Kants Begriff des Glücks [Reprint 2010 ed.] 9783110908121, 9783110177657

Beatrix Himmelmann demonstrates how much Kant did actually have to say on the theme of happiness, which he had allegedly

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Kants Begriff des Glücks [Reprint 2010 ed.]
 9783110908121, 9783110177657

Table of contents :
Vorwort
Einleitung
I. Die Frage nach dem Glück
II. Die Systemstelle des Glücksstrebens beim späten Kant
III. Praktische Philosophie als Philosophie der Freiheit
IV. Gibt es ein uneingeschränkt Gutes? Überlegungen des frühen Kant
V Das Gute und das Wohlergehen. Verhältnisbestimmungen
VI. Kant und die stoische Vorstellung des Glücks der Vernunft
VII. Maximen des Glücksstrebens
VIII. Einheit des Differenten. Die Verbindung von Glück und Moral in der Idee des höchsten Guts
Literaturverzeichnis
Sachregister
Personenregister

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Beatrix Himmelmann Kants Begriff des Glücks

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Kant Studien Ergänzungshefte im Auftrage der Kant-Gesellschaft herausgegeben von Gerhard Funke, Manfred Baum, Bernd Dörflinger und Thomas M. Seebohm

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Walter de Gruyter · Berlin · New York 2003

Beatrix Himmelmann

Kants Begriff des Glücks

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2003

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN3-11-017765-X Bibliograßsche Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über < http://dnb.ddb.de > abrufbar.

© Copyright 2003 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Kinspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Kinbandentwurf: Christopher Schneider, Berlin

Vorwort Entwürfe einer Ethik des guten Lebens haben zur Zeit Konjunktur. Sie verstehen sich in der Regel als Gegenentwürfe zur so genannten Pflichtethik Kants, in der die Frage nach dem Lebensglück keinen Platz haben soll. Weit verbreiteten Vorurteilen entgegen aber läßt sich zeigen, wie vieles und systematisch Erhebliches Kant zu dem angeblich verbannten Thema des Glücks zu sagen hat. Die vorliegende Arbeit, in der ich diesen Nachweis zu führen suche, ist die redigierte Fassung meiner Habilitationsschrift. Sie wurde im Sommersemester 2002 von der Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin angenommen. Zu danken habe ich allen, die mich in der Zeit ihrer Entstehung gefördert haben. An erster Stelle ist Volker Gerhardt zu nennen, der mich einlud, die Arbeit in Berlin und mit der Unterstützung des Instituts für Philosophie der HumboldtUniversität zu schreiben. Jederzeit konnte ich mich auf seinen guten Rat und seinen Beistand verlassen. Ebenfalls herzlich danken möchte ich den weiteren Gutachtern meiner Arbeit: Rolf-Peter Horstmann (Berlin), dessen Scharfsinn und Insistenz mir Anregung und Ansporn waren; Jürgen Stolzenberg (Halle/Saale), dessen engagierte Auseinandersetzung mit den von mir vorgetragenen Argumenten mich manches überdenken ließ; Odo Marquard (Gießen), meinem Doktorvater, Gerold Prauss (Freiburg i.Br.), meinem Lehrer in Münster. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft bin ich zu Dank verpflichtet für die Gewährung eines Habilitationsstipendiums, das die materiellen Voraussetzungen für die Abfassung dieser Untersuchung schuf. Sehr herzlich danke ich Dietmar Schenk (Berlin) für die kritische Durchsicht des Textes, der wirklich keine Schwäche entging. Wertvolle Hilfe bei den Korrekturen verdanke ich Gottfried Brütsch (Zürich), die fachkundige Einrichtung des Druckmanuskripts Fabian Schwade (Berlin). Nicht zuletzt möchte ich mich bei meiner Mutter, Hildegard Himmelmann (Münster), bedanken — für die unbeirrbare, großzügige Unterstützung meiner philosophischen Expeditionen. Berlin, im März 2003

Beatrix Himmelmann

Inhalt Vorwort Einleitung

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I. Die Frage nach dem Glück 1. VorbegrifFe des Glücks 2. Lebensentwurf und Lebenswirklichkeit 3. Innere und äußere Grenzen des Glücks 4. Zur Glücksfähigkeit 5. Glück und Selbstbestimmung

7 9 11 13 19 22

II. Die Systemstelle des Glücksstrebens beim späten Kant 6. Theoretische und praktische Philosophie 7. Der Wille und seine Prinzipien 8. Praktische Sätze in der theoretischen Philosophie 9. Die Problematik der Zuordnung des Glücksstrebens zur theoretischen Philosophie

25 27 28 29

III.Praktische Philosophie als Philosophie der Freiheit 10. Exposition des Problems der Freiheit 11. Freiheit und Natur 12. „Was soll ich tun?" 13. Bestimmung der Freiheit

35 37 39 44 51

IV. Gibt es ein uneingeschränkt Gutes? Überlegungen des frühen Kant . . . 14. Verbindlichkeit als Grundbegriff 15. Vernunft oder Gefühl? Der Ursprung der Verbindlichkeit 16. Selbstliebe und Liebe zum Guten: Die Differenz zwischen Glücksstreben und Moralität 17. Der eigene Wille und das Gute 18. Der gute Wille als Grund unbedingter Verbindlichkeit

55 57 59

31

6l 65 69

VIII

V

Inhalt

Das Gute und das Wohlergehen. Verhältnisbestimmungen 75 19. Der Widerstreit zwischen Moral und Glück 77 20. Moralische und nichtmoralische Gefühle der Lust und Unlust.... 81 21. Glück und „Seligkeit" 86 22. Das Wohlgefallen am Guten 88 23. Auf „eigner Wahl" beruhendes Glück 92 24. Moral als Form des Glücks 97 25. Das Glück der Freiheit oder: Über „Selbstzufriedenheit" 106

VI. Kant und die stoische Vorstellung des Glücks der Vernunft 26. Eudaimonie und Teleologie im Denken der Stoa 27. Kants Antwort auf die stoische Teleologie 28. Die „Zwecke der Neigung" und das Glück. Kantische und stoische Positionen 29. Der stoische Versuch der Entwertung des Unverfügbaren 30. Kants Kritik am stoischen Ideal der Autarkie

121 123 129 133 140 145

VII. Maximen des Glücksstrebens 149 31. Die Sorge um das Glück als „Auftrag" der praktischen Vernunft. . 151 32. Regeln der Klugheit 157 33. .Autokratie" und die Kultur des Begehrens 159 34. Affekt und Leidenschaft in ihrem Wert für das Glücksstreben . . . . 166 35. Zwei Begriffe vom Ganzen des Glücks 171 36. Tätiges Glück 179 VIII. Einheit des Differenten. Die Verbindung von Glück und Moral in der Idee des höchsten Guts 37. Der Begriff des höchsten Guts 38. Der Gedanke der Glückswürdigkeit 39. Die Idee des höchsten Guts als Triebfeder der Moral? 40. Die Einheit von Glück und Moral. Eine Begründung ihrer Attraktivität 41. Das höchste Gut und die Gerechtigkeit 42. Darf ich hoffen?

205 209 214

Literaturverzeichnis Sachregister Personenregister

223 231 235

191 193 199 203

Einleitung Seit einiger Zeit hat sich die Überzeugung verbreitet, daß eine Ethik des guten, des glücklichen Lebens der Rehabilitierung bedarf. Die Frage nach der gelingenden Lebensführung und nach dem Lebensglück scheint ungebührlich in den Hintergrund gedrängt worden zu sein. Dabei ist sie für die Begründer der philosophischen Ethik zweifellos zentral gewesen. Für die Philosophen der Antike spätestens seit Sokrates war sie der Bezugspunkt des Nachdenkens über das richtige Leben. In der modernen Ethik dagegen scheint eine andere Frage in den Mittelpunkt des Interesses getreten zu sein: die Frage nach dem, was zu tun unsere Pflicht ist, die Frage nach den Normen des Handelns. „Die antike Frage nach dem , dem bonum betraf das, was jeweils für den einzelnen gut ist, sein Wohl, das, worin sein Wollen sich wahrhaft erfüllen kann, die " Der „Gegenstand" der modernen Ethik „hingegen betrifft die intersubjektiven Normen. Die Fragestellung der antiken Ethik war: was ist es, was ich für mich wahrhaft will; die der modernen: was ist es, was ich mit Bezug auf die anderen soll." So stellt Ernst Tugendhat, idealtypisch zugespitzt, antike und moderne Ethik einander gegenüber.1 Als derjenige, der die so verstandene moderne Ethik entworfen und etabliert hat und der deshalb gewissermaßen für sie steht, gilt allenthalben Immanuel Kant.2 Er wird für die Verbannung des Eudaimonismus aus der Ethik verantwortlich gemacht und auch für die schwerwiegenden negativen Folgen, die für das Selbstverständnis des Menschen daraus entstanden sein sollen. So verwundert es nicht, daß viele Versuche, eine Ethik des guten Lebens wiederzubeleben, mit einer entschiedenen Absage an das Konzept Kants verbunden sind und zugleich an Modelle der antiken Philosophie anschließen. Einige der tendenziell negativen Kantbilder, die in der gegenwärtigen Debatte präsent sind und gegen die eine Untersuchung zum Begriff des Glücks bei Kant sich abzusetzen hat, sollen in aller Kürze vorgestellt werden. Zu den bekanntesten Vertretern einer Philosophie des gelingenden Lebens, die sich von Kant abgrenzt, gehört Martha Nussbaum. Sie geht von der vielfältigen Verwundbarkeit der menschlichen Existenz als einer Grundtatsache aus. Ob das Leben des Menschen gedeihen und Erfüllung finden kann, hängt durch und durch von Bedingungen ab, die jenseits seiner Verfügung liegen. Dennoch will er 1 2

Antike und moderne Ethik (l984), 43 f. So auch für Tugendhat; vgl. ebd., 38 ff.

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Einleitung

und hat er sein Leben selbst zu gestalten. Insbesondere in Konfliktsituationen, in die er jederzeit ohne sein Zutun geraten kann, zeigt sich die Zweischneidigkeit seines Daseins. Er kann einer Entscheidung nicht ausweichen, sondern muß sie auf sich nehmen, und gleichzeitig ist er der Macht der Kontingenz, der Tyche, unterworfen, in deren Hand Gelingen oder Scheitern seines Engagements und damit sein Glück oder Unglück liegt. Besonders in der Tragödie der Griechen sieht Nussbaum diesen unlösbaren Zusammenhang zwischen „luck and ethics" thematisiert und in der Darstellung entsprechender Schicksale gestaltet.3 Philosophisch reflektiert werde er weniger von Platon denn von Aristoteles.4 Während nach Nussbaum alles darauf ankommt, einen Sinn für die „Zerbrechlichkeit" des Guten zu entwickeln, gilt Kant ihr als Antipode eines solchen Bemühens.5 Für Kant sei die Moral unbestreitbar und in jedem Fall das wichtigste Gut im menschlichen Leben. Dabei will uns Kant Nussbaum zufolge fälschlicherweise glauben machen, daß das moralisch Gute vom Einbruch des Unverfügbaren, Kontingenten unangetastet bleibt. Dann aber gäbe es für uns ein verläßlich Gutes, an das wir uns jederzeit halten könnten. Diese Überzeugung macht Kant in Nussbaums Augen unempfindlich gegenüber der Wirklichkeit existentieller Dilemmata, aus denen wir niemals ,rein' hervorgehen. Kant jedoch nehme an, die innere Übereinstimmung und die Selbstachtung der moralisch guten Person, die — autonom — nur ihrem eigenen Gesetz folge, seien durch „bloße" Ereignisse in der Welt nicht zu beeinträchtigen. Wir müßten Kant jedoch entgegnen, daß — umgekehrt — der Akteur, der seine Prinzipien wirklich ernst nimmt, der Notwendigkeit ihrer Verletzung in bestimmten Situationen gar nicht ausweichen könne.6 Bornierte Selbstgerechtigkeit und Selbstzufriedenheit dessen, der sich seiner Moralität sicher ist, stehen so für Nussbaum gegen die Einsicht in die Fragilität des Guten, das - auch zu unserem Glück - Züge der Kontingenz und Unberechenbarkeit trage. Das Gewicht, das Gunst oder Ungunst des Zufalls für ein Gelingen des Lebens zukommt, betont auch Bernard Williams. Dabei weist er auf die Versuche der Philosophen hin, dieses Gewicht zu leugnen. Er fuhrt die Stoiker an, die das Glück als Produkt der Gelassenheit und Selbstgenügsamkeit des Weisen begriffen 3 Der Titel ihres einflußreichsten Buchs lautet: The Fragility of Goodness. Luck and Ethics in Greek Tragedy and Philosophy (1986,22001). 4 Dazu: D. Frede, Glück und Glas ... Martha Nussbaum über die Zerbrechlichkeit des Guten im menschlichen Leben (1997). 5 The Fragility of Goodness, 4 f, 31 f, 48 f et passim. - Im Vorwort zur zweiten, überarbeiteten Auflage (2001) ihres Buchs, deutet Nussbaum an, daß sie sich zu denen zählt, die dem Versuch einer Syndiese der besten Elemente der Aristotelischen und der Kantischen Ethik nicht ablehnend gegenüberstehen (XXV). Das ist vor dem Hintergrund der sehr deudichen und bisweilen pauschalen Kritik an Kant, die sie im Buch selbst artikuliert, überraschend. 6 Vgl. ebd., 49; vgl. auch 31 f.

Einleitung

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hätten. Gleichwohl hätten sie eine Begrenzung der absoluten Verfügbarkeit des Lebensglücks gelten lassen: Nicht jeder taugt zum Weisen, der Faktor der Kontingenz spielt also für das Glück eine nicht zu tilgende Rolle.7 Erst Kant ist es in Williams Augen gewesen, der diesen Faktor ausschalten wollte. Ohne jede Einschränkung hat Kant - Williams zufolge - das Gelingen oder Mißlingen des Lebens an dessen moralische Qualität gebunden. Die Moral gelte Kant als einzigartig wertvoll und als unbedingtgut. Ob er moralisch ist oder nicht, liege aber nach Kant ganz in der Macht eines jeden Menschen selbst. Die Fähigkeit dazu ist nämlich einem jeden mit seiner Vernunft gegeben. Dann jedoch wird das Gelingen des Lebens, da es als abhängig von der Moralität des Individuums gedacht wird, ganz unabhängig von allen Kontingenzen - der besonderen Herkunft, der glücklichen oder mißratenen Erziehung, ermutigenden oder hemmenden Lebensumständen. Für Williams hat die Idee einer ultimativen Gerechtigkeit, die aus Kants Denken spreche, durchaus etwas Verlockendes.8 Aber die Dinge verhalten sich seiner Ansicht nach nicht so einfach, wie Kant sie gezeichnet habe. Die moralische Qualität unseres Lebens kann weder als etwas gelten, das unbedingt gut ist, noch als etwas, das wir vollkommen in der Hand hätten. Das möchte Williams anhand von Beispielen, die Menschen in existentiellen Konflikten vorstellen, gegen Kant zeigen. Der Maler Paul Gauguin etwa steht vor der Frage, ob er seine von ihm geliebte Familie verlassen soll, um sein Talent zur Entfaltung zu bringen, um seine Möglichkeiten als Künstler auszuschöpfen. Das scheint ihm nur in der Umgebung einer buchstäblich anderen Welt, Ozeanien, realisierbar zu sein, wohin ihm die Familie nicht folgen mag. Wie er sich auch entscheidet, keine der Alternativen ist als unbedingt gut zu beurteilen, und er wird leiden.9 Kant hat für Williams dagegen das Ideal der „Reinheit" der Moral vertreten, und das sei ein falsches Ideal.10 Zudem gebe es im Denken Kants die verhängnisvolle Tendenz, das ganze Leben durch Pflichten bestimmt zu sehen. Stets seien wir aufgefordert, die unparteiische Perspektive der Moral einzunehmen. „How can an /that has taken on the perspective of impartiality be left with enough identity to live a life that respects its own interests? If morality is possible at all, does it leave anyone in particular for me to be?", fragt Williams.11 Wäre die Moral tatsächlich von unbedingtem Wert, so bedeutete dies nach Williams, daß sie wie die Substanz Spinozas allgegenwärtig wäre. Moralität aber sei gar nicht der fraglos höchste, der unbedingte Wert im 7 B. Williams, Moral Luck (l981), 20. 8 Vgl. ebd., 20 f. 9 Vgl. ebd., 22 ff. 10 Ebd. Vgl. auch: Ders., Ethics and the Limits of Philosophy (1985), Kap. 10 (dt. Ethik und die Grenzen der Philosophie [1999], 242 ff). 11 Ethics and the Limits of Philosophy, Kap. 4, 69 f (Ethik und die Grenzen der Philosophie, 103).

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Einleitung

menschlichen Leben, sondern einer unter anderen. Das nähmen wir, meint Williams, auch mit Erleichterung zur Kenntnis, wenn wir ehrlich sind.12 Als letzter derjenigen, die eine Ethik des guten Lebens wieder ins Recht setzen wollen und sich dabei in aller Deutlichkeit von Kant distanzieren, soll Hans Krämer zu Wort kommen. Das Kantische Paradigma einer Sollensethik hat nach Krämer die antike teleologische oder Strebensethik abgelöst: Bei Kant „kommt es zu einem konsequenten Bruch mit der philosophisch-ethischen Tradition seit Sokrates, indem moralische Leistung und Lebenserfiillung, die in bloße Glückswürdigkeit zurückgenommen wird, durch einen Hiat geschieden und in ein streng synthetisches Verhältnis zueinander gesetzt werden."13 Kant hat die Ethik zur Sollensethik gemacht. Deren „Imperativische Energie" aber entnehme Kant der Moraltheologie. Theonomie habe er durch die Autonomie des Vernunftwillens ersetzt. Die Vernunft rücke im Denken Kants zum Äquivalent Gottes auf, der seinerseits zu ihrem „Satelliten" herabgestuft werde. Die „profane Sollensethik" Kants ist für Krämer „ihrer Genesis nach eine radikalisierte theologische Ethik ohne Theologie". Genauer habe Kant den Gott der Moraltheologie durch „eine stolzierende Tugendautarkie und umgekehrt das Lebensziel eines geglückten Lebens (Eudämonie) durch ein quasi-theologisches unbedingtes Sollen jeweils substituiert und kompensiert." Es liege midiin „ein unbedingtes Sollen ohne Gott und eine Moralität ohne Glück vor."14 Krämer kommt zu dem Fazit: „Kants puristische, von Gott und Glück gleichermaßen gereinigte Sollensforderung mutet also dem moralischen Subjekt einiges zu: einen Hypertheologismus und Hypermystizismus, der beide, die orthodoxe Theologie wie auch die Theologie des amor purus, an Unbedingtheit und Selbsttranszendenz noch überbietet, und andererseits einen Hyperstoizismus, der von der weldosen Tugendautarkie der stoischen Ediik auch noch die immanente glückhafte Gewißheit ihrer selbst als Motivationsgrund wegnimmt."15 Der von Kant betriebenen „Entrechtung" der Strebensediik und dem durch Kant verursachten „Sündenfall" einer Identifizierung der Ethik mit einer Sollensediik, die auch zu einem partiellen Kompetenzverlust der Praktischen Philosophie geführt habe, muß nach Krämer „entschlossen" entgegengetreten werden.16 Die Aussichten für einen Versuch, die Frage nach dem Glück mit der Philosophie Kants sinnvoll zu verbinden, scheinen nach dem Gesagten trübe zu sein. Dennoch soll ein solcher Versuch im folgenden unternommen werden, zumal er nicht ganz ohne Vorbilder ist. In der deutschsprachigen Kant-Rezeption sind 12 13 14 15 16

Vgl. Moral Luck, 37 f. Vgl. hier und im folgenden: H. Krämer, Integrative Ethik (1995), 11. Ebd., 20. Ebd., 20 f. Ebd., 101.

Einleitung

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es vor allem Norbert Hinske und seine Schüler, die das Gelingen des Lebens, das Glück, als ein ra/VKant zu behandelndes Problem festgehalten haben.17 In der amerikanischen Kantforschung gibt es eine Tradition der Beachtung der Glücksthematik, die von John Silber18 bis Paul Guyer19 reicht. Die meisten der genannten Beiträge beleuchten an Kants Beschäftigung mit dem Gedanken des Glücks eher einzelne, wenn auch zentrale Gesichtspunkte: etwa die Antinomie der praktischen Vernunft und ihre mögliche Auflösung20 oder das Verständnis der Postulatenlehre. In der letzten Zeit waren es besonders die einschlägigen nachgelassenen Reflexionen Kants und die in ihnen erörterte Frage nach dem Verhältnis von Freiheit, Glück und Moral, auf die sich die Aufmerksamkeit der Interpreten konzentriert hat.21 Im folgenden soll eine Untersuchung gewagt werden, die sich dem Thema des Glücks ohne Begrenzung auf einen dieser Aspekte und dazu im Ganzen des schwierigen und von Brüchen nicht freien Kantischen Denkweges widmet. Es wird sich zeigen, daß Kant das Glück des Menschen als Thema der Philosophie dem Anschein entgegen nie fallengelassen hat. Zwar bildet es nicht das Fundament seiner Ethik. Das ist nach Kant unzweideutig das moralisch Gute, das er vom Guten der Erfüllung des Lebens, vom Glück, mit einleuchtenden Argumenten unterscheidet. Die mit Moralität und Glücksstreben verbundenen Ansprüche sind nicht identisch, obwohl sie beide berechtigt sind. Daran läßt Kant keinen Zweifel. Innerhalb der sich abzeichnenden Systematik seiner praktischen Philosophie bereitet ihm die Frage des Glücks dann allerdings Schwierigkeiten. Denn Kant konzipiert die praktische Philosophie als Philosophie der Freiheit des Menschen. Auch dessen Glück ist zwar ohne die Freiheit zum je eigenen Lebensentwurf nicht zu denken. Doch ersichtlich geht es darin niemals auf. Kant betont — anders als manche seiner Kritiker meinen — sehr wohl die Kontingenzen des Glücks, die „Fragilität" der Lebenserfullung, und er setzt sich in diesem Punkt klar von Positionen antiker Philosophie, insbesondere der stoischen ab. 17 Vgl. die im Literaturverzeichnis aufgeführten Titel von Norbert Hinske, Michael Albrecht, Clemens Schwaiger, wobei die thematisch einschlägige Arbeit Schwaigers nicht Kant, sondern Christian Wolff gewidmet ist. 18 Vgl. seine Aufsätze Kant's Conception of the Highest Good as Immanent and Transcendent (1959), The Importance of the Highest Good in Kant's Ethics (1963). 19 Vgl. die jüngst erschienene Sammlung von Essays Kant on Freedom, Law, and Happiness (2000), von denen drei thematisch einschlägig sind. Zum Teil waren sie bereits in deutschen Übersetzungen Zuganglieh. 20 Neben der von M. Albrecht vorgelegten grundlegenden Studie vgl. zu diesem Problem jetzt auch: B. Milz, Der gesuchte Widerstreit. Die Antinomie in Kants Kritik der praktischen Vernunft (2002). 21 Vgl. die Artikel von M. Forschner, Moralität und Glückseligkeit in Kants Reflexionen (1988); G. Römpp, Kants Ethik als Philosophie des Glücks (1991); P. Guyer, Freedom as the Inner Value of the World (2000) ( dt. Freiheit als „der Innere Werth der Welt" [1995]).

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Einleitung

Kant versagt es sich, die Ansprüche der Moral und das Verlangen nach Glück zu harmonisieren. Dabei hätte sich eine solche Lösung des Problems, die er in unveröffendichten Texten auch erprobt, der Systematik seiner Ethik gut eingefügt. Im Festhalten der Spannung zwischen Glück und Moral aber liegt ein durchaus bestechendes Element des Kantischen Ansatzes. Zumal er mit der Idee des höchsten Gutes auch den Gedanken ihrer Einheit nicht preisgibt. Freilich wenden Kritiker ein, daß Kant unsere Hoffnungen auf das Glück nur noch mit einer Idee verbinde und ihre mögliche Erfüllung damit von vornherein in die Ferne rücke, wenn nicht in ein Jenseits verschiebe. Doch wir werden sehen, daß sich mit Kant Maximen des Glücksstrebens formulieren lassen, durch die wir unserem irdischen Leben eine — nicht nur moralische — Orientierung geben können. Daß Kant über alle Möglichkeiten empirischen Glücklichseins hinaus den Horizont einer Vollendung, eines Ganzen der Lebenserfüllung offenhält, könnte sich dabei geradezu als ein Vorzug gegenüber gegenwärtigen Theorien des guten Lebens erweisen, die diese Dimension in aller Regel ausblenden.

I. Die Frage nach dem Glück

l. Vorbegriffe des Glücks Was versteht Kant unter Glück? Zwar hat Kant verschiedentlich darauf hingewiesen, daß anders als die Definitionen der Mathematik die Begriffsbestimmungen oder „Expositionen" der Philosophie einem Argumentationsgang nicht vorangestellt werden sollten, sondern ihn abschließen müssen.1 Dennoch soll im folgenden in deskriptiver Absicht zur Darstellung kommen, was Kant mit dem oder den Begriffen des Glücks bezeichnet. Denn sonst wüßten wir allenfalls vage, wovon die Rede ist, wenn wir das Won Glück mit Blick auf Kant im Munde fuhren. Am Anfang unserer Überlegungen steht deshalb eine knappe und exemplarische Übersicht der Weisen, vom Glück zu sprechen, die sich in Kants Texten finden. Auffällig ist, daß er nicht allein den Terminus „Glück" benutzt, sondern daneben den der „Glückseligkeit". Eine Durchsicht der einschlägigen Stellen ergibt: Von „Glück" redet Kant überwiegend im Sinne vonfortuna, also im Sinne einer für mich und Andere vorteilhaften, gewinn- und genußbringenden Fügung der Dinge. Nicht ich selbst und meine Anstrengungen werden als Urheber dieser günstigen Konstellation der Dinge gedacht, sondern es ist der Zufall, der sie auf diese Weise verbunden hat. So spricht Kant in der Anthropologievom Karten- und Würfelspiel, mit dem der Bürger „sein Glück versucht", oder von der Möglichkeit, „blind" und „auf gut Glück" ein Erzvorkommen zu entdecken.2 In der von Rink herausgegebenen Pädagogik rät er, Kinder zum Verzicht auf „allen Stolz, der sich auf die Vorzüge des Glückes gründet," zu erziehen.3 In der Friedensschrift schließlich sieht Kant die Aussichten für einen ewigen Frieden wachsen, „wenn das Glück es so fügt: daß ein mächtiges und aufgeklärtes Volk sich zu einer Republik [...] bilden kann".4 Deutlich ist, daß der Begriff des „Glücks" in erster Linie für die Gunst des Schicksals steht; er bezeichnet eine positive Wendung der Ereignisse, die nicht als Ergebnis des planenden und berechnenden Einsatzes meiner eigenen Kräfte erscheint, selbst wenn ich in ihrem Sinne gearbeitet habe. Von sich aus und seinen eigenen Gesetzen gemäß nimmt das Geschehen einen Verlauf, wie ich ihn mir wünsche: Die Wirklichkeit kommt mir entgegen. 1 Vgl. Kritik der reinen Vernunft A 730 f/B 758 f; vgl. auch: Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes, AA II, 71; Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral, ebd., 276 ff.

2 AA VII, 275, 223. 3 AAK.491. 4 AA VIII, 356.

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Die Frage nach dem Glück

Zu beachten ist, daß es sich bei einem solchen „Glück" um ein in seinem Bestand gefährdetes Phänomen handelt. So wie alle Geschehnisse in der Welt ihren Gang gehen und mithin zugleich zugehen, so lösen sich auch die „glücklich" zu nennenden Fügungen gleichsam organisch wieder auf. In der Rede vom GlücksUmschwung ist das Vergängliche, Launische und Unverfügbare des Glücks, verstanden alsförtuna, chance, luck, auf den Begriff gebracht. Auch bei Kant läßt sie sich belegen.5 Dieses Moment des Episodischen und Zufälligen, wie es für die von Kant „Glück" genannte Konstellation charakteristisch ist, ist dagegen für seine Vorstellung von der Idee der „Glückseligkeit" gerade nicht leitend. „Glückseligkeit ist die Befriedigung aller unserer Neigungen, (sowohl extensive, der Mannigfaltigkeit der selben, als intensive, dem Grade, und auch protensive, der Dauer nach)", so definiert Kant in der Kritik der reinen Vernunft? Es ist deutlich, daß in einer prononcierten Weise eine einzelne Situationen übergreifende Erfüllung im Blickpunkt steht. Und diese Erfüllung wird von Kant ausdrücklich zurückbezogen auf ««i und unsere je spezifischen Bedürfnisse, als deren vollständige Entsprechung sie gedacht ist. Der frühe, vorkritische Kant denkt Glückseligkeit der leibniz-wolrrschen Tradition gemäß als Vollkommenheit,7 in der eigenes und allgemeines Wohl im Zeichen von Gott als dem Grund der Welt zur Koinzidenz gebracht sind. In seiner 1755 erschienenen Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels, die eine beeindruckende Kosmologie entfaltet und in ihrem Rahmen auch die Stellung des Menschen im Weltganzen zu bestimmen sucht, finden sich entsprechende Belege. So stellt Kant dem Leser die Aussicht auf „den Genuß der wahren Glückseligkeit" vor Augen, die in der dereinst zu erhoffenden „Gemeinschaft mit dem unendlichen Wesen", das heißt mit dem Urheber der Schöpfung, begründet liege: „Die ganze Natur, welche eine allgemeine harmonische Beziehung zu dem Wohlgefallen der Gottheit hat, kann diejenige vernünftige Creatur nicht anders als mit immerwährender Zufriedenheit erfüllen, die sich mit dieser Urquelle aller Vollkommenheit vereint befindet."8 Später kritisiert Kant die Vollkommenheit als Ziel, auf das hin wir unser Leben ausrichten können:9 Der ontologische Begriff der Vollkommenheit ist „leer", „unbestimmt" und „mithin unbrauchbar [...], um in dem unermeßlichen Felde mög5 Vgl. Metaphysik der Sitten, AA VI, 466. 6 A 806/B 834. 7 Vgl. G. W. Leibniz, De vita beata; Chr. Wolff, Deutsche Ethik 11, § 40; Ders., Philosophia practica imiversalis II, § 28. Vgl. zur Thematik insgesamt: C. Schwaiger, Das Problem des Glücks im Denken Christian Wolffs (1995). 8 AA I, 322. 9 Vgl. zum folgenden: Grundlegung, AA IV, 443. Vgl. auch unten, Kap. 14, 16, 20.

Vorbegriffe des Glücks

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licher Realität die für uns schickliche größte Summe auszufinden". Nicht besser steht es um die Vollkommenheit als theologisch fundiertes, vom Begriff eines göttlichen Wesens abgeleitetes Prinzip. Denn dieses wäre angesichts der Unmöglichkeit, Gottes Vollkommenheit zu begreifen, doch wieder nur unser eigenes Ideal letzter Vollendung, das wir der Vorstellung eines höchsten Wesens bloß unterlegen: ein zum Scheitern verurteilter Versuch, es auf diese Weise mit Autorität und Dignität auszustatten. Und genau in diesem Punkt liegt für Kant der am schwersten wiegende Einwand gegen ein theologisch verbrämtes Vollkommenheitsprinzip: Es könnte nur als Inbegriff von Heteronomie oder Fremdbestimmung verstanden werden und bedeutete damit das Gegenteil jener Autonomie, in der Kant den Grund menschlicher Lebensführung sieht. Diese wenigen Bemerkungen mögen genügen, um einen Eindruck davon zu geben, wie Kant die Begriffe „Glück" und „Glückseligkeit" verwendet. Im folgenden werde ich — dem heutigen Sprachgebrauch entsprechend — überwiegend von Glück sprechen, auch wenn es um Glückseligkeit im dargelegten Sinn geht. Zu Mißverständnissen wird es, wie ich hoffe, dabei nicht kommen.

2. Lebensentwurf und Lebenswirklichkeit Daß das Verlangen nach Glück, das bei einem jeden Menschen natürlicherweise vorauszusetzen ist, dennoch kein bloß naturwüchsiges Verlangen ist, diese Einschätzung vertritt der frühe Kant in einem bemerkenswerten kleinen Text aus dem Jahre 1760. Es handelt sich um ein Dokument, das nicht zu dem Kreis der Schriften gehört, in denen Kant seine Philosophie systematisch entfaltet. Gerade deshalb läßt dieser Text Kants Einschätzungen sehr anschaulich hervortreten. Zum Tode semes Studenten Johann Friedrich von Funk schreibt Kant der Mutter des früh Verstorbenen. Sein Brief enthält neben Ausführungen zur Person des Schülers auch Passagen allgemein gehaltener Reflexion und Betrachtung. Sie exponieren insbesondere die unaufhebbare Spannung zwischen Lebensentwurf und Lebensschicksal, die einander niemals entsprechen. Der Tod eines sehr jungen Menschen, dessen Leben die üblichen Stationen seiner Entfaltung noch gar nicht durchlaufen hat, veranlaßt Kant, Unverfügbarkeit und Souveränität menschlicher Existenz miteinander in Beziehung zu setzen und gegeneinander abzuwägen. Er betont, daß der Einzelne sich je für sich zu seinem Leben verhält: „Ein jeder Mensch macht sich einen eigenen Plan seiner Bestimmung auf dieser Welt."10 10 Gedanken bei dem frühzeitigen Ableben des Herrn Johann Friedrich von Funk, AA II, 4l.

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Die Frage nach dem Glück

Kein Naturgesetz, keine Norm und kein Ideal wie die Vollkommenheit schreiben ihm seine Bestimmung vor. Dies ist Sache des Individuums und seiner Freiheit. Sie freilich hat sich, um nicht auf der Stufe bloßer „Träumereien"11 zu verbleiben, an einem Anderen zu bewähren: Sie sucht Erfüllung als Wirklichkeit. Die Aussichten unserer Freiheit auf die adäquate Realisation ihrer Aspirationen freilich beurteilt Kant skeptisch: „Das Loos, das uns wirklich zu theil wird, sieht demjenigen selten ähnlich, was wir uns versprachen, wir finden uns bei jedem Schritte, den wir thun, in unseren Erwartungen getäuscht".12 Dennoch verläßt uns die Hoffnung nicht, und wir werden nicht müde, „neue Entwürfe zu zeichnen": Diese Anstrengung treibt unser Leben voran und hält es in Gang, bis der Tod „plötzlich dem ganzen Spiele ein Ende macht."13 Er bricht als ebenso bestimmte wie unverfügbare Grenze unsere auf unbestimmt lange Fristen hin berechneten Lebensentwürfe unwiderruflich ab. Aufschlußreich, beeindruckend an der Kantischen Reflexion — und modern bis in die Formulierungen hinein - ist die Betonung der &/fe%estaltung des Lebens, die jedem Individuum obliegt. Der Einzelne „macht sich einen eigenen Plan seiner Bestimmung auf dieser Welt".14 Sein Leben folgt keinem Programm, das von der Natur oder einer göttlichen Vorsehung festgeschrieben wäre. Doch ebenso wichtig ist: Er ist nicht nur Autor der eigenen Lebensentwürfe, sondern zugleich auch Protagonist ihrer Inszenierung auf der Bühne der Wirklichkeit. Denn Selbstgestaltung des Lebens bedeutet nicht, bei sich zu bleiben, sondern sie hat sich in und an einer Welt zu vollziehen. So erfährt der Mensch am eigenen Leibe, was seine Entwürfe wert waren: ob und wie weit sie sich gegen den Widerstand der Wirklichkeit behaupten und ihrerseits Wirklichkeit werden konnten oder ob sie gescheitert und damit zuletzt nichts als vergangene und abgelebte Projektionen eines Selbst gewesen sind. Es zeigt sich, daß das Glücken oder Mißlingen unseres Lebens sich innerhalb eines Spannungsfeldes vollzieht, das bestimmt wird durch die Kräfte der Selbstbestimmung und den Widerstand der Wirklichkeit eines ihr gegenüber Anderen.

11 12 13 14

Vgl. ebd., Z. 17 f. Ebd., 41. Ebd. Hervorhebung von mir.

3. Innere und äußere Grenzen des Glücks Was aber heißt, diese Frage stellt sich jetzt, „Glücken des Lebens" oder genauer: „Glückseligkeit", von der Kant spricht? Im Begriff der Glückseligkeit ist, wie bereits deutlich wurde, eine Erfüllung gedacht, die auf das Ganze unseres Daseins bezogen ist. Zugleich hatte sich gezeigt, daß dieses Ganze nicht mehr jene prästabilierte Koinzidenz von göttlichem und individuell-menschlichem Willen und Wohlergehen bedeutet, als das es zum Beispiel noch Leibniz gegolten hatte. „Glückseligkeitist der Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es im Ganzen seiner Existenz alles nach Wunsch und Willen geht, und beruht also auf der Übereinstimmung der Natur zu seinem ganzen Zwecke", formuliert Kant in der Kritik der praktischen Vernunft.15 Daß Glück in der wirklichen Erfüllung individueller Zwecksetzungen besteht und als solche für ein selbstbestimmtes Individuum Bedeutung und Realität hat, ist danach offenkundig. Indem Kant diese Erfüllung als dauerhaft und stabil vorstellt, aber indiziert er: Unter dem Titel „Glückseligkeit" ist ein Maximum, ja ein Absolutum an Verwirklichung eines Selbst in den Blick genommen. Der Mensch jedoch ist Inbegriff des Nichtabsoluten: Er ist vergänglich, irrtumsanfällig und mitnichten omnipotent. Weit entfernt ist der Mensch davon, daß die Wirklichkeit seinen Wünschen und Absichten kongruent wäre - und dies auch noch umfassend, uneingeschränkt und unbegrenzt. Die Glückseligkeit eines „vernünftigen Wesens in der Welt, dem es im Ganzen seiner Existenz alles nach Wunsch und, Willen geht", und die also „auf der Übereinstimmung der Natur zu seinem ganzen Zwecke" beruht, ist deshalb als eine Idee anzusehen, die über die Möglichkeiten des Menschen unendlich hinausweist. Die Wirklichkeit in Gestalt des Anderen, das sich nach eigenen Gesetzen bewegt, erweist sich als Widerstand, der dem Individuum und seinen auf Erfüllung drängenden Ambitionen entgegensteht. Daß sie sich umstandslos nach seinen Intentionen richtete, davon kann keine Rede sein. Aber nicht nur die Wirklichkeit, die Welt, zeigt sich den Ansprüchen des Einzelnen auf Verwirklichung seiner Zwecke gegenüber sperrig und ungefügig. Das Streben nach Glück scheint den Strebenden auch selbst zu überfordern, obwohl es ihn antreibt. Denn es kann ihm nicht gelingen, überhaupt zu bestimmen, wonach ihn verlangt: das Ziel seines Begehrens liegt im Dunkeln. „Es ist ein Unglück", schreibt Kant, „daß der Begriff der Glückseligkeit ein so unbestimmter Begriff ist, daß, obgleich jeder Mensch zu dieser zu gelangen wünscht, er doch 15 AA V, 124. - Die letzte Hervorhebung von mir.

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Die Frage nach dem Glück

niemals bestimmt und mit sich selbst einstimmig sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle."16 Diese Schwierigkeit ergibt sich, weil der Mensch ein endliches Wesen ist, aber ausgestattet mit unendlich vielen Bedürfnissen, Neigungen und Wünschen. Allein deren qualitativ und quantitativ vollständige Erfüllung jedoch könnte nach Kant zu Recht Glückseligkeit genannt werden im Sinne eines Maximums an Wohlergehen. Wie aber sollen wir angesichts der skizzierten Konstellation einen bestimmten Begriff der Glückseligkeit bilden, der zur Leitung unseres Tuns tauglich wäre? Was auch immer an Lebenszielen gesetzt wird, ihre Verfolgung bedeutet stets die Preisgabe anderer, vielleicht nicht minder anziehender und verlockender Bestrebungen. Und darüber hinaus ist sie jederzeit mit selber unerwünschten Folgelasten verbunden. Kant nennt Beispiele:17 Sieht einer im Reichtum das für ihn wesendiche und Glück versprechende Ziel seines Daseins, so geht sein Besitz doch unweigerlich einher mit dem Neid und der Nachstellung der Anderen und wird damit zur Quelle von Sorgen. Diese waren wohl nicht mitgewollt, sind aber — wie wir sagen — in Kauf zu nehmen. Und so verhält es sich mit jedem Ziel, selbst mit dem der Erkenntnis und Einsicht, die zumal von Philosophen geradezu als Inbegriff des Glücks gepriesen worden war. Aristoteles etwa hatte in der Theorie die vollkommenste und beglückendste Tätigkeit des Menschen gesehen, die als Betrachtung der vorzüglichsten Gegenstände - der Gegenstände der Wissenschaft - ihren Gewinn in sich selbst trägt.18 Nicht so Kant, der unter dem Eindruck und Einfluß Rousseaus die verbreitete Überzeugung aufgegeben hat, daß im Wissen das wahre Glück des Menschen liegt.19 Denn es fuhrt zur Entdeckung auch jener Übel, Unzulänglichkeiten und Defizite an uns selbst wie an den Dingen, die unserem Blick zuvor gnädig entzogen waren. Und es fuhrt zur Vervielfältigung und Komplizierung unserer Bedürfnisse, denen dann umso schwerer zu genügen ist. Nicht genug also, daß wir nicht allen unseren Wünschen und Neigungen Erfüllung verschaffen können, auch die von uns schließlich präferierten Lebensziele scheinen sich durchweg als ambivalent zu. erweisen. So ist selbst das Partikulare für uns niemals in seiner reinen Fülle zu haben. Und Kant geht noch einen Schritt weiter. Einmal unterstellt, sämdiche unserer Absichten würden sich ohne Einschränkung verwirklichen lassen, so daß die Natur unserer „Willkür" gänzlich unterworfen wäre: auch diese extrem unwahrscheinliche Koinzidenz von Wille und Wirklichkeit wäre durchaus nicht gleichbedeutend mit unserer Glückseligkeit. 16 Grundlegung, AAIV, 418. 17 Vgl.ebd. 18 Vgl. Nikomachische Ethik X 7, 1177 a 12 ff. 19 Vgl. Bemerkungen, ed. M. Rischmüller, 34 ff, bes. 38 (AAXX, 37 ff, bes. 44). Vgl. J.-J. Rousseau, Discours sur les Sciences et les Arts, bes. 9 f, 15-19.

Innere und äußere Grenzen des Glücks

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Denn die „Natur" des Menschen „ist nicht von der Art, irgendwo im Besitze und Genüsse aufzuhören und befriedigt zu werden".20 Nicht allein eine ungefügige Außenwelt, die mit unserem Wollen nicht übereinstimmt, steht unserem Verlangen nach Glückseligkeit im Wege. Sondern es kommt hinzu, daß „die Natur in uns derselben nicht empfänglich ist".21 Wir selbst sind von Natur aus so beschaffen, daß wir mit uns selbst niemals vollkommen übereinstimmen können. Was gemeint ist, führt Kant in der Anthropologie näher aus; es finden sich entsprechende Überlegungen in der von ihm selbst herausgegebenen Vorlesung ebenso wie in verschiedenen Nachschriften sowie in den nachgelassenen handschriftlichen Reflexionen.22 Danach können wir keinen Genuß empfinden, keine Befriedigung, wenn nicht ein unangenehmes Gefühl, ein Schmerz vorhergegangen ist. Das Verlassen eines Zustandes des Mißvergnügens und der nachfolgende Eintritt in einen willkommeneren löst in uns ein positiv gefärbtes Empfinden aus: Wir spüren Zufriedenheit, Wohlbehagen oder Freude. Kant behauptet sogar, daß „kein Vergnügen unmittelbar auf das andere folgen" könne, „sondern zwischen einem und dem anderen muß sich der Schmerz einfinden".23 Für die Lebenslust sind Unlust und Unbehagen demnach ganz unerläßlich: Allein im Kontrast zu diesen negativen Empfindungen können wir positive wie Freude und Wohlbehagen überhaupt verspüren. Eines ununterbrochenen Glücksgefühls wären wir — selbst unter der Voraussetzung unbeschränkter Macht und einer entsprechenden Gefügigkeit der Dinge — gar nicht fähig. Unsere Natur ist so nicht eingerichtet. In der von Kant selbst veröffentlichten Anthropologievorlesung wie auch in den Nachschriften fällt im Zusammenhang der Darstellung dieses komplementären Verhältnisses von Lust und Unlust der Name Pietro Verris,24 an dessen Gedanken über die Natur des Vergnügend Kant mit seinen Argumentationen anknüpft.26 Wir werden später sehen, daß Kant im Ausgang von antiken Traditionen auch gegenläufige Überlegungen erprobt: Danach ist nicht der Kontrast zwischen Vergnügen und Schmerz Voraussetzung der Möglichkeit des Genusses, sondern in der Gemütsruhe und einer entsprechenden Ausgeglichenheit der Seele soll die Quelle des größten dem Menschen möglichen Wohlbefindens liegen. Dieser 20 Kritik der Urteilskraft, AA V, 430. 21 Ebd. 22 Vgl. AAVII, 230-239; AA XV, R. 1487 f, R. 1511 f, 717-729, 830-836; AA XXV, 786-792, 10681095, 1499-1508. 23 AAVII, 231. 24 Vgl. AAVII, 232; AAXXV, 784-786, 1073, 1079 f, 1316. 25 So der Titel der Übersetzung der Abhandlung Idee sull'indole delpiacere, die Christoph Meiners 1777 herausgab. 26 Vgl. auch die Ausführungen der Herausgeber der Vorlesungen über Anthropologie, Reinhard Brandt und Werner Stark, in ihrer „Einleitung": AA XXV, XLII-XLVI.

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Die Frage nach dem Glück

Gedanke ist besonders für die Ethik des Hellenismus charakteristisch. Beständigkeit, Balance und das rechte Maß gelten als Orientierungspunkte des Lebens, an die man sich zu seinem Glück halten sollte. Nach christlicher Vorstellung dagegen ist das Leben auf die Erwartung eines letzten Heils gerichtet; mit dieser Aussicht auf die Erlösung am Ende der Geschichte verbindet sich eine Dynamisierung des Strebens nach Erfüllung. Bekannt ist das Wort Augustins vom menschlichen Herzen, das unruhig ist, bis es in Gott ruht.27 In den einschlägigen Partien seiner Anthropologievorlesung betont Kant die mit dem Leben einhergehende Dynamik sehr stark. Seine These, daß kein Vergnügen genossen werden kann ohne einen vorausgegangenen Schmerz, legt ein dynamisches Verständnis auch des menschenmöglichen Glücks nahe. Denn der Lebensgenuß beruht danach auf demselben Prinzip, das den Lebensprozeß im Ganzen trägt und in Bewegung hält: auf dem Prinzip des Wechsels. Wie die belebte Natur dem Rhythmus von Tag und Nacht folgt, so ist für unsere innere Natur das Wechselspiel von positiver und negativer Gestimmtheit konstitutiv. Wenn Kant das Leben als „ein continuirlich.es Spiel des Antagonismus" von Vergnügen und Schmerz bestimmt,28 so folgt daraus: Wäre der Schmerz jemals umfassend zu überwinden, so wäre derjenige, dem dies gelungen ist, gar kein Lebendiger mehr. Ohne den Schmerz, so schreibt Kant dann auch, „würde Leblosigkeit eintreten".29 Er ist der Motor des Lebens, der die Individuen unentwegt vorwärts treibt: „Sein Leben fühlen, sich vergnügen, ist also nichts anders als: sich continuirlich getrieben fühlen, aus dem gegenwärtigen Zustande herauszugehen (der also ein eben so oft wiederkommender Schmerz sein muß)".30 Leben bedeutet niemals Stillstand, sondern ist die Unruhe schlechthin. Alles Vergnügen aber ist nach Kant zu beschreiben als ein „Gefühl der Beförderung des Lebens", jeder Schmerz als ein „Gefühl der Hinderniß des Lebens".31 Das Geßihl einer Lebensbeförderung oder eines Lebenswiderstandes muß indes noch nichts über deren tatsächliches Vorliegen besagen: Ein Lungenkranker ist zweifellos mit einem Lebenshindernis belastet, auch wenn er keinen Schmerz empfinden mag. Umgekehrt kann Opium starke Gefühle einer Beförderung des Lebens auslösen, obwohl es ihm schadet.32 Eine Asymmetrie von subjektivem und objektivem Wohl macht sich bemerkbar, auf die noch zurückzukommen sein wird. Zu beachten ist, daß Kant zwischen Schmerz und Vergnügen als pur physiologischen Gegebenheiten und als Phänomenen des „Gemüts" unterscheidet. Die 27 Confessiones I, l, l. 28 AA VII, 231. 29 Ebd. 30 Ebd., 233. 31 Vgl. Anthropologie, AA VII, 231; Nachschrift Pillau, AA XXV, 786 f; Nachschrift Menschenkunde, ebd., 1068 f; Nachschrift Mrongovius, ebd., 1318 f; Nachschrift Busolt, ebd., 1500 f.

Innere und äußere Grenzen des Glücks

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ersteren sind positiv oder negativ bestimmte Empfindungen, die auf Reizungen des Körpers bezogen sind und ihnen entsprechen. Die zweiten artikulieren unsere Befindlichkeit in der jeweiligen Lebenskonstellation und sind unabhängig von somatischen Reizquellen. Dies schließt keineswegs aus, daß sie sich nicht auch somatisch äußern können. Kant nennt die einen „physische", die anderen „idealische" oder auch „moralische" Empfindungen.33 Im Hinblick auf die Frage unseres Lebensglücks sind allein die zuletzt genannten von Interesse, äußert sich doch in ihnen die positive oder negative Stellung, die wir bestimmten Situationen unseres Daseins gegenüber einnehmen. Dies trifft für die „physischen" Empfindungen nicht zu. Ich kann körperlichen Schmerz verspüren, ohne - im selben Atemzug mein Leben negativ zu bewerten. Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, daß von einem bestimmten Grad körperlichen Schmerzes an seine Unerträglichkeit mit der Unerträglichkeit meiner ganzen Existenz gleichbedeutend ist. Durchgehend aber, dies trägt Kant überzeugend vor, ist es das Gefühl eines schmerzlichen Unbehagens mit dem gegenwärtigen Zustand, der uns wie ein „Sporn" oder ein „Stachel"34 unentwegt vorwärtstreibt — uns zu Vorhaben und Absichten erst bewegt, von deren Verwirklichung wir uns ein Nachlassen des Schmerzes und eine entsprechende Zufriedenheit versprechen. Diese auf Ziele gerichtete Tätigkeit und Geschäftigkeit, die mehr oder weniger unser aller Leben bestimmt, läßt sich auf die beschriebene Weise schlüssig begründen. Warum sollten wir Anstrengung und Durchsetzungswillen, Gedankenreichtum und Phantasie an den Tag legen, gäbe es keine von uns selbst und nichts und niemand anderem ausgehende Triebkraft? Jede nur von außen ansetzende Erklärung, etwa: die von uns vorgefundene Welt in ihrer Unzulänglichkeit sei Ursache unseres Schmerzes und erzwinge so unsere Aktivität, greift zu kurz. Denn wir selbst sma es, die die Welt als ärgerlich oder im Gegenteil als wohleingerichtet erleben. Daß sich in einem Zimmer immer wieder der Schmutz einfindet, veranlaßt nur denjenigen zur wiederholten Mühe seiner Beseitigung, dem der Aufenthalt in einem schmutzigen Zimmer unangenehm ist.35 So ist das uns eigene und mit unserem Dasein konstitutionell verbundene Unbehagen die Wurzel unseres Lebendigseins, sofern dieses gleichbedeutend ist mit Bewegung und Unruhe schlechthin. Formal gefaßt, ist das Leben des Individuums die reine Zeit als der absolute Wechsel.36 Nur behelfsmäßig und „nach Analogien" können wir uns von dieser ursprünglichen „subjektiven" Zeit, die wir leibhaftig 32 Vgl. Nachschrift Pillau, ebd., 786. 33 Vgl. R. 1487, AA XV, 717-721; vgl. Nachschrift Pillau, AA XXV, 787 f; Nachschrift Mrongovius, ebd., 1316. Vgl. P. Verri, Gedanken über die Natur des Vergnügens (1777), 6-8. 34 Vgl. Anthropologie, AA VII, 231 et passim. 35 Vgl. zu diesem Beispiel: Nachschrift Pillau, AA XXV, 789. 36 Vgl. Kritik der reinen Vernunft, A 187 f/B 230 f.

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Die Frage nach dem Gliick

sind und die aller meßbaren Raumzeit vorgeordnet ist, überhaupt eine Vorstellung machen: etwa als „eine ins Unendliche fortgehende Linie",37 die mit unserem Tod abbricht. Doch wir können dieses, was wir uns nicht zu vergegenständlichen und nur indirekt und übertragen zu veranschaulichen vermögen, dennoch empfinden, und zwar am deutlichsten im quälenden Gefühl peinigender Unrast. Entsprechend lesen wir in der Vorlesungsnachschrift Menschenkunde?* „Wir finden uns fortwährend mit namenlosen Schmerzen ergriffen, wir nennen es Unruhe, Begierde, und jemehr ein Mensch Lebenskraft hat, desto stärker fühlt er den Schmerz." Leben und Schmerz sind aneinander gekoppelt. Noch genauer: Leben und Schmerz und Zeit sind miteinander verbunden. Wir mögen den Schmerz „nun Sehnsucht, oder Unruhe des Gemüths nennen", heißt es in der Menschenkunde, „so ist es doch immer ein Stachel, einen neuen Zustand zu suchen, ehe man noch einen Begriff davon hat".39 Im Bestreben, die Gegenwart hinter uns zu lassen, sind wir uns selbst immer schon voraus, ohne noch zu wissen, wozu wir uns in die Zukunft hinein entwerfen. Der Schmerz als prinzipielle „Unruhe des Gemüths" ist die Grundkraft des Lebens, und jedes Vergnügen und alle noch so ekstatischen Momente eines Hochgefühls, die Kant keineswegs in Abrede stellt, haben den Charakter eines ihm abgerungenen partiellen Entkommens.40 Des Wechsels aber zwischen positiver und negativer Gestimmtheit, zwischen Lust und Unlust scheinen wir so sehr zu bedürfen, daß wir das Gefühl seines Ausbleibens nicht ertragen. Eine anhaltende Periode des Vergnügens könnten wir deshalb gar nicht genießen; wir würden es ohne einen dazwischen tretenden schmerzlichen Kontrast zuletzt überhaupt nicht mehr als ein solches empfinden. Ein Zustand der Beständigkeit, sei er auch noch so positiv gefärbt, widerspräche der „Oeconomie der menschlichen Natur".41 Wider diese „Oeconomie" können wir offenbar so wenig leben, daß nicht allein „Hindernisse des Lebens" schmerzlich empfunden werden, sondern auch eine Störung dieser „Oeconomie" selbst. Das Gefühl der Abwesenheit von Wandel und Wechsel nennen wir Langeweile. Sie ist eine Empfindung der „Leere" und bewirkt ein „Grauen", einen „horror vacui".42 Kant beschreibt dieses Grauen als „das Vorgefühl eines langsamen Todes".43 Konstitutionell und von Natur aus sind wir somit für jede Form von Dauer und Bleiben indisponiert, obwohl unsere Ideale von Glückseligkeit paradoxerweise an sie geheftet sind. 37 38 39 40 41 42 43

Kritik der reinen Vernunft, A 33/B 50. AA XXV, 1070 f. Ebd., 1074 f. Vgl. ebd., 1072 ff Ebd., 1073. Anthropologie, AA VII, 233. Ebd.

Innere und äußere Grenzen des Glücks

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Ist unser Leben aber so verfaßt, wie es von Kant nahegelegt zu werden scheint: Wie kann sich ihm auch nur im entferntesten abgewinnen lassen, was wir Glück oder Glückseligkeit nennen? Damit können, wie auch Kant selbst betont, nicht nur einzelne Augenblicke von Freude, Behagen, Vergnügen oder Beglückung gemeint und angesprochen sein. Das Leben als Ganzes steht im Blickpunkt einer solchen Überlegung. Und Kant läßt keinen Zweifel daran, daß es der Schmerz ist, der das Leben dominiert und ihm damit unverkennbar seinen Stempel aufdrückt.44 Ist Kant somit, was die Frage unseres Lebensglücks angeht, ein Schopenhauerianer vor Schopenhauer?

4. Zur Glücksfähigkeit Für Schopenhauer ist das menschliche Leben bekanntlich Inbegriff eines ebenso anhaltenden wie unerfüllten Wollens und Strebens. Zwischen Schmerz und Langeweile sieht er es „gleich einem Pendel" hin- und herschwingen, bis seine Frist abgelaufen ist.45 Mag auch die Erfüllung mancher unserer Wünsche glückliche Momente und damit eine kurzfristige Befreiung vom Leid des Lebens gewähren, so ist der dem Genuß auf dem Fuße folgende Rückfall in den Zustand des Schmerzes und der Bedürftigkeit so gewiß wie nichts sonst. Dieses Grundmuster ist jedem Menschenleben bei aller Verschiedenheit denkbarer Lebenswege doch eingezeichnet, und insofern sind sie sich alle gleich. Dem Nachdenklichen, der sich dies vergegenwärtigt, bleibt deshalb in Schopenhauers Augen kein anderes als ein au fondsehr nüchternes und pessimistisches Fazit: „Jedesmal", so schreibt er, „daß ein Mensch gezeugt und geboren worden, ist die Uhr des Menschenlebens aufs neue aufgezogen, um jetzt ihr schon zahllose Male abgespieltes Leierstück abermals zu wiederholen, Satz vor Satz und Takt vor Takt, mit unbedeutenden Variationen."46 Wenngleich Kant den mit dem Leben ja ganz unleugbar verknüpften Schmerz anerkennt und betont, so wird doch gezeigt werden können, daß seine Philosophie des gelungenen Lebens dort beginnt, wo Schopenhauers Argumentationen abbrechen. Und dies gilt auch dann, wenn man dessen „Eudämonologie" mit heranzieht - ein vor kurzem unter dem Titel Die Kunst, glücklich zu sein erschienener und aus Schopenhauers handschriftlichem Nachlaß „rekonstruierter" Traktat.47 44 Vgl. z.B. Nachschrift Menschenkunde, AA XXV, 1070 ff; Nachschrift Busolt, ebd. 1500 f. 45 Die Welt als Wille und Vorstellung I, § 57 (Sämtliche Werke, Bd. I, 428). 46 Ebd., §58, 441. 47 Vgl. Arthur Schopenhauer, Die Kunst, glücklich zu sein. Dargestellt in fünfzig Lebensregeln (1999).

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Die Frage nach dem Glück

Für Schopenhauer gibt es kein Lebensglück und auch keinen Lebensgewinn. Alles, was uns zu tun bleibt, ist, das Leben unter größtmöglicher Vermeidung unnötigen Schmerzes „durchzumachen" und „durchzubringen".48 Diese Schopenhauersche Resignation teilt Kant nicht. Schopenhauers letzthin schlichter Naturalismus wird dem menschlichen Leben auch nicht gerecht. Zu betonen bleibt allerdings: Kant leugnet ganz und gar nicht, daß die uns eigene natürliche Konstitution ein Leben ohne Schmerz, ein Leben als Gegenwart irgendeines dauerhaften Genusses nicht zuläßt. Ebensowenig stellt er in Abrede, daß die Wirklichkeit einer Welt der Anderen und des Anderen uns und unseren Ambitionen schmerzhafte und bisweilen unüberwindliche Widerstände entgegensetzt. Einen „ruchlosen" Optimismus, wie Schopenhauer ihn zu Recht inkriminiert,49 müßte sich Kant deshalb nicht vorwerfen lassen. Doch er rechnet mit etwas, das Schopenhauer als Lebensfaktor unterschätzt, wenn nicht mißachtet: mit der Freiheit des Menschen, das ihm von Natur Vorgegebene selbständig, selbstbewußt und selbstverantwortlich gestalten zu können. Dieses von Natur Vorgefundene, die Beschaffenheit der eigenen und der uns umgebenden Natur, bildet nur den Rahmen unseres Daseins. Es ist nicht, wie Schopenhauer meint, das Bewußtsein des einen Weltwillens, das den Menschen im Gegensatz zu anderen Lebewesen auszeichnet — und ihm Vorzug und Last gleichermaßen ist. Sondern es ist die Fähigkeit, sich durch den eigenen Willen zum Handeln bestimmen zu können, die als sein Wesentliches anzusprechen ist. So ist es die Praxis des Menschen, das, was er aus der gegebenen inneren und äußeren Natur für sich macht, die eine Selbstentfaltung erst erlaubt. Mit dieser ihm möglichen und sogar auferlegten Selbstentfaltung aber ist ein Horizont der Freiheit eröffnet. Es wäre ein Mißverständnis, diesen Horizont der Freiheit als eine von der menschlichen Natur losgelöste und abgetrennte Sphäre vorzustellen. Damit wäre nur einer Zweiweltentheorie nach dem Muster der Descartschen Aufspaltung der Welt in res cogitans und res extensa das Wort geredet. Gegen einen solchen „groben Dualism" wendet Kant sich ausdrücklich.50 Freiheit, wie sie sich in menschlicher Praxis zeigt und äußert, bezieht sich auf die Natur — die eigene innere und die im Gegenüber gegebene äußere - als ihren Gegenstand. Die Natur ist der Widerstand der Freiheit, an dem sie sich gleichsam abarbeitet. Zu dieser Natur gehört auch die oben analysierte „Oeconomie" des menschlichen Empfindungslebens. Schmerz und Unlust, so hatte sich gezeigt, sind die notwendigen Komplemente von Freude, Vergnügen, Behagen. Schmerz und Unlust müssen danach als unvermeidbare periodisch wiederkehrende Phänomene des menschlichen Daseins begriffen wer48 Vgl. ebd., 51 f. 49 Vgl. Die Welt als Wille und Vorstellung I, § 59 (Sämtliche Werke, Bd. I, 447). 50 Vgl. Kritik der reinen Vernunft, A 392.

Zur Glückseligkeit

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den. Vernünftigerweise könnten wir ihr Verschwinden aus unserem Leben unter den gegebenen natürlichen Bedingungen unserer Existenz nicht einmal wünschen. Denn wir würden damit unserer auf den Kontrast eingestellten und reagierenden Empfindungsfähigkeit die Möglichkeit auch allen Genusses entziehen. Glück oder Glückseligkeit in Kantischer Terminologie jedoch fallen mit dem bloßen Genuß, mit dem Vorliegen von Behagen oder Vergnügen eben nicht einfach zusammen. Befinden wir uns in einem angenehmen Zustand, macht er uns allein noch gar nicht glücklich.51 Nach Schopenhauers Argumentation dagegen müßte dies zutreffen. Aus einem derart eingeschränkten Glücksverständnis aber würde dann zwingend folgen, daß der Mensch ein des Glückes nicht fähiges Wesen ist. Denn seine Natur ist so angelegt, daß nichts, was er genießt, je auf Dauer zu stellen ist. Wenn aber Glück und Genuß im Grunde dasselbe bedeuten würden, läge sofort die Frage nahe: Worin besteht eigentlich der Gewinn eines Lebens, dem alles Genossene postwendend und unweigerlich wieder zerrinnt? Und diese Frage läßt sich nicht abweisen, selbst wenn wir - wider alle Erfahrung - annehmen, die Aussichten auf stets erneuten Genuß wären immer die besten. Schopenhauer stellt sie bekanndich in wünschenswerter Deutlichkeit, und eine positive Antwort scheint sie ihm nicht zuzulassen. Unter dieser Voraussetzung wird die Option einer Beendigung der Teilnahme am Lebensprozeß, wie sie dem Menschen im Freitod grundsätzlich möglich ist, bedenkenswert. Schopenhauer wendet sich gegen diese Option, sein Argument52 jedoch vermag überhaupt nicht einzuleuchten. Der Selbstmord stellt in Schopenhauers Augen deshalb keine Lösung des Lebensproblems dar, weil der Selbstmörder die Macht des unersättlichen Lebenswillens, in dem alles Leiden seinen Grund hat, nicht bricht, sondern mit seiner Tat nur bestätigt. Allein dessen konsequente Verneinung, die sich in möglichst weit getriebener Askese ausdrücken soll, preist Schopenhauer als Weg aus der Not, als die er das Leben begreift. Aber warum sollte der Einzelne ein Interesse daran nehmen, sich dem Leben auf eine solche asketische Weise zu verweigern, anstatt es sich im Bedarfsfall zu nehmen? Warum sollte es uns auch nur im mindesten befriedigen, uns gegen die Natur zu erheben und zu stellen? Wäre es der Triumph des Geistes, der sich im freudlosen Erdulden unserer Lebendigkeit ausspräche und uns den Genuß einer Überlegenheit über die Natur bieten könnte? Mögen Schopenhauers Überlegungen auf diesen Punkt hinauslaufen, so ist Kant weit entfernt von solcher Mißachtung oder gar vom Versuch der Negierung menschlicher und außermenschlicher Natur, in den Schopenhauers Naturalismus schließlich umschlägt. 51 Vgl. z.B. R. 7202 (1780-1789), AA XIX, 276 f. 52 Vgl. Die Welt als Wille und Vorstellung I, § 69, 541 ff.

5. Glück und Selbstbestimmung Was der Mensch im Rahmen und auf dem Boden der Natur aus sich macht, das ist in den Augen Kants entscheidend für das Gelingen oder Mißlingen, das Glücken oder Mißglücken seines Lebens. Die von ihm vorgefundene Natur, in Gestalt derer ihm die eigene und fremde Existenz immer schon begegnet, bietet dem Menschen in seiner Autonomie erst einen Gegenstand, einen Widerstand, an dem er sich erkennt und artikuliert. Ohne die Natur wäre die Freiheit nichts; und in dieser Verweisung auf die Natur zeigt sich die Endlichkeit des Menschen. Anders als ein denkbarer göttlicher intellect™ archetypus ist der Mensch angewiesen auf das, was ihm „gegeben" ist, von ihm also nicht hervorgebracht, wohl aber bearbeitet und gestaltet wird.53 Und zum „Gegebenen" unserer Ausstattung gehört zweifelsohne auch die beschriebene „Oeconomie" der Empfindungen, die allen Ambitionen eines auf Dauer gestellten Genusses entgegensteht. Aus der Beschaffenheit unserer Natur jedoch unsere Glücksunfähigkeit abzuleiten hieße, uns als bloße Naturwesen zu betrachten und der Freiheit und Vernunft im Blick auf unser Lebensglück gar nichts zuzutrauen. Obwohl Kant sich bisweilen so ausdrückt, als ob das Streben nach Glück als ein nur naturwüchsiges zu verstehen sei, wird sich doch mit Kant zeigen lassen: Von Glück als einem Zweck, der von der Natur zusammen mit den geeigneten Mitteln seiner Verfolgung vorgezeichnet wäre, kann nicht die Rede sein.54 „Der Begriff der Glückseligkeit ist nicht ein solcher, den der Mensch etwa von seinen Instincten abstrahirt und so aus derThierheit in ihm selbst hernimmt; sondern ist eine bloße Idee eines Zustandes, welcher er den letzteren unter bloß empirischen Bedingungen [...] adäquat machen will. Er entwirft sie sich selbst [...]." So heißt es im Paragraphen 83 der Kritik der Urteilskraft? Aus dem Rahmen der Natur und ihrer Gesetze ist der Mensch in dem Sinne herausgetreten, als die Frage nach dem Sinn und Ziel seines Lebens, die Frage nach dessen Erfüllung von dieser Natur offengelassen ist. Dabei bedeutet schon das Faktum, daß er sie überhaupt aufwirft, einen Schritt heraus aus der fraglosen Einbindung in den Naturprozeß. Zwar findet sich das menschliche Leben unablösbar in ihn eingefügt, doch zugleich verhält es sich zu ihm. Zur eigenen und 53 Vgl. Kant an Marcus Hera am 21. Februar 1772, AA XI, 130 f; vgl. Kritik der reinen Vernunft, B 145; vgl. R. 6048, 6050, AA XVIII, 433 f. 54 Vgl. unten, Kap. 9 ff. 55 AA V, 430. Vgl. auch: Grundlegung, AA IV, 395, Z. 22-27.

Glück und Selbstbestimmung

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fremden Natur hat es in diesem Sinne Distanz; und Organ dieses Abstands und der damit verbundenen Freiheit zu eigener Zwecksetzung ist die Vernunft. Kant schreibt: „Die Vernunft in einem Geschöpfe ist ein Vermögen, die Regeln und Absichten des Gebrauchs aller seiner Kräfte weit über den Naturinstinct zu erweitern, und kennt keine Grenzen ihrer Entwürfe. Sie wirkt aber selbst nicht instinctmäßig, sondern bedarf Versuche, Übung und Unterricht, um von einer Stufe der Einsicht zur ändern allmählig fortzuschreiten."56 Die Vernunft ist somit kein bloß theoretisches Vermögen der Betrachtung. Sie organisiert vielmehr den Gebrauch aller Kräfte des Menschen. Was immer er sich an Zielen setzen mag, sie gibt seiner Wirksamkeit Regeln. Aber auch die Absichten selbst, die dieser Wirksamkeit eine Richtung weisen, sind nicht schon festgelegt: auch zu ihrer Formulierung bedarf der Mensch vernünftiger Steuerung. Ohne auf einen gleichsam implantierten Lebensplan bauen zu können und zu wollen, bleibt dem Menschen nur, auf seine Vernunft zu vertrauen. So ist es die Vernunft, die „den Entwurf der Glückseligkeit und der Mittel dazu zu gelangen" projektiert.57 Wie jedoch verfährt sie dabei, oder wie sollte sie verfahren? Selbst wenn Kant das unhintergehbar Individuelle des Glücks betont: Läßt sich dennoch ein allgemeiner Horizont freilegen, der alles uneinholbar Individuelle übergreift? Mit anderen Worten: Gibt es Zwecke, die sich ein jeder vernünftigerweise setzt, der ein glückliches Leben will? Gibt es einen Gebrauch der Freiheit, der sich anraten, wenn auch niemals einfordern läßt? Allerdings zeigt sich an dieser Stelle ein gewichtiges Problem innerhalb der Kantischen Systematik. Ist nicht Freiheit und Selbstbestimmung für Kant allein mit Moralität verknüpft? Bedeutet nicht Autonomie für Kant: moralische Autonomie? Diesem Problem ist zunächst nachzugehen. Dabei wird sich zeigen, daß nicht wenige der Schwierigkeiten, die das Thema des menschlichen Glücks Kant im Rahmen der Gesamtanlage seiner Philosophie bereitet, in dem Problem der Freiheit gegründet sind.

56 Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, AA VIII, 18 f. 57 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, 395.

II. Die Systemstelle des Glücksstrebens beim späten Kant

6. Theoretische und praktische Philosophie Die zweite Einleitung zur Kritik der Urteilskraß\äß>t Kant wie schon die erste, von ihm selbst nicht veröffentlichte, mit einem Abschnitt über die „Eintheilung der Philosophie" beginnen.1 Er unterscheidet zunächst „wie gewöhnlich" zwischen theoretischer und praktischer Philosophie. Insofern Philosophie „Prinzipien der Vernunfterkenntniß der Dinge durch Begriffe enthält", muß es genau zwei verschiedene Arten von Begriffen geben, wenn der genannte grundlegende Unterschied zwischen theoretischer und praktischer Philosophie zu Recht bestehen soll. Zugleich ist klar, daß in jedem der beiden Felder der Philosophie auch nur je eine Art von Prinzipien gültig sein kann. Ansonsten würde sich die Frage nach der Angemessenheit der vorgenommenen Einteilung der Philosophie stellen. Nun gibt es nach Kant tatsächlich nur zweierlei Begriffe: die Naturbegriffe und den Freiheitsbegriff.2 Naturbegriffe sind leitend, wenn wir uns in theoretischer Einstellung auf Gegenstände der Natur beziehen. Der Freiheitsbegriff demgegenüber stellt zunächst einmal und rein negativ betrachtet das Gegenprinzip zu den Naturbegriffen dar. Positiv formuliert ist er ein Prinzip, durch das eine von der Natur unabhängige Gesetzlichkeit als möglich gedacht wird. Während die Naturbegriffe den Grund für Gesetze enthalten, nach denen die Natur sich bewegt, enthält der Freiheitsbegriff den Grund für Gesetze, nach denen der Wille sich, unabhängig von Naturursachen bewegt, und das heißt sich selbst bestimmt. Entsprechend teilt sich die Philosophie in die Naturphilosophie, die die Bedingungen der Möglichkeit und Geltung von Naturgesetzen untersucht, und die Moralphilosophie, die Gleiches für Möglichkeit und Geltung des Freiheitsgesetzes leistet. Es ist aber jetzt zu fragen: Wie verhält sich die von Kant zu Anfang eingeführte Einteilung der Philosophie in theoretische und praktische zu der zuletzt getroffenen in Natur- und Moralphilosophie? Kant versucht zu zeigen, daß die beiden Einteilungen sich vollkommen symmetrisch zueinander verhalten. Denn dieselbe fundamentale Verschiedenheit der Prinzipien, nach denen unsere Vernunft je nach Gegenstandsgebiet verfährt, soll die Klassifikation hier wie dort begründen und tragen. Nach der Geltung entweder von Natur- oder Freiheitsgesetzen, durch die etwas als bewegt gedacht wird, erfolgt die Spezifikation der Philosophie in theoretische und praktische wie auch in Natur- und Moralphilosophie. Allerdings 1 Vgl hier und im folgenden AA V, 171-173. 2 Kant spricht hier von dem einen Freiheitsbegriff, weil es für ihn zuletzt nur ein Prinzip der Freiheit zu geben scheint: das Moralgesetz.

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Die Systemstelle des Glücksstrebens beim späten Kant

zeigt sich, daß die von Kant behauptete glatte Entsprechung der beiden Einteilungen nicht ohne Schwierigkeiten ist. So sieht sich Kant sowohl in der zweiten als auch in der ersten Fassung der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft zu weitläufigeren Erklärungen genötigt. Denn ist es tatsächlich so, daß die Bereiche des Moralischen und des Praktischen zusammenfallen?

7. Der Wille und seine Prinzipien Zweifellos gibt es menschliches Handeln - also Praxis -, die nicht moralisch ist. Dazu gehören alle Typen von Handlungen, die Kant schon in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von den moralischen unterschieden hatte.3 Für diese Handlungen sind technische oder pragmatische Vorschriften bzw. Imperative leitend, die im Gegensatz zum moralischen Imperativ nicht kategorisch, sondern hypothetisch gelten. Das heißt, sie sind jederzeit nur bedingt und unter Voraussetzung je spezifischer Zwecke des Handelns gültig und gebieten deshalb niemals unbedingt wie der kategorische Imperativ. Sie werden von Kant als praktische, wenn auch nicht moralisch-praktische Prinzipien bezeichnet.4 Der Ursprung praktischer Leistungen aber ist für Kant der Wille. In einer einschlägigen und vielzitierten Passage der Grundlegung erklärt Kant: „Ein jedes Ding der Natur wirkt nach Gesetzen. Nur ein vernünftiges Wesen hat das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Prinzipien, zu handeln, oder einen Willen. Da zur Ableitung der Handlungen von Gesetzen Vernunft erfordert wird, so ist der Wille nichts anderes als praktische Vernunft."5 Wir kennen jedoch grundsätzlich zweierlei Arten von Gesetzen: Natur- und Freiheitsgesetze. Entsprechend läßt unser Wollen sich auch grundsätzlich durch Natur- oder Freiheitsprinzipien als Vorstellungen entweder von Natur- oder Freiheitsgesetzen bestimmen. Im ersten Fall schätzen wir unsere Kräfte in ihrer 3 4

Vgl. AAIV, 414-419. Vgl. ebd., 414 f.

5 Ebd. 412. Zu dieser zentralen Stelle gibt es eine Reihe scharfsinniger - und kontroverser - Deutungsversuche, auf die ich im Rahmen meiner Überlegungen nicht eingehen kann. Vorgestellt und diskutiert werden sie von Pierre Laberge, La, definition de comme faculta d'agir selon La representation des lots (1989). Laberge plädiert für eine Lesart, nach der die strittige Formulierung „nach der Vorstellung der Gesetze" in jeder der vorgeschlagenen Varianten zu verstehen ist: gemeint sind sowohl Naturgesetze, Gesetze der Moral als auch Maximen als subjektiv gültige Grundsätze oder Prinzipien. Meine an Kants Überlegungen in den Einleitungen der Kritik der Urteilskraft orientierte Auslegung wird diese Deutung für die beiden zuerst genannten Arten von Gesetzen bestätigen. Über Maximen als „subjektive Gesetze" werde ich deshalb nicht sprechen, weil es dafür in den von mir hier zugrundegelegten Texten Kants keine Anknüpfungspunkte gibt.

Der Wille und seine Prinzipien

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Wirkung auf bestimmte Dinge, die sich ihrerseits nach spezifischen Gesetzen bewegen, ein. Auf diese Weise können wir, sofern wir erfolgreich sind, in gewünschter — und geregelter — Weise verändernd auf sie Einfluß nehmen. In der späteren Einleitung zur Kritik der Urteilskraß spricht Kant deshalb vom menschlichen Willen als „eine(r) von den mancherlei Naturursachen in der Welt, nämlich d(er)jenige(n), welche nach Begriffen wirkt". Er unterscheidet sie „von der physischen Möglichkeit oder Nothwendigkeit einer Wirkung, wozu die Ursache nicht durch Begriffe (sondern wie bei der leblosen Materie durch Mechanism und bei Thieren durch Instinct) zur Causalität bestimmt wird".6 Im zweiten Fall einer Bestimmung des Willens aufgrund von Freiheitsbegriffen verfahren wir dagegen ganz unabhängig von naturalen Ursache-Wirkungszusammenhängen und geben uns selbst das Moralgesetz, das nichts als die Gesetzesförmigkeit unserer Handlungsmaximen fordert. Was das heißt, werden wir später sehen. In beiden Fällen aber wird die Vernunft praktisch, indem sie uns nach der Vorstellung von Gesetzen: das heißt gewollt handeln läßt. An diesem Schluß läßt Kant überhaupt keinen Zweifel. So schreibt er, nachdem er beide Fälle wie dargestellt voneinander abgegrenzt hat: „Hier nun wird in Ansehung des Praktischen unbestimmt gelassen: ob der Begriff, der der Causalität des Willens die Regel giebt, ein Naturbegriff, oder ein Freiheitsbegriff sei."7 Wie kommt Kant dann dazu, praktische Philosophie allein für die Untersuchung des Moralisch-Praktischen zu reservieren? Wo werden die Handlungen systematisch verortet, die nicht moralisch bestimmt sind?

8. Praktische Sätze in der theoretischen Philosophie Entscheidend für Kants Argumentation und leitend für die Systematik seiner Philosophie ist die Frage, welcher Art die Prinzipien sind, auf denen menschliche Praxis beruht. Je nachdem, ob Natur- oder Freiheitsprinzipien den Willen bestimmen, gehört das Praktische entweder zur theoretischen Philosophie, das heißt zur Naturphilosophie, oder zur praktischen Philosophie, das heißt zur Moralphilosophie. Damit ergibt sich die zumindest auf den ersten Blick befremdlich anmutende systematische Konstellation, daß Praxis als eine von theoretischer und ästhetischer spezifisch unterschiedene Einstellung des Menschen zur Wirklichkeit keine eigene Disziplin der Philosophie begründen können soll, die sie in ihrem ganzen Umfang thematisierte. Ein Teilgebiet lediglich, die moralische Praxis, soll 6 7

AAV, 172. Ebd. Hervorhebung von mir.

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Die Systemstelle des Glücksstrebens beim späten Kant

für sich allein die ganze praktische Philosophie ausmachen. Sofern aber Praxis zu Recht Gattungsbegriff verschiedener Arten von Handlungen ist — technisch, pragmatisch oder moralisch gebotener -, muß es auch einen Inbegriff des Praktischen überhaupt geben, der das ihnen allen Gemeinsame faßt. Kant ist sich bewußt, daß sein Vorschlag einer philosophischen Systematik alles andere als selbstverständlich ist. Aber er ist der Ansicht, daß ein „sehr nachtheiliger Missverstand in Ansehung dessen" herrsche, „was man für practisch in einer solchen Bedeutung zu halten habe, daß es darum zu einer practischen Philosophie gezogen zu werden verdiente".8 So seien Staatsklugheit, Regeln des Umgangs oder Vorschriften, wie der Einzelne zum Wohlbefinden gelangen kann, fälschlicherweise zur praktischen Philosophie gezählt worden. Freilich enthalten alle genannten Disziplinen ohne Zweifel Sätze, die Handlungsregeln formulieren. Diese praktischen Sätze jedoch unterscheiden sich Kant zufolge zwar der „Vorstellungsart" nach von theoretischen, nicht aber dem „Inhalt" nach. Das heißt: Sie sind - dem „Inhalte" nach — „nichts weiter, als die Theorie von dem, was zur Natur der Dinge gehört, nur auf die Art, wie sie von uns nach einem Prinzip erzeugt werden können, angewandt, d.i. die Möglichkeit derselben durch eine willkührliche Handlung, (die ebensowohl zu den Naturursachen gehört), vorgestellt".9 Die Differenz praktischer Sätze, die dennoch zur theoretischen Philosophie gehören, zu theoretischen Sätzen liegt dann allein in der „Vorstellungsart": darin, daß wir uns selbst als „Naturursache" einer von uns beabsichtigten und nach Naturgesetzen ins Werk zu setzenden Wirkung vorstellig machen und unser Handeln dieser - theoretischen - Einschätzung eigener und entgegenstehender Kräfte entsprechend ausrichten. Kant selbst veranschaulicht, was gemeint ist, wie folgt: „So ist die Auflösung des Problems der Mechanik: zu einer gegebenen Kraft, die mit einer gegebenen Last im Gleichgewichte seyn soll, das Verhältniß der respectiven Hebelarme zu finden, zwar als practische Formel ausgedrückt, die aber nichts anders enthält als den theoretischen Satz: daß die Länge der letztern sich umgekehrt wie die erstem verhalten, wenn sie im Gleichgewichte sind; nur ist dieses Verhältniß, seiner Entstehung nach, durch eine Ursache, deren Bestimmungsgrund die Vorstellung jenes Verhältnisses ist (unsere Willkühr), als möglich vorgestellt. Eben so ist es mit allen practischen Sätzen bewandt, welche blos die Erzeugung der Gegenstände betreffen."10 Nachfolgend gibt Kant ein Beispiel für solche praktischen Sätze. Er wählt „die Vorschriften, seine Glückseeligkeit zu befördern".11 8 Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, AA XX, 195. Vgl. auch die Zweite Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, AA V, 171 f. 9 AAXX, 196. 10 Ebd., 196. 11 Ebd.

9. Die Problematik der Zuordnung des Glücksstrebens zur theoretischen Philosophie Die „Vorschriften, seine Glückseeligkeit zu befördern" setzt Kant in dem hier betrachteten Text aus der ersten Einleitung zur Kritik der Urteihkraft als „gegeben" an. Die Aufgabe, die zu lösen dem Einzelnen auferlegt ist, besteht darin, ihnen durch die Wahl geeigneter Mittel zu genügen. Sie läßt sich Kant zufolge als rein theoretisches Problem beschreiben. Wer etwa die zum Glück unerläßliche Genußfähigkeit erhalten oder erst gewinnen will und deshalb „Genügsamkeit" und ein „Mittelmaß der Neigungen, um nicht Leidenschaft zu werden" kultiviert, muß um die „Natur des Subjects" wissen und um „die Erzeugungsart dieses Gleichgewichts, als eine durch uns selbst mögliche Causalität". Unsere Handlung ist somit „als unmittelbare Folgerung aus der Theorie des Objects in Beziehung auf die Theorie unserer eigenen Natur" zu begreifen.12 Aus diesem Grund ist sie für Kant Gegenstand nicht der praktischen, sondern der theoretischen Philosophie. Denn „alle practischen Sätze, die dasjenige, was die Natur enthalten kann, von der Willkühr als Ursache ableiten, gehören insgesamt zur theoretischen Philosophie, als Erkenntniß der Natur, nur diejenigen, welche der Freyheit das Gesetz geben, sind dem Inhalte nach specifisch von jenen unterschieden. Man kann von den erstem sagen: sie machen den practischen Teil einer Philosophie der Natur aus, die letztern aber gründen allein eine besondere praktische Philosophie?™ Der dargelegten Argumentation zufolge also ist das Streben nach Glückseligkeit im Rahmen theoretischer Philosophie zu behandeln, weil es Naturbegriffe sind, die als Handlungsprinzipien fungieren. Auch die „allgemeine Glückseligkeitslehre" enthält nach Kant „insgesammt nur Regeln der Geschicklichkeit, die mithin nur technisch-praktisch sind, [...] um eine Wirkung hervorzubringen, die nach NaturbegrifTen der Ursachen und Wirkungen möglich ist, welche, da sie zur theoretischen Philosophie gehören, jenen Vorschriften als bloßen Corollarien aus derselben (der Naturwissenschaft) unterworfen sind und also keine Stelle in einer besonderen Philosophie, die praktische genannt, verlangen können."14 Mit dieser Erklärung aber bleibt Kant hinter Einsichten, die er schon gewonnen hatte, zurück. Es hatte sich für ihn längst gezeigt, daß sich das Streben nach Glückseligkeit gar nicht allein als Befolgung technisch-praktischer Vorschriften 12 Ebd. 13 Ebd., 197. 14 Zweite Einleitung zur Kritik der Urteilskraft, AA V, 173.

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Die Systemstelle des Glücksstrebens beim späten Kant

gestalten läßt. Nicht nur Fragen danach, wie sich bestimmte Zwecke am geschicktesten verwirklichen lassen, sind hier wichtig, sondern Fragen nach den anzustrebenden Zwecken und Zielen selbst. Deshalb hatte Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten im Blick auf die Glückseligkeit von den Imperativen der Geschicklichkeit solche der Klugheit unterschieden. Sie enthalten „Anrathungen",15 die den Einzelnen bei der Wahl geeigneter Ziele seines individuellen Lebens leiten sollen. Das Verlangen nach Glück als Erfüllung des Lebens selbst gilt Kant allerdings als eine „Absicht", die alle Menschen nicht etwa „bloß haben können, sondern von der man sicher voraussetzen kann, daß sie solche nach einer Naturnothwendigkeit haben".16 Nicht jedoch kann sich die Verfolgung dieser naturgegebenen Absicht auch wieder „nach einer Naturnothwendigkeit" vollziehen. Dies gilt schon deshalb, weil die - theoretischen - Kalküle der Menschen gegen Irrtümer nicht gefeit sind und aus diesem Grund in der Einschätzung eigener und fremder Kräfte fehlgehen können. Im Fall des Irrtums wird die vom Willen als „Naturursache" intendierte Wirkung gerade nicht erzielt. Zwar bleibt der Satz natura nonfacit saltus unverändert in Geltung, auch wenn sich die von uns gewollte Wirkung nicht einstellt, doch zeigt sich die — auf irrtumsanfälliger Theorie beruhende — Defizienz des menschlichen Willens. Diese Schwäche allein verhindert bereits, daß wir unsere Absichten „nach einer Naturnothwendigkeit" ins Werk setzen können. Über den Mangel an Geschicklichkeit hinaus, der die Verwirklichung unserer Ansinnen immer wieder durchkreuzt, ist aber gar nicht von vornherein klar, durch welche Zwecke und Ziele sich unsere Ambitionen auf Glückseligkeit denn bestimmen und konkretisieren lassen. Auch der Weg zum Glücklichsein ist mithin nicht „nach einer Naturnothwendigkeit" vorgezeichnet. Deshalb muß ein möglicher Zugewinn an Geschicklichkeit noch lange keine Steigerung unserer Aussichten aufs Glück bedeuten. Das hatte Kant in der Grundlegung deutlich genug gesehen.17 Es zeigt sich somit, daß technisch-praktische Regeln nicht genügen, um uns in unserem Glücksstreben zu orientieren. Zumindest in diesem Sinn tragen „Naturbegriffe (der Ursachen und Wirkungen)" als Prinzipien, nach denen es sich ausrichten könnte, offensichtlich nicht. Wie dargelegt gibt es jedoch nach Kant nur zwei Arten von Begriffen, aufgrund derer der Wille sich bestimmen läßt: Naturbegriffe und Freiheitsbegriffe. Deshalb liegt die Frage nahe, ob denn Begriffe der Freiheit tauglich sind, uns in unserem Verlangen nach Glückseligkeit zu fuhren. Um diese Frage zu klären, aber ist es nötig, zunächst nach der Freiheit selbst zu fragen. 15 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, 418. 16 Ebd., 415. 17 Vgl.AA IV, 417-419.

Die Problematik der Zuordnung des Gliicksstrebens zur theoretischen Philosophie

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Festzuhalten ist im Moment, daß Kant dem Problem des menschlichen Glücks in der Architektur seines Systems nur eine nachgeordnete Position einräumt. Zwar ist seine Argumentation durchaus konsequent und in der Konsequenz auch nachvollziehbar: Moralisches Handeln ist der ausgezeichnete Fall freier Praxis und die Moral und ihre Gesetzlichkeit deshalb das Thema der praktischen Philosophie. Doch hat unsere Interpretation auf der anderen Seite Belege dafür erbracht, daß Kant der Frage nach dem Glück durch die prekäre systematische Plazierung einen gebührenden Stellenwert vorzuenthalten droht. Diesen Punkt gilt es, im Auge zu behalten.

III. Praktische Philosophie als Philosophie der Freiheit

10. Exposition des Problems der Freiheit Die Freiheit ist ein Rätsel, das Kant sein ganzes Leben lang philosophisch beschäftigte und für das er in sehr unterschiedlicher Weise Lösungen entwarf.1 In unserem Zusammenhang ist ein Moment dieser Problematik zentral. Allerdings handelt es sich um einen Punkt, der im Kern der Freiheitsproblematik steht und auf den alle weiteren Fragen sich in der ein oder anderen Weise beziehen und zurückfuhren lassen. Freiheit wird nämlich für Kant zunächst allein in einem negativen Sinn zum Gegenstand des Nachdenkens: Sie ist das Widerspiel der Natur. Die Natur ist Inbegriff aller Erscheinungen in Raum und Zeit, die sich nach allgemeinen Gesetzen verhalten: eben den Naturgesetzen. Somit ist die Natur, formaliter spectata, ausgezeichnet durch die Gesetzmäßigkeit, mit der sich alles, was zu ihr gehört, bewegt.2 Die Freiheit wird von Kant in der Kritik der reinen Vernunft und auch in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten als Unabhängigkeit von der Gesetzlichkeit der Natur eingeführt. In der ersten Kritik wird sie zum einen — unter dem Namen einer „transzendentalen Freiheit" — bestimmt als „eine absolute Spontaneität der Ursachen, eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen".3 Die Unabhängigkeit von der Naturgesetzlichkeit besteht darin, daß mit der Freiheit eine Bewegursache angenommen wird, die zwar in die Natur hinein wirkt, aber ihrerseits nicht Wirkung einer sie determinierenden naturalen Ursache ist. Zum anderen handelt Kant von der Freiheit „im praktischen Verstande*, die er als „Unabhängigkeit der Willkür von der Nötiguwodurch Antriebe der Sinnlichkeit" bestimmt. Hier ist das Augenmerk auf die je eigene Natur des Menschen gelenkt, von der unabhängig er sich als freies Wesen „von selbst bestimmen" können soll.4 Freiheit ist demnach von Kant als Spontaneität gefaßt, als „Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen", und in diesem Sinne ist sie eine „Kausalität".5 1 Welche Lösungen das sind und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen, untersuchen eingehend Andreas Gunkel, Spontaneität und moralische Autonomie. Kants Philosophie der Freiheit (1989) und Henry E. Allison, Kant's theory of freedom (1990). Beide beginnen mit einer Analyse des Freiheitsproblems in der Dialektik und im Kanon der Kritik der reinen Vernunft, um dann nach der Bedeutung von Freiheit und Autonomie in den ethischen Hauptwerken Kants zu fragen. Mit den dabei anfallenden schwierigen Problemen, insbesondere mit der Begründbarkeit der Freiheit und der Frage einer „Deduktion" des Moralgesetzes aus Freiheit, werde ich mich im folgenden im Detail nicht auseinandersetzen können. 2 Vgl. Kritik der reinen Vernunft, B 165.

3 4 5

Ebd.A446/B474. Ebd. A 534/B 562. Ebd.A533/B56l.

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Praktische Philosophie als Philosophie der Freiheit

Freiheit ist also nicht nur Unabhängigkeit von der Naturkausalität, sondern von Anfang an wird sie als eine eigene Wirkmächtigkeit gedacht. Alle Wirkungen der Natur folgen Gesetzen. Wodurch aber könnte die Freiheit als Wirkmächtigkeit bestimmt sein? Das ist die Frage, die Kant umtreibt. In der Antithese der dritten der Antinomien, in die reine Vernunft sich verstrickt sieht, spricht er von Freiheit als einer „Gesetzlosigkeit". Zwar ist sie, weil sie als Wirkkraft von den Gesetzen der Natur unabhängig zu denken ist, eine Freiheit vom Zwang, doch — wie Kant argumentiert — damit zugleich auch „vom Leitfaden aller Regeln".6 Ein Wesen, dessen Eigenschaft es ist, frei zu sein, muß deshalb als gefährdet gelten. Entsprechend notiert Kant in einer nachgelassenen Reflexion wohl aus den frühen 70er Jahren: „Frey zu sein ist ein Vorrang der species, aber eine Gefährliche Unabhängigkeit eines Geschöpfs. Denn da ist es ohne Leitung und Vorherbestimmung. Dem subiecte nach ohne Regel und dem Zufall ganz überlassen."7 In einem bestimmten Sinn freilich, so läßt sich sagen, geht Freiheit keineswegs mit Gesetzlosigkeit einher. Ist nämlich Freiheit Spontaneität als Vermögen, „eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen", so wirkt sie zwar nicht aufgrund von Naturgesetzen, aber dennoch den Naturgesetzen gemäß. Freiheit als Wirkmächtigkeit entfaltet sich so in und gemäß der Natur: Ihre Wirkungen manifestieren sich als Natur. Sie selbst als deren Ursache freilich läßt sich niemals empirisch bestimmen und fassen,8 ist sie doch ein absoluter und damit unbedingter Anfang. Es bleiben allerdings gewichtige Fragen zu diesem Anfang, als der Freiheit von Kant zunächst einmal gedacht wird: Ist er etwas, das blind und unberechenbar gesetzt, oder aber etwas, das zu kontrollieren und womöglich mit Regeln zu verbinden ist? Diesem Problem gilt Kants hauptsächliches Interesse.

6 Ebd. A 448/B 476. Vgl. auch A 45l/B 479. 7 R. 6650, AA XIX, 124. 8 Daß Freiheit kein Gegenstand der Erfahrung ist, betont Kant immer wieder. Vgl. z.B. Kritik der reinen Vernunft A 533/B 56l; Grundlegung, AA IV, 459.

11. Freiheit und Natur Als Problem des Menschen entstanden ist das Problem der Freiheit mit jenem Übergang, der ihn von einer naturgesteuerten zur selbstgesteuerten Existenz führte. Der Betonung seiner Freiheit ungeachtet sieht und versteht Kant den Menschen auch im Rahmen einer Naturgeschichte, wie seine Arbeiten von der Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels über die Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht\>\s hin zur Friedensschluß deutlich zeigen.9 Kant sucht den Platz des Menschen im Ganzen dessen zu begreifen, was seiner Erfahrung als belebte und unbelebte Natur zugänglich ist. In diesem Sinne notiert er etwa in den Bemerkungen, die er in sein Handexemplar der Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen eintrug: „Die größeste Angelegenheit des Menschen ist zu wissen wie er seine Stelle in der Schöpfung gehörig erfülle und recht verstehe was man seyn muß um ein Mensch zu seyn."10 Nun hat die Natur den Menschen mit einer Anlage, der Freiheit, ausgestattet, die ihn von ebendieser Natur zwar nicht ablöst, aber distanziert. So verstanden ist seine Existenz Ausdruck einer paradoxen Konstellation. Während „es scheinet bey den mehresten ändern Geschöpfen ihre Hauptbestimmung zu seyn daß sie leben und daß ihre Art lebe",11 ist dem Menschen diese fraglose Selbstverständlichkeit des bloßen Seins unmöglich geworden. Ausgesprochen oder unausgesprochen stellt sich die Frage nach einem über die pure Existenz hinausgehenden Gelingen des Lebens. Umfassend behandelt Kant den Übergang des Menschen zu einem seiner Freiheit überantworteten Wesen in der kurz nach Abfassung der Grundlegung geschriebenen und 1786 veröffentlichten Abhandlung über den Mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte. Dort nimmt er sich vor, „eine Geschichte der ersten Entwickelung der Freiheit aus ihrer ursprünglichen Anlage in der Natur des Menschen" zu formulieren.12 Möglichen methodischen Vorbehalten begegnet Kant mit der Versicherung, dieser „erste Anfang einer Geschichte des Menschen - die mit der ersten Regung seiner Freiheit beginnt - könne „von der Erfahrung hergenommen werden, wenn man voraussetzt, daß diese im ersten Anfange nicht besser 9 Vgl. AAI, bes. 351-368; Vgl. AA VIII, 17-31 und 360-368. Zum Begriff der Natur in der Friedensschritt vgl. V. Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf ,Zum ewigen Frieden' (1995), 107-125. 10 Bemerkungen, ed. M. Rischmüller, 36 (AA XX, 4l). 11 Ebd., 29 (AAXX, 31). 12 AAVIII, 109.

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Praktische Philosophie als Philosophie der Freiheit

oder schlechter gewesen, als wir sie jetzt antreffen: eine Voraussetzung, die der Analogie der Natur gemäß ist und nichts Gewagtes bei sich fuhrt".13 Den Menschen des Anfangs, an dem das hypothetisch vorgestellte Erwachen der Freiheit demonstriert werden soll, läßt Kant in einem Stadium auftreten, in dem er über die „gänzliche Rohigkeit seiner Natur" bereits hinausgelangt ist. Er hat schon „einen mächtigen Schritt in der Geschicklichkeit gethan, sich seiner Kräfte zu bedienen". Er kann stehen und gehen; er kann sprechen, ja reden: „d.i. nach zusammenhängenden Begriffen sprechen, mithin denken':.14 Deutlich ist nach dem zuletzt Gesagten also, daß Kant ihn auch schon mit Vernunft ausgestattet sieht. Dennoch ist er ein Wesen, das nicht frei ist, denn der Schritt in die Freiheit soll ja erst vorgeführt werden. So kann es sich nur um eine Vernunft handeln, die ein Mittel seiner Geschicklichkeit ist — und das heißt um theoretische Vernunft. Der von Kant exponierte, noch nicht zur Freiheit erwachte Mensch gebraucht seine Vernunft allein, um den Zwecken der Natur nachzugehen. Er hat keinen eigenen Willen. Was er zu tun hat, sagt ihm der „Instinct", den Kant — der Tradition gemäß - die „Stimme Gottes" nennt.15 Dieser Tradition zufolge hat ein selbst aller Weisheit und Macht teilhaftiger Schöpfergott den perfekt arbeitenden Instinkt in die Natur solcher Geschöpfe gelegt, die nicht fähig sind, sich selbst zu lenken. Auch der Mensch, meint Kant, „befand sich gut", so lange er „diesem Rufe der Natur gehorchte".16 Denn er enthielt die Anleitung zu einer Existenz, die in ihrer Ausrichtung auf festgelegte Zwecke gar nicht fehlgehen konnte. Die Vernunft, über die der Mensch auch als nicht schon freies Wesen bereits verfugen soll, erscheint in dieser Perspektive sogar als problematische Begabung. Wenn das Leben des Menschen wie das aller anderen Lebewesen darauf angelegt wäre, die Zwecke der Natur zu erfüllen und in diesem Sinn als determiniert angesehen werden müßte, würden Regeln seines Verhaltens ihm „weit genauer durch Instinct vorgezeichnet" werden können, „als es jemals durch Vernunft geschehen kann". Denn die Vernunft als Mittel der Steuerung des Lebens ist schwankend und irrtumsanfällig, ihre Leistung im Vergleich zu der des Instinkts deshalb zunächst „schwach" und „betriiglich". Sie bedarf langer Erfahrung und Übung. So argumentiert Kant im ersten Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten}7 Eine ähnliche Einschätzung findet sich in seiner Vorlesung über 13 Ebd. 14 Ebd., 110. 15 Ebd., 111. - Es handelt sich um ein stoisches Argumentationsmuster (vgl. Cicero, De finibus bonorum et malorum III 62; vgl. unten, Kap. 26), das besonders die Scholastiker in ihren Erörterungen über das Verhältnis der Schöpfung zu ihrem Urheber Gott aufgriffen. Vgl. z. B. Thomas von Aquin, Summa theologiae, I - II, q. 46, 4, q. 13,2. 16 AA VIII, 111.

Freiheit und Natur

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das Naturrecht aus dem Jahr 1784. Wir sähen doch, heißt es da, „daß die Natur bei den Thieren durch Instinkt das hervorbringt, was die Vernunft durch lange Umschweife erst aussucht".18 Hier macht Kant sich die Skepsis zu eigen, die schon Rousseau jenen Argumentationen entgegengebracht hatte, die einen Vorzug des Menschen vor allen anderen Lebewesen in seiner Vernunft begründet sehen.19 Aber die Vernunft ist noch gar nicht eigendich zu sich selbst gekommen, behauptet Kant, solange sie sich nur als theoretische zur Geltung bringt. Das geschieht erst in dem Moment, da sie auch praktisch in Gebrauch genommen wird. Erst mit dieser Leistung trägt sie das Dasein des Menschen tatsächlich. Das bedeutet nicht, daß er fortan nicht mehr als ein Geschöpf der Natur zu gelten hätte. Aber von Natur aus ist er mit einer Anlage - der Vernunft - ausgestattet, die ihn in seinen Absichten von der Natur emanzipiert. Dabei mochte, wie Kant hypothetisch annimmt, „die Veranlassung, von dem Naturtriebe abtrünnig zu werden, [...] nur eine Kleinigkeit sein": zum Beispiel die Abweichung von solchen Stoffen der Nahrung, zu denen der mit Geruchs- und Geschmackssinn verknüpfte Instinkt den Menschen trieb und leitete.20 Entscheidend ist der Augenblick, da das eingefahrene Wechselspiel zwischen dem Bedürfnis und seiner Befriedigung durchbrochen wird, und dies nicht etwa durch irgendeine Veränderung beispielsweise der Bedingungen des Lebensraumes, die den Versuch einer Anpassung des Verhaltens zur Folge gehabt hätte. Nein, „die Vernunft" des Menschen „fing bald an [...], sich zu regen und suchte durch Vergleichung des Genossenen mit dem, was ihm ein anderer Sinn als der, woran der Instinct gebunden war, etwa der Sinn des Gesichts, als dem sonst Genossenen ähnlich vorstellte, seine Kenntniß der Nahrungsmittel über die Schranken des Instincts zu erweitern".21 „Zufälligerweise", meint Kant, hätte dieses Experiment gut ausgehen können, wenn der Instinkt auch nicht angeraten, so doch wenigstens nicht widerraten hätte. Um das Problem zu verschärfen, aber setzt Kant einen Instinkt voraus, der gegen die Wahl der Vernunft steht. Das Wagnis, „mit der Stimme der Natur zu chikanieren und trotz ihrem Widerspruch den ersten Versuch von einer freien Wahl zu machen", konnte „wahrscheinlicherweise", so überlegt Kant, den erwarteten Genuß und Gewinn nur verfehlen. Gerade der mutmaßliche Mißerfolg der Urtat aber ließ den Menschen zur Freiheit erwachen und damit zu sich selbst kommen: 17 AAIV, 395. 18 AA XXVII, 1322. 19 Vgl. etwa den Discours sur les Sciences et lesArts, bes. 15 ff; insgesamt knüpft Kant im Mutmaßlichen Anfang vielfach an Überlegungen Rousseaus an. Vgl. auch den Discours sur l'Inigaliti, 14l ff. - Auf die angeschnittene Problematik komme ich weiter unten im Zuge einer Diskussion der Kantischen Kritik am stoischen Konzept der Eudaitnonia noch einmal zurück. Vgl. Kap. 27. 20 Mutmaßlicher Anfang, AA VIII, 111. 21 Ebd.

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Praktische Philosophie als Philosophie der Freiheit

„Der Schade mochte nun gleich so unbedeutend gewesen sein, als man will, so gingen dem Menschen hierüber doch die Augen auf [...]. Er entdeckte in sich ein Vermögen, sich selbst eine Lebensweise auszuwählen und nicht gleich anderen Thieren an eine einzige gebunden zu sein."22 Mit diesem entscheidenden Schritt der Selbsterkenntnis tritt der Mensch heraus aus der Begrenzung eines festgestellten Daseins, doch ebenso aus dessen Sicherheit und Bestimmtheit. Deshalb erweckt das Bewußtsein seiner Freiheit auch nicht nur das „Wohlgefallen" des Menschen, sondern zugleich „Angst und Bangigkeit": „Er stand gleichsam am Rande eines Abgrundes; denn aus einzelnen Gegenständen seiner Begierde, die ihm bisher der Instinct angewiesen hatte, war ihm eine Unendlichkeit derselben eröffnet, in deren Wahl er sich noch gar nicht zu finden wußte". In den verlassenen Zustand zurückzutreten, ist ihm freilich verwehrt: „Aus diesem einmal gekosteten Stande der Freiheit war es ihm gleichwohl jetzt unmöglich, in den der Dienstbarkeit (unter der Herrschaft des Instincts) wieder zurück zu kehren."23 Die Geschichte der Freiheit und damit die Menschengeschichte ist unwiderruflich eröffnet. Ohne daß der Mensch der Natur nicht länger zugehörte, der er seine Existenz und die Möglichkeiten seiner Erhaltung verdankt, ist er aus ihr doch partiell herausgefallen. Denn die Bestimmung seines Lebens ist fortan in seine eigenen Hände gelegt. Das bedeutet keineswegs, daß die natürlichen Antriebe seines Verhaltens, die ihn als Lebewesen auszeichnen, mit dem Auftreten der Freiheit verschwunden wären. Es wäre absurd und wider alle Erfahrung, dies zu behaupten. Nur haben diese natürlichen Antriebe nicht mehr die Qualität, den Menschen unbesehen und zu seinem eigenen Wohl zu einem bestimmten Tun zu bewegen. Die Stimme der Natur ist undeutlich und widersprüchlich geworden. Dafür hat die Entfaltung der Vernunft als eines Vermögens, sich selbst Zwecke zu setzen, gesorgt. Sie hat sich, wie Kant formuliert, in die vordem „unmittelbar empfundenen Bedürfnisse gemischt".24 So hat sie dem Menschen die Unschuld einer bloß naturgesteuerten Existenz genommen. Denn als praktische Vernunft arbeitet sie der Natur durchaus nicht immer in die Hände. Im Gegenteil schreibt Kant ihr sogar die „Eigenschaft" zu, „daß sie Begierden mit Beihülfe der Einbildungskraft nicht allein ohne einen darauf gerichteten Naturtrieb, sondern sogar wider denselben erkünsteln kann".25 Die Ordnung der Natur - im eigenen und fremden Leben - ist vom Menschen durcheinandergebracht worden. So argumentiert Kant im Anschluß an Rousseau, 22 Ebd., 112 (Hervorhebung von mir). - Zu diesem Gedanken vgl. auch J. G. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, 22-26. 23 AAVIII, 112. 24 Ebd., 113. 25 Ebd., 111.

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auf dessen Discourser sich an einer Stelle der Abhandlung ausdrücklich bezieht.26 Freiheit und mit ihr praktische Vernunft müssen deshalb zunächst einmal als Agenten der Subversion und als Quellen der Gesetzlosigkeit erscheinen. Um die Mitte der siebziger Jahre, ungefähr zehn Jahre vor der Niederschrift des Mutmaßlichen Anfangs, notiert Kant die folgende Skizze: „Die freyheit ist eine subiective Gesetzlosigkeit. Man weiß nicht, nach welcher Regel man seine eigenen oder anderer Menschen Handlungen beurtheilen soll. Einfalle, seltsamer Geschmak, böse oder leere Grillen könen Wirkungen hervorbringen, auf die Man nicht vorbereitet war. Sie verwirret also. Die gantze Natur, wenn sie sich nicht selbst obiectiven Regeln unterwirft, die aber nichts anderes seyn können als die Allgemeinen Bedingungen der Einstimung mit der Natur überhaupt, wird dadurch in Verwirrung gebracht."27 Die Freiheit mit Regeln oder Gesetzen zu verbinden, erscheint deshalb als das große Erfordernis. Weil sie als Grund einer fundamentalen Verwirrung angesehen werden kann, ist es verständlich, daß Kant die Geschichte der Freiheit des Menschen in der Abhandlung zum Mutmaßlichen Anfang vom Bösen ausgehen läßt.28 Die Aussicht auf eine Entwicklung zum Besseren freilich hält er für begründet. Das vermeintliche oder tatsächliche Paradies jedoch, der „Garten", der den Menschen „ohne seine Mühe versorgte", ist unwiderruflich verlassen.29 Obwohl der Mensch — wie Kant ihn wohl zu Recht sieht und beurteilt — die Mühseligkeit seines Lebens, das er nun selbst zu besorgen und zu verantworten hat, vielfach und ausfuhrlich beklagt, ist doch eines genauso sicher: Der Stand der Unschuld würde ihm nicht mehr genügen und der Verzicht auf die eigene Wahl unerträglich sein.30

26 Vgl. ebd., 116. - Zum Einfluß Rousseaus auf Kant vgl. J. Schmucker, Die Ursprünge der Ethik Kants (1961), 143 fr; vgl. mit Blick auf den Mutmaßlichen Anfang auch A. Wood, Kant's Ethical Thought (1999), 291 ff. 27 R. 6960, AA XIX, 214. 28 Mutmaßlicher Anfang, AA VIII, 115. Vgl.auch R. 6886, AA XDC, 192. 29 AA VIII, 114. 30 Vgl. ebd., 122 f.

12. „Was soll ich tun?" Mit dem definitiven Eintritt in den Stand der Freiheit aber ist für jeden Menschen die Frage unausweichlich: „Was soll ich tun?" Diese Frage stellt sich gleichsam mit der menschlichen Existenz selbst. Sie artikuliert das mit dieser Existenz immer schon verbundene Problem, das der Einzelne so oder so zu lösen hat. Ein Sollensanspruch, auf den das Individuum sich und sein Tun bezieht, ist daher primär nicht als eine von außen herangetragene Forderung zu verstehen. Sie ergibt sich aus den Desideraten, die mit dem Freisein verknüpft sind. In diesem Sinn ist die Freiheit eine beständige existentielle Herausforderung. Nun legen die im zweiten Abschnitt meiner Untersuchung vorgestellten systematischen Überlegungen der beiden Einleitungen zur Kritik der Urteilskrafi genauso wie die Argumentation der Kritik der praktischen Vernunft aas Verständnis nahe, die Frage „Was soll ich tun?" lasse sich als eine ausschließlich moralische begreifen. Danach sieht es so aus, als ob Kant praktische Freiheit allein mit moralischen Handlungen verbindet.31 Alle anderen Arten von Handlungen - also technisch-praktische und pragmatische - sollen, so scheint es, allein durch Naturbegriffe bestimmt sein und deshalb nicht auf Freiheit beruhen. Für die technisch-praktischen Handlungen ist dieser Gedanke, wie sich schon gezeigt hatte, sogar einleuchtend. Die Imperative der Geschicklichkeit, die sie 3l Rolf-Peter Horstmann (Welche Freiheit braucht Moral? Kant und Dennett über freien Willen [1997]) betont - umgekehrt ansetzend -, daß Kant an der „Unentbehrüchkeit" der Freiheitsvorstellung nur mit Rücksicht auf die Begründung moralischen Handelns festhält. Im Blick auf seine Erkenntnistheorie nämlich hält Kant, wie Horstmann anführt, Freiheit für etwas „Unbegreifliches". Das Moralgesetz als Inbegriff einer für jedes vernünftige Wesen jederzeit gültigen moralischen Verpflichtung aber ist ohne die Annahme von Freiheit nicht zu denken, deshalb ist es ratio cognoscendi der Freiheit. Weil es ohne Freiheit kein Moralgesetz geben kann, muß die Freiheit - umgekehrt - als ratio essendi des Moralgesetzes gelten (vgl. AA V, 4, Anm.). Allerdings ist die Kantische Lehre des für alle vernünftigen Wesen immer schon vorauszusetzenden moralischen Anspruchs, die Lehre vom Moralgesetz als „Faktum der Vernunft", das zur Annahme von Freiheit berechtigt, nicht unbestritten. Sie ist Gegenstand heftiger Kontroversen; vgl. die Arbeiten von G. Krüger (1931), D. Henrich (1960), L. W. Beck (1960/61), G. Prauss (1983), R. Bittner (1983), H. E. Allison (1990) und zuletzt M. Willaschek (1992). Ohne daß es ein von Moralität unabhängiges Argument für die Wirklichkeit der Freiheit gibt, könnte man niemandem verwehren, moralische Forderungen zur Illusion, zum „Hirngespinst" zu erklären (vgl. Grundlegung, AA IV, 445). Diese Möglichkeit möchte Kant aber ausschließen (vgl. ebd., et passim). Schon deshalb muß er ein Interesse daran haben, für praktische Freiheit auch unabhängig von Moralität zu argumentieren. Nun sagt Horstmann ausdrücklich (211), daß er seiner - an Kants Verteidigung gegen Dennett orientierten - Auslegung die Version der Kantischen Ethik zugrundelegt, die in der zweiten Kritik ausgearbeitet ist. Und dort argumentiert Kant, wie von Horstmann dargelegt.

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steuern, haben allein die Wahl der richtigen Mittel zu beliebigen gegebenen Zwekken zu leisten. Dazu ist nur die zutreffende Erkenntnis der den Gesetzen der Natur folgenden eigenen Kräfte im Verhältnis zu den Kräften, auf die ich meinem Zweck gemäß einwirken möchte, gefordert. Daß der Zweck bestimmt und gesetzt ist, wird dabei vorausgesetzt. Imperative der Geschicklichkeit antworten somit zwar auch auf die Frage: „Was soll ich tun?"32 Doch enthalten sie Anweisungen darüber, was ich zu tun habe, allein in dem Sinne, daß sie angeben, mit Hilfe welcher Handlung oder wie ich einen bereits gegebenen Zweck am besten erreiche. Nicht aber steht der Zweck selbst als dasjenige, zu dem ich doch zuvörderst - wodurch auch immer - bestimmt werden muß, in Frage. Und ohne daß Ziele und Zwecke eine Richtung wiesen, wäre die Suche nach geeigneten Mitteln müßig und sinnlos. Wenn aber in den Händen der Vernunft allein der Gebrauch von Mitteln liegt, hat sie trotz aller Raffinesse und Perfektion, die sie dabei entwickeln mag, selbst auch nur den Charakter eines Mittels.33 Dieser Einsicht entsprechend trennt Kant im Mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte den Übergang des hypothetisch vorgestellten ersten Menschen in die Existenz der Freiheit von der früher anzusetzenden Ausbildung theoretischer Vernunft. Der Mensch, der in die Freiheit erst noch entlassen werden soll, wird von Kant bereits als vernünftiges Wesen gezeichnet. Die durch Vernunftgebrauch erworbene Geschicklichkeit indessen scheint Kant eine notwendige Voraussetzung für den Übergang in die Freiheit zu sein.34 Davon ist er wohl deshalb überzeugt, weil der Mensch dem Stand der Freiheit überhaupt nicht gewachsen wäre, verfugte er nicht schon über die Beherrschung eines beachtlichen Arsenals von Mitteln zu beliebigen Zwecken.35 Brisanz erhält die Frage „Was soll ich tun?" erst, wenn sie im Sinne der Frage: „Welche Ziele soll ich mir wählen und in meinem Leben verfolgen?" verstanden wird. Zwar ist auch der zur Freiheit gelangte Mensch nach wie vor mit Neigungen als naturalen Antrieben ausgestattet. Weiterhin fungieren sie als „Leitfäden", die uns die Natur nach Kant „beigegeben hat, um die Bestimmung der Thierheit in uns nicht zu vernachlässigen, oder gar zu verletzen".36 Doch dem Menschen ist nun prinzipiell die Möglichkeit gegeben, sich von der Natur zu entfernen. Vernunft und Natur können auseinandertreten. Dies gilt nicht für die Mittel, durch die der Mensch seine Zwecke zu verwirklichen sucht. Aber es gilt für die Ziele und Zwecke, die er sich setzt. Ausdrücklich spricht Kant im Mutmaßlichen Anfang von naturwidrigen Begierden, die Vernunft als praktische 32 33 34 35 36

Vgl. Moral Mongrovius (1782), AA XXVII, 1398 f. Vgl. z.B. Naturrecht Feyerabend (1784); ebd., 1321 f. Vgl. Mutmaßlicher Anfang, AA VIII, 111. Vgl. hierzu auch: Moral Mongrovius, AA XXVII, 1399. Kritik der Urteilskraft, AA V, 432.

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„erkünsteln" kann.37 Sie kann den naturgegebenen Antrieben folgen, aber sie muß es nicht. Kant führt Beispiele an, die den jederzeit möglichen Widerspruch zwischen Natur und Vernunft augenfällig machen: den „Instinct zum Geschlecht", der den „Naturmenschen" vom „bürgerlichen Menschen" entzweien kann; die Diskrepanz zwischen dem von allen Gedanken unbeschwerten Genuß des gegenwärtigen Lebensaugenblicks und der grundsätzlich von Sorge getragenen „überlegte(n) Erwartung des Künftigen"; die Stellung zu den Mitgeschöpfen zwischen der Beanspruchung als Mittel für die eigene Erhaltung und der Achtung als Partner von gleichem Rang.38 Die Natur versorgt den Menschen zweifellos mit starken Motiven für sein Tun, aber prinzipiell scheidet sie als Instanz aus, von der eine Antwort auf die Frage „Was soll ich tun?" erwartet werden könnte. Selbst wenn wir ihrer Stimme Folge leisten, und das ist nicht selten äußerst vernünftig, so leisten wir ihr doch Folge.39 Dann ist es unsere eigene, auf Vernunft beruhende Leistung, unsere eigene Einschätzung und Bewertung der Situation, in der wir uns befinden, aufgrund derer wir dem Impuls der Natur folgen.40 Ganz und gar unwiderruflich scheint der Mensch aus „dem Mutterschooße der Natur"41 in die Verantwortung der eigenen Freiheit endassen zu sein. So ist es allein praktische Vernunft, an die er sich halten kann, wenn er wissen will: „Was soll ich tun?" Der Leser Kants gewinnt nun überwiegend den Eindruck, daß Kant diese Frage als eine nur moralische Frage behandelt wissen will. So heißt es in der von Jäsche 1800 herausgegebenen Logik-Vorlesung, die Frage „Was soll ich tun?" beantworte die Moral.42 Angenommen, dies träfe zu, so müßte das bedeuten, die Antwort auf sie bestünde allein im kategorischen Imperativ: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde."43 Es sind aber viele, vielleicht unzählige Maximen als subjektive Prinzipien des Handelns denkbar, die der Forderung des Imperativs entsprechen könnten. Der Imperativ verlangt eben nicht, inhaldich so oder so bestimmte Maximen zu haben. Er fordert allein auf, meine Maxime, die demnach als vorliegende und meinige immer schon anzusprechen ist, einer formalen Prüfung zu unterziehen: ob ich wollen könne, daß sie als allgemeines Gesetz gültig wäre. 37 Mutmaßlicher Anfang, AA VIII, 111. 38 Vgl. ebd., 112-114, 116-118 (Anm.; dort finden sich noch weitere Beispiele Kants). 39 Genau diesen Sachverhalt hat auch Gerald Prauss im Blick, wenn er von „Autonomie zur Heteronomie" spricht. Vgl. Kant über Freiheit aL· Autonomie (1983), 12, 15 f, 59 ff et passim. 40 Damit ist nicht in Abrede gestellt, daß es Lagen verminderter Fähigkeit des Vernunftgebrauchs geben kann, die z. B. im Strafrecht als verminderte Schuldfahigkeit entsprechend berücksichtigt werden. 41 Mutmaßlicher Anfang, AA VIII, 114. 42 AADC, 25. 43 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, 421.

„Was soll ich tun?"

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Niemals jedoch erzeugt eine Prüfung das zu Prüfende erst noch, sondern sie setzt es als Stoff oder Material voraus. Zudem formuliert Kant, ich solle meine Maxime „zugleich" als allgemeines Gesetz wollen können.44 Aus dieser Formulierung geht unzweideutig hervor, daß ich in Gestalt meiner Maxime selbst im Fall einer moralischen Handlung stets auch etwas anderes will als ihre Gesetzesförmigkeit - nämlich die Verwirklichung eines konkreten, inhaltlich-material bestimmten Zwecks. So enthält diese Maxime abgesehen von ihrer moralisch-formalen Qualifikation jederzeit „zugleich" eine ganz bestimmte inhaltlich-materiale Festlegung. Worauf aber gründet diese sich? Worauf beruhen die im Begriff der Maxime bereits implizierten materialen Handlungszwecke, die im kategorischen Imperativ immer schon unterstellt und vorausgesetzt, also durch ihn nicht begründet werden? Im Blick auf diese Schwierigkeit sind Kants Ausführungen in der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft aufschlußreich. Denn schon dort formuliert Kant ja jene drei Fragen, in denen „alles Interesse meiner Vernunft (sich) vereinigt" und deren zweite lautet: „Was soll ich tun?".45 Kant charakterisiert sie als „bloß praktisch" und grenzt sie so gegen die erste, die er „bloß spekulativ" nennt, ebenso ab wie gegen die dritte Frage „Was darf ich hoffen?", die er als „praktisch und theoretisch zugleich" bestimmt. Darauf bemerkt er, diese zweite Frage gehöre zwar der reinen Vernunft an, sie sei aber „alsdann doch nicht transzendental, sondern moralisch" und könne deshalb die erste Kritik nicht „an sich selbst" beschäftigen.46 Wieder also nimmt Kant eine Gleichsetzung des Praktischen und des Moralischen vor. Doch in der Erläuterung zur dritten Frage: „Was darf ich hoffen?" geht er noch einmal und vergleichsweise ausfuhrlich auf „das Praktische" ein. Dabei unterscheidet er — mit Blick auf seine späteren Ausarbeitungen in der Grundlegung und in der zweiten Kritik überraschend - zwischen dem „praktischen Gesetz aus dem Beweggrunde der Glückseligkeit" und demjenigen, „wofern ein solches ist, das zum Beweggrunde nichts anderes hat, als die Würdigkeit, glücklich zu sein1. Das erste Gesetz nennt Kant „pragmatisch", das zweite „moralisch"; beim ersten handelt es sich um die „Klugheitsregel", beim zweiten um das „Sittengesetz".47 Das Praktische scheint somit in zwei Arten spezifiziert werden zu können: das durch pragmatische Gesetze bestimmbare Glücksstreben und das durch moralische Gesetze bestimmbare sittliche Verhalten. Insofern beides, Glücksstreben und moralisches Verhalten, Formen des Praktischen sind, muß auch beides, 44 Diese Formulierung Kants ist mit Bedacht gewählt, denn sie findet sich ebenfalls in den anderen Fassungen des kategorischen Imperativs. Vgl. ebd., 429, Z. 11; 436, Z. 31; 437, Z. 18. 45 Vgl. A 804F/B 832 f. 46 A805/B833. 47 A806/B834.

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Praktische Philosophie als Philosophie der Freiheit

Glücksstreben wie moralisches Verhalten, auf Prinzipien der Freiheit beruhen. „Praktisch ist alles, was durch Freiheit möglich ist", formuliert Kant.48 Auf je verschiedene Weise, davon ist dann auszugehen, ermöglichen die je verschiedenen Arten der Praxis Antworten auf die Frage, die sich mit der nicht festgelegten, keinem Zweck schon zugeordneten und unterworfenen Existenz des Menschen stellt: „Was soll ich tun?" Wenn dies auch für den späten Kant — wie gesehen — problematisch wird, so gilt doch für den Kant der Kritik der reinen Vernunft noch, daß es Begriffe der Freiheit sind, die nicht allein das moralische Handeln bestimmen, sondern die uns auch in unserem Verlangen nach Glück orientieren. Dieser Einschätzung muß nicht widersprechen, daß das Glücksstreben gleichwohl auch auf „empirischen Prinzipien" beruht, wie Kant ebenfalls betont: „denn anders als vermittelst der Erfahrung, kann ich weder wissen, welche Neigungen da sind, die befriedigt werden wollen, noch welches die Naturursachen sind, die ihre Befriedigung bewirken können".49 In diesem Sinn sind auch Naturbegriffe für unser Streben nach Glück konstitutiv: sowohl im Hinblick auf das Identifizieren des eigenen Verlangens als auch im Hinblick auf das Auffinden geeigneter Mittel seiner Erfüllung. Doch weist Kant im selben Textzusammenhang zu Recht darauf hin, daß wir unseren Neigungen eben niemals einfach überantwortet und unterworfen sind, sondern daß wir uns stets zu ihnen verhalten und stellen. Ziele unseres Handelns ergeben sich somit nicht schon einfach durch das Vorhandensein von Neigungen: „Denn, nicht bloß das, was reizt, d.i. die Sinne unmittelbar affiziert, bestimmt die menschliche Willkür, sondern wir haben ein Vermögen, durch Vorstellungen von dem, was selbst auf entferntere Art nützlich oder schädlich ist, die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden; diese Überlegungen aber von dem, was in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrungswert, d.i. gut und nützlich ist, beruhen auf der Vernunft."50 Weil wir für uns selbst in Anspruch nehmen, wenn auch vielleicht nicht immer überlegt zu handeln, so doch prinzipiell überlegt und über die Perspektive des Augenblicks hinausblickend handeln zu können und gleiches an Anderen zu beobachten glauben, geht Kant in der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft sogar so weit zu sagen, praktische Freiheit könne „durch Erfahrung bewiesen werden".51 Ganz offensichdich vertritt Kant hier noch nicht die weiter oben skizzierten Positionen und die ihnen entsprechende Systematik seiner späteren Philosophie. Alles, was als „Grund oder Folge" mit der freien Willkür „zusammenhängt", wird 48 49 50 51

A800/B828. A806/B834. A802/B830. Ebd.

„Was soll ich tun?"

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von Kant in der ersten Kritik praktisch genannt.52 Es ist keine Rede davon, daß das Praktische mit dem Moralischen zusammenfällt. Auch die Ziele nichtmoralischen Tuns53 sind der Kritik der reinen Vernunft zufolge auf die „freie Willkür" des Menschen als ihren Grund zurückzufuhren. Diese Ziele aber, welche es auch seien, stehen in mittelbarer oder unmittelbarer Beziehung zu seinem Verlangen nach Glück. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten unterscheidet Kant dreierlei Prinzipien des Wollens: Regeln der Geschicklichkeit, Ratschläge der Klugheit und Gebote oder Gesetze der Sittlichkeit.54 In der Kritik der reinen Vernunß dagegen differenziert Kant zwischen zwei Arten des Praktischen und entsprechend zwei Arten von Prinzipien: solchen des Handelns um der Glückseligkeit willen und solchen moralischen Handelns. Diese Zweiteilung findet sich dann auch beim späten Kant. Im Gegensatz zu seiner Auffassung in der ersten Kritik tendiert der späte Kant dazu, Prinzipien des Glücksstrebens mit Regeln der Geschicklichkeit zu identifizieren.55 Zu dieser Engführung gelangt Kant am Ende, weil er Begriffe der Freiheit als leitende Prinzipien allein für das moralische Handeln reserviert, das Handeln um des eigenen Glücks willen dagegen allein auf Begriffe der Natur meint gründen zu müssen. Doch ist seit der „Endassung" des Menschen aus dem „Mutterschooße der Natur"56 die Frage, wie er mit seiner Existenz umgehen soll, in einem umfassenden und nicht auf die Moral eingeschränkten Sinn offen und Sache nicht mehr der Natur, sondern der Freiheit. Kant selbst formuliert diese Konsequenz, die sich aus der Anlage seiner praktischen Philosophie ohnehin ergibt, in wünschenswerter Deutlichkeit in einer Reihe von handschriftlichen Reflexionen. Ein mit dem Titel Zurpractischen philosophic versehener, nicht genau datierbarer, in den achtziger Jahren notierter Text beginnt so: „Die erste und wichtigste Bemerkung, die der Mensch an sich selbst macht, ist, daß er durch die Natur bestirnt sey selbst der Urheber seiner Glückseeligkeit und sogar seiner eigenen Neigungen und Fertigkeiten zu seyn, welche diese Glückseeligkeit möglich machen. Hieraus folgert er, daß er seine Handlungen nicht nach instincten sondern nach Begriffen, die er sich von seiner Glückseeligkeit macht, anzuordnen habe, daß die größte Besorgnis diejenige sey, welche er vor sich selbst hat: entweder seinen Begrif falsch zu machen oder sich von demselben durch thierische Sinnlichkeit ableiten zu lassen, vornämlich vor einem Hange dazu, seinem Begriffe zuwieder habitualiter zu handeln. Er wird sich also als ein 52 A802/B830. 53 „Nichtmoralisch" soll hier und im folgenden nicht „unmoralisch" heißen, sondern ist im Sinne von „moralisch neutral" zu verstehen.

54 Vgl. ebd., 416. 55 Vgl. z.B. Kritik der Urteilskraft, Einleitung, AA V, 173. 56 Vgl. Mutmaßlicher Anfang, AA VIII, 114.

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Praktische Philosophie als Philosophie der Freiheit

frey handelndes Wesen und zwar dieser independents und Selbstherrschaft nach zum vornehmsten Gegenstande haben, damit die Begierden unter einander mit seinem Begrif von Glückseeligkeit und nicht mit Instincten zusammen stimmen, und in dieser Form besteht das der Freyheit eines vernünftigen Wesens geziemende Verhalten."57 Eine mögliche Erfüllung seiner Existenz hat der Mensch selbst zu entwerfen. Falls sie sich einstellt, ist er in diesem Sinne „selbst der Urheber seiner Glückseeligkeit". Daß sie sich einstellt, aber bleibt offen und ist niemals gewiß. Immer besteht auch die Möglichkeit, daß menschliches Leben grundlegend fehl geht. Denn in den verschiedenen individuellen Lebensverläufen wird nicht einfach ein Pensum absolviert, das vorgegeben wäre. Das, was sie in Bewegung setzt und hält, hat den Charakter von selbstgesteuerten Vollzügen, von Handlungen. Diese sind nicht Ausführungen eines naturbestimmten Programms, sondern sie sind „nach Begriffen", die ein jeder Mensch „sich von seiner Glückseeligkeit macht, anzuordnen". So ist er - allerdings im Rahmen naturaler und auch sozialer Bedingungen - frei, sein Leben zu gestalten. Diese grundsätzliche Freiheit geht einher mit einer grundsätzlichen Gefährdung und Verletzlichkeit der Existenz: „die größte Besorgnis", die der Mensch verspürt, ist diejenige, „welche er vor sich selbst hat". Denn er ist, wie Kant ausführt, nicht davor gefeit, an sich selbst zu scheitern: „entweder seinen Begrif falsch zu machen oder sich von demselben durch thierische Sinnlichkeit ableiten zu lassen", vornehmlich durch einen „Hang", „seinem Begriffe zuwieder habitualiter zu handeln". Nicht schon sich nach seiner Natur, seinen Neigungen und Gefühlen zu richten, gilt Kant hier als eine Form des Mißlingens, sondern sich ihnen unbesehen, unkontrolliert und wider den eigenen „Begriff' vom Leben zu überlassen. Auch Handlungen „aus Neigung" sind prinzipiell Handlungen aus Freiheit. Denn sie sind Äußerungen eines prinzipiell freien Wesens, das sich „seinen Begrif von Glückseeligkeit" macht. Mit diesem eigenen Begriff von seinem Dasein als Geschöpf der Natur, das „Begierden" hat, „zusammen zu stimmen", darin besteht für Kant „das der Freyheit eines vernünftigen Wesens geziemende Verhalten". Es ist Ausdruck seiner Selbstbestimmung. Dem Zusammenhang von Freiheit und Selbstbestimmung aber ist im folgenden genauer nachzugehen.

57 R. 7199, AA XK, 272. - Weitere Belege: siehe unten, Kap. 23 ff.

13. Bestimmung der Freiheit Freiheit ist nach Kant zunächst nichts anderes als die bloße Möglichkeit eines von der Natur unterschiedenen Grundes der Wirksamkeit. Sie ist Eigenschaft eines Willens, und soll sie als etwas Wirksames je kontrolliert in Anspruch genommen werden können, so ist sie - als ursprüngliche Regellosigkeit - mit einer Bestimmung zu verbinden. Dabei kann es sich nach dem Gesagten um keine andere Bestimmung als um jeweilige SWtobestimmung des Willens handeln.58 Durch sie erhält Freiheit, die vorderhand nichts als die abstrakt bleibende Negation des Prinzips der Naturkausalität ist, erst eine Form und so gleichsam Gestalt und Gesicht. Selbstbestimmung und Freiheit müssen synthetisch miteinander verknüpft sein, soll Freiheit überhaupt etwas sern, das Bedeutung hat. Wie aber ist eine solche Selbst-Bestimmung, die mit Freiheit als Spontaneität eben nicht schon analytisch verbunden, sondern die eine Leistung des Subjekts ist,59 zu denken? Diese Selbstbestimmung besteht, ganz allgemein gesagt, darin, der Freiheit eine Form zu geben. Vernunft ist die Instanz, der diese Formung obliegt, und dadurch ist sie praktische Vernunft. Bisweilen spricht Kant, insbesondere in den Reflexionen, auch den Verstand als diese Instanz an.60 Praktische Vernunft und Freiheit gehören zusammen; allein im Verbund mit der jeweils anderen — komplementären — Anlage kommen sie je für sich zur Entfaltung. Ohne Freiheit als Spontaneität, als Fähigkeit, von selbst anzufangen, könnte Vernunft nichts bewirken. Sie könnte dann allenfalls als theoretische, als Vermögen der Betrachtung gelten. Eine solche nur betrachtende Einstellung zur Welt schreibt Kant im ersten Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten einem Wesen hypothetisch zu, das zwar Vernunft hat, doch dessen Verhalten dennoch Instinkten unterworfen ist.61 In diesem Wesen hätte die Vernunft ihr Potential noch nicht voll entfaltet. Einer Vernunft ohne Freiheit nämlich bliebe die entscheidende, weil in Bewegung setzende und gestaltende, bliebe die praktische Dimension verschlossen. Auf der anderen Seite jedoch bedeutete Freiheit ohne 58 Vgl. Grundlegung, AAIV, 446 f mit 427. 59 Zu dem Problem der Differenz zwischen Freiheit als Spontaneität und ihrer Bestimmung in Form einer Selbstgesetzgebung vgl. die Arbeit von U. J. Wenzel, Anthroponomie. Kants Archäologie der Autonomie (1992) und meine Besprechung in: Kant-Studien 89 (1998), 375-383. 60 Vgl. z.B. R. 6847, 6859 , AAXIX, 178, 182. 61 Vgl. AA IV, 395. - Genau auf diesem (Entwicklungs-)Stand präsentiert Kant den hypothetisch vorgestellten ersten Menschen, der nun zur Freiheit erwachen soll, im Mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte. Vgl. oben, Kap. 11.

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Praktische Philosophie als Philosophie der Freiheit

Vernunft nichts als leere Dynamik. Freiheit ohne Vernunft, ohne Form und Regel wäre zwar Kraft des Anfangs, aber eine richtungs- und ziellose und damit blinde und selbstzerstörerische Kraft. Ist Freiheit, so Kant, Unabhängigkeit von Instinkten und überhaupt der Leitung der Natur, „so ist sie an sich selbst eine Regellosigkeit und der Ursprung alles Übels und aller Unordnung", wenn ihr keine Regel gesetzt wird. „Es muß demnach", fährt Kant fort, „die fireyheit unter der Bedingung der allgemeinen Regelmäßigkeit stehen und eine Verständige freyheit seyn, sonst ist sie blind oder wild."62 Sie bedarf einer „Ordnung", weil sie ansonsten bloß Grund unzusammenhängender, unkoordinierter und „tumultarischer" Bewegung sein könnte.63 Dies gilt nach innen und nach außen: im Blick auf das Verhältnis zu unseren jeweiligen Antrieben und Neigungen ebenso wie in Hinsicht auf unser Verhältnis zu anderen freien Wesen. Freiheit und Selbstbestimmung durch Vernunft sind für Kant aus den dargelegten Gründen notwendig miteinander verknüpft. In der Vernunft bzw. dem Verstand haben Regeln, Prinzipien, Gesetze ihren Ursprung. Auf die Gestaltung durch solche Regeln aber ist die Freiheit bezogen und angewiesen. So wäre es ein Mißverständnis, Freiheit als Inbegriff von Regellosigkeit und Ungebundenheit zu betrachten. Im Gegenteil: Regeln „hängen", wie Kant formuliert, der Freiheit „unter dem Nahmen des Sollen so unabtrennlich an, [...] daß wir den Grund aller unserer Urtheile und das Bewußtseyn unserer Natur umkehren, wenn wir die freyheit einer restringirenden Regel in der Ausübung gegen sich selbst entziehen". M Freiheit ist im Denken Kants unlösbar mit Autonomie, mit dem Auferlegen selbstgegebener Prinzipien und Gesetze verknüpft.65 Erst sie ermöglichen es dem in die Freiheit entlassenen Menschen, aus der Unbestimmtheit herauszutreten und seinem Tun eine Richtung zu geben. Ohne die Fähigkeit zu solcher SelbstBestimmung aber wäre er nach Kant das bedauernswerteste Geschöpf, und er hätte das Tier zu beneiden, das seinen Instinkten folgen kann.66 Denn im Fall des Menschen sind Instinkte als naturgesetzte Regeln des Verhaltens ausgefallen und allenfalls als Motive noch wirksam. Daß Instinkte als natürliche Antriebe das Tun des Menschen allein nicht leiten können, zeigt sich nicht zuletzt an der von Kant aufgezeigten Dialektik zwischen den Forderungen des „Naturmenschen" und des „bürgerlichen Menschen".67 Um den naturgegebenen Mangel an Steuerung zu 62 R. 7220 (1780er Jahre, frühestens 1776-1779), AA XIX, 289. Hervorhebung von mir. 63 Vgl. R. 7029 (Datierung unsicher; Ende 70er Jahre oder eher), AA XDC, 230. 64 R. 6847 (1776-1778), AA XDC, 178. 65 Zu den nicht unerheblichen Schwierigkeiten der Kantischen Argumentation für die „Reziprozität" von Freiheit und praktischem Gesetz vgl. H. E. Allison, Kant's Theory of Freedom (1990), 201 ff. 66 Vgl. R. 7202 (1780er Jahre), ebd. 282; vgl. auch R. 6960 (wahrscheinlich Mitte der 1770er Jahre), ebd. 214. — Zum systematischen Zusammenhang von Selbstbestimmung und Anerkennung selbstgegebener Regeln vgl. V. Gerhardt, Selbstbestimmung (1999), bes. 362-413.

Bestimmung der Freiheit

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kompensieren, bleibt dem Menschen nichts, als sich selbst mit einem Sollen, das heißt mit einem Anspruch zu konfrontieren. Genau darin besteht &/&rtbestimmung. So gehört das Sollen „unabtrennlich" zur Freiheit und ist deshalb nichts, das ihr fremd wäre. Wenn aber Freiheit mit Autonomie zusammenzudenken ist und wenn das Streben nach Glück auf Freiheit beruht — und auch das konnte mit Kant gezeigt werden -, so müßte aus diesen beiden Sätzen konsequenterweise folgen: Für das Glücksstreben sind selbstgegebene Prinzipien leitend. Argumentiert nun Kant für eine solche These, und kann er das tun? Es wurde bereits daraufhingewiesen, daß Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten zwischen dreierlei Prinzipien des Wollens unterscheidet: zwischen Regehi der Geschicklichkeit, Ratschlägen der Klugheit, die unser Verlangen nach Glückseligkeit orientieren sollen, und Geboten oder Gesetzen der Sitdichkeit. Und nicht erst in der Grundlegung, sondern bereits viel früher hat Kant Formen der Praxis — Geschicklichkeit, Klugheit, Sitdichkeit oder Moral — voneinander abgegrenzt.68 In seinen späteren Schriften dagegen scheint Kant nur noch zweierlei Arten des Praktischen zu kennen: das in Gesetzen der Freiheit gründende moralische Handeln und das Gesetzen der Natur folgende Handeln, das durch die Sorge um das je eigene Glück bestimmt ist. Mit zunehmendem Nachdruck sieht er die Freiheit allein mit spezifisch moralischer Autonomie verknüpft. Allein in Gestalt moralischer Selbstbestimmung nämlich ist der Wille sich selbst in einem strikten Sinn, das heißt unabhängig von empirischen Bestimmungsgründen, ein Gesetz.69 Denn dieses moralische Gesetz schreibt im gegebenen Fall nichts anderes als die Form meines Wollens vor — unangesehen des in ihm enthaltenen materialen Zwecks. Ich soll meinem Wollen die Form der Gesetzmäßigkeit geben. Der Wille als Grund des Moralgesetzes bezieht sich mit diesem Gesetz auf sich selbst. Wille eines vernünftigen Wesens ist „das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Prinzipien zu handeln".70 Nun gibt es — wie gesagt — verschiedene Arten von Prinzipien unseres Handelns: technische, pragmatische, moralische. Das moralische Prinzip als Vorstellung des Sittengesetzes aber zeichnet sich dadurch aus, daß es als Prinzip der Prüfung unserer Prinzipien fungiert. Insofern konfrontiert es den Willen mit sich selbst. Es ist ein Gesetz der durch nichts eingeschränkten, von keinerlei empirischen Bedingungen begrenzten Freiheit und aus diesem Grund für Kant Inbegriff der Autonomie im strengsten Sinn. 67 Vgl. oben, Kap. 12. 68 Vgl. dazu C. Schwaiger, Kategorische und andere Imperative. Zur Entwicklung von Kants praktischer Philosophie bis 1785 (1999). Vgl. auch: N. Hinske, Grundformen der Praxis. Vorüberlegungen zu den Grundlagen von Kants praktischer Philosophie (1980), 86-120. 69 Vgl. Grundlegung, AA IV, 440. 70 Ebd., 412.

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Praktische Philosophie als Philosophie der Freiheit

Solche empirischen Konditionen spielen dagegen sehr wohl eine Rolle für die von Kant so genannten subjektiven Prinzipien unseres Handelns, die das Streben nach Erfüllung unseres Lebens leiten. Wir entwerfen sie unter Berücksichtigung jener Bedingungen unseres individuellen Daseins, die wir überwiegend nicht selbst gesetzt haben, sondern die uns gesetzt sind. So werde ich mir niemals unabhängig von den spezifischen Gegebenheiten und Konstellationen der Wirklichkeit, in der ich lebe, und auch nicht unabhängig von meinen persönlichen Talenten und Dispositionen etwas zur Maxime meines Verhaltens „machen"71. Wenn ich ein unsportlicher, aber musikalisch begabter Mensch bin, wird es eher meine Maxime sein, zur Erholung von beruflichen Anstrengungen regelmäßig Klavier zu spielen als Handball. Wenn es mir allerdings in meinem Leben an Gelegenheiten, das Klavierspiel zu erlernen, fehlt, so werde ich trotz eines entsprechenden Talents die nötige Erholung auf anderen Gebieten suchen. Maximen als Grundsätze, an denen ich mein Tun orientiere, müssen auch keinesfalls ein Leben lang unverrückbar dieselben bleiben. Erfahrungen mit der Welt und mit mir selbst können mich veranlassen, bestimmte meiner Maximen aufzugeben und mich künftig anders einzustellen. Ohne Frage haben die Maximen oder subjektiven Prinzipien meines Handelns ihren Ursprung in meinem freien Willen und sind in diesem Sinn Ausdruck meiner Autonomie. Doch kann diese moralneutrale Autonomie72 niemals als eine so .reine', eine in der Möglichkeit ihrer Entfaltung so uneingeschränkte gelten wie die moralische Autonomie. Denn ihr sind in Form von Kontingenzen der je individuellen Lebenswirklichkeit mehr oder minder enge Grenzen gezogen. Liegt in diesem Umstand der Grund dafür, daß Kant die Verbindung von Freiheit und Autonomie im Blick auf das Glücksstreben zum Problem wird? Schließlich beruht es auf subjektiven pragmatischen Prinzipien und nicht auf allgemein gültigen moralischen. Dieses Glücksstreben aber zuletzt auf Naturgesetzlichkeit zurückzuführen, wie Kant es spätestens in den Einleitungen zur Kritik der Urteilskraß unternimmt, kann keine Lösung des Problems bedeuten. In welchem Verhältnis jedoch stehen Moral und Glück zueinander, gerade wenn beide in der Freiheit als Autonomie ihre Wurzel haben? Diese Frage muß im folgenden behandelt werden. Dazu soll die Entwicklung der praktischen Philosophie Kants so weit beleuchtet werden, wie dies für ihre Beantwortung nötig ist.

71 Zu dieser Redeweise Kants vgl. z.B.: Kritik der praktischen Vernunft, AA V, 19, 27. Vgl. auch: Grundlegung, AA IV, 422. 72 R. Bittner (Maximen [1974], 494-496) spricht von „natürlicher" Autonomie.

IV. Gibt es ein uneingeschränkt Gutes ? Überlegungen des frühen Kant

14. Verbindlichkeit als Grundbegriff Einer der frühesten Texte Kants zur praktischen Philosophie, die uns vorliegen, ist die Ende 1762 eingereichte Preisschrift Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral. Den „ersten Gründen" der Moral widmet Kant nur wenige, aber gewichtige Seiten.1 Dabei geht er von der Verbindlichkeit als Grundbegriff der „praktischen Weltweisheit" aus. Denn sollte es eine auf sicheren Fundamenten ruhende praktische Philosophie überhaupt geben, so müßte sich irgendeine Verbindlichkeit als ihre Grundlage ermitteln lassen. Verbindlichkeit aber besagt: „Man soll dieses oder jenes thun und das andre lassen".2 Daß Unterlassen genauso wie Tun ein Fall von Praxis ist, hat Kant sich ausfuhrlicher in seinem Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen klargemacht.3 Ein Verständnis des Sollens als eines selbstgesetzten Anspruchs, mit dem der von der Naturgesetzgebung emanzipierte Mensch sich in seinen Lebensvollzügen selbst eine Form gibt, ist in diesem frühen Text noch nicht zu finden. Kant spricht davon, jedes Sollen drücke „eine Nothwendigkeit der Handlung" aus.4 Diese praktische Notwendigkeit ist hier für Kant in einem zweifachen Sinn zu verstehen. Sie entspricht einer zweifachen Bedeutung des Sollens: „Ich soll nämlich entweder etwas diun (als ein Mittel), wenn ich etwas anders (als einen Zweck} will, oder ich soll unmittelbar etwas anders (als einen Zweck) thun und wirklich machen."5 Im ersten Fall ist der Zweck als gegeben angenommen, und sofern ich ihn nur wirklich will — was allerdings der Begriff des Zweckes für sich allein schon besagt —, kann ich mich nicht irgendwelcher, sondern mußmich geeigneter Mittel bedienen. Mein Zweck legt mich in der Wahl meiner Mittel fest. Deshalb spricht Kant von der „Nodiwendigkeit der Mittel". Freilich gilt dies in mehr oder weniger weiten Grenzen. Denn nicht immer gibt es nur ein einziges Mittel, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Schon daraus folgt, daß der Notwendigkeit der Mittel keine strenge Verbindlichkeit zukommt. Und darüber hinaus gelten bestimmte Mittel eben stets nur relativ zum gegebenen Zweck.

1 Vgl. AA II, 298-300. 2 Ebd., 298. - Hier folgt Kant Crusius. Vgl. Chr. A. Crusius, Anweisung vernünftig zu leben (1744), § 160. 3 Vgl. AA II, 182-184. 4 Ebd., 298. 5 Ebd.

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Gibt es ein uneingeschränkt Gutes? Überlegungen des frühen Kant

Gibt es also vielleicht notwendige Zwecke, die verbindlich oder verpflichtend für mich sein könnten? Kant nennt6 einige, aus der Tradition geläufige: die Beförderung der insgesamt größten Vollkommenheit,7 das dem Willen Gottes entsprechende Handeln8. Die gesuchte Verbindlichkeit allerdings scheint ihnen nicht zuzukommen. Denn es ist nicht zu sehen, mit welchem Recht sie als unmittelbar oder unbedingt gebotene Zwecke gelten sollten. Umgekehrt verlangt eine uneingeschränkt oder absolut gebotene Handlung, daß sie „unmittelbar nothwendig" und deshalb überhaupt „nicht unter der Bedingung eines gewissen Zwecks gebietet".9 An diesem Punkt der Überlegung gesteht Kant ein, nicht mehr weiter zu wissen: „Und hier finden wir, daß eine solche unmittelbare oberste Regel aller Verbindlichkeit schlechterdings unerweislich sein müsse. Denn es ist aus keiner Betrachtung eines Dinges oder Begriffes, welche es auch sei, möglich zu erkennen und zu schließen, was man thun solle, wenn dasjenige, was vorausgesetzt ist, nicht ein Zweck und die Handlung ein Mittel ist." Diese Voraussetzung bestimmter Zwecke aber müßte gerade vermieden werden, „weil es alsdann keine Formel der Verbindlichkeit, sondern der problematischen Geschicklichkeit sein würde".10 Das gilt nach Kant ausdrücklich auch für den Zweck der Glückseligkeit. „Wer einem ändern vorschreibt", heißt es in der Untersuchung, „welche Handlungen er ausüben oder unterlassen müsse, wenn er seine Glückseligkeit befördern wollte, der könnte wohl zwar vielleicht alle Lehren der Moral darunter bringen, aber sie sind alsdann nicht mehr Verbindlichkeiten, sondern etwa so, wie wenn es eine Verbindlichkeit wäre, zwei Kreuzbogen zu machen, wenn ich eine gerade Linie in zwei gleiche Theile zerfallen will, d.i. es sind gar nicht Verbindlichkeiten, sondern nur Anweisungen eines geschickten Verhaltens, wenn man einen Zweck erreichen will."11 Das Glück des Menschen kommt demgemäß als Begriff, der zur Grundlegung der praktischen Philosophie nach den Maßstäben Kants taugte, a fortiori nicht in Frage. Trotz der von ihm gehegten Skepsis, jemals eine „unmittelbare oberste Regel aller Verbindlichkeit" begründen zu können, zieht Kant in der Preisschrift zuletzt doch noch zwei mögliche Grundsätze verbindlichen Handelns in Erwägung: einen formalen und einen materialen. Der formale Grundsatz lautet: „Thue das Vollkommenste, was durch dich möglich ist" und entsprechend: „Unterlasse das, 6 Ebd. 7 So Leibniz und Wolff. Vgl. oben, Kap. 1; dort sind auch Belegstellen angegeben. 8 Vgl. Christian August Crusius, Anweisung vernünftig zu leben (1744), §§ 106, 172-174. 9 AAII, 298 f. 10 Ebd., 299. 11 Ebd., 298. - Das geometrische Beispiel, das Kant zur Veranschaulichung seines Gedankens heranzieht, taucht in der Grundlegung wieder auf— im Zuge einiger Überlegungen zur Möglichkeit von Imperativen der Geschicklichkeit. Vgl. AA IV, 417.

Verbindlichkeit als Grundbegriff

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wodurch die durch dich größtmögliche Vollkommenheit verhindert wird".12 Der materiale Grundsatz der Verbindlichkeit schreibt die Notwendigkeit der Handlung vor, die nach Maßgabe eines „unauflöslichen Gefühls des Guten" als unmittelbar gut vorgestellt wird.13 Wie die beiden Grundsätze miteinander verknüpft sind, worin die vom Einzelnen hervorzubringende Vollkommenheit denn bestehen könnte,14 und ob in dem Gebot einer Beförderung der Vollkommenheit überhaupt ein formaler Grund der Verbindlichkeit liegen kann, das sind Fragen, die Kant offenläßt.

15. Vernunft oder Gefühl? Der Ursprung der Verbindlichkeit Die Ansätze einer Grundlegung der Ethik, die Kant in der frühen Preisschrift vorgetragen hatte, bleiben auch für seine weitere Arbeit bestimmend. Kant sucht nach einer Verbindlichkeit des Handelns. Sie soll den Grundstein einer praktischen Philosophie bilden. Als ebenso entscheidend wie elementar für die Lösung dieser Aufgabe erweist sich die Klärung des Ursprungs praktischer Verbindlichkeit. Worauf soll sie sich gründen können? In der Untersuchung hatte Kant auf zweierlei Ursprung der Verbindlichkeit hingewiesen, auf das „Gefühl des Guten" und auf die Vorstellung des Vollkommensten, das dem Einzelnen zu befördern möglich erscheint. Mit Hilfe beider Grundsätze, dem „materialen" wie dem „formalen", soll den Ausführungen der Preisschrift zufolge angegeben werden können, was unmittelbar gut und deshalb verbindlich ist. Alles, was nur mittelbar gut ist, kann für niemanden in einem strikten Sinne verbindlich sein, weil es nur unter Voraussetzungen gut ist: wenn bestimmte Zwecke erreicht werden sollen, wenn in bestimmten Situationen reagiert werden muß etc. Deshalb hält Kant es von Anfang an für wesendich, die Frage nach dem unmittelbar Guten zu stellen und nach einer Antwort zu suchen. Wenn sie gefunden werden könnte, wäre eine Antwort auf die Frage „Was soll ich tun?" gegeben, die schlechdiin Gültigkeit hätte. In der Preisschrift erwägt Kant zwei Quellen einer solchen Verbindlichkeit. Das Verhältnis, in dem das Gefühl des Guten und die 12 AAII, 299. 13 Ebd. 14 Dieter Henrich sieht Kant schon in der frühen Preisschrift auf dem Weg zur Konzeption des guten Willens. Deshalb ist er der Meinung, Kant verstehe hier Vollkommenheit nicht mehr als eine ontologische perfectio essendi, sondern als den Gegenstand eines guten Willens. Der Wille selbst sei insofern Grund von Vollkommenheit. Vgl. Über Kants früheste Ethik (1963), 156-160. Im Text der Preisschrift selbst freilich finden sich m. E. keine expliziten Anhaltspunkte für diese Interpretation.

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Vorstellung des möglichst Vollkommenen zueinander stehen, bleibt aber ungeklärt. Deutlich ist allerdings, daß Kant das Gute an die Subjektivität des Einzelnen knüpfen möchte. Denn zum einen führt er das Gute auf ein besonderes Gefühl zurück und damit auf etwas, das unablösbar an das empfindende Individuum gebunden ist. Zum anderen rekurriert er auf das Vollkommenste, „was durch dich", das heißt den je Einzelnen, „möglich ist".15 Beide Ansätze werden von Kant weiter verfolgt. Zum Schluß der Untersuchung formuliert er geradezu programmatisch, daß „noch allererst ausgemacht werden muß, ob lediglich das Erkenntnisvermögen oder das Gefühl (der erste, innere Grund des Begehrungsvermögens)" als „erste Grundsätze" der praktischen Weltweisheit zu gelten haben.16 Bedenkt man die von Kant später so dezidiert vertretene Ablehnung des Gefühls als Grundlage der Moralität,17 so mag es auf den ersten Blick verwundern, daß der junge Kant die Möglichkeit einer auf dem Gefühl des Guten basierenden Ethik ausführlich erwägt. Dazu ist - und an dieser Stelle nur vorläufig - anzumerken, daß auch in Kants späteren Argumentationen das moralische Gefühl eine bedeutende, wenngleich nicht leicht zu fassende Rolle spielt.18 Selbst eine ganz auf Vernunft gegründete Moral kommt offensichtlich ohne ein mit ihr ursprünglich verbundenes, durch sie gewirktes Gefühl nicht aus. Daß Kant auch auf dem Feld der Moral beides, Vernunft und Gefühl, in Anschlag bringt, muß gerade im Blick auf die Frage nach dem Glück des Menschen von größtem Interesse sein. Die allzu geläufige Alternative, der zufolge das Glücksstreben nach Kant auf Gefühlen der Lust und Unlust und nichts sonst beruht, moralisches Verhalten dagegen auf praktischer Vernunft unter Ausschluß aller Empfindlichkeit, wird zu überdenken sein. Obgleich es ein Glück, das nicht mit allen Sinnen zu spüren ist, nicht gibt, ist es ebensowenig ohne Leistungen praktischer Vernunft zu haben. Und obgleich Moralität, ohne in Prinzipien der praktischen Vernunft begründet zu sein, nicht zu denken ist, gibt es sie — für den Menschen zumindest — ebensowenig ohne die entsprechenden moralischen Gefühle.

15 AAII, 299. 16 Ebd., 300. 17 Vgl. z. B. Kritik der praktischen Vernunft, Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft, AA V, 71- 89; Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, 442. 18 Näheres unten, bes. Kap. 25.

16. Selbstliebe und Liebe zum Guten: Die Differenz zwischen Glücksstreben und Moralität Bevor der weiter ausgreifenden Problematik des Verhältnisses von Vernunft und Gefühl für das moralische Verhalten auf der einen und das Glücksstreben auf der anderen Seite genauer nachgegangen werden kann, aber ist die Ethik des moral sense in ihrem Einfluß auf die Entwicklung der praktischen Philosophie Kants zu beleuchten. Das Konzept dieser Ethik, wie sie vom Earl of Shaftesbury, Francis Hutcheson und auch David Hume vertreten wurde, besaß für den jungen Kant eine beträchdiche Attraktivität. Es wird sich zeigen, daß es die schottischen Aufklärer waren, denen Kant die Intuition, wenn auch nicht schon die Begründung einer Entflechtung von Glücksstreben und moralisch motiviertem Tun verdankt. Dagegen weist er deren Engfiihrung in den Sittenlehren der deutschen Aufklärung zurück. Bereits in der Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral findet sich ein Hinweis auf Hutcheson. Nachdem Kant gegen Ende der Preisschrift noch einmal die Unentbehrlichkeit erster praktischer Grundsätze hervorgehoben hat, schreibt er: „Hutcheson und andere haben unter dem Namen des moralischen Gefühls hievon einen Anfang zu schönen Bemerkungen geliefert."19 Offensichtlich aber hält Kant Hutchesons Arbeiten zur Grundlegung der praktischen Philosophie nicht schon für befriedigend und so überzeugend, daß er ohne weiteres an sie anschließen möchte. Dieser Eindruck wird durch eine Einschätzung bestätigt, die in Kants Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre von 1765 - 1766 zu lesen ist. Dort kündigt Kant an, allgemeine praktische Weltweisheit und die Tugendlehre nach Baumgarten vorzutragen. Er fährt fort: „Die Versuche des Shafiesbury, Hutcheson und Hume, welche, obzwar unvollendet und mangelhaft, gleichwohl noch am weitesten in der Aufsuchung der ersten Gründe aller Sittlichkeit gelangt sind, werden diejenige Präcision und Ergänzung erhalten, die ihnen mangelt".20 Warum imponieren Kant die Versuche der Philosophen der schottischen Aufklärung einerseits, und worin sieht er andererseits ihre Defizite? Im folgenden werden wir uns im wesentlichen auf Hutcheson konzentrieren. Nicht nur ist er der Autor, den Kant am häufigsten nennt, wenn er das 19 AAII, 300. 20 Ebd., 311.

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moralische Gefühl als Grundbegriff praktischer Philosophie diskutiert.21 Hutcheson ist zudem derjenige, der über den von Shaftesbury ins Spiel gebrachten moral sense ohne dessen Platonismus22 und mit größerer systematischer Schärfe handelt; Hume, der sich auf beide, Shaftesbury wie Hutcheson bezieht,23 folgt letzterem in allen für uns wichtigen Punkten.24 Was Kant an Hutcheson schätzt, läßt sich sogar noch einem gewichtigen Text aus einer Zeit entnehmen, in der er der moral sense-Theone schon sehr kritisch gegenüberstand. Mit diesem Text, in dem er auch auf Hutchesons Konzeption eingeht, tritt Kant zum ersten Mal mit dem Entwurf seiner eigenen, gänzlich anders fundierten Ethik an die Öffentlichkeit. Das moralische Gefühl hat in ihr zwar einen festen — wenngleich erst grob umrissenen — Platz, doch einen anderen, als es im Denken Hutchesons eingenommen hatte. Die Schrift, von der die Rede ist, ist die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Im zweiten Abschnitt will Kant nach der Vorstellung des kategorischen Imperativs zeigen, daß empirische Prinzipien nicht tauglich sind, um Moralität zu begründen.25 Denn es fehlt ihnen die allgemeine Geltung, die allein ein jedes vernünftige Wesen jederzeit verpflichten kann. Besonders das Prinzip der Verfolgung eigener Glückseligkeit kritisiert Kant in diesem Zusammenhang. Eine Ethik, die moralisches Handeln als bestgeeignetes Instrument des Glücksstrebens begriffe, würde „die Bewegursachen zur Tugend mit denen zum Laster in eine Classe stellen und nur den Calcul besser ziehen lehren". Ein spezifischer Unterschied zwischen ihnen könnte nicht angegeben werden. Die Differenz zwischen Grundsätzen des Strebens nach Glück und Grundsätzen moralischen Verhaltens stets betont zu haben, attestiert Kant nun ausdrücklich der Philosophie des moral sense. In einer Anmerkung nennt er den Namen Hutchesons.26 In der Tat ist es eines der ersten Anliegen Hutchesons, gegen Hobbes und gegen Mandeville Moralität als ein ebenso ursprüngliches Interesse des Menschen auszuweisen wie die Selbsdiebe (self-love), der es um das eigene Glück zu tun ist.27 Hobbes und Mandeville dagegen kennen nur eine einzige Antriebskraft menschli21 Kant besaß Übersetzungen von Hutchesons Inquiry into the Original of our Ideas of Beauty and Virtue (1725) und seines Essay on the Nature ana Conduct of the Passions and Affections, with Illustrations on the Moral Sense (1728). Vgl. A. Warda, Immanuel Kants Bücher (1922), 50. 22 Näheres hierzu bei: £. Cassirer, Die platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge (1932). 23 Vgl. D. Hume, A Treatise of Human Nature (1739/40), Introduction, XXI; Ders., Enquiries concerning Human Understanding and concerning the Principles of Morals (1777), 134. Vgl. auch: D. Hume, A Letter from a Gendeman (1745), 30 f. 24 Vgl. W. H. Schrader, Ethik und Anthropologie in der englischen Aufklärung (1984), 169 ff; bes. 169-172. Schrader markiert auch die Differenzen in den Konzepten Hutchesons und Humes. 25 Vgl. hier und im folgenden: AAIV, 442 f. 26 AA IV, 442 (Anm.).

Selbstliebe und Liebe zum Guten: Die Differenz zwischen Glücksstreben und MoraJität

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chen Handelns: das Eigeninteresse, der Blick auf den eigenen Nutzen. Moralität, die sie nicht leugnen, wird dementsprechend als eine der Formen interpretiert, in Gestalt derer der Eigennutz auftritt.28 Es ist nicht selten vernünftig, so argumentieren sie, der Selbstliebe unter Einhaltung moralischer Standards nachzugehen. Denn ein jeder verfolgt zwar ausschließlich sein eigenes Wohl, doch unentrinnbar unter den Bedingungen der Existenz innerhalb einer Gemeinschaft mit Anderen. So kann es im Rahmen einer klugen und weitsichtigen Strategie der Verfolgung des eigenen Nutzens in vielen Fällen geraten erscheinen, auf die Interessen der Anderen gebührend Rücksicht zu nehmen. Unnötige Konflikte, die allen bei der Durchsetzung der eigenen Ziele nur schaden, würden sich durch moralisches, den Willen der Anderen achtendes Verhalten vermeiden lassen. Auf die beschriebene Weise wäre Moralität aus Selbstliebe ableitbar. Eine Begründung von Moralität sui generis gäbe es danach nicht. Derjenige, der sie dennoch für möglich hielte, täte dies vielleicht um liebgewordener Denkgewohnheiten willen. Er würde aber einer Illusion aufsitzen. Gegen dieses Argumentationsmuster wendet sich Hutcheson sehr entschieden. Er bestreitet, daß wir zwischen dem, was er „natürlich Gutes" nennt, und dem „moralisch Guten" nicht immer schon spezifisch unterschieden. Wir schätzen nicht nur das, was unserem Eigeninteresse entgegenkommt und unser Begehren erfüllt. Ebenso schätzen wir ganz unabhängig von unserem jeweiligen Eigenwohl, was wir an sich selbst achten, bewundern oder lieben. Hutcheson führt viele Beispiele an: unseren Respekt für couragierte Gesten und Taten, auch wenn sie sich als erfolglos erwiesen haben, unsere Anerkennung für einen großzügigen Freund oder einen edlen Charakter, die eben nicht vom selben Typ ist wie die Wertschätzung, die wir einem fruchtbaren Feld oder einer bequemen Behausung entgegenbringen.29 Der moral sense leitet uns in all diesen Fällen, in denen wir etwas schätzen oder anstreben, ohne daß es unserem eigenen Nutzen in irgendeinem Sinne zugute käme. Nach Hutcheson ist das, worauf sich der moral sense zuletzt richtet, das allgemeine Wohl und nicht das Eigenwohl, dessen Beförderung alles „natürlich Gute" dient. Die Antriebskräfte, auf denen das Handeln aus Selbstliebe und das aus Moralität beruht, sind je spezifische. Sie lassen sich nicht aufeinander zurückfuhren, sondern sie sind irreduzibel und gleich ursprünglich. Affinitäten aber bestehen für Hutcheson zweifelsohne zwischen moralischem Gefühl und ästhetischem Empfinden. Auch in diesem Punkt wird Kant ihm auf seine Weise folgen. In der Grundlegunghebt er hervor, daß der Gedanke eines moral sense der Sitdichkeit und ihrer 27 Vgl. F. Hutcheson, An Inquiry into the Original of our Ideas of Beauty and Virtue (1726), 111 ff. 28 Vgl. Th. Hobbes, Leviathan, Teil I, Kap. 14 f; De Homine, Kap. 11; De Give, Kap. 1. B. de Mandeville, An Enquiry into the Origin of Moral Virtue (1714), 41-57. 29 Vgl. An Inquiry into the Original of our Ideas of Beauty and Virtue, 117, 123.

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Würde dadurch nahe bleibt, „daß er der Tugend die Ehre beweist, das Wohlgefallen und die Hochschätzung für sie ihr unmittelbar zuzuschreiben, und ihr nicht gleichsam ins Gesicht sagt, daß es nicht ihre Schönheit, sondern nur der Vortheil sei, der uns an sie knüpfe".30 Praktische Philosophie geht in einer Glückseligkeitslehre und einer entsprechenden Theorie der Klugheit, zu der die Sittlichkeit als Teil gehören würde, nicht auf. Dies gesehen und gegen die Philosophie der Selbstliebe eines Hobbes oder Mandeville zu Gehör gebracht zu haben, darin liegt für Kant das unbestreitbare Verdienst Hutchesons.31 Am Anfang der Überlegungen Kants zur Ethik steht so die Überzeugung, daß menschliches Handeln nicht einzig vom Streben nach Glück bestimmt wird. Daneben gibt es Beweggründe gänzlich anderer Art, eben moralische. Von Beginn an unterscheidet Kant, angeregt durch die Theoretiker des moralischen Gefühls, deutlich zwischen Glückseligkeit als Telos der Selbstliebe und Moralität. Die Vertreter der Schulphilosophie, die „Moralisten der reinen Vernunft", dagegen scheinen ihm diese Differenz eher zu verwischen.32 Sie operieren mit der Idee der Vollkommenheit, die Kant in der Preisschrift noch selbst als möglicher Endzweck des Handelns und Grund letzter Verbindlichkeit gegolten hatte. „Allein der allgemeine Begrif der Vollkommenheit", notiert er sich spätestens gegen Ende der 1760er Jahre, „ist nicht durch sich selbst begreiflich, und von ihm wird keine practische Beurtheilung abgeleitet, sondern er ist vielmehr selbst ein abgeleiteter Begrif, indem das, was in besonderen Fallen gefallt, mit dem allgemeinen Nahmen vollkommen belegt wird. Aus diesem Begriffe (aus dem man gewiß nicht urtheilen würde, was Schmertz oder Vergnügen ist) werden alle practische (obgleich tautologische Regeln, nemlich daß man das Gute thun soll) Vorschriften so wohl in Ansehung der Sitdichkeit als glückseeligkeit hergeleitet und dieser Unterschied nicht gewiesen."33 Wie beschrieben sind sich Kant und Hutcheson in der Betonung des Unterschieds zwischen Gründen des Glücksstrebens und Gründen des moralischen Verhaltens sowie in der Verankerung beider in der Subjektivität des Individuums einig. In der Frage des Ursprungs praktischer Verbindlichkeit aber stimmt Kant mit Hutcheson nicht überein. Während er zum Schluß der frühen Preisschrift noch offen läßt, ob eine solche Verbindlichkeit im Gefühl oder in der Vernunft ihre Wurzel hat, bezieht er spätestens in den Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl 30 AAIV, 442 f. 31 „Das system des moralischen Gefühls hat das verdienstliche an sich, daß es alle(s) pragmatische abschaft", heißt es in Kants Notizen. (R. 6841 [1776-78], AA XIX, 177; Zusatz von mir.) 32 R. 6624, AA XIX, 116. - Kant nennt im Text der Reflexion Wolff. Vgl. auch die ähnlichlautende Kritik an Baumgarten, wie Kant sie in seiner frühen Ethikvorlesung vortrug: Praktische Philosophie Herder (1762-1764), AA XXVII, 16. 33 R. 6624, AA XDC, 116.

Selbstliebe und Liebe zum Guten: Die Differenz zwischen Glücksstreben und Moralität

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des Schönen und Erhabenen eine klare Position. Danach kann, was an sich selbst gut und deshalb für jeden verbindlich ist, nur in der praktischen Vernunft begründet sein. Praktische Vernunft aber bestimmt die Freiheit des Einzelnen, indem sie ihrem Gebrauch Regeln gibt. Es ist zuletzt die durch Rousseau angestoßene Einsicht Kants, daß die Freiheit seines Willens den Menschen auszeichnet, die ihm den Weg zur Lösung des Problems praktischer Verbindlichkeit weist.

17. Der eigene Wille und das Gute In den Bemerkungen, die Kant 1764/65 in sein Handexemplar der Beobachtungen über das Gejuhldes Schönen und Erhabenen einträgt, findet sich ein beeindruckender zusammenhängender Text, der die Überschrift „Von der Freyheit" trägt.34 Aus den einleitenden Ausführungen geht hervor, daß mit diesem Text nicht etwa die Unabhängigkeit und von Einschränkungen unberührte Souveränität des Menschen behauptet und gefeiert werden soll. Im Gegenteil beginnt der Text mit der Feststellung: „Der Mensch hängt von vielen äußeren Dingen ab er mag sich befinden in welchem Zustand er auch wolle." Durch seine „Bedürfnisse" ist er jederzeit an das, was er nicht selbst ist, gebunden; durch darüber hinausgehende „Lüsternheit" fesselt er sich dazu noch an weiteres, das er in seinen Besitz bringen zu müssen glaubt. Der Natur, in der er zu suchen hat, was er braucht und wünscht, steht er als „Verweser" gegenüber, nicht aber als ihr „Meister". So hat er sich auf sie einzulassen und sich ihrer Gesetzlichkeit zu beugen, will er ihr abringen, was er für sich begehrt. Er muß sich „dem Zwange derselben bequemen weil er nicht findet daß sie sich immer nach seinen Wünschen bequemen will". Kant spricht von dem „Joch der Nothwendigkeit", das der Mensch anzuerkennen hat. Dennoch ist er — unter den Bedingungen der von ihm vorgefundenen Gesetze der Natur — frei. Er lernt sie kennen, „um nachher zu wählen wie fern man ihnen nachgeben oder sich ihnen unterwerfen will." Zum Beispiel: „Es ist heute eine strenge Kälte ich kann ausgehen oder auch zu Hause bleiben nachdem es mir beliebt".35 Der Mensch hat einen je „eignen Willen".36 Dazu steht nicht im Widerspruch, daß er die von ihm selbst unbeeinflußbaren Gegebenheiten seines Daseins zu akzeptieren hat. Denn er kann sich zu ihnen — in aller Regel — in ein frei gewähltes Verhältnis setzen. Er kann dem, was ihm begegnet, auszuweichen versuchen, oder er kann es im Gegenteil in schöpferischem Umgang für sich und seine Ziele 34 Vgl. hier und im folgenden: Bemerkungen, ed. M. Rischmüller, 70-73 (AAXX, 91-94). 35 Ebd., 71 (AAXX, 93). 36 Ebd., 72 (AA XX, 93).

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nutzen. Wofür immer er optiert, wozu immer er sich aus welchen Gründen entscheidet: sein Tun ist zunächst jeweils auf seinen Willen bezogen und erfährt allein aus dieser Beziehung seinen Wert. Deshalb formuliert Kant in einer Reflexion aus der Zeit der Niederschrift der Bemerkungen: „Gut ist etwas, so fern es mit dem Willen zusammenstimmt".37 Das Gute wird so ausdrücklich an das Subjekt und seinen Willen gebunden und nicht in etwas verankert, das subjektunabhängig und seinem Wollen gegenüber vorgängig wäre. In dem „eigenen Willen" des Menschen liegt für Kant das, was ihn anderem Seienden gegenüber auszeichnet. Das Tier mag Triebe und Neigungen haben wie der Mensch, es mag ihm eines angenehm und anderes unangenehm sein, so daß es „sein Übel" spürt wie der Mensch. Doch es hat keinen Begrtffvon seinem Dasein und keinen Begnffvon seiner „wahren oder eingebildeten Wohlfahrth" wie der Mensch.38 Deshalb bildet es kein Selbstverhältnis aus. So hat es zwar ein Vermögen, sich zu Anderem zu verhalten: sei es, um es sich als Nahrung zuzuführen, sei es, um es zu fliehen, sei es, um mit ihm innerhalb eines Sozialverbandes zu kooperieren. Doch es hat, so weit wir sehen können, kein Vermögen, auch noch zu seinem eigenen Begehren in ein Verhältnis zu treten. Dazu gehört nämlich, ein Bewußtsein von sich als dies oder jenes Verlangender haben zu können, kurz: mit einem Willen begabt zu sein. Der Mensch ist in der Lage, sein Dasein nicht bloß hinzunehmen und die ihm beschiedene Lebensfrist in ihren verschiedenen Stadien zu durchlaufen. Sondern er ist fähig, in Distanz zu seiner eigenen Existenz zu treten und sie gleichsam in die Hand zu nehmen. Er vermag, sein Leben aus eigener Hand zu ßihren. Deshalb muß es ihm unerträglich sein, wie Kant eindrucksvoll schildert, unter einen fremden Willen gezwungen zu werden. Er fühlt sich dann, als ob „eine andere Seele" seine Gliedmaßen bewegt.39 Ein solcher gezwungener Mensch „ist gleichsam vor sich nichts als ein Hausgeräthe eines ändern. Ich könnte eben so wohl den Stiefeln des Herrn meine Hochachtung bezeigen als seinem Laquey. Kurtz der Mensch der da abhängt ist nicht mehr ein Mensch er hat diesen Rang verlohren er ist nichts ausser ein Zubehör eines ändern Menschen."40 Wenn aber im je eigenen Willen des Menschen das liegt, was ihn zur Person macht und mit dem alles für ihn Gute übereinstimmen muß, so wird auch das, was als schlechthin gut zu gelten hat, nur im je eigenen Willen des Menschen zu begründen sein. Genau diesen Weg beschreitet Kant, um die Frage nach einer praktischen Verbindlichkeit zu lösen. Was aber kann es sein, das für einen jeden jederzeit und unter allen Umständen gut und deshalb auch verbindlich ist? Schon 37 38 39 40

R. 6589, AA XDC, 97. Bemerkungen, 71 (AA XX, 92, Z. 22 0 und 72 (AA XX, 93, Z. 16-20). Ebd., 72 (AA XX, 93). Ebd., 73 (AA XX, 93 f)·

Der eigene Wille und das Gute

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der Blick auf den Einzelnen allein zeigt, daß ihm bald dieses, bald jenes anstrebenswert erscheint. So hält er zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Situationen Verschiedenes für gut und setzt sich entsprechend für divergierende, unter Umständen sogar miteinander ganz unverträgliche Ziele ein. Kant betont den „Eigensinn" des Menschen,41 dessen Vorlieben und Abneigungen und — folglich — dessen Handlungszwecke stets wechseln können. Und vor allem aus diesem Grund muß es jedem unerträglich sein, dem Willen eines Anderen unterworfen zu sein: denn dieser ist so „regellos" wie der eigene. Wenn aber stets dasjenige gut ist, was „mit dem Willen zusammenstimmt": Wie kann es ein allgemein und schlechthin Gutes geben, das dann für den Willen aller gelten müßte? Kant gibt im Text der Bemerkungen die folgende Antwort: „Welcher Wille gut seyn soll muß wenn er allgemein und gegenseitig genommen wird sich nicht selbst aufheben". Und er fährt fort: „Um des willen wird der andre nicht dasjenige sein nennen was ich gearbeitet habe denn sonst würde er voraus setzen daß sein Wille meinen Körper bewegte".42 Das unbedingt Gute und deshalb die Handlungen des Menschen unbedingt Verbindende muß demnach in einem Willen liegen, der die Form des Allgemeinen hat und sich deswegen nicht selbst aufhebt, das heißt widerspricht. Dieser Vorschlag ist in seinen Konsequenzen durchaus provokativ. Stets bewegen wir uns in je besonderen Konstellationen und Lagen, auf die wir mit unserem Tun notwendig in je besonderer Weise reagieren. Wie kann es ein Gutes geben, das von diesen besonderen Konstellationen und Lagen abstrahiert, in denen wir uns aber als lebendige endliche Wesen unablässig befinden und in denen wir uns zu behaupten haben? Unsere Lebenswelt ist keine der Besonderheit entkleidete, von allem Einmaligen, Unverrechenbaren gereinigte Welt. Vielmehr gleicht keine Situation - genau genommen - der anderen. Wozu taugt der Gedanke eines Willens, der allgemein gilt und sich deshalb nicht widerspricht? Zudem soll er nach Kant „gegenseitig genommen" werden, das heißt, alle müssen ihn als ihren eigenen Willen begreifen können und zugleich als den Willen des Anderen achten. Es wurde im vorigen schon deutlich, daß ein schlechthin Gutes für Kant nur an den je eigenen Willen des Menschen gebunden sein kann. Da es aber als uneingeschränkt Gutes niemals nur für einen einzigen, sondern für den Willen aller das schlechthin Gute sein muß, ergibt sich die Notwendigkeit auch der Anerkennung dessen, was die Anderen je für sich als das Gute wollen. So spricht Kant unmittelbar im Anschluß an seine Bestimmung eines guten Willens davon, der Andere müsse aus Rücksicht auf meinen Willen nicht dasjenige das Seine nennen, was ich gearbeitet habe: „denn sonst würde er voraus setzen daß 41 Ebd., 71 (AAXX, 93). 42 Ebd., 53 (AAXX, 67).

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Gibt es ein uneingeschränkt Gutes? Überlegungen des frühen Kant

sein Wille meinen Körper bewegte".43 Alles aber, was durch meinen Willen bewegt wird, gehört wie mein Leib gleichsam zu meinem Selbst. Wer also das Meinige tangiert, tangiert mich selbst. Wie nun aber ist es möglich, daß das für mich selbst Gute und das Gute für die Anderen jemals koinzidieren und auf diese Weise ein uneingeschränkt Gutes sich zeigt? Wenn es schon für den Einzelnen schwer vorstellbar ist, daß er unabhängig von besonderen Situationen etwas als schlechthin gut erstrebt: Wie sollte ein prinzipiell für alle geltendes Gutes denkbar sein, das ein jeder aus sich selbst heraus und für sich selbst will? Erleben wir nicht im Gegenteil, daß für den einen wertvoll ist, was ein anderer geringschätzt oder sogar flieht? Ist der Gedanke eines für alle geltenden Guten also aus den genannten Gründen nicht ein ,Ungedanke'? Eines jedenfalls ist nach diesen Ausführungen klar: Das an sich und von allen akzeptierte Gute kann kein material so oder so bestimmtes Gutes sein. Denn alles material Gute ist an besondere Konstellationen und Bedingungen gebunden, auf deren besondere Anforderungen es zugeschnitten ist. Legt man die klassische Einteilung der Güter zugrunde, so heißt das: Weder können Kandidaten eines uneingeschränkt Guten äußere Güter sein, Reichtümer an Nahrung, an Kleidung, an Kunstschätzen, an Geldmitteln noch Güter des Leibes wie das Wohlgeruhl oder die Gesundheit noch Güter der Seele wie die Freundschaft oder das Maßhalten. Kant muß behaupten, daß sie alle nicht unbedingt und uneingeschränkt gut sind, sondern unter spezifischen Bedingungen auch schlecht sein können. Bekanntlich vertritt er genau diese These zu Beginn der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten.^ So bleibt als Kandidat eines für alle Guten allein ein formal bestimmtes Gutes. Für Kant macht der eigene Wille und die Freiheit, ihm zu folgen, das Selbst und die Persönlichkeit des Menschen aus. Deshalb zerbricht es die Persönlichkeit des Menschen, wenn ihm diese Freiheit, sich nach seinem eigenen Willen zu bewegen, genommen wird. Kein gräßlicherer „Prospekt", schreibt Kant in den Bemerkungen, könne sich mir eröffnen, „als daß künftig hin mein Zustand nicht in meinen sondern in eines ändern Willen soll gelegt seyn".45 Gut — um was immer es sich materialiter handelt - ist für mich nur das, was mein eigener Wille anerkennt und bejaht. Dabei ist gar nicht ausgeschlossen, daß ich dem Willen eines Anderen folge: doch ich selbst bin es dann, der seine .Einwilligung gibt. Nicht gut ist entsprechend dasjenige — um was immer es sich materialiter handelt —, das meinem Willen widerspricht. Damit ist ein unabhängig von der Besonderheit der Individuen und ihrer jeweiligen Lebensentscheidungen und -umstände angesetztes Gutes bzw. Schlechtes benannt, das genau deshalb jederzeit für alle gelten kann. 43 Ebd. 44 Vgl. AAIV, 393 f. 45 Bemerkungen, 71 (AA XX, 92 0-

18. Der gute Wille als Grund unbedingter Verbindlichkeit Etwas, das meinem Willen widerspricht, aber kann es grundsätzlich in dreierlei Gestalt geben: in Gestalt der Notwendigkeit der Natur, in Gestalt des Willens Anderer und nach Kants Auffassung auch in Gestalt eines Antagonismus meines eigenen Wollens. Die beiden zuerst genannten Formen fanden wir in dem vorgestellten kleinen Text „Von der Freyheit" gegeneinander abgegrenzt. Die Natur, die sich nach eigenen und vom Willen des Menschen unbeeinflußbaren Gesetzen bewegt, kann als ein Zwang erlebt werden, wenn sie seinem Wünschen und Wollen entgegensteht. So kann sie wohl ein „Joch der Nothwendigkeit" sein.46 Doch die Gesetze, denen sie folgt, lassen sich durch Erfahrung kennenlernen. So ist der Mensch imstande, sich auf sie einzustellen und sie bei seinem eigenen Tun entsprechend in Anschlag zu bringen: die Natur ist in der Regel berechenbar für ihn. Sofern er sich auf ihre Gesetze einläßt, kann er sie sogar — umgekehrt — sich und seinen Zwecken dienstbar machen. Freilich gibt es Ausnahmen von dieser Regel der Berechenbarkeit der Natur, die dem Menschen die Unzulänglichkeit seiner Einsichtsfähigkeit vor Augen führen: Das Erdbeben von Lissabon, das Kant und seine Zeitgenossen wegen der ausgelösten verheerenden Zerstörungen erschütterte,47 ist dafür ein Beispiel. Nachhaltig untergrub es den Glauben, in einer vollständig kalkulierbaren Welt zu leben. Wenn aber, wie oben ausgeführt, alles nicht gut ist, was den je eigenen Willen des Menschen durchkreuzt: Läßt sich daraus schließen, daß die Natur vielleicht nicht immer, aber bisweilen — schlecht oder böse wäre? Dieser Schluß ist für Kant indiskutabel. Denn wir können nicht davon ausgehen, daß die Natur einen eigenen Willen hat wie wir selbst. So weit wir sehen, gehorcht sie vielmehr unumstößlich und unabänderlich den für sie geltenden Gesetzen, auch wenn diese uns nicht immer transparent und verständlich sind. Nur ein Wesen, das mit einem Willen begabt ist, aber kann als böse qualifiziert werden. Nur ein willentlich bewegtes Wesen ist in der Lage, von sich Abstand zu nehmen und zu seinen Antriebskräften in ein Verhältnis zu treten. Dergestalt gerät es in die Position, ihnen nicht einfach folgen zu müssen, sondern mit ihnen so oder 46 Ebd., 70 (AA XX, 92). 47 Vgl. dazu Kants Aufsätze: Von den Ursachen der Erderschütterungen bei Gelegenheit des Unglücks, welches die westliche Länder von Europa gegen das Ende des vorigen Jahres betroffen hat; Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigsten Vorfälle des Erdbebens, welches an dem Ende des 1755sten Jahres einen großen Theil der Erde erschüttert hat; Fortgesetzte Betrachtung der seit einiger Zeit wahrgenommenen Erderschütterungen, AA I, 417 - 472.

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anders umgehen zu können. Allein wenn diese Fähigkeit gegeben ist, jedoch ist es sinnvoll, die Ursache dessen, was geschieht, als gut oder böse zu bewerten. Angesichts eines Ereignisses wie des Erdbebens von Lissabon müssen wir uns nach Kant eingestehen, daß wir von den Naturgesetzen nicht „lauter bequemliche Folgen" für uns erwarten dürfen.48 Wir neigen dazu, uns selbst als den Mittelpunkt der Welt zu begreifen, und wähnen, sie sei allein auf uns und unsere Bedürfnisse zugeschnitten. Doch die Natur steht eben nicht durchweg im Einklang mit dem Willen des Menschen - und das kann aus den skizzierten Gründen nicht einmal sinnvoll getadelt werden.49 Solche Gründe gelten nicht, wenn es ein anderer Wille ist, der meinen Willen verneint. Dieser Wille, der nicht allein auf ein Ziel seines Begehrens ausgerichtet ist, sondern zu diesem Begehren selbst in einem Verhältnis steht, ist nicht unschuldig und blind für seine Wirkungen wie die Kausalität der Natur. Das Selbst des Menschen aber liegt, wie Kant überzeugend argumentiert, im je eigenen Willen und dessen Entfaltung. So ist der schlechthin nicht gut, der ihm Abbruch tut und damit mir selbst Abbruch tut. Nun ist für das Leben des Individuums aber geradezu konstitutiv, daß es nie für sich, sondern immer bezogen auf ein Gegenüber existiert: sei es das Gegenüber anderer Individualität, sei es das Gegenüber der bloßen Natur. Sicher nicht von ungefähr thematisiert Kant die Freiheit, indem er den Einzelnen mit dem Widerstand der ihn umgebenden Natur und mit dem des anderen Menschen konfrontiert. Leben heißt, mit Widerständen verschiedenster Art ständig zu tun zu haben und umzugehen. Ich möchte einen ganz bestimmten Apfel pflücken, und der Andere will genau diesen Apfel für sich, und sei es nur darum, weil er bemerkt, daß ich ihn begehre. Wie kann bei dieser grundsätzlichen Konstellation konfligierender individueller Interessen überhaupt die Rede davon sein, daß der Wille des einen dem Willen des Anderen nicht widersprechen sollte? Steht nicht einem jeden faktisch das Gegenteil jederzeit vor Augen? Wenn es auch vom Einzelnen aus gedacht plausibel und verständlich ist, daß nichts anderes für ihn unabhängig von konkreten Situationen gut sein kann, als daß seine Freiheit und sein Wille respektiert werden: Wie läßt sich dieser Gedanke im Blick auf eine Gemeinschaft von Einzelnen vertreten? Es hat sich gezeigt, daß alle Beziehung eines Willens auf ein Gegenüber immer auch die Beziehung auf etwas Widerständiges ist. Das heißt aber, das Verhältnis, in dem ein Wille zu seinem Gegenstand steht, ist immer auch ein Verhältnis ver48 Ebd., 431. 49 Daß wir die Natur auf der anderen Seite ebensosehr als eine unbedingt entgegenkommende und uns in der uns eigenen Konstitution absolut entsprechende erfahren können - so als ob sie für uns gemacht wäre -, das wird Kant in seiner Ästhetik betonen. Vgl. unten, passim.

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schiedener Mächte zueinander. In den Bemerkungen schreibt Kant: „Die gantze belebte oder unbelebte Welt die nicht eigene Willkühr hat ist mein in so fern ich sie zwingen und sie nach meiner Willkühr bewegen kann."50 Die Grenze meiner Macht bildet die Grenze meines Willens, außer in dem Fall, daß mein Gegenüber einen eigenen Willen hat. In diesem Fall soll mein Wollen an dem Willen des Anderen seine Grenze finden. Offenbar also soll ich nicht alles nach meinem Willen bewegen, was ich bewegen kann: nämlich dasjenige nicht, was zu dem Willen eines Anderen und damit zu seinem Selbst gehört. Damit indes ist zunächst eine rein negative Forderung formuliert. Wenn es nun aber zu einem Konflikt zwischen meinem Wollen und dem eines Anderen kommt, so wie in dem oben erwähnten Apfelbeispiel — und das ist gewiß unter einigermaßen normalen Lebensbedingungen noch eines der harmloseren —: Wie ist mit diesem Konflikt umzugehen? Ein Weg ihn zu lösen, bestünde darin, daß der Mächtigere, der physisch Stärkere oder der Schlauere, sich und seinen Willen durchsetzt. Dann kann aber nicht die Rede davon sein, daß die Handlung an sich gut ist. Sie ist allenfalls für den Gewinner der Machtprobe gut; der Wille des Unterlegenen dagegen ist durchkreuzt. Soll dagegen gelten, daß unbedingt gut allein das ist, was niemandes Willen Abbruch tut, so bedeutet das für Kant positiv gewendet: Der Wille des Einzelnen muß in einem Verhältnis zu dem Willen der Anderen stehen, das nicht auf der wie immer beschaffenen „Macht" beruht, die ein Wille gegenüber anderen auszuüben in der Lage ist, sondern auf einem für alle gleichermaßen geltenden „Grund der Einstimmung". In diesem Gedanken des für alle geltenden „Grundes der Einstimmung" — im Blick auf unser Beispiel etwa: des Respekts vor Eigentum, der Verteilung von Gütern nach Bedürftigkeit - ist die „Idee eines allgemeingültigen Willens" gefaßt. Kant notiert ihn wohl erstmals um 1770.51 Dieser Idee gemäß zu verfahren, muß Kant dann konsequenterweise behaupten, ist an sich und unbedingt gut: das heißt für mich wie auch für die Anderen jederzeit gut. Genauso argumentiert Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. „Der Wille ist schlechterdings gut", heißt es dort, „der nicht böse sein, mithin dessen Maxime, wenn sie zu einem allgemeinen Gesetze gemacht wird, sich selbst niemals widerstreiten kann."52 Will ich wissen, was ich in einer bestimmten Situation tun soll und was verläßlich gut ist, so habe ich nach Kant die Maximen meines möglichen Handelns zu prüfen. Kann ich wollen, daß eine bestimmte Handlungsmaxime,53 der zu folgen hier und jetzt für mich in Frage kommt, zugleich wie ein 50 51 52 53

Bemerkungen, 53 (AA XX, 66). Vgl. R. 6631.AAXK.il 9. AAIV.437. Zum Begriff der Maxime m. E. immer noch unübertroffen: R. Bittner, Maximen (1974).

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allgemeines Gesetz gültig ist? Das heißt: Kann ich wollen, daß sie in grundsätzlich allen Situationen, die einen Anwendungsfall meiner Maxime bilden können, Gültigkeit hätte? Gemeint sind eben alle derartigen Situationen, gleich, ob ich mich jetzt oder künftig in ihnen befinde oder jeder beliebige Andere. Will ich meine Maxime in diesem umfassenden Sinn, so hätte sie die Form eines Gesetzes. Ihr gemäß zu handeln ist nach Kant moralisch gut. Nun möchte man gerne genauer wissen: Warum ist es unbedingt gut, sich in seinem Wollen an ein selbstgegebenes Gesetz zu binden? Und vom Einzelnen, der im Zweifel ist über das, was er tun soll, nehmen Kants Überlegungen zur Ethik immer wieder ihren Ausgang. Das zeigt sich an den Beispielen, die er heranzieht.54 Warum also ist es schlechterdings gut für mich, einen Widerspruch meines Wollens im dargelegten Sinn nicht zuzulassen, wodurch für Kant gleichursprünglich gewährleistet ist, daß ich dem Willen keines Anderen widerstreite?55 Kants Argument näßt auf der These, daß der Mensch durch Freiheit ausgezeichnet ist. Wir haben sie oben ausführlich vorgestellt und diskutiert.56 Während alles in der Natur sich nach Gesetzen bewegt, ist der Mensch aus dem verläßlichen Rahmen bloßer Naturbestimmung herausgefallen. Niemand und nichts schreibt ihm zwingend sein Verhalten vor. Wenn ich nun nicht weiß, was ich tun soll, mich einer bestimmten Lebenssituation aber nicht entziehen kann und handeln muß, wird mir gerade meine Freiheit als ursprüngliche Ungebundenheit zum Problem. Die Bestimmung der Freiheit, Selbstbestimmung wird unausweichlich. Ich könnte versuchen, von den vermuteten Folgen her mein Tun zu bestimmen. Aber in diesem Fall wüßte ich ja bereits, was ich für mich will, und hätte mir allenfalls Gedanken über die geschickteste Art und Weise der Realisierung meines Handlungsziels zu machen. Und eine Verbindlichkeitkönnie. allerdings ein solches Verfahren der Selbstprüfung niemals beanspruchen: denn ich würde mein Tun von etwas abhängig machen, das bloß kontingent ist. Ob mein Handeln die erwartete Wirkung auch tatsächlich zur Folge hat, ist nicht sicher, und die Erfahrung zeigt, welch unwahrscheinliche Verkettung von Umständen eintreten und ein intendiertes Handlungsresultat bis zur Entstellung konterkarieren kann. Kann und will ich mich in meinem Zweifel über das richtige Tun auf keine andere Instanz stützen als mich selbst und meine vernünftigen Gründe, so bin ich nach Kant nicht auf den Ausweg einer gleichsam blinden „Entscheidung" an54 Vgl. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AAIV, 402 f, 421 f; Kritik der praktischen Vernunft, AAV,27f. 55 Diese Gleichursprünglichkeit ist immer wieder bestritten worden. Aber sie ergibt sich zwingend aus dem Gesetzescharakter der Maxime, die als moralisch zu qualifizieren ist. Besonders klar dazu: J. Ebbinghaus, Deutung und Mißdeutung des kategorischen Imperativs (1948), 279-295, bes. 287 ff. 56 Vgl. Kap. 11 ff.

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gewiesen, sondern meine Vernunft ist Quelle einer eigenen Verbindlichkeit. Als praktische Vernunft ist sie der Selbstgesetzgebung fähig: Im Zweifelsfall gewinne ich Halt dadurch, daß ich mein Wollen auf seine Übereinstimmung mit sich selbst hin überprüfe. Das heißt, ich habe meine Handlungsmaxime gegebenenfalls zu verwerfen, wenn sie zu einem Selbstwiderspruch meines gesetzlich bestimmten Wollens führt. Ich richte mein Tun an der Idee der Gesetzmäßigkeit aus. So nehme ich die Dimension allgemeiner Verbindlichkeit in mein Wollen auf, um es in Lagen der Unsicherheit und des Zweifels gleichsam zu befestigen. Das Moralgesetz hat Kant deshalb wie folgt gefaßt: Ich solle so handeln, „daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden'? Der Gedanke ist: Meine Freiheit kann sich dann nicht zerstörerisch auswirken, wenn ich sie derart unter der „Einschränkung aus der idee des ganzen" gebrauche.58 Dennoch hat Moralität ihren Grund allein in der Autonomie des vernünftigen Individuums, sie beruht auf seiner „eigenen allgemeinen Gesetzgebung".59 Das von Kant vielfach gezeichnete Schreckliche einer gesetz- und regellosen Freiheit, die ihren Ursprung in dem unberechenbaren Eigensinn des von der Naturherrschaft emanzipierten Individuums hat, ist dergestalt ,aus Freiheit' auch wieder zu bändigen und zu befrieden. Und es liegt im ureigenen Interesse des Menschen, seiner Freiheit eine Form zu geben: Die Selbstbindung entspricht einem „Bedürfnis" seiner Vernunft. So ist schließlich für Kant allein der gute Wille, in dem das Wollen selbstkritisch seiner Verpflichtung gegenüber der eigenen Person und in eins damit gegenüber der Person des Anderen nachkommt, ein uneingeschränkt und an sich selbst Gutes. Und deshalb ist das Gesetz, das der moralischen Forderung Ausdruck gibt, in den Augen Kants für einen jeden, unabhängig von seinen individuellen Dispositionen, Lebensentwürfen und den spezifischen Lebenskontexten, unbedingt verbindlich. Der Grundstein der praktischen Philosophie, nach dem Kant gesucht hatte, ist somit gelegt. Für uns jedoch stellt sich die Frage: Macht uns das Streben nach dem uneingeschränkt Guten, macht uns ein möglichst konsequent moralisch geführtes Leben auch schon glücklich?

57 Grundlegung, AA IV, 402 f. 58 Vgl. R. 6802 (wohl 1772-1775); AA XIX, 167. 59 Grundlegung, AA IV, 449 (Hervorhebung von mir).

V. Das Gute und das Wohlergehen. Verhältnisbestimmungen

19. Der Widerstreit zwischen Moral und Glück Daß moralisches Handeln uns auch schon zum Glück verhilft, daran hat Kant Zweifel. In seinen Schriften finden wir immer wieder betont, daß das Tun, mit dem wir unser Glück zu befördern suchen, und das moralische Verhalten zwei sorgfältig zu unterscheidende Formen der Praxis sind. Ihr Verhältnis zueinander muß nicht, aber kann ein Ausschließungsverhältnis sein. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten spricht Kant von einer „natürlichen Dialektik", in die sich die praktische Vernunft verstrickt sieht. Es ergibt sich eine „Verlegenheit" angesichts von „Ansprüchen" spezifisch verschiedener Art — Ambitionen auf Glückseligkeit und Beachtung des moralisch Gebotenen —, die nicht immer miteinander in Einklang zu bringen sind.1 Wir haben Bedürfnisse und Neigungen, von denen wir wollen, daß ihnen entsprochen wird. Ihre Erfüllung erhoffen wir von allem, was uns die Wirklichkeit an Erfiillungsmöglichkeiten bietet. Die „ganze Befriedigung" unserer Bedürfnisse und Neigungen faßt Kant unter den Titel Glückseligkeit.2 Es ist aber vorderhand kein Grund zu sehen, der uns den Versuch verwehren könnte, unsere Bedürfnisse zu stillen und unseren Neigungen nachzukommen und dafür tätig zu werden. Denn die Bedingungen ihrer Erfüllung sind meistens nicht einfach gegeben, sondern wir müssen sie durch ein Eingreifen in das Geschehen, das wir Wirklichkeit nennen, erst herstellen. Das kann sich aufwendig oder unkompliziert gestalten, je nachdem wie schlicht oder raffiniert, wie bescheiden oder anspruchsvoll unsere Neigungen sind, für deren Befriedigung wir sorgen wollen. Was uns an dieser Sorge und einer entsprechenden Aktivität hindern sollte, ist — wie gesagt — zunächst nicht zu sehen. Im Gegenteil: Unser Begehren und die von ihm hervorgerufene Betriebsamkeit ist nur „billig".3 Denn unsere Neigungen sind — zumindest in ihrer elementaren Form — naturgegeben und schon deshalb nicht verwerflich, sondern „an sich selbst betrachtet, gut", wie Kant später im zweiten Stück der Religionsschrift schreibt.4 Auf der anderen Seite erkennen wir eine moralische Verpflichtung an, die auf kein sinnliches Bedürfnis zurückzuführen ist wie die Neigung. Moralität gründet in einem Gesetz der Vernunft — und wir haben gesehen, warum und in welchem 1 2 3 4

AAIV, 405. Ebd. Ebd. AAVI, 58.

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Das Gute und das Wohlergehen. Verhältnisbestimmungen

Sinn. Obwohl Moral empirisch nicht zu begründen ist, will Kant mit dieser Behauptung keineswegs in Abrede stellen, daß mit Moral der Anspruch verbunden ist, in die empirische Welt hinein zu wirken. Daran läßt er schon in der Grundlegungkeinen Zweifel: Der gute Wille als Inbegriff einer moralischen Haltung ist eben durchaus ein Wille und nicht ein bloßer Wunsch, der vielleicht im Wünschenden selbst, nicht aber in der mit Anderen geteilten empirischen Welt eine Spur hinterläßt. Zum Begriff des Willens gehört konsumtiv „die Aufbietung aller Mittel" zur Verwirklichung des gebotenen Zweckes, „so weit sie in unserer Gewalt sind".5 Nun ist der Fall denkbar, daß die moralische Pflicht gerade das zu tun gebietet, was den Aussichten auf unser eigenes Glück abträglich zu sein scheint. Die Sorge um unser Wohlergehen, das das Wohlergehen der uns Nahestehenden einschließen mag, und die Forderung der Moral treten auseinander. Es entsteht die von Kant angesprochene „Dialektik" der Vernunft. In diesem Konflikt, der die praktische Vernunft mit sich selbst zu entzweien droht, sieht er in der Grundlegung den Anstoß dafür, überhaupt praktische Philosophie zu betreiben.6 Damit erklärt Kant aus systematischen Gründen genau das Problem zum Ausgangspunkt praktischer Philosophie, das auch historisch an ihrem Anfang steht. Nach allem, was wir wissen, waren es die Sophisten, die zuerst die Frage aufwarfen: Warum denn eigentlich soll der Einzelne jenen Sitten und Gepflogenheiten folgen, von denen alle meinen, daß sie unverrückbaren Gesetzen gleich das Leben der Menschen ordnen? Der Einsatz von Vernunft und Nachdenken, so die sophistische Argumentation,7 zeigt doch alsbald und unmißverständlich, daß das Leben des Menschen den Gesetzen der Natur untersteht. Er ist ihnen unentrinnbar unterworfen; er könnte sich von ihnen gar nicht freimachen, selbst wenn er dies wünschte. Die Gesetze der Natur aber fordern von einem jeden, das dem eigenen Dasein Zuträgliche ( ) anzustreben. Gesetze des Anstands und Vorschriften des Rechts dagegen gehen auf menschliche Satzung ( ) zurück; in diesem Sinn sind sie willkürlich ( ) und nicht notwendig ( ) wie die Gesetze der Natur. Nicht selten verhält sich der Nomos, so die weitere Argumentation, feindlich zur Natur. Denn um dem, was Sitte und Recht gebieten, zu entsprechen, ist oftmals das dem Einzelnen gerade Unzuträgliche zu tun. Wenn er den geltenden Sitten und Normen Folge leistet, hat er unter Umständen Schmerz und Betrübnis in Kauf zu nehmen. Daß diese ihm zuträglich wären, würde aber wohl niemand behaupten. Welchen Grund also gibt es, 5 Grundlegung, AAIV, 394. Zur Differenz zwischen Wille und Wunsch vgl. auch die sehr aufschlußreiche Anmerkung in der zweiten Einleitung zur Kritik der Urteikkraft, AA V, 177 f. 6 Vgl. Grundlegung, AA IV, 405. 7 Vgl. exemplarisch: Antiphon, Frg. B 44, Col. 1-6. In: Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. II, 346 bis 351.

Der Widerstreit zwischen Moral und Glück

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fragt der Sophist, einer Satzung zu gehorchen, die nicht darauf abgestellt ist und sein kann, das dem Einzelnen Nützliche und Lustvolle zu befördern? Welchen Grund gibt es, sich gegen die Natur zu stellen? Eine attraktive Möglichkeit, auf den von der Sophistik behaupteten Widerstreit zwischen einem glücklichen und einem tugendhaften Leben zu antworten und ihm die Spitze zu nehmen, läge zweifellos in dem Nachweis: Allein ein wahrhaft tugendhaftes Leben ist ein wahrhaft glückliches Leben. Platon hat einen solchen Nachweis versucht, am schönsten und eindringlichsten vielleicht im Gorgias. Dort findet sich auch das berühmte Bekenntnis des Sokrates: Um des eigenen Glückes willen ist es im Zweifelsfall besser, Unrecht zu erleiden als Unrecht zu tun. Zwar wünschte Sokrates, wie er betont, für sich weder das eine noch das andere, die Rolle eines moralischen Helden liegt ihm fern. Aber vor die Alternative gestellt, würde er aus wohlverstandenem Eigeninteresse das Unrechterleiden dem Unrechttun vorziehen.8 Denn in der vernünftigen Sorge um sich selbst ( )9 besteht ein tugendhaftes Leben. Deshalb würde die Tugend vollends mißverstehen, wer sie als Preisgabe der eigenen Ambitionen auf Wohlergehen begriffe. Das Gegenteil ist für Platon richtig. Alle späteren philosophischen Schulen der Antike sind ihm in dieser Einschätzung — trotz aller Differenz ihrer Antworten im einzelnen — grundsätzlich gefolgt.10 Das gilt sogar für die Skepsis, von der man dies vielleicht am wenigsten erwarten würde.11 Auch für Kant hat die skizzierte Auflösung des „natürlichen" Widerstreits zwischen Glücksstreben und moralischer Forderung eine beträchtliche Anziehungskraft besessen. Das zeigt sich vornehmlich in Entwürfen, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren und die wir im folgenden genauer betrachten werden. Und es gilt trotz Kants früher Affinität zu den Überlegungen Hutchesons, der gegen Hobbes und Mandeville für die Irreduzibilität von Moralität und Glücksverlangen argumentiert hatte. Freilich hatten Hobbes und Mandeville die Einheit von Glück und Moral im Vergleich zu Platon unter umgekehrten Vorzeichen behauptet: Nicht hatten sie ein moralisches Leben auch schon für ein glückliches halten wollen, sondern zu einer aussichtsreichen Strategie des Glücksstrebens hatten sie auch das klug eingesetzte moralische Verhalten gerechnet. Als er seine später entstandenen, ausgearbeiteten Schriften zur Ethik publizierte, hatte Kant sich von der Position einer Entschärfung des Gegensatzes zwischen Moral und Glückseligkeit bereits wieder distanziert. Denn sie schien ihm nicht 8 Vgl. Gorgias, 469 b-c und ff. 9 Vgl. Platon, Apologie, 36 c und 29 d-e; vgl. auch Alkibiades I, 127 e ff. 10 Vgl. Ch. Hörn, Antike Lebenskunst. Glück und Moral von Sokrates bis zu den Neuplatonikem (1998). 11 Vgl. A. Engsder, Urteilsendialtung und Glück. Eine Verteidigung ediisch motivierter Skepsis (1995), 194-219, insbes. 211-217.

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haltbar zu sein. Überwunden hat er sie vor allem in Auseinandersetzung mit den Argumenten der Stoiker.12 So hält Kant an der strikten Scheidung zwischen Prinzipien des Glücksstrebens und Prinzipien moralischen Handelns fest, der er im Denken Hutchesons schon früh begegnet war. Freilich bestimmt er diese Prinzipien ganz anders, als Hutcheson vorgeschlagen hatte. Wäre es Kant aber im Gegenteil systematisch möglich gewesen, das Verlangen nach Glück und Moralität so miteinander zu versöhnen, daß die Tugend selbst als Glück hätte gelten können — so hätten sich aus einer solchen Auflösung der „Dialektik" für die Anlage seiner praktischen Philosophie insgesamt nur Vorteile ergeben und Schwierigkeiten vermeiden lassen. Denn das Problem, wie sich der Zusammenhang von Glücksstreben und Autonomie denken läßt, entfiele im Rahmen dieser Lösung. Moralische Autonomie, für deren Nachweis Kant unermüdlich und ausgefeilt argumentiert,13 wäre dann eben gleichursprünglich Autonomie zur Glückseligkeit. Zudem würde sich die heikle Frage nach dem principium executionis der Moral, deren Beantwortung Kant sehr viel Mühe kostet, erübrigen. Es wird wohl niemanden geben, der nicht alles für sein Glück Erforderliche würde leisten wollen, zumal wenn ihm schlagend demonstriert werden könnte, worin es denn besteht. Wüßte er unwiderleglich, daß es allein in einem wahrhaft moralisch geführten Leben zu finden ist, so würde er dieses Leben zumindest fuhren wollen. Ob er sich an den eigenen Vorsatz hielte, stünde freilich noch auf einem anderen Blatt. Schließlich und zuletzt: Über alles schon Genannte hinaus könnte Kant mit einer Argumentation, die für die Tugend als Königsweg zum Glück spräche, auch noch direkt an die Philosophie der Aufklärung anknüpfen. Bei sämtlichen ihrer Vertreter finden wir eine entsprechende Überzeugung. So lesen wir in Christian Wolffs Deutscher Ethik, und das folgende Zitat mag exemplarisch stehen: „Die Beobachtung des Gesetzes der Natur ist es, so den Menschen glückseelig machet. Da nun die Fertigkeit, dem Gesetze der Natur gemäß zu leben, die Tugend ist, so machet die Tugend den Menschen glückseelig. Und demnach kan man niemanden ohne Tugend glückseelig nennen."14 Trotz aller Verlockung, die vom Versuch einer Harmonisierung der Ansprüche von Glück und Moral zweifellos — und bis heute - ausgeht, scheint sie Kant am Ende doch sachlich nicht zu tragen. Allein in der Ideeaes höchsten Gutes, über die zu handeln sein wird, hält er die Einheit von Glück und Moral fest. Im folgenden werden wir zunächst sehen, in welchem Sinn für Kant mit moralischem Verhalten Aussichten auf eine Beförderung des eigenen Glücks verbunden sein können.

12 Vgl. unten, Kap. 27 ff. 13 Diese Feststellung gilt wohl unabhängig davon, für wie gelungen man Kants Versuche hält. 14 Christian Wolff, Deutsche Ethik I l, § 66.

20. Moralische und nichtmoralische Gefühle der Lust und Unlust In der frühesten Nachschrift einer Vorlesung Kants zur praktischen Philosophie, die uns vorliegt und die zu Anfang der sechziger Jahre von Johann Gottfried Herder verfaßt wurde, findet sich eine Unterscheidung zwischen zwei Arten der Güte einer Handlung und zwischen zwei Arten einer jeweils mit ihr verknüpften „Lust". Es heißt dort: „Freie Handlungen sind gut 1) vermittelst der Folgen (nach ihrem Grad) Physisch gut". „Freie Handlungen sind gut 2) vermittelst der Absicht (nach ihrem Grad) Moralisch gut".15 Das Gute einer Handlung bemißt sich also entweder an der eingetretenen Wirkung meines Tuns, die sich als eine von mir gewollte Veränderung in der Welt bemerkbar macht, oder an der Qualität meiner Absicht. Im ersten Fall wird das Gute material oder „physisch" bestimmt, im zweiten Fall formal oder „moralisch". Auch die formal gute Handlung hat als Handlung selbstverständlich ihre Folgen, die sich empirisch zeigen. Nur für ihre Beurteilung spielen diese Folgen gar keine Rolle. So gilt: „Moralisch gute Handlungen müssen auf ein Physisches Gute gerichtet seyn nicht aber daran gemessen «. 16 Wenn „gut" der Definition Kants in einer frühen Reflexion zufolge „etwas" ist, „so fern es mit dem Willen zusammenstimmt",17 gibt es nach dem Gesagten zwei Fälle der Zusammen- oder Übereinstimmung: die Übereinstimmung eines handelnd von mir herbeigeführten — oder unterlassend gebilligten — ZuStandes der Wirklichkeit mit meinem Willen und die Übereinstimmung meines Willens mit sich selbst. In dieser zuletzt genannten Nichtwidersprüchlichkeit meines Wollens, genauer: meines gesetzlich bestimmten Wollens, liegt für Kant wie gesehen das formal Gute. Mit beiderlei Gutem aber, sofern es gegeben ist, soll sich nach Kant ein je spezifisches Gefühl der Lust verknüpfen.18 Ist es nicht gegeben, sondern ein entsprechend Schlechtes, entsteht im Gegenteil ein je spezifisches Gefühl der Unlust und des Schmerzes. Zwischen den beiden Typen eines positiv oder negativ belegten Gefühls wird von Kant — der Differenz zwischen den beiden Typen von gut und schlecht analog — streng unterschieden. Was unter einem Gefühl im allgemeinen zu verstehen ist, erläutert eine Definition zu Beginn eines Textabschnitts der Herder-Nachschrift, der die Überschrift Einleitung in die Praktische Philosophie trägt. „Gefiihl", so können wir dort lesen, 15 16 17 18

Praktische Philosophie Herder, AA XXVII, 4. Ebd. R. 6589 (wohl 1764-1768; spätestens 1769), AA XIX, 97. Vgl. die Ausführungen oben, Kap. 17. Praktische Philosophie Herder, AA XXVII, 4 f.

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„drukt die Beziehung eines Gegenstandes auf unsere Gesamte Kräfte aus".19 Wir fühlen uns selbst m Übereinstimmung mit oder im Widerspruch zu dem „Gegenstand", auf den wir uns bezogen haben. Daß ein Gefühl zwar anläßlich eines Objektes entspringt, aber dennoch „gar nichts an einem Objecte bezeichnet", betont Kant später im ersten Paragraphen der Kritik der Urteilskraft.20 Vielmehr handelt es sich beim Gefühl um eine Vorstellung, die nicht objektiv ist, sondern in der das Subjekt „sich selbst fühlt".21 Genau wie in der von Herder festgehaltenen Argumentation der frühen Ethikvorlesung differenziert Kant auch in einer ausführlichen, dem Zusammenhang von Leben, Begehren und Fühlen22 gewidmeten Anmerkung zur Vorrede der Kritik der praktischen Vernunft zwischen zwei Arten eines Gefühls der Lust bzw. Unlust. Nachdem er das „Begehrungsvermögen" als Vermögen bestimmt hat, „durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit dieser Vorstellungen zu sein", schreibt er: „Lust ist die Vorstellung der Übereinstimmung des Gegenstandes oder der Handlung mit den subjectiven Bedingungen des Lebens, d.i. mit dem Vermögen der Causalität einer Vorstellung in Ansehung der Wirklichkeit ihres Objects (oder der Bestimmung der Kräfte des Subjects zur Handlung es hervorzubringen)."23 Es ist leicht zu sehen, daß mit dem „Vermögen der Causalität einer Vorstellung in Ansehung der Wirklichkeit ihres Objects" nichts anderes als der Wille angesprochen ist. Er wird von Kant überdies mit dem Begriff des Lebens verknüpft, wie sich dem zitierten Text gleichfalls entnehmen läßt. „Leben", definiert Kant, „ist das Vermögen eines Wesens, nach Gesetzen des Begehrungsvermögens zu handeln."24 Nach der Vorstellung von Gesetzen oder nach Prinzipien handeln zu können, aber bedeutet, einen Willen zu haben.25 Leben heißt also für uns, mit einem Willen begabt zu sein und unser Verhalten ihm gemäß bestimmen zu können. Das impliziert immer schon, in Auseinandersetzung mit einer Wirklichkeit begriffen zu sein, auf die und deren wunschgemäße Veränderung sich die mit dem Willen einhergehende „Causalität" ja richtet. Mit der Verwirklichung oder Nichtverwirklichung des „Gegenstandes", auf den sein Begehren sich richtet, aber fühlt das Lebendige sich selbst angenehm oder unangenehm berührt. Denn ßlr sich selbst hatte es die Wirklichkeit eines bestimmten Objektes oder einer bestimmten Konstellation gewollt und auf die 19 Ebd., 12. 20 AAV, 203 f. 21 Ebd. 22 Vgl. zu diesem Zusammenhang die Analysen von R. Makkreel, Einbildungskraft und Interpretation. Die hermeneutische Tragweite von Kants Kritik der Urteilskraft (1997), 117 ff. 23 Ebd., 9 (Anm.). 24 Ebd. 25 Grundlegung, AAIV, 412. - Vgl. oben, Kap. 7.

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Erfüllung seiner Ambitionen gehofft. Was in der Herder-Nachschrift physisch Gutes genannt wird, die Wirkungen meines Handelns, die mit meinem Wollen übereinstimmen und insofern für mich gut sind, gehen einher mit einem entsprechenden Gefühl der Lust: Ich fühle mich durch das Gelingen der Vorhaben, die mein Leben ausfüllen, befördert. Entsprechend fühle ich mich, wenn sie mißlingen, behindert und zurückgeworfen. Dieses „physisch" genannte26 Gefühl der Lust oder Unlust wird graduell abgestuft sein, je nachdem, welche Bedeutung ich den Folgen meines jeweiligen Tuns in gerade dieser Situation meines Lebens zumesse. Offenbar gibt es für uns aber noch eine ganz andere Art der Lust als die am „physisch Guten". Lust kann auch in der Vorstellung der Übereinstimmung der „Handlung" mit meinem Willen liegen und nicht nur in der Vorstellung der Übereinstimmung des „Gegenstandes" der Handlung mit meinem Willen.27 Augenscheinlich will Kant, wenn er zwischen der Übereinstimmung „des Gegenstandes oderaer Handlung" mit meinem Wollen differenziert,28 das Wohlgefallen am Ergebnis oder Erfolg der Handlung vom Wohlgefallen an der Handlung selbst unterschieden sehen. Kant nimmt also die Möglichkeit einer Lust an, deren Quell das Handeln selbst ganz unabhängig von seinen Folgen sein soll. Diese Behauptung vertritt Kant schon in seiner Vorlesung über Moralphilosophie aus den frühen 1760er Jahren. „Freie Handlungen", so die Formulierung in der Praktischen Philosophie Herder, „können unmittelbar gut seyn (Lust machen) nicht als Mittel zu Folgen, [...] die Lust an freien Handlungen unmittelbar heißt Moralisches Gefühl".29 Das moralische Gefühl wird dann weiter durch ästhetische Kategorien bestimmt: es sei „schön oder erhaben".30 Gemeint ist aber wohl genauer: Das moralische Gefühl ist ein Gefühl für ein bestimmtes Schönes und Erhabenes an uns selbst.31 Denn es soll Ausdruck „meine(r) Freude am Vollkommenen meiner selbst" sein.32 In der Herder-Nachschrift ist nicht abschließend ausgeführt, was unter einem „Vollkommenen meiner selbst" zu verstehen ist. Allerdings kann es sich nach Kants Vorgaben nur um ein Vollkommenes handeln, das die Handlung an sich selbst, das heißt: in ihrer Form betrifft. Denn in nichts anderem, so hatte Kant ja betont, ist das moralisch Gute zu suchen. 26 Vgl. Praktische Philosophie Herder, AA XXVII, 5. 27 Vgl. Kritik der praktischen Vernunft, AA V, 9 (Anm.). 28 Ebd. (Hervorhebung von mir.) 29 Praktische Philosophie Herder, AA XXVII, 4. 30 Ebd., 5. - Zum Verhältnis von Moral und Ästhetik vgl. unten, Kap. 22. 31 Vgl. auch: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, AA II, 217. 32 Ebd. Der Gedanke, daß die Schönheit im Vollkommenen zu sehen ist, ist Gemeingut der rationalistischen Metaphysik Christian Wolff etwa definiert: „Pulchritude consist« in perfectione rei". (Psychologia Empirica, § 544). Vgl. auch G. W. Leibniz, Bruchstücke, die Scientia generalis betreffend, 76, 86 f.

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Der Gedanke der eigenen - und auf Andere und Anderes sich erweiternden — Vervollkommnung ist Kant, wie wir schon häufiger bemerken konnten, aus der Tradition der leibniz-wolffschen Schulphilosophie geläufig. So setzt er sich in seiner moralphilosophischen Vorlesung, wie Herder notiert, mit Baumgartens Forderung „perfice te ut finem, - ut medium" auseinander.33 Baumgarten verlangt mithin, sich als Ziel oder Zweck und als Mittel zu vervollkommnen. Auf der einen Seite ist die Vollkommenheit des Individuums selbst gemäß der eigenen „ratio perfectionis" zu befördern, und auf der anderen Seite soll der Einzelne auch Mittel zur allgemeinen und deshalb mit der der Anderen übereinstimmenden Vollkommenheit sein.34 Kant weist zurück, daß moralische perfectio auch darin bestehen könnte, im Baumgartenschen Sinn als Mittel allgemeiner perfectio zu fungieren. Geht es um Moralität, so geht es nach Kant allein um das Individuum: um es selbst als Ziel und Zweck moralischer Anstrengung.35 Welche Funktion aber hat in diesem Zusammenhang die Vorstellung der Vollkommenheit, mit der Kant in sämtlichen seiner frühen Texte zur Ethik operiert und mit der sich das moralische Gefühl verbinden soll? Zu Beginn seiner eigenen Bemühung um eine Fundierung der Ethik löst sich Kant verständlicherweise noch nicht von der Terminologie derer, die ihm wie Baumgarten mit ihren Konzepten vorgearbeitet haben und deren Schriften die Grundlage für seine Vorlesungen bilden. So hält er auch an der für Leibniz, Wolff und Baumgarten so wichtigen Figur der Vollkommenheit fest. Dennoch ist bereits in der frühesten uns zugänglichen Version seines Ethikkollegs deudich: Kant erscheint der Begriff der Vollkommenheit, zumindest wie er von Baumgarten gefaßt wird, leer und deshalb nichtssagend zu sein.36 Gleichwohl benutzt Kant ihn auch im Rahmen seiner eigenen Überlegungen; spätestens aber in den Bemerkungen gibt er ihm eine präzise Bedeutung innerhalb der sich abzeichnenden eigenen Systematik: Die Vollkommenheit wird auf den guten Willen bezogen, und von dorther ergibt sich die Verknüpfung des Vollkommenheitsgedankens mit dem moralischen Gefühl. „Der Wille ist vollkommen in so fern er nach den Gesetzen der Freyheit der größte Grund des Guten überhaupt ist l das moralische Gefühl ist das Gefühl von der Vollkommenheit des Willens."37 Das Wollen, das sich nach Gesetzen der Freiheit bestimmt, und das heißt: an der Idee der Gesetzmäßigkeit der Handlungsmaximen orientiert, ist Grund des an sich Guten und Grund eines mit solchem Guten einhergehenden moralischen Gefühls. Kant behauptet also die Wirklichkeit eines Gefühls, das sich nicht auf 33 34 35 36 37

Ebd., 16; vgl. A. G. Baumgarten, Ethica Philosophica (1763), § 10 (AA XXVII, 874). Vgl. Ethica Philosophica, § 10. Praktische Philosophie Herder, AA XXVII, 13. Vgl. ebd., 16. Vgl. auch Kants Kritik in der - späteren - Nachschrift Powalski (1777), ebd., 129. Bemerkungen, 102 (AAXX, 136 f). - Vgl. auch D. Henrich, Kant früheste Ethik (1963), 157 ff.

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„Gegenstände" der Handlung bezieht: weder in Gestalt eines Stimulans, das zu einem bestimmten Handlungsziel treibt, noch in Gestalt einer Reaktion auf seine Realisation oder Verfehlung, wie sie zwischen Freude und Kummer in unendlich mannigfaltigen Schattierungen changieren kann. Das moralische Gefühl soll, unabhängig von unserem positiv oder negativ gefärbten Weltverhältnis, allein ein praktisches - Selbstverhältnis-zum Ausdruck bringen. Wir treten in ein billigendes oder mißbilligendes Verhältnis zu unserem eigenen Wollen, dem gegenwärtigen oder dem vergangenen. So kennen wir Gefühle wie Scham und Schuldgefühl auf der einen Seite und Gefühle, wie wir sie mit der Wendung: „Ich bin mit mir selbst im Reinen", beschreiben. Im ersten Fall sehen wir uns mit uns selbst entzweit; was wir gerade tun oder getan bzw. unterlassen haben, geschieht oder geschah zwar willentlich - sonst würden wir es uns nicht zurechnen —, und doch können wir es nicht gutheißen. Im zweiten Fall bilden wir in einer Lage, in der wir zwischen verschiedenen Handlungsalternativen hin- und hergerissen werden, in uns selbst eine gleichsam unparteiische Stimme aus — und folgen ihr bzw. sind ihr gefolgt. Wir orientieren unser Tun an der Vorstellung eines Prinzips mit Gesetzescharakter. In diesem Sinn sind wir zu einer Übereinstimmung mit uns selbst gelangt, die sich — so weit dies menschenmöglich ist - aufgrund der Gesetzmäßigkeit unseres Handlungsprinzips zur Übereinstimmung mit Willen und Vernunft der Anderen erweitert. Wir sagen dann vielleicht: „Welchen Weg es auch durch mein Zutun mit der Sache nehmen wird, ich habe mir nichts vorzuwerfen." In der Herder-Nachschrift wird dies moralische Gefühl entsprechend ein „Gefühl der Selbstschätzung" genannt.38 Moralische Fragen aber stellen sich stets in Situationen des Konfliktes. Deshalb hat dies Gefühl der Selbstachtung, das mit der beschriebenen Herstellung einer wie immer prekären Übereinstimmung mit uns selbst einhergeht, nicht das Geringste mit der selbstgerechten Harmonie einer für die Wirklichkeit blinden „schönen Seele" zu tun.39 38 AA XXVII, 5. - Zweifellos ist das Auftreten moralischer Gefühle mit dem Phänomen des Gewissens, einer Instanz der moralischen Bewertung des eigenen Handelns, verbunden. Auf den Gewissensbegriff Kants, der vielschichtig und in aller Kürze nicht abzuhandeln ist, kann ich hier nicht näher eingehen. Vgl. vor allem: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, AA VI, 437-440. Vgl. G. Lehmann, Zur Analyse des Gewissens in Kants Vorlesungen über Moralphilosophie (1974), 27-58. 39 Vgl. G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Kap. VI. C. c. Das Gewissen, die schöne Seele, das Böse und seine Verzeihung. - In einer Notiz zu Colin McGinns Buch Ethics, Evil and Fiction (Oxford 1997) diskutiert Martin Seel das Tugendideal der „schönen Seele", das McGinn zu erneuern versuche. Seel erinnert in diesem Zusammenhang an Graham Greenes bedeutenden Roman The quiet American, der zur Zeit des französischen Engagements in Vietnam spielt. Der amerikanische Einfluß ist noch verhalten und auf die Gewährung von Wirtschaftshilfe beschränkt. Der stille Amerikaner, Aldon Pyle, wird von Seel als Beispiel einer „schönen Seele" angeführt, die „auf unmoralische Weise mit sich im reinen ist" (M. Seel, Eine Äsdietik der Tugend, Die Zeit, 26.11.1998). Pyle will Gutes tun - am liebsten für die ganze Welt. Er meint genau zu wissen, was für Vietnam gut ist. Dabei versteht er gar nichts von Mentalitäten,

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Dennoch gibt es für Kant eine Verbindung von Ethik und Ästhetik, insofern mit moralischem Verhalten ein moralisches Gefühl der Lust an der Form einhergeht, die wir uns selbst gegeben haben. Diesem Gedanken werden wir in zahlreichen Skizzen Kants begegnen. Weil Moralität, die auf Vernunft gegründet ist, gleichwohl mit einem vernunftgewirkten Gefühl der Lust verknüpft sein soll, muß sich für Kant die Frage ihrer Bedeutung für das menschliche Glück stellen. Und sie wird sich notwendig so stellen, daß das Verhältnis moralischer Lust zu anderen Arten der Lust — zur Lust an der Verwirklichung unserer Ziele, zur ästhetischen Lust - in den Blick rückt.

21. Glück und „Seligkeit" Schon in seiner frühen Vorlesung über Moralphilosophie vom Beginn der 1760er Jahre finden wir Kant mit der Frage beschäftigt, wie moralische Lust und nichtmoralische Lust sich zum Glück des Menschen verhalten. In der Nachschrift Herders lesen wir: „Das Wort Glückseligkeit wenn es nicht ein Vergnügen über das Moralische sondern Unmoralische Gute ist, ist nicht Moralisch: - sondern blos Glück: die höchste Lust aber über seine eigne Moralität ist Seligkeit".40 Kant unterscheidet also zwischen Glück und Seligkeit als nichtmoralischer oder sogar unmoralischer und moralischer Glückseligkeit.41 Die Lust des moralischen Gefühls, so heißt es weiter, soll die Lust des Glücks übertreffen. Argumente für diese Behauptung werden in der Vorlesungsnachschrift nur angedeutet. Zunächst wird von Kant sofort eingeräumt: „Alles Glück macht auch Konstellationen und Machtverhältnissen in Indochina, das er soeben zum ersten Mal betreten hat. Im Eifer für das Gute aber läßt er sich sogleich herbei, zusammen mit einer obskuren paramilitärischen Bande - in der er partout die neben Kommunismus und Kolonialismus wirksame „dritte Kraft" der Demokratie sehen will - einen Bombenanschlag auf einem sehr belebten Platz Saigons zu organisieren. Unschuldige Zivilisten werden grausam zerrissen. Pyle hat die besten Absichten, und aus seiner Selbstgewißheit bezieht er das beste Gewissen. Er befindet sich mit sich selbst im Einklang. Die Differenz zu einer moralischen Haltung jedoch könnte nicht größer sein. Pyle kennt nämlich das nicht, was die erste und grundlegende Bedingung für moralisches Verhalten ist: Er kennt überhaupt kein Problem im Umgang mit sich und mit der Wirklichkeit. Arglos und ahnungslos, wie er durch die Welt traumwandelt, ist ihm die Frage „Was soll ich tun?" vollkommen fremd. So ist er moralisch nicht ansprechbar. Allein in diesem Sinne ließe sich wohl tatsächlich von einem „lack of moral sense" sprechen (Vgl. E. Tugendhat, Vorlesungen Über Ethik (1993), 61, 77, 280). Und wahrscheinlich handelte es sich wirklich um ein pathologisches Phänomen. In Greenes Roman heißt es einmal, die Unschuld Pyles sei eine Form des Wahnsinns (a kind of insanity). 40 AA XXVII, 18. 41 Später wird Kant den Gedanken einer „moralischen Glückseligkeit", den er - wie wir sehen werden — eine Zeit lang selbst erprobt, ein „sich selbst widersprechendes Unding" nennen. Vgl. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, AA VI, 377.

Glück und „Seligkeit"

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bei dem Moralischbösen eine ansehnliche Summe von Vergnügungen, die wirkliche Vergnügungen sind". Er wäre auch durchaus zu „beneiden", „wenn nicht der ernsthafte tugendhafte Sinn eine andre Art daurender Lust gäbe".42 Aus dieser Erklärung läßt sich schließen, daß die aus unmoralischem Tun folgende Lust nicht anhält oder zumindest nicht in dem Maße bleibend ist wie die aus Moralität folgende Lust. Allerdings unterliegt die Möglichkeit moralischer Lust einer einschränkenden Bedingung: Nur der ist fähig, sie zu genießen, der schon eine moralische Haltung einnimmt. Wir müssen „sehr moralisch gut seyn", um den „Wert" des moralischen Vergnügens „empfinden" zu können.43 Moralische Gefühle setzen die Wirklichkeit des moralischen Anspruchs voraus. Ein zweites Argument für einen möglichen Vorzug des moralischen Gefühls der Lust gegenüber moralneutraler Lust ist ebenfalls nur angedeutet: Glück ist für uns nicht zu haben, ohne daß unser Begehren Erfüllung findet, das heißt, seine Gegenstände Wirklichkeit werden. So besteht eine „Abhängigkeit von den44 Dingen, die uns jetzo unser Glück oft und sehr befördert".45 Eine „Abnahme" dieser Abhängigkeit und eine entsprechende Zunahme unserer Fähigkeit zum selbstgenügsamen Genuß ist Beförderung unserer Seligkeit. Daß die Verminderung oder sogar der Fortfall der Abhängigkeit von dem, was wir nicht selbst sind, unsere „Seligkeit" dereinst ausmachen wird, diese Überzeugung findet sich in der frühen Vorlesung nachdrücklich vertreten. Es ist deutlich, daß hier die Aussicht auf ein anderes als das irdische Leben und damit die Dimension religiös motivierter Hoffnung ins Spiel kommt. Vor diesem Hintergrund wird die Einschätzung verständlich, daß „jetzt unsere Seligkeit mehr Glück und weniger Seligkeit ist".46 Selbst wenn aus dem einen oder anderen Punkt der zuletzt vorgestellten Überlegungen auch Herder und nicht nur Kant sprechen sollte, so verdienen sie dennoch alle Aufmerksamkeit. Denn es werden die Themen knapp umrissen, um die es in Kants früher Erörterung der Glücksfrage zentral geht. Verspricht die moralische Lebensführung eine „dauernde Lust"? Zu erinnern ist an die Ausführungen Kants in seiner Anthropologievorlesung, in denen er die Vergänglichkeit einer jeden Lust und die Unausweichlichkeit des Schmerzes betont.47 Wie dagegen ist so etwas wie eine „dauernde Lust" zu verstehen? Und wie ist die Beziehung zwischen Glück, das abhängig ist von der Wirklichkeit der Gegenstände unseres Begehrens, und Seligkeit, die auf uns selbst und unserer Moralität beruhen soll, zu 42 AA XXVII, 18. 43 Ebd. 44 Im Text steht „denen"; der Verständlichkeit des Zitats halber habe ich es durch die heute gebräuchliche Form ersetzt. 45 Vgl. hier und im folgenden: AA XXVII, 19. 46 Ebd. 47 Vgl. oben, Kap. 3.

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denken? An der Gegenüberstellung von Glück und Seligkeit hat Kant ja immer festgehalten.48 Allerdings hat er die Möglichkeit, sich im Zustand der Seligkeit zu befinden, in den Schriften der späteren Jahre allein einem göttlichen Wesen vorbehalten. Die Endlichkeit, die Bedürftigkeit und die Gebrechlichkeit des Menschen schließen für den späteren Kant aus, daß er einer selig zu nennenden Selbstgenügsamkeit je fähig wäre. Vielfach dokumentiert sind jedoch Überlegungen, und ihnen werden wir uns jetzt zuwenden, in denen Kant eine der Seligkeit analoge Variante menschlichen Glücks durchdenkt. Er erprobt ihre Tragfähigkeit vor allem in Form von Entwürfen und Skizzen. In der Hauptsache finden sie sich in den größtenteils noch von Erich Adickes entzifferten und zusammengestellten, nach seinem Tod von Friedrich Berger herausgegebenen Reflexionen zur Moralphilosophie.

22. Das Wohlgefallen am Guten Aus den handschriftlichen Aufzeichnungen Kants, die zur Erörterung der Möglichkeit eines mit der Moral sich verbindenden Glücks heranzuziehen sind, ragt ein Stück heraus. Es handelt sich um einen vergleichsweise umfangreichen Text, der immerhin knapp sieben Druckseiten lang ist.49 Bemerkenswert und interessant ist er besonders aufgrund eines Vorzugs: Er enthält einen in sich geschlossenen und an Aspekten reichen Argumentationszusarnmenhang. Deshalb werden wir im folgenden auf diesen Text immer wieder zurückkommen. Er soll uns als Leitfaden der Darstellung und Diskussion einer Konzeption Kants dienen, die in den von ihm selbst veröffentlichten Schriften allenfalls in einzelnen Andeutungen noch anklingt, dort aber im Ganzen eindeutig zurückgewiesen wird.50 Das Gesagte gilt in erster Linie für die Kritik der praktischen Vernunft und die Metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre. 48 Vgl. Kritik der praktischen Vernunft, AA V, 25, 118; Religionslehre Pölitz, AA XXVIII, 1089 f, vgl. auch 1060, 1065. 49 R. 7202 = Loses Blatt Duisburg 6, AA XIX, 276-282. Der Text wird vom Herausgeber der Reflexionen auf die 1780er Jahre datiert; ein Vergleich der Positionen des Losen Blattes und der Kritik der praktischen Vernunft legt aber sehr nahe, daß seine Niederschrift nicht in das Ende der 80er Jahre fallen kann, sondern deutlich früher anzusetzen ist. - P. Guyer stellt fest, daß die Reflexion 7202 zwar ganz offensichtlich aus den 80er Jahren stamme, die Sprache Kants aber derjenigen gleiche, die er in der vorhergehenden Dekade benutzt hat. Vgl. Kanton Freedom, Law, and Happiness (2000), 106. 50 Dies ist zu betonen, weil es Versuche gibt, die von Kant in den Reflexionen erwogenen Antworten auf die Frage nach dem Glück umstandslos mit denen der publizierten Werke, insbesondere mit den Ausführungen der zweiten Kritik, zu verbinden. Vgl. z.B. den ansonsten sehr bedenkenswerten KongreßBeitrag von G. Römpp, Kants Ethik als Philosophie des Glücks (1991).

Das Wohlgefallen am Guten

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Am Anfang der Reflexion 7202 stehen Überlegungen zum Verhältnis verschiedener Arten von „Wohlgefallen". Sie knüpfen durchaus an die Erörterungen zu moralischer und nichtmoralischer Lust und ihren Wert für unser Lebensglück an, die sich in Kants früher Ethikvorlesung finden und die bereits vorgestellt wurden.51 Nur grenzt Kant jetzt gegen die moralische die ästhetische Lust ab. Die frühe Identifikation beider hat er aufgegeben. Gleichwohl sind die moralische und die ästhetische Einstellung auch beim späteren Kant darin eng verwandt, daß ein Moment unparteilicher Schätzung und Achtung für ein Gegenüber in beiden Haltungen wirksam ist. Wir anerkennen etwas um seiner selbst willen, nicht weil eine je individuell profilierte Bedürftigkeit uns treibt und eine - so verstanden parteiliche Wertschätzung erzwingt. An schönen Gegenständen haben wir, schreibt Kant in der Reflexion 7202, deshalb ein „Wohlgefallen", „weil sie unser Subiect harmonisch afficiren und uns unser ungehindertes Leben oder die Belebung fühlen lassen".52 In der von Kant hier in Anschlag gebrachten harmonischen Affektion des Subjekts klingt bereits jene Theorie ästhetischen Gefallens an, die er später in der dritten Kritik ausführen wird. Danach ist ein besonderes Verhältnis zwischen unseren beiden komplementären Erkenntniskräften, das sich im Erleben des Schönen einstellt, Grund ästhetischer Lust. Verstand und Sinnlichkeit befinden sich im Verhältnis der für beide „zuträglichsten" „Stimmung";53 das Vermögen der Begriffe und das der Anschauung stehen in einer Beziehung, die Kant als „Spiel", auch als ein „freies Spiel" umschreibt.54 Was unseren Sinnen erscheint und was wir uns in Begriffen vorstellen, entspricht einander, als wäre beides füreinander bestimmt. Eine „Belebung" aller unserer intellektuellen und sinnlichen Kräfte vollzieht sich im Angesicht des Schönen.55 Wohlgefallen aber bringen wir zweifellos nicht nur dem Schönen entgegen. Wohlgefallen finden wir auch am Ausfuhren eines Plans, am Gelingen eines Vorhabens oder am Genuß eines Getränks. In der uns beschäftigenden Reflexion nennt Kant einen weiteren Typ: das Wohlgefallen am Guten. In all den zuerst genannten Fällen handelt es sich um ein Wohlgefühl, das sich angesichts der Erfüllung eines Strebens einstellt, das auf bestimmten unserer Neigungen aufruht. Die 51 Vgl. oben, Kap. 20. 52 R. 7202; AAXK, 276. 53 AAV, 238 f. 54 Vgl. ebd., 197, 210, 217, 219, 222, 306. - Zur Deutung dieses Grundgedankens der Kantischen ästhetischen Theorie, der dem Verständnis nach wie vor Schwierigkeiten bereitet, vgl. die erhellenden Analysen von J. Stolzenberg, Das freie Spiel der Erkenntniskräfie. Zu Kants Theorie des Geschmacksurteils (2000). Und es geht Stolzenberg nicht nur um die Klärung der Kantischen Argumentation, sondern auch um den Nachweis ihrer Aktualität. Vgl. dazu auch die schöne Studie des Autors über Musik und Subjektivität oder: Vom Reden über das Musikalisch-Schöne. Ein Versuch mit Blick auf Kant (2001). 55 Vgl. AAV, 219, 222, 238 f, 287.

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Gegenstände dieser Neigungen aber „lassen uns keine Freiheit, uns selbst irgend woraus einen Gegenstand der Lust zu machen".56 In diesem Sinn sind solche Neigungen Imperativisch. Im Fall des Wohlgefallens am Guten nun sind es keine Neigungen, die uns in unserem Wohlgefallen fesdegen, sondern Gesetze der Vernunft. Kant spricht deshalb von einem „nothwendigen Wohlgefallen",57 das sich mit ihrer Befolgung verbinden soll. Das ästhetische Wohlgefallen jedoch ist ein „freies Wohlgefallen" — und darin einzigartig.58 In ästhetischer Einstellung sind wir der Welt in Lust zugetan, und zwar losgelöst von Absichten und Ambitionen, die uns binden und die wir zu realisieren suchen. Nichts erzwingt die Wertschätzung des Schönen — weder praktische Interessen und Bedürfnisse noch eine moralische Verpflichtung. So kann auch nie ausgeschlossen werden, daß es Individuen gibt, die für die Reize des Schönen unempfänglich sind. Nicht zuletzt dieser Befund mußte Kant die von ihm zunächst vertretene Engfuhrung von Moral und Ästhetik problematisch erscheinen lassen, solange an der allgemeinen Verbindlichkeit der Moral festgehalten werden soll. Entsprechend revidiert Kant seine Position. In der von uns betrachteten Aufzeichnung aus den achtziger Jahren identifiziert er das ästhetische Wohlgefallen nicht nur nicht mit dem praktisch-moralischen, sondern er hebt es ausdrücklich von ihm ab: „Wir sehen aber, daß die Ursache dieses (ästhetischen) Wohlgefallens nicht im Obiecte sey, sondern in der individuellen oder auch specirischen Beschaffenheit unseres Subiects liege, mithin nicht nothwendig und allgemein-gültig sey: die Gesetze, welche die Freyheit der Wahl in Ansehung alles dessen, was gefällt, mit sich selbst in Einstimmung bringen, enthalten dagegen vor iedes Vernünftige Wesen, das ein Begehrungsvermögen hat, den Grund eines nothwendigen Wohlgefallens; darum kann uns das Gute nach diesen Gesetzen auch nicht gleichgültig seyn, so wie etwa die Schönheit".59 Nun ist es eines, einzusehen, was das unbedingt Gute ist, ein anderes aber, nach dieser Einsicht zu handeln. Deshalb hat Kant von Anfang an zwischen dem principium diitidicationis und dem prindpium executionis der Moral unterschieden.60 Während die Beurteilung dessen, was als moralisch gut oder nicht gut zu gelten hat, nach Kant in der Idee des an sich selbst Guten oder des reinen Willens ihren Maßstab hat, schließt diese Erkenntnis des Guten offenbar seine Befolgung nicht 56 Ebd., 210. 57 R.7202,AAXIX,276. 58 Kritik der Urteilskraft, AA V, 210. - Vgl. zu diesem Aspekt: G. Prauss, Kants Theorie der ästhetischen Einstellung (1981). 59 R. 7202, AA XIX, 276 (Zusatz in Klammem von mir). 60 Vgl. Kritik der reinen Vernunft, A 812/B 840; R. 6619, 6722, 6760, 6798, 6915, in: AAXDC, 112 f, 141, 151-153, 205. Vgl. auch R. 6607 f, ebd., 106 f. Vgl. Metaphysik der Sitten, AA VI, 217. - Eine kritische Rekonstruktion der Problemlage bietet D. Henrich, Das Problem der Grundlegung der Ethik bei Kant und im spekulativen Idealismus (1963), 350-386; bes. 356-377.

Das Wohlgefallen am Guten

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schon ein. Es ist das Problem der „Triebfedern" der Moral, das hier in den Blick gerät und das Kant umfassend beschäftigt und herausfordert.61 Letztlich handelt es sich im übrigen um ein Problem, das sich im Blick auf praktische Rationalität insgesamt ergibt und das auf das Teilgebiet moralisch-praktischer Vernunft gar nicht beschränkt ist. Die zu erklärende generelle Schwierigkeit ist: In welchem Verhältnis steht das Wissen um das Gute, Richtige, Kluge zum Handeln, das solchem Wissen folgen kann oder nicht?62 Für Kant stellt sie sich vor allem in moralphilosophischer Perspektive und vor allem in Form der einen Frage: Wie ist es möglich, daß Vernunft ßir sich selbst praktisch ist?63 Allein aus Vernunft und Freiheit hatte Kant Moralität abzuleiten versucht, und er ist überzeugt, daß allein auf diesem Weg für ihre allgemeine Verbindlichkeit argumentiert werden kann. Kein Gefühl als Grundlage der Moral vermöchte je für diese Verbindlichkeit einzustehen. Aber ist die Erkenntnis des Guten auch schon hinreichend, um uns unserer Einsicht entsprechend handeln zu lassen? Zu genau diesem Problem bietet die Reflexion 7202 eine sehr interessante Lösung. Wie die antike Tradition verknüpft Kant die Moral mit dem Glück; nicht zuletzt das Streben nach wahrhaftem Glück kann uns danach motivieren, moralisch zu sein. Kant hatte — wie gesehen — ein „nothwendiges Wohlgefallen" geltend gemacht, das wir dem moralisch Guten entgegenbringen. Der Charakter der Notwendigkeit unterscheidet es von dem Wohlgefallen, das wir an ästhetisch ansprechenden Gegenständen und Formationen gewinnen können. Gegen das Schöne vermag der Einzelne wohl zeitweise oder sogar anhaltend indifferent zu sein, gegen das Gute Kant zufolge nicht. Und er gibt diese Begründung: „Wir müssen auch ein Wohlgefallen an seinem (sc. des Guten) Daseyn haben, denn es stimmt allgemein mit Glückseeligkeit midiin auch mit meinem Interesse".64 Die Behauptung, für die Kant im folgenden argumentiert, läßt sich so zuspitzen: Die Form der Moral - und Kant hält wie gezeigt allein eine formale, auf die Fixierung bestimmter Inhalte verzichtende Moral für plausibel - ist zugleich die Form des Glücks. Und er wird darüber hinaus auch die noch stärkere Behauptung vertreten: Mit dem moralischen Handeln verbindet sich bereits die Wirklichkeit eines spezifischen Glücks. In beiden Fällen würde ein recht verstandenes Streben nach dem Glück - weit entfernt davon, mit moralischem Verhalten in Konflikt zu geraten — dieses geradezu gebieten. 61 Vgl. R. 6838, 6843, 6864, 6914, AA XIX, 176 f, 184 f, 204. Vgl. Kritik der praktischen Vernunft, AA V, 71-89, 151 f; Metaphysik der Sitten, AA VI, 218 f, 375-377. 62 Vgl. St. Gosepath (Hg.), Motive, Gründe, Zwecke. Theorien praktischer Rationalität (1999). Vgl. insbesondere die unter dem Stichwort „Grenzen der Rationalität" versammelten Beiträge von D. Davidson, U. Wolf und N. Rescher, ebd., 209-263. 63 Vgl. Grundlegung, AA IV, 461; Kritik der praktischen Vernunft, AA V, 24 f, 31. 64 AA XK, 276, Z. 15-17 (erklärender Zusatz von mir).

23. Auf „eigner Wahl" beruhendes Glück Ausgangspunkt Kants ist die These, daß wir deswegen ein notwendiges Wohlgefallen an der Wirklichkeit des moralisch Guten haben müßten, weil es „allgemein mit Glückseeligkeit mithin auch mit meinem Interesse" übereinstimme. Das moralisch Gute sieht Kant in Gesetzen, „welche die Freyheit der Wahl in Ansehung alles dessen, was gefällt, mit sich selbst in Einstimmung bringen".63 In der Anerkennung einer Gesetzlichkeit, die das Wollen strukturiert, soll Moralität bestehen. Wie aber bestimmt Kant Glückseligkeit? „Die Materie der Glückseeligkeit", so lesen wir im zweiten Abschnitt der Reflexion 7202, „ist sinnlich, die Form derselben aber ist intellectuel: diese ist nun nicht anders möglich als Freyheit unter Gesetzen a priori, ihrer Einstimmung mit sich selbst, und dieses zwar nicht um Glückseeligkeit wirklich zu machen, sondern zur Möglichkeit und Idee derselben. Denn die Glückseeligkeit besteht eben im Wohlbefinden, sofern es nicht äußerlich zufallig ist, auch nicht empirisch abhängend, sondern auf unsrer eignen Wahl beruht. Diese muß bestimmen und nicht von der Naturbestimmung abhängen. Das ist aber nichts anders als die wohlgeordnete Freyheit".66 Mit der Unterscheidung zwischen Form und Materie der Glückseligkeit markiert Kant zunächst die zwei aufeinander nicht reduzierbaren Dimensionen, die für ihre Wirklichkeit konsumtiv sind. Glückseligkeit beruht somit auf zwei Stämmen: auf Sinnlichkeit und auf Vernunft. Insofern Vernunft ohne Freiheit nicht zu denken ist, und umgekehrt,67 Sinnlichkeit nicht ohne Natur, ließe sich genausogut sagen: Glückseligkeit gründet auf Freiheit wie auf Natur. Nun hatte sich schon im Zuge einer ersten Sichtung der Äußerungen Kants zum Phänomen des Glücks gezeigt, daß er zwischen Glück slsfortuna und Glückseligkeit als Frucht eigener Tätigkeit und Anstrengung strikt differenziert.68 Angenehm und willkommen kann wohl beides sein, die vom Zufall gefügte günstige Konstellation der Dinge wie die Realisierung der eigenen Lebensentwürfe. Während aber jene gleichsam als Produkt der Natur begriffen werden kann, ist diese ohne den Gedanken an die Intentionen dessen, für den sie die Erfüllung seiner Ambitionen bedeutet, nicht zu verstehen. So ist die Vorstellung von Glückseligkeit an die Idee eines selbstbestimmten Lebens gebunden, obgleich Selbstbestim65 66 67 68

Ebd., Z. 16 fund Z. 10-12. Ebd., Z. 18-26. Vgl. oben, Kap. 13. Vgl. oben, Kap. 1.

Auf „eigner Wahl" beruhendes Glück

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mung allein ihre Wirklichkeit nicht zu erzeugen vermag. Die Materie muß sich der Form auch fugen. Das kann mehr oder weniger der Fall sein, je nachdem wie die Kräfte zwischen dem Entwerfenden und der ihm gegenüberstehenden Welt verteilt sind. Glückseligkeit erwächst aus Freiheit wie aus Natur und ihrem wohlproportionierten Zusammenhang. Kant ist in der Frage menschlichen Glücks der entschiedene Vertreter einer individualistischen Position. Gegen die Philosophie der Aufklärung verabschiedet er den Gedanken eines objektiven Glücks, der sich für diese mit der Idee einer allgemeinen Vollkommenheit verbunden hatte. Kant betont, daß das Streben nach Glückseligkeit irreduzibel in der Hand und Verantwortung des Einzelnen steht. Deshalb lehnt er zum Beispiel die Vorstellung einer paternalistischen Fürsorge ausdrücklich ab,69 obgleich er die Beförderung der Glückseligkeit Anderer für geboten hält. Sie aber hätte vor allem die Freiheit des Anderen zu achten und ihn in der Verwirklichung seiner eigenen Anliegen zu unterstützen. Ein objektivistisch verstandenes Wohl des Menschen kann es für Kant nicht geben. Wenn die bisherigen Überlegungen zutreffend waren, widerspräche es dem zentralen Charakteristikum des menschlichen Daseins: der Freiheit, das eigene Leben fahren zu können und auch zu müssen. Entsprechend finden wir in dem oben zitierten Textstück aus der Reflexion 7202 von Kant hervorgehoben, daß Glückseligkeit natürlich im Wohlergehen besteht, aber nur „sofern es nicht äußerlich zufallig ist, auch nicht empirisch abhängend, sondern auf unsrer eignen Wahl beruht".70 Interessant für uns sind die negativen Bestimmungen, gegen die Kant das Spezifische eines der „eignen Wahl" entspringenden Wohls abhebt. Ein Wohlergehen, das „äußerlich zufallig" zu nennen wäre, ist eben jenes auf das Glück günstiger Umstände zurückgehende, von dem bereits die Rede war. Es ist zwar keineswegs zu verachten, es kann jedoch nach Kants Überzeugung für den Menschen nicht alles sein. Zumal es sich um ein Glück handelt, dessen Bestand immer sehr auf dem Spiele steht. Es kann in jedem Augenblick umschlagen, und der Mensch, der allein auf dieses Glück günstiger Umstände bauen würde, müßte sich seinen Launen aussetzen wollen. Es bliebe ihm nur, zu hoffen, wenn es sich entzöge, zu genießen, wenn es sich zeigte, und zu erdulden, wenn es sich in Unglück verwandelte. Nietzsche wird es sein, der dem Menschen am ehesten eine solche Haltung empfiehlt. Sich vom Schicksal radikal angreifen zu lassen, kann zwar bedeuten, sich vom Schmerz angehen zu lassen, doch bietet solch riickhahlose Öffnung eben in Nietzsches Augen allererst die Chance, das tiefste Glück

69 Vgl. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, AA VI, 454. 70 AAXDt, 276, Z. 22-24.

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je zu erleben. Amor fati, diese Formel mag hier abkürzend für die Tendenz einer Nietzscheschen Lehre vom Glück stehen.71 Aber selbst wenn Nietzsches Zumutung, sich um des Glückes willen auch dem Leiden ohne Vorbehalt zu öffnen, vermieden und gegen alle Wahrscheinlichkeit die Wirklichkeit paradiesischer Zustände angenommen würde, bleibt die Frage: Kann dem Menschen ein „äußerlich zufälliges" Glück genügen? Hegel gibt eine eindeutig negative Antwort, und er bringt in Anspielung auf den von Kant ebenfalls zitierten Sündenfallmythos72 pointiert auf den Begriff, was auch als die Kantische Position gelten muß: „Das Paradies ist ein Park, wo nur die Tiere und nicht die Menschen bleiben können."73 Falls es sich denn je anders verhalten haben sollte - seit der Mensch sich Vernunft zuschreibt und einen eigenen Willen, kann ihn das gleichsam blinde Sich-Wohlfühlen ohne seine Vorstellung eines Begehrenswerte« nicht erfüllen. Kant registriert in seinen Überlegungen zum Mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte die Sehnsucht der Menschen nach einer Welt, in der das Glück ihnen ohne ihr Zutun immer schon zufällt. Doch gleichzeitig sei ihnen die „Nichtigkeit dieses Wunsches" stets bewußt: Denn der Mensch könnte sich Kant zufolge in einem solchen permanenten Zustand des von keinem Gedanken und keinen Ambitionen berührten Genießens „nicht erhalten, weil er ihm nicht genügt".74 So ziehe er es vor, selbst Mühseligkeiten zu ertragen, wenn er nur die zunächst bloß gegebene kontingente Existenz durch die Orientierung an frei gewählten Zielen und Zwecken zu seiner eigenen machen kann. Mit der Harmlosigkeit eines schlichten Seins, und hätte es paradiesische Qualitäten, könnte er sich niemals abfinden. Wenden wir uns jetzt der zweiten jener Negationen zu, gegen die Kant den Gedanken des „auf unsrer eignen Wahl" gegründeten Glücks profiliert. Dieses Glück soll in einem Wohlergehen bestehen, das nicht nur kein „äußerlich zufälliges" in dem beschriebenen Sinn, sondern „auch nicht empirisch abhängend" ist.75 Damit scheint Kant die Möglichkeit eines Glückes zu behaupten, dessen Wirklichkeit zur Gänze in unserer Macht steht — in Form und Materie, in der Wahl des richtigen glücksverbürgenden Zieles wie auch in dessen Realisierung. Es gäbe ein Glück, das allein auf uns selbst und nichts anderem beruhte und so gewissermaßen für unsere Autarkie spräche. Es läge dann nämlich nur an uns selbst, dieses Glück zu gewinnen oder zu verfehlen.

71 Belegstellen und Überlegungen zum Glücksbegriff Nietzsches finden sich in meiner Untersuchung: Freiheit und Selbstbestimmung. Zu Nietzsches Philosophie der Subjektivität (1996), 163-166, 185-195. 72 Vgl. Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, AA VIII, 109-123. 73 Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke, Bd. 12, 389. 74 AA VIII, 122 f. 75 R. 7202, AA XIX, 276, Z. 23.

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Wir lesen, ein so verfaßtes Glück müsse auf Selbstbestimmung und nicht auf „Naturbestimmung" gründen.76 Und Kant erläutert: „Das ist aber nichts anders als die wohlgeordnete Freyheit."77 Die wohlgeordnete Freiheit jedoch ist zu verstehen als „Freyheit unter Gesetzen a priori, ihrer Einstimmung mit sich selbst".78 Die Gesetzesförmigkeit, mit Hilfe derer wir der Freiheit als Grund unserer Wirksamkeit Fassung und Regel geben, soll demnach Fundament einer von „unsrer eignen Wahl" und nichts sonst abhängigen Glückseligkeit sein. Auf den ersten Blick ist ersichtlich, daß es sich um eine rein formale Bestimmung des Glücks handelt und daß sie derjenigen auf das genaueste gleicht, die Kant zum Inbegriff der Moralität erklärt hatte. Nach der Feststellung, daß Selbstbestimmung zur Glückseligkeit in der „wohlgeordneten Freyheit" besteht, setzt Kant seine Überlegung wie folgt fort: „Nur der ist fähig glücklich zu seyn, dessen Gebrauch seiner Willkühr nicht deren datis zur Glückseeligkeit, die ihm Natur giebt, zuwieder ist. Diese Eigenschaft der freyen Willkühr ist die conditio sine qua non der Glückseeligkeit. Glückseeligkeit ist eigentlich nicht die (größte) Summe des Vergnügens, sondern die Lust aus dem Bewustseyn seiner Selbstmacht zufrieden zu seyn, wenigstens ist dieses die wesendiche formale Bedingung der Glückseeligkeit, obgleich noch andere materiell (wie bey der Erfahrung) erforderlich sind."79 Aufschlußreich an dieser Textstelle ist eine Zweideutigkeit der Argumentation. Auf der einen Seite behauptet Kant, allein ein bestimmter „Gebrauch" unserer Willkür eröffne auch nur die Möglichkeit des Glücklichseins. Nach dem bisher Ermittelten kann kein Zweifel bestehen, daß ein moralkonformer Gebrauch der Willkür80 gemeint ist — ein Gebrauch der freien Willkür „unter Gesetzen a priori".81 Das wird von Kant im Anschluß an den gerade zitierten Textabschnitt ausdrücklich gesagt: „Die Function der Einheit a priori aller Elemente der 76 Ebd., Z. 24 f. 77 Ebd., Z. 25 f. 78 Ebd., Z. 19 f. 79 Ebd., 276, Z. 27 - 277, Z. 2. 80 Bekanntlich unterscheidet Kant von den Hauptschriften der 90er Jahre, der Metaphysik der Sitten und der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, an zwischen Willkür und Wille. Die prägnanteste Definition lautet: „Von dem Willen gehen die Gesetze aus; von der Willkür die Maximen." (AA VT, 226.) Wille ist somit Grund des moralisch gebundenen Wollens, Willkür Grund des Wollens, das durch die individuellen „subjektiven" Prinzipien einer handelnden Person bestimmt ist, die moralische sein können, aber nicht müssen. Zu dieser in ihren Konsequenzen nicht unproblematischen und entsprechend kontrovers diskutierten Unterscheidung vgl. G. Prauss, Kant über Freiheit als Autonomie (1983), 112-115, ferner 84 ff; H. E. Allison, Kant's theory of freedom (1990), 129-136 und ff; P. Stekeler-Weithofer, Willkür und Wille bei Kant (1990). Für die Analyse unseres vergleichsweise frühen Textes indes spielt die Differenz zwischen Wille und Willkür keine Rolle; ich werde beide Termini synonym gebrauchen. 81 Vgl. R. 7202, AA XK, 276, Z. 19 f.

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Glückseeligkeit ist die nothwendige Bedingung der Möglichkeit und das Wesen derselben. Die Einheit a priori aber ist die freyheit unter allgemeinen Gesetzen der Willkühr, d.i. Moralitaet."82 Willkür oder Wille allein und für sich genommen aber können die Wirklichkeit der Glückseligkeit offensichtlich nicht hervorbringen. Denn Kant spricht von „dads zur Glückseeligkeit", die gerade nicht auf den Willen des Menschen zurückgehen, sondern die ihm die „Natur giebt". Nun soll es um unseres Glückes willen darauf ankommen, daß der Wille als formende Kraft mit dem, was von der Natur als Material bereitgestellt und gegeben ist, auf eine bestimmte — gesetzmäßige—Weise umgeht. „Diese Eigenschaft der freyen Willkühr" ist deshalb „die conditio sine qua non der Glückseeligkeit". Die Gesetzesförmigkeit unseres Wollens, die für Kant die Moralität unseres Handelns gewährleistet, soll also gleichermaßen unsere Glücks^2r'Ä/g£«Vverbürgen. Das hieße aber, Moralität wäre zugleich die Form des Glücks. Wohlgemerkt, die Form des Glücks,83 nicht notwendig auch dessen Wirklichkeit. Während die Form des Glücks wie die Wirklichkeit der Moral voll und ganz in unserer Macht stehen, weil sie von nichtempirischer Qualität sind und auf unserer Selbsttätigkeit beruhen, ist die Wirklichkeit des Glücks unumgänglich auch von dem abhängig, was die Natur im günstigen Fall gewährt und im ungünstigen vorenthält. Überrascht liest man weiter. Denn auf der anderen Seite soll die Wirklichkeit des Glücklichseins plötzlich doch gänzlich in unserer Hand liegen können. „Glückseeligkeit", schreibt Kant, „ist eigentlich nicht die (größte) Summe des Vergnügens, sondern die Lust aus dem Bewustseyn seiner Selbstmacht zufrieden zu seyn".84 Wir sollen also eines Glückes mächtig sein, das aus uns selbst entspringt. Und wir gewinnen nach Kant Lust aus dem Bewußtsein, selbst die Quelle unserer eigenen Zufriedenheit zu sein. Unser Glück ist begründet in der Fähigkeit zur Selbstgenügsamkeit und verwirklicht sich in der Selbstzufriedenheit. Gegen diese in uns selbst wurzelnde Lust, die er auch „intellektuelle" Lust nennen wird,85 scheint Kant die auch auf sinnlicher Erfüllung beruhende Lust des „Vergnügens" sogar auszuspielen. Somit verknüpft Kant einen moralkonformen „Gebrauch" unseres Willens genau besehen auf zweifache Weise mit dem Gedanken der Glückseligkeit. Einerseits soll er die Form auch der Glückseligkeit bilden. In diesem Fall könnte der gesetzlich bestimmte Wille auch zur Leitung unseres Glücksstrebens dienen. So garantierte er aber lediglich unsere Glüxksföhigkeit, wenn anders die noch so per82 Ebd., 277, Z. 3-6. 83 Von dieser „Form" des Glücks bzw. der Glückseligkeit spricht Kant selbst neben der bereits zitierten Passage aus der Reflexion 7202 (ebd., 276, Z. 18 f) noch häufiger. Vgl. z.B. R. 6867 (1776-78), ebd., 186, Z. 26. 84 R. 7202, ebd., 276, Z. 30-32 (Hervorhebung von mir). 85 Vgl. ebd., 278, Z. 20; R. 6974 (1776-78?), ebd., 218.

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fekt gedachte Angemessenheit des Strebens die Wirklichkeit des Erstrebten gerade noch nicht verbürgt. Andererseits soll die Gesetzesförmigkeit unseres Wollens eine intrinsische Zufriedenheit hervorbringen, die bereits als G\üc\a&wirklichkeit anzusprechen ist. Diese Art von Glück soll künftig moralisches Glück bzw. moralische Glückseligkeit genannt werden.86 Mit der zuerst genannten Variante aber werden wir uns zunächst beschäftigen.

24. Moral als Form des Glücks Was Moralität als Form des Glücks bedeuten kann, soll im folgenden anhand eines Beispiels demonstriert werden. Dabei wird sich zeigen, daß es selbstzerstörerisch sein kann, das Glück um den Preis der Moral gewinnen zu wollen. Und daß Moralität ihren Ursprung im Verhältnis zu uns selbst hat und nicht - wie das Recht — im Verhältnis zum Anderen, daran läßt Kant keinen Zweifel. Den Hauptteil der Metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre beginnt er deshalb mit einer Analyse der Pflichten, die der Mensch gegen sich selbst hat.87 Sie sind - systematisch betrachtet - die ersten Pflichten des Menschen. Weil Moral heute 86 Zum Begriff der „moralischen Glückseligkeit" vgl. oben, Kap. 21. - In der Literatur, die auf Kants Entwürfe zum Verhältnis zwischen Glück und Moral in den nachgelassenen Reflexionen eingeht, wird diese Zweideutigkeit der Argumentation nicht immer in der gebotenen Deudichkeit notiert. Dabei durchzieht sie alle einschlägigen Reflexionen der siebziger und frühen achtziger Jahre (vgl. etwa R. 6867 mit 6883; vgl. R. 6892, 6907, 6910 f, 7199, 7200, 7237). M. Forschner (Moralität und Glückseligkeit in Kants Reflexionen [1988], 351-370), der die in den Reflexionen greifbaren Skizzen Kants insgesamt zu .stoizistisch' auslegt, will in den beiden von mir unterschiedenen Thesen Kants nur eine „schwache" und eine „starke Formulierung" der einen Kantischen Behauptung sehen, daß das Glück des Menschen Produkt seiner Moralität sei (362). Gegen K. Düsing, (Das Problem des höchsten Gutes in Kants praktischer Philosophie [1971], bes. 19 ff), der ähnlich wie später Forschner Kant die These zuschreibt, die moralisch gebundene Freiheit für sich allein könne Ursache der Glückseligkeit sein, bringt M. Albrecht (.Glückseligkeit aus Freiheit'und .empirische Glückseligkeit'[1974], 563-567) zu Recht einen auch in den Reflexionen präsenten Begriff der „empirischen Glückseligkeit" zur Geltung. Für die Wirklichkeit eines solchen „empirischen" und von uns gerade nicht zu erzeugenden Glücks könnte die moralisch restringierte Freiheit dann allein das formende Element sein. M. E. aber besteht bei Albrecht nun umgekehrt die Gefahr, die von Kant ins Spiel gebrachte Theorie einer durch Freiheit bewirkten moralischen Glückseligkeit zu sehr abzuschwächen. Sie besaß für Kant, wie wir noch im einzelnen sehen werden, eine erhebliche Anziehungskraft. In den Reflexionen werden beide der in Frage stehenden Konzepte von Kant nebeneinander vertreten. P. Guyer (Kant on Freedom, Law, and Happiness [2000], 107 ff) scheint die Sachlage ähnlich einzuschätzen. - Unabhängig von den Reflexionen, die sie nicht zu Rate zieht, weist auch Victoria Wike in ihrer Monographie Kant on Happiness in Ethics (1994) auf die Vieldeutigkeit und Widersprüchlichkeit des Kantischen Glücksbegriffs hin. Doch sie bleibt bei dieser Beobachtung stehen und tritt in die Auseinandersetzung mit Kant nicht ein. 87 Vgl. AA VI, 417 ff, bes. 417 f.

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oft als Inbegriff von Pflichten allein gegenüber den Anderen verstanden wird und allenfalls der „Ethik" die Aufgabe einer Behandlung der Sorge um sich selbst zugewiesen wird, scheint es nicht überflüssig, daraufhinzuweisen.88 Sehr deutlich formuliert finden wir die Position Kants in den Nachschriften seiner moralphilosophischen Vorlesung, die uns von Collins und Mrongovius vorliegen.89 Nach einer kurzen Einleitung in die praktische Philosophie und Erörterungen über die natürliche Religion — ein Schema, das der von Kant zugrundegelegten Ethica Baumgartens folgt - wendet er sich der „eigendichen Moralität" zu.90 Ihr Gegenstand sind „die natürlichen Pflichten gegen alles, was in der Welt ist." Und Kant fährt fort: „Das erste Object aber sind die Pflichten gegen uns selbst. Diese werden nicht juridisch betrachtet, denn das Recht betrifft nur das Verhältniß gegen andre Menschen. Recht kann nicht gegen mich selbst beobachtet werden, denn was ich gegen mich selbst thue, das thue ich mit meiner Einwilligung, und ich handele nicht wider die öffentliche Gerechtigkeit, wenn ich wider mich selbst handle. Wir werden hier von dem Gebrauch der Freyheit in Ansehung seiner selbst reden. Als eine Einleitung ist zu merken, daß kein Stück in der Moral mangelhafter abgehandelt worden als dieses von den Pflichten gegen sich selbst. Es hat sich keiner einen rechten Begriff von der Pflicht gegen sich selbst gemacht, man hielt sie für eine Kleinigkeit, und erwog sie nur als Supplement in der Moralität zuletzt, und glaubte, wenn der Mensch alle Pflichten erfüllt habe, so könne er zulezt auch an sich denken. In diesem Stücke also sind alle philosophischen Moralen falsch."91 Kants Diagnose hat an Aktualität nichts eingebüßt.92 Zwar geht es seit einiger Zeit mehr denn je darum, beim Einzelnen, beim Individuum anzuknüpfen und eine Ethik von seinem Wollen her zu begründen. Denn sonst wäre nicht zu zeigen, wie die Moral mit der Freiheit des Einzelnen zu verbinden ist. Sie müßte dann unweigerlich als Zwang erscheinen — als ein gleichsam von außen herangetragenes Sollen. Die Berufung auf mächtige Traditionen zum Beispiel, auf die Religion als 88 Vgl. z. B. J. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik (1991), 100 ff; H. Krämer, Integrative Ethik (1992), 9 ff, 16-19; E. Tugendhat, Vorlesungen über Ethik (1993), bes. 33-38. Vgl. die Sichtung der „Formen der ethischen Theorie" in: B. Williams, Ethik und die Grenzen der Philosophie (1985, dt. 1999), bes. 109 ff; vgl. auch Williams Bemerkungen zur Unterscheidung von Ethik und Moral, ebd., 18 ff; vgl. die Diagnose von Ch. Taylor, in: Quellen des Selbst (1989, dt. 1996), 48 ff, 152 ff. 89 Beide Nachschriften stammen aus den achtziger Jahren; die Moralphilosophie Collins dokumentiert Kants Vorlesung aus dem Wintersemester 1784/85, die Moral Mrongovius datiert G. Lehmann (Einleitung, AA XXVII, vgl. 1052 mit 1041) frühestens auf das Wintersemester 1782/83. 90 Moralphilosophie Collins, AA XXVII, 340; vgl. Moral Mrongovius, ebd., 1479. 91 Ebd. 92 Vgl. die auf S. 105, Anm. 2 genannten Texte. - Zum Verständnis von Moral als Inbegriff der Pflicht gegen sich selbst, in der die Pflicht gegen Andere ihren Grund hat, vgl. aber V. Gerhardt, Selbstbestimmung (1999), 97-102, 307-310, 362 ff; vgl. auch Ders., Individualität (2000), 182-210.

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Grund eines so verstandenen Sollens aber vermöchte seine für alle unbestreitbare Geltung nicht plausibel zu machen. So bleibt nur der schon von Kant eingeschlagene Weg, Moralität aus Freiheit abzuleiten. In der Einsicht jedenfalls, daß nur dieser Weg zum Ziel einer tragfähigen Begründung der Moral fuhren kann, folgen ihm die meisten der zeitgenössischen Ethiker oder Moralphilosophen. Das schließt aber offenkundig nicht aus, daß sie Kant genau in dem oben genannten Punkt, auf den er selbst schon den Finger legt, mißverstehen:93 Moral ist für sie nämlich der Inbegriff von Forderungen, die sich allein auf den Umgang mit den Anderen beziehen; dann jedoch wäre sie nichts anderes als das um die entsprechende Gesinnung erweiterte Recht.94 Dieses Verständnis von Moral kann leicht dazu verfuhren, sich in falschen Alternativen zu verfangen. Es kann dann so scheinen, als ob es immer der selbstlose - denn auf die moralische Gesinnung soll es ja ankommen - Einsatz für die Anderen ist, der im Konfliktfall gegen die selbstsüchtige — auf mein eigenes Wohlergehen bedachte — Sorge um mich steht. Und aus einer so begriffenen Problemstellung müssen sich beträchtliche Schwierigkeiten ergeben, das moralisch Gebotene plausibel aus dem Wollen des Einzelnen abzuleiten. Nach Kant hat Moralität ihre Wurzel und ihren Ausgangspunkt im rechten Umgang mit sich selbst. „Wenn ein Mensch seine eigne Person entehrt", heißt es in der Vorlesung über Moralphilosophie Mitte der achtziger Jahre, „was kann man von dem noch fordern? Wer die Pflichten gegen sich selbst übertritt, wirft die Menschheit weg, und ist nicht mehr im Stande Pflichten gegen andre auszuüben. So kann ein Mensch der die Pflichten gegen andre schlecht ausgeübt hat, der nicht großmüthig, gütig, mideidig gewesen, der aber die Pflicht gegen sich selbst beobachtet hat, und so gelebt hat, wie es sich geziemet, doch an sich einen gewißen innern Werth haben. Der aber die Pflichten gegen sich selbst übertreten hat, hat keinen innern Werth. Die Verletzung der Pflichten gegen sich selbst also nimmt dem Menschen seinen ganzen Werth; und die Verletzung der Pflichten gegen andere nimmt demselben nur seinen respectiven Werth. Folglich sind die erstem die Bedingung, unter welcher die ändern beobachtet werden können."95 93 Vgl. E. Tugendhat (Antike und moderne Ethik [1984], 44): „Der Gegenstand der Kantischen oder auch der utilitaristischen Ethik [...] betrifft die intersubjektiven Normen." Die Fragestellung der modernen Ethik, für die Kant hier exemplarisch steht, ist nach Tugendhat: „Was ist es, was ich mit Bezug auf die anderen soll?" 94 Diese Konsequenz zieht zum Beispiel M. Hossenfelder (Der Wille zum Recht und das Streben nach Glück. Grundlegung einer Ethik des Wollens [2000]) ausdrücklich, wobei die rechte Gesinnung immer auf der Einsicht in die geradezu logische Notwendigkeit des Handelns nach den Rechtsgesetzen beruhen soll. (Vgl. 122-127, 144 f.) Und es ist dann auch nur folgerichtig, eine „Ediik des Wollens" allein auf den „Willen zum Recht" und „das Streben nach Glück" zu gründen und Moralität als nicht wesentlichen und bloß wünschenswerten Appendix zu behandeln. (Vgl. 129 ff.) 95 Moralphilosophie Collins, AA XIX, 341; vgl. Moral Mrongovius, ebd., 1479 f.

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Man beachte in diesem Zusammenhang auch, daß Kant in der einschlägigen Formel des kategorischen Imperativs die Achtung der „Menschheit" zuerst für die eigene Person fordert, dann für die Person „eines jeden ändern".96 Kant behauptet also, daß der Einzelne immer schon unter einem Anspruch sich selbst gegenüber steht und daß es seine erste Pflicht ist, ihm zu genügen. Dieser Anspruch besteht darin, sich selbst in seiner Freiheit zu achten. Es verletzt die Menschheit in der eigenen Person, aus Freiheit die eigene Freiheit zu negieren. Das geschieht, wenn wir etwas wollen, mit dem wir uns selbst als Ursprung und letzten Zweck unseres Wollens verneinen. Unser Beispiel für diese auf den ersten Blick absurde Konstellation wird verständlich machen, daß sie gleichwohl nichts Abwegiges hat. Vernünftigerweise aber können wir nicht wollen, nicht mehr wollen zu können. Denn das hieße, den eigenen Willen als „sicheren Grund [...], auf mich selbst zu rechnen",97 preiszugeben. Es hieße, sich selbst aus der Hand zu geben. Es wäre natürlich nicht mehr daran zu denken, daß wir Anderen gegenüber irgendwelche Pflichten erfüllen könnten, wenn wir der Pflicht gegen uns selbst nicht nachkommen. Wir wären unserer selbst ja gar nicht länger mächtig, wenn wir es aufgegeben hätten, für uns selbst zu wollen und dabei unserer eigenen Gesetzgebung zu folgen. Wir hätten uns als Subjekte, die welcher Verpflichtung auch immer fähig wären, gleichsam außer Kraft gesetzt. Deshalb kann die erste und fundamentale Pflicht des Menschen in nichts anderem als in der Wahrung der eigenen Autonomie bestehen. Das betont Kant zu Recht, und darin liegt ein systematischer Vorzug gegenüber allen Theorien, die eine Verbindlichkeit moralischen Verhaltens aus einem elementaren Altruismus abzuleiten versuchen.98 Daß ein jeder auf die Anderen bezogen lebt, bedeutet ja noch nicht, daß er nicht in seinem Handeln stets seine eigenen Kräfte und seine eigenen Gründe in Anspruch nimmt und auch nur nehmen kann. Allein dort also ist der Grund für seine Moralität — und für ihre Mißachtung — zu finden. Insofern hat die Moral ihren Ursprung im rechten Umgang mit uns selbst, aus der ein rechter Umgang mit den Anderen abgeleitet ist. Anderes als für die Moral gilt für das Recht. Hier geht es nur um das gebotene (äußere) Verhalten dem Anderen gegenüber, unabhängig davon, wie ich mit mir selbst verfahre und aus welchen Motiven ich handle. Für die Grundlegung des Rechts ist der Gedanke leitend, daß es im wohlverstandenen und begründeten Interesse des Einzelnen liegen muß, den Zwecken aller Anderen in genau bestimm96 Vgl. Grundlegung, AAIV, 429. 97 R. 7202, AA XIX, 281. 98 Vgl. z.B. Th. Nagel, The Possibility of Altruism (1970, dt. 1998). Vgl. aber das Postscript zur zweiten Ausgabe von 1978 (Die Möglichkeit des Altruismus [1998], 7 f.)

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ten und festgelegten Hinsichten keine Hindernisse entgegenzusetzen. Genau dies garantiert das Recht. Zwischen Recht und Moral aber zieht Kant eine deutliche und überzeugende Scheidelinie." Selbst ein Volk von Teufeln, so sagt er bekanntlich in der Abhandlung Zum ewigen Frieden, würde sich eine auf das Recht gegründete Verfassung geben, wenn es sich nur um Teufel mit Verstand handelte.100 Denn eine „Menge von vernünftigen Wesen", die alle durchaus boshaft und bedenkenlos auf den eigenen Vorteil bedacht wären, hätten doch alle ein Interesse gemeinsam: sich zu erhalten. Das ist für jeden einzelnen am sichersten zu erreichen, wenn die Geltung allgemeiner Gesetze ihn vor den zu erwartenden Zugriffen der Anderen schützt. Deshalb will auch ein mit Verstand begabter Teufel das Recht. Natürlich dächte er insgeheim, für seine eigene Person die Gesetze möglichst zu umgehen, wenn er sich davon einen Gewinn versprechen könnte. Weil er diesen Gedanken bei allen Anderen jedoch ebenso vermuten muß, ist ihm indes auch wieder daran gelegen, daß für die allgemeine Durchsetzung der Gesetze mit den entsprechenden Zwangsmitteln gesorgt wird. So kommt Kant zu dem Fazit: Selbst die durchtriebensten Teufel werden sich, wenn sie nur klug und in diesem Sinn vernünftig sind, öffentlich so verhalten, „als ob sie keine solche böse Gesinnungen hätten".101 Während die äußeren Verhältnisse zum Anderen auf einer fundamentalen Ebene allein durch die Logik des Rechts und notfalls unter Einsatz von Zwangsmitteln zu regeln sind, beruht Moralität als Ausdruck der Selbstverpflichtung auf nichts als der Autonomie des Einzelnen. Und daß wir in unserem Tun nicht aus Freiheit unserem eigenen Gesetz widersprechen oder sogar unsere Fähigkeit zur Selbstbestimmung untergraben, das ist ein Gebot der Moral uns selbst gegenüber und gleichermaßen die Voraussetzung jedes moralisch wertvollen Verhaltens den Anderen gegenüber. Was kann es nun in einem konkreten Fall bedeuten, mit sich selbst unmoralisch zu verfahren, und welche sind die Motive für diesen paradox anmutenden Umgang mit unserer eigenen Person, der nach Kant auch unsere Glücksfähigkeit beschädigt? In der Vorlesung über Moralphilosophie werden Beispiele für die Verfehlung der Pflicht gegen sich selbst genannt. Hier soll nur eines herausgegriffen werden, das wohl unmittelbar einleuchtet, wenngleich es sich genau genommen nur um ein Fazit handelt, das die Darstellung eines Musterfalles abschließen könnte:

99 Vgl. z. B. Metaphysik der Sitten, AA VI, 388 f. - Zur Frage des Verhältnisses von Recht und Moral bei Kant vgl. O. Hoffe, Recht und Moral: ein kantischer Problemaufriß (1979); G. Römpp, Moralische und rechdiche Freiheit (1991). 100 AA VIII, 366. 101 Ebd.

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„Wenn sich jemand um des Gewinstes wegen, wie einen Ball von einem ändern zu allem gebrauchen läßt, der verwirft den Werth des Menschen."102 Die Beispiele Kants in seinen Texten zur Moralphilosophie zeichnen sich üblicherweise dadurch aus, daß sie eine Problemlage exponieren.103 Deshalb sind sie auch immer sachgerecht, wenngleich man über ihre Trefflichkeit oder Aktualität im einzelnen streiten kann. Denn sie entfalten stets Situationen des Konflikts, in denen moralische Fragen sich überhaupt nur stellen. Das heißt, es gibt verschiedene Handlungsoptionen, deren jede eine unbestreitbare Plausibilität hat. Und diese Optionen werden von Kant auf ihre jeweiligen Gründe und Motive hin untersucht. Aus der unterschiedlichen Valenz der „Triebfedern" wird dann die moralische Qualität der diversen Handlungsmöglichkeiten abgeleitet. Da unser Exempel im oben beschriebenen Sinn nicht vollständig ist, andererseits aber der für die Frage nach einem moralischen Umgang mit uns selbst entscheidende Punkt sehr klar markiert ist, soll es nun um die Schilderung eines passenden Dilemmas erweitert werden. Dabei wird alles davon abhängen, wie der von Kant angesprochene „Gewinn", den ich von einem bestimmten Tun für mich erwarte und der den Preis meiner Freiheit kosten soll, inhaltlich gefüllt wird. Es wird allein ein Gewinn sein können, an dem mir existentiell gelegen ist, der den Verzicht auf den Gebrauch meiner Freiheit auch nur erwägenswert macht. In seinen Vorlesungen über Ethik weist Ernst Tugendhat zu Recht darauf hin, daß die Moral - verbreiteten Meinungen entgegen - in den engsten Beziehungen zwischen Menschen eine ungleich stärkere Rolle spielt als im Umgang mit Fremden, „weil die Reibungspunkte so viel stärker sind".104 Freundschaft und Liebe sind solche Beziehungen der besonderen Nähe zu Anderen. Sie beruhen auf den tiefgehendsten affektiven und emotionalen Bindungen, und dennoch kommen sie ohne eine moralische Fassung nicht aus. Kant teilt diese Überzeugung. Ohne Achtung kann es auch keine wahre Liebe geben, das betont er, wobei das Umgekehrte sehr wohl möglich ist: daß man „ohne Liebe doch große Achtung gegen Jemand hegen kann".105 Unser Beispiel soll eine dilemmatische Konstellation lie102 Moralphilosophie Collins, AA XXVII, 34l; vgl. Moral Mrongovius, ebd. 1480. 103 Vgl. Grundlegung, AA IV, 421-423, 429 f, Kritik der praktischen Vernunft, AA V, 27 f. - Daß der Ursprung der Moral jeweils in einem Problem liegt, zu dem ein Individuum sich in seinem Zweifel über das richtige Tun selbst wird, betont - auch im Blick auf Kant - Volker Gerhardt. Vgl. Selbstbestimmung. Über Ursprung und Ziel moralischen Handelns (1988); Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität (1999), 73 ff, 362 ff; Individualität. Das Element der Welt (2000), 189 ff. Daß nun Kants Ethik als Ethik der „allgemeinen Vernunft" den Einzelnen, die sich in einer konkreten Konfliktlage befinden, tatsächlich eine Orientierung zur Lösung ihrer Lebensprobleme bieten kann, bezweifelt Oswald Schwemmer. Er plädiert dafür, Kants Ethik zu einer „Ethik des wirklichen Gesprächs" (24) weiterzuentwickeln. Vgl. Die praktische Ohnmacht der reinen Vernunft (1983); vgl. auch ders., Das „Faktum der Vernunft" und die Realität des Handelns (1986). 104 Vorlesungen über Ethik (1993), 277.

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bender Zuwendung vorstellen. Denn in der Liebe sind wir mit unseren besten Kräften engagiert, und in ihr sehen wir wohl alle in hohem, wenn nicht entscheidendem Maß einen Gewinn unseres Lebens. Nehmen wir den Fall einer Liebe, die auf der mächtigsten wechselseitigen Anziehung beruhen soll und beiderseits getragen ist von der Haltung, die der von Tugendhat zitierte Erich Fromm eine „leidenschaftliche Bejahung" des geliebten Anderen nennt.106 Nun ist es dazu gekommen, daß die in jeder Liebe vorhandene reziproke Abhängigkeit von Präsenz, Aufmerksamkeit, Begehren des jeweils Anderen und umgekehrt die wechselseitige Spontaneität und Lust der liebenden Hinwendung eine asymmetrische Form angenommen haben. Einer nämlich bringt sich überwiegend in einer Weise zur Geltung, die eine Übereinstimmung mit dem Willen des Anderen einfordert, statt sie abzuwarten. Was sich durch die freie Zuneigung des Anderen immer wieder neu herzustellen hätte, meint er voraussetzen zu können oder — gegebenenfalls — erzwingen zu müssen. Für den Anderen mag das größte Glück gerade darin liegen, ihm in allem entgegenzukommen. Dennoch wird er den Zwang gegen seine Person spüren, der im Vertrauen auf seine Gewogenheit vom Geliebten eingesetzt wird. Wenn er auch sein Herz an ihn gebunden hat und sein Lebensglück an ihn geknüpft weiß, so wird er sich fragen, ob er sich von einem Anderen - und sei es der geliebteste - sein Leben zudiktieren lassen soll. So kann es dahin kommen, daß er sich unversehens in einen existentiellen Selbstwiderspruch verstrickt findet: Auf der einen Seite will er vom geliebten Partner nicht lassen, auf der anderen Seite kann er ebensowenig von der Behauptung seines eigenen Willens lassen, die aber der Preis für seine Liebe zu sein scheint. Und wie er sich auch entscheidet, in beiden Fällen ist es durchaus sinnvoll, von einem drohenden Selbstverlust zu sprechen. Weil wir in allem auf eine Welt und auf die Anderen verwiesen sind und uns selbst nur im gelingenden Bezug zu ihnen gewinnen können, ist auch unser Selbst in Gefahr, wenn diese Beziehung in wirklich einschneidender Weise mißlingt. Weil wir andererseits gar nicht anders können, als in allem, was wir tun, auf uns selbst und die eigenen Kräfte zu bauen, wäre es widersinnig, uns aus der Hand zu geben und an einen Anderen zu verlieren. Denn das hätte schließlich zur Konsequenz, daß überhaupt nicht mehr die Rede davon sein könnte, wir wären im Anderen aufgegangen, um zu uns selbst zu kommen. Wir als Subjekte unseres Tuns hätten uns längst aufgelöst, würden wir jemals aufhören, für uns selbst zu wollen. So zeichnet sich bereits ab, daß es 105 Vgl. Das Ende aller Dinge, AA VIII, 337. Vgl. auch den „Beschluß" der Ethischen Elementarlehre in der Metaphysik der Sitten (AA VI, 469-473), der überschrieben ist: „Von der innigsten Vereinigung der Liebe mit der Achtung in der Freundschaft*. 106 Vorlesungen über Ethik (1993), 272.

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vor allem anderen unser Bestreben sein muß, uns selbst in der Hand zu behalten - eine Forderung, die Kant als erste Pflicht des Menschen auszeichnet. Goethe hat den in unserem Beispiel skizzierten Konflikt in seinem West-östlichen Divan in zwei Strophen eines Rollengedichtes pointiert dargestellt. Suleika spricht, daß alle zu allen Zeiten sich doch über eines einig seien: „Jedes Leben sey zu fuhren, l Wenn man sich nicht selbst vermißt; l Alles könne man verlieren,! Wenn man bliebe was man ist." Hatem aber antwortet, in diesen Chor nicht einstimmen und sich allein in Suleika finden zu können: „Wie sie sich an mich verschwendet, l Bin ich mir ein werthes Ich;IHätte sie sich weggewendet, l Augenblicks verlor ich mich."107 In radikaler Selbstpreisgabe werden Selbstgewinn und Selbstverlust an die Bewegungen des geliebten Anderen gebunden: an dessen Gunst, woraus dem liebenden Ich Wert und Zweck seines Daseins zuwachsen, und an dessen Ungunst, wodurch ihm beides entzogen wird. Genau diesen Fall eines Wollens, das im Wollen von etwas sich selbst destruiert, hat Kant als einen unbedingt zu vermeidenden im Blick. Denn er bedeutete die Auflösung des Selbst, das in seinem Kern eigener Wille und damit immer auch Wille zu sich selbst ist. Und insofern ist es sich selbst etwas wert, ganz gleich, was ihm sonst wert ist. So verstanden existiert ein jedes Individuum bei allen Zwecken, die es hat, als Zweck an sich selbst. Sobald es gegen diese existentielle Selbstbezogenheit zu leben und sich einer Steuerung von außen zu überantworten sucht, muß es sowohl sich selbst als auch den Anderen als einzigartiges und nicht zu verwechselndes Individuum abhanden kommen. Goethe, dem die Nachdrücklichkeit der Bemühungen Kants um eine Begründung moralischer Ansprüche durchaus fern liegt, entgeht dieser Punkt keineswegs. Er nimmt sich allerdings die Freiheit, ihn poetisch zu umspielen und seines existentiellen Ernstes zu entheben. Hatem läßt er die Konsequenz seiner zur Selbstaufgabe bereiten Liebe zu Suleika, wie sie sich im Augenblick des Scheiterns dramatisch vollziehen müßte, in aller Nüchternheit sehen: „Nun, mit Hatem war's zu Ende". Anders als im Leben freilich gibt es im Horizont der Poesie auch dann noch Rat: „Doch schon hab' ich umgelost,IIch verkörpre mich behendelln den Holden den sie kost."108 107 J. W. Goethe, West-östlicher Divan (1819), 84 f. 108 Ebd., 85. - Sehr interessant ist, daß im Kommentar zu dem hier herangezogenen Gedichtwechsel zwischen Suleika und Hatem mehrmals auf Kant verwiesen wird. Indes verkennt und verharmlost der Kommentator die von Goethe genau gezeichnete Spannung zwischen Selbstbewahrung und Selbstaufgabe, die in der Liebe jederzeit wirksam ist und die für den Einzelnen zu einem Konflikt fuhren kann. Sich angesichts eines solchen Dilemmas in seinem Selbst zu erhalten und dem eigenen Gesetz zu folgen, das ist nach Kant moralisch gefordert. Goethe verfahrt mit dem Problem - wie gezeigt - in ästhetischer Freiheit. Aber auch ihm geht es in den Suleika-Versen mit Sicherheit um viel mehr als um die Persönlichkeit, betrachtet als „Vermögen, sich der Identität seiner selbst in den verschiedenen Zuständen seines Daseins bewußt zu werden". Mit dieser Kantischen Definition der „psychologischen Persönlichkeit" aus der Metaphysik der Sitten meint Hendrik Birus das von Goethe in den Suleika-Strophen Gemeinte getroffen zu haben. Vgl. ebd., 1230.

Moral als Form des Glücks

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Demjenigen, der den Bedingungen des Lebens nicht entkommen kann, aber bleibt nichts, als ihnen zu genügen. Dazu gehört, seiner Individualität nicht entfliehen und eine fremde sich nicht zu eigen machen zu können.109 Das gilt für alles Leben, weil es immer schon in einzelne Zentralitäten sich aufspaltendes Leben ist. Und erst recht gilt es für Lebendiges, das sich zur eigenen Existenz verhält und in allem, was es will, etwas für sich will. Für sich wollen aber heißt: Wollen, was dem Selbstbegriff, dem freien Entwurf des eigenen Daseins entspricht und ihm seinen individuellen Sinn gibt. Darin hat das mit Freiheit begabte Individuum seinen je einzigartigen Wert, der indisponibel ist - auf niemand Anderen übertragbar und schlechthin nicht veräußerbar. Nur insofern der Einzelne sich etwas bedeutet und deshalb immer schon an sich selbst ein Wert ist, ist der Andere und ist Anderes in seiner Besonderheit für ihn von Wert und von Bedeutung. Im Austausch freier Individuen gilt dies vice versa. So muß die ihnen gemäße Verbindung eine sein, die der Eigenart ihrer Existenz gerecht wird. Ihr Handeln aneinander aber ist jeweils in den frei gesetzten Zwecken der Einzelnen — die sich darin selbst Zweck sind - fundiert. Unter dieser Voraussetzung ist jeder Gedanke an einen Zweck obsolet, durch den ihr Dasein gleichsam von außen geregelt und mit einem Sinn versehen werden könnte. Genau deshalb ist die Freiheit, aus der heraus das Leben sich in Gestalt von vielfältigstem, individuellem Sinn und Wert entfaltet, für Kant „der höchste Grad des Lebens".110 Denn im Rahmen der für alles Leben gültigen Konditionen, unter denen aus der Sicht des Individuums der Tod die extremste ist, vermag das freie Lebendige, sich nach eigenen Gesetzen zu organisieren und seiner Existenz einen eigenen Sinn zu geben. So negiert derjenige, der aus Freiheit das für sich will, was ihm die Freiheit des Wollens nimmt, tatsächlich den Grund seiner Existenz. Was ihm über alles wert zu sein scheint, nimmt ihm in Wahrheit das, was als einziges uneingeschränkt wert zu halten ist: die Möglichkeit, über sein Tun und Lassen und damit über den Weg und den Sinn des eigenen Lebens jederzeit selbst und auch jederzeit neu zu bestimmen. Wer die Chance und natürlich ebenso die Last, die darin liegt, preisgibt, gibt nicht weniger als sich selbst preis. Er muß sein Leben verfehlen, was er auch für sich zu gewinnen meint. Ein solches grundlegendes Mißlingen des Lebens, wie es die Freiheit zuläßt, aus Freiheit zu verhindern, ist für Kant die Aufgabe der Moral. Es ist die erste Pflicht des Menschen, sich als Selbstzweck, als eigener Wille in allem Wollen zu bewahren. Einsichtig aber dürfte sein, daß dieses Gebot nicht nur dann und wann zu beachten ist, sondern tatsächlich als ein Grundgesetz des Handelns gedacht 109 Diesem Gedanken hat gerade auch Goethe immer wieder Ausdruck verliehen. Vgl. nur die erste, , Dämon" überschriebene Strophe der Urworte. Orphisch. Vgl. J. W. Goethe, Gedichte 18001832, 501. 110 Moral Mrongovius, AA XXVII, 1482.

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werden muß. Das heißt, es ist mit dem Anspruch unbedingter Geltung verbunden — unabhängig davon, welchen besonderen Zwecken in seinen je besonderen Lebenssituationen ein Indiviuum nachgeht. Dies meint Kant, wenn er sagt, daß das Moralgesetz einen Willen bestimmt, „den man den reinen Willen nennen kann, der vor allem empirischen vorausgeht".111 Natürlich wird das Moralgesetz für den Einzelnen umso bedeutsamer sein, je mächtiger die Versuchung ist, ein über alles wertvoll erscheinendes Handlungsziel um jeden Preis zu verfolgen. Der mit einer wirklich mächtigen Neigung jederzeit verbundenen Verlockung, sich in seinem Begehren an das Begehrte zu verlieren, hat der Mensch in Kants Augen durch die Beachtung der Pflicht, und nicht zuletzt der Pflicht gegen sich selbst, zu widerstehen. Und darin, so verspricht ihm Kant, kann er sogar ein Glück finden.

25. Das Glück der Freiheit oder: Über „Selbstzufriedenheit" Verhalten wir uns im Fall eines Dilemmas wie dem gerade betrachteten dem Anspruch der Moral gemäß, so werden wir unseren sehnlichsten Wunsch aufzugeben haben. Auf das Glück, das wir uns von seiner Erfüllung erhofften, müssen wir Verzicht leisten. Aber wir gewinnen Kant zufolge auch etwas und durchaus nichts gering zu Veranschlagendes: Wir erwerben uns das Glück der „Selbstzufriedenheit1. In ihm sieht Kant - zumindest zeitweilig - den Inbegriff spezifisch moralischer Glückseligkeit. Ein wesentliches Merkmal, das sie auszeichnet, ist ihre Gebundenheit allein an die Selbstbestimmung des Einzelnen. Oder negativ gewendet: Die Wirklichkeit moralischer Glückseligkeit ist nicht abhängig von Faktoren, die sich dem Einfluß des Einzelnen entziehen. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, daß Kant von Anfang an viel vorsichtiger mit dem Gedanken eines ganz auf der Macht des Individuums selbst fußenden Glücks verfährt, als es die antiken Philosophen - insbesondere Stoiker und Epikureer - tun. So sehr Kant die Freiheit des Individuums betont, so deutlich hat er die Grenzen menschlicher Kräfte im Blick. Und vor allem diese Einsicht in die Beschränkung der Souveränität des Menschen wird ihn später dazu führen, die Idee moralischer Glückseligkeit scharf zu kritisieren. Selbstzufriedenheit ist ein Terminus, der in Kants Schriften nur selten zu finden ist. Bekannt ist die einschlägige Passage aus dem Antinomiekapitel der Kritik der praktischen Vernunft.112 Dann taucht der Begriff in Kants religionsphilosophischen Vorlesungen auf,113 gelegentlich und andeutungsweise auch in denen zur 111 R. 7202, AA XIX, 281, Z. 22 f. Vgl. Kritik der praktischen Vernunft, AA V, 31, 34, 55. 112 AAV.117F.

Das Glück der Freiheit oder: Über „Selbstzufriedenheit"

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Anthropologie114. In Kants handschriftlichen Reflexionen zur Moralphilosophie treffen wir ihn ebenfalls an;115 im Text der von uns bereits mehrfach herangezogenen Reflexion 7202116 spielt er eine hervorgehobene Rolle. Grundlegend für Kants Verständnis von Selbstzufriedenheit ist, daß sie als Gegenbegriff zum Glück der Befriedigung unserer Neigungen fungiert. Dieses Glück bedeutet eine Erfüllung, die uns abhängig von dem zeigt, was die Welt uns gewährt oder versagt. Demgegenüber bezeichnet Selbstzufriedenheit eine „Lust aus dem Bewustseyn seiner Selbstmacht zufrieden zu seyn".117 Die Wirklichkeit von Selbstzufriedenheit ist deshalb „von äußeren Dingen unabhängig".118 Es stellt sich jetzt natürlich die Frage, um was für ein Gefühl es sich bei dieser Lust handelt und was es an uns selbst ist, das sie erzeugt. Hängt die Lust der Selbstzufriedenheit an nichts als uns selbst, so heißt das — positiv formuliert —, daß sie uneingeschränkt an unserer Freiheit hängt. Sie muß also, wie Kant sagt, ganz „auf der freyen Willkühr beruhen".119 Wie ist das zu verstehen? Mit unserem frei gewählten Tun wird sich ein Wohlbefinden nie in der Weise verknüpfen können, daß wir uns die Wirklichkeit des Erwünschten und eine mit ihr verbundene Lust gleichsam a priori zu sichern vermöchten. Und wir würden das wohl nicht einmal wollen: denn diese nie zu reservierende Lust am Anderen unserer selbst lebt in einem durchaus positiven Sinn von der Offenheit und Kontingenz der Erfahrung. Weil jedoch die von Kant behauptete Lust der Selbstzufriedenheit gerade nicht von dem zehren soll, was auf uns zurückschlagende kontingente Wirkung unseres Handelns (oder Nichthandelns) an der Welt ist, muß sie unmittelbar mit der Freiheit des Handelns selbst verbunden sein. Sie muß demnach auf der Art und Weise des Gebrauchs unserer Freiheit beruhen, und — so verstanden - auf dem Umgang mit uns selbst. Dieser Gebrauch unserer Freiheit, von dem auch Kant ausdrücklich spricht,120 läßt beides zu: Zum einen, daß wir uns durch unser Tun aus Freiheit als freie Wesen und Subjekte unseres Handelns negieren, weil wir uns selbst behandeln, als ob wir gar keine mit Freiheit begabten Wesen wären. Zum anderen, daß wir 113 Vgl. Religionslehre Pölitz (1780er Jahre), AA XXVIII, 1089 f. Vgl. Danziger Rationaltheologie (wahrscheinlich Wintersemester 1783/84), ebd., 1296 f. 114 Vgl. Anthropologie Parow (Wintersemester 1772/73), AA XXV, 369-371; Anthropologie Busolt (Wintersemester 1788/89[?]), ebd., 1502 f. 115 Vgl. R. 6892, 6915, 7204, 7237, 7315; AA XIX, 196, 205, 283, 292, 311, 313. 116 Vgl. ebd., 277-281. 117 Ebd., 276, Z. 31 f. 118 R. 6616; ebd., 111. 119 R. 7202; ebd., 278, Z. 10. 120 Vgl. z. B. Kritik der reinen Vernunft, A 807/B 835; Kritik der Urteilskraft, AA V, 450, 453, 470; Die Religion innerhalb der Grenzen bloßer Vernunft, AA VI, 4 f, 21, 31, 40; Metaphysische Anfangsgriinde der Rechtslehre, ebd., 231.

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mit unserem Tun dokumentieren, daß wir uns als freie Wesen verstehen und ernst nehmen und in diesem Sinn mit uns selbst „zusammenstimmen". Die zuletzt genannte Haltung ist nach Kant von jedem Menschen, der sich in einer Konfliktsituation in seiner Freiheit herausgefordert sieht, zu verlangen. Sie gebietet uns, der eigenen Freiheit eine Form zu geben. Das ist, wie schon dargelegt, die Form des Gesetzes, genauer: die Gesetzesförmigkeit der Maximen oder „subjektiven Grundsätze" des Handelns. Denn Freiheit ist zunächst einmal nur das Vermögen, „eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen".121 Sie ist somit absolute Spontaneität oder unbedingter Anfang im Gegensatz zu jeder Naturursache, die zwar Auslöser von Wirkungen, aber ihrerseits als Wirkung einer sie determinierenden Ursache zu betrachten ist. Ist also die Freiheit als der Grund, aus dem heraus wir uns selbst und Anderes in Bewegung setzen, ein Grund des selbst grundlosen Beliebens oder der blinden Zufälligkeit? Es besteht nach Kant durchaus die Möglichkeit, daß wir uns in dieser Art zu uns selbst verhalten und unsere Freiheit gleichsam unergriffen lassen. Zumal wir von Natur aus mit den verschiedensten Neigungen als Antrieben ausgestattet sind, die als Handlungs motive jederzeit wirksam sind. Somit sind wir niemals als Wesen vorzustellen, denen .natürliche* Verhaltensimpulse vollständig fehlen und die deshalb, wenn überhaupt, allein durch die absolute Spontaneität der Freiheit zur Aktivität kommen. Es könnte — umgekehrt — sogar jemandem einleuchtend erscheinen, zu sagen, daß wir allein von der jeweils stärksten ,inneren' Triebkraft bewegt werden.122 Daß dieser Fall faktisch eintreten kann und empirisch vielleicht sogar häufig gegeben ist, würde Kant nicht leugnen. Aber er stellt keinen Einwand gegen seine Theorie der Freiheit menschlichen Tuns und des mit ihr sich verbindenden Gedankens moralischer Verpflichtung dar. Er steht vielmehr nur für einen bestimmten Gebrauch, den wir von unserer Freiheit machen und den wir etwa wie folgt beschreiben können: Wir lassen uns treiben — wohlgemerkt: wir lassen uns treiben. Und ein solches Verhalten muß selbstredend nicht schon unmoralisch sein; in Situationen der Erholung, der Zerstreuung zum Beispiel mag es das einzig angemessene sein. Kant selbst warnt davor, die menschliche Praxis im ganzen unter moralische Ansprüche zu stellen und die Tugend zur Tyrannin des Daseins zu erheben.123 Aus dieser Begrenzung moralischer Forderungen ergibt sich übrigens schon, daß in Kants Augen ein aus dem Bewußtsein des eigenen Rechthandelns entsprin121 Kritik der reinen Vernunft, A 446/B 474. 122 In einer so ansetzenden Theorie sieht z.B. Schopenhauer, der Kants Begriff von Freiheit als absoluter Spontaneität „höchst problematisch" findet, die einzige Möglichkeit einer einigermaßen plausiblen Erklärung menschlichen Handelns. Vgl. Preisschrifi über die Freiheit des Willens (Sämtliche Werke, Bd. III, 525 ff). 123 Vgl. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, AA VI, 409.

Das Glück der Freiheit oder: Über „Selbstzufriedenheit"

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gendes Glück niemals die einzige oder die ganze Beglückung menschlichen Lebens darstellen kann. Ein solcher Absolutismus der Sitdichkeit ist eher von der Stoa vertreten worden. Senecas Anstrengungen zu beweisen, daß der Genuß erlesener Speisen und die Behaglichkeit eines gutausgestatteten Hauses auch vom Weisen, der sein Glück allein aus der eigenen moralischen Vollkommenheit gewinnt, weder verdammt noch geringgeschätzt werden müssen,124 kann Kant sich von vornherein ersparen. Wenn es geboten ist freilich, hat der Einzelne nach Kant seine Freiheit so zu gebrauchen, daß er das eigene Handeln einem selbstgegebenen Gesetz unterstellt und ihm kompromißlos folgt. Ein Gesetz ist eine Regel oder eine Verhaltensvorschrift, die allgemein gilt. Das heißt, sie gilt für alle besonderen Ereignisse, Situationen und Umstände, auf die das Gesetz anwendbar ist. Sich selbst ein Gesetz des Handelns zu geben, bedeutet dann, die eigene Freiheit, nach Belieben zu tun und zu lassen, an unbedingte Regeln zu binden. Diese Unbedingtheit aber ist nicht etwa intrinsisch mit der Anerkennung selbstgewählter Maximen als „subjektiver Grundsätze", durch die der Einzelne sich selbst einen „Charakter"125 und seinem Leben eine individuelle Prägung gibt, verknüpft. Ich mache es mir beispielsweise zur Maxime, stets sehr früh aufzustehen, um bereits in den Morgenstunden intensiv zu arbeiten und den Rest des Tages dann umso mehr genießen zu können.126 Nun geschieht es einmal, daß lang erwartete seltene Gäste eintreffen und bis spät in die Nacht bleiben. Jetzt wäre es lächerlich, nur um der unbedingten Einhaltung meiner Maxime willen auch am folgenden Morgen sehr früh aufzustehen, obwohl meine Müdigkeit die gewohnte Erledigung meiner Arbeit mit Sicherheit nicht zulassen wird und auch kein Termin ein frühes Aufstehen nötig macht. Kant nennt jemanden, der sein Verhalten in dieser Weise eigensinnig an einer einmal gefaßten Regel ausrichtet und über seinem Starrsinn weder besondere Umstände noch eigene Vorteile länger wahrzunehmen in der Lage ist, einen Toren und einen dupe, einen Gecken 124 Vgl. Seneca, De vita beata, 17 ff. 125 Vgl. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA VII, 291-295. 126 Einige Interpreten Kants würden dieses Beispiel nicht als Beispiel für eine Maxime des Handelns gelten lassen, sondern allenfalls als eine Handlungsr^gei So versteht Otfried Hoffe unter Verweis auf eine Kant-Stelle (AA V, 19) unter Maximen ausschließlich subjektive Grundsätze des Handelns, die „mehrere Regeln unter sich haben". Als solche „beinhalten Maximen die Art und Weise, wie man sein Leben als ganzes führt - bezogen auf bestimmte Grundaspekte des Lebens und Zusammenlebens". In den Handlungs«^/«, „die unter eine Maxime fallen", werde das in Form von Maximen formulierte „Beurteilungsprinzip" des Handelns „mit regelmäßig wiederkehrenden Situationsarten innerhalb des allgemeinen Lebensbereichs vermittelt". Vgl. O. Hoffe, Immanuel Kant (2000), 186 f. Vgl. auch R. Bittner, Maximen (1974), 488 ff. Diese kategoriale Unterscheidung zwischen Maxime und praktischer Regel aber ist m. E. durch die Kantischen Texte so nicht gedeckt. Vgl. auch M. Willaschek, Praktische Vernunft (1992), 66 f. Zu den Schwierigkeiten der skizzierten Abgrenzung zwischen Maxime und Regel vgl. ferner M. Albrecht, Kants Maximenethik (1994), 137 ff.

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der Tugend.127 Zöge er eine Befriedigung aus dem Bewußtsein, von seinen Handlungsmaximen gleichsam gegen alle Vernunft niemals abzuweichen, so hätte sie jedenfalls keinerlei moralische Valenz. Und doch gibt es nach Kant Maximen, nach denen zu handeln unbedingte und keine Ausnahmen zulassende Pflicht ist. Das sind solche Maximen, deren allgemeine Geltung, also deren Geltung als praktische Gesetze ich wollen kann.128 Dies schließt (paradoxerweise) den Fall nicht aus, daß ich zwar eine Handlungsmaxime als allgemeines Gesetz will, aber gleichzeitig mich hier und jetzt davon ausnehmen will. Damit setze ich mich ofFensichdich in einen grundstürzenden Widerspruch mit mir selbst. Den Maximen zuwiderzuhandeln, deren gesetzliche Geltung ich will, hieße nämlich, die Bestimmbarkeit des Wollens durch ein Gesetz der Freiheit, so weit es an mir ist, zu leugnen. Das aber ist für Kant gleichbedeutend damit, die menschliche Freiheit zu negieren. Denn genau das ist Freiheit „im strengsten, d.i. transcendentalen, Verstande": ein Wille, der durch praktische Gesetze bestimmbar ist.129 Die von Kant geforderte „Übereinstimmung" oder „Zusammenstimmung" mit der Freiheit, die Achtung der „Menschheit" in der eigenen Person und der Person Anderer, meint keine Haltung bornierter Selbstgerechtigkeit.130 Und doch gibt es ein bestimmtes Gefühl, das sich mit dem Bewußtsein der meiner Freiheit gemäßen Selbstbestimmung verbindet. Wie sollte es sich auch anders verhalten, schließlich sind wir als lebendige Individuen zu begreifen, die mit Freiheit begabt sind. Es wäre ja absurd anzunehmen, wir würden uns in reine Vernunftwesen verwandeln, wenn wir von unserer Freiheit in moralischer Weise Gebrauch machen. Alle diejenigen, die von Kants „Zweiweltenlehre" in einem solchen mißverständlichen Sinn sprechen, verzeichnen seine Philosophie. Kant selbst sagt: „Der vollständige Gebrauch des Lebens ist freyheit."131 „Gefühl", so heißt es in demselben Text, „ist die Empfindung des Lebens."132 So lange wir nicht aufhören zu leben, so lange werden wir nicht aufhören, unser Lebendigsein zu empfinden. Und nun behauptet Kant, daß unsere Empfindungsfähigkeit, der Ursprung oder das „principium" des Gefühls von Lust und Unlust „auch durch die Vernunft 127 R. 7059; vgl. auch R. 6876, AA XIX, 238, 188 f. 128 Zum Kantischen Beispiel der Pflicht, Anderen Beistand zu leisten und wohlzutun, vgl. die profunden Analysen von J. Ebbinghaus, Deutung und Mißdeutung des kategorischen Imperativs (1948), bes. 287295; zum Kantischen Beispiel des Lügeverbots die von O. Hoffe Kants nichtempirische Verallgemeinerung: zum Rechtsbeispiel des fachen Versprechens (1989) sowie meinen eigenen Versuch Die Lüge als Problem für Kants praktische Philosophie (2001). Zum - komplexen und schwierigen - „Depositum"-Beispiel aus der zweiten Kritik vgl. die scharfsichtigen Überlegungen von K. Gramer, „Depositum". Zur logschen Struktur eines kantischen Beispiels für moralisches Argumentieren (2001). 129 Kritik der praktischen Vernunft, AA V, 29. 130 Vgl. die Ausführungen oben, Kap. 20. 131 R. 6870 (wahrscheinlich 1776-1778); AA XIX, 187 (Hervorhebung von mir).

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(durch Regelmäßigkeit oder Regellosigkeit der Freyheit) rege gemacht werden (kann). Und ob es zwar dadurch nur wenig bewegt, ia! gar nur dagegen (gegen ein ,Vergnügen der Sinne')* gehalten wird: so macht es doch das Gefühl in Ansehung unseres ganzen Daseyns und aller unserer Kräfte Rege zur Einstimung und wiederstreit, weil freyer Gebrauch der Kräfte und freyheit überhaupt das wichtigste und Edelste ist, was, wenn es regellos und mit sich selbst unvereinbar ist, jedem Vernünftigen Wesen misfallen muß, als dessen Vernunft Regeln a priori bedarf, um dadurch alles Manigfaltige unter principien zu seinem sicheren Gebrauch zu ordnen."133 Die Art und Weise, wie wir mit der uns gegebenen Freiheit als Fähigkeit eigener Lenkung und Sinngebung unserer Existenz umgehen, wird von Kant also mitnichten als Geschäft einer vom Leben isolierten Vernunft betrachtet. Zwar ist praktische Vernunft und nicht ein Gefühl Ursprung unseres moralischen oder unmoralischen Verhaltens. An dieser Überzeugung hält der kritische Kant, wie gesehen, unbedingt und mit guten Gründen fest. Es verhält sich gleichsam umgekehrt: Vernunft und Freiheit, die uns der nahtlosen Einpassung in die Natur und ihre Gesetzlichkeit entfremden, vermögen sich dennoch in der Sprache der Natur, als Empfindung, zu artikulieren. So ist Kants Rede vom moralischen Gefühl, das „lediglich durch Vernunft bewirkt" ist,134 zu verstehen. Unserer Freiheit und ihrer Bestimmung durch Vernunft entspringt ein Gefühl der Lust — oder Unlust — an uns selbst als affektiver Ausdruck unseres praktischen Selbstverhältnisses. Wir fühlen uns selbst als vernünftige Wesen. Je nachdem wie wir mit der eigenen Freiheit verfahren, werden es positiv oder negativ getönte Gefühle sein, in Gestalt derer wir uns selbst als Personen begegnen. „Die Lust an seiner eigenen Person" nennt Kant »Selbstzufriedenbeif'.135 Er spricht auch von der „Lust an seiner Freiheit",136 um das Eigentümliche dieses Wohlgefühls der Selbstzufriedenheit zu beschreiben, das allein von der Art des Freiheitsgebrauches und nicht von dessen Wirkungen abhängig ist. So kann es geschehen, daß ich mit meinem Handeln den Forderungen meiner Freiheit entspreche und das gute Gefühl der Übereinstimmung mit mir selbst habe, die Konsequenzen meines Tuns aber durchaus sehr unangenehm und leidvoll für 132 Zum Kantischen Begriff des „Lebensgefiihls" vgl. R. Makkreel, Einbildungskraft und Interpretation. Die hermeneutische Tragweite von Kants Kritik der Urteilskmfi( 1997), 117 ffund B. Recki, Ästhetik der Sitten. Die Affinität von ästhetischem Gefühl und praktischer Vernunft bei Kant (2001), 56,146 et passim. 133 R. 6871 (wahrscheinlich 1776-1778), AA XIX, 187. Der mit einem Stern gekennzeichnete Zusatz ist von mir; die Erläuterung ergibt sich aus einer von Kant gestrichenen Anmerkung zur zitierten Textstelle. Vgl. ebd. 134 Vgl. Kritik der praktischen Vernunft, AA V, 76; vgl. ebd., 73-76, 90, 116-118. Vgl. Grundlegung, AA IV, 401 (Anm.), 460 f. Vgl. Metaphysische Anfängsgriinde der Tugendlehre, AA VI, 399 f. 135 Philosophische Religionslehre nach Pölitz, AA XXVIII, 1089. 136 Ebd.

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mich sind. Kant schlägt deshalb vor, zwischen der Lust oder Unlust an meiner Person und der Lust oder Unlust an meinem Zustand scharf zu unterscheiden.137 Keine Frage ist, daß für Kant die Sorge um die eigene Person stets und ohne Einschränkung vorrangig ist gegenüber der Sorge um die eigene Befindlichkeit. Der eigenen Person oder der eigenen Freiheit gerecht zu werden erfordert aber für Kant — wie schon für Platon —, Herr seiner selbst zu sein. Das bedeutet, seiner selbst mächtig zu sein: die Voraussetzung, um sich nach eigenem Willen bestimmen und zur individuellen „Persönlichkeit" bilden zu können.138 Selbstbestimmung ist daher immer mit Selbstherrschaft, „Autokratie", verbunden.139 Kant geht so weit zu sagen, daß jemand desto freier ist, je mehr er sich selbst zu „zwingen" vermag.140 Wozu wir uns bestimmen, was wir als ein Gesetz unseres Handelns anerkennen, was oder genauer: wen wir aus uns machen, das liegt an uns selbst. So gesehen sind wir Produkt unserer Freiheit. Befindlichkeit und Gefühl, sofern sie den „Zustand des Subjekts" anzeigen,141 dagegen lassen sich nicht beliebig erzeugen. Sie kommen und gehen auch ohne unser Zutun. Stets sind sie auch Ausdruck unseres BestimmtMvrc&Tw durch die Beschaffenheit der uns angehenden Welt: Sie variieren je danach, ob diese zu unseren Wünschen und Ambitionen stimmt oder nicht. Kann es, das ist die Frage, ein allein aus der Freiheit entspringendes Glück für uns geben? Als Glück wäre es notwendig nicht nur Intellektuelles, nicht bloßer Begriff, sondern auch Empfundenes. Indes spricht Kant — wie dargelegt — von der „Lust", die ein Individuum an seiner Freiheit gewinnen kann. Und er wendet viel Mühe darauf, das spezifisch moralische Gefühl der Selbstzufriedenheit zu analysieren. Neben dem Kapitel über die „Triebfedern der reinen praktischen Vernunft" aus der zweiten Kritik, das wir noch eigens betrachten werden und das durch eine polemische Ablehnung des Gedankens moralischer Glückseligkeit auffällt, ist es besonders die Kritik der ästhetischen Urteilskraft, in der Kant sich zum moralischen Gefühl äußert.142 Mit dem von Kant dort zentral behandelten ästhetischen Gefühl ist es nämlich in einem wesentlichen Punkt verwandt. Beide Gefühle, das mit der Beachtung des Guten verbundene moralische Gefühl und das mit der Erfahrung des Schö137 Vgl. ebd. Zur Unterscheidung zwischen Person und Zustand vgl. auch R. 6915, 7315, AA XIX, 205, 312 f sowie: Kritik der praktischen Vernunft, AA V, 60; Grundlegung, AA IV, 450. 138 Vgl. R. 1518, AA XV, 867 f. Zum Begriff der .Persönlichkeit' vgl. auch: Kritik der praktischen Vernunft, AA V, 87. 139 Vgl. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, AA VI, 383; Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, AA XX, 295. Vgl. dazu umfassend: P. König, Autonomie und Autokratie. Über Kants Metaphysik der Sitten (1994). 140 Vgl. R.6998.AAXK, 222. 141 Vgl. R. 619, AA XV 268. 142 Vgl. AA V, 289, 292, 300, 330 f, 334 f.

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nen einhergehende ästhetische Gefühl, sind Ausdruck von Lust und Wohlgefallen. Und doch sind sie gleichsam intellektuell imprägniert, insofern Leistungen der Vernunft bzw. des Verstandes für ihr Entstehen ganz oder zum Teil konsumtiv sind. So dürfen sie nicht mit dem Gefühl des „Angenehmen" verwechselt werden, zweifellos auch eine Empfindung der Lust und des Wohlgefallens. Denn das Angenehme eines wohlschmeckenden Getränks zum Beispiel rührt allein von einer Reizung der entsprechenden Sinne her und wird als solche genossen. Verstand und Vernunft haben nichts mitzugenießen, sondern allenfalls eine eventuelle Schädlichkeit des köstlichen Getränks zu beurteilen. Genau darin unterscheidet sich das Gefühl des Angenehmen sowohl vom ästhetischen als auch vom moralischen Gefühl. Diese beiden gehen auch oder sogar ausschließlich auf Vollzüge des Verstandes bzw. der praktischen Vernunft zurück. Schön nennen wir das, was uns in seiner sinnlichen Erscheinung so unbedingt gefällt, daß wir es um seiner selbst willen „ohne alles Interesse" bewundern und lieben. Begriff und Anschauung des Gegenstandes, der uns in seiner Schönheit beeindruckt, entsprechen einander — nicht in der Weise, daß die Anschauung durch den Begriff bestimmt würde wie im Erkenntnisurteil, sondern in der Weise des reflektierenden „freien Spiels" der Erkenntniskräfte Verstand und Sinnlichkeit. Ihre „Harmonie" artikuliert sich als ästhetisches Gefühl, das den Menschen im Ganzen seiner Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit „belebt".143 Gut ist das, was uns die praktische Vernunft zu tun gebietet: die Achtung der Freiheit in unserem auf welche Zwecke auch immer gerichteten Handeln. Die daraus resultierende Übereinstimmung mit uns selbst, die einen Widerspruch mit unserem Begehren durchaus implizieren kann, spricht sich im moralischen Gefühl der Selbstzufriedenheit oder Selbstschätzung aus. Kant nennt es in der Kritik der Urteihkraft ein „geistiges Gefühl"144 und bringt in dieser paradox anmutenden Wendung seinen Doppelcharakter genau auf den Punkt: Es ist Sinnliches, Empfundenes - sonst könnte es nicht „Gefühl" heißen, aber es ist Ausdruck einer Leistung praktischer Vernunft. Somit sind wir auch dann, wenn wir uns in unserem Tun allein auf unsere praktische Vernunft verlassen, nach Kant niemals als bloße Vernunftwesen zu begreifen, die auf eine ebenso künstliche wie unverständliche Weise von ihrer Naturzugehörigkeit und Empfindungsfähigkeit abgetrennt wären. So ist es wohl irreführend, mit Tugendhat von Kants praktischer Vernunft als einer „Vernunft-fettgedruckt" zu sprechen, einer „hochstilisierten" Vernunft, der zuwiderzuhandeln uns „kalt lassen" müßte.145 Wem oder was sollte die Vernunft, 143 Vgl. ebd., 219, 222, 238 f, 287. 144 Ebd., 335. 145 E. Tugendhat, Vorlesungen über Ethik (1993), 45, 98 et passim.

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die wir dem lebendigen Menschen zuschreiben, denn dienen, wenn nicht eben diesem Menschen in seinem Lebendigsein? Und es ist ja gar nicht die Irrationalität, sondern die Mißachtung der durch Gesetze praktischer Vernunft zu sichernden Freiheit in uns und Anderen, die unmoralisch ist. Ganz selbstverständlich reden wir im übrigen von unserem Fteiheitsgeßihl und zeigen dadurch an, daß wir uns als geistig-lebendige Einheit begreifen und uns nicht in zwei voneinander getrennte Sphären zerlegt sehen.146 Immer noch fällt es Kants Interpreten schwer, seine durchaus differenzierte Sicht des Verhältnisses zwischen Natur und Vernunft wahrzunehmen. Kant wird — ob mit positivem oder negativem Akzent — allzu gerne als Fanatiker der Vernunft gezeichnet, als der er seit der einschlägigen Kritik Friedrich Schillers gilt. Gerhard Lehmann zum Beispiel spricht im Zusammenhang der Theorie des moralischen Gefühls in kritischer Absicht von „irrationalistischen Zügen", die Kants Philosophie eben auch trage und die er selbst in seinen ethischen Prinzipienschriften habe zurückdrängen wollen - und müssen.147 Tugendhat auf der anderen Seite kann mit Kants Analyse des moralischen Gefühls ebensowenig anfangen. Zwar kritisiert er in seiner Auslegung der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten den starken Begriff praktischer Vernunft, auf dem die Kantische Konzeption von Moralität basiere, wie oben skizziert. Die einzige etwas ausführlichere Textstelle zum moralischen Gefühl, die sich in diesem Text findet,148 meint er indes vernachlässigen zu können.149 Nach wie vor wird Kants Ethik nicht selten auf einen kruden Rationalismus reduziert.150 Aber der Mensch existiert nun einmal - auch in seinen moralischen Handlungen — als leibhaftige Einheit von Natur und Vernunft. Als solche hat ihn die Philosophie zu analysieren. Und das hat Kant nie anders beurteilt. Ansonsten wären seine Texte insbesondere im Blick auf die Frage nach einem angemessenen Begriff menschlichen Glücks vollkommen uninteressant. Denn was könnte uns das Glück als pures Gedankending bedeuten? Das Gewicht der Natur, der menschlichen und außermenschlichen, aber hat Kant nicht geschmälert oder gar geleugnet. Entweder als das durch Vernunft bildbare oder — im Gegenteil — als 146 In den von Kant selbst veröffendichten Schriften taucht der Begriff „Freiheitsgefiihl" nur selten auf. Vgl. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA VII, 269. Vgl. Das Ende aller Dinge, AA VIII, 338. Belege finden sich, wie sich von vornherein vermuten ließ, bei Rousseau. Vgl. z.B.: Emile ou de l'Education, 586. In den Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, die unter dem Eindruck der Rousseau-Lektüre geschrieben sind, handelt Kant nicht buchstäblich, doch sinngemäß vom Freiheitsgefühl. Vgl. Bemerkungen, ed. M. Rischmüller, z.B. 70 f, 73 (AA XX, 92, 94). 147 G. Lehmann, Zur Analyse des Gewissens in Kants Vorlesungen über Moralphilosophie (l 974), 55-57. 148 Vgl. AA IV, 401 (Anm.). 149 „Auf den schwierigen Begriff der Achtung", so schreibt Tugendhat (Vorlesungen über Ethik, 129), „den Kant ungewöhnlicherweise nicht primär auf Personen, sondern auf das Gesetz selbst bezieht, was er in der tiefsinnigen 2. Anmerkung zu S. 402 erläutert, brauche ich in unserem Kontext nicht näher einzugehen. Es genügt, das Wort als Chiffre für die moralische Motivation zu sehen."

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das durch sie nicht zu domestizierende Ändert hat er die Natur stets ernstgenommen. In diesem Punkt gar nicht so weit von Schiller entfernt, wie dieser annahm,152 behauptet Kant über das Verhältnis praktisch-moralischer Vernunft und Natur: Im günstigen Fall vermag es die Vernunft, die Natur zu durchbilden. Nicht zuletzt diese Vorstellung ist es, der Kant im Gedanken einer Ästhetik der Sitten Ausdruck gibt.153 Moralität ist nicht allein das Geschäft einer vom Leben isolierten reinen Vernunft, obwohl sie in ihr gründet. „Ohne alles moralische Gefühl", sagt Kant in den Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre, „ist kein Mensch; denn bei völliger Unempfindlichkeit für diese Empfindung wäre er sittlich todt; und wenn (um in der Sprache der Ärzte zu reden) die sittliche Lebenskraft keinen Reiz mehr auf dieses Gefühl bewirken könnte, so würde sich die Menschheit (gleichsam nach chemischen Gesetzen) in die bloße Thierheit auflösen und mit der Masse anderer Naturwesen unwiederbringlich vermischt werden."154 Kants Position ist demnach um vieles differenzierter, als manche seiner Interpreten meinen. Kant ist, so zeigt sich, keineswegs der Propagandist einer Gewaltherrschaft der Vernunft. Eher verhält es sich umgekehrt: "Wäre Moralität eine Sache nur der Vernunft, argumentiert Kant, und ginge die Natur gar nichts an, so könnte die Vernunft zuletzt nichts ausrichten und müßte die Waffen strecken. Denn vernünftig ist es für ein lebendiges Wesen, die Kultivierung der eigenen Natur zu betreiben. Gegen sie zu verfahren und den Einfluß auf sie zu verlieren, würde der Vernunft eine hoffnungslose Niederlage bereiten. Die Natur erwiese sich unbedingt als die stärkere Kraft: die Menschheit würde sich „(gleichsam nach chemischen Gesetzen) in die bloße Thierheit auflösen und mit der Masse anderer Naturwesen unwiederbringlich vermischt werden". Die Freiheit des Menschen und ihre Bestimmung durch praktische Vernunft, das ist Kants These, verhält sich zu seiner Natur nicht nur wie eine Gesetzlichkeit 150 Das gilt wohl weniger für die amerikanische Kantdeutung. Vgl. etwa die Arbeiten von B. Herman, The Practice of Moral Judgment (1993); Ch. Korsgaard, Creating the Kingdom of Ends (1996); P. Guyer, Kant and the Experience of Freedom. Essays on Aesthetics and Morality (1993), Kant on Freedom, Law, and Happiness (2000); R. B. Louden, Kant's Impure Ethics. From Rational Beings to Human Beings (2000). Vgl. auch den überzeugenden Einspruch von B. Recki, Ästhetik der Sitten (2001). 151 Hier ist gar nicht in erster Linie an widerspenstige Neigungen zu denken, die den Forderungen der Moral entgegenstehen. Das ästhetische Gefallen an der Natur hängt nicht zuletzt daran, daß sie in ihrer Existenz und Beschaffenheit nicht auf uns und unsere Vernunft zurückgeht. Vgl. Kritik der Urteilskraft § 42.AAV, bes. 299, 302. 152 Vgl. Fr. Schiller, Über Anmut und Würde (Sämdiche Werke, Bd. V, bes. 463 ff). Vgl. dazu auch: G. Prauss, Kant über Freiheit als Autonomie (1983), 240 fr; H. E. Allison, Kant's Theory of Freedom (1990), 180-184. 153 Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, AA VI, 406. Dazu: B. Recki, Ästhetik der Sitten (2001). 154 AAVI, 400.

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zu einer anderen - wobei die eine, die vernunftgegebene zwar die überlegene sein soll, aber längst nicht immer ist. Die Natur, meint Kant vielmehr, kann der Vernunft auch in dem Sinne folgen, daß sie zum sinnlichen Ausdruck, zur natürlichen' Artikulation der Vernunft und ihrer Ansprüche wird.155 Und allein wenn diese Möglichkeit unterstellt wird, ist die Frage eines moralischen Glücks überhaupt interessant und die Mühe einer Untersuchung wert. Einzigartig also ist das moralische Gefühl als Ausdruck der Freiheit darin, daß es auf einen nichtsinnlichen Ursprung zurückzufuhren ist. Es ist vernunftgewirkt, sagt Kant, es beruht auf Freiheit und ihrem Gebrauch. In einer Reflexion aus den späteren 1770er Jahren lesen wir: „Das principium der Moral ist autocratic der freyheit in Ansehung aller Glükseeligkeit [...]. Die Glükseeligkeit hat keinen selbständigen werth, sofern sie Natur- oder Glüks Gabe ist. Der Ursprung derselben aus der freyheit ist, was ihre Selbständigkeit und Zusammenstimmung ausmacht. Das Wohlverhalten also, d.i. der Gebrauch der freyheit nach solchen Gesetzen, nach denen die Glükseeligkeit das Selbstgeschöpf der guten oder regelmäßigen willkühr ist, hat einen absoluten Bestand [...]. Das moralische Gefühl geht hier auf die Einheit des Grundes und den Selbstbesitz der Quellen der Glükseeligkeit in Vernünftigen Geschöpfen, als auf die alles Urtheil des Werths sich beziehen muß. Der gute Gebrauch der freyheit ist mehr werth als die zufällige Glükseligkeit. Sie hat einen nothwendigen inneren werth. Daher besitzt der tugendhafte in sich selbst die Glükseeligkeit (in receptivitate), so schlimm auch die Umstände seyn mögen."156 Das Geraten, ja die Erfüllung menschlichen Lebens wird hier von Kant an den guten, mit sich selbst übereinstimmenden Gebrauch individueller Freiheit gebunden. Er soll dem Leben jene Beständigkeit verleihen - im Text ist gar von einem „absoluten Bestand" die Rede -, die einer am puren sinnlichen Lustgewinn orientierten Existenz ewig versagt bleiben muß. Das hat — wie wir gesehen haben — nicht zuletzt Schopenhauer aufs Anschaulichste gezeigt. Und Kant würde Schopenhauers abgrundtiefen Pessimismus im Blick auf den Wert des menschlichen Lebens durchaus teilen, begriffe er dessen Gelingen oder Mißlingen allein in Kategorien der Befriedigung oder Nichtbefriedigung von Wünschen und Bedürfnissen wie Schopenhauer. In der Reflexion 7202 schreibt Kant: „Vor die Sinne kann keine völlige Befriedigung ausgefunden werden, nicht einmal läßt sich mit gewisheit und allgemein bestimmen, was den Bedürfnissen derselben gemas sey; sie steigen immer in der Forderung und sind unzufrieden ohne sagen zu können, 155 Vgl. in diesem Zusammenhang die folgende Notiz Kants: „Der rohe Mensch hat nur gefuhl vor Sinne, der gesittete vor Begriffe und Regeln". R. 6706 (wahrscheinlich Anfang bis Mitte der 70er Jahre), AAXDC, 137. 156 R. 6867, AA XIX, 186. Vgl. R. 6892, 6910, 7204, ebd., 195 f, 203, 283.

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was ihnen denn gnug thue. Noch weniger ist der Besitz dieser Vergnügen wegen der Veränderlichkeit des Glücks und der Zufälligkeit gunstiger Umstände und der Kürze des Lebens gesichert."157 Es liegt also nahe, Sinn und Qualität menschlichen Lebens nicht oder nicht allein in der Erfüllung unseres je individuellen Begehrens zu suchen, sondern nach der Rolle von Vernunft und Freiheit zu fragen. Wäre unsere Vernunft indes nur zu gebrauchen, um das Streben nach Befriedigung unserer Bedürfnisse möglichst effizient zu gestalten, so fiele das Urteil über den Wert menschlichen Daseins um nichts positiver aus. Die Kürze des Lebens, die Abhängigkeit von unbeeinflußbaren Lebensumständen, das Zerrinnen jeglichen Genusses blieben als Faktoren einer negativen Bilanzierung des Menschendaseins schlagend, und es wäre nicht zu sehen, daß sie durch positive Akzente kompensiert werden könnten. Von anderem Lebendigen unterschiede sich der Mensch zuletzt nur durch das Bewußtsein der Vergänglichkeit und der - im Ganzen gesehen - evidenten Bedeutungslosigkeit seiner individuellen Existenz. Und es wäre die Frage, ob nicht die Begabung mit Vernunft sein Leben erst recht bitter machte; unter den skizzierten Bedingungen würde wohl mancher vorziehen, daß ihm die Konditionen seines Seins gnädig verborgen blieben. Kant dagegen möchte zeigen: In der Freiheit und in der Vernunft als praktischer, durch die sich der Mensch in seinem individuellen Seinwollen selbst bestimmt und Gesetze seines Handelns vorschreibt, liegt die Wurzel für ein mögliches Gelingen des Lebens. „Gelingen" des Lebens soll heißen: Es ist in den Augen des betreffenden Individuums sinn- und wertvoll. Dies muß aber noch gar nicht bedeuten, daß es von ihm auch für ein glückliches gehalten wird. In den von ihm selber veröffentlichten Schriften betont Kant immer wieder, daß Gelingen und Glücken des Lebens eben nicht notwendig koinzidieren; und jedem seiner Leser ist diese Position als genuin Kantische gewärtig. Daß sie Kant nicht selbstverständlich war, sondern daß er um sie gerungen hat, belegen zahlreiche handschriftliche Notizen. In vielen Anläufen erkundet er, ob sich nicht vielleicht doch für die Wirklichkeit moralischer Glückseligkeit überzeugend argumentieren läßt. Dann wäre erwiesen: Was der Mensch sich schuldig ist und wodurch er seinem Leben selbst Sinn und Wert gibt,158 das verbürgt zugleich dessen Erfüllung. In der mit dem Titel Zur practischen philosophie versehenen Reflexion aus den frühen achtziger oder späten siebziger Jahren lesen wir: „Die Moralitat besteht in den Gesetzen der Erzeugung der (s wahren) Glückseeligkeit aus Freyheit überhaupt. Im Anfange also, da nur blos auf Befriedigung der instincte und Wohlbefinden der Wille gerichtet wird, entsteht alles Böse eben aus der Freyheit, da der 157 R. 7202, ebd., 277. 158 Vgl. Kritik der Urteilskraft, AA V, 434 (Anm.). Näheres zu diesem Text unten, Kap. 36.

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Mensch nicht durch instinct, der sonst einen weisen Urheber hat, regirt werden soll. Freyheit kan nur nach Regeln eines allgemein gültigen Willens bestimmt werden, weil sie sonst ohne alle Regel seyn würde." In einem später gestrichenen Zusatz erfahren wir weiter: „Causalitaet. Die Beschaffenheit der (reinen) Freyheit, dadurch sie sich selbst die Ursache der Glückseeligkeit ist; sie ist aber die Ursache der Glückseeligkeit durch die Uebereinstimmung allgemeiner Willkühr."159 Der gute Gebrauch der Freiheit soll demnach die „wahre" Glückseligkeit generieren, wobei Kant im zitierten Stück darauf verzichtet, diese auch in ihrer emotionalen Qualität zu bestimmen. Diese Unterlassung ist charakteristisch für viele Texte; zugleich ist sie bezeichnend. Denn das wohl größte Hindernis, den Gedanken moralischer Glückseligkeit plausibel zu finden, besteht eben in der Schwierigkeit verständlich zu machen: Die Achtung meiner selbst und Anderer, das Gefühl, den eigenen Ansprüchen durch mein Handeln gerecht geworden zu sein, das Bewußtsein der Übereinstimmung mit mir selbst lassen mich glücklich im prononcierten Sinn des Wortes sein. Auf der anderen Seite freilich hatte sich ergeben, daß alles Sinnenglück unversehens und auch ohne unser Zutun umschlagen kann in ein entsprechendes Unglück, daß es also stets gefährdet, vergänglich, ohne bleibende Wirkung und bleibenden Gewinn ist. Es kommt und geht, es verfließt, als sei nichts gewesen. Unter dieser Perspektive erscheint das Leben als etwas, das dem Menschen überwiegend bloß widerfährt; und die Frage, wozu er existiert im Wechsel seiner Sensationen, bliebe zumindest für ihn selbst unbeantwortbar. Im Spannungsfeld zwischen diesen beiden — je auf ihre Weise einseitigen und unbefriedigenden - Vorstellungen eines glücklichen Lebens versucht Kant, Gewichtungen und Wertungen vorzunehmen. „Die Glückseeligkeit ist zwiefach", notiert er gegen Ende der siebziger Jahre, „entweder die, so eine Wirkung der freyen Willkühr vernünftiger Wesen an sich selbst ist, oder die nur eine Zufellige und äußerlich von der Natur abhängende Wirkung davon ist. Vernünftige Wesen könen sich durch Handlungen, welche auf sich und aufeinander wechselseitig gerichtet sind, die Wahre Glückseeligkeit machen, die von allem in der Natur unabhängig ist. und die Natur kann ohne diese auch nicht die eigentliche Glückseeligkeit liefern. Dieses ist die Glückseeligkeit der Verstandeswelt."160 Die „wahre" Glückseligkeit, das wiederholt Kant, ist die exklusiv durch Freiheit gewirkte. Das bedeutet, sie entspringt dem moralischen Handeln. Und allein in moralisch-praktischer Einstellung ist der Mensch nach Kant ausschließlich der Freiheit verbunden: Moralität gründet in ihr und zielt auf sie. Für alle anderen Einstellungen, die ästhetische und die theoretische, aber auch für die pragmatisch-praktische trifft dies nicht zu. Hier ist stets die Natur als komplementäre Sphäre mit im Spiele: 159 R- 7199, AA XIX, 273. 160 R. 6907 (1776-1778), AA XIX, 202.

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ästhetisch als reizvolle und insofern zur Freiheit .passende', theoretisch als die in ihrem Gehalt durch Spontaneität bestimmte, pragmatisch-praktisch als begehrte und gegebenenfalls in Freiheit gestaltete. Aus dieser kleinen Überlegung wird aber auch sofort ersichtlich, welchen Preis der entrichten muß, der dafür argumentiert, die „wahre" Glückseligkeit sei die moralische. Es ist die Verleugnung jeglicher Bedeutung der Natur für das — recht verstandene - Glück. Doch beziehen wir uns nach Kant in all unserer Wirksamkeit und Ansprechbarkeit auf die Natur als Gegenhalt der Freiheit - außer in der moralischen Einstellung. Die intellektualistische Signatur des „wahren" Glücks wird in unserem Text sogar explizit zum Ausdruck gebracht. Kant spricht ausdrücklich von der „Glückseeligkeit der Verstandeswelt". Dunkel bleibt dann freilich, was er meint, wenn er ausfuhrt, ohne daß das „wahre" Glück durch Freiheit bewirkt würde, könne die Natur „auch nicht die eigentliche Glückseeligkeit liefern." Im Rahmen der Argumentation, wie sie Kant im Ganzen der Reflexion verfolgt, erscheint diese Erklärung wie ein unzugehöriges Einsprengsel. Sie schleicht sich gleichsam in Kants Gedankengang ein. Ähnliches ist in vielen der nachgelassenen Notizen zu beobachten.161 Das ist beachtenswert und wohl als ein Indiz dafür zu werten, daß Kant sich mit einem dezidiert intellektualistischen Verständnis menschlichen Glücks niemals vollständig anfreunden konnte. Doch ist das Bemühen augenfällig, es einer sorgfältigen Prüfung zu unterziehen. Denn systematisch betrachtet bedeutete es zweifellos eine sehr elegante Lösung für Kant, wenn der Gedanke moralischer Glückseligkeit sich als stimmig und überzeugend erweisen ließe. Erinnern wir uns: Kant hatte zunächst nach dem Guten gesucht, und zwar nach dem an sich und unbedingt Guten, nicht nach einem partiellen, nur unter bestimmten Voraussetzungen der Person, der Situation, der politisch-sozialen Konstellation etc. gültigen. Mit diesem uneingeschränkt und deshalb für jeden jederzeit geltenden Guten, so Kants Überzeugung, wäre der ,Grundstein' der praktischen Philosophie gewonnen. Er hatte es schließlich in der Freiheit des Menschen und deren Achtung, und das heißt: im moralischen Handeln gefunden. Würde die Beförderung des so verstandenen und bestimmten Guten nun zugleich das Glück des Menschen bewirken, so wäre der ganze Bau der praktischen Philosophie im wesendichen errichtet und auf nichts als Freiheit gegründet162 — und alles wäre zu schön, um wahr zu sein. Im folgenden werden wir sehen, warum Kant einen intellektualistischen Begriff des Glücks schließlich verwirft und was er an seine Stelle setzt.

161 Vgl. paradigmatisch: R. 7202, AA XIX, 276-279, 281 f. 162 Das gilt auch für das Recht als weiteren Grundpfeiler des Gebäudes der praktischen Philosophie.

VI. Kant und die stoische Vorstellung des Glücks der Vernunft

26. Eudaimonie und Teleologie im Denken der Stoa Vor allem die Stoiker sind es gewesen, die das Glück gänzlich an die Macht der Vernunft gebunden haben. Deshalb ist es — historisch betrachtet — eine Auseinandersetzung mit der stoischen Ethik, die Kant fuhrt, wenn er sich der Frage einer vernunftgewirkten Glückseligkeit stellt. So hat er es auch selbst beurteilt.1 Die stoische Position war Kant mit Sicherheit aus den Schriften Senecas bekannt, die sich in seiner Bibliothek befanden.2 Aus dem Traktat Senecas De vita beata stammt das Motto, das der junge Kant der programmatisch gehaltenen „Vorrede" seines ersten veröflfendichten Werkes über die Wahre Schätzung der lebendigen Kräfte vorangestellt hatte. Er beruft sich auf Seneca in seinem Vorsatz, auf die eigenen Kräfte zu vertrauen und den eigenen Weg unbeirrt zu gehen.3 Von Cicero besaß Kant De officiis, übersetzt von Christian Garve, und dazu auch den dreibändigen Kommentar Garves.4 Es ist natürlich davon auszugehen, daß die genannten nicht alle Quellen sind, aus denen Kant seine Kenntnis der Philosophie der Stoa bezog. Obwohl er ein unermüdlicher Leser war, legte Kant ja bekanntlich gar keinen Wert auf den Besitz einer umfangreichen eigenen Bibliothek. Die Bücher, die ihn interessierten, wurden ihm meistens von Königsberger Buchhändlern oder Freunden übersandt und zur Verfügung gestellt, und nach beendeter Lektüre gab er sie zurück.5 An Darstellungen der stoischen Philosophie, von denen Kant Kenntnis nahm, ist neben Jacob Bruckers Philosophiegeschichte auch Adam Smith mit seinem Buch The Theory of Moral Sentiments zu berücksichtigen. Kant las es in der 1770 erschienenen Übersetzung von Christian Günther Rautenberg offenbar mit Begeisterung.6 Es enthält in seinem siebten Hauptteil eine ausfuhrliche Behandlung der Ethik der Stoa und der anderen Schulen der Antike. Freilich ist darauf hinzuweisen, daß die von Kant durchgespielte und in den Rahmen seiner Systematik passende Variante moralischen Glücks mit der von der Stoa vertretenen nicht identisch ist. Zwar wird bis heute gerne die Verwandtschaft 1 Vgl. Kritik der praktischen Vernunft, AA V, Ulf, 126 f; R. 6584, 6601, 6624, 6874, 6880, AAXK, 96, 104, 116, 188, 190; Moralphilosophie Collins, AA XXVII, 249-251; Danziger Rationaltheologie, AA XXVIII, 1296. 2 Vgl. A. Warda, Immanuel Kants Bücher, 55 (X. 114). 3 Vgl. AA 1,7 und 10. 4 A. Warda, Immanuel Kants Bücher, 46 (X. 21). Garves Kommentar trägt den Titel: Philosophische Anmerkungen und Abhandlungen zu Cicero's Büchern von den Pflichten (1783). 5 Vgl. A. Warda, 8-10. 6 Das geht aus einem Brief hervor, den Marcus Herz Kant am 9. Juli 1771 schrieb. Vgl. AAX, 126 mit AA XIII, 54.

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der Kantischen mit der stoischen Ethik betont.7 Doch sind die Fundamente, von denen sie jeweils getragen werden, voneinander sehr verschieden. Das zeigt sich bei n herer Betrachtung. Weil Kant seine Konzeption nicht zuletzt im Disput mit der stoischen gewonnen hat, sollen im folgenden beide miteinander konfrontiert werden. W rde nach dem Grundgedanken der stoischen Ethik gefragt, so w re die Antwort wohl unter allen ihren Interpreten einhellig. Es ist die Forderung, in bereinstimmung mit der Natur zu leben (ακολούθως/ομολογουμένως τη φύσει ζην, κατά φύσιν ζην, convenienter naturae vivere)? die die stoischen Ethiker als grundlegend betrachten. Wem dies in Vollendung gel nge, der h tte nach stoischer Auffassung das Endziel des menschlichen Lebens erreicht. Entsprechend bezeichnet Cicero das Leben im Einklang mit der Natur als h chstes Gut (summum bonurri) der Stoiker.9 Mit „Natur" aber ist beides gemeint und angesprochen: die eigene Natur und die Natur als Gesamtheit dessen, was wir als Welt ansprechen.10 Sie stehen nicht beziehungslos nebeneinander, sondern sind miteinander verbunden. Beide sind durchdrungen von ein- und demselben Gesetz. So verh lt sich die Natur des jeweiligen Individuums zur Natur berhaupt wie ein Teil zum Ganzen. Was nun den ganzen Kosmos durchwaltet, ist die „richtige Vernunft" (o ορθός λόγος). Dieses Weltgesetz aber ist identisch mit Zeus, der die Einrichtung all dessen, was ist, bestimmt und leitet (ό αυτός ων τφ Δύ, καθηγεμόνι τούτφ της των όντων διοικήσεως οντΐ).η Weil das Weltganze demnach von seinem Grund her g tdich ist,12 kann es als dieses Ganze nur gut und vortrefflich angelegt sein. Leben wir in bereinstimmung mit der Natur, so leben wir der Stoa zufolge auf die einzig angemessene Weise. Das hei t: Wir verfahren so, wie es durch das Weltgesetz geboten ist, und zugleich so, wie es f r uns selbst am besten ist. Weil wir, was wir sind, im Ganzen eines wohlgeordneten, vom Gott gelenkten Kosmos sind, kann es in den Augen der Stoiker einen Widerspruch zwischen dem guten Zustand des Ganzen und unserem eigenen Wohl gar nicht geben. Nun ist es offensichtlich, da Verschiedenstes in der Welt anzutreffen ist. Ein Stein, eine Pflanze, ein Tier, ein Mensch existieren nicht in derselben Art und Weise, auch wenn im Blick auf einzelne Eigenschaften hnlichkeiten zwischen ihnen festgestellt werden k nnen. Ein jedes Ding in der Natur hat nach stoischer 7 Vgl. etwa J. Annas, The Morality of Happiness (1993), 162, 169, 175, 263 f, 398, 432; M. Forschner, Die Stoische Ethik (21995), 117, 168 (vgl. aber seine Selbsdcritik im Nachwort zur zweiten Aufl., 247, 248f[Anm. 18]). 8 Vgl. Diogenes Laertius VII87; SVFIII12 (= Stobaeus II76,3), SVF III16; Cicero, De officiis III13. 9 De officiis III 13. 10 Vgl. hier und im folgenden Diogenes Laertius VII 87-89. 11 Ebd., VII 88. 12 Vgl. ebd., VII 135-136.

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Auffassung seine eigene, nämlich artspezifische „naturgemäße" Bestimmung. In ihrer möglichst vollkommenen Entfaltung liegt dann das, was für das jeweilige Individuum gut ist. So formuliert Seneca: Omnia suo bono constant.1* Und er gibt Beispiele: Die Rebe empfehle sich durch ihre Fruchtbarkeit und den Geschmack des Weines, der Hirsch durch die Schnelligkeit, der Hund vor allem durch den scharfen Geruchssinn, der ihn das Wild jagen und aufspüren läßt. Was aber, fragt Seneca, ist beim Menschen das Wichtigste und Beste? Seine Antwort lautet: Die Vernunft; durch sie rangiere er vor den Tieren und folge den Göttern. Die vollkommene Vernunft (ratioperfecta) ist das dem Menschen eigentümliche Gut (proprium bonum), zu ihrer Ausbildung ist er geboren. Seine übrigen Eigenschaften teilt er mit den Tieren und Pflanzen. Stark ist er, doch das sind die Löwen auch. Schön ist er, doch das sind auch die Pfauen. Einen Körper hat er, doch auch die Bäume haben einen. Und in manchen seiner Qualitäten werde der Mensch von den Tieren zweifellos übertroffen: So besitzt er eine Stimme, aber über eine lautere verfugt der Hund, über eine schärfere der Adler, über eine süßere die Nachtigall.14 Allein in der Vernunft, so argumentieren die Stoiker, liegt das den Menschen Auszeichnende.15 Mit der vollendeten Entfaltung dieser Begabung, die durch ein konsequent vernunftgeleitetes Leben erreicht wird, ist deshalb das Glück, die Erfüllung menschlicher Existenz gegeben. Ratio: haec recta et consummatafelicitatem hominis impleuit, schreibt Seneca.16 Die vollkommene Vernunft (ratio perfecta) aber, so fährt er fort, wird Tugend (virtus) genannt, und in ihr besteht das Sittliche (honestum). Die Moral ist somit dasjenige, was das Glück des Menschen verbürgt. Zu diesem Ergebnis gelangen die stoischen Philosophen — wie gezeigt —, weil sie einen ideologischen Begriff vom Menschen und seinem Platz im Ganzen des Kosmos haben. Nun zieht eine solche Lehre, wie sie die Stoiker entwerfen, nicht wenige Probleme nach sich, auf die sie reagieren müssen. Der Mensch, so könnte eingewandt werden, besitzt zwar Vernunft, und sie mag dasjenige sein, was ihn von anderen Lebewesen unterscheidet. Aber er geht nicht darin auf, Vernunft zu haben und zu gebrauchen. Ebenso - und vielleicht sogar stärker noch - ist er bestimmt durch sinnliche Antriebe und Abneigungen, durch Leidenschaften, durch Gefühle und Empfindungen, die ihn bewegen. Zumindest das Verhältnis also der Vernunft zu den nichtvernünftigen Anteilen der menschlichen Natur müßte geklärt werden. Zumal die Stoiker ja freimütig erklären, daß wir vieles mit den vernunftlosen Lebewesen, mit den Tieren, gemein haben.17 Wie aber sollen wir mit dem, was 13 14 15 16 17

Epistulae morales 76, 8. Ebd., 76, 8-9. Vgl. neben Seneca auch: Epiktet, Dissertationes 1.6, 12-22; Diogenes Laertius VII 86. Epistulae morales 76, 10. Vgl. ebd., 76, 9; Epiktet, Dissertationes 1.6, 12 ff.

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an uns nichtvern nftig ist, umgehen? Wie steht es unter diesem Gesichtspunkt mit dem Gl cklichsein, das wir doch auch empfinden m ssen? Oder anders formuliert: Wie f hlt sich das Gl ck der vollendeten Vernunft an? Um solchen Fragen zu begegnen, entwickeln die Stoiker eine ausgefeilte Theorie der Affekte. Wie es die Betonung der berdies teleologisch aufgeladenen Vernunft des Menschen schon vermuten l t, wird der Affekt (πάθος) als etwas gedacht, das zuletzt ganz in deren Hand gegeben ist. Dabei leugnen die stoischen Philosophen nicht etwa, da der Mensch nat rliche Antriebe (όρμαί) hat. Ein jedes Lebewesen wird durch sie bestimmt; sie sind die „Stimme der Natur" (vox naturae),18 und als solche wird sie auch noch Kant ansprechen19. Diese Instinkte sorgen zum Beispiel daf r, da wir — hierin den Tieren gleich — unsere Nachkommen lieben und sie aufziehen, uns dar ber hinaus anderen Menschen verbunden f hlen und Gemeinschaften bilden.20 Der erste und grundlegende Trieb eines Lebewesens aber gilt stets der Selbsterhaltung (το τηρεΐν εαυτό).21 Von Anfang an und von Natur aus ist ihm die Sorge um das eigene Bestehen zugewiesen. Denn es w re unverst ndlich, sagen die Stoiker, da die Natur ein von ihr hervorgebrachtes Lebendiges sich selbst entfremden (άλλοτριοϋν) sollte. Genauso unplausibel w re es in ihren Augen, ein Lebewesen anzunehmen, das sich selbst weder fremd noch nah (οίκεϊον) ist. Also ist alles, was lebt, urspr nglich mit sich selbst befreundet. Sich selbst gegen ber steht es im Verh ltnis der „Zueignung" (οίκείωσις). Deshalb wehrt es von Beginn an ab, was ihm schadet, und ergreift, was ihm in seiner Eigenart zutr glich ist. Ausdr cklich lehnen die Stoiker eine alternative und zum Beispiel von den Epikureern vertretene Deutung dieses an s mdichen Lebewesen zu beobachtenden Verhaltens ab: da es n mlich das Streben nach Lust und das Vermeiden von Unlust ist, das sie eines aufsuchen und anderes abweisen l t. In dieser Erkl rung liegt, argumentationsstrategisch betrachtet, ein geschickter Schachzug der Stoiker. Denn sie wollen ja zeigen, da die Eudaimonie, das Gl ck des Menschen in der vollendeten Vernunft, der ratio perfecta. besteht. Gegen diesen Gedanken jedoch dr ngt sich jederzeit ein Einspruch auf: Welchen Genu , welche Lust k nnte die individuell ausgebildete vollkommene Vernunft denn schlie lich f r den Einzelnen bereithalten? Und nun erweist sich nach berzeugung der Stoiker, da berhaupt kein Lebendiges, auch das nicht oder noch nicht vern nftige, in seinen Aktivit ten von Vorstellungen der Lust oder Unlust geleitet wird. Vielmehr soll es die Sorge um die eigene Erhaltung sein, die 18 19 20 21

Cicero, De finibus bonorum et malorum III 62. Mutma licher Anfang der Menschengeschichte, AA VIII, 112. Vgl. oben, Kap. 11. Vgl. Cicero, De finibus III 62 ff. Vgl. hier und im folgenden: Diogenes Laertius VII 85 f (= SVF III 178).

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es grunds tzlich bewegt. Keineswegs sollen seine Triebe dem Streben nach Lust dienen. Auch die Vernunftt tigkeit aber zielt nach Ansicht der Stoiker auf nichts anderes als die Selbsterhaltung der zu ihr f higen Individuen. Somit ist jeder Argumentation, die mit Blick auf unser Gl ck die Forderungen der auf Lustgewinn und Unlustvermeidung gerichteten nat rlichen Antriebe gegen die m glicherweise anderslautenden - moralischen - Forderungen unserer Vernunft ausspielen m chte, der Boden entzogen. Ein Konflikt wie der von Kant herausgestellte zwischen Neigung und Pflicht kann gar nicht entstehen. Die Lust, sollte sie denn auftreten, lassen die Stoiker allenfalls — aber immerhin - als ein Nebenprodukt (έπιγέννημα) gelungener Selbsterhaltung gelten.22 Der naturgegebene Impetus, die eigene Existenz zu bewahren, zu sichern und zu entfalten, eint in den Augen der Stoiker alles, was lebt. Freilich folgen die verschieden gearteten Lebewesen ihm auf je unterschiedliche und f r sie spezifische Weise. Die Pflanzen tun dies ohne Triebe und ohne da sie ber Empfindungsund Wahrnehmungsf higkeit (αϊσθησις) verf gten.23 Auch in uns Menschen gibt es - vegetative - Prozesse, die pflanzenartig (φντοενδώς) ablaufen. Die Tiere werden durch Triebe gelenkt, die sie nach dem suchen lassen, was f r sie und ihre Bestimmung jeweils zutr glich ist. Uns Menschen ist neben den sinnlich wirksamen Antrieben Vernunft verliehen. W hrend es f r die Tiere naturgem (κατά φνσιν) und deshalb angemessen ist, sich von ihren Trieben leiten zu lassen, gilt das f r den Menschen nicht. F r ihn ist es allein naturgem , der dem Trieb gegen ber anspruchsvolleren F hrung (τελειότερα προστασία), der ihm eigenen Vernunft Folge zu leisten. Die Vernunft, der Logos n mlich kommt zum Trieb als wahrhaft Sachverst ndiger (τεχνίτης) hinzu. Freilich dr ngt sich jetzt die Frage auf: Wenn doch nat rliche Antriebe uns bereits zu dem f hren, was f r uns gut, was unserer Selbsterhaltung und -Vollendung f rderlich ist, warum sollten wir uns ihnen dann nicht berlassen d rfen? Eine klare Antwort finden wir bei Seneca. In einem der Briefe an Lucilius will er zeigen, da das „wahre Gute" (verum bonuni) f r das Lebendige, das sich nicht durch Vernunft selbst steuert, unerreichbar ist.24 Daraus aber w rde folgen, da der Mensch als ein mit Vernunft begabtes Wesen auf die letzte Erf llung seines Lebens, auf das „wahre Gute" verzichtet, sobald er sich nach seinen nichtvern nftigen Antriebskr ften richtet, statt auf seine Vernunft zu h ren. Worin aber besteht das „wahre Gute", und warum bleibt es den nicht vern nftigen Lebewesen verschlossen? Auch sie sind jedenfalls von der Natur geschaffen und bewegen sich, gef hrt durch Instinkte, in perfekter bereinstimmung mit ihr. 22 Vgl. ebd. 23 Vgl. hier und im folgenden: Ebd. 24 Epistulae morales 124, 13.

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Kant und die stoische Vorstellung des Glücks der Vernunft

Wenn etwas jedoch der Natur gemäß lebt, lebt es glücklich - das ist der zentrale, immer wieder bekräftigte Lehrsatz der stoischen Ethik. Bei Seneca nun finden wir die Unterscheidung zweier Arten von Übereinstimmung mit der Natur, aus der verschiedene Grade der Vollkommenheit des Lebens abgeleitet werden. Verhält sich der Vernünftige nach dem, was seine Vernunft ihm gebietet, und lebt er insofern seiner Natur gemäß, so befindet er sich zugleich in Übereinstimmung mit der Natur im Ganzen (universa natura).25 Denn diese Natur im Ganzen ist durch und durch vernünftig; sie ist bestimmt durch den richtigen Logos, die göttliche Weltvernunft.26 Davon ist Seneca genauso überzeugt, wie es schon Chrysipp dem Bericht des Diogenes Laertius zufolge war.27 Wird seine Bestimmung wie beschrieben verstanden, so hat der mit Vernunft begabte Mensch die Möglichkeit einer Vollendung seiner Existenz, über die hinaus keine Steigerung gedacht werden kann. Lebt er richtig, nämlich vernunftgemäß, ist er dem Ganzen der Welt wesensgleich. Seneca sagt ausdrücklich, der Mensch und Gott als Grund des Kosmos hätten „dieselbe Natur" (eandem naturam habenf), insofern sie beide vernünftig sind (qua rationalia sunty. Nur die Eigenschaft der Sterblichkeit bzw. Unsterblichkeit unterscheidet sie voneinander.28 Lebt der Mensch vollkommen vernünftig, lebt er als Weiser (sapiens), so lebt er, wie es sich für Gott geziemt (qualis deum deceat)29 Alles Nichtvernünftige aber kann nur innerhalb der eigenen Art (in suo genere) Vollkommenheit erreichen.30 Das „wahre Gute" findet sich deshalb weder in Bäumen noch in vernunftlosen Tieren. Was an ihnen gut ist, wird nur in einem eingeschränkten Sinn und unter Vorbehalt gut genannt (precario honum dicitur)?1 Sie sind Teile des Ganzen wie die Menschen, doch sie sind unfähig, die eigenen Grenzen zum Ganzen hin zu transzendieren. Genau das soll dem Menschen nicht nur in Gedanken, sondern in der vernunftgemäß gelebten Praxis möglich sein, und darin liegt seine Göttlichkeit und sein vollendetes Glück. Das ideologische, kosmotheologische Fundament der stoischen Ethik ist somit deutlich. Unter ihren zeitgenössischen Interpreten ist es besonders Arthur A. Long, der die Aufmerksamkeit auf diesen Punkt lenkt.32 Von Autoren, denen am Nachweis der Attraktivität des stoischen Denkens für die aktuelle Debatte über das gelingende Leben gelegen ist, wird dessen ideologische Grundlage 25 26 27 28 29 30 31 32

Ebd., 124, 14. Ebd. Diogenes Laertius VII 88; vgl. die Ausführungen oben. Epistulae morales 124, 14. Ebd., 92, 3. Ebd., 124, 14. Ebd., 124, 13. Vgl. A. A. Long, Stoic Eudaimonism (1996), 179-201, bes. 185 f, 191, 200 f.

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dagegen eher spärlich in den Blick gerückt.33 Teleologisch imprägnierte Argumentationen, verbunden mit einer normativen Fixierung dessen, was als Erfüllung menschlichen Lebens zu gelten hat, erscheinen heute kaum akzeptabel.34 Kants Stellung zum stoischen Gedanken eines von der Natur vorgegebenen Telos menschlichen Seins soll im folgenden näher betrachtet werden.

27. Kants Antwort auf die stoische Teleologie Im ersten Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten antwortet Kant auf die Teleologie der Stoa. Daß ihm bei der Abfassung der Grundlegung und gerade ihres bedeutenden und vielinterpretierten Eingangspassus35 ein Haupttext stoischer Ethik, nämlich Ciceros De offidts, vor Augen gestanden hat, zeigt eindrucksvoll Klaus Reich.36 Nachdem Kant in Auseinandersetzung mit der Ciceronischen Erörterung der Kardinaltugenden37 die These vorgetragen hat, allein ein guter Wille könne für uneingeschränkt gut gehalten werden, prüft er diese These noch einmal unter einem anderen „Gesichtspunkte":38 Er stellt sich jetzt auf den Boden der — stoischen — ideologischen Argumentation. Er fragt nämlich nach der „Absicht" der Natur, „warum sie unserm Willen Vernunft zur Regiererin beigelegt habe".39 Vielleicht habe er, Kant, diese Absicht der Natur „falsch verstanden", indem er praktische Vernunft als Bestimmungsgrund des guten Willens ausgelegt habe - eines Willens, der überhaupt „nicht durch seine Tauglichkeit zu Erreichung irgend eines vorgesetzten Zweckes, sondern allein durch das Wollen, d. i. an sich, gut" sein soll.40 Denn es ist klar: Sollte es im Blick auf die Qualifizierung dieses durch praktische Vernunft bestimmten Willens 33 Vgl. M. Nussbaum, The Therapy of Desire (1994), 316 ff. 34 Vgl. E. Tugendhat, Antike und moderne Ethik (1984), 56; J. Griffin, Well-Being (1986), 56-72; vgl. auch A. A. Long, Stoic Eudaimonism (1996), 201. 35 AAIV, 393-396. 36 Kant und die Ethik der Griechen (1935), 27 ff. Unter dem Titel „Kant und die Ethik der Griechen" behandelt Reich Kants Beschäftigung mit der Abhandlung des Römers Cicero über die Pflichten deshalb, weil diese auf der Grundlage der Lehrschrift des Panaitios von Rhodos geschrieben ist. — Daß die kritische Beschäftigung mit Cicero bei der Ausarbeitung der Grundlegung eine Rolle gespielt hat, belegen auch briefliche Äußerungen Hamanns. Vgl. P. Menzers „Einleitung" zur Grundlegung. AA IV, 626 f. 37 Vgl. De officiis I, 3-5 mit: Grundlegung, AA IV, 393 f. Vgl. dazu K. Reich, Kant und die Ethik der Griechen, 30-33. Vgl. auch Ch. Garve, Anmerkungen und Abhandlungen zu Cicero's Büchern von den Pflichten (1783), 60-74. 38 Grundlegung, AA IV, 395. 39 Ebd., 394 f. 40 Ebd., 395, Z. l und 394, Z. 14 f.

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Kant und die stoische Vorstellung des Glücks der Vernunft

als eines absolut Guten tatsächlich ganz unerheblich sein, was er „bewirkt oder ausrichtet",41 so würde der stoische Gedanke einer Erfüllung des Lebens durch die „Übereinstimmung mit der Natur" - und das heißt für den Menschen: durch die Übereinstimmung mit der Vernunft - adabsurdum gefuhrt. Darin liegt, wie Kant selbst gesteht, etwas „Befremdliches".42 Deshalb legt er sich die Frage vor: Ist es nicht möglicherweise doch „seine Erhaltung, sein Wohlergehen, mit einem Worte seine Glückseligkeit", dessentwillen die Natur den Menschen mit Vernunft ausgestattet hat?43 Genau dies aber hatten die Stoiker behauptet. Dazu hatten sie betont, daß der Mensch durch seine Begabung mit Vernunft zu einer Erfüllung seines Daseins gelangen kann, deren Qualität alles in den Schatten stellt, was den anderen Geschöpfen der Natur an Vollendung ihres Seins erreichbar ist. Dem Menschen soll es vorbehalten sein, abzüglich der Sterblichkeit wie ein Gott zu sein, sofern er nur als wahrhaft Weiser ausschließlich seiner Vernunft folgt und nicht seinen natürlichen Antrieben. Die von der Natur verliehene Vernunft soll dem Menschen die Chance eröffnen, geleitet durch eigenes Urteil stets das Richtige zu tun: „nichts zu tun, was er bereuen könnte, nichts gegen seinen Willen, sondern alles großartig, beständig, würdig und rechtschaffen zu tun". So formuliert es Cicero.44 Etwas Glücklicheres, als sich selbst in seinem vernünftigen Urteil zu folgen, argumentiert er weiter, könne er sich nicht denken. Weil diese Selbstherrschaft nun vollkommen in unsere Hand gegeben ist, ist auch das aus ihr resultierende Glück in unserer Hand. „Das Leben des Weisen ist daher immer glücklich" (ita fit semper vita beata sapientis), lautet die Schlußfolgerung.45 Weil dem Menschen die Möglichkeit, aus eigener Kraft glücklich zu sein, jederzeit offensteht, ist er nach Auffassung der Stoiker wahrhaft , das heißt wörtlich: mit einem guten Daimon versehen, vom Gott begünstigt. Zu einer ganz anderen Wertung kommt Kant. Natürlich steht auch für ihn fest, daß wir uns durch die Begabung mit Vernunft von anderen Lebewesen unterscheiden. Wäre jedoch tatsächlich, wie die Stoiker denken, Selbsterhaltung, Wohlergehen und schließlich Glückseligkeit der von der Natur vorgesehene Zweck unserer Existenz, so hätte sie, meint Kant, „ihre Veranstaltung dazu sehr schlecht getroffen, sich die Vernunft des Geschöpfs zur Ausrichterin dieser ihrer Absicht zu ersehen".46 „Denn alle Handlungen", die ein um sein Glück besorgtes Wesen „in dieser Absicht auszuüben hat, und die ganze Regel seines Verhaltens würden ihm weit genauer durch Instinct vorgezeichnet 41 42 43 44 45 46

Ebd. 394, Z. 13. Ebd., Z. 34. Ebd., 395. Tusculanae disputationes V 81. Ebd., V 82. Vgl. hier und im folgenden: Grundlegung, AA IV, 395.

Kants Antwort auf die stoische Teleologie

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und jener Zweck weit sicherer dadurch haben erhalten werden können, als es jemals durch Vernunft geschehen kann". Die Vernunft nämlich erweist sich überhaupt nicht als die brilliante Garantin eines ganz in unserer Macht stehenden Lebensglücks, als die sie von den Stoikern gezeichnet wird. Im Gegenteil gehen unzählige Mißgriffe in der Wahl der Lebensziele wie auch der Mittel, den ausgewählten Vorhaben mit Erfolg nachzugehen, auf ihr Konto. Nicht zuletzt die Erfahrung spricht nach Kant unleugbar für diese Einschätzung. In dem kurz nach der Grundlegung geschriebenen Aufsatz über den Mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte führt er seine Bewertung der conditio humana noch weiter aus. Wir haben sie bereits kennengelernt und diskutiert.47 In der Grundlegung argumentiert Kant folgendermaßen: Läge das Glück des Menschen, wie wir ihn kennen, in der Absicht der Natur, dann hätte sie davon abgesehen, den menschlichen Willen der „schwachen und trüglichen Leitung" der Vernunft zu unterstellen. Die Natur „würde verhütet haben, daß Vernunft nicht in praktischen Gebrauch ausschlüge und die Vermessenheit hätte, mit ihren schwachen Einsichten ihr selbst den Entwurf der Glückseligkeit und der Mittel dazu zu gelangen auszudenken; die Natur würde nicht allein die Wahl der Zwecke, sondern auch der Mittel selbst übernommen und beide mit weiser Vorsorge lediglich dem Instincte anvertraut haben."48 Tbeorettsc/jeVemunft dagegen hält Kant interessanterweise nicht für eine von vornherein glücksgefährdende Mitgift. Wäre sie einem in allen praktischen Belangen vom Instinkt geleiteten Menschen noch „obenein", das heißt zusätzlich gegeben, so könnte sie ihm dazu dienen, „um über die glückliche Anlage seiner Natur Betrachtungen anzustellen, sie zu bewundern, sich ihrer zu erfreuen und der wohlthätigen Ursache dafür dankbar zu sein".49 Es wäre dies das Glück der Theoria, wie es Aristoteles beschrieben hat. Und indem diese Theoria, wie Kant skizziert, ausgehend von uns selbst als ihrem Gegenstand zuletzt der „wohlthätigen Ursache" unseres Daseins und Wohlseins zugewandt wäre, richtete sie sich am Ende auf genau jene vorzüglichsten Objekte, deren Betrachtung nach Aristoteles das größtmögliche Glück für den Menschen bedeutet.50 Der stoische Weise aber als derjenige, der das vollkommene Glück erreicht hat, ist ein Mann der vollendeten Praxis. Die Lebensnützlichkeit der Theorie und die Lebensnützlichkeit alles Guten, wie es durch die Vernunft zu beurteilen und zu bestimmen ist, wird von den Stoikern stets betont.51 Kant ist in diesem Punkt des praktischen Nutzens der Vernunft, wie gesehen, weitaus skeptischer. „In der That 47 Vgl. oben, Kap. 11. 48 Ebd. 49 Ebd. 50 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik X 4, 1174 a 13 ff und X 7, 1177 a 12 ff. 51 Vgl. Aetios I, Prooemium 2 (= SVF II 35); Sextus Empiricus, Adversus Mathematicos XI 22-25 (= SVF III 75); Clemens, Paedagogus I 8. 63, 1-2 (= SVF II 1116); Marc Aurel, Ad se ipsum V 16.

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Kant und die stoische Verstellung des Glücks der Vernunft

finden wir auch", so setzt er seine Argumentation in der Grundlegung fort,*2 „daß, je mehr eine cultivierte Vernunft sich mit der Absicht auf den Genuß des Lebens und der Glückseligkeit abgiebt, desto weiter der Mensch von der wahren Zufriedenheit abkomme, woraus bei vielen und zwar den Versuchtesten im Gebrauche derselben, wenn sie nur aufrichtig genug sind, es zu gestehen, ein gewisser Grad von Misologie, d. i. Haß der Vernunft, entspringt". Denn wenn sich diese „Versuchtesten", die mit Hilfe der möglichst weit entwickelten und ausgebildeten Vernunft glücklich sein wollen, einmal überlegen, welchen Vorteil ihre Vernünftigkeit ihnen bisher verschafft hat, so kommen sie nach Kant unweigerlich zu dem Ergebnis, „daß sie sich in der That nur mehr Mühseligkeit auf den Hals gezogen, als an Glückseligkeit gewonnen haben und darüber endlich den gemeinern Schlag der Menschen, welcher der Leitung des bloßen Naturinstincts näher ist, und der seiner Vernunft nicht so viel Einfluß aufsein Thun und Lassen verstattet, eher beneiden als geringschätzen." Diese Gedanken Kants, mit denen er an Rousseau und dessen „Kynismus" anschließt,53 wären für einen Stoiker schwer nachzuvolkiehen. Der Gebrauch der Vernunft, der vornehmsten Eigenschaft des Menschen, die ihn aus dem Kreis seiner Mitgeschöpfe heraushebt und mit dem göttlichen Grund der Welt verbindet, muß ihn nach Überzeugung der Stoa auch zur Erfüllung seiner Existenz, zum Glück fuhren. Ansonsten wäre der götdiche Kosmos widersinnig eingerichtet - ein Ungedanke wohl für alle griechischen Philosophen. Kant repliziert auf ein Argument dieses Typs so: Seine Einschätzung, daß der Wert der Vernunft für das Streben des Menschen nach Glück zweifelhaft ist, sei überhaupt nicht als „grämisch, oder gegen die Güte der Weltregierung undankbar" zu qualifizieren.54 Nein, der Zweifel an den „ruhmredige(n) Hochpreisungen der Vortheile, die uns die Vernunft in Ansehung der Glückseligkeit und Zufriedenheit des Lebens verschaffen sollte", verweist für Kant darauf, daß die Vernunft dem Menschen gar nicht gegeben ist, damit er sein Glück findet. Denn dazu taugt sie offenbar nicht; das Gegenteil zu behaupten, wäre in Kants Augen bloße Schönrednerei. Was die Vernunft aber jederzeit vermag und wozu sie von sich selbst her auch jederzeit aufgefordert ist, das ist Kant zufolge die Bindung der individuellen Freiheit. Durch die Lösung von verhaltensdeterminierenden Instinkten wird der Mensch in seinem Tun und Lassen frei. Es wird sinnvoll, von einem Willen als Instanz des Wählens zu sprechen. Er ist frei zu allen nur vorstellbaren Handlungen. In der Bestimmung dieses Willens sieht Kant die genuine Aufgabe der praktischen Vernunft. Ziel dabei ist, nicht irgendwelche Güter, sondern zunächst sich 52 AAIV, 395 f. 53 Rousseau gilt ihm als der „feine Diogenes". Vgl. Moralphilosophie Collins, AA XXVII, 248. 54 Vgl. hier und im folgenden: Grundlegung, AA IV, 396.

Kants Antwort auf die stoische Teleologie

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selbst in die Hand zu bekommen. Das geschieht durch die Bindung der Freiheit oder des Willens an eigene Gesetze. Diese durch Vernunft geleistete Selbstformung ist — im Unterschied zu allem anderen, auf das der Wille sich richten kann — uneingeschränkt oder absolut gut.55 Alles andere, was erstrebt wird, ist gut im Blick auf bestimmte Situationen und bestimmte Absichten, die ich habe. Dasselbe kann unter anderen Umständen und bei anderen Zielsetzungen durchaus schlecht sein. Es ist demnach nicht an sich selbst gut. Deshalb wäre es nach Kant sehr unklug, sich in seinem Verhalten an starre, ein für allemal festgelegte Regeln zu halten und auf die wechselnden Situationen und die mit ihnen gegebenen spezifischen Herausforderungen nicht aufmerksam zu sein. Wenn allerdings irgendeine Absicht, die ich mit geeigneten Mitteln verfolgen möchte und könnte, dem, was meine Vernunft mir als Gesetz meines Handelns vorschreibt, widerstreitet, so habe ich mich nach ihm zu richten und mir selbst treu zu bleiben. Zu dieser Bindung seiner Freiheit, zur Moralität ist der Mensch wenigstens grundsätzlich fähig, wenn er ihr auch faktisch noch so häufig zuwiderhandeln mag.56 Denn sie steht grundsätzlich vollkommen in seiner Macht, sie ist Sache seines Vernunftgebrauchs. Daraus schließt Kant, daß in der Moralität des Menschen der Zweck besteht, dessentwillen die Natur ihn mit Vernunft begabt hat.57 Auch unter dem „Gesichtspunkte" einer ideologischen Betrachtung menschlichen Daseins, wie sie die Stoiker zum Fundament ihrer Argumentation gemacht hatten, bewährt sich demnach die Hauptthese der Kantischen Ethik vom guten Willen als dem einzig uneingeschränkt Guten.

28. Die „Zwecke der Neigung" und das Glück. Kantische und stoische Positionen Vielleicht sind die Stoiker, wie sich in der Diskussion ihrer Lehre vom Guten und Schlechten und vom Indifferenten noch zeigen wird, in ihrer Bestimmung des Tugendhaften gar nicht sehr weit von Kant entfernt. Diese Einschätzung findet sich ja auch bei ihm selber angedeutet.58 Was aber Kant vom Stoizismus unüberbrückbar trennt, ist die klare Unterscheidung zwischen Glück als Erfüllung des Lebens und Moral als dessen einzig adäquater Form. Wir sind es uns selbst — und auf dieser Grundlage dann auch den Anderen — schuldig, mit unserer Freiheit 55 Zum Verständnis vom guten Willen als dem einzig uneingeschränkt Guten vgl. auch G. Prauss, Für sich selber praktische Vernunft (1989), 257-263. 56 Vgl. AAIV, 406-412. 57 Vgl. ebd., 396. 58 Vgl. Kritik der praktischen Vernunft, AA V, 126 f.

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Kant und die stoische Vorstellung des Glücks der Vernunft

angemessen umzugehen. Aber wenn wir diesem Anspruch genügen, bedeutet das eben noch nicht, daß uns unser Dasein genügt und daß wir glücklich sind. Derjenige, der sich moralisch verhält, kann gleichzeitig jemand sein, den die Widerwärtigkeiten des Lebens plagen und dessen „Gemüth" der „Gram umwölkt". Er mag sich sogar den Tod wünschen, weil er jeden „Geschmack" am Leben verloren hat.59 Dagegen meinen die Stoiker, daß selbst einer, der wie Priamos schweres Leid zu ertragen hat, ohne Abstrich glücklich zu nennen sei.60 Von Homer war Priamos, besonders als er sich zum Mörder seines Sohnes Hektor aufmacht und um die Herausgabe des Leichnams bittet, bekanntlich als eine Person von beeindruckender Selbstachtung und Würde geschildert worden.61 Kant weist alle Versuche zurück, in der rechten Form des Lebens, in der Moralität, zugleich seine Erfüllung zu sehen. Dennoch spricht er in dem von uns betrachteten Textstück aus der Grundlegung mit Blick auf die „Gründung eines guten Willens", also mit Blick auf die moralische Leistung, von „Erfüllung". Es ist genauer die Erfüllung eines in nichts als Vernunft gegründeten Zweckes, in dem sie „ihre höchste praktische Bestimmung [...] erkennt".62 Wird ihm entsprochen, wird die Absicht der Vernunft erreicht, so stellt sich eine „Zufriedenheit nach ihrer eigenen Art" ein.63 So formuliert es Kant in Übereinstimmung mit den bereits ausgewerteten nachgelassenen Notizen seit den siebziger Jahren. Aber die Zwecke der Vernunft, wie sie in den verschiedenen Handlungssituationen als bestimmte konkrete Handlungsgebote Geltung beanspruchen, sind nicht die einzigen, die die Menschen legitimerweise haben. Kant stellt ihnen die „Zwecke der Neigung" ausdrücklich zur Seite.64 In der Religionsschrift nennt er „natürliche Neigungen" „an sich selbst betrachtet, gut" und „unverwerflich".65 Es zeigt sich erneut, daß Kant nicht der Vorkämpfer einer verabsolutierten Vernunft ist, als den man ihn gelegentlich ausgibt. Dieses Prädikat träfe wohl weit eher die Stoiker. Und die Neigungen sind nicht einmal in dem Sinne „unvernünftig", daß die Vernunft an der Realisierung der begehrten Gegenstände keinen Anteil haben sollte. Als technisch-praktische hat sie das unentwegt. Nur besteht Kant darauf, daß die Zwecke der reinen praktischen — d.h. nicht im Dienste unserer Neigungen stehenden — Vernunft im Fall eines Konfliktes stets den Vorrang haben sol59 Vgl. Grundlegung, AA IV, 398. 60 SVF III 585. - Freilich wird sich weiter unten zeigen, daß es auch innerhalb der stoischen Schule einen Streit über die Richtigkeit einer solchen Behauptung gibt. Die systematische Pointe wird sein, daß dieser Streit zur Frage nach einer Differenzierung im Begriff des höchsten Guts fuhrt. Es ist letztlich dieselbe Frage, die sich Kant in der Kritik der praktischen Vernunft vorlegt und beantwortet. 61 Homer, Ilias XXIV, 159 ff. 62 AAIV.396. 63 AA IV, 396, Z. 34. 64 Ebd., Z. 36 f. 65 AA VI, 58. Vgl. auch: Praktische Philosophie Powalski (1777), AA XXVII, 204 f.

Die „Zwecke der Neigung" und das Glück. Kantische und stoische Positionen

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len vor den neigungsbedingten. Diesen ist nötigenfalls, aber auch nur dann, „Abbruch" zu tun.66 Den Kantischen Dualismus von Zwecken der Neigung und Zwecken der Vernunft, die beide berechtigt, wenn auch nicht gleichgeordnet sind, kennen die Stoiker nicht. In diesem Punkt sieht deshalb Arthur A. Long den trotz mancher Ähnlichkeiten in der Bestimmung des moralisch Guten nicht zu verkennenden Hauptunterschied zwischen dem Kantischen und dem stoischen Entwurf der Ethik.67 Für die Stoiker gilt: „In their theory, well-developed human nature is entirely unitary. [...] They (sc. the Stoics) think that human beings have only a single nature - a rational one, which is capable of conforming or failing to conform to the correct standards of rationality."68 Mit seiner Unterscheidung zwischen zwei Arten von Zwecken, Zwecken der Neigung und Zwecken der Vernunft, trägt Kant den beiden verschiedenen Typen von Ansprüchen Rechnung, denen der Mensch zu genügen hat. Im Blick auf ihre je spezifische Erfüllung spricht er in einem nachgelassenen Fragment noch davon, daß die Glückseligkeit „zwiefach" sei.69 Im ersten Abschnitt der Grundlegung dagegen ist nur von eine r Glückseligkeit die Rede, und sie wird klar an die Befriedigung unserer Neigungen gebunden. Deshalb hat moralisches Handeln, durch das wir dem Zweck der Vernunft nachkommen, nicht notwendig unser Glück zur Folge. Allerdings geht es für Kant mit einer „Zufriedenheit" nach Art der Vernunft einher. Im Vergleich zur Fülle, die wir mit der Erfahrung des Glücks assoziieren, aber ist die gleichsam blassere Farbe der zufriedenen Übereinstimmung mit uns selbst offenkundig. In der zweiten Kritik wird Kant von einem „negativen Wohlgefallen" sprechen.70 Vielleicht noch eine Bemerkung zur Unterscheidung von Zwecken der Neigung und Zwecken der Vernunft: Wenn Kant sie einander so gegenüberstellt, redet er abkürzend. Er will damit ja nicht etwa sagen, daß wir den neigungsabhängigen Zielen vernunftlos nachgehen. Wir verfolgen sie mit Hilfe technischer und pragmatischer Imperative. Dennoch steht die Vernunft dann im Dienste der Neigungen. Moralität demgegenüber ist Zweck der reinen praktischen Vernunft. Kant vertritt mithin einen Dualismus der menschlichen Bedürfnisse und ihrer Quellen, Sinnlichkeit und Vernunft. Die Stoiker demgegenüber verfechten die Überzeugung, daß der Mensch nur eine genuine Natur hat, eine rationale. Diese Einschätzung fuhrt natürlich zu der Frage: Wie gehen sie denn mit den Neigungen, sinnlichen Bedürfnissen 66 67 68 69 70

Grundlegung, AA IV, 396. Stoic Eudaimonism (1996), 199 f. Ebd., 199. R. 6907, AA XIX, 202. AAV, 117.

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Kant und die stoische Vorstellung des Gl cks der Vernunft

und Leidenschaften des Menschen theoretisch um, wie mit seinen Gef hlen und Empfindungen? Einfach deren Existenz leugnen k nnen sie schwerlich; es widerspr che der Erfahrung aller Menschen und wirkte entsprechend l cherlich. Ihre L sung besteht darin, unser Begehren und unsere Abneigung und die mit ihnen verbundenen Gef hle der Lust und des Schmerzes71 in ihrer Valenz allein durch die Beurteilung der Vernunft zu bestimmen. So sollen wir nicht einfach Affekte als so oder so geartete haben. Von Chrysipp etwa h ren wir, da diese nichts als Urteile sind (τα πάθη κρίσεις είναι).72 Sie sind Meinungen (οόξαι) ber ein gegenw rtiges, vergangenes oder zuk nftiges Gut oder bel, die sich bei vern nftiger Pr fung als falsch erweisen. Nicht die Dinge sind es schlie lich, sagt Epiktet, die die Menschen verwirren, sondern die Auffassungen ber die Dinge.73 Selbstverst ndlich aber mu es uns dann darauf ankommen, ber Gutes und Schlechtes korrekt zu urteilen. Ansonsten k nnten wir aufgrund falscher Einsch tzungen auf die falschen Ziele setzen und m ten die von uns gew nschte Eudaimonia verfehlen. Alles, was existiert (τα όντα), ist f r die Stoiker teils gut, teils schlecht, teils keines von beiden.74 Gut, und zwar absolut gut, sind in ihren Augen die vier Haupttugenden, in Gestalt derer die Vernunft praktisch ist und die deshalb wechselseitig aufeinander verweisen:75 Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Besonnenheit. Schlecht, und wiederum uneingeschr nkt schlecht, sind die jeweiligen Gegenteile der genannten Tugenden. Keines von beiden, weder gut noch schlecht und deshalb auch weder n tzlich noch sch dlich soll alles brige sein. Als Beispiele finden wir bei Diogenes Laertius Leben, Gesundheit, Lust, Sch nheit, Kraft, Reichtum, Ansehen auf der einen Seite angef hrt und auf der anderen Seite ihre negativen Pendants Tod, Krankheit, Schmerz, H lichkeit, Schw che, Armut, Ruhmlosigkeit. Weil unser Gl ck allein an dem Guten, das wir erreichen, h ngt, und das hei t f r die Stoiker: an den Tugenden, nach denen wir leben, braucht uns ihrer Ansicht nach keines der angegebenen und traditionell f r gl cksrelevant gehaltenen „G ter" bzw. „ bel" zu k mmern. Sie sind im Blick auf unser Lebensgl ck unerheblich. Diese Einsicht ergibt sich, so sind die Stoiker berzeugt, f r alle, die richtig urteilen. 71 Die Stoiker nennen vier grundlegende Affekte (πάθη): Begierde (επιθυμία), Furcht (φόβος), Schmerz (λύπη) und Lust (ηδονή). Lust und Schmerz resultieren aus Begierde und Furcht, je nachdem, ob wir erlangen, was wir begehren, oder ob wir es verfehlen, ob wir abwehren k nnen, was wir furchten, oder ob es uns trifft. Vgl. SVF III 378. Vgl. auch Diogenes Laertius VII 110 (=SVF III 412). 72 Diogenes Laertius VII 111 (= SVF III 456). 73 Epiktet, Encheiridion 5. 74 Vgl. hier und im folgenden: Diogenes Laertius VII 101 f (= SW III 117). 75 Zu diesem Aspekt der Verbindung der Kardinaltugenden vgl. Sedley/Long 61 B (= Plutarch, De virtute morali, 440 E -441 D).

Die „Zwecke der Neigung" und das Glück. Kantische und stoische Positionen

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Derjenige, der sein Herz an eines der oben genannten indifferenten Güter hängt, handelt deshalb töricht. Er verleiht einer Sache Wert, die keinen Wert hat. Mehr noch, begibt er sich in die Gefahr, sich vollkommen unnötig unglücklich zu machen - dann nämlich, wenn er das Ersehnte verfehlt, was jederzeit geschehen kann. Dabei klammert er sich an das Nichtige, während das Tor zum Glück, das tugendhafte Leben, stets weit offensteht. Doch verstellt er sich selbst den Blick dafür, weil er blinde Affekte in sich entstehen läßt. Denn will er zum Beispiel Reichtum, weil er sich unvernünftigerweise davon sein Glück verspricht, so wird die Begierde, Besitztümer anzuhäufen, und die Sorge, sie wieder zu verlieren, in ihm Platz greifen. Beide Affekte, Begierde und Furcht, werden ihn beherrschen, und die Vernunft wird gar nicht mehr zu Wort kommen können. Als exzessiver Antrieb ( ) ist der Affekt der Kontrolle der Vernunft nicht zugänglich.76 Er ist eine Aufgeregtheit ( ),77 und Zenon vergleicht die Unruhe, in die er die Seele versetzt, mit dem hektischen Hin- und Herflattern der Vögel78. Das Leben, das klug geführt wird, ist aus diesem Grund von Affekten möglichst ganz frei zu halten. Die Apatheia wird zum Ideal der Stoiker, Unter dieser Bedingung nämlich kann die Vernunft, der gemäß zu leben das vollendete Glück des Menschen garantieren soll, ungehindert schalten und walten. Entsprechend finden wir bei Seneca die folgende Definition eines glücklichen Menschen: Glücklich (beatus) nennen wir denjenigen, für den nichts gut oder schlecht ist als eine gute oder schlechte innere Einstellung (animus), der das, was recht ist, liebt, an der Tugend genug hat, den die Gunst oder Ungunst des Schicksals (fortuita) weder übermütig macht noch zerbricht, der kein größeres Gut kennt als das, das er sich selbst geben kann (quodsibi ipse dare potesi) und für den die wahre Lust (vera voluptas) in der Verachtung der Lust (voluptatum contemptio) besteht.79 Ein „Interesse der Neigungen", von dem Kant spricht und dem die Vernunft um unseres Glückes willen zu dienen hat,80 scheinen also die Stoiker gar nicht anerkennen zu wollen. Denn alles, auf das unsere Neigungen sich richten können, gehört ja ihrer Ansicht nach zu den Adiaphora, zu den Dingen, die uns bei vernünftiger Beurteilung gleichgültig lassen. Weder zu unserem Glück noch zu unserem Unglück sollen sie etwas beitragen können.81 Das ist eine stoische Grundthese, obgleich wir sehen werden, wie sie durch den Gedanken der Bevorzugung und Zurücksetzung, die innerhalb der Sphäre des Indifferenten vorzunehmen sind, dann doch eine - systematisch durchaus problematische - Einschränkung erfährt. 76 77 78 79 80 81

Vgl.SVFIII378,391. SVFIH378. SVFI206. Seneca, De vita beata IV, 2. Vgl. Grundlegung, AA IV, 406. Vgl. Diogenes Laertius VII 104.

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Kant und die stoische Vorstellung des Glücks der Vernunft

Kant steht diese These der Gleichgültigkeit alles Außermoralischen fern - eine These, die als so spezifisch stoisch gilt, daß die entsprechende Haltung bis heute mit dem Namen der philosophischen Schule, die sie verficht, belegt wird. Indes vertreten die Stoiker diesen so befremdlich anmutenden moralischen Absolutismus nur, weil sie die Überzeugung der Identität von Tugend und Glück haben. Kant kann diese Überzeugung nicht teilen, weil er zweierlei Ansprüche des Menschen, die nicht identisch sind, aber beide erfüllt werden sollten, geltend macht. Es sind Bedürfnisse seiner reinen Vernunft, die die Stoiker für die allein bedeutungsvollen erklären, und Bedürfnisse seiner sinnlichen Natur, denen der Mensch nachzugehen hat und die gleichermaßen berechtigt sind. Der praktischen Vernunft wird von Kant die Sorge um sie beide zugewiesen.82 „Es kommt allerdings auf unser Wohl und Weh in der Beurtheilung unserer praktischen Vernunft gar sehr vieluna, was unsere Natur als sinnlicher Wesen betrifft, alles auf unsere Glückseligkeit an, wenn diese, wie Vernunft es vorzüglich fordert, nicht nach der vorübergehenden Empfindung, sondern nach dem Einflüsse, den diese Zufälligkeit auf unsere ganze Existenz und die Zufriedenheit mit derselben hat, beurtheilt wird". Das schreibt Kant im Kapitel „Von dem Begriffe eines Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft" der zweiten Kritik.83 Und weiter sagt er: „Der Mensch ist ein bedürftiges Wesen, so fern er zur Sinnenwelt gehört, und so fern hat seine Vernunft allerdings einen nicht abzulehnenden Auftrag von Seiten der Sinnlichkeit, sich um das Interesse derselben zu bekümmern und sich praktische Maximen, auch in Absicht auf die Glückseligkeit dieses und wo möglich auch eines zukünftigen Lebens, zu machen."84 Deutlich ist also, daß Kant die Ansprüche, die in unserer sinnlichen Natur und Ansprechbarkeit wurzeln, ernst nimmt. Schließlich bezeichnet er es sogar als eine indirekte Pflicht, das eigene Glück zu befördern,85 und das ist seiner Überzeugung nach ohne Berücksichtigung der Neigungen des Einzelnen nicht zu haben. Diese Neigungen aber greifen auf das aus, was wir nicht selbst sind oder haben. Sie zeigen uns als zutiefst bedürftige Wesen. So lassen wir uns zu unserem Glück oder Unglück auf eine Wirklichkeit ein, von der wir die Erfüllung unseres Begehrens erhoffen. Partiell können wir die Welt wohl nach unseren Wünschen gestalten, in mehr oder minderem Maße aber tritt sie uns zweifellos auch als das von uns nicht zu beeinflussende Andere entgegen. Die Stoiker indes wollen das Glück des Menschen von jeder Bindung an das lösen, was nicht vollkommen in seiner Macht steht. Deshalb stellen sie die Bedeu82 Vgl. Kritik der praktischen Vernunft, AA V, 61 f. - Genauere Ausführungen finden sich in den folgenden Kapiteln. 83 AAV, 61. 84 Ebd. 85 Vgl. ebd., 93. Vgl. Grundlegung, AA IV, 399.

Die „Zwecke der Neigung" und das Glück. Kantische und stoische Positionen

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tung der äußeren Güter für das Glücklichsein in Abrede. Zugleich plädieren sie für eine möglichst perfekte Kontrolle der Vernunft über unsere Emotionen, damit diese uns nicht zur Hingabe an das Nichtige verleiten und damit unser Unglück heraufbeschwören. Richten wir uns in unserem Tun nach dem Urteil der Vernunft, so soll unserem Glück nichts im Wege stehen können. Das glückliche, tugendhaft geführte Leben zeigt sich als eines, das in glattem Lauf dahinströmt (secundo defluens cursu), vollkommen in der Herrschaft über sich selbst (arbitrii sut tota). So beschreibt es Seneca.86 In der Verwendung der aquatischen Metaphorik schließt er an Traditionen an. Schon Zenon hatte erklärt: „Glück ist ein guter Fluß des Lebens" ( ' ).87 Man mag bezweifeln, daß ein Leben der Gleichförmigkeit, das durch keine Verwirrung jemals aus der Fassung gebracht wird und dem nicht nur der verzehrende Schmerz, sondern auch die Momente des per se unbeständigen berauschenden Hochgefühls fremd sind, ein glückliches ist. Wenn die Stoiker allerdings wirklich plausibel machen könnten, daß der landläufigen Meinung entgegen das wahre Glück in nichts als der unter allen nur denkbaren Bedingungen einzunehmenden richtigen Etnstellungzum Leben liegt, in der sittlichen Haltung, hätte ihre Lehre unbestreitbar einen großen Vorzug: Dann wäre nämlich das Glück tatsächlich in unsere Hand gegeben. Es wäre unabhängig von den vielen unabsehbaren Umständen, Zufällen, Boshaftigkeiten, die alles, was wir haben und was wir mit unserem Glücklichsein verknüpfen, zunichte machen können. Der Reichtum kann uns ebenso abhanden kommen wie die Gesundheit, die Schönheit, der gute Ruf. Es ist möglich, daß dies alles ohne unser Zutun aufgrund von Widrigkeiten, die unbeeinflußbar sind, geschieht. Die Stoiker haben dem Gedanken des unverfügbaren Laufs der Dinge in ihrem philosophischen System bekanntlich einen wichtigen Platz eingeräumt. Gegen das Fatum vermag sich niemand aufzulehnen, aber das ist nach Ansicht der Stoiker auch gar nicht nötig. Denn über das, was geeignet ist, uns glücklich zu machen, sollen wir ja uneingeschränkt selbst verfugen. So brauchen wir gar nichts zu befürchten. Und wer sich fürchtet, heißt es bei Cicero, etwas von dem zu verlieren, was für sein Glück bedeutungsvoll ist, der kann unmöglich glücklich sein.88 Ein tugendhafter Charakter jedoch, der uns zur rechten Haltung den Dingen gegenüber verhilft, kann uns niemals genommen werden. Das Glück liegt also ganz bei uns. Allerdings verstricken sich die Stoiker mit ihrer Lösung der Frage nach dem glücklichen Leben in unüberwindliche Schwierigkeiten. Auch sie kommen nicht umhin, anzuerkennen, was Kant Zwecke der Neigung nennt. Zugleich müssen 86 Vgl. Epistulae morales 120, 11. 87 SVFIII16. 88 Vgl. Tusculanae disputationes V 40-41.

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sie behaupten, da deren Erf llung oder Nichterf llung f r das Gl ck des Menschen ohne Bedeutung ist — was nicht recht gelingen will. So stehen sie zuletzt vor dem Problem, es mit zweierlei Zielen zu tun zu haben, die f r das Lebensgl ck erheblich sind: mit der Tugend und mit G tern, die der Natur gem und deshalb erstrebenswert sein sollen, obgleich sie zur Klasse der Adiaphora geh ren. Betrachten wir diese Konstellation etwas genauer.

29. Der stoische Versuch der Entwertung des Unverfugbaren Auch wenn Tugend und Laster die einzigen Konstituenten von Gl ck oder Ungl ck sein sollten, so ist es doch unausweichlich, da die Menschen sich zu jeder Zeit ihres Lebens mit dem besch ftigen, was die Stoiker f r indifferent erkl ren. Mit der Sicherung des Lebensunterhaltes, mit der Sorge um die eigene Gesundheit oder die der uns Nahestehenden, mit der Pflege individueller Interessen haben wir st ndig zu tun. Stets befinden wir uns in entsprechenden Handlungssituationen, und wir m ssen uns entscheiden, wie wir agieren wollen. Auch wenn wir behaupten, die sogenannten Gl cksg ter seien uns gleichg ltig, k nnen wir uns einer Stellung zu ihnen gar nicht enthalten — sie zeigt sich jederzeit in unserem Tun und Lassen. Diesem unbestreitbaren Faktum tragen die Stoiker Rechnung. Innerhalb des Reichs der Adiaphora unterscheiden sie zwischen bevorzugten Dingen (προηγμένα), zur ckgesetzten (άποπροηγμένα) und solchen, die weder bevorzugt noch zur ckgesetzt sind.89 Diese zuletzt genannten sind Dinge schlechthin ohne Belang wie die Frage, ob man eine gerade oder ungerade Zahl von Haaren auf dem Kopf hat.90 Dagegen gibt es anderes, das zwar im Blick auf unser Gl ck und Ungl ck indifferent ist, aber keineswegs im Blick darauf, ob es in bereinstimmung mit der Natur ist, und auch nicht im Blick darauf, ob es einen Antrieb (ορμή) oder eine Abneigung (αφορμή) hervorruft.91 Zu dieser Teilmenge der Adiaphora geh ren zum Beispiel Gesundheit und Krankheit, Wohlstand und Armut, Ruhm oder Bedeutungslosigkeit, Genu oder Entbehrung von Freundschaft und Liebe. Die einen der angef hrten Befindlichkeiten, Zust nde und Qualit ten besitzen einen „Wert" (αξία), ihre Gegenteile dagegen sind von „Unwert" (απαξία).92 Sofern es die Umst nde erlauben und wir die Wahl haben, zie89 90 91 92

Vgl. SVF III 128 und 119, 126 (= Diogenes Laertius VII 104-105). Vgl. Diogenes Laertius VII 104. Vgl. Long/Sedley 58 C (= Stobaeus II 79, 18 ff); SVF III 119, 122, 128. Vgl. SVF III 124, 126, 128.

Der stoische Versuch der Entwertung des Unverfiigbaren

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hen wir nat rlich Gesundheit, Reichtum, Ansehen, Freundschaft und Liebe den entsprechenden Opposita vor. Obwohl wir gar nicht anders k nnen, als uns im Handeln festzulegen, und obwohl wir darin eine Hauptsache unseres Lebens erkennen, soll das, was Ziel unseres Strebens oder Abwehrens ist, uns nach berzeugung der Stoiker doch gleichg ltig lassen. Zu unserem Gl ck oder Ungl ck soll es nichts beitragen.93 Das ist allerdings eine schwer verst ndliche Behauptung angesichts der evidenten Anstrengungen, die wir zugunsten der uns wichtigen Zwecke aufbieten. Warum sollten wir sie investieren, wenn es f r das Gl cklichsein ganz belanglos ist, ob wir diese Zwecke auch erreichen? Solche Fragen stellten die Kritiker der Stoiker.94 Nach stoischer Lehre sollen nicht die Dinge, die wir schlie lich vor anderen als erstrebenswerte ausw hlen, f r unser Leben wertvoll sein, sondern der richtige Umgang mit den Dingen, zu dem die richtige Auswahl geh rt.95 Er kann eben naturgem , und also tugendhaft, oder im Gegenteil lasterhaft sein. Das sittliche oder unsittliche Verhalten aber entscheidet nach Ansicht der Stoiker allein ber Gl ck oder Ungl ck unseres Lebens. Gegen diese Argumentation l t sich sehr plausiblel ein Einwand formulieren, wie ihn zum Beispiel der Peripatetiker Alexander von Aphrodisias vorgebracht hat: Wenn etwas ausgew hlt und vor anderem bevorzugt wird, dann doch offensichtlich im Hinblick auf ein Ziel. Das Ziel aber liegt im Gebrauch der ausgew hlten Dinge (εν rfi χρήσει των εκλεγομένων) und nicht in der Auswahl, die blo ein Mittel und kein Zweck ist. Deshalb ist die Behauptung der Stoiker absurd, da die Tugend und damit das Gl ck sich allein auf das Ausw hlen bezieht. Denn falls das, was durch die Auswahl als Ziel des Handelns bestimmt wird, indifferent ist — wie die Stoiker sagen —, so w re die ganze Auswahl witz- und sinnlos (κενή αν εΐη και ματαία ή εκλογή).% Sehr interessant ist es nun, da der Stoiker Ariston von Chios eine Position zur Frage der Adiaphora bezog, mit der sich die skizzierte Schwierigkeit vermeiden l t. Er erkl rte, das Endziel sei es, in voller Indifferenz gegen alles zu leben, was zwischen Tugend und Laster in der Mitte liegt — eben gegen die Adiaphora. Das aber bedeutet, zwischen ihnen berhaupt keinen Unterschied zu machen, so da es es also auch keinen Auswahlwert (εκλεκτική αξία) gibt, der ein Adiaphoron 93 Vgl. SVF III 119, 118; Long/Sedley 58 C (= Stobaeus II 79, 18 ff). 94 Eine zentrale Figur ist der Akademiker Karneades. Vgl. A. A. Long/D. N. Sedley, Die hellenistischen Philosophen (2000), 485-489. 95 Vgl. SVF III15, 11, 13 (= Cicero, De finibus III 31, III23-25, IV, 14-15); SW III119: Bei Diogenes Laertius (VII 104) lesen wir, wir k nnten der Stoa zufolge ohne die bevorzugten Dinge gl cklich sein; die Art ihres Gebrauchs aber sei f r unser Gl ck oder Ungl ck bestimmend. Vgl. auch Seneca, Epistulae morales 92, 11-13. 96 Long/Sedley 64 B (= Alexander von Aphrodisias, De anima libri mantissa 164, 3-9).

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vor einem anderen auszeichnete und zu seiner Bevorzugung führte. Ihnen allen gegenüber sollen wir uns nach Ariston gleich verhalten. Der Weise sei dem guten Schauspieler ähnlich, der jede Rolle trefflich spielt, ob er den unansehnlichen Thersites oder den strahlenden König Agamemnon gibt.97 So ist es allein die Tugend als die rechte Einstellung zum Leben, die über das Glück entscheidet; alles andere ist in einem radikalen Sinn gleichgültig und wertlos. Mit seiner strengen Haltung zum Indifferenten, das er strikt und konsequent als solches behandelt, konnte Ariston sich nicht durchsetzen.98 Und offensichtlich läßt sich mit dieser Haltung, die zuletzt die Unberührtheit des Individuums durch den eigenen tatsächlichen Lebensgang als möglich unterstellt, im Ernst kein Leben gestalten. In Ciceros Definibus sagt der Stoiker Cato: Wenn wir wie Ariston die Wertlosigkeit aller Dinge außer Tugend und Laster in absoluter Unterschiedslosigkeit annehmen, so geriete das ganze Leben in Verwirrung (confunderetur omnis vita). Für die Weisheit gäbe es gar nichts mehr zu leisten, weil es ja überhaupt keinen Unterschied zwischen den Dingen, die die Lebensführung betreffen, gäbe (cum inter res eas, quae ad vitam degenäam pertinerent, nihil omnino interessei) und keine Wahl zwischen ihnen getroffen werden müßte.99 Ist aber einmal zugegeben — und dieses Zugeständnis ist unausweichlich —, daß nicht nur das richtige Urteil und entsprechend die richtige Einstellung zu den höchst verschiedenen Wegen, die wir im Leben gehen können, existentiell bedeutungsvoll sind, sondern nicht minder diese Wege in ihrer spezifischen Beschaffenheit selbst, so erscheint plötzlich zweierlei far die Erfüllung unserer Existenz maßgeblich und notwendig zu sein. Die These von der ausschließlichen Bedeutung der Tugend für das Glück des Menschen gerät ins Wanken.100 Und genau dies, daß sie eigendich vom Guten in zweierlei Hinsicht handeln und zugleich dieses Faktum beharrlich leugnen, werfen den Stoikern ihre Kritiker zu Recht vor.101 97 Vgl. Diogenes Laertius VII 160. - Zum Vergleich des Weisen mit einem Schauspieler vgl. auch Cicero, De finibus III 24-25. 98 Vgl. M. Pohlenz, Die Stoa (31964) I, 27 f, 123,163. 99 Cicero, De finibus III 50. 100 Malte Hossenfelder (Stoa, Epikureismus, Skepsis [1985], 59-62) teilt diese Einschätzung nicht. Er sieht keine Spannung zwischen der stoischen Lehre der Bevorzugung bzw. Zurücksetzung von Adiaphora, mit der unzweifelhaft eine Wertordnung in die Reihe des per definitionem Unterschiedslosen eingetragen wird, und der Behauptung, allein die Tugendhaftigkeit des Menschen sei gut. Wahl oder Nichtwahl bestimmter Adiaphora sieht Hossenfelder von den Stoikern auf unser „Triebleben" zurückgeführt, auf natürliche Antriebe oder Abwehrhaltungen. Die Vernunft läßt sie gewähren, weil sie auf der einen Seite ohnedies niemals abzuschaffen oder aufzuheben sind und weil ihre Befriedigung oder Nichtbefriedigung auf der anderen Seite für unser Glück unerheblich ist. Gerade daß die Vernunft in das Triebleben nicht wertend „eingreift", zeigt die vollkommene Gleichgültigkeit, mit der sie allem Außersittlichen begegnet. So ist nach Hossenfelders Verständnis die stoische Überzeugung einer Identität von Glück und Tugend durch die — von ihm wie dargelegt gedeutete — Lehre vom Wert und Unwert verschiedener Adiaphora sogar glänzend bestätigt. - Mit dieser Interpretation präsentiert Hossenfelder zuletzt eine Variante der

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So verweisen also bereits Debatten, die zur Zeit des Hellenismus geführt wurden — innerstoische und solche zwischen akademischen Skeptikern, Peripatetikern und Stoikern — auf eine Lösung, wie sie Kant in der Dialektik der Kritik der praktischen Vernunft vorschlägt.102 Das summum bonum, das höchste Gut, nach dem wir um der Erfüllung unseres Lebens willen streben, beinhaltet zweierlei: Moralität, mit der wir dem Zweck der reinen praktischen Vernunft nachkommen, und Glück als Zustand, in dem wir die Zwecke unserer Neigungen befriedigt sehen und uns entsprechend ausgefüllt, bestätigt und gleichsam von der Welt angenommen fühlen. Während Moralität im beschriebenen und diskutierten Sinn Herstellung der Übereinstimmung mit uns selbst ist, ist zum Glück die Übereinstimmung unseres Verlangens mit den Gegebenheiten einer von uns nicht gemachten, wenn auch partiell zu beeinflussenden Wirklichkeit erforderlich. Insofern beruht das Glück auf der „Übereinstimmung der Natur" mit den Zwecken des vernünftigen Individuums.103 Das Element des Unverfügbaren läßt sich aus dem Begriff des Glücks nicht tilgen.104 Genau diese Elimination aber hatten die Stoiker erreichen wollen durch die tendenzielle Entwertung aller Zwecke des Menschen, deren gelingende Verfolgung neben der eigenen Anstrengung auch abhängig ist von der Gunst der Verhältnisse, vom Wohlwollen der Anderen, von einer Laune der Natur — und das heißt von nicht zu kontrollierenden Faktoren. In solche Abhängigkeiten jedoch verstricken uns mehr oder minder alle Zwecke der Neigung, und so versuchten die Stoiker zu leugnen, daß sie für uns überhaupt eine tiefere Bedeutung haben. Ob und in welchem Maße sie sich erfüllen, soll uns gleichgültig lassen. Die Ausbildung einer Haltung des Abstandes der Welt gegenüber soll uns befähigen, aus eigener Kraft, aus der Kraft unserer Tugend heraus glücklich zu sein. Das in den Augen der Stoiker einzig wirklich Wertvolle, ein aufrechter Charakter, der sich den Tugenden der Gerechtigkeit, der Klugheit, der Besonnenheit und der Tapferkeit verpflichtet weiß und sich von ihnen leiten läßt, ist jederzeit Sache unserer selbst und unserer Freiheit. Argumentation Aristons. Ihr aber ist die Stoa, wie gesagt, nicht gefolgt. Die oben angeführten Einwände, wie sie zum Beispiel von Cicero formuliert wurden (De finibus III 50 ff), lassen sich auch gegen Hossenfelder wenden. Hossenfelder neigt insgesamt dazu, die stoische Ethik durch die Brille des Skeptikers zu lesen - die Strömung innerhalb der Philosophie des Hellenismus, der er selbst systematisch am nächsten steht. Zu einer ähnlichen Beurteilung der Interpretation Hossenfelders kommt M. Forschner, Die stoische Ethik (21995), 258-261. 101 Vgl. Plutarch, De communibus notitiis 26, 1070f-1071e (teilweise in: SVF III 195), 27, 1072e-f; Cicero, De finibus IV 26 ff. Zur Verteidigung der stoischen Position vgl.: Cicero, De finibus III 22-25 (teüweise in: SVF III 18, 11), Seneca, Epistulae morales 92, 11-13. 102 Vgl.AAV, 110 ff. 103 Vgl. ebd., 124. 104 Hierzu erhellend: O. Marquard, Apologie des Zufalligen (1986), Glück im Unglück (1995).

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Der Preis für die Erfüllung des Daseins nach dem stoischen Modell scheint freilich zu sein, daß sie den Menschen zu einer unerhörten Leistung der Selbstdistanzierung zwingt. Nicht von ungefähr taucht in den Texten der Stoiker der Vergleich des Weisen mit einem guten Schauspieler auf, der sämdiche der ihm vom Schicksal zugewiesenen Rollen mit derselben Exzellenz zu spielen vermag. Das bedeutet, daß der Weise dem Stoff seines Lebens gegenüberstehen soll, als ob der seiner Person äußerlich bliebe. Insofern im Leben des Weisen das Ideal des gelingenden Lebens formuliert ist, richtet sich dieser Anspruch an jedermann. Was den Rahmen und den konkreten Inhalt unseres individuellen Lebens ausmacht, soll uns also existentiell gleichgültig lassen, obwohl wir je nach Lage der Dinge zweifellos mit angenehmeren oder unangenehmeren Gefühlen reagieren werden. Es wird von uns verlangt, dem Plot unseres Lebens zu begegnen, als ob wir es mit einem Spiel zu tun hätten — mit einer Tragödie, einer Komödie oder mit irgend etwas dazwischen. Wir können versuchen, am Text des Stücks mitzuschreiben, doch es ist ungewiß, inwieweit es uns vergönnt ist, uns zur Geltung zu bringen. Entscheidend ist in jedem Fall unsere Haltung zu der Rolle, die wir nun einmal einnehmen. Sie soll stets untadelig sein. Zu jedem Spiel haben wir die bestmögliche Miene zu machen. Das heißt, wir sind gehalten, aufrecht und einwandfrei, nämlich tugendhaft zu agieren, in welche Situationen auch immer wir uns involviert finden. Wir selbst sind die Regisseure unseres Auftritts; die Art, wie wir ihn gestalten, schreiben wir uns selbst vor. So sind wir Regisseur und Akteur unserer Lebensrolle, aber nur bedingt deren Autor. Doch diese Defizienz sollen wir nach stoischer Überzeugung dadurch ausgleichen können, daß wir zu uns selbst in ein ästhetisches Verhältnis treten. Denn begreifen wir unser Leben als ein Spiel und uns selbst als den Protagonisten, so bedeutet das eben, keine existentiellen Zwecke zu haben, die zu erreichen oder nicht zu erreichen lebensentscheidend sein kann. Für das Spiel ist es kennzeichnend, daß sein Zweck in der Tätigkeit des Spielens selbst liegt und in nichts darüber hinaus. Das heißt nicht, daß das Spiel ohne Regeln wäre; auf ihre Anerkennung und Befolgung kommt vieles an. Und ganz genauso soll es auf der Bühne des Lebens zugehen: Alles hängt an der Tugendhaftigkeit dessen, der dort bestehen soll, nichts an den Lebensergebnissen. Wir sehen, daß die Analogie zwischen dem Weisen und dem guten Schauspieler trägt und die Lehre der Stoiker aufs Beste veranschaulicht. Die Position Kants dagegen träfe sie nicht. Obwohl Kant das moralisch Gute für uneingeschränkt wertvoll hält, liegt ihm eine Entwertung des Nichtmoralischen fern.

30. Kants Kritik am stoischen Ideal der Autarkie Wenn Kant von Zwecken der Neigung spricht, sind Aussichten aufs Wohlergehen angesprochen, deren Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit Gewicht hat für unser Leben. Ob wir gesund sind oder nicht, ob wir im Wohlstand leben oder an der Armutsgrenze, ob wir Freunde haben oder nicht, bleibt uns nicht äußerlich, sondern greift uns im Guten und im Schlechten an. Weil er diese Überzeugung hat, kann Kant die Sorge um die bestmögliche Verfolgung unserer neigungsabhängigen Ziele sogar zu einer zumindest indirekten „Pflicht" erklären.105 „Denn der Mangel der Zufriedenheit mit seinem Zustande in einem Gedränge von vielen Sorgen und mitten unter unbefriedigten Bedürfnissen könnte leicht eine große Versuchung zu Übertretung der (moralischen) Pflichten-werden."106 So sehr sind wir also nach Kant darauf angewiesen, wesentliche unserer Wünsche erfüllt zu finden, daß eine eklatante Versagung uns auch wohl die Kraft zur Moralität nehmen kann. Diese Einschätzung entspricht vollkommen dem, was wir aus der Erfahrung wissen.107 Solange eine bestimmte Grenze nicht unterschritten ist, mag es dem, den die Widerwärtigkeiten seiner Lebensumstände plagen und den der „Gram" befallen hat, möglich sein, den moralischen Pflichten dennoch nachzukommen. Dies verlangt Kant auch ausdrücklich von ihm.108 Das Beispiel desjenigen, der dem Leben längst keinen Genuß mehr abzugewinnen vermag und der doch mit sich selbst wie mit Anderen moralisch umgeht, dient Kant als Demonstration der Macht und des Wertes der Sittlichkeit, die dem Dasein Halt gibt. Trotzdem ist Kant weit davon entfernt, die Kräfte des Menschen, auch die moralischen, zu überschätzen.109 Der Mensch ruht nun einmal nicht gelassen in sich selbst, sondern ist von der ganzen Anlage seiner Existenz her ständig auf das verwiesen, was er nicht selbst ist oder hat. So ist er immer auch abhängig von Ressourcen vielerlei Art. Er bedarf in jeder Hinsicht der gelingenden Korrespondenz mit einer Welt, die ihm und 105 Vgl. Grundlegung, AA IV, 399 und Kritik der praktischen Vernunft, AA V, 93. 106 Grundlegung, AA IV 399; Zusatz in Klammern von mir. 107 Nicht von ungefähr ist es genau diese elementare Bedürftigkeit des Menschen, aus der seine Verwundbarkeit resultiert, die sich noch jeder Totalitarismus zunutze gemacht hat, um das Individuum in seiner moralischen Persönlichkeit zu korrumpieren - ein Akt der Zerstörung, der dieses sich meist nicht entziehen kann. Vgl. z.B. E. Schlattner, Rote Handschuhe (2000); P. Levi, I sommersi e i salvati, Opere II, 997-1153 (dt. Die Untergegangenen und die Geretteten [1990]). 108 Grundlegung, AA IV, 398. 109 Vgl. Kritik der praktischen Vernunft, AA V, 81-86 und Grundlegung, AA W, 406 f. Vgl. auch: Praktische Philosophie Powalski, AA XXVII, 165 ff.

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seinem Begehren nicht fremd und abweisend gegenübersteht. Eine Welt, heißt es in der Ethikvorlesung von 1777, „wo keine Quellen der Glückseeligkeit herrschten", müßten wir „tadeln".110 Verschärfend ließe sich sagen: Wir könnten in ihr nicht leben. Wie auch immer es um die Qualitäten der Erdenwelt im Verhältnis zu den menschlichen Glücksansprüchen bestellt ist, eines wäre ganz offenkundig absurd: nämlich vom Menschen zu verlangen, daß sie ihm gleichgültig sind. Genau dies aber forderten die Stoiker. Ihr Motiv ist klar; sie wollen verhindern, daß der Mensch sich in seiner Bedürftigkeit der Welt rückhaldos öffnet und in seinen Erwartungen enttäuscht wird. Statt der ersehnten Erfüllung hätte er sich in diesem Fall Unglück und Leid zugezogen. Mit Vernunft und Einsichtsfähigkeit hat die Natur den Menschen nach Ansicht der Stoiker nicht zuletzt ausgestattet, damit er die allein in ihm selbst liegende Möglichkeit, zur Eudaimonie zu kommen, erkennt und nutzt. Anstatt sich einer unberechenbaren Wirklichkeit auszusetzen — Naturkatastrophen können hereinbrechen, politische und soziale Erschütterungen das Lebensgefuge des Einzelnen zerstören -, sollte sich der Mensch auf sich selbst und seine eigenen Reserven besinnen. Aus seinem eigenen Tun und Lassen, wenn er es nach Maßgabe eines vernünftigen Urteils gestaltet, sehen die Stoiker das Glück seines Lebens entspringen: das Bewußtsein, gut gehandelt und mit sich selbst im Frieden zu sein - unabhängig davon, ob die Welt wohleingerichtet ist. Das Glück an die Zwecke der Neigung zu binden, deren Erfüllung genau diese wenigstens partielle Gunst der Verhältnisse voraussetzt, erscheint deshalb als töricht. Selbst wenn die Welt im Ganzen genommen als gut zu gelten hat, weil schließlich der Weldogos ihr Grund ist, ist es für das menschliche Individuum am besten, sich nicht an sie zu verlieren, sondern gelassen Abstand zu halten. Das ihm persönlich nicht immer günstige Weltgeschehen vermag der Einzelne dann hinzunehmen, um gleichmütig auf sich selbst und die eigene Einsicht zu bauen. Kant hält die stoische Lehre vom Gelingen des Lebens, obgleich ihm manche ihrer Züge auch imponieren, für verfehlt. Dieser Beurteilung ist nur zuzustimmen - trotz der Verständlichkeit der Beweggründe der Stoiker, ihre Lehre zu formulieren. Das Hauptargument, das Kant vorträgt, ist dieses: Die Stoiker zeichnen ein Bild des Menschen, das nicht zutrifft. Sie sehen ihn als jemanden, der sich selbst genügt. Nur unter dieser Voraussetzung hält er sein Glück in der eigenen Hand. Das Prädikat sibi ipsi sufficiens kommt dem Menschen jedoch, wie Kant betont, nicht zu. „Kein einziges Geschöpf außer Gott ist sibi ipsi sufficiens. - Die Stoiker sagten, daß der Mensch den grad erreichen kann, [...] es ist aber falsch".111 Und diese Einschätzung ist nach Kant sogar in zweifacher Hinsicht falsch. Sie unterschlägt 110 Praktische Philosophie Powalski, ebd., 101. 111 Ebd., 165.

Kants Kritik am stoischen Ideal der Autarkie

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die Bedürftigkeit des Menschen, die ihn jederzeit und unvermeidlich über sich hinausgreifen läßt, und sie unterschlägt die Gebrechlichkeit des Menschen, die die Übereinstimmung mit den eigenen moralischen Ansprüchen so oft vereitelt.112 Ganz abgesehen von der zu seinem Wesen gehörenden Bezogenheit auf eine Wirklichkeit, auf die er sich mit vielfältigsten positiven Erwartungen richtet, kann er nicht einmal auf die eigene Tugend, in deren Bewußtsein er der Stoa zufolge sein von nichts und niemandem zu schmälerndes Glück sehen soll, unbedingt vertrauen. Das Gegenteil anzunehmen, ist in Kants Augen pure Selbsttäuschung.113 So krankt die stoische Ethik an einem doppelten Fehler: Die Stoiker haben, schreibt Kant in der Dialektik der Kritik der praktischen Venunft, „nicht allein das moralische Vermögen des Menschen unter dem Namen eines Weisen über alle Schranken seiner Natur hoch gespannt und etwas, das aller Menschenkenntniß widerspricht, angenommen, sondern auch vornehmlich das zweite zum höchsten Gut gehörige Bestandstück, nämlich die Glückseligkeit, gar nicht für einen besonderen Gegenstand des menschlichen Begehrungsvermögens wollen gelten lassen, sondern ihren Weisen gleich einer Gottheit im Bewußtsein der Vortrefflichkeit seiner Person von der Natur (in Absicht auf seine Zufriedenheit) ganz unabhängig gemacht, indem sie ihn zwar Übeln des Lebens aussetzten, aber nicht unterwarfen (zugleich auch als frei vom Bösen darstellten) und so wirklich das zweite Element des höchsten Guts, eigene Glückseligkeit, wegließen, indem sie es blos im Handeln und der Zufriedenheit mit seinem persönlichen Werthe setzten und also im Bewußtsein der sittlichen Denkungsart mit einschlössen, worin sie aber durch die Stimme ihrer eigenen Natur hinreichend hätten widerlegt werden können."114 Obwohl Kant - wie hinlänglich deutlich geworden ist - der Denker der Freiheit des Menschen und energischer Verfechter seiner Fähigkeit zur Autonomie ist, sieht er - wie sich jetzt zeigt - sehr wohl deren Grenzen. Auch das macht Kant zu einem Philosophen der Moderne.1^ Gegen den von den Stoikern propagierten „Heroism des über die thierische Natur des Menschen sich erhebenden Weisen, der ihm selbst genug ist",116 verteidigt Kant das Recht des Menschen auf Glückseligkeit. Das Glück ist neben Moralität das zweite „Bestandstück" des höchsten Guts, in dem alles menschliche Wünschen und Wollen sein letztes Ziel hat. Den Stoikern nun hält Kant vor, daß sie dieses zweite Element des summum bonum, das Glück, einfach „wegließen". Es als einen „besonderen Gegenstand des menschlichen Begehrungsvermögens", der mit der Tugend eben nicht identisch 112 Zum Gedanken der fragilitas humana vgl. Moral Mrongovius (1782/83), AA XXVII, 1441-1443. Vgl. auch: Kritik der praktischen Vernunft, AA V, 84 ff. 113 Vgl. ebd. 114 AAV, 127. 115 Vgl. H. Schnädelbach, Kant - der Philosoph der Moderne (1996). 116 Kritik der praktischen Vernunft, AA V, 127 (Anm.).

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ist, gelten zu lassen und nicht auszusparen, bedeutet aber, die Zwecke der Neigung so ernst zu nehmen, wie sie das verdienen. Denn menschliches Glück ist ohne ihre zumindest partielle Erfüllung nicht denkbar. Das hebt Kant gegen die Stoiker und auch gegen eigene, in den nachgelassenen Reflexionen greifbare Versuche, das Glück des Menschen aus seiner „Selbstmacht" abzuleiten,117 hervor. Natürlich ergeben sich jetzt zur Anlage von Kants praktischer Philosophie Fragen. Wenn das Glück ein Bestandteil des höchsten Gutes ist und wenn die menschliche Vernunft deshalb „einen nicht abzulehnenden Auftrag" hat, „sich praktische Maximen, auch in Absicht auf die Glückseligkeit dieses und wo möglich auch eines zukünftigen Lebens, zu machen"118 - ist es dann nicht Aufgabe einer philosophischen Ethik, diese praktischen Maximen zu thematisieren? Denn es stellt sich doch das Problem: Wie sollen wir mit den verschiedenen Neigungen umgehen? Wenn wir unsicher sind, ob und welche wir etwa vor anderen bevorzugen sollen, nach welchen Kriterien können wir uns entscheiden? Und verhalten müssen wir uns in jedem Fall zu unseren Neigungen. Unser Umgang mit ihnen ist Sache individueller Freiheit und nichts, das sich von selbst verstünde.

117 Vgl. oben, Kap. 25. 118 Kritik der praktischen Vernunft, AA V 61.

VII. Maximen des Glücksstrebens

31. Die Sorge um das Glück als „Auftrag" der praktischen Vernunft Zunächst ist darauf aufmerksam zu machen, daß Kant die sehr problematische systematische Verortung des Glücksstrebens, die sich in beiden Einleitungen der Kritik der Urteihkrafi gezeigt hatte, offenbar in der zweiten Kritik genausowenig wie in der Grundlegung vertritt. Denn es sollen ja Maximen der praktischen Vernunft sein, die wir benötigen, um uns in unserem Glücksverlangen eine Steuerung zu geben. Als „subjektive" Prinzipien des Wollens sind Maximen Ausdruck der praktischen Freiheit von Individuen, die mit ihrer Hilfe ihr Leben orientieren. So kann die „allgemeine Glückseligkeitslehre" keinesfalls „insgesammt nur Regeln der Geschicklichkeit, die mithin nur technisch-praktisch sind, enthalten, um eine Wirkung hervorzubringen, die nach NaturbegrifFen der Ursachen und Wirkungen möglich ist". Genau das jedoch behauptet Kant in der zweiten Einleitung zur dritten Kritik.1 Zwar gelten die Vorschriften, die unser Glücksstreben leiten, nach der Argumentation Kants in den Einleitungen zur Kritik der Urteilskraft als „praktische Sätze". Diese sollen aber dennoch zur theoretischen Philosophie und nicht zur praktischen Philosophie gehören, weil sie Verknüpfungen von Naturbegriffen sind und nicht von Freiheitsbegriffen. Denn sie dienen laut Kant dazu, daß wir uns selbst als „Naturursache" einer von uns beabsichtigten Wirkung begreifen. So verstanden enthalten die Prinzipien unseres Glücksstrebens allein eine - theoretische - Einschätzung unserer eigenen Kräfte im Verhältnis zu den Kräften, auf die wir einwirken wollen, um unser jeweiliges Handlungsziel zu erreichen. Diese Ziele selbst aber, denen wir um unseres Glücks willen nachgehen, sind für Kant in den Einleitungen zur Kritik der Urteikkraftkein Gegenstand des Nachdenkens. Er nimmt sie dort als „gegeben" an. Sie sind uns jedoch niemals einfach „gegeben", sondern wir setzen uns Zwecke der Neigung. Wohl haben wir sinnliche Antriebe, die uns nach diesem oder jenem verlangen lassen. Doch längst nicht jedem dieser Antriebe überlassen wir uns auch, sondern wir verhalten uns zu ihnen. Erst aufgrund dieser Stellung zu den eigenen Trieben machen wir uns etwas zum Gegenstand unseres Wollens. Nach der Systematik der Kritik der praktischen Vernunft nun sieht es überhaupt nicht so aus, als ob die Glücksthematik allein der theoretischen Philosophie zuzuordnen wäre und sich in einem theoretischen Kalkül des Verhältnisses eigener und l

Kritik der Urteilskraft, ebd., 173. Vgl. meine Ausführungen in Kap. 9.

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fremder Kräfte erschöpfte. Vielmehr sind es „praktische Maximen", durch die der Einzelne sein Tun „in Absicht auf die Glückseligkeit dieses und wo möglich auch eines zukünftigen Lebens" zu orientieren hat.2 Warum Kant die Vorstellung einer Fortdauer menschlicher Existenz über den Tod hinaus in seine Überlegungen einbezieht, werden wir noch erörtern. Sie ändert nichts daran, daß es uns zunächst um unser endliches Erdenleben geht. Die Sorge um das Glück unseres Lebens nennt Kant einen nicht abzuweisenden „Auftrag" der praktischen Vernunft.3 Dieselbe Position finden wir in der Grundlegung. Kant spricht von „Maximen, die sich auf Bedürfniß und Neigung fußen".4 Noch deudicher ist von dem „Entwurf der Glückseligkeit und der Mittel dazu zu gelangen" die Rede, der von der Vernunft in ihrem „praktischen Gebrauch"TU. leisten ist.5 Auch die Bestimmung der Mittel, zum Lebensglück zu kommen, wird also an dieser Stelle der praktischen Vernunft als Aufgabe zugewiesen. Das könnte auf den ersten Blick sogar irritieren. Doch es ist zu beachten, daß es um die Mittel des Strebens nach dem Glück geht und nicht um Mittel, die zum Erreichen irgendeines beliebigen empirischen Zwecks wie die Pflege der Gesundheit oder das Bauen einer Brücke geraten erscheinen. Was diese zuletzt genannten Ziele anbelangt, so ist es nötig, die richtige Theorie zu haben, um nicht fehlzugehen. Beim Glück jedoch handelt es sich um eine ganz andere Art von Handlungszweck. Das Glücklichsein läßt sich nicht direkt intendieren wie das Errichten eines Hauses oder das Besteigen eines Berges. Vielmehr stellt es sich bei unserem auf die verschiedensten empirischen Ziele gerichteten Tun ein oder nicht; es scheint auf als eine Qualität, die unser Leben hat oder nicht, während wir mit dem beschäftigt sind, was uns wichtig ist. Deshalb hatte Aristoteles das Glück als ein Tätigsein der Seele bezeichnet ( ).6 Auf etwas ganz Ähnliches deutet Kant, wenn er von der „Belebung" aller emotionalen und intellektuellen Kräfte des Menschen spricht, die erfährt, wer sich in beglückender Übereinstimmung mit der Welt weiß.7 Natürlich ist es für unsere individuellen Glücksaussichten von Belang, ob wir uns den für uns individuell richtigen Zielen zuwenden oder nicht. In diesem Sinn wird die Wahl der für den Einzelnen geeigneten Ziele zum „Mittel" unseres Glücksstrebens und fällt der praktischen Vernunft als Aufgabe zu. In Form der von Kant so genannten pragmatischen Imperative8 versucht sie, diese Aufgabe zu lösen. 2 3 4 5 6 7

Kritik der praktischen Vernunft, AA V, 61. Vgl. ebd. AA IV, 405. Ebd., 395. Nikomachische Ethik I 13, 1102 a 17 f. Vgl. 1102 a 5. Vgl. Kritik der Urteilskraft, AA V, 219, 222, 238.

Die Sorge um das Glück als „Auftrag" der praktischen Vernunft

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Das Gesagte bedeutet nicht, daß menschliches Glück je unabhängig wäre vom Erfolg oder Mißerfolg unseres Tuns. Wir sind nun einmal durch und durch bedürftige Wesen und auch aus diesem Grund gleichsam mit allen Fasern unseres Daseins auf die Ergänzung durch Andere und Anderes bezogen. Das hatte Kant gegen die stoische Auffassung betont. Auch in diesem Punkt ist er Aristoteles nah,9 der bemerkt, ein Mensch, der einsam sei, ohne gute Freunde und kinderlos, der über keine Geldmittel verfüge, der vielleicht von ganz niedriger Abkunft und ganz abstoßendem Äußeren sei, der könne unmöglich glücklich sein. Zum Glück gehören Güter wie die genannten. Sie zu besitzen aber ist niemals nur Frucht unseres eigenen Bemühens. Dazu kommen muß , die Gunst der Umstände, 10 die glückliche Fügung der Dinge. Stärker als Aristoteles unterstreicht Kant die individuelle Signatur jener Vorstellungen, die der Einzelne sich von seinem Glück macht. Auch aus diesem Grund ist es unmöglich, jemals praktische Gesetze anzugeben, an die sich der Mensch in seinem Streben nach dem Glück halten könnte. Denn solch ein Gesetz müßte „eben denselben Bestimmungsgrunades Willens" für alle Menschen in den unterschiedlichsten Lebenssituationen enthalten.11 Wohl ist das Glück ein Ziel, das allen Menschen gemeinsam ist. Dennoch kann der Begriff der Glückseligkeit nach Kant nur als der „allgemeine Titel" jeweils „subjective(r) Bestimmungsgründe" gelten.12 Er „bestimmt nichts specifisch": „Worin nämlich jeder seine Glückseligkeit zu setzen habe, kommt auf jedes sein besonderes Gefühl der Lust und Unlust an, und selbst in einem und demselben Subject auf die Verschiedenheit des Bedürfnisses nach den Abänderungen dieses Gefühls". Allein in einem ganz bestimmten und von uns schon diskutierten Sinn gibt es Prinzipien des Glücksstrebens, die allgemein sind. Das sind „allgemeine Regeln der Geschicklichkeit (Mittel zu Absichten auszufinden)". Sie aber haben als „blos theoretische Principien" zu gelten: „z. B. wie derjenige, der gerne Brot essen möchte, sich eine Mühle auszudenken habe". Solche Vorschriften legen nun überhaupt keine „WiJlensbestimmung" nahe, um die es jedoch in allen praktischen Prinzipien geht, sondern setzen sie bereits voraus.13 Praktische Vorschriften des Strebens nach Glück aber können im Gegensatz zu den moralisch-praktischen niemals allgemeine Verbindlichkeit beanspruchen: „Denn der Bestimmungsgrund des Begehrungs8 Vgl. Grundlegung, AAIV, 416-419. 9 Dieser Nähe zwischen Kant und Aristoteles, die entgegen verbreiteter Auffassung in mancherlei Hinsicht besteht, geht im einzelnen O. Hoffe nach. Vgl. Universalistische Ethik und Urteilskraft: ein aristotelischer Blick auf Kant (1990); Aristoteles oder Kant - wider eine plane Alternative (1995). 10 Vgl. Nikomachische Ethik I 9, 1099 a 31 - 1099 b 8. 11 Vgl. hier und im folgenden: Kritik der praktischen Vernunft, AA V, 25 f. 12 Hervorhebung von mir. 13 Vgl. zu diesem Punkt: AA V, 26 (Anm.).

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Vermögens ist auf das Gefühl der Lust und Unlust, das niemals als allgemein auf dieselben Gegenstände gerichtet angenommen werden kann, gegründet."14 Kann es aus den genannten Gründen keine Gesetze der Freiheit oder praktischen Gesetze geben, die den Menschen in seinem Verlangen nach Glückseligkeit leiten, so sind aber doch „Anrathungen" der Vernunft möglich, die ihm zur Orientierung dienen können.15 Sie sind als „subjective praktische Prinzipien" anzusehen, denen „subjective Bedingungen der Willkür zum Grunde liegen". Daraus folgt, daß sie „jederzeit nur als bloße Maximen, niemals aber als praktische Gesetze vorstellig gemacht werden dürfen".16 Sich solche „praktische Maximen [...] in Absicht auf die Glückseligkeit" zu „machen", das aber begreift Kant - wie schon hervorgehoben wurde - als einen gar nicht abzuweisenden „Auftrag" der Vernunft.17 Nun ist mit diesen praktischen Maximen „in Absicht auf die Glückseligkeit" nichts anderes angesprochen als die „Rathschläge der Klugheit", von denen Kant in der Grundlegung gehandelt hatte.18 Die Vorschriften für das Handeln des um sein Glück sich sorgenden Menschen, die sie enthalten, nennt Kant Imperative der Klugheit oder auch pragmatische Imperative.19 Neben den technischen Imperativen, den Imperativen der Geschicklichkeit, gehören sie nach der Einteilung der Grundlegung zur Klasse der hypothetischen Imperative. Denn sie gebieten nicht unbedingt wie der moralische Imperativ, der ein bestimmtes Tun kategorisch fordert. Sie sollen vielmehr nur unter Bedingungen gelten, die subjektiv zufälltgsind.20 Diese subjektiv zufalligen Bedingungen sind im Fall der technischen Imperative gegebene Zwecke von Individuen. Für welche Interessen sie stehen, ob sie gute oder schlechte Zwecke sind, ist dabei nicht die Frage. Sofern sie wirklich gewollt sind, sagt Kant,21 ist auch das Ergreifen geeigneter Mittel ihrer Realisierung immer schon gewollt. Ihrer Bestimmung dienen Imperative der Geschicklichkeit. Im oben beschriebenen Sinn handelt es sich um theoretische Probleme, die zu lösen sind.22 Das heißt natürlich nicht, daß nicht zur Ausbildung individueller Geschicklichkeit viel Übung als Praktizieren der eigenen Kräfte gehört. Niemand 14 Vgl. hier und im folgenden: Ebd., 26. 15 Vgl. ebd. Vgl. auch Grundlegung, AAIV, 418. 16 Kritik der praktischen Vernunft, AA V, 26. 17 Ebd., 61. 18 AAIV,416. 19 Ebd., 416 f. 20 Vgl. ebd., 416, Z. 24 f. Vgl. auch 420, Z. 5-8. 21 Vgl. ebd., 417. 22 Daß die Imperative der Geschicklichkeit praktische Sätze sind, die aufgrund ihrer Prinzipien gleichwohl zur theoretischen Philosophie gehören, wird von Kant in der Grundlegung im Gegensatz zu seinen Ausführungen in der zweiten und dritten Kritik noch nicht explizit herausgestellt.

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wird durch bloße Theorie zu einem guten Arzt oder zu einem brillianten Klavierspieler. Die theoretische Leistung, die in Imperativen der Geschicklichkeit enthalten ist, besteht darin, daß ich einerseits meine eigenen Kräfte in ihrer aktuellen Qualität, andererseits das Kräftefeld einer besonderen Handlungssituation im Blick auf den Zweck, den ich verfolgen will, beurteile. Erst auf der Grundlage dieser Einschätzung kann ich die^Kr mich jetzt geeigneten Mittel ergreifen, um mein Handlungsziel zu erreichen. Nun besagen Imperative der Geschicklichkeit gar nichts über die Wahl der Zwecke, die ich meinem Tun setze. Woher weiß ich aber, für welche der mir möglichen Zwecke ich mich engagieren soll? Nur einen Zweck gibt es nach Kant, der für alle Menschen gleichermaßen geboten ist - und das ist der Zweck, mich selbst und die Anderen jederzeit als Selbstzweck zu achten. Über die Begründung dieses Kerngedankens der Kantischen Ethik haben wir ausführlich und im einzelnen nachgedacht. Doch die Lebensführung kann ersichtlich niemals allein an der moralischen Forderung orientiert werden. Moralität ist vielmehr eine Grenze, die wir im Umgang mit unseren jeweiligen empirischen Zwecken und Lebenszielen einzuhalten haben. Sie ist aber nicht selbst ein Lebensziel. Sie gebietet uns, einen Abstand auch gegenüber den eigenen Zwecken zu wahren — wenn ihre Verfolgung die Freiheit der eigenen und der Person Anderer aufs Spiel setzt. Aber sie vermag natürlich nicht etwa unsere Ambitionen, die sich auf eine uns erfüllende Wirklichkeit richten, schon zu befriedigen. Nach welchen Zwecken aber soll ich streben? Welche Ziele sind es wert, daß ich auf sie baue? Kant präsentiert keine Liste von Gütern, deren Besitz das Glück des Menschen garantieren könnte. Statt dessen formuliert er zweierlei Vorbehalte,23 die eine begründete Angabe solcher Elemente des Glücks zur Unmöglichkeit machen. Zum einen ist jedes der sogenannten Glücksgüter als ambivalent einzuschätzen. Reichtum, Wissen, ein langes Leben, ja selbst die Gesundheit können unter bestimmten Umständen sogar Quellen meines Unglücks werden.24 Zum zweiten betont Kant die unhintergehbare Individualität der Glücksvorstellungen des Einzelnen. Was für sein Lebensglück bedeutsam ist, hängt ab von seinen besonderen Vorlieben, von der Eigenart seines Temperaments und seinen spezifischen Talenten. Aber auch noch diese individuellen Vorstellungen vom Glück selbst sind nichts, das ein- für allemal fixiert werden könnte. Sie sind immer offen für Revisionen. Anlaß können zum Beispiel tiefgreifende und mein Leben verändernde Erfahrungen sein. Rechnen wir dann noch die Einflüsse je besonderer sozialer und politischer Konstellationen auf unsere Visionen eines glücklichen 23 Vgl. Grundlegung, AAIV, 417 f; Kritik der praktischen Vernunft, AA V, 25 f, 36. 24 Vgl. dazu: N. Hinske, Die „Rathschläge der Klugheit" im Ganzen der Grundlegung (1989), 131147, hier: 138-146.

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Lebens hinzu, so läßt sich in einem umfassenden Sinn sagen: Pragmatische Imperative, die uns in unserem Streben nach Glück leiten sollen, stehen jederzeit unter Bedingungen, die subjektiv zufällig sind. Was aber bedeutet dieser Befund für die Behandlung der Glücksthematik im Rahmen der praktischen Philosophie? Müssen die Überlegungen nach Kant an diesem Punkt der Klärung des Status der pragmatischen Imperative abbrechen? So könnte es erscheinen.25 Denn es sieht so aus, als wäre die unhintergehbare Freiheit des Einzelnen, die Konturen seines Glücks zu entwerfen — und obendrein immer wieder neu zu entwerfen, philosophisch nicht weiter aufzuschlüsseln. Allein als notwendiges Korrelat der Moral scheint Kant das Glück darüber hinaus noch zu thematisieren.26 Moralisches Verhalten nämlich macht den Menschen in Kants Augen erst des Glückes würdig. Die Wirklichkeit dieses Glücks, die Wirklichkeit einer der Sittlichkeit des Einzelnen genau angemessenen Glückseligkeit, ist jedoch an zwei Voraussetzungen gebunden, die über das irdische Leben hinausweisen. Das ist zum einen die Annahme einer Fortdauer der menschlichen Existenz über den Tod hinaus, zum anderen die Annahme der Existenz eines Gottes, der den in Kants Augen notwendigen Konnex zwischen Moralität und Glück verbürgt. Beide Ideen sind Postulate der reinen praktischen Vernunft.27 Was im Moment festzuhalten ist, ist dieser Eindruck: Die Lektüre der Grundlegung sowie aller drei Kritiken scheint zu ergeben, daß sich Kants Überlegungen zum Problem des irdischen Glücks— ein existentielles Problem für jeden Menschen — auf die oben beschriebene Darlegung seiner weitgehenden Unzugänglichkeit für die Zugriffe der praktischen Philosophie beschränken. Nichts weiter als seine Unergründlichkeit scheint philosophisch begründet werden zu können. Dennoch bezeichnet Kant die Sorge um sein Erdenglück als eine „indirekte" Pflicht des Menschen. Wie soll er ihr aber nachkommen, ohne auf seine praktische Vernunft setzen zu können, und das heißt: auf begründbare Maximen, die ihn in seinem Tun und Lassen leiten können? Tatsächlich jedoch gibt es Erörterungen Kants, in denen er sich der Frage nach den Maximen des Glücksstrebens widmet. Vorwiegend finden sie sich in seinen Ethikvorlesungen, auch in denen zur Anthropologie. Zudem enthalten die Meta25 So etwa leitet Ch. Hörn seine Überlegungen zur Frage Wie hätte eine Philosophie des gelingenden Lebens unter Gegenwartsbedingungen auszusehen?([2000], 323) ein, indem er die folgende Alternative zu bedenken gibt: „Gibt es in der gegenwärtigen philosophischen Theorielandschaft plausible Konzeptionen des guten, gelingenden oder glücklichen Lebens, analog zu jenen Modellen, die in der Antike beginnend mit Sokrates entwickelt worden sind? Oder bestätigt sich Kants Einschätzung, wonach der Glücksbegriff so radikal neigungs- und subjektrelativ sein soll, dass er der philosophisch-objektivierenden Bestimmung entzogen bleiben und dem Belieben indvidueller Präferenzen überlassen werden muss?" 26 Vgl. Kritik der praktischen Vernunft, AA V, 110 ff. 27 Vgl. unten, Kap. 42.

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physischen Anfangsgründe der Tugendlehre Hinweise und ebenso die handschriftlichen Reflexionen. Auch in diesen Texten aber ist Kants Zurückhaltung gegenüber inhaldich bestimmten Konzepten des glücklichen Lebens zu bemerken. Subjektivität und Freiheit des Individuums in seinen jeweils besonderen Lebensumständen verbieten jegliche Fixierung der Glücksgehalte. Es läßt sich nicht verbindlich, und schon gar nicht von außen, angeben, was den Einzelnen glücklich macht. Er weiß es kaum selbst, wie Kant immer wieder einmal anmerkt. So können sich Maximen unseres Glücksstrebens sinnvoll nur auf bestimmte Arten des Umgangs mit den verschiedenen Zwecken beziehen, die auf den durchaus verschiedenartigen Neigungen verschiedener Individuen aufruhen. Insofern ist Kants Ethik insgesamt eine formale Ethik, dieses Charakteristikum gilt nicht nur für seine Moralphilosophie.

32. Regeln der Klugheit Die Fähigkeit des richtigen Umgangs mit den vielen und auch einander widerstreitenden Neigungen, die uns nach der Welt in ihren unzähligen Facetten auslangen lassen, ist die Klugheit. Wir wollen die Welt nicht nur betrachten, sondern in der Auseinandersetzung mit ihr uns selbst erfahren. Erfüllung aber ist für uns allein im tätigen Austausch mit der Wirklichkeit möglich. Wir sind darauf eingestellt, uns vom Anderen tatsächlich angehen zu lassen. Die von den Stoikern gepriesene tendenzielle Abschließung des Individuums gegen die Welt beraubt es dieser Aussicht auf eine Erfüllung, wie sie nur in der Öffnung gegen das Andere möglich ist, zugunsten einer Stabilisierung des Selbst. Die beglückende Übereinstimmung mit sich selbst, die die Stoiker preisen, ist nicht die um die ent-rückende Erfahrung der Welt erweiterte, sondern die durch den Verzicht darauf ermäßigte. Deutlich ist, daß der Umgang mit sich selbst und der Umgang mit der Welt systematisch zusammengehören. Eines läßt sich ohne das andere gar nicht thematisieren. Entsprechend gibt es die Klugheit, die uns in unserem Streben nach dem Glück zu orientieren hat, für Kant prinzipiell in zweierlei Gestalt: als Weltklugheit und als Privatklugheit. Diese Unterscheidung erläutert er in einer bedeutenden Anmerkung zum zweiten Abschnitt der Grundlegung, nachdem er Klugheit als „Geschicklichkeit in der Wahl der Mittel zu seinem eigenen größten Wohlsein" bestimmt hat.28 „Das Wort Klugheit", so heißt es dort, „wird in zwiefachem Sinn genommen, einmal kann es den Namen Weltklugheit, im zweiten den der Privatklugheit führen. Die erste ist die Geschicklichkeit eines Menschen, auf 28 AAIY.416.

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andere Einfluß zu haben, um sie zu seinen Absichten zu gebrauchen. Die zweite die Einsicht, alle diese Absichten zu seinem eigenen daurenden Vortheil zu vereinigen. Die letztere ist eigentlich diejenige, worauf selbst der Werth der erstem zurückgeführt wird, und wer in der erstem Art klug ist, nicht aber in der zweiten, von dem könnte man besser sagen: er ist gescheut und verschlagen, im Ganzen aber doch unklug." Die Privatklugheit, der kluge Umgang mit den eigenen Bestrebungen, ist also der Weltklugheit systematisch vorgeordnet. Auf diesen klugen Umgang mit sich selbst beziehen sich die Maximen „in Absicht auf die Glückseligkeit", von denen Kant in der Kritik der praktischen Vernunft spr'icht. Kants vordringliches Bemühen geht, wie wir gesehen haben, zunächst dahin, die von der philosophischen Tradition bis zur Ununterscheidbarkeit miteinander verwobene Diskussion über das glückliche und das moralisch gute Leben zu entflechten. Die Differenz der Ansprüche, die jeweils zu beachten sind, war sichtbar zu machen und darauf fußend das Verhältnis zwischen Glück und Moral zu bestimmen. Genau das leistet Kant in den großen Werken zur praktischen Philosophie, vor allem in der Grundlegung und in der zweiten Kritik. Mögliche Gestalten des glücklichen Lebens bleiben demgegenüber abgeschattet. Ihnen wendet Kant sich in seinen Vorlesungen zur Ethik und zur Anthropologie zu. In allen jetzt zu betrachtenden Nachschriften des Ethikkollegs, von der friihesten, der vermutlich im Sommer 1777 abgefaßten Praktischen Philosophie nach Powalski,29 bis hin zur späten Metaphysik der Sitten Vigilantius aus dem Winter 1793/94, finden wir die aus der Grundlegung bekannte Dreiteilung von Imperativen des Handelns. Einschlägig für die jetzt folgenden Überlegungen sind aus den oben dargelegten und diskutierten Gründen die Imperative der Klugheit. „Die Erkenntniß der Mittel zu Zwekken zu erlangen, die man beim Menschen nothwendig annimmt und voraussetzt, heißt die Klugheitslehre. Es gibt einen Zwekk den alle Menschen haben, das ist die Glückseeligkeit, das ist nun aber ungewiß, was ein jeder für die Glückseeligkeit hält. Man muß erst die requisita der Glückseeligkeit zergliedern. Manche irren schon im Zuschnitt. Sie suchen Ehrentittel ohne Aemter, die ihnen aber so unbequem sind, als den Frauenzimmern der Reifrock — Wie man zu der Glückseeligkeit gelanget, lehret die Klugheitslehre." Diese Erklärung zum systematischen Ort der Behandlung des Glücksstrebens lesen wir im Einleitungskapitel der Vorlesungsnachschrift vom Ende der siebziger Jahre.30 Die grundlegende und im folgenden vor allem interessierende Frage ist die nach dem richtigen und nicht irreführenden „Zuschnitt" unserer Glücksentwürfe. Gibt es Regeln, nach denen wir dabei verfahren können? 29 Zu Fragen der Datierung vgl. G. Lehmann, Einleitung zu Kants Vorlesungen über Moralphilosophie, AA XXVII, 1043-1045. 30 AA XXVII, 99.

Regeln der Klugheit

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Durch alle Ethikvorlesungen hindurch lassen sich einige wenige einschlägige Themenkomplexe identifizieren, an denen die Diskussionen solcher Regeln der Klugheit orientiert sind. Ein Beispiel ist die auch in den Anfangspassagen der Grundlegung aufgeworfene Frage, ob wir unsere Bedürfnisse auf einem möglichst einfachen und von der Natur vorgezeichneten Niveau halten sollten oder ob es vorteilhafter ist, sie zu entfalten und zu verfeinern. Durch diese Kunst ihrer Kultivierung aber käme es zwangsläufig dazu, sie über den Rahmen des Elementaren hinaus qualitativ und quantitativ zu erweitern. In jedem Fall aber bedarf es einer Disziplinierung der Neigungen durch praktische Vernunft. Sie bildet die Grundlage für einen klugen, für einen gelingenden Umgang nicht nur mit den Anderen, sondern auch mit uns selbst.

33. „Autokratie" und die Kultur des Begehrens Als erstes ist die Leistung zu analysieren, die Voraussetzung dafür ist, daß wir unserem Begehren überhaupt eine Form geben können und uns ihm nicht einfach überlassen müssen. Das ist die Leistung der Autokratie, der Herrschaft über sich selbst. Sie ist für Kant eine Tugend — und sogar die höchste Tugend.31 Sie ist deshalb unverzichtbar für die Existenz des Menschen, weil seine sinnlichen Antriebe nicht gebunden sind wie die Instinkte beim Tier. Deshalb haben wir sie nach selbstgegebenen Regeln zu organisieren. Verzichten wir darauf, so sind wir ein Spiel wechselnder Begierden. Verschiedenste „blinde Triebe", die weder in der Ordnung der Natur noch in der der Freiheit ihre Stelle und damit ihren Sinn hätten, zögen uns „auf blosses Glük bald hie, bald dahin". Zudem müßten wir davon ausgehen, daß diese Triebe in ihrer Gesamtheit „sich gewohnlicher Maassen wiederstreiten".32 Im Umgang mit uns selbst und mit der Welt ginge es nur „tumultuarisch" zu,33 wir würden von unseren eigenen ungebündelten Kräften aufgerieben. Wir könnten zuletzt unser Dasein nicht bewältigen, das doch zumindest in seinem auf Ziele hin bezogenen Tun gesammelt und gerichtet zu sein hat. Und von seiner möglichen Erfüllung könnte angesichts dieser Fragmentierung gar keine Rede sein. Glückseligkeit definiert Kant ja im Gegenteil als „die Befriedigung aller unserer Neigungen".34 Deshalb gilt: „Neigungen, vereinigt durch die Vernunft, stimen zur Glückseeligkeit, d.i. zum Wohlbefinden aus der dauerhaften Befrie31 32 33 34

Vgl. Moral Mrongovius, AA XXVII, 1495. Vgl. R. 6621 (1769-1770?), AA XIX, 114. Vgl. R. 7029, ebd. 230. Kritik der reinen Vernunft, A 806/B 834 (Hervorhebung von mir).

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digung aller unserer Neigungen. Neigungen einzeln, wenn sie die Befriedigung der übrigen [...] verhindern, wiederstreiten der Glückseeligkeit." Das lesen wir in einer Arbeitsnotiz Kants.35 Der darin angeschnittenen Frage der „Vereinigung" unserer Neigungen durch praktische Vernunft werden wir uns zu widmen haben. Der Mensch hat sich also in seinem Verhältnis zu seinen sinnlichen Antrieben, die ihn hierhin und zugleich dorthin ziehen, zu disziplinieren: „Ohne Disciplin seiner Neigungen kann der Mensch nichts erhalten, folglich liegt in der Selbstbeherrschung eine unmittelbahre Würde", heißt es in der Ethikvorlesung Kants.36 „Wo nun keine solche Herrschaft über sich selbst ist, da ist eine Anarchie." Organ dieser Herrschaft über sich selbst ist die Vernunft,37 und zwar in Form entweder von Regeln der Klugheit oder Gesetzen der Moral.38 Obwohl die Regeln der Klugheit Regeln der Vernunft sind, so agiert die kluge Vernunft doch im Interesse der Sinnlichkeit, der sie „dient". Das betont Kant.39 Und in diesem Punkt unterscheidet sie sich von der moralischen Vernunft, die ohne Rücksicht auf die Neigungen gebietet. Selbstherrschaft oder Autokratie, das ergeben die Überlegungen, ist mitnichten ein Instrument der Repression des Begehrens. Im Gegenteil bedarf dieses, weil es menschliches Begehren ist, der durch praktische Vernunft auszuübenden Autokratie des Individuums. Die Sinnlichkeit des Menschen ist so beschaffen, daß sie die formende Macht praktischer Vernunft zur Stillung ihrer eigenen Bedürfnisse nötig hat. Wie jedoch sieht eine kluge Gestaltung unseres Begehrens im einzelnen aus? Die Antwort auf diese Frage ist in zwei Schritten zu geben. Ein negatives und ein positives Moment sind zu unterscheiden. Zunächst ist zu klären: Welche Konstellationen innerhalb der Gesamtheit unserer Neigungen müssen vermieden werden? Das ist die erste und wichtigste Etappe auf dem Weg zur Kultur des Begehrens. Dann ist zu fragen: Wie sollen wir nach erfolgter Reinigung unseres Begehrens von zerstörerischen und selbstzerstörerischen Impulsen mit dem Feld des Ganzen unserer Neigungen positiv gestaltend umgehen? Welchen Begriff 35 R. 6610 (1769-1770?), AAXDC, 107. 36 Vgl. hier und im folgenden: Moralphilsophie Collins, AA XXVII, 361 fund Moral Mrongovius, ebd. 1496. 37 Zur Terminologie: Im Text der Vorlesungsnachschriften nach Collins und Mrongovius werden die Regeln der Klugheit dem Verstand und die Gesetze der Moral entweder ebenfalls dem Verstand oder aber der Vernunft zugeordnet. In den entsprechenden Passagen der Grundlegung dagegen fuhrt Kant Regeln der Klugheit und Prinzipien der Moral gleichermaßen auf praktische Vernunft als ihren Ursprung zurück (vgl. AA IV, 413 ff; vgl. auch: Kritik der praktischen Vernunft, AA V, 61). Weil Vernunft im weiteren Sinne ohnedies den Verstand und die im engeren Sinne genommene Vernunft als Quell reiner Begriffe oder Ideen umfaßt, spreche ich im folgenden allein von Vernunft und nicht von Verstand. 38 Vgl. AAXXVII, 360 fund 1495 f. 39 Ebd., 360 fund 1495. Vgl. auch: Grundlegung, AA IV, 413 (Anm.).

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oder welche Begriffe vom Ganzen ihrer Erfüllung können wir als endliche und begrenzte Wesen denn überhaupt haben? Zunächst zum ersten Punkt. In der Ethikvorlesung wird er von Kant — mehr oder weniger breit — stets behandelt. Das geschieht im Rahmen der Ausführungen über „das Begehrungsvermögen'. In manchen Nachschriften finden wir einen eigenen Abschnitt, der so überschrieben ist.40 Unter diesem Titel Vom Begehrungsvermögen steht aber auch eines der drei Bücher, die zusammengenommen den ersten Teil der Anthropologievorlesung bilden.41 Ein Blick in den Text zeigt bemerkenswerte Übereinstimmungen mit den in der Ethikvorlesung unter diesem Stichwort diskutierten Themenkreisen.42 Innerhalb der menschlichen Sinnlichkeit unterscheidet Kant „in Ansehung des practischen" zwischen Gefühlen und Begierden bzw. Neigungen.43 In Gefühlen der Lust oder Unlust spricht sich unsere Befindlichkeit „im gegenwärtigen Zustande1 aus.44 Begierden dagegen sind stets auf etwas gerichtet, dessen Wirklichkeit das begehrende Individuum unter Einsatz seiner Kräfte zu erreichen sucht. „Begierde (appetitio) ist die Selbstbestimmung der Kraft eines Subjects durch die Vorstellung von etwas Künftigem als einer Wirkung derselben", definiert Kant in der Anthropologie. Eine Neigung aber ist nichts anderes als eine „habituelle sinnliche Begierde".45 Beide, Begierden oder Neigungen und Gefühle, gehören nun zwar unbestreitbar zur Sinnlichkeit des Menschen, stehen aber nach Kant dennoch in einem Verhältnis zur praktischen Vernunft. So gesehen sind sie nicht als Phänomene zu begreifen, die wie erratische Fremdkörper einfach neben der Vernunft existieren und ein genuines, von der Vernunft gänzlich abgelöstes Dasein besäßen. Von der Natur selbst sind wir mit Vernunft als grundsätzlicher Fähigkeit der Regierung unserer Sinnlichkeit ausgestattet, nachdem deren Selbststeuerung in Gestalt verhaltensleitender Instinkte zumindest partiell aufgebrochen war.46 40 Vgl. Praktische Philosophie Powalski, AA XXVII, 203. 41 Vgl. AA VII, 251. 42 Das Verhältnis der Ethik bzw. Moralphilosophie und der Anthropologie diskutiert eingehend R. Brandt, Kommentar zu Kants Anthropologie (1999), 14-17. Er hält eine strikte Scheidung beider Disziplinen bei Kant für gegeben. Das ist sicherlich zutreffend, sofern es um die Differenz zwischen Moralphilosophie, die nach Kant auf der Grundlage einer Kritik der reinen praktischen Vernunft zu betreiben ist, und pragmatischer Anthropologie geht. Insofern jedoch die Pragmatik, die Fragen der klugen Gestaltung des Glücksstrebens gewidmet ist, auch zur Ediik gehört, verliert sich die scharfe Trennung. Umfassend zu diesem Problem: R. Louden, Kant's Impure Ethics (2000); vgl. bes. 62 ff. 43 Diese Unterscheidung wird von Kant in sämtlichen der uns bekannten Fassungen seiner Ethik- und Anthropologievorlesung getroffen. Vgl. hier: Praktische Philosophie Powalski, AA XXVII, 203. 44 Andiropologie in pragmatischer Hinsicht, AA VII, 251 (Hervorhebung von mir). 45 Ebd. 46 Diese Argumentationsfigur ist uns aus dem Mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte bekannt. Vgl. oben, Kap. 11.

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Was die Vernunft in Hinsicht auf unsere Gefühle und unsere Begierden oder Neigungen zu gestalten vermag, ist im Grunde als eine einzige Operation zu beschreiben. Es handelt sich dabei um die Leistung, die sie als Vermögen der Ideen in jedem ihrer Vollzüge auszeichnet. „Das Haupt-Verfahren unsers Verstandes", heißt es in der Praktischen Philosophie Powahki, „besteht darinn, daß wir den Werth eines Dinges im Verhältniß aufs ganze betrachten. Hier gehet der Verstand vom allgemeinen aufs besondere. Wir können die Größe der Dinge nicht absolut bestimmen, sondern durchs Verhältniß und zwar zum ganzen. Es ist also der Vernunft zuwieder: l. Den Werth der Annehmlichkeit durch Verhältniße nur zu einem Gefühl zu schäzzen. 2. Den Werth des Gegenstandes der Begierden durchs Verhältniß zu einer Neigung zu vergleichen, sondern es muß durchs Verhältniß zu der Summe aller Neigungen geschehen."47 In Gestalt von Ideen oder Vernunftbegriffen können wir nach Kant Vorstellungen einer Totalität dessen formulieren, was wir aus der Erfahrung als jederzeit Beschränktes kennen.48 Wir können ein Ganzes in Gedanken haben, wovon alles Empirische, mit dem wir es in unserem Leben zu tun haben, nur ein Teil ist. Dies gilt für sämtliche Weisen unseres Umgehens mit der Wirklichkeit: für Theorie, Praxis und Ästhetik. Zu Recht hält Kant es für eine und vielleicht sogar die entscheidende Auszeichnung des Menschen, trotz seiner in jeder Hinsicht begrenzten Existenz, dennoch fähig zu sein, über diese Grenzen hinaus zu denken. Dadurch wird er nicht zuletzt in die Lage versetzt, sich selbst gleichsam von außen zu sehen. In uneingeschränkter Freiheit kann er Standpunkte einnehmen und sich ihnen gemäß bestimmen, die von seinem jederzeit beschränkten empirischen Stand unabhängig sind. Das Vermögen, Vernunftbegriffe oder Ideen zu erzeugen, aber bedeutet noch anderes. Der Mensch vermag nicht nur, sich selbst aus verschiedenen, jedoch ihrerseits stets beschränkten Perspektiven anzusehen und zu beurteilen, wozu er die Idee eines Ganzen haben muß. Er kann sich überdies einen Begriff vom Ganzen eines Gegenstandes machen, von dem er eine Erfahrung immer nur exemplarisch haben wird. Wie aber ist das zu verstehen, und warum sollten wir überhaupt darauf bedacht sein, Begriffe vom Ganzen eines Gegenstandes zu bilden? Ist es nicht völlig ausreichend, Begriffe zu haben zum Zwecke der Unterscheidung der empirischen Dinge, die wir dann natürlich nur als je individuelle Exemplare eines bestimmten Typs von Ding erfahren können? „Die menschliche Vernunft", sagt Kant in einer Notiz, die er in sein Handexemplar von Johann August Eberhards Vorbereitung zur natürlichen Theologie einträgt, „hat die besondere Eigenschaft ausser dem, was dazu gehört, sich für eine 47 AA XXVII, 203 (Hervorhebungen von mir). 48 Vgl. hier und im folgenden: Kritik der reinen Vernunft, A 31 O/B 366 - A 332/B 389.

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gewisse Absicht einen Begrif von einem Dinge zu machen, noch nicht allein diesen Begrif selbst vermittelst alles dessen, was ihn ausmacht, sondern auch den Gegenstand des Begriffes in der Art der Dinge, wozu er gehört, zu vollenden. Wir begnügen uns nicht mit dem, was zum gemeinen Gebrauche der Worte hinreichend wäre, den Begrif eines Korpers, eines Menschen, einer Pflantze deutlich zu kennen; wir suchen uns seiner in allen seinen Merkmalen bewust zu werden, und daraus wird, wenn das Gesetz der Sparsamkeit dazu kommt, die Definition. Aber wir suchen überdem, wenn wir das obiect zu einer gewissen Art von Dingen gezählt haben, es in Ansehung dieser Art uns vollständig zu denken." Dabei kümmern wir uns gar nicht darum, „ob dergleichen wirklich oder auch nur möglich sey. Also dient uns die Vollständigkeit eines Dinges von einer Gewissen Art nur zum Maasstabe aller übrigen Begriffe, die wir uns davon machen könnten, so fern sie blos der Größe nach voneinander unterschieden seyn. Diese Größen sind Veränderlich; man muß sie mit einer solchen Vergleichen, die Unveränderlich ist, d.i. der eines Dinges, was alles enthält, was in dem Begriffe desselben in Beziehung auf seine Art enthalten seyn kan."49 Neben der logischen Vollendung eines Begriffs durch die Angabe nicht aller das wäre eine unendliche Aufgabe -, sondern aller „wesendichen" Merkmale in Gestalt seiner Definiton,50 kennt Kant mithin eine zweite und für unsere Überlegungen interessante Weise der Vollendung unserer Begriffe: Haben wir einen Gegenstand zu einer bestimmten „Alt von Dingen" gezählt und ihn durch einen entsprechenden Begriff verstanden, versuchen wir uns den Gegenstand „in Ansehung dieser Art" als einen vollständigen zu denken. Diese „Vollständigkeit eines Dinges von einer gewissen Art" aber stellen wir vor, um einen Maßstab der Beurteilung der empirischen Dinge ebendieser Art zu gewinnen. Diese unterscheiden sich, sagt Kant, bloß der „Größe" oder des Wertes nach voneinander. Wollen wir sie beurteilen, so haben wir sie in ihrer Größe oder ihrem Wert zu bestimmen. Dazu benötigen wir den Begriff ihrer maximalen Größe: „Diese Größen (der empirischen Dinge) sind Veränderlich; man muß sie mit einer solchen Vergleichen, die Unveränderlich ist, d.i. der eines Dinges, was alles enthält, was in dem Begriffe desselben in Beziehung auf seine Art enthalten seyn kan."51 In genau dem beschriebenen Sinn soll die Vernunft nach Kant Einfluß nehmen auf den Umgang mit unseren Gefühlen und Neigungen. Und dies nicht zur Knebelung unserer Emotionalität und Sinnlichkeit, sondern zu unserem Glück, das von ihrer gelungenen Entfaltung gar nicht zu trennen ist. Diesem Glück 49 R. 6206 (etwa 1783/84), AA XVIII, 489 f. 50 Zum Verständnis der Definiton bei Kant vgl. R. Stuhlmann-Laeisz, Kants Logik (1976), 105 ff. 51 R. 6206, AA XVIII, 490 (Zusatz in Klammern von mir). - Zur Interpretation der Reflexion 6206 im Kontext einer Analyse des Kantischen Ideenbegrifrs vgl. P. König, Autonomie und Autokratie (l 994), 13-48, hier: 17 f.

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abträglich und deshalb wider die praktische Vernunft, die sich darum sorgt, ist es, sich an einzelne Gefühle und Neigungen derart zu binden, daß sie nicht mehr im Lichte der Gesamtheit unserer Gefühle und Neigungen gesehen und in ihrem „Wert" geprüft werden können. Dabei sind sowohl unsere Gefühle als auch unsere Neigungen naturgegeben, und schon deshalb, sagt Kant nach Powalskis Zeugnis, „können wir sie nicht tadeln, sie sind alsdenn gut".52 Trotz gelegendicher Bemerkungen Kants, die sich in seinen Schriften verstreut finden und die für eine gegenteilige Einschätzung zu sprechen scheinen, wird man dieses Urteil als genuin Kantisch werten dürfen.53 Somit gilt: „Neigungen sind natürlich und ihre Befriedigung auch."54 Dennoch gestaltet sich diese Befriedigung der Neigungen im Fall des Menschen eben gerade nicht naturwüchsig. Die Wege zur Erfüllung unserer Neigungen sind von der Natur nicht vorgezeichnet. Deshalb gibt es jederzeit die Möglichkeit, Irrwege zu gehen. Es handelt sich dann jedoch um Irrwege, die aus Freiheit eingeschlagen werden. Sie kann zulassen oder sogar bewirken, daß Gefühle zu „Affekten" und Neigungen zu „Leidenschaften" werden,55 die nicht länger wir beherrschen, sondern die uns beherrschen. Affekte und Leidenschaften hält Kant für Fehlformen des Umgangs mit den eigenen Emotionen und dem eigenen Begehren. Er bestimmt sie wie folgt: „Der Grad der Empfindung der Gegenstände, der uns unvermögend macht unsern Zustand mit dem gesammten Gefühl zu schäzzen, ist ein Affect und der Grad der Neigungen, welcher uns unvermögend macht, die Gegenstände mit den gesammten Neigungen zu erwägen, ist eine Leidenschaft."56 Ein Affekt oder eine Leidenschaft füllt uns gleichsam zur Gänze aus und zieht unser Sinnen und Trachten auf einen einzigen Punkt und eine einzige Perspektive zusammen. Die Folge ist, daß unsere Vernunft außer Kraft gesetzt wird, weil sie ihrer Urteilsfunktion nicht nachkommen kann — der Bewertung eines Gefühls nach dem Begriffe eines Maximums an Wohlbefinden, der Bewertung des Gegenstandes einer Neigung im Horizont der Idee von der Summe aller Neigungen. Ein Ganzes, das über die Beschränkung alles Empirischen hinausweist, niemals selbst sein, aber doch im Blick haben und das eigene Leben anhand solcher 52 Ebd., 204. 53 Vgl. etwa die Stelle aus der Grundlegung (AAIV, 428), der zufolge es „der allgemeine Wunsch eines jeden vernünftigen Wesens" sein müsse, „gänzlich" frei von Neigungen als „Quellen des Bedürfnisses" zu sein, mit der Erklärung aus der Religionsschrift (AA VI, 58): „Natürliche Neigungen sind an sich selbst betrachtet, gut, d.i. unverwerflich, und es ist nicht allein vergeblich, sondern es wäre auch schädlich und tadelhaft, sie ausrotten zu wollen". 54 Praktische Philosophie Powalski, AA XXVII, 204. 55 Vgl. ebd.: „Man hält dafür, die Natur habe Affecten und Leidenschaften in uns gelegt, da sie uns doch nicht Affecten und Leidenschaften, sondern Gefühl und Neigungen gegeben hat." Affekt und Leidenschaft haben in der Freiheit des Menschen ihren Ursprung. Vgl. auch ebd., 205. 56 Ebd., 204.

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Vorstellungen begreifen und orientieren zu können, dieser mit seiner Vernunftbegabung einhergehende ungeheure Vorzug des Menschen wäre preisgegeben. Zwar muß er sich spätestens in seinem Tun unweigerlich festlegen — auf die Verfolgung dieser Neigung unter Ausschluß jener. Dadurch bestimmt er sich spezifisch. Doch tut er dies, wenn er es mit Vernunft tut, im Bewußtsein und vor dem Hintergrund eines Horizontes vieler alternativer Möglichkeiten. Er nimmt seine, notwendig beschränkte Perspektive ein und bezieht seinen individuellen Standpunkt - doch sehenden Auges und nicht blind. Genau solche Blindheit aber ist für Kant mit dem Auftreten von Affekten oder Leidenschaften stets verbunden. Diese Einschätzung hält er denen entgegen, die „sagen, daß die Affekten und Leidenschaften viel gutes in der Welt stiften können".57 Immerhin zählt Kant zu den Affekten neben Furcht und Schreck beispielsweise auch Gefühle wie die ausgelassene Freude58 und zu den Leidenschaften neben dem Haß auch die Formen der Liebe, die beharrlich „bis zum Wahnsinn" auf das Geliebte fixiert sind.59 Nun wäre es nicht von vornherein verwunderlich, würde jemand in .positiven' Affekten und Leidenschaften uneingeschränkt Wertvolles sehen: für den, der sie empfindet, ebenso wie für die Anderen, denen die durch sie motivierten Handlungen zugute kommen. Warum sollten wir uns nicht, wenn es sich so fügt, von ihnen ganz erfüllen lassen? Kant betont die Zufälligkeit des Guten, das durch Affekte oder Leidenschaften bewirkt werden mag.60 Beide gehen mit dem Ausfall des Blicks der Vernunft einher, der sie in einem sie selbst übergreifenden Horizont positionieren würde. Indem wir diesen Horizont gleichsam einziehen und uns mit all unseren Kräften von einer einzelnen Neigung und einem einzelnen Gefühl bedingungslos mitführen lassen, liefern wir uns dem aus, was aus deren Bewegung erwächst. Wir machen uns selbst zu Getriebenen. Was durch uns ausgelöst geschieht, widerfährt dann nicht zuletzt uns selbst, obwohl wir es verursacht haben. Gut und NichtGut als Urteile, die zu Bestimmungsgründen unseres Verhaltens werden, können nicht greifen, wo das Urteilen überhaupt suspendiert ist. So ist es tatsächlich Zufall, ob ein - nachträglich so bewertetes - Gutes für uns und Andere Resultat unseres affekt- oder leidenschaftsgeleiteten Tuns ist oder nicht. Deshalb ist es in den Augen Kants unklug, sich auf diese Weise freiwillig selbst aus der Hand zu geben. Es widerspricht der Klugheit, wie es der Sittlichkeit widerspricht: „Die 57 Ebd., 205. Vgl. auch Anthropologie in pragmatischer Absicht, AA VII, 267. Dort sagt Kant, daß die von ihm verworfenen Leidenschaften auch ihre „Lobredner" gefunden hätten. Diese behaupteten, „daß nie etwas Großes in der Welt ohne heftige Leidenschaften ausgerichtet worden, und die Vorsehung selbst habe sie weislich gleich als Springfedern in die menschliche Natur gepflanzt". 58 Vgl. Praktische Philosophie Powalski, AA XXVII, 204. 59 Vgl. Anthropologie, AA VII, 252 f, 266, 270. 60 Praktische Philosophie Powalski, AA XXVII, 205.

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Leidenschaften und Affecten sind also sowohl der Klugheit als der Sittlichkeit entgegen."61 Die Frage der Moralität oder Unmoralität des von Affekt und Leidenschaft geleiteten Tuns interessiert uns an diesem Punkt der Überlegungen nicht. Es sei allerdings darauf aufmerksam gemacht, daß Klugheit und Sittlichkeit von Kant eben nicht nur gegeneinandergestellt werden. Der Gedanke, daß sie im Verhältnis der Opposition zueinander stehen und stehen müssen, prägt sich jedem Leser Kants zunächst wohl unvermeidlich ein. Denn vor allem die Beispiele Kants, die den Zweifel über das richtige Tun in dilemmatischen Handlungssituationen exponieren, leben von der Spannung zwischen möglichen Strategien der Klugheit und den Forderungen der Moral.62 Doch gar nicht selten gehen Klugheit und Sittlichkeit bei Kant Hand in Hand. Dabei ist zu beachten, daß das Verhältnis von Moral und Klugheit gerade nicht als eines von Zweck und Mittel erscheint. Vielmehr sind es genuine Gebote der Klugheit und genuine Gebote der Moral, die auch einmal zum selbenTnn. bzw. Lassen mahnen. Interessant ist das, weil sich „Übergänge"63 zwischen dem Glücksstreben, das sich an Imperativen der Klugheit, und der Moralität, die sich an Geboten der Achtung orientien sollte, zeigen.

34. Affekt und Leidenschaft in ihrem Wert für das Glücksstreben Im folgenden soll Kants Behauptung, daß das affekt- und leidenschaftsbestimmte Tun unserem Streben nach Glück abträglich sei, überprüft werden. Dazu werden wir uns in der Hauptsache auf seine Anthropologievorlesung stützen. Zunächst aber sollen Affekt und Leidenschaft genauer, als bisher geschehen, gegeneinander abgegrenzt werden. Affekte sind Gefühle, die uns überwältigen, so daß wir unfähig werden, sie mit der Idee der Gesamtheit unserer Gefühle zu konfrontieren. Kant sagt, die „Fassung unseres Gemüths" werde aufgehoben.64 Wir befinden uns in einem Zustand, als ob es nur ein einziges Gefühl für uns gäbe. Es wird zu einem absoluten Gefühl, das jede Möglichkeit der Distanz aufhebt und damit die Möglichkeit, eine wertende Stellung zu ihm zu beziehen. Wir werden gleichsam in Gänze zu diesem Gefühl. Einem Mißverständnis allerdings ist vorzubeugen. Kant betont, 61 Ebd., 206. 62 Vgl. die einschlägigen Beispiele in der Grundlegung (AK IV, 421-423) und in der Kritik der praktischen Vernunft (AA V, 27 f)· 63 Der Begriff des „Übergangs" spielt in der dritten Kritik eine Rolle, in der Kant nach der Verbindung von Natur und Freiheit und ihrem Grund fragt. Vgl. AA V, 175 f, 196, 297 f, 354. 64 Anthropologie, AA VII, 252.

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daß nicht jedes starke Gefühl auch ein Affekt ist: „Überhaupt ist es nicht die Stärke eines gewissen Gefühls, welche den Zustand des Affects ausmacht, sondern der Mangel der Überlegung, dieses Gefühl mit der Summe aller Gefühle (der Lust oder Unlust) in seinem Zustande zu vergleichen."65 Eine Leidenschaft ist eine einzelne Neigung des Individuums, der es sich in einer Absolutheit verschreibt, als ob sein gesamtes Begehren in dieser einen Neigung aufginge. Sie wird zur einzigen Neigung, die es im Blick hat. „Die Neigung, durch welche die Vernunft verhindert wird, sie in Ansehung einer gewissen Wahl mit der Summe aller Neigungen zu vergleichen, ist die Leidenschaft? definiert Kant.66 Das für die Leidenschaft Charakteristische liegt darin, daß es die Vernunft selbst ist, die sich in ihrer Funktion außer Kraft setzt. Die Vernunft kehrt sich gegen sich selbst. Denn die „Leidenschaft setzt immer eine Maxime des Subjects voraus, nach einem von der Neigung ihm vorgeschriebenen Zwecke zu handeln".67 Die Leidenschaft ist so gerade nicht Ausdruck der blanken Unvernunft desjenigen, der unter ihrem Anspruch lebt, sondern sie ist „jederzeit mit der Vernunft desselben verbunden".68 Mit ihrer Beförderung einer einzigen Neigung zum unbedingten Beweggrund des Handelns aber bewirkt die Vernunft, daß sie ihrer vornehmsten Aufgabe nicht mehr nachzukommen vermag. Diese besteht darin, alles Partikulare und Beschränkte, das notwendig unser Teil ist — wir können ja niemals allen unseren Begehrungen nachkommen, gleichzeitig nicht und auch nicht sukzessive — im Gedanken eines Ganzen zu transzendieren. Erst im Bewußtsein eines Ganzen, das alle möglichen Perspektiven übergreift, vermögen wir die eigene, mit unserer Endlichkeit einhergehende Perspektivität der Existenz als solche wahrzunehmen. Und diese Einsicht setzt uns dann in den Stand, zwischen den verschiedenen Perspektiven, die wir einnehmen können, zwischen den verschiedenen Neigungen, die wir haben und die auf Erfüllung drängen, mit Wissen und Willen zu wählen. Eine Richtung nimmt unser Leben unvermeidlich auch, wenn wir dem Zwang einer Leidenschaft folgen. Eine Richtung geben können wir ihm allein, wenn wir jeweils einzelnen unserer Neigungen im Horizont der Idee von der „Summe aller Neigungen" nachgehen.69 Eine mit Vernunft vollzogene Entmachtung der Vernunft hat etwas Paradoxes und hinterläßt Ratlosigkeit. Deshalb schreibt Kant: „Leidenschaften sind Krebsschäden für die reine praktische Vernunft und mehrenteils unheilbar: weil der Kranke nicht will geheilt sein und sich der Herrschaft des Grundsatzes entzieht, 65 66 67 68 69

Ebd., 254. Ebd., 265. Ebd., 266. Ebd. Ebd.

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durch den dieses allein geschehen könnte."70 Die Leidenschaft wird von Kant als eine „Krankheit" bezeichnet, die sich „tief einwurzelt", während demgegenüber der Affekt nur ein „Rausch" ist, der vergeht und der die Wirksamkeit der Vernunft nicht grundsätzlich antastet.71 Die Überlegungen Kants werden vielleicht nicht jedem einleuchten. Man könnte fragen: Warum sind wir glücksfähig nur, wenn wir die Wirksamkeit unserer Vernunft sicherstellen? Ist denn Glück nicht im Gegenteil allein im Rausch eines überschwänglichen Gefühls lebendig und in der Radikalität einer Leidenschaft, der wir uns ganz verschreiben? Das behauptet zum Beispiel Nietzsche. Was haben die „Moralprediger", sagt er in der Fröhlichen Wissenschaß, „vom Unglükke der leidenschaftlichen Menschen uns vorgelogen!- ja, lügen ist hier das rechte Wort: sie haben um das überreiche Glück dieser Art von Menschen recht wohl gewusst, aber es todtgeschwiegen, weil es eine Widerlegung ihrer Theorie war, nach der alles Glück erst mit der Vernichtung der Leidenschaft und dem Schweigen des Willens entsteht!"72 Zweifellos wird Kant mit seiner Position von Nietzsche als ein solcher Moralprediger begriffen. Nietzsche preist das Glück des Augenblicks, das nicht durch ein Höchstmaß an Lust als Maximum des Wohlbefindens ausgezeichnet sein soll, sondern durch ein Höchstmaß an Intensität der Empfindung. Diese äußerste Empfindung sieht Nietzsche als eine durchaus gemischte und nicht nur positiv besetzte an. Gerade deshalb enthält sie in sich selbst den Vorschein eines Ganzen. In einem Aphorismus ebenfalls aus der Fröhlichen Wissenschaft spricht Nietzsche vom Glück als dem „tiefsten Genüsse des Augenblicks", in dem derjenige, der sich einem solchen Glück zu öffnen vermag, „überwältigt" werde „von Thränen und von der ganzen purpurnen Schwermuth des Glücklichen".73 Exakt darin also, daß die Fassung des Gemüts aufgehoben wird, was Kant zu vermeiden anrät, soll nach Nietzsche die Bedingung für die Erfahrung des tiefsten Glücks liegen. Damit plädiert Nietzsche für die Ausblendung jenes Horizontes an Glückserwartungen, den die individuellen Begriffe des Glücks aufspannen und der nach Kant für alles empirische Glück des Menschen konstitutiv ist. Der erfahrene Augenblick des Glücks ist danach stets eingebettet in ein Ganzes von Vorstellungen, auch Erinnerungen, die unsere Aspirationen des Glücks enthalten. Diese Dimension unterscheidet das Glück vom bloßen Vergnügen. Kant analysiert sie in einem schönen und luziden kleinen Text. Er trägt den Titel Von der Glückseeligkeit\\na stammt aus den 1780er Jahren. Kant schreibt: „Man kan nicht glück70 71 72 73

Ebd. Ebd., 252 und 266. Die fröhliche Wissenschaft 326 (KSA 3, 554). Die fröhliche Wissenschaft 302, ebd., 54l.

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lieh seyn, ohne nach seinem Begriffe von Glückseligkeit; man kann nicht elend seyn, ohne nach dem Begriffe, den man sich vom Elende macht, d.i. Glückseeligkeit und Elend sind nicht empfundene, sondern auf bloßer Reflexion beruhende Zustände. Vergnügen und Schmerz werden empfunden, ohne daß man den mindesten Begrif sich von ihnen machen könte, denn sie sind unmittelbare Einflüsse auf das Bewustseyn des Lebens. Aber nur dadurch, daß ich die Summe meiner Vergnügungen und Schmerzen in einem Ganzen zusammenfasse und das Leben nach der Schetzung derselben wünschenswerth oder unerwünscht halte, dadurch daß ich mich über diese Vergnügen selbst freue oder über den Schmerz betrübe, halte ich mich vor glüklich oder unglüklich und bin es auch."74 Und Kant fügt noch einen entscheidenden Satz hinzu: „Glückseeligkeit oder Elend haben nur ihre Bedeutung in Ansehung des Individuum, was den Zustand jenem Begriffe gemäs findet, der sich beständig verändern läßt."75 Ohne Vernunft als Ursprung unserer Begriffe vom Glück ist also das, was wir das Glück des Menschen nennen, gar nicht zu denken. Auch in diesem Punkt ist sich Kant im übrigen mit Aristoteles durchaus einig.76 Die Begriffe des Glücks aber sind immer Begriffe, in denen wir „die Summe (unserer) Vergnügungen und Schmerzen in einem Ganzen zusammenfassen". Deshalb wäre es widersinnig, die Weite dieses Blicks eintauschen zu wollen gegen die Blindheit der Befangenheit in einem einzigen Gefühl oder einer einzigen Neigung. Das heißt allerdings gar nicht, die im Licht der Vernunft stehenden Gefühle könnten nicht die tiefstempfundenen, die im Licht der Vernunft ergriffenen Neigungen nicht unsere intensivsten Begehrungen sein. Das unterstreicht Kant ausdrücklich.77 Es gibt gar keine Alternative zwischen Vernunft und Gefühl — auch und erst recht in Hinsicht auf das Glück nicht! Nun sollen einige wenige Beispiele, die Kant für ein verfehltes, die Vernunft paralysierendes Begehren sowie für einen die Vernunft lähmenden Affekt gibt, vorgestellt werden. Dabei mag es vielleicht auf den ersten Blick seltsam anmuten, daß Kant der Vernunft sogar auf unser Gefühl einen Einfluß zutraut, das doch jenseits willkürlicher Bestimmbarkeit zu sein scheint. Aber gerade das möchte 74 R. 610, AAXV, 26l. - Die für das menschliche Gluckserleben konsumtive Rolle eines Horizontes, innerhalb dessen der einzelne Glücksmoment allein seine Bedeutung hat, betont zu Recht und eindrucksvoll R. Spaemann in seinem Buch Glück und Wohlwollen (1989), bes. 110-122. M. Seel nimmt diesen Gedanken auf seine Weise auf; vgl. Versuch über die Form des Glücks (1995), 62 ff. Zu Kant fuhrt Spaemann aus, daß sich für ihn die Frage des GlUckens unseres Lebens im Horizont eines die einzelnen Lebenssituationen und -befindlichkeiten transzendierenden Ganzen eigendich nie stelle. Er kenne nur „die sittliche Gesinnung auf der einen Seite, Zustände subjektiven Wohlbefindens auf der anderen". (A.a.O., 121) Zum Beispiel der oben zitierte Text jedoch spricht gegen diese Einschätzung. 75 R. 610, AA XV, 261 (Hervorhebung von mir). 76 Vgl. U. Wolf, Über den Sinn der Aristotelischen Mesoteslehre (1995). 77 Vgl. Anthropologie, AA VII, 254.

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Kant zeigen: Die Vernunft vermag unsere Affektivität zu durchbilden und dadurch unsere Glücksfähigkeit zu steigern. Zugleich ist die Vernunft — umgekehrt - angewiesen auf die „Belebung" durch eine in ihrem Sinne gestimmte Affektivität, um ihre volle Wirksamkeit zu entfalten.78 Eine Zweiweltenlehre, der zufolge Natur und Vernunft des Menschen ihre strikt voneinander geschiedenen, je eigenen Wege gehen und die Vernunft der Natur nur als Gewalt, nicht als Bildnerin entgegentritt, entspricht somit nicht der Auffassung Kants. Nun zu den Beispielen. Begonnen werden soll mit dem Affekt, den wir so beherrschend werden lassen können, daß unsere Vernunft nicht mehr zu Worte kommt. „Der Reiche", schreibt Kant, „welchem sein Bedienter bei einem Feste einen schönen und seltenen gläsernen Pokal im Herumtragen ungeschickterweise zerbricht, würde diesen Zufall für nichts halten, wenn er in demselben Augenblikke diesen Verlust «««Vergnügens mit der Menge aller Vergnügen, die ihm sein glücklicher Zustand als eines reichen Mannes darbietet, vergliche. Nun überläßt er sich aber ganz allein diesem Gefühl des Schmerzes (ohne jene Berechnung in Gedanken schnell zu machen); kein Wunder also, daß ihm dabei so zu Muthe wird, als ob seine ganze Glückseligkeit verloren wäre."79 Das vergleichsweise Harmlose des Affekts liegt darin, daß er wie ein Rausch ist, der ebenso schnell, wie er entsteht, auch wieder vergeht. Dagegen bildet die Leidenschaft als Zeugnis einer dauernden Selbstentmachtung der Vernunft die eigentliche Bedrohung unserer Glücksfähigkeit. Nicht nur fixiert sie uns auf die Sorge um eine einzige Neigung, so daß wir uns selbst in Ketten legen. Nicht einmal das mit ihr verbundene Ziel, dem sie so beharrlich wie blind nachjagt, verfolgt sie mit Aussicht auf Erfolg. Ein Beispiel für eine Leidenschaft, das Kant immer wieder behandelt, ist die Ehrsucht oder Ehrbegierde. Wir alle wollen von Anderen geachtet und geschätzt werden. Die Ehrsucht jedoch will mehr, sie leitet, sagt Kant, das Begehren, ein Gegenstand der Hoch&ditung Anderer zu sein.80 Sie ist von der Ehrliebe zu unterscheiden, die nur darauf sieht, ein Gegenstand der Achtung der Anderen zu bleiben. Das aber kann ein jeder fordern; es ist nichts als sein gutes Recht. Die Ehrsucht demgegenüber ist anmaßend, weil sie vom Anderen eine besondere Achtung verlangt, die indes niemals einforderbar ist. Der Ehrsüchtige „maßet sich an die Urtheile anderer nach seiner Meynung zu zwingen." Die Urteile Anderer aber sind frei. Deshalb „thut" der Ehrsüchtige, wie Kant sagt, „einen Eingriff in die Rechte aller Menschen". Die Folge ist: „Demnach werden wir dem Menschen, der ehrbegierig ist, gleich wider-

78 Vgl. ebd, 253 f. 79 Ebd., 254. 80 Vgl. hier und im folgenden: Moral Mrongovius, AA XXVII, 1534.

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stand leisten". So verfehlt der Ehrsüchtige gerade das, was er zu erreichen sucht: die Hochschätzung der Menschen. In der von ihm selbst veröffentlichten Anthropologievorlesung faßt Kant den Widersinn im Streben des Ehrsüchtigen so zusammen: „Die Ehrbegierde eines Menschen mag immer eine durch die Vernunft gebilligte Richtung seiner Neigung sein; aber der Ehrbegierige will doch auch von ändern geliebt sein, er bedarfgefälligen Umgang mit Anderen, Erhaltung seines Vermögenzustandes u.d.g. mehr. Ist er nun aber leidenschaßlich-ehrbegieng, so ist er blind für diese Zwecke, dazu ihn doch seine Neigungen gleichfalls einladen, und daß er von ändern gehaßt, oder im Umgange geflohen zu werden, oder durch Aufwand zu verarmen Gefahr läuft, - das übersieht er alles." Und Kant schließt: „Es ist Thorheit (den Theil seines Zwecks zum Ganzen zu machen), die der Vernunft selbst in ihrem formalen Princip gerade widerspricht."81 Es liegt auf der Hand, daß der in die Leidenschaft Verfangene Aussichten auf Erfüllung seiner Wünsche und damit Aussichten seines Glücks nicht selten selbst zerstört. Das geschieht aber dadurch, daß er seine Vernunft nicht zum Zuge kommen läßt. Sie ist es, die ein Ganzes in den Blick nimmt, in dessen Rahmen alles Einzelne erst seinen Rang und sein Gewicht erhält. Auch ist wohl deutlich geworden, daß Kants Behauptung eines systematischen Vorrangs der „Privatklugheit" vor der „Weltklugheit" begründet ist. Aus dem verfehlten Umgang mit dem eigenen Begehren erwächst der verfehlte Umgang mit Eigenwillen und Eigensinn der Anderen.

35. Zwei Begriffe vom Ganzen des Glücks Nachdem die Frage nach einer klugen Gestaltung unseres Begehrens in negativer Hinsicht beantwortet ist, stellt sie sich nun — konstruktiv — im Blick auf seine positive Form. Es hatte sich ergeben, daß der Mensch ohne Begriffe, die er sich vom Ganzen der Erfüllung seines Lebens macht, nicht glücklich sein kann. Welchen Begriff oder welche Begriffe vom Ganzen aber können wir als endliche und begrenzte Wesen denn überhaupt vorstellen? Seit den Anfängen seiner Versuche zur Grundlegung einer philosophischen Ethik unterscheidet Kant zwischen zweien solcher Begriffe. An beiden können wir unser Streben nach dem Glücklichsein orientieren. In einer frühen Reflexion lesen wir, was für Kant Erfüllung in einem formalen Sinn heißt. Sie ist ja nicht als eine Größe zu verstehen, die objektivierbar ist und 8l AA VII, 266.

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sich von dem nach ihr verlangenden Individuum in dieser Weise ablösen ließe. Verhielte es sich so, dann könnten wir Werte auf einer Skala eintragen und so den Grad individueller Daseinserfullung messen. In der genannten Reflexion spricht Kant nicht ausdrücklich von Erfüllung, sondern von Zufriedenheit und von Wohlbefinden. Die Zufriedenheit jedoch erhält erst beim späteren Kant eine terminologische Präzisierung;82 sie wird dann zum Gegenbegriff einer Erfüllung des Lebens, die gerade nicht auf Selbstgenügsamkeit beruht, sondern erst in der beglückenden Übereinstimmung mit dem zu haben ist, was wir nicht selbst sind. Diese Konnotationen aber sind in unserem frühen Text aus der Zeit der Beobachtungen noch nicht enthalten. Dort also gibt Kant die folgende formale Bestimmung von Zufriedenheit bzw. Erfüllung: „Das Wohlbefinden besteht aus dem Verhältnis des Genusses zu den Begierden; wenn iener diesen gleich ist, so heißt es Zufriedenheit."83 Jetzt sind prinzipiell zwei Strategien des Umgangs mit unserem Begehren denkbar. Sie aber sind Anwendungen zweier Begriffe, die wir uns vom Ganzen seiner Erfüllung machen. Zum einen können wir versuchen, in unserem Begehren bescheiden zu sein und unsere Bedürfnisse auf möglichst wenige und elementare zu reduzieren. Der Vorteil, den wir uns versprechen, liegt in der Hoffnung, diesen wenigen Begehrungen umso leichter und befriedigender nachkommen zu können. Auf der anderen Seite können wir vielfältige und raffinierte Bedürfnisse ausbilden, von deren Erfüllung wir ein umso reicheres Glück erwarten. Aber welche der beiden Strategien wir auch verfolgen: Bei erfolgreicher Anwendung wäre unser Wohlbefinden nach der oben zitierten Überlegung Kants rein rechnerisch betrachtet beide Male gleich. Als Quotient des Verhältnisses von Verlangen und Genuß hätte es in beiden Fällen den Wert Eins: „Die Zufriedenheit macht Gerade ein ganzes aus, und es ist einerley, ob viel Genuß in solchem Verhältnis zu viel Begierden oder wenig Genuß zu wenig Begierden stehen."84 Welchem Weg sollten wir den Vorzug geben? Die in Frage stehende Alternative läßt sich unter Rückgriff auf die von Kant benutzte Terminologie auch so formulieren: Ist es Natur oder Kunst, der wir zu unserem Glück folgen sollten?85 Der Natur zu folgen hieße, unsere Bedürfnisse in dem von der Natur vorgegebenen Rahmen zu halten: „Die Natur hat nur auf wenige Stücke unsre Glückseeligkeit fest gesezzet, wir können immer glücklicher seyn, wenn wir uns nicht nur selbst unnöthige Bedürfniße aufbürden möchten."86 82 Vgl. die Ausführungen im Fortgang dieses Kapitels. Vgl. auch Kap. 37. 83 R. 6584 (1764-1768), AAXK, 95. 84 Ebd., 95 £ 85 Die so gefaßte Alternative taucht in allen Ethikvorlesungen Kants auf. Vgl. auch R. 6584, 6593, AA XIX, 94 f, 98 f. 86 Praktische Philosophie Powalski, AA XXVII, 102.

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Es ist dies ersichtlich ein Plädoyer dafür, in der Erfüllung weniger Begierden einen umso ungefährdeteren Lebensgenuß zu suchen. Es ist ein Glück der Genügsamkeit, das hier in den Blick genommen wird. Der Kunst zu folgen hieße demgegenüber, die von der Natur angelegten Bedürfnisse möglichst weitgehend zu kultivieren. Zu dieser Kultivierung gehört zwangsläufig ihre Vervielfältigung, die mit der Ausdifferenzierung vormals ungeschliffener, ,roher' Begehrungen einhergeht. Die Anzahl der Begierden wächst also und — so suggeriert es zumindest die oben zitierte Überlegung Kants — auch der zu erwartende Genuß. Freilich ist diese Aussicht auf ein Glück der Üppigkeit auch jederzeit begleitet von einem erhöhten Aufwand an Mitteln, an Einsatz, an Geschick und entsprechenden Möglichkeiten, fehlzugehen. Das Risiko eines Scheiterns an meinen Ambitionen steigt. Welcher Strategie, für sein Lebensglück Sorge zu tragen, nun gibt Kant mit welchen Argumenten den Vorzug? Nach der Nachschrift, die Johann Friedrich Vigilantius von Kants letzter Ethikvorlesung angefertigt hat,87 hat Kant die Option einer Minimierung der Bedürfnisse und einer entsprechenden Reduktion der Glücksansprüche favorisiert: „H. Kant meint, daß das Princip (sc. der Glückseligkeit), wenn es sonst erreichbar wäre, nach dem System des Diogenes Vorzug für den Epicur verdiene, da im Entbehren mehr Vergnügen enthalten sey, als in der Last aller dazu erworbener Mittel".88 Die Prinzipien von „Natur" oder „Kunst" als Prinzipien des Glücksstrebens werden hier verschiedenen philosophischen Schulen zugeordnet. Das ist stets Kants Verfahren, wenn er sie diskutiert. Wir finden es in sämtlichen Vorlesungsnachschriften. Die Kyniker, namentlich der von Kant immer wieder genannte Diogenes von Sinope, sind Gewährsleute für die Forderung, das Glück im Leben nach der Natur zu suchen. Epikur dient als Gegenfigur und Bezugspunkt eines an Regeln der Kunst orientierten Strebens nach dem Glück.89 Natürlich liegt Kant die kynische Position von seiner intensiven Beschäftigung mit Rousseau her nahe. Nicht von ungefähr nennt er Rousseau den „feinen Diogenes".90 In Vigilantius' Nachschrift lesen wir die folgende Skizze der kynischen Vorstellung vom Glücken des Lebens: Diogenes und Antisthenes hätten das „Princip der Glückseligkeit" als das leitende Prinzip sämtlicher unserer Bestrebungen 87 Johann Friedrich Vigilantius war Justizrat und Kants Rechtsberater. Er war mit Kant befreundet und besuchte seine Vorlesungen. Seine Mitschrift des Kantischen Ethikkollegs aus dem Semester 1793/94 dokumentiert dessen Endgestalt. Vgl. G. Lehmann, Einleitung zu den Vorlesungen über Moralphilosophie, AA XXVII, 1045. 88 Metaphysik der Sitten Vigilantius, ebd., 484. 89 Zum Bild, das sich Kant von Epikur macht, zur Rolle des epikureischen Entwurfs einer Ethik für Kants Versuche ihrer Grundlegung und zum systematischen Vergleich beider Konzepte vgl. K. Düsing, Kant und Epikur. Untersuchungen zum Problem der Grundlegung einer Ethik (1976). 90 Moralphilosophie Collins, AA XXVII, 248. Zum Kynismus Rousseaus vgl. vor allem seinen Discours sur ks Sciences et lesArts (1750).

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angesehen; „das größte Gut setzten sie in dem abstine, d.i. dem Vergnügen, entbehren zu können, mithin in dem Genuß des Lebens unter den möglichst wenigen Bedürfnissen, die Epicur dagegen nicht genug häufen konnte, um Genuß zu fühlen. Daher war die Keule des Hercules ihr Symbol, wodurch die Stärke der Seele mit Selbstgenügsamkeit angedeutet wird. - Ferner das Faß des Diogenes d.i. ein von Thon erbautes oder in Felsen gehauenes Behältniß zur Wohnung: — das Wegwerfen des Scherbens, sobald Diogenes wahrnahm, daß man das Wasser mit der Hand schöpfen könnte."91 Die Nachschriften Mrongovius und Collins, die Kants Ethikkolleg in den Wintersemestern 1782/83 und 1784/85 dokumentieren, enthalten in Übereinstimmung mit Vigilantius positive Einschätzungen der kynischen Überzeugungen. Zugleich aber werden Grenzen ihrer praktischen Anwendung deutlich, die auch schon Rousseau gesehen und reflektiert hat. Die Kyniker, so lesen wir in den Nachschriften, hätten behauptet: „Das höchste Gut sey eine Sache der Natur und nicht der Kunst. Beym Diogenes waren die Mittel zur Glückseeligkeit negativ. Er sagte: der Mensch ist von Natur mit wenigem zufrieden; weil er von Natur keine große Bedürfnisse hat, so empfindet er auch nicht den Mangel der Mittel, und genießt unter diesem Mangel seine Glückseeligkeit. Diogenes hatte vieles für sich, denn der Vorrath an Mittel und Gaben vermehrt unsere Bedürfniße, und jemehr Mittel wir haben, um so viel mehr Bedürfniße ereignen sich, und die Neigung der Menschen nach größerer Befriedigung wächst immer mehr, das Gemüth ist also immer unruhig. Rousseau behauptet es auch, daß unser Wille von Natur gut sey, nur wir würden immer corrumpirt, die Natur hätte uns auch mit allem versehen, und wir häufen unsere Bedürfniße; dahero will er auch, daß die Erziehung der Kinder negative seyn soll."92 Doch gerade im £mile, auf den Kant hier anspielt, ist Rousseau sehr aufmerksam auf die Grenzen einer solchen bloß negativen Erziehung. Denn der Zögling muß in der je vorgefundenen Gesellschaft bestehen; er muß sich in einer Welt bewegen, die durch und durch von Regeln der Kunst beherrscht wird. Wenn auch Kant im Vorlesungstext Epikur die Einsicht zuschreibt, es müsse Kunst zur Unschuld der Natur hinzukommen, sonst sei „die Einfalt und Unschuld nicht gesichert", so mutet sein Beispiel doch wie von Rousseau entlehnt an: „Denn wenn zb: ein unschuldiges Landmädchen von allen gewöhnlichen Lastern frey ist, so ist der Mangel an Gelegenheit zu solcher Ausschweifung die Ursache davon, und der Landmann ist nicht deßwegen mit seiner schlechten Speise zufrieden weil er einsieht, daß es eine nahrhafte sey; sondern weil es ihm an beßerer Nahrung fehlt; und gäbe man ihm Gelegenheit beßer zu leben, so würde er es auch begehren."93 91 Metaphysik der Sitten Vigilantius, AA XXVII, 484. Vgl. Diogenes Laertius VI 2 und VI 37. 92 Moral Mrongovius, AA XXVII, 1401 f. Vgl. Moralphilosophie Collins, ebd., 248 f.

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Wenn sie eine Lebenshaltung und nicht aus bloßer Not geboren sein soll, muß die Einfalt auf Gründe gestützt werden, sie muß auf der Einsicht des Einzelnen beruhen. Auch der kynische Weg zum Glück ist mithin gar nicht gangbar, ohne daß Regeln der Kunst angewandt würden. Es bedarf der Kunst, um jene „Stärke der Seele" auszubilden, die zur Minimierung der Bedürfnisse nötig ist.94 Es bedarf der Kunst, um in der Gesellschaft der Menschen leben zu können, die menschlich gerade dadurch ist, daß die natürlichen Bedürfnisse und Antriebe immer schon kulturell überformt sind. Das heißt, sie treten gar nicht mehr als bloß naturwüchsige in Erscheinung. Vielmehr sind sie gebunden an Formen, die der Mensch ihnen gegeben hat und in deren Gestalt sie sich artikulieren. Der kynischen Idee vom glücklichen Leben läßt sich einigermaßen konsequent wohl nur im Rückzug von der Gesellschaft der Menschen folgen, die stets getragen ist von „Kunst". Entsprechend zieht es Diogenes in seine Tonne, Rousseau in die Abgeschiedenheit der Eremitage von Montmorency. Dieselben Nachschriften von Collins und Mrongovius enthalten in dem Kapitel „Von den Pflichten gegen sich selbst in Ansehung des äußern Zustandes" eine sehr differenzierte Argumentation Kants zur Frage des klugen und von „Kunst" geleiteten Umgangs mit unserem Begehren. Danach ist zu bezweifeln, daß Kant - trotz aller nachweisbaren Sympathie - tatsächlich ein Anhänger kynischer Enthaltsamkeit gegenüber der Raffinesse des Genusses ist. Er beginnt seine Ausführungen mit dem Hinweis, „daß der Mensch einen Quell der Glückseeligkeit in sich selbst hat".95 Aber es ist ihm offenbar wichtig, sogleich vor einem möglichen Mißverständnis zu warnen: „Diese (sc. Quelle der Glückseligkeit) kann zwar nicht darin bestehn, daß der Mensch eine völlige Unabhängigkeit von allen Bedürfnissen und äußern Ursachen sich erwerbe, allein sie kann so seyn, daß er wenig bedarf." Denn für den Fall, daß sich seine Neigung auf etwas richtet, von dem er sieht, daß er es nicht haben kann, muß er sie mäßigen und bezähmen können. Andernfalls schlägt er sich selbst in die Fesseln der Leidenschaft. Wie oben gezeigt zerstört er sich mit einer solchen Fixierung auf eine einzige Neigung selbst Aussichten auf jenes Glück, nach dem es ihn so verzweifelt verlangt. Die Ausbildung der Fähigkeit zur Autokratie, die uns instand setzt, gegebenenfalls auf die Verfolgung bestimmter unserer Neigungen zu verzichten oder sie einzuschränken, ist insofern die Erschließung einer uns selbst eigenen „Quelle" des Glücks — genauer: der Wahrung unserer Glücksfähigkeit. 93 Ebd., 1402. Vgl. auch ebd., 249. 94 Vgl. Metaphysik der Sitten Vigilantius, ebd., 484. 95 Vgl. hier und im folgenden: Moralphilosophie Collins, ebd., 392 f und Moral Mrongovius, ebd., 1521.

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Die beiden zur Debatte stehenden Begriffe, die der Mensch sich zur Orientierung seines Glücksstrebens machen kann - möglichst wenig Begehren in Erwartung eines bescheidenen, aber sicheren Glücks, die Kultivierung vieler Begehrungen in der Hoffnung auf ein reiches Glück - konfrontiert Kant in seiner Vorlesung miteinander. Dabei wird schnell deutlich, daß er in dem ersteren letztlich gar keinen Begriff des Glücks sieht. Zwar fordert er, die Fähigkeit zur Mäßigung des Begehrens zu entfalten. Denn durch diese Leistung der Selbstdistanzierung eröffnen wir uns einen Raum der Freiheit. Wir gewinnen Urteilsfähigkeit im Blick auf das, was wir in unserem eigenen Interesse tun sollten. Dieses Interesse stimmt eben nicht immer mit der Richtung überein, in die unsere Neigungen weisen. Die Disziplin uns selbst gegenüber, die sich in der Ausübung der Selbstherrschaft ausdrückt, kann aber nicht alles und die Erfüllung unseres Lebens sein. Der Mensch muß, sagt Kant, „ferner solche principia haben, sich [...] Annehmlichkeit des Lebens zu verschaffen". Dazu bedarf er notwendig der „äußeren Mittel", er vermag sie nicht allein aus sich selbst zu schöpfen. Diese „Mittel des Wohlbefindens" sind entweder „Mittel der Bedürfniß und der Nothdurft, oder der Gemächlichkeit". Weit entfernt davon, daß sie unser Leben in irgendeiner Weise erfüllen könnte, dient die Befriedigung der Notdurft, der wesentlichsten Bedürfnisse, nach Kant „nur dazu, daß man lebe". Im Gegensatz dazu dienen die Mittel der Gemächlichkeit dazu, daß man gut lebt. Mit der Erfüllung des Bedürfnisses, sagt Kant, ist jederzeit Zufriedenheit verbunden. Zufriedenheit aber hat einen rein negativen Charakter im Sinne des Freiseins von Ungemach und Unglück. Sie bedeutet gerade keine positiv gefüllte Qualität des Daseins: „Allein wenn ich zufrieden bin mit den Mitteln der Bedürfniß, denn habe ich noch keine Ergötzlichkeit. Die Zufriedenheit ist was negatives, allein die Annehmlichkeiten was positives." Kant spricht sich im folgenden deutlich dagegen aus, ein Leben unter Verzicht auf Annehmlichkeit, Ergötzlichkeit und Vergnügen auszuzeichnen. In der Zufriedenheit als Abwesenheit von Schmerz und Leid geht menschliches Dasein nicht auf. Zwar argumentiert Kant dafür, daß wir uns angewöhnen müssen, Vergnügen und Ergötzen zu entbehren und in Situationen der Belastungen und Plagen die Zufriedenheit mit unserem Leben zu wahren. Aber den Vergnügungen ohne Not zu entsagen und in solcher Askese ein Programm zur Herbeiführung eines .sicheren' Lebensglücks zu sehen, ist für ihn gar nichts Verdienstvolles, sondern „Mönchs Tugend".96 Vergnügen und die Beglückung durch das, was wir nicht selbst sind, betrachtet er als Zustände der Erfüllung, die dem menschlichen Leben „angemeßen" sind.97 Aussichten auf solche Erfüllungen gehören unabding96 Moralphilosophie Collins, AA XXVII, 393. Vgl. Moral Mrongovius, ebd., 1521 97 Ebd.

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bar zum menschlichen Leben, das sich eben nicht schon selbst genug ist. Dies betont Kant, gegen die Positionen der hellenistischen Philosophie und insbesondere gegen die Stoiker. Gleichwohl greift er die stoische Maxime sustine et abstine auf98 und unternimmt es, sie in ihrem Erklärungswert aufzuschließen.99 Zwar gehört das über die bloße Zufriedenheit hinausgehende Verlangen nach Freude und Glück zum Menschsein. Denn der Mensch ist selbst kein Ganzes, das gelassen und erfüllt in sich ruht. Doch Freude und Glück sollen wir nach Kants Überzeugung „nur so gemessen, daß wir sie auch entbehren können und nicht zu Bedürfnissen machen, alsdenn sind wir abstinent gewesen". Damit ist unsere grundsätzliche Abhängigkeit von dem, was wir nicht selbst sind und in der Hand haben, natürlich keineswegs in Abrede gestellt. Denn es ist das Ergötzen an etwas, die Freude über etwas, das Glück an Beglückendem, das wir empfinden und in dem wir uns selbst am Anderen genießen. Genau deshalb „versagt" sich der Stoiker, wie Kant anmerkt, solchen Genuß.100 Da er sich nicht allein aus uns selbst heraus erzeugen läßt und auch auf Bedingungen beruht, die unserem Einfluß entzogen sind, gefährdet er die von den Stoikern propagierte Autarkie des Menschen. Kant dagegen ist der Ansicht, daß der Mensch „so viel Vergnügen genießen" soll, „als er nur kann und will",101 — sofern er kein Gebot der Moral verletzt. Obwohl wir uns somit Kant zufolge dem Genuß an den Dingen öffnen sollen, hält er es doch für ratsam, daß wir nicht gleichsam blind in ihm aufgehen. Wir sollen uns bei aller Bedürftigkeit und bei aller für unsere ganze Existenz konstitutiven Hinwendung an die Wirklichkeit des Anderen auch nicht an sie verlieren. Ansonsten würden wir unfähig, den jederzeit möglichen und von uns gar nicht zu beeinflussenden Verlust genuß- und glücksversprechender Wirklichkeiten zu ertragen. Dann zeigt sich die Welt, auf die wir unaufgebbar bezogen bleiben, nicht länger als Quell von Gütern, sondern von Ungunst und Übel. Solche Übel, sagt Kant, „die uns das Schicksahl zuschickt, und die einmahl nicht zu ändern sind, denn das Schicksahl ist eben so unmöglich aufzuhalten, als eine Mauer die schon einfällt", müssen wir versuchen, „mit fröhlichem Muthe" zu ertragen.102 Jetzt kommt es ungeachtet des für uns konstitutiven Auslangens nach einer Wirklichkeit des 98 Sie geht auf Epiktet ( ) zurück. Vgl. Gellius, Noctae Atticae XVII 19, 6. 99 Vgl. hier und im folgenden: Moralphilosophie Collins, AA XXVII, 393 f; vgl. auch: Moral Mrongovius, ebd., 1521 f. 100 Moralphilosophie Collins, AA XXVII, 395, Z. 25 f. Vgl. ebd., 1523, Z. 23 f. 101 Ebd., 395. Vgl. ebd., 1523. 102 Ebd., 1523. - Von diesem „fröhlichen Muth" oder auch vom „fröhlichen Herzen" spricht Kant in der Regel mit Bezug auf Epikur. Vgl. AA XXV, 169, 1078, 1320. An den beiden zuletzt genannten Stellen tut er das - in genauer Parallele zur hier herangezogenen Ethikvorlesung - im Zusammenhang einer Diskussion des stoischen sustine et abstine.

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Anderen ganz auf uns selbst und das Vertrauen auf die eigenen Kräfte an. Es geht um die Selbstbehauptung angesichts einer Welt, die sich uns und unseren Aspirationen gegenüber verschlossen zeigt und als widrig erweist. Verhält es sich umgekehrt und kommt sie uns freundlich entgegen oder wird sie uns gar zum Ort einer überwältigenden Erfahrung der Beglückung, so mahnt Kant — wie gesehen — unsere Bereitschaft zum Gedanken des Abstandes an. Es ist der Gedanke an das Ganze eines qualitativ und quantitativ vollendeten Glücks, wie es dem endlichen menschlichen Leben per definitionem verwehrt bleibt. Der Vorbehalt des abstine im Genuß der Welt ist nötig, um zum sustine fähig zu sein. Es handelt sich überhaupt nicht darum, daß der Mensch sich ohne Sinn und Zweck Freude und Lust an der Welt versagen soll: „Wir dürfen uns nicht selbst Ungemächlichkeiten auflegen, alle Uebel versuchen und uns durch Casteyung züchtigen". Das ist „Mönchstugend von der sich die philosophische unterscheidet".103 Freilich ist Kant klar, daß die menschliche Kapazität des sustine Grenzen hat. „Es giebt wahre Bedürfnisse des Lebens, deren Beraubung uns gänzlich unzufrieden macht, z: E. unbekleidet und ohne Nahrung zu seyn."104 Wovon wir uns aber zu unserem Besten unabhängig machen sollten, das sind „Scheinbedürfnisse".105 Sie sind nicht wert, daß ihnen nachgegangen wird. Welche aber sind Scheinbedürfnisse? Klar ist, daß sie zur Klasse der Bedürfnisse gehören, die gerade nicht Minimalbedürfnisse sind, deren Befriedigung zum Überleben nötig ist. Innerhalb solcher Luxusbedürfnisse schlägt Kant Differenzierungen vor: „Wenn wir die Bedürfnisse unterscheiden wollen, so können wir das Uebermaß im Genuß von der Ergötzlichkeit, Ueppigkeit, und das Uebermaß von der Gemächlichkeit, Weichlichkeit nennen."106 Von Weichlichkeit und Üppigkeit handelt Kant im Rahmen des einschlägigen Abschnitts seines Ethikkollegs auf eine kontrastierende Weise. Luxus ist beides, Weichlichkeit und Üppigkeit. Die Differenz liegt darin, daß „der üppige Luxus thätig (ist), der weichliche aber läßig."107 „Die thätige Ueppigkeit", sagt Kant, „ist den Kräften des Menschen nützlich, dadurch werden die Kräfte des Lebens gestärkt, so gehört reiten zum üppigen luxu. Alle Arten von läßigen Weichlichkeiten sind sehr schädlich, dadurch werden die Kräfte des Menschlichen Lebens verringert; so gehört das Sänften tragen und Kutschen fahren zur Weichlichkeit. Wer zum üppigen luxu geneigt sich, der erhält dieThätigkeit bey sich und ändern Menschen. Daher ist es beßer wenn man sich auf die Verfeinerung des Genußes als auf 103 104 105 106 107

Moralphilosophie Collins, AA XXVII, 393. Vgl. Moral Mrongovius, ebd., 1522. Ebd., 394; vgl. ebd., 1522. Ebd. Ebd. Ebd., 1522; vgl. ebd., 394.

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die Weichlichkeit legt, denn der üppige Luxus excolirt unsere Kräfte, und erhält dieThätigkeitU]."108 Die Üppigkeit ist für Kant dem Programm der Bedürfnisreduktion deshalb vorzuziehen, weil sie die Ausbildung vieler und exquisiter Neigungen mit sich bringt und eine entsprechende Entfaltung der zu ihrer Befriedigung nötigen Fähigkeiten und Fertigkeiten nötig macht. Tätigkeit aber ist es nach Kant, die weit mehr als der Besitz von Glücksgütern eine Erfüllung des menschlichen Lebens verspricht. Dieser zentralen These Kants werden wir uns jetzt zuwenden.

36. Tätiges Glück Ohne Beschäftigung, ohne Arbeit und Spiel, ohne seine Kräfte zu gebrauchen und zu entwickeln, kann der Mensch in Kants Augen kein glückliches Leben haben. „Das größte Glück des Menschen ist, daß er selber der Urheber seiner Glückseeligkeit ist, wenn er fühlt, das zu geniessen, was er sich selbst erworben hat. Der Mensch kann ohne Arbeit niemals zufrieden seyn. Wer sich in Ruhe setzen will und befreyt sich von aller Arbeit, der fühlt und genießt gar nicht sein Leben; sondern, so fern er thätig ist, fühlt er, daß er lebt".109 Das Spiel kommt neben der Arbeit als die komplementäre zweite Form, durch die wir uns mit unseren Kräften in Tätigkeit setzen, hinzu. Zu ihrer Unterscheidung wird noch Eingehendes zu sagen sein. Daß Kant das Glücklichsein mit keinem zu gewinnenden Gut, was es auch sei, verbunden sieht, ist verständlich. Denn welches Gut wäre fest, dauerhaft und unveränderlich in unsere Hand gegeben? Auch ist die Zurückhaltung, das Glück an den Besitz von Gütern zu knüpfen, der für alles Leben konsumtiven Dynamik angemessen. Der Mensch als lebendiger kann keine Ruhe finden und kein definitives Lebensziel, dessen Erreichen sein Glück verbürgte. In dieser Verfassung des Menschen, der Wandel und Vergänglichkeit eingeschrieben sind, liegt dann zum Beispiel für Schopenhauer der Grund, ihn für glücksunfähig zu halten. Auch bei Kant selbst, zum Beispiel in der Kritik der UrteiUkrafi, finden sich dahingehende Überlegungen.110 Dort grenzt er überdies zwei Zwecke menschlichen Lebens voneinander ab, die er in der Ethikvorlesung zusammenbindet. Er trennt zwischen der Entfaltung unserer Bedürfnisse und der analogen Ausbildung unserer Kräfte — also 108 Ebd. 109 Ebd., 396; vgi. ebd., 1523 f. 110 Kritik der Urteilskraft, AA V, 430.

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unserer Kultivierung— und unserem Streben nach Glück. In der Kritik der Urteilskrafi unterscheidet er zwischen beiden als zweierlei Zwecken, in Gestalt derer der Mensch als letzter Zweck der Natur sich selber Zweck ist: „Wir haben im vorigen gezeigt, daß wir den Menschen nicht bloß wie alle organisirten Wesen als Naturzweck, sondern auch hier auf Erden als den letzten Zweck der Natur, in Beziehung aufweichen alle übrige Naturdinge ein System von Zwecken ausmachen, nach Grundsätzen der Vernunft zwar nicht für die bestimmende, doch für die reflectirende Urtheilskraft zu beurtheilen hinreichende Ursache haben. Wenn nun dasjenige im Menschen selbst angetroffen werden muß, was als Zweck durch seine Verknüpfung mit der Natur befördert werden soll: so muß entweder der Zweck von der Art sein, daß er selbst durch die Natur in ihrer Wohlthätigkeit befriedigt werden kann; oder es ist die Tauglichkeit und Geschicklichkeit zu allerlei Zwecken, wozu die Natur (äußerlich und innerlich) von ihm gebraucht werden könne. Der erste Zweck der Natur würde die Glückseligkeit, der zweite die Cultur des Menschen sein."111 Die Glückseligkeit, so argumentiert Kant in der dritten Kritik weiter, ist ein Zweck der Natur, der aber mit der Natur des Menschen gar nicht vereinbar ist. So müssen alle seine diesbezüglichen Bemühungen letztlich ins Leere laufen. Selbst wenn sich eine bestimmte Strategie des Glücksstrebens definitiv als die richtige erweisen ließe, selbst wenn feststünde, worin das Glück besteht, selbst wenn eine absolut perfektionierte Geschicklichkeit zur Verwirklichung jeder beliebigen unserer Absichten führte: „so würde doch, was der Mensch unter Glückseligkeit versteht, und was in der That sein eigener letzter Naturzweck (nicht Zweck der Freiheit) ist, von ihm nie erreicht werden; denn seine Natur ist nicht von der Art, irgendwo im Besitze und Genüsse aufzuhören und befriedigt zu werden." Die „Natur in uns selbst", sagt Kant, ist der Glückseligkeit „nicht empfänglich".112 Dennoch kann der Mensch gar nicht aufhören, weiterhin nach dem Glück zu streben. Es liegt in seiner Natur, auch wenn ebendiese Natur ihm eine beständige Enttäuschung seines Verlangens bereitet. Als Selbstzweck, der er unentrinnbar ist und dessen er sich auch bewußt ist, findet er keine Erfüllung. Allein im moralischen Handeln vermag er, sich selbst genug zu sein — das jedoch „unabhängig von der Natur".113 Nun gibt es neben der Glückseligkeit einen zweiten Zweck, in dessen Verfolgung der Mensch in „Verknüpfung mit der Natur"114 sich selbst Zweck ist. Das ist die Kultur. Sie ist die Arbeit des Menschen an sich selbst: daran, „sich selbst überhaupt Zwecke zu setzen und [...] die Natur den Maximen seiner freien Zwecke 111 112 113 114

Ebd., 429 f. Ebd., 430. Ebd., 431. Vgl. ebd., 429, Z. 34 f.

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überhaupt angemessen als Mittel zu gebrauchen".115 Sie ist Herausbildung der „Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt".116 Deshalb geht die Kultivierung des Menschen notwendig einher mit der Ausdifferenzierung seines Begehrens, der Vervielfältigung und Verfeinerung seiner Bedürfnisse. Diese Arbeit der Kultur an sich selber zu leisten, aber steht tatsächlich in der Macht des Menschen. Das unterscheidet die Kultur als letzten Zweck der Natur von der Glückseligkeit. So kommt Kant zu dem Schluß: „Also kann nur die Cultur der letzte Zweck sein, den man der Natur in Ansehung der Menschengattung beizulegen Ursache hat (nicht seine eigene Glückseligkeit auf Erden ...)."117 Im Hervorbringen von zweierlei jedoch besteht die Kultur: in der Herausbildung von Geschicklichkeit zu den verschiedensten Zwecken, insbesondere der Wissenschaft und Kunst, und in der Disziplinierung der Neigungen. Diese besteht „in der Befreiung des Willens von dem Despotism der Begierden, wodurch wir, an gewisse Naturdinge geheftet, unfähig gemacht werden, selbst zu wählen, indem wir uns die Triebe zu Fesseln dienen lassen, die uns die Natur nur statt Leitfäden beigegeben hat, um die Bestimmung der Thierheit in uns nicht zu vernachlässigen, oder gar zu verletzen, indeß wir doch frei genug sind, sie anzuziehen oder nachzulassen, zu verlängern oder zu verkürzen, nachdem es die Zwecke der Vernunft erfordern."118 Das vollzieht sich wie gezeigt dadurch, daß wir unsere natürlichen Neigungen in das Licht von Vernunftbegriffen stellen - von Begriffen, die wir uns vom Ganzen der Erfüllung des Lebens machen, von Begriffen, die wir im Blick auf die uns und Anderen schuldige Achtung haben. Auf diese Weise unterdrücken wir nicht etwa unsere Natürlichkeit, sondern wir bilden sie — und zwar nach unseren eigenen Ideen von uns selbst und dem, was wir sein wollen. Der ursprünglichen „Rohigkeit" unserer Begierden und Antriebe vermögen wir, sagt Kant, „immer mehr abzugewinnen und der Entwickelung der Menschheit Platz zu machen".119 Diese „Entwicklung der Menschheit" manifestiert sich für ihn vor allem in den Werken der schönen Kunst und der Wissenschaften. Humanität als Kunst des Abschleifens der „Rauhigkeit"120 macht den Menschen vielleicht noch nicht sittlich gut, doch in jedem Fall „gesittet": Dadurch gewinnen wir nach Kant „der Tyrannei des Sinnenhanges sehr viel ab" und geben der Vernunft Einfluß auf das Leben.121 Humanität besteht in der Arbeit an uns selbst, in der Erziehung unserer 115 116 117 118 119 120 121

Ebd., 431. Ebd. Ebd. Ebd., 432. Ebd., 433. Vgl. Logik, AA DC, 45. Kritik der Urteilskraft, AA V, 433.

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natürlichen Kräfte im Hinblick auf die Zwecke, die wir uns als vernünftige Wesen setzen. Diese Kräfte aber werden nach Kants Überzeugung durch die Übel, mit denen uns die Natur und die unverträgliche „Selbstsucht" der Menschen schlagen, gestärkt und gesteigert: in der Anstrengung, nicht zu unterliegen.122 Das ist wohl plausibel. Man denke etwa an das Motto, das Goethe für den ersten Teil von Dichtung und Wahrheitvrakat: - der Mensch, der nicht geschunden wird, wird nicht erzogen. Das ist eine bittere Wahrheit, aber doch wohl eine Wahrheit. Den vorgetragenen Überlegungen zur Kultivierbarkeit des Menschen fügt Kant noch eine für uns höchst aufschlußreiche Anmerkung an.123 Denn es muß jetzt die Frage interessieren: Wie verhalten sich Glück und Kultur zueinander? Nach den Ausführungen im Haupttext scheint es sich um zwei verschiedene Zwekke der Natur zu handeln, denen wir als Selbstzwecke immer schon nachgehen und die miteinander nicht in Verbindung stehen. Der eine - das Glück - ist uns definitiv unerreichbar, den anderen — die Kultur - können wir schrittweise verwirklichen. Über die Kultur fuhrt zudem der Weg zur Sittlichkeit.124 In der Fußnote betrachtet Kant beide Zwecke, Glück und Kultur, im Licht der Frage nach dem Wert unseres Lehens. Zuerst äußert er sich zum Glück: „Was das Leben für uns für einen Werth habe, wenn dieser bloß nach dem geschätzt wird, was man genießt (dem natürlichen Zweck der Summe aller Neigungen, der Glückseligkeit), ist leicht zu entscheiden. Er sinkt unter Null; denn wer wollte wohl das Leben unter denselben Bedingungen, oder auch nach einem neuen, selbstentworfenen (doch dem Naturlaufe gemäßen) Plane, der aber auch bloß auf Genuß gestellt wäre, aufs neue antreten?" Kant identifiziert hier das Glück mit dem Genuß des Lebens, und seine Bilanz fällt aufs Ganze gesehen sehr negativ aus. Doch es ist die Frage, ob es überhaupt angemessen ist, Glück und Genuß einander gleichzusetzen, wie Kant es zumindest an dieser Stelle tut. Damit nimmt er genau jene Naturalisierung des Glücks vor, die wir bei Schopenhauer gefunden und - mit Kant — kritisiert hatten.125 Nach der Behandlung des Glücks kommt Kant auf den zweiten Zweck der Natur zu sprechen, den der Mensch als Selbstzweck verfolgt, auf seine Kultivierung: „Welchen Werth das Leben dem zufolge habe, was es, nach dem Zwecke, den die Natur mit uns hat, geführt, in sich enthält und welches in dem besteht, was man thut (nicht bloß genießt), wo wir aber immer doch nur Mittel zu unbestimmtem Endzwecke sind, ist oben gezeigt worden. Es bleibt also wohl nichts 122 123 124 125

Ebd., 433 f. Vgl. hier und im folgenden: Kritik der Urteilskraft, AA V, 434 (Anm.). Vgl. Anthropologie, AA VII, 151-153. Vgl. oben, Kap. 4 f.

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übrig, als der Werdi, den wir unserem Leben selbst geben durch das, was wir nicht allein thun, sondern auch so unabhängig von der Natur 2weckmäßig thun, daß selbst die Existenz der Natur nur unter dieser Bedingung Zweck sein kann."126 Gezeigt hatte Kant im Haupttext, daß die Entfaltung aller unserer Kräfte, die Herstellung unserer „Tauglichkeit" zu beliebigen Zwecken — also die Kultivierung des Menschen — negativen Charakter insofern hat, als ein material zu bestimmendes Wozu dieser Leistung nicht ersichdich ist. Es sind nach den Ausführungen der dritten Kritik jedenfalls nicht Aussichten auf das Glück, die wir uns durch die Kultur eröffnen. Im Gegenteil schreibt Kant: „Das Übergewicht der Übel, welche die Verfeinerung des Geschmacks bis zur Idealisirung desselben und selbst der Luxus in Wissenschaften, als einer Nahrung für die Eitelkeit, durch die unzubefriedigende Menge der dadurch erzeugten Neigungen über uns ausschüttet, ist nicht zu bestreiten".127 Damit scheint Kant, zumindest was die Beförderung unseres Lebensglücks angeht, ähnlich wie später Freud einem Unbehagen an der Kultur Ausdruck zu geben. Allerdings bereitet die Kultur uns nach Kant durch die Disziplinierung des Begehrens vor, uns selbst in unserem Dasein so Zweck zu sein, daß wir unbedingter Endzweck sind. Endzweck sein heißt, uns selbst „eine solche Zweckbeziehung zu geben, die unabhängig von der Natur sich selbst genug" sein kann und „in der Natur gar nicht gesucht werden muß".128 Es ist deudich, daß Kant die moralische Selbstbestimmung im Blick hat. In ihrem Vollzug geben wir unserem Leben selbst einen absoluten Wert „durch das, was wir nicht allein thun, sondern auch so unabhängig von der Natur zweckmäßig thun, daß selbst die Existenz der Natur nur unter dieser Bedingung Zweck sein kann."129 Interessant ist nun, daß Kant wenig später, im folgenden Paragraphen der Kritik der Urteilskraß, in die Bestimmung des Endzweckes noch mehr einschließt als Moralität. Jetzt soll der Endzweck, den wir unserer Existenz setzen und in dem wir uns selbst Zweck sind, in der Idee des höchsten Gutes bestehen.130 Das höchste Gut aber enthält neben Moralität als den einen Teil ausdrücklich auch Glückseligkeit als den komplementären anderen. Somit begünstigte die Kultur nicht nur die Ausbildung der Sittlichkeit, sondern verbände sich auch mit dem Prospekt der Glückseligkeit. 126 Kritik der Urteilskraft, AA V, 434 (Anm.). 127 Ebd., 433. 128 Ebd., 431. 129 Ebd., 434 (Anm.). - Zum Verhältnis von Natur und Vernunft im Blick auf die für den Menschen wesentliche Fähigkeit, sich die Zwecke seines Daseins in Freiheit zu setzen, vgl. die aufschlußreichen Überlegungen von P. Guyer, in: Ends of Reason and Ends of Nature: The Place of Teleology in Kant's Ethics (2002). 130 AAV, 435.

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Daß sich mit Leistungen der Kultur Aussichten auf das Glück verknüpfen, das betont Kant eher als in der Kritik der Urteilskraft in seiner Ethik- und in seiner Anthropologievorlesung. Kultivierung, das hatte sich gezeigt, ist gleichbedeutend mit Tätigsein: mit Arbeit an sich selbst - der Disziplinierung und Verfeinerung des Begehrens - und mit Arbeit an der Gestaltung der Wirklichkeit, von der wir die Erfüllung unseres Begehrens erhoffen. Dazu haben wir Geschicklichkeit in den verschiedensten Hinsichten zu entwickeln. Ohne solches Tätigsein an sich selbst und am Anderen, die sich zueinander verhalten wie zwei Seiten einer Medaille, ist für Kant kein Leben denkbar und auch kein Lebensg/«