Kants Schlüssel zur Kritik des Geschmacks: Ästhetische Erfahrung heute – Studien zur Aktualität von Kants »Kritik der Urteilskraft« 9783787328932, 9783787315680

Das zentrale, in der Kantforschung nach wie vor umstrittene Problem der Struktur des ästhetischen Urteils wird kontrover

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Kants Schlüssel zur Kritik des Geschmacks: Ästhetische Erfahrung heute – Studien zur Aktualität von Kants »Kritik der Urteilskraft«
 9783787328932, 9783787315680

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Kants Schlüssel zur Kritik des Geschmacks Ästhetische Erfahrung heute – Studien zur Aktualität von Kants »Kritik der Urteilskraft«

Sonderheft des Jahrgangs 2000 der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft Herausgegeben von Ursula Franke

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ursprünglichen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­phi­­sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abruf bar. ISBN: 978-3-7873-1568-0 ISBN eBook: 978-3-7873-2893-2 ZÄK-Sonderheft · ISSN 1439-5886 © Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2000. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­papier, hergestellt aus 100 % chlor­frei gebleich­tem Zellstoff. Printed in Germany.  www.meiner.de

INHALT

Ursula Franke: Einleitung ..............................................................................

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DISKUSSIO N

Jürgen Stolzenberg: Das freie Spiel der Erkenntniskräfte. Zu Kants Theorie des Geschmacksurteils .................................................................................................

1

Jens Kulenkampff: Der Schlüssel zur Kritik des Geschmacks ...............................

29

Christel Fricke: Freies Spiel und Form der Zweckmäßigkeit in Kants Ästhetik. Zur Frage nach dem schönen Gegenstand ...........................................................

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PERSPEKTIVEN

Renate Homann: Kants Dritte Kritik aus der Sicht einer Theorie der modernen Lyrik gelesen ................................................................................

65

Beate Bradl: Ästhetische Erfahrung bei Kant und Celan .................................. 103 Andrea Esser: Kunst als Form? Das Problem einer nicht-reduktionistischen Ästhetik als Herausforderung analytischer Theorien der Kunst und ein Blick auf Kant ......................................................................................... 121 Jens Schröter: Die Form der Farbe. Zu einem Parergon in Kants Dritter Kritik

135

Wolfgang Ruttkowski: Kernbegriffe der Ästhetik. Ein Vorschlag zu ihrer Verwendung im ästhetischen Diskurs in Kants Problemhorizont .................... 155 Thomas Lehnerer: Die Freiheit der Kunst. Eine Künstlerästhetik in Kants Perspektive ......................................................................................... 169 Birgit Recki: So lachen wir. Wie Immanuel Kant Leib und Seele zusammenhält

177

Heinz Paetzold: Die Bedeutung von Kants Dritter Kritik für die politische Philosophie in der »Postmoderne«. Zu Hannah Arendts Lektüre der »Kritik der Urteilskraft« ................................................................................ 189 FOR SCHU NGSBERI CHTE

Ästhetische Einstellung Karl-Heinz-Schwabe / Martina Thom (Hrsg.): Naturzweckmäßigkeit und ästhetische Kultur. Studien zu Kants Kritik der Urteilskraft. Academia Verlag 1993 (Andrea Esser) ................................................................................. 209

IV

Inhalt

Ästhetische Kommunikation Andrea Esser (Hg.): Autonomie der Kunst? Zur Aktualität von Kants Ästhetik. Akademie Verlag 1995 (Beate Bradl) ............................................................. 214 The object of aesthetic judgment Christel Fricke: Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils. Quellen und Studien zur Philosophie. Bd. 26. Hg. von Günter Patzig, Erhard Scheibe und Wolfgang Wieland. Walter de Gruyter 1990 (Jane Kneller) ..................... 219 Integrative Ästhetik Josef Früchtl: Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil. Eine Rehabilitierung. Suhrkamp 1996 (Georg W. Bertram) ........................................... 224 Die Vielfalt der Dritten Kritik Hermann Parret (Hg.): Kants Ästhetik / Kant’s Aesthetics. L’esthétique de Kant. Walter de Gruyter 1998 (Brigitta von Wolff-Metternich) ...................... 230 Zu den Autoren ............................................................................................ 239

EINLEITUNG

»De gustibus non est disputandum« ist ein Gemeinplatz, dem Kant entgegentritt. Kant nimmt – das sei in Erinnerung gebracht – ein Thema auf, das im 18. Jahrhundert zunächst in Italien, England und Frankreich und dann auch in der deutschen Literaturkritik und Poetik eine hervorragende Rolle gespielt hat. Hervorzuheben ist im Blick auf die Beiträge, die in diesem Band versammelt sind, daß Kant die metaphorische Bestimmung des Geschmacks in der vielfältigen Bedeutung einer nicht allein ästhetischen, sondern auch sittlichen Urteilsfähigkeit auffaßt, wie sie der Begriff seit Gracians »Handorakel« (1647) gewonnen hatte. Geschmack zeichnete einen »honnête homme«, einen »fine gentleman« aus. Als Übersetzung des italienischen »gusto« und des französischen »bon goût« avanciert »Geschmack« dann zur Bezeichnung der Fähigkeit, Schönes und Häßliches zu unterscheiden und zu beurteilen. Der Begriff findet in seiner anthropologischen, soziologischen wie auch dichtungs- und kunstkritischen Bestimmung Eingang in die philosophische Ästhetik.1 Urteilen, dijudicere, heißt, so Baumgarten in der »Metaphysica« (zuerst 1739), die Vorstellung der Vollkommenheit und Unvollkommenheit der Dinge zu beurteilen, Bestimmungen, die Baumgarten in der »Aesthetica« (vgl. §.14) als Kriterien des Schönen und Häßlichen geltend machte. Bekanntlich weist Kant die Bindung des Geschmacksurteils an die Begriffe der Vollkommenheit und Unvollkommenheit im berühmten §.15 der »Kritik der Urteilskraft« ausdrücklich zurück – de gustibus non est disputandum. Das Disputieren braucht Gründe und Beweise und die lassen sich für das Geschmacksurteil gerade nicht angeben. Gleichwohl gilt, so Kant im §.34 der »Kritik der Urteilskraft: »Über den Geschmack läßt sich streiten«. Wo es erlaubt sein soll zu streiten, da muß, sagt Kant, »Hoffnung« sein, einen Konsens der Urteilenden zu erzielen, »untereinander übereinzukommen«. Diese Hoffnung soll die Kritik des Geschmacks begründen und rechtfertigen, eine Aufgabe, die Kant, Hume zitierend, umreißt. Kant stimmt Hume darin zu, daß Kritiker des Geschmacks mit Köchen »einerlei Schicksal« haben. Beide können sie ihr Urteil nicht durch Gründe belegen. Kraft bezieht ihr Urteil »nur von der Ref lexion des Subjekts über seinen eigenen Zustand (der Lust oder Unlust)«. Im Unterschied zu Köchen können und sollen die Kritiker über ihr Urteil nachdenken, sie sollen »nachforschen«, was die Erkenntnisfähigkeiten der Einbildungskraft und des Verstandes für das ästhetische Urteil zu leisten imstande sind. Kant unterscheidet dabei die Kunst und die Wissenschaft der Kritik des Ge1 Vgl. Alfred Bäumler: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts (1923). Mit einem Nachw. zum Neudr. Darmstadt 1967; s. a. Werner Strube: »Über den Geschmack läßt sich nicht streiten«. In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 30 (1985). S. 158-185.

ZÄK Sonderheft · Jahrgang 2000 · © Felix Meiner Verlag 2000 · ISSN 1439-5886

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schmacks. Als Kunst zeigt sie das Verhältnis von Einbildungskraft und Verstand an Beispielen, d..h. sie beurteilt die Werke der schönen Künste und der Dichtung; als Wissenschaft verstanden, untersucht die Kritik des Geschmacks die Fähigkeit, ästhetisch zu urteilen und leitet die Möglichkeit der Beurteilung aus der »Natur« von Verstand und Einbildungskraft als Erkenntnisvermögen ab. Wenn der Geschmack in den einschlägigen Paragraphen 66 und 67 der »Anthropologie in pragmatischer Absicht« (1798) »gleichsam als formaler Sinn«, der die Urteilskraft als Fähigkeit zu unterscheiden und zu wählen auszeichnet, auf die Kritik der Künste und der Dichtung von Kant bezogen wird, dann betont er die Verbindung des Geschmacks mit den Gefühlen der Lust und Unlust2 und hebt zudem hervor, Geschmack habe es mit der »Darstellung der eigenen Person« zu tun und setze daher den »gesellschaftlichen Zustand« voraus, »Geselligkeit«, d..h. »Teilnahme an der Lust anderer« im Unterschied zum barbarischen Geschmack, der »ungesellig und bloß wetteifernd ist«.3 Geschmack hat m.a.W. etwas zu tun mit sozialer und kultureller Kompetenz. »Geschmack« kann so, mit Hans-Georg Gadamer, als ein »humanistischer Leitbegriff« aufgefaßt und seine emanzipatorische Funktion für die gegenwärtige Gesellschaft erörtert werden.4 Die Beiträge des Bandes diskutieren und perspektivieren zentrale Aspekte des von Kant selbst weiträumig abgesteckten Problemfeldes und der spezifischen Begriff lichkeit, mit der Kant den Geschmack als ästhetische Urteilskraft untersucht. Im ersten Teil stellen die – kontrovers argumentierenden – Studien von Jürgen Stolzenberg, Jens Kulenkampff und Christel Fricke die Frage der logischen Struktur des ästhetischen Urteils zur Diskussion, und zwar im Blick auf die von Kant selbst nicht detailliert ausgeführte Problematik einer Theorie der schönen Form. Jürgen Stolzenberg stellte in der Vorbereitungsphase des Bandes seinen Text Christel Fricke und Jens Kulenkampff, mit deren in der Kant-Literatur hervorragenden Interpretationen5 er sich kritisch auseinandersetzt, zur Einsichtnahme zur Verfügung. Beide hatten so die Gelegenheit, in ihren eigenen Studien zum vorliegenden Band auf dessen Einwände einzugehen. Die divergierenden Positionen und Interpretationen können nun – was sicher nicht ohne weiteres die Regel ist – in ein und demselben Vgl. neuerdings Andrea Kern: Schöne Lust. Eine Theorie der ästhetischen Erfahrung nach Kant. Frankfurt a..M. 2000. 3 Vgl. die harte Auseinandersetzung mit Kants Auffassung des »guten Geschmacks« bei Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a..M. 1982. Bes. S. 756-773. 4 Vgl. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. (Hermeneutik I). Ges. Werke. Unveränd. Taschenbuchausgabe. Tübingen 1999. Bd. 1, S. 40-47; vgl. Rudolf Lüthe u. Martin Fontius: »Geschmack./.Geschmacksurteil«. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hrsg. v. K. Barck, M. Fontius u.a. Bd. 2 (erscheint 2001). 5 Vgl. Christel Fricke: Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils. Berlin./.New York 1990; s..a. den Forschungsbericht von Jane Kneller in diesem Band; vgl. Jens Kulenkampff: Kants Logik des ästhetischen Urteils. Frankfurt a..M. 1978 (21994). 2

Einleitung

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Band studiert werden. Die Herausgeberin hat Christel Fricke, Jens Kulenkampff und Jürgen Stolzenberg für die Bereitschaft, der Einladung zu diesem Austausch zu folgen, besonders zu danken. Mit der Struktur des ästhetischen Urteils nehmen die Autoren eine zentrale Problemstellung der gegenwärtigen Forschung zu Kants »Kritik der Urteilskraft« auf6 und erörtern die vieldiskutierte Frage, was das Kunstwerk, den ästhetischen Gegenstand als solchen auszeichnet, eine Frage, die, wie man weiß, seit ihrer Problematisierung im Rahmen der sprachanalytischen Ästhetik7 brennend geworden ist.8 Die Studien des zweiten Teils knüpfen methodisch an die Problemstellung des ersten an und erproben, vorzüglich im Blick auf die Analytik des Schönen, in unterschiedlichen Perspektiven die Reichweite oder Tragfähigkeit der Kritik des Geschmacks für die Praxis nicht nur der Kunst, sondern auch des Lebens und beleuchten weniger beachtete Aspekte des Themas. Dabei werden Fragen berührt, die gegenwärtig auch die Literatur- und Kunstwissenschaft beschäftigen.9 Renate Homann unternimmt es, auf dem Boden und mit dem methodischen und kategorialen Instrumentarium der »Kritik der Urteilskraft« eine Theorie der modernen Lyrik zu entwerfen, und zwar im Kontext des ästhetischen Urteils über das Schöne wie auch über das Erhabene. Der rezeptionsästhetische Ansatz von Kants Kritik des Geschmacks wird von Beate Bradl für die Deutung eines Gedichtes von Paul Celan und von Thomas Lehnerer als Ausgangspunkt einer Künstlerästhetik erprobt. Andrea Esser und Jens Schröter nehmen Kants Analyse des Schönen im kunsttheoretischen Kontext auf, während Wolfgang Ruttkowski in diesem Problemhorizont auf den ästhetischen Diskurs eingeht. Birgit Recki und Heinz Paetzold schließlich nehmen die weite anthropologische und kulturphilosophische Perspektive auf, in der Kant die Kritik des Geschmacks als Untersuchung der ästhetischen Urteilskraft ausgeführt hat. Ob Kants Schlüssel zur Kritik des Geschmacks paßt, hängt dabei immer auch von der Schlüssigkeit oder besser der Plausibilität des »Übergangs« von der Metaphysik zur Empirie ab. Der Schlüssel wird in den Studien durchaus auch in dieser Hinsicht erprobt.

Vgl. Herman Parret: Kants Ästhetik, Kant’s Aesthetics, L’esthétique de Kant. Berlin./.New York 1998. Bes. Abschn. 3 u. 4. Das Buch wird von Brigitta Wolf-Metternich in diesem Band rezensiert (vgl. die Forschungsberichte). 7 Vgl.: Das ästhetische Urteil. Hrsg. von Rüdiger Bittner und Peter Pfaff. Köln 1977. Zur Sache auch: Jörg Zimmermann: Sprachanalytische Ästhetik. Ein Überblick. Freiburg 1980; Karlheinz Lüdeking: Analytische Philosophie der Kunst. Frankfurt a. M. 1988. 8 Vgl. Reinold Schmücker: Was ist Kunst ? Eine Grundlegung. München 1998. Zum Problem der »Verfaßtheit ästhetischer Gegenstände« und der Abgrenzung von Ästhetik und Kunstphilosophie s..a. Martin Seel: Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der ästhetischen Rationalität. Frankfurt a..M. 1985. 9 Vgl.: Literaturkritik – Anspruch und Wirklichkeit. DFG-Symposion 1989. Hrsg. von Wilfried Barner. Stuttgart 1990, Kap. 3; Vgl. Birgit Recki./.Lambert Wiesing (Hrsg.): Bild und Reflexion. Paradigmen und Perspektiven gegenwärtiger Ästhetik. München 1997. 6

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Der Band wird durch Forschungsberichte abgerundet, die das Interesse, das Kants »Kritik der Urteilskraft« im letzten Jahrzehnt in der Ästhetik und Kunstphilosophie gefunden hat, vor Augen führen. Die Forschungsberichte stellen Monographien und Aufsatzsammlungen vor; die Autoren der vorgestellten Studien befassen sich mit dem Gegenstand des ästhetischen Urteils, mit Fragen der ästhetischen Einstellung und der ästhetischen Erfahrung, ferner mit der Problematik einer integrativen Ästhetik, die eine neue Verbindung der ästhetischen Erfahrung mit dem Ethischen thematisiert und problematisiert. I. Jürgen Stolzenberg, Jens Kulenkampff und Christel Fricke diskutieren die Frage, die Kant im §.9 der »Kritik der Urteilskraft« selbst den »Schlüssel zur Kritik des Geschmacks« und aller »Aufmerksamkeit würdig« genannt hat: ob im ästhetischen Urteil »das Gefühl der Lust vor der Beurteilung des Gegenstandes oder diese vor jener vorhergehe«. Zu fragen ist, so Kulenkampff, »was ein reines Geschmacksurteil eigentlich aussagt«. Kant selbst bietet, so Kulenkampff wie auch Fricke und Stolzenberg, lediglich die Skizze einer Lösung dieses Schlüssel-Problems. Die Autoren diskutieren es im Kontext des von Kant so genannten »freien Spiels der Erkenntniskräfte«, des Zusammenspiels von Einbildungskraft und Verstand, und unter dem Gesichtspunkt einer als »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« von Kant begriffenen Vorstellung der schönen Form von Gegenständen. Die Auffassung des Dilemmas, so Fricke, vor das sich Kant gestellt sieht, sowie seine Auffassung, daß ein Ausweg daraus gefunden werden könne, sind in der Forschung nicht mehr kontrovers. Strittig ist, wie der Ausweg zu beschreiben ist und ob er gangbar ist, zumal die hier einschlägigen Texte sich – so Fricke wie auch Stolzenberg und Kulenkampff – durch, mit Fricke gesagt, »erhebliche Dunkelheit« auszeichnen. Die Autoren gehen von einer unterschiedlichen Gewichtung der Theorieelemente aus und kommen zu Ergebnissen, die nicht nur in Nuancen voneinander abweichen. Die Frage, ob und inwieweit Kants Analyse des ästhetischen Urteils, die er als Analytik des Schönen durchführt, ein Instrumentarium bereitstellt, um schöne von nicht-schönen Gegenständen zu unterscheiden, und zwar ohne ein »objektives Prinzip des Geschmacks« zu Grunde zu legen, was Kant ja ausdrücklich ausschließen will, wird in den Studien unterschiedlich beantwortet. Die Diskussion wird von Jürgen Stolzenberg eröffnet, der die Auffassung vertritt, daß Kulenkampffs wie auch Frickes Interpretationen »das Schöne zum Verschwinden bringen«. Die Verbindung des Momentes der Allgemeingültigkeit mit dem Gefühl der Lust lasse, so Stolzenberg, das ästhetische Urteil widersprüchlich und »ortlos« erscheinen. Zur Auf lösung des Dilemmas, das darin besteht, daß die beanspruchte Allgemeinheit die Erkenntnis eines Sachverhaltes voraussetzt, während Kant das ästhetische Urteil gerade subjektiv, auf kontemplative Lust, ein interesseloses Wohlgefallen begründet, schlägt Stolzenberg eine »urteilstheoretische Diffe-

Einleitung

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renzierung« vor, derzufolge das Zusammenspiel von Verstand und Einbildungskraft in der ästhetischen Ref lexion über einen Gegenstand, dessen Ausdruck das ästhetische Urteil ist, vom Zustand des Gefühls der Lust, das die ästhetische Ref lexion begleitet, zu unterscheiden ist. Die urteilstheoretische Differenzierung in Verbindung mit der Bestimmung einer »Zweckmäßigkeit ohne Zweck«, mit der Kant die »freie Gesetzmäßigkeit« des Verstandes bezeichne, sofern er mit der Einbildungskraft zusammenstimmt, öffnet nach Stolzenberg auch einen Zugang zur Antwort auf die Frage, was das Schöne an schönen Gegenständen eigentlich sei. Die Formel der »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« beschreibe das Phänomen, »daß man in der Betrachtung der Form eines Gegenstandes eine gewisse Ordnung wahrnehme«. Man wisse nicht, wozu die Ordnung angelegt ist, und verlange auch nicht, dies zu wissen. Daß Kant genau dieses Phänomen als Grundlage seiner Theorie des Schönen vor Augen stand, sucht Stolzenberg durch seine Interpretation der kantischen Analyse der subjektiven formalen Zweckmäßigkeit zu erhärten. »Sinn und Bedeutung« erlange diese Formel als Beschreibung jenes inneren subjektiven Sachverhalts des »freien Spiels der Erkenntniskräfte«, mit dem das Gefühl einer kontemplativen Lust, eines »interesselosen Wohlgefallens« korrespondiert. Da die Anwendung der Formel einer »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« auf das »freie Spiel der Erkenntniskräfte« eingeschränkt werde, scheine nun aber der schöne Gegenstand zum »blinden Fleck« geworden zu sein, über den sachhaltige Aussagen nicht mehr möglich sind. Stolzenbergs Vorschlag geht dahin, solche Aussagen, die Kant selbst nicht gemacht hat, durch die Ausbildung eines ästhetischen Diskurses, als Diskurs sui generis, nachzutragen. Ein Kriterium für die Angemessenheit oder Nicht-Angemessenheit dieses Diskurses sei durch Kants These gegeben, daß sich das Urteil über das Schöne auf die Form eines Gegenstandes bezieht. Jens Kulenkampff nimmt Stolzenbergs Einwände gegen seinen »Versuch verständlich zu machen, was ein reines Geschmacksurteil eigentlich aussagt« sowie gegen seine kritische Einschätzung von Kants Aussagen zum Problem der schönen Form von Gegenständen zum Anlaß, den Sachverhalt erneut zu problematisieren und darzulegen, daß Kants Theorie der schönen Form scheitere, weil der Gegenstandsbezug des ästhetischen Urteils im Dunkeln bleibe und es ohne weiteres von Kant aus keine Möglichkeit, kein Kriterium gebe, einen Gegenstand vor einem anderen als schön auszuzeichnen. Da die Möglichkeit einer prinzipiellen Rechtfertigung von Geschmacks- oder ästhetischen Urteilen nur bestehe, »wenn das Gefühl der Lust als Folge der Beurteilung des gegebenen Gegenstandes verstanden werden kann, und nicht das Urteil sich nach dem Gefühl (der Lust oder Unlust) richtet«, müsse es das Ziel einer Kritik des Geschmacks sein, dem Beurteiler selbst den Grund dafür zu geben, daß sein Verhalten verständlich und vernünftig ist. Auch wenn die Beurteiler das gewöhnlich nicht wissen, müssen sie, so unterstreicht Kulenkampff, den Grund doch wissen können. Zu fragen sei also, worauf der Beurteiler des Schönen zu achten hat, d..h. Applikationsbedingungen welcher Art von Begriffen Kant im Auge hat und wie jemand feststellt, ob sie erfüllt sind oder nicht. Kulenkampff erörtert

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diese Forderung, indem er Kants Bestimmung des Schönen unter dem Moment der »Vorstellung der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes ohne erkennbaren Zweck« im Zusammenhang von Kants Behandlung von Naturzwecken zu erhellen sucht. Er unterstreicht, daß Kant im Kontext der Kritik der teleologischen Urteilskraft die Schönheit der Natur ein Analogon der Kunst genannt hat und zieht aus dieser Analogie den »Rückschluß«, daß Schönheit »die äußere Form der Organisiertheit eines Gegenstandes« sei. Die Beurteilung betreffe die mit Lust verbundene Wahrnehmung einer solchen, den Eindruck einer Einheit des Mannigfaltigen hervorrufenden Organisiertheit. Die Einheit kann, darauf kommt es Kulenkampff an, objektiv nicht beschrieben werden, sie wirke vielmehr – als ob sie im Kunstwerk, an dem wir sie wahrnehmen, wie die Formen der Natur organisiert, durch ein vernünftiges Wesen sinnvoll zusammengefügt worden sei. Christel Fricke begegnet Stolzenbergs Vorwurf, ihre Interpretation bringe das Phänomen des Schönen zum Verschwinden, indem sie ihre These verteidigt, daß sich »aus der Theorie des freien Spiels und der harmonischen Proportion der Erkenntniskräfte etwas über die Beschaffenheit des schönen Gegenstandes« entnehmen läßt; man könne mit Kant durchaus sagen, wodurch sich ein schöner Gegenstand auszeichnet. Kants scheinbar psychologisierende Redeweise, in der es um menschliche Vermögen und Gemütskräfte geht, verberge seine Verlegenheit, wie die für schöne Gegenstände charakteristischen »Strukturmerkmale« zu beschreiben seien. Da Schönheit kein Begriff vom Objekt ist, helfen die Verstandesbegriffe nicht weiter. Fricke sieht in der Formel einer »Zweckmäßigkeit ohne Zweck«, den Versuch Kants, »eine Alternative zu den Begriffen des Verstandes bereitzustellen« und so eine Begriff lichkeit zu entwerfen, die das Phänomen der Schönheit zu begreifen erlaubt. Sie ist der Ansicht, daß Kant diese Formel im Zusammenhang der ästhetischen, immer von einem interesselosen Wohlgefallen begleiteten Erfahrung des Schönen nicht weiter zu entwickeln brauchte, sondern sich damit habe begnügen können, die ästhetische Erfahrung als eine solche zu beschreiben, »die uns in einem Gefühl bewußt ist, ohne den Gehalt der gegenständlichen Vorstellung, auf der dieses Gefühl beruht, begriff lich zu analysieren«. Was es heißt, daß die Vorstellung schöner Gegenstände in der ästhetischen Ref lexion als formal zweckmäßig erfahren wird, führt Fricke aus, indem sie der »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« als einem wesentlichen Moment des ästhetischen Urteils ein »Schematisieren ohne Begriff« zuordnet. Daß die Einbildungskraft in der ästhetischen Ref lexion ohne Begriff schematisiert, bedeute, daß sie ohne Anleitung durch einen bestimmten Begriff, der ihr eine bestimmte Ordnungsstruktur vorgibt, nach der sie suchen soll, vielmehr nach einem »einheitlichen Motiv für die Zusammensetzung dieses Mannigfaltigen« suche. Die Produktivität der ästhetischen Ref lexion erprobt Fricke an Max Ernsts Verständnis der poetischen Inspiration und seiner künstlerischen Arbeit sowie an Wolfgang Kaysers Methode einer »immanenten Werkinterpretation« und der von Heinz Schlaffer vorgeschlagenen Ergänzung dieser Methode durch eine literarische Interpretation.

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II. Renate Homann hat bei ihrer Lektüre der »Kritik der Urteilskraft« aus der Sicht einer Theorie der modernen Lyrik vor Augen, daß es heute die Aufgabe einer solchen Theorie sei, den Zusammenhang zwischen moderner Gesellschaft und Lyrik aufzuklären. In Kants transzendentaler Konstruktion des Ästhetischen sieht sie das geeignete Instrumentarium, um Kunst und Literatur, die bis zu Kant von der philosophischen Theorie ausgeblendet wurden, in ihrer »sozialen«, »gesellschaftlich ordnungsbildenden« Funktion zu begründen. Um das Neue der kantischen Theoriebildung herauszuarbeiten und um zu zeigen, inwiefern die Lyrik das Problem der Moderne bearbeitet, expliziert sie den Grundsatz der Heautonomie, der Selbstgesetzgebung, den Kant als Prinzip der ästhetischen Urteilskraft geltend macht, als »Erfindung eines zweckfreien Denkprozesses«, der in der Konsequenz des Urteilens »ohne Begriff« und »ohne Maxime« liege. Homann zeigt, inwiefern dieses Konzept das Denken nicht nur von der Anwendung vorgegebener Ordnungsmuster freisetzt, sondern es geradezu auffordere, »seine zukünftige Verfaßtheit selbst zu erfinden«. Den Ausdruck »Verfassung« schlägt die Autorin vor, um das Ergebnis einer Ordnung, die es so noch nicht gegeben hat, zu benennen. Die ihr zugewiesene »ästhetische Freiheit« mache die Vernunft geeignet, inkommensurablen Erfahrungen den Gedanken einer zu suchenden neuen Ordnung entgegenzusetzen, die als Prozeß der »Erfindung von Orientierungspunkten« zu bestimmen wäre. Diese Freiheit und Erfindungskraft werde durch Kants Analyse der Momente des ästhetischen Urteils gestützt. Homann faßt von hier aus die Heautonomie als poietisches Denken auf, das seinen Ort in Kunst und Literatur habe und im Anschluß an Niklas Luhmann als »systemisch« ausgewiesen werden könne: Auf der Basis ihrer Interpretaion der »Kritik der Urteilskraft«, gestützt vor allem auf das ästhetische Urteil über das Erhabene, entwirft sie eine Theorie der modernen Lyrik, deren Skopus auf der InterLiterarizität der Literaturen und der Verfahren der poetischen Sprache liegt. Mit der Interpretation des Gedichtes »Sage vom Ganzen« von Ernst Meister führt sie die Lyrik als »Konf liktmodell heterogener Sprachordnungen« und als »Konf liktbearbeitung« vor. Damit wird eine Theorie der Lyrik entworfen, in der die Lyrik als ein »Modell der Verfaßtheit aller heterogenen Diskurse« in der modernen Gesellschaft in den Blick genommen wird. Mit dieser Sicht grenzt Homann sich ausdrücklich von Jacques Derrida oder Paul de Man ab, die an die Stelle eines Konf liktmodells nur ein »Differenzmodell« gesetzt hätten. Beate Bradl knüpft an Kants Hoffnung an, daß seine Theorie der ästhetischen Erfahrung durch Kenner der Künste und der künstlerischen Verfahren eine größere Bestimmtheit erlangen möge. Die Autorin will im Blick auf das Gedicht »Wortaufschüttung« von Paul Celan, das den Ref lexionsprozeß, das Gelingen der Dichtung und damit die Möglichkeit der Prädizierung von Schönheit der Dichtung dichterisch vollziehe, zeigen, daß Kants Hoffnung berechtigt ist. Bradl geht zunächst auf die Gesichtspunkte der ästhetischen Ref lexion und der ästhetischen Erfahrung ein,

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die für ihre Interpretation des Gedichtes von Celan maßgebend ist, und erörtert die Funktion, die Schema und Bild als Produkten der Einbildungskraft für die Proportion der Erkenntniskräfte zukommt, wie sie für die Begriffsbildung einer Erkenntnis überhaupt von Kant gefordert wird. Weiter zieht Bradl das Prinzip der Zweckmäßigkeit heran, das hinsichtlich der Naturbetrachtung in den Vernunftsprinzipien der Homogenität, Spezifikation und Kontinuität ausgedrückt ist, die als spezifische »Orientierungshilfen« der Urteilskraft fungieren, und legt dar, wie sich diese Prinzipien für die ästhetische Ref lexion fruchtbar machen lassen. Sie versteht die ästhetische Ref lexion als Prozeß, in dem »ein Ordnungszusammenhang der Teile« produziert wird, der als solcher keine Eigenschaft des Gegenstandes selbst ist. Zwar müsse der Gegenstand die gelungene ästhetische Erfahrung, die für sie im Prozeß der ästhetischen Ref lexion als solchem liegt, zulassen, doch bringe erst der Rezipient den schönen Gegenstand zum Sprechen. Bradl führt den Prozeß der ästhetischen Ref lexion durch ihre Interpretation von Celans Gedicht »Wortaufschüttung« vor und beschreibt, wie die ästhetische Einheit des Gedichtes von ihr, der Leserin allererst produziert wird. Thomas Lehnerer entwirft eine Künstlerästhetik, die aus der »Kritik der Urteilskraft« das zentrale Stichwort der »Freiheit der Einbildungskraft« aufnimmt, um die Differenz, das Besondere auszumachen, das die Kunst allen anderen Bereichen gegenüber auszeichnet. Lehnerer geht von einer Wahrnehmung aus, die gleichbedeutend ist mit »einem Empfinden aus Freiheit«, wie Kant es zum ersten Mal beschrieben habe. Als Künstler, der seine Arbeit ref lektiert, charakterisiert Lehnerer die Wahrnehmung, das »Empfinden aus Freiheit«, als ein spezifisches, von unserem alltäglichen wie auch technischen Verhalten verschiedenes Verhältnis zur Welt, zu den Menschen und allen Dingen überhaupt – das »Empfinden aus Freiheit« sei ein »suchendes Verhalten« und Kunst ein Machen, das dieses »freie ästhetische Empfinden« zum Ziel hat. Kunst ist, so Lehnerer, in dem Paradox gefangen, etwas zu machen, was man eigentlich gar nicht machen kann, m..a..W. ein Machen ohne bestimmten Zweck. Künstlerische Arbeit sei somit eine »Methode aus Freiheit«, das Gelingen kann nicht technisch erzwungen und erzeugt werden. Was ein Kunstwerk ausmacht, ist, wie Lehnerer sozusagen kantisch sagt, ein »freies Zusammenspiel aller Produktionsbedingungen«, das gelungen ist, wenn der – sensible – Rezipient spürt, daß das Kunstwerk allein um dieses »ästhetischen Zusammenspiels« willen entstanden ist. Darin, wie Lehnerer im Blick auf christliche Kunst zeigt, liege auch das entscheidende Kriterium der Qualität eines Kunstwerks. Andrea Esser fragt nach der »Expressivität« des Kunstwerks, d..h. worauf wir uns beziehen, wenn wir über Kunstwerke sprechen, also worauf das ästhetische Urteil bezogen ist. Das Problem der Expressivität, des künstlerischen Ausdrucks ist gleichbedeutend damit, ob sich die Besonderheit des künstlerischen Ausdrucks nichtreduktionistisch, d..h. nicht bezogen allein, reduziert auf Gehalte, Ideen usw. denken läßt. Esser verdeutlicht ihre Fragestellung im Kontext des Selbstverständnisses von Cézanne, Matisse und anderen hervorragenden Malern der klassischen Moder-

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ne sowie im Blick auf Paul Klees Gemälde »Überschach«. Das Gemälde lasse zwar ein Schachbrett erkennen, aber die Expressivität des Werkes sei damit gerade nicht erfaßt. Das Problem des künstlerischen Ausdrucks werfe, wie Esser mit Wittgenstein ausführt, die Frage nach der »Referenz der ästhetischen Kommunikation« auf, die verlange, daß ästhetische Urteile auf den besonderen Ausdruck, also auf die »ästhetische Valenz« einer Darstellung referieren. Die Autorin zeigt, inwiefern Kants Analytik des Schönen, die sie als eine »Pragmatik des ästhetischen Urteilens« auslegt, geeignet ist, diesen Anspruch einzulösen, während Arthur Danto und Richard Wollheim, die Wittgensteins Forderung aufnehmen wollen, den künstlerischen Ausdruck aber letztlich als »Paradigma sprachlichen Sinnverstehens« auffassen. Demgegenüber versteht und beschreibt Esser mit Kant die »aktive Interpretationshandlung«, die der Betrachter vollziehen muß, wenn er die ästhetische Valenz der Vorlage erfassen will, als ästhetische Ref lexion, »in der eine Darstellung in freier Betrachtung wahrgenommen und ref lektiert wird.« Im Vollzug aktiver Betrachtung entstehen ästhetische Werte, was sie am Beispiel der in diesem Vollzug sich allererst herstellenden Komposition von Farben verdeutlicht. »Das Kontinuum der ästhetischen Werte« müsse durch die Struktur der Betrachtung selbst benannt werden, und zwar durch ein Symbol: So könne die Betrachtung einer gezeichneten S-Form durch den Begriff der Bewegung symbolisiert werden. Wie die ästhetische Valenz in der Anschauung hergestellt werden kann, zeigt Essers Betrachtung von Klees Gemälde »Überschach« durch die Beschreibung des »Abtastens der Vorlage mit dem Auge«. Jens Schröter wendet sich den eher skizzenhaften, fragmentarischen Texten zu, in denen Kant auf die Farbe eingeht. Kant faßt die Farbe zunächst als ein Phänomen auf, das auf uns einen Reiz ausübt. Dann aber, offensichtlich unter dem Eindruck seiner Beobachtung der Reaktionen der Menschen auf Farbeindrücke, sucht Kant den Gedanken, daß der Farbe womöglich Schönheit zuzusprechen ist, transzendental zu begründen. Schröter macht plausibel, daß die Problematik dieses »Widerstreits« auf dem Hintergrund des kunsttheoretischen Diskurses des 18. Jahrhunderts zu sehen ist, dessen Vorgabe – den Vorrang der Zeichnung – Kant übernimmt und die Farbe als »bloße Illuminierung« der Zeichnung auffasst. Die nicht unerheblichen Schwierigkeiten, vor die Kant sich angesichts dieser Vorgaben gestellt sehen mußte, wenn er der Farbe Schönheit zusprechen wollte, berühren, so Schröter, das transzendentalphilosophische Problem des »Übergangs« von der Metaphysik zur Empirie. Schröter geht auf dieses Problem unter der Thematik einer Form der Farbe ein. Er zeigt, daß Kants Argumentation die Position der »Kritik der reinen Vernunft« voraussetzt und legt die Konsequenzen dar, die sich daraus ergeben, daß Kant selbst die Theorie der Farbentstehung des Mathematikers Euler heranzieht, um begründen zu können, daß und inwiefern Farben schön zu nennen sind. Auf diesem Hintergrund geht der Autor auf die »Spannung in Kants Argumentation« ein, die in den Bestimmungen der »Reinheit« und der »Einfachheit« der Farbe offenkundig werde. Schröter erörtert weiter, inwiefern Kant, ebenso wie Goethe und Hegel, den Farben eine sinnlich-sittliche Wirkung beilegt und wagt am Ende die Behauptung, daß Kant

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seinen Versuch, Schönheit und Reinheit als Bedingungen der Form der Farbe geltend zu machen, in der Malerei des 20. Jahrhunderts hätte bestätigt sehen können. Wolfgang Ruttkowski knüpft an die Diskussion an, die Frank Sibley durch seine im Problemhorizont von Kants Kritik des Geschmacks zu sehende Untersuchung der »Aesthetic Concepts« (1959) insbesondere in den angelsächsischen Ländern ausgelöst hat. Heute stelle sich das Problem der ästhetischen Begriffe verschärft, wenn die Erfahrung, die wir mit Kunstwerken machen, als genuin ästhetische Erfahrung einen angemessenen sprachlichen Ausdruck finden solle. Der ästhetische Diskurs, der sich im Netz der Umgangssprache bewegt, könne sich als solcher nur behaupten, wenn er die Vielgestaltigkeit und Komplexität der ästhetischen Erfahrung zu beschreiben imstande ist. Ruttkowski arbeitet im Hinblick auf diesen Anspruch innerhalb des weiten Bereichs von Begriffen, die auf Kunstwerke Anwendung finden, die Ausdrücke »ästhetisch«, »künstlerisch« und »schön« als Kernbegriffe heraus. Die Bestimmung des Schönen, von der Kant noch gänzlich selbstverständlich ausgehen konnte, wird von ihm in Frage gestellt und im Blick auf Beispiele fremdartig wirkender Kunstwerke anderer Kulturen unterstrichen, daß unser Schönheitsideal »ethnozentrisch« ist und unsere Schönheitsmaßstäbe lediglich »relative Geltung« beanspruchen können. Ruttkowski umreißt die je spezifische Bedeutung von »schön«, »ästhetisch« und »künstlerisch« und veranschaulicht durch Diagramme, daß diese Kernbegriffe in ihrer spezifischen Kennzeichnung aufeinander bezogen sind und auch mit allen möglichen ästhetischen Begriffen, die Kunstwerke charakterisieren oder Stile und Gattungen bezeichnen, verquickt, d..h. nach Bereichs-, Wertungsund Reaktionsbegriffen »geschichtet« sein können. Die »Schichtung« ästhetischer Begriffe, also ihre »Überschneidungen« und »Unterscheidungen« im ästhetischen Diskurs stellt der Autor zur Diskussion, und zwar mit dem Anspruch, daß sein Vorschlag einer Differenzierung der ästhetischen Begriffe »einem offenen Kunstbegriff gerecht wird«. Es erübrige sich, angesichts der gegenwärtigen Entwicklung der Künste und des Kunstmarktes eine »neue Ästhetik« zu entwickeln. Birgit Recki wendet sich Kants Ref lexionen über das Lachen zu und weist in der Einstellung zum Lachen eine »signifikante Verschränkung des Ästhetischen mit dem Ethischen« auf. Schon von Shaftesbury könne man lernen, daß im Klima einer Kultur, die vom »Konsens des guten Geschmacks« getragen ist, das Lachen Reife und Souveränität eines Menschen ausdrückt, der sich »getragen weiß von einem ethischästhetischen Klima der geistreichen Auseinandersetzung«. Recki legt dar, inwiefern Kant, der in §.54 der »Kritik der Urteilskraft«, einer Anmerkung zur »Deduktion der reinen ästhetischen Urteile«, auf das Lachen eingeht, im Zusammenhang seiner Analyse des von aller Empirie freien ästhetischen Urteils auf die »leiblichen Regungen des erlebenden Subjekts« zu sprechen kommt; sie thematisiert damit ausdrücklich den Übergang von der Metaphysik zur Empirie. Der »Stoff zum Lachen« ist für Kant, wie die Musik, eine »Weise des freien Spiels der Empfindungen«, in das ästhetische Ideen, Vorstellungen, die viel zu denken geben, hineinwirken und einen unendlichen Prozeß der Ref lexion auslösen. Dieses »Geschmacksspiel« beschäftigt,

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wie Recki mit Kant hervorhebt, auch den Körper, es fördert »das Gefühl der Gesundheit«. Kant vergewissere sich mit seinen Ref lexionen über das Lachen, daß die Vorgänge im Subjekt, die er »unter methodischer Abstraktion von allem Empirischen« untersuche, »mit der empirischen Sinnlichkeit des Körpers durchaus etwas zu tun haben«. Wenn Kant das Lachen als »Affekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts« beschreibt, dann wird, so Recki, »eine allgemeine Bestimmung für das Verhältnis der Gedanken überhaupt zum Körper« von ihm gegeben. Recki liest Kants Ref lexionen über das Lachen m..a..W. im Horizont der »Übergänge« zwischen Sinnlichkeit und Vernunft, von denen die Systematik der dritten Kritik bei der Erforschung, der Suche nach der Einheit der Vernunft generell geprägt wird. Heinz Paetzold nimmt Hannah Arendts Lektüre der »Kritik der Urteilskraft« als Kants politische Philosophie zum Leitfaden seines Versuchs, eine kulturphilosophische Analyse der Politik zu skizzieren, wie sie gegenwärtig, wie Paetzold es sieht, in der Postmoderne gefordert sei. Paetzold will mit Arendt »Umrisse einer Politik in der Postmoderne ausbuchstabieren«, und er fragt in dieser Absicht nach der »Verortung« des Politischen – ist das Politische an Moral, Recht, Religion oder auch an Kunst »anzuschließen«? Paetzold stellt Arendts »Lectures on Kants political philosophy« (1982), deutsch unter dem Titel »Das Urteil« (1985), in den Kontext eines kulturphilosophischen Projektes, mit dem Hannah Arendt »Denken, Wollen und Urteilen als Elemente des Geistes« in den Blick bringen wollte. Wenn Arendt Kants politische Philosophie nicht, wie herkömmlich, in der »Rechtslehre« oder der »Metaphysik der Sitten« sehe, sondern in der »Kritik der Urteilskraft« den »Schlüssel« dazu suche, so finde diese Lesart einen Rückhalt in Kants Biographie wie auch hinsichtlich der Bedeutung, die der Französischen Revolution für sein Denken beizumessen sei. Kants »kulturelle Modernität«, die es ermögliche, für eine gegenwärtige kulturphilosophische Analyse der Politik an sein Denken anzuknüpfen, sieht Paetzold mit Arendt insbesondere in der Akzentuierung eines kritischen Denkens als Selbstdenken, der Akzentuierung der menschlichen Sinne und im Eintreten für eine »erweiterte Denkungsart«, die es erfordere, den Ansichten der Menschen Rechnung zu tragen und ihre Gesichtspunkte ernst zu nehmen. Entscheidend für Arendts Lektüre sei es, daß in der »Kritik der Urteilskraft« die Kluft zwischen Theorie und Praxis, zwischen dem Denkenden oder Betrachtenden und dem Handelnden, überbrückt werde. Paetzold legt nun dar, inwiefern Arendt die zentralen Bestimmungen, die Kant zur Beschreibung der Herstellung und Rezeption von Kunstwerken einsetzt, als ein begriff liches Netz verstehe, »das auch die Realität der Politik deckt«. Sie gehe davon aus, daß das Urteilen immer Andere voraussetzt und mit den Akten des Billigens und Mißbilligens verbunden ist, die als Kriterium der »Mitteilbarkeit«, der »Öffentlichkeit« fungieren. Dabei gehe es ihr darum, daß Mitteilung, insbesondere die Mitteilung von Gefühlen, Emotionen und Affekten, die Aussicht schaffe auf Verständigung zwischen den Völkern und Kulturen und damit auf Frieden, der mehr sei als »die Abwesenheit von Krieg«. Die Ausbildung einer hier förderlichen

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sozialen Kompetenz sei für Arendt in Kants Doktrin des sensus communis angelegt, und zwar im Sinne einer Stärkung des Sinns für Geselligkeit und der Profilierung einer humanen Gesellschaft. Die Pointe der kulturphilosophischen Lesart der dritten Kritik als politische Philosophie ist es nach Paetzold, daß Arendt zu zeigen versuche, was die Politik durch kultivierte Menschen, Menschen, die durch eine ästhetische Einstellung und durch ästhetische Erfahrung, durch Kunst, geprägt sind, gewinnen könne. Paetzold skizziert, hier anschließend und in der Auseinandersetzung mit Albrecht Wellmers Kritik an Arendts Theorie des Urteilens seine über Arendt, z..B. mit Cassirer, hinausgehende kulturphilosophische Perspektive der Verortung des politischen Handelns in sämtlichen kulturellen Feldern, sowohl der Moral oder der Religion als auch der Kunst. Gedankt sei Dana Müller, Dresden, für die sorgfältige Erfassung der Texte und Jens-Sören Mann vom Felix Meiner Verlag für die engagierte Betreuung und die Herstellung der Druckvorlagen. Mein besonderer Dank gilt der »Gesellschaft zur Förderung der Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster e..V.« für die finanzielle Unterstützung der Drucklegung. Renate Homann starb, bald nachdem sie ihre Studie fertiggestellt hatte. Auch Thomas Lehnerer, der seinen Beitrag noch zugesagt hatte, ist gestorben und konnte die Arbeit an unserem Projekt nicht mehr begleiten. Dieser Band sei ihrem Andenken gewidmet. Münster in Westfalen im Oktober 2000

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DISKUSSION

Das freie Spiel der Erkenntniskräfte Zu Kants Theorie des Geschmacksurteils Von Jürgen Stolzenberg

Das Motto, das Immanuel Kant seiner Kritik der reinen Vernunft aus der Vorrede der Instauratio magna des Francis Bacon voranstellte, endet mit der Erklärung, daß die vorliegende Untersuchung »das Ende und die gehörige Grenze endlosen Irrtums«1 sei. Diese Erklärung gilt auch für Kants dritte kritische Hauptschrift, die Kritik der Urteilskraft2, und die in ihr entwickelte ästhetische Theorie. Ihre Absicht ist es, den ›endlosen Irrtum‹ zu beenden, in dem Kant die vielfältigen Bemühungen seines Jahrhunderts auf dem Felde der philosophischen Ästhetik befangen sah, eine objektive, aus der Verfassung des ästhetischen Gegenstandes gewonnene und allgemein verbindliche Regel für die Beurteilung des Schönen in der Natur und Kunst aufzustellen und zu begründen. Kants ästhetischer Theorie liegt eine These zugrunde, in der sich die kritische Diagnose der Bemühungen seiner Zeit auf dem Felde der Ästhetik mit der Aufklärung jenes Irrtums verbindet. Diese These lautet, daß niemand derer, die sich um die Begründung eines »Standard of Taste« oder einer »Regel des Geschmacks« bemüht haben, über einen angemessenen Begriff des Geschmacksurteils verfügt. Anhand einer Analyse des Geschmacksurteils läßt sich Kant zufolge nämlich zeigen, daß es eine objektive, aus der Verfassung des ästhetischen Gegenstandes zu gewinnende und allgemein verbindliche Regel für die Beurteilung des Schönen nicht geben kann. Die Meinung, daß es eine solche Regel geben könne, beruht daher auf einem Irrtum über die logische Struktur des Geschmacksurteils, und die Aufklärung dieses Irrtums muß auf dem Wege einer Analyse dieser Struktur erfolgen. Die Analyse des Geschmacksurteils führt Kant zufolge jedoch nicht zu dem Ergebnis, daß es eine allgemein verbindliche Regel des Geschmacks überhaupt nicht gibt. Sie führt vielmehr zu dem Ergebnis, daß eine solche Regel sich allein aus einer Analyse der »[…] sit infiniti erroris finis et terminus legitimus.« (Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, B II.) 2 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. In: Immanuel Kant: Gesammelte Schriften. Herausgegeben von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1973 ff., Bd..V. Zitate aus der Kritik der Urteilskraft werden im folgenden im Text und nur unter Angabe der Seitenzahl von Bd..V der Akademie-Ausgabe zitiert. Andere Schriften Kants werden nach der AkademieAusgabe unter der üblichen Abkürzung AA, mit Angabe der Band- und Seitenzahl zitiert. 1

ZÄK Sonderheft · Jahrgang 2000 · © Felix Meiner Verlag 2000 · ISSN 1439-5886

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kognitiven Leistungen, die dem Geschmacksurteil zugrundeliegen, gewinnen und begründen läßt. Diese kognitiven Leistungen sind die von Kant so genannten Erkenntniskräfte »Einbildungskraft« und »Verstand«. Das besondere Verhältnis dieser Erkenntniskräfte im Geschmacksurteil bezeichnet Kant als »freies Spiel«. Das Konzept des freien Spiels der Erkenntniskräfte ist, wie Kant sagt, »der Schlüssel zur Kritik des Geschmacks und daher aller Aufmerksamkeit würdig.« (216) Diese Empfehlung Kants ist unverändert aktuell. Überblickt man die neuere Forschung zu Kants ästhetischer Theorie, dann scheint es, als sei es Kant nicht gelungen, die Irrtümer und Mißverständnisse hinsichtlich der logischen Struktur des Geschmacksurteils zu beseitigen. Dies gilt insbesondere für zwei der profiliertesten neueren deutschsprachigen Untersuchungen zur Logik des Geschmacksurteils, die Untersuchungen von Jens Kulenkampff 3 und Christel Fricke4. Beide Interpretationen verfallen auf je verschiedene Weise einem objektivistischen Mißverständnis von Kants ästhetischer Theorie und reproduzieren damit einen Standpunkt, gegen den die Kantische Theorie sich zu profilieren und zu behaupten sucht. Eine Folge dieses Mißverständnisses ist es, daß beide Interpretationen das Phänomen des Schönen, um dessen Aufklärung Kant sich bemüht, aus dem Blick gebracht haben. Die folgenden Überlegungen versuchen, aus dieser unbefriedigenden Situation herauszukommen. I. Das Problem des Geschmacksurteils Kants Analyse des Geschmacksurteils geht von seinem faktischen Gebrauch aus. Diesen Gebrauch sieht Kant durch die Verbindung zweier Momente charakterisiert: zum einen durch den Anspruch des Geschmacksurteils auf strenge Allgemeinheit, zum anderen durch den Umstand, daß dieser Anspruch sich nicht auf einen allgemeinen deskriptiven Begriff von der Beschaffenheit des Gegenstandes, der zu einer intersubjektiv gültigen Regel der Beurteilung seiner Schönheit dienen könnte, stützt, sondern allein auf die affektive Befindlichkeit des urteilenden Subjekts, sein Gefühl der Lust oder Unlust, wie Kant sich ausdrückt. Diese Lust spezifiziert Kant im Unterschied zur Lust am Angenehmen, der eine bloß subjektiv bedingte Wertschätzung zugrundeliegt und der Lust am Guten, die auf einer begriff lich vermittelten Kenntnis des als gut beurteilten Gegenstandes beruht, als ein »uninteressiertes und freies Wohlgefallen« (210) bzw. eine »kontemplative Lust«5 und gibt damit dem Phänomen einen begriff lichen Ausdruck, daß derjenige, der einen Gegenstand im Sinne des Geschmacksurteils als schön und nur als schön beurteilt, ihn nicht mit BeJens Kulenkampff: Kants Logik des ästhetischen Urteils. Frankfurt a. M. 1978 (2., erw. Aufl. 1994). Im folgenden zit. als: Kulenkampff, Kants Logik, mit Angabe der Seitenzahl der 1. Aufl. 4 Christel Fricke: Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils. Berlin/New York 1990. Im folgenden zitiert als: Fricke, mit Angabe der Seitenzahl. 5 Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten. Erster Theil. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Einleitung in die Metaphysik der Sitten. In: AA VI, S..212. 3

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zug auf die Beförderung seiner privaten Interessen, wie im Falle des Angenehmen, oder seiner praktischen Absichten, wie beim Guten, sondern nur, wie man sagt, ›um seiner selbst willen‹ betrachtet und beurteilt.6 Läßt sich auf diese Weise das Geschmacksurteil und sein faktischer Gebrauch problemlos beschreiben, so ist seine urteilstheoretische Interpretation nichts weniger als selbstverständlich.7 Versucht man nämlich, den logischen Ort des Geschmacksurteils im Rahmen der etablierten Urteilstypologie zu bestimmen, dann zeigt sich, daß ihm ein solcher Ort nicht zugewiesen werden kann. Dies wird dann deutlich, wenn man, wie Kant es tut, davon ausgeht, daß die Klasse der Urteile vollständig in die beiden Teilklassen der objektiven oder Erkenntnisurteile einerseits, der subjektiven oder ästhetischen Urteile andererseits disjungiert ist, – welch’ letztere nicht mit dem Geschmacksurteil gleichzusetzen sind, wie sogleich deutlich werden wird. Während sich Erkenntnisurteile vermittels eines allgemeinen Begriffs auf einen von der subjektiven Beziehung auf ihn unabhängig bestehenden Gegenstand beziehen, drücken ästhetische Urteile allein die affektive Befindlichkeit des urteilenden Subjekts anläßlich eines gegebenen Gegenstandes aus. Da Gefühle keine Sachverhalte der öffentlichen, sondern der privaten Welt sind, ist der Grund der Gültigkeit ästhetischer Urteile auch nicht in einem intersubjektiv zugänglichen Begriff von einem Gegenstand, auf den sich das Gefühl bezieht, gelegen, sondern allein in dem Subjekt, das dieses Gefühl hat.8 Geht man nun von der vollständigen Disjunktion zwischen einem Erkenntnis- und einem ästhetischen Urteil aus, dann ist klar, daß die Konjunktion der Momente der strengen Allgemeingültigkeit und des Gefühls der kontemplativen Lust, durch die das Geschmacksurteil charakterisiert ist, als widersprüchlich und das Geschmacksurteil in urteilstheoretischer Hinsicht als ortlos angesehen werden muß. Aufgrund seiner Beziehung auf das Gefühl der Lust muß das Geschmacksurteil den ästhetischen Urteilen, aufgrund seines Anspruchs auf AllZu den historischen Quellen des Konzepts der Interesselosigkeit vgl. Jerome Stolnitz: »On the Origins of ›Aesthetic Disinterestedness‹«. In: Journal of Aesthetics and Art Criticism 20 (1961/62). S..131-148. 7 Vgl. zum folgenden Kulenkampff, Kants Logik. S..57; zur Sache vgl. auch Eva Schaper: »Aesthetic Appraisals«. In: Eva Schaper: Studies in Kant’s Aesthetics. Edinburgh 1979. S..53 ff. und Ralph Meerbote: »Reflection on Beauty«. In: Ted Cohen and Paul Guyer (Hg.): Essays in Kants Aesthetics. Chicago 1982. S..55-86 und neuerdings Andrea Marlen Esser: Kunst als Symbol. Die Struktur ästhetischer Reflexion in Kants Theorie des Schönen. München 1997. S..60 ff. sowie Beate Bradl: Die Rationalität des Schönen bei Kant und Hegel. München 1998. S..61 ff. 8 Kant selber hat darauf aufmerksam gemacht, daß bei der Bestimmung eines ästhetischen Urteils im Kontext der Analyse des Geschmacksurteils der Ausdruck »ästhetisch« nicht in seiner ursprünglichen und wörtlichen Bedeutung verwendet wird, mit der die Form der Sinnlichkeit einer Vorstellung bezeichnet ist. Daß im Kontext der Analyse des Geschmacksurteils die Beziehung einer Vorstellung auf das Gefühl der Lust oder Unlust gleichwohl als »ästhetisch« bezeichnet wird, rechtfertigt Kant dadurch, daß dieses Gefühl aufgrund der Unmittelbarkeit und Kriterienlosigkeit seiner Kenntnis auch ein »Sinn« genannt werden kann, »weil uns ein anderer Ausdruck mangelt« (AA XX. S..222), so daß sich aus der Analogie zum unmittelbaren Gegebensein sinnlicher Daten in der Anschauung auch für das Gefühl der Lust der Begriff einer ästhetischen Vorstellung anbietet. 6

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gemeingültigkeit müßte es den Erkenntnisurteilen zugerechnet werden, was indessen auszuschließen ist, da das Geschmacksurteil sich eben nicht wie ein Erkenntnisurteil auf einen theoretischen Gegenstand bezieht. Und so ist nicht abzusehen, auf welche Weise das Spezifische des Geschmacksurteils in urteilstheoretischer Hinsicht verstanden und wie sein Anspruch auf Allgemeingültigkeit begründet werden kann. Dieses Dilemma spitzt die Analytik des Schönen auf den Widerstreit zwischen dem konzeptuellen Rahmen, der für die Analyse des Geschmacksurteils als eines Urteils leitend ist und der Aufgabe, unter der diese Analyse gestellt ist, zu. Da die objektive Gültigkeit eines Urteils Sinn und Bedeutung nur mit Bezug auf den Sachverhalt der Erkenntnis eines Objekts hat, darin aber von der subjektiven Beziehung auf es gerade abgesehen wird, kann der Anspruch auf Allgemeingültigkeit, der im Geschmacksurteil erhoben wird, nicht anders als im Rekurs auf den Sachverhalt der Erkenntnis aufgeklärt werden. Da andererseits der Grund, aus dem der Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu rechtfertigen ist, doch nur das Gefühl der kontemplativen Lust bzw. des interesselosen Wohlgefallens und nicht ein Begriff von einem Gegenstandes ist, kann diese Rechtfertigung gerade nicht im Rekurs auf den Sachverhalt der Erkenntnis eines Objekts geleistet werden, denn das Gefühl der kontemplativen Lust liegt nicht einem Urteil zugrunde, das sich in erkennender Absicht auf ein Objekt bezieht. Es ist dieses Dilemma, das Kants Unternehmen einer »Kritik des Geschmacks« aufzulösen und damit den »Schlüssel zur Kritik des Geschmacks« (216) an die Hand zu geben verspricht.

II. Der »Schlüssel zur Kritik des Geschmacks« Die Auf lösung dieses Dilemmas erfolgt in mehreren Schritten. Da das Geschmacksurteil als ästhetisches Urteil sich nicht in erkennender Absicht auf einen Gegenstand, sondern allein auf das urteilende Subjekt und sein Gefühl der Lust und Unlust bezieht, und da der Grund des Anspruchs auf Allgemeingültigkeit, der im Geschmacksurteil erhoben wird, nicht ein allgemeiner Begriff von einem Gegenstande der Erkenntnis ist, kann ein solcher Grund nur mit Bezug auf einen innersubjektiven Sachverhalt des urteilenden Subjekts angegeben werden. Diesen Sachverhalt nennt Kant einen »Gemütszustand« (217). Es ist entscheidend zu sehen, daß dieser Terminus nicht den Zustand des Gefühls der kontemplativen Lust bezeichnet. Er bezeichnet vielmehr einen kognitiven Zustand des urteilenden Subjekts, den Kant im folgenden im Rückgriff auf die allgemeinen subjektiven Bedingungen von Erkenntnis beschreibt. Kants Argument für diesen Schritt scheint das aufgezeigte Dilemma indessen nicht zu lösen, sondern zu bestätigen. Weil dasjenige, so lautet das diesbezügliche Argument, was nicht für das urteilende Subjekt allein gültig ist, sondern mit dem Anspruch auf allgemeine Zustimmung behauptet wird, doch nur die Erkenntnis

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bzw. die Vorstellung sein kann, die das urteilende Subjekt hat, wenn es sich in erkennender Absicht auf ein Objekt bezieht, ist es auch nur der dieser Vorstellung entsprechende kognitive Zustand, in dem das urteilende Subjekt sich befindet, aus dem die Allgemeingültigkeit seines Urteils begründet werden kann. Doch bleibt mit dieser Überlegung gänzlich unklar, auf welche Weise der Rekurs auf die allgemeinen Bedingungen der Erkenntnis eines Objekts mit der Tatsache zu vereinbaren ist, daß der Grund der Allgemeingültigkeit des Geschmacksurteils, wie Kant einschärft, doch »bloß subjektiv« (217), und das heißt eben, nur ein Gefühl der Lust des urteilenden Subjekts ist. Wie also, so ist zu fragen, ist das Verhältnis zwischen jenem Gemütszustand und dem für das Geschmacksurteil charakteristischen Gefühl der Lust zu verstehen, und wie kann daraus der Geltungsanspruch des Geschmacksurteils begründet werden? Kants Antwort auf diese Frage läßt sich in zwei Schritten zusammenfassen. Der erste Schritt bietet eine nähere Beschreibung jenes Gemütszustandes. Er besteht in einem spezifischen Verhältnis der kognitiven Funktionen, die einer jeden Erkenntnis eines Gegenstandes zugrundeliegen. Diese Funktionen sind »Einbildungskraft« und »Verstand«. Das Spezifische des Verhältnisses dieser beiden Funktionen erklärt sich nun aus den besonderen Bedingungen, denen das Geschmacksurteil unterliegt. Sie sind zum einen mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit gegeben, der nur aus einer Beziehung auf einen Gegenstand erklärt werden kann, die den allgemeinen Bedingungen einer Erkenntnis genügt. Da diese Beziehung im Falle des Geschmacksurteils aber nicht durch einen seinem Inhalte nach bestimmten Begriff von diesem Gegenstande gedacht werden kann, gibt es, so lautet die erste Folgerung, auch keine durch einen bestimmten Begriff definierte Regel, nach der das Verhältnis dieser ›Erkenntniskräfte‹ bestimmt wäre. Ein solches, nicht durch eine bestimmte Regel der Erkenntnis determiniertes Verhältnis der Erkenntniskräfte nennt Kant ein »freies Spiel« (ebd.). So ist der in Frage stehende »Gemütszustand« der kognitive Zustand eines freien Spiels der Erkenntniskräfte ›Einbildungskraft‹ und ›Verstand‹. 9 Der zweite Schritt, mit dem die fragliche Beziehung zwischen diesem kognitiven Zustand und dem Gefühl der Lust aufgeklärt werden soll, lautet wie folgt. Weil das freie Spiel der Erkenntniskräfte seinen Ausdruck nicht in einem bestimmten Begriff finden kann, durch den es gedacht werden könnte, denn einen solchen Begriff gibt es nicht, gibt es keine andere Weise seiner Kenntnisnahme als ein Gefühl, in dem oder als das dieses freie Spiel der Erkenntniskräfte sich für das urteilende Subjekt darstellt. Daß dieses Gefühl ein Gefühl der Lust ist, folgt daraus, daß die Erkenntniskräfte in ihrem freien Spiel sich in ihren Funktionen wechselseitig ›beleben‹ und ›fördern‹.

Zu Recht weist Esser auf das durch Kants Rede von »Vermögen«, »Gemütskräften« bzw. »Erkenntniskräften« nahegelegte und in der Literatur des öfteren anzutreffende psychologistische Mißverständnis hin und schlägt zur Bezeichnung der von Kant gemeinten transzendentalen Konstitutionsbedingungen die weniger verfängliche Rede von »Bewußtseinskompetenzen« vor. Vgl. Andrea Marlen Esser: a.a.O. (Anm. 7). S..66 u. 138 ff. und die dort in Anm. 1 angegebene Literatur. 9

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Das Bewußtsein dieses »Zustandes einander wechselseitig sich befördernder Gemütskräfte«, der sich Kant zufolge selbst erhält,10 ist das Gefühl der Lust.11 Da nun dieses Gefühl der Lust die Art und Weise ist, in der das freie Spiel der Erkenntniskräfte sich für das urteilende Subjekt darstellt, ist es nicht dieses Gefühl der Lust selber, sondern der kognitive Zustand des freien Spiels der Erkenntniskräfte, mit dem der gesuchte Grund der Allgemeinheit des Geschmacksurteils gegeben ist. Diese Differenz zwischen dem kognitiven Zustand eines freien Spiels der Erkenntniskräfte und dem Gefühl der kontemplativen Lust findet sich in Kants Überlegung durch die Erklärung zum Ausdruck gebracht, daß im Geschmacksurteil die »Beurteilung des Gegenstandes« dem Gefühl der Lust vorhergehe und der »Grund dieser Lust an der Harmonie der Erkenntnisvermögen« (218) sei. So muß man es geradezu als die Pointe des skizzierten Argumentationsgangs ansehen, daß dem Geschmacksurteil eine kognitive Bezugnahme auf einen Gegenstand logisch vorhergeht und seinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit begründet, die durch jenes freie, nicht durch einen bestimmten Begriff fixierte Verhältnis der Erkenntniskräfte beschrieben wird und dessen subjektiver Ausdruck das Gefühl der kontemplativen Lust ist.12 Somit gilt es in Kants ›Schlüsselargument‹ mehreres zu unterscheiden: zum einen das Verhältnis der Erkenntniskräfte, sofern sie nur als Bedingungen einer Erkenntnis überhaupt thematisch sind, zum anderen das freie Spiel dieser Erkenntniskräfte in der Wahrnehmung eines einzelnen als schön beurteilten Gegenstandes und schließlich der emotionale Zustand des Gefühls der kontemplativen Lust. Festzuhalten ist, daß es nicht das Gefühl dieser Lust selber, sondern das freie Spiel der Erkenntniskräfte ist, das sich für das urteilende Subjekt nur im Modus eines Gefühls der Lust darstellt und das von dem Verhältnis der Erkenntniskräfte, sofern sie als Bedingungen einer Erkenntnis überhaupt gedacht werden, zu unterscheiden ist, das der gesuchte Grund der Allgemeinheit des Geschmacksurteils ist, und in dem man auch den gesuchten »Schlüssel zur Kritik des Geschmacks« zu sehen hat. Man muß fragen, ob dieser Schlüssel wirklich schließt. Jens Kulenkampff hat diese Frage verneint. Kants Konzept des freien Spiels der Erkenntniskräfte erscheint ihm nur als Ausdruck einer konsequenten Verwirrung zweier Diskursebenen, der objekt- und metasprachlichen Ebene. Diese Verwirrung erklärt Kulenkampff als Folge der Begriffslosigkeit und des Rekurses auf die allgemeinen Bedingungen von Erkenntnis. Denn anstatt ein deskriptives Prädikat von einem Gegenstand anzugeben, wendet das Geschmacksurteil, so Kulenkampff, seine Intention gleichsam von dem Gegenstand ab und begibt sich in eine metatheoretische Einstellung, in der es nur auf das Erfülltsein der allgemeinen und formalen Bedingung von ErkenntnisVgl. AA XX. S..230.f. An anderer Stelle korreliert Kant den Zustand der Lust in einer an Aristoteles’ Bestimmung der Lust erinnernden Weise mit der »Erreichung jeder Absicht« (AA V. S..187). 12 Vgl. hierzu auch Manfred Baum: »Subjektivität, Allgemeingültigkeit und Apriorität des Geschmacksurteils bei Kant«. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 39. H. 3 (1991). S..272-284. Hier: S..277 ff. 10 11

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urteilen überhaupt verweist, die jedoch in jeder zutreffenden Gegenstandsbestimmung erfüllt sind. Daher schwankt das Geschmacksurteil zwischen objekt- und metasprachlicher Ebene und »redet gar nicht konsistent, weder über das eine, noch über das andere Moment.«13 So läuft Kulenkampffs Kritik der Sache nach auf den Vorwurf hinaus, daß mit den Mitteln der kantischen Urteilstheorie der Unterschied zwischen schönen und nicht-schönen Gegenständen letztlich nicht mehr angegeben werden kann, da aufgrund der Verwirrung der Diskursebenen das zu verlangende Unterscheidungskriterium gar nicht angegeben werden kann.14 Doch ist die Kant zur Last gelegte Verwirrung der Diskursebenen nur die Folge der von Kulenkampff fälschlicherweise vorgenommenen Identifizierung der Ebenen der ästhetischen Ref lexion, der das freie Spiel der Erkenntniskräfte entspricht, und des Geschmacksurteils als Ausdrucks des Gefühls der kontemplativen Lust. Denn nicht auf der Ebene des Geschmacksurteils, sondern der ästhetischen Ref lexion wird die Übereinstimmung des freien Spiels der Erkenntniskräfte mit den Bedingungen einer Erkenntnis überhaupt konstatiert. Dieses freie Spiel und mit ihm das Gefühl der kontemplativen Lust stellen sich aber nur anläßlich der Betrachtung eines einzelnen gegebenen Gegenstandes ein. So gibt das Geschmacksurteil zwar kein deskriptives Prädikat von einem Gegenstand, aus dem dessen Schönheit eingesehen werden könnte, doch wendet es sich auch nicht von ihm ab. In der Betrachtung des einzelnen schönen Gegenstandes besteht die ästhetische Ref lexion in dem Vergleich des Erfülltseins der allgemeinen Erkenntnisbedingungen »mit dem Verhältnis, in welchem sie bei einer gegebenen Wahrnehmung wirklich stehen.«15 Dieses Verhältnis ist im Falle der Wahrnehmung des Schönen das freie Spiel der Erkenntniskräfte, das mit den allgemeinen Erkenntnisbedingungen übereinstimmt. Freilich ist einzuräumen, daß mit dem Aufweis dieser Differenzen und ihrer argumentationslogischen Funktion in Kants Theorie des Geschmacksurteils noch keine hinreichende Verständigung über den Gehalt und die Überzeugungskraft des Konzepts des freien Spiels der Erkenntniskräfte erreicht ist. Und auch die naheliegende Frage, auf welche Weise über die bloße Kundgabe des Vorliegens oder NichtVorliegens des Gefühls einer kontemplativen Lust hinaus gehaltvolle Aussagen über den als schön beurteilten Gegenstand möglich sind, durch die man allererst verstehen bzw. zu verstehen geben kann, was denn das Schöne an dem als schön beurteilten Gegenstand ist, kann am gegenwärtigen Punkt der Überlegungen zwar gestellt, aber noch nicht beantwortet werden. Da Kant das Konzept des freien Spiels der Erkenntniskräfte, aus dem sich eine Antwort auf diese Fragen gewinnen lassen muß, aus eiKulenkampff, Kants Logik. S..110. Dieser Vorwurf ist von dem, daß der Kantischen Theorie des Geschmacksurteils zufolge alle Gegenstände empirischer Erkenntnis schön zu nennen wären, zu unterscheiden. Gegen diesen, von Christel Fricke gegen Kulenkampff erhobenen Vorwurf hat sich Kulenkampff im Nachwort zur 2. Auflage seiner Untersuchung zu »Kants Logik des ästhetischen Urteils« mit Recht gewehrt. Vgl. Kulenkampff, Kants Logik. 2. Aufl. S..201.f. 15 AA V. S..220 (Hvh. v. V.). 13 14

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ner Ref lexion auf die allgemeinen Bedingungen von Erkenntnis ableitet, hat man sich zunächst über den Sinn dieser Bedingungen ins Klare zu setzen. Dies soll im folgenden geschehen. III. Das freie Spiel der Erkenntniskräfte Kant unterscheidet drei Funktionen als Bedingungen der Erkenntnis eines Objekts. Die erste Funktion ist die der Einbildungskraft. Sie besteht darin, ein mannigfaltiges Datenmaterial, das in einer empirischen Anschauung eines Gegenstandes gegeben ist, so aufzufassen, daß es zum Inhalt einer bewußten Vorstellung werden kann. Dies geschieht dadurch, daß das Mannigfaltige sukzessiv »durchlaufen« und zu einer komplexen, aber in sich einheitlichen Vorstellung ›zusammengenommen‹ wird.16 Eine zweite Funktion weist Kant dem Verstand zu. Ihm kommt die »Zusammenfassung«17 des von der Einbildungskraft in die Einheit einer bewußten Vorstellung aufgefaßten Datenmaterials zur Einheit eines Begriffs von einem Objekt zu. Damit ist dasjenige Mannigfaltige einer Anschauung gemeint, das sich unter einer bestimmten konstanten und identischen Regel der Verbindung seiner Elemente zusammenfassen läßt, die in einem Begriff gedacht ist, der auf mehrere einzelne Gegenstände anwendbar ist. Daß Vorstellungen vermittels eines Begriffs auf invariante Weise in einem Bewußtsein vereinigt werden, ist für Kant Sache des Denkens bzw. des Verstandes. Eine dritte Funktion kommt der Urteilskraft zu. Sie definiert Kant allgemein als »Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken.« (179) Die Funktion der von Kant sogenannten bestimmenden Urteilskraft ist es, eine Vorstellung von etwas Allgemeinem, das der Verstand in einem Begriff denkt, so auf die Anschauung eines Gegenstandes zu beziehen, daß dieser Gegenstand als Instanz des allgemeinen Begriffs gedacht werden kann. Diese Funktion bezeichnet Kant als »Darstellung (exhibitio) des diesem Begriff korrespondierenden Gegenstandes in der Anschauung.«18 Die Funktion der reflektierenden Urteilskraft hingegen besteht darin, eine Vorstellung von einem einzelnen gegebenen Gegenstand unter die Vorstellung Vgl. KrV, A 99 sowie A 120. Hier führt Kant aus: »Weil aber jede Erscheinung ein Mannigfaltiges erhält, mithin verschiedene Wahrnehmungen im Gemüte an sich zerstreut und einzeln angetroffen werden, so ist eine Verbindung derselben nötig, welche sie in dem Sinne selbst nicht haben können. Es ist also in uns ein tätiges Vermögen der Synthesis dieses Mannigfaltigen, welches wir Einbildungskraft nennen, und deren unmittelbar an den Wahrnehmungen ausgeübte Handlung ich Apprehension nenne. Die Einbildungskraft soll nämlich das Mannigfaltige der Anschauung in ein Bild bringen, vorher muß sie also die Eindrücke in ihre Tätigkeit aufnehmen, d. i. apprehendieren.« Zu Kants Begriff der Einbildungskraft vgl. Eva Schaper: »Imagination and Knowledge«. In: Dies.: Studies in Kant’s Aesthetics, Glasgow 1979. S..1-17 sowie J. Michael Young: »Kant’s View of Imagination«. In: Kant-Studien 79 (1988). H. 2. S..140-164 und Sarah L. Gibbons: Kants’s Theory of Imagination. Bridging Gaps in Judgment and Experience. Oxford 1994. Bes. S..79 ff. 17 AA X. S..220; vgl. auch S..192 f. 18 Ebd. 16

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eines Allgemeinen, das nicht gegeben ist, sondern erst gesucht werden soll, zu subsumieren. Dies kann auf zweierlei Weise geschehen, nämlich so, daß Vorstellungen von einem einzelnen gegebenen Gegenstand entweder mit Vorstellungen von anderen Gegenständen verglichen und deren gemeinsame Merkmale in einem empirischen Begriff zusammengefaßt werden, oder so, daß gegebene Vorstellungen auf die Funktion der Erkenntniskräfte als Grund der Erkenntnis eines Objekts bezogen werden.19 Man versteht nun, daß Kant das Verhältnis der Erkenntniskräfte, sofern sie als allgemeine Bedingungen der Erkenntnis eines Objekts thematisiert werden, als ein »harmonisches« Verhältnis (292), als ein ›Zusammenstimmen‹, ›Übereinstimmen‹ oder auch als eine »proportionierte Stimmung« (219) bezeichnen kann. Denn dasjenige, mit Bezug auf das die Erkenntniskräfte zusammen- bzw. übereinstimmen, ist der allgemeine Sachverhalt der Erkenntnis, den sie in der Verbindung ihrer Funktionen möglich machen. Man sieht aber auch, daß dieses Zusammen- oder Übereinstimmen nicht bereits als ein freies Spiel beschrieben werden kann. Denn weil die Funktion des Verstandes in der Erkenntnis von Objekten darin besteht, das Mannigfaltige der Anschauung, das die Einbildungskraft auffaßt, einer begriff lichen Regel zu unterwerfen, durch die eine bestimmte Verbindung dieses Mannigfaltigen festgelegt wird, muß die Einbildungskraft als durch den Verstand determiniert und insofern als unfrei gelten. Dies gilt offenkundig auch dann, wenn nur die Allgemeinheit dieser Bedingungen im Blick steht und von der inhaltlichen Bestimmtheit eines Begriffs abgesehen wird. Denn weil der Verstand als das Vermögen der Regeln oder Begriffe definiert ist, Regeln aber das unter ihnen Begriffene bestimmen und nicht durch es bestimmt werden, kann das Verhältnis von Einbildungskraft und Verstand auch dann, wenn es nur als allgemeine Bedingung der Erkenntnis eines Objekts im Blick steht, nur als Subsumtion der Einbildungskraft unter den Verstand gedacht werden. Ein solches Verhältnis ist aber ein unfreies Verhältnis zu nennen und kann daher nicht als ein freies Spiel der Erkenntniskräfte beschrieben werden. Das besondere Problem, das damit gegeben ist, tritt jedoch erst mit dem folgenden Befund in den Blick. Kant behauptet nicht, daß das Verhältnis von Einbildungskraft und Verstand bereits dann als ein freies Spiel zu beschreiben ist, wenn sie in ihrer Funktion als Bedingungen von Erkenntnis überhaupt thematisiert werden. Kant behauptet vielmehr die Wahrheit der Konjunktion beider Aussagen, daß das freie Spiel der Erkenntniskräfte sich genau dann einstellt, wenn eine Vorstellung auf einen einzelnen als schön beurteilten Gegenstand bezogen wird, und daß dann, wenn sich dieses freie Spiel einstellt, auch eine Beziehung dieser Vorstellung auf die allgemeinen Bedingungen einer Erkenntnis überhaupt vorliegt.20 Kants These ist es somit, Näheres zum Begriff der reflektierenden Urteilskraft vgl. die ausführliche Untersuchung von Joachim Peter: Das transzendentale Prinzip der Urteilskraft. Eine Untersuchung zur Funktion und Struktur der reflektierenden Urteilskraft bei Kant. Berlin / New York 1992 und Ronald Harri Wettstein: Kants Prinzip der Urteilskraft. Königstein 1981. 20 Es scheint, daß Wolfgang Wieland diese Differenz unterschlägt, wenn er Kants Konzept des freien Spiels der Erkenntniskräfte direkt auf die allgemeinen Bedingungen von Erkenntnis bezieht 19

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daß auch im Falle der Beurteilung eines einzelnen Gegenstandes als schön die funktionale Bindung der Einbildungskraft an den Verstand gewahrt ist und gleichwohl von einem freien Spiel beider gesprochen werden kann. Wie ist diese These zu verstehen? Vor dem Hintergrund des bisher Gesagten ist diese These wie folgt zu verstehen. Versucht man zunächst, sich den Sinn des Konzepts eines freien Spiels der Erkenntniskräfte verständlich zu machen, dann läßt sich in der Perspektive der Einbildungskraft sagen, daß das Mannigfaltige, das sie in einer anschaulichen Form auffaßt, nicht unter einer einschränkenden Bedingung steht, die durch die Bedeutung eines vom Verstand gebildeten Begriffs und seiner definiten Anzahl von Merkmalen definiert ist. So ist die Einbildungskraft in der Auffassung des Mannigfaltigen in einer material zu nennenden Hinsicht frei. Hinsichtlich der Art und Weise aber, wie sie das Mannigfaltige auffaßt und ›zusammensetzt‹ ist sie nicht frei, »wie im Dichten« (287), wie Kant sagt. Vielmehr untersteht sie der Bedingung, die durch die Funktion des Verstandes, und zwar in einem ganz formalen Sinn gegeben ist. Diese Bedingung und ihren formalen Charakter beschreibt Kant als die »Bedingung, daß der Verstand überhaupt von der Anschauung zu Begriffen gelangt.« (Ebd.) Es ist klar, daß mit dieser Erklärung nicht etwa doch die Bildung eines seinem Inhalte nach bestimmten Begriffs von einem Gegenstand gemeint sein kann. Dies ist durch den Hinweis auf den bloß formalen Charakter der dem Verstand zugeschriebenen Funktion, überhaupt von der Anschauung zu Begriffen zu gelangen, sichergestellt. Gemeint kann nur sein, daß sich an den mannigfaltigen Elementen eines einzelnen in der Anschauung gegebenen Gegenstandes eine gewisse Verbindung dieser Elemente wahrnehmen läßt, die nicht nach Belieben oder nach zufälligen Regeln der Assoziation herstellbar oder veränderbar ist, für die es gleichwohl keinen allgemeinen, auf andere Gegenstände anwendbaren begriff lichen Ausdruck gibt. Die Auffassung einer solchen Formstruktur schreibt Kant hier offenbar dem Verstand im Sinne eines Übergangs von der Anschauung zur bloßen Form eines Begriffs zu, mit der nur die nicht bloß subjektiv bedingte Verbindung mannigfaltiger Elemente zu einer Art von Einheit gemeint sein kann, deren Sinn und Bedeutung sich aber nur mit Bezug auf die Elemente dieses einzelnen Gegenstandes und unabhängig davon gar nicht angeben läßt. Das heißt, daß die Verbindung dieser Elemente zu einer

und das freie Spiel im Geschmacksurteil nur in »reiner Gestalt« gegeben sieht. So kann Wieland mit Bezug auf das freie Spiel der Erkenntniskräfte von einer »ästhetischen Vorgeschichte einer jeden geglückten Erkenntnis« (621) sprechen. Doch stellt das freie Spiel der Erkenntniskräfte nicht lediglich eine ästhetische Vorgeschichte zu einer jeden gelungenen Erkenntnis dar, sondern erzählt gleichsam seine eigene und eigenständige Geschichte von dem, was ihm bei der Betrachtung des Schönen widerfährt. Dies meint auch Kants Wort vom ästhetischen Gefühl als »Auslegungskunst der Gestalten« (Vorlesung über Metaphysik, hg. v. K. L. Pölitz. Erfurt 1821. Nachdruck Darmstadt 1988. S..143). Vgl. Wolfgang Wieland: »Die Erfahrung des Urteils. Warum Kant keine Ästhetik begründet hat.« In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 64 (1990). H. 4. S..604-623. Hier: S..620 f. Zur Sache vgl. auch Georg Kohler: Geschmacksurteil und ästhetische Erfahrung. Berlin / New York 1980.

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Einheit in einem radikalen Sinne individuiert ist und deswegen nicht in einem allgemeinen Begriff ausgedrückt werden kann, der auf andere Gegenstände als Regel ihrer Beurteilung angewendet könnte. Wollte man das Phänomen, auf das diese Beschreibung zutrifft, ohne Verwendung der kantischen Termini beschreiben, dann ließe es sich am ehesten als ein in gewissem Maße als ›stimmig‹ oder ›sinnvoll‹ empfundener Ordnungszusammenhang von in der Anschauung gegebenen Elementen der Form eines einzelnen Gegenstandes umschreiben.21 Dieses Phänomen, die Wahrnehmung eines nicht beliebigen, gleichwohl nicht unter eine allgemeine begriffliche Hinsicht zu bringenden Ordnungszusammenhangs anschaulicher Elemente der Form eines einzelnen Gegenstandes, findet sich in der Kantischen Theorie an anderer Stelle auf eine paradoxe Weise als Funktion einer »freien Gesetzmäßigkeit des Verstandes« (241) beschrieben, die mit dem von der Einbildungskraft geleisteten Auffassen und Zusammensetzen eines Mannigfaltigen übereinstimmen und eben darin ihre Darstellung in der Anschauung der Form eines einzelnen Gegenstandes finden soll. In der Perspektive des Verstandes läßt sich sagen, daß der Verstand die Einbildungskraft zwar zu dieser freien bzw. unbestimmten, gleichwohl gesetzmäßigen Form der Auffassung des Mannigfaltigen bestimmt, von der so bestimmten Einbildungskraft aber eine Fülle von Daten erhält, deren Zusammenhang nicht durch eine inhaltlich festgelegte Regel determiniert ist und die das konkrete Material darstellen, mit Bezug auf das diese unbestimmte und freie Gesetzmäßigkeit des Verstandes ihre Anwendung und Darstellung in concreto erhält. Auf diese Weise befinden sich beide Erkenntniskräfte in einem Verhältnis, das in der Tat als eine wechselseitige Belebung und Beförderung ihrer jeweiligen Funktionen beschrieben werden kann: Der Verstand ›belebt‹ und ›befördert‹ die Funktion der Einbildungskraft dadurch, daß er sie in ihrer Auffassung des Mannigfaltigen in inhaltlicher Hinsicht frei läßt, während die Einbildungskraft jene unbestimmte Gesetzmäßigkeit der Verstandesfunktion dadurch gleichsam mit ›Leben‹ füllt, daß sie dem Verstand eine von ihm dem Inhalte nach nicht determinierte Fülle von Daten liefert, in deren Konfiguration die unbestimmte Gesetzmäßigkeit des Verstandes ihre Darstellung in concreto erhält. Ein solches wechselseitiges Verhältnis von Einbildungskraft und Verstand läßt sich in der Tat als ein »erleichtertes« oder »freies Spiel« beider Erkenntniskräfte bezeichnen. Denn zwar folgen beide den für sie geltenden ›Regeln‹, doch befinden sich beide insofern in einem ›freien Spiel‹, als ihre Funktionen nicht dem Zweck der Gewinnung einer begriff lich bestimmten Erkenntnis eines Objekts unterstellt sind. So sind Vgl. hierzu die Untersuchung von Marcus Otto: Ästhetische Wertschätzung. Bausteine zu einer Theorie des Ästhetischen. Berlin 1993. S..233 ff. u. 266.f. Otto kommt das Verdienst zu, Kants ästhetische Theorie in die gegenwärtige Situation der ästhetischen Theoriebildung, insbesondere der sprachanalytisch orientierten Ästhetik, eingebracht und in ihren zentralen Momenten gegenüber alternativen Konzeptionen überzeugend aktualisiert und behauptet zu haben. Vgl. auch die Besprechung von Jens Kulenkampff im Nachwort zur 2. Auflage von »Kants Logik des ästhetischen Urteils«. S..196 ff. 21

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sie in dieser Hinsicht gleichsam ›erleichtert‹ und gewinnen darin ihre Freiheit, daß sie ihre Funktionen ohne den Zwang einer begriff lichen Regel ausüben und auf diese Weise sich wechselweise beleben und fördern. Doch ist auf diese Weise der Sinn und die systematische Funktion des freien Spiels der Erkenntniskräfte in Kants Theorie des Geschmacksurteils noch nicht hinreichend deutlich gemacht. Bisher konnte allein das Verhältnis von Einbildungskraft und Verstand, sofern sie sich anläßlich der Vorstellung der Form eines einzelnen gegebenen Gegenstandes in einem freien Spiel befinden, präzisiert werden, nicht aber ist deren Verhältnis zu der oben an dritter Stelle genannten Funktion der Urteilskraft erklärt. Dies soll im folgenden geschehen. Es ist klar, daß im Falle des Geschmacksurteils die Funktion der Urteilskraft nicht als Subsumtion einer gegebenen Anschauung unter einen bestimmten Begriff verstanden werden kann, denn einen solchen Begriff gibt es nicht. Daraus folgt zunächst, daß die Funktion der Urteilskraft nicht nach dem Modell der von Kant so genannten bestimmenden Urteilskraft beschrieben werden kann, deren Funktion in eben dieser Subsumtion besteht. So ist es die Funktion der reflektierenden Urteilskraft, die dem Geschmacksurteil zugrundeliegt. Auf welche Weise dies zu verstehen ist, läßt sich im Ausgang von dem soeben zitierten Konzept eines Übergangs von Anschauungen zu Begriffen überhaupt deutlich zu machen. Diesen Übergang, so läßt sich nicht nur dem Kontext der zitierten Erklärung, sondern auch der Zweiten Einleitung in die Kritik der Urteilskraft entnehmen, leistet die ref lektierende Urteilskraft, und zwar so, daß sie die von der Einbildungskraft geleistete Auffassung der anschaulichen Form eines gegebenen Gegenstandes mit dem ihr als Urteilskraft zukommenden Vermögen, »Anschauungen auf Begriffe zu beziehen« (190), vergleicht. Dieser Vergleich betrifft somit das Verhältnis der Einbildungskraft als dem Vermögen der Auffassung eines in der Anschauung gegebenen Datenmaterials zum Verstande als dem Vermögen der Begriffe. Zeigt sich nun anläßlich der Vorstellung der Form eines in der Anschauung gegebenen Gegenstandes, daß der Vergleich der Funktionen von Einbildungskraft und Verstand nicht zu einem bestimmten Begriff von dem gegebenen Gegenstand, sondern nur zu jener Übereinstimmung der Erkenntniskräfte in der Form eines freien Spiels führt, dann ist die Funktion der ref lektierenden Urteilskraft nicht logisch, sondern ästhetisch zu nennen, weil dieses Verhältnis nicht in einem Begriff gedacht, sondern in einem Gefühl empfunden wird. Genau dies ist Kant zufolge bei der Vorstellung der Form eines gegebenen Gegenstandes, der als schön beurteilt wird, der Fall.22 Dieter Henrich sieht den Begriff der Darstellung als Schlüssel zum Verständnis von Kants Theorie des Geschmacksurteils an. (Vgl. Dieter Henrich: »Kant’s Explanation of Aesthetic Judgment«. In: Dieter Henrich: Aesthetic Judgment and the Moral Image of the World. Stanford 1992. S..29-56.) Henrich geht von der allgemeinen These aus, daß der Besitz eines Begriffs die Fähigkeit seiner Anwendung einschließt und wendet sie auf Kants Theorie der Vorstellung eines schönen Gegenstandes an. Hierbei scheint Henrich die These zu vertreten, daß Kant dem Verstand in der ästhetischen Situation das Vermögen der Anwendung bzw. Darstellung von Begriffen zuschreibt. Dies ist 22

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Damit wird nun auch die zunächst als problematisch angesehene These Kants verständlich, daß mit dem Vorliegen eines freien Spiels der Erkenntniskräfte, das sich anläßlich der Vorstellung der Form eines einzelnen als schön beurteilten Gegenstandes einstellt, zugleich eine Beziehung dieser Erkenntniskräfte auf die Bedingungen einer Erkenntnis überhaupt gegeben ist. Denn nun läßt sich sagen, daß die ref lektierende Urteilskraft an der Form eines einzelnen gegebenen Gegenstandes die für ihren Gebrauch notwendigen Bedingungen in einer spezifischen Weise, nämlich in der Weise eines freien Spiels von Einbildungskraft und Verstand, erfüllt findet.23 Henrichs Bemerkung zu entnehmen, daß »the understandig operates in the aesthetic situation as the power of exhibiting concepts« (S..48.f.). Dies trifft nicht zu. Der von Kant im VIII. Abschnitt der Ersten Einleitung in Klammern gesetzte, für Henrichs Interpretation zentrale Ausdruck »in Darstellung eines Begriffs überhaupt« (AA XX. S..233) bezieht sich nicht, wie es naheliegen mag, auf die Funktion des unmittelbar zuvor genannten Verstandes, sondern auf das Satzsubjekt, die Urteilskraft: Sie vergleicht die Einbildungskraft mit dem Verstand »in«, und das heißt, im Blick auf die »Darstellung eines Begriffs überhaupt«. So ist Henrichs Erklärung zwar zutreffend, daß die ästhetisch reflektierende Urteilskraft bei ihrem Vergleich von Einbildungskraft und Verstand auf die Art und Weise Rücksicht nimmt, in der Begriffe allgemein angewendet und insofern dargestellt werden, doch ist letzteres nicht dem Verstand, wie Henrichs neuerlicher Hinweis auf die Funktion der »›exhibition‹ as the contribution of understanding to the aesthetic situation« (S..49) suggeriert, sondern allein der reflektierenden Urteilskraft zuzuschreiben, die in diesem Kontext nur darin von der bestimmenden Urteilskraft unterschieden ist, daß sie nicht, wie diese, einen bestimmten empirischen Begriff darstellt. 23 Daß genau dies die These Kants ist, zeigt die Erklärung, derzufolge »in einem bloß reflektierenden Urteile Einbildungskraft und Verstand in dem Verhältnis, in welchem sie in der Urteilskraft überhaupt gegeneinander stehen müssen, mit dem Verhältnisse, in welchem sie bei einer gegebenen Wahrnehmung wirklich stehen, verglichen, betrachtet werden« (S..220, Hvh. v. V.). Die Funktion der reflektierenden Urteilskraft im Verhältnis zum freien Spiel von Einbildungskraft und Verstand versteht Andrea Marlen Esser am Ende ihrer Untersuchung als Entdeckung einer Analogie zwischen dem Auffassen einer anschaulich gegebenen Form durch die Einbildungskraft und der Form des Verfahrens der Darstellung eines Begriffs, durch die die Bedingungen einer Erkenntnis überhaupt erfüllt sind (vgl. Esser: a.a.O. (Anm. 7). S..177). Diese Erklärung findet durch die Einführung des Begriffs des Symbols in der Folge jedoch eine Interpretation, die den Rahmen der Analyse der Logik des reinen Geschmacksurteils verläßt und zu einem auf die kantische Theorie der ästhetischen Idee bezogenen Beitrag zu einer Theorie des ästhetischen Diskurses gerät. Nur so ist es verständlich und zu rechtfertigen, daß nun wieder »der Verstand und seine Begriffe« (S..182) ins Spiel gebracht werden, wobei diese Begriffe als Formen der Beschreibung der ästhetischen Struktur eines Gegenstandes fungieren, zu der Esser ein inspiriertes Beispiel anhand von Paul Klees Bild »Überschach« gegeben hat (vgl. S..186 ff.). Die vom Gang der im übrigen gründlichen und ertragreichen Untersuchung nahegelegte These Essers, daß Kants Theorie des freien Spiels der Erkenntniskräfte in der Theorie des Symbols bzw. der ästhetischen Idee terminiere und von ihr aus allererst zureichend verstanden werden könne, ist indessen weder mit dem Geist noch dem Buchstaben der Analytik des Schönen vereinbar. Auch die sorgfältige Untersuchung von Theodore Edward Uehling, Jr: The Notion of Form in Kant’s Critique of Aesthetic Judgment. The Hague/Paris 1971 vermag in dem entscheidenden Punkt nicht zu überzeugen. Uehling versteht Kants Konzept des freien Spiels von Einbildungskraft und Verstand so, daß die von der Einbildungskraft in ihrer Freiheit aufgefaßte Form sich in einer Analogie zu den Formen des Verstandes befindet (vgl. S..63.f., S..66). Auf diese

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Genau dieses Verhältnis bezeichnet Kant als eine subjektive formale Zweckmäßigkeit der Form eines Gegenstandes für die Urteilskraft (vgl. 119). Subjektiv ist diese Zweckmäßigkeit zu nennen, weil sie die subjektiven Bedingungen einer Erkenntnis überhaupt und deren Angemessenheit für die Funktion der Urteilskraft betrifft, und formal ist sie, weil die Anwendung dieser Bedingungen in der Beziehung auf einen einzelnen Gegenstand nicht zu einem inhaltlich bestimmten Begriff von diesem Gegenstand führt. Für diesen Sachverhalt steht die berühmte Formel von der Zweckmäßigkeit ohne Zweck. Es ist die nur auf den ersten Blick paradox erscheinende Pointe von Kants ästhetischer Theorie, daß das Konzept einer subjektiven formalen Zweckmäßigkeit bzw. die Formel von der Zweckmäßigkeit ohne Zweck die Grundlage von Kants Theorie der schönen Form eines Gegenstandes darstellt. Da man von diesem Teil der Kantischen Theorie eine Antwort auf die oben gestellte Frage nach dem deskriptiven Gehalt des Schönen erwarten muß, und da sich insbesondere an diesem Punkt die Probleme der eingangs genannten Interpretationen ergeben, gilt es, sich ihm mit besonderer Aufmerksamkeit zu widmen.

IV. Zweckmäßigkeit ohne Zweck Kants Formel von der Zweckmäßigkeit ohne Zweck verweist auf die Erklärung des Schönen als »Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie ohne Vorstellung eines Zwecks an ihm wahrgenommen wird.« (236) Folgt man Kants Erläuterungen, dann ist sie als zusammenfassende Beschreibung eines vertrauten Phänomens zu verstehen. Es ist dies das erwähnte Phänomen, daß man in der Betrachtung der Form eines Gegenstandes eine gewisse Ordnung wahrnimmt, ohne daß man wüßte, wozu sie angelegt ist, aber auch, und dies ist entscheidend, ohne daß man verlangt oder wünscht, dies zu wissen. Um zu zeigen, daß Kant genau dieses Phänomen als Grundlage seiner Theorie des Schönen vor Augen stand, ist es nötig, dem Gedankengang, in dem Kant eine Analyse des Begriffs der Zweckmäßigkeit unternimmt, genauer zu folgen.24 Weise wird jedoch die von Kant behauptete Notwendigkeit der Funktion des Verstandes und auch die der Urteilskraft für die ästhetische Reflexion nicht mehr verständlich. Denn die Funktion der reflektierenden Urteilskraft besteht in ihrem ästhetischen Gebrauch nicht darin, in den von der Einbildungskraft aufgefaßten Formen lediglich eine Analogie zur Verstandestätigkeit zu entdecken, sondern die für die Erkenntnis überhaupt notwendigen Bedingungen in einem konkreten Fall, der Vorstellung eines einzelnen als schön beurteilten Gegenstandes, in einer spezifischen Weise, nämlich in der Form eines freien Spiels von Einbildungskraft und Verstand, erfüllt zu finden. Zur Diskussion und Kritik ähnlicher Interpretationen, die die Vorstellung einer ästhetischen Form als Produkt allein der Freiheit der Einbildungskraft verstehen, vgl. Esser. a.a.O. S..106 ff. u. S..146 ff. 24 Zu Kants Begriff der Zweckmäßigkeit vgl. Giorgio Tonelli: »Von den verschiedenen Bedeutungen des Wortes ›Zweckmäßigkeit‹ in der ›Kritik der Urteilskraft‹«. In: Kant-Studien 49 (1957/ 58). S..154-166, sowie die inzwischen klassisch zu nennende Untersuchung von Konrad Marc-

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In diesem Zusammenhang (vgl. 219.ff.) macht Kant zunächst auf ein anderes Phänomen aufmerksam, das sich von dem soeben genannten in einem entscheidenden Punkt unterscheidet. Es handelt sich um die Wahrnehmung einer Ordnung, deren Zweck ebenfalls unbekannt ist, die man sich aber dadurch erklärt, daß man eine »Kausalität nach Zwecken d. i. einen Willen, der sie nach der Vorstellung einer gewissen Regel so angeordnet hätte, zum Grunde derselben« (33) annimmt. Da man mit dieser Annahme nicht behauptet, daß es eine derartige Kausalität nach Zwecken wirklich gibt, kann sie als eine hypothetische Erklärung der Möglichkeit der wahrgenommenen zweckmäßigen Ordnung eines Gegenstandes gelten. Eine solche hypothetische Erklärung ist eine Leistung der ref lektierenden Urteilskraft in ihrem teleologischen Gebrauch. Durch sie wird die Natur oder ein Gegenstand der Natur so vorgestellt, als ob ein Wille sie nach der Vorstellung einer gewissen Regel so angeordnet hätte. Bei dieser Deutungsleistung ist Kant zufolge die Vernunft im Spiel, da sie es ist, die einen Begriff von einem Objekt »unter das Prinzip der Zweckmäßigkeit bringt«. Daß Kant hierfür die Vernunft in Einsatz bringt, folgt aus dem Umstand, daß die Vernunft als »das Vermögen der Prinzipien« (401) gilt. Die Annahme eines Willens, der jene zweckmäßige Gestalt »nach der Vorstellung einer gewissen Regel so angeordnet hätte«, impliziert im Begriff einer Regel die Annahme eines objektiven Begriffs, den die Vernunft eben dadurch unter das Prinzip der Zweckverbindung bringt, daß sie ihn einem Willen als Regel seiner Kausalität zuschreibt.25 Von dieser Art der Erklärung, und das ist nun Kants neue These, können wir bei der Wahrnehmung einer zweckmäßigen Gestalt auch absehen. Tun wir dies, dann »können wir eine Zweckmäßigkeit der Form nach, auch ohne daß wir ihr einen Zweck (als die Materie des nexus finalis) zum Grunde legen, wenigstens beobachten, und an Gegenständen, wiewohl nicht anders als durch Ref lexion, bemerken« (220). Die Aussage, daß wir in diesem Falle keinen Begriff von einem Zweck in erklärender Absicht zugrundelegen, nimmt noch einmal implizit auf die zuvor beschriebene Leistung der Vernunft Bezug und bestätigt damit im Kontrast zur vorhergehenden Darstellung der hypothetischen Zweckmäßigkeit die vorgetragene Interpretation, daß man in diesem Falle nicht nur nicht weiß, wozu die wahrgenommene Ordnung angelegt ist, sondern dies auch nicht verlangt oder wünscht zu wissen. Eben deswegen legt man ihr gar keinen Zweck in erklärender Absicht zugrunde. Daß genau dieses Phänomen die Grundlage für Kants Theorie des Schönen darstellt, läßt sich noch aus einem anderen Kontext ersehen. Am Ende der Anmerkung,

Wogau: Vier Studien zu Kants Kritik der Urteilskraft. Uppsala 1938. Vgl. auch die Untersuchung von Gerhard Seel: »Über den Grund der Lust an schönen Gegenständen. Kritische Fragen an die Ästhetik Kants.« In: Kant. Analysen-Probleme-Kritik. Hrsg. v. Hariolf Oberer u. Gerhard Seel. Würzburg 1988. S..317-356. Hier: S..337 ff. Zu Seels Interpretation vgl. Anm. 26. 25 Vgl. AA XX. S..233.f. u. S..248. Vgl. auch Fricke. S.. 95.

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die Kant der eingangs zitierten Erklärung des Schönen hinzugefügt hat, ist von der Wahrnehmung einer Blume, »z. B. einer Tulpe«, die Rede. Diese Blume, so führt Kant hier aus, »wird für schön gehalten, weil eine gewisse Zweckmäßigkeit, die so, wie wir sie beurteilen, auf gar keinen Zweck bezogen wird, in ihrer Wahrnehmung angetroffen wird.« (236; Hvh. v. V.) Genau dies meint offenkundig Kants Erklärung, daß wir an Gegenständen eine Zweckmäßigkeit der Form nach beobachten können, ohne den Begriff von einem Zweck in erklärender Absicht zugrundezulegen. Die im folgenden Paragraphen 11 entwickelte Argumentation bietet die Erklärung für dieses Phänomen. Ihre Pointe besteht in dem Nachweis, daß der Formel von der Zweckmäßigkeit ohne Zweck keine gegenstandsbestimmende Funktion zukommt und gesichert werden kann. Sinn und Bedeutung hat sie nur als Beschreibung jenes innersubjektiven Sachverhalts des freien Spiels der Erkenntniskräfte, dem das Gefühl eines interesselosen Wohlgefallens korrespondiert. In eben dieser Konzeption haben Jens Kulenkampff und Christel Fricke auf je verschiedene Weise das Skandalon von Kants ästhetischer Theorie gesehen. Während es für Jens Kulenkampff Indiz ihres Scheiterns ist, hat Christel Fricke den Versuch einer positiven Deutung unternommen. Es läßt sich jedoch zeigen, daß beide Interpretationen nicht nur dem Gehalt von Kants ästhetischer Theorie nicht gerecht werden, sondern auch das Phänomen des Schönen, so wie es Kant vor Augen stand, aus dem Blick gebracht haben.

V. Subjektive formale Zweckmäßigkeit Um dies zeigen zu können, ist zunächst der Argumentation des Paragraphen 11 nachzugehen. Sie operiert mit den bereits bekannten Dichotomien. Da dem reinen Geschmacksurteil weder private Interessen und eine daraus zu erwartende Annehmlichkeit und insofern ein bloß subjektiver Zweck, noch ein begriff lich bestimmter objektiver Zweck, wie beim Guten, zugrundeliegen, kann der Begriff der Zweckmäßigkeit sinnvoll nur auf den kognitiven Zustand angewendet werden, in dem das über die Schönheit eines Gegenstandes urteilende Subjekt sich befindet. Dieser Zustand findet sich nun als eine »subjektive Zweckmäßigkeit in der Vorstellung eines Gegenstandes ohne allen (weder objektiven noch subjektiven) Zweck« (221) beschrieben. Diese Form einer subjektiven Zweckmäßigkeit wird im anschließenden Paragraphen 12 als »das Bewußtsein der bloß formalen Zweckmäßigkeit im Spiele der Erkenntniskräfte des Subjekts« (222) präzisiert und mit dem Gefühl der kontemplativen, sich selbst erhaltenden Lust identifiziert. Damit bestätigt sich die obige Erklärung, daß die Zweckmäßigkeit mit Bezug auf das freie Spiel der Erkenntniskräfte deswegen als subjektiv bezeichnet werden kann, weil sie sich nur auf die Angemessenheit der subjektiven Bedingungen für den Sachverhalt einer Erkenntnis überhaupt bezieht, während ihr formaler Charakter aus dem Fehlen eines Begriffs von einem Gegenstand folgt.

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Mit Bezug auf die soeben vorgestellte Argumentation erscheint der Einwand naheliegend, daß sie gar nichts über das in Frage stehende Phänomen aussagt. Denn offenkundig ist nur von den bereits bekannten Fällen des Urteils über das Angenehme und über das Gute die Rede, von denen das Urteil über das Schöne unterschieden ist. Nur diese schon bekannte Unterschiedenheit, aber nicht das zuvor beschriebene und erklärungsbedürftige Phänomen des Schönen scheint es zu sein, die unter der Leitung des Zweckbegriffs lediglich eine neue Interpretation erhalten hat. Dieser Einwand übersieht, daß der Ausschluß eines objektiven Zwecks, von dem hier mit Bezug auf das Gute die Rede ist, mit dem Absehen von einer Erklärung der Möglichkeit der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes durch die Annahme eines Willens formal identisch ist, denn in beiden Fällen wird von der Erklärung der Möglichkeit des Gegenstandes »nach Prinzipien der Zweckverbindung« (221) abgesehen. Daher trifft das Argument ebenso für den Fall zu, daß das Urteil über die Form eines Gegenstandes auf gar keinen Zweck bezogen wird, wie es beim Urteil über das Schöne der Fall ist. Es ist aber noch auf ein anderes Problem aufmerksam zu machen, das sich aus der systematischen Funktion des vorgestellten Arguments ergibt. Gibt man den Schluß auf die subjektive, das Verhältnis eines freien Spiels der Erkenntniskräfte charakterisierende Zweckmäßigkeit einmal zu, dann scheint doch noch nicht gezeigt, daß damit auch die einzig mögliche Erklärung des in Frage stehenden Phänomens des Schönen gegeben ist. Dies ist jedoch der Anspruch der Argumentation, wie aus der in die Überschrift des Paragraphen 11 gesetzten These hervorgeht, daß das Geschmacksurteil »nichts als die Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes (oder der Vorstellungsart desselben) zum Grunde« (221; Hvh. v. V.) hat. Daß die in die Klammer gesetzte Wendung »oder der Vorstellungsart desselben« nicht alternativ, sondern explikativ zu lesen ist, ist der Konklusion zu entnehmen, derzufolge »nichts anderes als die subjektive Zweckmäßigkeit in der Vorstellung eines Gegenstandes ohne allen Zweck, folglich die bloße Form der Zweckmäßigkeit in der Vorstellung, wodurch uns ein Gegenstand gegeben wird […], den Bestimmungsgrund des Geschmacksurteils ausmache.« (Ebd.) Daß das in Frage stehende Phänomen des Schönen keine andere als die auf das freie Spiel der Erkenntniskräfte bezogene Erklärung haben kann, diese von Kant behauptete Notwendigkeit, so lautet nun der Einwand, ist mit der vorgestellten Argumentation noch nicht bewiesen. Denn zwar ist beim Schönen nicht von einem subjektiven Zweck wie beim Angenehmen und auch nicht von einem wirklichen oder unterstellten objektiven Zweck die Rede; so ist in der Tat allein Kants Rede von einer »Zweckmäßigkeit der Form nach«, die in der Wahrnehmung von Gegenständen ›angetroffen‹ werde, und die in der Beurteilung auf gar keinen Zweck bezogen werde, erklärungsbedürftig. Doch eben diese formale Zweckmäßigkeit, mit der, wie es scheint, Kant die besondere interne Struktur eines als schön beurteilten Gegenstandes zu bezeichnen sucht, scheint mit dem Ausschluß der Beziehung auf einen externen subjektiven oder objektiven Zweck noch gar nicht erfaßt zu sein.

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Diesem Einwand ist zuzugeben, daß Kant ihn im Kontext der Paragraphen 10– 12 nicht eigens berücksichtigt. Erst in einem späteren Zusammenhang findet sich ein Argument, das dem Einwand entgegengestellt werden kann (vgl. 226 f.). Dieses Argument ist ein einfaches begriffsanalytisches Argument. Bezieht man es auf die vorgestellte Argumentation, dann kann mit ihm der Nachweis erbracht werden, daß die Notwendigkeit des Schlusses auf die subjektive formale Zweckmäßigkeit darin begründet ist, daß die Annahme des Gegenteils einen Widerspruch impliziert. Die Annahme des Gegenteils der Konklusion ist die Annahme, daß dem Phänomen des Schönen eine objektive, auf die Verfassung des Gegenstandes bezogene Interpretation gesichert werden kann. Diese Interpretation besagt, daß der Begriff der bloßen Form einer Zweckmäßigkeit, »ohne alle Materie und Begriff von dem, wozu zusammengestimmt wird« (228), zur Beschreibung der Gegenstandsstruktur, die dem Phänomen des Schönen zugrundeliegt, angewendet werden kann. Genau diese Annahme ist jedoch nicht zu machen, da der in Einsatz gebrachte Begriff einen Widerspruch impliziert. Dieser Begriff ist nämlich aus der Konjunktion des Begriffs einer objektiven Zweckmäßigkeit und der Negation der Beziehung des Mannigfaltigen auf einen Zweck gebildet. Diese Konjunktion schließt deswegen einen Widerspruch ein, weil der Begriff der Zweckmäßigkeit durch die Beziehung eines Mannigfaltigen auf einen bestimmten Zweck definiert ist und ohne diese Beziehung gar nicht gedacht werden kann (vgl. 226 ff.). Daher also hat der Begriff einer Zweckmäßigkeit ohne Zweck keine gegenstandsbestimmende Funktion und bezieht sich nur auf die »zweckmäßige Form in der Bestimmung der Vorstellungskräfte, die sich mit jenem beschäftigen.« (228; Hvh. v. V.) Und daher geht die Annahme in die Irre, die Kants Formulierung, daß wir an Gegenständen eine Zweckmäßigkeit der Form nach auch ohne Rekurs auf einen Zweck beobachten können, eine gegenstandsbestimmende Absicht unterstellt und in ihr mehr als die paradoxe Beschreibung eines Phänomens sieht, dessen nichtparadoxe Erklärung das Konzept der formalen subjektiven Zweckmäßigkeit in der Vorstellung eines Gegenstandes darstellt, mit dem nichts anderes als die formale Verfassung des zuvor entwickelten freien Spiels der Erkenntniskräfte beschrieben wird. Doch wird der Einwand sich mit dieser Auskunft kaum zufrieden geben. Ist dies die kantische Option, dann entsteht ihm sogleich ein weiteres Problem. Hat nämlich der Begriff der Zweckmäßigkeit ohne Zweck keine gegenstandsbestimmende Funktion und kann er nur zur Beschreibung des innersubjektiven Sachverhalts des freien Spiels der Erkenntniskräfte in Einsatz gebracht werden, dann scheint mit Bezug auf Kants Theorie der schönen Form eines Gegenstandes nur ein Schluß möglich, der Schluß nämlich, daß Kant zu einer solchen Theorie gar nicht gelangt. Da die Möglichkeit der Anwendung des Begriffs der Zweckmäßigkeit ohne Zweck allein auf das freie Spiel der Erkenntniskräfte eingeschränkt ist, ist gar nicht abzusehen, auf welche Weise sachhaltige Aussagen über die Schönheit eines Gegenstandes und nicht nur über die Verfassung des urteilenden Subjekts gemacht und begründet werden können. So scheint mit Kants Wendung des Begriffs der Zweckmäßigkeit

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ohne Zweck ins Subjektive der schöne Gegenstand seine Schönheit ganz und gar verloren zu haben und zum blinden Fleck geworden zu sein, über den sachhaltige Aussagen gar nicht mehr möglich sind. Damit aber wäre Kants Theorie der schönen Form auf eine eklatante Weise gescheitert, und zwar deswegen, weil diese Theorie gar nicht erreicht wird. Zu diesem Fazit ist auch Jens Kulenkampff, wenngleich auf anderem Wege, gekommen.26 Die Gründe, die Kulenkampff für seine Einschätzung angibt, überzeugen jedoch nicht. Dies sowie das Unzutreffende des soeben vorgestellten Einwandes soll im folgenden gezeigt werden.

VI. Zu Jens Kulenkampffs Analyse und Kritik von Kants Theorie der schönen Form Die erste Schwierigkeit ergibt sich aus Kulenkampffs These über das Phänomen, das Kants Theorie der schönen Form eines Gegenstandes zugrundeliegen soll. Für Kulenkampff ist dies das Phänomen der Wahrnehmung einer sinn- und zweckvollen Ordnung, deren Zweck unbekannt ist, die man sich aber durch die Annahme erklärt, daß sie von jemandem mit Absicht so angeordnet worden sei.27 »Dies«, so Kulenkampff, »ist die neue Einsicht, die der Theorie des Schönen forthelfen soll zur Theorie der schönen Form.«28 Auf diesen Vorwurf laufen auch Gerhard Seels ›kritische Fragen an die Ästhetik Kants‹ hinaus (Vgl. a.a.O. Anm. 24). Seels These ist es, daß Kant die ästhetische Reflexion als eine »Simulation der Erkenntnis begreift, die sich lediglich auf die subjektive Seite derselben erstreckt« und bei der »auf die Produktseite derselben gänzlich verzichtet« wird, so daß die »Funktionen des Verstandes und der Urteilskraft […] leer und unbestimmt« bleiben (S..348). Dem ist Kants Insistieren auf der Vorstellung der Form eines einzelnen gegebenen Gegenstandes entgegenzuhalten, bei der die durch die Urteilskraft geleistete Darstellung des nicht bloß subjektiv bedingten Einheitszusammenhangs seiner Formelemente in der Anschauung eines schönen Gegenstandes der von Seel vermißten Produktseite entspricht, die freilich nicht ein begrifflich objektivierbares Produkt ist. Das von Seel am Ende seiner Untersuchung vorgeschlagene Modell zur Interpretation der wechselseitigen Belebung der Erkenntniskräfte in einem freien Spiel im Sinne eines stets neu unternommenen Versuchs der Anwendung von Begriffen, denen sich die Einbildungskraft in ihrer Freiheit immer wieder entzieht, ist weder mit Kants Rede von der Begriffslosigkeit des Geschmacksurteils vereinbar, noch stellt sie eine phänomengerechte Beschreibung der genuin ästhetischen Erfahrung dar. Denn diese besteht nicht in dem stets von neuem unternommenen und vereitelten Versuch einer begrifflichen Bestimmung des schönen Gegenstandes, sondern in der Wahrnehmung einer ohne begriffliche Operationen und insofern ungesucht sich einstellenden Stimmigkeit des Zusammenhangs formaler Elemente. Es wird sich im folgenden zeigen, daß Seels Interpretation in diesem Punkt der Sache nach mit derjenigen Christel Frickes verwandt ist. 27 Diese Struktur der Zweckmäßigkeit ohne Zweck ist Kulenkampff zufolge präziser als ›Zweckmäßigkeit ohne einen bekannten, aber doch intendierten bzw. vermuteten Zweck‹ zu beschreiben, da der Gedanke einer Zweckmäßigkeit ohne allen Zweck ein in sich widersprüchlicher Gedanke ist. (Vgl. Kulenkampff: Kants Logik. S..120 f.). 28 Ebd. S..119. 26

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Diese These trifft nicht zu. Vielmehr ist es so – das zeigt zweifelsfrei die Wendung des Gedankens am Ende des Paragraphen 10, mit der Kant von der Bezugnahme auf einen hypothetisch unterstellten Zweck gerade absieht –, daß Kant selber dieses Phänomen nicht als das Phänomen des Schönen ansieht und ihm das davon unterschiedene Phänomen entgegenstellt, daß man bei der Betrachtung eines als stimmig und sinnvoll erlebten Ordnungszusammenhangs gerne verweilt, ohne danach zu fragen, wozu diese Ordnung angelegt ist. Da Kulenkampff an seiner These durchgängig festhält, gerät seine Interpretation in die paradoxe Situation, gerade das als unangemessen oder als von Kant nicht ernst gemeint anzusehen, was das Spezifische des Phänomens des Schönen und seiner kantischen Erklärung ist, so der Umstand, daß jene als zweckmäßig wahrgenommene Gestalt als zweckmäßig für die Auffassungskraft des Subjekts erklärt wird, dem das freie Spiel der Erkenntniskräfte und sein Ausdruck im Gefühl der kontemplativen Lust entspricht. Das, was Kulenkampff Kant als eine undurchschaute »Fehlinterpretation« von dessen eigener Evidenz zur Last legt, daß nämlich »der Hinblick auf einen wenngleich unbekannten, so doch eben objektiven Zweck kassiert wird«29, das gerade ist das Spezifische des Phänomens, das Kant seiner Theorie zugrundelegt. So ist der Vorwurf einer Fehlinterpretation an Kulenkampff zurückzugeben und noch dahingehend zu verschärfen, daß Kulenkampff das Phänomen des Schönen, das Kant vor Augen stand und das die Grundlage seiner ästhetischen Theorie ist, bereits im Ansatz aus dem Blick gebracht hat. Zur Fehlinterpretation gerät daher auch Kulenkampffs Kommentar zu Kants Beispiel der Wahrnehmung einer schönen Blume und dem Kontext, in dem dieses Beispiel steht. Hier merkt Kant das Folgende an: »Man könnte wider diese Erklärung [die aus dem dritten Momente geschlossene Erklärung des Schönen: ›Schönheit ist die Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie ohne Vorstellung eines Zwecks an ihm wahrgenommen wird.‹ – Zus. v. V.] als Instanz anführen, daß es Dinge gibt, an denen man eine zweckmäßige Form sieht, ohne an ihnen einen Zweck zu erkennen, z. B. die öfter aus alten Grabhügeln gezogenen, mit einem Loche als zu einem Hefte, versehenen steinernen Geräte, die, ob sie zwar in ihrer Gestalt eine Zweckmäßigkeit deutlich verraten, für die man den Zweck nicht kennt, darum gleichwohl nicht für schön erklärt werden.« (236) Diese Überlegung liest Kulenkampff als einen Selbsteinwand Kants, mit dem Kant zu verstehen gebe, daß »das Phänomen, auf dessen Evidenz er sich bezieht, in Wahrheit nicht taugt, um zu erklären, was der schöne Gegenstand ist.«30 Kants Absicht ist es indessen nicht, einen selbstkritischen Einwand anhand eines Gegenbeispiels, auf das der Wortlaut der Erklärung des Schönen anwendbar scheint, das aber nicht als Beispiel für einen schönen Gegenstand gelten kann, vorzuführen und zu entkräften. Kants Absicht ist es vielmehr, einem möglichen Mißverständnis dieser 29 30

Ebd. S..128. Ebd. S..132.

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Erklärung des Schönen entgegenzutreten, das sich gerade aus dem von Kulenkampff zugrundegelegten Phänomen der Wahrnehmung einer zweckmäßigen Gestalt mit unbekanntem Zweck ergeben könnte. Dieses Mißverständnis besteht darin, daß man das in der Erklärung des Schönen gemeinte gänzliche Absehen von einem Zweck als bloße Unkenntnis eines Zwecks interpretiert und deswegen auf Phänomene wie jene »steinernen Geräte« verweist, die offenkundig nicht für schön erklärt werden. Kants Korrektur dieses Mißverständnisses besteht in dem Hinweis, daß man diese Geräte denn doch als Artefakte versteht und deswegen »ihre Figur auf irgend eine Absicht und einen bestimmten Zweck bezieht« (236), was beim Schönen nicht der Fall ist. Ohne die Unangemessenheit seiner Lesart zu Kants Intention zu bemerken, kann Kulenkampff die abschließende, auf die Wahrnehmung einer schönen Blume bezogene Erklärung Kants, daß in diesem Fall »eine gewisse Zweckmäßigkeit, die so, wie wir sie beurteilen, auf gar keinen Zweck bezogen wird, in ihrer Wahrnehmung angetroffen wird« (ebd.), dann auch nur als Indiz des Scheiterns von Kants Theorie der schönen Form verstehen. Da in diesem Fall »überhaupt keine Zweckmäßigkeit attribuiert wird, also auch keine Zweckmäßigkeit ohne Zweck«, sondern nur das Verhältnis einer Zweckmäßigkeit zwischen dem wahrgenommenen Gegenstand und dem Verhältnis der Erkenntniskräfte vorliege, das als Lust bewußt wird, sieht Kulenkampff keine Möglichkeit gegeben, »die eine Gestalt als Gestalt vor anderen auszuzeichnen und so die schöne Form von der nicht schönen zu unterscheiden.«31 Dies ist in der Sicht Kulenkampff nur dann möglich, wenn gewisse notwendige Gegenstandsmomente angegeben werden können, die für das Vorliegen oder Ausbleiben des freien Spiels der Erkenntniskräfte verantwortlich zu machen sind. Mit dieser Erwartung, der Aufklärung des Gegenstandsbezugs des Geschmacksurteils und der Angabe »notwendiger Bedingungen eines schönen Gegenstandes«32 ist Kulenkampff an Kants Theorie der schönen Form herangetreten. Da die kantische Theorie diese Erwartung enttäuscht, muß sie in der Sicht Kulenkampffs als gescheitert gelten. Doch hat Kulenkampff am Ende nicht das Scheitern der kantischen Theorie der schönen Form aufgewiesen, sondern nur ein Mißverständnis wiederholt, das auch dem oben vorgetragenen Einwand zugrundeliegt und das Kant gerade aufzuklären und zu beseitigen sucht. Denn darüber, was ein schöner Gegenstand ist, kann im Rahmen der kantischen ästhetischen Theorie eine allgemeine positive Antwort gar nicht erwartet und gegeben werden. Verlangt man zu wissen, welches die allgemeinen und notwendigen formalen Qualitäten eines Gegenstandes sind, die seine Schönheit ausmachen, dann verlangt man nichts anderes als die Angabe eines objektiven Prinzips des Geschmacks. Genau dies ist aufgrund des Begriffs des Geschmacksurteils aber unmöglich. Man muß sich daher – dies ist die positive Auskunft, auf die die kantische ästhetische Theorie am Ende zielt –, auf den je einzel31 32

Ebd. S..133. Ebd. S..124.

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nen Gegenstand einlassen und ihn, wie Kant sagt, »versuchen« (285). Das Kriterium des Gelingens eines solchen Versuchs kann dann nur darin bestehen, daß die bloße Betrachtung der formalen Verfassung eines Gegenstandes bei einem hinreichend geübten und mit Bezug auf seine emotionalen Reaktionen sensiblen Rezipienten mit dem Gefühl eines interesselosen Wohlgefallens begleitet ist und dieses zu erhalten geeignet ist. Der »Schlüssel zur Kritik des Geschmacks« ist somit nicht eine allgemeine Regel, in der die notwendigen formalen Eigenschaften eines schönen Gegenstandes enthalten sind und die wie der Schlüssel mit dem Lederriemen in der Anekdote über die Weinprobe des Sancho Pansa, die David Hume in seinem Essay »Of the Standard of Taste«33 zitiert, als Beweis für die Wahrheit oder Falschheit eines Geschmacksurteils aufgewiesen werden kann, sondern allein die »Ref lexion des Subjekts über seinen eigenen Zustand (der Lust oder Unlust), mit Abweisung aller Vorschriften und Regeln« (286). Kulenkampffs Forderung, daß die kantische ästhetische Theorie die allgemeinen und notwendigen Eigenschaften eines schönen Gegenstandes als Bedingungen des Eintritts des freien Spiels der Erkenntniskräfte und der Unterscheidung zwischen dem Prädikat »schön« und »nicht schön« angeben soll und die These, daß das Ausbleiben einer solchen Antwort als Beweis für das Scheitern der kantischen Theorie zu beurteilen ist, erscheint daher als ein objektivistisches Mißverständnis der kantischen ästhetischen Theorie. Damit verfällt Kulenkampff genau demjenigen Irrtum, den Kant auf dem Wege der Analyse des Geschmacksurteils aufzuklären und zu beseitigen suchte. Und doch kann man sich mit Kants These von der Ref lexion des Subjekts auf seinen eigenen Zustand und der Abweisung aller Vorschriften und Regeln als Beweis für die Wahrheit oder Falschheit eines Geschmacksurteils nicht zufrieden geben. Daß ich, wie Kant den Kritiker des Geschmacks beschreibt, im Streitfall mir die Ohren zustopfe, keine Gründe a priori eines Boileau, Batteux oder Lessing oder »noch älterer und berühmterer Kritiker des Geschmacks und alle von ihnen aufgestellten Regeln« (284) hören mag und den in Frage stehenden Gegenstand statt dessen selber ›versuche‹ und danach mein Urteil fälle, das kann gewiß nicht bedeuten, daß ich in stummer Betrachtung im Zustande jenes interesselosen Wohlgefallens verharre oder mich mit einem Gefühl der Unlust bloß abwende und keine Auskunft über das, was mir gefällt oder mißfällt, zu geben in der Lage bin. Wie ist, so muß nun noch einmal gefragt werden, eine solche Auskunft, die Kant selber nicht gegeben hat, im Rahmen der kantischen ästhetischen Theorie möglich? Man kann Christel Frickes Untersuchung über Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils als Antwort auf diese Frage ansehen.

David Hume: The Philosophical Works. Ed. by Thomas Hill Green and Thomas Hodge Grose, Vol. III, London 1882 (Repr. Aalen 1964). Deutsch in: Jens Kulenkampff (Hrsg.): Materialien zu Kants »Kritik der Urteilskraft«. Frankfurt a. M. 1974. S..43 ff. 33

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VII. Zu Christel Frickes Interpretation von Kants Theorie des Geschmacksurteils Christel Frickes Untersuchung kommt in dem Entwurf einer Theorie der ästhetischen Beschreibung eines Gegenstandes an ihr Ziel, die die ästhetische Beurteilung der Schönheit dieses Gegenstandes begründen soll. Dem mit großer Umsicht und beeindruckendem Scharfsinn durchmessenen Weg zu diesem Ziel kann man sich allerdings nicht ohne Vorbehalte anschließen. So hat Fricke ebenso wie Kulenkampff Kants Wendung des Gedankens zur Beschreibung des Phänomens des Schönen im Kontext der Zweckmäßigkeitsanalyse übersehen.34 Das hat zur Folge, daß Fricke diese Beschreibung als Fortsetzung der zuvor erörterten hypothetischen Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes versteht und dieses Verständnis durchgängig zum Leitfaden ihrer Untersuchung macht. Mit Kulenkampff kommt Frickes Untersuchung somit darin überein, daß in ihr das Phänomen des Schönen, das Kant vor Augen stand und um dessen Aufklärung er sich bemühte, gar nicht angemessen in den Blick gebracht wird. Wie sehr die Orientierung am Konzept der hypothetischen Zweckmäßigkeit die Einsicht in die kantischen Analysen und ihre Bedeutung für die Theorie des Schönen verstellt, zeigt Frickes Interpretation des Argumentationsgangs, in dem der Begriff einer subjektiven formalen Zweckmäßigkeit eingeführt wird. Hier führt die Orientierung am Modell der hypothetischen Zweckmäßigkeit Fricke zu der These, daß aus Kants Schluß auf die bloße Form der subjektiven Zweckmäßigkeit in der Vorstellung eines Gegenstandes »eindeutig«35 hervorgehe, daß das Geschmacksurteil zu den Urteilen über die hypothetische Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes gehöre. Da aus dem Vorliegen eines interesselosen Wohlgefallens anläßlich eines gegebenen Gegenstandes aber nicht darauf geschlossen werden kann, daß dieser Gegenstand nach dem Modell der hypothetischen Zweckmäßigkeit beurteilt wird, wie Fricke zu Recht bemerkt, leitet sie aufgrund der Orientierung an diesem Modell die unzutreffende und gegen die kantische Intention gerichtete kritische These ab, daß Kant einen solchen Schluß gezogen habe, damit aber nicht den, wie Fricke unterstellt, beabsichtigten Nachweis erbracht habe, daß das Geschmacksurteil ein Urteil der ref lektierenden Urteilskraft im Sinne der Beurteilung einer hypothetischen Zweckmäßigkeit sei. Doch hat Kant weder diesen Schluß gezogen, noch war es seine Absicht, einen solchen Nachweis zu erbringen, da er sich in seiner ästhetischen Theorie gar nicht an dem von Fricke zugrundegelegten Phänomen der Beurteilung einer hypothetischen Zweckmäßigkeit, sondern an der von der Rücksicht auf einen erklärenden Zweck gänzlich freien Betrachtung eines Gegenstandes orientiert. Die für die kantische Theorie des Geschmacksurteils entscheidende Differenz zwischen der bloß subjektiven formalen Zweckmäßigkeit in der Vorstellung eines 34 35

Vgl. Fricke. S..220.f. Ebd. S..109.

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Gegenstandes und dem Rekurs auf einen erklärenden Zweck sucht Fricke im folgenden dadurch zu begründen, daß sie diese subjektive formale Zweckmäßigkeit als einen »Spezialfall« der hypothetischen Zweckmäßigkeit darstellt. Das Argument für diese ihre Auffassung entwickelt Fricke auf dem Wege einer Analyse der ästhetischen Funktion der Einbildungskraft. Diese Funktion besteht zum einen darin, daß sie nur auf einen einzelnen Gegenstand und nicht auf mehrere zu vergleichende Gegenstände bezogen ist, zum anderen darin, nicht durch einen objektiven empirischen Begriff des Verstandes determiniert und insofern frei zu sein. Ist die Einbildungskraft aber nicht durch einen Gesichtspunkt eingeschränkt, unter dem sie einen Teil des Mannigfaltigen eines Gegenstandes auszuwählen hätte, dann steht ihr das Mannigfaltige gleichsam in seiner ganzen Fülle zur Verfügung. Kants Erklärung mit Bezug auf das freie Spiel der Erkenntniskräfte, »daß die Einbildungskraft ohne Begriff schematisiere« (287), ist in der Sicht Frickes nun so zu verstehen, daß eine Regel angegeben werden soll, »nach der dieses Mannigfaltige vollständig, d. h. in seiner unendlichen Komplexität geordnet und verbunden worden ist oder wenigstens hätte verbunden worden sein können.«36 Hier liegt die Vermutung nahe, daß dieser Überlegung der Begriff der von Kant so genannten quantitativen Vollkommenheit zugrundeliegt, unter der Kant die »Vollständigkeit eines jeden Dings in seiner Art« (227) versteht, dem jedoch der Begriff einer qualitativen Vollkommenheit dessen, »was das Ding sein solle, schon zum voraus als bestimmt gedacht und nur, ob alles dazu Erforderliche an ihm sei, gefragt wird.« (Ebd.) Damit aber wäre jene Regel gar nichts anderes als ein bestimmter Begriff von dem, ›was das Ding sein solle‹. Dieser Konsequenz sucht Fricke mit dem Hinweis darauf zu entgehen, daß mit Bezug auf einen einzelnen Gegenstand ein vollständiger Begriff kein objektiver Begriff des Verstandes sein kann, da dieser stets eine allgemeine Vorstellung, aber nicht ein vollständiger Begriff der in einer Anschauung gegebenen Qualitäten eines einzelnen Gegenstandes ist. Nur die Vernunft ist in der Lage, den Begriff eines Ganzen zu denken, der als Idee die Regel für die der Einbildungskraft zuzuschreibende Synthesis des Mannigfaltigen zu einem Ganzen darstellt.37 Eine Vernunftidee, die als Grund der Synthesis eines Mannigfaltigen zu einem Ganzen fungiert, ist aber ein Zweckbegriff, »allerdings«, so Fricke, »nicht der Begriff eines menschlichen, sondern der Begriff eines übermenschlichen Zwecks, den nur die ref lektierende Urteilskraft zur Beurteilung anschaulich vorgestellter Gegenstände heranziehen kann.«38 Man muß jedoch bezweifeln, ob diese Konzeption der obigen Konsequenz wirklich entgehen kann. Denn offenkundig genügt es nicht, die Synthesis des Mannigfaltigen nur dem an sich unbestimmten Vernunftbegriff von einem Ganzen zu unterstellen, vielmehr hat dieser Begriff von einem Ganzen mit Bezug auf einen ein36 37 38

Ebd. S..120. (Hvh. v. V.) Ebd. S..127. Ebd.

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zelnen gegebenen Gegenstand, auf den er angewendet werden soll, nur dann einen Sinn, wenn zuvor bekannt ist, ›was es für ein Ding sein soll‹. Diesen Einwand scheint Fricke auf eine indirekte Weise durch die Kautele zu bestätigen, daß die anschaulichen Qualitäten nicht nur vollständig, sondern auch zweckmäßig geordnet vorgestellt werden müssen. Der Begriff einer solchen objektiven Zweckmäßigkeit kann aber nur unter einem bestimmten Begriff des betreffenden Gegenstandes angegeben werden.39 Mit der Annahme einer Regel, die als Vernunftidee der vollständigen Bestimmung eines Gegenstandes fungieren soll, verbindet Fricke den Anspruch, auch Kants Konzept eines freien Spiels der Erkenntniskräfte verständlich machen zu können. Es ist jedoch nicht zu sehen, wie dies gelingen kann. Es scheint vielmehr, daß dieses Konzept in Frickes Interpretation gänzlich ortlos geworden ist. Da die Erkenntniskräfte der unendlichen Idee unterstellt sind, ein unendliches Datenmaterial »in seiner unendlichen Komplexität«40 aufzufassen und zu verbinden, werden sie an keinem Punkt ihres Weges in ein Verhältnis kommen, das mit Recht ein freies und erleichtertes Spiel genannt werden könnte, vielmehr werden sie sich nur ewig strebend um die Annäherung an diese Idee bemühen. Diese Konsequenz bestätigt Frikkes abschließende Deutung des freien Spiels der Erkenntniskräfte, wie sich zeigen wird. Davon unabhängig vermag Frickes Interpretationsvorschlag auch dem Phänomen der Wahrnehmung von Schönem kaum gerecht zu werden. Ist man in der Wahrnehmung von Schönem begriffen, dann ist es gar nicht das Bestreben, möglichst alle anschaulichen Qualitäten zu erfassen und zu beschreiben, was belebt und unterhält. Man macht vielmehr die Erfahrung, daß die Elemente, die man bemerkt oder auf die man aufmerksam gemacht wird, sich auf ungesuchte Weise zu einem in sich stimmigen Ensemble vereinigen, und das Verhältnis zwischen diesen Elementen bzw. die in diesem Verhältnis zu bemerkende, nicht auf eine allgemeine Regel zu bringende Stimmigkeit ist es, was einen bei der Betrachtung verweilen läßt. Die mögDie These, daß das Prinzip des Geschmacks auf eine Vernunftidee zurückzuführen sei, versucht Fricke u. a. durch Rekurs auf Kants Theorie des Ideals und die Erklärung des Begriffs eines Ideals als »Vorstellung eines einzelnen als einer Idee adäquaten Wesens« zu stützen. Dem ist jedoch Kants Erklärung, auf welche Weise man zu einem solchen Ideal der Schönheit gelangt, entgegenzuhalten, derzufolge »die Schönheit, zu welcher ein Ideal gesucht werden soll, keine vage, sondern durch einen Begriff von objektiver Zweckmäßigkeit fixierte Schönheit sein, folglich keinem Objekte eines ganz reinen, sondern zum Teil intellektuierten Geschmacksurteils angehören müsse. D. i. in welcher Art von Gründen der Beurteilung ein Ideal stattfinden soll, da muß irgendeine Idee der Vernunft nach bestimmten Begriffen zum Grunde liegen, die a priori den Zweck bestimmt, worauf die innere Möglichkeit des Gegenstandes beruht« (Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft (Anm. 2). S..232.f.; Hvh. v. V.). Dem entgegen sucht Fricke den Begriff des Ideals für die Aufklärung der Theorie des reinen Geschmacksurteil einzusetzen, ohne die von Kant namhaft gemachte Differenz im Begriff der Schönheit zu diskutieren. Unberücksichtigt bleibt in diesem Zusammenhang auch Kants Erklärung, daß nur der Mensch »eines Ideals der Schönheit« (S..233) fähig ist. 40 Fricke. S..120. 39

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liche, für die Wahrnehmung von Schönem aber nicht notwendige Erweiterung des Umfangs der zu betrachtenden Elemente und ihrer Konfigurationen ergibt sich ebenfalls auf ungesuchte Weise im Ausgang von den schon vorhandenen Elementen und deren Beziehungen, nicht aber unter dem Diktat des Telos vollständiger Bestimmung eines Ganzen. Kants Erklärung, daß wir bei der Betrachtung des Schönen weilen, weil diese Betrachtung sich selbst stärkt und reproduziert, gewinnt ihre phänomenologische Evidenz denn auch nicht aus der Annahme, daß der Grund des Verweilens in der noch nicht geleisteten vollständigen logischen Bestimmung des Gegenstandes bestehe. Ist dies der Grund des Verweilens, dann, so wird man mit Kant sagen müssen, »geht alle Vorstellung der Schönheit verloren«. (215) Auch Frickes Vorschlag, das für ihre Interpretation zentrale Konzept einer Vernunftidee im Sinne einer vollständigen Bestimmung eines Gegenstandes mit der in der Dialektik der ästhetischen Urteilskraft eingeführten Idee des Übersinnlichen als Prinzip des Geschmacks zu identifizieren und dadurch auch zu rechtfertigen41, vermag nicht zu überzeugen. Diese Idee ist vielmehr, wie Kant erläutert, die Idee des Übersinnlichen »als Prinzips der subjektiven Zweckmäßigkeit der Natur für unser Erkenntnisvermögen.« (346) Hier schaut man aber nicht auf ein Ganzes und dessen vollständige Bestimmung hinaus, sondern nur auf die »Auffassung (apprehensio) der Form eines Gegenstandes der Anschauung« und auf die »Angemessenheit desselben zu den Erkenntnisvermögen, die in der ref lektierenden Urteilskraft im Spiel sind«, die Kant als die »subjektive formale Zweckmäßigkeit des Objekts« (190) bezeichnet. Die Auffassung dieser Form beschreibt Kant im (modifizierten) Rekurs auf das Konzept eines freien Spiels der Erkenntniskräfte (vgl. 286f.) und sieht darin und nur darin eine Zweckmäßigkeit des Gegenstandes für die ref lektierende Urteilskraft, die eben das definiert, was Kant die »ästhetische Vorstellung der Zweckmäßigkeit der Natur« (188) nennt. Ziel der Untersuchung Frickes ist der Entwurf einer Theorie der ästhetischen Beschreibung eines schönen Gegenstandes. Dies ist zugleich Frickes abschließendes Wort zu Kants Konzept des freien Spiels der Erkenntniskräfte. Dieses freie Spiel wird unter dem Postulat der durchgängigen logischen Bestimmung des Gegenstandes nun dahingehend beschrieben, daß »so wie die Einbildungskraft immer mehr Elemente des Mannigfaltigen der Anschauung eines Gegenstandes in die Einheit eines Schemas zu verbinden sucht, […] der Verstand eine immer genauere Beschreibung dieses Gegenstandes zu entwickeln [sucht].«42 Der Versuch einer möglichst vollständigen begriff lichen Bestimmung wird in der Sicht Frickes durch die Spannung motiviert und unterhalten, die sich zwischen der möglichst vollständigen logischen Bestimmung und der ästhetischen Beurteilung der Schönheit eines Gegenstandes zeigt. »Denn«, so lautet Frickes Begründung, »wie genau seine Beschreibung auch sein mag: Es bleibt immer möglich, daß eine geringfügige Veränderung an 41 42

Ebd. S..127 ff. Ebd. S..147.

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dem gegebenen Gegenstand, durch die die entwickelte Beschreibung nicht falsifiziert wird, doch den ästhetischen Eindruck dieses Gegenstandes erheblich verändert.«43 Daß sich diese Spannung auch bei einem kontinuierlich erweiterten und verdichteten Begriffsrahmen nicht auf lösen läßt, sieht Fricke als den Grund für die wechselseitige Belebung und Förderung der Erkenntniskräfte – ihr ›freies Spiel‹ – in dem Versuch an, dem Ziel der vollständigen Bestimmung so nahe wie möglich zu kommen. Diese Konzeption führt dazu, die Wahrnehmung von Schönem zum Verschwinden zu bringen. Denn sie zielt auf die Überwindung eben der Spannung, in der Fricke das Phänomen des Schönen gegeben sieht. So wird durch das Bestreben der Annäherung an die vollständige logische Bestimmung des Gegenstandes der ästhetische Charakter der Ref lexion gerade nicht unterhalten und befördert, sondern Schritt um Schritt vermindert und somit der Tendenz nach zum Verschwinden gebracht. Frickes Orientierung an der Idee der vollständigen logischen Bestimmung eines Gegenstandes und ihr Versuch, daraus Kants Theorie der ästhetischen Erfahrung und das ihr zugrundeliegende Konzept des freien Spiels der Erkenntniskräfte verständlich zu machen, muß man daher, ähnlich wie Jens Kulenkampffs Suche nach notwendigen Gegenstandsmomenten als Kriterien des Schönen, als eine Variante eines objektivistischen bzw. logizistischen Mißverständnisses der kantischen Theorie des Schönen ansehen. Gegen ein solches Mißverständnis hatte Kant seine Theorie aber zu profilieren und zu behaupten gesucht. Damit stellt sich die obige Frage, auf welche Weise eine sachhaltige Auskunft über die Schönheit eines Gegenstandes mit den Mitteln der kantischen Theorie möglich ist, erneut. Nach dem bisher Verhandelten lautet die Antwort wie folgt. Festzuhalten ist, daß das, was die Schönheit eines Gegenstandes ausmacht, sich nur in der Wahrnehmung der Form eines einzelnen Gegenstandes zeigt und zeigen läßt, denn das Geschmacksurteil ist seiner logischen Quantität nach ein einzelnes Urteil. Daher kann es eine Theorie, die allgemeine und invariante Merkmale der Schönheit eines Gegenstandes aufzustellen sucht, nicht geben. Schönheit ist eben das, was ohne Begriff allgemein gefällt. Daraus, daß der schöne Gegenstand ohne Begriff allgemein gefällt, folgt indessen nicht, daß keine Auskunft über seine Schönheit auf dem Wege einer deskriptiven Analyse seiner Form gegeben werden kann. Die Formel »ohne Begriff« bezieht sich allein auf den Begriff, der als allgemeine Regel für die Beurteilung der Schönheit gelten und daher auf mehrere Gegenstände anwendbar sein soll, nicht auf deskriptive Begriffe, mit denen die Konstellationen und Konfigurationen der Elemente eines einzelnen als schön beurteilten Gegenstandes aufgezeigt werden können. Folgt man der kantischen Theorie des freien Spiels der Erkenntniskräfte, dann läßt sich sagen, daß es die Leistung der Einbildungskraft in ihrer Freiheit ist, eine Vielzahl von Elementen beizubringen und zusammenzusetzen – diese Elemente und deren Zusammensetzung können Linien, 43

Ebd.

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Formen und Gestalten ebenso wie literarische und musikalische Motive und deren Variationen und Korrespondenzen sein –, während die Funktion des Verstandes darin besteht, diese Elemente und ihre Zusammensetzung in die Form eines in sich als stimmig und sinnvoll empfundenen Einheitszusammenhangs zu bringen. Der Sinn dieses Einheitszusammenhangs wird aber nicht durch eine allgemeine begriffliche Hinsicht und auch nicht durch eine logisch vorgängige Idee von einem Ganzen, sondern allein aus der Konjunktion und Konfiguration der Elemente des je einzelnen gegebenen Gegenstandes gebildet, deren Wahrnehmung jenes Gefühl eines kontemplativen Wohlgefallens zu erregen und zu erhalten geeignet ist. Der Grund für die Beurteilung der Schönheit eines einzelnen Gegenstandes ist daher gar kein anderer als das freie Spiel der Erkenntniskräfte ›Einbildungskraft‹ und ›Verstand‹, und nur in dieser Hinsicht und nicht mit Blick auf eine in der Beschreibung des Gegenstandes zu realisierende Idee von einem Ganzen kann von einem freien Spiel gesprochen werden, dem die spezifisch kontemplative Lust bei der Betrachtung eines schönen Gegenstandes entspricht. Die mannigfaltigen Elemente eines schönen Gegenstandes sind daher so beschaffen bzw. werden so aufgefaßt, daß Beziehungen unter ihnen sichtbar werden, die so erfahren werden, daß sie gleichsam von selbst sich aufdringen und darin dem subjektiven Belieben ihrer Auffassung entzogen sind. Über die Art dieser Beziehung können aber keine Aussagen gemacht werden, die auch für andere Gegenstände, die als schön beurteilt werden, gelten. Die Aussagen, die gemacht werden können, müssen vielmehr das aufweisen, was dem freien Spiel der Erkenntniskräfte in der Beziehung auf den je einzelnen Gegenstand korrespondiert. Auf welche Weise dieser Aufweis sich im einzelnen vollziehen kann, ist eine Frage der Theorie des ästhetischen Diskurses, die nicht Thema der kantischen Theorie des Geschmacksurteils ist und der auch im vorliegenden Rahmen nicht weiter nachgegangen werden kann.44 Sie hat Kant den »Kritikern des Geschmacks« übertragen. Ihnen empfiehlt Kant, »über die Erkenntnisvermögen und deren Geschäfte in diesen Urteilen Nachforschung zu tun und die wechselseitige subjektive Zweckmäßigkeit, von welcher […] gezeigt ist, daß ihre Form in einer gegebenen Vorstellung die Schönheit des Gegenstandes derselben sei, in Beispielen auseinanderzusetzen.« (286) Die Struktur des schönen Gegenstandes läßt sich daher am Ende als konkrete Darstellung des Begriffs jener subjektiven formalen Zweckmäßigkeit verstehen, die das absichtslos unterhaltende freie Spiel der Erkenntniskräfte beschreibt. Genau dies meint Kant, wenn er »die Naturschönheit als Darstellung des Begriffs der formalen (bloß subjektiven) […] Zweckmäßigkeit« (193) bezeichnet.

Vgl. hierzu v. Vf.: Musik und Subjektivität oder Über das Reden vom Musikalisch-Schönen. Ein Versuch mit Blick auf Kant. In: Vf. (Hrsg.): Subjekt und Metaphysik. Festschrift für Konrad Cramer. Göttingen (erscheint 2001). 44

Der Schlüssel zur Kritik des Geschmacks Von Jens Kulenkampff

Gegen meinen Versuch, verständlich zu machen, was ein reines Geschmacksurteil eigentlich aussagt, sowie gegen meine kritische Einschätzung der Formel, Schönheit sei (schlagwortartig gesagt) Zweckmäßigkeit ohne Zweck,1 hat Stolzenberg Einwände vorgebracht, die mir zwar nicht alle triftig erscheinen, die ich aber gleichwohl für bedenkenswert halte. Nun liegt ja eigentlich nichts an einer Selbsterklärung und Selbstverteidigung der Interpreten, wo ein klassisches Werk der philosophischen Literatur das Zentrum des gemeinsamen Interesses bildet. Ich nehme daher Stolzenbergs Kritik zum Anlaß, dem Zusammenhang zwischen Paragraph 9 der Kritik der Urteilskraft und Kants Ausführungen zur schönen Form in den daran anschließenden Paragraphen erneut nachzufragen.

I. Die Auf lösung der Aufgabe, nämlich die »Untersuchung der Frage: ob im Geschmacksurteil das Gefühl der Lust vor der Beurteilung des Gegenstandes, oder diese vor jener vorhergehe […] ist der Schlüssel zur Kritik des Geschmacks und daher aller Aufmerksamkeit würdig« (27/216).2 – Einige Punkte an diesem Auftakt zu Paragraph 9 bedürfen der Klarstellung, ehe sich angeben läßt, was Kant in diesem Paragraphen erreichen will und durch welchen Vorschlag er dies Ziel erreichen zu können glaubt. Kants Gebrauch des Wortes ›Urteil‹ ist notorisch mehrdeutig; es kann damit eine Proposition oder auch der Satz gemeint sein, der eine bestimmte Proposition ausdrückt; es kann damit aber auch ein Typ von mentalen Operationen gemeint sein, die eine Art des Urteilens ausmachen und zur Artikulation von entsprechenden Propositionen oder zur Bildung einschlägiger Sätze führen. Wenn Kant die These aufstellt: »Das Geschmacksurteil ist ästhetisch« (3/203), weil sein Bestimmungsgrund subjektiv sei, meint der Ausdruck ›Geschmacksurteil‹ nicht Sätze einer bestimmten Art, sondern einen bestimmten Typ mentaler Operationen. Denn ein Geschmacksurteil im Sinne eines Satzes wäre ein sprachliches Gebilde der Form ›dies da3 ist Vgl. Jens Kulenkampff: Kants Logik des ästhetischen Urteils. Frankfurt am Main 21994. Wo nicht anders angegeben, stammen die Zitate aus der »Kritik der Urteilskraft« und werden durch die Seitenzahl der Originalausgabe B von 1793 (1. Zahl) und die Seitenzahl im Band V der Akademie-Ausgabe von Kants Werken (2. Zahl) nachgewiesen. 3 Wobei der Subjektausdruck auch lauten kann: ›dieser Gegenstand‹, ›diese Rose‹, ›diese Blume‹ etc.; wichtig ist allein das Vorkommen eines Ausdrucks, der erstens dafür sorgt, daß sich der Satz auf 1 2

ZÄK Sonderheft · Jahrgang 2000 · © Felix Meiner Verlag 2000 · ISSN 1439-5886

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schön‹, über welches die Behauptung aufzustellen, es sei ästhetisch, ein Kategorienfehler wäre. Dasselbe gilt für den Ausdruck ›Geschmacksurteil‹ in der Überschrift von Paragraph 9, und zwar einfach deshalb, weil »im Geschmacksurteil«, wenn mit letzterem ein Satz gemeint wäre, nichts von der Art geschieht, daß eine Lust vor einer Beurteilung oder diese vor jener vorhergeht. Dazu paßt auch Kants Gebrauch des Wortes ›Geschmack‹, denn als Geschmack wird »das Vermögen der Beurteilung des Schönen« bezeichnet, womit die Fähigkeit gemeint ist, »zu unterscheiden, ob etwas schön sei oder nicht« (3/203 Anm.); wird dieses Vermögen betätigt, dann wird ein Geschmacksurteil vollzogen, das außerdem noch seinen Niederschlag in einem Satz finden kann. Was ist es nun an einer »Kritik des Geschmacks«, was eines Schlüssels bedarf? Welches Problem zeigt sich, wenn man den Geschmack kritisch untersucht? Das ist nach den Paragraphen 1 bis 8 der »Kritik der Urteilskraft« klar: Wer die Frage entscheidet, ob etwas schön ist oder nicht, und gegebenenfalls zu der Überzeugung gelangt, daß es schön ist, glaubt auch, etwas festgestellt zu haben, was ein objektiver und daher für alle gleichermaßen gültiger Sachverhalt ist. Wer meine Meinung, daß dies da schön ist, nicht teilt, irrt sich, und wer sie teilt, stimmt mit mir in der Sache überein, – so denken wir. Die Mißlichkeit für den Beurteiler des Schönen ist dabei nur, daß er, wenn er sein Urteil begründen soll, sich im Zweifelsfall letztlich auf nichts berufen kann als auf sein Gefühl bei der Betrachtung des fraglichen Objekts, daß aber ein Gefühl, wie jeder einräumen wird, prinzipiell kein sachlicher Grund ist, und zwar klarerweise dem gegenüber nicht, der das entsprechende Gefühl nicht empfindet, aber auch dem gegenüber nicht, dem es geht wie mir, denn unsere Übereinstimmung könnte zufällig sein. Damit steht die Vernünftigkeit und Verständlichkeit der Geschmacksbeurteilung in Frage. Denn wer sich nur auf sein Gefühl berufen kann, hat kein Recht, sein Urteil so vorzubringen, als handle es sich um eine objektiv gültige Behauptung; also scheint das Geschmacksurteil, wie es geht und steht, etwas Unsinniges und daher Unvernünftiges zu sein. Für den Beurteiler des Schönen wäre eine andere Situation gegeben, wenn sich zeigen ließe, daß in seinem Fall (in dem das positive Gefühl der Lust ein interesseloses Wohlgefallen sein soll) dieses Gefühl irgendwie doch etwas zum Ausdruck bringt, was ein mit dem schönen Gegenstand als solchem verbundener und daher für alle Beurteiler gleichermaßen gültiger Sachverhalt ist. Das käme einer prinzipiellen Rechtfertigung von Geschmacksurteilen gleich. Diese Möglichkeit besteht aber nur, wenn das Gefühl (der Lust) als Folge (des Resultats) der Beurteilung des gegebenen Gegenstandes verstanden werden kann, und nicht das Urteil sich nach dem Gefühl (der Lust oder Unlust) richtet. Diese Wendung ist der Schlüssel zur Kritik des Geschmacks, der schließt, wenn man nachweisen kann, daß es sich so verhält. Also muß man zwei Dinge tun: Man muß zum eieinen und nur einen Gegenstand bezieht, und zweitens, daß der Sachbezug des Subjektausdrucks durch die Verwendungssituation des Satzes festgelegt wird.

Der Schlüssel zur Kritik des Geschmacks

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nen die Art der Beurteilung des Gegenstandes spezifizieren, das heißt dartun, worauf der Beurteiler des Schönen achtet und worauf nicht und was er dabei feststellt; und man muß zum andern zeigen, daß und warum ein Gefühl interesselosen Wohlgefallens (oder Mißfallens) im Gefolge einer solchen Beurteilung auftritt und ein sicheres Indiz für das vorgängige Urteil ist. Das zweite darzutun, ist so wichtig wie das erste, wird aber von Kant für weniger schwierig gehalten und deshalb als die mindere der beiden Fragen bezeichnet (vgl. 30/218). Das erste scheint also die schwierigere Frage zu sein. Warum? – Nun, einfach deshalb, weil man erst einmal nicht sieht, was das für eine Beurteilung eines Gegenstandes sein kann, wenn doch gelten soll, daß das Schöne das ist, was »ohne Begriffe als Objekt eines allgemeinen Wohlgefallens vorgestellt wird« (17/211 – Herv. J.K.). Das ist das Rätsel, das mit Paragraph 9 gelöst werden soll, vielmehr: zu dessen Lösung der Paragraph den Weg bereitet. Denn was das nun tatsächlich für eine Beurteilung des Gegenstandes ist, die in einer Geschmacksbeurteilung stattfindet, verrät uns Paragraph 9 noch nicht, sondern nur, von welcher Art sie sein muß, wenn sie mit der in Paragraph 1 bis 8 durchgeführten Analyse des Geschmacksurteils übereinstimmen soll. Paragraph 9 feilt also (um im Bilde zu bleiben) am Schlüssel; ob und wie er schließt, wird dagegen erst später gezeigt.

II. Jede Interpretation von Paragraph 9 und den anschließenden Erörterungen muß einen Punkt im Auge behalten, den Kant selbst (manchmal jedenfalls) klar gesehen hat,4 den man aber leicht aus dem Blick verlieren kann. Was ist gesucht und was nicht? – Nicht gesucht ist eine psychologische Erklärung, was die Beurteiler des Schönen dazu veranlaßt, systematisch unzureichend gestützte Geltungsansprüche für ihre Geschmacksurteile zu erheben. Gesucht wird vielmehr der Grund, den die Beurteiler des Schönen für ihr Verhalten haben. Mag sein, daß sie selbst gewöhnlich nicht wissen, daß sie einen solchen Grund haben; aber sie müssen wissen können, daß sie diesen Grund haben, und zwar als Beurteiler des Schönen müssen sie dies wissen können. Die Vernünftigkeit eines Verhaltens dartun heißt, etwas aufzuweisen, was ein Moment oder ein Aspekt eben dieses Verhaltens selbst ist und was dessen Sinn erklärt, einsichtig oder verständlich macht. Nur ein solches Moment oder ein solcher Aspekt ist ein rechtfertigender Grund. Wir müssen die rechtfertigenden Gründe unseres Verhaltens nicht unbedingt kennen, aber wir müssen sie kennen können, und zwar in der Form, daß wir, indem wir etwas tun, auch wissen und verstehen, was und warum wir es tun. Mit anderen Worten: Genauso wie die Kritik des moralischen Urteils nur eine Aufklärung darüber sein kann, was an sich in diesem Urteil enthalten ist (auch wenn uns das gewöhnlich nicht oder nur dunkel be4

Vgl. Erste Einleitung. AA Bd. XX. S..237 ff.

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wußt ist), kann eine Kritik des Geschmacks nur eine Aufklärung dessen sein, was eine Geschmacksbeurteilung des Schönen der Sache nach ist. Und genauso wie die Kritik des moralischen Urteils nichts anderes sein kann als Selbstaufklärung des moralischen Bewußtseins, muß es das Ziel einer Kritik des Geschmacks sein, dem Beurteiler des Schönen selbst den Grund zu geben, der zeigt, daß und warum sein Verhalten verständlich und vernünftig ist. Als Grund, der das Geschmacksurteil als solches rechtfertigt, kommt daher nur etwas in Frage, was ein Element derjenigen Beurteilung selbst ist, die jemand vornimmt, der zu entscheiden hat, ob etwas schön ist oder nicht. – Diese Forderung ergibt sich aus Kants Ansatz; sie kann als Kriterium bei der Frage dienen, ob Kants eigene Theorie oder die entsprechenden Interpretationsvorschläge ihr Ziel erreichen. III. Kants Überlegung in Paragraph 9 besagt dies: Der Allgemeingültigkeitsanspruch eines Geschmacksurteils läßt sich nur halten, wenn dieses, auch ohne selbst ein Erkenntnisurteil zu sein, doch zumindest etwas feststellt, was »zum Erkenntnis gehört«, denn in Aussagen über gegebene Gegenstände kann nichts allgemeingültig sein »als Erkenntnis und Vorstellung, sofern sie zum Erkenntnis gehört« (27/217). Zur Erkenntnis eines gegebenen Gegenstandes, ganz im allgemeinen genommen, gehört aber, daß sich die gegebene anschauliche Mannigfaltigkeit zu einer Vorstellung von jener Einheit zusammenfassen lasse, die für die Applikation eines Begriffs (welches Begriffs auch immer) verlangt wird. Hiermit ist eine generelle Bedingung genannt, die eine Vorstellung erfüllen muß, »wodurch ein Gegenstand gegeben wird, damit überhaupt daraus Erkenntnis werde« (28/217). Nun läßt sich, wiederum ganz im allgemeinen genommen, Erkenntnis von gegebenen Gegenständen als eine Übereinstimmung beschreiben, nämlich von Einbildungskraft (als dem Vermögen der Zusammenfassung des Mannigfaltigen einer Anschauung zu einer Vorstellung) und von Verstand (als dem Vermögen passender Begriffe von Gegenständen). Gesetzt nun, im Geschmacksurteil würde gefragt, ob, und im positiven Fall festgestellt, daß eine anschauliche Gestalt gegeben ist, die die Einheitsbedingung für die Applikation von Begriffen erfüllt, doch ohne einen bestimmten Begriff zu kennen und zu nennen, der zu applizieren wäre, so ließe sich sagen, daß in diesem Fall Einbildungskraft und Verstand übereinstimmten oder harmonierten, letzterer aber nicht in der Funktion als der Geber eines bestimmten Begriffs, sondern als das bloße Vermögen von Begriffen. Ferner würde in diesem Fall zwar keine bestimmte Erkenntnis produziert, aber doch das Erfülltsein einer Bedingung für Erkenntnis überhaupt und damit ein allgemeingültiger Sachverhalt festgestellt. Drittens ließe sich das Verhältnis von Einbildungskraft und Verstand, das gewöhnlich eines der Subordination ist, als ein freies Spiel verstehen, so daß sich zumindest die Perspektive eröffnet zu erklären, wieso das in diesem Fall gegebene Bewußtsein von einem Zusammenspiel der Erkenntniskräfte ein Bewußtsein der Lust ist.

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Läßt sich nun auch noch, anders als bloß im Modus der Hypothese, für die Beurteilung des Schönen zeigen, daß sie die genannten Bedingungen erfüllt, dann – so könnte man sagen – ist gezeigt, daß der Schlüssel zur Kritik des Geschmacks auch wirklich schließt. Das zu zeigen, ist Kants weiteres Programm; ausgeführt wird es nicht in Paragraph 9, sondern in dem Textstück, das man als die Theorie der schönen Form bezeichnen kann. IV. Die Schwierigkeit mit Paragraph 9 besteht darin, daß man nicht sieht, wie das möglich sein und funktionieren soll, was da abstrakt und hypothetisch konstruiert worden ist. Die Aussage, daß das »zum Erkenntnis überhaupt« schickliche Verhältnis der Erkenntniskräfte eine Übereinstimmung von Verstand und Einbildungskraft sei, läßt sich sinnvollerweise nur als eine allgemeine erkenntnistheoretische Aussage verstehen: Nehmt welche Erkenntnis von Gegenständen auch immer, – immer ist es so, daß eine Übereinstimmung bestehen muß zwischen einer Leistung der Einbildungskraft (Aufnahme, Erfassung, Zusammensetzung von gegebener anschaulicher Mannigfaltigkeit zu einer Form) und einem Element des Verstandes (einem dazu passenden Begriff). Immer, heißt das, muß eine Übereinstimmung bestehen zwischen einer bestimmten Form und einem bestimmten Begriff. Niemals dagegen gibt es so etwas wie eine Übereinstimmung von Einbildunsgkraft und Verstand, wenn sie (im Sinne der allgemeinen Aussage) bloß als Vermögen oder Erkenntniskräfte verstanden werden, weil Kräfte und Vermögen weder übereinstimmen noch nicht übereinstimmen, sondern sich nur in konkreten Leistungen äußern können, die dann die Frage erlauben, ob sie zusammenpassen oder nicht. Demnach läßt sich zwar leicht denken, daß man sich im konkreten Fall eines sogenannten Erkenntnisurteils ref lektierenderweise auch noch der Tatsache bewußt wird, daß dieser Einzelfall den allgemeinen Begriff von Erkenntnis als Übereinstimmung von Einbildungskraft und Verstand exemplifiziert. Aber beim Geschmacksurteil scheidet diese Möglichkeit gerade aus, weil es, wie Kant sagt, kein Erkenntnisurteil ist oder, wie ja mehrfach betont wird, nicht auf Begriffen vom Gegenstand beruht. Wie aber soll die Beurteilung eines Gegenstandes aussehen, die aufeinander bezieht, was nicht zueinander zu passen scheint: eine konkrete anschauliche Gegebenheit und ein abstrakter, in keiner Anschauung zu gebender allgemeiner Sachverhalt? Welche Möglichkeiten bieten sich an? – Entweder schreibt man Kant die Auffassung zu, daß »im Geschmacksurteil« mit der Feststellung von Schönheit der ganz eigenartige Fall vorliegt, daß die Betrachtung (der Gestalt) eines Gegenstandes den Betrachter zweierlei denken und aufeinander beziehen läßt, nämlich erstens, daß Erkenntnis, überhaupt und im allgemeinen genommen, Übereinstimmung von Verstand und Einbildungskraft sei, und zweitens, daß dies Verhältnis hier vorliege, wenngleich in der Form des freien Zusammenspiels zwischen einer tätigen Einbildungskraft und dem Verstand als dem Organ möglicher passender Begriffe. Diese

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Deutung liefert zwar alles, was für eine prinzipielle Rechtfertigung des Geschmacks erforderlich ist; aber man mag einwenden, daß sie weithergeholt, konstruiert und der Sache nach unplausibel sei.5 Oder man versteht Kants Ausführungen über das freie Spiel von Einbildungskraft und Verstand als Aufnahme der These, daß das Schöne aufgrund seiner Gestalt uns gleichsam entgegenkomme und uns das Geschäft der Erkenntnis erleichtere, indem der Gegenstand genügend Regelmäßigkeit bietet, um unserem Bedürfnis nach Verständlichkeit und Durchsichtigkeit entgegenzukommen, und genügend Abweichung und Varianz, um der Langeweile des »Steif-Regelmäßigen« (72/242) vorzubeugen. Das war eine im 18. Jahrhundert durchaus gängige These, und entsprechende Beschreibungen waren Gemeingut, keine besser als die von Montesquieu in der Encyclopédie.6 Aus einer solchen Auslegung des Schönen ergeben sich für Kant aber verschiedene Mißlichkeiten: Zwar beschreibt sie eine (erfreuliche) Erfahrung, aber sie liefert keinen Gesichtspunkt einer Beurteilung, denn (erstens) kann man angesichts eines gegebenen Gegenstandes nicht gut die Frage stellen, ob er das Geschäft der Erkenntnis erleichtere oder nicht, ohne die betreffende Erfahrung schon gemacht zu haben. Dann aber (zweitens) müßte das Erkenntnisgeschäft auch schon erledigt sein, denn man kann nicht die Erfahrung der Erleichterung einer Tätigkeit machen, ohne die entsprechenden Handlungen auch zu vollziehen. Das widerspräche jedoch Kants These, daß das Geschmacksurteil kein Erkenntnisurteil und vom Begriffe des Gegenstandes unabhängig sei. Und wer mag (drittens) ausschließen, daß das Erkenntnisgeschäft dort am allereinfachsten zu vollbringen ist, wo völlig variationslose, also langweiligste Regelmäßigkeiten und Symmetrien herrschen und einem die Begriffe förmlich ins Auge springen? Demnach müßte aber am schönsten sein, was nach Kant gerade nicht schön ist: das »Steif-Regelmäßige« (71/242) nämlich. Diesen Mißlichkeiten entgeht, wer aus der allgemeinen Theorie empirischer Begriffe Bedingungen der schönen Form und damit einen Gesichtspunkt ableitet, unter dem gegebene Gegenstände beurteilt werden können. Das kann etwa folgendermaßen aussehen: Empirische Gegenstandsbegriffe lassen sich nur dann applizieren, wenn die in Frage kommenden Gegenstände eine in den Begriffen jeweils mitgeDieser von mir vorgeschlagenen Deutung vorzuhalten, sie unterstelle Kant eine Auffassung, die die Absurdität zur Konsequenz hat, daß alles, was erkannt werden kann, auch schön sei, übersieht, daß nur schöne Dinge den Betrachter zur beschriebenen Reflexion veranlassen sollen und daß eine Aussage des Inhalts, daß alles Erkennbare die Bedingungen von Erkenntnis erfüllt, nicht nur trivial ist, sondern vor allem keine Betrachtung eines einzelnen gegebenen Gegenstandes, keine Reflexion einschließt. 6 Vgl. den Artikel »Goût« in: Diderot, d’Alembert: Encyclopédie. Paris 1757. Bd. VII. S..763: »L’âme aime la variété, mais elle ne l’aime […] que parce qu’elle est faite pour connaître et pour voir. Il faut donc qu’elle puisse voir, et que la variété le lui permettre, c’est à dire, il faut qu’une chose soit assez simple pour être apperçue, et assez variée pour être apperçue avec plaisir.« - Vgl. zu diesem Zusammenhang Thomas Baumeister, »Kants Geschmackskritik zwischen Transzendentalphilosophie und Psychologie«, in: Herman Parret (Hrsg.): Kants Ästhetik - Kant’s Aesthetics L’Esthétique de Kant. Berlin u. New York 1998. 5

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dachte Form aufweisen. Daß dies Kants Meinung gewesen ist, ist sicher.7 Nimmt man nun weiter an, daß nicht beliebige Formen die Rolle spielen können, sozusagen das Anschauungsgegenstück zu einem empirischen Begriff zu sein, sondern daß es hier einschränkende Bedingungen gibt, Formtypen gewissermaßen, die aber qua Typ zugleich anschauliche Formen sind, dann läßt sich eine Beurteilung von gegebenen Gegenständen denken, die sie – und zwar vor dem Gebrauch bestimmter Begriffe – daraufhin untersucht, ob sie den Formtyp aufweisen, der die Voraussetzung ist, damit sich überhaupt bestimmte empirische Begriffe applizieren lassen, Schönheit wäre dann nichts anderes als das Ensemble der begriffsadäquaten Formtypen. – Das scheint Henrichs Interpretation zu sein.8 Gegen sie sprechen aber folgende Einwände: Wie solche einschränkenden Formeigenschaften auch immer zu bestimmen sein könnten, sicher ist, daß es gewisse Ordnungsstrukturen sein müssen, Regelmäßigkeiten, hätte Kant gesagt. Dann aber scheint die folgende Passage das gerade Dementi der vorgeschlagenen Lesart zu sein: »Die Regelmäßigkeit, die zum Begriffe von einem Gegenstande führt, ist zwar die unentbehrliche Bedingung […], den Gegenstand in eine gewisse Vorstellung zu fassen und das Mannigfaltige in der Form desselben zu bestimmen. Diese Bestimmung ist ein Zweck in Ansehung der Erkenntnis; und in Beziehung auf diese ist sie auch jederzeit mit Wohlgefallen […] verbunden. Es ist aber alsdenn bloß die Billigung einer Auf lösung, die einer Aufgabe Genüge tut, und nicht eine freie und unbestimmt-zweckmäßige Unterhaltung der Gemütskräfte mit dem, was wir schön nennen, und wobei der Verstand der Einbildungskraft und nicht diese jenem zu Diensten ist.« (71/242) Ferner könnte (wollte man Henrichs Interpretation folgen) nur derjenige ein kompetenter Beurteiler des Schönen sein, der sich in der Theorie der Begriffe und in den allgemeinen Applikationsbedingungen für empirische Begriffe auskennte. Aber man muß kein Erkenntnis- oder Begriffstheoretiker sein, um ein kompetenter Beurteiler des Schönen sein zu können. Oder anders gesagt: Zum Bewußtsein dessen, der – ohne Begriffe von den Gegenständen zu besitzen – die anschauliche Mannigfaltigkeit gegebener Gegenstände betrachtet, gehört der besagte Beurteilungsgesichtspunkt nicht; folglich liefert ihm der Hinweis auf Sachverhalte aus der Theorie der Begriffe und der Bedingungen ihrer Applikation kein Wissen, das ihn in der Praxis seiner Geschmacksurteile rechtfertigen würde. Eine vierte Lesart von Paragraph 9 versteht ihn, ganz wörtlich, tatsächlich nur als »Schlüssel zur Kritik des Geschmacks«, das heißt, nur als die Skizze einer Lösung des Problems und als die Bezeichnung der Richtung, in der die Lösung zu finden sein soll. Konkret heißt das: Paragraph 9 postuliert nur eine Beurteilung des Gegenstandes, die vor der Lust vorhergeht, und gibt nur eine abstrakte Beschreibung dieser Beurteilung. Gemäß diesem abstrakten Postulat gilt es – ohne schon Begriffe zu Vgl. z.B. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft. A 137/B 176. Vgl. Dieter Henrich: Aesthetic Judgment and the Moral Image of the World. Stanford, Calif. 1992. 7 8

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applizieren – festzustellen, ob ein gegebener Gegenstand die Anschauungsbedingung dafür erfüllt, daß sich Begriffe auf ihn applizieren lassen. Da es im Prinzip aber immer möglich ist, zu gegebenen Gegenständen Begriffe zu finden, kann eine solche Frage nur mit Bezug auf bestimmte Typen von Begriffen Sinn haben. Ob es eine solche Art der Beurteilung allerdings wirklich gibt und wie sie konkret aussieht, ist damit noch völlig offen. Paragraph 9 ist also tatsächlich nur die »Untersuchung der Frage, ob im Geschmacksurteile das Gefühl der Lust vor der Beurteilung des Gegenstandes oder diese vor jener vorhergehe« (27/216) und ist eine Option für den zweiten Fall, und zwar aus dem schlichten Grund, daß sich der Befund der Analytik (§§.1-8) anders nicht erklären ließe. Die in Paragraph 9 gelieferte abstrakte Beschreibung einer Beurteilung, der der Gegenstand eines Geschmacksurteils unterworfen wird, spezifiziert aber den Gesichtspunkt einer solchen Beurteilung noch keineswegs. Nur eines scheint mir klar zu sein: Die Beurteilung besteht in keiner anderen als der Frage, ob etwas schön sei oder nicht. Offen ist nur, worauf der Beurteiler des Schönen achtet und worauf nicht, die Applikationsbedingung welcher Art von Begriffen er dabei im Auge hat und wie er feststellt, ob sie erfüllt ist oder nicht. Die Antwort auf diese Fragen liefert die Theorie der schönen Form.

V. Von einer Theorie der schönen Form zu reden, ist eigentlich etwas vollmundig; die entscheidende Aussage besteht in dem berühmten Satz: »Schönheit ist Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie ohne Vorstellung eines Zwecks an ihm wahrgenommen wird.« (61/236) Was heißt das? Gehen wir zu Paragraph 10 zurück, so ist die forma finalis (das heißt die Zweckmäßigkeit) die Realkausalität eines Begriffs in bezug auf den Gegenstand, der unter ihn fällt; der Gegenstand selbst ist der Zweck. Diese ontologische (oder »transzendentale«) Bestimmung, »was ein Zweck sei« (32/219), wird dadurch konkret, daß wir die forma finalis nur in der Form der Produktivität vernünftiger Wesen kennen, die unter Anleitung einer Vorstellung davon, was sie hervorbringen wollen, auch tatsächlich etwas hervorbringen. In dieser Begriff lichkeit steckt eine Unklarheit: Wird der Gegenstand, dessen Realgrund seiner Möglichkeit ein Begriff ist, selbst als Zweck bezeichnet, dann heißt das zunächst nur, daß der Gegenstand das Produkt absichtsvollen, möglicherweise einer Regel folgenden Handelns ist. Das aber schließt noch nicht ein, was freilich bei den allermeisten Artefakten der Fall ist, nämlich daß sie ihrerseits Funktionsdinge, also nicht nur selbst ein Zweck, sondern außerdem dazu da sind, andere Zwecke zu erfüllen. In diesem Fall würde die Funktionalität ein Moment der Vorstellung sein, an der sich das produzierende Handeln orientiert. Daraus ergibt sich, daß der Gesichtspunkt der Zweckdienlichkeit der hervorzubringenden Objekte in der Regel auch zu einer funktionalen Strukturiertheit der Artefakte führt: Der

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Zweck einer exakten Zeitmessung durch mechanische Apparate etwa bedingt die funktionale Form und Verbindung der Teile einer Uhr. Dieser Charakter einer funktionalen Gliederung spielt nun für die Erklärung der Schönheit eine wichtige Rolle. Die nächsten Schritte Kants sind einfach: Einmal (so stellt er fest) gibt es eben Dinge, deren Existenz und bestimmte Verfassung nur aus der handlungsleitenden Vorstellung dessen zu erklären sind, der sie in absichtsvollem Handeln hervorbrachte, nämlich die Artefakte. Sodann gibt es Dinge, die nicht Artefakte, also nicht Resultate der Produktivität vernünftiger Wesen sind, aber deren Existenz und bestimmte Verfassung »von uns nur erklärt und begriffen werden [können], sofern wir eine Kausalität nach Zwekken, d. i. einen Willen, der sie nach der Vorstellung einer gewissen Regel so angeordnet hätte, zum Grunde derselben annehmen. Die Zweckmäßigkeit kann also ohne Zweck sein, sofern wir die Ursachen dieser Form nicht in einem Willen setzen, aber doch die Erklärung ihrer Möglichkeit nur, indem wir sie von einem Willen ableiten, uns begreif lich machen können« (33/220). Hier dient die forma finalis also nur zu einer Art Als-ob-Erklärung: Manchmal können wir uns etwas nur begreif lich machen, indem wir das Ding ansehen, als wäre es Zweck, obwohl es an sich nicht Zweck ist, das heißt: als wäre es durch Handeln nach einer Vorstellung, wenn nicht gar nach einer Handlungsregel hervorgebracht worden, obwohl das nicht der Fall ist. – Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, daß dieser Typus einer Als-obErklärung für Kant kein exotischer Ausnahmefall, sondern als teleologische Erklärung in den biologischen Wissenschaften zu seiner Zeit der Regelfall ist.9 Allerdings kann sich eine solche Erklärung nicht des schlichten Modells eines vorstellunsgeleiteten produktiven Handelns bedienen, sondern muß das um ein begriff liches Element reichere Modell des Hervorbringens von auch innerlich strukturierten Dingen benutzen. Denn was diese Betrachtungsweise veranlaßt, ist die Form des Gegenstandes, also die Organisiertheit der Lebewesen, deren Körperteile den Funktionen entsprechen und angepaßt sind, die sie zu erfüllen haben. Wie lebendige Organismen an sich eigentlich entstehen, begreifen wir eigentlich gar nicht oder eben allenfalls in der Form einer Als-ob-Erklärung »nach einer entfernten Analogie mit unserer Kausalität nach Zwecken« (295/375). Kant behauptet nun, daß es noch einen dritten Fall gebe, den er so beschreibt: »Nun haben wir das, was wir beobachten, nicht immer nötig, durch Vernunft (seiner Möglichkeit nach) einzusehen. Also können wir eine Zweckmäßigkeit der Form nach, auch ohne daß wir ihr einen Zweck (als die Materie des nexus finalis) zum Grunde legen, wenigstens beobachten und an Gegenständen, wiewohl nicht anders Es ist hier nicht wichtig, daß man eine Explikation des Begriffs der teleologischen Erklärung geben kann, für die das Modell intentionalen produktiven Handelns keine explanatorische Funktion besitzt (vgl. Wolfgang Stegmüller: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie. Heidelberg 1969. Bd. 1. Kap. VIII: »Teleologie, Funktionalanalyse und Selbstregulation«). Tatsache bleibt, daß Kant die teleologische Erklärung nicht ohne Rückgriff auf eine »Kausalität nach Zwecken, d.i. einen Willen« glaubte erklären zu können. 9

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als durch Ref lexion bemerken.« (33.f./220) Dies ist der für Kant interessante Fall, denn wer so durch Ref lexion eine Zweckmäßigkeit der Form nach feststellt, erblickt die Schönheit. Aber was ist damit und wie ist es genau gemeint? So viel ist klar: Natürlich müssen wir nicht alles, was wir beobachten, teleologisch erklären (»durch Vernunft […] einsehen«), selbst dann nicht, wenn wir es könnten. Aber wir können darüber ref lektieren, und zwar selbst dann, wenn wir den Gegenstand »durch Vernunft (seiner Möglichkeit nach)« nicht einsehen und erklären können. Worin aber besteht das Ref lektieren, so daß gegebenenfalls »durch Ref lexion« an einem Gegenstand eine »Zweckmäßigkeit der Form nach« bemerkt wird? Greift man auf die Unterscheidung zwischen bestimmender und ref lektierender Urteilskraft zurück, dann heißt ref lektieren, zum gegebenen Besonderen das Allgemeine suchen (XXV.f./179). Das Allgemeine soll sein: Regel, Prinzip oder Gesetz. Da es der Betrachtung eines Gegenstandes, die gegebenenfalls seine Schönheit bemerkt, auf Regel, Prinzip oder Gesetz aber nicht ankommt, kann dieser Typ von Ref lexion hier nicht gemeint sein. – Die »Erste Einleitung« wartet mit der Bestimmung auf, ref lektierende Urteilskraft sei die Fähigkeit, »über eine gegebene Vorstellung zum Behuf eines dadurch möglichen Begriffs, nach einem gewissen Prinzip zu ref lektieren«.10 Auch diese Erklärung von Ref lexion paßt nicht (jedenfalls nicht ohne nähere Erläuterung, was mit »einem gewissen Prinzip« gemeint ist). Denn zum einen würde man bei der Suche nach Begriffen immer irgendwie fündig werden, aber höchstwahrscheinlich nicht just auf ›Form der Zweckmäßigkeit abzüglich der Vorstellung eines Zwecks‹ verfallen; zum andern betont Kant ja oft genug, daß der Betrachter des Schönen nicht auf Begriffe aus ist. Was Kant im Auge hat, wird vielleicht am Beispiel klar. Zur dritten Erklärung des Schönen: »Schönheit ist Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie ohne Vorstellung eines Zwecks an ihm wahrgenommen wird« (61/236), macht er eine erläuternde Anmerkung. So meint diese Erklärung nicht den Fall eines Objektes, das eine »zweckmäßige Form« erkennen läßt, auch ohne daß wir die leitende Absicht bei der Hervorbringung dieses Gegenstandes oder seinen Zweck kennten. Es genüge, sagt Kant, das Objekt als ein Artefakt anzusehen, um es auch auf eine bestimmte Absicht und einen bestimmten Zweck zu beziehen (mögen diese auch nicht bekannt sein). Das erläutert, was in der dritten Erklärung der einschränkende Nachsatz »sofern sie ohne Vorstellung eines Zwecks an ihm wahrgenommen wird« bedeutet: nicht, daß man de facto keine Vorstellung eines Zweckes hat, ist die Bedingung, sondern daß man die Form der Zweckmäßigkeit wahrnimmt, ohne die Frage nach einem Zweck überhaupt im Blick zu haben. Erinnert man sich, daß gemäß der Einführung der Terminologie der forma finalis der Gegenstand, dessen Begriff der reale Grund seiner Möglichkeit ist, der Zweck ist, dann bedeutet der einschränkende Satz in der dritten Erklärung der Schönheit dies, daß die Frage, ob und wie die Existenz des betreffenden Objekts erklärt werden kann, bei jener Betrachtung oder 10

Vgl. Akademie-Ausgabe Bd..XX. S..211.

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Beurteilung, der es um die Schönheit geht, einfach keine Rolle spielt. Dementsprechend formuliert Kant in der Anmerkung zur dritten Erklärung den positiv einschlägigen Fall: »Eine Blume dagegen, z..B. eine Tulpe, wird für schön gehalten, weil eine gewisse Zweckmäßigkeit, die so, wie wir sie beurteilen, auf gar keinen Zweck bezogen wird, in ihrer Wahrnehmung angetroffen wird.« (61/236 Anm.) Aber dieses Beispiel genügt noch nicht, um klar zu machen, was geschieht, wenn wir durch Ref lexion eine gewisse Zweckmäßigkeit wahrnehmen. Was ist das für eine Art der Beurteilung, die es erlaubt, »eine gewisse Zweckmäßigkeit« festzustellen, ohne sie auf einen Zweck zu beziehen? Ein wichtiger Hinweis ist es, daß Kant als positiv einschlägiges Beispiel kein Artefakt, sondern ein Lebewesen wählt. Denn die Lösung des Rätsels ergibt sich aus Kants Theorie des lebendigen Organismus, den er terminologisch als »Naturzweck« bezeichnet (so, als wären die lebendigen Organismen gewissermaßen die Artefakte der Natur). Ein Ding ist ein Naturzweck, wenn drei Bedingungen erfüllt sind. Erstens, »daß die Teile (ihrem Dasein und der Form nach) nur durch ihre Beziehung auf das Ganze möglich sind. Denn das Ding selbst ist ein Zweck, folglich unter einem Begriffe oder einer Idee befaßt, die alles, was in ihm enthalten sein soll, a priori bestimmen muß« (290/373). Zweitens, »daß die Teile des Ganzen sich dadurch zur Einheit eines Ganzen verbinden, daß sie voneinander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind. Denn auf solche Weise ist es allein möglich, daß (umgekehrt) die Idee des Ganzen wiederum die Form und Verbindung aller Teile bestimme [… und zwar] als Erkenntnisgrund der systematischen Einheit der Form und Verbindung alles Mannigfaltigen, was in der gegebenen Materie enthalten ist, für den, der es beurteilt« (291/373). – Da diese Art der Organisiertheit aber auch künstlich sein kann (Kants Beispiel ist das einer Uhr), besteht das unterscheidende Merkmal für lebendige Organisiertheit (drittens) darin, daß Naturzwecke »sich selbst organisierende Wesen« sind (292/374). Wichtig ist nun Kants Betonung, daß die Form, sowohl der Teile als auch des Ganzen eines Organismus, ein wesentliches Moment von Organisiertheit ist. Mit anderen Worten heißt das, daß Organisiertheit sozusagen nicht verborgen bleiben kann, sondern sich in der Form des Dinges äußert; im Idealfall so, daß die innere und äußere Form vollständig durch den Funktionszusammenhang des Organismus bestimmt ist (ein Idealfall, der vielleicht überhaupt nur im Reich der sich selbst organisierenden Wesen vorkommt). Ein weiteres läßt sich erschließen, daß nämlich die Form der Organisiertheit auch dann wahrnehmbar ist, wenn man vom Zweck (als der »Materie des nexus finalis«) keine Ahnung oder den Zweck einfach nicht im Blick hat, weil man nach der Möglichkeit des Daseins solcher Dinge gar nicht fragt. Man nimmt Organisiertheit wahr, wenn man die »systematische Einheit der Form und Verbindung alles Mannigfaltigen, was in der gegebenen Materie enthalten ist«, erfaßt. Man erfaßt dann »Zweckmäßigkeit der Form« nach, weil kein Zweck (keine »Materie des nexus finalis«) im Blick ist. Und man erfaßt, was Kant die »Form der Zweckmäßigkeit« nennt, weil es

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jetzt bei der »systematischen Einheit der Form und Verbindung alles Mannigfaltigen« nur um die wahrnehmbare Gestalt geht. Die Formel, die Kant zur Beschreibung von Organisiertheit verwendet, ist unschwer als die klassische Definition der Schönheit zu erkennen. Und von daher wundert es nicht allzusehr, bei der Behandlung der Naturzwecke auch dem folgenden Satz zu begegnen: »Schönheit der Natur, weil sie den Gegenständen nur in Beziehung auf die Ref lexion über die äußere Anschauung derselben, mithin nur der Form der Oberf läche wegen beigelegt wird, kann mit Recht ein Analogon der Kunst genannt werden.« (294/375). Daß die Schönheit der Natur ein Analogon der Kunst genannt werden kann, bedeutet, daß das, was hier die Schönheit ausmacht, auch an Artefakten begegnen kann, aber natürlich kann an Artefakten nicht anzutreffen sein, was das Lebewesen als solches auszeichnet, nämlich Selbstorganisation zu sein. Dieser Aspekt gehört aber auch nicht in eine Ref lexion über die äußere Anschauung oder über die Form der Oberf läche, weil er zum Problem gehört, wie man die Existenz solcher Dinge erklären kann. Und natürlich ist (wenn wir es denn überhaupt je erklären können) dasjenige, was das Dasein und das Entstehen solcher sich selbst organisierenden Wesen erklärt, nichts, was an ihrer Oberf läche wahrgenommen werden kann. Damit ist klar, was Schönheit ist, nämlich eine Form- oder Gestalteigenschaft, und ist klar, worin sie besteht, nämlich in der äußeren Form der Organisiertheit, in der »systematischen Einheit der Form und Verbindung alles Mannigfaltigen«, das in einer Vorstellung, durch die ein Gegenstand gegeben wird, enthalten ist. Daraus lassen sich Konsequenzen und Rückschlüsse ziehen. Erstens wissen wir jetzt, was Schönheit ist und daß die »Form der Zweckmäßigkeit« nichts anderes als die äußere Form der Organisiertheit ist. Zweitens wissen wir jetzt, was mit der Ref lexion über einen gegebenen Gegenstand gemeint ist und daß solche Ref lexion einen Gesichtspunkt hat, der uns in der Tat nicht nötigt, den Gegenstand seiner Möglichkeit nach durch Vernunft einzusehen: Es ist der Gesichtspunkt der äußeren Form der Organisiertheit, der mit der Frage, wie ein solches Ding möglich ist, nichts zu tun hat. Weiter ist es so, daß dieser Gesichtspunkt der Reflexion identisch ist mit dem Gesichtspunkt jener Beurteilung, der (nach Paragraph 9) ein gegebener Gegenstand unterzogen wird und die der Lust an ihm vorhergehen soll: Die Frage, die der Beurteiler stellt, wenn er entscheiden will, ob ein Gegenstand schön ist oder nicht, ist, ob er die äußere Form der Organisiertheit aufweist oder nicht. Und schließlich kann man mit einem gewissen Recht sagen, daß dann, wenn durch Ref lexion die Form der Zweckmäßigkeit bemerkt wird (was wir als eine Leistung der Einbildungskraft ansehen können), insofern eine Übereinstimmung von Einbildungskraft und Verstand gegeben ist, als die anschauliche Form der Organisiertheit die Voraussetzung dafür ist, überhaupt jenen Typ von Begriffen ins Spiel zu bringen, die den Gegenstand als Zweck betreffen, das heißt, die die reale Möglichkeit seiner funktionalen Organisation wie seiner Existenz und Entstehung betreffen. Das ist so, weil wir, ohne die Form der Zweckmäßigkeit wahrzunehmen, gar nicht auf den Gedanken kä-

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men, den Schritt zu einer Materie des nexus finalis zu machen, also zu einer Erklärung der Existenz des Gegenstandes in terminis einer »Kausalität nach Zwecken« anzusetzen. Ohne daß wir aufgrund der äußeren Gegebenheiten den Eindruck hätten, hier habe ein vernünftiges Wesen nach der Vorstellung eines Zwecks gehandelt (selbst wenn wir wissen, daß das nicht der Fall ist), ohne daß wir den Eindruck hätten, hier sei eine Idee des Ganzen ontologisch früher als die Sache selbst, gäbe es keinen Grund und keinen Anhaltspunkt für den Versuch einer teleologischen Erklärung. Daher gibt es in diesem Fall (und man sieht nicht, in welchem Fall sonst noch) eine Bezugnahme auf einen Typ von Erkenntnis, noch ehe auch geeignete Begriffe für eine bestimmte Erkenntnis dieser Art zur Verfügung stehen. Das Urteil, welches Schönheit feststellt, impliziert also, könnte man sagen, keine Erklärung des Beobachteten seiner Möglichkeit nach, aber das Erfülltsein einer Bedingung dafür, daß eine Erklärung in terminis von Zweckmäßigkeit und Zweck (wie immer sie konkret aussehen mag) überhaupt am Platze ist. Das alles bedeutet aber, daß es die Beurteilung des Gegenstandes, die Paragraph 9 postuliert, gar nicht schlechthin und im allerumfassendsten Sinne mit Erkenntnis (welcher Art auch immer) zu tun hat, sondern, daß sich die Frage, ob etwas schön sei oder nicht, immer im Horizont der Zweckmäßigkeit bewegt, wie Kant sie einführt: Die Frage ist immer, ob der gegebene Gegenstand seiner Gestalt nach den Eindruck macht, als habe hier ein Begriff Pate gestanden, aus dem sich die systematische Einheit der Form und Verbindung alles Mannigfaltigen einer gegebenen Anschauung erklärte. Daß die Wahrnehmung einer systematischen Einheit von Form und Verbindung alles Mannigfaltigen einer Anschauung mit einem Gefühl der Lust verbunden ist, hat man im ganzen 18. Jahrhundert für eine anthropologische Gegebenheit gehalten. Das ist bei Kant letztlich nicht anders, wenn er die Wahrnehmung des Schönen als den Fall eines freien Zusammenspiels von Einbildungskraft und Verstand beschreibt, als den Fall also, in dem zwei Bedürfnisse unserer Natur zugleich befriedigt werden: das Bedürfnis nach Durchsichtigkeit und Verständlichkeit und das Bedürfnis nach Mannigfaltigkeit und Abwechslung. – Wichtiger ist etwas anderes: Eine Betrachtung der Gegenstände zwar unter dem Gesichtspunkt ihrer äußeren Organisiertheit, aber ohne Blick auf einen Zweck besitzt all die Zweck- und Funktionsbegriffe natürlich gerade nicht, die es erlauben würden, die Einheit eines Ganzen dadurch genau und objektiv zu erfassen, daß man angibt, in welcher Weise alle Teile »von einander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind« (191/373). Das bedeutet, daß man zwar den Eindruck haben kann, es fügten sich im gegebenen Falle alle Teile so zueinander, daß das Ganze die Gestalt systematischer Einheit hat, und daß man diesen Eindruck durch Hinweise aller Art auch sichern und verdeutlichen kann, daß man ihn aber möglicherweise demjenigen, der die systematische Einheit nicht wahrnimmt, nicht vermitteln kann. Was dann letztlich übrigbleibt, ist vielleicht weniger die rechthaberische Berufung auf das eigene Gefühl als vielmehr die Evidenzerfahrung des interesselosen Wohlgefallens, wie sich alles anschauliche Material des gegebenen Gegenstandes zu einer systematischen Einheit seiner Gestalt zusammenfügt.

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VI. Was ist mit dieser Interpretation erreicht, was nicht? – Zunächst wird man ihr vorhalten, in krassester Weise ein objektivistisches Mißverständnis zu sein, weil sie aus der Schönheit mache, was diese nach Kant doch angeblich expressis verbis nicht sei: eine begriff lich faßbare, objektive Gegenstandseigenschaft nämlich. Doch dieser Vorwurf wäre haltlos. Was Kant ausschließt, wenn er behauptet, das Schöne gefalle ohne Begriff, ist, daß man eine Definition der Schönheit geben kann, die es erlaubte, jemandem, dem der fragliche Gegenstand nicht sinnlich präsent ist, zu demonstrieren, daß er schön ist, oder die es erlaubte, einen Grundsatz aufzustellen, »unter dessen Bedingung man den Begriff eines Gegenstandes subsumieren und alsdann durch einen Schluß herausbringen könnte, daß er schön sei« (143/285). In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Kant behauptet, daß es kein objektives Prinzip des Geschmacks gebe. Aber mit der Bestimmung der Schönheit als Form der Zweckmäßigkeit im Sinne der äußeren Form der Organisiertheit steht es genau so, wie Kant verlangt: Selbst aus dem Begriff einer Art von Dingen, die Naturzwecke sind, folgt nicht, daß ein bestimmtes gegebenes Einzelexemplar dieser Art die äußere Form der Zweckmäßigkeit aufweist oder eine systematische Einheit seines Mannigfaltigen realisiert (schließlich müssen sich Tulpen entfalten und können Rosen verwelken oder können tausend Zufälle die Form beschädigen). Mit anderen Worten: Der Begriff des Gegenstandes (was er sei und zu welcher Art von Dingen er gehöre) spielt bei der ref lektierenden Betrachtung eines einzelnen gegebenen Gegenstandes und für die Beurteilung seiner Schönheit keine Rolle; das schließt aber überhaupt nicht aus, daß die Beurteilung des Gegenstandes einen angebbaren Gesichtspunkt hat und daß auf diese Art eine Eigenschaft des Gegenstandes festgestellt wird. Der Gesichtspunkt der Beurteilung ist durch den Begriff der Schönheit gegeben, nämlich daß sie die Gestaltform der Zweckmäßigkeit sei. Die vorgeschlagene Interpretation erreicht zweierlei. Sie deckt den Zusammenhang zwischen Paragraph 9 und Kants Rekurs auf die Kategorie der Zweckmäßigkeit auf; Paragraph 9 liefert zwar einen Schlüssel, aber erst in der folgenden Abhandlung über die schöne Form wird er im Schloß gedreht. Außerdem muß der Fall nicht nur postuliert, sondern kann konkret beschrieben werden, der die Aussage erlaubt, daß in diesem Fall die Auffassung der anschaulichen Gestalt eines Gegenstandes zur Übereinstimmung von Einbildungskraft und Verstand führt, letzterer als das Vermögen jener Zweck- und Funktionsbegriffe verstanden, die die Möglichkeit organisierter Wesen erklären. Diese Aussage basiert darauf, daß wir zwar, was wir beobachten, nicht immer nötig haben, durch Vernunft einzusehen, daß es umgekehrt aber der Wahrnehmung der Form der Organisiertheit bedarf, um den speziellen Typ der teleologischen Erklärung überhaupt für angebracht, wenn nicht gar für erforderlich und aussichtsreich zu halten. Aber wird auf diese Weise auch gegeben, was oben (S. 32 f.) als eine prinzipielle Rechtfertigung der Geschmacksurteile verlangt worden ist? – Das ist nicht ganz

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leicht zu entscheiden. Denn es hat eine große Plausibilität, Schönheit als Form der Organisiertheit und die Wahrnehmung solcher Organisiertheit als den Eindruck zu interpretieren, es habe hier ein vernünftiges Wesen, man weiß nicht nach welcher Vorstellung, zweckvoll gehandelt. Und es leuchtet ebenfalls ein, daß die Wahrnehmung von Organisiertheit, und das heißt eben für Kant: daß der Eindruck, es habe hier ein vernünftiges Wesen, man weiß nicht nach welcher Vorstellung zweckvoll gehandelt, die Bedingung dafür ist, Erklärungen von Dasein und Gestalt solcher Gegenstände mit Hilfe von Zweckbegriffen überhaupt für sinnvoll zu halten und in Gang zu bringen. Wenn es aber derselbe Eindruck ist, den wir mit der Wahrnehmung der Schönheit verbinden und der die Bedingung dafür ist, einen bestimmten Typus von Erklärung überhaupt in Angriff zu nehmen, soll man dann nicht auch sagen können, daß diese zweite Rolle des genannten Eindrucks ebenso zur Wahrnehmung des Schönen gehöre wie der genannte Eindruck selbst, so daß auf diese Weise für den Beurteiler des Schönen ein Bezug auf (eine bestimmte Form von) Erkenntnis gegeben wäre? Das folgt leider nicht, denn eines ist es, sich bei der Frage, ob etwas schön sei oder nicht, von der Idee der Organisiertheit oder von dem Gesichtspunkt leiten zu lassen, ob sich hier alles sinnvoll und wie durch ein vernünftiges Wesen organisiert zusammenfüge; ein anderes ist es, aufgrund des Umstandes, daß ein Gegenstand durch seine Gestalt den Eindruck vermittelt, es füge sich hier alles sinnvoll und wie durch ein vernünftiges Wesen organisiert zusammen, zu einer Erklärung der Realmöglichkeit des Gegenstandes überzugehen, sei es in terminis des materialen nexus finalis (bei Artefakten), sei es im Modus der Zweckmäßigkeit bloß der Form nach (bei lebendigen Organismen zum Beispiel). Ein und derselbe Eindruck spielt zwei verschiedene Rollen; aber von der epistemischen Funktion der Form der Zweckmäßigkeit braucht derjenige nichts zu wissen, der unter dem Gesichtspunkt der Form der Zweckmäßigkeit die Frage entscheidet, ob etwas schön ist oder nicht.

Freies Spiel und Form der Zweckmäßigkeit in Kants Ästhetik Zur Frage nach dem schönen Gegenstand Von Christel Fricke

Kant sieht sich durch seine Analyse unserer reinen Geschmacksurteile, der Urteile, in denen wir etwas als schön oder nicht schön beurteilen, vor das folgende Dilemma gestellt: Einerseits sind diese Urteile keine Erkenntnisurteile sondern ästhetische Urteile, denn wir beurteilen Gegenstände als schön oder nicht schön, weil sie uns ein Gefühl, ein interesseloses Wohlgefallen oder Mißfallen erleben lassen. Andererseits aber verbinden wir mit diesen Urteilen einen Anspruch auf allgemeine Gültigkeit, wie er nicht im Rekurs auf ein Gefühl, sondern nur im Rekurs auf objektive Erkenntnis und ihre Bedingungen gerechtfertigt werden kann. Kant versucht, den Geltungsanspruch der reinen Geschmacksurteile zu rechtfertigen, ohne sie den Erkenntnisurteilen anzugleichen oder ihren ästhetischen Charakter in Frage zu stellen. Es geht ihm um die Aufklärung dessen, was wir eigentlich meinen, wenn wir einen Gegenstand als schön oder nicht schön beurteilen, sowie um die Gründe für diese Beurteilung und deren intersubjektive Gültigkeit. Leitidee der Kantischen Theorie des reinen Geschmacksurteils, der von Kant selbst so genannte »Schlüssel zur Kritik des Geschmacks«,1 ist die Idee, daß uns in dem interesselosen Wohlgefallen am Schönen ein kognitiver Gemütszustand bewußt wird, den Kant auch als »freies Spiel«2 und als »wechselseitige Zusammenstimmung«3, also als harmonische Proportion der Erkenntniskräfte Einbildungskraft und Verstand beschreibt.4 Das Wohlgefallen am Schönen versteht er damit nicht nach dem Modell der Lust am Angenehmen, eines physisch bewirkten körperlichen Gefühls, sondern nach dem Modell des moralischen Gefühls der Achtung, welches er als ein intellektuell begründetes Gefühl analysiert.5 1 Ich zitiere die »Kritik der Urteilskraft« (KU) nach Paragraphennummer und Paginierung der dritten Kantischen Originalauflage. Berlin 1799 (vgl. die Randpaginierung in der Ausgabe der Philosophischen Bibliothek Bd. 39a. 6. Aufl. Hamburg 1924 u.ö.), die »Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft« (EE) nach der Abschnittsnummer und Paginierung des Originalmanuskripts (vgl. die Randpaginierung in der Ausgabe der Philosophischen Bibliothek Bd. 39b. 2. Aufl. Hamburg 1970). Hier: KU §.9. S..27. 2 KU §.9. S..28. 3 Ebd., S..31. 4 Zum Verhältnis des »freien Spiels« und der »harmonischen Proportion« der Erkenntniskräfte vgl. von der Verfasserin: Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils. Berlin 1990, insbes. S..49-50. 5 Vgl. zum Zusammenhang zwischen dem interesselosen Wohlgefallen am Schönen und dem moralischen Gefühl der Achtung von der Verfasserin: The Good, the Bad, and the Ugly. In: Proceedings of the Eighth International Kant Congress. Memphis 1995. Vol. I. S..793-802.

ZÄK Sonderheft · Jahrgang 2000 · © Felix Meiner Verlag 2000 · ISSN 1439-5886

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Die Auffassung des Dilemmas, vor das sich Kant mit seiner Analyse unserer ästhetischen Urteile über das Schöne und Nicht-Schöne gestellt sieht, sowie seiner Leitidee, wie ein Ausweg aus diesem Dilemma gefunden werden könne, sind in der Forschung nicht mehr kontrovers. Wie genau der Kantische Ausweg aussieht und ob er überhaupt gangbar ist, d..h. wie seine Theorie unserer ästhetischen Erfahrung, die Theorie des freien Spiels und der harmonischen Proportion der Erkenntniskräfte, zu interpretieren sei, ist allerdings umstritten, nicht zuletzt, weil sich die einschlägigen Paragraphen aus dem Text der »Kritik der ästhetischen Urteilskraft« durch erhebliche Dunkelheit auszeichnen. Bevor ich auf die Positionen von Jürgen Stolzenberg und Jens Kulenkampff eingehe, möchte ich die zentralen Gesichtspunkte meiner Interpretation noch einmal skizzieren. In der Diskussion dieser Positionen geht es nicht zuletzt um die Frage, ob und wie sich die Kantische Auffassung des Geschmacksurteils, und zwar insbesondere seine Auffassung der diesem Urteil zugrunde liegenden Reflexion und des Maßstabs dieser Ref lexion so verständlich machen läßt, daß sie auch im Licht von künstlerischen Anliegen der Moderne und neueren Methoden der literarischen Textanalyse ihre Plausibilität behält. Um die sachliche Überzeugungskraft des Kantischen Grundgedankens, wie ich ihn verstehe, zu veranschaulichen, werde ich zwei ganz verschiedene Beispiele betrachten: Ich werde versuchen zu zeigen, daß sich zum einen der Surrealist Max Ernst mit seinem künstlerischen Selbstverständnis und zum anderen Wolfgang Kayser mit seiner Methode der literarischen Textinterpretation auf Kant berufen könnten. Kants These, daß das Geschmacksurteil ein ästhetisches Urteil sei, schließt keineswegs aus, daß ein Gegenstand, und insbesondere ein Kunstwerk, nur denjenigen ein ästhetisches Wohlgefallen bereitet, die es aufmerksam betrachten und kritisch interpretieren. Es soll gezeigt werden, daß sich im freien Spiel der Erkenntniskräfte mit den mannigfaltigen Vorstellungen, die bei der Betrachtung eines schönen Gegenstandes, z..B. eines Kunstwerks, in ästhetischer Einstellung entstehen, ein Verstehensprozeß vollzieht, ohne den die ästhetische Qualität des Werks gar nicht gewürdigt werden kann.

I. Zur Problemstellung der Kantischen Ästhetik Wenn wir etwas als angenehm beurteilen und sagen »Dies ist mir angenehm«, beziehen wir uns zum einen auf unseren körperlichen Zustand und zum anderen auf einen Gegenstand, dessen Einwirkung auf unseren Körper wir für die Ursache dieses Zustands halten. Aus dem bloßen Urteil »Dies ist mir angenehm« läßt sich über den Gegenstand, auf den das ›Dies‹ verweist, nichts entnehmen; es bleibt unklar, welche Eigenschaften dieser Gegenstand hat und aufgrund welcher dieser Eigenschaften er uns in einen Zustand der Annehmlichkeit versetzt. Ob wir die physische Einwirkung eines Gegenstandes als angenehm oder als unangenehm empfinden, hängt ja auch nur teilweise von dessen Eigenschaften ab, es hängt auch und vor al-

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lem von unserer jeweiligen körperlichen Befindlichkeit ab. Daher können verschiedene Personen die Einwirkung eines und desselben Gegenstandes verschieden empfinden: Den einen ist er angenehm, den anderen unangenehm. Selbst ein und dieselbe Person wird die Einwirkung ein und desselben Gegenstandes nicht zu jeder Zeit gleich angenehm oder unangenehm empfinden, da sich ihre physische Befindlichkeit jederzeit ändern kann. Habe ich Hunger, ist mir die Aufnahme von Nahrung angenehm, bin ich aber gesättigt, so kann die Aufnahme von Nahrung sehr schnell sehr unangenehm werden. Bei den reinen Geschmacksurteilen über das Schöne haben wir es denn auch nur scheinbar mit einem ähnlichen Fall zu tun wie bei den empirischen Urteilen über das Angenehme. Wenn wir sagen »Dies ist schön«, so beziehen wir uns zum einen auf unseren Empfindungszustand interesselosen Wohlgefallens (der seinem Ursprung nach allerdings kein körperlicher, sondern ein kognitiver Zustand sein soll), und zum anderen auf einen Gegenstand, angesichts dessen wir dieses Wohlgefallen empfinden. Damit, daß wir dieses Urteil mit einem Anspruch auf allgemeine Gültigkeit verbinden, bringen wir zum Ausdruck, daß es nicht von unserer jeweiligen und kontingenten körperlichen Befindlichkeit abhängt, also z..B. davon, ob wir gerade hungrig sind oder nicht, ob wir einen Gegenstand schön finden oder nicht, sondern von der Beschaffenheit eben dieses Gegenstandes.6 Ist mit der Rechtfertigung dieses Geltungsanspruchs auch eine Aufklärung dessen verbunden, was an einem Gegenstand schön oder nicht schön ist? Bezogen auf die Kantische Leitidee zu dieser Rechtfertigung ist zu fragen, ob sich aus der Theorie des freien Spiels und der harmonischen Proportion der Erkenntniskräfte überhaupt etwas über die Beschaffenheit des schönen Gegenstandes entnehmen läßt, und, sollte sich diese Frage bejahen lassen, wodurch sich ein schöner Gegenstand auszeichnet. Die erste dieser Fragen ist von prominenter Seite verneint worden. Hans-Georg Gadamer hat in »Wahrheit und Methode« die These einer Subjektivierung der Ästhetik durch Kant vertreten. Im interesselosen Wohlgefallen am Schönen erfahren wir, so Gadamer, nichts an einem Gegenstand, was wir in anderer als der ästhetischen Einstellung zu diesem nicht bemerkt hätten, sondern wir erfahren uns selbst als Subjekte, die der Empfindung eines interesselosen Wohlgefallens fähig sind.7 Dieser Position zufolge ist nicht danach zu fragen, was aus der Erfahrung interesselosen Wohlgefallens am Schönen über die Beschaffenheit des schönen Gegenstandes zu entnehmen ist, sondern danach, was diese Erfahrung bezüglich unserer Subjektivität, bezüglich unserer intellektuellen und emotionalen Vermögen erhellt. Die Fähigkeit, einen Gegenstand in ästhetischer Einstellung zu betrachten und für seine ästhetische Qualität, seine Schönheit oder Nicht-Schönheit empfänglich zu sein, dürfte aber durch bestimmte körperliche Zustände erleichtert oder erschwert werden; in einem Zustand völliger körperlicher oder geistiger Erschöpfung wird es uns schwerfallen, einem Gegenstand noch ästhetische Aufmerksamkeit zu widmen. 7 Siehe Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 41975, insbes. S..46 ff. 6

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Nun ist nicht zu bestreiten, daß zur Empfindung eines interesselosen Wohlgefallens, wie Kant es analysiert, eine entsprechende kognitive Fähigkeit und eine bestimmte Sensibilität gehören, die Fähigkeit von Einbildungskraft und Verstand, nicht nur unter Anleitung durch eine begriff liche Regel, sondern auch in freier Tätigkeit in ein Verhältnis der Harmonie zu gelangen, sowie die Fähigkeit, sich dieser Harmonie im Modus des Gefühls, als interesseloses Wohlgefallen bewußt zu werden. Kant spricht in diesem Zusammenhang vom Vermögen des Gemeinsinns. Nur in ästhetischer Einstellung zu einem Gegenstand können wir dessen ästhetische Qualität erfahren. Aber die Frage nach den charakteristischen Merkmalen schöner Gegenstände wird damit nicht gegenstandslos. Im Gegenteil: Daß wir zur ästhetischen Erfahrung ebenso wie zur Erkenntnis von Gegenständen und zur Erfahrung ihrer physischen Einwirkungen als angenehm oder unangenehm bestimmter kognitiver und sensitiver Fähigkeiten bedürfen, ist nicht verwunderlich. Besonderer Aufmerksamkeit wert ist erst die Idee, daß wir aus bestimmten interesselosen Gefühlen, die wir angesichts schöner und nicht-schöner Gegenstände empfinden, etwas über die Beschaffenheit dieser Gegenstände sollen entnehmen können. Wenn wir Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils in der »Kritik der ästhetischen Urteilskraft« heute lesen, sollten wir uns durch die Kantische Redeweise, in der es um menschliche Vermögen und Gemütskräfte geht, nicht zu dem Mißverständnis verleiten lassen, Kant gehe es nur um eine psychologische Beschreibung ästhetischer Erfahrung. Vergleichen wir die Theorie des reinen Geschmacksurteils mit der Theorie objektiver Erkenntnisurteile aus der »Kritik der reinen Vernunft«, so können wir vermuten, daß die scheinbar psychologisierende Redeweise in der »Kritik der ästhetischen Urteilskraft« auch für Kant selbst nur eine zweitbeste Lösung war. Hinter dieser Redeweise verbirgt sich eine Verlegenheit, die Verlegenheit, wie die für schöne Gegenstände charakteristischen Strukturmerkmale zu beschreiben seien. Diese Strukturen lassen sich nicht erschöpfend mit den objektiven diskursiven Begriffen des Verstandes beschreiben, denn »Schönheit ist kein Begriff vom Objekt«8. Andere Begriffe zur Beschreibung von Gegenständen, die uns in anschaulichen Vorstellungen gegeben sind, hatte Kant nicht zur Verfügung. Ich sehe in der Theorie der Zweckmäßigkeit, wie sie insbesondere die ref lektierende Urteilskraft beurteilt, einen Ansatz, eine begriff liche Alternative zu den Begriffen des Verstandes bereitzustellen, also eine Begriff lichkeit zu entwerfen, die u.a. das Phänomen der Schönheit zu begreifen erlaubt. Diese Theorie hat Kant aber nicht sehr weit entwickelt. Da die ästhetische Erfahrung des Schönen immer mit einem interesselosen Wohlgefallen verbunden ist, konnte er sich damit begnügen, diese Erfahrung als eine solche zu beschreiben, die uns in einem Gefühl bewußt ist, ohne den Gehalt der gegenständlichen Vorstellung, auf der dieses Gefühl beruht, begriff lich zu analysieren. Eine solche Analyse hätte die Aufgabe gehabt, die ästhetische Erfahrung des Schönen als einen Prozeß der Ref lexion zu beschreiben, in dessen Verlauf 8

KU §.38, Anm. S. 152.

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es zur Entdeckung einer bestimmten Art von gegenständlicher Ordnung kommt, der Ordnung, die für gegenständliche Schönheit charakteristisch ist. Ziel dieser Analyse wäre es durchaus nicht gewesen, ein objektives Prinzip des Geschmacks bereitzustellen, unter das wir einen Gegenstand, den wir erkannt haben und von dem uns daher eine zutreffende Beschreibung zur Verfügung steht, subsumieren könnten, um zu entscheiden, ob er schön sei oder nicht. Ein solches objektives Geschmacksprinzip würde es uns in der Tat erlauben, über die ästhetische Qualität eines Gegenstandes zu urteilen, ohne diesen »zu versuchen«, also ohne diesen anzuschauen oder anzuhören und zum Gegenstand einer ästhetischen Ref lexion zu machen.9 Der Aufweis eines solchen Prinzips käme der Begründung einer Regelästhetik gleich und liefe der Kantischen Auffassung des Geschmacksurteils als eines Urteils, das kein Erkenntnisurteil, sondern ein ästhetisches Urteil ist, in der Tat zuwider. Was also läßt sich aus der Theorie des freien Spiels über die Beschaffenheit des schönen Gegenstandes entnehmen? Die Antwort auf diese Frage hat insbesondere die folgenden zwei Anforderungen zu berücksichtigen: Zum einen muß sie zu erklären erlauben, warum es im freien Spiel der Erkenntniskräfte mit der anschaulich gegebenen Vorstellung eines schönen Gegenstandes nicht zur Bildung eines objektiven Begriffs dieses Gegenstandes kommt, eines Begriffs seiner Schönheit, der sich zu einem objektiven Geschmacksprinzip verallgemeinern ließe; und zum anderen muß sie zu erklären erlauben, warum die ästhetische Ref lexion »sich selbst stärkt und reproduziert«10, warum also der schöne Gegenstand auch dann, wenn wir ihn als schön erfahren und beurteilt haben, Gegenstand unserer ästhetischen Neugier bleibt und uns nicht langweilt.

II. Interpretationsstrategien – Die Rolle der Zweckmäßigkeit In der Literatur zur »Kritik der Urteilskraft«, sofern sie sich um eine Interpretation von Kants Theorie des freien Spiels und die daraus zu entnehmenden Hinweise auf die Beschaffenheit eines schönen Gegenstandes bemüht, lassen sich zwei Interpretationsstrategien ausmachen, die sich vor allem darin unterscheiden, welche Rolle sie der Zweckmäßigkeit zubilligen, von der Kant im Zusammenhang mit unseren Vorstellungen schöner Gegenstände spricht. Die erste dieser Interpretationen, vertreten u.a. von Dieter Henrich und Jürgen Stolzenberg, sieht das einzige Motiv für die Rede von einer Zweckmäßigkeit des schönen Gegenstandes, seiner Form und Vorstellung, darin, daß dieser Gegenstand bzw. seine anschauliche Vorstellung ein ge-

Daß wir einen Gegenstand, um ihn ästhetisch beurteilen zu können, nicht nur über eine Beschreibung erkennen, sondern auch anschaulich vorstellen und zum Gegenstand einer ästhetischen Einstellung machen, also ihn versuchen müssen, betont Kant an verschiedenen Stellen der »Kritik der Urteilskraft«. Siehe z. B. KU §.8. S..25; §.32. S..137 und §.33. S..140. 10 KU §.12. S..37. 9

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eignetes Mittel ist zum Zweck einer harmonischen Proportion der Erkenntniskräfte in ihrem freien Spiel.11 Von einer Art gegenständlicher Ordnung, die einen schönen Gegenstand nicht-schönen Gegenständen gegenüber auszeichnet und deren Beschreibung andere als die diskursiven Begriffe des Verstandes erfordert, ist im Zusammenhang dieser Interpretation nicht die Rede. Zweckmäßigkeit ist hier eine kausale Relation, die Relation eines geeigneten Mittels zu einem Zweck. Wie wird vor diesem Hintergrund das freie Spiel der Erkenntniskräfte als Ort der ästhetischen Ref lexion über einen Gegenstand interpretiert? Zunächst ist daran zu erinnern, daß jede bestimmte Erkenntnis eines Gegenstandes die Subsumtion seiner anschaulichen Vorstellung unter einen bestimmten Begriff erfordert. Wo diese Subsumtion gelingt, stimmen Einbildungskraft und Verstand zusammen; der Beitrag der Einbildungskraft zu dieser Zusammenstimmung ist die Präsentation des Mannigfaltigen der anschaulichen Vorstellung eines Gegenstandes, während der Verstand einen Begriff für die Bestimmung dieses Mannigfaltigen bereitstellt. Insofern die Einbildungskraft, unter Verwendung eines dem Begriff des Verstandes entsprechenden Schemas, prüft, ob sich dieses Mannigfaltige als diesem Schema gemäß geordnet darstellen läßt, und insofern der Verstand prüft, ob sich der Begriff auf das so geordnete Mannigfaltige anwenden läßt, kommt die harmonische Proportion der Erkenntniskräfte, die jeder bestimmten Erkenntnis zugrunde liegt, unter Anleitung durch eine bestimmte begriff liche Regel zustande. Im Fall der ästhetischen Ref lexion, in der die Erkenntniskräfte mit der anschaulichen Vorstellung eines Gegenstandes frei spielen, entfällt eine Anleitung ihrer Tätigkeit durch einen bestimmten Begriff. Wenn sie dennoch auch in diesem freien Spiel in eine harmonische Proportion gelangen, wie es angesichts eines schönen Gegenstandes geschieht, so stimmen sie nicht zu einem bestimmten Begriff zusammen, den die Einbildungskraft anschaulich darstellt, sondern – so Stolzenberg – zu einem unbestimmten »Begriff überhaupt«12 bzw. – so Henrich – zur allgemeinen »Bedingung, daß der Verstand überhaupt von der Anschauung zu Begriffen gelangt«13; beide Formulierungen dessen, was die Erkenntniskräfte in ihrem freien Spiel mit der anschaulichen Vorstellung eines schönen Gegenstandes zusammenstimmen läßt, finden sich im Text der »Kritik der Urteilskraft«.14 Die Interpretation, wie sie Henrich und Stolzenberg vorschlagen, läuft auf die These hinaus, daß, wenn die Erkenntniskräfte im freien Spiel mit der Vorstellung Siehe Dieter Henrich: Kant’s Explanation of Aesthetic Judgment. In: Ders.: Aesthetic Judgment and the Moral Image of the World. Studies in Kant. Stanford 1992, S..29-56, und Jürgen Stolzenberg: Das freie Spiel der Erkenntniskräfte. Zu Kants Theorie des Geschmacksurteils. In diesem Band S..9 f.; vgl. S..13 f. Henrich schenkt der Zweckmäßigkeit, von der Kant im Zusammenhang seiner Analyse des ästhetischen Urteils spricht, sehr wenig Aufmerksamkeit, obwohl dieses Konzept es ist, das die verschiedenen Projekte verbindet, die Kant unter dem Titel einer »Kritik der Urteilskraft« verfolgt. 12 Siehe Jürgen Stolzenberg: a.a.O. S.12-14. 13 Siehe Dieter Henrich: a.a.O. S..49. 14 Siehe EE VIII. S..29/30 und KU §.35. S..146. 11

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eines schönen Gegenstandes in eine harmonische Proportion gelangen, Bedingungen für Erkenntnis, für die Bestimmung anschaulicher Vorstellungen durch diskursive Begriffe des Verstandes, erfüllt sind, und daß sich dieses Erfülltsein von dem Erfülltsein der entsprechenden Erkenntnisbedingungen, das jeder bestimmten Erkenntnis vorhergeht, darin unterscheidet, daß es sich ungesucht und ohne Bezug auf einen bestimmten Begriff einstellt. Mein Bedenken gegenüber dieser Interpretation ist, daß sich aus ihr wenig über die Struktur des schönen Gegenstandes, die diesen nicht-schönen Gegenständen gegenüber auszeichnet, entnehmen läßt. Denn da alle Gegenstände der raum-zeitlichen Anschauung nach Kantischem Verständnis auch mögliche Gegenstände empirischer Erkenntnis sind und als solche die Bedingungen der Erkenntnis erfüllen, ist das Erfülltsein dieser Erkenntnisbedingungen kein geeignetes Kriterium, nach dem sich bestimmte Gegenstände unter allen Gegenständen möglicher Erkenntnis auszeichnen ließen. Zwar soll sich, wo ein schöner Gegenstand vorgestellt wird, die harmonische Proportion der Erkenntniskräfte, die das Erfülltsein dieser Erkenntnisbedingungen anzeigt, ungesucht einstellen. Aber was kann diese Proportion anderes indizieren als die Bestimmbarkeit eines anschaulich vorgestellten Gegenstandes durch irgendeinen Begriff? In diesem Sinne begriff lich bestimmbar sind alle Gegenstände möglicher Erkenntnis. Schließlich bleibt in der Perspektive dieser Interpretation unklar, warum es in der ästhetischen Ref lexion über einen schönen Gegenstand nicht zu einer begriff lichen Bestimmung desselben kommt – müßte sich eine solche nicht geradezu aufdrängen, wo doch dieser Gegenstand die Erkenntniskräfte schon in ihrem freien Spiel und ohne eine bestimmte begriff liche Regel zu bemühen zusammenstimmen läßt? Daß in der ästhetischen Ref lexion eine begriffliche Bestimmung des Gegenstandes, über den ref lektiert wird, nicht angestrebt ist und daher unterbleibt, obwohl es, wie diese Interpretation annimmt, in dieser Ref lexion um die begriff liche Bestimmbarkeit dieses Gegenstandes geht, erscheint mir wenig überzeugend. Diese Schwierigkeiten resultieren meiner Ansicht nach aus dem Versuch, Strukturmerkmale schöner Gegenstände im Rekurs auf das Erfülltsein allgemeiner Bedingungen objektiver Erkenntnis zu beschreiben, nicht aber im Rekurs auf Ordnungsstrukturen, die durch diskursive Verstandesbegriffe gar nicht gedacht werden können und die daher auch nicht zu den Strukturen gehören, die die Bestimmbarkeit anschaulicher Vorstellungen durch diskursive Begriffe garantieren. Ich denke, daß mein Interpretationsvorschlag diese Schwierigkeiten vermeiden kann, allerdings um den Preis, den festen Zusammenhang zwischen der Beurteilung schöner Gegenstände und den Bedingungen objektiver Erkenntnis etwas zu lokkern, der doch für Kants Rechtfertigung des Anspruchs auf allgemeine Gültigkeit, mit dem das Geschmacksurteil verbunden wird, konstitutiv ist. Daß der schöne Gegenstand bzw. die Vorstellung desselben geeignet ist, ein harmonisches Verhältnis der frei spielenden Erkenntniskräfte hervorzurufen, und daß er in diesem Sinne zweckmäßig, d..h. ein geeignetes Mittel zum Zweck eben dieses Verhältnisses ist,

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möchte ich gar nicht bestreiten. Meiner Ansicht nach ist er aber in diesem Sinne zweckmäßig, nur weil er auch formal zweckmäßig, nämlich seiner Form nach zweckmäßig organisiert ist. Inwiefern geht es aber im freien Spiel der Erkenntniskräfte um die Beurteilung einer zweckmäßigen Form der anschaulichen Vorstellung eines Gegenstandes? Und was heißt es, daß die anschauliche Vorstellung schöner Gegenstände in der ästhetischen Ref lexion als formal zweckmäßig erfahren wird?

III. Schematisieren ohne Begriff – Zweckmäßigkeit ohne Zweck An einer zentralen Stelle der »Kritik der ästhetischen Urteilskraft« beschreibt Kant die Tätigkeit der Einbildungskraft im freien Spiel der ästhetischen Ref lexion als ein Schematisieren ohne Begriff.15 Schematisieren kann im Zusammenhang einer ästhetischen Reflexion nur als das Entwerfen eines Schemas verstanden werden. Schemata sind Regeln für die Zusammensetzung eines Mannigfaltigen der Anschauung nach einem einheitlichen Motiv. Geht es den Erkenntniskräften um die objektive Erkenntnis eines anschaulich gegebenen Mannigfaltigen, um seine Bestimmung durch einen bestimmten Begriff, so ist es dieser Begriff, der das Motiv angibt, nach dem ein entsprechendes Schema zu entwerfen ist. Steht ein solcher Begriff, wie es in der ästhetischen Ref lexion der Fall ist, nicht zur Verfügung, so muß im Ausgang von einer bloßen Betrachtung des Mannigfaltigen der Anschauung eines Gegenstandes, für das ein Schema entworfen werden soll, nach dem einheitlichen Motiv für seine Zusammensetzung gesucht werden. Daß die Einbildungskraft in der ästhetischen Ref lexion ohne Begriff schematisiert bedeutet nun, so meine These, daß sie ohne Anleitung durch einen bestimmten Begriff, der ihr eine bestimmte Ordnungsstruktur vorgibt, nach der sie suchen soll, nach einem einheitlichen Motiv für die Zusammensetzung dieses Mannigfaltigen sucht. Dieses freie Schematisieren unterscheidet sich von einem begriffsgeleiteten Schematisieren vor allem dadurch, daß es nichts an dem gegebenen Mannigfaltigen unberücksichtigt lassen kann; alle Elemente des Mannigfaltigen erscheinen gleich wichtig, und möglichst viele, wenn nicht sogar alle, müssen in dem zu entwerfenden Schema untergebracht werden. Daß diese Beschreibung der ästhetischen Ref lexion der Sache nach plausibel ist, läßt sich durch folgende Überlegung veranschaulichen: Ist mir ein anschauliches Mannigfaltiges gegeben und soll ich prüfen, ob das, was ich z. B. sehe, eine Kuh ist, so dienen mir die im Begriff einer Kuh gedachten anschaulichen Merkmale und das Schema ihrer Anordnung im Raum als Anleitung, nach der ich das gegebene Mannigfaltige durchmustere. Läßt es sich als angeordnet nach dem Kuh-Motiv begreifen, so erkenne ich, daß vor mir eine Kuh steht. Dabei kann ich alles, was die Umgebung betrifft, in der sich die Kuh befindet, die Wiese auf der sie steht, den Zaun, der sie von mir trennt, die Grasbüschel, die aus ihrem Maul hervorschauen und die 15

Siehe KU §.35. S..146.

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Fliegen, die sie umschwirren, unberücksichtigt lassen. Betrachte ich dagegen ein gegebenes Mannigfaltiges in ästhetischer Einstellung, ref lektiere ich darüber in der Absicht, es als schön oder nicht schön zu beurteilen, so fehlen mir alle Anhaltspunkte zur Trennung von Wichtigem und Unwichtigem; ich ref lektiere über dieses Mannigfaltige auf der Suche nach der Einheit, die nur dieses Mannigfaltige in seiner Totalität verkörpert. Wenn sich dieses Mannigfaltige als nach einem einheitlichen Motiv gestaltet erweist, so beurteile ich es als schön. Ein Mannigfaltiges, das sich als nach einem einheitlichen Motiv gestaltet erweist, ist zweckmäßig gestaltet, es weist die Form der Zweckmäßigkeit auf. Eine Form der Zweckmäßigkeit ohne Zweck im Kantischen Sinn dieses Ausdrucks ist diese Form, sofern das einheitliche Motiv nicht in einem objektiven diskursiven Verstandesbegriff gedacht werden kann und sofern mit der Beziehung eines anschaulich gegebenen Mannigfaltigen auf ein einheitliches Gestaltungsmotiv nicht unterstellt wird, daß der in diesem Mannigfaltigen angeschaute Gegenstand Produkt einer absichtlichen, von eben diesem Motiv bestimmten vernünftigen Tätigkeit sei.16 Insbesondere der erste dieser Aspekte der Zweckmäßigkeit ohne Zweck ist für die zweckmäßige Form, die wir in der ästhetischen Ref lexion über einen schönen Gegenstand entdecken, konstitutiv, denn dieser Aspekt erklärt, warum Schönheit kein Begriff vom Objekt ist. Die Ordnungsstruktur, die für die Schönheit eines Gegenstandes konstitutiv ist, ist die Form einer Zweckmäßigkeit ohne Zweck in diesem Sinn, weil sie eine ganzheitliche oder systematische Einheit ist, die ein Mannigfaltiges aufweist, insofern seine Teile kein bloßes Aggregat bilden, sondern systematisch miteinander verbunden sind. Ihre Ganzheit ist das Prinzip ihrer Einheit, und nur in Bezug auf diese Ganzheit lassen sich die Teile als Teile verstehen, die durch das Ganze motiviert sind. Die in einem objektiven Verstandesbegriff gedachte Einheit ist dagegen immer die diskursive Einheit eines Aggregats. Der Zusammenhang zwischen der zweckmäßigen Form des schönen Gegenstandes bzw. seiner Vorstellung und seiner Fähigkeit, die Erkenntniskräfte, wenn sie mit dieser Vorstellung frei spielen, ihn also in ästhetischer Einstellung betrachten, in eine harmonische Proportion gelangen zu lassen, wird von Kant im § 30 der »Kritik der Urteilskraft« ausdrücklich betont; dort heißt es: »Denn die Zweckmäßigkeit [gemeint ist die Zweckmäßigkeit der Form des Schönen] hat alsdann doch im Objekte und seiner Gestalt ihren Grund, wenn sie gleich nicht die Beziehung desselben auf andere Gegenstände nach Begriffen (zum Erkenntnisurteile) anzeigt, sondern bloß die Auffassung dieser Form, sofern sie dem Vermögen sowohl der Begriffe als dem der Darstellung derselben (welches mit dem der Auffassung eines und dasselbe ist), im Gemüt sich gemäß zeigt, überhaupt betrifft.« (KU § 30, S. 131/2). Das heißt nichts anderes, als daß Schönheit eine Beschaffenheit von Gegenständen ist, die jedoch an diesen Gegenständen nicht erkannt oder von ihren objektiven Eigenschaften unmittelbar abgelesen werden kann, sondern die sich erst in ästhetischer Ein16

Vgl. von der Verfasserin: Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils. A.a.O. (Anm. 4). S. 122.

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stellung zu diesen Gegenständen, im freien Spiel der Erkenntniskräfte mit ihren Vorstellungen, erschließt und die aus diesem Grunde nicht objektivierbar ist. In gewissem Sinne wird die Schönheit eines Gegenstandes erst in der ästhetischen Einstellung zu ihm konstituiert; ob uns die Konstitution von Schönheit in ästhetischer Einstellung zu einem Gegenstand jedoch gelingt oder nicht, hängt nicht allein davon ab, ob wir unseren Geschmack hinreichend gebildet haben, sondern ebenso von der Beschaffenheit dieses Gegenstandes und der Gestalt seiner Erscheinung in einem Wahrnehmungsfeld.17 IV. »Je ne sais quoi« Inwiefern kommt es aber in der ästhetischen Ref lexion über einen schönen Gegenstand, in der die Form der Zweckmäßigkeit ohne Zweck im Mannigfaltigen seiner Anschauung entdeckt wird, zu einer harmonischen Proportion von Einbildungskraft und Verstand? Müßte sich der Verstand angesichts eines schönen Gegenstandes nicht eher entmutigt abwenden, weil er die schöne Ordnung mit seinen diskursiven Begriffen nicht zu erfassen vermag? Ich denke, daß das Verhältnis des Verstandes zum Schönen eher das einer anhaltenden Faszination und Neugier als das einer Entmutigung ist. Kant sagt an einer Stelle, an der er von der Schönheit als der Darstellung einer ästhetischen Idee spricht, daß eine ästhetische Idee eine »Vorstellung der Einbildungskraft [ist], die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgendein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff, adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann«18. Es ist der Verstand mit seinen diskursiven Begriffen, dem das Schöne viel zu denken gibt, ohne daß er doch in der Lage wäre, es mit diesen Begriffen so zu beschreiben, daß diese Beschreibung seine schöne Einheit erfassen könnte. Kritikerinnen und Kritiker, die etwas Schönes beschreiben, um seiner ästhetischen Qualität auf die Spur zu kommen, bedienen sich einer Sprache, sie formulieren in Begriffen dieser Sprache mögliche Zwecke, auf die hin das Mannigfaltige der Vorstellung dieses Schönen organisiert zu sein scheint, aber sie machen die Erfahrung, daß sich die ästhetische Qualität ihres Untersuchungsgegenstandes gerade darin beweist, daß es verschiedene Zwecke sind, auf die sich dieses Mannigfaltige beziehen läßt und in deren Licht sich dessen Komposition als motiviert erweist. Diese verschiedenen Zwecke schließen einander nicht aus, sondern ergänzen einander zu 17 Dies wird allerdings von Emilio Garroni bestritten, der im Rekurs auf seine Interpretation des §.22 der »Kritik der Urteilskraft« die These vertritt, daß uns, wenn wir nur unseren Geschmack hinreichend gebildet hätten, alle Gegenstände unserer Anschauung schön erschienen. (Siehe Emilio Garroni: »Une faculté à acquérir: sens et non-sens dans la Troisième Critique.« In: Herman Parret: Kants Ästhetik / Kants Aesthetics / L’Esthétique de Kant. Berlin 1998. S..313-324). Jürgen Stolzenberg will jedoch, anders als Garroni, daran festhalten, daß der Kantischen Ästhetik zufolge nicht alles anschaulich Vorstellbare und Erkennbare auch schön sei. 18 KU 49. S..192 f.

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einem Ganzen, dessen systematische Einheit nicht in einem Begriff erfaßt werden kann, weil auch die Konjunktion der verschiedenen Zweckbegriffe (sofern sie denn überhaupt widerspruchsfrei möglich ist), auf die hin ein Schönes organisiert zu sein scheint, seine systematische Einheit nicht vollständig zu analysieren vermag. Gegen die von Jens Kulenkampff geäußerten Bedenken möchte ich an der These festhalten, daß sich ein schöner Gegenstand nicht so beschreiben und analysieren läßt, daß schließlich ein objektiver Begriff von diesem Gegenstand zur Verfügung steht, der auch ein Begriff seiner Schönheit ist. Diese Bedenken gründen in der Auffassung, daß sich zwar ein einheitlicher, allgemeiner objektiver Begriff der Schönheit verschiedener Gegenstände nicht angeben läßt, weil deren Schönheit zu vielfältig ist, daß sich aber die Schönheit eines bestimmten Gegenstandes erkennen und auf den Begriff bringen läßt.19 Meiner Ansicht nach widerspricht diese Auffassung nicht nur der Kantischen Position, sondern ist auch der Sache nach nicht zwingend: Wenn wir einen schönen Gegenstand beschreiben, um seiner ästhetischen Qualität auf die Spur zu kommen, so werden wir viele Aspekte seiner systematischen Einheit auffinden, und es wird am Ende (das eher durch unsere physische und geistige Erschöpfung als durch die analytische Erschöpfung des Mannigfaltigen des Gegenstandes unsrerer Aufmerksamkeit markiert sein wird), dennoch ein »Je ne sais quoi« stehenbleiben, der Verdacht, das, was die Schönheit eines Gegenstandes ausmacht, nicht erschöpfend durchschaut zu haben. Umgekehrt ist es oft so, daß ein Gegenstand, dessen Kompositionsprinzip wir ohne Rest glauben durchschaut zu haben, an ästhetischem Reiz verliert.20 Schönheit, verstanden als Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, ist m.a.W. so etwas wie ein leerer Begriff, der sich nicht so mit Inhalten füllen läßt, daß er als objektiver allgemeiner Begriff aller schönen Gegenstände fungieren könnte. So läßt sich auch Kants Rede von einer Regel des Schönen verstehen, »die man nicht angeben kann«: Wir können den Begriff des Schönen nur als bloße Form, als inhaltsleeren Begriff, denken, denken also an eine Regel, ohne diese mit inhaltlicher Bestimmung angeben zu können.21 So wird nicht nur verständlich, daß Schönheit kein Begriff vom Objekt ist, sondern auch, daß die ästhetische Ref lexion sich selbst

Siehe Jens Kulenkampff: Kants Logik des ästhetischen Urteils. Frankfurt. 21994. S..188. Die Formel »Je ne sais quoi« für die Erfahrung, daß wir der Schönheit eines Gegenstandes auch nach einer sorgfältigen Analyse und Interpretation nicht endgültig auf die Spur gekommen sind, verwendet z.B. Leibniz. Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Discours de Métaphysique. Abschnitt 24. Vgl. Die philosophischen Schriften von G.W. Leibniz. Hrsg. v. C.I. Gerhardt. 7 Bde. 1875-1890. Bd. 4. S..449. Zum geistesgeschichtlichen Kontext vgl. Alfred Baeumler: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft. 2. Aufl. Darmstadt 1967. S..29.ff., sowie den entsprechenden Artikel von E. Köhler in: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Darmstadt 1976. Bd. 4. Sp. 639-643. 21 Siehe KU §.18. S..62 f. 19 20

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stärkt und reproduziert, weil das Schöne auch dann, wenn wir es als solches in der ästhetischen Ref lexion erfahren haben, seine Faszination für uns behält. Damit, daß ich eine Zweckmäßigkeit der Ordnungsstruktur des schönen Gegenstandes behaupte, die auch das Mannigfaltige von dessen anschaulicher Vorstellung als zweckmäßig geordnet erscheinen läßt, etabliere ich also kein objektives Geschmacksprinzip, mit dem die ästhetische Ref lexion über einen Gegenstand, dessen Schönheit beurteilt werden soll, überf lüssig würde. Denn ob ein Gegenstand in diesem Sinne zweckmäßig organisiert ist oder nicht, läßt sich nicht in erkennender, sondern nur in ästhetischer Einstellung zu diesem Gegenstand, im Prozeß einer ästhetischen Ref lexion über seine anschauliche Vorstellung entscheiden. Die zweckmäßige Organisation, durch die sich ein schöner Gegenstand auszeichnet, läßt sich nicht auf bestimmte objektive Eigenschaften und Relationen zurückführen und entzieht sich daher einer objektiven, verallgemeinerbaren Analyse. Darin unterscheidet sich die Zweckmäßigkeit des schönen Gegenstandes von den Ordnungsstrukturen, die in objektiven, verallgemeinerbaren Begriffen gedacht werden. Sie ist eine Zweckmäßigkeit ohne Zweck. Mit dem Konzept von Zweckmäßigkeit ohne Zweck macht Kant eine einheitliche Ordnung der Gestalt eines Gegenstandes zum Maßstab seiner ästhetischen Beurteilung, die nicht nur, wie Stolzenberg meint, in der harmonischen Anordnung seiner Teile, in der Ausgewogenheit ihrer Komposition besteht. Die fragliche Einheit ist genauso mit einer disharmonischen, spannungsreichen und unausgewogenen Gestalt eines Gegenstandes verträglich, und auch dieser Gestalt kann Schönheit zugesprochen werden. Sie erweist sich darin, daß sich die Anordnung der Teile zu einer bestimmten Gestalt aus einem einheitlichem Motiv erklären läßt, in bezug auf das sich jedes dieser Teile als Teil eines sinnvollen Ganzen und damit als Träger eines Teilsinns erweist. Durch den erklärenden Bezug auf ein Gestaltungsmotiv wird die Gestalt des ästhetisch beurteilten schönen Gegenstandes als Darstellung oder Verkörperung eines Sinnganzen erfahren. Der Sinn dieses Ganzen muß keineswegs harmonisch oder ausgewogen sein, er kann sehr wohl dem Ausdruck einer unüberwindlichen Spannung verpf lichtet sein.22 Daraus, daß die Einbildungskraft in ihrer freien Ref lexion über einen anschaulich gegebenen Gegenstand dessen Mannigfaltiges in seiner Totalität berücksichtigen muß, weil es ihr an Anhaltspunkten für die Unterscheidung zwischen wichtigen und unwichtigen Elementen zunächst fehlt, folgt nun allerdings nicht, wie ich ur-

Entsprechend schreibt der Literaturwissenschaftler Heinz Schlaffer: »Es zeichnet gerade das historisch bedeutende Werk aus, daß es den Widerstand gegen seine eigene Lösung zur Erscheinung bringt. Jene Einheit und Harmonie, welche die meisten Interpretationen als oberste Qualität voraussetzen und deshalb zum Beweisziel ihrer Anstrengungen nehmen, ist eher Indiz des Konventionellen und Trivialen, von Kunstwerken also, die ihren Vorbildern nur die Lösung, nicht die Leistung abgemerkt haben.« Heinz Schlaffer: Der Bürger als Held. Sozialgeschichtliche Auflösungen literarischer Widersprüche. Frankfurt 1973. S..148. 22

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sprünglich vermutet hatte, daß dieses Mannigfaltige unendlich komplex sein müsse.23 Wäre das Mannigfaltige, das in einer ästhetischen Ref lexion über die Schönheit eines Gegenstandes zu berücksichtigen ist, unendlich komplex, drohte die Erfahrung von Schönheit für Menschen zu einem Ding der Unmöglichkeit zu werden. Tatsächlich müssen wir in der ästhetischen Ref lexion über einen Gegenstand alle Elemente des Mannigfaltigen seiner anschaulichen Vorstellung berücksichtigen; das sind wesentlich mehr Elemente als wir berücksichtigen, wenn wir den schönen Gegenstand verbal beschreiben, begriff lich bestimmen, wahrscheinlich auch mehr und differenziertere Elemente, als wir mit dem begrenzten Vokabular einer alltäglichen Umgangssprache angemessen beschreiben können. Aber keinesfalls sind dies mehr Elemente, als wir überhaupt anschaulich vorstellen und voneinander unterscheiden können. Denn während wir die Klassifikationsmöglichkeiten von Elementen des Mannigfaltigen eines vorgestellten Gegenstandes, die eine natürliche Sprache in ihrem Vokabular und dem diesem zugrunde liegenden Begriffssystem zur Verfügung stellt, immer wieder ergänzen und erweitern können, so können wir doch unser Vermögen, in anschaulichen Vorstellungen gegebene sinnliche Qualitäten zu diskriminieren, nicht unendlich erweitern. Wir können unser Diskriminationsvermögen sicherlich üben und verfeinern; aber dieser Verfeinerung ist eine natürliche Grenze gesetzt; jede Person, und sei ihr Diskriminationsvermögen auch noch so differenziert, gelangt einmal an die natürliche Grenze dieses Vermögens. Der Rekurs auf die unendliche Komplexität des Mannigfaltigen einer Vorstellung ist also schon deshalb gegenstandslos, weil unser Diskriminationsvermögen einer solchen Komplexität keineswegs gewachsen ist. Dies hat zur Konsequenz, daß wir für jeden Gegenstand unserer empirischen Anschauung eine Beschreibung entwickeln können, die dessen anschauliche Qualitäten vollständig berücksichtigt. Eine solche Beschreibung trifft auf alle Gegenstände zu, die wir von dem Gegenstand, in bezug auf dessen anschauliche Vorstellung sie entwickelt wurde, ihrer anschaulichen Vorstellung nach nicht unterscheiden können; sie betrifft nicht nur die Materie der anschaulichen Vorstellung eines Gegenstandes, also z..B. seine Farben oder Klänge, sondern auch formale Eigenschaften, nämlich die Anordnung dieser Materie im Wahrnehmungsfeld. Wer z..B. einen literarischen Text in diesem Sinne vollständig beschreiben wollte, bräuchte ihn nur als eine bestimmte Folge von Wörtern in einer bestimmten graphischen Anordnung oder als eine Folge von Lauten in einer bestimmten zeitlichen Anordnung zu beschreiben. Von einer derartigen Beschreibung eines schönen Gegenstandes läßt sich sagen, daß sie nur auf schöne Gegenstände zutrifft – wenn auch nicht auf alle schönen Ge23 Daß eine solche Folgerung unplausibel wäre, hat Jens Kulenkampff zu Recht gegen meine Interpretation eingewandt. Vgl. Jens Kulenkampff: Kants Logik des ästhetischen Urteils. A.a.O. (Anm. 19). S..186. Vgl. auch Beate Bradl: Die Rationalität des Schönen bei Kant und Hegel. München 1998. S..72-73. Vgl. Jürgen Stolzenberg, in diesem Band S. 26 f.

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genstände. Jedoch ist ein dieser Beschreibung in ihrer Differenziertheit entsprechender allgemeiner objektiver Begriff schöner Gegenstände einer bestimmten Art kein Begriff von der Schönheit dieser Gegenstände. Wenn z..B. eine solche Beschreibung eines literarischen Textes gegeben ist, so ist die Frage nach der zweckmäßigen Anordnung der Elemente des Mannigfaltigen der Anschauung des Textes, auf den diese Beschreibung zutrifft, die Frage nach der Zweckmäßigkeit ohne Zweck seiner Verfaßtheit oder Form, noch offen. Ob dieses Mannigfaltige die Form der Zweckmäßigkeit aufweist, ob es also schön ist, kann sich erst erweisen, wenn in einem Prozeß der ästhetischen Ref lexion nach möglichen Motiven gesucht wird, die die anschauliche Vorstellung des Textes als eine Ganzheit verständlich machen, im Hinblick auf die alle ihre Elemente systematisch angeordnet sind. Kurzum, die Beschreibung eines schönen Gegenstandes ist nicht auf einen Begriff der Schönheit zu bringen. Wie aber läßt sich in der Perspektive dieser von mir vorgeschlagenen Interpretation, die die Schönheit eines Gegenstandes als die Form der Zweckmäßigkeit ohne Zweck seiner anschaulichen Vorstellung analysiert, der Allgemeingültigkeitsanspruch rechtfertigen, mit dem reine Geschmacksurteile verbunden werden? Diese Rechtfertigung stellt in der Perspektive meiner Interpretation von Kants Theorie des freien Spiels der Erkenntniskräfte kein größeres Problem dar als in der Perspektive der Interpretation, wie Henrich und Stolzenberg sie vorgeschlagen haben. Denn die Form der Zweckmäßigkeit, die meiner Interpretation zufolge als Leitfaden der ästhetischen Ref lexion und damit als Kriterium der Beurteilung von Schönheit fungiert, begründet Kant als ein transzendentales Prinzip a priori der ref lektierenden Urteilskraft, das nicht nur in Prozessen ästhetischer Ref lexion, sondern auch in Erkenntnisprozessen vorausgesetzt werden muß, dann nämlich, wenn es um die Vereinheitlichung eines anschaulich gegebenen Mannigfaltigen gemäß der Einheit eines Schemas oder wenn es um die Vereinheitlichung aller empirischen Erkenntnisse in einem System geht.

V. Ausblick: Künstlerische Praxis und literarische Interpretation Auf der Grundlage meiner hier noch einmal skizzierten Deutung der Kantischen Theorie unserer ästhetischen Ref lexion und der Schönheit von Gegenständen läßt sich nun, so meine ich, vor Augen führen, daß der Grundgedanke der Kantischen Ästhetik, seine Auffassung der ästhetischen Ref lexion und ihres Maßstabs, auch heute noch zu überzeugen vermag. Damit möchte ich auch zeigen, daß mit dieser Deutung das – von Kant selbst richtig beschriebene – Phänomen der Schönheit keineswegs aus dem Blick gebracht wird, wie Jürgen Stolzenberg mir vorwirft.24 Ich

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Siehe Jürgen Stolzenberg, in diesem Band. S..12 und S. 25 f.

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will zunächst auf Max Ernst und sein Verständnis der poetischen Inspiration und künstlerischen Arbeit eingehen. Max Ernsts Auffassung der poetischen Inspiration läßt sich als ein Deutungsvorschlag dessen verstehen, was in dem von Kant als freies Spiel der Erkenntniskräfte beschriebenen Prozeß ästhetischer Erfahrung vor sich geht. Dabei ist zu berücksichtigen, daß Kants Analyse von Schönheit als Zweckmäßigkeit ohne Zweck von ihm auf Gegenstände der Natur und der Kunst bezogen wird (KU §.45, S. 179 f.).25 Die Natur, die wir ästhetisch erfahren, ist nicht identisch mit der Natur, die Gegenstand unserer objektiven Erkenntnis ist. Daraus sollten wir nun aber nicht vorschnell schließen, daß die ästhetische Naturerfahrung im Unterschied zu der objektiven Naturerkenntnis nicht abhängig von jeder begriff lichen Ref lexion sei. Wenn wir die Natur ästhetisch als schön erfahren, so entwerfen wir in unserer Ref lexion über sie eine Art ästhetischer Theorie der Natur. Denn nicht nur unserer objektiven Naturerkenntnis, sondern auch unserer ästhetischen Erfahrung der Natur liegt eine Aktivität unserer Erkenntnisvermögen zugrunde. Kant beschreibt diese ästhetische Aktivität als eine Tätigkeit unserer produktiven Einbildungskraft, bei der dieses Vermögen »gleichsam eine andere Natur aus dem Stoffe, den ihr die wirkliche giebt, [schafft]« (KU § 49, S. 193). In unserer ästhetischen Erfahrung wird uns »von der Natur zwar Stoff geliehen, dieser aber von uns zu etwas anderem, nämlich dem, was die Natur übertrifft, verarbeitet« (ebd.), wobei mit der Stoff leihenden Natur hier die objektiv erkennbare Natur gemeint ist. Kant hat die ästhetische Erfahrung offensichtlich als eine Weise der Erzeugung von Weltbildern verstanden, als Erzeugung von neuen aus bekannten Weltentwürfen, Entwürfen, die dem Versuch dienen, sich die Welt verständlich zu machen.26 Wenn Kant im Zusammenhang seiner Theorie unserer ästhetischen Erfahrung der Natur von der Schaffung einer anderen als der wissenschaftlich erkennbaren Natur spricht und wenn er der Kunst die Funktion zuspricht, den gegenständlichen Gehalt dieser ästhetischen Erfahrung symbolisch mitzuteilen, so klingt das in entsprechend gestimmten Ohren wie ein Beitrag zu einem surrealistischen Manifest. Mit seiner Theorie der ästhetischen Erfahrung und ihres Ausdrucks in der Kunst hat Kant natürlich nicht die sogenannten surrealistischen Manifeste vorweggenommen. Vielmehr hat er mit seiner Theorie deutlich gemacht, daß jede Kunst, die diesen Titel Zweifellos sind für Kant vor allem Naturgegenstände schöne Gegenstände und damit die bevorzugten Gegenstände unserer ästhetischen Reflexion und Beurteilung. Aus den kurzen Ausführungen zur Kunst am Ende der »Kritik der Urteilskraft« (§§.44 ff.) geht jedoch hervor, daß sich das am Beispiel von schönen Naturgegenständen entwickelte Verständnis von Schönheit auch auf künstlerische Artefakte übertragen läßt. Vgl. von der Verfasserin »Kants Theorie der schönen Kunst«. In: Herman Parret (Hrsg): A.a.O. (Anm. 17). S..674-689. 26 Zur Auffassung ästhetischer Erfahrung als Erzeugung von Weltentwürfen in der Kantischen Tradition siehe auch die entsprechenden Schriften von Ernst Cassirer und Nelson Goodman: Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Bde. 1-3. Darmstadt 21953; Nelson Goodman: Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols. Brighton 1981, u.ö. 25

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verdient, surrealistisch ist, insofern sie Weltbilder alternativ zu dem Bild der Welt entwirft, das unserer alltäglichen und wissenschaftlichen Erkenntnis entspricht. Diese Einsicht ist es, die ich für unverändert überzeugend halte. Vor diesem Hintergrund will ich versuchen, Max Ernst als einen Künstler zu präsentieren, der seinem künstlerischen Selbstverständnis zufolge ein Kantianer ist. So weit mir bekannt, hat sich Max Ernst selbst nicht ausdrücklich auf Kant berufen. In einem seiner surrealistisch absurden Dialoge aus dem Jahre 1959 antwortet er auf die Frage – Que pensez-vous de Kant? – La nudité de la femme est plus sage que l’enseignement du philosophe.27 Jedoch hat sich Max Ernst in seiner Bonner Studienzeit eingehend mit den Schriften von Kant beschäftigt.28 Von Kant übernimmt er vor allem die These von der Theorieabhängigkeit der wissenschaftlichen Naturerkenntnis, die ihn veranlaßt, seine Aufgabe als Künstler darin zu sehen, auf diese Abhängigkeit zu verweisen, sie zu hinterfragen und durch alternative künstlerische oder ästhetische Theorien der Natur, vorgetragen in Kunstwerken, zu erschüttern und zu ersetzen.29 Den Impressionisten wirft er einen naiven Glauben an die Unbestechlichkeit des Retina genannten Bildschirmes vor.30 Er selbst verweigert sich jedem von ihm sogenannten »naiven Realismus«. In einem »Leitfaden« zur Betrachtung der Histoire Naturelle, einer Reihe von Frottagen und Aquarellen, schreibt er 1965: Als Max Ernst in den Jahren 1917 und 1925 die Lust ankam, ein Naturhistorisches Tafelwerk in die Welt zu setzen, standen für ihn, dem jedem naiven und philosophischen Realismus Unzugänglichen, die anzuwendenden Methoden klar da. Es handelte sich darum: a) auf jede Art von Naturbeobachtung zu verzichten; b) die Existenz der Naturphänomene zwar nicht zu leugnen, aber zu handeln, als wären sie abgeschafft: etwa, als läge die Natur, auf Flaschen gezogen, in einem tausendjährigen Weinkeller, wo niemand berechtigt ist, die Flaschen anzurühren, geschweige ihren Inhalt zu schlürfen;

Max Ernst: Ecritures. Avec cent vingt illustrations extraites de l’oeuvre de l’auteur. Paris 1970. S..333. 28 Vgl. Werner Spies: Max Ernst – Collagen. Inventar und Widerspruch. Köln 1974. S..185. 29 Max Ernst weiß sich mit dieser Position auch in Übereinstimmung mit Werner Heisenberg, auf den er sich beruft, wenn er feststellt: »A la science de la nature se substitue ainsi la science des réactions provoquées par les méthodes d’observation.« In: Max Ernst: Ecritures. A.a.O. (Anm. 27). S..407. 30 A.a.O. S..419: »Les impressionistes […] avaient une croyance qui leur servait de certitude: ils croyaient à l’infaillibilité du petit écran nommé rétine, lieu de rencontre entre le monde objectif et le monde subjectif. La question de la réalité de ces deux mondes ne se posait pas pour eux. La rétine leur procurait une intarrissable source de jouissance.« 27

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c) die optischen Mittel zu schaffen (oder vorzubereiten), welche durch ein freies Spiel von Analogien, Deutungen und Halluzinationen zur Proklamation der Gleichwertigkeit aller Wesen, Dinge, Vorstellungen und Begriffe führen müssen; d) in den oben erwähnten Weinkeller einzubrechen, die Flaschen zu entkorken und ihren Inhalt zu schlürfen.31 Die Rede von dem tausendjährigen Weinkeller, in dem die Natur auf Flaschen gezogen lagert, lese ich als eine Metapher für die Naturwissenschaft und ihr Konzept einer Natur als einer Menge von Tatsachen, die sich objektiv erkennen lassen. Wer die Natur zum Gegenstand ästhetischer Erfahrung macht, findet den Stoff zu seinem Tun in diesen Flaschen, verlegt sich jedoch nicht darauf, ihre etablierte Ordnung zu vermessen, sondern berauscht sich an ihrem Inhalt. Den Kunstschaffenden ist es vorbehalten, die symbolischen Mittel zu erfinden, die es erlauben, die ästhetische Natur, die in dem Rausch erfahren wird, auszudrücken und mitzuteilen. Kunstschaffende füllen den Stoff der Natur in Behälter, die unendlich vielgestaltiger sein dürfen als die Einheitsf laschen einer wissenschaftlichen Theorie. Mit dem unbeteiligten Betrachter teilt Max Ernst die Überraschung, die Verwunderung, das Erschrecken über seine Werke.32 Die von ihm oft eingesetzten Techniken der Frottage, Collage oder Grattage sind Zeichen seines Versuchs, die vielgestaltigen ästhetischen Behälter für den Stoff der Natur wiederum der Natur zu entnehmen. Durch diese Techniken kommt es zu einer Anreicherung oder Verdichtung der Ausdruckskraft seiner künstlerischen Symbole: Sie symbolisieren nicht nur eine ästhetische und damit surreale Natur, sondern auch den natürlichen Stoff, aus dem diese Natur geschaffen wurde. Erst durch die Natürlichkeit dieses Stoffs und die Natürlichkeit des künstlerischen Schaffensprozesses erhalten die entstehenden Kunstwerke den Status von Weltentwürfen, die als Alternativen zu den Entwürfen der objektiven Erkenntnis betrachtet und interpretiert werden sollen. In Texten wie »Kunst und Können« und »Was ist Surrealismus?« hat sich Max Ernst polemisch gegen diejenigen gewandt, für die Kunstverstehen eine Frage des Geschmacks ist33 und für die Künstler Menschen sind, die einer übernatürlichen Inspiration folgen34. Diese Äußerungen sollten jedoch nicht als Ablehnung des Kantischen Konzepts der genialen und geschmacksbegabten Kunstschaffenden mißverstanden werden. Kant betont, daß der Prozeß künstlerischer Inspiration, den ein Genie erfährt, ein wesentlich natürlicher Prozeß ist. Max Ernsts Proklamation einer Max Ernst: Histoire Naturelle. 86 im Offsetverfahren gedruckte Reproduktionen nach Frottagen, 5 Farbreproduktionen nach Aquarellen, 32 Strichätzungen nach Vignetten und 1 mehrfarbiges, bei Mourlot, Paris, gedrucktes Litho als Umschlag. Köln 1965. S..166. 32 Vgl. Thomas W. Gaehtgens: »Das ›Märchen vom Schöpfertum des Künstlers‹; Anmerkungen zu den Selbstbildnissen Max Ernsts und zu Loplop«. In: Max Ernst – Retrospektive 1979. Katalog. Hrsg. v. Werner Spies. München 1979. S..43-78. Hier insbes. S..44. 33 Vgl. Max Ernst: Gemälde, Plastiken, Collagen, Frottagen, Bücher. Württembergischer Kunstverein. Stuttgart 1970. S. 33. 34 Vgl. ebd. S..49 f. 31

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rein passiven Rolle des Künstlers, der dem Mechanismus poetischer Inspiration vertraut und jeden kontrollierenden Einf luß durch »Vernunft, Moral oder ästhetische Erwägungen« ablehnt35, läuft nicht auf die Behauptung hinaus, Werke der schönen Kunst ließen sich rein mechanisch nach Regeln produzieren, die wir angeben, erlernen und systematisch befolgen können. In dieser selbstauferlegten Passivität hat er offenbar die einzige Möglichkeit gesehen, sich der Dominanz der uns alle und auch ihn beherrschenden Gewöhnung an die Strukturen der objektiven Naturerkenntnis zu entziehen. Ohne den »Funken Poesie« kommt auch Max Ernsts Verständnis künstlerischer Inspiration nicht aus. Wer schlägt diesen Funken Poesie? Kein anderes Vermögen, so denke ich, als das, was Kant ein Vermögen genannt hatte, ohne das keine ästhetische Erfahrung zustandekommt: der Geschmack als ästhetische Urteilskraft. Und wenn Max Ernst gegen die Identifikation von Kunstverstand und Geschmack polemisiert, dann hat er dabei nicht das Kantische Vermögen des Geschmacks, das Vermögen ästhetischer Urteilskraft vor Augen, sondern den sogenannten ›guten Geschmack‹, der viel älter ist als der Kantische und auf den sich Bürgerinnen und Bürger so gern berufen, insbesondere dann, wenn es um die Verteidigung des konventionell Gefälligen und Hübschen gegen die surrealistischen Zumutungen einer künstlerischen Avant-Garde geht. Abschließend will ich nun auf die Methode der literarischen Interpretation eingehen, die als »immanente Werkinterpretation« bekannt ist und die Wolfgang Kayser in seinem klassischen Lehrbuch »Das sprachliche Kunstwerk« dargestellt und an Textbeispielen erprobt hat. Wird diese Methode als eine solche verstanden, die andere, z..B. geistesgeschichtliche oder gesellschafts- und kulturkritische, Methoden literarischer Interpretation nicht ausschließt, sondern in eine einheitliche Interpretation zu integrieren vermag, so erweist sie sich ihrem Geiste nach als eine Anwendung von Einsichten der Kantischen Ästhetik. Die Leitfrage, an der sich die ästhetische Ref lexion über einen literarischen Text, die Analyse und Interpretation eines sprachlichen Kunstwerks, Kayser zufolge orientieren soll, ist die Frage nach der Einheit der Form und des Inhalts dieses Textes: Die »Identität von Form und Gehalt [ist] aller Kunst wesensgemäß«.36 Diese Einheit darf nun aber nicht als bloße Harmonie, als die »Stimmigkeit« oder »Sinnhaftigkeit« mißverstanden werden, von der Jürgen Stolzenberg in bezug auf Kants Schönheitsverständnis spricht. Dieser Maßstab läßt sich im Rekurs auf das Kantische Verständnis der Schönheit eines Gegenstandes als Form der Zweckmäßigkeit ohne Zweck explizieren. Denn als formal und inhaltlich einheitlich und damit als ästhetisch gelungen erweist sich ein sprachliches Kunstwerk dann, wenn es gelingt, die Verfaßtheit des Werks, die Wahl seiner Form und seines Inhalts aus einem einheitlichen Kompositions- und Gestaltungsprinzip heraus verständlich zu machen. Die so verstandene Einheit eines Textes ist ein SpeEbd. S..49. Wolfgang Kayser: Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft. Tübingen und Basel. 20. Aufl. 1992. S..233, vgl. auch S..228. 35 36

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zialfall der Einheit, die Kant als Schönheit und als Form der Zweckmäßigkeit ohne Zweck eines Gegenstandes beschreibt. Wenn die Einheit von Form und Inhalt, die die immanente Werkinterpretation zum Maßstab der ästhetischen Ref lexion und Interpretation eines literarischen Textes macht, nicht im Sinne konventioneller Harmonie, sondern im Kantischen Sinne als Einheit der Zweckmäßigkeit ohne Zweck gedeutet wird, läßt sich auch die Position von Heinz Schlaffer verständlich machen, der die Berücksichtigung geistesgeschichtlicher Gesichtspunkte bei der literarischen Interpretation favorisiert, ohne damit die Einheit von Form und Inhalt eines Textes als Maßstab seiner ästhetischen Qualität aufzugeben. Schlaffer hält die immanente Werkinterpretation und die geistesgeschichtliche Interpretation für Methoden der literarischen Interpretation, die einander nicht nur nicht ausschließen, sondern fruchtbar ergänzen.37 In welcher Weise derartige Perspektiven konstitutiv sein können für das Erfassen der zweckmäßigen Einheit eines Ganzen, dessen Teile, für sich betrachtet, zu spannungsreich und widesprüchlich sind, um sich einem harmonischen Ganzen zu fügen, hat Schlaffer an verschiedenen Beispielen eindrucksvoll vorgeführt.38 Die Merkmale der Form und des Inhalts eines Textes, die für seine ästhetische Einheit konstitutiv sind, sind wesentlich Teile eines zweckmäßig organisierten Ganzen, die sich ohne Rekurs auf dieses Ganze nicht als ästhetische Merkmale beschreiben lassen. Mit seinem Konzept eines sprachlichen Kunstwerks als ästhetischer Einheit von Form und Gehalt verbindet Kayser keine Liste objektiv beschreibbarer ästhetischer Merkmale, deren Vorliegen als notwendige oder gar hinreichende Bedingung für den literarischen Charakter eines Textes angesehen werden könnten. Ein Sonett, das das metrische Sonettschema perfekt erfüllt, ist als solches nicht schon ästhetisch gelungen; vielmehr muß es, um als literarisches Kunstwerk angesehen werden zu können, die Sonettform mit einem in der Zeit seiner Enstehung passenden Inhalt füllen. Die Frage, zu welcher Zeit welche Inhalte zu der metrischen Form des Sonetts passen und welche nicht, läßt sich in dieser Form nicht beantworten, nicht zuletzt, weil die literarische Realisierung der Sonettform historischem Wandel unterliegt, der bei der Interpretation eines Sonetts mit zu berücksichtigen ist. Für literarische Qualität gibt es keine zeitlosen Rezepte. Kayser betont denn auch die »Inkommensurabilität aller echten Dichtung«.39 Kaysers Theorie des sprachlichen Kunstwerks ist allerdings nicht nur eine Theorie der literarischen Interpretation, sondern umfaßt auch Thesen zur Funktion der Literatur, die dem oben dargestellten künstlerischen Selbstverständnis von Max Ernst durchaus analog sind. Diesen Thesen zufolge ist es nicht Aufgabe der Literatur, die wirkliche Welt zu beschreiben und objektive Erkenntnisse über diese Welt zu verSiehe Heinz Schlaffer. A.a.O. (Anm. 22). S..126 ff. U.a. hat er dies an Texten von Gotthold Ephraim Lessing, Johann Wolfgang von Goethe und Jean Paul exemplarisch gezeigt. 39 Siehe Wolfgang Kayser. A.a.O. (Anm. 35). S..223. 37 38

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mitteln. Wo Aussagesätze in einem literarischen Text vorkommen, beziehen sie sich »nicht mehr auf reale Sachverhalte«. Die Sachverhalte, auf die sich auch literarische Sätze beziehen, »haben vielmehr ein seltsam irreales, auf jeden Fall ein durchaus eigenes Sein, das von dem der Realität grundsätzlich unterschieden ist«; »[…] die Sätze der Dichtung schaffen sich ihre eigene Gegenständlichkeit«.40 Daß es Aufgabe der Kunst im Allgemeinen und der Literatur im Besonderen sei, die wirkliche Welt zu beschreiben und objektive Erkenntnisse über diese Welt zu vermitteln, hat schon Aristoteles mit seiner Theorie der Mimesis gerade nicht behauptet. Und auch die Literaten, die sich ausdrücklich einem literarischen Realismus verschrieben haben, wie z..B. die drei großen französischen Romanciers des 19. Jahrhunderts, Stendhal, Balzac und Flaubert, würden eine solche Beschreibung der Aufgabe der Literatur ablehnen. Liefe sie doch auf die Negierung jedes Unterschieds zwischen Literatur oder Kunst und Wissenschaft hinaus. Wer an einer Differenz zwischen Literatur und Wissenschaft festhält, muß allerdings nicht gleich, wie Kayser, behaupten, daß die Literatur mit der Wirklichkeit oder Lebenswelt überhaupt nichts zu tun habe. Kayser bestreitet ohne jede Einschränkung, daß die Dichtung der Wirklichkeit in irgendeiner Weise verpf lichtet sei. Weder das Verstehen noch die Verbesserung der Welt ist nach Kayser Aufgabe der Kunst. Die Kunst ist autonom, sie ist nur sich selbst verpf lichtet. Verpf lichtet ist sie damit der Einheit von Form und Inhalt, in der sich Kayser zufolge das Wesen der Kunst manifestiert. Mit seiner Unterscheidung der reinen Geschmacksurteile von den Erkenntnisurteilen hält auch Kant an dem Unterschied zwischen ästhetischer Erfahrung und wissenschaftlicher Erkenntnis bzw. zwischen Kunst und Wissenschaft fest. Aber er schließt daraus nicht auf eine uneingeschränkte Funktionslosigkeit der Kunst bezüglich unseres Interesses daran, uns ein zutreffendes Bild der wirklichen Welt zu machen. Er ist der Auffassung, daß sich unser Interesse am Schönen nicht in dem freien Spiel erschöpft, in das es unsere Erkenntniskräfte, wenn wir es in ästhetischer Einstellung betrachten, zu versetzen vermag, denn »Schönheit [ist das] Symbol der Sittlichkeit« (KU § 59, S. 254). Ästhetische Qualität, wie sie im freien Spiel der Erkenntniskräfte als zweckmäßige Einheit einer anschaulichen Vorstellung hinsichtlich ihrer formalen und materialen Elemente bewußt wird, ist für Kant nicht Selbstzweck, sondern die Grundlage für ein Verständnis der Wirklichkeit. Daß ein Kunstwerk als Symbol für die Wirklichkeit oder einen Aspekt an ihr verstanden werden kann und uns an der Wirklichkeit etwas Neues zu entdecken erlaubt – diesem Gedanken hat Kant mit seiner Theorie der ästhetischen Erfahrung den Weg bereitet. Dabei wäre es ein neues Thema, wie die Frage nach der zweckmäßigen Einheit der Form und des Inhalts eines Textes nicht nur zur Leitfrage seiner literarischen Interpretation, sondern auch zum Maßstab der Beurteilung seiner literarischen Qualität gemacht werden könne. 40

Ebd. S..14.

PERSPEKTIVEN

Kants dritte »Kritik« aus der Sicht einer Theorie der Lyrik gelesen Von Renate Homann

I. Problemexposition 1. Die Aufgabe einer Theorie der Lyrik wird in dem vorliegenden Beitrag darin gesehen, Probleme der Lyrik als moderne zu konzipieren und gleichzeitig das, was in bezug auf die Lyrik unter dem Attribut »modern« verstanden werden kann, kategorial zu explizieren. Die »Kritik der ästhetischen Urteilskraft« aus der Sicht einer solchen Theorie zu lesen, heißt, danach zu fragen, ob und inwiefern in ihr das Prinzip der Moderne systematisch gefaßt ist. Der Grund für den Rückgriff liegt darin, daß es in der Theoriebildung der Literaturwissenschaft bislang versäumt wurde, ein solches Prinzip auszuarbeiten, um dasjenige, was Literatur allgemein und Lyrik speziell immer als ein »Mehr« an Sprachref lexion gegenüber Alltags- und Wissenschaftssprache konzediert wurde, konsequent darauf beziehen zu können. Von einem solchen wird hier angenommen, daß es ein Prinzip der Rationalität ist, das die Funktion hat, Differerenz zu (er-)finden, um Differenz – Widerspruch, Konf likt und Aporie – zu bearbeiten. Das »Mehr« an Sprachref lexion wurde nicht auf eine Kompatibilität mit »Rationalität« und »Theorie« befragt1. Im Unterschied zu systemtheoretisch orientierten soziologischen und literaturwissenschaftlichen Ansätzen wird hier betont, daß Lyrik auf das Problem der Moderne nicht einfach re-agiert, daß sie dieses vielmehr erfindet und als ihr eigenes Grundproblem identifiziert und bearbeitet. Darin wird Lyrik als avantgardistisch für die Selbstverständigung in der Moderne zu erweisen sein: Lyrik konzentriert sich – »Theorie« wird hier in einem ersten Zugriff als die Konstruktion einer Ordnung des Denkens verstanden, wobei die Annahme hinzukommt, daß die Konstruktion das Ergebnis einer Bearbeitung von Un-Ordnung in vorgegebenen Denk-Ordnungen sei. In dem Inkommensurablen an Ordnung aber wird ein Indikator der Moderne gesucht. »Theorie« meint demzufolge ein Instrument, das anleitet, in vorgegebenen Ordnungen das Ergebnis der Bearbeitung von Un-Ordnung zu sehen und nach der (methodischen) Ordnung in der Bearbeitung zu fragen. Zum Rationalitätsprinzip im Kontext einer Theorie der Literatur vgl. Renate Homann: Rationalität und Literaturwissenschaft: Die Rationalität der Literatur. In: Ingo Pies und Martin Leschke (Hrsg.): Karl Poppers kritischer Rationalismus. Tübingen 1999. 1

ZÄK Sonderheft · Jahrgang 2000 · © Felix Meiner Verlag 2000 · ISSN 1439-5886

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so die Arbeitshypothese – auf die Erfindung und Bearbeitung des Problems der Moderne, das hervorgeht aus den (nichtintendierten) Folgen der funktionalen Differenzierung, die die ehemals stratifikatorische Einheit einer Gesellschaft in autonome (Sub-)Systeme spaltet, so daß es zu einer Unvermitteltheit zwischen den (Sub-)Systemen kommt. Dementsprechend gilt es, das Prinzip, das Lyrik zur Bearbeitung dieses Problems erfindet, als eines der Vermittlung unvermittelbarer autonomer Systeme zu konzipieren. Bei der Anfrage an die »Kritik der Urteilskraft« darf indes nicht unberücksichtigt bleiben, daß das Medium und Organon der Lyrik nicht direkt das »Denken«, sondern die »Sprache« ist, so daß es für die Fragestellung des vorliegenden Beitrags entscheidend sein wird, in Gedichten Experimente mit der Sprache zu erkennen zu geben, die sich selbst als Erfindung und Bearbeitung des Problems der Unvermitteltheit autonomer Sprachsysteme und gleichzeitig als systematische Orte der Selbstverständigung der Lyrik ref lektieren. Denn das Konstrukt »Selbstref lexion« ermöglicht es, der Lyrik die Erfindung eines neuen Rationalitätsprinzips und, darauf gestützt, den Status einer neuen Art von Theorie und von System2 zuzuschreiben. Dadurch ist gewonnen, nicht nur die Anschlußfähigkeit der Lyrik an die Selbstverständigungsprozesse in der Moderne gemäß dem geltenden Prinzip der Rationalität, sondern auch das Avantgardistische derselben in bezug auf die Erneuerung dieses Prinzips aufweisen zu können. Wenn es in einer Theorie darum geht, zu begründen, daß Lyrik »Avantgarde«3 der Moderne sei, dann kann dem dadurch Rechnung getragen werden, daß theoriestrategisch der Binnensicht moderner Lyrik zwei methodische Schritte unterstellt werden, nämlich erstens die Interiorisierung der Erfindung von Differenz in die Konstituierung von Sprache und zweitens die Interiorisierung der Erfindung des Systemisch-Werdens der Bearbeitung dieser Differenz. Ein solches methodisches Vorgehen ermöglicht es, eine gedichtinteriore, in sich differenzierte ›Theorie‹ oder Methodologie der Erfindung und Bearbeitung des Grundproblems der Moderne zu konzipieren. Es müßte so das »Mehr« an Komplexität als theoriefähig aufgewiesen und als das spezifische Systemische bestimmt werden können, das das »Lyrische« zu nennen wäre. Auf jeden Fall ist eine Konstruktion gewonnen, an der sich zeigen läßt, wie die unvergleichbar erscheinenden Problemfindungs- und Problemlösungsstrategien in Lyrik und in Gesellschaft aufeinander zu beziehen sind. Die These lautet: Es ist das Kontra-Intuitive, Kontra-Sinnliche, oder kurz: das Kontra-Unmittelbare, das die Konstitutionsbedingung von beiden vergleichbar macht. 2 Die Kategorie »System« wird hier in Anlehnung an den systemtheoretischen Ansatz von Niklas Luhmann im Sinne einer Ordnung verwendet, die sich in bezug auf ihre Funktion in der Gesellschaft selbst produziert, organisiert und reproduziert. Luhmann verwendet in diesem Zusammenhang die aus der Biologie stammende Kategorie »Autopoiesis«. Unter dem Terminus einer »heautonomen Autopoiesis« wird an späterer Stelle erläutert werden, worin sich moderne Lyrik als eine neue Art von System konstituiert. 3 Rainer Warning und Winfried Wehle (Hrsg.): Lyrik und Malerei der Avantgarde. München 1982.

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Profilierung der Binnensicht – methodischer Zugriff auf ein Prinzip von und eine Ordnung in Erfindung, um der Präzisierung der Außensicht, der Funktionsbestimmung der Lyrik in der Gesellschaft willen – darin besteht das Vorgehen in der Theorie der Lyrik, von der in dem vorliegenden Beitrag ausgegangen wird. Wie notwendig es ist, Binnensicht und Außensicht systematisch zu verbinden, wird erkennbar, wenn man bedenkt, daß Lyrik erst dann als Avantgarde der Moderne bestimmt werden kann, wenn an ihr ein Prinzip geltend gemacht wird, dem sich die Erfindungen verdanken, derer die Gesellschaft zu ihrer Generierung immer dringender bedarf: Erfindungen, in denen Bearbeitungen des Problems der Ausdifferenzierung zu erkennen sind, die als Bearbeitungen des Problems von Erfindung durchgeführt werden, um so das Prinzip von Erfindung selbst zu modernisieren. Der Grund liegt darin, daß die Gesellschaft die nichtintendierten Folgen der Ausdifferenzierung nur noch über Regeln der Organisation anders nicht vermittelbarer (Sub-)Systeme steuern kann, wenn sie alle heterogenen (Sub-)Systeme erreichen will. Denn: Alle (Sub-)Systeme lassen sich nicht mehr über einheitliche Ideen der religiösen, moralischen oder sozialen Intuition und deren substantielle Normen (Inhalte) für das Handeln, sondern nur noch kontra-intuitiv – mittels konstitutioneller Diskursivität – an Regeln binden. Das Prinzip der Moderne ist von hierher nicht als das Prinzip der Intuition, das Heterogenität zugunsten einer ganzheitlich, in substantiellen Ideen verfaßten Ordnung ausschaltet oder »aufhebt«, sondern als das der Rationalität anzusetzen, das Regeln für die Zulassung von Heterogenität erfinden muß. Lyrik aber übernimmt die Funktion, zu dokumentieren, daß eine Erfindung solcher Regeln erst dann erfolgreich ist, wenn sie in eine »Verfassung«, in eine Verfassung für Heterogenität einmündet. Denn: Je mehr Heterogenität eine Ordnung regelgemäß verfaßt, als desto moderner, ganzheitlicher im neuen Verständnis von konstitutionell, ist sie angelegt. Die kurze Problemexposition sollte in einem ersten Zugriff mit dem Gedanken vertraut machen, daß es in einer Theorie der modernen Lyrik darum geht, zu begründen, warum ein Interesse besteht, das »Mehr« an der Rede der Gedichte auf interiore Prozesse von Erfindungen und diese wiederum auf eine Ordnung sui generis zurückzuführen. Die Aufgabe besteht darin, zu erweisen, daß es mit dem Prinzip der Moderne, dem kontra-intuitiven Prinzip der Rationalität von konstitutionellen – auf Diskursivität von Abstimmungs- und Zustimmungsverfahren zu fundierenden – Prozessen kompatibel sein muß. Die Berechtigung eines solchen Vorgehens wird hier darin gesehen, daß anders als mit Hilfe methodisch ausgearbeiteter Kategorien die Erfindungen, die Gedichte machen, von den (Sub-)Systemen der Gesellschaft nicht wahrgenommen und nicht angeeignet werden können. Träfe dieser Fall zu, dann hieße das, daß den (Sub-)Systemen und der Gesellschaft ein Fundus von Innovation unerschlossen bleiben müßte, der wie kein anderer geeignet ist, diese modellhaft über die Notwendigkeit einer Erneuerung ihrer konstitutionellen Verfaßtheit aufzuklären. Das Problem antizipierend, stellt die Lyrik, die traditionell auf die Erfindung eines Ganzen von Welt aus Intuition verpf lichtet

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wurde, auf die Erfindung von Differenz mittels Rationalität um – und dies, um das moderne Problem, das mit der Differenz- (er)findung erst entsteht, in Hinsicht auf den Entwurf einer neuen Art von Ganzheit zu bearbeiten.

2. Die Aufgabe einer Theorie der Lyrik, über den Zusammenhang zwischen moderner Gesellschaft und Lyrik methodisch und kategorial ref lektiert aufzuklären, macht eine Neuinterpretation der »Kritik der Urteilskraft« unentbehrlich. Deshalb wird im folgenden eine solche aus der Sicht der hier zugrunde gelegten Theorie der Lyrik ausführlicher vorgestellt4. In der »Kritik der ästhetischen Urteilskraft« geht es Kant darum, Erfahrungen bestimmter Phänomene der Natur sowie der Werke von Kunst und Literatur, die bis zu Baumgartens »Aesthetica«5 für irregulär gehalten wurden, weil an ihnen keine logische oder moralische Ordnung nachgewiesen werden konnte, und die deshalb aus der strengen Theoriebildung der Philosophie ausgegrenzt blieben, mit Hilfe des Konstrukts der »ästhetischen Urteile a priori« für theoriefähig zu erklären und ihnen so einen systematischen Ort in der Philosophie qua Ästhetik zu sichern. Zu diesem Zweck bedurfte es nichts Geringerem als einer Neugründung von Theorie. Erst mit deren Hilfe vermochte Kant die Lösung jenes Problems darzulegen, das er darin erkannte, daß Literatur und Kunst, obwohl sie eine eminent gesellschaftsbildende – Diskursivität und Urteilskompetenz unterschiedlichster sozialer Gruppen in Fragen des Geschmacks fördernde – Funktion ausübten, bislang keine systematischen Gegenstände der Philosophie werden konnten. Kant sah in seiner transzendentalen Konstruktion des Ästhetischen das geeignete Instrument, genau die soziale qua gesellschaftlich ordnungsbildende Funktion zu sichern und als entwicklungsfähig zu begründen. Wie zutreffend eine solche Einschätzung ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, daß wenig später Schiller, Kants Problemstellung weiterführend, Kunst und Literatur eine »Stütze« der erst zu bildenden, auf Freiheit zur politischen Diskursivität zu gründenden Legalität einer modernen Gesellschaft nennen wird 6. Es käme demzufolge einem methodischen Fehler gleich, wenn in der Argumentation das Neue an der ›sozialen‹ Funktion der Literatur auf der Ebene des moralischen Handelns geortet und in einer entsprechenden Ethik rekonstruiert würde. Richtig ist es demgegenüber, es auf einer anderen Ebene, nämlich auf der Ebene Zu der Neuinterpretation der »Kritik der Urteilskraft« vgl. Renate Homann: Theorie der Lyrik. Heautonome Autopoiesis als Paradigma der Moderne. Frankfurt a.M. 1999. Erstes Kapitel S..93-249. Bes. S..93-184. 5 Vgl. hierzu Ursula Franke: Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander Baumgarten (Studia Leibnitiana Supplementa Bd. IX). Wiesbaden 1972. 6 Friedrich Schiller: Werke. Nationalausgabe. Hrsg. von Julius Petersen u. a. Weimar 1943.ff. Bd. 20. S..315. 4

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dessen anzusetzen, was ich vorschlage, »Verfassung« zu nennen und worunter ich das Ergebnis der (Er-)Findung einer Ordnung / eines Systems für ansonsten unvermittelbare heterogene Ordnungen / Systeme – mithin die Erfindung inter-systemischer Regeln für das ungeordnete Zwischen zwischen systemischen Ordnungen – verstehe. Deren Theorie kann somit nicht die (Handlungs- und Individual-)Ethik, aber auch nicht die Erkenntnistheorie, die Psychologie oder die Soziologie sein, sondern nur eine Ästhetik bzw. eine auf diese gestützte Theorie der Literatur und Kunst, deren Zentrum das Prinzip der neuen, kontra-intuitiven Erfindungen bilden müßte. Wer Kants Absicht bestreiten würde, in der »Kritik der ästhetischen Urteilskraft« eine neue Art von Denken und von Theorie auszubilden, der würde ignorieren, daß Kant auf diese Weise das Problem der Moderne systematisch bearbeitet und darauf vor allem durch die Betonung der Mittlerstellung der »Kritik der Urteilskraft« zwischen seinen beiden ersten »Kritiken«, zwischen der »Kritik der reinen Vernunft« und der »Kritik der praktischen Vernunft«, unmißverständlich aufmerksam gemacht hat: Es geht ihm philosophie-immanent um die Überbrückung der »großen Kluft«7, die die Philosophie in zwei Grundsysteme spaltet, nämlich in die Philosophie der einzelwissenschaftlichen Erkenntnis und in die Philosophie der Moral, in Naturwissenschaft und Ethik, denn die Spaltung impliziert, daß auf dem jeweiligen »Gebiet«: dem des »Naturbegriffs« (der Empirie) und dem des »Freiheitsbegriffs« (der Nicht-Empirie), jeweils exklusiv nur die theoretische Vernunft (empirischer Verstand) oder die praktische Vernunft gesetzgebend sein kann. An dem Konstrukt »Vernunft«, auf das er alle Funktionen des Ordnens und Organisierens überträgt, expliziert Kant modellhaft seinen Lösungsvorschlag. Dieser besteht in einer Neukonzeptualisierung dessen, was er die »Urteilskraft« der Vernunft nennt. Das Konstrukt »Urteilskraft«, das er in bezug auf die theoretische und praktische Vernunft in den beiden ersten »Kritiken« auf die Funktion einer reinen Anwendung mittels a priori vorgegebener Schemata beschränkt hatte – es sollte unter ein vorgegebenes Allgemeines (einen Begriff oder eine Maxime) ein Einzelphänomen oder eine Einzelhandlung als das Besondere von »Natur« oder »Freiheit« subsumiert werden –, bestimmt er jetzt, in bezug auf die neue, »ästhetische« Vernunft, gewissermaßen konträr dazu. Er schreibt der Urteilskraft als neue Funktion die des (Er-)Findens zu. Die Urteilskraft soll jetzt zu einem gegebenen Besonderen, dem jegliche Referenz auf ein Allgemeines (Begriff oder Maxime) fehlt, das Allgemeine erst suchen müssen: Sie hat »zum Besonderen das Allgemeine zu finden«8. Mit der Ablösung der Funktion der (dogmatischen) Anwendung durch die des situativ bedingten (Er-)Findens hat er im Zentrum der Vernunft eine neue Vermittlungsleistung der Urteilkraft angesetzt, die er als ästhetische Freiheit, als Freiheit im Sinne von Erfindung des Allgemeinen zu dem Besonderen des aktuellen Suchprozesses, erläutert – und dies zu Immanuel Kant: Kants gesammelte Schriften. Hrsg. von der Königl. Preuß. [später: Deutschen] Akademie der Wissenschaften. Berlin 1910.ff. Bd. 5. S..195. 8 Ebd. Bd. 5. S..179. 7

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dem Zweck, die Vernunft sowohl in ihren beiden Grundkompetenzen als auch als ganze weiterzuentwickeln9. »Vernunft« soll aufgrund komplexerer Differenziertheit geeignet werden, dem Inkommensurablen neuer Erfahrungen in seiner Zeit, auf das sich die vorgegebenen Begriffe von naturwissenschaftlicher Erkenntnis und die Maximen von Moral nicht mehr anwenden lassen, gleichwohl eine Funktion in der Gesellschaft zuzuschreiben. Das impliziert genau die Aufgabe, den neuen Erfahrungen auf der Ebene der Philosophie eine Geordnetheit und damit Theoriefähigkeit abzugewinnen. Es muß im Prozeß der Erfindung – im anderen, urteilsinterioren Inkommensurablen also – die Bedingung a priori von Ordnung »überhaupt« aufgewiesen werden können – von Ordnung, die als das Werden eines Prinzips von Erfindung in einer aktuellen Suche nach Orientierungspunkten zu bestimmen wäre. Das neue – ästhetische – Prinzip faßt Kant daher konsequent als ein heuristisches, nicht aber als kausal-mechanisches oder dogmatisches (moralisches) auf. Zwei Konstruktionen führt er in die Philosophie ein, um die neue Konzeption zu stützen: erstens die des »Wohlgefallens«, das »ohne alles Interesse«10 ist, dessen Indikator er ein »Gefühl der Lust und Unlust« nennt, und zweitens die der zusätzlichen Ref lexion, mit der sich der Urteilende in das Urteil jedes anderen versetzen und dabei diesem die Zustimmung zu seinem Urteil als einem ästhetisch allgemeingültigen »ansinnen«11 soll. Bei beiden handelt es sich um transzendentale Konstruktionen, mit deren Hilfe Kant – so die dem vorliegenden Beitrag zugrunde liegende Neuinterpretation der »Kritik der ästhetischen Urteilskraft« – versucht, an dem Zufälligen, Flüchtigen und Spontanen sinnlicher Eindrücke des Schönen und Erhabenen bei der Betrachtung von Natur und Kunst die dynamische Ordnung eines neuen (Er-)Findens verständlich zu machen. Die Tatsache, daß er die Ordnung al-

Allerdings bleibt zu betonen, daß eine solche Neukonzeptualisierung nicht ohne erhebliche Übersetzungsleistungen auf seiten einer literaturwissenschaftlichen Theorie zu applizieren ist. – Die Schwierigkeit besteht darin, daß Kant in der sogenannten Kopernikanischen Wende, in welcher er in der Philosophie von der Ontologie und Anthropologie auf die Transzendentalphilosophie umstellte, die Kategorien gleichwohl aus der Anthropologie beibehalten hat. Er spricht so von der Vernunft als einem »Vermögen« des Menschen und im Hinblick auf deren Ordnungsprinzipien und Methoden von deren »Kräften«. Mißverständnisse sind daher in der Rezeption der »Kritik der Urteilskraft« vorprogrammiert. Anthropologische, psychologische und phänomenologische Deutungen der ästhetischen Erfahrungen verdecken Kants transzendentale Rekonstruktion derselben. Die Fähigkeit der »Urteilskraft«, jeweils innerhalb der theoretischen und der praktischen Vernunft durch Schematismen a priori festgelegte Vermittlungen vorzunehmen, hatte Kant bereits in den beiden ersten »Kritiken« festgeschrieben. Diese alte, schematisierende und die neue, (selbst-)erfinderische Aufgabe der Urteilskraft konnten leicht verwechselt werden. Angesichts einer solchen Gefahr erscheint es um so dringlicher, Kants Kategorien mit Hilfe methodisch geprüfter anderer Kategorien zu übersetzen. In der hier zu explizierenden Theorie der Lyrik werden zu diesem Zweck Kategorien wie die einer den Gedichten interioren »Theorie« (im Text markiert als ›Theorie‹), der »Autoreflexivität« der Konstituierung von Sprache und der »Selbstkonstitutions-Heuristik« verwendet. 10 Ebd. § 2. S..204. 11 Ebd. § 8. S..214 u. 216. 9

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lein dem (Selbst-)Konstitutionellen unterlegt, ermöglicht es ihm, darin das Modell einer neuen gesellschaftlichen Ordnung geltend zu machen. Das erste Konstrukt stellt ein Novum für die Theoriebildung dar, das bis heute nicht annähernd wahrgenommen wurde. Eher verborgen unter den anthropologischen und psychologischen Kategorien seiner Zeit – er spricht von dem »Gefühl der Lust und Unlust« – stellt Kant seine Entdeckung der grundsätzlichen Duplizität der neuen Art des Urteilens / Denkens dar. Das ästhetische Denken soll immer ein ohne jeden Begriff und ohne jede Maxime einsetzender Vollzug der Ref lexion der Urteilskraft und das »Gefühl« von diesem Vollzug sein – »Gefühl«, das heißt, Selbstwahrnehmung im Sinne eines sich selbst Bewußt-Werdens des Vollzugs der Ref lexion in bezug auf seine Begriff- und Maximelosigkeit. Letzteres zeigt an, daß in dem dergestalt zweck-los oder (zweck-) »frei« einsetzenden Vollzug eine Erfindung gemacht ist: Es ist die Zweckmäßigkeit der Zweckfreiheit – eine »Zweckmäßigkeit ohne Zweck«12 – als ein Prinzip a priori erfunden. Die Neuformulierung der »aisthesis« im Sinne einer Selbstwahrnehmung der Ref lexion der Urteilskraft a priori wird im vorliegenden Beitrag – mit Hilfe einer Kategorie der gegenwärtigen Theoriebildung – »Autoref lexion« genannt. Zum ästhetischen Denken gehören demzufolge immer beide: erstens zweckfreier Vollzug des Denkens – Suche nach dem Allgemeinen: dem Zweckmäßigen für das Besondere, für das Zweckfreie des Vollzugs – und zweitens die Autoref lexion desselben. Ästhetisches Denken bedeutet somit Erfindung eines Selbstzwecks für einen zwecklos einsetzenden Vollzug des Denkens. Diesem Konstrukt kann Kant eine fundamentale theoriestrategische Funktion indes nur dadurch zuweisen, daß er das »Gefühl der Lust und Unlust« nicht zur Ursache, sondern zur Folge oder permanenten Begleitung der »freien« ref lektierenden Urteilskraft erklärt. Auf diese Weise erst vermag er ästhetische Urteile a priori von der aisthesis im alten Sinne von empirischen, sinnlichen Wahrnehmungen abzugrenzen13. Das Moderne an Kants ästhetischen Urteilen wird hier in bezug auf das erste Konstrukt darin gesehen, daß aufgrund der ästhetischen Duplizität an die Stelle vorgegebener, d..h. exterior fundierter, Begriffe und Maximen, die das Objektive der (theoretischen und praktischen) Urteile in Erkenntnis und Moral, in Naturwissenschaft und Ethik, garantieren und deren Allgemeingültigkeit überprüfbar machen, nicht einfach Empfindungen und idiosynkratische Ideen der Subjektivität treten. Denn diese würden nur ein privatistisch interessiertes, ebenfalls zweckgerichtetes, Ebd. § 29, Allg. Anm. S..270. Verwechslungen jedoch vermochte er nicht zu verhindern. Sie beherrschen noch heute weite Teile der Diskussion in der Ästhetik. Sie beruhen immer darauf, daß die Neuformulierung der aisthesis – anstatt sinnliche Wahrnehmung empirischer Phänomene Selbstwahrnehmung von intellektuellen (Reflexions-)Prozessen zu sein – nicht nachvollzogen wird. Es wird die permanente Duplizität von Vollzug der Reflexion und Autoreflexion des Vollzugs und die darin eingefaltete methodologische Differenz zwischen Vollzug und Autoreflexion ignoriert. Die Lösung der Probleme des Allgemeinen und der Allgemeingültigkeit ästhetischer Urteile bleibt somit unerkannt. Unterkomplexität in psychologischen und anthropologischen Rezeptionen ist das Ergebnis. 12 13

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nicht aber ein uninteressiertes, zweckfreies Urteil ermöglichen. Die Autoref lexion bzw. die Heuristik, die aus der Duplizität von Vollzug und Autoref lexion der Ref lexion hervorgeht und die zur Selbstkonstituierung auffordert, weshalb hier auch von einer »Selbstkonstitutions-Heuristik« oder einem »ästhetischen Imperativ« gesprochen wird, übernimmt demgegenüber die Funktion einer Orientierung (Synthesis) für den Vollzug und stellt damit das Allgemeine in der Binnensicht ästhetischer Urteile dar. Das zweite Konstrukt bezieht sich nicht direkt auf die Binnensicht, nicht wiederum auf das Werden einer Erfindung, in der es zu einer Selbstbeurteilung des Suchprozesses der Ref lexion in ihrer Zweckfreiheit und insofern zu einer »Gesetzmäßigkeit ohne Gesetz«14 als einer Zweckmäßigkeit kommt, sondern auf eine interior fundierte Transgression der strengen Interiorität der Selbstkonstituierung des Denkens / Erfindens. Der Urteilende ref lektiert auf die Zustimmung aller anderen Urteilenden. So kann angenommen werden, daß er auf die Zustimmungsfähigkeit des Allgemeinen, das im Urteilsvollzug erst erfunden werden muß, setzt. Das Neue für die Theoriebildung besteht also darin, daß genau die Ref lexion auf die Zustimmung aller anderen an die Stelle eines objektiven Kriteriums für die Allgemeingültigkeit tritt. Allen, denen der Urteilende »ansinnt«, seinem Urteil als einem allgemeingültigen zuzustimmen, unterstellt er, in derselben Situation ebenfalls ästhetisch urteilen zu können. Auch sie müßten angesichts bestimmter Phänomene der Natur oder bei der Betrachtung von Werken der Kunst oder beim Lesen von Literatur zu dem Urteil »schön« oder »erhaben« kommen können. Das Neue mithin, das Kant zur Begründung der Allgemeingültigkeit ästhetischer Urteile in die Philosophie einführt, besteht darin, daß er an die Stelle objektiver Normen und Begriffe nicht einfach die Subjektivität mit ihren zufälligen Empfindungen und ihren idiosynkratischen Ideen setzt, sondern dasjenige, was eine intrasubjektiv fundierte Intersubjektivität genannt werden kann. Bei dem ersten Konstrukt handelt es sich demzufolge um eine Interiorisierung von Differenz (Duplizität) in das Urteil – zum Zweck der Erfindung einer Selbstbeurteilung als des Allgemeinen –, und bei dem zweiten um eine Interiorisierung des Systemisch-Werdens (des Prinzips) in das Urteil – zu dem Zweck, es als ein ästhetisch allgemeingültiges zu begründen. Bei letzterem soll sich ja die Ref lexion auf alle nur insofern beziehen, als diesen unterstellt wird, sie könnten als ästhetisch Urteilende, nicht aber als moralisch oder theoretisch Urteilende dem Urteil zustimmen. Auf diese Bestimmung ist es zurückzuführen, wenn jetzt behauptet wird, das zweite Konstrukt impliziere die modernste Aktivität in der Konstituierung des ästhetischen Urteils. Gemeint ist die Unhintergehbarkeit dessen, was hier Selbstkontrolle der allgemeinen Zustimmungsfähigkeit des Urteils – mittels der Ref lexion auf eine Fremdreferenz, auf alle ästhetisch Urteilenden – genannt wird. Findet diese Kontrolle statt, dann ist das ästhetische Urteil, obwohl es subjektiv fundiert ist, all14

Ebd. Bd. 5. Allg. Anm. S..241.

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gemeingültig zu nennen. Kants Neugründung von Allgemeingültigkeit beruht auf dem Konstrukt einer »intrasubjektiv fundierten Intersubjektivität«15. Ästhetik als philosophische Disziplin avanciert mit der Neuformulierung der aisthesis im Sinne von autoref lexiven Denkprozessen a priori zur Theorie einer Kultur des Denkens, dessen Allgemeingültigkeit auf das Konstitutionelle, das in der Diskursivität von Zustimmungsprozessen entsteht, nicht aber auf die Objektivität von (vorgegebenen) Begriffen und Maximen – von Begriffen des Wahren oder Maximen des Guten – gegründet ist. In ihr wird mit dem »ästhetischen Urteil« sowie mit dessen systematischem Ort in Kunst und Literatur ein Modell der Selbstorganisation in der Moderne ausgebildet, das es in keiner anderen philosophischen Theorie / Disziplin bislang gab und auch später in der Radikalität nicht geben sollte: Die Basis bildet die ästhetische Freiheit, die gemäß der Trias von erstens Selbsterfindung, zweitens Selbstbindung und drittens Selbstkontrolle zu explizieren wäre. Erstens Erfindung einer Regel der Selbstkonstituierung für den ohne Begriff und Maxime einsetzenden Vollzug des Urteilens / Denkens, zweitens Selbstbindung an die interior erfundene Regel und drittens Kontrolle der Allgemeingültigkeit der Selbstkonstituierung mittels der Ref lexion auf die Zustimmung durch alle anderen. Kants unübertroffene methodologische Leistung wird hier nun darin gesehen, daß er das Neue für die Theoriebildung, das jedes der beiden soeben vorgestellten Konstrukte impliziert, nicht additiv oder technisch betrachtet, sondern systematisch unter dem Grundsatz einer Heautonomie zusammengefaßt hat. Denn er versteht darunter die Selbstgesetzgebung in dem Prozeß des neuen Denkens – die Erfindung nämlich des zweckfrei einsetzenden Denkprozesses, daß die Freiheit von jedem exterioren Zweck einzig die Regel für seine Konstituierung als eines aktuellen (Selbst-) Erfindungsprozesses bilden kann. Die Qualifikation, die der Grundsatz impliziert, kann jetzt mit Rücksicht auf Kants Unterscheidung zwischen den »freien«, ästhetisch ref lektierenden und den »bestimmenden«, theoretisch und praktisch zweckgerichten Urteilen unter dem Terminus einer »Selbstkonstituierung« anstelle einer Objekt- (Gegenstands-) und Handlungskonstituierung auf den Begriff gebracht Fehlt das erste Konstrukt (Interiorisierung der Erfindung des Allgemeinen) in einer Theorie des Ästhetischen von Kunst und Literatur, dann handelt sich die Theorie den Vorwurf einer unterkomplexen Rekonstruktion ein. Das Avantgardistische im Sinne der selbstkonstitutionellen Erfindung aufgrund von ästhetischer Duplizität wird bereits im Ansatz ausgeschaltet. Die Stelle von Freiheit zur Erfindung einer Selbstgesetzgebung wird durch die Reproduktion vorgegebener Muster oder durch leere, sich nicht selbst beurteilen könnende Progressionen des Findens von Differenz besetzt. Fehlt das zweite Konstrukt (Interiorisierung der Erfindung der Allgemeingültigkeit), dann gibt es kein Kriterium für das immer wieder gesuchte, aber vor Kant nicht (und nach Kant nicht wieder) begründete Systemisch-Werden von ästhetischen Urteilen, das es erst ermöglicht, das Prinzip von Erfindung als das Ergebnis einer (selbst-)konstitutionellen Bearbeitung der Folgen der funktionalen Differenzierung in der Moderne zu begreifen. Die Stelle von Freiheit zur Erfindung von Selbstkontrolle mittels Reflexion auf die Zustimmung durch eine interior erst systemisch gemachte Fremdreferenz wird durch vorsystemische, einheitliche Normativität besetzt. Das moderne Konstitutionelle – die Diskursivität von inter-systemischen Zustimmungsprozessen – wird ausgeschaltet. 15

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werden. »Heautonomie«, Freiheit also zur Erfindung einer Gesetzmäßigkeit (»Regel«) für eine Selbstkonstituierung (eines gesetz- und zweckfrei einsetzenden Urteilsvollzugs), so korrigiert Kant seine eigene Begriffsbildung, tritt in ästhetischen Urteilen an die Stelle von »Autonomie«, von Freiheit zur Fremdkonstituierung (in einem auf einem vollzugsexterioren Zweck beruhenden Urteil)16. Für die Theoriebildung birgt der Grundsatz der Heautonomie Sprengkraft in sich. Das Konzept des ›Urteilens ohne Begriff‹ und des ›Urteilens ohne Maxime‹ entläßt das Denken nicht nur aus der Reproduktion und Anwendung vorgegebener Ordnungsmuster, es fordert darüber hinaus geradezu auf, diesem die Freiheit zuzubilligen, mit seiner aktuellen auch seine zukünftige Verfaßtheit selbst zu erfinden. Aktualität und Zukunftsfähigkeit werden so erstmals zu Kriterien des Denkens. In der Explikation des Grundsatzes der »Heautonomie« kommt die vorliegende Argumentation zu ihrem Ergebnis. Mit Hilfe von Luhmanns Kategorie gesagt, läßt sich an dieser Stelle jetzt auch ein systemischer Code als »Beobachtungsschema« für das Ästhetische angeben17. Er bestünde in der Unterscheidung: heautonom / nicht heautonom (autonom). Denn: Einen solchen zu finden, heißt in den Kategorien der Systemtheorie, den Gegenstand der Theorie, hier: ästhetische Kunst und Literatur, als Autopoiesis begründen und als ein soziales System ausweisen zu können. Dies gilt allerdings nur mit der Einschränkung, die dieser Code selbst zu beachten auffordert, daß nämlich das »System« Kunst / Literatur im Vollzug der strengen Selbstkonstituierung jedes einzelnen Werks qua Autopoiesis erst erfunden werden muß. Insofern erscheint es sinnvoll, von einem Systemisch-Werden von Kunst und Literatur im Prozeß der Selbstkonstituierung ihrer Medien – Sprache, Töne, Farben, Steine etc. – zu sprechen. Gleichzeitig läßt sich das Ergebnis durch das Argument der Selbstkontrolle stützen, demzufolge im Vollzug der Selbsterfindung auch die Fremdreferenz erst erfunden werden muß, von der die Zustimmung zum Ästhetischen als dem Systemischen erwartet wird. Nicht Zufall, sondern regelgerechte Erfindung einer Regel für diese Bezugnahme wird das Zentrum der Zustimmungsfähigkeit und damit Allgemeingültigkeit moderner Literatur bilden. Methodologisch beruht das Ästhetische als das neue Systemische demzufolge auf regelgerechter inter-systemischer Aktivität.

Unter Fremdkonstituierung ist dabei die Realisation der dem (Sub-)System zwar eigenen, dem hier und jetzt aktuellen Vollzug gegenüber aber exterior vorgegebenen Begriffe, Normen und Gesetze zu verstehen. 17 Luhmann hat einen solchen nicht benennen können. Die von ihm selbst eher kritisch betrachteten Vorschläge: schön – nicht schön, und: neu – nicht neu, bleiben unterkomplex, weil er die Differenz: selbstreflexiv konstitutionell – nicht selbstreflexiv konstitutionell, nicht beachtet und daher auch nicht als eine methodologische Differenz in die Binnensicht von Kunst und Literatur interiorisieren kann. Vgl. Niklas Luhmann: Weltkunst. In: Niklas Luhmann, Frederick D. Bunsen und Dirk Baecker (Hrsg.): Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur. Bielefeld 1990. S..29.f. Zudem: Ich würde anstelle von »Code« eher von einer »heuristischen« Konstruktion oder einem »ästhetischen Imperativ« sprechen. 16

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Wenn aber gilt, daß sich allein an der Ref lexion auf eine Fremdreferenz, auf alle ästhetisch Urteilenden also, ablesen läßt, woraufhin sich das »freie« Experiment des Denkens systemisch auslegt, dann spricht nichts gegen den Anspruch, der in der Theorie der Lyrik erhoben wird, erstmals begründen zu können, worin die Allgemeingültigkeit ästhetischer Literatur besteht. Das Argument lautet: Das SystemischWerden von Literatur zeigt sich in dem einzelnen Werk, oder genauer: in dem Experiment mit den Grundlagen der Sprache, an der Ref lexion auf die Zustimmung durch alle anderen Literaturen18. Und diese Bezugnahme tritt als Neubegründung des bekannten Phänomens der Rezeption von Literatur in Literatur hervor. Deshalb wird im folgenden in Analogie zu dem soeben vorgestellten Konstrukt der »intrasubjektiv fundierten Intersubjektivität« mit dem einer »intraliterarisch fundierten Inter-Literarizität« gearbeitet werden. Diesem wird die Funktion zugeschrieben, den systematischen Ort der neuen Allgemeingültigkeit, das heißt jetzt, der Zustimmungsfähigkeit von Literatur im Sinne einer Autopoiesis, zu modellieren. Denn: Auf dieses Konstrukt erst trifft die dritte Kategorie der Trias zu, die den Grundsatz der Heautonomie im Verständnis ästhetischer Freiheit zu explizieren hilft: Selbsterfindung, Selbstbindung und Selbstkontrolle. Es gibt den Ausschlag, Literatur gerade nicht als eine autonome, sondern als eine heautonome Autopoiesis begründen zu können. Demzufolge kontrolliert Literatur ihr Systemisches, das hier die »Literarizität« einer Neukonstruktion von Sprache genannt wird, darin als allgemeingültig selbst, daß sie, um der Zustimmung durch alle anderen Literaturen willen, das Prinzip der Moderne als ein inter-literarisch konstitutionelles Prinzip ausbildet.

II. Ernst Meisters Gedicht »Sage vom Ganzen« aus der Sicht einer Theorie der Lyrik gelesen 1. Das ästhetische Prinzip des Erhabenen Im folgenden wird Ernst Meisters Gedicht SAGE VOM GANZEN aus der Sicht der Theorie der modernen Lyrik analysiert, die auf der soeben skizzierten Interpretation der »Kritik der Urteilskraft« basiert. Es geht dabei speziell darum, die Frage zu beantworten, wie unter den Bedingungen der Moderne, in der durch funktionale Differenzierung das Problem unvermittelbarer Heterogenität zentral wird, Binnensicht und Außensicht von Lyrik zu bestimmen seien. Die Fokussierung auf das ProDie Voraussetzung dafür liegt in der Annahme, daß in einem »freien« Experiment mit den Konstitutionsbedingungen von Sprache, das allein einem ästhetischen – selbstkonstitutions-heuristischen – Imperativ folgt, sämtliche vorhandenen Literaturen zu etwas vorgegebenem Exterioren geworden sind, deren Konstitutionsregeln deshalb auch nicht übernommen werden können. Eine Re-Produktion derselben würde so etwas wie die Selbstwahrnehmung qua Autoreflexion des zweck-los einsetzenden Vollzugs des Sprachexperiments und damit ästhetische Duplizität und Selbstkonstitutions-Heuristik gar nicht erst aufkommen lassen. 18

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blem »Moderne« macht es erforderlich, das ästhetische Urteil über das Erhabene zugrundezulegen, konnte Kant doch nur an diesem zeigen, daß die Vermittlungsleistung der »frei« ref lektierenden Urteilskraft überhaupt als inter-systemisch und nicht einfach nur, wie beim Urteil über das Schöne, als intra-systemisch erfinderische konzipierbar ist. Anders aber als mit Hilfe des Theorems von Inter-Systemik waren ästhetische Urteile bzw. Kunst und Literatur nicht mit der Forderung nach einer neuen konstitutionellen Rahmenordnung für die Gesellschaft kompatibel zu machen. Die Voraussetzung dafür hat Kant mit einem methodischen Kunstgriff geschaffen, der bis heute von der Theoriebildung in seiner Tragfähigkeit nicht annähernd erkannt ist: Er hat erstmals an einem Urteil die beiden unvermittelbaren, weil »autonomen«, Kompetenzen der Vernunft, die theoretische und die praktische Vernunft, beteiligt. Und: Er hat einer der beiden Kompetenzen, nämlich der praktischen, die Fähigkeit zu einer Selbsttransformation in einer Neukonstituierung unterlegt. Damit hat er von vornherein jeder Reduktion der Binnensicht widersprochen, die immer dann stattfindet, wenn ästhetischen Urteilen die Konstruktion einer invariablen strukturellen Differenz unterlegt wird. Sein Ziel jedenfalls, in der Ästhetik die Erfindung einer Brücke oder eines »Übergangs« über die »Kluft«19 zwischen den autonomen »Gebieten«, (Natur-)Wissenschaft und Ethik, als Leistung der »freien« Urteilskraft zu begründen, hätte er, ohne für die Urteilskraft der praktischen Vernunft eine Selbsttransformation vorzusehen, jedenfalls so nicht erreichen können. Die Frage, weshalb er der praktischen Vernunft, nicht aber der theoretischen Vernunft qua empirischem Verstand die Fähigkeit zur Selbsttransformation zubilligte, läßt sich mit dem Verweis darauf beantworten, daß er nur der ersteren ein Interesse an der Erhaltung aller Kompetenzen der Vernunft und darüber hinaus an einer Neuorganisation der Vernunft als ganzer unterstellen konnte: Nur die praktische Vernunft sollte das in der Moderne entstandene erkenntnistheoretische Dilemma der metaphysischen Idee des Ganzen lösen können, weil nur sie, die ansonsten auf dem »Gebiet« des moralischen Freiheitsbegriffs aktiv ist, sich eignet, Freiheit, das Kontra-Empirische und Kontra-Sinnliche, jetzt auch anders – als Freiheit von der eigenen Dogmatik und als Freiheit zur Heuristik einer Selbstkonstituierung – auszuüben. Als Lösung kommt erstmals Inter-Systemik in den Blick: Der neue, ästhetische Begriff von Freiheit läßt es zu, Aktivitäten der Urteilskraft der praktischen Vernunft auf dem »Gebiet« des Naturbegriffs, der Empirie, zu konzipieren, und zwar ohne gleichzeitig von einer Okkupation desselben durch moralischen Dogmatismus oder einer Reproduktion (von dessen kausal-mechanischem Prinzip) ausgehen zu müssen, wodurch immer die Fähigkeit der praktischen Vernunft zur Erfindung einer neuen Vernunft als ganzer verstellt würde20. Immanuel Kant: Kants gesammelte Schriften. A.a.O. Bd. 5. S..195. Kants ästhetisches Konzept des Erhabenen sieht vor, daß die praktische Vernunft die expandierenden Wahrnehmungen der Einbildungskraft, an deren Synthesis der zunächst einmal zuständi19 20

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Von hierhier bleibt festzuhalten, daß Kant dank der Interiorisierung der Differenz zwischen theoretischer und praktischer Vernunft in das Urteil über das Erhabene neben dem Harmoniemodell, dem des Schönen, nicht einfach ein Differenzmodell, sondern, präziser, ein Konfliktmodell als ein selbständiges ästhetisches Modell zu etablieren vermochte. Es gelang ihm, daran die zukunftsweisende Bearbeitung des Problems der Moderne – des Problems der Unvermitteltheit heterogener Ordnungen (des Denkens), das aus permanenter (funktionaler) Differenzierung entsteht – darzulegen21. Die Aktivitäten auf dem »Gebiet« des fremden autonomen Systems müssen nur solange als destruktive Übergriffe aufgefaßt werden, solange es an der Einsicht in Kants ästhetisches Modell fehlt, sie als präzise, selbsttransparente Bearbeitungen der Aporien des fremden Systems – eben als inter-systemisch konstitutionell wirksame Aktivitäten – konzipieren zu können. Weder Niklas Luhmann noch poststrukturalistische Differenz- und Aporie-Theoretiker wie Jacques Derrida oder Paul de Man haben dieses Kantische Angebot zur Lösung des Problems der Insuffizienz der metaphysischen Konzepte von Ganzheit angenommen. Die dem vorliegenden Beitrag zugrunde liegende Theorie der Lyrik ist demgegenüber bereits von Kants Angebot her konzipiert. Da Gedichte nun aber nicht direkt als ästhetische Urteilskraft / ästhetisches Denken zu konzipieren sind – eine solche Zuschreibung könnte nur in bezug auf den Autor oder Rezipienten von Gedichten vorgenommen werden –, sondern als eine Konstituierung von Sprache, von der angenommen wird, daß sie gemäß dem ästhetischen Prinzip des Erhabenen erfolgt, ist deren Binnensicht nicht am Modell »Vernunft« / Vermittlungsleistung der »Urteilskraft«, sondern am Modell »Sprache« / Vermittlungsleistung qua Verfassungsleistung von Sprache22 zu explizieren. Die extreme Steigerung und Verdichtung von Komplexität, zu welcher die urteilsinteriore Bearbeitung des Konf likts in der theoge Verstand scheitert – er soll keinen empirischen Begriff für die noch ungeformten Wahrnehmungen, zu welcher »große« oder »chaotische« Naturphänomene die Einbildungskraft provozieren, finden –, als zweckmäßig für die Selbstwahrnehmung ihrer aktuell »frei« reflektierenden Urteilskraft beurteilen und insofern ein Interesse an der unreduzierten Präsenz solcher Phänomene zeigen. Er macht also mit Hilfe des Konstrukts des ästhetischen Urteils a priori die Erfahrungen des Inkommensurablen von Naturerscheinungen, die sich empirisch, psychologisch und phänomenologisch in der Ambivalenz von Schrecken und Begeisterung äußern, zu Gegenständen der philosophischen Ästhetik, um ihnen, gerade weil sie einzelsystemisch nicht faßbar sind, eine Funktion für die Suche nach einer neuen Rahmenordnung für die Gesellschaft abgewinnen zu können. 21 Sein Angebot beruht auf dem methodologischen Konstrukt einer Transformation der Urteilskraft der praktischen Vernunft von einer intrasystemischen, dogmatisch-moralischen Vermittlung zwischen (vorgegebenen) Maximen und einzelnen Handlungen zu einer inter-systemischen, heuristisch-ästhetischen Vermittlung zwischen (suspendierter) Moral und (scheiternder) naturwissenschaftlicher Erkenntnis. 22 Den Begriff »Verfassungsleistung« von Sprache führe ich in die Theorie ein, um den höheren Grad an Komplexität, der sich aus dem Grundzug des Selbstkonstitutionellen als des Inter-Systemischen ergibt, gegenüber allen anderen Funktionen der Sprache, z. B. gegenüber der referentiellen, kommunikativen, performativen oder rhetorischen, zu betonen, die bis heute entweder vorsystemisch oder einzelsystemisch konzipiert sind.

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retischen Vernunft und der Differenz zwischen theoretischer Vernunft und praktischer Vernunft beim Scheitern der theoretischen Vernunft, Erfahrungen außerordentlicher Naturphänomene auf (wissenschaftliche) Begriffe zu reduzieren, führen sollte, macht eine dreistufige Rekonstruktion der Binnensicht erforderlich. Analog der methodologischen Differenz zwischen theoretischer und praktischer Vernunft gilt es, eine solche zwischen einer empirischen und einer »freien« Konstituierung von Sprache anzusetzen – »freie«, das heißt, von allen Zwecken (Gesetzen und Normen) der empirischen losgelöste Konstituierung von Sprache – und dabei die empirische der ersten, die »freie« aber der zweiten Stufe zuzuordnen. Darüber hinaus ist eine dritte Ebene einzuführen, wobei diese dann als die Bearbeitung der Differenz bestimmt werden kann, die auf der zweiten Ebene durch die Erfindung einer Selbstdifferenz in der »freien« Konstituierung von Sprache – der Differenz zwischen Vollzug und Autoref lexion desselben im Sinne einer ästhetischen Duplizität – zu präzisieren sein wird. Die Unterscheidung ist deshalb notwendig, weil anders kein Zugriff der »freien« Selbsterfindung von Sprache auf die fremde, autonome Ordnung: auf die – scheiternde – empirische Reproduktion vorgegebener Sprachnormen denkbar und begründbar ist, von welchem Übergang – von der dritten zur ersten Stufe – aber gerade angenommen werden können soll, daß er in praxi für das neue Allgemeine, die neue Regel, steht, die das ästhetische Prinzip des Erhabenen als ein inter-systemisch erfinderisches und insofern dann auch als ein Prinzip von Verfassung ausweist. Erst mit Rücksicht darauf kann das Ergebnis der Analyse lauten: Die interiore Regel wird einmalig und punktuell für alle heterogenen Ordnungen der Konstituierung von Sprache – auf allen Stufen – regulativ wirksam. Es kommt somit darauf an, den »Übergang« über die »Kluft« zwischen »freier« (Selbst-)Erfindung und empirischer Reproduktion als den Endpunkt der Bearbeitung der Aporie in der Fremdreferenz zu erkennen zu geben, so daß an diesem dann das Systemisch-Werden der »freien« Konstituierung von Sprache als eine neue Position greifbar wird. Er bildet, so wird zu zeigen sein, einmalig die einzig gültige – interiore – Referenz für alle heterogenen Sprachordnungen, ohne doch, wie es ansonsten für eine Regel und Synthesis üblich wäre, das Heterogene der Sprachordnungen in irgendeiner Weise zu reduzieren, zu subsumieren, zu verdrängen oder dialektisch aufzuheben. Im Gegenteil: Das Allgemeine einer solchen Referenz ist darin zu sehen, daß sie Heterogenität als Drohpotential nicht nur zuläßt, sondern auch als notwendig markiert, um sie als Provokation weiterer Erfindungen von »Übergängen« im Sinne inter-systemisch wirksamer Verfassungen zugriffsfähig zu halten. Unter der Leithypothese, der gemäß in jeder ästhetischen Selbstorganisation eines einzelnen Sprachvollzugs eine Neuorganisation von Sprache auf der Ebene von Verfassung stattfindet und dementsprechend Lyrik als eine heautonome Autopoiesis je aktuell erfunden wird, läßt sich dieses Novum für die Theoriebildung nun auch am modernen Gedicht erkennbar machen, und zwar genau dort, wo ohne eine theoriegeleitete Analyse eher nur Differenz, unvermittelbare Heterogenität und Aporie

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sowie semantische Leere oder Nonsens behauptet werden müßten. Es wird zugänglich und bestimmbar als eine Qualität von Sprache. Ganzheit wird auf einen Prozeß der Erfindung eines Systems zurückgeführt, dessen Neues darin besteht, daß es auf die gleichzeitige Erfindung von Inter-Systemik gegründet ist. Es wird zu zeigen sein, daß es, weil es auf der (Selbst-)Verfassung des Erfindungsprozesses beruht, nicht mehr um die Suche nach einer Synthesis von Quantitäten als den Teilen eines vorgängigen und deshalb als metaphysisch aufzufassenden Ganzen geht, sondern darum, eine Qualität der Bearbeitung von inkommensurablen Quantitäten im Sinne der regelgerechten Vermittlung bislang unvermittelbarer, autonomer Ordnungen zu erfinden – eine konstitutionelle Qualität, die diesen Ordnungen Freiheit zur Selbstgesetzgebung als deren neue Verfassung zuspielt. Aus der Sicht einer Theorie der modernen Lyrik formuliert, besteht die Aufgabe der Lyrik, das Problem der Moderne zu bearbeiten, demzufolge vor allem darin, eine neue Einfachheit auf der Ebene – nicht von Referenz (Erkenntnis) oder Kommunikation (Handlung), sondern – von Verfassung zu praktizieren, um so anstelle von technischer oder kausal-mechanischer Indifferenz in der Addition der Teile oder der Systeme eine Art interiorer Zuschreibung von Verantwortung des sich selbst organisierenden Sprachprozesses für alle anderen systemischen Sprachordnungen zu etablieren. Es wäre von Verantwortung im Sinne von Selbstbeurteilung in bezug auf eine inter-systemisch konstitutionelle Innovation zu sprechen. Diese erst wäre als der systematische Ort geltend zu machen, an dem die Selbstkonstituierung eines Gedichts ihre Effizienz für die Vermittlung der ansonsten unvermittelbaren heterogenen Systeme von Lyrik selbst kontrolliert. Hat Kant eine solche Art von Verantwortung in der ›praktischen‹ Vermittlungsleistung einer Selbstgesetzgebung der Urteilskraft der praktischen Vernunft im Urteil über das Erhabene konstruiert – die expandierenden Wahrnehmungen der Einbildungskraft müßten ohne eine solche mit dem Scheitern der Synthesis-Leistung des Verstandes (Begriffs) sofort als chaotisch verworfen werden – und deren systematischen Ort »Übergang« über die »große Kluft« zwischen den autonomen Systemen: Ethik und Naturwissenschaft, genannt, dann wird eine solche hier, um das Inter-Systemische derselben als die radikalste Realisation der ästhetischen Freiheit zu kennzeichnen, Implementation der (selbst-)konstitutionellen Innovation des »freien« Urteilsvollzugs in das empirische Konfliktpotential genannt. Auf diese Weise wird eine völlig neue Art von Vermittlung zur Geltung gebracht, und es ist von daher, abgeleitet also aus der ästhetischen Funktion der Urteilskraft der praktischen Vernunft, eine neue poetische Funktion der Sprache gewonnen: Diese wird mit dem »Übergang« zwischen unvermittelbaren systemischen, literarischen, Ordnungen der Sprache gleichgesetzt, wodurch sie als eine inter-systemisch konstitutionelle Funktion präzisiert werden kann. So, als heautonome, konzipiert, bildet sie das Zentrum der literarischen Erfindung, in welchem sich das Prinzip von Erfindung selbst erneuert. Die »große Kluft« zwischen Reproduktion vorgegebener Ordnungen der Sprache (erste Ebene) und der Erfindung einer neuen Ordnung der Sprache auf der Ebene

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von Verfassung (zweite und dritte Ebene) wird von letzterer in einem Gedicht mittels der ›praktisch‹ durchgeführten Freiheit zur Selbstgesetzgebung überbrückt, und die Brücke / der »Übergang« wird als Implementation der Freiheit der (selbst-)konstitutionellen Erfindung in das empirische Konfliktpotential bestimmbar. So jedenfalls lautet bezüglich der neuen poetischen Funktion der Sprache das Ergebnis der hier zugrunde gelegten Theorie der modernen Lyrik. Als eine Vermittlung zwischen autonomen Sprachsystemen, in welcher die ›praktisch‹ durchgeführte Freiheit zur Selbstgesetzgebung punktuell alle heterogenen Systeme in der Weise einer Heuristik oder eines Regulativs neu orientiert, wird diese keineswegs überbewertet, wenn jetzt behauptet wird, daß in ihr gleichzeitig das philosophische Problem der Anwendung von Erfindung im Sinne transzendentaler Konstruktionen der Konf liktbearbeitung auf empirische Konf likte modellhaft gelöst ist. Die Rekonstruktion derselben entlang der Trias der ästhetischen Kategorie »Freiheit«: erstens Selbsterfindung: Erfindung der Regel für den zweckfreien Vollzug des aktuellen Sprachexperiments, zweitens Selbstbindung: Bindung des Vollzugs an diese Regel, und drittens Selbstkontrolle der Allgemeingültigkeit der Erfindung dieses neuen Allgemeinen: Ref lexion auf die Zustimmung durch alle anderen Gedichte, wird helfen, die neue poetische Funktion als eine inter-systemisch konstitutionell wirksame zu explizieren und zu begründen. Damit ist auf der Seite der wissenschaftlichen Theorie die Lösung des Problems aufgewiesen, das die Lyrik als das Problem der Moderne identifiziert und das sie systemisch engführt, um es als ihr eigenes Problem zu bearbeiten.

2. Analyse des Gedichts »Sage vom Ganzen« SAGE VOM GANZEN

den Satz, den Bruch, das geteilte Geschrei, den trägen Ton, der Tage Licht. Mühsam im gestimmten Raum die Zeit in den Körpern, leidiges Geheimnis, langsam. Tod immer. (Und ich wollt doch das Auge nicht missen entlang den Geschlechtern nach uns.)

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Sage: DIES ist kein anderes. Sage: So fiel, in gemeiner Verwirrung, der Fall. Sage auch immer: Die Erfindung war groß. Du darfst nur nicht Liebe verraten.23

In Ernst Meisters Gedicht ist eine neue Art von Vermittlung erfunden, und die Erfindung ref lektiert sich selbst als »Übergang« über die »Kluft«, die die Lyrik spaltet. Um zu diesem Ergebnis zu kommen, bedarf es der dreistufigen Rekonstruktion der lyrischen Konstituierung von Sprache gemäß dem ästhetischen Prinzip des Erhabenen. Wenn die einzelnen Stufen im folgenden vorgestellt werden, dann geschieht dies in der Absicht, die dem »Übergang« unterstellte inter-systemische Vermittlungsleistung präzise fassen zu können. Aus der Perspektive der ersten Stufe bzw. der ersten semantischen Ebene, die sich auf die empirische Konstituierung von Sprache bezieht, kommt der Konf likt in den Blick, den der Imperativ, VOM GANZEN die Teile zu sagen, auslöst. Denn: Auf dieser Ebene herrscht die Reproduktion vorgegebener Muster der lyrischen Konstituierung von Sprache vor. Die Referenzen derselben werden exterior gesucht – zumeist im Psychologischen, Phänomenologischen oder Sprachtheoretischen, das jeweils durch den Inhalt, durch die Bedeutung der Worte und Sätze, vorgegeben zu sein scheint. Sie werden beliebig und willkürlich bestimmt, da an die Erfindung einer interioren Referenz, etwa die eines »Übergangs« zwischen den zu sagenden Teilen, in der dort einsetzenden Bearbeitung des Konf likts noch nicht gedacht ist. Mißt man eine solche Sichtweise an dem, was in der hier zugrundeliegenden Theorie zu dem Merkmal des Lyrischen erklärt wird, nämlich an dem Verhältnis von Prosa und Verspoetischem – mithin an einer Grunddifferenz in der Konstituierung von Sprache in Gedichten –, dann fällt auf, daß beide nicht als systematisch verbunden behandelt werden. Das Verspoetische – Verszeile, Metrum, Rhythmus und Reim (Alliteration) – erscheint deshalb eher nur als ein Ornament der Konstituierung von Bedeutung durch die Prosa, durch Syntaxgrammatik und lebensweltliche Performance. Eine phänomenologische Vorgehensweise, wie sie in Hermeneutik, Strukturalismus und Dekonstruktion angewandt wird, läßt daher im Durchgang durch die fünf Strophen mit den neunzehn Versen eine Konstituierung von Sprache erkennbar werden, die mit den Regeln der kommunikativen Rede, verständlich Information zu übermitteln, bricht. Die Konstituierung von Sprache wird in bezug auf alle Funktionen als reproduktiv, als bezogen auf exteriore Regeln und Normen betrachtet. Die Irritation über die Kontingenz und Pluralisierung solcher Referenzen Ernst Meister: Ausgewählte Gedichte 1932-1979. Nachwort Beda Allemann. Erweiterte Ausgabe. Darmstadt und Neuwied 1979. S..105. 23

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in den einzelnen Versen, Strophen und im Ganzen des Gedichts wird weniger darauf zurückgeführt, daß die Rede in Verse gebrochen ist, als darauf, daß die Signifikation, in der das Verhältnis von Bezeichnen und Bedeuten zerbrochen sei, gar nicht eindeutig Auskunft über das geben könne, was die Verse und Strophen denn implizierten. Die Bedeutung der Wortformation SAGE VOM GANZEN , der Worte »Licht«, »Geheimnis«, »Tod«, »Geschlechter« und der Sätze »Sage: DIES ist kein anderes.«, »Sage: So fiel in gemeiner Verwirrung / der Fall. […]« und »Du darfst nur nicht / Liebe verraten.« bleibt aus dieser Sicht unbestimmt. Dennoch läßt sich mit Hilfe von Rückgriffen auf gedichtexterior bekannte Bedeutungen der Worte und Sätze eine Art Kohärenz konstruieren, derzufolge die ›Botschaft‹ des Gedichts das Sprechen selbst wäre, das, wie unter Berufung auf den dekonstruktivistischen Ansatz Jacques Derridas oder Paul de Mans zu betonen wäre, im Setzen von Differenz im Verhältnis zu einem ersten Wort oder einem ersten GANZEN von Rede, bestünde, das aber im Gedicht nicht – auch nicht am Anfang – präsent ist24. Die Wortformation SAGE VOM GANZEN – der erste Vers also – bildet bereits einen grammatisch in sich differenzierten Imperativ25. Auf jeden Fall insinuiert die auf den ersten Vers folgende Aufzählung – »den Satz, den Bruch, / das geteilte Geschrei, den / trägen Ton, der Tage / Licht« –, daß SAGE VOM GANZEN einen Imperativ meint, der zum Sagen von Teilen (des Ganzen) auffordert. Der Akzent liegt immer auf der Verfaßtheit in Rede, deren Bezeichnungskompetenz im Fortschreiten der Verse und von Strophe zu Strophe zunehmend komplexer gefaßt wird. Die Implikation der jeweils vorhergehenden Worte, Wortformationen oder auch Sätze wird in bezug auf die Koordinaten des Sagens der Teile VOM GANZEN in den nachfolgenden expliziert und als jeweils epochal neu festgeschrieben. Aus dem Befolgen des ersten Imperativs müßte sich also eine Konstituierung von Sprache entfalten, die als ein Schöpfungsvorgang ausgelegt werden kann. Die dritte Strophe jedoch fällt, worauf die Klammer verweist, aus diesem Rahmen. Sie bringt dagegen eine Begründung oder Rechtfertigung für einen Bruch mit dem ersten Imperativ, insofern dieser einen kontinuierlichen Vorgang des Setzens des Ganzen im Sagen der jeweiligen Teilung bzw. Differenz mittels »Satz« (grammatische und musikalische Konstruktion), »Bruch« (mathematische und vers-

Vgl. zum Theorem »différance« Jaques Derrida: Grammatologie. Übersetzt von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler. Zweite Auflage. Frankfurt a.M. 1967 / 1988. Bes. S..44, 105, 108114, 123.ff. u. ö.; vgl. auch Ders.: Die différance. Übersetzt von Eva Pfaffenberger-Brückner. In: Peter Engelmann (Hrsg.): Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Stuttgart 1988 / 1990. S..76 -113. Vgl. auch Paul de Man: Allegorien des Lesens. Übersetzt von Werner Hammacher und Peter Krumme, Frankfurt a.M. 1979 / 1988. 25 »Unentscheidbarkeit« mit der Folge von Unsicherheit stellt sich auch hier sofort ein, und zwar aufgrund des Dativs VOM GANZEN , insofern ungeklärt bleibt, ob er für einen Genitiv subjectivus oder objectivus stehen soll. Zum Theorem »Unentscheidbarkeit« vgl. Paul de Man: Widerstand gegen die Theorie. In: Volker Bohn (Hrsg.): Romantik. Literatur und Philosophie. Frankfurt a.M. 1987. S..80-106. Hier: S..101. 24

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zeilengemäße Konstruktion), »Geschrei« (mündliche, chorähnliche dichterische Rede: »geteilte Geschrei: Alliteration), »Ton« (musikalische Konstruktion; »träge Ton«: Stabreim, Alliteration) und »der Tage / Licht« (kosmologische zeichenhafte Konstruktion) befiehlt. Die Entfaltung des Schöpfungsvorgangs verläuft daher nicht analog den Strophen in fünf, sondern zunächst einmal nur in zwei, insgesamt aber in vier Stationen oder Epochen. Endet die erste Epoche der Schöpfung gemäß dem Schöpfungsimperativ SAGE VOM GANZEN mit dem Wort »Licht«, dann ist in der zweiten Epoche – der zweiten Strophe – diese Art Schöpfung vorausgesetzt. »Licht« muß einen selbständigen Teil des GANZEN bilden – das Wort Licht steht hier allein in einem Vers –, denn in der zweiten Station wird eine Modalität benannt, die über das Wie der Konstituierung von Raum und Zeit entscheidet: von Raum als Ort von Gestimmtheit – Musik – und von »Zeit« als »Geheimnis« in den »Körpern« des »gestimmten Raums« – Tanz –, welches Geheimnis als »Tod« der Materialität der »Körper« – vermutlich tanzender Figuren als (Sprach-)Zeichen – offenbar zu werden scheint. Die Modalität wird in den Attributen »mühsam« und »langsam« als Prozessualität virulent. Ob die Bewegung derselben zum »Tod« führt oder ob sie »Tod immer« erst setzt – diese Frage muß unentschieden bleiben, fehlt doch, so die strukturalistische Flankierung des dekonstruktivistischen Arguments, grammatisch das Prädikat, das eine Entscheidung darüber zu fällen zulassen könnte. Setzt man in den beiden ersten Strophen zwei Stationen eines Schöpfungsgeschehens aus einem Imperativ heraus an, dessen Urheber – es fehlt grammatisch das Subjekt – unbestimmt, anonym, bleibt, dann ist die dritte Strophe von der soeben konstatierten Unterbrechung der Kontinuität in dem Schöpfungsgeschehen her zu verstehen. Einem anderen Rededuktus verpf lichtet, scheint sie für die Konstituierung von Sprache qua Schöpfung bis hin zu der des Todes als deren zumindest vorläufigem Ende eine Art Rechtfertigung des sich jetzt als »ich« – grammatisch als Subjekt – zu erkennen gebenden Urhebers zu präzisieren, und für die folgenden zwei Strophen scheint sie die Begründung für das Neue, das diese implizieren, bereitzuhalten26. Die Rechtfertigung nimmt für sich als Grund so etwas wie die Der Rückbezug auf das Vorhergehende ergibt sich in der dritten Strophe grammatisch zweifelsfrei aus der Konjunktion, mit der der Satz, der in der Klammer steht, beginnt: »Und«. Erstmals erscheint zudem ein Verb, das, im Kontrast zum Imperativ »Sage« des ersten Verses, im Präteritum steht, wodurch das Tun des Subjekts als ein vergangenes erkennbar wird: »Ich wollt […] nicht missen«. In diesem Aussagesatz wird Zeit erstmals als Differenz zwischen Gegenwart und Vergangenheit gesetzt. Darüber hinaus wird durch die präpositionale Bestimmung »nach uns« Zeit als Differenz zwischen der in der Vergangenheit liegenden Gegenwart, der aktuellen Gegenwart und Zukünftigem gesetzt. Wenn die Interpretation plausibel ist, derzufolge sich das redende Ich für das vergangene Tun rechtfertigt – vermutlich für das Sagen als Setzen des Todes –, dann läßt sich argumentieren, daß es dieses Verfahren eingeleitet hat aufgrund eines Maßnehmens mit Hilfe des »Auges«, man könnte sagen, mit Hilfe des Lesens, wobei im Lesen »entlang den Geschlechtern nach uns« die Zukunft in dem gesucht wird, was den eigenen Tod überdauert, insofern »Tod« jetzt einer Spezies zugeordnet wird, zu der das Ich gehört. Lesen erscheint als genealogische Arbeit; diese sucht 26

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Wahrnehmung von Produktivität und Generierung aufgrund von Augenmaß in Anspruch, in welchem vorausgreifenden Sehen »Körper« als »Geschlechter« zu genealogischen Ordnungen geworden waren27. Trotz der Eröffnung der Zukunft geschieht in dem, wie gesagt werden könnte, »prophetischen« Leseakt eine Verengung auf eine organische (Re-)Produktivität. Deren sprachliche Verfaßtheit hat den Zug des Idiomatischen oder Subjektiven angenommen. Auf dieses Problem verweist die Elision des »e« im Prädikat »wollt«. Sie zeigt einen durch Vertrautheit reduktionistisch gewordenen Umgang mit dem Vergangenen – mit dem ›Lesen‹ der Gattungsmerkmale (von Musik und Tanz) – an. Die Tatsache, daß das Gedicht mit der Begründung nicht endet, daß diese vielmehr in der Mitte – in der dritten von fünf Strophen – plaziert ist, verweist auf die Funktion eines Wendepunkts. Die vierte Strophe bestätigt diese Auffassung. »Sage«, der Imperativ, tritt jetzt, nach dem Wendepunkt, vervielfältigt, nämlich dreimal, auf: Es ist – in der dritten Station der Entfaltung des ersten Schöpfungsimperativs – eine Pluralität entstanden. Und: »Sage« wird jetzt als der Modus von Rede, als der Imperativ, der Rede befiehlt, deutlich von dem unterschieden, was befohlen wird, und zwar jeweils durch einen Doppelpunkt. Dieser bringt indes keine Eindeutigkeit, er verweigert sie: Er kann als Indikator einer Gleichung und einer Ungleichung gelesen werden. Eine Entscheidung darüber gibt es aus der Sicht der ersten semantischen Ebene nicht, weil es sie dort, so die hier zu explizierende Theorie der Lyrik, gar nicht geben können soll. Es soll vielmehr genau die Unbestimmtheit, die in einem dekonstruktivistischen Vorgehen allerdings bereits das Ergebnis der Analyse bilden würde, auf das Scheitern der Bearbeitung des Konf likts zwischen Prosa und Verspoetischem in der empirischen (signifikativen und kommunikativen) Rede aufmerksam machen und so auf eine andere Bearbeitung verweisen. Letzteres zu ignorieren, hieße, dem Gedicht keinen Status von Erfindung in bezug auf seine Konstituierung von Rede einzuräumen, ihm eine Methodologie, eine interior ausgearbeitete Heuristik der Konf liktbearbeitung streitig zu machen. Die Pluralisierung der Imperative impliziert eine Pluralisierung im Setzen von (Leit-)Differenzen, die die Grunddifferenz: Ganzes – Teile, und deren Folge: Leben – Tod, auf dem methodologischen Stand von Urteilen neu wahrnehmen lassen: Erstens: »Sage: DIES ist kein anderes.« – ein Imperativ, der »Sage« als eine Identitätssetzung entlang der aktuellen Differenz zwischen sinnlicher Evidenz und NichtSinnlichem fordert; zweitens: »Sage: So fiel in gemeiner Verwirrung / der Fall.« – ein Imperativ, der Bezeugung eines vergangenen Geschehens (eines Fallens) fordert entlang der Differenz zwischen der Höhe eines mustergültigen (identitätssetzenden) in der Gegenwart des Faktums »Tod immer« Vergangenheit und Zukunft, oder anders gesagt, das Gerichtet-Sein der in die Vergangenheit zurückdatierten Maß-Nahme auf die Zukunft, auf »Geschlechter«, die »nach« dem Tod des Geschlechts des »Ich« kommen werden. 27 Wolfgang Speyer: Artikel »Genealogie«. In: Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der antiken Welt. In Verbindung mit Carsten Colpe u.a. hrsg. von Theodor Klauser. Stuttgart 1976. Bd. IX. Sp. 1145-1268.

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Casus (»Falls«) von Rede und der Tiefe von dessen Sturz; und drittens: »Sage auch immer / Die Erfindung war groß.« – ein Imperativ, der ein Bekenntnis zu einer »Erfindung« als einem alten Status von Rede abzulegen fordert entlang der Differenz zwischen Größe – Nicht-Größe der Erfindung. In allen diesen Variationen erscheint »Sage« zusätzlich immer auch als das literarische Genus »Sage«. »Sage« ist selbstreferentiell geworden. Sie soll ihre Herkunft aus dem Sagen qua Erfinden (von Urteilen über das Sagen der Teile vom Ganzen) ref lektieren. Die letzte Strophe – und damit die vierte Station – variiert den Schöpfungsimperativ nicht noch einmal. Das Wort »Sage« bleibt aus. Es ist offenbar mit der vierten Strophe – der dritten Station – alles das gesagt, was zu sagen notwendig erschien, um den ersten (Schöpfungs-)Imperativ SAGE VOM GANZEN vollständig auszuführen. Dennoch formuliert sie einen Imperativ, und zwar so, daß jetzt nicht etwa die Unbestimmtheit der Bedeutung des »DIES «, des »Falls« oder der »Erfindung« geklärt würde, sondern so, daß sie an das Unterlassen von Mitteilung als ein anderes Sagen oder an das Sagen als eine andere Art von Mitteilung appelliert. »Du darfst nur nicht / […] verraten.« Dieses Verbot jedoch ist kein genuines, es ist vielmehr entstanden aus der Aufhebung eines anderen Verbots, aus einem Zugeständnis also: etwas, das bislang als noch nicht möglich und deshalb wohl als verboten galt, sagen zu dürfen, nämlich alles zu sagen. Aus der Sicht der hier skizzierten Analyse würde der Satz bedeuten: Du darfst alles sagen – nur, so die Klausel des neuen Verbots, eines darfst »Du« nicht: »Liebe verraten«. Aus dem Imperativ SAGE VOM GANZEN , nenne die Teile bzw. die Differenz, ist nach dem Durchgang durch dessen Pluralisierung die Aufforderung geworden, im Sagen von allem die einzig gültige Einschränkung zu befolgen, die aber kein übliches Verbot, sondern – so das Paradox – die Überbietung einer Erlaubnis und die Bereicherung aller gültigen Regeln bedeutet: »Du darfst nur nicht / Liebe verraten.« Die Grunddifferenz des Sagens lautet nicht mehr: Ganzes – Teile, sondern: erlaubte – nicht erlaubte Weise des Sagens: Einhaltung des Liebesgebots – Nicht-Einhaltung desselben: Liebe – Verrat der Liebe. Dabei bleibt unentschieden, ob der Verrat in der Weise des Schweigens als Verschweigen eines zu offenbarenden Geheimnisses oder im Sagen des nur anders als im Sagen zu wahrenden Geheimnisses erfolgte. Die neue Differenz bezieht sich somit nicht mehr auf das Was des Sagens der Teile des Ganzen, der Quantitäten, sondern auf das Wie des Sagens von allem als einer Qualität, die erst durch das Liebesgebot, und zwar durch dessen substantielle Bedeutung, ins Spiel kommt. Sie macht ein neues Sagen erforderlich. Auf die Frage jedoch, weshalb diese Aufforderung, die das Paradox eines Verbots, das die Überbietung der Ermöglichung von unbegrenztem Sagen impliziert, ebenso wie alle bisherigen Aussagen in Verse gefaßt ist, kann aus der Sicht der ersten Ebene nicht geantwortet werden. Dasselbe gilt auch in bezug auf die Frage, wo der systematische Ort der Konstituierung von Sprache zu suchen wäre, an dem Liebe »nicht verraten« wird. Der Grund liegt darin, daß sich zwar ein Selbst-referentiell-Werden von Rede und Gattung »Sage« als Imperativ erkennen läßt, nicht aber ein Ästhe-

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tisch-Werden des Imperativs der aktuellen Konstituierung von Sprache, dem alle Lyriken als der aktuellsten Erfindung einer Vermittlung zwischen Verspoetischem und Prosa und insofern als der eines neuen Ganzen lyrischer Rede zustimmen können müßten. Erst aus der Sicht der Selbstref lexion der lyrischen Konstituierung von Sprache – der zweiten und dritten Ebene – wird die Entscheidung auf die neue Rede des Gedichts SAGE VOM GANZEN fallen. In der soeben skizzierten Analyse müßte Inter-Literarizität im Sinne einer Bezugnahme auf andere Literaturen auf eine Einf lußgeschichte oder aber auf das Verfahren der »Dekonstruktion« der ontologischen Sinnkonstituierung in den literarischen Vorlagen reduziert bleiben. Dementsprechend würde betont, daß die erste Strophe auf alle Schöpfungsmythen – besonders aber auf die Genesis des Alten Testaments – »Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.« (vgl. V. 1) sowie »Und Gott sprach: »Es werde Licht!« (vgl. V. 5) – Bezug nimmt28, die letzte Strophe (V. 18 f.) aber auf das Liebesgebot – »Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst!« des Alten und Neuen Testaments und: »Liebt Eure Feinde!« – des Neuen Testaments29. Der Wendepunkt in der Entfaltung des ersten Imperativs läge dann zwischen antiker (kosmologischer Schöpfungs-) Rede und Rede gemäß dem jüdisch-christlichen Liebesgebot, wobei die zweite als eine Schöpfungsrede zu verstehen wäre, die die »Welt« als eine soziale Ordnung hervorbringt. Zur Begründung dessen könnten allerdings nur exterior fundierte Argumente aufgeführt werden – vor allem philosophische und theologische. In bezug auf ein modernes Gedicht bedeutet das aber ein Eingeständnis, dessen Konstituierung von Sprache vor-modern und unterkomplex – bezogen allein auf die vorgegebenen »Formen« und »Inhalte« anderer Literaturen – zu interpretieren und der Binnensicht so, aufgrund eben der exterioren Referenzen, den Status des Heteronomen oder Willkürlichen, Zufälligen und Beliebigen zu unterstellen. Die Frage, weshalb die Worte »Licht« und »mühsam« sowie jeweils die zwei Worte »Tod immer« und »Liebe verraten« je einen Vers bilden, kann nicht von dem Konstrukt einer interior erfundenen Referenz für alle Sprachpotentiale her beantwortet werden. Denn: Es wird dem Gedicht weder eine Heuristik der Selbstkonstitution noch eine konstitutionelle Innovation in bezug auf eine inter-lyrisch wirksame Konf liktbearbeitung zugebilligt. Die Perspektive, in welcher im Gedicht 28 1. Mose 1,1.; ebd. 1,3. Im Evangelium des Johannes im Neuen Testament werden Beginn und Verfaßtheit des Schöpfungsvorgangs im »Wort« signifikant: »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. / Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist.« (Joh 1,1.ff.). Im »Wort« waren – so Johannes – »Leben« und »Licht« der Menschen, welche Worte er wiederum für Jesus als den Sohn Gottes metaphorisch einsetzt. 29 Auf die Versuchung des Schriftgelehrten: »Meister, welches ist das höchste Gebot im Gesetz?«, antwortet Jesus zunächst mit dem Verweis auf die Liebe zu Gott als dem höchsten Gebot; dieser aber stellt er sodann die Nächstenliebe gleich. Er zitiert dabei 3 Mose 19,18: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst«; Mt 22,37.ff., vgl. auch Mk 12,31, 33, Rö 13,9, Gal 5,14, Jak 2 8. – Bei Matthäus 5,44 heißt es: »Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen […]«; vgl. auch Lk 6,27, 35.

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eine Transformation der metaphysischen – exterior fundierten – Idee des (Schöpfungs-)Ganzen und des exterior – im Glauben fundierten – Liebesgebots in ein kontra-metaphysisches und kontra-religiöses – interior erst zu erfindendes – Prinzip der Selbstkonstituierung von Sprache erkannt und darüber hinaus ein interiorer Grund für den Wechsel, den die Worte »Ganzes« und »Liebe« in dem Prinzip indizierten, angegeben werden kann, ist noch nicht eröffnet. Die Tatsache, daß die Kohärenz, die aus der Perspektive der ersten Ebene ermittelt werden konnte, heterogene Ordnungen von Sprache – Prosa und Verspoetisches – unvermittelt läßt, ist kein Zufall. Im Gegenteil. Sie ist Teil der Methode. Sie soll provozieren, eine andere Ebene der Konstituierung von Sprache zu beachten – eine zweite Ebene, auf welcher sich in dem Gedicht eine andere Bearbeitung des empirischen Konf likts abspielen müßte. Diese wird hier gemäß dem ästhetischen Prinzip des Erhabenen, in dem die Aktivität der »frei« ref lektierenden Urteilskraft der praktischen Vernunft zukommt, einer »freien« Konstituierung von Sprache unterstellt. Es wird jetzt der Konf likt zwischen Prosa und Verspoetischem, der auf der ersten Ebene als eine Unterordnung des Verspoetischen unter die Prosa erscheint, neu, nämlich erstmals als ein lyrischer – also systemischer –, bearbeitet. Diese Funktion wird der Prosa zugeschrieben. Das Neue basiert demzufolge auf dem, was hier die »Freiheit« der Prosa, Sprache aktuell lyrisch neu zu konstituieren, genannt wird. Gemeint ist die Freiheit von allen exterioren Referenzen und die darauf aufbauende Freiheit zur Erfindung einer interioren Referenz. Dabei wird davon ausgegangen, daß die Freiheit von jeder exterioren Norm der Konstituierung von Sprache – der Kommunikation, Performance und Symbolisierung – der Prosa eine Autoref lexion ermöglicht, aus der diese eine Heuristik der Selbstgesetzgebung bzw. einen ästhetischen Imperativ gewinnt, dessen Inhalt auf eine lyrische Konstituierung von Sprache hin ausgelegt sein müßte. Der Vorteil einer solchen methodischen Konstruktion liegt darin, annehmen zu können, der Imperativ, Sprache lyrisch, das heißt gemäß dem ästhetischen Prinzip des Erhabenen: in einer »freien« Vermittlung von Prosa und Verspoetischem, zu konstituieren, bilde die interiore Referenz. Um nun den Status von Erfindung für die lyrische Konstituierung von Sprache zu reklamieren, gilt es, Prosa und Verspoetisches jeweils als paradigmatisch erfundene, nicht aber als empirisch verifizierbare aufzufassen und das Verhältnis zwischen ihnen als Grunddifferenz (oder Selbstdifferenz) in der aktuellen Rede zu bestimmen. Das ästhetische Prinzip des Erhabenen macht es jetzt erforderlich, der Binnensicht des Gedichts ein Konfliktmodell zu unterstellen, in dem die Differenz zwischen Prosa und Verspoetischem – vergleichbar der zwischen praktischer und theoretischer Vernunft im Urteil über das Erhabene – durch Widerspruch, Kontrast, Konkurrenz oder, wie hier auch gesagt wird, »Querelle« – geprägt ist. Dabei ist entscheidend festzuhalten: Die Differenz zwischen Prosa und Verspoetischem erscheint aus der Perspektive der zweiten Ebene nicht als eine empirische, sondern als eine methodologische. Diese wird jetzt parallel zur empirischen Bearbeitung des Konf likts zwischen Prosa und Verspoetischem (der ersten Ebene) bearbei-

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tet. Es handelt sich somit bei der zweiten Ebene um die Ebene einer Autoref lexion der Prosa, die sich an ihrem Imperativ orientiert, Sprache lyrisch zu konstituieren – mithin um die Ebene einer interioren ›Theorie‹ der Lyrik, wobei das Instrument der ›Theorie‹ die »Querelle« zwischen Prosa und Verspoetischem bildet. In Anlehnung an Schillers idealtypische Konstruktionen von Dichtung, von »naiver« und »sentimentalischer« Dichtung, wird hier die »Querelle«, eben weil sie eine »Querelle« nicht zwischen historisch vorhandenen »Formen« von Lyrik, sondern zwischen Grundparadigmen der lyrischen Konstituierung von Sprache meinen soll, eine »Querelle« zwischen »naivem« Verspoetischen und »sentimentalischer« Prosa genannt30. Das aber, was mittels des Konstrukts »Querelle« betrachtet wird – die (Inkommensurabilität der) in Verse gebrochenen Worte und Sätze –, wird jetzt als Zitat aus anderen Poesien / Lyriken aufgefaßt. Mit der »Querelle« wäre dementsprechend in Meisters Gedicht das in diesen Poesien / Lyriken selbst nicht realisierte Paradigmatische derselben nacherfunden. Die Imperative der Strophen werden aus einer solchen Sicht lesbar als eine Abfolge lyrischer Imperative, die sich die (jeweils) aktuelle »freie« Prosa selbst gibt, nämlich das zu erfinden, was sie nicht ist, dessen sie aber bedarf, um Sprache lyrisch zu konstituieren, das naive Verspoetische also. Das empirisch verifizierbare Verspoetische und die hermeneutisch / strukturalistisch erschließbare Bedeutung der Worte, Wortformationen und Sätze werden demgegenüber, wie gesagt, historisch vorhandenen, im Gedicht zitierten Lyriken zugeordnet. Diesen wird interior unterstellt, das Verhältnis von Prosa und Verspoetischem in ihrer Rede nicht selbstkonstitutionsheuristisch, nicht als »Querelle« zwischen sentimentalischer Prosa und naivem Verspoetischen erfunden, es vielmehr nur gemäß der alten, vorgängigen (Vers-)Poesien reproduziert zu haben. Ein solcher Mangel an Erfindung wird den zitierten Lyriken als Aporie zugeschrieben, die das Fortbestehen der Lyrik bedroht, insofern diese beansprucht, Avantgarde in der Bearbeitung des Problems der Moderne aufgrund der Erfindung eines modernen Prinzips von Erfindung zu sein. Die Lyrik, deren Zur Interpretation von Schillers Auffassung des »Naiven« als einer Intuition auf das Ganze und des »Sentimentalischen« als einer autoreflexiven, Differenz erfindenden Rationalität sowie des »Ideals« als der (Wieder-)Erfindung eines Berührungspunktes zwischen Naivem und Sentimentalischem durch das Sentimentalische vgl. Renate Homann: Theorie der Lyrik. A.a.O. Zweites Kapitel. Bes. S..258-294. Viertes Kapitel. S..420.ff. – Aus der Perspektive der zweiten semantischen Ebene bildet das Konstrukt der »Querelle« die interiore Referenz der Konstituierung von Sprache. Die »Querelle« stellt keinen Selbstzweck für die aktuelle Rede dar, vielmehr fungiert sie als eine interiore Urteilsinstanz für den Konflikt, der in der empirischen Konstituierung von Sprache zwischen Prosa und Verspoetischem aufgebaut ist. Bezogen darauf, wird die Ursache des empirischen Konflikts in dem Ausbleiben der Erfindung einer lyrischen »Querelle«, wie sie auf der zweiten Ebene entfaltet wird, gesucht. Damit ist ein rein technisches, additives Verfahren gegenüber den heterogenen Ordnungen von Prosa und Verspoetischem zurückgewiesen. Mit Hilfe der »Querelle« wird somit dasselbe Sprachpotential, das aus der Perspektive der ersten Ebene wahrnehmbar ist, betrachtet – jetzt aber eben aus neuer: interior ›theoretischer‹, in bezug auf den lyrischen Imperativ reflektierter, Sicht. 30

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Aporie auf der zweiten Stufe bearbeitet wird, hat als SAGE VOM GANZEN ihre Worte und Sätze zwar in Verse gebrochen, sie hat aber den Vers im Sagen nicht als einen »naiven« Vers, der die Intuition auf ein interiores Ganzes indizierte, (nach-) erfunden. In ihr bleibt das Sagen genauso, wie es auf der ersten Ebene geschieht, exterior fundiert. Denn ihre Verse wiederholen nur das exterior – im Göttlichen oder in der Harmonie des Kosmos – fundierte alte Prinzip der Metrik und des Reims. Sie indizieren nicht den Stand der (Selbst-)Erfindung der »freien«, sentimentalischen Prosa gemäß dem Imperativ, Sprache lyrisch, das heißt jetzt, mittels der Nacherfindung des naiven Verspoetischen, zu konstituieren31. Bildet die »Querelle« zwischen naivem Verspoetischen und sentimentalischer Prosa Instrument und Maßstab der Bearbeitung der Aporie, dann lassen sich die einzelnen methodologischen Schritte der Bearbeitung als »suspense«, »Dekonstruktion« und »Neukonstruktion« der Sprache der zitierten Lyrik konzipieren. Der zitierten Lyrik zugeschrieben, fehlt den empirisch verifizierbaren Metren, etwa den Daktylen des ersten Verses: SAGE VOM GANZEN  ∪ ∪  ∪, die (Wieder-) Erfindung des Naiven, wenn unter dem »Naiven« die Intuition auf Ganzheit im Sinne einer vor-systemischen Einheit von Prosa und Verspoetischem verstanden wird. Dies führt zur Zerschlagung des ersten Ganzen – etwa eines ›metaphysisch‹ gegründeten Hexameters – in Bruchteile – wie zum Beispiel in einen Adonius: SAGE VOM GANZEN  ∪ ∪  ∪, in zwei Jamben: »den Satz, den Bruch«, ∪  ∪  , in zweieinviertel Anapäste: »das geteilte Geschrei, den« ∪ ∪  ∪ ∪  ∪, in einen Kretikus und einen Amphibrachys (oder zweieinhalb Trochäen): »trägen Ton, der Tage«  ∪  ∪  ∪, und in eine Doppelmore: »Licht«  , welche einzelnen empirischen Metren bzw. Meterenformationen dann als Teile eines vorgängigen GANZEN auftreten. Mangelnde Maßstäbe einer Unterscheidung zwischen ›hoher‹, schöpferisch-intuitiv Identität und Differenz setzender und ›niederer‹, vorgegebene metrische Muster reproduzierender Rede – mithin eine »gemeine Verwirrung« (V. 15) – werden dafür verantwortlich gemacht. Die dabei unterstellte grundlegende Differenz zwischen der Reproduktion des Verspoetischen älterer Poesie, des Metrischen und des Reims (der Alliterationen und des Stabreims) in der zitierten Lyrik – man könnte an Rilkes »Buch der Bilder« denken – und der Erfindung des naiven Verspoetischen durch die Selbstkonstitutions-Heuristik der »freien Prosa« in dem vorliegenden Gedicht stellt einen theoretischen Gewinn dar. Sie läßt es zu, die Aporie als ein Kennzeichen der zitierten Lyrik, die »Querelle« aber als das gedichtinteriore Instrument zu fassen, das die Gründe, die für das Urteil »Aporie« maßgebend sind, nicht abstrakt – etwa aus einer logischen Schlußfolgerung heraus und deshalb allein in der Bedeutung der Worte oder in der Grammatik – erkennbar macht, sondern in seinem Selbstvollzug konkret durchführt. Darüber hinaus ist theoriestrategisch gewonnen, anstelle von Zufall, Willkür und Beliebigkeit in der Rezeption anderer Literatur in dem Gedicht eine ›theoretisch‹, für das systemische Selbstverständnis von Lyrik als notwendig, reflektierte Bezugnahme zu sehen. Ohne eine solche Stufe in der Bearbeitung der Aporie zu rekonstruieren, könnte nicht begründet werden, daß sich das Sprachexperiment SAGE VOM GANZEN vor allen anderen Lyriken als ein neues Gedicht ausweist. – Zu Rilkes Verwendung von Assonanzen vgl. Paul de Man: Allegorien des Lesens. A.a.O. (Anm. 24). Bes. S..63.ff. 31

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Der letzte Vers »Liebe verraten« wiederholt das Metrum des ersten Verses SAGE VOM GANZEN :  ∪ ∪  ∪, den Adonius also. Wird in dem Homerischen Hexameter, dessen Schluß ein Adonius bildete, eine Annäherung an das gesuchte naive Verspoetische gesehen, dann bedeutet das bloße Aufweisen von empirisch verifizierbaren Bruchstücken desselben, daß in der entsprechenden Rezeption unterkomplex vorgegangen wird, weil eine Differenz unbeachtet bleiben muß. Die Identifikation des empirisch verifizierbaren Adonius des ersten Verses mit dem des letzten Verses verhindert, zu beachten, daß im letzten Vers ein anderes Paradigma von Lyrik kommentiert ist als im ersten. Aus der Sicht der interioren ›Theorie‹ der Lyrik hingegen wird die Schlußstrophe als etwas Neues in bezug auf die Selbstverständigung von Lyrik erkennbar. Das Verbot »Du darfst nur nicht / Liebe verraten.« entspricht dann nicht mehr dem Imperativ, von einem am Beginn ungeteilten (Vers-)Poetischen die metrischenTeile zu sagen, und zwar gemäß sinnlich evidenter Äquivalenz, sondern der Erlaubnis, alle heterogenen (vers-)poetischen Traditionen, die den ersten Imperativ wieder zu realisieren suchten, zu sagen – mit der einzigen Einschränkung, die indes wiederum keine Einschränkung, sondern eine Überbietung der Erlaubnis ist, nämlich die Klausel nicht unbeachtet zu lassen, das Paradigmatische aller zu sagenden Traditionen für diese (nach-)zuerfinden: das »Naive« nicht zu »verraten« – will sagen: die jeweils dort nur implizit angelegte, nicht ausgeführte Möglichkeit eines Ganzen lyrischer Rede – einer erfundenen Relation zwischen Prosa und Verspoetischem – nicht unrealisiert zu lassen. Während das erste Paradigma – Ganzes / Teile – als ein ontologisch-kosmologisches zu bestimmen ist, ist das zweite Paradigma – Einhaltung des Verbots, die Erfindung des Naiven zu »verraten« / Nicht-Einhaltung – als ein heuristisch-(selbst-)konstitutionelles zu bestimmen. Die Differenz zwischen den phänotypisch als gleiche erscheinenden Metrenformationen des ersten und des letzten Verses bleibt, gerade weil sie einen methodologischen Status hat, in den empirischen Rezeptionen unbeachtet. Die Inter-Literarizität nun kommt, insofern ja angenommen wird, daß sie in einer solchen Aporie-Bearbeitung verläuft, als regelgerecht durchgeführte in den Blick. Da sie jedoch als ›theoretische‹ nur parallel zu der der ersten Ebene erfolgt, entsteht ein Dualismus zwischen dem am Sinnlichen der Rede orientierten Äquivalenzprinzip, das den zitierten Lyriken zugeschrieben wird32, und dem eigenen selbstBesonders deutlich tritt das Äquivalenzprinzip hervor in den Alliterationen »geteilte Geschrei« (V. 3), dem Stabreim »trägen Ton, der Tage« (V. 4), in der Kombination aus beiden und einem zusätzlichen Binnenreim »[…] fiel, in gemeiner Verwirrung, / der Fall. Sage auch immer: / Die Erfindung […]« (V. 15-17), in der Assonanz »Sage« (V. 1) – »Sage« (V. 14 u. V. 15), der Assonanz »Licht« (V. 5) – »Liebe« (V. 19) und in dem (einzigen) Endreim (Fernreim) »Licht (V. 5) – »nicht« (V. 18). Es schließt, da es auf sinnlicher Evidenz beruht, das Reflexive / Autoreflexive (Rationale) als Ordnungsprinzip aus; die »Querelle« als interiores Konstrukt aber schließt das sinnlich Evidente der empirisch verifizierbaren Reime und Metren als aktuelles Ordnungsinstrument aus. – Als einen Terminus technicus nimmt R. Jakobson das Äquivalenzprinzip in seine Projektionsthese auf. Er versteht darunter die ›Projektion‹ desselben »von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombi32

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konstitutions-heuristisch erfinderischen Prinzip, das kontra-sinnlich verläuft – es erfindet für alle Sprachpotentiale die »Querelle« zwischen naivem Verspoetischen und sentimentalischer Prosa als Referenz –, und infolge des Dualismus impliziert die Inter-Literarizität dann selbst eine Aporie: Zwischen den Metren, Alliterationen und Stabreimen und deren Kommentierung, die als historisch verifizierbare aufgewiesen werden, einerseits (erste Ebene) und den Metren, Alliterationen und Stabreimen, die der Nacherfindung des Naiven im Sinne des nicht realisierten Paradigmatischen den zitierten Lyriken zugeschrieben werden, andererseits (zweite Ebene) gibt es keine lyrische Vermittlung: keine gemeinsame, durch beispielhafte Durchführung ästhetischer Freiheit sich autorisierende interiore Referenz33. Dieses Dilemma macht es erforderlich, eine weitere Ebene der Bearbeitung des empirischen Konf likts anzusetzen. Aus der Perspektive der dritten Ebene gesehen, wird die Interiorität der Referenz strenger. Der selbstkonstitutions-heuristische Imperativ wird radikaler gefaßt. Das, was dieser jetzt fordert, läßt sich nur noch als ein methodologisches Paradox konstruieren. Die »freie« Prosa soll in das von ihr als zukünftiges erst zu erfindende Verspoetische ›praktisch‹ übergehen und dabei die methodologische Differenz zwischen Erfindendem (Prosa) und Erfundenem (Verspoetischem), die für die zweite Stufe konstitutiv war, punktuell außer Kraft setzen. Das Konstrukt ist für die wissenschaftliche Theorie deshalb unentbehrlich, weil es den extremsten Wechsel impliziert, der einer Methodologie zugeschrieben werden kann. Es wird möglich, das Perennieren des Dualismus zwischen Prosa und Verspoetischem und der aus diesem folgenden Aporie der Unvermittelbarkeit als unterbrochen zu unterstellen: Die Heuristik der Prosa qua ›Theorie‹ des Verspoetischen vorhandener Lyriken – zweite Stufe der Aporiebearbeitung – geht jetzt in die ›Praxis‹ des als zukünftiges erfundenen Verspoetischen über – dritte Stufe der Aporiebearbeitung.

nation«, wodurch die Äquivalenz zum »Verfahren« der Sequenz (Kombination) erhoben werde; Roman Jakobson: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971. Hrsg. von Elmar Holenstein und Tareisius Schelbert. Frankfurt a.M. 1979. S..94 (im Original hervorgehoben). Gegen eine solche formalistische, auf Analogie beruhende ›Projektion‹ wird in der vorliegenden Analyse das Theorem der methodologischen Differenz zwischen phänomenologisch Beobachtbarem (Worten, Satzstrukturen, Metren, Reimen) und kontra-phänomenologisch vorgehender interiorer Heuristik (Suche nach Selbstkonstituierung) in der literarischen / lyrischen Konstituierung von Sprache geltend gemacht. 33 Zwar ist aus der Perspektive der zweiten Ebene die Drohung, das heterogene verspoetische Potential der zitierten Lyriken lasse die aktuelle lyrische Neukonstruktion von Sprache scheitern, suspendiert, weil die Prinzipien der zitierten Lyriken dekonstruiert, das heißt, auf ihre nunmehr inaktuellen Vermittlungen zwischen Prosa und Verspoetischem zurückgeführt und dadurch in ihrem Aktualitätsanspruch destruiert sind, eine lyrische Neukonstruktion von Sprache aber, in welcher punktuell und einmalig für alle heterogenen Sprachpotentiale dieselbe Regel als Referenz für ihre Selbstverständigung gelten würde, ist noch nicht erreicht. – Das Selbstkonstitutionelle der Prosa ist noch nicht so radikalisiert, daß es zum Regulativ für alle Sprachpotentiale – inklusive also der ehemals sinnlich evident verfaßten – geworden wäre.

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In dem Gedicht SAGE VOM GANZEN wird diese Wende vollzogen. Sie wird gemäß der zu explizierenden Theorie der Lyrik hier auch prosainteriore »Wende« oder prosainteriorer »Vers«34 genannt, wobei zu betonen bleibt, daß sie weder als (vers-) technische noch als ontologische, sondern nur als eine methodologische verstanden wird: Sie soll dem Wechsel innerhalb der Heuristik: von der ›Theorie‹ zur ›Praxis‹, der soeben erläutert wurde und der für eine extreme Komplexitätssteigerung in der aktuellen Aporiebearbeitung steht, entsprechen. So gefaßt allerdings, berechtigt sie, da sie streng kontra-sinnlich verläuft, zu der These, daß sie die interiore Referenz für alle heterogenen Sprachordnungen bildet, die durch die aktuelle Konstituierung von Sprache zitiert oder nacherfunden sind. Die Konf likte und Aporien, die aus der Sicht der ersten und zweiten Ebene im Verhältnis zwischen Prosa und Verspoetischem in den zitierten Lyriken auftreten, erhalten aus der Sicht der dritten Ebene die Funktion, auf genau diese Wende zu verweisen. Der prosainteriore »Vers« bildet die höchste Stufe in der Methodologie der Selbstkonstituierung, von der angenommen wird, daß sie sich in ihrem Vollzug selbst als »Verfassung« konstituiert. Von hierher gewinnen die erste Strophe und die Schlußstrophe, die bislang bereits die extremsten Pole in der Selbstkommentierung der Methodologie bilden sollten, nochmals eine neue Bedeutung. Die Orientierung aller heterogenen Sprachordnungen und -potentiale an dem prosainterioren »Vers« macht es erforderlich, »Liebe« nicht, wie aus der Perspektive der ersten semantischen Ebene notwendig, als ein exterior fundiertes, inter-personales Geschehen zu bestimmen und auch nicht, wie aus der Perspektive der zweiten semantischen Ebene erforderlich, als Produkt der interioren ›Theorie‹ aufzufassen, derzufolge die Erfindung von Prosa und Verspoetischem als zwei Grundparadigmen der Konstituierung von Sprache noch einmal die Möglichkeit lyrischer Rede eröffnet, sondern als die Methode der interioren ›Praxis‹ zu begreifen: als die Durchführung des ins Extrem gesteigerten selbstkonstitutionellen Imperativs, Sprache ohne Rest lyrisch zu konstituieren. Eine solche poetische ›Praxis‹ also ist auch in bezug auf die Relation: einzelne Sprachkonstituierung – alle Sprachordnungen, als paradox zu konzipieren. Sie soll als die aktuelle (Selbst-) Verfassung der Prosa gleichzeitig einmalig und punktuell die zukünftige Verfaßtheit der Potentiale aller heterogenen Sprachordnungen in einem neuen Lyrischen präsent sein lassen. Ohne das Paradox anzusetzen, das, eben weil es für das einmalige Außer-Kraft-Setzen der Differenz zwischen Erfindendem (Prosa) und Erfundenem (Verspoetischem) steht, die Bedingung der Möglichkeit einer aporiefreien Vermittlung – zwischen den bislang unvermittelbaren Sprachordnungen der Prosa und des Verspoetischen – bilden können soll, müßte in einer Analyse die Wahrnehmung unbegründet bleiben, zwischen den inkommensurablen Worten, Wortformationen und Sätzen – wie zum Beispiel zwischen denen der Verse »Licht«, »Tod immer.« und »Sage auch immer: / Die Erfindung war groß.« – gäbe es gleichwohl eine regel34

Lateinisch »versus« heißt deutsch »Wende«, »Furche« oder »Kehre«.

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gerecht lyrische Kommunikation. Wird mit dem Paradox hingegen gearbeitet, dann läßt sich der Grund benennen: Sie alle dokumentieren jeweils ihren Bezug auf die sinnlich nicht unmittelbar wahrnehmbare prosainteriore Wende; und: Diese Wende bildet methodologisch, nicht aber mythologisch, heilsgeschichtlich oder lebensweltlich die Bedingung, »Liebe« lyrisch »ganz«, nämlich im Durchgang durch alle Aporiebearbeitungsstufen, fassen zu können, ist sie doch zu der Referenz auf der Ebene von Verfassung geworden. Die Worte kommentieren jetzt das »Vers«-Werden der Prosa als eine methodologische Wende. An der Abfolge der Strophen läßt sich ablesen, daß aus dem Scheitern der Aufforderung, ein Ganzes mittels Benennung der Quantitäten von Heterogenem – »Satz«, »Bruch«, »Geschrei«, »Ton«, »Licht« und deren Koordinaten »Raum« und »Zeit« – zu erfassen, die Erfindung einer (Selbst-)Verfassung des Sagens geworden ist, die sich von der Qualität einer Neuorientierung aller heterogenen Sprachordnungen her selbst beurteilt – »Du darfst nur nicht / Liebe verraten.«35 Zwischen dem GANZEN, der Referenz am Anfang, und der »Liebe«, der Referenz am Ende der lyrischen Konstituierung von Sprache, wäre somit methodologisch der Bruch zwischen vorsystemischer, einheitlicher metaphysischer Fundierung des traditionellen Sagens und der als systemische erfundenen interioren (Selbst-)Fundierung des aktuellen Sagens anzusetzen. In letzterer wäre dann eine Selbstaussage zu erkennen – jenes Genus von Rede also, das gattungstheoretisch und rhetorisch der Lyrik – unter dem Terminus des Monologischen – zugeordnet wurde. Allerdings erfüllt die hier angesprochene Selbstaussage den alten Terminus gerade nicht mehr. Es kommt in ihr nicht mehr darauf an, für irregulär gehaltene psychische oder moralische Prozesse eines lyrischen Ich oder Autors in einem Gedicht als einem Exempel der kanonisierten literarischen Gattung »Lyrik« auszusagen, sondern darauf, die empirisch und phänomenologisch inkommensurabel bleibende Methodologie der »freien« Prosa als einen zu einem vorläufigen Ende geführten Prozeß von (Selbst-) Erfindung zu kommentieren. Von der Trias, die die ästhetische Kategorie von Freiheit zu explizieren hilft: Selbsterfindung, -bindung und -kontrolle, stellt die dritte Qualifikation sicher, daß die einzelne, extrem individuelle Selbstaussage sich systemisch – lyrisch – nur interlyrisch, nur für und mit allen heterogenen Ordnungen lyrischen Sagens, realisieren kann. Denn sie impliziert den Grundsatz, daß diese alle der Allgemeingültigkeit der Selbstkonstituierung der Prosa als einem neuen Gedicht zustimmen können müßten.

Grammatisch ließe sich dieser Wechsel mit dem Hinweis untermauern, daß im Vers 18 erstmals in dem Gedicht das Personalpronom »Du« auftritt und mit diesem ein Subjekt der Anrede: »Du darfst […]«. Die Imperative »Sage« richteten sich demgegenüber nur an einen anonymen Empfänger. Allerdings bleibt zu betonen, daß das »Du« aus der Sicht der Heautonomie des Gedichts nicht einen historisch vorhandenen, psychisch verfaßten Partner des lyrischen Ich oder Autors meint, sondern die selbstkonstitutionell agierende Seite der interior erfundenen Selbstdifferenz der aktuellen »freien« (Prosa-) Rede. 35

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In der dreistufigen Rekonstruktion wird der Bruch zwischen vorsystemisch und systemisch deutlich zwischen erster und dritter Ebene. Die exterior begründete, glaubensgemäße Bedeutung von »Liebe« qua »Solidarität aller« – erste Ebene – wird für das Sprachexperiment jetzt selbst als eine metaphysisch vorgegebene Idee eines Ganzen (von Gesellschaft) erkennbar. Als solche aber muß auch sie in die sprachinteriore Methodologie – zweite und dritte Ebene – transformiert werden, um nicht länger als heteronome, kontra-lyrisch aktive substantielle Norm die aktuelle lyrische Neuorganisation von Sprache zu bedrohen, um vielmehr als interior gewonnener Imperativ deren Heuristik orientieren zu können36. Dadurch erscheint es erst wieder berechtigt, Lyrik als ein universales Modell zur Geltung zu bringen: Sie verbindet nicht einstufig und nicht unmittelbar heterogene Sprachordnungen, und sie macht diese nicht aufgrund exteriorer, substantieller Normen gleich, in ihr ist vielmehr die Erfindung zu sehen, die für heteronome – vorsystemische und bereits systemische Ordnungen – eine Verfassung stiftet, die diesen jeweils die gleiche Chance bietet, inter-systemisch unbegrenzt aktiv werden zu können. Zur literaturtheoretischen Rekonstruktion steht für eine solche Überbrückung der Bruchstelle zwischen den methodologisch unvergleichbaren Strategien der Aporiebearbeitung: »Liebe« als Norm der religiösen Strategie, der dogmatischen Durchsetzung im Handeln, und »Liebe« als Heuristik der lyrischen Strategie, der interioren Erfindung einer Verfassungskompetenz von Sprache, seit der »Kritik der Urteilskraft« die Kategorie »Übergang« zwischen empirischem Verstand (Naturbegriff) und praktischer Vernunft (Freiheitsbegriff) bereit. An die Stelle der alten Leitdifferenz: Ganzes – Teile, ist die Leitdifferenz: inter-systemisch – vor-systemisch / einzel-systemisch getreten. Es ist die alte Funktion der Rede, die der Benennung qua Schöpfung eines Ganzen, in eine ganze, durch alle Stufen der Aporiebearbeitung hindurch geführte Methodologie der Selbstkonstituierung der aktuellen Rede als einer lyrischen überführt, die insofern weder »kosmologisch« noch »theoretisch«, sondern eher »sozial«, »ethisch« oder »praktisch« zu nennen wäre, als angenommen wird, daß sie in actu inter-systemisch konstitutionell erfinderisch ist. Letztere eröffnet – vermittelt über ihre Selbstkonstituierung auf der Ebene von Verfassung – für alle heterogenen Sprachordnungen punktuell und einmalig Anschlußfähigkeit an zukünftige Gedichte, an zukünftige Experimente mit den Konstitutionsbedingungen von Sprache37. Umgekehrt wäre von dem Ganzen der interioren Methodologie – dem Durchlaufen aller Aporiebearbeitungsstufen – zu sagen, daß es auf der prosainterioen Transformation der exterior begründeten, metaphysischen Idee des Ganzen von Welt (als Kosmos) beruht, wobei die Heuristik der Transformation im letzten Vers als »Liebe« kommentiert ist. 37 An die Stelle von exterior orientierter – ontologischer, technischer, kausalmechanischer oder finaler – Re-Konstruktion von Teilen eines unbestimmten vorgegebenen Ganzen von Poesie ist eine (Selbst-)Beurteilung der interior erfundenen Bearbeitung aller Aporien provozierender Sprachpotentiale der zitierten Lyriken getreten. Die (Selbst-)Beurteilung hat in dem »Vers«-Poetisch-Werden der Prosa ihren substantiellen Fokus. Sie geht, nicht intendiert von der Prosa, über deren Selbstverfassung noch hinaus: Sie implementiert die in dem prosainterioren »Vers« ›praktisch‹ durchgeführte 36

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Zu den markantesten Beispielen für die Verfaßtheit aller Sprachpotentiale in einer unbegrenzten inter-lyrischen Kommunikation zählen von hierher nicht die Motive (»Liebe«, »Tod«), die auf eine Rezeption der Bibel, besonders aber der Liebesgedichte verschiedenster Autoren hindeuten, und nicht die grammatischen Strukturen, sondern die Verse selbst. Die Tatsache, daß Rede in Verse gebrochen ist, verweist jetzt darauf, daß der erste, ›metaphysische‹ Imperativ SAGE VOM GANZEN suspendiert ist durch die radikalste Version des ästhetischen Imperativs, der erst dann durchgeführt ist, wenn der empirische Vers, da er als Verszeile das Sinnlichste an der Rede ausmacht und insofern am wenigsten dem Kontra-Sinnlichen des autoref lexiven Prinzips der »freien« Prosa entspricht, als Bedrohung des Fortbestehens der Lyrik in der Moderne wieder zugelassen ist. Da nun gemäß der hier zugrunde gelegten Theorie der modernen Lyrik angenommen wird, daß im »Übergang« zwischen der dritten und ersten Aporiebearbeitungsstufe die (selbst-)konstitutionelle Erfindung der »freien« Prosa in das empirische Konf liktpotential der Rede implementiert wird, bedeutet das folgendes: Es ist jetzt auch dem Vers eine Verfaßtheit in dem Kontra-Sinnlichen und Kontra-Intuitiven des Prinzips der Prosa zu unterstellen. Eine solche Verfaßtheit wurde erläutert mit Hilfe der Kategorie der ästhetischen Freiheit, dergemäß ein einzelner, zufällig und zwecklos einsetzender Sprachvollzug in seiner Zwecklosigkeit die Zweckmäßigkeit entdeckt, sich selbst eine Art Gesetzmäßigkeit geben zu können. Die Verfaßtheit in ästhetischer Freiheit also müßte die Drohung abwenden, Lyrik sei wegen der Versrede am Ende, stellt sie doch sicher, daß jeder Vers seine Präsenz im Gedicht dadurch rechtfertigt, an der Präzisierung des modernen, heautonomen Prinzips beteiligt zu sein und dadurch mit allen Versen aller Gedichte regelgerecht lyrisch in Kommunikation zu treten. Das Argument würde lauten: Dadurch, daß in den Vers die mustergültig durchgeführte (selbst-)konstitutionelle Innovation der Prosa implementiert ist, fungiert er nunmehr auf der Ebene der Verfassung. Er ist insofern nicht länger dem vorsystemischen, auf das Sinnliche gegründeten Prinzip der Äquivalenz verpf lichtet – er muß nicht mehr sinnlich wahrnehmbare Zeiträume in den Silben (Metren), nicht mehr als gleiche hörbare Phoneme (Reime) und nicht mehr mit Hilfe dieser Instrumente Satzteile oder Sätze rhythmisch organisieren –, er ist vielmehr für das

Freiheit der (selbst-)konstitutionellen Erfindung in das Konfliktpotential der empirischen Rede. Der gesuchte inter-systemische »Übergang« soll, so wird zu zeigen sein, darin seinen Begriff erfüllen. – Das Ganze von Poesie wird erstmals sagbar. Die Bedingung dessen liegt darin, daß die Idee desselben in die Heuristik der »zweckfreien« Rede transformiert ist, die auf das (Selbst-)Konstitutionelle zielt und deren Durchführung sich selbst in einer Art Intuition zweiten Grades als realisierbar nur mit allen und für alle heterogenen Sprachordnungen beurteilt. In der Durchführung kommt es deshalb darauf an, die Prinzipien aller zu sagenden Poesien einmalig zu suspendieren und zu dekonstruieren, um deren – mittels suspense und Dekonstruktion freigesetzte – Potentiale auf den prosainterioren »Vers« referieren zu lassen und so von dem »Übergang«, der Implementation der konstitutionellen Innovation der Prosa, her bestimmbar zu machen. Erst dann wäre mit Fug von einer Neukonstruktion von Sprache in dem Gedicht zu sprechen.

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kontra-sinnliche, konstitutionelle: hier auf Freiheit zur Selbstgesetzgebung fundierte, Prinzip von verfaßter Heterogenität geöffnet. Der sinnlich wahrnehmbare Vers referiert nicht unmittelbar – nicht aufgrund empirisch vergleichbarer Metren, Reime und Rhythmen – auf Verse anderer Gedichte, er referiert vielmehr primär auf den nicht sinnlich wahrnehmbaren prosainterioren »Vers«, und das Gedicht SAGE VOM GANZEN kommuniziert nur aufgrund seines Prinzips, Verse aus dem (Selbst-)Konstitutionellen der Prosa entstehen zu lassen und durch sie gleichsam den Rhythmus des (Selbst-)Konstitutionellen zu markieren, mit Gedichten von Hölderlin, Novalis, Rimbaud, Rilke, Celan oder Enzensberger. Es bietet mit seinen Versen den Versen anderer Gedichte eine Neuorientierung an. Das »Ganze« des Gedichts läßt sich begreifen als die – auf seiten der wissenschaftlichen Theorie nur methodologisch rekonstruierbare – durchgeführte Erfindung der Freiheit zu unbegrenzter InterLyrik für jeden, isoliert, untheoretisch betrachtet, inkommensurablen Vers. Das Konstrukt »Übergang« läßt eine solche Sichtweise zu. Demzufolge werden die Verse nicht einfach wiederholt und variiert, um primär ihre traditionelle Funktion zu aktivieren, dem Kontingenten an Rede mittels metrischer oder klanglicher Schemata Dauer und Stabilität zu verleihen, sie selbst sollen jetzt vielmehr das Instabilste, Variabelste bilden, in welchem die einzelnen Worte und die Wortformationen in ihrer jeweiligen Situierung den methodologischen »Vers« der Prosa ausspielen. In diesem Spiel leisten sie die gesuchte aporiefreie Vermittlung zwischen allen (Ebenen der) Aporiebearbeitungen. Bezogen darauf, kommentiert sich in jedem Vers gleichsam der Rhythmus, in welchem die jeweiligen Worte an der Neukonstruktion der lyrischen – Prosa und Verspoetisches in eins setzenden – Rede beteiligt sind. Die Vermittlung ist zum Konstituens des neuen, in der Ref lexion auf die Zustimmung durch alle anderen Gedichte systemisch gewordenen Lyrischen avanciert. Es sind jetzt die empirisch wahrnehmbaren Worte, die als kontra-sinnlich organisierte die Verszeilen bilden. Das kontra-intuitive und kontra-sinnliche Prinzip der Konstituierung des Verses steht im Unterschied zu dem traditionellen Äquivalenzprinzip dafür ein, daß in Meisters Gedicht Lyrik als Erfindung des Ganzen (von Welt) in eine Lyrik transformiert ist, in der je neu ein Experiment mit den Konstitutionsbedingungen von Sprache für sich die Freiheit zur Selbstgesetzgebung erfindet, deren Durchführung das Modell einer aporiefreien Verfassung der Gesellschaft (als der sozialen Welt) bildet38. Darin, daß der »Übergang« als die nichtintendierte Folge der Transformation der »freien« Prosa in ein von ihr erfundenes zukünftiges Paradigma von Verspoetischem konzipiert ist, wird die Berechtigung gesehen, in seinem Vollzug die neue, nämlich systemisch erst (wieder-) erfundene, Einfachheit Vgl. Ernst Meister: »Die wirkliche Tafel.« In diesem Gedicht wird der Bruch zwischen dem traditionellen Vers und dem aktuellen dokumentiert und kommentiert. Anspielend auf das Brechen der mythologischen und empirisch-prosaischen Rede in Verse, setzt das Gedicht mit einem Kommentar seiner eigenen Verskonstituierung ein: »Wenn die Schieferwand bricht, / gewinn ich / die wirkliche Tafel, / / schreibe den Berg darauf, / rieselnden Schieferberg.« Ernst Meister: Ausgewählte Gedichte 1932-1979. A.a.O. S..59. 38

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oder Naivität des Lyrischen geltend zu machen. Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, daß diese mißverstanden würde, wenn sie als Unmittelbarkeit behauptet wird, anstatt sie zum Zentrum des modernen kontra-unmittelbaren Prinzips von Erfindung und insofern zu dem Fokus von dessen Verfassungsleistung zu erklären39. Die Quintessenz für die wissenschaftliche Theorie liegt darin, die als »Übergang« konzeptualisierte Inter-Systemik in bezug auf die Trias für die Selbstkontrolle zu reservieren. Denn diese soll die Ref lexion der aktuellen Selbstkonstituierung auf ihre Effizienz bedeuten, den Ausgangskonf likt in der Empirie – die Unvermitteltheit zwischen Prosa und Verspoetischem in vorgegebenen Lyriken – zum Vorteil der Konf ligierenden zu bearbeiten. Da die Kontrolle aber der Ref lexion auf die Zustimmung aller (Lyriken) bedarf – es fehlen vorgegebene objektive Normen –, wird angenommen, daß die Selbstkonstituierung überhaupt nur in der Weise einer präzisen Bezugnahme auf andere Lyriken, mithin in der Weise einer selbsttransparenten Konf likt- / Aporie-Bearbeitung, durchführbar ist. Andernfalls könnten nicht alle Lyriken zustimmen. Sie würden nicht erkennen, ob und wie ihr konf ligierendes Potential in den Prozeß der Selbstkonstituierung involviert und – gegebenenfalls – darin noch einmal als lyrisches aktualisiert ist. So ergibt es Sinn, wenn in der radikalen Konzentration auf seine systemische Selbstkonstituierung als ein Gedicht das Mittel gesehen wird, mit dem der eher zufällig einsetzende singuläre Sprachvollzug in der Aporiebearbeitung eine Art Vorleistung für die Zustimmung durch alle Lyriken erbringt. Das Argument »Vorleistung« impliziert, daß der Vorteil, den das aktuelle Gedicht für alle Lyriken bietet, in einem Überdauern ihrer Potentiale in der Freiheit als Verfassung unbegrenzter interlyrischer Kommunikation oder, anders gesagt, in der Freiheit zu unbegrenzter inter-lyrisch konstitutioneller Innovation besteht. Das wiederum spricht für die Tragfähigkeit der These, daß nämlich in ästhetischen Gedichten erst mit der Erfindung des Prinzips einer unbegrenzten interlyrischen Kommunikation für alle Sprachpotentiale das entsteht, was man das neue »Ganze« oder die neue »Totalität« nennen könnte. Meisters Gedicht ›verrät‹, daß dieses »Geheimnis« in keinem modernen Gedicht außer acht gelassen werden darf. Die Kategorien »Ganzheit« und »Allgemeingültigkeit« sind – so das Ergebnis der Argumentation – nur aufgrund eines Konzepts, in dem Freiheit als Regel kontraintuitiver Erfindung und deren Produkt »Verfassung« als systematischer Ort intersystemischer Vermittlung gelten, literaturtheoretisch zu aktualisieren. Denn: Die literaturtheoretische Kategorie »Verfassung« hat zum Zentrum einen universalen Wechsel in der methodologischen Verfaßtheit – den Wechsel, der von Kant »Übergang« über die »Kluft« zwischen naturwissenschaftlicher Erkenntnis und Moral ge-

»Einfachheit« meint hier nicht eine metaphysische, für alle Bereiche eines Ganzen einheitliche substantielle Norm, sondern ein aufgrund systemischer (Selbstkonstitutions-)Heuristik erfundenes Prinzip, das unvermittelbare Ordnungen so organisiert, daß diese ihr Heterogenes regelgerecht, in Freiheit verfaßt, unbegrenzt inter-systemisch ausspielen und dabei neue Heterogenitäten produzieren können. 39

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nannt und dessen Bedingung hier als ein Wechsel in der Moral – von der Dogmatik der Handungs- oder Individual-Moral zur Heuristik einer Verfassungs-Moral, einer »Moral« im Konstitutionellen ästhetischer Erfindungen – zu erläutern versucht wurde. In keiner der gegenwärtig maßgebenden literaturwissenschaftlichen, philosophischen und sprachwissenschaftlichen Theorien findet sich auch nur ansatzweise der Gedanke, das Problem der Moderne – mithin die Insuffizienz metaphysischer Konzepte des Ganzen (von Welt) angesichts der Unvermitteltheit autonomer Systeme – könnte im Zuge einer Reaktualisierung des Kantischen ästhetischen Konflikt-Modells erfolgreich bearbeitet werden. Der Grund liegt darin, daß in bezug auf moderne Gesellschaften die Frage noch nicht aufgekommen ist, ob deren Konstitutionelles nicht mittels Transformationsprozessen zu erneuern wäre, die sich wissenschaftlich nur quer zu technischen und formalistischen Auslegungen der Gesetze desselben – etwa als Transformationen von der Dogmatik zur Heuristik – fassen lassen. Die avantgardistische Funktion von moderner Literatur bleibt in diesen Theorien deshalb eher ein bloßes Postulat. In dem Gedicht SAGE VOM GANZEN , das sich als eine heautonome lyrische Autopoiesis konstituiert hat, ist das paradoxe Verbot: »Du darfst nur nicht / Liebe verraten.«, verfassungsinnovativ geworden. Die glaubensgemäße, lebensweltliche und ältere literarische Verfaßtheit des Liebesgebots ist in das Prinzip und in die Methodologie einer Neukonstruktion von Sprache transformiert, in welcher der alte Schöpfungsimperativ, die Teile vom ›metaphysisch‹, vorsystemisch aufgefaßten GANZEN zu sagen, als ein inkommensurabler Gegenspieler systemisch zugelassen ist. Allerdings bleibt zu beachten: Erst dann, wenn in diesen die konstitutionelle Innovation implementiert – der »Übergang« zwischen prosainteriorem »Vers« und empirisch wahrnehmbarem Vers vollzogen – ist, ist Lyrik systemisch neu erfunden, ist das Gedicht ein modernes Gedicht40. Wie an Ernst Meisters Gedicht läßt sich von hierher auch an anderen modernen Gedichten das zeigen, was anders als in einer theoriegeleiteten Analyse nicht erkennbar wird: Moderne Gedichte bilden in einem unendlichen Progreß der funktionalen Differenzierung der Diskurse die Konzentrationspunkte, die einmalig alle heterogenen Sprachordnungen einschließen und deren Verhältnis untereinander von »Grund« auf neu ordnen, ohne diese in ihren alten Funktionen zu nivellieren oder dialektisch »aufzuheben«. In der Fokussierung auf den positiv durchgeführten Wechsel von einer scheiternden Verarbeitung zunehmender Quantität von Heterogenem, die das Verlieren und Vernichten des Ganzen und der Teile impliziert, weil sie den Dualismus ihrer Leitdifferenz – Ganzes – Teile – prolongiert und deshalb in

Der Vers verweist jetzt, nachdem die Prosa alle Stabilisierungsfunktionen der Sprache übernommen hat, auf die Selbstdestabilisierung der Prosa mittels Interiorisierung von Heterogenem und Heteronomem – von Versen – und auf die – in der Bearbeitung der Aporie des Verses von dieser gemachten – Erfindung einer anderen, methodologischen, dynamischen Stabilität, an der auch der Vers partizipiert. 40

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allen Teilen – so etwa auch in den Versen »Licht«, »Tod immer« oder »Liebe verraten« – keine Verfassung, sondern nur ein vorgegebenes unveränderbares Faktum erkennt, zur Erfindung einer »Verfassung«, die eine aporiefreie Inter-Systemik ermöglicht, in welcher alle heterogenen Sprachpotentiale – so auch die Worte »Licht«, »Tod immer« oder »Liebe verraten« – als jeweils veränderbare Verfaßtheiten intersystemisch aktiv werden können, liegt die Ursache dafür, weshalb Gedichte zu Modellen aller konstitutionellen Prozesse avancieren. Sie erfinden je aktuell eine Ordnung für anders unvermittelbar bleibende Ordnungen. Sie erfinden in und für Sprache eine unbegrenzt inter-systemisch wirksame »Verfassung«. Sie stellen sprachliche Verfassungen bereit, in die hinein sich alle konstitutionellen Prozesse entdogmatisieren und weiterentwickeln können. Jedes Gedicht bildet in diesem Verständnis je neu eine heautonome Autopoiesis. Deren Zentrum konnte als die Modernisierung des poetischen Prinzips von Erfindung rekonstruiert werden. Gedichte sind zum systematischen Ort des Sagens dieses neuen Ganzen geworden, das »Liebe« – die Erfindung des Paradoxes einer systemisch gewonnenen Einfachheit in der Verfassung von inter-systemischer Vermittlung – nicht ›verrät‹41. Unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung bei gleichzeitiger Globalisierung erfinden und testen Gedichte an der Sprache – dem Organon von Diskursivität – grundstürzende Neukonstruktionen von Solidarität – Solidarität jetzt nicht direkt mit allen einzelnen Personen, sondern – konstituell vermittelt – mit allen Ordnungen (von Sprache). Darin liegt ihre neue, auf die Ebene von Verfassung gegründete universale »soziale« und »politische« Funktion. III. Resümee Die Analyse des Gedichts SAGE VOM GANZEN hatte zum Ziel, die Kantische Neuformulierung des Erhabenen im Sinne eines ästhetischen Konf likt-Modells für die Explikation der Theorie der Lyrik zu nutzen, um die Funktion der Lyrik in bezug auf die Selbstverständigung in der Moderne präzise als avantgardistisch profilieren zu können. Die Voraussetzung dessen wurde darin gesehen, daß Kant dabei das Problem zu lösen vermochte, wie denn angesichts eines Konf likts, der in einem autonomen System aufbricht und der aufgrund der funktionalen Differenzierung alle Systeme zu erfassen droht, weil kein anderes System eingreifen kann, ohne die Autonomie zu verletzen, gleichwohl ein anderes System das Scheitern abwenden kann. Kants Lösung konnte hier in der Konzeptualisierung einer situationsgemäßen, In einem Gedicht Meisters, das keinen Titel trägt, wird »Liebe« gesagt und bezeichnenderweise der Satz: »Hier […] sage ich Liebe«, dreimal ausgesprochen: »Hier, / gekrümmt / zwischen zwei Nichtsen, / sage ich Liebe. / Hier, auf dem / Zufallskreisel / sage ich Liebe. / Hier, von den hohlen / Himmeln bedrängt, / an Halmen / des Erdreichs mich haltend, / hier, aus dem / Seufzer geboren, / von Abhang / und Abhang gezeugt, / sage ich Liebe.« Ebd. S..109. Die Methodologie im Sinne des inneren Rhythmus der (Selbst-)Organisation von Sprache – des »Vers«-Poetisch-Werdens der Prosa – gibt sich als ein sprechendes »Ich« zu erkennen. 41

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einmaligen (Selbst-) Konstituierung des aktiv werdenden Systems aufgewiesen werden, welcher (Selbst-) Konstituierung der Status einer mustergültig durchgeführten Konf likt- bzw. Aporiebearbeitung zugeschrieben wurde. Ein Übergriff – so Kants Lösung – ist nur ›ästhetisch gerechtfertigt‹ – das heißt, nur dann, wenn die in der Aporiebearbeitung entstehende Freiheit zur (selbst-)konstitutionellen Erfindung in das Konf liktpotential des scheiternden Systems implementiert wird. Dank der Beteiligung der praktischen Vernunft am Urteil über das Erhabene, insbesondere durch die Umstellung derselben von der Dogmatik auf Heuristik, vermochte Kant so zudem leere Progressionen im Konstitutionellen, das heißt die unaufhaltsame Findung von immer anderer, jedoch methodologisch auf derselben Ebene verbleibender Differenz mit zufälligen Emergenzen im vorhinein als unterkomplex zu widerlegen. Die ästhetische Erfindung sollte demgegenüber einer regelgerechten Transformation genau solcher eher nur strukturell-technisch oder biologisch-evolutionär zu rekonstruierender Prozesse in eine neue Qualität von Moral entsprechen. »Verantwortung« für die aktuelle Verfaßtheit aller untereinander heteronomen Ordnungen sollte das Kennzeichen von Heautonomie und deren »Verfassungs-Moral« sein. Es liegt in der Logik einer solchen Konzeptualisierung, wenn jetzt nochmals betont wird, daß das Neue der lyrischen Rede nicht unmittelbar aus deren Inhalten, Formen und Strukturen zu erschließen ist, daß es vielmehr nur in bezug auf das Prinzip und die Methodologie von deren ganzer (Selbst-)Verfassung zugänglich wird. Gegen wissenschaftliche Theoretiker und gegen Interpreten, die das Aufweisen von Differenz in der (empirischen) Konstituierung von Sprache, sei es nun in der Bezeichnungs- oder kommunikativen Funktion, als Kennzeichen von Lyrik hervorheben (Derrida)42 oder die »Unentscheidbarkeit« gegenüber der Illusion einer ontologisch zu begründenden Eindeutigkeit, Identität und Totalität des Sinns reklamieren (de Man), lautet das Argument, daß sie unterkomplex und vormodern vorgehen. Die methodologische Begrenztheit ihres Ansatzes zeigt sich vor allem daran, daß sie in die Binnensicht von Gedichten anstelle eines Konf liktmodells nur ein Differenzmodell interiorisieren. Damit jedoch entfällt theoriestrategisch die Notwendigkeit, die Binnensicht von der Drohung eines Scheiterns (der Lyrik, der Sprache) her zu konzipieren. Gedichten eine Heuristik, die Suche nach einer systemischen Selbstkonstituierung, zu unterstellen und Sprache als Organon und Dokument von Verfassung zu modellieren – solche konzeptionelle Maßnahmen unter42 Derrida denkt nicht von dem modernen Konstitutionellen her. Deshalb bleibt sein dekonstruktivistisches Theorem der »différance« / »Ur-Spur«, obwohl er es zu einem Instrument macht, jede Annahme einer (ontologisch) vorgegebenen Präsenz des Ganzen (von Sinn, Bedeutung) zurückzuweisen, methodologisch unterkomplex. Er faßt es vor-systemisch universalistisch, einstufig, auf, und er bezieht es primär auf die Bezeichnungsfunktion der Sprache. Das Problem der Kontrolle kann daher bei ihm ebensowenig eine Rolle spielen wie der Gedanke an eine im Prozeß einer Aporiebearbeitung erst werdende »konkrete Totalität«: von Freiheit zu unbegrenzter Inter-Systemik für alle.

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bleiben, weil der methodische Zwang fehlt, danach überhaupt zu fragen. Das Prinzip der Lyrik bleibt deshalb in ihren Konzepten weitgehend statisch-dualistisch, strukturell anstelle von dynamisch-selbsttransformatorisch. Die selbstkonstitutionelle Qualität von Sprache, die es erlaubt, im unendlichen Progreß der Ausdifferenzierung der Diskurse in Gedichten Konzentrationspunkte aller lyrischen Konstituierungen von Sprache wahrzunehmen und in diesen je einmalige Zuschreibungen von Verantwortung für die aktuelle Verfaßtheit aller heterogenen Diskurse erkennen zu lassen, kommt darin gar nicht erst in den Blick. Die Frage nach der Begründung einer aktuellen Kompatibilität von Lyrik und Gesellschaft muß ausgeblendet werden.

Ästhetische Erfahrung bei Kant und Celan Von Beate Bradl

Der Begriff der ästhetischen Erfahrung ist ein Schlüsselbegriff gegenwärtiger Debatten der philosophischen Ästhetik. Mit ihm ist für manche ein Ausgangspunkt für eine Ästhetik gewonnen, die den Phänomenen moderner und zeitgenössischer Kunst besser gerecht zu werden scheint als die platonische Vorstellung von der im Kunstwerk verkörperten Wahrheit.1 Ob man der ästhetischen Erfahrung diese methodische Funktion zuschreiben kann, ist für andere durchaus umstritten2, ebenso, ob eine Ästhetik, die eher einer platonischen Tradition zuzuordnen ist, das Thema der ästhetischen Erfahrung per se ausschließt3. Einhelligkeit besteht aber darin, daß ihre Analyse vorab nicht verlangt zu eruieren, welche konkreten Eigenschaften eines Gegenstandes eine ästhetische Reaktion zur Folge haben. Denn was in einer ästhetischen Erfahrung erfahren wird, konstituiert sich allererst in ihr und ist nicht auf Eigenschaften von Gegenständen zu reduzieren. Dies kann man schon von Kant lernen. Kants Kritik der ästhetischen Urteilskraft wird eine bis heute vorbildliche Analyse der ästhetischen Erfahrung zugeschrieben. Allerdings sucht man diesen Terminus bei Kant vergeblich. Und es ist auf den ersten Blick auch gar nicht einzusehen, daß die Dritte Kritik eine Theorie ästhetischer Erfahrung enthält, geht es ihr doch um einen besonderen Typ von Urteilen, um Geschmacksurteile, und um die Frage, wie sich ihre intersubjektive Gültigkeit rechtfertigen läßt. Nur wenn man, wie ich im folgenden zeigen möchte, berücksichtigt, daß Kant diese Frage im Rekurs auf den diesem Urteil vorhergehenden Urteilsprozeß beantwortet, hat man die Chance, dahinter einen Prozeß ästhetischer Erfahrung zu entdecken und zu explizieren. Aufgrund des beschränkten Erkenntnisinteresses bleibt Kants Theorie aber abstrakt und rudimentär. Kant war sich dessen durchaus bewußt. In einem Brief an den Komponisten Reichardt vom 15. Oktober 1790 hat er die Hoffnung geäußert, seine Theorie möge durch einen Kenner wie Reichardt größere Bestimmtheit erhalten. Daß Kants Theorie ästhetischer Erfahrung den Phänomenen der Kunst durchaus gerecht wird und wie sie hinsichtlich der Lyrik Bestimmtheit gewinnen kann, möchte ich anhand des Gedichts WORTAUFSCHÜTTUNG aus dem Zyklus Atemwende von Paul Celan zeigen. Celan heranzuziehen ist nicht nur interessant, weil gezeigt werden kann, daß sich Kants Theorie auch noch an moderner Kunst bewährt, sondern

Beispielhaft nenne ich Rüdiger Bubner: Ästhetische Erfahrung. Frankfurt a.M. 1989. So z.B. Martin Seel: Die Kunst der Entzweiung. Frankfurt a.M. 1985. Auch Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewähnlichen. Frankfurt a.M. 1984. 3 Beispielhaft dafür ist Adornos »Ästhetische Theorie«, Gadamers »Wahrheit und Methode« sowie auch Hegels »Vorlesungen über die Ästhetik«. 1 2

ZÄK Sonderheft · Jahrgang 2000 · © Felix Meiner Verlag 2000 · ISSN 1439-5886

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vor allem deshalb, weil in vielen Gedichten Celans die Dichtung selbst in Frage steht. Sie handeln dichterisch vom Ref lexionsprozeß der Dichtung, der, wenn er gelingt, zu einer Erfahrung von ästhetischer Sinnerfahrung führt, so auch das Gedicht WORTAUFSCHÜTTUNG.

I. Zum Problem der Kritik der ästhetischen Urteilskraft In einem Geschmacksurteil sagen wir aus, daß wir einen Gegenstand als »schön« empfinden. »Schön« soll als ein Terminus verstanden werden, der ästhetisches Gelungensein ausdrückt. Ein Geschmacksurteil bezieht sich nur uneigentlich auf einen Gegenstand. Gegenstand des Urteils ist primär das urteilende Subjekt und dessen Gefühl der Lust oder Unlust. Durch den Bezug auf das Gefühl ist ein Geschmacksurteil mit einem Urteil über das Angenehme verwandt. Was als angenehm erlebt wird, hängt vor allem von den Vorlieben, Neigungen und momentanen Dispositionen des einzelnen Subjekts ab. Urteile über das Angenehme sind damit nicht verallgemeinerungsfähig. Geschmacksurteile erheben dagegen, obwohl sie sich auf ein Gefühl beziehen, Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Um den Allgemeinheitsanspruch von Geschmacksurteilen zu rechtfertigen, muß daher das Wohlgefallen angesichts eines schönen Gegenstandes auf eine ästhetische Disposition des Vernunftsubjekts zurückgeführt werden können. Dies geschieht im Rekurs auf den Urteilsprozeß, an dessen Ende das Urteil: »Dieses X ist schön« steht. Wenn sich bei Kant eine Theorie ästhetischer Erfahrung explizieren läßt, dann nur im Zusammenhang der Beschreibung des ästhetischen Urteilsprozesses. Ein Geschmacksurteil ist nach Kant allgemeingültig, weil in dem vorausgehenden Urteilsprozeß die normalerweise in Erkenntnisprozessen beteiligten Vermögen Einbildungskraft und Verstand eine gegebene Vorstellung auf »Erkenntnis überhaupt«4 beziehen. Diese Beziehung legitimiert nicht nur den Allgemeinheitsanspruch von Geschmacksurteilen. Sie soll auch Unterscheidungskriterium zwischen Erkenntnisund Geschmacksurteilen sein. Denn ein Erkenntnisurteil sagt mittels Begriffen etwas über einen Gegenstand aus, ein Geschmacksurteil dagegen mittels der Beziehung der Erkenntnisvermögen auf »Erkenntnis überhaupt«, die durch ein Gefühl bewußt wird, etwas über den Zustand eines Subjekts. Die Unterscheidung beider Urteilsarten ist aber problematisch.

Kants Kritik der Urteilskraft (KU) wird zitiert nach der Paginierung der zweiten Auflage (B). Berlin 1793 (vgl. Band V der von Wilhelm Weischedel herausgegebenen Studienausgabe zu Kant. Darmstadt 1957). Die Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft nach der Rostocker Kanthandschrift (H) (vgl. Band V der von Wilhelm Weischedel herausgegebenen Studienausgabe zu Kant. Darmstadt 1957) und die Kritik der reinen Vernunft (KrV) nach der Paginierung der zweiten Auflage (B). Riga 1787 (vgl. Band II der von Wilhelm Weischedel herausgegebenen Studienausgabe zu Kant. Darmstadt 1956). Hier: vor allem KU §.9, B.29 und §.21, B.66, 67. 4

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Kant setzt »Erkenntnis überhaupt« mit dem Erfülltsein der subjektiven Bedingung der Erkenntnis gleich und behauptet, Geschmacksurteile würden auf derselben subjektiven Bedingung wie Erkenntnisurteile beruhen. Diese subjektive Bedingung ist nach Kant die gelungene Aktivität der Urteilskraft. Mittels der Urteilskraft entscheiden wir, ob ein Gegenstand unter einem Begriff steht oder nicht. Beteiligt sind der Verstand als Vermögen der Begriffe und die Einbildungskraft. Während der Verstand mit seinen Begriffen Einheit stiftet, synthetisiert die Einbildungskraft das Mannigfaltige der Anschauung. Beide müssen bei der Subsumtion des Gegenstandes unter einen Begriff zusammenstimmen, und zwar so, daß zwischen ihnen eine harmonische Proportion entsteht. Abgesehen von den besonderen Begriffen, die in einem bestimmten Erkenntnisprozeß zur Anwendung kommen, muß sich in jedem Erkenntnisprozeß eine harmonische Proportion von Einbildungskraft und Verstand einstellen. Sie, die in jeder gelungenen Erkenntnis die gleiche ist, bezeichnet Kant als »Erkenntnis überhaupt«. Damit stellt sich aber die Frage, worin sich diese Zusammenstimmung von derjenigen unterscheidet, die sich im Prozeß der ästhetischen Beurteilung einstellen soll, um einen Gegenstand »schön« nennen zu können. Daß die ästhetische Beurteilung begriffslos erfolgt, ist dabei zunächst wenig hilfreich, weil es sich in beiden Fällen um dieselbe harmonische Proportion, also auch um den gleichen Gemütszustand handelt. Wenn also in der ästhetischen Beurteilung eine Vorstellung auf »Erkenntnis überhaupt« bezogen wird, dann gründet sich das ästhetische Urteil auf derselben Bedingung wie ein Erkenntnisurteil. Um gleichwohl nicht behaupten zu müssen, jeder Akt begriff licher Erkenntnis involviere eine ästhetische Beurteilung – jeder Gegenstand, der erfolgreich begrifflich erkannt wird, würde dann auch als schön erfahren werden – muß man zeigen, daß sich die Zusammenstimmung der Erkenntniskräfte in beiden Beurteilungsarten unterschiedlich ausprägt. II. Schema und Bild In §.21 der »Kritik der Urteilskraft« zeigt Kant, daß die intersubjektive Gültigkeit, die wahren Erkenntnisurteilen zukommen muß, die allgemeine Mitteilbarkeit einer bestimmten, für »Erkenntnis überhaupt« geeigneten Proportion der Erkenntniskräfte impliziert. Bei jedem erkennenden Subjekt muß sich im Urteilsprozeß dieselbe Proportion einstellen. Sie ist als subjektive Bedingung des Erkennens dem Urteil vorgeordnet und muß immer dann vorliegen, wenn in einem Erkenntnisprozeß die Mannigfaltigkeit einer anschaulich gegebenen Gegenstandsvorstellung synthetisiert wird und der Verstand durch seine Begriffe Einheit in die synthetisierte Mannigfaltigkeit bringt. Allerdings behauptet Kant in §.21 auch, daß je nach in der Anschauung gegebenem Objekt die Proportion von Einbildungskraft und Verstand verschieden ist. Daß Kant sowohl von einer ausgezeichneten Proportion der Erkenntniskräfte als subjektiver Bedingung der Erkenntnis als auch von verschiedenen Proportionen spricht, kann man folgendermaßen verstehen. Angesichts verschiede-

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ner Objekte kann es zu mehr oder weniger großen Abweichungen von der idealen Proportion der Erkenntniskräfte kommen. Aber nur wenn sich die Idealproportion einstellt, steht die Vorstellung unter dem Begriff. Daß diese Proportion vorliegt, wird durch ein Gefühl bewußt. Im Unterschied zu Anschauungen als einzelnen Vorstellungen sind Begriffe immer allgemein. Sie beziehen sich auf mehrere Objekte und werden durch die logischen Handlungen der Komparation, Ref lexion und Abstraktion gewonnen. Mehrere Gegenstände werden verglichen und das ihnen Gemeinsame abstrahiert. Der Begriff besteht aus einem oder mehreren diskursiven Merkmalen, die einer oder mehreren Eigenschaften des angeschauten Gegenstandes korrespondieren und den Inhalt des Begriffs bilden. Daß Begriffe immer allgemeine Vorstellungen sind, bedeutet für die Proportion von Einbildungskraft und Verstand, daß die Einbildungskraft in der Apprehension mehr Teilvorstellungen synthetisiert als der Begriff an Merkmalen aufweist. Bei dem allgemeinen Begriff »Dreieck« stellt man sich immer anschaulich ein irgendwie winkliges Dreieck mit einem bestimmten Grad und einer Größe vor, das auf Papier gezeichnet auch noch eine gewisse Dicke des Strichs und eine Farbe aufweist. Der Grad, die Größe oder Dicke des Strichs gehen aber über den allgemeinen Begriff hinaus. Weil die Anschauung immer mehr intuitive Merkmale enthält als in der Allgemeinheit des Begriffs gedacht wird, kann sich auch je nach gegebenem Objekt und je nach der Synthesis der Apprehension eine verschiedene Proportion der Erkenntniskräfte einstellen, die mehr oder weniger geeignet sein kann, um zu einer Erkenntnis zu kommen. Ein Dreieck könnte zum Beispiel so verwischt aufgezeichnet sein, daß man sich nicht mehr sicher ist, ob es sich um ein Dreieck handelt. Von den verschiedenen Proportionen angesichts verschiedener gegebener Gegenstände muß die Proportion unterschieden werden, die laut §.21 der »Kritik der Urteilskraft« die »zuträglichste für beide Gemütskräfte in Absicht auf Erkenntnis […] überhaupt ist«5 und die es unabhängig von der Verschiedenheit der Proportionen geben »muß«. Diese ideale Proportion ist eine symmetrische Relation zwischen Einbildungskraft und Verstand. Sie ist das Kriterium dafür, daß ein anschaulich Gegebenes unter einen Begriff fällt. Wie Kant in der »Kritik der reinen Vernunft« ausführt, muß »in allen Subsumtionen eines Gegenstandes unter einen Begriff […] die Vorstellung des ersteren mit der letzteren gleichartig sein […]«6. Das Dritte, das nötig ist, um einzelne Anschauungen auf allgemeine Begriffe zu beziehen, ist das Schema der Begriffe. Schema und Bild sind Produkte der Einbildungskraft. Während jedoch das Bild aus einer Synthesis der Einbildungskraft zu einer einzelnen Anschauung resultiert, ist das Schema Produkt der Synthesis zu einer Einheit. Die Einbildungskraft als Schemata generierende ist dafür verantwortlich, daß Anschauungen als begriffsgemäße wahrgenommen werden können. Mit einem Schema ist ein Verfahren an5 6

KU §.21. B.66, 67. KrV. B.176.

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gegeben, nach dem die Bilder produzierende Einbildungskraft Mannigfaltiges synthetisieren muß, um es einem Begriff zuordnen zu können. Das Schema des Begriffs »Zahl« besteht zum Beispiel in der Vorstellung, eines zu einem anderen hinzusetzen zu müssen. Erst durch diese Vorstellung wird das Bild einer bestimmten Zahl möglich, das darin bestehen kann, sieben Striche auf einem Blatt Papier hintereinanderzusetzen. Im Unterschied zum Bild hat ein Schema allgemeinen Charakter und existiert daher auch nicht in der raum-zeitlichen Anschauung, sondern nur in Gedanken. Das Schema ist also eine Vorstellung, die eine Idealproportion der Einbildungskraft im Verhältnis zum Begriff begründet. Daß ein Schema in idealer Proportion zum Begriff steht, ist bei jeder Erkenntnis der Fall und rechtfertigt die Rede von »Erkenntnis überhaupt«. Wann diese Proportion erreicht ist, wird uns durch ein Gefühl bewußt. Meine These ist nun, daß die Idealproportion bei der Betrachtung eines schönen Gegenstandes nicht die Vermittlungsinstanz zwischen Begriff und anschaulicher Vorstellung meint. Die Wahrnehmung eines einzelnen Gegenstandes erweist sich vielmehr schon der Allgemeinheit des Begriffs gemäß. In der ästhetischen Beurteilung wird bemerkt, daß die Einbildungskraft in der bloßen Auffassung des Gegenstandes schematisiert. Angesichts schöner Gegenstände entspricht die Synthesis der Einbildungskraft jederzeit aus sich selbst den Forderungen des Verstandes, was man angesichts anderer Gegenstände nicht behaupten kann.

III. Die Zweckmäßigkeit als Prinzip der Urteilskraft Die ästhetische Ref lexion führt nach Kant weder zu einem Begriff vom Gegenstand, noch ist sie von einem solchen geleitet. Sie besteht vielmehr in »der Subsumtion der Einbildungskraft selbst […] unter die Bedingungen, daß der Verstand überhaupt von der Anschauung zu Begriffen gelangt«, wie Kant in Paragraph 35 der »Kritik der Urteilskraft« ausführt. Um zu verstehen, was in der ästhetischen Ref lexion geschieht, muß man sich also zunächst klarmachen, welche Bedingungen für den Verstand erfüllt sein müssen, um zu Begriffen zu gelangen. Eine Bedingung der Begriffsbildung ist, daß die Einbildungskraft Mannigfaltiges der Anschauung so vereinheitlicht, daß darauf Begriffe applizierbar sind. Diese Begriffe können aber nicht nur auf der Grundlage mehrerer gegebener Gegenstände in der Anschauung gebildet werden, jedenfalls dann nicht, wenn damit ein zureichendes Merkmal empirischer Wahrheit verbunden sein soll. Kant sieht sich hier mit Problemen konfrontiert, die die Verfaßtheit der Natur im Verhältnis zu unserem Erkenntnisvermögen betreffen und daraus resultieren, daß sich aus den Grundsätzen des Verstandes keine besonderen empirischen Begriffe und Gesetze ableiten lassen. So könnte sich die Natur in ihrer Vielfalt als ungeeignet für die Urteilskraft erweisen, zu neuen Begriffen zu kommen. Müßte man annehmen, daß jeder Kausalnexus auf einer eigenen mit anderen nicht zusammenhängenden Gesetzlichkeit beruht,

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könnten uns schon bekannte Gesetze nicht bei der Suche nach neuen helfen. Wir hätten in ihnen keine Orientierung und die Aufgabe der Gewinnung einer zusammenhängenden Erfahrung, die nach Kant a priori in unserem Verstand liegt, wäre unlösbar. Auch empirischen Gesetzen schreiben wir Notwendigkeit zu. Diese kann aber nicht apriori erkannt werden und ist für den Verstand uneinsehbar. Sie kann nur aus einem zusätzlichen Prinzip der Einheit gefolgert werden. Kant nennt dieses Prinzip das Prinzip der Zweckmäßigkeit. In ihrem Geschäft, neue Begriffe und Gesetze zu finden, muß die Urteilskraft neben den Kategorien, die nur die Form empirischer Gesetze bilden, bestimmte generelle Prinzipien zugrunde legen, um einen Leitfaden für ihre Ref lexion auf Begriffe zu haben, die einer durchgängigen empirischen Erfahrung nicht widersprechen. Dies sind die logischen Vernunftprinzipien der Homogenität, der Spezifikation und der Kontinuität. Das Prinzip der Homogenität beschreibt die Gleichartigkeit von Begriffen, die unter einer höheren und höchsten Gattung stehen. Das Prinzip der Spezifikation meint die Richtung von Gattungsbegriffen zu verschiedenen Arten, und das Prinzip der Kontinuität einen kontinuierlichen Übergang zwischen den Arten, demzufolge man von jeder Art zu einer anderen durch kleinere Grade des Unterschieds gehen kann und dennoch Zwischenarten immer noch möglich sind. Obwohl nur logische und subjektive Maximen der Vernunft, haben diese Prinzipien auch transzendentalen Charakter. Wir müssen annehmen, daß die Natur so verfaßt ist, daß sich eine systematische Einheit empirischer Begriffe und Gesetze zustande bringen läßt. Solche Maximen der Vernunft sind notwendig, damit der Verstand bzw. die Urteilskraft nicht nur zu einem System von Begriffen, sondern auch überhaupt zu allgemeinen empirischen Begriffen und Gesetzen kommt, denen Notwendigkeit zugesprochen werden kann. Als Prinzipien der Vernunft schreiben die Prinzipien von Homogenität, Spezifikation und Kontinuität Vollständigkeit der Erkenntnisse vor, in Richtung auf einen höchsten Begriff, auf die größtmögliche Variation und auf einen kontinuierlichen und nicht diskreten Übergang zwischen den Arten. Das Prinzip der Kontinuität spielt dabei eine besondere Rolle, weil es voraussetzt, daß die Prinzipien der Homogenität und Spezifikation in ihrer größtmöglichen Ausdehnung gedacht werden. So drückt es einen Ableitungszusammenhang der Gattungen und Arten aus, der für die Einsicht in die Notwendigkeit empirischer Gesetze konstitutiv ist. In der Naturerkenntnis muß man sich nach diesen Prinzipien richten, unabhängig davon, wie weit der Verstand in der Systematisierung de facto kommt. Wenn wir uns die Vernunftidee von einem System der Natur machen, machen wir uns nach Kant die Vorstellung der Zweckmäßigkeit der Natur für unser Vermögen, sie zu erkennen. Ein solches Prinzip eines Systems der Natur muß die Urteilskraft zu ihrem eigenen Gebrauch voraussetzen, wenn sie als ref lektierende zu dem Besonderen das Allgemeine finden soll. Bei der Suche nach empirischen Begriffen und Gesetzen müssen wir die heuristische Fiktion zur Verfügung haben, daß wir in der Naturbetrachtung zu einem System von Begriffen und Gesetzen kommen

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können. Die Vernunftprinzipien der Homogenität, Spezifikation und Kontinuität fungieren als spezifische Orientierungshilfen für die Urteilskraft. In ihnen ist das Prinzip der Zweckmäßigkeit ausgedrückt7.

IV. Das Spiel der Erkenntniskräfte Zwei Bedingungen sind es also, die erfüllt sein müssen, damit der Verstand von Anschauungen zu Begriffen gelangt. Einmal die Generierung von Schemata durch die Einbildungskraft. Und dann das Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur, d. i. das Prinzip ihrer systematischen Verfaßtheit, mit den dazugehörigen Prinzipien der Homogenität, der Spezifikation und der Kontinuität, die die Urteilskraft subjektiv ihrer Ref lexion zugrunde legen muß. Wie lassen sich nun beide Gedanken für die ästhetische Ref lexion fruchtbar machen? Was die Idealproportion der Erkenntniskräfte anbelangt, so habe ich die These formuliert, daß die Einbildungskraft in der ästhetischen Ref lexion schon bei der Auffassung des Mannigfaltigen der Anschauung schematisiert. In der ästhetischen Beurteilung wird das Auffassen eines Gegenstandes in der Wahrnehmung mit der Schematisierung verglichen. Ein Gegenstand wird dann als schön beurteilt, wenn sein Auffassen durch die Einbildungskraft einer Schematisierung oder der »Darstellung eines Begriffs des Verstandes (unbestimmt welches Begriffs)«8 entspricht. Denn Darstellungen von Begriffen sind Schemata. De facto gibt es in der ästhetischen Beurteilung, weil es keine Begriffe gibt, auch keine bestimmten Schemata, mit denen das Auffassen des Gegenstandes in der Wahrnehmung verglichen werden könnte. Die Einbildungskraft faßt vielmehr das Mannigfaltige eines Gegenstandes auf, und die ref lektierende Urteilskraft stellt fest, daß das Mannigfaltige so aufgenommen wurde, wie es synthetisiert werden müßte, wäre es ein Schematisieren. Die Einbildungskraft apprehendiert das Mannigfaltige und die Urteilskraft stellt fest, daß die Einbildungskraft jederzeit dem Verstand mit seiner Forderung nach Gesetzmäßigkeit gemäß ist. Damit bemerkt die Urteilskraft, daß das Wahrnehmungsbild der Darstellung eines Begriffs entspricht. Der Verstand testet via Urteilskraft die Tätigkeit der Einbildungskraft durch und findet sie begriffsgemäß. Dieses Austesten hat Kant vermutlich mit dem Spiel der Erkenntniskräfte im Sinn. Es ist ganz gleich, welche Aspekte die Einbildungskraft an dem Gegenstand herausgreift, sie operiert bei jedem Versuch, die verschiedenen Aspekte zusammenzubringen, dem Verstand als dem Vermögen der Begriffe und Regeln gemäß. Damit ist die Bedingung einer harmonischen Proportion der Erkenntniskräfte erfüllt und der schöne Gegenstand gegenüber anderen Gegenständen ausgezeichnet. Angesichts schöner Gegenstände entspricht die Synthesis der Einbildungskraft jederzeit aus sich selbst den Forderun7 8

Siehe: KU. Erste und Zweite Einleitung. Abschnitt V und KrV B.670-697. KU. Erste Einleitung. Abschnitt VII. H 27.

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gen, die der Verstand an sie heranträgt. Der Urteilskraft wird damit bewußt, daß das produziert ist, was sie produzieren muß, um zu empirischen Erkenntnissen zu gelangen. Dies, und nicht nur das Gefühl der Lust, meint Kant, wenn er behauptet, daß in Geschmacksurteilen die Vorstellungen auf das Subjekt und nicht auf das Objekt bezogen werden. Die Begriffslosigkeit der ästhetischen Beurteilung besagt, daß die Tätigkeit der Einbildungskraft nicht in einem bestimmten Schema enden kann. Das heißt aber nicht, daß die ästhetische Beurteilung endlos ist. Denn es ist ein unbestimmter Begriff, mit dessen Darstellung die Wahrnehmungssynthesis übereinkommt. Diese Unbestimmtheit des Begriffs in der ästhetischen Beurteilung zu erläutern, erlaubt der Terminus Zweckmäßigkeit ohne Zweck.

V. Zweckmäßigkeit ohne Zweck Bei der begriff lichen Erfassung eines Gegenstandes betrachten wir den Gegenstand immer aus einer gewissen begriff lichen Perspektive, auch wenn ein Begriff oder Gesetz erst gefunden werden soll. Denn wir verfügen immer schon über Begriffe oder Gesetze, die uns bei der Suche anleiten. Den schönen Gegenstand dagegen betrachten wir begriff lich unvoreingenommen und als Ganzen. Und wir betrachten nur den einen Gegenstand. In der ästhetischen Beurteilung ist der Verstand auf eine Einheit bezogen. Der Begriff, der in der apprehendierenden Tätigkeit der Einbildungskraft dargestellt wird, müßte der Begriff von diesem einen Gegenstand sein, soweit er sich auf dessen wahrnehmbare Qualitäten bezieht. Der Verstand mit seiner Forderung nach Einheit intendiert, den einen Begriff, der Begriff dieses Gegenstandes und der Grund der Verbindung des Mannigfaltigen wäre, zu erfassen. Die Einheit in der ästhetischen Beurteilung ist aber für den Verstand unbestimmt. Man könnte annehmen, von der Unbestimmtheit werde nur auf einer metatheoretischen Ebene gesprochen, im Sinne von Begriff überhaupt, ohne auf die Bestimmtheit der Begriffe zu achten9. Der Text der »Kritik der Urteilskraft« läßt dies an mehr als einer Stelle vermuten10. Daß man in der ästhetischen Beurteilung de facto nicht zu einer Begriffsbildung kommt, könnte dann daran liegen, daß in ihr nicht die Intention einer Begriffsbildung besteht, es aber möglich wäre, einen Begriff zu bilden. Kant denkt die Unbestimmtheit des Begriffs in der ästhetischen Erfahrung aber stärker. Der schöne Gegenstand wird als Beispiel einer Regel gesehen, die man nicht angeben kann. Demnach wäre es für den Verstand prinzipiell unmöglich, einen bestimmten Begriff zu bilden, und 9 So z.B. bei Dieter Henrich: Kant’s Explanation of Aesthetic Judgment. In: Ders.: Aesthetic Judgment and the Moral Image of the World. Studies in Kant. Stanford 1992. S..29-56. Und Jens Kulenkampff: Kants Logik des ästhetischen Urteils. Frankfurt a.M. 1978. 21994. 10 So zum Beispiel in der Ersten Einleitung. Abschnitt VII und in §.4. B.11.

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dargestellt wäre wirklich ein unbestimmter und für den Verstand unbestimmbarer Begriff. Die Unmöglichkeit einer begriff lichen Bestimmung besagt, daß in der ästhetischen Beurteilung der Anteil des Verstandes so zu bestimmen ist, daß die Auffassung des Gegenstandes zwar den Bedingungen des Verstandes genügt, der Verstand die Einheit aber nicht fassen kann. Wie aber läßt sich die Einheit eines unbestimmten Begriffs, der Begriff eines Ganzen ist, verstehen? Was Kant anbietet, ist die Erfahrung der Erfülltheit der Prinzipien der Urteilskraft. So behauptet Kant in der Ersten Einleitung zur »Kritik der Urteilskraft«, daß sich »a priori die Möglichkeit ästhetischer Ref lexionsurteile« einsichtig machen läßt durch die »Prinzipien a priori in der notwendigen Idee einer Erfahrung, als Systems, […], welche den Begriff einer formalen Zweckmäßigkeit der Natur für unsere Urteilskraft enthalten«11. Dies sind keine anderen Prinzipien als die Prinzipien der Homogenität, Spezifikation und Kontinuität, ergänzt zumindest um die lex parsimonia, das Gesetz, demzufolge die Natur immer den kürzesten Weg nimmt. Bezogen auf die ästhetische Beurteilung dienen diese Prinzipien dazu, ganz spezifische Subordinationsverhältnisse zu installieren, die von Subordinationsverhältnissen von Begriffen oder Gesetzen zu unterscheiden sind. Subordinationsverhältnisse von Gesetzen und Begriffen sind zwar für den Verstand auch unbestimmt, in der Hinsicht, daß es unbestimmt ist, wie weit er seine Begriffe und Gesetze systematisch verbinden kann – es gibt kein Abschlußkriterium –, diese Unbestimmtheit ist aber eine andere als diejenige, die in der ästhetischen Beurteilung vorliegt. Die Prinzipen der Urteilskraft sind in der ästhetischen Beurteilung keine heuristischen Prinzipen, sondern werden als erfüllt erfahren. Damit wird verständlich, daß nach Kant die ästhetische Erfahrung Hoffnung auf das Gelingen der systematischen Erfassung der gesamten Natur gibt12. Für die ästhetische Beurteilung würde die lex parsimonia besagen, daß kein Teil des Mannigfaltigen des Gegenstandes überf lüssig ist, das Prinzip der Homogenität, daß es eine Wahrnehmung von Einheit des Mannigfaltigen gibt – hier müßte auch so etwas wie ein Abschlußkriterium enthalten sein –, das Prinzip der Spezifikation, daß die Teile des Mannigfaltigen auch verschieden sind, und das Prinzip der Kontinuität, daß die Teile in einem durch die Einheit bedingten Verhältnis der Kontinuität zueinander stehen. Letzteres drückt die Notwendigkeit der Zusammengehörigkeit der Teile aus. Die Prinzipien der Homogenität, Spezifikation und Kontinuität stehen in der ästhetischen Beurteilung nicht für einen Ableitungszusammenhang wie bei dem System empirischer Begriffe und Gesetze. Sie machen sich vielmehr so geltend, daß die mit dem Prinzip der Homogenität intendierte Einheit, die nicht bestimmt werden kann, in dem Mannigfaltigen repräsentiert ist. Daraus ergibt sich die Erfülltheit des Prinzips der Kontinuität.

KU. Erste Einleitung. Abschnitt IX. »Die selbständige Naturschönheit entdeckt uns eine Technik der Natur, welche sie als ein System nach Gesetzen […] vorstellig macht […]«. KU §.23, B.77. 11 12

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Kant hat die Bedeutung der Prinzipien der Urteilskraft für die ästhetische Beurteilung kaum expliziert. Sie läßt sich aus der »Kritik der Urteilskraft« nur mühevoll erschließen. Dennoch beweist eine Notiz aus den »Ref lexionen zur Anthropologie«, in der es im Kontext von Kants ästhetischer Theorie um ein mögliches Verhältnis von Ganzem und Teilen geht, daß Kant diesen strukturellen Zusammenhang entdeckt und mit dem Begriff des Geistes verbunden hat. Die Teile »sind nicht associiert und zusammengesucht«, sondern durch die Einheit des Geistes »erzeugt«. »Der Geist ist Ganz im Gantzen und Ganz in seinen Teilen«13. Die Teile sind nur durch ihr erzeugendes Prinzip, das Kant die Einheit des Begriffs nennt, was sie sind. In jedem Teil des Ganzen der gegebenen Anschauung ist also die Einheit des Ganzen präsent. Dies kann der Verstand nicht bestimmt denken, weil für ihn mit dem Allgemeinen nicht schon das Besondere gegeben ist. Daß Allgemeines und Besonderes zusammen gegeben sind, muß Kant in diesem Fall aber annehmen. Er hat damit vorgedacht, was Hegel unter dem Begriff Selbstzweck weiterentwickelt hat. Ästhetische Erfahrung meint somit bei Kant eine spezifische Art der Ref lexion. Schön bzw. der Ordnungszusammenhang der Teile ist keine Eigenschaft des Gegenstandes, sondern ein Produkt der Ref lexion eines Subjekts, das sich einem Gegenstand in einer ästhetischen Betrachtung zuwendet. Der Gegenstand muß zwar die gelungene ästhetische Erfahrung zulassen, erst der Rezipient aber bringt den schönen Gegenstand zum Sprechen. Deshalb nennt Kant die Zweckmäßigkeit subjektiv. Sie ist ohne Zweck, weil bei der Beurteilung weder ein bestimmter Begriff vorausgesetzt noch gewonnen wird. Was erfahren wird, ist die Form von Zweckmäßigkeit, also das, was einen Zweck strukturell kennzeichnet. Je nach Objekt wird die ästhetische Einheit verschieden erfahren werden können. Etwa als ein Ineinanderf ließen der gleichwohl verschiedenen Teile, das bewirkt, daß das Ganze auch angesichts einzelner Teile als präsent erfahren wird. Oder in der Form eines Verweisungszusammenhangs der Teile, so daß es zu jedem Teil gehört, von sich her auf jedes andere zu verweisen. Kant hat seine Theorie der ästhetischen Beurteilung unabhängig von der Distinktion Naturschönes – Kunstschönes entwikkelt. Dennoch war für ihn das Naturschöne paradigmatisch. Dies hat unter anderem seinen Grund darin, daß schöne Kunstwerke für Kant vor allem Artefakte sind, das heißt Gegenstände, deren Herstellung ein Begriff vom Objekt vorhergeht, der Grund der Verbindung des Mannigfaltigen ist. Wie der Architekt über den Begriff eines Hauses verfügen muß, um ein solches planen zu können, bedarf auch ein Kunstwerk einer begriff lichen Vorstellung, durch die bestimmt ist, was der Gegenstand sein soll. Das Kunstwerk ist damit ein Produkt regelgeleiteten Schaffens. Dennoch ist Kant der Überzeugung, daß die Kunstrezeption eine rein ästhetische Erfahrung zuläßt. Immanuel Kant: Reflexionen zur Anthropologie. Reflexion 945. In: Immanuel Kant: Gesammelte Schriften. Herausgegeben von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1902.ff. Band 15. S..419. 13

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VI. Ästhetische Erfahrung bei Celan am Beispiel des Gedichts »Wortaufschüttung« Eine ästhetische Theorie muß sich an der Erklärungskraft, die sie für die Ref lexion schöner, also als ästhetisch gelungen erfahrener Gegenstände entfalten kann, messen lassen. Sie sollte, was die Kunst angeht, gleichermaßen für alle Kunstgattungen aussagekräftig sein, wobei die Eigenarten der verschiedenen Gattungen ihre Berücksichtigung finden müssen. Denn die Kunstrezeption ist gebunden an die Materialität, aus der die Werke der einzelnen Gattungen bestehen. Die Materialität von Skulpturen, Werken der Malerei, Musik und Dichtung, um nur die traditionellen Gattungen zu nennen, determinieren die Weisen ihrer Auffassung. Um eine Skulptur kann man herum gehen, Musik nimmt man sukzessive in der Zeit auf, einem Bild steht man in der Regel in einer bestimmten Distanz gegenüber, die Blickrichtung ist frei variierbar. Ästhetische Theorien müssen sich aber auch daran messen lassen, ob sie auch noch in späterer Zeit nachwirken. Daß Kants Theorie ästhetischer Erfahrung in Paul Celans Lyrik nachwirkt, möchte ich im folgenden zeigen. Ich habe das Gedicht WORTAUFSCHÜTTUNG aus dem Zyklus Atemwende ausgewählt. Es handelt sich um ein Gedicht, in dem – wie in vielen anderen Gedichten Celans – die Dichtung selbst und ihre Rezeption in dichterischer Form in Frage steht. Es thematisiert das Werden des Gedichts in seiner Rezeption, in dem Zuhalten auf ein Du, und gelangt auf diesem Weg zu einer Vorstellung von ästhetischer Erfahrung, die mit der Auffassung von Kant vergleichbar ist. WORTAUFSCHÜTTUNG, vulkanisch,

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meerüberrauscht Oben der flutende Mob der Gegengeschöpfe: er flaggte – Abbild und Nachbild kreuzen eitel zeithin. Bis du den Wortmond hinausschleuderst, von dem her das Wunder Ebbe geschieht und der herzförmige Krater nackt für die Anfänge zeugt, die Königsgeburten.

In dem Gedicht WORTAUFSCHÜTTUNG wird das Gelingen der Dichtung und damit die Möglichkeit der Prädizierung von Schönheit problematisiert. Die Metapher »Wortaufschüttung«, Titel und erstes Wort der ersten Strophe, kann sowohl ei-

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ne Metapher für das Gedicht sein, insofern es eine »Wortaufschüttung« in bestimmter erfahrbarer Gestalt meint, sie kann aber auch für eine sinnlose oder nur künstlich und willkürlich gesetzte »Aufschüttung« von Wörtern stehen. Beide Auffassungen stehen in dem Gedicht in Frage. Das Gedicht findet, wie die dritte Strophe aussagt, seine Bewährung an der Tätigkeit eines »Du«, von der behauptet wird, von ihr her würde ein »Wunder« geschehen, das Zeugnis ablegt für die »Königs-/geburten«. Die Königsgeburten könnten für den Ursprung der im Gedicht verwendeten Worte und Metaphern aus einem einheitlichen Grund stehen, dem die Würde eines Königs zugeschrieben wird. Auf ein solches Wunder hält das Gedicht zu. Es steht nach Celans Büchnerpreisrede Meridian von Anfang an im »Geheimnis der Begegnung«14. Die Begegnung kann bezeugen, daß es sich bei dem Gedicht um, so der Meridian, »gestaltgewordene Sprache eines Einzelnen«15 handelt. Die Gestalt wird im gelungenen Prozeß einer ästhetischen Reflexion erfahren. Ob dieser Prozeß erfolgreich sein wird, kann mit Sicherheit nicht gesagt werden. Gedichte sind fragile Gebilde. Das Kompositum »Wortaufschüttung« kann sowohl den Vorgang einer Aufschüttung als auch dessen Produkt meinen. »Wortaufschüttung« als solches ist eine Metapher. Zu dem Wort »Wort«, das jedenfalls ein Geistiges bezeichnet, wird mit »Aufschüttung« ein ihm Fremdes herangetragen, das aus dem Bereich des Materiellen stammt. Der Metapher »Wortaufschüttung« ist das Adjektiv »vulkanisch« attributiv zugeordnet, gleichsam zu ihr geschüttet, aber um sie zu konkretisieren. Aufschüttung im Sinne der Vulkanologie meint einen durch verfestigte Lava und anderes Auswurfmaterial entstandenen Aufschüttungskegel. »Wortaufschüttung« würde dann, wie künstlich gesetzt, eine sprachliche Gestaltwerdung oder Gestalt im Bilde einer vulkanischen Erscheinung bedeuten. Als vulkanische geschähe die »Wortaufschüttung« gleichsam eruptiv und von innen heraus. Sie wäre nicht von einem Subjekt geplant oder gesteuert. Als weitere Bestimmung hat »Wortaufschüttung« das adjektivisch gebrauchte Partizip »meerüberrauscht« bei sich, das, die Metapher der ersten Strophe vollendend, im Hinblick auf ein sprachliches Phänomen das Bild des untermeerischen Vulkanismus evoziert. Obgleich mit »vulkanisch« durch die asyndetische Beiordnung auf gleicher Ebene stehend, bildet »meerüberrauscht« die zweite Verszeile und tritt damit in Distanz zur ersten. Durch das Trennende der Versgrenze mag das Bild des untermeerischen Vulkanismus in Frage gestellt sein. Dem entspricht in realgegenständlich visueller Hinsicht, daß »meerüberrauscht« entweder ein Überdecken des gesamten Ereignisses und des Produkts eines Vulkanausbruchs meint, womit jedoch alles der Wahrnehmung entzogen bliebe und das Gedicht metaphorisch am Ende wäre. Oder »meerüberrauscht« überdeckt lediglich »vulkanisch«, so daß an dem noch wahrnehmbaren Produkt nur dessen Entstehungsbedingung nicht mehr erkennbar ist. In beiden Fällen wäre das von der Einbildungskraft herbeigebrachte Bild des untermeerischen Vulkanismus auf die Sprache bezogen 14 15

Paul Celan: Meridian. In: Paul Celan: Ausgewählte Gedichte. Frankfurt a.M. 1968. S..144. Ebd.

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nur eine Behauptung und eine künstliche sowie willkürliche Veranstaltung des Dichters. In dieser Problematik endet die erste Strophe. Die zweite Strophe setzt in der dritten Zeile mit der Ortsbestimmung »oben« ein. Mit »oben« kann sowohl ein Rückbezug auf die erste Strophe als auch die Tatsache, daß »oben« die erste Zeile der zweiten Strophe bildet und damit oben steht, gemeint sein. In der vierten und fünften Verszeile wird gesagt, was sich »oben« befindet, nämlich der »f lutende Mob / der Gegengeschöpfe«, womit das metaphorische Sprechen der ersten Strophe fortgeführt wird. Die Metapher »der f lutende Mob« ist für sich genommen ein gängiger metaphorischer Ausdruck, bei dem das aus dem englischen Sprachraum stammende Fremdwort »Mob« zu dem deutschen Verb »f luten«, das einem anderen semantischen Bereich angehört, hinzugetragen wird. Die ganze Metapher bezeichnet in der Regel einen zusammengerotteten Pöbelhaufen, der strom- und stoßweise durch die Straßen zieht. Sie ist eindeutig pejorativ zu verstehen. Im Kontext der ersten Strophe könnte mit dieser Metapher das Bild des untermeerischen Vulkanismus metaphorisch weiterbestimmt sein. Man könnte den vulkanischen Staub assoziieren, der bei einem Vulkanausbruch unter Wasser dessen Oberf läche bedecken kann. Insofern das Ganze die Metapher »Wortaufschüttung« metaphorisch beschreibt, kann mit dem »f lutenden Mob« auch die konkrete im Gedicht vorhandene Zusammenstellung der Worte und die Bildung der Metaphern und Komposita gemeint sein. Die Metapher »der f lutende Mob« könnte sich aber auch auf sich selbst beziehen. Sie ist ein f lutender Mob, da gängig und meist gedankenlos gebraucht. Die vollständige Metapher lautet allerdings »der f lutende Mob / der Gegengeschöpfe, wobei »der Gegengeschöpfe« in die fünfte Verszeile gehört. Durch den Genitiv wird grammatikalisch eine Beziehung ausgesprochen, die durch die Versgrenze wieder zurückgenommen wird. »Gegen« kann sowohl negativ gegen etwas gerichtet meinen als auch positiv ent-gegen. Mit »Geschöpfe« soll ein Lebendiges ausgesprochen sein. So drückt das Gedicht hier die Hoffnung aus, die Aufschüttungen könnten nicht nur Aufschüttungen toter Materie, atomisiertes Wortmaterial, sondern etwas Lebendiges sein. Auch der Genitiv läßt verschiedene Deutungsmöglichkeiten zu: Es kann gemeint sein, daß es eine Eigenschaft der »Gegengeschöpfe« ist, »f lutender Mob« zu sein, daß »der f lutende Mob« den »Gegengeschöpfen« angehört oder etwa daß »der f lutende Mob« von außen an die »Gegengeschöpfe« herangetragen wurde. Welche Deutung zu favorisieren ist, bleibt unklar. Dennoch spricht das Gedicht in der fünften Zeile naiv mit Doppelpunkt und »er« weiter. Doppelpunkt und das Pronomen »er« suggerieren, es könne eindeutig identifiziert werden, wer oder was »der f lutende Mob / der Gegengeschöpfe« ist. Dies wird auch durch das daktylische Versmaß ref lektiert, nach dem »er« zu »Gegengeschöpfe« gehört. Zudem bezieht sich »er« grammatikalisch auf »der f lutende Mob«. Da »er« aber in einer Zeile mit »Gegengeschöpfe« steht, könnte dies auch auf eine Einheit von »der f lutende Mob / der Gegengeschöpfe« hin gesagt sein. Dem »er« wird in der sechsten Zeile mit »f laggte« eine Tätigkeit zugeschrieben, die ihre eigentliche Bedeutung im seemännischen Bereich hat. Die Verwendung des

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Präteritums läßt darauf schließen, daß das, was gef laggt wurde, an dem bisher Gesagten wahrnehmbar sein müßte. Flaggen sind Zeichen. Insofern Zeichen und Bezeichnetes völlig Differente sind, müssen Zeichen, um verstanden zu werden, eindeutig kodifiziert sein. So ist auch hier die Hoffnung ausgedrückt, was bisher wahrnehmbar war, würde sich einem einheitlichen Verstehen erschließen. Mit dem Verb »f laggen« ist zum erstenmal implizit ein Du oder ein Rezipient angesprochen, denn Zeichen sind als solche immer an einen Adressaten gerichtet. Für was aber können die Zeichen Zeichen sein? Denkt man an Schiffsf laggen, so kann eine Flagge die Herkunft des Schiffes, seine Stellung oder auch bestimmte Zustände oder Absichten anzeigen. Sie kann zum Beispiel ein Zeichen für den Lotsen sein, das Schiff in den Hafen einzubringen. Auch hier bleibt zunächst offen, wie das Zeichen zu deuten ist. Bisher wahrnehmbar war die erste Strophe und »der f lutende Mob / der Gegengeschöpfe«. Von ihnen behauptet das Gedicht, sie als Zeichen hervorgebracht zu haben. Oder genauer, es behauptet, die Metaphern, aus denen das Gedicht besteht und die »f lutender Mob« sind, haben sich selbst als Zeichen hervorgebracht. Danach stockt das Gedicht oder, um mit dem Meridian zu reden, es verschlägt ihm und dem Leser »den Atem und das Wort«16. Dies ref lektiert der Gedankenstrich. Dem Leser mag es bisher noch nicht gelungen sein, das Gedicht als ein sinnvolles Sprachgebilde anzusehen. Nach dem Gedankenstrich spricht das Gedicht in der sechsten und siebten Zeile in einer anderen Sprachhaltung weiter. Zum erstenmal hat man einen syntaktisch vollständigen Satz mit Subjekt, Prädikat und Objekt. Mit »Abbild und Nachbild« in der sechsten Zeile gesteht das Gedicht explizit ein, daß es Bilder waren, die es bisher hervorgebracht hat. Mit der Nennung von »Abbild und Nachbild« ist an den Rezipienten implizit die Aufforderung verbunden, zu überlegen, womit »Abbild und Nachbild« vor dem Gedankenstrich identifiziert werden könnten. Meint Abbild ein getreues Bild von einer Person oder einer Sache, so könnte man vermuten, daß die erste Strophe den submarinen Vulkanismus als Bild für das Gedicht verwenden will. Unter einem Nachbild versteht man gewöhnlich den infolge der Trägheit der Netzhaut kurze Zeit nach einer Lichteinwirkung bestehenbleibenden Lichteindruck. Ein Nachbild könnte aber auch das Bild genannt werden, das auf ein anderes folgt. Im zweiten Fall könnte sich »Nachbild« auf den »f lutenden Mob / der Gegengeschöpfe« so beziehen, daß mit dieser Metapher die Metaphorik des submarinen Vulkanismus verlassen und selbst zum Gegenstand metaphorischen Ausdeutens wird. Damit scheint sich das metaphorische Sprechen gleichsam verselbständigt zu haben. Es findet in dem Gedicht eine Häufung von Metaphern statt, wobei sich die letzte Metapher immer nur unmittelbar auf die vorletzte bezieht. Im ersten Fall könnte sich »Nachbild« so auf den »f lutenden Mob« beziehen, daß mit ihm die Sprachbewegung des Bildens von Metaphern und deren Aneinanderreihung bezeichnet ist. Der »f lu-

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Paul Celan: a.a.O. (Anm. 14). S..141.

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tende Mob […]« wäre Nachbild, weil mit ihm die Sprachbewegung der ersten Strophe nachklingt. »Abbild« und Nachbild«, so die siebte Zeile, »kreuzen eitel zeithin«. Wie »f laggen« gehört »kreuzen« in den Bereich der Seemannssprache. »Kreuzen« bezieht sich auf das Metaphernsein. Die Aufmerksamkeit wird damit auf das Bildsein gelenkt. In der Schiffahrt versteht man unter »kreuzen«, sich bei ungünstigem Wind im Zickzackkurs seinem Bestimmungsort nähern. Die Kraft des Windes, die die Schiffe von ihrem Ziel wegtreibt, wird ausgenutzt, um sich dem Ziel verlangsamt, gleichsam über Umwege zu nähern. »Kreuzen« könnte, auf die erste Strophe bezogen, die Hinbewegung der ersten Zeile als Setzung und die Herbewegung der sie negierenden zweiten Zeile meinen. Als Hin- und Herbewegung könnten auch die verschiedenen Lesarten von »der f lutende Mob / der Gegengeschöpfe« gedeutet werden. Mit den Adverbien »eitel zeithin« sind Art und Weise sowie das Ziel des Kreuzens näher bestimmt. »Eitel« bedeutet leer, zwecklos, nichtig, selbstgefällig, aber auch Vergänglichkeit wie in »Eitelkeit des Lebens«. Schließlich meint es auch rein, lauter. Das Temporaladverb »zeithin« ist als solches nicht gebräuchlich. An seiner Stelle müßte ein Adverb des Ortes stehen. Das »Kreuzen« scheint damit nicht zu wissen, wohin die Fahrt genau geht. »Zeithin« in temporalem Sinn kann im Gegensatz zu seither, das die Dauer einer Handlung oder eines Zustandes von einem gewissen in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt an beschreibt, als von einem Jetztzeitpunkt hin zu einem unbekannten, in der Zukunft liegenden Zeitpunkt gehend interpretiert werden. Solange dieser Zeitpunkt nicht erreicht ist, sind die Zeichen des Gedichtes nicht verstanden. Deshalb setzt die dritte Strophe mit einer Präzisierung ein. Das »Kreuzen« währt so lange, »bis du den Wortmond hinaus-/ schleuderst, von dem her / das Wunder Ebbe geschieht«. Das »Kreuzen«, zwecklos und selbstgefällig, das bloße »Kreuzen«, wird, weil ziellos, erst an sein Ziel kommen, wenn ihm seine Voraussetzung entzogen ist, also wenn »Ebbe« eintritt. Von dem »Du« wird gesagt, daß es einen »Wortmond« bei sich hat. Damit behauptet das Gedicht die Abhängigkeit des »Kreuzens« als auch dessen Ende von einem »Du«. Solange der »Wortmond« bei dem »Du« anwesend ist, kreuzen die Bilder. »Schleudert« das »Du« den «Wortmond« »hinaus«, kommt das »Kreuzen« an ein Ende. Der »Wortmond« hat in bezug auf das »Kreuzen« der Metaphern dieselbe Funktion wie der Mond der Erde in bezug auf die Gezeiten. Parallel zu der Plötzlichkeit des Hinausschleuderns vollzieht sich das »Wunder Ebbe« in einem kurzen Augenblick. So meint »geschehen« in seiner Grundbedeutung ein plötzliches sich Wenden – hier die Wendung von der Flut zur Ebbe – oder ein durch Schicksal eintretendes Ereignis. Was schicksalshaft erfolgt, kann zwar staunend wahrgenommen, aber nicht erklärt werden. Das Gedicht nennt es ein »Wunder«. In diesem kurzen Augenblick begegnen sich lyrisches Ich und ein Du sowie Ebbe und Flut, die sich von der Wirklichkeit des Wortmondes her bewirkt erweisen. Der Vollzug der Ebbe bringt das Gedicht an den Rand des Schweigens, an den Ort, der einzig frei von Metaphern ist. Dies entspricht dem Gedankenstrich in der

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sechsten Zeile, an dem das Gedicht innehält. Dieser Gedankenstrich wird in Zeile elf und zwölf als »herz-/förmiger Krater« bezeichnet. Ihm wird die Form eines Herzens zugeschrieben, weil er in der Begegnung eines Ich mit einem Du zum Vorschein kommt. Dieser Ort ist ein Nichts, der durch seine Form, die es umgrenzt, sichtbar ist. Er »zeugt« »für die Anfänge«, »die Königs-/geburten« und damit auch für den König; dies wird durch die Versgrenze der vorletzten Zeile ref lektiert. Der König steht am Ort des Kraters, dessen Geburten, die »Wortaufschüttung«, ihn in der Form eines Herzens umgrenzen. »Königs-/geburten« steht in Korrespondenz zu «Gegengeschöpfen«. Beide sind Lebendige. Der Doppeldeutigkeit des Wortes »Geburt« entsprechend, das einerseits das Ereignis der Geburt, andererseits auch das Geborene meint, wird in dem Gedicht WORTAUFSCHÜTTUNG eine Geburt beschrieben in der Hoffnung, vom Rezipienten auch vollzogen zu werden. Dies wird daran deutlich, daß der »Krater« erst am Ende genannt wird, um dessentwillen die Veranstaltungen des Gedichts getroffen werden. Es ist aber auch mit dem Sichtbarsein des Kraters infolge der Umgrenzung durch die »Wortaufschüttung« das Geborene angesprochen, das jetzt mit Recht »Geschöpf« heißen darf. Die »Königs-/ geburten« können als »Abbild und Nachbild«, die gleichsam stillgestellt und auf Grund gelaufen sind, wahrgenommen werden. Das »Nachbild«, insofern seine Deutungsvarianten zur Einheit gebracht sind. »Der f lutende Mob« der Metaphern steht den »Gegengeschöpfen« gegenüber, insofern er noch nicht zu den Aufschüttungskegeln gehörig betrachtet werden kann. »Gegen« hat hier die Bedeutung von wider, gegen etwas gerichtet sein. Er steht mit ihnen zusammen, wenn der »Krater« sichtbar geworden ist, denn das Gedicht weiß, daß es eigentlich nur in Metaphern reden kann, die ihre Richtung auf ein Du nehmen, sich ihm zuzusprechen versuchen. Das »Abbild«, das als die erste Strophe, als »Abbild« des ganzen Gedichts und des Rezeptionsprozesses aufgefaßt werden kann, bringt sein »Kreuzen« zum Stillstand und zur Einheit, insofern die Beschreibung der »Wortaufschüttung« als »vulkanisch« am Ende wieder eingeholt wird. Die Negation durch »meerüberrauscht« währt, solange »Abbild und Nachbild kreuzen«, und steht, insofern die »Ebbe« den Umschlag bringt, auch mit dem vulkanischen Phänomen zusammen. Die Vieldeutigkeit, Aneinanderreihung und Bildung der Metaphern stellt in Celans Gedicht die ästhetische Einheit in Frage. Das Gedicht suggeriert zwar Einheit, man denke an das Pronomen »er« in der zweiten Strophe, vollzogen wird sie aber erst durch das Verstehen eines Du, auf das das Gedicht seinem metaphorischen Sprechen eingedenk zuhält. Dieses Verstehen ermöglicht es, das Gedicht und die Metaphern als lebendige Einheiten ansprechen zu können. Die Nähe zu Kant wird hier deutlich. Was bei Kant aber der Allgemeinheit einer philosophischen Theorie entsprechend in einer abstrakten Sprache formuliert ist, konkretisiert sich bei Celan auf poetische Weise. Auch bei Celan erweist sich die ästhetische Einheit als eine vom Subjekt zu vollziehende. Das Lesen des Gedichts erfolgt ebensowenig wie die ästhetische Beurteilung bei Kant aus der Perspektive begriff licher Abstraktionen, vielmehr ist jedes

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Wort gleichermaßen relevant. Alle semantischen Potentiale des Wortmaterials sind zu bedenken und auch die Versgrenzen, Satzzeichen und Metrik nicht außer acht zu lassen. Dieses poetische Verfahren gleicht dem ästhetischen Schema bei Kant. Die Einbildungskraft in der ästhetischen Beurteilung schematisiert schon beim Auffassen des Mannigfaltigen. Als elementar für das Gedicht erweist sich die Erfahrung der Nähe von Trennung und Verbindung, Differenz und Einheit. Kants Prinzipien der Urteilskraft Homogenität, Spezifikation und Kontinuität klingen hier an. Daß die Bildung und Aneinanderreihung von Metaphern und deren verschiedene, teilweise gegensätzliche Deutungsvarianten nicht in atomarer Verbindungslosigkeit bleiben, sondern zu einer Einheit zusammenfinden oder, um mit einem anderen Gedicht Celans zu sprechen, »Schwimmhäute«17 zwischen sich haben, Lebendige sind, dies ist die Hoffnung, mit der die Gedichte Celans sich einem Du zuzusprechen versuchen. Diese Einheit wird zwischen den Metaphern und dem Wortmaterial der Komposita als präsent erfahren, wie in Kants Auffassung der Geist in allen Teilen des Mannigfaltigen. Das Gedicht spricht nicht nur über etwas der Sprache Vorausliegendes und sei es über die Sprache, es bezeichnet nicht, es will Sprache aktualisieren und vollziehen, was es meint. Dazu braucht das Gedicht ein Gegenüber, ein Du, das sich ihm interesselos und hingebungsvoll zuwendet und sich in bestem Kantischen Sinne auf eine ästhetische Erfahrung einläßt.

Vgl. das Gedicht Schwimmhäute aus dem Zyklus Lichtzwang von 1970. In: Paul Celan: Gedichte II. Frankfurt a.M. 1975. 17

Kunst als Form? Das Problem einer nicht-reduktionistischen Ästhetik als Herausforderung analytischer Theorien der Kunst und ein Blick auf Kant* Von Andrea Esser

»Überschach« ist ein Gemälde von Paul Klee. Man sieht ein Quadrat unterteilt in weiße, graue, schwarze und farbige Flächen ähnlicher, aber nicht gleicher Größe. Die Strukturanteile weiß-grau-schwarz sind in einer regelmäßigen Abfolge geordnet, die sich von oben links nach unten rechts durchzieht, aber von Reihe zu Reihe versetzt ist. Die farbigen Flächen, violett, ultramarin und rot bilden das Zentrum. Dort sind zwei rote und eine blaue Figur zu sehen. Man kann, auch ohne nachzuzählen, sehen, daß hier ein Gleichmaß verwirklicht ist. Dies bewirkt die horizontale Linieneinteilung, deren Abstände sich von oben zur Mitte hin sukzessive vergrößern und sich nach unten verringern. Kreuzen die Horizontalen vertikale Linien, stellt dies Einheiten her. Will man die Struktur des Bildes benennen, so zeigt es sich als Addition von Einheiten. Man identifiziert diese Struktur spontan als Schachbrett. Weitere Assoziationen können anschließen. Etwa: »Dies ist ein Schachspiel mit drei Figuren, die größte ist eine Dame, die kleineren sind Bauern oder Läufer«. Oder: »Die Darstellung gleicht einem Fernsehtestbild«, »Das Bild erinnert auf Grund des geometrischen Charakters an Darstellungen von Mondrian«. Es liegt scheinbar nahe, in weiteren Überlegungen die Darstellung in ihrer Intention, ihrem gedanklichen Gehalt und hinsichtlich der verwendeten Mittel zu erklären. Informationen über die Entstehensgeschichte des Bildes, über den Werdegang des Künstlers und umfassendere kunsthistorische Kenntnisse sind dazu nötig. Mit ihrer Hilfe lassen sich Faktoren namhaft machen, die die Wahl des Sujets, die Präferenz gewisser Farben und Techniken, die Verwendung bestimmter Symbole beeinf lussen. Ein Sujet in dieser Weise historisch, biographisch oder hinsichtlich der verwendeten Mittel zu analysieren, kennzeichnet die intellektuelle Beschäftigung mit einem Kunstwerk. Das Gesehene wird dabei unter einem bestimmten Bedeutungsrepertoire verstanden und somit zu einem Zeichen dieser Gehalte qualifiziert. Es kann dann als sinnliche Manifestation gedanklicher Intentionen angesehen werden. In diesem Sinne »sprechen« Bilder: Sie drücken einen Sinn aus, den ein kundiger Betrachter interpretativ decodieren kann. Die verschiedenen Weisen, einen solchen Sinn zur Darstellung zu bringen, – ihn ikonisch, metaphorisch oder etwa symbolisch zu vermitteln – differenzieren nun die künstZur ausführlichen Darstellung der folgenden Überlegungen vgl. Andrea Esser: Kunst als Symbol. München 1997. *

ZÄK Sonderheft · Jahrgang 2000 · © Felix Meiner Verlag 2000 · ISSN 1439-5886

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lerische Expressivität nicht qualitativ von anderen Formen des Ausdrucks. Solche Elemente lassen sich auch in nicht-künstlerischen Zeichensystemen nachweisen. Untersucht man, »ob Sinnbildung in Bildern möglich ist« und »wie Bilder Sinn vermitteln«, setzt man die darstellenden Mittel der Kunst immer schon in Analogie zur sprachlichen Sinnvermittlung. Kunstwerke werden dann als verstehbare Zeichen eines sprachlich formulierbaren Sinnes verstanden. Die Darstellung wird unter der Funktion, einen Gehalt zu repräsentieren, betrachtet. Die sinnliche Markanz des Zeichens selbst ist dabei für das Sinnverstehen nicht konstitutiv. Reduziert man Kunstbetrachtung auf die Funktion, ›in der Darstellung einen gedanklichen Gehalt zu erfassen‹, so sind Kunstwerke dadurch nicht von anderen Bedeutungsträgern zu unterscheiden. Läßt sich aber die Besonderheit künstlerischen Ausdrucks nichtreduktionistisch denken? Anders formuliert: Läßt sich eine Autonomie der Kunst nachweisen? In einem ersten Teil wird diese Fragestellung an Überlegungen verschiedener Künstler verdeutlicht. Diese Überlegungen werden in einem zweiten Teil in die philosophische Fragestellung nach der Referenz ästhetischer Urteile übersetzt. Dazu beziehe ich mich auf Wittgensteins Vorlesungen zur Ästhetik. Ausgehend von der Wittgensteinschen Problemstellung werden die Ansätze von A. Danto und R. Wollheim diskutiert und kritisch erörtert. In einem dritten Teil wird die von Wittgenstein gekennzeichnete Fragestellung wieder aufgenommen und im Rahmen einer Reformulierung des Kantischen Ansatzes untersucht. Das Ende bildet eine Analyse des Klee-Bildes im ästhetischen Sinne – d.i. mit dem im Schlußteil gewonnenen Instrumentarium ästhetischer Wertbildung auf der Basis des Zeichenbegriffes von F. de Saussure und Kant. I. Geradezu leidenschaftlich protestieren namhafte Künstler gegen die Reduktion ihrer Darstellungen auf die Repräsentation von Gehalten. Zahlreich sind die Stimmen, die eine vom sprachlichen Paradigma unterschiedene Ausdrucksmöglichkeit namhaft machen und dabei auf die Betrachtung selbst verweisen. Paul Klee versucht in seinen Ref lexionen über Gestaltung, diese besondere Expressivität zu explizieren. Nach Klee entsteht der Ausdruck eines Kunstwerkes nicht durch die Enträtselung des gedanklichen Gehaltes, vielmehr sind in der Darstellung selbst »dem gleich einem weidenden Tier abtastenden Auge des Beschauers […] Wege eingerichtet«.1 Die Expressivität ist in den Formelementen einer Darstellung angelegt und »diese Elemente ergeben Formen, ohne sich dabei selbst zu opfern«.2 Sie dürfen also gerade nicht als Repräsentationen bestimmter Gehalte verstanden oder Walter Hess: Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei. durchges. u. erw. Neuausg. Hamburg 1993. S..132. 2 Ebd. 1

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in Ähnlichkeitsrelationen gesetzt werden. Zwar drängt sich diese Perspektive auf ein Kunstwerk förmlich auf – denn »wenn ein solches Gebilde sich vor unseren Augen nach und nach erweitert, so tritt leicht eine Assoziation hinzu, welche die Rolle des Versuchers zu einer gegenständlichen Deutung spielt. […] Diese assoziativen Eigenschaften sind aber der Ursprung von leidenschaftlichen Mißverständnissen zwischen Künstler und Laienpublikum. Während der Künstler noch ganz Bestreben ist, die formalen Elemente so rein und so logisch zu gruppieren, daß jedes an seinem Platz notwendig ist und keines dem anderen Abbruch tut, spricht irgendein Laie, von hinten zuschauend schon die verheerenden Worte: der Onkel ist aber noch sehr unähnlich! Der Maler denkt sich, wenn er disziplinierte Nerven hat: Onkel hin Onkel her! Ich muß nun weiterbauen. Dieser neue Baustein, sagt er sich, ist zunächst wohl etwas schwer und zieht mir die Geschichte zu sehr nach links; ich werde rechts ein nicht unbedeutendes Gegengewicht anbringen müssen, um das Gleichgewicht herzustellen«3. Cézanne betont, daß ein Bild »zunächst nichts darstellt, nichts darstellen soll als Farben«4. Diese ordnen sich nach einer eigenen Logik, um eine ›allgemeine Sprache der Empfindungen‹ herzustellen. Ähnlich sprechen sich auch Matisse, Mondrian, van Gogh und Braque aus. Das Wesen künstlerischen Ausdrucks läßt sich in der Betrachtung von Farben und Formen, die teils als ›aktive Wahrnehmung‹ (Gris), teils als ›schöpferische Tat, die eine Anstrengung verlangt‹ (Matisse), charakterisiert wird, erfassen. Allein »der Platz, den die Körper einnehmen, die sie umgebenden leeren Räume, die Proportion« (Matisse) der Farben und Formen sind Bezugspunkt der Betrachtung5. Wird das Gesehene dagegen klassifiziert und auf seine mögliche Bedeutung hin verstanden, hindert dies eher, die eigentliche Expressivität der Kunst zu erfassen. Diese weit verbreitete Tendenz zur Intellektualisierung der Kunst beklagt Picasso: »Man will in allem und jedem einen Sinn finden. Das ist eine Krankheit unserer Zeit – wenn es um ein Bild geht, denken die Leute, sie müssen es verstehen. Menschen, die Bilder erklären wollen, bellen für gewöhnlich den falschen Baum an. Der Mensch wollte weiter sehen und verlor die Fähigkeit das zu begreifen, was er vor Augen hatte«6. De Chirico geht so weit, eine radikale Ausschaltung des logischen Sinns in der Malerei zu fordern, um so die Kunst durch den Nicht-Sinn zu befreien. Ein solches antirepräsentationalistisches Verständnis künstlerischer Expressivität teilen auch Braque und Mondrian: »Das Intellektuelle geht immer auf die Anbetung von Vorstellung. Ich arbeite mit dem Material nicht mit Vorstellungen. In der künstlerischen Produktion geht es darum, eine Bildwirklichkeit zu schaffen«7 (Braque), »eine neue Realität in den Grenzen der bildnerischen Mittel«8 (Mondrian). 3 4 5 6 7 8

Ebd. S..132, 133. Ebd. S..21. Ebd. S..53. Ebd. S..82. Ebd. S..90. Ebd. S..159.

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In diesem Sinne ist auch Cézannes bekannte Formulierung zu verstehen, wonach Kunst eine »Harmonie parallel zur Natur« schaffen müsse. Betrachtet man die Dinge so, sind für die Expressivität künstlerischer Darstellung konstitutiv: die Darstellungselemente in ihrer jeweiligen Anordnung, die Komposition, der ›Bau‹ eines Werkes, nicht aber die retrospektiv erschlossene Idee. Beziehen wir dies auf das Bild von Paul Klee bedeutet das: In der Tat läßt sich hier auch ein Schachbrett erkennen. Doch die besondere Expressivität, die zu beachten wir in den zitierten Zeugnissen namhafter Künstler aufgefordert wurden, wird damit gerade nicht erfaßt. Verloren geht dabei auch die spezifische Herausforderung künstlerischen Arbeitens, denn die Expressivität des Kunstwerkes ist als ein Anspruch zu formulieren, den die Darstellung auch verfehlen kann. Den zitierten Künstlern ist es selbstverständlich, daß ein Werk auch scheitern kann. Dabei ist für unseren Zusammenhang zunächst wichtig zu fragen, in welchem Feld dieses Gelingen / Scheitern formuliert wird. II. Ludwig Wittgenstein stellt diese Frage in seinen Vorlesungen zur Ästhetik so: Worauf beziehen wir uns, wenn wir über Kunstwerke sprechen? Zunächst stellt er fest, daß wir in ästhetischen Urteilen kaum typisch ästhetische Prädikate wie etwa ›schön‹ verwenden. Vielmehr machen wir auf Elemente und Zusammenhänge des Werkes aufmerksam. Dabei scheinen wir zwar Regeln anzuwenden, die sich auch ausbilden und erlernen, nicht aber begriff lich formulieren lassen. Offensichtlich gibt es keine objektiven Gesetze, die uns sagen, was schön ist und damit auch keine Wissenschaft der Ästhetik. Andererseits unterscheidet Wittgenstein ästhetische Urteile und persönliche Vorlieben. Das Problem des ästhetischen Ausdrucks kann nach Wittgenstein weder eine wissenschaftliche Kausalerklärung, noch eine psychologische Erklärung fassen. In der Kunstbetrachtung geht es auch nicht nur um die unmittelbare Wirkung, die der Gegenstand in uns hervorruft. Würde man Kunstwerke genießen, nur um einen bestimmten Effekt zu erzielen, dann könnten wir sagen: »Dieses Bild ist so gut wie das andere, es erzeugt in mir die gleichen Assoziationen«9. Man liest aber z.B. Gedichte offensichtlich nicht nur, um bestimmte Assoziationen zu bekommen. Zwar stellt Wittgenstein fest, daß Assoziationen bei der Betrachtung von Kunstwerken auch eine enorme Rolle spielen, er wirft dann jedoch die Frage auf: »Ist das alles, was zählt? Wir könnten alle diese Assoziationen auch bei einem anderen Bild haben und dennoch dieses Bild betrachten wollen.«10 Das bedeutet, »daß der wichtigste Eindruck der visuelle Eindruck ist. Ja, aber anscheinend spielt das Bild die wichtigste Rolle. Assoziationen können sich ändern, Einstellungen können sich änLudwig Wittgenstein: Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychoanalyse und religiösen Glauben. Düsseldorf / Bonn 1996. S..52. 10 Ebd. S..55. 9

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dern, aber ändere das Bild nur ein klein wenig, und du möchtest es dir nicht mehr ansehen«.11 Nach Wittgenstein formieren sich die traditionellen Lösungen zu diesem Problem als Alternative: Ästhetische Urteile beziehen sich auf die Darstellungsmittel, die Farben und Formen, oder sie sprechen über den narrativen Rahmen, in den das Bild gesetzt werden kann, über die Assoziationen. Wittgenstein markiert mit dieser Alternative keine möglichen Lösungsrepertoires, sondern kennzeichnet die eigentliche Problemstellung. Eine reduktionistische Lösung verstellt seiner Ansicht nach den Zugang zu dem Phänomen ästhetischen Ausdrucks12. Jede Entscheidung zugunsten einer Seite resultiert nur aus einer ›Sucht nach Einfachheit‹. Werden nun in der ästhetischen Kommunikation historische und biographische Bezüge hergestellt oder bezieht sich die ästhetische Kommunikation auf die sinnliche Markanz der Betrachtung selbst, die wiederum auf die bildnerischen Mittel gerichtet ist? Das Problem künstlerischer Expressivität wirft also die Frage nach der Referenz ästhetischer Kommunikation auf. Dieser von Wittgenstein gekennzeichneten Herausforderung einer nicht-reduktionistischen Bestimmung von Kunst stellen sich insbesondere zwei Theorien in der Gegenwart: Sowohl A. Danto als auch R. Wollheim beabsichtigen, Kunstwerke weder vollständig auf Wahrnehmungsqualitäten zu reduzieren, noch ihren Ausdruck als gedanklichen Gehalt von der Vorlage zu isolieren. Arthur Danto will einen Kunstbegriff entwickeln, der auch dem Phänomen ›ready made‹ gerecht wird. Der Fall zweier ununterscheidbarer Gegenstände, wovon aber nur einer als Kunstwerk gilt, kann nun gerade nicht im Verweis auf Wahrnehmungsqualitäten entschieden werden. Daraus zieht Danto die Konsequenz, daß, »was auch immer Kunst von Realität unterscheidet, nicht etwas sein wird, das dem Auge offenkundig ist«13. An einem Gegenstand der Kunstbetrachtung müssen daher zwei Momente differenziert werden: das materielle Ding, bzw. die Darstellung einerseits und der Akt der Interpretation. Dabei wirkt die Interpretation wie eine »Funktion, die das materielle Objekt in ein Kunstwerk verwandelt«14. In der Interpretation erschließt sich dem Betrachter der Ausdruck der Darstellung. Dieser Ausdruck wird von einem Kunstwerk nicht unmittelbar dargestellt, sondern mit dem Werk stellt der Künstler eine Metapher auf. Der Ausdruck teilt sich dem Interpreten dabei in einer Art Imperativ mit: Die Darstellung fordert von dem Betrachter, x gemäß den Attributen von y zu sehen. Damit der Rezipient diese Metapher erfassen kann, muß er offensichtlich über Kenntnisse verfügen, die es ihm ermöglichen, die

Ebd. Sie hat nach Wittgenstein psychologische, nicht sachliche Gründe: »Wenn eine Erklärung kompliziert ist, ist sie unangenehm«. 13 Arthur Danto: The State of the Art. New York 1987. p. 9. 14 Arthur Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Frankfurt a.M. 1984. S..192. 11 12

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Bedeutung der dargestellten Attribute, Symbole und Gegenstände zu erfassen. Von anderen Informationsträgern, die in ihrer Individualität austauschbar sind, differenziert Danto das Kunstwerk durch den Begriff des Stils: Die spezifische Darstellungsweise macht den Stil eines Werkes aus. Dabei meint der Stil einer Darstellung jedoch keine sichtbare Prägung des Kunstwerkes, sondern der Stil ergibt sich allein aus der faktischen Kausalbeziehung zwischen der Darstellung und dem Künstler, der sie hervorbringt oder auswählt. Entscheidend für den Stilgehalt einer Darstellung sind damit die Umstände ihrer Entstehung, das Bewußtsein und die Absicht des Künstlers. Das Wissen über die tatsächliche Verbindung zwischen Werk und Künstler, sichert einem Betrachter die Wahrheit des Kunstwerkes im Sinne der Wahrheit der Interpretation. Einen vorliegenden Gegenstand als metaphorisch verklärtes Kunstwerk zu verstehen, kann daher in Dantos Ansatz in Folge seines Ausgangsproblems nicht von den individuellen, sinnlichen Eigenschaften des jeweiligen Gegenstandes abhängen. Seine Konzeptionen der Metapher und des Stils stellen zwar ein Instrumentarium zur Identifikation und Interpretation von Gegenständen als Kunstwerken bereit. Dabei werden aber ausschließlich Kenntnisse über die Produktion und die begriff liche Bedeutung des Dargestellten erfordert. Kognitive Zusammenhänge eröffnen die Möglichkeit einer Interpretation des Gegenstandes und verleihen dadurch dem Kunstwerk Expressivität. Was das Kunstwerk exprimiert, beschränkt sich nach Danto auf die von einem Künstler hergestellten Zusammenhänge, die nur ein informierter Betrachter mit der Darstellung in Verbindung bringen kann. Richard Wollheim versucht ebenfalls eine Definition des Kunstbegriffes zu entwickeln, die eine Identifikation und Klassifikation von Kunstwerken erlaubt, ohne die künstlerische Darstellung dabei in ein anderes, kunstfremdes Phänomen aufzulösen. Kunst ist, was intentional als Kunstwerk hergestellt wurde. Ein Kunstwerk als Kunstwerk zu sehen besteht daher in der Suche nach der Intention des Werkes. Diese stellt für Wollheim einen Akt der Wiedergewinnung im Sinne einer Rekonstruktion des schöpferischen Prozesses dar. Das Kunstwerk wird darin nicht bloß erklärt, sondern aufmerksam in allen Einzelheiten wahrgenommen. Diese Beschäftigung kann in intransitiven Begriffen, die also ›etwas betonen und die Aufmerksamkeit darauf lenken‹, artikuliert werden. Damit soll auch der Präsentationsmodus der Intention in den Blick kommen. Die spezifische Weise, in der Kunstwerke ihren Ausdruck vermitteln, kennzeichnet Wollheim nun als ikonisch. Die Ikonizität erschließt sich dem Betrachter nur im Vergleich zwischen den Darstellungsmitteln mit dem darin repräsentierten Gehalt. Doch auch die Wahl der Ausdrucksmittel steht bei jeder Kunstproduktion in einem gesellschaftlichen Kontext. So »kann künstlerische Kreativität nur insofern vorkommen […], als bestimmte Prozesse oder Materialien bereits als Ausdrucksmittel der Kunst beglaubigt sind«15. Ein Kunstwerk wird daher nur dann von einem Betrachter richtig interpretiert, wenn er das Dargestellte sowohl in 15

Richard Wollheim: Objekte der Kunst. Frankfurt a.M. 1982. S..106.

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seinem institutionellen Kontext mit anderen Werken als auch unter der Kenntnis der Intention des Künstlers betrachtet. Ohne ein Hintergrundwissen über die Möglichkeiten bzw. verfügbaren Zeichenmittel, über die Intention des Autors, die historischen und sozialen Aspekte, zeigt das Kunstwerk seine eigentliche Qualität nicht. Künstlerische Expressivität bestimmt Wollheim also nach Analogie des sprachlichen Ausdrucks. Mittels institutioneller und biographischer Hintergrundinformationen wird die Darstellung als ein Zeichen dieser Sinngehalte verstanden. Die Ansätze von Danto und Wollheim operieren beide auf folgender Basis: Ein Kunstwerk muß unter Voraussetzung bestimmter Bedeutungsrepertoires interpretiert und als Repräsentation dieser Repertoires verstanden werden. Die anschauliche Qualität der Darstellung ist dabei für die künstlerische Expressivität nicht konstitutiv. Die Besonderheit der Darstellung manifestiert sich darin, in der Kunst bestimmte Ausdrucksformen – die ikonische, symbolische oder metaphorische – bevorzugt zu verwenden. Die Qualifikation eines Zeichens als metaphorisch oder symbolisch vollzieht sich dabei keineswegs werkimmanent, – man muß dazu den Kunstgegenstand nicht anschauen – sondern die Darstellung nur im Verhältnis zu der Intention des Künstlers betrachten. Diese Ansätze fassen den künstlerischen Ausdruck also durchweg nach dem Paradigma sprachlichen Sinnverstehens. Daß ein sprachliches Zeichen etwas ausdrückt, hat seinen Grund nicht in der materiellen – lautlichen oder visuellen Natur des Zeichens selbst, sondern hängt ausschließlich von der Kenntnis des Ausdrucksverhältnisses, von der gedachten Verbindung zwischen einem möglichen Sinn und dem Zeichen ab. Die sinnlich anschauliche Markanz des Zeichens, bzw. des Kunstwerks selbst wird dabei ausgeblendet. Wenn sprachliches Ausdrucksverstehen das kritische Instrumentarium bildet, mit dem die Expressivität von Kunst untersucht wird, ist der künstlerische Ausdruck jedoch von vornherein auf Sinnverstehen festgelegt. Der Repräsentationalismus, in den diese Ansätze münden, zeigt sich so als Konsequenz ihres methodischen Inputs und setzt sich somit einem Zirkelverdacht aus. Unter dieser methodischen Perspektive wird die Fragestellung Wittgensteins, die die Eigenart künstlerischer Darstellung von solcher Subsumtion des Kunstwerkes unter einen Sinn oder unter kausale Determinanten zu differenzieren versuchte, wieder verschüttet. Zeigt sich in der Untersuchung, daß ästhetische Kommunikation wie Wittgenstein bemerkte, eher den Charakter von Hinweisen und Aufforderungen hat, schließt sich die Frage an: Worauf? Diese Frage wird nur dann sinnvoll gestellt, wenn sie die Möglichkeit offen läßt, daß ästhetische Urteile auf einen besonderen Ausdruck referieren. Mit diesem besonderen Ausdruck ist die ästhetische Valenz einer Darstellung gekennzeichnet. Die Zeichenhaftigkeit von künstlerischen Darstellungen muß also zunächst zur Disposition gestellt werden.

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III. Kant entwickelt in seiner kritischen Analyse ästhetischer Urteile vier Thesen über die Referenz dieser Urteile. Erstens: In der ästhetischen Kommunikation werden nur scheinbar Aussagen über Gegenstände getroffen. Das Urteil bezieht sich nicht auf objektive Eigenschaften des Gegenstandes. Man urteilt ›ohne Begriff‹. Die Bedingungen der Prädikation ästhetischer Begriffe liegen also nicht offen und können auch nicht als Regel expliziert werden. Zweitens: Ästhetische Urteile bringen keine private Befindlichkeit zum Ausdruck. Sie formulieren ›kein Interesse‹. Daher bezeichnen sie nicht den unmittelbaren Effekt, den eine Darstellung im Betrachter auslöst. Drittens: Ästhetische Urteile beinhalten die Überzeugung, daß alle anderen notwendig auch jeweils so urteilen würden. Ästhetische Urteile beanspruchen daher subjektive Allgemeingültigkeit. Trotz der objektiven Gesetzlosigkeit, die der ästhetischen Kommunikation zugrundeliegt, meinen wir also dennoch, nach allgemeinen Gesichtspunkten verfahren zu sein. Viertens: Ästhetische Urteile schreiben dem Gegenstand eine ›Form der Zweckmäßigkeit‹ zu, ohne daß jedoch ein Zweck als Beurteilungskriterium benannt werden könnte. Sie referieren daher auf eine »Zweckmäßigkeit ohne Zweck«. Diese rätselhafte Formulierung verlangt weitere Überlegung. In diesem Theorieteil, in dem Kant die spezifische Referenz ästhetischer Urteile faßt, liegt die Kantische Explikation der Grundproblematik ästhetischer Expressivität. Diese vier Thesen entwickelt Kant in einer transzendentalen Untersuchung der Pragmatik ästhetischen Urteilens. Diese ergibt sich aus dem Zusammenwirken zweier Momente: Der individuellen Komposition von Farben und Formen eines Sujets einerseits – Kant bezeichnet diese mit dem Terminus der »gegebenen Form« und andererseits der aktiven Interpretationshandlung, die der Betrachter vollziehen muß, wenn er die ästhetische Valenz der Vorlage erfassen will. Diese aktive Interpretationshandlung ist nach Kant eine Ref lexion und bezeichnet die ästhetische Betrachtung selbst. Damit wird nun die Pragmatik des ästhetischen Urteilens im engeren Sinne bezeichnet. Kant benennt sie mit dem Begriff des »Spiels der Vermögen«. Damit sind zwei Ebenen streng und trennscharf unterschieden: Die Vorlage ästhetischer Betrachtung, das Sujet, wie wir es wahrnehmen, und die ästhetische Reflexion. Die Vorlage für sich genommen ist nach Kant von sich her noch nicht schön, bzw. ästhetisch valent. Sie ist vielmehr das, was wir sehen, wenn wir einen Gegenstand als sinnliche Präsenz wahrnehmen. Kantisch gesprochen kennzeichnet dies den Präsentationsmodus, »wodurch der Gegenstand gegeben (nicht wodurch er gedacht) wird«. Diese Präsenz ist Form, insofern sie in einer bestimmten Anordnung von Farben (oder Tönen) in räumlichen bzw. zeitlichen Verhältnissen besteht. Daß Kant Farb- und Klangqualitäten für die Kunstbetrachtung für belanglos gehalten haben soll, beruht auf einem Mißverständnis dieses Begriffes der Form. Sie wird dabei irrtümlich als abstrakte, mathematische Gestalt, als bloße Umrißzeichnung verstanden. Wenn Kant aber die Form des Sujets als ästhetisch konstitutiv bezeichnet, meint dies, daß die individuelle Strukturiertheit des sinnlichen Materials – der Farben oder

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Töne – die Vorlage ästhetischer Betrachtung ist. Kant legt damit den Bezugspunkt der Betrachtung selbst auf die anschauliche Qualität einer Darstellung fest. Er betont, daß weder deren Sinngehalt noch ihr unmittelbarer Effekt auf den Betrachter ästhetisch ref lektiert werden können, weil darin jeweils die Individualität der Darstellung abgeblendet wird: Um zu wissen, was ein Bild darstellt, müssen in ihm allgemeine Strukturen, ein Schema, identifizierbar sein. Diese Schematisierung bringt die kognitive Form des Gesehenen hervor. Dadurch kann man die individuelle Darstellung unter einen Begriff subsumieren, sie gilt dann als Repräsentation dieses Begriffs. Beispielsweise stellt dieses Bild ein Schachbrett dar. Aber nicht jeder Darstellung eines Schachbrettes würde man schon auf Grund der Thematik ästhetische Valenz zuschreiben. Die ästhetische Valenz hängt auch nicht davon ab, ob der Betrachter dem Schachspiel im Allgemeinen etwas abgewinnen kann oder vielleicht eine Aversion gegen Brettspiele hat. Aus dem Ausschluß bedeutungs- und effektgerichteter Momente einer Darstellung kann auch ein Potential zur Kritik gewonnen werden: Funktional konzipierte Darstellungen können damit als bloße Visualisierungen von Ideologien und Wünschen decouvriert werden. Um ästhetisch zu urteilen, muß man sich statt dessen auf diese bestimmte Darstellung selbst beziehen, auf das, was man vor Augen hat. Die individuelle Darstellung ist dem Betrachter aber nur im Modus der Anschauung verfügbar. Die ästhetische Interpretation macht nun die Pragmatik ästhetischen Urteilens im engeren Sinne aus. Sie beschreibt Kant als ein Zusammenspiel von zwei Momenten: von Einbildungskraft und Verstand. Darin soll das Sujet nicht auf allgemeine kognitive Strukturen hin untersucht werden, sondern die Darstellung in freier Betrachtung wahrgenommen und ref lektiert werden. An einer bildnerischen Darstellung werden Farben und Formen in Bezug gesetzt und in der Betrachtung selbst Verhältnisse zwischen den raum-zeitlich geordneten Farbeindrücken des Sujets gebildet. Diese werden nicht auf einen möglichen Gehalt hin bezogen, sondern die Vorlage wird in dieser relationalen Verhältnisbildung in ein System interner Differenzen übersetzt: Einem – für sich genommen – unmittelbaren Farbeindruck wird in dieser Verhältnissetzung zu einem ihm differenten, bzw. zu einem Vorgänger oder Nachfolger, ein Wert gegeben. Dieser ist ein bestimmter Wert im Gegensatz zur unbestimmten Qualität eines unmittelbaren Farbeindrucks, aber auch qualitativer Wert im Unterschied zu einer Klassifizierung nach Begriffen. Diese qualitativen Werte werden an einer Vorlage also nicht unmittelbar wahrgenommen, sie drängen sich dem Betrachter nicht auf, sondern setzen den Vollzug aktiver Betrachtung voraus. Andererseits sind diese Werte sinnliche Qualitäten, die als solche nur empfunden werden können, denn die Verhältnisse müssen herausgesehen, bzw. -gehört werden und sind deshalb nicht begriff lich beschreibbar. Ästhetische Werte sind daher, so könnte man mit Ferdinand de Saussure in Analogie zu seiner Theorie der Sprache sagen, etwas »vollständig Relatives«16. Sie sind also 16

Ferdinand de Saussure: Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin 1967. S..135.

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nicht abzubildende Eigenschaften der Vorlage, sondern ergeben sich immer nur in jeweils zu vollziehender und nacheinander zu erfolgender Verhältnissetzung. Damit ist unsere Art der Wahrnehmung für die Herstellung dieser Werte konstitutiv: Sie setzen einen Vollzug in der Zeit voraus und sind daher sukzessiv strukturiert. Was Kant als ›freie Einbildung‹ beschreibt, meint eben diese relationale Bildung sinnlicher, d.h. ästhetischer Werte. Diese ästhetischen Werte können nun fixiert und so aus dem zeitlichen Zusammenhang des Wahrnehmungsvollzugs gehoben werden. Die Fixierung ist zwar ein operativer Beitrag des Begriffsvermögens, sie führt aber nicht zur begriff lichen Bestimmung des Sujets – sondern kann und muß jederzeit wieder aufgehoben werden. Ein Quadrat als Fläche zu sehen, erzeugt einen anderen ästhetischen Wert als die Aufmerksamkeit auf seine Begrenzung als Linie zu richten. Eine schwarze Figur im Verhältnis zu einem grauen Grund, erhält einen anderen Wert als in Bezug zu weißem Grund. Die ästhetischen Werte stehen in der Betrachtung selbst in einem Kontinuum. Um dieses Kontinuum ästhetischer Werte in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen, ist es erforderlich, gewisse allgemeine Strukturen der Betrachtung selbst zu benennen. Diese Strukturen werden von anderen Wahrnehmungen oder Sachverhalten entlehnt. Wenn die Formenbewegung der Verhältnisbildung und ihre Fixierung so in ein sinnvolles Ganzes gesetzt werden können, ist das, was das Kontinuum vermittelst allgemeiner Strukturen benennt, ein Symbol. Symbolisiert wird im Symbol nicht ein Gegenstand der Betrachtung, sondern die Struktur der Betrachtung selbst. Die Symbole stehen immer im Kontext ästhetischer Interpretationshandlung und haben nur dann eine Bedeutung, wenn die Vorlage tatsächlich ästhetisch betrachtet wird. Ohne den faktischen Vollzug dieser Betrachtung, sagen diese Begriffe nichts, bleiben sie ohne Referenz. Damit ist jede intellektuelle Zurichtung des Symbolbegriffes ausgeschlossen. Diesem Punkt wird m. E. nicht nur in der Rekonstruktion des Kantischen Ansatzes, sondern auch in den bisherigen Ansätzen zu wenig Beachtung geschenkt. So sind Symbole in diesem Sinne keine feststehenden, historisch bedingten Assoziationen, wie z. B. des Totenkopfes mit der Vanitas. Sie sind keine Metaphern, die intellektuell decodiert werden müssen, sondern bezeichnen eine werkimmanente Bedeutung, die sich in der Betrachtung selbst zwischen dem Kontinuum der ästhetischen Werte und der Übertragung allgemeiner Strukturen herstellen läßt. So kann die Betrachtung einer gezeichneten S-Form durch den Begriff der Bewegung symbolisiert werden: In der Ref lexion auf den Vollzug der Betrachtung, auf das Abtasten dieser Form mit dem Blick, kann die allgemeine Struktur des empirischen Bewegungsablaufes übertragen werden: Anfang und Endpunkt der Wahrnehmung liegen an verschiedenen Orten. Weder ist nun die gezeichnete S-Form selbst bewegt, noch wird sie unter dem Begriff der »Bewegung« verstanden. Ihre intellektuelle Decodierung würde dazu führen, daß diese Figur S als Darstellung des Buchstabens ›S‹ identifiziert wird. Der Begriff der Bewegung bezieht sich also nicht

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auf die wahrgenommene Gestalt der S-Form selbst, sondern beschreibt nur den Vollzug der Wahrnehmung, wenn er in der Ref lexion bewußt wird, bezieht sich also auf unser Sehen dieser Form. Diese Fixierung und Übertragung allgemeiner Strukturen sind Funktionen, die Kant in der ästhetischen Ref lexion der Intellektualität zuweist: Der Verstand ist darin als ›Vermögen der Begriffe, wenn auch nicht der Erkenntnis‹ beteiligt. Man wird einwenden, daß wir aber immer schon auf einen möglichen Sinn hin sehen und unsere Wahrnehmung dadurch prädeterminiert ist. Dies illustriert jedoch nur, daß wir uns gewöhnlich in der erkennenden Intention befinden. In der ästhetischen Ref lexion wird diese Intention aufgebrochen. Der Sinn, der in der intellektuellen Beschäftigung jedem Verstehen vorhergeht, ist in der ästhetischen Betrachtung ein Produkt der Ref lexion: »Was Ursprung scheint, der Sinn, ist Resultat«.17 Dieser Sinn kann variieren, wenn sich die sehende Bezugnahme auf das Sujet, etwa veranlaßt durch die ästhetische Kommunikation, ändert. So entstehen in der Betrachtung möglicherweise andere ästhetische Effekte, die dann zu anderen symbolischen Verbindungen führen. In der freien Kombinatorik der Wahrnehmung bauen sich einerseits immer komplexere Einheiten auf. Zwischen diesen kann andererseits, wenn sie vermittelst symbolischer Anwendung einer Gesetzmäßigkeit des Verstandes aufeinander beziehbar sind, eine Vernetzung aufgebaut werden, die sie in immer allgemeinere Einheiten zusammenfaßt. Unabschließbare Kombinationen qualitativer Art können so in wechselseitigem Rückbezug von internen Differenzen und allgemeinen Strukturen entstehen. In der Realisierung dieser Möglichkeit liegt die ästhetische Valenz einer Vorlage: Die Darstellung ist zweckmäßig für eine freie, weil nur werkimmanent gebundene, Beschäftigung in der Betrachtung. Ihre Form, bzw. farbliche Komposition ist geeignet, um daran in Vollzug aktiver Rezeption eine ästhetische Bedeutung herzustellen. Diese ist kein externer gedanklicher Sinn, sondern eine bildimmanente Realität. Die transzendentale Untersuchung Kants setzt den Gegenstand der Erklärung, daß ein Objekt ein Kunstwerk ist, und seine besondere Relation zum Betrachter, den ästhetischen Ausdruck, nicht voraus und beschreibt dieses Verhältnis dann mittels eines Erklärungsmodells. Die kritische Analyse legt vielmehr die latenten Strukturen frei, die in Anspruch genommen werden müssen, wenn ein Gegenstand zu einem Zeichen einer ästhetischen Bedeutung qualifiziert werden soll. Damit versteht sich die Kantische Theorie gerade nicht als Beobachtung faktischer mentaler Operationen oder empirischer Fähigkeiten. Sie beansprucht vielmehr, in einem Selbstbezug des Denkens, d..i. in der Ref lexion, die Bedingungen einer ästhetischen Ausdrucksrelation offenzulegen. Diese Bedingungen haben dann nicht den Status von empirischen Faktoren einer bestehenden Relation, sondern müssen als die jeder Faktizität zugrundeliegenden, notwendig anzunehmenden Denkvoraussetzungen

17

Vgl. Hugo Friedrich: Die Struktur moderner Lyrik. Hamburg 1988. S. 51.

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verstanden werden. Unter diesen soll eine solche Relation und deren Relata überhaupt erst konstituiert werden können. Dies gibt Gelegenheit, auf ein weit verbreitetes Mißverständnis hinzuweisen, demzufolge transzendentale Erklärungen mit einem psychologischen Verständnis gelesen werden. Aus der sachlichen Intention der Untersuchung heraus muß ein solches Verständnis jedoch in Frage gestellt werden. Transzendentale Bedingungen werden nicht im analytischen Rückschluß gewonnen und basieren auf psychologischen Hypothesen oder münden in ein metaphysisches Modell. Von solchen Erklärungen sagt Kant wie später Wittgenstein, daß es mit ihnen »sehr kümmerlich« bestellt sei, »daß sie ohne Ende hypothetisch sind […]«18, weil sie, so könnte man es anders formulieren, beanspruchen, etwas zu beobachten, was sie zugleich als nichtbeobachtbar qualifizieren. Demgegenüber führt Kant seine Untersuchung zunächst unter der Hypothese durch: ›Wenn es ästhetische Urteile als eigenständige Urteile geben soll‹. Es bleibt zunächst offen, ob der ästhetische Ausdruck darin nur als logische Möglichkeit nachgewiesen wird, oder – wie Cézanne und Mondrian fordern: ob er auch eine ›Realität‹ sei. Die Realität ästhetischen Ausdrucks hängt davon ab, ob die transzendentalen Erklärungsgründe ihren Gegenstand auch tatsächlich, d. i. in der Anschauung herstellen können. Denn ohne die Versinnlichung in der Konstruktion bleiben Erklärungen ›immer nur ein Gedanke, von dem nicht erwiesen ist, ob er nicht letztlich leer bleibt‹. IV. Betrachtet man vor diesem Hintergrund nun die Darstellung von Klee – nicht nach Maßgabe ihres repräsentationalen Gehaltes, ihrem möglichen gedanklichen Sinn, und richtet die Aufmerksamkeit auf die bildnerischen Mittel selbst, so läßt sich folgende Anleitung für die ästhetische Kontemplation andeuten: Die Strukturierung der Reihen ergibt sich aus den unterschiedlichen Farbwerten der Einheiten. Diese nehmen, ins Verhältnis zueinander gesetzt, in ihrer Tonalität zu und erhalten dadurch jeweils ein unterschiedliches Gewicht. Werden die drei Werte verschiedenen Gewichtes wiederholt fortgesetzt, ergeben sie das Bild eines linearen Dreiertakts mit Betonung des dritten Elementes. Dies bringt einen ästhetischen Effekt hervor, der als Rhythmisierung beschrieben werden kann. Die Dreierfolge von Hell nach Dunkel setzt sich in jeder Reihe von oben links nach rechts fort und muß so gesehen werden, damit der Rhythmus beibehalten wird. Aus der schrittweisen Repetition des Dreiertaktes, aus dem Fortschreiten des Sehens von Hell zu Dunkel entsteht der Eindruck strukturierter Bewegung. Diese wird vorangetrieben durch von Reihe zu Reihe unregelmäßige und jeweils verschobene Grundf lächen der Strukturelemente. Diese Bewegung vollzieht sich auf dem festen Maß des Schachbrettrhythmus 1+2+1+2, ›Schach‹ – also ›Über Schach‹. 18

Immanuel Kant: Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, X. Hamburg 31977. S..47.

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Paul Klee, Überschach, 1937, Öl / Jute, 120 x 110 cm, Kunsthaus Zürich

Die beiden oberen und unteren Zeilen machen als ungestörte Abfolge der drei Grundelemente den Rahmen aus. Betrachtet man jeweils die erste und dritte horizontale Reihe des Bildes, erscheint zu der Progression von links nach rechts, die zweite, verschobene Zeile als Gegenbewegung. Das Abtasten der Vorlage mit dem Auge schreitet von Einheit zu Einheit fort, was durch den Wechsel der Tonalität markiert ist. Dieses Fortschreiten vollzieht sich im Maß der Zeiteinteilung: Progression ist Addition der Einheiten, wobei jeweils die vorangegangene Reihe das Maß für die Progression der folgenden Reihe stellt. Die Bewegung aber stellt erst der Betrachter in der sukzessiven Kontemplation der Reihen her. Bewegung ist also nie absolut gegeben, sondern entsteht immer nur relativ auf einen Wahrnehmenden hin und ist durch einen Bezugsrahmen bestimmt. Dieser Gedanke findet sich in der Darstellung ausgedrückt als Relationalität zwischen den Reihen, aus der erst Bewegtheit hervorgehen kann, aber auch darin, daß die ›gegebene Form‹ der Darstellung auf die zeitliche Apprehension des Betrachters hin entworfen wurde. Die Strukturelemente werden von Reihe zu Reihe zur Mitte hin größer. Die Höhe der Einheiten vergrößert sich bis zu den Mittelreihen, nimmt aber dann wieder nach unten ab – ebenso die Breite der Einheiten. Die Mittelreihen beinhalten im Vergleich zu den anderen Reihen teils sehr schmale Elemente. Werden in der selben Zeit größere Strecken wahrgenommen, entsteht durch die schrittweise Ver-

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größerung der Streckeneinheiten der Effekt der Geschwindigkeit. Diese nimmt bis zu den drei Mittelreihen zu. Deren Einheiten sind im Vergleich zu den anderen Reihen größer, doch die Reihen sind nicht mehr gegeneinander verschoben. Die schwarzen, den Takt betonenden Elemente sind in ihrer Breitung stark verringert. Diese Verringerung der Strecke bei gleicher Zeit vermindert die Geschwindigkeit, läßt die Bewegung verebben. Im Gleichmaß der Einheiten bleibt die Bewegung schließlich nahezu stehen. Der den Blick forttreibende Dreierrhythmus wird zudem durch die eingeordneten Figuren aufgehalten und unterbrochen. Daraus entsteht ein Eindruck, der sich als Ruhe beschreiben läßt: In den mittleren drei Reihen ziehen sich nicht nur horizontale Linien durch, sondern über drei Reihen auch vertikale Linien, woraus sich Flächigkeit eröffnet. In den letzten drei Reihen wird durch zunehmende Verschiebung zwischen den Flächen dagegen wieder Bewegung und Geschwindigkeit herstellbar. Liest man nun die Darstellung von den Ecken des Schachbrettes her, so zeigt sich, daß die Diagonalrichtung von links unten nach rechts oben bestimmend ist für die Bewegungsbahn. Als Progression mit zunehmenden Flächengrößen zur Mitte und abnehmenden nach oben, besonders betont durch die andersfarbigen Struktureinheiten, ergibt sich Räumlichkeit. Die Diagonale liegt gleichsam über der Rahmenbewegung der Mittelf läche. Durch ihren Bewegungscharakter und der Dehnung der Quadratf lächen in der Mitte, die progressive Zerrung, welche die Maße der Vierecke mehr und mehr auseinanderzieht, ergibt sich eine räumliche Wölbung. Richtet man dagegen die Aufmerksamkeit auf die lineare Deutung, aus der sich die Dreiteilung des Bildes in ein bewegtes oberes Drittel, ein f lächiges mittleres und ein bewegtes unteres ergibt, entsteht in den unteren Reihen durch die Zerrung der Kästchenhöhen der Eindruck von Räumlichkeit. In der ästhetischen Kontemplation und deren symbolischer Beschreibung wird deutlich, wieviel mehr als nur die Regelmäßigkeit des Schachbrettmusters aus der Darstellung des ›Überschach‹ herausgesehen werden kann. Bewegung, Geschwindigkeit und Ruhe, Zweidimensionalität und Raum werden allein in der Addition qualitativ verschiedener Einheiten zur Darstellung gebracht. Die ästhetischen Werte von Bewegung, Geschwindigkeit, Ruhe, Raum und Fläche lassen sich im aktiven Sehen, der ästhetischen Ref lexion, ohne Rekurs auf einen Kommentar herstellen.

Die Form der Farbe Zu einem Parergon in Kants »Kritik der Urteilskraft« Von Jens Schröter*

Das Schöne ist das Maß, das Symmetrische, das Begrenzte. Platon Reinheit aber ist auch Schönheit. Friedrich Hölderlin

Unvermutet erfahren Kants Ref lexionen über die Farbe in einer medientheoretischen Untersuchung kritische Beachtung: Aus medientheoretischer Sicht findet einerseits Zustimmung, daß Kant in seiner Kunsttheorie versuchte, »die Frequenztheorie von Licht und Ton, wie der große Mathematiker Euler sie aufgestellt hatte, ins Geschmacksurteil über das Schöne einzubeziehen.« Dieser Versuch gehörte noch einer Zeit an, in der »harte Wissenschaften, etwa Physik oder Astronomie, ihren akademischen Ort fraglos in philosophischen Fakultäten hatten«. Der Rückgriff auf die Frequenztheorie von Licht und Ton habe es Kant andererseits aber erspart, »wissenschaftliche Analysen von Wahrnehmungsprozessen zu berücksichtigen«. In »aller philosophischen Arroganz« beanspruche er, daß der Begriff der Apperzeption aus eigener Kraft die »Transformation« von etwas, das schon er »Daten« der Empfindung genannt habe, in strukturierte Objekte einer »inneren Vorstellung« leisten könne.1 In der Tat: Kant versucht, im Rahmen der Dritten Kritik und im engeren Kontext der Analytik des Schönen die Farbe nicht nur in ihrer reizvollen Wirkung, sondern auch im Blick auf die Erfahrung ihrer Schönheit in den Blick zu bringen und diese Erfahrung transzendental-philosophisch zu begründen. Er greift dazu auf die Wellentheorie des Lichts des Schweizer Mathematikers Leonhard Euler zurück, die sich in dessen »Nova theoria lucis et colorum« (1746) sowie – in populärer Fassung – in seinen »Lettres à une Princesse d’Allemagne« (1768) findet. Kant behandelt die Farbe im Kontext der Analytik des Schönen im Zusammenhang mit der Bestimmung des Geschmacksurteils seiner Relation nach, also hinsichtlich der Bestimmung einer »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« als formaler BeIch möchte Dr. Ursula Franke ausdrücklich danken, ohne deren konstruktive Kritik dieser Beitrag nicht zustandegekommen wäre. 1 Vgl. Friedrich Kittler: »Farben und./.oder Maschinen denken.« In: HyperKult. Geschichte, Theorie und Kontext digitaler Medien. Hrsg. von Martin Warnke, Wolfgang Coy und Georg-Christoph Tholen. Basel 1997. S..83-99, hier S..84. *

ZÄK Sonderheft · Jahrgang 2000 · © Felix Meiner Verlag 2000 · ISSN 1439-5886

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stimmung des schönen Objekts. Kant erläutert die Bestimmung der Zweckmäßigkeit der Form im Paragraph 14 der »Kritik der Urteilskraft« durch Beispiele. Bezeichnenderweise findet sich hier seine doppelsinnige Auffassung über den Reiz wie auch über die Schönheit, d..h. die Form der Farbe, die er im Hinblick auf die Beurteilung eines Objekts »seiner Form wegen« (41/225)2 als schön, wie sie aus seiner Theorie des ästhetischen Urteils folgt, erörtert. Den kunsttheoretischen Diskurs der Zeit3 aufnehmend, geht Kant im übrigen auf die Farbe im Zusammenhang mit der Zeichnung ein. Im Paragraph 14 heißt es zunächst »Eine bloße Farbe, z..B. die grüne eines Rasenplatzes, ein bloßer Ton (zum Unterschied vom Schalle und Geräusch), wie etwa der einer Violine, wird von den meisten an sich für schön erklärt; obzwar beide bloß die Materie der Vorstellungen, nämlich lediglich Empfindung, zum Grunde zu haben scheinen, und darum nur angenehm genannt zu werden verdienten. Allein man wird doch zugleich bemerken, daß die Empfindungen der Farbe sowohl als des Tons sich nur sofern für schön zu gelten berechtigt halten, als beide rein sind; welches eine Bestimmung ist, die schon die Form betrifft, und auch das einzige, was sich von diesen Vorstellungen mit Gewißheit allgemein mitteilen läßt« (39.f./224; Hvh. J.S.). Diese Textstelle berührt die Farbe (wie auch den Ton) unter verschiedenen Aspekten: ›Bloße‹ Farben gelten nicht als schön, sondern als angenehm, da ihnen Empfindungen, die Materie der Vorstellungen zugrunde liegen. Jedoch kann der Farbe auch ein Moment von Schönheit zukommen, dann nämlich wenn sie rein ist. Das Vorgehen Kants läuft auf eine – mit Derrida gesagt – »Ambivalenz der Farbe« hinaus, auf ihre Bewertung als Schönheit einerseits, als Anreiz andererseits, eine Ambivalenz, die Derrida den »parergonalen Doppelsinn« der Farbe nennt.4 Somit ist zu fragen, inwiefern auf der einen Seite Kant die bloße Farbe als angenehm einstuft und zum anderen, inwiefern der Farbe ein Moment von Schönheit zukommen kann, was an dieser Stelle Reinheit besagen soll und wie dieser Aspekt in den Rahmen der kantischen Philosophie einzuordnen ist. Der Kern dieser Problematik liegt beschlossen in der Relation der Zweckmäßigkeit ohne Zweck, mit der Kant den schönen Gegenstand im Kontext seiner Theorie des ästhetischen Urteils formal bestimmt. Zudem muß diese Problematik im erkenntnistheoretischen Kontext der »Kritik der reinen Vernunft« erörtert werden. Leitend ist also der Blick auf den transzendentalphilosophischen Ausgangspunkt, von dem aus die doppelte Perspektive sich ergibt, in der Kant in der »Kritik der Urteilskraft« auf die Farbe eingeht. 2 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Zitiert wird nach der Originalausgabe B von 1793 (erste Zahl). Die zweite Zahl gibt die entsprechende Seitenzahl in Band V der Akademieausgabe von Kants Werken an. 3 Schon Wilhelm Windelband (Kant: Akademie-Ausgabe, a.a.O. (Anm..2). S..513) hat betont, daß Kant »mit den Erscheinungen der schönen Literatur und mit den kunstkritischen Theorien seiner Zeit in einem ausserordentlich ausgedehnten Maasse [sic!] vertraut gewesen ist.«. 4 Vgl. Jacques Derrida: Die Wahrheit in der Malerei (1978). Übersetzt von Michael Wetzel und Dagmar Travner. Hrsg. v. Peter Engelmann. Wien 1992. S..98f.

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Der Kants Theorie kennzeichnende Doppelsinn der Farbe wird im folgenden daher im Zusammenhang der Theorie des ästhetischen Urteils erörtert (I-III). Dabei ist auch zu fragen, wie sich sein Ansatz von den eng miteinander verwandten Theorien der Farbe von Goethe und Hegel unterscheidet (IV). Abschließend wird dann die zuerst von Goethe sogenannte »sinnlich-sittliche« Wirkung der Farben in den Blick kommen (V). I. Kants Theorie des ästhetischen Urteils besagt, daß dieses Urteil von einer anderen Logik geprägt ist als ein Erkenntnisurteil, da sein »Bestimmungsgrund nicht anders als subjektiv« (4/203) zu denken ist.5 Das bedeutet, daß dieses Urteil, anders als ein objektives Erkenntnisurteil, notwendig und konstitutiv mit einem Gefühl der Lust, einem Wohlgefallen, d..h. mit einer Beziehung auf das urteilende Subjekt selbst, verbunden ist. Diese Abgrenzungsstrategie6 wirft sogleich die Frage auf, ob und wie das Urteil über das Schöne von anderen Urteilen, die Wohlgefallen mit sich führen, abgegrenzt werden kann. Kant postuliert zwei weitere Urteilsformen, die Wohlgefallen auslösen: Das Urteil über das Angenehme und das Urteil über das Gute. Um das ästhetische Urteil qualitativ von diesen beiden abzugrenzen, schlägt Kant vor, das ästhetische Urteil als interesselos zu denken, d..h. das Wohlgefallen an dem, für schön befundenen, Objekt hängt nicht an dessen Existenz. Das Urteil über das Angenehme – von Kant auch Sinnenurteil genannt – hat zur Folge, daß die Nähe des angenehmen Objekts weiter gewünscht und gesucht wird, d..h. es besteht ein Interesse an seiner Existenz und das Urteil über das Gute führt ein Interesse an der Realisation, der Existenz des für gut Befundenen bei sich. Demgegenüber »will man aber, wenn die Frage ist, ob etwas schön sei, nicht wissen ob uns oder irgend jemand, an der Existenz der Sache irgend etwas gelegen sei, oder auch nur gelegen sein könne; sondern, wie wir sie in der bloßen Betrachtung (Anschauung oder Reflexion) beurteilen« (5/204; Hvh. J.S.). Während das Urteil über das Gute zudem dadurch charakterisiert ist, daß ein Begriff des Gegenstandes (z.B. einer bestimmten Handlung) vonnöten ist, um ihn überhaupt als gut einstufen zu können (vgl. 21/213), ist das Urteil über das Schöne frei, d..h. »kein Interesse, weder das der Sinne noch das der Vernunft zwingt den Beifall ab« (15/210). Damit ist die Qualität des ästhetischen Urteils charakterisiert. Das Absehen von der Existenz des beurteilten Gegenstandes und die Auffassung des ästhetischen Urteils als Reflexions-Geschmack (22/214)7 wei-

Vgl. dazu und zum folgenden die Diskussion zwischen Jürgen Stolzenberg, Christel Fricke und Jens Kulenkampff in diesem Band. 6 »Abgrenzungsstrategie« soll das Verfahren bezeichnen, mit dem Kant die Eigenart des ästhetischen Urteils herausstellt. 7 Ich benutze im Folgenden die Ausdrücke »Reflexions-Geschmack«, »Urteil über das Schöne« und »Geschmacksurteil« synonym. 5

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sen bereits darauf hin, daß das Gefühl der Lust, das ein ästhetisches Urteil begleitet, nicht aus einem direkten Gegenstandsbezug resultiert. In den Paragraphen 6 bis 9 bestimmt Kant das ästhetische Urteil weiter seiner Quantität nach als ohne Begriff allgemein. Wenn im Urteil über das Angenehme »keiner dem anderen Einstimmung zu seinem Urteile zumutet, welches doch im Geschmacksurteil über das Schöne jederzeit geschieht« (ebd.), so läßt sich die allgemeine Zustimmung zu einem ästhetischen Urteil nicht argumentativ, d..h. unter Benutzung von Begriffen, erzwingen: »Wenn man Objekte bloß nach Begriffen beurteilt, so geht alle Vorstellung der Schönheit verloren. Also kann es auch keine Regel geben, nach der jemand genötigt werden sollte, etwas für schön anzuerkennen. Ob ein Kleid, ein Haus, eine Blume schön sei: dazu läßt man sich sein Urteil durch keine Gründe oder Grundsätze beschwatzen« (25/215.f.). Da kein Begriff des Gegenstandes im Spiel sein kann, da sonst der Beobachtung wie Menschen sich zur Erfahrung des Schönen verhalten8 – sie lassen sich nicht »beschwatzen« – widersprochen würde, muß der Allgemeinheitsanspruch, der das ästhetische Urteil vom Sinnenurteil trennt, anders als über benennbare – begriff lich fixierbare – Eigenschaften des Gegenstandes begründet werden. Die Erfahrung des Schönen – so argumentiert Kant – erzeugt in der bloßen Betrachtung (Anschauung oder Ref lexion) ein Wohlgefallen, das den Anspruch auf subjektive Allgemeingültigkeit erheben kann, ohne daß ein Begriff des Gegenstandes erfordert wird. Dabei resultiert das Wohlgefallen aus dem sogenannten »freien Spiele der Einbildungskraft und des Verstandes (sofern sie untereinander wie es zu einem Erkenntnisse überhaupt erforderlich ist, zusammenstimmen)« (29/218).9 Dieses Spiel bedeutet somit, daß nicht die, durch die Synthesis der Apprehension und Reproduktion der Einbildungskraft vorstrukturierten, Anschauungen unter die Kategorien der reinen Verstandesbegriffe subsumiert und damit als objektive Erkenntnis begriff lich fixiert werden, sondern daß das Zusammenspiel von Einbildungskraft und Verstand unabgeschlossen bleibt und zu keinem Begriff gelangt.10 Das Wohlgefallen ist »Lust an der Harmonie der Erkenntnisvermögen« (29/218). Käme der Prozeß zwischen Einbildungskraft und Verstand zu einem Abschluß, einem Begriff, wäre das »beseligende sich selbst Zuschauen des ›Anschauens‹ und ›Denkens‹«11 be-

Bemerkenswert ist, daß Kant seine Beispiele aus der Lebenswelt nimmt und sich auf das alltägliche Verhalten der Menschen bezieht, das er beobachtet. 9 Vgl. zu Kants Bestimmung einer »Erkenntnis überhaupt« Beate Bradl: »›Erkenntnis überhaupt‹ in empirischen Erkenntnisurteilen und reinen Geschmacksurteilen. Überlegungen zu §.21 der Kritik der Urteilskraft.« In: Proceedings of the Eighth International Kant Congress (Memphis 1995). Vol. II. Milwaukee 1995. S..481-488. Vgl. zur Problematik Jens Kulenkampff: Kants Logik des ästhetischen Urteils. 2. erw. Aufl. Frankfurt a.M. 1994. S..91-106. 10 Kant: Kritik der reinen Vernunft. §.10-14; vgl. Heinz Paetzold: Ästhetik des deutschen Idealismus. Zur Idee ästhetischer Rationalität bei Baumgarten, Kant, Schelling und Schopenhauer. Wiesbaden 1983. S..74.f. 11 So Heinz Paetzold: a.a.O. S..63. 8

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endet, was Kants Charakterisierung der Lust als eines auf Erhaltung dieses Zustands ausgerichteten Gefühls (vgl. 33/220)12 widerspräche. Dieses Gefühl13 kann sich im begriff lichen Denken gar nicht einstellen. Heinz Paetzold betont zu Recht, daß die Durchbrechung des Prozesses der objektiven Erkenntnis im ästhetischen Urteil »zwanglos die Übereinstimmung von Rezeptivität der Sinnlichkeit und Spontaneität des Verstandes herstellt« und insofern »eine Erkenntnis [verkörpert], die ohne Mühe und Zwang sich abspielt«.14 Dieser Aspekt, daß sich der Mensch im ästhetischen Urteil seiner eigenen Vermögen in Freiheit bewußt wird und daran Wohlgefallen empfindet, ist zentral. Da Kant nun annimmt, daß jedem Menschen eine gleichartige Struktur oder Anlage der Erkenntnisvermögen zukommt (31.f./219), muß jeder Mensch das freie Spiel der Erkenntniskräfte (zumindest prinzipiell) erfahren können. Dies bedeutet auch, daß das Wohlgefallen am Schönen obwohl kein abschließender Begriff (keine Regel) vorliegt, prinzipiell allgemein mitteilbar sein muß.15 Die Begriffslosigkeit des Ref lexions-Geschmacks ist indes nicht so zu verstehen, daß dieser nichts mit dem begriff lichen Erkenntnisvermögen, dem Verstand, zu tun hätte, denn dieser ist ja am ›freien Spiel‹ beteiligt. Genau an diesem Punkt muß jedoch weitergefragt werden: Wenn das Wohlgefallen aus einem selbstreferentiellen Prozeß der Erkenntnisvermögen resultiert, ist es nicht einsichtig, warum zu seiner Entstehung überhaupt noch ein Bezug auf ein als schön zu beurteilendes Objekt, dessen Vorstellung uns affizieren muß, vorausgesetzt wird: »[…] man kann a priori nicht bestimmen, welcher Gegenstand dem Geschmacke gemäß sein werde, oder nicht, man muß ihn versuchen« (XLVII/191). Irgendeine bestimmte Art von Gegenstandsbezug oder besser eine Art Charakteristik oder Struktur des vorgestellten Objekts muß demnach angenommen werden.16 Inwiefern kann aber ein Gegenstandsbezug hergestellt werden, wenn kein Begriff des Gegenstandes vorliegen darf?

Vgl. auch Kant: Kritik der Urteilskraft. §.12: »Wir weilen bei der Betrachtung des Schönen, weil diese Betrachtung sich selbst stärkt und reproduziert«. 13 Vgl. Heinz Paetzold: a.a.O. (Anm..10). S..60: »Das Subjekt erfährt bei der ästhetischen Reflexion eine Art ›Einstimmung‹ der Vorstellungskräfte: Das Subjekt vergewissert sich im Ästhetischen sowohl einer Angemessenheit der Erkenntniskräfte untereinander zu einer Erkenntnis überhaupt, als auch zu einer Angemessenheit der menschlichen Erkenntnisvermögen zu den ›Dingen‹ selbst. Die Erfahrung dieser doppelten Übereinstimmung löst im Subjekt ein motiviertes Wohlgefallen (Lustgefühl) aus.« 14 Ebd. S..63. 15 Vgl. Christel Fricke: Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils. Berlin./.New York 1990. S..45-48. Fricke weist daraufhin, daß sich das Geschmacksurteil nicht nur auf eine Aussage wie »Dies ist schön« reduzieren läßt, sondern auch die Aussage »Dies ist nicht schön« als »interesseloses Mißfallen« mit abdeckt, für die ebenfalls allgemeine Mittelbarkeit zu beanspruchen ist. Zur Divergenz in Geschmacksfragen vgl. auch S..177-182. 16 Zur Modalität des Geschmackurteils, seiner notwendigen Beziehung auf das Wohlgefallen, wie sie sich aus der Vorstellung des schönen Gegenstandes ergibt, vgl. Kant: Kritik der Urteilskraft, §.18-22. 12

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In den Paragraphen 10-17 entwickelt Kant sein Konzept des ästhetischen Urteils nach der Relation der Zwecke, die in Betracht kommen. Es gipfelt bekanntlich in dem Satz: »Schönheit ist Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie, ohne Vorstellung eines Zwecks an ihm wahrgenommen wird« (61/236). Kant bestimmt so die Rolle des Gegenstandes für den Ref lexions-Geschmack als eine für die Wahrnehmung gegebene formale Zweckmäßigkeit. Eine Zweckmäßigkeit ohne das Telos eines begrifflich fixierten Zwecks verträgt sich mit der Forderung Kants nach der Begriffslosigkeit des Urteils über das Schöne.17 Der Zweck, der »nach seinen transzendentalen Bestimmungen« der »Gegenstand eines Begriffs ist, sofern dieser als Ursache von jenem angesehen wird« (32/220), kann im ästhetischen Urteil keine Rolle spielen, wohingegen Zweckmäßigkeit ohne Zweck eine formale Bestimmung ist, die keinen bestimmten Begriff von dem, was erreicht werden soll, in sich schließt.18 Zu unterscheiden ist dabei die subjektive Zweckmäßigkeit, die sich auf das, sich selbst erhaltende, Wohlgefallen des Subjekts bezieht, von der bloßen Form der Zweckmäßigkeit für die Vorstellung, die sich auf die Struktur des beurteilten Objekts bezieht. Die Form der Zweckmäßigkeit, als innere Kausalität »der Vorstellung, wodurch uns ein Gegenstand gegeben wird«, affiziert die Erkenntnisvermögen Einbildungskraft und Verstand in der Weise, daß das ›freie Spiel‹ eintreten kann.19 Daraus resultiert jene, »auf der bloßen Form der subjektiven Zweckmäßigkeit einer Vorstellung« (37/222) beruhende kontemplative Lust, die frei von Reiz und Rührung ist und im ästhetischen Urteil ihren Ausdruck findet: »Ein Geschmacksurteil, auf welches Reiz und Rührung keinen Einf luß haben (ob sie sich gleich mit dem Wohlgefallen am Schönen verbinden lassen), welches also bloß die Zweckmäßigkeit der Form zum Bestimmungsgrunde hat, ist ein reines Geschmacksurteil« (38/223). Bevor nun auf dem dargelegten Hintergrund auf die Problematik der Schönheit der Farbe näher eingegangen werden kann, ist die Perspektive noch darzulegen, unter der Kant die Farbe als Reiz, als »Materie der Vorstellungen« auffaßt.

Zur Problematik des Gegenstandsbezuges im Urteil über das Schöne vgl. Jens Kulenkampff: a.a.O. (Anm..9). S..140-144. 18 Diese Bestimmung verweist auch auf die kantische Verbindung zwischen Naturerkenntnis (teleologische Urteilskraft) und Erkenntnis des Schönen und Erhabenen (ästhetische Urteilskraft). Wie man von Naturphänomenen sprechen kann, als ob sie auf einen Zweck ausgerichtet wären, d..h. ihre innere Zweckmäßigkeit beurteilen kann ohne zu wissen, worauf diese letztlich zielt, so beruht das Kunstschöne auf einer inneren Zweckmäßigkeit seiner Form ohne begrifflich fixierbaren Zweck, die ästhetisch ist. Dazu Jens Kulenkampff: a.a.O. (Anm..9), S..127-131. Vgl. auch Kulenkampffs Beitrag in diesem Band. 19 Jens Kulenkampff: a.a.O. (Anm..9) weist darauf hin, daß es »Zweckmäßigkeit ohne allen Zweck […] nicht geben« kann (S..130). Er zeigt, daß es gerade die Unbestimmtheit des Zwecks ist (und nicht seine völlige Absenz), die uns auffordert, eben diesen Zweck näher zu bestimmen und so das ›freie Spiel‹ als tastende und unabschließbare Suche anstößt. Vgl. auch Heinz Paetzold: a.a.O. (Anm..10). S..63: »Indem ästhetische Rationalität auf keinerlei Zwecke außerhalb ihrer bezogen ist, sondern den Zweck vielmehr in sich trägt, tendiert sie dahin, sich immer wieder zu erneuern«. 17

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II. Kants Auffassung der Farbe als Reiz beruht auf dem erkenntniskritischen Konzept der »Kritik der reinen Vernunft«. Grob gesagt besteht Kants transzendental-philosophischer Ansatz ja darin, daß er versucht, zwischen dem Rationalismus und dem insbesondere hinsichtlich des Standpunktes von David Hume von ihm kritisierten Empirismus zu vermitteln. Kant wendet sich sowohl gegen die Rationalisten, die aus der rein begriff lichen Konstruktion ohne Rücksicht auf die Erfahrung Erkenntnis gewinnen wollen, als auch gegen Humes »übereilte« und »unrichtige« Folgerung, daß es keine Metaphysik gebe und auch keine geben könne.20 Kants Vorschlag geht daher dahin, sowohl eine Affizierung der menschlichen Sinne durch reale Objekte außer ihm, als auch die Strukturierung des Mannigfaltigen der Anschauung durch reine, vor aller Erfahrung gegebene Verstandesbegriffe anzunehmen. Erst die Formung des Anschauungs-Materials durch die Kategorien ermöglicht Erkenntnis. Metaphysik, »die als Wissenschaft wird auftreten können«, muß also die Prinzipien suchen, die vor aller Erfahrung, diese konstituierend, im Verstand aufzufinden sind, da Erfahrung immer ein Moment von Zufälligkeit und Beliebigkeit mit sich führt und aus der Empirie – wie Hume am Beispiel des Kausalitätsprinzips gezeigt hatte – keine Notwendigkeit ableitbar ist: »Es ist also nur auf eine einzige Art möglich, daß meine Anschauung vor der Wirklichkeit des Gegenstandes vorhergehe und als Erkenntnis a priori stattfinde, wenn sie nämlich nichts anderes enthält, als die Form der Sinnlichkeit, die in meinem Subjekt vor allen wirklichen Eindrücken vorhergeht, dadurch ich von Gegenständen affiziert werde. Denn daß Gegenstände der Sinne dieser Form der Sinnlichkeit gemäß allein angeschaut werden können, kann ich a priori wissen«.21 Als Formen der Sinnlichkeit a priori im Sinn der Formen unserer Anschauung bestimmt Kant im Kontext der transzendentalen Ästhetik der »Kritik der reinen Vernunft« Raum und Zeit. Die Farbe nun gehört unter erkenntnis-kritischem Gesichtspunkt zum »Erfahrungsbegriff des Körpers« von dem abgesehen werden muß, um zum Begriff des Körpers a priori zu gelangen: »Lasset von eurem Erfahrungsbegriffe eines Körpers alles, was daran empirisch ist, nach und nach weg: die Farbe, die Härte oder Weiche, die Schwere, selbst die Undurchdringlichkeit, so bleibt doch der Raum übrig, den er (welcher nun ganz verschwunden ist) einnahm, und den könnt ihr nicht weglassen.« 22 Farben sind, so gesehen, noch einmal anders gesagt, ebenso wie die Töne 20 Vgl. Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783). Akad.-Ausg. Bd. IV. Vorrede. S..258. 21 Ebd., §.9. 22 Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft. B 5.f; Hvh., J.S. Die Unterscheidung der ›bloß empirischen‹ Eigenschaften eines gegebenen Dinges, also die Unterscheidung zwischen den von John Locke sogenannten ›primären‹ und ›sekundären‹ Qualitäten, geht der Sache nach bis auf Descartes zurück, der in seiner Kritik perspektivistischer Theorien der Wahrnehmung (Kepler, Roger Bacon), für die die Farbe eine zentrale Rolle beim Erkennen der Welt spielte, konsequenterweise Eigen-

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Empfindungen und nicht Anschauungen und sie lassen »kein Objekt, am wenigsten a priori erkennen«, d..h. daß »Farben, Geschmack etc. mit Recht nicht als Beschaffenheiten der Dinge, sondern bloß als Veränderungen unseres Subjekts, die sogar bei verschiedenen Menschen verschieden sein können, betrachtet werden.«23 Kants erkenntnisleitendes Interesse in der »Kritik der reinen Vernunft« gilt auch für die neun Jahre später erschienene Dritte Kritik.24 Es ist nur konsequent, daß Kant seinen transzendental-philosophischen Ansatz auf die Theorie des ästhetischen Urteils appliziert hat, ohne daß man ihm deswegen vorhalten müßte, daß er der Doktrin entgegeneile.25 Berücksichtigt man nämlich, daß Raum und Zeit Formen der Anschauung sind, die aller Erfahrung vorausgehen, dann wird einsichtig, daß Kants Theorie des ästhetischen Urteils hinsichtlich der Zweckmäßigkeit ohne Zweck als ästhetische Form der Vorstellung, wodurch uns ein Gegenstand gegeben wird im Sinne einer »Theorie der Strukturierung von Raumverhältnissen und Zeitkontinua« konstruiert ist.26 Auf diesem Hintergrund kann die Strukturierung als Zeichnung in den bildenden Künsten sowohl als Akt der Produktion als auch als Konstitution am Gegenstand, d.h. als Organisation von Raumverhältnissen begriffen werden.27 Kant blickt nach Walter Biemel nicht nur vom Was des Objektes (Begriff, Zweck), sondern auch von seinem empirischen Wie (Farbe, Gewicht usw.) weg, um das »Wie des Erscheinens«28 im Sinne einer transzendentalen Anschauung vom Raum zu erfas-

schaften wie eben die Farbe zugunsten damals mathematisch operationalisierbarer Eigenschaften wie der Ausdehnung zurückweisen mußte. Vgl. Andreas Hüttemann: »Die Meditationen als Abhandlung über die Sinneswahrnehmung.« In: Descartes nachgedacht. Hg. von A. Kemmerling und H.P. Schütt. Frankfurt a.M. 1996. S..24-50. Für phänomenologisch orientierte Philosophien der Gegenwart ist dieser Gegensatz zwischen primären und sekundären Qualitäten nicht länger haltbar. Siehe dazu am Beispiel von Farbe und Zeichnung und in bezug auf Descartes die Anmerkungen von Maurice Merleau-Ponty: Das Auge und der Geist. Hamburg 1984. S..25. 23 Kant: Kritik der reinen Vernunft. B 44.f. 24 Vgl. Kant: Kritik der Urteilskraft, Vorrede zur 1. Aufl. (1790): »Eine Kritik der reinen Vernunft, d.i. unseres Vermögens nach Prinzipien a priori zu urteilen, würde unvollständig sein, wenn die der Urteilskraft, welche für sich als Erkenntnisvermögen darauf auch Anspruch macht, nicht als ein besonderer Teil derselben abgehandelt würde […]« (B VI; Hvh., J.S.) Man sieht diese problematische Applikation ja auch an den vier Momenten Quantität, Qualität, Relation und Modalität, die in den »Prolegomena« (vgl. § 21) die »Logische Tafel der Urteile« bilden und in der »Kritik der reinen Vernunft« (§ 10) das Gliederungsprinzip der »Tafel der Kategorien« ausmachen. Zur Problematik und Kritik der »Systematik der Analytik des Schönen«: Jens Kulenkampff: a.a.O. (Anm..9). S.23-28. 25 So Jacques Derrida: (a.a.O. (Anm..4). S..62 u. 91), der Kant diese Applikation vorwirft. Christel Fricke (a.a.O. (Anm..15). S..64-71), hat dargelegt, inwiefern Kants Auffassung der »ästhetischen Beurteilung des Gegenstandes als Synthesis« mit seiner »Bewußtseins-Theorie« verträglich ist. Vgl. auch Jens Kulenkampff: a.a.O. (Anm..9). S.101-103. 26 So Heinz Paetzold: a.a.O. (Anm..10), S..98. 27 Vgl. ebd. S..102-108. 28 Walter Biemel: Die Bedeutung von Kants Begründung der Ästhetik für die Philosophie der Kunst, Köln 1959. S..53. Hervorhebung von Biemel.

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sen. Die Zeichnung ist demnach das, was überhaupt erst das Erscheinen eines Objektes als solchem (z..B. auf einer Leinwand) ermöglicht und so gesehen in der Malerei für Kant »das Wesentliche«, weil sie nicht bloß »in der Empfindung vergnügt«, sondern »durch ihre Form gefällt.« Der den »Abriß« illuminierende Reiz der Farben »belebt« – so heißt es hier im Einklang mit dem zeitgenössischen kunsttheoretischen Diskurs – die Zeichnung für die Empfindung (42/225).29 Kant hätte die Farbe aus der Blickrichtung der »Kritik der reinen Vernunft« im Blick auf die Malerei auch in der »Kritik der Urteilskraft« lediglich und ausschließlich als bloß empirisches Moment einstufen können. Daß er sich auf Überlegungen zur möglichen Reinheit und damit auch der Schönheit der Farbe gleichwohl eingelassen hat, schließt zwar ebenfalls an den kunsttheoretischen Diskurs des 18. Jahrhunderts an30, geht jedoch darüber hinaus. Hervorzuheben ist dabei nicht zuletzt, daß Kant die Beobachtung, daß »eine bloße Farbe z.B. die grüne eines Rasenplatzes […] von den meisten an sich für schön erklärt« wird (vgl. 39.f./224), nicht überspringt und die Frage aufwirft, ob und wie sich die Erfahrung der Schönheit einer Farbe transzendental begründen läßt und damit in die Zuständigkeit des reinen Geschmacksurteils fällt.

Vgl. zum Primat der Form in den »zeichnenden Künsten« z..B. Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste in einzeln nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden Artikeln. 2 Bde. Leipzig 1771 u. 1774. Art. Form: »Die Formen sind wegen der mannigfaltigen ästhetischen Kraft, die sie haben, der hauptsächliche Gegenstand der zeichnenden Künste« (S..395). Zum kunsttheoretischen Diskurs, der den Vorrang der Zeichnung gegenüber der Farbe durchaus auch unter Berufung auf Kants Diktum betonte, vgl. Werner Busch: Die Akademie zwischen autonomer Zeichnung und Handwerksdesign. Zur Auffassung der Linie und der Zeichen im 18. Jahrhundert. In: Ideal und Wirklichkeit der bildenden Kunst im späten 18. Jahrhundert. Hrsg. von Herbert Beck et al. Berlin 1984 (Frankfurter Forschungen zur Kunst Bd. 11). S..177-192. Die doppelte Perspektive, in der Kant die Farben betrachtet, die ich hier auszuarbeiten versuche, wird von Busch nicht berücksichtigt (vgl. bes. S..189f.). 30 Vgl. Johann Georg Sulzer: a.a.O. (Anm..29). Art. Colorit: »Wär in der sichtbaren Natur alles einfärbig [sic!], wie in den Kupferstichen, so würde sie ohne Zweifel eines grossen Teils ihrer Schönheit beraubt sein. Denn in den Farben liegt ein Reiz, der ofte nicht viel geringer ist, als der, der von der Schönheit der Formen herrührt« (S..209). Diese Passage bei Sulzer ist besonders aufschlußreich, weil sie einerseits im letzten Satz den »Reiz« der Farbe der »Schönheit der Formen« gegenüberstellt und so den Vorrang der formgebenden Zeichnung bestätigt. Im ersten Satz wird andererseits den Farben auch ein möglicher Beitrag zur Schönheit eingeräumt. Bei Sulzer, der das Kolorit als Kunst der »Farbengebung« bezeichnet und darunter »die Beschaffenheit aller im Gemählde sichtbaren Farben in ihrem Zusammenhang und ihrer Würkung auf das Auge« (ebd.) versteht, sind folglich beide Momente angelegt, die Kant in der »Kritik der Urteilskraft« zu konturieren sucht. Vgl. bei Sulzer auch den Art. Farbe. – Die Streitfrage nach dem Vorrang von Zeichnung oder Kolorit wurde in den letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts zum beherrschenden Thema in den Debatten der Pariser Akademie, vgl. Thomas Lersch: Farbenlehre. In: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte. Bd. VII (Lfg. 74/75). München 1981. Sp. 199-210. 29

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III. Da Reinheit eine formale und allgemeingültige Bestimmung ist (vgl. 39.f./223.f.) – Kant nennt »alle Vorstellungen rein (im transzendentalen Verstande), in denen nichts, was zur Empfindung gehört, angetroffen wird«31 – muß sie sich im Rahmen der transzendental-philosophischen Grundlage von Kants Dritter Kritik auf Raum und./.oder Zeitverhältnisse beziehen. »Das, was am Gegenstande gefällt und was wir als eine Eigenschaft desselben ansehen, muß in dem bestehen, was vor jederman gilt. Nun gelten die Verhältnisse des Raumes und der Zeit vor jederman, welche Empfindungen man auch haben mag. Demnach ist in allen Erscheinungen die Form allgemein gültig; diese Form wird auch nach gemeinschaftlichen Regeln der Coordination erkannt; was also der Regel der Coordination in Raum und Zeit gemäß ist, das gefällt notwendig jederman und ist schön«.32 Ein »reines Geschmacksurteil« ist somit ein solches, das sich nur auf das »Wie des Erscheinens«, m.a.W. auf die Raum- und Zeitstruktur des gegebenen Gegenstandes bezieht: »Alle Form der Gegenstände der Sinne (der äusseren sowohl als mittelbar auch des inneren) ist entweder Gestalt oder Spiel« (vgl. 42/225). Kant bezieht so die Form des ästhetischen Objekts auf die Anschauungsform des Raumes (Extensität) und die Form der Farbe auf die der Zeit (Intensität). Deswegen übrigens schließt sich für ihn auch die »Farbenkunst«, also das Kolorit, das den »Reiz« der Farben ausmacht, mit der Musik zusammen (vgl. 211/324). Die Annahme einer Form der Farbe widerspricht demnach nur auf den ersten Blick Kants eigenen Ausführungen dazu. Er hatte in der »Kritik der reinen Vernunft« unterschieden: »In der Erscheinung« (d..h. der empirischen Anschauung eines Gegenstandes), »nenne ich das, was der Empfindung correspondiert, die Materie derselben, dasjenige aber, welches macht, daß das Mannigfaltige der Erscheinung in gewissen Verhältnissen geordnet werden kann, nenne ich die Form der Erscheinung«. Die Materie der Erscheinung ist nur a posteriori gegeben, die Form derselben aber liegt »im Gemüte a priori bereit«.33 Von hier aus begründet Kant die Mög-

Kant: Kritik der reinen Vernunft. B 34. Kant: Reflexionen zur Anthropologie (Akad. Ausg. Bd..15 (Kants handschriftl Nachlaß). Berlin 1913). Reflexion 672. 33 Kant: Kritik der reinen Vernunft. B 34. Marcus Otto: Ästhetische Wahrnehmung, Bausteine zu einer Theorie des Ästhetischen. Berlin 1993, S..219-228 vertritt in dieser Hinsicht die Auffassung, daß Kants Betonung der Form als Zeichnung in Paragraph 14 der »Kritik der Urteilskraft« ein zu »restriktiver« Begriff der Form sei, der mit seiner Bestimmung des Formbegriffs als »Zusammenstimmung des Mannigfaltigen zu Einem«, wie er sich aus der »Kritik der reinen Vernunft« herleitet, in Spannung stehe. Die erste Bestimmung des Formbegriffs mache es Kant unmöglich, eine schöne Form der Farbe zu denken, insbesondere, da er die Möglichkeit der schönen Form von Farbverhältnissen ausschließe. Kant scheint zwar der »Mannigfaltigkeit« der Farben (und Töne) und ihrer »Abstechung«, womit solche Verhältnisse gemeint sein dürften, in Paragraph 14 keinen Beitrag zur Schönheit einzuräumen, kommt aber in Paragraph 51 auf diese Möglichkeit, auf »ein Wohlge31 32

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lichkeit einer Form der Farbe, indem er darlegt, inwiefern eine reine und damit schöne Farbe in sich selbst zeitlich strukturiert zu denken ist. Er greift dazu auf die Theorie der Farbentstehung des Mathematikers Leonhard Eulers zurück, der im 18. Jahrhundert gegen die Korpuskulartheorie die Wellentheorie des Lichts geltend gemacht hatte.34 Im Paragraph 14 heißt es: »Nimmt man mit Eulern, an, daß die Farben gleichzeitig aufeinanderfolgende Schläge (pulsus) des Äthers, so wie Töne der im Schalle erschütterten Luft sind, und, was das Vornehmste ist, das Gemüt nicht bloß, durch den Sinn, die Wirkung davon auf die Belebung des Organs, sondern auch, durch die Ref lexion, das regelmäßige Spiel der Eindrücke (mithin die Form in der Verbindung verschiedener Vorstellungen) wahrnehme (woran ich doch gar sehr [in der Auf lage von 1799: nicht.!, J.S.] zweif le): so würden Farbe und Ton nicht bloße Empfindungen, sondern schon formale Bestimmungen der Einheit eines Mannigfaltigen derselben sein, und alsdann auch für sich zu den Schönheiten gezählt werden können« (40/224). Farben sind m..a..W. dann schön zu nennen, wenn ihre – modern gesagt (und ohne Rückgriff auf den Äther) – Frequenz als zeitliches Geschehen, ref lektiert wird. Kant hebt hervor, daß nur, wenn die Zeiteinteilungen der »Zitterungen auf die elastischen Teile unsers Körpers« (212/324) beurteilt würden, von Schönheit der Farbe gesprochen werden könne. Farbe (und Ton) versteht er dann als ein »an sich schon […] schönes Spiel von Empfindungen« (ebd.).

fallen an der Form in der ästhetischen Beurteilung« wieder zurück (B 212). Selbst wenn man jedoch Otto zustimmt, daß Kant (aufgrund der Verortung seiner Theorie der Farbe in den kunsttheoretischen Diskurs seiner Zeit, der das Gewicht auf die Zeichnung legte), der Möglichkeit von schönen Farbverhältnissen zu wenig Platz einräumt, bleibt zu fragen, ob die interpretatorische Gegenüberstellung zweier, verschiedener Formbegriffe in Kants »Kritik der Urteilskraft« wirklich in dieser Schärfe vorgenommen werden muß. Otto berücksichtigt Kants Begründung der Form der Farbe, wie sie sich aus ihrer inneren zeitlichen Verfaßtheit ergibt, nur in zwei Fußnoten (Anm..2, S..305 und Anm..12, S..307). Man kann jedoch im Hinblick auf die Farbe den Formbegriff, wie er sich aus der »Kritik der reinen Vernunft« ergibt, so verstehen, daß er sowohl die räumliche Strukturierung der Zeichnung als »Gestalt« als auch die zeitliche Strukturierung der Farbe als »Spiel« im Sinne des Farbenspiels umfasst. In beiden Fällen handelt es sich um »das Formale in der Vorstellung eines Dinges, d..i. die Zusammenstimmung des Mannigfaltigen zu Einem«. 34 Vgl. Abraham Wolf: A History of Science, Technology and Philosophy in the 18th Century. New York 1961, S..163.ff. – Vor allem durch die Untersuchung von H. E. Timerding (Kant und Euler. In: Kant-Studien 23 (1919), S..18-64; hier bes. 62.ff.) kennt man heute »Kants Verhältnis zu Euler besser und auch die Stellen in Kants Werken und Briefen, an denen er Euler (immer zustimmend) erwähnt oder sich indirekt auf ihn bezieht«. So Wolfgang Breidert: Leonhard Euler und die Philosophie. In: L. E. 1707-1783. Beiträge zu Leben und Werk. Gedenkband des Kantons BaselStadt. Basel 1983. S..447-457; hier: S..470, Anm..33. Dabei ist Kants Bezugnahme auf Euler zur Begründung der Schönheit von Farbe und Ton in der »Kritik der Urteilskraft bislang wohl kaum genauer beachtet und untersucht worden. Vgl. neuerdings zu Kants Musikästhetik Stephan Nachtsheim: »Schön oder bloß angenehm? Zu einem andauernden Mißverständnis der Musikauffassung Kants.« In: Kant. Analysen – Probleme – Kritik. Hrsg. v. Hariolf Oberer. 2 Bde. Würzburg 1976. Bd. 1, S..321-352. Bes. S..338.ff.

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Allerdings räumt Kant zugleich ein, daß die »Schnelligkeit der Licht- oder […] der Luftbebungen […] alles unser Vermögen, die Proportion der Zeiteinteilungen durch dieselben unmittelbar bei der Wahrnehmung zu beurteilen, wahrscheinlicherweise bei weitem übertrifft« (212/324). Diese Spannung zwischen der Annahme der Wahrnehmbarkeit der Frequenz der Farben (oder Töne) und der Vermutung, daß die »Schläge des Äthers« das Wahrnehmungsvermögen überschreiten, könnte möglicherweise von der Verortung des Kantischen Diskurses an der Schwelle zum Beginn der physiologischen, d..h. naturwissenschaftlichen Erforschung der Wahrnehmung, die sich erst im 19. Jahrhundert entfaltete, herrühren. Diese Forschungen konzeptualisieren insbesondere das Sehen (was sich schon in Kants Verweis auf »unseren Körper« andeutet) als von körperlichen Bedingungen geprägt und untersuchen die Verhaltensweisen der Augen experimentell. Damit rückt die Trägheit und Täuschbarkeit des Auges – auch bei viel weniger schnellen Phänomenen als der Frequenz des Lichts – in den Mittelpunkt (z..B. in Hinsicht auf das allerdings schon länger bekannte Phänomen der retinalen Nachbilder). Diskursanalytisch betrachtet, könnte in der historischen Situation Kants der Grund dafür zu finden sein, daß Kant erst »sehr« an der Wahrnehmbarkeit der Zitterungen zweifelte. Will Kant jedoch an einer Form der Farbe festhalten, so kommt nur das »nicht zweif le« (40/224) in Frage.35 Kant unterscheidet somit zwischen der äußeren Erscheinungsweise der Farbe, ihrem die Zeichnung illuminierenden Reiz und einer inneren Empfindung oder Wilhelm Windelband (in: Kant: Akademie-Ausgabe, a.a.O., Anm..3. S..527-529) bemerkt zum philologischen Problem dieser seither wiederholt diskutierten Stelle, daß der Kontext der »Kritik der Urteilskraft« und auch die Hinsicht auf Kants frühere Schriften nur das »nicht zweifle« als plausible Fassung zulassen. E. v. Aster bemerkt in einer Rezension des V. und VI. Bandes der Akademieausgabe (In: Kant-Studien. Bd. 14. 1909. S..468-476, hier: S..475.f.), daß Windelbands Interpretation zuzustimmen ist, wiewohl Kants gelegentlich zurückhaltende Bemerkungen zu einer Form der Farbe es nicht unmöglich erscheinen lassen, daß »Kant zunächst doch ›gar sehr‹ an der Berechtigung dieser Auffassung zweifelte und sich erst während seiner Arbeit an dem Werk mehr mit ihr befreundete.« Windelbands Lesart wird von Theodore E. Uehling (The Notion of Form in Kant’s Critique of Aesthetic Judgement. The Hague./.Paris 1971. S..22-24) unterstützt. Vgl. ebenfalls den Stellenkommentar in: Kants Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie. Kritische Texte mit umfassender Kommentierung. Hrsg. v. Manfred Frank und Veronique Zanetti. Frankfurt a.M. 1996 (Werke III). S..1331.f. Wenn dagegen bei G.S.A. Mellin (Enzyklopädisches Wörterbuch der kritischen Philosophie. Jena und Leipzig 1799. Nachdr. Aalen 1971. Bd 2,1. S..461) im Eintrag zu Euler zu lesen ist: Kant bezweifelte »gar sehr, [daß] das Gemüth durch die Reflexion das regelmä[ß]ige Spiel der Eindrücke der Farben und Töne wahrnehme«, so erläutert Mellin seine, m. E. nicht haltbare, Lesart dahingehend, daß nach Kant »bei einem Gemälde doch eigentlich die Zeichnung das Wesentliche ist, die Farben aber bloß zum Reiz gehören« (S..462). Gleichwohl folgt Mellin Kants Begründung der Schönheit der Farbe, indem er Kants Gedankengang im Blick auf »Eulers Theorie des Vergnügens an der Musik und dem Spiel der Farben« (S..461) aufgreift. – Zu der, in meinen Überlegungen nur angedeuteten, Umbewertung des Sehens durch die naturwissenschaftliche Erforschung desselben ab dem frühen 19. Jahrhundert, aus der u..a. folgt, daß heute die Wahrnehmbarkeit der Frequenz der Farben bestritten würde, vgl. Jonathan Crary: Techniques of the Observer. On Vision and Modernity in the Nineteenth Century. Cambridge, Mass../.London 1990, pass. 35

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Vorstellung der Form der Farbe, die letztlich das freie Spiel der Erkenntniskräfte auslöst. Kant unterstreicht: »Das Reine aber in einer einfachen Empfindungsart bedeutet: daß die Gleichförmigkeit derselben durch keine fremdartige Empfindung gestört und unterbrochen wird, und gehört bloß zur Form; weil man dabei von der Qualität jener Empfindungsart (ob, und welche Farbe sie vorstelle) abstrahieren kann« (40.f./224). Es muß also im Hinblick darauf, was Kant unter der Form der Farbe versteht, davon abgesehen werden, was für eine Farbe (oder was für ein Ton) vorliegt. Die ästhetische Ref lexion richtet sich auf ein vom So-Sein der Farbe unabhängiges Daß-Sein der Farbe, ihr Farbe-Sein, etwas, das Eliane Escoubas, in Abgrenzung von der durch die Zeichnung räumlich strukturierten, »extensiven« Farboberfläche, »reine Intensität«, »das Empfinden als solches« nennt.36 Ähnliches gilt für die Wirkungsweise des Tons. Entscheidend ist nun, daß, obwohl für Kant die Schnelligkeit der Zitterungen »alles unser Vermögen, die Proportion der Zeiteinteilungen durch dieselbe unmittelbar bei der Wahrnehmung zu beurteilen, wahrscheinlicherweise bei weitem übertrifft« (212/ 324), er doch anzugeben versucht, daß und wie die Form der Farbe unter dem Gesichtspunkt ihrer Wirkung beurteilbar ist. Kant argumentiert folgendermaßen: »Bedenkt man aber dagegen erstlich das Mathematische, welches sich über die Proportionen dieser Schwingungen in der Musik und ihre Beurteilung sagen läßt, und beurteilt die Farbenabstechung, wie billig, nach der Analogie mit der letztern37; zieht man zweitens die obzwar seltenen Beispiele von Menschen, die mit dem besten Gesichte von der Welt nicht haben Farben, und mit dem schärfsten Gehöre nicht Töne unterscheiden können, zu Rat, imgleichen, für die, welche dieses können, die Wahrnehmung einer veränderten Qualität (nicht bloß des Grades der Empfindungen) bei den verschiedensten Anspannungen auf der Farben- oder Tonleiter, imgleichen daß die Zahl derselben für begreifliche Unterschiede bestimmt ist: so möchte man sich genötigt sehen, die Empfindungen von beiden nicht als bloßen Sinneneindruck, sondern als die Wirkung einer Beurteilung der Form im Spiele vieler Empfindungen anzusehen.« (212.f./325).38 Eliane Escoubas: »Zur Archäologie des Bildes. Ästhetisches Urteil und Einbildungskraft bei Kant.« In: Bildlichkeit. Hrsg. v. Volker Bohn. Frankfurt a.M. 1990. S..502-542; hier S..531.f. 37 Diese, nach heutiger Auffassung gültige, Analogie, die von Newton vorgeschlagen wurde, nimmt Friedrich Kittler: a.a.O. (Anm..1). S..84.f. zum Anlaß, Hegels, allein auf die natürliche Sprache sich stützende, Behandlung der Farben ironisch zu pointieren und dem Vorgehen Kants polemisch entgegenzusetzen: »In schlagendem Gegensatz zu Kant konnte Hegel nur höhnisch lachen, wenn er auf die ›ganz ungeschickte und auch nach den Tatsachen völlig irrige Anwendung der Zahlenverhältnisse der Töne‹ zu sprechen kam, die zumindest in Hegels Augen Newton auf die Farben gemacht haben sollte.« Kittler zitiert hier: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften [1830]. Hrsg. von Friedrich Nicolin und Otto Pöggeler. Hamburg 1959. S..237. – Zur Kritik wie auch zur Faszination, die Newtons Analogie zwischen Farbe und Ton auf künstlerisch interessierte Denker des 18. Jahrhunderts ausübte, vgl. Wilton Mason: »Father Castel and his color clavecin.« In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 17, 1 (Sept. 1958). S..103-116. 38 Wenn Kant an anderer Stelle das »Steif-Regelmäßige (was der mathematischen Regelmäßig36

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Diese Textstelle macht einmal mehr das Problem deutlich, das Kant dadurch aufgeworfen hat, daß er die Farbe nicht bloß als Material der Empfindung und demnach als Reiz qualifiziert, sondern – so Eliane Escoubas – das Nichtwahrnehmbare der Wahrnehmung geltend gemacht hat. Dieses »schwer Faßliche« beschreibt Escoubas als »das An-sinnen, Anmuten, Vernehmen einer Welt«, als sozusagen nicht-sinnliche, sondern ontologische Sinnlichkeit im Sinne von Heidegger.39 Das »Nichtwahrnehmbare der Wahrnehmung oder die wirren Empfindungen, die wir von Geburt an mitbringen«, wie Cézanne sage, betreffe »die Welt vor dem Menschen; die Welt des Immer-schon«.40 IV. Kants Argumentation in Bezug auf die Form der Farbe wirft aber noch ein anderes Problem auf. Wenn »das Reine […] in einer einfachen Empfindungsart« für Kant bedeutet, »daß die Gleichförmigkeit derselben durch keine fremdartige Empfindung gestört und unterbrochen wird«, so behauptet er weiter: »Daher werden alle einfachen Farben, sofern sie rein sind, für schön gehalten; die gemischten Farben haben diesen Vorzug nicht: eben darum, weil, da sie nicht einfach sind, man keinen Maßstab der Beurteilung hat, ob man sie rein oder unrein nennen sollte.« (40.f./224.f.; Hvh. J.S.). Berücksichtigt man, daß Kant Eulers Theorie der Farbentstehung in Anspruch nimmt, dann erscheint es uneinsichtig, wieso die Reinheit den gemischten Farben nicht zukommen kann. Euler hatte die These aufgestellt, daß der Unterschied in der Anzahl der Schwingungen des Aethers die Verschiedenheit der Farben hervorbringe, »so daß in Ansehung des Gesichts die Farben eben das sind, was die hohen und tiefen Töne in Ansehung des Gehörs«. Für Euler besteht »das Wesen jeder Farbe in einer gewissen Anzahl von Schwingungen, welche die Theilchen, deren Farbe es ist, in einer Secunde machen.« Die kleinste Geschwindigkeit der Schwingungen der Farbenteilchen gibt die rote, die größte die violette Farbe.41 keit nahe kommt)« als »geschmackswidrig« bezeichnet (71.f./24.f.), so bezieht diese Bemerkung sich auf die geometrischen Formen der französischen Gartenkunst, während »das Mathematische«, auf das Kant sich im Zusammenhang mit der Musik und der Farbe bezieht, die Arithmetik betrifft. Vgl. zur Wirkung einer Beurteilung der Form in der Musik im »Spiele vieler Empfindungen«: Peter Rohs: »Singend denken – musikästhetische Überlegungen im Anschluß an einen Begriff von C. Ph. Bach.« In: »Grenzgebiete«. Festschrift Klaus Hortschansky zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Michael Zywietz. Eisenach 2000. S..165-189. 39 Vgl. Martin Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik [1929]. Frankfurt a.M 1991. S..26 .f. 40 Eliane Escoubas: a.a.O. (Anm..36). S..534.f. 41 Vgl. Leonhard Euler: Briefe an eine deutsche Prinzessin über verschiedene Gegenstände aus der Physik und Philosophie. Aus dem Französischen übersetzt. Eingel. und erläutert v. Andreas Speiser (Nachdruck der Ausgabe v. 1769-73). Braunschweig und Wiesbaden 1986. Brief 27 u. 28; Hvh. J.S. Vgl. zum Problem der Farbenordnung Eckart Heimendahl: Licht und Farbe. Ordnung und

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Die Wahrnehmung des zeitlich-sukzessiven Zitterns, der Schwingungen des Äthers, auf die Kant die Vorstellung der Form und damit die Erfahrung der Schönheit der Farbe zurückführt, muß demnach für alle Farben, unabhängig von der »Qualität jener Empfindungsart (ob, und welche Farbe […] sie vorstelle)« (vgl. 41/224), gültig sein. Anders formuliert: Wenn man der Farbe die Möglichkeit zuschreibt rein und damit schön zu sein, muß dies – jedenfalls auf dem Boden der Theorie Eulers – für alle Farben, gleich ob einfach oder gemischt gelten. Die Trennung von einfachen und gemischten Farben im Hinblick auf ihre ästhetische Beurteilung ist im Rahmen eines Modells wie des Eulerschen haltlos, da dort die Farben linear nebeneinander gleichgeordnete, quantitative Abstufungen in der Frequenz der Schläge (pulsus) des Äthers sind und so kein qualitatives Kriterium zur Abgrenzung rein – gemischt gefunden werden kann. Die Skala Eulers ist als linear zu bezeichnen, da im Sinne der Frequenz kein farbkreisförmiger Anschluß vom Violett (schnellste Schwingung) an das Rot (langsamste Schwingung) möglich ist.42 In der Tat rührt nun die Spannung in Kants Argumentation zum Verhältnis von Reinheit und Einfachheit der Farbe in Paragraph 14 daher, daß diese beiden Begriffe je etwas ganz anderes benennen. Der erste bezieht sich auf die Frage, ob der Farbe Form zukomme, und so das freie Spiel der Erkenntnisvermögen, von Einbildungskraft und Verstand und somit ein subjektives, gleichwohl allgemeingültiges Wohlgefallen auslösen könne. Die Frage nach der Reinheit ist also die Frage, inwiefern Farben schön zu nennen sind und bezieht sich auf das Verhältnis von wahrgenommener Farbe und urteilendem Subjekt.43 Die Einfachheit (und Zusammengesetztbzw. Gemischtheit) einer Farbe bezieht sich jedoch auf das, je nach Modell unterschiedlich begreifbare, Verhältnis der Farben untereinander (und dessen Wirkung). Möglicherweise ist dieser Widerspruch44 eine Folge von Kants gleichzeitiger AnFunktion der Farbwelt. Mit einem Geleitwort von Carl Friedrich von Weizsäcker. Berlin 1961. S..51.ff.; S..98 u. 178.ff. 42 Hier ist allerdings eine Präzisierung notwendig. Abraham Wolf: a.a.O (Anm..34), bemerkt: »Euler linked the colours of the spectrum to the notes of the octave, and he supposed, on this analogy, that beyond the violet one would pass through purple to a second red whose frequency would be twice that of ordinary red« (S..165). Demnach würde doch eine Art farbkreisförmiger Anschluß jenseits des Violetts zurück an das Rot vorliegen. Jedoch muß man hier zwischen dem »ordinary red« und dem »second red« unterscheiden. Eulers Modell kennt immer eine lineare Folge der Farben, die auf stets höheren Ebenen (also verdoppelten Frequenzen) wiederkehrt. Insofern ist es vertretbar, Eulers Modell als linear zu bezeichnen (wie auch eine Klaviertastatur linear ist, obwohl immer die gleichen, aber eben höheren, Töne in immer der gleichen Reihenfolge wiederkehren). 43 Im Rahmen einer Farbenordnung, die sich auf psychologische Theorien stützt, ist Reinheit ein Modifikationsbegriff für die Intensität, d..h. den Stärkegrad einer bunten Farbe. Der Reinheitspunkt ist objektiv nicht zu ermitteln; so haben auch Tests mit Versuchspersonen gezeigt, daß die Wahrnehmung einer reinen Farbe, ihrer Intensität, variiert. Vgl. Eckart Heimendahl: a.a.O. (Anm..41). S..51-106. 44 Vgl. Hans Schulze: Die Bewertung der Farbe als Mittel der bildnerischen Darstellung und zur Hervorhebung des Wesentlichen in der ästhetischen Literatur vorzugsweise Deutschlands von der Mitte des achtzehnten bis zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts. Leipzig 1955 [Dissertation].

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lehnung an den zeitgenössischen kunsttheoretischen Diskurs über die Ordnung und die Wirkung der Farben45 und an Eulers Theorie einer linearen Farbskala. Festzuhalten ist jedenfalls, daß die Deutung der Farbe als einfach oder gemischt vom Farbmodell abhängt, das (mehr oder weniger explizit) zugrundegelegt wird. So steht Kants lineares Modell der Farbe neben dem zirkulären Goethes und Hegels. Goethe geht von den »drei Hauptfarben« Rot, Gelb und Blau aus46, worauf wohl auch Kants einfache (nicht-gemischte) Farben abgezielt waren. Dabei ist das Rote, das für Goethe gleichbedeutend mit Purpur ist, eigentlich selber eine abgeleitete Farbe (was Goethe in zahlreichen Experimenten mit einem Prisma zu erhärten versuchte): »Man vergleiche das Mannigfaltige, das aus einer Steigerung des Gelben und Blauen zum Roten, aus der Verknüpfung dieser beiden höheren Enden zum Purpur, aus der Verknüpfung der beiden niedern Enden zum Grün entsteht.«47 Goethe zufolge kann man im engeren Sinne nur zwei Grundfarben, nämlich Blau und Gelb, als je den Prinzipien Schwarz (Dunkel) und Weiß (Licht) am nächsten stehend, annehmen. Wenn man jedoch das Rot auch noch zu den drei Hauptfarben zählt, obwohl es aus einer Mischung der gesteigerten Enden von Gelb und Blau sich ableitet, muß man auch das Grün – als offensichtlich gemischte Farbe –, da es die Verbindung der niederen Enden von Gelb und Blau darstellt, dazuzählen.48 Eine Konsequenz, die Hegel in seiner Theorie der Farbe gezogen hat.49 Wenn Kant mit Euler von einer linearen Abfolge der Farben ausgeht und Goethe und Hegel sich auf den zirkulären Farbenkreis beziehen, dann haben beide, anders als Kant, in erster Linie den Künstler und seine Verwendung der Farben im Blick.50 S..86.f. Schulze ahnt etwas von dem »logischen Riß«, der Kants Überlegungen zwischen rein-unrein und einfach-gemischt, durchzieht. Jacques Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, a.a.O. (Anm..4), S..99 schenkt diesem Riß keine Beachtung. Zur Inkommensurabilität verschiedener Diskurstypen bei Kant, vgl. grundsätzlich Jean-Francois Lyotard: Der Widerstreit. München 1987. Zur Kritik der Urteilskraft vgl. insb. S..217-225. 45 Vgl. Johann Georg Sulzer: a.a.O. (Anm..29). Art. Farbe. S..372: »Die drey vollkommenen Farben können nie anders, als gelb, roth und blau seyn, und ist nur ein Begriff ihrer Vollkommenheit, nämlich wenn sie gleich weit von allen anderen Farben sind; da hingegen die geringen und gemischten unterschiedlicher Art seyn können, nämlich mehr von der einen oder der andern abhangend, so von drey Farben gemischt, können unzählig verändert werden.« – Zu den Fragestellungen der Farbenlehre im 18. Jahrhundert sowie ihrer Verflochtenheit mit der naturwissenschaftlichen Farbenlehre vgl. Thomas Lersch: a.a.O. (Anm..30). Sp. 210.ff. 46 Johann Wolfgang von Goethe: Die Farbenlehre [1810]. In: Ders.: Sämtliche Werke. ArtemisGedenkausgabe. Bd. 16, Naturwissenschaftliche Schriften I. (1949). Unv. Nachdr. Zürich 1977. S..8-244; hier S..43 (§.60). 47 Ebd. S..201 (§.745). 48 Ebd. S..22.f. (Einl.). S..189.f. (§.697-705). Vgl. Goethes Farbenlehre. Ausgewählt und erläutert von Rupprecht Matthaei. 3. Aufl. Ravensburg 1978. Bes. S..41-56. 49 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III [1835]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden, Hg. v. Hermann Glockner, Bd. 14. Stuttgart 1954. S..66. Vgl. dazu Heinz Paetzold: a.a.O. (Anm..10). S..311-313. 50 Vgl. zur Sache Werner Heisenberg: Die Goethische und die Newtonsche Farbenlehre im Licht

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Für Goethe und Hegel verkörpert das Gelbe die aktive Seite und das Blaue die passive Seite. Das Rote, als Verbindung der gesteigerten Enden (Rot-Gelb und RotBlau) des Gelben und Blauen »gibt den Eindruck sowohl von Ernst und Würde als Huld und Anmut«, während das Grün als ungesteigerte Verbindung von Blau und Gelb gegenüber dem Rot liegt und »beide Mutterfarben sich in der Mischung genau das Gleichgewicht halten« so, daß »das Auge und das Gemüt auf diesem Gemischten wie auf einem Einfachen« ruhen. Das Rot hat so die stärkste Wirkung, während das Grün eher indifferent ist. Diese Hierarchisierung der Farben ist nicht zuletzt auch unter dem Gesichtspunkt ihrer sinnlich-sittlichen Wirkung auf das Kreismodell der Farbe bezogen.51 Auch Hegel verknüpft die Farbe stets mit ihrer symbolischen Bedeutung. Die Malerei bringt durch den Gebrauch der Farbe »das Seelenvolle zu seiner eigentlich lebendigen Erscheinung«. Hegel bezieht sich insbesondere auf die »Art und Weise, wie die älteren Meister die Farben anwendeten«, um »eine symbolische Beziehung« auszudrücken: »Besonders im Gebrauch des Blau und Roth, Blau entspricht dem Sanfteren, Sinnvolleren, Stilleren, dem empfindungsvollen Hineinsehen, insofern es das Dunkle zum Princip hat, das nicht Widerstand leistet, während das Helle mehr das Widerstehende, Producirende, Lebendige, Heitre ist; Roth das Männliche, Herrschende, Königliche; Grün das Indifferente, Neutrale. Nach dieser Symbolik trägt z.B. Maria, wo sie als thronend, als Himmelskönigin vorgestellt ist, häufig einen rothen, wo sie dagegen als Mutter erscheint, einen blauen Mantel.«52

V. Wenn für Kant aus der Perspektive der Empirie, in der die Farben lediglich als Sinnenreiz erscheinen, keine Verbindung zum Sittlichen herstellbar ist, so kommt die symbolische Bedeutung der Farbe auch für ihn in den Blick; er geht darauf im Kontext der Bezüge zwischen Natur und Kunst ein. In diesem Zusammenhang, den er im Paragraph 42 darlegt, bezieht sich Kant auf die »Ordnung der sieben Farben von der roten an bis zur violetten« (172/302).53 In Hinsicht auf ihre symbolische Bedeutung der modernen Physik. In: W. Heisenberg: Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaft. Zehn Vorträge. 9. Aufl. Stuttgart 1959. S..85-106. 51 Goethe: a.a.O. (Anm..46). S..212 u. 213. (§.796 u. 801), ferner S..206-218 (§.758-829). Nach Goethe enthält das Rot »teils actu, teils in potentia alle andern Farben«, während er dem Grün die Qualität des »Einfachen« zuschreibt. Vgl. Johannes Pawlik: Theorie der Farbe. Eine Einführung in begriffliche Gebiete der ästhetischen Farbenlehre. Köln ³1973. S..27 u. pass. 52 Vgl. Hegel: Ästhetik, a.a.O. (Anm..49). S..61.f. Vgl. Hans Schulze: a.a.O. (Anm..44). S..137; sowie Goethe: a.a.O. (Anm..46). S..206.ff. 53 Es bleibt zu klären, ob Kant bei der »Ordnung der sieben Farben« möglicherweise an Newtons Farbdiagramm gedacht haben könnte, das Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau, Indigo und Violett darstellt. Vgl. Isaac Newton: Opticks or A Treatise of Reflections, Refractions, Inflections and Colours of Light. London 1704 u..ö.; Nachdr. der 4. Aufl. (London 1730) New York 1952; Nachdr.

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stehen alle Farben »gleichberechtigt« nebeneinander und jede kann mit einer bestimmten Idee verbunden werden. Die in Paragraph 14 vorgenommene Trennung von einfachen Farben, sofern sie rein und damit schön sind und gemischten Farben, die nicht schön sind, ist in Bezug auf die sinnlich-sittliche Wirkung der Farben offenbar außer Kraft gesetzt. Entweder kann allen Farben eine schöne Form zugesprochen werden, dann ist auch jede mit einer sittliche Idee zu verknüpfen, oder alle Farben sind Reiz, dann kann keiner Farbe Schönheit zukommen. Da Kant aber jeder der sieben Farben eine Idee zuordnet, setzt er hier stillschweigend voraus, daß allen, auch den gemischten Farben Schönheit zukommt. Kann doch allein das Schöne als Symbol des Sittlich-Guten fungieren. Dies vorausgesetzt, »scheint die weiße Farbe der Lilie das Gemüt zu Ideen der Unschuld, und nach der Ordnung der sieben Farben, von der roten an bis zur violetten, 1) zur Idee der Erhabenheit, 2) der Kühnheit, 3) der Freimütigkeit, 4) der Freundlichkeit, 5) der Bescheidenheit, 6) der Standhaftigkeit und 7) der Zärtlichkeit zu stimmen« (ebd.). Kant entschärft ganz offensichtlich im Blick auf die Natur die Trennung zwischen der schönen Form der Farbe und deren materialer Qualität, ihrem Reiz. Reiz und Schönheit werden in der Natur »zusammenschmelzend« gedacht: »Die Reize in der schönen Natur, welche so häufig mit der schönen Form gleichsam zusammenschmelzend angetroffen werden, sind entweder zu den Modifikationen des Lichts (in der Farbengebung) oder des Schalles (in Tönen) gehörig. Denn diese sind die einzigen Empfindungen, welche nicht bloß Sinnengefühl, sondern auch Ref lexion über die Form dieser Modifikationen der Sinne verstatten, und so gleichsam eine Sprache, die die Natur zu uns führt, und die einen höheren Sinn zu haben scheint, in sich enthalten« (171.f./302; Hvh. J.S.). Das Zusammenschmelzen zwischen Reiz und Schönheit setzt voraus, daß, anders als im Paragraph 14, wo im Hinblick auf die formale Bestimmung der Reinheit der Farbe von »der Qualität jener Empfindungsart (ob, und welche Farbe sie vorstelle)« (vgl. 40.f./224) – ihrer Materialität – abzusehen war, die Qualität der Farbe, also ihr Reiz, eine zentrale Bedeutung erlangt. Die Reize der Natur veranlassen uns zu einer Ref lexion, die uns zu Bewußtsein bringt, daß die Natur »eine Sprache […] zu uns führt, die einen höheren Sinn zu haben scheint« (171.f./302).54 Die symbolische Besetzung der Farben verweist so auf Kants Auffassung des Schönen als Symbol des Sittlich-Guten. der dt. Übers. (Leipzig 1898) eingel. u. erl. von Markus Fierz. Braunschweig./.Wiesbaden 1983. 1. Buch. 2. Teil. Prop. VI. S..100. – Aus Kants Symbolik der sieben Farben dürfte sein persönliches Farberleben sprechen. Vgl. zu Gefühlsbestimmungen und Erlebnisbegriffen der Farben in ihren Gegensätzen und Spannungen Eckart Heimendahl: a.a.O. (Anm..41). S..172-176. 184-219. Bes. S..215. 54 Vgl. zur »Sprache, die die Natur zu uns führt« die Überlegungen von Claudio La Rocca: Forme et signe dans l’esthétique de Kant. In: Kants Ästhetik. Kants Aesthetics. L’Esthétique de Kant. Hrsg. von Herman Parret. Berlin, New York 1998. S..530-544. La Rocca weist darauf hin, daß der Prozeß der Wahrnehmung von Tönen und Farben als einer »forme dans les choses« mit Kant als ein Prozeß des »déchiffrement« verstanden werden kann (S..537, vgl. S..535).

Die Form der Farbe

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Kant denkt die Beziehung zwischen dem Schönen und dem Sittlichen als »Analogie«, und zwar als Analogie zwischen dem »reinen Geschmacksurteil« und dem »moralischen Urteil« (170/301). Im Urteil über das Schöne geben sich die Einbildungskraft und der Verstand im freien Spiel »selbst das Gesetz« (258/353), wie es die Vernunft im Urteil über das Gute tut: »Der Geschmack macht gleichsam den Übergang vom Sinnenreiz zum habituellen moralischen Interesse, ohne einen zu gewaltsamen Sprung, möglich, indem er die Einbildungskraft auch in ihrer Freiheit als zweckmäßig für den Verstand bestimmbar vorstellt und sogar an Gegenständen der Sinne auch ohne Sinnenreiz ein freies Wohlgefallen finden lehrt« (260/354; Hvh. J.S.). So wird unter dem Gesichtspunkt der Analogie zwischen dem Schönen und dem Sittlich-Guten begreif lich, inwiefern »selbst Farben […] unschuldig, bescheiden, zärtlich genannt [werden]«, nämlich »weil sie Empfindungen erregen, die etwas mit dem Bewußtsein eines durch moralische Urteile bewirkten Gemütszustandes Analogisches enthalten« (260/354). Dabei betont Kant ausdrücklich, daß dieser Übergang nur als der vom Schönen zum Sittlichen zu begreifen ist.55 Wenn man Kant weiterdenkt, wäre zu fragen, ob Farben in seiner Perspektive lediglich im Blick auf die Natur, oder vielmehr auch hinsichtlich der Kunst imstande sind, moralische Empfindungen zu bewirken. Die Voraussetzung dafür, daß Farben in der schönen Kunst der Malerei ein sinnlich-sittlicher Aspekt zugeschrieben werden kann, liegt dann genau darin, daß Farbe mehr sein muß, als bloße Illuminierung der Zeichnung und aufgrund ihrer Reinheit oder Intensität, ihrem Farbe-Sein, also ihrer inneren Dynamik oder schönen Form sowohl das Auge als auch die Ref lexion stimuliert – »[…] in aller schönen Kunst besteht das Wesentliche in der Form, welche für die Beobachtung und Beurteilung zweckmässig ist, wo die Lust zugleich Kultur ist und den Geist zu Ideen stimmt« (214/325.f.). Kant – diese Behauptung sei am Ende gewagt – hätte seinen transzendentalphilosophisch durchgeführten Versuch, den, mit Derrida gesagt, parergonalen Doppelsinn der Farbe aufzuweisen, in der Malerei des ausgehenden 19. und insbesondere des 20. Jahrhunderts56 aufs Schönste bestätigt sehen können. Christoph Wagner hebt hervor und führt aus, daß Kant im Kontext der Bestimmungen seines Symbolbegriffs nach anschaulichen Analogien im §.59 der »Kritik der Urteilskraft« zur thematischen Deutung der Farbe einen »methodisch bedeutsamen Fingerzeig« gegeben habe (vgl. Ch. Wagner: »Farbe und Thema – eine Wende in der Koloritforschung der 1990er Jahre.« In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 42. H. 2 (1997). S..181-250; hier: S..244-249, zit. S..247). siehe auch Lorenz Dittmann: »Normen und Werte in der bildenden Kunst. Erörterungen im Anschluss an Kant.« In: Festschrift für Wilhelm Messerer zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. Klaus Ertz. Köln 1980. S..369-381. 56 Vgl. Lorenz Dittmann: Farbgestaltung und Farbtheorie in der abendländischen Malerei. Darmstadt 1987. S..261-416. Zur Darstellung des Farbraums von Newton bis Seurat siehe John Gage: Kulturgeschichte der Farbe. Von der Antike bis zur Gegenwart. Übers. v. Magda Moses u. Bram Opstelten. Ravensburg 1997. S..171-176. Zu Gage vgl. Christoph Wagner: a.a.O. (Anm..55). S..187219. 55

154

Jens Schröter

Der vorliegende Text untersuchte Kants Behandlung der Farbe in der »Kritik der Urteilskraft« in doppelter Hinsicht. Die doppelte Perspektive, die Farbe als bloßen Reiz und als schön auszuweisen, ist dabei als Konsequenz seines, in der »Kritik der reinen Vernunft« entwickelten, transzendental-philosophischen Ansatzes dargelegt worden. Die Herabstufung der Farbe (oder des Tons) zum bloßen Reiz wäre eigentlich aus seiner Trennung zwischen der Form der Sinnlichkeit und der Materie derselben hervorgegangen, hätte Kant nicht selbst Beispiele aus der Erfahrung angeführt, die ihm diese Einstufung zumindest fragwürdig erscheinen ließen. An den Punkten des Textes, wo Kant einen formalen Charakter der Farbe erwägt, rekurriert er auf die Beobachtung dessen, was von Menschen als schön empfunden wird. Wenn es die eigentliche Leistung Kants ist, das Überspringen der Erfahrung in der Metaphysik, die er vorfand, erkannt und durch seinen transzendental-philosophischen Ansatz kritisch korrigiert zu haben, ist dann seine Bereitschaft, angesichts der Probleme, die er in der Dritten Kritik entfaltet, widerspenstige Beispiele zu berücksichtigen, nicht zuletzt auch ein Indiz seiner Überwindung jenes dogmatischen Denkens, das er kritisierte?

Kernbegriffe der Ästhetik Ein Vorschlag für ihre sinnvolle Verwendung im ästhetischen Diskurs in Kants Problemhorizont Von Wolfgang Ruttkowski

In Abwandlung und Ergänzung des nach wie vor diskussionswürdigen Aufsatzes von Frank Sibley1 sollen hier die wichtigsten Definitionen und Gliederungsversuche sogenannter ästhetischer Begriffe verglichen und fünf terminologische Schichten aufgedeckt werden. Dabei ist im Hinblick auf die Rede von »ästhetischen Eigenschaften«, »ästhetischer Erfahrung« und »ästhetischem Gegenstand« von vornherein an folgendes zu erinnern: Ästhetische Eigenschaften gibt es als solche nicht, sondern nur Kombinationen von auch anderweitig vorkommenden Eigenschaften, die unter bestimmten Voraussetzungen uns ästhetisches Erleben gestatten, falls wir dazu überhaupt befähigt sind. Unter dem Aspekt ihrer Wirkung kann man feststellen, daß selbst Sibleys ästhetische Eigenschaften »regional« sind. Wenn wir von ästhetischer Erfahrung bzw. ästhetischem Erlebnis sprechen, so ist diese Erfahrung nicht einfach strukturiert, wie etwa Angst oder Hunger, sondern äußerst komplex und vielgestaltig. Sie fällt jeweils bei verschiedenen Rezipienten in verschiedenen Situationen unterschiedlich aus. Deshalb kann sie auch höchst unterschiedlich charakterisiert werden. Kants Bestimmung des ästhetischen Erlebens im §62 der »Kritik der Urteilskraft« als »interesseloses Wohlgefallen« und ihre Neuformulierungen werden den »dionysisch-entgrenzenden«, ekstatischen Kunsterlebnissen (in manchen Formen der Musik, des Tanzes und des Theaters) nicht gerecht, wie schon Friedrich Nietzsche2 feststellte. Tiefer dringt m.6E. die schichten-ästhetische Analyse eines Nicolai Hartmann3, der das ästhetische Erlebnis im Transparentwerden der Vordergrundschichten des Kunstwerks für tiefere erblickt, bzw., vom Rezipienten aus gesehen, in dessen »Durchgehen« durch die Schichten des Kunst1 Frank Sibley: »Aesthetic Concepts«. In: The Philosophical Review (1959). S..421-450; dt. »Ästhetische Begriffe«. In: Materialien zu Kants ›Kritik der Urteilskraft‹, hrsg. von Jens Kulenkampff (1974). S..337-370; und in: Ästhetik. Hrsg. von Wolfhart Henckmann (1979). S..230-265. 2 Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872). In: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hrsg. G. Colli und M. Montinari. Bd. 1. München 1980. Vgl. Wolfhart Henckmann (a.a.O. (Anm..1). S..175: »Seitdem […] Nietzsche der Kunstwelt des Apollinischen die des Dionysischen an die Seite gestellt und im Tragischen eine Synthese beider aufgewiesen hat, ist zu bezweifeln, ob das Moment der Beziehung […] zwischen Subjekt und Objekt nur nach einem einzigen Modell interpretiert werden darf. Es ist vielmehr anzunehmen, daß auf den Verschiedenheiten der Vermittlung die Unterschiede unter den einzelnen ästhetischen Kategorien beruhen – Verschiedenheiten der Realisation des Ästhetischen.« 3 Nicolai Hartmann: Ästhetik. Berlin 1966.

ZÄK Sonderheft · Jahrgang 2000 · © Felix Meiner Verlag 2000 · ISSN 1439-5886

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Wolfgang Ruttkowski

werks. Diese Bestimmung greift allerdings nur die darstellenden Künste. Vielleicht läßt sich keine finden, die allen Künsten gerecht wird – wenngleich, wie Wolfhart Henckmann zu Recht betont, »die Auslegung der ästhetischen Erfahrung als objektivierter Welt- und Selbsterfahrung des Menschen eine der grundlegenden Aufgaben der Ästhetik darstellt«.4 Man kann vom ästhetischen Gegenstand nur bedingt sprechen, wobei wir es sind, die nahezu jeden Gegenstand zu einem »ästhetischen« machen können, indem wir ihn aus dem alltäglichen Zusammenhang herausheben und »ästhetisch« erleben (etwa Marcel Duchamp sein Urinoir oder Picasso einen Fahrradsattel, der ihn an einen Ziegenkopf erinnerte). Man kann auch sagen: der ästhetische Gegenstand ist eine Projektion.5 Auf dem Hintergrund dieses Problemhorizontes sind zunächst diejenigen Bestimmungen innerhalb des weiten Bereichs von Begriffen, die auf Kunstwerke angewandt werden, zu unterscheiden (I). Von hier aus werden die Kernbegriffe »ästhetisch«, »künstlerisch« und »schön« behandelt und ihre Überschneidungen im ästhetischen Diskurs erörtert (II). Im Hinblick auf die Schichtung ästhetischer Begriffe nach Bereichs-, Wertungs- und Reaktionsbegriffen wird sodann versucht, die Frage zu klären, wie es zu unterschiedlichen Auffassungen über ästhetische Ausdrücke im eigentlichen Sinn kommen kann, und es werden Vorschläge zu ihrer Anwendung im Diskurs über Kunst zur Diskussion gestellt (III).

I. Einteilung ästhetischer Begriffe Die auf Kunstwerke angewandten Begriffe können folgendermaßen eingeteilt und folgende Gruppen unterschieden werden: 1. Kennzeichnungen, die auf den ästhetischen Charakter eines Gegenstands, zumeist Kunstwerks, zielen und solche (2), die nur scheinbar eine Qualität des Gegenstands bezeichnen, in Wirklichkeit jedoch nur unsere Reaktion auf diesen, z.6B. »großartig«, »rührend« oder »überwältigend«. Was an dem betrachteten Gegenstand großartig ist, wodurch er uns überwältigt, wird nicht gesagt. Innerhalb der ersten Gruppe (1) können wir wiederum zwei Arten von Begriffen unterscheiden, solche die sich ausdrücklich auf den ästhetischen Charakter des Kunst-

4 Vgl. Wolfhart Henckmann: »Über die Problematik ästhetischer Kategorien«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Band 38,2 (1983). S..169-182. Hier: S..180. 5 Vgl. Birgit Recki: »Wie ästhetisch ist die moderne Kunst?« In: Volker Gerhardt (Hrsg.): Sehen und Denken. Philosophische Betrachtungen zur modernen Skulptur. Mit 5 Skizzen von Per Kirkeby. Münster 1990 (Neuaufl. Lit-Verlag 1997). S..93-120. Recki kommt zu dem Ergebnis, »daß der Begriff ›ästhetisch‹ kein Prädikat ist, mit dem wir Eigenschaften von Objekten beschreiben könnten, sondern vielmehr eines, durch das wir unseren Umgang mit diesen Objekten charakterisieren« (a.a.O. S..109).

Kernbegriffe der Ästhetik im ästhetischen Diskurs

157

werks beziehen (1.1) und solche die das nicht tun (1.2) wie z.6B. »gut erhalten«, »verwaschen«, »ausgebleicht« etc. Wiederum innerhalb der ersten dieser beiden letzten Gruppen (1.1) gibt es Begriffe, die Qualitäten des Kunstwerks beschreiben und6/6oder werten (1.1.1) und solche, die nur werten, vor allem die Gegensatzpaare »schön6–6häßlich«, »gut6–6schlecht« und »geschmackvoll6–6geschmacklos« (1.1.2). Innerhalb der ersten Gruppe (1.1.1) finden wir nun nochmals zwei Möglichkeiten, und zwar zuerst die »ästhetischen Ausdrücke« im engeren Sinn (1.1.1.1), welche nur für sensible Rezipienten unterscheidbare Qualitäten bezeichnen, und Eigenschaftsbezeichnungen, die von allen nachgeprüft werden können (1.1.1.2), wie z.6B. daß ein Bild »vorwiegend in Blautönen gehalten« ist oder eine Sonate »vier Sätze« hat bzw. ein Schauspiel »viele kurze Szenen«. Die eigentlich »ästhetischen Ausdrücke« (1.1.1.1) können eine Doppelfunktion im Alltag haben, d.6h. sie können in nichtästhetischer und ästhetischer, quasi-metaphorischer Verwendung auftreten (1.1.1.1.1), z. B. Begriffe wie »einheitlich«, »dynamisch« oder »ausgewogen«. Andere aber werden tatsächlich nur im ästhetischen Sinne verwandt (1.1.1.1.2), wie z. B. »graziös«, »elegant« oder »anmutig«. Diese letzteren könnte man als die »eigentlich und ausschließlich ästhetischen« Qualitäten bezeichnen. (Vgl. Diagramm 1).

1///

wirklich auf den Gegenstand zielende

2

nur scheinbar eine Qualität des Gegenstands bezeichnende, in Wirklichkeit nur unsere Reaktion auf diesen (z.B. »überwältigend«, »großartig« etc.)

1.1

ausdrücklich auf den ästhetischen Charakter des Kunstwerks bezogene

1.2

nicht auf den ästhetischen Charakter bezogene (z.B. »gut erhalten« etc.)

1.1.1

beschreibende und wertende

1.1.2

nur wertende (z.B. »schön-häßlich«, »gutschlecht«, »geschmackvoll-geschmacklos« etc.)

1.1.1.1

nur für sensible Rezipienten unterscheidbare Qualitäten, »ästhetische Ausdrücke« im engeren Sinn

1.1.1.2

von allen nachprüfbare Qualitäten (z.B. ein Bild »vorwiegend in Blautönen«, eine Sonate »in vier Sätzen« etc.)

1.1.1.1.1//mit Doppelfunktion im Alltag, das heißt nicht-ästhetischer und ästhetischer Verwendung (quasi-metaphorischer) (z.B. »einheitlich«, »dynamisch«, »ausgewogen«)

1.1.1.1.2 mit überwiegend ästhetischer Verwendung (z.B. »graziös«, »elegant«, »anmutig« etc.)

Diagramm 1: Modifiziertes und ergänztes System von Sibley. Gelegentlich auf Kunstwerke angewandte Begriffe

158

Wolfgang Ruttkowski

Gegenüber dieser Einteilung – das ist festzuhalten – konzentriert Sibley sich darauf, den begriffstheoretischen Status unserer Gruppe 1.1.1. (und deren Untergruppen) klarzulegen (»Wir können nicht durch Argumentieren beweisen, daß etwas anmutig ist«, etc.) und hält anscheinend die Gruppen 1.1.2 und 2 nicht einmal einer Erörterung wert. Karl Svoboda6 will dagegen »nur eine wirkliche, rein ästhetische Kategorie« gelten lassen, »das Schöne mit dem Häßlichen«, also gerade die (1.1.2) unseres obigen Schemas, die Sibley übergeht. »Das Anmutige macht einen Teil des Schönen aus, und die anderen Werte – das Erhabene, Niedrige, Tragische, Komische, Neue, Naive, Gekünstelte, Realistische, Idealistische, Ernste, Barocke, Klassische, Geheimnisvolle und Klare – sind nicht Kategorien, Grundbegriffe, sondern Kunststile, künstlerische Auffassungen, oder andere Werte […] man kann sie in kein System bringen.« Andere Autoren, wie z.6B. Max Dessoir7 unterscheiden innerhalb des ästhetischen Erlebens eine begrenzte Anzahl ästhetischer Gefühle, etwa schön-häßlich, niedlicherhaben, komisch-tragisch. Die m.6W. umfassendste Zusammenstellung ästhetischer Begriffe in unserer Zeit versuchte Wolfhart Henckmann8 in einem »offenen, funktionalen System«, welches keine strenge Systematik beansprucht und »intern und extern bedingten Wandlungen unterworfen ist«, weil es »gesellschaftlich-geschichtlich bedingt« ist. Henckmann geht davon aus, daß »sich die ästhetische Erfahrung als besondere Beziehung zwischen Subjekt und Objekt konstituiert« und stellt deshalb »drei Reihen von Kategorien« auf, »in denen das Subjekt, das Objekt oder die Besonderheit der Gesamtbeziehung den Charakter der einzelnen Kategorien bestimmt«. Diese drei Reihen von Begriffen werden jeweils »je nach der ontischen Beschaffenheit der drei Glieder der ästhetischen Erfahrung« weiter aufgegliedert: die »Subjektseite« nach psychischen Funktionen wie sinnlicher Wahrnehmung, Vorstellkraft, Emotion etc., die »Objektseite« nach »materialen Eigenschaften«, »Grundstrukturen von Kunstgattungen oder bestimmten Kunststilen«, die »Gesamtbeziehungen« nach »Unterschieden in der Dynamik der ästhetischen Erfahrung«, »Erlebnisenge, -weite oder -höhe«. Diese Zusammenstellung umfaßt sowohl die von Sibley besprochenen wie auch die von Svoboda ausgeschlossenen Begriffe. 6 Karl Svoboda: »Über die sogenannten ästhetischen Kategorien«. In: Jahrbuch für Ästhetik und allgemeine Kunstphilosophie VII (1962). S..7-27. 7 Max Dessoir: Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Stuttgart 1906. S..195 ff. 8 Wolfhart Henckmann: »Über die Problematik der ästhetischen Kategorien«.. In: a.a.O. (Anm..4), bes. S..176-178. Henckmann definiert, Gustav Theodor Fechner (Vorschule der Ästhetik. Leipzig 1876. S..13) kritisch folgend: »Synonym mit ›ästhetischem Ausdruck‹, ›ästhetischem Begriff‹ umfaßt der Ausdruck ›ästhetische Kategorie‹ alle diejenigen umgangssprachlichen Wörter (in der weitaus überwiegenden Anzahl Eigenschaftswörter), die zum Ausdruck bringen, daß Dinge, Verhältnisse usw. einen ›gegenwärtigen oder unmittelbaren Lust- oder Unlustertrag gewähren‹. […] ›Kategorie‹ hat hierbei also keinerlei logische, erkenntnistheoretische oder ontologische Nebenbedeutung, wie sie der Ausdruck in anderen philosophischen Disziplinen seit Aristoteles angenommen hat« (a.a.O. S..170 f.).

Kernbegriffe der Ästhetik im ästhetischen Diskurs

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Henckmann umreißt auch den Charakter des »Ästhetischen«, »einen Begriff des Ästhetischen […], der es erlaubt, die ästhetischen Kategorien in verschiedene Gruppen einzuteilen«. Dabei greift er auf ältere Kennzeichnungen zurück, hauptsächlich unter den von Richard Hamann9 geltend gemachten Stichworten »Isolierung, Konzentrierung und Intensivierung«.

II. Die Kernbegriffe »ästhetisch6–6künstlerisch6–6schön« Der Begriff des »Ästhetischen« verlangt und lohnt eine genaue Unterscheidung von der Bestimmung des Künstlerischen,10 auf die Henckmann nicht eingeht. Neben dem der Schönheit stehen als zentrale oder »Kernbegriffe« der Ästhetik der der »Kunst« mit dem Attribut »künstlerisch« und der des »Ästhetischen« selbst mit dem Attribut »ästhetisch«. Selbstverständlich gehört zu jedem Begriff sein Negativum, also das Häßliche, das Unkünstlerische – »Kitsch«11 markiert bereits wieder eine Spezialbedeutung – und das Nicht-Ästhetische, z.6B. das Wissenschaftliche oder das Praktische; »unästhetisch« hat zumeist die Spezialbedeutung von »häßlich« oder sogar »abstoßend«. Entscheidend ist nun, daß die Bestimmungen des Ästhetischen, des Künstlerischen und des Schönen nicht die gleiche Reichweite haben. Der erste, »ästhetisch«, dient nicht nur als Oberbegriff für alle möglichen Anmutungsbegriffe, wie sie von Sibley und Henckmann beschrieben werden, sondern bezeichnet auch eine Welthaltung, die das sinnlich Erfahrbare auf eine besondere Weise ernst nimmt.12 Sie muß sich nicht unbedingt in einem Produkt oder »Werk« ausdrücken. Es gibt »Ästheten«, die künstlerisch »unproduktiv« sind, d.6h. deren ästhetische Sensibilität sich nur in der Rezeption von Kunst und »Ästhetischem« auswirkt.13 Richard Hamann: Ästhetik. Leipzig / Berlin 21919. S..22 ff. Auf die Wertfrage im Lichte der »Schichtenästhetik« (besonders auf Roman Ingardens Unterscheidung von ästhetischen und künstlerischen Werten) sowie der »Abweichungsästhetik« (von Harald Fricke) ging ich in einem kürzlich erschienen Aufsatz ein: »Noch einmal: Ästhetik, Kunstbegriff und Wertfrage« In: Acta Humanistica et Scientifica Universitatis Sangio Kyotiensis, 29/2, Humanities Series No. 25 (1998) S..147-167. 11 Vgl. dazu meinen Aufsatz: »›Camp‹ und ›Kitsch‹. Neue Konzepte der internationalen Ästhetik«. In: Doitsu Bungaku 86 (Tokyo, Frühjahr 1991), S..148-156. 12 Thomas Baumeister (»Ästhetische Erlebnisse«. In: Zeitschrift für Ästhetik 39/2 (1994). S..145161), der sich mit der schwer bestimmbaren »Eigenart und Eigenständigkeit« der ästhetischen Erfahrung auseinandersetzt, geht davon aus, daß wir ästhetische Erlebnisse »vornehmlich unter den Wahrnehmungserlebnissen« zu suchen haben (a.a.O., S..151). 13 T. J. Diffey’s kurze Zusammenstellung von mißverständlichen Gebrauchsweisen des Begriffes (»A Note on Some Meanings of the Term Aesthetic«. In: British Journal of Aesthetics 35/2 (1995). S..61-66) befindet sich nicht im Widerspruch zu meinen Anschauungen. Marcia Mueler Eaton (»The Social Construction of Aesthetic Response«. In: British Journal of Aesthetics. 35/4 (1995). S..106) versucht, die aesthetische Reaktion von der sozio-psychologischen Seite anzugehen, und kommt, ebenso wie die Untersuchungen des Kunstbegriffs, zur Erkenntnis von deren sozialer De9

10

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Den Begriff »Kunst« kann man vordergründig von »Können« ableiten, ihn an den Begriff des Schönen binden oder aber wie Morris Weitz14 als »offenen Begriff« definieren und damit jedem gestatten, als »Kunst« zu bezeichnen, was ihm beliebt. Jedoch ist daran festzuhalten, daß »Kunst« sich auf etwas vom Menschen Gemachtes, Veranstaltetes oder zu diesem Status Erhobenes bezieht, was – im Unterschied zum Ästhetischen – außerhalb unserer selbst liegt.15 Mit künstlerisch ist dementsprechend eine Gestaltungsweise zu bezeichnen, die sich auf etwas außerhalb der Person des Erlebenden und Gestaltenden richtet, nicht ausschließlich auf sicht- und greifbare Kunstwerke, sondern etwa auch eine Aufführung (Tanz, Happening etc.). »Künstlerisch« bedeutet also hauptsächlich »wie ein Künstler schaffend« und nicht unbedingt erlebend, denn was wissen wir, wie ein Künstler erlebt und worin sein Erleben sich von dem des »Ästheten« unterscheidet? Der Unterschied zwischen den Begriffen »ästhetisch« und »künstlerisch« kann aber auch als der zwischen passiver und aktiver Hingabe an das Reich der sinnlichen Wahrnehmung beschrieben werden, womit – wie erwähnt – noch nichts über die Art dieser Hingabe gesagt ist. Eigenartigerweise ist das scheinbar einleuchtendste Anmutungserlebnis des »Schönen« der schwierigste Begriff und in der gegenwärtigen Ästhetik äußerst umstritten.16 Nicht erst seitdem in der Gegenwart die »nicht mehr schönen Künste«17 doterminiertheit: »I have tried to show that claims made […] about emotion are true of aesthetic response. The dependence upon language and culture for a full understanding of the latter as well as the former is thus underscored. The contextualist turn away from formalism and universalism is to that extent justified.« 14 Morris Weitz: »The Role of Theory in Aesthetics«. In: Journal of Aesthetics and Art Criticism 15 (1956/57). S..27-35. – David Novitz (»Art by Another Name«. In: British Journal of Aesthetics 38/1 (1998). S..20) sieht den Kunstbegriff als sozial determiniert: »The word ›art‹, I want to argue, is […] socially imbued, and it is this, I will show, that makes the identification of art across cultures a delicate and complex task that is much more prone to error than art critics and anthropologists sometimes suppose«; und an anderer Stelle: »According to M. H. Abrams, for instances, there were no ›works of art‹ in our sense until about the seventeenth century, so that what we now see and understand as art was not so understood by Europeans much before that time.« 15 Siehe zum Kunstbegriff auch Udo Kultermann: Kunst und Wirklichkeit. Von Fiedler bis Derrida. Zehn Abhandlungen. München 1991. 16 Vgl. Siegfried J. Schmidt (Hrsg.): »schön«. Zur Diskussion eines umstrittenen Begriffs. München 1976; und meinen Aufsatz »Was bedeutet ›schön‹ in der Ästhetik?« In: Acta Humanistica et Scientifica Universitatis Sangio Kyotiensis 19/2. Humanities Series 17 (Kyoto May 1990). S..215-235; Wolfhart Henckmann (a.a.O. (Anm..1). S..171) hebt die Leerheit des Begriffs hervor und betont die Notwendigkeit seiner Konkretisierung: »›schön‹ ist der ›Hauptbegriff‹ der Ästhetik, da er den größten Umfang hat. Die anderen umgangssprachlichen Ausdrücke ordnen sich ihm unter nach den Konkretisierungsbedingungen des Grades, der Ursache, Folge, Art, Höhe oder Güte von Lust oder Unlust.« 17 Hans Robert Jauß (Hrsg.): Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen. München 1968 (Poetik und Hermeneutik III). Vgl. bereits Karl Rosenkranz: Ästhetik des Hässlichen. Königsberg 1853, neu hrsg. von Wolfhart Henckmann. Darmstadt 1973. Vgl. auch Allen S. Weiss: The Aesthetics of Excess. Albany, N.Y. State University Press 1989, eine Sammlung von Essays über Nietzsche, de Sade, Schreber, Artaud, Klossowski, Deleuze, Bataille und Freud.

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minant geworden zu sein scheinen, ist klar geworden, daß Kunst zwar »schön« sein kann, aber nicht zu sein braucht. Man konnte dies bekanntlich schon lange beobachten, wenn man über die Grenzen des abendländischen, vom griechischen Schönheitsideal geprägten Kulturkreises hinausschaute, z.6B. auf die afrikanische, asiatische oder vorkolumbianische Kunst. Unser Schönheitsideal ist, soweit es sich auf den Menschen bezieht, ethnozentrisch. Wir glorifizieren in ihm den Idealtypus unserer eigenen (hochbeinigen) Rasse. Ein Azteke oder Japaner hätte vor der Epoche der Dominanz des weißen Mannes gar nicht auf dieses Ideal kommen können, weil dieser Typ in seiner eigenen Rasse kaum anzutreffen ist. Ein instruktives Beispiel für die Relativität unserer Schönheitsmaßstäbe, soweit sie sich auf Menschen beziehen, ist der anfängliche Abscheu, den die Japaner vor den Holländern und Portugiesen empfanden und der sich besonders anschaulich in den ersten Darstellungen der Fremden auf den »NambanStellschirmen« spiegelt.18 Bis in unser Jahrhundert wirkten die »gaijins« auf sie grotesk. Erst nach dem letzten Weltkrieg änderte sich das grundlegend und führte schließlich bis zu operativen »Korrekturen« der Augenlider und Nasen. Es ist überdies längst offenkundig, daß auch Architektur, Kunst und Musik anderer Kulturen anderen Schönheitsmaßstäben verpf lichtet sind. Zur Erinnerung bringe man nur einmal eine griechische Apollonstatue und eine der insektenartigen »tausendarmigen« Kannonstatuen Japans, beide von religiöser Bedeutung und geschaffen von Hochkulturen, vor sein inneres Auge oder man vergleiche die Schlichtheit der Villa Katsure, deren Schönheitsideal dem unserer Bauhausbewegung entspricht, mit dem Figurenreichtum eines südindischen Tempels (s. Abb. S. 162), den man aus der Sicht der ersteren nur als »überladen« bezeichnen kann. Oder man höre eine sakrale Shinto-Musik neben einer Palästrina-Messe. Wenn es also kein »allgemeingültiges Schönheitsideal« gibt, so ist weiter zu berücksichtigen, daß es Schönheit auch außerhalb der Kunst, in der Natur oder am Menschen, gibt, Kunst aber nicht »schön« zu sein braucht; so ist der Schönheitsbegriff einerseits enger, andererseits weiter als der Kunstbegriff. Andererseits deckt er sich auch nicht mit dem Begriff des Ästhetischen, bzw. der Ästhetik als Disziplin.19 Leicht zugänglich sind die beiden Dokumentationsbände einer Ausstellung im Rahmen der 43. Berliner Festwochen, Japan und Europa 1543-1929, hrsg. von Doris Croissant und Lothar Ledderose, zusammen mit Hendrik Budde und Gereon Sievernich. Berlin 1993. In Bd. 1 findet man eine Dokumentation von Sakamoto Mitsuro: »Namban Stellschirme, Bilder der Fremde«, S..56-71, sowie »Das Bild der Fremden – Namban Stellschirme und Genre-Malerei im westlichen Stil des 16. bis 17. Jhs.«, S..235-244. Im 2. Bd. ist besonders auf die Aufsätze von Kirschnereit, S..9-17, und Kreiner, S..18-26, hinzuweisen. 19 So wendet z..B. Wilhelm Perpeet in seinem wichtigen Aufsatz »Ästhetik und Kunstphilosophie«. (In: Ders.: Vom Schönen und von der Kunst. Bonn 1997 (Beiheft 4 der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft). S..9-29) sich zwar gegen »die Gleichung Kunstsein.=.Schönsein« als »eine historisch bedingte«, die aus den Künstlerästhetiken und Malertraktaten des florentinischen Quattrocento stammt: »Damals wurde Schönheit zum Kunstideal« (ebd. S..10). Jedoch bezeichnet er als »die ästhetische Grundfrage« die Suche nach einem »transsubjektiven« Grund des 18

162

Wolfgang Ruttkowski Villa Katsure, Kyoto, 17. Jhd., Eingang

Khajuraho-Tempel, Indien, ca. 1000 n. Chr.

»Ästhetisch« kann »Schönes« und »Häßliches« und sogar Neutrales (weder schön noch häßlich) erlebt und »künstlerisch« gestaltet werden. Wer betont, daß in der Kunst das Häßliche durch die Formung »überwunden« wird, muß es doch zuerst als »häßlich« bezeichnen. Hinzu kommt, daß in weiten Bereichen der zeitgenössischen Kunst das Häßliche, Unharmonische, Fragmentarische, ja Grauenhafte ausdrücklich Schönen, also die Fragen: »Was ist schön?« und »Wodurch ist Schönes schön?« (ebd. S..17f.). Es geht ihm dabei nicht um eine namentliche Bestimmung, sondern um die sachliche. Perpeet trennt also die Begriffe »Kunst« und »Schönheit«, nicht aber »Ästhetik« und »Schönheit«. Mir geht es hier darum zu zeigen, daß es angemessener ist, auch die beiden letzteren sorgfältig auseinanderzuhalten. Auch Bernhard Brugger trennt in seiner Dissertation (Die Psychologie vor dem Schönen. Bern, New York, Paris 1987. Europäische Hochschulschriften. Reihe 6, Psychologie; Bd. 208) nicht konsequent das Schöne vom Ästhetischen. Seine Arbeit enthält eine umfangreiche Bibliographie psychologischer Untersuchungen des Phänomens des Schönen.

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zum Thema wird, und zwar auf eine Weise, die seine »Überwindung« – sei es inhaltlich oder formal – ausdrücklich ausschließt.20 Aber nicht nur in der Kunst können weite Bereiche »ästhetisch« erlebt werden, die nicht »schön« zu sein brauchen, so z.6B. eine monotone Wüstenlandschaft, die man wohl als »neutral« bezeichnen sollte, ein drohender Gewitterhimmel, eine verwesende Tierleiche. Ebenso ein auf eindrucksvolle Weise »häßlicher« Mensch. Deshalb wird dieser gelegentlich »künstlerisch« dargestellt (Dürers Mutter). Nicht nur eine Landschaft und ein Mensch, auch eine Wohnungseinrichtung oder ein Abendessen können »ästhetisch« wirken. Kunstwerke wiederum können durchaus nicht nur als solche, »ästhetisch« erlebt werden. Sie können z.6B. auch als historische Dokumente oder als ökonomische Objekte betrachtet werden. Kurz, die Attribute »schön«, »künstlerisch« und »ästhetisch« müssen auseinandergehalten werden, wenn sie im ästhetischen Diskurs ein Instrumentarium nützlicher Unterscheidungen bieten sollen. Diese Begriffe gewinnen an Schärfe, wenn das Attribut ästhetisch hauptsächlich für Personen, ihre Einstellung und Erlebnisse, verwandt wird, solange diese sich nicht in Gestaltungen niederschlagen, künstlerisch für menschliche Produkte und deren Art der Gestaltung, seien es Kunstgegenstände oder -aufführungen, und schön für Anmutungserlebnisse, Wohlgefallenskundgebungen, die, wie gesagt, überdies weitgehend kulturell bedingt sind.21 III. Die Schichtung ästhetischer Begriffe Inwiefern kann nun Sibley Begriffe wie »graziös«, »elegant« und »anmutig« als »ästhetische Ausdrücke im eigentlichen Sinne« bezeichnen, Svoboda dagegen nur die Begriffe »schön« und »häßlich« und ich selbst schließlich »ästhetisch«, »künstlerisch« und »schön«? Diese Frage beantwortet sich wie von selbst, wenn man sich klar macht, um welche Art von Begriff es jeweils geht, d.6h. wenn man auf die Bereichskennzeichnungen und die Schichtung der Begriffe achtet. Sibley interessiert sich für Charakterisierungen von Kunstwerken und anderen ästhetisch erlebten und bewerteten Gegenständen und Handlungen. Innerhalb dieses Bereichs sind seine Untersuchungen und Feststellungen zutreffend. Svoboda spricht letztlich von Bewertungen eben dieser Charakterisierungen. Wer »schön« oder »häßlich« sagt, indiziert ja nur Zustimmung oder Ablehnung. Sobald er beschreiben will, Vgl. Barbara Ränsch-Trill: »›Zu schön, um wahr zu sein‹. Philosophische Gedanken über das Unbehagen an der Schönheit in der Kunst im Spiegel einer Redensart«. In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 32 (1987). S..174-199. 21 Nick Zangwill (»The Beautiful, the Dainty, and the Dumpy«. In: British Journal of Aesthetics 35/4 (1995). S..317-329) bezeichnet derartige Wohlgefallens- oder Missfallenskundgebungen, also die Werturteile als »verdictive aesthetic judgements« im Unterschied zu den von Sibley beschriebenen, die er »substantive aesthetic judgements« nennt: »The question we have to consider is: what is the relation between verdictive and substantive judgements?«, kommt jedoch zu widersprüchlichen Ergebnissen, auf die ich hier nicht eingehen kann. 20

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warum er etwas auf diese Weise bewertet, muß er sich der Sibleyschen Kennzeichnungen bedienen. Svoboda kann daher sagen: »Das Anmutige macht einen Teil des Schönen aus.« Er hätte auch das »Graziöse« oder das »Elegante« so zuordnen und sagen können: Das Anmutige, Graziöse, Elegante (und noch manches andere) können wir als »schön« erleben. Oberhalb der noch relativ konkreten Sibleyschen Charakterisierungen und der bereits wesentlich abstrakteren Svobodaschen Bewertungsbegriffe liegen die beiden weiteren, hier besprochenen Bereichskennzeichnungen »ästhetisch« und »künstlerisch«. Von diesen soll der erste eine besondere Erlebnisweise, der zweite eine besondere Gestaltungsweise kennzeichnen. Diese Begriffsarten sind aufeinander angewiesen, daher sprechen wir von einer »Schichtung« der Begriffe. Wenn man die Begriffe »ästhetisch«, »künstlerisch« und »schön« als drei Bedeutungsbereiche sieht, die im Bereich der Phänomene überlappen können aber nicht müssen, und sie graphisch (siehe Diagramm 2) als drei Kreise (Ä, K, S) versinnbildlicht, die sich alle überschneiden können, so erhält man drei Sektoren teilweiser Deckung (I, II, III) und einen totaler Deckung (IV) (vgl. Diagramm 2). Die Sektoren bedeuten:

S II

III IV

K

I

Ä

Diagramm 2: Die Kernbegriffe der Ästhetik und ihre Überschneidungen

I: Kunst, die keine Schönheit gestaltet, wohl aber – für unser Empfinden – eine ästhetische Wirkung vermittelt (z.6B. moderne Kunst, aber auch die anderer Kulturen). II: »Kunst«, die »Schönheit« gestaltet, jedoch auf uns keine ästhetische Wirkung ausübt, bzw. diese verfehlt, wie z.6B. der Kitsch. Hier läßt sich natürlich darüber streiten, ob wir in diesem Falle von »Kunst« und »Schönheit« sprechen dürfen. Wenn man jedoch die Wandelbarkeit und Kulturabhängigkeit unserer auf Kunst zielenden Maßstäbe bedenkt, wird man hier nicht zu streng sein.22 III: Die ästhetische Wirkung, die Phänomene der Natur oder die menschliche Gestalt auf uns ausüben können und denen wir dann Schönheit zusprechen. IV: Das Kunstwerk, in welchem Schönheit »künstlerisch« gestaltet und uns ein ästhetisches Erlebnis vermittelt wird. 22

Vgl. vom Verfasser: »Kitsch und Camp«. A.a.O. (Anm..11). S..154-156.

Kernbegriffe der Ästhetik im ästhetischen Diskurs

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Von hier aus ergeben sich Unterscheidungen, die abschließend zur Diskussion gestellt werden. 1. Es können im Blick auf die Begriffe, die auf sogenannte ästhetische Gegenstände und Erlebnisse bezogen werden, die genannten Bereichsbegriffe (ästhetisch, künstlerisch) sowie Wertungs- und Reaktionsbegriffe, eventuell auch stil- und gattungsbezogene Begriffe, Charakterisierungen als »Schichten« unterschieden werden, die vom Allgemeinen zum Besonderen gehen (vgl. Diagramm 3, S. 166). 2. Innerhalb der abstraktesten Schicht ist zunächst zwischen der Erlebnisform »ästhetisch« und der Schaffensform »künstlerisch« zu unterscheiden. Der erste Begriff bezieht sich nicht nur auf Kunst, und wenn auf diese, dann auf den passiven Umgang mit ihr (Kunsterleben). Der zweite bezieht sich vor allem auf Kunst und auf Gegenstände, die wie Kunst erlebt werden, sowie auf den aktiven Umgang mit diesen (Kunstschaffen). 3. Abzugrenzen ist nicht nur ästhetisches Erleben von künstlerischem Schaffen, ästhetisches Erleben allgemein vom Erleben von Kunst im Besonderen, sondern auch der Kunstbegriff vom Schönheitsbegriff sowie der Schönheitsbegriff vom ästhetischen Erleben. Der Schönheitsbegriff war zwar historisch ein Hauptthema der Ästhetik, muß es aber logisch nicht sein. Das Schönheitsideal bestimmte in der Geschichte der abendländischen Ästhetik häufig den Kunstbegriff, muß es aber nicht prinzipiell. Die erstweilige Trennung der eben aufgeführten Begriffe ist nicht nur nützlich, sondern auch notwendig, um in deren Überschneidungen alle vorkommenden Phänomene zu erklären (s. Diagramm 2) und angesichts der neueren Kunstentwicklung noch fragen zu können, was ein Kunstwerk ist und worin ästhetisches Erleben besteht, wie also beide im ästhetischen Diskurs benannt und beschrieben werden können. 4. Hinsichtlich des Schönheitsbegriffs, der in der abendländischen Ästhetik eine zentrale Rolle gespielt hat, ist es ratsam, nicht zu vergessen, daß er ein Wertungsbegriff ist, der in jedem Fall mit Hilfe der Charakterisierungen konkretisiert werden muß, so daß Werturteile über Kunst auf eine »Schichtung« der Begriffe angewiesen sind. 5. Hier ist jedoch zu betonen, daß auch diese Konkretisierung zur Begründung eines Werturteils (über Kunst oder andere als »schön« oder »gelungen« empfundene Gegenstände und Erlebnisse) nicht ausreicht, weil auch die relativ konkreten Charakterisierungen nur »regional« gelten und überdies auch auf nicht positiv bewertete Gegenstände und Erlebnisse bezogen werden können. Nur in ihrem Zusammenwirken werden Charakterisierungen von uns als »schön«, »gut« oder »gelungen« erlebt – falls wir zu derartigem Erleben überhaupt in der Lage oder in Stimmung sind. Über die Art und Weise des Zusammenwirkens der Charakterisierungen oder der »ästhetischen Eigenschaften« im Kunstwerk ist damit allerdings noch nichts gesagt. Arnold Isenberg23 hat in dieser Hinsicht unterstrichen, daß man von einem Vgl. Arnold Isenberg: »Critical Communication«. In: Philosophical Review 58, 1 (1949). S..330-344. Hier: S..337. 23

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Kunstwerk eine noch so lange Liste beobachteter Eigenschaften zusammenstellen könne und hätte damit noch immer nicht demonstriert oder gar bewiesen, daß dieses Kunstwerk »gut«, »wertvoll« oder »schön« sei. Um ein solches Urteil zu fällen, müssen wir es sehen (bzw. hören). Und William Kennick24 hat festgestellt, daß fast jede Eigenschaft eines Gegenstandes in bestimmter Kombination mit anderen »ästhetisch« auf uns wirken kann. Umgekehrt kommt, so Ted Cohen25, jedes Merkmal, auf das innerhalb einer ästhetischen Erfahrung besonders hingewiesen wird, auch in nicht-ästhetischen Erfahrungen vor. Bereichsbegriffe

»ästhetisch« (Erlebnisform) »künstlerisch« (Gestaltungsform)

Wertungsbegriffe

Zentralbegriffe

»schön« »gut« »geschmackvoll« etc. und

Reaktionsbegriffe

»großartig« »überwältigend« »rührend« etc.

Stil- und gattungs-

»tragisch«, »komisch«, »realistisch«, »idea-

bezogene Begriffe

listisch«, »barock«, »klassisch«

Charakterisierungen mit Doppelfunktion

»einheitlich«, »dynamisch«, »ausgewogen«, »originell«

ohne Doppelfunktion »anmutig«, »erhaben«, »niedlich«, »elegant«, »graziös« etc. Diagramm 3: Schichtung ästhetischer Begriffe (jeweils, soweit vorhanden, mit ihren Gegenbegriffen) Vgl. William Kennick: »Does Traditional Aesthetics Rest on a Mistake?« In: Contemporary Studies in Aesthetics. Ed. Francis J. Colemann. New York 1968. S..411-427. Zur Auseinandersetzung mit der angelsächsischen Ästhetik des 20. Jahrhunderts vgl. John Hoaglund: »Warum nicht ästhetische Erfahrung?« In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 25/2 (1980). S..145-162. Siehe noch vom Verfasser: »Fragestellungen und Themen der deutsch- und englischsprachigen Ästhetik in den letzten fünfzig Jahren. Eine Übersicht«. In: Acta Humanistica et Scientifica Universitatis Sangio Kyotiensis 26/2. Humanities Series 23 (Kyoto March 1996). S..286-302. 25 Vgl. Ted Cohen: »Aesthetic/Non-aesthetic and the Concept of Taste: A Critique of Sibley‹s Position«. In: Theoria 39 (1973). S..113-152. 24

Kernbegriffe der Ästhetik im ästhetischen Diskurs

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6. Die Frage, ob es absolute, d.6h. von kulturellen Bedingungen unabhängige »Schönheit« bzw. Schönheitsmaßstäbe – innerhalb oder außerhalb der Kunst – gibt oder geben kann, und wenn dem so ist, »was schön ist« und »wodurch Schönes schön ist« (Perpeet), kann hier nicht eingehend diskutiert werden. Jedoch wird empfohlen, einen Begriff des Kunstschönen zu vermeiden, der in sich auch das Häßliche umfaßt. Denn wenn ein Begriff mit seinem Gegenbegriff zusammengefaßt wird, wenn also diese beiden Gegenbegriffe »versöhnt«, die Häßlichkeit von der Schönheit »spannungsvoll« umschlossen gedacht wird, verlieren beide Begriffe ihre Wirksamkeit. Wo auf diese Weise das (Kunst-) Schöne und Häßliche diskutiert wird, ist m.E. das »Ästhetische« gemeint. Denn das letztere stellt in gewissem Sinne einen »Überbegriff« für das Schöne und Häßliche dar, ebenso wie dieses Gegensatzpaar seinerseits einen Überbegriff für mehrere Charakterisierungen (anmutig, elegant etc.) und deren Gegenbegriffe abgibt. Wer allgemeingültige – nicht nur kulturell bedingte, sondern anthropologisch verankerte – Schönheitsmaßstäbe postuliert und zugleich die traditionelle Begriffsverbindung von »Schönheit« und »ästhetischem Erlebnis« festhält, findet keine Antwort auf die Frage nach den Erfordernissen einer zeitgenössischen Ästhetik.26 Trennt man jedoch, wie ich empfehle, die Begriffe Schönheit, Kunst und ästhetisches Erleben, dann ist es weder nötig, ein Schönheitskonzept zu formulieren, daß seinen Gegenpol, Häßlichkeit, mit umschließt, noch einen »neuen« Kunstbegriff zu konstruieren, der den Entwicklungen auf dem Kunstmarkt gerecht wird, und es erübrigt sich, eine »neue« Ästhetik für diese Entwicklungen zu fordern.27 Die Trennung der Begriffe »Schönheit«, »Kunst«, »ästhetisches Erleben« wird einem Kunstbegriff gerecht, der »offen« ist. Die Trennung ermöglicht zudem eine »vergleichende« Ästhetik, die dem ästhetischen Erleben anderer Kulturen theoretisch ebenso gerecht wird, wie dem unsrigen. Statt dessen war die Ästhetik bis vor nicht allzu langer Zeit durchaus »eurozentrisch« und nicht nur das: auch innerhalb dieser selbstauferlegten Beschränkung hatte sie keinen Blick für das ästhetische Empfinden früherer Epochen unserer eigenen Kunstgeschichte und für jeweils zeitgenössische Strömungen. 7. »Ästhetik«, als philosophische Disziplin, sollte nicht als »Lehre vom Kunst- und Naturschönen« definiert werden, sondern als »Lehre vom ästhetischen Erleben und künstlerischem Schaffen«, wie immer dieses ausfallen mag. Falls zwischen »Ästhetik« Vgl. Gregor Paul: Der Mythos von der modernen Kunst und die Frage nach der Beschaffenheit einer zeitgemäßen Ästhetik. Wiesbaden/Stuttgart 1985. 27 Wolfhart Henckmann (a.a.O. (Anm..4). S..181) hebt in dieser Hinsicht »die innere Entwicklungsdynamik der ästhetischen Kultur« hervor und unterstreicht: »Wenn heute gerade die klassischen Kategorien wie das Schöne, Erhabene, Tragische als veraltet, als unmodern gelten, dagegen Kategorien wie das Komische, Groteske, Satirische, Obszöne an Aktualität und Interesse zuzunehmen scheinen, dann deuten sich darin nicht nur die Geschichtlichkeit der einzelnen Kategorien, sondern Umstrukturierungen der gesellschaftlichen Erfahrung des Ästhetischen an, die das gesamte System der ästhetischen Kategorien betreffen.« 26

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und »Kunsttheorie« unterschieden werden soll, so bezieht sich die erstere auf das ästhetische Erleben und die letztere auf das künstlerische Schaffen.28 »Ästhetik« , als Disziplin, darf auch nicht mit dem »ästhetischen Erleben« bzw. der »ästhetischen Sensibilität« verwechselt werden. Sonst entstehen müßige Kontroversen wie der Streit um die Frage, ob es eine »feministische Ästhetik« gäbe, der die Feministen seit 1990 beschäftigt.29 Alle Verfechter/innen einer »feministischen Ästhetik« meinen nichts anderes als eine spezifisch »weibliche« Art, Kunst zu erleben und zu schaffen. Diese gibt es zweifellos, wenn auch nicht bei allen weiblichen Künstlern, ebenso wie es etwa typisch ethnisches oder typisch homosexuelles Kunsterleben und -schaffen gibt. Denn Kunst wird nicht in einem Vakuum geschaffen und erlebt, sondern jeweils aus einem spezifischen Erlebnishintergrund und -horizont. »Ästhetik« als philosophische Disziplin sollte selbstverständlich alle diese Färbungen umfassen, ließ sich aber tatsächlich erst in neuerer Zeit auf sie ein.

28 Vgl. die eingehenden Auseinanderlegungen über die »Zuständigkeitsbereiche der Kunstgeschichte, Kunsttheorie, Kunstphilosophie und der Ästhetik« von Götz Pochat: Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie. Von der Antike bis zum 19. Jahrhundert. Köln 1980. Einleitung, bes. S..15. 29 Vgl. Marilyn French: Is There a Feminist Aesthetic? In: Hypatia Vo. 5, No. 2 (Summer 1990) und in: Aesthetics in Feminist Perspective (Hrsg. Hilde Hein und Carolyn Korsmeyer. Bloomington und Indianapolis 1993. S..68-76). Vgl. Renée Lorraine: A Gynecentric Aesthetic (a.a.O. S..3552) und Ismay Barwell: Feminine Perspectives and Narrative Points of View (a.a.O. S..93-104).

Die Freiheit der Kunst Eine Künstlerästhetik in Kants Perspektive* Von Thomas Lehnerer

I. Die Thesen »Kunst ist, was Künstler machen«, und »Kunst ist das, was Kritiker zur Kunst machen« sind heute durchaus gängig. Man bemerkt aber sofort, daß sie zirkulär und nichtig sind. Denn man muß ja fragen: Was macht den Künstler zum Künstler? Und dann sagt man: Sein Kunst-Schaffen, seine Kunst! Und was macht die Kunst zur Kunst? Daß sie durch den Künstler gemacht ist! Das ist also ein Zirkel, mit dem man gar nichts erklärt. Man könnte natürlich weiter fragen, was den Künstler auszeichnet, daß er Kunst machen kann und gewisse »Charaktereigenschaften« nennen: Er ist besonders kreativ, besonders narzißtisch etc. Aber auch andere Menschen sind kreativ, narzißtisch etc. So kommt man nie an den Künstler heran. Das Problem bleibt. Man kommt dem Spezifikum der Kunst nicht dadurch näher, daß man diese Bedingung von Kunst, daß sie aus einem Künstler entsteht, zur Definition macht. Gleiches gilt für Kritiker. Natürlich ist es in der Praxis so, daß Galeristen, Museumsleute, Kritiker usw. entscheiden, was als Kunst gelten soll. Denn nur das, was sie ausstellen, kommt in die Öffentlichkeit, in den Kunstmarkt, und wird dadurch als Kunst zirkuliert. Aber, auch sie müssen sich fragen lassen, was sie unter Kunst verstehen, welche Merkmale, welche Kriterien für Kunst sie haben, wenn sie entscheiden: Dieses halte ich für gute Kunst, dieses nicht – dieses stelle ich aus, und das stelle ich nicht aus. Und schließlich könnte man Kunst als ein soziales System auffassen: Kunst ist das, was in den Institutionen der Kunst zirkuliert wird, was in Museen, Galerien, ja insgesamt in der Kommunikation über Kunst eine Rolle spielt. Diese soziologische Herangehensweise hat vieles für sich. Sie erklärt auch vieles, was faktisch passiert in der Kunstwelt. Ich will nicht bestreiten, daß vieles nur dadurch als Kunst erscheint, daß es irgendwo ausgestellt wird. Aber auch diese soziologische Sichtweise kann nicht der fundamentaleren Frage entkommen, nach welchen Kriterien der Rezipient, der Künstler, der Kritiker oder Museumsmann entscheidet, ob etwas Kunst ist und ob etwas gute Kunst ist.

Der Text geht auf einen Vortrag zurück, den der 1995 verstorbene Autor bei einer Tagung über Qualitätskriterien für zeitgenössische Kunst gehalten hat, die im Frühjahr 1994 von der Evangelischen Akademie in Hofgeismar bei Kassel veranstaltet worden ist. (Vgl. die »Nachlese« von Susanne Kaufmann. In: »Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft«. Bd. 39, 2 (1994). S. 239 ff.). - Der Vortragsstil wurde beibehalten. *

ZÄK Sonderheft · Jahrgang 2000 · © Felix Meiner Verlag 2000 · ISSN 1439-5886

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II. Es gibt aber offensichtlich gute Gründe, warum man heute zu dieser soziologischen und d.h. ausweichenden Erklärung von Kunst kommt. Denn es gibt kein objektives Kriterium mehr an den Kunstwerken, an dem man erkennen könnte, daß etwas Kunst ist. Ich spreche hier exemplarisch von bildender Kunst. Aber man kann diese Überlegungen auch auf Musik, Theater usw. anwenden. Wenn man sagt, bildende Kunst hat es mit Bildern im allerweitesten Sinne zu tun, so gilt: Es gibt kein objektives Merkmal an Bildern mehr, an dem wir erkennen, daß Bilder Kunst sind. Das ist ein wichtiger und moderner Gedanke, denn in früheren Jahrhunderten war es sowohl an der Form der Bilder als auch vor allem an deren Inhalt leicht zu erkennen, daß es sich um Kunst handelte. Man muß sich klarmachen, daß vor der massenhaften Produktion von Bildern durch Photographie, Druck usw. seit der Mitte des 19. Jhds. im Grunde alle Bilder von Künstlern gemacht waren. Es gab keine Abbildung, weder von Haus, noch Baum, noch von irgendwelchen Menschen, die nicht von Künstlern (im weitesten Sinne) gefertigt wurde. Auch der Form nach erkannte man Kunstwerke leicht, weil stets ganz bestimmte Techniken verwendet wurden. Aber heute gibt es nichts an Kunstwerken, was man objektiv als ein Merkmal von Kunst herausfiltern könnte. Wir können kein Material nennen, bei dem man sagt: Wenn das verwendet ist, ist es Kunst. Also zum Beispiel: Öl auf Leinwand – also Kunst! Das trifft nicht zu, denn es gibt unendlich viele Öl-auf-Leinwand-Produkte, die in die Innendekoration oder in Kaufhäuser usw. gehören, die man nicht als Kunst bezeichnet. Auch die Innovation, die Erfindung, die Erweiterung der Kunst im Hinblick auf neue Materialien ist nichts spezifisch Künstlerisches. Man wird kein Material nennen können, bei dem man sagt, das kann nur ein Künstler verwenden und niemand anderes. Gleiches gilt auch für Formen und Farben usw. Niemand wird heute behaupten können: Wenn man bestimmte (ich stelle absichtlich diese Absurdität etwas heraus) Farbkombinationen verwendet, dann handelt es sich um Kunst und nicht etwa um Werbung; und wenn man andere verwendet, dann ist es Werbung und nicht etwa Kunst. Also es gibt keine Form und keine Materialeigenschaft, die es nur in der Kunst gibt. Aber es gibt auch keine kunstspezifischen Inhalte. Man hat in der Romantik versucht, die Kunst dadurch zu definieren, daß sie im Unterschied zur Wissenschaft Gefühl zum Ausdruck bringt. Gefühle, Stimmungen werden spezifisch durch die Kunst dargestellt. Aber auch darin ist Kunst heute keineswegs mehr spezifisch. Denn die umfassende Therapiekultur in unserer Welt hat das Problem der Authentizität und der originalen Gefühle und Stimmungen genauso zum Thema. Ja, in den verschiedensten Therapien wird das emotionale Ausdrucksverhalten wesentlich intensiver und umfassender zur Darstellung gebracht als in der Kunst. Auch die Selbstthematisierung der Kunst, ihre Sich-mit-sich-selbst-Beschäftigung ist nicht kunstspezifisch. Man erkennt Kunst nicht daran, daß Bilder sich mit Kunst beschäftigen.

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Es gibt – lange Rede, kurzer Sinn – kein objektives Kriterium, keine Form, kein Material und auch keine Inhalte mehr, die nur die Kunst thematisieren könnte. Das Spezifische der Kunst aber gilt es zu finden. Wir müssen etwas finden, was nur die Kunst kann, was nur die Kunst leisten kann. Erst dann hätten wir eine differentia specifica, etwas Besonderes, was die Kunst gegenüber allen anderen Bereichen auszeichnet. Diese Besonderheit gilt es zu finden.

III. Wenn es kein objektives Kriterium gibt, dann möglicherweise ein subjektives. Das ist eine Überlegung, die in der Theoriegeschichte schon relativ früh, im Grunde mit der Entstehung der philosophischen Ästhetik aufkam. Die Ästhetik ist ja bekannterweise eine wissenschaftliche Disziplin, die erst 1750 durch Baumgarten entwikkelt wurde und dann ihre bis heute wirkungsmächtige Ausformulierung durch Kant erfahren hat. Die Ästhetik ist in dieser ursprünglichen Form eine philosophische Disziplin, in der nicht nur die Kunst, sondern auch das Schöne und die sinnliche Erkenntnis, wie es damals hieß, in einer zusammenhängenden Theorie thematisiert wurden. Und das Wesentliche ist die Einsicht, daß nicht nur die logische und objektive Erkenntnis, sondern auch die sinnliche und subjektive Erkenntnis eine Erkenntnis ist, und insofern etwas über die Welt oder über unser Verhalten zur Welt auszusagen vermag. Das heißt also, man beginnt mit der Aufklärung zu sehen, daß es nicht nur eine objektive Beschreibung der Welt gibt, sondern auch eine subjektive. Und darin beginnen die verschiedensten Theoretiker, das Spezifikum der Kunst zu entdecken. Diese subjektive Art und Weise kann man zunächst einmal auf die Sinnlichkeit beziehen. Und das ist etwas, was verschiedene Theoretiker heute in den Vordergrund stellen. Sie nennen es »Sinnenbewußtsein«. Wir müssen sinnliche Eindrücke immer verbinden mit Gedanken. Auch schon neurophysiologisch gilt: Es gibt nichts, was nur im Auge läge, was »Augeneindruck pur« wäre, sondern es ist so, daß sich Augeneindrücke, Sinnlichkeit unmittelbar mit kognitiven Funktionen, mit Funktionen unseres zentralen Nervensystems verbinden. Und insofern sehen wir immer nur, was wir wissen. Unser Denken und unsere Sinne lassen sich nicht trennen. Und es ist niemals so, daß wir Kunstwerke »rein sinnlich«, ohne Begriffe wahrnehmen. Im Gegenteil, wenn uns reine Sinnlichkeit vorgeführt werden soll, so ist eine Idee leitend, der wir begriff lich und gedanklich begegnen müssen, um überhaupt zu verstehen, was Künstler wie z. B. Frühtrunk oder Rothko im Auge hatten. Es gibt eine andere Form von subjektiver Wahrnehmung, die völlig frei von allen Bedingungen ist, sowohl der Sinnlichkeit, als auch der Begriff lichkeit. Ich nenne diese Wahrnehmung »Empfinden aus Freiheit«. Wir können die Welt subjektiv empfinden, ohne daß wir durch irgend etwas in bestimmter Weise bestimmt sind, daß wir also sozusagen ganz frei unsere Subjektivität empfinden.

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Wie ist dies möglich? Einfach dadurch, daß wir bei der Wahrnehmung von Welt, Natur, Kunst auch alle möglichen Bedingungen, die auf uns einwirken, wahrnehmen und miteinander ins Spiel kommen lassen. Wir sehen etwa, wenn wir einen Baum ansehen, die Rinde, ein Braun, eine Vertikalität; uns fallen Begriffe ein; es stellen sich Assoziationen ein: Das ist ja eine Eiche, da habe ich schon als Kind gestanden usw. In dem Moment, in dem wir einen Gegenstand ansehen und ihn nicht in bestimmter Weise bestimmen, ihn also nicht als einen bestimmten Zweck oder eine bestimmte Funktion festmachen, sondern ihn nur ansehen, kommen uns Hunderte von Dingen in den Kopf und in die Sinne. Man sieht alles Mögliche, und dadurch entsteht, wenn man in diesem Zustand verbleibt, ein freies Spiel aller Eindrücke. Und dieses freie Spiel aller sinnlichen wie gedanklichen assoziativen Eindrücke kann man empfinden. Das ist die These: Wir haben ein Empfinden, wenn wir die Welt in dieser unbestimmten Weise ansehen. Und dieses Empfinden ist entweder positiv, lustvoll oder unlustvoll. Es ist lustvoll dann, wenn dieses Spiel frei ist, wenn es sozusagen keine bestimmte Bestimmung gibt, die uns in eine bestimmte Richtung führt und sagt: Aha, das ist also der Zweck oder die bestimmte Funktion dieses Gegenstandes – dann nämlich bleiben wir in einer bestimmten Gedankenkonstruktion stecken. Das wäre gerade unser normales Weltverhalten. Normalerweise sehen wir Dinge immer so an, daß wir fragen: Was haben sie für einen Zweck? Was bedeuten sie? Wohin führen sie? Es ist in jeder Wahrnehmung sofort der Begriff da oder die Funktion oder der Zweck. Man kann sich aber in der Wahrnehmung auch frei lassen, man kann alle Eindrücke spielen lassen und zu keiner Bestimmung kommen, sondern nur zu einem Gefühl. Und dieses Empfinden oder dieses Gefühl nennt man traditionellerweise »ästhetisches Empfinden«, »ästhetisches Gefühl«. Mit »traditionellerweise« meine ich: seit Kant. Diese Vorstellung beruht auf Kants Theorie der Urteilskraft. Kant hat dieses Empfinden aus Freiheit zum ersten Mal in dieser Weise beschrieben. Und darin haben wir nun eine spezifische Verhaltensweise gegenüber der Welt, die sich gänzlich unterscheidet von unserem alltäglichen Verhalten, unserem technischen Verhalten zur Welt. Es ist sozusagen ein suchendes Verhalten. Angenommen, wir hätten hier ein spezifisch ästhetisches Empfinden, ein spezifisch ästhetisches Bewußtsein, so haben wir aber damit immer noch nicht den Kunstbegriff gefunden, denn dieses ästhetische Verhalten kann sich nun auf alles Mögliche beziehen: Es kann sich auf die Natur, es kann sich u.U. sogar auch auf technische Geräte beziehen; es kann sich auf menschliches Verhalten beziehen; es kann sich auch auf Kunstwerke beziehen. Wir können alles als »schön« empfinden, haben darin also nicht das Spezifische der Kunst gefunden. Deswegen komme ich jetzt zu meinem vierten Punkt.

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IV. Der Kunstbegriff läßt sich – das ist jetzt die These – leicht dadurch finden, daß man Kunst zunächst ganz trivial als ein Tun und Machen bestimmt. Und weiter: Kunst ist der bewußte Versuch der Herstellung eines Gegenstandes, der mir ein ästhetisches Empfinden ermöglicht. Kunst ist ein Machen, Tun oder – wie ich in meiner Theorie sage – eine Methode, die zum Ziel hat: ein ästhetisches Empfinden in der beschriebenen Weise. Kunst ist eine Methode, die das ästhetische Empfinden, das Empfinden aus Freiheit zum Ziel hat. Darin ist sie spezifisch. Kunst hat auch viele andere Ziele. Aber dieses Ziel – das ist die These – ist das Spezifikum der Kunst. Nur die Kunst – so lautet die These – ist ein Machen, was dieses freie ästhetische Empfinden zum Ziel hat. Aber wie soll ich etwas machen, was man nicht machen kann? Das Empfinden aus Freiheit soll ja gerade ein Empfinden sein, was sich nicht auf etwas Bestimmtes bezieht, auf eine bestimmte Methode, auf einen bestimmten Zweck, einen bestimmten Begriff. Wie soll ich also etwas mache, was im Rezipienten, im Bewußtsein dessen, der es anschaut, diese Unbestimmtheit erzeugt? Denn immer, wenn ich etwas mache, mache ich etwas Bestimmtes. Ich habe eine bestimmte Idee und realisiere diese Idee. Deswegen sieht man in jedem Produkt diese Idee, den Zweck und sieht die Art und Weise, wie es realisiert ist. Und wenn man beim Betrachten eines Gegenstandes nur die Realisierung und diese Idee sieht, so ist man nicht mehr in der Freiheit des ästhetischen Spiels. Kunst ist also, so wie ich es jetzt formuliert habe, zutiefst in einem Paradox gefangen. Das Spezifische der Kunst ist, daß wir etwas machen, was man eigentlich, genau betrachtet, nicht machen kann. Das genus proximum, also der Gattungsbegriff der Kunst, ist Methode, ist Machen. Und die differentia specifica besteht darin, daß das Machen keinem bestimmten Zweck folgt. Alles andere Machen des Menschen, alle anderen Methoden haben einen bestimmten Zweck. Ob wir Autos machen, Gebäude herstellen oder hier miteinander diskutieren, es hat zunächst einmal immer einen bestimmten Zweck und ist insofern ein technisches Tun. Den Begriff der Methode verwende ich deshalb, weil er irritierend ist. Normalerweise verstehen wir unter Methode etwas, bei dem wir einen Plan haben, bei dem wir eine Idee haben und sie nach einem bestimmten Vorgehen realisieren. »Methode« ist ein griechisches Wort und heißt: »nach dem Weg, gemäß dem Weg«. Man kann aber an Gegenständen auch, nachdem sie entstanden sind, den Weg, ihre Entstehung, ihre Genesis sehen oder rekonstruieren. Und auch das, dieses Im-Nachhinein-Sehen, kann man »Methode« nennen. Also, wenn ich zum Beispiel sage, »Punkt, Punkt, Komma, Strich – fertig ist das Mondgesicht«, so ist die Methode für das Mondgesicht dieses »Punkt, Punkt, Komma, Strich«. Das ist eine Regel, eine Anleitung. Ich kann aber auch im Nachhinein, wenn das Mondgesicht fertig ist, diese Regel an dem Gegenstand sehen. Ich sehe, aha, das ist nach dieser PunktPunkt-Komma-Strich-Methode hergestellt. Bei technischen Gegenständen funk-

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tioniert der technische Ablauf so, daß ich eine Idee, einen Plan habe, der genauestens realisiert werden soll. Und die Realisierung ist dann schlecht oder fehlerhaft, wenn diese Idee oder der Plan, das Konstrukt nicht plangemäß realisiert ist. Und dieses Verhältnis ist in der Kunst fundamental anders. Natürlich hat ein Künstler viele Ideen im Kopf oder Pläne, er will immer in irgendeiner Weise etwas Bestimmtes erreichen. Angenommen, er will ein Portrait malen, dann kauft er sich Stifte und Papier, wählt die Größe aus; er hat viele Gedanken im Kopf. Er setzt sich hin, nimmt das Modell usw. Aber das Gelingen seines Portraits, das ästhetische Gelingen – und mit Gelingen meine ich eben dies, daß es am Schluß Kunst ist – hat er nicht in der Hand und kann er nicht planen. Das ist die These, die sich mit diesem Kunstbegriff verbindet. Ich bezeichne Kunst daher als Methode aus Freiheit. Das bedeutet: Auch wenn der Künstler präzise Ideen im Kopf hat und die Mittel genau beherrscht, kann er das Gelingen seines Kunstwerkes, also dies, daß es zur Kunst wird, nicht technisch erzwingen und erzeugen. Die ästhetische Qualität hat er nicht in der Hand. Der Künstler muß deshalb letztlich so vorgehen – man nennt das den kreativen Prozeß -, daß er alle Vorstellungen, die er im Kopf hat, im Realisierungsprozeß zugleich auch revidieren kann. Er muß, während ein Kunstwerk entsteht, auch plötzlich ganz andere Ideen haben dürfen, es können Fehler entstehen in der Realisierung, die gerade für das ästhetische Empfinden positiv sind. Es ist letztlich so – darin kulminiert der Begriff »Methode aus Freiheit« –, daß alle Bedingungen, die bei der Produktion eines Kunstwerkes eine Rolle spielen, frei miteinander zusammenspielen müssen. Das ist der zentrale Punkt. Und zu den Bedingungen, die in ein Kunstwerk eingehen, gehört der Künstler, sein Bewußtsein, seine Ideen, sein Gefühl. Aber zu den Bedingungen gehören ebenso seine Hände, die er nicht unbedingt ganz in der Hand hat. Dazu gehören auch das Material, die Far- Thomas Lehnerer, Kleiner Hiob, 1993, Bronze, ben, die Eigenschaften des Materials, verlorene Form, 21 x 5 x 5 cm

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seine Eigengesetzlichkeit. Dazu gehört – um größere Zusammenhänge aufzugreifen – der Zeitgeist, das Empfinden der Menschen in einer Zeit. Dazu gehören die Kunstwelt, die Museen usw., und dazu gehört letztendlich auch der Rezipient. Alles spielt sozusagen in die Produktion des Kunstwerks mit hinein. Wenn Sie sich nur eine kleine Zeichnung oder eine kleine Plastik ansehen, so sehen Sie, daß man eine ungeheure Fülle von Bedingungen festmachen kann. Man kann eine Faktorenanalyse anstellen und sagen, dieses und jenes spielt dort hinein, dieses und jenes ist verantwortlich dafür, daß dieses Kunstwerk konkret geworden ist, daß es da ist. Aber daß es ein Kunstwerk ist, liegt weder an dem einen, noch an dem anderen Faktor. Es gibt deswegen kein objektives Merkmal, es gibt keinen bestimmten Faktor, den man nennen könnte, der etwas zum Kunstwerk macht. Sondern was es zum Kunstwerk macht, ist gerade das freie Zusammenspiel aller Bedingungen, weil nur durch dieses freie Zusammenspiel aller Produktionsbedingungen das erreicht werden kann, was die differentia specifica der Kunst ist, nämlich daß sie ästhetisch empfunden werden kann. Zugleich muß man an einem Kunstwerk erkennen, daß es um des ästhetischen Zusammenspiels willen entstanden ist. Nehmen wir das hier im Raum hängende Kreuz. Es ist dann ein Kunstwerk, wenn die Unebenheiten, die Unklarheiten, die Formgebung, die das Kreuz kennzeichnen, wenn all diese Dinge so gemacht sind, daß sie uns nicht als nach einem bestimmten Zweck oder Kalkül gemacht erscheinen. V. Damit sind wir bereits bei der Frage, ob und wie die Kunst zu bestimmen ist. Wenn ich nun den Eindruck habe, daß es sich im dargelegten Sinn um Kunst handelt, dann kann ich ein Werk ästhetisch zu empfinden versuchen. Und wenn ich nun ein Empfinden habe, das gestört ist durch bestimmte Zwecke oder durch bestimmte Irritationen, Unstimmigkeiten, so habe ich den Eindruck, daß es sich um ein schlechtes Kunstwerk handelt, weil es zwar als Kunstwerk gewollt ist, aber eben dieses freie Spiel, das, was mich letztlich beeindruckt, also das Empfinden aus Freiheit, nicht erzeugt. Dieses Empfinden aus Freiheit bezieht sich strikt immer nur auf ein Einzelwerk. Ich kann also nur am konkreten einzelnen Werk, am konkreten Ort und Platz entscheiden, ob es stimmig ist oder nicht. Ich kann deswegen aber auch über Kunst generell nur immer am Einzelwerk entscheiden. Das letzte Kriterium für Kunst ist deshalb nicht die Institution, nicht der Galerist, nicht der Künstler, nicht der Kritiker, sondern ist mein freies Empfinden. Und dieses Empfinden ist dann ein ästhetisches Empfinden, wenn es sich eben nicht auf bestimmte Vorurteile, bestimmte Ideologien, bestimmte Inhalte oder Formen kapriziert und festlegt, sondern wenn es ein wirklich freies Spiel aller Eindrücke zum Gegenstand hat. Und wenn dieses Empfinden positiv ist, wenn ich sage, es ist ungestört und ich beeindruckt bin, dann sage ich: Dies ist ein Kunstwerk, und dies ist ein gutes Kunstwerk.

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VI. Aus dem von mir entwickelten Kunstbegriff ergibt sich, daß das Kunstwerk eine selbständige, eine autonome Konstitution besitzt. Daraus ergeben sich nicht zuletzt Konsequenzen für das Verhältnis von Kunst und Religion. Es ist als solches unabhängig von fremden Zwecken und Funktionen. Dies bedeutet aber nicht, daß ein Kunstwerk alle äußeren Einf lüsse negieren müßte. Im Gegenteil: In ein Kunstwerk können alle möglichen, z.B. religiöse Inhalte, traditionelle Formen, Materialien und Themen einf ließen. Die Bezüge und Anknüpfungspunkte können vielfältig sein, nur dürfen sie das Kunstwerk nicht dominieren. Solche Bezüge müssen im Kunstwerk frei spielen mit allen anderen Momenten des Werks, um ein freies ästhetisches Spiel zu ermöglichen. Der Zweck des Kunstwerkes daher ist das ästhetische Empfinden und dies entsteht nur, wenn kein bestimmter Zweck, wenn keine inhaltlich festgelegte Funktion dominiert. Kunstwerke sind daher durchaus auch im Raum der Kirche denkbar. Aber sie sind nur Kunstwerke, wenn sie als solche nicht einem religiösen Zweck dienen, sondern um des freien ästhetischen Empfindens willen da sind. Sie sind als Kunstwerke daher – trotz aller religiösen Bezüge – Objekte die sich nicht in die Funktionen kirchlicher Religiosität einspannen lassen. Wo Bilder nur der Darstellung religiöser Inhalte dienen – und solche Bilder sind sicher wichtig im Raum der Kirche – da haben sie eine ganz bestimmte Funktion und sind als solche nicht Kunst. Aus diesen Überlegungen geht hervor, daß die Realität des Kunstwerks und die religiöse Funktion, die über das Kunstwerk hinausgeht, einander ausschließen. Entweder etwas wird – bei allen religiösen Bezügen – letztlich als Kunstwerk um seiner ästhetischen Wirkung willen gesehen, oder etwas wird als Träger einer religiösen Funktion gesehen. Dennoch gibt es zwischen Kunst und Religion – aus einer anderen Perspektive – eine strukturelle Parallele. Denn in beiden kann dieses Ziel nicht durch menschliche Macht erreicht und erzwungen werden. Der Künstler ist auf das freie kreative Spiel aller Momente angewiesen, das er nicht und niemals vollständig in seiner Hand hat, der religiöse Mensch ist auf Gottes Gnade angewiesen, die allein ihm Glückseligkeit verheißt. Beide also, Religion und Kunst, zeigen die Ohnmacht des Menschen auf angesichts dessen, was er letztlich erstrebt und will. Aus diesem Grunde verbirgt sich im Kunstwerk selbst eine Art von Religion. Denn im Anblick eines Kunstwerks empfinden wir – im gelungenen Fall – ein Glück, das uns von allen Zwängen, Ängsten und Plänen der normalen Welt befreit. Ohne Gott und ohne Guru sind wir im ästhetischen Empfinden – für einen Moment – frei von allem was uns bindet. Diese Freiheit kann uns zur Orientierung werden für unser Leben und insofern leuchtet hier, im Kunstwerk, eine neue und radikal freie Religiosität auf.

So lachen wir Wie Immanuel Kant Leib und Seele zusammenhält1 Von Birgit Recki

Ich hatte einen Kölner im Philosophicum über Kants kategorischen Imperativ zu prüfen. Mehr als mühsames Buchstabieren eingelernter Formeln war dem Mann nicht zu entlocken. Auf keine noch so allgemein gestellte Frage über Art, Sinn und Lebenshaltung dieser Ethik wußte er etwas zu sagen. Schließlich, um ihn auf die Dringlichkeit und Radikalität des Imperativs zu bringen: »Wie stehen denn Sie zu einer solchen Ethik rigoroser Pflichterfüllung?« Antwort: »Och, ich bin eigentlich immer ganz gut damit gefahren.«2

I. Ebenso wie es zu einer aufschlußreichen Polarisierung führt, die Menschen und vor allem die großen Denker nach ihrem Verhältnis zum Schlaf zu befragen, ist auch das Verhältnis zum Lachen aufschlußreich, wenn es um die Einschätzung von Grundhaltungen geht: Nicht nur was einer fürchtet und was er wünscht, wird in seiner Einstellung zum Lachen exemplarisch, auch sein Hedonismus oder Asketismus, sein Realismus oder Idealismus, seine Disziplin und seine Normierungsansprüche, kurz: seine Moralität ebenso wie der Rahmen, in den er sie stellt – somit die Akzeptanz der conditio humana und damit immer auch der Natur als des in letzter Instanz unverfügbaren Lebenselementes. Gewiß ließe sich etwa Hans Blumenbergs Unterscheidung in die Anthropologien des reichen und des armen Menschen3 vorzüglich an der Einschätzung des Lachens exemplifizieren. Aber auch die Spannung zwischen geschichtsphilosophischen und anthropologischen Ansätzen findet hier ihren Ausdruck. So vertritt Joachim Ritter die These, daß im Lachen durch die Techniken des Anspielens und Ausspielens das ausgegrenzte Andere einer ernsten Lebensordnung als das insgeheim Zugehörige ref lektiert und im humoristischen Lachen zugleich 1 Der Beitrag bietet die überarbeitete Fassung meines Sektionsvortrags beim Aufklärungskongreß Münster, 23.-29.7.1995; Kurzfassung in: Studies on Voltaire and the eighteenth century 346348 (Transactions of the Ninth International Congress on the Enlightenment). Ed. by The Voltaire Foundation, Oxford 1996. S..828-830. 2 Helmuth Plessner: Lachen und Weinen (1941). In: Ders.: Gesammelte Schriften VII (Ausdruck und menschliche Natur). Frankfurt a.M. 1982. S..201-387. Hier: S..307. 3 Hans Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik (1971). In: Ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben. Stuttgart 1981. S..104-136.

ZÄK Sonderheft · Jahrgang 2000 · © Felix Meiner Verlag 2000 · ISSN 1439-5886

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komplementär die Grenze der Vernunft bewußt werde.4 Für ihn liegt dementsprechend das Unzureichende an der Erklärung des Lachens als Ausdrucksbewegung auf der Hand: Lachen ist wesentlich intentional und »welthaft«, die Theorie des Lachens ist somit geschichtsphilosophisch auf das Lächerliche als das der subjektiven Regung »Entgegenstehende« verwiesen.5 Für Helmuth Plessner führt das Lachen anders ins Zentrum des menschlichen Selbstverständnisses. Er integriert die Ref lexion auf die »Anlässe des Lachens« einer umfassenden Theorie des Lachens als Ausdrucksverhalten, in welchem die konstitutive Exzentrizität des Menschen am Verhältnis zu seinem Leib gleichsam in Erscheinung tritt: Die Selbstkontrolle geht für einen Augenblick verloren, aber ohne daß die Integrität der Person zu Schaden kommt, da der Körper im – nach Plessner völlig autonomisierten – Akt des Lachens den passionierten Part übernimmt.6 Vor dem Hintergrund solcher Einsichten hat es etwas unmittelbar Einleuchtendes, wie Umberto Eco einen ganzen Roman um das Thema des verteufelten Lachens bauen kann: Verbergung, Verstrickung und Verfolgung aller Art, Mord und Totschlag bringt der Fanatismus in einem mittelalterlichen Kloster hervor – im Kampf um eine verlorengeglaubte und geheimgehaltene Schrift des Aristoteles über das Lachen.7 Nur auf den ersten Blick geht es dabei allein um die Bewertung einer Kunstform im Vergleich mit einer anderen: Komödie und Tragödie. Nur unter anderem würde eine Schrift des Urvaters aller situationsgerechten Realisten über das Lachen unsere gelehrten Kenntnisse über seine Konzeption der Kunst erweitern. Im Grunde vertritt die Kunst wie in allen ästhetischen Auseinandersetzungen vielmehr eine exemplarische Position des menschlichen Selbstverständnisses, und es steht – wie in allen ästhetischen Auseinandersetzungen – mehr auf dem Spiel: Das Lachen, in dem sich der psychische Anstoß bei selbstbewußter Ref lexion in der physischen Reaktion entlädt, ist immer auch Form der Vermittlung jener Pole, zwischen die sich der Mensch als sinnliches und vernünftiges Wesen gespannt findet. Es ist dadurch zugleich ein ethisches Reizthema: Hier wird die Haltung zu den Affekten zum Problem. Es geht um die Rolle der Gefühle. In der Einstellung zum Lachen verschränken sich in bezeichnender Weise Fragen der Ästhetik und der Ethik, und dabei geht es letztlich ums Ganze dessen, was man von sich selbst und von der eigenen Stellung in der Welt erwarten darf.

Joachim Ritter: Über das Lachen (1940). In: Ders.: Subjektivität. Frankfurt a.M. 1974. S..6292. Bes.: S..76-79; S..88-90. 5 Ebd., S..64-69. – In dieser Option ist gewiß auch der Grund dafür zu sehen, daß das »Historische Wörterbuch der Philosophie« zwar einen Artikel über Das Lächerliche enthält, das Lachen aber keines eigenen Stichworts, sondern nur im Artikel über Das Komische einer Behandlung für wert erachtet. Vgl. Anm. 10. 6 Helmuth Plessner: Lachen und Weinen, a.a.O. (Anm. 2); Ders.: Das Lächeln (1950). In: a.a.O., S..419-434. 7 Umberto Eco: Der Name der Rose. München / Wien 1982. 4

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II. Bei dem englischen Gründungsvater der modernen Ästhetik kann man lernen, daß die ethische Position keineswegs zu identifizieren ist mit dem generellen Verdacht gegen das Lachen, sondern auch in seiner differenzierenden Integration bestehen kann.8 Bei seiner methodischen Empfehlung eines test of ridicule hat Shaftesbury eine Belastungsprobe auf die Ernsthaftigkeit des fraglichen Gegenstandes im Sinn. »Die Hauptsache ist, immer wahren Ernst und wahre Gewichtigkeit von falscher Gravität unterscheiden zu können«, sagt er mit Blick auf die Glaubenskriege seiner Zeit zu den Gefahren fanatischer Übertreibung. Dies aber kann man nur, indem man sich »des Spottes bedient, um zu sehen, was trägt« (S..321; »by applying the Ridicule«, S..320). Der »Test of Ridicule« ist demnach so etwas wie die Probe auf die Widerstandskraft aller möglichen Ansprüche: Was den Lächerlichkeitstest besteht, ist ernsthaft genug, um Anerkennung zu verdienen. Daß Shaftesbury im Kampf gegen leere Anmaßung und verfängliches Pathos auch nicht umgekehrt der frivolen Spötterei oder der Entfesselung eines leerlaufenden Scharfsinns um jeden Preis – irgendeiner Genialitätskasperei – das Wort redet, daß es ihm nicht darum geht, alles und jedes der Lächerlichkeit preiszugeben, ist insbesondere dem wenig später geschriebenen Essay über den sensus communis9 zu entnehmen. Mit diesem Ausdruck bezeichnet er »den Sinn für das öffentliche Wohl (Sense of Publick Weal, S..70) und das gemeinsame Interesse; Liebe zum Gemeinwesen oder zur Gesellschaft, natürliches Wohlwollen, Menschenliebe, Zuvorkommenheit oder jene Art bürgerlicher Gesinnung, welche aus dem rechten Sinn für die gemeinsamen Rechte der Menschheit (»a just Sense of the common Rights of Mankind«, S..70) und der naturgegebenen Gleichheit erwächst, die unter den Geschöpfen der gleichen Gattung anzutreffen ist« (S..71). Auf diese Weise findet sich die Freiheit von Witz und Laune in den Rahmen eines Gefühls für das allgemeine Wohl gestellt. Im Klima einer freimütigen, geistreichen und wohlwollenden Geselligkeit leistet aber auch die ästhetische Urteilskraft ihren Beitrag zum ethischen Engagement. Angestrebt ist in allem ein Konsens des guten Geschmacks, der seine Gegenstände aber vorzüglich im Bereich des Praktischen findet: In der moralischen, politischen und sozialen – in alledem maßvollen – Beurteilung dessen, was gut und richtig ist, zeigt sich die Qualität einer sittlichen Kultur. Und diese Kultur formiert sich in einem Element des Austauschs, in dem das ästhetische Moment den Ton angibt. Das Lachen bekundet hier gerade nicht die HaltA letter concerning Enthusiasm (1707/08) / Ein Brief über den Enthusiasmus. In: Anthony Ashley Cooper Earl of Shaftesbury. Standard Edition. Sämtliche Werke, ausgewählte Briefe und nachgelassene Schriften, herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Gerd Hemmerich und Wolfram Benda. Aesthetics /Ästhetik Bd..I,1. Stuttgart/Bad Cannstatt 1981. S..303.ff. 9 A.A.C. Earl of Shaftesbury: Sensus Communis: An Essay on the Freedom of Wit and Humour. In a Letter to a Friend (1709); deutsch: Sensus Communis: Ein Versuch über die Freiheit von Witz und Laune. In einem Brief an einen Freund. A.a.O. (Anm. 8). Bd..I, 3. S..15.ff. 8

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losigkeit des von seinen unkontrollierten Impulsen geschüttelten, es ist Ausdruck der Souveränität des reifen Individuums, das sich getragen weiß von einem ethischästhetischen Klima der geistreichen Auseinandersetzung. Entscheidend ist dabei: Gemäß der im Anschluß an Hobbes geläufigen Polarisierung in der Theorie des Komischen trägt Shaftesburys Lachen in seiner spöttisch entlarvenden Tendenz zwar Züge dessen, was den Modus des ausgrenzenden Verlachens – im Unterschied zum Modus des einvernehmlichen Anlachens – ausmacht;10 und doch steht es grundsätzlich im Vorzeichen des Wohlwollens und der Sympathie. Richtig verstanden, ist es selbst ein tragendes Element jener Moral, die sich am Ideal des Gentleman ausrichtet.

III. Bei Kant zeigt sich auf den ersten Blick ein ganz anderes Bild. Wo er sich im Rahmen seiner kritischen Philosophie, auf der Grundlage einer transzendentalen Analyse von apriorischen Seelenvermögen, dem Problem der Moralität zuwendet,11 da gibt es nichts zu lachen. Im Begriff der praktischen Vernunft geht es im vollen Ernst um unsere Freiheit, unsere Verpf lichtung und um Grundsätze des Handelns, die vor unseren vernünftigen Ansprüchen standhalten können. Und das Gefühl der Achtung vor dem Gesetz, ohne dessen motivationalen Anteil sich Kant ein Handeln aus Pf licht nicht vorstellen kann, ist ein ernstgestimmtes Gefühl. Doch in der »Kritik der Urteilskraft«,12 in der sich Kant – sehr zum Vorteil seines Vernunftbegriffs – grundlegend mit den ästhetischen Gefühlen des vernünftigen Subjekts auseinandersetzt, gibt es eine Stelle, die von den Interpreten wohl deshalb mit Fleiß übergangen wird,13 weil sie mit einem schillernden Modus der ästhetischen Ref lexion zugleich eine Belastungsprobe für das Verständnis vom Horizont einer kritischen

Vgl. die Unterscheidung in laughing about und laughing at etwa bei Alexander Pope; sowie Dupréels einflußreiche Unterscheidung »il y a deux rires, le rire d’acceuil et le rire d’exclusion«, zitiert nach Werner Preisendanz: Art. »Das Komische, das Lachen«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd..4. Sp. 889-893, hier: Sp. 892. – Diese Unterscheidung bildet überhaupt den Leitfaden für die Theorien des Lachens bis in die Gegenwart; siehe dazu: Semiotik, Rhetorik und Soziologie des Lachens, hrsg. von Lothar Fietz, Joerg O. Fichte und Hans-Werner Ludwig. Tübingen 1996. 11 Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785); Kritik der praktischen Vernunft (1788). 12 Die Zitate im folgenden Text beziehen sich unter Angabe der Seitenzahl durchweg auf Immanuel Kant: Kritik der Urtheilskraft. Akademie-Ausgabe Bd..V. 13 Bemerkenswerte Ausnahmen finden sich in der Interpretation des Lachens als einem »Sonderfall ästhetischen Verhaltens« bei Friedrich Kaulbach: Zur Philosophie des Lachens. In: Überlieferung und Aufgabe. Festschrift für Erich Heintel zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Herta NaglDocekal. Erster Teilband. Wien 1982. S..417-427, hier: S..425; sowie bei Burghard Dedner: Über das Vergnügen am Unerfreulichen in der Komiktheorie der Aufklärung. In: Jahrbuch der Jean-PaulGesellschaft Bd..19, 1984. S..7-42. 10

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Transzendentalphilosophie darstellt. Gemeint ist der §.54 der Deduktion, in dem Kant sich nach der eingehenden Erörterung der reinen ästhetischen Gefühle auch jenem interessanten Grenzfall der Ästhetik zuwendet, in dem eine Vermischung des Reinen mit dem Unreinen geschieht – eine Vermischung, die man exemplarisch zu nehmen hat für die Bestimmung des Rahmens der Vernunft in ihren Leistungen und Grenzen. In der »Analytik des Schönen« hatte Kant die Form des reinen ästhetischen Urteils untersucht und dabei Wert darauf gelegt, das in diesem Urteil realisierte Lebensgefühl des Subjekts gänzlich aus den epistemischen Bedingungen eines freien Spiels zwischen Einbildungskraft und Verstand zu erklären. Im Blick ist damit das reine, wie Kant an anderer Stelle sagt: »trockene[ ] Wohlgefallen« (225) ohne Beimischung von sinnlichem Reiz und Rührung (vgl. 223). In der Analytik des Erhabenen war es dagegen um das »Geistesgefühl« gegangen, das sich angesichts überwältigender Natureindrücke im Zusammenwirken der Einbildungskraft mit den Ideen der Vernunft einstellt: kein reines Gefühl, sondern ein moralisches Aufbegehren im Medium des ästhetischen Gefühls. Überdies zeigt die »Kritik der Urteilskraft« hier und dort die Spuren einer gleichsam undisziplinierten theoretischen Neugierde auf einen umfänglicheren Begriff des Ästhetischen, der sich nicht auf das Reinheitsgebot verpf lichten läßt, wie es mit der transzendentalen Frage gegeben ist.14 Ein umfänglicherer Begriff des Ästhetischen, wie er zu Anfang der Analytik des Schönen im Hinweis auf das Sinnenurteil über das Angenehme einmal (§.3, 205-207) und in den Abgrenzungen des Schönen gegen Reiz und Rührung wieder aufblitzt, kann aus naheliegenden Gründen in der Analytik des Schönen nicht weiter von Interesse sein. Es hat ja seinen guten Sinn, daß Kant sich für den Zweck seiner Untersuchung im Begriff des Schönen auf das reine Ästhetische konzentriert. Grundsätzlich leuchtet es ein, daß im Rahmen einer Vernunftkritik, die nach den Bedingungen der Möglichkeit aller Varianten synthetischer Urteile a priori fragt, auch das ästhetische Urteil, seine Eigenart und Bedeutsamkeit, mit anderen Worten: die »metaphysischen Anfangsgründe[ ] des Ästhetischen«15 grundlegend nur zu begreifen sind, indem man es in seiner reinen Form zu fassen bekommt. Nur wenn streng abgegrenzt wird, worauf allein sich der keineswegs selbstverständliche Anspruch ästhetischer Urteile auf allgemeine Geltung bezieht, läßt sich sicherstellen, daß er zu Recht besteht. Doch so sehr es damit nicht allein als legitim, sondern auch als notwendig nachzuvollziehen ist, daß Kant sich in der Analyse auf das reine Ästhetische konzentriert, so wenig ist damit behauptet, daß eben dies in seiner Reinheit präparierte Ästhetische sich nicht in Konstellationen des Empirischen realisierte. Womöglich

Wieviel Sinn Kant dafür gehabt hat, dokumentieren die frühe Schrift mit den »Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen« (1764) und die Bemerkungen in den »Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen« (1764-1766). 15 Immanuel Kant: Bemerkungen in den »Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen«, neu herausgegeben und kommentiert von Marie Rischmüller. Hamburg 1991. S..42. 14

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kommt es sogar – in eben dem Sinne, in dem wir die Leistungen der Vernunft zwar nicht dem Begriff, aber doch der Sache nach allein als unsere stets konkreten Leistungen kennen – ausschließlich in derart unreiner Form vor, ohne daß daraus ein Einwand gegen die analytische Methode gewonnen werden könnte. Hier nun im §.54 wird das Gesichtsfeld einer Ästhetik des reinen Gefühls ausdrücklich erweitert: Am extremen Fall kommt Kant auf den Zusammenhang dessen, was er als reines ästhetisches Urteil analysiert hatte, mit den leiblichen Regungen des erlebenden Subjekts zu sprechen. Ähnlich dem freien Spiel der Erkenntniskräfte mit seinem Effekt im subjektiven Lebensgefühl kennt Kant nämlich auch jenes »wechselnde freie Spiel der Empfindungen«, welches »das Gefühl der Gesundheit befördert« (331; H.en v. m.). Er setzt dieses Gefühl und seine Bestimmung terminologisch klar vom freien Spiel der Erkenntniskräfte ab und begreift es doch in Analogie zu diesem; es geht zunächst in »Glücksspiel, Tonspiel und Gedankenspiel« um lauter lustvolle Tätigkeiten, mit denen ein gesellschaftliches Interesse verbunden ist – und die unter dem Paradigma der reinen Lust am Schönen etwas Subalternes haben. In einem zweiten Schritt differenziert Kant in diesem Komplex des spielerischen Umgangs weiter das Glücksspiel, das »kein schönes Spiel ist«, von »Musik und Stoff zum Lachen« (332; H. v. m.), in denen diese Bedingung »hingegen« erfüllt ist. In diese Weisen des »freien Spiels der Empfindungen« spielen nämlich auch »ästhetische Ideen« mit hinein, jene Vorstellungen der Einbildungskraft, die Kant zuvor im §.49 (S..314) für die nähere Erläuterung des rein Ästhetischen herangezogen hatte und hier nun paraphrasiert als »Verstandesvorstellungen, wodurch am Ende nichts gedacht wird, und die bloß durch ihren Wechsel und dennoch lebhaft vergnügen können« (332; H. v. m.). Die Diskrepanz in der Bestimmung der ästhetischen Idee, zunächst als Vorstellung der Einbildungskraft, später als Verstandesvorstellung, ist vordergründig: Die ästhetische Idee ist jene »Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. B e g r i f f , adäquat sein kann« (314). Unschwer ist darin jenes freie Schematisieren der Einbildungskraft ohne bestimmten Begriff zu erkennen, um das es im Begriff des ästhetisch ref lektierenden Urteils geht (vgl. 287). Man kann daran leicht klarmachen, daß der Verstand mit seinen begriff lichen Leistungen stets beteiligt ist; Begriffe sind im Spiel – sie werden lustvoll ausprobiert und in der Schwebe gehalten: Im freien Schematisieren kommt es nicht zur Bestimmung, sondern es bleibt bei der Ref lexion. Auf diese Weise gibt das Schöne »viel zu denken«. Behält man dies im Sinn, hat es nichts Irritierendes, wenn die ästhetische Idee im scheinbaren Gegensatz zu ihrer Einführung im §.54 als Verstandesvorstellung bezeichnet wird: Da im ästhetischen Ref lexionsurteil Einbildungskraft und Verstand gleichursprünglich miteinander ins Spiel gesetzt sind, entspricht der Vorstellung der Einbildungskraft auch hier stets eine – wenngleich unbestimmte – Verstandesvorstellung.16 16

Das Verhältnis von Einbildungskraft und Verstand im freien Spiel der Erkenntniskräfte wird

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IV. Jener im Begriff der ästhetischen Idee angesprochene unendliche Prozeß der Ref lexion, bei dem uns eine Vorstellung der Einbildungskraft viel zu denken gibt, ist ganz offenkundig gemeint, wenn Kant hier von einem »Spiel der Gedanken« spricht – freilich mit dem Unterschied, daß an ihm so, wie er hier behandelt wird, auch seine physischen Effekte thematisch werden. Die »Belebung« im Gedankenspiel der Musik oder der Komik ist »bloß körperlich […], ob sie gleich von Ideen des Gemüths erregt wird«: »In der Musik geht dieses Spiel von der Empfindung des Körpers zu ästhetischen Ideen (der Objecte für Affecten), von diesen alsdann wieder zurück, aber mit vereinigter Kraft auf den Körper. Im Scherze (der eben sowohl wie [die Musik] eher zur angenehmen, als schönen Kunst gezählt zu werden verdient) hebt das Spiel von Gedanken an, die insgesammt, sofern sie sich sinnlich ausdrücken wollen, auch den Körper beschäftigen« (332). Folgt man diesen zunächst überraschenden Überlegungen, weist man die höchst erstaunlichen Perspektiven dieses Paragraphen nicht von vornherein ab, so wird man im Blick auf die Sache kaum zu dem Urteil kommen, daß der Transzendentalphilosoph damit auf Abwege gerät. Er vergewissert sich hier vielmehr der Selbstverständlichkeit, daß die zuvor unter methodischer Abstraktion von allem Empirischen untersuchten Vorgänge im Subjekt, so rein sie sich auch präparieren lassen, in der Erfahrung mit der empirischen Sinnlichkeit des Körpers durchaus etwas zu tun haben: Am eigentümlichen Oszillieren zwischen Interesse und Interesselosigkeit, zwischen ästhetischen Vorstellungen und physischen Bewegungen in Ref lexionen, die – obwohl sie mit ästhetischen Ideen zu tun haben – deshalb »eher zur angenehmen, als schönen Kunst gezählt zu werden« verdienen, ist exemplarisch die Einsicht zu gewinnen, daß das Reine mit dem Unreinen immer schon Verbindungen unterhält. Wenn Kant jenen für das Lachen charakteristischen »Affect aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts« (332) näher beschreibt, wird nämlich zugleich deutlich, daß derart eine allgemeine Bestimmung für das Verhältnis der Gedanken überhaupt zum Körper gegeben wird: »Denn wenn man annimmt, daß mit allen unsern Gedanken zugleich irgend eine Bewegung in den Organen des Körpers harmonisch verbunden sei: so wird man so ziemlich begreifen, wie jener plötzlichen Versetzung des Gemüths bald in einen, bald in den andern Standpunkt, um seinen Gegenstand zu betrachten, eine wechselseitige Anspannung und Loslassung der elastischen Theile unserer Eingeweide, die sich dem Zwerchfell mittheilt, correspondiren könne (gleich derjenigen, welche kitzliche Leute fühlen): wobei die Lunge die Luft mit schnell einander folgenden Absätzen ausstößt und so eine der Gesundheit zuträgliche Bewegung bewirkt, welvon Kant prägnant noch einmal resümiert in der Allgemeinen Anmerkung zum ersten Abschnitte der Analytik, vgl. Akad. Ausg. Bd..V. S..240.f.

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che allein und nicht das, was im Gemüthe vorgeht, die eigentliche Ursache des Vergnügens an einem Gedanken ist, der im Grunde nichts vorstellt« (334; H. v. m.). »So lachen wir,« resümiert Kant schlicht diese komplexe geistig-physische Bewegung (333). Es ist eine »Bewegung des Gemüths nach zwei entgegengesetzten Richtungen«, welche »zugleich den Körper heilsam schüttelt« (335). Wie hier im Lachen die »schnell hinter einander folgende Anspannung und Abspannung« beides betrifft -17 »das Gemüth« und den Leib (334), so wendet Kant die darin konkretisierte Einsicht umgehend ins Allgemeine, wenn er »annimmt, daß mit allen unsern Gedanken zugleich irgend eine Bewegung in den Organen des Körpers harmonisch verbunden sei«: Denn nur unter dieser Bedingung »wird man so ziemlich begreifen«, wieso dies im Fall des Lachens so ist. Und hier liegt das Erstaunliche an seinen Ref lexionen: Obwohl mit der Situierung im Zusammenspiel von Einbildungskraft und Verstand und dem Bezug ihres freien Spiels auf die Zwerchfellreaktion die Elemente ihrer vermögenstheoretischen Spezifizierung gegeben sind, geht es Kant nicht ernsthaft um eine Ästhetik des Komischen.18 Es geht ihm auch um mehr als den Nebengedanken an ein Vergnügen am Angenehmen, dessen Ref lexionsprozeß in Analogie zu dem über das Schöne und Erhabene begriffen werden kann. In den Blick gerät nicht allein eine umfänglichere Ästhetik, deren Horizont mehr erfaßt als bloß die reinen Formen des einsichtigen Vergnügens. Jenseits aller auch hier wieder bemühten Vorsicht vor der Verwechslung der Ebenen von bloß Angenehmem mit rein Ästhetischem lassen diese Ref lexionen vor allem erkennen, daß die säuberliche methodische Trennung der transzendentalen Analyse von der Ebene des Menschlichen im Blick auf die Sache etwas Vorläufiges hat. Zu gewinnen ist daran zuletzt das generelle Eingeständnis einer kritischen Transzendentalphilosophie, daß das Intelligible mit dem Sensiblen kommuniziert, daß die a priori erkennbaren Elemente des rein Ästhetischen mit dem Physischen zusammenwirken.

Man beachte die strukturelle Ähnlichkeit mit dem, was Kant im Gefühl des Erhabenen analysiert: Auch in dieser »Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts« wirkt ein an und für sich frustrierender Eindruck, der »für den Verstand gewiß nicht erfreulich ist,« – »doch indirect auf einen Augenblick« sehr positiv. »Jener plötzlichen Versetzung des Gemüths bald in einen, bald in den andern Standpunkt«, die dem schnellen Wechsel zwischen Anziehung und Abstoßung im Erhabenen ähnlich ist, entspricht zudem ein analog beschriebener Vorgang im somatischen Bereich. 18 Anders als Dedner (a.a.O. (Anm. 13). S..35-42) behauptet, »reduziert Kant den Konflikt« – gemeint ist die der Komik zugrundeliegende Affektspannung – keineswegs »auf das Niveau des bloßen Verstandes« (S..35) – und anders als er mit seiner Konzentration auf diesen Aspekt nahelegt, stellt der komiktheoretische Ertrag auch nur ein Nebenprodukt des Paragraphen 54 dar. 17

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V. Im theoretischen Ausbruch über das Lachen konkretisiert sich damit auch der metaphysische Horizont, in dem das vernünftige Interesse am Schönen steht. Kant wendet sich in dieser Überlegung einem Thema zu, das nur dann etwas Befremdliches hat, wenn man den virtuellen Umfang der sachlichen Problematik nicht wahrhaben will, die schon mit der Leitfrage der Einleitung verbunden ist: Die Analyse der ästhetischen Gefühle steht von Anfang an im spekulativen Rahmen einer Kritik der ref lektierenden Urteilskraft. Die Bemühung um den Nachweis ihrer allgemeinen Geltung und der auf diese allgemeine Geltung bezogene Anspruch, das Urteilsprinzip der Zweckmäßigkeit zu deduzieren, haben ihren ultimativen Sinn vor der systematischen Frage nach der Einheit der Vernunft, wie sie sich Kant im Blick auf die Prinzipien ihrer theoretischen und ihrer praktischen Leistung aufgedrängt hat. Auf dem Spiel steht die Konsequenz, den Zusammenhang von Natur und Freiheit und damit allererst die Möglichkeit unseres Handelns in einer vernunftkompatiblen Natur denken zu können. Es geht um das Problem der Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft, um den »Übergang« von Sinnlichkeit und Sittlichkeit: »Ob nun zwar eine unübersehbare Kluft zwischen dem Gebiete des Naturbegriffs, als dem Sinnlichen, und dem Gebiete des Freiheitsbegriffs, als dem Übersinnlichen, befestigt ist, so daß von dem ersteren zum anderen (also vermittelst des theoretischen Gebrauchs der Vernunft) kein Übergang möglich ist, gleich als ob es so viel verschiedene Welten wären, deren erste auf die zweite keinen Einf luß haben kann: so so l l doch diese auf jene einen Einf luß haben, nämlich der Freiheitsbegriff soll den durch seine Gesetze aufgegebenen Zweck in der Sinnenwelt wirklich machen; und die Natur muß folglich auch so gedacht werden können, daß die Gesetzmäßigkeit ihrer Form wenigstens zur Möglichkeit der in ihr zu bewirkenden Zwekke nach Freiheitsgesetzen zusammenstimme« (175f.). Es geht damit auch um die Frage, ob wir als vernünftige Wesen in der Tat in die materielle Welt passen. Im Grunde ist es schon hier die Frage, die dann den Autor des Ältesten Systemprogramms bewegen wird: »Wie muß eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein?«19 Nur wenn ein »Übergang« von Naturbegriffen zum Freiheitsbegriff aufgewiesen werden kann, läßt sich in einer die Vernunft befriedigenden Weise dartun, daß das vernünftige Wesen nicht als Fremdkörper in einer fremden Welt steht, sondern sich mit seinem vernunftgeleiteten Handeln in einer korrespondierenden Umgebung bewegt. Nach dem systematischen Anspruch, den Kant mit der dritten Kritik erhebt, ist es die ref lektierende Urteilskraft, die »den vermittelnden Begriff zwischen den Naturbegriffen und dem Freiheitsbegriffe […] in dem Begriffe einer Zweckmäßigkeit der Natur an die Hand« gibt (195). Dabei kommt dem Schönen der Natur gleichsam die Rolle eines Leitfossils zu: Kant sieht Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. In: G.W.F. Hegel: Werke in 20 Bänden. Bd..1. S..234. 19

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die in Frage stehende Korrespondenz von Natur und Freiheit im Erleben des Naturschönen indiziert (siehe §.42), und der gesuchte Übergang findet in der ästhetischen Ref lexion statt, in der das zweckmäßige Zusammenwirken unserer auf den sinnlichen Eindruck bezogenen Erkenntniskräfte in einer Weise erlebt wird, die uns die Freiheit als Bestimmung eines Vernunftwesens im Gefühl versinnlicht (siehe §.59).20 Bei alledem liegt auf der Hand, daß die Frage nach dem Zusammenhang von Freiheit und Natur auch auf eine Affinität der vernünftigen Selbsttätigkeit mit dem Empirischen geht. Nicht nur wie Sinnlichkeit und reine Vernunft in den Repräsentationen vermittelt sind, die sie im Subjekt durchlaufen haben müssen, um als Gegenstand einer kritischen Transzendentalphilosophie in Betracht zu kommen, also: nicht nur die Frage nach der Vermittlung der Sinnlichkeit und Begriff lichkeit von Gegenständen des Erkennens oder Erlebens für das vernünftige Subjekt ist eine interessante Frage. Kant hat mehr im Sinn, der Gedanke des Übergangs zwischen der auf Sinnliches bezogenen theoretischen Vernunftleistung und der praktischen Vernunft als Selbstbestimmung hat seine eigene Dynamik: Ob wir in die Welt passen, hat sich an jenem fortgeschrittenen Stand der Ref lexion, wie ihn der §.54 markiert, auch am Passen zu jenem Aspekt von Außenwelt zu erweisen, der für den rein vernünftigen Charakter des sinnlich-vernünftigen Wesens das sinnliche Element des eigenen Leibes ist. Auch der gesamte Bereich derjenigen sinnlichen Verfassung, die das Subjekt mitbringt, ohne daß sie ausschließlich als in intelligenten Akten eingerichtet begriffen werden könnte, gehört mithin in den Bereich der Problemstellung. Mit anderen Worten: Wenn die Frage nach dem »Übergang«, wie sie von Kant ursprünglich aufgeworfen wird, erst einmal in ihren verschiedenen Aspekten durchdacht wird, kann es nicht ausbleiben, daß neben dem funktionalen Ausschnitt, der für eine an apriorischen Bedingungen interessierte Theorie relevant ist, d.i. das Verhältnis von auf Sinnliches bezogener Einbildungskraft und rationalem Verstand, auch das LeibSeele-Verhältnis in den Blick gerät. Wie der vermeintlich exzentrische Nebengedanke der Deduktion über das Lachen im Horizont der systematischen Frage steht, ist freilich nicht allein der Kontext-Interpretation überantwortet. Es wird im §.54 an Kants anekdotischem Resümee auch sichtbar: Voltaires Aperçu, »der Himmel habe uns zum Gegengewicht gegen die vielen Mühseligkeiten des Lebens zwei Dinge gegeben: die H o f f n u ng und den S ch l a f « , wäre um das Lachen zu ergänzen, – »wenn die Mittel es bei Vernünftigen zu erregen nur so leicht bei der Hand wären«! (334; letzte H. v. m.) Für Kant hat sich der kritische Blick auf diese »Mühseligkeiten« längst verdichtet zu der Zur Interpretation des Paragraphen 59 »Von der Schönheit als Symbol der Sittlichkeit« siehe meine Beiträge »Das Gute am Schönen. Über einen Grundgedanken in Kants Ästhetik«, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Band 37 (1992). S..15-31 und »Das Schöne als Symbol der Freiheit. Zur Einheit der Vernunft in ästhetischem Selbstgefühl und praktischer Selbstbestimmung bei Kant«, in: Herman Parret (Hrsg.): Kants Ästhetik / Kant’s Aesthetics / L’esthétique de Kant. Berlin / New York 1998. S..386-402. 20

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moralphilosophischen Frage nach der Bestimmbarkeit der sinnlichen Welt durch Handlungen aus reiner Vernunft und damit metaphysisch: nach der Einheit der Vernunft in ihrem theoretischen und praktischen Weltverhältnis. In Voltaires »Gegengewicht« des Himmels ist da unschwer ein Element im Komplex der Indizien zu erkennen, die uns die Natur zuspielt für die Beantwortung der Frage, was ich hoffen darf.21 In diesem Problem aber haben wir mit Kant ein Moment der umfassenden Frage nach der Stellung des Menschen zu sehen. Natürlich geht es in der Frage, ob der Mensch in die Welt passe, schließlich auch um den Aspekt, ob das apriorische Subjekt in uns zu dem Teil der Außenwelt paßt, der unser eigener Leib uns erkenntnistheoretisch ist – und das Lachen, unreine Form des ästhetischen Ref lexionsurteils, ist nur begreifbar unter der Voraussetzung einer unmittelbaren Korrespondenz von Leib und Geist, die Kant in der Annahme, daß die vernünftige Natur keine Sprünge macht, »bei allen unsern Gedanken« unterstellen muß. »Schönheit nur für Menschen, d. i. thierische, aber doch vernünftige Wesen, aber auch nicht blos als solche (z. B. Geister), sondern zugleich als thierische« (210), hat Kant in Abgrenzung schon zu Beginn seiner Analyse gesagt, und damit zu erkennen gegeben, daß er mit dem Anspruch, den apriorischen Charakter der ästhetischen Urteile zu sichern, um sicher zu sein, daß durch ihre Vermittlung auch wirklich die Einheit der Vernunft belegt sei, umstandslos jenen anderen zu vereinbaren gedenkt, das reine mit dem empirischen Subjekt in eins zu denken. Der §.54 markiert diese extreme Konsequenz des Programms, daß die »Schönheit nur für Menschen« sei. Er ergänzt zugleich die systematische Frage, ob die verschiedenen Funktionen des vernünftigen Subjekts zueinander passen, um den vordringlichen Aspekt, daß der Mensch in die Welt passe. Auch in dieser Hinsicht bestätigt sich, daß sich in Kants Denken transzendentaler Idealismus und empirischer Realismus verbinden. Konkretisieren läßt sich daran aber auch, was es heißt, daß Aufklärung immer durch die Dimension der Selbstaufklärung charakterisiert ist: Kritik der Vernunft ist für Kant – im Sinne eines doppeldeutigen Genitivs – von Anfang an Kritik der Vernunft durch sich selbst. Zu ihr gehört in der Entfaltung des kritischen Programms durch die drei Vernunftkritiken schließlich auch die vernünftige Beleuchtung jenes Anderen der Vernunft, das die Vernunft in ihren äußeren Bedingungen und damit auch am eigenen Leib aufzusuchen hat.

Siehe dazu meinen Beitrag »Was darf ich hoffen?« Ästhetik und Ethik im anthropologischen Verständnis bei Immanuel Kant. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie Heft 19.1.1994. S..1-18. 21

Die Bedeutung von Kants Dritter Kritik für die politische Philosophie in der Postmoderne Zu Hannah Arendts Lektüre der »Kritik der Urteilskraft« als Kants Politische Philosophie* Von Heinz Paetzold

I. Dieser Essay möchte den Weg bahnen für eine kulturphilosophische Betrachtung der Politik. Das bedeutet zunächst einmal, nach Status und Stellenwert der Politik in der Kultur zu fragen. Wie interferiert das Politische mit den anderen ›Kulturgebieten‹, wie Kunst und Wissenschaft, Technik und Recht, Geschichte und Moral? Diese relationale Frageperspektive muß aber zugleich verknüpft werden mit einer Bestimmung dessen, was das Politische selbst ist. Die Kulturphilosophie versteht das Politische nicht als eine überhistorische Substanz, sondern als eine durch und durch wandelbare Erscheinung, die funktional bezogen ist auf epochenspezifische Kontexte. Hannah Arendt soll mir als eine Art Leitfaden dienen bei der Einführung der kulturphilosophischen Analyse der Politik. Im Zentrum dieses Essays steht ihre unorthodoxe Lektüre von Kants »Kritik der Urteilskraft«. Arendt liest diese Schrift als Kants ungeschriebene Politische Philosophie. Um das auf den ersten Blick vielleicht Befremdliche eines solchen Zugriffs zu zerstreuen, sind einige auf das Thema hinführende Vorüberlegungen angezeigt. Ob wir es mögen oder nicht, wir leben heute faktisch in einer postmodernen Kultur. Um über Politische Philosophie in unserem heutigen Kontext nachzudenken, ist gleichsam in einem Seitenschritt zu fragen, ob Arendts lebenslange Ref lexionen über das Politische eine Position verraten, die man in die Nähe des Postmodernen rücken kann oder nicht. Zwei Erwägungen weisen in die Richtung einer positiven Antwort auf diese Frage. Erstens, jedes philosophisch vertretbare Verständnis von Postmoderne beansprucht die Einsicht, daß das »Projekt der Moderne« begleitet war von unübersehbaren Katastrophen. Die Versprechen der Moderne auf universelle Emanzipation der Menschen aus Unterdrückung, Gewalt und ökonomischer Ausbeutung wurden nicht eingelöst. Nach dem Aufstieg des deutschen Faschismus und des sowjetischen Dieser Text ist die geringfügig überarbeitete Fassung der Antrittsvorlesung des Autors an der Universität Kassel am 11.11.1998. *

ZÄK Sonderheft · Jahrgang 2000 · © Felix Meiner Verlag 2000 · ISSN 1439-5886

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Stalinismus wurde auch Arendt sich zunehmend der dunklen Seiten bewußt, die im »Projekt der Moderne« eingeschlossen waren. Ihr Buch »The Origins of Totalitarianism« (1951) handelte von dem Desaster des modernen politischen Lebens, das jede Politische Philosophie beschäftigen muß: die totalitäre Gesellschaft. Das Buch »Between Past and Future« (1961) nimmt seinen Ausgangspunkt in der Überzeugung, daß weder politische noch kulturelle Traditionen im 20. Jahrhundert stand gehalten haben. Im Gegenteil, nicht nur die zeitgenössische Politik, sondern auch Ethik und Erziehung, die moderne Kultur im ganzen, sie alle werden bedroht durch genuin moderne Entwicklungen, wie sie im Aufstieg der Massenkultur und der Konsumgesellschaft greifbar sind. Die letztere besiegelt, um Arendts eigene Begriff lichkeit zu gebrauchen, den endgültigen Sieg des »homo laborans«. Die erstere pervertiert Kultur in Entertainment. Arendts Auffassung der Massenkultur zeigt erstaunliche Parallelen mit Horkheimers und Adornos Theorie der Kulturindustrie. Arendts Kritik der Konsumgesellschaft hat eine starke Parallele in Herbert Marcuses Kritik, wie sie im »One Dimensional Man« (1964) entwickelt wurde. Es gibt noch einen zweiten Punkt, der Arendts Denken mit postmodernen Topoi verbindet. In Arendts Sicht ist Politik im Begriff der Pluralität zu verankern. Es gibt beim Politischen keine Metainstanz, welche die verschiedenen Weltsichten und Perspektiven der politisch Handelnden in eine »grand narrative« (Lyotard) absorbieren könnte. Politik, die der menschlichen Freiheit entspringt und sie ausdrückt, ist ein Mittel, um fair mit Pluralität umzugehen, statt diese in vereinheitlichende Sichtweisen und eindimensionale soziale Strukturen aufzulösen. Zentrale Prinzipien der Arendtschen Politischen Philosophie, wie Natalität, d..h. die menschliche Fähigkeit, eine neue Initiative zu ergreifen und die Ketten der Versklavung zu brechen, ferner die Ansicht, daß politische Macht weder theologisch als eine »Sünde« zu verdammen noch als eine metaphysische »Substanz« anzusehen ist, bezeichnen Fäden des Denkens, die einerseits in Foucaults poststrukturalistische Neufassung des Konzepts der Macht weisen, andererseits in die Richtung von Lyotards und Benjamins Auszeichnung des »Ereignisses« als ein Faktor, welcher die Kontinuität der Geschichte unterbricht. Arendt in die Nähe des postmodernen Denkens zu rücken, heißt jedoch keineswegs, zu sagen, daß sie eine Rückkehr zu prämodernen Bedingungen der Kultur verlangen würde. Auf den ersten Blick könnte es scheinen, als würde ihre Phänomenologie des Politischen in »The Human Condition« (1956) mit dem Loblied auf die antike griechische Polis von Athen ein Zurückweisen des modernen Verfassungsstaates implizieren und das nostalgische Verlangen nach prämodernen Weisen des politischen Lebens ausdrücken. In der Tat, Arendts Kritik an der modernen Privilegierung des technischen Machens und des industriellen Herstellens gegenüber dem für die Politik konstitutiven Handeln könnte dies vielleicht nahelegen. Aber ihr Buch »On Revolution« (1963) machte unzweideutig klar, daß Arendt die modernen Errungenschaften von politischer Gleichheit, von Gewaltenteilung und von Verrechtlichung verteidigte. Ihre Sache war es, auf die antike Polis zurückzublicken, um

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einen anspruchsvollen und starken Begriff des Politischen zu gewinnen, und zwar jenseits von administrativen und bürokratischen Modi der Vergesellschaftung. Letztere gewähren zwar soziale Sicherheit, aber um den Preis des Verlustes an individuellem Verantwortungsgefühl, an Autonomie des Urteils und an sozialem Mitempfinden.1 Für Arendts Politische Philosophie sind die Bezüge zu Kant in dieser Beziehung von großer Wichtigkeit. Sie verleihen nämlich der Idee des Politischen, die in »The Human Condition« vom antik griechischen Polis-Modell hergeleitet war, ein stärker modernes Profil. Kant als Denker moderner Demokratie ist ihr Bezugspunkt ebenso wie Kant als der Denker der menschlichen Sinne, der Emotionen und Gefühle. Ein Jaspersscher Akzent auf unbegrenzter Kommunikation erlaubt Arendt, den existentialistischen Dezisionismus im Verständnis der Politik (der theoretisch zu Carl Schmitt führt) ebenso zu vermeiden wie auch die Hypothek einer vagen Heideggerschen Seinsgeschichte. Der späten Arendt »Lectures on Kant’s Political Philosophy« (1982) setzten die Linie eines Durchdenkens der Politik unter modernen Kulturbedingungen fort. Ein klarer Anhaltspunkt hierfür ist zu sehen in ihrer Akzentuierung von Kants Bruch mit jedweder antik griechischer Idee von Philosophie im Sinne der »arcana«, von Esoterik und vor allem mit Platons politischer Inthronisierung eines Philosophenkönigs. Arendt, im Gegenteil, würdigt mit Heinrich Heine und Karl Marx in Kant den repräsentativen Philosophen der Französischen Revolution.2 Solch ein Urteil läßt sich untermauern mit Kants Forderung nach dem Übergang der Philosophie von einem »Schulbegriff« zu ihrem »Weltbegriff«, der die Forderung nach einem weltbezogenen Engagement des Philosophen mit dem Alltagsleben der Menschen einschließt. Unter Berufung auf Karl Jaspers unterstreicht Arendt, daß es Kants Sache war, aus der Philosophie etwas emphatisch Demokratisches zu machen. Der »Fußsteig« für die wenigen durch die Philosophie erleuchteten antiken griechischen politischen Führer sollte zur »Heeresstraße« für alle werden, wie Kant sich in seiner »Kritik der reinen Vernunft« (A 856/B 884) ausdrückte.3 Mit anderen Worten, der späten Arendt wachsendes Interesse an Kant ist wesentlich bedingt durch die Perspektive, ihrer eigenen Politischen Philosophie ein dezi-

Vgl. Larry May: »Sozialization and Institutional Evil«. In: Hannah Arendt. Twenty Years Later. Ed. by Larry May and Jerome Kohn. Cambridge Mass. London 1996. S..83-105, der Arendt stark macht gegen des späten Habermas relative Blindheit gegenüber den Gefahren rigider Institutionalisierungen. 2 Hannah Arendt: Lectures on Kant’s Political Philosophy. Ed. and with an interpretative Essay by Ronald Beiner. Chicago 1982. S..44-45. Deutsch: Hannah Arendt: Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie. Hrsg. und mit einem Essay von Ronald Beiner. Aus dem Amerikanischen von Ursula Ludz. München./.Zürich 1998. S..62. Im Folgenden zitiert als Lectures bzw. Urteilen. In der deutschen Ausgabe sind den Kant-Belegen die Band- und Seitenzahlen in Kants Werken hinzugefügt worden. 3 Lectures, S..38-40, 34-35; Urteilen, S..54-75, 50-51. 1

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diert modernes Profil zu geben. Es geht um ein Modell, das mit der metaphysischen Erbschaft der Vergangenheit bricht. Genau aus diesem Grunde tritt der Geschmack in Kants Version an die Stelle der Aristotelischen Phronesis. Dem Paradigmenwechsel von einem Aristotelischen Hintergrund zu Kant ist es geschuldet, daß Arendts Konzept der Politik eine moderne Artikulation erhält. Weder können wir fortfahren mit einem antik griechischen Verständnis, demzufolge Politik noch nicht von Fragen nach einem gemeinsam geteilten »guten Leben« getrennt war, noch dürfen wir für einen Fundamentalismus der Politik argumentieren. Politik ist weder die Basis noch der Ursprung all der anderen menschlichen Aktivitäten. Im Gegenteil, moderne Bedingungen des Lebens zu akzeptieren, heißt eo ipso, die Ausdifferenzierung der Kultur in verschiedene Felder zu akzeptieren. Kultur im modernen Sinne des Wortes umfaßt eine Pluralität von »symbolischen Formen« (Cassirer) ohne jede Hierarchie zwischen ihnen. Im Sinne dieser Erwägungen unterstreicht Arendt mit dem reifen Kant, daß wir Politik von Moralität unterscheiden müssen. Politisches Urteilen fällt nicht mit moralischem Wollen zusammen. Und: Obwohl der Geschmack ein angemessenes Modell ist, das uns erlaubt, die Verklammerung zwischen Kunst und Politik zu erforschen, so impliziert dies keineswegs, Politik mit Kunst gleichzusetzen, worauf das romantische Projekt eines »ästhetischen Staates« hinauslief. Die Bezugnahme auf Kant erlaubt es Arendt, wie gesagt, ihre Politische Philosophie dezidiert modern zu machen. Um aber Arendts Ort im postmodernen Denken freizulegen, haben wir ihre »Lectures on Kant’s Political Philosophy« im Lichte ihrer Ref lexionen auf die destraströsen Resultate der Moderne zu lesen, greifbar in der drohenden Herrschaft der Massenkultur und in den totalitären Gefahren der Politik.

II. Ehe ich mich mit Details von Arendts Lektüre der »Kritik der Urteilskraft« beschäftige, muß an ihren Ort im Spätwerk der Philosophin erinnert werden. Die reife Arendt konzentrierte sich in den auslaufenden 60er und in den 70er Jahren auf ein umfassendes philosophisches Projekt mit dem Titel »The Life of the Mind«. Es war von ihr konzipiert als eine Ergänzung zu dem Buch »The Human Condition« (1956). Während sie hier auf das Politische aus der Perspektive der unmittelbar Handelnden ref lektierte, sollte »The Life of the Mind« die Politik in dem weiteren Kontext des geistigen Lebens der Menschen verorten. Zwei Bände dieses, wie ich es nennen würde, kulturphilosophischen Projektes wurden von der Philosophin noch selbst abgeschlossen, »Thinking« (»Denken«) und »Willing« (»Wollen«).4 Ein dritter Band über »Judging« (»Urteilen«) sollte folgen, blieb aber unvollendet.

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Hannah Arendt: The Life of the Mind. Ed. by Mary Mc Carthy. New York 1978. Vol. 1:

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Das reine Denken, so läßt sich die Pointe des Buches »Thinking« umschreiben, transzendiert den Erscheinungsraum, in welchem sich politisch Handelnde bewegen. Sokrates liefert Arendt das Modell eines reinen Denkens, welches die Spannungen mit der Erscheinungswelt austrägt. Als denkendes »Ich« erfahre ich mich selbst als Teil der Welt der Erscheinungen, zugleich aber auch als transzendierend. Ich werde meiner eigenen unhintergehbaren Pluralität (the Two-in-one) inne. Das reine Denken ist nie unmittelbar politisch. Indem es aber einen Raum der Pluralität eröffnet, bleibt es auf Politik bezogen. Der politische Sinn des Wollens, das als ein selbständiges, vom Denken unterschiedenes Vermögen nicht in der griechischen Antike, sondern erst durch Paulus und Augustinus entdeckt und im Mittelalter durch Duns Scotus weiter durchdacht wurde, ehe es durch Nietzsche und Heidegger dekonstruiert wurde, besteht darin, das Ergreifen einer neuen Initiative durch politische Akteure verständlich zu machen, wodurch die Kette der empirischen Kausalität durchbrochen wird. Das Wollen steht also in einem intrinsischen Verhältnis zum politischen Prinzip der Natalität. Die leitende Idee von »The Life of the Mind« war es, Denken, Wollen und Urteilen als Elemente des Lebens des Geistes in den Blick zu bringen, und zwar als Vermögen, die miteinander verf lochten, zugleich aber auch unabhängig voneinander sind. Der Band über das Urteilen blieb zwar von der Autorin unabgeschlossen. Wir können aber die »Lectures on Kant’s Political Philosophy«, welche 1982 publiziert wurden und auf Seminare der 70er Jahre zurückgehen, als eine Art Stellvertreter nehmen. III. Herkömmliche Kant-Deutungen gehen davon aus, daß wir auf seine »Schriften zur Geschichte« oder auf seine »Rechtslehre« im zweiten Teil der »Metaphysik der Sitten« schauen müssen, um das zu finden, was Kants Politische Philosophie genannt werden könnte. Arendt widerspricht dieser Ansicht vehement. Im Gegensatz zu dieser Optik ist es ihr zufolge gerade die »Kritik der Urteilskraft«, welche den Schlüssel bietet bei der Suche nach Kants Politischer Philosophie. Es ist zweifellos richtig, daß Kant im Gegensatz zu vielen anderen Philosophen von Platon über Aristoteles zu Augustinus, Thomas, Spinoza oder Hegel niemals eine Politische Philosophie verfaßt hat. Dennoch – das ist Arendts Punkt – sollten wir die »Kritik der Urteilskraft« als Kants ungeschriebene Politische Philosophie lesen.5 Diese auf den ersten Blick so gar nicht plausible Lesart der »Kritik der Urteilskraft« kann einen Rückhalt in Kants eigener Biographie finden. Nachdem Kant sein »kritisches Geschäft« abgeschlossen hatte – sagt Arendt –, waren zwei Fragen für ihn Thinking; Vol. 2: Willing. Deutsch: Hannah Arendt: Vom Leben des Geistes. Das Denken. München./.Zürich 1979. Vom Leben des Geistes. Das Wollen. München./.Zürich 1979. 5 Lectures, S..8-9, 31; Urteilen, S..19-20, 46.

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noch immer unbeantwortet geblieben. Sie hatten den Philosophen während seines ganzen Lebens umgetrieben, waren von ihm aber vor der »Kritik der Urteilskraft« nicht explizit gestellt worden. Die erste Frage zielte auf die »Geselligkeit« des Menschen. Warum bleibt der Mensch konstitutiv abhängig von seinen Mitmenschen, um seine eigenen Talente und intellektuellen Fähigkeiten zu entfalten? »Gute Gesellschaft« ist für »den Denkenden unentbehrlich«, lesen wir in Kants »Ref lexionen zur Anthropologie«.6 Diese vielleicht unsystematische Bemerkung, die zunächst nur des Philosophen lebenslange Beschäftigung mit der Frage des Geselligen belegen mag, wird in der »Kritik der Urteilskraft« tragend. Die »Kritik der Urteilskraft« erschloß ein drittes Vermögen, das zwar mit dem »Denken« und mit dem »Wollen« irgendwie verknüpft, zugleich aber doch auch durch einen Abgrund von ihnen getrennt ist. Das menschliche Urteilsvermögen wird bei allen Fragen des Geschmacks gefordert. Der Geschmack bindet ein »Ich« notwendig an seine Mitmenschen, an die Anderen, an eine Gemeinschaft. Wir können nicht über Fragen des Geschmacks nachdenken, ohne dabei auf die Anderen, auf eine Pluralität von Mitmenschen neben uns Bezug zu nehmen. Die »Entdeckung« der ref lektierenden Urteilskraft ließ, mit einem Wort, den reifen Kant die Frage nach der Geselligkeit als ein konstitutives Element des menschlichen Daseins explizit stellen. Die zweite Schlüsselfrage, die Kant zeitlebens bedrängt hatte, die aber nicht früher als in der »Kritik der Urteilskraft« auch explizit von ihm erörtert wurde, ist Arendt zufolge diese: Warum sollen Menschen überhaupt existieren? Der Paragraph 67 der »Kritik der Urteilskraft« konvertiert diese Frage in: »Was ist der Zweck der Natur?« Der Zweck des Menschen wird in diesem Falle intrinsisch verknüpft mit dem Zweck der Natur.7 Für Arendt kann diese zweite Frage, die sich dem alten Kant stellte, umgeformt werden in die Frage nach dem spezifisch menschlichen Vermögen, immer wieder einen neuen Beginn machen zu können. Das Nachwachsen neuer Generationen erlaubt es den Menschen als Gattung, die Dinge und die Welt immer wieder anders einzurichten. Die Zweckmäßigkeit der Natur können wir, mit anderen Worten, in der Weise verstehen, daß sie zusammenfällt mit dem für die Politik maßgeblichen Prinzip der Natalität. Nun wäre es zweifellos nicht hinreichend, eine neue Interpretationsperspektive zur »Kritik der Urteilskraft« einzuführen durch ausschließliche Verweise auf biographische Motive ihres Autors. Arendts eigener Ansatz besagt daher: Die »Kritik der Urteilskraft« als Kants ungeschriebene Politische Philosophie zu verstehen, eröffnet einen neuen Zugang zum Verständnis der Struktur dieses Werkes im ganzen. Bekanntlich tauchten bei Diskussionen über Kants »Kritik der Urteilskraft« immer wieder Fragen auf wie: Was bindet eigentlich die zwei Teile zusammen, handelt 6 Kant: Reflexionen zur Anthropologie Nr. 763. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. von der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin 1902 ff. Band 15. S..333. Zitiert Lectures, S..10; Urteilen, S..21. 7 Lectures, S..12-13; Urteilen, S..23-24.

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doch der erste Teil von Ästhetik, der zweite jedoch von der Teleologie der Natur? Gibt es überhaupt ein systematisches Zentrum oder sind die beiden Teile nur zusammengefügt durch eine »Greisenschrulle«, wie Alfred Baeumler sich einst sarkastisch ausdrückte?8 Die »Kritik der Urteilskraft« als eine Politische Philosophie zu lesen, versucht eine neue Antwort auf diese verwirrende Frage zu finden. Zwei Aspekte macht Arendt in diesem Zusammenhang geltend. Erstens ist das Konzept der Pluralität eine Art roter Faden, der durch beide Teile des Buches läuft. Einerseits inhäriert die Pluralität allen ästhetischen Urteilen, andererseits ist sie das auszeichnende Merkmal der menschlichen Gattung. Ästhetischer Geschmack unterstellt kommunikativen Austausch über das, was wir als schön oder häßlich bewerten. Mitmenschen, die Anderen, ein Publikum sind involviert bei der Formierung von ästhetischen Urteilen. Andererseits können wir von der Menschheit nicht anders denken als in Begriffen von einer Pluralität von Kulturen, einer Pluralität von Rassen, einer Pluralität von Sitten und Gebräuchen als ihrer Verkörperung.9 Bei Fragen nach der Einheit der »Kritik der Urteilskraft« kommt noch ein zweiter Aspekt hinzu. Logisch gesprochen, zielt die ref lektierende Urteilskraft auf das Erkennen des »Besonderen«. Sie befaßt sich mit Etwas, das ontologisch den Status des Kontingenten hat. Die Urteilskraft versucht, mit dem Besonderen ins Reine zu kommen, sei es in Geschmacksurteilen über ästhetische Sachverhalte oder in Urteilen über die mannigfaltigen Formen und Gestaltungen der Natur. Im letzteren Falle fragen wir etwa: Wie können wir einen »Grashalm« verstehen, sofern wir geneigt sind, unser Verständnis der Natur zu orientieren an Begriffen der Zweckmäßigkeit?10 Die »Kritik der Urteilskraft« bündelt also Fragen, welche Kant zeitlebens in Atem gehalten hatten, die jedoch nie von ihm direkt angegangen worden waren. Es gibt allerdings, so lautet ein wichtiges Argument Arendts, auch und wiederum zunächst autobiographische Anhaltspunkte, welche belegen können, daß Kant erst im Alter die explizite Wende zur Politischen Philosophie vollzogen hat. Fragen der Verfassung, des Verfassungsrechtes und der politischen Institutionen treten erst beim alten Kant auf. Angestoßen sind sie zweifellos durch die Französische Revolution von 1789. Kant selbst war damals 65 Jahre alt. Der Paragraph 65 der »Kritik der Urteilskraft«, die 1790 erschien, reagiert schon auf die Amerikanische Revolution als ein herausragendes Ereignis der damaligen Zeit. Später ließ Kant den Essay »Zum ewigen Frieden« (1795) folgen. Die Französische und die Amerikanische Revolution weckten, so könnte man mit Arendt sagen, Kant aus seinem politischen Schlummer, nachdem ihn David Hume aus dem dogmatischen theoretischen und Jean-Jacques Rousseau ihn aus seinem moralischen Schlummer gerissen hatten. Es ist aber grundfalsch, zu denken, daß der späte Kant Fragen der 8 9 10

Lectures, S..12; Urteilen, S..23. Lectures, S..13; Urteilen, S..24-25. Lectures, S..14; Urteilen, S..26

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Staatsorganisation als moralische Fragen auffaßte. Dies war gerade Teil seines früheren politischen Schlummers. Der alte Kant zog demgegenüber, wie schon angedeutet, einen deutlichen Trennungsstrich zwischen Politik und Moral. Politik kann nicht auf Moralität gegründet werden. Fragen nach der Verfassung eines liberalen Gemeinwesens sind von der Art, daß eine gute zwar Moralität unter ihren Bürgern verstärken mag, aber sie darf diese nicht voraussetzen oder gar aus ihr abgeleitet werden. Eine gediegene Verfassung muß, so argumentiert der späte Kant, sogar zu einem »Volk von Teufeln« passen. Von den Bürgern eines demokratischen Gemeinwesens darf man legitimer Weise nur erwarten, daß sie intelligent handeln. Das für die Demokratie konstitutive Prinzip der Publizität zwingt die Menschen dazu, in der Politik ihre Lügen zur Seite zu stellen. Denn hier zählt das »öffentliche Verhalten« einer Person, und nicht die einem Individuum zuzuschreibende Moral.11 Daß Moralität mit dem Begriff des Selbst korreliert, ist ein Axiom schon des ›vorkritischen‹ und nicht erst des ›kritischen‹ Kant. In seiner ›vorkritischen‹ Schrift »Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen« (1766) sagt Kant, daß das aufgeklärte Selbstinteresse das ist, was die Menschen moralisch macht. Dieses Kriterium trennt die Moralischen von den Unmoralischen. Die Natur – das ist Kants Punkt – macht es, daß die Menschen als Gattung überleben. Selbst die amoralischen Menschen vermögen den Zweck der Gattung nicht zu destruieren. Die moralische Person Kants unterschreibt die Erfordernisse des aufgeklärten Selbstinteresses. Sie sorgt sich um individuelles Verhalten. Ihr mangelt jedes weitere »Interesse an der Welt«, das gerade für das politische Handeln konstitutiv ist.12 Es ist dieser Akzent auf dem Selbst, welcher Kants Annahme motiviert, daß der »Verlust der Selbstbilligung« das größte Unglück sei, das einem Menschen widerfahren kann, wie er in seinem Brief an Moses Mendelssohn vom 8. April 1766 schreibt.13 Arendt schärft zu Recht ein: Erst der alte Kant macht einen deutlichen Einschnitt zwischen der Politik, bei der die Gemeinschaft und die geteilte Verantwortung für die Welt zentral sind, und der Moralität, die im Selbst eines Individuums verankert ist. Es ist bekannt, daß die Schrift »Zum ewigen Frieden« ein Modell für die Vereinbarkeit zwischen Moral und Politik anbietet, jedoch nicht für deren Identität. Moralität ist im Individuum und nicht in der Pluralität der Vielen verankert: Wie soll ich handeln? Kants Konzeption der Moralphilosophie besteht faktisch in der Universalisierung des zweckhaften individuellen Willens. Dieser Ansatz liefert, wie Arendt zurecht betont, keine vollgültige Theorie des politischen Handelns. Eine solche müßte die Sprache und den kommunikativen Austausch zwischen den handelnden Akteuren einschließen, was Kant niemals zugestanden hätte. Vom Stand11 12 13

Lectures, S..18; Urteilen, S..30. Lectures, S..20; Urteilen, S..33. Vgl. ebd.

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punkt seiner Philosophie ist in Fragen der Moral der Wille, d..h. der Zweck eines Individuums entscheidend. Die Maxime des Verhaltens eines Individuums muß von einer solchen Qualität sein, daß sie verallgemeinert werden kann. Moralität entspringt nicht aus dem Procedere des Urteilens. Das Urteilen unterstellt die Anwesenheit der Anderen. In moralischen Angelegenheiten dagegen ref lektiert das Individuum als Individuum auf die Maximen seines Verhaltens. Gleichwohl, Moralität und Politik treffen sich in dem Erfordernis der Publizität. Aber – und dieses »Aber« ist von entscheidender Wichtigkeit – die Kompatibilität von Politik, die von Natur öffentlich ist, und Moralität, die auf Individuen bezogen ist, ist gemäß der Schrift »Zum ewigen Frieden« nur eine negative Instanz. Solche Handlungen sind politisch und moralisch gerechtfertigt, die das Licht des Öffentlichen nicht scheuen müssen. Öffentlichkeit ist keine konstitutive Bedingung der moralischen Handlung in einem positiven Sinn. Das moralische Gesetz ist öffentlich, während die moralischen Maximen privat bleiben.14 Öffentlichkeit, Publizität ist lediglich ein »transzendentales Prinzip«, dem das Politische und das Moralische entsprechen müssen. IV. Bevor ich auf Arendts explizite Interpretation von einigen Passagen der »Kritik der Urteilskraft« eingehe, ist es an dieser Stelle nötig, für einen Moment bei dem zu verweilen, was ich Kants kulturelle Modernität nennen möchte. Ich benötige diese Erwägung, weil sie meine Interpretationsperspektive, Arendts Standpunkt in die moderne und sogar postmoderne Kulturphilosophie einzuzeichnen, unterbauen kann. Erstens. Als Autor der Epoche der Aufklärung teilt Kant mit ihr den Akzent auf »kritischem Denken«. Kritisches Denken meint vor allem, »den eigenen Verstand zu gebrauchen«. Kritisches Denken ist »Selbstdenken«. Arendt weist auf die Sokratische Wurzel dieses Konzepts hin. Es besteht in einer deutlichen Opposition zu Platon. Seine berühmte »Kunst der Unterscheidung« hat Sokrates auf dem Marktplatz von Athen exerziert. Sie stand damit offen für das weitere Publikum. Analog setzt Kants kritisches Denken die (moderne) Öffentlichkeit der Gedanken voraus. Kritisches Denken hat sein Telos in der Belebung und Verstärkung der Öffentlichkeit. Beide Denker, der antike Sokrates und der moderne Kant, verstehen, wie Arendt unterstreicht, die Konsistenz der eigenen Gedanken als ein logisches und zugleich als ein ethisches Erfordernis.15 Konsistenz im Denken ist mehr als nur logische Widerspruchsfreiheit, worauf der Metaphysiker Aristoteles die Philosophie begrenzen wollte.

14 Lectures, S..48-49; Urteilen, S..68-69. Für eine neue Sicht auf Kants Schrift »Zum ewigen Frieden« vgl. Volker Gerhardt: Immanuel Kants Entwurf »Zum ewigen Frieden«. Eine Theorie der Politik. Darmstadt 1995. 15 Lectures, S..37; Urteilen, S..53-54.

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Ich möchte hier sehr viel stärker als Arendt selbst das tut, das Ideal der Urbanität mit dem kritischen Denken verknüpfen. In der deutschen Sprache hat das Wort »Urbanität« noch immer eine leicht normative Färbung, im Gegensatz zum neutralen »urbanity« der englischen Sprache. Urbanität und kosmopolitische Weltläufigkeit sind miteinander verknüpft. Cassirer kennzeichnete einst nicht nur Kants Stil der Philosophie mit dem Ideal der Urbanität, sondern, darüber hinaus, identifizierte er es als ein Ideal, das alle Philosophen der Epoche der Aufklärung unterschrieben.16 Das kritische Denken als eine die urbane Weltläufigkeit kennzeichnende Tugend hatte damals ihren Sitz in ganz neuen Genres des philosophischen Diskurses. Das 18. Jahrhundert erlebte das Aufblühen der Kritik. In den Städten vor allem entstanden die Kunstkritik, die Ästhetik, die Kulturkritik. Die Kritik als das Mittel, um die Menschen aus ihrer Befangenheit in Vorurteilen und aus der Fixierung auf blinde Autorität zu emanzipieren, impliziert den Bezug aufs »Selbstdenken«, auf – wie Arendt mit Kant sagt – »den Gebrauch des eigenen Verstandes«.17 Zweitens. Kants Modernität, wodurch seine Philosophie scharf von der antiken griechischen Metaphysik abgehoben ist, zeigt sich in einem starken Akzent auf den menschlichen Sinnen. Es ist wahr, daß Kant, wie die meisten Philosophen vor ihm, das menschliche Leben als eine Last empfindet. Aber der Akzent auf den menschlichen Sinnen bringt ihn dazu, einzusehen, daß das Leben auf Erden auch Sinnesfreuden zu bieten hat, wodurch die Schwere des Daseins erträglich wird. Im Gegensatz zum Platonischen und Aristotelischen Modus der Philosophie, der dem reinen Denken und der Kontemplation den Vorrang gab, unterstrich Kant, daß die Sinnesfreuden, die vom Schönen herrühren, verstanden werden können als eine Art Hinweis darauf, daß der Mensch in der Welt heimisch zu werden vermag: »Die schönen Dinge zeigen an, daß der Mensch in die Welt passe und selbst seine Anschauung der Dinge mit den Gesetzen seiner Anschauung stimme«.18 Drittens. Obwohl das kritische Denken im »Selbstdenken«, im »Gebrauch des eigenen Verstandes« zentriert ist, so führt es doch zu dem, was Kant eine »erweiterte Denkungsart« nennt. Dem Prinzip der Publizität gemäß, das hier vorausgesetzt wird, verlangt das kritische Denken von mir, meine eigene Meinung immer wieder erneut zu überdenken. Ich bin gehalten, die Einwendungen und Perspektiven der Mitmenschen um mich herum in Rechnung zu stellen. Indessen, während ich mich den Gesichtspunkten der Anderen öffne, darf ich nicht die Perspektive auf eine Meliorisierung meines urspünglichen Punktes aus dem Auge verlieren. Die »Unparteilichkeit« – das Ernstnehmen der Gesichtspunkte der Anderen – bringt mich dazu, Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. Tübingen 1973. S..360; Ernst Cassirer: Kants Leben und Lehre. Darmstadt 1977. S..52. Vgl. meinen Essay: »The Philosophical Notion of the City«. In: City Life. Essays on Urban Culture. Maastricht 1997. Edited by Heinz Paetzold. S..8-37. Hier: S..18.f. 17 Lectures, S..32-33; Urteilen, S..47-48. 18 Kant: Reflexionen zur Logik Nr. 1820a. In: Ders.: Gesammelte Schriften. A.a.O. (Anm. 6). Band 16. S..127. Zitiert Lectures, a.a.O. (Anm. 2), S..30; Urteilen, S..45. 16

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meine eigene Denkungsart zu erweitern.19 Mich den Gesichtspunkten der Anderen auszusetzen, läßt mich auf mein Argument mit frischen Augen blicken, wodurch meine Bemühungen unterstützt werden, die Begrenzungen meiner ursprünglich vielleicht vorurteilshaften Meinung zu überschreiten – darin nicht zuletzt liegt Kants kulturelle Modernität. V. Von Kants Politischer Philosophie zu handeln und dabei dieses Autors diverse Bezugnahmen auf die Französische Revolution zu negieren, würde auf eine ungerechtfertigte Einseitigkeit hinauslaufen. Hier indessen taucht ein ernstes Problem auf. Arendt zitiert ausführlich aus Kants politischen Schriften. In Abhandlungen, wie »Der Streit der Fakultäten« (1798), »Zum ewigen Frieden« (1795) und »Metaphysik der Sitten« (1797) preist und verteidigt Kant die Französische Revolution als »ein […] Phänomen in der Menschengeschichte«, das »sich nicht mehr« »vergißt«. Die Französische Revolution ist eine »Hoffnung«. Das Ereignis erregt »in den Gemütern aller Zuschauer« »eine Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasmus grenzt«, wie es im »Streit der Fakultäten« heißt.20 Derselbe Autor jedoch verneint kategorisch, daß Philosophen je ermächtigt seien, Revolution zu predigen oder zu proklamieren. Ein scharfer Konf likt zwischen Politik und Moral tut sich auf. Politisch sollten wir, Kant zufolge, die Resultate einer erfolgreichen Revolution akzeptieren, aber von einem moralischen Standpunkt aus ist es uns nicht erlaubt, sie zu fordern. Es scheint, als ob Kants Politische Philosophie ausschließlich vom Standpunkt des Zuschauers und des Betrachters geschrieben ist. Fällt aber eine solche Einstellung nicht der ererbten metaphysischen Philosophie zum Opfer, die seit Platon und Aristoteles den Vorzug an die unbeteiligte Kontemplation gegeben hatte? Kants Philosophie scheint gespalten zu sein in die Aktion auf der einen und in die schiere Kontemplation auf der anderen Seite. Das kontemplative Modell der Philosophie wird von Arendt illustriert durch die Bezugnahme auf eine Parabel, die Pythagoras zugeschrieben wird: »Das Leben […], ist wie ein Festspiel; zu einem solchen kommen manche als Wettkämpfer, andere, um ihrem Gewerbe nachzugehen, doch die Besten kommen als Zuschauer (theatai), und genau so ist es im Leben: die kleinen Naturen jagen dem Ruhm (doxa) oder dem Gewinn nach, die Philosophen aber der Wahrheit.«21 Ohne Zweifel, in dieser Parabel wird der Kontemplation, dem schieren Schauen auf die Welt ohne jedes Handeln der Vorrang zugesprochen. Ein kontemplativer Philosoph zu werden, heißt, die Lectures, S..42-43; Urteilen, S..59-61. Kant: Der Streit der Fakultäten, Teil II, Abschnitte 6 und 7. Zitiert Lectures, S..45-46; Urteilen, S..75. 21 Zitiert Lectures, S..55; Urteilen, S..75. 19 20

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oberf lächliche Meinung wie auch den verführerischen Ruhm hinter sich zu lassen. Dies war, zweifellos, ein Standard der griechischen Antike. Kant jedoch kann diesem antiken Lob der Kontemplation nicht umstandslos zugeordnet werden. Erstens unterstellt er im Beispiel der Französischen Revolution die Erfahrung von politischem Fortschritt. Als ein eminent politisches Ereignis bewegt die Französische Revolution die Zuschauer, da es von ihnen entziffert werden kann als ein Zeichen für politischen und geschichtlichen, vielleicht sogar für moralischen Fortschritt. Die Revolution eröffnete einen neuen Horizont des Politischen. Der moderne Staat, der auf einer Verfassung basiert, tritt in einen Gegensatz zu dem auf der Souveränität des Königs gründenden.22 Kant war bewegt durch die Französische Revolution, so wie wir in diesen Tagen bewegt werden durch die Befreiung von der Apartheid Politik in Südafrika und die Perspektive einer demokratischen multirassischen Gesellschaft dort. Zweitens. Das Konzept des historischen Fortschritts war in der antik griechischen Welt unbekannt. In Kants Sicht ist dieser Begriff nicht auf ein Individuum, sondern nur auf die menschliche Gattung anwendbar.23 Für Kant ist die Geschichte ohne ein definitives Ziel. Die menschliche Gattung hat keine Substanz. Was die Geschichte enthüllt, sind ständig wechselnde und neue Charaktere des Menschseins. Ein Betrachter, der die Geschichte gemäß diesem Kriterium betrachtet, entdeckt Fortschritt in ihr. In seinem Essay »Zum ewigen Frieden« schreibt Kant der Natur die »Macht« zu, die Menschheit zu spalten, indem sie die Völker in Kriege stürzt, und zugleich die Macht, sie zu vereinen dank der Leiden durch Kriege, welche eben dadurch den Zwang zu Übereinkunft und Rechtsprechung verursachen. Die Politik einer friedlichen Ko-existenz von Staaten ist jedoch Kant zufolge nur in dem Maße möglich, wie Kosmopolitismus, d..h. die »erweiterte Denkungsart« von Weltbürgern, erfüllt wird in republikanischen Politiken. VI. Nun muß der Fächer der Analyse weiter aufgezogen werden. Denn in Arendts Lektüre zeigen die bisher herangezogenen Essays von Kant noch nicht seine volle Politische Philosophie. Kants, wenn auch ungeschriebene, Politische Philosophie findet sich in der »Kritik der ästhetischen Urteilskraft«.24 Es ist nur hier, daß die Lücke zwischen Betrachter und Handelndem überbrückt wird. Wir müssen freilich Kants ästhetische Begriffe übersetzen in die Münze der Politischen Philosophie. Innerhalb der »Kritik der ästhetischen Urteilskraft« ist es das Konzept des Geschmacks, welches den herstellenden Künstler, den Kant das Genie nennt, mit dem 22 23 24

Lectures, S..56-57; Urteilen, S..76-77. Lectures, S..50-51, 58; Urteilen, S..72-74, 79-80. Lectures, S..61-62; Urteilen, S..83-84.

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rezeptiven Betrachter und dadurch mit dem Publikum zusammenschließt. Wir können mit Arendt das Netz von Begriffen, das Kant gebraucht, als ein Netz verstehen, das auch die Realität der Politik deckt. Die Herstellung von Kunstwerken erfordert Kant zufolge »Einbildungskraft«, »Verstand«, »Geist« und »Geschmack«.25 Einbildungskraft bezeichnet das Vermögen der Darstellung, d..h. sichtbar zu machen, was nicht anwesend ist, und zwar derart, daß Gegenstände sozusagen »Gegenstände eines inneren Sinnes« werden.26 Geist im Kantischen Sinne bezieht sich auf die Fähigkeit, den »Gemütszustand« auszudrükken, so daß er auch für Andere verstehbar wird; Geist, in einem Wort, meint Mitteilbarkeit.27 Verstand in der Kantischen Terminologie verweist auf »Begriffe« und »Regeln«. Arendt unterstreicht, daß für Kant die Vermittlung all der erwähnten Vermögen erst durch den Geschmack und den Prozeß der Beurteilung zustande kommt. Der »öffentliche Bereich«, so konkludiert Arendt, wird konstitutiert durch »Kritiker« und »Zuschauer«, nicht primär durch die »Akteure« und »Hersteller«. Die Pluralität der Zuschauer ist wichtig. In Sachen des Geschmacks gibt es nicht nur einen Zuschauer im Singular. Die Originalität des Künstlers ist immer ausbalanciert und komplementiert durch seine Bezogenheit auf die Zuschauer. Das heißt aber auch, daß der Künstler selbst nicht ohne das »kritische« und »urteilende Vermögen« gedacht werden kann. Dies wiederum bindet ihn an ein breiteres Publikum.28 Arendt verfolgt den Kantischen Vorrang des Beurteilens (und damit des Geschmacks) gegenüber dem herstellenden Machen zurück auf den römischen Philosophen Cicero. Er schon machte die Pointe, daß die Menschen gleichsam durch »silent sense« (durch »stummen./.schweigenden Sinn«) eher dazu befähigt sind, Kunstwerke zu beurteilen statt sie selbst herzustellen.29 Das Urteilen hat seinen Ort im Publikum. Es verlangt die Anwesenheit der Anderen, um vollzogen zu werden. Logische Schlüsse dagegen werden in Einsamkeit gezogen. Beurteilen bezieht sich immer auf den Gemeinsinn. Warum ist der Geschmack vorrangig gegenüber dem Sehen, dem Hören und dem Tasten? Zusammen mit dem Geruch, sagt Arendt, gehört der Geschmack zu den am meisten »idiosynkratischen« und die Dinge »unterscheidenden« Sinnen. In Angelegenheiten des »Geschmacks« und des »Geruchs« ist das »Es-gefällt-oder-mißfällt-mir« immer »unmittelbar« und »überwältigend«.30 Wir müssen freilich im Gedächtnis behalten, daß der Geschmack als ein ästhetisches Konzept nicht krude Gegenstände, sondern durch die Einbildungskraft transformierte, d..h. repräsentierte Gegenstände ref lexiv beurteilt. 25 26 27 28 29 30

Lectures, S..62-63; Urteilen, S..85. Lectures, S..65; Urteilen, S..87. Lectures, S..63; Urteilen, S..85. Ebd. Lectures, S..63-64; Urteilen, S..86. Lectures, S..64; Urteilen, S..87.

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VII. Bei Sachen des Geschmacks beurteilen wir nicht Dinge an sich, sondern ihre Darstellungen, d..h. ihr Verwandeltsein durch die Einbildungskraft.31 Das Äußern und Bezeugen von Geschmack verbindet mich intrinsisch mit den Anderen. »Das Schöne«, so konstatiert Kant im Paragraphen 41 der »Kritik der Urteilskraft«, »interessiert« »nur in der Gesellschaft […] Für sich allein würde ein verlassener Mensch auf einer wüsten Insel weder seine Hütte, noch sich selbst ausputzen […]«. Mit unseren Freunden in Geschmacksangelegenheiten nicht übereinzustimmen, macht uns beschämt. Kant proklamiert: »Im Geschmack ist der Egoismus überwunden«.32 Kants Argument ist, daß wir in Sachen des Geschmacks immer auf Andere referieren. Wir ref lektieren auf ihren Geschmack, während wir selbst urteilen. »Ich urteile«, sagt Arendt pointiert, »als Mitglied dieser Gemeinschaft«.33 Das schließt auch eine Wahl ein. Ich wähle diejenigen, mit denen ich übereinstimme und von denen ich mich abgrenze. Beim Urteilen, so fährt Arendt fort, sind zwei geistige Operationen impliziert. Einmal ist stets Einbildungskraft investiert, welche die kruden Dinge in Darstellungen verwandelt. Zum andern impliziert das Urteilen Ref lexivität. Als Urteilender beziehe ich ref lexiv meine persönlichen Überzeugungen, meine Meinungen und Ansichten auf diejenigen der Anderen neben mir. Nur indem ich die Anderen in Betracht ziehe, dadurch daß ich deren Meinungen antizipiere, erreiche ich »Unparteilichkeit«. Ich erweitere den Scopus meiner Wahrnehmungen und Erfahrungen. Zugleich ist, wie schon angedeutet, ein Element des Wählens impliziert; denn ich treffe eine Wahl zwischen »Billigung oder Mißbilligung«. Als das Maß solcher Akte des Billigens und Mißbilligens fungiert das Kriterium der »Mitteilbarkeit« oder der »Öffentlichkeit«. Bei ästhetischen Urteilen bin ich gehalten, das Band mit den Anderen zu festigen oder zu erneuern. In ihrem Kommentar zu §.39 der »Kritik der Urteilskraft« behauptet Arendt, daß das Kriterium der Mitteilbarkeit voraussetzt, daß die Anderen neben mir Sinne wie ich selbst haben, aber daß jede einzelne Sinnesempfindung verschieden ist. Die einzelnen Empfindungen sind privat und passiv. Aber das Sinnenurteil ist nicht lediglich passiv, sondern aktiv. Gleichwohl eignet den ästhetischen Urteilen nicht das Obligatorische und das Zwingende, wie es den moralischen Urteilen, wenn sie denn geäußert werden, zukommt. Wenn Kant in §.40 der »Kritik der Urteilskraft« vom Geschmack spricht als »einer Art von sensus communis«,34 dann hebt er die Fähigkeit zur Kommunikation als einen spezifisch menschlichen Sinn hervor. Er beruht auf der Sprache und kann nicht

Lectures, S..66-67; Urteilen. S..88-90. Lectures, S..67; Urteilen, S..91. Bezug auf Kant: Reflexionen zur Anthropologie Nr. 676. In: Ders.: Gesammelte Schriften. A.a.O. (Anm. 6). Bd. 15. S..334-335. 33 Lectures, S..67; Urteilen, S..91. 34 Lectures, S..70-72; Urteilen, S..94-96. 31 32

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mit Expressivität gleichgesetzt werden. Bei Prozessen der ästhetischen Beurteilung vergleichen wir unsere eigenen Urteile mit denen »anderer« »nicht sowohl wirkliche, als vielmehr bloß mögliche Urteile«, wie Kant wörtlich sagt. In den Maximen des Kantischen sensus communis kehren alle Elemente wieder, von denen ich schon gehandelt habe. Sich seines eigenen Verstandes bedienen, sich selbst in Gedanken an die Stelle von jemand Anderem versetzen, konsistent in seinen Gedanken sein. »Selbstdenken«, »erweiterte Denkungsart«, »Einstimmigkeit«, alle diese Maximen stärken und beleben den Gemeinschaftssinn.35 Die Anderen sind konstitutiv beteiligt am Procedere der ästhetischen Urteile. Der sensus communis im Kantischen Sinne muß somit unterschieden werden vom common sense eines, sagen wir, Thomas Reid. Für Kant meint der sensus communis eine »erweiterte Denkungsart«. Sie strebt nach einem »allgemeinen Standpunkte«. Aber der sensus communis ist nicht reiner Gedanke im wörtlichen Sinn des Wortes, sondern eher, wie Arendt unterstreicht, die »allgemeine Mitteilbarkeit« eines »Gefühls«.36 Kant selbst unterstreicht die Kommunikation von Gefühlen, von Affekten und von Emotionen als einen herausragenden Zug menschlicher Wesen. Hier liegt eine wichtige Konsequenz für die Politik. Der Begriff der grenzenlosen Mitteilbarkeit von Gefühlen liefert, so lautet eine Pointe Arendts, eine begründete Aussicht auf die Idee eines ewigen Friedens zwischen den Völkern und Kulturen. Nicht schon die bloße Abwesenheit von Kriegen macht einen wahrhaftigen Frieden aus, sondern erst ein »ursprüngliche(r) Vertrag« zwischen den Menschen. Die Mitteilbarkeit von Gefühlen spielt hier eine wesentliche Rolle. Der Punkt, wo die »Vereinigung« von »Akteur« und Zuschauer stattfindet, taucht auf. Wir sind gehalten, politisch in der Weise zu handeln, daß die Maximen unseres Handelns das Band zwischen den Menschen und den Kulturen verstärken und sie zu einem »allgemeinen Gesetz« erheben. Solche Art von Handlungen führt zur Realisierung und Verkörperung der Bedingungen einer wahren »weltbürgerliche(n) Existenz«.37 Arendt konkludiert: »Man urteilt immer als ein Mitglied einer Gemeinschaft, geleitet von seinem gemeinschaftlichen Sinn, seinem sensus communis.« Das klingt zunächst ganz wie »communitarian talk«, sagen wir, eines Michael Walzer oder eines Charles Taylor. Aber für Arendt ist dies nur der Ausgangspunkt; denn »letztlich ist man Mitglied einer Weltgemeinschaft durch die einfache Tatsache, ein Mensch zu sein; das ist unsere ,weltbürgerliche Existenz‹». Sie fährt fort: »Wenn man urteilt und wenn man in politischen Angelegenheiten handelt, so soll man sich an der Idee, nicht der Tatsächlichkeit des Weltbürger-Seins und damit auch des WeltbetrachterSeins orientieren«.38 35 36 37 38

Lectures, S..71; Urteilen, S..95. Lectures, S..72; Urteilen, S..95-96. Lectures, S..74-75; Urteilen, S..99-100. Lectures, S..75-76; Urteilen, S..100.

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VIII. Die soziale Kommunikation hat indessen nicht nur eine Konsequenz für die Vermittlung der »internen« mit der »externen« Welt, sondern auch für die in der intersubjektiven Dimension sich ereignenden Vermittlung zwischen der nur einem einzelnen »Subjekt« zuschreibbaren Welt und der intersubjektiv mit den Anderen geteilten Welt. Der sensus communis im Sinne Kants ist als Gemeinschaftssinn abgegrenzt vom »sensus privatus«. Es ist der gemeinschaftliche Sinn, welcher den Urteilen Geltung verschafft, durch ihren Appell an die Anderen und letztlich an Jedermann. Die Geltung von ästhetischen Urteilen darf jedoch nicht verwirrt werden mit der Geltung wissenschaftlicher Propositionen. Sie ist aber auch mehr als nur die bloße Evidenz der Sinne. Ästhetische Urteile wollen überzeugen. Sie beanspruchen die Übereinstimmung mit den anderen Mitgliedern der Gemeinschaft.39 Mit einem Wort, der sensus communis hat eine konstitutive Funktion für die Eröffnung einer gemeinsam geteilten Welt. Es ist ein Axiom des Arendtschen Politik-Verständnisses, daß Politik eine gemeinsam geteilte Welt voraussetzt, für die die politisch Handelnden Verantwortung übernehmen. Arendts Lektüre der »Kritik der Urteilskraft« als Kants ungeschriebene Politische Philosophie macht noch auf einen anderen Aspekt der Kantischen Doktrin aufmerksam. Bezogen auf § 41 der »Kritik der Urteilskraft«, worin Kant »Vom empirischen Interesse am Schönen« handelt, unterstreicht Arendt die »befreiende« Kraft ästhetischer Urteile. Ihr Vollzug führt die an ihnen beteiligten Akteure zu einer »erweiterten Denkungsart«, die wie wir schon sahen, eine Bedingung der »Weltbürgerschaft« ist. Obwohl ästhetische Urteile vollständig in der Subjektivität verankert sind, so überschreiten sie im Vollzug doch nichts desto trotz alle lediglich privaten Bedingungen. Die zentralen Intentionen Kants bei seiner Doktrin des sensus communis sind: den Sinn der Geselligkeit zu stärken und allererst herzustellen, die »Humanität« der menschlichen Wesen zu erweitern und ganz individuelle Gefühle an Andere mitzuteilen. Das »eigentliche Wesen der Menschen«, sagt Arendt, ist ihre »Geselligkeit«. Die Urteilskraft setzt die reale »Anwesenheit anderer Menschen« voraus, während sie ausgeübt und ingang gesetzt wird.40 IX. Ein letzter Punkt, bevor ich zu einigen Konklusionen komme. Kants Konzeption des Beurteilens als das »Denken des Besonderen« scheint ein hölzernes Eisen zu sein. Denken ist von Natur aus allgemein. Die Frage also ist: Wie können sich das Allgemeine und das Besondere treffen? 36 37 39 40

Lectures, S..72; Urteilen, S..96-97. Lectures, S..74; Urteilen, S..98.

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Arendt zufolge bietet Kant zwei zu unterscheidende Linien des Arguments. Die eine beruft sich auf die philosophische Tradition und ist gewissermaßen rückwärts gerichtet. Das Allgemeine ist bei ref lexiven Urteilen nicht gegeben, sondern es muß durch Ref lexion allererst enthüllt werden. Die Menschheit einerseits und die Zweckmäßigkeit andererseits sind Kants Modelle. Jedes zunächst unbestimmte Besondere kann in der einen oder der anderen Weise entweder auf die Menschheit als Gattung bezogen werden oder aber auf ein Ganzes, als dessen Teil das Besondere erwiesen wird. Diese beiden Modelle reden die Sprache der philosophischen Tradition. Die zweite Linie in Kants Denken jedoch, der exemplarische Fall, ist die progressive Erfindung, welche nicht durch die Tradition gedeckt wird. Der exemplarische Fall ist inventiv, indem er auf einen logischen Raum jenseits des Allgemeinen verweist, das wir uns entweder als eine Platonische Idee oder als eine Kantische Regel denken können. Der exemplarische Fall dagegen zieht eine Evidenz mit sich, die durch Momente der Überraschung gekennzeichnet und durch ein Ereignis verursacht ist. X. Meine Ausführungen erlauben die folgenden Schlußfolgerungen: Erstens. Klebt man nicht am Buchstaben der Arendtschen Texte, dann müßte ihr Denken heute in die Nähe des Postmodernen Lyotard gebracht werden, um ein allzu harmonisches Konzept von politischem Pluralismus zu vermeiden. Lyotards Begriff des »Widerstreits« (»différend«) in seinem politischen Werk »Patchwork der Minderheiten. Für eine herrenlose Politik« (Berlin 1977) führt in das politische Konzept des Pluralismus Kampf und Streit, in einem Wort, agonale Aspekte ein, die in der späten Arendt unartikuliert bleiben. Diese Gedankenlinie findet freilich einen Rückhalt in Arendts Denken, wenn wir andere Kontexte beachten, worin die Autorin die Notwendigkeit und Dringlichkeit des Urteilens heraushebt. In ihrem Buch »Eichmann in Jerusalem: A Report on the Banality of Evil« (New York 1965) macht Arendt zwei Dinge. Einerseits entdramatisiert sie das Böse. Es gibt keine Mysterien um einen modernen Massenmörder. Eichmann war ein biederer Familienvater, der in einem bürokratischen totalitären Räderwerk operierte. Auf der anderen Seite diagnostiziert Arendt als eine der Gefahren unserer Zeit den Mangel am Urteilen. Im Ausstellen und Verweigern eines jeden eigenen Urteilens ist Eichmann sicher ein extremer Fall.41 Es kommt noch ein weiterer Aspekt hinzu. In Arendts Sicht müssen die katastrophalen Desaster unserer Zeit, wie der Totalitarismus und die Politik des Genozids, beurteilt werden. Dadurch werden Verbrechen, welche das menschliche Vorstellungsvermögen übersteigen, nicht ungetan gemacht, sondern wir sind aufgefordert, Vgl. Ronald Beiner: »Interpretative Essay«. In: Lectures, S..89-156, hier: S..97-101; Urteilen, S..115-197, hier: S..125-130. 41

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uns mit den unkomfortablen und erschreckenden Seiten unserer Existenz zu beschäftigen. Wir sind gehalten, zu verstehen, genau deshalb, weil die traditionellen Kategorien und Standards (die Repäsentanten des Allgemeinen) nicht mehr greifen. Das ist die Zeit der Urteilskraft. Die ref lektierende Urteilskraft zu investieren, ist alles andere denn der spezialistische Job von Historikern, sondern die gereifte Urteilskraft ist eine Vorbedingung der politischen Aktion, wie Arendt in ihrem Aufsatz »Understanding and Politics« (1953) betont hat.42 Zweitens. In ihrem Essay »The Crisis in Culture«43 entfaltet Arendt Argumente, welche ihre »Lectures on Kant’s Political Philosophy« ergänzen und konretisieren. Arendt diagnostiziert die zeitgenössische Massenkultur und die Konsumgesellschaft als Gefährdungen eines vollen Begriffs des Politischen. Indem beide uns zu Jobholders degradieren, verstärken und verfestigen sie die Weltlosigkeit der modernen Menschen. Nur ein kulturelles Subjekt, das auftaucht, indem es autonomen Kunstwerken ausgesetzt wird, die uns die Welt als Erscheinungswelt eindringlich machen, würde eine Position des Widerstandes markieren. Die Politik unterstellt handelnde Frauen und Männer, die eine Verantwortung für eine gemeinsam geteilte Welt übernehmen. Besonders die welterschließenden Potentiale, welche wir der Rezeption von Kunstwerken zuschreiben können, ermöglichen kulturelle Subjekte, die einen Sinn für das politische Engagement wiedergewinnen würden. Das Argument behauptet nicht die Identität von Kunst und Politik, sondern Politik bleibt auf durch die Kunst kultivierte Subjekte angewiesen. Drittens. Ich würde freilich Arendts phänomenologisches Reden von »Welterschließung« und »Erscheinungswelt« ersetzen durch ein Cassirerisch Symbolisches, um das Welterschließende mit dem Welterzeugenden, im Sinne von Nelson Goodmans »worldmaking« zu konvertieren. Der Grund dafür ist, daß ich mir keine kulturelle Subjektivität ohne Bezug auf kulturelle symbolische Prägungen vorstellen kann. Dann aber steht der Weg offen, um Arendts Theorie des Politischen als symbolische Form reformulieren zu können. Die Idee einer Philosophie der Symbolischen Formen unterstellt eine Diversität von kulturellen Feldern, die zwar voneinander getrennt sind aufgrund der »Ausdifferenzierung« (Max Weber), die aber auch einander fordern und durchaus in einen Konf likt miteinander geraten können.44 Arendts Rede von Kants Konzept des Geschmacks als ein politisches Konzept meint dann in letzter Analyse, daß der ästhetische Geschmack und die politische Aktion zwei verschiedene symbolische Formen sind, welche Berührungspunkte und Überlappungen aufweisen, die aber auch voneinander getrennt sind. So fordert das Politische das faktische Handeln. Es kann nicht ausgestellt oder vertagt werden. Die Kunst dage-

Vgl. Ronald Beiner: »Interpretative Essay«. In: Lectures, S..94-97; Urteilen, S..121-125. Hannah Arendt: Between Past and Future. Eight Exercises in Political Thought. (Erw. Aufl. 1968). New York u..a. 1993. S..197-226. 44 Heinz Paetzold: Die Realität der symbolischen Formen. Ernst Cassirers Kulturphilosophie im Kontext. Darmstadt 1994. 42 43

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gen hat eine das faktische Handeln übersteigende Dimension, ohne damit lediglich kontemplativ zu bleiben. Das Theater ist, wie Arendt immer wieder unterstreicht, die am meisten politische der Künste, ohne selbst schon Politik zu werden. Um diesen Punkt abzurunden, läßt sich sagen: Das Urteilen in Arendts Sicht bedeutet das Inachtnehmen des Besonderen. Hier finden wir einen Schlüssel für die Erneuerung der Politik in postmoderner Zeit. Adorno forderte einen Modus des Philosophierens, der zusammen mit und unterstützt durch Kunsterfahrung das Besondere ›rettet‹ . John Dewey verlangte von der Philosophie, daß sie sich auf die Details des Alltagslebens der Menschen einläßt. Richard Rorty bezieht sich auf diesen Topos, um das Ästhetische als dynamisierenden Faktor der zeitgenössischen Kultur (und vor allem der Politik) herauszuarbeiten.45 Das Ästhetische begründet aber keine Politik der Differenz. Es läßt uns Differenz, Andersheit, Abweichung usw. gewahren. Aber eine Lyotardsche agonale Politik des »Widerstreits« muß – das ist meine These – zurückgebunden werden an einen Sinn für die Gemeinschaft. Arendt könnte im Durchdenken dieser beiden Pole hilfreich sein. Denn ihr Begriff des öffentlichen Raumes bringt neben dem Agonalen zugleich auch das politische Moment des Assoziativen und des Partizipatorischen zur Geltung.46 Meine Absicht, mit Arendt Umrisse einer Politik in der Postmoderne auszubuchstabieren, möchte ich abschließend verdeutlichen in einer metakritischen Auseinandersetzung mit Albrecht Wellmers Position.

XI. In seinem interessanten Essay »Hannah Arendt on Judgment: The Unwritten Doctrine of Reason«47 hat Albrecht Wellmer jüngst Arendts Theorie des Urteilens einer durch Habermas inspirierten Kritik unterzogen. Wellmer situiert das Urteilen in allen rationalen Aktivitäten, nicht nur in der Ästhetik, sondern auch in der Moral und in der Wissenschaft. Er kritisiert an Arendt, daß sie das Politische ästhetisiert und beide, Ästhetik und Politik in einen strikten Gegensatz zu moralischen und wissenschaftlichen Diskursen bringt. Verführt worden sei Arendt dazu durch eine stillschweigende Übernahme der Kantischen monologischen Wissenschaftsauffassung. Am Urteilen sei nichts Mysteriöses. Es tritt überall dort auf, wo Geltungsansprüche, die wir intersubjektiv bezogen auf wissenschaftliche Propositionen, moralische Bewertungen und ästhetische Beurteilungen erheben, überprüft, verifiziert oder verworfen werden. Heinz Paetzold: »Profile und Aktualität der romantischen Kunstphilosophie«. In: Journal of the Faculty of Letters. The University of Tokyo. Aesthetics. Vol. 20 (1995). S..31-43; hier: 41-43. 46 Vgl. Seyla Benhabib: Situating the Self: Gender, Community and Postmodernism in Contemporary Ethics. Cambridge./.Oxford 1997. S..90-95. 47 Albrecht Wellmer: »Hannah Arendt on Judgment: The Unwritten Doctrine of Reason«. In: Hannah Arendt. Twenty Years Later. A.a.O. (Anm. 1). S..33-52. 45

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Ich unterschreibe Wellmers Ausgangspunkt, daß nämlich »our senses and our brain are symbolically structured and thus part of an intersubjective world opened up by speech«.48 Auch folge ich Wellmers Annahme, daß wir zwischen einer »scientific, aesthetic, or moral culture« zu unterscheiden haben, innerhalb deren sich die Standards und formalen Prinzipien allererst artikulieren.49 Aber Wellmer geht in zwei Punkten in die Irre. Einerseits unterschreibt er, wie auch Habermas, eine orthodox Kantische, über Max Weber vermittelte Gliederung der Kultur in Wissenschaft, Moral und Ästhetik. Arendts Anstrengungen, Politik nicht auf Moral oder Recht zu reduzieren, vermag Wellmer nicht zu würdigen. Auch Seyla Benhabib läßt – in gleichsam umgekehrter Optik – Moral in Politik aufgehen, auch wenn sie Moral und Ethik mit Arendt pluralisiert und an Politik zurecht das »Narrative« hervorhebt als ein genuin Arendtsches Konzept.50 Gegenüber beiden ist aber zu unterstreichen, daß Kultur nur als eine Pluralität von Feldern – Moral, Wissenschaft, Sprache, Kunst, Mythos, Religion, Technik, Politik, Recht – verstanden werden kann, zwischen denen es keine Hierarchie gibt. Als Konsequenz ergibt sich die folgende These. Es ist nicht einzusehen, daß Politik als ein kulturelles Feld dichter bei der Moralität als etwa bei der Kunst zu verorten ist. Weder darf die Politik ästhetisiert, noch auch kann oder soll sie moralisiert werden. Das schließt keineswegs aus, daß politische Akteure ihr Selbstverständnis aus der Moral oder aus der Religion oder aus der Kunst beziehen können. Man denke nur an eminente Politiker, wie Joop den Uyl, Olof Palme, Erhard Eppler oder Rosa Luxemburg,51 deren Selbstverständnis als politische Akteure durch die Moralität bestimmt war, Mahatma Gandhi, der die Antriebe für seine Politik der Befreiung aus dem Hinduismus bezog, oder an Vaclav Havel, der den motivierenden Hintergrund seines Politikverständnisses aus der Kunst bezog. Damit wird nicht behauptet, daß Politik mit Moral oder Religion oder Kunst zusammenfällt. Die vielfältigen Hintergrundinspirationen müssen vielmehr jeweils in die Sprache der Politik als einer eigenen symbolischen Form übersetzt werden. Wellmer tendiert dazu, Politik von der Moral als ihrer begründenden Instanz herzuleiten. Vor allem aber deutet Wellmer Kultur zu ausschließlich als kontinuierlich sich entwickelnden Prozeß ohne Schnitte, ohne katastrophische Zuspitzungen und ohne dramatische Konf likte. Eine Kulturphilosophie des Politischen, welche dem Postmodernen standhält, muß aber solche Ref lexionen auf die dunklen Seiten der Moderne in sich aufnehmen. Arendt ist dafür ein Prüfstein. Geht man an ihr vorbei, dann gerät die Kulturphilosophie entweder im schlechten Sinne idealistisch oder aber schlicht fiktiv, weil sie zuviel Bedrückendes ausblendet.

Ebd. S..48. Ebd. S..51. 50 Seyla Benhabib: a.a.O. (Anm. 46). S..121-144. 51 Hannah Arendt: Rosa Luxemburg: 1871-1919. In: Dies: Men in Dark Times (1955). San Diego./.New York./.London 1983. S..33-56. 48 49

FORSCHUNGSBERICHTE

ästhetische einstellung Karl-Heinz Schwabe / Martina Thom (Hrsg.): Naturzweckmäßigkeit und ästhetische Kultur. Studien zu Kants Kritik der Urteilskraft. St. Augustin: Academia Verlag 1993. 165 S. Kants Kritik der Urteilskraft (KU) thematisiert, im Unterschied zu den anderen beiden Kritiken, nicht die apriorischen Bedingungen möglicher Erkenntnis. Die Analysen der KU betreffen vielmehr eine Kompetenz, deren apriorischer Ursprung Kant, wie er in einem Brief an Marcus Herz erklärt,1 erst spät und ganz zu seiner eigenen Überraschung klar geworden ist: Es ist das Vermögen der Lust und Unlust, bzw. das Lebensgefühl des Subjektes, wie Kant es auch nennt. Urteile, die auf Grund dieses Gefühls geäußert werden, teilen keine objektive Eigenschaft eines Gegenstandes mit. Sie bezeichnen statt dessen die Qualität des Verhältnisses zwischen einem Gegenstand und dem Urteilenden. Diese Qualität tritt nach Kants Verständnis nicht als ein Nebenprodukt der Erkenntnis auf, sondern erweist sich in einer besonderen Ref lexion über die »wahrgenommene Form« eines Objektes. Diese birgt die Möglichkeit, eine ästhetische bzw. teleologische Perspektive auf die Welt einzunehmen. Gelingt es, diese Ref lexion zu vollziehen, verschafft dies nicht nur Lust, sondern kann auch als eine Vergewisserung über unser Weltverhältnis gedeutet werden. Auf diese Konzeption der KU wurde in der gegenwärtigen Diskussion vielfach Bezug genommen und versucht, die Kantische Theorie zu aktualisieren. Die Reformulierung Kantischer Gedanken trifft dabei jedoch auf das hermeneutische Problem, daß die Grundstrukturen der Kantischen Theorie keineswegs erschöpfend dargelegt und in ihrem Zusammenhang geklärt sind. Der Band Naturzweckmäßigkeit und ästhetische Kultur umfasst neun kurze Beiträge, in welchen die jeweiligen Autorinnen und Autoren die Kantischen Gedanken zum Weltverhältnisses des Menschen aus verschiedener Perspektive in Bezug zu aktuellen Fragen und Themen setzen. Martina Thom markiert den anthropologischen Aspekt der Kritik der Urteilskraft. Im Unterschied zu den anderen Kritiken wird in der KU der Mensch nicht ausschließlich als Vernunftwesen thematisiert, sondern der empirischen Seite des menschlichen Daseins Rechnung getragen. Dadurch wird die Frage der Weltinterpretation und der Weltversicherung überhaupt erst virulent. Vor diesem Hintergrund arbeitet Thom in ihrem Beitrag Natur – ästhetische Kultur – Humanitätsförderung (S..7) zunächst die antiontologische Zugrichtung des Kantischen Programms 1

Jürgen Zehbe (Hrsg.): Immanuel Kant. Briefe. Göttingen 1970.

ZÄK Sonderheft · Jahrgang 2000 · © Felix Meiner Verlag 2000 · ISSN 1439-5886

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Forschungsberichte

heraus und verfällt daher nicht, wie viele andere Interpreten, in die latente Ontologisierung des Kantischen Ansatzes. Thom betont das aktive, produktive Moment der Kantischen Konzeption und versucht ihre Sicht dadurch deutlich von psychologischen Auslegungen abzugrenzen. Anstatt das ästhetische Empfinden als eine besondere Form der Rezeptivität zu bestimmen, macht sie den kommunikativen und kulturellen Aspekt ästhetischer Erfahrung stark und befreit diese dadurch von den Konnotationen der Weltabgewandtheit und Bedürfniskompensation. Thom beschränkt die Funktion der Ref lexionsurteile nicht nur auf ihre Vermittlungsleistung des Menschen mit der Natur, sondern rückt den Vermittlungsanspruch zwischen den Urteilenden in den Vordergrund. Dadurch soll der über das subjektivpersönliche Erleben hinaus bestehende, emanzipatorische Beitrag der Ästhetik zur gesellschaftlichen Kultivierung des Menschen einsichtig werden. Den schöpferischen Charakter ästhetischer Beurteilung betont auch Karl-Heinz Schwabe in seinem Beitrag Kants Ästhetik und die Moderne (31). Er exponiert zunächst die Spannung allgemeiner Prinzipien der Subjektivität im Verhältnis zu dem Autonomieanspruch der Kunst als ein theoretisches Problem. Kants Konzept des subjektiven, aber dennoch allgemeinen Prinzips der Zweckmäßigkeit kann hierzu s.E. einen klärenden Beitrag leisten. Das spielerische Verhältnis von gesetzgebendem Verstand und freiem Spiel der Einbildungskraft, in dem sich die ästhetische Zweckmäßigkeit realisiert, interpretiert Schwabe als Ausdeuten von Sinnzusammenhängen. Die ästhetische Ref lexion drückt darin ein »Ringen um das Begreifen und um einen adäquaten Ausdruck der Beziehungen zwischen Mensch und Natur« (59) aus. Die Grundlage ästhetischer Beschäftigung soll aber nicht die objektiv bestimmbare Gegenstandsform bilden. Die ästhetische Form muß vielmehr entweder im Verhältnis auf das Beurteilungsvermögen, d.i. in der Ref lexion, erfahren werden, oder in einer transzendentalphilosophischen Untersuchung als Bedingung der Möglichkeit des Geschmacks angegeben werden. Beide Beiträge lassen nun aber den theoretischen Status des ästhetischen Spiels offen, das zwar einerseits eine apriorische Funktion des Bewußtseins darstellen soll, aber andererseits in den Kontext der anthropologischen Dimension der dritten Kritik gerückt wird. Darüber hinaus fällt es schwer, die spezifisch ästhetische Konstitutionsleistung trennscharf von intellektueller Beschäftigung abzugrenzen, zumal das »Spiel« als Ausdeuten von Sinnzusammenhängen bestimmt wird. In der Folge wird unklar, in welchem Zusammenhang kognitive und ästhetische Form stehen und wie letztere im »Spiel« erfahren wird. Die Konkretisierung dieses Zusammenhangs, um den sich eine umfassende Diskussion in der Kant-Literatur gebildet hat, würde es erst deutlich machen, worauf sich die ästhetische Kommunikation bezieht, und ob der Autonomieanspruch ästhetischer Urteile legitimiert werden kann2.

Zur Interpretation des Spiels der Vermögen vgl.: Christel Fricke: Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils. Hamburg 1990; Hannah Ginsborg: The Role of Taste in Kant’s Theory of Cog2

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Renate Wahsner stellt sich in ihrem Beitrag Mechanism – Technizism – Organism (63) die Frage, ob nicht der Organismusbegriff in der KU von Kant zu einseitig biologisch geprägt ist. Sie geht dabei von der These aus, daß sich Kants Fragestellung in der KU nicht nur auf ein Problem der Mechanik, sondern der Physik allgemein richtet. Dabei gelangt sie zu der Überzeugung, daß sich die Kantische Differenzierung zwischen mechanischen und biologischen Objekten allein dem Umstand verdankt, daß Kant nicht zwischen der klassischen Mechanik und dem Mechanizismus differenziert hat. Würde man diese Differenzierung berücksichtigen, ist der Gegensatz von mechanischen und biologischen Objekten, den Kant zur Ausgangsbasis seiner Untersuchung macht, nicht haltbar (68). Das Ungenügen, das Kant an Erklärungen gemäß dem Ursache-Wirkungsverhältnisses moniert, würde dann nur mechanizistische Konzeptionen betreffen. Im Gegensatz zu mechanizistischen Erklärungsweisen zeigt sich aber die Mechanik als ebenso theorien- und ideenbeladen wie die biologische Beurteilung. Auch im Rahmen der Mechanik kann daher ihrer Ansicht nach echte Wechselseitigkeit zwischen Naturgegenständen gedacht werden. Dadurch wird die strikte Unterscheidung zwischen mechanischer und biologischer Erklärung fragwürdig. Vielmehr zeigt sich, so Wahsner, daß Kant die Wechselseitigkeit irrtümlich für die Erklärung biologischer Organismen reservierte. Im Ergebnis bestimmt Wahsner das Verhältnis zwischen Mechanismus und Organismus als Differenz hinsichtlich der Kategorien mit denen diese Theorien arbeiten, betont aber, daß sie nicht, wie Kant meinte, auf unterschiedlichen epistemischen Stufen angesiedelt sind (71). Fraglich scheint jedoch, ob sich die Kantische Unterscheidung zwischen mechanischer und organischer Sichtweise allein auf das Faktum der Prädetermination des Forschungsgegenstandes reduziert und sich der Kantische Organismusbegriff in der physikalischen Wechselseitigkeit erschöpft. Die Gleichsetzung beider Erklärungstypen verdeckt Kants Unterscheidung der differenten Beobachterstandpunkte der jeweiligen Perspektiven. So ist die Qualifizierung einer Einheit als Organismus für Kant im Unterschied zur Beschreibung unter der Kategorie physikalischer Wechselseitigkeit nicht beobachtbar (in Raum und Zeit darstellbar), sondern wird nur im Urteilsvollzug generiert. Sie ist von daher im Unterschied zur physikalischen Wechselseitigkeit nicht von dem Beobachterstandpunkt ablösbar. Diese Differenz versucht Kant in der Kritik des Zweckmäßigkeitsbegriff zu zeigen und damit den Nachweis zu erbringen, daß dieser Begriff nicht die Grundlage einer mechanischen Beobachtung bilden kann. Im Gegensatz zu der von Wahsner angeführten »echten Wechselseitigkeit« in der Physik kann das Erklärungsprinzip der Selbstorganisation von Organismen seinen subjektiven Status nicht ablegen. Volker Gerhardt betont in seinem Beitrag Kunst und Leben (77) die Korrelation der ästhetischen Erfahrung mit elementaren Lebensprozessen. Die ästhetische Ernition. New York 1990; Paul Guyer: Kant and the Claims of Taste. Cambridge 1979; Dieter Henrich: Aesthetic Judgment and the Moral Image of the World. Stanford 1992.

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fahrung drückt nach seinem Verständnis einen besonderen, harmonischen und belebenden Weltbezug aus. Dies verdeutlicht Gerhardt an den vier Momenten ästhetischen Urteilens, die er nicht, wie Kant, der bewußtseinslogischen Tiefenstruktur dieser Urteile zuordnet. Er interpretiert sie als konkrete Momente besonderer Lebensqualitäten. Kunst und Leben werden so in einen wechselseitigen Verweiszusammenhang gesetzt, den Gerhard in zwölf Punkten zu verdeutlichen sucht. Kunst und Leben können demzufolge nur im gegenseitigen Bezug erschlossen werden, so daß ästhetisches Erleben nur in seiner Verwurzelung unserer leiblichen Organisation zu begreifen ist. Im Gegensatz zu einem Großteil der Literatur verortet Gerhard die ästhetische Ref lexion nicht in den »Unterschichten der Seele«.3 Er integriert die Ref lexion in die konkrete Person, in der ästhetische Erfahrung gleichermaßen anregend und beruhigend wirkt. Diese Verbindung und Einbettung der Ästhetik in den Lebenszusammenhang mag zwar der Phänomenologie ästhetischen Empfindens gerecht werden, betont jedoch zu sehr die Vermittlungsleistung ästhetischer Erfahrung. Dies geschieht auf Kosten der Abgrenzung und Konkretisierung ästhetischer Ref lexion. Als eine Funktion methodischer Abgrenzung ästhetischen Urteilens gegenüber anderen Beurteilungen versteht Birgit Recki die vier Momente ästhetischen Urteilens. Sie folgt damit Kants Analyse ästhetischen Urteilens im Verständnis einer intelligiblen Entstehensgeschichte. In ihrem Beitrag Ganz im Glück. Die promesse de bonheur in Kants Kritik der Urteilskraft (95) verweist sie auf die vielzitierte Ref lexion Kants, wonach die schönen Dinge anzeigen, »daß der Mensch in die Welt passe« und unterstreicht, daß dieses Passen ein Glücksgefühl hervorruft, das der Harmonie unserer eigenen inneren Verhältnisse entstammt, die eine Grundlegung ästhetischer Urteile ermöglichen. Die ästhetische Erfahrung als eine besondere Form der Erfahrung eröffnet dadurch für uns als sinnliche und vernünftige Wesen die Möglichkeit einer Glückshoffnung. Die Interesselosigkeit, die Kant dem ästhetisch Urteilenden abverlangt und die von Nietzsche zur Gegenüberstellung der Kantischen Position mit Stendhal verwendet wird, zeigt Recki so als eine nur methodisch notwendige Abgrenzung, die aber keineswegs in Widerspruch zu dem tatsächlichen ästhetischen Glücksgefühl steht oder dieses ausschließt. Peter Fischer erörtert unter dem Titel Das Schöne, das Erhabene, die Askese und der Selbstmord (117) die Frage nach der Lebbarkeit moralischer Normen. Die Affektfeindlichkeit, die Fischer an der Kantischen Moralphilosophie kritisiert, soll dem Programm nach in der KU durch ein Synthese von Vernunft und Sinnlichkeit überwunden werden. Diese Synthese, die Kant in Form einer Analogisierung für vollziehbar hält, bestimmt Fischer als Analogisierung von Bedeutungen. Darauf stützt Fischer schließlich seine Kritik, daß das Kantische Programm der Synthese eine Absichtserklärung bleiben muß, weil die ästhetische Theorie Kants ebenfalls durch eine Abkehr von der Sinnlichkeit geprägt ist (123). Diese nicht unproblematische 3

Vgl. Anm. 2.

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und m.E. unkantische These läßt Fischer für eine Ergänzung des Symbolbegriffs um materiale Werte und Normen plädieren. Diese soll die angebliche Dominanz der ethisch motivierten Askese in der Ästhetik abmildern. Eine materiale Ergänzung der Kantischen Ethik birgt für Fischer keine Gefahr für den unbedingten Normativitätsanspruch, den Kant meinte nur in einer formalen Struktur etablieren zu können. Fischer artikuliert demgegenüber die Überzeugung, daß der Moral ein wirkungsvollerer Halt gegen das Vergessen des Menschlichen geschaffen wird, wenn sie material angereichert wird. Die von ihm als lebensfern betitelte Kantische Moral kann nur dann eine konzeptionelle Vermittlung mit dem Leben erfahren, wenn die Ästhetik im Verständnis einer Philosophie der Sinnlichkeit verstanden wird. Meines Erachtens bietet der Kantische Ansatz zur Lösung dieser Frage mehr Potenz als es in Fischers Ausführungen erscheinen mag. Bernward Grünewalds Beitrag Zur moralphilosophischen Funktion des Prinzips vom höchsten Gut (133) bestimmt den Begriff des höchsten Gutes als eine Vereinigung von Glückseligkeit und Sittlichkeit. Dabei betont er, daß dennoch nur ein einziger Zweck etabliert wird, der gleichsam zwei Erfordernisse enthält: Sittlichkeit und Glückseligkeit sind im höchsten Gut nicht als getrennte Teile des Guten zu verstehen, sondern haben den Status von zwei Bedingungen. Mit dem höchsten Gut wird damit in der KU keine passive Hoffnung formuliert, sondern eine moralische Aufgabe, die sich nicht nur an das Individuum richtet, sondern einen Zweck darstellt, unter dem eine gemeinsame soziale Welt entworfen werden soll. Hans-Jürgen Ketzer richtet seinen Blick auf die Rezeption der KU durch J.F. Lyotard und R. Bubner und zeigt in seinem Beitrag Die Aktualität der Kantischen Ästhetik (141) die Unterschiedenheit dieser Positionen von Kants eigener Intention. Er selbst wendet sich durchaus kritisch gegen Kant, insofern als s..E. das methodische Vorgehen Kants und sein Anspruch einer apriorischen Fundierung die dynamische Seite des ästhetischen Verhaltens verdeckt. Der Versuch einer transzendentalen Begründung impliziert für Ketzer Starrheit und Unwandelbarkeit ästhetischer Beurteilungen, die s..E. zu einem Totalitarismus führen. Ein derart leichtfertig geäußerter Totalitarismusvorwurf gegen Kant scheint mir im Rahmen einer seriösen Kant-Forschung ausgesprochen problematisch. Derart oberf lächlich begründete Äußerungen lassen sich durch intensivere Textlektüre und Kenntnisnahme der Forschungsdiskussion überzeugend als Ressentiments nachweisen. Der von Ketzer eingangs betonte Stellenwert Kants wird im Laufe seines Beitrages nicht recht einsichtig, da darin die fundamentalen Elemente der Kantischen Theorie als unhaltbar abgelehnt werden. Konrad Lindner stellt in seinem historisch ausgerichteten Beitrag Auf der Suche nach einer »Metaphysik der Natur« (151) die unmittelbare Resonanz der Kantischen Philosophie von Seiten der zeitgenössischen Naturforscher und Mediziner in Leipzig dar. Dabei betont er die Bedeutung der kritischen Philosophie für Methodologie der Naturforschung und die Wirkung der Kantischen Teleologie auf das von C.F. Hindenburg und J.G. Fichte verfolgte Interesse einer Metaphysik der Natur. Er

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versucht dadurch die Vorgeschichte der von Schelling in Leipzig begonnenen Arbeiten zur Naturphilosophie deutlicher erscheinen zu lassen. Der Sammelband vermittelt durch die unterschiedlichen Perspektiven, aus denen die Beiträge die KU in Blick nehmen, eine Vorstellung von der Vielfalt der darin enthaltenen Themen. Kritisch läßt sich einwenden, daß die Beiträge durch ihre Kürze auf Andeutungen und Projektiven beschränkt sind. Dies führt möglicherweise auch zu einigen mißverständlichen und vorschnell erscheinenden Entscheidungen bezüglich der Interpretation grundlegender Denkfiguren, die die Kantische Theorie prägen. Hilfreich wäre hier die Kenntnisnahme der Forschungsdiskussion, insbesondere eine Bezugnahme auf die angelsächsische Literatur, die in diesem Band nahezu vollständig unberücksichtigt bleibt. Aus diesen Gründen scheinen die Beiträge eher Überlegungen zu sein, die im lockeren Anschluß an Kant orientiert sind, als Studien zu Kants Kritik der Urteilskraft, wie es der Titel ankündigt. Andrea Esser

ästhetische kommunikation Andrea Esser (Hrsg.): Autonomie der Kunst? Zur Aktualität von Kants Ästhetik. Berlin: Akademie Verlag 1995. 123 S. Kant hat sich in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft (KU) mit dem Problem befaßt, ob Geschmacksurteile auf einem eigenen Prinzip beruhen und so zurecht Anspruch auf allgemeine Zustimmung erheben. Unter dieser zentralen Fragestellung versammelt der von A. Esser herausgegebene Band vier Aufsätze, die sich diesem Thema in unterschiedlicher Weise widmen. Kants Theorie ist im wesentlichen eine Theorie des ästhetischen Urteils, die Kunst hat eher einen untergeordneten Stellenwert, und dies spiegelt sich auch in den meisten Beiträgen der Autoren wider. Der Titel »Autonomie der Kunst?« mag hier falsche Erwartungen wecken. Ebenso der Untertitel, der in Verbindung mit dem Titel die Fragestellung suggeriert, ob Kants Ästhetik angesichts der Kunst des 20. Jahrhunderts noch aussagekräftig ist. Wer sich darauf von den Beiträgen eine Antwort verspricht, wird enttäuscht werden. Wer sich aber für die Frage interessiert, ob uns in der ästhetischen Natur- oder Kunstbetrachtung ein ganz eigenes Vernunftprinzip leitet und was wir eigentlich tun, wenn wir einen Gegenstand ästhetisch betrachten, wird interessante Thesen finden. Aktualitätsbezogen sind die Beiträge zumindest, insofern sie neue Aspekte in die Kantforschung einbringen; so die Betonung eines ästhetischen kulturhistorischen Bildungsprozesses (Kulenkampff) und die Frage nach Solipsismus und Fremdpsychischem in Kants Ästhetik (Vossenkuhl). Zudem wird Kant in die Fluchtlinie von Themenkreisen neuerer ästhetischer Debatten gestellt. Die Stichworte sind: ästhetische Kommunikation (Kulenkampff, Vossenkuhl) und ästhetische Erfahrung (Bartuschat). Schließ-

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lich wird der Versuch unternommen, Theorieelemente aus Kants Ästhetik in eine systemtheoretische Sprache zu übersetzen (Reisinger). Für den mit Kant wenig vertrauten Leser führt die Herausgeberin in die Thematik der Transzendentalphilosophie und der transzendental-philosophischen Ästhetik ein. Sie verdeutlicht, was man sich unter der Autonomie eines ästhetischen Urteils vorzustellen hat und macht schließlich auf einige hermeneutische Probleme der Kantinterpretation aufmerksam. Besonderes Gewicht legt sie auf die Konstitution des ästhetischen Gegenstandes. Wer etwas als »schön« beurteilt, verhält sich nicht passiv rezeptiv, sondern konstituiert das ästhetische Objekt in der Beurteilung mit den dabei beteiligten Erkenntnisvermögen. Kulenkampff stellt sich die Frage, welchen Sinn ästhetische Urteile haben, wenn man den Geschmack als eine Art sensus communis versteht. In diesem Zusammenhang soll geklärt werden können, welchen Bedingungen die ästhetische Kommunikation unterliegt. Zunächst zeigt Kulenkampff, daß es überhaupt möglich ist, von einem sensus communis, nicht aber particularis aestheticus zu sprechen, obwohl in einem ästhetischen Urteil ein Gefühl der Lust oder Unlust zum Ausdruck gebracht wird. Für das communis steht ein, daß es sich um ein Gefallen aus einem für alle gültigen Grund handelt. In der ästhetischen Beurteilung wird wahrgenommen, daß die subjektiven Bedingungen der Erkenntnis, die Übereinstimmung von Einbildungskraft und Verstand, den beiden bei Erkenntnissen beteiligten Vermögen, erfüllt sind. Soweit wird von Kulenkampff nichts Neues zur Sprache gebracht. Neues kommt in den Blick, wenn es um die Mängel der Semantik von Geschmacksurteilen geht. Vier weist der Autor nach, wobei zwei Defizite weder für das Weitere bedeutsam sind, noch unwidersprochen bleiben können. Ich werde mich aus Gründen der Kürze einer Rezension auf die beiden wesentlichen Mängel konzentrieren. Ein Mangel entpuppt sich nach Kulenkampff sogar als Vorteil, der eine wichtige, Kants Theorie erhellende Frage offenläßt. Die Uneinigkeit, die de facto bei Geschmacksurteilen zu konstatieren ist, scheint gut zur Kantischen Diagnose zu passen, daß unsere emotionale Reaktion nur eine unzulängliche Evidenz für die Richtigkeit von Geschmacksurteilen sein kann. Daß wir das Geschmacksurteil trotzdem im Modus der Behauptung äußern, ist rätselhaft. Ein anderer Einwand berücksichtigt, daß mit Geschmacksurteilen nicht nur das Erfülltsein der subjektiven Erkenntnisbedingung behauptet wird, sondern auch die allgemeine Zustimmung zu einem bestimmten Geschmacksurteil. Nach einer Lesart, die Kant nach Kulenkampff auch wirklich im Sinn hatte, wird in einem Geschmacksurteil behauptet, jeder müsse in meiner Lage empfinden wie ich. Kulenkampff verwirft diese Lesart, da sie zweierlei voraussetzt: die Gesetzmäßigkeit, daß Gegenstände mit bestimmter Beschaffenheit das geschmacksspezifische ref lexive Bewußtsein hervorbringen, und das Wissen darum. Dieses Wissen kommt aber nur dem Theoretiker und nicht dem ästhetisch Urteilenden zu, dem es eigentlich zukommen müßte. Dennoch gibt es eine plausible Interpretation der Kantischen Theorie. Diese gewinnt man mit einer bestimmten Deutung der Notwendigkeit des Geschmacksurteils und der Idee einer allgemeinen

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Stimme. Kulenkampff vertritt die überzeugende These, daß in einem Geschmacksurteil nicht die allgemeine Zustimmung aufgrund einer Gesetzmäßigkeit zwischen Gegenstand und Gefühl postuliert wird, sondern die Idee, die Möglichkeit einer allgemeinen Stimme, ein idealer Zustand, der nicht vorausgesetzt werden kann, sondern in einem kulturellen Bildungsprozeß hervorzubringen ist. Wer ästhetisch urteilt, drückt die Überzeugung aus, nach einer allgemeinen Regel, die er nicht angeben kann, geurteilt zu haben. Er tut so, als gäbe es einen Gemeinsinn. Nicht zu seinem Urteil verlangt der Urteilende Zustimmung, aber er stellt, sich methodisch dem sensus communis unterwerfend, einen Gegenstand als Beispielhaftes hin. Das die Notwendigkeit spezifizierende Sollen bedeutet dann die Aufforderung, sich an einem Bildungsprozeß zu beteiligen, und unterstellt, daß die Hervorbringung eines sensus communis aestheticus möglich ist. Was Hegel kulturgeschichtlich schon in der Antike realisiert fand, ist für Kant nach Kulenkampff also ein in der Zukunft zu realisierender Prozeß. Anders Vossenkuhl. Für ihn ist der Gemeinsinn kein Ideal, das es zukünftig zu realisieren gilt, noch ist die faktische empirische Übereinstimmung der Urteilenden gemeint. Wäre letzteres der Fall, so müßte man die Deduktion des Geschmacksurteils, den Nachweis seiner allgemeinen Geltung, als zirkulär bezeichnen. Von diesem Verdacht ist Kant freizusprechen, wenn sich zeigen läßt, daß er ein deduktives Argument verwendet. Dies behauptet Vossenkuhl mit der These, die Deduktion des Geschmacksurteils sei eine Implikation der Deduktion der »Kritik der reinen Vernunft«, als deren Thema die »subjektive(n) Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis überhaupt« (112), die die Grundlage der Geschmacksurteile bilden, bestimmt wird. Diese Bedingungen identifziert Vossenkuhl mit der transzendentalen Einheit der Apperzeption. Sie sei maßgeblich für objektive Erkenntnis und ästhetische Urteile, deren Unterschied nur darin bestehe, daß die begriff losen ästhetischen Urteile »weniger anspruchsvoll« (ebd.) seien und daß das einzelne urteilende Subjekt, nicht aber Subjektivität überhaupt im Mittelpunkt stehe. Es mag nicht kontrovers sein, daß Geschmacksurteile der transzendentalen Einheit der Apperzeption genügen müssen. Braucht sich aber die Deduktion des Geschmacksurteils nur auf die Einheit der Apperzeption zu berufen? In Frage steht, welches die subjektiven Bedingungen der »Erkenntnis überhaupt« sind, von denen Kant in der KU so unklar redet. Ich vermute dahinter Differenzierteres als die transzendentale Einheit der Apperzeption. Bezeichnenderweise läßt der Autor die Arbeiten zur KU, die nicht die Ebene transzendentaler, sondern empirischer Begriffe mit den ästhetischen Urteilen analogisieren, unerwähnt. Kontrovers dürfte auch Vossenkuhls These sein, daß hinter der Deduktion das Problem der unzulänglichen Evidenz des Gefühls für die Richtigkeit der Geschmacksurteile steckt. Denn die Schwierigkeit mit der Richtigkeit von Geschmacksurteilen gibt es trotz gelungener Deduktion, deren Gelungensein davon unberührt ist. Vertritt man, was die Deduktion anbelangt, eine andere Auffassung als Vossenkuhl, ergibt sich vermutlich auch nicht das von dem Autor konstatierte Defizit, Kant könne keine ästhetische Kommunikation zulassen und

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kenne in der Ästhetik das Problem des Fremdpsychischen nicht, weil das Subjekt der Deduktion auf ein einziges Urteilssubjekt, die Subjektivität überhaupt, zusammenschrumpft. Nur scheinbar bleibt für Vossenkuhl das Problem des Fremdpsychischen bestehen, da wir nur »der logischen Form des Urteils a priori zu(stimmen)« (119), aber nicht wissen, auf welche konkrete Vorstellung sich das Prädikat »schön« beziehen läßt. Die von anderen als »schön« bezeichnete Vorstellung ist mir unzugänglich. Vossenkuhl unterscheidet zwischen dem Prädikat »schön«, das sich auf die Urteilsform bezieht, und dem Inhalt der Vorstellung. Hinsichtlich des Inhalts wird in der Dialektik, so der Autor, mit dem übersinnlichen Substrat wieder eine Allgemeinheit und solipsistische Struktur erreicht. Dann aber verliert jede Kultivierung des Geschmacks, an der Kant festhalten will und zu der allemal ästhetische Kommunikation gehört, ihren Sinn. Im Unterschied zu Kulenkampff und Vossenkuhl steht bei Bartuschat die ästhetische Erfahrung im Vordergrund. Es handelt sich um eine Erfahrung, die das Subjekt an sich selbst macht und nicht um die Erfahrung eines Gegenstandes, der nur Anlaß des ästhetischen Urteils ist. Als ästhetisch Urteilender versteht sich der Mensch anders als im Erkennen und Handeln. Einen Hegelschen Gedanken abwandelnd, behauptet Bartuschat, daß Mensch wie Gegenstand im Erkennen und Handeln nicht frei sind, da beide Tätigkeiten bestimmten allgemeinen Prinzipien folgen. Freiheit wird dabei wohl in einem spezifischen Sinn verstanden. Bei dem Geschmack handelt es sich dagegen um ein freies Wohlgefallen. Wir überformen den Gegenstand nicht begriff lich, sondern lassen ihn in seinem eigenen Sein sprechen, aber so, daß wir die Hinsicht der Beurteilung aus uns nehmen. Denn prinzipienfrei ist die ästhetische Beurteilung durchaus nicht. Als Prinzip fungiert die Harmonie der Erkenntisvermögen, Einbildungskraft und Verstand, die als ein zu erstrebendes Ziel, eine Idee, angesehen wird, auf die der ästhetisch Urteilende nach Bartuschat immer gerichtet ist. In seiner Gerichtetheit erfährt der Urteilende eine Bewußtseinserweiterung. Er transzendiert begriff liche Fixierungen, die der Verstand immer vornimmt, und tritt in Distanz zu sinnlichen Eindrücken, die er zu neuen Zusammenhängen kombiniert. Diese Tätigkeit, so Bartuschat, ist von einer Mischung aus Lust und Unlust begleitet. Letzteres aufgrund der faktischen Unerreichbarkeit der Harmonie und ersteres aufgrund der stattfindenden Bewußtseinserweiterung. Bartuschat zeigt, daß die ästhetische Erfahrung der Kunst einschränkende Bedingungen aufoktroyiert. Während ein Naturgegenstand als anderes des Subjekts nur freigelassen werden muß, kommt es beim Kunstwerk als von Menschen produziertem Objekt darauf an, daß es »das Urteil über es frei sein läßt« (62). D.h. jeder Naturgegenstand kann Anlaß für ein Geschmacksurteil und somit schön sein, nicht aber jedes Artefakt. Artefakte dürfen als semantische Gebilde keinen Inhalt haben, der ohne sie bekannt ist, noch dürfen sie einem bestimmten Zweck dienen. Das macht die Autonomie gelungener Kunst aus. Durch seine Form verhindert das schöne Werk seine begriff liche Erfassung und ermöglicht so die ästhetische Erfahrung.

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Reisingers Beitrag bietet eigentlich keine Kantinterpretation. Der Verfasser nimmt vielmehr die Kantische Problemstellung der Autonomie der ästhetischen Beurteilung sowie Kantische Theoriemotive auf, um sie in eine systemtheoretische Sprache zu übersetzen. Im ersten umfangreicheren Teil seines Beitrags zeigt Reisinger, wie eine Autonomie des Ästhetischen jedenfalls nicht begründet werden kann. Sie ergibt sich weder, wenn man das Prädikat »schön« als deskriptiven Begriff betrachtet, noch als Beispiel einer Regel, nach der Figuren quantitativ erzeugt werden, oder als Beispiel technischen Könnens. Auch der bloße Inhalt eines Werkes kann nicht »schön« sein. Reisinger bringt die Rezeption des Inhalts mit dem Angenehmen und dem interessierten Wohlgefallen in Verbindung. Auf einer methodologischen Ebene unterscheidet der Verfasser kunstgeschichtliches Wissen von ästhetischer Erfahrung, die er vermutlich grundsätzlich ahistorisch versteht. Sowenig wie die ästhetische Beurteilung rein kognitiv sein kann, sowenig ist sie aber auch rein irrational expressionistisch. Wie man sich die Autonomie des Ästhetischen positiv zurechtlegen kann, ist Gegenstand des letzten Teils von Reisingers Beitrag. Hier bekommt der Begriff »Autopoiesis« eine zentrale Stelle. Der Autor unterscheidet Farb-, Raum- und Zeitformen als Basisautopoiesen eines Subjekts von der Bildung des eigentlichen »ästhetischen Individuums«, das in einer Autopoiesis 2. Stufe gebildet wird. Diese besteht aus Einbildung und Ref lexion, die zu einer untrennbaren Einheit werden. Wie man sich diese Einheit genau zu denken hat, veranschaulicht Reisinger am Beispiel von Beethovens Appassionata1. Daran wird deutlich, daß der Begriff der Autopoiesis hier Sinn macht. Man kann dabei an rekursive Prozesse denken. Unklar bleibt aber, warum es sich bei der Selbstbeobachtung der Erzeugung von Wahrnehmungsbildern eines Subjekts als Basis der eigentlich ästhetischen Autopoiesis auch um autopoietische Strukturen handeln soll. Über den Zusammenhang von »Ref lexion« bei Reisinger mit dem, was Kant in der Formulierung von der »Harmonie von Einbildungskraft und Verstand« mit »Verstand« meint, hätte man sich präzisere Aufschlüsse gewünscht. Darüber hinaus wäre es spannend gewesen zu untersuchen, wie sich der Begriff der »Autopoiesis« zu Kants »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« verhält. Überhaupt wird diesem für die Kantische Ästhetik zentralen Begriff, sieht man von der Einleitung ab, in dem Band kaum Gewicht beigemessen. Insgesamt bietet der Band Anlaß zu kontroversen und interessanten Diskussionen. Vor allem Kantforscher dürften hier auf anregende Thesen stoßen. Begrüßenswert ist, daß dem ästhetischen Gemeinsinn ein großer Stellenwert eingeräumt wird. Was nun Kant genau für neuere ästhetische Debatten einbringen kann, bleibt allerdings zu wenig explizit gemacht. Dafür sind die Beiträge zu kantimmanent ausge1 Vielleicht aber ist Reisingers Beispiel nicht glücklich gewählt. Denn fraglich ist, ob die thematisch-motivische Substanz des Variationsthemas aus dem 2. Satz der Appassionata, bezieht man die nächsten vier Takte mit ein, melodischer und nicht vielmehr harmonischer Art ist, nämlich gleichsam Schönheit in der Schlichtheit harmonischer Bewegung ausdrückt.

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richtet. Anderes ist auch nicht zu erwarten, da, laut Vorwort, das Schwergewicht der Beiträge auf der Begründung der ästhetischen Autonomie bei Kant liegen sollte. Eine Ausnahme bildet Reisingers Aufsatz, der zwar aus Kant heraustritt, aber dies so sehr, daß Kant nur noch motivisch präsent ist. Bemängeln muß man auch, daß der Problemaufriß der Einführung der Herausgeberin und die Beiträge der Autoren zum Teil nicht gut aufeinander abgestimmt sind. So wird etwa in den Beiträgen weder die aufgeworfene Frage nach der Rolle des Verstandes in der ästhetischen Beurteilung noch die Frage nach dem Gehalt von Kunst aufgegriffen. Beate Bradl

the object of aesthetic judgment Christel Fricke: Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils. Quellen und Studien zur Philosophie. Bd. 26. Hrsg. v. Günter Patzig, Erhard Scheibe und Wolfgang Wieland. Berlin: Walter de Gruyter 1990. 196 S. In Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils Christel Fricke presents a fine-grained textual analysis of several key issues in Kant’s theory of pure judgments of taste. Her approach focuses on texts in the »Critique of Aesthetic Judgment« (Part I. of the Critique of Judgment) that are explicitly devoted to the analysis and legitimation of the claims of these judgments. The author purposely avoids sections of the text dealing with the role of genius, the nature of great works of art and the relationship between beauty and morality, each of which would require extensive treatment in their own right. Readers particularly interested in these issues, or in historical or systematic interpretations of the place of aesthetics in Kant’s work, should be forewarned that these are not the author’s intentions. On the other hand, readers who approach the work hoping to gain some real depth of understanding of Kant’s technical language, arguments and philosophical difficulties in the Critique of Aesthetic Judgment (KU) will not be disappointed. Fricke takes as her point of departure the accusation made by Jens Kulenkampff (in Kants Logik des Ästhetischen Urteils1) that Kant’s theory is plagued by paradox. Although she does not lay out the details of the accusation raised, it is worth mentioning them here as background. Kulenkampff describes Kant’s attempt to analyze the judgment of taste as at least in part an attempt to solve the paradox posed by the »kategorisch-assertorisch« form of the judgment »This x is beautiful.« This form suggests that the judgment of taste makes reference to the object, when for Kant, this cannot be the case because such judgments are aesthetic and make reference only to the judging subject and his or her feeling of pleasure. Kant’s claim that 1

Jens Kulenkampff: Kants Logik des Ästhetischen Urteils. Frankfurt a.M. 1978.

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judgments of taste must therefore have »subjective universality« only serves to underline the fact that they cannot satisfy the demands of objective validity and raises the question of how such judgments can be possible, i.e., of their grounding a priori (Kulenkampff, p..70). Objective validity depends upon a specific form of provability for Kant: a judgment is objective if it is falsifiable or verifiable by appeal to evidence, that is, by »reference to a plurality of possible cases« (Kulenkampff, p..74). No such comparisons are available for proving the truth of an aesthetic judgment since these by Kant’s account refer only to a single object and the individual subject’s response to it. Kant can only solve the paradox of an aesthetic claim to universal validity by appeal to some transcendental ground. In section 8 of the Third Critique, he appeals to a »universal voice« [»allgemeine Stimme«] that serves as a postulate (or »Urabstimmung«) that is established as a norm rather than to a plurality of possible cases against which to judge the claim (Kulenkampff, p..74). This move fails to dissolve the paradox, claims Kulenkampff, because Kant here conf lates two aspects of the judgment of taste, viz., its descriptive and evaluative aspects. Kant poses the problem descriptively: What can the judgment of taste possibly refer to such that it may claim universality? But the appeal to a ›universal voice‹ as norm answers a different question, one raised by the evaluative aspect of the judgment: How is it possible to evaluate a feeling? Kulenkampff goes on to argue that the pure judgment of taste is really not a judgment strictly speaking. It is rather an »index of an observation (Betrachtung) that has been relieved of the burden of rules of judgment« and before which lies spread a »field of possible congruences between the unavailable, that which is given in intuition, and the rational forms of determination and information (Verständigung) that spring from subjective spontaneity« (Kulenkampff, p..90-91). In her book, Fricke defends Kant by attempting to show that the text of the Critique of Aesthetic Judgment in fact yields an answer to the descriptive question of what the object of a judgment of taste is, and hence that it is possible for Kant to point to a ›plurality of possible cases‹ against which to judge the validity of a pure judgment of taste. Crucial to her argument is the distinction she makes in Chapter 3 between 1) the pure judgment of taste as a linguistic »formulation« (sprachliche Formulierung): »This is beautiful.«, and 2) the judging of the object (Beurteilung des Gegenstandes) upon which the former is grounded (cf. p..45, 47). It is the result or accomplishment of the latter that serves as the object for the former, according to Fricke. That is, pure judgments of taste rest upon, or are the »linguistic formulations« of, a prior activity whose outcome (»Zustandekommen«) is the referent of the pure judgment of taste: it is the »this« referred to in the judgment »This is beautiful.« The greater part of the book is therefore dedicated to a detailed account of the »result« of the judging of the object that underlies pure judgments of taste. As is well-known, this involves what Kant calls a »free play« of the cognitive faculties of understanding and imagination with the representation of the object. In free play, the imagination searches a wide array of possible concepts in the understanding

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without ever actually subsuming the object under any one of them. Since the judgment does not end in a conceptualizing of the representation and no cognition occurs, the only »result« of this activity is a certain pleasing »proportion« or »harmony« between the imagination and the understanding that arises in the process of this free play. In an interesting move, Fricke argues that this activity is a kind of synthesis. This move is potentially controversial because Kant’s standard definition of synthesis (at KdrV A 77 / B 102-103) links this activity to cognition, whereas he argues that judgments of taste do not expand knowledge of objects (KU p..204). However, Fricke relies on Kant’s discussion in the First Critique (B 129-30) of the notion of a »combination of a manifold in general« to which he gives the »general title ›synthesis.‹« She claims that from this passage it follows that »every harmonizing (Zusammenstimmen) of imagination and understanding […] only comes about through an act of synthesis« (Fricke, p..56). Since the free play that underlies pure judgments of taste results in a harmony between imagination and understanding, it too is a kind of synthesis, but an »aesthetic synthesis.« All synthesis rests on a represention of a unity, so that the aesthetic synthesis too must have a unifying »guiding thread« according to which its manifold is connected (56-58). Fricke follows Kant in locating this guiding thread in the »representation of purposiveness,« and Chapters 4, 5 and 6 are devoted to f leshing out the notion of purposiveness that serves as the unifying principle in aesthetic synthesis. In Chapter 4 Fricke lays out the various meanings that »purposiveness« (Zweckmäßigkeit) has for Kant and the different uses of ref lective judgment in his system. Chapter 5 is devoted to a discussion of Kant’s failure in both the first and second introductions to the Critique of Judgment to show that pure judgments of taste are ref lective judgments, that is, judgments about the hypothetical purposiveness of objects or judgments about systematic unity. Kant’s move in section 11 of the third Critique to identify the consciousness of purposiveness without purpose (»formal purposiveness«) with the feeling of disinterested pleasure does not work either, Fricke claims, because Kant does not argue for a connection between lack of moral or private (»objective«) interests and the consciousness of formal purposiveness. At section 11, she argues, »purposiveness without purpose« really only means »no objective concept of a determinate purpose« and fails to answer the question of what formal purposiveness is (110).2 It is not until section 35 (»The Principle of Taste is the Subjective Principle of the Power of Judgment as Such«) that Kant successfully identifies the pure judgment of taste with ref lective judgment, according to Fricke. Her reading of the pure judgment of taste as rooted in a formal purposiveness that can be characterized positively is important to the final stage of her analysis and is 2 Fricke suggests that part of the problem may be located in Kant’s falsely dichotomizing all purposes into objective (moral) and subjective (private likings) at section 11, and hence failing to recognize the possibility of a different sort of subjective purposiveness viz., the »subjective purpose in the sense of […] a feeling-state of pleasure in human beings« (p..108).

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presented in Chapter 6. She argues that aesthetic synthesis shares with objective synthesis the goal of producing a correspondence or harmony between the faculties. But the aesthetic ref lective judgment for Kant is always singular (KU p..215) and is limited to the representations given in the manifold of a single empirical object, and cannot compare these to any other empirical objects. This, means, Fricke argues, that the task of aesthetic synthesis can only be that of finding a procedural rule (Verfahrensregel) according to which the complete manifold of a single object, in its »endless complexity,« can be ordered and connected (120). Moreover, due to the demands of ref lective judgment, the procedure must represent this complete order and connection as if it were the result of some higher purpose (127). The only candidate for such a procedural rule in Kant’s theory is the Idea of reason – a concept of unconditioned totality, and hence of the »supersensible« (127, 135). The guiding thread for aesthetic synthesis, which Fricke identifies with the »principle of taste,« is thus an idea of reason (128). But since ideas of reason involve the thought of a purposiveness and order that goes beyond anything humans could represent in intuition, it hardly seems suited to the analysis of the aesthetic judgment of an object. Fricke handles this problem by appeal to Kant’s notion of an ideal of the imagination (KU sec..17, p..232), that is, to the attempt of the imagination to exhibit a concrete individual case of perfection represented by the idea of reason. The result of such attempts for Kant are »aesthetic ideas« (KU sec..49, p..313-314) and it is Fricke’s contention that the attempt at complete synthesis of the endlessly complex particular object is the goal and also the result of the free play that underlies the pure judgment of taste. This attempt can be more or less successful, resulting in more or less harmony of the imagination with the understanding, which is then manifested in consciousness as more or less pleasure taken in the object.3 The expression of this pleasure is the judgment »This is beautiful« where the »this« refers to the state of harmony achieved by the free play of the imagination under the guidance of an idea of reason. Having completed her analysis of the object of the judgment of taste, Fricke ends her book with a discussion of the deduction of judgments of taste, that is, with Kant’s claim that pure judgments of taste have universal subjective validity (157). She also discusses the function of the common sense, and concludes finally with a brief chapter pointing to further problems in Kant’s theory. It may be useful to here to brief ly summarize Fricke’s view: The analysis of the pure judgment of taste is two-tiered. The »surface« level, so to speak, is the judgment of taste itself, which takes the form »This is beautiful« (or »[…] not beautiful,« or »[…] ugly«). This judgment rests on the feeling of disinterested pleasure which is the consciousness of a second, underlying activity of judging, the activity of the free play of the cognitive faculties. This activity, or »aesthetic synthesis« itself is guided by an idea of reason which Fricke identifies with the subjective principle of ref lective This is a purely quantitative claim. The kind of pleasure manifested by the free play of judging will always be disinterested. 3

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judgment and with the principle of taste. This principle has as its goal the search for an expression of the form of purposiveness in an aesthetic idea that would »schematize« the idea of reason. The harmony, in greater or lesser degree that results from this search is the achievement of the judging of the object and serves as the object of the pure judgment of taste.4 It remains to be asked whether Fricke’s analysis of the object of the pure judgment of taste is correct and hence adequately answers Kulenkampff’s accusation that no account of the object of these judgments is available against which to judge their claim to validity. Not surprisingly given her difficult subject matter, Fricke’s analysis is not without problems. One difficulty involves the incorporation of the idea of reason and the ideal of imagination into the judgment of taste itself. Although her arguments are often persuasive, it is difficult to square this reading of Kant with his own claims that concerns for systematicity and evidence of higher purpose are interests of reason and hence may arise out of but are not strictly part of the pure judgment of taste (KU sec..42). Again, Kant’s discussion of the »ideal of the imagination« ends with the unequivocal caveat: »[…] judging by such a standard can never be purely aesthetic, and judging by an ideal of beauty is not a mere judgment of taste« (KU sec..17). And finally, Kant’s discussion of aesthetic ideas is part of his account of genius, in which it is not at all clear that the ability to search for aesthetic ideas is something that Kant believed to be universally available to all humans (KU sec..49). Moreover, in the following section (p..50) he distinguishes genius, defined as »spirit« – the ability to exhibit aesthetic ideas – from taste, which does not produce ideas but rather »introduces clarity and order« into the manifold of thought (KU p..319). This distinction between genius and taste militates against the view implicit in Fricke’s analysis that some degree of genius, defined as the ability to find and express aesthetic ideas, is part of Kant’s definition of pure judgments of taste. In general, it might be objected that Fricke’s account tends to intellectualize the free play that occurs in pure judgments of taste in a way that Kant himself would not allow. Kulenkampff articulates this sort of concern when he argues that the judgment of taste is not really a judgment, because to be a judgment it would either have to apply determinate concepts of objects, or »it would have to turn away completely from determinate objects and then would amount to a pale metaphysical statement about the relation of understanding and imagination« (Kulenkampff, p..90). Fricke comes very close to making the judgment of taste a »pale metaphysical statement« by identifying the principle of taste with an idea of reason: »[Aesthetic synthesis] has its guiding thread […] in an abstract procedural rule […]« (Fricke, p..119). The close aesthetic link to the »colorful« world of physical objects is left more or less unexplored on her account. Fricke, p..56: »The goal of an act of synthesis, like its product, can be seen as the production (Herstellung) of such a harmony (of cognitive faculties).« 4

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However, on any reading, Kant’s account of the pure judgment of taste is opaque, to say the least, and no interpretation is likely to avoid all problems and inconsistency. That Fricke’s analysis can be criticized in no way detracts from the importance of the book. The care and textual evidence she musters makes a strong case for her larger goal, namely, to show that an object of the pure judgment of taste certainly can be described as a complex relation between an individual’s psychological state and something in the real world. Her work suggests that there is good reason to hold, pace Kulenkampff, that this complex object of taste can be described (albeit with difficulty) and compared with others. On the basis of this, then, a legitimate claim to subjective universality could be made. Even if the pure judgment of taste is not based on intellectual ideas and imaginative ideals, Fricke’s thoughtful and interesting analysis does underline the important point that the psychological state that serves as the basis of such judgments is analyzable, complex, and describable. Jane Kneller

integr ative ästhetik Josef Früchtl: Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil. Eine Rehabilitierung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996. 519 S. Schon längere Zeit befaßt sich der philosophische Diskurs mit der Frage, ob der ästhetisch erfahrene und erfahrende Mensch auch ein guter sei oder ein besserer werde. Spätestens seit der Debatte um das Erhabene nach Kants Kritik der Urteilskraft kam es zu einer Rehabilitierung der praktischen Philosophie aus der Perspektive der Ästhetik. Nun hat diese Debatte ihren Zenit sicherlich bereits überschritten. Grund genug, sie einmal umfassend zu sortieren. Das macht sich Josef Früchtl mit seiner Arbeit Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil – wie der Titel sagt – zur Aufgabe. Er wirft einen Blick auf verschiedene Spielarten, dem Ästhetischen ethische Relevanz zuzusprechen und ordnet die Diskussion. Zugleich aber kündigt der Untertitel eine Rehabilitierung an. Somit ist das zweite Projekt Früchtls markiert. Nicht allein ein ordnender Überblick, sondern auch eine systematische Abwägung soll vollzogen werden. Diese zielt darauf, diejenige unter den Verhältnisbestimmungen zu profilieren, die die besten Argumente auf ihre Seite zieht. An der zweifachen Zielsetzung von allgemeiner Übersicht und systematischer Auswahl kann sich eine Lektüre von Früchtls Buch orientieren. Der Autor nimmt sein Objekt in fünf Einstellungen ins Visier. Er präsentiert fünf Kapitel, die weniger streng zusammenkomponiert als eher lose begriff lich verbunden sind. Die Kapitel haben »durchaus den Charakter von Einzelstudien« (S..31). Dabei zeigt die Gliederung deutlich die Biforkation, die für das Unternehmen charakteristisch ist. Auf der einen Seite steht eine Skizze zur systematischen Position.

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Auf der anderen Seite werden vier Momentaufnahmen des ästhetischen Übertritts in praktische Philosophie präsentiert. Früchtl beginnt damit, daß er eine Folie erstellt, auf deren Hintergrund er die Diskussionen, die er nachzeichnet, kommentieren wird. Diese Folie besteht in einer Position auf seiten der Ästhetik. Eine »integrative Ästhetik« biete den rechten Schlüssel dafür, die Korrespondenz zwischen ästhetischen Erfahrungen und moralischen (Selbst)Gestaltungen zu denken. Die »integrative Ästhetik« beruft sich auf drei Ahnherren: Kant, Schiller und Dewey. Mit Kant geht sie den modernen Schritt, die Spezifik des Ästhetischen im Rahmen der Ausdifferenzierung von Rationalität zu fassen. Kant aber beharre unangemessen auf der »Reinheit des ästhetischen Urteils« (74) und bedarf so der Ergänzung durch seinen Nachfolger Schiller. Der kann für sich reklamieren, die Erfindung einer integrativen Konzeption der ästhetischen Rationalität geleistet zu haben. Schiller folgt Kant in puncto Differenzierung, bestimmt aber das Ästhetische als »Spiel« aller Vernunftformen. Dieses Spiel ziele auf Integration. Kognitive, moralische, ethische und sinnliche Interessen kommen in ihm – idealiter – gleichberechtigt zum Tragen. Dieses Modell wird mit Dewey von einem Theoretiker bestätigt, der denkbar weit von den Debatten zur Zeit des Deutschen Idealismus entfernt ist. Seine pragmatistische Bestimmung des ästhetischen Verhaltens bringt die Integration mit dem Begriff der Erfahrung in Verbindung. Die ästhetische Erfahrung hat so darin ihre Spezifik, daß sie unterschiedlichste Erfahrungen in ausgewogener Weise zusammenbringt. Was Alltag und alltäglicher Vernunftgebrauch nicht vermögen, da in ihnen immer Aspekte dominieren und andere zurücktreten, leiste eine spezifisch ästhetische Integration. »Nur die distinkt ästhetische Erfahrung ist eine vollendet integrierte Erfahrung, nur sie realisiert die organische Einheit in reiner Form« (89). Mit dem Modell der »integrativen Ästhetik« im Rücken geht Früchtl daran, vier Bereiche der Konversion von Ästhetik in praktische Philosophie zu diskutieren. So folgen aufeinander: erstens die »postmodern-ästhetische Rehabilitierung der Ethik« (114-239) mit den Protagonisten Foucault und Rorty, die »neoaristotelisch-ästhetische Rehabilitierung der Ethik« (240-382) mit Gadamer und Nussbaum, die »ökologisch-ästhetische Rehabilitierung der Ethik« (383-412), besonders mit Böhme, Bohrer und Seel, und zuletzt eine »ästhetische Reevaluation der Kantischen Ethik« (413-492). Bereits diese Liste macht deutlich, daß Früchtl weder auf eine systematische noch auf eine an Vollständigkeit orientierte Erfassung aus ist. Er wählt sich vielmehr Diskussionsgegenstände, die es ihm erlauben, eine plausible Erläuterung der Korrespondenz von Ästhetik und Ethik vorzutragen. Die unterschiedenen »Rehabilitierungen« stehen hinsichtlich dieser Korrespondenz nicht für unterschiedliche Positionen. Zuletzt sollen sie alle zu der einen »Rehabilitierung« beitragen, die der Autor projektiert. Sie werden insofern herangezogen, als sie eine »perfektionsästhetische Ethik« stützen. Deren Kern ist, den ästhetischen Beitrag zur Ethik als die Vollendung ethischer oder moralischer Orientierungen zu fassen. Sie wird konturiert in der Abgrenzung von drei anderen Weisen, einen Beitrag der Ästhetik zur Ethik formal zu bestimmen (vgl. 21.ff.), sofern überhaupt ein solcher Beitrag behauptet

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wird. Neben der »perfektionsästhetischen Ethik« steht zweitens eine »fundamentalästhetische Ethik«, die das Ästhetische als notwendige Bedingung ethischer Orientierung faßt. Drittens eine »marginalästhetische Ethik«, die ästhetische Erfahrungen zwar als nicht gänzlich irrelevant, aber doch nur marginal wirksam in Sachen Ethik begreift. Und viertens eine »paritätsästhetische Ethik«, die die Möglichkeit praktischer Vernunft in einem gleichberechtigten Zusammenspiel von Rationalitätsformen gegeben sieht, in dem die Ästhetik einen paritätischen Partner darstellt. Früchtl stellt nun nicht diese jeweiligen Modelle anhand ausgewählter ästhetischer oder ethischer Positionen vor. Er prägt die Unterscheidung, um die besprochenen »Rehabilitierungen« auf ihre »perfektionsästhetischen« Momente hin zu lesen, das heißt um deren Abweichungen in andere Modelle hinein diagnostizieren zu können. Früchtl gewinnt so langsam Bestandteile einer aus seiner Sicht plausiblen Rehabilitierung einer auch ethisch orientierenden Ästhetik. Ästhetische Erfahrungen bieten demnach einen Ausgangspunkt dafür, vorhandene moralische Einstellungen oder ethische Prinzipien im Sinne einer Vollendung zu ergänzen oder zu modifizieren. Früchtls Durchgang durch die verschiedenen Positionen kann hier im einzelnen nicht nachvollzogen werden. Er ist sehr weit angelegt und bedürfte vielfältiger Kommentare. Ich will vielmehr dort einhaken, wo er sein eigenes Plädoyer für eine »perfektionsästhetische Ethik« besonders zu profilieren versucht: bei Foucault und Gadamer. Von Foucault greift er dessen Formel von der »Ästhetik der Existenz« auf. Dieses vielbeschworene postmodernistische Theorem erhält unter Früchtls Kommentar ein vergleichsweise nüchternes Gesicht. Es kann, so wird nachgezeichnet, nicht als durchgängige Ästhetisierung des Lebens erläutert werden. Vielmehr müsse es so verstanden werden, daß ein Leben sich an der Möglichkeit einer ästhetischen Durchgestaltung orientiert. Von Nietzsche her läßt es sich als »exemplarischer Imperativ« (171.ff.) begreifen. Was der Imperativ ansinnt, soll nicht unbedingt befolgt, sondern als Beispiel genommen werden, vor dessen Horizont man sich verhält. »›Mache aus Deinem Leben ein Kunstwerk‹ muß demnach mit Foucault heißen: ›Mache das ästhetische Gesetz, das auf allseitige Autonomie und eine sich unentwegt selbsterfindende Individualität dringt, nicht zur Grundlage und auch nicht zu einem bloß marginalen Bestandteil, wohl aber zur vollendenden Richtschnur deines Handelns und deines Lebens‹« (188). Zeigt Foucault hinsichtlich der »perfektionsästhetischen Ethik« eher die Seite des ethisch gelingenden Lebens auf, so verweist Gadamer eher auf die Möglichkeit einer Orientierung an moralischen Normen. Früchtl diskutiert dies unter dem Titel »Ethik des guten Geschmacks« (251.ff.). Geschmack fungiert dabei als eine ästhetisch geschulte Kompetenz, die das Befolgen von Normen vor einem unangemessenen Rigorismus bewahrt. Mit Aristoteles’ Begriff der »phronesis« denkt Gadamer so die Verbindung zwischen individueller Situation und moralischer Allgemeinheit. Diese Verbindung zeigt sich zum Beispiel in der ethischen Bewertung der Handlung, »aus Menschenliebe zu lügen« (276.ff.). Hier genau vollendet die Ästhetik qua Ausbildung von Geschmack die ethische Orientierung. »Im Geschmack zeigt sich somit eine perfekte ästhetisch-ethische Urteilskompetenz«

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(261). Wer ästhetisch erfahren ist, vermag im Ethischen etwas zu leisten, was er allein aus normativer Orientierung nicht vermag, was aber wiederum auch nicht Grundlage von normativen Orientierungen oder Lebensentwürfen sein kann. Er wird sowohl in seinen Lebensentwürfen als auch in seinen moralischen Handlungen über das hinausgehen, was ein aus sich heraus begründeter ethischer Diskurs bietet. Dieses Fazit steht am Ende von Früchtls Überlegungen zur Interaktion von ästhetischer und ethischer Rationalität. Im folgenden wird es mir darum gehen, die Basis von Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil zu diskutieren. Diese Diskussion wird ausblenden, daß Früchtl innerhalb seiner Lektüren und Differenzierungen triftige Gründe gewinnt, für eine »perfektionsästhetische Ethik« zu plädieren, und daß er diese äußerst kenntnisreich belegt. Sie wird auch die Lektüren ausblenden, die er Foucault, Gadamer und Kant mit affirmativer Tendenz, Rorty und Nussbaum hingegen mit kritischer Tendenz widmet. Wer die Frage beantworten will, ob ästhetische Erfahrung sich in Handlungsorientierungen niederschlägt, muß zumindest drei Vorverständnisse klären. Erstens muß er die Konzeption von Ästhetik beleuchten, die er der Erörterung zugrunde legt. Zweitens muß er die Differenzierung der Rationalität charakterisieren, innerhalb derer die Interaktion von Rationalitätsformen sich ereignet. Drittens muß er von dieser Differenzierung her sagen, wie überhaupt eine Interaktion der differenzierten Momente zustande kommen kann. Ich werde mich mit diesen drei Fragen an das Projekt von Früchtl wenden und einige Horizonte für einen Disput skizzieren. (1) Was ist eine »integrative Ästhetik«? Die Antwort auf diese Frage klärt, was Früchtl ins Rennen um die praktische Rationalität schickt. Die Frage läßt sich noch eingrenzen, um schon ein Problem in das Blickfeld zu bringen: Was ist das Ästhetische an einer »integrativen Ästhetik«? Hier fällt zuerst auf, daß die Integration, die der Titel nennt, nicht allein Ästhetisches umfaßt. Integriert werden – anders als bei der »Integrativen Ethik« nach Hans Krämer – nicht allein unterschiedliche ästhetische Typen. Vielmehr gilt die Integration dem gesamten Feld von Rationalität, wie es ausgeprägt ist. Das Ästhetische besteht darin, nicht allein ein Zusammenspiel unterschiedlicher Rationalitätsformen zu bieten, sondern dieses Zusammenspiel in idealer Ausprägung zum direkten Ziel zu haben. Hier wird die Frage nach der Spezifik ästhetischer Geltung mit Blick auf Interferenzen unter Rationalitätsformen beantwortet. Früchtl entgeht dabei der beispielhaft von Martin Seel nachgezeichneten Problematik dieser Antwort-Strategie, indem er die Interferenzen als Ideal ausdrücklich zum ästhetischen Kern erklärt. Die »spezifische Rationalität, die spezifische Begründungsweise, der ästhetischen Erfahrung« bestehe darin, »die anderen Begründungsweisen idealiter in einem harmonischen oder zwanglosen Zusammenspiel zu vereinen« (92). Die Rede von – analogen – Begründungsweisen aber täuscht über eine Differenz hinweg. Es kommt in Früchtls Modell der Rationalität nicht zu einer Begründung von mindestens drei Rationalitätsformen – einer kognitiven, einer normativen und einer ästhetischen – nebeneinander. Die ästhetische setzt viel-

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mehr die Begründung der anderen voraus und besteht nur im Bezug auf diese anderen. So aber ist im ästhetischen Interagieren von Begründungsweisen selbst keine ästhetische Begründungsweise involviert. Es wird unklar, ob überhaupt eine ästhetische Geltungs-Dimension ausgemacht werden kann. Früchtl gibt folgende Antwort. »Ästhetische Geltung, […], ist eine verselbständigte Unselbständigkeit, dies aber durch Integration der selbständigen Geltungsaspekte« (104). Wie ist diese Auskunft zu verstehen? Sie bleibt ambivalent. Auf der einen Seite verweist sie auf die Integration und beschreibt die spezifische Geltung als »Integration der selbständigen Geltungsaspekte«. So gesehen kommt aber gerade keine Spezifik zustande. Auf der anderen Seite beruft sie sich auf eine Verselbständigung, die in einer Betonung der Integration besteht. Der ästhetische Geltungsanspruch, der mittels dieser Verselbständigung profiliert wird, kann als »Stimmigkeit« gefaßt werden; Stimmigkeit der interagierenden Geltungsansprüche und der Interaktion selbst. Folgt man der Verselbständigung, dann gerät die Interaktion aus dem Blick. Stimmigkeit als Geltungsanspruch läßt sich auch jenseits einer integrativen Ästhetik formulieren; zum Beispiel in der Kantischen Weise als »Zweckmäßigkeit ohne Zweck«. So entsteht in Früchtls Projekt eine Ambivalenz zwischen einer Ästhetik der Integration, die nichts im eigenen Sinne Ästhetisches profiliert, und einer solchen der »ref lektierenden Urteilskraft«, die in der Integration nur ein mögliches Feld ihrer ästhetischen Betätigung hat. Das Projekt berichtet mehr von den Problemen, Ästhetik als Integration der Rationalitätsformen zu fassen, als daß es sie löst. (2) Die Frage nach der Differenzierung tritt bei Früchtl direkt zutage. Sie wird insofern dringlich, als das Ästhetische als Versöhnungsphänomen angelegt scheint. Die ästhetisch erstrebte Integration nimmt, so scheint es, gerade Differenzierung zurück. Aus diesem Grund bemüht sich der Autor, deutlich zu machen, daß Integration nicht als Entdifferenzierung zu verstehen ist. Vielmehr müsse die ästhetische Integration als Möglichkeit verstanden werden, die Differenzierung der Rationalitätsformen greifbar zu machen. Das aber heißt, daß die Differenzierung der Vernunft selbst nicht hintergehbar ist. Sie wird auch durch den ästhetischen Beitrag nicht ergänzt. Hier genau trennt sich Früchtl von seinem Gewährsmann Kant zugunsten der von Schiller übernommenen Ästhetik spielerischer Integration. Die Differenzierung der Vernunft findet außerhalb des ästhetischen Beitrags statt und wird durch dessen Umfassungs- bzw. Versöhnungstendenzen nicht tangiert. Sofern überhaupt davon zu sprechen ist, daß eine ästhetische Rationalitätsform sich ausdifferenziert, gerät diese Differenz doch alles andere als analog zu anderen Differenzen im Bereich der Vernunft. Sie setzt einen gelungenen Prozeß von Ausdifferenzierung voraus. Das heißt, daß Früchtls integrative Ästhetik in ein Modell von Rationalität einzuzeichnen ist, das zwei Stufen von Ausdifferenzierung kennt: eine erste, auf der sich verschiedene Geltungsformen profilieren, und eine zweite, auf der – ästhetisch – ein gleichberechtigtes Spiel dieser Formen realisiert wird. Die ästhetische Differenz, so ließe sich pointieren, ist eine Differenz von Differenzen. Dieses Modell wirft vielfältige Probleme auf. Nicht allein das bereits gestreifte der Spezifik ästhetischer

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Geltung. Auch Interaktionen des Ästhetischen scheinen problematisch, da sie nicht auf einer Ebene stattfinden. Insbesondere aber stellt sich die Frage, ob sich überhaupt sinnvoll von einer ästhetischen Differenz sprechen läßt. Eine Differenz liegt hier zwar formal vor. Das ästhetische Spiel aber ist von seinem Ziel her undifferenziert, da es undistanziert an den anderen Rationalitätsformen partizipieren will. Es kann sich nur formieren, sofern es gerade nicht auf Differenz setzt. Folgt man diesen strukturalen Überlegungen, dann ist die ästhetische Rationalität in der Vielzahl der Stimmen der Vernunft qua Partizipation präsent – und nicht qua Interaktion. Aus Perspektive der zweistufigen Ausdifferenzierung müßte demnach eher die spezifische Partizipation bestimmt werden. Eine ästhetische Rückwirkung auf ethische Geltungsansprüche wäre an den Partizipationen, die sich ästhetisch ereignen, festzumachen. (3) Wie sieht nun die Interaktion aus, die sich zwischen der ästhetischen und der ethischen Rationalität abspielt? Diese Frage beantwortet Früchtl nicht direkt. Es läßt sich aber Aufschluß dort gewinnen, wo er die Interaktionen klassifiziert. Wie bereits berichtet, werden vier Möglichkeiten unterschieden. Diese Unterscheidungen wiederum orientieren sich an der Stellung, die das Ästhetische im Raum der Ethik einnimmt. Es wird im Rahmen einer räumlichen Ordnung sortiert. Innerhalb des Raumes ließe sich mit Descartes von einem Haus sprechen, in diesem Fall von einem »Gebäude der Ethik« (vgl. 412). Innerhalb dessen findet sich Ästhetisches an unterschiedlichen Punkten: Mal gibt es das Fundament ab, mal steht es als angebauter Raum im Abseits, mal bildet es das oberste Geschoß. Das aber bedeutet: Das Ästhetische wird hier über seine Einsatzstelle im Ethischen und nicht über seinen Beitrag vermessen. Diese Klassifikation hat den Vorzug, daß sie alle Versionen der Interaktion von Ästhetik und Ethik gleichberechtigt zu verzeichnen erlaubt. Sie hat aber den Nachteil, daß sie Differenzen dieser Interaktion nivelliert. Das läßt sich bereits an einer Ordnung verdeutlichen, innerhalb derer das Ästhetische keinen Beitrag zur Ethik leistet, was Früchtl als »antiästhetische Ethik« erfaßt. Hier können aber zwei Fälle vorliegen. Entweder der Fall eines radikalen Purismus qua ästhetischer Autonomie, wobei sich keinerlei Interaktion ereignet. Oder der Fall einer radikalen ästhetischen Subversion, die keine Geltungen stiftet, an die sich normative Diskurse irgend anlehnen könnten. Auch sofern das Ästhetische am Ethischen partizipiert, kann eine – weitere – Differenz als interessant erscheinen: Entweder orientiert das Ethische sich, indem es ästhetischen Gehalten folgt, beispielsweise auf einer ästhetisch geschulten Urteilskraft aufbaut. Oder das Ethische konstituiert sich, indem es sich an ästhetischen Irritationen abarbeitet. Im ersten Fall ließe sich von einer kontinuierlichen, im zweiten von einer diskontinuierlichen Interaktion sprechen. Früchtl nun scheint sein Modell von Rationalität so auszurichten, daß er deren Interaktionen als zuletzt stets kontinuierliche begreift. Diskontinuierliche Momente werden dabei in Kontinuitäten umformuliert. Das geschieht im Bild des Raumes. Das bloße Vorkommen des Ästhetischen an bestimmten Punkten im Haus des Ethischen reicht aus zum Erfassen der Interaktion. Für Diskontinuitäten bleibt dabei

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aber kein Raum. In diesem Zusammenhang fällt auf, daß Früchtl eine Position gegenwärtiger Ästhetik immer nur in Fußnoten kommentiert: Die SouveränitätsÄsthetik, die Christoph Menke im Anschluß an Adorno und Derrida formuliert hat. Dort wird die Partizipation des Ästhetischen an anderen Rationalitätsformen als Irritation beschrieben. Vielleicht ist es symptomatisch, daß sich diese Interaktion schlecht in Früchtls Klassifikationen einzeichnen läßt. Sie ist weder fundamentierend noch marginal. Allenfalls ließe sie sich als perfektionierend begreifen. Dies kann in der Hinsicht verstanden werden, daß eine ethische Orientierung, die sich an ästhetischen Irritationen geschult hat, als reichhaltiger zu gelten hat. Es trifft aber in der Hinsicht nicht zu, daß eine solche Orientierung nicht einen Gipfelpunkt ethischer Möglichkeiten bedeutet. Sie erfährt ja ästhetisch gerade ihre Unperfektion. Josef Früchtls Studien zur Rehabilitierung der Ästhetik aus Sicht ihrer ethischen Relevanz führen implizit vor, daß es lohnend wäre, eine »integrative Ästhetik« einmal anders zu explizieren. Integriert würden dann die Gegensätze, an die sich auch Früchtls Debatte hält: insbesondere derjenige zwischen einer puristischen und einer interagierenden Ästhetik. Die spezifisch ästhetische Geltung, die im Chor der Rationalität mitklingt, muß wohl als Zusammenspiel unterschiedlicher Momente gefaßt werden. So aber wird die Frage, inwiefern der ästhetisch erfahrene und erfahrende Mensch Orientierungen seines Handelns gewinne, keine einfache Antwort erhalten. Georg W. Bertram

die vielfalt der dritten kritik Kants Ästhetik, Kant’s Aesthetics, L’esthétique de Kant. Hrsg. von Herman Parret. Berlin / New York: Walter de Gruyter 1998. 798 S. Sowohl die beträchtliche Anzahl an Beiträgen als auch der thematisch allgemein gehaltene und mehrsprachig verfaßte Titel dieses voluminösen Sammelbandes geben schon rein äußerlich zu erkennen, was hier als Intention verfolgt wird. Der vorliegende Band will einen möglichst breiten Überblick über die Themenfülle der »Kritik der Urteilskraft« und ihrer Deutungsmöglichkeiten verschaffen. Dazu versammelt dieser Band siebenundvierzig Beiträge. Größtenteils stammen sie von zwei zur »Kritik der Urteilskraft« veranstalteten Konferenzen (März 1993 an der Universität Leuven und Juni 1993 am Centre Culturel International in Cerisy-la-Salle), an denen Wissenschaftler aus neun verschiedenen Ländern beteiligt waren. In den Worten des Herausgebers liest sich das mit diesem Band verbundene Programm so: »The present volume intends to testify to the enormous richness of Kant’s aesthetic ideas, and to bring the acquisitions to the Third Critique up to date« (S..V). Mit diesem Anspruch verbindet sich die von H. Parret selbst auferlegte Zu-

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rückhaltung, hinsichtlich der thematischen Schwerpunkte und interpretatorischen Zugriffe Beschränkungen vorzunehmen. Größtmögliche Vielfalt zu erreichen, das ist seine erklärte editorische Absicht. So werden hier in der Tat Beiträge und Artikel ganz unterschiedlicher methodischer Provenienz versammelt. Das Spektrum reicht von »a good number of papers written in a recognizably ›analytic‹ style, as well as a series of articles owing much to what is often called […] the ›deconstructive‹ method« (VI). Und auch in thematischer Hinsicht weist das Buch eine beachtliche Bandbreite auf: Es finden sich Beiträge von grundsätzlich-allgemeinem Charakter. Sie behandeln das Problem der systematischen Verortung der »Kritik der Urteilskraft«. Dann gibt es eine Reihe von Beiträgen, die sich mit spezifischeren Problemen der »Kritik der Urteilskraft« beschäftigen: z..B. mit der Bedeutung und Struktur des ästhetischen Urteils oder den moralischen und kunsttheoretischen Implikationen des Ästhetischen. Und schließlich finden sich hier Artikel, die weiterreichende, über den Kantischen Ansatz hinausgehende Bezüge herzustellen versuchen. Von allen Beiträgen gleichermaßen Bericht zu geben, würde angesichts der genannten Fülle den Rahmen einer Rezension sprengen. Daher kann die Besprechung im folgenden nur exemplarisch erfolgen. Um dennoch einen größtmöglichen Überblick zu verschaffen, soll die Auswahl gemäß der thematischen Schwerpunkte des Bandes vorgenommen werden. 1. Als ein erster gewichtiger Problemkreis erweist sich in diesem Band die Frage nach der Architektonik und dem systematischen Stellenwert der »Kritik der Urteilskraft«. Mit dieser Ausrichtung wird gleich zu Beginn deutlich, daß die Interpretation der dritten Kritik hier mit philosophischer Grundsätzlichkeit angegangen wird. Und damit ist klar, daß hier eine vorschnelle thematische Engführung auf die ästhetische Problematik vermieden werden soll. Dieses Anliegen spiegelt sich vor allem in den Beiträgen der I. Sektion wider. Besonders hervorzuheben ist der Beitrag von F. Pierobon: »L’architectonique et la faculté de juger« (1-17). Er geht der Frage nach, ob und inwiefern die dritte Kritik als notwendiges Stück des kritischen Werkes aufgefaßt werden kann. Dabei kommt er zu dem gut motivierten Ergebnis, daß erst von der ref lektierenden Urteilskraft her die Architektonik der kritischen Philosophie zu begreifen ist (16.f.). Die Architektonik auf eine »classification« von »champs d’intelligibilité« (48) beziehend versucht auch A. Philonenko in seinem Beitrag: »L’architectonique de la ›Critique de la faculté de juger‹« (41-52) den systematischen Zusammenhalt der kritischen Philosophie von den ersten beiden Kritiken bis zur Ästhetik und Teleologie der »Kritik der Urteilskraft« aufzudecken. Der Beitrag von D. Dumouchel: »Genèse de la Troisième Critique: le rôle de l’esthétique dans l’achèvement du système critique« ergänzt und vertieft das Thema der Architektonik, indem er die mit der dritten Kritik verknüpfte Frage nach dem Verhältnis von Ästhetik und Naturteleologie aus entwicklungsgeschichtlicher Perspektive zu klären versucht. Dumouchel zeichnet unter dieser Vorgabe die Genese der »Kritik der Urteilskraft« als einen durch Umwälzungen gekennzeichneten Entwick-

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lungsgang nach: Darin wird deutlich, daß Kants Erweiterung der ursprünglich als eine »Kritik des Geschmacks« geplanten Ästhetik zur »Kritik der Urteilskraft« mit der entwicklungsgeschichtlich gesehen späteren Einsicht zusammenhängt, eine Verbindung zwischen ästhetisch ref lektierender Urteilskraft und dem Prinzip der Naturzweckmäßigkeit herstellen zu müssen (19). Der Beitrag von A. Model: »Der Geschmack als teleologisches Urteil bei Kant« (53-65) schließt an diese Überlegungen zum architektonischen Problem des Übergangs vom ersten zum zweiten Teil der »Kritik der Urteilskraft« an und zeigt, daß Kant, sowohl von systematischen Überlegungen geführt als auch von historischen Gründen bestimmt, den Übergang vom Geschmack zur Zweckmäßigkeit dadurch ermöglicht, daß er in der zweiten Einleitung zur »Kritik der Urteilskraft« »das Systematisierungsverfahren in die Nähe der ästhetischen Urteilskraft« (63) bringt. Wegen seiner thematischen Ausrichtung ist hier noch der zur II. Sektion gehörige Artikel von L. de Vos: »Die Beweisstruktur der Kritik der Urteilskraft« (136-157) zu erwähnen. Auch hier wird der Blick auf die Frage nach der architektonischen Homogenität und der systematischen Einheit der dritten Kritik gerichtet. Die Analyse des methodischen Aufbaus bietet einige interessante Gesichtspunkte, in der Beantwortung der Frage nach der tatsächlichen methodischen Kohärenz bleibt de Vos jedoch weitgehend unbestimmt. 2. Die in Sektion II versammelten Artikel konkretisieren die Untersuchungen zum systematischen Stellenwert der »Kritik der Urteilskraft« und dem Verhältnis ihrer beiden Teile dadurch, daß sie Bezüge zu anderen Werken Kants oder zentralen Philosophemen der Kantischen Theorie herausarbeiten und darüberhinaus auf der Grundlage zeitgenössischer Ansätze die Kantische Theorie kritisch befragen. Das gilt sowohl für den Beitrag von F. Costa: »Système et jugement chez Kant« (93-116), der mit Rekurs auf Luhmanns Systemtheorie die Bedeutung der Urteilskraft für den Kantischen Systembegriff untersucht, als auch für den Beitrag von P. Crowther: »Judgement, Self-Consciousness and Imagination: Kant’s Transcendental Deduction and Beyond« (117-135), in dem der interessante Versuch unternommen wird, Kants Theorie des ästhetischen Urteils zu einem integralen Bestandteil der kritischen Erkenntnislehre zu erheben. Ausgangspunkt für Crowthers Überlegungen ist die von H. Caygill in »Art of judgement« [1990] vertretene Auffassung, nach der die Kantische Urteilstheorie der »Kritik der reinen Vernunft« keine überzeugende Vermittlung zwischen Sinnlichkeit und Verstand biete. Nach Crowther kann dieser Mangel aber durch die Einbeziehung der »Kritik der Urteilskraft« behoben werden: In der Einbildungskraft könne man jene gesuchte »pre-condition of experience« (128) finden, die als Verbindungsglied zwischen Verstand und Sinnlichkeit fungiert. 3. Kants Bestimmung des Geschmacksurteils als ref lektierendes Urteil, ist Thema der in Sektion III versammelten Beiträge. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht die Frage, von welchen Voraussetzungen Kants Theorie des ref lektierenden Urteils getragen wird. Sowohl in dem Beitrag von F. Hughes: »The Technic of Nature: What is involved in judging?« (176-191) als auch in dem Beitrag von F. Floyd: »Heautonomy: Kant on Ref lective Judgement and Systematicity« (192-218) geht es

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dabei um die Klärung, ob und inwiefern mit dem zugrundeliegenden Prinzip der Technik der Natur ein über den Rahmen der allgemeinen Naturgesetzgebung hinausgehendes Zusammenstimmen von Natur und Erkenntnis möglich ist. Hebt vor allem F. Hughes die Notwendigkeit eines solchen Prinzips für die Erkenntnis der empirischen Welt hervor, so betont A. Marques in seinem Beitrag: »Ref lection and Fiction in Kant’s Aethetics« (219-228) stärker den fiktiven Charakter des ref lektierenden Urteils. 4. Von ganz unterschiedlichen Ansätzen und Interpretationsabsichten geleitet verbindet die unter IV versammelten Beiträge das Bemühen, die Struktur und konstitutiven Elemente des ästhetischen Urteils zu bestimmen. Den Auftakt bildet der Beitrag von R. Brandt: »Zur Logik des ästhetischen Urteils« (229-245), der mit einer philosophiehistorischen Verortung der »Kritik der Urteilskraft« gleich zu Beginn die Originalität der urteilsbezogenen Ausrichtung der Kantischen Ästhetik heraushebt. Als Fazit seiner Überlegungen bleibt vor allem folgendes festzuhalten: Kants Abgrenzung des ästhetischen vom logischen Urteil bleibt aufgrund der Unentschiedenheit hinsichtlich der Subjekt- oder Objektbestimmtheit des Formbegriffs ambivalent. Durch die explizite Einbeziehung des Erhabenen thematisch weit gefaßter und auch von den philosophischen Konsequenzen her weitreichender ist der Beitrag von J. Simon: »Erhabene Schönheit. Das ästhetische Urteil als Destruktion des logischen« (246-274). Kants Diktum aufgreifend, daß das kritische Geschäft erst in der »Kritik der Urteilskraft« zu ihrem Ende geführt werde, avanciert die Deutung des ästhetischen Urteils zum Schlußpunkt einer denkerischen Bemühung, die Kant von der ersten über die zweite bis hin zur dritten Kritik geführt hat. Diesen Weg der Kritik versteht Simon, und darin liegt die Originalität seiner Lesart, als »Destruktion der Metaphysik« – genauer: als Zurückweisung ihres grundsätzlichen Anspruches, nämlich das selbst nicht mehr zeichenhaft oder ästhetisch gegebene »wahre Sein« der Dinge im Urteil erfassen zu können. Mit der Einsicht in die Subjektivität und Horizontbedingtheit unserer Erkenntnis wird dieser Vorstellung bereits in der »Kritik der reinen Vernunft« die Legitimationsbasis entzogen und damit der erste Schritt in Richtung einer »Destruktion des Logischen« vollzogen. Die Überwindung des logischen Erkenntnisideals bedeutet zugleich die Befreiung des Ästhetischen aus der logischen Umklammerung, wie Simon am Beispiel der Kunst, aber auch der schönen und erhabenen Natur zeigt. Ihren systematischen Ausdruck finde diese Freiheit des Ästhetischen gegenüber dem verstandesmäßigem Zugriff in der entlang der Titel der Kategorientafel geführten Entfaltung des Schönen, die Simon dem gängigen Verständnis entgegen gerade nicht als quasi-logische Bestimmung des Schönen deutet, sondern vielmehr als »vierfache Aufhebung der Formen jeder Bestimmung« (256). Im Modus der Aufhebung logisch-fixierender Bestimmung erfaßbar, zeigt sich das Schöne damit in einem »freien Spiel von Zeichenversionen« (ebd.). Und es ist gerade diese »Freiheit gegenüber allen getroffenen Bestimmungen« (274), die die Destruktion der Urteilsform als positive Konsequenz mit sich führt. Die Überwindung des metaphysischen Erkenntnisideals, so wie sie Kant in

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der »Kritik der Urteilskraft« vollzieht, öffnet damit allererst den Blick für die unüberbietbare Freiheit des Subjektes. Die Beiträge von S..Foisy: »Le sensus aestheticus est-il ›quasi-transcendental‹?« (275-296), R. Gasché: »Transcendentality, in Play« (.297-312) und E. Garroni: »Une faculté à acquerir: sens et non-sens dans la Troisième Critique« (313-324) behandeln das mit dem ästhetischen Urteil verbundene Themenfeld: Spiel der Erkenntniskräfte, Gemeinsinn und allgemeine Mitteilbarkeit. Sie sind damit stärker auf Einzelaspekte des ästhetischen Urteils bezogen. S..Foisy betont die Doppelgesichtigkeit des Kantischen sensus communis. Weil in dessen Konzept auch empirische Momente berücksichtigt würden, solle man – so Foisy – besser von einem »quasi-transzendentalem« Status des sensus communis sprechen. E. Garroni macht einen weiteren Vorschlag in seiner Analyse von Urteilskraft und Gemeinsinn: Der Gemeinsinn könne, weil er keine »condition donnée definitivement« sei, als »devoir transcendental« (322) begriffen werden. R. Gasché richtet sein Augenmerk dagegen auf das »Spiel der Erkenntniskräfte« als dem entscheidenden Bestimmungsgrund, von dem her die allgemeine Mitteilbarkeit und der transzendentale Status des ästhetischen Urteils allererst verbürgt werde. 5. In Sektion V sind Beiträge zu finden, die in einem engen Diskussionszusammenhang stehen. Gemeinsames Thema ist die viel und kontrovers diskutierte Frage, ob und inwiefern die im § 59 hergestellte Beziehung zwischen Schönheit und Moralität verträglich ist mit Kants Analytik des Schönen. Wie nicht anders zu erwarten, divergieren auch hier die Deutungsversuche in erheblichen Maße und bestätigen damit auf eindringliche Weise, daß die angemessene Interpretation dieses Zusammenhangs nach wie vor als offene Frage der Kantforschung anzusehen ist. Dennoch teilen die Beiträge als gemeinsames Grundanliegen den Versuch, die Konsistenz zwischen der Autonomie ästhetischer Erfahrung einerseits und ihrer Beziehung zum moralisch Guten andererseits nachweisen zu wollen. Die Bandbreite der hier vorliegenden Ansätze läßt sich exemplarisch am besten durch die Beiträge von P. Guyer: »The Symbols of Freedom in Kant’s Aethetics« (338-355) und B. Recki: »Das Schöne als Symbol der Freiheit« (386-402) ermessen. Der Beitrag von P. Guyer, der die symbolische Deutung des Erhabenen miteinbezieht, versucht die Kompatibilität von autonomer ästhetischer Erfahrung mit ihrer auf das Moralische bezogenen symbolischen Deutung im Grunde dadurch zu erweisen, daß er insgesamt die Sphäre des Ästhetischen in die Nähe des Moralisch-Praktischen rückt. In einem ersten Schritt zeigt Guyer, daß die symbolische Verwendung des Ästhetischen selbst als eine »experience of the freedom of imagination« (353) anzusprechen sei und damit der behaupteten »Autonomy of the Aesthetic« (352) nicht widerspreche. In einem zweiten Schritt schließt er dann in wenig überzeugender Weise vom Primat der praktischen Vernunft auf eine prinzipielle Abhängigkeit des Ästhetischen vom MoralischPraktischen. Obwohl auch B. Recki die Möglichkeit einer symbolischen Deutung des Schönen vom Begriff der Freiheit her zu verstehen sucht, betont sie uneingeschränkt die ästhetische Autonomie. So verweise die Freiheit, die im spielerischen Gemütszustand erfahren werde, zwar auf die moralisch-praktische Freiheit, den-

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noch werde das Schöne dadurch nicht »im nachhinein doch noch unter moralische Ansprüche« (391) gestellt. Vielmehr müsse – so das überzeugende Argument Reckis – die Autonomie des Ästhetischen gerade für die moralisch-symbolische Deutung vorausgesetzt werden. 6. Das Besondere der in Sektion VI zusammengestellten Beiträge liegt in der Konfrontation von Beiträgen, die, wie H. Parret es formuliert, einem »classic, ›German academic‹ style« (XXV) verpf lichtet sind und solchen Beiträgen, die von einem »analytischen Ansatz« geprägt werden. Stellvertretend für die letzteren soll im folgenden auf die Beiträge von R. Meerbote: »The Singularity of Pure Judgments of Taste« (415-430) und K. Ameriks: »New Views on Kant’s Judgment of Taste« (431447) eingegangen werden. An ihnen zeigt sich, was charakteristisch ist für die angelsächsisch-analytische Lesart Kantischer Philosophie: weniger die nachvollziehende und immanente Textdeutung als vielmehr eine im Dienste der logischen Rekonstruktion vorgenommene Reformulation Kantischer Argumente zu verfolgen. Wie weitgehend solche reformulatorischen Eingriffe sein können, demonstrieren auf eindringliche Weise die Ausführungen zum Geschmacksurteil. Beiden Autoren geht es um den Nachweis, daß Kants These von der Singularität und nicht-begriff lichen Art des Geschmacksurteils unvereinbar ist mit der zugleich unterstellten allgemeinen Mitteilbarkeit. Und beide Autoren versuchen Argumente für die Unmöglichkeit des nicht-logischen Charakters des ästhetischen Urteils aufzubieten, um damit – gegen Kant – den propositionalen Charakter und sogar die Objektivität (Ameriks) ästhetischer Erfahrung aufzudecken. Ganz anders verfährt D. Lohmar in seinem Beitrag: »Das Geschmacksurteil über das faszinierend Hässliche« (498-512) mit strittigen Punkten der Kantdeutung. Mit Rekurs auf die »Analytik des Erhabenen« versucht Lohmar die problematische und von Kant nicht ausgeführte Bestimmung des Häßlichen mit ›kantimmanenten‹ Interpretamenten fortzusetzen. 7. Ästhetische Idee, das Erhabene und das Genie sind die wichtigsten Themenfelder, die in Sektion VII behandelt werden. Der Beitrag von F. Proust: »Les idées esthétiques« (513-529) zeichnet sich durch einen kritischen Umgang mit bestimmten Topoi der Kant-Rezeption aus. Er richtet sich gegen die Tendenz, die Wirksamkeit aufklärerischer Ideale in der dritten Kritik zu überbetonen. Proust leugnet nicht generell den aufklärerischen Impetus der Kantischen Philosophie, wie ihn H. Arendt durch ihre Verbindung von Geschmackslehre und aufklärerischem Bildungsideal meint nachweisen zu können. Sie wendet sich aber gegen die Einseitigkeit dieser Lesart. Denn mit der »Analytik des Erhabenen«, der Kantischen Genielehre und den damit verbundenen Ausführungen zur ästhetischen Idee liegen nach Proust Theorieteile vor, die jenseits aller philosophiehistorischen Klassifikation von aktueller Bedeutung, insbesondere für das Verständnis der modernen Kunst, sind. Grenzt Proust damit – ähnlich wie Lyotard – die Domäne des Erhabenen und des Genies strikt von der Geschmackslehre ab, so versucht der Beitrag von D. Lories: »Génie et goût: complicité ou conf lit? Autour du par. 50 de la Troisième Critique« (564-593) gerade die Notwendigkeit der Verbindung von Geschmack und Genie für den

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künstlerischen Prozeß aufzudecken. Der Beitrag von R. A. Makkreel: »On Sublimity, Genius and the Explication of Aethetic Ideas« (615-629) sieht wiederum im Erhabenen die eigentliche Quelle des Künstlerischen. Auch dieser Beitrag bestätigt damit, daß gegenwärtig im philosophischen Gespräch dem Erhabenen besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird und als derjenige Ansatzpunkt betrachtet wird, von dem her die Kantische Ästhetik ihre philosophische Aktualität bezieht. 8. In Sektion VIII geht es um die viel diskutierte Frage, ob und inwiefern die »Kritik der Urteilskraft« auch eine ›Theorie der Kunst‹ sei. Der gängigen Auffassung entgegen versucht Ch. Fricke (674-689) durch die umsichtige Interpretation einschlägiger Textstellen zu zeigen, daß der Kantische Text nicht nur eine Kunsttheorie enthalte, sondern daß diese sogar für die Beschreibung und Erklärung gegenwärtiger Kunstproduktion geeignet sei. Der Beitrag von W. Biemel: »Le fondement philosophique de l’art non-figuratif par Kant« (690-700) demonstriert eine ähnliche Einstellung. Nach Biemel können Kants Überlegungen zur Kunst sogar als philosophische Grundlage der modernen, abstrakten Kunst begriffen werden. Die in Sektion IX versammelten Beiträge untersuchen philosophiehistorische bzw. rezeptionsgeschichtliche Bezüge. Hervorzuheben sind die Beiträge von B. Bradl: »Der intuitive Verstand, ein Prinzip der ästhetisch ref lektierenden Urteilskraft« (721-736) und von P. Walder Prado: »Politiques du jugement. La troisième Critique, de Schiller à Adorno« (737-747). In beiden Beiträgen geht es um die Zurückweisung bestimmter Rezeptionsweisen der Kantischen Ästhetik. So zeigt Bradl durch einen genauen Textvergleich, daß es sich bei der Hegelschen Lesart der »Kritik der Urteilskraft« um eine von Mißverständnissen getragene und verkürzte Textdeutung handelt. Walder Prado weist dagegen – im Einklang mit Adorno – die durch Schiller zum Programm einer »ästhetischen Erziehung« ausgearbeiteten Schönheits- und Geschmackslehre als Restbestand aufklärerischer Philosophie zurück. Von gegenwärtiger Bedeutung sei allein – und das knüpft an einige der oben vorgestellten Beiträge an – die Kantische Analytik des Erhabenen. Die »Kritik der Urteilskraft« aufgrund ihrer semantischen und syntaktischen Besonderheiten als einen unübersetzbaren Text auszuweisen, ist das Anliegen des abschließenden Beitrags (Sektion X) von R. Kloepfer: »Cultures de langues philosophiques: les traductions francaises de la Troisième Critique de Kant« (748-764). Ohne Frage: Dieser Sammelband bietet viele Anregungen und eröffnet sicherlich auch einige weiterführende Deutungsperspektiven. Das ist bei der Fülle der hier vorliegenden Beiträge auch nicht anders zu erwarten. In der Logik eines solchen auf Vielfalt hin ausgerichteten Programms liegt aber auch die Gefahr allzu großer Heterogenität – eine Gefahr, die der Herausgeber nicht nur gesehen hat, sondern sogar bewußt eingeht: »The book you hold front of you could be seen as a heterogeneous ensemble of articles, touching on too many topics, the result of too many methodologies. It was indeed the intention in assembling this anthology to be ›ecumenical‹« (XXXVI). Diesem Vorhaben kann man Plausibilität abgewinnen, jedenfalls dann, wenn man wie H. Parret es als wichtige Aufgabe an-

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sieht, ein repräsentatives Bild gegenwärtiger Kantforschung nachzuzeichnen. Eine Auseinandersetzung mit der »Kritik der Urteilskraft« aufzuzeigen, die in unterschiedlichen Ansätzen eine Annäherung an das Kantische Werk und deren verschiedenen thematische Schwerpunkte sucht, dieses Unterfangen hat sicherlich seine Berechtigung. Sie zeigt sich aber gerade dann in ihrem vollen Ausmaß und läßt dieses Unternehmen als geglückt erscheinen, wenn nicht nur die Heterogenität der Standpunkte und Methoden betont wird, sondern auch Zusammenhänge und Bezüge zu erkennen sind. Um solche zu finden, sollte der Leser auf die informative Einleitung des Herausgebers zurückgreifen. Sie versucht diesem Desiderat durch eine synoptische Darstellung der zu erwartenden Beiträge abzuhelfen und zeigt darin, über alle Verschiedenheit der Themen und Methoden hinaus, Verbindungslinien und Diskussionszusammenhänge auf. Brigitta von Wolff-Metternich

ZU DEN AUTOREN

Georg W. Bertram, geb. 1967, Studium der Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte in Gießen. Promotion 1997. Wiss. Mitarbeiter und Lehrbeauftragter am Zentrum für Philosophie und Grundlagen der Wissenschaft der Justus-Liebig-Univ. Gießen. Veröffentlichungen: Verschriebene Rahmung. Georg Lukács‹ frühe Ästhetik (1993); Philosophie des Sturm und Drang. Eine Konstitution der Moderne (2000); Hermeneutik und Dekonstruktion. Konturen einer Auseinandersetzung der Gegenwartsphilosophie (erscheint 2001). Herausgabe mit Thomas Bedorf u.a.: Undarstellbares im Dialog (1997); mit Stefan Blank und Agata Zielinsiki: Qu’est-ce que le politique (erscheint 2001); Aufsätze zur französischen Philosophie, zur Sprachphilosophie und zur Ästhetik. Beate Bradl, geb. 1960, Studium der Philosophie, Germanistik und Politikwissenschaft in Heidelberg, 1996 Promotion in Philosophie. Veröffentlichungen: »Erkenntnis überhaupt« in empirischen Erkenntnisurteilen und reinen Geschmacksurteilen: Überlegungen zu § 21 der Kritik der Urteilskraft. In: Proceedings of the Eighth International Kant Congress. Ed. H. Robinson (1995); Der intuitive Verstand, ein Prinzip der ästhetisch reflektierenden Urteilskraft? Zu Hegels Rezeption von Kants Kritik der Urteilskraft. In: H. Parret (Hrsg.): Kants Ästhetik / Kant’s Aestetics / L’estétique de Kant. (1998). Die Rationalität des Schönen bei Kant und Hegel (1998). Andrea Esser, geb. 1963, Studium der Philosophie, Psychologie und Politik in München, 1994 Promotion in Philosophie. Seit 1995 wiss. Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der LudwigMaximilians-Univ. München. Seit 2000 wiss. Assistentin an der Akademie der bildenden Künste München. Arbeitsgebiete: Ästhetik, Ethik, Rechtsphilosophie, Semiotik. Veröffentlichungen: (Hrsg.) Autonomie der Kunst? (1995); Kunst als Symbol (1997). Ist Marcel Duchamps Das Große Glas ein ästhetisches Zeichen? In: A. Eckl /D.Kemper/U. Rehm (Hrsg.): Marcel Duchamp. Das Große Glas (2000). Ursula Franke, geb. 1925, Ausbildung und Tätigkeit als Schauspielerin und Journalistin, Studium der Philosophie, Germanistik, Kath. Theologie in Münster. 1971 Promotion in Philosophie, wiss. Mitarbeiterin im Editorenteam der Leibniz-Forschungsstelle der Univ. Münster (bis 1991 Bearbeitung der Philosophischen Schriften und Briefe (Akademie-Ausgabe), bis 1997 Lehrauftrag am Philosophischen Seminar der Univ. Münster. Veröffentlichungen: Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik A.G. Baumgartens (1972); Aufsätze (zuletzt): Dramaturgische Typik der Affekte. J.J. Engels Beitrag zu einer Ästhetik der Schauspielkunst um 1800. In: S. Blasche u.a., Forum Philosophie Bad Homburg (Hrsg.), Sorgfalt des Denkens. Festschrift für Brigitte Scheer (1995); Emanzipation des Plastischen. Die Wende zur Natur bei C. Brancusi, H. Arp, H. Moore. In: Ästhetik und Naturerfahrung, hrsg. v. J. Zimmermann (1996); Bausteine für eine Theorie ornamentaler Kunst. Zur Autonomisierung des Ornaments bei K. Ph. Moritz. In: Ornament und Geschichte. Studien zum Strukturwandel des Ornaments in der Moderne, hrsg. v. U. Franke u. H. Paetzold (1996) (ZS für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Beiheft 2); Zeichenkonzeptionen in der Kunstphilosophie und Ästhetik. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert. In: Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur Vol. 2, hrsg. v. R. Posner, K. Robering, Th.

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A. Sebeok (1998); »Umherwandeln unter Symbolen«. Zur Bedeutung des Labyrinths im Lustgarten Ludwig XIV. In: Vom Parergon zum Labyrinth, hrsg. v. G. Raulet und B. Schmidt (erscheint 2001); Bildung/Erziehung, ästhetische. In: Ästhetische Grundbegriffe, hrsg. v. K. Barck, M. Fontius u.a. Bd. 1 (2000). – Aufsätze zu Leibniz’ Philosophie sowie Beiträge zu Ausstellungskatalogen zeitgenössischer Künstler. Christel Fricke, geb. 1955, Studium der Philosophie und der Romanistik in Heidelberg und Poitieres, 1988 Promotion, 1999 Habilitation, Forschungsaufenthalte am Churchill College in Cambridge und am Department of Philosophy, Columbia University. Seit 1999 Privatdozentin an der Univ. Heidelberg. Gastprofessuren an der Staatsuniversität in Porto Alegre, Brasilien, und an der Emory University in Atlanta, USA. Veröffentlichungen: Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils (1990); Ästhetische Erfahrung als Zeichenprozess – Eine konstruktive Kritik an Nelson Goodmans Ästhetik und Zeichentheorie (im Druck); Kants Theorie der schönen Form. In: G. Funke (Hrsg.): Akten des 7. Internationalen Kant-Kongresses (1991); Von der Theorie des Geschmackurteils zur Philosophie der Kunst. In: Ch. Fricke, P. König, T. Petersen (Hrsg.): Das Recht der Vernunft. Kant und Hegel über Denken, Erkennen und Handeln (1995). (Hans Friedrich Fulda zum 65. Geburtstag); The Good, the Bad and the Ugly. In: Proceedings of the Eighth International Kant Congress (1995). Vol. I. Part 2; Der Augenzeuge und der Polizist. Ein Beitrag zu der Debatte über die quasi-bildlichen Vorstellungen. In: Ch. Hubig u. H. Poser (Hrsg.): Cognitio Humana – Dynamik des Wissens und der Werte. XVII. Deutscher Kongress für Philosophie (Leipzig September 1996). Beiträge Bd. 2; Kants Theorie der schönen Kunst. In: H. Parret (Hrsg.), Kants Ästhetik / Kant’s Aesthetics / L’esthétique de Kant (1998); Monroe C. Beardsley und Frank Noel Sibley (Artikel) in: J. Nida-Rümelin u. M. Betzler (Hrsg.), Ästhetik und Kunstphilosophie (1998). – Zahlreiche Rezensionen und Übersetzungen. Renate Homann, 1942-2000, Studium der Germanistik und Philosophie mit den Schwerpunkten Neuere deutsche Literatur und philosophische Ästhetik, 1975 Promotion; 1982 Habilitation, Privatdozentin für Neuere deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der LudwigMaximilians-Univ. München. Veröffentlichungen: Selbstreflexion der Literatur. Studien zu ausgewählten Dramen von G. E. Lessing und H. v. Kleist, München 1986; Theorie der Lyrik. Heautonome Autopoiesis als Paradigma der Moderne, Frankfurt a.M. 1999. Literatur und Erkenntnis. Robert Musils Erzählung »Tonka«. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 59, 1985; Literatur als inhärente Komparatistik. Gottfried Benns Gedicht »Orpheus’ Tod«. In: Germanisitik und Komparatistik. DFG-Symposion 1993, hrsg. von H. Birus, Stuttgart, Weimar 1995; Unterkomplexe Autopoiesis. Zu Peter Fuchs’ systemtheoretischer Betrachtung von Kunst und Literatur. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 21, 1996; Rationalität und Literaturwissenschaft: Die Rationalität der Literatur. In: Karl Poppers Kritischer Rationalismus, hrsg. von I. Pies und M. Leschke (1999); Literatur: Verfassung als Mündigkeit. In: ... was es bedeutet, verletzbarer Mensch zu sein. Festschrift für Helmut Peukert, hrsg. von S. Abeldt u.a. (2000). Jane Kneller, geb. 1954, Studium der Philosophie in Rochester (PhD. 1984) un der Germanistik in Cincinnati, war Assistant Professor an der State University of New York-Oswego, University of Minnesota at Duluth und Colorado State University, 1994-98 Vice President der North American Kant Society, seit 1998 Associate Professor of Philosophy an der Colorado State University. Veröffentlichungen: Autonomy and Community: Readings in Contemporary Kantian Social Philosophy (1998), hrsg. in Zusammenarbeit mit S. Axinn; Beauty, Autonomy and Respect for Nature. In: Kants Ästhetik / Kant’s Aesthetics / L’esthétique de Kant, hrsg. v. H. Parret (1998); The Aesthe-

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tic Dimension of Kantian Autonomy. In: Feminist Perspectives on Kant hrsg. v. R. Schott (1997); Romantic Conceptions of the Self in Hölderlin and Novalis. In: Figuring the Self: Subject, Individual, and Spirit in Classical German Philosophy, hrsg. v. G. Zöller u. D. Klemm (1996); The Failure of Kant’s Imagination. In: What is Enlightenment: Texts and Interpretations, hrsg. v. J. Schmidt (1996); Imaginative Freedom and the German Enlightenment, In: Journal of the History of Ideas (1990); Übersetzungen: The completeness of Kant’s Table of Judgments v. Klaus Reich (mit M. Losonsky), The Battle of Reason with the Imagination von Gernot u. Hartmut Böhme. In: What is Enlightenment: Texts and Interpretations. Jens Kulenkampff, geb. 1946, Studium der Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte in Frankfurt a.M. und Heidelberg, 1973 Promotion, 1984–1996 Professor für Philosophie in Duisburg, seit 1996 Ordinarius für Philosophie in Erlangen. Veröffentlichungen: Kants Logik des ästhetischen Urteils (1987, 21994); Materialien zu Kants Kritik der Urteilskraft (1974); Hg. und Übersetzer von: David Hume, Abriß eines neuen Buches ... (1980), David Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand (1984, 1993); David 2 Hume, Vom schwachen Trost der Philosophie (1990, 1997) (in der Reihe Klassiker auslegen); David Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand (1997). Thomas Lehnerer, 1955-1995, Studium der Theologie, Philosophie, Kunstgeschichte und Pädagogik in München, Studium an der Akademie der Bildenden Künste München, 1984 Promotion in Theologie, 1986-1990 Lehrtätigkeit in München, Singapur, Gießen und Karlsruhe, 1991 Villa Massimo-Stipendium Rom, 1992 Habilitation im Fach Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Professor für Theorie und Praxis der Visuellen Kommunikation, Univ. Kassel. Seit 1981 zahlreiche Einzel- und Gruppenausstellungen. Veröffentlichungen: Die Theologie des Körpers. In: Mimmo Paladino. Städtische Galerie im Lenbachhaus. München 1985. Katalog; Kunst – Selbstzweck und Totalität. Über die Autonomie der Kunst gegenüber der Religion. In: Kunst und Kirche. Ökumenische Zeitschrift für Architektur und Kunst. 1/1987; Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers (1987); Denken in der Kunst. In: Kunst und Kirche 4/1988; Einige Leitgedanken zur Theorie: Methode der Kunst. In: W. Schmied (Hrsg.): Gegenwart Ewigkeit: Spuren des Transzendenten in der Kunst unserer Zeit (1990); »Ich antworte, daß ich mit dem Hirn und nicht mit den Händen male.« Überlegungen zum Phänomen der Künstlertheorie. In: W. Zacharias (Hrsg.): Schöne Aussichten? Ästhetische Bildung in einer technisch medialen Welt (1991); Methode der Kunst (1994). 22000. Herausgabe und Einleitung: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Ästhetik (1819/25). Über den Begriff der Kunst (1813/32) (1984). – Zahlreiche Texte über Thomas Lehnerer. Heinz Paetzold, geb. 1942, Professor an der Univ./GHS Kassel und an der Jan Van Eyck Akademie Maastricht. Veröffentlichungen: Neomarxistische Ästhetik (1974); Ästhetik des deutschen Idealismus (1983); Ästhetik der neueren Moderne (1990); Profile der Ästhetik. Der Status von Kunst und Architektur in der Postmoderne (1990); Ernst Cassirer zur Einführung (1993); The Discourse of the Postmodern and the Discourse of the Avant-Garde (1994); Die Realität der symbolischen Formen. Die Kulturphilosophie Ernst Cassirers im Kontext (1994); Ernst Cassirer: Von Marburg nach New York. Eine philosophische Biographie (1995); The Symbolic Language of Culture, Fine Arts, and Architecture. Consequences of Cassirer and Goodman (1994); Herausgeber von: A. G. Baumgarten: Meditationes (1983); Modelle für eine semiotische Rekonstruktion der Geschichte der Ästhetik (1987); Ornament und Geschichte. Studien zum Strukturwandel des Ornaments in der Moderne (1996), zus. mit Ursula Franke; City-Life. Essays on Urban Culture (1997).

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Birgit Recki, geb. 1954, Professorin für Philosophie in Hamburg; Arbeitsgebiete: Ethik, Ästhetik und Kulturphilosophie mit historischen Schwerpunkten im 18. Jh. und in der neueren Moderne; Mitbegründerin und Mitglied im wiss. Beirat der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik. Herausgeberin der Werke Ernst Cassirers. (Hamburger Ausgabe). Veröffentlichungen: Aura und Autonomie. Zur Subjektivität der Kunst bei Theodor W. Adorno und Walter Benjamin (1988); Ästhetik der Sitten. Die Affinität von ästhetischem Gefühl und praktischer Vernunft bei Kant (1998); Wie ästhetisch ist die Moderne Kunst? In: V. Gerhardt (Hrsg.): Sehen und Denken. Philosophische Betrachtungen zur modernen Skulptur (1990), 21997; Mimesis: Nachahmung der Natur. Kleine Apologie eines mißverstandenen Leitbegriffs. In: Kunstforum Bd. 114 (Imitation und Mimesis), hrsg. von H. U. Reck (Juli/August 1991); Das Schöne als Symbol der Freiheit. Zur Einheit der Vernunft in ästhetischem Selbstgefühl und praktischer Selbstbestimmung bei Kant. In: H. Parret (Hrsg.): Kants Ästhetik / Kant’s Aesthetics / L‹esthétique de Kant (1998); Rousseau (Artikel) in: J. Nida-Rümelin und M. Betzler (Hrsg.), Ästhetik und Kunstphilosophie (1998); Am Anfang ist das Licht. Elemente einer Ästhetik des Films. In: L. Nagl (Hrsg.): H. 10 der Wiener Reihe (1999); Der praktische Sinn der Metapher. In: F. J. Wetz und H. Timm (Hrsg.): Die Kunst des Überlebens. Nachdenken über Hans Blumenberg (1999); Herausgeberin von Bild und Reflexion. Paradigmen und Perspektiven gegenwärtiger Ästhetik, zus. mit Lambert Wiesing (1997). Wolfgang Ruttkowski, geb. 1935, Studium der Germanistik, Geschichte, Philosophie und Theaterwissenschaft in Göttingen, Wien, Berlin und Montreal. 1963-1983 Lehrtätigkeit in Montreal, Los Angeles, New York, Tokio und Philadelphia, seit 1983 Professor an der Sangyo Univ. Kyoto. Veröffentlichungen: Das literarische Chanson in Deutschland (1966); Die literarischen Gattungen. Reflexionen über eine modifizierte Fundamentalpoetik (1968); Typen und Schichten. Zur Einteilung des Menschen und seiner Produkte (1978); Das Problem der konkreten Poesie. In: Protokoll 14 (1990); Der Geltungsbereich unserer literarischen Sachbegriffe. In: Wagenknecht (Hrsg.), Zur Terminologie der Literaturwissenschaft (1986); Probleme beim Vergleich von Literaturterminologien. In: Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses 4 (1991); Das Dirnenlied. Beschreibung einer Gattung. In: Acta Humanistica 25/2. Human. (März 1995). Jens Schröter, geb. 1970, Studium der Film- und Fernsehwissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte in Bochum, wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Theorie und Geschichte der Fotografie an der Univ./GHS Essen. Arbeitet an Dissertation zur Geschichte der Computerutopien. Veröffentlichungen: Das Film-Ich. Anmerkungen zu Telephonen und Plattenspielern in Maya Derens Meshes of the Afternoon (USA 1943). In: Der Schnitt, Nr. 11 (3/98), 1998; Intermedialität. Facetten und Probleme eines aktuellen medienwissenschaftlichen Begriffs. In: montage/av, Jg. 7, Nr. 2, 1998; Digitale Perspektive. In: M. Schmitz-Emans und K. Röttgers (Hrsg.), Perspektive in Literatur und bildender Kunst, Philosophisch-Literarische Reflexionen Band 1 (1999); Das Malen des Malens. Malerische Darstellungen des Malprozesses von Vermeer bis Pollock. In: Kritische Berichte 1/99; Was ist Film? Zwischenspiele zwischen André Bazin und Chris Marker. In: N. Binczek und M. Rass (Hrsg.), ... denn sie wollen sein, was sie sind, nämlich Bilder. Anschlüsse an Chris Marker (1999); Ein Körper der Zukunft. Zur Geschichte, Semantik und Implikationen der Morphingkörper. In: D. Schumacher-Chilla (Hrsg.), Das Interesse am Körper (2000). Jürgen Stolzenberg, geb. 1948, 1986 Promotion, 1993 Habilitation, seit 1998 Professor für Philosophie an der Martin Luther Univ. Halle-Wittenberg. Veröffentlichungen: Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung. Die Entwicklung in den Wissenschaftslehren von 1793/94-1801/02 (1986); Ursprung und System. Probleme der Begründung systematischer Philosophie im Werk Hermann Cohens, Paul Natorps und beim frühen Martin

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Heidegger (1995); Das Selbstbewußtsein einer reinen praktischen Vernunft. Zu den Grundlagen von Kants und Fichtes Theorien des sittlichen Bewußtseins. In: D. Henrich und R.-P. Horstmann (Hrsg.): Metaphysik nach Kant? Stuttgarter Hegelkongress 1987 (1988); Fichtes Satz »Ich bin«. Argumentanalytische Überlegungen zu Paragraph 1 der »Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre« von 1794/95. In: Fichte-Studien Bd. 6 (1994); Subjektivität und Leben. Zum Verhältnis von Philosophie, Religion und Ästhetik um 1800. In: W. Braungart, G. Fuchs, M. Koch (Hrsg.): Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. (3 Bde.) I: Um 1800 (1997); Joseph Addison (Artikel) in: J. Nida-Rümelin und M. Betzler (Hrsg.): Ästhetik und Kunstphilosophie (1998); Musik und Subjektivität. Oder: Vom Reden über das Musikalisch-Schöne. Ein Versuch mit Blick auf Kant. In: Subjekt und Methaphysik. Hrsg. v. J. Stolzenberg. (Erscheint 2001). (Festschrift für K. Cramer). Brigitta von Wolff-Metternich, geb. 1963, Studium der Philosophie, Mathematik und Germanistik in Bonn und Genf. 1993 Promotion, Lehrtätigkeit an der Univ. Bonn. Seit 1995 Hochschulassistentin am Philosophischen Seminar der Univ. Heidelberg. Habilitationsthema im Bereich der praktischen Philosophie. Veröffentlichungen zu den Fachgebieten Kant und Aufklärung, Philosophie der Mathematik und praktische Philosophie, u.a. Die Überwindung des mathematischen Erkenntnisideals. Kants Grenzbestimmung von Mathematik und Philosophie (1995).