß diese subjektive Bedingung und der Interpretationsbereich, aus dem das gesuchte Modell stammt, einander in einer ausgezeichneten Weise zugeordnet sind: der fragliche Interpretationsbereich ist dann nämlich nach Kant dadurch definiert, daß er den gegenständlichen Intentionsbereich der reinen räumlichen Anschauung bildet. Und jeder von diesem definitorischen Interpretationsbereich verschiedene Bereich ist dann trivialerweise dadurch definiert, daß er nicht den Intentionsbereich der reinen räumlichen Anschauung bildet. Mit Hilfe eines Ausdrucks, den Kant in solchen Zusammenhängen gebraucht, wollen wir daher davon sprechen, daß diejenige Interpretation von geometrischen Ausdrücken wie „inkongruent", die aus dem Bereich stammt, der mit dem Intentionsbereich der reinen räumlichen Anschauung übereinstimmt, ein ursprüngliches Modell geometrischer Sätze liefert oder gewährleistet.

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Das Raumproblem und einige Bedingungen seiner Lösbarkeit

ständen treffend charakterisieren kann und wenn er im Hinblick auf keinen von diesen Gegenständen über einen Existenzbegriff verfügen kann?'.

§ 9. Der operationale und Orientale Sinn von

Inkongruenzbehauptungen

Wir können hier ein weiteres Mal unserer Hypothese folgen, derzufolge die Sachverhalte, die Kant in der Schrift von 1768 erörtert, sich auf Grund seiner einschlägigen Thesen aus der Inaugural-Dissertation nachträglich als Sachverhalte erweisen können, die eindeutig in dem Anwendungsbereich liegen, wie man ihn im Lichte seiner Theorie vom Raum als reiner Anschauung intendieren kann. Man kann hier noch einmal auf Kants schöpfungstheologisches Gedankenexperiment mit seiner Hypothese vom absoluten, leeren Realraum eingehen und die von Kant hier angestellten Überlegungen noch einmal ausdrücklich in den erkenntnistheoretischen Kontext der Inaugural-Dissertation einbeziehen. Man kann hier aus guten Gründen nämlich nicht nur schon die adäquate Frage nach einer ,subjektiven' Bedingung der Entdeckbarkeit von Sachverhalten wie der Inkongruenz stellen; man kann hier darüber hinaus auch noch diejenige Feststellung Kants kennenlernen, die als einzige geeignet ist, den Studenten seiner Raumtheorie über den z.B. für die Ausdrücke „Inkongruenz" und „inkongruent" adäquaten Gegenstandsbereich zu verständigen, wie Kant ihn erst wieder in seiner reifen Theorie vom Raum als reiner Anschauung aus der 2. Auflage der „Kritik der reinen Vernunft" ausdrücklich in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt hat. Im ursprünglichen Kontext seiner schöpfungstheologischen Argumentation arbeitet Kant nämlich nicht nur mit der hypothetischen Voraussetzung eines absoluten, leeren Realraumes; er behauptet in diesem Zusammenhang vielmehr auch noch, daß zum Hervorbringen ζ. B. einer rechten Hand aus dem leeren Raum „eine andere Handlung... nöthig (ist) als die, wodurch ihr Gegenstück gemacht werden konnte" (WW II, Gegenden, S. 383, Hervorhebung von mir, R.E.) 29 . Transponiert man nun aber die 29

Die Behauptung von Ishiguro (1972), daß Kant in der Schrift über die „Gegenden" argumentiere „by surreptitiously thinking of a world in which there are two bodies" (S. 87), ist also offenbar aus zwei Gründen falsch: (1) sie ist unter inhaltlichen Gesichtspunkten falsch, weil Kant nicht die Existenz zweier Körper voraussetzt, sondern voraussetzt, daß der Unterschied zwischen zwei inkongruenten Gegenstücken, von denen gerade nach Voraussetzung nicht ein einziges existiert, auf den Unterschied zwischen zwei demiurgischen Handlungen zurückgeführt werden könne; (2) Ishiguros Behauptung ist

Der operationale und Orientale Sinn von Inkongruenzbehauptungen

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dann aber auch unter formalen Gesichtspunkten falsch, weil Kant dann a fortiori auch nicht stillschweigend („surreptitiously") voraussetzt, daß zwei Körper existieren. Allerdings ist es dann immer noch ein sachliches Problem, ob eine Behauptung über einen Unterschied zwischen zwei Handlungen überhaupt die Existenz von irgendetwas impliziert oder nicht. Falls eine solche Behauptung die Existenz von irgendetwas impliziert, dann brauchte man mit einer solchen Behauptung aber nicht die Existenz von zwei Körpern vorauszusetzen; vielmehr wäre damit, daß eine solche Behauptung die Existenz von irgendetwas impliziert, auch verträglich, daß man bei einer solchen Behauptung voraussetzt, daß höchstens ein Körper existiere, nämlich ζ. B. der Körper, genauer: der Leib derjenigen einen und selben Instanz, die diese beiden unterschiedlichen Handlungen vollführt. Daß man mit einer solchen Voraussetzung in bestimmten theologischen Zusammenhängen in Schwierigkeiten gerät, ist bekannt. Aber auch dann, wenn es erlaubt wäre, die leibhaftige Existenz einer Schöpfungsinstanz vorauszusetzen, wäre Ishiguro immer noch die Begründung für seine Behauptung schuldig geblieben, daß Kant die Existenz von genau zwei Körpern voraussetze und nicht mit der Voraussetzung der Existenz von höchstens einem Körper auskommen könne. Aber wie gesagt: ob man bei Behauptungen über Handlungscharaktere überhaupt Existenzimplikationen im Hinblick auf Handlungen oder etwas von Handlungen Verschiedenes in Kauf nehmen muß, ist noch einmal ein Problem für sich. — In der jüngsten, von Remnant (1963) eröffneten Diskussion um diese Probleme hat nur Neriich (1973) bemerkt, daß für Kant die „difference between right and left lies in different actions of the creative cause" (S. 351, Hervorhebung von mir, R.E.). Allerdings sieht es so aus, als wenn Neriich sich durch den schöpfungstheologischen Kontext von Kants Überlegung hat irritieren lassen, wenn man liest, daß „it is not easy to find a way of speaking about this which is not metaphorical. But a very penetrating yet not so painfully explicit way of putting the matter is Kant's own, though I believe it to be still a metaphor" (ib.). Dem wird man zwar insofern zustimmen können, als man unseren intuitiv verständlichen Handlungsbegriff im Hinblick auf die kreativen Aktionen einer götdichen Instanz in vielen schöpfungstheologischen Kontexten in der Tat nur im metaphorischen Sinne heranziehen darf, wenn man sich nicht in Widersprüche verwickeln möchte. Da Kant aber nicht gehindert war, das von ihm herausgestellte Raumproblem auch außerhalb des schöpfungstheologischen Kontextes zu erörtern, ist es auch zulässig, noch nachträglich zu fragen, ob man die von Kant vorgenommene Zuordnung zwischen zwei Handlungen und den nichtexistierenden Elementen eines inkongruenten Paares von irgendwelchen Gegenständen außerhalb des schöpfungstheologischen Kontextes ernst nehmen kann und im Rahmen von Kants reifer, erkenntnistheoretischer Erörterung des Raumproblems fruchtbar machen kann. In diesem Zusammenhang ist man dann jedenfalls vor den von Neriich mit einem gewissen Recht beargwöhnten Fallstricken der Metaphorik sicher. Andererseits ist es gerade angesichts der metaphorischen Züge, wie Neriich sie in Kants Rede von den Handlungen der schaffenden Ursache sieht, nicht recht verständlich, wie Neriich finden kann, Kants Erörterung „shows . . . perfectly clear" (S. 341), daß auch eine einzige existierende Hand schon sinnvoll und eindeutig als inkongruentes Gegenstück („enantiomorph") einer anderen Hand aufgefaßt werden könne (vgl. S. 109 32 ). Denn, wenn der Sinn von Kants Rede von den Schopfungshandlungen metaphorisch ausgefallen ist, dann kann Kant gerade auf diese Weise weder „perfectly", noch überhaupt klar gemacht haben, was Neriich gleichwohl für klar hält: denn der Sachverhalt, über den man im metaphorischen Sinne spricht, kann nur dann als solcher ,klar' sein, wenn man ihn zunächst schon in nichtmetaphorischer Weise zutreffend beschrieben hat. Aber Neriich erblickt Kants angeblich klärenden Lösungsvorschlag nun einmal in der Zurückfühmng des Unterschiedes zwischen inkongruenten Gegenstücken auf den Unterschied zwischen zwei Schöpfungshandlungen. Doch dieses Reden von Schöpfungshandlungen findet Neriich zu Recht metaphorisch. Neriich ist seinem Leser insofern die Auskunft ganz einfach schuldig geblieben, wie

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Das Raumproblem und einige Bedingungen seiner Lösbarkeit

Hauptkomponenten von Kants schöpfungstheologischem Gedankenexperiment einmal in den erkenntnistheoretischen Kontext der Inaugural-Dissertation, § 15 C, dann darf man zunächst auch einmal die Rolle der Schöpfungsinstanz abwandeln, von der in der Schrift über die „Gegenden" die Rede ist. Denn unter den Vorzeichen von Kants klassischer Raumtheorie braucht dieser imaginäre Schöpfer nicht mehr bloß als ein Demiurg zu fungieren, der laut Kants Auskunft je nach dem wahlweise intendierten Element aus einem inkongruenten Paar von planbaren Geschöpfen zunächst jedenfalls eine ganz bestimmte Operation ausführen müßte und eine ganz bestimmte andere Operation nicht ausführen könnte; dieser Schöpfer kann jetzt vielmehr selber sowohl als Adressat der Frage nach dem charakteristischen Unterschied zwischen Elementen eines inkongruenten Paares von planbaren Geschöpfen wie auch als die Instanz fungieren, die diese Frage selber so beantwortet, wie es im Kontext der Schrift über die „Gegenden" Kant noch selber getan hatte — nämlich mit der Auskunft, daß eine andere Handlung nötig sei, das eine hervorzubringen, als die, wodurch sein inkongruentes Gegenstück hervorgebracht werde. In der Inaugural-Dissertation, so hatten wir betont, sind ja nicht mehr nur die inkongruenten Paare von sinnenfällig existierenden Gegenständen, von Dingen das paradigmatische Beispiel, sondern hier ist vor allem auch die Inkongruenz als solche Kants paradigmatisches Beispiel für die Sachverhalte, die sich nach seiner hier skizzierten Raumtheorie unmittelbar im Einzugsbereich der reinen räumlichen Anschauung finden. Auf dem Reflexionsniveau der Inaugural-Dissertation ist also nicht nur die raumtheoretische Relevanz des Beispiels inkongruenter Gegenstücke und nicht nur die trefflich formulierte Charakteristik der Inkongruenz, sondern vor allem die teilweise operationale Zurückführung der Inkongruenz auf eine noch näher zu charakterisierende Verschiedenheit von genau zwei Handlungen vergleichsweise trivial geworden. Stellt man Kants schöpfungstheologisches Gedankenexperiment in diesem Kontext aber nachträglich noch einmal an, dann ist es insofern methodisch aber auch zulässig, die imaginäre Schöpfungsinstanz selber über diese für Kant inzwischen prinzipiell trivial gewordenen Einsichten verfügen zu lassen und dem Autor der Inaugural-Dissertation auch nur die Einführung der speziellen Erkenntnistheorie zu reservieren, wie er sie hier ja auch historisch de facto zum ersten Kant oder wie Neriich sich auf eigene Faust selber und dann in nichtmetaphorischer Weise klargemacht hat, inwiefern auch eine einzige existierende Hand sinnvoll und eindeutig als inkongruentes Gegenstück einer anderen Hand angesprochen werden könne. — Zum nächsten Schritt auf dem von uns vorgeschlagenen Lösungsweg vgl. S. 109 ff.

Der operationale und Orientale Sinn von Inkongruenzbehauptungen

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Mal vorgeschlagen hat. In diesem Rahmen braucht man Kants imaginären Schöpfer also nicht mehr wie zunächst als eine Instanz anzusetzen, die zu inkongruenten Gegenstücken lediglich in ein eminentes praktisches, nämlich in ein kreatives Verhältnis tritt, aber auf die Rede von „Inkongruenz" und „inkongruenten Gegenstücken" ebenso wenig explizit unter Gesichtspunkten der Semantik reflektiert wie z . B . ein Handwerker, der „ein Schraubengewinde, welches um seine Spille von der Linken gegen die Rechte geführt ist" ( W W II, Gegenden, S. 381), und dessen inkongruentes Gegenstück herstellt. Unter den Vorzeichen von Kants Theorie der reinen räumlichen Anschauung kann man diese imaginäre Schöpfungsinstanz auf die Frage, wie die Elemente eines inkongruenten Paares von sinnenfälligen Dingen sich denn nun charakteristischerweise unterscheiden, vielmehr wie jede andere auch die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllende Instanz antworten lassen, daß sie sich in dem Sinne voneinander unterscheiden, in dem sich die Handlungen voneinander unterscheiden, wie sie sie ausführen müsse, wenn sie solche Dinge hervorbringen wolle. Dem Autor der Inaugural-Dissertation wäre in diesem Sinne die Einsicht vorbehalten, daß der genaue Typ der noch zu bestimmenden Differenz zwischen genau zwei Handlungen, auf die die eigentümliche Inkongruenz von einigen Paaren sinnenfälliger Dinge jeweils zurückgeführt werden könne, selber nicht ohne Rückgriff auf eine reine Anschauung entdeckt werden könne. 3 0 30

Bekanntlich kann man vor allem bei Piaton lernen, wie man Fragen und Einsichten, die auf unterschiedlichen Reflexionsstufen entspringen, in der literarischen Form des Dialoges auch dadurch voneinander unterscheiden kann, daß man sie in einer bestimmten Weise nach dramaturgischen Regeln verteilt. Zur Verdeutlichung ein Beispiel: im „Menon" legt Piaton dem Menon bekanntlich die Frage in den Mund, ob Tugend ζ. B. lehrbar sei oder nicht (70a iff., 86c 7ff.). Diese Frage wird bekanntlich im „Protagoras" von Protagoras und Sokrates hauptsächlich erörtert. Im „Menon" reserviert Piaton dagegen exklusiv für Sokrates sowohl die Frage, was Tugend sei (71 a 5/8), wie auch die methodologische Einsicht, daß man diese Wesensfrage zunächst gründlich untersucht haben müsse, bevor man mit berechtigter Aussicht auf Erfolg fragen könne, ob beispielsweise Tugend beispielsweise lehrbar sei oder nicht (71 b 3/8). Aber gerade zu dieser methodologischen Einsicht gelangt Sokrates am Ende der Erörterungen im „Protagoras" (360 e/361 d), indem er auf die Voraussetzungen reflektiert, unter denen er im Gespräch mit Protagoras die eigentümlichen Erfahrungen gemacht hat, die er schließlich in Gestalt eines Dilemmas formuliert (361 b/e). Piaton läßt Sokrates die Formulierung der Leitfrage des ersten Teils des „Menon" also mit Hilfe einer Einsicht rechtfertigen, die, wenn man vom „Protagoras" herkommt, schon vergleichsweise trivial ist. Menon wird dagegen eine Frage in den Mund gelegt, durch die er sich im Kontext zwischen „Protagoras" und „Menon" vergleichsweise als rückständig erweist. — Hier wird die Regel deutlich, nach der man sich den vorgeführten Kniff beim Vergleich zwischen Kants Schrift über die „Gegenden" und seiner Inaugural-Dissertation erlauben kann: wie Piaton den Sokrates im

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Das Raumproblem und einige Bedingungen seiner Lösbarkeit

Nun hat Kant niemals versucht, Begriffe zu entwickeln, mit deren Hilfe sich im einzelnen eine Theorie ausarbeiten ließe, in der widerspruchsfrei von der Struktur der kreativen Aktionen und Operationen die Rede sein könnte, wie sie für eine Instanz eigentümlich sind, die die Entitäten der anschaulichen Welt aus einem leeren Raum hervorbringt. 31

31

„Menon" eine vergleichsweise Trivialität formulieren läßt, indem er ihn wie schon im „Protagoras" die methodologische Priorität der was-Frage vor anderen Fragen herausstellen läßt, so kann man die Schöpfungsinstanz eine vergleichsweise Trivialität formulieren lassen, indem man sie auf dem Stand von Kants Einsicht in der Inaugural-Dissertation den Unterschied zwischen zwei inkongruenten Gegenständen selber auf einen Unterschied zwischen zwei Handlungen zurückführen läßt. Andererseits: wie Piaton dem Sokrates im „Menon" die ganz neue erkenntnistheoretische Einsicht reserviert, daß man der Frage nach dem Wesen der Tugend nur dann nicht ohne berechtigte Aussicht auf Erfolg nachgehen könne, wenn man wie ein Geometer eine Bedingung erfüllt, die nach Piatons halbmythischer Auskunft darin besteht, daß der Geometer mit einem bestimmten Typ von Seele begabt ist, kann man Kants im Kontext seiner Untersuchungen ganz neue erkenntnistheoretische Einsicht, daß Sachverhalte wie die Inkongruenz nicht ohne eine reine Anschauung bemerkt werden können, auf die Reduktion der Inkongruenz auf einen Unterschied zwischen zwei Handlungen anwenden und dann feststellen, daß dieser Unterschied zwischen zwei Handlungen von niemand entdeckt werden könne, der nicht die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt. — Ich verkenne nicht den wichtigen Unterschied, der in dieser Analogie zwischen Piatons Texten und Kants Texten besteht: bei Piaton ist alles ausdrücklich formuliert, was er in den beiden Dialogen in der beschriebenen Weise inszeniert; Kant sagt aber nicht, daß ein bestimmter Unterschied zwischen zwei Handlungen nicht ohne die reine räumliche Anschauung entdeckt werden kann. Allerdings geht es in unserer Untersuchung ja auch vor allem darum nachzuweisen, daß und inwiefern zwei Handlungen insofern, als sie sich in einer bestimmten Form unterscheiden, zu dem nach Kant charakteristischen gegenständlichen Intentionsbereich der reinen räumlichen Anschauung gehören. Man antwortet mit diesem Textbefund also auf eine Frage, die von einem ganz anderen Typ ist als die Frage, auf die man antwortet, wenn man behauptet, bestimmte Handlungsunterschiede können nur dann von jemand entdeckt werden, wenn er von einer reinen räumlichen Anschauung Gebrauch macht. Das zeigt sich daran: man kann die Behauptung, daß dieser Satz in Kants Theorie der reinen räumlichen Anschauung entwickelt werden kann, durch einen solchen Textbefund grundsätzlich nicht widerlegen. Ob und wenn ja wie dieser Satz sich in Kants Theorie gewinnen läßt, muß sich allerdings noch zeigen. Kant hat lediglich allgemein angemerkt: wenn der „Ursprung aus Nichts . . . als Wirkung von einer fremden Ursache angesehen wird, so heißt er Schöpfung, welche als Begebenheit unter den Erscheinungen nicht zugelassen werden kann, indem ihre Möglichkeit allein schon die Einheit der Erfahrung aufheben würde, obzwar, wenn ich alle Dinge nicht als Phänomene, sondern als Dinge an sich betrachte, und als Gegenstände des bloßen Verstandes, sie, obschon sie Substanzen sind, dennoch wie abhängig ihrem Dasein nach von fremder Ursache angesehen werden können; welches aber alsdann ganz andere Wortbedeutungen nach sich ziehen, und auf Erscheinungen, als mögliche Gegenstände der Erfahrung, nicht passen würde" (KdrV A 206, Β 251/B 252, Hervorhebungen von mir, R.E.). — Im übrigen hat Kant vor allem in seinen Vorlesungen über Rationaltheologie (vgl. W W XXVIII. 2.1 ff.) erwogen, was für besondere Bedingungen man berücksichtigen muß, wenn man, was in unserem Zusammenhang vorzüglich von Interesse ist, beispielsweise den Handlungsbegriff auf ein Wesen wie eine Schöpfungsinstanz korrekt

Der operationale und Orientale Sinn von Inkongruenzbehauptungen

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Man ist daher nicht nur berechtigt, sondern sogar gehalten, Kants Rede von den „Handlungen" seiner imaginären Schöpfungsinstanz zu verstehen, ohne auf begriffliche Hilfskonstruktionen zurückzugreifen, wie sie die wenigstens partiell transmundanen Akte zugunsten der Schöpfung solcher mundanen Entitäten betreffen können. Insofern kann Kants Vorschlag, den charakteristischen Unterschied zwischen den Elementen eines inkongruenten Paares von sinnenfälligen Dingen auf einen bestimmten Unterschied zwischen zwei möglichen Handlungen zurückzuführen, dem Verständnis aber auch keine prinzipiellen Schwierigkeiten mehr bereiten. Man braucht zusätzlich nur noch den von Kant ausdrücklich festgehaltenen Gedanken zu berücksichtigen, daß „ . . . einander entgegenstehende Richtungen . . . sich nur in der Anschauung . . . vorstellen lassen" (WW X X , Fortschritte, S. 283). Damit hat man vorerst die wichtigsten Voraussetzungen beisammen. Denn demnach kann jemand eine „linke" Hand von einer „rechten" Hand nur insofern unterscheiden, als er auch eine nach links oder linksherum gerichtete Handlung von einer nach rechts oder rechtsherum gerichteten Handlung unterscheiden kann. 32 Allgemein: Ele-

32

anwenden will. In diesem Zusammenhang gelangt Kant dann zu Sätzen wie: „Denn in Gott läßt sich nur ein einziger unendlicher Akt denken . . . " (WW X X V I I I . 2.2, Met. u. rationaltheol. Vöries., S. 1096, Z. 20/21), und: „Im Grunde läßt sich bei Gott nur eine einzige Handlung denken" (ib. Z. 35/36, vgl. auch a . a . O . S. 1300ff.). Von hier aus kann man vor allem sehen, in welchem Maße Kant im Rahmen seiner schöpfungstheologischen Hilfsüberlegung aus der Schrift über die „Gegenden", unbefangen von theologischen Prämissen, experimentiert hat und daß Kant sich hier hauptsächlich von Hypothesen aus der Diskussion des Raumproblems hat leiten lassen. Es kam Kant offenbar nur noch darauf an, daß es im schöpfungstheologischen Kontext erlaubt ist, eine Situation zu beschreiben, in der (1) nicht wenigstens ein Element irgendeines Gegenstandsbereiches existiert und in der (2) eine Instanz, die planen und handeln kann, (3) nicht über Muster inkongruenter Gegenstücke, die von ihren Handlungen verschieden wären, verfügen kann. Man braucht also lediglich den schöpfungstheologischen Rahmen von Kants Erörterung aus der Schrift über die „Gegenden" fallen zu lassen und behält gleichsam als unzerstörten Rest eine Aussage über den Unterschied zwischen inkongruenten Gegenstücken bzw. über einen noch näher zu bestimmenden Unterschied zwischen zwei Handlungen übrig. Insofern trifft dann allerdings die nüchterne Feststellung von Sklar (1974) zu: „ . . . The notion of the „creative cause" of the spatial features of objects is of no relevants to the dispute between the relationist and the substantivalist accounts of space" (S. 282). Allerdings unterschätzt Sklar sowohl die immanenten Schwierigkeiten wie auch die immanenten Möglichkeiten von Kants Ansatz. Das liegt, wie aus dem bisher Entwickelten wohl schon deutlich hervorgeht, vor allem daran, daß Autoren wie Sklar vor allem die Art der immanenten Möglichkeiten von Kants Ansatz verkennen. — Nerlich (1973) hat bei seiner vergleichsweise viel stärker problemorientierten Diskussion von Kants eigenem Ansatz freilich letzten Endes auch nicht bemerkt, wie einfach man von Kants schöpfungstheologisch bedingter metaphorischer Rede von Handlungen zu einer gänzlich unmetaphorischen Rede von Handlungen übergehen kann.

Das Raumproblem und einige Bedingungen seiner Lösbarkeit

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m e n t e v o n i n k o n g r u e n t e n Paaren k ö n n e n nur durch die Orientierung

der

H a n d l u n g unterschieden w e r d e n , wie sie jeweils d e m einen E l e m e n t im Unterschied

z u d e m anderen E l e m e n t zugeordnet werden k a n n ; 3 3

I n k o n g r u e n z ist ein orientales H a n d l u n g s m e r k m a l ,

die

das konkret als die

widersinnige O r i e n t i e r u n g 3 4 v o n genau zwei H a n d l u n g e n bestimmt w e r den kann. W e n n m a n diese Orientale Differenz v o n Handlungen erwähnt,

hat

m a n a u c h ausschließlich die Diversität (vgl. W W II, D e mundi, S. 4 0 3 ) b e t o n t , auf die es K a n t zunächst gerade a n k o m m t , w e n n er seine R a u m t h e o r i e einführt. Andererseits bietet gerade die operationale R e d u k t i o n , w i e K a n t sie i m H i n b l i c k auf diese Diversität schon in der Schrift über die „ G e g e n d e n " v o r n i m m t , eine Möglichkeit, den sinnvollen G e b r a u c h v o n W o r t e n wie „ l i n k s " und „ r e c h t s " primär im Hinblick auf Differenzen z w i s c h e n H a n d l u n g e n z u n o r m i e r e n ; so kann der Sinn der R e d e v o n einer ζ . B . „ l i n k e n " H a n d an die Voraussetzung gebunden werden, daß jeder, d e r sinnvoll u n d eindeutig so redet, eine Richtung eindeutig auszeichnen k a n n , in der er sich orientiert, w e n n er so handelt, wie er handelt, w e n n er eine H a n d d u r c h eine O p e r a t i o n charakterisiert, wie er sie ausführt, w e n n er diese H a n d räumlich charakterisiert. 33

Man kann demnach die Aussagen, die man im Rahmen von Kants Raumtheorie im Hinblick auf die Gegenstände treffen kann, wie sie charakteristischerweise im Einzugsbereich der reinen räumlichen Anschauung liegen, ausschließlich auf Handlungen beziehen, sofern sie orientiert sind. Unter dieser Voraussetzung ist Kants Raumtheorie dann allerdings auch einer Kritik entzogen, wie Kurt Reidemeister (1957) sie unter Gesichtspunkten der Ontologie am Gedankengang der noch nicht im Lichte von Kants reifer Raumtheorie gleichsam bereinigten Lesart der Schrift von 1768 geübt hat (vgl. Reidemeister, S. 54 ff.). Denn im Hinblick auf Handlungen als Handlungen und sofern sie orientiert sind kann gerade die Existenzfrage, wie man sie im Hinblick auf lokalisierbare und datierbare Dinge stellen kann, nicht mehr sinnvoll gestellt werden. Dann kann man aber auch für die Richtigkeit oder Falschheit von Kants Raumtheorie irgendwelche Existenzvoraussetzungen, ζ. B. von Inkongruenzbehauptungen, nicht mehr sinnvoll verantwortlich machen. — Andererseits erscheint es von hier aus betrachtet nicht einmal mehr gar so abwegig, wenn Reidemeister Kants Frage nach dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raum kurzerhand auch unmittelbar mit dem Problem der „Orientierbarkeit der Geraden" (S. 53, Hervorhebung von mir, R.E.) in Zusammenhang bringt. Es wird sich noch zeigen, inwiefern Reidemeister hier systematisch gar keinen so schlechten Griff getan hat. Stellt man freilich in Rechnung, wie kompliziert unser Versuch bisher schon ausgefallen ist, die Intentionen von Kants Raumtheorie zunächst auf den auch Orientalen Sinn von Kants Inkongruenzbegriff zuzuspitzen, dann ist es allerdings verständlich, daß H. Lange (1958/59) gerade gegen diesen umstandslosen Versuch Reidemeisters, Xants Schrift von 1768 als Beitrag zu einer ,Geometrie der Richtungen' zu beurteilen, energisch protestiert hat.

34

Den Gebrauch des hier verwendeten Ausdrucks „widersinnig" rechtfertige ich, wenn ich im Zusammenhang auf die hier wichtig werdenden von Kant so genannten Reflexionsbegriffe eingehe, vgl. S. 210ff.

Der operationale und Orientale Sinn von Inkongruenzbehauptungen

111

In diesem Zusammenhang hatten wir uns von Kant zu der Frage anregen lassen, ob es sich denn überhaupt von selbst versteht, daß man für Ausdrücke wie „Inkongruenz" urid „inkongruent" nur im Hinblick auf sinnenfällig existierende Dinge wie Hände, Schrauben und dgl. eine gegenständliche Bedeutung finden könne. Wenn uns bei den zuletzt angestellten Überlegungen kein wesentlicher Fehler unterlaufen ist, dann können einen Kants Raumtheorie und das spezielle Problem, das er zunächst mit ihrer Hilfe zu lösen versucht hat, lehren, die gegenständliche Bedeutung zunächst der Ausdrücke „Inkongruenz" und „inkongruent" im Hinblick auf Handlungen zu suchen und in der Orientalen Differenz zwischen Elementen von Paaren von Handlungen zu finden. Auf unsere Frage, ob und wenn ja wie der Gegenstandsbereich für die Ausdrücke „Inkongruenz" und „inkongruent" zu beschreiben sei, wenn diese Ausdrücke ihre gegenständliche Interpretation streng genommen vielleicht gar nicht im Bereich der sinnenfälligen Entitäten erfahren können, kann man nun also antworten, daß Handlungen, sofern sie orientiert sind, den Gegenstandsbereich abgeben, in dem man nach der Bedeutung dieser Ausdrücke zu suchen hat. Wir können daher vorerst folgendermaßen zusammenfassen: Kant führt die reine räumliche Anschauung als eine Bedingung ein, wie jeder sie erfüllt, der Sachverhalte wie die Inkongruenz als solche entdecken kann und über eine solche Entdeckung mit Hilfe eines jeweils wohlformulierten sprachlichen Ausdrucks Rechenschaft ablegen kann; den genuinen gegenständlichen Intentionsbereich dieser reinen räumlichen Anschauung bzw. den genuinen Anwendungsbereich der Ausdrücke „Inkongruenz" und „inkongruent" bilden Handlungen, sofern sie orientiert sind; die Inkongruenz ist ein Handlungsmerkmal, das insofern als ein räumliches Merkmal aufzufassen ist, als es die Orientierungen von Handlungen, genau: die widersinnigen Orientierungen von genau zwei Handlungen betrifft. Die Inkongruenz ist ein orientales Handlungsmerkmal. Dem entspricht, daß Kants Raumtheorie insofern eine subjektivistische Theorie ist, als sie von einer Bedingung handelt, wie sie von jeder Instanz, von jedem ,Subjekt' erfüllt wird, das die angedeuteten Entdeckungen machen kann; und diese Theorie ist insofern eine idealistische Theorie, als sie ihren Wahrheitsanspruch ohne Rücksicht darauf anmeldet, ob die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung von irgendjemand faktisch erfüllt wird oder nicht (vgl. hierzu S. 57/62, 62 9 ); und diese Theorie ist insofern eine Theorie vom Raum, als sie von räumlichen Bedingungen handelt, wie sie von Handlungen insofern erfüllt werden, als sie orientiert sind.

112

Das Raumproblem und einige Bedingungen seiner Lösbarkeit

Und schließlich bilden Handlungen, sofern sie orientiert sind, einen Gegenstandsbereich, im Hinblick auf dessen Elemente man nun auch die Anforderung einlösen kann, die man nach Kant unter ontologischen Gesichtspunkten an einen Gegenstandsbereich stellen muß, dessen Elemente zumindest teilweise mit geometrischen Gegenständen sollen identisch sein können (vgl. S. 101/104). Denn gerade im Hinblick auf Handlungen — auch insofern, als sie orientiert sind — kann man offenbar zutreffend feststellen, daß „in ihrem Begriffe nichts, was ein Dasein ausdrückte, gedacht wird" (WW IV, Μ.Α., S. 467 Anm.). Dabei sollte selbstverständlich klar sein, daß man allerdings im Hinblick auf den jeweiligen Urheber einer Handlung in sinnvoller Weise eine wahre Existenzbehauptung aufstellen kann und daß man auch im Hinblick auf die Gegenstände, wie ein Urheber einer Handlung sie verwendet, um diese Handlung auszuführen, in sinnvoller Weise wahre Existenzbehauptungen aufstellen kann. Gleichwohl ist eine Handlung, im Hinblick auf deren Urheber und im Hinblick auf dessen Mittel man in sinnvoller Weise wahre Existenzbehauptungen aufstellen kann, schon ihrem Begriff nach von solchen Urhebern und den von ihnen verwendeten Gegenständen verschieden. Zunächst ist eine Handlung ihrem Begriff nach schon deswegen von handelnden Instanzen und den von ihnen beim Handeln verwendeten Gegenständen verschieden, als die Orientierung zwar ein Merkmal des Begriffs der Handlung abgeben kann, 35 aber weder ein Merkmal des Begriffs der

35

Eine andere Frage ist es, wie man nach Kant den Begriff der Handlung für sich inhaltlich definieren kann. Kant selber hat, wenn ich nichts übersehen habe, nicht versucht, den Handlungsbegriff schulgerecht zu definieren. Die Feststellung, daß Kant nur die mathematischen Begriffe für im strengen Sinne definierbar gehalten hat (vgl. KdrV A 729, Β 757 Ende), reicht hier als Erklärungsversuch nicht mehr ganz aus. Man wird zusätzlich den Stand des Methodenbewußtseins in der Definitionslehre berücksichtigen müssen, der sich von heute aus betrachtet als noch verhältnismäßig anspruchslos ausnimmt. Aber auch in dem weniger anspruchsvollen Sinne einer Exposition (vgl. KdrV A 729, Β 757) hat Kant den Handlungsbegriff nicht erläutert. Wenn man einer von Kant vielleicht aber intendierten Definition des Handlungsbegriffs auf die Spur kommen möchte, dann scheint es mir am zweckmäßigsten zu sein, wenn man zunächst ganz einfach darauf achtet, wie Kant Handlungen in Kontexten charakterisiert, in denen es zunächst gar nicht thematisch um eine Definition des Handlungsbegriffs geht, wo es aber aus anderen Gründen entweder darum geht, Handlungen von etwas zu unterscheiden, was nicht ein Handlung ist, oder wo es darum geht, eine bestimmte Handlungscharakteristik als etwas auszuzeichnen, was man vor allem im transzendentalen Kontext planmäßig ermitteln kann. In diesem Sinne wird es in unserer Untersuchung hauptsächlich auch darum gehen herauszufinden, inwieweit man nach Kant Handlungen charakterisieren kann, wenn man sie im Hinblick auf die Orientierungen exponiert, unter denen Handlungen manifest werden können.

Der operationale und Orientale Sinn von Inkongruenzbehauptungen

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handelnden Instanz noch ein Merkmal des Begriffs der Gegenstände ist, wie eine handelnde Instanz sie beim Handeln zu Hilfe nehmen mag. Jedoch bleibt in unserem Zusammenhang als die wichtigste einschneidende Bedingung für den wesentlichen Unterschied zwischen einer Handlung und etwas, was von einer Handlung verschieden ist, der Umstand übrig, daß sich im Hinblick auf Handlungen ein Existenzbegriff gar nicht sinnvoll definieren läßt. 36 Unter dieser Voraussetzung ist dann aber ersichtlich auch dafür gesorgt, daß man durch den charakteristischen Anwendungsbereich für Ausdrücke wie „inkongruent" und „Inkongruenz" nicht auf Inkongruenzbehauptungen festgelegt ist, die die Existenz von einem der Elemente eines inkongruenten Paares der Gegenstände implizieren würden, von denen mit dieser Inkongruenzbehauptung die Rede ist. Vielmehr hat man mit den Handlungen, sofern sie orientiert sind, einen Gegenstandsbereich für Inkongruenzbehauptungen umrissen, der garantiert, daß Inkongruenzbehauptungen über Gegenstände, die zu diesem Bereich gehören, die Existenz dieser Gegenstände sinnvoll gar nicht implizieren können. Nun haben wir aber die Antwort auf die Frage nach einem Gegenstandsbereich für Inkongruenzbehauptungen, die im Hinblick auf keines der Elemente dieses Bereiches die Existenz sollen implizieren können, mit einer weiteren Anforderung, wenigstens jedoch mit einer weiteren Erwartung belastet. Man kann nämlich fragen, ob die Elemente eines Gegenstandsbereiches nicht wenigstens teilweise mit geometrischen Gegenständen identisch sind, wenn die Elemente dieses Gegenstandsbereiches genau denselben ontologischen Bedingungen genügen, denen nach Kant auch die geometrischen Gegenstände insofern genügen, als „in ihrem Begriffe nichts, was ein Dasein ausdrückte, gedacht wird" (ib.). Aber was haben geometrische Gegenstände mit Handlungen zu tun, insbesondere mit Handlungen, sofern sie orientiert sind? Nachdem wir uns von Kant zunächst eine formale ontologische Bedingung haben vorgeben lassen, denen die Elemente des Gegenstandsbereiches genügen müssen, zu denen auch die geometrischen Gegenstände sollen gehören können, kann man sich von Kant nunmehr auch noch direkt darüber verständigen lassen, als was für spezielle Gegenstände die Elemente des Intentionsbereiches der geometrischen Aussagen zu beschreiben sind. Kant hat nämlich gelegentlich mit einem Seitenblick vor allem auf die drei ersten Postulate aus dem Ersten Buch von Euklids 36

Zu dem indirekten Nachweis, daß Kant den Handlungsbegriff so auffaßt, vgl. vor allem S. 2 5 0 6 .

114

Das Raumproblem und einige Bedingungen seiner Lösbarkeit

„Elementen" ausdrücklich betont, aus welchem Grund man in diesem geometrischen Zusammenhang überhaupt in sinnvoller Weise von Postulaten als solchen reden kann (vgl. hierzu auch den Hinweis und die Überlegungen bei Reich 1947, S. 582ff., 584/585). Demnach kann man diesen Formulierungen vor allem deswegen der Sache nach zutreffend den Status und die Funktion von Postulaten zuschreiben, weil sie „. . . die Möglichkeit einer Handlung (postulieren)" (WW V, KdpV, S. 11 Anm., Hervorhebung von mir, R.E.). Wenn man dann fragt, in welcher Form jeder handeln soll, der sich ein geometrisches Postulat vorlegt, dann wird man ganz einfach an die Charakteristik denken dürfen, die man in diesem Zusammenhang der Definition desjenigen geometrischen Gegenstandsbegriffes entnehmen kann, auf den man bei der Formulierung dieses Postulates rekurriert. Jedenfalls entstehen ja offenbar nicht im mindesten irgendwelche Sinnprobleme, wenn man den operationalen Sinn des I. und III. euklidischen Postulates in der Form ausdrückt, daß man von einer ,geradlinigen Handlungsweise' bzw. von einer ,kreisförmigen Handlungsweise' spricht, wie sie hier dann postuliert sind: denn weder verwickelt man sich im Hinblick auf den Handlungsbegriff noch im Hinblick auf den Begriff der Geradlinigkeit bzw. Kreisförmigkeit in einen Widerspruch, wenn man in dieser Form auf diese Begriffe zurückgreift. Daß aber der Begriff der „Handlung des Subjekts" (KdrV Β 154) „als Beschreibung eines Raumes . . . nicht allein zur Geometrie, sondern sogar zur Transzendentalphilosophie (gehört)" (B 155 Anm.), bemerkt Kant ausdrücklich. Man muß an dieser Stelle noch nicht zu entscheiden versuchen, ob Handlungen, sofern sie orientiert sind, den Gegenstandsbereich bilden oder nicht, mit dessen Elementen die geometrischen Gegenstände nach Kant wenigstens teilweise identisch sind. Wenn man die operationalen Bestimmungen, wie Kant sie im Hinblick auf die geometrischen Gegenstände an den zitierten Stellen getroffen hat, in diesem Zusammenhang gleichwohl schon gezielt berücksichtigt hat, so kann dies zunächst nur demselben methodischen Zweck dienen wie der Abstecher, bei dem wir zur Kenntnis genommen haben, wie Kant den ontologischen Status der geometrischen Gegenstände beschreibt. Denn in beiden Fällen kommt es ja zunächst auch nur darauf an, dafür zu sorgen, daß man in den Lehrgehalt von Kants Theorie der reinen räumlichen Anschauung nicht auf einem Weg hineinfindet, auf dem man auch schon von vornherein von dem Weg abgekommen wäre, auf dem man dann auch noch direkt in den Lehrgehalt von Kants Theorie des geometrischen Gegenstandes hineinfinden kann.

Der operationale und Orientale Sinn von Inkongruenzbehauptungen

115

Wenn aber der ursprüngliche Intentionsbereich der reinen räumlichen Anschauung bzw. der eigentümliche Gegenstandsbereich von Inkongruenzbehauptungen bzw. der charakteristische Anwendungsbereich von Orientalen Ausdrücken wie „links" und „rechts" von Handlungen gebildet wird, sofern sie orientiert sind, dann ist zunächst gewährleistet, daß die Elemente dieser respektiven Bereiche denselben ontologischen Status haben, den Kant den geometrischen Gegenständen insofern zugesprochen hat, als man im Hinblick auf sie nicht sinnvoll einen Existenzbegriff definieren könne. Die formale Ontologie der Elemente des Intentionsbereiches der reinen räumlichen Anschauung stimmt unter dieser Voraussetzung ganz mit Kants formaler Ontologie der geometrischen Gegenstände überein. Und wenn schließlich die unverkennbar operationalen Bestimmungen, wie Kant sie immer wieder einmal im Hinblick auf solche elementaren geometrischen Gegenstände wie die Gerade oder den Kreis getroffen hat (vgl. auch KdrV Β 137/138, 154/155), so aufgefaßt werden dürfen, daß Handlungen — inwiefern auch immer — den ursprünglichen Gegenstandsbereich der geometrischen Aussagen, aber vor allem auch der Definitionen der geometrischen Gegenstandsbegriffe bilden, dann kann man im Intentionsbereich der reinen räumlichen Anschauung insofern, als er jedenfalls von Handlungen gebildet wird, nach Kant auch noch die geometrischen Gegenstände finden. Kants regionale Ontologie der geometrischen Gegenstände stimmt unter dieser Voraussetzung wenigstens partiell mit der regionalen Ontologie der Elemente des Intentionsbereiches der reinen räumlichen Anschauung überein: beide gehören demnach zur Handlungstheorie. Aber wie dem dann im einzelnen auch sein mag — bis hierher kann man jedenfalls gehen, wenn man herauszufinden versucht, in welchem Maße man den Lehrgehalt von Kants Raumtheorie konkretisieren kann, wenn man dabei vom Kontext der Inaugural-Dissertation ausgeht und von der methodisch bedingt zulässigen Hilfe Gebrauch macht, den Kontext der Schrift über die „Gegenden" zu Rate zu ziehen. Mit aller Vorsicht, wie man sie bei vorläufigen Ergebnissen walten lassen sollte, schlage ich nun vor, dieses Resultat im Hinblick auf das weitere hypothetisch so zu verallgemeinern: wenn nach Kant das, was man meint, wenn man von räumlichen Merkmalen als solchen redet, ausschließlich und restlos auf Orientale Handlungsmerkmale zurückgeführt werden kann, dann ist die reine räumliche Anschauung eine notwendige Bedingung dafür, daß jeder, der sie erfüllt, Orientale Handlungscharaktere entdecken kann.

116

Das Raumproblem und einige Bedingungen seiner Lösbarkeit

Es scheint mir nicht unzweckmäßig zu sein, wenn man einmal in dieser hypothetischen Form verallgemeinert hat. Wenn sich nämlich nachweisen läßt, daß Kant von dieser Voraussetzung wenigstens Gebrauch gemacht hat, ohne sie schon explizit formuliert zu haben, dann hat man damit auch schon eine Semantik umrissen, in der nach Kant „alle Begriffe vo(m) Räume" (KdrV Β 160 Anm., Hervorhebung von mir, R.E.) an ihren durch die reine räumliche Anschauung eröffneten Gegenstandsbereich der Handlungen, sofern sie orientiert sind, gebunden sind. Es kann sich aber auch günstig auf die Beurteilung der inneren Konsequenz von Kants Theorienbildung auswirken, wenn man an dieser Stelle schon einmal in hypothetischer Form vorgreift und verallgemeinert. Es ist ja zunächst vielleicht schon einigermaßen deutlich geworden, wie überaus voraussetzungsvoll manche Formulierungen aus dem Zentrum von Kants Theorie vom Raum als reiner Anschauung sind. Gleichwohl hat Kant nicht ernsthaft versucht, die wichtigsten inhaltlichen Voraussetzungen für die Plausibilität dieser Formulierungen oder für die Richtigkeit der von ihnen jeweils formulierten Behauptungen im einzelnen und im Zusammenhang abzutragen. Wir haben daher versucht, Kant gegen seine eigene Neigung, die neugewonnene Raumtheorie in seiner eigenen Darstellung vorschnell für durchsichtig genug, nämlich für publikationsreif zu halten, gleichsam zu Hilfe zu kommen. Wir haben zu zeigen versucht, wie einige seiner Formulierungen mit Hilfe einiger anderer seiner Formulierungen plausibel gemacht werden können und wie der Wahrheitsanspruch, den Kant mit den insofern plausibel formulierten Behauptungen verbindet, mit Hilfe von Voraussetzungen gerechtfertigt werden kann, wie Kant sie mit Hilfe von bestimmten anderen Formulierungen selbst exponiert hat oder zumindest als deren Implikationen nicht ausgeschlossen hat. Wenn sich nun auf diesem Weg am Beispiel der Inkongruenz bisher schon herausgestellt hat, daß Begriffe vom Raum für Kant mindestens Orientale Handlungsmerkmale enthalten, dann kann man zunächst immerhin noch fragen, ob Kant selber auch Formulierungen getroffen hat, die zu entscheiden gestatten, ob die Begriffe vom Raum ausschließlich Orientale Handlungsmerkmale enthalten oder nicht. Wenn wir in diesem Zusammenhang schon von rein Orientalen Operationscharakteren gesprochen haben, wie sie von jedermann nur dann entdeckt werden können, wenn er die insofern subjektive Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt, so haben wir auch angedeutet, zugunsten welcher inhaltlich interessanten These die Entscheidung ausfallen würde, wenn Kant Formulierungen getroffen haben sollte, aus denen hervorgeht, daß er im Hinblick

Kants wichtigste Orientale Handlungscharakteristik

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auf alle Begriffe vom Raum eine Semantik in Anspruch nimmt, nach der diese Begriffe ausschießlich Orientale Handlungsmerkmale enthalten. 37 Aber wie dem auch sein mag: wenn man sich an die mehr als spärlichen Auskünfte erinnert, mit denen Kant den Studenten seiner Raumtheorie an zudem ganz verschiedenartigen Stellen seines einschlägigen Werkes jeweils über die Struktur des Raumes zu verständigen versucht — Hermann Schmitz spricht sogar noch im Hinblick auf die relativ ausführliche Darstellung in der „Transzendentalen Ästhetik" der „Kritik der reinen Vernunft" von einem „Skandal" und von „handstreichartiger Anmaßung von Bekanntheiten" (vgl. Schmitz 1967, S. XVII/XVIII) —, dann würde es auch schon dann ein günstiges Licht auf die innere Konsequenz von Kants Arbeit an seiner Raumtheorie werfen, wenn die Alternative ,mindestens Orientale Handlungsmerkmale — ausschließlich Orientale Handlungsmerkmale' auch nur überhaupt an Hand von Texten Kants entschieden werden könnte.

5 10. Kants wichtigste onentale

Handlungscharakteristik

Es gibt nun in der Tat Formulierungen Kants, die diese Alternative eindeutig zu entscheiden gestatten. Nachdem wir den Sinn der Rede von räumlichen Merkmalen an Hand der Inaugural-Dissertation und der Schrift über die „Gegenden" schon so weit bestimmt haben, daß wir die Frage nach dem Sinn dieser Rede abschließend auf eine vollständige Alternative zuspitzen können, kann es vielleicht auch einiges Vertrauen in unseren Ansatz erwecken, wenn diese Alternative sich sogleich an Hand einer Formulierung entscheiden läßt, mit der Kant den Begriff vom Raum als Gegenstand ausschließlich durch Orientale Handlungsmerkmale charakterisiert: „Wir können uns . . . die drei Abmessungen des Raumes gar nicht vorstellen, ohne aus demselben Punkte drei Linien senkrecht aufein37

Man sollte wohl zumindest mit der Möglichkeit rechnen, daß Kant sich im Hinblick auf die ,Begriffe vom Raum' analog wie im Hinblick auf die von ihm ermittelten Urteilsfunktionen und im Hinblick auf die von ihm ermittelten kategorialen Gegenstandsklassen für einen Vollständigkeitsanspruch stark gemacht hat. Man müßte dann fragen, ob Kant einen einzigen Grundbegriff vom Raum im Auge gehabt hat, ζ. B. den Begriff der Richtung oder Orientierung, oder ob er mehrere primitive, nicht aufeinander reduzierbare Begriffe vom Raum benutzt hat. Wenn man, wie wir es entwickeln werden, im Begriff der Orientierung den Grundbegriff von Kants Raumtheorie sieht, dann fällt sofort auf, daß Kant auch in seiner Theorie der Bahnbewegung der Materie, also in der „Phoronomie" der „Metaphysischen Anfangsgriinde der Naturwissenschaft", außer dem Richtungsbegriff keinen anderen primitiven .Begriff vom Räume' benutzt hat.

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Das Raumproblem und einige Bedingungen seiner Lösbarkeit

ander zu setzen" (KdrV Β 154, Kursivierung von mir, R.E.). 38 Es ist zwar ohne weiteres zuzugeben, daß es Kant bei dieser Formulierung, wie seine eigene Sperrung des Wortes „setzen" andeutet, zunächst nur darauf ankam zu betonen, daß von einer Dreizahl der Dimensionen, wie sie dem Raum üblicherweise zugesprochen werden, streng genommen nur im Hinblick auf Operationen die Rede sein könne. Dem darf man aber nicht etwa entnehmen, daß Kant den wesentlichen operationalen Charakter des Raumbegriffes hier betont hätte, weil er einen Orientalen Charakter — „senkrecht zueinander" — als etwas habe erwähnen wollen können, was für den Raumbegriff ganz irrelevant wäre. Die Akzentuierung des operationalen Charakters erklärt sich vielmehr aus dem vorhergehenden Text (vgl. die Uberleitung zum operationalen Exkurs: „Dieses nehmen wir auch jederzeit wahr . . ." (ib.)). Tatsache ist jedenfalls, daß Kant den operationalen und den Orientalen Charakter des Raumbegriffes in einem Atemzug erwähnt. Darüber hinaus — und das ist hier zusätzlich wichtig — wird die Weise, in der Kant in demselben Textstück unmittelbar anschließend den wesentlichen Charakter des Zeitbegriffs einführt, überhaupt nur dann voll verständlich, wenn man sich klar macht, daß dieser Zeitbegriff sich vom Raumbegriff gerade dadurch unterscheidet, daß er zwar auch operational, aber nicht auch oriental zu charakterisieren ist: „Wir können uns . . . selbst die Zeit nicht (denken), ohne, indem wir im Ziehen einer geraden Linie . . . bloß auf die Handlung . . . achthaben" (ib., Kursivierung von mir, R.E.); denn eine „Handlung des Subjekts . . . bringt sogar den Begriff der Sukzession zuerst hervor" (B 155, Kursivierung von mir, R.E.). Kant bräuchte den operationalen und sukzessorischen Sinn der Rede von der Zeit gar nicht in dieser Weise zu betonen, wenn er zuvor nicht auch schon eine andere (anschauliche) Form des Operierens charakterisiert hätte, die sich aber von der ,zeithaften', sukzessiven Form des Operierens charakteristischerweise gerade dadurch unterscheidet, daß sie ausschließlich in Orientierungen von Handlungen manifest werden kann. 39 Im Lichte der bisher von uns entwickelten Voraussetzungen 38

39

Auf Kants Begriff vom Raum als Gegenstand und als .formale Anschauung' (vgl. KdrV Β 160 Anm.) gehe ich noch im Zusammenhang ausführlich ein, vgl. S. 240/242 und §23. Es ist insofern eine wichtige Pointe von Kants operationaler Charakteristik der Zeit, daß er das Orientale Merkmal Gerade zwar ausdrücklich erwähnt, aber meint, daß es vor allem auf Orientale Merkmale nicht ankommt, wenn er lehrt, daß es nur darauf ankommt, auf das schlichte Operieren zu achten, wenn man das charakteristische zeitliche Merkmal der Sukzession als solches manifest machen möchte. Wie leicht man sich in Widersprüche

Kants wichtigste Orientale Handlungscharakteristik

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b r a u c h t d e r begriffliche Inhalt v o n Kants Beschreibung des R a u m e s als G e g e n s t a n d aber gar nicht unklar z u bleiben: denn der R a u m als G e g e n stand ist hier offenbar diejenige F o r m des Operierens, wie sie jeweils in H a n d l u n g e n manifest w i r d , sofern jede v o n ihnen geradlinig (orientiert) ( „ g e r a d e " ) ist, keine z w e i ebensinnig orientiert ( „ p a r a l l e l " ) s i n d 4 0 und jede in d e m s e l b e n Sinne auf jede der jeweils anderen hin orientiert ist, so daß h ö c h s t e n s soundsoviele, nämlich drei H a n d l u n g e n so orientiert sein k ö n n e n ; die r ä u m l i c h e F o r m v o n jeder dieser Handlungen nennt Kant insofern „ g e r a d e " , die räumliche F o r m v o n jeweils zwei v o n diesen Handlungen n e n n t K a n t insofern „ s e n k r e c h t aufeinander" und v o n allen diesen H a n d lungen heißt es bei ihm insofern, „Punkt"

ausgehen;

„senkrecht"

daß sie v o n einem und

deutet dann offenbar einen

demselben relativen

Orientalen H a n d l u n g s c h a r a k t e r und „ g e r a d e " einen absoluten Orientalen H a n d l u n g s c h a r a k t e r a n : der R a u m ist insofern diejenige O p e r a t i o n s f o r m , die d u r c h den R e k u r s auf nicht weniger und nicht m e h r , also auf genau drei s o orientierte H a n d l u n g e n charakterisiert werden kann. D e r R a u m ist in diesem Sinne die Orientale F o r m des Handelns, die Orientale H a n d lungsform.41 mit Kants intuitionistischen Basistheorien verwickeln kann, wenn man nicht genau zwischen dem, was Kant gelegentlich zur Pointierung seiner Lehre auch noch erwähnt, und dem unterscheidet, was er strikt lehrt, kann die Untersuchung von G. Krüger (1950) deutlich machen. Krüger übersieht, daß es im Hinblick auf die operative Struktur der Zeit nicht auf die durch eine bestimmte Orientierung einer Handlung vermittelte äußere Gestalt der erwähnten Hilfslinie ankommt; für die Zeit ist ja weder etwas .Gerades' noch etwas .Krummes' strukturell charakteristisch. Kant hätte sich prinzipiell ebenso gut — oder ebenso schlecht! — an eine Kreislinie halten können. Es kommt, wie Kant ja insofern der Sache nach auch zu Recht betont, alleine auf die die zeitliche, sukzessive Form manifest machende Tätigkeit als solche an (vgl. zur Bestätigung auch Β 156). Krüger rückt denn auch — insofern immerhin konsequent — Kants Bemerkungen über die dialektische Hilfsfunktion, wie gezeichnete Linien bzw. das Zeichen von Linien sie im Kontext der Zeittheorie erfüllen können (vgl. KdrV A33, Β 49/50), in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Dabei setzt er sich aber in Widerspruch mit Kants Lehre von der anschaulichen Zeitstruktur, wenn er behauptet: „Wirklich anschaulich ist eben nur die äußere Anschauung, während die innere, streng genommen, gestaltlos-unanschaulich ist. . ." (Krüger, S. 195). — Auch Vleeschauwer (1937) hält die Eindeutigkeit nicht durch, mit der Kant betont, daß die Sukzessivitat am Ziehen einer Linie und nicht an der Linie, sofern sie schon gezeichnet ist, manifest werde (Vleeschauwer, S. 210/216). 40

41

Den Gebrauch des hier verwendeten Ausdrucks „ebensinnig" rechtfertige ich, wenn ich im Zusammenhang auf die hier wichtig werdenden von Kant so genannten Reflexionsbegriffe eingehe (vgl. S. 210ff.). Damit ist auch der literarische Zusammenhang markiert, in dem Kant die aristotelische Theorie vom anschaulichen, operativen Kontinuum und seines wichtigsten Modus, der Zeit, wie sie von W. Wieland (1962) erstmals konsequent dargestellt worden ist, dadurch de facto weiter ausarbeitet, daß er auch den Raum im Kern operational zu konzipieren versucht (vgl. hierzu auch S. 23 5 42 ).

120

Das Raumproblem und einige Bedingungen seiner Lösbarkeit

Für unsere Ausgangsfrage nach der von Kant womöglich beanspruchten allgemeinen Semantik der räumlich zu verstehenden sprachlichen Ausdrücke ist dieses Ergebnis offenkundig sehr wichtig. Denn das Beispiel, das Kant in dem operationalen Exkurs für eine Orientale Handlungscharakteristik gibt, ist kein beliebiges Beispiel, an dessen Stelle man in unserem Zusammenhang genauso gut irgendein anderes Beispiel zur Debatte stellen könnte! Das liegt aber ersichtlich daran, daß man sich am Leitfaden dieses Beispiels einer Orientalen Handlungscharakteristik — und nur am Leitfaden dieses Beispiels — klar machen kann, wie der Sinn der Rede vom Raum als Gegenstand im Anschluß an Kant durch explizites Erwähnen operationaler und orientaler Merkmale erschöpft werden kann. Denn, wenn wir Kants Formulierung ohne Fehler in die vorgeschlagene Orientale Handlungscharakteristik übergeführt haben und wenn die von Kant berücksichtigte Dreidimensionalität des Raumes in dem Sinne ein Strukturmerkmal des Raumes ist, von dem Kant hier redet, daß dieser Raum sich auf Grund dieser Dreidimensionalität von allem unterscheiden läßt, was man sonst noch „Raum" nennen mag, dann besteht der Sinn der Rede von diesem Raum darin, daß jeweils nicht mehr so orientierbare Handlungen ausgeführt werden können bzw. jeweils nicht mehr so bestimmbare Orientierungen durch Handlungen manifest gemacht werden können. Die Dreidimensionalität des Raumes ist demnach nichts anderes als ein ausgezeichneter orientaler Handlungscharakter. Alleine auf Grund dieser Orientalen Handlungscharakteristik ließe Kant sich dann aber auch schon auf eine allgemeine Semantik der räumlich zu verstehenden sprachlichen Ausdrücke festlegen. Denn die Auszeichnung des Orientalen Handlungscharakters Dreidimensional kann offenbar insofern gerechtfertigt werden, als man von allen räumlich zu verstehenden sprachlichen Ausdrücken verlangen kann, daß sie analog wie der Ausdruck „dreidimensinal" 1) nur im Hinblick auf Handlungen als ihren Gegenstandsbereich und 2) im Hinblick auf Handlungen nur insofern interpretiert werden können, als Handlungen orientiert sind. Ich komme hierauf ausführlich zurück (vgl. §23). Wenn man zu dem Ergebnis gekommen ist, daß die Struktur des Raumes als Gegenstand nach Kant durch operationale und Orientale Merkmale vollständig bestimmt werden kann, dann kann es so aussehen, als habe man sich unvermittelt von den Problemen entfernt, wie sie sich in diesem Zusammenhang aus Kants Rede von der reinen räumlichen Anschauung ergeben können. Man kann zwar die hermeneutische Hypothese, der Raum sei nach Kant die Orientale Form des Operierens, an

Kants wichtigste Orientale Handlungscharakteristik

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Hand von Texten in einem vielleicht überraschend starken Maße erhärten; und man kann den Satz, der Raum sei die Orientale Form des Operierens, als einen möglichen Grundgedanken der Raumtheorie vielleicht auch sachlich interessant finden. Aber man sieht von hier aus noch gar nicht genau, welche sachlichen Argumente man denn nun noch ins Feld führen kann, wenn man im Zusammenhang mit der so charakterisierten Raumstruktur wie Kant überhaupt noch von einer „reinen räumlichen Anschauung" spricht. Wir hatten den Sinn von Kants Rede von der reinen räumlichen Anschauung zwar schon dahin zu erläutern versucht, daß Kant unter dieser Anschauung eine Bedingung versteht, wie jeder sie erfüllt, der die auch sprachlich belegbare Entdeckung orientaler Operationsmerkmale als solcher machen kann. Aber im Anschluß an die These vom Raum als orientaler Operationsform kann verständlicherweise der Eindruck entstehen, als wenn verschiedene sachliche Motive sich in zumindest noch nicht hinreichend durchsichtiger Weise verschlingen, wenn Kant im Hinblick auf den Raum von einer „reinen Anschauung", an anderer Stelle außerdem von einer „formalen Anschauung" (vgl. KdrV, Β 160 Anm.) spricht und auch noch im Sinne von „orientaler Operationsform" von ihm sprechen sollte. In der Tat kann man mit Recht darauf hinweisen, daß unsere bisherigen Ausführungen wenigstens vor dem Hintergrund dieser von Kant getroffenen terminologischen Unterscheidungen noch unbefriedigend geblieben sind. Im Rahmen einer Untersuchung, die sich für ihren Gegenstand am Leitfaden eines überlieferten philosophischen Textes interessiert, wird einem daher zünftigerweise gar nicht anderes übrig bleiben, als zu versuchen, auch diese terminologische Lücke zu schließen (vgl. S. 241/242 und § 23). N u n sollte man allerdings nicht meinen, daß man nach Belieben auch umgekehrt vorgehen könnte. Die Theorie kommt vor der Terminologie. Dieser Grundsatz gilt auch für jeden, der sich einer Theorie auf dem Weg über einen schon vorliegenden historischen Text dieser Theorie zu nähern versucht und dies unter der Hypothese tut, die in diesem Text greifbare Theorie sei wahr und könne ihn gerade deswegen schon einigermaßen zuverlässig über den Gegenstand seines Interesses belehren. Ersichtlich wird man dabei oftmals noch am weitesten kommen können, wenn man sich einer solchen Theorie vor allem auch an denjenigen Stellen ihres Textes zu nähern versucht, an denen ihr Autor sein Publikum vorzugsweise über die konkreten Sachverhalte informiert, aus deren Studium er selber zum ersten Mal einiges über den Gegenstand gelernt hat, von dem seine reife Theorie schließlich handelt, indem sie allgemeine Sätze über ihn

122

Das Raumproblem und einige Bedingungen seiner Lösbarkeit

formuliert. Solche konkreten Sachverhalte können im Zusammenhang dieser Theorie zwar immer nur als Beispiele fungieren; und ein konkreter Sachverhalt kann bekanntlich dann und nur dann ein Beispiel aus dem Anwendungsbereich dieser Theorie abgeben, wenn für ihn zwar auch alle Merkmale charakteristisch sind, die den genuinen Gegenstandsbereich dieser Theorie erschöpfend charakterisieren, wenn aber eben nicht alle Merkmale, die für ihn charakteristisch sind, auch den Gegenstandsbereich dieser Theorie charakterisieren. Das ist ja einer der Gründe, weswegen einem konkreten Sachverhalt die Theorie des Autors, der ihn als Beispiel aus dem Anwendungsbereich dieser Theorie erwähnt, auch niemals eindeutig gleichsam auf der Stirn geschrieben steht. So kann man beispielsweise einem zutreffend als inkongruent charakterisierten Paar von Händen sogar dann nicht gleichsam auf den ersten Blick ansehen, ob das Merkmal der Inkongruenz auf den Orientalen Operationscharakter widersinnige Orientierung von genau zwei Handlungen' zurückgeführt werden kann oder nicht, wenn Kants Raumtheorie in der von uns entwickelten Darstellung richtig sein sollte. Gleichwohl ist es zweckmäßig, daß man sich den Zugang zu einer Theorie auch auf dem Weg über die konkreten Sachverhalte zu bahnen versucht, die ihr Autor gerade als Beispiele aus dem Anwendungsbereich dieser Theorie erwähnt hat. Denn bei einem konkreten Sachverhalt, der als Beispiel aus dem Anwendungsbereich einer Theorie fungiert, kann es sich, wie gerade auch unser Studium von Kants Raumtheorie gelehrt hat, um einen Sachverhalt handeln, den erstmals in einem prinzipiellen und wohlbestimmten Sinne ernst genommen und insofern auch als Beispiel streng charakterisiert zu haben, sich die Theorie, die das leistet, von allen Theorien unterscheidet, die rein nominell — ζ. B. Theorie vom ,Raum' — denselben Anwendungsbereich zu intendieren versprechen, aber insofern scheitern, als es ihnen nicht gelingen kann, auch diesen konkreten Sachverhalt noch als Beispiel aus dem Anwendungsbereich ihrer Grundsätze fungieren zu lassen.42

42

Von hier aus kann man auch eine konkretere Vorstellung von den „Schwierigkeiten" ( W W II, Gegenden, letzter Absatz) entwickeln, wie sie sich für Kant konsequenterweise aus den Überlegungen ergeben konnten, wie er sie im Rahmen dieser Schrift vorgelegt hatte. Diese Verdeutlichung wird gefördert, wenn man annimmt, daß Kant eben den Kontext der Schrift über die „Gegenden" im Auge hat, wenn er sich später erinnert, daß er eine zeitlang „. . . gantz ernstlich (versuchte), Sätze zu beweisen und ihr Gegentheil, nicht um eine Zweifellehre zu entwickeln, sondern weil ich eine illusion des Verstandes vermuthete, zu entdecken, worin sie stäke" (WW XVIII, Metaph. Refl., Nr. 5037). Denn unter der Voraussetzung der Richtigkeit des Satzes, daß der Realraum relational ist, ist man — wie schon erläuten - aus definitorischen bzw. semantischen

Kants wichtigste Orientale Handlungscharakteristik

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Gründen genötigt, Tatsachen wie die Inkongruenz einiger Paare sinnenfälliger Dinge zu verkennen; und unter der Hypothese der Richtigkeit des „Gegentheils" dieses Satzes, daß es nämlich nicht wahr ist, daß der Realraum relational ist, und der Konkretisierung dieses negativen Satzes dahingehend, daß der Realraum absolut ist, fand Kant sich genötigt, den Unterschied zwischen Elementen eines inkongruenten Paares sinnenfälliger Dinge durch den Rückgriff auf eine schöpfungstheologische Fiktion zu charakterisieren. Kurz: die Theorie vom relationalen Realraum erweist sich angesichts der Tatsachen als zu eng; die Theorie vom absoluten Realraum erweist sich für Kant angesichts derselben Fakten als zu schwach — denn sie wird nur zusammen mit einer Hilfstheorie zulänglich, die im Falle der von Kant herangezogenen Schöpfungstheologie selber auch nur so lange unproblematisch erscheinen kann, wie man es nicht so genau nimmt, wie es nötig und möglich ist, wenn man wichtige inhaltliche, nämlich erkenntnistheoretische Implikationen solcher schöpfungstheologischen Formulierungen nicht vernachlässigen möchte. Aber mehr als dies, daß man sich in der raumtheoretischen Diskussion nach wie vor in prinzipielle Schwierigkeiten verwickele, behauptet Kant am Ende der Schrift von 1768 auch nicht-, und um einen Satz und sein „Gegentheil" handelt es sich bei den erörterten Thesen jedenfalls. — Gegen die zuerst von Klaus Reich (1958) vorgeschlagene Hypothese, Kant habe vor allem auch die Schwierigkeiten aus der raumtheoretischen Diskussion des Jahres 1768 im Auge, wenn er sich nach dem Zeugnis der Reflexion 5037 an ein von ihm einstmals planmäßig befolgtes antithetisches Diskussionsschema erinnert, sind von Norbert Hinske (1970) Vorbehalte angemeldet worden (Hinske, S. 97/100). Hinske hält demgegenüber an der Auffassung von Benno Erdmann, Die Entwicklungsgeschichte von Kants theoretischer Philosophie, in: Reflexionen Kants zur KdrV (Reflexionen Kants zur kritischen Philosophie, Bd. II). Aus Kants handschriftlichen Aufzeichnungen herausgegeben von Benno Erdmann, Leipzig 1884, S. XIII-LX, fest, man müsse diese zeitweise antithetische Diskussionspraxis Kants „im engen Zusammenhang" mit der „Antinomienproblematik" (Hinske, S. 98) sehen. Freilich arbeitet Hinske im Hinblick auf Kant mit einem mehrdeutigen, nämlich mit einem wenigstens dreideutigen Antinomienbegriff (vgl. a . a . O . S. 99/106). Im Unterschied hierzu greift Reich, wie Hinske richtig sieht, auf Kants Antinomienbegriff „in seiner engsten und ohne Zweifel präzisesten Bedeutung" (S. 99) zurück. Es ist aber nicht einzusehen, inwiefern schon in dieser Eindeutigkeit von Reichs Wortgebrauch der „tiefere Grund und das relative Recht der Reichschen Polemik" (ib.) gegen die von Erdmann ausgearbeitete entwicklungsgeschichtliche Auffassung sollte liegen können. Reichs Eindeutigkeit in diesem Punkt gibt doch wohl allenfalls eine unter mehreren Bedingungen ab, die dem Leser von Reichs Ausführungen gestatten, Reichs einschlägige Thesen im Unterschied zu den wenigstens dreideutigen Thesen Hinskes auch eindeutig zu entscheiden. Auf die am nächsten liegende, von Reich doch wohl provozierte wichtigste Sachfrage an einen Kant-Forscher wie Hinske, weswegen nämlich die von Kant in der Schrift von 1768 de facto geübte antithetische Diskussionspraxis und die von Kant ausdrücklich erwähnten prinzipiellen Schwierigkeiten der ihm vertrauten Raumtheorien nicht zu der Theorie der reinen räumlichen Anschauung führen können, geht Hinske im übrigen nicht ein. Das mag bei einer terminologischen Untersuchung wie der von Hinske angestellten (vgl. Hinske, S. 10) auch nicht eben am nächsten liegen. Aber dann hat Hinske freilich auch nicht ausdrücklich klargestellt, daß man mit den Methoden seiner Untersuchung die systematische Tragweite von Reichs Thesen streng genommen weder erfassen noch über ihre Richtigkeit bzw. Falschheit urteilen kann. - Wenn man aber die Schrift von 1768 schon daraufhin untersucht, inwieweit sie in die Vorgeschichte des kosmologischen Antinomienproblems einbezogen werden kann, so konnte Kant im Rahmen des schöpfungstheologischen Gedankenexperimentes weiterarbeiten, indem er sinngemäß vor allem mit den folgenden Fragen daran anknüpfte: (1) Impliziert die Unterstellung, daß eine Schöpfungsinstanz zuallererst eine rechte oder stattdessen eine linke Hand hervorbringt, denn nun, daß die

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Das Raumproblem und einige Bedingungen seiner Lösbarkeit D e r A u t o r einer neuen T h e o r i e kann und sollte sich daher gerade auch

an H a n d

v o n insofern paradigmatischen

Beispielen mit T h e o r i e n

aus-

e i n a n d e r s e t z e n , mit deren deklarierten gegenständlichen Intentionen seine eigenen I n t e n t i o n e n zunächst konvergieren. M a n wird daher auch nirgendw o s o n s t im K o n t e x t einer T h e o r i e so k o n k r e t und zugleich so gut gezielt ü b e r die charakteristischen Sachprobleme informiert werden k ö n n e n , auf die diese T h e o r i e zugeschnitten ist, wie d o r t , w o ihr A u t o r sich n o c h ganz u n b e f a n g e n v o n allen Rücksichten auf vielleicht zweckmäßige

termino-

l o g i s c h e N e u e r u n g e n u n d Modifikationen auf einschlägige Sachverhalte eingelassen h a t , wie jeder sie aber auch ganz unabhängig davon

muß

charakterisieren k ö n n e n , o b er über eine v o n den Theorien verfügt o d e r n i c h t , die gerade z u r D e b a t t e stehen. Diese paradigmatischen Beispiele g e b e n bei K a n t inkongruente G e g e n s t ü c k e wie die naturwüchsigen Elem e n t e eines Paares v o n H ä n d e n und das M e r k m a l der I n k o n g r u e n z ab. Man

könnte

zwar zu

Recht

feststellen,

daß K a n t

seine

Raumtheorie

g r u n d s ä t z l i c h auch dann hätte entdecken k ö n n e n , w e n n es inkongruente G e g e n s t ü c k e wie ζ . B . die H ä n d e eines n o r m a l gewachsenen M e n s c h e n n i c h t geben w ü r d e . A b e r eine solche Feststellung bliebe im H i n b l i c k auf K a n t s T h e o r i e d e r reinen räumlichen A n s c h a u u n g so lange verhältnismäßig

Welt einen Anfang in der Zeit habe, oder impliziert diese Unterstellung dies nicht? (2) Impliziert die Unterstellung, daß eine Schöpfungsinstanz zuallererst eine linke oder stattdessen eine rechte Hand hervorbringt, denn nun, daß diese Instanz selber ein Teil des Raumes ist, in dem das erste Schöpfungsstück sich lokalisieren läßt, oder impliziert diese Unterstellung dies nicht? Im Lichte der von Kant in der In.-Diss, sehr knapp skizzierten intuitionistischen Raumtheorie betrachtet, hat Kant im Anschluß an die Schrift von 1768 allerdings vor allem eine Frage wie die folgende formuliert, untersucht und abschließend beantwortet: Impliziert die Unterstellung, daß eine Schöpfungsinstanz zwischen dem Linkscharakter und dem Rechtscharakter von zwei wahlweise intendierbaren ersten Schöpfungsstücken sinnvoll und eindeutig unterscheiden kann, denn nun, daß sie insofern dieselbe kognitive Bedingung dafür erfüllt, daß sie diese Unterscheidung sinnvoll und eindeutig treffen kann, wie jemand, der diese Unterscheidung sinnvoll und eindeutig treffen kann und nicht eine Schöpfungsinstanz ist, oder impliziert diese Unterstellung dies nicht? Wir wissen, soweit ich sehe, nicht, ob nach Kant hier ein Implikationsverhältnis besteht oder ob es nach Kant nicht besteht. Aber man kann nicht gut bezweifeln, daß Kants wichtigster Schritt auf dem Weg von der hypothetischen schöpfungstheologischen Argumentation von 1768 zur intuitionistischen Raumlehre der In.-Diss, in der Entdeckung bestanden haben muß, daß man sinnvollerweise auch im Hinblick auf eine hypothetisch eingeführte Schöpfungsinstanz die erkenntnistheoretisck orientierte Frage stellen kann, ob jeder, der sinnvoll und eindeutig zwischen dem Linkscharakter eines Gegenstandes und dem Rechtscharakter eines anderen Gegenstandes unterscheiden kann, insofern dieselbe (kognitive) Bedingung dafür erfüllt oder nicht, daß er diese Unterscheidung treffen kann. In der In.-Diss, lehrt Kant dann, daß jeder, der diese Unterscheidung sinnvoll und eindeutig treffen kann, insofern dieselbe Bedingung erfüllt; und Kant nennt diese Bedingung hier „reine (räumliche) Anschauung".

Kants wichtigste Orientale Handlungscharakteristik

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nichtssagend, wie man nicht auch wenigstens die Frage genau beantworten kann, mit Hilfe von welchem Kriterium in dieser Theorie überhaupt darüber entschieden wird, ob ein bestimmter Sachverhalt denn nun als Beispiel für die Sachverhalte fungieren kann oder nicht, von denen diese Theorie im allgemeinen handelt. Ohne eine hinreichend genaue Antwort auf diese Frage bliebe jene Feststellung entweder das Resultat einer formalen Reflexion, die gerade das allgemeine Verständnis der Sache wenig fördern kann, an die Kants Theorie der reinen räumlichen Anschauung auch dann gebunden bleibt, wenn ihr Autor einmal ein paradigmatisches Beispiel aus dem Intentionsbereich der reinen räumlichen Anschauung erörtert; oder die formale Reflexion, deren Ergebnis jene Feststellung wäre, kompensiert lediglich den Mangel eines hinreichend genau bestimmten allgemeinen Verständnisses der Sache, von der Kants Theorie von der reinen räumlichen Anschauung handelt. Es bleibt dann oftmals nur noch übrig, im Einzelfall zu beurteilen, ob sich der Autor einer solchen Feststellung über die kompensatorische Rolle einer solchen formalen Reflexion im klaren ist oder nicht. Aber eine sachlich orientierte Diskussion wird auf den Wegen dieser formalen Reflexion lediglich umgangen. Diese Überlegungen gelten aber auch, mutatis mutandis, in der umgekehrten Richtung. Denn wenn ein Autor die Möglichkeit vernachlässigt, die Studenten seiner Theorie auch durch eine paradigmatische Erörterung mit deren Lehrgehalt vertraut zu machen, dann wird er sich auf den Argwohn gefaßt machen müssen, er schlage lediglich eine neue Ausdrucksweise für eine bekannte Theorie und nicht eine Theorie vor, die jedermann zum ersten Mal erschöpfend, detailliert und eindeutig über die Struktur eines Gegenstandsbereiches verständigen könne, den man schon lange für wohlbestimmbar und immer wieder einmal von neuem für endgültig wohlbestimmt gehalten hatte. 43 43

Dieser Argwohn hatte sich bekanntlich bei Joh. Aug. Eberhard bis zu der Uberzeugung gesteigert, daß „die Leibnizsche Philosophie eben so wohl eine Vernunftkritik enthalte, als die neuerliche, wobei sie dennoch einen auf genaue Zergliederung der Erkenntnisvermögen gegründeten Qogmatismus einführe, mithin alles Wahre der letzteren, überdem aber noch mehr in einer gegründeten Erweiterung des Gebietes des Verstandes enthalte" (ders., in: Philosophisches Magazin, Halle 1788/89, I. Band, S. 289). Kants teils gründliche, teils glänzende Auseinandersetzung mit Eberhards Fehlern, Irrtümern und Inkompetenz (vgl. W W VIII, Streitschrift, S. 185/251) mag hier einmal für sich selbst sprechen. Man kann aber beobachten, wie Kants komplizierter terminologischer Sprachgebrauch sich auch im Zusammenhang mit seiner Raumtheorie erst allmählich stabilisiert hat und seinem A u t o r in puncto Eindeutigkeit gelegentlich auch noch einmal einen ernstzunehmenden Streich spielen konnte. So fragt Kant seinen Rezensenten entrüstet: „Denn

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Das Raumproblem und einige Bedingungen seiner Lösbarkeit

Man wird schwerlich leugnen können, daß Kant seine Raumtheorie in der „Transzendentalen Ästhetik" eher wie ein Autor dargestellt hat, den solche Konsequenzen weniger kümmern als die Verständigung des gelehrten Publikums darüber, in welchem Maß diese Raumtheorie, wenn sie wahr ist, sich auch sprachlich von vielen Vorgängerinnen unterscheiden wird. 4 4 Kant selber hat sich ja immer wieder einmal in mehr oder weniger direkter Weise besorgt über die Schwierigkeiten geäußert, die er einem angemessenen sachlichen Verständnis für seine Theorien alleine schon da-

wo habe ich jemals die Anschauungen von Raum und Zeit, in welchen allererst Bilder möglich sind, selbst Bilder genannt . . . ? " (op. cit. S. 222). Nun, zwar nicht die Anschauungen von Raum und Zeit, aber den Raum selbst hat Kant in der KdrV das „reine Bild aller Größen . . . vor dem äußeren Sinne" (KdrV A 142, Β 182) und die Zeit entsprechend das ,reine Bild' „aller Gegenstände vor dem inneren Sinn" (ib.) genannt. Aber ersichtlich verfallen diese Formulierungen Kants im Prinzip derselben Kritik Kants wie Eberhards Unterstellungen (vgl. hierzu auch Schulz 1792, S. 108/112). Man kann Kants fehlerträchtige Formulierungen in zweierlei Sinne zu verstehen versuchen: 1) man kann fragen, welches Wort Kant statt „ B i l d " vielleicht hat verwenden wollen und der Sache nach hätte verwenden können. Am nächsten dürfte hier liegen, Kant sagen zu lassen: ,das reine Feld aller Größen vor dem äußeren Sinn, d. h. das reine Feld für die Anwendung der Quantitätskategorien zum Behufe aller Größen vor dem äußeren Sinn ist der Raum'; so kann man auch sprachlich leicht an die systematisch dieser Stelle vorausgehenden Erörterungen der Transzendentalen Deduktion der Kategorien anknüpfen — entsprechend kann man im Hinblick auf die Zeit formulieren. 2) Außer einer sprachlichen Fehlleistung Kants kann man auch noch vermuten, daß Kant, begünstigt durch die Kompliziertheit und relative Neuheit der bewältigten Materie, gelegentlich einmal in Vorstellungen aus der Zeit zurückgefallen ist, in der er allmählich auf den „kritischen Weg" gelangt war. So spricht Kant in der Inaugural-Dissertation im Hinblick auf Raum und Zeit auch jeweils von einem „quasi typus immutabilis" (WW II, De mundi, S. 406), und denkt sie, wie Reich übersetzt, „gleichsam als unwandelbare Urbilder" (Reich 1958, S. 61, Kursivierung von mir, R.E.). Demgegenüber hatte Kant sich auf dem Niveau der KdrV prinzipiell darüber belehn, daß Raum und Zeit nichts als Formen sind. Die konjizierte Rede vom ,reinen Feld' gibt also eine Formulierung, wie Kant sie trotz besserer Einsicht höchstwahrscheinlich lediglich verfehlt hat; und der Hinweis auf die Stelle aus der In.-Diss, deutet die Vorstellungswelt an, in der Kant bei der Niederschrift des Textes der KdrV gelegentlich noch so befangen sein konnte, daß er von der intendierten Sache abgelenkt wurde und eine adäquate Formulierung nicht traf. — Es fällt auf, daß die ,Bild'Stelle KdrV A 142, Β 182 in der Kant-Literatur noch nicht nachhaltig Anstoß erregt hat. Frede/Krüger (1970) scheinen zwar eine Inkonsistenz im Auge zu haben, wenn sie Kants Formulierung zu präzisieren versuchen, indem sie ihn nioht Raum und Zeit, sondern „genauer: räumliche und zeitliche Bereiche" (Frede/Krüger, S. 47) als „reine Bilder" aller „kontinuierlichen Größen (Quanta)" (ib.) ansprechen lassen. Aber auch dies gibt noch keinen rechten Sinn, solange man nicht zunächst die Verwendung des Ausdrucks „ B i l d " ganz aufgegeben hat. 44

Dies führt dann freilich dazu, daß Mathematiker, die sich wie Hans Freudenthal (1964) für die Orientale Struktur des Raumes interessieren, aus Kants reifer Raumtheorie nur noch die befremdlich klingende Rede von der „reinen räumlichen Anschauung" heraushören (vgl. Freudenthal 1963, bes. S. 202).

Bedingungen der Entdeckbarkeit anschaulicher bzw. logischer Strukturen

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durch bereite, daß er sie in den von ihm nun einmal ausgeprägten sprachlichen Formen mitteilt (vgl. WW IV, Prol., S. 261/262, KdrV Β XXXVII/ XLIV, WW V, KdpV, S. 10/11). Wie ich zu zeigen versucht habe, kann man die von Kant hier vernachlässigte paradigmatische Einführung der Raumtheorie genau in dem Umfang mit seinen eigenen Mitteln nachholen, in dem man plausibel machen kann, daß Tatsachen und Sachverhalte, wie Kant sie schon in der Schrift über die „Gegenden" diskutiert hat, eben als paradigmatische Beispiele aus dem mittelbar oder unmittelbar intendierbaren Anwendungsbereich seiner später entwickelten Theorie vom Raum als reiner Anschauung fungieren können. Es ist daher auch weder zufällig noch ein echter Mangel, wenn Kants Terminologie bisher noch zu kurz gekommen ist. Denn auch bei Kant kommt zuerst die Theorie und also das, wovon sie die Theorie ist, und danach die Terminologie. Wir haben zwar von Kants einschlägigem Hauptterminus „reine räumliche Anschauung" bisher schon ausgiebig Gebrauch gemacht; und wir haben erläutert, inwiefern Kant ihn zur Andeutung einer Bedingung einführt, wie jeder sie erfüllt, der bestimmte Entdeckungen machen kann. Aber es kann von hier aus zugegebenermaßen noch gar nicht klar sein, weswegen man diese subjektive Bedingung dafür, daß Orientale Handlungscharaktere überhaupt entdeckt werden können, mit Kant „reine räumliche Anschauung" und nicht ζ. B. „Verstand" nennen sollte. Bevor Kant mit seinem Ansatz zu einer transzendentalen Theorie der Gegenstände der euklidischen Geometrie in sachlich sinnvoller Weise zu Wort kommen kann, soll daher noch untersucht werden, ob und wenn ja inwiefern Kant der Sache nach trefflich reflektiert hat, wenn er im Hinblick auf den Raum von einer „reinen Anschauung" spricht und sich berechtigt findet, von dieser speziellen Manifestationsbedingung eine andere subjektive Manifestationsbedingung zu unterscheiden, die er unter dem Namen des Verstandes erwähnt hat.

§ 11. Eine Bedingung der Entdeckbarkeit anschaulicher Strukturen und eine Bedingung der Entdeckbarkeit logischer Strukturen Es ist bekannt, daß Kant in seiner Raumtheorie auf eine reine Anschauung nicht nur einfach rekurriert. Darüber hinaus hat er diesen Rekurs auch damit gerechtfertigt, daß er erläutert, inwiefern die Begriffe vom Raum sich von Begriffen mit ganz bestimmten anderen, wohlbekannten Eigenschaften unterscheiden (vgl. hierzu vor allem WW II, De

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Das Raumproblem und einige Bedingungen seiner Lösbarkeit

mundi, § 15 A-C, und KdrV, § 2, Nr. 1-4, A 23, Β 38/A 25, Β 40). Wenn Kant den speziellen, nämlich den anschaulichen Sinn des Redens vom Raum gelegentlich auch dadurch charakterisiert, daß er sich auf solche Eigenschaften von Begriffen konzentriert, wie sie für den begrifflichen Typ des Redens vom Raum gerade nicht eigentümlich sind, so geht er dabei in erster Linie von der Tatsache aus, daß ein bestimmter Begriff Α und ein bestimmter anderer Begriff B, die beide zu derselben Klasse von Begriffen gehören, im Hinblick auf ein Subordinationsverhältnis beurteilt werden können, in dem wenigstens einer von ihnen zu dem anderen steht oder nicht steht. In der Inaugural-Dissertation hat Kant seinen Versuch, den begrifflichen Typ des Redens vom Raum auch einmal gleichsam durch eine Negativkopie eines anderen Begriffstyps zu gewinnen, in diesem Sinne vorbereitet, wenn er etwa feststellt, daß man Begriffe angeben könne, die einander untergeordnet werden, nämlich die niedrigeren den höheren im Hinblick auf die ihnen gemeinsamen Merkmale — „sibi tantum subordinantur, inferiores nempe superioribus (notis communibus)" — und die untereinander gemäß dem Prinzip des Widerspruchs verglichen werden — „et conferuntur inter se secundum princ. contrad." (WW II, De mundi, S. 393f.). „So ist ζ. Β. der Begriff Mensch in Beziehung auf den Begriff N e g e r ein höherer, in Beziehung auf den Begriff T h i e r aber ein niederer" (WW IX, Logik-Jäsche S. 96, § 9, Anm.). Kant hat sich in diesem Zusammenhang aber nicht immer mit Andeutungen begnügt. Wie man dem § 14 der von Jäsche besorgten und publizierten Kompilation aus Kants Manuskripten zu dessen regelmäßigen Logik-Kollegs entnehmen kann, hat Kant die getroffenen Bestimmungen gelegentlich auch als „Allgemeine Regeln in Absicht auf die Subordination der Begriffe" formuliert und gelehrt: „In Ansehung des logischen Umfangs der Begriffe gelten folgende allgemeine Regeln: 1) Was den höhern Begriffen zukommt oder widerspricht, das kommt auch zu oder widerspricht allen niedrigem Begriffen, die unter jenen höhern enthalten sind; und 2) umgekehrt: Was allen niedrigem Begriffen zukommt oder widerspricht, das kommt auch zu oder widerspricht ihrem höhern Begriffe" (a. a. O. S. 98). 45 Wenn man die Tragweite berücksichtigt, wie sie für 45

Bei Licht besehen, formuliert Kant hier allerdings nicht Regeln, sondern Sätze. Denn Kant trifft hier ja keine Bestimmungen, die den aus bestimmten logischen Gründen allgemein zulässigen Umgang mit bestimmten wohlformulierten sprachlichen Ausdrücken betreffen würden, sondern Kant trifft Bestimmungen, die die formalen Gründe der Wahrheit bestimmter Sätze betreffen.

Bedingungen der Entdeckbarkeit anschaulicher bzw. logischer Strukturen

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Kant der Rekurs auf solche ,Verstandesregeln' besitzt, sobald er den begrifflichen T y p des Redens vom Raum auch einmal gleichsam im Kontrastverfahren klären möchte, dann erscheint es zweckmäßig, auch einmal solche wünschenswerten Beispiele Kants für ,Verstandesregeln' zu präzisieren. Der Einfachheit halber dürfen wir die unter „ 1 ) " mitgeteilte Formulierung entsprechend der disjunktiven Bestimmung „ . . . zukommt oder widerspricht . . . " aufspalten und können uns darauf beschränken, die Formulierung zu präzisieren, in der Kant die Begriffsverhältnisse mit Hilfe des Ausdrucks „ z u k o m m e n " zu bestimmen versucht. Wenn ich Kants Intentionen richtig verstanden habe, erhält man die folgende allgemeine Behauptung über ein mögliches Subordinationsverhältnis zwischen Begriffen, sofern sie eine Extension haben: (1) ,Für jeden Begriff B , der echter Oberbegriff von wenigstens einem anderen Begriff C ist und echter Unterbegriff von wenigstens einem anderen Begriff Α ist, gilt, daß jeder Begriff D , der (wie C) sein echter Unterbegriff ist, auch echter Unterbegriff seines echten Oberbegriffes Α ist'. 4 6 Wir haben es für zweckmäßig gehalten, einmal einen konkreten ,Verstandessatz' — hier liegt ja, wie schon erinnert (vgl. S. 128 45 ), streng genommen nicht die Formulierung einer Regel vor — genauer vorzuführen; im Zusammenhang unserer Erörterungen reicht nämlich auch schon ein einzelnes Beispiel aus, um die Gründe plausibel zu machen, mit denen Kant die Wahl des Terminus „reine Anschauung" gelegentlich im Rahmen eines Abgrenzungsverfahrens gegen den Sinn seiner Rede vom „ V e r s t a n d " gerechtfertigt hat. Man kann an Hand des Beispieltheorems zunächst konkretisieren, was Kant meint, wenn er davon spricht, daß jemand, der sich wie ζ. B. beim schlüssigen Argumentieren — „ut in ratiociniis" (WW II, D e mundi, S. 393) — am Prinzip der Subordinierbarkeit orientiert, vom ,Verstand' Gebrauch mache, und wenn er diesen Gebrauch ,logisch' nennt — „qui U S U S dicitur L O G I C U S " (ib.). Wenn nämlich (1) ein beweisbarer Satz ist, dann macht jemand, der ζ. B. den Satz (a) ,Wenn Metalle Minerale sind ( C C B ) und Minerale Körper sind (B C A), dann, wenn Eisen ein Mineral ist (D C B), ist Eisen ein Körper (D C A ) ' behauptet, in dem Sinne von seinem Verstand im logischen Sinne einen trefflichen Gebrauch, daß er im Hinblick auf Minerale (B) eine auf Grund von (1) (und der Bedeutungsregeln der deutschen Sprache) wahre 46

Mit dem Zeichen „ C " für die Subordinationsrelation zwischen Begriffen erhält man folgenden Formalausdruck: (VB) ( ( 3 C ) C c Β A (3A) B e A - (VD) ( D e Β -

D C A)).

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Das Raumproblem und einige Bedingungen seiner Lösbarkeit

Behauptung aufstellt. Kant behauptet ja nicht, daß derjenige von seinem Verstand im logischen Sinne Gebrauch mache, der nach Behauptungen wie (1) sucht und, wenn er eine gefunden hat, untersucht, ob sie beweisbar ist oder nicht. Kant hat also nicht etwa den Logiker als solchen im Auge, wenn er im § 5 der Inaugural-Dissertation die Existenz einer Instanz voraussetzt, die von ihrem Verstand im logischen Sinne Gebrauch macht. Kant hat vielmehr jeden im Auge, der konkrete Sätze wie (a) behauptet, über die ihn dann allerdings nur der Logiker ζ. B. heute so belehren könnte: 1. in diesen Sätzen kommen jeweils ein Ausdruck wie „wenn . . . dann" für die Triftigkeit des Behaupteten und vielleicht zusätzliche logische Konstanten sowie Subordinationsfunktoren vor, die aus jeweils zwei Begriffen die Elementarsätze des jeweiligen Arguments bilden; 2. wenn so ein Satz logisch wahr oder so ein Argument logisch triftig ist, dann deswegen, weil er (es) ein bestimmtes Satz-(Argument-)Schema so konkretisiert, daß er (es) einer (eines) von den Sätzen (Argumenten) ist, im Hinblick auf die die allgemeine Behauptung (1) bewiesen werden kann. Es geht hier also zunächst nur um die längst vertraute Tatsache, daß man logisch triftig argumentieren kann, ohne daß man jeweils über die Triftigkeit des Behaupteten auch schon Rechenschaft müßte ablegen und den Grund der Triftigkeit müßte charakterisieren können. In diesem Zusammenhang versucht Kant nun offenbar, zu allgemeinen Bestimmungen zu gelangen, die ausschließlich dieses pragmatische Verhältnis betreffen sollen, in dem jemand zu einem einzelnen konkreten beweisbaren Satz der formalen Logik (und zu Bedeutungsregeln der von ihm gesprochenen Sprache) steht, wenn er von ihm lediglich trefflich Gebrauch macht, ohne ihn etwa um seiner selbst willen zum Ziel der Forschung zu erheben, oder, sobald er ihn gefunden hätte, zum Gegenstand metalogischer Betrachtungen zu machen. Zwar orientiert Kant sich auch weiterhin paradigmatisch an Sätzen einer ausgezeichneten logischen Struktur; diese logische Struktur könnte von der heutigen formalen Logik im wesentlichen in den Definitionen eines Inklusionskalküls beschrieben werden.47 Aber für Kants Zwecke reicht auch schon ein einziges Beispiel. Denn es geht ihm lediglich darum zu betonen, daß jeder, der auch nur beispielsweise subordinations- oder inklusionslogisch triftig argumentieren kann, ohne schon über ein demonstrables Wissen von den Gründen dieser Triftigkeit zu verfügen, Bedingungen erfüllen müsse, die es ihm möglich machen, von Gesetzen wie 47

vgl. z . B . W. v. O . Quine, Mathematical Logic, Cambridge 1965, § 34, S. 185ff.

Bedingungen der Entdeckbarkeit anschaulicher bzw. logischer Strukturen

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ζ. B. denen der Inklusionslogik trefflich Gebrauch zu machen, ohne sie gegenständlich zu kennen. Diese notwendige ,subjektive' Bedingung, wie sie als solche von jedem erfüllt wird, der von logischen ζ. B. inklusionslogischen Gesetzen auch unreflektiert einen trefflichen Gebrauch machen kann, nennt Kant in der Inaugural-Dissertation .Verstand* — d. h. dasjenige Vermögen eines Autors (,Subjektes') ζ. B. inklusionslogisch triftiger Argumente, kraft dessen er überhaupt erst Triftigkeit in solchen Argumenten — „in rationciniis" (WW II, De mundi, S. 393) —, aber auch erst die treffliche Subordination (Inklusion) in den hierfür elementaren Urteilen — „in iudiciis" (ib.) — zustande bringen kann. Denn sowohl für die Triftigkeit „in rationciniis" als auch für die treffliche Subordination „in judiciis" ist es ja trivialerweise charakteristisch, daß sie von Hause aus nicht sinnenfällig sind — „in sensus ipsius (i.e. subiecti, R.E.) per qualitatem suam incurrere non possunt" ( a . a . O . S. 392); gerade daher sind inklusionslogische Triftigkeit und Trefflichkeit in inklusionslogischen Elementarurteilen für Kant auch nicht ohne Hilfe des Verstandes zugänglich, der per definitionem „est facultas subiecti, per quam, quae in sensus ipsius per qualitatem suam incurrere non possunt, repraesentare valet" (ib.). Wir waren davon ausgegangen, daß durchaus noch offen sei, mit welchen sachlichen Argumenten Kant den ausdrücklichen Rückgriff seiner Raumtheorie auf eine reine Anschauung rechtfertigen könne. Wenn mir bei dem zuletzt Entwickelten kein Fehler unterlaufen ist, dann wird bei genauerem Hinsehen zunächst deutlich, inwiefern Kant seinen Terminus „reine Anschauung" in strenger Analogie zu seinem Terminus „Verstand" (im logischen Gebrauch) einführen kann: analog wie es sich beim Verstand „in sensu logico" um eine Bedingung handelt, wie sie von jedem erfüllt wird, der inklusorische (subordinatorische) Verhältnisse zwischen Begriffen in wohlgebildeten sprachlichen Ausdrücken, die Kant „judicia" nennt, und auch in daraus (mit Hilfe von logischen Konstanten) aufgebauten Ausdrücken, die Kant „ratiocinia" nennt, manifest machen kann, analog handelt es sich bei der reinen räumlichen Anschauung um eine Bedingung, wie sie von jedem erfüllt wird, der auch sprachlich belegbare Orientale Handlungsmerkmale als solche manifest machen kann. 48 48

A u f der Basis der K d r V müßte diese Unterscheidung bekanntlich modifiziert werden. Denn der logisch gebrauchte Verstand dokumentiert sich nach den dort vorgetragenen Kerntheorien nicht primär in Inklusionen sowie in den aus ihnen aufgebauten Argumenten, sondern in sprachlichen Ausdrücken, die im Sinne der in Kants „Urteilstafel" festgehaltenen Bestimmungen wohlformuliert sind; und als „reiner" Verstand dokumentiert

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Das Raumproblem und einige Bedingungen seiner Lösbarkeit

Zwischen den Termini „reine räumliche Anschauung" und „logisch gebrauchter Verstand" besteht also immerhin eine Analogie und nicht bloß ζ. B. eine gemeinsame Kontextabhängigkeit im Hinblick auf Kants Inaugural-Dissertation: denn jeder von ihnen deutet eine notwendige subjektive Bedingung der Entdeckbarkeit von etwas an, das jeweils noch näher bestimmt werden kann; und zwischen beiden Termini besteht aber auch nicht mehr als eine Analogie und nicht etwa ζ. B. Äquivalenz: denn ihr Gebrauch ist im Hinblick auf ganz verschiedenartige Sachverhalte normiert, so daß ein wahrer Satz über den Verstand unter Kants Voraussetzungen schon dann in einen falschen Satz übergeht, wenn in ihm an allen Stellen, an denen das Wort „Verstand" vorkommt, stattdessen das Wort „reine räumliche Anschauung" eingesetzt wird. Wir haben damit noch einige Voraussetzungen mehr beisammen, um zu verstehen, wieso Kant den Terminus „reine Anschauung" im Rahmen seiner Raumtheorie einführen kann und inwiefern er ihn grundsätzlich gegen den Sinn seiner Rede von „logisch gebrauchter Verstand", „Verstandesmerkmal" und dgl. abgrenzen kann. Wir wollen nun noch einmal verfolgen, wie Kant in einem konkreten Zusammenhang unter diesem Gesichtspunkt auf den Unterschied zwischen den Elementen eines inkongruenten Paares von sinnenfälligen Dingen zu sprechen kommt. An Beispielen eines solchen Paares hatte Kants Interesse sich ja schließlich wegweisend für seine Raumtheorie entzündet. Wir erinnern uns: In der Schrift über die „Gegenden" erwähnt Kant die Inkongruenz fast ausschließlich im Hinblick auf sinnenfällig existierende Gegenstände, sofern sie Elemente eines inkongruenten Paares sind. Kant stellt hier fest, daß eine und dieselbe „vollständige Beschreibung", wie man sie unter den geometrischen Gesichtspunkten der Gleichheit und Ähnlichkeit geben kann, im Hinblick auf jedes Element eines solchen Paares gelte und insofern keines von diesen Elementen vom jeweils anderen unterschieden werden könne (vgl. WW II, Gegenden, S. 381). In der Inaugural-Dissertation führt Kant seine Theorie von der reinen räumlichen Anschauung erstmals ein; und hier begründet Kant seine Behauptung, die Inkongruenz als solche, also die Bedingung, wie sie von Paaren von Dingen erfüllt werden kann, könne ohne den Rekurs auf diese reine räumliche Anschauung noch nicht einmal bemerkt werden, auch erstmals mit dem Argument, diese Inkongruenzbedingung könne auf kein Verstandesmerkmal — „nota intellectualis" — zurückgeführt werden (vgl. er sich darüber hinaus in Formulierungen, die genau im Sinne von Kants Kategorienlehre gegenständliche Valenz haben (vgl. hierzu auch §§ 16, 2 2 . a . - b . ) .

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WW II, De mundi, S. 403). Zu diesen Verstandesmerkmalen, auf keines von denen die Inkongruenz soll zurückgeführt werden können, gehört aber nach Kant, wie wir gerade gezeigt haben, jedenfalls auch die Subordinierbarkeit eines Begriffes Β unter einen anderen Begriff A, sofern A und Β überhaupt gemeinsame Merkmale haben und sofern Α einen größeren Umfang als Β hat. Den nächsten wichtigen Schritt auf dem Weg, der in unserem Zusammenhang zu Plausibilität führen kann, hat Kant in den „Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft" vorbereitet. Kant formuliert hier einmal: „Ein im Kreise bewegter Körper verändert seine Richtung continuirlich, so, daß er bis zu seiner Rückkehr zum Punkte, von dem er anfing, alle in einer Fläche nur mögliche Richtungen eingeschlagen ist, und doch sagt man: er bewege sich immer in derselben Richtung, z . B . der Planet von Abend gegen Morgen" (WW IV, Μ.Α., S. 483). Diese Formulierung thematisiert Kant unmittelbar anschließend unter dem Gesichtspunkt des Sinnes der Rede von einer „Richtung" und fragt: „Allein, was ist hier die Seite, nach der die Bewegung gerichtet ist? eine Frage, die mit der eine Verwandtschaft hat: worauf beruht der innere Unterschied der Schnecken, die sonst ähnlich und sogar gleich, aber davon eine Species rechts, die andere links gewunden ist . . .?" (ib.). Im Hinblick auf einen Orientalen Begriff wie den der Linkswindung bzw. den der Rechtswindung führt Kant sodann fort: „. . . ein Begriff, der sich zwar construieren, aber, als Begriff, für sich allein durch allgemeine Merkmale und in der discursiven Erkenntnisart gar nicht deutlich machen läßt" ( a . a . O . S. 484, Kursivierung von mir, R.E.). Es scheint mir im Anschluß an das bisher schon Zitierte und Entwickelte nicht mehr gut bezweifelbar zu sein, daß Kant das, was er hier meint, treffender auch so hätte ausdrücken können: ,ein Begriff wie der ζ. B. der Linkswindung läßt sich zwar konstruieren, aber, als Begriff, nicht subordinieren, also nicht durch allgemeine Merkmale, d. h. durch Merkmale deutlich machen, die für ihn und einen seiner echten Oberbegriffe (gemeinsam) charakteristisch wären'. Schließlich erinnert Kant im Hinblick auf einen Unterschied wie den zwischen einer Linkswindung und einer Rechtswindung daran: „Ich habe anderwärts gezeigt (Kant bezieht sich hier auf Prol. § 13, R.E.), daß, da sich dieser Unterschied zwar in der Anschauung geben, aber gar nicht auf deutliche Begriffe bringen . . . läßt, . . . er einen guten bestätigenden Beweisgrund zu dem Satze abgebe: daß der Raum . . . bloß zu der subjektiven Form unserer sinnlichen Anschauung . . . gehöre" (ib.). Aber

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Kant ist noch deutlicher geworden; im Hinblick auf einen Orientalen Unterschied wie den zwischen einer Linkswindung und einer Rechtswindung fährt er fort: „ . . . womit der von dem Unterschiede zweier sonst in allen Stücken gleichen, der Richtung nach aber verschiedenen Kreisbewegungen, obgleich nicht völlig einerlei, dennoch aber zusammenhängend ist" (ib.). Wenn man wissen will, wie diese Behauptung über das Bestehen eines solchen Zusammenhanges zu verstehen ist, braucht man nur den im selben Jahr wie die M.A. erschienenen Aufsatz Kants „Was heißt: Sich im Denken orientieren?" ( W W VIII, S. 131/147) zu Rate zu ziehen. Denn hier lehrt Kant im Hinblick auf eine Orientale Differenz explizit, daß jeder auf die Bedingung der reinen (räumlichen) Anschauung müsse rekurrieren können, wenn es ihm möglich sein soll, „. . . in der Beschreibung eines Cirkels, ohne an ihm irgendeine Verschiedenheit der Gegenstände zu bedürfen, doch die Bewegung von der Linken zur Rechten von der in entgegengesetzter Richtung zu unterscheiden . . . " (op. cit., S. 135). 4 9 Läßt 49

Der Zusammenhang dieser Stelle ist von Martin Heidegger (1927) diskutiert worden (vgl. S. 109/110). Heidegger stellt zutreffend fest, daß Kant sich hier auch für die psychischen Randbedingungen interessiert, wie jemand sie schon entwickelt haben muß, wenn er in konkreten Situationen Weltgegenden, Bewegungsrichtungen, Lagen oder Stellen von sinnenfälligen Gegenständen unterscheidet und Gegenstände, die in dieser Weise vorkommen, jeweils findet, indem er sich beim Suchen nach ihnen richtig orientiert. Kant erwähnt in diesem Zusammenhang das „Gefühl eines Unterschiedes an meinem eigenen Subjekt, nämlich der rechten und linken Hand" (WW VIII, Orientieren, S. 134) und das „Gedächtnis" (S. 135). Trotzdem ist es nicht richtig, wenn Heidegger behauptet, auch Kant meine im Rahmen dieser psychologischen Erwägungen „im Grunde die existenziale Verfassung des In-der-Welt-seins" (Heidegger, S. 109 unten). Wenn man wissen möchte, im Hinblick auf welche ,im Grunde gemeinten' Voraussetzungen einer sich räumlich orientierenden Instanz Kant über eine Theorie verfügt, dann muß man hier Kants Theorie von der — wenn man so will — intentionalen Verfassung zu Rate ziehen, in der jeder sich befindet, der zwischen Orientierungen, ζ. B. zwischen widersinnigen Orientierungen als solchen sinnvoll und eindeutig unterscheiden kann. Kant verläßt sich in diesem Zusammenhang also bereits auf die Richtigkeit seiner Theorie der reinen räumlichen Anschauung und fragt nun darüber hinaus, welche psychischen Randbedingungen außerdem erfüllt sind, wenn eine Instanz, die jedenfalls die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt, in konkreten Situationen von der ihr insofern schon verliehenen kognitiven Kompetenz trefflich Gebrauch macht. Heidegger neigt hier dazu, den Autor einer Theorie, die von der Existenzialontologie verschieden ist, nicht primär im Hinblick auf die Strukturen ernst zu nehmen, die dieser Autor ,im Grunde meint', d. h. mit seiner Theorie intendiert, sondern die von der Existenzialontologie analysierten Strukturen („Existenzialien") als diejenigen Strukturen hinzustellen, die vorrangig untersucht werden müßten, wenn man nicht „den vollen Zusammenhang der Konstitution einer möglichen Orientierung" (Heidegger, S. 109) verkennen wolle. Auf diese Weise läßt man einem Autor wie Kant aber nur die Wahl, entweder ein überspanntes Verhältnis zu den individuellen Möglichkeiten philosophischer Theorienbildung zu pflegen oder aber sich von

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man sich dies durch die zweite Version der Transzendentalen Deduktion der Kategorien, wie Kant sie während derselben Zeit ausarbeitete, erläutern — „Wir können uns . . . keinen Zirkel denken, ohne ihn zu bes c h r e i b e n . . . " und „. . . Bewegung, als Handlung des Subjekts . . . " (KdrV, Β 154, Kursivierung von mir, R.E.) — dann versteht man auch schon leichter, inwiefern der Unterschied zwischen ζ. B. zwei widersinnig gewundenen Schnecken mit dem Unterschied zwischen z . B . zwei widersinnig im Kreis bewegten Körpern .zusammenhängt': sowohl der Sinn und die Eindeutigkeit der Rede von widersinnig gewundenen Schnecken als auch der Sinn und die Eindeutigkeit der Rede von widersinnig bewegten Körpern können auf die widersinnig orientierten Handlungen zurückgeführt werden, wie jeder sie als solche muß unterscheiden können, der z . B . zwei Schnecken sinnvoll und eindeutig als widersinnig gewunden bzw. zwei Körper sinnvoll und eindeutig als widersinnig bewegt charakterisiert. Im Lichte unserer allgemeinen Interpretationshypothese läßt sich diese Reduktion aber auch noch gleichsam aus dem entgegengesetzten Blickwinkel bestimmen und plausibel machen: z . B . widersinnig gewundene Schnecken als solche und ζ. B. widersinnig bewegte Körper als solche können demnach nämlich ohne Rekurs auf den Orientalen Widersinn von Handlungen, wie sie von jedem müssen charakterisiert werden können, der im Hinblick auf Paare von Schnecken sinnvoll und eindeutig von widersinniger Windung bzw. im Hinblick auf bewegte Körper sinnvoll Heidegger partielle Blindheit attestieren zu lassen. Doch weder beweist die von Heidegger erörterte Stelle, daß Kant eine Struktur wie die „existenziale Verfassung des In-der-Weltseins . . . nicht sieht" (ib.); vielmehr beweist die Stelle nur, daß Kant sich darüber im klaren war, daß eine Bedingung wie das Gedächtnis, die im Hinblick auf eine wirkliche Orientierung nötig sein kann, nicht identisch mit einer Bedingung wie der reinen räumlichen Anschauung ist, wie sie nach Kants Theorie im Hinblick auf jede mögliche Orientierung als solche notwendig ist. Noch beweist die von Heidegger vorgelegte Existenzialontologie, daß ein Autor, der wie Kant gelegentlich ein kleine psychologische Hilfstheorie ad hoc entwickelt, „im Grunde die existenziale Verfassung des In-der-Weltseins (meint)" (ib.); vielmehr weist die Existenzialontologie, wenn sie gut begründet ist, lediglich nach, daß sich der Autor einer psychologischen Hilfstheorie wie der kantischen auch dann auf diese Theorie verlassen kann, wenn sie Implikationen hat, die in der Existenzialontologie einschlägig sind. Und schließlich „verkennt (Kant) . . . den vollen Zusammenhang der Konstitution einer möglichen Orientierung" (ib.) auch nicht schon deshalb, weil er die existenziale Verfassung des In-der-Welt-seins nicht sehen würde; vielmehr gibt es deswegen keinen Autor einer Theorie, der insofern mit dem vollen Zusammenhang der Konstitution einer möglichen und wirklichen Orientierung vertraut sein könnte, weil es keine Theorie gibt, die alle einschlägigen Strukturen treffend charakterisieren könnte, und weil es niemand gibt, der von allen überhaupt einschlägigen Theorien und nicht bloß von der Transzendentalen Ästhetik oder der Existenzialontologie der Autor sein könnte.

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und eindeutig von widersinniger Bewegung will sprechen können, als solche noch nicht einmal entdeckt werden (vgl. hierzu auch S. 145ff.). s o So viel dürfte von hier aus deutlich geworden sein: Kant selber hat seine Intentionen bei der Arbeit an der Raumtheorie zusehends auf die Orientalen und operationalen Strukturmerkmale des Raumes, auf die Form ihres Zusammenhanges und gelegentlich auch auf die mögliche Entdeckungsfunktion orientaler Operationscharakteristiken (vgl. S. 136 5 0 ) zugespitzt. Wenn wir dies im Lichte dessen, was wir in den §§ 8/10 entwickelt haben, festhalten, dann liegt es auf der Hand: mit Kants These von der Nichtanwendbarkeit des Subordinationskriteriums auf Orientale Begriffe, wie sie z . B . durch die Ausdrücke „links" und „rechts" angedeutet sind, steht oder fällt auch Kants andere These, daß man auf eine reine räumliche Anschauung rekurrieren müsse, wenn man über solche Ausdrücke überhaupt jemals und daher auch erstmals sinnvoll und eindeutig will verfügen können, wenn man Orientale Handlungscharaktere also will entdecken können. Mir scheint nun in der Tat, daß Kant, wenn man seine Intentionen in dem hier vorgeschlagenen Sinne treffend wiedergeben kann, insofern einen guten Griff getan hat. Nur darf man nicht erwarten, daß die Richtigkeit von Kants These über den anschaulichen Typ der Orientalen Begriffe mit Hilfe von Argumenten bewiesen werden könnte, die sich von vornherein gleichsam im direkten Zugriff ausschließlich auf so etwas wie die gemeinsamen anschaulichen Wesensmerkmale aller Orientalen Begriffe beziehen könnten und sie nur noch vollständig zu exponieren bräuchten. Die beständige Weise, in der Kant den anschaulichen Typ der Begriffe ,vom Räume' im Zusammenhang mit dem Typ der subordinatorischen (inklusorischen) Begriffe anspricht, dürfte vielmehr auf ein Verfahren hindeuten, ohne das man bei Untersuchungen über den Typ eines Begriffs vermutlich überhaupt nicht fruchtbar arbeiten kann. Nun hat Kant ein solches Verfahren in diesem Zusammenhang mit der nötigen Strenge weder im einzelnen charakterisiert noch an einem Beispiel ausführlich vorgeführt. Er hat lediglich eine fast wohlbestimmte Unterscheidung getroffen, wie man sie vielleicht auch dann nicht anders erhalten kann, wenn man ein Verfahren

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Dem entspricht bei Kant, daß er das Verfügen über eine bestimmte Orientale Handlungscharakteristik hier ja als Voraussetzung einführt, auf die man angewiesen sei, um „aus einer gegebenen Weltgegend (in deren vier wir den Horizont eintheilen) die übrigen, namentlich den Aufgang, zu finden" (WW VIII, Orientieren, S. 134, Hervorhebung von mir, R.E.).

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normieren kann, wie es sinnvoll praktiziert werden kann, wenn man ,Typentheorie' im Hinblick auf Begriffe treibt. Aber man wird von Kant schwerlich erwarten können, daß er in einer methodologischen Frage zu hinreichender Klarheit gekommen ist, in der es A . Tarski mit großem, mathematisch geschärftem Tiefsinn und erheblichem technischen Aufwand erst fünf Generationen später gelungen ist, ein Verfahren zu skizzieren, nach dem man einen Begriff auf seine Zugehörigkeit zu einem bestimmten oder zu einem noch zu bestimmenden T y p wenigstens indirekt dadurch prüfen kann, daß man den Typ der Satzfunktion prüft, in die man den sprachlichen Ausdruck einsetzen kann, der den Begriff des jeweils fraglichen Typs andeutet. 51 Allerdings kann einem ein solches Verfahren die Aufgabe grundsätzlich auch nicht abnehmen, zunächst einmal selber ein Urteil im Hinblick auf den Typ eines Begriffs zu fällen und dann im Rahmen eines Tests durch Substitution in eine Satzfunktion zu erwägen, ob das Urteil trefflich oder abwegig war. Man sieht von hier aus aber auch sofort, daß Kant insofern gerade diese quasidiagnostische Vorarbeit schon geleistet hat, auf die es jedesmal auch dann noch zunächst ankommt, wenn man bereits über ein Schema verfügt, nach dem man ein metalogisches Urteil zuverlässig testen kann. Es ist daher methodisch nur konsequent, wenn wir uns von Kant eine Unterscheidung zwischen zwei für seine Theorienbildung sehr wichtigen Begriffstypen vorgeben lassen und an ihrem Leitfaden zunächst auf eigene Faust erwägen, ob sie sich plausibel machen läßt, wenn man weiter als Kant ins einzelne geht. 51

vgl. hierzu Tarski (1935), vor allem § 4.

III. Kapitel

Kontext und Kontextinvarianz in Kants Raumtheorie

§ 12. Der Kontext oriental bestimmter Sätze Wenn Kants These über die Nichtanwendbarkeit des Subordinationskriteriums in unserem Zusammenhang fehlerfrei auf die Orientalen Begriffe eingeengt werden kann, dann ist der Versuch erlaubt, diese These auch einmal in der Weise plausibel zu machen, daß man nachweist, daß in einem sprachlichen Ausdruck, der normalerweise die logische Struktur der Inklusion andeutet, Orientale Ausdrücke wie „links" und „rechts" nicht sinnvoll als Inklusum fungieren können. Wenn man in diesem Zusammenhang ein Beispiel für einen sprachlichen Ausdruck geben möchte, der in diesem Sinne zwar mißformuliert ist, sich in seiner äußeren Gestalt aber noch am besten dem sprachlichen Schema anpaßt, nach dem man normalerweise Inklusionen formuliert, dann scheint mir die Formulierung „Links und rechts sind Richtungen" geeignet zu sein. Wenn ihr Autor nämlich ernsthaft eine Inklusion behauptet, dann ist er aus definitorischen Gründen genötigt, im Hinblick auf den Begriff der Linksorientierung und den Begriff der Rechtsorientierung, auf die er ja mit Hilfe der Ausdrücke „links" und „rechts" an der normalen Inklusum-Stelle zurückgreift, auch die Behauptung zu übernehmen, daß für diese Begriffe der Links- und Rechtsorientierung zwar alle Merkmale charakteristisch seien, wie sie für den Begriff der Richtung überhaupt charakteristisch sind, daß aber nicht alle Merkmale, wie sie für die Begriffe der Links- und Rechtsorientierung charakteristisch seien, für den Begriff der Richtung auch überhaupt charakteristisch seien.

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Man kann nun Kants These, daß das Subordinationskriterium auf Orientale Begriffe nicht sinnvoll angewandt werden könne, an dieser Stelle gleich aus zwei Gründen ins Spiel bringen. Zum einen verfährt der Autor unserer pathologischen Formulierung mit den Orientalen Ausdrücken „links" und „rechts" gerade so, wie er es nach Kant nicht sinnvoll tun kann: er versucht die damit angedeuteten Orientalen Begriffe zu subordinieren, nämlich dem Begriff der Richtung. Zum anderen bietet die Formulierung, mit der wir Kants Intentionen gleichsam in einem logischen Zerrbild zu exemplifizieren versuchen, eine günstige Gelegenheit, Kants These in einem Punkt zu konkretisieren, in dem sie bisher noch unbestimmt geblieben ist. Denn es ist bislang streng genommen noch offen geblieben, ob Kant nur so verstanden werden sollte, daß Orientale Begriffe überhaupt nicht subordiniert werden können, oder ob Kant zunächst vor allem so verstanden werden sollte, daß Orientale Begriffe auch dem Begriff nicht subordiniert werden können, im Hinblick auf den die entgegengesetzte Meinung irrtümlicherweise noch am nächsten liegen mag — nämlich dem Begriff der Richtung überhaupt. Nun kann man ersichtlich schon aus Gründen der Logik nicht gut bezweifeln, daß Kants allgemeine Behauptung, keinem Begriff könne ein orientaler Begriff subordiniert werden, auch den Begriff der Richtung überhaupt betrifft, dem dann ebenfalls ein orientaler Begriff nicht untergeordnet werden kann. Darüberhinaus wird man die hierzu duale Feststellung, daß der Begriff der Richtung durch Orientale Begriffe wie Links und Rechts nicht spezifiziert wird, der Sache nach nun aber dahingehend positiv ergänzen können, daß der Begriff der Richtung durch solche Orientalen Begriffe im günstigen Fall nur konkretisiert wird, nämlich mit Hilfe von sinnenfälligen Beispielen links- oder rechtsorientierter Handlungen. Denn, wenn man schon voraussetzt, daß Handlungen den ursprünglichen (vgl. S. 102 28 ) Anwendungsbereich für Orientale sprachliche Ausdrücke bilden und daß der Begriff der Richtung durch diesen Anwendungsbereich charakterisiert ist, 1 dann fallen unter den Begriff der irgendsinnig orientierten Handlung ja gar nicht ohne weiteres auch anders orientierte Handlungen als unter den Begriff z . B . der linksorientierten Handlung. Denn die bloße Rede von einer linksorientierten Handlung, aber auch die bloße Rede ζ. B. von einer linken Hand, ist als solche noch gar nicht so genau bestimmt wie es nötig und hinreichend ist, wenn der Autor einer 1

Dies scheint die Auffassung zu rechtfertigen, daß der Begriff der Richtung selber nicht ein orientaler, sondern ursprünglich ein operationaler Begriff ist. Seinem epistemologischen Status nach kann man ihn in Kants Rahmen offenbar als anschaulichen Begriff auffassen.

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Kontext und Kontextinvarianz in Kants Raumtheorie

solchen Rede es für ausgemacht halten darf bzw. wenn der Adressat einer solchen Rede feststellen kann, welche Handlungen bzw. welche Hände auf diese Weise charakterisiert werden und welche nicht. Wer eine bestimmte Behauptung wie ζ. B. „ D i e meisten Menschen benutzen vorzugsweise ihre rechte H a n d " , in deren wörtlicher Formulierung ζ. B. der Orientale Term „rechts" vorkommt, aufstellt und insofern einen bestimmten Wahrheitsanspruch erhebt, hat zwar auch bestimmte Gegenstände wie Menschen und Hände im Auge, die die mit dieser Behauptung formulierten Wahrheitsbedingungen erfüllen oder nicht erfüllen. Und diese Wahrheitsbedingungen werden unter anderem vom Begriff des Menschen und vom Begriff der Hand gebildet. Diese beiden Begriffe lassen sich in der Tat auch subordinieren, nämlich dem Begriff ζ. B. des Säugetiers bzw. dem Begriff des Gliedmaßes. Aber der Autor einer solchen Behauptung ist stets auch eine individuelle Instanz, für die die Bedeutung des von ihr verwendeten Orientalen Ausdrucks „rechts" jeweils dann und nur dann eindeutig festgelegt ist, wenn sie selber oder irgendein Adressat ihrer Behauptung auch die Richtung ausgezeichnet hat, in der einer oder jeder von ihnen z . B . einen Blick wirft oder den Kopf wendet oder zeigt oder sonstwie agiert, wenn der Betreffende den Gebrauch des Wortes „rechts", das in der Ausgangsbehauptung verwendet wird, in sinnvoller Weise eindeutig machen möchte. Könnte nun der Autor oder der Adressat einer solchen Behauptung jeweils nicht eindeutig über den verwendeten Orientalen Ausdruck verfügen, dann könnte entweder einer von beiden oder jeder von beiden gar nicht über den Wahrheitsanspruch entscheiden, wie ihn der Autor einer solchen Behauptung ja erhebt. Denn er könnte den Gegenstand, im Hinblick auf den jeweils mit Hilfe eines Orientalen Terms wie „rechts" die Rede ist, gar nicht finden oder gar nicht zielsicher nach ihm suchen. Eine Behauptung, in deren Formulierung ein orientaler Term verwendet wird, kann also auch nur dann eindeutig entschieden werden, wenn — mit einem Terminus unserer Tage — der Kontext dieser Behauptung auch schon eindeutig feststeht. Aber der Kontext, auf den es hier jeweils ankommt, steht ersichtlich genau dann von vornherein eindeutig fest, wenn der Autor einer ihrem Inhalt nach oriental bestimmten Behauptung die Handlungsweise sinnenfällig veranschaulicht hat, durch die der Gebrauch des jeweils verwendeten Orientalen Terms eindeutig festgelegt sein soll. Ich sage „genau dann", weil ohne die Veranschaulichung durch eine Handlungsweise — und das heißt ja: ohne die Fixierung eines jeweils charakteristischen Kontextes — die Eindeutigkeit der Formulierung nicht gesichert wäre, und weil jedenfalls auch schon durch den anschaulichen Rück-

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griff auf eine Handlungsorientierung ein für den Orientalen Sinn der Formulierung charakteristischer Kontext trefflich festgelegt wird. 2 Man kann sich nun mit Hilfe der zuletzt entwickelten Voraussetzungen bündig klar machen, weswegen eine Formulierung wie „Links und rechts sind Richtungen" nicht eine Inklusion ausdrücken kann. Das liegt, wie man jetzt einsehen kann, vor allem daran, daß man die Verwendung von Orientalen Ausdrücken wie „links" und „rechts" dann und nur dann eindeutig machen kann, wenn man einen nichtsprachlichen Kontext festlegt, dem die Verwendung dieser Ausdrücke eindeutig zugeordnet ist. Hält man sich im Anschluß an Kant an die Voraussetzung, daß Handlungen, sofern sie orientiert sind, den ursprünglichen Anwendungsbereich dieser Ausdrücke bilden, dann besteht der hierfür erforderliche Kontext aber jeweils auch in einer sinnenfälligen Handlung, sofern sie orientiert ist. Das ist bei einer wohlformulierten Inklusion ganz anders. Denn hier ist die Eindeutigkeit der verwendeten Terme ja gerade durch die Inklusionsrelation festgelegt, deren Bestehen man behauptet, wenn man eine Inklusion aufstellt. So wird die Eindeutigkeit, mit der ζ. B. der Ausdruck „Mensch" in der Inklusion „Menschen sind Säugetiere" verwendet wird, deswegen, und nur deswegen, in der hierfür nötigen und hinreichenden Form vermittelt, weil in diesem Zusammenhang von Menschen insofern, und nur insofern, die Rede ist, als sie Säugetiere sind. Im Unterschied hierzu kann von einer ζ. B. rechten Hand als rechter oder von einer rechtsorientierten Handlung als rechtsorientierter nicht schon insofern eindeutig die Rede sein, als hier jedenfalls auch von einer Richtung die Rede ist. Denn eine weitere notwendige Bedingung dafür, daß ein orientaler Ausdruck wie „rechts" eindeutig verwendet wird, besteht jedenfalls darin, daß ihm ein nichtsprachlicher Kontext seiner Verwendung eineindeutig zugeordnet wird. Dann kann aber die Rede davon, daß ,links und rechts Richtungen sind', gar nicht die Bedingungen erfüllen, die notwendig und hinreichend dafür sind, daß man in sinnvoller Weise so etwas wie den Begriff des Linken und so etwas wie den Begriff des Rechten dem Begriff der Richtung im Rahmen einer vermeintlichen Inklusion wie „Links und rechts sind Richtungen" subordinieren könnte. Da eine Inklusion als Inklusion unabhängig von dem Kontext und invariant gegenüber dem Kontext eindeutig formuliert werden kann, in dem sie jeweils formuliert werden mag, kann man einer sprachlichen Formulierung, die 2

U m vielleicht naheliegenden Mißverständnissen vorzubeugen, weise ich hier schon einmal darauf hin, daß ich auf andere Formen, den Gebrauch solcher Ausdrücke eindeutig zu machen, an anderer Stelle ausführlich eingehen werde, vgl. S. 145ff.

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wie „Links und rechts sind Richtungen" für ihre Eindeutigkeit auf einen wohlbestimmten nichtsprachlichen Kontext angewiesen wäre, auch dann nicht die logische Struktur der Inklusion zuschreiben, wenn sie einem gebräuchlichen grammatikalischen Schema für die Formulierung von Inklusionen einigermaßen angepaßt ist. 3 Es hat sich herausgestellt, daß man vor allem den nichtsprachlichen Kontext berücksichtigen muß, in dem Orientale Ausdrücke wie „links" und „rechts" verwendet werden, wenn man noch etwas mehr Licht in die semantische Struktur von Formulierungen bringen möchte, in denen solche Ausdrücke verwendet werden. Wenn man zu diesen Überlegungen auf dem Weg über Kants Theorie der reinen räumlichen Anschauung gekommen ist, dann scheint die Frage, wie man den Kontext einer inhaltlich oriental bestimmten Behauptung von Fall zu Fall zu fixieren hat, in unserem Zusammenhang aber noch gar nicht einmal so wichtig zu sein. Von der bisher verfolgten Fragerichtung der kantischen Raumtheorie aus betrachtet, gehört diese Frage vielmehr erst zu den zweitwichtigen Problemen. 4 Wichtiger ist es zunächst, sich klar zu machen, daß für Kant der Autor eines oriental bestimmten Satzes über den jeweils verwendeten Orientalen Term überhaupt nur dann sinnvoll verfügen und den Kontext 3

Wenn man sich den Typ der Begriffe auf diese Weise genauer klar gemacht hat, im Hinblick auf die Kant behauptet, daß man mit ihrer Hilfe den Unterschied zwischen Links und Rechts nicht eindeutig beschreiben könne, dann sieht man auch, daß Hermann Weyl (1928) den Sinn dieser These Kants von vornherein verfehlt hat, wenn er ein gruppenalgebraisches Äquivalent des Unterschiedes zwischen Links und Rechts konstruiert und dann behauptet: „Das Phänomen, über das sich Kant wundert, kann somit höchst befriedigend unter allgemeine und abstrakte „Begriffe" gestellt werden" (S. 108). Denn Begriffe wie ζ. B. die einer Gruppe, ihrer invarianten Untergruppe oder einer Gruppe und ihres Normalisators sind gewiß nicht Begriffe, denen die Begriffe von Links bzw. Rechts oder der Begriff des Unterschiedes zwischen Links und Rechts in genau demselben Sinne untergeordnet werden könnten wie der Begriff z . B . des Menschen dem Begriff z . B . des Säugetieres untergeordnet werden kann. Aber nur das hat Kant auch behauptet.

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Selbstverständlich sind solche Probleme deswegen, weil sie bei Kant erst in zweiter Linie wichtig werden, noch längst nicht banal oder ihre Lösung trivial. Wie wenig trivial die Ergebnisse der Untersuchungen der formalen Semiotik auch schon im Bereich solcher elementaren Unterscheidungen wie der zwischen Satz und Kontext ausfallen, kann bereits das Studium der in diesen Dingen wegweisend gewordenen Arbeit von Y. BarHillel (1954) lehren. Wenn man von Kants Ansatz aus, wie wir ihn hier zu verstehen vorschlagen, zweitwichtige Probleme der Kontexttheorie unterscheiden kann, so deswegen, weil Kant mit seiner Theorie des geometrischen Gegenstandes zur Klarheit über Bedingungen beiträgt, die bestimmten sprachlichen Formulierungen kontextinvariante Eindeutigkeit zu verleihen helfen. Im Unterschied hierzu hat man im Anschluß an BarHillels Untersuchung zunächst vor allem möglichst viele verschiedene Arten von kontextbedingter Vieldeutigkeit sprachlicher Formulierungen herauszufinden und als solche mit formalen Mitteln zu beherrschen versucht.

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dieser Behauptung trefflich festlegen kann, wenn dieser Autor eine Bedingung erfüllt, die von der Bedingung radikal verschieden ist, wie jeder sie erfüllt, wenn er Terme im subordinatorischen Sinne trefflich fungibel machen kann, indem er Inklusionen sowie daraus aufgebaute Argumente formuliert. Denn im Gegensatz zu einem subordinatorischen Term deutet ein orientaler Term offenbar gar nicht einen Begriff an, für den mehr und teilweise andere Merkmale als für einen Begriff charakteristisch wären, dem er untergeordnet wäre und wie er durch den Term „Richtung" angedeutet würde. Stattdessen deutet ein orientaler Term ein Merkmal an, das anzudeuten seine Funktion genau insofern ist, als er überhaupt eine Richtung andeutet — nämlich das räumliche Merkmal der Handlung, wie jeder, der die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt, sie ausführen kann, wenn er den Gebrauch des jeweils verwendeten Orientalen Terms sinnvoll eindeutig machen will. Was ergibt sich nun, falls wir unsere Überlegungen fehlerfrei angestellt haben, aus alledem, wenn man die logische Struktur von Behauptungen insofern, als sie ihrem Inhalt nach in dem angeführten Sinne oriental bestimmt sind, noch genauer dadurch zu beschreiben versucht, daß man sie mit Hilfe von Unterscheidungen charakterisiert, mit deren Hilfe man sich auch die Struktur von Sätzen klar machen kann, die wie ζ. B. die Inklusion „Menschen sind Lebewesen" nicht so determiniert sind? Ich denke hier an die zuerst von Frege (1879) in voller Klarheit getroffene Unterscheidung zwischen Variablen und Konstanten (vgl. Frege, §§ 9/11). Man kann sich nun die logische Struktur einer Behauptung, in deren Formulierung ein orientaler Ausdruck wie ζ. B. „rechts" verwendet wird, in einem wichtigen Punkt gut klar machen, indem man zunächst an die Einsicht anknüpft, daß ja der Kontext von „rechts" in der Formulierung dieser Behauptung gar nicht ohne weiteres eindeutig feststeht. Sie muß, wie wir plausibel zu machen versucht haben, jedesmal, wenn dieser Ausdruck in einer bestimmten Behauptung verwendet wird, von neuem eindeutig fixiert werden. Dies hat, wenn wir Kants Anregungen der Sache nach zu Recht wie bisher entwickelt haben, grundsätzlich in der Weise zu geschehen, daß der Autor der Formulierung dieser Behauptung eine und nur eine Handlungsorientierung — im wahrsten Sinne des Wortes — auch durch die Tat veranschaulicht. Handlungen, so haben wir ausgeführt, formieren den charakteristischen Kontext einer ihrem Inhalt nach oriental bestimmten Behauptung; und die Richtung, wie der Autor einer solchen oriental bestimmten Behauptung sie sinnenfällig manifest macht, indem er den Gebrauch des jeweils verwendeten Orientalen Ausdrucks durch eine

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konkrete Handlung eindeutig macht, gibt das charakteristische Merkmal dieses in dieser Handlung bestehenden Kontextes ab. Dies macht zunächst plausibel, daß ein orientaler Ausdruck wie z.B. „rechts" in der Formulierung der Behauptung, in der er jeweils verwendet wird, die Rolle einer Variablen übernimmt: denn für diesen Ausdruck kann man ursprünglich zwar nur unter Handlungen nach einer Bedeutung und unter Handlungen auch nur insofern nach einer Bedeutung suchen, als Handlungen Richtungen manifest machen; aber der Handlungskontext, auf den jemand sich bezieht, wenn er einen solchen Ausdruck in der Formulierung einer entsprechenden Behauptung verwendet, kann von einer Gelegenheit der Verwendung dieses Ausdrucks zur anderen Gelegenheit der Äußerung dieses Ausdrucks variieren und muß diesem Ausdruck jeweils durch genau eine sinnenfällig manifeste Handlungsweise von neuem eindeutig zugeordnet werden. Insofern fungieren Orientale Ausdrücke wie ζ. B. „rechts" in Behauptungen wie „Menschen benutzen vorzugsweise ihre rechte Hand" analog wie z.B. Personalpronomina wie „ e r " in dem Ausdruck „er ist Schlosser" oder wie „x" in dem Ausdruck „x ist Schlosser" als Variablen. Mindestens ebenso wichtig wie diese Ubereinstimmung zwischen solchen Orientalen Kontextvariablen und den aus der Prädikatenlogik vertrauten Individuenvariablen insofern, als beide Variablen sind, ist aber auch der Unterschied, der zwischen ihnen besteht. Dieser Unterschied besteht nämlich darin, daß diese Kontextvariablen grundsätzlich nicht durch sprachlich belegbare Modifikationen — Ersetzung durch Namen oder andere Konstanten, Bindung durch Quantoren —, sondern grundsätzlich nur durch nichtsprachliche Kontexte eindeutig gemacht werden können. Es gibt insofern, wenn ich richtig analysiert habe, im Bereich der sprachlichen Ausdrücke, wie sie im Hinblick auf den Kontext eines oriental bestimmten Satzes wesentlich und jeweils charakteristisch sind, keine Entsprechung zu den Individuenkonstanten von Sätzen, sofern sie mit den Mitteln der Prädikatenlogik analysiert werden können. Als die Konstanten der oriental bestimmten Sätze könnte man vielmehr allenfalls noch die Korrespondenzrelation auffassen, wie sie zwischen dem jeweils verwendeten Orientalen Ausdruck und jeweils genau einer sinnenfällig manifesten Handlungsorientierung, eben einem charakteristischen Kontext jenes Satzes bzw. dieses Ausdrucks besteht. In diesem Sinne hat man ζ. B. für den Satz „Die meisten Menschen benutzen vorzugsweise ihre rechte H a n d " die Kontextvariable „rechte" letzten Endes dadurch eindeutig zu machen, daß man auch eine Handlung vorführt, durch die die Richtung

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manifest gemacht wird, in der jeder sich orientiert, wenn er im Hinblick auf eine von den Händen, von denen der Autor der Formulierung dieses Satzes redet, in der von diesem Autor intendierten Orientalen Weise seinen Blick z . B . vom Daumen über den Handrücken zum kleinen Finger wandern läßt. Damit soll nun nicht etwa die Tatsache verdunkelt werden, daß man die Verwendung einer Orientalen Kontextvariablen auch noch in anderen Formen eindeutig zu machen versuchen kann als in der Form, daß man diese Verwendung jeweils auf die Beziehung zu einer sinnenfälligen Handlung, sofern sie orientiert ist, festlegt. So kann man die Rede von der linken Hand als linker bekanntlich auch dadurch eindeutig zu machen versuchen, daß man sie auf die Beziehung zur Lage des Herzens bei den weitaus meisten Menschen festlegt; entsprechend kann man mit der Rede von der rechten Hand als rechter dann im Hinblick auf die Lage der Leber bei den allermeisten Menschen verfahren.5 Kant selber hat in diesem Zusammenhang die Wuchsrichtung aller ihm bekannten Hopfenexemplare bzw. Bohnenexemplare (vgl. WW II, Gegenden, S. 380ff.) und die erdrelative Bewegungsrichtung der Sonne (vgl. WW VIII, Orientieren, S. 134ff.) erwähnt. Dies sind nun offenbar Beispiele für anatomische, botanische bzw. geographisch-kosmologische Kontexte, in denen man die Verwendung orientaler Kontextvariablen eindeutig zu machen versuchen kann. Denn auf diese Weise kann man ja in der Tat Kontexte standardisieren, normieren, die dazu beitragen können, die Rede ζ. B. von einer rechten Hand als rechter unabhängig davon und invariant dagegen eindeutig zu machen, ob jemand, der jeweils von einer rechten Hand redet, einem eventuellen Adressaten auch mit Hilfe einer sinnenfälligen Handlung demonstrieren kann oder nicht, auf welches Orientale Handlungsmerkmal seine Rede von dieser rechten Hand eindeutig festgelegt ist. Es dürfte klar sein, unter welchen Umständen es zum Zweck einer möglichst unkomplizierten sprachlichen Verständigung zwischen den Mitgliedern einer Gemeinschaft praktisch wünschenswert ist, daß sie sich auf solche Standardkontexte beziehen können. Erfahrungsgemäß ist es aus praktischen Gründen sogar nötig, daß die Mitglieder einer solchen Gemeinschaft viele verschiedene

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Kant hat gelegentlich Befunde der pathologischen Anatomie berücksichtigt, die die „seltenen Menschen" betreffen, „bei denen die Leicheneröffnung alle Theile nach der physiologischen Regel mit anderen Menschen einstimmig, nur alle Eingeweide links oder rechts wider der gewöhnlichen Ordnung versetzt fand" ( W W IV, Μ . Α . , S. 484).

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Kontext und Kontextinvarianz in Kants Raumtheorie

und verschiedenartige Kontexte standardisiert haben. 6 Denn ζ. B. die Sonne ist am Himmel nicht immer zu sehen. Während die Sonne den Blicken des Autors oder des Adressaten der Rede z . B . von einer rechten Hand entzogen ist, kann ihre jeweilige Stellung aber auch nicht als Kontext dienen, im Hinblick auf den man diese Rede eindeutig machen könnte. In einem solchen Fall kann dann ζ. B. der anatomische Kontext herhalten, zu dem man die Lage der Leber bei den allermeisten Menschen erheben kann. In unserem Zusammenhang kommt es nun vor allem auf dreierlei an: wenn man die Rede z . B . von einer linken Hand als linker oder die Rede ζ. B. von einer rechten Hand als rechter eindeutig machen möchte, dann kann man sich (1) auch auf einen schon standardisierten Kontext streng genommen nicht stets beziehen ( z . B . die Sonne ist nicht immer zu sehen und z . B . die Leber bzw. das Herz liegt nicht ausnahmslos auf einer und derselben Seite des Leibes von Lebewesen, die z . B . von einer rechten Hand als rechter sprechen können); und dann sind (2) die Kontexte, die von einer jeweils sinnenfällig manifestierbaren Handlungsorientierung verschieden sind und auch für eine Standardisierung in Frage kommen mögen, untereinander nicht homogen; (3) und im Gegensatz zu den anatomischen, botanischen, geographischen oder noch anders gearteten Kontexten für die eindeutige Verwendung orientaler Variablen bilden die

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Daher ist auch Jonathan Bennett (1970) zuzustimmen, wenn er feststellt, daß einige Probleme, die im Zusammenhang mit der Beschreibung des Unterschiedes zwischen Links und Rechts diskutiert werden, auf das Versagen zurückzuführen sind, „to grasp the Conventions underlying our use of „left" and „ r i g h t " " (S. 181). Denn die Entscheidung darüber, welchem Sachverhalt man die Funktion verleiht, als Kontext, vor allem als Standardkontext, für die eindeutige Verwendung dieser Ausdrücke herzuhalten, ist grundsätzlich eine Angelegenheit von Konventionen — sei es von Konventionen, wie ein einzelner sie mit sich selbst oder wie mehrere sie untereinander treffen mögen. — Ein Beispiel für eine solche Konvention schlägt in der Literatur zum Thema Block (1974) vor: „ T h e right side of Ο = the Side facing the East River Drive when Ο is in 42nd Street with its bottom facing Manhattan's bedrock and its front facing Harlem" (S. 271). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, wie Block diese Formulierung unter Gesichtspunkten der Semantik erläuten: „Obviously such a definition cannot pretend to capture the „meaning" of .right' in any sense of ,meaning' that connects meaning with what people have in mind when they use the word" (ib. Anm. 13). Allerdings scheint es mir eher ein Indiz für eine sachliche Verlegenheit und nicht eine sachlich weiterführende Information zu liefern, wenn Block hinzufügt: „This definition is better viewed as a „rational reconstruction" of the notion (of right, R . E . ) " (ib.). Stattdessen schlagen wir vor, auch Blocks Formulierung als eine von abzählbar unendlich vielen möglichen Konventionen aufzufassen, durch die jemand für sich selbst oder gemeinsam mit anderen einen K o n t e x t für die eindeutige Verwendung der Orientalen Variablen „ r e c h t s " festlegt.

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sinnenfällig manifesten Handlungsorientierungen, im Hinblick auf die man die Orientalen Kontextvariablen eindeutig verwenden kann, als Handlungsorientierungen offenbar eine homogene Klasse von Kontexten. Diese formale Differenz zwischen den Handlungskontexten und allen anderen Kontexten für die eindeutige Verwendung orientaler Variablen mag sich zunächst vielleicht eher unerheblich ausnehmen. Man könnte meinen, daß es in diesem Zusammenhang allenfalls darauf ankomme, daß man sich auch in der konkreten Verständigungspraxis über diese Differenzen nicht hinwegtäuscht und daß man nicht verkennt, daß jeder Rekurs auf irgendeinen geeigneten Kontext auch in dem Sinne konventionalistische Züge hat, daß prinzipiell auch noch irgendein anderer Kontext genauso gut geeignet sein kann. Aber die Handlungskontexte bilden doch nicht eine bloß andere Klasse von Kontexten außer den nichtoperativen Kontexten für die eindeutige Verwendung von Orientalen Ausdrücken wie „links" und „rechts". Man braucht nämlich nur einmal zu bedenken, daß noch gar nicht einsichtig geworden sein kann, ob und wenn ja inwiefern man überhaupt berechtigt ist, von einem bestimmten nichtoperativen ζ. B. geographischen Kontext für die eindeutige Verwendung des Orientalen Ausdrucks „rechts" zu einem andersartigen nichtoperativen, ζ. B. zu einem anatomischen Kontext für eine solche Verwendung überzugehen. Die Gründe, aus denen man diese Berechtigung zunächst einmal in Frage stellen kann, können besonders scharf deutlich werden, wenn man zum einen die Fälle berücksichtigt, in denen jemand die Verwendung einer Orientalen Kontextvariablen, beispielsweise „rechts", dadurch eindeutig macht, daß er ihre Verwendung auf die Richtung einer Bewegung ζ. B. der Sonne über der nördlichen Erdhalbkugel bezieht, und wenn man andererseits die Fälle berücksichtigt, in denen derselbe Jemand die Verwendung dieser Orientalen Kontextvariablen dadurch eindeutig macht, daß er sie auf die Lage z . B . der Leber bei den allermeisten Menschen bezieht. Denn was hat die Lage der Leber bei den allermeisten Menschen mit der Bewegungsrichtung der Sonne über der nördlichen Erdhemisphäre gemeinsam? Kann jemand, der die Lage der Leber bei den allermeisten Menschen zum Kontext für die eindeutige Verwendung der Orientalen Variablen „rechts" wählt, diese Wahl mit denselben Gründen rechtfertigen wie jemand, der die Bewegungsrichtung der Sonne über der nördlichen Erdhalbkugel zum Kontext hierfür wählt? Die Berufung auf einen faktischen Verständigungserfolg in dem einen wie in dem anderen Kontext braucht hier bis auf weiteres nicht in Betracht

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Kontext und Kontextinvarianz in Kants Raumtheorie

gezogen zu werden. Denn, wenn man fragt,ob und wenn ja inwiefern man eine Lage der Leber aus denselben Gründen wie eine Bewegungsrichtung der Sonne zum Kontext für die eindeutige Verwendung der Orientalen Variablen „rechts" wählen kann, dann wird man mit einer positiven Antwort auf diese Frage ja auch noch darüber verständigt, inwiefern Sachverhalte wie die beiden hier zur Wahl stehenden Sachverhalte sich überhaupt zu einer Kandidatur für die Wahl zum Kontext einer solchen Verwendung eignen. Wenn sich nämlich nachweisen läßt, daß solche Sachverhalte aus denselben Gründen zu einem solchen Kontext gewählt werden können, dann steht auch fest, daß sie insofern auch gleichberechtigte Kandidaten für eine solche Wahl abgeben. Wenn sich dagegen nicht nachweisen läßt, daß solche Sachverhalte aus denselben Gründen zum Kontext für die eindeutige Verwendung von Orientalen Variablen gewählt werden können, dann muß man bis auf weiteres nach wie vor untersuchen, aus welchen Gründen man berechtigt ist, überhaupt irgendeinen von diesen Sachverhalten zum Kontext für die eindeutige Verwendung der Orientalen Variablen „rechts" auch nur kandidieren zu lassen. Dann gilt aber jedenfalls: die Frage nach der Berechtigung für die Kandidatur zu einem solchen Kontext geht der Berufung auf eine erfolgreiche Rolle als ein solcher Kontext methodisch und systematisch voraus. Deswegen fragen wir zunächst, ob die Lage der Leber aus denselben Gründen wie eine Bewegungsrichtung der Sonne zum Kontext für die eindeutige Verwendung der Orientalen Variablen „rechts" gewählt werden kann, und klammern die Berufung auf den faktischen Verständigungserfolg in solchen Kontexten zunächst aus. Man kann das herausgestellte Problem methodisch wohl am saubersten klären, wenn man damit anfängt, daß man die semantische Seite dieses Problems beleuchtet. Uber einen Sachverhalt, der zum Kontext für die eindeutige Verwendung einer Orientalen Variablen soll kandidieren können, kann man sich ja immer nur in der Form eindeutig verständigen, daß man zunächst erst einmal die Wahrheitsbedingungen formuliert, die erfüllt sind, wenn dieser Sachverhalt besteht, und die nicht erfüllt sind, wenn dieser Sachverhalt nicht besteht, und die diesen Sachverhalt auch ganz unabhängig davon charakterisieren, ob er besteht oder ob er nicht besteht. Nun ist ohne weiteres klar, daß der Sachverhalt, der in der Bewegungsrichtung der Sonne über der nördlichen Erdhalbkugel besteht, als solcher ganz andere Wahrheitsbedingungen erfüllt oder nicht erfüllt als der Sachverhalt, der in der Lage der Leber bei den allermeisten Menschen besteht.

Der Kontext oriental bestimmter Sätze

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Sind nun aber auch für den Sachverhalt, der durch den Satz S t „Die Sonne bewegt sich über der nördlichen Erdhalbkugel nach rechts" beschrieben wird, immer noch ganz andere Wahrheitsbedingungen charakteristisch als für den Sachverhalt, der durch den Satz S2 „Die Leber liegt bei den allermeisten Menschen rechts" beschrieben wird? Oder sind für den Sachverhalt, der durch den Satz Sa beschrieben wird, nicht genau insofern dieselben Wahrheitsbedingungen charakteristisch wie für den Sachverhalt, der durch den Satz S 2 beschrieben wird, als beide Sachverhalte beschrieben werden, indem jedenfalls auch das Wort „rechts" wesentlich verwendet wird? Man kann unschwer einsehen, daß dies nicht der Fall ist. Denn obwohl in den Formulierungen beider Sätze das Wort „rechts" wesentlich verwendet wird, hat man die Wahrheitsbedingungen des Satzes S, noch gar nicht vollständig berücksichtigt, wenn man unterstellt, daß diejenige Wahrheitsbedingung des Satzes S15 die uns hier vor allem interessieren muß, alleine mit Hilfe des Wortes „rechts" formuliert würde. Denn die Wahrheitsbedingung, die die Sonne auf ihrer Bahn über der nördlichen Erdhalbkugel insofern erfüllt, als sie sich in einer angebbaren Richtung bewegt, wird vollständig nur entsprechend dem Schema „nach . . formuliert, indem man entweder die Orientale Kontextvariable „links" oder ihr Gegenstück „rechts" an der Leerstelle „. . ." verwendet. Der Satz Sj würde (im Deutschen) streng genommen sogar in einen wenigstens teilweise sinnlosen Satz S3 übergeführt, wenn man die Wahrheitsbedingung, die die Richtung der Bewegung der Sonne unter den in Sx beschriebenen Umständen erfüllt, nicht mit Hilfe des Ausdrucks „nach rechts" sondern stattdessen mit Hilfe des Ausdrucks „rechts" formulieren und im Hinblick auf diese Richtung behaupten würde „Die Sonne über der nördlichen Erdhalbkugel bewegt sich rechts". Denn man kann eine Richtung trivialerweise nicht sinnvoll durch die Beschreibung einer Lage charakterisieren und umgekehrt. Gerade weil der Sinn von „rechts" sich von dem Sinn von „nach rechts" unterscheidet, kann man ja grundsätzlich eine zusätzliche Information erhalten, wenn der Autor von S t zu der weiteren Feststellung übergeht, daß die Sonne rechts nach rechts wandere. Denn es kann für diesen Autor ja auch der andere Fall eintreten, daß die Feststellung, die Sonne bewege sich links nach rechts, auf seine Situation zutrifft. Mit dieser ganz lockeren semantischen Betrachtung sollte nun gar nicht irgendein prinzipiell neues Licht auf den Unterschied zwischen verschiedenartigen nichtoperativen Kontexten für die eindeutige Verwendung

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Kontext und Kontextinvarianz in Kants Raumtheorie

orientaler Kontextvariablen geworfen werden. Vielmehr sollte bloß gezeigt werden, daß man prinzipiell zu demselben Ergebnis gelangen kann, wenn man die Beziehung zwischen Formulierungen, in denen solche Variablen verwendet werden, und den Sachverhalten studiert, die zu Kontexten ihrer eindeutigen Verwendung gewählt werden können, wie wenn man die elementaren Voraussetzungen dafür untersucht, daß Orientale Variablen überhaupt in verschiedenartigen nichtoperativen Kontexten eindeutig verwendet werden können — wenn man nämlich die Wahrheitsbedingungen der Sätze untersucht, zu deren Formulierung Orientale Kontextvariablen verwendet werden. Wenn man sich aber einmal in dieser gleichsam mikroskopischen Weise auf die Wahrheitsbedingungen solcher Sätze konzentriert, dann kann unter Umständen gleichwohl noch besonders deutlich in die Augen springen, weswegen es überhaupt nötig ist zu fragen, mit welchen Gründen man es rechtfertigen kann, ganz verschiedenartige Sachverhalte zum Kontext für die eindeutige Verwendung einer Orientalen Variablen wie „rechts" überhaupt kandidieren zu lassen. Denn wenngleich man nicht zu bestreiten braucht, daß der Ausdruck „rechts" sowohl im Hinblick auf eine Lage der Leber wie auch im Hinblick auf eine Bewegungsrichtung der Sonne als Kontextvariable fungiert, so scheint eine genauere semantische Analyse doch zu lehren, daß diese Kontextvariable eben auch nur im Hinblick auf einen Sachverhalt wie eine Bewegungsrichtung der Sonne sinnvoll als Orientale Kontextvariable verwendet werden kann, wohingegen sie im Hinblick auf einen Sachverhalt wie eine Lage der Leber nicht sinnvoll als Orientale Kontextvariable verwendet werden kann. Man scheint diese Kontextvariable daher gar nicht in beiden Fällen aus denselben Gründen verwenden zu können; und man scheint bestimmte Sachverhalte gar nicht aus denselben Gründen zum Kontext für die eindeutige Verwendung einer Variablen wie „rechts" kandidieren lassen zu können wie bestimmte andere Sachverhalte, obwohl man sie im Hinblick auf beide Sachverhalte jedenfalls verwendet. Wir können diese Schwierigkeit mit Hilfe der Voraussetzungen, die wir bisher in der Auseinandersetzung mit Kants Thesen entwickelt haben, ohne große Mühe auflösen. Denn man kann sich mit ihrer Hilfe klarmachen, inwiefern die Beschreibung der Lage ζ. B. der Leber bei den allermeisten Menschen mit Hilfe der Kontextvariablen „rechts", genau besehen, bloß eine verkappte Orientale Handlungscharakteristik liefert. Zur vollständigen Beschreibung der Lage z.B. der Leber bei den allermeisten Menschen mit Hilfe der Kontextvariablen „rechts" gehört nämlich, streng

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genommen, immer auch die Angabe der Richtung, in der jeder eine Handlung ausführen muß, wenn er, ausgehend von der Mittelsenkrechten durch die Vorderseite seines Leibes, ζ. B. mit Hilfe eines Blickes (Augenbewegung!) oder mit Hilfe einer Handbewegung in die Gegend der Leber gelangen will, wie sie bei den allermeisten Menschen liegt. Insofern kann eine Kontextvariable wie „rechts" gerade auch dann in einem rein operationalen und Orientalen Sinn verwendet werden, wenn sie scheinbar in einem ganz anderen Sinn verwendet wird. Damit verschwinden aber, wie man leicht sehen kann, auch alle Rechtfertigungsprobleme, wie sie angesichts der Differenzen zwischen operativen und nichtoperativen Kontexten für die eindeutige Verwendung orientaler Variablen zunächst auftauchen können. Denn auch in anatomischen, botanischen und noch anders gearteten nichtoperativen Kontexten können solche Variablen offenbar nur dann sinnvoll verwendet werden, wenn sie stets auch auf eine sinnenfällig manifeste Handlungsorientierung bezogen werden können. Dies wird nur wieder besonders scharf deutlich, wenn man, wie wir schon hervorgehoben haben (vgl. S. 147ff.), Fälle betrachtet, in denen man von einem bestimmten Kontext für die eindeutige Verwendung einer solchen Variablen zu irgendeinem anderen Kontext übergeht. Denn bei dem Ubergang, von dem hier die Rede ist, handelt es sich ja, genau besehen, um die Situation, in der jemand sich befindet, wenn er sich auf einen bestimmten Kontext nicht mehr beziehen kann und sich auf einen anderen Kontext noch nicht beziehen kann. Insofern hat diese Situation alle wichtigen formalen Züge mit einer Situation gemeinsam, in der jemand sich fragen muß, mit welchen Gründen er überhaupt auch nur die Kandidatur rechtfertigt, zu der er einen Sachverhalt zuläßt, wenn er einen Kontext für die eindeutige Verwendung einer Orientalen Variablen ermitteln will. Auf diese Frage kann man von vornherein und allgemein aber nur antworten, indem man Handlungen berücksichtigt, sofern sie orientiert sind. Denn daß man Sachverhalte beschreiben kann, die von Handlungsorientierungen verschieden sind und die, weil sie nicht immer bestehen, auch nicht immer Kontexte abgeben können, auf die man sich direkt beziehen könnte, lehrt ja schon die Erfahrung. Aber wie immer auch ein nichtoperativer Kontext für die eindeutige Verwendung einer Orientalen Variablen ausfallen mag — er hat jedenfalls die Orientierung mit einer Handlung gemeinsam, wie man sie ausführen können muß, wenn man die jeweils verwendete Orientale Kontextvariable eindeutig machen möchte.

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Kontext und Kontextinvarianz in Kants Raumtheorie

Dies gilt für die Bewegungsrichtung der Sonne über der nördlichen Erdhalbkugel ebenso wie für die Wuchsrichtung aller Kant bekannt gewordenen Hopfenexemplare: solche Sachverhalte können nur von demjenigen sinnvoll zu Kontexten für die eindeutige Verwendung einer Orientalen Variablen wie „rechts" gewählt werden, der von vornherein stets auch durch eine von ihm vollführte Handlung, sofern sie orientiert ist, einen Kontext sinnenfällig machen kann, in dem dieser Ausdruck sich eindeutig verwenden läßt. Jeder, der dies kann, kann daher die Berechtigung, irgendeinen Sachverhalt zum Kontext für die eindeutige Verwendung einer Orientalen Variablen kandidieren zu lassen, von vornherein von der Bedingung abhängig machen, daß dieser Sachverhalt jedenfalls die Orientierung mit einer Handlung gemeinsam hat, wie man sie ausführen kann, um einen Handlungskontext für die eindeutige Verwendung dieser Variablen sinnenfällig zu machen. Es soll also nicht etwa behauptet werden, daß Orientale Kontextvariablen nur im Hinblick auf Handlungen, sofern sie orientiert sind, sinnvoll verwendet werden könnten. Es soll vielmehr behauptet werden, daß nur derjenige Orientale Kontextvariablen sinnvoll im Hinblick auf etwas verwenden kann, was nicht eine Handlung und doch orientiert ist, wenn er diese Orientale Kontextvariablen stets auch sinnvoll auf irgendeine Handlung beziehen kann, sofern sie orientiert ist. Denn: „Wir können . . . nur aus dem Standpunkt eines Menschen (genauer: eines Wesens, das selber die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt, R. E.), vom Raum . . . reden" (KdrV A 26, Β 42 Ende). 7

7

Wir haben zuletzt die Frage erörtert, wie ein Kontext für die eindeutige Verwendung der Orientalen Kontextvariablen ζ. B. „links" oder stattdessen der Orientalen Kontextvariablen „rechts" festgelegt werden kann. Von dieser Frage muß man die Frage sorgfältig unterscheiden, wie ein Kontext für die eindeutige Verwendung sowohl der Variablen z . B . „links" wie auch der Variablen „rechts" festgelegt werden kann. Denn im letzten Fall geht es ja um einen Kontext für das eindeutige Reden vom Unterschied zwischen Links und Rechts. Da hier aber keine prinzipiell neuen Probleme auftauchen können, gehe ich auf diesen Fall nicht näher ein. — Dagegen sollte man aber wohl zwei naheliegenden Mißverständnissen zuvorkommen: (1) Es kann so scheinen, als wenn z.B. das Händepaar eines normal gewachsenen Menschen eine Art von naturwüchsigem orientierten ,Koordinatensystem', also ein naturwüchsiger orientaler Kontext für das eindeutige Reden vom Unterschied zwischen Links und Rechts sei, den man sozusagen .ständig vor Augen habe' und dem man gar nicht erst mit Hilfe einer besonderen kognitiven Leistung die Funktion eines orientierten Koordinatensystems, eines Orientalen Kontextes zu verleihen brauchte. Diese Auffassung ist aber aus zwei Gründen unhaltbar: (1.1) zum einen hat natürlich auch ein normal gewachsener Mensch sein Händepaar nicht ständig vor Augen; (1.2) zum anderen kann man aber auch schon im Hinblick auf genau eine Hand

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eines solchen Paares streng genommen nicht in demselben Sinne davon reden, daß man sie als Kontext für die eindeutige Verwendung ζ. B. von „links" ,vor Augen habe', wenn man sie sinnvoll und eindeutig als linke Hand charakterisiert, wie wenn man ζ. B. lediglich zum Ausdruck bringen will, daß sich im Gesichtsfeld an einer relativ festen Stelle etwas befindet, was man unter den Begriff der Hand subsumiert; denn die sinnvolle und eindeutige Charakterisierung einer Hand eines normal gewachsenen Menschen als linke Hand setzt, wie vor allem Helmholtz (1878) herausgestellt hat (vgl. bes. S. 24ff., 56ff.; auch S. 35/36), eine Handlung dessen, der diese Beschreibung gibt, voraus, die vor allem durch eine entsprechend orientierte Augenbewegung („Okulomotorik") vermittelt ist. Es ist zwar ohne weiteres verständlich, wenn gerade die naturwüchsigen Hände von jemand, der außerdem Orientale Kontextvariablen sinnvoll und eindeutig verwenden kann, aus Zweckmäßigkeitsgründen vorzugsweise zum Kontext für die eindeutige Verwendung solcher Ausdrücke gestempelt werden und in dieser Funktion sogar auch standardisiert werden. Aber die Naturwüchsigkeit von etwas, was unter den Begriff der Hand fällt und wovon es normalerweise jeweils zwei Exemplare gibt, ist jedenfalls keine hinreichende Bedingung dafür, daß solche zwei Exemplare als Kontexte für die eindeutige Verwendung orientaler Variablen bzw. als Kontext für die eindeutige Rede vom Unterschied zwischen Links und Rechts fungieren können. Denn, wie auch die physiologische Optik lehrt, zwei solche Exemplare von Dingen können dann zu einem solchen Kontext erhoben werden, wenn der, der dies tut, (1.2.1) auch genau zwei Handlungen ausführen kann und (1.2.2) Orientale Kontextvariablen im Hinblick auf diese zwei Handlungen sinnvoll und eindeutig verwenden kann. — (2) Und schließlich ist folgender Überlegung von Hermann Weyl (1928) zu widersprechen: „Kant findet den Schlüssel zum Rätsel des links und rechts . . . im transzendentalen Idealismus. Der Mathematiker sieht dahinter die kombinatorische Tatsache der Unterscheidung von geraden und ungeraden Permutationen" (S. 113). Denn: „Eine ungerade Permutation ändert den Sinn ins Gegenteil. Das ist ganz klar die kombinatorische Wurzel der Unterscheidung zwischen links und rechts" (S. 112). Selbstverständlich kann man nicht bestreiten, daß Weyl in diesem Zusammenhang gerade und ungerade Permutationen von irgendwelchen zwei oder mehr Dingen mathematisch korrekt beschreibt. Aber man kann bestreiten, daß man den Anspruch von Kants Raumtheorie in einer Weise, die Kants Intentionen genügt, befriedigend eingelöst habe, wenn man den Unterschied zwischen Links und Rechts durch den Unterschied beschreibt, der zwischen zwei solchen Anordnungen von η gegebenen linear unabhängigen Vektoren, die durch eine gerade Permutation auseinander hervorgehen, und zwei solchen Anordnungen von η gegebenen linear unabhängigen Vektoren besteht, die durch eine ungerade Permutation auseinander hervorgehen (vgl. ib.); gegenüber diesem Versuch Weyls, das von Kant erörterte Problem ins reine zu bringen, sind zuletzt von Kanitscheider (1976) Bedenken angemeldet worden (vgl. S. 33/34). Und wenn wir Kants Intentionen bisher richtig ausgeführt haben, dann muß man Weyls Behauptung über die kombinatorische Wurzel der Unterscheidung zwischen Links und Rechts deswegen widersprechen, weil Kant die Wurzel dieser Unterscheidung dann in unterschiedlichen räumlichen Charakteren von Handlungen gesucht hat. Aber für die Operationen, die der Mathematiker „Permutationen" nennt, sind jedenfalls nicht räumliche, Orientale Merkmale charakteristisch. — Lehrreich ist es in diesem Zusammenhang, wenn Baumgartner (1964) ausdrücklich festhält, daß es sogar auch bei den Permutationen, durch die eine geometrische Figur mit sich zur Deckung gebracht wird (vgl. S. 13), „. . . auf den Weg . . . nicht an(kommt)" (S. 131). Denn, wenn es auf den „Weg" nicht ankommt, dann kommt es auch nicht auf so etwas wie die Richtung oder Orientierung einer Handlung, speziell einer Permutation, an. — Zu der Frage, ob man innerhalb des Ansatzes von Kants Raumtheorie, wie wir sie hier zu rekonstruieren versuchen, auch noch so etwas wie eine „Wurzel" der Unterscheidung zwischen Links und Rechts angeben kann, vgl. S. 210ff.; bes. S. 2 1 4 2 9 .

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Kontext und Kontextinvarianz in Kants Raumtheorie

Ich fasse zusammen: Ausdrücke wie „links" und „rechts" deuten nicht Begriffe an, von denen irgendeiner dem anderen oder irgendeinem dritten Begriff untergeordnet sein könnte. Ausdrücke wie „links" und „rechts" sind Variablen. Diese Variablen werden charakteristischerweise dadurch eindeutig gemacht, daß sie jeweils im Hinblick auf einen wohlbestimmten nichtsprachlichen Kontext verwendet werden. Sie sind insofern Kontextvariablen. Der Kontext, in dem solche Variablen eindeutig verwendet werden können, besteht jeweils entweder in einer Handlung, sofern sie orientiert ist, oder in etwas, was nicht eine Handlung, aber orientiert ist. Man kann diese Kontextvariablen insofern genauer als Orientale Kontextvariablen ansprechen. Wenn Handlungen, sofern sie orientiert sind, den ursprünglichen Anwendungsbereich für diese Orientalen Kontextvariablen bilden, dann kann man die Entscheidung darüber, ob es Sinn hat oder nicht, diese Variablen auf etwas anzuwenden, was nicht eine Handlung ist, davon abhängig machen, daß etwas X, was nicht eine Handlung ist, sinnvollerweise nur dann einen Kontext für die eindeutige Verwendung solcher Ausdrücke abgeben kann, wenn X die Orientierung mit einer Handlung gemeinsam hat, die ebenfalls als sinnenfälliger Kontext dienen kann. Nichtoperative Kontexte für die eindeutige Verwendung solcher Orientalen Ausdrücke können standardisiert werden.

§ 13. Eine spezielle

Manifestationsfunktion

Der Leser, der die Überlegungen, wie wir sie in dem vorigen § weitgehend auf eigene Faust angestellt haben, plausibel findet und auch findet, daß die Präzisierungen und Differenzierungen, die wir dabei im Anschluß an Thesen aus Kants Raumtheorie vorgeschlagen haben, mit Kants einschlägigen Formulierungen verträglich sind, kann gleichwohl noch sachlich und hermeneutisch wichtige Vorbehalte anmelden, mit denen wir uns auseinandersetzen wollen. Zum einen können die Überlegungen, wie wir sie bisher im vorigen § angestellt haben, leicht den Eindruck erwecken, als wenn wir zumindest denjenigen Leitfaden, den wir aus dem Studium von Texten Kants im Hinblick auf die dort verhandelte Sache der Raumtheorie schon gewonnen haben (§§ 3/11), zugunsten einer vom Wege abführenden formalen Sprachanalyse ohne Not aus der Hand gegeben haben. Es sei ohne weiteres zugegeben, daß wir hier im Vergleich mit der Schrittfolge, auf die Kant sich in seinen Texten zur Raumtheorie nun

Eine spezielle Manifestationsfunktion

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einmal festgelegt hat, einen Umweg eingeschlagen haben. Und es sei auch zugegeben, daß wir unseren zunächst entwickelten Leitfaden, der ja am Gedanken einer speziellen Bedingung der Entdeckbarkeit orientaler Handlungscharaktere festgemacht ist, ganz aus dem Auge gelassen haben. Freilich liegt es auch auf der Hand, daß einem der Rückgriff auf diesen Gedanken keine der zuletzt durchgeführten Analysen hätte ersparen können. Es wird daher auch noch darauf ankommen, gleichsam den Knotenpunkt aufzuspüren, an dem der Leitfaden, der zu Kants Theorie der reinen räumlichen Anschauung führt, sich mit dem Leitfaden kreuzt, den einem die seit Frege entwickelten Disziplinen der formalen Syntax und Semantik auch für die Analyse oriental bestimmter Sätze an die Hand geben können. Dabei wird sich dann auch herausstellen können, ob Kants Theorie der reinen räumlichen Anschauung, wie wir sie bisher dargestellt haben, so standfest ist, daß man ihr sogar zutrauen darf, auch durch Annäherungsversuche aus dem Bereich der Sprachtheorie an Plausibilität nur noch zu gewinnen. Zum anderen kann man darauf aufmerksam machen, daß wir die sinnenfällig manifesten Handlungsorientierungen ja in den Einzugsbereich der reinen räumlichen Anschauung fallen lassen, wenn wir unterstellen, daß jeder nur dann, wenn er die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt, Handlungsorientierungen jeweils gerade auch insofern manifest machen kann, als er sie sinnvoll und eindeutig mit Hilfe von Orientalen Kontextvariablen wie „links" und „rechts" ansprechen kann. Diese Unterstellung kann man aber mit guten Gründen problematisch finden. Man braucht nämlich bloß zu bedenken, daß eine sinnenfällig ausgeführte Handlung in ein Geflecht von jeweils nur empirisch zugänglichen Randbedingungen verwoben ist und jedenfalls auch die Existenz ihres Urhebers und der Mittel voraussetzt, deren dieser sich bedient, wenn er seine Handlung ausführt. Unterstellt man aber, daß jedermann sich den Bereich faktischen Handelns auch insoweit, als Handlungen räumliche Orientierungen manifest werden lassen, nur unter der von ihm erfüllten Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erschließen kann, dann hat man, wie es scheint, die von Kant getroffene und streng respektierte, scharfe Unterscheidung zwischen „reiner Anschauung" und „empirischer Anschauung" (vgl. KdrV A 19, Β 33/A 21,Β 35) zumindest vernachlässigt. Denn eine sinnenfällige Handlung ist als solche ja stets auch mit der „Bewegung eines Objektes im Räume" (KdrV Β 155 Anm.), ζ. B. mit der Bewegung einer Hand oder mit der Bewegung des Leibes des jeweiligen Akteurs verbunden. Dann setzt man jedoch bei dem, der die Orientierung

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Kontext und Kontextinvarianz in Kants Raumtheorie

einer sinnenfälligen Handlung sinnvoll und eindeutig manifest macht, offenbar auch „die Wahrnehmung von etwas Beweglichem voraus" (KdrV A 41, Β 58); „ . . . diese (Wahrnehmung von etwas Beweglichem, R. E.) aber ist das in unserem Erkenntnis, was da macht, daß sie . . . empirische Anschauung heißt" (KdrV A 42, Β 60). Begeht man nicht einen Fehler und verzeichnet die von Kant deutlich gezogene Grenze zwischen den Einzugsbereichen von reiner räumlicher und empirischer räumlicher Anschauung, wenn man Orientierungen sinnenfälliger Handlungen in den Intentionsbereich der reinen räumlichen Anschauung fallen läßt? Man kann diese Schwierigkeiten auflösen, wenn man Kants Unterscheidung zwischen reiner räumlicher und empirischer räumlicher Anschauung mit jenem Gedanken aus der formalen Sprachanalyse verbindet, den man benutzt, wenn man nach einer Interpretation eines sprachlichen Ausdrucks a fragt, wie sie diesem Ausdruck von seinem Benutzer verliehen wird, wenn er ihm etwas α, was selber nicht ein sprachlicher Ausdruck ist, als seine Bedeutung zuordnet. Von dieser abstrakt formulierten Frage haben wir uns ja leiten lassen, als wir den im Sinne Kants ursprünglichen gegenständlichen Verwendungsbereich für Ausdrücke wie „links", „rechts" und „inkongruent" erst einmal ermitteln wollten (vgl. § 8 u. S. 10228). Und nachdem wir zunächst bestimmte Textstücke und Argumente Kants vor allem aus der Schrift über die „Gegenden" und der Inaugural-Dissertation analysiert hatten, haben wir uns zu der Antwort berechtigt gefunden, daß jeder, der Worte wie „links", „rechts" und „inkongruent" sinnvoll und eindeutig verwenden kann, ihnen nach Kants Raumtheorie Handlungen, sofern sie orientiert sind, als ihre ursprüngliche Bedeutung zuordnen kann. In diesem Zusammenhang haben wir zunächst nur beiläufig daran erinnert, daß man sich in der formalen Semantik u. a. den Gedanken zunutze macht, daß jemand, der einem sprachlichen Ausdruck a etwas α, was von einem sprachlichen Ausdruck verschieden ist, als dessen Bedeutung zuordnet, insofern eine bestimmte Funktion ausübt — nämlich die Funktion eines Interpreten. Diesen funktionalen Zusammenhang berücksichtigt man in der formalen Semantik aus methodischen Gründen bekanntlich in der verkürzten Form, daß man eine Interpretation als Funktion definiert, durch die einem sprachlichen Ausdruck a etwas α, was von einem sprachlichen Ausdruck verschieden ist, als dessen Bedeutung zugeordnet wird (vgl. vor allem S. 10228). Entsprechend kann man die Antwort auf die Frage nach dem ursprünglichen gegenständlichen Verwendungsbereich für Ausdrücke wie „links", „rechts" und „inkongruent"

Eine spezielle Manifestationsfunktion

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auch so analysieren: Ausdrücken wie „rechts", „links" und „inkongruent" werden durch eine hierfür charakteristische Funktion Handlungen, sofern sie orientiert sind, als ihre ursprüngliche Bedeutung zugeordnet. Nun würde man Kants Ansatz auch in der Raumtheorie aber wesentlich entstellen, wenn man nicht auch dieses Lehrstück als eine spezielle Theorie der Subjektivität darstellen würde. Denn Kant fragt auch hier entschieden und konsequent nach der Bedingung, wie jedes ,Subjekt' sie erfüllt, das räumliche Sachverhalte als solche erkennen kann. Unter dieser Voraussetzung ist man aber auch dann gehalten, zu diesem Teil von Kants Raumtheorie eine Brücke zu schlagen, wenn man versucht, sich dieser Theorie durch eine genauere Analyse der räumlichen Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken zu nähern, die man am Leitfaden von Kants Theorie zu diesem Zweck von vornherein auswählen kann. Es braucht einem jetzt aber nicht mehr schwer zu fallen, hier eine tragfähige Verbindung herzustellen. Denn unter dem Namen der reinen räumlichen Anschauung spricht Kant ja gerade von der Bedingung, unter der jeder, der sie erfüllt, eben genau jene Funktion trefflich, d. h. sinnvoll und eindeutig ausüben kann, die darin besteht, daß jemand den von ihm verwendeten Ausdrücken wie „links", „rechts" und „inkongruent" Handlungen, sofern sie orientiert sind, als ihre Bedeutung zuordnet. Nun haben wir aber in Aussicht gestellt, daß man auf diesem Weg die Schwierigkeiten auflösen kann, in die man sich im Zusammenhang mit Kants strenger Unterscheidung zwischen reiner und empirischer räumlicher Anschauung verwickeln zu müssen scheint, wenn man auch noch sinnenfällige Handlungsorientierungen im Intentionsbereich der reinen räumlichen Anschauung manifest werden läßt. Wenn man dabei zunächst Kants subjektivistischen Ansatz in der Raumtheorie mit der Semantik von Ausdrücken wie „links", „rechts" und „inkongruent" verbindet, dann gelingt dies in der dargestellten Weise offenbar nur mit Hilfe eines, wie es scheint, bloß formalen technischen Kniffs — indem man nämlich den Funktionsbegriff zu Hilfe nimmt, mit dem der semantische Interpretationsbegriff expliziert werden kann. Und schließlich darf man auch nicht übersehen, daß man auch noch solche Unterscheidungen wie die zwischen den Argumenten und den Werten einer Funktion berücksichtigen müßte, wenn man den semantischen Interpretationsbegriff hier konsequent in die Analyse von Kants Raumtheorie einbeziehen wollte. Es dürfte daher zweckmäßig sein, wenn man untersucht, ob man hier tatsächlich nur einen formalen technischen Kniff angewandt hat oder ob

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man auch plausible sachliche Gründe beibringen kann, die einem gestatten, so vorzugehen. Und schließlich soll diese ,funktionale' Beschreibung ja ohnehin auch noch dadurch auf ihre Haltbarkeit getestet werden, daß man mit ihrer Hilfe Kants Unterscheidungen zwischen reiner und empirischer räumlicher Anschauung gerecht werden kann (vgl. § 14). Wer es vorzieht, eine Sprache zu analysieren, ohne solche formalen terminologischen Unterscheidungen wie die zwischen Funktion, Funktionsargument und Funktionswert zu Hilfe zu nehmen, wird es aber gleichwohl von der Sache her noch nicht abwegig finden, von einer „Funktion" wenigstens zu sprechen, wie derjenige sie ausübt, der Ausdrücken wie „links", „rechts" und „inkongruent" Handlungen, sofern sie orientiert sind, als deren Bedeutung zuordnet. Wir wollen daher auch lediglich eine der Sache nicht unangemessene sprachliche Darstellung dieser Sache konsequent auf einige möglichst wichtige Voraussetzungen ihrer möglichen sachlichen Angemessenheit untersuchen, wenn wir fragen, wie man den Kontext oriental bestimmter Sätze im Lichte solcher Unterscheidungen wie denen zwischen Funktion bzw. Funktor und Argument bzw. Argumentausdruck und Funktionswert analysiert. Wir haben zuletzt gesehen, weswegen ein orientaler Ausdruck wie „rechts" nur als Variable, nämlich als Kontextvariable und nicht als Konstante aufgefaßt werden kann. Schwieriger ist es nun schon zu entscheiden, ob diese Orientalen Kontextvariablen sinnvoll auch als Argumentausdrücke oder als Ausdrücke für Werte von Funktionen aufgefaßt werden können. Aber in dieser Richtung muß man ja konsequenterweise weiterfragen, wenn man den Funktionsbegriff schon einmal in der skizzierten Weise benützt hat. Diese Schwierigkeit rührt ersichtlich daher, daß man im Zusammenhang mit der Formulierung eines oriental bestimmten Satzes gewöhnlich noch nicht einmal über einen eigenen Ausdruck verfügt, der analog wie ζ. B. die Ausdrücke „und" und „oder" Funktoren sind, von denen jeder aus jeweils zwei Sätzen einen neuen Satz formt, ebenfalls ein Funktor wäre. Diese sprachliche Tatsache muß man aber wenigstens auch ernst nehmen,wenn man erwägt, ob der charakteristische Kontext eines oriental bestimmten Satzes entweder als Argument oder als Wert auf eine angebbare Funktion bezogen ist oder nicht. Eine Richtschnur, wie man hier über Vorliegen und NichtVorliegen einer Funktion auf einem indirekten Wege entscheiden kann, kann einem nun freilich in diesem Zusammenhang gerade die zuerst von Frege (1891) befolgte Methode an die Hand geben, die Charakteristik einer Funktion zu ermitteln, indem man sowohl nach ihren möglichen Argumenten, wie

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auch nach ihren möglichen Werten fragt (vgl. Frege S.21/26). Respektiert man von hier aus nämlich nicht bloß die sprachlichen Ausdrücke, sondern von vornherein auch ihre nichtsprachlichen Korrelate, dann kann man im Hinblick auf Orientale Kontextvariablen durchaus etwas ausmachen, was man ihnen als Werte bzw. Argumente der gesuchten Funktion zuordnen kann. Denn wir haben uns ja schon klar gemacht, daß die Orientalen Kontextvariablen ihre Bedeutung ursprünglich unter Handlungen finden, sofern sie orientiert sind. Die gesuchte Funktion müßte daher wohl jedenfalls Handlungen, sofern sie orientiert sind, aus ihrem Argumentbereich schöpfen. Sucht man im Anschluß an diese Überlegung sogleich nach den möglichen Werten der fraglichen Funktion, so darf man sich vor allem nicht durch schiefe Analogien irreführen lassen. So darf man im Zusammenhang mit unserer Frage nach einer auf den Kontext oriental bestimmter Sätze zugeschnittenen Funktion beispielsweise nicht versuchen, starr am Postulat der formalen semiotischen Disziplinen festzuhalten, wonach jede Funktion, die jeweils im Spiel ist, wenn wir einen wohlformulierten sprachlichen Ausdruck eindeutig verwenden, auch explizit zum Ausdruck kommen sollte. Gerade die formalen semiotischen Disziplinen können einen unter anderem ja auch lehren, inwiefern die Sprache, in der wir uns jeweils aus bestimmten mehr oder weniger starken praktischen Gründen normalerweise verständigen, an bestimmten Stellen gar nicht so reich an Ausdrucksformen zu sein braucht, wie man es in diesen formalen Disziplinen inzwischen prinzipiell möglich gefunden hat. An Hand des schon erwähnten Ausdrucks „und" kann man dies schön exemplifizieren. Wie man sich nämlich mit den Mitteln von Syntax und Semantik klar machen kann, verwenden wir den Ausdruck „und" in der Regel nicht nur in dem syntaktischen Sinne, daß wir aus zwei Sätzen ρ und q einen neuen Satz p-und-q bilden, in dem die Sätze ρ und q bloß noch als Teilsätze vorkommen; vielmehr verwenden wir das Wort „und" in einem Atemzug auch in dem semantischen Sinne, daß wir für den neuen Satz p-und-q auf Grund bestimmter Wahrheitsansprüche, wie wir sie mit seinen Teilsätzen ρ und q verbinden können, auch jeweils einen bestimmten Wahrheitswert beanspruchen und einen bestimmten anderen Wahrheitswert nicht beanspruchen. Insofern bringen wir mit Hilfe des einen Wortes „und" genau genommen sogar zwei Funktionen zum Ausdruck: die syntaktische Funktion, die aus zwei Sätzen ρ und q den neuen Satz p-und-q stiftet, und die semantische Funktion, die aus Wahrheitswerten, wie sie sich auf die Sätze ρ und q verteilen lassen, jeweils genau einen Wahrheitswert für den Satz

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p-und-q stiftet. Wollte man hier dem Postulat der möglichst vollständigen Ausführlichkeit im Ausdruck streng entsprechen, dann müßte man offenbar sowohl über einen satzbildenden Funktor — also über einen Junktor im wörtlichen, syntaktischen Sinne — als auch über einen Wahrheitswertfunktor ausdrücklich verfügen. In Syntax und Semantik, wo solche Unterschiede planmäßig zum Gegenstand der Untersuchung und der Darstellung gemacht werden, wird man solche Unterschiede selbstverständlich ausdrücklich berücksichtigen (vgl. z . B . Cresswell 1973, S. 13/23). Aber durch die dahintersteckenden Einsichten wird die sprachliche Tatsache, daß wir mit Hilfe eines und desselben Wortes „und" regelmäßig in einem Atemzug zwei verschiedenartige Funktionen zum Ausdruck bringen können, selbstverständlich nicht zum Verschwinden gebracht.8 Allerdings sollte man solche Einsichten auch von vornherein berücksichtigen, wenn man sich von einer kommunikativ bewährten Ausdrucksweise umgekehrt nicht daran hindern lassen möchte, die Frage, ob bei der Verwendung orientaler Kontextvariablen eine kontextstiftende Funktion im Spiel ist oder nicht, im Lichte der richtigen Alternativen zu entscheiden. Denn unser Beispiel einer möglichen Verwendungsweise für den Ausdruck „ u n d " kann ja lehren, daß bei der Verwendung dieses Ausdrucks nicht schon deswegen keine semantische Funktion im Spiel ist, weil es an einem entsprechenden Funktor fehlt; und dieses Beispiel kann auch lehren, daß die Funktionen, die bei der Verwendung eines Ausdrucks jeweils im Spiel sind, sich nicht schon deswegen in einer syntaktischen Funktion erschöpfen, weil die Weise der Verwendung dieses Ausdrucks in einem sinnvollen Zusammenhang mit anderen sprachlichen Ausdrücken primär geeignet sein mag, eine syntaktische Funktion evident zu machen. Mit alledem soll selbstverständlich nicht behauptet werden, daß jeweils nur die syntaktischen Funktionen mit den kulturwüchsigen Mitteln der Umgangssprache belegt würden; und es soll auch nicht behauptet werden, daß hier gerade die semantischen Funktionen sprachlich regelmäßig im Dunkeln blieben. Aber man kann an Hand des erörterten Beispiels doch schon eine Bedingung angeben, aus der man, wenn sie erfüllt ist, auch schon erklären kann, weswegen die semantische Struktur eines Satzes, soweit er oriental bestimmt ist, in dem Maße undurchsichtig ist, wie dies bis jetzt doch der Fall zu sein scheint. Denn, wenn sich herausstellen läßt, 8

Bei der Forderung, möglichst jede syntaktische, semantische oder pragmatische Funktion durch einen entsprechenden Funktor auch auszudrücken, handelt es sich also um ein typisches heuristisches Lehrbuchpostulat und nicht um eine Forderung, die man zweckmäßigerweise an die praktischen Kommunikationsformen richten könnte.

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inwiefern Orientale Kontextvariablen im Sinne einer durchaus genau charakterisierbaren semantischen Funktion fungibel gemacht werden, dann fällt es offenbar auch deswegen so schwer, dies zu durchschauen, weil man schon bei der Musterung der in Frage kommenden sprachlichen Belege keinen Wink in diese Richtung erhalten kann. Nehmen wir im Lichte der zuletzt berücksichtigten Gesichtspunkte den Gedanken wieder auf, daß Handlungen, sofern sie orientiert sind, Argumente einer Funktion jedenfalls abgeben können, die im übrigen charakteristischerweise auch auf den Kontext von Sätzen zugeschnitten ist, in deren Formulierung jeweils Orientale Variablen verwendet werden! Der Gedanke, daß es sich bei der gesuchten Funktion um eine spezielle semantische Funktion handeln kann, hilft nämlich sofort in plausibler Weise über eine Schwierigkeit hinweg, die wir zunächst einfach als solche bestehen gelassen hatten. Hierzu braucht man sich nur daran zu erinnern, daß es zu den Individuenkonstanten der prädikatenlogisch analysierbaren Sätze insofern keine Analoga unter den Orientalen Ausdrücken gibt, als in den natürlichen Sprachen keine Orientalen Ausdrücke ausgebildet worden sind, die für Orientale Kontextvariablen wie „links" und „rechts" eingesetzt werden könnten, um die Formulierungen, in denen man so eine Substitution vornehmen würde, eindeutig zu machen. Im Hinblick auf diese Eindeutigkeit oriental bestimmter Sätze hätte man die Analoga zu den Individuenkonstanten vielmehr überhaupt nicht in der Ebene der Sprache, also nicht unter sprachlichen Ausdrücken, sondern unter den sinnenfällig manifesten Handlungsorientierungen zu suchen. Denn wir hatten uns ja klar gemacht, daß die Verwendung eines Orientalen Ausdrucks wie „links" in der Formulierung eines Satzes jeweils dadurch eindeutig gemacht wird, daß der Autor dieser Formulierung genau eine sinnenfällige Handlungsorientierung als diejenige Orientierung manifest macht, wie er sie mit Hilfe dieses Ausdrucks erwähnt hat. Nun wird man diesen Sprung von der Ebene der Sprache in die Ebene der Handlungen, wie man ihn offenbar mitmachen muß, wenn man seine Aufmerksamkeit vom prädikatenlogisch normierbaren Vokabular des Individuenbereichs eines oriental bestimmten Satzes zum charakteristischen Kontext dieses Satzes lenkt, nicht gut durch eine Nottaufe zu meistern versuchen, indem man ad hoc verfügt, nicht nur sprachliche Ausdrücke, sondern auch nichtsprachliche Gebilde dürften „Konstanten" genannt werden. Auf diesen ohnehin leerlaufenden technischen Kniff braucht man aber gar nicht erst zu verfallen, wenn man schon die Möglichkeit erwogen hat, daß die Eindeutigkeit der Verwendung einer Orientalen

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Kontextvariablen jeweils das Werk einer bestimmten Funktion ist, durch die dieser Kontextvariablen jeweils genau eine sinnenfällige Handlungsorientierung eben als Wert zugeordnet werden kann. Denn man kann, soweit ich sehe, keine sachlichen Gründe anführen, die einen prinzipiell hindern könnten, die jeweils sinnenfällig manifesten Handlungsorientierungen so aufzufassen, daß sie die Werte der gesuchten Funktion sind. Vor allem aber kann man bei diesem Verständnis der Sache einem Ergebnis in befriedigender Weise Rechnung tragen, zu dem wir gelangt waren, als wir uns klar gemacht hatten, daß eine Orientale Kontextvariable aus jeweils genau einer sinnenfällig manifesten Handlungsorientierung ihre Eindeutigkeit beziehen kann. Denn eine Funktion kann allgemein auch dadurch charakterisiert werden, daß sie jeweils einen und nur einen Wen hat (vgl. Quine 1940, § 40, bes. S. 222). Wir können daher zunächst festhalten: Handlungen, sofern sie orientiert sind, sind Argumente einer Funktion, deren Werte Handlungsorientierungen sind, sofern sie als solche jeweils sinnenfällig eindeutig manifest sind. Wenn wir in diesem vorläufigen Resümee auch die Struktur von oriental bestimmten Sätzen berücksichtigen, dann können wir auch feststellen: wenn Orientierungen die wesentlichen Merkmale der charakteristischen Kontexte von Formulierungen oriental bestimmter Sätze sind, dann sind die Wesensmerkmale solcher Kontexte Argumente einer Funktion, deren Werte die jeweiligen Kontexte selber, nämlich die jeweils manifesten Handlungsorientierungen sind. Man muß nun aber beachten, daß man eine Funktion noch gar nicht hinreichend bestimmt hat, wenn man sie sowohl von ihren möglichen Argumenten als auch von ihren möglichen Werten her charakterisiert hat. Beispielsweise weiß man ja von einer Funktion, deren mögliche Argumente man unter den positiven ganzen Zahlen findet und deren Werte man ebenfalls unter den positiven ganzen Zahlen findet, alleine insofern noch nicht, ob es sich bei ihr ζ. B. um die Addition handelt oder nicht. Ebensowenig hat man eine bestimmte andere Funktion schon voll verstanden, wenn man lediglich weiß, daß man ihre Argumente unter Handlungen zu suchen hat, sofern sie orientiert sind, und daß ihre Werte sinnenfällig manifeste Handlungsorientierungen sind. Trotzdem bleibt einem im Anschluß an die bisher angestellten Überlegungen bei genauerem Hinsehen nur noch übrig, die hier fragliche Funktion auf den Namen zu taufen, der ihr im Hinblick auf die für sie charakteristischen Argumente und Werte zusteht. Denn dieser Name steht wenigstens indirekt schon fest. Das kann man sich klar machen, wenn man darauf achtet, daß die Linksorientierung

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einer Handlung, sofern sie sinnenfällig manifest ist, sich von der Linksorientierung einer Handlung als solcher eben auch nur dadurch unterscheidet, daß sie sinnenfällig manifest ist. Denn nicht nur derjenige macht Handlungen im Hinblick auf Orientierungen manifest, der eine Handlung sinnenfällig ausführt und sie auch ausdrücklich beispielsweise als linksorientiert und nicht als anders orientiert, also eindeutig charakterisiert. Vielmehr macht auch derjenige Handlungen im Hinblick auf Orientierungen schon manifest, der ein Wort wie „links" nur sinnvoll verwendet, indem er es überhaupt als Orientale Kontextvariable und im Hinblick auf Handlungen verwendet. Denn für jeden, der einen Ausdruck wie „links" sinnvoll verwendet, ist der Argumentbereich — Handlungen, sofern sie orientiert sind — der gesuchten Funktion manifest, deren Argumente er auch mit Hilfe einer Orientalen Kontextvariablen wie „links" zunächst einmal nur sinnvoll erwähnt; und für jeden, der eine Orientale Kontextvariable wie „links" eindeutig verwendet, ist der Wertebereich — sinnenfällig manifeste Handlungsorientierungen — der gesuchten Funktion in Gestalt von jeweils genau einer sinnenfälligen Handlungsorientierung manifest. Aber jeder, der Handlungsorientierungen trefflich, d. h. sinnvoll und eindeutig manifest machen kann, erfüllt, so hatten wir Kant interpretiert, die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung. Ich schlage daher vor, die gesuchte Funktion als Manifestationsfunktion aufzufassen, wie sie von jedem im Hinblick auf Handlungsorientierungen genau dann trefflich ausgeübt werden kann, wenn er die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt.9 Was kann man nun gewinnen, wenn man im Hinblick auf die Struktur von Sätzen, sofern ein Ausdruck wie „links" sinnvoll und eindeutig in ihrer Formulierung verwendet wird, in der hier entwickelten Weise 9

Wenn man diese Funktion speziell als Manifestationsfunktion anspricht, dann trägt man außerdem lediglich mit terminologischen Mittel demselben eigentümlichen Zusammenhang Rechnung, den wir im Auge hatten, als wir vorgeschlagen haben, von dem ursprünglichen Modell zu sprechen (vgl. S. 10228), das Sätzen durch eine Interpretation zugeordnet wird, wenn diese Sätze mit Hilfe von Ausdrücken wie „inkongruent" formuliert sind und wenn diesen Ausdrücken Handlungen, sofern sie orientiert sind, als ihre Bedeutung zugeordnet werden. Durch die Rede vom ursprünglichen Modell sollte ja vor allem zum Ausdruck gebracht werden, daß ein solches Modell nur von demjenigen gefunden werden kann, der die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt. Umgekehrt kann man die Funktion, wie jemand sie nur dann ausüben kann, wenn er diese Bedingung erfüllt, insofern als Manifestationsfunktion auszeichnen, als nur derjenige, der die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt, Handlungen, sofern sie orientiert sind, als solche manifest machen und sprachlichen Ausdrücken als ihre Bedeutung zuordnen kann.

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differenziert? Wir waren ja ursprünglich von der Frage ausgegangen, mit welchen sachlichen Gründen man Kants Unterscheidung zwischen der reinen Anschauung, speziell einer reinen räumlichen Anschauung und dem logisch gebrauchten Verstand rechtfertigen könne, wenn man den Sinn der R e d e von der reinen räumlichen Anschauung bzw. vom logisch gebrauchten Verstand als Bedingungen auffaßt, wie sie von jedem erfüllt werden, der Handlungsorientierungen bzw. Unter- und UberordnungsVerhältnisse zwischen Begriffen überhaupt und daher auch erstmals manifest machen, d. h. entdecken kann. Wir fragen jetzt also nicht mehr bloß, inwiefern die beiden Bedingungen verschieden sind, sondern wir möchten wissen, inwiefern die Behauptung, sie seien in dem angedeuteten Sinne verschiedenartig, richtig ist. Z u diesem Zweck braucht man nur noch zu bedenken, wie man die Werte syntaktischer ζ. B . satzbildender Funktionen, aber auch die Werte mathematischer Funktionen manifest macht. Man tut dies nämlich, indem man solche Werte jeweils mit Hilfe eines möglichst unverwechselbaren sprachlichen Ausdrucks — zumindest der Intention nach — eindeutig dokumentiert. In diesem Sinne belegt man den Wert ρ der Inklusion für die Argumente „ M e n s c h " und „ L e b e w e s e n " eindeutig mit Hilfe der Formulierung des Satzes „Menschen sind Lebewesen"; und in eben diesem Sinne belegt man den Wert χ der Multiplikation für die Argumente 3 und 4 eindeutig mit Hilfe des Ausdrucks „ 1 2 " . Man sieht aber sofort: ein Wert der Funktion, deren Argumente Handlungen sind, sofern sie orientiert sind und wie sie mit Hilfe einer Orientalen Kontextvariablen wie „ l i n k s " in der Formulierung eines Satzes intendiert werden können, kann grundsätzlich nicht mit sprachlichen Mitteln eindeutig belegt werden. D e n n , wenn die Werte dieser Funktion sinnenfällig manifeste Handlungsorientierungen sind, dann kann man diese Werte eindeutig ja nur ausweisen, indem man in einer jeweils ganz bestimmten Weise handelt, nämlich genau so-orientiert, wie derjenige es intendiert, der einen Ausdruck wie „ l i n k s " im Zusammenhang eines Satzes wörtlich verwendet. Diese Handlungen, wie sie für die Eindeutigkeit der Verwendung einer Orientalen Kontextvariablen jeweils notwendig sind, können aber als Handlungen offensichtlich durch keinen sprachlichen Ausdruck oder ein sonstiges D o k u m e n t oder Werk menschlicher Tätigkeit und auch durch keinen naturwüchsigen Gegenstand — kurz: durch nichts, was von einer Handlung verschieden wäre, ersetzt werden. Daher ist es zwar sinnvoll, einen definiten Satz wie „Menschen sind L e b e w e s e n " als Ergebnis einer Einsetzung des sprachlichen Ausdrucks

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„Lebewesen" in die Leerstelle „. . ." der Satzfunktion „Menschen sind . . ." aufzufassen. Aber eine Formulierung wie „Menschen benutzen vorzugsweise ihre rechte Hand" kann aus den dargelegten Gründen nicht sinnvoll als eine Satzfunktion aufgefaßt werden, die man dadurch in einen eindeutig entscheidbaren Satz überführen könnte, daß man gleichsam eine verborgene Leerstelle „. . ." der Form „Menschen benutzen vorzugsweise ihre . . . rechte H a n d " bzw. „Menschen benutzen vorzugsweise ihre rechte . . . H a n d " rekonstruieren könnte, in die man nur noch einen bestimmten sprachlichen Ausdruck einzusetzen hätte. Zwar liefert, genau genommen, die bloße Formulierung von „Menschen benutzen vorzugsweise ihre rechte H a n d " allein wegen der wörtlichen Verwendung der Orientalen Kontextvariablen „rechte" jeweils noch keinen eindeutig entscheidbaren Satz, aber nicht, weil noch wie ζ. B. in „Menschen sind . . ." eine (syntaktische) Argumentstelle leer wäre, sondern weil ihr Kontext noch leer ist: es fehlt nämlich genau diejenige sinnenfällig manifeste Handlungsorientierung, wie ihr Autor sie intendiert, wenn er die Variable „rechts" sinnvoll und eindeutig verwendet. Aber man kann die Handlung, wie jemand sie ausführt, wenn er die Verwendung einer solchen Orientalen Kontextvariablen eindeutig macht, ersichtlich nicht sinnvoll in einen sprachlichen Ausdruck einsetzen oder für einen sprachlichen Ausdruck, wie er im Zusammenhang einer anderen sprachlichen Formulierung verwendet wird, substituieren wollen. Insofern erfüllt jede Instanz, die den in jeweils genau einer sinnenfälligen Handlungsorientierung bestehenden Kontext eines sprachlichen Ausdrucks eindeutig von diesem sprachlichen Ausdruck unterscheiden kann und diesem sprachlichen Ausdruck bei jeder Gelegenheit seiner sinnvollen Orientalen Verwendung genau eine sinnenfällig manifeste Handlungsorientierung zuordnen kann, eine ganz andere Bedingung denn insofern, als sie Begriffe Α und Β von den sprachlichen Ausdrücken Α und Β eindeutig unterscheiden kann und dem subordinatorischen Verhältnis zwischen Begriffen Α und Β bei jeder Gelegenheit der sinnvollen Verwendung der sprachlichen Ausdrücke Α und Β genau einen satzmäßig wohlformulierten Ausdruck Ac Β bzw. BcA auf Grund gemeinsamer Merkmale der Begriffe Α und Β zuordnen kann. Wer eine Handlungsorientierung sinnvoll und eindeutig als solche manifest machen kann, erfüllt die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung; wer eine Subordination (Inklusion) zwischen Begriffen sinnvoll und eindeutig manifest machen kann, erfüllt die Bedingung des logisch brauchbaren Verstandes. In diesem Sinne kann man auch feststellen, daß die Bedeutung keines

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sprachlichen Ausdrucks, der als Inklusum oder als Inkludens fungieren kann, der Anschauung so nahe steht wie die Bedeutung orientaler Kontextvariablen; denn im Unterschied zu solchen inklusorischen Ausdrücken finden die Orientalen Kontextvariablen ihre Bedeutung ausschließlich in der Anschauung. 10 Wenn wir jetzt noch fragen wollen, wie man im Rahmen unseres Ansatzes Kants Unterscheidung zwischen reiner und empirischer räumlicher Anschauung gerecht werden kann, dann können wir auf Grund des Entwickelten von folgenden Voraussetzungen Gebrauch machen: (1) Die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung befähigt jeden, der sie erfüllt, dazu, Handlungen, sofern sie orientiert sind, als solche manifest zu machen. (2) Diese Bedingung befähigt jeden, der sie erfüllt und Ausdrücke wie „links", „rechts" und „inkongruent" überhaupt in den Mund nehmen kann, auch dazu, diesen Ausdrücken Handlungen, sofern sie orientiert sind, als ihre Bedeutung zuzuordnen. (3) Wenn jeder, der die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt, sprachlichen Ausdrücken Handlungen nicht nur insofern zuordnen kann, als sie orientiert sind, sondern ihnen Handlungen auch insofern, als sie orientiert und sinnenfällig manifest sind, als ihre Bedeutung zuordnen kann, dann kann man dieser funktionalen Differenz nur in dem Sinne Rechnung tragen, daß man sie so beschreibt: jeder, der die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt, kann eine Funktion ausüben, die darin besteht, daß er (a) sprachlichen Ausdrücken Handlungen, sofern sie orientiert sind, als Argumente dieser Funktion zuordnet und daß er (b) einigen von diesen sprachlichen Ausdrücken Handlungen, sofern sie orientiert und sinnenfällig manifest sind, als Werte dieser Funktion zuordnet. Ausdrücke, denen Handlungsorientierungen insofern zugeordnet werden, als sie sinnenfällig manifest sind, sind Orientale Kontextvariablen. (4) Handlungen, sofern sie orientiert sind, bilden den Argumentbereich dieser Funktion und Handlungen, sofern sie orientiert und sinnenfällig manifest sind, bilden den Wertebereich dieser Funktion.

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Es ist bemerkenswert, daß diese semantische Charakteristik der Orientalen Ausdrücke im wesentlichen mit Kants explikativen Bestimmungen des von ihm so genannten „conceptus infimus" übereinstimmt, vgl. z . B . WW XXIV, Vorl. ü. Logik, S. 910/911. Der Begriff des Linken ist demnach ebenso ein Beispiel für einen solchen conceptus infimus wie der Begriff des Rechten.

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§ 14. Reine und empirische räumliche Anschauung Wir hatten uns von Kant über den Unterschied zwischen der reinen räumlichen Anschauung und der empirischen räumlichen Anschauung durch die Bemerkung informieren lassen, daß die empirische räumliche Anschauung im Gegensatz zur reinen räumlichen Anschauung „. . . die Wahrnehmung von etwas Beweglichem voraus (setzt)" (KdrV A 41, Β 58). Nun setzt man aber bei dem, der eine Handlung oriental eindeutig vollführt, sogar noch mehr voraus als nur die Wahrnehmung wenigstens derjenigen beweglichen Gegenstände, deren er sich jeweils bedient, wenn er z.B. eine Links-Charakteristik eindeutig in die Tat umsetzt. Man setzt beispielsweise auch voraus, daß er sensorische Prozesse angemessen verarbeiten kann und motorische Prozesse angemessen bewältigen kann. Ebenso setzt man aber auch voraus, daß er über eine hinreichend hoch entwickelte sprachliche Kompetenz verfügt. Denn nur, wenn jemand sich in wohlformulierter Weise sprachlich artikulieren kann, ist es sinnvoll, im Hinblick auf ihn von einer ein deutigen Handlungsorientierung zu sprechen. Denn nur im Hinblick auf einen sprachlichen Ausdruck wie ζ. B. „links" kann sinnvoll davon die Rede sein, daß eine und nur eine sinnenfällige Orientierung einer Handlung, wie jemand sie jeweils ausführt, seine und nur seine Bedeutung ist. Vor allem die zuletzt erwähnte Voraussetzung kann jetzt deutlich werden lassen, daß wir bei unseren Überlegungen nicht etwa vergessen haben, der empirischen Anschauung, von der Kant so bestimmt spricht, den Einzugsbereich zu reservieren, in dem sie — und nur sie — nach Kant jedem jeweils das erschließt, „was im Raum nur durch Erfahrung gefunden werden kann" (KdrV A 41, Β 58). Man braucht nämlich bloß zu bedenken, daß die Handlungsweise, durch die man die Verwendung einer Orientalen Kontextvariablen jeweils eindeutig macht, stets auch noch andere Merkmale außer genau einem Orientalen Merkmal manifest werden läßt. Denn diese zusätzlichen nichtorientalen Merkmale hat man ja im Auge, wenn man wahrnimmt, daß jemand nach links geht — nämlich mit Hilfe seiner Beine — oder daß jemand nach links fährt — nämlich mit Hilfe eines in der Regel mehr-als-ein-rädrigen Gerätes — oder daß jemand nach links blickt — nämlich mit Hilfe seiner Augen — oder daß jemand nach links zeigt — nämlich mit Hilfe von Arm, Hand und Fingern. Wer aber das Gehen, Fahren, Blicken oder Zeigen eines Menschen oder irgendeines anderen handelnden Wesens sinnvoll und eindeutig auf seinen Orientalen Charakter und auf seinen Handlungscharakter hin anspricht, der macht

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das Gehen, Fahren, Blicken und Zeigen solcher Instanzen in Hinsicht auf Charaktere manifest, von denen man im Anschluß an das bisher schon Entwickelte in plausibler Weise zumindest fordern kann, daß sie zwei Bedingungen genügen: 1) ein orientaler Charakter und der Handlungscharakter sind nur dann nicht definitorische oder Wesensmerkmale des Gehens, Fahrens, Blickens oder Zeigens als solchem, wenn sie auch anderen Handlungsmodi eigentümlich sind; 2) Orientierungen und Handlungen können schon dann sinnvoll und eindeutig manifest gemacht werden, wenn sie sinnvoll und eindeutig im Hinblick aufeinander und also ganz unabhängig davon sinnvoll und eindeutig erwähnt werden können, ob sie auch sinnvoll und eindeutig im Hinblick beispielsweise auf das Gehen, Laufen, Blicken oder Zeigen erwähnt werden können oder nicht. Nun kann aber über die Frage, ob Orientierungen ursprünglich nur im Hinblick auf Handlungen sinnvoll erwähnt werden können und ob umgekehrt Handlungen unter räumlichen Gesichtspunkten nur durch Angabe von Orientierungen charakterisiert werden können oder nicht (Bedingung 2)), nicht dadurch entschieden werden, daß man Fälle des Gehens, Laufens usw. auf ihren Handlungscharakter und Orientalen Charakter hin durchmustert. Vielmehr muß die Alternative, die diese Frage aufstellt, offenbar deswegen von vornherein positiv entschieden sein, weil andernfalls niemand, der über diese Frage überhaupt auf dem Weg über Einzelbefunde entscheiden möchte, sinnvoll oder gar zielsicher Kandidaten für eine solche Musterung aufstellen, geschweige denn, eine Wahl unter ihnen treffen könnte. Denn, wer die Rede von Handlungen, sofern sie orientiert sind, nicht auch unabhängig von allen sinnenfällig manifesten Handlungsorientierungen — einem linksgerichteten Schritt oder einem rechtsgerichteten Sprung — sinnvoll und eindeutig finden kann, der kann eine sinnenfällig manifeste Handlungsorientierung auch von nichts unterscheiden, was weder eine Handlung noch orientiert ist; für ihn könnte daher z.B. die Hand, die jemand beim Handeln bewegt, noch ebenso sinnvoll als Handlung in Frage kommen, wie ζ. B. die Geschwindigkeit, mit der er seine Hand beim Handeln bewegt, sinnvoll als orientales Merkmal dieser als Handlung aufgefaßten Hand in Frage kommen kann. Für den, der eine sinnenfällig manifeste Handlungsorientierung überhaupt als solche oder darüber hinaus auch noch eindeutig charakterisieren kann, ist also die Rede von Handlungsorientierungen auch ganz unabhängig von irgendwelchen zur Musterung aufgerufenen sinnenfälligen Einzelkandidaten für eine solche Charakteristik auch schon sinnvoll und eindeutig insofern, als

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Orientierungen ursprünglich nur im Hinblick auf Handlungen sinnvoll erwähnt werden können und Handlungen unter räumlichen Gesichtspunkten sinnvoll nur durch Erwähnen orientaler Merkmale charakterisiert werden können. Denn ohne ein adäquates Verständnis der Rede von Handlungsorientierungen könnte er nach konkreten Beispielen sinnenfällig manifester Handlungsorientierungen noch nicht einmal sinnvoll fragen und suchen. Jemand mag sich über diesen kognitiven Bedingungszusammenhang, in dem er insofern steht, zwar immer noch täuschen. Er mag nämlich z . B . meinen, seine Zielsicherheit bei der Auswahl von Kandidaten zur Erhebung von Einzelbefunden über den Orientalen und den Handlungscharakter von etwas, was sowohl eine Handlung als auch orientiert ist, sei genau dann möglich, wenn er lediglich schon gehandelt und dabei irgendeine Richtung eingeschlagen hat. Nun sind eine konkrete Handlung und ihre Orientierung zwar in der Tat eine notwendige und hinreichende Bedingung dafür, daß jemand sie auch als solche sinnvoll und eindeutig charakterisieren kann. Aber eine Handlung und ihre Orientierung sind weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung dafür, daß jemand sie auch schon sinnvoll und eindeutig als solche charakterisieren kann. Wer eine Handlung und ihre Orientierung auch als solche charakterisieren kann, erfüllt vielmehr selber von vornherein eine Bedingung, wie sie notwendig und hinreichend dafür ist, daß er die Rede von einer Handlung, sofern sie orientiert ist, auch unabhängig von jeder sinnenfällig manifesten Handlungsorientierung in der erläuterten Form sinnvoll und eindeutig finden kann. Wer sich über diesen kognitiven Bedingungszusammenhang täuscht oder wer ihn sich lediglich noch nicht im einzelnen klar zu machen versucht hat, kann nach Kant, wie wir seine Raumtheorie interpretiert haben, vor allem darüber verständigt werden, daß er die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt. Diese Bedingung der reinen räumlichen Anschauung ist, so haben wir im Anschluß an Kant ausgeführt, notwendig und hinreichend dafür, daß der, der sie erfüllt, Handlungsorientierungen überhaupt als solche manifest machen kann. Wer die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt, kann, so haben wir in den §§ 12/13 mit einigen von Frege entwickelten begrifflichen Mitteln weiter zu differenzieren versucht, eine Manifestationsfunktion im Hinblick auf Handlungsorientierungen in zwiefältiger Weise ausüben: 1) er kann, indem er die Rede von Handlungsorientierungen auch als solche schon sinnvoll und eindeutig findet, den Argumentbereich manifest

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machen, auf dessen Grenzen diese Manifestationsfunktion durch die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung festgelegt ist; 2) und er kann, indem er sinnenfällig manifeste Handlungsorientierungen ebenfalls sinnvoll und eindeutig als solche charakterisiert, den Wertebereich dieser Manifestationsfunktion jeweils exemplarisch manifest machen. Und zwar kann er, wie wir zuletzt auseinandergesetzt haben, konkrete Beispiele für Handlungsorientierungen genau dann trefflich liefern, wenn ihm der Argumentbereich der Manifestationsfunktion, die er unter der von ihm erfüllten Bedingung der reinen räumlichen Anschauung sinnvoll und eindeutig ausüben kann, von vornherein in Form der für ihn sinnvollen und eindeutigen Rede von Handlungsorientierungen erschlossen ist. Da aber jemand, der sinnenfällig manifeste Handlungsorientierungen wie z . B . die Linksorientierung einer Handbewegung sinnvoll und eindeutig als solche charakterisieren kann, dies, wie Kant richtig bemerkt, im Hinblick auf empinsch zugängliche Zusammenhänge — sinnenfällige Existenz von Objekten — leisten kann, unterscheidet Kant auch terminologisch konsequent eine empirische räumliche Anschauung von der reinen räumlichen Anschauung. Diese empirische räumliche Anschauung unterscheidet sich nämlich von der reinen räumlichen Anschauung, wie man sich jetzt klar machen kann, nur insofern als jeder, der die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt und eine sinnenfällige Handlungsorientierung auch als solche eindeutig manifest gemacht hat, diese Bedingung auch im Hinblick auf nur empirisch zugängliche Umstände trefflich fungibel gemacht hat. Die empirische räumliche Anschauung ist die reine räumliche Anschauung, sofern sie im Hinblick auf sinnenfällig manifeste Handlungsorientierungen sinnvoll und eindeutig fungibel gemacht wird. Man sieht von hier aus auch sogleich, inwieweit es sich bewährt, wenn man im Hinblick auf die reine räumliche Anschauung im Sinne der von ihr geprägten Manifestationsfunktion differenziert hat und die Verschiedenartigkeit der Bereiche berücksichtigt hat, in denen jeder, der die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt, die ihm damit verliehene Entdeckungskompetenz betätigen kann: denn dem Argumentbereich dieser Manifestationsfunktion kann die reine räumliche Anschauung insofern zugeordnet werden als sie jedem, der die so genannte Bedingung erfüllt, gestattet, die Rede von einer Handlung, sofern sie orientiert ist, auch schon als solche sinnvoll und eindeutig zu finden; und dem Wertebereich dieser Manifestationsfunktion kann die reine räumliche Anschauung insofern zugeordnet werden, als sie jedem, der die so genannte Bedingung erfüllt, gestattet, eine Handlung, sofern sie orientiert ist,

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jeweils auch unter Bedingungen der Erfahrung sinnvoll und eindeutig manifest zu machen. Man begeht daher auch nicht etwa einen Fehler und entstellt die von Kant gezogene Grenze zwischen den Einzugsbereichen der reinen und der empirischen räumlichen Anschauung, wenn man sinnenfällig manifeste Handlungsorientierungen in den Intentionsbereich der reinen räumlichen Anschauung fallen läßt. Einen Fehler würde man hier vielmehr dann begehen, wenn man den Einzugsbereich der reinen räumlichen Anschauung mit dem Einzugsbereich der empirischen räumlichen Anschauung identifizieren würde. Aber gegen diesen Fehler ist man von vornherein gefeit, wenn man berücksichtigt, daß der reinen räumlichen Anschauung funktional verschiedene Einzugsbereiche zugeordnet sind. Wenn es in diesem Zusammenhang zunächst aber doch so aussehen konnte, als wenn man die sinnenfälligen Handlungsorientierungen in einer von Kants Raumtheorie verbotenen Weise in den Intentionsbereich der reinen räumlichen Anschauung fallen läßt, so lag das vielmehr daran: es kann nämlich so aussehen, als wenn es sich bei der von Kant so genannten „empirischen räumlichen Anschauung" in einem stärkeren als in einem bloß funktionalen Sinne um eine andersartige Anschauung handelt als bei der von ihm so genannten „reinen räumlichen Anschauung". Für diese Annahme gibt es aber zumindest so lange keine ausreichenden Gründe, wie diese Unterscheidung sich in befriedigender Weise als eine bloß funktionale Unterscheidung beschreiben läßt. Worauf es hier ankommt, ist dann nur dies, sich klar zu machen, daß Kant unter dem Namen der empirischen räumlichen Anschauung dieselbe Bedingung anspricht wie unter dem Namen der reinen räumlichen Anschauung. Ein Unterschied besteht dann nur darin, daß der, der diese Bedingung erfüllt, diese Bedingung in unterschiedlicher Weise fungibel machen kann: sowohl im Hinblick auf Handlungen, sofern sie orientiert sind, wie auch im Hinblick auf Handlungen, sofern sie orientiert sind und sinnenfällig manifest sind. Abschließend wollen wir unter Gesichtspunkten der logischen Syntax noch kurz einen Seitenblick auf die Struktur der Sprache werfen, in der Ausdrücke wie „eine Handlungsorientierung", „eine linksorientierte Handlung", „ein linksorientiertes Gehen" usw. verwendet werden. Zu diesem Zweck ist es instruktiv, (a) einen Unterschied wie den zwischen der Rede von einer „linksorientierten Handlung" und der Rede von einem „linksorientierten Gehen" sowie (b) die Tatsache zu berücksichtigen, daß wir normalerweise jeweils davon reden, daß, jemand ζ. Β. nach links geht. Dieser Zusammenhang legt es nahe, eine Orientale Kontextvariable wie „links" als

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Prädikat aufzufassen, das im Hinblick auf Orientierungen verwendet wird, und Ausdrücke wie „Handlung" bzw. „handeln" als Prädikate aufzufassen, wie sie im Hinblick auf Personen verwendet werden; Ausdrücke wie „gehen", „laufen" usw. können dann als Prädikatkonstante aufgefaßt werden, die für den als Prädikatvariable aufzufassenden Ausdruck „Handlung" bzw. „handeln" eingesetzt werden dürfen. Man erhält unter diesen Voraussetzungen Ausdrücke wie (1) L (O(H)) — „eine linksorientierte Handlung" — und durch Konstantensubstitution (2) L (O(Gehen)) „ein linksorientiertes Gehen" — und durch Erweiterung (3) L(0(geht(P))) „irgendjemand (irgendeine Person) geht nach links" — und durch Quantorenbindung (4) ( 3 P) (L (0(geht(P)))) — „wenigstens eine bestimmte Person geht nach links" — und durch Einsetzung einer Individuenkonstante, eines Namens (5) L (0(geht(Karl))) „Karl geht nach links". Jede der Formulierungen (1) — (5) kann offenbar als Konkretisierung der Formulierung (6) O(H) „Handlungsorientierung" aufgefaßt werden. Unter den Vorzeichen von Kants Raumtheorie, wie wir sie hier interpretiert haben, kann man die Formalisierungen (1) — (6) der Sache nach aber auch noch durch die folgenden Überlegungen fruchtbar machen: nur jemand, der die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt, kann ein Gebilde wie (6) „O(H)" sinnvoll und eindeutig auf Handlungen, sofern sie orientiert sind, beziehen, er kann, wie man ja in der formalen Logik beim Ubergang von einem Kalkül zum gedeuteten Kalkül, d.h. zur Sprache, auch sagt, das Gebilde „O(H)" so interpretieren, daß „O" sich als Prädikat auf Orientierungen von Handlungen und „H" sich als Prädikat(-variable) auf Handlungen (von Personen) bezieht. Der Ubergang von einem Kalkül, in dem (1) — (6) wohlformulierte Ausdrücke sind, zu einem gedeuteten Kalkül, in dem (1) — (6) inhaltlich sinnvolle Formulierungen einer bestimmten Sprache — über Orientierungen, Handlungen und Akteure — sind, läßt sich so als ein einfaches formales Modell jener Manifestationsleistung verstehen, wie jeder sie jeweils erbringt, wenn er Formulierungen wie (1) — (6) inhaltlich sinnvoll und eindeutig verwendet.

Uber transzendentale Grammatik

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Analog kann man die Operationen deuten, wie man sie vornimmt, wenn man, ausgehend von (6), zu (1), (2), (3), (4) und schließlich zu (5) gelangt. Denn das Ergebnis jeder dieser Operationen läßt sich in unserem Rahmen als das sprachliche Dokument jener Leistung auffassen, durch die jeder, der die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt, eine linksorientierte Handlung als solche (1), ein linksorientiertes Gehen als eine solche Handlung (2), irgendeine Person, die nach links geht, als einen solchen Akteur (3), wenigstens eine bestimmte Person, die nach links geht, als einen solchen Akteur (4) und ein Individuum namens Karl, wie es nach links geht, als solchen Akteur (5) manifest macht. Jede dieser Operationen, wie man sie im Rahmen der so gedeuteten Ausdrücke dieser Sprache vornehmen kann, gibt insofern ein einfaches formales Modell der Manifestation von Handlungen ab, sofern sie orientiert bzw. von jemand in einer jeweils bestimmten oder noch nicht bestimmten Richtung vollführt werden. Die Sonderstellung der Formulierungen (4) (3P)(L(0(geht(P)))) und (5) L (geht(Karl))) sei hier eigens betont. Denn normalerweise geht ja in der Prädikatenlogik erster Stufe eine als Satzfunktion verstandene Formulierung durch Ersetzen ihrer freien Individuenvariable durch eine Individuenkonstante oder durch Quantorenbindung in einen definiten Satz über. Das ist beim Ubergang von (3) nach (4) bzw. (5) im Anschluß an unsere inhaltlichen Uberlegungen in den §§ 12/13 aber alleine schon wegen der Verwendung der Orientalen Kontextvariable „ L " in (4) und (5) prinzipiell nicht möglich.

§ 15. Über transzendentale

Grammatik

An dieser Stelle ist es nun zweckmäßig und auch zum ersten Mal einigermaßen genau möglich, einen Grundgedanken aus Kants Theorie des geometrischen Gegenstandes, wie wir sie hier darstellen wollen, in den Gedankengang einzubeziehen. Dazu greifen wir einmal vor und deuten an, wie nach Kant die Formulierungen inhaltlich aufzufassen sind, in denen die Begriffe solcher geometrischen Gegenstände wie der Geraden, des Kreises, der Kugel usw. definiert werden. Dieser Vorgriff wird, sofern es nötig ist, auch dem Verständnis des Zusammenhanges nützen, in dem unsere bisherigen Ausführungen mit dem Hauptthema unserer Unter-

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Kontext und Kontextinvarianz in Kants Raumtheorie

suchung stehen. Denn es kann ja ohne weiteres zugegeben werden, daß die detaillierten Überlegungen, wie wir sie bisher angestellt haben, sich manchmal wohl fast unmotiviert umständlich ausnehmen können, solange man auf den roten Faden, der zu Kants Begriff des geometrischen Gegenstandes führen soll, nicht immer wieder einmal ausdrücklich aufmerksam gemacht worden ist. Daher kurz und bündig: wir wollen plausibel machen, inwiefern sich der Student von Kants Mathematiktheorie den bei Kant intendierten Begriff des geometrischen Gegenstandes klar machen kann, indem er vor allem auf Kants gelegentliche Praxis eingeht, Handlungen zu charakterisieren, indem er räumliche Orientierungen im Hinblick auf sie erwähnt. Auf der Linie von Kants Intentionen ist es nämlich, wie gezeigt werden soll, möglich, die Definitionen von Begriffen geometrischer Gegenstände inhaltlich grundsätzlich als Formulierungen zu verstehen, in denen Handlungen oriental, d. h. in der Weise charakterisiert werden, daß im Hinblick auf sie bestimmte Orientierungen erwähnt werden. Demnach sind solche Definitionen Orientale Handlungscharakteristiken. Vor diesem Hintergrund ist es jetzt am wichtigsten festzuhalten, daß mit Hilfe von Ausdrücken wie „links" und „rechts" Handlungen oriental charakterisiert werden können und daß die Eindeutigkeit der Verwendung solcher Orientalen Ausdrücke insofern jeweils von dem in genau einer sinnenfällig manifesten Handlung bestehenden Kontext des Satzes abhängt, in dessen Formulierung so ein Ausdruck verwendet wird. Handlungen können mit Hilfe solcher Ausdrücke also weder unabhängig vom jeweiligen Kontext oriental eindeutig charakterisiert werden, noch können solche Ausdrücke invariant gegenüber diesen möglichen Handlungskontexten des Satzes, in dessen Formulierung sie jeweils verwendet werden, eindeutig verwendet werden. Geht man aber von Orientalen Handlungscharakteristiken aus, wie man sie mit solchen Orientalen Kontextvariablen liefern kann, dann ist leicht zu sehen, was man von einer Orientalen Handlungscharakteristik in formaler Hinsicht mindestens zu fordern hat, wenn ihre Formulierung sich zur Definition eines geometrischen Gegenstandsbegriffes soll eignen können: im Gegensatz nämlich zur Rede beispielsweise von einer „linksorientierten Handlung" dürfte man eine Handlungsorientierung im geometrischen Sinne nicht mit von Formulierung zu Formulierung prinzipiell variablem Kontext intendieren, sondern müßte sie grundsätzlich kontextunabhängig und kontextinvariant eindeutig treffen können. Die sachliche Berechtigung, ja, Unerläßlichkeit dieser formalen Anforderung ist nicht schwer

Über transzendentale Grammatik

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einzusehen: wenn man sich beispielsweise auf den Kreis oder auf die Kugel — vorausgesetzt, daß sie bloß gleichsam verbal maskierte Orientale Handlungscharaktere sind — nur dann eindeutig beziehen könnte, wenn man jeweils auch einen stets wieder von neuem festzulegenden Handlungskontext berücksichtigt, in dem die Terme „Kreis" und „Kugel" gerade verwendet werden mögen, dann könnten die geometrischen Theoreme, die ja mit Hilfe dieser Terme formuliert werden, prinzipiell gar nicht beweisbare Sätze sein. Denn die Formulierungen dieser Theoreme würden dann ja prinzipiell vieldeutig ausfallen und könnten insofern noch nicht einmal definite Vollsätze darstellen, sondern könnten lediglich Gebilde sein, die mit den sog. Satzfunktionen auf einer Stufe stehen. Aber ein von einem entscheidbaren Satz verschiedenes Gebilde, das ζ. B. einer Satzfunktion analog ist, kann auch kein beweisbarer Satz sein. Daher ist die kontextfreie Eindeutigkeit 11 von sprachlichen Ausdrücken, sofern mit ihrer Hilfe Orientale Handlungscharakteristiken formuliert werden und geometrische Gegenstandsbegriffe sollen definiert werden könen, eine notwendige Bedingung der Beweisbarkeit von Sätzen, die mit Hilfe dieser Ausdrücke formuliert werden und mit denen Behauptungen über Gegenstände aufgestellt werden, die unter diese geometrischen Begriffe fallen. Von hier aus kann man die Aufgabe, die Kant sich mit der bei ihm intendierten Theorie des geometrischen Gegenstandes gestellt hat, in der Frage zusammenfassen: ,Können Orientale Handlungscharakteristiken insofern, als sie Definitionen geometrischer Gegenstandsbegriffe sollen abgeben können, kontextfrei eindeutig formuliert werden oder nicht?' Wenn man auf dem hier eingeschlagenen Weg dahin gelangt ist, eine Formel für das Programm zu finden, aus dem die Kant unterstellte Theorie des geometrischen Gegenstandes soll hervorgehen können, dann besteht angesichts der von Kants Texten gesprochenen Sprache, wie jeder Kenner sofort bemerken wird, wenig Aussicht, daß man das Zeugnis eines dieser Texte unmittelbar auf seiner Seite haben wird. Denn auch dann, wenn die Antwort auf Kants eigene programmatische Frage nach der Möglichkeit der synthetischen Urteile apriori in der euklidischen Geometrie die Antwort auf die von uns eben formulierte Frage als Teilantwort voraussetzt, wird man aus der Programmformel Kants schwerlich verwandte Töne heraushören können. Das ist ja auch nicht weiter ver11

Der Einfachheit halber werde ich gelegentlich von der kontextfreien Eindeutigkeit eines sprachlichen Ausdrucks reden und die kontextinvariante und kontextunabhängige Eindeutigkeit eines solchen Ausdrucks meinen.

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Kontext und Kontextinvarianz in Kants Raumtheorie

wunderlich. Denn Kant ist zu seiner die Geometrie betreffenden Leitfrage —jedenfalls nach dem Zeugnis der Texte — gewiß nicht dadurch gelangt, daß er die Struktur von Sätzen im einzelnen analysiert hätte, die — wie unser Ergebnis lehrt — allein schon wegen einer in ihrer Formulierung verwendeten Orientalen Kontextvariablen prinzipiell nicht eindeutig entschieden werden können und die nur dadurch eindeutig entschieden werden können, daß man auf einen prinzipiell wechselhaften nichtsprachlichen Kontext, ursprünglich auf einen Handlungskontext Bezug nimmt. Man sollte angesichts solcher Divergenzen allerdings nicht vorschnell argwöhnen, Kants mathematiktheoretische Leitfrage und die von uns vorgeschlagene Programmformel könnten in inhaltlicher Hinsicht prinzipiell nicht auf einer und derselben Linie liegen. Zunächst bietet sich ja erst einmal noch eine andere Möglichkeit an zu prüfen, ob und wenn ja wie man sich am Leitfaden der hier vorgeschlagenen Frage nach der Struktur geometrischer Gegenstände in einleuchtender Weise in den sachlichen Zusammenhang und in den Text von Kants transzendentaler Theorie des geometrischen Gegenstandes einfädeln kann. Denn wir bringen aus unseren bisherigen Auseinandersetzungen ja nicht nur einige inhaltlich bestimmte Voraussetzungen mit, die uns erlauben, die erwähnte Frage an Kants Texte zu richten. Darüber hinaus können wir nämlich auch noch unter Gesichtspunkten der bisher verfolgten Methode zusehen, ob und wenn ja inwiefern wir auf diesem Weg den richtigen Anschluß an Kants eigenen Ansatz gefunden haben. Freilich wird jetzt mancher warnend vorhersagen wollen, daß man eigentlich nur noch vom Regen in die Traufe kommen könne, wenn man im Anschluß an unser bisheriges Vorgehen ausgerechnet unter Gesichtspunkten der Methode in Ubereinstimmung mit Kants Ansatz zu einer Theorie des geometrischen Gegenstandes zu kommen versucht. Denn, so könnte man argumentieren, einmal abgesehen davon, daß Kants Stärke sich nirgends schwächer zeige als in einer umsichtigen reflexiven Klärung jeweils vollzogener und zu vollziehender Gedankenschritte, könne doch kaum eine andere Methode ein weniger angemessenes Bild von den eigentümlichen Wegen der transzendentalen Reflexion vermitteln als die Methode, sprachliche Formulierungen unter Gesichtspunkten von Pragmatik, Semantik oder Syntax zu analysieren. Allenfalls in verschwindend wenigen, fast schon exotisch anmutenden Gelegenheitsbemerkungen Kants könne man, wenn man schon aus dieser Richtung kommt, Berührungspunkte aufspüren.

Über transzendentale Grammatik

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Statt vieler Wenns und Abers setze ich einmal ein längeres Textstück im Zusammenhang hierher, dem man entnehmen kann, wie Kant seine Studenten im Kolleg gelegentlich an „Die transzendentale Philosophie" herangeführt hat: „Die transcendentale Philosophie ist die Philosophie der Principien, der Elemente der menschlichen Erkentnisse a priori. Dies ist zugleich der Grund wie eine Geometrie a priori möglich ist. Es ist aber sehr nöthig zu wissen, wie eine Wissenschaft aus uns selbst kann hervorgebracht werden, und wie der menschliche Verstand so etwas hat hervorbringen können. Diese Untersuchung wäre wohl in Ansehung der Geometrie nicht so nöthig, wenn wir nicht andere Erkenntnisse a priori hätten, die uns sehr wichtig und interessant sind; ζ. B. vom Ursprung der Dinge, vom Nothwendigen und Zufälligen, und ob die Welt nothwendig sey oder nicht. Diese Kenntnisse haben nicht solche Evidenz, wie die Geometrie. Wollen wir daher wissen, wie eine Kenntniß vom Menschen a priori möglich ist; so müssen wir alle Erkenntnisse a priori unterscheiden und untersuchen; alsdann können wir die Grenzen des menschlichen Verstandes bestimmen, und alle Chimairen, die sonst in der Metaphysik möglich sind, werden unter be/stimmte Principien und Regeln gebracht. Nun theilen wir aber die Principien der menschlichen Erkenntniß a priori ein: 1) in die Principien der Sinnlichkeit a priori, und dies ist die transcendentale Aesthetik, welche die Erkenntniß und Begriffe a priori von Raum und Zeit in sich faßt; und 2) in die Principien der intellectuellen menschlichen Erkenntniß a priori, und dies ist die transcendentale Logik. Diese Principien der menschlichen Erkenntniß a priori sind die Kategorien des Verstandes, . . . und diese erschöpfen alles das, was der Verstand a priori in sich faßt, von denen aber hernach noch andere Begriffe können abgeleitet werden. Würden wir die transcendentalen Begriffe so zergliedern; so wäre dies eine t r a n s c e n d e n t a l e G r a m m a t i k , die den Grund der menschlichen Sprache enthält; ζ. B. wie das praesens, perfectum, plusquamperfectum in unserem Verstände liegt, was adverbia sind usw. Uberdächte man dies, so hätte man eine transcendentale Grammatik" (WWXXVIII. 2. 1, Vorl. üb. Met., S. 576/577).12 12

„Fremdartiger . . . wirkt auf den ersten Blick die Ausführung über transcendentale Grammatik . . . " kommentiert B. Erdmann diese Stelle aus Pölitz' Metaphysiknachschrift (Erdmann-Zitat in: Kant, WW XXVIII, 2.2, Met. Vorl., S. 1521). - Die richtige Datierung der Vorlesung Kants, auf die das zitierte Stück aus Pölitz' Nachschrift zurückgeht, ist zwischen B. Erdmann und E. Arnold heftig umstritten gewesen (vgl. zu dieser

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Kontext und Kontextinvarianz in Kants Raumtheorie

Es liegt auf der Hand, daß uns dieser Wink Kants zunächst vor allem insofern interessiert, als man in der transzendentalen Grammatik, wie sie Kant hier vorschwebt, unter anderem auch darüber soll verständigt werden können, „was adverbia sind". Denn mit den Überlegungen, wie wir sie im § 12 angestellt haben, haben wir ersichtlich eine mögliche Antwort auf die Frage gegeben, was Adverbien wie „links" und „rechts" unter Gesichtspunkten von Syntax, Semantik und Pragmatik sind. Die von uns vorgeschlagene Antwort stimmt aber mit der Antwort, wie die von Kant erwogene transzendentale Grammatik sie soll ermitteln können, jedenfalls insofern überein, als auch wir über die bloße Feststellung der Wortarten-Grammatik, daß Worte wie „links" und „rechts" Adverbien sind, hinausgegangen sind, indem wir gefragt haben, als was diese Adverbien unter Gesichtspunkten der Syntax, Semantik und Pragmatik zu charakterisieren sind. 13 Ich rekapituliere kurz: 1. Adverbiale Ausdrücke wie „links" und „rechts" fungieren in satzmäßigen Formulierungen als Prädikate von Prädikatenprädikaten (Syntax). 2. Adverbiale Ausdrücke wie „links" und „rechts" charakterisieren Handlungen, sofern sie orientiert sind; 2.1. sie fungieren als Variable, 2.2. deren eindeutige Verwendung jeweils von dem in genau einer Handlungsorientierung bestehenden Kontext des Satzes garantiert wird, in dessen Formulierung einer von diesen Ausdrücken jeweils verwendet wird; sie können insofern „Orientale Kontextvariablen" genannt werden (Semantik). 14 3. Adverbiale Ausdrücke wie „links" und „rechts" können nur von demjenigen sinnvoll und eindeutig in der Formulierung eines Satzes verwendet werden, der die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt und insofern auch einen in einer sinnenfälligen Handlungsorientierung bestehenden Kontext dieses Satzes als solchen manifest machen kann (Pragmatik).

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Kontroverse das knappe Referat von G. Lehmann in: Kant, W W XXVIII, a. a. Ο. S. 1340/ 1343). Zu der Frage, weswegen man Kants hier vorgetragene Erwägungen über transzendentale Grammatik gleichwohl sachlich völlig ernst nehmen kann und sie entwicklungsgeschichtlich nicht zu relativieren braucht, vgl. S. 179 l s meiner Untersuchung. Dabei ist allerdings die Feststellung, daß Ausdrücke wie „links" und „rechts" Adverbien sind, durch deren Verwendung ursprünglich Handlungen im Hinblick auf räumliche Orientierungen bestimmt werden, selber nicht trivial, vgl. auch S. 109/110. Wenn dies richtig ist, dann ist die Behauptung falsch, daß in Sätzen der natürlichen Sprachen keine Variablen auftreten, wie es ζ. B. von D. Lewis (1970) noch einmal erwogen wird (Lewis, S. 176).

Uber transzendentale Grammatik

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Aber hören wir in diesem Zusammenhang zunächst noch, wie Kant nicht nur seine Studenten im Kolleg gelegentlich mit Fragestellungen der Transzendentalphilosophie vertraut zu machen versucht hat, sondern wie er die Transzendentalphilosophie auch „für künftige Lehrer" so erläutert hat, daß es ihnen dazu dienen kann, nicht etwa „den Vortrag einer schon vorhandenen Wissenschaft anzuordnen, sondern . . . diese Wissenschaft (die Metaphysik, R. E.) selbst allererst zu erfinden" (WW IV, Prol., S. 255)! „Aus der gemeinen Erkenntnis die Begriffe heraussuchen, welche gar keine besondere Erfahrung zum Grunde liegen haben und gleichwohl in aller Erfahrungserkenntnis vorkommen, . . . setzt kein größeres Nachdenken oder mehr Einsicht voraus, als aus einer Sprache Regeln des wirklichen Gebrauchs der Wörter überhaupt heraussuchen und so Elemente zu einer Grammatik zusammentragen (in der Tat sind beide Untersuchungen einander auch sehr nahe verwandt)" (a. a. O. S. 322/323).15 Wieder können wir uns durch diesen Arbeitsbericht Kants vorschreiben lassen, was für eine Bedingung die von uns bisher angestellten Überlegungen zu erfüllen haben, wenn sie in die von Kant geforderte transzendentale Grammatik sollen passen können. Dazu genügt es zunächst, daß man sich klar macht, inwiefern diese Überlegungen ,sehr nahe verwandt' mit Bemühungen sind, durch die man zur Formulierung von Regeln des wirklichen Gebrauchs von Wörtern wie „links" und „rechts" gelangt. Auch in diesem Sinne fällt es uns leicht nachzuweisen, daß wir nur ein bestimmtes Pensum von Kants transzendentaler Grammatik absolviert haben. Zunächst haben wir an Kants Leitfaden sogar noch zur WortartenGrammatik selber beitragen können. Denn wir haben ja erläutert, inwiefern die Ausdrücke „links" und „rechts" sogar in solchen Zusammenhängen streng genommen Adverbien sind, wo sie wie in „linke Hand" bzw. „rechte Hand" Adjektive zu sein scheinen; sie bilden in solchen Zusammenhängen nämlich lediglich gleichsam Stenogramme orientaler Charakteristiken von sinnenfällig manifesten Handlungen, wie sie den jeweils erwähnten Gegenständen, also beispielsweise einer Hand, eindeutig zugeordnet werden können (vgl. bes. S. 150/151). Zu diesem Ergebnis kann man aber ersichtlich grundsätzlich nicht dadurch gelangen, daß man auf 15

Diese Bemerkung Kants in den „Prolegomena" macht die sachliche Tragfähigkeit seines Gedankens einer transzendentalen Grammatik ersichtlich unempfindlich gegen den Ausgang der Kontroverse um die richtige Datierung des zitierten Stückes aus der Pölitzschen Metaphysiknachschrift (vgl. S. 177 1 2 ), aus dem hervorgeht, daß Kant seine Studenten auch im Kolleg gelegentlich mit Hilfe dieses Motivs einen Zugang zur Transzendentalphilosophie finden lassen wollte.

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Kontext und Kontextinvarianz in Kants Raumtheorie

den wirklichen Gebrauch der Wörter achtet. 16 Denn der wirkliche Gebrauch der Wörter „links" und „rechts" in Ausdrücken wie „linke Hand" und „rechte Hand" bietet ja allenfalls unter bestimmten Voraussetzungen Gelegenheit zu der Feststellung, daß diese Form ihres Gebrauchs ernst zu nehmende Anhaltspunkte weder im Hinblick auf die syntaktischen, noch im Hinblick auf die semantischen, noch im Hinblick auf die pragmatischen Eigenschaften dieser Wörter gibt. Aber diese Voraussetzungen muß man dann auch bereits anderweitig mitbringen und kann sie nicht aus der in diesem Punkte entweder irreführenden oder in Verlegenheit geratenden und Ausnahmeregeln ersinnenden WortartenGrammatik gelernt haben. 17 Uberschlagen wir nämlich rückblickend noch einmal den Gedankengang der §§ 3/14, dann kann man im Anschluß an Kant ja gerade darüber verständigt werden, inwiefern eine sprachimmanente Analyse des Sprachgebrauchs hier prinzipiell nicht zu einer befriedigenden Klärung der Sachlage führen kann. Denn nach Kant bringt nur der, der auch die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt, jene sprachtranszendente Voraussetzung mit, unter der er Handlungen, sofern sie orientiert sind, als solche manifest machen und insofern auch von sprachlichen Ausdrücken wie „links" und „rechts" unterscheiden kann, mit deren Hilfe er Handlungsorientierungen gleichwohl intendieren mag und denen er sinnenfällig manifeste Handlungsorientierungen je nach Bedarf um der eindeutigen Verwendung dieser Ausdrücke willen auch zuordnen kann. Nur, wer eine solche kognitive Mitgift jeweils trefflich fungibel machen kann, braucht sich daher vom wirklichen Gebrauch dieser Wörter auch nicht auf Dauer im Hinblick auf die syntaktischen, semantischen und pragmatischen Formen beirren zu lassen, denen auch der wirkliche Gebrauch dieser Wörter streng genommen seinen Sinn und seine Eindeutigkeit verdankt. Überlegungen wie die von uns angestellten sind daher in dem Sinne mit Betrachtungen der Wortartengrammatik ,sehr nahe verwandt', daß sie 16

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Noch nicht einmal in solchen über die Möglichkeiten der Wortartengrammatik prinzipiell hinausgehenden Darstellungen wie bei Lyons (1969) und wie bei v. Kutschera (1975) werden Ausdrücke wie „links" und „rechts" als Adverbien erwähnt, wie sie zur eindeutigen räumlichen Bestimmung von Handlungen verwendet werden (vgl. Lyons, bes. S. 325ff.; v. Kutschera, S. 241/242); vgl. zur adverbialen Funktion solcher Ausdrücke Steinitz (1973), S. 154/179, bes. S. 164/165. Erst mit der Möglichkeit, Wortarten im Hinblick auf die logischen Kategorien der unter sie fallenden Ausdrücke zu untersuchen, ist, wie v. Kutschera betont, auch eine Möglichkeit gegeben, an den Klassifikationen der Wortartengrammatik in lehrreicher Weise sachlich orientierte Kritik zu üben (vgl. v. Kutschera 1975, S. 242).

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selber zu einer Behauptung berechtigen, die in der Wortartengrammatik einschlägig ist; und sie unterscheiden sich von Betrachtungen der Wortartengrammatik insofern, als die Prüfung des wirklichen Gebrauchs der Wörter „links" und „rechts" keine hinreichende Bedingung dafür ist, daß man zu den syntaktischen, semantischen und pragmatischen Einsichten gelangt, die einen zu dieser Behauptung berechtigen. Berücksichtigt man außerdem, daß Orientale Kontextvariablen, „es mag in dieser oder in jener Sprache sein" (WW XXVIII. 2.2, S. 1521), Handlungsorientierungen als solche zu charakterisieren gestatten, dann ist klar, daß die Betrachtung des wirklichen Gebrauchs der deutschen Wörter „links" und „rechts" noch nicht einmal eine notwendige Bedingung dafür ist, daß man die verkappte Adverbialform des Gebrauchs solcher Orientalen Kontextvariablen in zusammengesetzten Ausdrücken wie „linke H a n d " und „rechte H a n d " durchschauen kann. Von hier aus betrachtet, ist es denn auch nur konsequent, wenn Kant die Leistungsfähigkeit der angedeuteten transzendentalen Grammatik dadurch beleuchtet, daß er betont, inwiefern eine Wortartengrammatik prinzipiell nicht Belehrungen umfassen könne, wie sie auf jede Sprache zutreffen. Denn im Unterschied zu dieser transzendentalen Grammatik gelangt die Wortartengrammatik sogar zur Formulierung einer allgemeingültigen Regel wie der, wonach Ausdrücke wie „links" und „rechts" als Adverbien verwendet werden, „ohne doch eben Grund angeben zu können, warum eine jede Sprache gerade diese . . . formale Beschaffenheit habe" (WW IV, Prol., S. 323). Können wir denn nun aber an Hand der Ergebnisse, zu denen wir in der Auseinandersetzung mit Kants Thesen und Texten bisher gelangt sind, auch schon begründen, warum jede Sprache gerade diese formale Beschaffenheit, Orientale Kontextvariablen ausgebildet zu haben, habe — wenn sie diese formale Beschaffenheit hat? Ich finde, ja. Denn wir können jetzt plausibel argumentieren, daß jede Sprache, die Orientale Kontextvariablen ausgebildet hat, insofern das Werk einer Instanz ist, die nicht nur sprechen und handeln kann, sondern darüber hinaus auch noch die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt, die ihr gestattet, wohlgebildete sprachliche Ausdrücke sinnvoll und eindeutig als Orientale Kontextvariablen zu verwenden. Obwohl die von uns in den §§ 12/13 angestellten Überlegungen nicht in einem inhaltlichen Zusammenhang mit irgendwelchen für Kant literarisch belegbaren Überlegungen stehen, kann man mit ihnen dennoch in exemplarischer Weise den Methodengedanken im einzelnen beleben, auf

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Kontext und Kontextinvarianz in Kants Raumtheorie

den Kant gelegentlich unter dem Stichwort „transzendentale Grammatik" angespielt hat. Daher können wir offen lassen, ob die transzendentale Grammatik am Beispiel der Adverbien „links" und „rechts" nur so durchgeführt werden kann oder nicht, wie wir es vorgemacht haben; und wir brauchen ebenfalls nicht zu entscheiden, ob auch Kant sie in diesem Zusammenhang entwickelt hätte, wenn er mit einigen einschlägigen Elementen der formalen Semiotik vertraut gewesen wäre, wie sie von Frege bis in unsere Tage erarbeitet worden sind. Immerhin können wir nun feststellen, daß die Überlegungen, wie wir sie in den §§ 12/13 angestellt haben, Kant prinzipiell nicht weniger nahe gelegen haben können als der von ihm geäußerte Gedanke, daß zumindest einige zentrale Stücke der Transzendentalphilosophie in einer Weise Gestalt annehmen können, die aus noch genauer zu bestimmenden Gründen den Namen einer transzendentalen Grammatik verdient. Wir wollen es uns aber nicht zu leicht machen. Daher soll auch noch die Frage, inwiefern denn nun die Überlegungen unserer §§ 12/13 unter transzendentalen Gesichtspunkten zu einer Grammatik gehören, vorläufig noch auf sich beruhen bleiben. Eine Antwort wäre jetzt zwar an sich nicht mehr schwierig. Aber wir wollen sie doch zusätzlich noch davon abhängig machen, daß der bisher gewählte Ansatz sich letzten Endes auch bei dem Versuch bewährt, direkt in den von Kant auch literarisch so apostrophierten transzendentalen Kontext und von dort speziell in die Theorie des geometrischen Gegenstandes zu finden. Hören wir noch einmal, wie Kant über die Arbeit berichtet, die er für so ähnlich wie eine grammatische Untersuchung hält! „Bei einer Untersuchung der reinen (nichts Empirisches enthaltenden) Elemente der menschlichen Erkenntnis gelang es mir allererst nach langem Nachdenken, die reinen Elementarbegriffe der Sinnlichkeit (Raum und Zeit) von (allen anderen Begriffen, R.E.) mit Zuverlässigkeit zu unterscheiden und abzusondern" (WW IV, Prol., S. 323). Kant erinnert in diesem Zusammenhang daran: „Aristoteles hatte zehn solcher reinen Elementarbegriffe unter dem Namen der Kategorien zusammengetragen" (ib). Aufgrund der Ergebnisse von Kants eigenen Untersuchungen „werden nun aus jenem Register (der zehn aristotelischen Kategorien, R.E.) die 7., 8., 9. Kategorie ausgeschlossen" (ib.); davon sind also die Begriffe des „Quando . . . Ubi . . . Situs" bzw. des „Wann . . . W o " und der „Lage" (a.a.O. S. 323, Fußnote) betroffen. Selbstverständlich haben wir uns hier vor allem für die Begriffe vom Raum zu interessieren. Denn den von Kant erwähnten Begriffen des Ortes

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(„wo?") und der Lage können wir ja den Begriff der Richtung oder Orientierung hinzufügen. Dieses unser Ergebnis ist nicht etwa unverträglich mit den Bestimmungen, wie Kant sie trifft, um die aristotelische Kategorienliste zu kritisieren. Denn Kant behauptet an dieser Stelle ja nicht etwa, daß die Anzahl der überhaupt angebbaren Begriffe vom Raum mit den Begriffen des Ortes und der Lage erschöpft sei. Kant behauptet hier lediglich, daß die Liste derjenigen Begriffe aus der aristotelischen Kategorienlehre, die man nicht irrtümlich für Kategorien im Sinne seiner transzendentalen Logik halten dürfe, unter Gesichtspunkten seiner Raumtheorie auch schon mit den Begriffen des Ones und der Lage erschöpft sei. Man braucht daher auch nicht zu besorgen, daß man einen systematischen Vollständigkeitsanspruch Kants unterlaufen hätte, wenn man eine Liste der von ihm gelegentlich erwähnten Begriffe vom Raum um den Begriff der Orientierung erweitert. Schließlich braucht man sich im Zusammenhang unseres Themas auch nicht von der damit ins Spiel gebrachten Vielzahl der Begriffe vom Raum irritieren zu lassen. Denn, wenn man versucht, sich von Kant über Bedingungen belehren zu lassen, die die kontextinvariant eindeutige Formulierung orientaler Handlungscharakteristiken garantieren, dann ist es ja auch erlaubt, alle von den Orientalen Handlungsmerkmalen vielleicht verschiedenen räumlichen Merkmale auszublenden. Wie kann man nun aber Kants Texte unter der Hypothese, daß in ihnen auch von solchen Bedingungen kontextinvarianter Eindeutigkeit gehandelt wird, zugunsten der Richtigkeit dieser Hypothese in konsistenter und plausibler Form zum Sprechen bringen? Zu diesem Zweck kann man zunächst noch einmal auf den operationalen Exkurs aus Kants zweiter Fassung der transzendentalen Deduktion der Kategorien (vgl. KdrV Β 154ff.) aus einem methodischen Blickwinkel eingehen. Wir hatten ja schon vorgeschlagen (vgl. S. 117/119), die Ausdrücke „gerade" und „senkrecht", wie Kant sie hier verwendet, inhaltlich als verkappte Orientale Ausdrücke bzw. als konvenible Abkürzungen für kompliziertere Ausdrücke aufzufassen, in denen sie selber gar nicht mehr, stattdessen aber auf jeden Fall Ausdrücke wie „Orientierung", „orientiert" oder „irgendsinnig orientiert" vorkommen. In diesem Sinne hatte Kant sich ja auch sogleich, ohne Einspruch zu erheben — vermutlich sogar zustimmend —, von dem ersten wichtigen Kommentator seiner Raumtheorie und seiner Geometrietheorie, dem Mathematiker Johann Schultz, in dessen „Prüfung der Kantischen Critik der reinen Vernunft" (Schultz 1789 bzw. 1792) verstehen lassen, wenn Schultz den skeptischen Studenten dieser beiden Theorien Kants fragt, wie vor allem

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der Geometer es denn sonst anstellen sollte, „in Gedanken eine gerade Linie zu ziehen, wenn seine Anschauung des Geraden nur verworren, und er nicht im Stande wäre, . . . einerley Richtung von unterschiedener Richtung zu unterscheiden" (Schultz 1792, S. 144ff.). An dieser Stelle unserer Analyse kommt es auf Folgendes an: Kant erwähnt in dem operationalen Exkurs des § 24 der KdrV Orientale Handlungsmerkmale in einer Weise, in deren Licht man sich über die Form, in der der Begriff der Orientierung in der Transzendentalen Logik eingeführt wird, unterrichten kann, wie es nicht möglich ist, wenn man sich nicht für die Sachfrage interessiert, die Kant gerade durch diese Erwähnungspraxis beantwortet. Ich denke dabei an den schlichten Umstand, daß Kant in der „Transzendentalen Logik" Handlungen erstmals dadurch charakterisiert, daß er sie oriental charakterisiert, indem er Orientale Merkmale im Hinblick auf sie erwähnt, und daß Kant Orientale Merkmale in einem Atemzug damit ausschließlich im Hinblick auf Handlungen erwähnt. 18 Damit sind aber auch Methodenfragen der Transzendentalen Logik unser Thema. Denn es liegt auf der Hand, daß dieser Befund, den man ja als solchen ohne nennenswerten gedanklichen Aufwand erstellen kann, nur dann kein bloß literarischer Befund bleibt, wenn man den ausgezeichneten methodischen Stellenwert dieser Orientalen Handlungscharakteristiken mit Kants Mitteln auch sachlich verständlich machen kann. Angesichts der von uns zuletzt angeschnittenen Probleme der transzendentalen Grammatik und der Kontextinvarianz kann es einem aber auch nur willkommen sein, daß Kants operationaler Exkurs selber diese Methodenprobleme provoziert. Denn man darf erwarten, daß diese beiden Probleme in diesem Zusammenhang wenigstens in einem für die Themenstellung unserer Untersuchung befriedigenden Maße ins reine gebracht werden können. Diese Erwartung ist aus zwei Gründen gerechtfertigt: 1) wenn sich nämlich die Charakteristik eines so elementaren geometrischen Gegenstandes wie der Geraden in adäquater Form als Orientale Hand18

Wenn, wie ich ja plausibel zu machen versuche, Orientale Merkmale nach Kant die charakteristischen räumlichen Merkmale von Handlungen sind, dann ist nach der Stelle KdrV A 192, Β 237/B 238 auch die Wahrnehmung, sofern sie an das Sehen gebunden ist, nicht ohne jeweils in charakteristischer Weise orientierte Handlungen möglich, wie jemand sie jeweils vollführt, wenn er seine Augäpfel bzw. homologe Organe bewegt. Beachtet man diesen Sachzusammenhang bei Kant, dann sieht man, wie Kant mit seiner Raumtheorie sogar noch zu einem konstruktiven Gesprächspartner über einige Grundbegriffe der von Hermann Helmholtz (1878) entwickelten und zur Kritik an Kant verwendeten Wahrnehmungsphysiologie werden kann.

Die Kategorien als spezielle Invarianzbedingungen

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lungscharakteristik auffassen läßt, dann braucht man nur noch zu untersuchen, ob die dabei vorgelegte Formulierung kontextinvariant eindeutig ist oder nicht und wenn ja auf Grund welcher von ihr erfüllten und von Kant ausdrücklich berücksichtigten Bedingungen. Aber nach allem, was wir bisher herausgefunden haben, steht die kontextinvariante Eindeutigkeit einer Orientalen Handlungscharakteristik nur dann fest, wenn man nicht auf eine sinnenfällig manifeste Handlungsorientierung zurückzugreifen braucht, um die Formulierung dieser Charakteristik eindeutig zu machen. Wir werden daher untersuchen müssen, ob Kant in der Transzendentalen Logik Bedingungen formuliert hat, die zu dieser Form der Kontextinvarianz beitragen. Offenbar kann eine solche Bedingung ja nicht selber — wie im Falle orientaler Kontextvariablen — eine sinnenfällig manifeste Handlung sein, sofern sie orientiert ist; denn in der Transzendentalen Logik können ja prinzipiell nur sprachliche Formulierungen, aber prinzipiell keine Handlungen vorkommen. 2) Andererseits können wir, wenn dieser Nachweis gelingt, auch schon an einem konkreten Beispiel genau erläutern, was eine Grammatik nach Kant wohl auch zu leisten hat, wenn sie eine transzendentale Grammatik soll sein können: demnach wäre eine transzendentale Grammatik nämlich eine Theorie, die auch die Bedingungen kontextinvarianter Eindeutigkeit des Redens über etwas, was selber kein sprachliches Gebilde ist, auf Begriffe bringt und dabei prinzipiell und ausdrücklich die Bedingungen mitberücksichtigt, wie sie von jedem erfüllt werden, der selber ein Autor solchen Redens sein kann.

§ 16. Die Kategorien als spezielle

Invarianzbedingungen

Kant ist mit aller wünschenswerten Deutlichkeit auf die Probleme eingegangen, um die es geht, wenn man im Hinblick auf den zunächst banal anmutenden Umstand, daß wir uns mit Hilfe von Worten, mit Hilfe von sprachlichen Ausdrücken über etwas jeweils von ihnen Verschiedenes verständigen können, nur die richtigen Fragen stellt. Denn, wenn „wir . . . nichts verstehen (können), als was ein unseren Worten Korrespondierendes in der Anschauung mit sich führt" (KdrV A 277, Β 333), dann kann man ja beispielsweise auch fragen, was für Bedingungen es denn überhaupt zuzuschreiben ist, daß, „wenn uns ein Gegenstand (etwas unseren Worten in der Anschauung Korrespondierendes, R.E.) mehrmalen, jedesmal aber mit ebendenselben inneren Bestimmungen, (qualitas et quantitas) (sprachlich, R.E.) dargestellt wird", er „immer eben der-

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Kontext und Kontextinvarianz in Kants Raumtheorie

selbe, und nicht viele, sondern nur Ein Ding (ist)" (A 263, Β 319). Auf diese Weise wird offenbar nach einem Kriterium gefragt, das prinzipiell zu entscheiden gestattet, ob und wenn ja inwiefern eine sprachliche Formulierung in einem gegenständlichen Sinne, d. h. jedenfalls im Hinblick auf etwas von ihr selber Verschiedenes, eindeutig oder vieldeutig ausgefallen ist. Hat man sich nämlich so, wie, Kant hier zu erkennen gibt, auch unter Gesichtspunkten der Semantik auf die transzendentale Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung eingelassen, dann kann man nicht weniger allgemein und auch nicht weniger abstrakt fragen als Kant es an dieser Stelle nun einmal tut. So hat Kant denn auch klar gesehen, daß man sich unter seinen Vorzeichen nicht sinnvoll in der Weise für Bedingungen gegenständlicher Eindeutigkeit von sprachlichen Formulierungen interessieren kann, wie man es zu tun hätte, wenn man von der Beobachtung ausginge, daß „einer . . . die Vorstellung eines gewissen Wortes mit einer Sache, der andere mit einer anderen Sache (verbindet)" (B 140), um dann zu fragen, unter welchen Bedingungen zwei Benutzer eines Wortes, beispielsweise des Wortes „ r o t " , Vorstellungen mit der Verwendung dieses Wortes assoziieren, die von derselben Sache herrühren; denn auch das „kommt auf Umstände, oder empirische Bedingungen, a n " (B 139 Ende), vor allem also darauf, daß solche sprechenden Wesen die Bedeutung des Wortes „ r o t " an Hand derselben Exemplare roter Dinge erlernen. Denn nur dann können zwei oder mehr als zwei Gesprächspartner, die von einem roten Gegenstand sprechen, jeweils auch ohne weiteres eindeutig von einem roten Gegenstand sprechen, wenn keiner von ihnen die Bedeutung des Wortes „ r o t " an Hand eines anderen roten Gegenstandes als irgendein anderer von ihnen erlernt hat. Und viele Gesprächspartner können schon dann vieldeutig von einem roten Gegenstand sprechen, wenn wenigstens zwei von ihnen an Hand verschiedener roter Gegenstände die Bedeutung des Wortes „ r o t " gelernt und ihren Gebrauch dieses Wortes normiert haben. Aber sowohl eine uneinheitliche wie eine einheitliche Auffassung („Apperzeption") des intentionalen Korrelates einer sprachlichen Formulierung wie der Rede von einem roten Gegenstand kommt unter empirischen Bedingungen wie denen zustande, unter denen ein sprechendes Wesen überhaupt die Bedeutungen der Worte erlernt, mit deren Hilfe es dem jeweils intendierten Gegenstand mit Anspruch auf Wahrheit eine Eigenschaft zuspricht oder abspricht. Da jedoch sowohl die Einheitlichkeit wie die Uneinheitlichkeit der Auffassung eines in einer bestimmten Weise angesprochenen Gegenstandes jeweils von den individuellen Bildungs-

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wegen oder von der Bereitwilligkeit der Gesprächspartner abhängt, ihren hergebrachten Wortgebrauch zum Zwecke der eindeutigen gegenständlichen Verständigung auch einmal ad hoc semantisch neu zu normieren, spricht Kant gelegentlich statt von einer „empirischen Einheit der Apperzeption" (B 140) eines Gegenstandes auch von einer „subjektiven Einheit" (B 139) der Apperzeption eines Gegenstandes; und Kant meint damit, daß eine einheitliche Auffassung des Gegenstandes einer bestimmten sprachlichen Formulierung, sofern diese Auffassung unter empirischen Bedingungen wie einem bestimmten Bildungsweg oder in einer bestimmten Gesprächssituation zustande gekommen ist, jeweils „ . . . nur subjektive Gültigkeit (hat)" (B 140), also ausschließlich unter denjenigen Kommunikationspannern verbreitet sein kann, die am Zustandekommen dieser Auffassung unmittelbar beteiligt sind und sie sich auch ausdrücklich oder „empraktisch" (vgl. Bühler 1934, S. 155f.) zu eigen gemacht haben. Freilich ist in systematischer Hinsicht etwas ganz anderes für Kant viel wichtiger. Es geht Kant nämlich gar nicht darum, eine sprachliche Tatsache wie ζ. B. die, „daß eben dasselbe Ding bald so bald anders genannt wird" (A 101), oder wie beispielsweise die, daß „ein gewisses Wort bald diesem, bald jenem Ding beigelegt (wird)" (ib.), aus anderen Tatsachen zu erklären oder die Tragweite zu beurteilen, wie solche sprachlichen Tatsachen sie für die Verständigung zwischen Menschen mit sich bringen können. Kants Bemerkungen zielen vielmehr darauf ab, Klarheit darüber entstehen zu lassen, inwiefern jeder, der überhaupt solche semantisch charakterisierbaren Verständigungsschwierigkeiten thematisieren kann, eine Bedingung erfüllt, die ihm genau dies erlaubt und ohne die er sich von solchen gegenständlich orientierten Verständigungsschwierigkeiten grundsätzlich überhaupt nicht sinnvoll als von solchen distanzieren und sinnvoll nach Wegen suchen könnte, auf denen sie sich zugunsten von Eindeutigkeit überwinden lassen. Das gilt auch schon für den, der semantisch charakterisierbare Verständigungsschwierigkeiten bloß dadurch thematisiert, daß er lediglich fragt, ob ein und dasselbe Wort verschiedenen Dingen (im Rahmen eines jeweils satzmäßig formulierten gegenständlichen Wahrheitsanspruches) beigelegt wird oder ob einem und demselben Ding verschiedene Worte (im Rahmen eines solchen Wahrheitsanspruches) beigelegt werden. Denn auch in dieser elementaren Form macht jeder, wenn er eben solche Fragen sinnvoll und eindeutig formuliert, effektiv ein Kriterium der Eindeutigkeit und Vieldeutigkeit des wörtlichen Redens über nichtsprachliche Entitäten fungibel, das ihm gestattet, über sprachlich vermittelte Identität bzw. Verschiedenheit zwischen nichtsprachlichen

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Entitäten prinzipiell ganz unabhängig davon eindeutig zu reden, ob irgend jemand unmittelbar in gegenständlich orientierte Verständigungsschwierigkeiten verwickelt ist oder nicht. Ohnehin lassen sich semantisch charakterisierbare Verständigungsschwierigkeiten prinzipiell ja auch unabhängig davon thematisieren, daß es sich dabei um Schwierigkeiten handelt, wie sie zwischen realen Kommunikationspartnern entstehen können. Achtet man nämlich einmal vor allem auf die Form, in der nichtsprachliche Sachverhalte sprachlich dargestellt werden, dann bietet sich ein Gegenstand wie beispielsweise ein Stück „Zinnober bald rot, . . . bald schwer" (A 100) dar, also so, daß einem Stück Zinnobers einmal der Prädikator „rot" und demselben ,zinnobrigen' Gegenstand ein andermal der von diesem Prädikator verschiedene Prädikator „schwer" beigelegt wird: (1) (2)

(Vx) (x ist Zinnober -*• χ ist rot), (Vx) (x ist Zinnober -»· χ ist schwer).

Andererseits: „. . . wenn ich mir r o t überhaupt denke, so stelle ich mir dadurch eine Beschaffenheit vor die . . . irgendworan angetroffen (wird)" (B 133 Anmerkung): (3)

a ist rot; 1 9

aber eine Beschaffenheit wie Rot, „. . . die als verschiedenen (Dingen, R.E.) gemein gedacht wird" — ζ. B. so: (4)

a ist rot A b ist rot Λ a Φ b -

„wird als zu solchen (Dingen, R.E.) gehörend angesehen, die außer ihr noch etwas Verschiedenes an sich haben" (ib.): (5) 19

a ist rot A b ist rot Λ a ist schwer Λ b ist leicht.

Ich verwende hier die Individuenkonstante „a", obwohl Kant selber das Indefinitpartikel „irgend-" verwendet, weil ich unterstelle, daß bei Kant der sachlich entscheidende Akzent auf dem individualisierend gebrauchten Teilausdruck „-woran" und insofern darauf liegt, daß ein Gegenstand schon insofern ein bestimmtes Individuum ist, als er irgendwo und irgend wann angetroffen werden kann, und nicht erst insofern ein bestimmtes Individuum ist, als der, der ihn antrifft, auch schon über einen Namen, über einen singulären Term, über eine Kennzeichnung oder über einen anderen hinweisend brauchbaren sprachlichen Ausdruck im Hinblick auf ihn verfügt; vgl. auch meinen Hinweis auf die Rolle des von Kant gegebenen Beispiels eines „neuholländischen Wilden", S. 190/91.

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Es ist leicht zu sehen, wie man am Leitfaden dieser Beispiele und unabhängig von allen dialogischen und sonstigen kommunikativen Situationen alle Gesichtspunkte wieder explizit ins Spiel bringen kann, unter denen für Kant die Frage nach einer möglichen Einheit des Gegenstandes sprachlicher Formulierungen bzw. nach einer möglichen einheitlichen Auffassung eines solchen Gegenstandes unter transzendentalen Gesichtspunkten wichtig werden konnte. Zunächst einmal ist es ja durchaus möglich zu fragen, inwiefern die nichtsprachliche Entität x, auf die jemand sich im Lichte der „a" verliehenen Bedeutung und mit seiner Hilfe bezieht, identisch („einerlei") mit der nichtsprachlichen Entität χ sein kann, über die er mit Hilfe von „rot" spricht, wenn er behauptet, a sei rot. Ebenso kann man fragen, inwiefern die nichtsprachliche Entität x, auf die jemand sich im Lichte der „a" verliehenen Bedeutung und mit seiner Hilfe bezieht und über die er mit Hilfe des Prädikators „schwer" spricht, wenn er behauptet, a sei schwer, verschieden von der nichtsprachlichen Entität χ sein kann, auf die er sich im Lichte der „ b " verliehenen Bedeutung und mit seiner Hilfe bezieht und über die er mit Hilfe des Prädikators „leicht" spricht, wenn er behauptet, b sei leicht. Worauf es in diesem Zusammenhang bei Kant ankommt, ist, um es differenzierter zu wiederholen, dies: wer in der angedeuteten Form sinnvoll und eindeutig fragen kann, kann offenbar nicht nur zwischen satzmäßig verwendbaren Worten wie ζ. B. „rot" und einem nichtsprachlichen, aber sprachlich intendierbaren Korrelat χ von jeweils satzmäßig verwendeten Worten sinnvoll und eindeutig unterscheiden. Darüber hinaus kann jeder, der so fragt, offenbar auch noch sinnvoll und eindeutig von einem von solchen Worten und ihrer Bedeutung verschiedenen nichtsprachlichen Korrelat χ solcher satzmäßig verwendbaren Worte sprechen. Andernfalls könnte Kant die Frage gar nicht sachlich wichtig finden: „Was versteht man denn, wenn man von einem der (jeweils sprachlich formulierten, R.E.) Erkenntnis korrespondierenden, mithin auch davon unterschiedenen, Gegenstand redet?" (A 104), und antworten: „Es ist leicht einzusehen, daß dieser Gegenstand nur als etwas überhaupt = X müsse gedacht werden, weil wir außer unserer Erkenntnis doch nichts haben, welches wir dieser Erkenntnis als korrespondierend gegenübersetzen könnten" (ib.). N u n könnte sich streng genommen niemand, der heute auch nur die Anfangsgründe der Semantik beherrscht, erlauben, wie Kant von einem „Gegenstand" χ zu reden, ohne in zumindest exemplarischer Weise auch

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eine einschlägige Satzstruktur so anzudeuten, daß eindeutig feststeht, im Hinblick auf welche Wahrheitsbedingungen von Sätzen gerade von einem Gegenstand die Rede ist — und seien es die Wahrheitsbedingungen eines inhaltlich ganz unbestimmten einfachen Allsatzes der Form „(Vx)Fx". Denn ein Gegenstand χ kann in der Semantik ja als etwas definiert werden, was jeweils ganz genau bestimmte sprachlich formulierbare Wahrheitsbedingungen von Sätzen erfüllt oder stattdessen nicht erfüllt (vgl. z.B. Tarski 1935, bes. S. 307/316, 329/334; Quine 1970, bes. S. 10/13, 35/43). Wenn Kant, von hier aus beurteilt, in einem unerlaubten Maße undifferenziert spricht, indem er einfach von einem , Gegenstand χ der Erkenntnis' spricht, dann liegt das aber nicht etwa daran, daß Kant nicht Semantik studiert hat. Kant interessiert sich in diesem Zusammenhang vielmehr für einen allgemeineren Begriff vom Gegenstand sprachlich formulierbarer Erkenntnis. Dieser allgemeinere Gegenstandsbegriff soll verständlich machen, inwiefern jeder auch dann sinnvoll und eindeutig von einem ,Gegenstand χ der Erkenntnis' reden kann, wenn er dabei bestimmte Wahrheitsbedingungen von Sätzen durchweg außer Acht läßt. Denn die Wahrheitsbedingungen der Sätze, wie sie von der Semantik analysiert werden, sind in dem Sinne hinreichende Wahrheitsbedingungen der Sätze, für die sie charakteristisch sind, daß diese Sätze schon dann wahr sind, wenn diese Wahrheitsbedingungen erfüllt sind, und daß sie schon dann falsch sind, wenn sie nicht erfüllt sind. Wir werden gleich sehen, inwiefern Kant sich für Wahrheitsbedingungen von Sätzen interessiert, die sich von diesen hinreichenden Wahrheitsbedingungen jedenfalls dadurch unterscheiden, daß sie nicht hinreichende Wahrheitsbedingungen für die Sätze abgeben, die durch sie charakterisiert sind. Es ist daher nicht von vornherein abwegig, wenn Kant den intendierten, im Sinne der Semantik über Gebühr undifferenzierten, transzendentalen Begriff vom Gegenstand der Erkenntnis auch ausdrücklich durch die Bemerkung erläutert, daß dieser Gegenstand „bei allen unseren Erkenntnissen immer einerlei = X ist" (A 109, Hervorhebungen von mir, R.E.). Es ist sogar nötig, einen Gegenstandsbegriff ins Auge zu fassen, der so expliziert werden kann. Denn nur, wenn ein solcher Gegenstandsbegriff allgemein und einheitlich expliziert werden kann, ist es auch plausibel, inwiefern es möglich ist, sinnvoll und eindeutig von einem und demselben Gegenstand bzw. von verschiedenen Gegenständen zu reden, ohne beim Reden davon auch hinreichende Wahrheitsbedingungen von Sätzen berücksichtigen zu müssen, wie sie von diesen Gegenständen im übrigen erfüllt oder stattdessen nicht erfüllt werden mögen — „. . . so wie

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. . ., wenn ein neuholländischer Wilder zuerst ein Haus zu sehen bekäme und ihm nahe genug wäre, um alle Theile desselben zu unterscheiden, ohne doch den mindesten Begriff davon zu haben" (WW VIII, Streitschrift, S. 217 Anmerkung), unter den es fällt, sofern es ein Haus ist und einen Satz wie „Dieses Haus ist aus Stein" wahr macht oder stattdessen falsch macht, indem es seine Wahrheitsbedingungen erfüllt bzw. stattdessen nicht erfüllt. Daß Kant aber eine Gegenstandstheorie intendiert hat, die u. a. genau dies leisten soll, kann man sich klar machen, wenn man in diesem Zusammenhang Kants Lehre von den Urteilsfunktionen sowie seine Kategorienlehre in Rechnung stellt. Denn nur unter Zuhilfenahme dieser beiden Teiltheorien seiner Transzendentalen Logik kann Kant zu Recht in Aussicht stellen, daß „wir auch unseren Begriff von einem Gegenstand überhaupt . . . bestimmen können" (A 108), nämlich als das, was „in Ansehung einer oder andern Funktion der Urteile als bestimmt gedacht wird" (WW IV, Μ.Α., S. 475). Im Sinne dieser Explikation des Gegenstandsbegriffes ist etwas von einem sprachlichen Ausdruck Verschiedenes χ nämlich schon dann ein Gegenstand, wenn χ das nichtsprachliche Korrelat ζ. B. desjenigen sprachlichen Ausdrucks abgibt, der selber als Subjekt in einem kategorischen Urteil fungiert — einen solchen Gegenstand nennt Kant gelegentlich auch „Substanz". Ebenso ist etwas von einem sprachlichen Ausdruck Verschiedenes χ hier auch schon dann ein Gegenstand, wenn χ das nichtsprachliche Korrelat beispielsweise desjenigen sprachlichen Ausdrucks abgibt, der selber als Prädikat in einem kategorischen Urteil fungiert — einen solchen Gegenstand nennt Kant gelegentlich auch „Akzidenz" (vgl. dazu loc. cit. auch im ganzen). 20 Aber 20

H . J. Paton (1936) hat in diesem Zusammenhang die Frage zur Diskussion gestellt, ob es sachlich u n d methodisch zu rechtfertigen sei, die nichtsprachlichen Korrelate syntaktisch wohlbestimmter Teilausdrücke von Ausdrücken, die im Sinne von Kants Urteiltafel ζ. B. kategorisch oder hypothetisch wohlformuliert sind, auch schon im Rahmen des Ergebnisses der Metaphysischen Deduktion der Kategorien als ζ. B. „Substanz", „ A k z i d e n z " b z w . „ U r s a c h e " usw. anzusprechen (vgl. Paton, S. 298/299). Faßt man die Kategorien wie wir hier vorschlagen, als Klassen auf, deren nichtsprachliche Elemente genau insofern Gegenstände sind, als diese Elemente die Korrelate von sprachlichen Ausdrücken sind, die im Sinne der von Kant ermittelten logisch-syntaktischen Funktionen - „ . . . der Einheit in Urteilen . . . " — verwendet werden, dann besteht zumindest kein Anlaß, solche aus der ontologischen Tradition vorbelasteten Termini schon an dieser systematischen Stelle zu verwenden. Denn man kann dann die Elemente dieser kategorialen Klassen sinnvoll und eindeutig auch als nichtsprachliche ζ. B. Subjektkorrelate, Prädikatkorrelate, Antecedenskorrelate usw. auffassen und der Sache nach dasselbe meinen, was Kant meint, wenn er schon im Rahmen des Ergebnisses der Metaphysischen D e d u k tion der Kategorien ausdrücklich von ζ. B. „Substanz", „ A k z i d e n s " , „ U r s a c h e " usw.

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diese nach Kant notwendige und hinreichende kategoriale Bedingung dafür, daß das nichtsprachliche Korrelat χ eines sprachlichen Ausdrucks ein Gegenstand ist, ist klarerweise nicht eine hinreichende Wahrheitsbedingung des Satzes (Urteils), den man durch diese kategoriale Bedingung auch beschreiben kann. Denn ζ. B. ein kategorisch formuliertes Urteil ist auch nicht schon dann ein wahres oder stattdessen ein falsches Urteil, wenn das nichtsprachliche Korrelat seines Subjektausdrucks im Lichte von Kants Kategorienlehre in plausibler Weise als Gegenstand aufgefaßt werden kann. Gleichwohl kann man eine solche kategoriale Bedingung in sinnvoller Weise auch als Wahrheitsbedingung des Urteils auffassen, das durch sie charakterisiert wird. Denn sowohl für die Wahrheit wie für die Falschheit ζ. B. eines kategorisch formulierten Urteils ist es ja eine notwendige Bedingung, daß überhaupt ein nichtsprachliches Korrelat χ ζ. Β. des Subjektausdrucks dieses Urteils eindeutig beschrieben werden kann, im Hinblick auf das man mit diesem kategorisch formulierten Urteil überhaupt einen gegenständlich orientierten Wahrheitsanspruch verbinden kann. In diesem Sinne kann man eine solche kategoriale Bedingung dann aber auch als notwendige Wahrheitsbedingung des Urteils auffassen, das durch sie charakterisiert ist. Es ist von hier aus schon leicht einzusehen, weswegen Kant einen Gegenstandsbegriff grundsätzlich ohne Rekurs auf hinreichende Wahrheitsbedingungen von Sätzen explizieren kann: Kant beansprucht nämlich auf Grund seiner Lehre von den Urteilsfunktionen, über eine vollständige logische Syntax sprachlicher Ausdrücke zu verfügen, mit denen man in sinnvoller Weise einen gegenständlich orientierten Wahrheitsanspruch verbinden kann. Daher kann er den Begriff des Gegenstandes definieren, indem er im Hinblick auf jedes nichtsprachliche χ die notwendige und hinreichende Bedingung formuliert, es stehe zu einem sprachlichen Ausdruck, der eine der von Kant berücksichtigten logisch-syntaktischen Funktionen, spricht und jedesmal etwas meint, was im Hinblick auf genau eine Urteilsfunktion als bestimmt angesehen werden kann. Paton kommt in diesem Zusammenhang im übrigen zu dem Urteil, daß Kant die Kategorien in der Kategorientafel „in anticipation" so tauft, wie er sie hier erwähnt (vgl. Paton, S. 298). Denn die Kategoriennamen aus der Kategorientafel gehören nach Paton „properly to the schematised categories" (ib.). Die Vermutung liegt nahe, daß Kant in diesem Zusammenhang deswegen in der von Paton herausgestellten Weise vorgegriffen hat, weil er sich den begrifflichen Zusammenhang zwischen Funktion, Funktionsargument und Funktionswert bzw. den jeweils entsprechenden sprachlichen Ausdrücken (Funktor, Argumentausdruck, Wertausdruck) noch nicht so klar gemacht hatte, wie wir es mit Hilfe dieser von Frege getroffenen Unterscheidungen jeweils tun können. So ist es auch kein Zufall, daß Kant gerade auch den Ausdruck „Funktion" vieldeutig gebraucht, vgl. Paton, S. 245/248.

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ζ. B. des Subjekts oder stattdessen des Prädikats in einem kategorisch formulierten sprachlichen Ausdruck erfüllt, in einer eineindeutigen Beziehung („Korrespondenz"). In diesem Punkt braucht man sich daher auch nicht durch die von Kant gewählten Beispielsätze wie „Der Stein ist hart" (loc. cit.) beirren zu lassen. Denn es kommt in Kants Zusammenhang ja gerade nicht darauf an, ob etwas Nichtsprachliches χ die hinreichenden Wahrheitsbedingungen des Satzes „Der Stein ist hart" erfüllt oder stattdessen nicht erfüllt. Kant hätte seinen Gedankengang daher sogar mit Hilfe eines Beispielsatzes erläutern können, bei dem es sich wie etwa im Falle des Satzes „Der Stein ist flüssig" um einen falschen Satz handelt. Es kommt nämlich im Zusammenhang mit dem Gegenstandsbegriff von Kants „metaphysischer Deduktion der Kategorien" — und um nichts anderes handelt es sich hier ja (vgl. auch § 22.a.) — lediglich darauf an, daß etwas Nichtsprachliches χ als Gegenstand in einer eineindeutigen Relation zu einem sprachlichen Ausdruck steht, der selber irgendeine der von Kant ermittelten logisch-syntaktischen Funktionen („Urteilsfunktion"), beispielsweise die Subjektfunktion in einem kategorischen Urteil oder stattdessen beispielsweise die Prädikatfunktion in einem solchen Urteil erfüllt. 2 1 Eine Klasse, zu der etwas Nichtsprachliches χ genau dann gehört, wenn es in einer eineindeutigen Relation zu irgend einem im Sinne von Kants Urteilstafel logisch-syntaktisch wohlbestimmten sprachlichen Ausdruck steht, nennt Kant aber „Kategorie". Gegenstände sind bei Kant nichts anderes als Elemente solcher kategorialen Klassen. Ich komme hierauf ausführlich (vgl. § 22. a.—b.) und am Beispiel der geometrischen Gegenstände (vgl. § 22.c.) zurück. Es liegt auf der Hand, daß Kant sich mit den hier skizzierten Bestimmungen Voraussetzungen erarbeitet hat, wie sie nötig sind, wenn man die folgende Frage beantworten möchte: ,Wie kann man den „Begriff, dadurch überhaupt ein Gegenstand gedacht wird (Kategorie)" (KdrV Β 146), explizieren, wenn man sinnvoll und eindeutig von „einem und dem21

Wenn man Kants funktionale Auffassung des kategorischen Urteils ganz ernst nimmt, dann kann man auch sehen, daß Kants .Formale Logik' in diesem Punkt unempfindlich gegen die Kritik ist, wie vor allem Frege (1879) sie so wirkungsvoll gegen die rhetorisch inspirierte Grammatik der Subjekt-Prädikat-Unterscheidung entwickelt hat (vgl. Frege S. 2/4). Freges eigene Unterscheidung zwischen Funktion und Funktionsargument b z w . Argumentausdruck erlaubt sogar, Kants Theorie der kategorischen Urteilsfunktion in einer auch Freges formalen Ansprüchen genügenden Weise zu entwickeln. Denn bei der kategorischen Urteilsfunktion handelt es sich für Kant offenbar um eine zweistellige Funktion, deren beide Argumentausdrücke terminologisch als Subjekt und Prädikat angesprochen werden und deren Argumente man in den nichtsprachlichen Korrelaten dieser Ausdrücke zu suchen hat.

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selben Gegenstand" sowie von „verschiedenen Gegenständen" reden möchte und wenn man den Sinn oder die Eindeutigkeit solchen Redens nicht dadurch garantieren kann, daß man auf sprachliche Ausdrücke zurückgreift, mit deren Hilfe man hinreichende Wahrheitsbedingungen von Sätzen formuliert?'. Unter Kants Voraussetzungen, wie wir sie hier beschrieben haben, intendiert jemand einen Gegenstand genau dann als solchen, wenn er das nichtsprachliche Korrelat von jeweils genau einem logisch-syntaktisch wohlbestimmten sprachlichen Ausdruck intendiert. Unter denselben Voraussetzungen kann man dann auch „ . . . verschiedene Gegenstände . . . " sagen und sinnvoll und eindeutig die nichtsprachlichen Korrelate z.B. eines Subjektausdrucks und eines Prädikatausdruckes intendieren; und man kann" . . . einer und derselbe Gegenstand . . . " sagen und ebenso sinnvoll und eindeutig die nichtsprachlichen Korrelate irgendeines und desselben z . B . Subjektausdrucks intendieren. Wenn uns bei unseren Überlegungen kein Fehler unterlaufen ist, dann hat uns dieser Ausflug in die Gegenstandstheorie von Kants Kategorienlehre unversehens ein Beispiel dafür beschert, inwiefern sich ein wichtiges Ergebnis von Überlegungen aus Kants Transzendentaler Logik dazu eignet, verständlich zu machen, 1) inwiefern das Reden von einem Gegenstand unabhängig von Beispielen sinnenfälliger Entitäten sinnvoll sein kann — insofern nämlich als „die Kategorien unabhängig von Sinnlichkeit . . . entspringen" (B 144), nämlich dadurch, daß man fragt, wie man mit Hilfe eines logisch-syntaktisch wohlbestimmten sprachlichen Ausdrucks etwas Nichtsprachliches χ überhaupt sinnvoll intendieren kann; und 2) eignet Kants Ergebnis sich dazu, verständlich zu machen, inwiefern das Reden von einem Gegenstand auch invariant gegenüber semantischen Differenzen 22 eindeutig ausfallen kann — insofern nämlich als ein Gegenstand lediglich etwas Nichtsprachliches χ ist, sofern es eineindeutig „in

22

U m es noch einmal zu präzisieren: unter semantischen Differenzen sind hier Differenzen zwischen solchen Wahrheitsbedingungen von Sätzen zu verstehen, wie sie entweder rekursiv (vgl. Tarski, 1933, S. 307ff.) oder jedenfalls gemäß Tarskis schematischer Adäquatheitsbedingung ( a . a . O . S. 268) charakterisiert werden können. Solche Wahrheitsbedingungen von Sätzen sind in dem Sinne hinreichende Wahrheitsbedingungen von Sätzen, daß die Sätze, deren Wahrheitsbedingungen sie sind, schon dann wahr sind, wenn sie erfüllt sind bzw. schon dann falsch sind, wenn sie nicht erfüllt sind. Von solchen hinreichenden Wahrheitsbedingungen von Sätzen unterscheiden Kants kategoriale Wahrheitsbedingungen sich aber insofern, als die kategorialen Bedingungen, wie sie für einen Satz charakteristisch sein können, diesen Satz nicht schon insofern, als sie erfüllt oder stattdessen nicht erfüllt sind, wahr bzw. falsch machen. Sie sind insofern bloß notwendige Wahrheitsbedingungen der Sätze, für die sie charakteristisch sind.

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Ansehung einer oder der andern Funktion der Urteile als bestimmt gedacht wird" (WW IV, Μ . Α . , S. 475 Anm.)· 2 3

23

Es ist wichtig zu beachten, inwiefern auch in diesem Zusammenhang der Anspruch auf Vollständigkeit unverzichtbar ist, wie Kant ihn vor allem mit seiner Urteilstafel verbunden hat. Denn, wenn Kants Urteilstafel nicht vollständig wäre, dann könnte Kants Definition der Kategorien bzw. des Gegenstandes nicht eindeutig sein; denn dann könnte Kant sich bei der Definition der Kategorien bzw. des Gegenstandes auch nicht disjunktiv eindeutig — ,die eine oder andere Funktion der Urteile' — auf Urteilsfunktionen beziehen. Kant müßte dann vielmehr gewärtigen, daß die Forschungen der Logiker prinzipiell noch mehr als zwölf solcher „Funktionen der Einheit in den Urteilen" (KdrV A 69, Β 94) ans Licht bringen können. Dann wäre Kants Definition der Kategorien bzw. des Gegenstandes aber entweder faktisch oder prinzipiell partiell unbestimmt. Wenn andererseits die kantische Urteilstafel aus Gründen, wie sie von Klaus Reich (1932) entwickelt worden sind (vgl. Reich, § 7), vollständig ist, dann macht ein kategorialer Gegenstandsbegriff, sofern er im Rekurs auf genau eine Urteilsfunktion definiert werden kann, zusammen mit allen anderen kategorialen Gegenstandsbegriffen, sofern jeder von ihnen genauso expliziert werden kann, schon deswegen eine vollständige Kategorientafel aus, weil die vollständige Anzahl der von Kant eingeführten Urteilsfunktion endlich ist und jeder Urteilsfunktion entweder genau eine Kategorie zugeordnet werden kann bzw. — da man ζ. B. Ursache und Wirkung als zwei Kategorien auffassen kann — höchstens zwei Kategorien zugeordnet werden können. — Von Kants Behauptung, man könne „die Funktion der Einheit in den Urteilen vollständig darstellen" (KdrV A 69, Β 94), sowie von der Behauptung Kants, die Kategorientafel enthalte „die Verzeichnung aller . . . reinen Begriffe der Synthesis" (A 80, Β 106), muß man Kants Behauptung sorgfältig unterscheiden: „Von der Eigentümlichkeit unseres Verstandes aber, nur vermittelst der Kategorien und nur gerade durch diese Art und Zahl derselben Einheit der Apperzeption apriori zustande zu bringen, läßt sich ebenso wenig ferner ein Grund angeben, als warum wir gerade diese und keine anderen Funktionen zu urteilen haben . . . " (B 145/146). Neuerdings haben Hans Lenk (1968) und Lorenz Krüger (1968) die zuletzt zitierte Feststellung Kants zum Anlaß für die These genommen, man müsse entweder Kants Ansprüche auf Vollständigkeit der Urteilstafel und der Kategorientafel abschwächen (vgl. Lenk, S. 21) oder aber die formalen Ansprüche Kants an die Beweisbarkeit der beiden Vollständigkeitsbehauptungen abschwächen (vgl. Krüger, S. 337ff.; vgl. auch Patzig 1976, bes. S. 51/52). Die Überlegungen, mit denen Lenk und Krüger ihre Thesen zu begründen versucht haben, beruhen jedoch auf einem Mißverständnis sowohl des Textes wie der Sache. Denn bereits Kants implizite Behauptung, daß wir Menschen auch genau im Sinne seiner Theorie der Urteilsfunktion urteilen und auch genau im Sinne seiner Kategorienlehre von Gegenständen reden, ist nicht nur eine andere Behauptung als seine beiden Vollständigkeitsbehauptungen und auch nicht in erster Linie eine mit ihnen — angeblich — unverträgliche Behauptung; sie ist vor allem eine Behauptung von ganz anderer Art als diese beiden Vollständigkeitsbehauptungen. Sie ist nämlich eine ihrer Begründungsform nach empirische Behauptung über (einige, die meisten oder alle) Menschen und deren intellektuelle Organisation („Verstand"), sofern diese intellektuelle Organisation sich in sprachlichen Ausdrücken niederschlägt, die im Sinne von Kants Urteilslehre wohlformuliert sind und im Sinne von Kants Kategorienlehre gegenständliche Valenz haben. Kants Behauptung ist nämlich insofern empirisch, als man über die Frage, ob sie zutrifft oder nicht, nur dadurch entscheiden kann, daß man die von (einigen, den meisten oder allen) Menschen faktisch geäußerten satzmäßigen Formulierungen daraufhin untersucht, ob sie im Sinne von Kants Urteilslehre wohlfor-

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Kontext und Kontextinvarianz in Kants Raumtheorie D e n G e d a n k e n der Invarianz, den w i r hier verständlicherweise beson-

ders

interessant

finden k ö n n e n ,

kann

man

mit einfachen

technischen

M i t t e l n u n d U n t e r s c h e i d u n g e n der Syntax und Semantik verdeutlichen. M a n b r a u c h t die im Sinne v o n Kants Urteilstafel wohlformulierten sprachlichen A u s d r ü c k e , beispielsweise die kategorisch formulierten A u s d r ü c k e n ä m l i c h n u r d u r c h eine F o r m e l wie S Π Ρ a n z u d e u t e n ; 2 4 dann kann m a n die Eindeutigkeit, mit der man v o n einem G e g e n s t a n d reden kann, w e n n m a n kategorisch formuliert, näher charakterisieren, w e n n m a n berücksichtigt, daß man dabei v o n einem und d e m selben G e g e n s t a n d invariant

gegenüber jeder möglichen Belegung

bei-

spielsweise d e r Subjektvariablen „ S " durch irgendeinen A u s d r u c k reden k a n n , d e r im R a h m e n irgendeines Sprachsystems im Hinblick auf etwas N i c h t s p r a c h l i c h e s χ bereits gedeutet sein m a g . Insofern kann der Stein, auf muliert und im Sinne seiner Kategorienlehre gegenständlich valent sind. Aber vom Ergebnis einer solchen Untersuchung bleiben Kants Urteilslehre und seine Kategorienlehre grundsätzlich gänzlich unberührt. Der Sache nach herrschen hier nämlich ganz analoge Verhältnisse wie etwa im Zusammenhang mit der Junktorenlogik. Kein ernstzunehmender Logiker wird etwa die schon kombinatorisch beweisbare Behauptung, das am Bivalenzprinzip orientierte System der 16 aussagenlogischen dyadischen Funktoren sei vollständig, mit der These begründen wollen, auch jeder Nichtlogiker werde irgendwann einmal jeden dieser 16 Junktoren verwendet haben oder niemand werde irgendwann einmal einen Junktor verwendet haben, der als siebzehnter in dieses System aufgenommen werden könnte. Aber man muß sich im klaren darüber sein, daß man die Entscheidung über die Frage der Vollständigkeit zunächst von Kants Urteilstafel und dann von Kants Kategorientafel letzten Endes von den angedeuteten empirischen Methoden abhängig macht, wenn man anstatt Kants schlichter Vollständigkeitsbehauptungen Kants Behauptung über die Formen systematisch ernst nimmt, in denen wir Menschen gegenständlich urteilen. Es ist daher nur konsequent, wenn Reich diese in dem angedeuteten Sinne empirische Behauptung Kants im Rahmen seiner Untersuchung zur Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel gar nicht erst berücksichtigt. Man mag den Vollständigkeitsbeweis, wie Reich ihn zu rekonstruieren versucht hat, im übrigen immer noch mangelhaft finden. Aber als einen konkurrierenden Gesprächspartner über seine Urteilslehre und seine Kategorienlehre könnte Kant aus den angedeuteten Gründen prinzipiell auch nur den Kritiker solcher Äeweiiversuche, aber nicht denjenigen akzeptieren, der der von Kant zunächst intendierten Urteilstheorie auf Grund eines Mißverständnisses des Textes oder der dort verhandelten Sache eine lediglich empirisch definite Vollständigkeitsbehauptung unterstellt. 24

Das Zeichen „ η " ist hier das sog. Verkettungszeichen der Syntax, mit dessen Hilfe angedeutet wird, daß die Ausdrücke, deren Verbindung es andeutet, insofern im syntaktischen Sinne einen Ausdruck bzw. einen woWformulierten Ausdruck bilden, in diesem Falle also einen im Sinne von Kants logischer Syntax kategorisch formulierten Ausdruck, ein kategorisch formuliertes Urteil.

Bedingungen der Kontextinvarianz (I)

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den man sich jeweils mit Hilfe des Ausdrucks „Dieser Stein" bezieht, wenn man „Dieser Stein ist warm" behauptet, zu derselben kategorialen Klasse von Gegenständen, nämlich zu den nichtsprachlichen Subjektkorrelaten gehören wie der Blutstropfen, auf den man sich jeweils mit Hilfe des Ausdrucks „Dieser Blutstropfen" bezieht, wenn man „Dieser Blutstropfen ist hellrot" behauptet. Andererseits liefert aber ersichtlich gerade diese im kategorialen Sinne invariant mögliche Eindeutigkeit des Redens von einem Gegenstand die sachliche Berechtigung dafür, Gegenstände im Rahmen von Kants Kategorienlehre durchweg mit Hilfe von Formalausdrücken statt mit Hilfe von inhaltlich schon gedeuteten Ausdrücken einer gewachsenen Umgangssprache wie „Stein", „Blutstropfen" usw. zu erwähnen. Denn, wenn es auf Bedeutungsunterschiede zwischen sprachlichen Ausdrücken prinzipiell nicht ankommt, die um ihrer gegenständlichen Valenz willen lediglich in einem logisch wohlbestimmten Sinne fungibel gemacht zu werden brauchen, dann kann man auch grundsätzlich darauf verzichten, überhaupt Ausdrücke zu verwenden, die schon in diesem inhaltlichen Sinne gedeutet sind. Wie kann nun der Schritt von Kants kategorialen Gegenstandscharakteristiken, die auf Grund von Kants logischer Syntax invariant gegenüber allen semantischen Differenzen eindeutig formuliert werden können, zu Orientalen Handlungscharakteristiken gelingen, sofern sie kontextinvariant eindeutig formuliert sein sollen, wenn man diesen Schritt mit Kants Mitteln tun möchte? Oder anders gefragt: von welcher Art sind bei Kant die Bedingungen, die einer Orientalen Handlungscharakteristik kontextinvariante Eindeutigkeit garantieren, wenn einer kategorialen Gegenstandscharakteristik bei Kant dadurch eine gegenüber semantischen Differenzen invariante Eindeutigkeit garantiert ist, daß man dabei auf irgendeine der von Kant ermittelten logischen Funktionen rekurriert?

§ 17. Bedingungen

der Kontextinvarianz

(I)

Bevor wir hier irgendeinen Schritt versuchen, ist es zweckmäßig, an Hand des schon Entwickelten einmal so genau wie möglich den Schritt zu bestimmen, wie er als nächster nötig ist, wenn man zu einer kontextinvariant eindeutig formulierten Orientalen Handlungscharakteristik gelangen möchte. Hier können einem vor allem die Unterscheidungen weiterhelfen, durch die wir uns den syntaktischen und semantischen Status der Orientalen Adverbien wie „links" und „rechts" klar gemacht haben.

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Kontext und Kontextinvarianz in Kants Raumtheorie

Denn, syntaktisch betrachtet, fungieren diese Worte, wenn wir richtig analysiert haben, ja als Prädikate des Prädikates „ist orientiert" eines Prädikates wie „handelt", symbolisch L (0(H(P))) bzw. R (0(H(P))); semantisch betrachtet, sind diese Worte Kontextvariablen. Wenn man nun fragt, wie man an Kants Leitfaden eine Möglichkeit findet, Orientale Handlungscharakteristiken kontextinvariant eindeutig zu formulieren, dann sucht man, unter syntaktischen und semantischen Gesichtspunkten betrachtet, offenbar nach einer Art von Konstanten, die man in plausibler Weise im Hinblick auf Orientierungen verwenden kann, wenn Handlungen im Hinblick auf Orientierungen kontextinvariant eindeutig charakterisiert werden sollen. Wir fragen also, so besehen, ob die Rede von einer „irgendsinnig orientierten Handlung" — symbolisch . . . (0(H)) mit von Kant ausdrücklich berücksichtigten Mitteln in einsichtiger Weise konkretisiert werden kann, indem die Rede von einer „irgendsinnig orientierten Handlung" auf dem Wege der Ersetzung der Variablen „irgendsinnig" — symbolisch „ . . . " — durch eine Konstante in eine kontextinvariant eindeutig formulierte Orientale Handlungscharakteristik übergeführt wird. Nachdem wir unsere Leitfrage in dieser Form noch einmal präzisiert haben, können wir auch sogleich feststellen, daß wir auf dem Weg zu einer Antwort schon weiter gekommen sind als es auf den ersten Blick aussehen mag. Man braucht nämlich nur einmal explizit auf die Orientalen Merkmale einzugehen, wie Johann Schultz sie in der schon zitierten Formulierung (vgl. S. 184f.) erwähnt, wenn er von „einerley Richtung" und von „verschiedener Richtung" redet, und wie wir selber eines erwähnt haben, wenn wir von „widersinniger Orientierung" gesprochen haben (vgl. S. 110f.). Der versierte Kant-Leser wird ja sogleich bemerkt haben, daß man auf diese Weise Orientale Merkmale erwähnt, wie man sie mit den von Kant selber berücksichtigten Mitteln erwähnen kann, wenn man auf drei

Bedingungen der Kontextinvarianz (I)

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der vier von Kant so genannten „Reflexionsbegriffe" der „Einerleiheit und Verschiedenheit, der Einstimmung und des Widerstreits" (KdrV A 261, Β 317, Hervorhebung von mir, R. E.) zurückgreift. Zusammen mit den Reflexionsbegriffen „des Inneren und des Äußeren, endlich des Bestimmbaren und der Bestimmung (Materie und Form)" (ib.) erschöpfen sie nach Kant die Gesichtspunkte, auf die wir zurückgreifen müssen, wenn „wir uns zuerst dazu anschicken, um die subjektiven Bedingungen ausfindig zu machen, unter denen wir zu Begriffen gelangen können" (A 260, Β 316). Stimmt das? Kann man, vor allem auch im Rückblick auf die Uberlegungen, die wir bisher angestellt haben, konstatieren, daß man genau auf die von Kant herausgestellten Gesichtspunkte rekurrieren muß, wenn man klar zu machen versucht, inwiefern die reine räumliche Anschauung diejenige subjektive Bedingung ist, unter der jeder, der sie erfüllt, zum Begriff der Orientierung gelangen kann ? 2S Lassen wir uns von Kant hierzu auch noch die Folge der Schritte diktieren, mit denen man in dieser „transzendentalen Reflexion" (A 262, Β 319) auf die erwähnten Gesichtspunkte rekurriert! „Materie und Form. Dieses sind zwei Begriffe, welche aller anderen Reflexion zum Grunde 25

Es sollte sich hier wohl von selbst verstehen, daß nicht etwa die Versiertheit eines Kant-Lesers garantiert, daß Unterscheidungen aus Kants System der Reflexionsbegriffe gestatten, Orientale Handlungscharakteristiken so zu formulieren, daß sie kontextinvariant eindeutig ausfallen. Ob die einschlägigen Reflexionsbegriffe so etwas gestatten oder nicht, muß man selbstverständlich an Hand der vorgeschlagenen Charakteristiken selbst entscheiden. Aber wer mit Schultz' Rede von „einerlei" und „verschiedener" Richtung in einem Kontext, der die geometrischen Gegenstände betrifft, Kants System der Reflexionsbegriffe assoziieren kann, wird Schultz' Ausdrucksweise in diesem Punkt aus sachlichen Gründen nicht so harmlos finden können wie Schultz selber, wenn er einige dieser Reflexionsbegriffe gebraucht, ohne dabei jedoch klarzustellen, daß dies Implikationen mit sich bringt, die mit den Mitteln von Kants Reflexionsbegriffen systematisch erörtert werden können. Dieser Zusammenhang wiegt sachlich umso schwerer, als Schultz sich ja vorgenommen hat, mit Hilfe von Kants Raumtheorie Licht auch in ein grundlagentheoretisches Problem der Geometrie zu bringen, das Kant selber nicht im Zusammenhang traktiert hat. Dann bleibt aber nicht nur zu fragen, ob Schultz systemkonform vorgegangen ist, sondern vor allem auch, ob er so konsequent und so differenziert vorgegangen ist, wie die von Kant entwickelten Mittel dies erlauben. Daß Kant im übrigen selber von „einerlei" und „verschiedener" Richtung spricht, kann ein Blick in die einschlägigen Passagen der „Phoronomie" aus den M.A. lehren, vgl. bes. WW IV, M.A., S. 489/95. Kant gibt aber unzweideutig zu verstehen, daß der Begriff der Richtung für ihn den räumlichen Grundbegriff der Geometrie abgibt, wenn er seine Lehre von der Bahnbewegung der Materie insoweit, als hier kinematische Richtungsunterschiede konstruiert werden, als ein Stück angewandter Geometrie beschreibt, vgl. a . a . O . S. 489/90. Methodisch betrachtet, versucht Schultz also, sich Kants Theorie des geometrischen Gegenstandes zu nähern, indem er die Implikationen von Kants Behauptung über die Anwendbarkeit der Geometrie in der Phoronomie untersucht. Vgl. aber S. 228 3 7 .

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Kontext und Kontextinvarianz in Kants Raumtheorie

gelegt werden" (A 266, Β 322). Inwiefern läßt sich nun der Lehrgehalt von Kants Raumtheorie, wie wir sie bisher dargestellt haben, in einem ersten Schritt mit Hilfe der reflexiven Unterscheidung zwischen Materie und Form entwickeln? Nun, so, wie wir es dargestellt haben, können Handlungen ersichtlich insofern als das Material der reinen räumlichen Anschauung berücksichtigt werden, als jeder, der diese Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt, Handlungen unter der Form der Orientierung manifest machen kann, indem er Handlungen durch Erwähnen orientaler Merkmale sinnvoll und eindeutig formal beschreibt; und eine Form der reinen Anschauung des Handelns gibt die räumliche Orientierung insofern ab, als Handlungen im Hinblick auf Orientierungen formal charakterisiert werden: jede Handlung wird durch Erwähnen eines Orientalen Merkmals von allem unterschieden, was nicht eine Handlung und orientiert ist, und keine Handlung, wird von irgendeiner anderen Handlung unter räumlichen Gesichtspunkten dadurch unterschieden, daß sie nicht oriental charakterisiert werden könnte. Mehr ist allerdings auch nicht herauszuholen, wenn man im Zusammenhang mit Kants Raumtheorie die Gesichtspunkte der Materie und der Form ausdrücklich ins Spiel bringt; denn auch dann, wenn man in diesem Zusammenhang auf die Unterscheidung zwischen Materie und Form zurückgreift, „. . . (abstrahiert) man von allem Unterschiede dessen, was gegeben wird (hier: von allem Unterschied zwischen Handlungen als Materie, R. E.) und (von allem Unterschiede, R. E.) der Art, wie es gegeben wird (hier: von allem Unterschiede der Orientierung als Form des Handelns, R. E.)" (loc. cit.). Gerade insofern also, als Handlungen das genuine Material der reinen räumlichen Anschauung ausmachen, kann man im Hinblick auf diesen materiellen Definitionsbereich der reinen räumlichen Anschauung nicht wieder allein unter dem Gesichtspunkt der Materie differenzieren und Handlungen auch schon ohne weiteres voneinander unterscheiden. Wollte man nämlich von hier aus Handlungen materiell voneinander unterscheiden, dann müßte man an dieser Stelle gerade die definitorischen Grenzen des materiell auf Handlungen als solche beschränkten Manifestationsbereiches der reinen räumlichen Anschauung aufheben. Man müßte dann nämlich grundsätzlich auch solche Handlungsmerkmale berücksichtigen, wie sie nach Kant nur von jemand manifest gemacht werden können, der die von ihm erfüllte Bedingung der reinen räumlichen Anschauung auch empirisch fungibel machen kann und eine Handlung, sofern sie ζ. B. im Gehen besteht, eindeutig von einer Handlung unterscheiden

Bedingungen der Kontextinvarianz (I)

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kann, sofern sie z . B . im Laufen besteht. — Und andererseits: gerade insofern, als die räumliche Orientierung die genuine Form der reinen räumlichen Anschauung des Handelns abgibt, kann man im Hinblick auf diesen formalen Definitionsbereich der reinen räumlichen Anschauung nicht wiederum allein unter dem Gesichtspunkt der Form differenzieren und Orientierungen formal auch schon ohne weiteres voneinander unterscheiden; wollte man von hier aus Orientierungen formal voneinander unterscheiden, dann könnte man beim Stande unserer Erörterung aber vorerst noch gar nichts anderes tun als auf Orientale Kontextvariablen wie „links" und „rechts" zurückgreifen. Aber auch auf diese Weise hätte man die definitorischen Grenzen des gerade formal auf Orientierungen eingeschränkten Manifestationsbereiches der reinen räumlichen Anschauung bereits überschritten. Denn man hätte, streng genommen, Handlungsmerkmale berücksichtigt, wie sie nur von jemand manifest gemacht werden können, der die von ihm erfüllte Bedingung der reinen räumlichen Anschauung auch empirisch fungibel machen kann. Denn, da man eine Orientale Kontextvariable nur dann eindeutig verwenden kann, wenn man sie jeweils auch auf genau eine sinnenfällig manifeste Handlungsorientierung beziehen kann, kann man zwischen Kontextmerkmalen wie der Linksorientierung einer Handlung und der Rechtsorientierung einer Handlung auch nur im Hinblick auf sinnenfällige Beispiele für Handlungsorientierungen eindeutig unterscheiden. Man gelangt also zugegebenermaßen zu einem ziemlich mageren Ergebnis, wenn man die von Kant berücksichtigten Reflexionsbegriffe der Materie und der Form ausdrücklich heranzieht, um herauszufinden, inwiefern man auch bei der Arbeit an einer Raumtheorie wie der bei Kant intendierten Unterscheidungen getroffen hat, die wichtig sind und genau im Sinne der Unterscheidung zwischen Materie und Form plausibel gemacht werden können. Freilich kann man von der Tragweite dieser Unterscheidung nach Kant legitimerweise auch gar nicht mehr verlangen als eine Verständigung darüber, inwiefern ζ. B. auch die subjektive Bedingung der reinen räumlichen Anschauung jedem, der sie erfüllt, gestattet, zu einem in materieller und formaler Hinsicht wohlbestimmten Begriff zu gelangen, nämlich zum (anschaulichen) Begriff der Handlungsorientierung. Man kann sich daher auch schon zufrieden geben, wenn es einem gelungen ist, eine solche reflexive Betrachtung unter den Gesichtspunkten von Materie und Form überhaupt nachzuholen.26 26

Auch Reich (1947) scheint eine Möglichkeit gesehen zu haben, wie man im Rahmen von Kants Raumtheorie mit Hilfe der reflexiven Unterscheidung zwischen Form und Materie

202

Kontext und Kontextinvarianz in Kants Raumtheorie

Für den Studenten von Kants Raumtheorie ist etwas anderes aber genau so wichtig. Bedenkt man nämlich, in welchem Maße er auf Andeutungen Kants und darauf angewiesen ist, den systematischen Einheitsgedanken dieser Theorie auf eigene Faust zu rekonstruieren, dann hat jeder detailliertere Rekonstruktionsvorschlag offenbar auch schon so etwas wie einen systematischen Minimaltest bestanden, wenn sein Inhalt die von Kant geforderte Reflexion unter den Gesichtspunkten von Materie und Form befriedigend überstanden hat. In diesem Zusammenhang hat die Reflexion unter den Gesichtspunkten der Materie und der Form nun aber nicht etwa nur dazu geführt, daß die schon getroffene Unterscheidung zwischen Handlungen und Orientierungen von Handlungen in die Unterscheidung zwischen Materie und Form lediglich abgebildet und so auf einer abstrakteren Ebene gleichsam verdoppelt worden wäre. Gegen dieses Mißverständnis ist man im Rahmen der bisher rekonstruierten Raumtheorie Kants gefeit. Das liegt daran, daß wir mit Hilfe von Kants Unterscheidung zwischen Materie und Form auch differenzieren kann. Allerdings hat Reich seine Vorstellungen noch nicht in konsistenter Form, zumindest noch nicht in ganz klarer Form entwickelt. Denn einerseits charakterisiert er den „Akt der Bewegung" (S. 585) beim „Ziehen der Geraden und Schlagen des Kreises" (S. 584) so, daß für diesen Akt der Bewegung die Anschauung selbst „. . . nur das reine Material (ist)" (S. 585, Hervorhebung von mir, R.E.); andererseits fordert er im Anschluß an KdrV § 26, daß das reine Material „. . . der bloßen Form der Anschauung" (ib., Hervorhebung von mir, R.E.) „durch den Verstand" (ib.) bestimmt sei. Es soll zwar nicht bestritten werden, daß die Anwendung gerade der Reflexionsbegriffe der Form und der Materie iteriert werden kann. Wir werden sogar noch einen für Kants Raumtheorie sehr wichtigen Fall einer solchen iterierten Anwendung kennenlernen (vgl. S. 241/42). Aber wenn diese Iterierung zu Aussagen führt wie denen, daß diese reine Anschauung ein Material sei und daß diese reine Anschauung ein Material habe, dann bleiben mindestens zwei Fragen offen: (1) unter logischen Gesichtspunkten kann man fragen, ob die Aussage, die reine Anschauung habe ein Material, die Aussage einschließt, daß es nicht wahr sei, daß die reine Anschauung ein Material sei, bzw. man kann fragen, ob die Aussage, die reine Anschauung sei ein Material, die Aussage einschließt, daß es nicht wahr sei, daß die reine Anschauung ein Material habe-, (2) oder man kann fragen, ob der Autor solcher Aussagen andeuten will, daß das Material, das die reine Anschauung selber sein soll, zum Beispiel in dem Sinne ein anderes Material ist als das Material, das die reine Anschauung haben soll, als das Material, das die reine Anschauung hat, eine andere Form hat als das Material, das die reine Anschauung selber sein soll. (Die sachliche Verlegenheit vor diesen Problemen, die sich abstrakt als Probleme der trefflichen Iteration der Reflexionsbegriffe der Form und Materie beschreiben lassen, haben Marc-Wogau (1932) bewogen, in Formeln wie „Dialektik des Raumbegriffes" (S. 177), „Dialektik der Raumbestimmungen" (S. 201) und „Dialektik der kantischen Raumlehre" (S. 264, vgl. S. 297) auszuweichen.) Diese bei Reich offen gebliebenen Fragen haben wir insofern beantwortet, als wir Handlungen, sofern sie orientiert sind, als das Material der reinen räumlichen Anschauung beschrieben haben und als wir Orientierungen als die charakteristische räumliche Form dieses Materials der reinen räumlichen Anschauung beschrieben haben.

Bedingungen der Kontextinvarianz (I)

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sogleich in einem Zusammenhang differenzieren können, in dem wir bislang überhaupt noch nicht unter irgendeinem Gesichtspunkt zu größerer Klarheit gelangen konnten. Es hatte sich ja gezeigt, daß Handlungen, sofern sie orientiert sind, den Argumentbereich der Manifestationsfunktion bilden, wie jemand sie nur dann, wenn er die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt, trefflich ausüben kann, indem er beispielsweise Orientale Kontextvariablen korrekt verwendet. Und es hatte sich gezeigt, daß jede jeweils sinnenfällig manifeste Handlungsorientierung in den Wertebereich dieser Manifestationsfunktion fällt. Argumentbereich und Wertebereich dieser Manifestationsfunktion hängen, wie wir uns klar gemacht haben, insofern miteinander zusammen, als jeder, der diese Manifestationsfunktion trefflich ausüben kann, sich diese beiden Bereiche nur vermöge derselben von ihm erfüllten Bedingung, nämlich vermöge der reinen räumlichen Anschauung erschließen kann. Diese Ubereinstimmung kann man unter Kants primären reflexiven Gesichtspunkten nun aber zusätzlich aus dem entgegengesetzten Blickwinkel beleuchten. Denn man kann mit ihrer Hilfe feststellen, daß jeder insofern, als er die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt, in materieller und formaler Hinsicht dieselben Sachverhalte manifest macht, wenn er eine sinnenfällige Handlung im Hinblick auf ihre Orientierung trefflich charakterisiert und wenn er die Rede von einer Handlungsorientierung überhaupt sinnvoll und eindeutig verwendet. Nun kann man gegenüber der zuletzt getroffenen Feststellung einen einleuchtenden Vorbehalt anmelden. Man kann an dieser Stelle nämlich geltend machen, daß man mit Hilfe von Ausdrücken wie „links" und „rechts" sinnenfällige Handlungen doch jedenfalls in einem unterschiedlichen Sinne oriental charakterisieren kann. Die Orientalen Kontextvariablen, die man bei der Rede von einer linksorientierten und von einer rechtsorientierten Handlung verwendet, mögen zwar durchweg vieldeutig sein und grundsätzlich immer erst durch einen jeweils noch auszuzeichnenden Handlungskontext eindeutig gemacht werden können. Aber zu den Voraussetzungen eines auch nur verbal eindeutigen Gebrauchs verschiedener Kontextvariablen wie „links" und „rechts" gehört offenbar auch die Voraussetzung, daß sinnenfällig manifeste Handlungen oriental auch unterschiedlich charakterisiert werden können: wenn jemand die Kontextvariable „links" verwendet, dann hat er eine andere Handlungsorientierung im Auge als wenn er die Kontextvariable „rechts" verwendet. Wenn die eindeutige Verwendung einer Orientalen Kontextvariablen aber von einem jeweils immer wieder von neuem zu fixierenden Handlungs-

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Kontext und Kontextinvarianz in Kants Raumtheorie

kontext abhängt, dann ist nicht ohne weiteres klar, inwiefern auch im Hinblick auf die Verwendung solcher Orientalen Kontextvariablen noch sinnvoll davon die Rede sein kann, daß jemand in formaler und materieller Hinsicht denselben Sachverhalt manifest macht, wenn er ζ. B. die Linksorientierung einer sinnenfälligen Handlung manifest macht, indem er die Orientierung dieser Handlung mit Hilfe der Kontextvariablen „links" eindeutig erwähnt, wie wenn er den operationalen und Orientalen Sinn der Rede von einer „linken" Hand manifest macht, d. h. versteht. Denn der Sachverhalt, von dem man redet, wenn man mit Hilfe der Kontextvariablen „links" eineindeutig von der Orientierung einer sinnenfälligen Handlung redet, ist ja gerade in formaler Hinsicht nicht derselbe Sachverhalt wie der Sachverhalt, von dem man redet, wenn man entweder 1) lediglich von einer Handlungsorientierung oder 2) von der Linksorientierung einer Handlung ohne Rekurs auf einen konkreten Handlungskontext redet. Denn entweder redet man ad 1) weniger bestimmt von einem Sachverhalt, wenn man lediglich von einer Handlungsorientierung statt von der Linksorientierung einer Handlung redet, oder ad 2) man redet, wie wir ja ausführlich plausibel gemacht haben, gar nicht eindeutig von der Orientierung einer Handlung, wenn man von der Linksorientierung einer Handlung redet, ohne sich auf genau einen konkreten Handlungskontext zu beziehen. Wenn wir unseren Rekurs auf die Reflexionsbegriffe der Form und der Materie mit der Feststellung resümiert haben, daß jeder, der die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt, diese Bedingung in formaler und materieller Hinsicht im Hinblick auf dieselben Sachverhalte fungibel machen kann, gleichgültig, ob es um die Orientierung einer sinnenfälligen Handlung (Wertebereich der Manifestationsfunktion) oder um den Sachverhalt geht, von dem man sinnvoll und eindeutig redet, wenn man überhaupt von einer Handlungsorientierung als solcher lediglich redet (Argumentbereich der Manifestationsfunktion), dann ist die Richtigkeit dieser Feststellung also offenbar deswegen fraglich, weil bis jetzt überhaupt noch nicht klar ist, ob überhaupt und wenn ja inwiefern eine sprachlich formulierte Orientale Charakteristik einer sinnenfällig manifesten Handlung überhaupt eine formale Charakteristik dieser Handlung sein kann. Denn, wenn man ausschließlich über Orientale Kontextvariablen verfügt, um Orientale Handlungscharakteristiken zu liefern, dann formuliert man ja noch gar keine formale Charakteristik der Orientierung einer sinnenfällig manifesten Handlung, wenn man eine Orientale Kontextvariable jeweils im Hinblick auf eine sinnenfällige Handlungsweise ver-

Bedingungen der Kontextinvarianz (I)

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wendet. Denn auf diese Weise nimmt man ja lediglich eine eineindeutige Zuordnung zwischen einer sprachlichen Handlung, nämlich ζ. B. dem ,,links-".Sdge« bzw. dem Dokument dieser sprachlichen Handlung, nämlich dem Wort „links", und einer nichtsprachlichen Handlung vor. Aber eine solche Zuordnung ist nicht selber eine formale, sprachlich formulierte Charakteristik der Orientierung einer Handlung. Wir fragen daher: kann man Orientierungen von Handlungen formal charakterisieren oder nicht? Entpuppt sich die Unterscheidung zwischen Materie und Form als eine Unterscheidung, die schon dann gleichsam leerläuft, wenn man mit ihrer Hilfe nicht mehr nur den Unterschied zwischen Handlungen als solchen und Orientierungen als solchen charakterisieren möchte, sondern wenn man auch Handlungsorientierungen selber und im einzelnen wie ζ. B. die Linksorientierung einer Handlung oder die Rechtsorientierung einer Handlung formal charakterisieren möchte ? Man kann diese Frage mit Kants Mitteln beantworten, wenn man Orientierungen von Handlungen erwähnt, indem man auf die Reflexionsbegriffe der Einerleiheit und Verschiedenheit sowie der Einstimmung und des Widerstreits zurückgreift. Wir haben von dieser Möglichkeit ja schon im Vorbeigehen teilweise Gebrauch gemacht (vgl. S. 110, 119). Aber die Frage, ob und wenn ja inwiefern Orientierungen von Handlungen formal charakterisiert werden können, ist, wenn ich Kant richtig verstehe, auf dem von uns vorgeschlagenen Weg in Kants Raumtheorie die der Methode nach erste Sachfrage, die man — wenn überhaupt — nur dann positiv entscheiden kann, wenn man auf diese von Kant explizit berücksichtigten reflexiven Unterscheidungen zurückgreift. Was es dann im übrigen mit jener Orientalen Handlungscharakteristik im einzelnen auf sich hat, in die wir Kants Bemerkung zur Dreidimensionalität des Raumes im Vorbeigehen übergeführt haben (vgl. S. 119ff.), wird sich an seinem Ort noch zeigen lassen (vgl. S. 241/242 u. § 23), nachdem wir uns zunächst erst einmal klargemacht haben, was der Rekurs auf die Unterscheidung zwischen Einerleiheit und Verschiedenheit bzw. Einstimmung und Widerstreit leistet, wenn man Orientierungen von Handlungen formal charakterisieren möchte. Wenn man nun schon einmal die von Kant berücksichtigten reflexiven Bestimmungen teilweise benutzt hat und widersinnige Orientierungen von Handlungen ausdrücklich von einer einerleisinnigen Orientierung einer Handlung unterschieden hat, dann ist es ersichtlich fast nur noch eine Routineangelegenheit, auch die verschiedensinnige Orientierung einer Handlung und — wenn wir Kants Rede von der „Einstimmung" unserer

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Kontext und Kontextinvarianz in Kants Raumtheorie

Ausdrucksweise um der Einheitlichkeit willen so anpassen dürfen — ebensinnige Orientierungen von Handlungen als solche zu erwähnen. Was hat man damit gewonnen? Da wir uns mit den semantischen und syntaktischen Eigenschaften der Links- bzw. Rechtscharakteristiken bisher schon einigermaßen vertraut gemacht haben, wollen wir zunächst fragen, was man im Hinblick auf das Problem der formalen Charakteristik von Handlungsorientierungen gewonnen hat, wenn man sowohl eine linksorientierte Handlung wie auch eine rechtsorientierte Handlung als Beispiel für ein Element aus einem Paar widersinnig orientierter Handlungen auffassen kann. Hier hat man zunächst und vor allem die Bestimmungen zu berücksichtigen, wie wir sie im Hinblick auf widersinnig orientierte Handlungen schon getroffen haben, als wir festgestellt haben, inwiefern der Unterschied beispielsweise zwischen einer linken Hand und einer rechten Hand auf den Unterschied zwischen einer linksorientierten Handlung und einer rechtsorientierten Handlung zurückgeführt werden kann. In unserem jetzigen Zusammenhang kommt es dabei vorzugsweise auf dasjenige formale Merkmal des Unterschiedes zwischen einer linken und einer rechten Hand an, dem man in der operational-orientalen Charakteristik dieses Unterschiedes mit der Feststellung Rechnung trägt, daß eine Handlung Η dann beispielsweise linksorientiert ist, wenn eine andere Handlung H ' rechtsorientiert ist und die Handlungen Η und H' widersinnig orientiert sind. Wenn man nämlich die widersinnigen Orientierungen zweier Handlungen Η und H' als eine notwendige Bedingung dafür einführen kann, daß die Handlung H' rechtsorientiert ist, wenn außerdem die Handlung Η linksorientiert ist, dann liegt die Erwägung nahe, den Ausdruck „widersinnig" in diesem Zusammenhang als einen zweistelligen Prädikator „WS" so einzuführen, daß man mit seiner Hilfe von der Linkscharakteristik L (O(H)) unter der weiteren Voraussetzung, daß Ws (O(H), O(H')), auf Grund der Implikation ( V H ) ( V H ' ) [(L(0(H)) A Ws (O(H), 0(H'))) -> R (O(H'))]

Bedingungen der Kontextinvarianz (I)

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zu der Rechtscharakteristik R(0(H')) übergehen kann. Allgemein gilt dann: (1)

(VH)(VH')[(L(O(H)) Λ Ws(O(H),O(H'))) - R(0(H'))],

und — wie man hier wohl ohne weiteres feststellen kann —: (2)

(V Η) ( V H ' ) [(R (O(H)) Λ Ws (O(H), O(H'))) - L(O(H'))].

Damit haben wir aber auch schon alle Bedingungen erwähnt, die man berücksichtigen muß, wenn man sich von Kant durch den Reflexionsbegriff des Widerstreits zunächst einen Wink hat geben lassen, auf den es ankommt, wenn man mit den von Kant entwickelten Mitteln formale Charakteristiken von Handlungsorientierungen möchte entwerfen können. Überprüft man nämlich die Art und Weise, in der wir zuletzt sowohl die Linksorientierung einer Handlung wie auch die Rechtsorientierung einer Handlung näher bestimmt haben, dann findet man leicht, daß diese Linksorientierung und diese Rechtsorientierung hier eindeutig und formal charakterisiert werden. Die Eindeutigkeit liegt hier schon fast auf der Hand: denn, wenn eine von zwei widersinnig orientierten Handlungen linksorientiert — und nur so orientiert — ist, dann ist die andere dieser beiden widersinnig orientierten Handlungen rechtsorientiert — und zwar nur so orientiert; und wenn eine von zwei widersinnig orientierten Handlungen rechtsorientiert — und nur so orientiert — ist, dann ist die andere von ihnen linksorientiert — und zwar nur so orientiert. Schwieriger ist es nun schon, genau anzugeben, inwiefern die getroffenen und in (1) und (2) noch einmal präzisierten Formulierungen denn nun auch eine formale Charakteristik der Linksorientierung einer Handlung bzw. der Rechtsorientierung einer Handlung liefern. Hierzu muß man zunächst bedenken, welcher Mangel einen legitimiert, die Verwendung einer Orientalen Kontextvariablen wie „links" mit der Feststellung zu kritisieren, daß ihre Verwendung dann noch nicht eine formale Orientale Handlungscharakteristik liefen, wenn die Rede von einer linksorientierten Handlung jeweils in Bezug auf genau einen Handlungskontext bereits eindeutig gemacht worden ist. In diesem Zusammenhang hatten wir ja schon herausgestellt (vgl. S. 205f.), inwiefern die Verwendung einer orien-

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Kontext und Kontextinvarianz in Kants Raumtheorie

talen Kontextvariablen streng genommen niemals eine formale Charakteristik der Orientierung einer Handlung liefert: wird eine Orientale Kontextvariable im Zusammenhang der Rede von einer beispielsweise linksorientierten Handlung nämlich lediglich verbal verwendet, ohne daß man genau einen konkreten Handlungskontext in diese verbale Verwendung einbezieht, dann ist gar nicht eindeutig von einer Handlungsorientierung die Rede; wird beim Reden von einer linksorientierten Handlung dagegen genau ein konkreter Handlungskontext in die Verwendung der einschlägigen Orientalen Kontextvariablen einbezogen, dann ist lediglich die Beziehung zwischen der Rede von einer linksorientierten Handlung und einem Handlungskontext eineindeutig, aber — streng genommen — nicht die Rede von einer linksorientierten Handlung wird dadurch eindeutig. Wenn man mithin fragt, ob eine bestimmte Formulierung eine Handlungsorientierung formal charakterisiert oder nicht, und macht die positive Antwort allein von der Voraussetzung abhängig, daß diese Formulierung eine Handlungsorientierung eindeutig charakterisiert, dann liefert eine Formulierung, in der nur Orientale Kontextvariablen verwendet werden, alleine schon deswegen niemals eine formale Charakteristik einer Handlungsorientierung. Wenn aber die Implikationen, wie wir sie in (1) und (2) wiedergegeben haben, Handlungsorientierungen insofern formal charakterisieren als sie sie eindeutig charakterisieren — was verleiht diesen Formulierungen im Gegensatz zu Formulierungen, in denen ausschließlich Orientale Kontextvariablen verwendet werden, Eindeutigkeit? Wieso, so können wir diese Frage ja auch gleich konkretisieren, verleiht der explizite Rekurs auf die widersinnigen Orientierungen zweier Handlungen der Formulierung, mit der man auf diese widersinnigen Orientierungen rekurriert, Eindeutigkeit? Zunächst ist klar: wenn man feststellt, daß (1') von zwei widersinnig orientierten Handlungen Η und H ' die Handlung H ' dann rechtsorientiert ist, wenn die Handlung Η linksorientiert ist, dann verleiht der ausdrückliche Rekurs dieser Feststellung auf die widersinnigen Orientierungen dieser Handlungen weder der Rede von einer linksorientierten Handlung noch der Rede von einer rechtsorientierten Handlung Eindeutigkeit. Wer im Anschluß an die Feststellung (1') von einer linksorientierten Handlung redet, charakterisiert die Linksorientierung einer Handlung auch insofern noch nicht eindeutig; und auch, wer im Anschluß an dieselbe Feststellung (1') von einer rechtsorientierten Handlung redet, charakterisiert die Rechtsorientierung einer Handlung insofern ebenfalls noch nicht ein-

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deutig. In beiden Fällen ist Eindeutigkeit nach wie vor nur in Form eines eineindeutigen Bezuges zwischen der Rede von der jeweiligen Handlungsorientierung und genau einem konkreten Handlungskontext möglich. Wer im Anschluß an die Feststellung ( Γ ) von einer linksorientierten Handlung redet, charakterisiert nämlich eindeutig vielmehr nur eine andere Handlungsorientierung als wenn er stattdessen oder vorher oder nachher von einer rechtsorientierten Handlung redet — und auch dies nur dann, wenn er seinen Gebrauch der Worte „links" und „rechts" als orientaler Kontextvariablen außerdem noch im Sinne der Implikationen (1) und (2) festgesetzt, normiert hat. Was somit die Rede von einer linksorientierten Handlung und die Rede von einer rechtsorientierten Handlung anlangt, so gestattet der Rückgriff auf das Merkmal der widersinnigen Orientierung zweier Handlungen zunächst lediglich, den Gebrauch der Worte „links" und „rechts" als orientaler Kontextvariablen eindeutig zu normieren, nicht aber auch schon, eine linksorientierte Handlung als solche und eindeutig oder eine rechtsorientierte Handlung als solche und eindeutig zu charakterisieren. Aber dies ist noch nicht alles und noch nicht einmal das wichtigste. Hinzu kommt nämlich vor allem, daß man durch Erwähnen der widersinnigen Orientierungen zweier Handlungen nicht bloß den Gebrauch zweier Worte sinnvoll und eindeutig normieren kann. Den Gebrauch der Worte „links" und „rechts" als orientaler Kontextvariablen kann man ja auch ohne diesen Rückgriff eindeutig festsetzen. Denn man kann ja sinnvoll und auch eindeutig festsetzen, man wolle, was die Orientalen Kontexvariablen „links" und „rechts" anlangt, das Wort „links" niemals anstatt des Wortes „rechts" bzw. umgekehrt verwenden. Aber das Erwähnen der widersinnigen Orientierungen zweier Handlungen eignet sich nicht nur, den Gebrauch von jeweils zwei Wörtern als orientaler Kontextvariablen eindeutig festzulegen. Es kommt hier vor allem darauf an zu berücksichtigen, daß die widersinnigen Orientierungen zweier Handlungen selber — wie die Linksorientierung einer Handlung und die Rechtsorientierung einer Handlung — ein orientales Handlungsmerkmal abgibt. Dieses Orientale Handlungsmerkmal gehört zwar offenkundig zu einem ganz anderen Typ orientaler Handlungsmerkmale als die beiden erwähnten Orientalen Kontextmerkmale — man braucht hier ja nur einmal daran zu denken, daß dieses Merkmal im Rahmen eines zweistelligen Prädikatausdrucks „ . . . und sind widersinnig orientiert" und nicht im Rahmen eines einstelligen Prädikatausdrucks „ . . . ist linksorientiert" oder „ . . . ist rechtsorientiert" erwähnt wird. Entscheidend ist jedoch: 1) die

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Kontext und Kontextinvarianz in Kants Raumtheorie

Rede von den widersinnig orientierten Handlungen liefert eine Orientale Handlungscharakteristik, die unabhängig von und invariant gegenüber jedem konkreten Handlungskontext eindeutig ausfällt; 2) der Rückgriff auf diese Orientale Handlungscharakteristik gestattet einem, Elemente von Paaren von Worten wie „links" und „rechts" als Orientale Kontextvariablen und eindeutig zu verwenden, ohne daß deswegen die Rede von einer linksorientierten Handlung auch schon ohne Bezug auf einen konkreten Handlungskontext eindeutig ausfiele und ohne daß deswegen die Rede von einer rechtsorientierten Handlung auch schon ohne Bezug auf einen konkreten Handlungskontext eindeutig ausfiele. Kann man die beiden Behauptungen 1) und 2) mit Kants Mitteln plausibel machen? Was zunächst die Behauptung 1) anlangt, die Rede von zwei widersinnig orientierten Handlungen falle unabhängig von und invariant gegenüber jedem konkreten Handlungskontext eindeutig aus, so muß man bedenken, daß Kant den Reflexionsbegriff des Widerstreits im Zusammenhang mit drei anderen Reflexionsbegriffen einführt und diese vier Reflexionsbegriffe überdies auch noch in einer bestimmten Ordnung einführt und diskutiert. Kant bringt diese vier Reflexionsbegriffe der Einerleiheit und Verschiedenheit sowie der Einstimmung und des Widerstreits nämlich paarweise in die Diskussion (vgl. KdrV A 261, Β 317ff.) und erörtert sie auch entsprechend paarweise (vgl. KrdV A 263, Β 319/A 265, Β 321). Uberlegt man sich daher, ob man die Art des Zusammenhanges, der zwischen diesen vier Reflexionsbegriffen besteht, formal charakterisieren kann, dann wird man alsbald unter anderem auch auf die Möglichkeit aufmerksam werden können, daß sie im Rahmen eines definitorischen oder quasi-definitorischen Systems zusammenhängen. Da wir uns hier zunächst für die Anwendung dieser reflexiven Unterscheidungen auf Handlungsorientierungen interessieren, wollen wir dieses System zunächst auch nur in Gestalt dieser speziellen Anwendung studieren.27 Halten wir uns hier an die schon vereinbarte einheitliche Ausdrucksweise (vgl. S. 205/206), dann haben wir es mit den beiden einstelligen Prädi27

Reich (1932) hat die von Kant herausgestellten reflexiven Unterscheidungen in einem ganz andersartigen Zusammenhang herangezogen, um die von ihm unterstellte Richtigkeit der These zusätzlich zu testen, daß über die von Kant ermittelten vier Klassen von Urteilsformen hinaus insofern keine anderen Klassen von Urteilsformen des von Kant intendierten Typs mehr ermittelt werden können, als die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen diesen Typen bzw. Klassen mit Hilfe dieser reflexiven Untercheidungen erschöpfend charakterisiert werden können (vgl. Reich, S. 80/83, 89/90). Zu der Frage, welche Probleme man im Anschluß an Reichs Vorgehen in diesem Zusammenhang noch zu diskutieren hat, vgl. S. 222 34 meiner Untersuchung.

Bedingungen der Kontextinvarianz (I)

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katausdrücken „ . . . ist einerleisinnig orientiert" und „ . . . ist verschiedensinnig orientiert" sowie mit den beiden zweistelligen Prädikatausdrücken „ . . . und — sind widersinnig orientiert" und „ . . . und sind ebensinnig orientiert" zu tun. Formuliert man die Vollausdrücke dieser Prädikatausdrücke mit symbolischen Mitteln, indem man also auch Handlungen explizit berücksichtigt, dann erhält man: (A) E S (O(H)), V s (O(H)); Ws (O(H), O(H')), E b s (O(H), O(H')). Zwischen diesen Orientalen Handlungscharakteristiken bestehen nun offenbar die folgenden Beziehungen: 11. 12.

(VH) ( E s (O(H)) ** - V s (O(H))) (VH) (Vs (O(H)) ^ - E s (O(H))).

Nimmt man zusätzlich zu den beiden unter (A) gegebenen zweistelligen Prädikaten noch die Bedingung „ . . . und — sind nichtwidersinnig und nichtebensinnig orientiert", abgekürzt: „ . . . und --- sind Vsinnig orientiert", hinzu, dann kann man noch die beiden folgenden Beziehungen beschreiben: 111.

(

112.

(VH) (VH') [(Ebs ( 0 ( H ) ,

28

H) (VH') [(Ws (O(H), O(H'))) O(H')))

« (~

E b s (O(H), O(H')) - , V (O(H), 0 ( H ' ) ) ) ]

- ( ^ W s (O(H), 0 ( H ' ) ) ~ - V ( 0 ( H ) , O(H')))]. 2 8

In den Äquivalenzen III. und 112. deutet das Zeichen „ >-* " die aussagenlogische Verknüpfung der ,Bisubtraktion' (Lorenzen) an, die genau dann wahr ausfällt, wenn die verknüpften Sätze dem Bivalenzprinzip genügen und verschiedene Wahrheitswerte haben, sonst falsch. — Herr Professor G . Patzig hat mich darauf aufmerksam gemacht, daß es aus sachlichen Gründen nötig sei, eine Bedingung wie die V-sinnige Orientierung zu berücksichtigen. Die Behauptung, daß es hier genau auf die Bisubtraktion mit dieser Bedingung der nicht-V-sinnigen Orientierung ankommt, geht auf mein Konto. — Man kann die Ausdrücke II.—112. aus formalen Gründen bekanntlich nicht sämtlich als Definitionen auffassen. Denn in der Äquivalenz II. wird das Prädikat der nichtverschiedensinnigen Handlungsorientierung benutzt, um die einerleisinnige Handlungsorientierung zu charakterisieren; und in der Äquivalenz 12. wird das Prädikat der nichteinerleisinnigen Handlungsorientierung benutzt, um die verschiedensinnige Handlungsorientierung zu beschreiben. Formal begeht man also einen Zirkel, durch den man bekanntlich vereitelt, daß die beteiligten Äquivalenzen Definitionen sind. Andererseits: da die Bedingung, V-sinnig orientiert zu sein, selber auch mit Hilfe der Prädikate der widersinnigen Handlungsorientierungen und der ebensinnigen Handlungsorientierungen definiert ist, nämlich so: V ( O ( H ) , O ( H ' ) ) ^ - . W s (O(H), O ( H ' ) ) Λ —> E b s (O(H), O ( H ' ) ) ,

212

Kontext und Kontextinvarianz in Kants Raumtheorie

kann man diese Bedingung nicht, ohne in einen Zirkel zu geraten, ihrerseits benutzen, um diese beiden Begriffe zu definieren. (Ein konkretes Beispiel für Orientierungen von wenigstens zwei Handlungen, die weder widersinnig noch ebensinnig ausfallen, bietet etwa das Orientale Merkmal, das in Kants Beschreibung der Dreidimensionalität des Raumes die zentrale Rolle spielt, nämlich das Merkmal von wenigstens zwei und höchstens drei Handlungen, senkrecht zueinander orientiert zu sein.) Daß nun die Äquivalenzen II.— 112. aus den angegebenen formalen Gründen nicht sämtlich Definitionen sind, könnte man an sich als einen bloßen Schönheitsfehler abtun. Man könnte ja entsprechend viele, nämlich drei von den unter (A) gegebenen Prädikaten als primitive Prädikate einführen, die jedenfalls mit den von Kant explizit oder implizit bereitgestellten Mitteln nicht definiert werden können. Man könnte dann noch die Arbeitshypothese benutzen, daß diese aus formalen Gründen primitiven Prädikate womöglich im Rahmen eines anderen Systems von Prädikaten definiert werden können. Aber mit einer solchen formalen Reflexion darf man sich in Kants Rahmen doch nicht zufrieden geben. Denn dieses scheinbar bloß formale definitionstechnische Problem hat hier aus sachlichen Gründen eine besondere Tragweite. Das liegt daran, daß die Einführung dieser primitiven Prädikate hier ja von vornherein in eine Theorie eingebunden ist, die unter anderem besagt, daß jemand Handlungsorientierungen nur dann sinnvoll und eindeutig charakterisieren und dann auch voneinander unterscheiden kann, wenn er die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt. Im Rahmen von Kants Ansatz, wie wir ihn hier zu verstehen versuchen, ist ein primitives Prädikat primitiv dann aber gar nicht nur in Bezug auf ein bestimmtes System von Prädikaten, sondern auch in Bezug auf eine Instanz, sofern diese Instanz eine bestimmte Bedingung erfüllt. In einer Theorie, die so ansetzt, ist dann aber an die Seite des Problems, ob irgendein Prädikat im Rahmen eines bestimmten Prädikatsystems primitiv oder stattdessen definiert ist, noch ein ganz anderes Problem getreten, nämlich in Gestalt der Frage: ,kann man über eine Bedingung, die jeder insofern erfüllt, als er Handlungsorientierungen als solche charakterisieren kann und dann auch voneinander unterscheiden kann, in wohlbestimmter Weise Rechenschaft ablegen?'. Als Kriterium dafür, daß eine solche Bedingung im Sinne Kants wohlbestimmt ist, schlage ich nun die Vollständigkeit der Menge derjenigen Prädikate vor, wie jemand sie sinnvoll und eindeutig verwenden kann, wenn er, im Falle unseres Problems, die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt: jemand erfüllt die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung genau dann, wenn er (1) einerleisinnig, verschiedensinnig, widersinnig bzw. ebensinnig orientierte Handlungen als solche charakterisieren und diese Handlungsorientierungen auch voneinander unterscheiden kann und wenn (2) die in (1) verwendeten Orientalen Handlungsprädikate alle Prädikate ausmachen, mit deren Hilfe Handlungen im Hinblick auf Orientierungen charakterisiert werden können (die Zuhilfenahme logischer Konstanten wie in II. —112. ist also mit den Teilbedingungen (1) und (2) verträglich!). Von dem ausschlaggebenden, formalen Test auf diese Vollständigkeit kann man dann verlangen, daß man jedes Prädikat aus der Prädikatenmenge, deren Vollständigkeit behauptet wird, ausschließlich mit Hilfe irgendwelcher anderen Prädikate aus derselben Menge (unter eventueller Zuhilfenahme logischer Konstanten) bestimmen kann. In den Äquivalenzen II.—112. legt sich, so besehen, eine Instanz, die die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt und insofern Handlungsorientierungen überhaupt als solche charakterisieren kann, lediglich in logisch definiten Formen noch einmal Rechenschaft darüber ab, daß sie die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt. — Wenn man das Definitionsproblem in dieser Weise mit der Aufgabenstellung der kantischen Subjektivitätsphilosophie verknüpft, dann scheint es erlaubt zu sein, die Äquivalenzen II.—112. wegen der Vollständigkeit der Menge der in ihnen verwendeten Prädikate und trotz der formalen Primitivität einiger dieser Prädikate in einem entsprechend modifizierten Sinn dennoch als Definitionen aufzufassen. Zugleich ist damit eine Stelle bezeichnet, an der man sich nicht mehr damit begnügen kann, Kants Lehre von der reinen

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Weswegen ist man nun aber unter den Vorzeichen zunächst der Äquivalenz II. 1 zu der Behauptung berechtigt, die Rede von zwei widersinnig orientierten Handlungen falle unabhängig von jedem konkreten Handlungskontext eindeutig aus? Ich finde, daß die einfachste Antwort in diesem Falle die richtige ist: zu der Behauptung, die Rede von den widersinnigen Orientierungen zweier Handlungen sei unabhängig von jedem konkreten Handlungskontext eindeutig, ist man wegen der Äquivalenz II. 1 berechtigt. Denn mit dieser Äquivalenz formuliert man das, was man meint, wenn man von zwei widersinnig orientierten Handlungen Η und H ' als solchen redet, 1) insofern unabhängig von jedem konkreten Handlungskontext, als man ausschließlich die entweder nichtebensinnigen oder nicht-V-sinnigen Orientierungen von zwei Handlungen Η und H ' und keinen konkreten Handlungskontext als notwendig und hinreichend dafür berücksichtigt, daß die Handlungen Η und H ' widersinnig orientiert sind; und mit derselben Äquivalenz formulierte man das, was man meint, wenn man von zwei widersinnig orientierten Handlungen Η und H ' als solchen redet, 2) insofern eindeutig, als man außer den entweder nichtebensinnigen oder nicht-V-sinnigen Orientierungen zweier Handlungen Η und H ' keine andere Bedingung als notwendig und hinreichend dafür berücksichtigt, daß die Handlungen Η und H ' widersinnig orientiert sind. Analog kann man mit Hilfe der anderen Äquivalenzen die von Handlungskontexten unabhängige Eindeutigkeit der entsprechenden anderen in (A) aufgeführten Orientalen Handlungscharakteristiken plausibel machen. Wir müssen zunächst aber noch die zweite auf S. 209/210 aufgestellte Behauptung plausibel machen, nämlich, daß man Elemente von Paaren von Worten wie „links" und „rechts" dann als Orientale Kontextvariable und eindeutig verwenden könne, wenn zwei Handlungen, wie man sie mit Hilfe dieser Worte im Hinblick auf ihre Orientierungen charakterisieren möchte, widersinnig orientiert sind.

räumlichen Anschauung sachlich zwar zutreffend, aber auch in sachlich harmloser Weise als ein Stück Subjektivitätsphilosophie zu klassifizieren. Vielmehr muß man angesichts der beschriebenen Verknüpfung zwischen Kants Lehre von der reinen räumlichen Anschauung und dem angeschnittenen Definitionsproblem auch mit der Möglichkeit rechnen, daß man wegen der Art und Weise, in der dieses Definitionsproblem in diese spezielle Theorie der Subjektivität eingebunden ist, die Bedingungen modifizieren muß, unter denen ein Prädikat ein primitives und nicht ein definiertes Prädikat ist: denn ein Prädikat ist demnach nicht schon deswegen ein Undefiniertes Prädikat, weil es ein in einer formalen Hinsicht primitives Prädikat ist; vielmehr ist ein Prädikat hier genau dann ein definiertes Prädikat, wenn es zu einer Prädikatenmenge gehört, die in dem angegebenen Sinne vollständig ist.

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Kontext und Kontextinvarianz in Kants Raumtheorie

Im Anschluß an den zuletzt erörterten Zusammenhang liegt es fast schon auf der Hand, daß diese Behauptung gerade insofern berechtigt ist, als die Rede von zwei widersinnig orientierten Handlungen unabhängig von allen Handlungskontexten eindeutig ist. Denn nur, weil die Rede von zwei widersinnig orientierten Handlungen Η und H' eine von allen Handlungskontexten unabhängig eindeutige Orientale Handlungscharakteristik liefert, kann jemand, der über diese Charakteristik verfügt, Worte wie „links" und „rechts" auch eindeutig im Hinblick auf Orientierungen von Handlungen, nämlich im Hinblick auf die Orientierungen von zwei widersinnig orientierten Handlungen Η und H' verwenden: er kann die Verwendung dieser Worte nämlich alternativ eindeutig distribuieren: jedes widersinnig orientierte Gegenstück H' jeder linksorientierten Handlung Η ist rechtsorientiert und jedes widersinnig orientierte Gegenstück H' jeder rechtsorientierten Handlung Η ist linksorientiert; und nur, weil die Rede von zwei widersinnig orientierten Handlungen überhaupt eine Orientale Handlungscharakteristik liefert, können Worte wie „links" und „rechts" auch dann im Orientalen und operationalen Sinne verwendet werden, wenn sie Orientale Kontextvariablen sind. Denn, wenn solche Worte in dem erläuterten Sinne und aus den angegebenen Gründen oriental-operational und eindeutig verwendet werden können, dann können sie auch dann so verwendet werden, wenn sie aus anderen Gründen ihrem semantischen Status nach Kontextvariablen sind.29 Die Tatsache nun, daß die Verwendung orientaler Kontextvariablen im Rekurs auf die widersinnigen Orientierungen zweier Handlungen in dem erläuterten Sinne eindeutig normiert werden kann, ist aber vor allem für unser Hauptproblem, nämlich für die Frage nach Bedingungen wichtig, die Formulierungen orientaler Handlungscharakteristiken Eindeutigkeit 29

In dem so präzisierten Sinne kann man dann auch davon sprechen, daß man die ,Wurzel der Unterscheidung zwischen links und rechts' (Weyl) im Sinn der Rede von den widersinnigen Handlungsorientierungen finde. Im Anschluß an das bisher Entwickelte könnte man auch davon sprechen, daß man diese Wurzel in der reinen räumlichen Anschauung finde. — Mit Hilfe dieser formalen Mittel fällt es auch nicht mehr schwer, genau zu beschreiben, wie ein Taufplan aussieht, über den eine Schöpfungsinstanz verfügt, die als allererstes Schöpfungsstück genau ein Element aus einem inkongruenten Paar irgendwelcher Gegenstände hervorbringen will (vgl. hierzu S. 93 24 ): dieser Taufplan besteht dann nämlich in diesem Punkt in einer Distributionsregel, die besagt: ,wenn im Hinblick auf die erste Schöpfungshandlung Η festgestellt werden kann, daß Η ein widersinnig orientiertes Gegenstück irgendeiner weiteren Schöpfungshandlung H' ist bzw. umgekehrt, dann kann man die Schöpfungshandlung Η sinnvoll und eindeutig mit Hilfe der Kontextvariablen „links" oder stattdessen mit Hilfe der Kontextvariablen „rechts" ansprechen bzw. umgekehrt'. Denn einer solchen Regel liegen ersichtlich im wesentlichen die Sätze (1) und (2) zugrunde.

Bedingungen der Kontextinvarianz (I)

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auch kontextinvariant sichern können. Denn die Orientalen Kontextvariablen geben ja zunächst einmal die einzigen Formen, nämlich die einzigen sprachlichen Formen für die konkreten Handlungskontexte ab, in denen diese Handlungskontexte in der Transzendentalen Logik überhaupt auftauchen können. Denn in der Transzendentalen Logik können ja keine Handlungen und daher Handlungen auch nicht insofern vorkommen, als sie orientiert sind. In der Transzendentalen Logik kann man ja allenfalls Aussagen und andere Redeteile formulieren, in denen man Handlungen und ihre Orientierungen berücksichtigt, indem man sie mit sprachlichen Mitteln erwähnt. Und eine der Aufgaben der Transzendentalen Logik, wie wir sie Kants Intentionen hier hypothetisch unterstellen, besteht nun darin, die Bedingungen ausfindig zu machen, die Orientalen Handlungscharakteristiken eine gegenüber jedem konkreten Handlungskontext invariante Eindeutigkeit verleihen, und darin, solche Orientalen Handlungscharakteristiken auch effektiv zu liefern. Da man aber in der Transzendentalen Logik nicht handeln kann und in diesem Zusammenhang also auch nicht so-oder-so-orientiert handeln kann, sondern da einem auf dem Reflexionsniveau der Transzendentalen Logik höchstens Orientale Kontextvariablen zur Verfügung stehen, wird man die gesuchten Bedingungen kontextinvarianter Eindeutigkeit mit berechtigter Aussicht auf Erfolg wohl auch allenfalls dann finden können, wenn man überlegt, ob und wenn ja inwiefern sich die schon ermittelten vier kontextunabhängig eindeutigen Orientalen Handlungscharakteristiken gerade auch insofern von den Orientalen Kontextvariablen unterscheiden, als sie kontextfrei eindeutig ausfallen. Man braucht diese Frage nur einmal in dieser Form erwogen zu haben, um auch schon auf der richtigen Spur zu sein. Denn, wenn man beispielsweise im Hinblick auf zwei Handlungen Η und H ' sowohl dann eindeutig davon reden kann, daß sie widersinnig orientiert sind, wenn man im Hinblick auf die Handlung Η die Kontextvariable „links" und im Hinblick auf die Handlung H ' die Kontextvariable „rechts" verwendet, wie auch dann eindeutig von ihnen reden kann, wenn man diese Kontextvariablen stattdessen im entgegengesetzten Sinne (.widersinnig'!) distribuiert — wenn man zwei Handlungen Η und H ' im Hinblick auf deren widersinnige Orientierungen mithin invariant gegenüber den möglichen Distributionen von entsprechenden Kontextvariablen eindeutig ansprechen kann, dann kann man zwei Handlungen Η und H ' auf ihre widersinnigen Orientierungen auch invariant gegenüber dem Wandel der konkreten Handlungs&oniexfe eindeutig ansprechen, durch die man den Gebrauch

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Kontext und Kontextinvarianz in Kants Raumtheorie

jeder der beiden wie auch immer distribuierten Kontextvariablen jeweils eindeutig machen möchte. N u n darf man die Kontextinvarianz dieser Orientalen Handlungscharakteristik aber nicht etwa mit ihrer Kontextunabhängigkeit verwechseln. Ihre Kontextunabhängigkeit besteht ja, so haben wir erläutert (vgl. S. 213ff.), darin, daß die Rede von zwei widersinnig orientierten Handlungen mit der Rede von zwei entweder nichtebensinnig oder nicht-Vsinnig orientierten Handlungen — und nur mit ihr — äquivalent ist und schon insofern eindeutig ist und nicht erst insofern eindeutig ist, als man genau einen in zwei widersinnig orientierten Handlungen bestehenden Kontext der Rede von zwei widersinnig orientierten Handlungen konkretisierte. Bei der Kontextunabhängigkeit handelt es sich also um das wichtigste Merkmal der Weise, wie der Sinn der Rede von zwei widersinnig orientierten Handlungen im Rahmen einer Äquivalenz (vgl. III, S. 211) definiert werden kann. Allerdings gibt die so garantierte kontextunabhängige Eindeutigkeit dieser Orientalen Handlungscharakteristik andererseits eine notwendige Bedingung dafür ab, daß man über die Rede von zwei widersinnig orientierten Handlungen auch kontextinvariant eindeutig verfügen kann. Denn ohne auf die kontextunabhängig eindeutige Rede von zwei widersinnig orientierten Handlungen Η und H ' zurückgreifen zu können, könnte man auch nicht die distributive Anwendung der Elemente von Paaren orientaler Kontextvariablen wie „links" und „rechts" auf die widersinnig orientierten Handlungen Η und H ' eindeutig normieren. Würde man andererseits nicht schon im Sinne von Überlegungen, wie wir sie vor allem im § 1 2 angestellt haben, über irgendwelche Orientalen Kontextvariablen sinnvoll verfügen, dann könnte man im Hinblick auf die Verwendungsweise einer Orientalen Handlungscharakteristik wie die Rede von zwei widersinnig orientierten Handlungen gar nicht sinnvoll die Feststellung treffen, daß sie kontextinvariant eindeutig ausfalle. Denn diese Kontextinvarianz gibt zwar offenbar das wichtigste Merkmal der Weise an, wie die Rede von zwei widersinnig orientierten Handlungen verwendet wird, nicht dagegen ein Merkmal der Weise, wie der Sinn dieser Rede definiert wird. Aber da durch das Merkmal der kontextinvarianten Eindeutigkeit gerade der Unterschied markiert ist, der zwischen der Verwendungsweise der Rede von zwei widersinnig orientierten Handlungen und der Verwendungsweise für Orientale Kontextvariable wie „links" und „rechts" als solche besteht, muß man über solche verschiedenartigen Orientalen Handlungscharakteristiken auch schon ausdrücklich verfügen, wenn man die eine von

Bedingungen der Kontextinvarianz (I)

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beiden auf ihre kontextinvariante Eindeutigkeit will festlegen können. Wir wollen uns diesen Zusammenhang daher auch sogleich noch weiter zunutze machen! Denn man kann die Orientalen Kontextvariablen „links" und „rechts" analog wie beim Rückgriff auf die Rede von zwei widersinnig orientierten Handlungen (vgl. S. 216) auch beim Rückgriff auf die drei anderen schon ermittelten Orientalen Handlungscharakteristiken so verwenden, daß plausibel wird, inwiefern auch diese Orientalen Handlungscharakteristiken kontextinvariant eindeutig ausfallen. Wenn man aus der Erörterung der Kontextinvarianz der Rede von den zwei widersinnig orientierten Handlungen die Lehre zieht, an die man sich zu diesem Zweck zu halten hat, dann kommt es ersichtlich darauf an einzusehen, inwiefern eine und dieselbe Orientale Handlungscharakteristik sowohl dann eindeutig ausfällt, wenn die durch sie charakterisierten Handlungen außerdem mit einer Kontextvariablen wie „links" angesprochen wird, wie auch dann eindeutig ausfällt, wenn die mit ihr charakterisierte Handlung stattdessen mit der Kontextvariablen „rechts" angesprochen wird. Man sieht dann leicht, daß die Rede von zwei ebensinnig orientierten Handlungen Η und H ' invariant gegenüber den alternativen Distributionen der Kontextvariablen „links" und „rechts" auf zwei Handlungen Η und H ' eindeutig ausfällt: (VH) ( V H ' ) [(L (O(H)) Λ Ebs (O(H), O(H'))) - L (0(H'))] (VH) ( V H ' ) [(R (O(H)) Λ Ebs (O(H), O(H'))) R (0(H'))]. 3 0 Analog fällt die Rede von einer verschiedensinnig orientierten („krummen", „ungeraden") Handlung Η ersichtlich invariant gegenüber den alternierenden Zuordnungen zwischen einer verschiedensinnig orientierten Handlung Η und Kontextvariablen wie „links" und „rechts" eindeutig aus: (VH) (Vs (0(H)) - L (O(H)) V R (O(H))); 31 30

31

D i e a n d e r e n beiden Implikationen, wie sie sich hier auf G r u n d der Äquivalenz zwischen „ e b e n s i n n i g o r i e n t i e r t " u n d „ e n t w e d e r nichtwidersinnig orientiert oder nicht-V-sinnig o r i e n t i e r t " (vgl. S. 2 1 1 , 112.) ergeben, lasse sich aus G r ü n d e n der Trivialität hier auf sich beruhen. Das Zeichen „ V " ü b e r n e h m e ich von L o r e n z e n (1958), § 4, bes. S. 38/39. Ein j u n k torenlogisch geprägter Satz, dessen H a u p t v e r k n ü p f u n g durch diesen Disjunktor „ V " m a r k i e r t ist, ist, wenn er selber u n d alle seine Teilsätze dem Bivalenzprinzip genügen, genau d a n n falsch, w e n n seine beiden Teilsätze wahr sind, sonst wahr. D a somit eine einschlägige D i s j u n k t i o n auch dann w a h r ist, w e n n ihre beiden Teilsätze falsch sind, wird,

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Kontext und Kontextinvarianz in Kants Raumtheorie

und analog fällt auch die Rede von einer einerleisinnig orientierten („geraden") Handlung ersichtlich invariant gegenüber den alternierenden Zuordnungen zwischen einer einerleisinnig orientierten Handlung Η und Kontextvariablen wie „links" und „rechts" eindeutig aus: (VH) (Es (O(H)) - L(0(H)) V R ( 0 ( H ) ) ) . « Wenn diese Überlegungen triftig sind, dann kann man mit Hilfe der von Kant eingeführten Reflexionsbegriffe der Einerleiheit und Verschiedenheit sowie der Einstimmung und des Widerstreits mithin in Gestalt der Rede von einer einerleisinnig orientierten bzw. verschiedensinnig orientierten Handlung sowie der Rede von zwei widersinnig bzw. ebensinnig orientierten Handlungen vier Orientale Handlungscharakteristiken formulieren, die kontextfrei eindeutig ausfallen. Bringt uns dieses Ergebnis nun aber auch schon bei dem Versuch weiter, Definitionen geometrischer Gegenstandsbegriffe als Orientale Handlungscharakteristiken vorzulegen, die kontextinvariant eindeutig formuliert sind? Nicht unmittelbar. Denn wir können an Hand des bisherigen Ergebnisses zunächst ja nur einige formale Anforderungen konkretisieren, denen solche Definitionen unter der Voraussetzung genügen müssen, daß sie überhaupt als Orientale Handlungscharakteristiken dieses Typs formuliert werden können und daß sie gerade mit den von Kant entwickelten Mitteln der Transzendentalen Logik auf Begriffe gebracht werden können. In diesem Sinne können wir an dieser Stelle immerhin schon einige im Rahmen dieser Transzendentalen Logik formulierbare Voraussetzungen angeben, unter denen man Definitionen geometrischer Gegenstandsbegriffe genauer unter die Lupe nehmen kann. Wir können jetzt nämlich fragen: können und wenn ja inwiefern können Definitionen geometrischer Gegenstandsbegriffe mit Hilfe der vier bisher entwickelten kontextinvariant eindeutigen Orientalen Handlungs-

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in unserem Beispiel, der Möglichkeit formal Rechnung getragen, daß jede verschiedensinnig orientierte Handlung weder links- noch rechtsorientiert ist. Inhaltlich ist durch diese logische Form der Möglichkeit Rechnung getragen, daß jede verschiedensinnig orientierte Handlung stattdessen in einem aufwärts- oder abwärtsorientierten oder in einem vorwärts- oder rückwärtsorientierten Handlungskontext manifest wird. Diese Implikation ist mithin eine systematisch ausgezeichnete Gelegenheit, weitere Orientale Kontextvariablen bzw. weitere Orientale Kontextmerkmale zu berücksichtigen. — Auch hier lasse ich die Implikationen, wie sie sich wegen der Äquivalenz zwischen „widersinnig orientiert" und „entweder nichtebensinnig orientiert oder nicht-V-sinnig orientiert" (vgl. S. 211, I I I . ) ergeben, aus Gründen der Trivialität unerwähnt. S. 2 1 7 3 1 gilt hier entsprechend.

Bedingungen der Kontextinvarianz (I)

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Charakteristiken formuliert werden? Und wir können schon so viel entscheiden: Definitionen geometrischer Gegenstandsbegriffe sind nur insoweit Orientale Handlungscharakteristiken und kontextfrei eindeutig wie sie mit Hilfe der Rede von einer einerleisinnig bzw. verschiedensinnig orientierten Handlung oder von zwei ebensinnig bzw. widersinnig orientierten Handlungen formuliert werden können — wenn sie so formuliert werden können. Nun liegt es zwar auf der Hand, daß man an Kants Leitfaden streng genommen erst im Rahmen der Transzendentalen Deduktion der Kategorien in systemkonformer Weise nach dem gegenständlichen Charakter geometrischer Gebilde bzw. nach der formalen Struktur von Definitionen geometrischer Gegenstandsbegriffe fragen kann. Aber um des leichteren Zugangs willen hatten wir uns vorläufig ja auch mit der Aufgabe begnügt, lediglich so weit in den Text und in die Sachfragen von Kants Transzendentaler Logik hineinzufinden, wie einem dies gelingt, wenn man transzendentale Grammatik' im Hinblick auf Orientale Handlungscharakteristiken treibt — wenn man mithin fragt, ob und wenn ja was für Bedingungen einer Formulierung einer Orientalen Handlungscharakteristik kontextfreie Eindeutigkeit verleihen können, und wenn man fragt, was für Bedingungen von jedem erfüllt werden, der solche Orientalen Handlungscharakteristiken selber formulieren kann (vgl. § 15, S. 184ff.). Wie weit sind wir in diesen Fragen bis jetzt gekommen? Man kann den Stand unserer Erörterungen einigermaßen zuverlässig einschätzen, wenn man zusätzlich bedenkt, inwiefern wir mit den vier zuletzt ermittelten Orientierungen Handlungscharaktere getroffen haben, die den Rahmen zu sprengen scheinen, in dem Orientale Handlungsmerkmale manifest gemacht werden können. Wir hatten ja überlegt, daß man die reine räumliche Anschauung als diejenige Bedingung auffassen kann, unter der jeder, der sie erfüllt, eine Manifestationsfunktion, deren Argumentbereich von Handlungen gebildet wird, sofern sie orientiert sind, so ausüben kann, daß sinnenfällige Handlungen und Orientale Kontextvariablen wie „links" einander sinnvoll und eineindeutig zugeordnet werden. Durch jede treffliche Zuordnung zwischen einer solchen Orientalen Kontextvariablen und einer sinnenfälligen Handlung wird dann insofern der Wertebereich der vermöge der reinen räumlichen Anschauung ausübbaren Manifestationsfunktion um jeweils genau eine bestimmte sinnenfällig manifeste Handlungsorientierung wie beispielsweise die Linksorientierung einer Handlung erweitert (vgl. § 13, S. 162/63).

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Kontext und Kontextinvarianz in Kants Raumtheorie

Es ist nun aber noch gar nicht ohne weiteres klar, was für einen Status man unter diesen Vorzeichen denjenigen Orientalen Handlungscharakteren zu erteilen hat, von denen wir bisher wissen, daß sie unabhängig von und invariant gegenüber jedem konkreten Handlungskontext eindeutig manifest gemacht werden können. Denn von einem Merkmal wie beispielsweise der Linksorientierung unterscheidet sich ein Merkmal wie beispielsweise die einerleisinnige Orientierung doch gerade dadurch, daß sie unabhängig von und invariant gegenüber allen Handlungskontexten eindeutig manifest gemacht werden kann. Solche Orientalen Handlungsmerkmale können insofern von Hause aus gar nicht innerhalb derselben Grenzen manifest gemacht werden wie ein orientales Handlungsmerkmal, das nur im Kontext von jeweils genau einer sinnenfälligen Handlung eindeutig manifest gemacht werden kann. Die Orientalen Handlungsmerkmale, die kontextunabhängig und kontextinvariant eindeutig manifest gemacht werden können, können daher gar nicht im Wertebereich der Manifestationsfunktion vorkommen, wie man sie nur dann trefflich ausüben kann, wenn man die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt. Andererseits ist es fraglich, ob man eine wohlbestimmte Handlungsorientierung wie beispielsweise die einerleisinnige Orientierung ebenso als Argument dieser Manifestationsfunktion auffassen kann wie das noch gar nicht näher bestimmte räumliche Merkmal der Handlungsorientierung überhaupt. N u n kann man einem allerdings nicht prinzipiell oder von vornherein ein für allemal in plausibler Weise vorschreiben, wie weit man im Argumentbereich irgendeiner Funktion zu differenzieren hat und wie man die Grenze zu ziehen hat, jenseits von der der Wertbereich dieser Funktion beginnt. Vielmehr gehört es umgekehrt in jedem Einzelfall von neuem zu den nichttrivialen Sachfragen, die eine Funktion betreffen, auch zu fragen, wie man zwischen Argumentbereich und Wertebereich zu unterscheiden hat. Hier haben wir uns nun allerdings schon insofern festgelegt, als im Wertebereich der von der reinen räumlichen Anschauung geprägten Manifestationsfunktion ausschließlich die genuinen Kontextmerkmale wie die Linksorientierung einer Handlung erschlossen werden. Wir haben daher nur noch zu überlegen, ob es nicht bloß konsequent, sondern auch sachlich legitim ist, die kontextinvariant eindeutig entdeckbaren Orientalen Handlungsmerkmale im Argumentbereich der von der reinen räumlichen Anschauung determinierten Manifestationsfunktion erschließen zu lassen. In diesem Zusammenhang gibt ein schon ermitteltes Ergebnis einen Prüfstein ab. Es hatte sich ja schon gezeigt, daß die kontextunabhängige Eindeutigkeit, mit der man bestimmte Orientale Handlungscharakteristiken

Bedingungen der Kontextinvarianz (I)

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einführen kann, und die kontextinvariante Eindeutigkeit, mit der man diese Charakteristiken verwenden kann, konkret auch darin bestehen, daß eine Handlung Η einerleisinnig orientiert sein kann, gleichgültig, ob sie im übrigen links- oder stattdessen rechtsorientiert ist, und daß sie verschiedensinnig orientiert sein kann, gleichgültig, ob sie im übrigen links- oder stattdessen rechtsorientiert ist, und daß zwei Handlungen Η und H' widersinnig orientiert sein können, gleichgültig, ob sie im übrigen linksbzw. rechtsorientiert oder stattdessen rechts- bzw. linksorientiert sind, und daß sie ebensinnig orientiert sei können, gleichgültig, ob sie linksoder stattdessen rechtsorientiert sind. Es kommt jetzt nämlich noch einmal darauf an zu betonen, daß Worte wie „links" und „rechts" als Variablen fungieren. Denn, wenn man dies berücksichtigt, dann kann man sich sogleich unschwer klar machen, daß man für solche Variablen immer dann, wenn man sie in eine kontextunabhängig und kontextinvariant eindeutige Rede wie beispielsweise die von zwei widersinnig orientierten Handlungen Η und H' einbindet, indem man von der Linksorientierung bzw. Rechtsorientierung oder stattdessen von der Rechts- bzw. Linksorientierung der widersinnig orientierten Handlungen Η und H' redet, einen Argumentbereich festlegt, in dem diese Variablen ihre gemeinsame distributiv eindeutige Verwendung ganz unabhängig davon finden können, wie jede von jeweils zwei widersinnig orientierten Handlungen sinnenfällig ausfällt, die die Kontexte bilden, denen diese Variablen im übrigen jeweils noch zugeordnet werden müssen, wenn jede Variable für sich eindeutig verwendet werden soll. Dabei ist es unerheblich, daß diese Kontextvariablen auf unterschiedliche, mindestens auf viererlei Weise auf einen Argumentbereich — widersinnig orientierte Handlungen, ebensinnig orientierte Handlungen, einerleisinnig orientierte Handlungen, verschiedensinnig orientierte Handlungen — festgelegt werden können. Denn in allen diesen Fällen handelt es sich dann ja bloß um unterschiedliche Differenzierungen innerhalb eines und desselben Argumentbereiches von Handlungen, sofern sie orientiert sind. Wer die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt, kann mithin nicht nur Ausdrücke wie „links" und „rechts" deswegen sinnvoll als Orientale Kontextvariablen verwenden, weil er vermöge dieser reinen räumlichen Anschauung Handlungen als solche und Orientierungen von Handlungen als solche unabhängig davon manifest machen kann, wie die sinnenfälligen Handlungskontexte ausfallen, in denen er diese Worte jeweils verwenden mag (vgl. § 14, S. 68/69). Darüber hinaus kann er die Handlungskontexte, wie sie für die Verwendung orientaler Kontextvaria-

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Kontext und Kontextinvarianz in Kants Raumtheorie

blen überhaupt in Frage kommen, von vornherein vierfältig klassifizieren; denn er kann ja, wie wir uns überlegt haben (vgl. S. 217/18, 221), die Orientalen Kontextvariablen von vornherein auch wahlweise auf jeden einzelnen dieser vier fraglichen Handlungskontexte eindeutig beziehen, indem er links- bzw. rechtsorientierte Handlungen in der Form manifest macht, daß er sie als einerleisinnig orientierte Handlungen oder stattdessen als verschiedensinnig orientierte Handlungen oder stattdessen als widersinnig orientierte Handlungen oder stattdessen als ebensinnig orientierte Handlungen vor Augen führt. 33 Bedenkt man in diesem Zusammenhang auch noch, daß Kant beansprucht, sämtliche Reflexionsbegriffe angegeben zu haben (vgl. KdrV A 269, Β 325ff.), dann kann man sogar noch verschärfen: mit der Rede von der einerleisinnig orientierten Handlung, der verschiedensinnig orientierten Handlung, der ebensinnig orientierten Handlungen bzw. der widersinnig orientierten Handlungen ist die Anzahl der Orientalen Handlungscharakteristiken, die kontextunabhängig und kontextinvariant eindeutig formuliert werden können, indem man explizit ausschließlich auf Reflexionsbegriffe zurückgreift, auch schon erschöpft. 34 Unterstellt man, daß es Kant in der Tat gelungen ist, sämtliche Reflexionsbegriffe zu ermitteln, dann kann man auch noch die Feststellung verschärfen, die die Kompetenz dessen betrifft, der die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt: denn, wer die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt, kann die Handlungskontexte, in denen er Orientale Kontextvariable im Einzelfall verwenden mag, von vornherein dann gar nicht anders klassifizieren als so, wie es ihm die vier kontextunabhängig und kontextinvariant eindeutig formulierbaren Orientalen Handlungscharakteristiken erlauben; und nur, wer die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt, kann sich mit Hilfe dieser vier Orientalen Handlungscharakteristiken über Handlungskontexte ganz unabhängig davon und invariant dagegen eindeutig verständigen, ob oder wie er sich im übrigen mit Hilfe orientaler Kontextvariablen auf Kontexte sinnenfälliger Hand33

34

Man kann insofern den Argumentbereich der von der reinen räumlichen Anschauung geprägten Manifestationsfunktion auch als den Bereich aller möglichen, für die Verwendung von Orientalen Kontextvariablen in Frage kommenden Kontexte auffassen. Hans Lenk (1966) hat zu Recht betont, daß man auch und gerade im Anschluß an den Versuch von Klaus Reich (1932), die Vollständigkeit von Kants vierfältiger Klassifikation der Urteilsformen unter Zuhilfenahme der von Kant exponierten Reflexionsbegriffe zu testen (vgl. Reich, S. 80/83, 89/90), noch zu fragen habe, ob und wenn ja in welchem Sinne diese Reflexionsbegriffe selber ein ,System' bilden, das vollständig ist (vgl. Lenk, S. 31 ff.).

Bedingungen der Kontextinvarianz (I)

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lungen beziehen mag — er kann sich mit ihrer Hilfe, wie man dies in Kants Terminologie auch ausdrücken kann, „a priori" über alle Handlungskontexte verständigen, in denen er Orientale Kontextvariablen im übrigen jeweils de facto verwenden mag. 35 Die zuletzt angestellten Überlegungen (S. 219/23) erläutern, weswegen man nicht zu besorgen braucht, daß die verschiedenen Orientalen Handlungsmerkmale, die man in dem eben angedeuteten Sinne a priori manifest machen kann, jenseits der Grenzen liegen könnten, auf die man den Intentionsbereich der reinen räumlichen Anschauungen festgelegt hat, wenn man herausstellt, inwiefern ihr genuiner Einzugsbereich sich über den Argumentbereich und den Wertebereich der Manifestationsfunktion erstreckt, wie jeder sie trefflich ausüben kann, der diese Bedingung der reinen räumlichen Anschauung überhaupt erfüllt. Es hat sich nämlich herausgestellt, daß man das Merkmal der Handlungsorientierung mit Hilfe der vier vorgelegten Orientalen Handlungscharakteristiken lediglich in unterschiedlicher Weise konkretisiert; damit wird der Argumentbereich der von der reinen räumlichen Anschauung geprägten Manifestationsfunktion aber auch lediglich in unterschiedlicher Weise näher bestimmt, jedoch nicht etwa verlassen — weder zugunsten des Wertebereiches dieser Manifestationsfunktion (sinnenfällig manifeste Handlungsorientierungen), noch zugunsten eines anderen Argumentbereiches (etwas, was entweder nicht orientiert oder nicht eine Handlung wäre). Nach wie vor ist es ja auch um die Frage gegangen, inwiefern von Handlungsorientierungen überhaupt eindeutig die Rede sein kann, und nicht um die Frage, inwiefern von Handlungsorientierungen insofern, als sie nur sinnenfällig manifest ge35

Ich unterstelle hiermit also, daß die kontextunabhängige und kontextinvariante Eindeutigkeit dieser vier Orientalen Handlungscharakteristiken die Bedingung dafür abgibt, daß die vier .Begriffe vom Raum', die sie andeuten, apriorische Begriffe sind. Diesen Explikationsvorschlag für den Begriff der Apriorität werde ich näher erläutern und mehr ins einzelne von Kants Texten gehend rechtfertigen, wenn ich im Zusammenhang mit Kants Kategorienlehre auf den Unterschied zwischen dem apriorischen Ursprung und dem apriorischen Gebrauch von Begriffen eingehe. Es wird sich zeigen, daß man den Sinn von Kants Rede vom apriorischen Ursprung bestimmter Begriffe durch die Bestimmung des kontextunabhängig eindeutigen Einführens und Unterscheidens dieser Begriffe explizieren kann und daß man den Sinn von Kants Rede vom apriorischen Gebrauch bestimmter Begriffe durch die Bestimmung der kontextinvariant eindeutigen Verwendung dieser Begriffe explizieren kann (vgl. vor allem S. 2 8 3 / 2 8 6 ) . - Im übrigen wird durch das Merkmal der Apriorität eines Begriffs, wie zuletzt Kripke (1972) betont hat, der epistemologische Status des Begriffs bestimmt, der so beschrieben wird (vgl. Kripke, S. 260/284): wer einen apriorischen Begriff einführt oder verwendet, tut dies, ohne daß er dabei irgendeinen Sachverhalt berücksichtigt, der zu irgendeinem Kontext der Verwendung dieses Begriffs gehört.

224

Kontext und Kontextinvarianz in Kants Raumtheorie

macht werden können, eindeutig die Rede sein kann. Und dabei sind wir zu dem Ergebnis gekommen, daß der Argumentbereich der von der reinen räumlichen Anschauung bestimmten Manifestationsfunktion in Handlungen besteht, sofern sie entweder einerleisinnig oder verschiedensinnig oder paarweise widersinnig oder wenigstens paarweise ebensinnig orientiert sind. Darüber hinaus haben wir zuletzt gesehen, wie einem die Orientalen Handlungscharakteristiken, mit deren Hilfe man in diesem Argumentbereich in dieser Weise differenzieren kann, aber auch noch gestatten, in eindeutiger Form auf die Handlungskontexte vorzugreifen, in denen jemand Orientale Kontextvariablen verwenden mag. Es versteht sich aber ganz und gar nicht von selbst, daß dies möglich ist. Denn zum Wesen des Handlungskontextes, in dem charakteristischerweise eine Orientale Kontextvariable eindeutig verwendet werden kann, gehört ja, daß diese Kontextvariable nicht verwendet wird, ohne daß zugleich genau eine Handlung vollführt wird, und daß eine Handlung nicht vollführt wird, ohne daß zugleich diese Kontextvariable verwendet wird. Es ist daher nicht nur nicht trivial, daß eine Orientale Kontextvariable überhaupt in irgendeinem Sinne unabhängig von und invariant gegenüber allen Handlungskontexten eindeutig verwendet werden kann. Es ist noch viel weniger trivial, daß man nach solchen nichttrivialen Möglichkeiten der Verwendung orientaler Kontextvariablen sinnvoll, geschweige denn erfolgreich fragen kann. Daher ist es auch kein Zufall, daß wir nach dieser nichttrivialen Form der Verwendbarkeit orientaler Kontextvariablen gar nicht von selbst zielsicher gefragt haben. Wir haben vielmehr erst nachträglich, nämlich nachdem wir die vier a priori eindeutigen Orientalen Handlungscharakteristiken formuliert hatten, feststellen können, daß man in ihrem Rahmen Orientale Kontextvariablen effektiv so verwenden kann (vgl. S. 213ff. bzw. 221 ff.), daß man diese Verwendungsweise nachträglich als die nichttriviale, aber gleichsam durch die Tat gegebene positive Antwort auf die nichttriviale Frage auffassen kann, ob sogar Orientale Kontextvariablen selber in irgendeinem Sinne kontextunabhängig und kontextinvariant eindeutig verwendet werden können. Es fällt nun allerdings nicht mehr schwer, den Grund dafür anzugeben, daß weder diese Frage, noch diese Antwort trivial ausfällt: man muß bereits über die von Kant getroffenen reflexiven Unterscheidungen ausdrücklich verfügen, bevor es einem gelingen kann, Orientale Handlungscharakteristiken so zu formulieren, daß einsichtig werden kann, inwiefern auch noch Worte wie „links" und „rechts" ohne ihren genuinen Hand-

Bedingungen der Kontextinvarianz (I)

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lungskontext eindeutig verwendet werden können. Kurz: diese Zusammenhänge verstehen sich ebenso wenig von selbst wie die Theorie, in der Kant, wenn wir ihn bis jetzt richtig verstanden haben, solche Zusammenhänge zu klären gedachte. Denn die lediglich anhangsweise, fast unscheinbar eingeführten Reflexionsbegriffe bilden ein System von Unterscheidungen, wie sie erst getroffen werden können, wenn „wir uns zuerst dazu anschicken, um die subjektiven Bedingungen ausfindig zu machen, unter denen wir zu Begriffen gelangen können" (KdrV A 260, Β 316). In dieser Situation, die für Kant offenbar den eigentümlichen Beginn jeder reflexiven Bemühung um transzendentale Einsichten markiert, hat man sich prinzipiell auch schon von dem Handlungskontext distanziert, in dem man Orientale Kontextvariablen von Hause aus korrekt verwenden kann. Denn man kann nicht transzendental reflektieren und handeln und Orientale Kontextvariablen trefflich verwenden. Wenn man aber erst einmal nach den Bedingungen gefragt hat, wie sie von jedem erfüllt werden, der zu bestimmten Begriffen gelangen kann, dann ist es, wie das Beispiel Kants zeigt, offenbar nur noch eine Angelegenheit der Zeit, der Mühe und der Findigkeit bei der transzendentalen Reflexion, bis man wie Kant ausdrücklich zwischen Einerleiheit und Verschiedenheit sowie zwischen Einstimmung und Widerstreit ausdrücklich unterschieden hat und die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung als eine Bedingung herausgearbeitet hat, unter der jeder, der sie erfüllt, zu den anschaulichen Begriffen der einerleisinnigen bzw. verschiedensinnigen Handlungsorientierung sowie der ebensinnigen bzw. widersinnigen Handlungsorientierungen gelangen kann. Aber — und das ist hier entscheidend — es bedarf jedenfalls zunächst einmal noch einiger Überlegungen und Entdeckungen Kants, die ganz eigener Art sind, bevor man plausibel machen kann, 1) inwiefern Orientale Handlungscharakteristiken kontextunabhängig und kontextinvariant eindeutig formuliert werden können (vgl. S. 211/13) und 2) inwiefern solche Orientalen Handlungscharakteristiken sogar gestatten, Orientale Kontextvariablen unabhängig und invariant gegenüber allen angestammten Handlungskontexten eindeutig zu verwenden (vgl. S. 213/ 218), und 3) inwiefern man mit Hilfe solcher Orientalen Handlungscharakteristiken die Kontexte für die Verwendung orientaler Kontextvariablen vollständig klassifizieren kann (vgl. 221). Wir haben uns die Überlegungen, aus denen möglichst hervorgehen sollte, daß Kant die von ihm ermittelten Reflexionsbegriffe in einem noch zu bestimmenden Sinne vollständig ermittelt hat, ausdrücklich geschenkt (vgl. S. 222 3 4 ). Gleichwohl kann man die Vollständigkeit zumindest

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Kontext und Kontextinvarianz in Kants Raumtheorie

derjenigen reflexiven Unterscheidungen, die uns in Gestalt ihrer Anwendung auf Handlungsorientierungen hier vor allem interessiert haben, im weiteren Verlauf wenigstens noch in indirekter Weise auf die Probe stellen. Denn angesichts der Tatsache, daß Kant zwischen seiner Raumtheorie und der euklidischen Geometrie einen einzigartig innigen Zusammenhang bestehen sah (vgl. vor allem KdrV, § 3, Β 40/41), kann man mit Hilfe unserer bisher entwickelten Differenzierungen versuchen, einiges Licht auf diesen Zusammenhang zu werfen. Da wir uns thematisch letzten Endes allerdings auf die Definitionen der geometrischen Gegenstandsbegriffe beschränken wollen, werden wir bei diesem Versuch freilich nicht, wie es Kant sogleich vorgeschwebt hat (vgl. loc. cit.), auch schon die geometrischen Axiome, Postulate oder Lehrsätze einbeziehen können. Aber in unserem engerem Rahmen können wir ein Kriterium für die Vollständigkeit der „Begriffe vom Raum" (KdrV Β 160 Anm.) — einerleisinnige Handlungsorientierung, verschiedensinnige Handlungsorientierung, ebensinnige Handlungsorientierungen, widersinnige Handlungsorientierungen — insofern benutzen, als wir diese Vollständigkeit durch die Frage testen können, ob mit Hilfe dieser Unterscheidungen alle geometrischen Gegenstandsausdrücke auf (anschauliche) Begriffe gebracht werden können oder nicht.

§ 18. Der Begriff der Handlungsorientierung trischer Gegenstandsbegriffe

und die Definitionen

geome-

Wir haben mit der Skizze des eben angedeuteten Vollständigkeitstests den ersten Schritt getan, den man mit Hilfe der bisher erarbeiteten Voraussetzungen tun kann, wenn man sich an Kants Leitfaden auf einem möglichst genau überschaubaren Weg in die Sachfragen hineinfinden möchte, wie sie Kants Theorie des geometrischen Gegenstandes einem aufgeben kann. N u n haben wir diesen Schritt unter methodologischen Gesichtspunkten getan. Denn wir haben uns ja vorgenommen, am Ende unserer Untersuchung auf den Weg zurückzublicken, den wir bei dem Versuch genommen haben werden, die geometrischen Gegenstandsausdrücke mit Kants Mitteln auf Begriffe zu bringen. Denn wir wollen feststellen, ob der von Kant unterstellte räumliche Sinn aller geometrischen Gegenstandsausdrücke ausschließlich im Rekurs auf die vier schon ermittelten ausgezeichneten Orientalen Handlungscharakteristiken auf Begriffe gebracht werden kann oder nicht.

Handlungsorientierungen und geometrische Gegenstandsbegriffe

in

Allerdings können wir mit Hilfe der Voraussetzungen, die wir bis jetzt in der Hand haben, auch unter methodologischen Gesichtspunkten schon im Vorgriff eine Schwierigkeit auflösen, die den Studenten Kants meistens zu schaffen gemacht hat, wenn sie gelegentlich, obgleich selten, den Begriff der Richtung ins Spiel gebracht haben. Es lohnt sich deswegen, auf diese Schwierigkeit einzugehen, weil sie mit einem Umstand zusammenhängt, den man gelegentlich so dargestellt hat, daß er sich wie ein zwar harmloser, aber auch im Hinblick auf Kants Theorie immerhin noch feststellbarer Mangel ausnimmt, und den man gelegentlich auch so dargestellt hat, daß er sich wie eine prinzipielle methodologische Schwierigkeit ausnimmt, an der auch Kants Ansatz zu einer Theorie des geometrischen Gegenstandes scheitern müßte. Johann Schultz hat in seinem schon zitierten Kant-Kommentar einen nach seinem Urteil harmlosen Mangel der geometrischen Definitionen im Auge, der für Schultz offenbar auch durch Kants transzendentalen Ansatz weder beseitigt werden kann, noch beseitigt zu werden braucht, wenn er die folgenden Gedanken vorträgt: wenngleich ein Geometer „die gerade Linie durch eine solche erklärt, die . . . in allen Punkten dieselbe Richtung hat, . . . so gesteht dennoch jeder Geometer, daß niemand weder aus dieser, noch irgendeiner anderen Erklärung die gerade Linie . . . je wird kennen lernen" (Schultz 1789, S. 58, Hervorhebungen von mir, R.E.). Schultz markiert den Gesichtspunkt, unter dem dieser Umstand Bedenken erregen könnte, so: „Daß niemand aus diesen (geometrischen, R.E.) Definitionen . . . (z.B., R.E.) die gerade Linie je würde kennen lernen, streitet wider ihre Deutlichkeit eben so wenig, so wenig es wider die Deutlichkeit der Definition der krummen Linie . . . streitet, daß dieses auch von ihr gilt" (a.a.O., S. 36). 36 Wer geometrische Definitionen mit der Begründung kritisiere, daß er aus ihrem jeweiligen Definiens das entsprechende Definiendum gar nicht kennen lernen könne und mit dem jeweils fraglichen Begriff schon in seiner unexplizierten Gestalt irgendwie vertraut sein müsse, kann nach Schultz gerade durch Kants Theorie der reinen räumlichen Anschauung darüber verständigt werden, daß „dieses . . . bloß (beweiset), daß die Vorstellungen des Geraden, . . . der Richtung, 36

Für jeden, der mit den Anfangsgründen der Definitionslehre vertraut ist, wie sie heute mit den Mitteln der formalen Logik und der formalen Semiotik entwickelt werden kann, liegt der Gedanke nahe, daß Schultz hier nur gleichsam die didaktische Kehrseite der Bedingung der sogenannten Nichtkreativität im Auge hat, wie sie von jeder ordentlich gebildeten Definition erfüllt wird; ein syntaktisches Kriterium der Nichtkreativität findet man bei Essler (1970), S. 71/75, bes. S. 72ff.

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Kontext und Kontextinvarianz in Kants Raumtheorie

. . . usw. . . . lediglich . . . Anschauungen, folglich keinem . . . Wesen verständlich sind, das nicht dieselbe . . . Vorstellung vom Raum hat, die wir haben" (ib.). Schultz diagnostiziert daher im Hinblick auf diejenigen Studenten der Geometrie, die deren Definitionen dafür kritisieren, daß sie aus ihnen entweder keine neuen oder nicht deutlich genug neue Belehrungen über den Gegenstand von deren jeweiligem Definiendum empfangen können, daß sie bei genauerem Hinsehen der Verständigung über etwas ganz anderes bedürfen: „Sollte also in der Geometrie noch irgend etwas Undeutliches seyn; so müßte dieses die Vorstellung des R a u m e s selbst seyn" (ib.). Im übrigen läßt auch Schultz den Geometer beim Definieren seiner Begriffe gerade auf die operationalen und Orientalen Merkmale rekurrieren, wie sie nach Kant den „Raum, als Gegenstand vorgestellt, . . . " (KdrV, Β 160 Anm.) erschöpfend charakterisieren: „So sucht (der Geometer, R . E . ) die Möglichkeit . . . der geraden Linie durch Bewegung eines Punctes nach einerley Richtung, der krummen Linie durch Bewegung eines Puncts nach beständig veränderter Richtung zu erläutern" (Schultz 1789, S. 6 3 / 6 4 ) . 3 7 Worauf es hier ankommt, wird fast sofort klar, wenn man einmal berücksichtigt, wie ζ. B. Hermann Helmholtz in der Auseinandersetzung mit einigen Kantianern den Versuch kritisiert hat, die gerade Linie im Rekurs auf den Begriff der Richtung zu definieren: „ Wie soll man aber 37

Diese Formulierung von Schultz verrät, daß er nicht gehörig streng zwischen Bewegungen und Handlungen unterscheidet. Daß es für Kant auf den Unterschied zwischen Handlungen und Bewegungen vor allem auch bei der Reflexion auf die Grundlagen der euklidischen Geometrie ankommt, soll gerade KdrV Β 154/155 und Β 155 Anm. einschärfen. Von der Bewegung eines Punktes kann bei Kant allenfalls in einem methodologisch zu rechtfertigenden Sinne die Rede sein, wenn es in seiner Theorie der Bahnbewegung der Materie („Metaphysische Anfangsgründe der Phoronomie", vgl. WW IV, Μ . Α . , Erstes Hauptstück) noch nicht darauf ankommt, das Maß zu berücksichtigen, in dem Materie jeweils einen Raum einnehmen kann. Auf der Basis einer solchen methodisch legitimen Abstraktion kann Kant dann stilisierend auch einmal durchweg von der Bewegung eines Punktes sprechen. Aber man kann diesen bedingt zulässigen Redestil nicht auch schon bei der Erörterung von Prinzipienfragen des Definierens von geometrischen Gegenstandsbegriffen praktizieren; denn Kants Theorie der Bahnbewegung der Materie ist selber schon ein Stück angewandter Geometrie und setzt eine begrifflich saubere, rein operationale und vor allem Orientale Konzeption des geometrischen Gegenstandes voraus. Diesen Zusammenhang kann man geradezu mit Händen greifen, wenn Kant am Ende der „Metaphysischen Anfangsgründe der Phoronomie" Typen der Bahnbewegung der Materie unter dem inhaltlichen Gesichtspunkt der Richtung differenziert. So deutet der Hinweis „Diese Bemerkung hat nur in der Transzendentalphilosophie ihren Nutzen", mit dem Kant diese Differenzierung abschließt, unmißverständlich auf die Stelle KdrV Β 155 Anm. hin, sodaß man sich aus dem Zusammenhang dieser beiden Stellen schön über den von Kant intendierten operationalen und Orientalen Kern der geometrischen Gegenstandsbegriffe verständigen kann; vgl. hierzu auch S. 254/55.

Handlungsorientierungen und geometrische Gegenstandsbegriffe

229

,Richtung' definieren; doch wieder nur durch die gerade Linie. Hier bewegen wir uns in einem Circulus vitiosus" (Helmholtz 1878, S. 64). Gerade im Hinblick auf eine solche Kritik mit Hilfe des Zirkelvorwurfs kann es wichtig werden, scharf auch auf die Folge der Schritte zu achten, mit denen bei Kant in der Transzendentalen Logik (räumliche) Richtungen dadurch eingeführt werden, daß Richtungen zuerst und ausschließlich im Hinblick auf Handlungen erwähnt werden. Denn man kann diese Schrittfolge ja auch so verstehen, daß durch sie die Ordnung angedeutet ist, in der jeder, der überhaupt die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt, so etwas wie Orientierungen kennenlernen, mithin auch erstmals sinnvoll und eindeutig erwähnen, d. h. entdecken kann — all dies kann ihm dann nämlich frühestens anläßlich von Handlungen und ursprünglich nur im Hinblick auf Handlungen gelingen; und den Kontext, in dem er dies und die Bedingungen der Möglichkeit dieses Gelingens frühestens durchschauen kann, bildet eine Theorie vom Typ der kantischen Transzendentalen Elementarlehre. Man sieht wohl, wie mit Hilfe unseres Ansatzes die Neigung plausibel gemacht und gerechtfertigt werden kann, mit der Schultz eine vielleicht naheliegende Kritik an operational und oriental konzipierten geometrischen Definitionen einerseits auf den Gesichtspunkt des Lernens aus solchen Definitionen zuspitzt und diese Kritik andererseits dadurch als illegitim verwirft und auf ein prinzipielles Mißverständnis zurückzuführen versucht, daß er seine Zuflucht bei Unterscheidungen aus Kants Theorie der reinen räumlichen Anschauung sucht. 38 Denn im Licht unserer Voraussetzungen wird verständlich, daß die so konzipierten Definitionen gar nicht deshalb inhaltlich inadäquat oder formal in Unordnung sein könnten, weil ihr Autor bei der Definition des Begriffs ζ. B. der geraden Linie im Definiens genau jene operationalen und Orientalen Merkmale erwähnt, die Form von deren unmittelbarem Zusammenhang in der Transzendentalen Logik einsichtig gemacht werden kann. Mit Hilfe unserer Voraussetzungen kann man nämlich den Ansatz erst in plausibler und 38

Kants Theorie der reinen räumlichen Anschauung bietet für Schultz deswegen letzten Endes doch nur eine bloße .Zuflucht', weil ja eine vordefinitorische Form der Vertrautheit mit der Bedeutung eines Definiendum keinen Beweis dafür bietet, daß diese Form der Vertrautheit aus der reinen räumlichen Anschauung stammt, sondern bloß dafür, daß sie nicht aus der Definition stammt. Aber wenn wir Kants Intentionen bisher richtig rekonstruiert haben, dann kann ein Mathematiker, der wie Schultz den Begriff der Richtung zum Grundbegriff in geometrischen Definientia erhebt, an keiner anderen Stätte seiner eventuellen metamathematischen Zuflucht so adäquat legitimiert werden wie in Kants transzendentaler Theorie des geometrischen Gegenstandes.

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Kontext und Kontextinvarianz in Kants Raumtheorie

legitimer Weise zum Zuge kommen lassen, wie ihn jemand gewählt hat, wenn er die Definitionen einer operational und oriental konzipierten Geometrie dafür kritisiert, daß es hier inhaltlich eigentlich nichts zu lernen gebe. Man kann diesem Kritiker unter den Voraussetzungen der Transzendentalen Logik ja durchaus zugeben, daß sein Bedürfnis nach Belehrung durch die euklidische Geometrie legitim sei; aber man kann ihn mit den Mitteln der Transzendentalen Logik auch darüber verständigen, inwiefern er sich mit seinem Bedürfnis nach Belehrung über die geometrischen Gegenstände gleichsam an die falsche Adresse gewandt hat, wenn er es durch das Studium einzelner operational und oriental konzipierbarer Definitionen aus dieser Geometrie zu stillen sucht. Die bloße Feststellung, daß man sich im Rahmen einer Definition wie ζ. B . der des Begriffs der Geraden den Sinn der hier zu definierenden Rede von der Geraden gar nicht in origineller Weise aneignen könne, kann man unter den Vorzeichen der Transzendentalen Logik durchaus zugeben. Denn sie macht nach unserer Hypothese jedem, der die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung überhaupt erfüllt, einsichtig, inwiefern er nur auf Handlungen zu rekurrieren braucht, aber streng genommen auch auf nichts anderes als auf Handlungen rekurrieren darf, wenn er sich den Orientalen Sinn der Rede von der Geraden ein für alle Mal will aneignen können. Aber diese insofern transzendentale Verständigung über diesen Bedingungszusammenhang schließt ersichtlich nicht nur nicht aus, daß der Student der euklidischen Geometrie den Orientalen Term „gerade" schon trefflich, d. h. sinnvoll und eindeutig im Hinblick auf einerleisinnig orientierte Handlungen verwenden kann, sondern setzt dies sogar voraus. Auch der Autor bzw. Student einer operational und oriental konzipierbaren Geometrie gehört von hier aus betrachtet noch zu denen, die ihre Formulierungen treffen können, ohne daß sie Rechenschaft darüber ablegen müßten, ob und wenn ja inwiefern dies nur dann gelingen könne, wenn jeder, der dies versucht, eine wohlbestimmbare Bedingung wie die reine räumliche Anschauung erfüllt. Denn es genügt ja auch in einer solchen Geometrie schon, wenn man lediglich Formulierungen trifft, wie sie ausschließlich im Hinblick auf die Zwecke des Beweisens und Ableitens notwendig und hinreichend sind. Schließlich kann man im Rahmen unserer Hypothese auch noch einen Zirkelvorwurf wie den von Helmholtz vorgebrachten weit genug entkräften. Denn man kann jetzt die Behauptung, der Sinn des Ausdrucks „Richtung", wie er in einem Definiens von „x ist eine gerade Linie" fungiert, könne nur mit Hilfe des in diesem Definiendum fungierenden

Handlungsorientierungen und geometrische Gegenstandsbegriffe

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Ausdrucks „gerade Linie" und daher nur zirkulär definiert werden, mit dem Hinweis auf die Transzendentale Logik gleichsam ins Leere laufen lassen. Wenn nämlich der Sinn der Rede von einer Richtung hier schon dadurch definiert ist, daß ursprünglich nur im Hinblick auf eine Handlung sinnvoll und eindeutig von so etwas wie einer Richtung die Rede sein kann, dann braucht der Sinn des Ausdrucks „Richtung", sofern dieser Ausdruck im operational und oriental entworfenen Definiens der Definition des Begriffs der geraden Linie fungiert, auch gar nicht mehr definiert zu werden. Jemand mag sich dann zwar immer noch darüber täuschen, daß es in Gestalt der Transzendentalen Logik eine von der Geometrie verschiedene Theorie gibt, in der eine insoweit befriedigende Definition des Begriffs der Richtung möglich ist. Aber die Frage nach dem Sinn des Ausdrucks ,Richtung' kann dann wenigstens prinzipiell auch keinen Zirkel mehr provozieren. 39 Wir haben die mathematiktheoretische Tragweite unserer Interpretationshypothese ein wenig unter methodologischen Gesichtspunkten verfolgt. So, wie wir die Tragweite dieser Hypothese gerade dargestellt haben, ist diese Hypothese zwar hauptsächlich im Hinblick auf Kants Ansatz zu einer Theorie des geometrischen Gegenstandes wichtig. Denn die geometrischen Gegenstände sind für Kant ja nur in Form ihrer Definitionen direkt greifbar. Aber es kann uns auch schon genügen, diese Hypothese hier einmal nur so weit ausgeführt zu haben. Denn es ist günstig für unsere weiteren Überlegungen, wenn sich im Rahmen dieser möglichen Interpretation auch ein Argument entwickeln läßt, welches der Sache nach so stark ist, daß man Kants Konzeption des geometrischen Gegenstandes mit seiner Hilfe auch schon im Ansatz gegen einen so elementaren, aber deswegen auch so gewichtigen Angriff wie den durch einen Zirkelvorwurf wirksam verteidigen kann. Und zwar ist dies in unserem unmittelbaren Zusammenhang deswegen so günstig, weil man gerade die Voraussetzungen, mit deren Hilfe man den Vorwurf der Zirkularität erfolgreich abweisen kann, ersichtlich auch dann immer wieder gleichsam im Rücken hat, wenn man Definitionen geometrischer Gegenstandsbegriffe durchweg so sollte formulieren können, wie man es nach unserer Leithypothese in Kants Transzendentaler Logik lernen kann — nämlich als Orientale Handlungscharakteristiken, die kontextinvariant eindeutig ausfallen.

39

Freilich hat in diesen Erörterungen auch niemand die Möglichkeit explizit oder konsequent berücksichtigt, dem Begriff der Richtung eine operationale Basis zu geben und Orientale Ausdrücke strikt im Hinblick auf Handlungen zu verwenden.

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Kontext und Kontextinvarianz in Kants Raumtheorie

5 19. Der Raum als formale

Anschauung

Wir haben den Exkurs aus der Transzendentalen Deduktion, in dem Kant auch das operationale Strukturmerkmal des Raumes betont, bisher schon zweimal zu Rate gezogen: zunächst haben wir gezeigt, wie wichtig es für das Verständnis von Kants Raumtheorie ist, sich im Anschluß an diesen Exkurs klarzumachen, daß die Struktur des Raumes demnach sowohl operational wie auch oriental und ursprünglich gar nicht anders zu charakterisieren ist. Sodann hat sich gezeigt, daß mit der Folge der Schritte, in der Kant in diesem Zusammenhang die operationalen und Orientalen Strukturmerkmale im Hinblick auf den Raum erwähnt, eine Deutung verträglich ist, nach der durch diese Schrittfolge die Ordnung charakterisiert ist, in der man sich nach Kant den strikt operationalen und Orientalen Sinn der Rede vom Raum überhaupt nur aneignen kann, wenn man wie Kant selber in diesem transzendentalen Kontext von einer exemplarischen Handlung wie beispielsweise dem Ziehen einer Linie ausgeht. Das Handeln eines Subjekts ist hier gleichsam als das Radikal ausgezeichnet, im Hinblick auf das man sinnvollerweise zunächst zu fragen hat, ob räumliche Merkmale erwähnt werden können, wie sie ursprünglich am Handeln eindeutig manifest gemacht werden können. Wenn Kant diese Frage dann beantwortet, indem er Handlungen im Zusammenhang der Transzendentalen Logik erstmals dadurch charakterisiert, daß er im Hinblick auf sie ausschließlich Orientale Merkmale schlicht erwähnt, so tut er etwas, wodurch er keineswegs gegen irgendwelche Regeln verstößt. Denn es ist ja, wie wir uns bisher schon detailliert klargemacht haben, durchaus sinnvoll, Handlungen oriental zu charakterisieren; und es ist zweifellos auch konsequent möglich, Orientale Merkmale ausschließlich im Hinblick auf Handlungen zu erwähnen.40 Nun ist es allerdings klar, daß man auch im Anschluß an diese Erwähnungspraxis Kants noch Fragen stellen kann, die man an die Unterstellungen richten sollte, auf die Kant sich einläßt, wenn er Richtungsmerkmale in der beschriebenen Weise im Hinblick auf Handlungen erwähnt. In diesem Sinne kann man fragen, ob, wenn im Hinblick auf Handlungen nach räumlichen Merkmalen gefragt ist, nicht zuerst Orientale Merkmale zu erwähnen sind und ob die Verwendung orientaler Ausdrücke ihre Eindeutigkeit letzten Endes nicht ausschließlich, also nicht ursprüng40

Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, daß Hans Freundenthal (1964) die Orientalen Terme „links" und „rechts" konsequent als auch operationale Terme verwendet und „links^eram" bzw. „rechtsherum" sagt (vgl. Freudenthal, S. 163 ff., 165/166, 174f.).

Der Raum als formale Anschauung

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lieh aus der Möglichkeit empfängt, daß jeder, der sie überhaupt sinnvoll verwendet, auf Handlungen rekurriert. Kant hat diese Frage in dieser Form bekanntlich nicht ausdrücklich diskutiert. Gleichwohl gibt es zwingende Gründe für die Vermutung, daß eine gründliche Diskussion nach Kants Überzeugung zugunsten seiner Raumtheorie ausfallen sollte. Denn man muß sehen, daß Kant sich im § 24 der KdrV insoweit bereits mit Erfolg auf die Leistungsfähigkeit dieser Theorie verlassen hat, als er hier den „Raum, als Gegenstand vorgestellt. . ( K d r V , Β 160 Anm.), operational und oriental charakterisiert. Wir können im Anschluß an die Hauptfrage unseres gegenwärtigen Abschnittes nämlich feststellen, daß Kant sich hier in dem anspruchsvollen Sinne auf die Leistungsfähigkeit dieser Theorie verläßt, daß er unsere Frage, ob Orientale Handlungscharakteristiken auch kontextfrei eindeutig formuliert werden können, dadurch beantwortet, daß Kant hier eine solche Charakteristik ausdrücklich gebraucht. In diesem Sinne hatten wir Kants Formulierung „Wir können uns . . . die drei Abmessungen des Raumes gar nicht vorstellen, ohne aus demselben Punkt drei Linien senkrecht aufeinander zu setzen" (B 154) nämlich schon in eine operational und oriental gleichsam bereinigte Form zu bringen versucht und die Formulierung vorgeschlagen: der Raum ist diejenige Form des Operierens, für die der Rekurs auf Handlungen charakteristisch ist, von denen jede einerleisinnig orientiert ist, von denen keine zwei ebensinnig oder widersinnig orientiert sind und von denen doch jede in demselben Sinne auf jede der jeweils anderen hin orientiert ist, sodaß höchstens drei Handlungen so orientiert sein können. Halten wir uns der Einfachheit halber zunächst einmal an das Orientale Handlungsmerkmal der einerleisinnigen Orientierung, wie wir es soeben im Zusammenhang erwähnt haben! Es liegt ja inzwischen auf der Hand, daß jemand, der den mit der Rede von der einerleisinnigen Orientierung äquivalenten Orientalen Term „gerade" in der Formulierung eines Satzes sinnvoll und eindeutig verwendet, insofern nicht mehr genötigt ist, auf eine auch sinnenfällig manifeste Handlungsorientierung zu rekurrieren, weil es noch darauf ankäme, die Verwendung dieses Terms durch eine solche Konkretisierung eindeutig zu machen. Vielmehr macht umgekehrt die ausschließliche Bindung des Sinnes des Terms „gerade" an das Merkmal einer Handlung, einerleisinnig orientiert zu sein, das, was man meint, wenn man diesen Term in der Formulierung eines Satzes verwendet, sogar ganz unabhängig von und invariant gegenüber allen konkreten Handlungen eindeutig, wie man sie darüber hinaus noch sinnenfällig vor

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Kontext und Kontextinvarianz in Kants Raumtheorie

Augen führen mag. Wie jemand es meint, wenn er den Term „gerade" in der Formulierung eines Satzes im räumlichen Sinne verwendet, hängt also beispielsweise auch weder von den instrumentellen Randbedingungen der „ H a n d l u n g eines Subjekts" (vgl. KdrV, Β 154 Ende), noch von irgendwelchen individuellen Kennzeichen oder Existenzbedingungen des S u b jekts einer Handlung' ab, hängt also nicht vom jeweiligen Kontext der Formulierung dieses Satzes, sondern nur davon ab, daß man den Sinn dieses Terms ausschließlich an das kontextinvariant eindeutig erwähnbare operationale Merkmal der einerleisinnigen Orientierung binden kann. Es fällt bei solchen Überlegungen immer wieder auf, daß man gar nicht ohne weiteres genötigt ist, so etwas wie eine reine räumliche Anschauung überhaupt zu berücksichtigen. N u n ist es selbstverständlich letzten Endes eine Frage der terminologischen Konvention, ob man die subjektive Bedingung der Entdeckbarkeit orientaler Handlungsmerkmale nun als reine räumliche Anschauung anspricht oder nicht. Für Kant kam es auf der Linie seiner Untersuchungen zum Raumproblem seit der InauguralDissertation aber zunächst darauf an zu betonen, daß man wenigstens zwei wohlunterscheidbare Bedingungen angeben könne, wie sie von jedem erfüllt werden, der Sachverhalte zweier ganz verschiedener, ganz bestimmter Klassen entdecken kann. Die Sachverhalte, die dann im Einzugsbereich der einen von diesen beiden Bedingungen entdeckt werden können, können allgemein und genau als kontextinvariant eindeutig erschließbare Orientale Handlungscharaktere bestimmt werden. Insofern kann man, wenn man möchte, ersichtlich auch darauf verzichten, das Wort „reine räumliche Anschauung" in den Mund zu nehmen, und kann sich konsequent darauf beschränken, ausschließlich ihre konkreten Manifestationen, eben die hier möglichen Orientalen Handlungscharakteristiken zu berücksichtigen. Durch diese methodische Selbstbeschränkung kann man, von der Reflexionsstufe der kantischen Raumtheorie aus betrachtet, ja gerade die Einstellung des Geometers zu seinen charakteristischen Gegenständen treffend beschreiben. Denn der Geometer charakterisiert zwar die Gerade als solche, den Kreis als solchen oder den Kegel als solchen und ermittelt beweisbare Sätze im Hinblick auf solche Gebilde. Aber er braucht, wie die Arbeit des Geometers und die dabei erzielten Ergebnisse lehren können, nicht etwa nach irgendwelchen Bedingungen zu fragen, unter denen allein jeder, der sie erfüllt, solche Gegenstände charakterisieren und beweisbare Sätze über sie aufstellen kann. Von Kants subjektivistischer Raumtheorie aus betrachtet, macht der Geometer von dieser von ihm erfüllten Be-

Der Raum als formale Anschauung

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dingung lediglich in trefflicher und fruchtbarer Weise Gebrauch, indem er solche Gegenstandscharakteristiken und solche beweisbaren Sätze gewinnt. 41 Wenn in Kants Raumtheorie dann nicht nur von den charakteristischen Gegenständen des Geometers und — zumindest der Intention nach — von dem ursprünglichen Verwendungsbereich der geometrischen Gegenstandsausdrücke die Rede ist, sondern wenn darüber hinaus auch noch ausdrücklich und konsequent von so etwas wie einer reinen räumlichen Anschauung die Rede ist, so ist dies, wie wir schon gelegentlich betont haben, nur das terminologische Indiz dafür, daß Kants Raumlehre nicht nur am Gegenstandsbereich der Geometrie interessiert ist, sondern stets auch Theorie der Subjektivität ist. Trotzdem kann diese Erläuterung auch in terminologischer Hinsicht noch nicht ganz befriedigen. Denn Kant unterscheidet nicht nur eine reine räumliche Anschauung, sondern unterscheidet auch noch zwischen ihr und einer reinen Form der Anschauung; und bekanntlich spricht Kant sowohl im Hinblick auf die Zeit von reiner Anschauung (vgl. ζ. B. KdrY, A 31 Ende, Β 47; Β 48) und reiner Form der Anschauung (vgl. ζ. Β. A 33, Β 49ff.; A 31, Β 47) als auch im Hinblick auf den Raum von reiner Anschauung (vgl. ζ. Β. A 25, Β 39; A 26, Β 42) und reiner Form der Anschauung (vgl. ζ. Β. A 22, Β 36). Freilich können durch diese scheinbaren Mehrdeutigkeiten jetzt auch keine unüberwindlichen Schwierigkeiten mehr entstehen. Im Anschluß an unsere sachlich gerichteten Erörterungen können wir Kants Unterscheidungen konsequent plausibel machen. Denn, wenn Kant sowohl im Hinblick auf den Raum als auch im Hinblick auf die Zeit von reiner Anschauung spricht, so ist dies der Sache nach dadurch gedeckt, daß Kant sich sowohl bei der Auszeichnung der Zeitstruktur als auch bei der Auszeichnung der Raumstruktur ausschließlich am Handeln und an den an ihm manifest zu machenden Wesensmerkmalen orientiert. Kant braucht hier also nur das kognitive Verhältnis einer Instanz zur räumlich und zeitlich noch ganz indifferenten Struktur des Handelns im Auge zu haben, wenn er gelegentlich sowohl im Hinblick auf den Raum als auch im Hinblick auf die Zeit bloß von reiner Anschauung spricht.42 41

vgl. hierzu auch schon die an sich treffende Erläuterung durch Beck (1796 2 ): „ U n d woher dieses? Weil der Geometer immer im reinen Anschauen . . . sich befindet . . . " (S. 434/ 35).

42

Wenn wir hier von einer räumlich und zeitlich noch Handelns reden, so soll damit angedeutet werden, wie schlagenen Interpretation das Kontinuumsproblem in schauung einbeziehen kann. Daß Kant die Kontinuität

ganz indifferenten Struktur des man im Rahmen der hier vorgeKants Theorie der reinen Anvon Raum und Zeit betont und

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Kontext und Kontextinvarianz in Kants Raumtheorie

charakterisiert hat (vgl. KdrV A 169, Β 211/A 170, Β 212), ist durchaus immer wieder gebührend beachtet worden (vgl. zuletzt Frede/Krüger 1970, S. 47/49). Wenn man aber den räumlichen und zeitlichen Zentralbestimmungen Orientierung bzw. Sukzessivität mit Kant ausdrücklich eine strikt operationale Basis gibt, dann liegt es am nächsten zu erwägen, das Kontinuum habe auch selber eine operationale Struktur. Das hieße im Hinblick auf Kant: 1) das Kontinuum kann am Handeln manifest gemacht werden und es kann 2) ursprünglich nur am Handeln manifest gemacht werden. Denn jede Fortsetzung einer Handlung ist eine Handlung. Im Sinne von Kants Terminologie: wenn das Handeln das genuine Material der reinen Anschauung ist, dann ist das Kontinuum die Form der reinen Anschauung dieses Handelns. — Es liegt auf der Hand, daß eine Kontinuumstheorie, die jedenfalls die hier skizzierten Züge hat, ein Implikat von Kants ausdrücklich mitgeteilten Thesen ist, das zumindest verhältnismäßig weit entfernt von diesen Thesen ist. Wir wollen daher auch nur behaupten, daß man zu genau einer solchen Kontinuumstheorie konsequenterweise ansetzen kann, wenn die Raumtheorie, wie wir sie Kant hier unterstellen, haltbar ist. Unter dieser Voraussetzung kann man aber von Kant aus vor allem in ein sachlich orientiertes Gespräch mit Aristoteles' Lehre vom operational konzipierten Kontinuum (vgl. Arist., Phys., Buch Zeta) kommen (vgl. hierzu vor allem die Darstellung von Wieland 1962, § 17). In diesem Zusammenhang kann man vorläufig schon einmal eine wichtige Differenz markieren. Im Unterschied nämlich zur aristotelischen Auffassung, wonach das Kontinuum insofern eine operative Struktur hat, als es so teilbar ist, daß jeder durch eine entsprechende teilende Handlung gewonnene Teil selber wieder teilbar ist, hat das Kontinuum in der Kant hier unterstellten Theorie schon insofern eine operative Struktur, als eine Handlung immer wieder nur als Handlung fortgesetzt (bei Wieland: „iteriert") werden kann. Bei Aristoteles gehören also sowohl die handelnd beliebig fortsetzbare Teilbarkeit wie auch die beliebige Fortsetzharkeit von Teilungsoperationen wie auch der Handlungscharakter dessen, was hier beliebig fortsetzbar ist, wesensmäßig zum Kontinuum. In der Kant von uns unterstellten Lehre vom Kontinuum gehört dagegen zunächst nur die beliebige Fortsetzharkeit einer Handlung als Handlung wesentlich zur Kontinuität dieser Handlung. Man kann den gravierenden Unterschied, der hier besteht, vielleicht am schönsten verdeutlichen, wenn man diese unterschiedlich konzipierten Wesensmerkmale des Kontinuums mit der Frage in Zusammenhang bringt, ob und wenn ja in welcher Weise man in ihrem Rahmen den verschiedenen Arten der Zahlen gerecht werden kann. So gestattet einem die aristotelische Auffassung, wonach das Kontinuum in immer wieder Teilbares teilbar ist (vgl. Phys. 231 b 16), offenkundig, sowohl den sog. natürlichen, also den ganzen positiven Zahlen, wie auch den sog. Brüchen, den rationalen Zahlen, eine operationale Basis zu geben. Denn alle Teilungsoperationen, die jeweils ausgeführt sind, lassen sich ja schon als Operationen zählen; und jede Teilungsoperation läßt sich als teilende Operation ersichtlich charakterisieren, indem man angibt, wieviele Teile das Ergebnis aller derjenigen Operationen sind, die sie fortsetzt und zu denen sie selber gehört — jede Teilungsoperation läßt sich insofern nämlich als Halbieren, Vierteln, Achteln oder stattdessen als Sechszehnteln usw. charakterisieren bzw. als Halbieren, Dritteln, Vierteln, Fünfteln usw. charakterisieren. Dadurch also, daß Aristoteles sowohl die operative Iterierbarkeit ( „immer wieder") wie auch die operative Teilbarkeit des Teilbaren in seine Wesensbestimmung des Kontinuums aufgenommen hat, gibt er nicht nur einerseits den natürlichen Zahlen und andererseits den rationalen Zahlen eine operative Basis. Sondern seine Wesensbestimmung des Kontinuums ist insofern von vornherein auch schon auf die — mengentheoretisch gesprochen — Gleichmächtigkeit der Menge der natürlichen Zahlen und der Menge der rationalen Zahlen bzw. einer ihrer echten Teilmengen zugeschnitten. Aristoteles' Wesensbestimmung der Kontinuität ist damit zwar ganz und gar nicht indifferent gegenüber dem Unterschied zwischen den ganzen positiven und rationalen Zahlen, den sie im operationalen Sinne vielmehr gerade als solchen herausstellt; aber die so bestimmte Kontinuität ist doch

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Die ganz anders zu verstehende Rede Kants von den beiden reinen Formen der Anschauung fügt sich hier deswegen sofort konsistent ein, weil für Kant das zuerst auszuzeichnende zeitliche Strukturmerkmal des Handelns die Sukzession (vgl. KdrV, Β 154 Ende/155) und das zuerst auszuzeichnende räumliche Strukturmerkmal des Handelns die Orientierung ist. Die Unterscheidung der beiden reinen Formen der Anschauung fällt wenigstens zunächst noch ganz indifferent gegenüber einer vielleicht legitimierbaren Rangordnung unter den Arten der Zahlen, zunächst speziell der natürlichen und der rationalen Zahlen — gleichgültig, ob eine solche Rangordnung nun unter Gesichtspunkten der Erkenntnistheorie oder der Ontologie legitimiert werden kann. Im Unterschied hierzu gestattet einem die Auffassung, wonach das Kontinuum ursprünglich in der beliebigen Fortsetzbarkeit einer Handlung als Handlung manifest wird, nicht nur, den natürlichen Zahlen eine operative Basis insofern zu geben, als eben vor allem auch jede Handlung und jede Fortsetzung einer Handlung (als solcher) gezählt werden kann; darüber hinaus kann man mit einer Wesensbestimmung der Kontinuität, bei der man mit dem Merkmal der beliebigen Fortsetzbarkeit irgendeiner Handlung auskommt, die natürlichen Zahlen alleine schon deswegen vor allen anderen Arten von Zahlen auszeichnen, weil man im Hinblick auf sie mit dem einfachsten operativen Fundament auskommt. — Kant selber hat den Begriff der Fortsetzung von etwas als etwas nur gelegentlich und dann sehr knapp erörtert. So hat er festgestellt, daß „der Begriff der Fortsetzung den der Zeit voraussetzt" (WW X X V I I I . 1., Vöries, ü. Met. u. Rat.theol., S. 521, Z. 23). Auf die Frage nach einem intentionalen Korrelat χ des Redens über die Fortsetzung von etwas χ als etwas χ hat Kant in diesem Zusammenhang aber nur die „Existenz eines Dinges in der Zeit" (ib., Z. 29/30) ausdrücklich erwähnt. Kant hat also offenkundig nicht bemerkt, daß er auf die operationalen Bestimmungen des von ihm in der Transzendentalen Deduktion benutzten Raum- bzw. Zeitbegriffes auch noch rekurrieren kann, um die Kontinuität von etwas als etwas im operationalen Sinne als die beliebige Fortsetzbarkeit einer Handlung als Handlung zu bestimmen. Das ist aber wenigstens pragmatisch verständlich: denn die operationalen Merkmale der Begriffe von Raum und Zeit geben auch dort, wo Kant noch am deutlichsten auf sie zurückgreift, gar nicht den ausdrücklich thematisierten Gegenstand von wohlformulierten Behauptungen oder Fragen Kants ab. Vielmehr kann man im Hinblick auf diese Stellen in Kants Doktrin nur davon sprechen, daß Kant hier von einer Voraussetzung Gebrauch macht, deren Inhalt man erst nachträglich so charakterisieren kann, daß man ausformulierte Thesen erhält, die die Sukzessivität des Handelns ausdrücklich behaupten und die die Orientiertheit von Handlungen für den Fall ausdrücklich behaupten, daß nach dem rein räumlichen Charakter von Handlungen gefragt ist. Aber erst, wenn man eines von diesen beiden Implikaten von Kants einschlägigen Thesen ermittelt hat, bewegt man sich auf der Reflexionsstufe, auf der sich dann auch die These ermitteln läßt, die das Kontinuum als die beliebige Fortsetzbarkeit einer Handlung als Handlung beschreibt. Nun muß zwar prinzipiell jede Voraussetzung, von der der Autor einer bestimmten These beim Aufstellen dieser These Gebrauch macht, auch als solche und ihrem Inhalt nach explizit gemacht werden können. Aber deswegen muß noch längst nicht jede solche Voraussetzung auch genau von demjenigen explizit gemacht werden, der sie beim Aufstellen einer These in Anspruch genommen hat. Diese Erlaubnis, implizite Voraussetzungen auf sich beruhen zu lassen, ist ja gerade geeignet, jene Art von Arbeitsteilung zu begründen, wie sie zwischen dem Autor einer philosophischen Theorie und seinen Studenten besteht. Hiervon sind Kant mit seiner intuitionistischen Raum-Zeit-Theorie und deren Studenten erfahrungsgemäß nicht ausgenommen.

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Kontext und Kontextinvarianz in Kants Raumtheorie

daher insofern konsequent und konsistent aus, als man — nun sogar noch genauer — im Hinblick auf die Zeit von der sukzessiven Form der Anschauung des Handelns und im Hinblick auf den Raum von der Orientalen Form der Anschauung eben dieses Handelns sprechen kann. Aber auch die terminologische Unterscheidung, die am wichtigsten wird, sobald man sich den operationalen und Orientalen Minimalsinn von Kants Rede vom Raum schon klar gemacht hat und nun nach der Struktur des eigentümlichen Gegenstandes seiner Theorie vom Raum fragt, wird von hier aus gut verständlich. Ich meine Kants Rede vom Raum als der formalen Anschauung, in der der „Raum, als Gegenstand vorgestellt . . ." (KdrV, Β 160 Anm.), sich darbietet. Diese formale Anschauung liefert ja, wenn man schärfer differenziert, jene ausgezeichnete Orientale Handlungscharakteristik, wie wir sie zur Präzisierung von Kants zentraler Bemerkung über die Dreidimensionalität des Raumes schon vorgeschlagen haben. Eine der Verständnisschwierigkeiten, wie sie hier im Spiel sind, rührt nun allerdings schon daher, daß man Kants gelegentlicher Behauptung, der Raum sei eine reine Anschauung, und Kants gelegentlicher Behauptung, der Raum sei eine reine Form der Anschauung, nun ja auch noch die Behauptung, der Raum sei eine formale Anschauung, hinzufügen kann. Wir haben zwar schon gesehen, wie man die Termini ,reine Anschauung' und , reine räumliche Form der Anschauung* mit Hilfe unserer Hypothese so verstehen kann, daß Kant sie einführt, weil er jeweils die Antwort auf eine ganz bestimmte Frage gleichsam mit Hilfe eines terminologischen Stenogramms möchte berücksichtigen können, wenn es darauf ankommt. Wie hängen aber diese Fragen und Kants Antworten mit der Frage zusammen, wie Kant sie offenbar beantwortet, wenn er auch noch von so etwas wie der formalen Anschauung des Raumes redet ? Bedenkt man, in welchem Maße wir Kants Bemerkungen zum Status und zur Struktur des Raumes, wie es für manchen scheinen könnte, schon jenseits der Linie von Kants Intentionen ernst genommen haben, dann trifft es sich günstig, daß man an dieser Stelle unserer Überlegungen einen Schritt weiter kommen kann, wenn man noch einmal einen Gedanken Kants zu Hilfe nimmt, der einem gestattet, die sachliche Ubereinstimmung unserer Ausführungen mit Kants Raumtheorie wenigstens formal zu testen. Man kann nämlich ohne allzu große Mühe feststellen, daß sowohl Kants Bildung des Begriffs der reinen Anschauung bzw. des Begriffs der reinen Form der Anschauung bzw. des Begriffs der formalen Anschauung wie auch deren Zusammenhang mit Hife des Schemas rekonstruiert werden kann, das einem durch die Reflexionsbegriffe der Materie und der

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Form zur Verfügung gestellt ist (vgl. KdrV, A 261, Β 317 f.; bes. A 266, Β 322/A 268, Β 324 und A 275, Β 331 ff.). Denn, wenn man zu Kants Raumtheorie dadurch gelangt, daß man fragt, ob und wenn ja inwiefern man ursprünglich im Hinblick auf das Handeln und seine Struktur räumliche Merkmale manifest machen kann, dann fragt man, ob und wenn ja inwiefern im Hinblick auf das genuine Material der reinen Anschauung ursprünglich eine charakteristische räumliche Form manifest gemacht werden kann. Wenn Kant dann behauptet, der Raum ,sei' eine reine Anschauung, und behauptet, der Raum ,sei' eine reine Form der Anschauung, so kleidet er das Ergebnis seiner einschlägigen Untersuchungen lediglich in eine grammatikalisch möglichst einfache äußere Gestalt, weil dieses Ergebnis sich so leichter erwähnen oder in den geeigneten Zusammenhängen schneller in Erinnerung rufen läßt. Der Sache nach gibt es an dieser Ausdrucksweise aber gar nichts auszusetzen. Denn Kant ist inhaltlich zu dem Ergebnis gelangt, daß man im Hinblick auf das genuine Material der reinen Anschauung, nämlich im Hinblick auf das Handeln und seine Struktur zuerst ausschließlich das räumliche Merkmal der Orientierung manifest machen kann, indem man es auch erwähnt. Von hier aus ist es erlaubt, die Orientierung als die reine Form der räumlichen Anschauung des Handelns insofern auszuzeichnen, als man das Handeln ursprünglich durch das Erwähnen orientaler Merkmale sinnvoll und eindeutig räumlich charakterisieren kann. Nun darf man diese reflexive Genese der Orientierung aus dem Handeln und seiner Struktur, wie man sie unter den Gesichtspunkten von Materie und Form bestreiten kann, bekanntlich nicht so verstehen, als wenn es auch schon genügen würde, über diese Reflexionsbegriffe zu verfügen, wenn man auf die Frage nach der reinen Form der räumlichen Anschauung des Handelns und seiner Struktur konkret antworten möchte. Diese beiden Reflexionsbegriffe bieten vielmehr nur ganz allgemein die Möglichkeit, gleichsam die elementare Normalform der Fragen zu treffen, von denen man sich auch dann unausdrücklich leiten läßt, wenn man eine Untersuchung wie die Untersuchung Kants zum Status und zur Struktur des Raumes anstellt. „Dieses sind zwei Begriffe, welche aller anderen Reflexion zum Grunde gelegt werden, so sehr sind sie mit jedem Gebrauch des Verstandes verbunden. Der erstere bedeutet das Bestimmbare überhaupt, der zweite dessen Bestimmung . . . (KdrV, A 266, Β 322 f.). Aber auch unter den Gesichtspunkten von Materie und Form ist das Stellen einer wohlformulierten Frage noch keine hinreichende Bedingung für das Geben der entsprechenden Antwort. Für den Fortgang einer unter den Be-

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dingungen der Abstraktion geführten Untersuchung ist es gewiß noch nicht einmal unerläßlich, daß man sich stets auch das Normalformenschema für seine Leitfragen ζ. B. unter den Gesichtspunkten von Materie und Form vorlegt. Dagegen kann einen gerade Kants Raumtheorie in beispielhafter Weise darüber verständigen, daß außerdem noch etwas anderes nötig ist, wenn man bei Untersuchungen wie denen zur Raumtheorie will erfolgreich sein können und die Gesichtspunkte von Materie und Form nicht will gleichsam leerlaufen lassen müssen, wenn man sie anzuwenden versucht. Denn nach dieser Theorie muß auch jeder, der hier unter den Gesichtspunkten von Form und Materie fruchtbar will arbeiten können, auch selber die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllen, wenn er unter den Gesichtspunkten von Materie und Form überhaupt mit berechtigter Aussicht auf Erfolg nach so etwas wie einem Material oder einer Form der reinen Anschauung will fragen können. 43 Ein schönes Indiz dafür, wie vergeblich jeder Versuch sein dürfte, Untersuchungsergebnisse in diesem Bereich mit Hilfe schematischer Fragen auch nur annähernd zu antizipieren, bietet nun gerade die Begriffsbildung, wie sie Kants Rede von der formalen Anschauung des Raumes zu Grunde liegt. Man braucht sich die Orientale Handlungscharakteristik, wie wir sie hier zur Präzisierung vorgeschlagen haben, nur noch einmal ins Gedächtnis zu rufen, wenn man sich darüber belehren möchte, weswegen man im Sinne des Materie-Form-Schemas, wie es hier angemessen ist, wohl noch nicht einmal fragen konnte, bevor Kant mit seiner eigenen, noch relativ einfachen Formulierung angedeutet hat, was man meint, wenn man sagt, daß man den Raum „formal anschaut". Denn diese Orientale Handlungscharakteristik liefert insofern eine formale Anschauung des Raumes, als sie auf die Frage antwortet, ob und wenn ja wie denn im Kontext der Transzendentalen Logik nunmehr das, was man außerhalb des Kontextes der Transzendentalen Logik, vor allem z . B . in der euklidischen 43

Im Sinne von Johann Schultz könnte man dann in erster Linie im Hinblick auf diese Basisunterscheidung zwischen Handlung und Orientierung davon reden, daß sie „keinem . . . Wesen verständlich (ist), das nicht dieselbe . . . Vorstellung vom Raum hat, die wir haben" (Schultz 1789, S. 36). — In ganz allgemeiner Form, also ohne schon irgendeine konkrete geometrische Gestalt wie die Gerade oder den Kreis (vgl. KdrV Β 154/155) ausdrücklich zu berücksichtigen, hat Kant, wenn ich nichts übersehen habe, nur in seinen nachgelassenen Manuskripten wenigstens einmal betont, daß räumliche Merkmale nur im Hinblick auf Handlungen manifest gemacht werden können: „ . . . einen bestimmten Raum können wir uns nicht anders vorstellen, als, indem wir ihn ziehen . . . " (WW X X , Fortschritte, S. 271, Z. 9/10). In den veröffentlichten Schriften ist Kant diesem Gedanken KdrV Β 137/138 noch am nächsten gekommen: „Um aber irgendetwas im Raum zu erkennen, ζ. B. eine Linie, muß ich sie ziehen".

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Geometrie (vgl. vor allem KdrV, Β 160 Anm., Β 40/41) materialiter meint, wenn man „Raum" sagt, mit Hilfe der einschlägigen anschaulichen, nämlich der operationalen und Orientalen Merkmale formaliter charakterisiert werden könne, also mit Hilfe von Merkmalen, wie man sie erschöpfend manifest machen kann, indem man sie wie Kant erwähnt, wenn man im Hinblick auf das Handeln sagen soll, was man formaliter ursprünglich im Auge haben kann, wenn man „Raum" sagt. Hier ist offenbar die Komplikation, mit der Kant die Gesichtspunkte von Materie und Form in der Raumtheorie fungibel gemacht hat, durch die angedeutete iterierte Anwendung dieser Gesichtspunkte in gewissem Sinne auf die Spitze getrieben. Aber nicht nur das. Etwas ganz anderes ist viel wichtiger. Wie Kant bemerkt, ist mit der Orientalen Handlungscharakteristik des Raumes auch noch die Nahtstelle zwischen seiner Raumtheorie und der von hier aus möglichen transzendentalen Theorie des geometrischen Gegenstandes markiert: „. . . Beschreibung eines Raumes (als kontextinvariant eindeutig orientierte Handlung des Subjekts, R.E.) . . . gehört nicht allein zur Geometrie, sondern sogar zur Transzendentalphilosophie" (KdrV, Β 155 Anm.). Denn, wenn eine ausgezeichnete Orientale Handlungscharakteristik das nur präzisiert, was Kant meint, wenn er davon spricht, daß man den Raum formal anschaut, dann stellt diese Charakteristik vielmehr auch noch dem euklidischen Geometer eine Voraussetzung explizit zur Verfügung, wie man ihrer laut Kant „wirklich in der Geometrie bedarf" (B 160 Anm.). Wie ist die Meinung Kants nun aber im einzelnen zu verstehen und zu begründen, man sei bei der Arbeit in der euklidischen Geometrie auf eine formale Anschauung des Raumes angewiesen, wie sie von einer bestimmten kontextinvariant eindeutigen Orientalen Handlungscharakteristik vermittelt wird? Bevor ich für die Antwort einen möglichen Weg vorzuschlagen versuche, fasse ich zusammen: 1) Kant beschreibt die Struktur des Raumes, indem er unterstellt, daß es sinnvoll sei zu fragen, ob man ausschließlich im Hinblick auf das Handeln und seine Struktur räumliche Merkmale manifest machen könne und ob man bestimmte räumliche Merkmale im Hinblick auf dieses Handeln zuerst manifest machen könne. 2) Kant findet im Licht der ihm hier unterstellten Leitfrage, daß man im Hinblick auf das Handeln zuerst ausschließlich Orientierungen manifest machen könne, indem man sie zuerst ausschließlich im Hinblick auf Handlungen erwähnt. Wir haben vorgeschlagen, im Hinblick auf Formu-

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Kontext und Kontextinvarianz in Kants Raumtheorie

Hertingen, in denen in kontextinvarianter Form sinnvoll und eindeutig ausschließlich operationale und Orientale Merkmale erwähnt werden, auch davon zu sprechen, daß hier Orientale Handlungscharakteristiken kontextinvariant eindeutig formuliert werden. 3) Die Raumtheorie, wie Kant sie im Rahmen der ihm unterstellten Leitfrage entwickeln konnte, verständigt darüber, daß jeder, der kontextinvariant eindeutige Orientale Handlungscharakteristiken überhaupt jemals und also auch erstmals effektiv und trefflich formulieren, d. h. die entsprechenden Orientalen Handlungsmerkmale entdecken kann, auch eine Bedingung erfüllt, auf die erstmals Kant unter dem Namen der reinen räumlichen Anschauung und der reinen Form der räumlichen Anschauung explizit rekurriert. 4) Kant charakterisiert unter dem Namen der formalen Anschauung des Raumes den Raum im Hinblick auf seine Dreidimensionalität dadurch, daß er diesen Raum ausschließlich durch Erwähnen ausgezeichneter operationaler und orientaler Merkmale eindeutig charakterisiert; diese Charakteristik des Raumes ist selber eine kontextinvariant eindeutig formulierte Orientale Handlungscharakteristik. 5) Kant behauptet, daß man bei der Arbeit in der euklidischen Geometrie auf die Voraussetzung angewiesen sei, daß man über diese Charakteristik prinzipiell auch explizit verfügen könne.

IV. Kapitel

Der geometrische Gegenstand

5 20.

Kongruenzbehauptungen

Kant hat in dem Rahmen, in dem er die Kerngedanken seiner neuen Raumtheorie zuerst mitgeteilt hat, auch sogleich die Tragweite erwähnt und in einem ersten Schritt zu bestimmen versucht, wie diese Theorie, wenn sie richtig ist, sie für die euklidische Geometrie besitzt. Im Anschluß an die Formulierungen der Inaugural-Dissertation, in denen er betont, daß jeder darauf angewiesen sei, die Bedingung der reinen Anschauung zu erfüllen, wenn er Sachverhalte wie die eigentümliche Inkongruenz einiger Paare sinnenfälliger Gegenstände überhaupt will manifest machen können, begründet Kant mit dem Hinweis auf diesen Zusammenhang die Behauptung, daß die Geometrie sich auch rein anschaulicher Prinzipien bediene: „Htnc geometria principiis utitur non indubitatis solum et discursivis, sed sub obtutum mentis cadentibus . . ." (WW II, De mundi, S. 403, Hervorhebung von mir, R.E.). Man wird nicht gut leugnen könne, daß Kant seine These über die Funktion der reinen räumlichen Anschauung und die Ausführungen, mit denen er sie illustriert, bei weitem überfordert hätte, wenn er ihnen hier zugemutet hätte, eine wissenschaftstheoretisch so weit gehende Behauptung auch nur annähernd akzeptabel zu machen. Aber man kann hier bei einem genaueren Blick auf die äußeren Umstände auch gar nicht so viel unterstellen. Denn Kant teilt seine Gedanken in einem Text mit, der anläßlich einer akdemischen Pflichtübung binnen Viertel) ahresfrist entstanden war. Die dokumentarische Evidenz sagt uns zwar, daß Kant mit dieser Schrift in der Prinzipientheorie sein vorläufig Bestes gegeben hatte. Aber man braucht nicht zu unterstellen, daß Kant in einer Schrift, die viel mehr als ein Thesenpapier gar nicht zu sein brauchte, der Durchsichtigkeit seiner Theorie in jedem Punkt auch schon den letzten Schliff gegeben

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Der geometrische Gegenstand

hätte. Man sollte daher auch wohl nicht erwarten, daß Kant auf das Verhältnis seiner Raumtheorie zu den Grundlagen der euklidischen Geometrie hier anders als in letztlich bloß programmatischer Weise zu sprechen kommen will. Allerdings hat Kant auch später, unter transzendentalen Vorzeichen, nie einen Traktat über die euklidische Geometrie geschrieben. Seine grundlagentheoretisch orientierten Andeutungen über diese Geometrie aus der Inaugural-Dissertation sind insoweit Programm geblieben. Auch später ist Kant auf die ontologischen und gnoseologischen Voraussetzungen der euklidischen Geometrie immer nur beiläufig eingegangen. Viele Bemerkungen, die sich ähnlich vielversprechend und doch unverbindlich ausnehmen wie die in der Inaugural-Dissertation, finden sich an den unterschiedlichsten Stellen. Das einheitstiftende Band ist nicht ohne weiteres greifbar. Hier liefert Kants Raumtheorie, wie wir sie in den Kapiteln II/III herausgearbeitet haben, einen Gesichtspunkt, der nützlich ist, wenn man einen systematischen Zusammenhang sucht, in den diese Bemerkungen eingebunden werden können. Man kann zunächst durchaus von Kants Andeutungen in der Inaugural-Dissertation ausgehen. Faßt man sie lediglich als Auftakt in einem im ganzen ungeschrieben gebliebenen Text seiner Theorie des geometrischen Gegenstandes auf, dann ist es zweckmäßig, unter den späteren einschlägigen Bemerkungen über die Geometrie nach weiteren Knotenpunkten zu suchen. Wenn Kant in der Inaugural-Dissertation davon spricht, daß man in der Geometrie von anschaulichen Prinzipien Gebrauch mache, dann orientiert er sich von vornherein an einem, wie er es sieht, charakteristischen und wissenschaftstheoretisch ernst zu nehmenden Merkmal der Beweispraxis der Geometer. Für Kant ist nämlich die von ihm erwähnte Anschaulichkeit der Prinzipien, wie jeder Geometer sie fungibel mache, auch dadurch angedeutet, daß in den Beweisen der Geometer Evidenz, „evidentia in demonstrationibus" (ib.) im Spiel sei. Woran Kant genau denkt, wenn er die Probleme der prinzipiellen Anschaulichkeit und der Evidenz der Geometrie unmittelbar mit der Beweispraxis der Geometer in Zusammenhang bringt, geht aus den Formulierungen hervor, mit denen Kant das Beweisverfahren der Geometer in den „Prolegomena" erläutert: „Alle Beweise von durchgängiger Gleichheit zweier gegebener Figuren (da eine in allen Stücken an die Stelle der anderen gesetzt werden kann) laufen zuletzt darauf hinaus, daß sie einander decken; welches offenbar nichts anderes als ein auf der unmittelbaren Anschauung be-

Kongruenzbehauptungen

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ruhender synthetischer Satz ist" (WW IV, Prol., S. 284). An anderer Stelle hat Kant das terminologisch einschlägige Stichwort für die gegenseitige Deckung von geometrischen Figuren geliefert: „Die völlige Ähnlichkeit und Gleichheit, so fern sie nur in der Anschauung erkannt werden kann, ist die C o n g r u e n z " (WW IV, Μ.Α., S. 493). Man sieht hier wenigstens schon so viel: Kants Bemerkungen über prinzipiell anschauliche Voraussetzungen des Beweisens in der Geometrie wären in der InauguralDissertation auch schon für die Ohren des Geometers wenigstens leichter verständlich ausgefallen, wenn er sogleich auf dessen Kongruenzbehauptungen abgehoben hätte und explizit nicht lediglich an Beispiele von Inkongruenzen aus der Welt der sinnenfälligen Dinge angeknüpt hätte. Was aber noch wichtiger ist: nicht nur die Inkongruenz, wie Kant sich zur Zeit der Arbeit an der Inaugural-Dissertation überzeugt hatte, sondern auch die Kongruenz kann, wie einen diese Stelle informieren sollen, von niemand ohne Zuhilfenahme der reinen räumlichen Anschauung manifest gemacht werden. Damit kann man aber von Kants Raumtheorie, wie wir sie interpretiert haben, eine direkte Brücke zu der Geometrietheorie schlagen, wie Kant sie von hier aus entwerfen konnte. Denn es liegt auf der Hand: wenn Kant vom Beispiel der Inkongruenz paradigmatisch zur Ausarbeitung seiner Raumtheorie provoziert worden ist und wenn der Sinn und die Eindeutigkeit der Rede von Inkongruenz mit den Mitteln dieser Theorie auf die kontextfrei eindeutige Orientale Handlungscharakteristik der widersinnigen Orientierung von genau zwei Handlungen zurückgeführt werden kann, dann kann der Sinn von Kongruenzbehauptungen trivialerweise auch dann mit den Mitteln dieser Theorie expliziert werden, wenn Kongruenzbehauptungen im Kontext geometrischer Beweise zu Hause sind. In diesem Zusammenhang fällt zunächst auf, daß Kant bei seinen gelegentlichen Bemerkungen über die geometrischen Methoden, vor allem über die Beweismethode der Geometer operationale Bestimmungen, oder genauer: Bestimmungen trifft, indem er einen operationalen Ton anschlägt. Dabei fällt vornehmlich ins Gewicht, daß Kant gerade die Kongruenzbehauptung, wie sie im Hinblick auf bestimmte Figuren jeweils an einer bestimmten Stelle eines Beweises für den Fortgang nötig sein kann, nämlich „daß sie einander decken" (WW IV, Prol., S. 284), in diesem Sinne auffaßt, wenn er die Berechtigung einer solchen Behauptung auf die Voraussetzung zurückführt, daß im Hinblick auf die jeweiligen Figuren gelte, daß „eine in allen Stücken an die Stelle der andern gesetzt werden kann" (ib., Kursivierungen von mir, R.E.).

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Freilich muß man das, was Kant hier im strikt operationalen Sinne m.E. zweifellos intendiert, gegen eine Tendenz in Schutz nehmen, auf die er sich durch die Wahl seiner Ausdrucksweise eingelassen hat und die er anderen Autoren gelegentlich als eindeutiges Indiz für ein fundamentales Mißverständnis der Möglichkeiten der Geometrie angekreidet hat. Denn man darf Kant hier ja nicht etwa so verstehen, als wollte er Klapp- oder Verschiebemanipulationen, wie der Geometer sie an Hand seines papiernen Hilfsmaterials gelegentlich mit gezeichneten Figuren vornehmen mag, im Hinblick auf Kongruenzbehauptungen für beweiskräftige Operationen ausgeben. Gegen dieses Mißverständnis sollte sich der Student von Kants Theorie der Geometrie schon durch die Lektüre der Eberhard-Polemik hinreichend abgesichert haben (vgl. WW VIII, Streitschrift, S. 191/192, bes. S. 191 Anm.). Eine weitere Einschränkung müssen wir zunächst noch insofern anbringen, als eine volle und genaue Analyse von Kants operationalem Kongruenzbegriff die Voraussetzungen glatt überfordern würde, die wir aus unserer Interpretation von Kants Raumtheorie mitbringen können. Das liegt ersichtlich daran, daß wir aus dieser Interpretation nichts mitbringen, was kategorial auf Größenverhältnisse, speziell auf die Gleichheit zwischen Teilen geometrischer Gebilde zugeschnitten wäre, wie sie nach Kant in Übereinstimmung mit den Männern vom Fach von Kongruenzbehauptungen impliziert wird. 1 Gleichwohl braucht der Versuch, den operationalen Kern aus Kants Bemerkungen über die Voraussetzungen von Kongruenzbehauptungen in geometrischen Beweisen herauszuschälen, unter dieser Einschränkung nicht zu leiden. Eher ist sogar das Gegenteil der Fall: da, wie sich herausstellen wird, geometrische Gebilde bei Kant auch überhaupt stets operational aufzufassen sind und da im Einzugsbereich der Bedingung, ein geometrisches Gebilde zu sein, mehr geometrische Gebilde liegen, als im 1

Formal könnte man ein allgemeines Kriterium der Kongruenz vorerst immerhin schon so zu fassen versuchen: kongruent sind solche geometrischen Gegenstände, die sich höchstens im Hinblick auf die kontextabhängigen Orientierungen der Handlungen unterscheiden, in deren Dokumenten sie sinnenfällig manifest werden. Wolle man mit Hilfe der hier bisher entwickelten Voraussetzungen in eine Diskussion der auf der Linie von Kants Intentionen liegenden Theorie des geometrischen Beweisens eintreten, sofern es in dieser Beweispraxis auf Kongruenzbehauptungen ankommt, dann könnte man sich mithin probeweise einmal von der Hypothese leiten lassen, daß es solcher Kongruenzbehauptungen prinzipiell überhaupt nur insofern bedarf, als die Gebilde, im Hinblick auf die sie aufgestellt werden, sich nur durch die Kontextorientierung der Handlungen unterscheiden, in deren Dokumenten sie jeweils sinnenfällig manifest geworden sind; vgl. hierzu auch S. 253 9 .

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Einzugsbereich der Bedingungen der Ähnlichkeit und Gleichheit geometrischer Gebilde zusammen, wird unser Ergebnis den geometrischen Gegenstand der kantischen Konzeption auch so elementar wie nur möglich betreffen können. In Anlehnung an Kants Wortwahl können wir unser Problem jetzt auch so formulieren: ,Inwiefern kann man von geometrischen Gebilden dann, wenn sie einander decken, also einander gleich und ähnlich sind, in einem operational legitimierbaren Sinn sagen, daß eines an die Stelle jedes anderen gesetzt werden könne?'. Es ist klar, daß man damit nur noch einen Rest des Problems in der Hand hat, wie man es zunächst noch mit Kants Kongruenzbegriff unter operationalen Gesichtspunkten verbinden kann. Aber leichter als auf solchen Umwegen kann man, wenn ich richtig sehe, Kants Ansatz in der Grundlagendiskussion der euklidischen Geometrie nicht beikommen, wenn man wissen möchte, ob und wenn ja inwiefern Kants Ansatz auch noch angesichts des heutigen Standes der Dinge schon im Hinblick auf die Elemente dieser Geometrie lehrreich sein kann. Den wichtigsten Hinweis auf die einzuschlagende Richtung kann einem hier die Warnung geben, den Sinn von Kants Rede von dem ,Αη-die-Stelle-eines-andern-gesetzt-werden-können' für schon strikt operational zu halten und nicht zu bemerken, daß Kant sich durch die Wahl seiner Illustration auf Existenzvoraussetzungen eingelassen hat, die die geometrischen Gebilde betreffen, von denen Kant hier ja wie ζ. B. von dem Papier redet, mit dem Geometer gelegentlich arbeiten. Aber im Hinblick auf die geometrischen Gegenstände lehrt Kant nun einmal ausdrücklich, daß „in ihrem Begriffe nichts, was ein Dasein ausdrückte, gedacht wird" ( W W IV, Μ . Α . , S. 467 Anm.; vgl. auch KdrV A 719, Β 747ff.; W W V , KdpV, S. 52). Da man nicht gut unterstellen kann, daß Kant dieser an sich so einprägsamen Lehre in unserem Zusammenhang bloß deswegen untreu geworden sein könnte, weil er nicht unmittelbar nach seiner Ontologie des geometrischen Gegenstandes befragt wird, wird man überlegen, wie hier in einem ontologisch unmißverständlichen, strikt operationalen Sinne zu formulieren ist. 2 Um meinen Vorschlag nicht unnötig mit dem Zitieren von 2

Dieser Zusammenhang bietet eine günstige Gelegenheit, auf die Frage einzugehen, inwiefern die geometrischen Gegenstandsbegriffe sowie allgemein die Begriffe vom Raum nicht nur apriorisch (vgl. S. 223 3 5 ), sondern auch rein sind. Kant hat an unserer Stelle speziell im Hinblick auf die geometrischen Begriffe die wichtigste Bedingung für die Zulassung zur Klasse der reinen Begriffe selber schon erwähnt, wenn er betont, daß im Zusammenhang mit geometrischen Gegenstandsbegriffen keine £x!s£e«zVoraussetzungen im Spiel sind. Dieser Gedanke Kants ist von Peter Piaass (1965) und von Konrad Cramer (1966)

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Der geometrische Gegenstand

Teilausdrücken zu belasten, mache ich ihn gleich einmal im Zusammenhang der Formulierung, wie Kant sie getroffen haben sollte, wenn ihm daran hätte liegen müssen, seine These über die Rolle der Kongruenz in geometrischen Beweisen sowohl unter ontologischen als auch unter operationalen Gesichtspunkten unmißverständlich auszudrücken: ,Alle Beweise von durchgängiger Gleichheit laufen im Hinblick auf geometrische Gebilde zuletzt darauf hinaus, daß eines in allen charakteristischen Stücken statt des jeweils anderen gesetzt werden kann'. Was mit dieser in sich wohl plausiblen, aber vielleicht unscheinbar anmutenden Modifikation im Ausdruck gewonnen ist, kann sofort klar werden, wenn man ihre Tragfähigkeit prüft, indem man fragt, ob sie — ganz unabhängig vom Kontext des Beweisens und der Kongruenzbehauptungen — denn nun auch noch erlaubt, den hier zunächst nur unterstellten elementaren operationalen Sinn von Kants Rede vom geometrischen Gegenstand 3 gerecht zu werden, wenn man das Ergebnis unserer Interpretation von Kants Raumtheorie zu Hilfe nimmt.

§ 21. Die geometrischen

Gegenstände

Greifen wir der Einfachheit halber zunächst auf das Beispiel der Geraden zurück! Wir haben die Gerade im Anschluß an Kants Raumdahingehend näher bestimmt und präzisiert worden, daß man bei einem reinen Begriff weder im Hinblick auf die Tatsache, daß etwas unter ihn fällt („objektive Realität"), noch im Hinblick auf die Form, in der er eingeführt, angeeignet werden kann ( „ U r s p r u n g " ) , die Frage zu berücksichtigen braucht, ob irgendetwas auch (sinnenfällig) existiert, das unter ihn fällt (vgl. Piaass, S. 83/90; vgl. Cramer im ganzen). Wenn man nun die Begriffe vom R a u m und die geometrischen Gegenstandsbegriffe inhaltlich ganz in Orientalen Handlungscharakteristiken aufgehen läßt, dann sticht die Reinheit dieser Begriffe insofern zusätzlich hervor, als man, wie schon einmal betont (vgl. S. 113ff.), nach der Existenz von H a n d l u n g e n noch nicht einmal mehr sinnvoll fragen kann. Denn eine Existenzfrage läßt sich in diesem Zusammenhang sinnvoll ja allenfalls ζ . B. im Hinblick auf den jeweiligen U r h e b e r einer Handlung stellen. Aber diese Frage und ihre eventuellen Antworten sind der Sache nach unerheblich, wenn es um den Ursprung orientaler Handlungscharakteristiken in der reinen räumlichen Anschauung geht; und die Existenzfrage ist hier auch insofern sinnlos, als es bei kontextfrei eindeutigen Orientalen Handlungscharakteristiken ja nicht um die objektive Realität in Gestalt sinnenfällig manifester Handlungsorientierungen gehen kann b z w . zu gehen braucht; vgl. auch S. 250 6 . 3

D a ß die Frage nach dem genauen operationalen Sinn von Kongruenzbehauptungen hier einen so günstigen Ausgangspunkt für die Frage nach dem auch operationalen Sinn der geometrischen Gegenstandsbegriffe im allgemeinen bietet, liegt klarerweise daran, daß Kant seine erläuternde Formulierung, wonach kongruente geometrische Figuren einander „ d e c k e n " , ja im Hinblick auf jedes Paar geometrischer Figuren getroffen hat — selbstverständlich nicht in dem Sinne, daß die Elemente jedes Paares geometrischer Figuren kongruent wären, sondern so, daß für jedes χ und für jedes y , wenn χ eine geometrische Figur ist und y eine geometrische Figur ist und χ und y kongruent sind, dann . . . .

249

Die geometrischen Gegenstände

theorie schon operational und oriental charakterisiert. Überlegt man sich nun, was unter operationalen Gesichtspunkten nur gemeint sein kann, wenn man im Hinblick auf einen geometrischen Gegenstand behauptet, daß etwas in allen Merkmalen statt eines anderen gesetzt werden könne, so ergibt sich am Beispiel der Geraden leicht, daß offenbar das

Dokument

einer einerleisinnig orientierten Handlung statt des Dokuments4

jeder

anderen einerleisinnnig orientierten Handlung ,gesetzt' werden kann. 5 Dabei kommt es ersichtlich gar nicht darauf an, ob eine einerleisinnig orientierte Handlung „im Sande . . . . . . .

im Kupferstiche . .

(WW

VIII, Streitschrift, S. 191 Anm.) „oder . . . auch auf dem Papier" (KdrV, A 713, Β 741 Ende) dokumentiert wird; vielmehr kommt es dann lediglich darauf an, daß das Dokument einer einerleisinnig orientierten Handlung unter derselben Orientalen Handlungscharakteristik, nämlich unter derselben operationalen und Orientalen Charakteristik der Geraden kontextinvariant eindeutig manifest wird wie jedes andere Dokument einer einerleisinnig orientierten Handlung. Die Orientale Handlungscharakteristik der Geraden ist insofern auch in dem speziellen Sinne kontextinvariant, daß sie, wie man sagen könnte, material- und technikinvariant eindeutig ist. 4

Wenn ich nichts übersehen habe, dann hat Kant das Wort „Dokument" in einem geometrischen Kontext bzw. im Zusammenhang mit Reflexionen zur Geometrie nicht verwendet. Aber Kant hat in solchen Zusammenhängen gleichwohl den Begriff des Dokuments benutzt. Am schönsten geht das aus der Stelle hervor, an der Kant das Hauptmotiv von Vitruvs bekannter Aristipp-Legende benutzt: „Wenn jemand in einem ihm unbewohnt scheinenden Lande eine geometrische Figur, allenfalls ein reguläres Sechseck, im Sande gezeichnet wahrnähme . . . " (WW V, KdU, S. 370), und dann im Hinblick auf so eine geometrische Figur abschließend Vitruv paraphrasiert: „. . . vestigium hominis video" (ib.; vgl. Vitruv, Sechstes Buch, S. 1). Wenn Kant eine gezeichnete oder in anderer Weise augenfällig gemachte geometrische Figur aber als ,Spur' einer Handlung ansprechen kann, wie ein Wesen wie ein Mensch sie ζ. B. im Sande verrichten kann, dann kann man sich der Sache nach in demselben Sinne ausdrücken, wenn man im Hinblick auf diesen Zusammenhang von dem .Dokument' einer geometrisch charakterisierbaren Handlung spricht. Es scheint mir jedoch zweckmäßig zu sein, von „Dokumenten" statt von „Spuren" zu sprechen, weil man wohl auch üblicherweise nur im Hinblick auf Ergebnisse von Handlungen von Dokumenten spricht, während man üblicherweise auch im Hinblick auf Ergebnisse von mechanischen Vorgängen, die nicht durch Handlungen vermittelt sind, von „Spuren" spricht. (Einmal jedoch nennt Kant die Ergebnisse göttlicher Schöpfungshandlungen auch ,Dokumente' der Existenz Gottes: vgl. WW XVII, Met. Reil., Nr. 3907, S. 337.) — Vgl. in diesem Zusammenhang auch Leibnizens Bestimmung der Aufgabe der Geometrie im Gegensatz zu der der Mechanik: „Nequehic (i.e. in Mechanica, R.E.) agitur quomodo deiineanda sint motuum, si continuari ponantur, vestigia: id enim pure Geometricum est" (Leibniz 2 , S. 38, Hervorhebung von mir, R.E.).

5

Das arithmetische Analogon zu diesem Setzen, dessen Resultate Dokumente von Handlungen sind, sofern sie kontextfrei oriental eindeutig bestimmbar sind, bildet übrigens dasjenige Setzen, dessen Resultat z . B . KdrV A 140, Β 179 in den fünf Punkten " besteht, die nach Kant „ein Bild von der Zahl fünf" (ib.) geben.

250

Der geometrische Gegenstand

Wenn man in der hier vorgeschlagenen Weise zwischen Handlungsorientierungen und den Dokumenten der Handlungen unterschieden hat, sofern sie im Sande, im Kupferstich, auf dem Papier oder auf der Tafel mit einer jeweils noch zu bestimmenden Orientierung ausgeführt werden, dann kann man leicht auch eine Schwierigkeit auflösen, in die Kant seinen Leser mit vereinzelten Bemerkungen zum ontologischen Status der geometrischen Gegenstände verwickeln kann. Denn Kant lehrt allgemein nicht nur, daß „die Geometrie es nicht mit der Existenz der Dinge . . . zu thun hat" (WW V, KdpV, S. 52). Kant erinnert gelegentlich auch daran, daß die „reine Geometrie . . . Postulate als praktische Sätze (hat) . . . und diese sind die einzigen Sätze derselben, die ein Dasein betreffen" (a. a. O . S. 3 1 ; vgl. hierzu auch Heath 1908, S. 195/220). Und gleichwohl faßt Kant diese geometrischen Postulate bekanntlich ja auch so auf, daß sie „. . . die Möglichkeit einer Handlung (postulieren)" ( a . a . O . S. 11 Anm.). 6 Beurteilt man diese scheinbar ganz unverträglichen Bemerkungen Kants zu den ontologischen Implikationen der geometrischen Postulate mit Hilfe der zuletzt entwickelten Voraussetzungen, dann verschwinden diese Schwierigkeiten sofort und machen Platz für eine auch sachlich durchaus haltbare Beschreibung dessen, was die geometrischen Postulate nach Kant in konsistenter Form fordern können. Denn obwohl die Geometrie es nicht mit der Existenz der Dinge zu tun hat und obwohl ihre Postulate Handlungen betreffen, können diese Postulate dennoch insofern ein Dasein betreffen, 6

Vgl. hierzu auch noch einmal S. 113 ff. - Daß der Begriff der Handlung ein apriorischer Begriff ist, hat Kant ausdrucklich festgehalten: „Zur Construction der Begriffe wird erfordert: daß die Bedingung ihrer Darstellung nicht von der Erfahrung entlehnt sei . . . oder überhaupt, daß die Bedingung der Construction . . . selbst ein Begriff sein müsse, der . . . a priori in der Anschauung gegeben werden kann . . . " (WW IV, Μ.Α., S. 486/487); und als Beispiel für einen Begriff, der a priori in der Anschauung gegeben werden kann, erwähnt Kant den Begriff „. . . z.B. der . . . Handlung . . ." (ib.). Andererseits wissen wir schon, daß der Begriff der Handlung für Kant nicht nur ein apriorischer, sondern auch ein reiner Begriff ist. Das geht daraus hervor, daß der Begriff der Bewegung im Gegensatz zum Begriff der Handlung für Kant nur deswegen nicht in die Geometrie gehört, weil die Geometrie eine reine Wissenschaft ist (vgl. hierzu noch einmal KdrV Β 155 Anm.). Also jedenfalls gehört der Begriff der Handlung in die Geometrie. Andererseits ist eine Wissenschaft für Kant schon dann nicht eine reine Wissenschaft, wenn sie sich mit etwas beschäftigt, „was zum Dasein eines Dinges gehört" (M.A. S. 469). Denn „das Dasein (kann) in keiner Anschauung a priori dargestellt werden" (ib.). Doch gerade auch die Geometrie beruht „nur auf der Construction der Begriffe vermittels Darstellung des Gegenstandes in einer Anschauung a priori" (ib.). Wenn aber im Begriff der geometrischen Figur „nichts, was ein Dasein ausdrückte, gedacht wird" ( a . a . O . S. 467 Anm.), dann bleibt die Theorie, in der Kant auch mit Hilfe des Begriffs der Handlung die geometrischen Gegenstände charakterisiert, nur dann konsistent, wenn auch im Begriff der Handlung ,nichts, was ein Dasein ausdrückte, gedacht wird'.

Die geometrischen Gegenstände

251

als sie das Dasein der Kreidedokumente, Tintendokumente oder irgendwelcher andersartigen sinnenfälligen Dokumente von Handlungen betreffen können, wie jemand sie auf der Tafel, auf dem Papier usw. mit der jeweils postulierten Orientierung ausführt. Es ist von hier aus nicht mehr schwer, den Anschluß an Beispiele für geometrische Gegenstände zu finden, wie Kant selber sie auf dieser Linie gegeben hat. Dies wird besonders deutlich, wenn man bedenkt, wie man die Ähnlichkeitsbedingung und die Gleichheitsbedingung auf sich beruhen lassen kann, wenn einem unter operationalen Gesichtspunkten der Schritt von Kants Auseinandersetzung mit der geometrischen Beweispraxis zu seiner insofern elementaren Theorie des geometrischen Gegenstandes gelingen soll. Denn, wenn Kant gelegentlich fast wie im Stil einer etwas verzwickten Übungsaufgabe aus einem Lehrbuch des Definierens nach dem „Begriff eines Triangels, dazu weder das Verhältnis der Seiten noch die Winkel gegeben sind" (WW VIII, Streitschrift, S. 222) fragt, dann geht es ja gerade auch um die Frage, in welchem Sinne ζ. B. ein Dreieck ein geometrischer Gegenstand ist. Dies wird sofort klar, wenn man an den systematischen Kontext denkt, in den diese änigmatische Version des Problems, in welchem Sinne auch ein Dreieck ein geometrischer Gegenstand ist, streng genommen gehört. „Dem Begriffe von einem Triangel überhaupt würde gar kein Bild desselben jemals adäquat sein. 7 Denn es würde die Allgemeinheit des Begriffs nicht erreichen, welche macht, daß dieser für alle, recht- oder schiefwinklige usw. gilt . . denn „in der Tat liegen unseren reinen sinnlichen Begriffen nicht Bilder der Gegenstände, sondern Schemate zu Grunde". Aber auch „das Schema des Triangels kann niemals anderswo als in Gedanken existieren" (KdrV, A 140, Β 180/A 141, Β 180). Zunächst: mit den Voraussetzungen, wie wir sie aus der Interpretation von Kants Raumtheorie schon mitbringen, kann man unschwer explizieren, was man nach Kant meint, wenn man „Dreieck" sagt. Denn, wenn diese Voraussetzungen auch Kants, wenngleich zumeist implizite Voraussetzungen in der Theorie des geometrischen Gegenstandes sind, dann kommt es ja nur darauf an, den Begriff des Dreiecks operational und oriental zu explizieren. Geht man dabei um des leichteren Zugangs willen 7

Kant hat hier offenkundig unvorsichtig formuliert, wenn er „Bild desselben" sagt und doch in einem Atemzug damit lehrt, daß es so etwas wie Bilder geometrischer Begriffe gar nicht geben könne. Er hätte daher treffend vielmehr sagen sollen: ,Dem Begriff von einem Triangel überhaupt würde gar kein Ergebnis eines Versuches, ein Bild desselben zu entwerfen, jemals adäquat sein können'. Denn bereits ein solcher Versuch würde, wie wir jetzt erläutern können, aus dem Mißverständnis entspringen, sinnenfällige Gebilde könnten in einem Abbildverhältnis zu (Orientalen) Handlungscharakteren stehen.

252

Der geometrische Gegenstand

vom gezeichneten Dreieck aus, dann geht es also darum, die Handlung oriental eindeutig zu charakterisieren, wie sie jeweils auch in einem solchen Dokument manifest werden kann. Es ergibt sich: ein gezeichnetes Dreieck ist das Dokument einer verschiedensinnig, nämlich dreisinnig orientierten Handlung, sofern sie mit jedem ihrer drei Teile, auf die ihre drei einerleisinnigen Orientierungen eineindeutig eingeschränkt sind, auf ihre jeweils anderen beiden Teile hin orientiert ist. Und auch Kants der Sache nach notorisch schwierige Lehre von den Schemata, wie sie ζ. B. den geometrischen Begriffen zugrunde liegen sollen, erfährt von hier aus eine plausible Klärung: denn man kann jetzt mühelos einsehen, daß die Schemata der geometrischen Begriffe konkret Handlungsschemata sind, durch die Handlungen im Hinblick auf jeweils ganz charakteristische Orientierungen hin schematisiert werden.8 8

Kants Bemerkung, daß das „Schema des Triangels . . . niemals anderswo als in Gedanken existieren (kann)" (KdrV A 141, Β 180), stellt in begrifflicher, also in sachlicher Hinsicht offenbar eine Verbesserung im Vergleich mit der anderen Bemerkung Kants dar, daß man ζ. B. eine Gerade nicht „denken (kann), ohne sie in Gedanken zu ziehen" (KdrV Β 154). Man braucht nämlich nur einmal die Rede von einer Geraden, wie man sie ,in Gedanken zieht', mit der Rede von einer Geraden, wie man sie ,im Sande', ,im Kupferstiche' bzw. ,auf dem Papier zieht', in grammatikalischer Hinsicht zu vergleichen und probeweise zu unterstellen, daß ihnen dieselbe Semantik bzw. dieselbe Ontologie zugrundeliegt, weil ihnen dieselbe (Oberflächen-) Grammatik zugrundeliegt; unter dieser Voraussetzung dürfte man nämlich konsequenterweise auch unterstellen, daß die Gedanken, ,in' denen man sozusagen eine Gerade zieht, in ontologischer Hinsicht auf einer Stufe mit dem Sand, der Kupferplatte und dem Papier stehen, ,in' bzw. ,auf' dem man eine Gerade zieht. Nun hat Kant aber ganz gewiß nicht unterstellt, daß Gedanken ein Medium abgeben können, in dem man eine Gerade in demselben Sinne ziehen könnte, wie man sie im Sande, auf einer Kupferplatte oder auf dem Papier ziehen kann. In diesem Zusammenhang kann jedoch gerade mit Hilfe der Bemerkungen aus Kants Lehre von den geometrischen Schemata deutlich werden, daß Gedanken eben nicht ein Medium für geometrische Zeichnungen, sondern, streng genommen, nur für die Schemata sein können, die den geometrischen Begriffen zugrundeliegen, also, wie wir jetzt der Sache nach erläutern können, ζ. B. für das Schema einer Handlung, für die das Gerade charakteristisch ist. Man ,denkt' demnach in der Geometrie eine Gerade in dem Sinne, daß man eine einerleisinnig orientierte Handlung eben als solche charakterisiert (.schematisiert'), indem man eine entsprechende (Orientale Handlungs-) Charakteristik mit den entsprechenden sprachlichen Mitteln (kontextfrei eindeutig) formuliert. — Am nächsten ist diesen Zusammenhängen bei Kant noch Friedrich Kaulbach (1968) gekommen (vgl. Kaulbach, V. Kapitel, bes. S. 287/307). Freilich hat Kaulbach sich nicht von kinematischen Hilfsvorstellungen freimachen können und verfehlt daher im ganzen den bei Kant intendierten rein operationalen Kern der geometrischen Gegenstandsbegriffe; und Kaulbach hat auch den metaphorischen Schleier nicht auflösen können, der ihn in Form von Wendungen wie „innere Hand der Einbildungskraft" (S. 291) und „transzendentale Hand" (S. 296) daran hindert, die kognitiven Bedingungen der Entdeckbarkeit geometrischer Gegenstände als solche zu durchschauen und darzustellen, anstatt sie zu Organen zu hypostasieren, wie sie einem transzendental gleichsam verdoppelten tech-

Die geometrischen Gegenstände

253

Nachdem wir uns damit vergewissert haben, daß es zumindest möglich ist, auch das Dreieck operational und oriental eindeutig zu charakterisieren, kann man nun auch noch den wichtigsten unter den kontextinvarianten Zügen geometrischer Gegenstände hervorheben. Denn, wenn man die vorgeschlagene Charakteristik des Dreiecks prüft, wird man finden, daß es unerheblich ist, ob eine Handlung, wie sie unter dieser Charakteristik manifest werden kann, im Sinne dessen, der sie gerade ausführt oder der gerade ihr Zeuge ist, in einem noch zu konkretisierenden und auch konkretisierbaren Sinne nach links oder stattdessen nach rechts oder stattdessen nach einer anderen konkretisierungsbedürftigen und auch konkretisierbaren Richtung ausgeführt wird. Es kommt für den Orientalen Dreieckscharakter einer Handlung ausschließlich darauf an, daß sie dreierleisinnig orientiert und mit jedem ihrer drei einerleisinnig orientierten Teile auf die beiden jeweils anderen einerleisinnig orientierten Teile hin orientiert ist. 9 Wenn es erlaubt ist, die Gerade ohne nähere Erörterung hier schon einzuschließen, dann sind also insoweit geometrische Gegenstände, d. h. Orientale Handlungscharaktere in dem vorzüglichen Sinne kontextinvariant, daß sie kontextinvariant manifest werden. Bevor man von hier aus den letzten Schritt zur Verallgemeinerung tun und in einsichtiger Weise eine Behauptung über alle geometrischen Gegenstände in dem von Kant intendierten euklidischen Sinne aufstellen kann, ist es aber zweckmäßig, mit den bislang ermittelten möglichen Voraussetzungen von Kants Theorie noch ein weiteres Beispiel eines solchen Gegenstandes aufzuarbeiten. Mit Hilfe dieser Voraussetzungen kann man

9

nischen Zeichner zur Verfügung stünden. — Angesichts dieses Standes der Debatte bei Kaulbach ist es vielleicht verständlich, daß Friedrich Kambartel (1968), der ausdrücklich an frühere Untersuchungen Kaulbachs zu diesem Thema anknüpft (vgl. Kambartel, S. 113/118), zwischen rein operationalen (vgl. S. 118) und kinematischen, sogar dynamischen Schemata im Hinblick auf mathematische Begriffe (vgl. S. 1 18 72 ) schwankt. Damit wird aber lediglich, wenngleich in viel differenzierterer Form, der schon bei Schultz feststellbare Mangel an begrifflicher Schärfe in diesem Punkt (vgl. S. 228 3 7 ) wiederholt. Von hier aus betrachtet, stellen sich die von Kurt Reidemeister (1957) diskutierten Orientierungs- und Orientierbarkeitsprobleme durchweg als kontextbedingte Probleme dar und gehören — beispielsweise in Form der kontextabhängigen Kongruenzbehauptungen (vgl. S. 246 1 ) — in die Theorie des geometrischen Beweisens. — Auch Freges (1884) Erörterung der Begriffe der Richtung, der Geraden und der Parallelen (vgl. §§ 64/ 68) können von hier aus so aufgefaßt werden, daß Frege Probleme erörtert, wie sie sich ergeben, wenn man fragt, wie ein formales Kriterium entwickelt werden kann, das einem gestattet, im Hinblick auf beliebige Paare von Kontexten K, und K 2 eindeutig zu entscheiden, ob Kj dieselbe Richtung manifest macht wie K 2 oder nicht, d. h. ob K, und K 2 parallel sind oder nicht. Bei Frege sind diese Kontexte K, und K 2 hinter (freien bzw. gebundenen) Variablen wie „a" und „b" (vgl. S. 74ff., 75ff., 76ff., 77ff„ 78ff., 79ff.) nur gleichsam versteckt.

254

Der geometrische Gegenstand

ζ. B. den Begriff des Rechtecks bzw. des Rhombus, wenn man zunächst wieder bei einem gezeichneten Rechteck bzw. Rhombus ansetzt, so einführen : ein gezeichnetes Rechteck bzw. ein gezeichneter Rhombus ist das Dokument einer verschiedensinnig, nämlich zweisinnig orientierten Handlung, sofern je zwei ihrer vier einerleisinnig orientierten Teile ebensinnig orientiert sind und jeweils ein Element aus jeweils einem Paar ihrer ebensinnig orientierten Teile auf die beiden Elemente aus dem jeweils anderen Paar ihrer ebensinnig orientierten Teile in demselben Sinne hin orientiert ist, in dem das jeweils andere Element aus jenem Paar auf dieselben beiden Elemente aus diesem anderen Paar hin orientiert ist. Ich breche die Konstruktion von exemplarischen geometrischen Gegenständen hier zunächst ab. Man sieht schon, daß der sprachliche Komplikationsgrad der hier vorgeschlagenen Formulierungen schnell den sprachlichen Komplikationsgrad übersteigt, wie ihn ζ. B. Euklids entsprechende Formulierungen im Definitionenteil des Ersten Buches der „Elemente" erreichen. Wir brauchen die Konsequenzen unseres Interpretationsansatzes aber auch gar nicht weiter in dieser Richtung zu verfolgen. Es ging lediglich darum, außer der Geraden noch einige Figuren im engeren euklidischen Sinne — „Eine Figur ist, was von einer oder mehreren Grenzen umfaßt wird" 10 — zu charakterisieren. Man kann von hier aus nämlich eine Verallgemeinerung treffen, die zunächst die geradlinigen Figuren betrifft. In Gestalt der Geraden hat man es nämlich unter operationalen und Orientalen Vorzeichen mit einer Orientierung einer Handlung zu tun; in Gestalt von Dreieck, Rechteck und Rhombus hat man es mit Beispielen von jeweils vielen, nämlich von jeweils wenigstens zwei verschiedenen Orientierungen einer Handlung zu tun. Hat man die hier vorgeschlagenen Orientalen Handlungscharakteristiken geometrischer Gegenstände einmal in dieser Form akzentuiert, dann kann man leichter den Leitfaden in die Hand bekommen, den Kant seinem Studenten geben kann, wenn er von hier aus wieder in den von Kant eröffneten engeren systematischen Zusammenhang der Theorie des geometrischen Gegenstandes finden möchte. Kant schließt nämlich seine Theorie der Bahnbewegung der Materie, also die „Metaphysischen Anfangsgründe der Phoronomie" (vgl. WW IV, Μ. Α., S. 480/495) mit der Bemerkung ab: „Hat jemand Lust die gedachten Theile des allgemeinen phoronomischen Lehrsatzes an das Schema der Eintheilung aller reinen Verstandesbegriffe,

10

Vgl. Euklid, Buch I, Def. 14.

Die geometrischen Gegenstände

255

namentlich hier der des Begriffs der G r ö ß e zu halten, so wird er bemerken: daß . . . die Lehre der Zusammensetzung der Bewegungen zugleich die reine Größenlehre derselben sei und zwar nach allen drei Momenten, die der Raum an die Hand gibt, der E i n h e i t der Linie und Richtung, der V i e l h e i t der Richtungen in einer und derselben Linie, endlich der A l l h e i t der Richtungen sowohl, als der Linien, nach denen die Bewegung geschehen mag . . . Diese Bemerkung hat nur in der Transzendentalphilosophie ihren Nutzen" (a. a. O . S. 495). Im buchtechnischen Sinne hat Kants Bemerkung ihren Nutzen klarerweise im Zusammenhang der Stelle aus der Transzendentalen Deduktion der Kategorien, KdrV, Β 155 Anmerkung: „Bewegung eines O b j e k t s im Räume gehört nicht in eine reine Wissenschaft . . . folglich auch nicht in die Geometrie . . .", sondern, wie man angesichts der Μ. A. fortsetzen kann, in eine Kinematik, in der Existenzvoraussetzungen im Hinblick auf bewegliche Materiepartikel („Körper") nötig werden. Aber „Bewegung, als Handlung des Subjekts" (B 154 Ende), konkreter als „Beschreibung eines Raumes . . . (d. h. als irgendsinnig orientierte Handlung, R. E.) . . . gehört nicht allein zur Geometrie sondern sogar zur Transzendentalphilosophie" (B 155, Anm. Ende). Inwiefern? Insofern, als geometrische Gegenstände, also konkrete kontextinvariante Orientale Handlungscharaktere Beispiele dafür sind, wie die »notwendige synthetische Einheit' des in der Anschauung unter der Form der Orientierung gegebenen Mannigfaltigen in der ,Handlung des Subjekts' manifest werden kann, d. h., wie „allererst ein Objekt (ein bestimmter Raum) erkannt wird" (§ 17, Β 138): nämlich — „den Kategorien gemäß" (B 152) — im Falle des Geraden gemäß der Kategorie der Einheit — eine Orientierung einer Handlung — und im Falle d e s Dreieckigen, d e s Rechteckigen und d e s Rhombischen gemäß den Kategorien der Vielheit und der Einheit — viele Orientierungen einer Handlung. 1 1 Beim Geraden einerseits und beim Dreieckigen, Rechteckigen und Rhombischen andererseits handelt es sich also insofern um kategorial verschiedene Beispiele kontextinvarianter orientaler Handlungscharaktere

11

W e n n man hier einmal nach dem von Frede/Krüger (1970) benutzten grammatikalischen Schema (vgl. S. 48ff.) formuliert, kann man feststellen: (1) „Die Richtungen in einer Geraden sind ihrer Eine und die Handlungen zum Behufe einer Geraden sind ihrer E i n e " ; (2) „ D i e Richtungen in einer planaren Figur sind ihrer viele und die Handlungen z u m Behufe einer planaren Figur sind ihrer Eine". Auf Fragen wie die, ob geometrische Definitionen Urteile im Sinne von Kants Urteilslehre sind und insofern ζ. B. Kandidaten f ü r Wahrheitswerte sind, gehe ich in diesem Zusammenhang nicht näher ein.

256

Der geometrische Gegenstand

bzw. um — in Kants Sprache — kategorial verschiedene Beispiele „figürlicher Synthesis" (Β 151 f.). 12 N u n bilden die Überlegungen, wie man sie in der Transzendentalen Logik im Hinblick auf die Orientierung von Handlungen am Leitfaden der Quantitätskategorien anstellen kann, nicht etwa schon selbst den Rahmen, in dem Definitionen einer transzendental konzipierbaren euklidischen Geometrie unmittelbar entwickelt werden könnten. Man kann sich das leicht klar machen, wenn man daran denkt, daß unter der schon rein kategorial möglichen Charakteristik der vielsinnig orientierten Handlung ebensowohl nichtgeschlossene Streckenzüge wie auch Figuren in dem angedeuteten engeren, euklidischen Sinne, also geschlossene Streckenzüge manifest gemacht werden können, ohne daß einem, wenn ich richtig sehe, schon unter rein kategorialen, operationalen und Orientalen Vorzeichen Mittel zur Verfügung stünden, zwischen den vielen konkreten geometrischen Figuren eindeutig zu unterscheiden. Man kann lediglich allgemein feststellen: vieleckige geradlinige Figuren sind spezielle kontextinvariante Orientale Handlungscharaktere; sie gehören nämlich zu denjenigen geometrischen Gegenständen, wie sie nur unter der transzendental prinzipiell verfügbaren Charakteristik der vielsinnig orientierten Handlung manifest werden können. 1 3 Fragen wie die, ob mit Hilfe kategorialer, operationaler und orientaler Voraussetzungen allein noch andere euklidische Orientale Handlungscharaktere außer dem Geraden direkt auf Begriffe gebracht werden können, brauchen uns hier nicht weiter zu beschäftigen. Wichtiger wird es sein herauszufinden, ob man am Leitfaden von Kants Quantitätskategorien so viele kategorial verschiedene Orientale Handlungscharakteristiken entwerfen kann, daß damit die drei Typen euklidischer geometrischer Gegenstände — lineare, planare und stereometrische — erschöpft werden können. Zu diesem Zweck ist es wichtig, sich darüber klar zu werden, daß man sich nicht starr an das Vorbild halten darf, das Kant am Ende der „Phoronomie" von der Anwendung dieser Kategorien gibt. Denn in Kants Kine12

13

Ich zitiere Kant hier ohne Diskussion seiner Fomulierung und ihrer sachlichen Voraussetzungen, um nur anzudeuten, (1) an welcher Stelle von Kants manchmal fast hermetisch anmutendem Text man sich mit Hilfe unserer Interpretationshypothese am besten in den zentralen systematischen Zusammenhang seiner Theorie des geometrischen Gegenstandes einfädeln kann und (2) in welcher Richtung von Kants Systematik unser Ansatz vorerst offen bleiben soll. N i m m t man freilich, was Euklid nicht tut, den Winkel unter die Figuren auf — erweitert man also Euklids Definition des Figurenberiffs —, dann wird der Unterschied zwischen geschlossenen und nichtgeschlossenen Streckenzügen unerheblich.

Bedingungen der Kontextinvarianz (II)

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matik bleibt aus prinzipiellen Erwägungen ein Typ der Orientierung von Bewegung undiskutiert, der eine vierte kategoriale Charakteristik über die eins-eins-, viele-eins- bzw. alle-alle-Charakteristik der „Phoronomie" hinaus nötig machen würde. Denn Kant vertagt hier bekanntlich die Erörterung der Kreisbewegung und aller anderen ,krummlinichten' Bewegungen auf den Kontext der „Phänomenologie" (vgl. WW IV, Μ. Α., S. 488, 495 bzw. S. 557). Man sieht aber leicht, daß ein gezeichneter Kreis als Dokument einer Handlung charakterisiert werden kann, wie sie — außer der einerleisinnig orientierten Handlung — den zweiten gleichsam reinen Fall einer Handlungsorientierung abgibt, wie sie im Licht einer ausschließlich kategorial entwerfbaren Orientalen Handlungscharakteristik manifest werden kann. Denn ein gezeichneter Kreis kann als das Dokument einer Handlung charakterisiert werden, wie sie alle in einer Handlung möglichen Orientierungen konkretisiert, so daß das Zirkuläre ein weiteres Beispiel für einen geometrischen Gegenstand ist, wie er vermöge der synthetischen Einheit des in der Anschauung unter der Form der Orientierung gegebenen Mannigfaltigen in einer Handlung des Subjekts manifest werden kann: indem man nämlich richtig auf die Kategorien der Allheit und der Einheit rekurriert — ,alle in einer Handlung möglichen Orientierungen'. Wenn uns in diesem Zusammenhang kein Fehler unterlaufen ist, dann können im Licht der rein kategorial entwerfbaren Charakteristiken der einsinnig orientierten Handlung, der vielsinnig orientierten Handlung und der allsinnig orientierten Handlung die geometrischen Gegenstände erschöpfend erfaßt werden, wie sie in der planaren euklidischen Geometrie systematisch näher untersucht werden. 14 § 22. Bedingungen

der Kontextinvarianz

(II)

a) Zur metaphysischen Deduktion der Kategorien Wir haben mit den Überlegungen des § 21 unmittelbar in einen speziellen Teil von Kants Kategorienlehre bzw. Gegenstandstheorie hin14

Es ist bemerkenswert, daß Kant in dem operationalen Exkurs KdrV Β 154/155 mit der Geraden und dem Kreis geometrische Gebilde erwähnt, deren gegenständlicher Charakter — im Unterschied etwa zum Dreieck als solchem, Rechteck als solchem oder Rhombus als solchem — ausschließlich „gemäß . . . Kategorien" der Quantität eindeutig festgelegt werden kann, d . h . ohne daß man konkrete Anzahlen — 3, 4, 6 usw. — von Handlungen bzw. Orientierungen berücksichtigen müßte. Auf das Problem, ob der Ausdruck „ E i n " in Kants Theorie eine Art von Doppelstellung zwischen logischem Quantor und Zahlausdruck hat, weise ich nur kurz hin.

258

Der geometrische Gegenstand

eingefunden. Denn wir haben ja mit einigen Formulierungen Beispiele dafür gegeben, wie man den operationalen, Orientalen und vor allem auch den gegenständlichen Sinn bestimmter Ausdrücke des planaren Teils der euklidischen Geometrie mit den Mitteln von Kants Kategorienlehre auf Begriffe bringen, d. h. so explizieren kann, daß der gegenständliche Sinn dieser Ausdrücke ausschließlich dadurch bestimmt ist, daß Handlungen (das Material der reinen Anschauung, für Kant kurz: ,reine Anschauungen') jeweils durch die Verwendung eines und nur eines und keines anderen Quantors („alle", „viele", „Ein") 1 5 insofern eindeutig bestimmt werden und daß Orientierungen (die räumliche Form des Materials der reinen Anschauung, für Kant kurz: ,reine räumliche Anschauungen') ebenfalls in dieser Form eindeutig bestimmt werden. Wenn aber (1) „ohne Anschauung, in Ansehung deren die logische Funktion als Kategorie bestimmt werden konnte, kein Objekt" 1 6 ( a . a . O . , S. 475 Anm.), und wenn (2) „durch den Verstandesbegriff ein Objekt in Ansehung einer oder der andern Funktion der Urteile als bestimmt gedacht wird" (ib.) und wenn, wie wir in den Kapiteln II/III herauszuarbeiten versucht haben, (3) in Gestalt der Handlungsorientierungen ,räumliche Anschauungen' ,a priori' charakterisiert werden können, die insofern „die zur Anwendung jener reinen Verstandesbegriffe erforderliche Bedingung enthalten" (ib.) 17 , dann kann einen aber der Sache nach offenbar auch nichts mehr daran

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Zur Unterscheidung vom unbestimmten Artikel „ein" erwähne ich den Quantor des Einzelurteils großgeschrieben „Ein". Ich unterstelle, daß Kant, der statt „deren" „dessen" sagt, der Sache nach irrt. Denn es sind die Anschauungen, die durch Anwendung logischer Funktionen auf sprachliche Ausdrücke mit anschaulicher Bedeutung erst zu Objekten gestempelt werden; vgl. auch Kants entsprechende Formulierung KdrV Β 128: „Sie (die Kategorien, R.E.) sind Begriffe von einem Gegenstande überhaupt, dadurch dessen Anschauung in Ansehung einer der logischen Funktionen zu urteilen als bestimmt angesehen wird" (Kursivierung von mir, R . E . ) . Kant spricht hier deswegen bloß von erforderlichen und nicht von erforderlichen und hinreichenden Bedingungen für die Anwendung der Kategorien, weil er im Hinblick auf alle Kategorien spricht und weil die reinen Anschauungen a priori nicht im Hinblick auf jede Kategorie die hinreichende Bedingung ihrer Anwendung liefern, ζ. B. nicht für die sog. dynamischen Kategorien, für deren Anwendung man außerdem noch die Existenz von etwas voraussetzen muß, was datiert oder lokalisiert werden kann (vgl. vor allem KdrV Β 146/147; A 143, Β 182/A 144, Β 184; A 160, Β 199 und Β 201 Ende, Anm.). Da wir uns im Rahmen unseres Themas ausschließlich für die geometrischen Gegenstandsbegriffe interessieren, dürfen wir aufgrund dessen, was Kant jedenfalls ausdrücklich lehrt, erwarten, daß man nicht nur darauf angewiesen ist, auf reine Anschauungen a priori zu rekurrieren, sondern, daß man mit einem solchen Rekurs alleine auch schon auskommt, wenn man mit ihrer Hilfe und mit Hilfe bestimmter Kategorien die geometrischen Gegenstände zu konstruieren versucht.

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hindern, ein orientales Handlungsmerkmal genau insofern, als es „in Ansehung einer oder der andern Funktion der Urteile als bestimmt gedacht wird" (ib.), als Gegenstand, konkret: als geometrischen Gegenstand einzustufen. Kann man diesen speziellen Gegenstandsbegriff noch genauer bestimmen? Wir haben schon zweimal skizziert (vgl. S. 26/27, 219 20 ), wie man versuchen kann, einiger Schwierigkeiten Herr zu werden, die Kants Rede von „Kategorien" bzw. „Gegenständen" bereiten kann. Man kann nämlich Kants funktionale Auffassung der logischen Struktur eines Urteils mit den Mitteln ernst zu nehmen versuchen, die wir schon in einem anderen Zusammenhang herangezogen haben, als wir die von Frege für die allgemeine Bedeutungs- und Gegenstandstheorie entdeckten Unterscheidungen zwischen Funktion, Funktionsargument und Funktionswert benutzt haben. Geht man daran, diese Unterscheidungen im Zusammenhang von Kants Kategorienlehre fruchtbar zu machen, dann fällt alsbald auf, wie überraschend leicht und gleichsam ohne Rest man sich beim Stande unserer Erörterungen die Sachverhalte durchsichtig machen kann, die Kant hier intendiert. Wenn man planmäßig berücksichtigt, daß man zunächst ganz allgemein zwischen einer Funktion Φ und einem Argument α unterscheiden kann, wie man es mit Hilfe eines sprachlichen Ausdrucks a erwähnt, der im Sinne dieser Funktion Φ als ein spezieller Argumentausdruck verwendet wird, dann kann man sich ohne große Mühe klarmachen, inwiefern man durch Kants Kategorienlehre lediglich über eine feste Anzahl spezieller verschiedener, nämlich: kategorial verschiedener Klassen solcher Argumente verständigt wird. Wenn man versucht, mit diesem Gedanken im Detail zu arbeiten, dann ergibt sich, daß die Kategorie ζ. B. der Substanz offenbar jene Klasse von Argumenten bildet, wie sie mit Hilfe eines sprachlichen Ausdrucks18 erwähnt werden können, der im formalen Rahmen eines kategorischen Urteils als Subjekt fungibel gemacht wird. Es ergibt sich auch, daß mit der Kategorie ζ. B. der Wirkung dann die Klasse von solchen Argumenten festgelegt ist, wie sie mit Hilfe eines sprachlichen Ausdrucks erwähnt werden können, der im formalen Rahmen eines hypothetischen Urteils als Consequens fungiert. Und es ergibt sich u. a. auch, daß mit der Kategorie 18

D i e Erlaubnis, Lehrstücke aus Kants Transzendentaler Logik zu erläutern, indem wir ausdrücklich die bei der Formulierung von Erkenntnissen verwendeten sprachlichen Ausdrücke berücksichtigen, haben wir uns bei Kant W W V I I I , Streitschrift, S. 193 Anm., geholt; vgl. auch S. 2 2 4 .

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Der geometrische Gegenstand

z . B . der Allheit die Klasse derjenigen Argumente festgelegt ist, wie sie mit Hilfe eines sprachlichen Ausdrucks erwähnt werden können, der (im Deutschen) im Wirkungsbereich des Quantors „alle" verwendet werden kann usw.. Ein solches Argument, wie es mit Hilfe eines sprachlichen Ausdrucks erwähnt werden kann, der im Sinne irgendeiner der von ihm berücksichtigten Urteilsfunktionen verwendet wird, nennt Kant „Gegenstand". Und die verschiedenen im Rückgriff auf die Urteilsfunktionen unterscheidbaren Klassen von Argumenten nennt Kant offenbar „Kategorien". Kategorien sind Klassen von Argumenten logischer Funktionen. Gegenstände sind Argumente logischer Funktionen. Wenn wir diese allgemeine Erläuterung dieser speziellen Beispiele hier einmal einfach für sich selber sprechen lassen dürfen, ohne schon weiter ins einzelne von Kants durchgeführter Kategorienlehre zu gehen, dann bleibt vor allem noch übrig zu klären, ob und wenn ja inwiefern nun speziell die (kantischen) Quantoren in Formulierungen orientaler Handlungscharakteristiken durch ihre kategoriale Tragweite dazu beitragen, daß diese Formulierungen in dem entwickelten Sinne kontextfrei eindeutig ausfallen. Nun würde allerdings eine ganz umsichtige Antwort auch auf diese Frage streng genommen voraussetzen, daß wir über „eine durchgeführte Theorie des Uberganges von der Logik zur Transzendentalphilosophie" (Reich 1932, S. 92 55 ) verfügen. Eine solche Theorie würde im wesentlichen in der Metaphysischen Deduktion der Kategorien und zunächst noch in den Überlegungen bestehen, wie man sie anstellen muß, „um die Notwendigkeit der . . . qualitativen und quantitativen Urteilsformen Infinitatio und Singularitas einzusehen" (a.a.O. S. 92). Eine solche zusammenhängende Theorie sehe ich nicht vor mir. Es würde aber auch in dem Rahmen, in dem wir uns mit unserem Thema halten, zu weit führen, alle diese Überlegungen hier ad hoc wie eine Hilfstheorie zu entwickeln. Es soll jedoch ausdrücklich festgehalten werden, daß an dieser Stelle unserer Untersuchung vorerst eine sachlich wichtige teilweise Lücke bleiben wird, die wir im Folgenden nicht schließen, aber mit Hilfe der nötigen Hypothesen wenigstens provisorisch überbrücken wollen. Auf welche Hypothesen ist man in dieser Situation angewiesen? Kant hat alle Bedingungen, durch die eine Kategorie, hier: eine Quantitätskategorie zu ihrem Teil dazu beiträgt, daß eine Orientale Handlungscharakteristik kontextfrei eindeutig ausfallen kann, in der Weise deutlich gemacht, daß er die formalen Ansprüche ausdrücklich angemeldet hat, denen eine Kategorie genügen soll.

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Es kommt hier zunächst darauf an, daß Kant behauptet: „Die Funktionen des Verstandes können . . . insgesamt gefunden werden, wenn man die Funktionen der Einheit in den Urteilen vollständig darstellen kann. Daß dieses aber sich ganz wohl bewerkstelligen lasse, wird der folgende Abschnitt vor Augen stellen" (KdrV A 69, Β 94). Man kann die Uberlegungen, deren Plausibilität man um unseres Beweiszieles willen für wünschenswert zu halten hat, nämlich schon dann triftig entwickeln, wenn man unterstellt, daß es Kant auch tatsächlich gelungen ist, die einheitsstiftenden Urteilsfunktionen vollständig zu ermitteln und ausschließlich an ihrem Leitfaden die Kategorien vollständig zu ermitteln (,metaphysisch zu deduzieren'). Denn, wenn der Nachweis gelingen soll, daß eine Quantitätskategorie einer bestimmten Orientalen Handlungscharakteristik kontextinvariante und kontextunabhängige Eindeutigkeit verleiht, dann ist es nötig und genügt auch schon, daß diese Kategorie wie alle anderen Kategorien ausschließlich im Rekurs auf logische Funktoren gewonnen werden kann, die selber auf eine bestimmte, den heutigen Logiker fast schon banal anmutende Weise ermittelt werden können. Man braucht hier nämlich nur einmal an einen zumeist gar nicht für bemerkenswert gehaltenen Zug der Methode zu denken, nach der es Klaus Reich (Reich 1932) gelungen ist, die Einführung jedenfalls derjenigen Urteilsfunktoren Kants plausibel zu machen, deren Reich sich angenommen hat. Ich meine die Tatsache, daß man alle diese Funktoren einführen kann, ohne daß man sie dabei in der Weise charakterisieren müßte, daß man in Gestalt auch nur eines einzigen exemplarischen Urteils jeweils ein konkretes Beispiel ihrer effektiven urteilbildenden Verwendung heranzieht (vgl. Reich, § 5). 19 Denn genau dann, wenn ein sprachlicher Ausdruck wie „alle", „viele" bzw. „Ein" unabhängig von jedem Kontext seiner sinnvollen, urteilbildenden Verwendung in unverwechselbarer Form als ein bestimmter und kein anderer Urteilsfunktor charakterisiert werden kann, ist auch nachgewiesen, inwiefern er in den Kontexten, in denen er dann überhaupt sinnvoll verwendet werden kann, nämlich in sprachlich formulierten Urteilen, auch invariant gegenüber den Kontexten eindeutig als genau der Funktor verwendet werden kann, als der er unabhängig von jedem solchen konkreten Kontext seiner sinnvollen Verwendung, nämlich in der kantischen Theorie der Urteilsfunktionen charakterisiert werden 19

Da nicht gut bezweifelt werden kann, daß es Reich de facto gelungen ist, so jedenfalls vorzugehen, sind diese Methode und die Ergebnisse, wie ihre Anwendung bei Reich sie gezeitigt hat, jedenfalls auch unempfindlich gegen die Kritik, wie sie bisher unter inhaltlichen Gesichtspunkten an Reichs Ergebnissen geübt worden ist.

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Der geometrische Gegenstand

kann. Andernfalls könnte ein Funktor wie beispielsweise der Quantor „alle" in „Alle Menschen sind sterblich" schon deswegen einen anderen Quantor abgeben als in „Alle Tiere sind sterblich", weil er in der einen Formulierung einen ganz anderen sprachlichen Ausdruck bindet als in der anderen Formulierung. Wie immer nun der Weg im einzelnen aussehen mag, auf dem man die Kategorien am Leitfaden der Urteilsfunktionen zu ermitteln hat — jedenfalls ist man alleine durch Kants Theorie der Urteilsfunktionen noch nicht auf irgendeinen Gegenstandsbereich festgelegt, in dem die sprachlichen Ausdrücke, die jeweils im Wirkungsbereich wenigstens eines Urteilsfunktors verwendet werden — Subjekte, Prädikate, Antecedentien, Consequentien usw. —, ihre Interpretation erfahren müßten. Denn: „Die allgemeine Logik abstrahiert, wie mehrmalen schon gesagt worden, von allem Inhalt der Erkenntnis" (KdrV A 76, Β 102). Nun ist aber das Kapitel „Formale Logik" für Kant auch dann noch längst nicht abgeschlossen, wenn er die von ihm ermittelten logischen Funktionen beschrieben hat und den Vollständigkeitsanspruch angemeldet hat, den er mit seiner Urteilstafel verbindet. Dieses Thema wäre für Kant noch nicht einmal dann erledigt, wenn es gelingen sollte, einen überzeugenden Beweis für die Vollständigkeitsthese Kants nachzuliefern. Denn die Formale Logik bildet im Rahmen von Kants Transzendentaler Logik nicht nur einen Teil und nicht nur einen Anlaß für metalogische Gelegenheitsreflexionen. Darüber hinaus gibt sie vor allem auch eine unerläßliche Voraussetzung für die Weiterarbeit an den thematischen Hauptaufgaben der Transzendentalen Logik ab. Denn mit der Theorie der Urteilsfunktionen soll ja auch schon einmal eine allererste Vorarbeit dafür geleistet werden, daß man die Frage nach dem ,Gegenstand einer Erkenntnis' in genauer gezielter Weise als vorher wiederholen kann. Inwiefern kann man nun aber gerade im Hinblick auf die Ergebnisse, zu denen man gelangen kann, wenn man diese Theorie durchführt, fragen, ob sie sich als Voraussetzungen eignen, auf die man mit berechtigter Aussicht auf Erfolg zurückgreifen kann, wenn man versucht, „den Begriff von Etwas20 überhaupt . . . zu bestimmen (KdrV A 251)? 20

Ich schließe mich hier Hartensteins Konjektur (vgl. Fußnote 5) an, die angesichts des vorhergehenden Kant-Textes nur konsequent ist. „Etwas" oder „Etwas überhaupt" verwendet Kant wie eine Variable, für die er nach einem wohlbestimmbaren Gegenstandsbereich erst noch sucht, im Hinblick auf den er in seiner Kategorienlehre erste formale Anforderungen formuliert, indem er auf die funktionalen Bedingungen zurückgreift, wie er sie in seiner Theorie der Urteilsformen entworfen hat.

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Nun geht es in der Transzendentalen Logik zwar schon von Anfang an vor allem auch darum, die Bedingungen herauszuarbeiten, die irgendeiner Erkenntnis als solcher garantieren, daß sie überhaupt in irgendeiner „Beziehung auf irgendein Objekt" (A 63, Β 87) steht. Aber da man in der Theorie der Urteilsfunktionen „. . . wie mehrmalen schon gesagt worden, von allem Inhalt der Erkenntnis (abstrahiert)" (A 76, Β 102), muß der transzendentale Logiker spätestens im Anschluß an die Theorie der Urteilsfunktionen und bevor er „wagen" kann, „über Gegenstände zu urteilen, und irgendetwas zu behaupten, . . . gegründete Erkundigung außer der Logik (d. h. außerhalb der Theorie der Urteilsfunktionen, R.E.) eingezogen . . . haben" (A 60, Β 85). Aber — und hierauf kommt es jetzt in erster Linie an — diese ,Erkundigungen' braucht der transzendentale Logiker, sofern er über eine Theorie der Urteilsfunktionen in der kantischen Gestalt schon verfügt, nicht mehr gänzlich wahllos und nicht mehr bloß aufs Geratewohl anzustellen. Der transzendentale Logiker kann diese Erkundigungen nämlich wenigstens in einer formalen Hinsicht schon ganz gezielt anstellen, indem er eine in formaler Hinsicht hinreichend bestimmt formulierte Frage stellt. Diese formale Zielsicherheit beim weiteren Fragen verdankt man im Rahmen von Kants Transzendentaler Logik aber gerade der Vorarbeit, die im Rahmen der Theorie der Urteilsfunktionen zumindest der Intention nach schon geleistet worden ist. Im Rahmen dieser Theorie wird ja plausibel gemacht, inwiefern angesichts der Aufgabenstellung der Transzendentalen Logik, nämlich eine „Logik der Wahrheit" (A 62, Β 87) auszuarbeiten, wenigstens 10 der 12 von Kant im ganzen berücksichtigen Urteilsfunktionen unterschieden und charakterisiert werden können. Wenn diese Funktionen aber erst einmal als solche ausdrücklich berücksichtigt und im einzelnen genau bestimmt sind, dann kann man gerade auf sie und nur auf sie rekurrieren, wenn man nach weiteren Bedingungen für das mögliche Bestehen eines wohlbestimmten Gegenstandsbezuges der Urteile fragt, deren sprachliche Formulierungen jeweils von irgendwelchen dieser Urteilsfunktionen geprägt sind. Um der auch äußeren thematischen Konsequenz willen wird man hier zweckmäßiger Weise zwar auch an die vage Programmformel von der „Beziehung auf irgendein Objekt" (A 63, Β 87) anknüpfen, wie sie einer „Erkenntnis" (ib.) als solcher attestiert werden kann. Aber gerade im Hinblick auf das Fundament ,Erkenntnis' der hier erwähnten Beziehung einer Erkenntnis auf irgendein Objekt kann man diese vage Programmformel in einer methodisch und sachlich nur allzu wünschenswerten Weise erstmals konkretisieren und differenzieren, wenn man bereits die fertige

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Der geometrische Gegenstand

Theorie der Urteilsfunktionen bemühen kann. Denn mit Hilfe dieser Theorie kann man die gegenständliche Erkenntnis, von der in der Transzendentalen Logik programmgemäß gehandelt werden soll, unter anderem auf die Bedingungen festlegen, (1) daß man über diese Erkenntnis stets nur in der Gestalt sprachlich formulierter Urteile Rechenschaft ablegen kann und (2) daß für jedes solche sprachlich formulierte Urteil jedenfalls irgendwelche von den formallogischen Eigenschaften charakteristisch sind, wie sie in der Theorie der Urteilsfunktionen beschrieben werden. Inwiefern ist man mit der Frage nach den Bedingungen, die einer Erkenntnis als solcher eine Beziehung auf irgendein Objekt garantieren, einen Schritt weitergekommen, wenn man mit diesen Mitteln differenzieren kann? Nun, wenn man Kants funktionale Auffassung der logischen Eigenschaften eines sprachlich formulierten Urteils mit den erstmals von Frege herangezogen begrifflichen Mitteln konsequent weiterentwickelt, dann kann man zunächst einmal jede der von Kant berücksichtigten Urteilsfunktionen durch einen charakteristischen Funktor — ζ. B. „oder", „alle", „nicht", „notwendig" — ausdrücken. Da es zum Begriff des Funktors gehört, einen oder mehr als einen anderen sprachlichen Ausdruck näher zu bestimmen, darf man solche sprachlichen Ausdrücke, terminologisch: Argumentausdrücke, wie sie insofern dann ja auch an der Formulierung eines Urteils im kantischen Sinne beteiligt sind, schon aus begrifflichen Gründen in die weiteren Überlegungen einbeziehen. Damit ist aber ein wichtiger Schritt getan: denn erst und nur unter dieser Voraussetzung kann man auch mit der nötigen Bestimmtheit von der Erkenntnis reden, im Hinblick auf die die Bedingungen herausgearbeitet werden sollen, die ihr als solcher garantieren, daß sie in einer Beziehung zu irgendeinem Objekt steht. Vor allem aber: nur, wenn man die logische Struktur des Urteils jeweils genau charakterisieren kann, in dessen sprachlich formulierter Gestalt man über eine bestimmte gegenständliche Erkenntnis Rechenschaft ablegt, kann man sich auch schon in gezielter Weise nach dem nichtsprachlichen Korrelat (,Objekt') des Urteils erkundigen, im Hinblick auf das die Erkenntnis gewonnen sein soll, die in der sprachlichen Formulierung des jeweiligen Urteils niedergelegt ist. Denn nur, wenn man schon auf die genau bestimmbare logische Struktur eines sprachlich formulierten Urteils rekurrieren kann, kann man auch in hinreichend gezielter, nämlich in eindeutiger Weise nach dem nichtsprachlichen Korrelat desjenigen sprachlichen Ausdrucks a fragen, der im Wirkungsbereich des charakteristischen Funktors der sprachlichen Formulierung dieses Urteils (als Argumentausdruck) verwendet wird.

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Ich fasse vorläufig zusammen: in Kants Transzendentaler Logik können im Hinblick auf ein sprachlich formuliertes Urteil ebenso viele Typen funktional verschiedener sprachlicher Teilausdrücke (Frege: „Argumentausdrücke") unterschieden werden wie hier kategorial verschiedene Klassen von nichtsprachlichen Korrelaten (Kant: „Gegenstände", Frege: „Argumente") solcher sprachlichen Ausdrücke unterschieden werden können. Diese funktionalen Typen von sprachlichen Ausdrücken und diese kategorialen Gegenstandsklassen können einander eineindeutig zugeordnet werden: einem funktional bestimmten Ausdruckstyp entspricht genau eine kategorial bestimmte Gegenstandsklasse und keine andere bzw. umgekehrt. Inwiefern kann der transzendentale Logiker sich nun aber darauf verlassen, daß ihm die so entwickelten Differenzierungen gestatten, in so gezielter Weise wie nur irgend möglich die Erkundigungen einzuholen, die er benötigt, um „über Gegenstände zu urteilen, und irgendetwas zu behaupten . . ." (A 60, Β 85)? Der Gewinn, den man erzielt, wenn man in der beschriebenen Weise auf die wohlbestimmte logische Rolle eines sprachlichen Ausdrucks in einem mit seiner Hilfe formulierten Urteile rekurriert, nimmt sich zunächst ziemlich geringfügig aus. Denn dieser Gewinn besteht zunächst lediglich darin, daß man die eine Ausgangsfrage der Transzendentalen Logik nach dem Gegenstandsbezug einer Erkenntnis differenzierter wiederholen kann. Denn man kann im Zuge eines solchen Rekurses jetzt ja fragen, ob ein nichtsprachliches Korrelat eines sprachlichen Ausdrucks, der im Wirkungsbereich irgendeines (kantischen) Urteilsfunktors verwendet wird, eindeutig charakterisiert werden kann oder nicht. Aber was leistet diese ob-Frage, wenn man sich mit ihr in den systematischen Kontext einfädelt, in dem sie von Kant beantwortet wird oder wenigstens mit den von Kant entwickelten Mitteln beantwortet werden kann? Man braucht zu diesem Zweck zunächst nur den Umstand zu berücksichtigen, daß man, um diese ob-Frage ihrem Inhalt nach hinreichend bestimmt formulieren zu können, sich auf keine andere Voraussetzung zu verlassen braucht als auf die Voraussetzung, daß jede der von Kant eingeführten Urteilsfunktionen schon erschöpfend charakterisiert ist. Denn nur unter dieser Voraussetzung ist es ja möglich, hinreichend genau bestimmt wenigstens von dem sprachlichen Ausdruck zu reden, im Hinblick auf den sodann gefragt wird, ob sein nichtsprachliches Korrelat eindeutig charakterisiert werden kann oder nicht. Es handelt sich bei dieser ob-Frage also ersichtlich um die erste Frage, mit der man im Auf-

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Der geometrische Gegenstand

gabenkreis der Transzendentalen Logik (vgl. KdrV A 50, Β 74/A 64, Β 88) über den Lehrgehalt der fertigen Theorie der Urteilsfunktionen hinausgehen kann, indem man deren zentrale Ergebnisse unmittelbar zu Hilfe nimmt. Dieser Schritt ist im System der Transzendentalen Logik von Kant selber dadurch ausgezeichnet worden, daß man auf dieser Weise zur „Metaphysischen Deduktion der Kategorien" übergeht (vgl. KdrV Β 159). Haben wir mit unserer ob-Frage auch in Kants Sinne gleichsam den Eröffnungszug dieser Deduktion getan? „In der metaphysischen Deduktion wurde der Ursprung der Kategorien a priori überhaupt durch ihre völlige Zusammentreffung mit den allgemeinen logischen Funktionen . . . dargetan" (KdrV, Β 159). Dabei hat sich genauer ergeben: „. . . alle Kategorien gründen sich auf logische Funktionen in Urteilen . . ." (B 131). Differenziert man weiter und nimmt man die Einsichten der Transzendentalen Ästhetik zunächst ohne eingehende Diskussion vorweg schon einmal zu Hilfe, dann kann man ein wesentliches Ergebnis dieser metaphysischen Deduktion auch schon so formulieren: „(Diese Kategorien, R.E.) sind Begriffe von einem Gegenstand überhaupt, dadurch dessen Anschauung in Ansehung einer der logischen Funktionen zu urteilen als bestimmt angesehen wird" (B 128). Nun möchten wir zunächst allerdings vor allem wissen, was man nach Kant vom methodischen Stellenwert unserer ob-Frage zu halten hat. Wir können daher diese ob-Frage und die eben zitierten Bestimmungen Kants in inhaltlicher Hinsicht zunächst einmal für sich selbst sprechen lassen, indem wir unterstellen, es sei in ihnen im wesentlichen von denselben Sachverhalten die Rede. Zu den methodischen Zügen der hier angestellten Überlegungen hat Kant sich aber knapp und klar geäußert. Den äußeren Anlaß hierfür hatte eine Kritik geboten, gegen die Kant sich wehren wollte. Wenn diese Kritik nämlich seine „Deduktion der reinen Verstandesbegriffe" (WW IV, Μ.Α., S. 474 Anm.) getroffen hätte, hätte sie Kant vor allem bei seinem Versuch, „die Grenzbestimmung des ganzen reinen Vernunftsvermögens" (ib.) herauszuarbeiten, in arge sachliche Verlegenheit gebracht (vgl. ib.). Kant hat die erste sich bietende literarische Gelegenheit dann sogleich zu einer Erwiderung benutzt. Er hat seinen Kritiker noch einmal ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, daß das Geschäft der Kategoriendeduktion ja in zwei grundsätzlich voneinander verschiedenen Durchgängen abgewickelt werden müsse. Erörtert man die Aufgaben, die man sich mit der „Deduktion der Kategorien" (ib.) setzen kann, im weiteren Rahmen der Absicht, die sog. ,Grenzbestimmung der Vernunft' zu liefern, dann „ist die Deduktion schon alsdann weit genug

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Bedingungen der Kontextinvarianz (II)

geführt, wenn sie zeigt, daß (Kursivierung von mir, R. E.) gedachte Kategorien nichts anderes als bloße Formen der Urteile sind, sofern sie auf Anschauungen . . . angewandt werden" (ib., vgl. auch schon KdrV A 96/97). Im Vergleich hiermit antwortet man auf eine ganz andere die Deduktion der Kategorien betreffende Frage, wenn man nachweist, wie die Formen der Urteile, sofern sie ,auf Anschauung angewandt' werden, so etwas wie Gegenstände hervorbringen (vgl. zu dieser wie-Frage W W IV, Μ.Α., S. 474 Anm.). Offenbar unterscheidet Kant hier zwischen der metaphysischen und der transzendentalen Deduktion der Kategorien (vgl. zu dieser ausdrücklichen Unterscheidung noch einmal KdrV, Β 159ff.) in der Weise, daß mit jeder von diesen beiden Deduktionen auf eine andere einfache Frage geantwortet werden kann. Im Rahmen der transzendentalen

Deduktion der

Kategorien kann demnach auf die Frage geantwortet werden, wie die Urteilsformen, sofern sie auf Anschauungen angewandt werden, so etwas wie Gegenstände hervorbringen; 21 im Rahmen der metaphysischen 21

De-

Vgl. zu dieser wie-Frage im allgemeinen auch KdrV A 85, Β 117 Ende: „Ich nenne daher die Erklärung der Art, wie sich Begriffe a priori auf Gegenstände beziehen können, die transzendentale Deduktion derselben . . . " (Hervorhebung von mir, R.E.). Vor allem diese von Kant unmißverständlich getroffene Bestimmung haben Paton (1936) und Henrich (1973) nicht genügend berücksichtigt. Paton und Henrich versuchen in die Beweisstruktur von Kants transzendentaler Deduktion der Kategorien vor allem auch dadurch mehr Licht zu bringen, daß sie unterstellen, man könne genau im Sinne der obFrage und der wie-Frage zwei Schritte innerhalb dieser Deduktion unterscheiden (vgl. Paton, S. 501 ff., 528/29 u. Henrich, S. 97/98). Bei dieser Unterstellung gerät man aber offenbar in Konflikt mit der zitierten unmißverständlichen Stelle KdrV A 85, Β 117. Darüber hinaus behauptet Paton allerdings bekanntlich auch noch, man könne dem Unterschied zwischen dem Sinn der ob-Frage und dem Sinn der wie-Frage den Unterschied zwischen einem subjektiven und einem objektiven Ansatz in der transzendentalen Deduktion der Kategorien (vgl. hierzu KdrV A XVI/XVII) zuordnen (vgl. Paton, loc. cit.). Diese weitergehende Zuordnungsthese Patons hat Henrich zu Recht kritisiert. Denn wenn wegen KdrV A 85, Β 117 die ob-Frage und die wie-Frage nicht zwei Schritte innerhalb der transzendentalen Deduktion der Kategorien betreffen können, dann können diese beiden Fragen auch nicht einen sog. objektiven und einen sog. subjektiven Ansatz innerhalb dieser Deduktion betreffen. Allerdings gesteht Henrich Paton indirekt auch sogleich wieder zuviel zu, wenn er behauptet: „Nach Kant . . . " (S. 97) könne man diese beiden Fragen und diese beiden Ansätze einander zuordnen; denn gerade Kant selbst hat dies nicht ausdrücklich getan. So ist es denn auch nicht verwunderlich, daß Paton mit seiner Zuordnungsthese angesichts anderer einschlägiger Textstellen, insbesondere WW IV, Μ.Α., S. 474 Anm., alsbald in Schwierigkeiten gerät. In dieser Situation greift Paton allerdings sogleich zur ultima ratio des Interpreten und findet „that the distinction of ,that' and ,how' was not clear in Kant's mind" (S. 529 3 , Hervorhebung von mir, R. E.). Henrich hält im übrigen in einem modifizierten Sinn an der Auffassung fest, daß durch die ob-Frage und durch die wie-Frage zwei verschiedene Schritte innerhalb der transzendentalen Deduktion der Kategorien eingeleitet werden (vgl. S. 97/98). Auf die Pro-

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Der geometrische Gegenstand

duktion der Kategorien kann hingegen auf die Frage geantwortet werden, ob die Urteilsformen, sofern sie auf Anschauungen angewandt werden, so etwas wie Gegenstände prägen (vgl. zur daß-Antwort auf diese ob-Frage auch schon KdrV A 96 Ende/97). Wenn Kant zwischen der metaphysischen und der transzendentalen Deduktion der Kategorien im Sinne dieser beiden Fragen unterscheidet, dann hat man mit der Formulierung der ob-Frage, von der wir ausgegangen sind (vgl. S. 265), lediglich eine differenziertere Version der Leitfrage getroffen, mit der die metaphysische Deduktion der Kategorien sich eröffnen läßt; und zum Zweck dieser Differenzierung kommt es, wie wir gezeigt haben, lediglich darauf an, daß man Kants funktionale Auffassung der Bedingungen konsequent ernst nimmt, die einer sprachlichen Formulierung zur ,Einheit im Urteil' verhelfen. Denn im Lichte dieser funktionalen Auffassung braucht man zunächst ja hauptsächlich nur die Kant noch nicht ausdrücklich vertrauten Begriffe des Funktionsargumentes, des Argumentausdrucks und des Funktors explizit zu Hilfe zu nehmen, um so fein zu differenzieren, wie wir vorgeschlagen haben. Ich unterstelle im Zuge dieser Differenzierung also, daß die metaphysische Deduktion genau dann geliefert werden kann, wenn man nachweisen kann, daß ein nichtsprachliches Korrelat eines sprachlichen Ausdrucks, der im Wirkungsbereich irgendeines von Kant berücksichtigten Urteilsfunktors verwendet wird, eindeutig charakterisiert werden kann. Die Forderung nach Eindeutigkeit, mit der ein solches nichtsprachliches Etwas sollte charakterisiert werden können, kann mit Kants Mitteln leicht auch konkretisiert werden: ein nichtsprachliches Korrelat eines sprachlichen Ausdrucks, der im Wirkungsbereich irgendeines Urteilsfunktors Fn (n = 1, 2, . . ., 12) ζ. B. Fi verwendet wird, sollte unverwechselbar, d. h. so charakterisiert werden können, daß es mit keinem nichtsprachlichen Korrelat eines sprachlichen Ausdrucks verwechselt werden kann, der im Wirkungsbereich irgendeines anderen Urteilsfunktors Fm bleme, die vor allem § 21 der transzendentalen Deduktion der Kategorien aufgibt und die Henrich nach dem Schema der ob-Frage und der wie-Frage zu verteilen versucht, gehe ich im Rahmen dieser Untersuchung nicht ein. Da man aber nicht in Konflikt mit Kants klarer Zuordnung zwischen der wie-Frage und der transzendentalen Deduktion von Begriffen (KdrV A 85, Β 117) geraten wollen kann, wird man versuchen müssen, mit Hilfe der ob-Frage und der wie-Frage andere Sachprobleme einzuleiten als Beweisprobleme innerhalb der transzendentalen Deduktion der Kategorien. Im folgenden schlage ich vor, durch die ob-Frage die metaphysische Deduktion der Kategorien zu eröffnen und durch die wie-Frage die transzendentale Deduktion der Kategorien im ganzen zu eröffnen. Vgl. hierzu auch S. 2 7 3 " .

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(m Φ η) z.B. F s verwendet wird oder der zwar im Wirkungsbereich desselben Funktors, aber in einer anderen logischen Rolle (Subjekt-Prädikat!) verwendet wird. Orientiert man sich am Gedankengang des Textstückes, in dem Kant die metaphysische Deduktion der Kategorien mitgeteilt hat (vgl. KdrV A 76, Β 102/A 81, Β 107, bes. A 79, Β 104 Ende/ A 81, Β 107 Ende), dann scheint es nahe zu liegen, die Frage nach einem einschlägigen nichtsprachlichen Etwas mit Kants Mitteln sogleich zu konkretisieren und nach einem anschaulichen Korrelat eines sprachlichen Ausdrucks zu fragen, der im Wirkungsbereich irgendeines Urteilsfunktors, speziell eines Quantors verwendet wird. Auf diese Weise hätte man der Frage, mit der die metaphysische Deduktion sich eröffnen läßt, allerdings eine Textbasis gegeben, die ins literarische Zentrum der von Kant mitgeteilten metaphysischen Deduktion der Kategorien gehört. Immerhin beginnt Kant den entsprechenden Abschnitt ja auch mit der Feststellung: „. . . die transzendentale Logik (hat) ein Mannigfaltiges der Sinnlichkeit a priori vor sich liegen, welches die transzendentale Ästhetik ihr darbietet, um zu den reinen Verstandesbegriffen einen Stoff zu geben, ohne den sie ohne allen Inhalt, mithin völlig leer sein würden" (KdrV A 76, Β 102/A 77). Es wäre insofern also methodisch ohne weiteres zulässig, an dieser Stelle auf die Überlegungen und Ergebnisse der Transzendentalen Ästhetik zurückzugreifen. Gleichwohl versteht es sich ja auch in Kants Augen der Sache nach überhaupt nicht von selbst, daß so etwas wie ein Mannigfaltiges der Sinnlichkeit' ,a priori* ausgezeichnet werden kann. Vielmehr gibt der Ausdruck „Transzendentale Ästhetik" zunächst einmal lediglich den Titel für jenes nichttriviale Unternehmen ab, in dessen Verlauf überhaupt erst einmal einsichtig gemacht werden soll, daß und inwiefern ein solches Mannigfaltiges der Sinnlichkeit a priori ausgezeichnet werden kann. Bei einem Leser, der die „Kritik der reinen Vernunft" nach der von Kant gewählten „Didactik der Lehrmethode" studiert hat, kann Kant daher zwar voraussetzen, daß er sich mit ihm über den Lehrgehalt seiner Raum- und seiner Zeittheorie schon verständigt hat. Aber auch, wenn man von Kant aus didaktischen Gründen über den Lehrgehalt der Transzendentalen Ästhetik schon unterrichtet worden ist, sobald nach nichtsprachlichen Korrelaten von sprachlichen Ausdrücken gefragt wird, die im Sinne irgendeiner Urteilsfunktion verwendet werden, tut man der Sache nach noch längst keinen trivialen Schritt, wenn man diese Frage konkretisiert, indem man nach einschlägigen anschaulichen Korrelaten fragt. Denn man darf nicht übersehen, daß man, indem man so fragt, unterstellt, man

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könne gerade im Einzugsbereich der reinen Anschauung auch mit berechtigter Aussicht auf Erfolg nach solchen nichtsprachlichen Korrelaten suchen. Diese Unterstellung ist aber jedenfalls nicht schon alleine durch den Stand der Einsichten gerechtfertigt, wie er in der Theorie der Urteilsfunktionen allenfalls erarbeitet worden ist. Man braucht ja bloß zu berücksichtigen, daß man mit dieser Theorie der Urteilsfunktionen zumindest nach Kants Absicht den ersten Schritt bei dem Versuch tut herauszufinden, ob und wenn ja inwiefern man mit einem sprachlich formulierten Urteil zu Recht den Anspruch verbinden darf, mit diesem Urteil eine „Beziehung auf irgendein Objekt" (KdrV A 63 Anfang, Β 87) zustande gebracht zu haben. Dann kann man unschwer einsehen, daß Kants durchgeführte Theorie der Urteilsfunktionen lediglich gestattet, funktional verschiedene mögliche Typen des Gegenstands&ezwges eines sprachlich formulierten Urteils zu unterscheiden. Bezieht man aber die an jedem solchen Urteil beteiligten sprachlichen Ausdrücke nachträglich, aber planmäßig in die von Kant vorgeführten Überlegungen mit ein, dann tritt in diesem Zusammenhang besonders deutlich hervor, daß und inwiefern man allein im Rekurs auf die durchgeführte Theorie der Urteilsfunktionen zwischen verschiedenen möglichen Typen eines Gegenstandsbezuges von Urteilen unterscheiden kann, ohne einen bestimmten Bereich auszeichnen zu müssen, in dem man mit berechtigter Aussicht auf Erfolg nach den gegenständlichen Fundamenten dieses Gegenstandsbezuges suchen kann. Denn gerade die Reflexion auf die Sprache eröffnet hier ja die Möglichkeit, nach dem nzcAisprachlichen Korrelat eines im Sinne einer Urteilsfunktion verwendeten sprachlichen Ausdrucks zu fragen und dabei mindestens ebenso viele Typen eines möglichen Gegenstandsbezuges von Urteilen eindeutig zu unterscheiden wie man Urteilsfunktionen unterscheiden kann, in deren Sinn jeweils mindestens ein sprachlicher Ausdruck verwendet wird, nach dessen nichtsprachlichem Korrelat man insofern fragen kann. In diesem Sinne kann dann nach einem nichtsprachlichen ζ. B. Subjektkorrelat und Prädikatkorrelat, Antecedenskorrelat und Consequenskorrelat bzw. nach dem nichtsprachlichen Korrelat eines sprachlichen Ausdrucks gefragt werden, der im Wirkungsbereich irgendeines Modalfunktors verwendet wird. Aber es ist ersichtlich nicht so, daß man irgendeine dieser kategorial verschiedenen gegenständlich orientierten Fragen erst dann eindeutig formulieren könnte, wenn man, außer auf die durchgeführte Theorie der Urteilsfunktionen zurückzugreifen, auch noch einen bestimmten nichtsprachlichen Bereich, z.B. den Einzugsbereich der räumlichen Anschauung auszeichnen und mit Gründen

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darlegen kann, daß oder inwiefern man kategorial verschiedene Gegenstände jedenfalls im Einzugsbereich dieser Anschauung finden kann. Unter diesen Umständen kann aber noch nicht einmal die bloße Frage trivial sein, ob ein anschauliches Korrelat eines im Sinne irgendeiner Urteilsfunktion verwendeten sprachlichen Ausdrucks eindeutig charakterisiert werden könne. Und zwar kann diese Frage schon deswegen nicht trivial sein, weil sie gar nicht am nächsten liegt, wenn man zuletzt zwischen den η kategorial verschiedenen Klassen nichtsprachlicher Korrelate von logisch bestimmten sprachlichen Ausdrücken unterschieden hat. Wenn man sich klar gemacht hat, daß ein nichtsprachliches Korrelat eines sprachlichen Ausdrucks im Sinne Kants genau dann in eine Kategorie gehört, wenn dieser sprachliche Ausdruck im Sinne irgendeiner der von Kant berücksichtigten Urteilsformen fungibel gemacht wird, dann liegt es anschließend vielmehr am nächsten zu fragen, ob denn überhaupt irgendein Bereich in wohlbestimmter Weise ausgezeichnet werden kann, in dem dann auch die kategorial verschiedenen nichtsprachlichen Gegenstände formal verschiedener Urteile so ermittelt werden können, daß sie sich nicht mehr bloß unbestimmt als m'c^isprachliche, sondern als ganz konkret bestimmte, beispielsweise anschauliche Gegenstände herausstellen lassen. Wenn man feststellt, daß ein Bereich in wohlbestimmter Weise ausgezeichnet werden kann, in dem die kategorial relevanten sprachlichen Ausdrücke von wohlformulierten Urteilen eine ganz bestimmte gegenständliche Interpretation erfahren können, und daß dieser Bereich mit dem Einzugsbereich der reinen Anschauung zusammenfalle, dann kann man so allenfalls erst auf diese methodisch zuerst gebotene Frage antworten. Aber dadurch, daß man diese Frage in zumindest widerspruchsfreier und doch wohl auch in sachlich interessanter Weise stellen kann, ist weder eine positive noch eine negative Antwort präjudiziell. Zwar kann Kant im Anschluß an eine solche Frage auch sogleich eine Theorie des anschaulichen Gegenstandsbereiches bzw. der anschaulichen Gegenstände in Angriff nehmen. Denn zu der Zeit, als Kant seine Theorie der Urteilsfunktionen mitteilen kann und nach einem wohlbestimmbaren Gegenstandsbezug von entsprechend wohlformulierten Urteilen auch schon genau fragen kann, verfügt er bereits über seine Theorie der reinen Anschauung. Aber dies liegt, wenn man vorläufig einmal die Richtigkeit dieser Theorie unterstellt, einzig und allein daran, daß Kant auch in dieser Angelegenheit das Forscherglück schon hold war. Man kann dann zwar noch verständlich machen, inwiefern eine bestimmte Problemsituation, in

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die Kant kurz vor der Ausarbeitung seiner Inaugural-Dissertation verwickelt war, eine Randbedingung abgegeben hat, die dieses Forscherglück Kants in Richtung zunächst auf seine intuitionistische Raumtheorie befördern konnte. Aber diese historisch gegebenen, kontingenten Randbedingungen von Kants Forscherglück haben doch nichts mit den umsichtig durchdachten Aufgaben gemeinsam, die Kant sich im Rahmen seines reifen transzendentalen Programms gestellt hat und die Kant an einer ganz genau bestimmbaren Stelle sachlich nötigen, sich nach einer Theorie umzusehen, ohne die dieses transzendentale Programm schon mit der durchgeführten Theorie der Urteilsformen und mit der Formulierung der Leitfrage der metaphysischen Deduktion der Kategorien an ein Ende geraten wäre — und somit gerade als transzendentales Programm auch schon ins Stocken geraten wäre. Als Kant die Transzendentale Logik dann niederschrieb, mußte es ihm verständlicherweise höchst willkommen sein, daß er sich über einen adäquaten gegenständlichen Verwendungsbereich für die kategorial relevanten Teilausdrücke wohlformulierter Urteile wie ζ. B. Subjekt, Prädikat, wennSatz, dann-Satz oder modalisierte Formulierungen nicht mehr umständlich den Kopf zu zerbrechen brauchte, sondern sich schon darauf verlassen konnte, daß „. . . die transzendentale Logik ein Mannigfaltiges der Sinnlichkeit a priori vor sich liegen (hat), welches die transzendentale Ästhetik ihr darbietet, um zu den reinen Verstandesbegriffen einen Stoff zu geben, ohne den sie ohne allen Inhalt, mithin völlig leer sein würden" (KdrV A 76, Β 102/A 77). Damit sind jedoch die systematischen und heuristischen Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Transzendentaler Ästhetik und Transzendentaler Logik noch nicht hinreichend bestimmt. Vielmehr sollte Kants Leser sorgfältig darauf achten, daß er die literarische Gestalt der „Transzendentalen Elementarlehre" nicht vorschnell oder unversehens dogmatisiert. Denn der hervorgehobenen Stellung der Transzendentalen Ästhetik am literarischen Anfang dieser Transzendentalen Elementarlehre darf man in systematischer und heuristischer Hinsicht zunächst lediglich entnehmen, daß man die hier mitgeteilte intuitionistische Raum- und Zeittheorie auch dann finden, ausarbeiten und mitteilen kann, wenn man über die in der „Transzendentalen Logik" mitgeteilte oder wenigstens intendierte Theorie noch nicht verfügt. So ist es Kant biographisch denn ja auch ergangen. Umgekehrt haben wir gerade noch einmal genauer herausgestellt, inwiefern man die kantische Theorie der Urteilsfunktionen auch dann durchführen und die Leitfrage der metaphysischen Deduktion der Kate-

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gorien auch dann ausdrücklich formulieren, kann, wenn man über diese intuitionistischen Theorien noch nicht verfügt. 22 Aber — und darin besteht die eigentümliche heuristische Abhängigkeit dieser intuitionistischen Raum- bzw. Zeittheorie von der Theorie der Urteilsfunktionen und der Leitfrage der metaphysischen Deduktion der Kategorien — die Suche nach einem adäquaten Verwendungsbereich für die kategorial relevanten Teilausdrücke von wohlformulierten Urteilen kann in dem von Kant überschauten systematischen Kontext offenbar an keiner anderen Stelle so gezielt und so zwingend gerechtfertigt werden wie dort, wo man fragen kann, wie das nichtsprachliche Korrelat eines sprachlichen Ausdrucks, der im Sinne irgendeiner der von Kant ermittelten Urteilsfunktionen verwendet wird, konkret charakterisiert werden kann. 2 3

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Von hier aus betrachtet, kann man die Geschichte der Semantik seit Frege, vor allem aber seit Tarski, geradezu als das Ergebnis des Versuches beschreiben, einen Gegenstandsbegriff zu entwickeln und Typen von Gegenstandsbezügen sprachlicher Ausdrücke zu beschreiben, indem man auf eine immer genauer formulierte und immer differenziertere logische Syntax zurückgreift, ohne daß man über eine Theorie verfügt, die einem — wie nach Kant dessen intuitionistische Raum- und Zeittheorie — gestatten würde, einen wohlbestimmten, beispielsweise ,anschaulichen' Bereich ,a priori' auszuzeichnen, in dem sprachliche Ausdrücke, die mit Hilfe irgendeiner logischen Syntax charakterisiert werden können, ihre Interpretation finden könnten.

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Kant hat sich vor allem durch das Buch seines Schülers Johann Sigismund Beck, Grundriß der critischen Philosophie, Halle 1796, zu Überlegungen anregen lassen, die in diese Richtung zielen (vgl. WW X V I I I , Met. Refl., Nr. 6352, S. 679, Z. 11/14, und Nr. 6358, S. 683, Z. 19/S. 684, Z. 5). Hier erwägt Kant die Methode, die Lehre von den Anschauungen a priori erst im Anschluß an die methaphysische Deduktion der Kategorien zu entwickeln (vgl. S. 679). In diesem Zusammenhang kann man sehr schön beobachten, wie streng Kant sich an der wie-Frage (vgl. S. 267ff.) orientiert, wenn er von der metaphysischen Deduktion der Kategorien zu ihrer transzendentalen Deduktion übergeht (vgl. S. 683 ff.). Denn hier ordnet Kant jedem der vier Kategorientypen genau eine auf ihn zugeschnittene wie-Frage zu (vgl. ib.), um die transzendentale Deduktion der entsprechenden Einzelkategorien zu eröffnen. Wenn Kant hierzu abschließend feststellt, daß ein solcher „Versuch doch einen Anderen Standpunct in sich haben würde" (S. 684), so ist das jetzt ganz verständlich: denn bei diesem Vorgehen würde nicht mehr so sehr die methodische und sachliche Selbständigkeit der Raum-Zeittheorie in die Augen fallen, sondern vor allem ihre Dienst- und Hilfsfunktion in der transzendentalen Gegenstandstheorie. Und es ist wohl auch kein Zufall, daß gerade ein Schüler wie Beck in solchen methodischen Dingen viel unbefangener als Kant schalten mochte: denn es ist nicht unwahrscheinlich, daß Kant die genetische Ordnung, in der er sich gerade die Raum-Zeittheorie und die transzendentale Gegenstandstheorie nacheinander erarbeitet hatte, so sehr gleichsam verinnerlicht hatte, daß er sie auch in der systematischen Darstellung für vorzüglich gehalten hat; zumal ihn die völlige systematische Unabhängigkeit der RaumZeittheorie von der transzendentalen Gegenstandstheorie darin bestärken konnte, mit ihr auch in der Darstellung den Auftakt zu machen.

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Man kann im Anschluß an diese Überlegungen schon klarer sehen, weswegen man die Frage, ob ein nichtsprachliches Korrelat eines sprachlichen Ausdrucks, der im Sinne irgendeiner der von Kant ermittelten Urteilsfunktionen fungibel gemacht wird, eindeutig charakterisiert werden kann, ausdrücklich und ganz scharf von der Frage unterscheiden sollte, wie ein solches nichtsprachliches Korrelat konkret charakterisiert werden kann. Wenn man nämlich genau aufpaßt, kann man bemerken, daß man bei der Formulierung der ob-Frage bereits von einer Voraussetzung Gebrauch macht, die genau genommen in einer eindeutigen Beschreibung von nichtsprachlichen Korrelaten sprachlicher Ausdrücke besteht, sofern diese Ausdrücke in einer logisch bestimmten Form fungibel gemacht werden. Denn offenbar hat man das nichtsprachliche Korrelat α eines sprachlichen Ausdrucks a ja schon dann eindeutig beschrieben, wenn man davon spricht, daß der sprachliche Ausdruck a im Sinne der logischen Funktion Φ fungibel gemacht wird und daß das Argument α das nichtsprachliche Korrelat von keinem anderen sprachlichen Ausdruck als von dem sprachlichen Ausdruck a ist, sofern dieser Ausdruck a im Sinne der Funktion Φ und nicht im Sinne irgendeiner anderen Funktion verwendet wird. Denn das nichtsprachliche Korrelat α eines sprachlichen Ausdrucks a wird auf diese Weise ja in einem speziellen funktionalen Sinne eindeutig beschrieben, es wird nämlich kategorial eindeutig beschrieben. Denn das nichtsprachliche Korrelat α eines sprachlichen Ausdrucks a gehört offenbar genau insofern, als der Ausdruck a im Sinne der logischen Funktion Φ verwendet wird, in die Kategorie Κ φ und in keine andere Kategorie. Wir sind zuletzt von Kants gelegentlicher Praxis ausgegangen, der metaphysischen und der transzendentalen Deduktion der Kategorien ganz bestimmte Fragen zuzuordnen, auf die man in ihrem Rahmen antworten kann. Wir haben Kants Fragen mit Hilfe der von uns herangezogenen formalen Mitteln aus Freges allgemeiner Funktionentheorie sogleich differenziert. Dann läßt sich der metaphysischen Deduktion der Kategorien im Anschluß an Kant die Frage zuordnen, ob man das nichtsprachliche Korrelat α eines sprachlichen Ausdrucks a in eindeutiger Weise beschreiben kann. Diese Frage kann alleine mit Hilfe von Kants Theorie der logischen Funktionen positiv beantwortet werden. Das Ergebnis der metaphysischen Deduktion der Kategorien besteht demnach darin, daß im Hinblick auf jede der von Kant ermittelten logischen Funktionen Φι, . . ., Φ12 festgestellt wird, daß das nichtsprachliche Korrelat α, ß, . . . eines sprachlichen Ausdrucks a bzw. b bzw. . . . genau insofern, als a bzw. b bzw. . . . im Sinne der logischen Funktion Φι bzw. . . . bzw. Φ12 und

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nicht im Sinne irgendeiner anderen logischen Funktion verwendet wird, in die Kategorie Κ φ | bzw. . . . bzw. K^.und nicht in irgendeine andere Kategorie gehört. Der transzendentalen Deduktion der Kategorien kann man dann im Anschluß an Kant die Frage zuordnen, wie man das nichtsprachliche Korrelat α eines sprachlichen Ausdrucks a charakterisieren kann, sofern der sprachliche Ausdruck a im Sinne von irgendeiner der von Kant herausgestellten logischen Urteilsformen fungibel gemacht wird. Man darf diese wie-Frage in einem ganz bestimmten Sinne schon durch die metaphysische Deduktion der Kategorien für beantwortet halten. Denn man kann im Rahmen dieser Deduktion eindeutig zwischen den Elementen kategorial verschiedener Klassen von nichtsprachlichen Korrelaten α, β . . . sprachlicher Ausdrücke a, b, . . . unterscheiden. Es dürfte aber auch deutlich geworden sein, daß man im Anschluß an diese wie-Frage allenfalls noch in einem buchtechnischen Sinne wie selbstverständlich auf so etwas wie einen anschaulichen Anwendungsbereich für die Kategorien eingehen kann und sogleich ohne Umstände von ,anschaulichen' Korrelaten von formallogisch wohlbestimmten sprachlichen Ausdrücken reden kann. Denn es geht ja in Kants transzendentaler Deduktion der Kategorien gewiß nicht um die Frage, ob ihr Autor oder ihr Student zum Zeitpunkt ihrer Formulierung, ihrer Mitteilung oder ihres Studiums auch schon über eine andere — rudimentäre oder ausgereifte — Theorie verfügt, mit deren Mitteln er das Problem befriedigend klären kann, das man mit der Frage nach einem konkreten Verwendungsbereich für die kategorial relevanten sprachlichen Ausdrücke wie z . B . Subjekte, Prädikate, wenn-Sätze, dann-Sätze oder modalisierte Formulierungen umreißen kann. Vielmehr geht es in Kants transzendentaler Deduktion der Kategorien zunächst um die Frage, ob man alleine im Rückgriff auf die logischen Funktionen und die Kategorien auch schon „ . . . wagen (kann), über Gegenstände zu urteilen und irgendetwas zu behaupten" (KdrV A 60, Β 85). Kant hat diese Frage klipp und klar mit Nein beantwortet. Kant hat nämlich gesehen, daß man allein im Rahmen der Einsichten seiner Theorie der Urteilsfunktionen und seiner metaphysischen Deduktion der Kategorien „gar keine Bedingungen weiß, unter welchen denn dieser logische Vorzug (nämlich nichtsprachliches Korrelat eines sprachlichen Ausdrucks zu sein, der im Sinne einer bestimmten Urteilsfunktion, ζ. B. der kategorischen Funktion als Subjekt verwendet wird, R.E.) irgendeinem Dinge (besser: irgendeinem nichtsprachlichen Korrelat eines solchen Argumentausdrucks, R.E.) eigen sein werde" (KdrV A 243, Β 301 Anfang). Kant

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hat diese Einsicht in die Grenzen der Leistungsfähigkeit der Theorie der Urteilsfunktionen und der metaphysischen Deduktion der Kategorien auch so formuliert: „Was das nun aber für Dinge (besser: nichtsprachliche Korrelate von Argumentausdrücken, R. E.) sind, in Ansehung deren man sich dieser Funktion (ζ. B. der kategorischen Funktion, R.E.) vielmehr, als einer anderen (z.B. einer logischen Quantitätsfunktion, R.E.) bedienen müsse, bleibt hierbei ganz unbestimmt . . ." (A 246 Anfang). Kant macht mit solchen Bemerkungen klar, weswegen man sich nicht ohne weiteres mit einem Gegenstandsbegriff begnügen sollte, bei dem ein Gegenstand bloß als Element einer Klasse von Argumenten einer logischen Funktion beschrieben werden kann. Denn auf diese Weise kann man zwar die Bedingung angeben, unter der das nichtsprachliche Korrelat α eines sprachlichen Ausdrucks a eindeutig den ,logischen Vorzug' erhält, zur Klasse ζ. B. der nichtsprachlichen Subjektkorrelate zu gehören. Aber man kann, wenn man ausschließlich diese kategoriale Bedingung als solche kennt, überhaupt nicht darüber „urteilen . . . behaupten . . . und . . . entscheiden" (A 63, Β 88), ob irgendeine solche kategoriale Klasse von Gegenständen denn nun beispielsweise leer ist oder nicht leer ist und auch nur ein einziges Element enthält (vgl. auch Β 149 Ende). Mit diesen kategorialen Mitteln allein kann man zunächst lediglich „leere Begriffe von Objekten" (B 148) bilden. Aber das liegt, wie man jetzt sehen kann, daran: das nichtsprachliche Korrelat α eines sprachlichen Ausdrucks a kann jetzt zwar als Argument einer logischen Funktion Φ eindeutig beschrieben werden. Aber alleine deswegen steht noch nicht fest, ob und wenn ja wie man das nichtsprachliche Korrelat α eines sprachlichen Ausdrucks a unabhängig davon beschreiben kann, daß es in eine Kategorie K und nicht in eine andere Kategorie gehört. Eine solche nichtkategoriale Charakteristik eines nichtsprachlichen Korrelates α eines sprachlichen Ausdrucks a hat man aber offenbar im Auge, wenn man fragt, wie ein solches Etwas α konkret beschrieben werden kann. Und eine solche konkrete Charakteristik besteht nach Kant wohl darin, daß man anschauliche Korrelate α, ß, . . . von sprachlichen Ausdrücken a bzw. b bzw. . . . beschreibt. Und erst, wenn man nachweisen kann, daß ein sprachlicher Ausdruck a ein anschauliches Korrelat α hat — eine anschauliche Interpretation I durch α erfährt — und im Sinne einer bestimmten logischen Funktion Φη (η = 1, . . ., 12) verwendet werden kann, ist offenbar auch nachgewiesen, daß die Kategorie Κ φ , in die α insofern gehört, nicht leer ist, sondern wenigstens ein wohlbestimmtes, anschauliches Element enthält.

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τη

In diesem präzisierten Sinne wollen wir Kant mit der transzendentalen Deduktion der Kategorien vor allem auch auf die Frage antworten lassen, wie das nichtsprachliche Korrelat α eines sprachlichen Ausdrucks a, der im Sinne einer logischen Funktion Φη verwendet wird, konkret charakterisiert werden kann.

b) Zur transzendentalen Deduktion der Kategorien Wir haben schon gesehen (vgl. S. 269/273), wie man sicherstellen kann, daß man sich durch die literarische Gestalt von Kants Transzendentaler Elementarlehre nicht verleiten läßt, diese Leitfrage der transzendentalen Deduktion der Kategorien durch einen allenfalls buchtechnisch zulässigen Rückgriff auf die „Transzendentale Ästhetik" beantworten zu wollen. Eine verbal oder terminologisch hinreichend differenzierte Formel für eine solche Antwort kann man sich im Zuge dieses Rückgriffs freilich allemal schon zurechtlegen. Denn in der kantischen Terminologie wird in dieser Antwort dann davon geredet, daß man die nichtsprachlichen Korrelate der charakterisierten Argumentausdrücke nur im Einzugsbereich einer Bedingung finden kann, wie jeder sie erfüllt, wenn er die von Kant so genannte Bedingung der „reinen Anschauung", speziell die von Kant so genannte Bedingung der „reinen räumlichen Anschauung" erfüllt; und die jeweils ermittelten nichtsprachlichen Korrelate können dann insofern jedenfalls als „anschauliche" Korrelate der entsprechenden Argumentausdrücke, d. h. als anschauliche „Gegenstände" angesprochen werden. Aber solche Formeln sind, wenn man nicht aufpaßt, leicht geeignet, scheinbar sachlich gerechtfertigte Antworten bloß zu suggerieren. Solchen teilweise bloß buchtechnisch vermittelten Scheinantworten kann man aber gut vorbeugen, indem man, wie es ja ohnehin nötig ist, sogleich fragt: kann man denn und wenn ja weswegen kann man denn für die leeren oder nichtleeren kategorialen Klassen wie ζ. B. die des nichtsprachlichen Prädikatkorrelats („Accidens"), des nichtsprachlichen Quantorenphrasenkorrelats (ζ. B. „Vielheit von . . ."), des nichtsprachlichen Modalphrasenkorrelats (ζ. B. „Möglichkeit von . . .") oder des nichtsprachlichen Korrelats eines positiv formulierten Urteils („Realität von . . .") überhaupt im Einzugsbereich der reinen Anschauung, speziell der reinen räumlichen Anschauung mit berechtigter Aussicht auf Erfolg nach Elementen suchen? Mit dieser Frage wird man offenbar aufgefordert, u. a. auch schon einmal die formalen Anforderungen zu erwägen, mit denen man an eine

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Antwort auf diese Frage heranzugehen hat. Auf diese Weise kann dann aber auch besonders deutlich werden, wie wenig sich bei der Antwort auf diese Frage die Berücksichtigung von Kants intuitionistischer Raum- und Zeittheorie auch dann von selbst versteht, wenn sie — wie rudimentär oder ausgefeilt auch immer — schon ausgearbeitet ist. Denn, wenn es sich im strengen Sinne von selbst verstehen würde, eine solche intuitionistische Theorie hier zu Hilfe zu nehmen, dann bräuchte man diese Hilfe jedenfalls auch nicht mehr damit zu rechtfertigen, daß man die formalen Anforderungen herausstreicht, denen sie genügen muß. Aber weswegen ist man denn überhaupt aus sachlichen Gründen genötigt, sich auf irgendwelche formalen Bedingungen festlegen zu lassen, denen die Antwort auf die Frage nach einem wohlbestimmbaren Interpretationsbereich für die kategorial relevanten sprachlichen Ausdrücke genügen sollte? Hier muß man zunächst nur bedenken, daß wir bisher lediglich die eine Hälfte der Voraussetzungen gesichtet haben, die es einem erlauben, in formal ganz gezielter Weise „Erkundigung außer der Logik (d. h. der Theorie der Urteilsfunktionen, R. E.)" (KdrV A 60, Β 85) darüber einzuziehen, was nötig oder hinreichend dafür ist, daß ein sprachlich formuliertes Urteil überhaupt „Beziehung auf irgendein Objekt" (A 63, Β 87) habe. Denn man weiß aus Kants Theorie der Urteilsfunktionen zwar genau, welche formalen Eigenschaften für ein sprachliches Gebilde in Frage kommen, wenn es in Kants Sinne wohlformuliert sein soll und insofern schon ein formal möglicher Kandidat für ein Urteil sein kann, mit dem jemand berechtigterweise einen Anspruch auf irgendeinen Gegenstandsbezug verbinden darf. Man weiß dann auch im einzelnen genau, was für eine Funktion ein sprachlicher Ausdruck erfüllen kann, sofern er in einem solchen logisch wohlformulierten Gebilde als Teilausdruck soll verwendet werden können. Und schließlich kann man im übrigen im Rahmen der metaphysischen Deduktion der Kategorien auch noch plausibel machen, das etwas α genau dann in eine Kategorie Κ φ als Gegenstand gehört, wenn α das nichtsprachliche Korrelat eines Argumentausdrucks a der logischen Funktion φ η ist. Aber alleine deswegen weiß man noch längst nicht, wie α unabhängig von seiner Zugehörigkeit zur Kategorie Κ φ näher bestimmt werden kann bzw. wie der sprachliche Ausdruck a unabhängig von seiner ihn charakterisierenden logischen Funktion Φη interpretiert werden kann. Man weiß lediglich, daß ein Interpretationsbereich für einen sprachlichen Ausdruck a nur dann mit Erfolg ermittelt worden sein wird, wenn dieser Interpretationsbereich auch gestattet,

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einem sprachlichen Ausdruck wie a eine inhaltliche Bedeutung gerade auch insofern zu verleihen, als dieser Ausdruck im übrigen im Sinne irgendeiner derjenigen Urteilsfunktionen verwendet werden kann, wie Kants Theorie der Urteilsformen sie zu unterscheiden erlaubt. Man könnte nun vielleicht versucht sein, die Suche nach einem entsprechend geeigneten Interpretationsbereich folgendermaßen zu gestalten: man könnte sich vornehmen, im Hinblick auf jede einzelne effektiv vorgeschlagene Interpretation I v (v = 1, 2, . . ., η, η + 1) eines Argumentausdrucks, also eines kategorial relevanten sprachlichen Ausdrucks a zu entscheiden, ob diese Interpretation auch und gerade im Hinblick auf genau die Urteilsfunktion Φη adäquat ist oder nicht, in deren Sinne a verwendet wird. 2 4 Aber dieser Vorsatz muß aus drei Gründen scheitern. Denn entweder a) geht dieser Vorsatz bis auf weiteres ins Leere oder b) jeder einzelne Vorschlag für eine Interpretation, die in dem angedeuteten Sinne adäquat sein soll, muß bis auf weiteres noch aufs Geratewohl gemacht werden oder c) dieser Vorsatz schießt über jedes praktisch realisierbare Ziel hinaus. Denn da einem am Ende der metaphysischen Deduktion der Kategorien noch nicht einmal eine einzige Interpretation zur Verfügung stehen kann, die auch nur als aussichtsreicher Kandidat für eine adäquate Interpretation eines kategorial relevanten Ausdrucks in Frage kommen könnte, kann man sich a') nicht sinnvoll vornehmen, jede einzelne vorgeschlagene Interpretation auf ihre Adäquatheit hin zu überprüfen. Da einem andererseits die verschiedenen möglichen Beschreibungen der Zugehörigkeit von etwas α zu einer Kategorie Κ Φ ihrem Inhalt nach kein Kriterium an die Hand geben können, das einem gestatten würde, schon von vornherein zwischen zulässigen und unzulässigen Kandidaten für die Rolle einer adäquaten Interpretation zu unterscheiden, ist man b') insofern aufs Raten angewiesen. Und schließlich kann man bis auf weiteres auch keine Gründe für die Hypothese angeben, daß selbst irgendwelche endlich vielen vorge24

Wer es unkantisch oder unphilosophisch findet, im Rahmen von Kants Transzendentaler Logik mit einer solchen quasi-mathematischen Unterscheidung wie der zwischen η Fällen und n + 1 Fällen zu arbeiten, kann sich von Kant daran erinnern lassen, daß es ihn „. . . Jahre lang Bemühung gekostet (hat), um diese Aufgabe (wie synthetische Urteile a priori möglich sind, R.E.) in ihrer ganzen Allgemeinheit (in dem Verstände, wie die Mathematiker dieses W o n nehmen, nämlich hinreichend für alle Fälle) aufzulösen" (WW IV Prol., S. 278). Man richtet also eine formale Anforderung, wie Kant selber sie mit der Klärung seines Hauptproblems verknüpft hat, bloß an die Antwort auf eine spezielle Teilfrage der Transzendentalen Logik, wenn man verlangt, daß für die Kategorien eine Bedeutung gefunden werde, die den Gebrauch der Kategorien ,in concreto* auch für abzählbar unendlich viele Fälle ,in concreto', also für n + 1 Fälle garantiert.

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schlagenen adäquaten Interpretationen (1) in einem genau angebbaren Sinne auch homogen ausgefallen sein können oder (2) keine weiteren , Genera' von adäquaten Interpretationen ermittelt werden können oder (3) irgendwelche endlich vielen homogenen adäquaten Interpretationen die Anzahl der von Kants Kategorientafel her geforderten adäquaten Interpretationen auch erschöpfen. Daher muß man am Ende der metaphysischen Deduktion der Kategorien prinzipiell mit der Möglichkeit rechnen, daß c') auch mit jeder effektiv vorgeschlagenen Interpretation In + 1 entweder noch gar keine homogenen Interpretationen vorgelegt worden sind oder noch nicht das letzte angebbare Genus adäquater Interpretationen ermittelt ist oder noch nicht die letzte noch erforderliche adäquate Interpretation eines und desselben Genus vorgelegt worden ist. Speziell nun im Hinblick auf einen solchen Versuch, die kategorial relevanten Ausdrücke durch „Illustration" (KdrV A 94, Β 126) im Rahmen von nötigenfalls η + 1 Vorschlägen nacheinander adäquat zu interpretieren, lehrt Kant aber offenbar: „Allein eine Deduktion der reinen Begriffe a priori kommt dadurch niemals zustande, denn sie liegt ganz und gar nicht auf diesem Wege" (A 86, Β 119); und zwar liegt sie schon deswegen nicht auf diesem Weg, weil man sich „durch die Frage: quid iuris . . . " (A 84, Β 117) nach dem „Rechtsgrund . . . (für R. E.) die Befugnis ihres 25 (ζ. B. der Kategorien, R. E.) 2 6 Gebrauchs" (A 85 Anfang, Β 117), vor allem aber auch nach den rechtfertigenden Gründen „in Ansehung ihres künftigen Gebrauchs (Interpretation In + I (!), R. Ε . ) " (A 86, Β 119, Hervorhebung von mir, R. E.) erkundigt. Wenn uns kein wesentlicher Fehler unterlaufen ist, dann kann man feststellen: eine Charakteristik der Bedingungen, unter denen das nichtsprachliche Korrelat α eines sprachlichen Ausdrucks a in eine Kategorie Κ φ gehört, mithin ein Gegenstand ist, sofern er bloß ,gedacht' wird (vgl. Β 165, § 27, erster Halbsatz, und Β 166 Anm., erste ,Erinnerung'), informiert nicht auch schon inhaltlich über eine Bedingung, unter der das sprachliche Korrelat a eines nichtsprachlichen Etwas α eine im Hinblick auf die Urteilsfunktion Φη adäquate Interpretation finden könnte bzw. unter der dieses Etwas α näher bestimmt werden könnte, mithin

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Ich schließe mich hier der Konjektur von Erdmann an, der Kant sich auf „ . . . usurpierte Begriffe . . . " (A 84, Β 117) beziehen läßt. D a Kant die Begriffe des Glücks und des Schicksals am Anfang dieser Periode als Beispiele direkt erwähnt hat, aber auf die Kategorien hinaus will, erlaube ich mir hier, gleich auf die Kategorien vorzugreifen.

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„. . . ein bestimmter Gegenstand . . . " (B 150) sein könnte (vgl. auch A 89, Β 122/A 91, Β 124). Wenn man aber, wie wir plausibel gemacht haben, genötigt ist, die formalen Anforderungen zu erwägen, denen man die Antwort auf die Frage nach einer solchen adäquaten Interpretation von vornherein unterwerfen sollte — inwiefern ist es überhaupt möglich, solche formalen Anforderungen von vornherein zu klären? Das liegt, wie man sich klar machen kann, vor allem am epistemologischen Status (vgl. S. 223 35 ) der Beschreibungen, mit denen man im Anschluß an Kant erläutern kann, inwiefern ein nichtsprachliches Korrelat α eines sprachlichen Ausdrucks a als Gegenstand in eine bestimmte Kategorie Κ φ gehört. Der epistemologische Status dieser Beschreibungen besteht nämlich in ihrer Apriorität: er besteht also, wie wir Apriorität in diesem Zusammenhang negativ expliziert haben (vgl. S. 223 3s ), darin, daß diese Beschreibungen getroffen werden können, ohne daß man Informationen zu Hilfe nehmen müßte, die bereits aus irgendeinem konkreten Interpretationsbereich stammen, im Hinblick auf den ein sprachlicher Ausdruck a sinnvoll verwendet werden kann, der im übrigen auch im Sinne irgendeiner Urteilsfunktion Φη verwendet wird. In diesem epistemologischen Sinne gilt nach Kant dann lediglich insbesondere, daß „die Kategorien unabhängig von Sinnlichkeit . . . entspringen (KdrV Β 144, Hervorhebung von mir, R. E.). Positiv formuliert, besteht die Apriorität einer Beschreibung, die das nichtsprachliche Korrelat α eines sprachlichen Ausdrucks a als Element einer Kategorie Κ φ charakterisiert, insofern darin, daß sie ausschließlich solche formalen Bestimmungen wesentlich enthält, die in der Theorie der Urteilsfunktionen eingeführt werden können. In diesem Sinne wird „der Ursprung der Kategorien a priori überhaupt durch ihre völlige Zusammentreffung mit den allgemeinen logischen Funktionen . . . dargetan" (B 159, § 26 Anfang). Wenn solche Beschreibungen der Zugehörigkeit des nichtsprachlichen Korrelates α eines sprachlichen Ausdrucks a zu einer Kategorie bzw. wenn, wie Kant sich abkürzend ausdrückt, die Kategorien in diesem Sinne ,a priori entspringen', dann kann auch leicht klar werden, weswegen man bei der Frage nach einem adäquaten Interpretationsbereich für die kategorial relevanten sprachlichen Teilausdrücke eines Urteils zunächst noch versuchen kann, formale Anforderungen an eine Antwort auf diese Frage zu erwägen. Denn die Apriorität dieser Beschreibungen ist ja selber eine formale Bedingung, an deren Typ man sich zu diesem Zweck zunächst einmal orientieren kann. Inwiefern gibt diese Apriorität hier nun einen nützlichen Gesichtspunkt ab?

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Es hatte sich ja gezeigt, daß man sich in ein Trilemma verwickelt (vgl. S. 279/80, a/c bzw. a'/c'), wenn man ganz ohne Zuhilfenahme irgendeines zusätzlichen Kriteriums versucht, auch nur zwischen einem zulässigen und einem unzulässigen Vorschlag zu unterscheiden, wie irgendein kategorial relevanter sprachlicher Ausdruck a in adäquater Weise interpretiert werden kann. Insbesondere dann, wenn man nach einer adäquaten Interpretation In +1 solcher kategorial relevanten Ausdrücke, also nach einer adäquaten Interpretation auch „in Ansehung ihres künftigen Gebrauchs" (A 86, Β 119) fragt, gerät man in dieses Trilemma. Nun dürfte sofort klar sein, unter was für Voraussetzungen ein Teil dieser Schwierigkeiten wegfällt: die Kandidaten für eine adäquate Interpretation der kategorial relevanten Ausdrücke müßten nämlich (1) sämtlich Elemente einer und derselben Klasse sein und der Elemente dieser einen und selben Klasse müßten (2) endlich viele sein. Es liegt auf der Hand, daß die Homogenitätsforderung (1) und die Endlichkeitsforderung (2) dafür sorgen, daß Vorschläge für eine adäquate Interpretation der kategorial relevanten Ausdrücke wenigstens klassenweise in endlich vielen Schritten gemustert werden können. Wenn diese beiden Bedingungen in Erfüllung gehen, dann ergibt die Musterung aller endlich vielen aus einer und derselben Klasse von Kandidaten stammenden Vorschläge jedenfalls für diese Klasse abschließend, ob eine adäquate Interpretation für die kategorial relevanten Ausdrücke gefunden worden ist oder nicht. Aus praktischen Gründen ist es darüber hinaus ersichtlich wünschenswert, daß eine in Frage kommende Klasse nur so viele Elemente wie nötig und so wenige Elemente wie möglich, also praktisch übersichtlich viele Elemente enthält. Offenbar genügen die Bedingungen (1) und (2) aber noch nicht, um das Trilemma ganz zu vermeiden. Denn diese Bedingungen sorgen, wenn sie erfüllt sind, ja noch nicht dafür, daß außer der Klasse, aus der eine adäquate Interpretation stammen mag, keine andere Klasse mehr ausgezeichnet werden kann, aus der ebenfalls adäquate Interpretationen für die kategorial relevanten Ausdrücke beigebracht werden können. Nun bereitet es jedoch offenkundig überhaupt keine Schwierigkeiten, die Bedingungen dafür, daß eine adäquate Interpretation der kategorial relevanten Ausdrücke gefunden werden kann, einfach dahingehend zu verschärfen, daß über eine einmal ermittelte Kandidatenklasse hinaus, aus der solche adäquaten Interpretationen stammen mögen, keine andere Klasse ausgezeichnet werden könne, aus der auch noch adäquate Interpretationen der kategorial relevanten Ausdrücke stammen könnten.

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Indessen, es ist gar nicht abzusehen, an welcher Stelle man nun aufhören sollte, verschärfende Bedingungen ins Spiel zu bringen. Unter Gesichtspunkten heuristischer Zweckmäßigkeit wird nur allzu leicht immer wieder noch einmal ein neuer Umstand auftauchen, im Hinblick auf den man die Merkmale der Klasse, aus der Kandidaten für eine adäquate Interpretation der kategorial relevanten Ausdrücke zugelassen werden können, noch einmal vermehren kann. Es scheint daher fast so, als könnte man abzählbar unendlich viele Schritte bei der Musterung von Interpretationsvorschlägen dann nur um den Preis vermeiden, daß man zumindest unabsehbar viele formale Zulassungsbeschränkungen für solche Vorschläge in Kauf nimmt. Hier hilft es nun, wenn man die Apriorität berücksichtigt. Denn, nachdem man die Kandidatenklasse schon den herausgestellten formalen Bedingungen (1) und (2) unterworfen hat, kann man in einem gewissen Sinne zu einem endgültigen Abschluß kommen, wenn man die Apriorität als letzte Zulassungsbedingung vorsieht. Inwiefern ist das möglich? Wir wissen ja von Kant selbst, daß die Kategorien ,a priori entspringen'. Ergänzt man diese Reflexion Kants, indem man in der hier einschlägigen Weise auch auf die Sprache reflektiert, dann kann man feststellen : die Unterscheidungen zwischen den kategorial verschiedenen Klassen von nichtsprachlichen Korrelaten von Argumentausdrücken können a priori getroffen werden; d. h. sie können getroffen werden, ohne daß man auf irgendwelche Bestimmungen rekurrieren müßte, die von den funktionalen Bestimmungen der sprachlichen Ausdrücke verschieden wären, wie sie in Urteilen verwendet werden können, die im Sinne von Kants Theorie der logischen Funktionen wohlformuliert sind. Man greift in diesem Zusammenhang also insbesondere auch nicht schon auf Bestimmungen irgendeines nichtsprachlichen Verwendungsbereiches für die kategorial relevanten sprachlichen Ausdrücke zurück. Dann greift man in diesem Zusammenhang aber a fortiori auch nicht auf Bestimmungen eines solchen nichtsprachlichen Verwendungsbereiches zurück, im Hinblick auf den es im übrigen auch noch nötig wäre, Bestimmungen zu unterscheiden, die immer nur von Fall zu Fall getroffen werden könnten und nur dann eindeutig getroffen werden könnten, wenn man jeweils auch irgendeinen Kontext berücksichtigt, in dem ein kategorial relevanter sprachlicher Ausdruck gerade verwendet wird. Insoweit kann die Apriorität des Ursprungs der Kategorien auch so aufgefaßt werden, daß die kategorialen Unterschiede zwischen Klassen von Gegenständen ganz unabhängig von jedem Kontext charakterisiert werden können, in dem die kategorial relevanten

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sprachlichen Ausdrücke verwendet werden mögen, als deren nichtsprachliche Korrelate jene Gegenstände verstanden werden. Wenn man von hier aus ansetzt, dann liegt es fast schon auf der Hand, welche zusätzliche formale Bedingung noch in Frage kommt, wenn man in formaler Hinsicht noch zielsicherer nach Kandidaten für die Rolle einer adäquaten Interpretation eines kategorial relevanten Ausdrucks suchen möchte. Man braucht sich jetzt nämlich nur einmal an das Explikat zu erinnern, das wir dem Begriff der Apriorität zugeordnet haben, wie sie für die Charakteristiken von einerlei-, verschieden-, eben- und widersinnig orientierten Handlungen als solchen eigentümlich ist. Im Hinblick auf die Apriorität dieser Charakteristiken kam es ja nicht nur darauf an, daß sie ohne jede Rücksicht auf irgendeinen wechselhaften Kontext ihrer möglichen Verwendung eindeutig getroffen werden können; für ihre Apriorität kam es vielmehr außerdem auch noch darauf an, daß sie invariant gegenüber wechselnden Kontexten eindeutig verwendet werden können. Mit Hilfe einer solchen weiteren Teilbedingung der Apriorität kann man nun auch die formalen Zulassungsbedingungen zur Kandidatur für die Rolle einer adäquaten Interpretation eines kategorialen Argumentausdrucks aus plausiblen Gründen noch einmal verschärfen. Denn alle diese formalen Erwägungen dienen ja von vornherein der Aufgabe, für die kategorial relevanten sprachlichen Ausdrücke eine Interpretation zu ermitteln, deren Ergebnis darin bestehen würde, daß man nachgewiesen hätte, inwiefern diese Ausdrücke im Hinblick auf wohlbestimmte Gegenstände — als nichtsprachliche Korrelate dieser sprachlichen Ausdrücke — verwendet werden können. Daher ist es im Rahmen dieser Aufgabe jedenfalls sinnvoll möglich, auch sogleich nach einer Interpretation dieser Ausdrücke zu fragen, die es auch gestattet, diese Ausdrücke invariant gegenüber eventuell unvermeidlichen, wechselnden Kontexten eindeutig zu verwenden. Und wenn man schließlich von vornherein in möglichst zielsicherer Weise nach einer adäquaten Interpretation für die kategorialen Argumentausdrücke suchen möchte, dann ist es darüber hinaus sogar nötig, zwischen einer Interpretation, die eine kontextinvariant eindeutige Verwendung dieser Ausdrücke gestattet, und einer Interpretation zu unterscheiden, die so etwas nicht gestattet. Von hier aus kann klar werden, daß mit einer Interpretation der kategorialen Argumentausdrücke, die so etwas leistet, auch dafür gesorgt ist, daß es sich bei den Kategorien nachgewiesenermaßen in dem von Kant behaupteten doppelten Sinne um Begriffe a priori handelt: denn einerseits ist dann nachgewiesen, inwiefern die Kategorien a priori entspringen, d.h. kontextunabhängig eindeutig

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unterschieden und als solche eingeführt werden können; und andererseits ist dann nachgewiesen, inwiefern die Kategorien kontextinvariant eindeutig verwendet werden können, d. h. „. . . auch zum reinen Gebrauch a priori bestimmt sind . . . " (KdrV A 85, Β 117, Hervorhebung von mir, R. E.). Bevor wir eine konkrete Interpretation für die kategorialen Argumentausdrücke vorschlagen, erörtern und rechtfertigen können, müssen wir aber noch einen letzten vorläufigen Punkt besprechen. Wir haben zuletzt die Bedingung der kontextinvariant eindeutigen Verwendbarkeit der kategorial relevanten Teilausdrücke von sprachlichen Ausdrücken herausgestellt, die im Sinne von Kants Theorie der Urteilsfunktionen wohlformuliert sind. Damit haben sich die Überlegungen aber gleichsam wie zu einem Kreis geschlossen, mit denen wir formale Zulassungsbedingungen zur Kandidatur für die Rolle einer adäquaten Interpretation dieser Teilausdrücke klären wollten. Das liegt offensichtlich daran, daß ein Vorschlag, in dessen Rahmen man die kategorial relevanten Ausdrücke so interpretieren kann, daß sie kontextinvariant eindeutig verwendet werden können, gleichsam eine Negativkopie eines Vorschlags realisiert, in dessen Rahmen man diese Ausdrücke in abzählbar unendlich vielen Schritten In + , zu interpretieren sucht. Denn ein möglicher Grundsatz, der letzten Endes auf abzählbar unendlich viele Vorschläge I n + ι zur adäquaten Interpretation der kategorial relevanten Ausdrücke hinauslaufen würde, bestünde gerade darin, die Interpretation dieser Ausdrücke von den Kontexten abhängig zu machen, in denen sie jeweils verwendet werden mögen. Denn, da man alleine schon im Hinblick auf das Kontextmerkmal des Zezt/?«n&i5-der-Verwendung-eines-sprachlichen-Ausdrucks abzählbar unendlich viele Kontexte der Verwendung eines kategorial relevanten Ausdrucks unterscheiden kann, verwickelt man sich bei dem Versuch, diesen Grundsatz in die Tat umzusetzen, in Schwierigkeiten, die genau durch das Trilemma beschrieben werden können, das wir schon beschrieben hatten. Von hier aus kann klar werden, inwiefern die Forderung nach einer Interpretation der kategorial relevanten sprachlichen Ausdrücke, die diese Ausdrücke kontextinvariant eindeutig zu verwenden gestattet, die Bewerber um die Rolle einer adäquaten Interpretation dieser Ausdrücke auf die einzige konkrete Zulassungsbedingung festlegt, von der man in diesem Zusammenhang von vornherein feststellen kann, daß sie, wenn sie erfüllt ist, eine einmal zugelassene Interpretation zu einer mit Recht aussichtsreichen Kandidatin für die Rolle einer adäquaten Interpretation stempelt.

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Der geometrische Gegenstand

Denn nur in endlich vielen Schritten kann die Frage nach einer adäquaten Interpretation der kategorial relevanten Ausdrücke positiv entschieden werden — eine Entscheidung, die in abzählbar unendlich vielen Schritten vollzogen werden soll, ist keine Entscheidung; und nur die Forderung nach einer Interpretation, die die kategorial relevanten Ausdrücke kontextinvariant eindeutig zu verwenden gestattet, konkretisiert in diesem Zusammenhang in plausibler Weise eine Bedingung, deren Erfülltsein notwendig dafür ist, daß eine adäquate Interpretation dieser Ausdrücke in endlich vielen Schritten ermittelt werden kann und daß die Ermittlung einer adäquaten Interpretation nicht auf einen ,Sanktnimmerleinskontext' vertagt werden muß. Bis hierher kann man mit Hilfe der von uns zusätzlich vorgeschlagenen begrifflichen Differenzierungen gehen, wenn man versucht, formale Anforderungen zu klären, an denen man sich von vornherein orientieren kann, wenn man in möglichst gezielter Weise „gegründete Erkundigung außer der Logik" (KdrV A 60, Β 85) darüber einholen möchte, wie das nichtsprachliche Korrelat α eines sprachlichen Ausdrucks a konkret beschrieben werden kann, der im Sinne irgendeiner der von Kant ermittelten Urteilsfunktionen Φ ΐ 5 . . Φι 2 verwendet wird. Nun wollen wir in unserem Zusammenhang allerdings nicht so etwas wie eine transzendentale Deduktion aller Kategorien durchführen und wir brauchen dies in unserem Zusammenhang auch gar nicht zu tun. Es hatte sich ja im Rahmen unseres Hauptthemas vielmehr gezeigt, daß lediglich die Quantitätskategorien für Definitionen geometrischer Gegenstandsbegriffe in Frage kommen. Wir können uns daher aus methodischen Gründen auf die ihrem Umfang nach bescheidenere Aufgabe beschränken, einen Vorschlag zu entwickeln, inwiefern die geometrischen Gegenstände in die Quantitätskategorien und in keine andere Kategorie gehören.

c) Die Kategorien der geometrischen Gegenstände Wir haben die Zugehörigkeit der Gegenstände der euklidischen Geometrie zu den Quantitätskategorien schon im § 21, bes. S. 251/57, beschrieben. Wenn wir jetzt noch einmal nach dieser Zugehörigkeit fragen, so deswegen, weil wir uns dem Problem dieser Zugehörigkeit zunächst aus einer anderen methodischen Richtung genähert haben als wir es jetzt tun können. Wir haben nämlich zuletzt noch versucht, die formalen Anforderungen zu klären, denen die Anwendung eines kategorial rele-

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vanten sprachlichen Ausdrucks a auf etwas α, was nicht ein sprachlicher Ausdruck ist, bei Kant auch ganz unabhängig davon genügen muß, ob es sich bei diesem nichtsprachlichen Korrelat eines solchen Ausdrucks nun um etwas handelt, was einen geometrischen Gegenstand abgeben kann oder nicht. Wir können das Ergebnis dieses Klärungsversuches jetzt aber mit dem Ergebnis des § 21 im einzelnen in Zusammenhang bringen. Wir können jetzt nämlich fragen: was für konkrete nichtsprachliche Korrelate α, ß, . . . der sprachlichen Ausdrücke a bzw. b . . . können diesen sprachlichen Ausdrücken als ihre Bedeutung zugeordnet werden, wenn diese Ausdrücke jedenfalls auch als Argumentausdrücke der logischen Quantitätsfunktionen kontextinvariant eindeutig sollen verwendet werden können, wenn sie also im Wirkungsbereich der Quantoren „alle", „viele" bzw. „Ein" so sollen verwendet werden können? N u n haben wir im § 22. a)—b) zu zeigen versucht, weswegen man die formalen Anforderungen an den apriorischen Charakter sowohl des , Entspringens' wie auch des Gebrauchs der Kategorien als die Bedingung beschreiben kann, daß die Kategorien kontextunabhängig eindeutig unterschieden werden können bzw. daß sprachliche Ausdrücke, mit deren Hilfe Elemente kategorialer Gegenstandsklassen erwähnt werden, kontextinvariant eindeutig verwendet werden können. Vor allem im § 17 haben wir auseinandergesetzt, inwiefern von einer einerleisinnig bzw. verschiedensinnig orientierten Handlung und von ebensinnig bzw. widersinnig orientierten Handlungen kontextfrei eindeutig die Rede sein kann. Die so orientierten Handlungen geben, wenn wir Kants Intentionen richtig gefolgt sind, Beispiele für anschauliche Korrelate von sprachlichen Ausdrücken ab; und die diese Handlungen beschreibenden Orientalen Charakteristiken geben selber Beispiele für Formulierungen ab, die kontextfrei eindeutig ausfallen. Diese Orientalen Handlungscharakteristiken geben also insofern vor allem auch schon als solche Beispiele für Formulierungen ab, die denselben formalen Anforderungen genügen, wie wir sie zuletzt im Hinblick auf den apriorischen Charakter des Entspringens bzw. des Gebrauchs der Kategorien geklärt haben. Insofern sind die im § 17 herausgearbeiteten vier Handlungscharakteristiken dann aber auch sprachliche Ausdrücke, die den formalen Ansprüchen genügen, denen man sprachliche Ausdrücke unterwerfen muß, wenn sie überhaupt mit berechtigter Aussicht auf Erfolg für eine Rolle „in Ansehung einer oder der andern Funktion der Urtheile" (WW IV, Μ. Α., S. 475 Anm.) sollen kandidieren können, um auch in dieser logischen Rolle kontextinvariant eindeutig verwendet werden zu können.

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Der geometrische Gegenstand

Umgekehrt geben die durch diese vier Orientalen Charakteristiken beschriebenen Handlungsorientierungen geeignete Kandidaten für eine adäquate Interpretation von sprachlichen Ausdrücken ab, die im Sinne irgendeiner der von Kant ermittelten Urteilsformen fungibel gemacht werden. Angesichts der Ergebnisse, zu denen wir im § 21 gelangt sind, brauchen wir diese Kandidaten aber nicht mehr schematisch einen nach dem anderen zu mustern, um zu entscheiden, ob und gegebenenfalls welcher von ihnen welche logische Rolle so ausfüllt, daß (1) die geforderte kontextinvariante Eindeutigkeit gegeben ist und daß (2) etwas charakterisiert wird, was zu den geometrischen Gegenständen gehört. Denn wir haben in diesem Zusammenhang ja schon gesehen, daß man mit Hilfe der Quantoren „alle", „viele" und „Ein" jedenfalls so von Handlungen und Orientierungen reden kann, daß die so angesprochenen Handlungsorientierungen die nichtsprachlichen, anschaulichen Korrelate von sprachlichen Ausdrücken bilden, die selber logisch wohlbestimmte Rollen ,in Ansehung einer oder der andern Quantitättixinküon der Urteile' ausfüllen. Handlungsorientierungen dieses Typs (,reine räumliche Anschauungen') gehören insofern in die von Kant ermittelten Quantitätskategorien; denn sie sind insofern Elemente von kategorialen Klassen, deren Elemente dadurch definiert sind, daß sie die nichtsprachlichen Korrelate von sprachlichen Ausdrücke sind, die im Wirkungsbereich logischer Quantitätsfunktoren verwendet werden. So gehören die Gegenstände der planaren Geometrie in eine kategoriale Klasse, die entweder den Durchschnitt aus den kategorialen Klassen der Vielheit von Orientierungen und der Einheit der Handlung bildet oder die den Durchschnitt aus den kategorialen Klassen der Allheit der Orientierungen und der Einheit der Handlung bildet. Und die Gerade, also ein Gegenstand der nichtplanaren und nichtstereometrischen Geometrie, gehört in jene kategoriale Klasse, die den Durchschnitt aus den kategorialen Klassen der Einheit der Orientierung und der Einheit der Handlung bildet. 27 Und schließlich liefert man, so besehen, auch eine adäquate

27

Die Eigenart dieser kategorial bestimmten Begriffe bzw. Klassen von geometrischen Gegenständen kann man noch schön unterstreichen, wenn man berücksichtigt, wie die hier möglichen Durchschnitte graphisch dargestellt werden können. Denn sie können, was ich hier undiskutiert unterstelle, nicht durch Venn-Diagramme, also nicht durch das gemeinsame linsenförmige Feld von zwei einander schneidenden Kreisen graphisch dargestellt werden. Aber diese Durchschnitte aus kategorial bestimmten Klassen von Handlungen bzw. Orientierungen können offenbar durch geometrische Diagramme dargestellt werden. Der Durchschnitt aus den kategorial bestimmten Klassen der Allheit von

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Interpretation sprachlicher Ausdrücke a und b, die im Sinne der von Kant ermittelten Quantoren fungibel gemacht werden, wenn man ihnen Handlungen bzw. Orientierungen als ihre in Kants Sinne anschauliche Bedeutung zuordnet. Orientierungen und der Einheit der Handlung kann offenbar durch das Diagramm Ο augenfällig gemacht werden. Der Durchschnitt aus den Klassen der Vielheit der Orientierungen und der Einheit der Handlung kann durch ein Diagramm wie Λ vor Augen gestellt werden. Und der Durchschnitt aus den Klassen der Einheit der Orientierung und der Einheit der Handlung kann durch das Diagramm illustriert werden. Diesen Zusammenhang zu beachten, ist wichtig; denn von einem solchen geometrischen Diagramm muß man schon aus begrifflichen Gründen ein geometrisches Dokument unterscheiden. Bei einem geometrischen Dokument handelt es sich in dem von uns vorgeschlagenen Sinne stets um das Resultat einer geometrisch charakterisierbaren Handlung (vgl. S. 249f., 2494). Im Unterschied hierzu ist ein geometrisches Diagramm aber eben nicht auf eine Handlungsorientierung, sondern auf ein bestimmtes Verhältnis zwischen Begriffen bzw. Klassen von Handlungen und Orientierungen bezogen. — Die Auffassung von geometrischen Begriffen als Durchschnitte von kategorial bestimmten Klassen von Handlungen und Orientierungen bietet auch eine einfache Möglichkeit, den Einheitscharakter in plausibler Weise formal zu beschreiben, der das Resultat auszeichnet, in dem nach Kant jene synthetische Leistung manifest wird, wie sie von jedem spontan erbracht werden kann, der sowohl die „transzendentale Apperzeption" wie auch die „Verstand" wie auch die „reine räumliche Anschauung" genannte Bedingung erfüllt und der die „Verstand" genannte Bedingung in der Weise trefflich fungibel macht, daß er Quantitätskategorien auf das angestammte Material der reinen räumlichen Anschauung, also auf Handlungsorientierungen so anwendet, daß gerade die anschaulichen Korrelate der konventionellen geometrischen Gegenstandsausdrücke eindeutig erfaßt werden. Dieses Zusammenspiel von transzendentaler Apperzeption, Verstand und reiner räumlicher Anschauung beschreibt Kant zusammenfassend auch als die Tätigkeit der sog. produktiven Einbildungskraft; vgl. zu diesem Lehrstück Kants vor allem KdrV §§ 17/18 sowie Β 146/47; bes. Β 150/154; A 141, Β 180/A 142, Β 181. Ich lasse hier die Frage auf sich beruhen, ob der Einheitscharakter der geometrischen Gegenstandsbegriffe auch noeh in einer anderen Weise formal beschrieben werden kann denn als Durchschnitt aus ganz bestimmten kategorialen Klassen von Handlungen und Orientierungen. Es liegt nahe, hier zunächst an das junktorenlogische Gegenstück zum Klassendurchschnitt, also an die Konjunktion zweier Sätze zu denken, wie sie umgangssprachlich durch das Wort „und" ausgedrückt werden kann. Bei dieser Frage würden also unter einem anderen Gesichtspunkt noch einmal die Formulierungen wichtig, mit denen wir S. 255 11 die beiden bis dahin ermittelten Klassen geometrischer Gegenstände beschrieben haben: (1) „Die Richtungen in einer Geraden sind ihrer Eine und die Handlungen zum Behufe einer Geraden sind ihrer Eine"; (2) „Die Richtungen in einer (planaren) Figur sind ihrer viele und die Handlungen in einer solchen Figur sind ihrer Eine". Offenbar müßte man in einem solchen Zusammenhang dann auch erwägen, ob dies eine systematische Stelle ist, an der man logische Konstanten wie den Konjunktor berücksichtigen muß, die, zumindest nach Kants Intention, zu einem anderen Typ logischer Konstanten gehören als die logischen Konstanten, die Kant in seiner Lehre von den Urteilsfunktionen herausgestellt hat.

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Von hier aus bleibt jetzt nur noch übrig, den Grund ausdrücklich hervorzuheben, aus dem man es für ausgemacht halten darf, daß von Handlungsorientierungen auch dann kontextinvariant eindeutig die Rede ist, wenn von ihnen in der beschriebenen Weise mit Hilfe von logischen Quantoren die Rede ist. Dabei muß man vor allem noch einmal genau zwischen formalen Problemen und heuristischen Aufgaben unterscheiden. Denn im Anschluß an die Metaphysische Deduktion der Kategorien kann man zunächst ja nur feststellen, „daß ich gar keine Bedingungen weiß, unter welchen denn dieser logische Vorzug (nämlich nichtsprachliches Korrelat α eines sprachlichen Ausdrucks a zu sein, der im Sinne irgendeiner logischen Quantitätsfunktion verwendet wird, R. E.) irgendeinem Dinge (irgendeinem solchen nichtsprachlichen Korrelat eines solchen sprachlichen Ausdrucks, R. E.) eigen sein werde" (KdrV A 243, Β 301 Anfang). 28 Daher kann der nächste Schritt, mit dem man diese relative Unwissenheit überwinden kann, auch nur darin bestehen, daß man nach nichtsprachlichen Korrelaten α, ß, . . . sprachlicher Ausdrücke a bzw. b bzw. . . . sucht, „welche die zur Anwendung jener reinen Verstandesbegriffe erforderliche Bedingung enthalten" (WW IV, Μ. Α., S.475 Anm.). Diese heuristische Aufgabe hat Kant, wie er findet, dadurch bewältigt, daß er „Anschauungen a priori" (ib.) als diejenigen nichtsprachlichen Korrelate sprachlicher Ausdrücke ausfindig gemacht hat, „welche die zur Anwendung jener reinen Verstandesbegriffe erforderliche Bedingung enthalten" (ib.). Von dieser heuristischen Aufgabe und ihrer Lösung muß man aber das formale Problem unterscheiden, das man erörtert, wenn man die formalen Anforderungen zu klären versucht, denen man die Kandidaten für die Rolle eines Elementes einer kategorialen Gegenstandsklasse schon von vornherein unterwerfen kann. Diese formalen Anforderungen erwähnt Kant aber bloß kurz und zusammenfassend, wenn er die Apriorität der herausgestellten Anschauungen betont. Wir haben gefragt, warum man es für ausgemacht halten darf, daß die Quantitätskategorien nicht nur a priori entspringen, d. h. kontextunabhängig eindeutig ermittelt und unterschieden werden können, sondern im Hinblick auf bestimmte Handlungsorientierungen (,reine räumliche Anschauungen') auch a priori gebraucht werden können. Im Zusammenhang mit der erfragten Begründung ist es aber deswegen wichtig, noch einmal zwischen den formalen Problemen und den heuristischen Aufgaben unter28

vgl. auch KdrV A 246: „Was das nun aber für Dinge sind, in Ansehung deren man sich dieser Funktion vielmehr, als einer anderen bedienen müsse, bleibt hierbei (bei der Metaphysischen Deduktion der Kategorien, R . E . ) ganz unbestimmt . . . " .

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schieden zu haben, weil man nur mit einem klaren Blick für diesen Unterschied treffend beurteilen kann, was hier überhaupt begründet werden soll und begründet werden kann und was nicht. Bei dieser Begründung kann man ja nur solche Kriterien in plausibler Weise benutzen, die man prinzipiell auch unabhängig davon entwickeln kann, ob man ein für die Anwendung der Quantitätskategorien adäquates Material schon ermittelt hat oder nicht. Andernfalls würde man sich darauf verlassen, daß diese Anwendung oder ihr mögliches Ergebnis gleichsam für sich selbst sprechen kann. Daß man sich aber auf so etwas nicht zu verlassen braucht, können gerade die Überlegungen lehren, mit denen man es rechtfertigen kann, an das adäquate Material für die Anwendung auch der Quantitätskategorien von vornherein die formale Anforderung zu richten, daß es gestatte, diese Kategorien a priori zu gebrauchen. Diese formale Anforderung kann man zwar, wie sich gezeigt hat, vor allem dann noch konkretisieren, differenzieren und präzisieren, wenn man die sprachlichen Ausdrücke explizit mitberücksichtigt, deren logische Strukturen in Kants Urteilslehre exponiert werden. Aber Kant scheint sich mit dieser formalen Anforderung, also mit der Aprioritätsforderung, an das adäquate Material für die Anwendung auch der Quantitätskategorien schon zu begnügen. Das ist jedoch zweifellos jedenfalls so lange berechtigt, wie es vor allem darauf ankommt, überhaupt den Unterschied herauszuarbeiten, der auch hier zwischen heuristischen Aufgaben und dem formalen Problem besteht, ein Kriterium zu formulieren, mit dessen Hilfe man entscheiden kann, ob etwas ein legitimer Kandidat auf die Rolle eines adäquaten Materials für die Anwendung der Quantitätskategorien ist oder nicht. Man mag versuchen, auch noch andere formale Anforderungen zu erwägen, mit deren Hilfe man dann die Durchführung der gestellten heuristischen Aufgabe noch zielsicherer gestalten könnte, als wenn einem ausschließlich das Aprioritätskriterium zur Verfügung steht. Aber in dem von Kant abgesteckten Rahmen soll die These, daß die ,reinen Anschauungen* das für die Anwendung auch der Quantitätskategorien adäquate Material abgeben, offenbar auch nur insofern begründet werden, wie sie begründet werden kann, wenn man sich von vornherein an der formalen Bedingung der Apriorität orientiert. Im Hinblick auf diesen von Kant abgesteckten Rahmen sollte man dann konsequenterweise mit der Möglichkeit rechnen, daß Kant gefunden hat, man könne gar nicht mit Erfolg nach weiteren formalen Kriterien suchen. Jeder weitere Versuch, so mag Kant dann gedacht haben, laufe praktisch auf das widersinnige Unterfangen hinaus, die fällige Suche nach dem adäquaten Material für die

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Der geometrische Gegenstand

Anwendung der Kategorien durch die Suche nach weiteren formalen Adäquatheitsbedingungen zu ersetzen und auf diese Weise nur auf die lange Bank zu schieben. Wir brauchen diesen Eventualitäten hier nicht weiter nachzugehen. Denn jedenfalls kann man so viel schon feststellen: wenn man in der vorgeführten Weise genauer zwischen der formalen Bedingung der Apriorität und den verbleibenden heuristischen Aufgaben unterschieden hat, vor denen man im Anschluß an die Metaphysische Deduktion der Kategorien steht, dann fällt die Begründung sehr einfach aus, der man entnehmen kann, weswegen die Quantitätskategorien im Hinblick auf bestimmte Handlungsorientierungen a priori gebraucht werden können. Denn von Handlungsorientierungen kann mit Hilfe der logischen Quantitätsfunktoren offenbar deswegen a priori, also, wie wir explizert haben, kontextinvariant eindeutig die Rede sein, weil die Quantitätskategorien a priori entspringen und insofern nicht schon als solche auf irgendeinen Gegenstandsbereich ,ihres' Gebrauchs festgelegt sind29 und weil von Handlungsorientierungen auch schon ohne Zuhilfenahme logischer Quantitätsfunktionen kontextinvariant eindeutig die Rede sein kann.30 Mit Hilfe der von Kant ermittelten logischen Quantoren kann demnach nämlich genau insoweit kontextinvariant eindeutig, d. h. a priori von den nichtsprachlichen Korrelaten α, ß, . . . der sprachlichen Ausdrücke a bzw. b bzw. . . . die Rede sein, die im Wirkungsbereich dieser Quantoren fungibel gemacht werden, wie mit Hilfe der sprachlichen Ausdrücke a, b, . . . auch ohne Rekurs auf die logischen Quantitätsfunktionen kontextinvariant eindeutig, d. h. a priori die Rede sein kann. Uber diese Begründung hinaus bleibt einem dann allenfalls nur noch übrig, das Schema zu beschreiben, nach dem sprachliche Ausdrücke gebildet werden, durch die kategoriale Klassen von ,anschaulichen' Gegenständen umschrieben werden: Ausdrücke wie „Handlung" und „Orientierung" bzw. „Handlungen" und „Orientierungen", mit deren Hilfe (im Deutschen) von Handlungen, sofern sie orientiert sind, kontextinvariant eindeutig die Rede sein kann, brauchen nämlich im Wirkungsbereich der logischen Quantoren offenbar nur korrekt substituiert zu werden, sodaß von Handlungen, sofern sie orientiert sind, auch mit Hilfe dieser logischen Quantoren kontextinvariant eindeutig die Rede ist. Und unter den Ausdrücken, die so gebildet 29

30

vgl. auch KdrV A 243, Β 301: „. . . weil dadurch gar kein Objekt des Gebrauchs dieses Begriffs bestimmt wird . . . " . vgl. auch KdrV A 91, Β 123: „. . . denn die Anschauung bedarf der Funktionen des Denkens auf keine Weise".

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werden können, kommen, wie wir schon festgestellt haben, gerade auch solche Ausdrücke vor, die kategoriale Klassen von .anschaulichen' Gegenständen, nämlich von Handlungsorientierungen, so umschreiben, daß die Elemente dieser Klassen mit den Gegenständen der planaren euklidischen Geometrie bzw. mit der Geraden identifizien werden können: denn etwas fällt demnach genau dann unter einen Begriff der planaren euklidischen Geometrie, wenn es als viele Orientierungen Einer Handlung oder stattdessen als alle Orientierungen Einer Handlung beschrieben wird; und etwas fällt demnach genau dann unter den Begriff der Geraden, wenn es Eine Orientierung Einer Handlung ist. Insoweit gehören die geometrischen Figuren in die durch die Quantitätskategorien festgelegten Gegenstandsklassen; und insoweit kann auch kontextinvariant eindeutig von ihnen die Rede sein.31

§ 23. Der Raum als Gegenstand Wir hatten gesehen (vgl. S. 256/257), wie man von Kants beispielhafter Anwendung der Quantitätskategorien am Ende der „Phoronomie" ab31

Angesichts des bisher erreichten Standes unserer Erörterungen kann man mit guten Gründen der Behauptung von Reidemeister (1959) widersprechen: „Der Sinn des Streits, ob die Raumanschauung eine Quelle geometrischer Erkenntnis sei, ist der Streit um den Sinn des Beweisens" (S. 34). Denn zumindest in Kants Rahmen kann man, wenn uns kein wesentlicher Fehler unterlaufen ist, plausibel machen, daß der Streit um die Frage, ob die Raumanschauung eine Quelle geometrischer Erkenntnis ist oder nicht, schon im Hinblick auf die Definitionen der geometrischen Gegenstandsbegriffe sinnvoll ist. Wenn nun die Hauptaufgabe des Mathematikers gleichwohl darin besteht, Beweise für beweisbare Sätze zu ermitteln (vgl. Reidemeisters Thesen 1. — II. 1., S. 34ff.), dann ist es zwar durchaus verständlich, wenn der Mathematiker dazu neigt, die Tragweite dieses Streites und seines jeweiligen Ergebnisses im Rahmen von Beweis- oder Beweisbarkeitsproblemen zu testen. Denn eine Theorie, nach der die Raumanschauung eine Quelle geometrischer Erkenntnisse ist und die mit der Beweisbarkeit irgendeines schon bewiesenen geometrischen Satzes nicht verträglich wäre, müßte ja alleine schon deswegen verworfen werden. Aber deswegen ist der Streit um die Frage, ob die Raumanschauung eine Quelle geometrischer Erkenntnis ist oder nicht, auch dann noch nicht sinnlos, wenn man sich bei diesem Streit zunächst an die Frage ζ. B. nach dem genauen gegenständlichen Sinn der geometrischen Gegenstandsbegriffe hält. So räumt Reidemeister denn auch sogleich ein, daß der Ermittlung von Begriffen in der Mathematik insofern eine Schlüsselrolle zukommt, als gerade Begriffe „die Leistung des Beweisens ermöglichen" (ib., These I. 1.). Aber gerade in diesem Punkt haben wir im Rahmen unseres Interpretationsansatzes ja auch klären können, inwiefern geometrische Gegenstandsbegriffe dazu beitragen können, daß die Sätze, in denen diese Begriffe gebraucht werden, bewiesen werden können. Wir haben nämlich festgestellt, daß die geometrischen Gegenstandsausdrücke kontextinvariant eindeutig müssen gebraucht werden können, wenn die Sätze, zu deren Formulierung sie verwendet werden, sollen bewiesen werden können; vgl. S. 21 ff., 174/75.

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weichen muß, wenn man mit Hilfe der Voraussetzungen seiner Theorie des geometrischen Gegenstandes zunächst die Gerade und die Gegenstände der ebenen euklidischen Geometrie erfassen möchte. Wir können daher jetzt den Leitfaden dieser Stelle noch einmal unmittelbar zur Hand nehmen und fragen, ob es mit Hilfe einer kategorialen Charakteristik nach dem Schema Allheit-Allheit vielleicht möglich ist, auch noch die geometrischen Gegenstände der stereometrischen Restklasse unter operationalen und Orientalen Gesichtspunkten zu erfassen. Man kann ohne große Mühe feststellen, daß das im Rahmen unseres Interpretationsansatzes möglich ist. Wir haben nämlich mit der entsprechenden Charakteristik, sieht man nur genauer hin, schon unmittelbar zu tun gehabt. Allerdings kann dies auch erst deutlich werden, wenn man, wie jetzt, genötigt ist, explizit auf die kategorialen Voraussetzungen solcher Charakteristiken im Sinne von Kants Quantitätskategorien zurückzugreifen. Denn, wenn Kant die Dreidimensionalität des Raumes charakterisiert, indem er bestimmte operationale und bestimmte Orientale Merkmale erwähnt, und wenn wir diese Charakteristik zu präzisieren versucht haben, dann wird auch jeweils eine Bestimmung getroffen, die den Zusammenhang zwischen den erwähnten Orientierungen und den erwähnten Handlungen in einer Form betrifft, wie sie nur durch eine bestimmte Weise der Anwendung der Kategorie der Allheit gedeckt ist. Die in der Charakterisierung der Dreidimensionalität des Raumes erwähnten Handlungen und die dabei erwähnten Orientierungen erschöpfen nämlich einander: die erwähnten Handlungen machen alle so orientierbaren Handlungen aus und die erwähnten Orientierungen machen alle so manifestierbaren Orientierungen aus: „. . . der Raum hat nur drei Abmessungen" und „Wir können . . . die drei Abmessungen des Raumes gar nicht vorstellen, ohne aus demselben Punkte drei Linien senkrecht aufeinander zu setzen" (B 41 bzw. Β 154, Kursivierungen von mir, R.E.) 3 2 . Wenn man wieder das von Frede/Krüger (1970) in Erinnerung gebrachte grammatikalische Schema (vgl. S. 48ff.) berücksichtigt, dann kann diese kategoriale Bestimmung auch so zum Ausdruck gebracht werden: ,Drei senkrecht zueinander orientierte Handlungen sind ihrer alle senkrecht zueinander orientierbaren Handlungen und drei Orientierungen, von denen keine zwei ebensinnig und keine zwei widersinnig und jede im Hinblick auf jede andere in demselben Sinne ausfällt, 32

Vgl. hierzu auch W W VIII, Streitschrift, S. 2 2 2 / 2 2 3 : „So entspringt die formale Anschauung, die man Raum nennt als ursprünglich erworbene Vorstellung . . . deren acquisitio . . . originaria ist, und nichts als die . . . (Gemäßheit mit der Einheit der Apperzeption) voraussetzt".

Der Raum als Gegenstand

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sind ihrer alle Orientierungen, die so handelnd manifest gemacht werden können'. Wenn dies richtig ist, dann kann man eine auch kategorial wohlbestimmte Orientale Handlungscharakteristik formulieren, innerhalb von deren Schranken alle Gegenstände der euklidischen Stereometrie manifest werden können, also alles manifest werden kann, „was Länge, Breite und Tiefe hat" (Eukl., El., XI. Buch, Def. I) 3 3 . Auch Kants Rede vom Raum als einem Gegenstand (vgl. KdrV, Β 160 Anm.) erweist sich nunmehr unter seinen Voraussetzungen als vollkommen konsequent und verständlich. Denn das Dreidimensionale erweist sich lediglich als ein weiteres Beispiel dafür, wie durch die Synthesis des in der reinen räumlichen Anschauung unter der Form der Orientierung gegebenen Mannigfaltigen in der Handlung des Subjekts ein Gegenstand manifest werden kann, der sich als orientaler Handlungscharakter herausstellt und kategorial eindeutig bestimmt ist — wie es sich zeigt, wenn man nur die Kategorie der Allheit richtig berücksichtigt. Jemand mag mit einem anderen, z . B . mit einem engeren Gegenstandsbegriff als Kant arbeiten und dies auch plausibel rechtfertigen können. Aber solange man Kant interpretiert, wird einem gar nichts anderes übrig bleiben, als von Kants Gegenstandsbegriff auszugehen. Es mag nicht immer ganz leicht sein, dies konsequent durchzuhalten.34 Aber grundsätzlich hat auch

33

Nach G . W. F. Hegel (1816) besteht die Realdefinition ζ. B. des Begriffs des rechtwinkligen Dreiecks offenbar in der wahren Konjunktion der jeweils verfügbaren bewiesenen Sätze (Hegel: „Erkenntnis"), an deren Subjektstelle auf das rechtwinklige Dreieck Bezug genommen wird (vgl. Hegel, S. 467ff.). Demnach gibt es für Hegel in der Geometrie kein nichttriviales Problem der Realdefinition, das von den Beweisproblemen verschieden wäre. Die Probleme der sog. Realdefinition werden demnach jeweils durch die Lösung von Beweisproblemen schrittweise gelöst. Das Problem der Realdefinition ist als Definitionsproblem hier ein Scheinproblem und nur gleichsam ein irreführend formulierter Titel für das Beweisproblem. Vgl. zu dieser Auffassung Hegels auch schon Hegel (1803/04), S. 114/129, bes. S. 117/122.

34

Auch H . J . Paton (1936) wird angesichts des bei Kant schwer durchsichtigen Charakters der geometrischen Gebilde schwankend und stellt fest: „. . . for a mathematical triangle is, strictly speaking, not an object, but only the form of an object . . . The concrete physical triangle alone is an object proper" (Paton, S. 390 2 ). Aber gerade „strictly speaking" sind eben auch die geometrischen Gebilde schon wegen der von ihnen jeweils anschaulich konkretisierten synthetischen Einheit der Apperzeption gemäß bestimmter Quantitätskategorien Objekte. Die von uns vorgeschlagene definitorische Rede von den Orientalen Handlungscharakteren beleuchtet vielleicht auch ganz gut die Distanz, die man überwinden muß, wenn man etwas dergleichen mit Kant noch ein .Objekt' nennen soll. Kants Wortwahl beweist aber nur einmal mehr, daß der weiteste Sinn seiner Rede vom Objekt überhaupt nicht von Existenzvoraussetzungen abhängt und also auch nicht speziell auf sinnenfällige Entitäten zugeschnitten ist. Patons Behauptung, daß eigendich nur das „concrete physical triangle alone" ein „object proper" sei, deutet darauf hin, daß

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Der geometrische Gegenstand

im Umkreis von Kants Theorie des geometrischen Gegenstandes gar nicht einmal so sehr Kants Gegenstandsbegriff im Dunkeln gelegen. Schwierigkeiten hat vor allem die Frage bereitet, wie man im Rahmen dieser Theorie nun eigentlich ,das Geometrische' eines Gegenstandes inhaltlich zu verstehen und so anzusetzen habe, daß Kants Behauptungen über die Tragweite seiner Theorie für ein treffliches Verständnis der Struktur der euklidischen Geometrie und ihrer Gegenstände sinnvoll und — wenn möglich — lehrreich werden können. 3 5 Wir können schließlich auch noch verständlich zu machen versuchen, wie Kant dahin gelangen konnte, Mathematiker wie Pseudo-Thales und Euklid als Prototypen eines Geometers hinzustellen, der nur dann mit berechtigter Aussicht auf Erfolg forschen kann, wenn er sich bei seinen Untersuchungen strikt an eine Schranke hält, die als Anzahl der .Dimensionen' eines ,Raumes' beschrieben werden kann, und wenn er sich prinzipiell zu Recht auf die Voraussetzung verläßt, eine Schranke könne charakterisiert werden, bis zu der man gehen kann, wenn man Entdeckungen machen möchte, wie sie erstmals systematisch und insofern klassisch im Lehrbuch des Euklid überliefert sind. Wir haben ja schon gesehen, wie unter Kants Voraussetzungen ein Äquivalent der Rede von einer oberen Schranke der Anzahl räumlicher Dimensionen entwickelt werden kann: Handlungen und Orientierungen von Handlungen können hier nämlich einander so erschöpfen, daß eine zwar unbestimmte, aber jedenfalls feste Anzahl als obere Schranke für Operationen, wie sie unter bestimmten Orientalen Vorzeichen möglich sind, determiniert ist. Die Behauptung, der Raum habe eine feste Anzahl von Dimensionen, kann demnach unter Kants Voraussetzungen in dem Sinne als gerechtfertigt gelten, daß die Anzahl der in einer Orientalen Handlungscharakteristik erwähnten Operationen und Orientierungen eine feste Anzahl von ausgezeichnet orientierten Handlungen nicht überschreiten könne: höchstens drei einerlei-

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es ihm hier offenbar nicht gelungen ist, Kants Unterscheidung zwischen Objekten und möglichen Objekten der Erfahrung durchzuhalten. Im Hinblick auf die konkreten physisch realisierten Figuren haben wir vorgeschlagen, von ,Dokumenten' kontextfrei eindeutig orientierter Operationen zu sprechen. Patons Schwanken ist allerdings umso schwerer verständlich, als er ein paar Seiten weiter den Sinn von Kants Rede vom Objekt „strictly speaking" selber noch einmal in Erinnerung ruft, vgl. Paton, S. 396 5 . Wenn Paton bei seiner Auseinandersetzung mit Kants Theorie der euklidischen Geometrie die Erfahrung gemacht hat: „Kant's doctrine is altogether too simple in the light of modern discoveries" (Paton 1936, S. 163), dann kann es vielleicht auch in diesem Zusammenhang nützlich sein, wenn sich gezeigt hat, daß die von Kant intendierte Theorie — nicht deren Darstellung bei Kant! — komplizierter ist als man bislang angenommen hat.

Der Raum als Gegenstand

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sinnig orientierte Handlungen können senkrecht auf einander hin orientiert sein. Wenn aber der euklidische Geometer Gegenstände untersucht, bei denen es sich bei näherem Hinsehen streng genommen um nichts anderes als um Orientale Handlungscharaktere handelt, dann kann dieser Geometer in seinem Gegenstandsbereich auch niemals auf mehr als drei in diesem ausgezeichneten Sinne orientierte Handlungen rekurrieren. 36 Bei Euklid ist das, was in Kants Rahmen so mit Argumenten legitimierbar wird, bekanntlich insofern pragmatisch sanktioniert, als bei Euklid etwas ganz Bestimmtes gar nicht erst erwähnt wird, geschweige denn praktiziert würde: bei Euklid wird nämlich kein Gebilde erwähnt, das aus einer angebbaren Form der Bewegung eines stereometrischen Gebildes, ζ. B. eines Kegels hervorginge und sich von dem Gebilde, aus dem es dann hervorginge, analog unterschiede, wie sich ζ. B. der Kegel vom rechtwinkligen Dreieck unterscheidet, aus dem er nach Euklid durch eine bestimmte an diesem rechtwinkligen Dreieck vorgenommene Rotationsoperation hervorgeht (vgl. Euklid, XI. Buch, Def. 18). Wenn die überlieferten Zeugnisse lehren, daß Mathematiker wie Pseudo-Thales und Euklid ihre Gegenstände strikt innerhalb von Schranken gefunden und untersucht haben, über die man sich in einer Theorie vom kantischen Typ im einzelnen zu verständigen versuchen kann, so war Kant doch bekanntlich nicht der Meinung, solche Strenge sei nur möglich, wenn man auch schon über die entsprechende Metatheorie verfügt. Euklid brachte in seinen Schriften auch in Kants Augen nicht etwa Früchte ein, wie man sie nur ernten kann, wenn man auf dem Felde der Prinzipientheorie der Geometrie rechtzeitig gesät hat. Und Pseudo-Thales brauchte nicht erst der adäquate Theoretiker seiner eigenen Originalität geworden zu sein, bevor er im Halbdunkel der Legende die Geometrie anfangen konnte. Gleichwohl hat Kant vielleicht am wenigsten das prinzipielle wissenschaftstheoretische Problem unterschätzt, auf das man angesichts 36

Von hier aus wird deutlich, daß Kant die Euklidizität des euklidischen Raumes nicht an dessen Metrik zu binden braucht, sondern an dessen Dreidimensionalität in dem hier entwickelten Sinne binden kann. Denn, wenn die Metrik auf diese Weise zu einer bloß hinreichenden Bedingung der Euklidizität abgeschwächt und die Dreidimensionalität in dem hier entwickelten Sinne zu einer notwendigen und hinreichenden Bedingung der Euklidizität eines Raumes verstärkt wird, dann bleibt der euklidische Raum ersichtlich deswegen ein vor allen anderen konstruierbaren Räumen ausgezeichneter Raum, weil er sich von ihnen nicht nur durch die Metrik und nicht nur durch die Dimensionenanzahl, sondern auch dadurch unterscheidet, daß die räumliche Stuktur des Handelns ausschließlich im Hinblick auf einen Raum dieser Metrik und dieser Dimensionenanzahl charakterisiert werden kann.

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Der geometrische Gegenstand

der Tatsache stoßen kann, daß der „Eifer der alten Geometer" (WW V, KdU, S. 363) in Forschung und Lehre Früchte tragen konnte, ohne daß sie in Gestalt einer Prinzipientheorie auch schon über die richtungweisenden Voraussetzungen verfügt hätten, die sie gleichwohl in Forschung und Lehre so trefflich fungibel gemacht haben und ohne die man sich noch nicht einmal den Gegenstandsbereich treffsicher erschließen kann, in dem sie umfassend fündig geworden sind. Wir haben in diesem Zusammenhang auch gefragt, ob und wenn ja in welchem Sinne Kant mit seiner Theorie des geometrischen Gegenstandes die Frage nach Bedingungen beantwortet, unter denen in der euklidischen Geometrie beliebige Anfänge möglich sind (vgl. S. 50/53). Mit Hilfe von Kants Raumtheorie und seiner Kategorienlehre kann man sich, wie wir gesehen haben, mit Bedingungen vertraut machen, wie sie nach Kant im Hinblick auf die Möglichkeit solcher Anfänge notwendig sind. Denn nach Kant erfüllt jeder, der euklidische Gebilde überhaupt entdecken kann, wenigstens die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung. Geometrische Gegenstände können, wenn sie sich zu Recht mit ganz bestimmten Orientalen Handlungsmerkmalen identifizieren lassen, ohne Rekurs auf diese reine räumliche Anschauung und die Kategorien von niemand entdeckt werden. Wenn Kants Theorie des geometrischen Gegenstandes in diesem Sinne auch über eine Minimalbedingung der Entdeckbarkeit geometrischer Gegenstände verständigt, dann handelt sie ersichtlich in dem Sinne auch von den notwendigen Bedingungen beliebiger Anfänge in der Geometrie, daß sie von Bedingungen handelt, wie jeder sie erfüllt, der irgendeinen geometrischen Gegenstand überhaupt jemals und daher auch erstmals erfolgreich intendieren kann.

Zusammenfassung und Ausblick Kant hat die Anfangsgründe der euklidischen Geometrie, wie man sie sich im Lichte seiner Raumtheorie und seiner transzendentalen Gegenstandstheorie im einzelnen durchsichtig machen kann, niemals im Zusammenhang traktiert. Gleichwohl hat Kant immer wieder einmal in anspruchsvoller Weise beschrieben, als wie leistungsfähig seine Raumtheorie und seine transzendentale Lehre vom Gegenstand sich in diesem Zusammenhang erweisen können. Dabei hat Kant verständlicherweise Fragen in den Vordergrund gestellt, für die sich auch ein um die Grundlagen seiner Wissenschaft bemühter Mathematiker auch dann noch interessieren wird, wenn er gleichwohl nicht bereit ist, Kant auf den dornigen Wegen der „Kritik" bis in alle wichtigen Verzweigungen zu folgen. Kant fragt hier vor allem, wie man den apriorischen Ursprung der Informationen einsichtig machen kann, die man aus den beweisbaren Sätzen (Lehrsätze) der Geometrie und aus den Sätzen gewinnen kann, die innerhalb der Geometrie eines Beweises nicht zu bedürfen scheinen (Axiome); er fragt außerdem, wie man den synthetischen Charakter des Beitrags einsichtig machen kann, den die geometrischen Sätze zu den Informationen leisten können, über die man im Hinblick auf ihre charakteristischen Gegenstände wie das Dreieck, den Kreis, den Kegel und dgl. auch unabhängig von diesen Sätzen verfügen kann; und Kant fragt schließlich auch noch, wie man die Bedingungen und die Grenzen der Anwendbarkeit dieser geometrischen Sätze auf Gegenstände beschreiben kann, die, wie vor allem die sinnenfälligen Dinge, gar nicht selber geometrische Gegenstände wie das Dreieck, der Kreis, der Kegel und dgl. sind. Jede dieser drei Fragen setzt offenkundig bereits Antworten auf irgendwelche Fragen voraus, die die geometrischen Gegenstände auch unabhängig davon betreffen, daß und warum man z.B. beweisbare Sätze im Hinblick auf sie gewinnen kann. Wir haben einige Fragen geometrischen gemacht, daß

die Theorie Kants inzwischen näher kennengelernt, in die und Antworten eingebunden werden können, die die Gegenstände betreffen. Dabei haben wir die Erfahrung Kant unter recht verschiedenartigen Gesichtspunkten Re-

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flexionen im Hinblick auf den geometrischen Gegenstand angestellt hat. Man kann hauptsächlich erkenntnistheoretische und ontologische Gesichtspunkte unterscheiden. Aber wenngleich Kants Theorie des geometrischen Gegenstandes insofern innerlich disparat erscheint, haben wir doch auch keinen Grund gefunden, der einen in dem Versuch innehalten lassen könnte, sich den Lehrgehalt dieser Theorie in konsistenter Form und in methodisch sauberer Weise zu erschließen. Das liegt aber offenkundig auch daran, daß die Ergebnisse, zu denen Kant bei seinen elementaren metamathematischen Reflexionen gelangt ist, dennoch kohärent ausgefallen sind — wie verschiedenartig die berücksichtigten Gesichtspunkte auch sein mögen. Im Rückblick können wir wohl am besten beurteilen, welche Schritte für die Richtung des Weges entscheidend geworden sind, auf dem wir in Kants Theorie des geometrischen Gegenstandes hineingefunden haben und auf dem wir uns mit ihr im einzelnen vertraut gemacht haben. Am Eingang seiner Theorie hat Kant die geometrischen Gegenstände durch die Forderung formal charakterisiert, daß eine Behauptung über einen geometrischen Gegenstand nicht sinnvoll die Existenz dieses Gegenstandes implizieren könne. Auf diese wichtigste Anforderung an den ontologischen Status eines geometrischen Gegenstandes hat sich jede KantInterpretation von vornherein vor allem einen Reim zu machen. Unter den Kandidaten, die diesem Anspruch von Kants formaler Ontologie des geometrischen Gegenstandes genügen, bleiben für Kant nur Handlungen übrig: durch die geometrischen Gegenstandsbegriffe werden ursprünglich Handlungen in einer noch zu bestimmenden Form charakterisiert. Eine detaillierte Analyse einiger Probleme, die Kant mit seiner reifen Raumtheorie ins Reine zu bringen gedachte, hat uns gezeigt, daß Kant sich zu dieser Theorie hauptsächlich durch die Frage hat provozieren lassen, wie man beispielsweise den Linkscharakter irgendeines Gegenstandes oder stattdessen beispielsweise den Rechtscharakter irgendeines Gegenstandes sinnvoll und eindeutig beschreiben kann. Auf Grund unserer Analyse haben wir festgestellt, daß jemand einen sprachlichen Ausdruck wie beispielsweise „links" genau dann eindeutig verwendet, wenn er seine Verwendung dieses Ausdrucks jeweils immer wieder von neuem auf einen nichtsprachlichen Kontext bezieht, der ursprünglich in einer Handlung besteht, sofern sie eine räumliche Orientierung sinnenfällig manifest werden läßt. Ausdrücke wie „links" und „rechts" haben wir daher im Hinblick auf ihre semantische Funktion als Orientale Kontextvariablen beschrieben. Kants Raumtheorie haben wir allgemein als eine Theorie der

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Orientierungen herausgearbeitet, wie sie ursprünglich in Gestalt von Handlungen manifest werden können. Von hier aus haben wir gesehen, wie man mit Hilfe von Kants Raumtheorie eine Brücke schlagen kann, die von der ontologisch vermittelten Auszeichnung der Handlungen zu einer konkreten Bestimmung des Bereiches führt, in dem die geometrische Gegenstände sich ursprünglich finden lassen: wenn nämlich, wie wir herausgearbeitet haben, der Begriff der Richtung bzw. Orientierung in Kants Raumtheorie den Grundbegriff abgibt, und wenn, wie Kant immer wieder unmißverständlich betont hat, geometrische Gegenstandsbegriffe räumliche Merkmale exponieren, dann findet man die geometrischen Gegenstände unter den Handlungsorientierungen. Wenn man eingesehen hat, daß ein orientaler Ausdruck wie „links" eine Kontextvariable ist und also nicht invariant gegenüber nichtsprachlichen Kontexten eindeutig verwendet werden kann, dann kann man sich unschwer über den epistemologischen Status derjenigen Orientalen Handlungscharakteristiken klar werden, die sich zu geometrischen Gegenstandsbeschreibungen sollen eignen können. Denn solche Orientalen Handlungscharakteristiken müssen offenbar invariant gegenüber beliebigen nichtsprachlichen Kontexten eindeutig verwendet werden können. Durch diese Forderung wird eine Orientale Handlungscharakteristik aber deswegen auf einen bestimmten epistemologischen Status festgelegt, weil auf diese Weise von ihrem Autor verlangt wird, daß er eine Handlung im Hinblick auf eine Orientierung eindeutig charakterisieren kann, ohne daß er Informationen zu Hilfe nehmen dürfte oder müßte, die er nur einem wechselhaften nichtsprachlichen Kontext der Verwendung der intendierten Orientalen Handlungscharakteristik entnehmen könnte. Im Rückgriff auf diese Bedingung der kontextinvarianten Eindeutigkeit haben wir Kants Begriff der Apriorität teilweise explizieren können. In Kants Raumtheorie können wenigstens vier Orientale Handlungscharakteristiken formuliert werden, die auch kontextinvariant eindeutig ausfallen. Unter diesen speziellen Orientalen Handlungscharakteristiken lassen sich mit den Mitteln von Kants transzendentaler Gegenstandstheorie genau diejenigen als geometrische Gegenstandsbeschreibungen auffassen, die Handlungsorientierungen beschreiben, die in bestimmte von Kant ermittelte Kategorien gehören, genauer: die Elemente bestimmter kategorialer Gegenstandsklassen sind. Diejenigen unter diesen Handlungsorientierungen, die sich auf diese Weise als geometrische Gegenstände auffassen

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lassen, gehören ausnahmslos in die Kategorien der Quantität. Umgekehrt lassen sich mit Hilfe der von Kant ermittelten Quantitätskategorien die Gegenstände der euklidischen Geometrie erschöpfend beschreiben. Wenn man zunächst ein möglichst klares Bild von Kants regionaler Ontotogie des geometrischen Gegenstandes entwickelt hat, dann darf man dabei keinesfalls die Züge verschwimmen lassen, durch die Kant selber entschieden und unmißverständlich deutlich gemacht hat, inwiefern er mit seiner Raumtheorie vor allem auch zur Theorie der Subjektivität beigetragen hat. Wenn Kant in seiner Raumtheorie nämlich von einer reinen räumlichen Anschauung redet, dann deutet er lediglich an, daß jeder, der Orientierungen (von Handlungen) überhaupt als solche manifest machen kann, insofern auch eine wohlbestimmte Bedingung erfüllt, die er, Kant, mit den von ihm nun einmal ausgebildeten terminologischen Mitteln als „reine räumliche Anschauug" anspricht. Diese reine räumliche Anschauung ist genau insofern eine subjektive Bedingung dafür, daß jemand Handlungsorientierungen als solche manifest machen kann, als man eben auch immer nur im Hinblick auf irgendjemand, im Hinblick auf irgendein ,Subjekt', sinnvoll davon sprechen kann, daß sie von ihm erfüllt werde. Schließlich haben wir von vornherein die spezielle erkenntnistheoretische Tragweite der Lehre Kants von der reinen räumlichen Anschauung berücksichtigt. Wir haben uns nämlich klar gemacht, daß jemand, der die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung nicht erfüllt, Orientierungen von Handlungen ja nicht nur überhaupt nicht, sondern auch nicht irgendwann zum ersten Mal manifest machen kann — wer die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung nicht erfüllt, kann Orientierungen von Handlungen mithin noch nicht einmal entdecken. So spielen in Kants Lehre vom geometrischen Gegenstand Ontologie und Erkenntnistheorie ineinander: sie lehrt, geometrische Gegenstände als spezielle Orientale Handlungsmerkmale aufzufassen, die kontextinvariant eindeutig manifest gemacht werden können und die nur von jemand, der auch die Bedingung der reinen räumlichen Anschauung erfüllt, entdeckt werden können. Das nicht unkomplizierte Zusammenspiel zwischen dieser Ontologie und dieser Erkenntnistheorie in Kants Transzendentaler Logik gibt aber schließlich auch noch eine von den Bedingungen an die Hand, aus denen man verständlich machen kann, weswegen die Wissenschaftstheorie unserer Tage in Kant zwar einen interessanten Gesprächspartner, aber doch auch noch nicht den Autor einer Wissenschaftslehre hat finden können, die mit den besten heutigen Entwürfen konkurrieren könnte. Denn Kant

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fragt in der Transzendentalen Logik gar nicht direkt nach dem ontologischen Status oder nach den Bedingungen der Entdeckbarkeit von Gegenständen irgendeiner Wissenschaft. Kant fragt vielmehr gerade dort, wo die Wege der Transzendentalen Logik und der Wissenschaftstheorie einander noch am nächsten verlaufen, wie synthetische Urteile a priori möglich sind. Kant ist bekanntlich zu der Auffassung gelangt, daß synthetische Urteile a priori auch im Hinblick auf Zahlen und Figuren ermittelt werden können. Synthetische Urteile a priori können nach dieser Auffassung darüber hinaus aber vor allem auch im Hinblick auf die Voraussetzungen formuliert werden, aus denen man in befriedigender Weise verständlich machen kann, wie synthetische Urteile a priori auch im Hinblick auf Zahlen und Figuren getroffen werden können. Erst von hier aus kann man in methodisch sinnvoller Weise auch fragen, was für einen ontologischen Status man Gegenständen zuschreiben muß, im Hinblick auf die synthetische Urteile a priori gefällt werden können. Es scheint sogar nahe zu liegen, einen Bereich, in dem solche Gegenstände sich finden und näher untersuchen lassen, soweit wie möglich mit dem Gegenstandsbereich einer in der Geschichte erfolgreich betriebenen Wissenschaft zu identifizieren. Entsprechende Identitätsthesen gehören denn auch zum Kern jeder wissenschaftstheoretisch orientierten Kantauslegung. Aber in der wissenschaftstheoretisch orientierten KantAuslegung, wie sie zuerst vor allem von Hermann Cohen energisch gefördert worden ist, hat man sich gerade das Aufstellen dieser Identitätsthesen bisher zu leicht gemacht. Auf Grund der Ergebnisse, zu denen wir bei unserer Untersuchung von Kants Theorie des geometrischen Gegenstandes gelangt sind, können wir jetzt aber schon eine allgemeinere Erfahrung formulieren, der man entnehmen kann, woran das gelegen hat: immer dann nämlich, wenn es um die Frage ging, inwieweit sich nach Kant der Gegenstandsbereich einer bestimmten schon erfolgreich gewesenen Wissenschaft mit einem Bereich überschneidet, in dem sich Gegenstände von synthetischen Urteilen a priori finden und von dieser Wissenschaft untersuchen lassen, hat man sich letzten Endes auch immer wieder damit begnügt, den Gegenstandsbereich dieser Wissenschaft durch einzelne herausragende Errungenschaften aus der Geschichte dieser Wissenschaft lediglich in paradigmatischer Weise zu beschreiben. Man hat dann in solchen Zusammenhängen gar nicht mehr länger die Möglichkeit ernsthaft erwogen, daß man gerade auch mit den von Kant erarbeiteten Begriffen und Grundsätzen auch noch den Gegenstandsbereich der jeweils in Frage kommenden Wissenschaft allgemein

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charakterisieren kann, ohne daß man zu diesem Zweck irgendwelche einzelnen Errungenschaften dieser Wissenschaft zu Hilfe nehmen müßte oder dürfte — gleichgültig, ob es sich bei diesen internen Errungenschaften einer Wissenschaft in formaler Hinsicht nun um Begriffe oder um Sätze handeln mag. Wenn jemand eine solche allgemeine Gegenstandscharakteristik mit den von Kant entwickelten Mitteln aber nicht meint ausarbeiten zu können, dann braucht er auch nur noch einen verführerisch kurzen Schritt bis zu der These zu tun, daß dies mit Kants Mitteln auch prinzipiell gar nicht gelingen könne. Es ist dann aber nur noch eine Angelegenheit der Konsequenz, auch ausdrücklich zu behaupten, daß man mit Kants Mitteln nur dann begründbare Aussagen über das Verhältnis zwischen dem Gegenstandsbereich einer bestimmten Wissenschaft und einem Bereich treffen kann, in dem sich die Gegenstände von bestimmten synthetischen Urteilen a priori ermitteln und studieren lassen, wenn man auch schon irgendwelche in dieser Wissenschaft angewendeten Begriffe und begründeten Sätze zu Hilfe nehmen kann. Bekanntlich war denn ja auch Hermann Cohen als erster geneigt und konsequent genug, die Behauptung aufzustellen, daß die Begründbarkeit von Kants Thesen über die Identität bestimmter wissenschaftlicher Gegenstandsbereiche mit den Bereichen von Gegenständen bestimmter synthetischer Urteile a priori Errungenschaften der Arithmetik, Geometrie und Physik voraussetze. Unsere Untersuchung von Kants Theorie des geometrischen Gegenstandes kann nun aber den Entschluß rechtfertigen, gerade auch diese Behauptung und ihre seither entwickelten Spielarten erneut zu überprüfen. Wenn nämlich die hier dargestellte Theorie Kants über den geometrischen Gegenstand haltbar ist, dann kann eine Ontologie derjenigen Gegenstände und eine Theorie von den Bedingungen möglichen entdeckenden Erkennens derjenigen Gegenstände entwickelt werden, deren Bereich die Gegenstände der euklidischen Geometrie zumindest mitumfaßt. Diese regionale Ontologie und diese spezielle Erkenntnistheorie erlauben es aber, die nichtsprachlichen Korrelate der konventionellen Gegenstandsausdrücke der euklidischen Geometrie als spezielle Handlungsorientierungen ganz unabhängig davon aufzufassen, wie die Mathematiker das Definitionssystem der euklidischen Geometrie intern konzipiert haben und ob sie mit Hilfe dieser konventionellen Gegenstandsausdrücke auch schon Sätze und deren Beweise formuliert haben oder nicht. Man kommt hier also zu dem scheinbar paradoxen Ergebnis, daß bei Kant die den geometrischen Gegenständen zugeordnete Ontologie und Erkenntnistheorie jedenfalls in systematischer Hinsicht unabhängig von

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der Wissenschaft und den Ergebnissen sind, zu denen diese Wissenschaft bei der Untersuchung dieser Gegenstände jeweils schon gelangt sein mag. Aber dieses Resultat kann sich auch nur so lange paradox ausnehmen, wie man verkennt, daß eine Menge beweisbarer Sätze, wie sie in der Geometrie im Hinblick auf verschiedene Gegenstände aufgestellt werden können, gar nicht den Gegenstandsbereich in allgemeiner Weise charakterisiert, in dem die verschiedenen Gegenstände gefunden werden können, deren Untersuchung dann auch jene beweisbaren Sätze nach und nach gezeitigt hat. Geht man von den internen Untersuchungsergebnissen der Geometrie aus, dann bleibt daher die Frage zunächst ganz offen, ob man ihren genuinen Gegenstandsbereich überhaupt anders als in bloß paradigmatischer Weise oder anders als bloß mit Hilfe von sprachlichen Konventionen charakterisieren kann, wie sie sich ζ. B. in der Rede von einem ,Reich der reinen Gestalten' einbürgern mag. Wie die Erfahrung darüber hinaus gelehrt hat, ist der Mathematiker bei seiner Arbeit weder auf die Ontologie noch auf die Erkenntnistheorie seines Gegenstandsbereiches oder seines Untersuchungsfeldes angewiesen. Sobald seine Disziplin erst einmal ein hinreichend strenges Methodenbewußtsein im Umgang mit den in der bisherigen Erforschung seines Sachgebietes gewonnenen Begriffen und Sätzen entwickelt hat, kann er sich daher sogar auf einen strikt formalistischen Standpunkt zurückziehen und bei seiner weiteren Arbeit alle gegenständlich orientierten Sachfragen konsequent ausklammern. Aber diese vorsätzliche Abstinenz von diesen Fragen bildet offenbar nur das methodisch ausgereifte Gegenstück zu jener Tatsache aus der Ursprungsgeschichte der Geometrie, die darin besteht, daß die Stammväter der Geometrie Behauptungen im Hinblick auf Gebilde wie das Dreieck und den Kreis aufstellen und beweisen konnten, ohne daß sie sich über die Bedingungen der Entdeckbarkeit, über den ontologischen Status oder über den charakteristischen Bereich der Gegenstände Rechenschaft abgelegt hätten, die sie dabei ausfindig gemacht haben. Offenbar kann man auch dann von Fall zu Fall treffsicher beurteilen, ob man es mit einem unverwechselbaren Gegenstand der Geometrie zu tun hat oder nicht, wenn man über die ihrem charakteristischen Gegenstandsbereich zugeordnete Ontologie oder Erkenntnistheorie noch gar nicht verfügt. Dem entspricht aber gerade, daß man mit Handlungsorientierungen als solchen und auch insofern, als sie voneinander verschieden sind, auch schon dann vertraut sein kann, wenn man noch gar nicht über Sätze und Beweise verfügt, die mit Hilfe von Ausdrücken wie „Dreieck" und „Kreis" formuliert sind. Es ist dann zwar immer noch ein Problem für sich, ob und gegebenenfalls

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inwiefern Handlungsorientierungen den ursprünglichen gegenständlichen Entdeckungsbereich der euklidischen Geometrie bilden. Und es ist weiterhin eine nichttriviale These, daß Handlungsorientierungen genau insofern diesen geometrischen Gegenstandsbereich bilden, als sie in die von Kant ermittelten Kategorien gehören. Aber wenn die hier dargestellte Theorie Kants über die geometrischen Gegenstände haltbar ist, dann kann auch verständlich werden, weswegen die Ontologie und die Erkenntnistheorie der geometrischen Gegenstände in Kants Transzendentaler Logik vor der am jeweiligen Lehrsystem der Geometrie orientierten Wissenschaftstheorie rangieren. Es kann von hier aus nicht mehr verwundern, daß Kants Transzendentale Logik sich in ihrer vorliegenden literarischen Gestalt nicht als Wissenschaftstheorie darbietet. Man sollte aus den skizzierten Gründen darüber hinaus die Möglichkeit erwägen, daß sie auch der Intention nach nicht primär eine Wissenschaftstheorie ist. Nach Kants Intention ist die Transzendentale Logik jedenfalls Theorie der Erfahrung. Als solche charakterisiert sie Bedingungen, auf die zwar auch die Wissenschaften in ihrer Existenz, ihrer Arbeit und ihrem Wachstum angewiesen sind, aber nicht nur sie. Da diese Theorie unter anderem auch in der Formulierung eines Prinzips mathematischer Konstruktionen gipfelt, hat gleichwohl der Gedanke an Geometrie, Arithmetik und die von ihnen ermittelten Axiome, Lehrsätze und Beweise immer wieder einmal sehr nahe gelegen. Doch man sollte genauer hinsehen. Den Kontext, in dem Kant Transzendentale Logik treibt, bildet der Versuch einer Kritik der reinen Vernunft. Kant versucht hier einsichtig zu machen, inwiefern man jenes Unbedingte, nach dem man sinnvoll nur im Lichte der reinen Vernunft fragen kann (vgl. KdrV A 305, Β 362/A 309, Β 366), nur unter den Voraussetzungen der Praxis finden und auch nur in der Praxis zum Tragen bringen kann (vgl. KdrV A 532, Β 560/A 558, Β 586). Es ist nach wie vor schwierig zu entscheiden, ob und wenn ja inwiefern dieser Versuch einer Kritik der reinen Vernunft sich überhaupt noch mit Fragen berührt, die sowohl die Struktur der Mathematik als auch den Lebenszusammenhang von Menschen, die Mathematik treiben, sowie das Bedürfnissystem einer Gesellschaft betreffen, in der auch Mathematik gedeihen kann und vielleicht sogar gedeihen sollte. Zwar bildet auch die Arbeit an mathematischen Problemen in Forschung, Lehre und Studium eine, wenngleich sublime, Form der Praxis. Aber Kant hat es für eine der Wissenschaftstheorie ebenso wie der praktischen Philosophie angemessene Aufgabe gehalten zu bedenken, daß auch in dieser Praxis der Arbeit an

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mathematischen Problemen niemand lernen könne, wie man weise werden kann (vgl. WW X X I , op. post., S. 238/240, 555/556). Freilich kann in dieser Praxis der mathematischen Arbeit auch niemand lernen, wie man mit den Ergebnissen mathematischer Forschung überhaupt außerhalb der Mathematik, beispielsweise in der Physik, aber auch ganz außerhalb der engeren Welt der Wissenschaft, nämlich in der gemeinsamen praktischen Lebenswelt aller Menschen umzugehen hat und wie nicht. Man kann innerhalb der Mathematik noch nicht einmal lernen, inwiefern ihre Gegenstände es überhaupt gestatten, daß man mit Einsichten, die sie betreffen, zugunsten — aber auch zuungunsten — einer vernünftigen Lebenspraxis von Menschen umgehen kann. Wer mit Ergebnissen mathematischer Forschung überhaupt erfolgreich über die Mathematik hinausgeht, macht in nichtmathematischer Weise eine Struktur mathematischer Gegenstände fruchtbar, wie man sie auch nur jenseits der Mathematik in den Blick bekommen kann. Den Ort, an dem man nach Kant diese Struktur durchschauen kann, bildet die Transzendentale Logik. Wir sind daher nicht nur nicht gehindert, sondern sogar gehalten, Kants Kritik der reinen Vernunft dem Verständnis auch dadurch näher zu bringen, daß wir uns ihr zunächst auch unter Gesichtspunkten der Wissenschaftstheorie zu nähern versuchen. Wir durchschauen einige Strukturen der Wissenschaft inzwischen genauer als es Kant möglich war und wohl auch genauer als die Strukturen der meisten anderen menschlichen Tätigkeiten und ihrer Ergebnisse. Von hier aus wird es daher wohl auch leichter möglich sein zu beurteilen, inwiefern Kants Transzendentale Logik eine Tragweite für das Verständnis der Wissenschaft jedenfalls nicht besitzen kann. Aber es scheint auch nicht ausgeschlossen zu sein, daß man eine solche Tragweite konkretisieren kann. Denn in den „Prolegomena" hat Kant auch die These entwickelt, daß jemand Mathematik und Physik dann weder sinnvoll noch erfolgreich treiben könnte, wenn er nicht von vornherein mit Gegenständen zu tun hätte, deren Bereiche sich mit den Bereichen von Gegenständen bestimmter synthetischer Urteile a priori überschneiden. Es ist aber trivial, daß man einen Gegenstand in einer wie auch immer verstandenen wissenschaftlichen Weise nur dann untersuchen kann, wenn man ihn auch schon entdeckt hat. Es versteht sich dagegen ganz und gar nicht von selbst, was für Bedingungen jeder Gegenstand irgendeiner wissenschaftlichen Untersuchung überhaupt insofern erfüllt, als er ganz unabhängig von dieser Untersuchung muß entdeckt worden sein können. Und es ist ebensowenig trivial, was für Bedingungen jede Instanz erfüllt, die etwas entdecken kann, was einen

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Kandidaten für den Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung abgibt. Wenn man nun an die wichtige Rolle denkt, wie Kants Raumtheorie sie in der transzendentalen Theorie von den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung spielt, die insofern auch Bedingungen der möglichen Gegenstände der Erfahrung sein sollen, dann scheint es im Anschluß an unsere Untersuchung günstig zu sein, wenn man sich mit dieser Theorie der Erfahrung auch einmal unter der Hypothese auseinandersetzt, daß in ihr stets auch Bedingungen möglicher Entdeckungen und insofern auch Bedingungen möglicher Gegenstände von Entdeckungen charakterisiert werden können.

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Stellenverzeichnis KdrV A XVI/XVII

A A A A A

19/21 22 22/30 23/25 25

A A A A A

26 27 27/30 28 31

A A A A A A A A A A A A A

33 33 35/41 36 36 37 37/38 41 42 43 47 48 48

Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β

A 50 A 57/62 A 60

Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β

A 62 A 63

Β Β

267" VII/XIV 47 X/XII 46 XI/XII 46 XXXVII/XLIV. . . . 127 14 33» 24, 24 5 19 33/35. . 155 36 235 37/45. . 68 128 38/40 . . 235 39 40 . . . 55/56 40/41 . . . . 11, 226, 241 294 41 42 58, 60, 152, 235 43 60 43/45 . . 59 58 47 : . . 235ff. 235 48 . . . 235 49 49/50 . . 11839 52/58 . . 59 52 . . . 61 53 59 s 53/54 . . 60, 62» 54 . . . 61 . . . 156, 167ff. 58 156 60 58 60 . . . 64 f. . . 46, 47 65 58 66 . . . 58 71/72 . . 771* 66 12 73 74 ff. . . 266 82/86 . . 25 85 . 263, 265, 275, 278, 286 87 . . . 263 87 . . . 263ff., 270, 278

A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A

63 69 76 76/77 76/81 79/81 80 84 85 86 87/89 87 88 89/91 91 94 96/97 100 101 ff. 104 108 109

Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β Β

88 . . . 94 102 . . . 102 . . . 102/07 . 104/07 . 106 . . . 117. . . 117. . . 119 . . . 119/21 . 120 ff.. . 120 . . . 122/24 . 123 . . . 126 . . .

.

276 . . 19 5 23 , 261 . . . . 262, 263 . . . . 269, 272 . 269 . 269 . 195 23 . . . 280, 280 2S . 267 21 , 280, 285 . . . 280ff., 282 . 40 4 . . 40 . 281 . 292 30 . 280 . . . 267, 268 188 187 . . . . 189 ff. 191 190 Β 128 . . . . . . 258 16 , 266 Β 131 . . . . 266 Β 133 Anm. . . . . 188 ff. Β 137/38 . . . . 115, 240 43 Β 138 . . . . 255 Β 139 . . . . . . . 186, 187 Β 140 . . . . . . 186, 187ff. Β 144 . . . . . . . 194, 281 Β 145/46 . . 19523 Β 146. . . . 193 Β 146/47 . . . 2 5 8 " , 288 27 Β 148. . . . 276 Β 149. . . . 276 Β 150. . . . 281 Β 150/54 . . 288 27 Β 151 . . . . 256 Β 152 255 Β 154 . . . 114, 117/18, 135, 183, 233, 234, 252 s , 255, 294 Β 154/55 . . 115, 228 37 , 237, 240 43 , 2 5 7 "

315

Stellenverzeichnis Β 155 . . . . 118 Β 155 A n m . . . . 114, 155, 228 3 7 , 241, 250 6 , 255 ff. 118 39 Β 156. . . . 266ff., 267, 281 Β 159 . . . Β 160 A n m . . . . 60 7 , 116, 118 38 , 121, 226, 228, 233, 238, 241 ff., 295 280 Β 165 . . . Β 166 A n m . 280 A 140 249 s Β 179 . . . . A 140 Β 180 . . . . 32" A 140/41 Β 180/81 . 251 A 141 Β 180 . . . ,. . .19, 32 8 , 252 s Β 180/81 . 288 2 7 A 141/42 Β 182 . . . . 125 43 A 142 A 143/44 Β 182/84 . 258 1 7 A 160 258 1 7 Β 199 . . . Β 201 A n m . 258 1 7 A 169/70 Β 211/12 . 235 4 2 184 18 A 192 Β 237/38 . A 206 Β 251/52 . 108 3 1 46 3 A 241 A n m . A 243 Β 301 . . . . 275, 290, 292 2 9 A 246 , . . 276, 290 2 8 A 251 262 A 260 Β 316 . . . 59, 85, 199, 225 A 261 Β 3 1 7 . . . . . 199, 210, 239 A 262 199 Β 319. . . A 263 Β 319 . . . . . . 185/86, 210 A 266 Β 322ff. . . 199/200, 239ff. A 269 Β 325ff. . 222 A 275 Β 331 . . . 239 A 277 Β 333 . . . 185 Β 362/66 . A 305/09 306 A 532/58 306 Β 560/86 . 32 8 Β 626. . . A 598 Β 741 . . . . . . 73, 84, 249 A 713 32, 247 Β 747 . . . A 719 112 35 Β 757 . . . A 729

WW II 378 ff 380 381 382 383 . .

Gegenden

.

50 52, 87, 145 107, 132 50, 52 ff. 51, 53ff., 73, 85, 9 0 2 3 , 9 2 f „ 104

WW II De mundi 392 393f 395 398 403 . . 404 406

131 ff. 128, 129 ff., 131ff. 52 52 . 56/57, 80, 110, 132/133, 243, 244 57 125 43

WW IV Prol. 255 261/62 268 ff 275/76 278 284 285/86 286ff 322 322/23 323 327f

179 f. 127 33 9 24 5 279 2 4 244/45 60 6 , 101/02 89 57, 60 179 181, 182 ff. 4

WW IV Μ. Α. 467 A n m . . . 469 474 A n m 475 (Anm.) 483 484 486/87 488 489/95 493 495 557

32, 101, 112, 113, 247, 250 6 250 6 266ff., 267, 267 2 1 191 ff., 194/95, 258, 287, 290 ff. 133 ff. 133/34, 145« 250 s 257 199 25 245 254/255, 257 257

WW V KdpV 10/11 11 A n m 31 52 139

127 114,250 250 32, 247, 250 32"

316

Stellenverzeichnis

WW V Kdu

WW XVIII Met. RefI

352 f 363 363/64 366 Anm 370

WW VIII

84/85 298 46 32", 33 249 4

Orientieren

134 135

WW VIII

Streitschrift

128 128

Briefwechsel

103/11 107/10 129/35 133/34 350ff 352 ff 366 ff 554 ff

WW XI

59 s 59 s 59 s 59 s 29 7 29 7 29 7 29 7

29 7 29 7

WW XVII Met. Refl. 337 639

238/40 555/56

307 307

WW XXIV. 2 Logik-Vorl. 24 s 24 s 166'°

WW XXVIII. 1 Met. u. rat.theol. Vorl. 521

235 4 2

WW XXVIII. 2. 1 Met. u. rat.theol. Vorl. 576/77

177

WW XXVIII. 2. 2 Met. u. rat.theol. Vorl.

Briefwechsel

183 ff 184ff

58 240 43 109

783/84 784 910/11

WW IX Logik Jäsche

WW X

268 271 283

WW XXI op. post. 246, 249 246 22", 259 1 8 191 125 43 , 251 294 3 2

96 98

74, 122 42 77" 273" 273 23 273"

WW XX Fortschritte

134 49 , 136 s0 , 145 134, 134 49

191 Anm 191/92 193 Anm 217 Anm 222 222/23

69 627 679 683 684

249 4 77 1 8

1093ff 1096 1194ff 1299 1300 1340/43 1521

85 2 1 108 31 85 2 1 85 2 1 108 31 177" 177 12 , 181

Namenverzeichnis Aristoteles 235 42 Arnold 17712 Bar-Hillel 142" Baumgartner 1527 Beck, J. S. 235 41 , 2 7 3 " Beck, L. W. 33», 463 Becker 7 Bennett 1466 Block 1466 Böhme 51" Bühler 187 Carnap 14 Clarke 57 Cohen 69 14 , 303, 304 Couturat 72 16 Cramer 49 1 , 2472 Cresswell 160 Cudworth 5, 5 2 Dingler 39, 44 Earman 89 22 Ebbinghaus 49 1 Eberhard 12543 Erdmann 12242, 17712 Essler 227 36 Euklid 254 10 , 256 13 , 295, 296f„ 297f. Euler 503 Fichte 6 I s , 77 19 Frede 93 24 , 12543, 235 42 , 255 11 , 294 Frege 3, 14ff„ 26/27, 33», 143, 158/59, 19120, 19321, 253 9 , 259f., 273 22 Freudenthal 54, 12644, 232 40 Heath 30, 250 Hegel 18ff., 295 33 Heidegger 69 14 , 77 19 , 13449 Helmholtz 30/31, 1527, 18418, 228/29 Henrich 267 21 Hinske 12242 Hintikka 32/33, 339

Ishiguro 90 23 , 96 26 , 97 27 , 10429 Jammer 72 15 Kambartel 252" Kamiah 41 Kanitscheider 1527 Kaulbach 252 8 Kepler 5 Kraft 62™ Kripke 90 23 , 97 27 , 223 35 Krüger, G. 11839 Krüger, L. 93 24 , 12543, 195 23 , 235 42 , 255", 294 Kutschera, v. 18016, 18017 Lange 110 33 Laßwitz 31 ff. Lehmann 17812 Leibniz 43, 43 2 , 57, 72 16 , 249" Lenk 195 23 , 222 34 Lewis 97 27 , 17814 Lorenzen 39, 41, 43ff., 43 1 , 44, 45, 211 28 , 217 31 Lyons 180 16 Marc-Wogau 31/32, 201 26 Menne 96 2S Mittelstraß 44 Neriich 90 23 , 104 29 , 10932 Newton 50 3 , 57 Nietzsche 65 11 Parsons 328 Paton 35/36, 19120, 267 21 , 295 34 , 2963S Patzig VII, 22 4 , 19523, 211 28 Piaass 247 2 Piaton 1/2, 8 3 , 81 20 , 10730 Prauss 245 Proklos 5, 6/8 Pseudo-Thales 46, 296

318

Namenverzeichnis

Quine 130 47 , 162, 190 Reich VII, 25/26, 50 2 , 114f„ 122 42 , 12543, 261 l », 195 23 , 201 26 , 210 27 , 222 34 , 260ff., 261 ff. Reidemeister 3, 40, 54, 110", 253», 293 31 Remnant 10429 Russell 33 8 Scheibe VII, 33» Schelling 771» Schmitz 43», 74 17 , 117 Scholz 12/13 Schultz 2, 29/30, 125 4 \ 183/84, 199 25 , 227/28, 227 36 , 228 37 , 229 38 , 240 43 , 252 8 Sklar 10932 Smart 89 22

Spinoza 29 Steinitz 180 16 Strawson 34/36 Tarski 14, 137, 137 51 , 190, 194 22 , 273 22 Thompson 32 8 Vaihinger 35/36, 771» Vleeschauwer 35/36, 1183» Vitruv 2494 Vuillemin 6 8 " Warda 5 2 Weyl 54ff., 1423, 1527, 2142» Wieland VII, 771», 11941, 235 42 Wittgenstein VII Wolff 29

Stichworteverzeichnis Adverbien 177/82, 178", 180 16 Äquivalenz 213ff„ 216f. Allgemeinheit, mathematische 279 24 Anfang 41 f., 44f., 46/48, 298ff. Anschauung, formale 60 7 , 11838, 238/41 - , Form der 235/38, 235 42 intellektuelle 77 19 reine räumliche 55/68, 115f., 169/70, 221/3 Antinomien 12242 Apriorität 223f., 223 35 , 281/85, 290/92, 301 ff. Argument einer Funktion 26/27, 19321, 259/60, 265 f. Beweisbarkeit 21 ff., 175ff., 293 31 Bild 12543, 2517 conceptus infimus 16610 counterfactual 9721

Gestalt, reine 19, 33, 305 Gestaltung, werktätige 43 f. Handlung, Begriff der 112", 113 36 , 250 6 Idealität des Raumes, transzendentale 57/62 Interpretation 10228, 156/57 Introspektion 61, 618 intuitus originarius 7719 kontextfrei 17511 kontextinvariant 21/28, 1424, 174/75,215/18, 22335 Kontextstandardisierung 145/46, 1527 kontextunabhängig 174/75, 216ff., 223 35 , 283/85 Kontextvariable 144 ff. Kontinuum 119 41 , 235 42 Konvention 1466 logischer Vorzug 275/76, 290 f.

Definitionsproblem 2II 2 8 Diagramm 288 27 Distribution 214/17, 221 f. Dokument 249, 2494 Einbildungskraft, produktive 288 27 Entdeckbarkeit, Problem der 65/68 Evidenzproblem 62® Existenz (Dasein) 32/34, 32«, 95/104, 247ff., 250/252, 258 17 Existenzbegriff 98/101 Existenzialontologie 13449 Forscherglück 271/72 Fortsetzbarkeit 235 42 Funktion 10228, 156/66, 169/71, 19120, 191/193, 193 21 , 258/65, 268/70 , 274/77 Gebrauch a priori 223 35 , 285 ff. Gegenstände, anschauliche 269/71, 276/77 Gegenstand, Begriff des - e s 189/97, 258/60 Gegenstandsbezug 263/64, 270 ff.

Modell, ursprüngliches 10228, 163* Ontologie, formale 115f., 300 —, regionale 115f., 302 Postulate, geometrische 113/14, 250/51 pragmatisch 16f. Realität des Raumes, empirische 58/62 Reflexionsbegriffe 11034, 119 40 , 198/203, 19925, 205/06, 210ff„ 225/26, 238/41 Satzfunktion 21 ff., 164/65, 175ff. Schema 32 8 , 251/52, 2528 Schöpfungshandlung 53 f., 72/73, 84/85, 104/09,10429, 10831, 10932, 214 29 , 2494 Schöpfungsplan 81 20 , 92ff„ 93 24 Semantik 10228, 189/90, 273 22 semantisch 19422 Sprache 12/15, 22 4 , 179/81 Subjektivität 13ff„ 157ff„ 211 28 , 235f„ 302f.

320

Stichworteverzeichnis

Subordinierbarkeit 128/36 Sukzessivität 118f., 118 39 , 235 4 2 , 237/38 Taufakt 90 2 3 , 9 3 " Taufplan 93 2 4 , 21429

Verstand 1 2 7 f f „ 129/32, 131 48 , 195 23 , 288 2 7 Vollständigkeit der Urteilstafel 195 23 - der Kategorientafel 195 23 - der Raumbegriffe 117 37 , 226 ff.

U r s p r u n g a priori 223 3 5 , 281 f., 283/85

Wahrheitsbedingungen 148/50, 190/94, 194 22

Variable 144ff., 178 13 , 262 2 0 Venn-Diagramm 288 2 7

Zahlen, Arten der 235 4 2

CORRIGENDUM In Anm. 39, S. 119 muß die elfte Zeile (von oben) heißen: denn auch — insofern immerhin konsequent — Kants Bemerkungen über die didaktische

Enskat - Kants Theorie (QuStPh 13)

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W i l t e r de Gruyter Berlin-Newark Quellen und Studien zur Philosophie

Gerold Prauss

Erscheinung bei Kant Ein Problem der „Kritik der reinen Vernunft" Groß-Oktav. 339 Seiten. 1971. Ganzleinen DM 7 8 , ISBN 3 11 006427 8 (Band 1)

Michael Wolff

Fallgesetz und Massebegriff Zwei wissenschaftshistorische Untersuchungen zur Kosmologie des Johannes Philoponus Groß-Oktav. X , 159 Seiten. 1971. Ganzleinen DM 3 6 , ISBN 3 11 006428 6 (Band 2)

Burkhard Tuschling

Metaphysische und transzendentale Dynamik in Kants opus postumum

Groß-Oktav. XII, 224 Seiten. 1971. Ganzleinen DM 5 4 , ISBN 3 11 001889 6 (Band 3)

Hans Werner Arndt

Methodo scientifica pertractatum

Mos geometricus und Kalkülbegriff in der philosophischen Theorienbildung des 17. und 18. Jahrhunderts Groß-Oktav. VIII, 170 Seiten. 1971. Ganzleinen DM 7 2 , ISBN 3 11 003942 7 (Band 4)

Klaus Wurm

Substanz und Qualität

Ein Beitrag zur Interpretation der plotinischen Traktate VI 1 , 2 und 3 Groß-Oktav. XII, 294 Seiten. 1973. Ganzleinen DM 6 8 , ISBN 3 11 001899 5 (Band 5)

Lorenz Krüger

Der Begriff des Empirismus

Erkenntnistheoretische Studien am Beispiel John Lockes Groß-Oktav. XII, 283 Seiten. 1973. Ganzleinen DM 6 8 , ISBN 3 11 004133 2 (Band 6)

Barbara Loer

Das Absolute und die Wirklichkeit in Schellings Philosophie

Mit der Erstedition einer Handschrift aus dem Berliner Schelling-Nachlaß Groß-Oktav. VIII, 288 Seiten. Mit 3 Abbildungen. 1974. Ganzleinen DM 108,- ISBN 3 11 004329 7 (Band 7) Preisändeningen vorbehalten

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W i l t e r de G r u y t e r Berlin-Newark Quellen und Studien zur Philosophie

Kurt Röttgers

Kritik und Praxis Zur Geschichte des Kritikbegriffs von Kant bis Marx Groß-Oktav. X , 302 Seiten. 1975. Ganzleinen DM 9 2 , ISBN 3 11 004604 0 (Band 8)

Rainer Stuhlmann-Laeisz

Kants Logik

Eine Interpretation auf der Grundlage von Vorlesungen, veröffentlichten Werken und Nachlaß Groß-Oktav. VIII, 123 Seiten. 1976. Ganzleinen DM 5 2 , ISBN 3 11 005840 5 (Band 9)

Martin Bartels

Selbstbewußtsein und Unbewußtes

Studien zu Freud und Heidegger Groß-Oktav. X , 201 Seiten. 1976. Ganzleinen DM 7 8 , ISBN 3 11 005778 6 (Band 10)

Henning Ottmann

Individuum und Gemeinschaft

Band 1: Hegel im Spiegel der Interpretationen Groß-Oktav. X , 406 Seiten. 1977. Ganzleinen DM 118,ISBN 3 11 007134 7 (Band 11)

Malte Hossenfelder

Kants Konstitutionstheorie und die Transzendentale Deduktion

Groß-Oktav. VIII, 182 Seiten. 1978. Ganzleinen DM 7 2 , ISBN 3 11 005969 X (Band 12)

Wolfgang Detel

Scientia rerum natura occultarum

Methodologische Studien zur Physik Pierre Gassendis Groß-Oktav. X , 264 Seiten. 1978. Ganzleinen DM 9 4 , ISBN 3 11 007320 X (Band 14)

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