Kant – ein Kritiker Lessings?: Übereinstimmungen und Differenzen im Kontext von Religion und Aufklärung 9783110716191, 9783110716139, 9783110716245, 2020944399

Lessing and Kant were outstanding figures of the German Enlightenment and they certainly had many opinions in common. Th

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Kant – ein Kritiker Lessings?: Übereinstimmungen und Differenzen im Kontext von Religion und Aufklärung
 9783110716191, 9783110716139, 9783110716245, 2020944399

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
I Eine Erinnerung an Kants Grundlegung der „natürlichen Religion“ und an den Status der „geoffenbarten“ Religion
II Zur indirekten Auseinandersetzung zwischen Lessing und Kant: Unübersehbare Differenzen und vielfältige Übereinstimmungen
III Lessings „Nathan der Weise“ in der Sicht Kants
IV Ein kritischer Blick auf Jan Assmanns Lessingund Kant-Rezeption
Schlussbemerkung
Zitierte Literatur
Zitierte Sekundärliteratur
Siglenverzeichnis
Personenregister
Sachregister

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Rudolf Langthaler Kant – ein Kritiker Lessings?

Kantstudien-Ergänzungshefte

Im Auftrag der Kant-Gesellschaft herausgegeben von Manfred Baum, Bernd Dörflinger, Heiner F. Klemme und Konstantin Pollok

Band 213

Rudolf Langthaler

Kant – ein Kritiker Lessings? Übereinstimmungen und Differenzen im Kontext von Religion und Aufklärung

ISBN 978-3-11-071613-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-071619-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-071624-5 ISSN 0340-6059 Library of Congress Control Number: 2020944399 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Vorwort

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Einleitung I  . 

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Eine Erinnerung an Kants Grundlegung der „natürlichen Religion“ und an den Status der „geoffenbarten“ Religion 1 Eine religionsgeschichtliche Perspektive Kants in religionsphilosophischer Interpretation 1 Das Programm der „analytischen Methode“ in Kants 4 Religionsschrift Die im Christentum als „natürlicher Religion“ gedachte Idee der Einheit des ‚religionsgeschichtlichen Aposteriori‘ (als „historischer Glaubensart“) und des ‚Apriori der Religionsgeschichte‘ 9 („Allgemeinheit“, „Einheit“, „Notwendigkeit“) Das Christentum als „allgemeine Menschenreligion“ – das „Wundersame“ dieser zur „Weltreligion“ berufenen 26 „Glaubensart“ Die in der „fortgehenden Kultur“ „geläuterten Religionsbegriffe“ und die mit dem Christentum einhergehende Idee des „moralisch bestimmten Monotheismus“ als Fundament der „allgemeinen 30 Menschenreligion“ Kants späte Konzeption eines „theismus moralis“ und dessen 35 Kriterien – im Ausblick auf Lessing Zur indirekten Auseinandersetzung zwischen Lessing und Kant: Unübersehbare Differenzen und vielfältige Übereinstimmungen 44 Schwerwiegende Differenzen im Blick auf Spinoza 44 Ein vermutlich grundlegender Einwand Kants gegen die bei Lessing maßgebliche Konzeption einer „natürlichen Religion“ 56 Mannigfache – fundamentale – Übereinstimmungen zwischen Kant und Lessing 66 „Natürliche Religion“ und „Geschichtsglaube“ 67 Lessings Satz: „Die Bibel enthält offenbar mehr, als zur Religion gehöret“ – mit Blick auf Kants Lehre von den „konzentrischen Kreisen“. Zu Lessings Unterscheidung zwischen „innerer“ und

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Inhalt

„hermeneutischer Wahrheit“ und Kants „authentische 82 Schriftauslegung“ Die „innere Wahrheit“ und das „innere Gefühl“: Eine partielle Zustimmung Kants – und eine notwendige Unterscheidung 100 Weitere Übereinstimmungen – und gravierende Differenzen: 110 Offenbarung und „Erziehung des Menschengeschlechts“ Spuren der Lessing’schen „Erziehungsschrift“ in Kants Religionsphilosophie und in seiner Idee einer „Geschichte des 110 Glaubens“. – Einige verbleibende Unklarheiten Lessings denkwürdiger Verweis auf „etwas Mehreres“ und eine Erinnerung an Kants „reflektierenden Glauben“: An die „reine 122 Vernunft anstoßende“ Fragen … Kants entschiedene Distanz zu dem in Lessings „Erziehungsschrift“ verkündigten „neuen ewigen Evangelium“: Die von Kant geltend gemachte Unüberholbarkeit des Christentums 132 als „vollständiger Religion“ Ein von Kant diagnostizierter Widerspruch zwischen der in der „Erziehungsschrift“ maßgebenden Entwicklungsperspektive und der im „Vorbericht“ angezeigten „Akkomodations“145 Theorie? Zwei Exkurse: Zu Kants und Lessings – unterschiedlicher – Einschätzung des Judentums und des Islam 150 150 Zu Kants Kritik am Judentum – mit Blick auf Lessing Die gesinnungslos-„geschäftige Nichtstuerei“ des „mechanischen Cultus“ der Juden und die – demgegenüber – auf dem „Tempel in uns“ errichtete „natürliche Religion“ 156 Kants Bestimmung der „fides“ – im Blick auf Moses Mendelssohn 163 Der Status der Ideen der „Unsterblichkeit“ und der „Heiligkeit“ – ein weiterer Kritikpunkt Kants an Lessing 168 Zu Kants Kritik am Islam – mit Blick auf Lessing 175 Lessings „Nathan der Weise“ in der Sicht Kants 194 Ein – grundsätzlicher – Einwand Kants: Die auch in Lessings „Nathan“ zutage tretende Einebnung der „Prinzipien“-Frage – weiß Lessing wirklich, „was er haben will“? 194 Eine daraus resultierende Skepsis gegenüber Lessings zu undifferenzierter Gesinnung „gegen alle positiven Religionen“ – unvereinbar mit dem Geist „wahrer Aufklärung“? 201

Inhalt

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Ein skeptischer Blick Kants auf Lessings „Ringparabel“? 207 Kants These, dass es „nur eine (wahre) Religion“ geben kann – 207 ein Einspruch gegen Lessings „Ringparabel“. Ist die „Ringparabel“ mit den Maßstäben des „moralischen Monotheismus“ verträglich? 220 Mögliche kantische Vorbehalte gegen Lessings Motiv eines „Wettstreits der Religionen“: Einige Vermutungen – und eine 234 verbleibende offene Frage. Anmerkung: Zu Kants religionsphilosophischem Motiv der „Ergebung“ – ein Unterschied zum theodizee-geprägten 259 „Ergebenheits“-Motiv in Lessings „Nathan“? Eine abschließende – an Kant orientierte – skeptische Frage: Eine „strategische Aufwertung“ von Judentum und Islam in Lessings 266 „Nathan“? Ein kritischer Blick auf Jan Assmanns Lessing- und KantRezeption 275 Zu Assmanns (problematischer) Würdigung der „performativen Wendung der Wahrheitsfrage“ in Lessings Religionskonzeption und zu seiner „Nathan“-Interpretation 275 Die von Assmann aus Lessings „Ringparabel“ abgeleitete „Moral 278 von der Geschichte“ – kritische Rückfragen Eine von Assmann diagnostizierte Selbstrelativierung der „historischen Glaubensarten“ bei Kant? Weshalb sich die „performative Wendung der Wahrheitsfrage“ zu Unrecht auf Kant 294 beruft Assmanns Berufung auf das – kantische? – Motiv einer „Theologie des als ob“: Die Wahrheit der Religion „im Modus des als ob“? 298 Bleibt auch die von Assmann diagnostizierte „performative Wendung“ Lessings zuletzt prinzipienlos? 305 Die aus Kants „Bestimmung des Menschen“ und dem „ethischen Monotheismus“ gewonnenen Maßstäbe der „Humanität“ – mit nochmaligem Blick auf Lessings Wettstreit-Motiv 309 Nochmals zu Kants „moralisch bestimmtem Monotheismus“ – mit Blick auf J. Assmanns Konzeption einer „duplex religio“ 312 Eine ‚kantianische‘ Stellungnahme zu Assmanns Konzeption einer „duplex religio“ 316

VIII



Inhalt

Eine abschließende kritische Anmerkung: Zu Assmanns problematischem Rekurs auf die kantische „Idee des 323 Erhabenen“

Schlussbemerkung Zitierte Literatur

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Zitierte Sekundärliteratur Siglenverzeichnis

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Personenregister

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Sachregister

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Vorwort Vorrangiges Ziel dieses Buches ist es, in einer religionsphilosophischen Perspektive sachliche Übereinstimmungen, aber auch wichtige Differenzen und ‚latente‘ Kontroversen zwischen diesen herausragenden Gestalten der deutschen Aufklärung freizulegen. Dabei wird jedoch kein bloß historisches Interesse verfolgt, vielmehr sind Gesichtspunkte bestimmend, die auch für gegenwärtige religionsphilosophische und theologische Debatten von ungebrochener Aktualität sind und deshalb wohl zu Unrecht vielfach vernachlässigt werden. Die darin verhandelten Probleme kehren jedoch, obgleich in terminologisch verwandelter Gestalt, unerkannt fortwährend wieder. Begleitet war die Arbeit an dieser Studie deshalb vor allem auch von der Hoffnung, dass diese philosophisch-theologischen Themen und ‚Streitsachen‘ in den nächsten Jahren – also rundum den 300. Geburtstag Kants (geboren 1724) und Lessings (geboren 1729) – vermehrte Aufmerksamkeit finden mögen. Dieses Buch versteht sich damit – am Beginn des bevorstehenden ‚Lessing-Kant-Dezenniums‘ – auch als Anregung zu einer intensivierten Auseinandersetzung mit dem Denken dieser so bedeutenden Wortführer der deutschen Aufklärung. Das Buch wendet sich deshalb vor allem an philosophisch Interessierte, denen das Themenfeld ‚Aufklärung und Religion‘, ‚Religion im Kontext von Aufklärung und Religionsphilosophie‘,¹ wichtig ist, ebenso an literaturwissenschaftlich versierte Leser, die an geistesgeschichtlichen Zusammenhängen Interesse nehmen. Eine grundsätzliche Vertrautheit mit Kants kritischer (Religions‐)Philosophie (die hier nicht näher entfaltet wird) und mit Lessings Gedankenwelt wird dabei allerdings vorausgesetzt. Aus der schier unüberschaubaren Menge an Literatur zu den berührten Lessing’schen Themenfeldern wurde vergleichsweise nur wenig ausgewählt;² diesbezüglich war vornehmlich die erkennbare philosophische Annäherung an die genannten Themen³ der leitende Gesichtspunkt.

 Mit Recht merkt Cunico (2015a, 42) an: „Der Religionskritik der Aufklärung wohnt … eine eindeutig und genuin religiöse Motivation inne, deren Bedeutung weit über die bloße Kritik und selbst über die rationalistische Neuerfassung der Religion hinausgeht. Aufklärung bedeutet auch Bemühung um Erhellung der ursprünglichen und echten Reinheit der religiösen Haltung“. Lessing und Kant sind hierfür gewiss herausragende Beispiele.  Bezüge auf die Sekundärliteratur finden sich, um der besseren Lesbarkeit willen, nahezu ausschließlich in den Fußnoten, die deshalb allerdings – unvermeidlich – relativ umfangreich sind.  Literaturwissenschaftliche Aspekte hinsichtlich der ‚Werkgeschichte‘ u. ä. bleiben völlig unberücksichtigt. https://doi.org/10.1515/9783110716191-001

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Vorwort

Besonderen Dank für die gute Zusammenarbeit schulde ich Frau Mara Weber und Herrn Dr. Marcus Boehm vom deGruyter Verlag. Für die Aufnahme in die „Kantstudien-Ergänzungshefte“ danke ich den Herausgebern dieser Reihe. Amstetten, im September 2020

Einleitung Dass Kant mit Lessing „überhaupt in seinen religiösen Anschauungen wesensverwandt erscheint“,¹ entspricht zweifellos einer weit verbreiteten Einschätzung, für die sich in der kantischen Religionsphilosophie ja auch zahlreiche Anhaltspunkte finden. In der Tat stimmen viele und auch zentrale Motive derselben mit einschlägigen Auffassungen Lessings überein bzw. stehen diesen wenigstens sehr nahe. Obwohl Lessing in Kants Schriften – in seiner Religionsschrift erstaunlicherweise gar nicht² – nur beiläufig genannt wird,³ sind jedoch die zahlreichen direkten und indirekten Bezüge zu Lessings theologischen Streitschriften nicht zu

 Vorländer II, 160. – Kant hatte zu Lessing zwar keine persönlichen Beziehungen, kannte aber wohl seine einschlägigen Schriften und vermutlich teilweise auch seine Dichtung und auch Theaterstücke, „merkwürdigerweise ohne besonderes Wohlgefallen“ (Vorländer I, 216).Vorländer ist auch der Meinung, dass Kant „ziemlich sicher auch Lessings und wohl auch anderer theologische Schriften gelesen hat“ (Vorländer II, 166). Auch Allison betont Kants Vertrautheit mit vielen einschlägigen Schriften Lessings und benennt auch die Schwierigkeit, das Ausmaß ihres Einflusses auf Kant genau zu bestimmen (Allison 2009, 52). – Kants Bekanntschaft mit Lessings „Laokoon“ und die daraus resultierenden ähnlichen ästhetischen Auffassungen wurde oftmals registriert; diese Bezugnahme Kants auf das ästhetische Denken Lessings wird hier jedoch nicht verfolgt. Dass Kant einige Werke Lessings besaß, belegt Wardas Verzeichnis von „Kants Büchern“: A. Warda, Immanuel Kants Bücher. Berlin 1922, hier 22).  Auch für Kants „Streit der Fakultäten“ (im Abschnitt über den „Streit zwischen der theologischen und philosophischen“ [SF, AA 07: 36 ff.]) trifft zweifellos zu, was Arnoldt besonders für Kants Religionsschrift betont – nämlich „Kants Vertrautheit wenigstens mit den theologischen, wenn nicht auch mit anderen Schriften Lessings“ (Arnoldt 237). Ebenso führt Arnoldt zahlreiche Verweise auf Textstellen Kants an, die den Einfluss auf bzw. die Bekanntschaft Kants mit Lessing zweifelsfrei verraten. Die von Arnoldt angeführten diesbezüglichen Passagen in Kants Werk (237 ff.) sollen teilweise genauer verfolgt werden – Nach Arnoldt steht auch fest, dass Kant das „letzte der von Lessing herausgegebenen Fragmente ‚Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger‘ gelesen hat“ (ebd. 231).  Gründe dafür benennt Arnoldt in seiner material- und kenntnisreichen Studie (die auch von Vorländer als eine „eingehende Untersuchung“ gewürdigt wurde: Vorländer II, 166 Anm.). Einen Grund dafür, weshalb Kant auf Lessing explizit jedoch nicht näher eingegangen ist, sieht Arnoldt auch darin: „Er hätte seine Zustimmung und seinen Widerspruch, die beide nicht unbedingt waren, begründen müssen, und diese Begründung hätte weitläufige Ausführungen erfordert, durch die seine ‚Religion inn. d. Gr. d. bloss. Vern.‘ wesentlich wäre beeinträchtigt worden“ (Arnoldt 301).Weshalb Kant Auffassungsunterschiede gegenüber Lessing nicht explizit benannte, sei auch darin begründet, „da er wissen musste, dass seine Religionsansichten und Aufklärungsbestrebungen – im ganzen genommen – mehr enthielten, was ihn mit Lessing verband, als was ihn von Lessing schied“ (Arnoldt 302). Die Übereinstimmung in den substanziellen Fragen betrifft natürlich nicht zuletzt diese Verpflichtung auf die ‚aufgeklärte Denkungsart‘, „durch eigene Bearbeitung des Geistes sich aus der Unmündigkeit heraus zu wickeln“ (WA, AA 08: 36.13 – 14). https://doi.org/10.1515/9783110716191-002

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Einleitung

übersehen, die auch als Hintergrund vieler thematisch einschlägiger Ausführungen Kants wahrnehmbar sind.⁴ Die Nähe bzw. Übereinstimmung zwischen „Lessings theologischen Streitschriften und seinem Nathan auf der einen Seite und Kants ‚Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft‘ und seinem ‚Streit der Fakultäten‘ auf der anderen“⁵ ist in vielerlei Hinsicht unschwer festzustellen: „Denn in der „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ finden sich von Anfang bis zu Ende Äußerungen, die zu Lessings theologischen und moralischen Ansichten unverkennbare und wohl zweifellos gewusste und gewollte Beziehung haben.“⁶ Dies gilt in ähnlicher Weise auch für den „zwischen der theologischen und philosophischen“ Fakultät ausgetragenen Streit im „Streit der Fakultäten“ (SF, AA 07: 15 ff.) – ein Sachverhalt, der ebenfalls durch ausführliche Zitation belegt werden soll. Gleichwohl ist Kants ausdrückliche und auch indirekte Kritik und Distanz gegenüber Lessing nicht zu übersehen. Die zahlreichen motivlichen Übereinstimmungen und Abhängigkeiten können über entscheidende Differenzen nicht hinwegsehen lassen, die Kant in mancher Hinsicht auch als einen entschiedenen Kritiker Lessings ausweisen, zumal er in der Tat ganz einfach „gewisse lessing-

 Nach der Auffassung Kühns war „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ im Kontext der damaligen preußischen Religionspolitik sogar „Kants Loyalitätserklärung gegenüber Lessing und Mendelssohn“ (Kühn, 431) und der Versuch, „den von diesen geführten Kampf um Religionsfreiheit fortzuführen“ (Kühn 1404 f.). Lessing war Kant wohl auch über seine Freundschaft mit Mendelssohn einigermaßen vertraut.  Fischer 1910, 369. Auch Fischer (ebd.) betont die besondere „Geistes- und Ideenverwandtschaft zwischen Kant und Lessing“. „Darf man sie [die kantische Religionslehre] mit außerkirchlichen Lehren vergleichen, ich meine mit der Idee des freien, nicht kirchlich gebundenen Christentums, mit religiösen Vorstellungen ohne symbolische Geltung, so besteht die größte Übereinstimmung zwischen Kant und Lessing. In keinem Punkte hat Lessing die Aufklärung seines Zeitalters mehr überflügelt, als in seinen religiösen Ideen, in keinem ist er der kritischen Philosophie näher gekommen“ (Fischer 1910, 366). Fischer sieht auch „bedeutsame Parallelen“ zwischen Lessings „Erziehung des Menschengeschlechts“ und Kants Geschichts- und Religionsphilosophie“ (ebd. 369); auch Parallelen „zwischen dem lessingschen Nathan und dem kantischen Vernunftglauben“ seien unübersehbar (ebd.). Indes, wichtige Differenzen dürfen dabei nicht übersehen werden (s. drittes Kapitel).  Arnoldt 237. Fischer bezieht sich indes kritisch – „(u)rkundliche Beweise gibt es keine“ – auf Arnoldts These (Fischer 1910, 370): „es sei unmöglich, dass die Hauptwerke Lessings auf Kant nicht einen tiefen Eindruck und Einfluss sollten ausgeübt haben. ‚Denn sonst würde er unter allen verständnisvollen Betrachtern dieser wunderbaren Produkte intellektueller und moralischer Menschengröße der einzige gewesen sein, an welchem Lessings Denk- und Darstellungskraft nicht den Zauber ausgeübt hatte, ihn bei der ersten Berührung fortan bis zur Erledigung der Fragen, mit denen sie sich abgibt, unwiderstehlich zu fesseln‘“.

Einleitung

XIII

sche Grundanschauungen für falsch hielt.“⁷ Dies tritt – ungeachtet der vielen motivlichen Gemeinsamkeiten – auch in erstaunlich schroffen, ja abfälligen Bemerkungen Kants zutage (s. dazu u. III., 1., Anm. 3). In diesem Sinne sollen vor allem auch gravierende Differenzen zwischen Lessing und Kant sichtbar gemacht werden, lässt sich doch nur in einem eingeschränkten Sinne behaupten: „Von allen Aufklärern stand Kants Denken Lessing am nächsten.“⁸ Dies trifft in gewisser Hinsicht zwar zweifellos zu; der vermutete ‚Einklang‘, die vielfach diagnostizierte Nähe zwischen Lessing und Kant⁹ ist jedoch wohl auch der vorrangige Grund dafür, dass sachliche Differenzen und kontroversielle Aspekte in der Forschung bislang weithin vernachlässigt wurden,¹⁰ obgleich sie wichtige – nach wie vor höchst aktuelle – Probleme im Kontext von ‚Aufklärung und Religionsphilosophie‘ zur Sprache bringen, die keineswegs lediglich von historischem Interesse sind. Diese Sichtweise mag in mancher Hinsicht überraschen. Um sie zu verdeutlichen, liegt es nahe, im ersten Kapitel leitende Motive der kantischen Religionsphilosophie zu vergegenwärtigen, allerdings nur so weit diese in einem thematischen Zusammenhang mit dem Denken Lessings stehen.¹¹ Es ist deshalb zunächst das Grundgerüst der von Kant so genannten „natürlichen Religion“ und

 Fischer 1910, 371. Auch daraus mag zu erklären sein, warum Kant den ihm von M. Herz „in Parallele mit Lessing erteilte(n) Lobspruch beunruhigt“ aufnahm (so in seinem Brief an M. Herz v. 24.11.1776: AA 10, 198).  Irrlitz 31. Dies gilt gleichermaßen und erst recht für die Einschätzung: „Noch mehr geht Kants Religionsschrift mit Lessings theologischen Schriften gleich“ (ebd.). Auch Irrlitz verweist zwar darauf, dass Kant von „Lessings Stücken“ gesagt habe, „sie seien geistreich, aber ohne rechten Zweck“ – „anders“ sei es jedoch mit den „Prosaschriften“ (ebd.). Indes soll sich zeigen, dass sich nur in einem eingeschränkten Sinn sagen lässt: „Kants Religionsauffassung ist der Lessingschen sehr verwandt.“ (ebd. 383) Diese gängige These soll einer genaueren Prüfung ausgesetzt werden, zumal die Auffassung, dass Lessing und Kant in einem Atemzug genannt werden müssen (so auch E. Bloch), wichtige Differenzen nicht ignorieren darf.  Beide teilten ja auch das ‚Schicksal‘, dass ihre Ausführungen zum Themenfeld „Religion“ – allerdings im Abstand von 16 Jahren (Lessing im Jahr 1778, Kant im Jahr 1794) – von der Zensur betroffen waren.  Jaspers erwähnt in seiner Disposition einer Vorlesung über Lessing die (allerdings dann nicht weiter verfolgte) Frage: „Was wäre, wenn Lessing Kants Philosophie noch kennengelernt hätte?“ (Jaspers 1981, 756). In beiden sieht Jaspers die „deutschen Überwinder der halben und flachen Verstandesaufklärung zur echten Aufklärung“ (ebd. 759) und betont Lessings diesbezügliche besondere „Parallele zu Kant“ (ebd. 761).  Es ist in der Tat so, als ob Lessing (in den „Gegensätzen“) in mancher Hinsicht – geradezu ‚prophetisch‘– auf Kant verweist: „Wahrlich, er soll noch erscheinen, auf beiden Seiten soll er noch erscheinen, der Mann, welcher die Religion so bestreitet, und der, welcher die Religion so verteidiget, als es die Wichtigkeit und Würde des Gegenstandes erfordert“ (XII, 430).

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Einleitung

des „theismus moralis“ in Erinnerung zu bringen, die er, „der Idee nach“, mit dem Christentum identifizierte; vor diesem Hintergrund soll anschließend – im zweiten Kapitel – den zwischen Lessing und Kant zutage tretenden Übereinstimmungen, aber auch den signifikanten Differenzen in einer religionsphilosophischen Perspektive nachgespürt werden. Nicht zuletzt im Kontext des Themas ‚Offenbarung‘ und „Erziehung des Menschengeschlechts“ finden sich sachliche Übereinstimmungen, aber auch schwerwiegende – sichtbare wie latente – Differenzen. Doch nicht alle Themen erlauben eine eindeutige Entscheidung über die Übereinstimmungen und die differierenden Sichtweisen – in mancher Hinsicht sind auch sachliche Unschärfen und schwer entscheidbare Ambiguitäten zu erkennen.¹² Auch diese Aspekte sollen – wiederum möglichst ‚textnah‘ – zur

 Lessing schrieb im Jahr 1779 (in einer Vorrede zu einem Entwurf einer „Abhandlung über Bibliolatrie“, aus dem Nachlass: XVI, 476): „Der bessere Teil meines Lebens ist – glücklicher oder unglücklicher Weise? – in eine Zeit gefallen, in welcher Schriften für die Wahrheit der christlichen Religion gewissermaßen Modeschriften waren. […] Nicht lange; und ich suchte jede neue Schrift wider die Religion nun ebenso begierig auf, und schenkte ihr eben das geduldige unparteiische Gehör, das ich sonst nur den Schriften für die Religion schuldig zu sein glaubte. So blieb es auch eine geraume Zeit. Ich ward von einer Seite zur andern gerissen; keine befriedigte mich ganz. […] Je bündiger mir der eine das Christentum erweisen wollte, desto zweifelhafter ward ich. Je mutwilliger und triumphierender mir es der andere ganz zu Boden treten wollte: desto geneigter fühlte ich mich, es wenigstens in meinem Herzen aufrecht zu erhalten“. Lessings – durchaus widersprüchliche – Haltung gegenüber der ‚christlichen Religion‘ wird ‚bekenntnishaft‘ wohl auch in folgenden Sätzen aus dem Jahr 1778 sichtbar (die gleichwohl ebenfalls der von ihm – zeitnah – beteuerten Distanz zu allen „positiven Religionen“ [s.u. III., 1.1.] widerspricht): „ich habe gegen die christliche Religion nichts: ich bin vielmehr ihr Freund, und werde ihr zeitlebens hold und zugetan bleiben. Sie entspricht der Absicht einer positiven Religion, so gut wie irgend eine andere. Ich glaube sie und halte sie für wahr, so gut und so sehr man nur irgend etwas Historisches glauben und für wahr halten kann. Denn ich kann sie in ihren historischen Beweisen schlechterdings nicht widerlegen. Ich kann den Zeugnissen, die man für sie anführt, keine andere entgegen setzen: es sei nun, dass es keine andere gegeben, oder dass alle andere vertilgt oder geflissentlich entkräftet worden. […] Mit dieser Erklärung, sollte ich meinen, könnten doch wenigstens diejenigen Theologen zufrieden sein, die allen christlichen Glauben auf menschlichen Beifall herabsetzen, und von keiner übernatürlichen Einwirkung des heiligen Geistes wissen wollen. Zur Beruhigung der andern aber, die eine solche Einwirkung noch annehmen, setze ich hinzu, dass ich diese ihre Meinung allerdings für die in dem christlichen Lehrbegriffe gegründetere und von Anfang des Christentums hergebrachte Meinung halte, die durch ein bloßes philosophisches Raisonnement schwerlich zu widerlegen steht. Ich kann die Möglichkeit der unmittelbaren Einwirkung des heiligen Geistes nicht leugnen und tue wissentlich gewiss nichts, was diese Möglichkeit zur Wirklichkeit zu gelangen hindern könnte“ (so Lessing im Jahr 1777/78, in: „Selbstbetrachtungen und Einfälle“: XVI, 536). Mit der von Lessing andernorts geltend gemachten skeptischen Gesinnung Nathans „gegen alle positiven Religionen“ ((XVI, 444; s.u. III.,

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XV

Sprache kommen;¹³ sie finden bezeichnenderweise auch in Kants und Lessings zum Teil übereinstimmender, zum Teil jedoch recht unterschiedlicher Einschät-

1.1.) stimmt dies freilich nicht überein, auch nicht mit den von ihm geäußerten Bedenken gegen einen „persönlichen Gott“.  Es wird sich in mancher Hinsicht bestätigen: „Sich nicht festzulegen, war für Lessing nicht nur praktische Lebensmaxime, sondern auch ein Grundsatz des Denkens. Nicht aber als Unengagiertheit und Unverbindlichkeit erscheint solches Denken, sondern, indem es ein Höchstmaß an Freiheit des bürgerlichen Denkens im Deutschland des 18. Jahrhunderts verwirklicht, als (wenn auch kalkuliert) leidenschaftliche Parteinahme im Dienste nicht nur eines starken Systems, sondern gerade des bisher schwachen“ (Röttgers 204). Ebd.: „Weil aber die einzelne Kritik oder Polemik stark engagiert festgelegt ist, will Lessing nicht mit seinen Äußerungen identifiziert werden, behält er sich die Freiheit vor, von ihnen zurückzutreten, anderwärts Anderes, sogar Gegenteiliges zu sagen, das ebensowenig er selbst ist.“ Es bleibt deshalb die Frage, „ob Lessing überhaupt eine Weltanschauung hatte oder nicht“ (Leisegang 6). – Für Lessing habe eben zu gelten, dass es „in seinem persönlichen und schriftstellerischen Leben viel Unabgeschlossenes“ gegeben habe (so Nisbet 2008, 11). Auch Nisbet bemerkt hinsichtlich der Frage der von Lessing selbst vertretenen „theologischen Position“, dass es im Blick auf die vielseitig ausgetragenen Kontroversen „nicht überraschend“ sei, „dass es nie zur Einhelligkeit hinsichtlich seiner ‚eigentlichen‘ religiösen Anschauungen in den späteren Schriften gekommen ist, und offenkundig … wenig Aussicht“ bestehe, „diese Frage aufgrund des bisher erörterten Beweismaterials zu klären“ (Nisbet 2008, 712; s. auch 738 f.). – Auch in diesem Sinne lässt sich Kierkegaards Stellungnahme verstehen: „Also sein Resultat! Wunderbarer Lessing! Er hat keins, keins, da ist keine Spur von einem Resultat“ (Kierkegaard, Philosophische Brosamen u. Unwissenschaftliche Nachschrift. Deutsch v. B. u.S. Diederichsen. hg.v. H. Diem u.W. Rest München 1976, 192). Kierkegaards präzise Frage an Lessing lautete näherhin (und sie wird sich mehrfach bestätigen): „Hat er das Christentum angenommen, hat er es verworfen, hat er es verteidigt, hat er es angegriffen?“ In der Tat sind die immanenten Verschiebungen, ja Widersprüchlichkeiten in Lessings Argumentation nicht zu übersehen, die eine angemessene Einschätzung der von ihm vertretenen Auffassungen mitunter sehr erschweren: „Man findet also in Lessing überall Widersprüche, fundamentale“ (Jaspers 1981, 742). Jaspers kommt zu dem Urteil: „Es gibt keine Erörterung bei ihm, so entschieden sie auch aufzutreten scheint … Es ist alles in der Tat ‚Versuch‘. Daher ist er nur erweckender Philosoph, nicht erzeugender und nicht systematischer und nicht visionär und in keinem Sinne schöpferisch: Die Folge dieses Erweckens ist: er lässt keine Ruhe. Wo man sich ansiedeln will, kommt alsbald seine Frage und Infragestellung. Es gilt alles nur auf einem Standort. Aber ein Standort ist dazu da, um auf der Wanderung des Menschen in der Zeit wieder verlassen zu werden“ (ebd. 743). Jaspers folgt offenbar in gewisser Hinsicht dem Urteil Goethes: „Lessing hält sich, seiner polemischen Natur nach, am liebsten in den Regionen der Widersprüche und Zweifel auf, das Unterscheiden ist seine Sache, und dabei kam ihm sein großer Verstand auf das Herrlichste zu Statten.“ (Gespräch Goethes mit Eckermann am 11. April 1827, in: J.P. Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. München 1986, 223) – Lessings ‚gymnastische‘ Begabung wird in vielen klärungsbedürftigen Fragen wiederholt begegnen. Auch sind viele seiner religionsphilosophischen und theologischen Texte fragmentarisch geblieben und waren teilweise ja auch nicht für die Veröffentlichung vorgesehen. Überdies bleibt zu bedenken: „Lessing war kein systematisch-theologischer Denker.“ (Schilson 1972, 410)

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Einleitung

zung des Judentums und des Islam ihren Niederschlag, die – wenigstens indirekt – wohl auch Kants gewiss überraschend kritisches Urteil über Lessings „Nathan“ (s.u. III., Anm. 3) beeinflusst haben.¹⁴ Dabei soll sich zeigen: Obwohl Lessing in der Tat der Kant „in Denkart und Charakter verwandteste Vertreter der Aufklärung“¹⁵ war, kann dies die (besonders interessierenden) tiefgreifenden Differenzen nicht übersehen lassen, zumal nicht zuletzt auch Lessings Ringparabel im „Nathan“ offenbar schwerwiegende Rückfragen und Einwände Kants auf sich gezogen hätte (bzw. hat), die nicht zuletzt auch zentrale Aspekte einer ‚aufgeklärten Denkungsart‘ berühren. Diesen Themen ist deshalb vor allem das dritte Kapitel dieser Studie gewidmet. (Aufgrund des engen Zusammenhanges mit vorausliegenden Themen waren vor allem hier Redundanzen nicht zu vermeiden.) Jan Assmann hat sich in jüngerer Zeit wiederholt und ausführlich auch mit Lessing beschäftigt, wobei die Ringparabel – bekanntlich das ‚Herzstück‘ in Lessings „Nathan“ – eine besondere Rolle spielt. Zuletzt hat Assmann seine Interpretation der Ringparabel jedoch auch mit einer überraschenden Bezugnahme auf Kants Religionsphilosophie verknüpft. Abschließend (im vierten Kapitel) soll deshalb Assmanns Lessing- und Kant-Rezeption einer kritischen Analyse ausgesetzt werden.

 Dabei ist natürlich unbestritten, dass „Lessings Nathan der Weise als ein Hauptwerk der Aufklärung in der deutschen Literaturgeschichte einen unvergleichlichen Rang behauptet“ (Fuhrmann 81).  Vorländer I, 216. Hegels und Schellings (ausführliche) Bezugnahmen auf Lessing – insbesonders auf dessen „Erziehungsschrift“ – können hier nicht berücksichtigt werden. Schelling hat sich von seiner frühen Magisterarbeit an – über seine Freiheitsschrift von 1809 – bis hin zu seiner späten „Philosophie der Mythologie“ und der „Philosophie der Offenbarung“ immer wieder mit Lessing auseinandergesetzt.

I Eine Erinnerung an Kants Grundlegung der „natürlichen Religion“ und an den Status der „geoffenbarten“ Religion 1 Eine religionsgeschichtliche Perspektive Kants in religionsphilosophischer Interpretation In seiner „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, die er von einer „Religion aus bloßer Vernunft“ genau unterschieden wissen wollte,¹ hat Kant ausführlich seine Konzeption einer „natürlichen Religion“, die er im Kontext der Ethik ansiedelte, dargelegt und diese gleichermaßen von der Offenbarungsreligion bzw. der „gelehrten Religion“ wie auch vom „Heidentum“ abgegrenzt. Maßgeblich für diese Abgrenzung vom Heidentum und den anderen „Glaubensarten“ sei eben die Verknüpfung der Einheit und Einzigkeit Gottes mit der vornehmlichen Verankerung des menschlichen Gottesbezuges in „moralischen Prinzipien“² – eben dies bestimmt den „moralisch bestimmten Monotheism“³ und markiere so auch die – in dieser „Einheit der Prinzipien“ fundierte – spezifisch „christliche Unterscheidung“. Entscheidend, d. h. maßgebend bleibt auch diesbezüglich Kants Unterscheidung: „Religion ist derjenige Glaube, der das Wesentliche aller Verehrung Gottes in der Moralität des Menschen setzt [⁴]; Hei-

 „Diese Betitelung war absichtlich so gestellt, damit man jene Abhandlung nicht dahin deutete: als sollte sie die Religion aus bloßer Vernunft (ohne Offenbarung) bedeuten; denn das wäre zuviel Anmaßung gewesen: weil es doch sein konnte, dass die Lehren derselben von übernatürlich inspirierten Männern herrührten; sondern dass ich nur dasjenige, was im Text der für geoffenbart geglaubten Religion, der Bibel, auch durch bloße Vernunft erkannt werden kann, hier in einem Zusammenhange vorstellig machen wollte.“ (SF, AA 07: 6.Anm.)  Schon in den Vorlesungen über Metaphysik aus der 2. Hälfte der 70-er Jahre (Erfurt 1821, 261) heißt es: „Die Hauptsache ist immer die Moralität; dieses ist das Heilige und Unverletzliche, was wir beschützen müssen, und dieses ist auch der Grund und der Zweck aller unserer Spekulationen und Untersuchungen … , und wenn der Begriffe von Gott und von der anderen Welt nicht mit der Moralität zusammenhingen, so wären sie nichts nütze“ – weil eben allein „moralische Prinzipien apriori“ (V-Phil-Th/Pölitz, AA 28.2.2: 1010) das Fundament der Religion sein können.  VASF, AA 23: 440.17. Es bleibt zu beachten: Diese Bestimmung richtet sich sowohl gegen eine ‚Vermessenheit‘ hinsichtlich des „theoretischen“ als auch des „praktischen Vernunftgebrauchs“; die Beschränkung auf die „Moraltheologie“ markiert einen wichtigen Unterscheidungspunkt zu den natur-orientierten Überlegungen zur Gottesthematik bei Lessing, die sich gegen die spinozistische „causa immanens“ richten muss.  Diese berühmte kantische Kennzeichnung der Religion findet bei Gandhi auf den ersten Blick eine direkte Übersetzung: „the essence of religion is morality“ (M. Gandhi, Bd. XXXIX, 3); https://doi.org/10.1515/9783110716191-003

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I Eine Erinnerung an Kants Grundlegung der „natürlichen Religion“

dentum, der es nicht darin setzt; entweder weil es ihm gar an dem Begriffe eines übernatürlichen und moralischen Wesens mangelt (ethnicismus brutus), oder weil er etwas Anderes als die Gesinnung eines sittlich wohlgeführten Lebenswandels, also das Nichtwesentliche der Religion, zum Religionsstück macht“ (SF, AA 07: 49.18 – 23).⁵ Ein später Refrain auf Lessings Frage: „was hilft es, recht zu glauben, wenn man unrecht lebt“?⁶ Der im Blick auf die Idee der „natürlichen Religion“ erfolgten kantischen Würdigung und der von ihm beanspruchten „Hochachtung für das Christentum“,⁷ der „Anerkennung ihres [des Christentums] moralisch fruchtbaren Gehalts“, entspricht demnach sein Plädoyer, die Bezeichnung „Heidentum“ doch besser auf diejenigen Völker einzuschränken, „deren Glauben, weil er nicht eigentliche Religion enthält, in innerer moralischer Rücksicht eben so gut ist als gar kein Glaube; so dass selbst bei einer wahren Religion alle Aufnahme gewisser Artikel des bloßen Kirchenglaubens zum Artikel der Religion für ein Christentum gehalten werden kann, was nicht ohne alle Beimischung des Heidentums ist.[⁸] – Geht man von dieser Bemerkung ab, legt man dem Begriff des Christentums nicht eine Idee, sondern bloß den empirischen Begriff der biblischen Glaubenslehre, unter den keine Vernunft vorher gesichtet und hiemit das Wesentliche einer Religion vom Außerwesentlichen der zufälligen Satzungen abgesondert hat, so ist der Sectenunterschied (durch Verschiedenheit der Schriftauslegung) unvermeidlich, welches denn auch die Erfahrung bestätigt.“⁹

gleichwohl darf nicht darüber hinweggesehen werden, dass dies doch im Kontext seiner hinduistischen Orientierung steht. Indes finden sich bei Gandhi nicht wenige Äußerungen, die dem kantischen Vorhaben, „in Glaubenssätzen einen moralischen Sinn“ hineinzutragen (SF, AA 07: 39.6 – 7), doch bemerkenswert nahe kommen. S. dazu auch u. II., 3.2..  Darin spiegelt sich offenkundig Kants ‚Moralisierung des Heiligen‘. Auch seine Kennzeichnung der Religion als „Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote“ (KpV, AA 05: 129.18 – 19) lässt die radikale Loslösung von der Vorstellung der Religion als ‚kultische Rückbindung‘ deutlich erkennen und entspricht so dieser kantischen Unterscheidung zwischen dem „gottesdienstlichen [d.i. ‚kultisch‘ orientierten] und dem moralischen Religionsglauben“, der in dem „Übersinnlichen in uns“ (d.i. der Moralität) verankert ist.  XIV, 159.  AA 11, 529.  „(E)in jeder Kirchenglauben, so fern er bloß statutarische Glaubenslehren für wesentliche Religionslehren ausgibt, hat eine gewisse Beimischung von Heidentum; denn dieses besteht darin, das Äußerliche (Außerwesentliche) der Religion für wesentlich auszugeben“ (SF, AA 07: 50.14– 18). In ähnlicher Absicht heißt es: „die wahre Religion, sofern sie Offenbarung ist, heißt das Christentum, sofern sie dies nicht ist, natürliche Religion. Ein Offenbarungsglaube, der nicht Religion ist, heißt Heidentum“ (VASF, AA 23: 440.3 – 5) – und eben dies trifft nach Kants Urteil (der „Idee nach“) zwar nicht auf das Christentum, jedoch auf Judentum und Islam zu (s.u. II., 5.).  Dies betont Kant in den Vorarbeiten zum „Streit der Fakultäten“: VASF, AA 23: 439.4– 15.

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Indes, auch die christliche Religion sei in ihrer konkreten geschichtlichen ‚Positivität‘ als existierende Einheit aus dem „reinen Religionsglauben“ und dem „ganz auf Statuten“ und auf „Historischem“ beruhenden Kirchenglauben, d. h. aus diesen „zwei ungleichartigen Stücken zusammengesetzt“ (vgl. SF, AA 07: 36.33) – eine Wendung, die im Sinne jener Absonderung des „Wesentlichen“ vom „Außerwesentlichen“, ungeachtet des freilich unübersehbaren Unterschieds, ebenfalls an jenes Scheidungsverfahren der Vernunftkritik erinnert und in entsprechender Weise auf die Einheit der realgeschichtlich-aposteriorischen Vermittlung und der apriorischen Geltungsbasis abzielt, die in der „analytischen Methode der Religionsschrift“ (s.u. I., 1.1.) erst freigelegt werden soll. Dass Kant selbst derartige – zu einer elementaren Zielsetzung seiner Vernunftkritik analoge – Begründungsfiguren offenbar recht klar vor Augen standen, lässt nicht zuletzt auch jenes – jedoch eher irreführende – Bild des „Zusammensetzens“ aus „zwei ungleichartigen Stücken“ vermuten und wird durch seinen Hinweis auf die „analytische Methode der Religionsphilosophie“ wohl noch bestätigt, die diese Sichtweise widerspiegelt. Die Erklärung, „dass selbst unsere Erfahrungserkenntnis ein Zusammengesetztes aus dem sei, was wir durch Eindrücke empfangen, und dem, was unser eigenes Erkenntnisvermögen (durch sinnliche Eindrücke bloß veranlasst) aus sich selbst hergibt“ (KrV, B1), hat jedenfalls eine unübersehbare Entsprechung in diesem kantischen Hinweis darauf, dass diese Religion aus „zwei ungleichartigen Stücken zusammengesetzt“ sei. In der Tat scheint Kant sich in der Bestimmung des Verhältnisses der ‚geschichtlich-positiven Glaubensarten‘ und der „Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft“ von einer entfernten Analogie leiten zu lassen, sodass auch für das Religionsthema entsprechend eine bekannte Gedankenfigur zu variieren wäre: ‚Der Zeit nach‘ geht also keine „reine Vernunftreligion in uns“ vor jenen geschichtlichen Glaubensarten vorher, und mit diesen fängt alle an. Wenn aber alle Religion mit diesen geschichtlichen Glaubensarten „anhebt, so entspringt darum nicht alle aus den letzteren“ – wobei gerade auch mit Blick auf die Religionsgeschichte zu bedenken wäre, dass diesen „Zusatz wir von jenem Grundstoffe nicht eher unterscheiden, als bis lange Übung uns darauf aufmerksam und zur Absonderung desselben geschickt gemacht hat“ (KrV, B2). Resultat dieser „langen Übung“ wäre entsprechend die „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ als eine besondere ‚Kritik der Vernunft‘, die den ‚genealogischen‘ und den ‚prinzipientheoretischen‘ Aspekt unterscheidet und beide gleichermaßen verknüpft.¹⁰  E. Cassirers Sichtweise wird insofern jedenfalls von Kant vorweggenommen: „Und auch eine Religion ‚in den Grenzen der reinen Vernunft’, wie Kant sie vorgestellt hat, ist bloß eine Abstraktion. Sie vermittelt lediglich die ideale Form, nur den Schatten dessen, worin echtes, konkretes religiöses Leben besteht“ (Cassirer 1990, 51).

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I Eine Erinnerung an Kants Grundlegung der „natürlichen Religion“

1.1 Das Programm der „analytischen Methode“ in Kants Religionsschrift Die für Kants Religionsschrift maßgebliche Vorgangsweise ist in den Vorarbeiten zur Religionsschrift, die in die „Glaubenssätze einen moralischen Sinn“ hineinträgt, deutlich angezeigt: „In der gegenwärtigen Schrift wird das Ganze einer Religion überhaupt[,] so fern sie bloß aus der durch moralische Ideen geleiteten Vernunft entwickelt werden kann[,] vorgetragen. Ich kann gar nicht in Abrede ziehen[,] dass in dieser Bearbeitung die christliche Glaubenslehre nicht beständig ins Auge gefasst worden [ist,] nicht um sie nach dem Sinne ihrer Schrift (anders als bloß mutmaßlich) zu erklären oder sie auch nach ihrem inneren Gehalte auf den Inbegriff jener Vernunftlehren einzuschränken, sondern da es die Philosophie schwerlich dahin bringen dürfte[,] sich zu versichern[,] sie habe ein Ganzes derselben nicht bloß im allgemeinen umfasst[,] sondern auch in seinen besonderen Bestimmungen (im Detail) ausgeführt[,] wenn nicht schon ein auf Religion abzweckendes viel Jahrhunderte hindurch bearbeitetes[,] bisweilen wohl mit unnützen Zusätzen versehenes[,] indessen doch auf alle erdenkliche Bestimmungen derselben Bezug nehmendes Werk (eine heilige Schrift mit ihren Auslegungen) da wäre[,] welches die Vernunft auf Untersuchungen leiten kann[,] darauf sie von selbst nicht [!] gefallen wäre. Eben so wenig mag ich es verhehlen[,] dass so viele augenscheinlich mit der Vernunft dermaßen übereinstimmende Lehren derselben[,] als wenn sie durch diese selbst diktiert wären[,] eingenommen[,] eine Neigung in dieser Abhandlung mitgewirkt habe[,] die übrigen auch aus demselben Quell abzuleiten[,] und so dasjenige[,] was vielleicht einem großen Teile nach Offenbarungstheologie sein mag [!,] hier als reine Vernunfttheologie zu behandeln[,] wiewohl nicht so wohl in speculativer Absicht die letztere zur Erkenntnis des Unerforschlichen (das Nachbeten aber nicht verstandener Worte ist kein Erkenntnis) zu erweitern[,] als vielmehr so fern die Ideen derselben praktisch sind[,] um sie zur Religion als moralischer Gesinnung zu brauchen. Ob nun gleich durch diese Vorliebe mancher Sinn der angeführten Schriftstellen an sich verfehlt sein mag[,] so ist doch auch die bloße Möglichkeit[,] dass sie einen solchen annehme[,] für die Ausbreitung und Befestigung dieser Glaubenslehre darin sehr vorteilhaft[,] dass sie den vernünftelnden Teil der Menschen (der aber wird bei zunehmender Cultur[,] man mag ihn niederdrücken[,] so sehr man will[,] allmählich sehr groß) zur Annehmung derselben geneigt macht (‚es fehlt nicht viel [,] dass ich ein Christ würde‘) das Übrige[,] wofern noch etwas mehr zu tun übrig [!] ist[,] als jene Begriffe in Kraft zu setzen[,] kann dann die Offenbarungslehre hinzu tun. Die Philosophie stößt [!] im Fortgange der zu ihrem reinen Vernunftgeschäfte gehörenden Moral zuletzt unvermeidlich [!] auf Ideen einer Religion überhaupt und kann sie nicht umgehen[!] wohl aber die Anordnung[,] welche Menschen

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darüber treffen (oder sich der schon vorhandenen fügen) mögen[,] um einen Religionszustand unter sich zu errichten. In diesem Betracht scheinen gegenwärtige Abhandlungen nicht reine (mit Empirischem unbemengte) Philosophie zu enthalten und über ihre Grenze zu gehen. Allein der Überschritt von dem Gebiete reiner praktischer Ideen zu dem Boden hin[,] auf dem sie in Ausübung gebracht werden sollen[,] da die Philosophie mit einem Fuße noch notwendig auf dem ersteren stehen muss[,] gehört[,] was diesen betrifft[,] doch immer noch zum Felde der reinen Philosophie. Man kann also nicht sagen[,] dass sie über ihre Grenze hinausgegangen sei[,] wenn sie die Betrachtung und Beurteilung einer positiven Religion in ihr Geschäfte zieht[,] an welcher sie die Bedingungen am besten zeigen zu können glaubt[,] unter denen allein die Idee einer Religion realisiert werden kann. – Daher können gegenwärtige Abhandlungen schlechterdings nicht anders als bloß zur Philosophie gehörige Betrachtungen beurteilt werden“ (FM, AA 20: 439 f.). Schon ca. zwanzig Jahre zuvor wollte Kant – zumal die Bibel eben mehr als Religion enthalte (s.u. II., 3.2.) und um die „Lehre Christi herauszubekommen“ – „zuvörderst die moralische Lehre abgesondert von allen neutestamentlichen Satzungen heraus … ziehen“.¹¹ Freilich, schon der gegenüber den geschichtlich-positiven Religionen erhobene Anspruch lässt erkennen, dass dem in jener „Scheidung des Empirischen vom Rationalen“ erfolgten ‚Herausziehen‘ die uneinholbare geschichtlich-konkrete Wirklichkeit als ganze vorausgesetzt ist,¹² die auch auf diesem Gebiet den läuternden Bildungsprozess einer radikal und konsequent vollzogenen Analyse und Klärung ihrer „Elementarideen“ und der erst daraus zu gewinnenden „Scheidung des Empirischen vom Rationalen“ durchläuft. Ausgehend von Kants recht verstandenem Programm einer „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen

 So schon in Kants Brief an Lavater aus dem Jahr 1775 (AA 10, 176); auf diesen (nicht zuletzt mit Blick auf Lessing) sehr ausführlichen und interessanten frühen Brief (ebd. 175 ff.) sei ausdrücklich hingewiesen, zumal er zentrale Motive Lessings berührt bzw. sogar vorwegnimmt; bemerkenswert ist dabei auch, dass Kant darin viele sachliche Übereinstimmungen mit Leitmotiven Lessings erkennen lässt. Freilich: Lessing hat Zweifel, „dass jeder vernünftige Mann, ohne im geringsten etwas von dem Christentume zu wissen, das ganze Christentum aus den Neutestamentlichen Schriften einzig und allein ziehen und absondern könne“ (XIII, 377).  Dies setzt also eine Religion ‚außerhalb‘ der Grenzen der bloßen Vernunft voraus. Die „Tugendlehre der Metaphysik der Sitten“ erläutert diesen Zusammenhang folgendermaßen: „Es kann zwar von einer ‚Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft‘, die aber nicht aus bloßer Vernunft abgeleitet, sondern zugleich auf Geschichts- und Offenbarungslehre gegründet ist und nur die Übereinstimmung der reinen praktischen Vernunft mit denselben (dass sie jener nicht widerstreite) enthält, die Rede sein. Aber alsdann ist sie auch nicht reine, sondern auf eine vorliegende Geschichte angewandte Religionslehre, für welche in einer Ethik, als reiner praktischen Philosophie, kein Platz ist“ (MS, AA 06: 488.5 – 12).

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Vernunft“, die jedoch keine „Religion aus bloßer Vernunft“ sein will, lässt sich wohl auch die Vernunftidee einer ‚Geschichte der Religion‘ nach-denkend entwickeln und in der angezeigten Weise ebenso die Idee einer kritischen – religionsphilosophisch orientierten – Religionswissenschaft fundieren, welche die konkret-geschichtliche – und in diesem Sinne ‚unbegreifliche‘ – ‚Positivität‘ der Religionen freilich notwendigerweise aposteriori ‚erzählt‘ und philosophisch im Sinne eines vernunft-kritischen Scheidungsverfahrens analysiert und aneignet – eigentliche Aufgabe einer konkreten (und „sehr geschichtskundigen“) Religionsphilosophie,¹³ die darin das allein durch bloße Vernunft Zugängliche aus der historischen Religion analytisch darstellt, d. h. philosophisch expliziert. Dementsprechend wäre Kants „analytische Methode, eine gegebene Religion innerhalb der Grenzen etc. zu finden, nicht synthetisch eine solche durch Vernunft zu machen“,¹⁴ in der konkreten Anwendung auf eine „vorliegende Geschichte“ (MS, AA 06: 488.10) auch auf die anderen historischen „Glaubensarten“ auszudehnen – dies wäre vorrangig auch die Basis eines philosophisch orientierten Religionsvergleiches der drei ‚monotheistischen‘ Religionen. Aufgabe dieser „analytischen Methode der Religionsphilosophie“ ist es näherhin, in einer auf eine „vorliegende Geschichte“ und eine vorhandene Religion¹⁵ nachträglich angewandten Reflexion das der Religion zugrunde liegende Ideengefüge zu explizie-

 Bei aller Vorläufigkeit der religionswissenschaftlichen Kenntnisse und des ihnen verfügbaren Materials sind in grundsätzlicher Hinsicht Hegels und Schellings religionsphilosophische Analysen wohl immer noch unübertroffen. Sie explizieren in theoretisch-reflexiver, systematisch-religionsgeschichtlicher Absicht durchaus im Sinne einer „höheren Aufklärung“ das von Hölderlin benannte „Bedürfnis der Menschen, … ihre verschiedenen Vorstellungsarten von Göttlichem eben, wie im übrigen Interesse, sich einander zuzugesellen [!], und so der Beschränktheit, die jede einzelne Vorstellungsart hat und haben muss, ihre Freiheit zu geben, indem sie in einem harmonischen Ganzen von Vorstellungsarten begriffen ist, und zugleich eben, weil in jeder besondern Vorstellungsart auch die Bedeutung der besonderen Lebensweise liegt, die jeder hat, der notwendigen Beschränktheit dieser Lebensweise ihre Freiheit zu geben, indem sie in einem harmonischen Ganzen von Lebensweisen begriffen ist“ (Hölderlin 1998, II 52).  So in den Vorarbeiten zur Religionsschrift: (VARGV, AA 23: 115.5 – 6).  Dies besagt näherhin: „Ich wollte die Religion im Felde der Vernunft vorstellig machen u. zwar so wie solche auch in einem Volke als Kirche errichtet sein könne. Da konnte ich nun solche Formen nicht füglich erdenken [!], ohne wirklich vorhandene zu benutzen. – Daher konnte ich nicht eine Religion entspringend aus der Vernunft ankündigen sondern Religion die allenfalls auch in der Erfahrung gegeben war (als Kirche) aber das an ihr was innerhalb der Grenzen der Vernunft gehört – daraus ist zu sehen, dass ich nichts in die Schrift hineinbringe. – Weil aber die Religion so wie die Vernunft selbst eine absolute Einheit ausmachen muss so kann man zwar fragmentarisch aufsuchen, aber unsystematisch [?] sie als ein Ganzes zusammen fassen“ (VARGV, AA 23: 93.5 – 15).

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ren, d. h. zu zeigen, dass und wie „Moral unumgänglich zur Religion“ führt (RGV, AA 06: 6.8). Als eine maßgebliche Frucht jenes Scheidungsprozesses resultiert dabei also jenes Ideengefüge des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“ (FM, AA 20: 295.5) („Freiheit, Gott, Unsterblichkeit“), deren inwendige „Zweckverbindung“ (FM, AA 20: 306.17)¹⁶ das Fundament der „natürlichen Religion“ darstellt und dergestalt auf jenen „Vernunftglauben“ führt, „welcher sich auf keine andere Data gründet, als die, so in der reinen Vernunft enthalten sind“ (WDO, AA 08: 141.1– 2),¹⁷ und so – im Sinne der philosophischen Fundierung der „natürlichen Religion“ – eben den Nachweis leisten soll, dass und wie „Moral unumgänglich zur Religion führt“. Die sich dergestalt erst formierende Konstellation bzw. innere „gewisse Organisation“ (FM, AA 20: 310.9) der Vernunftideen bildet solcherart das Fundament der reinen Vernunftreligion und der „ewigen Vernunftwahrheiten“, das als solches das unumgängliche vernunft-immanente Richtmaß für die Beurteilung der geschichtlich-positiven Religionen (als den „historischen Glaubensarten“) darstellt. Demnach könne jedoch keine dieser „historischen Glaubensarten“ (als solche) einen Absolutheitsanspruch für sich selbst reklamieren, zumal keine diesem unentbehrlichen ‚idealen Richtmaß‘ schlechthin entspricht. Die Kant leitende Perspektive wäre dann nicht notwendigerweise als eine Ersetzung der „Glaubenarten“ zu verstehen, sondern eher dahingehend, dass jene „reine Vernunftreligion“ vielmehr als solches negatives ‚Richtmaß‘ – und auch als ‚Schutzwehr‘ – allgemeine Anerkennung findet. Das verfolgte Ziel ist näherhin dies: „Weil indessen jede auf statutarischen Gesetzen errichtete Kirche nur so fern die wahre sein kann, als sie in sich ein Prinzip enthält, sich dem reinen Vernunftglauben (als demjenigen, der, wenn er praktisch ist, in jedem Glauben eigentlich die Religion ausmacht) beständig zu nähern und den Kirchenglauben (nach dem, was in ihm historisch ist) mit der Zeit entbehren zu können“ (RGV, AA 06: 153.2– 8), eben weil dieser „Religionsglaube … auf inneren Gesetzen beruht,

 Dieses eine innere „Zweckverbindung“ enthüllende Ideengefüge des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“, das diesen „reinen Religionsglauben“ in seiner „inneren Wahrheit“ als einen geschlossenen Kreis von „Vernunftwahrheiten“ – eben als ein „reines Vernunftsystem der Religion“ (RGV, AA 06: 12.20 – 21) – bestimmt, wäre demnach in seiner ‚Idealität‘ selbst als ein erst „bei Gelegenheit der Erfahrung“ ausgebildetes bzw. daraus in seiner Reinheit ‚vermitteltes‘ zu begreifen, das freilich nach Kant zuletzt allein im Christentum („der Idee nach“) „in concreto“ und „rein“ repräsentiert wird.  Der so bestimmte und auch legitimierte „reine Vernunftglaube“ bleibt freilich ebenfalls vor vermessenen Ansprüchen zu bewahren – kann er doch „niemals in ein Wissen verwandelt werden, weil der Grund des Fürwahrhaltens hier bloß subjektiv, nämlich ein notwendiges Bedürfnis der Vernunft ist (und, so lange wir Menschen sind, immer bleiben wird), das Dasein eines höchsten Wesens nur vorauszusetzen, nicht zu demonstrieren.“ (WDO, AA 08: 141.19 – 23)

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die sich aus jedes Menschen eigener Vernunft entwickeln lassen“ (SF, AA 07: 36.14– 16). Es wird sich noch näher zeigen: Es ging Kant durchaus um eine Aufhebung der Offenbarungsreligionen, wonach auch die Kirchendiener „ihre Lehren und Anordnung jederzeit auf jenen letzten Zweck [!] (einen öffentlichen Religionsglauben) richten.“ (RGV, AA 06: 153.10 – 11) In diesem Sinne kennzeichnete er auch das Christentum als „historische Glaubensart“ als einen noch entwicklungsbedürftigen „Embryo“: „Die Hüllen, unter welchen der Embryo sich zuerst zum Menschen bildete, müssen abgelegt werden, wenn er nun an das Tageslicht treten soll. Das Leitband der heiligen Überlieferung mit seinen Anhängseln, den Statuten und Observanzen, welches zu seiner Zeit gute Dienste tat, wird nach und nach entbehrlich, ja endlich zur Fessel, wenn er in das Jünglingsalter eintritt“ (RGV, AA 06: 121.18 – 23). So bestätigt sich: Jenes in dem Gefüge der „Ideen des Übersinnlichen“ verankerte und dennoch auf dem langen Weg der geschichtlichen Erfahrung „ursprünglich erworbene“ Grundgerüst einer „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ wurde von Kant als unumstößliches Fundament der „auf dem Kritizism der praktischen Vernunft gegründete(n) wahre(n) Religionslehre“ (SF, AA 07: 59.24– 25) und gleicherweise als negativ-kritisches Richtmaß für die je bestimmten geschichtlichen Religionen beansprucht, das so als unentbehrlicher Ausleger dessen fungiert, „was uns ein Geschichtsglaube immer verheißen mag.“ (IV 855)¹⁸ Als ein solches bleibt es schon deshalb unverzichtbar, weil andernfalls auch einschlägige Ansprüche in pluralen Religionstheorien bzw. Theorien religiöser Erfahrung völlig maßstablos blieben und über ein – vermeintlich tolerantes, in Wahrheit jedoch buchstäblich ‚anspruchsloses‘ – bloßes Nebeneinander wohl kaum hinaus kämen. In jener „Zweckverbindung“ der „Ideen des Übersinnlichen“ begreift dieser „Vernunftbegriff in abstracto“ innerhalb des (als „Theologie“ bezeichneten: FM, AA 20: 281.15) „dritten Stadiums der Metaphysik“ gewissermaßen sich selbst in seiner „aposteriori“ vermittelten „Apriorität“ und bringt dergestalt in solcher ‚Selbstreflexivität‘ dieses Stadium auf eine Weise zum Abschluss, in dem der erhobene Anspruch, dass „Religion eine reine Vernunft-

 Nur mit einer diesbezüglichen Einschränkung kann dem Urteil Arnoldts zugestimmt werden: „Ihr [Lessings und Kants] gemeinsamer Ausgang war die Anerkennung der Vernunft als letzten Probiersteins der Wahrheit, ihre gemeinsame Richtung die Aufsuchung des wahren Verhältnisses zwischen Vernunft und – wirklicher oder angeblicher – Offenbarung und zwar in Trennung wie Einigung der aus beiden Quellen fließenden Erkenntnisse“ (Arnoldt 302).

2 Die im Christentum als „natürlicher Religion“ gedachte Idee

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sache ist“ (SF, AA 07: 67. 26 – 27),¹⁹ erst seine vollständige Einlösung findet. Dies ist noch näher zu entfalten.

2 Die im Christentum als „natürlicher Religion“ gedachte Idee der Einheit des ‚religionsgeschichtlichen Aposteriori‘ (als „historischer Glaubensart“) und des ‚Apriori der Religionsgeschichte‘ („Allgemeinheit“, „Einheit“, „Notwendigkeit“) Die Zuerkennung des Absolutheitsanspruchs für das Christentum (der „Idee nach“) beruht auf Kants Identifikation der christlichen Religion mit der Idee der „natürlichen Religion“, die sich in jener „Zweckverbindung“ der Vernunftideen des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“ manifestiert und auf deren Würdigung die Religionsschrift abzielt. Nach Kants Auffassung sei „das Christentum“ „die Idee von der Religion, die überhaupt auf Vernunft gegründet“ sei „und so fern natürlich sein muss“ (SF, AA 07: 44.24– 26); „der reine Religionsglaube“ sei „ohne Statuten auf bloßer Vernunft gegründet“ (SF, AA 07: 37.2– 4), das Christentum der „Idee nach“ infolgedessen allein die „vollständige Religion“ (RGV, AA 06: 162.14)²⁰ – obgleich Kant durchaus einräumte, dass die Realisierung  Gegenüber der bloß ‚partikulären Gültigkeit‘ des „historischen Glaubens“ ist es der „reine Religionsglaube, der sich gänzlich auf Vernunft gründet“ und deshalb als „notwendig, mithin für den einzigen erkannt werden“ kann, „der die wahre Kirche auszeichnet“ (RGV, AA 06: 115.14– 16).  Vgl. auch Refl. 7060 (schon für den Zeitraum 1776 – 1778 datiert: AA 19, 238 f.), die in einer Präzision wie wohl nirgends sonst bei Kant die Anliegen bzw.Vorzüge des „Lehrers des evangelii“ vorstellt und anpreist: „Der Lehrer des evangelii … setzte mit Recht zum Grunde, dass die zwei principia des Verhaltens, Tugend und Glückseligkeit, verschieden und ursprünglich wären. Er bewies, dass die Verknüpfung davon nicht in der Natur (dieser Welt) liege. Er sagte, man könne sie jedoch getrost glauben. Aber er setzte die Bedingung hoch an und nach dem heiligsten Gesetz. Zeigte die menschliche Gebrechlichkeit und Bösartigkeit und … nahm den moralischen Eigendünkel weg (Demut) und, indem er das Urteil dadurch geschärft hatte, so ließ er nichts übrig als Himmel und Hölle, das sind … Richtersprüche nach der strengsten Beurteilung. Er nahm noch alle unmoralischen Hilfsmittel der Religionsobservanzen weg und machte dagegen die Gütigkeit Gottes in allem dem, was nicht in unseren Kräften ist, zum Gegenstande des Glaubens, … wenn wir … so viel als in unseren Kräften mit Aufrichtigkeit zu leisten bestrebt sind. Er reinigte die Moral also von allen nachsichtlichen und eigenliebigen Einschränkungen. Das Herz von … moralischem Eigendünkel. Die Hoffnung der Glückseligkeit von phantastischen Aussichten. Den Begriff der Gottheit von den schwachen Begriffen nachsichtlicher Gütigkeit, imgleichen dem dienstbedürftigen Willen Observanzen zu verlangen, von … kindischem Leichtsinn leerer Hoffnung und von knechtischer Furcht kriechender Andächtelei und gab ihm Heiligkeit des Willens als die Norm der Gütigkeit seiner Absichten. Folglich wurde die Moral mit einer Stütze versehen, worauf sich alle

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I Eine Erinnerung an Kants Grundlegung der „natürlichen Religion“

des „vollständigsten Inbegriffs aller natürlichen Religion“²¹ in seiner Reinheit eine bleibende geschichtliche Herausforderung und Aufgabe darstellt. Zwar sei also keine der „geschichtlichen Glaubensarten“ mit der „natürlichen Religion“ einfachhin identisch, jedoch komme die christliche Religion der „Idee“ derselben in grundsätzlicher Hinsicht – d. h. gemäß jenem vernunftgemäßen Ideengefüge von „Freiheit, Gott, Unsterblichkeit“ – offenbar doch am nächsten.²² Denn das Christentum erweist sich, jedenfalls „idealiter“ gesehen, zuletzt als diejenige aus jenem „Scheidungsprozess des Idealen und Realen“ hervorgegangene „historische Glaubensart“, die keine anderen als die „apriorischen Prinzipien“ der Vernunftreligion mehr zur Grundlage hat, d. h. nach Kants Urteil, im Vergleich zu den anderen geschichtlich-positiven „Glaubensarten“,²³ jenen prinzipien-orientierten

Hebel … , die das Herz bewegen sollen, fest stützen, aber zugleich rein, ohne Beimengung der eigennützigen Absichten oder fremdartiger Ersetzungsmittel.“ Schon hier sei angemerkt, dass dies auch eine implizite Abgrenzung gegenüber Judentum und Islam enthält.  XIV,312.  Bezüglich der Verortung des Christentums in der Religionsgeschichte muss deshalb gelten – ein auch für das Verhältnis Kants zu Lessing und zu seiner Ringparabel bedeutsamer Sachverhalt: „Das Christentum ist nicht die reine moralische Vernunftreligion selbst, wohl aber die einzige Religion in der bisherigen Entwicklung der Menschheit, die vermöge ihres ethischen Gehaltes einer Verkörperung jener fähig ist. Insofern kommt dem Christentum bei Kant tatsächlich die Höchstgeltung unter allen Religionen zu. Das ist aber keine supranatural-exklusive, sondern eine vernünftig-komparative Absolutheit, weil sie aus dem kritischen Vergleich erwächst und weil der Beurteilungsmaßstab von der Vernunft überprüft werden kann“ (Barth 382). Ebendies wird nach Kant von Lessings Ringparabel offenbar unterschlagen (s.u. III., 2.).  Vgl. dazu aber auch Kants ausdrückliche Unterscheidung des „christlichen Glaubens“ als „reinen Vernunftglauben“ und als „Offenbarungsglauben“ sowie den daran geknüpften Unterschied zwischen der „christlichen Religion“ und dem „christlichen Glauben“ (RGV, AA 06: 164.2– 3). – Jesus Christus wäre dieser kantischen Perspektive zufolge jenes selbst in ‚geschichtlicher‘ Konkretheit aufgetretene Individuum (nicht nur ein „bessrer Pädagog“, der „erste zuverlässige, praktische Lehrer der Unsterblichkeit der Seele“: so Lessing, s.u. II., 5.1.3.), das als solches jedoch „in concreto“ das ‚aposteriori der Religionsgeschichte‘ und das ‚apriori der Vernunftreligion‘ („Allgemeinheit, Einheit und Notwendigkeit der Glaubenslehren … , die das Wesentliche einer Religion ausmachen“), in sich ‚vereint‘, d. h. innerhalb der Religionsgeschichte verkörpert. Jesus Christus wäre demnach offenbar selbst – als „personifizierte Idee des guten Prinzips“ (RGV, AA 06: 60.8) – als die geschichtlich sichtbar-reale Einheit von „Geschichts“- und „Vernunftwahrheit“ zu begreifen – ein Verständnis, das Kant freilich mit Blick auf die „Geschichte des Glaubens“ erst der Zukunft (gewissermaßen als Ziel der „Erziehung des Menschengeschlechts“) vorbehält. Kant hat den – „rationalen“, „auf eine moralische Vernunftidee“ bezogenen – „lebendige(n) Glaube(n) an das Urbild der Gott wohlgefälligen Menschheit (den Sohn Gottes) an sich selbst“ von dem „Glaube(n) an eben dasselbe Urbild in der Erscheinung (an den Gottmenschen), als empirische(n) (historische(n) Glaube(n)“ (RGV, AA 06: 119.6 – 13) unterschieden; in diesem Sinne wäre es dann wohl auch zu verstehen: „Also kann nur die Idee der Gott wohlgefälligen Menschheit in moralischer Absicht überhaupt unter dem Sohne Gottes verstanden

2 Die im Christentum als „natürlicher Religion“ gedachte Idee

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Vernunftansprüchen der „Allgemeinheit, Einheit und Notwendigkeit der Glaubenslehren […], die das Wesentliche einer Religion überhaupt ausmachen“ (SF, AA 07: 8.36 – 37), somit am meisten entspricht; eben deshalb könne es zwar „vielerlei Arten des Glaubens“, jedoch „nur eine (wahre) Religion“ (RGV, AA 06: 107.28 – 29) geben – d. i. „nur eine einzige für alle Menschen und in allen Zeiten gültige Religion“ (ZeF, AA 08: 367, Anm.). Das Christentum selbst ist, der „Idee nach“, eben diese apriorische „Vernunftreligion“, die deshalb (so Kant mit kritischem Blick auf Lessing, s.u. 77) auch nicht mehr in einer geschichtlichen Entwicklung noch ‚überholt‘ (überboten) werden könnte. Dass die grundlegenden Prinzipien und ‚Elemente‘ der „reinen Vernunftreligion“ (ihre „Allgemeinheit, Einheit, und Notwendigkeit“²⁴) zugleich eben als ‚religionsgeschichtliches‘ Aposteriori zu buchstabieren sind, besagt also, dass Erstere in fortschreitender ‚In-sich-Reflektiertheit‘ ausgebildet, d. h. in dieser „historischen Religion“ zunehmend von „den ihnen anhängenden empirischen Bedingungen befreit, in ihrer Lauterkeit dargestellt“ (KrV, B 91)²⁵ werden und sich demzufolge „dem reinen Religionsglauben kontinuierlich … nähern“ (RGV, AA 06: 115.20 – 21, worin allein „die Vernunft selbst die Glaubenssätze hinreichend begründet“ (SF, AA 07: 49. 33 – 34), also deren ‚normativen Kern‘ bestimmt.

werden, nicht irgend ein besonderer Mensch (wie etwa Christus), wovon dieser also[,] da er auf Erden kam[,] die Erscheinung das moralische Ebenbild und das Beispiel ist“ (VASF, AA 23: 436.8 – 12), wodurch der „Gottmensch“ also als die „in Gott von Ewigkeit her liegende Idee der Menschheit in ihrer ganzen ihm wohlgefälligen moralischen Vollkommenheit“ (SF, AA 07: 39.11– 13) vorgestellt wird; er hat „durch Lehre, Lebenswandel und Leiden das Beispiel eines Gott wohlgefälligen Menschen an sich gegeben“ (RGV, AA 06: 63.24– 25): Der „Heilige des Evangelii“ wäre selbst der Lehrer der „Vernunftreligion“, der so – zwar nicht in geschichtlicher, sondern in grundsätzlicher Hinsicht – gleichsam die Selbstrelativierung der christlichen Religion als einer „historischen Glaubensart“ besiegelte: „Christus hat allein wirkliche Religion gelehrt, nämlich das moralische in dem Verhalten gegen Gott“ (AA 19, 198). Jesus ist also zwar der „Lehrer des Evangeliums“ (RGV, AA 06: 128.11), aber nicht dessen Inhalt. „Christus stiftete eine Schule, lehrte im Tempel u. auf den Märkten“ (VASF, AA 23: 448.20 – 21). Dies dient allerdings bloß der „Illustration“, nicht der „Demonstration“ (VASF, AA 23: 437.37); s. dazu u. II., Anm. 76.  Kant hat dies besonders deutlich im „Streit der Fakultäten“ ausgesprochen: „Wenn aber die Vernunft hiebei so spricht, als ob sie für sich selbst hinlänglich, die Offenbarungslehre also [wie bei Reimarus] überflüssig wäre (welches, wenn es objektiv so verstanden werden sollte, wirklich für Abwürdigung des Christentums gehalten werden müsste), so ist dieses wohl nichts, als der Ausdruck der Würdigung ihrer selbst; nicht nach ihrem Vermögen, nach dem, was sie als zu tun vorschreibt, sofern aus ihr allein Allgemeinheit, Einheit und Notwendigkeit der Glaubenslehren hervorgeht, die das Wesentliche einer Religion überhaupt ausmachen, welches im MoralischPraktischen (dem, was wir tun sollen) besteht“ (SF, AA 07: 8.30 – 9.1). Vgl. VAMS, AA 23: 377.  Dies ist wiederum in unverkennbarer Anlehnung an Kants „Zergliederung des Verstandesvermögens“ (d. h. die „Analytik der Begriffe“) in der „transzendentalen Analytik“ formuliert.

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Der „Idee nach“ erweist sich nach Kant demnach das Christentum mit diesen apriorischen Vernunftprinzipien als das eigentliche Ziel der religionsgeschichtlichen Entwicklung, sodass „reine Vernunftreligion zuletzt über alle herrsche, ‚damit Gott sei alles in allem.‘“ (RGV, AA 06: 135.23) Diesen Prozess sah Kant zuletzt also mit dem Auftreten des Christentums und dessen Anspruch in gewisser Weise zum Abschluss gebracht: „man kann es, ohne zu heucheln, der moralischen Lehre des Evangelii mit aller Wahrheit nachsagen: dass es zuerst, durch die Reinigkeit des moralischen Prinzips, zugleich aber durch die Angemessenheit desselben mit den Schranken endlicher Wesen, alles Wohlverhalten des Menschen der Zucht einer ihnen vor Augen gelegten Pflicht, die sie nicht unter moralischen geträumten Vollkommenheiten schwärmen lässt, unterworfen und dem Eigendünkel sowohl als der Eigenliebe, die beide gerne ihre Grenzen verkennen, Schranken der Demut (d. i. der Selbsterkenntnis) gesetzt habe“ (KpV, AA 05: 86.14– 21). „Glaubensarten“, die diesen Maßstäben (noch) nicht genügen und „Außerwesentliches“ behaupten, müssen hingegen als „Heidentum“ distanziert werden. Dergestalt rückt die zentrale Frage nach der Einheit und Differenz von ‚Genesis‘ (bzw. ‚historischer Faktizität‘) und ‚Geltung‘ in der besonderen Akzentuierung ins Blickfeld, dass auch die „in allen Zeiten gültige Religion“ sich doch erst aus den geschichtlichen Religionen entwickeln (‚herausschälen‘) konnte – jene selbst in der Geschichte auftretende Religion gewissermaßen, die von sich selbst als einer bloß „historischen Glaubensart“ frei geworden sei und ebendeshalb auch allein als „natürliche Religion“ gelten dürfe, die ein „aus bloßen Prinzipien apriori“ bestehendes „reines Vernunftsystem der Religion“ (RGV, AA 06: 12.20 – 21)²⁶ darstellt. Eben darauf beruhe auch die „innere Wahrheit“ dieser Religion, die auf jener „Zweckverbindung“ der Vernunftideen begründet ist. Demgemäß erweisen sich die diese ‚selbständige‘ Vernunftreligion auszeichnenden Bestimmungen der „Allgemeinheit, Einheit und Notwendigkeit der Glaubenslehren“ gewissermaßen selbst als geschichtlich-‚aposteriori‘ vermitteltes ‚Apriori‘ – als ein nachträglich abstrahiertes ‚Negativ‘²⁷ – und fungieren sonach als kri-

 In diesem Sinne wollte Kant mit besonderem Blick auf das Christentum prüfen, ob „die Offenbarung, als historisches System“, auf ein „reines Vernunftsystem der Religion zurück führe“ (RGV, AA 06: 12.18 – 21).  Dass das „Abstrahieren von aller Religion“ indes nicht „Ausschließung aller Offenbarung behauptet“, wird deutlich, wenn es heißt: „Die Aufschrift aber Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft gibt sogleich zu erkennen, dass es nicht um die Quelle daraus irgend eine positive (statutarische) Religion entsprungen sein mag zu tun sei und die letztere synthetisch auf lauter Vernunftbegriffe zu bringen sondern allenfalls nach analytischer Methode nur das aus ihr abstrahieren was die bloße Vernunft aus sich selbst erkennen kann“ (VARGV, AA 23: 94.25 – 30,

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tisch-negativer Maßstab der Vernunftansprüche erhebenden geschichtlichen Religionen, der indes lediglich als deren ‚Schutzwehr‘ dienen soll.²⁸ So lässt sich auch „voraussehen, dass diese Geschichte [des „Kirchenglaubens“] nichts, als die Erzählung von dem beständigen Kampf zwischen dem gottesdienstlichen [d.i. ‚kultisch‘ orientierten] und dem moralischen Religionsglauben sein werde“ (RGV, AA 06: 124.22– 25) – ein Kampf, worin sich nicht zuletzt eine „größere Bearbeitung der sittlichen Ideen“ (KrV, B 845) widerspiegle mit dem Ziel, auf diese Weise das ‚positive Christentum‘ erst in ein „Christentum der Vernunft“ zu transformieren, also den „Geschichtsglauben“ in einen „Vernunftglauben“ aufzuheben. In diesem Sinne betonte Kant die „Zusammenstimmung“ („Einigkeit“) des Christentums „mit dem reinsten moralischen Vernunftglauben“ (SF, AA 07: 9.23). Derart erweist sich nach Kant das Christentum in seiner religionsgeschichtlichen ‚Aposteriorität‘ als jene geschichtlich-reale „Glaubensart“, die sich dergestalt selbst als eine solche ihres ‚historischen Gewandes‘ gewissermaßen entledigt und sich damit auch relativiert,²⁹ d. h. überwindet – zugleich aber auch die anderen „historischen Glaubensarten“ an ihrem geschichtlichen Ort und in ihrer ‚relativen‘ Wahrheit zu begreifen vermag. Es sei auch allein das Christentum und seine Geschichte, worin „jetzt die Anlage zur Einheit der allgemeinen Kirche schon ihrer Entwicklung nahe gebracht ist, indem durch sie wenigstens die Frage wegen des Unterschieds des Vernunft- und Geschichtsglaubens schon öffentlich aufgestellt und ihre Entscheidung zur größten moralischen Angelegenheit gemacht ist“ (RGV, AA 06: 124.31– 34).³⁰ Also gerade in der historischen Erscheinungsgestalt der christlichen

u. ö.). Nicht ganz unmissverständlich ist freilich Kants (schon zitierte) Notiz in der Vorrede der Religionsschrift: „In der gegenwärtigen Schrift wird das Ganze einer Religion überhaupt, so fern sie bloß aus der durch moralische Ideen geleiteten Vernunft entwickelt werden kann, vorgetragen“ (AA 20: 439.13 – 15).  Indes darf diese Maßstab-Funktion nicht zu eng bzw. einseitig ausgelegt werden; denn schon Kants Kennzeichnung „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ versteht sich selbst in dem ihr immanenten ‚Säkularisierungs‘-Anspruch wohl weniger in der „Funktion eines Filters, der Traditionsgehalte ausscheidet, als der eines Transformators, der den Strom der Tradition umwandelt“ (Habermas 2009, 411).  Auch Kants Freund S. Beck sprach ausdrücklich davon, dass die „Erscheinung der christlichen Religion, von der als einem Kirchenglauben man sagen kann, dass sie das Prinzip zu ihrer eigenen Auflösung in sich selbst trägt“, darauf „sichtbarlich“ hinzielt, „den rein moralischen Glauben in unserm Geschlecht hervorzubringen“ (AA 12, 166) und so ein „reines Vernunftsystem der Religion“ (RGV, AA 06: 12.20 – 21) zu etablieren.  Besonders signifikant ist dieser Unterschied zwischen dem „Vernunft- und Geschichtsglauben“ auch in Kants Hinweis auf das Problem der „Genugtuung“ ausgesprochen: „Der Satz: Man muß glauben, daß es einmal einen Menschen, der durch seine Heiligkeit und Verdienst sowohl für sich (in Ansehung seiner Pflicht) als auch für alle andre (und deren Ermangelung in Ansehung ihrer Pflicht) genug getan, gegeben habe (wovon uns die Vernunft nichts sagt), um zu hoffen, daß

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Religion sah Kant idealiter die geschichtlich-‚aposteriorische‘ Herkünftigkeit bzw. Vermittlung in eigentümlicher Weise mit der ‚apriorischen‘ Gültigkeit seiner Prinzipien („quid juris?, quid facti?“) unzertrennlich vereint.³¹ In dieser Formation indiziere sie als historisch auftretende „Glaubensart“ – die indes eben keine bloße „Glaubensart“, sondern „natürliche Religion“ ist – den gereinigten Kerngehalt aller geschichtlich-positiven Religionen und deren „sinnlichen Vorstellungsarten“ bzw. fungiere so auch als kritischer Maßstab derselben. Derart wären also die Fragen „quid facti?“ und „quid juris?“ – in einer offensichtlich zur „ursprünglichen Erwerbung“ (und „größeren Bearbeitung“) bei „Gelegenheit der Erfahrung“ analogen Argumentation (d. h. eben analog den „reinen Verstandesbegriffen“) – zu vermitteln. Dieses Motiv der die aposteriorische Vermittlung des ‚Apriori‘ der Vernunftreligion indizierenden „ursprünglichen Erwerbung“ (bei „Gelegenheit der Erfahrung“) erklärt ebenso dies, dass von einer „Religion innerhalb den Grenzen der bloßen Vernunft“ die Rede sein könnte, „die aber nicht aus bloßer Vernunft abgeleitet, sondern zugleich [!] auf Geschichts- und Offenbarungslehren gegründet ist und die nur die Übereinstimmung der reinen praktischen Vernunft mit derselben (dass sie jener nicht widerstreite) enthält“ (MS, AA 06: 488.6 – 9). Auch dies verdeutlicht das Motiv der Einheit von geschichtlicher ‚Aposteriorität‘ und der darin geschichtlich hervorgetretenen – ‚herausgeschälten‘ – ‚Apriorität‘ der Prinzipien der „Vernunftreligion“, die sodann in einer philosophischen Begründung einer „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ ihre reflexive Gestalt gewinnt und darin Religion als „reine Vernunftsache“ (SF, AA 07: 67. wir selbst in einem guten Lebenswandel, doch nur kraft jenes Glaubens selig werden können, dieser Satz sagt ganz etwas anders als folgender: man muß mit allen Kräften der heiligen Gesinnung eines Gott wohlgefälligen Lebenswandels nachstreben, um glauben zu können, daß die (uns schon durch die Vernunft versicherte) Liebe desselben zur Menschheit, sofern sie seinem Willen nach allem ihrem Vermögen nachstrebt, in Rücksicht auf die redliche Gesinnung den Mangel der Tat, auf welche Art es auch sei, ergänzen werde. – Das erste aber steht nicht in jedes (auch des ungelehrten) Menschen Vermögen.“ (RGV, AA 06: 120.4– 17) Diese Unterscheidung macht auch besonders deutlich, dass bzw. weshalb dieser „Vernunftglaube“ von Kant als ein „moralischer Glaube“ ausgewiesen wird. In einer eigentümlichen Spannung zu dem zitierten Passus aus Kants Religionsschrift steht seine These: „Wir haben apriori [!] Ursache zu glauben, dass uns unter der Bedingung eines guten Lebenswandels eine solche Genugtuung versprochen sei“ (AA 23: 123). Solches ‚Versprechen‘ ist womöglich doch allein durch die „durch hergebrachte fromme Lehren erleuchtete Vernunft“ (EaD, AA 08: 336.21– 22) gedeckt …  Darauf zielt offenbar auch Kants These, „dass zwischen Vernunft und Schrift nicht bloß Verträglichkeit, sondern auch Einigkeit anzutreffen sei“ (RGV, AA 06: 13.1– 2). In diesem Sinne darf wohl auch Irrlitzs Bemerkung verstanden werden: „Apriorismus und Historie sind aufeinander bezogen, aber wir erkennen es erst, wenn das intelligible Muster hinterm Historischen entschlüsselt wird“ (Irrlitz 404).

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26 – 27) legitimiert, denn Religion muss „auch durch bloße Vernunft erkannt werden“ (SF, AA 07: 6 Anm.) können.³² Die dergestalt erreichte Geltungsbasis aller Religionen wäre also die Beantwortung der Frage „quid juris?“, sofern sie eben durch solche Fundierung auch die Diversität der „historischen Glaubensarten“ gleichermaßen anerkennt und relativiert; dies setzt freilich zugleich die Überwindung der Partikularität im Sinne eines ‚Universalismus der Verschiedenheit‘ voraus – eben im Sinne einer kantischen Version des kusanischen Motivs der „una religio in rituum varietate“³³ –, der innerhalb jener „Zweckverbindung“ der Ideen des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“ (FM, AA 20: 295.5) geschichtlich zur Erscheinung kommt, dann aber als eine solche auch zu begreifen ist. Jene „quid-juris?“-Frage zielt demzufolge darauf ab, dass die Ausbildung der Vernunftreligion als „Fundament des Vernunftglaubens“³⁴ sich eben an der „Selbsterhaltung der Vernunft“ (im Sinne jenes „reinen Vernunftsystems der Religion“: RGV, AA 06: 12. 20 – 21) orientiert, so aber auch eine philosophisch orientierte Verständigung der „historischen Glaubensarten“ untereinander erst ermöglicht – und ebenso dazu nötigt, sich dem Ziel eines „für alle Welt gleich einleuchtenden Religionsglauben(s)“ (RGV, AA 06: 135 Anm.) anzunähern, der so zugleich (wohl auch gegen Lessings Kontrahenten Goeze) vor Augen führt: „Dass aber ein Geschichtsglaube Pflicht sei, und zur Seligkeit gehöre, ist Aberglaube.“ (SF, AA 07: 65. 24– 25) Hingegen gilt:

 Mit Recht betont Cunico (mit Blick auf Lessing und vor allem auf Kant), dass die „Glaubenshaltung … aus inneren Anliegen der allgemeinen menschlichen Vernunft“ entstehe „und entfalte sich nur dort, wo die Vernunft für Überlegungen und Bezeugungen offen bleibt, die sich nicht auf empirische Evidenz oder logischen Zwang reduzieren lassen“ (Cunico 2015b, 126).  Dies stand Kant wohl auch bei seinem (skeptischen) Hinweis auf die erstrebte ‚Glaubenseinheit‘ vor Augen: „Die kirchliche Glaubenseinheit mit der Freiheit in Glaubenssachen zu vereinigen, ist ein Problem, zu dessen Auflösung die Idee der objektiven Einheit der Vernunftreligion durch das moralische Interesse, welches wir an ihr nehmen, kontinuierlich antreibt, welches aber in einer sichtbaren Kirche zu Stande zu bringen, wenn wir hierüber die menschliche Natur befragen, wenig Hoffnung vorhanden ist. Es ist eine Idee der Vernunft, deren Darstellung in einer ihr angemessenen Anschauung uns unmöglich ist, die aber doch als praktisches regulatives Prinzip objektive Realität hat, um auf diesen Zweck, der Einheit der reinen Vernunftreligion, hinzuwirken. Es geht hiermit, wie mit der politischen Idee eines Staatsrechts, so fern es zugleich auf ein allgemeines und machthabendes Völkerrecht bezogen werden soll. Die Erfahrung spricht uns hierzu alle Hoffnung ab.“ (RGV, AA 06: 123, Anm.). Im Sinne dieses ‚Zwecks‘ ist wohl auch der Hinweis auf den Übergang vom provisorischen „Geschichtsglauben“ zu dem durch ihn allenfalls beförderten „reinen Religionsglauben“ zu verstehen.  Refl. 2446, in: AA 16, 371 f. Es ist dies der „Religionsglaube“, der „sich aus jedes Menschen eigener Vernunft entwickeln“ lässt (SF, AA 07: 36.14– 16).

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„Es ist nichts einfacher als der reine moralische Religionsglaube“,³⁵ der allein „eine im Geist und in der Wahrheit (der moralischen Gesinnung)“ gegründete Religion darstellt (RGV, AA 06: 84.19). Ausgehend von dem in der „Geschichte der menschlichen Vernunft“ (KrV, B 845)³⁶ und der darin durchlaufenen „Erfahrung“ (dem darin geschichtlich situierten „Vernunftbegriff in concreto“) läutert und differenziert sich gemäß jenem Scheidungsprozess der „Vernunftbegriff in abstracto“ und leistet auch erst die Legitimation des „ursprünglich Erworbenen“, das so das Fundament der nunmehr ‚praktisch‘ verankerten Metaphysik bereit stellt. Eben dies wäre demnach auch der bleibende Ertrag einer „Archäologie der Vernunft“.³⁷ Ihr zufolge sei ein unübersehbarer Fortschritt³⁸ in der Religions-, aber auch in der Philosophiegeschichte eben in jener schon erwähnten Ablösung des „Vernunftgebrauchs in concreto“ durch den „Vernunftgebrauch in abstracto“ zu erkennen, der somit die Bild- bzw. Symbolhaftigkeit religiöser Vorstellungen durchschaut und zunehmend zugunsten des abstrakt-begrifflichen Denkens und des „intellektuellen Sinn(es)“ abstreift,³⁹ während „die alten Gesänge von Homer an bis zum Ossian,

 VASF, AA 23: 438.21. Noch in den Vorarbeiten zur „Metaphysik der Sitten“ heißt es: „Religion zu haben ist Pflicht gegen sich selbst – aber nicht einen Religionsglauben zu haben. Die Religion muss nicht auf dem Glauben, sondern dieser auf jener gegründet sein“ (VAMS, AA 23: 399.6 – 8).  Schon dieser Rekurs auf eine „Geschichte der menschlichen Vernunft“ macht deutlich, dass „(a)uch für Kant … die Vernunft keine ein für allemal fertige, sondern eine sich entwickelnde Größe“ ist (Wundt 1924, 448), innerhalb welcher zuletzt, in dem von Kant so bezeichneten „dritten Stadium“, auch das komplementäre Verhältnis von ‚Glauben und Wissen‘ ausgebildet wird und sich reflexiv innerhalb der so eröffneten „Vollendung der Metaphysik“ selbst begreift und als ein „reines Vernunftsystem der Religion“ zu sich kommt.  „Eine philosophische Geschichte der Philosophie ist selbst nicht historisch oder empirisch, sondern rational d. i. a priori möglich. Denn ob sie gleich Facta der Vernunft aufstellt, so entlehnt sie solche nicht von der Geschichtserzählung, sondern sie zieht sie aus der Natur der menschlichen Vernunft als philosophische Archäologie.“ (FM/Lose Blätter, AA 20: 341.7– 11) Schon der frühe Kant gab einen interessanten Wink auf diese – auch religionskritisch interessante – „Archäologie der Vernunft“, in dem zuletzt auch die Gottesidee als ein „Ideal der Vernunft“ resultiert: „Der Begriff von Gott ist einmal da, man muss … ihn aus dem Gebrauche genetisch entwickeln, indem man nicht den Sinn, den man wirklich damit verbindet, sondern die Absicht aufsucht, die bei allen diesen Begriffen zum Grunde liegt … Furcht. Zauberei. Geister. Priester“ (Refl. 4113, AA 17, 421 f.).  Schon hier sei darauf hingewiesen, dass dieser Fortschritt (die „fortgehende Kultur“) in der Religionsgeschichte (in der „Geschichte der menschlichen Vernunft“) sich nicht auf das Christentum beschränkt, sondern sich auf den „allmählich sehr großen vernünftelnden Teil der Menschen“ erstreckt (s.u. Anm. II., Anm. 464 u. 469), obgleich dem Christentum von Kant offensichtlich ein besonderer Status eingeräumt wird.  Die „Hüllen“ und Bilder des „Vernunftbegriffs in concreto“ sind also selbst als unumgängliche „Vehikel“ der Erziehung zur Vernunftreligion zu verstehen. Die Unterscheidung zwischen

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oder von einem Orpheus bis zu den Propheten das Glänzende ihres Vortrags bloß dem Mangel an Mitteln, ihre Begriffe auszudrücken … verdanken“ (Anth, AA 07: 191.31– 33)⁴⁰ – ein Manko, das erst in einem langwierigen Aufklärungsprozess innerhalb der „Geschichte der reinen Vernunft“ überwunden werden konnte.⁴¹ Es war (und ist!) eben ein langer und mühsamer Läuterungsprozess, bis die „Volkslehrer“ die verschiedenen „Glaubensarten“ „ihrem wesentlichen Inhalte nach, nachgerade mit den allgemeinen moralischen Glaubenssätzen in Übereinstimmung brachten“ (RGV, AA 06: 111.1– 2). Erst so konnte auch das religiöse Verhältnis – in Überwindung aller abergläubisch-„thaumaturgischen“ Vorstellungen und ihrer Anleitungen in „technisch-praktischer Absicht“ (FM, AA 20: 298.31) – als ein ‚moralisch‘ begründetes freigelegt und sodann, über das zunehmende Bewusstwerden ‚moral-transzendierender‘ Dimensionen, als ein ‚vernunftgewirkt‘-geistiges Verhältnis begriffen werden; dieses hat als solches freilich nicht nur jede „Herbeirufung von Gnadenwirkungen“, sondern auch alle anderen thaumaturgischen „Versuche, aufs Übernatürliche hinzuwirken“ (IV 704 Anm.), überwunden und zielt mithin auch nicht auf mögliche „technische“ Handlungen ab, d. h. „um eine gewisse Wirkung hervorzubringen“ (KpV, AA 05: 26 Anm.). Kants Unterscheidung von „Geschicklichkeit“, „Klugheit“ und „Moralität“ (letztere bestimmte er auch als die „wahre Weisheit“) erlaubt hier auch eine religionsphilosophisch-religionsgeschichtliche Akzentuierung, zumal sich darin die Ausbildung eines sich „reinigenden“ religiösen Verhältnisses widerspiegelt, das nun ausschließlich für den menschlichen „Umgang mit Mächten des Heils und Unheils“ in moralischer Hinsicht maßgebend wird; nicht kultisch-rituelle Verehrung einer kosmischen Macht (zur vermeintlichen „Ehre Gottes“), sondern al-

„Vernunftwahrheiten in concreto“ und „abstracto“ beurteilte Kant unter dem Erziehungsaspekt, worin sich die „Geschichtlichkeit der Vernunft“ manifestiert; dieser Unterscheidung zwischen „Vernunftbegriff in concreto“ und „in abstracto“ korrespondiert in gewisser Hinsicht auch die kantische Version einer „duplex religio“ (d. dazu u. IV., 2.3.1.).  Eine indirekte Antwort darauf, warum Kant diesen Hinweis bemerkenswerterweise mit Verweis auf die Propheten beschließt, enthält – noch ganz in der Spur Kants und offenbar unter dem Eindruck von dessen Rekurs auf das „äußerst reine Sittengesetz unserer Religion“ (KrV, B 845) – eine Notiz des frühen Hölderlin in einem Predigtentwurf: „Christus hat sich vorzüglich dadurch als Lehrer der Menschheit bewiesen, dass er a) die Begriffe von der Gottheit b) die von unserer Beziehung auf sie geläutert und befestigt hat“ (in: Hölderlin 1992, II 44). Schelling kennzeichnete den „Christus der Vernunftreligion“ als einen „Sokrates höherer Art“ (XIII, 136) – eine Vorstellung, die eben deshalb auch unzureichend sei. Indes sind die von Kant durchaus betonten Unterschiede nicht zu übersehen.  Eben indem darin durchschaut wird, dass und wie „die Versinnlichung einer reinen Vernunftidee in die Vorstellung eines Gegenstandes der Sinne verwandelt“ (SF, AA 07: 39, Anm.) wird.

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lein der moralisch gute „Lebenswandel“ (der ihm genügende Mensch) ist „Endzweck der Schöpfung“. In der „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ wird somit auch die geschichtlich immer deutlicher werdende Korrespondenz zwischen den Gottes- und Moralvorstellungen sichtbar, zumal auch die Gottesvorstellung und die umfassende Idee der „Menschheit“ (in ihrem ‚extensionalen‘ und ‚intensionalen‘ Gehalt!) aus dem ebenfalls „sehr vermischten Gewebe“ (KrV, B 118) der Religionsbegriffe erst als ‚geläuterte‘ hervorgegangen sind. Schon in der „Geschichte der menschlichen Vernunft“, d. i. dem „Vernunftbegriff in concreto“, manifestiert sich diese „nach und nach“ fortschreitende Läuterung, die sodann in der philosophischen Reflexion und dem darin ausgebildeten „Vernunftbegriff in abstracto“ reflexiv eingeholt wird: Aufgabe einer entfalteten – und auch religionswissenschaftlich hinreichend versierten und ‚gesättigten‘ – Religionsphilosophie. Das von Kant geltend gemachte „Zugleich“ zwischen „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ und der auf „Geschichts- und Offenbarungslehren“ gegründeten Religion (MS, AA 06: 488.7) weist jedenfalls in solche Richtung. In diesem Sinne wollte offensichtlich schon Kant den geschichtlichen Religionen tatsächlich einen bedeutsamen und auch unübersehbaren Stellenwert in der ‚Genealogie der Vernunft‘ selbst einräumen; dies ist ansatzweise auch aus seinem (freilich nicht entfalteten) Versuch zu rekonstruieren, die Religionsgeschichte – innerhalb der „Einheit der Prinzipien“ – als die geschichtliche Entwicklung des sich darin ‚reinigenden‘ Verhältnisses der menschlichen Vernunft zum vorgestellten ‚Göttlichen‘ zu begreifen. In diesem Sinne betonte Kant ja auch: „Der Kirchenglaube ist es daher allein, von dem man eine allgemeine historische Darstellung erwarten kann, indem man ihn nach seiner verschiedenen und veränderlichen Form mit dem alleinigen, unveränderlichen, reinen Religionsglauben vergleicht“ (RGV, AA 06: 124.13 – 16). So bestätigt sich, dass und wie jene „überhaupt auf Vernunft“ gegründete „Idee von der [natürlichen] Religion“ hinsichtlich ihrer ‚realen‘ Genese ebenso als ein aus der „fortgehenden Kultur“ resultierendes religionsgeschichtliches ‚Aposteriori‘ verstanden werden darf. Als entscheidend hat sich dabei also dies erwiesen: Das darin Freigelegte wäre demzufolge eben nicht ein beliebiges, geschichtlich ausgebildetes ‚Aposteriori‘, sondern vielmehr ein solches, das zugleich jene „apriorischen Prinzipien“ in ihrer Reinheit und in ihrem Zusammenhang geschichtlich als „Vernunftbegriff in abstracto“ zur Ausbildung bringt. Das dergestalt reale ‚Aposteriori‘ wäre also in seiner ‚Faktizität‘ eben gerade nicht ein bloß zufälliges bzw. geschichtlich kontingentes ‚Aposteriori‘, sondern ein solches gemäß jenen apriorischen Kriterien der „Allgemeinheit, Einheit und Notwendigkeit der Glaubenslehren … , die das Wesentliche einer Religion ausmachen“. Dieses ‚religionsgeschichtliche Aposteriori‘ (im Sinne der „historischen

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Glaubensart“) sah Kant dergestalt mit den ‚apriorischen Prinzipien‘ der „natürlichen Religion“ offenbar auf eine Weise vereint, die ihm zufolge jene Sichtweise eröffnet und legitimiert, dass diese – eben dadurch ausgezeichnete – „historische Glaubensart“ im Begreifen ihrer selbst als einer „historischen Religion“ sich zugleich selbst als eine solche überwindet, also sich ‚dergestalt‘ im „beständigen Kampf“ von sich selbst als einer bloß partikulären „historischen Glaubensart“ gleichsam befreit, gemäß jenen Kriterien ‚gereinigt‘ selbst geschichtlich in Erscheinung tritt und sich solcherart nunmehr dazu „bestimmt“ erweist, „allgemeine Weltreligion zu sein“ (EaD, AA 08: 339.34– 35; RGV, AA 06: 131.29; ebd.168.5 – 6). Eine historisch auftretende „Glaubensart“, die sich gleichwohl an den ‚universalistischen Prinzipien‘ der „natürlichen Religion“ orientiert, kann und darf, aufgrund dieser „Einzelheit und Allgemeinheit“ vermittelnden ‚Besonderheit‘, eben nicht bloß eine „geschichtliche Glaubensart“ unter anderen bleiben, vielmehr ist sie – als solche – nach Kant dazu berufen, „allgemeine Weltreligion“ zu werden, sofern sie als „allgemeine Menschenreligion“ fungiert (s.u. I., 2.1.), d. h. „aus dem reinen Quell der allgemeinen, jedem gemeinen Menschen beiwohnenden Vernunftreligion geschöpft“ ist (SF, AA 07: 63.23 – 25).⁴² Aus der Charakterisierung des – seine eigene ‚Partikularität‘ als „historische Glaubensart“ überwindenden – Christentums als „natürlicher Religion“, das aus den genannten „universalistischen‘ Gründen „allgemeine Weltreligion“ zu sein berufen ist, folgt freilich auch dies: Weil „Gott ein aus der Moral [des „Gottes in uns“] entspringender Begriff“⁴³ sei, ist es auch dieser Gott als „Gegenstand der Religion“ (und nicht einer bloß partikulären historischen „Glaubensart“), der darin als derjenige ‚erscheint‘, der eben nicht nur ‚unser‘ Gott ist, sondern im moralischen Verhältnis zu ihm, gemäß der „allgemeinen Menschenreligion“ (RGV, AA 06: 155. 25 – 26), tatsächlich ‚ein Gott aller Menschen‘ sein muss. Zeigt sich darin doch jener bedeutsame Sachverhalt, dass das gedachte „Verhältnis Gottes zur Welt“ in Wahrheit das vernunft-orientierte „Verhältnis der Welt zu Gott“ besagt bzw. darin ‚dargestellt‘ wird und ebendies auch alle Rückfälle in partikularistische Engführungen und Ansprüche verbieten muss. Auch in solcher Akzentuierung darf demzufolge der – gleichermaßen provozierende wie auch mahnende – kantische Anspruch aufgenommen werden, dass erst durch die aus dem hervorgehenden „genugsam gereinigten“ moralischen Begriffe, über bloße ‚Verträglichkeit‘ hinaus, auch ein entsprechender „Begriff vom göttlichen Wesen“ resultieren kann. Es sind diese moralische Fundierung der Vernunftreligion und  Ein detaillierter Vergleich der kantischen Position mit derjenigen Voltaires (nicht zuletzt was die Auszeichnung der christlichen Religion, aber auch die Toleranz-Forderung betrifft) wäre gewiss aufschlussreich.  Refl. 8110: AA 19, 650.

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die darauf gegründeten bzw. darüber hinausweisenden ‚Sinnpotenziale‘ (s.u. II., 4.2.), die nach Kant dem Christentum und seiner maßgebenden Konzeption eines „moralisch bestimmten Monotheismus“ (s.u. I., 3.1.) diese vergleichsweise Vorrangstellung einräumen. Letzterem wäre gewissermaßen auch zugemutet, in seiner geschichtlich realen „Partikularität“ (als „historische Glaubensart“) den Anspruch, „allgemeine Menschenreligion“ und somit „Weltreligion“ zu sein und die damit verbundene ‚Universalität‘ mit Blickrichtung darauf zu verwirklichen, dass es sich – in Preisgabe der ‚Selbsterhaltung‘ als eines „historischen Systems“, d. h. auch in solcher Hinsicht aus sich ‚heraustretend‘ – vornehmlich am Dienst für das ‚Wohl und Heil‘ auch der Nichtgläubigen und Ausgegrenzten orientiert – und solcherart sich freilich nicht nur erhält (behauptet), sondern sich auch allererst gewinnt. Es zeigt sich: Das Christentum als „geoffenbarte Religion“ erweist sich nach Kant eben als diejenige „Glaubensart“, die selbst die gereinigten ‚apriorischen Prinzipien‘ in einem geschichtlichen Läuterungsprozess erst hervorbringt, und insofern gerade keine „Glaubensart“ unter anderen „historischen Glaubensarten“ ist; sind es doch diese ‚apriorischen Prinzipien‘, die als ‚Ausleger‘ der „historischen Glaubensarten“ unerlässlich sind. Mit jener religionsphilosophischen Perspektive sind demzufolge auch Kants beiläufige Bezüge auf die Religionsgeschichte zu verbinden. Schon dies, dass das Christentum aufgrund seiner ‚apriorischen Vernunftprinzipien‘ zur „allgemeinen Weltreligion“ bestimmt sei, sowie die unterschiedliche Sichtweise derselben als „natürliche“ und „geoffenbarte Religion“ lässt erkennen, dass Kant natürlich auch das Christentum einerseits in die Entwicklung der Religionsgeschichte einordnet bzw. es als eine daraus historisch gewordene Größe begreift; zugleich sind die Grundsätze des Christentum als „natürliche Religion“ jedoch, wie erwähnt, nicht lediglich als historisch-kontingente zu verstehen, sondern – ungeachtet des religionsgeschichtlichen Entstehungszusammenhanges – in ihrem ‚apriorischen Notwendigkeitscharakter‘, der auch in dem unauflöslichen Zusammenhang der „Vernunftideen“ sichtbar wird und so in der genannten Weise als jenes ‚religionsgeschichtliche Apriori‘ zu begreifen wäre – eine Idee, die wohl auch in Kants beiläufigem Hinweis auf die „Geschichte des Glaubens“ (s.u. II., 4.1.) wiederzufinden ist. Der Sachverhalt, dass die „christliche“ Religion (als „natürliche“ in dem genannten Sinne) in derlei Hinsicht sich zwar als historisch ‚vermittelt‘, jedoch gerade nicht als lediglich historisch ‚bedingt‘ erweist, bringe also vornehmlich den geschichtlich nicht relativierbaren ‚ideellen‘ Charakter des Christentums ans Licht, der es eben – aufgrund seiner „Qualifikation zur Allgemeinheit“ (d. h. „Gültigkeit für jedermann“: RGV, AA 06: 157.27) – in besonderer Weise dazu qualifiziere, „allgemeine Weltreligion zu sein“ (EaD, AA 08: 339.34– 35). Solche Würdigung geht bei Kant durchaus mit einer entschiedenen Kritik einzelner Lehrstücke einher; besonders prominent

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ist seine Kritik an der paulinischen Gnadenlehre sowie an der Lehre vom stellvertretenden Sühnetod Jesu geworden⁴⁴ – ebenso sein Unverständnis für die „christliche“ Lehre, dass eine von Gott zugesicherte „Seligkeit“ allein denen gelten soll, die „das Verdienst Christi gläubig annehmen.“⁴⁵ Das Christentum sah Kant in solcher Hinsicht als „historische Religion“ demnach dadurch ausgezeichnet, dass es, in der geschichtlichen Entwicklung desselben als einer „historischen Glaubensart“, selbst jene („cosmopolitischen“⁴⁶) Prinzipien „in ihrer reinsten Gestalt“ ausgebildet habe, die das ‚apriorische‘ Fundament des Vernunftglaubens im Sinne der (von ihm so bezeichneten) „natürlichen Religion“ darstellen, mithin als „moralische Religion“ auch das kritische Richtmaß zur Prüfung der Vernunftverträglichkeit aller „historischen Glaubensarten“ anzubieten vermögen. Obgleich es sich hinsichtlich seines eigenen religionsgeschichtlichen bzw. historischen Herkunfts- bzw. Entdeckungszusammenhangs darin ‚realisiert‘ hat und insofern also selbst unter entsprechenden Realisierungs-Bedingungen bzw. geschichtlichen Vorgaben steht, sei das Christentum zu würdigen als „die Idee von der Religion, die überhaupt auf Vernunft gegründet, und so fern natürlich sein muss“ (SF, AA 07: 44.24– 26).⁴⁷ Dass der geltungstheoretische ‚Prinzipiencharakter‘ und Bedeutungsgehalt bzw. deren recht verstandene „Übergeschichtlichkeit“ selbst, eben durch „gelegentliche [geschichtliche] Veranlassung“ bedingt, sich aus der religions- bzw. kulturge-

 „Allein es ist gar nicht einzusehen, wie ein vernünftiger Mensch, der sich strafschuldig weiß, im Ernst glauben könne, er habe nur nötig, die Botschaft von einer für ihn geleisteten Genugtuung zu glauben und sie … utiliter anzunehmen, um seine Schuld als getilgt anzusehen, und zwar dermaßen (mit der Wurzel sogar), dass auch fürs künftige ein guter Lebenswandel, um den er sich bisher nicht die mindeste Mühe gegeben hat, von diesem Glauben und der Akzeptation der angebotenen Wohltat die unausbleibliche Folge sein werde. Diesen Glauben kann kein überlegender Mensch … in sich zuwege bringen.“ (RGV, AA 06: 116.32– 117.6)  VARGV, AA 23, 122.32. Aber auch seine Auslegung der Dreifaltigkeitslehre spiegelt wohl eher (s)eine Verlegenheit wider – nämlich seinen Versuch, aus dieser Lehre, aus der „sich schlechterdings nichts fürs Praktische machen“ lasse (vgl. SF, AA 07: 38.34), eben doch noch „etwas Praktisches“ machen zu wollen … Die Trinitätslehre führte Kant auch (offenbar mit einem ironischen Unterton) als ein Beispiel dafür an, „wo die Vernunft mit der Schrift nicht Schritt halten kann“ (SF, AA 07: 23.27).  Dass Kant der „Religionsgeschichte“ für die bzw. in der „Geschichte der reinen Vernunft“ eine wichtige Bedeutung einräumte, legt auch schon die Refl. 1439 (AA 15, 629) nahe: „Selbst die Religion, die cosmopolitisch ist, verdient nur geachtet zu werden. Die Religionsgeschichte muss darin vorgetragen werden, so fern die Menschen die Freiheit und Hilfsmittel gehabt haben, sich darin zu bessern, also auch nach ihrem ursprünglichen Recht“. Es ist die Entwicklung der „moralischen Anlage“, die sich darin manifestiert.  Was in der „für geoffenbart geglaubten Religion, der Bibel, auch durch bloße Vernunft erkannt werden kann“ (SF, AA 07: 6, Anm.).

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schichtlichen ‚Einbettung‘ erst herausschälte, d. h. den „Keim des reinen Religionsglaubens“ (RGV, AA 06: 131.32) zur Entfaltung brachte, kann in geltungstheoretischer Hinsicht jene beanspruchte „Allgemeinheit, Einheit, und Notwendigkeit“ jedoch in keiner Weise relativieren und bleibt in solcher Hinsicht nach Kant deshalb ohne Relevanz. Sein Bestreben ist jedenfalls deutlich erkennbar, die moralischen und religiösen Ideen in ihrer Genese aus der religiösen Entwicklung, d. h. ihr geschichtliches Geworden-Sein, zu begreifen und gleichermaßen deren Apriorität („Allgemeinheit, Notwendigkeit …“) auszuweisen, um so die Verbindung von „historischer Glaubensart“ und der (von Kant so bezeichneten) „natürlichen Religion“ zu gewährleisten.⁴⁸ Darin ist enthalten, dass die Betonung des Entstehungs-, besser wohl: des ‚Entdeckungs‘-Zusammenhanges und der daran geknüpften Lernprozesse vom Begründungs-Zusammenhang und somit vom sachlichen Geltungsanspruch unterschieden bleiben muss; dies verbietet es aber auch, letztgenannten Aspekt durch Ersteren zu relativieren, wenn andernfalls doch die Würdigung des Christentums als „natürlicher Religion“ ebenso wenig aufrechtzuhalten wäre. ‚Geoffenbarte‘ Religion und moralisch-„natürliche Religion“ sind im Christentum recht verstanden identisch (sofern „nicht bloß Verträglichkeit, sondern Einigkeit anzutreffen sei“: RGV, AA 06: 13.1– 2). Noch einmal: Das Eigentümliche der christlichen Religion sei gerade darin zu erkennen, dass „Religion objektiv eine natürliche, obwohl subjektiv eine geoffenbarte“ sei, d. h. zwischen beiden Aspekten eben gerade kein Widerspruch, sondern völlige „Einigkeit“ besteht – ein auch mit Blick auf Lessing interessanter Befund, der nach Kant freilich gerade das „Wundersame“ der christlichen Religion ausmacht (s.u. I., 2.1.). „Objektiv eine natürliche, obwohl subjektiv eine geoffenbarte“ Religion⁴⁹ – schon dies weckt Assoziationen zu Lessings Gedankenfigur aus dem

 Die „unsichtbare Kirche“ ist auf diesen „reinen Religionsglauben“ gegründet, während der „Kirchenglaube“ als „historischer Offenbarungsglaube“ gilt und sich auf „eine heilige Schrift“ stützt.  Mit Recht merkt J. Rohls diesbezüglich an: „Kant selbst kommt Lessing darin am nächsten, dass er zwischen natürlicher und geoffenbarter Religion insofern keinen unmittelbaren Widerspruch entdeckt, als eine Religion zwar objektiv natürlich, aber subjektiv geoffenbart sein kann. Denn dies ist der Fall, wenn der Mensch zwar aufgrund bloßer Vernunft von selbst auf den Gehalt dieser Religion hätte kommen können, obgleich er ohne Offenbarung nicht so früh und umfassend auf ihn gestoßen wäre. Wenn die Offenbarung jedoch einmal stattgefunden hat und die Religion eingeführt worden ist, dann erweist sich die Offenbarung selbst als überflüssig, und an ihre Stelle tritt die Vernunft, die uns von der objektiven Natürlichkeit der subjektiv geoffenbarten Religion überzeugt. Bei der christlichen Religion handelt es sich nun um eine solche Religion, die zwar subjektiv geoffenbart, aber objektiv natürlich ist. Denn ihr wesentlicher Inhalt stimmt mit den Prinzipien der reinen Moralreligion überein“ (Rohls 286).

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Kontext der „Erziehung des Menschengeschlechts“ (s.u. II. 4.),⁵⁰ wonach die zwar durch geschichtliche Offenbarung vermittelten „Vernunftideen“ sich in einem gattungsgeschichtlichen Lernprozess allmählich als apriorische Elementarideen der Vernunftreligion erweisen im Sinne des ersehnten „allmähliche[n] Übergang(s) des Kirchenglaubens zur Alleinherrschaft des reinen Religionsglaubens“ (RGV, AA 06: 115.2– 3), sofern dieser „Kirchenglaube“ doch „nur das Vehikel für den reinen Religionsglauben enthält“ (RGV, AA 06: 118.23 – 24). Auch Offenbarung ist darin lediglich ein ‚Vehikel‘ ihrer Entfaltung, nicht jedoch der ‚Grund‘ der Religion; dieses zur „Introduktion“ notwendige ‚Vehikel‘ hat eine pädagogische Funktion und ist allein dadurch auch legitimiert.⁵¹ Ebendeshalb sah Kant nicht zuletzt auch die christliche Religion unzertrennlich mit der „Geschichte der reinen Vernunft“ verbunden, weil in ihr selbst – als ihr (selbst zwar geschichtlich vermittelter) ‚übergeschichtlicher Gehalt‘ – vornehmlich doch dies offenbar werde, dass allein Moral das unumstößliche Fundament und das „Wesentliche“ der Religion darstellt, diese Moral aber auch „unumgänglich zur Religion führt“ und dergestalt sich das „System der Vernunftideen“ „in concreto“ manifestiert. Auch Kants Hinweis darauf, dass „lange“ (!) vor dem „Volksglauben“ „die Anlage zur moralischen Religion in der menschlichen Vernunft verborgen lag“ (RGV, AA 06: 111.21– 22),⁵² bringt dies, allerdings auf missverständliche Weise, im Vorblick auf eine „allesvereinigende“ Kirche zur Geltung. In diesem Sinne darf wohl auch sein Hinweis auf die aus der „Geschichte des Christentums“ sich ergebende „wahre erste Absicht“ verstanden werden, die „keine andere als die gewesen sei, einen reinen Religionsglauben, über welchen es keine streitenden Meinungen geben kann, einzuführen, alles jenes Gewühl aber, wodurch das menschliche Geschlecht zerrüttet ward und noch entzweiet wird, bloß davon herrühre, dass durch einen schlimmen Hang der menschlichen Natur, was beim Anfange zur Introduktion des letztern dienen sollte, nämlich die an den alten Geschichtsglauben gewöhnte Nation durch ihre

 Auch R. Kroner sieht den in Kants Religionsschrift vertretenen „Gesichtspunkt … nahe verwandt mit dem von Lessing in seiner ‚Erziehung des Menschengeschlechts‘ vertretenen“ (Kroner 216). Das zeigt sich auch darin: „Er [Kant] erklärt im Sinne Lessings die Offenbarung für eine ‚Introduktion der wahren [d. h. rein rationalen, rein moralischen] Religion‘“ (ebd.).  Zum kantischen Verständnis der Bibel als unverzichtbares „Vehikel“: SF, AA 07: 64.2; SF, AA 07: 44.26 – 32; SF, AA 07: 37.16 – 19.  Das ist gleichsam Kants Lesart des Grundsatzes: „anima naturaliter christiana“. – So hat auch der „moralische Beweis“ vom „Dasein Gottes“ „vor der frühesten Aufkeimung des menschlichen Vernunftvermögens schon in demselben gelegen und wird mit der fortgehenden Kultur desselben nur immer mehr entwickelt“ (KU, AA 05: 458,6 – 9).

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eigenen Vorurteile für die neue zu gewinnen, in der Folge zum Fundament einer allgemeinen Weltreligion gemacht worden“ (RGV, AA 06: 131.21– 29). Ein Ergebnis dieser kritischen Analysen ist Kant zufolge also dies: Das im Sinne der „historischen Glaubensarten“ verstandene religionsgeschichtliche ‚Aposteriori‘ des Christentums hat sich so gewissermaßen – wohl ein besonderer Aspekt der „teleologia rationis humanae“ (KrV, B 867) – als das in der Vernunftreligion (in der gefügten Einheit jener „Vernunftideen“) manifest gewordene ‚Apriori‘ („Allgemeinheit“, „Notwendigkeit“, „Einheit“) der Religionsgeschichte erwiesen – jene „Glaubensart“ als ‚religionsgeschichtliches aposteriori‘, die das ‚apriori‘ der Vernunftreligion enthält, wohlgemerkt: ‚idealiter‘ gesehen. „Allgemeinheit für einen Kirchenglauben zu fordern … ist ein Widerspruch, weil unbedingte Allgemeinheit Notwendigkeit voraussetzt“ (SF, AA 07: 49.31– 33) und dies deshalb auch nur dem „reinen Religionsglauben“ zukommt. Kant stellte sich damit gegen den „Empirismus in Glaubenssachen“, der das „bloß Zufällige für an sich notwendig“ ausgibt; der lediglich auf historischen Gegebenheiten beruhende Glaube⁵³ kann aufgrund seiner räumlichen und geschichtlichen Begrenztheit und Kontingenz indes niemals universaler („cosmopolitischer“) Natur sein. Die Kirchengeschichte ist eine Geschichte der „Glaubensarten“, während der – unwandelbare – „reine Religionsglaube“ als solcher selbst jedoch keine Geschichte kennt, sondern (als „reines Vernunftsystem der Religion“) die notwendige Richtschnur in der Entwicklung der „Glaubensarten“ darstellt.⁵⁴ Allein die christliche Religion genügt diesen Maßstäben der „natürlichen Religion“ als der „allgemeinen Menschenreligion“, die sich im Laufe ihrer eigenen geschichtlichen Entwicklung zunehmend erst von den „mystischen Hüllen“ befreit (hat). Generell verlangte Kant also, die „für ihre Zeit auch einzige populäre Vorstellungsart von ihrer mystischen Hülle“ zu entkleiden, damit „sie (ihr Geist und Vernunftsinn) für alle Welt, zu aller Zeit praktisch gültig und verbindlich“ werde, „weil sie jedem Menschen nahe genug liegt, um hierüber seine Pflicht zu erkennen“ (RGV, AA 06: 83.13 – 15). Mit jener auf „Ideen einer Religion überhaupt“ und deren rechte ‚Anordnung‘ abzielenden Perspektive hat Kant demnach auch eine religionsgeschichtliche Hinsicht verbunden: Der gewiss ‚provisorische‘ Charakter jener mannigfaltigen „historischen Glaubensarten“ wäre demnach als geschichtliche Voraussetzung der „nach reinen Vernunftbegriffen“ eingerichteten bzw. gedach-

 Denn es „hat der historische Glaube (der auf Offenbarung, als Erfahrung gegründet ist), nur partikuläre Gültigkeit, für die nämlich, an welche die Geschichte gelangt ist, worauf er beruht“ (RGV, AA 06: 115.7– 10).  Weshalb „in den mancherlei sich, der Verschiedenheit ihrer Glaubenarten wegen, von einander absondernden Kirchen dennoch eine und dieselbe wahre Religion anzutreffen sein kann.“ (RGV, AA 06: 107.29 – 108.2)

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ten „Vernunftreligion“ zu verstehen, sodass letztere, in Anlehnung an eine religionsphilosophische Wendung des späten Schelling formuliert, als das „prius per posterius“ erwiesen wird.⁵⁵ Die daraus resultierende Konsequenz ist das in Kants ‚Preisschrift‘ formulierte – von aller ‚Positivität der Religion‘ unabhängige – „Credo in den drei Artikeln des Bekenntnisses der reinen praktischen Vernunft“ (FM, AA 20: 298.16 – 17); dafür, dass Kant sich indes über dessen „paradoxen“ – besser: aporetischen? – Charakter durchaus im Klaren war, mag dieser gewiss merkwürdige Rekurs auf ein „Bekenntnis der reinen praktischen Vernunft“ vielleicht ein Indiz sein. Jedenfalls, so Kants zukunftsorientierte Perspektive, sind die unter der „Fahne der Tugend als Vereinigungspunkt“ (RGV, AA 06: 94.22– 23) Versammelten sowie durch das gemeinsame ‚symbolum‘ – das sind jene „drei Artikel des Bekenntnisses der reinen praktischen Vernunft“⁵⁶ – vereinten (auch den kritischen „symbolischen Anthropomorphismus“ genau beachtenden) Mitglieder der „unsichtbaren Kirche“ auch dazu berufen, bloß partikuläre Selbstbehauptungs- d. h. Machtansprüche der „historischen Glaubensarten“ zu überwinden, ohne damit freilich die Geltungsansprüche der Religionen und der ihnen immanenten Sinnpotenziale einfachhin – gewissermaßen im Sinne eines bloßen ‚Religions-Psychologismus‘ –  Damit soll eine Gedankenfigur aus Kants Rechtslehre für diesen religionsphilosophischen Kontext in behutsamer Analogisierung fruchtbar gemacht werden. Dabei fließt aber auch eine Erinnerung an ein Argument des späten Schelling in modifizierter Form mit ein: „Und ebenso würde die Philosophie manches ohne die Offenbarung gewiss nicht erkannt, wenigstens nicht so erkannt haben; aber sie kann diese Gegenstände nun mit ihren eignen Augen sehen, denn sie ist in Ansehung aller Wahrheiten, auch der geoffenbarten, nur so weit Philosophie, als sie ihr in unabhängige und selbsterkannte verwandelt sind. Allerdings, wenn eine Philosophie sich erst voraussetzt, auch die große Erscheinung des Christentums nicht auszuschließen, sondern wo möglich wie anderes und im Zusammenhange mit allem anderen auch diese zu begreifen, notwendig wird sie dann ihre Begriffe über die frühere Grenze erweitern müssen, um dieser Erscheinung gewachsen zu sein; aber genau ebenso legen andere Gegenstände der sich auf sie beziehenden Wissenschaft die Notwendigkeit auf, ihre Begriffe zu berichtigen und nach Umständen so lange zu steigern, bis diese auf gleicher Höhe mit dem Gegenstande sich befinden“ (XIII, 137 f.). Schelling hat (mit indirektem Bezug auf Lessing und Kant) die ‚Positivität‘ folgendermaßen charakterisiert: „Das Positive ist aber gerade dasjenige, von dem man nicht zum voraus wissen kann, dass es ist, sondern von dem man nur weiß, dass es ist, dadurch, dass es ist; also indem man es erfährt. Das schlechthin Positive ist gerade dasjenige, was am wenigsten apriori erkennbar ist.“ (F.W.J. Schelling, Einleitung in die Philosophie.Hg. v. W.E. Ehrhardt. Stuttgart-Bad Canstatt 1989, 25)  „Ich glaube an einen einigen Gott, als den Urquell alles Guten in der Welt, als seinen Endzweck; – Ich glaube an die Möglichkeit, zu diesem Endzweck, dem höchsten Gut in der Welt, so fern es am Menschen liegt, zusammenzustimmen; – Ich glaube an ein künftiges ewiges Leben, als der Bedingung einer immerwährenden Annäherung der Welt zum höchsten in ihr möglichen Gut.“ (FM, AA 20: 298.17– 22)

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stillschweigend aufzuheben.⁵⁷ Auch in diesem Sinne ist Kants Kennzeichnung der Religion als „reine Vernunftsache“ im Dienste der „Selbsterhaltung der Vernunft“ wahrzunehmen. Er war bezüglich der religionsgeschichtlichen Entwicklung offenbar der Ansicht, dass die Mannigfaltigkeit dieser sich in der Religionsgeschichte manifestierenden und sich fortschreitend entwickelnden „historischen Glaubensarten“ selbst noch eines ‚Rechtsgrundes‘ für diese geschichtliche ‚Erwerbung‘ entbehrt, diese Mannigfaltigkeit also insofern durchaus nicht einfachhin als ‚unvernünftig‘, gleichwohl ohne diesen Rechtsgrund als ‚vernunftlos‘ angesehen werden müsste.⁵⁸

2.1 Das Christentum als „allgemeine Menschenreligion“ – das „Wundersame“ dieser zur „Weltreligion“ berufenen „Glaubensart“ Interessanterweise hat Kant die der „geoffenbarten“ bzw. „gelehrten Religion“ gegenübergestellte „natürliche Religion“ – in wohl nicht zufälliger terminologischer Übereinstimmung mit Mendelssohn – als „allgemeine Menschenreligion“⁵⁹ („authentisch und für alle Welt gültig“: RGV, AA 06: 114.21) charakterisiert bzw. ausgezeichnet – eine Kennzeichnung, die sich offensichtlich nur im engeren Kontext der Differenzierung des ‚Religionsbegriffs‘ in seiner „Religionsschrift“

 In diesem Sinne bemerkt Brandt im Blick auf Kant: „Die Religion ist nur dann weltverträglich, wenn sich ihre Prinzipien innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft mitteilen lassen und keine Sonderwelten bilden, die unvermeidlich die Gesellschaft von Vernunftwesen zerstören. Wie gut auch immer der Primat des Glaubens vor der Moral gemeint sein mag, er wird unvermeidlich diabolisch im Sinn des diaballein, des Auseinandertreibens im unterschiedlichen Bekenntnis.“ (Brandt 2008, 304 f.)  Es ist nicht zu übersehen, dass Kant hier Leibnizens Unterscheidung zwischen bloßen „Tatsachenwahrheiten“ und „Vernunftwahrheiten“ in religionsphilosophischer Akzentuierung aufnimmt und zugleich kritisch umformt. Refl. 2237 (AA 16, 280): „Alle Wahrheiten: historische oder Vernunftwahrheiten“, wobei letztere sich im Vernunftgefüge der Ideen des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“ (FM, AA 20: 295.5) realisieren.  Diese bezieht sich darauf: „“Ich bin der Ewige, dein Gott, das notwendige, selbständige Wesen, das allmächtig ist und allwissend, das den Menschen in einem künftigen Leben vergilt, nach ihrem Tun“. Dieses ist allgemeine Menschenreligion, nicht Judentum, und allgemeine Menschenreligion, ohne welche die Menschen weder tugendhaft sind noch glückselig werden können, sollte hier nicht geoffenbart werden“ (Mendelssohn, JubA 8, 164). Dies ist nach Mendelssohn freilich eine „ewige Vernunftwahrheit“, die wir „erkennen und wissen“; erst auf dieser (nach Mendelssohn also durchaus „wissbaren“) Voraussetzung wird sodann die „göttliche Stimme“ vernehmbar: „Ich bin der Ewige, dein Gott! Der dich aus dem Lande Mizraim geführt, aus der Sklaverei befreiet hat usw.“ (ebd. 165). Mendelssohn verdeutlichte auf diese Weise auch den Unterschied zwischen „allgemeiner Menschenreligion“ und „Judentum“.

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findet und im späteren „Streit der Fakultäten“ auch als die „jedem gemeinen Menschen beiwohnende Vernunftreligion“ (SF, AA 07: 63.24) bestimmt wird.⁶⁰ Für die Ausbildung dieser „allgemeinen Menschenreligion“ (und ihrer Prinzipien) machte Kant nun jenen besonderen Gesichtspunkt geltend – ebendies scheint ja tatsächlich die eigentliche Pointe der kantischen (wohl von Lessing inspirierten, und doch unverkennbar neue Akzente setzenden) Argumentation auch in diesem religionsphilosophischen Kontext zu sein: Dass die grundlegenden Prinzipien und ‚Elemente‘ der „reinen Vernunftreligion“ in ihrer Faktizität ebenso als jenes ‚religionsgeschichtliche Aposteriori‘ zu analysieren sind. Als „wundersam“ würdigte Kant das Christentum also insbesondere deshalb, weil dieses als „religionsgeschichtliches aposteriori“ (im Sinne einer „historischen Glaubensart“) zugleich die „apriorischen Prinzipien“ der Vernunftreligion („Allgemeinheit, Einheit und Notwendigkeit“)⁶¹ der Idee nach zur ‚Erscheinung‘ und dergestalt auch zur Geltung bringt („aposteriori“ und „apriori“ demnach ‚deckungsgleich‘ sind) – und ebenso die Grenzen praktischer Vernunftansprüche. Eine Besonderheit dieses „wundersamen“ Christentums sah Kant offenbar gerade darin, dass es, als eine „historische Glaubensart“, selbst – einerseits – „ein heiliges Buch zum Leitbande der Menschen bedarf, aber eben dadurch die Einheit und Allgemeinheit der Kirche verhindert“ (RGV, AA 06: 135 Anm.); andererseits formuliert nach Kant der Inhalt dieses lediglich „zur Introduktion“ benötigten Buches jedoch jene universalistischen Prinzipien der „Vernunftreligion“, der – prinzipiell gesehen – eben dadurch jede Bindung an dieses „heilige Buch zum Leitbande der Menschen“ überwindet.⁶² Es ist demnach der universalistische Inhalt, der die bloß partikuläre Form einer „historischen Glaubensart“ sprengt

 Allerdings ist diese „Menschenreligion“ nach Kant in der allgemein verbindlichen moralischen Praxis verankert; der darin eingenommene bzw. dergestalt vorausgesetzte Standpunkt ist deshalb nicht an eine besondere und andere Zugehörigkeiten gebunden und wehrt überdies auch alle elitären Ansprüche ab (s.u. IV., 2.3.1.); es genügt ihm bzw. dieser „allgemeinen Menschenreligion“, mit Lessings „Nathan“ gesprochen, „ein Mensch zu heißen“ (Nathan: v. 1310 ff.). (Die Vers-Nummerierung im „Nathan“ folgt der Reclam-Ausgabe.)  Es ist freilich in sachlicher Hinsicht bemerkenswert, dass von den Kennzeichen des Apriori: Allgemeingültigkeit, Erfahrungsunabhängigkeit und Notwendigkeit, hier bezeichnenderweise die „Erfahrungsunabhängigkeit“ durch „Einheit“ ersetzt wird.  Schon in seinen Vorlesungen über Moralphilosophie (V-Mo/Collins, AA 27.1.: 294) heißt es dann freilich, ganz im Sinne der ‚geschichtlichen Aposteriorität‘ und der ‚übergeschichtlichen Apriorität‘: „Seit der Zeit des Evangelii ist nun die völlige Reinigkeit und Heiligkeit des moralischen Gesetzes eingesehen, ob es gleich in unsrer Vernunft liegt.“ Auch dies enthält eine indirekte Abgrenzung gegenüber der von Mendelssohn beanspruchten – auf das Judentum bezogenen – „allgemeinen Menschenreligion“, in der Kant offenbar (so wie im Islam) die Autonomie der Moralität noch nicht gewährleistet sah.

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bzw. diese gewissermaßen als solche ‚aufhebt‘ und so eine eigentümliche Konvergenz des ‚Apriori‘ und des ‚Aposteriori‘ (im Sinne jener behaupteten „Einigkeit“) sichtbar macht. So zeigt sich: Der besondere Rang des Christentums als einer „historischen Glaubensart“ beruht nach Kant darauf – und macht ebenfalls das von ihm gerühmte „Wundersame“ dieser besonderen „historischen Glaubensart“ aus –, dass sich in ihm „bei Gelegenheit“⁶³ seiner geschichtlichen Herkunft und Realisierung das ‚Apriorische‘ der Vernunftreligion (als „natürliche Religion“) in einem geschichtlich vollzogenen ‚Scheidungsprozess‘ ausgebildet hat.⁶⁴ In der weiteren geschichtlichen Entwicklung dieser „Glaubensart“ vollzog sich demnach „die Reinigung dieser apriorischen Prinzipien“ von deren ‚geschichtlich-faktischen‘ Bedingtheiten mit der – ‚idealiter‘ – erkennbaren Zielrichtung, dass sie „von allen empirischen Bestimmungsgründen, von allen Statuten, welche auf Geschichte beruhen, und die vermittels eines Kirchenglaubens provisorisch die Menschen zur Beförderung des Guten vereinigen, allmählich losgemacht werde,[⁶⁵] und so reine

 Auch hier ist nicht zu übersehen, dass Kants Argumentation wieder analog zu seinem Aufweis des „ursprünglichen Erwerbs der logischen Prinzipien“ verläuft, die zwar als die „notwendigen und allgemeinen Regeln des Denkens … a priori erkannt werden können … , ob sie gleich zuerst nur durch Beobachtung jenes natürlichen Gebrauchs gefunden werden können“ (Log, AA 09: 17.28 – 31). So wenig also etwa die Logik, ungeachtet des empirischen Entstehungszusammenhanges, psychologisch-anthropologisch zu legitimieren ist, so wenig ist das ‚ideen‘-fundierte Grundgerüst der „Vernunftreligion“ (als „System“) aus der Religionsgeschichte genealogisch ableitbar; jedoch bleibt es hinsichtlich seiner Genese in derselben situiert, zumal ihre Prinzipien im Sinne eines „geläuterten Religionsbegriffs“ erst in einem langwierigen Scheidungsverfahren (als ‚Kathartikon‘) ‚abstrahierend’ herausgeschält werden. Auch in diesem Sinne sei, so Kants entscheidender Hinweis, die dem genetisierenden Fehlschluss zugrunde liegende Verwechslung zu vermeiden, „die Gelegenheit, zu diesen [apriorischen] Begriffen zu gelangen, nämlich die Erfahrung, für die Quelle“ zu halten (Refl. 4866, AA 18, 14) – eine nach Kant in vielfacher Hinsicht ganz entscheidende Differenz.  In diesem modifizierten Sinne wäre Kants Hinweis auch in diesem Kontext aufzunehmen: „Es ist von der äußersten Erheblichkeit, Erkenntnisse, die ihrer Gattung und Ursprunge nach von andern unterschieden sind, zu isolieren, und sorgfältig zu verhüten, dass sie nicht mit andern, mit welchen sie im Gebrauche gewöhnlich verbunden sind, in ein Gemische zusammenfließen. Was Chemiker beim Scheiden der Materien, was Mathematiker in ihrer reinen Größenlehre tun, das liegt noch weit mehr dem Philosophen ob, damit er den Anteil, den eine besondere Art der Erkenntnis am herumschweifenden Verstandesgebrauch hat, ihren eigenen Wert und Einfluss sicher bestimmen könne. Daher hat die menschliche Vernunft seitdem, dass sie gedacht, oder vielmehr nachgedacht hat, niemals einer Metaphysik entbehren, aber gleichwohl sie nicht, genugsam geläutert von allem Fremdartigen, darstellen können“ (KrV, B 870).  Wenn Cunico feststellt: „Kants Ziel ist eben nicht, die Verschiedenheit und die wettstreitende Konkurrenz zu beseitigen, sondern nur die wechselseitige Feindseligkeit und kommunikationslose Verschlossenheit zu sprengen“ (Cunico 2015a, 72; Cunico 2013, 869), so darf dies jedoch nicht

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Vernunftreligion zuletzt über alle herrsche, ‚damit Gott sei alles in allem‘“ (RGV, AA 06: 121.13 – 18; RGV, AA 06: 135.23)⁶⁶ – das heißt nunmehr eine Herrschaft ausübt, die allein diejenige der Vernunft (bzw. deren „Ideen“) selbst ist, „im Prinzip“ nicht überboten wird, obgleich ihre Realisierung immer „noch in unendlicher Weite von uns entfernt“ (RGV, AA 06: 122.30) sein mag und auch das „Reich Gottes auf Erden“ erst ‚im Werden‘ ist. „Gott alles in allem“ – dies bedeutet einer solchen religionsgeschichtlichen Perspektive und ihrem „Leitfaden“ gemäß doch wohl auch dies: Dass tatsächlich „Gott“ auch „alles in allen Glaubensarten“ sein möge und fortan nicht mehr trennende „Observanzen“ und „Statuten“ das darin Maßgebende bleiben … Dass Gott „alles in allem“ sei, besagt nicht zuletzt auch, dass die „historischen Glaubensarten“ sich ihrer eigenen Partikularität reflexiv bewusst werden, das heißt diese anerkennend relativieren müssen und sodann, buchstäblich ‚zu guter Letzt‘ – so Kants nicht mehr nur „regulative“, sondern gleichsam ‚eschatologische Perspektive‘ –, vollends „die Form einer Kirche selbst aufgelöset wird“ (RGV, AA 06: 135.21) und jene darin zugleich auch erst ihre ‚Erfüllung‘ finden. Jedenfalls weist jene bemerkenswerte Interpretation des biblischen „dass Gott alles in allem sei“ – sollte es, besser, ‚in allen‘ heißen? –, im Sinne einer praktisch-regulativen Idee bei Kant unverkennbar in solche Richtung, „dem reinen Religionsglauben sich kontinuierlich zu nähern“ und schließlich auch „jenes Leitmittel endlich entbehren zu können“ (RGV, AA 06: 115.20 – 21). Im Sinne dieser „durch anhaltende Entwicklung der reinen Vernunftreligion“ zu verfolgenden Aufgabe könne eben auch, so Kants Vorschlag, dieser ‚Ausdruck‘ „Gott alles in allem“ verstanden werden. Die darin praktisch verankerte und konkretisierte Beziehung zur „Idee Gottes“ erfolgt konkret am Leitfaden der „größeren Bearbeitung der sittlichen Ideen“ (KrV, B 845) im fortgehenden Prozess der „Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung“, worin auch jene Idee Gottes als ‚alles in allem‘ ihre geschichtliche Explikation erfährt und somit notwendige Stationen auf dem Weg zu einem „moralischen Theismus“ durchläuft. Erst dies ermögliche die in jenem „allmähliche(n) Übergang des Kirchenglaubens zur Alleinherrschaft des reinen Religionsglaubens“ (RGV, AA 06: 115.2– 3) intendierte „Einheit und Allge-

die von Kant dem Christentum zugeschriebene „wahre erste Absicht“ vergessen lassen, die „keine andre, als die gewesen sei, einen reinen Religionsglauben, über welchen es keine streitenden Meinungen geben kann, einzuführen“ (RGV, AA 06: 131.21– 23); die leitende Absicht Kants ist und bleibt diese Ausbildung und Herrschaft einer „reinen Vernunftreligion“, die „von allen empirischen Bestimmungsgründen, von allen Statuten, welche auf Geschichte beruhen, […] allmählich losgemacht werde“. Dies setzt freilich die einvernehmliche Verständigung über die notwendigen Fundamente des „theismus moralis“ voraus.  So Kant offenbar im Blick auf 1 Kor 15,28.

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meinheit“, allein in bzw. durch diese „Vernunftreligion“ könne Gott eben auch ‚alles in allem‘ sein; ebendies wollte Kant der „christlichen Religion“ als „natürlicher Religion“ für die Zukunft offenbar in besonderer Weise als eine noch einzulösende Aufgabe zumuten.

3 Die in der „fortgehenden Kultur“ „geläuterten Religionsbegriffe“ und die mit dem Christentum einhergehende Idee des „moralisch bestimmten Monotheismus“ als Fundament der „allgemeinen Menschenreligion“ Die auf den apriorischen „Vernunftideen“ beruhende „natürliche Religion“ ist der religionsgeschichtlich entwickelte „moralisch bestimmte Monotheismus“, der sich „durch größere Bearbeitung sittlicher Ideen“ (KrV, B 845)⁶⁷ erst entfaltet und auch den kultisch gebundenen „Gottesglauben“ überwunden hat. Die in dieser größeren „Bearbeitung“ der moralischen und religiösen Ideen in der fortgehenden „Kultur der Vernunft“ aposteriori herausgebildeten apriorischen Prinzipien der Vernunftreligion, die in diesem geschichtlichen Bildungsprozess⁶⁸ gewissermaßen ‚zu sich‘ kommen, fungieren als der daraus resultierende und doch ‚ursprünglich erworbene‘ – Maßstab derselben, worin sich ein – auf kritischer (Rational‐)“Theologie und Moral“ (KrV, B 395 Anm.) beruhender – ‚Fortschritt im

 Mit diesem Rekurs auf den „durch größere Bearbeitung sittlicher Ideen“ geläuterten Gottesbegriff ging Kant freilich auch auf Distanz zu Mendelssohns Ansicht, dass die „Menschheit“ „in allen Perioden der Zeit ungefähr dieselbe Stufe der Sittlichkeit, dasselbe Maß von Religion und Irreligion, von Tugend und Laster, von Glückseligkeit und Elend“ behalte (Mendelssohn, Jerusalem. JubA 8, 164); dagegen sympathisierte Kant in solcher Hinsicht durchaus mit der Idee einer „Erziehung des Menschengeschlechts“, die allerdings als Prozess der „Kultivierung und Moralisierung“ verstanden wird, also der Mensch „aus sich selbst hervorbringen muss“.  Von der in diesem Bildungsprozess erst ausgebildeten Korrelation von moralischem Selbstverständnis und Gottesidee ist auch in einem bemerkenswerten Passus der Religionsschrift die Rede: „Die Verehrung mächtiger unsichtbarer Wesen, welche dem hilflosen Menschen durch die natürliche auf dem Bewusstsein seines Unvermögens gegründete Furcht abgenötigt wurde, fing nicht sogleich mit einer Religion, sondern von einem knechtischen Gottes- (oder Götzen‐) Dienste an, welcher, wenn er eine gewisse öffentlichgesetzliche Form bekommen hatte, ein Tempeldienst, und nur, nachdem mit diesen Gesetzen allmählich die moralische Bildung der Menschen verbunden worden, ein Kirchendienst wurde: denen beiden ein Geschichtsglaube zum Grunde liegt, bis man endlich diesen bloß für provisorisch, und in ihm die symbolische Darstellung und das Mittel der Beförderung eines reinen Religionsglaubens, zu sehen angefangen hat.“ (RGV, AA 06: 175.25 – 176.9)

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Bewusstsein der Gottheit‘ manifestiert.⁶⁹ In Kants später Bestimmung eines „moralisch bestimmten Monotheismus“ sind die beiden unverzichtbaren Pfeiler einer „natürlichen Religion“ – diejenigen des geläuterten „theoretischen“ und des „praktischen Vernunftgebrauchs“ – untrennbar vereint. Deren Einheit ist es, die erst die „vollständige Religion“ (RGV, AA 06: 162.14) konstituiert; allein aus dieser Vereinigung von „Theologie und Moral“ könne also auch, so Kant, „moralische Religion“ bzw. ein für sie tauglicher Gottesbegriff resultieren, der somit das Fundament eines „moralisch bestimmten Monotheismus“ darstellt. Seinen grundsatz-orientierten Ansprüchen – ohne die auch von einer „Ergebenheit in Gott“ vernünftigerweise nicht die Rede sein kann (s.u. III., 3.1.) – vermag ihm zufolge jedoch weder das Judentum noch der Islam zu genügen (s.u. II., 5.1.; 5.2.).⁷⁰ Entstanden ist diese aus jener Verbindung von „Theologie und Moral“ resultierende „Vernunftreligion“ bzw. die Konzeption eines „moralisch bestimmten Monotheismus“, wie erwähnt, aus einem langwierigen Prozess der „fortgehenden Kultur“, der diesen „geläuterten Religionsbegriff“ (SF, AA 07: 52.26) demnach erst ermöglicht hat. Der unauflösliche Zusammenhang beider Bestimmungen bleibt auch in Kants später Monotheismus-Konzeption erhalten. Derart fungiert ein solches in der „Geschichte der Vernunft“ entfaltetes zweifaches ‚Richtmaß‘⁷¹ als unentbehrliches Kriterium für die notwendige Unterscheidung bzw. Abwehr von vermessenen Ansprüchen und der daraus resultierenden „Unvernunft in der Re-

 „Theologie und Moral“ sind deshalb auch „die zwei Triebfedern, oder, besser, Beziehungspunkte zu allen abgezogenen Vernunftforschungen, denen man sich nachher jederzeit gewidmet hat.“ (KrV, B 881)  Was freilich nichts daran ändert, dass auch Kant die begründungs-orientierte Suche nach der wahren Religion bei Sultan Saladin in Lessings „Nathan“ gewürdigt hätte (s.u. II., Anm. 428), zumal dieser offenbar durchaus Kants Forderung befolgt: „Wahrhaftigkeit ist das, was zuerst erfordert wird.Was wahr sei, ist oft schwer auszumachen; aber wahrhaft kann man in allen Fällen sein, wenn man nur ernstlich will“ (Refl. 6309, AA 18, 603).  Diesen zweifachen Richtmaß-Charakter des „theismus moralis“ hat Kant besonders auch in den Vorlesungen eigens betont; so hat er ihn beispielweise in seiner Vorlesung (Religionslehre Pölitz) folgendermaßen charakterisiert: „Wie wird man aber die Theologie nennen, wo Gott gedacht wird als summum bonum, als das höchste moralische Gut? Diese hat man bis jetzt noch nicht recht unterschieden, und daher auch keinen Namen für sie erdacht. Man kann sie Theismus moralis nennen, wo man sich Gott als den Urheber unserer moralischen Gesetze denket, und dies ist die eigentliche Theologie, die zum Fundament der Religion dienet“ (V-Phil-Th/Pölitz, AA 28.2.2.: 1002). Zur Bestimmung des „Theism“ als einer „notwendige(n) Hypothese des durchgängig einstimmigen Gebrauchs der Vernunft [also ihrer „Selbsterhaltung“], vornehmlich der Selbstgenugsamkeit derselben“, vgl. auch die gestufte Argumentation in Refl. 6038 (AA 18, 430); Refl. 6173 (AA 18, 478).

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ligion“ – ebenso einer damit einhergehenden latenten ‚Gewaltförmigkeit‘⁷² –, die sich diesen Maßstäben verweigern bzw. ihnen widersprechen. Sehr deutlich hat Kant diesen kritischen Maßstab, dem ihm zufolge eben allein das Christentum als „natürliche Religion“ genügt, in der Religionsschrift benannt: In Ansehung der moralischen Gesetze „kann ein jeder aus sich selbst durch seine eigene Vernunft den Willen Gottes, der seiner Religion zum Grunde liegt, erkennen; denn eigentlich entspringt der Begriff von der Gottheit nur aus dem Bewusstsein dieser Gesetze und dem Vernunftbedürfnisse, eine Macht anzunehmen, welche diesen den ganzen in einer Welt möglichen, zum sittlichen Endzweck zusammenstimmenden Effekt verschaffen kann. Der Begriff eines nach bloßen reinmoralischen Gesetzen bestimmten göttlichen Willens lässt uns, wie nur einen Gott, also auch nur eine Religion denken, die rein moralisch ist“ (RGV, AA 06: 104.5 – 13). Die Religion als „reine Vernunftsache“ kann auch nur „eine“ sein, sofern sie die dem „theoretischen“ und „praktischen Vernunftgebrauch“ gemäße ‚Richtschnur‘ darstellt; erst aus der Verbindung beider (d.i. aus „Theologie und Moral“) resultiert die „reine Vernunftreligion“, die diesen theoretischen und praktischen Ansprüchen genügt, deren Ansprüche und Verbindlichkeit und „Überzeugung“ solcherart „communicabel“ (mitteilbar) macht, d. h. „für jedermann gültig ist, so fern er nur Vernunft hat“ (KrV, B 848), und so die darauf begründete „Religion als reine Vernunftsache“ sowohl von blindem Glauben bzw. „Aberglauben“ und somit von einer Fesselung an kultisch-rituelle Vorschriften und an „bloß Zeremonielles“ befreit. Kant zufolge wären von daher auch erst jene verbindlichen Maßstäbe für die Prüfung bereitzustellen, welche „historischen Glaubensarten“ tatsächlich Substanzielles zur Ausbildung und Etablierung jenes „Grundgerüsts“ und gleichermaßen zur Abtragung bzw. Relativierung des „Statutarischen“ beigetragen haben.

 Von dem „Gewalt“ über die Gewissen ausübenden Kirchenglauben zu befreien ist ein mit dem Evangelium einhergehendes „Bewusstsein der Freiheit“ (SF, AA 07: 51.12). Denkbar scharf unterschied deshalb Kant: „In der Religion ist objektiv Rechtgläubigkeit (Orthodoxie), subjektiv aber Gewissenhaftigkeit, d.i. […] geprüfte Aufrichtigkeit im Bekenntnisse dessen, was als orthodox gelehrt wird, das Erfordernis.“ In diesem Sinne betonte Kant auch den „Leitfaden des Gewissens in Glaubenssachen“ (IV 859). „Wenn jemand nach seinem besten Vermögen […]. was ihm jetzt rechtgläubig dünkt, […] wählt, so kann er mit völliger Gewissenhaftigkeit Religion haben, und in der Tat ist nur bei reiner Gewissenhaftigkeit Religion. Wo nun keine Freiheit der […] öffentlichen Untersuchung ist, wo entweder das Zuvorkommen mit eingedrückten Vorurteilen oder der Zwang die Untersuchung hindert, da ist ungewissenhafte Religion, d.i. Pfaffentum […], sklavische […] oder heuchlerische Unterwürfigkeit unter dem Drucke frommer Observanzen. Man sollte das nicht Religion nennen: es ist Pfaffentum. Denn Religion muss gewissenhaft sein, und zum Gewissen gehört Freiheit“ (Refl. 6308, AA 18, 601 f.). Das ist ein unverzichtbarer Kernpunkt der „natürlichen Religion“.

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Hier wird es besonders deutlich: Die den „Vernunftbegriff in abstracto“ entfaltende Ebene der „Geschichte der reinen Vernunft“ lässt also zuletzt die diesem „Vernunftbegriff in abstracto“ gemäße Konzeption eines dieser „natürlichen Religion“ gemäßen – nunmehr eben ethikotheologisch begründeten – „ethischen Monotheismus“ („theismus moralis“⁷³) resultieren. Dem frühen Bezug auf die „größere Bearbeitung sittlicher Ideen“ und auf die korrespondierende Gottesidee⁷⁴ entspricht der spätere Verweis auf den von den „ersten rohen Äußerungen“  So hat Kant beispielsweise auch Platon und Anaxagoras ausdrücklich gewürdigt, die sich wenigstens auf dem Weg zum „moralisch-bestimmten Monotheism“ der Antike befanden: „Es scheint zwar, dass ohne einen vorhergehenden bestimmten Begriff von Gott es gar keine Religion geben könne: es ist aber ganz umgekehrt, die Religion muss vorhergehen und der bestimmte Begriff von Gott nur aus ihr hervorgehen. [Dies ist vermutlich auch gegen Lessings Gottesbegriff gesagt.] Die Moral führt durch das Bedürfnis der Vernunft, zu ihrem sittlichen Endzwecke (dem höchsten Gut) die Vollendung hinzuzudenken, unvermeidlich dahin, ein höchstes und zwar vollkommen moralisches Wesen anzunehmen, welches ein bestimmter Begriff ist, von dem alle eigentliche Religionspflichten abgeleitet werden können: dagegen der Begriff eines höchsten Wesens als Weltschöpfers es gänzlich unbestimmt lässt, wie sein Wille beschaffen sein werde, weil man seine Natur kennen müsste, um diesen daraus abzunehmen. Diesen Weg sind Anaxagoras Plato und die philosophierenden Römer zum moralisch-bestimmten Monotheism gekommen und ich möchte einen Sokrates nicht einen frommen Heiden sondern selbst auf die Gefahr darüber ausgelacht zu werden immer einen guten C h r i s t e n i n p o t e n t i a nennen, weil er diese Religion so viel man urteilen kann gehabt und sie auch als Offenbarungslehre würde angenommen haben, wenn er zur Zeit ihrer öffentlichen Verkündigung gelebt hätte“ (VASF: AA 23, 440.6 – 23). – Wollte man diese Perspektive Kants mit geschichts- und religionsphilosophischen Erwägungen verknüpfen, so resultierte – recht genau der Bestimmung des Menschen als „Copula zwischen Endlichem und Unendlichem“ (und d. i. eben nicht als bloß „reinen Intelligenzen“, für welche diese als „ästhetische Vorstellungsart“ „gar nicht anzutreffen“ wäre!: KU, AA 05: 271.6 f.) entsprechend – eine sehr bemerkenswerte konkrete Korrelation zwischen dem Gefühl der „Achtung für unsere eigene Bestimmung“ (dem „Gefühl unserer übersinnlichen Bestimmung in uns“) und dem Bewusstsein der „Unangemessenheit alles sinnlichen Maßstabes zur Größenschätzung der Vernunft“, d.i. „jeden Maßstab der Sinnlichkeit den Ideen der Vernunft [in der Weischedel-Ausgabe heißt es sinnwidrig: des Verstandes] unangemessen zu finden.“ (KU, AA 05: 258.8 – 9) Es entspricht dieser angezeigten Weltstellung recht genau, dass in der Erfahrung des „Dynamisch-Erhabenen der Natur“ „zwar unsere Ohnmacht“ zu erkennen ist, zugleich jedoch in uns „ein Vermögen“ entdeckt, „uns als von ihr unabhängig zu beurteilen, und eine Überlegenheit über die Natur [„offenbart“], worauf sich eine Selbsterhaltung von ganz anderer Art gründet, als diejenige ist, die von der Natur außer uns angefochten und in Gefahr gebracht werden kann, wobei die Menschheit in unserer Person unerniedrigt bleibt, obgleich der Mensch jener Gewalt unterliegen müsste.“ (KU, AA 05: 261.34– 262.2). S. dazu u. IV., 3..  Dass der „größeren Bearbeitung sittlicher Ideen“ auch ein geschichtlicher Fortschritt des Gottesbegriffs entspricht, macht auch eine Reflexion Kants besonders deutlich: „Wie sind die Menschen zuerst auf die Meinung von der Existenz unsichtbarer Kräfte, die ihnen der gewöhnliche Gang der Erfahrung nicht lehren konnte, gekommen. Entweder 1. durch den Weg der Vernunft, oder 2. der Einbildung. Denn Obiekte, die nicht Erfahrung noch Vernunft gegeben hat, sind

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ausgehenden Läuterungsprozess, in dem jene Vernunftideen sich „als Anlage“ abarbeiten und in dieser Entfaltung auch „geläuterte Religionsbegriffe erwachen“ lässt (SF, AA 07: 52.26). Deshalb müssen sich auch die konkreten Gottesvorstellungen der geschichtlichen Religionen am kritischen Maßstab jener Prinzipien einer autonomen Moral und des kritisch geläuterten Gottesbegriffs der die ‚kritische Transzendenz‘ wahrenden kritischen Metaphysik – ‚ex negativo‘,⁷⁵ als Probierstein (RGV, AA 06: 168, Anm.) – bemessen lassen,⁷⁶ weil andernfalls, mit Schelling gesprochen, eine „geistige Auszehrung“ in der Tat die unvermeidliche Folge wäre.⁷⁷ Jene in der geschichtlichen Entwicklung ‚herausgeschälten‘ apriorischen Elemente der „natürlichen Religion“ als der „allgemeinen Menschenreligion“, die das Christentum als „Weltreligion“ qualifiziert, liegen so auch der kantischen Idee eines „moralisch-bestimmten Monotheismus“⁷⁸ zugrunde, der als späte Frucht der sich geschichtlich herausarbeitenden „natürlichen Religion“ resultiert. Die Maßstäbe dieses Monotheismus sind nach Kant auch das Kriterium dafür, was eine ‚gute Religion‘ genannt zu werden verdient – ihm zufolge ist diese Auszeichnung eben allein dem Christentum vorbehalten. Im Vorblick auf Lessings „Erziehungs“-Motiv gesagt (s.u. II., 4.). Der das Christentum als „natürliche Religion“ auszeichnende „theismus moralis“ ist die (in einem buchstäblichen Sinne

bloß durch Einbildung möglich;) auf dem ersten: a. durch Vernunftbeweis, b. durch Vernunftglauben; auf dem zweiten: a. durch Schwärmerei (Vernunft Anschauung), oder b. Aberglauben. Der erste Weg ist der nicht, welchen die Menschen zu Anfangs genommen haben. Auf dem zweiten Wege ist die Leitung durch Schwärmerei auch nicht die erste, denn die setzt Versuche, auch einige Anfänge von Vernunftkenntnis voraus, die aber der (Vernunft) Einbildung nicht Gnüge tun. Also ist es Einbildung ohne den Leitfaden der Vernunft, mithin unterstützt durch scheinbare Erfahrung, ohne ihre (beständige) Gesetzmäßigkeit zu kennen (erfordern) (als worin der Erfahrungsgebrauch der Vernunft besteht), d.i. Aberglaube, der zuerst unsichtbare Kräfte oder auch Mächte auf die Bahn brachte.“ (Refl. 6221, AA 18, 511). Dies erinnert an jene ‚genetische Entwicklung‘ der Gottesidee, in der sich eine „Archäologie der Vernunft“ manifestiert (s.o. I., Anm 37).  „Negative Theologie“ sollte vor allem die „Irrtümer“ abhalten, „die der gemeinen Theologie unvermeidlich sind“ (Refl. 6227, AA 18, 516), deshalb hat sie gegenüber den „positiven Religionen“ eine unumgängliche kritische Funktion, zumal diese Gefahr laufen, die ‚kritische Transzendenz‘ preiszugeben.  Insoweit und in dem Maße ist Kant ein ‚Religionskritiker‘, als sein Programm einer „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ zwar nicht einfachhin als Maßstab, sondern bloß als negatives „Richtmaß und [als] Probierstein“ der positiv-geschichtlichen Religionen fungiert, dem diese nicht ‚zuwider‘ sein dürfen.  „Jede Philosophie, die nicht im Negativen ihre Grundlage behält, und ohne dasselbe, also unmittelbar das Positive, das Göttliche erreichen will, stirbt zuletzt an unvermeidlicher geistiger Auszehrung“ (Schelling X, 150 f.).  Dass Kant das Kriterium des Monotheismus sehr eng bestimmt, zeigt der zitierte Passus über „Vielgötterei“ und Monotheismus, s.u. I., 3.1.

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zu nehmende) ‚ultima ratio‘, die deshalb weder einer Überholung bedarf noch einer solchen fähig ist. „Der Idee nach“ ist das Christentum das Ziel der „fortgehenden Kultur“ in Sachen der Religion, weil darin jene Läuterung der „Religionsbegriffe“ ihren Abschluss und ihre Vollendung findet.

3.1 Kants späte Konzeption eines „theismus moralis“ und dessen Kriterien – im Ausblick auf Lessing Eine entscheidende Stoßrichtung des von Kant geltend gemachten „moralisch bestimmbaren Monotheismus“ zielt zunächst bekanntlich darauf ab, dass der „transzendentale Begriff von Gott, als dem allerrealsten Wesen“, der „in der Philosophie nicht umgangen werden“ kann, „so abstrakt er auch ist“ (VT, AA 08: 399 Anm.), vor allem auch als unverzichtbare ‚Schutzwehr der Religion‘ fungiert,⁷⁹ die vornehmlich (wie er oftmals betont) drohende Irrtümer abwehrt, d. h. Verendlichung, Vergegenständlichung („Anthropomorphismen“ und „Theophanien“) und somit auch polytheistische Gottesvorstellungen⁸⁰ vermeiden lässt,

 In diesem Sinne heißt es: „Der letzte Zweck ist Moraltheologie. Also [der] Begriff von Gott muss dazu hinlänglich (bestimmt) sein“ (Refl. 6243, AA 18, 523) – ein Richtmaß, an dem Kant auch alle monotheistischen Ansprüche geprüft sehen wollte. Ein Nachklang davon findet sich auch noch in der Bemerkung: „Die Theologen sind entweder Moraltheologen oder Cleriker“ (VASF, AA 23, 435.9). Und: „Die Moraltheologie aber verstattet einen Theism, der zugleich in Ansehung der spekulativen Theologie kritisch sein kann“ (Refl. 6236, AA 18, 520). Zugleich ist Kants „Moraltheologie“ „kosmopolitisch“ orientiert.  Bezüglich der näheren Unterscheidung zwischen „Polytheismus“ und „Monotheismus“ machte Kant freilich geltend, dass die „Vielgötterei“ allein eben noch nicht als zureichendes Abgrenzungs-Kriterium für das „Heidentum“ tauge: „Die Vielgötterei gehört zwar freilich zum Heidentum; denn die Einheit des moralischen Charakters derselben, wonach alle moralische Gesetze zugleich ihre Gebote wären, ist nur durch eine sehr unche Erdichtung anzunehmen möglich. Aber sie ist nicht der eigentümliche Charakter des Heidentums, wie man gewöhnlich annimmt; der Monotheism kann eben sowohl durch dieses verunreinigt werden. Denn einen einigen Gott abgöttisch d. i. so zu verehren, dass man im Kirchenglauben das Wesentliche der Religion setzet, ist (als formale Idololatrie) von dem Glauben, viel Göttern zu dienen nur in der Weise unterschieden, weil es unendlich vielerlei Satzungen geben könne als spezifische Unterschiede eines besondern Kirchenglaubens deren jeder seinen besondern Gott zum Urheber haben könnte, deren jedem man einen besondern Gott vorsetzen kann“ (VASF: AA 23, 445.7– 19). – Interessant ist – auch mit Blick auf das Thema einer „duplex religio“ (s.u. IV., 2.3.) –eine thematisch einschlägige Bezugnahme Kants (in einer Anmerkung der späten Schrift „Zum ewigen Frieden“) auf den tibetanischen Gottesnamen bzw. die Gottesvorstellung als das „heilige, … selige … und weise … , durch die Welt überall verbreitete höchste Wesen (die personifizierte Natur)“, worin Kant, „in den griechischen Mysterien gebraucht, wohl den Monotheism für die Epopten, im Ge-

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jedoch gewissermaßen – freilich ex negativo – auch als ‚Auslegungsfilter‘ im Umgang mit religiösen Traditionen und ihren Offenbarungsansprüchen fungiert. Diesem geltend gemachten Richtmaß⁸¹ korrespondieren in Kants „Monotheismus“-Konzeption notwendig die durch nichts relativierbaren bzw. suspendierbaren – gereinigten – „moralisch-praktischen Vernunftprinzipien“, sodass in der Folge erst aus „Theologie und Moral“ ein zur „wahren (chen) Religion“ tauglicher Gottesbegriff resultieren kann. Die insbesonders vom späteren Kant so nachdrücklich verteidigte These, der zufolge der „Begriff von Gott“ notwendig „aus unserer [„theoretischen“ und „praktischen“] Vernunft hervorgehen muss, von uns selbst gemacht sein müsse“ (VT, AA 08: 399 Anm.),⁸² ist von diesem Anliegen bestimmt, sofern diese Vernunftidee dergestalt als ein negativer Maßstab fungiert, zumal die Gottesidee – dies betont Kant vermutlich auch explizit gegen Lessing (s.u. 61 ff.) – niemals aus der Erfahrung bzw. beanspruchter Offenbarung abgeleitet werden kann.⁸³ Die „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ vollzogene

gensatz mit dem Polytheism des Volks angedeutet“ sah; „obwohl P. Horatius … hierunter einen Atheism witterte“ (ZeF, AA 08: 359 Anm.).  Diese für die Religion unverzichtbare Richtmaß-Funktion bringt besonders markant die Reflexion 6215 zum Ausdruck (AA 18, 505): „Der Unsinn beruht mehrenteils auf dem Geschwätze von Religion, ohne vorausgehende Bestimmung von Theologie, und zwar erstlich derjenigen, welche aus der Vernunft allein ihren Ursprung hat und die auch jeder andern, sie sei auf Geschichte oder unmittelbare Eingebung gegründet, als Kriterium ihrer Richtigkeit zum Grunde gelegt werden muss. – Es ist also vornehmlich in unseren Zeiten von der größten Erheblichkeit, eine wohl durchgedachte und in ihrem ganzen Umfange vollständig ausgeführte Theologie der bloßen Vernunft … vorzutragen, welches letztere sich auch tun lässt, indem nicht verlangt wird, alles zu wissen, was dem Objekte zukommt, sondern was die menschliche Vernunft von Gott erkennen kann. Wenn Theologie und Religion zusammengemischt werden, entspringt eine Verwirrung der Begriffe, in welcher man die Theologie als eine notwendige Folge und Pflicht der Religion ansieht und daher schon parteiisch verfährt. In Ansehung jener muss all die spekulative Vernunft zuerst allein und frei gelassen werden.“  „Denn es ist für sich selbst klar: dass ein Begriff, der aus unserer Vernunft hervorgehen muss, von uns selbst gemacht sein müsse. Hätten wir ihn von irgend einer Erscheinung (einem Erfahrungsgegenstande) abnehmen wollen, so wäre unser Erkenntnisgrund empirisch und zur Gültigkeit für jedermann, mithin zu der apodiktischen praktischen Gewissheit, die ein allgemein verbindendes Gesetz haben muss, untauglich. Vielmehr müssten wir eine Weisheit, die uns persönlich erschiene, zuerst an jenen von uns selbst gemachten Begriff als das Urbild halten, um zu sehen, ob diese Person auch dem Charakter jenes selbst gemachten Urbildes entspreche“ (VT, AA 08: 401 Anm.).  Es markiert deshalb einen wichtigen Unterschied zu Kant, wenn Schilson mit Blick auf Lessing geltend macht: „Die Autonomie der Vernunft ist letztlich theonom begründet, d. h. nicht die Vernunft selbst setzt sich ins Recht und garantiert ihre Vernünftigkeit – vielmehr verdankt sie ihre besondere Würde dem Gott, der ihr zugleich mittels der Offenbarung einen Weg zur Vernünftigkeit weist“ (Schilson 1982, 29 f.).

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Prüfung der Gestalten des „Geschichtsglaubens“ spannt demnach einen weiten Bogen – deren Maßstab und die darin gewahrte Sensibilität für die durch „hergebrachte fromme Lehren … erleuchtete praktische Vernunft“ (EaD, AA 08: 336.21– 22) bezieht sich mit der darin vollzogenen Läuterung der Idee des ‚Unbedingten‘ einerseits auf eine ‚Moralisierung‘ der Ansprüche des ‚Heiligen‘ und leistet andererseits mit den erst auf dieser Basis möglich gewordenen Differenzierungen auch eine ‚Selbstbegrenzung‘ der Ansprüche der „praktischen Vernunft“. Die nähere Kennzeichnung dieser notwendig von uns selbst „hervorgebrachten“ Gottesidee im Sinne des dergestalt erst resultierenden „moralisch bestimmten Monotheismus“⁸⁴ ist demzufolge in ihrer kritischen Absicht an jenem im theoretischen Vernunftgebrauch verankerten, von Kant als „unumgänglich“ angesehenen „transzendentale(n) Begriff von Gott, als dem allerrealsten Wesen“ (VT, AA 08: 399 Anm.) – jedoch nicht als „Inbegriff“, sondern als „obersten Grund aller Realitäten“ (ebd.)⁸⁵ – und gleichermaßen an den unverrückbaren Maßstäben der „Prinzipien“ der „reinen praktischen Vernunft“ orientiert, die so auch als Schutzwehr gegenüber ‚praktischen Vermessenheiten‘ in den ‚positiven Religionen‘ fungieren (wie auch seine bekannte Stellungnahme zur biblischen Abrahams-Geschichte verdeutlicht).⁸⁶ Während also die – nach Kant unumgängliche –

 „Wenn man mit Aufrichtigkeit und unparteiischem Prüfungsgeiste zu Werke gehet; so wird man finden, dass die Vernunft in der Tat das Vermögen habe, sich einen moralisch bestimmten, und für sie möglichst vollständigen Begriff von Gott zu machen; aber auf der andern Seite auch gestehen müssen, dass aus vielerlei Ursachen dieser reine Begriff von der Gottheit wohl nicht leicht bei irgend einem Volke des Altertums stattgefunden habe“ (V-Phil-Th/Pölitz, AA 28.2.2.: 1122). Auch dies widerspricht wohl in gewisser Weise der Auffassung Lessings (nicht zuletzt seiner Erziehungsschrift, s.u. II., 4.).  Es ist ein weiter Weg bis hin zu dieser späten Kennzeichnung des „Grundes aller Realitäten“ – die wohl von Kants angezeigten Gedanken ihren Ausgang nimmt und eine bedeutsame Modifikation bzw. ‚Brechung‘ erfährt (schon dies enthält eine Kritik an Spinozas Gottesvorstellung): „Das notwendige Wesen hat den vollkommensten Verstand und Willen. Das notwendige Wesen ist also eine Person, welche den Grund von allem Dasein enthält durch Verstand und Willen. D.i. es ist ein Gott.“ (Refl. 3733: AA 17, 275, datiert für die Zeit vor 1764, zeitlich offenbar nahe der frühen Schrift „Über den einzig möglichen Beweisgrund“ aus dem Jahr 1763). Zu dieser Zeit fand auch Lessings intensive Spinoza-Rezeption in Breslau statt.  RGV, AA 06: 187.4– 8. – „Denn wenn Gott zum Menschen wirklich spräche, so kann dieser doch niemals wissen, dass es Gott sei, der zu ihm spricht. Es ist schlechterdings unmöglich, dass der Mensch durch seine Sinne den Unendlichen fassen, ihn von Sinnenwesen unterscheiden und ihn woran kennen solle. – Dass es aber nicht Gott sein könne, dessen Stimme er zu hören glaubt, davon kann er sich wohl in einigen Fällen überzeugen; denn wenn das, was ihm durch sie geboten wird, dem moralischen Gesetz zuwider ist, so mag die Erscheinung ihm noch so majestätisch und

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rationaltheologische Bestimmung des „allerrealsten Wesens“ den Gottesgedanken vor Verendlichungen bzw. vor einem unkritischen „dogmatischen Anthromorphismus“ bewahrt, stellen die Prinzipien einer autonomen Moral das „praktisch“ nicht relativierbare Fundament der Religion dar; gilt es doch, „einen ganz präzis bestimmten Begriff von Gott [zu] machen, indem er ihn nach der Moralität einrichtet“,⁸⁷ „ja nach moralischen Begriffen … sich einen solchen selbst machen müsse“ (RGV, AA 06: 168 Anm.) – wobei wir den daraus erst resultierenden geläuterten Gottesbegriff „jetzt für den richtigen halten, nicht weil uns spekulative Vernunft von dessen Richtigkeit überzeugt, sondern weil er mit den moralischen Vernunftprinzipien vollkommen zusammenstimmt“ (KrV, B 846). Dies erklärt auch die Verträglichkeit bzw. notwendige Anerkennung der Pluralität der tradierten geschichtlichen Glaubensarten und vermag dennoch einen schlechten ‚Relativismus‘ zu vermeiden. Es zeigt sich: Erst aus der Verbindung des unumgänglichen „transzendentalen Begriffs von Gott“, der als unentbehrliches theoretisches Richtmaß fungiert, mit den „Prinzipien der reinen praktischen Vernunft“ resultiert also, im Sinne der religions-begründenden Verbindung von „Theologie und Moral“ (s.o. 35 f.), der von Kant allein als tragfähig geltend gemachte „theismus moralis“. Allein dies ermöglicht einen „Begriff von Gott, der für die Religion tauglich sein soll“ (MpVT, AA 08: 256 Anm.) – d.i. als „heiliger Gesetzgeber“, „gütigen Regierer“ und „gerechten Richter“ (KpV, AA 05: 131 Anm.) –, gemäß dem diese Gottesidee als „ein Wesen der höchsten Moralität“⁸⁸ zu verstehen ist und „wodurch Gott [eben erst] der Gegenstand der Religion wird“ (ebd.). Damit erübrigt sich freilich auch der Rekurs auf – besser: die Zuflucht in – „Geheimnisse“ bzw. in damit verbundene Ansprüche, die deshalb auch jede Gewalt im Namen Gottes verbieten müssen. Dass Religion „reine Vernunftsache“ sei, kommt nach Kant nicht zuletzt auch darin zum Ausdruck, dass dieser (das Neutrum des „höchsten Urwesens“ nun ‚personalisiert‘ transformierende) „Vernunftglaube“ an Gott in jener „dreifachen Gestalt“⁸⁹ – worin das transzendente ‚Absolute‘ sich nunmehr ‚für uns‘ als modie ganze Natur überschreitend dünken: er muss sie doch für Täuschung halten“. (SF, AA 07: 63.9 – 17)  V-Met/Heinze: AA 28.1.: 34.  V-Th/Baumbach, AA 28.2.2.: 1233. Dies markiert Kants eindringliche ‚Moralisierung des Göttlichen‘.  V-Th/Baumbach, AA 28.2.2.: 1284. Vgl. RGV, AA 06: 139.22– 27. „Diesem Bedürfnisse der praktischen Vernunft gemäß ist nun der allgemeine wahre Religionsglaube der Glaube an Gott 1) als den allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden, d.i. moralisch als heiligen Gesetzgeber, 2) an ihn, den Erhalter des moralischen Geschlechts, als gütigen Regierers und moralischen Versorger desselben, 3) an ihn, den Verwalter seiner eigenen heiligen Gesetze, d.i. als gerechten Richter“.

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ralische Subjekte manifestiert⁹⁰ – religionsgeschichtlich, d. h. in der Geschichte der menschlichen Vernunft, in verschiedenen Ausprägungen wirklich ist; jedoch erst in der „Geschichte der reinen Vernunft“ wird er begriffen und kommt in der „Religion als reiner Vernunftsache“ auch als solcher – in einem buchstäblichen Sinne – existenz-verankert in der je individuellen Lebensgeschichte ‚zur Geltung‘. Derart wird erneut die zu denkende Vermittlung bzw. Einheit von „religionsgeschichtlichem Aposteriori“ und dem „Apriori der Vernunftreligion“ thematisch, das Kant freilich ausschließlich im Christentum (der „Idee nach“) realisiert sah. Jene für den moralischen Vernunftglauben maßgebenden Gottesprädikate sind demnach selbst im Sinne des in der Geschichte der reinen Vernunft durchlaufenen Läuterungsprozesses gewissermaßen ‚ursprünglich erworben‘, somit aber auch dieser „Vernunftglaube“ selbst, der „innerhalb der bloßen Vernunft“ seinen „Platz bekommt“. In diesem Sinne ist dann wohl auch Kants späte Auskunft zu nehmen, dass solcher „Vernunftglaube“ „eigentlich kein Geheimnis“ enthält,⁹¹ „weil er lediglich das moralische Verhalten Gottes zum menschlichen Geschlechte ausdrückt;⁹² auch bietet er sich aller menschlichen Vernunft von selbst dar, und wird daher in der Religion der meisten gesitteten Völker angetroffen.“ (RGV, AA 06: 140.1– 4)⁹³ Denn: „Man kann nicht wohl den Grund ange Damit ist eben auch gesagt, dass das in seinem ‚An-sich-sein‘ uns völlig unbekannte ‚Absolute‘ erst im moralischen Verhältnis zu ihm im Sinne des „moralisch bestimmten Monotheismus“ bestimmbar wird (Konturen gewinnt) und dergestalt aus der Einheit von „Theologie und Moral“ Religion begründet wird (KrV, B 395 Anm.) – genauer in dem postulatorisch begründeten „Ich will, dass [dieser] Gott [des „moralischen Monotheismus“] sei“ (KpV, AA 05: 143.24– 28).  Lessing tadelte freilich die Bestreitung, „dass es in der christlichen Religion Geheimnisse gebe“ (Arnoldt 258), was auch Kant nicht in Frage gestellt hat (vgl. RGV, AA 06: 138.23 – 24).  Es ist allerdings sehr erstaunlich und irritierend, dass Kant dies in der direkt darauf bezogenen Anmerkung mit dem Hinweis auf das (offensichtlich ‚christlich inspirierte‘) „MenschensohnMotiv“ erläutert, zumal dies doch ein besonderes Licht auf das „moralische Verhalten Gottes zum menschlichen Geschlecht“ wirft.  Darauf bezieht sich wohl auch Glasenapps Bemerkung: „für ihn [Kant] stellten der Glaube an das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele deshalb nicht nur die Pfeiler einer künftigen Vernunftreligion, sondern auch den von mythologischen Hüllen verbrämten Kern der Religionen der ältesten Völker dar. Er neigte deshalb dazu, andere Auffassungen als schwärmerische Überschwenglichkeiten oder als Verfallserscheinungen zu betrachten“ (Glasenapp 174). Relativiert wird diese Sichtweise jedoch offenbar durch Kants Auffassung, dass die „Idee eines moralischen Weltherrschers“ als „eine Aufgabe für unsere praktische Vernunft“ (RGV, AA 06: 139.13 – 14) insofern im „Vernunftbegriff in concreto“ eine Entsprechung hat, als dieser Glaube an ihn „sich aller menschlichen Vernunft von selbst“ darbiete und daher „in der Religion der meisten gesitteten Völker angetroffen“ werde, d. h. „so viele alte Völker in dieser Idee [der „dreifachen Qualität des moralischen Oberhaupts des menschlichen Geschlechts“] überein kamen“, weil sie „in der allgemeinen Menschenvernunft liegt“ (RGV, AA 06: 140 Anm.). In der Religionsschrift setzte Kant jene drei Prädikate, „die alles in sich enthalten, wodurch Gott der Gegenstand der

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ben, warum so viele alte Völker in dieser Idee überein kamen, wenn es nicht der ist, dass sie in der allgemeinen Menschenvernunft liegt, wenn man sich eine Volks- und (nach der Analogie mit derselben) eine Weltregierung denken will“ (ebd.). Diese Auskunft Kants steht indes, wie sich noch zeigen wird, in einer unübersehbaren Spannung zu den von ihm durchaus eingeräumten, nämlich über praktische Vernunftansprüche vermittelten „Geheimnissen“, auf die menschliche Freiheit sich verwiesen sieht⁹⁴ und in ihrer ‚inneren Rationalität‘ auch ausweisbar sind; Kant selbst sprach in solchem religionsphilosophischen Kontext gelegentlich von Fragen, vor denen „die Vernunft ins Stocken gerät“⁹⁵ und ein „Geheimnis … , das … auf Vernunft Beziehung hat“ (RGV, AA 06: 138.4– 5), offenbart.⁹⁶ So zeigt sich: Leistet die „rationale Theologie“ in der angezeigten Weise die Läuterung der Gottesidee und ihren Ausweis als „notwendige Vernunftidee“, die zugleich allen Ansprüchen auf eine (nur wenigen vorbehaltenen) „mystische Schau“ (epopteia) ebenso eine entschiedene Absage erteilt wie der religionskritischen Entlarvung der „Gottesidee“ als einem bloß zufälligen „Gemächsel“, so bietet andererseits die „durch größere Bearbeitung der sittlichen Ideen“ gereinigte Moral die unumgängliche Befreiung der Freiheit von sich zu sich selbst. Dem

Religion wird“ („heiliger Gesetzgeber und Schöpfer“, „gütiger Regierer und Erhalter“ und „gerechter Richter“) (KpV, AA 05: 131 Anm.), nun auch ausdrücklich mit geschichtlichen Religionsgestalten („Zoroaster“, „Hinduism“, der „ägyptischen“ und „gotischen Religion“) so in Beziehung, dass darin diese „dreifache Qualität des moralischen Oberhaupts“ sichtbar werde; bezeichnenderweise fügt er dann noch hinzu: „Selbst [!] die Juden scheinen in den letzten Zeiten ihrer hierarchischen Verfassung diesen Ideen nachgegangen zu sein“ (RGV, AA 06: 140); nach Kant partizipieren also auch sie, wenigstens „irgendwie“ und auch erst spät, an der „allgemeinen Menschenvernunft“. (s. dazu u. II., 5.1.) – Es waren nach Kant indes die (entmythologisierenden) Griechen, die „zuerst versucht“ haben, „nicht an dem Leitfaden der Bilder die Vernunfterkenntnisse zu kultivieren, sondern in abstracto; statt dass die andern Völker sich die Begriffe immer nur durch Bilder in concreto verständlich zu machen suchten. So gibt es noch heutigen Tages Völker, wie die Chinesen und einige Indianer, die zwar von Dingen, welche bloß aus der Vernunft hergenommen sind, als von Gott, der Unsterblichkeit der Seele u. dgl. m. handeln, aber doch die Natur dieser Gegenstände nicht nach Begriffen und Regeln in abstracto zu erforschen suchen. Sie machen hier keine Trennung zwischen dem Vernunftgebrauch in concreto und dem in abstracto“ (Log, AA 09: 27.17– 26). Auch hier klingt eine kantische Version einer „duplex religio“ an (s. dazu u. IV., 2.3.1.).  Dies gilt nicht zuletzt für den „unerforschlichen“ „Grund der Freiheit“, der in dem Lehrstück über das „radikal Böse“ thematisch wird (s. dazu u. II., Anm. 473).  AA XXVIII 1120 f.  Aber die Überführung „geoffenbarter Wahrheiten“ in „Vernunftwahrheiten“ führt bei Kant dennoch dazu, dass die Vernunft darin auf unabweisbare, für sie jedoch unergründliche „Geheimnisse“ der Freiheit (das „radikal Böse“, „Berufung, Genugtuung und Erwählung“) stößt.

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„Ideal der reinen Vernunft“, das den theoretischen Vernunftgebrauch „abschließt und krönt“, korrespondiert das praktisch-moralische ‚Vernunft-Ideal‘ und die daran orientierte Idee der „moralischen Welt“ bzw. des „Weltbesten“, d.i. des „höchsten Gutes“ als des „Endzwecks der Vernunft“. Kants späte Kennzeichnung des „moralisch bestimmten Monotheismus“ vereint diese konstitutiven Aspekte zu jener „Zweckverbindung“ der „Ideen des Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“ (FM, AA 20: 295.5). Und erst aus der inneren Verknüpfung dieser beiden nicht relativierbaren ‚Schutzwehr-Aspekte‘ („Theologie und Moral“) resultiert jene Konzeption des ‚ethischen‘ bzw. „moralisch bestimmten Monotheismus“ als Maßstab, an dem Kant, wie sich zeigen wird, auch andere Monotheismus-Gestalten und auch Offenbarungsansprüche kritisch bemisst⁹⁷ und dies auch der „christlichen Religion“ als „natürlicher Religion“ als Maßstab zugrunde liegt. Erst der aus der Verbindung dieser Aspekte sich ergebende „moralisch bestimmte Monotheismus“,⁹⁸ für den auch noch Kants Bestimmung Gottes als „ursprüngliches höchstes Gut“ – als Ermöglichungsgrund des „höchsten (abgeleiteten) Gutes“ – maßgebend bleibt, genügt diesen kantischen Ansprüchen und steht so in differenzierter Weise auch im Dienst der notwendigen Abgrenzung einer (die Möglichkeit einer Offenbarung überhaupt ausschließenden) „naturalistischen Religion“ von einer die Möglichkeit einer Offenbarung (in einem wörtlichen Sinne) ‚einräumenden‘ „natürlichen Religion“: „Der Rationalist muss sich, vermöge dieses seines Titels, von selbst schon innerhalb der Schranken der menschlichen Einsicht halten. Daher wird er nie als Naturalist absprechen, und weder die innere Möglichkeit der Offenbarung überhaupt, noch die Notwendigkeit einer Offenba-

 Die Erinnerung an Kants Bemerkung (aus den Vorarbeiten zum „Streit der Fakultäten“) liegt nahe: „Es ist nichts einfacher als der reine moralische Religionsglaube“ (VASF, AA 23: 438.21). Dies liest sich freilich wie eine Korrektur – zugleich in gewisser Weise auch als Zustimmung – des Mendelssohnsches Satzes: „natürliche Religion ist zugleich die einfachste und fasslichste Religion; Sie ist so leicht, so Jedermanns Fähigkeiten angemessen, dass man erstaunen muss, wenn man Philosophen ernsthaft behaupten hört: Sie sei nicht für den gemeinen Mann“ (Mendelssohn, An die Freunde Lessings: JubA 3.2. 199). Kant gehörte offenbar nicht zu diesen Philosophen.  Auch bezüglich dieses von Kant nie aufgegebenen „theismus moralis“ ist die Notiz aus dem „opus postumum“ von Interesse: „Das Wesen, dessen Wille für alle vernünftigen Wesen praktisches Gesetz ist, ist das höchste moralische Wesen (ens supremum) die höchste Intelligenz, welche von allen Weltwesen unterschieden unter einem Princip gesetzgebend ist, d.i. es ist Gott. Es ist also Ein Gott.“ (AA 22, 114.15 – 18) – Ob Kants Konzeption des „theismus moralis“ bzw. der von ihm geltend gemachte Monotheismus selbst der Kritik Schellings an der „Schalheit“ und „Leere“ des „Theismus“ ausgesetzt bleibt, ist hier nicht zu verfolgen.

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rung als eines göttlichen Mittels zur Introduktion der wahren Religion bestreiten“ (RGV, AA 06: 155.5 – 9).⁹⁹ Einen auch diesbezüglich sehr aufschlussreichen (obgleich nur beiläufigen) diesbezüglichen – auch Lessings Gotteslehre betreffenden (s.u. II., 2.) – Hinweis enthält schon ein kantisches Vorlesungs-Fragment über „Rationaltheologie“, das diese Frage bezüglich des Gottesbegriffs in denkwürdiger Weise ‚genealogisch‘ akzentuiert: „Religion bedeutet bei den Alten oft so viel als Aberglaube. Dieser Begriff kann davon seinen Ursprung haben, aber er wars noch nicht selbst. Der erste Begriff von Gott ist der von einem ersten Wesen, insofern er die Ursache ist von den übrigen. Hierunter kann man alle Lehrmeinungen bringen. Ist dieser Begriff willkürlich von uns gemacht? – Nein, sondern von unserer Vernunft gegeben, nicht eingeboren, sondern aquiriert [!]; d. h. wenn sie einmal kultiviert ist, dass sie notwendigerweise darauf kommen muss¹⁰⁰ bei Gelegenheit der Erfah-

 „Nun kann man eine Religion nur naturalistisch nennen, wenn sie es zum Grundsatze macht, keine solche Offenbarung einzuräumen. Also ist das Christentum darum nicht eine naturalistische Religion, obgleich es bloß eine natürliche ist, weil es nicht in Abrede ist, dass die Bibel nicht ein übernatürliches Mittel der Introduktion der letzteren und der Stiftung einer so öffentlich lehrenden und bekennenden Kirche sein möge, sondern nur auf diesen Ursprung, wenn es auf Religionslehre ankommt, nicht Rücksicht nimmt“ (SF, AA 07: 44.32– 45.5). Dies markiert auch Kants grundsätzliche Distanz zu Reimarus.  Daran erinnert auch die – jedoch eigentümlich dunkle, weil offenbar eine gewisse Unsicherheit verratende – brieflich an Jacobi gerichtete Argumentation Kants, die möglicherweise auch eine Reminiszenz an Lessings einschlägige Äußerungen verrät: „Ob nun Vernunft, um zu diesem Begriffe des Theismus zu gelangen, nur durch Etwas, was allein Geschichte lehrt, oder nur durch eine, uns unerfassliche übernatürliche innere Einwirkung, habe erweckt [!] werden können, ist eine Frage, welche bloß eine Nebensache, nämlich das Entstehen und Aufkommen dieser Idee, betrifft. Denn man kann eben sowohl einräumen, dass, wenn das Evangelium die allgemeine sittliche Gesetze in ihrer ganzen Reinigkeit nicht vorher gelehrt hätte, die Vernunft bis jetzt [!] sie nicht in solcher Vollkommenheit würde eingesehen haben, obgleich, da sie einmal da sind [!], man einen jeden von ihrer Richtigkeit u. Gültigkeit(anjetzt) durch die bloße Vernunft überzeugen kann“ (AA 11, 76). Mit Blick darauf verdient natürlich auch sein beiläufiger später Hinweis auf die „durch hergebrachte fromme Lehren erleuchtete praktische Vernunft“ besonderes Interesse (s. dazu u. II., 4.2.), aber auch jene (im selben Jahr geäußerte) Bezugnahme auf die erforderliche „Belehrung“ „in Ansehung“ dessen, „was noch immer dunkel bleibt“ (AA 11, 10), sowie jene späte Notiz, dass „die Vernunft auf Untersuchungen leiten kann, darauf sie von selbst nicht gefallen wäre“ (AA 20, 439.26 – 27). – Jene kantische Bezugnahme auf die „zu diesem Begriffe des Theismus“ gelangende Vernunft liest sich auch wie eine indirekte Stellungnahme zum §77 von Lessings „Erziehungsschrift“: „Und warum sollten wir nicht auch durch eine Religion, mit deren historischen Wahrheit, wenn man will, es so misslich aussieht, gleichwohl auf nähere und bessere Begriffe vom göttlichen Wesen, von unsrer Natur, von unsern Verhältnissen zu Gott, geleitet werden können, auf welche die menschliche Vernunft von selbst nimmermehr [!] gekommen wäre?“ Lessings Alternative: „als Offenbarung gepredigt“ oder „als Resultat menschlicher

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rung“.¹⁰¹ Schon hier ist deutlich die Idee vorgebildet, wonach die in der Religionsgeschichte in Erscheinung tretenden vielerlei „geschichtlichen Glaubensarten“ eben jene „Gelegenheit der Erfahrung“ darstellen, durch die sich die ‚vernunft-adäquaten‘ praktischen und theoretischen Prinzipien der „Vernunftreligion“ erst ausbilden konnten. Kants Konzeption des „moralisch bestimmten Monotheismus“ besagt auch dies, dass eben nicht jede ‚monotheistische‘ Konzeption vernunftkritischen Anforderungen (d. h. sowohl dessen theoretischen als auch moralischen Maßstäben) genügt; in diesem Sinne machte er – nicht zuletzt gegenüber den anderen ‚monotheistischen Religionen‘ – auch explizit geltend: „Monotheismus moralis, nicht bloßer Monotheismus, der auch auf bloßen Kirchenglauben und statutarische Gesetze gegründet sein könnte“. ‚Realisiert‘ sah Kant diesen „theismus moralis“ eben vornehmlich in der Grundgestalt des Christentums als der „natürlichen Religion“, die als solche „reine Vernunftsache“ (SF, AA 07: 67. 26 – 27)¹⁰² sei und in deren Sinne gilt: „(E)s ist moralisch notwendig, das Dasein Gottes anzunehmen“ (KpV, AA 05: 125.30). Es wird sich im Folgenden erweisen: Weder im Rekurs auf „historische Wahrheiten“ noch in der Berufung auf das religiöse „Gefühl“ lässt sich nach Kant geltungsorientiert die Wahrheit der Religion ausweisen – Themen, die gleichermaßen elementare Übereinstimmungen und bedeutsame Differenzen zwischen Lessing und Kant sichtbar machen.

Schlüsse gelehret“ (§ 71 der „Erziehungsschrift“) wird hier also von Kant zur „Nebensache“ erklärt und durch den Hinweis auf die Gottesidee als eine notwendig „von uns selbst gemachte“ (s.u. 63 f.) relativiert.  V-Th/Baumbach, AA 28.2.2.: 1330. Das ist demnach durchaus analog zu dem „wundersamen“ Bezug der „fides“ auf das „höchste Gut“.  Diese Kennzeichnung der „Religion als Vernunftsache“ steht dem Anliegen Mendelssohns – dem Freund Lessings – unübersehbar nahe: „Es ist wahr: ich erkenne keine andere(n) ewige(n) Wahrheiten, als die der menschlichen Vernunft nicht nur begreiflich, sondern durch menschliche Kräfte dargetan und bewährt werden können“ (Mendelssohn, Jerusalem: JubA 8, 156); gleichwohl hat Kant das Verhältnis von ‚Glauben und Wissen‘ grundsätzlich ganz anders als Mendelssohn bestimmt, auch die von ihm geltend gemachte Unterscheidung: „Ein anderes ist geoffenbarte Religion; ein anderes geoffenbarte Gesetzgebung“ (ebd. 164), die auf die geltend gemachte Differenz zwischen „Religionslehren und Religionsgeboten“ abzielt.

II Zur indirekten Auseinandersetzung zwischen Lessing und Kant: Unübersehbare Differenzen und vielfältige Übereinstimmungen 1 Schwerwiegende Differenzen im Blick auf Spinoza Die mit Kants Kennzeichnung des „moralisch bestimmten Monotheismus“ eng zusammenhängende entschiedene Mahnung, „den Begriff von einer Gottheit“ nicht leichtfertig „an jedes von uns gedachte verständige Wesen, deren es eines oder mehrere geben mag“, zu „verschwenden“ (KU, AA 05: 438.17– 19), richtet sich gleichermaßen gegen Spinoza, Herder, Mendelssohn¹ – und wohl auch gegen die von Lessing beanspruchte Spinoza-Nähe,² weil sie dem allein über die „moralische Teleologie“ – die „Zwecke der praktischen Vernunft“ – formulierten ethikotheologischen Anspruch nicht genügen, ohne den die „Bestimmung des Menschen“ verfehlt wäre. Kants Warnung vor einer leichtfertigen, weil dem Menschen als „existierendem Endzweck“ unangemessenen ‚Verschwendung‘ des „Begriffs von einer Gottheit“ ist nicht zuletzt wohl auch darauf zu beziehen. Aus den genannten Gründen konnten eben Spinozas „Begriffe von der Gottheit“ nicht „für ihn“³ sein, sofern sich ein „vernünftiges, aber endliches Wesen“ darin gerade nicht wiederfinden und bejahen könne. Deshalb hätte Kant eine grundsätzliche Unverträglichkeit mit seiner Konzeption eines „moralisch bestimmten Monotheismus“ wohl auch in der von Lessing eingeräumten Nähe zu „Spinozas Gott“⁴ diagnostiziert, nicht zuletzt in seinem widersprüchlichen Verzicht auf die „Frei-

 Die vom frühen Lessing (nicht zuletzt in dessen Studienzeit) mit Mendelssohn geteilte Vertrautheit (und weitgehende Gefolgschaft) mit Wolff und dessen „dogmatischer Metaphysik“ ist bekannt. Auch in der Einschätzung der Philosophie Wolffs zeigen sich gravierende Differenzen zwischen Lessing und Kant.  Die – vielschichtige und verschlungene – Rezeption der Philosophie Spinozas und Leibnizens auf Lessings langem Denkweg bleibt hier zur Gänze ausgeblendet. Das Verhältnis Lessings zu Leibniz und Spinoza analysiert auch Nisbet (2008, 821– 833).  Jacobi 2000, 22. Denn Jacobi zufolge glaubt Lessing „keine von der Welt unterschiedene Ursache der Dinge“, d. h. „Lessing ist ein Spinozist“ (Jacobi 2000, 47). „Lessing verabschiedet nämlich die theistische Vorstellung von Gott als einem von der Welt unterschiedenen persönlichen Wesen, das die Welt willkürlich erschafft“ (Rohls 224).  K. Hammacher merkt dazu allerdings an: „Lessings Spinozismus ist keine direkte Übernahme des eigentlichen Systems Spinozas, sondern mehr eine Fortentwicklung bestimmter Gedanken Spinozas und noch mehr Wiederaufnahme von Gedanken, in deren Tradition stehend Spinoza erkannt wird“ (Hammacher 51). https://doi.org/10.1515/9783110716191-004

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heit“,⁵ der sich auch in seiner berühmten – an Jacobi gerichteten – Bemerkung zeigt: „Ich merke, Sie hätten gern Ihren Willen frei. Ich begehre keinen freien Willen.“⁶ Auch dies hat möglicherweise Kants wiederholte Polemik gegen den „Fatalism“ provoziert⁷ und seine Vermutung unterstützt, Lessing wisse letztlich auch in diesen Fragen nicht so recht, „was er haben will“ (s.u. III., 1. Anm. 3).⁸

 Jacobi übersehe „den hypothetischen Charakter von Lessings ‚Spinozismus‘“(Ritzel 303); „Spinoza und Lessing stimmen aber insoweit überein, als der Determinismus bei beiden nicht das letzte Wort hat“ (Ritzel 305), und zwar durch das Vermögen der „Reflexion“; es zeige sich, dass auch Spinozas Weg zur Freiheit führt (Ankündigung des 5. Teils der „Ethik“). – Lessings Einspruch, man dürfe nicht „unsere elende Art, nach Absichten zu handeln, für die höchste Methode ausgeben“ (so Lessing in: Jacobi 2000, 28), wäre Kant vermutlich verständnislos begegnet, wie auch sein Hinweis auf das Verständnis des Menschen als „Marionette“, als „Vaucansonschen Automat“ (KpV, AA 05: 101.8), zeigt, der die „Fatalität der Handlungen“ unvermeidlich macht „und das Selbstbewusstsein würde es zwar zu einem denkenden Automate machen, in welchem aber das Bewusstsein seiner Spontaneität, wenn sie für Freiheit gehalten wird, bloße Täuschung wäre“ (ebd.). Auch diese Erörterungen Kants zum Freiheitsbegriff in der „Kritischen Beleuchtung der Analytik der reinen praktischen Vernunft“ lesen sich (in grundsätzlicher Übereinstimmung mit Jacobi, der auf die „Erfahrung“ des moralischen Anspruchs des „Gewissens“ und „tiefstes innerstes Bewusstsein“ verweist: Jacobi 2000, 121 Anm.) wie eine indirekte Auseinandersetzung mit Spinoza. Schon der frühe Lessing hat mit dem Determinismus ‚geliebäugelt‘: „Wer tut, was ihm gefällt, tut das, was er tun sollte. Nur unser Stolz erfand das leere Wort: ich wollte“ (Aus einem Gedichte über die menschliche Glückseligkeit, aus dem Jahr 1753: 237 ff, hier: 238; s. auch: Die Religion. Erster Gesang: I, 255 ff, hier: 260 f.).  Jacobi 2000, 27. – Lessings diesbezügliche Spinoza-Sympathie verbindet sich dabei mit der Erinnerung des „ehrlichen Lutheraners“ an Luthers Urteil über das „unfreie Willensvermögen“: „Alles, was wir tun, alles, was geschieht, geschieht – auch dann, wenn es uns veränderlich und zufällig zu geschehen scheint – in Wirklichkeit notwendig und unveränderlich, wenn du Gottes Willen betrachtest.“ (M. Luther, Lateinisch-Deutsche Studienausgabe. Leipzig 2006 – 2009, I, 253.) „Sie drücken sich beinah so herzhaft aus wie der Reichstagsschluss zu Augsburg; aber ich bleibe ein ehrlicher Lutheraner und behalte ‚den mehr viehischen als menschlichen Irrtum und Gotteslästerung, dass kein freier Wille sei‘, worin der helle reine Kopf Ihres Spinoza sich doch auch zu finden wußte“ (so wiederum Lessing, in: Jacobi 2000, 34).  Möglicherweise ist die in der zweiten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ ausgesprochene Kritik am „Materialism, Fatalism, Atheism“ (KrV, B XXXIV) ja auch vor dem Hintergrund seiner Kenntnis des Streites um Spinoza zu verstehen. – Den „Materialism“ und „Atheism“ hat freilich auch Lessing kritisiert. Kants Polemik gegen den „seelenlosen Materialism“ richtet sich gleichermaßen gegen die französischen „Naturalisten“ und gegen Spinoza, dass der „Materialism zur Erklärungsart meines Daseins untauglich ist“ (KrV, B 420). Dies betrifft nach Kant nicht zuletzt das ‚Leib-Seele‘-Problem, wie er auch in seiner „Paralogismus-Lehre“ verdeutlicht.  Indirekt wendet sich ja auch die Bemerkung Kants (aus der Vorrede zur „Kritik der praktischen Vernunft“) gegen Lessing: „Der Begriff der Freiheit ist der Stein des Anstoßes für alle Empiristen, aber auch der Schlüssel zu den erhabensten praktischen Grundsätzen für kritische Moralisten, die dadurch einsehen, daß sie notwendig rational verfahren müssen.“ (KpV, AA 05: 7.35 – 8.1) Geht es doch um die auch für Lessing bedeutsame Frage, „ob reine Vernunft zur Bestimmung des Willens

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II Zur indirekten Auseinandersetzung zwischen Lessing und Kant

Kants zentrale These, dass die Idee der „Freiheit … die zwei übrigen [Ideen: Gott und Unsterblichkeit] in ihrem Gefolge bei sich“ führe (VNAEF, AA 08: 418.24– 27),⁹ verdankt sich möglicherweise auch der Erinnerung an diese Kontroverse zwischen Jacobi und Lessing, zumal Jacobi darin besonders die „Willensfreiheit“ akzentuiert,¹⁰ während der „Fatalismus“ selbstverständlich auch jedem Bewusstsein der Verantwortung zuwider läuft.¹¹ Die von Kant propagierte Konzeption eines „theismus moralis“ (und des damit verbundenen „symbolischen Anthropomorphismus“) ist natürlich vor allem eine entschiedene – auch von Leibniz inspirierte – Kritik an Spinozas Begriff von Gott als „eine(r) blindwirkende(n) ewige(n) Natur als [der] Wurzel der Dinge“,

für sich allein zulange, oder ob sie nur als empirisch-bedingte ein Bestimmungsgrund desselben sein könne.“ (KpV, AA 05: 15.16 – 18)  Zumal nach Kant „den Ideen von Gott und Unsterblichkeit vermittelst des Begriffs der Freiheit objektive Realität und Befugnis, ja subjektive Notwendigkeit (Bedürfnis der reinen Vernunft) sie anzunehmen verschafft wird“ (KpV, AA 05: 4.25 – 27).  Dass die von Jacobi gesetzte Grenze in der Erklärung „gewisser Dinge“, darunter der „Freiheit des Willens“ und des Daseins Gottes, nach Lessing „sich nicht bestimmen“ lasse, hätte (bzw. hat) Kant mit der These erwidert: „Wo aber Bestimmung nach Naturgesetzen aufhört, da hört auch alle Erklärung auf, und es bleibt nichts übrig als Verteidigung, d. i. Abtreibung der Einwürfe derer, die tiefer in das Wesen der Dinge geschaut zu haben vorgeben, und darum die Freiheit dreust für unmöglich erklären“ (GMS; AA 04: 459.14– 18). Es liest sich dies ohnehin wie ein Kommentar zu Jacobis These: „Wer nicht erklären will, was unbegreiflich ist, sondern nur die Grenze wissen, wo es anfängt, und nur erkennen, dass es da ist: von dem glaube ich, dass er den mehresten Raum für echte menschliche Wahrheit in sich ausgewinnt“ – eine These, die Lessing (nach dem Kommentar Jacobis) freilich lediglich mit der Bemerkung quittiert hat: „Worte, lieber Jacobi, Worte! die Grenze, die Sie setzen wollen, lässt sich nicht bestimmen“ (Jacobi 2000, 34 f.). Dagegen ist offenbar auch Kants „Grenzbestimmung“ gerichtet. Den Vorwurf Lessings, „Träumerei und Verblendung“ seien „überall zu Hause, wo verworrene Begriffe herrschen“ (ebd.), hätte Kant wohl mit dem Verweis auf sein kritizistisches Programm erwidert.  Mit Kants Konzeption eines „moralischen Theismus“ – aber auch mit Lessings eigener Position der „natürlichen Religion“ – ganz unvereinbar ist freilich auch dies, dass Nisbet zufolge „Lessing nicht nur das Dasein eines transzendenten Gottes, sondern auch die menschliche Willensfreiheit“ bestreite „und … [er] auch nichts gegen Jacobis fragwürdige Behauptung“ vorbringe, „dass eine solche Einstellung bei Spinoza auf einen blinden und mechanischen Fatalismus hinauslaufe“ (Nisbet 2008, 824 f.). Unvereinbar ist dies freilich auch damit, dass Mendelssohn bekanntlich Lessing als den „großen bewunderten Verteidiger des Theismus und der Vernunftreligion“ (gegen Jacobi) gegen die Anklage als „Spinozisten, Atheisten und Gotteslästerer“ verteidigt hat (Mendelssohn, An die Freunde Lessings: JubA, 3.2., 187 ff.). Wie sich die im Jahr 1780 geäußerte Spinoza-Nähe mit dem „Nathan“ und der im gleichen Jahr erschienenen „Erziehung des Menschengeschlechts“ vertragen soll, wird in der Literatur breit diskutiert und ist strittig, dies ist aber nicht Thema dieses Buches.

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d.i. ohne „Verstand und Freiheit“ (KrV, B 660 f.),¹² die als völlig unangemessen verworfen wird.¹³ Dagegen gelte, dass „man unter dem Begriffe von Gott … ein höchstes Wesen, das durch Verstand und Freiheit der Urheber der Dinge sein soll, zu verstehen gewohnt [!] ist, und auch dieser Begriff allein uns interessiert“ (KrV, B 660 f.).¹⁴ Dies ist jedoch nach Kant keineswegs ein durch bloße „Gewöhnung“ gefestigtes Vorurteil – denn nur ein solcher „zur Religion tauglicher“ „lebendiger Gott“ als „freihandelnder“ (d. i. als „weiser“, „moralischer Welturheber“) kann¹⁵ – und zwar als zureichender Grund und als Ziel, also als „Urquell und Endzweck“ – der adäquate ‚terminus ad quem‘ menschlicher Hoffnung sein,¹⁶ der mit „Spi-

 „Diese inwohnende unendliche Ursache [Spinozas] hat, als solche, explicite, weder Verstand noch Willen, weil sie, ihrer transzendentalen Einheit und durchgängigen absoluten Unendlichkeit zufolge keinen Gegenstand des Denkens und des Wollens haben kann.“ (Jacobi 2000, 25) Dies richtet sich auch gegen Lessings „spinozistische“ Auffassung: „alles, was Gott sich vorstellet, das schafft er auch“ (§ 3 der Schrift: Das Christentum der Vernunft): „Gottes Verstand als das Wesen Gottes“ sei auch „die Ursache der Dinge nicht nur nach deren Idee, sondern auch nach deren Existenz“ (Spinoza Ethik I, 17 Anm.; auch Ethik II, 49 Zusatz).  Mendelssohn verteidigte Lessing gegen den Spinozismus-Vorwurf gar auf folgende Weise: „Wenn Lessing im Stande war, sich so schlechtweg, ohne alle nähere Bestimmung, zu dem System irgend eines Mannes zu verstehen, so war Lessing zu der Zeit nicht mehr bei sich selber, oder in einer sonderbaren Laune, etwas Paradoxes zu behaupten, das er in einer ernsthaften Stunde selbst wieder verwarf. In dieser Laune war Lessing im Stande, alles zu behaupten, was seine Gegner reizen konnte, bloß um den Streit lebhafter zu machen“ (Mendelssohn JUb A XIII, 123). Kant war die ‚Lessings Pantheismus‘ betreffende Kontroverse auch aus Mendelssohns „Morgenstunden“ vertraut; s. auch den Brief Mendelssohns an Kant (vom 16.10.1785: AA X, 413).  Die von Kant schon in der Refl. 6214 (AA 18, 499 f.) angeführte Stufung „Weltursache, Welturheber, Weltherrscher“ bzw. „Deismus, Theismus. Relig. Theismus Moralis“ gewinnt hier besondere Bedeutung; die beim späten Kant im Sinne des theismus moralis in den Vordergrund tretende Kennzeichnung Gottes als (moralischer) Weltherrscher impliziert auch die entschiedene Abgrenzung von den All-Einheits-Konzeptionen. Schon in Refl. 6123 (AA 18, 462) betonte Kant: „1. Gott als Weltursache: nexus effectivus, 2. als Welturheber: nexus finalis, 3. als Weltherrscher: nexus moralis. pantheismus bedeutet nicht: alles ist Gott, sondern: das All ist Gott.“ „Also wird auch das Dasein einer von der Natur unterschiedenen Ursache der gesamten Natur, welche den Grund dieses Zusammenhangs, nämlich der genauen Übereinstimmung der Glückseligkeit mit der Sittlichkeit enthalte, postuliert“ (KpV, AA 05: 125.4– 7).  Bei der Frage, „soll ich mir Gott als Inbegriff (complexus, aggregatum) aller Realitäten, oder als obersten Grund derselben, denken?“ und der daran geknüpften kritischen Zurückweisung von „Verstand und Willen“ als „anthropomorphistischen Begriffen“, die „alle Religion“ verderben und in „Idololatrie“ verwandeln (VT, AA 08: 400 Anm.), steht natürlich Spinoza im Hintergrund; Kants kritischer „symbolischer Anthropomorphismus“ ist nicht zuletzt von daher zu verstehen.  Auch bleibt mit Blick auf die kantische Kernfrage der Religion: „Was darf ich hoffen?“ anzumerken, dass Spinoza dafür kaum einen Platz hat, zumal „Furcht und Hoffnung“ bei ihm eher als destabilisierende Affekte erscheinen, sofern er „Hoffnung“ als die „unbeständige Lust“ und die „Furcht“ als die „unbeständige Unlust“ bestimmte, jeweils „entsprungen aus der Idee einer

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II Zur indirekten Auseinandersetzung zwischen Lessing und Kant

nozas Gott“ freilich ganz unverträglich ist.¹⁷ Jene vom späten Lessing bekundete Nähe zu Spinoza: „Es gibt keine andre Philosophie, als die Philosophie des Spinoza“¹⁸ hätte Kant also als unvereinbar mit der „Verstand und Freiheit“ voraussetzenden Idee eines göttlichen „Welturhebers“ (KrV, B 660)¹⁹ – mit einem „außerweltlichen Gott“²⁰ – angesehen. Die Vereinbarkeit der Idee eines „Schöpfergottes“ und der Wirklichkeit einer von ihm unabhängigen geschöpflichen Freiheit hat er freilich stets (nicht zuletzt auch in seinen Vorlesungen) als ein unser Erkenntnisvermögen überforderndes Problem, ja sogar als einen ‚Abgrund‘ für dasselbe anerkannt – ungeachtet dessen, dass dies für unser Selbstverständnis als „moralische Persönlichkeit“ in der „Welt, darin wir leben (mundus noumenon)“ (FM, AA 20: 307.25 – 26), gleichermaßen unverzichtbar bleibt.²¹

zukünftigen oder vergangenen Sache, über deren Ausgang wir in gewisser Hinsicht in Zweifel sind“ (so Spinoza in seinen „Definitionen der Affekte“ [12. u. 13.], Ethik, III. Buch, 405). Dies hat dann natürlich auch Konsequenzen für den ‚spinoza-affinen‘ späten Lessing und dessen Religions-Begriff.  „Spinozas Gott“ widersprechen freilich auch die Lessing‘schen Motive der „Ergebung in den göttlichen Willlen“ (s.u. III., 3.1.) und der göttlichen „Vorsehung“. Da beides offenbar eine Distanz zu Spinozas Versicherung verlangt: „Ob wir nun sagen, alles geschieht nach Naturgesetzen oder alles wird nach Gottes Ratschluss und Leitung geordnet, läuft auf ein und dasselbe hinaus“ (Spinoza 1979, 105), stellt sich nach Kant vermutlich auch in diesem Kontext erneut die Frage, ob Lessing wirklich wisse, „was er haben will“ (s.u. III., Anm. 3)?  Jacobi 2000, 23. Kant hat diese Einschätzung Lessings durch Jacobi (ebenso wie diejenige Mendelssohns) wohl gekannt und ihr mit dem Verweis auf den „Kritizismus“ entschieden widersprochen. Spinozistische ‚Tendenzen‘ begegnen auch in anderen Schriften (Fragmenten) Lessings.  Der „Theist“ „behauptet, die Vernunft sei im Stande, den Gegenstand nach der Analogie mit der Natur näher zu bestimmen, nämlich als ein Wesen, das durch Verstand und Freiheit den Urgrund aller anderen Dinge in sich enthalte“. Der „Deist“ hingegen „stellet sich also unter demselben bloß eine Weltursache (ob durch die Notwendigkeit seiner Natur, oder durch Freiheit, bleibt unentschieden), dieser [der „Theist“] einen Welturheber vor“ (KrV, B 659 f.). „Gott nicht bloß als erste Ursache, sondern auch als Urheber“ (Refl 6431: AA 18, 714).  Dies hätte Lessing wohl auch der von Kant als unverzichtbar behaupteten Idee eines „verständigen Wesens, als eines von der Welt wesentlich unterschiedenen Urgrundes aller Dinge“ (FM, AA 20: 305.7– 9) entgegen gehalten. Kant hat Gott oftmals als „causa libera“ charakterisiert (V-Phil-Th/Pölitz, AA 28.2.2.: 1092 ff.); Refl. 4597 (AA 17, 605); Refl. 6119 (AA 18, 461); Refl. 6229 (AA 18, 517); Refl. 6284 (AA 18, 550 f.). Schellings berühmtes Wort: „Freiheit ist unser Höchstes, unsere Gottheit, diese wollen wir als letzte Ursache aller Dinge“ (XIII, 256), folgt insofern Kant und wendet sich gleichermaßen gegen Lessing.  Deshalb betonte Kant die Unmöglichkeit, sich mit dem durch „ontologische Prädikate“ gedachten „deistischen Gott“ zu begnügen: „es sind nur Prädikate in abstracto, welche der Deist Gott beileget. Davon können wir uns aber unmöglich schon begnügen lassen; denn so würde uns ein solcher Gott nichts helfen; er wäre … aber ganz isoliert für sich … , und in keinem Verhältnisse mit uns“ stehend. „Zwar muss dieser Begriff von Gott den Anfang aller unserer Erkenntnis von

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Den „Spinozismus“ bezeichnete Kant bekanntlich als den „wahre(n) Schluss der dogmatisierenden Metaphysik“²², der der ‚Kritizismus‘ unversöhnlich gegenübersteht. Neben den wiederholten Spinoza-kritischen Passagen in allen drei ‚Kritiken‘ sei darauf hingewiesen, dass Kant auch in seinem Orientierungs-Aufsatz den von ihm als „Schwärmerei“ bezeichneten Spinozismus energisch zurückgewiesen hat²³: „Es ist kaum zu begreifen, wie gedachte Gelehrte in der Kritik der reinen Vernunft Vorschub zum Spinozism finden konnten. Die Kritik beschneidet dem Dogmatism gänzlich die Flügel in Ansehung der Erkenntnis übersinnlicher Gegenstände, und der Spinozism ist hierin so dogmatisch, dass er sogar mit dem Mathematiker in Ansehung der Strenge des Beweises wetteifert. Die Kritik beweiset: dass die Tafel der reinen Verstandesbegriffe alle Materialien des reinen Denkens enthalten müsse; der Spinozism spricht von Gedanken, die doch selbst denken, und also von einem Accidens, das doch zugleich für sich als Subjekt existiert: ein Begriff, der sich im menschlichen Verstande gar nicht findet und sich auch in ihn nicht bringen lässt. Die Kritik zeigt: es reiche noch lange nicht zur Behauptung der Möglichkeit eines selbst gedachten Wesens zu, dass in seinem Begriffe nichts Widersprechendes sei (wiewohl es alsdann nötigenfalls allerdings erlaubt bleibt, diese Möglichkeit anzunehmen); der Spinozism gibt aber vor, die Unmöglichkeit eines Wesens einzusehen, dessen Idee aus lauter reinen Verstandesbegriffen besteht, wovon man nur alle Bedingungen der Sinnlichkeit abgesondert hat, worin also niemals ein Widerspruch angetroffen werden kann, und vermag doch diese über alle Grenzen gehende Anmaßung durch gar nichts zu unterstützen. Eben um dieser Willen führt der Spinozism gerade zur Schwärmerei. Dagegen gibt es kein einziges sicheres Mittel alle Schwärmerei mit der Wurzel auszurotten[²⁴], als jene Grenzbestimmung des reinen Vernunftvermögens“ (WDO, AA 08: 143 Anm.).²⁵

Gott ausmachen, aber allein für sich genommen ist er unbrauchbar, und, ohne dass wir mehr von Gott erkennen könnten, ganz für uns entbehrlich. Soll uns dieser Begriff Nutzen schaffen; so müssen wir sehen, ob nicht jene ontologischen Prädikate auf Beispiele in concreto angewandt werden können. Und das tut der Theist, indem er sich Gott als die oberste Intelligenz denkt“ (VPhil-Th/Pölitz, AA 28.2.2.: 1020) – denn auch der „unbestimmte“ physikotheologische Gottesbegriff „hilft mir […] zu gar nichts“ (V-Phil-Th/Pölitz, AA 28.2.2.: 1071 f.). Deshalb musste Kant erst zeigen, wie „Gott der Gegenstand der Religion wird“ (KpV, AA 05: 131 Anm.) – und eben dies verlangt die „endzweck“-orientierte Konzeption einer „moralischen Teleologie“.  Refl. 6050: AA 18, 436.  „Die Ursache der Schwärmerei ist der Mangel der Kritik der Vernunft selbst“ (Refl. 6052: AA 18, 438).  Kant wäre mit seinem kritischen Programm deshalb vermutlich der Bemerkung Lessings eher verständnislos begegnet: „Weil der Philosoph nie die Absicht hat, selbst Schwarm zu machen, sich auch nicht leicht an einen Schwarm anhängt; dabei wohl einsieht, dass Schwärmereien nur

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II Zur indirekten Auseinandersetzung zwischen Lessing und Kant

Diesbezüglich muss sich sodann auch Kants – insbesondere gegen Pantheismus und Spinozas „leblosen Gott“ (KU, AA 05: 392 Anm.) gerichtete – Unterscheidung zwischen „Inbegriff“ und „Grund aller Realitäten“, die er für den in der Philosophie unumgänglichen „transzendentale(n) Begriff von Gott, als dem allerrealsten Wesen“ (VT, AA 08: 399 Anm.; vgl. KrV, B 606 f.), geltend gemacht hat, als besonders bedeutsam erweisen. Deshalb ist hier an diese – zunächst vor allem auch gegen ‚spinozistische Irrwege‘ gerichtete – kantische Unterscheidung zwischen „Grund“ und „Inbegriff aller Realitäten“²⁶ in dieser Bestimmung des „transzendentalen Begriffs von Gott“ anzuknüpfen, die sich schon im Kontext seiner Bestimmung des „transzendentalen Ideals“ (KrV, B 599 ff.) findet. Genauer besehen zeigt sich nämlich der bemerkenswerte Sachverhalt, dass in jener langen Anmerkung des späten Aufsatzes „Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie“ nicht nur „Grund“ und „Inbegriff aller Realitäten“ einfachhin unterschieden werden; vielmehr explizierte Kant in dieser Auseinandersetzung mit zeitgenössischen ‚neuplatonisierenden‘ Ansprüchen – offenbar über seine gegen Spinoza gerichteten Bedenken hinaus – das „ens realissimum“ als den „Grund aller Realitäten“ bemerkenswerterweise dahingehend, dass Gott nunmehr erst als dasjenige „Wesen“ bestimmt wird, das nicht einfachhin selbst

durch Schwärmerei Einhalt zu tun ist: so tut der Philosoph gegen die Schwärmerei – gar nichts“ (Göpfert-Ausg. Bd. 8, 554). Kants Kritik am ‚Spinozismus‘ wendet sich indirekt wohl auch gegen Lessing.  So nennt Kant interessanterweise den „Spinozism“ auch eine „metaphysische Sublimierung“ des „Pantheism (der Tibetaner und andrer östlichen Völker)“, „welche beide mit dem uralten Emanationssystem aller Menschenseelen aus der Gottheit (und ihrer endlichen Resorption in eben dieselbe) nahe verschwistert sind“: EaD, AA 08: 335, 31– 36. Auf Lessings ‚spinozistisch‘ verankerte Seelenwanderungs-Konzeption ist wohl auch seine daran geknüpfte kritische Bemerkung gemünzt: „Alles lediglich darum, damit die Menschen sich endlich doch einer ewigen Ruhe zu erfreuen haben möchten, welche denn ihr vermeintes seliges Ende aller Dinge ausmacht; eigentlich ein Begriff, mit dem ihnen zugleich der Verstand ausgeht und alles Denken selbst ein Ende hat.“ (EaD, AA 08: 335.36 – 336.2); vgl auch seine später angezeigte Kritik bzw. Widerlegung des „Skeptizism, Idealism, Spinozism“ (Refl. 6317, in: AA 18, 628 sowie Refl. 6404, in: AA 18, 706; Refl. 6050; AA 18, 435); die im „Spinozism“ leitende Vorstellung der „Inhärenz aller Dinge in einem Subjekt“ nannte Kant hier den „wahren Schluss der dogmatisierenden Metaphysik“ (ebd. 436). „Der Satz des Spinoza, dass das, dessen Idee keines andern bedarf, Substanz sei, ist mit dem einerlei, dass das realissimum allein Substanz sei, mithin allein das notwendige Wesen sei, indem alles andere ihm inhäriert“ (Refl. 6405, AA 18, 706).Vgl. auch die späte Abgrenzung von Spinoza (AA 22, 59) und von Lichtenbergs „Spinozism“ (AA 21, 98).  In Anlehnung an jene berühmte Bemerkung Jacobis über den „Spinozisten“ Lessing (s.o. II., Anm. 3) enthält jene späte kantische Begründung des Unterschiedes zwischen „Inbegriff und Grund aller Realitäten“ auch eine indirekte Antwort darauf, was Kant jedenfalls daran hinderte, „Spinozist zu werden“.

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„Grund aller Realitäten“ ist, sondern vielmehr „den Grund aller Realität“ enthält – denn: „so sage ich: Gott ist das Wesen, welches den Grund alles dessen in der Welt enthält [!], wozu wir Menschen einen Verstand anzunehmen nötig haben (z. B. alles Zweckmäßigen in derselben)“ (VT, AA 08: 400 Anm.).²⁷ Davon bleibt also, über die bloße – schon in der ‚ersten Kritik‘ benannte – Unterscheidung von „Grund“ und „Inbegriff aller Realitäten“ hinaus, nicht zuletzt für eine Differenzierung des ‚Transzendenz‘-Begriffs (und erst recht im Blick auf den späteren Fichte und Schelling), die bloße Bestimmung des „Grundes aller Realitäten“ noch einmal abzuheben. Dass Kant hier seine einschlägige Argumentation doch deutlich modifiziert, verrät auch ein (offenbar Baumgarten folgender früher) Passus aus der „Metaphysik Pölitz“: „Wir können per analogiam wohl einsehen, dass Gott einen Verstand und einen Willen hat, weil wir einen Verstand und einen Willen haben; wir können aber nicht einsehen, wie dieser Verstand und Wille beschaffen ist“;²⁸ daraus folgerte Kant: „Wir denken uns also den Willen Gottes per analogiam, indem wir per viam reductionis die Dependenz unsers Willens von allen Gegenständen wegschaffen.“ Dieser allzu ‚glatte‘ Lösungsvorschlag wollte dem späteren Kant offenbar nicht mehr genügen. Dabei mag vernachlässigt bleiben, ob und wie weit Kants Wahrnehmung bzw. Würdigung der religionsphilosophischen Motive Lessings womöglich auch durch die ihm bekannte Erklärung über dessen ‚Konversion‘ zum Spinozismus beeinflusst sind.²⁹ Wie es mit dessen spätem Bekenntnis: „Die orthodoxen Begriffe von der Gottheit sind nicht mehr für mich; ich kann sie nicht genießen. Hen kai pan! Ich weiß nichts anders“³⁰ und anderen ‚spinozistischen‘ Tendenzen bei Lessing  Vgl. dazu auch schon Kants Argumentation bezüglich der dem „höchsten Wesen“ beigelegten Attribute „Verstand“ und „Wille“ in den „Prolegomena“, die sich bezeichnenderweise im Kontext des „Beschlusses von der Grenzbestimmung der reinen Vernunft“ (§ 57 der „Prolegomena“) findet und sogleich auf das Problem der „Analogie“ bzw. des „symbolischen Anthropomorphismus“ führt (§ 58).  V-Met-L1/Pölitz, AA 28.1.: 334.  Kant war darüber von verschiedenen Seiten informiert (z. B. im Brief Biesters an Kant: AA 10, 453): „Ich muss bekennen, dass, nach dem was HE Iakobi in seiner letzten Schrift von Lessing angeführt hat, es mir höchst wahrscheinlich wird, dass dieser sich zum Atheismus hingeneigt habe.“ Vgl. Mendelssohns Brief an Kant: „Er [Jacobi] macht in derselben einen Briefwechsel zwischen ihm, einer dritten Person u. mir bekannt, in welchem er (Jacobi) darauf ausgeht, unsern Lessing zum erklärten Spinozisten zu machen. Jacobi will ihm den Spinozismus vordemonstriert haben; Lessing habe alles mit seinen Grundsätzen übereinstimmend gefunden, u. sich gefreut, nach langem Suchen endlich einen Bruder im Pantheismus anzutreffen, der über das System des All- ein- oder Einallerlei so schönes Licht zu verbreiten weiß“ (Oktober 1785, AA 10, 413).  Jacobi 2000, 22. Dies betrifft vor allem die Auffassung Gottes als „absolutes Individuum“. – Bekannt ist Jacobis Versicherung: „dass Lessing das Hen kai Pan, als den Inbegriff seiner Theologie und Philosophie, öfter und mit Nachdruck anführte, können mehrere bezeugen.“ (ebd.)

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II Zur indirekten Auseinandersetzung zwischen Lessing und Kant

auch stehen mag; Kant hätte auch in diesem Falle – wie gegen Spinoza so eben auch gegen Lessing – die notwendige Unterscheidung von „Grund“ und „Inbegriff aller Realitäten“ gefordert und damit einen „für die Religion tauglichen Gottesbegriff“ geltend gemacht, zumal „Spinozas Gott“ ihm zufolge jedenfalls keineswegs den Ansprüchen bzw. den kritischen Maßstäben des von Kant geltend gemachten, durch den „symbolischen Anthropomorphismus“³¹ gebrochenen „theismus moralis“ genügt. Kants Lehre vom „symbolischen Anthropomorphismus“ (in Abgrenzung vom „dogmatischen Anthropomorphismus“)³² ist zugleich wohl auch als eine Antwort auf Lessings ‚Anthropomorphismus‘-Vorwurf (in Bezug auf die ‚Personalität‘ Gottes) zu sehen, die zeigen soll, wie aus dem „höchsten Wesen das höchste Gut“ erst wird ³³, d. h.: ‚Es‘ ist ein „lebendiger Gott“ … Mit Blick auf eine in Lessings „Erziehungsschrift“ erkennbare religionsgeschichtliche Perspektive sowie auf die damit verbundenen Wahrheitsansprüche – und gleichermaßen dem Leibniz’schen Perspektivismus³⁴ in modifizierter Form

 „Hieraus können wir aber Gott nicht erkennen, wie er ist, sondern wie er sich als ein Grund zur Welt bezieht; und das nennt man Gott per analogiam erkennen“ (V-Met/Heinze, AA 28. 1.: 330). Dieser „symbolische Anthropomorphismus“ bleibt gleichwohl von der „perspektivisch“ orientierten Einschätzung (Lessings) noch zu unterscheiden: „Von Gott und seiner Wahrheit können wir uns nur perspektivisch begrenzte Bilder und Vorstellungen machen.“ (Fick, 42) Kants „symbolischer Anthropomorphismus“ ist wohl auch die Antwort, mit der er dem motivlichen Hinweis begegnete: „Die spinozistische allumfassende metaphysische ‚Substanz‘ … bedeutet für Lessing zunächst einmal eine Konzeption, welche die Unfassbarkeit Gottes darstellen und Anthropomorphismen vermeiden soll. Gott dürfe nicht nach Analogie des Menschen gedacht und mit Wille, Absichten, Verstand ausgestattet werden“ (Fick 532).  „Weil aber doch dieser Glaube, der das moralische Verhältnis der Menschen zum höchsten Wesen zum Behuf einer Religion überhaupt von schädlichen Anthropomorphismen gereinigt und der echten Sittlichkeit eines Volks Gottes angemessen hat, in einer (der christlichen) Glaubenslehre zuerst und in derselben allein der Welt öffentlich aufgestellt worden: so kann man die Bekanntmachung desselben wohl die Offenbarung desjenigen nennen, was für Menschen durch ihre eigene Schuld bis dahin Geheimnis war.“ (RGV, AA 06: 141.1– 8)  Refl. 6247, AA 18: 527. „Mit der Idee eines persönlichen schlechterdings unendlichen Wesens, in dem unveränderlichen Genusse seiner allerhöchsten Vollkommenheit, konnte sich Lessing nicht vertragen. Er verknüpfte mit derselben eine solche Vorstellung von unendlicher Langeweile, dass ihm angst und weh dabei wurde“ (Jacobi 2000, 40). Wie weit solche Unverträglichkeit mit dem von ihm vertretenen Vorsehungs- und dem Theodizee-Motiv verträglich ist, steht freilich auf einem anderen Blatt (s. dazu u. 261 ff.).  Dieser Leibniz‘sche „Perspektivismus“ im Denken Lessings wird in der Literatur immer wieder bemerkt und auch mit guten Gründen gegen die Spinozismus-Nähe Lessings zur Geltung gebracht. Leibniz wird als Basis von Lessings grundsätzlichen Ideen immer wieder erwähnt (so auch in Allison1966,VIII). „Lessings Bewunderung für Leibniz, besonders in seinen späteren Schriften, ist gut belegt.“ (Nisbet 2013b, 101) Zum Verhältnis Leibniz-Lessing s. auch Nisbet (2008), Zimmermann (1855) und Meyer (1967).

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Rechnung tragend – hätte Kant möglicherweise dies zu bedenken gegeben – wohl auch in korrigierender Absicht gegenüber der Ringparabel (s.u. III., 2.): Gott kommt erst in jenem „symbolischen Anthropomorphismus“, d.i. in der praktischmoralischen „Beziehung der Vernunft auf die Idee von Gott“ (MS, AA 06: 487. 10 – 11),³⁵ zur Darstellung, und gewinnt erst in diesem Verhältnis seine bestimmten „Eigenschaften“, weshalb auch „alle unsere Erkenntnis von Gott bloß symbolisch“ (KU, AA 05: 353.7) ist.³⁶ Folglich gilt für die geschichtlichen Religionen gerade nicht, dass Gott darin ‚alles in allem ist‘, zumal er eben nicht ‚alles in allen Religionen‘ ist. Denn damit verbunden ist die Reflexion darauf, dass diese Religionen als „historische Glaubensarten“ doch das jeweils geschichtlich konkrete – und praktisch verankerte – Verhältnis der menschlichen Vernunft zur „Idee Gottes“ sind und dergestalt jeweils auch nur verschiedene Momente in diesem Verhältnis akzentuieren bzw. explizieren. Und erst aus diesem ‚Verhältnis‘ resultieren jene konkreten „beigelegten (moralischen) Eigenschaften“,³⁷ weil doch, wie Kant ausdrücklich betont, erst dadurch „Gott der Gegenstand der Religion wird [!]“ (KpV, AA 05: 131 Anm.).³⁸ Die in der geschichtlich situierten und kulturell formierten Existenz des Menschen verankerten und dementsprechend mannig-

 Dies bezieht sich auf das „Formale aller Religion“, das „zur philosophischen Moral“ gehöre: „Das Formale aller Religion, wenn man sie so erklärt, sie sei ‚der Inbegriff aller Pflichten als (instar) göttlicher Gebote‘, gehört zur philosophischen Moral, indem dadurch nur die Beziehung der Vernunft auf die Idee von Gott, welche sie sich selber macht, ausgedrückt wird“ (MS, AA 06: 487.8 – 11).  Auch Kant wusste also offenbar darum: „Wenn man eine bloße Vorstellungsart schon Erkenntnis nennen darf (welches, wenn sie ein Prinzip nicht der theoretischen Bestimmung des Gegenstandes ist, was er an sich sei, sondern der praktischen, was die Idee von ihm für uns und den zweckmäßigen Gebrauch derselben werden soll, wohl erlaubt ist): so ist alle unsere Erkenntnis von Gott bloß symbolisch; und der, welcher sie mit den Eigenschaften Verstand, Wille, usw., die allein an Weltwesen ihre objektive Realität beweisen, für schematisch nimmt, gerät in den Anthropomorphism, so wie, wenn er alles Intuitive weglässt, in den Deism, wodurch überall nichts, auch nicht in praktischer Absicht, erkannt wird.“ (KU, AA 05: 353.2– 12)  Demzufolge dürfen wir „nicht über göttliche Eigenschaften grübeln, sondern müssen ihn nur in Relation auf unser moralisch[es] Gesetz bestimmen. Alle theoretische Erkenntnis ist überschwenglich“ (VAKpV, AA 23: 71.10 – 12), was freilich die „theologische Idee“ schon voraussetzt. Indes: „bloß der Moralbegriff bestimmt den Begriff von Gott ganz.“ (V-Th/Baumbach, AA 28.2.2.: 1235)  Eine partielle Übereinstimmung mit Lessing wird auch darin erkennbar: „Seine Natur ist uns ganz unerforschlich. Wir können nur unsern praktischen Begriffen der Vernunft gemäß eine Idee von ihm als einem relativ und an sich selbst höchsten Wesen machen“ (VASF, AA 23: 438.4– 7). „Es liegt uns nicht sowohl daran, zu wissen, was Gott an sich selbst (seine Natur) sei, sondern was er für uns als moralische Wesen sei“ (RGV, AA 06: 139.14– 16); dies hätte Kant vermutlich auch Lessings Trinitäts-Spekulationen entgegengehalten.

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II Zur indirekten Auseinandersetzung zwischen Lessing und Kant

fach akzentuierten perspektivischen Hinsichten können indes den PrinzipienCharakter solcher Hinsichten nicht relativieren bzw. nivellieren. Dies ist freilich in dem genauen Sinne zu verstehen: Gott wird „Gegenstand der Religion“ jedoch allein durch das Verhältnis des Menschen als eines „vernünftigen, aber endlichen Wesens“ zur „Idee von Gott“, die eben erst daraus – weil der Mensch „nach moralischen Begriffen … sich einen solchen [Begriff von Gott] selbst machen müsse“ (RGV, AA 06: 168, Anm.) – ihre Bestimmtheit erhält und dies ‚dergestalt‘ allein den „moralischen Monotheismus“ (im Sinne der kantischen „Moraltheologie“) konstituiert. Deshalb bleiben die darin bestimmenden „symbolischen Darstellungen“ eines „symbolischen Anthropomorphismus“ – mit ihm wollte Kant nicht zuletzt wohl auch dem AnthropomorphismusVorwurf Spinozas entgehen – von einem unkritisch-reflexionslosen „dogmatischen Anthropomorphismus“ unterschieden, der die jeweils unumgängliche – und unterschiedlich akzentuierte – Perspektivik dieses Verhältnisses und die damit einhergehenden notwendigen Selbstrelativierungen vergisst bzw. ausblendet³⁹ – Aspekte, die auch Lessing durch das von ihm behauptete „gleich wahr und falsch“⁴⁰ der ‚positiven Religionen‘ (s. dazu u. III., 1.1.) wohl eher verdeckt und dies auch seinem Aufklärungsanspruch⁴¹ zuwider läuft, der sich, wie bei  Sehr deutlich ist dieses Anliegen in Reflexion 6214 benannt: „Der theistische Begriff ist ein bloß relativer oder regulativer, nicht absoluter und konstitutiver Anthropomorphism“ (AA 18, 503). Und allein an diesem ‚moralisch‘-theistischen Begriff von Gott ist uns als moralischen Vernunftwesen nach Kant auch gelegen, d. h. dass uns der Begriff von einem „höchste(n) Wesen, das durch Verstand und Freiheit der Urheber der Dinge sein soll, … allein uns interessiert“, während „man, nach der Strenge, dem Deisten allen Glauben an Gott absprechen, und ihm lediglich die Behauptung eines Urwesens, oder obersten Ursache, übrig lassen“ könne (KrV, B 660 f.).  XIV, 313.  Gegen seinen Bruder Karl sah Lessing sich (in seinem Brief v. 2. 2.1774) zu der (offenbar gegen die „Neologie“ gerichteten) Klarstellung veranlasst: „Ich sollte es der Welt missgönnen, dass man sie mehr aufzuklären suche? Ich sollte es nicht von Herzen wünschen, dass ein jeder über die Religion vernünftig denken möge? Ich würde mich verabscheuen, wenn ich selbst bei meinen Sudeleien einen andern Zweck hätte, als jene große Absichten befördern zu helfen. Lass mir aber doch nur meine eigne Art, wie ich dieses tun zu können glaube. Und was ist simpler als diese Art? Nicht das unreine Wasser, welches längst nicht mehr zu brauchen, will ich beibehalten wissen: ich will es nur nicht eher weggegossen wissen, als bis man weiß, woher reineres zu nehmen; ich will nur nicht, dass man es ohne Bedenken weggieße, und sollte man auch das Kind hernach in Mistjauche baden. Und was ist sie anders, unsere neumodische Theologie, gegen die Orthodoxie, als Mistjauche gegen unreines Wasser? […] Flickwerk von Stümpern und Halbphilosophen ist das Religionssystem, welches man jetzt an die Stelle des alten setzen will“ (XVIII, 101). – Weithin einig waren sich Lessing und Kant zweifellos in ihrer scharfen Ablehnung zeitgenössischer Ansprüche der „Neologie“ (dies betont auch Vorländer wohl zu Recht: Vorländer II, 180), die den Unterschied zwischen Theologie und Philosophie nivelliert (obwohl Kant in mancherlei Bezügen dem „Neo-

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Kant,⁴² im ‚Hauptpunkt‘ auf die „Religionssachen“ (WA, AA 08: 41.11) konzentriert.⁴³ Diese Bedenken gelten somit auch für Lessings: „Hen kai pan! Ich weiß nichts anders“ (s.o. II., Anm. 30). Indirekt zeigt sich dies auch darin: Wenn in jenem berühmten Gespräch zwischen Jacobi und Lessing (in Jacobis „Spinoza-Briefen“) über den „Geist des Spinozismus“ Jacobis Bekenntnis: „Ich glaube eine verständige persönliche Ursache der Welt“⁴⁴ das offensichtlich ein wenig spöttische Erstaunen Lessings provozierte: „O, desto besser! Da muss ich etwas ganz neues zu

logen“ J. S. Semler durchaus nahe stand, s. Winter 1992, 28 ff, obgleich auch Unterschiede in der Schriftauslegung nicht zu übersehen sind.). Auch in der Schrift „Von Duldung der Deisten“ (aus dem Jahr 1774) polemisierte Lessing gegen den zeitgenössischen „neologischen“ Anspruch eines vorgeblich „vernünftigen Christentums“, das sich gegen die „Verteidiger einer bloß natürlichen Religion“ ausspricht, dessen „vernünftiges Christentum … allerdings noch weit mehr, als natürliche Religion“ sei, und von Lessing dahingehend kommentiert wird: „Schade nur, dass man so eigentlich nicht weiß, weder wo ihm [dem „vernünftigen Christentum“] die Vernunft, noch wo ihm das Christentum sitzt“ (XII, 271). Wohl eine indirekte Antwort darauf ist Lessings These: „Die Kanzeln, anstatt von der Gefangennehmung der Vernunft unter den Gehorsam des Glaubens zu ertönen, ertönen nun von nichts, als von dem innigen Bande zwischen Vernunft und Glauben. Glaube ist durch Wunder und Zeichen bekräftigte Vernunft und Vernunft räsonierender Glaube geworden. Die ganze geoffenbarte Religion ist nichts, als eine erneuerte Sanktion der Religion der Vernunft. Geheimnisse gibt es entweder darin gar nicht; oder wenn es welche gibt, so ist es doch gleichviel, ob der Christ diesen oder jenen oder gar keinen Begriff damit verbindet“ (XII, 431). Erst auf dem noch späteren Weg zur „Erziehung des Menschengeschlechts“ ist er davon abgerückt. Indes, Jaspers‘ plausiblem Bedenken zufolge stellt die „für viele Zeitgenossen befremdende Haltung Lessings gegenüber den beiden gewichtigsten theologischen Strömungen seiner Zeit … ein Interpretationsproblem [dar]. Einerseits verteidigt Lessing die Orthodoxie – ohne dass er sich mit ihr identifizieren könnte; andererseits greift er die neologische Theologie an, die doch, wie er, die Vernunft als Maßstab der Offenbarung zur Geltung bringen möchte“ (Jaspers 1981, 742) und schreibt diese „höchst unvernünftigen Philosophen“ zu. Lessings Verhältnis zur „Neologie“ ist offenbar komplex – und widersprüchlich?  Über „Kant und die Zukunft der Aufklärung“ s. auch den gleichnamigen Band von H. Klemme 2009.  Nur nebenbei: Es ist übrigens sehr interessant, dass Kants Erklärung im „Aufklärungs-Aufsatz“ über den „Wahlspruch der Aufklärung: „sapere aude! habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ (WA, AA 08: 35.6 – 7) später durch das „Gebot der Vernunft“ abgelöst wurde: „sapere aude, sei weise“ (AA 21: 134) und dieses „sapere aude“ demnach bezeichnenderweise besagt: „Versuche, dich Deiner eigenen Vernunft zu Deinen wahren absoluten Zwecken zu bedienen.“ (AA 21: 117). Darin wird offenbar dem Sachverhalt Rechnung getragen, dass diese „Weisheit“ Kant zufolge in der gebotenen Besinnung auf die „wesentlichen“ und „höchsten Zwecke“ besteht, die eben ohne Bezug zur Religion nicht zu bestimmen sind.  Jacobi 2000, 26.

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II Zur indirekten Auseinandersetzung zwischen Lessing und Kant

hören bekommen“,⁴⁵ so weckt dies natürlich auch eine Assoziation zu jener Kritik Kants an Herders „Synkretismus“, die er in seinem Brief an Jacobi in auffällig scharfer Weise angesprochen hat: „Den Sync[r]etism des Spinozismus mit dem Deism in Herders Gott haben Sie aufs gründlichste widerlegt. Überhaupt liegt aller Syncretisterey gemeiniglich Mangel an Aufrichtigkeit zum Grunde“.⁴⁶ Einen ähnlichen – obgleich in der Tonlage vermutlich moderateren – Einwand hätte Kant möglicherweise – mit einem Seitenblick auf Spinoza – auch an die Adresse Lessings gerichtet. Besonders irritierend musste für Kant wohl das in Lessings Gespräch mit Jacobi über den „Geist des Spinozismus“ geäußerte Bekenntnis einer ‚Spinoza-Nähe‘ gewesen sein (zumal dies ja auch mit seinen religionstheoretischen Auffassungen unvereinbar sei): Auch deshalb, weil Lessing andernorts – jedoch unverträglich mit seiner Spinoza-Sympathie – „mindestens die grundlegenden Überzeugungen der natürlichen Religion“ akzeptierte,⁴⁷ ergeben sich unvermeidliche weitere Fragen.

2 Ein vermutlich grundlegender Einwand Kants gegen die bei Lessing maßgebliche Konzeption einer „natürlichen Religion“ Schon mit seiner frühen These: „Einen Gott erkennen, und sich die würdigsten Begriffe von ihm zu machen suchen, auf diese würdigsten Begriffe bei allen unsern Handlungen und Gedanken Rücksicht nehmen: ist der vollständigste Inbe-

 „Neues zu hören“ hätte Lessing nicht zuletzt durch Kants entschiedene Spinoza-Kritik bekommen. Der Folgerung Lessings, dass die Abkehr von Spinoza den Verzicht auf Philosophie überhaupt zur Folge hätte, hat Kant entschieden widersprochen.  So Kant in einem Brief an Jacobi v. 30.8.1789: AA 11, 75. Kant wandte sich gegen „falsche Friedensstifter, die durch die Zusammenschmelzung verschiedener Glaubensarten allen genug zu tun meinen (Synkretisten), die dann noch schlimmer sind als Sektierer, weil Gleichgültigkeit in Ansehung der Religion überhaupt zum Grunde liegt“ (SF, AA 07: 51.25 – 28). Dieser Vorwurf wendet sich möglicherweise auch gegen Lessings ’Ringparabel’ (s.u. III. 2.). Möglicherweise richtete sich Kants Lob für Jacobi indirekt auch gegen Mendelssohn, sofern dieser in den „Morgenstunden“ „das Bild eines ‚geläuterten Spinozismus‘“ entwirft, „dessen Verteidiger Lessing allenfalls gewesen sein könne, eines Spinozismus, der in Einklang steht mit dem, was für Mendelssohn unverbrüchliche Vernunftwahrheit ist: der Vorstellung von Gott als dem Architekten des Weltgebäudes“ (Fick 533).  Nisbet 2008, 739. Freilich gilt: „Das Bild vom Schöpfer-Gott gibt er [Lessing] nie auf – ein zutiefst ‚unspinozistisches‘ Bild“ (Fick 529), das auch noch im Theodizee-Kontext in Lessings „Nathan“ unübersehbar ist (s. dazu u. 261 ff.).

2 Ein vermutlich grundlegender Einwand Kants

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griff aller natürlichen Religion. […][⁴⁸] Zu dieser natürlichen Religion ist ein jeder Mensch nach dem Maß seiner Kräfte, aufgelegt und verbunden“,⁴⁹ steht Lessing wohl in einem fundamentalen Widerspruch zu Kant. Für dessen Konzeption einer „natürlichen Religion“ kann der Anspruch, „einen Gott [zu] erkennen“⁵⁰ im strengen Sinne – d. h. ohne ‚Überschwang‘ – ohnedies gar nicht erhoben werden;⁵¹ auch ein solcher beanspruchter Rekurs auf eine „natürliche Religion“ läuft ihm zufolge auf eine lediglich subtilere ‚Vermessenheit‘ hinaus,⁵² der Kant sein  Schon in seinem frühen Stück „Der Freigeist“ (II, 99 f.) heißt es: „Was kann unsre Seele mit erhabenern Begriffen füllen, als die Religion. Und worin kann die Schönheit der Seele anders bestehen, als in solchen Begriffen? In würdigen Begriffen von Gott, von uns, von unsern Pflichten, von unserer Bestimmung?“  So heißt es in dem kurzen (und frühen: für 1763 datierten) Text „Über die Entstehung der geoffenbarten Religion“ (XIV, 312 ff.). Es ist nicht zu übersehen, dass Lessing in seiner ca. 15 Jahr später verfassten Erziehungsschrift (§ 77: XIII, 432) nun allerdings in ähnlicher Weise die „christliche Religion“ charakterisierte – denn das Christentum vermittle „nähere und bessere Begriffe vom göttlichen Wesen, von unserer Natur, von unseren Verhältnissen zu Gott […] auf welche die menschliche Vernunft von selbst nimmermehr gekommen wäre“; auch diese sehr unterschiedlichen – und widersprüchlichen – Äußerungen hätten wohl auch Kant in der Auffassung bestärkt, dass Lessing Gesamtauffassung unklar bleibe. Zu den bei Lessing unübersehbaren immanenten Widersprüchen s. auch Nisbet 2008, 750 ff. – Sowohl gegen den in dieser Schrift „Über die Entstehung der geoffenbarten Religion“ geäußerten Anspruch, „Gott [zu] erkennen“ als auch gegen die in der späteren Erziehungsschrift anklingende Aufhebung des „Christentums“ als „natürlicher Religion“ (nicht als „historischer Glaubensart“!) hätte Kant Einspruch erhoben und auch demgegenüber den „theismus moralis“ als Maßstab geltend gemacht. Der spätere Lessing hat sich freilich auch über die zeitgenössische Philosophie sehr kritisch geäußert (s. Nisbet 2008, 830 f.).  Dies richtet sich auch gegen Mendelssohns Absicht, die „Maxime der Notwendigkeit, im spekulativen Gebrauche der Vernunft … durch ein gewisses Leitungsmittel, welches er bald den Gemeinsinn (Morgenstunden), bald die gesunde Vernunft, bald den schlichten Menschenverstand … zu orientieren“ (WDO, AA 08: 133.22– 28).  Sehr wohl sei es jedoch möglich und auch geboten, Gott fehlerfrei „zu denken“; zwischen „Denken“ und „Erkennen“ besteht nach Kant bekanntlich ein entscheidender Unterschied. Freilich sprach auch der spätere Kant von einer „Erkenntnis Gottes nach der Analogie“, die in dem „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ als der Vollendungsgestalt der Metaphysik maßgebend wird. Auch die von Kant so energisch vertretene bzw. verteidigte Auffassung, dass die Gottesidee notwendigerweise „aus unserer Vernunft hervorgehen muss, von uns selbst gemacht sein müsse“ (VT, AA 08: 401 Anm. u. ö.) und auch nur so als kritisches – negatives – Richtmaß für die historischen Religionen fungieren könne, darf mit solchen ‚Erkenntnisansprüchen‘ nicht gleichgesetzt werden.  Auch darin spiegelt sich die philosophische Abhängigkeit von der rationalistischen Metaphysik von Leibniz und Wolff wider, die in ihrem „Dogmatismus“ von kritischem Geist noch ‚unangekränkelt‘ ist. Infolgedessen hätte Kant auch jene vom früheren Lessing beanspruchte Bestimmung der Ausgangslage bzw. der Aufgabe der „Gotteserkenntnis“ (s.o. II., Anm. 49) nicht anerkannt. – Wie weit indes Leibniz von Spinoza entfernt war (und keineswegs als „heimlicher

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II Zur indirekten Auseinandersetzung zwischen Lessing und Kant

unbeirrbares „Niemals wird’s Wissen“ entgegen hielt. Damit hätte Kant auch die Forderung konfrontiert, „Gott zu erkennen und tugendhaft zu sein“ – ebenso die in Lessings Schrift „Das Christentum der Vernunft“ vertretenen Auffassungen. Diese vom früheren Lessing – offenbar noch in Anknüpfung an Leibniz – beanspruchte Bestimmung der Ausgangslage bzw. der Aufgabe der „natürlichen Religion“ hätte Kant von seinen kritizistischen Maßstäben her nicht anerkannt⁵³ – so wenig für ihn, was für Lessing offenbar selbstverständlich war, noch „Metaphysik … die Grundveste der Religion sein kann“ (KrV, B 877). Jene Forderung, „einen Gott zu erkennen …“,⁵⁴ hätte Kant wohl lediglich als eine Bestätigung dafür an-

Spinozist“ betrachtet werden kann) zeigt auch deutlich ein Passus aus seiner „Metaphysischen Abhandlung“: „Somit muss die Weisheit Gottes, die man in der besonderen mechanischen Struktur bestimmter Körper stets anerkannt hat, sich doch wohl auch in der allgemeinen Verwaltung der Welt und in der Verfassung der Naturgesetze offenbaren. In der Tat kann man eben in den allgemeinen Bewegungsgesetzen die Ratschlüsse dieser Weisheit deutlich erkennen. Denn wären die Körper nichts anderes als bloße Ausdehnung und die Bewegung nichts andres als ein Stellenwechsel, könnte und müsste somit alles mit geometrischer Notwendigkeit einzig und allein aus diesen Definitionen abgeleitet werden: dann würde hieraus, wie ich an andrer Stelle gezeigt habe, folgen, dass der winzigste Körper, der auf einen größeren, in Ruhe befindlichen Körper trifft, diesem seine Geschwindigkeit mitteilte, ohne auch nur das Geringste von seiner eignen zu verlieren, und man müßte eine ganze Reihe von andern derartigen Regeln zugeben, die mit der Entstehung einer systematischen Ordnung des Alls durchaus nicht in Einklang zu bringen sind. Die Verfügung der göttlichen Weisheit indessen, dergemäß sich stets dieselbe Kraft und Richtung im Ganzen erhält, hat hierfür Sorge getragen. Ich finde sogar, dass manche Naturwirkungen auf doppelte Weise bewiesen werden können, nämlich erstens durch die Erwägung der wirkenden Ursache, sodann aber auch durch die Erwägung der Zweckursache, wobei man sich z. B. darauf beruft, dass Gott beschlossen hat, jede von ihm beabsichtigte Wirkung auf dem einfachsten und bestimmtesten Wege hervorzurufen“ (Leibniz, Abschnitt Nr. 21 der „Metaphysischen Abhandlung“).  Im Todesjahr Lessings (1781) erschien die auch für seine theologischen und theologie-kritischen Bemühungen zentrale „Kritik der reinen Vernunft“. Lessing konnte deshalb die grundstürzenden Ergebnisse der kantischen „Kritik“ nicht mehr zur Kenntnis nehmen, die auch seine ‚metaphysisch‘-religionsphilosophischen Auffassungen betreffen. Dass Lessing aus der philosophischen Bindung an Leibniz zuletzt jedoch in ‚spinozistisches‘ Fahrwasser geriet, mag auch Kants Ratlosigkeit in seinem Urteil über ihn unterstützt haben.  Diesem Anspruch Lessings, „Gott zu erkennen“, hätte Kant wohl auch sein gegen Mendelssohn geäußertes Bedenken entgegen gehalten: „Es ist also nicht Erkenntnis, sondern gefühltes Bedürfnis der Vernunft, wodurch sich Mendelssohn (ohne sein Wissen) im spekulativen Denken orientierte. Und, da dieses Leitungsmittel nicht ein objektives Prinzip der Vernunft, ein Grundsatz der Einsichten, sondern ein bloß subjektives (d. i. eine Maxime) des ihr durch ihre Schranken allein erlaubten Gebrauchs, ein Folgesatz des Bedürfnisses, ist und für sich allein den ganzen Bestimmungsgrund unsers Urteils über das Dasein des höchsten Wesens ausmacht, von dem es nur ein zufälliger Gebrauch ist, sich in den spekulativen Versuchen über denselben Gegenstand zu orientieren: so fehlte er hierin allerdings, dass er dieser Spekulation dennoch so viel Vermögen

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gesehen, dass der ‚vor-kritische‘, noch im Fahrwasser einer „dogmatischen Metaphysik“ befindliche Lessing⁵⁵ eben nichts davon wissen konnte, dass allein die Wissenschaft als „Kritik“ die „enge Pforte“ zur Weisheit sein könne – wohl schon deshalb musste er auch der Lessing’schen Version einer „religio duplex“⁵⁶ die Gefolgschaft verweigern. Auch die von Lessing zwar durchaus betonte Begrenztheit menschlicher Erkenntnis reicht natürlich nicht an die radikale ‚Kritik‘ im Sinne Kants heran. Jene von Lessing noch jedem Menschen zugemutete – und auch vom frühen Kant offenbar vertretene – „natürliche Religion“ impliziert genauer besehen eben einen Anspruch, den der kritische Kant so jedenfalls nicht mehr aufrechterhalten wollte. Denn diese stillschweigend vorausgesetzte Basis der „natürlichen Religion“ und die hierfür geltend gemachte Gotteserkenntnis („nach dem Maß seiner Kräfte“) erschien Kant vielmehr als eine unausgewiesene Unterstellung bzw. als ein überzogener – (im Sinne Kants) ‚überschwänglicher‘ – Anspruch, der geradewegs (wohl ganz ähnlich wie bei Lessings Freund Mendelssohn) darauf hinauslaufe, „das Längenmaß seiner Kräfte“ zu verkennen (KU, AA 05: 383 Anm.), d. h. eine auch von Lessing noch undurchschaute ‚Vermessenheit‘ bedeute. Diese hier (auch) von Lessing als Basis in Anspruch genommene „natürliche Religion“ ist also keinesfalls mit der auf dem „Tempel in uns“ errichteten „natürlichen Religion“ Kants und deren Begründung gleichzusetzen, setzt sie doch den erbrachten Erweis des „Daseins Gottes“ offenbar immer schon voraus.⁵⁷ Jener von

zutraute, für sich allein auf dem Wege der Demonstration alles auszurichten.“ (WDO, AA 08: 139.33 – 140.9) Mendelssohns berühmtes (und in gewisser Weise auch problematisches, weil einseitiges) Urteil über den „Alleszermalmer“ Kant konnte Lessing, der Freund Mendelssohns, eben noch nicht kennen.  Die als Unterstützung Lessings gedachten Mendelssohnschen „Morgenstunden oder Vorlesungen über das Dasein Gottes“, die jedoch ein „Bedürfnis unserer Vernunft“ fälschlich „für Einsicht“ nehmen (WDO, AA 08: 138 Anm.), galten Kant als das „letzte Vermächtnis einer dogmatisierenden Metaphysik“ und zugleich als „das vollkommenste Produkt derselben“ (AA 10, 428 f.).  S. auch Assmann 2010, 165 ff, bes. 171 f.  Lessing hat wiederholt (schon sehr früh) besonders den „physikotheologischen Gottesbeweis“ betont und gewürdigt, sofern die „Schönheiten und Wunder der Natur … die sichersten Beweise von ihrem großen Schöpfer sind“ (Über die Herrnhuter [aus dem Jahr 1750]: XIV, 161). Und natürlich stützte er sich bezüglich der Gotteserkenntnis auch auf die zentrale „kosmologische“ Argumentation in Leibnizens „Monadologie“ (§§ 38 f.): „38. Somit muss der letzte Grund der Dinge in einer notwendigen Substanz liegen, in welcher das Mannigfaltige der Veränderungen lediglich ‚eminenter‘, gleichwie in der Quelle enthalten ist. Diese Substanz nennen wir Gott.“ „39. Da nun diese Substanz ein zureichender Grund des ganzen Mannigfaltigen ist, und dieses allenthalben in Verbindung und Zusammenhang steht, so gibt es nur einen Gott, und dieser Gott ist zureichend.“

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II Zur indirekten Auseinandersetzung zwischen Lessing und Kant

Kant geltend gemachte Aspekt des „moralisch bestimmten Monotheismus“, der den von der Vernunft ausgebildeten „transzendentalen Begriff von Gott, als dem allerrealsten Wesen“) als den „obersten Grund aller Realitäten“ voraussetzt (VT, AA 08: 399 Anm.),⁵⁸ ist mit Lessings „natürlicher Religion“ offenbar unvereinbar. Nur nebenbei: Kants berühmtes „Ich musste das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen“, enthält auch eine indirekte Spitze gegen Mendelssohns Bestimmung des Unterschieds zwischen „Glauben und Wissen“ und somit auch gegen dessen Gegenüberstellung der „zur vernünftigen Erkenntnis“ empfohlenen „ewigen Wahrheit“ und der „auf Glauben angenommenen“ „Geschichtswahrheiten“. Den von Kant an die Ansprüche einer „allgemeinen Menschenreligion“ (RGV, AA 06: 155. 25 – 26) angelegten kritischen Maßstäben vermag weder ein „vorgeblicher geheimer Wahrheitssinn, keine überschwengliche Anschauung unter dem Namen des Glaubens“ (WDO, AA 08: 134.12– 13) noch Mendelssohns diesbezüglicher Rekurs auf „den Gemeinsinn (Morgenstunden), bald die gesunde Vernunft, bald den schlichten Menschenverstand“ (WDO, AA 08: 133.26 – 27), zu genügen. Mit seinem Rekurs auf ein „Postulat der Vernunft“, das darauf abzielt bzw. sich damit begnügt, „das Dasein eines höchsten Wesens nur vorauszusetzen, nicht zu demonstrieren“ (WDO, AA 08: 141.22– 23), beantwortete Kant im Grunde – seine Postulatenlehre vorbereitend – in seiner Schrift „Was heißt, sich im Denken orientieren“ (aus dem Jahr 1786) auch die von Mendelssohn in einem Schreiben „An die Freunde Lessings“ (aus diesem Jahr 1786) geäußerten „Zweifel, ob es nicht etwas gibt, das nicht nur alle Begriffe übersteigt, sondern völlig außer dem Begriffe liegt; dieses nenne ich einen Sprung über sich selbst hinaus“.⁵⁹ Vornehmlich dagegen richtet sich offenbar Kants Auskunft: „Der Begriff von Gott und selbst die Überzeugung von seinem Dasein kann nur allein in der Vernunft angetroffen werden, von ihr allein ausgehen“ (WDO, AA 08: 142.9 – 11) – allerdings eben nicht im Sinne der in Mendelssohns „Morgenstunden“ unternommenen „Vernunftbeweise vom Dasein Gottes“, zumal „demonstrative Erkenntnis“ angesichts der „Ideen des Übersinnlichen“ dem Menschen verwehrt bleiben muss und die „gesunde Vernunft“ als „Wegweiser und Kompass“ doch nur in Gestalt des „moralischen Vernunftgesetzes“ und des darauf gegründeten „reinen Religionsglaubens“ in Frage kommt. An Mendelssohns „natürliche Offenbarung“ erinnert es wohl auch, wenn in Kants „Vorlesungen zur Religionslehre“ davon die Rede ist, dass wir schon durch  Dass „Gott kein Wahn“ ist (Refl. 6220, AA 18, 510), ist nach Kant an den vorausgesetzten Aufweis dieses „Substrats der Theologie“ gebunden, weil andernfalls „alle Religion unmöglich wäre“, sofern ihr der ‚terminus ad quem‘ verloren ginge. Deshalb bestimmte Kant die Theologie auch als die unverzichtbare Grundlage der Religion: KU, AA 05: 482. 3 – 24.  Mendelssohn, JubA 3.2. 203.

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die „Idee von Gott … eine innere Offenbarung, welche durch die Vernunft selbst geschieht, haben“: denn „Offenbarung kann uns keinen neuen Begriff von Gott geben, als den wir schon aus der [praktischen] Vernunft haben“,⁶⁰ und auch nur dieser kommt als – unentbehrlicher – Prüfstein für eine „äußere Offenbarung“ infrage, weil „Vernunftreligion“ als „Substrat und Fundament“ aller „äußeren Offenbarung“ fungiert. Freilich sah Kant eben dadurch die „christliche Religion“ ausgezeichnet, bezieht sich ihm zufolge darauf doch auch „die einzige evangelisch-biblische Methode der Belehrung des Volks in der wahren, inneren und allgemeinen Religion, die von dem partikulären Kirchenglauben als Geschichtsglauben unterschieden ist“ (SF, AA 07: 67.7– 9). Dem entspricht auch allein der „evangelisch-messianische Glaube“ (SF, AA 07: 63.19). Hinzu kommt dies: Jene vom frühen Lessing für die „natürliche Religion“ als grundlegend angesehene Forderung, „Gott zu erkennen …“ steht – so hätte wohl auch Kant zu bedenken gegeben – wenigstens in einer unübersehbaren Spannung zu der von ihm später offenbar durchaus eingeräumten Möglichkeit einer alle Religionen beherrschenden ‚Täuschung‘. Ihr kann Kant zufolge wohl allein dadurch in zureichender Weise begegnet werden, wenn „Gott“ als eine „von uns selbst gemachte Idee“ ausgewiesen, d. h. aber: nur so „communicabel“⁶¹ gemacht und über die verbindlichen Ansprüche der „praktischen Vernunft“ noch näher bestimmt werden kann. Dieser geforderten „Mitteilbarkeit“ der von uns „gemachten“ „Gottesidee“ entspricht recht genau die Forderung der notwendigen Fähigkeit der Religion zur „äußern Mitteilung“, weil nur eine derselben fähige „natürliche Religion“ auch „jeden Menschen verbinden“ könne (RGV, AA 06: 155.28 – 29). Dies muss freilich die offenbar in Lessings „Erziehungsschrift“ vertretene Auffassung geradewegs verbieten, die Gottesidee selbst aus einer vorhergehenden „Offenbarung“ erst ableiten zu wollen. Indes, Kants entschiedene Ablehnung dieser Auffassung, der zufolge die Gottesidee selbst in einer Offenbarung Gottes ihren Ursprung haben könne (s. dazu allerdings o. I., Anm. 82), betrifft ganz besonders auch die Vorstellung des Gottesbegriffs als eines „mitge-

 V-Th/Baumbach, AA 28.2.2.: 1317.  AA 11, 515. Allein die „menschliche Vernunft“ vermag ihm zufolge in der „von ihr gemachten Gottesidee“ diese auch „communicabel“ zu machen, d. h. ihre Vernünftigkeit und Verbindlichkeit auszuweisen.– Es ist sehr interessant, dass nach Kant allein diese „allgemeine Mitteilbarkeit“ die „Verbindlichkeit“ der Religion begründet; und eben diese so verstandene – der „geoffenbarten“ bzw. „gelehrten Religion“ gegenübergestellte – „natürliche Religion“ ist auch diejenige, die er – in wohl nicht zufälliger terminologischer Übereinstimmung mit Mendelssohn – bemerkenswerterweise als „allgemeine Menschenreligion“ charakterisierte bzw. auszeichnete (s.o. I., 3.) – eine Kennzeichnung, die sich m.W. auch nur in diesem engeren Kontext der Differenzierung des ‚Religionsbegriffs‘ in der Religionsschrift findet.

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II Zur indirekten Auseinandersetzung zwischen Lessing und Kant

teilten Begriffs“. Sie richtet sich deshalb – möglicherweise auch direkt – gegen Lessings Ansicht, wonach der „erste Mensch mit einem Begriffe von einem Einigen Gotte sofort ausgestattet wurde“,⁶² dieser also als ein „mitgeteilte(r), und nicht erworbene(r) Begriff“ sei.⁶³ Dieser maßgebende „Begriff des Einigen“⁶⁴ kann

 „Wenn auch der erste Mensch mit einem Begriffe von einem Einigen Gotte sofort ausgestattet wurde: so konnte doch dieser mitgeteilte, und nicht erworbene Begriff, unmöglich lange in seiner Lauterkeit bestehen. Sobald ihn die sich selbst überlassene menschliche Vernunft zu bearbeiten anfing, zerlegte sie den Einzigen Unermesslichen in mehrere Ermesslichere, und gab jedem dieser Teile ein Merkzeichen“ („Die Erziehung des Menschengeschlechts“ [§ 6]: XIII, 416). Dieser „mitgeteilte Begriff“ in seiner „Lauterkeit“ wird offenbar durch die getrübte, irrtumsanfällige Vernunft zerstört – ganz im Gegenteil zu der kantischen Vorstellung der sich im Prozess der Kultur reinigenden Gottesvorstellung der „reinen Vernunft“, die jeden Polytheismus überwindet. Auch diese zitierte Bemerkung der Erziehungsschrift macht es diesbezüglich schwer, der Auffassung Cassirers zuzustimmen: „Nicht der religiöse Glaube ist für ihn [Lessing] erschüttert, aber der Inhalt und Gegenstand dieses Glaubens hat sich geändert. Seine Religion geht nicht mehr auf einen außer- und überweltlichen Gott, sondern sie geht auf den Menschen als Subjekt der Geschichte“ (Cassirer 2003, 108).  Kants zurückhaltende Äußerung über den jüdischen Monotheismus trifft deshalb indirekt auch Lessings daran geknüpfte Perspektive auf das „israelitische Volk“ und dessen Gottesvorstellung (Erziehungsschrift §§ 8 ff.) – ungeachtet des von Lessing anschließend angezeigten Vorbehalts: „§ 14. Aber wie weit war dieser Begriff des Einigen, noch unter dem wahren transcendentalen Begriffe des Einigen, welchen die Vernunft so spät erst aus dem Begriffe des Unendlichen mit Sicherheit schließen lernen!“ (XIII, 418) „§ 15. Zu dem wahren Begriffe des Einigen – wenn sich ihm auch schon die Besserern des Volks mehr oder weniger näherten – konnte sich doch das Volk lange nicht erheben: und dieses war die einzige wahre Ursache, warum es so oft seinen Einigen Gott verließ, und den Einigen, d.i. Mächtigsten, in irgend einem andern Gotte eines andern Volks zu finden glaubte“ (ebd.). – Amerys Auffassung (Amery 577), dass es sich beim Gottesgedanken lediglich um „einen historisch bedingten Begriff der geistigen Vorstellungswelt Lessings“ handle, der deshalb besser „aus dem Spiel“ gehalten werden solle, hätten Lessing und Kant gleichermaßen zurückgewiesen. Auch lässt sich Lessing nicht auf einen „Pädagog[en] des schwierigen Lehrfachs Humanität“ (so Amery 580) reduzieren, ohne seinen religionsphilosophischen Anliegen Gewalt anzutun bzw. diese auszublenden. Gegen Amerys Interpretationsvorschlag bleibt wohl doch der Hinweis Timms im Recht: „In die Funktionalisierung des Gottesgedankens hat er [Lessing] sich ebensowenig zu fügen gewusst wie in dessen Verabschiedung an den religionshistorischen Positivismus. Er hält seinen eigenen Ring durchaus für den wahren und schreitet, der Moral der Geschichte folgend, zum Tatbeweis dieser Wahrheit durch eben jene Geschichtserzählung, die sinnbildlich vorführt, wie sich das eine Ganze inmitten gleichursprünglicher Konkretionen Geltung verschafft“ (Timm 1983, 123). Als einen Vorläufer des „Kritischen Rationalismus“ (Amery 577) hätte Lessing – zwar nur „Liebhaber der Theologie und nicht Theolog“ – sich wohl kaum verstanden, nicht zuletzt in diesen theologisch-religionsphilosophischen Themenfeldern. Vielmehr wäre sein Urteil über die Religionskritik des Kritischen Rationalismus (etwa derjenigen Hans Alberts) wohl nicht weniger scharf ausgefallen als sein „AntiGoeze“.  § 13 der Erziehungsschrift.

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indes nur aus der Vernunft selbst stammen, nicht aus „Eingabe“, ist also allein ein von der Vernunft „bearbeiteter Begriff“. Kaum etwas anderes hätte Kant entschiedener zurückgewiesen⁶⁵ – betonte er demgegenüber doch unermüdlich: „Wir machen uns einen Gott. Es klingt zwar bedenklich, ist aber keineswegs verwerflich, zu sagen: Dass ein jeder Mensch sich einen Gott mache, ja nach moralischen Begriffen … sich einen solchen selbst machen müsse, um an ihm den, der ihn gemacht hat, zu verehren.“ (RGV, AA 06: 168, Anm.) Dass „die Idee von Gott … ganz aus unserer eigenen Vernunft hervorgeht, und von uns selbst … gemacht wird“ (MS, AA 06: 443.32– 444.1) – der „Begriff von Gott“ notwendig „aus unserer Vernunft hervorgehen muss, von uns selbst gemacht sein müsse“ (VT, AA 08: 399 Anm.; v. Verf. Hervorgehoben) – darf deshalb auch als indirekte Kritik an Lessing gelesen werden; als ein „aus unserer Vernunft“ hervorgehender Begriff kann der Gottesbegriff als eine „unumgänglich der Vernunft sich darbietende Idee“ (MS, AA 06: 444.4– 5) freilich auch nicht polytheistisch ‚zerteilt‘ werden. Es bestätigt sich: Kant hat also – schon in seiner direkten Antwort auf Jacobi, indirekt aber auch gegen Lessing – gerade gegenüber zeitgenössischen Einwänden unnachgiebig darauf insistiert, dass die Gottesidee eine notwendigerweise von der menschlichen Vernunft gemachte sei (und auch sein müsse), weil diese nur als solche als notwendiges Richtmaß gegenüber erhobenen Offenbarungsansprüchen fungieren könne. Dieses schon in Kants Orientierungs-Aufsatz erkennbare eindringliche Insistieren ist jedenfalls auch mit Blick auf Lessings spätere Konzeption von Interesse. Möglicherweise verdankt sich sein darin formulierter Einspruch auch der kritischen Erinnerung an jene berühmte These über Gott als einem „mitgeteilten Begriff“ in Lessings „Erziehungsschrift“: „Der Begriff von Gott, und selbst die Überzeugung von seinem Dasein kann nur allein in der Vernunft angetroffen werden, von ihr allein ausgehen und weder durch Eingebung, noch durch eine erteilte Nachricht von noch so großer Autorität zuerst in

 Mit Recht weist Arnoldt darauf hin: „Während Lessing statuierte, dass die wichtigsten Dinge der Religion, mithin auch der echte Gottesbegriff dem Menschengeschlechte durch Offenbarung könnten gegeben werden, vertrat Kant die Ansicht, dass der wahre Begriff Gottes – der Begriff Gottes als moralischen Gesetzgebers ebensowenig durch Offenbarung könnte gegeben werden, als der Begriff der Offenbarung selbst, – welche Begriffe beide durch Vernunft allein erzeugt und mitgeteilt werden könnten und müssten“ (Arnoldt 248). Er hätte deshalb wohl auch die Ansicht Lessings problematisiert: „Du hast in der Kindheit des Menschengeschlechts an der Lehre von der Einheit Gottes gesehen, dass Gott auch bloße Vernunftwahrheiten unmittelbar offenbaret“ (so im § 70 der Erziehungsschrift: XIII, 430). Arnoldt vertrat plausiblerweise die Ansicht, „dass Kant die Bestimmungen Lessings über den Endzweck, die Erkenntnismerkmale und den Inhalt der geoffenbarten Religion überhaupt und der geoffenbarten christlichen Religion insbesondere in den wesentlichsten Punkten modifizierte“ (Arnoldt 252).

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uns kommen.[⁶⁶] Widerfährt mir eine unmittelbare Anschauung von einer solchen Art, als sie mir die Natur, so weit ich sie kenne, gar nicht liefern kann: so muss doch ein Begriff von Gott zur Richtschnur dienen, ob diese Erscheinung auch mit allen dem übereinstimme, was zu dem Charakteristischen [!] einer Gottheit erforderlich ist.[⁶⁷] Ob ich gleich nun gar nicht einsehe, wie es möglich sei, dass irgend eine Erscheinung dasjenige auch nur der Qualität nach darstelle, was sich immer nur denken, niemals aber anschauen lässt: so ist doch wenigstens so viel klar, dass: um nur zu urteilen, ob das Gott sei, was mir erscheint, was auf mein Gefühl innerlich oder äußerlich wirkt, ich ihn an meinen Vernunftbegriff von Gott halten und darnach prüfen müsse, nicht ob er diesem adäquat sei [!], sondern bloß ob er ihm nicht widerspreche [!]“ (WDO, AA 08: 142.9 – 24).⁶⁸ Dieses bezüglich etwaiger (monotheistischer) Offenbarungsansprüche geltend gemachte Kriterium hat Kant demnach, äußerst vorsichtig, ‚ex negativo‘ formuliert: Diese unüberhörbar behutsame Wendung darf wohl als negatives Abgrenzungskriterium gemäß einer gebotenen ‚Nichtunterschreitbarkeit‘ verstanden werden – d. h. eben im Sinne einer ‚conditio sine qua non‘, die von Kant auch ausdrücklich gegenüber Offenbarungsansprüchen geltend gemacht wurde (SF, AA 07: 46.22– 23; s.o. I., 3.1.) und so als Richtmaß für alle ‚positiven Religionen‘ fungiert.⁶⁹  In diesem Orientierungs-Aufsatz unterschied Kant den „Vernunftglauben“, „welcher sich auf keine anderen Data gründet als die, so in der Vernunft enthalten sind“ (WDO, AA 08: 141.1– 2), von dem „vernünftigen Glauben“, der auch ein „historischer“ sein mag (WDO, AA 08: 140.32); in der Religionsschrift wird ersterer sodann explizit als Folie den historischen Religionen unterlegt und fungiert so als kritischer Maßstab derselben. Gleichwohl sind jene kantischen Tendenzen nicht zu ignorieren, die in der Tat auf die Ersetzung des „historischen Glaubens“ hinauszulaufen scheinen, d. h. die Vorstellung einer „Überwindung“ desselben durch den reinen „Vernunftglauben“ suggerieren.  In entschiedenem Widerspruch dazu stehen die §§ 6 u. 7 der Erziehungsschrift: als „die sich selbst überlassene menschliche Vernunft zu bearbeiten anfing, zerlegte sie den Einzigen Unermesslichen in mehrere Ermesslichere, und gab jedem dieser Teile ein Merkzeichen. § 7. So entstand natürlicher Weise Vielgötterei und Abgötterei“ – ebendies hätte Kant gewiss bezweifelt.  Auch diese Argumentation Kants wendet sich offenbar indirekt gegen Lessings Erziehungsschrift.  Freilich: Selbst wenn alle monotheistischen Religionen diesem ‚Negativ‘-Kriterium (des ‚Nicht-Widersprechens‘) genügten, so wären damit dennoch die anderen (wider-) „streitenden Meinungen“ nicht ausgeräumt und werfen so darüber hinaus die Frage nach dem „letzten Probierstein der Wahrheit“ (WDO, AA 08: 140.33) auf, der nicht auf ‚ästhetische‘ Präferenzen oder den „Zufall der Geburt“ zu reduzieren ist, sondern eben „Einsicht, Gründe, Wahl des Bessern“ (s.u. 213 f.) verlangt: Aber nach welchen Maßstäben? Dass „über historische Glaubenslehren der Streit nie vermieden werden kann“ (RGV, AA 06: 115.22– 23), gewinnt so – unausweichlich – erneute Aktualität, zumal ja Kant selbst auch angesichts des „theoretischen Mangels des Vernunftglaubens“ (SF, AA 07: 9.5 – 6) offensichtlich auf sogenannte „historische Beweisgründe“ rekurriert, die allerdings – betreffend „Fragen über den Ursprung des Bösen, den Übergang von diesem zum

2 Ein vermutlich grundlegender Einwand Kants

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Freilich, unter der Voraussetzung der moralisch verankerten „natürlichen Religion“ – aber auch nur so, also die prinzipien-orientierte Verankerung vorausgesetzt – hätte Kant der Auffassung Lessings (im Schlussparagraphen des frühen Fragments „Über die Entstehung der geoffenbarten Religion“) wohl durchaus zugestimmt: „Die beste geoffenbarte oder positive Religion ist die, welche die wenigsten konventionellen Zusätze zur natürlichen Religion enthält, die guten Wirkungen der natürlichen Religion am wenigsten einschränkt.“⁷⁰ Auch darin hätte Kant wohl einen ‚Vorteil‘ für das Christentum erkannt – nicht hätte er (auch) deshalb das daran geknüpfte „gleich wahr/gleich falsch“ der „positiven Religionen“ (s.u. III., 1.1.) akzeptiert.⁷¹ Auch dies, dass zufolge der in Kants Religionsschrift geäußerten Bezugnahme auf die „moralische Religion“ im Grunde unter allen „öffentlichen, die es je gegeben hat, allein die christliche“ (RGV, AA 06: 52.1) gelten dürfe, macht deutlich, dass Kant dieser Einschätzung Lessings Guten, die Gewissheit des Menschen im letzteren Zustande zu sein“ (ebd. 9.7– 8) – wohl kaum im strengen Sinne als „historisch“ zu bezeichnen sind, dennoch als ‚Lebensdeutungen‘ ‚umstritten‘ bleiben und also auch diesbezüglich der „Streit nie vermieden werden kann“ (s.dazu auch u. RGV, AA 06: 115.23; s. dazu auch u. 207 f.).  So lautet der Schlusssatz von Lessings frühem Entwurf „Über die Entstehung der geoffenbarten Religion“ (XIV, 313), in dem in gewisser Hinsicht schon Aspekte der Ringparabel anklingen. Hier wird offenbar die „natürliche Religion“ als eine „Vernunfteligion“ verstanden; Kant hätte dieser Auffassung Lessings wohl zugestimmt und auch darin jedoch einen Vorteil des Christentums als „natürliche Religion“ gesehen; die Nähe zu Kant ist unübersehbar: „Die Reduktion der Glaubensartikel aufs minimum ist auch darum notwendig, weil man sich dadurch wieder Unaufrichtigkeit (Haller) verwahrt nur das zu wählen was man sich selbst als geglaubt bekennen kann“ (so heißt es in den Vorarbeiten zur „Religionsschrift“: VARGV, AA 23:102.23 – 25).  Gemäß dem früheren Lessing („Über die Entstehung einer geoffenbarten Religion“) solle für die Religionen als „geschichtlichen Glaubensarten“ gleichermaßen gelten: „Alle positiven und geoffenbarten Religionen sind folglich gleich wahr und gleich falsch“ (XIV, 313). Jedoch ist schon in diesem frühen Text die von Lessing sogleich hinzugefügte Erklärung zu beachten: „Gleich wahr: insofern es überall gleich notwendig gewesen ist, sich über verschiedene Dinge zu vergleichen, um Übereinstimmung und Einigkeit in der öffentlichen Religion hervorzubringen“ – und: „Gleich falsch: indem nicht sowohl das, worüber man sich verglichen, neben dem Wesentlichen besteht, sondern das Wesentliche schwächt und verdrängt“ (ebd.). – Cunico interpretiert dieses frühe „gleich wahr-gleich falsch“ folgendermaßen: „wahr wegen der gleichen Unentbehrlichkeit für die jeweilige Gesellschaft, falsch wegen der gleichen unvermeidlichen Entfernung (Abweichung) von der natürlichen Religion … In der Tat verwendet er dabei einen doppelten Wahrheitsbegriff: einerseits einen pragmatischen, funktionalistischen Begriff in Bezug auf die soziale Rolle der Religion; andererseits einen absoluten, inhaltlichen Begriff in Bezug auf die normative Wahrheit der natürlichen Religion, die als Maßstab der Beurteilung der einzelnen positiven Religionen in Anspruch genommen wird“ (Cunico 2015a, 46). Ab den 70-er Jahren erkennt Cunico in Lessings Einschätzung des „Verhältnis(ses) von Religion und Vernunft“ jedoch eine „viel dynamischere Weise“ (ebd. 47), die eben in der Erziehungsschrift ihren Abschluss finde (von der Lessing sich allerdings auch ausdrücklich distanziert, s.u. II., Anm. 214).

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(eines „gleich wahr“/„gleich falsch“ aller Religionen) nicht zugestimmt, sondern als eine unverträgliche Nivellierung angesehen hätte. Nicht zuletzt widerspricht diesem „gleich wahr/gleich falsch“ nach Kant auch die Würdigung und „innere Beglaubigung“ der „christlichen Religion“ als der „natürlichen Religion“ (in der späteren Schrift über den „Streit der Fakultäten“), dass, „soviel wir wissen, das Christentum die schicklichste Form“ sei (SF, AA 07: 36.32) – eine durchaus behutsame Auszeichnung, die gleichwohl ihre Verabsolutierung als „historischer Glaubensart“ verbietet.⁷² Dagegen richtet sich auch die Auffassung, dass „das Christentum“ lediglich „ein gewisser auf Satzungen und Schrift gegründeter Volksglaube sein“ würde (SF, AA 07, 49.2– 3), wogegen Kant die „Zusammenstimmung desselben mit dem reinsten moralischen Vernunftglauben“ als „die beste und dauerhafteste Lobrede“ (SF, AA 07: 9. 24)⁷³ betonte. Hingegen müsste ein solches „gleich wahr/gleich falsch“ aller Religionen nicht zuletzt die Grundlagen seines „moralischen Monotheismus“ (s. o. I., 3.1.) wenn schon nicht ignorieren, so doch wenigstens ‚aufweichen‘. Dieses „gleich wahr/gleich falsch“ wirft nach Kant freilich auch die an Lessing gerichtete Frage nach den Maßstäben auf, die es auch erst erlauben könnten, „heidnische Völker“ und ihre „groben Abgöttereien“, „falschen Götzen“⁷⁴ zu disqualifizieren. Dafür bleibt der von Lessing vernachlässigte „moralische Monotheismus“ freilich vorausgesetzt.

3 Mannigfache – fundamentale – Übereinstimmungen zwischen Kant und Lessing Nicht zuletzt in jenem dem Programm der Aufklärung verpflichteten Projekt der „natürlichen Religion“ und in den daran geknüpften Abgrenzungen zeigt sich jedoch auch eine enge motivliche Verwandtschaft zwischen Kant und Lessing.

 Vgl. dazu die angeführte Stellungnahme von U. Barth, o. I., Anm. 22.  „Denn die hier angeführte Zusammenstimmung desselben [des Christentums] mit dem reinsten moralischen Vernunftglauben ist die beste und dauerhafteste Lobrede desselben: weil eben dadurch, nicht durch historische Gelehrsamkeit das so oft entartete Christentum immer wieder hergestellt worden ist und ferner bei ähnlichen Schicksalen, die auch künftig nicht ausbleiben werden, allein wiederum hergestellt werden kann“ (SF, AA 07: 9.22– 28).  So in den §§ 21, 39 u. 41 der Lessing’schen Erziehungsschrift.

3 Mannigfache – fundamentale – Übereinstimmungen zwischen Kant und Lessing

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3.1 „Natürliche Religion“ und „Geschichtsglaube“ So ist auch Kants grundsätzliche Übereinstimmung mit Lessings Unterscheidung zwischen der „Religion Christi“ und der „christlichen Religion“⁷⁵ nicht zu übersehen – zumal der späte Lessing in „Die Religion Christi“ diesbezüglich doch der Auffassung war: „Folglich sind die Religion Christi und die christliche Religion zwei ganz verschiedene Dinge“⁷⁶ – denn: „Jene, die Religion Christi, ist diejenige Religion, die er als Mensch selbst erkannte und übte; die jeder Mensch mit ihm gemein haben kann; die jeder Mensch um so viel mehr mit ihm gemein zu haben wünschen muss, je erhabener und liebenswürdiger der Charakter ist, den er sich von Christo als bloßen Menschen macht“; hingegen: „Diese, die christliche Religion, ist diejenige Religion, die es für wahr annimmt, dass er mehr als Mensch gewesen, und ihn selbst als solchen, zu einem Gegenstande ihrer Verehrung macht. […] Wie beide diese Religionen, die Religion Christi sowohl als die

 Lessing hat diese Unterscheidung vermutlich von dem „Hallenser Aufklärungstheologen Heinrich Philipp Konrad Henke“ übernommen, s. dazu Beutel, 150.  Lessings Unterscheidung hätte gewiss nicht nur Kants Zustimmung gefunden: „Die Religion Christi ist mit den klarsten und deutlichsten Worten darin [in den „Evangelisten“] enthalten … Die Christliche hingegen so ungewiss und vieldeutig, dass es schwerlich eine einzige Stelle gibt, mit welcher zwei Menschen, so lange als die Welt steht, den nemlichen Gedanken verbunden haben“ (§§ 7 f, in: „Die Religion Christi“ aus dem Jahr 1780 §§ 4 f.). Es ist nicht zu übersehen, dass der späte Lessing mit der „Religion Christi“ (gegenüber der „christlichen Religion“) sympathisierte und dies offenbar auch die Frage bzw. Forderung Goezes als nicht ganz unberechtigt erscheinen lässt: Was genau ist Lessings inhaltliche Kennzeichnung des Begriffs der Religion, d. h. „was für eine Religion er [Lessing] durch die christliche Religion verstehe; und was für eine Religion er selbst als die wahre erkenne und annehme“? (So fragt Goeze in „Lessings Schwächen“: Barner-Ausgabe Bd. 9, 372). Indes, Lessing hat darauf seinem Anspruch nach „so bestimmt“ geantwortet, „als nur ein Mensch von mir verlangen kann; dass ich unter der christlichen Religion alle diejenigen Glaubenslehren verstehe, welche in den Symbolis der ersten vier Jahrhunderte der christlichen Kirche enthalten sind“ (so in seiner „nötige(n) Antwort auf eine sehr unnötige Frage“: XIII, 332). – Unübersehbare ‚Spuren‘ für einschlägige Gedanken Lessings finden sich auch in Kants Vorarbeiten zur Religionsschrift bzw. zum „Streit der Fakultäten“. „Heißt das, den geheimnisvollen Begriff eines ewigen Erlösers erleichtern? Es heißt, ihn aufheben; es heißt einen ganz anderen an dessen Statt setzen“ – wenn Jesus etwa als „Ideal des Gott wohlgefälligen Menschen“ geltend gemacht wird. So, wenn es (an schon zitierter Stelle) heißt: „Dagegen ist der Glaube an eben dasselbe Urbild in der Erscheinung (an den Gottmenschen), als empirischer (historischer) Glaube, nicht einerlei mit dem Prinzip des guten Lebenswandels (welches ganz rational sein muss) … Allein in der Erscheinung des Gottmenschen ist nicht das, was von ihm in die Sinne fällt, oder durch Erfahrung erkannt werden kann, sondern das in unsrer Vernunft liegende Urbild, welches wir dem letztern unterlegen … eigentlich das Objekt des seligmachenden Glaubens“ (RGV, AA 06: 119.11– 22). Es bestätigt sich demnach Kants Ansicht: „Das Historische dient nur zur Illustration, nicht zur Demonstration“ (VASF, AA 23: 437.37).

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Christliche, in Christo als in einer und eben derselben Person bestehen können, ist unbegreiflich“.⁷⁷ Es liest sich in der Tat wie eine direkte Bezugnahme auf einschlägige Äußerungen Lessings, wenn es bei Kant heißt: „Die christliche Religion ist welche Christus gelehrt hat und da alle Religion Pflichtlehre ist, so muss man nachsehen, was Christus zu tun gelehrt hat nicht was in seinen Reden zur Theologie, d.i. der Theorie von Gott und seiner (Christi) Sendung gehört die auch mit jüdischen Begriffen vermischt sein konnten oder wenigstens damit conciliiert.“⁷⁸ Auch von der „Jesusreligion“ ist bei Kant die Rede; davon, dass zwar klarerweise „Christus eine Religion hatte“, wird jedoch von ihm streng unterschieden, dass Jesus „nicht … selbst Gegenstand der Religion habe sein wollen“.⁷⁹ Auch Lessings frühe Auffassung über die Stellung Jesu als eines „von Gott erleuchteten Lehrers“⁸⁰ findet bei Kant durchaus Anklang: Jesu Absicht sei es vornehmlich gewesen, „die Religion in ihrer Lauterkeit wieder herzustellen und sie in

 XVI, 518: „Die Religion Christi“.  VASF, AA 23: 434. 1– 5. Schon in seinem zitierten Brief an Lavater unterschied Kant die „Lehre Christi von der Nachricht, die wir von der Lehre Christi haben“ (AA 10, 176) und kritisierte, dass die Apostel „an statt des heiligen Lehrers praktische Religionslehre als das Wesentliche anzupreisen, die Verehrung dieses Lehrers selbst … angepriesen haben“ (AA 10, 178 f). Dass die „Lehre Christi“ nichts anderes als eine „vernünftige praktische Religion“ sei, hätte wohl Kants Zustimmung gefunden.  VASF; AA 23: 460.23. Die mit einer solchen Sichtweise unvermeidlich verbundenen Konsequenzen treten bezeichnenderweise besonders deutlich auch in diesen „Vorarbeiten“ zu Kants „Streit der Fakultäten“ zutage, so etwa, wenn in seiner Bezugnahme auf das „Wunder der Menschwerdung“ bemerkenswerterweise von einer „Inconsequenz“ die Rede ist: „Dass Christus eine Religion hatte und lehrte ist klar, aber nicht, dass er selbst Gegenstand der Religion habe sein wollen. Dies ist das Wunder der Menschwerdung“ (VASF, AA 23: 460.22– 24).  „Ich sage es noch einmal, ich betrachte hier Christum nur als einen von Gott erleuchteten Lehrer. Ich lehne aber alle schrecklichen Folgerungen von mir ab, welche die Bosheit daraus ziehen könnte“ (XIV, 158). Christus als ein „von Gott erleuchteter Lehrer“ (Erziehungsschrift §§ 53 – 61); „ob Christus mehr als Mensch gewesen, das ist ein Problem. Dass er wahrer Mensch gewesen … : das ist ausgemacht“ (Die Religion Christi, § 1: XVI, 518).Vgl. die Lessingschen Zweifel, „muss ich … für wahr halten, dass Gott einen Sohn habe, der mit ihm gleichen Wesens sei“, ist offenbar etwas, „wogegen sich (s)eine Vernunft sträubet“ (XIII, 6). Dahin weist auch sein Befund: Wer die „Gottheit Christi“ „nur aus dem Neuen Testament holen will, dem ist sie bald abdisputiert“ (XIII, 373). Es ist durchwegs nicht zu übersehen, dass offenbar auch Kant die Bedenken Lessings gegenüber der Gottessohnschaft Jesu teilte: Denn „dieser Gottmensch“ wird als „die in Gott von Ewigkeit her liegende Idee der Menschheit in ihrer ganzen ihm wohlgefälligen moralischen Vollkommenheit“ vorgestellt (SF, AA 07: 39.11– 13), die als solche schon „in unserer moralisch gesetzgebenden Vernunft“ liege (RGV, AA 06: 62.13); gleichwohl hat Kant diese Gehalte nicht leichtfertig verabschiedet, sondern sich an einer philosophischen ‚Übersetzung‘ abgemüht, wie nicht zuletzt das „zweite“ und „dritte Stück“ seiner Religionsschrift eindrucksvoll belegen. S. dazu auch o. I., Anm. 23.

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diejenigen Grenzen einzuschließen, in welchen sie desto heilsamere und allgemeinere Wirkungen hervorbringt, je enger die Grenzen sind“. Allein Jesus war nach Kant jener Lehrer der „natürlichen Religion“, der „eine reine aller Welt fassliche (natürliche) und eindringende Religion“ gelehrt habe (RGV, AA 06: 158.20), die „in aller Menschen Herz geschriebene Religion“ (RGV, AA 06: 159.2– 3), jedoch war er nicht „Erlöser“ der Menschheit. Als der wahre Lehrer der „natürlichen Religion“ bedürfe Jesus deshalb auch keiner anderen „Beglaubigung“, der Ursprung der Bibel „mag sein welcher er wolle“ (SF, AA 07: 44.27– 28):⁸¹ Zur „Beglaubigung“ der Würde Jesu (seiner „göttlichen Sendung“) führte Kant einige seiner „reinen Vernunftlehren“ an, die ihn als Repräsentanten der „wahren Religion“ ausweisen sollen und ein Unterscheidungsmerkmal anbieten – „es mag mit der Geschichte stehen wie es wolle“,⁸² „denn in der Idee selbst liegt schon der hinreichende Grund zur Annahme“ (RGV, AA 06: 7– 8), die aus dem „Munde des ersten Lehrers als eine nicht statutarische, sondern moralische Religion hervorgegangen, vorgestellt wird“ (RGV, AA 06: 167.13 – 15).⁸³ Christus ist demzufolge in dieser Sichtweise, mit Schelling gesprochen, zwar „Lehrer“, aber eben nicht „Inhalt“ der Religion … (s.o. I., Anm. 23; II., Anm. 234). Einig waren sich Kant und Lessing jedenfalls auch darin, dass der Anspruch eines existenz-verankerten, und nur so auf das Ganze einer „moralischen Lebensgeschichte jedes Menschen“ (RGV, AA 06: 143. 33 – 34) bezogenen Glaubens in seiner Unbedingtheit und Unmittelbarkeit von dem bloß „historischen Glauben“

 Dies trifft, was auch Jaspers in der „Entfaltung der Lessingschen Gedanken“ als zentral ansieht: „Der Glaubensgehalt, nicht die historische Herkunft ergreift“ (Jaspers 1981, 729).  Kant empfahl in diesem Sinne als „das Vernünftigste die Reform zu versuchen: nur das Moralische, dessen die Schriftstelle fähig ist, auszuheben, das Historische auf sich beruhen zu lassen“ (VASF, AA 23: 431.16 – 18). Jedoch hat Kant dann doch wiederum, mit Blick auf den „theoretischen Mangel des Vernunftglaubens“, der Rücksicht darauf einen notwendigen Platz eingeräumt, „was wir auf historische Beweisgründe zu glauben Ursache haben“ (SF, AA 07: 9. 2– 3), obgleich die von Kant hier angeführten Themen gewiss nicht „historisch“ sind.  Bezüge zu den „Fragmenten“ des Reimarus sind hier nicht zu verfolgen. Lessing bekundete wiederholt auch eine von ihm durchaus beanspruchte Distanz zu Reimarus: „Denn ich habe nirgend gesagt, dass ich die ganze Sache meines Ungenannten, völlig so wie sie liegt, für gut und wahr halte. Ich habe das nie gesagt: vielmehr habe ich gerade das Gegenteil gesagt. Ich habe gsagt und erwiesen, dass wenn der Ungenannte auch noch in so viel einzeln Punkten Recht habe und Recht behalte, im Ganzen dennoch daraus nicht folge, was er daraus folgern zu wollen scheine.“ (XIII, 182) Lessing verteidigte Reimarus allerdings gegen die Vorwürfe Goezes: „Ich spreche bloß als ehrlicher Mann, der ihn [den „Ungenannten“, d.i. Reimarus] nur so tumultuarisch nicht will verdammt wissen.“ (XIII, 207) „Besonders wird alle meine Galle rege werden, wenn Sie meinen Ungenannten, den Sie nur aus unzusammenhängenden Bruchstücken kennen, so schülerhaft und bubenmäßig zu behandeln fortfahren.“ (XIII, 103)

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unterschieden werden muss:⁸⁴ Letzterer läuft immer lediglich auf einen ‚Glauben an den Glauben‘ (anderer) hinaus;⁸⁵ das Historische des „Geschichtsglaubens“ bleibt stets dem Zweifel ausgesetzt,⁸⁶ weil „alle historische Gewissheit viel zu schwach ist“⁸⁷ und deshalb auch nicht als unumstößliches Fundament taugt,⁸⁸ „welches dadurch, dass es als unbedingte Nötigung, etwas zu glauben, was nur historisch [also nur auf „Treu und Glauben“] erkannt werden, und darum nicht für jedermann überzeugend sein kann, ein für gewissenhafte Menschen noch weit schwereres Joch ist, als der ganze Kram frommer auferlegter Observanzen immer

 Diese Unterscheidung zwischen „historischem“ und „moralischem Glauben“ übernahm Kant vermutlich von J. S. Semler; s. dazu Winter 1992, 28 f.  Sehr deutlich wird dies auch in der dem „Nathan“ in den Mund gelegten Auffassung Lessings: „Denn gründen alle nicht auf Geschichte/Geschrieben oder überliefert!– Und Geschichte muss doch wohl allein auf Treu und Glauben angenommen werden?“ (Nathan: v. 1974 ff.). Der „Glaube an den Glauben“ anderer vermag niemals einen „authentischen“ Glaubensvollzug zu begründen – darin stimmen Lessing und Kant offenbar überein.  „Was heißt einen historischen Satz für wahr halten? Eine historische Wahrheit glauben? Heißt es im geringsten etwas anderes: als diesen Satz, diese Wahrheit gelten lassen? Nichts dawider einzuwenden haben? Sich gefallen lassen, dass ein anderer einen andern historischen Satz darauf baut, eine andere historische Wahrheit daraus folgert? Sich selbst vorbehalten, andere historische Dinge darnach zu schätzen? Heißt es im geringsten etwas anders, etwas mehr? Man prüfe sich genau!“ (XIII, 6) Eine indirekte Kritik an Lessing enthält wohl der in Kants Unterscheidung der Modi des Fürwahrhaltens“ enthaltene Hinweis: „Sachen des Glaubens sind also … keine Gegenstände des empirischen Erkenntnisses. Der sogenannte historische Glaube kann daher eigentlich nicht Glaube genannt und als solcher dem Wissen entgegen gesetzt werden, da er selbst ein Wissen sein kann. Das Fürwahrhalten auf ein Zeugnis ist weder dem Grade noch der Art nach vom Fürwahrhalten durch eigene Erfahrung unterschieden“ (Log, AA 09: 68.1– 69 – 4). Ganz ähnlich in Refl. 2448 (AA 16: 372): „Der historische Glaube kann eigentlich dem Wissen nicht entgegengesetzt werden; denn er kann selbst ein Wissen sein. Er heißt denn bloß ein Glaube, wenn er praktisch hinreichend ist, obgleich logisch unzureichend“. „Der Glaube also, der sich auf besondere Gegenstände, die nicht Gegenstände des möglichen Wissens oder Meinens sind, bezieht (in welchem letztern Falle er, vornehmlich im Historischen, Leichtgläubigkeit und nicht Glaube heißen müsste), ist ganz moralisch“ (KU, AA 05: 472.5 – 9).  XIII, 5. Zu unterschiedlichen Einschätzungen der „abgestuften Gewissheit des historischen Glaubens“ bei Kant und Lessing s. Arnoldt 266 f; zur Beurteilung der „Gewissheit historischer Wahrheit“: Arnoldt 261 f. – Kant nannte den Rekurs auf „aus inneren Eingebungen durch äußere Zeugnisse bewährte Fakta, aus Traditionen, die anfänglich selbst gewählt waren, mit der Zeit aufgedrungene Urkunden, mit einem Worte die gänzliche Unterwerfung der Vernunft unter Facta“, den „Aberglauben“ (WDO, AA 08: 145.30 – 33).  Dass ein zuverlässiger Glaube an „eine Offenbarung, so alle Menschen auf eine gegründete Art glauben könnten, eine unmögliche Sache sei“ (XII, 316 f.), klingt auch nach in Kants Hinweis, dass die „Wahrheit jener Lehren, noch das Ansehen und die Würde des Lehrers irgend einer andern Beglaubigung (dazu Gelehrsamkeit oder Wunder, die nicht jedermanns Sache sind, erfordert würde) bedürfte“ (RGV, AA 06: 162.18 – 21).

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sein mag“ (RGV, AA 06: 179.10 – 14), der der „wahren Aufklärung“ zuwider läuft. Hingegen gilt: „Von der Richtigkeit und der Notwendigkeit des moralischen Glaubens kann ein jeglicher, nachdem er ihm einmal eröffnet ist, aus sich selbst, ohne historische Hilfsmittel überzeugt werden, ob er gleich ohne solche Eröffnung von selbst darauf nicht würde gekommen sein“;⁸⁹ auch dies klingt nach einer Reminiszenz an Lessing, ebenso nimmt dessen These Kants Bedenken vorweg: „Die Religion kann in Geschichtsreligion (nicht Geschichte der Religion) und Vernunftreligion eingeteilt werden. Die erste beruht auf dem Glauben an Facta, welcher seligmachend sein soll, die zweite auf dem moralischen, d.i. seelenbessernden Begriff von Gott als dem Gegenstand der Religion. Die letztere ist diejenige, welche Jesus selbst hatte, die erstere besteht in der Anbetung dieses Jesus, also Religion aus der zweiten Hand.“⁹⁰ Dagegen steht schon Lessings Mahnung: „Ich will es den Gottesgelehrten gern zugeben, dass aber das Seligmachende in den verschiedenen Religionen immer das Nämliche müsse gewesen sein: wenn sie mir nur hinwiederum zugeben, dass darum nicht immer die Menschen den nämlichen Begriff damit müssen verbunden haben.“⁹¹ Als „seligmachend“ kann nach Kant allein der „moralische Glaube“ an die „Ergänzung seiner mangelhaften Gerechtigkeit“ gelten (SF, AA07: 43.33 – 34), während der „historische Kirchenglaube“ „keinem Menschen … als zur Seligkeit erforderlich“ aufgedrungen (RGV, AA 06: 132.19) werden darf. Andernfalls wäre auch die Frage Lessings unabweislich: „wenn denn die christliche Religion nur erst zu einer gewissen Zeit, in einem gewissen Bezirke erscheinen konnte, mussten deswegen alle vorhergehende Zeiten, alle andere Bezirke keine seligmachende Religion haben“?⁹²

 So Kant in einem Brief an Lavater: AA 10, 178 (aus dem Jahr 1775). – Hier wird vermutlich eine aufschlussreiche (im nächsten Abschnitt näher zu verfolgende) Zweideutigkeit (bzw. Widersprüchlichkeit) in Kants Rezeption „positiver Glaubensgehalte“ und deren Ansprüche sichtbar. Der vorkritische Kant verwies nämlich auf den lediglich vorläufigen Charakter der „Offenbarung“ und deren bloß „lokale und temporelle Notwendigkeit“: „Offenbarung kann auch zur einzigen Absicht haben, eine Lehre in Gang zu bringen, die keiner Offenbarung bedarf, um sich zu erhalten, wenn sie einmal da ist, weil sie den Beweis in der allgemeinen Menschenvernunft [gewissermaßen als „Beweis des Geistes und der Kraft“ im Sinne Lessings] hat. Alsdenn ist die Offenbarung nur von lokaler und temporeller Notwendigkeit […]. Es kann auch eine bloß natürliche Religion durch Offenbarung in Gang gebracht sein; bei der ist es zwar nicht notwendig, aber doch nützlich, dass auch die gelehrte mit ihr zu Paaren gehe“ (Refl. 5635, in: AA 18, 266).  VASF, AA 23, 438.12– 18.  XII, 446.  XII, 446. „Gott könnte ja wohl in allen Religionen die guten Menschen in der nemlichen Betrachtung, aus den nemlichen Gründen selig machen wollen: ohne darum allen Menschen von dieser Betrachtung, von diesen Gründen die nemliche Offenbarung erteilt zu haben“ (XII, 446).

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Schon folgende Bemerkung Kants kann ebenfalls als eine partielle Zustimmung (und ebenso als Kritik an Lessing) gelesen werden: „Die wahre alleinige Religion enthält nichts als Gesetze, d.i. solche praktische Prinzipien, deren unbedingter Notwendigkeit wir uns bewusst werden können, die wir also, als durch reine Vernunft (nicht empirisch) offenbart, anerkennen. Nur zum Behuf einer Kirche, deren es verschiedene gleich gute Formen geben kann, kann es Statuten, d.i. für göttlich gehaltene Verordnungen geben, die für unsere reine moralische Beurteilung willkürlich und zufällig sind“ (RGV, AA 06: 167.32– 168.4). Mit diesem Verweis auf möglicherweise „gleich gute Formen“ und die Unterscheidung von der „wahren allgemeinen Religion“ stand Kant in dieser Hinsicht Lessing vermutlich durchaus nahe und insistierte damit zugleich auf den für die „wahre allgemeine Religion“ konstitutiven „Prinzipien“. Darin ist auch begründet, dass die Ansprüche eines „Geschichtsglaubens“ niemals an die Stelle der „natürlichen Religion“ treten können,⁹³ die hier gewissermaßen als die übergeschichtliche ‚Norm‘ zu fungieren scheint; dieses für seine später entwickelte Religionsphilosophie zentrale Motiv brachte Kant – richtungsweisend für seine späteren Schriften – schon in einem Brief an Lessings Freund Mendelssohn mit unüberhörbarer Bestimmtheit zum Ausdruck (s.u. II., Anm. 377). Der Auffassung Lessings⁹⁴ kam Kant auch mit seiner (in der 2. Auflage der Religionsschrift vorgenommenen) bemerkenswerten Klarstellung bzw. Präzisierung (die genauer besehen wohl eine stillschweigende Korrektur bedeutet) unübersehbar entgegen: „Nicht dass er [der „Geschichtsglaube“ als „Kirchenglaube“] aufhöre (denn vielleicht mag er als Vehikel immer nützlich und nötig sein), sondern aufhören könne; womit nur die innere Festigkeit des reinen moralischen Glaubens gemeint ist“ (RGV, AA 06: 135, Anm.; Hervorhebung v. Verf.). Wohl – auch, aber nicht nur – in diesem Sinne hat Lessings kritischer Befund: „Der Schwärmer tut oft sehr richtige Blicke in die Zukunft: aber er kann diese Zukunft

 Allison (1966) betont die Übereinstimmung zwischen Lessing und Kant bezüglich der berühmten Bestimmung des Verhältnisses zwischen Geschichts- und Vernunftwahrheiten und des Status der Notwendigkeit der Offenbarung – nicht zuletzt deren Funktion als Vehikel oder Gerüst, ebenso hinsichtlich des geschichtlichen Fortschrittes bezüglich der Realisierung der „natürlichen Religion“ und der andauernden Bedeutung der christlichen Religion.  In der Tat: „Das liest sich schon fast wie Kants programmatische Verhältnisbestimmung von natürlicher Moral- und positiver Offenbarungsreligion: Diese erhält die Funktion des Vehikels zur allmählichen Einführung jener“ (Wagner 43). Gleichwohl wurde mit Recht darauf hingewiesen, dass diese Perspektive durch die spätere Erziehungsschrift – besonders durch die dort bestimmend gewordene Sichtweise eines „wechselseitigen Dienstes“ von „Vernunft und Offenbarung“ und deren Vermittlung – überboten bzw. abgelöst, besser: in eine geschichtliche FortschrittsKonzeption eingerückt wurde.

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nur nicht erwarten“,⁹⁵ eine gewisse Entsprechung in Kants Unmut über die „Keckheit der Kraftgenies, welche diesem Leitbande des Kirchenglaubens sich jetzt schon entwachsen zu sein wähnen, sie mögen nun als Theophilanthropen in öffentlichen dazu errichteten Kirchen, oder als Mystiker bei der Lampe innerer Offenbarungen schwärmen“ (SF, AA 07: 65.8 – 11), d. h. beanspruchen, die geschichtlichen „Glaubensarten“ seien schon jetzt entbehrlich.⁹⁶ Kants diesbezügliche spöttische Kritik teilte offenbar Lessings Kritik an der „Schwärmerei“, die die „Zukunft nicht erwarten“ kann. Lediglich beiläufig sei daran erinnert, dass nach Kant das „Leitband der heiligen Überlieferung mit seinen Anhängseln, den Statuten und Observanzen, welches zu seiner Zeit gute Dienste tat, … nach und nach entbehrlich, ja endlich zur Fessel [werde], wenn er in das Jünglingsalter eintritt“ (RGV, AA 06: 121.20 – 23) – eine auch mit Blick auf Lessings „Erziehung des Menschengeschlechts“ interessante Perspektive.⁹⁷ Offenbar in Anknüpfung daran hat Kant betont, dass der Bibelglaube zwar „vielleicht [!] anfänglich zur Introduktion nötig war“,⁹⁸ und Offenbarung also zwar „dienlich und als Befriedigung eines Vernunftbedürfnisses dazu nach Verschiedenheit der Zeitumstände und der Personen mehr oder weniger beizutragen behilflich“ sei (SF, AA 07: 9.9 – 11). Also nur in diesem behutsamen – und jedenfalls sehr eingeschränkten – Sinne hätte Kant der Auffassung zustimmen können, „dass es schlechterdings keine christliche Religion geben könne, wenn die Bibel nicht wäre“; gleichwohl hätte er, abgesehen von diesem Aspekt der „Introduktion“ („der Zeit nach“ gewissermaßen), natürlich ganz für Lessings Auffassung Partei ergriffen, „dass sich das

 XIII, 434.  Hier findet Fischers Bemerkung einen Anhaltspunkt: Kant lasse „wie Lessing, die Offenbarung als die religiöse Erziehung der Menschheit, die sichtbare Kirche als die Erscheinung- und Entwicklungsform der unsichtbaren gelten und legt ein großes Gewicht darauf, dass diese geschichtlichen Bildungsstufen richtig gewürdigt werden, denn es sei ebenso verkehrt, sie für wertlos und überflüssig, als für das Wesen der Sache und für unwandelbare Formen zu halten“ (Fischer 1910, 563 f, mit Verweis auf Kants „Physische Geographie“).  Abgesehen von der Beurteilung des Christentums, das Kant „der Idee nach“ als „vollständige Religion“ ansah, stimmte Kant der Sichtweise Lessings zu, die Fischer folgendermaßen charakterisiert: „Handelt es sich um den Gang der Menschenerziehung, so erkennt Lessing den Wert und die Bedeutung der positiven Religionen im vollsten Maße; blickt er auf den Weg, den das Menschengeschlecht noch vor sich hat, so erkennt er die Notwendigkeit ihrer Fortdauer und den religiösen Weltmächten gegenüber die Ohnmacht einer menschenunkundigen Aufklärerei; aus dem Gesichtspunkt des höchsten Zieles erschienen sie ihm als ausgelebte Formen und ungültig gewordene Werte“ (Fischer 1881, 72 f.). Indes, „ausgelebt“ hat nach Kant der „christliche Glaube“ keineswegs; in seiner geläuterten Gestalt fängt dieser vielmehr „jetzt erst an“ (s. VASF, AA 23: 448.23) und eröffnet so die Zukunft des Christentums als „allgemeiner Weltreligion“.  Auch Vorländer sieht darin einen „an Lessings ‚Erziehung des Menschengeschlechts‘ erinnernde(n) Gedanke(n)“ (Vorländer II, 165).

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II Zur indirekten Auseinandersetzung zwischen Lessing und Kant

Wesen des Christentums gar wohl ohne alle Bibel denken lasse. Ich hatte behauptet, dass es einem wahren Christen sehr gleichgültig sein könne, ob sich auf alle Schwierigkeiten gegen die Bibel befriedigend antworten lasse oder nicht“.⁹⁹ Das deckt sich durchaus auch mit dem schon zitierten Befund Kants: „es mag mit der Geschichte stehen wie es wolle“. Indes, Kants diesbezügliche Stellungnahmen sind offenbar nicht wirklich eindeutig (s.u. II., 4.1.), ja in gewisser Hinsicht möglicherweise zum Teil auch widersprüchlich. Schon hier klingt unüberhörbar das später bestimmende Motiv Kants an, dass der an der Idee der natürlichen Religion orientierte „Vernunftglaube“¹⁰⁰ sich nicht nur von den Fesseln bloß statutarischer Observanzen (des „Buchstabens“) zu lösen hat, sondern auch die Ansprüche bzw. Verbindlichkeiten des „Geschichtsglaubens“ relativiert, der als solcher – unüberwindlich – auch stets etwas ‚Wankendes‘ hat, und eine (schon zitierte) Folge daraus dies sei: „Dass aber ein Geschichtsglaube Pflicht sei, und zur Seligkeit gehöre, ist Aberglaube“ (SF, AA 07: 65. 24– 25). In all diesen Bezügen wird Kants motivliche Nähe zu Lessings Relativierung der Ansprüche des „historischen Glaubens“ zugunsten des „Vernunftglaubens“ wohl besonders deutlich. Und dieser Lessing‘sche Hintergrund ist wohl ebenso zu vermuten, wenn Kant in seinem – einem Impuls Mendelssohns verdankten – Orientierungs-Aufsatz anmerkt: „Zur Festigkeit des Glaubens gehört das Bewusstsein seiner Unveränderlichkeit. Nun kann ich völlig gewiss sein, dass mir niemand den Satz: Es ist ein Gott, werde widerlegen können; denn wo will er diese Einsicht hernehmen? Also ist es mit dem Vernunftglauben nicht so, wie mit

 XVI, 489. S. auch Kants Ablehnung der Verwechslung „bloßer Vehikel“ (die gar „keinen inneren moralischen Gehalt bei sich führen“: SF, AA 07: 50.25), mit eigentlichen „Religionsstücken“. Lessing nennt die „Wunder, die Christus und seine Jünger taten“, das „Gerüst, und nicht de(n) Bau. Das Gerüste wird abgerissen, sobald der Bau vollendet ist“ (XIII, 31). Daran erinnert natürlich ganz besonders Kants Bild von dem Gerüst, das notwendigerweise abgetragen werden muss; so beinahe in wörtlicher Übereinstimmung mit Lessing in einem Brief-Passus Kants (an Lavater: AA 10, 177): „Wenn aber die Lehre des guten Lebenswandels und der Reinigkeit der Gesinnungen im Glauben, (dass Gott das übrige, was unsrer Gebrechlichkeit abgeht, ohne so genannte gottesdienstliche Bewerbungen, darin zu allerzeit der Religionswahn bestanden hat, auf eine Art, die uns zu wissen gar nicht nötig ist, schon ergänzen werde), in der Welt als die einzige Religion, worin das wahre Heil der Menschen liegt, einmal gnugsam ausgebreitet ist, so dass sie sich in der Welt erhalten kann, so muss das Gerüste wegfallen, wenn schon der Bau da steht.“ „Es müssen nach und nach alle Maschinen, die als Gerüste dieneten, wegfallen, wenn das Gebäude der Vernunft errichtet ist“ (Refl. 1415: AA 15, 616).  Auch mit Blick auf Lessings Sichtweise des Verhältnisses der „natürlichen Religionen“ und der geschichtlichen „monotheistischen Religionen“ ist Kants Bemerkung über den Stellenwert des „Vernunftglaubens“ interessant, der vor aller Inanspruchnahme besonderer Geheimnisse bewahren soll und auch als ‚Schutzwehr‘ bzw. als ‚Negativ-Kriterium‘ fungiert. S.o.7 f. und RGV, AA 06: 140.1– 11.

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dem historischen bewandt, bei dem es immer noch möglich ist, dass Beweise zum Gegenteil aufgefunden würden, und wo man sich immer noch vorbehalten muss, seine Meinung zu ändern, wenn sich unsere Kenntnis der Sachen erweitern sollte“ (WDO, AA 08: 141 f Anm.).¹⁰¹ Sofern der „historische Glaube“ jedoch eigentlich ein „empirisches Wissen“ (Log, AA 09: 69.2; ebd. 72, Anm.) ist,¹⁰² das „historische Wissen“ nach Kant also durchaus Wissen zu sein beanspruchen kann, bezieht sich Lessings Zustimmung zum Christentum nach Kant auch bloß auf dasselbe als einer „historischen Glaubensart“, und betrifft insofern gerade nicht das Christentum als „natürliche Religion“, wie freilich Kant (wohl auch gegenüber Lessing) geltend macht, wenn er von der „wahren inneren und allgemeinen Religion“ den „partikulären Kirchenglauben als Geschichtsglauben“ unterscheidet, „den keiner desselben sich zu beweisen vermag“ (SF, AA 07: 67.11– 12). Denn auch darin hätte Kant Lessings berühmtem Diktum gewiss zugestimmt: „Zufällige Geschichtswahrheiten¹⁰³ können der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten nie werden“.¹⁰⁴

 Das wäre wohl Kants Antwort auf Lessings Frage gewesen: „Oder ist ohne Ausnahme, was ich bei glaubwürdigen Geschichtsschreibern lese, für mich ebenso gewiss, als was ich selbst erfahre?“ (XIII, 5) „Wir alle glauben, dass ein Alexander gelebt hat, welcher in kurzer Zeit fast ganz Asien besiegte. Aber wer wollte auf diesen Glauben hin irgend etwas von großem dauerhaften Belange, dessen Verlust nicht zu ersetzen wäre, wagen?“ (XIII, 6) „Lessing erklärte eine Abstufung der historischen Gewissheit zwischen dem Glauben an ein hinreichend bewährtes und dem Glauben an ein selbsterlebtes Faktum für vorhanden und notwendig; Kant erklärte eine solche Abstufung für nicht vorhanden und notwendig.“ (Arnoldt 267) – In den Vorarbeiten zum „Streit der Fakultäten“ hat Kant jene beanspruchte „Vernunftsache“ noch näher erläutert: „Was zur Religion gezählt werden soll, muss ganz gewiss sein, mithin kann es nur in moralischen Grundsätzen bestehen, denn ich muss vor meinem Gewissen es verantworten[;] Kirchenmeinungen können als probabele gelten, aber doch nicht in Ansehung der objektiven Religionslehre, sondern nur der Geschichte, die ich auch bezweifeln kann“ (VASF, AA 23, 436.29 – 34).  „Der historische Glaube … kann ein Wissen werden … Dass daher etwas historisch bloß auf Zeugnisse für wahr gehalten, d.i. geglaubt wird, z. B. dass eine Stadt Rom in der Welt sei, und doch derjenige, der niemals da gewesen, sagen kann: ich weiß, und nicht bloß: ich glaube, es existiere ein Rom: das steht ganz wohl beisammen“ (WDO, AA 08: 141.10 – 17).  „Aus dem Charakter der Zufälligkeit historischer Tatsachen schließt Lessing: Wenn es eine unbedingte Glaubensgewissheit geben soll (und da es um die ewige Seligkeit geht, muss es sie geben), dann muss die Begründung dieser Glaubensgewissheit geschichtsunabhängig sein. […] In dieser Krisis, in dieser Scheidung zwischen dem Grund der Gewissheit und der Geschichtsunterworfenheit der Tatsachen und Zusammenhänge, die als für den Glauben relevant selbst einer Begründung bedürfen, besteht der kritische Teil der Lessingschen Religionsphilosophie. Relevant sind die Dokumente geschichtlicher Ereignisse dann, wenn bereits der Grund der Gewissheit gegeben ist. Nicht die Geschichte begründet die Gewissheit, sondern die Annahme eines geschichtsunabhängigen Prinzips.“ (Rohrmoser 1970, 43) Doch worin kann ein solches „Prinzip“

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II Zur indirekten Auseinandersetzung zwischen Lessing und Kant

„O Geschichte, O Geschichte! Was bist du?“ – so hätte Kant in solcher Hinsicht wohl durchaus unisono mit Lessing gerufen:¹⁰⁵ „Geschichtswahrheiten“ sind als solche eben zu bezeugen (und insofern auch wissbar), aber eben nicht „mit Gewissheit“ zu begründen¹⁰⁶ – und auch ‚Zeugenverhöre‘ helfen da nichts. Die „moralische Religion“ verlangt eben eine ganz andere ‚Gewissheits‘-Verankerung als diejenige, die eine „Geschichtswahrheit“ jemals zu bieten vermag und eröffnet auch nur so eine Überzeugung und einen „Beweis des Geistes und der Kraft“, der diese „Vernunftsache“ eben als eine solche auszeichnet, d. h. so auch jeden ‚Glauben an den Glauben‘ überholen muss und ebensowenig einer bloßen „Beglaubigung von außen bedarf“¹⁰⁷ bzw. einer solchen fähig ist. In diesem Sinne impliziert Kants Argumentation also ebenso eine affirmative Antwort auf Lessings einschlägige Überlegungen „Über den Beweis des Geistes und der Kraft“. Der „garstig breite Graben“ zwischen „zufälligen Geschichtswahrheiten“ und „notwendigen Vernunftwahrheiten“ ist durch keinen „Sprung“ zu überbrücken – Lessings diesbezügliche Bitte muss unerhört bleiben: „kann mir jemand hin-

Lessing zufolge bestehen, wenn dafür doch auch eine „Gefühlsgewissheit“ nicht in Frage kommt? (s.u. 100 ff.)  XIII, 5. Dass man „jeden Menschen von ihr [d.i. der christlichen Religion] praktisch hinreichend überzeugen“ könne (RGV, AA 06: 157. 23 – 24), ist wohl auch gegen Lessing gesagt.  XIII, 404. In der Tat bleibt kein „Zweifel übrig, dass Kant aus dem ihm eigentümlichen Gesichtspunkt der Unterscheidung zwischen Religionsglauben und Kirchenglauben Lessings Behauptungen über die Bedeutung, den relativen Wert und Unwert des Historischen in der Bibel und in der Lehre des Christentums überhaupt nicht nur billigte, sondern aufnahm und ausführte“ (Arnoldt 274 f.). Vgl. Kants frühe Notiz: „Die Christliche Religion ist in den Geheimnissen unwahrscheinlich, aber in der historischen Glaubwürdigkeit wahrscheinlich“ (Refl. 2586, AA 16: 429). Dass die „das Gewissen belästigenden Religionssätze … uns von der Geschichte“ kommen (Brief Kants an Mendelssohn v. 16.8. 1783: AA 10, 347) klingt hier schon an (s.u. II., Anm. 286 u. III., Anm. 191).Vgl. nochmals Kants Hinweis auf den „Leitfaden des Gewissens in Glaubenssachen“ (IV 859 ff).  Natürlich hätte Kant dem berühmten Lessing-Diktum zugestimmt: „Wenn keine historische Wahrheit demonstrieret werden kann: so kann auch nichts durch historische Wahrheiten demonstrieret werden“ (Über den Beweis des Geistes … : XIII, 5), zumal „historische Beweise“ nicht mehr als „historische Wahrscheinlichkeiten“ liefern können (XIII, 31). Dies ist der Sinn der von Goeze kritisierten Auffassung: „dass er [Lessing] keine Lehrsätze für wahr erkenne, welche allein durch historische Beweise und durch Facta erwiesen werden könnten. Da nun aber die vornehmsten und wesentlichsten Lehrsätze der christlichen geoffenbarten Religion sich allein auf Beweise von dieser Art gründen, so folgt ja unwidersprechlich, dass Herr Lessing alle diese Lehrsätze verwerfen müsse und wirklich verwerfe“ (Goeze, Lessings Schwächen. In: BohnenSchilson, Band 9, 453 f.). In diesem Sinne wollte Lessing eben „Zeugnisse von Dingen, die lediglich auf Zeugnissen beruhen“, davon unterscheiden, „wo die Vernunft auf ihrem eigenen Wege nur Gründe prüfen soll“ (XIII, 198).  XIII, 129.

3 Mannigfache – fundamentale – Übereinstimmungen zwischen Kant und Lessing

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überhelfen , der tu’ es; ich bitte ihn, ich beschwöre ihn“.¹⁰⁸ Es ist nach Kant lediglich die (in der Vorstellung des „Gott wohlgefälligen Menschen“ verkörperte) Idee des „Übersinnlichen in uns“, die eine „Erweiterung von der Grenze des Sinnlichen zum Felde des Übersinnlichen“ als einen (jeden „gefährlichen Sprung“ vermeidenden) „Überschritt“ (FM, AA 20: 273.1) eröffnet, indem sie jene „Zweckverbindung“ der Ideen des „Übersinnliche(n) nämlich in uns, über uns und nach uns“ (FM, AA 20: 295.5) als das Grundgerüst der Vernunftreligion fundiert (und so „für den Glauben Platz bekommt“), wobei jedoch auch dem Rekurs auf Offenbarung eine gewiss nicht „unnötige“ und „überflüssige“ (SF, AA 07: 9.5), sondern belehrende Aufgabe zukommt, die die praktische Vernunft zu „erleuchten“ vermag (s.u. II., 4.2.). Mag hinsichtlich der „Geschichtswahrheiten“ die Entscheidung über die Wahrheit der „positiven Religionen“ also auch ausweglos bleiben, so verhält es sich bezüglich der „Prinzipienfrage“ jedoch grundsätzlich anders – und ebendies ist es nach Kant, was dem Christentum – auch entgegen Lessings Sicht – seine Vorrangstellung sichert und so einen Ausweg aus jenem von Lessing behaupteten „gleich wahr/gleich falsch“ der Religionen eröffnet. Gewiss, für alle empirische Wahrheit bzw. „Geschichtswahrheiten“ wird wohl gelten, wovon jedoch die Prinzipienfrage der Religion unberührt bleibt: „Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist, oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz – Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: Vater gib! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!“¹⁰⁹ Indes, dieser berühmte eindringliche Befund ändert nach Kant nichts daran: Dass die Wahrheit der Religion nicht auf der Ebene der – nach Kant dem Wissen zuzuordnenden – „fides historica“ zu entscheiden ist, erlaubt jedoch nicht das voreilige Überspringen der Prinzipienebene. Allein der reine „Religionsglaube“ ist es, der einen

 XIII, 7.  XIII, 23 f. Th. Mann merkte dazu an: „Man beachte den Herzenston der Äußerung! So spricht nicht die Irreligiosität, so spricht eine Skepsis, die Frömmigkeit ist vor dem Unendlichen und ein ewiges Nachstreben“ (Mann 137 f.). „Der Zweifel als Glaube, Skepsis als Leidenschaft, das ist recht eigentlich Lessings Paradoxon, ein Paradoxon des Herzens und nicht des Verstandes, und eines damit ein Wahrheitsbegriff und Wahrheitspathos, wie es in so freier Schönheit nicht leicht zum zweitenmal in der Geistesgeschichte hervortritt“ (Mann 137).

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II Zur indirekten Auseinandersetzung zwischen Lessing und Kant

Ausweg aus den Streitigkeiten und Gewalttätigkeiten der Konfessionen bzw. der „historischen Glaubensarten“ anzubieten vermag: „nur der reine Religionsglaube, der sich gänzlich auf Vernunft gründet, kann als notwendig, mithin für den einzigen erkannt werden, der die wahre Kirche auszeichnet“ (RGV, AA 06: 115.14– 16), während die „sogenannten Religionsstreitigkeiten, welche die Welt so oft erschüttert und mit Blut bespritzt haben, nie etwas anders, als Zänkereien um den Kirchenglauben gewesen“ seien (RGV, AA 06: 108.16 – 18). Ebenso wird infolgedessen Kants Nähe zu Lessing auch in dessen Unterscheidung sichtbar – dies verlangt die „Gesinnung von der historischen Wahrheit“¹¹⁰ im Blick auf das „Historische der Religion“: „Bei mir bleibt die christliche Religion die nämliche: nur dass ich die Religion von der Geschichte der Religion will getrennet wissen. Nur dass ich mich weigere, die historische Kenntnis von ihrer Entstehung und ihrer Fortpflanzung und eine Überzeugung von dieser Kenntnis, die schlechterdings bei keiner historischen Wahrheit sein kann, für unentbehrlich zu halten. Nur dass ich die Einwürfe, die gegen das Historische der Religion gemacht werden, für unerheblich erkläre; sie mögen beantwortet werden können, oder nicht. Nur dass ich die Schwächen der Bibel nicht für Schwächen der Religion halten will.“¹¹¹ In solcher Absicht war ja auch schon Lessings frühere These zu verstehen: „Ich will ja nur sagen: die Religion war, ehe das Geringste von ihr schriftlich verfasst wurde. Sie war, ehe es noch ein einziges Buch von der Bibel gab, die itzt sie selbst sein soll.“¹¹² Genau in diesem Sinne wollte auch Kant den Gehalt des Christentums als Idee der „natürlichen Religion“ von ihrer Gestalt der Einführung und ihrem „natürlichen“ (menschlichen) Ursprung unterschieden wissen: „Das Christentum ist die Idee [!] von der Religion, die überhaupt auf Vernunft gegründet, und sofern natürlich sein muss. Es enthält aber ein Mittel der Einführung derselben unter Menschen, die Bibel“ (SF, AA 07: 44.24– 27).¹¹³ Kant

 XIII, 32.  XIII, 133. Später erläuterte Lessing seine Anliegen in „sogenannten Briefen an verschiedene Gottesgelehrte“ folgendermaßen: „Ich hatte, um gewissen Einwürfen gegen das Christentum mit eins den Weg zu verlegen, behaupten zu dürfen geglaubt, dass Einwürfe gegen die Bibel nicht notwendig auch Einwürfe gegen die christliche Religion wären, weil diese, in dem engen Verstande genommen, in welchem man nur die eigentlichen Glaubenslehren darunter begreift, die sie von jeder anderen positiven Religion unterscheiden, sich weder auf die ganze Bibel, noch auf die Bibel einzig und allein gründe“ (XVI, 488). Er begegnet damit noch einmal dem Einwand Goezes, „dass es schlechterdings keine christliche Religion geben könne, wenn die Bibel nicht wäre“. Damit ist freilich auch Kants Rekurs auf die „biblische Glaubenslehre, so wie sie vermittelst der Vernunft aus uns selbst [!] entwickelt werden kann“ (SF, AA 07:59.20 – 22), unverträglich.  XIII, 116.  In diesem Sinne ist es zu verstehen: „Kant wollte nicht der Herstellung einer reinen Vernunftreligion das Wort reden, sondern forderte die permanente kritische Bearbeitung der kirch-

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stand deshalb mit seiner Auffassung Lessing in der besonderen Hinsicht durchaus nahe, dass, wenn die Bibel nicht wäre, „so würde das Moral als eine Religion. Wäre aber keine Moral, so würde auch bei dem Glauben an eine Bibel doch keine Religion sein.“¹¹⁴ Gleichwohl ist nach Kant „Moral“ nicht „Religion“, sondern führt „unumgänglich“ zu dieser. Diesen Bedenken bleiben gleichermaßen das Judentum und der Islam ausgesetzt (s.u. II., 5.1. u. 5.2.). Dies berührt also das zentrale Verhältnis zwischen „Moral und Religion“: Wenn in der Tat ein – nicht zuletzt im Sinne der an die „praktische Vernunft“ „anstoßenden Fragen“ (s. dazu u. II., 4.2.) zu verstehendes – „Confinium … zwischen moralitas und religio“ schon Lessings besondere Aufmerksamkeit gefunden hat,¹¹⁵ so ist hierfür die Unterscheidung von Moralität und Religion freilich vorausgesetzt, weshalb ja auch noch der späte Lessing betonte: „Aber Moral ist nicht diese und jene Religion, ist die Grundlage aller Religionen“.¹¹⁶ Kant und Lessing gemeinsam ist demnach die Auffassung, dass alle Religionen notwendig auf dem Fundament der Moral beruhen müssen.¹¹⁷ Indes hätte Kant den für ihn entscheidenden Gesichtspunkt, dass bzw. weshalb allein „Moral“ erst „unumgänglich [unausbleiblich] zur Religion“ führe (vgl. RGV, AA 06: 6.8; ebd. 8, Anm.), bei Lessing wohl noch vermisst, der offensichtlich auch jenes kantische Programm des auf dem „Kritizismus der praktischen Vernunft gegründeten Religionslehre“ (SF, AA 07: 59.24– 25) berührt und ebenso wichtige anthropologische

lich-positiven Religion nach Maßgabe des normativen Gehalts jener“ (Barth 381 f.) – gleichwohl finden sich auch Äußerungen, denen zufolge die „Vernunftreligion“ „realisierbar“ ist.  So heißt es in den Vorarbeiten zum „Streit der Fakultäten“: VASF, AA 23: 435.17– 19.  Die renommierte Lessing-Forscherin I. Strohschneider-Kohrs charakterisiert dieses „confinium“-Motiv bei Lessing in unüberhörbar behutsamer Weise folgendermaßen: „Das Wissen der Grenze – und darin wäre durchaus eine Grundsignatur für die in Lessings Spätwerk sich abzeichnende Vernunftproblematik oder –fragwürdigkeit zu sehen – ist Bewusstsein eines Confiniums, an dem ein Anderes begegnet, das weder zu bestreiten noch zu beweisen ist; von dem nichts sonst mitzuteilen möglich scheint als die erfahrene, begrenzende Begegnung als solche“ (Strohschneider-Kohrs 1991,12).  So in den „Briefen an Gottesgelehrte“: XVI, 501. Freilich: „Die Religion hat weit höhere Absichten, als den rechtschaffenen Mann zu bilden. Sie setzt ihn voraus; und ihr Hauptzweck ist, den rechtschaffenen Mann zu höheren Einsichten zu erheben“ (V, 128). Religion wird also von Lessing keineswegs einfachhin auf Moral reduziert; umgekehrt betonte auch Lessing stets (so auch in seinem „Freigeist“), dass moralische „Rechtschaffenheit“ selbstverständlich auch ohne Religion lebbar ist.  Darin gründet wohl auch eine kantische Unterstützung für Lessings Parteinahme für Zinzendorfs Rekurs auf die „Tugendhaftigkeit“ als „dem einzigen zur Glückseligkeit“ Notwendigen (Beutel 156); s. dazu auch Kants eingehende Stellungnahme in SF, AA 07: 58.18 – 59.25.

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II Zur indirekten Auseinandersetzung zwischen Lessing und Kant

 Weil den anderen (nicht-christlichen) Religionen diese –anthropologisch relevanten, „aus der Seele des Menschen selbst geschöpft“ (SF, AA 07: 58.16), nicht „auf Geschichte“, „auf Treu und Glauben“ gegründeten – Grundthemen fehlen, erweisen sie sich nach Kant auch als defizitär. Kein Rekurs auf eine „Offenbarungslehre … , kein Glaube an Wunder“ (SF, AA 07: 58.14– 15) vermag diese zu ersetzen. Dieser entscheidende – von Kant für die (neutestamentliche) „Bibel“, d. h. für das Christentum als „Vernunftreligion“ reklamierte – anthropologisch relevante „prinzipielle“ Sachverhalt, der in den Anspruch der „wahren Religionslehre“ mündet, besagt vornehmlich dies (die nach Kant auf die „spezifische Differenz“ des Christentums – jenseits von binnenchristlichen „Sektenunterschieden“– abzielende späte Argumentation sei hier vollständig zitiert): „Es ist nämlich etwas in uns, was zu bewundern wir niemals aufhören können, wenn wir es einmal ins Auge gefaßt haben, und dieses ist zugleich dasjenige, was die Menschheit in der Idee zu einer Würde erhebt, die man am Menschen als Gegenstande der Erfahrung nicht vermuten sollte. Daß wir den moralischen Gesetzen unterworfene und zu deren Beobachtung selbst mit Aufopferung aller ihnen widerstreitenden Lebensannehmlichkeiten durch unsere Vernunft bestimmte Wesen sind, darüber wundert man sich nicht, weil es objektiv in der natürlichen Ordnung der Dinge als Objekte der reinen Vernunft liegt, jenen Gesetzen zu gehorchen: ohne daß es dem gemeinen und gesunden Verstande nur einmal einfällt, zu fragen, woher uns jene Gesetze kommen mögen, um vielleicht, bis wir ihren Ursprung wissen, die Befolgung derselben aufzuschieben, oder wohl gar ihre Wahrheit zu bezweifeln.– Aber daß wir auch das Vermögen dazu haben, der Moral mit unserer sinnlichen Natur so große Opfer zu bringen, daß wir das auch können, wovon wir ganz leicht und klar begreifen, daß wir es sollen, diese Überlegenheit des übersinnlichen Menschen in uns über den sinnlichen, desjenigen, gegen den der letztere (wenn es zum Widerstreit kommt) nichts ist, ob dieser zwar in seinen eigenen Augen Alles ist, diese moralische, von der Menschheit unzertrennliche Anlage in uns ist ein Gegenstand der höchsten Bewunderung, die, je länger man dieses wahre (nicht erdachte) Ideal ansieht, nur immer desto höher steigt: so daß diejenigen wohl zu entschuldigen sind, welche, durch die Unbegreiflichkeit desselben verleitet, dieses Übersinnliche in uns, weil es doch praktisch ist, für übernatürlich, d. i. für etwas, was gar nicht in unserer Macht steht und uns als eigen zugehört, sondern vielmehr für den Einfluß von einem andern und höheren Geiste halten; worin sie aber sehr fehlen: weil die Wirkung dieses Vermögens alsdann nicht unsere Tat sein, mithin uns auch nicht zugerechnet werden könnte, das Vermögen dazu also nicht das unsrige sein würde.– Die Benutzung der Idee dieses uns unbegreiflicher Weise beiwohnenden Vermögens und die Ansherzlegung derselben, von der frühesten Jugend an und fernerhin im öffentlichen Vortrage, enthält nun die echte Auflösung jenes Problems (vom neuen Menschen), und selbst die Bibel scheint nichts anders vor Augen gehabt zu haben, nämlich nicht auf übernatürliche Erfahrungen und schwärmerische Gefühle hinzuweisen, die statt der Vernunft diese Revolution bewirken sollten: sondern auf den Geist Christi, um ihn, so wie er ihn in Lehre und Beispiel bewies, zu dem unsrigen zu machen, oder vielmehr, da er mit der ursprünglichen moralischen Anlage schon in uns liegt, ihm nur Raum zu verschaffen. Und so ist zwischen dem seelenlosen Orthodoxism und dem vernunfttötenden Mystizism die biblische Glaubenslehre, so wie sie vermittelst der Vernunft aus uns selbst entwickelt werden kann, die mit göttlicher Kraft auf aller Menschen Herzen zur gründlichen Besserung hinwirkende und sie in einer allgemeinen (obzwar unsichtbaren) Kirche vereinigende, auf dem Kritizism der praktischen Vernunft gegründete wahre Religionslehre.“ (SF, AA 07: 58.18 – 59.25)

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Aspekte betrifft (s.u. 118 ff; 127 ff.),¹¹⁸ die durchaus rationaler Argumentation zugänglich sind. In modifizierter Form – d. h. in der gebrochenen Gestalt des „reflektierenden Glaubens“ (s.u. II., 4.2.) und in grenzbegrifflicher Behutsamkeit – ist jenes Motiv eines „confinium“ in der Tat auch bei Kant eben als eine Grundfigur dieser „auf dem Kritizismus der praktischen Vernunft gegründeten Religionslehre“ wiederzufinden.¹¹⁹ Daraus erklärt sich auch, weshalb Kants Unterscheidung zwischen Glaubenslehre und Religionslehre¹²⁰ an Lessings Kennzeichnung der „Glaubenslehre“ erinnert. Zeigt sich doch eine substanzielle Übereinstimmung zwischen Lessing und Kant nicht zuletzt auch darin, dass genauer besehen – im Sinne einer näheren Differenzierung – bei beiden die „christliche Lehre“ als offenbarungsbezogene bzw. „historische Glaubenslehre“ von der im engeren Sinne so verstandenen „Religionslehre“ ebenso unterschieden werden muss wie die „reine Religionslehre“ von dem „guten“, d. h. „gottwohlgefälligen Lebenswandel“,¹²¹ zumal doch in der „Religion“ selbst alles „aufs Tun“ ankomme (SF, AA 07: 41.37) und Theologie „lediglich zur Religion, di. dem praktischen, namentlich dem moralischen Gebrauche der Vernunft in subjektiver Absicht nötig sei“ (KU, AA 05: 482.6 – 8), weil sie den notwendigen ‚terminus ad quem‘ der Religion zu sichern vermag. Bei Lessing sind diese kantischen Differenzierungen in gewisser Hinsicht insofern unübersehbar vorweggenommen,¹²² als er von der „christlichen Glau-

 Solches „confinium“ zeigt sich besonders dort, wo „die Vernunft ins Stocken gerät“: AA 28, 1120 f.  Die „historischen“ und „statutarischen Glaubenslehren“ sind nach Kant eben nicht zur „Religion gehörig“, wie Kant (auch gegen Goeze) betont: „Woraus nichts zum bessern Lebenswandel zu machen ist[,] das gehört nicht zur eigentlichen Religionslehre, sondern nur der Glaubenslehre“ (VASF, AA 23: 428.34– 35); dieser klaren Unterscheidung Kants (aus den Vorarbeiten zum „Streit der Fakultäten“) hätte Lessing gewiss zugestimmt, liegt dies doch auch seiner Unterscheidung zwischen den „Glaubenslehren der christlichen Religion“ und dem „Praktischen, welches sie auf diese Glaubenslehren will gegründet wissen“ (XIII, 16), zugrunde.  „Wenn man … einmal annimmt, dass unter dem, was wir tun können, Gott zu gefallen, etwas mehr sei als der gute Lebenswandel, so sind keine Grenzen“ (Refl. 6308, AA 18, 602). Das Urteil Salas ist wohl nicht ganz unberechtigt (wenngleich darüber dadurch in der Sache nichts entschieden ist!): „Wenn Kant noch vom Christenglauben mit klar anerkennenden Worten spricht, so kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass er in diesem Glauben nur ein auf Zeit gültiges Vehikel der einst vollkommen sittlichen und ausschließlich menschlichen Vernunftreligion sieht: der ‚Religion des guten Lebenswandels‘“ (Sala 154). Gleichwohl finden sich bei Kant auch Äußerungen (so etwa über das Gnaden- und „Menschensohn“-Motiv, s.u. II., Anm. 265), die in einer unübersehbaren Spannung dazu stehen. Dahin weist auch Kants Bemerkung über die „durch hergebrachte fromme Lehren … erleuchtete praktische Vernunft“ (EaD, AA 08: 336.21– 23).  Es hat lediglich den Anschein, als habe Kant „Lessings Begriff von der Offenbarung lediglich adoptiert“ (Arnoldt 243), während in Wirklichkeit es sich jedoch „anders“ verhalte (ebd. 244),

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benslehre“ auch noch „das Praktische“ im Sinne der „christlichen Liebe“ unterschieden wissen wollte: „Aber welches von beiden möchte wohl das Schwerere sein? – Die christlichen Glaubenslehren annehmen und bekennen? oder die christliche Liebe ausüben?“¹²³

3.2 Lessings Satz: „Die Bibel enthält offenbar mehr, als zur Religion gehöret“¹²⁴ – mit Blick auf Kants Lehre von den „konzentrischen Kreisen“. Zu Lessings Unterscheidung zwischen „innerer“ und „hermeneutischer Wahrheit“ und Kants „authentische Schriftauslegung“ Einiges spricht wohl dafür, dass auch Kants Lehre von den „konzentrischen Kreisen“ (RGV, AA 06: 12.12)¹²⁵ und dem darin bestimmenden Verständnis von „Offenbarung“ sowie die darin geltend gemachten Differenzierungen wichtige motivliche Übereinstimmungen mit Lessing erkennen lassen. An dieses kantische Lehrstück von den „konzentrischen Kreisen“ erinnert offenbar auch seine These: „Die geoffenbarte Religion setzt im geringsten nicht eine vernünftige Religion voraus: sondern schließt sie in sich“.¹²⁶ Die sachliche Nähe zur Leitthese über die zumal „er die Absicht und den Endzweck der Offenbarung, die Merkmale für die Erkennbarkeit derselben als Offenbarung, und auch ihren spezifischen Inhalt anders bestimmte als Lessing“ (ebd. 245).  Das Testamentum Johannis: XIII, 16.  So Lessing in seinen „Axiomata“: XIII, 110.  „Da Offenbarung doch auch reine Vernunftreligion in sich wenigstens begreifen kann, so werde ich jene als eine weitere Sphäre des Glaubens, welche die letztere, als eine engere, in sich beschließt (nicht als zwei außer einander befindliche, sondern als konzentrische Kreise), betrachten können, innerhalb deren letzterem der Philosoph sich als reiner Vernunftlehrer (aus bloßen Prinzipien apriori) halten, hiebei also von aller Erfahrung [!] abstrahieren muss. Aus diesem Standpunkte kann ich nun auch den zweiten Versuch machen, nämlich von irgend einer dafür gehaltenen Offenbarung auszugehen, und, indem ich von der reinen Vernunftreligion (so fern sie ein für sich bestehendes System ausmacht) abstrahiere, die Offenbarung, als historisches System, an moralische Begriffe bloß fragmentarisch [!] halten und sehen, ob dieses nicht zu demselben reinen Vernunftsystem der Religion zurück führe, welches zwar nicht in theoretischer Absicht […], aber doch in moralisch-praktischer Absicht selbständig und für eigentliche Religion, die als Vernunftbegriff apriori (der nach Weglassung [!] alles Empirischen übrig bleibt), nur in dieser Beziehung statt findet, hinreichend sei“ (RGV, AA 06: 12.8 – 26). Darin ist die „Zusammenstimmung“ und „Einigkeit“ von „natürlicher Religion“ und „Offenbarungsreligion“ angezeigt, die sich allerdings in der Analyse auf das Christentum beschränkt.  XII, 434 (In: Ein Mehreres aus den Papieren des Ungenannten, die Offenbarung betreffend: XII, 303 – 450). „Da sie […] dieselbe in sich schließt; da sie alle Wahrheiten enthält, welche jene lehret, und sie bloß mit einer andern Art von Beweisen unterstützt: so ist es noch sehr die Frage, ob die Einförmigkeit der Beweisart, in Lehrbüchern für Kinder und gemeine Leute, nicht be-

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„konzentrischen Kreise“ (das „In-sich beschließen“ der „reinen Vernunftreligion“, s.o. Anm.125) ist jedenfalls unübersehbar. In diesem Sinne erfolgt die im Sinne des kantischen Projekts „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ unternommene philosophische Reflexion stets erst nachträglich – ein Sachverhalt, der in solcher Hinsicht freilich auch das Missverständliche dieses von Kant angebotenen Bildes von den „konzentrischen Kreisen“ berührt, das in der Sache durchaus auch Lessings Einsicht nahe steht: „Die Bibel enthält offenbar mehr, als zur Religion gehöret“. Auch in Lessings einschlägigen Rückfragen an Hauptpastor Goeze klingen in solcher Hinsicht jedenfalls bedeutsame Motive an, die auch für das kantische Programm der „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ bestimmend sind: „Ist denn Sein und Enthaltensein einerlei? Sind es denn ganz identische Sätze: die Bibel enthält die Religion, und die Bibel ist die Religion? […] Also der Satz: die Bibel enthält mehr, als zur Religion gehöret, ist ohne Einschränkung wahr.“¹²⁷ Bis in den Wortlaut erinnert dies wiederum an Kants späte Bemerkung im „Streit der Fakultäten“: „Die Schrift aber enthält noch mehr, als was an sich selbst zum ewigen Leben erforderlich ist, was nämlich zum Geschichtsglauben gehört und in Ansehung des Religionsglaubens als bloßes sinnliches Vehikel zwar (für diese oder jene Person, für dieses oder jenes Zeitalter) zuträglich sein kann, aber nicht notwendig dazu gehöret“ (SF, AA 07: 37. 16 – 21). Dies gilt gleichermaßen für Lessings Befund: „Wenn es wahr ist, dass die Bibel mehr enthält, als zur Religion gehöret, wer kann mir wehren, dass ich sie, insofern sie beides enthält, insofern sie ein bloßes Buch ist, den Buchstaben nenne; und dem bessern Teile derselben, der Religion ist, oder sich auf Religion beziehet, den Namen des Geistes beilege?“¹²⁸ Auch dies erinnert zweifellos an Kants Unterscheidung zwi-

quemer und nützlicher ist, als eine genaue Absonderung der vernünftigen und geoffenbarten Lehrsätze, einen jeden aus der ihm eigentümlichen Quelle erwiese“ (ebd.). Diese Frage Lessings hätte Kant wohl mit seinem „Bruchstück eines moralischen Katechismus“ kritisch beantwortet – näherhin mit seinem ausdrücklichen Hinweis auf die „Wichtigkeit … in der Erziehung“, „den moralischen Katechism nicht mit dem Religionskatechism vermischt vorzutragen (zu amalgamieren), noch weniger ihn auf den letzteren folgen zu lassen“ (MS, AA 06: 484.9 – 12).  XIII, 110 f. Vgl. dazu auch Assmann 2010, 169 f. Deshalb muss „jede, selbst die geoffenbarte Religion doch auch gewisse Prinzipien der natürlichen enthalten“ (RGV, AA 06: 156.17– 18).  XIII, 114. Auch hier sind wohl – wie Arnoldt berechtigterweise vermutet – direkte „lessingsche Einflüsse“ zu beobachten, aber natürlich: „Urkundliche Beweise gibt es keine“ (Fischer 1910, 370). Mit dieser Bemerkung bezweifelt Fischer die von Arnoldt vertretene Auffassung, „dass in Kants Ansichten, betreffend die Offenbarung, die Gewissheit historischer Wahrheiten und die von Vernunftwahrheiten, die Bedeutung des Historischen in der Bibel, die Freiheit biblischer und aller Forschung überhaupt, die Entbehrlichkeit der biblischen, speziell der neutestamentlichen Schriften, lessingsche Einflüsse, für oder wider, bemerkbar seien“ (ebd.).

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schen dem „Geist und Vernunftsinn“ (RGV, AA 06: 83.13) (d.i. „das Moralische“) und dem „Buchstaben (das Statutarische)“ der Bibel (SF, AA 07: 64.7– 8).¹²⁹ Die besondere diesbezügliche Nähe zu Kant – nicht zuletzt zu dessen Kriterien einer „authentischen Schriftauslegung“¹³⁰ in der Kontroverse mit dem „biblischen Theologen“ – wird wohl auch schon in jenem Lessing‘schen Rekurs auf die unverzichtbare „innere Wahrheit“¹³¹ der Religion sichtbar, die niemals durch einen „historischen Glauben“ erwiesen werden könne, sondern die „vermittelst der Vernunft aus uns selbst“ entwickelte „biblische Glaubenslehre“ manifestiert. Indes wollte Lessing keineswegs etwa die „innere Wahrheit der christlichen Religion“ der „Heiligen Schrift“ einfachhin entgegensetzen: „Entgegensetzen? Wer will denn diese zwei Dinge einander entgegensetzen? Ich? Ich behaupte ja nur, dass sie itzt voneinander ganz unabhängig sein können. Sind denn jede zwei verschiedne Dinge einander entgegengesetzt? Wer das behauptet, mag freilich leere Worte machen; ich mache durchaus keine.“¹³² Kants „authentische Schriftauslegung“ und auch seine Unterscheidung von „Buchstaben“ und „Geist“ stimmt ganz mit Lessings Befund überein.¹³³ Ebenso hat er den berechtigten Kern von Lessings Bezugnahme auf die „innere Wahrheit“ sodann in die knappe These

 „Die Authentizität der Auslegung wird eben gesichert dadurch, daß der Bibellehrer nur das aus der Schriftstelle entwickelt, was er selbst nach reinen sittlichen Principien hineingetragen hat, so fern der Text nur die Schicklichkeit hat, dem Buchstaben als Beispiel und Vehikel des selbständigen Religionsbegriffs angepasst zu werden.“ (VASF, AA 23: 455)  S. dazu auch die knappe Problemskizze und die weiterführenden Verweise bei Cunico 2015b.  Den Gehalt der „inneren Wahrheit“ hat Lessing offenbar durchaus unterschiedlich bestimmt, mitunter identifiziert er die „innere Wahrheit der geoffenbarten Religion (in den Axiomata) mit dem Gefühl“ (Danz 220 f). Der spätere Lessing meint damit jedoch offenbar etwas ganz anderes als in seinem früheren Entwurf „Über die Entstehung der geoffenbarten Religion“, wo es diesbezüglich lediglich – nicht unbedingt plausibel – heißt: „Die Unentbehrlichkeit einer positiven Religion, vermöge welcher die natürliche Religion in jedem Staate nach dessen natürlicher und zufälliger Beschaffenheit modifiziert wird, nenne ich die innere Wahrheit derselben, und diese innere Wahrheit derselben ist bei einer so groß als bei der andern … Alle positiven und geoffenbarten Religionen sind folglich gleich wahr und gleich falsch“ (XIV, 313) (s. dazu u. III., 1.1.). Dies sah Lessing also in allen „positiven Religionen“ gleichermaßen gewährleistet, was Kant jedoch entschieden in Frage gestellt hätte. Der genaue Stellenwert und Gehalt dieser (von Lessing offenbar auf ganz unterschiedliche Weise bestimmten) „inneren Wahrheit“ bei Lessing ist nicht eindeutig auszumachen.  XIII, 132.  „Es war eine Würdigung der Vernunftreligion, sie durch die biblische Lehre zu bestätigen oder als in ihr enthalten vorzustellen. – Will man dieses eine Abwürdigung des Christentums nennen, so muss man sehr verächtlich von der natürlichen denken: Geschieht dieses nun nicht, so dient die natürliche Religion zur Würdigung des Christentums“ (AA 23, 377).

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konzentriert, dass solche „innere Wahrheit“¹³⁴ weder einer äußeren „Beurkundung“ bzw. Beglaubigung bedarf noch einer solchen fähig ist¹³⁵ – denn der „reine Vernunftglaube … beweiset sich selbst“ (RGV, AA 06: 129.21– 23)¹³⁶ und ist als solcher auch „mitteilbar“.¹³⁷ Diese „Mitteilbarkeit“ sah Kant auch als besonderes Kennzeichen bzw. Kriterium der „natürlichen Religion“ und deren „allgemeinen Verbindlichkeit“ an; sie entspricht bemerkenswerterweise recht genau der ebenfalls geforderten „Mitteilbarkeit“ der „von uns gemachten“ „Gottesidee“ (s.o. 63 f.): Eine kantische Lesart des berühmten Lessing’schen „Beweises des Geistes und der Kraft“, die auch Kants Konzeption der „authentischen Schriftauslegung“ zugrunde liegt, worin eben der „Gott in uns“ als „Ausleger“ fungiert? Der in diesem „Gott in uns“ begründete „reine Religionsglaube“ ist oberste ‚Richtschnur‘ in der „authentischen“ Auslegung der „Schrift“; die „Göttlichkeit“ einer Offenbarung vermag eben allein der „Gott in uns“ zu bezeugen, der deshalb auch als Grund der „authentischen Schriftauslegung“ in Erscheinung tritt und so den wahrhaft religiösen Charakter der Bibel ausweist. Denn „dazu wird eine Ausle-

 Mit Recht betont Fick: „Überzeugung beruht für ihn [Lessing] allein auf Gründen der Sinngebung. Dieses ‚Plus‘ an Bedeutung, Sinn, ‚innerer Wahrheit‘, auf das hin die biblische Geschichte transparent werden muss, bezeichnet Lessing mit dem Terminus ‚notwendige Vernunftwahrheiten‘. Die Inhalte der Religion haben verbindlichen Charakter, sie sind nicht subjektiv beliebig. Über das Verbindliche entscheidet die Vernunft.“ (Fick 411) In einer unübersehbaren Spannung dazu steht freilich Lessings Rekurs auf das „beseligende Gefühl“ (s. dazu u. II., Anm. 203).  Diese Thematik klingt auch in dem Hinweis Lessings an, Cardanus behaupte „vielmehr, dass die ganze Lehre Christi nichts enthalte, was mit der Moral und mit der natürlichen Weltweisheit streite, oder mit ihr in keine Einstimmung könne gebracht werden … Das ist alles, was man verlangen kann! Man sage nicht, dass er dadurch auf einer andern Seite ausgeschweift sei, und unsrer Religion ihre eigentümlichen Wahrheiten, auf welche die Vernunft, vor sich allein, nicht kommen kann, absprechen wolle. Wenn dieses seine Meinung gewesen wäre, so würde er sich ganz anders ausgedrückt haben; die Lehre Christi, hätte er sagen müssen, enthält nichts anders, als was die Moral und natürliche Philosophie enthält; nicht aber: was sie enthält, harmoniert mit diesen. Zwei ganz verschiedne Sätze!“ (V, 321 f.). – Wie bei Lessing wird auch von Kant die moralische „Lehre Christi“ von der Nachricht über diese bzw. über die Grundlehre des Evangeliums von der „Hilfslehre“ unterschieden (vgl. den Brief an Lavater AA 10 176; ebd. 178), sodass dem (historischen) Offenbarungsglauben lediglich (und immerhin) der Wert eines „Vehikel[s]“ (oder einer „Introduktion“) zuerkannt wird (VASF, AA 23: 443.14). Vgl. dazu Vorländer II, 160 f.  Dies ist deshalb so, weil die „Grundsätze“, „was aus Schriftstellen für die Religion (die bloß Gegenstand der Vernunft sein kann) auszumitteln sei, auch von der Vernunft diktiert werden müssen“ (SF, AA 07: 38.22– 24).  Und lediglich eine Konsequenz daraus ist die kantische Klage: „Dass aber der sogenannte Laie (Laicus) in Sachen der Religion, da diese als Moral gewürdigt werden muss, sich seiner eigenen Vernunft nicht bedienen, sondern dem bestallten Geistlichen (Clericus), mithin fremder Vernunft folgen solle, ist ungerecht zu verlangen“ (Anth, AA 07: 200.14– 17).

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gung der uns zu Händen gekommenen Offenbarung erfordert, d.i. durchgängige Deutung derselben zu einem Sinn, der mit den allgemeinen praktischen Regeln einer reinen Vernunftreligion zusammenstimmt“ (RGV, AA 06: 110. 4– 7).¹³⁸ Auch dies besagt: Das ‚Rationale‘ des Glaubens vermag die „gemeine Menschenvernunft“ zu begreifen, weil, gegenüber dem bloßen „Geschichtsglauben“, allein der prinzipien-orientierte „reine Religionsglaube“ auch „Überzeugung von der Wahrheit“ (SF, AA 07: 46.34) ermöglicht, d. h. jenem „Geist und Vernunftsinn“ verpflichtet ist, der auch in der „authentischen Schriftauslegung“ freigelegt wird. Zugestimmt hätte Kant deshalb – ganz im Sinne seiner „authentischen Schriftauslegung“ und seiner Kritik an dem „an sich toten“ Geschichtsglauben – zweifellos auch der gegen Goeze gerichteten Bemerkung Lessings:¹³⁹ „Der Buchstabe ist nicht der Geist, und die Bibel ist nicht die Religion“ – woraus folge: „Folglich sind Einwürfe gegen den Buchstaben, und gegen die Bibel, nicht eben auch Einwürfe gegen den Geist und gegen die Religion“.¹⁴⁰ Infolgedessen müsse sich auch die ‚fundamentalistische‘ Haltung als ohnmächtig erweisen, wie Kant – in der Sache offenbar mit Lessing gegen Goetze¹⁴¹ – betonte: „Ein heiliges Buch erwirbt sich selbst bei denen (und gerade bei diesen am meisten), die es nicht lesen, wenigstens sich daraus keinen zusammenhängenden Religionsbegriff machen können, die größte Achtung, und alles Vernünfteln verschlägt nichts wider den alle Einwürfe niederschlagenden Machtspruch: da stehts geschrieben“

 Kants später Befund ist in der Sache wohl gleichermaßen gegen Mendelssohn, Jacobi und gegen Lessing gerichtet und markiert auch einen Kerngedanken seiner „allgemeinen Menschenreligion“: „Der Gott, der durch unsere eigene (moralisch-praktische) Vernunft spricht, ist ein untrüglicher allgemein verständlicher Ausleger dieses seines Worts, und es kann auch schlechterdings keinen anderen (etwa auf historische Art) beglaubigten Ausleger seines Worts geben; weil Religion eine reine Vernunftsache ist“ (SF, AA 07: 67.23 – 27).  Gegen Goeze beschwor Lessing auch Luther: „Großer, verkannter Mann! Und von niemand mehr verkannt als von den kurzsichtigen Starrköpfen, die, deine Pantoffeln in der Hand, den von dir gebahnten Weg, schreiend aber gleichgültig dahinschlendern! – Du hast uns von dem Joche der Tradition erlöset, aber wer erlöset uns von dem unerträglichen Joche des Buchstabens! Wer bringt uns endlich ein Christentum, wie Du es itzt lehren würdest, wie es Christus selbst lehren würde!“ (XIII, 102)  XII, 428.  Gegen ihn könnte auch die Bemerkung gerichtet sein: „Theologen schreien über Freigeister, und sie sollten lieber untersuchen, ob es nicht an ihren eignen Methoden liegt, die … bei zunehmender Kultur unzulänglich“ sind (Refl. 1458, in: AA 15, 640). Die Kontroverse zwischen Lessing und Goeze war für Kant wohl ein markantes Beispiel eines Streits, der sich in den „Versuchen der Vereinigung“ der „reinen Religionslehre mit der geoffenbarten, gleichfalls als empirischbedingter, noch immer zuträgt“ (AA 12, 31).

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(RGV, AA 06: 107.6 – 10).¹⁴² Dagegen richtete sich wohl auch Kants energischer Einspruch, der auch die historische ‚Bibelkritik‘ uneingeschränkt ins Recht setzt: „Wenn die Quelle gewisser sanktionierter Lehren historisch ist, so mögen diese auch noch so sehr als heilig dem unbedenklichen Gehorsam des Glaubens anempfohlen werden: die philosophische Fakultät ist berechtigt, ja verbunden, diesem Ursprunge mit kritischer Bedenklichkeit nachzuspüren“ (SF, AA 07: 32.33 – 33.1).¹⁴³ Auch daraus wird jedenfalls deutlich, dass Lessing und Kant nicht zuletzt die gemeinsame Ablehnung eines bloßen ‚Autoritätsglaubens‘ und des bloß „passiven Gehorsams“ (RGV, AA 06: 103.19) verbindet, zumal dies mit Vernunftansprüchen doch ganz unverträglich ist. Darin zeigt sich auch die grundsätzliche Übereinstimmung bezüglich der Gewährung der Denkfreiheit und Freiheit der Forschung in der Theologie,¹⁴⁴ von der sich auch der „biblische  In diesem Sinne kritisierte Kant auch die aufklärungsfeindliche Berufung in dem „theologischen Fache“, das „buchstäblich ‚Glauben‘, ohne zu untersuchen (selbst ohne einmal recht zu verstehen), was geglaubt werden soll“, empfiehlt (SF, AA 07: 31.31– 33). – Als ob Kant Lessings polemische Bemerkung gegen Goeze gekannt hätte: „Denn ihm [Goeze] war es allerdings so klar, wie der Tag, dass die heilige Schrift der einige Grund seiner allerheiligsten Religion sei, von deren mehrersten Glaubenslehren er gar nicht einsähe, wo er an heiliger Stätte den Beweis anders her als aus der Bibel nehmen könnte! Da stehts! da kratzt es aus! da seht ihrs ja, dass nur wir, wir Lutheraner, erhörlich zu Gott beten können“ (so Lessing in den „sogenannten Briefen an Gottesgelehrte“: XVI, 489). An der Seite Lessings hätte Kant Goeze wohl als ein markantes Beispiel dafür angesehen, „wie mit einer sich freien Menschen aufdringenden Hierarchie sich die schreckliche Stimme der Rechtgläubigkeit aus dem Munde anmaßender, alleinig berufener Schriftausleger erhob“ (RGV, AA 06: 130.25 – 28).  Kants (nach wie vor aktueller) Anspruch ist klar: „Wenn die Theologen auch mit Vernunftgründen wollen zu tun haben, mithin nicht bloß als biblische Theologen sprechen, so müssen sie sich auf meine philosophische Religionslehre gleichfalls durch Philosophie einlassen, und nicht durch Machtsprüche ihrer Fakultät.“ (VASF, AA 23: 429)  S. dazu ausführlich Arnoldt 275 ff. – Die reklamierte „Freiheit der Philosophen, ihn [den Bibelglauben] jederzeit der Kritik der Vernunft zu unterwerfen“ (SF, AA 07: 67.30 – 31), richtet sich indirekt auch gegen Goeze. Ebenso dies: „Die Beglaubigung der Bibel also ein solcher beharrlicher Canon zu bleiben gründet also nicht wiederum auf göttlicher Offenbarung (einem geoffenbarten göttlichen Willen), dass sie für den einzigen heiligen Codex angenommen werden solle, sondern dass, weil es keine Kirche ohne ein solches Buch nicht wohl geben kann, dieses, was einmal da ist und jenen Zweck der Religionslehre erfüllt dazu angenommen zu werden verdiene“ (VASF, AA 23: 453.21– 26). Schon Lessing hatte sich gegen die von Goeze unterstützten „Lutherischen Pastores“ und die von ihnen betriebene Vorschrift gewendet, d. h. geltend gemacht, „Luthers Geist erfordert schlechterdings, dass man keinen Menschen, in der Erkenntnis der Wahrheit nach seinem eigenen Gutdünken fortzugehen, hindern muss. Aber man hindert alle daran, wenn man auch nur Einem verbieten will, seinen Fortgang in der Erkenntnis andern mitzuteilen. Denn ohne diese Mitteilung im Einzeln, ist kein Fortgang im Ganzen möglich. Herr Pastor, wenn Sie es dahin bringen, dass unsere Lutherschen Pastores unsere Päbste werden: – dass diese uns vorschreiben können, wo wir aufhören sollen, in der Schrift zu forschen; – dass

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Theolog“ nicht freimachen kann; dieser „verläuft sich in das offene, freie Feld der eigenen Beurteilung und Philosophie, wo er, der geistlichen Regierung entlaufen, allen Gefahren der Anarchie ausgesetzt ist“ (SF, AA 07: 24.24– 25).¹⁴⁵ Es erinnert zweifellos ebenfalls an die zwischen Lessing und Goeze ausgetragenen Kontroversen,¹⁴⁶ wenn Kant doch unnachgiebig darauf insistierte: „Der biblische Theolog kann doch der Vernunft nichts Anderes entgegensetzen, als wiederum Vernunft, oder Gewalt, und will er sich den Vorwurf der letzteren nicht zu Schulden kommen lassen, (welches in der jetzigen Krisis der allgemeinen Einschränkung der Freiheit im öffentlichen Gebrauch sehr zu fürchten ist), so muss er jene Vernunftgründe, wenn er sie sich für nachteilig hält, durch andere Vernunftgründe unkräftig machen und nicht durch Bannstrahlen, die er aus dem

diese unserm Forschen, der Mitteilung unsers Erforschten, Schranken setzen dürfen:so bin ich der erste, der die Päbstchen wieder mit dem Pabst vertauscht.“ (So im Anti-Goeze: XIII, 143 f.)  Dem eigentlichen „Zeitalter der Kritik“ ist auch Religion in allen Erscheinungsformen ausgesetzt – dies ist nach Kant sogar die unverzichtbare Aufgabe der philosophischen Fakultät: „Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muss. Religion durch ihre Heiligkeit und Gesetzgebung durch ihre Majestät wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können“ (KrV, A XI Anm.); dies ist auch als eine sachliche Parteinahme für Lessing gegenüber Goeze zu lesen und als eine Unterstützung der Veröffentlichung der „Fragmente“. Den „Fragmentenstreit“ würdigt Vollhardt als das „prägnanteste und einprägsamste Beispiel dafür, was Aufklärung zu leisten vermochte.“ (Vollhardt 2018, 13). Indes, wenn Reimarus’ „Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes“ als „Hauptwerk der deutschen Aufklärung“ anzusehen ist (so Blumenberg 490), so steht der ‚Aufklärer‘ Kant doch in einer bemerkenswerten Distanz dazu. Den „Hauptpunkt der Aufklärung“ sah freilich auch Kant in seinem Programm „vorzüglich in Religionssachen gesetzt“ (WA, AA 08: 41.10 – 12), zumal „in Religionsdingen … die meisten unmündig und … [d. h. noch] immer unter der Leitung von fremder Vernunft“ sind (Refl. 515: AA 15, 223). Dies betrifft auch die von Lessing kritisierte Haltung in früheren „barbarischen Zeiten“, wonach sich mit seinen Glaubenszweifeln „niemand … an das Licht getrauen durfte“ (XIII, 166). Vgl. auch Lessings – hinsichtlich seiner „aufklärerischen“ Absichten erhellenden – Vergleich zwischen dem Pastor (Goeze) und ihm selbst (als Bibliothekar): „Überhaupt denke ich, der Pastor und Bibliothekar verhalten sich gegen einander, wie der Schäfer und der Kräuterkenner“: „Aber der Schäfer kennt nur die Kräuter seiner Flur; und schätzt und pflegt nur diejenigen Kräuter, die seinen Schafen die angenehmsten und zuträglichsten sind“, während der neugierige ‚Kräuterkenner‘ hingegen auch für andere Erfahrungen und Entdeckungen offen ist: „Wie unbekümmert ist er, ob dieses neue Kräutchen giftig ist, oder nicht! Er denkt, wenn Gifte auch nicht nützlich sind – … so ist es doch nützlich, dass die Gifte bekannt sind“ (XIII, 96). Nur dies ist mit einer vorbehaltslosen aufgeklärten ‚Wahrheitssuche‘ vereinbar.  Sie betreffen vornehmlich die von Lessing vertretene These, „dass die Bibel zwar eine Offenbarung enthält, aber keine ist“, die Unterscheidung des „Buchstaben(s) von dem Geiste der Bibel“ sowie die Auffassung, „dass die Religion eher gewesen, als die Bibel“ (XIII, 145).

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Gewölke der Hofluft auf sie fallen lässt“.¹⁴⁷ Dies ist zweifellos ein wesentlicher Aspekt einer ‚aufgeklärten Denkungsart‘. Unschwer lässt sich diese bissige Bemerkung Kants auch als ein später Kommentar zu Lessings Kontroverse mit dem Hamburger Pastor Goeze verstehen – ebenso seine gelegentliche einschlägige Kritik an einem „seelenlosen Orthodoxism“ (SF, AA 07: 59.19 – 20),¹⁴⁸ auf die seine „authentische Schriftauslegung“ abzielt.¹⁴⁹ Womöglich hatte auch er dabei ‚typologisch‘ die in der Gestalt des Patriarchen in Lessings „Nathan“ personifizierten „Besitzer der wahren Religion“ vor Augen, die mit ‚Buchstabentreue‘ die Kraft ihrer Religion suchen. Die Freilegung der „inneren Wahrheit“, die die „historische Kenntnis der Religion“ noch entbehrt, ist Aufgabe der „authentischen Schriftauslegung“, die nicht die „natürliche(n) Grundsätze der Sittlichkeit zur Nebensache macht“ (SF, AA 07: 60.14– 15); sie orientiert sich dabei vielmehr vorrangig am Aufweis jener inwendigen „Zweckverbindung der Vernunftideen“ (des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“, s.o. 9 f; 15; 41; 76), die in dem spät formulierten „Credo in den drei Artikeln des Bekenntnisses der reinen praktischen Vernunft“ (FM, AA 20: 298.16 – 17) ihre nähere Entfaltung findet, den religionsbegründenden Zusammenhang von „Theologie und Moral“ (s.o. I., 3.1.) ausmacht und dergestalt zeigt, wie Moral „unumgänglich zur Religion“ führt. Kants „Credo“ verwirft gleichermaßen jenen „seelenlosen Orthodoxism“¹⁵⁰ und einen „vernunfttötenden Mystizismus“: „Und so ist zwischen dem seelenlosen Orthodoxism und dem vernunfttötenden Mystizism die biblische Glaubenslehre, so wie sie vermittelst der Vernunft aus uns selbst entwickelt werden kann, die mit göttlicher Kraft auf aller Menschen Herzen zur gründlichen Besserung hinwirkende und sie in einer allgemeinen (obzwar unsichtbaren) Kirche vereinigende, auf dem Kritizism der praktischen Vernunft gegründete wahre Religionslehre“ (SF, AA 07: 59.19 – 25).

 So Kant in einem Brief an Stäudlin v. 4. 5.1793. In: AA 11, 429.  Auch Lessing spricht vom „Orthodoxisten“ im Unterschied vom „Orthodox“, auf dessen Seite er sich stellt: „der Orthodox tritt auf meine Seite“ (XIII, 27).  Ihr zufolge ist eben die Vernunft „in Religionssachen die oberste Auslegerin der Schrift. -Dass aber selbst, wenn man dem heil. Schriftsteller keinen andern Sinn, den er wirklich mit seinen Ausdrücken verband, unterlegen kann, als einen solchen, der mit unserer Vernunft gar in Widerspruche steht, die Vernunft sich doch berechtigt fühle, seine Schriftstelle so auszulegen, wie sie es ihren Grundsätzen gemäß findet und nicht dem Buchstaben nach auslegen solle“ (SF, AA 07: 41.5 – 11).  „Die angemaßte alleinige Rechtgläubigkeit der Lehrer, oder Häupter einer Kirche in dem Punkte des Kirchenglaubens heißt Orthodoxie, welche man wohl in despotische (brutale) und liberale Orthodoxie einteilen könnte“ (RGV, AA 06: 109.3 – 6) – eine Unterscheidung, die ebenfalls an Lessings Kontroverse mit Goeze erinnert.

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Möglicherweise verdankt sich noch Kants beiläufige Bemerkung über das „Geschrei der Alarmisten (das Reich ist in Gefahr)“ (SF, AA 07: 65.19 – 20) einer Reminiszenz an diese von Lessing mit Goeze geführte Kontroverse. Jedenfalls lesen sich auch Kants Ausführungen über den „Streit der theologischen und der philosophischen Fakultät“ über weite Strecken ohnedies wie ein indirekter Kommentar zu Lessings Streit mit dem Hamburger Hauptpastor. Auch in einer solchen besonderen Hinsicht sind Kants Bestimmung der „Materie des Streits“ sowie seine „philosophischen Grundsätze der Schriftauslegung zu Beilegung des Streits“ und seine „Einwürfe und Beantwortung derselben, die Grundsätze der Schriftauslegung betreffend“, jedenfalls sehr aufschlussreich (vgl. SF, AA 007: 38 – 47) – desgleichen seine ausdrückliche Verwahrung gegen den – ihm offenbar schon aus zeitgenössischen (‚neologischen‘?) Debatten bzw.Vorwürfen geläufigen – Verdacht, die „eigentlichen Offenbarungslehren […] wegzuphilosophieren [!]¹⁵¹ und ihnen einen beliebigen [!] Sinn unterzuschieben“ (SF, AA 07: 38.9 – 11).¹⁵² Dies

 Im 8. seiner „Briefe, die neueste Literatur betreffend“ (aus dem Jahr 1759), findet sich bei Lessing ebenfalls eine – erstaunlicherweise wiederum bis ins Terminologische reichende ähnliche – Distanzierung von (neologischen?) „philosophischen Grüblern“, d.i. jenen „tiefsinnigen Geister(n) … , welche die ganze Religion platterdings wegphilosophieren [!], weil sie ihr philosophisches System darein verweben wollen“ (VIII, 17). – In den Vorarbeiten zur „Religionsschrift“ notierte Kant: „Wenn statt dessen es: Religion der bloßen Vernunft wäre betitelt worden, den Anschein gehabt hätte, als würden die Offenbarungslehren, worauf hier oft Beziehung genommen wird, für bloße auf besondere Art eingekleidete Vernunftlehren ausgegeben würden, mithin der Bibel der Sinn habe aufgedrungen werden wollen, nichts als ein philosophisch moralisches Gebäude vorzustellen“ (VARGV, AA 23: 93.21– 26). Man könnte meinen, dass Kant hier direkt Lessings Auseinandersetzung mit Reimarus und den „Neologen“ im Themenfeld „Vernunft und Offenbarung“ vor Augen stand.  Kant wusste von dem drohenden Missbrauch, die „biblische Kenntnis“ „zur reinen Vernunftkenntnis zu erwietern oder abzuändern“ (AA 20, 435.13). – In diesem Sinne betonte er auch: „Der Streit der Fakultäten kann u. wird wohl zwischen der theologischen u. philosophischen immer bleiben, aber nicht als Widerstreit, sondern als Antagonism der Einschränkung der einen durch die andere“ (VASF, AA 23: 453.8 – 10). Damit ist freilich Kants Auskunft nicht so ohne weiteres vereinbar: „Eben dieselben Sätze [statutarischer Dogmen] können gleichwohl als wesentliche Erfordernisse zum Vortrag eines gewissen Kirchenglaubens angesehen werden, der aber, weil er nur Vehikel des Religionsglaubens, mithin an sich veränderlich ist und einer allmählichen Reinigung bis zur Kongruenz mit dem letzteren fähig bleiben muss“ (SF, AA 07: 42.23 – 27). Auch dies bestätigt wohl eine bleibende Unklarheit bzw. ein Schwanken, wie die von Kant intendierte bzw. dem Anspruch nach aufgewiesene „mögliche Vereinigung [!]“ der christlichen Religion „mit der reinsten praktischen Vernunft“ (so auch Kant in seinem schon zitierten Brief an Stäudlin v. 4. 5.1793: AA 11, 429) genau zu verstehen ist. Jedenfalls bleibt die von Kant geltend gemachte „philosophische Theologie“ stets jene kritische Instanz, welche die beanspruchten „Offenbarungslehren“ davor bewahrt, „den Endzweck, der als innere Religion mora-

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gilt auch für den beklagten Übergriff „in das Geschäft des biblischen Theologen“ (SF, AA 07: 45.11) bzw. für den von Kant vermutlich auch Goeze zugeschriebenen Einwurf: „Als Offenbarung muss die Bibel aus sich selbst und nicht durch die Vernunft gedeutet werden; denn der Erkenntnisquell selbst liegt anderswo als in der Vernunft“ (SF, AA 07: 46.14– 16) – eine Bemerkung, die der Sache nach ein auch bei Kant offenes Problem anzeigt (s. dazu u. II., 4.1.). Jene gegenüber einer dieserart beanspruchten „Offenbarung“ erhobene kantische Forderung: „dass eine Offenbarung göttlich sei, kann nie durch Kennzeichen, welche die Erfahrung an die Hand gibt, eingesehen werden. Ihr Charakter (wenigstens als conditio sine qua non) ist immer die Übereinstimmung mit dem, was die Vernunft für Gott anständig erklärt“ (SF, AA 07: 46.20 – 23),¹⁵³ nimmt sich – wiederum bis in die Formulierung¹⁵⁴ – wie eine direkte Bezugnahme auf Lessings Auffassung aus:¹⁵⁵ „Die Religion ist nicht wahr, weil die Evangelisten und Apostel sie lehrten: sondern sie lehrten sie, weil sie wahr ist. Aus ihrer innern Wahrheit müssen die schriftlichen Überlieferungen erklärt werden, und alle schriftliche(n) Überlieferungen können ihr keine innere Wahrheit geben, wenn sie keine hat.“¹⁵⁶ Deshalb gilt: „Das Christentum war, ehe Evangelisten und Apostel

lisch sein muss und auf der Vernunft beruht, ganz aus den Augen zu bringen“ (SF, AA 07: 38.13 – 14).  Dies macht deutlich, dass Jacobis polemische Feststellung jedenfalls Kant nicht trifft, wonach die Transzendentalphilosophie „nicht allein die Natur, sondern Gott selbst ihrer Gesetzgebung zu unterwerfen und ihm vorzuschreiben“ suche, „wie er sein und handeln muss, wenn er Gott bleiben soll“ (Jacobi, II 472 f, zit. n. Timm 1974, 462) Vgl. RGV, AA 06: 168 Anm..  Näherhin verfolgt Arnoldt den von ihm behaupteten Einfluss Lessings auf Kants „Ansichten“ anhand der Themen „Offenbarung, über die Gewissheit historischer Wahrheiten im Unterschiede von der Gewissheit von Vernunftwahrheiten, über die Bedeutung des Historischen in der Bibel, über die Freiheit biblischer und aller Forschung überhaupt oder die Denkfreiheit, endlich über die Entbehrlichkeit der biblischen, speziell der neutestamentlichen Schriften“ (Arnoldt 243).  „Man kann also die Frage aufwerfen, ob der Bibelglaube (als empirischer), oder ob umgekehrt die Moral (als reiner Vernunft- und Religionsglaube) dem Lehrer zum Leitfaden dienen solle: Mit anderen Worten: ist die Lehre von Gott, weil sie in der Bibel steht, oder steht sie in der Bibel, weil sie von Gott ist?“ (SF, AA 07: 65 Anm.)  XII, 429. „Was müssen wir aus diesen [Schriften der Evangelisten und Apostel] nehmen? Die innere Wahrheit [die Wahrheit, die keiner „Beglaubigung von außen bedarf“] oder unsere erste historische Kenntnis dieser Wahrheit?“ (XIII, 129) Diese Betonung der „inneren Wahrheit“ ist freilich von Lessings früherer Bezugnahme darauf (in dem Entwurf „Über die Entstehung …“) in der Sache deutlich unterschieden. „Woher die innere Wahrheit nehmen? Aus ihr selbst. Deswegen heißt sie ja die innere Wahrheit; die Wahrheit, die keiner Beglaubigung von außen bedarf“ (XIII, 129), sondern sich allein in der „Wirkung ihres Inhalts“ (SF, AA 07: 63.21– 22) zeigt. Dass die „innere Wahrheit irgend eines Satzes“ nicht von „dem Ansehen des Buches abhängen“ könne, „in dem sie vorgetragen worden“ (XIII, 120), versteht sich nach Kant von selbst. S. dazu o. 83 f..

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geschrieben hatten“;¹⁵⁷ die „innere Wahrheit“ des Christentums liegt also dem biblischen Auftreten der christlichen Religion voraus, sofern lange vor dem aufgetretenen „Volksglauben“ „die Anlage zur moralischen Religion in der menschlichen Vernunft verborgen lag“ (RGV, AA 06: 111.21– 22), die dann auch nicht mehr in Vergessenheit geraten kann. Dies war ja offenbar auch mit der schon angeführten Bemerkung Lessings über die sachliche Priorität der Religion gegenüber der Bibel gemeint: „die Religion war, ehe das Geringste von ihr schriftlich verfasst wurde. Sie war, ehe es noch ein einziges Buch von der Bibel gab“ (s.o. II., Anm.112).¹⁵⁸ Ebendiese „innere Wahrheit“ ist nach Kant ganz und gar an den moralischen Gehalt des auf die Verknüpfung der „Vernunftideen“ (des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“) begründeten „reinen Religionsglaubens“ gebunden, weil doch nur daraus – im Blick auf das Ganze einer „moralische(n) Lebensgeschichte jedes Menschen“ (RGV, AA 06: 143. 33 – 34) – das „tua res agitur“ (auch im Sinne jenes „confiniums“¹⁵⁹ zwischen „Moral und Religion“) vernehmbar werden kann und dies auch die von ihm geltend gemachte alleinige Verbindlichkeit der „authentischen Schriftauslegung“ begründet. Bedarf doch „weder die Wahrheit jener Lehren, noch das Ansehen und die Würde des Lehrers einer andern Beglaubigung“ als allein der „Prinzipien der Vernunft“ und deren „Ordnung“.¹⁶⁰ Die Einsicht in diese „innere Wahrheit“, sofern sie „Gott und den Menschen anständiger ist“, kann nach den Kriterien des „moralischen Monotheismus“ mit Sicherheit und jederzeit geprüft werden aufgrund des „Gefühls der Nötigung“ in

 XII, 429. – Auch Kant betonte, wie erwähnt, den Unterschied der „Lehre Christi von der Nachricht, die wir von der Lehre Christi haben“ (AA 10, 176).  In diesem Sinne hat Lessing auch betont: „Soll entdecken so viel heißen, als zuerst bekannt machen: so habe ich schon bewiesen, dass die Schrift die innere Wahrheit der christlichen Religion der Welt nicht zuerst bekannt gemacht hat. Hier setze ich noch hinzu, dass sie itzt den einzelnen Menschen dieses noch weniger tut. Denn wir kommen alle, mit den Grundbegriffen der Religion bereits versehen, zu ihr“ (XIII, 131). Auch damit zeigt sich eine gewisse Nähe zur „authentischen Schriftauslegung“ Kants und zu dessen Behauptung, dass „lange vor“ dem „Volksglauben“ „die Anlage zur moralischen Religion in der menschlichen Vernunft verborgen lag“ (RGV, AA 06: 111.21– 22), die durch diese „authentische Auslegung“ erst freizulegen ist.  Dieses „confinium“ markiert so gewissermaßen das „Scharnier“ zwischen einem „ethischen“ und einem „religiösen“ Lebensentwurf, damit auch zwischen „ethischem“ und „ethischreligiösem Erkennen“ (Kierkegaard).  Mit Recht betont Nisbet: „Kants Behauptung in der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, dass der Ursprung einer Religion und die historische Offenbarung, auf die sie zurückzugehen behaupte, für ihre universale Bedeutung belanglos seien, ist offenkundig ein Echo Lessings“ (Nisbet 2008, 743). Gleichwohl darf dies die von Kant eingeräumte notwendige „Belehrung“ durch Offenbarung nicht übersehen lassen, die sich dann aber doch wiederum – jedenfalls oftmals – auf die bloße ‚Vehikel‘-Funktion zu beschränken scheint.

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diesem Urteil. Und allein so sei auch zu beantworten, „auf welche Art Religion überhaupt mit aller Lauterkeit und Kraft an die Herzen der Menschen zu bringen sei“.¹⁶¹ In diesem Sinne insistierte Kant in seinen späteren religionsphilosophischen Schriften darauf, dass auch die „Beglaubigung der Göttlichkeit“ der Offenbarung niemals in bzw. durch den Rekurs auf einen „historischen Glauben“ erfolgen kann, weil dadurch die „innere Wahrheit“¹⁶² des Geglaubten nicht gewährleistet wäre, die eben nicht auf bloße geschichtliche ‚Fakta‘ und deren bloß „äußere Beglaubigung“ begründet sein kann. Die „vollständige Religion“ wird „allen Menschen durch ihre eigene Vernunft fasslich und überzeugend vorgelegt“, „ohne dass weder die Wahrheit jener Lehren, noch das Ansehen und die Würde des Lehrers irgend einer anderen Beglaubigung … bedürfte“ (RGV, AA 06: 162. 14– 21).¹⁶³ Vielmehr enthält die heilige Schrift selbst den inneren „Beglaubigungsgrund“ ihrer „Göttlichkeit“, zumal diese „Göttlichkeit einer an uns ergangenen Lehre … durch nichts, als durch Begriffe unserer Vernunft erkannt werden“ kann (SF, AA 07: 48.7– 9),¹⁶⁴ also allein dies die ‚Authentizität‘ dieser Lehre be-

 AA 11, 528. Dies bleibt allerdings abzugrenzen von der von Goeze empfohlenen Unterscheidung zwischen „objektiver“ und „subjektiver Religion“: „Die Religion, betrachtet als Inbegriff der zu unserer Seligkeit geoffenbarten Wahrheiten, gewinnet allerdings, je aufrichtiger und scharfsinniger sie bestritten wird. Aber das ist nur die objektive Religion; nur die objektive! Mit der subjektiven ist es ganz anders“ – diese sei nämlich „die Gemütsverfassung der Menschen, in Absicht auf die Religion, ihr Glaube, ihre Beruhigung, ihr Vertrauen auf uns, ihre Lehrer“ (XIII, 157).  Kant stellte sich damit in der Sache ganz auf die Seite des von Lessing gegen Goeze gerichteten Einwandes, dass diesem „eine geoffenbarte Wahrheit, bei der sich nichts denken lässt, eben so lieb ist als eine, bei der sich etwas denken lässt?“ Er unterstützte offenbar die Argumentation Lessings: „Wenn aber die schriftliche Überlieferung der christlichen Religion innere Wahrheit weder geben kann, noch geben soll: so hat auch die christliche Religion ihre innere Wahrheit nicht von ihr. Hat sie sie nicht von ihr: so hängt sie auch von ihr nicht ab. Hängt sie von ihr nicht ab: so kann sie auch ohne sie bestehen.“ (XIII, 131)  Kants Qualifizierung der „moralischen Religion“ und ihrer „inneren Wahrheit“ impliziert auch eine klare Distanzierung von anderen „Glaubensarten“: „Nach der moralischen Religion aber (dergleichen unter allen öffentlichen, die es je gegeben hat, allein die christliche ist)“ und dies auch keiner „äußerlichen Beglaubigung“ bedarf, denn: „Der Beweis der Wahrheit der christlichen Religion ergibt sich nun von selbst, und zwar aus der Bibel, von deren Authenticität als heiliger Schrift man eben einen Beweis forderte“ (VASF, AA 23: 450.27– 29). Die „Authentizität“ der Bibel „beglaubigt also und dokumentiert sich selbst, was den Geist desselben (das Moralische) betrifft; was aber den Buchstaben (das Statutarische) desselben anlangt, so bedürfen die Satzungen in diesem Buche keiner Beglaubigung, weil sie nicht zum wesentlichen (principale), sondern nur zum Beigesellten (accessorium) desselben gehören“ (SF, AA 07: 64.6 – 11).  „Wir werden seinen [Gottes] Willen nicht aus … seiner Offenbarung sowohl in seinen Werken als in der Schrift zuerst lernen; denn diese können auf mancherlei Art ausgelegt werden, und nur

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gründet. Ganz im Sinne Lessings¹⁶⁵ hat demgemäß auch Kant die „Göttlichkeit ihres [d.i. der Bibel] moralischen Inhalts“ von der „Menschlichkeit der Geschichtserzählung“ unterschieden: „Die Bibel enthält in sich selbst einen, in praktischer Absicht hinreichenden Beglaubigungsgrund ihrer (moralischen) Göttlichkeit, durch den Einfluss, den sie, als Text einer systematischen Glaubenslehre, von jeher, sowohl in katechetischem als homiletischem Vortrage auf das Herz der Menschen ausgeübt hat … es mag ihr [der Bibel] auch in theoretischer Rücksicht für Gelehrte, die ihren Ursprung theoretisch und historisch nachzusuchen, und für die kritische Behandlung ihrer Geschichte an Beweistümern viel oder wenig abgehen. – Die Göttlichkeit ihres moralischen Inhalts entschädigt die Vernunft hinreichend wegen der Menschlichkeit der Geschichtserzählung,[¹⁶⁶] die, gleich einem alten Pergamente hin und wieder unleserlich, durch Akkomodationen und Konjekturen im Zusammenhang mit dem Ganzen müssen verständlich gemacht werden, und berechtigt dabei doch zu dem Satz: dass die Bibel, gleich als ob [!] sie eine göttliche Offenbarung wäre, aufbewahrt, moralisch benutzt, und der Religion, als ihr Leitmittel, untergelegt zu werden verdiene“ (SF, AA 07: 64. 27– 65.7).¹⁶⁷ Kants ausdrückliches Insistieren auf der Unterscheidung des

derjenige Sinn, den wir vermöge unserer sittlichen Bestimmung hineinlegen, ist unzweifelhaft moralisch der richtige, da denn jene Offenbarungen dazu dienen, diese in uns zu bestärken“ (Refl. 6314, in: AA 18, 617).  „Die Glaubenssätze sind für ihn [Lessing] Vernunftwahrheiten, die nicht im Rekurs auf historisches Wissen begründet werden können, ebenso wenig, wie man sich beim Beweis eines mathematischen Satzes auf die Autorität eines Experten berufen kann, um auf diese Weise nur ein Wissen aus zweiter Hand zu erwerben.“ (Vollhardt 2018, 335)  Dies richtet sich auch gegen Reimarus. Auch Kant war wohl der Auffassung, dass die „Bibel zwar eine Offenbarung enthält, aber keine ist“ (XIII, 145). – In der Schrift „über die Evangelisten als bloß menschliche Geschichtsschreiber betrachtet“ (aus dem Jahr 1777) hat Lessing die Evangelien als „menschliche Zeugnisse“ von „Geschichtsschreibern“ geltend gemacht und die „überzeitliche“ Gültigkeit des inspirierten Gotteswortes mit „historisch-kritischer Methode“ problematisiert; auch der „Duplik“ zufolge sind die „Evangelisten … gesunde natürliche Menschen“ (XIII, 62). Die „orthodoxistische“ Ansicht, dass die „Evangelisten“ „weit mehr“ als „gesunde natürliche Menschen“ sind, hat Lessing hier offenbar bezweifelt. Ähnliche Fragen sind natürlich auch mit Blick auf Lessings Sicht des Koran von Interesse.  Vgl. im „Streit der Fakultäten“, bes. SF, AA 07: 61 ff.; vgl. VASF, AA 23: 454. Darüber hinaus verbindet er in eigentümlicher Weise die Auffassung vom „natürlichen Ursprung“ mit der gewissermaßen göttlichen „Initiative“ dazu: „Dass die Bibel als das beste und seiner heilsamen moralischen Wirkung nach erprobtes Gesetzbuch der Religion doch als natürlichen Ursprungs anzunehmen sei liegt schon in dem Prinzip des Vernunftgebrauchs überhaupt. Dass sich aber vor einigen hundert Jahren Begebenheiten zugetragen haben, die den Stoff zur Abfassung dieses Buchs als Normalschrift für die Religion überhaupt, in welchem alles (selbst die natürliche Religion) statutarisch vorgeschrieben ist, muss als glückliches Eräugnis zum Wohl des menschlichen Geschlechts der Vorsehung überhaupt zugeschrieben werden[,] weil die Fortschritte der

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Christentums als „natürlicher Religion“ und als „Offenbarungsreligion“ klingt schon hier ausdrücklich an. Auch diesbezüglich darf also Kants Position, die das Christentum als „natürliche“ und als „geoffenbarte“ Religion in der angezeigten Weise ausdrücklich unterschieden wissen wollte,¹⁶⁸ wohl als eine sachliche Anknüpfung an Lessing verstanden werden. Jedoch bleiben hier zweifellos auch offene Fragen … Auch die von Kant für seine „authentische Schriftauslegung“ ausdrücklich geltend gemachte Verbindlichkeit ist in Lessings einschlägigen ‚hermeneutischen‘ Sensibilitäten unverkennbar vorweggenommen: „Hat denn eine geoffenbarte Wahrheit gar keine inneren Merkmale? Hat ihr unmittelbar göttlicher Ursprung an ihr und in ihr keine Spur zurückgelassen als die historische Wahrheit, die sie mit so vielen Fratzen gemein hat?“¹⁶⁹ Die in Kants entschiedenem Plädoyer für die an moralischen Prinzipien festgemachte „authentische Schriftauslegung“ geäußerte Kritik, dass „der Glaube an einen bloßen Geschichtssatz … tot an ihm selber“ sei,¹⁷⁰ ist in der Sache jedenfalls ganz diesen hermeneutischen Einsichten und Anliegen Lessings verpflichtet. Schon darin ist die auch ihn leitende Überzeugung

Menschen in der moralischen Cultur selbst in den damals aufgeklärtesten Völkern ein solches Organ der Religion hervorzubringen nicht vermochten. Dieses geschieht darum, damit die Existenz dieses Buches unerachtet seiner Zweckmäßigkeit nicht dem Zufall oder unerachtet der Unerklärlichkeit seines Ursprungs nicht einem Wunder zugeschrieben würde als in welchen beiden Fällen die Vernunft auf den Strand gesetzt wird. Die Beweisführung der Göttlichkeit der Schrift ist selbst nur moralisch, d.i. für den moralischen Gebrauch sie als göttliche Offenbarung zu benutzen“ (VASF, AA 23: 442.14– 32). Der Erweis dieser „(moralischen) Göttlichkeit“ der Bibel ist deshalb auch von der „ästhetischen Erfahrung“ des Textes, die im Blick auf den Koran eine wichtige Rolle spielt, abzugrenzen.  Der Charakter des Christentums als eine „nicht statutarische, sondern moralische Religion“ kompensiert auch hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit das ‚Manko‘ der zeitlichen Differenz zwischen den „heiligen Begebenheiten“ selbst und ihrer schriftlichen Dokumentation – dass also, „obwohl die heiligen Begebenheiten … selbst unter den Augen eines gelehrten Volkes öffentlich vorgefallen sind, dennoch ihre Geschichte sich mehr als ein Menschenalter verspätet hat, ehe sie in das gelehrte Publikum desselben eingetreten ist, mithin die Authentizität derselben der Bestätigung durch Zeitgenossen entbehren muss“. (RGV, AA 06: 167.8 – 12)  XIII, 113.  Der Unterschied zwischen „doktrinaler“ und „authentischer Schriftauslegung“ besagt eben: „Im ersteren Falle muss die Auslegung dem Sinne des Verfassers buchstäblich (philologisch) angemessen sein; im zweiten aber hat der Schriftsteller die Freiheit, der Schriftstelle (philosophisch) denjenigen Sinn unterzulegen, den sie in moralisch-praktischer Absicht … in der Exegese annimmt; denn der Glaube an einen bloßen Geschichtssatz ist tot an ihm selber“ (SF, AA 07: 66.6 – 11). „Der Geschichtsglaube ist ‚tot an ihm selber‘, d.i. für sich, als Bekenntnis betrachtet, enthält er nichts, führt auch auf nichts, was einen moralischen Wert für uns hätte“ (RGV, AA 06: 111.35 – 37), weshalb Kant auch einen bloß „gehorchende(n) Glaube(n) (fides servilis)“ (RGV, AA 06: 164.24– 25) verwarf.

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bestimmend, „dass die innere Wahrheit der christlichen Religion auf der Übereinstimmung mit den Eigenschaften Gottes beruhe; und nun weiß er auf einmal von dieser inneren Wahrheit kein Wort mehr, sondern setzt die hermeneutische Wahrheit entweder für die einzige Probe der innern. Als ob die innere Wahrheit eine Probe noch brauchte. Als ob nicht vielmehr die innere Wahrheit die Probe der hermeneutischen sein müsste!“¹⁷¹ Davon lässt sich offenkundig auch Kants Auffassung leiten, dass die „Beglaubigung der Bibel … als eines in Lehre und Beispiel zur Norm dienenden evangelisch-messianischen Glaubens, … nicht aus der Gottesgelehrtheit ihrer Verfasser (denn der war immer ein dem möglichen Irrtum ausgesetzter Mensch), sondern … aus der Wirkung ihres Inhalts auf die Moralität des Volks, … mithin als aus dem reinen Quell der allgemeinen, jedem gemeinen Menschen beiwohnenden Vernunftreligion geschöpft betrachtet werden“ müsse (SF, AA 07: 63.18 – 25) – im Unterschied zu einer eben bloß „äußeren Beglaubigung“, die lediglich „auf einer Urkunde beruht“ und nicht „unauslöschlich in jeder Seele aufbehalten ist“ (RGV, AA 06: 85.9). Dies ist wohl ganz im Sinne des

 XIII, 128. Diese Auffassung liegt auch der „authentischen Schriftauslegung“ Kants zugrunde. Auch diese Sätze Lessings machen deutlich, dass mit dieser „inneren Wahrheit“ offenbar etwas anderes gemeint ist als in dem (schon zitierten) früheren Entwurf „Über die Entstehung der geoffenbarten Religion“: „Die Unentbehrlichkeit einer positiven Religion, vermöge welcher die natürliche Religion in jedem Staate nach dessen natürlicher und zufälliger Beschaffenheit modifiziert wird, nenne ich die innere Wahrheit derselben, und diese innere Wahrheit derselben ist bei einer so groß als bei der andern“ (XIV, 313). Dies hat Lessing damit begründet, dass aufgrund der ungleichen „realen gesellschaftlichen Bedingungen und der Sozialisation“ von einer „allgemeinen gleichartigen Ausübung“ nicht die Rede sein kann: „man mußte aus der Religion der Natur, welche einer allgemeinen gleichartigen Ausübung unter Menschen nicht fähig war, eine positive Religion bauen: so wie man aus dem Rechte der Natur, aus der nämlichen Ursache, ein positives Recht gebauet hatte“ (XIV, 312 f.). Die Notwendigkeit der „positiven Religionen“ sei also – durch kulturelle und sozialisatorische Aspekte bedingt – in ihrer Funktionalität durch die kontingenten gesellschaftlichen Realisierungsbedingungen begründet, die ein Vehikel bzw. eine ergänzende Unterstützung für die Implementierung der Grundsätze der „natürlichen Religion“ benötigen und die daran auch bemessen werden. Die Brauchbarkeit bzw. Nützlichkeit eines „Kirchenglaubens“ für die „Regierung zu ihren Zwecken“ ist nach Kant zwar in politischer Hinsicht im Sinne eines – koexistenz-orientierten – „modus vivendi“ (als „gesellschaftlicher Kitt“) plausibel, liefe jedoch als eine von den Menschen selbst verfolgte Maxime zuletzt unweigerlich auf eine „äußerste Geringschätzung der Religion“ hinaus (SF, AA 07: 51.34), zumal dabei die Vorstellung der Religion als eines bloß „nützlichen Trugbildes“ gar nicht fern zu sein scheint … Die ‚Nützlichkeit‘ des Glaubens war freilich auch dem Kalkül des Patriarchen (in Lessings „Nathan“) nicht fremd, will er doch dem Sultan „begreiflich“ machen, „wie gefährlich selber für den Staat es ist, nichts zu glauben! Alle bürgerlichen Bande sind aufgelöset, und zerrissen, wenn der Mensch nichts glauben darf.– Hinweg! Hinweg mit solchem Frevel!“ (Nathan: v. 2578 – 2583)

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von Lessing betonten „noch immer fortdauernde(n) Wunder(s) der Religion selbst“¹⁷² gesagt. Um der Lessing„schen Konsequenz in der rechten Auslegung der Bibelstellen zu entgehen – wer soll über die rechte Auslegung entscheiden: „Die Hermeneutik? Jeder hat seine eigene Hermeneutik. Welches ist die wahre? Sind sie alle wahr? oder ist keine wahr? Und dieses Ding, dieses missliche, elende Ding soll die Probe der inneren Wahrheit sein!“¹⁷³ –, erklärte Kant, in ausdrücklicher Relativierung des Status der „philologisch-antiquarische(n) Kenntnisse“ (SF, AA 07: 68.14),¹⁷⁴ die moralische Auslegung (möglicherweise ‚gezwungenermaßen‘: RGV, AA 06: 110.11) als die ‚eigentliche‘ – und gegebenenfalls sogar als die einzig verbindliche, die so das „offene, freie Feld der eigenen Beurteilung“ (SF, AA 07: 24.23) meiden möchte. In diesem Sinne ist es auch zu verstehen: „Schriftstellen, welche gewisse theoretische für heilig angekündigte, aber allen (selbst den moralischen) Vernunftbegriff übersteigende Lehren enthalten, dürfen[¹⁷⁵], diejenigen aber, welche der praktischen Vernunft widersprechende Sätze enthalten, müssen [!] zum Vorteil der letzteren ausgelegt werden“ (SF, AA 07: 38.28 – 32).¹⁷⁶ In dieser Spannung geschieht nach Kant die „Ausbildung geoffenbarter Wahrheiten in Vernunftwahrheiten“,¹⁷⁷ worin sich, als „authentischer Schriftauslegung“, die vernünftige „Aneignung“ der „Positivität der Religion“ vollzieht. Dies ist also auch das (philosophische) „Vorrecht“ der von ihm propagierten moralischen Auslegung „im Falle des Streits über den Sinn einer Schriftstelle“ (SF, AA 07: 38.15 – 16), die so, orientiert an der Wahrheit der „inneren Religion“, den „authentischen“ Gehalt

 XIII, 31.  XIII, 131. In der Tat: „Lessing steht jeder ‚Hermeneutik‘ skeptisch gegenüber“ (Bohatec 438). Der von Bohatec diesbezüglich behauptete Unterschied (ebd.) zu Kant ist m. E. jedoch nicht erkennbar.  Daraus erklärt sich auch Lessings Bemerkung: „Die Evangelisten und Apostel selbst hatten diese vielfache Exegetik, durch welche sich aus allem alles machen lässt, angenommen; und was sie in diesem Geiste geschrieben hatten, das ward hinwiederum in dem nämlichen Geiste erklärt“ (Theses aus der Kirchengeschichte: § 32: XVI, 308); damit erwiderte er auch den Einwand Goezes, die „Erkenntnis der inneren Wahrheit der christlichen Religion“ sei „aus den Schriften der Evangelisten und Apostel“ zu nehmen (s. XIII, 128 ff.).  In diesem Sinne hat Kant offenbar auch seine Auslegung der „Gottessohnschaft“ Jesu verstanden, näherhin seine entsprechende Auffassung von der „personifizierten Idee des guten Prinzips“ und der „objektiven Realität dieser Idee“, s. RGV, AA 06: 60 ff.  „Diese Auslegung mag uns selbst in Ansehung des Texts (der Offenbarung) oft gezwungen scheinen, oft es auch wirklich sein, und doch muss sie, wenn es nur möglich ist, dass dieser sie annimmt, einer solchen buchstäblichen vorgezogen werden, die entweder schlechterdings nichts für die Moralität in sich enthält, oder dieser ihren Triebfedern wohl gar entgegen wirkt“ (RGV, AA 06: 110.10 – 15).  § 76 der Erziehungsschrift: XIII, 432.

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derselben freilegt (s. dazu auch o. 83 ff.). Kants (schon erwähntes) diesbezügliches Urteil ist durchaus rigoros: „Der Gott, der durch unsere eigene (moralisch-praktische) Vernunft spricht, ist ein untrüglicher allgemein verständlicher Ausleger dieses seines Worts, und es kann auch schlechterdings keinen anderen (etwa auf historische Art) beglaubigten Ausleger seines Worts geben; weil Religion eine reine Vernunftsache ist“ (SF, AA 07: 67. 23 – 27). Diese angesprochenen ‚hermeneutischen‘ Fragen werden dabei von Kant gewissermaßen mit einem Handstreich – enthistorisierend? – entschieden:¹⁷⁸ denn Kant will nicht wissen, „was der heilige Verfasser mit seinen Worten für einen Sinn verbunden haben mag,¹⁷⁹ sondern was die Vernunft (a priori) in moralischer Rücksicht bei Veranlassung einer Spruchstelle als Text der Bibel für eine Lehre unterlegen kann,¹⁸⁰ die einzige evangelisch-biblische Methode der Belehrung des Volks in der wahren inneren und allgemeinen Religion, die von dem partikulären Kirchenglauben als Geschichtsglauben … unterschieden ist“ (SF, AA 07: 67.3 – 9):¹⁸¹ „Man kann sich über die Art erklären, wie man sich einen histo-

 Damit radikalisierte Kant sein schon früh geäußertes Bedenken: „Nun gestehe ich frei: dass in Ansehung des historischen unsere neutestamentische Schriften niemals in das Ansehen können gebracht werden, dass wir es wagen dürften, jeder Zeile derselben mit ungemessenem Zutrauen uns zu übergeben und vornehmlich dadurch die Aufmerksamkeit auf das einzig notwendige, nemlich den moralischen Glauben des Evangelii zu schwächen, dessen Vortrefflichkeit eben darin besteht, da alle unsre Bestrebung auf die Reinigkeit unserer Gesinnung und die Gewissenhaftigkeit eines guten Lebenswandels zusammengezogen wird; doch so, dass das heilige Gesetz uns jederzeit vor Augen liege und uns jede auch die kleinste Abweichung von dem göttlichen Willen als verurteilt von einem unnachsichtlichen und gerechten Richter unaufhörlich vor halte, wo wider keine Glaubensbekenntnisse, Anrufungen heiliger Namen, oder Beobachtung gottesdienstlicher Observanzen etwas helfen können“ (Brief an Lavater v. 28.4.1775: AA 10, 177 f.).  Mit seiner „moralischen Schriftauslegung“ aktualisierte Kant offenbar in gewisser Weise die zweifache Auffassung, dass ein Text nur solcherart ‚mich existenziell angehen‘ kann und zugleich der Sinn desselben sich nicht in der Intention bzw. der „Meinung“ des Autors erschöpft; dies erlaubt es deshalb auch, einen Autor in den „Gedanken“, welche er „über seinen Gegenstand äußert, … sogar besser zu verstehen, als er sich selbst verstand“ (KrV, B 370), und nur so ist die Auslegung auch „authentisch und für alle Welt gültig“ (RGV, AA 06: 114.21). Kant exemplifiziert dies auch in seiner Auslegung der Geschichte vom „Sündenfall“, „ohne darüber zu entscheiden, ob das auch der Sinn des Schriftstellers sei, oder wir ihn nur hineinlegen“ (RGV, AA 06: 43 Anm).  Damit korrigierte Kant in gewisser Hinsicht die Auffassung Luthers, „dass allein die Schrift regiert und diese nicht nach meinem eigenen Geist oder dem irgendwelcher Menschen ausgelegt, sondern durch sich selbst und ihren eigenen Geist verstanden wird“ (Lateinisch-Deutsche Studienausgabe I, 79. Leipzig 2006 – 2009 (= Wahrheitsbekräftigung aller Artikel Martin Luthers, die von der jüngsten Bulle Leos X. verdammt worden sind [1520]). Diese Gegenüberstellung wird von Kant offenbar als problematisch angesehen.  Auch Kants Kritik der paulinischen „Prädestinationslehre“, der „Gnadenwahl“ (SF, AA 07: 41; 66), und an der Auferstehungslehre des Apostels (SF, AA 07: 40.9 – 21) lässt vermuten, dass er

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rischen Vortrag moralisch zunutze macht, ohne darüber zu entscheiden, ob das auch der Sinn des Schriftstellers sei, oder wir ihn nur hineinlegen: wenn er nur für sich und ohne allen historischen Beweis wahr, dabei aber zugleich der einzige ist, nach welchem wir aus einer Schriftstelle für uns etwas zur Besserung ziehen können“ (RGV, AA 06: 43, Anm.).¹⁸² In diesem Sinne ist deshalb auch Kants (indirekt wohl gegen Goeze gerichtete) Warnung zu beherzigen, dass „der biblische Theologe die Hülle der Religion für die Religion selbst nimmt“ (SF, AA 07: 45.30 – 31); hingegen sei der allein in der (‚enthistorisierenden‘) „moralischen Auslegung“ freizulegende ‚authentische‘ Sinn entscheidend,¹⁸³ denn der „Zweifel über jene statutarische Dogmen und ihre Authentizität kann … eine moralische wohlgesinnte Seele nicht beruhigen“ (SF, AA 07: 42.21– 23). Möglicherweise verdankt sich auch die von Kant – über bloße ‚Verträglichkeit‘ hinaus – geltend gemachte „Einigkeit“ von „Vernunft und Schrift“ einer Reminiszenz an die zwischen Goeze und Lessing ausgetragene Kontroverse und an die darin zutage tretenden Aporien, die gleichsam auf eine ‚doppelte Buchführung‘ hinausliefen. So verlangte Kant, „dass zwischen Vernunft und Schrift nicht bloß Verträglichkeit, sondern auch Einigkeit anzutreffen sei, so dass, wer der einen (unter Leitung der moralischen Begriffe) folgt, nicht ermangeln wird. auch mit der anderen zusammen zu treffen. Träfe es sich nicht so, so würde man

sich durchaus die Sichtweise Lessings zueigen gemacht hätte: „Es wäre also ganz wohl möglich, dass jemand an der göttlichen Eingebung der sämtlichen Schriften des N.T. einen Zweifel hätte, oder sie sogar leugnete, und doch die christliche Religion von Herzen glaubte: ja, es gibt wirklich so denkende, zum Teil in der Stille, zum Teil auch öffentlich, die man nicht sogleich zu den Unchristen rechnen darf. Gar nicht zu ihrer Verunglimpfung, sondern bloß als Faktum sei es gesagt: manche alte Ketzer, die die Schriften des N. Testamentes für echt, aber doch nicht für untrügliches Principium cognoscendi gelten ließen, sondern sich zu Richtern über die Apostel aufwarfen, könnten wohl so gedacht haben.“ (XIII, 137. Kant stand diesen ‚Richtern‘ offenbar gar nicht fern.  Auf solche Weise rezipierte Kant in gewisser Hinsicht Spinozas Einstellung: „so habe ich mir fest vorgenommen, die Schrift von neuem mit unbefangenem und freiem Geist zu prüfen und nichts von ihr anzunehmen […], was ich nicht mit voller Klarheit ihr selbst entnehmen könnte.“ (Spinoza 1979, 17)  Dies klingt auch in der Bemerkung an: „Die Frage ist: heißt das die christliche Religion was die Schriftsteller der Bibel aus der Nachricht die sie von Christo bekommen hatten gemacht haben oder ist sie das, was wir daraus nach Begriffen der Moral machen und daraus benutzen können“? (VASF, AA 23: 434.28 – 31). Der Stiftung des Christentums „wahre erste Absicht“ sei doch „keine andre, als die gewesen … , einen reinen Religionsglauben, über welchen es keine streitende Meinungen geben kann, einzuführen“ (RGV, AA 06: 131.21– 23). Dies ist das erklärte Ziel der historischen Entwicklung der Religionen als „Glaubensarten“, was freilich die diskursive Auseinandersetzung mit ihnen voraussetzt. Lessings diesbezügliche Position ist nicht eindeutig, wie auch seine „Ringparabel“ zeigt (s. u. III. 2.).

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entweder zwei Religionen in einer Person haben, welches ungereimt ist, oder eine Religion und einen Cultus, in welchem Fall, da letzterer nicht (so wie Religion) Zweck an sich selbst ist, sondern nur als Mittel einen Wert hat, beide oft müssten zusammengeschüttelt werden, um sich auf kurze Zeit zu verbinden, alsbald aber wie Öl und Wasser sich wieder von einander scheiden und das Reinmoralische (die Vernunftreligion) oben auf müssten schwimmen lassen“ (RGV, AA 06: 13.1– 11).

3.3 Die „innere Wahrheit“ und das „innere Gefühl“: Eine partielle Zustimmung Kants – und eine notwendige Unterscheidung Es sollte sichtbar geworden sein: Lessings Rekurs auf die „innere Wahrheit“ der christlichen Religion, die „keiner Beglaubigung von außen bedarf“¹⁸⁴ – also auch keiner „Beglaubigung“ „aus den schriftlichen Überlieferungen, oder aus den Schriften der Evangelisten und Apostel“ (ebd.) – , lässt zwar eine Übereinstimmung mit Kant vor allem in der besonderen Hinsicht erkennen, dass die geforderte lebenstragende Gewissheit der Überzeugung¹⁸⁵ des „moralischen Glaubens“  XIII, 129. Nach Arnoldt bildete Kant in diesem Sinne „Lessings Gedanken aus, dass die Vernunftlehren der Bibel und des Christentums für uns gültig und verbindlich sind kraft ihrer inneren Wahrheit, und dass diese Wahrheit für unsere Vernunft als Wahrheit besteht nicht deswegen, weil sie von Gott willkürlich konstituiert, sondern weil sie der Vernunft Gottes innewohnend und unserer Vernunft einleuchtend ist, dass dagegen alles Historische der Bibel und des Christentums an und für sich keinen oder nur geringen, relativ aber einen großen Wert hat als Vehikel“ (Arnoldt 275). „Wenn nämlich die Bibel … allen Menschen verständlich sein soll: so verstehe ich die darauf folgenden Worte … nur so: dass pistis hier nicht der Glaube, die Disposition unsrer Seele, sondern das Glaubens-Bekenntnis bedeute. Auch ist es weit schicklicher, dieses mit den ersten Elementen der Schrift, mit den Buchstaben zu vergleichen, als jenen. Das Glaubens-Bekenntnis allein macht die Bibel allen Menschen verständlich: und das ist gerade das, was ich will. Aber dieses Glaubens-Bekenntnis muss nicht aus dem neuen Testament gezogen sein, sondern es muss früher als das neue Testament, und in seiner völligen Unabhängigkeit vom neuen Testamente, wenigstens ebenso glaubwürdig als das neue Testament sein“ (XVI, 507). Gegen Goeze sei also auch zu bedenken: Der Glaube als „Disposition unsrer Seele“ ist zu unterscheiden vom „Glaubens-Bekenntnis, das mit ‚Schrift‘ und ‚Buchstabe‘ verbunden sei“ (Strohschneider-Kohrs 2009, 47).  „Warum muss es aber dennoch für Lessing eine unbedingte Gewissheit für den Glauben geben? – Weil es bei der Entscheidung über die Gewissheit um die Entscheidung seines Schicksals geht. Die Entscheidung des Glaubens entscheidet sich nach Lessing prinzipiell von allen anderen Entscheidungen, die der Mensch sonst noch in seinem Leben fällen muss. Denn es geht in ihr um das absolute Geschick des Menschen als Menschen, es geht um seine ewige Seligkeit, wie man damals sagte. Soll ich ein Prinzip annehmen, bei dem es um meine ewige Seligkeit geht, dann müssen die Gründe, die mich zu einer solchen Entscheidung bewegen, mir unbedingt gewiss

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niemals durch die Ansprüche eines „historischen Glaubens“ eingeholt werden kann – ebenso wenig jedoch durch den Rückzug auf ein „inneres Gefühl“.¹⁸⁶ Der als „authentischer Ausleger“ (SF, AA 07: 48.5) fungierende „Gott in uns“ rekurriert eben auf kein Gefühl, denn „Gefühle sind nicht Erkenntnisse und bezeichnen also auch kein Geheimnis“ (RGV, AA 06: 138.3 – 4).¹⁸⁷ Das von Lessing gegen Goeze angeführte „innere Gefühl“ war demnach als Wahrheitskriterium für Kant gerade nicht überzeugend und widerspricht auch der von Lessing andernorts reklamierten „inneren Wahrheit“. Es ist deshalb wohl – auch – gegen Lessing gesagt: „Gefühl … hat jeder nur für sich, und kann es andern nicht zumuten, also auch nicht als einen Probierstein der Echtheit einer Offenbarung anpreisen, denn es lehrt schlechterdings nichts, sondern enthält nur die Art, wie das Subjekt in Ansehung seiner Lust oder Unlust affiziert wird, worauf gar kein Erkenntnis gegründet werden kann“ (RGV, AA 06: 114.11– 17). „Gefühlsreligion“ grenzt an bloße „Schwärmerei“;¹⁸⁸ demgegenüber impliziert jener „authentische Ausleger“ eine ‚Verbindlichkeit‘, die, wie erwähnt, eine moralische Auslegung der ‚heiligen Schriften‘ gegebenenfalls sogar unumgänglich macht. Kant wandte sich also in seiner Bestimmung des ‚authentischen Glaubens‘ gleichermaßen gegen einen buchstaben-fixierten biblischen Fideismus wie auch gegen eine Reduktion des Glaubens auf ein „inneres Gefühl“, das eben nicht als ein „Prinzip“ der ‚Glaubensgewissheit‘ taugt;¹⁸⁹ dies hätte Kant also auch gegen das von Lessing betonte

sein“ (Rohrmoser 1970, 41). Dafür reicht nach Kant freilich weder der Rekurs auf „Geschichtswahrheiten“, noch derjenige auf das „innere Gefühl“ aus.  Es wird sich zeigen: Kants energischer Rekurs auf die „Vernunft, ohne die doch gar keine Religion, als welche wie alle Moralität überhaupt auf Grundsätzen gegründet werden muss, statt finden kann“ (RGV, AA 06: 175.13 – 15), richtet sich gleichermaßen gegen Lessings ‚Mitleids-Moral‘ (s.u. 243 f.) und gegen die Verankerung der Religion im „Gefühl“.  Das bezieht sich auch auf Lessings sehr frühe Auffassung: „Bin ich, so ist auch Gott. Er ist von mir zu trennen/Ich aber nicht von ihm. Er wär, wär ich auch nicht. Und ich fühl’ was in mir, das für sein Dasein spricht“ (Aus einem Gedichte über die menschliche Glückseligkeit: I, 239). Indes, ein solches „inneres Gefühl“ lässt sich nach Kant und Lessing auch nicht in „Vernunftwahrheiten“ transformieren.  „Den unmittelbaren Einfluss der Gottheit als einer solchen fühlen wollen, ist, weil die Idee von dieser bloß in der Vernunft liegt, eine sich selbst widersprechende Anmaßung.“ (SF, AA 07: 57.24– 58.3)  Daraus resultieren notwendig die von Rohrmoser geäußerten Fragen: „Woher aber nimmt Lessing einen solchen geschichtsunabhängigen, eine unbedingte Gewissheit verbürgenden Grund? Auf diese Frage gibt es bei Lessing keine präzise Auskunft. Als unmittelbar gefühlte trägt die Religion den Grund ihrer Gewissheit in sich selbst. Wenn keine die Offenbarung begleitenden äußeren Umstände die Wahrheit des Offenbarten garantieren können, dann muss der Grund der Übersetzung von der Wahrheit der Offenbarung in dem Inhalt, in der Wahrheit selbst liegen, die offenbart wird. Die Wahrheit selbst muss die Kriterien für ihre Annahme in sich tragen. Wo und

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„innere Gefühl des Christentums“¹⁹⁰ geltend gemacht und demgegenüber auch hier die Vernunft als den – „öffentlichen“ (SF, AA 07: 46.10) – „letzten Probierstein der Wahrheit“ (WDO, AA 08: 140.33) eingemahnt.¹⁹¹ Die moralische „Glaubensgewissheit“ („ich bin moralisch gewiss“: KrV, B 857) gründet sich weder auf die Wahrscheinlichkeitskalküle „historischer Beweisgründe“ noch auf ein solches „inneres Gefühl“ (eine ‚Gefühlsgewissheit‘), das den Ansprüchen der „inneren Wahrheit“ nicht genügt;¹⁹² letztere ist allein durch die unauflösliche „Zweckverbindung“ der Vernunftideen definiert, die so ‚inwendig‘ den Wahrheitsgehalt dieser „inneren Wahrheit“ normiert.¹⁹³ Kants Kritik am „inneren Gefühl“ wendet sich also gegen dieses als einen möglichen „Prätendent[en] zum Amte eines Auslegers [der Bibel]“, der sich dabei darauf als einen „Probierstein“ beruft,¹⁹⁴ „um den wahren Sinn der Schrift und

wie aber ist diese Wahrheit zugänglich?“ (Rohrmoser 1970, 43) Diese – bei Lessing offene – Frage wird bei Kant eben durch den inneren Zusammenhang und den „Prinzipien“charakter der „Vernunftideen“ beantwortet.  XIII, 135. Zugleich hat Lessing sich jedoch gegen ein „Gefühlschristentum“ seiner Zeit ausgesprochen (s. Fick, 201 ff.). Unklar bleibt, wie sich dazu jedoch Lessings (gegen Goeze gerichtete) Auskunft verhält: „Ich habe gesagt, wenn man auch nicht im Stande sein sollte, alle die Einwürfe zu heben, welche die Vernunft gegen die Bibel zu machen, so geschäftig ist: so bliebe dennoch die Religion in den Herzen derjenigen Christen unverrückt und unverkümmert, welche ein inneres Gefühl von den wesentlichen Wahrheiten derselben erlangt haben.“ (XIII, 99)  Kants beißender Spott über die „göttlichen Favoriten“ (RGV, AA 06: 200.17) und „außerordentlich Begünstigten (Auserwählten)“ (RGV, AA 06: 201.36), über die Schwärmerei von „Gefühlsund Ahnungsphilosophen“, findet allerdings durchaus eine Entsprechung bei Lessing.  Schon deshalb nicht, weil man, so wie in der Frage nach einem „gleichen Maßstab des Guten und Bösen“, „durch sein Gefühl für andere gar nicht gültig urteilen kann“ (GMS, AA 04: 442.27– 29). Das „innere Gefühl“ entzieht sich auch jeder „Mitteilbarkeit“ und widerspricht so auch „dem wesentlichen Charakter derjenigen Religion,…die jeden Menschen verbinden soll.“ (RGV, AA 06: 155.28 – 29)  Sie kommt auch in der auf den „ganzen Menschen“ abzielenden Wahrheit zum Ausdruck: „Daß der Mensch durchs moralische Gesetz zum guten Lebenswandel berufen sei, daß er durch unauslöschliche Achtung für dasselbe, die in ihm liegt, auch zum Zutrauen gegen diesen guten Geist und zur Hoffnung, ihm, wie es auch zugehe, genug tun zu können,Verheißung in sich finde, endlich, daß er, die letztere Erwartung mit dem strengen Gebot des erstern zusammenhaltend, sich als zur Rechenschaft vor einen Richter gefordert beständig prüfen müsse: darüber belehren und dahin treiben zugleich Vernunft,Herz und Gewissen.“ (RGV, AA 06: 144.14– 145.3)  Kant wandte sich deshalb auch gegen Lessings Versicherung: „Ich habe gesagt, wenn man auch nicht im Stande sein sollte, alle die Einwürfe zu heben, welche die Vernunft gegen die Bibel zu machen, so geschäftig ist: so bliebe dennoch die Religion in den Herzen derjenigen Christen unverrückt und unverkümmert, welche ein inneres Gefühl von den wesentlichen Wahrheiten derselben erlangt haben“ (XIII, 99).

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zugleich ihren göttlichen Ursprung zu erkennen“ (RGV, AA 06: 113.27– 30).¹⁹⁵ Deshalb musste auch der Rekurs „auf ein gewisses (freilich nicht erweisliches oder erklärliches) Gefühl der Göttlichkeit derselben selbst für den Gelehrten“ (SF, AA 07: 23.32– 33) bei Kant „Anstoß erregen“;¹⁹⁶ die – womöglich in direkter Erinnerung an Lessing erfolgte – Berufung auf dieses „innere Gefühl“ als Erkenntnis- bzw. Beglaubigungsgrund „de(s) wahren Sinn(s) der Schrift und zugleich ihre(s) göttlichen Ursprung(s)“ (RGV, AA 06: 113.29 – 30) hat er entschieden zurückgewiesen. Er hätte demnach seinen einschlägigen Vorwurf wohl auch gegen Lessings Berufung auf dieses „selige Gefühl“ (s.u. II., Anm. 203) ausgedehnt – gilt doch auch dafür, dass dies den – vermeintlich kritischen – Rekurs (bzw. die Zurücknahme) auf eine bloß je „eigene Wahrheit“ unvermeidlich zur Folge hat und dies auf einen „Illuminatism innerer Offenbarungen“ hinausläuft: „Denn die Phantasie verläuft sich bei Religionsdingen unvermeidlich ins Überschwengliche, wenn sie das Übersinnliche (was in allem, was Religion heißt, gedacht werden muss) nicht an bestimmte Begriffe der Vernunft, dergleichen die moralische sind, knüpft, und führt zu einem Illuminatism innerer Offenbarungen, deren ein jeder alsdenn seine eigene hat und kein öffentlicher Probierstein der Wahrheit mehr Statt findet“ (SF, AA 07: 46.4– 10). Kants unnachgiebige Berufung darauf, dass „nicht ein vorgeblicher geheimer Wahrheitssinn, keine überschwengliche Anschauung unter dem Namen des Glaubens, worauf Tradition oder Offenbarung ohne Einstimmung der Vernunft gepfropft werden kann“, sondern bloß die „eigentliche reine Menschenvernunft“ (WDO, AA 08: 134.16) es sei, worauf die Notwendigkeit der Orientierung gegründet ist – eben weil „zum Religionsglauben Überzeugung von der Wahrheit erforderlich ist“ (SF, AA 07: 46.33 – 34)¹⁹⁷ –, richtet

 Es ist wohl ebenfalls gegen Lessing gesagt: „Aber so wenig wie aus irgend einem Gefühl Erkenntnis der Gesetze, und dass diese moralisch sind, eben so wenig und noch weniger kann durch ein Gefühl das sichere Merkmal eines unmittelbaren göttlichen Einflusses gefolgert und ausgemittelt werden: weil zu derselben Wirkung mehr als eine Ursache stattfinden kann, in diesem Falle aber die bloße Moralität des Gesetzes … durch die Vernunft erkannt“ wird (RGV, AA 06: 114.1– 6; s. Arnoldt 296). Daher musste diese Aufforderung bei ihm „Anstoß erregen“ (ebd.). – Auch nach Bohatec richtet sich „Kants Ausschaltung des Gefühls aus dem Komplex der Beweisgründe für den göttlichen Ursprung der Schrift … gegen Lessing“ (Bohatec 436). Arnoldt habe diesbezüglich „die gedanklichen Zusammenhänge zwischen den beiden Denkern nicht scharf genug bestimmt“, wie Bohatec durch eine Reihe von Lessing-Texten zu belegen versucht (Bohatec 436 f, Anm. 104).  Arnoldt 296. Dies relativiert doch ein wenig die von Arnoldt betonte gemeinsame „Anerkennung der Vernunft als letzten Probiersteins der Wahrheit“ (Arnoldt 302).  In diesem Sinne fragt – widersprüchlicherweise? – auch Lessing: „was ist nötiger, als sich von seinem Glauben zu überzeugen, und was ist unmöglicher als Überzeugung, ohne vorhergegangene Prüfung?“ (V, 319)

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sich also nicht nur gegen Mendelssohn und Jacobi, sondern erstreckt sich in der Sache wohl gleichermaßen auf Lessings Berufung auf das „innere Gefühl“.¹⁹⁸ Auch kein Rekurs auf „unmittelbare göttliche Erfahrung“ ist da möglich, weil „übersinnliche Erfahrung“ dem Menschen eben grundsätzlich verwehrt bleiben muss: Kant hat deshalb auch die Lessing‘sche Berufung auf die „innere Wahrheit“ einerseits offenbar von diesem Rekurs auf ein „inneres Gefühl“ befreit,¹⁹⁹ d. h. auf die Basis „moralischer Prinzipien“ umgestellt, und ebenso den bei Lessing noch erkennbaren bloß funktionalen Aspekt derselben überwunden. Es ist deshalb gleichermaßen eine Zustimmung zu Lessings Ablehnung einer bloß äußerlichen „Beurkundung“ und eine Kritik an dessen Rekurs auf das „innere Gefühl“, wenn Kant eindringlich betonte: „Die Beurkundung einer solchen Schrift, als einer göttlichen, kann von keiner Geschichtserzählung, sondern nur von der erprobten Kraft derselben, Religion in menschlichen Herzen zu gründen, und, wenn sie durch mancherlei (alte oder neue) Satzungen verunartet wäre, sie durch ihre Einfalt selbst wieder in ihre Reinigkeit herzustellen, abgeleitet werden“ (SF, AA 07: 64.15 – 19).²⁰⁰ Dies erinnert wohl auch nochmals an Lessings Rekurs auf den „Beweis des Geistes und der Kraft“ und an sein ‚Beglaubigungs‘-Motiv.

 Genau deshalb genügte Kant die Auskunft über die leitende Absicht Leibnizens noch nicht: „Insbesondere ist es während der religiösen Kontroversen der folgenden Jahre sein wiederholtes Bestehen darauf, dass die ‚innere Wahrheit‘ der Religion allen zugänglich sei und dass sie sich in vorrationaler Form im Gefühl kundgebe, aber im Prinzip rational zu fassen sei […]“; und mit Blick auf Leibniz: „ … denn während kein einziger Gesichtspunkt einen absoluten Wahrheitsanspruch erheben kann, mag doch relative Gültigkeit beanspruchen. In diesem Sinne ist der spätere Lessing als Relativist zu bezeichnen“ (Nisbet 2008, 671). S. dazu aber auch die von Nisbet selbst vorgebrachten Bedenken, bes. 710 ff.  Deshalb ist auch der Hinweis auf seine „Einwürfe gegen den minder wichtigen Teil der Bibel auf ihren wahren Belang herab[zu]setzen“, nicht überzeugend: – nämlich: „Und nur in dieser Absicht sage ich, dass derjenige, dessen Herz mehr Christ ist, als der Kopf, sich ganz und gar an diese Einwürfe nicht kehre; weil er fühle, was andere sich zu denken begnügen, weil er allenfalls die ganze Bibel entbehren könnte“ (XIII, 123). Dass Lessing dieses „innere Gefühl des Christentums“ „als eine eher undeutlich empfundene, weitgehend latente und doch bereits spürbare Vernunftkonformität der christlichen Wahrheit“ verstanden wissen wollte (so Bohnen-Schilson, Band 9, 845 f.), war Kant wohl zu wenig.  Ganz ähnlich schon in den Vorarbeiten zum „Streit der Fakultäten“ (VASF, AA 23: 449.17– 28): „Daß die Bibel durch das Fortschreiten der Menschheit in der Cultur moralischer schon vor viel hundert Jahren entwickelter Begriffe mithin als natürlichen Ursprungs gedacht werden könne und müsse, liegt schon im Gesetze des Vernunftgebrauchs überhaupt. Die Beurkundung überhaupt dieser Schrift als einer göttlichen kann nicht anders als durch erprobte Kraft desselben Religion in menschlichen Herzen zu gründen und wenn sie durch mancherlei alte u. neue Satzungen verunartet wäre immer wieder zu reinigen, welches Eräugnis wegen seiner unendlichen aus der größten Simplicität hervorgehenden Wirksamkeit zur Besserung der Menschen als ein

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Die erforderliche „Überzeugung von der Wahrheit“ kommt auch in Kants handfestem Gedankenexperiment – einer Art Nagelprobe – zum Ausdruck, das seine diesbezüglichen – womöglich ebenfalls durch Lessingsche Vorgaben inspirierten – Bedenken sichtbar machte: „Wenn sich der Verfasser eines Symbols, wenn sich der Lehrer einer Kirche, ja jeder Mensch, sofern er innerlich sich selbst die Überzeugung von Sätzen als göttlichen Offenbarungen gestehen soll, fragte: getrauest du dich wohl in Gegenwart des Herzenskündigers mit Verzichttuung auf alles, was dir wert und heilig ist, dieser Sätze Wahrheit zu beteuren? so müsste ich von der menschlichen (des Guten doch wenigstens nicht ganz unfähigen) Natur einen sehr nachteiligen Begriff haben, um nicht vorauszusehen, dass auch der kühnste Glaubenslehrer hiebei zittern müsste“ (RGV, AA 06: 189.20 – 27).²⁰¹ Schon jene bei Kant bestimmende Auffassung, dass nur in der Verbindung von „Theologie und Moral“ Religion begründet sein könne (KrV, B 395 Anm.) bzw. allein auf solche Weise Gott „ein Gegenstand der Religion“ werde (KpV, AA 05: 131 Anm.), impliziert jedenfalls in dieser Hinsicht auch eine Kritik an Lessing. Eine solche ist vermutlich auch in jener kantischen Bezugnahme auf den geläuterten und „mit den moralischen Vernunftprinzipien vollkommen“ zusammenstimmenden Gottesbegriff des Christentums als „natürlicher Religion“ insofern enthalten, als Lessing (in den „Axiomata“) das Festhalten des „ehrlichen Laien“ am christlichen „Lehrbegriff“ rechtfertigen wollte – und zwar gegenüber dem Theologen, der „uns Christen sein gelehrtes Bibelstudium nur nicht für Religion aufdringen wollen [soll]. Er soll nur nicht gleich über Unchristen schreien, wenn er auf einen ehrlichen Laien stößt, der sich an dem Lehrbegriffe begnügt, den man längst für ihn aus der Bibel gezogen, und diesen Lehrbegriff nicht sowohl deswegen für wahr hält, weil er aus der Bibel gezogen, sondern weil er einsieht, dass er Gott anständiger, und dem menschlichen Geschlecht ersprießlicher ist als die Lehrbegriffe aller andern Religionen, weil er fühlt, dass ihn dieser christliche Lehrbegriff beruhiget“.²⁰² Denn die Einsicht, dass dieser „Lehrbegriff“ „Gott an-

Werk der Vorsehung darum aber nicht minder als natürlicher Erfolg der fortschreitenden Cultur angesehen werden darf“.  „Der nämliche Mann, der so dreust ist zu sagen: wer an diese oder jene Geschichtslehre als eine teure Wahrheit nicht glaubt, der ist verdammt, der müsste doch auch sagen können: wenn das, was ich euch hier erzähle, nicht wahr ist, so will ich verdammt sein!“ (RGV, AA 06: 189 Anm.): Eine Feststellung, die nicht zuletzt den Patriarchen in Lessings „Nathan“ trifft.  XIII, 132. Das Recht des „Laien“ betont auch Kant (s.o. II., Anm.137); er hätte hier vermutlich jedoch einen Widerspruch in Lessings Argumentation zwischen prinzipien-orientierter ‚Einsicht‘ und ‚Gefühl‘ gesehen. Denn die Berufung auf ein solches ‚Fühlen‘ hätte Kant nicht akzeptiert, sondern durch die Prinzipien-Frage ersetzt, denn die „Probe der inneren Wahrheit“ kann nicht in Berufung auf das „Gefühl“ entschieden werden (s. nächste Anm.); indes hätte Kant zweifellos auch Lessings Polemik gegen eine schiefe „Gelehrsamkeit“ als falschen Maßstab unterstützt. Im

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ständiger, und dem menschlichen Geschlecht ersprießlicher ist“, ist freilich keineswegs eine Angelegenheit des Gefühls bzw. dessen, dass ihn „dieser christliche Lehrbegriff beruhiget“, und somit das „Christentum“ als „so wahr, in welchem er sich so selig fühlet“,²⁰³ anzuerkennen sei.Eben solche Befindlichkeit eines „fühlenden Christen“²⁰⁴ konnte Kant auch nicht als tragfähige Basis der „natürlichen

Sinne der „moralischen Glaubensgewissheit“ hätte Kant womöglich auch Lessings Bemerkung verstanden, dass der „Lehrbegriff der christlichen Religion“ nicht „aus der Bibel gezogen“ werde.  „Aber was gehen den Christen dieses Mannes [des Theologen bzw. Philosophen] Hypothesen, und Erklärungen und Beweise an? Ihm ist es doch einmal da, das Christentum, welches er so wahr, in welchem er sich so selig fühlet. – Wenn der Paralyticus die wohltätigen Schläge des Elektrischen Funkens erfährt: was kümmert es ihn, ob Nollet, oder Franklin, oder ob keiner von beiden Recht hat?“ Dies hätte Kant ebenso entschieden bestritten wie er den Sätzen vorbehaltslos zugestimmt hätte: „Kurz: der Buchstabe ist nicht der Geist; und die Bibel ist nicht die Religion. Folglich sind Einwürfe gegen den Buchstaben, und gegen die Bibel, nicht eben auch Einwände gegen den Geist und gegen die Religion“ (XII, 428). Lessing wiederholte hier teilweise nahezu wörtlich seine Argumentation aus den „Axiomata“ (XIII, 134). Diesem Anliegen wollte Kants Lehrstück von der „authentischen Schriftauslegung“ – angemessener als Lessing dies vermag – Rechnung tragen; allerdings verlangt dies eine andere Begründung des „Geistes des Christentums“, der nicht der Berufung auf das „innere Gefühl“ auszuliefern ist: – Zu Recht merkt Arnoldt an: „Die Vernunft kann daraus, dass der Christ das Christentum ‚so wahr‘, ‚sich in ihm so selig fühlet‘, nicht im geringsten erkennen, dass das Christentum geoffenbarte Religion sei. Denn die Wahrheit kann nicht gefühlt werden, und das Gefühl der Seligkeit, das durch eine Religion in dem Menschen erregt wird, der an sie glaubt, entscheidet keineswegs, weder ob die gefühlte Religion wahr, noch ob sie geoffenbart sei“ (Arnoldt 256). Auch jener Rekurs auf den beruhigenden „christlichen Lehrbegriff“ (dem so doch gerade das „Begriffliche“ fehlt) ist insofern keine ausreichende Basis: „Aber wie aus einem Gefühl unmöglich die Erkenntnis, was ein Gesetz, und dass dieses Gesetz moralisch sei, könne ausgemittelt werden, ebenso wenig und noch weniger könne aus einem Gefühl das sichere Merkmal eines unmittelbaren göttlichen Einflusses gefolgert werden“ (Arnoldt 256). Dies bleibt kritisch anzumerken gegenüber der – andererseits freilich berechtigten – Beobachtung Irrlitzs: „Wie Lessing sah er [Kant] Aussichtslosigkeit und Bedenklichkeit der Gefühlsreligiosität bei zugrunde liegender Trennung von Rationalität und Gefühl.“ (Irrlitz 383) S. auch nächste Anm..  XIII, 134. Dagegen wandte sich auch direkt Kants entschiedenes Anliegen: „Wäre endlich der Quell der sich als Gesetz ankündigenden Lehre gar nur ästhetisch, d.i. auf ein mit einer Lehre verbundenes Gefühl gegründet, … so muss es der philosophischen Fakultät frei stehen, den Ursprung und Gehalt eines solchen angeblichen Belehrungsgrundes mit kalter Vernunft öffentlich zu prüfen und zu würdigen, ungeschreckt durch die Heiligkeit des Gegenstandes, den man zu fühlen vorgibt, und entschlossen, dieses vermeinte Gefühl auf Begriffe zu bringen.“ (SF, AA 07: 33.6 – 15) Vgl. Kants „Philosophische Grundsätze der Schriftauslegung zu Beilegung des Streits“ mit der theologischen Fakultät: SF, AA 07: 38 ff. – Es „liegt eine prinzipielle Abweichung Kants von Lessing vor, wenn das Problem“ so „formuliert wird, … ob das Gefühl als solches die Tatsächlichkeit des göttlichen Ursprungs der Bibel begründen kann. Kant verneint es von seiner … Auffassung des Verhältnisses zwischen dem Gefühl und dem moralischen Gesetzt aus, folgerichtig; er kann nur die vernunftmäßige Auslegung fordern“ (Bohatec 438). Der berechtigten

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Religion“ anerkennen (die sich an deren „reinem Vernunftbegriff“ orientiert); eine von diesem beanspruchte „Evidenz“ des Glaubens war für Kant jedenfalls völlig unzureichend. Noch der in Kants spätem „Streit der Fakultäten“ (im „Streit der theologischen und der philosophischen Fakultät“) konstruierte Dialog und seine „Einwürfe und Beantwortung derselben, die Grundsätze der Schriftauslegung betreffend“ (SF, AA 07: 45 ff.) sowie die Erörterung der „Einwürfe, die die Vernunft ihr selbst gegen die Vernunftauslegung der Bibel macht“ – bzw. Kants Bedenken gegen eine durch bloße Geschichtslehren nicht aufweisbare „innere Wahrheit“ – erinnern, wie erwähnt, in der Sache in mancher Hinsicht eindringlich an jene berühmten Kontroversen Lessings mit dem Hamburger Hauptpastor Goeze und lesen sich bisweilen geradezu wie ein differenzierender Kommentar dazu. In dieser – zum Teil auch kritisch gegen Lessing verwendbaren – Akzentuierung sind die von Kant in diesem „Streit zwischen der theologischen und der philosophischen Fakultät“ referierten bzw. diskutierten Einwände gegen die moralische Schriftauslegung jenen von Lessings Kontrahenten Goeze erhobenen Argumenten jedenfalls sehr ähnlich. Dies gilt nicht zuletzt auch noch für Lessings (schon erwähntes) kritisches Bedenken: „Weil Ihnen eine geoffenbarte Wahrheit, bei der sich nichts denken lässt, ebenso lieb ist als eine, bei der sich etwas denken lässt?“,²⁰⁵ die auch an eine Bemerkung Kants erinnert.²⁰⁶ Deshalb verwarf Kant die Aufforderung, „dass buchstäblich ‚glauben‘, ohne zu untersuchen (selbst ohne einmal recht zu verstehen) was geglaubt werden soll, für sich heilbringend sei“ (SF, AA 07: 31.31– 33). Allein daraus kann jene „Glaubensform“ erwachsen, die sich von den Fesseln und Immunisierungsabsichten des bloßen „Kirchenglaubens“ (der „zu seiner Zeit gute Dienste“ getan haben mag: RGV, AA 06: 121.21) zu lösen vermag²⁰⁷ und diese tradierten Ansprüche und interpretationsbedürfti-

historischen Bibelkritik korrespondiert nach Kant die unbezweifelbare Rechtmäßigkeit einer philosophischen Kritik an religiösen Lehren. Durch „Zeitumstände“ und „Personen“ bedingte „ästhetische“ und „statutarische Differenzen“ sind in gemeinsamer Arbeit vernunft-orientiert „auf Begriffe zu bringen“.  XIII,131.  „Von einem jeden zum Glauben aufgestellten Geheimnisse kann man nun mit Recht fordern, dass man verstehe, was unter demselben gemeint sei; welches nicht dadurch geschieht, dass man die Wörter, wodurch es angedeutet wird, einzeln versteht, d.i. damit einen Sinn verbindet, sondern dass sie, zusammen in einen Begriff gefasst, noch einen Sinn zulassen müssen und nicht etwa dabei alles Denken ausgehe. – Dass, wenn man seinerseits es nur nicht am ernstlichen Wunsch ermangeln lässt, Gott dieses Erkenntnis uns wohl durch Eingebung zukommen lassen könne, lässt sich nicht denken; denn es kann uns gar nicht inhärieren, weil die Natur unseres Verstandes dessen unfähig ist“ (RGV, AA 06: 144, Anm.).  Dies entspricht der Aufklärung als „wahrer Reform der Denkungsart“, dass „die Vernunft aber ihrer Natur nach frei ist, und keine Befehle, etwas für wahr zu halten (kein crede sondern nur

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gen Glaubensinhalte in einer „authentischen Auslegung“ verflüssigt. Solche ‚Verflüssigung‘ läuft jedoch gerade nicht auf deren Auflösung hinaus, sondern ermöglicht allererst die Einlösung seiner „universalen“ („kosmopolitischen“) Ansprüche und somit dies, dass – jenseits von partikularistischen Sonderansprüchen – die erhobenen Sinnansprüche auch den Menschen ‚unbedingt angehen‘ und so in der „moralischen Lebensgeschichte jedes Menschen“ (RGV, AA 06: 143. 33 – 34) – d. h. als ‚existenz-erhellend‘ in „Vernunft, Herz und Gewissen“ (RGV, AA 06: 145.2– 3) – vernehmbar werden: ‚tua res agitur‘ – ja, ‚Dich geht es an‘ …²⁰⁸ Indirekt betrifft dies sodann auch die kantische Erwägung: „Was würde also geschehen, wenn der Kirchenglaube dieses große Mittel der Volksleitung einmal entbehren müsste“ (SF, AA 07: 10 – 11), bzw. ob denn die christliche Lehre auch wieder verloren gehen könne? Die Beantwortung dieser Frage nimmt in der Sache offenbar die von Lessing vertretene Ansicht auf, es müsse doch „auch möglich“ sein, „dass alles, was die Evangelisten und Apostel geschrieben haben, wiederum verloren ginge, und die von ihnen gelehrte Religion doch bestünde“²⁰⁹ – „und so

ein freies credo), annimmt“ (SF, AA 07: 20.4– 6), also frei vom „Joch der Tradition“ und des „Buchstabens“ ist (s.u. II., Anm. 302 u. 303). Kant beklagte auch das „Joch“ der „Glaubensbekenntnisse heiliger Geschichte, welches den Gewissenhaften viel härter drückt“ als das „Joch äußerer Observanzen“ (RGV, AA 06: 166, Anm.).  Die Fragen des frühen Lessing: „Warum? Wer? Wo bin ich? Zum Glück. Ein Mensch. Auf Erden … .Was ist der Mensch? Sein Glück? Die Erd“, auf der er irrt?“ (Die Religion. Erster Gesang: I, 258) wecken natürlich Assoziationen zur kantischen Frage „Was ist der Mensch?“, die ja auch bei Kant mit dem Orientierungsbedürfnis des „im unermesslichen und für uns mit dicker Nacht erfüllten Raum des Übersinnlichen“ (WDO, AA 08: 137. 10 – 11) befindlichen (und ‚Aufklärung‘ suchenden) Menschen verbunden ist. In der „Vorerinnerung“ zu „Die Religion. Erster Gesang“ (255) betonte Lessing: „Die Religion ist, schon seit verschiedenen Jahren, die Beschäftigung meiner ernsthaften Muse gewesen“.  XIII, 121. Der Sache nach nimmt Kant also durchaus auf Lessings Frage Bezug: „Wie? Die christliche Religion selbst würde verloren gehen, wenn es möglich wäre, dass die Schriften der Evangelisten und Apostel verloren gingen?“ (XIII, 123) Auch dies lässt es bezüglich des möglichen „Verlorengehens“ bzw. der „Entbehrlichkeit der biblischen, speziell der neutestamentlichen Schriften“ (Arnoldt 282 ff.) (gegen Goeze) als plausibel erscheinen: „Daher musste Kant selbstverständlich der Behauptung Lessings beitreten, dass die von den Evangelisten und Aposteln gelehrte Religion bestehen würde, auch wenn alles, was von ihnen geschrieben worden, einst wiederum verloren ginge“ (Arnoldt 285). Nach Bohatec ist jedoch Kants diesbezügliche „Stellungnahme … nicht eindeutig“; überdies werde „nach der Überzeugung Kants die Bibel als Vehikel der reinen Vernunftreligion erst aufhören, wenn diese selbst einmal allgemein sein wird“ (Bohatec 54 f, Anm. 54). Eine andere Ansicht vertritt offenbar Irrlitz: „Kant teilte … trotz vieler Berührungspunkte mit Lessing nicht dessen … Auffassung, auch wenn alle neutestamentlichen Zeugnisse verloren gegangen wären, bliebe die Lehre Jesu durch die Zeiten in der Welt erhalten, weil sie eben nur Wahrheiten der sog. natürlichen Vernunft enthielte“ (Irrlitz 401).

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wäre wieder nicht einzusehen, warum die christliche Religion [d. h. die Wahrheit derselben] itzt nicht ganz ohne die Schrift sollte bestehen können“²¹⁰ – und setzt dabei jene Unterscheidung zwischen dem Christentum als „natürlicher Religion“ (seinem „Vernunftbegriff“) und als „Offenbarungsreligion“ voraus. Gleichwohl hat Kant durchaus – wohl auch gegen Lessing?²¹¹ – auf der ursprünglichen Unverzichtbarkeit der Hl. Schrift insistiert: „Wenn es nun also einmal nicht zu ändern steht, dass ein statutarischer Kirchenglaube dem reinen Religionsglauben als Vehikel und Mittel der öffentlichen Vereinigung der Menschen zur Beförderung des letzern beigegeben werde, so muss man auch eingestehen, dass [für] die unveränderliche Aufbehaltung desselben, die allgemeine einförmige Ausbreitung, und selbst die Achtung für die in ihm angenommene Offenbarung, schwerlich durch Tradition, sondern nur durch Schrift[²¹²], die selbst wiederum als Offenbarung für Zeitgenossen und Nachkommenschaft ein Gegenstand der Hochachtung sein muss, hinreichend gesorgt werden kann; denn das fördert das Bedürfnis der Menschen, um ihrer gottesdienstlichen Pflicht gewiss zu sein“ (RGV, AA 06: 106.31– 107.6). Es ist nach Kant keineswegs so – auch dies besagt wohl jener Einspruch gegen die „Keckheit der Kraftgenies“ (SF, AA 07: 65.8) –, dass der Offenbarungsglaube auch ohne Vermittlung (Introduktion, Vehikel) der ‚heiligen Texte‘ Eingang hätte finden können (und damit übrigens auch seinen Vorsehungs-Gedanken verknüpft hat); darin urteilt Kant offenbar anders als Lessings Zweifel daran, „dass die christliche Religion notwendig hätte untergehen müssen, wenn die Apostel nichts geschrieben hätten“.²¹³

 XIII, 132. Vorländer betont (II, 166 Anm.): „An Lessing erinnert u. a. auch ein Gedanke aus den Losen Blättern (Reicke 90): Auch die Bibel könne wegfallen, ‚ohne dass dadurch die Religion ihrem Geiste nach aus der Menschen Kenntnis käme.‘“ Gleichwohl steht dazu Kants Bemerkung in einer gewissen Spannung, dass „die Erfahrung nicht bloß zeigt, dass ohne alles heilige Buch Barbarei in Religionsbegriffen sich einfinden würde, sondern auch weil dieses gegenwärtige System durch Erfahrung seine Brauchbarkeit in Ansehung alles Moralischen sich selbst zum Canon berechtigt, den selbst die Regierung mit Achtung anzuerkennen nicht ermangeln wird“ (VASF, AA 23: 453.28 – 33).  Nach Bohatec scheint Kants „Wertung der Schrift als des einzigen Mittels zur Ausbreitung des Kirchenglaubens und die Betonung der nötigen Achtung für die in ihr enthaltene Offenbarung als eines Mittels, das die Tradition nicht ersetzen kann, hauptsächlich gegen Lessings Auffassung gerichtet zu sein“ (Bohatec 427; 54 f.). Gegen Lessing weise Kant „darauf hin, „dass gerade die Ermangelung eines feststehenden zusammenhängenden Religionsbegriffs die Menschen auf die Autorität der Bibel, in der die Offenbarung schriftlich fixiert wird, hinlenken muss“ (ebd. 428).  Diese Betonung der „unveränderlichen Aufbehaltung“ des Religionsglaubens „schwerlich durch Tradition, sondern nur durch Schrift“, richtet sich offenkundig (indirekt) auch gegen Lessings Berufung auf Tradition.  XIII, 374 f. S. dazu auch Arnoldt 285 ff. Nach Bohatec werde Arnoldt jedoch „Kants Polemik gegen Lessing nicht gerecht, wenn er glaubt, Kant habe die Absicht Lessings nicht richtig ge-

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II Zur indirekten Auseinandersetzung zwischen Lessing und Kant

Ebenso hat Kant an der ‚Unüberholbarkeit‘ des Neuen Testamentes festgehalten, worin wohl auch eine Spannung zu Leitideen der Lessing’schen „Erziehungsschrift“ sichtbar wird.

4 Weitere Übereinstimmungen – und gravierende Differenzen: Offenbarung und „Erziehung des Menschengeschlechts“ 4.1 Spuren der Lessing’schen „Erziehungsschrift“²¹⁴ in Kants Religionsphilosophie und in seiner Idee einer „Geschichte des Glaubens“. – Einige verbleibende Unklarheiten Lessings „Hypothese von einer göttlichen Erziehung des Menschengeschlechts“ war Kant bekanntlich durchaus geläufig.²¹⁵ Einer direkten Erinnerung an Lessings

troffen“ (Bohatec 428 Anm. 81). Kant wolle hingegen den „von Lessing hochgehobenen Traditionsglauben … bekämpfen“ (ebd.); allerdings ist Kants Argumentation hier offenbar eher psychologisch orientiert, die auf das „Bedürfnis des Menschen“ nach einem festen „da stehts geschrieben“ rekurrierte (RGV, AA 06: 107.10). Das Christentum sei eben in der glücklichen Lage, dass dieses „den Menschen zu Händen gekommene Buch … die reinste moralische Religionslehre mit Vollständigkeit“ enthalte (RGV, AA 06: 107.18 – 20).  Diese erst im Jahr 1780 vollständig erschienene Erziehungsschrift – eine „Gelegenheitsschrift“ (Cyranka 43) – war wohl schon im Jahr 1777 (also vor dem „Nathan“) fertiggestellt; offenbar ist Lessing später dazu jedoch auf Distanz gegangen. Schon in einem Brief an Albert Heinrich Reimarus (den Sohn von Hermann Samuel Reimarus) betonte Lessing erstaunlicherweise: „Die Erziehung des Menschengeschlechts ist von einem guten Freunde [!], der sich gern allerlei Hypothesen und Systeme macht, um das Vergnügen zu haben, sie wieder einzureißen.“ (Brief v. 6.4. 1778: XVIII, 269) Es gibt – zufolge der mit Lessing eng vertrauten Elise Reimarus – jedenfalls auch Hinweise, dass Lessing sich – zuletzt – auch von den in der Erziehungsschrift bestimmenden Perspektiven einer „Vollendung“ verabschiedet habe, d. h. „zu der Zeit, wo er seine Erziehung des Menschengeschlechts herausgab, nicht mehr an diesen früher geträumten Traum geglaubt, ihn aber bloß darum damals herausgegeben habe, um den theologischen Streitern eine Diversion zu machen“. Lessings „Blick war, wie der des Richters in der Ringparabel, nicht mehr ganz so zuversichtlich wie vier Jahre zuvor“ (Nisbet 2008, 763). Zum strittigen Status der anonym publizierten Erziehungsschrift s. auch Lessings Bemerkung: „Ich kann ja das Ding [die Erziehungsschrift] vollends in die Welt schicken, da ich es nie für meine Arbeit erkennen werde“ (Brief Lessings an seinen Bruder Karl v. 25. 2.1780: XVIII, 335). Der Stellenwert dieser Schrift bleibt also dunkel-undurchsichtig. Dass es ihm „damit kein Ernst gewesen sei“, würden angeblich auch „mehrere Stellen seines Nathan“ beweisen (so Böttiger in: Literarische Zustände und Zeitgenossen. In Schilderungen aus Karl August Böttigers handschriftlichem Nachlass. Hg. v. K. W. Böttiger, Bd. 2, Leipzig 1838, 19, zit. nach Barner 1998, 329 f.). Als Lessings „philosophischtheologisches Testament“, in dem er den Streit mit den „positiven Religionen“ bereinigt habe, wird man die „Erziehungsschrift“ deshalb wohl kaum ansehen können. – Die Distanzierung

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Diktum: „Offenbarung ist Erziehung, die dem Menschengeschlecht geschehen ist, und noch geschieht“²¹⁶ verdankt sich möglicherweise auch eine sehr erhellende Zweideutigkeit in Kants Rekurs auf das „Prinzip der reinen Vernunftreligion, als einer an alle Menschen beständig geschehenden [²¹⁷] göttlichen (ob zwar nicht empirischen) Offenbarung“ (RGV, AA 06: 122.17– 18). Dies bezieht sich Kant zufolge auf eine fortgehende Läuterung der „christlichen Religion“ als der „reinen Vernunftreligion“, nicht jedoch auf deren Überwindung, die offenbar Lessings

davon wird vielleicht auch noch daraus (indirekt) vernehmbar, dass Lessing kurz vor seinem Tod Mendelssohn um Unterstützung für einen von Juden und Christen bedrohten Emigranten ersuchte: „Er will von Ihnen nichts, lieber Moses, als dass Sie ihm den kürzesten und sichersten Weg nach dem Europäischen Lande vorschlagen, wo es weder Christen noch Juden gibt. Ich verliere ihn nur ungern, aber sobald er glücklich da angelangt ist, bin ich der erste, der ihm folgt.“ (Brief Lessings an Mendelssohn vom 19.12.1780: XVIII, 361)  Kant verwies darauf ausdrücklich: „Erziehung des Menschengeschlechts im Ganzen ihrer Gattung, d. i. kollektiv genommen (universorum) nicht aller einzelnen (singulorum)“ sei eine notwendige (regulative) Idee der Vernunft (Anth, AA 07: 328.8 – 9; vgl. TP, AA 08: 307 ff.), wie er – mit Blick auf die „Geschichte der Menschheit“ – offenkundig in Anlehnung an Lessing betonte. Die Kritik Kants an Mendelssohn ist wohl eine indirekte Zustimmung zu Lessing, die gegen Mendelssohn („Ich bin anderer Meinung“: TP, AA 08: 308.15) annehmen will, „dass, da das menschliche Geschlecht beständig im Fortrücken in Ansehung der Kultur, als dem Naturzweck desselben, ist, es auch im Fortschreiten zum Besseren in Ansehung des moralischen Zwecks seines Daseins begriffen sei, und dass dieses zwar bisweilen unterbrochen, aber nie abgebrochen sein werde; und so ungewiss ich immer sein und bleiben mag, ob für das menschliche Geschlecht das Bessere zu hoffen sei, so kann dieses doch nicht der Maxime, mithin auch nicht der notwendigen Voraussetzung derselben in praktischer Absicht, dass es tunlich sei, Abbruch tun“ (TP, AA 08: 308.35 – 309.20). Kant hat also jene „Hypothese von einer göttlichen Erziehung des Menschengeschlechts“ nicht nur im Blick auf einen „Fortschritt des Menschengeschlechts“ erwähnt und gewürdigt, sondern als recht verstandene „Idee“ auch gegen Mendelssohns einschlägige Kritik an Lessing verteidigt. Er richtete sich damit offenbar direkt gegen Mendelssohns Auffassung: „Aber dass auch das Ganze, die Menschheit hienieden, in der Folge der Zeiten immer vorwärts rücken, und sich vervollkommnen soll, dieses scheinet mir der Zweck der Vorsehung nicht gewesen zu sein“ (Mendelssohn, Jerusalem: JubA 8, 163). Gleichwohl hat Kant diese „Erziehung des Menschengeschlechts“ (als eine „Idee der Vernunft“) von der Forderung abgegrenzt, „von der Religion auf Erden (in der engsten Bedeutung des Worts)“ eine „Universalhistorie des menschlichen Geschlechts [zu] verlangen“ (RGV, AA 06: 124.9 – 10); s.u. II., Anm. 325.  Lessing, Erziehungsschrift: § 2: XIII, 416.  Hier ist bezeichnenderweise – Lessing-nahe – von „einer an alle Menschen beständig geschehenden [sic!] göttlichen (ob zwar nicht empirischen) Offenbarung“ die Rede, was solcherart die reduktionistische Tendenz noch deutlicher hervortreten lässt (die zwischen erster und zweiter Auflage bestehende Differenz verrät vielleicht auch eine diesbezügliche Unsicherheit Kants, die in solchem Schwanken sichtbar wird; dieses „geschehend“ findet sich nach der Weischedel-Ausgabe der Schriften Kants eben nur in der Auflage A).

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Entwicklungsperspektive vor Augen hatte.²¹⁸ Letztere kann wohl auch als die geschichtliche Selbstentfaltung des ‚Wesens‘ der „vollständigen Religion“ verstanden werden, in der sich Erfahrungen des geschichtlichen Bewusstseins des Menschen widerspiegeln, die in einer religionsphilosophischen Betrachtung der „Erziehung des Menschengeschlechts“ freigelegt werden sollte. Eine grundsätzliche Übereinstimmung mit Lessing scheint jedenfalls auch Kants späteres Zugeständnis über die pädagogische „Ersprießlichkeit“ der Offenbarung anzuzeigen, die sich wohl einer Erinnerung an Lessings „Erziehungsschrift“²¹⁹ verdankt. Die spezifische Stoßrichtung seines Anspruches – auch in den damit verbundenen Konsequenzen – ist nicht zu übersehen, die den geschichtlichen Religionen gewissermaßen die unentbehrliche Rolle einer „Maieutik der Menschheit“ zuerkennt; meint das Verständnis der Religion als „natürliche“ und „geoffenbarte“²²⁰ zugleich doch dies – die Nähe zu Lessings § 4 der „Erziehungsschrift“ ist unübersehbar (s.u. II., 4):²²¹ „Es kann demnach eine Religion die natürliche, gleichwohl aber auch geoffenbart sein, wenn sie so beschaffen ist, dass die Menschen durch den bloßen Gebrauch ihrer Vernunft auf sie von selbst hätten kommen können und sollen [!], ob sie zwar nicht so früh, oder in so weiter Ausbreitung, als verlangt wird, auf dieselbe gekommen sein würden, mithin eine Offenbarung derselben, zu einer gewissen Zeit und an einem gewissen Ort, weise und für das menschliche Geschlecht sehr ersprießlich sein konnte, so doch, dass, wenn die dadurch [d. i. durch die Offenbarung und die durch sie

 Insofern gilt also gerade nicht: „Mit Lessings tiefsinniger Ansicht von der Offenbarung als einer ‚Erziehung des Menschengeschlechts‘ ist Kant ganz einverstanden, er urteilt über die Geschichte der Kirche genau so, wie Lessing über die Geschichte der Religion.“ (Fischer 1910, 367) Das trifft auch nicht die von Kant betonte ‚Kluft‘ zwischen Judentum und Christentum.  Schilson hat die Erziehungsschrift als den „erste(n) Versuch eines geschichtsphilosophischen Entwurfes der Gesamtgeschichte am Leitfaden der christlichen Offenbarung“ gewürdigt (Schilson 1974, 20). Hammacher weist darauf hin, „dass dieser Gedanke einer Erziehung des Menschen durch die Natur, die ihn schließlich zur Stufe der Humanität führt, bereits in Spinozas ‚Theologisch-Politischem Traktat‘ angedeutet ist und dass Lessing sicher hiervon angeregt worden ist“ (Hammacher 58).  Hier bringt Kant offensichtlich eine elementare Unterscheidung von Erkenntnisarten zur Anwendung, wobei diejenige des „objektiven“ und des „subjektiven Ursprungs“ von besonderem Interesse ist.  Bohatec betont: „Man hat, und zwar nicht mit Unrecht, auf die Verwandtschaft dieser Gedanken mit denjenigen Lessings hingewiesen, die entweder als eine direkte Anlehnung an die Sätze Lessings oder als Konsequenz und Verallgemeinerung über die mosaische und christliche Religion anzusehen sind.“ (Bohatec 51) Gleichwohl sei eine Abhängigkeit von Locke nicht zu übersehen; Bohatec betont auch die nachhaltigen Einflüsse von Stapfer und Stäudlin auf Kants Religionsschrift. (Besonders hinsichtlich der von Kant verwendeten „theologisch-dogmatischen Quellen“ ist Bohatecs Werk nach wie vor sehr hilfreich; s. dazu auch Winter 1992).

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„abgezweckte Sittlichkeit“: SF, AA 07: 48.2– 3] eingeführte Religion einmal da ist, und öffentlich bekannt gemacht worden, forthin jedermann sich von dieser ihrer Wahrheit durch sich selbst und seine eigene Vernunft überzeugen kann. In diesem Falle ist die Religion objektiv eine natürliche, obwohl subjektiv eine geoffenbarte[²²²]; weshalb ihr auch der erstere Namen eigentlich gebührt. Denn es könnte in der Folge allenfalls gänzlich in Vergessenheit kommen, dass eine solche übernatürliche Offenbarung je vorgegangen sei, ohne dass dabei jene Religion doch das mindeste weder an ihrer Fasslichkeit, noch an Gewissheit, noch an ihrer Kraft über die Gemüter verlöre. Mit der Religion aber, die ihrer innern Beschaffenheit wegen nur als geoffenbart angesehen werden kann, ist es anders bewandt. Wenn sie nicht in einer ganz sichern Tradition oder in heiligen Büchern als Urkunden aufbehalten würde, so würde sie aus der Welt verschwinden, und es müsste entweder eine von Zeit zu Zeit öffentlich wiederholte, oder in jedem Menschen innerlich eine kontinuierlich fortdauernde übernatürliche Offenbarung vorgehen, ohne welche die Ausbreitung und Fortpflanzung eines solchen Glaubens nicht möglich sein würde.“ (RGV, AA 06: 155.30 – 156.16)²²³ Auch jenes – zum Teil wohl der direkten Erinnerung an Lessing geschuldete? – Zugeständnis einer in subjektiver Hinsicht „geoffenbarten“ Religion bzw. deren Vernunftprinzipien findet eine bemerkenswerte Entsprechung in dem Hinweis Kants, wonach es für die „aus sich selbst apriori zu Stande“ gebrachten apriorischen Anschauungsformen und Verstandesbegriffe eben doch einen „Grund dazu im Subjekte“ geben müsse, „der es möglich macht, dass die gedachten Vorstellungen so und nicht anders entstehen und noch dazu auf Objekte, die noch dazu nicht gegeben sind, bezogen werden können, und dieser Grund wenigstens ist angeboren“ (ÜE, AA 08: 221.37– 222.2). Solcher Rekurs auf den aposteriorisch begründeten „Grund im Subjekte“ indiziert wohl eine unübersehbare Analogie zu jener als „geoffenbart“ geltenden Religion; sie bliebe dahingehend zu modifizieren, dass auch hier in entsprechender Weise gelten müsste, dass „der Zeit nach [!] keine Vernunftreligion uns vor der Offenbarungsreligion“ vorhergehe. Eine gewisse Nähe zu der in Lessings Erziehungsschrift leitenden Vorstellung der Offenbarung als unentbehrliches Mittel (‚Vehikel‘), „dass bloße Vernunftwahrheiten als unmittelbar geoffenbarte Wahrheiten eine Zeitlang gelehret wer-

 Kants Unterscheidung der Religion „objektiv [als] eine natürliche“ und „subjektiv [als] eine goffenbarte“ und die daran geknüpfte Argumentation nimmt sich jedenfalls wie eine kritische Abgrenzung gegenüber Lessing aus.  Dies enthält offenbar nochmals Kants kritisch differenzierende Antwort auf jene von Lessing erwogene (schon angeführte) Möglichkeit, „dass alles, was die Evangelisten und Apostel geschrieben haben, wiederum verloren ginge, und die von ihnen gelehrte Religion doch bestünde.“ (XIII, 121)

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den: um sie geschwinder zu verbreiten, und sie fester zu gründen“,²²⁴ spiegelt sich zwar unverkennbar in Kants Würdigung der Offenbarung „als bloßes, aber höchst schätzbares Mittel“ wider, „um der ersteren [d. i. der „natürlichen Religion“] Fasslichkeit, selbst für die Unwissenden, Ausbreitung und Beharrlichkeit zu geben“ (RGV, AA 06: 165.6 – 7).²²⁵ Dass Kant dieses Motiv allerdings schon vor Lessings „Erziehungsschrift“ geläufig war, verrät ebenfalls eine denkwürdige Briefpassage aus dem Jahr 1775 über den „moralischen Glauben“. Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass er schon darin offenbar – in direktem Gegensatz zu Lessing – ausdrücklich die Unmöglichkeit betonte, dass ohne die offenbarungs-bedingte ‚Eröffnung‘ ein solches Wissen möglich sei: „Unter dem moralischen Glauben verstehe ich das unbedingte Zutrauen auf die göttliche Hülfe, in Ansehung alles guten, was, bei unsern redlichsten Bemühungen, doch nicht in unserer Gewalt ist. Von der Richtigkeit und der Notwendigkeit des moralischen Glaubens kann ein jeglicher, nachdem er ihm einmal eröffnet ist, aus sich selbst, ohne historische Hülfsmittel überzeugt werden, ob er gleich ohne solche Eröffnung von selbst darauf nicht würde gekommen sein“.²²⁶ Indes, von einem bloß ‚pädagogischen Vehikel‘ ist hier im Unterschied zu späteren – von Lessing beeinflussten? – Äußerungen Kants noch nicht die Rede. Genauer besehen zeigt sich in diesen Fragen also gleichermaßen Nähe und Distanz zwischen Lessing und Kant. In diesem Abschnitt sollen deshalb die bei

 Lessing, Erziehung § 70: XIII, 430. Gegenüber den Irrwegen der „Vielgötterei und Abgötterei“ habe durch die göttliche Offenbarung die Entwicklung „durch einen neuen Stoß eine bessere Richtung“ eingenommen (§ 7 Erziehungsschrift: XIII, 417) durch das dadurch ausgebildete Bewusstsein, dass dieser „doch nur einer sein kann“, d. h. durch den „Begriff des Einigen“ (§ 13: XIII, 418). Die Frage liegt deshalb nahe: „Ist Offenbarung nur die Beschleunigungsform der Aktualisierung eines Inhalts, den die Vernunft selbst hat? Dann muss die Offenbarung streng vernunftimmanent gedacht werden. Die Offenbarung ist bei Lessing nur die Form des Äußerlichgesetztwerdens eines Inhaltes, der der Vernunft innewohnt.“ (Rohrmoser 1970, 45) Dies ist jedoch bei Kant so nicht der Fall, zumal die Vernunft durchaus einer „Belehrung bedarf“ (s.u. II., Anm. 236) und Offenbarung deshalb keinesfalls „für unnötig und überflüssig“ (SF, AA 07: 9.4) anzusehen ist, obgleich sie vielfach doch wiederum auf ein bloßes „Vehikel“ reduziert ist.  An Lessing erinnert natürlich auch die Bemerkung Kants: „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft enthält alles das, was eigentlich Religion ausmacht. [D]er Glaube der göttlichen Mittel in Ansehung der Gründung derselben unter Menschen enthält außer jener noch mehr oder was eigentlich die Religion ausmacht oder sie doch in der Wirklichkeit darstellen kann.“ (VARGV, AA 23: 95)  Brief Kants an Lavater v. 28.4.1775: AA 10, 177 f. – Schon diese frühe Kennzeichnung des „moralischen Glaubens“ indiziert einen „anthropologisch-theologischen“ Sachverhalt, der von Kant als ein „christliches proprium“ verstanden wird, das als solches womöglich eine interessante Differenz zu den anderen „Glaubensarten“ markiert und dabei ohne „historische Hilfsmittel“ auskommt (s. dazu auch o. II., Anm. 89), d. h. nicht nur „auf Geschichte gründet“.

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beiden zutage tretende Widersprüchlichkeiten,²²⁷ aber auch diesbezügliche Unausgeglichenheiten in beiden Positionen beleuchtet werden, die sich zum Teil auffällig ähnlich sind. Kant sind wohl auch die in Lessings „Erziehungsschrift“ zutage tretenden widersprüchlichen Aussagen²²⁸ über die Notwendigkeit der Offenbarung – ungeachtet seiner partiellen Zustimmung – nicht verborgen geblieben (vgl. insbesondere §§ 4 u. 77);²²⁹ gleichwohl finden sich diesbezügliche

 „Lessings Theorie von den drei Zeitaltern lässt sich auf die Ringparabel im Nathan beziehen, sie ist deren Sinn keineswegs – wie verschiedentlich ausgeführt wurde – entgegengesetzt. Versucht man die Handlung des dramatischen Gedichts in das Erziehungsschema einzufügen, dann bewegt sie sich zwischen der ersten und zweiten Offenbarung, mit einem Ausblick auf das dritte Zeitalter“ (Vollhardt 2018, 345). Und wo steht darin der Islam?  Timm (1974, 81) verweist auch auf die Widersprüchlichkeiten in Lessings einschlägigen Ausführungen in der „Erziehung des Menschengeschlechts“: „Lessing spricht promiscue von Gott und Natur, von himmlischer Pädagogie und irdischer Selbstschulung (§ 84, § 90). Er sagt einerseits, die Offenbarung gäbe der Vernunft nichts, ‚was sie nicht auch aus sich selbst haben könnte‘ (§ 4), und andererseits: sie nötige zu Einsichten, auf welche sie ‚von selbst nimmermehr gekommen wäre‘ (§ 77). Er kann der These, die Menschheit sei seit 1700 Jahren durch nichts so erleuchtet worden, wie durch die Bibel, hinzufügen: ‚sollte es auch nur das Licht sein, welches der menschliche Verstand selbst hineintrug‘ (§ 65)“. Auf immanente Widersprüchlichkeiten in Lessings Werk, die es sehr schwierig (wenn nicht sogar unmöglich) machen, seine jeweiligen Auffassungen genau festzumachen, wird in der Literatur immer wieder hingewiesen. Lessings bekundete Distanz zur Erziehungsschrift hilft da nicht weiter, sondern scheint auch diesbezüglich eher Jaspers‘ Vermutung zu bestätigen, dass Lessing „mehr fragt als behauptet“ (Jaspers 1981, 761). Eine Bemerkung Lessings aus seiner „Hamburgischen Dramaturgie“ findet wohl auch im Blick auf seine späteren religionsphilosophischen Gedanken eine Bestätigung: „Meine Gedanken mögen immer sich weniger zu verbinden, ja wohl gar sich zu widersprechen scheinen: wenn es denn nur Gedanken sind, bei welchen sie [die Leser] Stoff finden, selbst zu denken.“ (95. Stück: X, 187 f) Dies ist in der Tat der Fall – und bestätigt offensichtlich in gewisser Hinsicht Kants Urteil über Lessing (s.u. III., Anm. 3).  Mit Blick auf die §§ 4 u. 77 wendet Strohschneider-Kohrs ein, dass beide „keineswegs in Gegensatz oder Widerspruch zueinander“ stehen (2009, 44 vgl. dazu bes. ebd. 41 ff.). Nach Fick (475) löst Strohschneider-Kohrs diesen Widerspruch folgendermaßen auf: „Paragraph 4 thematisiere die Voraussetzung, den angeborenen Gottesbezug der Vernunft; in Paragraph 77 hingegen gehe es um den geschichtlichen Prozess. In ihm könne die Religion mit dem ‚ihr inhärenten Offenbarungswahrheiten‘ … auf nähere und bessere Begriffe von den ‚drei metaphysischen Problemen: Gott-Menschennatur – Verhältnis zu Gott‘ … leisten, als es der Vernunft von sich aus möglich gewesen wäre“. Eine besondere Auflösung dieses „Widerspruchs“ in der Erziehungsschrift bietet Beutel (s. Beutel 159 ff), der auf die erkennbare „Differenz der Vokabeln“ abzielt, „mit denen Lessing jeweils den Gegenstand solcher Erkenntnis bezeichnet“ (161). Beutel verweist auf einschlägige Klärungsversuche bei Cyranka.

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Schwierigkeiten auch in den von ihm vertretenen Auffassungen,²³⁰ die im Folgenden kurz thematisiert werden sollen. Die geschichtliche Herausschälung der apriorischen Basis der Vernunftreligion und die ‚Vehikelfunktion‘ der Offenbarung kommt einerseits in gewisser Weise Lessing’schen Auffassungen entgegen: „die Ausbildung geoffenbarter Wahrheiten in Vernunftswahrheiten ist schlechterdings notwendig, wenn dem menschlichen Geschlechte damit geholfen sein soll. Als sie geoffenbaret wurden, waren sie freilich noch keine Vernunftswahrheiten; aber sie wurden geoffenbaret, um [!] es zu werden.“²³¹ Auch darin, dass jetzt, nach ergangener Offenbarung, diese nunmehr auch ‚vernunftimmanent‘ verstanden werden könne, folgt Kant²³² der Sache nach der zentralen These der Lessing’schen „Erziehungsschrift“:²³³ „Erziehung gibt dem Menschen nichts, was er nicht auch aus sich selbst haben könnte: sie gibt ihm das, was er aus sich selber haben könnte, nur geschwinder und leichter. Also gibt auch die Offenbarung dem Menschengeschlechte nichts,

 Auch Jaspers hat da Zweifel: „Sind Offenbarung und Vernunft zusammenzubringen? – ohne Täuschung, ohne Verschleierung? Ist das Widerstreitende in irgendeinem Sinne in einem einzigen Zusammenhang aufzuheben? In einem gewussten Ganzen?“ (Jaspers 1981, 743) Ebenso erwähnt Jaspers Widersprüche in der Erziehungsschrift (Jaspers 1981, 744 ff.). – Gelegentliche Vermutungen über eine gemeinsame Abhängigkeit Lessings und Kants von Locke in diesem Thema „Vernunft und Offenbarung“ werden hier nicht verfolgt.  § 76 der Erziehungsschrift: XIII, 432. Auch hier ist die Übereinstimmung mit Kant unübersehbar: „Offenbarung kann auch zur einzigen Absicht haben, eine Lehre in Gang zu bringen, die keiner Offenbarung bedarf“ (Refl. 5635, in: AA 18, 266) – gleichwohl steht dies in offenkundigem Widerspruch zu der später als notwendig eingeräumten „Belehrung“ bzw. zu dem „Bedürfnis einer Offenbarungslehre“ (s.u. II., Anm. 239 u. Anm. 240). – Es ist jedenfalls sehr bemerkenswert, dass Schelling – der energisch gegen den „vulgären Rationalismus“ Kants polemisierte – in diesem Problemkontext ausdrücklich auf Lessing (ihn zitierend) verwiesen hat. Gleichwohl hätte Kant für den von Schelling erhobenen Anspruch durchaus Verständnis gezeigt und ihn auch nicht unbedingt im Widerspruch zu seinen eigenen Auffassungen gesehen: „Wir im Gegenteil sind der Meinung, dass eben von den höchsten Begriffen eine klare Vernunfteinsicht möglich sein muss, indem sie nur dadurch uns wirklich eigen, in uns selbst aufgenommen und ewig gegründet werden können. Ja, wir gehen noch weiter, und halten mit Lessing selbst die Ausbildung geoffenbarter Wahrheiten in Vernunftwahrheiten für schlechterdings notwendig, wenn dem menschlichen Geschlecht damit geholfen werden soll“ (Schelling VII, 412). Die von Kant geforderte Überführung in „Vernunftbegriffe“ entspricht dem genau.  Nicht jedoch folgte er der Vorstellung, dass die menschliche Vernunft sich „auf Irrwegen würde herumgetrieben haben“, „wenn es Gott nicht gefallen hätte, ihr durch einen neuen Offenbarungsstoß eine bessere Richtung zu geben“. (Lessing, Erziehungsschrift § 7: XIII, 417)  XIII, 416 (§ 4). – Die Auffassung Lessings (im Widerspruch gegen Mendelssohn) von „einer göttlichen Erziehung des Menschengeschlechts“ teilte Kant in gewisser Hinsicht offenbar: „die Offenbarung gelte als Religionsmittel, nicht als Religionsgrund; sie diene zur Entwicklung der Religion, nicht zu deren Erzeugung“ (Fischer 1910, 354)

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worauf die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch [„aus sich selber“] kommen würde: sondern sie gab und gibt ihm die wichtigsten dieser Dinge nur früher“.²³⁴ Dieses bedeutsame Motiv findet sich freilich – ganz ähnlich – auch bei Kant²³⁵ – ebenso allerdings die dem widersprechende Auffassung, dass

 § 4 der Erziehungsschrift. Genau dies musste freilich Schelling in Abrede stellen: „Von der anderen Seite aber verbinden die eigentlich Offenbarungsgläubigen mit dem Begriff der Offenbarung die Vorstellung, dass die Ideen derselben solche seien, von welchen man keine Wissenschaft habe, ja die man schlechterdings ohne Offenbarung nicht wissen könne.Wollen wir anders aufrichtig sein, so können wir darin den Offenbarungsgläubigen nicht Unrecht geben; denn wozu, könnte man fragen, gäbe es eine Offenbarung, wenn man doch nichts erführe, als was man auch ohne sie wüsste oder wissen könnte? Die Rechtfertigung kann nur darin liegen, dass durch die Offenbarung dem Menschen etwas zuteil wurde, was ohne sie nicht ins Bewusstsein kommen könnte. Diejenigen, welche die Offenbarung gerne auf bloße Vernunftwahrheiten zurückführen möchten, die den Unterschied zwischen Offenbarung und Vernunftwahrheiten ganz ausgleichen und vernichten wollen, was freilich nicht möglich ist, ohne zu gewaltsamen Mitteln Zuflucht zu nehmen, – diese selbst also, welche, wie manche Erklärer der Mythologie, das Eigentümliche zum Zufälligen machen, was sie als bloße Hülle abstreifen zu können glauben, als den wesentlichen und bleibenden Inhalt der Offenbarung bloß Vernunftwahrheiten gelten lassen wollen, diese selbst, wenn sie etwa Ursache finden würden, den Begriff, das Wort ‚Offenbarung‘ beizubehalten, wenn sie z. B. den Stifter des Christentums als ein besonderes Organ der Vorsehung, als einen mit hohen Gaben ausgestatteten Lehrer annehmen würden, diese würden auf die Frage, wozu es denn diese Anstalten zur Offenbarung bedurfte, antworten, dass die Menschheit durch sie früher zum Besitze dieser reinen Vorstellungen gelangt sei. Da nun aber eben diese Erklärer damit zugleich die Behauptung verbinden, diese Vorstellungen seien bei den ersten oder frühern Mitteilungen noch in unwesentliche und verdunkelnde Hüllen eingewickelt gewesen, welche abzustreifen es nach ihrer Meinung einiger Jahrhunderte bedurfte, so geben sie damit den einzigen Vorteil ihrer Behauptung auf; denn der Vorteil, den sie hatten, war die frühere Zeit, ja konsequent müssten sie eben diese Veranstaltung als eine der Ursachen ansehen, wodurch die reine Vernunftentwicklung aufgehalten worden ist, ja sie müssten sie gerade als die hauptsächlichste und mächtigste Ursache der Retardation der reinen Vernunftentwicklung ansehen. Hieraus folgt, dass der Begriff der Offenbarung entweder gar keinen Sinn habe oder dass man genötigt sei, einzuräumen, der Begriff und Inhalt der Offenbarung müsse ein solcher sein, der ohne sie nicht nur nicht gewusst werde, sondern auch nicht gewusst werden könne. Hier wird die Offenbarung zunächst als eine besondere Erkenntnisquelle bestimmt … Es ist aber leicht einzusehen, dass die durch Offenbarung uns zuteil werdende Wissenschaft unter die Kategorie des uns durch Erfahrung zuteil werdenden Wissens gehört – es ist vieles, was wir aposteriori, nicht aber apriori wissen“ (Schelling 1992, 402 ff: 50. Vorlesung).  In einer unübersehbaren Spannung dazu steht allerdings auch Kants späte Erklärung über den prinzipiellen „theoretischen [!] Mangel des reinen Vernunftglaubens“ betreffend die diesbezüglichen Themen: SF, AA 07: 9.5 – 6. Jedoch dürfen diese von Kant als „außerwesentlich“ bezeichneten Aspekte der „Offenbarung“ nicht mit dem „Außerwesentlichen der zufälligen Satzungen“ (ebd.) gleichgesetzt werden. „Zufällig“ ist die Einsicht in den „Mangel des reinen Vernunftglaubens“ auch nicht in dem Sinne: „Offenbarung solcher Dinge, die der Mensch nicht als Pflicht durch Vernunft, folglich nicht als an sich notwendige Pflicht erkennt, ist an sich zufällig“

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die „menschliche Vernunft“ auf manche Geheimnisse nicht „auch kommen würde“ und insofern sehr wohl der Offenbarung und der „Belehrung bedarf“,²³⁶ zumal erst dies den keinesfalls „unwesentlichen“ Ausblick auf „Untersuchungen“ eröffnet, „darauf sie von selbst nicht gefallen wäre.“²³⁷ Es ist indes ein wohl auch von Lessing her aufzunehmendes – gewissermaßen gegenläufiges – Motiv: Kants Hinweis, dass die „durch hergebrachte fromme Lehren erleuchtete Vernunft“ (EaD, AA 08: 336.21– 22)²³⁸ also erst durch die Bibel

(Refl. 5635: AA 18 266). Eine gewisse Spannung zu anderslautenden Stellungnahmen Kants ist indes nicht zu übersehen, und zwar auch innerhalb der Religionsschrift selbst. Die diesbezüglichen Unausgeglichenheiten in Kants Argumentation ähneln bezeichnenderweise in hohem Maße einschlägigen Unklarheiten bei Lessing.  Sehr aufschlussreich ist in dieser Hinsicht auch ein Passus aus einem Brief an Jung-Stilling (vom März 1789): „Sie tun auch daran sehr wohl, dass Sie die letzte Befriedigung Ihres nach einem sichern Grund der Lehre und der Hoffnung strebenden Gemüts im Evangelium suchen, diesem unvergänglichen Leitfaden wahrer Weisheit, mit welchem nicht allein eine ihre Speculation vollendende Vernunft zusammen trifft, sondern daher sie auch ein neues Licht in Ansehung dessen bekömmt, was, wenn sie gleich ihr ganzes Feld durchmessen hat, ihr noch immer dunkel bleibt, und wovon sie doch Belehrung bedarf.“ (AA 11, 10) Dies markiert doch einen Unterschied zu einer „Lehre“, „die keiner Offenbarung bedarf“ (Refl. 5635, AA 18: 266). Dies ist nicht zuletzt auch mit Rücksicht auf Kants Rekurs auf die durch „hergebrachte fromme Lehren … erleuchtete praktische Vernunft“ (EaD, AA 08: 336.21– 22) von besonderem Interesse und lässt wohl sein eigentümliches Schwanken in diesen Fragen erkennen – so wie auch jener Hinweis auf das „Außerwesentliche“ in dem „theoretischen Mangel des Vernunftglaubens“ (SF, AA 07: 9.5 – 6) und der nicht „für unnötig und überflüssig“ angesehene Bezug auf „historische Beweisgründe“ (SF, AA 07: 9.2), wobei ja von „Historischem“ eigentlich auch gar nicht die Rede ist. Jenes dem „Evangelium“ geschuldete „neue Licht“ (die durch „hergebrachte fromme Lehren erleuchtete praktische Vernunft“) verweist indirekt auch schon auf den später ausdrücklich benannten „theoretischen Mangel des reinen Vernunftglaubens“; dann ist jedoch „der Moralisch-Gläubige“ wiederum lediglich „auch für den Geschichtsglauben offen … , sofern [!] er ihn zur Belebung seiner reinen Religionsgesinnung zuträglich findet“ (RGV, AA 06: 182.13 – 15). Diesbezügliche Spannungen (ja Widersprüchlichkeiten) sind bei Kant jedenfalls nicht zu übersehen.  AA 20: 439.27. – Auch der beiläufig als „Einwurf“ formulierte Gedanke, dass der „Erkenntnisquell“ der Offenbarung „anderswo als in der Vernunft“ liegt (SF, AA 07: 46.16), verweist im Grunde auf dieses ungelöste Problem – ungeachtet der kantischen Antwort darauf: „Eben darum, weil jenes Buch als göttliche Offenbarung angenommen wird, muss sie nicht bloß nach Grundsätzen der Geschichtslehren (mit sich selbst zusammen zu stimmen) theoretisch, sondern nach Vernunftbegriffen praktisch ausgelegt werden; denn dass eine Offenbarung göttlich sei, kann nie durch Kennzeichen, welche die Erfahrung an die Hand gibt, eingesehen werden“ (SF, AA 07: 46.16 – 21).  Kants Bezugnahme darauf ist offenbar durchaus vereinbar mit Lessings berühmter Frage (§ 77 der Erziehungsschrift: XIII, 432): „Und warum sollten wir nicht auch durch eine Religion, mit deren historischen Wahrheit, wenn man will, es so misslich aussieht, gleichwohl auf nähere und bessere Begriffe vom göttlichen Wesen, von unsrer Natur, von unsern Verhältnissen zu Gott, ge-

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auf solche „Untersuchungen“ geführt wird, „darauf sie von selbst nicht gefallen“ (d. h. dafür ‚blind‘ geblieben) wäre, markiert offenbar in der Tat eine bedeutsame Spannung zu jenem berühmten Wort Lessings über das, „worauf die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde“.²³⁹ Derart wird nämlich die das Licht in Offenbarungsansprüche erst „hineintragende“ (s.o. II., Anm.129) Vernunft – das ist die selbst schon ‚erhellt‘-erleuchtete, autonome Vernunft – gleichermaßen durch eben dieses darin ‚widerfahrende‘ „fremde Angebot“ der durch „hergebrachte fromme Lehren erleuchteten praktischen Vernunft“ aufgeklärt, die so erst „neues Licht“ auf die Existenz des Menschen wirft und diese Vernunft auch (grenz-bedacht) ihrer eigenen ‚Ohnmacht‘ bzw. ‚Blindheit‘ innewerden lässt; in diesem Sinne geht sie selbst offenbar daraus ‚erhellt-erleuchtet‘ hervor und bringt erst so etwas – „noch etwas mehr“ (RGV, AA 06: 52.28, Anm.) – ans Licht, was „praktische Vernunft“, „sich selbst überlassen“, von sich aus gerade nicht zu leisten vermag. ‚Aufgeklärt-erleuchtete‘ reine Vernunft wird also ihrerseits über das verbleibende ‚Dunkel‘ durch „hergebrachte fromme Lehren erleuchtet“:²⁴⁰ Das alle Offenbarungsansprüche durchdringende ‚lumen naturale‘ erweist sich selbst, in einer eigentümlichen ‚Reflexion‘, durch etwas ‚erhellt‘, worauf die Vernunft gerade nicht „von selbst gefallen wäre“ und lässt auch so den „theoretischen Mangel des reinen Vernunftglaubens“ zutage treten, der uns auch auf dasjenige verweist, „was wir auf historische Beweisgründe zu glauben, Ursache [!] haben“ (SF, AA 07: 9. 2– 3).²⁴¹ Es darf diesbezüglich nicht übersehen werden, dass dieser vom späten Kant zunächst eingeräumte „theoretische Mangel des Vernunftglaubens, den dieser nicht ableugnet, z. B. in leitet werden können, auf welche die menschliche Vernunft von selbst nimmermehr gekommen wäre?“  Indes, das eigentümliche Schwanken Kants zwischen seiner Erklärung (s.o. II., Anm. 237), dass die Vernunft auf „Untersuchungen“ geführt werde, „darauf sie von selbst nicht gefallen wäre“ und derart der „Belehrung bedarf“ „in Ansehung“ dessen, „was noch immer dunkel bleibt“ (AA XI, 10), und anderslautenden Stellungnahmen über die Religion als „reiner Vernunftsache“ hat offenbar eine auffällige und denkwürdige Entsprechung in Lessings – nach wie vor klärungsbedürftigen (weil widersprüchlichen?) Äußerungen, wonach die Offenbarung dem Menschengeschlecht nichts bringe, „worauf die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde“ (§ 4 der Erziehungsschrift) und dem, worauf „die menschliche Vernunft von selbst nimmermehr [!] gekommen wäre“ (§ 77).  Für sich genommen sind dieser Rekurs auf die „durch hergebrachte fromme Lehren erleuchtete Vernunft“ (EaD, AA 08: 336.21– 22) sowie das von Kant eingeräumte „Bedürfnis einer Offenbarungslehre“ (AA XI, 528 f) freilich mehrdeutig: Beides kann sich sowohl auf die bloße „Vehikel“-Funktion der „Offenbarung“ als auch auf jenes angezeigte, darüber hinausweisende „noch etwas mehr“ beziehen, worin die Vernunft eine „Erweiterung“ erfährt.  Gleichwohl wird dies nach Kant von den „Glaubenslehren“ abgegrenzt, „die das Wesentliche einer Religion überhaupt ausmachen“ (SF, AA 07: 8.37).

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den Fragen über den Ursprung des Bösen, den Übergang von diesem zum Guten, die Gewissheit des Menschen, im letzteren Zustande zu sein u. dgl.“ (SF, AA 07: 9.5 – 8) also durchaus der „Belehrung bedarf“²⁴² und für die „Befriedigung eines Vernunftbedürfnisses“ auch unverzichtbar ist,²⁴³ d. h. auf Offenbarung verwiesen wird²⁴⁴ – eine nach Kant (wie es allerdings missverständlicherweise heißt) „an sich zufällige Glaubenslehre“, die „für außerwesentlich [!], darum aber doch nicht für unnötig und überflüssig angesehen wird“ (SF, AA 07: 9.5) und keinesfalls auf

 Es ist freilich seltsam, dass Kant offenbar diese Themen der Klärung durch „historische Beweisgründe“ zuordnet, denn eine Angelegenheit „historischer Belehrung“ und „Beweise“ sind diese Fragen ja offensichtlich nicht.  In seinem Schreiben an König Friedrich Wilhelm II. betonte Kant zu seiner Verteidigung ausdrücklich, er habe gar keine „Würdigung“ einer „Offenbarungsreligion“ beabsichtigt, sondern lediglich eine solche der „Vernunftreligion“, „deren Priorität als oberste Bedingung aller wahren Religion, ihre Vollständigkeit und praktische Absicht (nämlich das, was uns zu tun obliegt), obgleich auch ihre Unvollständigkeit in theoretischer Hinsicht (woher das Böse entspringe, wie aus diesem der Übergang zum Guten, oder wie die Gewissheit, dass wir darin sind, möglich sei u. dgl.), mithin das Bedürfnis einer Offenbarungslehre nicht verhehlt wird, und die Vernunftreligion auf diese überhaupt, unbestimmt welche es sei (wo das Christentum nur zum Beispiel als bloße Idee einer denkbaren Offenbarung angeführt wird), bezogen wird, weil, sage ich dieser Wert der Vernunftreligion deutlich zu machen Pflicht war“ (AA 11, 528 f.). Dieses „Bedürfnis einer Offenbarungslehre“ ist freilich nicht einfach auf „historische Beweisgründe“ gestützt; die Betonung dieses „Bedürfnisses“ ist natürlich auch gegen Reimarus gerichtet. Gleichwohl bleibt die offenbar bei Kant nicht eindeutig entscheidbare Frage: Beschränkt sich jenes nicht verhohlene „Bedürfnis einer Offenbarungslehre“ auf ein „göttliches Mittel zur Introduktion der wahren Religion“ (RGV, AA 06: 155.9) – oder weist dies doch darüber hinaus? S. nächste Anm.. Damit fällt auch ein besonderes Licht auf den von Kant verteidigten „Satz: dass die Bibel, gleich als ob sie eine göttliche Offenbarung wäre, aufbewahrt, moralisch benutzt, und der Religion, als ihr Leitmittel, untergelegt zu werden verdiene“ (SF, AA 07: 65.5 – 7).  In solcher Hinsicht, so Höffe, werden Kant zufolge „von dieser Offenbarung anthropologische Einsichten [also keineswegs bloß „historische Beweisgründe“!] erwartet, also Einsichten, die den Philosophen interessieren sollten. Damit erhält die Vernunft … eine Vorgabe, die sich auf eine Grenze beläuft: Sie kann die Einsichten, die der Vernunft vorgegeben werden, nicht aus sich hervorbringen. Sie kann sie lediglich intellektuell einholen, nicht überholen“ (Höffe 2011a, 26) – was deshalb wohl auch die behauptete „Notwendigkeit einer Offenbarung als eines göttlichen Mittels zur Introduktion [!] der wahren Religion“ (RGV, AA 06: 155.8 – 9) problematisieren muss? In der Tat nahm Kant in der Religionsschrift „eine raffinierte Erweiterung vor: Die natürliche Theologie wirft einen Blick über ihre Grenzen und lässt sich vom Jenseits der natürlichen Vernunft, der übernatürlichen Offenbarung, über die Frage belehren, mit welchen Themen, und zwar menschlichen Grundthemen, mit welchen anthropologischen Elementen, eine rundum sachgerechte, also eine nicht nur der Sache der philosophischen, sondern auch der Sache der Religion gerechte Religionsphilosophie sich sinnvollerweise befasst“ (Höffe 2011a, 7 f.). Diese gewiss zutreffende Beobachtung wird indes durch andere Äußerungen Kants wiederum relativiert.

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bloß „statutarischen Gesetzen“ beruht.²⁴⁵ Jene Erklärung Kants, dass „Religion eine reine Vernunftsache ist“,²⁴⁶ steht dazu freilich wiederum in einer gewissen Spannung ²⁴⁷– ebenso, jedenfalls beim Wort genommen, sein Hinweis, dem zufolge „die biblische Glaubenslehre … vermittelst der Vernunft aus uns selbst [!] entwickelt werden kann“ (SF, AA 07: 59.21– 23). Jene weithin ‚anthropologisch‘ orientierten Themen enthalten (als ‚Lebensdeutungen‘) offenbar allesamt erschließende lebenstragende Sinnpotentiale (bzw. machen diese geltend), die Kant im Sinne der von ihm geforderten „Beglaubigung“ in den anderen „historischen Glaubensarten“ (d. h. außerhalb des „Christentums“, aber auch in Lessings Konzeption einer „natürlichen Religion“) offenbar vermisste, d. h. ihnen als Defizite vorhielt²⁴⁸ – und es schon deshalb nicht erlaubte, das „gleich wahr/gleich

 Das „Außerwesentliche“ dieser „Glaubenslehre“ bleibt demnach genau vom „Außerwesentlichen“ des bloß „statutarischen Glaubens“ und seiner „Observanzen“ zu unterscheiden; es ist auch nicht einfachhin auf „historische Beweisgründe“ zu beziehen, sondern zielt eben auf jene „anthropologischen Einsichten“ als besondere „semantische Potentiale“ ab. Dass für Kant wie auch für Lessing „die Tugend, sprich: Praxis der Liebe und Barmherzigkeit im Geiste des Stifters Jesus selbst“ das „Zentrum des Christlichen“ ausmacht (Kuschel 2011, 115), bedeutet für Kant jedoch nicht, dass er den „(Erb‐)Sünde-Gnade-Erlösungszusammenhang“ als „unnötig und überflüssig“ ausgeklammert hat, vielmehr indizierten diese Themen für ihn auch wichtige, spezifisch „anthropologische“ Differenzen zu Judentum und Islam, die für die vergleichende „Abwägung“ und Bewertung der „Glaubensarten“ durchaus relevant sind, die sich am „Begriff des Menschen“ orientieren.  Dies bezieht sich allerdings lediglich auf den schon erwähnten Sachverhalt, dass der „Gott, der durch unsere eigene (moralisch-praktische Vernunft spricht, … ein untrüglicher allgemein verständlicher Ausleger dieses seines Worts“ ist (SF, AA 07: 67.23 – 25).  Auch an einer späteren Stelle der Religionsschrift betonte Kant in offenkundiger ‚Aufweichung‘ jenes zunächst eingeräumten ‚Belehrungsbedarfes‘ durch Offenbarung: „Von dem Bösen, was im menschlichen Herzen liegt, und von dem niemand frei ist, von der Unmöglichkeit, durch seinen Lebenswandel sich jemals vor Gott für gerechtfertigt zu halten, und gleichwohl der Notwendigkeit einer solchen vor ihm gültigen Gerechtigkeit, von der Untauglichkeit des Ersatzmittels für die ermangelnde Rechtschaffenheit durch kirchliche Observanzen und fromme Frohndienste und dagegen der unerlasslichen Verbindlichkeit, ein neuer Mensch zu werden, kann sich ein jeder durch seine Vernunft überzeugen, und es gehört zur Religion, sich davon zu überzeugen.“ (RGV, AA 06: 163.28 – 35) Auch hier ist der Einfluss der Lessing’schen Frage zu vermuten, ob in diesen neutestamentlichen Lehren „nicht noch mehr dergleichen Wahrheiten vorgespiegelt werden, die wir als Offenbarungen so lange anstaunen sollen, bis sie die Vernunft aus ihren andern ausgemachten Wahrheiten herleiten und mit ihnen verbinden lernen?“ (Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts § 72)  Mit der Behauptung, dass Kant diese Defizite in den anderen Glaubensarten feststellen wollte und ihm zufolge allein die „christliche Religion“ als „natürliche Religion“ dem nicht nur Rechnung trägt, sondern für diese Sinnpotentiale die „praktische Vernunft“ erleuchtet hat, ist freilich noch nichts über die Rechtmäßigkeit ihres Anspruches gesagt. Die dialogische Auseinandersetzung darüber hätte Kant vielmehr als eine vorrangige Aufgabe der Verständigung der

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falsch“ (s.o. II., Anm.71 und u. III., 1.1.) dieser „Glaubensarten“ zu behaupten, ohne damit kurzsichtigen Nivellierungen Vorschub zu leisten. Der schon erwähnte kantische Verweis auf das Evangelium als „unvergänglicher [!] Leitfaden wahrer Weisheit“²⁴⁹ (s.o. II., Anm. 236) – die doch auf die „höchsten Zwecke“ des Menschen abzielt – ist wohl genau in diesem Sinne zu verstehen. Dass Kant jene anthropologisch relevanten Themen der christlichen Offenbarung, die freilich keine Sache „historischer Beweisgründe“ sind, keinesfalls für „unnötig und überflüssig“ ansehen, sondern vielmehr als deren ‚proprium‘ würdigen wollte,²⁵⁰ indiziert ihm zufolge einen offensichtlich hierfür beanspruchten ‚Mehrwert‘ gegenüber Judentum und Islam und markiert so auch eine wichtige theologische Differenz gegenüber der von Lessing geltend gemachten ‚Gleich-Gültigkeit‘ des „Liebesgebotes“. Es sind ‚Sinnpotentiale‘, die nicht einfach aus „reiner Vernunft“ ableitbar sind, ohne dass sie jedoch – als „etwas mehr“ (RGV, AA 06: 52.28) – als ‚vernunftwidrig‘ angesehen werden müssten.

4.2 Lessings denkwürdiger Verweis auf „etwas Mehreres“ und eine Erinnerung an Kants „reflektierenden Glauben“: An die „reine Vernunft anstoßende“ Fragen … Indes, auch diesbezüglich liegt in diesem „Offenbarungs“-Kontext eine Erinnerung an Lessings Mahnung nahe: „kehre lieber noch einmal selbst in dieses Elementarbuch [hier: des Alten Testamentes] zurück, und untersuche, ob das, was du nur für Wendungen der Methode, für Lückenbüßer der Didaktik hältst, auch

Religionen angesehen, die freilich – geltungsorientiert – über das „respektvolle Nebeneinander“ und ein – in Wahrheit lediglich ‚vergleichgültigendes‘ – bloßes ‚Verständlich-Machen‘ der jeweiligen empirischen ‚Besonderheiten‘ hinausweist – wofür es freilich Maßstäbe braucht, die nicht selbst wiederum ‚Sondergut der Religionen‘ sein können; dies verweist nicht zuletzt auf die dem kantischen „Weltbegriff der Philosophie“ aufgegebene Differenzierung der „wesentlichen“ und „höchsten Zwecke“ in der „Bestimmung des Menschen“.  AA 11, 10.  In diesem Sinne ist zu betonen: „Die Frage nach der Gewährung von Glückseligkeit unter Wahrung meiner Individualität sowie diejenige nach der Erlösung von dem Bösen und der Schuld finden für Kant ihre vernunftkompatible Lösung nicht in jeder geschichtlichen Religion und schon gar nicht in einer allgemeinen Religiosität. In der beanspruchten Funktion kommt für ihn überhaupt nur die christliche Religion in Betracht“ (Axt-Piscalar 530). Mit Recht betont AxtPiscalar, „dass er dem Eigentümlichen der christlichen Religion, insofern sie in ganz bestimmter Weise Erlösungsreligion ist und eine ganz bestimmte Eschatologie mit sich führt, seine spezifische und unabdingbare Bedeutung für das Menschsein zuerkannt hat“. (ebd. 531)

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wohl nicht etwas Mehreres ist“.²⁵¹ Dieses „etwas Mehreres“ erinnert wohl auch an jenes von Kant betonte „noch etwas mehr“ des „reflektierenden Glaubens“²⁵² und markiert offenbar auch bei ihm ein ‚überschießendes‘ Potential, das etwas zur Sprache bringt, das an „reine Vernunft“ nicht nur anstößt, sondern womöglich für diese selbst auch (im doppelten Wortsinn) „anstößig“ ist,²⁵³ indem die Offenbarung nach Lessing auf Einsichten führt, d. h. „sie Dinge darin findet, die ihren [der Vernunft] Begriff übersteigen.“²⁵⁴ Jene „rückkehrende“ Besinnung auf ein „etwas  So im § 69 der Erziehungsschrift Lessings (XIII, 430). Hatte er zunächst den sich ergebenden Zirkel betont: „Die Offenbarung hatte seine Vernunft geleitet, und nun erhellte die Vernunft auf einmal die Offenbarung“ (§ 36: XIII, 423), so findet sich hier der vorsichtige Hinweis auf ein „etwas Mehreres“. das die „sich selbst überlassene menschliche Vernunft“ eben nicht kennt, sondern einer „Aufklärung“ bedarf; darin könnte die von A. Schilson bei Lessing festgestellte „Dialektik von Vermögen und Unvermögen der Vernunft“ (Schilson 1974, 37) besonders gut sichtbar werden – ein nicht zuletzt mit Blick auf Kant interessanter Sachverhalt (s. nächste Anm.).  „Die Vernunft im Bewusstsein ihres Unvermögens, ihrem moralischen Bedürfnis ein Genüge zu tun, dehnt sich bis zu überschwänglichen Ideen aus, die jenen Mangel ergänzen könnten, ohne sie doch als einen erweiterten Besitz sich zuzueignen. Sie bestreitet nicht die Möglichkeit oder Wirklichkeit der Gegenstände derselben, aber kann sie nur nicht in ihre Maximen zu denken und zu handeln aufnehmen. Sie rechnet sogar darauf, dass, wenn in dem unerforschlichen Felde des Übernatürlichen noch etwas mehr ist, als sie sich verständlich machen kann, was aber doch zur Ergänzung des moralischen Unvermögens notwendig wäre, dieses ihrem guten Willen auch unerkannt zu statten kommen werde, mit einem Glauben, den man den (über die Möglichkeit desselben) reflektierenden nennen könnte, weil der dogmatische, der sich als ein Wissen ankündigt, ihr unaufrichtig oder vermessen vorkommt“ (RGV, AA 06: 52.21– 34, Anm.). Dieser langen Anmerkung zufolge beherzigte Kant selbst offenbar Lessings geforderte Rücksichtnahme auf ein nicht ‚didaktisch‘ auflösbares „etwas Mehreres“.  Lessing sprach vom „wechselseitigen Dienst“, den „Vernunft und Offenbarung“ „einander leisteten“ (§ 37 der Erziehungsschrift: XIII, 424) und vom „gegenseitiger Einfluß“, „dass ohne ihn eines von beiden überflüssig sein würde“. Hierfür finden sich hier denkwürdige Anknüpfungspunkte. Auch so bestätigt sich: „Offenbarung und Vernunft sind so bei Lessing … aufeinander hin geschaffen und zu einem unlöslichen Sinnzusammenhang zusammengefügt“ (Thielicke 117).  So in einem Brief an Mendelssohn v. 9.1.1771: XII, 432. Auch nach Lessing liegt in der Offenbarung durchaus etwas, das die Ebene der Vernunft transzendiert: „Wer dergleichen aus seiner Religion auspolieret, hätte eben so gut gar keine. Denn was ist eine Offenbarung, die nichts offenbaret?“ (XII, 432) – weshalb eine lernbereite Vernunft darauf notwendig rückbezogen bleibt, zumal sie „dem gesunden Menschenverstand auf die Spur helfen“ soll. Denn was wäre eine Offenbarung, die lediglich in pädagogischer Hinsicht als eine zeitliche Vorwegnahme von apriori einsichtigen „Vernunftwahrheiten“ zu verstehen, im Grunde aber überflüssig wäre? In der Tat: „Lessing attestiert der Offenbarung einen ‚Mehrwert‘ vor der Vernunfterkenntnis. Sobald die Vernunft von der Wirklichkeit der Offenbarung überzeugt sei, bekenne sie zugleich ihre Grenzen und lasse sich durch den Glauben (weiter)leiten“ (Fick 428). In einer gewissen Spannung dazu steht allerdings die Bemerkung: „Nirgends berührt Lessing mit dem Begriff der ‚Offenbarung‘ die Erfahrung der anderen Wirklichkeit Gottes, die von der Vernunft prinzipiell nicht eingeholt werden kann. Niemals berührt er die Spannung zwischen der (notwendigen) Rationalisierung der

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Mehreres“, das auch eine Kritik am „Naturalismus“ des Reimarus impliziert, kehrte er später offenbar selbst gegen eine voreilig-unbedachte Berufung auf die vorläufige Relevanz der Offenbarung als bloßes „Vehikel“ hervor – und zwar gegen die Arroganz derer, die sich nunmehr eines solchen Mittels nicht bedürftig wähnen und auf die „schwächeren Mitschüler“ nur mitleidig herabblicken … Lessing bekannte auch freimütig eine ehemalige voreilige Verabschiedung von Gehalten der christlichen Offenbarung ein: „Doch ich besorge es nicht erst seit gestern, dass, indem ich gewisse Vorurteile weggeworfen, ich ein wenig zu viel mit weggeworfen habe, was ich werde wiederholen müssen“²⁵⁵ – eben weil die Vernunft doch der „Belehrung bedarf“? Dieses hier von Lessing indirekt eingeräumte bzw. sogar geltend gemachte „Etwas mehreres“, das einer bloßen Reduktion von „Offenbarungsreligiom“ auf „natürliche Religion“ im Wege steht, findet sich der Sache nach bemerkenswerterweise in einem ähnlichen Zusammenhang auch in Kants interessantem Verweis auf „moralisch transzendente Ideen“ (in der Religionsschrift: RGV, AA 06: 52.27Anm.), die an die reine Vernunft ‚anstoßende‘ Fragen enthalten.²⁵⁶ Ebenso ist bei ihm, wie erwähnt, die Rede von der „durch hergebrachte Lehren erleuchteten praktischen Vernunft“²⁵⁷ und von einer „Erleuchtung des Menschengeschlechts“ ‚Offenbarung‘ und dem unverfügbaren Rest, der sich menschlichem Zugriff entzieht“ (Fick 429 f.). Nach dem Urteil Jaspers‘ zeige sich bei Lessing, „dass in ihm der Glaube an die Realität der Offenbarung und ihre gültige Gegenwärtigkeit faktisch im Schwinden oder geschwunden ist – dass er sie aber nicht verneinen kann und will, weil ihr Geheimnis als Geschichtlichkeit ihn anspricht und ihm Ehrfurcht gebietet“. Und: „Die natürliche Religion – Vernunftreligion, Vernunftglaube – ist Maßstab aller geoffenbarten, institutionellen, statutarischen Religion, aber ohne dass dieser Maßstab selber schon im klaren und vollen Besitz wäre.“ (Jaspers 1981, 750) Dies ist offenbar erst bei Kant der Fall.  XVII, 365. Dies scheint doch Lessings „ständig versuchend(es)“ Bemühen der Nachforschung zu bestätigen, „welche Wahrheit stecke in dem, was die Aufklärung einfach verwirft“ (Jaspers 1981, 761). – Die Behauptung geht deshalb vermutlich doch ein wenig zu weit, „dass die zentralen und spezifischen Inhalte der christlichen Offenbarung, welche die Erlösung von der Sündhaftigkeit, die Christologie und die Trinität Gottes betreffen, von Lessing als irrationale Mysterien betrachtet werden, die wichtige Übungsaufgaben für die reifende Vernunft darstellen, welche in ihnen nützliche oder subtile Vernunftwahrheiten entdecken kann“ (Cunico 2015a, 51).  Die Ergänzung durch Gnade in Anbetracht des „moralischen Unvermögens“ wird im „reflektierenden Glauben“ also durchaus in die „Maxime zu denken und zu handeln“ aufgenommen – wenngleich sehr besonnen im Sinne des reflektierenden „als ob“. Insofern sind diese Themen keinesfalls „Parerga der Religion“, d. h. bloß „äußerliche Zutaten“ (KU, AA 05: 226.4– 6), sondern betreffen durchaus die „moralische Lebensgeschichte jedes Menschen“ …  Kants bemerkenswerter später Rekurs auf die „durch hergebrachte fromme Lehren erleuchtete praktische Vernunft“ (EaD, AA 08: 336.21– 23) weckt natürlich auch Assoziationen zur (Kant ja bekannten) Schrift Lessings „Die Erziehung des Menschengeschlechts“ (§ 65), wo es heißt, dass die neutestamentlichen Schriften „seit siebzehnhundert Jahren den menschlichen

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(RGV, AA 06: 107.23 – 24), die sich nicht in der Freilegung latenter Vernunftgehalte erschöpft, sondern ein „Mehreres“ anzeigt, das somit auch nicht lediglich auf die „geschwindere Verbreitung“ zu reduzieren ist,²⁵⁸ sondern ein der Vernunft ‚Unverfügbares‘, ‚Entzogenes‘, entdecken lässt und so erst „ans Licht bringt“, wie dies eben auch in jenen von ihm benannten und legitimierten „moralisch transzendenten Ideen“ zum Ausdruck kommt, die eben nicht als bloß „Außerwesentliches“ abzutun sind. Insofern geht der späte Kant in gewisser Weise doch über die vormalige Versicherung noch hinaus, dass die Frage, ob „in einer Offenbarung Gottes … Geheimnisse möglich sind, … nicht mehr für die Vernunfttheologie“ gehöre, zumal er dies im Grunde selbst mit seinem Rekurs auf „moralisch transzendente Ideen“ und seinem Verweis auf „heilige Geheimnisse“, auf die die Freiheit „unvermeidlich“ führt (RGV, AA 06: 138.23 – 24), eindeutig beantwortet hat. Zu fragen ist freilich, ob dies nicht auch über Kants Rekurs auf „die Notwendigkeit einer Offenbarung als eines göttlichen Mittels zur Introduktion der wahren Religion“ (RGV, AA 06: 155.8 – 9) hinausweist und in gewisser Hinsicht doch Schellings genannte (s.o. I., Anm. 55; II., Anm. 234) Bedenken bestätigt? Der Bezug auf jenes „etwas Mehreres“ könnte wohl auch als ein – von Schelling in seiner angeführten Bezugnahme auf Lessing angezeigter (s.o. II., Anm. 231) – bemerkenswerter Hinweis auf Sinngehalte gelesen werden, der sich gegen ein reduktionistisches Verständnis der „Offenbarung“ auf ein bloßes ‚pädagogisches Vehikel‘ ausspricht – auch Lessing führt neben dem vertieften Verständnis des (trinitarischen)²⁵⁹ Gottesbegriffs die „Lehre von der Erbsünde“

Verstand mehr als alle andere Bücher beschäftiget“ haben; „mehr als alle andere Bücher erleuchtet, sollte es auch nur durch das Licht sein, welches der menschliche Verstand selbst hineintrug“ (§ 65 der Erziehungsschrift: XIII, 429).  Der in § 69 der Erziehungsschrift erfolgte Rekurs auf „etwas Mehreres“, das nicht bloß „Lückenbüßer der Didaktik“ ist, steht vermutlich doch in einer unübersehbaren (und auch unüberwindbaren) Spannung zu der bloß „pädagogischen“ Funktion der Offenbarung, von der im § 4 der Erziehungsschrift die Rede ist.  Lessings – offenbar vom Neuplatonismus und Kirchenvätern inspiriertes – wiederholtes Bemühen um eine vernunftgemäße Interpretation der „Dreieinigkeitslehre“ (im Unterschied zu Kants kurz angebundener Erklärung desselben als bloß „theoretisches Bekenntnis des [Kirchen‐] Glaubens an die göttliche Natur in dieser dreifachen Qualität“: RGV, AA 06: 146.4– 5) zeigt sich schon in der frühen Schrift über das „Christentum der Vernunft“, ebenso in seiner Abhandlung „Des Andreas Wissowatius Einwürfe wider die Dreieinigkeit“ und noch in der späten „Erziehung des Menschengeschlechts“ (§ 73). Kant hat die christliche Dreieinigkeitslehre nicht zu diesem „etwas Mehreren“ gerechnet, sondern durchaus daraus etwas „Praktisches“, „in der allgemeinen Menschenvernunft“ Liegendes, insofern gemacht, als zufolge dieser Dreieinigkeitslehre Gott eben (lediglich im Sinne eines „Glaubenssymbols“ der „moralischen Religion“) „in einer dreifachen, spezifisch verschiedenen moralischen Qualität gedient sein“ will (RGV, AA 06: 146.4– 5), ohne dass dies auf die ‚Vermessenheit‘ hinausliefe, das ‚An-sich-sein Gottes‘ ergrübeln zu wollen. In

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und die „Lehre von der Genugtuung des Sohnes“ an;²⁶⁰ es sind dies bekanntlich (mit Ausnahme der Trinität, wo in der Tat die „Vernunft mit der Schrift nicht Schritt halten kann“: SF, AA 07: 23.27) auch wichtige Themen der kantischen Religionsschrift, die als „heilige Geheimnisse“ mit dem Begriff der moralisch qualifizierten „Freiheit“ unzertrennlich verbunden sind (s. RGV, AA 06: 138.8 – 24). Kant wollte offenbar bemerkenswerterweise durchaus jenem von Lessing ausdrücklich geltend gemachten – „bloße Vernunft“ sprengenden – „noch etwas mehr“ „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ in angemessener Weise Rechnung tragen, d. h. diese Themen des „christlichen Lehrbegriffs“ in seinen Begriff der „natürlichen Religion“ integrieren und sie dergestalt auch erhalten.²⁶¹ Wohl in dem sehr eingeschränkten Sinne des in jenem „fremden Angebot“ angezeigten „noch etwas mehr“ und des jenem „Kritizism der praktischen Vernunft“ (SF, AA 07: 59.24– 25) entsprechenden ‚Selbstbegrenzungsmotivs‘ und der „viel zu denken gebenden“ Motive – jedoch nicht weiter – hätte Lessings (noch in den „Fragmenten“ behauptete) Auffassung auch bei Kant ein gewisses „motivliches“ Verständnis finden können, dass eine „gewisse Gefangennehmung der Vernunft unter den Gehorsam des Glaubens … bloß auf dem wesentlichen Begriffe

diesem Sinne ist auch Kants Einwand zu verstehen, der zeigt, dass ihn Lessings spekulative Bemühungen um die Trinität offenbar wenig beeindruckt haben: „Aus der Dreieinigkeitslehre, nach den Buchstaben genommen, lässt sich schlechterdings nichts fürs Praktische machen, wenn man sie gleich zu verstehen glaubte, noch weniger aber, wenn man inne wird, dass sie gar alle unsere Begriffe übersteigt. – Ob wir in der Gottheit drei oder zehn Personen zu verehren haben, wird der Lehrling mit gleicher Leichtigkeit aufs Wort annehmen, weil er von einem Gott in mehreren Personen (Hypostasen) har keinen Begriff hat, noch mehr aber, weil er aus dieser Verschiedenheit für seinen Lebenswandel gar keine verschiedene Regeln ziehen kann“ (SF, AA 07: 38.33 – 39.6). Dies hätte Lessing jedoch vermutlich (wohl zu Recht) insofern als kurzschlüssig zurückgewiesen, als die „Dreieinigkeitslehre“ einen „näheren und besseren Begriff“ von Gott zu denken erlaubt: „Und warum sollten wir nicht auch durch eine Religion […] auf nähere und bessere Begriffe vom göttlichen Wesen … geleitet werden können, auf welche die menschliche Vernunft von selbst nimmermehr gekommen wäre?“ (§ 77: XIII, 432) Diese Frage Lessings hat Kant offenbar nicht substanziell berührt; indes zeigen (neben seiner Religionsschrift) auch Reflexionen Kants vereinzelt ein gewisses Bemühen um die Trinität (z. B. Refl. 6307: AA 18, 598 ff.).. – Nicht zuletzt legt es Lessings ‚spekulative‘ Interpretation der „Lehre von der Dreieinigkeit“ (im § 77 der „Erziehungsschrift“) nahe, das „Neue“ des „wahren Evangeliums“ in einer gedanklichen Überführung der (vorläufigen) „geoffenbarten Wahrheiten“ in „Vernunftwahrheiten“ zu sehen, das als „wahres Evangelium“ inhaltlich jedoch darüber nicht hinausgeht.  Erziehungsschrift § 75 (XIII, 431). Das tat bemerkenswerterweise auch Kant: SF, AA 07: 9.7– 8.  So ist auch in einem Entwurf zur Vorrede der Religionsschrift von dem eigentlichen ‚Geschäft‘ des „biblischen Theologen“ die Rede, den Sinn der Schriftstellen „als einer Offenbarung zu bestimmen, der vielleicht etwas enthalten mag, was gar keine Philosophie jemals einsehen kann als auf welche Art Lehren jene auch ihr eigentliches Hauptgeschäfte gerichtet hat.“(VASF, AA 23: 434)

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einer Offenbarung [beruhe]. Oder vielmehr, – denn das Wort Gefangennehmung scheinet Gewaltsamkeit auf der einen, und Widerstreben auf der andern Seite anzuzeigen, – die Vernunft gibt sich gefangen, ihre Ergebung ist nichts, als das Bekenntnis ihrer Grenzen, sobald sie von der Wirklichkeit der Offenbarung versichert ist. Dies also, dies ist der Posten, in welchem man sich schlechterdings behaupten muss.“²⁶² Dies hätte wohl auch Kant akzeptieren können; insofern könnte vielleicht – der Sache nach – auch bei ihm von einer solchen „gewissen Gefangennehmung der Vernunft unter den Gehorsam des Glaubens“ die Rede sein – in einem ganz weiten Sinne freilich, zumal solche „Gefangennehmung“ de facto doch eher eine notwendige „Erweiterung der Vernunft“ bedeuten würde. Deshalb ist nach Kant wohl besser von einer notwendigen „Belehrung der (autonomen) Vernunft“²⁶³ als von ihrer „Gefangennehmung“ zu sprechen. Dass sich die Vernunft „gefangen gibt“, indiziert jedenfalls ein „Bekenntnis ihrer Grenzen“ (allerdings ohne dass sie nach Kant „von der Wirklichkeit der Offenbarung versichert ist“), das auch in diesem kantischen Hinweis auf die ‚belehrungs-bedürftige Vernunft‘ (durch eine als möglich eingeräumte Offenbarung) angezeigt ist.²⁶⁴ Denn die darin zur Sprache gebrachten Problemfelder der begrenzten „moralischen Selbsterkenntnis“, der ‚not-wendenden‘ Gnade, d. h. der ‚Unverfügbarkeit‘ des Heiles, einer Angewiesenheit auf eine „Gütigkeit, die doch der Gerechtigkeit

 Lessing XII, 433. Solche „Behauptung“ hat freilich Lessing selbst in seiner späteren Erziehungsschrift ‚aufgelöst‘. Von einer „Gefangennehmung“ hätte Kant nach Arnoldt nicht sprechen wollen, denn die Vernunft geht „daran, diese Offenbarung durchgängig … so zu deuten, dass ein Sinn herauskommt, der mit den allgemeinen praktischen Regeln einer reinen Vernunftreligion zusammenstimmt“ (Arnoldt 260). Dieses Motiv der „Gefangennehmung der Vernunft“ steht freilich ebenfalls in einer unübersehbaren Spannung zur Erklärung der Erziehungsschrift (§ 4), wonach „die Offenbarung dem Menschengeschlechte nichts“ gibt, „worauf die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde“.  Genauer und auch noch behutsamer wäre vielleicht zu sagen: ‚Autonome Vernunft‘ duldet bzw. verlangt zwar keine direkte ‚Belehrung‘ durch Offenbarungsansprüche, gleichwohl wird notwendig deren ‚Aufmerksamkeit‘ und ‚Nachdenklichkeit‘ dafür durch ein ihr „fremdes Angebot“ geweckt, d. h. „viel zu denken veranlasst“. Zudem bleibt es dabei: Die von Kant eingeräumte „Unvollständigkeit in theoretischer Hinsicht“ des Vernunftglaubens (sein „theoretischer Mangel“) ändert nichts an seiner „Vollständigkeit in praktischer Absicht“.  Indes kommt Fick zu dem Urteil (Fick 479): „Mit fast systematischer Konsequenz aber vermeidet Lessing auch nur die Andeutung davon, was denn nun die Offenbarung über die Möglichkeiten der philosophischen, metaphysischen und ethischen Erkenntnis hinaus ‚offenbaret‘ … , und nirgendwo wird erkenntlich, dass für ihn dieses ‚Geoffenbarte“ in den Religionen jenseits des Bezugsrahmens liegen sollte, der mit der ‚anthropozentrischen Wende‘ … gegeben ist“ (Fick 479): Dies markiert in der Tat einen signifikanten Unterschied zu Kant.

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nicht Abbruch tut“ (RGV, AA 06: 140. Anm.),²⁶⁵ thematisieren unübersehbare anthropologische Problemaspekte, die auch der Vorstellung der „Hoffnung des Menschen aus der Kraft seiner eigenen Natur“²⁶⁶ endgültig einen Riegel vorschieben (aber auch einem schiefen Rekurs auf „Barmherzigkeit“ kritisch begegnen). Zugleich ist solche „Gütigkeit, die doch der Gerechtigkeit nicht Abbruch tut“, offenkundig durchaus etwas, „was die Vernunft für Gott anständig erklärt“ (SF, AA 07: 46.20 – 23) – und das dennoch nicht einfach „aus bloßer Vernunft“ ableitbar ist, sich aber ebenso „historischen Beweisgründen“ entzieht. Diese unumgänglichen anthropologisch-theologischen Themen werden von Kant freilich der durch „hergebrachte fromme Lehren erleuchteten Vernunft“ im Sinne eines christlichen ‚proprium‘ vorbehalten (zumal von ihnen weder im Judentum noch im Islam eine Spur zu finden sei) und indizieren so jenes von Kant unverhohlen geäußerte „Bedürfnis einer Offenbarungslehre“ (s.o. II., Anm. 240). Gleichwohl hätte Kant es im Sinne jenes „reflektierenden Glaubens“ doch vermieden, von einer „Gefangennehmung der Vernunft unter den Gehorsam des Glaubens“ zu sprechen; auch kann sich ihm zufolge Vernunft nicht durch Of-

 Kant bezog dies in denkwürdiger Weise und in ‚aneignender‘ Absicht auf das christliche „Menschensohn“-Motiv: „In der heiligen Weissagungsgeschichte der letzten Dinge wird der Weltrichter (eigentlich der, welcher die, die zum Reiche des guten Prinzips gehören, als die Seinigen unter seine Herrschaft nehmen und sie aussondern wird), nicht als Gott, sondern als Menschensohn vorgestellt und genannt. Das scheint anzuzeigen, dass die Menschheit selbst, ihrer Einschränkung und Gebrechlichkeit sich bewusst, in dieser Auswahl den Ausspruch tun werde; welches eine Gütigkeit ist, die doch der Gerechtigkeit nicht Abbruch tut. – Dagegen kann der Richter der Menschen, in seiner Gottheit, d. i. wie er unserm Gewissen nach dem heiligen von uns anerkannten Gesetze und unserer eignen Zurechnung spricht, vorgestellt (der heilige Geist), nur als nach der Strenge des Gesetzes richtend gedacht werden, weil wir selbst, wie viel auf Rechnung unserer Gebrechlichkeit uns zu Gute kommen könne, schlechterdings nicht wissen, sondern bloß unsre Übertretung mit dem Bewusstsein unserer Freiheit und der gänzlich uns zu Schulden kommenden Verletzung der Pflicht vor Augen haben, und so keinen Grund haben, in dem Richterausspruche über uns Gütigkeit anzunehmen“ (RGV, AA 06: 140, Anm.). Die in diesem „Menschensohn“-Motiv angezeigte „Gütigkeit, die doch der Gerechtigkeit nicht Abbruch tut“, indiziert in der Tat bemerkenswerterweise eine gewisse „Erweiterung des Vernunftgebrauchs“, die dennoch nicht auf „historische Beweisgründe“ zu reduzieren ist. Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass Kant mit diesem „Menschensohn-Motiv“ (widersprüchlicherweise) jedoch bemerkenswerterweise den Sachverhalt erläutern wollte, dass der reine Vernunftglaube „sich aller menschlichen Vernunft von selbst“ darbiete und „daher in der Religion der meisten gesitteten Völker angetroffen“ werde (RGV, AA 06: 140.3 – 4). Wie dem auch sei: Es lässt sich demnach aus diesem „Menschensohn-Motiv“ auch nach Kant durchaus etwas „fürs Praktische machen“. Denn: „Der Christ kann die Gebrechlichkeit seines persönlichen Werts erkennen und doch hoffen, des höchsten Gutes selbst unter Bedingung des heiligsten Gesetzes teilhaftig zu werden“ (Refl. 6872, AA XIX:187).  Fick 484.

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fenbarung „gefangen geben“, d. h. sich in diesem Sinne ‚ergeben‘. Und auch der Rekurs auf die „Wirklichkeit der Offenbarung“ stünde bei Kant – ungeachtet seiner Kritik an Reimarus (s.o. I., Anm. 24; II., Anm.166; II., Anm. 243)²⁶⁷ – unter dem notwendigen Vorbehalt des reflektierenden ‚als ob‘ und wäre so, dergestalt ‚gebrochen‘, eher im Sinne jener „durch hergebrachte fromme Lehren erleuchtete praktische Vernunft“ zu verstehen, die dabei freilich die aufgeklärte Maxime des „Selbstdenkens“ („die Maxime einer niemals passiven Vernunft“: KU, AA 05: 294.20) nicht preisgibt. Auch darauf sei in diesem Zusammenhang – und mit Blick auf die von Lessing ausgetragenen Kontroversen – hingewiesen: Im Kontext seiner Religionsschrift hat Kant die Möglichkeit der „Offenbarung“ nicht nur eingeräumt und eine „Gleichgültigkeit, oder wohl gar Widersetzlichkeit gegen alle Offenbarung“ (RGV, AA 06: 119.2– 3) ausdrücklich verworfen;²⁶⁸ vielmehr hat er sogar seine – freilich an gewisse Bedingungen geknüpfte – Offenheit dafür zum Ausdruck gebracht,²⁶⁹

 Kant teilte in seiner Kritik an dem „Naturalisten“ Reimarus (ein ‚Wolffianer‘) weithin die Kritik Lessings an einer von Reimarus vertretenen „bloßen Religion der Vernunft“, wie dies auch in der Vorrede zum „Streit der Fakultäten“ zum Ausdruck kommt, dass Offenbarung durchaus „von übernatürlich inspirierten Männern“ (SF, AA 07: 6, Anm.) herrühren mag. Der frühe Kant hat Reimarus‘ Schriften (besonders über „natürliche Religion“) gewürdigt, dass deren Wert „hauptsächlich in einem ungekünstelten Gebrauche einer gesunden und schönen Vernunft besteht“ (BDG, AA 02: 161.27– 28). Darin zeigt sich auch eine grundsätzliche Übereinstimmung mit dem Urteil Lessings über des Reimarus‘ „erstes Buch“: „Nämlich; obschon mein Ungenannter freilich alle geoffenbarte Religion in den Winkel stellet: so ist er doch darum so wenig ein Mann ohne alle Religion, dass ich schlechterdings niemanden weiß, bei dem ich von der bloß vernünftigen Religion so wahre, so vollständige, so warme Begriffe gefunden hätte, als bei ihm. Diese Begriffe trägt das ganze erste Buch seines Werkes vor; und wie viel lieber hätte ich dieses erste Buch an das Licht gebracht, als ein andres Fragment, welches mir seine voreiligen Bestreiter abgedrungen haben!“ (XIII, 196) Auch sein Urteil über die „spekulativen Wahrheiten der vernünftigen Religion“ (ebd.) stimmt offenbar mit dem Urteil des frühen Kant über die „wichtige Erkenntnis von Gott und seinen Eigenschaften, als Reimarus in seinem Buche von der natürlichen Religion liefert“ (BDG, AA 02: 161.22– 23) überein.  Dies bleibt auch gegenüber Lessings Zustimmung zu „Nathans Gesinnung gegen alle positiven Religionen“ (XVI, 444) zu bedenken; dies wird auch von jenen gängigen Interpretationen einfach ignoriert, denen zufolge Kant (und Lessing) alle geschichtlichen Offenbarungsreligionen zugunsten einer „Vernunftreligion“ verwerfe – ein Urteil, das in dieser Undifferenziertheit weder Lessing noch Kant gerecht wird.  So betonte Kant in einem (zur Religionsschrift zeitlich nahen) Brief an den Theologen M. Reuss ausdrücklich, „das Herz nicht vor dem empirischen Glauben in Ansehung irgend einer Offenbarung“ verschließen zu wollen, „sondern, wenn sie in Einstimmung mit jenem [auf Vernunft begründeten Glauben] stehend befunden wird, es für dieselbe offen erhält“ (Brief v. Mai 1793: AA 11, 431). Auch bei Kant darf der „garstig breite Graben“ zwischen den „zufälligen Geschichtswahrheiten“ und den „Vernunftwahrheiten“ nicht einfach als eine Ablehnung der Of-

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und zwar in ausdrücklicher Abgrenzung zu – grundsätzlichen – zeitgenössischen ‚naturalistischen‘ Verwerfungen der Möglichkeit und auch der Wirklichkeit von „Offenbarung“ (mit denen sich freilich schon Lessing konfrontiert sah).²⁷⁰ Als ein Vertreter eines solchen „naturalistischen Unglaubens“ wollte Kant gewiss nicht gelten; daraus erklärt sich auch seine – vor allem gegen Reimarus²⁷¹ gerichtete – Ablehnung einer „naturalistischen“ Religion, die die Möglichkeit einer Offenbarung grundsätzlich verworfen hat.²⁷² Deren Abgrenzung von der „natürlichen Religion“ erinnert auch an den von Goeze gegen Lessing gerichteten – unzutreffenden – Vorwurf eines „Naturalismus“,²⁷³ worin eine besondere „Schwäche Lessings“ zu erkennen sei. Gegen seine Kennzeichnung des Wesens der „geof-

fenbarung verstanden werden, wie auch späte Stellungnahmen Kants verraten. „Die Philosophie nimmt das Übernatürliche nicht unter ihre Maximen auf, aber auch nicht die Leugnung desselben“ (VARGV, AA 23: 91.16 – 17, s.o. II., Anm. 236). Die von Kant als notwendig eingeräumte „Belehrung“ und das allein dadurch befriedigte „Vernunftbedürfnis“ weisen darüber sogar noch hinaus.  Mit Recht betonte Fischer mit Blick auf Lessings Erziehungsschrift, dass Lessing es „keineswegs mit jener deistischen gesinnten Aufklärung“ hielt, „für welche die wahre oder vernunftgemäße und die geoffenbarte, positive Religion unversöhnliche Gegensätze bilden“. Denn: „Vernunft und Offenbarung erscheinen nicht mehr in einem unauflöslichen Widerstreit, sobald man nur die enge und naturwidrige Vorstellung aufgibt, wonach beide einmal für immer ausgemachte und fertige Dinge sind: jene als natürliche Erkenntnis, diese als übernatürliches Faktum“ (Fischer 1881, 22 f.).  Zu Kants Verhältnis zu Reimarus s. Arnoldt 302 ff. Nach Kant konnte Reimarus‘ „natürliche Religion“ auch das „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ (mit der „Endzweck“-Thematik) nicht befriedigen, zumal die von Reimarus verfolgten physikotheologischen Fragen daran gar nicht heranreichen. So heißt es in Reimarus‘ 2. Fragment (XII, 337): „Die Sprache der Natur, die in den Geschöpfen Gottes redet, nebst Vernunft und Gewissen, ist allein die allgemeine Sprache, dadurch sich Gott allen Menschen und Völkern offenbaren kann; sonst durch Worte eines Volks, die 500 Dolmetscher brauchten, ist es nicht möglich.“ Lessing hat Reimarus in gewisser Hinsicht aber auch beherzt verteidigt (s.o. II., Anm. 83 u. Anm. 267). Dass Lessing die „Fragmente des Ungenannten“ – trotz seiner persönlichen Vorbehalte – dem „Urteil des Publikums“ (als dem Urteil „Dritter“: XIII, 208) in seinem „Für und Wider“ ausgesetzt sehen wollte, entspricht lediglich seiner ‚aufgeklärten Denkungsart‘. Er erweist sich eben auch darin als ein „versuchender Denker, will alle Positionen, auch Reimarus, den er bekämpft, zur öffentlichen Geltung kommen lassen, damit das Wahre in der Diskussion sich herausarbeite“ (Jaspers 1981, 740), aber eben auch „Giftiges“ sichtbar werde (s.o. II., Anm.145).  Lessing hat Reimarus (ungeachtet seiner Verteidigung gegenüber Goeze, s. o. II., Anm. 83) aber auch einer entschiedenen Kritik ausgesetzt: „Die ganze geoffenbarte Religion ist nichts, als eine erneuerte Sanktion der Religion der Vernunft. Geheimnisse gibt es entweder darin gar nicht; oder wenn es welche gibt, so ist es doch gleichviel, ob der Christ diesen oder jenen oder gar keinen Begriff damit verbindet“ (XII, 431). Zu Lessings Auseinandersetzung mit Reimarus’ Fragmenten s. auch die „Gegensätze des Herausgebers“: XII, 428 ff.  Barner-Ausgabe Bd. 9, 372.

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fenbarten Religion“ als desjenigen, „das allein das Wesen derselben ausmacht, was mit der Vernunft nicht zu erreichen steht, weil es entweder über die Vernunft, oder bloß positiv, bloß willkürlich ist“,²⁷⁴ hätte Kant wohl auf diesem entscheidenden Unterschied und auf den an die ‚Vernunft anstoßenden‘ Fragen²⁷⁵ insistiert und dabei das ‚schlechte Positive‘ durchaus verworfen, ohne damit eine „naturalistische“ Distanzierung von der Religion zu behaupten.²⁷⁶ Denn der rechte „Religionsglaube“ vermeidet sowohl den „gottesdienstlichen Aberglauben“ als auch den „naturalistischen Unglauben“, der bloße „Gleichgültigkeit, oder wohl gar Widersetzlichkeit gegen alle Offenbarung“ (RGV, AA 06: 119.2– 3) erkennen lässt. Ebenso wandte sich Kant entschieden gegen Reimarus‘ Verständnis der Person Jesu und seinen Anspruch: „Aber auch nicht dass er (wie der Wolfenbüttelsche Fragmentist argwöhnt) sein Leben nicht in moralischer, sondern bloß in politischer, aber unerlaubter Absicht, um etwa die Priesterregierung zu stürzen und sich mit weltlicher Obergewalt selbst an ihre Stelle zu setzen, gewagt habe; denn dawider streitet seine, nachdem er die Hoffnung es zu erhalten schon aufgegeben hatte, an seine Jünger beim Abendmahl ergangene Ermahnung, es zu seinem Gedächtnis zu tun; welches, wenn es die Erinnerung einer fehlgeschlagenen weltlichen Absicht hätte sein sollen, eine kränkende, Unwillen gegen den Urheber erregende, mithin sich selbst widersprechende Ermahnung gewesen wäre. Gleichwohl konnte diese Erinnerung auch das Fehlschlagen einer sehr guten, rein-moralischen Absicht des Meisters betreffen, nämlich noch bei seinem Leben durch Stürzung des alle moralische Gesinnung verdrängenden Ceremonialglaubens und des Ansehens der Priester desselben eine öffentliche Revolution (in der Religion) zu bewirken (wozu die Anstalten, seine im Lande zerstreute Jünger am Ostern zu versammeln, abgezweckt sein mochten)“ (RGV, AA 06: 81,Anm.).²⁷⁷

 XVI, 501.  Mit seiner Anerkennung und Würdigung dieser „an die Vernunft anstoßenden Fragen“ zielte Kant offenbar doch über das bloß „stille Verdienst“ der „Kritik“ hinaus: „Der größte und vielleicht einzige Nutzen, aller Philosophie der reinen Vernunft ist also wohl nur negativ; da sie nämlich nicht, als Organon, zur Erweiterung, sondern, als Disziplin, zur Grenzbestimmung dient, und, anstatt Wahrheit zu entdecken, nur das stille Verdienst hat, Irrtümer zu verhüten.“ (KrV, B 823)  Nochmals sei Kants klärende Stellungnahme erwähnt: „Der Rationalist muss sich vermöge dieses seines Titels, von selbst schon innerhalb der Schranken der menschlichen Einsicht halten. Daher wird er nie als Naturalist absprechen und weder die innere Möglichkeit der Offenbarung überhaupt, noch die Notwendigkeit einer Offenbarung als eines göttlichen Mittels zur Introduktion der wahren Religion bestreiten“ (RGV, AA 06: 155.5 – 9).  Es bestätigt sich also: Auch „steht fest, dass von den berühmten ‚Wolfenbüttler Fragmenten‘ Kant den siebenten Beitrag ‚Vom Zwecke Jesu und seiner Jünger‘, welcher das meiste und

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4.3 Kants entschiedene Distanz zu dem in Lessings „Erziehungsschrift“ verkündigten „neuen ewigen Evangelium“: Die von Kant geltend gemachte Unüberholbarkeit des Christentums als „vollständiger Religion“ Als ausdrückliches Ziel der in Lessings „Erziehungsschrift“²⁷⁸ bestimmenden geschichts- und religionsgeschichtlichen – teleologischen – Perspektiven rückt nicht zuletzt die in einer ‚autonomen Moral‘ verwurzelte „allgemeine Menschenreligion“ in programmatischer Absicht in den Vordergrund – freilich erst als die „Zeit der Vollendung, da der Mensch, je überzeugter sein Verstand einer immer bessern Zukunft sich fühlet, von dieser Zukunft gleichwohl Bewegungsgründe zu seinen Handlungen zu erborgen nicht nötig haben wird; da er das Gute tun wird, weil es das Gute ist, nicht weil willkürliche [!] Belohnungen darauf gesetzt sind, die seinen flatterhaften Blick ehedem bloß heften und stärken sollten, die innern bessern Belohnungen desselben zu erkennen.“²⁷⁹ Freilich, dass der Mensch den Ausblick auf „willkürliche Belohnungen“ hinter sich lässt, bestimmt gemäß der vollzogenen „Kultivierung der Vernunft“ durchaus den christlichen Bewusstseinshorizont. Die Überwindung des „Frohn- und Lohnglauben“ und die Etablierung einer ‚autonomen Moral‘ hat doch das Christentum selbst mit seiner Einführung eines „Systems der sich selbst lohnenden Moralität“ (KrV, B 837) geleistet und bedarf deshalb auch keiner „Hoffnung“ auf eine „Zeit der Vollendung“. Mit dem Christentum sah Kant in der Entwicklung der Religionen jedenfalls durch „größere Bearbeitung der sittlichen Ideen“ jene Stufe erreicht, die im Sinne dieser „sich selbst lohnenden Moralität“ nicht zuletzt alles ‚Lohndenken‘ schlimmste Aufsehen erregt hatte, gelesen und in einer Anmerkung seiner Religionsphilosophie bekämpft hatte.“ (Fischer 1910, 370) Mit Blick auf Kants Religionsschrift merkt Fischer (ebd. Anm.2) an: „Jesus habe den Tod weder als Schwärmer gesucht (Bahrdt) noch als politisches Parteihaupt gewagt (Reimarus)“. S. dazu Kants Kritik: RGV, AA 06: 81 Anm.. Auch Kant war gegen Reimarus‘ Auffassung, dass Jesus als „Messias“ die politisch-weltliche Herrschaft in Israel übernehmen wollte.  Beachtenswert ist dabei allerdings dies: „Die Figur der Erziehung impliziert allerdings, dass den biblischen Anfängen in der Religion Israels ein besonderer Status abgesprochen wird, und auch die Christusoffenbarung kann nicht als Vollendungsgestalt desErziehungsprozesses gelten. Eine wesentliche Pointe von Lessings Konzept liegt daher in der performativen Dynamisierung des Vollkommensten im menschlichen Tun des Guten um seiner selbst willen“ (Dierken 58).  Lessing, Erziehung § 85: XIII, 433. Darin ist noch Wolffs Plädoyer für eine ‚autonome Moral‘ deutlich vernehmbar: „Und vollbringet dannenhero ein Vernünftiger das Gute, weil es gut ist, und unterlässet das Böse, weil es Böse ist: in welchem Falle er Gott ähnlich wird, als der keinen Oberen hat, der ihn verbinden kann“ (Deutsche Ethik, § 38 (1. Aufl. 1720; zit. n. Fick 21). Spinozas Notiz, „dass die Tugend um ihrer selbst willen erstrebt werden muss und dass es nichts gibt, was vortrefflicher und uns nützlicher wäre“ (Ethik IV, Anmerkung zu Lehrsatz 18), ist in diesem Sinne zu verstehen.

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überwunden hat und somit auch eine eudämonistische „Eigennützigkeit des menschlichen Herzens“ hinter sich lässt, „die Tugend wegen ihrer ewigen glückseligen Folgen zu lieben“,²⁸⁰ weil dies (so wenig wie „zeitliche Belohnung und Strafe“) nicht als „Bestimmungsgrund“ in Frage kommt. Es liest sich deshalb wie eine direkte Antwort auf Lessing, wenn Kant anmerkt: „Wenn das Christentum Belohnungen verheißt (z. B. ‚Seid fröhlich und getrost, es wird euch im Himmel alles wohl vergolten werden‘): so muss das nach der liberalen Denkungsart nicht so ausgelegt werden, als wäre es ein Angebot, um dadurch den Menschen zum guten Lebenswandel gleichsam zu dingen: denn da würde das Christentum wiederum für sich selbst nicht liebenswürdig sein. Nur ein Ansinnen solcher Handlungen, die aus uneigennützigen Beweggründen entspringen, kann gegen den, welcher das Ansinnen tut, dem Menschen Achtung einflößen; ohne Achtung aber gibt es keine wahre Liebe“ (EaD, AA 08: 339.4– 12). Gegen die Lessing‘sche Aussicht auf eine erst noch kommende „Zeit der Vollendung“, d.i. die „Zeit eines neuen ewigen Evangeliums“ – das er selbst in den „Elementarbüchern des Neuen Bundes versprochen“ sah²⁸¹ – sowie gegen den darin implizierten Vorwurf, dass eine solche dem Neuen Testament selbst innewohnende ‚eudämonistische‘ Heteronomie²⁸² erst noch überwunden werden müsste, betonte Kant vielmehr, dass es doch gerade das Christentum als „natürliche Religion“ sei, das ebensolche Heteronomie verworfen (und alles „bloß Zeremonielle“ abgestreift) habe und deshalb – als „vollständige Religion“ im Sinne des „theismus moralis“ – auch nicht erst überwunden werden müsste. Dies ist nach Kant als Forderung der ‚autonomen Moral‘ im Christentum realisiert, bedarf also keiner weiteren ‚erzieherischen Aufhebung‘ in einem „dritten Zeitalter“ (§ 89 der „Erziehungsschrift“).²⁸³ Wäre das Christentum hingegen lediglich ein in „Satzungen und

 § 79 der Erziehungsschrift: XIII, 432.  Lessing, Erziehung § 86: XIII, 433). Beide „Elementarbücher“ vermitteln die reine „Vernunftreligion“, die die positiven Religionen in deren „Vernunftwahrheiten“ aufhebt. Mit dieser Idee einer „Vernunftreligion“ wie auch mit dem „Plan der allgemeinen Erziehung des Menschengeschlechts“ (Erziehung § 88) (und mit zentralen Motiven von Lessings ‚Nathan‘ unverträglich ist natürlich die der Geschichtsphilosophie Lessings mitunter zugeschriebene Position eines ‚atheistischen Humanismus‘.  Vielmehr sei zu sehen, „dass der Lehrer des Evangeliums, wenn er von der Belohnung in der künftigen Welt spricht, sie dadurch nicht zur Triebfeder der Handlungen, sondern nur (als seelenerhebende Vorstellung der Vollendung der göttlichen Güte und Weisheit in Führung des menschlichen Geschlechts) zum Objekt der reinsten Verehrung und des größten moralischen Wohlgefallens für eine die Bestimmung des Menschen im ganzen beurteilende Vernunft habe machen wollen.“ (RGV, AA 06: 162.7– 13)  Nur in diesem sehr eingeschränkten Sinne lässt sich deshalb behaupten: „Wie Kant, sieht Lessing als das Ziel des allmählichen, in der Geschichte sich vollziehenden Fortschritts des

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Schrift gegründeter Volksglaube“, so könnte „man nicht wissen … , ob er gerade für alle Menschen gültig oder der letzte Offenbarungsglaube sein dürfte, bei dem es forthin bleiben müsste, oder ob nicht künftig andere göttliche Statuten, die dem Zweck noch näher träten, zu erwarten wären“ (SF, AA 07: 49.4– 7). Dies ist indirekt wohl auch gegen Lessings ‚Erziehungs‘-Motiv gesagt. Für das Christentum als „natürliche Religion“ sah Kant also „die Reinigkeit des Herzens“ und die Befreiung von ihrer „mystischen Hülle“ als maßgebend an, die somit, wenigstens „der Idee nach“, auch schon das „Ziel der Erziehung“ erreicht habe. Dass die Menschen nunmehr „das Gute … tun, weil es das Gute ist“²⁸⁴ und „diejenige Reinigkeit des Herzens hervorbringen soll[en], die uns die Tugend um ihrer selbst willen zu lieben, fähig macht“,²⁸⁵ ist demnach geradezu eine das ‚Proprium‘ der christlichen Moral ausmachende Errungenschaft, die nach Kant den „geläuterten Religionsbegriff“ (SF, AA 07: 52.26) des Christentums auszeichnet und es auch als „vollständige Religion“ qualifiziert; dies braucht bzw. kann deshalb auch nicht durch eine „völlige Aufklärung“²⁸⁶ überboten werden und muss auch nicht auf die „Zeit eines neuen ewigen Evangeliums“ als ‚Endziel‘ des Erziehungsprozesses warten. Die in der „Erziehungsschrift“ vorgenommene Zuordnung des Christentums dem „Knabenalter“ der Menschheit, das mit der Betonung der „inneren Reinigkeit des Herzens“ (§ 61) und der Unsterblichkeitsvorstellung zwar einen Fortschritt bedeute, wenngleich „die Tugend wegen ihrer ewigen glückseligen Folgen“ (§ 79) bejaht wird, hätte gewiss nicht Kants Zustimmung gefunden, weil ihm zufolge die Befolgung des Guten, „weil es das Gute ist“, doch der oberste Grundsatz der christlichen Moralvorstellung ist, ja dies die Leitidee der „Heiligkeit“ begründet (vgl. KpV, AA 05: 129 Anm.). Allein darin erreicht nach Kant „das menschliche Geschlecht … diese höchste(n) Stufen der

Vernunftglaubens die Aufhebung der geschichtlichen Offenbarung, das Eintreten der Herrschaft der reinen Vernunftreligion in der Zeit eines neuen ‚ewigen Evangeliums‘“ (Bohatec 453).  Erziehungsschrift § 85: XIII, 433. „Die wichtigsten drei Stufen des pädagogischen Prozesses [in Lessings Erziehungsschrift] bestehen in der Ausbildung des ethischen Monotheismus, dessen Erziehungsmittel zeitliche Belohnungen und Strafen sind, ferner der Aufhebung bloß zeitlicher Belohnung und Strafen für das Tun des Guten zugunsten eines ewigen Ausgleichs sowie schließlich der Einholung aller äußeren Motivation zum Tun des Guten in dessen eigene, selbstreferentielle Performanz. Das Gute wird endlich um seiner selbst willen getan.“ (Dierken 59) All dies sah Kant freilich schon im Christentum „der Idee nach“ erreicht.  Erziehungsschrift § 80: XIII, 432.  Erziehungsschrift §§ 80 f: XIII, 432 f. Die „wahre Aufklärung“ bestehe eben in der notwendigen Abgrenzung des bloßen „Afterdienstes“ vom „moralischen Dienst Gottes“ (RGV, AA 06: 179.2– 6), die Kant in den nicht-christlichen „Glaubensarten“ eben noch vermisste – aber auch in dem das Gewissen belästigenden „Pfaffentum“ (ebd. 179.18 – 19) (s.o I., Anm.72), das den Geist des Christentums mit Füßen tritt.

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Aufklärung und Reinigkeit“, von denen bei Lessing²⁸⁷ die Rede ist. Als bloße „Vorübung“²⁸⁸ für dieses „neue ewige Evangelium“ hätte Kant das neue Testament deshalb gewiss nicht angesehen; dass nicht nur der „sinnliche Jude“, sondern auch der „geistige Christ“ müsse noch „überholet“²⁸⁹ werden – durch wen? –, hätte er deshalb entschieden bestritten. Kants Einspruch gegen die Vorstellung, das „heilige Buch“ „chiliastisch in ein neues Reich Gottes auf Erden übergehen [zu] lassen“ (SF, AA 07: 68.8 – 9), wendet sich vermutlich (indirekt) auch gegen Lessings „neues ewiges Evangelium“.²⁹⁰ Die „Zeit der Vollendung“ hat auch Kant bei aller verbleibenden Skepsis erhofft, allerdings sah er dieses Ziel der „Erziehung des Menschengeschlechts“²⁹¹ schon in der von allen historischen Schlacken²⁹² befreiten „natürlichen Religion“ des „Christentums“ („der Idee nach“, nicht als „historischer Glaube“), das als solche eben schon die „vollständige Religion“ darstellt. Lediglich eine solche Reinigung von den ‚Schlacken‘, jedoch nicht eine grundsätzliche Überholung sei damit als die der „Religion des guten Lebenswandels“ vorbehaltene „wahre Aufklärung“ (RGV, AA 06: 179.6) in Aussicht gestellt.²⁹³ Hat deren „moralischer Theismus“ doch in der Tat die „näheren und besseren Begriffe vom höchsten Wesen, von unsrer Natur, von unsern Verhältnissen zu Gott“ zum Ziel, während nach Lessing das Christentum als „histo § 81 der Erziehungsschrift: XIII, 432. Eine indirekte Distanz zu der in der Erziehungsschrift maßgebenden Auffassung verrät auch Kants Bemerkung: „Die Welt hat nie etwas die Seele Belebenderes, die Selbstliebe (N)iederschlagenderes und doch zugleich die Hoffnung Erhebenderes gesehen als die Christliche Religion, die sich von dem Judentum erhoben hat.“ (AA 23, 92).  So im § 47 der Erziehungsschrift.  § 93 der Erziehungsschrift.  S. dazu Arnoldt 298 f.  Zu Recht weist Brachtendorf „auf den Kontrast [Kants] zu Lessing“ hin, „der in seiner ‚Erziehung des Menschengeschlechtes‘ das Alte Testament als erstes ’Elementarbuch‘ der Menschheit mit dem neuen Testament als dem zweiten Elementarbuch und der Vernunft als der Vollendung der Menschheit in eine einzige, zusammenhängende Entwicklungslinie stellt“ (Brachtendorf 2011, 158 Anm. 4).  Kant stimmte insofern dem Urteil Lessings zu, dass von dem „in gewissen symbolischen Büchern vorgetragene(n) System des Christentums“ das „eigentliche Christentum“ abzugrenzen sei (Lessing,Werke und Briefe Bd.VIII. hg.v. A. Schilson. Frankfurt/Main 1989, 323, zit .n.Vollhardt 2016, 236). Dies erinnert an Kants Kennzeichnung des Christentums als „historischer Glaubensart“ und als „reiner Religionsglaube“ sowie an die in letzterem abzustreifenden „mystischen Hüllen“. Die notwendige Transformation der „geoffenbarten Wahrheiten“ in „Vernunftwahrheiten“ (§ 76 der Erziehungsschrift) ist also nach Kant dem vernünftigen Christentum selbst immanent, geht also nicht über dieses hinaus.  An Kants geschichtsphilosophisches Motiv der „ungeselligen Geselligkeit“ (IaG, AA 08: 20.20) erinnert entfernt Lessings Beobachtung: „die Menschen sind nur durch Trennung zu vereinigen! Nur durch unaufhörliche Trennung in Vereinigung zu halten! Das ist nun einmal so. Das kann nun nicht anders sein“ (Ernst und Falk, 2. Gespräch: XIII, 359).

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rische Glaubensart“ hingegen lediglich die Vorbereitung und Hinführung leiste.²⁹⁴ Dabei wird jedoch nicht recht klar – auch im (nahezu zeitgleich verfassten) „Testamentum Johannis“ nicht – , wodurch das geist-gewirkte (in den ‚philosophischen Begriff aufzuhebende‘?) „neue ewige Evangelium“ (als die philosophische Explikation der „Vernunft in der Religion“) noch die besondere und letzte Überbietung darstellen soll. Die „Reinigkeit des Herzens … , die uns, die Tugend um ihrer selbst willen zu lieben, fähig macht“, ist (nach Kant) eben schon mit der Lehre des Christentums geltend gemacht; bleibt also lediglich die der „völligen Aufklärung“ vorbehaltene Überführung, d. h. die „Ausbildung geoffenbarter Wahrheiten in Vernunftwahrheiten“ (§ 76 der Erziehungsschrift), die auf nichts anderes als eine vernunftgemäße Aneignung der ‚Positivität‘ der christlichen Religion – auf eine ‚philosophische Religion‘? – abzielt, weil erst dies (als Resultat des geschichtlich vermittelten ‚Durchgangs‘) „Vernunftreligion“ genannt zu werden verdient?²⁹⁵ Ist dies etwa das „neue ewige Evangelium“, das noch kommen und erst auf die „höchste Stufe der Aufklärung“ führen soll – was aber wäre darin dann der besondere Gehalt dieses „neuen ewigen Evangeliums“ im Sinne Lessings?²⁹⁶ Wenn die ihm zufolge erst noch bevorstehende „Zeit der Vollendung“ durch dieses „neue ewige Evangelium“ durch die „völlige Aufklärung“ und die „Reinigkeit des Herzens“ ausgezeichnet sein soll – was unterscheidet dies jedoch

 „Das Christentum galt Lessing als notwendige Durchgangsphase auf dem vom göttlichen Heilsplan vorgezeichneten Weg, den der Mensch zur Selbstentfaltung der Vernunft zu gehen hatte“ (Barner 1998, 324) – eben dies hätte Kant entschieden in Abrede gestellt.  Dieses Lessing‘sche Programm der „Ausbildung geoffenbarter Wahrheiten in Vernunftwahrheiten“ stand Kant vermutlich auch in jener von ihm geplanten (schon erwähnten) Rückführung der „Offenbarung, als historisches System“ auf das „reine Vernunftsystem der Religion“ (RGV, AA 06: 12.19 – 21) deutlich vor Augen.  Auch nach Cunico (2015a, 44) geht aus Lessings Erziehungsschrift „nicht ganz klar hervor, was das spezifisch Religiöse des neuen und letzten Zeitalters eigentlich sein wird, das die Erkenntnis- und Moralelemente umfassen und zugleich überholen soll.“ Es bleibt lediglich bei der Auskunft: „Der Hinweis auf die Zeit der ‚völligen Aufklärung‘ (§ 80) und der sittlichen Autonomie verweist also auf eine Vollendung des Offenbarungsprozesses, die … im mündigen und selbständigen Vollzug der Vernunftfähigkeit bestehen soll. Dadurch wird eine eschatologische Perspektive eröffnet, in der mit dem positiven Christentum auch jede Art von Offenbarungsreligion überholt wird.“ (Cunico 2015a, 52) – Dierken spricht von „tastenden Spekulationen“ Lessings: „Lessings tastende Spekulationen über ein drittes Zeitalter der Welt, die Wiedergeburt der einzelnen, ihr Schnelldurchgang durch die geschichtlichen Erziehungsstufen und die Vorstellung einer dem Ich eigenen Ewigkeit am Ende der Erziehungsschrift sind keine abstrusen Zukunftsgemälde, sondern unterstreichen das bereits dem Erziehungsgedanken zugrunde liegende Motiv einer unüberholbaren Letztgültigkeit moralischer Vernunft, die in der Performanz entsprechenden Handelns evident wird.“ (Dierken 60) Gleichwohl sind wichtige Differenzen zu Kant nicht zu übersehen.

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noch von der von ihrer „mystischen Hülle“ befreiten „Vernunftreligion“²⁹⁷ und von der hierfür konstitutiven ‚Autonomie der Moral‘, wodurch Kant schon das Christentum als „vollständige Religion“ ausgezeichnet sah?²⁹⁸ Die „höchsten Stufen der Aufklärung und Reinigkeit“ sah Kant also „der Idee nach“ mit dem so verstandenen Christentum schon erreicht, weshalb der Überschritt in ein „drittes Zeitalter“ in der „Erziehung des Menschengeschlechts“ (§ 89) überflüssig und auch illusorisch sei. Auch dies demonstriert im Grunde die bleibende – noch in seiner Spätzeit bekundete – zwiespältige Haltung Lessings gegenüber dem Christentum. Kant hätte also gegenüber Lessing ebenso beharrlich darauf insistiert, dass die dem Christentum als „Geschichtsglauben“ gemäß dem Maßstab der Idee der „natürlichen Religion“ abverlangte „Reinigung“ und die Rücksicht auf „die Denkungsart der damaligen Zeiten“ (SF, AA 07: 37.29) eher eine seiner geschichtlichen Entwicklung selbst immanente „Vollendung“ desselben bedeute (der auch die Annäherung an das Ideal der „unsichtbaren Kirche“ entspreche). Dafür sah Kant in seinem „Zeitalter der Aufklärung“²⁹⁹ eine wichtige Voraussetzung, ist dies

 Die „Hülle der Religion“ nicht „für die Religion selbst“ (SF, AA 07: 45.30 – 31) zu nehmen, ist für Kant eine selbstverständliche Einsicht bzw. Forderung dieser „völligen Aufklärung“. Die Überführung des „Vernunftgebrauchs in concreto“ in den „Vernunftgebrauch in abstracto“ (Log, AA 09: 27.17– 26) entspricht dem genau als ein wesentliches Ziel des „reinen Religionsglaubens“ – ein „neues, ewiges Evangelium“ resultiert daraus jedoch nicht. Die „natürliche Religion“ Kants musste deshalb auch nicht in einer dem „dritten Zeitalter“ vorbehaltenen „Vernunftreligion“ aufgehoben werden, da er – im Unterschied zu Lessings Erziehungsschrift – beide synonym verwendet. Lessing siedelt die „positiven Religionen“ zwischen der „natürlichen Religion“ und der „Vernunftreligion an, die demnach verschiedene – „dreigestufte“ – „Religionsaspekte“ (einen „dreistufigen Religionsbegriff“) formulieren: Einer „Gleichsetzung von natürlicher und vernünftiger Religion gegenüber wird für Lessings Erziehungsschrift hier ein Entwicklungsschema festgehalten, in dem die vernünftige Religion sich aus zwei Voraussetzungen entwickelt, aus der natürlichen wie aus der geoffenbarten, positiven Religion.“ (Cyranka 2007, 45; 48)  Zeigt sich diesbezüglich etwa eine sachliche Entsprechung? Hier wäre demnach wohl am ehesten eine Konvergenz zwischen Lessing und Kant zu vermuten, die jedoch schwer nachvollziehbar macht, wodurch das so verstandene (von seinen „historischen Schlacken“ befreite) Christentum als „vollständige Religion“ (als „reiner Religionsglaube“) von dem „neuen ewigen Evangelium“ noch unterscheidbar sein soll. Dass die Realisierung dieser „Vernunftreligion“ nach Kant zwar noch „weit entfernt“ ist, also erst in „allmählicher Annäherung“ geschieht, rechtfertigt es ihm zufolge jedoch nicht, von einem „neuen ewigen Evangelium“ zu sprechen, dem zufolge das Neue Testament (als „zweites Elementarbuch“) als „antiquiert“ anzusehen sei und auch der „geistige Christ“ noch „überholet“ werden müsse (Erziehungsschrift § 93). Auch daran sei jedoch nochmals erinnert, dass Kant Lessings Idee einer „Erziehung des Menschengeschlechts“ gegen die Einwände Mendelssohns grundsätzlich verteidigt hat (s.o. II., Anm. 215).  An Kants Idee der Aufklärung und an seine Polemik gegen die Vormundschaft durch „bestallte Geistliche“ (Anth, AA 07: 200.16), d.i. dagegen, „sich passiv und gehorsam unter einge-

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doch dem „reinen Religionsglauben“ am günstigsten: „Fragt man nun: welche Zeit der ganzen bisher bekannten Kirchengeschichte die beste sei, so trage ich kein Bedenken, zu sagen: es ist die jetzige, und zwar so, dass man den Keim des wahren Religionsglaubens,[³⁰⁰] so wie er jetzt in der Christenheit zwar nur von einigen, aber doch öffentlich gelegt worden[³⁰¹], nur ungehindert sich mehr und mehr darf entwickeln lassen, um davon eine kontinuierliche Annäherung zu derjenigen, alle Menschen auf immer vereinigenden Kirche zu erwarten, die die sichtbare Vorstellung (das Schema) eines unsichtbaren Reichs Gottes auf Erden ausmacht“ (RGV, AA 06: 131.30 – 132.1). Das „neue ewige Evangelium“ (das „dritte Zeitalter“) fällt nach Kant im Kern mit der ‚jetzt erst anfangenden‘ Vernunftreligion zusammen, weshalb sich die „Zusammenstimmung des Christentums“ mit dem „reinsten moralischen Vernunftglauben“ (SF, AA 07: 9.23 – 24) allein in dieser gestuft-zielgerichteten Form manifestiere: „1. der rein mosaische Glaube. 2. der mosaisch Christliche Glaube. 3. der rein Christliche Glaube. Wenn also vom mittlern Glauben der mosaische weggelassen wird, so bleibt der letzte als Vernunftglaube. 1. Jüdisch-messianisch. – 2. Evangelisch-Messianisch. – 3. rein evangelisch […] Mosaisch-Messianischer Glaube, 2. Messianisch evangelischer 3. rein evangelischer oder christlicher Glaube. Fängt jetzt erst an; der Evangelische Glaube war der, dass die Opfer erfüllt sind und wir vom Joch frei“ sind³⁰² – und zwar gleichermaßen frei vom „Joch der Tradition“ und des „Buchstabens“!³⁰³

führte Satzungen heiliger Männer [zu] fügen“ (ebd. 200.23 – 24), erinnert natürlich auch Lessings spöttische Notiz (gegen Goeze): „O glückliche Zeiten, da die Geistlichkeit noch alles in allem war, – für uns dachte und für uns aß! Wie gern brächte euch der Herr Hauptpasor im Triumphe wieder zurück!“ (XIII, 167). Freilich: „Es ist … für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten.“ (WA, AA 08: 36.4– 5)  Dies steht in einer gewissen Konkurrenz zur Vorstellung der „Religion“ als „natürlicher Anlage“, als einer „Schöpfung Gottes … die er dem Menschen anerschaffen hat“ (Sure 30, 30) und deshalb auch nicht abzuändern ist.  Im Gegensatz dazu propagierten schon früh „Islam-Gelehrte“ den Islam als „natürliche Religion“: „Der Islam ist demnach vom Anfang an und von Natur aus die Religion eines jeden Menschen, und nur eine falsche Erziehung ertötet diese naturhafte Religion in ihm und die Rückkehr zum Islam ist nichts anderes als die Rückkehr zur Natur“ (so der Islam-Gelehrte Wagdi in seinem Buch „Der Islam, die Religion aller Menschen aller Zeiten“. Kairo 1932, 24 f, zit. nach Stieglecker 608).  VASF, AA 23: 448.16 – 25. Diese Stufung geht freilich nicht über das Christentum hinaus. Auch der „jetzt erst anfangende Glaube“ wendet sich gegen die Vorstellung eines „neuen ewigen Evangeliums“. Auffällig ist allerdings, dass in diesen „Vorarbeiten“ zum „Streit der Fakultäten“ dieser „jetzt erst anfangende“ „rein evangelische oder christliche Glaube“ offenbar über den „zur Norm dienenden evangelisch-messianischen Glauben“ (SF, AA 07: 63.19) noch hinausweist.  XIII, 102. An Luther richten sich Lessings Worte: „Du hast uns von dem Joche der Tradition erlöset: wer erlöset uns von dem unerträglichern Joche des Buchstabens! Wer bringt uns endlich

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Lessings Herabsetzung des Christentums zu einer buchstäblich ‚vorläufigen‘ Gestalt der Religionsentwicklung – die ihm in der Entfaltung der Religionen also nur eine Entwicklungsstufe zuerkennt, d. h. durch ein „drittes Zeitalter“ überholt wird – hat zweifellos Kants indirekten Widerspruch provoziert.³⁰⁴ Es sei eben keinesfalls so, wie Lessing geltend macht, dass „der Neue Bund ebenso wohl antiquieret werden müsse als es der Alte geworden“ ist,³⁰⁵ zumal „die Zeit eines neuen ewigen Evangeliums“ ja selbst versprochen sei. Dies hätte Kant ebenso entschieden in Frage gestellt, weil dies doch bedeuten würde, dass das neue Evangelium als ‚wahre Religion‘ „wahrer als wahr“ sein (SF, AA 07: 45.34– 35) – „wahre Aufklärung“ also selbst noch überholt werden – müsste. Ein sachlich ganz entscheidender Unterschied besteht diesbezüglich, wie erwähnt, eben darin, dass Kant offenbar diese Entwicklung und Reinigung hin zur „natürlichen Religion“ bzw. der ‚Realisierung‘ der „unsichtbaren Kirche“ als einen der christlichen Religion selbst immanenten Prozess ansehen wollte – dies jedoch keineswegs im Sinne einer Ablösung derselben durch das Zeitalter eines – nach-kirchlichen ‚geist-vollen‘³⁰⁶ – „neuen ewigen Evangeliums“,³⁰⁷ sondern des „allmähliche(n) Übergang(s) des Kirchenglaubens zur Alleinherrschaft des reinen Religionsglaubens“ (RGV, AA 06: 115.3 – 4),³⁰⁸ der wohl auch die Leitidee eines „Wettstrebens

ein Christentum, wie du es itzt lehren würdest; wie es Christus selbst lehren würde!“ (ebd.) S. (o. I., Anm. 23) Kants Hinweis darauf, „was Christus zu tun gelehrt hat“.  Diese gravierenden Differenzen zwischen Kants Position und Lessings Erziehungsschrift lassen es doch als missverständlich erscheinen, diese „Erziehungsschrift“ als „Vorläufer“ von Kants „Religionsschrift“ zu bezeichnen (Höffe 2011a, 19). Auf den „Kontrast zu Lessing“ hat auch Brachtendorf (2011, 158, Anm. 4) hingewiesen.  § 88: XIII, 434.  Dem entspricht auch Nisbets Hinweis und die anschließend zitierte Briefstelle (Nisbet 2008, 831 f.): „Nicht nur sagte Lessing einen bedeutsamen Wandel in der Philosophie voraus, in seinen letzten Jahren war er ebenfalls davon überzeugt, dass ein ähnlicher Wandel in der Religion bevorstehe. In seiner theologischen Auseinandersetzung war ihm aufgefallen, dass Girolamo Cardano bereits im sechzehnten Jahrhundert eine derartige Entwicklung für die Zeit um 1800 prophezeit hatte, und er hatte sich – nicht ohne Grund – gefragt, ob sie nicht bereits im Gange sei. 1780 kam er in einem Brief an Friedrich (‚Maler‘) Müller darauf zurück; Müller erinnerte sich später: [Nisbet zitiert Müller:] ‚Lessing meinte, dass die gegenwärtige Verfassung des Christentums kein halbes Seculum mehr dauern könne, und darum es vernünftiger getan sei, einen so morschen Bau abzutragen, damit solcher beim Einstürzen nicht zu viel ruiniere.‘“  Lessing, Erziehung § 86: XIII, 433.  Leitend ist bei Kant also – im Unterschied zu Lessing – die Vorstellung, dass Religion „endlich … von allen empirischen Bestimmungsgründen, von allen Statuten, welche auf Geschichte beruhen, … allmählig losgemacht“ (RGV, AA06: 121.13 – 16) und somit das Ende der statutarischen Religion „durch allmählig fortgehende Reform zur Ausführung gebracht“ (RGV, AA 06: 122.11) werde. Dieses Ziel sei eben durchaus dem Christentum der „Idee nach“ immanent.

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der Religionen“ (s.u. III., 3.) noch hinter sich gelassen hätte.Dies markiert einen wichtigen Unterschied, der auch mit Kants – ausschließlicher – Bestimmung des Christentums als „allgemeiner Menschenreligion“ bzw. als „Weltreligion“ eng zusammenhängt. Kants einschlägige Erwägungen dürfen deshalb teilweise als ein indirekter kritischer Kommentar zu Lessing – nicht zuletzt zu dessen „Erziehungsschrift“ – verstanden werden;³⁰⁹ insofern steht er nicht nur in prinzipieller Distanz zu Lessings Vorstellung, dass durch das „neue ewige Evangelium“ das Gottesreich diesseitig eingelöst und darin der christliche Erlösungsglaube abgelöst sei,³¹⁰ sondern ebenso zu Lessings Kritik an der Ungeduld, dieses neue Zeitalter nicht erwarten zu können. Denn nach Kant sei ein solches ja auch deshalb gar nicht in Aussicht, weil das Christentum als „natürliche“ Religion selbst die „vollständige Religion“ sei, die damit – „der Idee nach“ – ohnehin Ziel der Entwicklung der Religionen und somit kein überholbares Stadium ist,³¹¹ folglich auch keiner Ab-

 Damit widerspricht Kant auch Amerys Verständnis von Lessings „Erziehung des Menschengeschlechts“, der in dieser seiner Lieblingsschrift Lessings ein „Training zum erschöpfenden Dauerlauf nach dem Ziele Freiheit“ sehen wollte (Amery 568). Nochmals sei auf den ungeklärten Status dieser Erziehungsschrift im Selbstverständnis Lessings hingewiesen (s.o. II., Anm. 214).  Als kritischer Vorbehalt gegen diese „Zeit der Vollendung“ als „drittes Zeitalter“ darf wohl auch Kants nüchterner „eschatologischer“ Hinweis gelesen werden: „Der Lehrer des Evangeliums hatte seinen Jüngern das Reich Gottes auf Erden nur von der herrlichen, seelenerhebenden, moralischen Seite, nämlich der Würdigkeit, Bürger eins göttlichen Staates zu sein, gezeigt, und sie dahin angewiesen, was sie zu tun hätten, nicht allein, um selbst dazu zu gelangen, sondern sich mit andern Gleichgesinnten, und, wo möglich, mit dem ganzen menschlichen Geschlecht dahin zu vereinigen.Was aber die Glückseligkeit betrifft, die den andern Teil der unvermeidlichen menschlichen Wünsche ausmacht, so sagte er ihnen voraus: dass sie auf diese sich in ihrem Erdenleben keine Rechnung machen möchten. Er bereitete sie vielmehr vor, auf die größten Trübsale und Aufopferungen gefasst zu sein“ (RGV, AA 06: 134.25 – 135.2).  Dass nach Kant mit dem als „natürliche Religion“ verstandenen Christentum, d. h. deren Vollendung, diese Entwicklungsgeschichte zu einem Abschluss kommt, bedeutet jedoch nicht einfachhin: „Accordingly, the ecclesiastical history in which Kant was interested, the central theme of which is the struggle for supremacy between a pure religion of reason and one based on an historical faith, begins with Christianity. […] rather than being a stage in the development of the religious consciousness, the history of the Christian Church is this history“ (Allison 2011, 49). Gegenüber Lessing, der das Christentum als Nachfolger der jüdischen Religion und als Vorgänger des „ewigen Evangeliums“ verstehe, gelte für Kant: „Kant, by contrast, did not regard ancient Judaism as a genuine religion, because it was neither based on moral principles nor included a doctrine of immortality. Accordingly, Christianity for Kant, as in principle a pure moral religion, marked a radical break with Judaism rather than a development of it. And since Kant was a theist and regarded Christianity as already a moral religion, he saw no need for a development beyond it. Rather, the only historical development to which Kant attached any importance was one within

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lösung durch ein „neues Evangelium“ in einer erst zu erwartenden „Zeit der Vollendung“³¹² („noch hier im Erdenleben“: FM, AA 20: 295.15 – 16) bedürfe; deshalb dürfe auch die Bibel niemals als überholt gelten, vielmehr sei, dem späten „Streit der Fakultäten“ zufolge,³¹³ die „Bibel … das beste vorhandene, zur Gründung und Erhaltung einer wahrhaftig seelenbessernden Landesreligion auf unabsehliche [!] Zeiten taugliche Leitmittel der öffentlichen Religionsunterweisung“ (SF, AA 07: 9.16 – 17) – eine Auffassung, die wohl ebenfalls eine indirekte Ablehnung der Lessing’schen Relativierung des Neuen Testamentes – sei es auch als ‚Fingerzeig‘ auf „ein neues Evangelium“ – impliziert:³¹⁴ Das Neue Testament sind eben nicht nur jene Schriften, die das „zweite bessre Elementarbuch für das Menschengeschlecht abgegeben haben, und noch abgeben“,³¹⁵ sondern es bleibt vielmehr auch das „beste Buch“³¹⁶ überhaupt, eben das „Non plus ultra“.³¹⁷ Auch wenn Lessing selbst in der genannten Weise das neue Testament würdigte, so ist es wohl auch gegen Lessing³¹⁸ gesagt, dass das neue Testament nicht entbehrlich werden könne. Auch dies markiert demnach eine unübersehbare Differenz zwischen Lessing und Kant.

Christianity, through which it gradually becomes conscious of its pure moral content and casts off the extrinsic factors connected with the belief in its revealed status“ (Allison 2011, 54 f.). In der prinzipiell unterschiedlichen Einschätzung des Judentums sah Allison zu Recht ebenso eine grundlegende Differenz zwischen Kant und Lessing. Ungeachtet der unzweifelhaften Entstellung der jüdischen Religion durch Kant scheint Allisons Urteil jedoch wichtige religionsgeschichtliche Akzente bei Kant zu ignorieren.  Bekanntlich plante Lessing nach dem „Nathan“ noch ein spätes Werk mit dem Titel „Der fromme Samariter. Ein Trauerspiel in 5 Aufzügen, nach der Erfindung des Herrn Jesu Christi“ (s. dazu Johannes v. Lüpke 1997). In jener „Zeit der Vollendung“ müssten Lessings Gestalten Recha und dieser „fromme Samariter“ einander wohl recht bald begegnen.  Auch im „Streit der Fakultäten“ bekundete Kant seine – das „wahre Evangelium“ Lessing distanzierende – „große Hochachtung für die biblische Glaubenslehre im Christentum“ (SF, AA 07: 9.12– 13).  Die Bibel ist als „Vermächtnis (neues Testament) einer statutarischen, auf unabsehliche Zeiten zum Leifaden dienenden Glaubenslehre aufzubehalten“ (SF, AA 07: 6432– 34). Die Bibel sei „die einzige heilige Schrift zu heißen und in unabsehliche Zeiten zu bleiben geeignet“ (VASF, AA 23. 453.19 – 20). Auch dies impliziert eine Absage an Lessings „neues Evangelium“: „Glücklich! wenn ein solches den Menschen zu Händen gekommenes Buch neben seinen Statuten als Glaubensgesetzen zugleich die reinste moralische Religionslehre mit Vollständigkeit enthält“ (RGV, AA 6: 107.17– 20).  Erziehungsschrift § 64: XIII, 429.  „Die Bibel wird immer viel Autorität haben, und sie ist auch das beste Buch von dieser Art“ (so Kant in Vorländer 1977, 311, in: Vorländer, Viertes Buch: Der alte Kant. Siebentes Kapitel: Tischgesellschaften und Tischreden. Letzter geselliger Verkehr).  Erziehungsschrift § 67: XIII, 429.  Erziehungsschrift § 72: XIII, 430.

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Kants späte Kennzeichnung des Evangeliums als „unvergängliche(r)[!] Leitfaden wahrer Weisheit“³¹⁹ – die doch auf die „höchsten Zwecke“ des Menschen abzielt –, ist eben auch nicht durch ein „neues Evangelium“ relativierbar und darf insofern als eine indirekte Abkehr von Lessing verstanden werden; sie ist jedenfalls mit dessen Verweis auf ein erst künftiges „neues ewiges Evangelium“ ebenso unvereinbar wie mit jener Erklärung der ‚Antiquiertheit‘ des Neuen Testamentes. So zeigt sich: Obwohl Kant in der Vorstellung eines auch in der Religionsgeschichte (der „Geschichte der Glaubensarten“) erkennbaren Fortschreitens der Menschheit zum Besseren – gegen Mendelssohn – zwar mit Lessing übereinstimmte, impliziert dies demzufolge keineswegs die (in Lessings „Erziehungsschrift“ maßgebliche) Vorstellung einer Überwindung des Christentums und einer damit verbundenen „Zeit der Vollendung“.³²⁰ Der Sache nach ist Kants entschiedener Anspruch deshalb indirekt wohl auch gegen Lessing gerichtet: „So lange Aufklärung in der Welt bleibt wird nie ein für das Volk in Sachen der Religion schicklicheres und kräftiges Buch angetroffen werden. Denn die Salbung der Geschichte wird ihm fehlen und eine andere Geschichte wird eben durch diese Aufklärung, weil sie aus neuen Wundern bestehen müsste, nie Ansehen bekommen. – Die mosaische und evangelisch-christliche Religion wird nie aufhören als bis die Welt hierüber zur Einheit der Begriffe und der ihnen gemäßen Grundsätze der moralisch-praktischen Vernunft unabänderlich wird gelanget sein, welches das Reich Gottes auf Erden sein wird.“³²¹ Diese

 So in dem schon zitierten Brief an Jung-Stilling v. März 1789: AA 11,10. Es widerspricht diese Kennzeichnung jedenfalls der Lessing‘schen Vorstellung der „Antiquiertheit“ des „zweiten Elementarbuches“ bzw. des „Neuen Bundes“. Auch Kants später Bezug auf dieses Evangelium als „unvergänglichen (!) Leitfaden“ liest sich jedenfalls wie eine indirekte Ablehnung des von Lessing erst als „zukünftig“ in Aussicht genommenen „neuen ewigen Evangeliums“ (so §§ 86 ff der Erziehungsschrift).  In der Tat ist das Judentum in der „Erziehung …“ (im Unterschied zum „Nathan“), als „bloße Vorstufe des Christentums“ bestimmt, obgleich Letzteres „selbst … auf eine Zwischenstufe des Erziehungsgangs der Menschheit herabgesetzt wird“ (Cunico 2015a, 51) und Lessings „Zeitalter“Lehre zufolge „durch die weitere Entwicklung des menschlichen Geistes“ (ebd.) als „antiquiert“ (§ 88) überholt bzw. überboten wird; wodurch dies Lessing zufolge geschehen soll, bleibt freilich im Grunde offen.  VASF, AA 23: 451.3 – 11. Als „wahre (sichtbare) Kirche“ kann sie allein anerkannt werden, sofern sie das durch moralische Prinzipien begründete „Reich Gottes auf Erden, soviel es durch Menschen geschehen kann, darstellt“ (RGV, AA 06: 101.24– 25). Nur so weit lässt sich sagen: „Mit Lessing teilt Kant die optimistische, durch die Entfaltung aller moralischen Kräfte genährte Hoffnung auf die, wenn auch ferne, Verwirklichung des Ideals der Menschheit, und damit den Glauben an die Menschheit selbst. Kant ist daher, wie Lessing, der Bannerträger des Humanismus, der seine Dynamik dem Protestantismus verdankt“ (Bohatec 629). – Mit Recht betont Baumgartner (freilich auch in Kant kritisierender Absicht): „Dann aber besteht das eigentliche Problem

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Hoffnung hat Kant (trotz aller verbleibenden Skepsis) nie aufgegeben. Auch daraus wird deutlich: Kants partielle Anknüpfung an Lessings Fortschrittsidee weist keinesfalls über das Christentum – gemäß der Idee der „natürlichen Religion“ als der „vollständigen“ – hinaus. Der Lessing’sche Unterschied zwischen „positiver Religion“ und „Vernunftreligion“ ist bei Kant insofern aufgehoben, als die „Vernunftreligion“ eben nicht ‚jenseits‘ des Christentums anzusiedeln, sondern (der „Idee nach“) in einem ‚Annäherungsprozess‘ zu verstehen ist. Auch dies markiert offenbar gleichermaßen Nähe und Distanz zu Lessings Sicht der „positiven Religionen“ und ihres geschichtlichen ‚Ganges‘. Auch daraus wird übrigens deutlich: Mit dem Gedanken einer durch Offenbarung geschehen(d)en „Erziehung des Menschengeschlechts“ ist auch jenes „gleich wahr/gleich falsch“ der „positiven Religionen“³²² ganz einfach unverträglich. In diesem Sinne insistierte die „Entwicklungsperspektive“ der späten „Erziehungsschrift“ darauf, dass die Religionen eben nicht über einen Leisten geschlagen werden dürfen und entsprechende differenzierende Beurteilungen möglich und auch notwendig sind. Dieser später leitenden Erziehungsperspektive widerspricht somit aber auch die frühere Auskunft, dass die „innere Wahrheit“ der einzelnen Religionen „bei einer so groß als bei der andern“ ist³²³ und diese bloß als durch den Gang der religionsgeschichtlichen Entwicklung bzw. die „religiöse Geographie“ bedingte anzusehen seien (s.u. II., Anm. 331) – eine Einschätzung, die offenbar auch noch im „Nathan“ latent vorherrschend ist, jedoch von Kant energisch verworfen wurde. Sein Eindruck, Lessing wisse nicht, „was er haben will“ (s.u. III., Anm. 3), ist möglicherweise auch durch diese uneinheitlichen, ja sogar widersprüchlichen Stellungnahmen Lessings motiviert. in der Beurteilung der Kirchen nicht darin, ob Kirchenglaube und Statuten geeignet sind, sich schließlich selbst aufzulösen, sondern vielmehr darin, ob die je besondere Organisationsstruktur, vermöge deren Individuen in einer Kirche unter öffentlichen ethischen Gesetzen ihr gemeinsames Leben und ihren ethischen Auftrag gestalten und dieser Kirche als Mitglieder und Bürger angehören, der Idee des ethischen gemeinen Wesens widerspricht oder nicht“ (Baumgartner 161). Kants vierfache Kennzeichnung der „wahren Kirche“ ist zugleich auch ein Beurteilungskriterium für die historischen „Glaubensarten“, das Kant freilich bei Lessing vermisst hätte. Baumgartner referiert Kants Intention folgendermaßen: „Der Quantität nach muss eine unsichtbare Kirche allgemein sein, d. h. die Möglichkeit bzw. die Anlage zu numerischer Einheit enthalten; der Qualität nach muss sie bestimmt sein durch Lauterkeit, gereinigt von Aberglauben und Schwärmerei; der Relation nach muss sie unter dem Prinzip der Freiheit, sowohl nach innen wie nach außen, stehen, und der Modalität nach muss sie ihrer Konstitution nach unveränderlich sein“ (Baumgartner 161 f.).  XIV, 313.  XIV, 313. Für die Erziehungsschrift trifft also nicht (mehr) zu, dass Lessing die Ansicht vertritt, „dass alle drei Religionen als gleich wertvoll toleriert und geachtet werden müssen“ (Nisbet 2013b, 103).

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Es hat sich gezeigt: Sehr deutlich wird die von Kant in kritischer Absicht in Aussicht genommene immanente Entwicklungsperspektive in jenem erwähnten Dreischritt hin zum „rein christlichen Glauben“ in Kants Vorarbeiten zum „Streit der Fakultäten“ (s.o. II., Anm. 302). Auch sein Hinweis auf diese Abfolge bzw. Ablösung und ‚Überwindung‘ der vorläufigen Glaubensformen legt gleichermaßen Bezüge zu Lessings Idee einer „göttlichen Erziehung des Menschengeschlechts“ nahe³²⁴ – besonders auch der von Kant selbst in diesen Religionsfragen beanspruchte Rekurs auf den geschichtlichen Fortschritt des Menschengeschlechts „zum Besseren“ – eben „von der Kindheit zum Mannesalter“ in der fortgehenden „Kultur der Vernunft“. Auch eine gewisse Nähe zu der an der Idee der „Bestimmung des Menschen“ orientierten „moralischen Entwicklung des Menschengeschlechts“ sowie zu Kants Vorstellung, dass „alle „Naturanlagen eines Geschöpfes … bestimmt“ seien, „sich einmal vollstä ndig und zweckmä ßig auszuwickeln“ (IaG, AA 08: 18.19 – 20), ist hier zu vermuten. Dass die „allgemeine Kirchengeschichte, sofern sie ein System ausmachen soll, nicht anders als vom Ursprunge des Christentums anfangen“ könne (RGV, AA 06: 127. 19 – 20), impliziert wohl ebenfalls eine direkte Kritik an Lessings (‚universalhistorisch‘ orientierter³²⁵) Erziehungsschrift – und zwar sowohl mit Blick auf das Judentum als auch auf das verheißene „wahre Evangelium“. Kant hat die Lessing‘sche Idee der „Erziehung des Menschengeschlechts“ im Grunde in dem zweifachen Sinne ‚gekürzt‘, dass er weder das Judentum bzw. das Alte Testament in die „allgemeine Kirchengeschichte“ (auch nicht als ‚Vorläufer‘) aufgenommen hat noch das Christentum selbst durch eine Zeit des „neuen ewigen Evangeliums“ abgelöst wissen wollte, zumal dieses selbst schon den „Keim“ der vollständigen Vernunftreligion in sich trage: Das Christentum führe von seinem „ersten Anfange an den Keim und die Prinzipien zur objektiven Einheit des wahren und allgemeinen Religionsglaubens bei sich … , dem sie allmählich näher gebracht wird“ (RGV, AA 06: 125. 12.14). Dass

 Bohatec stellt dazu fest: „Der Gedanke Lessings, dass die Menschheit, wie der Einzelne, sich nicht ohne die Leitung [der Offenbarung] entwickeln kann … kehrt bei Kant in dem Denkmittel des ‚Vehikels‘ wieder“ (Bohatec 454).  Eine direkte Kritik an der darin maßgebenden (mehrstufigen) Erziehungs-Perspektive impliziert wohl auch Kants Hinweis, dass zwar eine „allgemeine historische Darstellung“ des „Kirchenglaubens“ durchaus möglich sei, „indem man ihn, nach seiner verschiedenen und veränderlichen Form, mit dem alleinigen, unveränderlichen, reinen Religionsglauben vergleicht“ – hingegen müsse jedoch gelten: „Von der Religion auf Erden (in der engsten Bedeutung des Worts) kann man keine Universalhistorie des menschlichen Geschlechts verlangen; denn die ist, als auf dem reinen moralischen Glauben gegründet, kein öffentlicher Zustand, sondern jeder kann sich der Fortschritte, die er in demselben gemacht hat, nur für sich selbst bewusst sein“ (RGV, AA 06: 124.9 – 13). Das gilt natürlich erst recht bezüglich der moralischen Forderung, „das Gute um des Guten willen zu tun“.

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das nach Kant allein im Christentum enthaltene „Prinzip der Moralität“, „aus der Seele des Menschen selbst geschöpft“ (SF, AA 07: 58.16), eine solche umfassende und radikale ‚Wirkung‘ erzielen könne, „die keine Offenbarungslehre … je hervorgebracht hätte“, wendet sich freilich auch gegen einschlägige Ansprüche des Islam (s.u. II., 5.2.).

4.4 Ein von Kant diagnostizierter Widerspruch zwischen der in der „Erziehungsschrift“ maßgebenden Entwicklungsperspektive und der im „Vorbericht“ angezeigten „Akkomodations“-Theorie? Damit hängt ein Weiteres zusammen. Die im „Vorbericht“ zu Lessings „Erziehungsschrift“ zutage tretende nivellierende Fehleinschätzung – „Warum wollen wir in allen positiven Religionen nicht lieber weiter nichts[³²⁶], als den Gang erblicken, nach welchem sich der Verstand jedes Orts [!] einzig und allein entwickeln können, und noch ferner entwickeln soll; als über eine derselben entweder lächeln oder zürnen?“³²⁷ – sah Kant wohl als die auch im „Nathan“ maßgebende (die entscheidende Prinzipienfrage nivellierende, s.u. III., 1.) Botschaft an. Sie suggeriere zugleich falsche „Kontinuitäten“,³²⁸ zumal dieser vermeintliche ‚Gang‘ doch die „prinzipiellen“ Differenzen zwischen den Religionen nicht übersehen lassen könne; auch die in der „Erziehungsschrift“ enthaltene religionsgeschichtliche Entwicklungs-Perspektive³²⁹ scheint jedenfalls jene bei ihm ge-

 Nach Kant ist dies unvereinbar mit seiner Sicht der religionsgeschichtlichen Entwicklung. Geschichtlich vermittelte und gemeinschaftsbezogene Bilder und Rituale sind ihm zufolge zu ‚dechiffrieren‘.  XIII, 415. Diese wichtige Bemerkung – Lessing nannte es einen „Fingerzeig“ – aus dem „Vorbericht“ zu seiner „Erziehungsschrift“ bleibt gewissermaßen als hermeneutischer Schlüssel auch für Lessings Offenbarungsverständnis zu beachten. Von diesem kontingenten ‚Entwicklungsgang‘ des „menschlichen Verstandes“ (als einem immanenten Lernprozess) bleibt indes der Anspruch einer durch Offenbarung geschehenden „Erziehung des Menschengeschlechts“ genau zu unterscheiden.  Auch in dieser bestimmten Hinsicht scheint sich also zu bestätigen: „Auch Lessings Ringparabel will nicht abstrakt für sich, sondern zusammen mit der „Erziehung des Menschengeschlechts“ gelesen und verstanden werden“ (Barth 143).  Cunico betont, dass in Lessings „Erziehungsschrift“ sein „religionsphilosophisches Denken“ gipfle (dies steht freilich in einer Spannung zu Lessings eigener Einschätzung dieser Schrift, s. o. II., Anm. 214); es sei dies „sein reifster und spezifischer Beitrag zur Religionsphilosophie, mit dem er die (von ihm selbst auch bis dahin geteilte) prinzipiell negative Einstellung zur geschichtlichen (positiven) Religion überwindet und diese als notwendigen Lernprozess,Verwirklichungsweg der wahren, echten, eigentlichsten Religion auffasst. Die wahre Religion tritt nicht mehr als ‚natürliche Religion‘ auf, die ursprünglich allen Menschen gemeinsam war, die aber notwendigerweise

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II Zur indirekten Auseinandersetzung zwischen Lessing und Kant

wahrten Unterschiede offenbar geradewegs preiszugeben. Die auf diese Weise vollzogene, lediglich durch „Akkomodation“ bedingte „Entwicklung des Menschengeschlechts“ wäre dann jedoch von einer durch Offenbarung geschehenden „Erziehung des Menschengeschlechts“ im Grunde gar nicht zu unterscheiden. Dies vermag – und darf – nach Kant allerdings nichts daran zu ändern, dass von den in solchen geschichtlichen Entwicklungsprozessen vollzogenen religionsgeographischen Adaptionen („Akkomodationen“), d. h. auch von der gebotenen Rücksicht auf die „Denkungsart der damaligen Zeiten“ (SF, AA 07: 37.29), der kantische Kerngedanke abzuheben bleibt – dies markiert offenbar doch einen grundsätzlichen, auch für Kants „Nathan“-Kritik nicht unerheblichen Unterschied: Die maßgebende Prinzipienfrage der „natürlichen Religion“ sind gerade nicht auf regionale und kulturelle Differenzen bzw. Besonderheiten, d. h. auf die jeweils für „ihre Zeit … populäre Vorstellungsart“ (RGV,AA 06: 83.13) zurückzuführen und dadurch zu relativieren (s.u. II., Anm. 331),³³⁰ sodass vom „Wesentlichen der Religion“ gleichermaßen „Unkraut“ als auch der bloß verlockende Duft

in unendlich viele individuelle Konzepte zerfallen und deswegen durch relativ wenigere konventionelle Glaubensarten auf partikuläre Erscheinungsformen zurückgebracht werden musste, wie man in dem Fragment Über die Entstehung der geoffenbarten Religion … liest. Sie tritt nicht einmal mehr als ahistorischer, zeitentronnener Maßstab aller positiven Religionen auf. Sie wird jetzt Ziel-, als Vollendungspunkt der religiösen Entwicklung der einzelnen Menschen sowie der gesamten Menschheit dargestellt.“ (Cunico 2015a, 44) Bei Kant sind vermutlich Spuren beider Konzeptionen zu finden. Es ist ja bemerkenswert, dass Lessing dem sog. ‚biogenetischen Grundgesetz‘ – ‚Die Ontogenesis ist eine kurze und schnelle Rekapitulation der Phylogenesis‘ –, gewissermaßen eine Art religionsgeschichtlicher Adaption verpasst – so, wenn er betont: „Eben die Bahn, auf welcher das Geschlecht zu seiner Vollkommenheit gelangt, muss jeder einzelne Mensch (der früher, der später) erst durchlaufen haben“ (ebd. § 93: XIII, 435). Nach Cunico umreisst das „vereinfachte Schema“ der Erziehungsschrift „nur eine besondere Entwicklung, diejenige, die im Mittelmeerraum und Europa von der Idolatrie (Vielgötterei) über das Judentum zum Christentum geführt hat. Diese der westlichen Kultur eigene Evolution weist einen Gang auf, der früher oder später, langsamer oder schneller von jeder Kultur und jeder einzelnen Person (je mit ihrer eigenen Zeit und auf ihre eigene Weise) beschritten werden soll“ (Cunico 2015a, 50).Indes, eben diese Sichtwiese hat der späte Lessing offenbar (wie schon erwähnt) zunehmend skeptisch beurteilt. Cunico hält jedenfalls Lessings Erziehungsschrift für seine „originellste und wichtigste Schrift“ (Cunico 2015a, 47); diese Einschätzung steht freilich in einer unübersehbaren Diskrepanz zu Lessings eigenem (späten und kritischen) Urteil über diese Schrift (s.o. II., Anm. 214).  In diesem Sinne ist die o. angeführte Bemerkung Lessings aus dem „Vorbericht“ seiner Erziehungsschrift jedenfalls nicht zu verstehen: „Warum wollen wir in allen positiven Religionen nicht lieber weiter nichts, als den Gang erblicken, nach welchem sich der menschliche Verstand jedes Orts einzig und allein entwickeln können, und noch ferner entwickeln soll; als über eine derselben entweder lächeln, oder zürnen? Diesen unsern Hohn, diesen unsern Unwillen verdiente in der besten Welt nichts: und nur die Religionen sollten ihn verdienen?“ Diese Bemerkung ist offensichtlich nicht zuletzt gegen Reimarus gerichtet.

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von „Blumen“ (Nathan: v. 1566) aus dem eigenen Garten zu unterscheiden bleibt. Jene Fehleinschätzung laufe also auch Gefahr, die gewiss notwendige „Akkomodation“ der „Glaubensarten“ nicht angemessen von der Ebene der „Prinzipien“ der Religion (die auch der kantischen Idee des „theismus moralis“ zugrunde liegen) zu unterscheiden, weshalb Kant alle vermeintlichen Kontinuitäten des „Kirchenglaubens“ entschieden in Frage gestellt hat. Sie beruhen ihm zufolge eben auf einer Verwechslung (bzw. Einebnung) der prinzipien-orientierten Begründungsfragen der Religionsthematik (und der „Lehrstücke an sich selbst“: SF, AA 07: 37.30) mit den maßgeblichen empirischen Gesichtspunkten einer „religiösen Geographie“ und den damit verbundenen (bloß ‚äußerlichen‘) Rücksichten. Diesbezüglich – und eingebunden in eine religionsgeschichtliche Perspektive – ist auch Kants eigener Hinweis auf eine „physische Theologie“ (im Rahmen seiner „Physischen Geographie“) zweifellos von Interesse: „Da die theologischen Principien nach der Verschiedenheit des Bodens mehrenteils sehr wesentliche Veränderungen erleiden [!]: so wird auch hierüber die notwendigste Auskunft müssen gegeben werden. Man vergleiche z. B. nur die christliche Religion im Oriente mit der im Occidente und hier wie dort die noch feinern Nuancen derselben. Noch stärker fällt dies bei wesentlich in ihren Grundsätzen [!] verschiedenen Religionen auf“.³³¹ Damit ist der zu wahrende Unterschied zwischen dem Akkomodations-Aspekt von demjenigen der ‚Grundsätze‘ wenigstens angezeigt, auf denen Kant unnachgiebig insistierte, ungeachtet der erlittenen „wesentlichen Veränderungen“. Von der Berücksichtigung der die Besonderheiten der „religiösen Geographie“ widerspiegelnden äußeren (auch sozial- und kulturgeschichtlichen) „Akkommodations“-Prozesse einer „physischen Theologie“ aufgrund geschichtlichgesellschaftlich bedingter Ausformungen bleiben demnach die von Kant im Sinne eines „Fortschritts der Menschheit“ geltend gemachten prinzipien-bezogenen religionsgeschichtlichen Fortschritte und Lernprozesse sowie die diesbezügliche „ursprüngliche Erwerbung“ der Vernunftideen und ihre „Zweckverbindung“ (s.o. 89) genau zu unterscheiden; es sind also diejenigen prinzipien-bezogenen religionsgeschichtlichen Lernprozesse davon genau abzugrenzen, die (auch im Sinne des sich ausbildenden „Vernunftsystems der Religion“) keinesfalls bloß auf eine Frage der „religiösen Geographie“ reduziert werden dürfen und von Kant (auch) in

 PG, AA 09: 165.6 – 12. – Kants bemerkenswerter (wohl von Herder inspirierter) Bezug auf diese „theologische Geographie“ lässt offenbar eine Anlehnung an die in naturphilosophischem Kontext erwähnte „Anartung“ erkennen (s. dazu bes. Kants Abhandlung „Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie“), wonach „die Entwicklung der Anlagen … sich nach den Örtern“ richtet (ÜGTP, AA 08: 173.14); die leitenden Motive dieser Abhandlung wären durchaus in entsprechender Weise für die hier im Vordergrund stehenden Themen zu rezipieren.

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jener erwähnten „größeren Bearbeitung sittlicher Ideen“³³² und der dauerhaften Etablierung des „theismus moralis“ angesprochen sind. So ist wohl auch sein Hinweis zu verstehen: „Daher sehen wir bei allen Völkern durch ihre blindeste Vielgötterei doch einige Funken des Monotheismus durchschimmern, wozu nicht Nachdenken und tiefe Spekulation, sondern nur ein nach und nach verständlich gewordener natürlicher Gang des gemeinen Verstandes geführt hat“ (KrV, B 618).³³³ Dies findet so auch in der „Religionsgeschichte“ (als der „Geschichte des

 In diesem „natürlichen Gang“ – unterwegs zu dem „für alle Welt gleich einleuchtenden Religionsglauben“ (RGV, AA 06: 135 Anm.) – spiegelt sich freilich zugleich „fleissige Arbeit“ wider. Auch diesbezüglich bleibt Kants (schon erwähnte) Argumentation (nicht zuletzt im Blick auf Lessing und Mendelssohn) erinnernswert: „Wir finden daher [!] auch in der Geschichte der menschlichen Vernunft: dass, ehe die moralischen Begriffe genugsam gereinigt, bestimmt, und die systematische Einheit der Zwecke nach denselben und zwar aus notwendigen Prinzipien eingesehen waren, die Kenntnis der Natur, und selbst ein ansehnlicher Grad der Kultur der Vernunft in manchen anderen Wissenschaften, teils nur rohe und umherschweifende Begriffe von der Gottheit hervorbringen konnte, teils eine zu bewundernde Gleichgültigkeit überhaupt in Ansehung dieser Frage übrig ließ. Eine größere Bearbeitung sittlicher Ideen, die durch das äußerst reine Sittengesetz unserer Religion notwendig gemacht wurde, schärfte die Vernunft auf den Gegenstand, durch das Interesse, das sie an demselben zu nehmen nötigte, und […] brachten […] einen Begriff vom göttlichen Wesen zu Stande, den wir jetzt für den richtigen halten, nicht weil uns spekulative Vernunft von dessen Richtigkeit überzeugt, sondern weil er mit den moralischen Vernunftprinzipien vollkommen zusammenstimmt“ (KrV, B 845 f.). Damit steht Kant offenbar eher auf der Seite Lessings gegenüber Mendelssohn, zumal letzterer (wie schon erwähnt) Lessings Idee einer „Erziehung des Menschengeschlechts“ mit Blick auf das Judentum zurückgewiesen (gleichwohl dessen „Nathan“ sehr geschätzt) hat. Mit Recht bemerkt der Herausgeber von Mendelssohns „Jerusalem“ in seiner Einleitung: „Wenn Mendelssohn sich in diesem Zusammenhang gegen Lessings Idee der Erziehung des Menschengeschlechts wendet … , so scheint dies eine (geschichtsphilosophisch bedeutsame) Abschweifung zu sein. Als Apologie des Judentums gelesen, besagt sie aber, dass das Judentum nicht als Stufe im Entwicklungsprozess der einen Religion verstanden werden darf, sondern eine Religion sui generis darstellt“ (Albrecht, Einleitung XXI, Anm.3). Auch Kants spätere Kritik, dass die „jüdische Religion“ (noch) nicht den Ansprüchen eines „moralisch bestimmten Monotheismus“ und den entsprechenden „moralischen Vernunftprinzipien“ genüge, scheint dies zu bestätigen.  Die Nähe zu Lessings Auffassung ist hier wohl nicht zu übersehen, wonach „der menschliche Verstand nur sehr allmählich ausgebildet worden, und Wahrheiten, die gegenwärtig … so einleuchtend und fasslich sind, einmal sehr unbegreiflich, und daher unmittelbare Eingebungen der Gottheit müssen geschienen haben. und als solche auch damals nur haben angenommen werden können: so hat es doch zu allen Zeiten und in allen Ländern privilegierte Seelen gegeben, die aus eignen Kräften über die Sphäre ihrer Zeitverwandten hinausdachten, dem größern Licht entgegen eilten, und andern ihre Empfindungen davon, zwar nicht mitteilten, aber doch erzählen konnten“ (XII, 445). Damit hat Kant später offenbar den Blick auf die „Religion Christi“ verbunden.

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Glaubens“)³³⁴ seinen Niederschlag und bahnt so zuletzt den geschichtlichen Weg zu dem „geläuterten Religionsbegriff“ eines „moralisch bestimmten Monotheismus“,³³⁵ der auf dem inneren Zusammenhang (der „Zweckverbindung“) der Ideen „Gott, Freiheit und Unsterblichkeit“ beruht. Auch hier ist nochmals Kants später Bezug auf die „Geschichte des Glaubens“ mit der darin enthaltenen „teleologischen“ Perspektive erinnernswert, „welche mit dem messianischen Glauben anhebend durch den evangelischen (der jenen zurücklässt) zum rein-moralischen hinweiset“, und diese „Geschichte des Glaubens“ auch als „Vehikel der Religionslehre“³³⁶ bezeichnet. Auch dies legt freilich mit Blick auf Kant die nochmalige Erinnerung an Lessings Ansicht nahe, der zufolge die Entwicklung der Religionsgeschichte „auf nähere und bessere Begriffe vom göttlichen Wesen, von unserer Natur, von unsern Verhältnissen zu Gott geleitet werden können, auf welche die menschliche Vernunft von selbst nimmermehr gekommen wäre“³³⁷ – eine Auffassung, die wohl mit jenem von ihm beanspruchten „gleichwahr/gleich falsch“ „aller positiven und geoffenbarten Religionen“³³⁸ nicht so ohne weiteres verträglich ist und auch jener „Akkomodations“-Theorie widerspricht. Zu jenen in der Religionsgeschichte ausgebildeten „näheren und besseren Begriffen vom göttlichen Wesen … , auf welche die menschliche Vernunft von selbst nimmermehr gekommen wäre“, zählt nicht zuletzt wohl auch die – aus „reiner Vernunft“ nicht deduzierbare, sondern „durch eine Religion geleitete“ – christliche Vorstellung einer ‚aus sich heraustretenden Gottheit‘, analog zu der sich der die „fremde Glückseligkeit“ befördernde Mensch versteht: dass also „der das höchste Gut befördernde Mensch“  Davon unterschieden ist die den „Vernunftbegriff in abstracto“ entfaltende Ebene der „Geschichte der reinen Vernunft“.  In diesem Sinne verweist Kant auf den „moralische(n) Glaube(n), welchen ich im Evangelio fand, wenn ich in der Vermischung von Factis und offenbarten Geheimnissen die reine Lehre aufsuchte, die zum Grunde liegt. Es mochten zu seiner Zeit Wunder und eröffnete Geheimnisse nötig gewesen sein, um eine so reine Religion, welche alle Satzungen in der Welt aufhob, bei dem Widerstande, den sie am Judentum fand, zuerst einzuleiten und unter einer großen Menge auszubreiten“ (AA 10, 176).  VASF, AA 23: 431.9.  So im § 77 der Erziehungsschrift: XIII, 432. Dazu zählt nach Kant wohl auch das biblische „Menschensohn“-Motiv, s. o. II., Anm. 265.  Gegenüber dieser (in dem frühen [für 1763/64 datierten] Entwurf „Über die Entstehung der geoffenbarten Religion“ noch maßgebenden) Sichtweise stellt die in der „Erziehungsschrift“ bestimmende – ‚pädagogisch‘ orientierte – Fortschrittsperspektive eine entscheidende Wendung dar, in deren ‚teleologischer‘ Orientierung offenbar auch die Offenbarungsreligionen einen neuen Stellenwert erhalten, der das frühe Urteil „Alle positiven und geoffenbarten Religionen sind folglich gleich wahr und gleich falsch“ gleichsam ‚verflüssigt‘ und buchstäblich ‚relativiert‘ (s. dazu auch Cunico 2015a).

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II Zur indirekten Auseinandersetzung zwischen Lessing und Kant

sich nach „der Analogie mit der Gottheit“ denkt, „welche, obzwar subjektiv keines äußeren Dinges bedürftig, gleichwohl nicht gedacht werden kann, dass sie sich in sich selbst verschlösse, sondern das höchste Gut außer sich hervorzubringen, selbst durch das Bewusstsein ihrer Allgenugsamkeit, bestimmt sei“ (TP, AA 08: 280 Anm.).³³⁹ Zwei Exkurse zu Kants Einschätzung des Judentums und des Islam sollen diese Perspektiven in einer Abgrenzung gegenüber Lessing noch näher verdeutlichen.

5 Zwei Exkurse: Zu Kants und Lessings – unterschiedlicher – Einschätzung des Judentums und des Islam³⁴⁰ 5.1 Zu Kants Kritik am Judentum – mit Blick auf Lessing Dass nach Kant die bloße Verwerfung des „Polytheismus“ und eine demgegenüber vollzogene Hinwendung zum als „All-Eines“ verstandenen ‚Göttlichen‘ den Maßstäben des von ihm geltend gemachten „theismus moralis“ keinesfalls genügt,³⁴¹ ist auch in einem engen Zusammenhang mit seiner grundsätzlichen Kritik

 Dem fügt sich Kants These nahtlos ein: „Gott will die Glückseligkeit aller Menschen, und zwar durch Menschen“ (Menzer 1924, 66).  Kant kannte freilich (noch) keine notwendigen, dem Judentum und Islam ‚immanenten‘ Differenzierungen; es ist bei ihm deshalb einfach generalisierend von ‚dem‘ Judentum und ‚dem‘ Islam die Rede. In der Tat: „Kant kennt, wie die meisten seiner Zeitgenossen, kaum eine andere Religion als den christlichen Glauben. […] Seine Religionsphilosophie dient weder einem kritischen Vergleich der verschiedenen Religionen noch einer Rekonstruktion der Religionsgeschichte, sondern fragt, wie der christliche Glaube vernünftig gerechtfertigt werden kann“ (Schaeffler 2005, 163). Dies ist in der Tat das erklärte Ziel Kants.  Dies hätte Kant auch gegen Lessings – wohl von Mendelssohn inspirierte – Sichtweise des jüdischen Gottesgedankens geltend gemacht, wonach das „israelitische Volk“ erst nach und nach zu einem geläuterten (monotheistischen) Gottesbegriff („des Einigen“) gefunden habe (vgl. dazu auch Lessings „Gegensätze des Herausgebers“: XII, 443 ff.). Zuletzt habe dies nach Lessing dazu geführt: „Da die Juden nunmehr, auf Veranlassung der reinern persischen Lehre, in ihrem Jehova nicht bloß den größten aller Nationalgötter, sondern Gott erkannten“. „Gewiss ist es wenigstens, dass die Einheit, welche das Israelitische Volk seinem Gotte beilegte, gar nicht die transzendentale metaphysische Einheit war, welche itzt der Grund aller natürlichen Theologie ist. Bis zu der Höhe hatte sich der gemeine menschliche Verstand in so frühen Zeiten noch nicht erhoben, am wenigsten unter einem Volke erhoben, dem Künste und Wissenschaften, so unangelegen waren, und das sich aller Gemeinschaft mit unterrichteteren Völkern so hartnäckig entzog. Bei dem wahren echten Begriffe eines einigen Gottes, hätte dieses Volk unmöglich so oft von ihm abfallen, und zu andern Göttern übergehen können … Kurz, der Einige hieß bei ihm nichts mehr,

5 Zwei Exkurse

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an der „Religion des Judentums“ zu sehen,³⁴² wobei allerdings Kants Würdigung bzw. die besondere Auszeichnung des Christentums offenbar mit einer groben Verzerrung des Judentums einhergeht.³⁴³ Es ist nicht zu übersehen, dass Kant

als der Erste, der Vornehmste, der Vollkommenste in seiner Art […] Die Götter der Heiden waren ihm auch Götter; aber unter so vielen Göttern konnte doch nur einer der mächtigste und weiseste sein; und dieser mächtigste und weiseste war sein Jehova“ (XII, 443 f.). Es ist dies ein Lernergebnis aus dem „babylonischen Exil“: „Nur als es in dem Babylonischen Gefängnis seinen Verstand ein wenig mehr hatte brauchen lernen; als es ein Volk näher hatte kennen lernen, das sich den Einigen Gott würdiger dachte […] ward es auf einmal ein ganz andres Volk und alle Abgötterei hörte unter ihm auf. Wenn diese plötzliche Veränderung, die kein Mensch leugnen kann, nicht durch den veredelten Begriff zu erklären, den es sich nun von seinem eignen Gotte machte: so ist sie durch nichts zu erklären. Man kann einem Nationalgott untreu werden, aber nie Gott, sobald man ihn einmal erkannt hat“ (XII, 444). Indes, auch ein solcher „veredelter Begriff“ von Gott genügt nach Kant dem „theismus moralis“ nicht (s.o. I., 3.1.). Mit Lessing war Kant der Ansicht, dass ein „Nationalgott … eben eine contradictio in adjecto“ sei, wie Timm (1983, 118) zu Recht mit Bezug auf Lessings zitierte Bemerkung anmerkt. (Die Rechtmäßigkeit dieser religionsgeschichtlichen Vermutungen Lessings zur Ausbildung des jüdischen „Monotheismus“, die wohl durch jüngere Forschungsergebnisse problematisiert wird, kann hier nicht diskutiert werden.) – Der sachliche Bezug zu Schillers einschlägigen Überlegungen ist jedenfalls nicht zu übersehen, wenn er in den Schlusspassagen seines Essays über „Die Sendung Mose“ Moses vorwirft: „Er legt also seinem Gott diejenigen Eigenschaften bei, welche die Fassungskraft der Hebräer und ihr jetziges Bedürfnis eben jetzt von ihm fordern. Er passt seinen Jao dem Volke an, dem er ihn verkündigen will, er passt ihn den Umständen an, unter welchen er er ihn verkündet und so entsteht sein Jehovah … Er machte den Demiurgos in den Mysterien zum Nationalgott der Hebräer, aber er ging noch einen Schritt weiter. Er begnügte sich nicht bloß, diesen Nationalgott zum mächtigsten aller Götter zu machen, sondern er machte ihn zum einzigen, und stürzte alle Götter um ihn her in ihr Nichts zurück“ (zitiert im Nachwort zu der von J. Assmann herausgegebenen Schrift Reinholds über die „hebräischen Mysterien“: Assmann 2001, 191).  Indes, offenbar unbeirrt von den mit Mendelssohns „allgemeiner Menschenreligion“ verbundenen (bzw. von ihm mit Blick auf das Judentum beanspruchten) Differenzierungen insistierte Kant darauf: „Wenn das Judentum, welches ein bloßer cultus ist, der durch das Christentum eine moralische Wendung bekommen, abgeschafft würde, so bliebe eine bloße Vernunftreligion übrig. Mendelssohn.“ (VARGV, AA 23: 90.18 – 20) Könnte es also nicht sein, dass nach Überwindung der „kultisch-statutarischen Observanzen“ Judentum und Islam sich nach Kant gemäß dem Fortschritt in der „menschlichen Kultur“ (und den „moralischen Vernunftprinzipien“) zur „natürlichen Religion“ annähernd fortentwickeln? (S.u. 256 ff.) Diese Hoffnung spiegelt sich offenbar auch in Kants Verständnis der „Glaubensarten“ als „Vehikel der Religion“ (ZeF, AA 08: 367, Anm.) wider (wozu auch die Bibel gehört), die die Vorstellung eines bleibenden gleichgültigen „Nebeneinanders“ derselben wohl ebenso verbietet.  So verkennt bzw. ignoriert Kant offenbar schon den Sachverhalt der „Moralisierung von Heil und Unheil, mit der das Judentum den Mythos überwindet“ (Habermas 2012, 152). Auch fällt auf, dass Kant offenbar das alttestamentliche Motiv der „Gottebenbildlichkeit“ als ein besonderes „semantisches Potential“ unterbelichtet ließ.

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II Zur indirekten Auseinandersetzung zwischen Lessing und Kant

selbst in seiner Beurteilung des Judentums³⁴⁴ dem von Nathan angeführten Rat des Richters „Es eifre jeder seiner unbestochen /von Vorurteilen freien Liebe nach!/ Es strebe von euch jeder um die Wette“ (Nathan: v. 2041 f) jedenfalls in diesen Hinsichten keineswegs gefolgt ist – dass die Ausbildung einer „vorurteilsfreien Denkungsart“ eine „schwere und langsam auszuführende Sache sei“ (KU, AA 05: 294 Anm.) wird so von Kant selbst unfreiwillig bestätigt:³⁴⁵ Der ‚Wegweiser‘ geht nicht mit … Unter seinen zahlreichen kritisch-polemischen, ja geradezu abfälligen Bemerkungen über das Judentum bzw. über die „jüdische Religion“ haben zweifellos diejenigen einen ganz besonderen Stellenwert, die Letzterer sogar den Status einer im eigentlichen Sinne so zu nennenden „Religionslehre“ überhaupt absprechen, sofern sie dem moralischen Maßstab der „natürlichen Religion“ grundsätzlich nicht genügen, sondern tief im „Heidentum“ verhaftet bleibe: „Der

 „Lessings judenfreundliche Religionsanschauung war ihm [Kant] zuwider“ (Fischer 1910, 371). „Wir wissen, dass und warum Kant in der jüdischen Religion den exemplarischen Typus der Gesetzesfrömmigkeit, des legalen Gottesreiches (der Theokratie), des Lohn- und Frohnglaubens sah. Diese bedeutsame Differenz lag zwischen ihm und Lessing“ (ebd. 371) – nicht unbedingt zum Vorteil Kants, wie man ergänzen darf … Auch Bohatec betont, „dass Kant … an der judenfreundlichen Religionsauffassung Lessings keinen Gefallen hatte“ (Bohatec 27).  Kants sehr problematische (weil von Vorurteilen und Polemik durchzogene) Einschätzung der „jüdischen Religion“ (aber auch deren Verhältnis und „Abgrenzung“ zum „Christentum“) ist hier nicht näher zu verfolgen; dass er diesbezüglich der von ihm geforderten ‚Vorurteilslosigkeit‘ keinesfalls entspricht, ist evident. S. auch den sehr groben Passus aus Kants „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ (Anth, AA 07: 205 f, Anm.), der allerdings kaum Lessings „Nathan“ mit im Visier hat: „Die unter uns lebenden Palästiner sind durch ihren Wuchergeist seit ihrem Exil, auch was die größte Menge betrifft, in den nicht ungegründeten Ruf des Betruges gekommen. Es scheint nun zwar befremdlich, sich eine Nation von Betrügern zu denken; aber eben so befremdlich ist es doch auch, eine Nation von lauter Kaufleuten zu denken, deren bei weitem größter Teil, durch einen alten, von dem Staat, darin sie leben, anerkannten Aberglauben verbunden, keine bürgerliche Ehre sucht, sondern dieser ihren Verlust durch die Vorteile der Überlistung des Volks, unter dem sie Schutz finden, und selbst ihrer untereinander ersetzen wollen. Nun kann dieses bei einer ganzen Nation von lauter Kaufleuten, als nicht-produzierenden Gliedern der Gesellschaft (z. B. der Juden in Polen), auch nicht anders sein; mithin kann ihre durch alte Satzungen sanktionierte, von uns (die wir gewisse heilige Bücher mit ihnen gemein haben), unter denen sie leben, selbst anerkannte Verfassung, ob sie zwar den Spruch: ‚Käufer, tue die Augen auf!‘ zum obersten Grundsatze ihrer Moral im Verkehr mit uns machen, ohne Inkonsequenz nicht aufgehoben werden.“ Überliefert ist auch (Vorländer II, 73 f.) das Diktum Kants: „solange die Juden – Juden sind und sich beschneiden lassen, werden sie nie in der bürgerlichen Gesellschaft mehr nützlich als schädlich werden. Jetzo sind sie die Vampyre der Gesellschaft.“– Zu Kants Antijudaimus und zu seinen erstaunlichen einschlägigen – „tiefsitzenden, sozialisatorisch erworbenen“ – Vorurteilen s. auch schon Vorländer II, 73 ff; Stangneth 2001, 11– 124; dazu auch Vossenkuhl 1992 und Brachtendorf 2011.

5 Zwei Exkurse

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jüdische Glaube ist, seiner ursprünglichen Einrichtung nach, ein Inbegriff bloß statutarischer Gesetze, auf welchen eine Staatsverfassung gegründet war; denn welche moralische Zusätze entweder damals schon, oder auch in der Folge, ihm angehängt [!] worden sind, die sind schlechterdings nicht zum Judentum, als einem solchen, gehörig. Das letztere ist eigentlich gar keine Religion“; vielmehr sei es lediglich als „eine Vereinigung einer Menge Menschen“ anzusehen, „die, da sie zu einem besondern Stamm gehörten, sich zu einem gemeinen Wesen unter bloß politischen Gesetzen … formten“ (RGV, AA 06: 125.20 – 28).³⁴⁶ Ungeachtet des jüdischen Monotheismus³⁴⁷ verlangte Kant – auch dies indiziert bzw. impliziert einen wichtigen Kritikpunkt gegenüber Lessings „Nathan“ (s.u. III., 1.) – kompromisslos als die „Euthanasie des Judentums … die reine moralische Religion, mit Verlassung aller alten Satzungslehren, deren einige doch im Christentum (als messianischen Glauben) noch zurück behalten bleiben müssen: welcher Sektenunterschied endlich doch auch verschwinden muss und so das, was man als den Beschluss des großen Drama des Religionswechsels auf Erden nennt, … wenigstens im Geiste herbeiführt, da nur ein Hirt und eine Herde Statt findet“ (SF, AA 07: 53.16 – 23). Das Judentum (und auch der Islam) lasse indes die für die „allgemeine Menschenreligion“ entscheidende „Einheit des Prinzips“ (RGV, AA 06: 125.7) (noch?) vermissen, was eine Kontinuität der religionsgeschichtlichen Entwicklung verhindere und deshalb „ganz und gar keine wesentliche Verbindung“ zwischen dem „jüdischen Glauben“ und dem christlichen „Kirchenglauben“ erkennen lasse. Das Christentum verstand Kant deshalb keineswegs als Fortsetzung und geschichtliche ‚Kontinuität‘, sondern als radikale Umwandlung des Judentums und dessen religiösen Vorstellungen. Weder hinsichtlich der Gottesidee³⁴⁸ noch der moralischen Prinzipien – und auch der religiösen Idee der „Unsterblichkeit“– sei (aufgrund jener fehlenden „Einheit des Prinzips“) eine

 Die Würdigung des Alten Testamentes als erstes „Elementarbuch“ der Menschheit in Lessings „Erziehung des Menschengeschlechts“ stieß vermutlich ebenso auf Kants Widerstand. Seine einschlägige Bezugnahme auf das Judentum ist offenbar von Reimarus beeinflusst, nicht zuletzt der Hinweis auf die Formung zu einem „politisch-staatlichen“ Gemeinwesen und auf das Alte Testament als „Gesetzgebung“.  Dieser wie auch die Vorstellung der „Unsterblichkeit der Seele“ war nach Lessing dem Judentum durch die persische Religion vermittelt (§§ 39 u. 42 der Erziehungsschrift). Eine gewisse Hochschätzung der persischen Religion teilte Kant jedoch mit Lessing (§ 33; § 20 der Erziehungsschrift).  Die von Lessing vertretene Auffassung, dass Gott dem jüdischen Volk „Vernunftwahrheiten“ geoffenbart habe, die dann jedoch verloren gegangen sind, ist Kant ganz zuwider; ebenso die Vorstellung einer übergreifenden Offenbarungsgeschichte.

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II Zur indirekten Auseinandersetzung zwischen Lessing und Kant

Kontinuität zwischen Judentum und Christentum festzustellen.³⁴⁹ Lediglich, so Kants gewiss erstaunliche – gewissermaßen direkt an Lessings „Klosterbruder“ (s.u. 155) gerichtete – Auskunft, „die ersten Stifter der [christlichen] Gemeinden fanden es doch nötig, die Geschichte des Judentums damit zu verflechten [!], welches nach ihrer damaligen Lage, aber vielleicht auch nur für dieselbe, klüglich gehandelt war, und so in ihrem heiligen Nachlass mit an uns gekommen ist“ (RGV, AA 06: 167.18 – 22). Deshalb sei auch allein vom „Ursprunge des Christentums“ (RGV, AA 06: 127.20) in dieser Betrachtung der „Geschichte“ auszugehen; dafür sei jedoch die „völlige Verlassung des Judentums, worin es [das Christentum] entsprang“ (ebd. 127.21– 22) die unabdingbare Voraussetzung, weil das Christentum „auf einem ganz neuen Prinzip gegründet“ sei und so eine „gänzliche Revolution in Glaubenslehren bewirkte“ (ebd. 127.22– 23), die Kant zufolge jedoch auch im Islam offenbar wiederum verloren ging. In engstem Zusammenhang damit steht auch die von Kant so entschieden geltend gemachte Auffassung, dass – aufgrund dieser prinzipiellen Defizite, die ihm zufolge auch jeder Vorstellung einer kontinuierlichen Entwicklung verbieten müsse – die „allgemeine Kirchengeschichte … nicht anders als vom Ursprunge des Christentums anfangen“ (ebd.) könne, d. h. eine „völlige Verlassung des Judentums“, bedeuten müsse – bzw., ein wenig abgeschwächt, erst aus einem selbst schon durch griechische Einflüsse (von der „drückenden Last ihres Satzungsglaubens“) „gereinigten“ „Judentum … sich nun plötzlich, obzwar nicht unvorbereitet [wie Kant beinahe ein wenig widerwillig einräumte], das Christentum“ erhob (RGV, AA 06: 128.9 – 11).³⁵⁰ Damit ist gesagt: „weit gefehlt, dass das Ju-

 „(D)enn die Geschichte der Satzungen verschiedner Völker, deren Glaube in keiner Verbindung unter einander steht, gewährt sonst keine Einheit der Kirche. Zu dieser Einheit aber kann nicht gerechnet werden: dass in einem und demselben Volk ein gewisser neuer Glaube einmal entsprungen ist, der sich von dem vorher herrschenden namhaft unterschied; wenn gleich dieser die veranlassenden Ursachen zu der neuen Erzeugung bei sich führte. Denn es muss Einheit des Prinzips sein, wenn man die Folge verschiedner Glaubensarten nacheinander zu den Modifikationen einer und derselben Kirche rechnen soll, und die Geschichte der letztern ist es eigentlich, womit wir uns jetzt beschäftigen“ (RGV, AA 06: 124.34– 125.10).  Kants Abgrenzung des Christentums vom Judentum impliziert offenbar auch eine indirekte Kritik an Leibniz (zumal er seine Kritik an Mendelssohns Sicht des ‚jüdischen Monotheismus‘ vermutlich auch auf Leibnizens Sichtweise ausgedehnt hat): „Die Juden reden in höchst würdiger Weise von der erhabensten Substanz Gottes, und man sieht so mit Überraschung, wie die Bewohner eines kleinen Landes aufgeklärter sind als alle übrigen Völker. Die Weisen anderer Nationen haben hie und da darüber vielleicht genau so viel gesagt, aber es ist ihnen nicht das Glück einer genügenden Nachfolge zuteil geworden, so dass ihre Lehren zum allgemein gültigen Gesetz erhoben werden konnten“ (Leibniz 1968, 2 f: Vorwort zur Theodizee). Indes, dies hat Kant offenbar auch in seiner Bezugnahme auf die „erhabenste Stelle“ „im Gesetzbuche der Juden“ (KU, AA 05:

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dentum [als] eine zum Zustande der allgemeinen Kirche gehörige Epoche“ gelten³⁵¹ bzw. den der „natürlichen Religion“ (und ihren Kriterien der „Einheit, Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit“) genügenden Ansprüchen entsprechen könne, zumal „das Judentum als ein solches, in seiner Reinigkeit genommen [!], gar keinen Religionsglauben“ enthalte (RGV, AA 06: 126.17– 18), sei die Konsequenz eben dies, dass alle vermeintlichen Kontinuitäten zum Christentum – über die „physische Veranlassung“ hinaus – nicht aufrechtzuhalten seien. Daraus wird auch ersichtlich: Weil jede Kontinuität zwischen Judentum und Christentum nach Kant auszuschließen ist, d. h. ersteres aus der „allgemeinen Kirchengeschichte“ verbannt bleibt, musste wohl auch die an Nathan gerichtete Rückfrage des „Klosterbruders“ – „Und ist denn nicht das ganze Christentum aufs Judentum gebaut?“ (Nathan: v. 3020 f.) – Kants energischen Einspruch provozieren. Dies besagt jedenfalls auch seine Theorie des „Kirchenglaubens“, der zufolge der allgemeine Kirchenglaube erst mit dem Christentum „anfängt“, um so die prinzipientheoretische Verankerung des Christentums von der geschichtlichen Perspektive nur ja genügend zu unterscheiden und das Judentum von der „allgemeinen Kirchengeschichte“ abzutrennen. Wie eine Antwort auf jene Frage des Klosterbruders nimmt sich offenbar Kants entschiedene These aus, wonach sich aus dem ohnedies schon durch griechische „Tugendbegriffe“³⁵² aufgeklärten bzw. ‚geläuterten‘ „Judentum“ nunmehr das Christentum erhob, es jedoch „weit gefehlt“ sei, „dass das Judentum [als] eine zum Zustande der allgemeinen Kirche gehörige Epoche“ gelten dürfe. Deshalb hätte Kant auch die von Lessing dem Judentum eingeräumten „Vorübungen, Anspielungen und Fingerzeige“³⁵³ auf das Christentum strikt verworfen, ebenso Lessings These: „Die ersten Anhänger 274.21) aufgenommen. In der Einstellung zum Judentum steht Lessing offenbar Leibniz näher als Kant.  Zu Recht betont Danz: „Für Kant ist das Judentum unmittelbarer Vorgänger sowie ‚physische [!] Veranlassung‘ ‚zur Gründung … (der christlichen) Kirche‘ … Aber dem Judentum kommt nicht nur kein Ort innerhalb der allgemeinen Kirchengeschichte zu, sofern sie ‚Einheit des Prinzips‘ haben soll, sondern – damit zusammenhängend – es ist ‚eigentlich gar keine Religion‘ … Kants Deutung des Judentums … markiert Grenzen seines Religionsbegriffs. Empirische Religionen, die nicht mit dem reinen Religionsglauben kompatibel sind, können nicht als Religion gelten. Wo keine Moral ist, da ist auch keine Religion“ (Danz 105 f.). Indes bleibt zu fragen: Sind die beiden – ohnedies als unerlässliche Bedingungen lediglich ‚ex negativo‘ geltend gemachten – kantischen ‚Konstitutiva‘ der Religion: der „transzendentale Begriff von Gott“ und die Verankerung der Religion in ‚moralischen Prinzipien‘ etwa relativierbar – und wie wären darin „Grenzen seines Religionsbegriffs“ rechtens zu kritisieren?  Erst später sei „diesem sonst unwissenden Volke schon viel fremde (griechische) Weisheit zugekommen … , welche vermutlich auch dazu beitrug, es durch Tugendbegriffe aufzuklären“ (RGV, AA 06: 128.3 – 4).  Lessing § 43: XIII, 425.

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Christi waren lauter Juden, und hörten, nach dem Beispiele Christi, als Juden zu leben nicht auf“.³⁵⁴ Auch könne das Judentum keinesfalls „Erzieher der Völker“ sein; Lessings Auffassung, dass Juden als die „künftigen Erzieher des Menschengeschlechts“³⁵⁵ fungierten, war Kant in der Tat ganz zuwider,³⁵⁶ obwohl er Lessings Einschätzung des Judentums durchaus geteilt hat: „Ein Volk, das so roh, so ungeschickt zu abgezogenen Begriffen war“³⁵⁷ …

5.1.1 Die gesinnungslos-„geschäftige Nichtstuerei“ des „mechanischen Cultus“ der Juden und die – demgegenüber – auf dem „Tempel in uns“ errichtete „natürliche Religion“ Jenes (dem theoretischen und praktischen Vernunftgebrauch gemäße) zweifache Richtmaß ist in Kants Kennzeichnung des „moralischen Monotheismus“ gleichermaßen als Kriterium für seine unüberhörbar skeptische Einschätzung von antiken Monotheismus-Konzeptionen maßgebend, die in der zeitgenössischen Rezeption mitunter besonders gewürdigt wurden. Demnach ist es auch dieser Maßstab, woran Kant in kritischer Absicht die tradierten Ansprüche des „ägyptischen“³⁵⁸ und auch des „jüdischen Monotheismus“ bemessen wollte und vor

 Neue Hypothese über die Evangelisten als bloß menschliche Geschichtsschreiber betrachtet (§ 1): XVI, 372.  XIII, 419. Die „stark beschränkte Rolle, die dem Judentum [in der Erziehungsschrift] zugeschrieben wird“ (Cunico 2015a, 50), hätte gewiss Kants Zustimmung gefunden, so sehr er darin die relativierende Einschätzung des auf „einen reinen Religionsglauben“ abzielenden Christentums verworfen hätte.  Selbstverständlich hätte Kant jedoch Lessings frühen Protest gegen die allgemeine „schimpfliche Unterdrückung“ der Juden unterstützt, ebenso dessen Absicht, „dem Volke die Tugend da“ zu zeigen, „ wo es sie ganz und gar nicht vermutet“ (so Lessing in der Vorrede zu den „Rettungen“: V, 270). Schon in der Person des „Reisenden“ in „Die Juden“ hat Lessing dies eindringlich vor Augen geführt; dieser Text des 20-jährigen Lessing wirbt bemerkenswerterweise für gelebte Toleranz gegenüber den Juden und enthält insofern schon eine „strategische Aufwertung“ der Juden.  Lessing, Erziehungsschrift § 16.  Kant hat dies, obgleich nur beiläufig, gegenüber zeitgenössischen Ansprüchen geltend gemacht. Vgl. z. B. seine einschlägige Antwort an Plessing (Brief v. Februar 1784, AA 10, 363): „Für Ihren Osiris etc. sage [ich] den ergebensten Dank. Ihrem Urteile, wegen der großen Weisheit und Einsicht der alten Aegypter, kann ich, aus Gründen, deren einen guten Teil mir schon HE Meiners vorgegriffen hat, nicht beistimmen“. Dieser hier von Kant zustimmend angeführte „HR Meiners“ (auf ihn nimmt Assmann in seinem Werk „Religio duplex …“ wiederholt Bezug) hat, Assmann zufolge, in seiner Schrift „Über die Mysterien der Alten, besonders die Eleusinischen Geheimnisse“ eine darin „womöglich“ noch erkennbare Verschärfung des „Antagonismus zwischen Volks- und Elitereligion“ in kritischer Absicht diagnostiziert.

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solchem Hintergrund zu dem kritischen Urteil gelangte, dass eben nicht jeder „Monotheismus“ als solcher auch schon vernunftkritischen Anforderungen genügt, sondern jenen angeführten Unterscheidungskriterien sowohl theoretischer als auch praktischer Vernunft untersteht (s.o. I., 3.1.). Dabei ist es freilich die von Kant – wohl auch infolge der Vernachlässigung bzw. der grob verzerrenden Einschätzung des Judentums – dem Christentum zugeschriebene Einsicht in die „aus der größeren Bearbeitung der sittlichen Ideen“ hervorgegangene Verbindung der Prinzipien der ‚Moralität‘, der Idee einer „universalen Menschheit“ und des gereinigten „Monotheismus“, die diesbezüglich einen besonderen Stellenwert einnimmt. Davon ausgehend sah Kant sich auch genötigt, historisch aufgetretene „Monotheismus“-Konzeptionen gleichwohl als ‚heidnisch‘ zu verwerfen (s.o. I., 1.): So sei der jüdische Monotheismus aufgrund des fehlenden moralischen Fundaments im Grunde auch gar nicht als „Monotheismus“ zu bezeichnen, sondern vielmehr geradewegs als bloßes „Heidentum“ anzusehen. Eben deshalb, weil „Religion eine reine Vernunftsache ist“, insistierte auch der späte Kant ausdrücklich – und wohl mit unüberhörbarer besonderer Spitze gegen das Judentum – auf jenem schon wiederholt erwähnten „monotheismus moralis“: „Monotheismus moralis, nicht bloßer Monotheismus, der auch auf bloßen Kirchenglauben und statutarische Gesetze gegründet sein könnte“. Auch jener frühe kantische Hinweis, wonach allein aus der Verbindung von „Theologie und Moral“ (KrV, B 395,Anm.) „Religion“ resultiere, impliziert eine anti-jüdische Stoßrichtung. Das Judentum sei „eigentlich gar keine Religion“ (RGV, AA 06: 125.25), zumal dieses im Grunde doch „bloß äußere Handlungen“ (ebd.) betreffe und somit einen falschen Gottesdienst sowie ein entsprechendes Gottesbild demonstriere: „Denn ein Gott, der bloß die Befolgung solcher Gebote will, dazu gar keine gebesserte Gesinnung erfordert wird, ist doch eigentlich nicht dasjenige moralische Wesen, dessen Begriff wir zu einer Religion nötig haben. Diese würde noch eher bei einem Glauben an viele solche mächtige unsichtbare Wesen statt finden, wenn ein Volk sich diese etwa so dächte, dass sie bei der Verschiedenheit ihrer Departements doch alle darin übereinkämen, dass sie ihres Wohlgefallens nur den würdigten, der mit ganzem Herzen der Tugend anhinge, als wenn der Glaube nur einem einzigen Wesen gewidmet ist, das aber aus einem mechanischen Cultus das Hauptwerk macht.“ (RGV, AA 06: 127.9 – 18)³⁵⁹  Sehr erhellend – gerade auch bezüglich seiner polemischen Einschätzung des Judentums – ist ein Passus aus Kants Vorarbeiten zum „Streit der Fakultäten“ (VASF, AA 23: 440.23 – 34), der indirekt auch wiederum auf Mendelssohns „Jerusalem“ Bezug nimmt: „Die wahre Religion, so fern sie zugleich als Offenbarung erkannt wird, heißt Christentum, sofern sie nicht als solche anerkannt wird natürliche Religion. Ein Offenbarungsglaube ohne jene Religion wäre Heidentum.

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In diesem Sinne hatte bekanntlich noch der spätere Kant (ähnlich im Kontext seiner groben Verzerrung der jüdischen Religion) auch die von Mendelssohn mit dem „jüdischen Monotheismus“ verbundenen Ansprüche als haltlos bzw. als überzogen – weil viel zu affirmativ – zurückgewiesen und demgegenüber sehr entschieden darauf insistiert, „(d)ass den Juden der Monotheism nicht so hoch anzurechnen sei“.³⁶⁰ Das Judentum stehe nicht zuletzt aufgrund seiner selbst gesuchten Partikularität als „auserwähltes Volk“ in größtem Gegensatz zur Vernunftidee einer „allgemeinen Kirche“ nach Tugendgesetzen („ethisches Gemeinwesen“) und somit zu einer „allgemeinen Vernunftreligion“. Kant kritisierte

Wenn also die Juden außer der Offenbarung vom Berge Sinai, welche sie nur zu einem Volke von besonderer politischer (nämlich theokratischer) Verfassung machen sollte, nicht noch eine besondere doch öffentliche bloß moralische Religionsunterweisung hatten (wovon wir zwar keine Nachricht haben, was wir aber doch aus christlicher Liebe annehmen wollen), so war ihr Glaube nicht einmal natürliche Religion, sondern Heidentum obzwar vielleicht von schicklicherer Form für eine künftige Religion als der anderer Völker ihrer Nachbaren.“ Kant wusste offenbar auch noch nichts von den moralischen Lehren der Rabbiner im Frühjudentum, ebenso waren ihm innerjüdische Entwicklungen völlig unbekannt.  VARGV, AA 23: 104.34. Auch VASF, AA 23: 439.18 – 34: „Hieraus ist zu sehen, dass der gute M. Mendelssohn den Monotheism zum Verdienst des Glaubens seiner Nation viel zu hoch anschlägt, so dass er es gar einer besondern Vorsehung zuschreibt dass diese als Depositärin eines so wichtigen Artikels durch alle Zeiten erhalten worden ist: denn der kann mit so viel Heidentum in Ansehung dessen, was eigentlich zur Religion gehört, untermengt sein, dass ein solcher Glaube kaum verdiente Religion genannt zu werden. Dagegen ist der Polytheism zwar ein grober Fehler in Ansehung der Introduktion der Religion durch kirchliche Formen, ist aber doch der Religion in ihrem Wesentlichen nicht notwendig entgegengesetzt. Denn wenn es von allen den Göttern hieße, dass sie zwar in Ansehung der Departementer die sie in der Welt verwalten, verschiedener Natur, darin aber insgesamt einig wären, dass nur Rechtschaffenheit der Seele und Tugend ihre Gunst erwerben könnte, so wäre eine solche Religion so schlimm eben nicht, wenigstens doch besser als ein Monotheism, der es zum Grundsatz hatte, dass die Gottheit durch Glaubensbekenntnisse und Observanzen könne gewonnen und Übertretung der natürlichen Pflichten dadurch könne vergütet werden.“ Solches ‚Zugeständnis‘ steht freilich zur unverzichtbaren Rolle der „rationalen Theologie“ (und deren „Gottesidee“) in einer unübersehbaren Spannung, deren unentbehrliche Schutzwehrfunktion deshalb auch die zugeschärfte Auskunft Kants relativieren muss: „Der Kirchenglaube kann absurd sein (polytheism) u. die Religion doch gut“ (VASF, AA 23: 435.20 – 21). Solcherart hätte Kant freilich im Grunde die kritische Voraussetzung stillschweigend preisgegeben, dass allein aus der Verbindung von „Theologie und Moral … Religion“ hervorgehe (KrV, B 395,Anm.). Sowohl der Gottesbegriff der „transzendentalen Theologie“ (als Negativkriterium in seiner Schutzwehrfunktion) als auch das moralische Fundament („moralische Vernunftprinzipien“) ist die unverzichtbare Basis der „natürlichen Religion“, denen nach Kant jedoch weder die ‚monotheistischen‘ Ansprüche des Judentums noch diejenigen des Islam genügen. Erneut zeigt sich: Der Aspekt der ‚moralischen Autonomie‘, die erst aus der „größeren Bearbeitung sittlicher Ideen“ resultiert sei, gilt Kant als das entscheidende Kriterium in der Beurteilung der Religionen und auch ihres „Fortschritts“, das auch der „wahren Aufklärung“ entspricht.

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bekanntlich (ähnlich im Kontext seiner groben Verzerrung der jüdischen Religion) in besonderer Weise auch dies, dass das Judentum „vielmehr das ganze menschliche Geschlecht von seiner Gemeinschaft ausschloss, als ein besonders vom Jehovah für sich auserwähltes Volk³⁶¹, welches alle andere Völker anfeindete und dafür von jedem angefeindet wurde. Hiebei ist es auch nicht so hoch anzuschlagen, dass dieses Volk sich einen einigen, durch kein sichtbares Bild vorzustellenden Gott zum allgemeinen Weltherrscher setzte. Denn man findet bei den meisten andern Völkern, dass ihre Glaubenslehre darauf gleichfalls hinausging und sich nur durch die Verehrung gewisser jenem untergeordneten mächtigen Untergötter des Polytheismus verdächtig machte.“ (RGV, AA 06: 127.1– 9)³⁶² Kants wiederholte Mahnung, den „jüdischen Monotheismus“ nicht zu hoch zu bewerten, zeigt sich nicht zuletzt in seiner in den Vorarbeiten zur Religionsschrift ausgesprochenen Kritik: „Wo Gott einen Namen hat (z. B. Jehovah) da werden viel Götter angenommen, weil Namen zur Unterscheidung mehrer[er] Wesen von derselben Gattung gebraucht wird“.³⁶³ Kant sah vornehmlich den „jüdische(n) Monotheismus“ noch von unendlich vielen und sinnlosen Observanzen ‚überlagert‘ und kritisierte demgemäß die im

 Damit berührte Kant auch die an Nathan gerichtete kritische Rückfrage des Tempelherrn aus Lessings „Nathan“ (Nathan: v. 1289 ff.): „Wisst Ihr, Nathan, welches Volk/ Zuerst das auserwählte Volk sich nannte? Wie? wenn ich dieses Volk nun zwar nicht hasste, Doch wegen seines Stolzes zu verachten,/ Mich nicht entbrechen könnte? Seines Stolzes; den es auf Christ und Muselmann vererbte,/ Nur sein Gott sei der rechte Gott!“  Bohatec zufolge (Bohatec 465) ist diese Bemerkung Kants vor allem gegen Lessing gerichtet. Die in Lessings Erziehungsschrift erwogene Auserwählung des „israelitischen Volks“ (§§ 8 ff) war Kant offenbar ganz zuwider.  VARGV, AA 23: 97.22– 23. Vgl. auch Kants kritische Anmerkung: „Gott als ein einziger hat keinen Namen, und wo er einen führt, so bedeutet das polytheism, in welchem ein Gott der oberste ist (Iehovah)“ (Refl. 8099; AA 19, 642; vgl. auch VASF, AA 23: 438). „Es ist eine Sonderbarkeit des deutschen Sprachgebrauchs (oder Missbrauchs), dass sich die Anhänger unserer Religion Christen nennen; gleich als ob es mehr als einen Christus gebe und jeder Gläubige ein Christus wäre. Sie müssten sich Christianer nennen. – Aber dieser Name würde sofort wie ein Sektenname angesehen werden von Leuten, denen man (wie im Peregrinus Proteus geschieht) viel Übels nachsagen kann: welches in Ansehung der Christen nicht Statt findet. – So verlangte ein Rezensent in der Hallischen gel. Zeitung, dass der Name Jehovah durch Jahwoh ausgesprochen werden sollte. Aber diese Veränderung würde eine bloße Nationalgottheit, nicht den Herrn der Welt zu bezeichnen scheinen“ (SF, AA 07: 48 Anm.). – Kant teilte offensichtlich zwar die einschlägige Kritik Reinholds und Schillers an dieser Verwandlung‘ Jehovahs zur jüdischen „Nationalgottheit“, gleichwohl ändert dies nichts an seiner Kritik, die – an den Maßstäben der „Theologie und Moral“ – den Ägyptern durchaus den vermeinten „Besitz der wahren Religion“ abspricht. Nicht „die geringste Spur von Philosophie“ sah Kant – so wie in „Zoroasters Zendavesta“ – auch in der viel „gepriesenen ägyptischen Weisheit, die in Vergleichung mit der griechischen Philosophie ein bloßes Kinderspiel gewesen ist“ (Log, AA 09. 27.30 – 32).

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Judentum weithin vorherrschenden „Gebote einer geschäftigen Nichtstuerei“ (Anth, AA 07: 148.1),³⁶⁴ verbunden mit der Aufforderung, gemäß den gleichwohl auch darin jetzt erkennbaren „geläuterten Religionsbegriffen“ „[den] alle wahre Religionsgesinnung verdrängenden alten Kultus ab[zu]werfen“ (SF, AA 07: 52.27– 53.1).³⁶⁵ Vor allem dies hätte Kant jedoch auch noch gegen das Lessing’sche Argument geltend gemacht, das der jüdischen Religion eine Entwicklung zu einem immer mehr geläuterten Begriff des „einigen Gottes“ zubilligen wollte, zumal das „jüdische Volk“, so Lessing, in diesem Entwicklungsprozess schließlich doch erkannt habe, dass „seinem Jehovah eine weit erhabnere Einheit zukomme, als die, welche ihn bloß an die Spitze aller andern Götter setzte: ward es auf einmal ein ganz andres Volk, und alle Abgötterei hörte unter ihm auf“.³⁶⁶ Ebendies bezweifelte Kant entschieden, zumal sich ihm zufolge selbst die Vorstellung einer solchen „erhabeneren Einheit“ der Gottheit gleichwohl mit „Heidentum“ durch-

 Hingewiesen sei auch auf jene Bemerkungen Kants in der Religionsschrift, denen zufolge dem jüdischen Glauben als einem „Inbegriff bloß statutarischer Gesetze“ und „Observanzen“ hingegen „moralische Zusätze“ lediglich „angehängt“, letztere jedoch „schlechterdings nicht zum Judentum als einem solchen gehörig“ anzusehen seien (RGV, AA 06: 125.23 – 24). Spuren eines konsequenten Monotheismus und einer radikalen Forderung der „Gerechtigkeit“ und der „Nächstenliebe“ bei den älteren Propheten werden von Kant ignoriert. Es bestätigt sich: Sein Urteil über die ‚jüdische Religion‘ ist doch erstaunlich undifferenziert. – Bezeichnenderweise ignorierte Kant auch, dass Jesus sein „Liebesgebot“ auf die Interpretation der jüdischen Thora durch den Rabbiner Hillel stützte: „Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht! Das ist die ganze Thora, und alles andere ist die Erläuterung. Geh hin und lerne sie.“ Matthäus 7,12: „Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen! Darin besteht das Gesetz und die Propheten.“ Kant hat allerdings den „kategorischen Imperativ“ von einem ‚trivialen‘ Verständnis der „Goldenen Regel“ ausdrücklich abgegrenzt, weil diese doch nicht als „Richtschnur oder Prinzip dienen könne“ (GMS, AA 04: 430 Anm.).  Der späte Kant zeigte bezüglich der „Reinigung“ des Judentums jedoch durchaus eine gewisse Hoffnung: „Selbst in Ansehung der Juden ist dieses ohne die Träumerei einer allgemeinen Judenbekehrung (zum Christentum als einem messianischen Glauben) möglich, wenn unter ihnen, wie jetzt geschieht, geläuterte Religionsbegriffe erwachen und das Kleid des nunmehr zu nichts dienenden, vielmehr alle wahre Religionsgesinnung verdrängenden alten Cultus abwerfen“ (SF, AA 07:52.33 – 53.1). In diesem Sinne sprach Kant von der notwendigen „Euthanasie des Judentums“ (SF, AA 07: 53.16 – 17), die darauf abzielt: „Wenn sie [die Juden] dann … auch noch die Religion Jesu annähmen, unter Belassung des Rechtes ihrer eigenen Schriftauslegung der Thora und des Evangeliums, so könnten sie ‚bald ein gelehrtes, wohlgesittetes und aller Rechte des bürgerlichen Zustandes fähiges‘ Volk werden“ (Vorländer II, 75). Diese Zuversicht sah Kant möglicherweise in Lessings ‚Nathan“ ‚personifiziert‘.  Lessing, Gegensätze des Herausgebers: XII, 444. Vgl. (s.o. II., Anm. 353) nochmals den Entwicklungsprozess, den Lessing in seiner Erziehungsschrift (§ 39: XIII, 424) „den Juden“ zubilligte.

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aus verträgt³⁶⁷ und somit den Ansprüchen einer „natürlichen Religion“ nicht genügt; deshalb sah er auch in dieser von Lessing gewürdigten „erhabeneren Einheit“ der Gottheit doch nichts anderes und nicht mehr als einen „Monotheismus[,] der es zum Grundsatz hatte[,] dass die Gott durch Glaubensbekenntnisse und Observanzen könne gewonnen und Übertretung der natürlichen Pflichten dadurch könne vergütet werden“.³⁶⁸ Im Unterschied zur Auffassung des Dichters Lessing, die jedoch eben nicht erkennen lasse, „was er will“, war Kant offenbar die Anerkennung des Judentums (und die besondere Betonung der Stellung des Juden Nathan³⁶⁹) ein besonderer Dorn im Auge; noch einmal: dieses sei eben „gar keine Religion“, sondern lediglich ein theokratisches Gebilde mit „kultischen Zwangsgesetzen“.³⁷⁰ „Theokratische“ Ansprüche hat Kant bekanntlich stets sehr kritisch beurteilt und ihnen eine „Republik unter Tugendgesetzen“ (RGV, AA 06: 100.9) gegenüber gestellt. In seiner unbeirrbaren Kritik des Judentums stellt Kant dem an kultischen Vorschriften orientierten Gottesdienst oftmals die „Religion“ bzw. den „Tempel in uns“³⁷¹ gegenüber, der in solcher Abgrenzung den stets betonten Sachverhalt einzuschärfen sucht: „Äußere Religion ist ein Widerspruch. Alle Religion ist innerlich“³⁷². Nicht zuletzt auf das Judentum ist auch Kants kritische Frage gemünzt,  Es könne deshalb nach Kant „sogar ein moralisch gearteter Polytheismus über den israelitischen Monotheismus gestellt werden“ (Bohatec 465), was natürlich die in letzterem erkennbare ‚Moralisierung des Heiligen‘ verkennt; s. o. I., Anm. 5 u. Anm.88.  VASF, AA 23: 439.32– 34.  Die Rühmung Nathans erfolgt möglicherweise auch unter Lessings nachhaltigem Eindruck des „Judenedikts“ durch den judenfeindlichen Papst Pius VI.: s. Fick 489; Kuschel 2011, 53 ff.  Gegen Kant wollte bekanntlich der Kantianer H. Cohen nicht nur die Gleichrangigkeit des Judentums mit dem Christentum in seinem Werk „Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums“ (aus dem Jahr 1919) herausstellen. Mehr noch: Cohen hat bekanntlich Kants Urteil über das Judentum entschieden zurückgewiesen und demgegenüber (ähnlich wie Moses Mendelssohn) „zu zeigen versucht, dass das Judentum in vielfacher Hinsicht [im Unterschied zu den anderen „positiven“ Religionen] den Keim der [davon streng unterschiedenen] Vernunftreligion in sich trage. Nicht nur eine metaphysische Lehre wie die von der Einzigkeit Gottes sei im Judentum aufzufinden, sondern auch und gerade die Vorstellungen der Unsterblichkeit, der Tugend und der Sittlichkeit, und sogar der Universalismus, den Kant für die Vernunftreligion fordert, sei in den Quellen des Judentums nachweisbar.“ (Brachtendorf 158, Anm. 4) Dies entspräche also durchaus der geforderten „wahren Aufklärung“.  Schon in einer frühen Reflexion Kants heißt es: „Es war einmal ein weiser Lehrer, der dieses Reich Gottes im Gegensatz des weltlichen ganz nahe herbei brachte. Er stürzte die Schriftgelehrsamkeit, die nichts als Satzungen hervorbringt, welche nur die Menschen trennen, und errichtete den Tempel Gottes und den Thron der Tugend im Herzen“ (Refl. 1397: AA 15, 609), der so wohl „mit den Wahrheiten und den Beweggründen zur Tugend ausgerüstet“ (Lessing) habe. Dies erinnert auch an Lessings Kennzeichnung Jesu Christi als den „bessren Pädagogen“.  V-Mo/Collins, AA 27.1: 330.

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„ … wie viel Veränderungen dadurch dem Glauben noch bevorstehen; welches nicht zu vermeiden ist, solange wir die Religion nicht in uns, sondern außer uns suchen“ (RGV, AA 06: 167.27– 29), während erstere vorrangig auf die „Besserung des Menschen“ abziele: „Diese aber gelingt nicht anders, als dass man systematisch zu Werke geht, feste Grundsätze nach wohlverstandenen Begriffen tief ins Herz legt, darauf Gesinnungen, der verschiedenen Wichtigkeit der sie angehenden Pflichten angemessen, errichtet, sie gegen Anfechtung der Neigungen verwahrt und sichert und so gleichsam einen neuen Menschen als einen Tempel Gottes erbaut. Man sieht leicht, dass dieser Bau nur langsam fortrücken könne; aber es muss wenigstens doch zu sehen sein, dass etwas verrichtet worden. So aber glauben sich Menschen (durch Anhören oder Lesen und Singen) recht sehr erbaut, indessen dass schlechterdings nichts gebauet, ja nicht einmal Hand ans Werk gelegt worden; vermutlich weil sie hoffen, dass jenes moralische Gebäude, wie die Mauern von Theben durch die Musik der Seufzer und sehnsüchtiger Wünsche von selbst emporsteigen werde“ (RGV, AA 06: 198, Anm.). Demgemäß sind vom „Tempel (dem öffentlichen Gottesdienste geweihte Gebäude)“ nach Kant „Kirchen (Versammlungsörter zur Belehrung und Belebung in moralischen Gesinnungen)“ (RGV, AA 06: 106.26 – 27) genau zu unterscheiden,³⁷³ insbesondere, so Kant, seien darin auch keinerlei ‚reale‘ Anknüpfungspunkte für das Christentum als die „natürliche Religion“ der „Idee nach“ zu finden. Nur für dieses sei das ‚inwendige‘ „Reich Gottes nach dem neuen Bunde“ im Unterschied zu demjenigen „nach dem alten Bunde“ (als einem „politischen“) und ein entsprechend verschiedener Gottesbegriff rechtens zu beanspruchen: „Hier wird nun ein Reich Gottes nach dem neuen Bunde vorgestellt, wogegen aber ein noch jetzt obgleich nur fragmentarisch existierendes Reich Gottes nach dem alten Bunde feierlich protestiert beides als messianisch so doch dass die Bekenner des ersteren ein moralisches als schon eingetreten die so sich zum zweiten bekennen ein politisches (unter statutarischer Religion) als künftig hoffen. Dieser Contrast[,] der (an sich merkwürdig) von vielen aber gar als außerordentliche göttliche Vorsehung d. i. für ein Wunder gehalten wird[,] ist die Erhaltung des jüdischen Volks und seiner Religion unerachtet der Zerstreuung desselben und Bedrückung unter so vielen andern Völkern mit denen sie nie zusammenschmelzen“.³⁷⁴ Damit seien eben durchaus prinzipielle – und deshalb auch unüberwindliche? – Grenzen markiert, die das Judentum lediglich um den Preis seiner völligen Selbst-

 Kant hegte dementsprechend die Hoffnung, dass in einem zunehmenden „Fortschritt zum Bessseren“ sich, der Lehre Jesu gemäß, „Tempel“ in „Kirchen“ – zuletzt in die eine „unsichtbare Kirche“ – verwandeln.  VARGV, AA 23: 113.5 – 14.

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aufgabe überwinden könnte. Ungeachtet seiner Würdigung von Mendelssohns „Jerusalem“ sah der spätere Kant die mit Mendelssohns Konzeption des „jüdischen Monotheismus“ verbundenen Ansprüche im Sinne einer „allgemeinen Menschheitsreligion“ in mehrfacher Hinsicht schwerwiegenden Bedenken ausgesetzt, weshalb ihm auch besonders daran gelegen war, dass die von ihm geltend gemachte „rein-moralische, von allen Statuten unbemengte Religion“³⁷⁵ nicht mit Mendelssohns Konzeption bzw. Programm zu identifizieren sei, zumal diese den kantischen Maßstäben eines „moralisch bestimmten Monotheismus“ keinesfalls schon genügen.

5.1.2 Kants Bestimmung der „fides“ – im Blick auf Moses Mendelssohn Eben aus diesen genannten Gründen sah Kant sich aber – auch gegenüber M. Mendelssohn (s.o. II., Anm. 360) – zu jener schon erwähnten (von ihm wiederholt geäußerten) Auffassung berechtigt, „dass den Juden der Monotheism nicht so hoch anzurechnen sei“. Zwar hat er – schon bald nach dem Erscheinen von Mendelssohns „Jerusalem“ – gegenüber Mendelssohn betont, „mit welcher Bewunderung der Scharfsinnigkeit, Feinheit und Klugheit ich Ihren Jerusalem gelesen habe. Ich halte dieses Buch vor die Verkündigung einer großen, obzwar langsam bevorstehenden und fortrückenden Reform, die nicht allein Ihre Nation, sondern auch andere treffen wird. Sie haben Ihre Religion mit einem solchen Grade von Gewissensfreiheit zu vereinigen gewusst, die man ihr gar nicht zu getrauet hätte und dergleichen sich keine andere rühmen kann. Sie haben zugleich die Notwendigkeit einer unbeschränkten Gewissensfreiheit zu jeder Religion so gründlich und so hell vorgetragen[³⁷⁶], dass auch endlich die Kirche unsererseits darauf wird denken müssen, wie sie alles, was das Gewissen belästigen und drücken kann, von der ihrigen absondere, welches endlich die Menschen in Ansehung der wesentlichen Religionspunkte vereinigen muss; denn alle das Gewissen belästigende Religionssätze kommen uns von der Geschichte, wenn man den Glauben an deren Wahrheit zur Bedingung der Seligkeit macht.“³⁷⁷

 So heißt es in den Vorarbeiten zu Kants Religionsschrift: VARGV, AA 23:114.19.  Dazu gehört freilich auch Mendelssohns These: „Eine Offenbarung, die allein die seligmachende sein will, kann nicht die wahre sein, denn sie harmoniert nicht mit den Absichten des allbarmherzigen Schöpfers“ (so Mendelssohn in seinem Brief an den Erbprinzen von Braunschweig-Wolfenbüttel: JubA 7, 302). „Diesen Satz getraue ich mir als Criterium der Wahrheit in Religionssachen anzugeben“ (ebd.).  Brief Kants an Mendelssohn v. 16. 8.1783: AA 10, 347. „Aber Glaubensbekenntnisse von ihrer [der „Geschichten oder vorgebliche[n] Offenbarung] Wahrheit sind … eine Last für das Gewissen“ (Refl. 6308, AA 18, 602).

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Freilich, diesen hier von Mendelssohn geltend gemachten Maßstab sah Kant auch im ‚christlichen Glauben‘ als „Offenbarungsglauben“ gar nicht selten unterboten (s. dazu auch Kants Bemerkung in der Religionsschrift: RGV, AA 06: 166, Anm.); von diesem Mendelssohn’schen Stachel ist in der Sache deshalb auch noch die spätere kantische Unterscheidung zwischen der „christlichen Religion“ und dem „christlichen Glauben“ als „gelehrtem Glaube“ inspiriert (vgl. RGV, AA 06: 164.11)³⁷⁸ und auch Kants Rekurs auf „fides“ (und deren nähere Kennzeichnung) – so wie seine Abgrenzung der „fides elicita“ von „fides imperata“ und „fides statutaria“ (als „fides historica“: RGV, AA 06: 164.32) – knüpft daran an. Auffällig ist dabei allerdings, dass Kants partielle Würdigung von Mendelssohns „Jerusalem“ einen darin bedeutsamen Punkt völlig ausblendet, obgleich seine wiederholt geäußerte Auffassung, dass der Glaube nicht geboten werden könne, offensichtlich nicht nur mit Mendelssohn übereinstimmt, sondern in dieser Ausdrücklichkeit möglicherweise auch direkt von ihm beeinflusst ist. Besonders aufschlussreich ist in diesem Kontext nämlich dies, dass Kant in der in seiner Ethikotheologie vorgenommenen Charakterisierung des Glaubens als „Fürwahrhalten durch einen praktischen Glauben“ (KU, AA 05: 467 ff.) ausdrücklich auf die Bestimmung von „fides“ rekurrierte, die ihm zufolge wohl als ein besonders eindrucksvolles Beispiel für die „durch hergebrachte fromme Lehren erleuchtete praktische Vernunft“ (EaD, AA 08: 336.21– 23) galt:³⁷⁹ „Er [der „Glaube als Habitus“] ist ein Vertrauen auf die Verheißung des moralischen Gesetzes, aber nicht als eine solche, die in demselben enthalten ist, sondern die ich [!] hineinlege, und zwar aus moralisch hinreichenden Grunde. Denn ein End Gleichwohl ist Kants „rein-moralische, von Statuten unbemengte Religion“ nicht mit Mendelssohns Konzeption bzw. Programm zu identifizieren; und ungeachtet jener Würdigung sah der spätere Kant die mit dessen Konzeption (des „jüdischen Monotheismus“) verbundenen Ansprüche in mehrfacher Hinsicht schwerwiegenden Bedenken ausgesetzt (s.o. II., 5.1.), die er wohl in ähnlicher Weise auch auf Lessing bezogen hätte.  Kants Rekurs auf die durch „fromme Lehren erleuchtete Vernunft“ ist möglicherweise ebenfalls inspiriert durch Erklärungen von der Art: „die Ausbildung geoffenbarter Wahrheiten in Vernunftwahrheiten ist schlechterdings notwendig, wenn dem menschlichen Verstand damit geholfen sein soll. Als sie geoffenbaret wurden, waren sie freilich noch keine Vernunftwahrheiten; aber sie wurden geoffenbaret, um [!] es zu werden“ (Erziehungsschrift § 76: XIII, 432) Es ist also nicht auszuschließen, dass auch jener kantische Bezug auf die „durch hergebrachte fromme Lehren erleuchtete Vernunft“ eine vorsichtige Anlehnung an Lessings „Erziehungsschrift“ erkennen lässt, zumal dort die Vorstellung leitend ist: „Offenbarung als Erziehung ist zwar eine Erleuchtung, die von Gott herkommt, aber an den Menschen allein über sein Herz, seine Phantasie und seine Vernunft kommt, auch wenn sie nicht einfach als Frucht dieser Vermögen verstanden werden kann und obwohl ihr Ursprung nach wie vor in einem Geheimnis umhüllt bleiben muss. Offenbarung ist das geschichtliche Werden des Bewusstseins der Wahrheit als Grundglaubens und Grundüberzeugung“ (Cunico 2015a, 53).

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zweck kann durch kein Gesetz der Vernunft geboten sein, ohne dass diese zugleich die Erreichbarkeit, wenn gleich ungewiss, verspreche, und hiermit auch das Fürwahrhalten der einzigen [!] Bedingungen berechtige, unter denen unsere Vernunft sich diese allein denken kann. Das Wort fides drückt dieses auch schon aus; und es kann nur bedenklich erscheinen, wie dieser Ausdruck und diese besondere Idee in die moralische Philosophie hineinkomme, da sie allererst mit dem Christentum eingeführt worden, und die Annahme derselben vielleicht nur eine schmeichlerische Nachahmung ihrer Sprache zu sein scheinen dürfte. Aber dies ist nicht der einzige Fall, da diese wundersame Religion in der größten Einfalt ihres Vortrages die Philosophie mit weit bestimmteren und reineren Begriffen der Sittlichkeit bereichert hat, als diese bis dahin hatte liefern können, die aber, wenn sie einmal da sind von der Vernunft frei gebilligt, und als solche angenommen werden, auf die sie wohl von selbst hätte kommen und sie einführen können und sollen“ (KU, AA 05: 471 f Anm.). Diese „fides“ soll demnach offenbar jenen „jetzt erst anfangenden“ „rein evangelischen oder christlichen Glauben“ darstellen, der in der „Geschichte des Glaubens“ erst zur Entfaltung kommt (s.o. II., Anm. 302). Mindestens ebenso erstaunlich wie Kants staunendes Vermuten, ob die „Annahme“ bzw. Übernahme dieser „fides“ in die Philosophie doch „vielleicht nur eine schmeichlerische Nachahmung ihrer Sprache“ sei, ist indes der Sachverhalt, dass Kants Bezugnahme auf Mendelssohns „Jerusalem“ dessen ausdrücklichen Verweis auf die alttestamentliche „fides“ völlig ignoriert. Es ist jedenfalls sehr aufschlussreich, dass Mendelssohn in dieser Schrift besonders dies hervorhebt: „Unter allen Vorschriften und Verordnungen des mosaischen Gesetzes, lautet kein Einziges: Du sollst glauben! oder nicht glauben; sondern alle heißen: Du sollst tun, oder nicht tun! Dem Glauben wird nicht befohlen; denn der nimmt keine andere Befehle an, als die den Weg der Überzeugung zu ihm kommen. Alle Befehle des göttlichen Gesetzes sind an den Willen, an die Tatkraft der Menschen gerichtet. Ja, das Wort in der Grundsprache, das man durch Glauben zu übersetzen pflegt, heißt an den mehresten Stellen eigentlich Vertrauen, Zuversicht, getroste Versicherung auf Zusage und Verheißung. Abraham vertraute dem Ewigen, und es ward ihm zur Gottseligkeit gerechnet (1 B. M.15,6).“³⁸⁰ Höchst bemerkenswert ist dabei wohl dies: Kant hat Mendelssohns „Jerusalem“ zwar explizit – obgleich nicht ohne Zurückhaltung – als das Bemühen gewürdigt, die jüdische Religion als mit der Vernunftreligion vereinbar auszuwei-

 Mendelssohn, Jerusalem: JubA 8, 166.Vielleicht korrespondiert diesem zentralen Passus aus Mendelssohns „Jerusalem“ auch jener richterliche Rat aus Lessings „Nathan“, dass der echte Ring „die geheime Kraft, vor Gott und Menschen angenehm zu machen“ doch nur bei dem hatte, „wer in dieser Zuversicht ihn trug“ (s.u. III. 2.).

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sen.³⁸¹ In seiner ausdrücklich bekundeten Verwunderung darüber, „wie dieser Ausdruck [„fides“] und diese besondere Idee in die moralische Philosophie hineinkomme, da sie allererst mit dem Christentum [!] eingeführt worden“, ignorierte bzw. überging Kant indes völlig diese ihm offenbar durchaus bekannte Mendelssohn-These, und reklamierte diese Kennzeichnung von „fides“ in einer bezeichnenderweise vorgenommenen Umdeutung hingegen sogleich als eine(n) „allererst [!] mit dem Christentum eingeführte(n)“ „Ausdruck“ bzw. „Idee“. Indes, auch die gravierende Abweichung ist dabei nicht zu übersehen, zumal bei Kant [„innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“] das „Vertrauen auf die [von uns „aus moralischen Gründen hineingelegte“] Verheißung des moralischen Gesetzes“ bezeichnenderweise an die Stelle des an den „Ewigen“ gerichteten „Vertrauens Abrahams“ (so bei Mendelssohn) getreten ist. Der (von Mendelssohn betonte) „Glaube“ als „Vertrauen auf den Ewigen“ ist nunmehr durch den ethikotheologisch begründeten „Hoffnungsglauben“ vermittelt; das „Vertrauen auf den Ewigen“ – „ich setze auf Gott, den Herrn, mein Vertrauen“ (Psalm 73, 29) – ist bei Kant durch den „Glauben an die Tugend“ bzw. durch das „Vertrauen“ auf den „Gott in uns“, durch das „Vertrauen in die Verheißung des moralischen Gesetzes“, gewissermaßen ‚gebrochen‘, was freilich der kantischen Begründung des „theismus moralis“ und dem in der „natürlichen Religion“ bestimmenden Begründungsverhältnis von „Hoffnung“ und „Glauben“ genau entspricht (vgl. RGV, AA 06: 157.17– 25). In Kants „fides“-Bestimmung zeigt sich also sowohl eine Anknüpfung an Mendelssohn³⁸² als auch eine entschiedene Abgrenzung: Das darin aufgenom Mendelssohns Auslegung des Judentums stimmt unübersehbar mit Rechas „Vernunftglauben“ überein – ungeachtet ihrer (von Lessing psychologisch feinfühlig diagnostizierten) „Wundergläubigkeit“ hinsichtlich ihrer Rettung, die sich von Nathan über das „Wunder“ gelebter Humanität (‚entmythologisierend‘) aufklären lassen muss: „Doch hätt‘ auch nur ein Mensch –ein Mensch, wie die Natur sie täglich gewährt, dir diesen Dienst erzeigt: er müsste für dich ein Engel sein. Er müßt‘ und würde.“ (Nathan: v. 201 ff) Denn: „Der Wunder höchstes ist, dass uns die wahren, echten Wunder so alltäglich werden können, werden sollen. Ohn‘ dieses allgemeine Wunder, hätte ein Denkender wohl schwerlich Wunder je genannt“ (Nathan: v. 217 ff). Und dann, vielleicht auch direkt einer ‚wundersamen‘ Eitelkeit Rechas begegnend: „Meiner Recha wär‘ es Wunders nicht genug, dass sie ein Mensch gerettet, welchen selbst kein kleines Wunder erst retten müssen. Ja, kein kleines Wunder!“ (Nathan: v. 227 ff)  Auch Mendelssohns Ablehnung der Trinitätslehre, der Gottessohnschaft Jesu, des stellvertretenden Sühneopfers, der Lehre von der Erbsünde, war Kant und Lessing ja nicht fern: „Durchlauchtigster Prinz! Ich kann keinem Zeugnisse trauen, das, meiner Überzeugung nach, einer ausgemachten, unumstößlichen Wahrheit widerspricht. Nach der Lehre des N. T. (wenigstens wie dieses in öffentlichen Lehrbüchern erklärt wird) muss ich 1) eine Dreieinigkeit in dem göttlichen Wesen, 2) die Menschwerdung einer Gottheit, 3) das Leiden einer Person der Gottheit, die sich ihrer göttlichen Majestät entäußert hat, 4) die Genugtuung und Befriedigung der ersten

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mene „Vertrauen“ richtet sich bezeichnenderweise „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ in gebrochener Gestalt auf jene „Verheißung des moralischen Gesetzes; aber nicht als eine solche, die in demselben enthalten ist, sondern die ich hineinlege, und zwar aus moralisch hinreichendem Grunde“ (KU, AA 05: 471 Anm.);³⁸³ dies ist nunmehr bei Kant bezeichnenderweise an die Stelle des an den „Ewigen“ gerichteten „Vertrauens Abrahams“ getreten:³⁸⁴ Also nicht „der Gott Abrahams …“, auch nicht ‚der Gott der Philosophen‘, sondern allein der durch das

Person in der Gottheit durch das Leiden und den Tod der erniedrigten zweiten Person und noch viele andere diesen ähnliche oder aus diesen fließende Sätze bei Verlust meiner ewigen Seligkeit glauben. – Nun kann ich zwar und will auch meine Urteilskraft keinem vernünftigen Wesen zur Richtschnur aufdringen. Wer bin ich elendes Geschöpf, der ich mich Dieses vermessen sollte? Aber ich selbst kann die Wahrheit nicht anders als nach meiner Überzeugung annehmen und ich gestehe, dass mir die angeführten Sätze den ersten Gründen der menschlichen Erkenntnis schnurstracks zu widersprechen scheinen.“ (Mendelssohn, JubA 7, 300 f.) Diese gegen das Christentum gerichteten – sehr pointierten – Anfragen und Zweifel Mendelssohns, die durchaus nicht auf bloß „historische Beweisgründe“ abzielen, haben an Dringlichkeit nach wie vor nichts verloren und sollten deshalb auch in den gegenwärtigen „ökumenischen“ Gesprächen nicht ausgeblendet werden (was jedoch weithin der Fall zu sein scheint … ). – Nur nebenbei: Schellings „Philosophie der Offenbarung“ kann sowohl als der – indirekte – (gegen Mendelssohn gerichtete) Versuch des Nachweises verstanden werden, dass sich Spuren des Trinitätsgedankens auch im Alten Testament finden als auch (gegen Lessings „Cardanus“) als Erwiderung auf den gegen das Christentum gerichteten islamischen „Polytheismus“-Vorwurf, weil der „eine Gott“ – als Geist – eben doch nur „trinitarisch“ zu denken sei.  Indes, die Mendelssohn’sche Bestimmung der „fides“ klingt bei Kant (in ‚gnaden‘-orientierter Wandlung) auch noch in der Religionsschrift nach: „Die Vernunft lässt uns erstlich, in Ansehung des Mangels eigener Gerechtigkeit (die vor Gott gilt), nicht ganz ohne Trost. Sie sagt: dass, wer in einer wahrhaften der Pflicht ergebenen Gesinnung so viel, als in seinem Vermögen steht, tut, um (wenigstens in einer beständigen Annäherung zur vollständigen Angemessenheit mit dem Gesetze) seiner Verbindlichkeit ein Genüge zu leisten, hoffen dürfe, was nicht in seinem Vermögen steht, das werde von der höchsten Weisheit auf irgend eine Weise (welche die Gesinnung dieser beständigen Annäherung unwandelbar machen kann) ergänzt werden, ohne dass sie sich doch anmaßt, die Art zu bestimmen, und zu wissen, worin sie bestehe“ (RGV, AA 06: 171.20 – 29). Vgl. auch Kants Feststellung über den „praktischen Gebrauch moralischer Begriffe“, dass, „was den Trost betrifft, so führt ihn eine solche Gesinnung [die den „guten Lebenswandel“ leitet] für den, der sich ihrer bewusst ist, (als Trost und Hoffnung, nicht als Gewissheit) schon bei sich“ (RGV, AA 06: 76.15 – 17).  Auch in der späten ‚Logik‘ rekurrierte Kant in der Bestimmung des „Glaubens“ auf diese „fides“, worin freilich das „Vertrauen auf den Ewigen“ vernunftimmanent verblasst ist: „Fides ist eigentlich Treue in Pacto oder subjektives Zutrauen zu einander, dass einer dem andern sein Versprechen halten werde – Treue und Glauben. Das erste, wenn das Pactum gemacht ist; das zweite, wenn man es schließen soll.– Nach der Analogie ist die praktische Vernunft gleichsam der Promittent, der Mensch der Promissarius, das erwartete Gute aus der Tat das Promissum“ (Log, AA 09: 67 Anm.).

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moralische Gesetz verheißene (d. h. moralisch hinreichend legitimierte) „Endzweck“ und der dadurch „ethikotheologisch“ vermittelte Gott der „natürlichen Religion“ (des moralisch-gläubigen „Rechtschaffenen“) ist nunmehr der eigentliche Bezugspunkt („innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“)³⁸⁵ dieses „Vertrauens“.³⁸⁶ Dem entspricht freilich auch, dass Kant, gegenüber Mendelssohns Berufung auf die „Befehle des göttlichen Gesetzes“, auf der schlechthin durch nichts relativierbaren Autonomie der Moral insistierte, die er bekanntlich in anderen Kontexten entschieden gegen die „göttlichen Befehle“ (z. B. Abrahams Isaak-Opfer) zur Geltung gebracht hat.³⁸⁷ Ebendiesen prinzipien-orientierten Maßstäben bzw. der moralisch verankerten „Ordnung der Prinzipien“ und des „moralisch bestimmten Monotheismus“ genügte nach Kant freilich der Gottesbegriff der jüdischen Religion nicht und veranlasste ihn zu seiner sehr scharfen Polemik gegen die jüdische Religion, der er, wie erwähnt, im Grunde sogar den Status einer „Religion“ aberkennen wollte. Dies markiert zugleich auch eine wichtige Kritik an Lessings Sichtweise des Judentums, obgleich auch dessen einschlägige Stellungnahmen wohl nicht so ohne weiteres auf einen Nenner zu bringen sind.

5.1.3 Der Status der Ideen der „Unsterblichkeit“ und der „Heiligkeit“ – ein weiterer Kritikpunkt Kants an Lessing Aus ähnlichen Gründen stand Kant wohl auch Lessings Auffassung vom jüdischen Monotheismus skeptisch gegenüber, wonach das Volk Israel erst in der Zeit des Babylonischen Exils zum wahren Monotheismus gefunden habe – allerdings vornehmlich wegen der fehlenden moralischen Basis des Gottesglaubens und des fehlenden Unsterblichkeitsglaubens.³⁸⁸ Somit bestätige sich auch in dieser be-

 Kants Behauptung, „dass zwischen Vernunft und Schrift nicht bloß Verträglichkeit, sondern auch Einigkeit anzutreffen sei“ (RGV, AA 06: 13.1– 2), erscheint so in einem besonderen Licht.  Dies allein ist Kants Antwort auf die verzweifelte Frage Lessings: „Gott! Gott! worauf können Menschen einen Glauben gründen, durch den sie ewig glücklich zu werden hoffen!“ (XIII, 89)  Daran erinnert natürlich auch Kants Bemerkung: „Denn was meine Freiheit betrifft, so habe ich selbst in Ansehung der göttlichen, von mir durch bloße Vernunft erkennbaren Gesetze keine Verbindlichkeit, als nur so fern ich dazu selber habe meine Beistimmung geben können (denn durchs Freiheitsgesetz meiner eigenen Vernunft mache ich mir allererst einen Begriff vom göttlichen Willen).“ (ZeF, AA 08: 350, Anm.)  Die persische Religion wurde wegen der ‚Unsterblichkeit‘ von Lessing höher eingestuft als das Judentum (Erziehung §§ 35, 39, 42). (Diese religionsgeschichtlichen Bezüge und ihre Berechtigung können hier nicht verfolgt werden) – Bemerkenswert ist, dass Kant (im opus postumum) sich wiederholt sehr anerkennend auf „Zoroaster“ bezieht: „Zoroaster: das Ideal der physisch und zugleich moralisch praktischen Vernunft in einem Sinnenobjekt vereinigt“ (AA 21:

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sonderen Hinsicht lediglich der eindeutige Befund: „Da nun ohne Glauben an ein künftiges Leben gar keine Religion gedacht werden kann, so enthält das Judentum als ein solches, in seiner Reinigkeit genommen, gar keinen Religionsglauben“ (RGV, AA 06: 126.16 – 19).³⁸⁹ Bezüglich dieser von Kant für die „echte Religion“ geltend gemachten „Unsterblichkeitslehre“ bleibt darauf zu achten, dass diese Idee bei ihm an den Maßstab der moralischen Vervollkommnung gemäß der Annäherung an die „Heiligkeit“ gebunden ist bzw. diese voraussetzt. Ebendies sah er jedoch bekanntlich weder in der stoischen Ethik noch in der „jüdischen Religion“ gewährleistet, zumal im Grunde beiden auch diese Idee der „Heiligkeit“ (und somit auch die daran geknüpfte „Unsterblichkeitsidee“) ganz fremd geblieben sei und die jüdische Fixierung auf statutarische und kultische Observanzen dem geradewegs widerspreche. Dies macht deutlich, dass Kant zwar durchaus der Auffassung Lessings zugestimmt hat:³⁹⁰ „Denn ein anders ist die Unsterblichkeit der Seele, als eine philosophische Spekulation, vermuten, wünschen, glauben: ein anders, seine innern und äußern Handlungen darnach einrichten“;³⁹¹ gleichwohl ist die – eben an der „Idee der Heiligkeit“ orientierte –

4.16 – 17). In religionsgeschichtlicher Perspektive verdient diesbezüglich freilich auch das alte Ägypten Beachtung, von dem Lessing und Kant vermutlich nur recht wenig wussten.  Den Grund dafür formulierte Kant in seinem späteren Hinweis auf die personifizierte „Idee einer göttlichen Strafgerechtigkeit“; in der Tugendlehre der „Metaphysik der Sitten“ nahm er offenbar diese in der Idee der praktischen Vernunft liegende „Strafwürdigkeit“ noch einmal auf: „Das Verbrechen kann nicht ungerächt bleiben; […] geschieht’s nicht bei seinem Leben, so muss es in einem Leben nach dem Tode geschehen, welches ausdrücklich darum auch angenommen und gern geglaubt wird, damit der Anspruch der ewigen Gerechtigkeit ausgeglichen werde“ (MS, AA 06: 489.37– 490.5): denn des Menschen „Erdenleben, es sei kurz oder lang, oder gar ewig, ist nur das Dasein desselben in der Erscheinung und der Begriff der Gerechtigkeit bedarf keiner näheren Bestimmung; wie denn auch der Glaube an ein künftiges Leben eigentlich nicht vorausgeht, um die Strafgerechtigkeit an ihm ihre Wirkung sehen zu lassen, sondern vielmehr umgekehrt aus der Notwendigkeit der Bestrafung auf ein künftiges Leben die Folgerung gezogen wird“ (ebd, 490, Anm.). Hier klingt bei Kant der unauflösliche Zusammenhang zwischen dem Bewusstsein ‚moralischer Autonomie‘ und dem Unsterblichkeitsgedanken an, das mit dem Motiv der vollständigen „moralischen Selbsterkenntnis“ und dem damit einhergehenden ‚Gerichts‘Gedanken bzw. dem „Herzenskündiger“ eng verbunden ist.  Eine sachliche Übereinstimmung ist auch zu vermuten, sofern Lessings Verweis, dass eine „innere Reinigkeit des Herzens in Hinsicht auf ein anderes Leben zu empfehlen“ ihm zufolge allein Christus ‚vorbehalten‘ war (Erziehungsschrift § 61), doch auch an Kants These erinnert, dass die „Lehre des Christentums … einen Begriff des höchsten Guts (des Reichs Gottes)“ gebe, „der allein der strengsten Forderung der praktischen Vernunft ein Gnüge tut“ (KpV, AA 05: 127.17– 128.2).  Lessing, Die Erziehung § 60: XIII, 428. In seiner Schrift „Über die Elpistiker“ (aus der Breslauer Zeit) hat Lessing angemerkt: „Denn entweder man muss den Heiden alle Religion absprechen, oder man muss zugeben, dass sie ein künftiges Leben, eine künftige Belohnung und Strafe

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Stoßrichtung seiner Unsterblichkeits-Idee, die sich sowohl gegen die jüdische Religion als auch gegen die stoische Ethik wendet, davon unübersehbar verschieden. In sachlicher Hinsicht spricht auch vieles dafür, das kantische Postulat der „Unsterblichkeit der Seele“,³⁹² das sich vornehmlich an der Idee der „Heiligkeit“ und auch am „Fortschreiten“ zu diesem „moralischen Ideal“ orientiert, auch als eine direkte Absetzung von Lessings Vorstellung der „Seelenwanderung“³⁹³ bzw. der Wiedergeburt zu verstehen, der zufolge darin die notwendige „Läuterung“ im Sinne der Verwirklichung der „individualischen Möglichkeiten“ geschieht.³⁹⁴ Dieser Rekurs auf „idealische Vollkommenheiten“³⁹⁵ erinnert an Leibniz/Wolff: Bei Kant findet sich eine Verbindung der Leibnizschen Idee der fortschreitenden Vervollkommnung, allerdings im Sinne der Läuterung dieser „Idee der Vollkommenheit“ durch die „Heiligkeit“,³⁹⁶ die zugleich eine Kritik an Lessings Sympathie

geglaubt haben. Ohne diesen Glauben kann keine Religion bestehen“ (XIV, 310). In der Erziehungsschrift (§ 71) betonte Lessing hingegen, dass die „Unsterblichkeit der Seele … in dem zweiten bessern Elementarbuche als Offenbarung geprediget, nicht als Resultat menschlicher Schlüsse gelehret“ wird.  Hingewiesen sei lediglich darauf, dass der späte Kant diesen Glauben an ein „künftiges Leben“ als einen „Glauben von zweitem Rang“ bezeichnet hat: AA 19, 644. Indes wird in späteren religionsphilosophischen Texten Kants vor allem der „Gerichts“-Gedanke dominant, der die „Unsterblichkeit“ überdeckt.  Schilson sieht mit der „Seelenwanderungsvorstellung dem Tod sein ganzer Ernst und seine unleugbare Negativität genommen“ (Schilson 1974, 290). Die Postulatenlehre richtet sich gegen die Seelenwanderung, der zufolge der Mensch sein Leben eben so lange wiederholen muss, bis er seine „Vollkommenheit“ und Vollendung schließlich erreicht hat. Dass in der „vernünftigen Religion“ der Mensch „das Gute tun wird, weil es das Gute ist, nicht weil willkürliche Belohnungen darauf gesetzt sind“ (so heißt es im § 85 der Erziehungsschrift), ändert nach Kant nichts daran, dass „Moral unumgänglich zur Religion führt“, die mit dem darin bestimmenden ‚Gerichtsmotiv‘ eine gravierende Kritik an der „Seelenwanderung“ impliziert.  Vgl. §§ 94 ff seiner Erziehungsschrift.  „Wesen, welche Vollkommenheiten haben, sich ihrer Vollkommenheiten bewusst sind, und das Vermögen besitzen, ihnen gemäß zu handeln, heißen moralische Wesen, das ist solche, welche einem Gesetze folgen können“ – ebendies hätte Kant in Zweifel gezogen, ebenso die Folgerung daraus: „Dieses Gesetz ist aus ihrer eigenen Natur genommen, und kann kein anders sein, als: handle deinen individualischen Vollkommenheiten gemäß“ (Lessing, XIV, 178: Das Christentum der Vernunft § 26). Diese Orientierung an der moralischen „Vollkommenheit“ verkennt nach Kant wohl auch die Grenzen der menschlichen Natur und ihre „Gebrechlichkeit“, obgleich auch beim frühen Kant von der „Vollkommenheit der Freiheit“ die Rede ist, von der „Vollkommenheit eines Subjekts“, dessen „Zustand der Freiheit subordiniert sei“ (Refl. 6605: AA 19, 106).  Zu der hier nicht näher zu verfolgenden Idee der „Pflicht der eigenen Vollkommenheit“ als „physische, d.i. Kultur aller Vermögen überhaupt zu Beförderung der durch die Vernunft vorge-

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für ‚Seelenwanderungs‘-Konzeptionen impliziert³⁹⁷ und somit die Idee der personalen Identität als „moralischer Persönlichkeit“ betrifft. Alle „windige(n) Hypothesen von Erzeugung, Zerstörung und Palingenesie der Seelen“ (KrV, B 711) werden von Kant zurückgewiesen, weil sie den „regulativen“ Charakter dieser „psychologischen Idee“ verfehlen bzw. verkennen. Lessings Sympathie für das Motiv der „Seelenwanderung“,³⁹⁸ das mit ‚pantheistischen‘ Tendenzen und „Spinozism“ (EaD, AA 08: 335.33) im Zusammenhang steht,³⁹⁹ hat Kant also nicht geteilt; er hat sich dabei nüchternerweise mit der grenzbegrifflich eingeholten bzw. gerechtfertigten „moralisch-transzendenten Idee“ eines „jüngsten Gerichts“ und des Übergangs „aus der Zeit in die Ewigkeit“ begnügt. Kants Aufsatz „Das Ende aller Dinge“ und die darin bestimmende „Gerichts“-Vorstellung enthält geradezu eine radikale Kritik an der „Seelenwanderung“,⁴⁰⁰ zumal dies auch der legten Zwecke“ und der „Kultur der Moralität in uns“ (MS, AA 06: 392.20) bzw. der „Pflicht gegen sich selbst in Erhöhung seiner moralischen Vollkommenheit, d. h. in bloß sittlicher Absicht“: MS; AA 06: 446.10 – 11.  Dies ist offenbar auch gegen Lessing gesagt: „Es ist also zwischen der Stufenerhebung eben desselben Menschen, zu einer vollkommneren Organisation in einem andern Leben, und der Stufenleiter, welche man sich unter ganz verschiedenen Arten und Individuen eines Naturreichs denken mag, nicht die mindeste Ähnlichkeit. Hier lässt uns die Natur nichts anders sehen, als dass sie die Individuen der völligen Zerstörung überlasse, und nur die Art erhalte; dort aber verlangt man zu wissen, ob auch das Individuum vom Menschen seine Zerstörung hier auf Erden überleben werde, welches vielleicht aus moralischen, oder, wenn man will, metaphysischen Gründen, niemals aber nach irgend einer Analogie der sichtbaren Erzeugung geschlossen werden kann.“ (RezHerder, AA 08: 53.16 – 26)  „Mein System ist gewiss das älteste aller philosophischen Systeme. Denn es ist eigentlich nichts anderes als das System von der Seelenpräexistenz und Metempsychose, welches nicht allein schon Pythagoras und Plato, sondern vor ihnen Ägypter und Chaldäer und Perser, kurz alle Weisen des Ostens gedacht haben“ (XVI, 525). (Wie sich dazu jedoch beispielsweise die ägyptische Vorstellung des „Totengerichts“ verhält, sei hier nur als Frage angemerkt.)  K. Fischer warnt freilich davor, „das Gewicht, welches die Idee der Seelenwanderung bei Lessing hat, zu übertreiben und etwa gar die tragende Kraft seiner Weltansicht darin zu erblicken. Es bedarf keiner Palingenese, um in den Religionen die großen Erziehungsstufen der Menschheit zu erkennen und aus dieser Einsicht jene religiöse Lebensanschauung zu gewinnen, die sich über die gefesselten Glaubensformen erhebt und die Tugend wahrer Duldung erzeugt“ (Fischer 1881, 35).  Auch folgender Passus impliziert eine Kritik daran: „Am Menschen … sollten sich diejenigen Naturanlagen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind, nur in der Gattung, nicht aber im Individuum vollständig entwickeln … ein jeder Mensch [würde] unmäßig lange leben müssen, um zu lernen, wie er von allen seinen Naturanlagen einen vollständigen Gebrauch machen solle; oder wenn die Natur seine Lebensfrist nur kurz angesetzt hat (wie es wirklich geschehen ist), so bedarf sie vielleicht einer unabsehlichen Reihe von Zeugungen, deren eine der andern ihre Aufklärung überliefert, um endlich ihre Keime in unserer Gattung zu derjenigen Stufe der Entwicklung zu treiben, welche ihrer Absicht vollständig angemessen ist“ (IaG, AA 08: 18.29 – 19.10).

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II Zur indirekten Auseinandersetzung zwischen Lessing und Kant

„Anfang einer Fortdauer … als übersinnlicher, folglich nicht unter Zeitbedingungen stehender, Wesen ist“,⁴⁰¹ und diese Vorstellung eines „Endes aller Dinge“ sich allein am „moralischen Lauf der Dinge in der Welt“ (EaD, AA 08: 328.24) – an der im „ewigen Leben“ gedachten Übereinkunft von „Glückswürdigkeit“ und „Glückseligkeit“, verbunden mit einer „Gütigkeit, die der Gerechtigkeit nicht Abbruch tut“ (RGV, AA 06: 140. Anm.) – orientiert.⁴⁰² Die offenbar an der Vorstellung bzw. dem Imperativ der Vervollkommnung der „individualischen Vollkommenheiten“ orientierte Seelenwanderungs-Konzeption Lessings wird also durch die „Idee der Heiligkeit“ und die daran anknüpfende Idee der „Unsterblichkeit der Seele“ ersetzt,⁴⁰³ weil nur dies die gebotene Hoffnung auf „moralische Vervollkommnung“ erlaubt – eine Perspektive, die nicht zuletzt in Kants bemerkenswertem Hinweis darauf angezeigt ist, „wenn wir das ganz wären, oder einmal sein würden, was wir sein sollen und (in der beständigen Annäherung) sein könnten“ (RGV, AA 06: 196, Anm.). Jene „individualische Vollkommenheit“ zieht das Bedenken Kants auf sich, dass das Gute doch allein im „Grundsatz der Achtung für das moralische Gesetz“ begründet sein kann und so auf das „Paradoxon der Methode in einer Kritik der praktischen Vernunft“ verweist, dass „nämlich der Begriff des Guten und Bösen nicht vor dem moralischen Gesetze … , sondern nur … nach demselben und durch dasselbe bestimmt werden müsse“, d. h. „das Prinzip der Sittlichkeit ein reines apriori den Willen bestimmendes Gesetz sei“ (KpV, AA 05: 63. 5 – 6), dieser Wille also „reine Bestimmungsgründe apriori habe“ (KpV, AA 05: 63.8 – 9). Insofern impliziert Kants Moralphilosophie auch eine bedeutsame Kritik an Lessings Begriff der „idealischen Vollkommenheit“,⁴⁰⁴ weil auch der „Begriff der Vollkommenheit in

 Dies bezieht sich also – was mit Kants Lehre vom „intelligiblen Charakter“ eng zusammenhängt – allein auf den Menschen „seiner nicht sinnlichen Qualität“ (RGV, AA 06: 128 Anm.) nach, weshalb „Auferstehung und Himmelfahrt“ als „symbolische Darstellung“ der „Vernunftideen“ „den Anfang eines andern Lebens und Eingang in den Sitz der Seligkeit“ (ebd.) zum Ausdruck bringen und so auch der Vorstellung einer „Seelenwanderung“ widersprechen. Damit berührte Kant indirekt die klassische Kennzeichnung der „Ewigkeit“ durch Boethius: „Ewigkeit ist ganzer und zugleich vollkommener Besitz unbegrenzten Lebens“ (Consolatio philosophiae).  Im übrigen gelte es ganz grundsätzlich, sich darauf zu besinnen: „Wir wissen von der Zukunft nichts, und sollen auch nicht nach mehrerem forschen, als was mit den Triebfedern der Sittlichkeit und dem Zwecke derselben in vernunftmäßiger Verbindung steht“ (RGV, AA 06: 161 f. Anm.).  Das Motiv der unendlichen Annäherung an das „Ideal der Heiligkeit“ tritt an die Stelle der „Seelenwanderung“. Zu Lessings Nachweis, dass „die Hoffnung des zukünftigen Lebens … kein unterscheidendes Merkmal des Christentums“ war und „ohne Hoffnung … keine Religion gedacht werden“ könne, s. ders., Über die Elpistiker: XIV, 298.  Zur Kritik des Begriffs der „Vollkommenheit“ auch schon BDG, AA02: 90.14 ff.

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praktischer Bedeutung“, als „Beschaffenheit des Menschen“, Kant zufolge nicht „ein Zweck, … als Objekt, welches vor der Willensbestimmung durch eine praktische Regel vorhergehen … muss“, sein kann, d. h. „niemals zum reinen Vernunftprinzip der Sittenlehre und der Pflicht“ dient, sofern „alle hier aufgestellten Prinzipien material“ und als solche folglich auch für die Begründung der Moralität „ganz untauglich sind“. Das „formale praktische Prinzip der reinen Vernunft“ sei vielmehr „das einzige mögliche … , welches zu kategorischen Imperativen … und überhaupt zum Prinzip der Sittlichkeit, sowohl in der Beurteilung, als auch der Anwendung auf den menschlichen Willen, in Bestimmung desselben, tauglich ist“ (KpV, AA 05: 41.34– 38). Gegen ein einschlägiges Missverständnis – und insofern wohl ebenfalls gegen Lessing – richtet sich auch Kants in der Tat klärende Reflexion 6454,⁴⁰⁵ die nochmals – gegenüber drohenden Missverständnissen – erläutert, in welcher besonderen Hinsicht Kant die „Unsterblichkeits-Idee“ für die Religion als unumgänglich ansah:⁴⁰⁶ „Das moralische Bedürfnis, ein höchstes moralisches Gut anzunehmen, ist nicht ein (pathologisch) bedingtes, um […] zu den guten Handlungen, welche das moralische Gesetz gebietet, noch Triebfedern der Selbstliebe zu haben; denn es ist ein moralisches Bedürfnis, selbst einen gerechten Richter, also nicht ein Wesen, von dessen Güte wir hoffen, sondern dessen Heiligkeit wir fürchten müssen, anzunehmen. Selbst der Gedanke davon ist bei der Ungewissheit der Reinigkeit seiner Handlungen mehr furchtbar als […] anlockend. – Aber für unsere gesetzgebende Vernunft, wenn wir nicht einmal uns selbst als unter Gesetzen stehend, sondern als nach moralischen Gesetzen das höchste Gut[⁴⁰⁷] für die Welt entwerfend vorstellen, wird ein jeder wollen [d. h. nicht bloß wünschen, sondern eben durchaus einer „unparteiischen Vernunft“ folgend], dass Tugend glücklich und Laster bestraft werde.[⁴⁰⁸] Dieser Wunsch ist

 AA 18, 724 ff; datiert für 1791– 95.  „So glaubt er, dass dem Judentum der ursprünglich vorhanden gewesene Glaube an Himmel und Hölle abhanden gekommen sei, weil der Gesetzgeber dieses Volkes nur ein politisches, nicht ein ethisches Gemeinwesen habe gründen wollen. Er habe deshalb nicht von jenseitigen Belohnungen und Strafen gesprochen, sondern nur von hier sichtbaren (Vergeltung an den Nachkommen). Und andererseits schreibt Kant den Indern einen ursprünglichen Monotheismus zu, der später der Vielgötterei Platz gemacht habe“ (Glasenapp 1954, 164 f.). Diese religionsgeschichtlichen Aspekte sind hier nicht zu verfolgen.  Kants eigene Differenzierung der Idee des „höchsten Gutes“ lässt sich in ihren religionsgeschichtlichen Bezügen am Leitfaden dieser „historischen Glaubensarten“ rekonstruieren, worin sich das Verhältnis der „Geschichte der menschlichen Vernunft“ und der „Geschichte der reinen Vernunft“ widerspiegelt.  „Die andere (intellektuale) Welt ist eigentlich die, wo die Glückseligkeit genau mit der Sittlichkeit zusammenstimmt: Himmel und Hölle […] Die andere Welt ist ein notwendig moralisches

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II Zur indirekten Auseinandersetzung zwischen Lessing und Kant

allein rein moralisch, nicht im mindesten selbstsüchtig und für den vernünftigen Menschen unvermeidlich, und der macht es zur Notwendigkeit, einen lebendigen Gott als moralischen Welturheber und Regierer anzunehmen, so fern wir unsere Idee der Welt nicht auf Theorie, sondern auf unsere praktische Bestimmung beziehen“.⁴⁰⁹ Aus den genannten Gründen hätte Kant Lessings Rückverweis auf das „erste Elementarbuch“ jedenfalls zurückgewiesen – und nicht zuletzt hätte er auch die Charakterisierung des Christentums als „Glückseligkeitsreligion“ als verfehlt angesehen.⁴¹⁰ Wie gesagt: Kants Idee des „jüngsten Gerichts“ und seine

Ideal“ (Refl. 6838: AA 19: 176, aus der Zeit 1776 – 1778; vgl. Refl. 6206, AA 18: 490). Kant hat die absolute Scheidung von „Hölle und Himmel“ vertreten und diese „symbolische Vorstellung“ offenbar auch gegen Lessings Kritik an einem „abgeschmackte(n) und sinnlose(n) Begriffe von der Beschaffenheit dieser Hölle“ (AA 18, 86) verteidigt: „Es ist eine Eigentümlichkeit der christlichen Moral: das Sittlich-Gute vom Sittlich-Bösen nicht wie den Himmel von der Erde, sondern wie den Himmel von der Hölle unterschieden vorzustellen; eine Vorstellung, die zwar bildlich und als solche empörend, nichts destoweniger aber ihrem Sinn nach philosophisch richtig ist. – Sie dient nämlich dazu, zu verhüten: dass das Gute und Böse, das Reich des Lichts und das Reich der Finsternis, nicht als an einander grenzend und durch allmähliche Stufen (der größern und mindern Helligkeit) sich ineinander verlierend gedacht, sondern durch eine unermessliche Kluft voneinander getrennt vorgestellt werde. Die gänzliche Ungleichartigkeit der Grundsätze, mit denen man unter einem oder dem andern dieser zwei Reiche Untertan sein kann, und zugleich die Gefahr, die mit der Einbildung von einer nahen Verwandtschaft der Eigenschaften, die zu einem oder dem andern qualifizieren, verbunden ist, berechtigen zu dieser Vorstellungsart, die bei dem Schauderhaften, das sie in sich enthält, zugleich sehr erhaben ist“ (RGV, AA 06:60, Anm.).  Kants „moralischer Beweis“ (§ 87 u. 88 der „Kritik der Urteilskraft“) liest sich wie eine Antwort auf den § 28 der „Erziehungsschrift“: „Denn wenn schon aus der ungleichen Austeilung der Güter dieses Lebens, bei der auf Tugend und Laster so wenig Rücksicht genommen zu sein scheinet, eben nicht der strengste Beweis für die Unsterblichkeit der Seele und für ein anders Leben, in welchem jener Knoten sich auflöse, zu führen: so ist doch wohl gewiss, dass der menschliche Verstand ohne jenen Knoten noch lange nicht – und vielleicht auch nie – auf bessere und strengere Beweise gekommen wäre. Denn was sollte ihn antreiben können, diese bessern Beweise zu suchen? Die bloße Neugierde?“ Jener „Knoten“ enthält wohl eine mögliche Anknüpfung an Kants Postulatenlehre.  Von Leibniz ist auch Lessings Unsterblichkeits-Kritik inspiriert. Leibniz hatte in seiner späten Schrift über „Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade“ (Nr. 18, Schluss) betont: „Aber freilich kann die höchste Glückseligkeit, von was immer für einem beseligenden Schauen oder Erkennen Gottes sie begleitet sein mag, niemals vollständig sein, weil Gott unendlich ist und nicht ganz erkannt werden kann. So wird unser Glück niemals in einem vollen Genusse bestehen (und darf nicht darin bestehen), wo es nichts weiter zu wünschen gäbe und unser Geist stumpf gemacht würde. Und es soll auch nicht darin bestehen, sondern in einem immerwährenden Fortschritt zu neuen Freuden und zu neuen Vollkommenheiten“. Unschwer ist dieses Motiv in Lessings Polemik wiederzufinden, die Jacobi plausibel so charakterisiert: „Mit der Idee eines persönlichen schlechterdings unendlichen Wesens, in dem unveränderlichen Genusse seiner allerhöchsten Vollkommenheit, konnte sich Lessing nicht vertragen. Er verknüpfte mit derselben eine solche

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Interpretation des „Endes aller Dinge“ impliziert auch eine Kritik an Lessings Konzept der „Seelenwanderung“. Leitend für die kantische Idee des „jüngsten Gerichts“ ist dabei die (auch mit der „Seelenwanderung“ unverträgliche) Vorstellung, dass der Mensch sich wird „keinen andern Zustand zu seiner Überführung denken können, als dass ihm sein ganzes Leben dereinst werde vor Augen gestellt werden, nicht bloß ein Abschnitt desselben, vielleicht der letzte, und für ihn noch günstigste“ (RGV, AA 06: 77.12 – 15).⁴¹¹

5.2 Zu Kants Kritik am Islam – mit Blick auf Lessing⁴¹² Auch Lessings indirekte Einschätzung bzw. Würdigung des Islam⁴¹³ als einer universalistischen und humanistischen Religion in seinem „Nathan“⁴¹⁴ musste bei Kant Unverständnis hervorrufen.⁴¹⁵ Vom Islam bleibe doch gleichermaßen zu

Vorstellung von unendlicher Langeweile, dass ihm angst und weh dabei wurde“ (so wird Jacobi von Nisbet 2008, 761 zitiert).  Damit wandte Kant sich gegen eine Interpretation der zeitgleich erschienenen Lessing‘schen Erziehungsschrift, die dahin weist: „Als genuin geschichtsphilosophischer Entwurf erscheint die Schrift in dem Moment, in dem man das Ziel in den Raum der Geschichte verlegt, es nicht transzendent (als Jüngstes Gericht, Jenseits, religiöses Heil, etc.), sondern immanent bestimmt (z. B. als Humanitätsreligion,Verwirklichung der Universalvernunft).“ (Fick 476) Den angeblich in der „Erziehungsschrift“ vollzogenen Emanzipations-Schritt hätte Kant nicht mitvollzogen: „Die neue Religionsstufe ist nun dadurch charakterisiert, dass diese Spaltung [zwischen Diesseits und Jenseits, charakteristisch für das Christentum] überwunden wird. Das Jenseits soll sich bereits im Diesseits verwirklichen“ (Fick 482). Dagegen steht auch Kants Reich-Gottes-Idee und seine Differenzierung des „höchsten Gutes“ als kritische Antwort.  S. dazu auch die Berliner Dissertation von Zahim Mohammed Muslim 2010 und Horsch 2004. Zweifellos: „Lessings jahrzehntelange Auseinandersetzung mit dem Islam und dem Christentum war eine intellektuelle, die auf die Wahrheitsfrage zielte“ (Vollhardt 2018, 18).  Lessing verteidigte auch Mohammed gegen damals weit verbreitete Attacken: „Wir haben nicht eher eine aufrichtige Kenntnis davon erhalten, als durch die Werke eines Reland und Sale; aus welchen man am meisten erkannt hat, dass Mahomet eben kein so unsinniger Betrieger, und seine Religion eben kein bloßes Gewebe übel an einander hängender Ungereimtheiten und Verfälschungen sei“ (V, 325). Auch Guthke betont: „Von früh bis spät … hat Lessing sich ganz besonders verdient gemacht um die ethische und religiöse Anerkennung des Islam als einer, wie er sagt, ‚aufgeklärten‘ Hochkultur, nicht ohne Seitenblick auf christliche Intoleranz“ (Guthke 26).  M. Fick geht in ihrem Vortrag „Lessings Nathan der Weise und das Bild vom Orient und Islam in Theatertexten aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts“ der Frage nach: „Was bedeutet es, dass Lessing in Nathan dem Weisen den Propheten Mohammed, den Stifter und ›Gesetzgeber‹ des Islam, komplett unerwähnt lässt?“ (1)  Kant verfügte noch über keine differenzierte Einschätzung des Judentums und des Islam; seither zu beobachtende – aufklärungs-orientierte – islam-immanente Entwicklungen sind im

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sagen,⁴¹⁶ dass darin – verkehrterweise – die Religion als Grundlage der Moral fungiere. Die gebotene „Stürzung des alle moralische Gesinnung verdrängenden Zeremonialglaubens“ (RGV, AA 06: 81, Anm.) und die Kritik der „unmoralischen Hülfsmittel der Religionsobservanzen“⁴¹⁷ richtete sich infolgedessen auch gegen den Islam, der den Anforderungen des „moralisch bestimmten Monotheismus“ keinesfalls genügt. Zu den als „Gnadenmittel“ ausgedachten „gewissen Gebräuchen“, die indes nicht (wie im Christentum) „auf praktische Vernunftbegriffe und ihnen gemäße Gesinnungen [zu] beziehen“ sind, zählte Kant auch die „fünf großen Gebote“ der „mohammedanischen Glaubensart“. Die abergläubische Vorstellung von „Gnadenwirkungen“ sei auch darin nicht zu übersehen, die Kant als (aufklärungs-widrige) Beispiele des „Fetischglaubens“ verwarf: „Und so hat sich der Mensch in allen öffentlichen Glaubensarten gewisse Gebräuche als Gnadenmittel ausgedacht, ob sie gleich sich nicht in allen, so wie in der christlichen auf praktische Vernunftbegriffe und ihnen gemäße Gesinnungen beziehen (als z. B. in der muhammedanischen von den fünf großen Geboten, das Waschen[⁴¹⁸], das Beten, das Fasten, das Almosengeben, die Wallfahrt nach Mekka; wovon das Almosengeben allein ausgenommen zu werden verdienen würde, wenn es aus wahrer tugendhafter und zugleich religiöser Gesinnung für Menschenpflicht geschähe und so auch wohl wirklich für ein Gnadenmittel gehalten zu werden verdienen würde: da es hingegen, weil es nach diesem Glauben gar wohl mit der Erpressung dessen, was man in der Person der Armen Gott zum Opfer darbietet, von Andern zusammen bestehen kann, nicht ausgenommen zu werden verdient)“ (RGV, AA 06: 193. 33 – 194.8). Jene „muhammedanischen Gebräuche“ gehören nach Kant deshalb ebenso zum – der „Religion des guten Lebenswan-

gegenwärtigen Diskurs freilich zu berücksichtigen, zumal es ‚den‘ Islam ja auch gar nicht gibt (und diesbezüglich natürlich auch die verschiedenen „Rechtsschulen“ zu berücksichtigen sind). Um ein angemessenes und hinreichend differenziertes Bild vom Islam, das klischee-hafte Verzerrungen vermeidet und dem „islamic newthinking“ gebührend Rechnung trägt, bemüht sich die material-reiche Studie von Cavallar 2017. Denn: „Eine islamische Aufklärung in diesem Sinne ist schon längst im Gang.“ (ebd. 142)  Dabei stehen in der Tat die „Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Offenbarung und die Toleranz-Thematik“ (Horsch 2004, 4) im Vordergrund des Interesses von Lessings Beschäftigung mit dem Islam.  AA 19: 238. Denn: „Es gibt keine besondere Pflichten gegen Gott in einer allgemeinen Religion; denn Gott kann von uns nichts empfangen; wir können auf und für ihn nicht wirken.“ (RGV, AA 06: 154 Anm.)  Ob diese Einschätzung Kants historisch ganz korrekt ist, bleibe hier dahingestellt.

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dels“ eher hinderlichen – Kram „statutarischer Observanzen“,⁴¹⁹ zumal auch im Islam als „das oberst verbindende Prinzip“ „die gehorsame Unterwerfung unter eine Satzung als Frohndienst“ noch weit verbreitet sei. Denn „wenn sie für unbedingt notwendig erklärt werden, so ist das immer ein Fetischglauben, durch den die Menge regiert und durch den Gehorsam unter eine Kirche (nicht der Religion) ihrer moralischen Freiheit beraubt wird“ (RGV, AA 06: 180.9 – 12).⁴²⁰ Auch im Islam erblickte Kant demnach offenbar lediglich ein heilloses Gemisch aus allgemeinen moralischen Unterweisungen und der Anweisung „statutarischer Observanzen“. Jenen Vorwurf eines bloß „mechanischen Kultus“ (s.o. II., 5.1.1.)⁴²¹ und einer weithin vorherrschenden autonomie-fernen ‚geistigen‘ (und sogar fanatischen) „Knechtschaft“ hätte Kant⁴²² deshalb wohl auch gegen den Islam erhoben;⁴²³ ebenso hätte er darin „Religionswahn“ und „Afterdienst“ ge-

 Kant gibt die Ansicht wieder, dass nach Medina und Mekka „unmuhammedanische Europäer gar nicht kommen dürfen, weil der Meinung der Muhammedaner zufolge die heilige Luft durch sie würde vergiftet werden“ (PG, AA 09: 228.13 – 15).  Die islamische Vorstellung, das moralisch ‚Gute‘ sei gut, nicht weil es ‚in sich gut‘ ist, sondern sich der Autorität als göttlicher ‚Satzung‘ verdankt, hätte Kant entschieden zurückgewiesen, wie schon seine berühmten Eröffnungssätze der Religionsschrift zeigen: „Die Moral, so fern sie auf dem Begriffe des Menschen als eines freien, eben darum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindenden Wesens gegründet ist, bedarf weder der Idee eines andern Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten. Wenigstens ist es seine eigene Schuld, wenn sich ein solches Bedürfnis an ihm vorfindet, dem aber alsdann auch durch nichts anders abgeholfen werden kann: weil, was nicht aus ihm selbst und seiner Freiheit entspringt, keinen Ersatz für den Mangel seiner Moralität abgibt“ (RGV, AA 06: 3.3 – 11).  „Ob der Andächtler seinen statutenmäßigen Gang zur Kirche, oder ob er eine Wallfahrt nach den Heiligtümern in Loretto oder Palästina anstellt, ob er seine Gebetsformeln mit den Lippen, oder wie der Tibetaner … , es durch ein Gebet-Rad an die himmlische Behörde bringt, oder was für ein Surrogat des moralischen Dienstes Gottes es auch immer sein mag, das ist alles einerlei und von gleichem Wert“ (RGV, AA 06: 173.3 – 12) – nämlich im Gegensatz zu den ‚moralischen Vernunftprinzipien‘.  Eine – grundsätzlich an Kant orientierte – zeitgenössische Beurteilung des Islam müsste freilich den zahlreichen immanenten Differenzierungen desselben gebührend Rechnung tragen, nicht zuletzt mit Blick auf die klärungsbedürftige Frage, ob und wie weit er den Maßstäben der Aufklärung genügt; s. dazu Cavallar 2017.  In seinem frühen „Versuch über die Krankheiten des Kopfes“ rückte Kant den Islam gar in die Nähe von „Phantasten“ und „Fanatikern“ und deren „Verrücktheit“: „Die Schwärmerei führet den Begeisterten auf das Äußerste, den Mahomet auf den Fürstenthron“ (VKK, AA 02: 267. 19 – 20); ein „Verrückter von einer vermeinten unmittelbaren Eingebung“, und „einer großen Vertraulichkeit mit den Mächten des Himmels“ (ebd.), das ein „gefährliches Blendwerk“ darstelle.

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sehen,⁴²⁴ der in dem „Bekenntnis statutarischer Glaubenssätze, durch Beobachtung kirchlicher Observanz und Zucht u.d.g.“ (RGV, AA06: 174. 33 – 34) in bloß unterwürfiger „Verehrung“ Allahs in Erscheinung tritt und deshalb mit dieser ‚theokratischen‘ Vorherrschaft der „wahren Aufklärung“ notwendig widerspricht:⁴²⁵ Kants Kritik an den vermeintlichen „gottesdienstlichen“ „Aufopferungen“ wie „Büßungen, Kasteiungen, Wallfahrten u.d.g. )“ (RGV, AA 06: 169.14– 15), die eine völlige „Unterwerfung unter seinen [Gottes] Willen“ zu bekunden scheinen, ist deshalb wohl ebenfalls direkt auf den Islam bezogen: „Je unnützer solche Selbstpeinigungen sind, je weniger sie auf die allgemeine moralische Besserung des Menschen abgezweckt sind, desto heiliger scheinen sie zu sein: weil sie eben darum, daß sie in der Welt zu gar nichts nutzen, aber doch Mühe kosten, lediglich zur Bezeugung der Ergebenheit gegen Gott [!]⁴²⁶ abgezweckt zu sein scheinen.“ (RGV, AA 06: 169.17– 22) In (durchaus Leibniz-naher) Abkehr vom „Afterdienst“ des „Fetischmachens“ und von „Idololatrie“ (RGV, AA 06: 185.8) besteht demgegenüber allein im Rekurs auf die „moralische Gesinnung“, auf den „guten Lebenswandel“, „die wahre Aufklärung; der Dienst Gottes wird dadurch allererst ein freier, mithin moralischer Dienst“ (RGV, AA 06: 179.6 – 7).⁴²⁷ Demge-

 Denn es ist „alles, was außer dem guten Lebenswandel, der Mensch noch tun zu können vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden, […] bloßer Religionswahn und Afterdienst Gottes“ (RGV, AA 06.170.16 – 19). Geboten sei also die unnachgiebige Unterscheidung zwischen „Afterdienst“ und „moralischem Dienst“. „Unter einem Afterdienst … wird die Überredung jemanden durch solche Handlungen zu dienen verstanden, die in der Tat dieses seine Absicht rückgängig zu machen. Das geschieht aber in einem gemeinen Wesen dadurch, dass, was nur den Wert eines Mittels hat, um dem Willen eines Oberen Genüge zu tun, für dasjenige ausgegeben und an die Stelle dessen gesetzt wird, was uns ihm unmittelbar wohlgefällig mache; wodurch dann die Absicht des letzteren vereitelt wird“ (RGV, AA 06: 153.18 – 25). Dieses energische Urteil ist offensichtlich gleichermaßen auf das Judentum und auf den Islam gemünzt.  Kant steht damit auch in direktem Gegensatz zu Reimarus, auf dessen Fragmente Lessing offenbar zustimmend Bezug nimmt: „Ich getraute mir, wenn dieses mein Hauptabsehen wäre, das vornehmste der natürlichen Religion aus dem Alkoran gar deutlich und zum Teile gar schön ausgedruckt darzutun, und glaube, dass ich bei Verständigen leicht darin Beifall finden werde, dass fast alles wesentliche im Mahomets Lehre auf natürliche Religion hinauslaufe“ (XII, 268). S. dazu allerdings die Frage Horschs, s.u. II., Anm.450.  Ob Kant – wie diese Wendung doch vermuten lässt – die Bedeutung des Terminus ‚Islam‘ geläufig war, lässt sich nicht eruieren. Gegenüber der arabischen Ausprägung des Islam würdigte er jedenfalls die „Perser“ als „nicht so strenge Befolger des Islam“ und auch deren ‚mildere‘ Auslegung des Koran (GSE, AA 02: 252.4– 15), s.u. II., Anm. 223.  Es ist die verweigerte Einsicht, dass nicht „Feierlichkeiten, Glaubensbekenntnisse geoffenbarter Gesetze und Beobachtung der zur Form der Kirche (die doch selbst bloß Mittel ist) gehörigen Vorschriften“ (RGV, AA 06: 106.17– 19) „überhaupt verbindend betrachtet werden“ können (RGV, AA 06: 104.33), die dem Fortschritt im Wege steht, dessen alleiniges Ziel die Ausbildung des „reinen moralischen Religionsglaubens“ sein muss.

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mäß setzte Kant – als Zielvorstellung – den in der „moralischen Empfänglichkeit“ begründeten „seligmachenden Glauben“, der „bei aller Verschiedenheit des Kirchenglaubens doch in jedem angetroffen werden“ kann, „in welchem er sich auf sein Ziel, den reinen Religionsglauben, beziehend, praktisch ist“ (RGV, AA 06: 115. 29 – 30).⁴²⁸ Kants Kritik an dem von autonomie-widrigen Vorschriften⁴²⁹ und kultischen Observanzen besetzten Lebenswandel des „Muhammedaners“ führt so erneut vor Augen, dass die Berufung auf den „Monotheismus“ allein keinesfalls genügt, zumal der Maßstab eines „Monotheismus moralis“ allein als Kriterium angemessen sei,⁴³⁰ für den jene heidnische Elemente ebenso unverträglich sind; aber auch der „mohammedanische Stolz“, der „an den Siegen und der Unterjochung vieler Völker die Bestätigung seines Glaubens findet“ (RGV, AA 06: 184, Anm.), stellt natürlich keine mit Humanität verträgliche Haltung dar.⁴³¹ Indes, eine gewisse Würdigung zeigt Kants Anerkennung des im Islam herausgestellten Motivs der „Einheit Gottes und dessen übersinnlicher Natur“,⁴³² das für sich genommen jedoch dem Vorwurf des Heidentums ebenfalls nicht entgeht: „Diese merkwürdige Erscheinung (des Stolzes eines unwissenden, obgleich verständigen Volks

 Auf diese Weise hätte Kant also jene Frage des Sultans beantwortet: „Was für ein Glaube, was für ein Gesetz hat dir am meisten eingeleuchtet? […] Von diesen drei Religionen kann doch eine nur die wahre sein“ (Nathan: v. 1844). Diese Frage des „vernünftigen Mannes“ Saladin ist keineswegs „falsch gestellt“ (so Fuhrmann 66 f.).  Natürlich muss diesbezüglich nach Kant auch die Diskussion und Problematisierung der ‚Scharia‘ (und ihrer Auslegungen) eine besondere moral- und rechtsphilosophische Herausforderung bedeuten.  Auch der Islam genügt nach Kant nicht den Kriterien des „moralischen Monotheismus“, weshalb er auch nicht die Einschätzung geteilt hätte: „Was Lessing jedoch am meisten am Islam schätzt, ist die Toleranz anderen Religionen gegenüber und die Nähe zur natürlichen Religion, und zwar vor allem zu ihrer unitarischen Gottesvorstellung“ (Nisbet 2008, 794). Jedoch auch Lessings Konzeption der „natürlichen Religion“, die er „positiver dargestellt“ habe „als die Offenbarungsreligionen“ (ebd. 795), hätte Kant aus den genannten Gründen wohl kaum akzeptiert.  Dies gilt natürlich auch für den – selbst gewissenlosen – muslimischen „Ketzerrichter“ (und ebenso für die Gestalt des Patriarchen in Lessings „Nathan“), „der an der Alleinigkeit seines statutarischen Glaubens bis allenfalls zum Märtyrertume fest hängt, und der einen des Unglaubens verklagten sogenannten Ketzer (sonst guten Bürger) zu richten hat“ und der meint, dass „ein übernatürlich-geoffenbarter göttlicher Wille (vielleicht nach dem Spruch: compellite intrare) es ihm erlaubt, wo nicht gar zur Pflicht macht, den vermeinten Unglauben zusamt den Ungläubigen auszurotten.“ (RGV, AA 06: 186.21– 33)  Kant hat dies als „Grundwahrheit“ durchaus positiv beurteilt: „Die große Lehre des Koran ist die Einheit Gottes. Als eine Grundwahrheit wurde durch ihn [Mohammed] wiederbelebt, dass es niemals mehr als eine wahre Religion gegeben hat und niemals eine andere geben wird“ (dies zitiert Fick [490] aus dem „Preliminary Discourse“ der englischen Übersetzung des Koran von G. Sale). Dies ist nach Kant jedoch eben die „christliche Religion“ als „natürliche Religion“.

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auf seinen Glauben) kann auch von Einbildung des Stifters herrühren, als habe er den Begriff der Einheit Gottes und dessen übersinnlicher Natur allein in der Welt wiederum erneuert, der freilich eine Veredlung seines Volks durch Befreiung vom Bilderdienst und der Anarchie der Vielgötterei sein würde, wenn jener sich dieses Verdienst mit Recht zuschreiben könnte“ (RGV, AA 06: 184 Anm.).⁴³³ Dies kann zwar als kritische Warnung vor einem Rückfall in ein nicht-monotheistisches Gottesverständnis verstanden werden und indiziert so hinsichtlich der „Einheit und Einzigkeit“⁴³⁴ Gottes auch eine Übereinstimmung des Islam mit dem „Monotheismus“; es reicht dies nach Kant jedoch nicht aus, um dem Anspruch des „moralisch bestimmten Monotheismus“ zu genügen. Dies markiert einen wesentlichen Unterschied zu Lessings Würdigung des Islam,⁴³⁵ die deshalb auch nicht den Maßstäben der „natürlichen Religion“ entspricht.⁴³⁶ Da seit „der Zeit  Dies ist „eine andere oder ergänzende Erklärung für diesen merkwürdigen Stolz ‚eines unwissenden, obgleich verständigen Volks auf seinen Glauben‘“ (M. Albrecht, Art. Mahomedaner, Mohammedaner, in: Kant-Lexikon 1451). Allerdings bezweifelte Kant offenbar dieses bloß „eingebildete“ Verdienst Mohammeds.  Lessings späte Bemerkung zur Trinität darf doch auch als ein kritisches Bedenken gegen die islamische Polemik gelesen werden, sie steht jedenfalls in einer unübersehbaren Spannung zu seiner Islam-Sympathie: „Wie, wenn diese Lehre [von der Trinität] den menschlichen Verstand … nur auf den Weg bringen sollte, zu erkennen, dass Gott in dem Verstande, in welchem endliche Dinge eins sind, unmöglich eins sein könne; dass auch seine Einheit eine transcendentale Einheit sein müsse, welche eine Art von Mehrheit nicht ausschließt?“ (§ 73 der Erziehungsschrift: XIII, 430) Lessings Annäherung an die Trinität (die natürlich auch den Einfluss griechischer-‚neuplatonisierender‘ Theorie-Elemente vermuten lässt) weckt doch auch Assoziationen zu Hegels Bestimmung der Trinität. Sein Verweis (§ 73 der Erziehungsschrift) auf die „Verdoppelung meines Selbstseins“, der eine „ähnliche Verdoppelung in Gott“ erkennen möchte und dies „in der populär gemachten Idee“ „eines Sohnes, den Gott von Ewigkeit zeugt“, benannt sieht, verweist gewissermaßen auf Hegel: „Gott ist dies: sich von sich selbst zu unterscheiden, sich Gegenstand zu sein, aber in diesem Unterschiede schlechthin mit sich identisch zu sein – der Geist.“ (Hegel 17, 187) „Gott erzeugt ewig seinen Sohn, Gott unterscheidet sich von sich […]: er tut dies und ist in dem gesetzten Anderen schlechthin bei sich selbst (die Form der Liebe)“ (ebd. 223). Lessing und Hegel gemeinsam ist diesbezüglich offenbar die Orientierung an den Logos-Spekulationen der Kirchenväter.  Sie tritt schon früh zutage: „Seit dem Verfalle des römischen Reichs, verdient wohl die Geschichte keines einzigen Volkes mit mehrerm Recht bekannt zu sein, als die Geschichte der arabischen Muselmänner; sowohl in Betrachtung der großen Leute welche unter ihnen aufgestanden sind, […], als in Ansehung der Künste und Wissenschaften, welche ganze Jahrhunderte hindurch den schönsten Fortgang unter einem Volke genossen, welches uns unsre Vorurteile gemeiniglich als ein barbarisches Volk betrachten lassen.“ (So heißt es in Lessings angekündigter Übersetzung von Marignys „Historie der Araber zur Zeit der Kalifen“: V, 153)  Dass „die Vernunftgemäßheit des Islam auch Lessings eigene Überzeugung war“ (Kuschel 2011, 122), ist zweifellos plausibel; gerade diese Überzeugung teilte Kant jedoch offenbar nicht. Die in der Tradition des Islam jedenfalls vielfach beanspruchte „Autorität der Vernunft“ und die

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des Evangelii“ die Grundlagen derselben offenbar sind, bedarf es auch keiner Ergänzung bzw. Korrektur derselben; die ‚islamische‘ Reminiszenz an die „Einheit und Einzigkeit“ Gottes sei deshalb bestenfalls eine kritische Erinnerung an nicht Preiszugebendes, aber eben nicht mehr. In dieser mahnenden Vergegenwärtigung des strengen „Monotheismus“ erschöpft sich nach Kant demnach der Beitrag des Islam zum religionsgeschichtlichen Lernprozess der „historischen Glaubensarten“. Dem vom Islam beanspruchten „Ruf nach der Vernunft“ stehen ihm zufolge hingegen besonders die ungetilgte ‚sittliche Heteronomie‘ und der unbewältigte „Zeremonialglaube“ im Wege – beides ist mit seiner ‚monotheistischen‘ Konzeption unvereinbar. Auch auf den Islam hätte Kant deshalb (aufgrund der fehlenden „moralischen Vernunftprinzipien“: KrV, B 846)⁴³⁷ wohl sein Bedenken ausgedehnt, dass diesem sein „Monotheism nicht so hoch anzurechnen sei“ (s.o. II., Anm. 360): Theokratie-kritische moralische Autonomie erweist sich erneut als das schlechthin entscheidende Kriterium „wahrer Aufklärung“ in der abwägenden Beurteilung der Religionen, dem also auch der Islam nicht genügt. Dass Kant ausschließlich dem Christentum das Vorrecht einräumen wollte, in buchstäblich „prinzipieller Hinsicht“ den moralischen Maßstäben der Idee einer „natürlichen Religion“ zu genügen, macht ein Passus aus dem späten „Streit der Fakultäten“ besonders deutlich, der anderen Religionen – explizit auch dem Islam – diese ‚universalistische‘ Qualifikation ausdrücklich abspricht: „Heidentum (Paganismus) ist der Worterklärung nach der religiöse Aberglaube des Volks in Wäldern (Heiden), d. i. einer Menge, deren Religionsglaube noch ohne alle kirchliche Verfassung, mithin ohne öffentliches Gesetz ist. Juden aber, Mohammedaner und Indier halten das für kein Gesetz, was nicht das ihrige ist, und benennen andere Völker, die nicht eben dieselbe kirchliche Observanzen haben, mit dem Titel der Verwerfung (Goj, Dschaur etc.), nämlich der Ungläubigen“ (SF, AA 07: 50 Anm.). Dies wäre wohl auch Kants Antwort auf die an den „weisen Nathan“ gerichtete Frage des Sultans gewesen: „Was für ein Glaube, was für ein Gesetz hat dir am meisten eingeleuchtet?“ (Nathan: v. 1840 f.)⁴³⁸ damit verbundene Ablehnung eines bloßen ‚Autoritätsglaubens‘ hätte er in mehrfacher Hinsicht in Frage gestellt; für eine „strategische Aufwertung des Islam“ hätte er deshalb keinen Anlass gesehen.  Der fortwährend (auch in der Gegenwart) ‚offiziell‘ beanspruchten ausschließlich ‚theozentrischen‘ Begründung der ‚Menschenrechte‘ im Islam – etwa in der ‚Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam‘ (aus dem Jahr 1990) – hätte Kant wohl eine entschiedene Absage erteilt, ebenso der Überlagerung des Rechtsstaates durch das islamische Gesetz; aber auch die sehr späte Anerkennung der Menschenrechte seitens der katholischen Kirche hätte er kritisiert.  Schon die Cardanus-Schrift zeigt in dem Bezug auf die „vier Religionen“ und auf die „leges“, dass Lessing offenbar „Gesetz“ („der Gesetze aber sind viere“), „Glaube“ und „Religion“ synonym verwendet.

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Jedoch auch die Berufung auf unmittelbare „göttliche Eingebungen“ an den Verfasser des (direkt, d. h. offenbar im Sinne einer ‚Verbalinspiration‘ „herabgesandten“) Koran⁴³⁹ hätte Kant als überschwänglich verworfen: „Himmlische Einflüsse in sich wahrnehmen zu wollen, ist eine Art Wahnsinn“ (RGV, AA 06: 174.17– 18)⁴⁴⁰ – „denn dieses Gefühl der unmittelbaren Gegenwart des höchsten Wesens und die Unterscheidung desselben von jedem andern, selbst dem moralischen Gefühl wäre eine Empfänglichkeit einer Anschauung, für die in der menschlichen Natur kein Sinn ist“ (RGV, AA 06: 175.3 – 7). Dass Lessing den ‚koranischen Fundamentalismus‘ ganz unerwähnt lässt – ungeachtet der von ihm geforderten „weiten Schriftauslegung“ –, hätte Kant wohl als eine bloße Inkonsequenz angesehen. Dass der „Vernunftglaube […] auch […] jedem anderen Glauben, ja jeder Offenbarung, zum Grunde gelegt werden muss“ (WDO, AA 08: 142.6 – 8),⁴⁴¹ wendet sich offenkundig auch gegen die Inanspruchnahme bzw. die Berufung auf die zahlreichen privaten Offenbarungen des Propheten.⁴⁴² Schon Lessings (frühe) Würdigung des Islam – sie klingt schon in der „Rettung des Cardanus“ an⁴⁴³ –, der hier von ihm (wohl ganz nach der Art eines

 Auch die von Kant eingeräumte „Menschlichkeit der Geschichtserzählung“ und die damit verbundene gebotene Rücksicht auf „Akkomodationen und Konjekturen im Zusammenhang mit dem Ganzen“ (SF, AA 07: 65.3 – 4), ist damit natürlich unvereinbar.  Überdies gilt auch hier das schon zitierte Bedenken Kants: „Denn wenn Gott zum Menschen wirklich spräche, so kann dieser doch niemals wissen, dass es Gott sei, der zu ihm spricht. Es ist schlechterdings unmöglich, dass der Mensch durch seine Sinne den Unendlichen fassen, ihn von Sinnenwesen unterscheiden, und ihn woran kennen solle“ (SF, AA 07: 63.9 – 12) – eine der besonderen „Schwierigkeiten“ eines „Gesetzbuches“ wie der Bibel oder auch des Koran, „wenn sie nur als Gottes Wort beglaubigt und ihre Authentizität dokumentiert werden könnte“. Die Berufung auf „‚Offenbarungen‘ aus den ‚noch dunklen Empfindungen außergewöhnlicher Menschen‘“ (so Fick in Bezug auf Nisbet 2008, 479) haben Kant und Lessing gleichermaßen verworfen.  Schon beim frühen Kant heißt es: „Die Offenbarung Gottes durch Vernunft muss vor jeder andern vorher gehen; denn die gibt den ersten richtigen Begriff, nach welchen ich jede andere prüfen kann“ (Refl. 4754, AA 17: 697).  Dagegen wendet sich wohl indirekt auch Kants Notiz: „Überhaupt ist das Urteil, dass etwas eine Erscheinung Gottes (Theophanie) sei, überschwenglich; denn man kann eine solche Anschauung gar nicht haben, wir können die Offenbarung nicht in uns aufnehmen“ (AA 19, 644). „Den unmittelbaren Einfluss der Gottheit als einer solchen fühlen wollen, ist, weil die Idee von dieser bloß in der Vernunft liegt, eine sich selbst widersprechende Anmaßung. – Also ist hier eine Aufgabe samt ihrer Auflösung ohne irgend einen möglichen Beweis; woraus denn auch nie etwas Vernünftiges gemacht werden wird“ (SF, AA 07: 57.24– 58.5). Die Berufung auf die Inspiration war Kant suspekt, zumal dies auch zur „Beglaubigung manches Religionswidrigen als Offenbarung gemissbraucht werden könnte“ (VASF, AA 23: 448.31– 32).  Lessings Würdigung bzw. Verteidigung der „mohammedanischen Religion“ in dieser „Rettung des Hieronymus Cardanus“ aus den „50-er-Jahren“ ist jedenfalls auch mit Blick auf spätere Stellungnahmen berücksichtigenswert. Von dem dort vorgenommenen „Religionsvergleich der

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Herbert Cherbury) als eine Gestalt der „natürliche Religion“ hingestellt wird,⁴⁴⁴ musste Kants Einspruch provozieren: „Wirf einen Blick auf sein [Muhammads] Gesetz! Was findest du darinne, das nicht mit der allerstrengsten Vernunft übereinkomme? Wir glauben an einen einigen Gott: wir glauben eine zukünftige Strafe und Belohnung, deren eine uns, nach Maßgabe unserer Taten, gewiss treffen wird. Dieses glauben wir, oder vielmehr, damit ich auch eure entheiligten Worte nicht brauche, davon sind wir überzeugt, und sonst von nichts! Weißt du also, was dir obliegt, wann du wider uns streiten willst? Du musst die Unzulänglichkeit unserer Lehrsätze bewiesen! Du musst beweisen, dass der Mensch zu mehr verbunden ist, als Gott zu kennen und tugendhaft zu sein[⁴⁴⁵]; oder wenigstens, dass

drei Monotheismen … scheint der Weg zur Ringparabel im Nathan nicht weit“ (Multhammer 170). Auch Cavallar weist darauf hin, dass Lessing „sich schon in den 1750er Jahren um eine vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit dem Islam bemühte“ und verweist auf „die islamischen Texte …, in denen Motive der Ringparabel bereits anklingen“ – „mögliche islamische Quellen der Ringparabel, etwa bei Abu Sulaiman oder Ibn Arabi, gehen bis in das 8. Jahrhundert zurück und sind damit viel älter als christliche Quellen.“ (Cavallar 81 f.)  Hier wird deutlich: „Inhaltlich … vertritt der Mohammedaner Grundsätze des Deismus und der natürlichen Religion. Er zwingt den Vertreter des Christentums, darüber nachzudenken, worin der ‚Mehrwert‘ der Offenbarung und des Wunders eigentlich beruhe. (Offenbarung und Wunder öffnen die Bereiche, die der vernünftigen Erkenntnis Gottes nicht mehr zugänglich sind.)“ (Fick 145) Lessing wollte damit „Zweifel an der Wahrheitsgewissheit des Christentums wecken und zum Nachdenken anregen“ (Horsch 2004, 36). Ob jener Anspruch auf „natürliche Religion“ indes mit jener unbewältigten moralischen ‚Heteronomie‘ verträglich ist, ist freilich eine andere Frage … Dennoch ist eine Nähe zu Kants Kennzeichnung der „natürlichen Religion“ – die er freilich als die „christliche Religion“ reklamiert – nicht zu übersehen: „Die natürliche Religion als Moral (in Beziehung auf die Freiheit des Subjekts), verbunden mit dem Begriffe desjenigen, was ihrem letzten Zwecke Effekt verschaffen kann (dem Begriff von Gott als moralischen Welturheber),und bezogen auf eine Dauer des Menschen, die diesem ganzen Zwecke angemessen ist (auf Unsterblichkeit), ist ein reiner praktischer Vernunftbegriff, der, ungeachtet seiner unendlichen Fruchtbarkeit doch nur so wenig theoretisches Vernunftvermögen voraussetzt: dass man jeden Menschen von ihr praktisch hinreichend überzeugen, und wenigstens die Wirkung derselben jedermann als Pflicht zumuten kann.“ (RGV, AA 06: 157.17– 25)  V, 326. Diese Argumentation der „Einfachheit des Islam“, die diesen als Religion aller Menschen ausweisen will, folgt gängigen Erklärungen mittelalterlicher islamischer Gelehrter. Demgegenüber lässt Lessing jenen „Muselmann“ in seiner „Rettung des Cardanus“ abwertend über das Christentum sagen, was auch seine eigenen Zweifel bekundet: „Das, was der Heide, der Jude und der Christ seine Religion nennet, ist ein Wirrwarr von Sätzen, die eine gesunde Vernunft nie für die ihrigen erkennen wird. Sie berufen sich alle auf höhere Offenbarungen, deren Möglichkeit noch nicht einmal erwiesen ist. Durch diese wollen sie Wahrheiten überkommen haben, die vielleicht in einer anderen möglichen Welt, nur nicht in der unsrigen, Wahrheiten sein können. Sie erkennen es selbst und nennen sie daher Geheimnisse; ein Wort, das seine Widerlegung gleich bei sich führet. Ich will sie nicht nennen, sondern will nur sagen, dass eben sie es sind, welche die allergröbsten und sinnlichsten Begriffe von allem, was göttlich ist, erzeugen; dass sie

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ihm beides die Vernunft nicht lehren kann, die ihm doch eben dazu gegeben ward!“⁴⁴⁶ Demgemäß sei also der Islam zur „allgemeinen Menschenreligion“ es sind, die nie dem gemeinen Volk erlauben werden, sich seinen Schöpfer auf eine anständige Art zu denken; dass sie es sind, welche den Geist zu unfruchtbaren Betrachtungen verführen und ihm ein Ungeheuer bilden, welches ihr den Glauben nennet.“ (V, 325 f.)  Diese ‚mohammedanische‘ (offenbar in der Spur der islamischen Philosophen Al-Ghazali und Averroes vollzogene) Rechtfertigung findet sich in Lessings früher Schrift: Rettung des Hier. Cardanus: S. V, 310 – 333, hier 326). Darin tritt ein Muslim zur Verteidigung des Islam und als Korrektur falscher Vorurteile auf. „In der Rezeption der Rettungen blieb die massive Aufwertung des Islam zuungunsten des Christentums völlig unbeachtet: Die ungewöhnlich positive Darstellung des Islam und die damit verbundene christentumskritische Tendenz wurden schlichtweg ignoriert.“ (Horsch 2004, 40) – Auffallend ist auch, dass der oben angeführte Eröffnungssatz aus dem frühen Fragment „Über die Entstehung der geoffenbarten Religion“ aus dem Jahr 1763 (mit seiner Charakterisierung der „natürlichen Religion“) offenbar direkt an eine Wendung anknüpft, mit der Lessing – beinahe 10 Jahre zuvor – in seiner frühen kleinen Schrift „Die Rettung des Hieronymus Cardanus“ (aus dem Jahr 1754) den Islam als „Religion der Vernunft“ gewürdigt hatte. Cardanus tritt darin besonders als Kritiker am christlichen Trinitätsverständnis und Wunderglauben auf (Horsch 2004, 107).– Fast hat es den Anschein, als ob Lessing einen ‚hermeneutisch geläuterten‘ und ‚moralisch gezähmten‘ Islam in einer aufklärungs-orientierten Perspektive als mit den Ansprüchen einer „Vernunftreligion“ konform ansehen wollte. Lessing verteidigte – ‚rettete‘ – die Vernünftigkeit des Islam als „natürliche Religion“. – Erkennbar ist auch Lessings anteilnehmende Sympathie für das Schicksal des reformierten Theologen A. Neuser, der die Gottheit Jesu bezweifelte und zum Islam konvertierte (Von Adam Neusern. Einige authentische Nachrichten aus dem Jahr 1774). Vgl. auch Lessings sympathisierende Würdigung dieses abtrünnigen ‚Deisten‘ Neuser in der Schrift „Von Duldung der Deisten“ (aus dem Jahr 1774), in der auch die „Einheit“ und „Einzigkeit“ Gottes als „Grundsatz der Lehre Mahomets“ erwähnt wird (XII, 268 f.), während, wie erwähnt, das Christentum nur „die allergröbsten und sinnlichen Begriffe von allem, was göttlich ist“, liefere (V, 325 f.). – Auch Schilson betont Lessings Sympathie für Neuser als „Plädoyer für die Legitimität vernünftiger Zweifel an der christlichen Trinitätslehre“ (so Schilson in seinem Kommentar zu Neuser: Barner-Ausgabe 8, 794). Lessing hat jedenfalls dessen Bedenken durchaus verständnisvoll aufgenommen: „Ob sie [die Sozinianer] aber sonach viel oder wenig von den Mahometanern verschieden sind: was liegt daran? Nicht der Name macht es, sondern die Sache; und wer die Sache zu lehren oder zu insinuieren den Mut hat, der müsste auch freimütig genug sein, dem Namen nicht ausweichen zu wollen. Was haben sie denn auch je gründliches jenen Folgen entgegengesetzt, die notwendig aus ihrer Lehre fließen? […] Nämlich dass, wenn Christus nicht wahrer Gott ist, die mahometanische Religion eine unstreitige Verbesserung der christlichen war und Mahomet selbst ein unstreitig größrer und würdigerer Mann gewesen ist, als Christus; indem er weit wahrhafter, weit vorsichtiger und eifriger für die Ehre des einzigen Gottes gewesen, als Christus, der, wenn er sich selbst auch nie für Gott ausgegeben hätte, doch wenigstens hundert zweideutige Dinge gesagt hat, sich von der Einfalt dafür halten zu lassen, da hingegen dem Mahomet keine einzige dergleichen Zweideutigkeit zu Schulden kommt“ (XII, 95). Mit Rücksicht auf Lessing ist es wohl nicht unverständlich, wenn Nisbet diesbezüglich dessen Sichtweise so verstehen möchte: „wenn schon die Göttlichkeit Christi abgestritten werde, dann spreche mehr für den islamischen Glauben als für die Restbestände des Christentums, da Mohammed schließlich keine Doppeldeutigkeiten ausgesprochen habe, die nahelegen könnten,

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bestimmt:⁴⁴⁷ Denn dem „Mohammedaner“ sei lediglich der „Glaube an den einen Gott“ und die künftige Rechenschaft für sein Leben abverlangt,⁴⁴⁸ was ja durchaus vernunftimmanent zu beantworten sei und in gewisser Weise an die von Kant geltend gemachte „Einfachheit“ des „reinen moralischen Religionsglaubens“ (s.o. I., 2.) erinnert. Dies allein seien also die vom Muslim angeführten „Lehren“,⁴⁴⁹ „deren Probierstein ein jeder bei sich führet“⁴⁵⁰ – eine Kennzeichnung, die offenbar auch noch in jener „Entstehung der positiven Religion“ (aus dem Jahr 1763) bestimmend ist: „Einen Gott erkennen, und sich die würdigsten Begriffe von ihm zu machen suchen, auf diese würdigsten Begriffe bei allen unsern Handlungen und Gedanken Rücksicht nehmen: ist der vollständigste Inbegriff aller natürlichen Religion. […] Zu dieser natürlichen Religion ist ein jeder Mensch nach dem Maß seiner Kräfte, aufgelegt und verbunden“⁴⁵¹ – eine Bestimmung, die mit Kants wiederholtem Grundsatz, dass allein „Moral unumgänglich zur Religion“ führe, indes unverträglich ist, welche jedem Partikularismus eine Absage erteilt.

er selbst sei göttlichen Ursprungs“ (Nisbet 2008, 676). – In diesem Kontext ist bei Lessing auch von einer islamischen Kritik am Christentum als „Verehrung heiliger Hirngespinste“ und „Verblendungen“ die Rede, wogegen allein der Islam immunisiere.  Ob indes Lessings „Nathan“ nicht auch eine indirekte Zurückweisung des „mohammedanischen“ Anspruchs enthält, dass Mohammed als der letzte Prophet Gottes dazu auserwählt sei, die „absolut wahre Gestalt der Religion“ zu repräsentieren, sei nur als Frage angemerkt.  Kuschel sieht das Anliegen Lessings (besonders auch in dieser „Rettung des Cardanus“) dadurch bestimmt: „Der Islam ist im Grunde eine Religion, die von den Menschen nur wenig verlangt, um sie zu akzeptieren“; woraus folgt: „Eine Religion wie der Islam kann sich bei Lessing als eine mit der Vernunft vereinbare Größe präsentieren, deren Geschichte mindestens so viel Respekt verdient wie die anderer Religionen“ (Kuschel 1998, 98 f.). Zudem sei die Nähe zu christlichen Vorstellungen unübersehbar.  Auch Lessings Bruder hat offenbar die moralische Höherwertigkeit der Bibel gegenüber dem Koran in Frage gestellt: „Und welchen Ausfall könnte man auf unsere halbvernünftigen Gottesgelehrten tun, die es immer einen der größten Beweise für die Göttlichkeit der Bibel sein lassen, dass man darin bessere Moral als im Koran finde. Doch nein; es müsste gar keine Rücksicht auf diese Herren genommen werden, sondern ein Forscher der Wahrheit nur ruhig erzählen. Aber der so etwas schriebe, müsste auch die Türken und den Koran besser kennen, als Voltaire“ (Brief von Karl Lessing v. 1.11.1774: XXI, 42 f.).  V, 326. Zu fragen ist freilich: Unterschlägt Lessing in dieser Charakterisierung nicht in der Tat wesentliche Kennzeichen des Islam als Offenbarungsreligion, um ihn so als „natürliche Religion“ charakterisieren zu können? (Horsch 2004, 32 f.)  Diese (an die Adresse des „Freigeists“ gerichtete) Kennzeichnung klingt offenbar schon in Lessings frühem Stück „Der Freigeist“ an: „worin kann die Schönheit der Seelen anders bestehen, als in […] würdigen Begriffen von Gott, von uns, von unseren Pflichten, von unserer Bestimmung? Was kann unser Herz … mehr reinigen, mehr beruhigen, als eben diese Religion? […] Was kann uns zu wahrern Menschen, zu bessern Bürgern, zu aufrichtigern Freunden machen, als sie?“ (II, 99 f.)

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Die Berufung auf jene „Lehren“, „deren Probierstein ein jeder bei sich führet“, könnte natürlich eine gewisse Nähe zu Kant – auf die „Vernunft“ als „Probierstein der Wahrheit“ – insofern suggerieren, als dessen „Credo in den drei Artikeln des Bekenntnisses der reinen praktischen Vernunft“ (FM, AA 20: 298.16 – 17) jenen angeführten mohammedanischen „Lehrsätzen“ doch als „reine Vernunftsache“ und als „Weisheitslehre“ grundsätzlich durchaus ähnlich zu sein scheint (und hier nochmals angeführt werden soll): „Ich glaube an einen einigen Gott, als den Urquell alles Guten in der Welt, als seinen Endzweck; – Ich glaube an die Möglichkeit, zu diesem Endzweck, dem höchsten Gut in der Welt, so fern es am Menschen liegt, zusammenzustimmen; – Ich glaube an ein künftiges ewiges Leben, als der Bedingung einer immerwährenden Annäherung der Welt zum höchsten in ihr möglichen Gut“.⁴⁵² Den unumgänglichen moralischen Fundamenten jener „natürlichen Religion“ bzw. den Maßstäben eines „moralisch bestimmten Monotheismus“ widerspricht Kant zufolge nicht zuletzt – darin ist er offenbar mit Leibniz einig – auch das „fatum mahometanum“, das nicht allein die moralische Fundierung der Vernunftreligion verunmöglicht und in der Folge auch den für sie konstitutiven Zusammenhang, dem zufolge „Moral unumgänglich zur Religion“ führe, stillschweigend untergräbt: Es ist „(a)bsolutes Verhängnis der Muhammedaner. Blind. Lotterie. Phantastische Hoffnung“,⁴⁵³ die Kant in dem ‚inschallah‘ erblickte. Nicht zuletzt kritisierte er also den islamischen „Fatalismus“⁴⁵⁴ sowie ganz vernunftwidrige eschatologische Vorstellungen, die er, als mit jener Kennzeichnung der „fides“ als „Vertrauen in die Verheißung des moralischen Gesetzes“ eher unverträglich, zurückgewiesen hat. Ebenso spiegle die Vorstellung von

 Diesem kantischen „Credo“ entspricht offenbar jene Argumentation, die Lessing in der „Rettung des Hieron. Cardanus“ dem Mohammedaner in den Mund legt (V, 326; s.u. III., Anm. 446). – Die von islamischen ‚Moralisten‘ vertretene Ansicht, dass die „Werke sich nach den Absichten richten“, hätte gewiss Kants Zustimmung gefunden.  AA 15: 707. Indes ist die geforderte „Ergebenheit in Gott“ im Islam keinesfalls ein „passiver Fatalismus“, wie auch der zu „guten Taten“ auffordernde Koran verrät. Leibnizens Interpretation des „fatum mahometanum“ – nämlich als einer ideologisch fungierenden Kampfwaffe – besagt freilich das genaue Gegenteil der geforderten „Sanftmut“ und „Verträglichkeit“.  Diese klingt offenbar auch in der frühen Notiz an: „Es stimmt also eine ausserordentliche direction mit dem göttlichen vollkommensten Willen, und die Bewegungsgründe dazu sind das Wohlverhalten (Gebet). Aber wir können niemals auf eine bestimmte Begebenheit zu folge desselben eine Anwendung machen.[…] In dem Gebrauch der Mittel zu unserer Wohlfahrt ist Fleiß und Redlichkeit eine Ursache nach der ordinaria directione, Andacht und Gebet eine Ursache nach der extraordinaria. Beide müssen nicht einander einschränken. d.i. ich muß nicht weniger Fleiß anwenden als Zutrauen auf die außerordentliche Direction, die meinem Gebet konform ist. Türken.“ (Refl. 8081, AA 19: 618)

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„Mahomets Paradies“ ein „bloß sinnliches Prinzip der Glückseligkeit“ (KpV, AA 05: 120.33 – 34) wider. „Mahomets Paradies“ sah Kant offenbar nicht in Einklang mit der moralisch begründeten Idee des „höchsten Gutes“, sie sei vielmehr mit einer gemäß der Vernunftreligion verstandenen „Hoffnung“ sowie mit der Idee einer „moralischen Welt“ ebenfalls ganz und gar unverträglich.⁴⁵⁵ Denkbar scharf fiel deshalb auch Kants gelegentliches Urteil aus: „Mahomets Paradies, oder der Theosophen und Mystiker schmelzende Vereinigung mit der Gottheit, so wie jedem sein Sinn steht, würden der Vernunft ihre Ungeheuer aufdringen, und es wäre eben so gut, gar keine zu haben, als sie auf solche Weise allen Träumereien preiszugeben“ (KpV, AA 05: 120.35 – 121.2). Nach Kant verstehen es allerdings (einem späteren Urteil zufolge) wenigstens die Gebildeten unter den „Mohammedanern“ durchaus, „der Beschreibung ihres aller Sinnlichkeit geweihten Paradieses sehr gut einen geistigen Sinn unterzulegen.“ (RGV, AA 06: 111.16 – 17)⁴⁵⁶ Auch so bestätigt sich: Dass „Muslime wie Juden … damit im Werk Lessings als Partner im gemeinsamen Bemühen um Aufklärung – nicht als Bedrohung oder als das irrationale ‚Andere‘“ erscheinen,⁴⁵⁷ hat Kant vermutlich tatsächlich irritiert⁴⁵⁸ – denn als „vernünftige Verehrer Gottes“ im Sinne des „moralisch bestimmten Monotheismus“ hätte Kant weder Juden noch Muslime anerkannt.⁴⁵⁹ Sofern er bezüglich der unverrückbaren Fundamente des „moralischen Mono-

 Demgegenüber wollte Kant „Auferstehung und Himmelfahrt“ „bloß als Vernunftideen“ verstehen, als den „Anfang eines andern Lebens und Eingang in den Sitz der Seligkeit“ (RGV, AA 06: 128 Anm.): Nach Lessing ist wohl auch dies ein Beispiel für „vorgespiegelte Wahrheiten“, „die wir als Offenbarungen so lange anstaunen sollen, bis sie die Vernunft aus ihren andern ausgemachten Wahrheiten herleiten und mit ihnen verbinden lernen“ (§ 72 der Erziehungsschrift: XIII, 430). Gleichwohl anerkannte Kant – wenigstens ansatzweise, wenngleich nicht widerspruchslos – doch „Geheimnisse“ der Vernunft, die sich nicht „aus ihren andern ausgemachten Wahrheiten herleiten und mit ihnen verbinden“ lassen, auf die also die Vernunft verwiesen bleibt, weil sie sich „hergebrachten frommen Lehren“ (EaD, AA 08: 336.21) verdanken.  Er stimmt diesbezüglich mit dem mohammedanischen Verteidiger überein, der den Vorwurf, „die sinnlichen Vorstellungen des Paradieses nach den Buchstaben [zu] verstehen“ mit der Frage erwidert: „versteht ihr die Beschreibung eures himmlischen Jerusalem auch nach den Buchstaben?“ (Rettung des Hieron. Cardanus: V, 328). Darin ist also die Möglichkeit einer „allegorischen“ Auslegung eingeräumt, wie sie auch von den Islam-Gelehrten Wagdi vertreten wird: „Wenn das Urteil der Vernunft dem Literalsinn und der Sunna widerspricht, so hat man der Vernunft zu folgen, und der betreffende Text ist allegorisch zu fassen“ (Wagdi 59, zit. nach Stieglecker 605).  Horsch 2013, 79.  Vgl. dazu nochmals seinen Verweis auf „Juden, Mohammendaner und Indier“ (SF, AA 07: 50.Anm.).  Allerdings ist erneut einzuräumen, dass Kant sowohl das Judentum als auch den Islam offenbar als ‚monolithische Blöcke‘ betrachtete, was ihren immanenten Differenzierungen und den durchgemachten Entwicklungen wohl kaum gerecht wird.

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theismus“ jedoch eine Übereinstimmung vermisste, waren ihm zufolge offenbar auch der geforderten ‚Toleranz‘ gewisse Grenzen gesetzt. Nicht zuletzt mit Blick auf den Islam hätte er wohl seine schon entfaltete (s.o. I., 3.1.) Auffassung bestätigt gesehen, dass eben nicht jeder „Monotheismus“ auch schon vernunftkritischen Anforderungen genügt. Folglich haben weder das Judentum noch der Islam nach Kant einen legitimen Ort in der „allgemeinen Kirchengeschichte“ als einer vernünftigen „Religionsgeschichte“, denn weder ist das Christentum in einer sachlichen Kontinuität zum Judentum, noch ist der Islam in Anküpfung an die „christliche Religion“ zu verstehen. Deshalb ist auch die (offenbar von Lessing propagierte) Vorstellung, das Judentum und der Islam seien von Gott „gleich geliebt: indem er zwei nicht drücken mögen/um einen zu begünstigen“ (Nathan, v. 2038 ff.) mit Kants Religionsvorstellung offenkundig unvereinbar: „Weil indessen jede auf statutarischen Gesetzen errichtete Kirche nur so fern die wahre sein kann, als sie in sich ein Princip enthält, sich dem reinen Vernunftglauben (als demjenigen, der, wenn er praktisch ist, in jedem Glauben eigentlich die Religion ausmacht) beständig zu nähern und den Kirchenglauben (nach dem, was in ihm historisch ist) mit der Zeit entbehren zu können, so werden wir in diesen Gesetzen und an den Beamten der darauf gegründeten Kirche doch einen Dienst (cultus) der Kirche sofern setzen können, als diese ihre Lehren und Anordnung jederzeit auf jenen letzten Zweck (einen öffentlichen Religionsglauben) richten“ (RGV, AA 06: 153.2– 11). Eben diesem Kriterium genügen Kant zufolge weder das Judentum noch der Islam; beide seien deshalb keine „zum Zustande der allgemeinen Kirche gehörige Epoche“, gehören also auch nicht in die „allgemeine Kirchengeschichte“ als ein „System“ (RGV, AA 06: 127.19). Bezeichnenderweise bleibt aber auch in Lessings Erziehungsschrift der Islam auf dem Weg zur „Vernunftreligion“ ortlos⁴⁶⁰ – zumal er als solche „Vernunftreligion“ – ungeachtet der „Rettung des Cardanus“ – ihm zufolge offenbar nicht in Frage kommt. Weiß Lessing also diesbezüglich, „was er haben will?“ Es hat sich erneut gezeigt: Ungeachtet dessen, dass zwar auch für Kant der moralisch qualifizierte „Gottesdienst des Lebens“ „das Wesentliche aller Religion“ (RGV, AA 06: 110.9) im Sinne der authentischen Lebensführung des Einzelnen ausmacht, so bleibt davon jedoch die allein maßgebliche Prinzipienfrage der Religion noch abzugrenzen, die als solche keineswegs einfachhin in den Bereich

 Eine Erklärung dafür bietet Horsch: „Da der Islam historisch nach dem Christentum aufgetreten ist, müsste in einem geschichtsphilosophischen Entwurf, der eine fortwährende Weiterentwicklung der Menschheit beschreibt, der Islam als eine Verbesserung des Christentums erscheinen, so wie das Christentum eine höhere Entwicklungsstufe gegenüber dem Judentum darstellt. Möglich, dass Lessing sich an dieser Stelle selbst mit einem Denkverbot belegt hat“ (Horsch 2004, 49).

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der bloß theologischen Lehrgehalte im engeren Sinne abzuschieben ist. Eben deshalb sah Kant ja weder im Judentum noch im Islam – grundsätzlich – ein zureichendes Fundament, das diese als eine „natürliche Religion“⁴⁶¹ mit den hierfür unumgänglichen Prinzipien legitimieren könnte, weshalb sie auch den Ansprüchen eines „moralisch bestimmten Monotheismus“ vor allem deshalb nicht genügen, weil sie eben doch „etwas Anderes als die Gesinnung eines sittlich wohlgeführten Lebenswandels, also das Nichtwesentliche der Religion, zum Religionsstück“ (SF, AA 07: 49.22– 23) machen.⁴⁶² Dieses harte Urteil, das Judentum und Islam nebeneinander stellt und gemeinsam – wenigstens vorläufig – in die Nähe von „Heidentum“ bzw. „Götzendienst“ rückt, markiert eben die entscheidende ‚kantische Unterscheidung‘ der Religionen, die ihn jedenfalls daran hinderte, „ihre Überzeugungen und Praktiken als ethisch wertvoll zu schätzen“.⁴⁶³ Die Frage, inwiefern sich Judentum und Islam mit fortschreitender Aufklärung dennoch von solchen heidnischen Elementen im Sinne eines „moralisch bestimmten Monotheismus“ befreien könnten, bleibt von Kant im Grunde unbeantwortet.⁴⁶⁴ Indes, auch eine ‚hermeneutische Mäßigung‘ und ‚kultische Zähmung‘ des Islam, die diesen in die Nähe der „natürlichen Religion“ im Sinne des „moralisch bestimmten Monotheismus“ führen könnte, wollte Kant damals – wenn überhaupt – offenbar so rasch nicht erwarten – gleichwohl bleiben diesbezüglich offene Fragen (s.u. 256 ff.). Indes, auch die Frage bleibt: Könnte es Kant zufolge jedoch nicht sein, dass sowohl Judentum⁴⁶⁵ als auch der Islam – nach der Überwindung der „kultisch-

 Lessing hat den Islam als „Offenbarungsreligion“ verstanden, jedoch mit ‚Affinitäten‘ zur „natürlichen Religion“. Schon Leibniz hatte den Islam als „religion naturelle“ charakterisiert.  Bezüglich der „klüglichen“ Absicht, auf den „reinen Religionsglauben“ „den Geschichtsglauben, der damit harmoniert, … folgen zu lassen“ (RGV, AA 06: 182.6 – 7), hätte Kant deshalb im Judentum und Islam keine Möglichkeit gesehen.  Forst 48.  S. allerdings andeutungsweise geäußerte Hinweise auf die Zunahme des „vernünftelnden Teils der Menschen“, s.u. III., Anm.469. Und wenn dies der Fall ist, so stellt sich die Frage nach der „Wahrheit der Religion“ lediglich auf neue Weise und provoziert damit wohl erneut gelehrte „streitende Meinungen“ (RGV, AA 06: 131.23). Wird so der Rekurs auf „das, was wir auf historische Beweisgründe zu glauben Ursache haben“ (SF, AA 07: 9.2– 3), jedoch nicht erneut unvermeidlich, auch wenn die von Kant diesbezüglich angeführten Themen kaum als „historisch“ anzusehen sind? S. dazu die bei Kant „offen“ bleibende Frage, u. 256 ff..Vom notwendigen (philosophischen) Diskurs der „Vernunftgelehrten für den Religionsglauben“ sind demnach die unumgänglichen Kontroversen der „Schriftgelehrten für den Kirchenglauben“ (SF, AA 07: 36.11– 14) zu unterscheiden.  Für das Judentum wollte jedenfalls der späte Kant vernünftige Entwicklungen jedoch nicht ausschließen: „Selbst in Ansehung der Juden ist dieses [die Entwicklung zur „Vernunftreligion“], ohne die Träumerei einer allgemeinen Judenbekehrung (zum Christentum als einem messiani-

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statutarischen Observanzen“ – in der „Geschichte des Glaubens“ gemäß dem Fortschritt in der „menschlichen Kultur“ und infolge von sich durchsetzenden Deutungen „vernünftiger wohldenkender Volkslehrer“ (RGV, AA 06: 110.17) sich zur „natürlichen Religion“ annähernd fortentwickeln⁴⁶⁶ – wenigstens im ‚Wesentlichen‘ der Religion, „welches im Moralisch-Praktischen (dem, was wir tun sollen) besteht“ (SF, AA 07: 9.1) und somit Übereinstimmung „mit den allgemeinen moralischen Glaubenssätzen“ (RGV, AA 06: 111.2) erreichen – und was wäre daraus die Konsequenz? Die gemeinsame Basis, die das „Wesentliche aller Verehrung Gottes in der Moralität des Menschen setzt“ (SF, AA 07: 49.18 – 19) und so das „Wesentliche einer Religion vom Außerwesentlichen der zufälligen Satzungen abgesondert hat“,⁴⁶⁷ ist nach Kant jedenfalls die unumgängliche Voraussetzung dafür, um über das unterscheidende ‚Außerwesentliche‘ der „Offenbarungslehren“, das jedoch nicht einfach als „unnötig und überflüssig“ (SF, AA 07: 9.5) abgetan werden darf,⁴⁶⁸ verständigungs-orientiert miteinander ins Gespräch zu kommen. Dies setzt freilich die Bereitschaft zum notwendigen „beständigen Kampf zwischen dem gottesdienstlichen und dem moralischen Religionsglauben“ (RGV, AA 06: 124.23 – 24) voraus, der also keinesfalls bloß harmlose Missverständnisse betrifft. Denn „(w)enn die Verehrung Gottes das erste ist, der man also die Tugend unterordnet, so ist dieser Gegenstand ein Idol, d.i. er wird als ein Wesen gedacht, dem wir nicht durch sittliches Wohlverhalten in der Welt, sondern durch Anbetung und Einschmeichelung zu gefallen hoffen dürften; die Religion aber ist alsdann Idololatrie“ (RGV, AA 06: 185.4– 8) – ein Vorwurf, dem nach Kant sowohl das Judentum als auch der Islam ausgesetzt war. Auch in solcher Hinsicht ist Kants Zuversicht aufzunehmen, „dass das menschliche Geschlecht im Fortschen Glauben) möglich, wenn unter ihnen, wie jetzt geschieht, geläuterte Religionsbegriffe erwachen, und das Kleid des nunmehro zu nichts dienenden, vielmehr alle wahre Religionsgesinnung verdrängenden alten Kultus abwerfen.“ (SF, AA 07: 52.23 – 53.1)  Dies wäre lediglich eine Konsequenz aus der frühen religionsgeschichtlichen Perspektive Kants, dass „die Menschen die Freiheit und Hilfsmittel gehabt haben, sich darin zu bessern“ (Refl. 1439, AA 15: 629).  VASF, AA 23: 439.12– 13.  Kant wusste freilich darum, dass auch „die christliche Lehre auf Facta, nicht auf bloße Vernunftbegriffe gebaut ist“ (RGV, AA 06: 164.1– 2), weshalb der gelehrte „historische Glaube“ von dem „moralischen Vernunftglauben“ wohl zu unterscheiden, jedoch nicht einfach abzutrennen ist: „Keiner von beiden kann in der christlichen Kirche als für sich allein bestehend von dem andern getrennt werden; der letztere darum nicht von dem erstern, weil der christliche Glaube ein Religionsglaube, der erstere nicht von dem letzteren, weil er ein gelehrter Glaube ist.“ (RGV, AA 06: 164.7– 11) Jedoch erst auf der Basis dieses durch den „moralischen Monotheismus“ bestimmten – gemeinsamen – „Religionsglaubens“ wird nach Kant ein fruchtbares Gespräch über die Differenzen des „gelehrten Glaubens“ der „historischen Glaubensarten“ möglich und auch notwendig.

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schreiten zum Besseren immer gewesen sei, und so fernerhin fortgehen werde“ (SF, AA 07: 88.36 – 37).⁴⁶⁹ Vorläufig muss es nach Kant jedoch dabei bleiben, dass die „moralische Religion“ „unter allen öffentlichen, die es je gegeben hat, allein die christliche ist“ (RGV, AA 06: 51.37– 52.1).⁴⁷⁰ Eben solche Abgrenzung sei, als Kern der „natürlichen Religion“, „aus dem Munde des Volkslehrers“ – gewissermaßen als die „Religion Christi“ im Sinne Kants⁴⁷¹ – zu erfahren gewesen und zeichne die christliche Religion auch in solcher Hinsicht aus; hingegen blieben die anderen monotheistischen „Glaubensarten“ nach Kant – bis auf Weiteres oder eben doch aus ‚prinzipiellen‘ Gründen? – ausgeschlossen,⁴⁷² im Unterschied zu der von Lessing (und somit auch zu dessen für seinen „Nathan“) geltend gemachten Sichtweise. Hier resultieren bei Kant freilich ‚offene Fragen‘, die sich nicht zuletzt mit Blick auf Lessings „Ringparabel“ notwendig stellen und wovon später noch die Rede sein soll (s.u. 256 ff.). Es hat sich gezeigt: Dass die Wahrheit der Religion nicht auf der Ebene der – nach Kant dem Wissen zuzuordnenden – „fides historica“ zu entscheiden ist, erlaubt jedenfalls nicht das Überspringen der Prinzipienebene und die dadurch bedingte Nivellierung der sichtbaren Differenzen. Dies zeigt sich nach Kant gerade in den Aporien, die ihm zufolge auch in Lessings „Nathan“ zutage treten. Auch der freiheitstheoretisch begründete absolute ‚Primat‘ des Moralischen und die daran geknüpften „unerforschlichen“ Geheimnisse der Freiheit (RGV, AA 06: 138.23) –

 Seine Hoffnung galt auch diesbezüglich dem „vernünftelnden Teil der Menschen“, „der aber … bei zunehmender Kultur, man mag ihn niederdrücken so sehr man will, allmählich sehr groß“ sein wird (AA 20: 440.10 – 11). Von ihm wäre nach Kant zu erwarten, dass er die Autorität wissenschaftlicher Erkenntnisse und die autonome Begründung von Recht und Moral als selbstverständlich anerkennt.  Dieser von Kant dem Christentum als „natürlicher Religion“ eingeräumte ‚Primat‘ ist freilich um den hohen Preis erkauft, dass er zentrale Gehalte des Christentums wie Trinität, Gottessohnschaft Jesu, stellvertretenden Sühnetod, Auferstehung usw. als „sinnliche Vorstellungsart“ von „Vernunftideen“ interpretiert, die von ihrer „Hülle“ zu befreien sind.  Kants Bezugnahme auf Jesus als den „ersten Lehrer“, aus dessen Munde die Religion „als eine nicht statutarische, sondern moralische Religion hervorgegangen“ sei (RGV, AA 06: 167.13 – 15), verdankt sich vielleicht einer Erinnerung daran: Leibniz hatte es als das besondere Verdienst Christi gewürdigt, dass er „die natürliche Religion vollkommen in ihrem GesetzesCharakter erkennen ließ“ (Leibniz 1968, 3); diese Sichtweise Leibnizens war wohl auch Lessing bekannt. Jesu Verkündigung verkörpert und ‚offenbart‘ nach Kant gewissermaßen die „Vernunftwahrheiten“ des „moralischen Monotheismus“.  Jener Versuch, „die Offenbarung, als historisches System, an moralische Begriffe bloß fragmentarisch [zu] halten und [zu] sehen, ob dieses nicht zu demselben reinen Vernunftsystem der Religion zurück führe“ (RGV, AA 06: 12.18 – 21), hätte deshalb mit Blick auf Judentum und Islam ein (vorläufig?) negatives Ergebnis.

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II Zur indirekten Auseinandersetzung zwischen Lessing und Kant

des „radikal Bösen“,⁴⁷³ der moralischen Selbsterkenntnis⁴⁷⁴, aber auch der „Gnade“ (der „Berufung“, der „Genugtuung“⁴⁷⁵ und „Erwählung“) – rühren in der Tat an die „Tiefendimension menschlicher Existenz“,⁴⁷⁶ worin ihm zufolge of-

 Der Ursprung dieses „Hanges zum Bösen bleibt uns unerforschlich, weil er selbst uns zugerechnet werden muss … Das Böse hat nur aus dem Moralisch-Bösen (nicht den bloßen Schranken unserer Natur entspringen können“ (RGV, AA 06: 43.17– 18); „für uns ist also kein begreiflicher Grund da, woher das moralische Böse in uns zuerst gekommen sein könne“ (ebd.43.21– 22) – die „Verkehrtheit des Herzens“ (RGV, AA 06: 37.22) bleibt ein „Abgrund der Vernunft“. Kant hat damit die allzu ‚harmlose‘ (vermutlich von den „gutmütigen [englischen] Moralisten“ beeinflusste) Lessing‘sche Lesart der „Lehre von der Erbsünde“ deutlich zugeschärft, d. h. im Sinne seiner Lehre vom „radikal Bösen“ radikalisiert; denn das „Geheimnis des radikal Bösen“ lässt sich ihm zufolge ohne Verlust wohl nicht darauf reduzieren: „Wie, wenn uns endlich alles überführte, dass der Mensch auf der ersten und niedrigsten Stufe seiner Menschheit, schlechterdings so Herr seiner Handlungen nicht sei, dass er moralischen Gesetzen folgen könne?“ (§ 74: XIII, 431) Kant hat im Unterschied zu Lessing die christliche Erbsündenlehre im Sinne des „radikal Bösen“ (und der von uns unerforschlichen „Tiefe des Herzens“: RGV, AA 06: 51.15 – 16) zweifellos viel radikaler verstanden. Zu Recht weist Cunico diesbezüglich auf einen markanten Unterschied hin: „Während Kant im radikalen Bösen eine echte Herausforderung für die praktische Vernunft anerkennt, die diese an ihre Grenzen treibt, wird bei Lessing das moralische Unvermögen auf eine niedrigere, zu überholende Stufe der moralischen Entwicklung reduziert, so dass die Erlösung von dem Bösen als eine Aufgabe angesehen wird, die durch die menschlichen Kräfte allein ohne weiteres zu lösen ist, wenn auch mit der Hilfe der göttlichen Erziehung und über den langen Weg des ganzen Geschichtslaufs“ (Cunico 2015a, 51 f.). Dies indiziert also durchaus bedeutsame theologisch-anthropologische Differenzen – auch zwischen den „Weltreligionen“, die zwar nicht auf „historische Beweisgründe“ zu reduzieren, aber durchaus der ‚Einsicht‘ zugänglich sind.  „Da er also von seiner wirklichen Gesinnung durch unmittelbares Bewusstsein gar keinen sichern und bestimmten Begriff bekommen, sondern ihm nur aus seinem wirklich geführten Lebenswandel abnehmen kann: so wird er für das Urteil des künftigen Richters (des aufwachenden Gewissens in ihm selbst zugleich mit der herbeigerufenen empirischen Selbsterkenntnis) sich keinen andern Zustand zu seiner Überführung denken können, als dass ihm sein ganzes Leben dereinst werde vor Augen gestellt werden, nicht bloß ein Abschnitt desselben, vielleicht der letzte und für ihn noch günstigste; hiermit aber würde er von selbst die Aussicht in ein noch weiter fortgesetztes Leben (ohne sich hier Grenzen zu setzen), wenn es noch länger gedauert hätte, verknüpfen.“ (RGV, AA 06: 77.7– 17)  „Wir haben apriori Ursache zu glauben, dass uns unter der Bedingung eines guten Lebenswandels eine solche Genugtuung versprochen sei“ (AA 23: 123); zu der auffälligen diesbezüglichen Spannung in Kants Argumentation s. o. II., 111 ff.. – Kant hat auch „drei uns durch eigene Vernunft geoffenbarte Geheimnisse“, nämlich „Berufung“, „Genugtuung“ und „Erwählung“ (RGV, AA 06: 142 f.) ausdrücklich als solche unerforschliche „Geheimnisse“ angeführt, auf die die Wirklichkeit der Freiheit „unvermeidlich … führt“ (RGV, AA 06: 138.23 – 24), von denen lediglich zu konstatieren ist, ‚dass‘ es sie gibt und die ebenfalls in ihrer anthropologischen Relevanz „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ bedacht werden müssen.  Kuschel 2011, 188.

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fenbar ein (von Lessing indes vernachlässigtes?) ‚Spezifikum des Christlichen‘ sichtbar wird,⁴⁷⁷ das auch die im „Nathan“ geltend gemachte ‚Gleichrangigkeit‘ der abrahamitischen Religionen problematisieren muss. Kant scheint mit jenen „Geheimnissen der Freiheit“ demnach auf keinesfalls „unnötigen und überflüssigen“, sondern auf durchaus anthropologisch relevanten, d. h. den „Begriff des Menschen als einer Person“⁴⁷⁸ berührenden Differenzen zwischen den „Glaubensarten“ zu insistieren, die in der Frage nach der „Gleichrangigkeit“ bzw. der „Gleichwertigkeit“ derselben – ihr „gleich wahr/gleich falsch“ – nicht einfach ausgeblendet bleiben dürfen, zumal dies doch den „öffentlichen Probierstein der Wahrheit“ (SF, AA 07: 46.10) betrifft. Dies ist bekanntlich auch ein Thema, das in der „Ringparabel“ von Lessings „Nathan, der Weise“ im Vordergrund steht. Wie stand Kant dazu?

 Insofern trifft die von Kuschel geäußerte Kritik an Ficks Lessing-Kritik vermutlich nicht zu: Dass (im Unterschied zu Kant) der „(Erb)Sünde-Gnade-Erlösungszusammenhang“ (dies ist tatsächlich ein „Spezifikum des Christlichen“) von Lessing „bestenfalls als unwesentlich, schlimmstenfalls als gefährlich“ herausgestellt wird, wird von Fick vielmehr zu Recht kritisiert. Kuschel hält dagegen: „Sie [Fick] hält offensichtlich den (‚Erb‐)Sünde-Gnade- Erlösungszusammenhang‘ selber für das ‚Spezifikum‘ des Christlichen, und da Lessing diesen (in der Tat) ‚bestenfalls als unwesentlich, schlimmstenfalls als gefährlich‘ herausgestellt hat, wird Lessing von ihr kritisiert. Übersehen wird, dass Lessing das christliche ‚Spezifikum‘ völlig neu definiert hat“ (Kuschel 2011, 220 f, Anm. 128). Indes, genau darin hätte Kant womöglich eine unstatthafte Nivellierung relevanter Differenzen gesehen, die auch deshalb die behauptete „Gleichrangigkeit der Religionen“ (ebd.) verbieten muss. Die von Kuschel geltend gemachte „Herausforderung Lessings“ genügte deshalb Kant wohl noch nicht: „Religionen sind in ihrer Glaubwürdigkeit vor Gott und den Menschen daran zu messen, ob sie Menschen verständigungsbereiter, friedensfähiger und solidarischer machen können“ (ebd. 221) – das ist freilich schon eine Forderung der allgemeinen Humanität, die das ‚semantische Potential‘ der Religionen im Vergleich jedoch wohl noch ‚unterbelichtet‘ bzw. unberührt lässt.  AA 23: 278.7.

III Lessings „Nathan der Weise“ in der Sicht Kants 1 Ein – grundsätzlicher – Einwand Kants: Die auch in Lessings „Nathan“ zutage tretende Einebnung der „Prinzipien“-Frage – weiß Lessing wirklich, „was er haben will“?¹ Als überraschend – und auf den ersten Blick wohl sogar als irritierend – mag Kants distanzierte, ja auffallend schroffe Äußerung über Lessings „Nathan der Weise“ erscheinen: „Die Verknüpfung endlich macht das Wichtigste der Erkenntnis aus, aber sie ist auch zugleich das Schwerste, das Gegliederte in einer Erkenntnis einzusehen. Manche Comödien, wenn sie auch nicht viel enthalten, vergnügen uns bisweilen, aber im Ganzen gefallen sie uns hernach doch nicht. Lessing hat in allen seinen Schriften den Fehler, in den Teilen unterhaltend zu sein,² und im Ganzen weiß man doch nicht, was er haben will; man findet dies in Nathan dem Weisen, und alle seine Schauspiele missfallen [!], und zwar, weil sie kein Ganzes ausmachen. Unsere Natur ist so eingerichtet, dass der Mensch eine Einheit des Ganzen haben will, und nicht zufrieden ist, als wenn er alles in einer besondern Verbindung zu einem Zwecke sieht; daher müssen wir darauf merken, was Beifall oder Missfallen bei uns erweckt, teils um den Grund unsers Tadels angeben zu können, teils um wirkliche Fehler aufzusuchen.“³ Infolgedessen liegt es nahe, den

 Für Arnoldt steht fest, dass Kant „schon im Mai des J. 1779 … den Nathan, mindestens die zehn ersten Bogen desselben, also bis zum dritten Auftritt des vierten Aufzugs … gelesen hat … und da ist es, meine ich, nicht denkbar, dass ihn die Lektüre des Nathan, mag ihm das Stück antipathisch oder sympathisch gewesen und geblieben sein, nicht sollte bestimmt haben, sich nach d.J. 1781 mit Lessings theologischen Kämpfen bekannt zu machen, aus denen es hervorgegangen war“ (Arnoldt 236). Auch Fischer geht davon aus, dass Kant schon „im Frühjahr 1779 den größten Teil des Nathan kennen gelernt hatte“ (Fischer 1910, 370).  „Viele Schriften sind in ihren Teilen sehr unterhaltend, im ganzen genommen, befriedigen sie aber nicht, z. B. Lessings theatralische Werke. Die Ursache ist ein Mangel an Einheit und folglich auch an Zweck“ (Kant, Hauptvorlesungen, 194 f.; vgl. auch die Kritik in einer Vorlesung aus dem Jahr 1772/73, also schon vor Lessings „Nathan“: AA 25.1.: 353; AA 25.1.: 388; AA 25.2.: 1301).  So Kant in einer „Vorlesung über Menschenkunde“ schon aus dem Jahr 1781/82 (AA 25.2.: 886). Während Hamann „sich an der Lektüre des ‚Nathan‘ ‚recht weidete‘, gefiel das Stück (beim Lesen) dem Philosophen [d.i. Kant] weit weniger, der es „bloß als den 2[.] Teil der ‚Juden‘ [bekanntlich ein Jugendstück Lessings, aus dem Jahr 1749] beurteile‚ und keinen Helden aus diesem Volke leiden kann. So göttlich streng ist unsere Philosophie in ihren Vorurteilen, bei aller ihrer Toleranz und Unparteilichkeit“ (so heißt es in einem Brief Hamanns an Herder v. 6.5. 1779; zit. n. Malter 1990 [Brief Nr 166], 156). – Das ist zwar ein ungerechtes polemisches Urteil; sein Kern liegt indes nicht https://doi.org/10.1515/9783110716191-005

1 Ein – grundsätzlicher – Einwand Kants

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maßgeblichen Gründen für Kants unübersehbar zurückhaltende Bezugnahme auf Lessings – einem nächtlichen „närrischen Einfall“⁴ verdankten – „Nathan“ nachzugehen. Hatte Lessing von seinem „Nathan“ gemeint:⁵ „Es wird nichts weniger, als ein satirisches Stück, um den Kampfplatz mit Hohngelächter zu verlassen. Es wird ein so rührendes Stück, als ich nur immer gemacht habe“,⁶ so hätte sich Kant womöglich gerade durch solche Selbsteinschätzung Lessings in seiner Auffassung noch einmal bestätigt gesehen, dass man ungeachtet solcher einzuräumenden Rührungsaspekte, „im Ganzen … doch nicht“ recht wisse, was Lessing damit „haben will“ (s.o. III., Anm. 3). Ganz anders fielen bekanntlich die Urteile

zuletzt darin, dass Kant, wie erwähnt, die jüdische Religion im Grunde gar nicht als „Religion“ anerkennen wollte – eben wegen ihres prinzipien-losen „Heidentums“.  Dies erklärte Lessing seinem Bruder Karl in einem Brief vom 11.8.1778: XVIII, 285.  Die wohl auch Kant interessierende Frage „Warum ist Nathan ein Jude?“ hat Fischer folgendermaßen ausführlich zu beantworten versucht: „Und nun nehme ich eine Religion, die von Natur unduldsam und stolz ist, der Stolz ist nie hartnäckiger, als wenn er unterdrückt wird; ich nehme von allen Religionen der Welt diejenige, welche zugleich die stolzeste und die unterdrückteste ist, und jetzt zweifle ich, ob aus diesen Bedingungen noch Duldung hervorgehen kann? Ich denke mir einen Menschen, dem seine Religion erlaubt, sich für auserwählt von Gott zu halten, – den die Welt verdammt, sich von den Menschen verworfen und verachtet zu sehen: wenn seine Seele diesem zwiefachen Drucke erliegt, so muss sie sich nach dem natürlichen Lauf der menschlichen Leidenschaften ganz in Hass und Rache verzehren; es wird sich hier ein Rachedurst entzünden, der dämonisch und in niedrigen Naturen so bestialisch wütet, dass er das Fleisch vom Herzen des Feindes losreißen möchte. […] Und wenn eine große Seele diese Leidenschaften … überwältigt; wenn sie ihrem Glauben, der zugleich der stolzeste und der unterdrückteste ist, die Duldung abringt, so kommt es zu einem Nathan. Diese Duldung hat den schwersten Kampf bestanden. Und was wäre auch die Duldung, wenn sie nicht geduldet und gelitten hätte? Hier sehe ich, was sich der gottergebene Mensch für Taten abgewinnen kann. Mit dieser Duldung wird er freilich nicht mehr diesen Glauben repräsentieren, aber die Duldung wäre leicht, sie wäre nicht, was sie ist, wenn er diesen Glauben gering schätzte, wenn er innerlich nichts mit ihm gemein hätte. Er fühlt ihn immer noch als den seinigen, als den Glauben seines Volks und seiner Väter, mit dem er durch tausend unlösbare Bande verknüpft ist: er repräsentiert das Judentum nicht, aber er ist ein Jude und bleibt einer. Nicht weil das Judentum die Religion der Duldung, sondern weil es das Gegenteil ist: darum ist Nathan ein Jude. Wer möchte diesen Nathan, wenn er ihn richtig versteht, noch anders wollen? Ihn bezeichnet der bewundernde Ausruf des Tempelherrn: Welch’ ein Jude – Und der so ganz nur Jude scheinen will!“ (Fischer 1881, 166 ff.) Dies ist wohl auch eine Antwort auf die von Nisbet aufgeworfene Frage, „warum Lessing einen Juden zur Hauptfigur und zum Muster der Weisheit gemacht hat“ (Nisbet 2008, 805).  XVIII, 289. Zugleich machte Lessing für seinen „Nathan“ freilich geltend: „Ich glaube, eine sehr interessante Episode [zu Boccaccios Decamerone] erfunden zu haben, dass sich alles sehr gut soll lesen lassen und ich gewiss den Theologen einen ärgern Possen damit spielen will, als noch mit zehn Fragmenten“ (so in dem zitierten Brief Lessings an den Bruder v. 11.8.1778: XVIII, 285 f.). Zur Ankündigung des „Nathan“ und zu „Zeugnissen zur Entstehung“ desselben s. Göpfert-Ausgabe 2, 718 ff, ebenso „zur Aufnahme und Kritik“: ebd. 750 ff.

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III Lessings „Nathan der Weise“ in der Sicht Kants

des Lessing-Freundes Mendelssohn und Jacobis⁷ aus: Der „Nathan“ überrage alles, was er bis dahin geschrieben habe (so Mendelssohn an Karl Lessing im Jahr 1781), weshalb das besondere „Verdienst dieses Werkes“⁸ zu rühmen sei. Indes, auch dem Lob für den „Nathan“ in Mendelssohns „Morgenstunden“ hätte Kant offensichtlich nicht zugestimmt.⁹ Die erstaunlich direkte Stellungnahme Kants verlangt jedenfalls eine Erklärung. Welche leitenden Gesichtspunkte in Kants kritischer Diagnose wären also geltend zu machen, die seine Distanz zu Lessings „Nathan“ erklären¹⁰ und seine

 Auch Jacobis Stellungnahme war begeistert: „Nathan den Weisen, wovon ich ein Exemplar … eine Stunde vor meiner Abreise aus München, durch den guten Boten erhielt, habe ich unter Wegens unter tausend Ausrufungen des Entzückens zweimal gelesen. Schenk und ich, wir rissen einander die Bogen aus den Händen, und es war gut, dass wir bei unserer Ankunft frische Exemplare fanden“ (Brief Jacobis an Lessing v. 20.8. 1779, zit. n. Fick 511), wenngleich Jacobi „mit dem Schluss des Nathan … aber doch nicht ganz zufrieden“ war (so in diesem Brief an Lessing, zit. n. Bohnen-Schilson [Band 9] 1993, 1199 f.).  Mendelssohn, JubA 13, 7. Mendelssohn hat sich über Lessings Nathan geradezu enthusiastisch geäußert: „Von einem Werke des Geistes, das eben so sehr über Nathan hervorragte, als dieses Stück in meinen Augen über alles, was er bis dahin geschrieben, kann ich mir keinen Begriff machen. Er konnte nicht höher steigen, ohne in eine Region zu kommen, die sich unsern sinnlichen Augen völlig entzieht; und dies tat er“ (ebd.). Kant blieb auch von Mendelssohns LessingEinschätzung in den „Morgenstunden“ offenbar unbeeindruckt. Neben M. Mendelssohn hat auch J. E. Biester den „Nathan“ mit Begeisterung aufgenommen, ebenso Schiller. Vgl. auch Goethes Würdigung des „Nathan“ in seinem Aufsatz „Über das deutsche Theater“.  Auch Kant teilte offenbar die Einschätzung nicht, die Lessing bei den Theologen erwartete: „Die Theologen aller geoffenbarten Religionen werden freilich innerlich darauf schimpfen; doch dawider sich öffentlich zu erklären, werden sie wohl bleiben lassen“ (XVIII, 293). – Th. Mann hat (im Anschluss an Schlegel) den „Nathan“ als den „zwölften Anti-Goeze“ bezeichnet (Mann 139). Nach Schlegel ist der „Nathan“ „unstreitig das eigenste, eigensinnigste und sonderbarste unter allen Lessingischen Produkten.“ (Schlegel 28) Schlegels Überzeugung war dies: „ … so hat doch die Philosophie wenigstens gleiches Recht, sich das Werk zu vindizieren, welches für eine Charakteristik des ganzen Mannes, eigentlich das klassische ist, indem es Lessings Individualität aufs tiefste und vollständigste, und doch mit vollendeter Popularität darstellt. Wer den Nathan recht versteht, kennt Lessing.“ (Schlegel 27). Die Frage ist freilich: Kann man den ‚Nathan recht verstehen‘?  Und ungeachtet dessen, dass doch auch Kants Zustimmung zu den zentralen Anliegen Lessings zu erwarten ist, d.i. der Kampf gegen alle „Untugenden, die der religiöse Unverstand gedeihen lässt, und deren jede sich an dem Glauben der Menschen versündigt: die Untugenden der Gleichgültigkeit, Unduldsamkeit und Schwärmerei. Das Widerspiel derselben in einem leuchtenden Vorbilde zu verkörpern, war die Aufgabe, die Lessing zum Thema seines Nathan machte, der schon deshalb aus keiner polemischen Absicht entstehen konnte“ (Fischer 1881, 35 f.). Diese angeführten „Untugenden“ hat Fischer in einer feinsinnigen und erhellenden Analyse der im „Nathan“ auftretenden Personen in einer „Charakter-Studie“ (im zweiten Abschnitt seiner Studie) analysiert. Dies gilt auch für seine Charakterisierung des Klosterbruders und auch Rechas. Be-

1 Ein – grundsätzlicher – Einwand Kants

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Ratlosigkeit verständlich machen könnten, was Lessings „Nathan“ eigentlich „haben will“? Vor dem Hintergrund der schon skizzierten teilweisen Übereinstimmungen mit zentralen religionsphilosophischen Auffassungen Lessings sowie der kantischen Kritik daran soll also diese kritische Einstellung Kants zu Lessings „Nathan“¹¹ und seine Aufdeckung tadelnswerter „wirklicher Fehler“ (s.o. 194) wenigstens in einigen Hauptmotiven verständlich gemacht werden. Es spricht in der Tat vieles dafür, dass Kant die für Lessings „Nathan“ bestimmende religionsphilosophische Konzeption in entscheidenden Punkten als unverträglich mit seiner Konzeption eines „moralischen Monotheismus“ und einem entsprechenden Religionsverständnis angesehen hat. Die Maßstäbe dieses „moralisch bestimmten Monotheismus“ fungieren bei Kant wohl auch als Haltesignale gegenüber der Lessing’schen Einladung „Introite, nam et heic Dii sunt“¹² – bekanntlich das ‚Motto‘ in Lessings „Nathan“ –, wodurch Kant vermutlich allzu leicht auch dem „Heidentum“ Tür und Tor geöffnet sah. Die hauptsächlichen diesbezüglichen religionsphilosophischen Differenzen seien im Folgenden nachgezeichnet. In Kants distanziertem Verhältnis zu Lessings „Nathan“ scheint sich vornehmlich der schon erwähnte Sachverhalt widerzuspiegeln, dass er, im Unterschied zu Lessing, letztendlich allein das Christentum – freilich seiner „Idee“, nicht dem „empirischen Begriff der biblischen Glaubenslehre“ nach – als der

merkenswert ist freilich auch, dass nach Lessing allein Nathan der Stimme der „wiederkehrenden Vernunft“ folgt, d. h. in der Rettung Rechas prinzipien-geleitet ist, während die Rettungsmaßnahmen Saladins und des Tempelherrn sich offenbar lediglich der ‚zufälligen‘ wohltätigen ‚Gestimmtheit des Affekts‘ verdanken.  In den Reflexionen zur Anthropologie findet Kants (vermutlich gegen Hamann und auch Herder gerichteter) Unmut Ausdruck: „Wollte Gott, wir wären mit orientalischer Weisheit verschont geblieben; man kann nichts daraus lernen und die Welt hat niemals von ihnen als eine Art mechanischer Kunst, die Astronomie, Zahlen etc. gelernt. Wenn wir schon okzidentale Bildung durch die Griechen hatten, so konnten wir in die orientalischen Schriften Verstand hinein denken, niemals aber haben sie durch sich selbst den Verstand aufgeklärt. Es war zwar einmal ein Weiser, welcher sich ganz von seiner Nation unterschied und gesunde praktische Religion lehrte, die er seinen Zeitläuften gemäß in das Kleid der Bilder, der alten Sagen einkleiden musste: aber seine Lehren gerieten bald in Hände, welche den ganzen orientalischen Kram darüber verbreiteten und wiederum aller Vernunft ein Hindernis in den Weg legten.“ (AA 15, 345, datiert f. 1772– 1775) Es ist dies möglicherweise ein direkt auf Lessing (seine Schrift „Die Juden“) gemünzter Vorwurf; Kants Verwerfung des „orientalischen Krams“ liest sich beinahe wie eine direkte Antwort auf Lessings affirmative Bezugnahme auf den Gedanken der „Seelenpräexistenz und Metempsychose“ bei den „Ägypter(n) und Chaldäer(n) und Perser(n), kurz alle(n) Weisen des Orients“ (XVI, 525).  Zu diesem Motiv Lessings s. auch die Hinweise bei Schilson 1997, 15 ff. Dieses Motto kann sich sowohl auf die betonte „Gleichwertigkeit“ der „abrahamitischen Religionen“ beziehen als auch auf Lessings (nach der Zensur erhobenen) Anspruch, das Theater als die „wahre Kanzel“ zu begreifen, worin offenbar ebenfalls „das Göttliche anwesen“ soll.

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III Lessings „Nathan der Weise“ in der Sicht Kants

„natürlichen Religion“ entsprechend anerkennen wollte,¹³ während er ebendies – aufgrund der von ihm darin vermissten „moralischen Prinzipien“ – dem Judentum und auch dem Islam gleichermaßen entschieden abgesprochen hat (s. dazu o. II., 5.1. u. 5.2.).¹⁴ Es ist deshalb der Sache nach – indirekt oder auch direkt – wohl auch gegen Lessings „Nathan“ gerichtet, wenn Kant betont, dass „unter allen öffentlichen [Religionen], die es je gegeben hat, allein die christliche ist“ (RGV, AA 06: 51.37– 52.1), die – als „moralische Religion“¹⁵ – als eigentliche und „vollständige Religion“ (RGV, AA 06: 162.14)¹⁶ gelten könne,¹⁷ weil, wie erwähnt, der „Keim des

 Auffallend ist in dieser Hinsicht auf das Ideal der „natürlichen Religion“ nicht zuletzt Kants Würdigung der „brahmanischen Religion“: „Ihre Religion hat eine große Reinigkeit gehabt. Ein paar hundert Jahre vor Christi Geburt aber ist sie mit vielen abergläubischen Dingen versetzt worden, die zum Teil symbolisch sein sollten und am Ende Gegenstände der Devotion wurden. Doch findet man darin Spuren von einem reinen Begriff von der Gottheit, die man nicht leicht anderswo findet, z. E. Gott sagt: ich bin die höchste Weisheit und Quelle aller Wesen, forsch nicht hinter mein Wesen, das unbegreiflich ist, sondern trachte darnach durch einen frommen Wandel meinen Gesetzen dich gemäß zu verhalten. Und gewiss, das wäre auch wohl besser, als unter [über] unerforschlichen Dingen zu grübeln und auch wohl zu glauben, das sei ein Verdienst, mit seinen Spekulationen Vernunftgeheimnisse ausforschen zu wollen.“ (zit. n. Glasenapp 1954, 33)  Cunico weist zu Recht darauf hin, dass diese Erziehungsperspektive Lessings insofern in einer unübersehbaren Spannung zu seinem „Nathan …“ steht, „wo die drei Schriftreligionen (Judentum, Christentum und Islam) so gut wie parithetisch auftreten und gerade nicht durch ihre theologischen und Moralvorstellungen unterschieden werden, während auch die anderen Religionen (von dem zum Parsismus neigenden Derwisch vertreten) nicht vernachlässigt oder hintangestellt werden … In der Erziehung dagegen werden der Islam so wie fast alle anderen Religionen außer Acht gelassen“ (Cunico 2015a, 50). Dass diese drei Religionen im „Nathan“ „in einem relativ wertfreien Nebeneinander“ (ebd. 55) dargestellt werden, ebendies markiert nach Kant jedoch eine offenkundige Nivellierung der religiösen Prinzipien, die durch den „reinen Religionsglauben“ definiert sind.  Damit ist Rohrmosers Einschätzung nicht so ohne weiteres vereinbar: Dass der zum Erzieher „für andere“ gewordene „Nathan … ein Jude ist“, bestätige ihm zufolge „das positive Vorurteil Lessings für die jüdische Religion, wie sie für ihn durch seinen Freund Moses Mendelssohn repräsentiert wurde, … aber hier eine rein theologische Bedeutung“ habe (Rohrmoser 1958, 117). Zu einer ganz anderen Einschätzung des „Nathan“ kommt K. Fischer (1881); Fischers diesbezügliche Interpretation der Nathan-Figur ist wohl angemessener als diejenige Rohrmosers. – Mit der so nachdrücklich geltend gemachten „strategischen Aufwertung des Islam“ rückt Kuschel in seiner Lessing-Interpretation freilich einen ganz anderen – neuen – Aspekt in den Vordergrund.  Die Frage, „welches unter den drei Gesetzen du für das wahre hältst, das jüdische, das sarazenische oder das christliche“ (so in „Das Dekameron“ von Boccaccio: Bohnen-Schilson 1993, 1154 f.) ist nach Kant im Grunde falsch gestellt, weil sie allesamt den allein im „moralischen Gesetz“ fundierten unbedingten Anspruch der „vollständigen Religion“ unterbieten. Deshalb ist auch die Folgerung in Dekameron unbefriedigend: „Jedes der [drei] Völker glaubt seine Erbschaft, sein wahres Gesetz und seine Gebote zu haben, damit es sie befolge. Wer es aber wirklich hat, darüber ist, wie über die Ringe, die Frage noch unentschieden“ (Bohnen-Schilson 1993, 1156).

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wahren Religionsglaubens, so wie er jetzt in der Christenheit zwar nur von einigen, aber doch öffentlich gelegt worden“ sei (RGV, AA 06: 131.32– 34). Auch die in Lessings „Ringparabel“ erkennbare Einschätzung bzw. Würdigung des Judentums sowie des Islam erschien Kant deshalb offenbar – im Blick auf die zugrunde gelegten Maßstäbe bzw. deren Perspektiven – als viel zu undifferenziert, als zu ‚affirmativ‘¹⁸ und bedeute somit einen „wirklichen Fehler“. Die in Lessings „Ringparabel“ – jedenfalls in fundamentalen Bezügen – als ‚gleichrangig‘ behaupteten monotheistischen Weltreligionen werden von Kant hingegen ganz unterschiedlich gewichtet, weil ihm zufolge, mit den Worten Lessings, wohl zwar manche „den Stempel, aber doch nicht das wahre Gewicht der Münze“ (vgl. Nathan: v. 1869 ff.) haben.¹⁹ Dagegen kann ihm zufolge auch das von Lessing für „Nathans“ Gesinnung reklamierte: „Jud‘ und Christ und Muselmann und Parsi, alles ist ihm eins“ (s. Nathan: v. 1069 – 1071)²⁰ nicht aufgeboten bzw. ausgespielt werden.²¹ Demnach

 Dass „die Rangunterschiede … auch von der Grundstruktur menschlichen Erkennens, Glaubens und Vertrauens her“ (Kuschel 2004, 167) aufgehoben seien, hätte Kant entschieden bestritten, die von Lessing vertretene „gleiche Gültigkeit“ (ebd. 172) hätte er mit Rücksicht auf den Primat der Moralität (und die damit verbundenen ‚anthropologischen‘ Konsequenzen) nicht akzeptiert. Kant hätte (mit Bezug auf die im „moralischen Monotheismus“ enthaltenen Kriterien) Lessing also doch widersprochen, wenn gelten soll: „Lessings Religionstheologie läuft auf eine theologische Rechtfertigung der prinzipiellen Gleichwertigkeit der Religionen hinaus, da in allen [!] Religionen die gottentsprechende Liebe gelebt werden kann“ (ebd. 177).  Wenn nach Kuschel im „Nathan“ der „Islam als die neben dem Christentum zweite religiöse ‚Großmacht‘ … wie nie zuvor in Lessings Werk in den Vordergrund“ tritt (Kuschel 2011, 81), so mag auch dies ein weiterer Grund für Kants abschätziges Urteil über den „Nathan“ gewesen sein.  Als irritierend mag Kant deshalb Lessings Zugeständnis an den „Nathan“ empfunden haben: „Bald aber fängt mich dieser Jud‘ an zu verwirren“ (Nathan: v. 1252 f.); dem steht die – ein wenig boshafte – Einschätzung Hamanns (aus den Jahr 1779) entgegen (s.o. III., Anm. 3), Kant habe den „Nathan“ wohl lediglich als den „zweiten Teil“ des Stückes „Die Juden“ angesehen.  Fick weist darauf hin, dass „Lessing offenkundig eine Konfrontation der Europäer mit den hohen moralischen und religiösen Standards der Japanerin [Tonsine] plante, wobei er sein Wissen vermutlich aus Bayles Lexikon gezogen habe … Dort werde die Weisheit der Japaner so beschrieben, dass sich ein der spinozistischen Philosophie nicht unähnliches Gedankengebäude ergebe“ (Fick 332).  K. Fischer hat sehr entschieden die Auffassung zurückgewiesen, „dass in den Charakteren unserer Dichtung [„Nathan …“] die drei Religionen personifiziert sind oder sein wollen: im Nathan das Judentum, im Patriarchen, der Daja, dem Tempelherrn und dem Klosterbruder das Christentum, in Saladin, Sittah und Al-Hafi der Islam. Schon wegen ihrer Unvollständigkeit stimmt die Rechnung nicht. Wo bleibt Recha? Und Al-Hafi mit seiner Vorliebe für die Parsen, mit seiner Sehnsucht nach den Lehrern am Ganges ist schwerlich ein dem Islam gemäßer Typus“. Darüber hinaus benennt Fischer noch „eine Reihe anderer innerer Gründe … um zu zeigen, wie wenig Lessing daran gedacht hat, in seinem Nathan uns Exemplare der drei Religionen vorzuführen“ (Fischer 1881, 89; vgl. dazu ebd. 89 ff.). Fischer verweist anschließend auf eine auch

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schien Kant die von Lessing als Grundbotschaft verkündigte „Gleichheit der Offenbarungsreligionen“,²² die derart ihres ‚Absolutheitsanspruches‘ beraubt sind, offenbar als zu nivellierend und lasse so ihren eigentlichen ‚letzten Zweck‘ nicht hinreichend erkennen. Von einer „Gleichheit der Offenbarungsreligionen“ hätte Kant wohl schon deshalb nicht gesprochen, weil ihm zufolge sein „moralisch bestimmter Monotheismus“ demgegenüber durchaus differenzierte Kriterien anzubieten vermag, die eine kritische Abwägung derselben bzw. eine Entscheidung darüber ermöglichen und dies gleichermaßen fordern.²³ Vergleichsweise zurückhaltender ist diesbezüglich jedoch der schon erwähnte Hinweis Kants (in der späteren Schrift über den „Streit der Fakultäten“: SF, AA 07: 36.32), dass, „soviel wir wissen, das Christentum die schicklichste Form“ der auf „göttliche Offenbarung“ gestützten „Glaubensarten“ sei;²⁴ dies ist unüberhörbar vorsichtiger als jene angeführte Bezugnahme auf die „moralische Religion“ in seiner Religionsschrift, der zufolge im Grunde „unter allen öffentlichen, die es je gegeben hat, allein die christliche“ als eine solche gelten dürfe. Kants Kennzeichnung des Christentums als alleinige „moralische Religion“ und als die „schicklichste Form“ unter den

diesbezüglich enge motivliche Verbindung zwischen Lessings Erziehungsschrift und seinem „Nathan“: Zeigt er uns in der erstgenannten Schrift „die Religion im Stufengange der Menschheit“, so zeige „er sie in seinem Nathan … in einer Stufenleiter von Charakteren, die von den geoffenbarten Religionen erzogen sind, den Glaubenskrieg um die Weltherrschaft vor sich sehen und in ihrer eigenen Gemütsart, in dem, was sie sind oder nicht sind, den Stufengang der Glaubensläuterung darstellen“ (Fischer 1881, 92 f.).  So die übereinstimmende Einschätzung von Kuschel,Vollhardt, Assmann. – Timm tritt freilich der weit verbreiteten Auffassung entgegen, „als ob aus der Gleichgültigkeit aller offenbarungstheologischen Positivitäten eine Abkehr ins praktische Engagement gefolgert werde. In Wahrheit exponiert Nathan die religiöse Grundfrage in einer Form, die zu neuartigen theoretischen Aktivitäten motivieren will. Er weist über sich selbst hinaus“ (Timm 1974, 20). Anhaltspunkte für diese „theoretischen Aktivitäten“ sind aber wohl am ehesten in den Fragen des Sultans zu finden.  Dieser „moralisch bestimmte Monotheismus“ ist nicht zuletzt ein Bollwerk gegen jene vom Tempelherrn beklagte „fromme Raserei, den bessern Gott zu haben, diesen bessern der ganzen Welt als besten aufzudringen“ (Nathan: v. 1287 ff.).  Wohl auch als ein berührendes Zeugnis für die noch beim späten Kant beibehaltene Einstellung zum Christentum darf die in Refl. 6369 (AA 18, 693, aus der Zeit nach 1800) angeführte Zustimmung zu einer Notiz Lichtenbergs gelesen werden. Dort heißt es: „Neben dem Anfang des [Lichtenberg’schen] Satzes: ‚Ich glaube von Grund meiner Seele und nach der reifsten Überlegung, dass die Lehre Christi, gesäubert vom Pfaffengeschmiere, und gehörig nach unserer Art sich auszudrücken verstanden, das vollkommenste System [!] ist, das ich mir wenigstens denken kann, Ruhe und Glückseligkeit in der Welt am schnellsten, kräftigsten, sichersten und allgemeinsten zu befördern’ stehen, mit Rotstift von Kant geschrieben, die Worte: Ich auch.“ Dies weckt nicht nur Assoziationen zu Kants Bestimmung des Christentums als „natürlicher Religion“, sondern ruft gleichermaßen seine Bemerkung in Erinnerung, wonach es „unmöglich“ sei, „ohne Religion seines Lebens froh werden zu können“ (Refl. 8106, AA 19, 649).

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„Glaubensarten“ widerspricht jedenfalls, freilich in unterschiedlichen Akzenten, den von Lessing und Mendelssohn geltend gemachten Auffassungen. Ein gemeinsames Fundament für die drei monotheistischen Religionen ist nach Kant angesichts der ‚prinzipiellen‘ Differenzen (vorläufig) nicht in Sicht, sind doch die „Glaubensarten“ nicht nur historisch-empirisch, sondern wohl auch nach dem Richtmaß ‚guter Gründe‘ und der inneren „Beglaubigung“ voneinander unterschieden. Deshalb kann man, dies wäre Kants entschiedene Antwort auf Nathan, eben auch „kein Jude“ und „kein Muselmann“ sein. Schon in Lessings frühem Diktum „Die Wahrheit rühret unter mehr als einer Gestalt; unter dieser gefällt sie den Weltwesen, unter jener dem Hofmanne“,²⁵ hätte Kant wohl die auch noch später vermutete ‚Prinzipienvergessenheit‘ gesehen, die auf einem lediglich ‚äußerlich‘ bleibenden, empirischen Vergleich beruht. Mag diesbezüglich auch die „Ungewissheit“ unaufhebbar sein, „die ein jeder in sich fühlt, welcher Glaube (unter den historischen) der rechte sei, indessen dass der moralische allerwärts der nämliche ist“ (RGV, AA 06: 132 Anm.). Schon dies ist offenbar auch gegen eine voreilig geltend gemachte ‚Gleichrangigkeit‘ der Religionen (als „Glaubensarten“) gesagt, obgleich Kant – auf dieser bloß empirisch-historischen Ebene – dafür ja durchaus ein gewisses Verständnis zeigte, wenn davon die Ebene der ‚Prinzipien‘ jedenfalls genau unterschieden bleibt. Diese notwendigen Differenzierungen habe Lessing mit seinem Urteil „gegen alle positiven Religionen“ (s.u. III., Anm.33), das eine nivellierende Äquidistanz zu ihnen erkennen lässt, jedoch versäumt. Diese im Entwurf zur Vorrede von Lessings „Nathan“ behauptete – mit dem Programm der ‚Aufklärung‘ im Grunde unvereinbare – Äquidistanz wird ja auch in der nur wenig später erschienenen „Erziehungsschrift“ nicht befolgt.

1.1 Eine daraus resultierende Skepsis gegenüber Lessings zu undifferenzierter Gesinnung „gegen alle positiven Religionen“ – unvereinbar mit dem Geist „wahrer Aufklärung“? Kant hätte jedoch Lessing vermutlich auch einer sachlichen Unstimmigkeit bzw. Inkonsequenz geziehen. Ist doch in der Tat der – zu seinem „Nathan“ in einer gewissen Spannung stehende – Sachverhalt nicht zu übersehen, dass Lessing in der (zeitnahen) „Erziehung des Menschengeschlechts“ der jüdischen Religion ausdrücklich das Stadium der Kindheit zuweist, während das Christentum (mit dem Neuen Testament) mit dem Knabenalter identifiziert wird (so im §71 der Erziehungsschrift) – also beide auch bei Lessing hier nicht auf ein und derselben

 IV, 277.

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III Lessings „Nathan der Weise“ in der Sicht Kants

Stufe stehen²⁶ (und der Islam dabei, wie erwähnt, überhaupt ortlos bleibt, s. auch u. III., Anm.189).²⁷ Ähnliches gilt dann wohl auch für die in Lessings Erziehungsschrift (§§ 53 ff.) geltend gemachte religionsgeschichtliche Perspektive: „Ein bessrer Pädagog muß kommen, und dem Kinde das erschöpfte Elementarbuch aus den Händen reißen. – Christus kam“²⁸ – d.i. der von „Gott erleuchtete Lehrer“,²⁹ ein „zuverlässiger, praktischer Lehrer der Unsterblichkeit der Seele“.³⁰ Diese in der „Erziehung des Menschengeschlechts“ bestimmende Einschätzung hätte Kant deshalb auch als nicht so ohne weiteres vereinbar angesehen mit der im „Nathan“³¹ geltend gemachten „Gleichheit der Offenbarungsreligionen“.³² Nicht zu-

 Kondylis merkt dazu an: „Daraus ergibt sich auch der unterschiedliche Standpunkt der Erziehungsschrift von dem des Nathan. In diesem sind alle positiven Religionen im Hinblick auf die Vernunft- bzw. Humanitätsreligion … gleichberechtigt, während sie in der Entwicklungsperspektive der Erziehungsschrift aufeinanderfolgen – m. a. W.: im Nathan sind Judentum und Christentum parallele Erscheinungen, deren dogmatische Unterschiede nicht sonderlich interessieren – die Einbeziehung des Mohammedanismus lässt diese Gleichgültigkeit noch mehr auffallen –, während in der Erziehungsschrift das Christentum dem Judentum klar überlegen ist. Nathans Humanitätsreligion bedeutet weder Abschaffung noch Überwindung der positiven Religionen, sondern nur Neutralisierung ihrer rein positiven Aspekte und Verschmelzung ihrer vernünftigen Kerne miteinander; sie existiert neben den positiven, die in dem Maße verurteilt und bekämpft werden, wie sie das Vernünftige durch das Positive zu ersticken drohen (Patriarch, Daja). In der Erziehungsschrift setzt sich die Vernunftreligion durch, nachdem die positiven Religionen ihre erzieherische Rolle erschöpft und die geschichtliche Bühne verlassen haben. Der Sinn der Theorie von den drei Zeitaltern ist dem der Ringparabel geradezu entgegengesetzt.“ (Kondylis 610) Vollhardt möchte den Widerspruch zwischen dem „Nathan“ und der Erziehungsschrift durch den Hinweis auf die „poetische Anlage auch der Erziehungsschrift“ wenigstens „mildern“ (Vollhardt 2013a, 92).  Unter „Erziehung“ ist demnach „doch nur die Entwicklung vom Judentum zum Christentum und darüber hinaus zum ‚neuen ewigen Evangelium‘ der Zukunft zu verstehen“ (Guthke 50). Der Islam und andere Religionen spielen darin jedoch offenbar keine Rolle, was auch Cyranka kritisch anmerkt: „Dass Lessing sich in der Erziehungsschrift nur dem Judentum und dem Christentum gegenüber positiv und also tolerant äußerte, muss nämlich dann verwundern, wenn man den Text ausschließlich von den allgemeinen, auf alle Religionen – also auf einen allgemeinen Religionsbegriff – bezogenen Aussagen des Vorworts her entfaltet. Es ist aus dieser Perspektive schlechterdings nicht einzusehen, warum Lessing zunächst die Frage nach allen positiven Religionen stellt und dann in der Erziehungsschrift positiv nur auf Judentum und Christentum eingeht, des Islam, der im Nathan so schön geschildert wird, nicht gedenkt, von der Behandlung anderer Religionen ganz zu schweigen.“ (Cyranka 157) Nicht zuletzt mit Blick auf die im „Nathan“ dem Sultan eingeräumte Stellung (s.u. 213 f.) ist dies überraschend.  §53 der Erziehungsschrift: XIII, 427.  XIV, 157.  § 58 ff der Erziehungsschrift: XIII, 428 f.).  Die (allerdings offenbar schon vor dem „Nathan“ fertiggestellte) Erziehungsschrift setzt gegenüber dem „Nathan“ unübersehbar einen anderen ‚offenbarungstheologischen‘ Akzent.

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letzt dies erklärt vermutlich auch Kants – prinzipien-motivierte – Distanz zur „Ringparabel“, die wohl vornehmlich mit seinem Verständnis der natürlichen Religion (bzw. dem „reinen Religionsglauben“ als der „vollständigen Religion“) und deren Verhältnis zu den „geschichtlichen Glaubensarten“ zusammenhängt. Kants Absage an die historischen Ansprüche der „Glaubensarten“ ist inspiriert vom Anspruch der „allgemeinen Menschenreligion“, die auf „der allgemeinen, jedem gemeinen Menschen beiwohnenden Vernunftreligion“ (SF, AA 07: 63.24– 25) gegründet ist. Die „Offenbarungsreligionen“ als „historische Glaubensarten“ sind nach Kant durchaus ‚kriteriell‘ unterscheidbar, sofern sie eben zugleich „natürliche Religion“ sein sollen, aber dies – im Falle des Judentums und des Islam – doch nicht sind, d. h. ihren Ansprüchen als „reiner Vernunftsache“ nicht genügen. Aber auch Lessings Bekenntnis: „Nathans Gesinnung gegen alle [!] positiven Religionen ist von jeher [!] die meinige gewesen. Aber hier ist nicht der Ort, sie zu rechtfertigen“³³ (so heißt es in einem Entwurf zur Vorrede des „Nathan“³⁴) steht in einer unübersehbaren Spannung zu anderen Auffassungen Kants – jedenfalls auch zu dessen Verhältnisbestimmung der „historischen“ und der „natürlichen Religion“. Auch ist nicht zu übersehen, dass diese soeben zitierte Sichtweise von Lessings „Gesinnung“³⁵ in der späteren „Erziehungsschrift“ entscheidend modi Strohschneider-Kors weist darauf hin, „dass im Drama nicht, wie in der Erziehungs-Schrift eine zeitliche, als Vervollkommnungsfortschritt gedeutete Sukzession von Religionsstufen oder -epochen zum Thema erhoben ist, sondern dass ein konkret gegenwärtiges Nebeneinander dreier geschichtlicher Religionen dargestellt erscheint“ (Strohschneider-Kors 1987, 427). Dies verrät freilich eine schwerwiegende Unausgeglichenheit in Lessings Einschätzung.  XVI, 444. Diese Bemerkung ist zwar in gewisser Weise zweideutig, zumal dieses „gegen alle Religionen“ auch im Sinne eines ‚über‘, ‚gegenüber aller Religion‘ gelesen werden kann; der Hinweis „Aber hier ist nicht der Ort …“ scheint jedoch die „polemische Lesart“ zu begünstigen. Dies gilt besonders auch für die aus diesem Entwurf zur Vorrede des „Nathan“ stammende Notiz, wonach „der Nachteil, welchen geoffenbarte Religionen dem menschlichen Geschlechte bringen, zu keiner Zeit einem vernünftigen Manne müsse auffallender gewesen sein, als zu den Zeiten der Kreuzzüge“ (XVI, 445).  Auch manche (vor allem briefliche) Äußerungen Lessings im näheren Umfeld seines „Nathan“ lassen indes vermuten, dass er nicht nur auf den Einspruch der „Theologen aller geoffenbarten Religionen“ durchaus gefasst war, sondern im Kern seinen „Nathan …“ eben doch als „gegen alle positiven Religionen“ gerichtet verstanden hat. Für den Grund dieser „gegen alle positiven Religionen“ gerichteten Gesinnung bleibt vor allem diese geplante Vorrede Lessings zum „Nathan“ zu berücksichtigen. Die zitierte Stelle darf wohl als Lessings „endgültige(r) Verzicht auf eine historische Legitimation der positiven Religionen“ gelesen werden, als seine „kritische Grundeinstellung gegenüber aller geschichtlichen Vergangenheit in ihrer bloßen Zufälligkeit und letzten Unzugänglichkeit für die Vernunft“ (Schilson 1974, 96).  Mit Blick auf den späteren „Vorbericht“ zur Erziehungsschrift erkennt Strohschneider-Kohrs hier, dass darin „clare et distincte von den positiven Religionen als realen geschichtlichen Erscheinungen im Entwicklungsgang der Menschheit“ die Rede sei – nicht von einer „jede Ge-

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fiziert, ja sogar korrigiert wird,³⁶ zumal darin offenbar doch eine Neueinschätzung der „positiven Religionen“ zutage tritt (die, wie sich zeigen soll, auch Kants Annäherung an Lessings ‚Erziehungs‘-Idee verständlich machen kann). Mit jener Sympathie-Erklärung für „Nathans Gesinnung gegen alle [!] positiven Religionen“, die sich Kant offenbar (mit Blick auf das Christentum der „Idee nach“) nicht so ohne Weiteres zu eigen machen konnte,³⁷ ist jedenfalls die in Lessings Erziehungsschrift entfaltete geschichtsphilosophisch-religionsgeschichtliche Perspektive nicht recht verträglich; der Eindruck einer Inkonsistenz bzw. einer Lessing’schen Inkonsequenz gegenüber dem in der „Erziehungsschrift“ eingeräumten Vorrang des Christentums ist hier in mehrfacher Hinsicht kaum zu vermeiden. Es bleibt dies jedenfalls dann rätselhaft, wenn es mehr besagen soll als die natürlich auch von Kant zurückgewiesene Selbstverabsolutierungen der „historischen Glaubensarten“. Als eine Absage dagegen ist wohl auch Lessings Bemerkung an seinen Bruder Karl zu verstehen: „Es kann wohl sein, dass mein Nathan im Ganzen wenig Wirkung tun würde, wenn er auf das Theater käme, welches wohl nie geschehen wird. Genug, wenn er sich mit Interesse nur lieset, und unter tausend Lesern nur Einer daraus an der Evidenz und Allgemeinheit seiner Religion zweifeln

schichtszeit überschreitenden Progression in eine nur hypothetisch zu denkende Wiedergeburtsoder Seelenwanderungs-Zukünftigkeit“ (Strohschneider-Kohrs 1991, 232).  Gleichwohl bleibt auch diese späte Selbstkorrektur Lessings in einer unübersehbaren Spannung zu jener Auffassung: „Nathans Gesinnung gegen alle positiven Religionen ist von jeher die meinige gewesen“. Dieses Bekenntnis steht auch in einer gewissen Diskrepanz dazu, dass Lessing den Nathan (auf die Frage: „Was für ein Glaube, was für ein Gesetz hat dir am meisten eingeleuchtet?“) doch ausdrücklich bekennen lässt: „Sultan, Ich bin ein Jud‘“ (Nathan: v. 1842). Indes, „Nathans Gesinnung gegen alle positiven Religionen“ kommt vielleicht am deutlichsten in seiner Bemerkung gegenüber dem Sultan zum Ausdruck: „Soll mich bloß entschuldigen, wenn ich die Ringe mir nicht getrau zu unterscheiden, die der Vater in der Absicht machen ließ, damit [!] sie nicht zu unterscheiden wären“ (Nathan: v. 1965 ff.).  Sofern darin sich jedoch auch noch Lessings Kritik an einer „erstarrten Positivität“ der Religionen (bzw. deren „seelenloser Orthodoxie“) manifestiert (und so noch seine Auseinandersetzung mit Goeze widerspiegelt), hätte Kant freilich Lessings bekundete Ablehnung durchaus geteilt. In einem Brief an seinen Bruder vom 11.8.1778 hat Lessing – offenbar mit Verweis auf Goeze – von seinem „Nathan“ betont, dass „dessen Inhalt eine Art von Analogie mit meinen gegenwärtigen Streitigkeiten hat“ (XVIII, 285). Soll Nathan, als Repräsentant der „natürlichen Religion“, das Zeitalter des „neuen Evangeliums“ gewissermaßen verkörpern? Jedoch: „Nathan, der Mensch des Dritten Evangeliums, ist in eine Welt versetzt, die noch weit vor dieser höchsten Stufe der Entwicklung liegt, dem aufgeklärten Zeitalter der Vernunft“ (Barner 1998, 319). Auch Kant sah die Ausbildung einer „allgemeinen Vernunftreligion“ in einem zu errichtenden „(göttlichen) ethischen Staat auf Erden“ „noch in unendlicher Weite von uns entfernt“ (RGV, AA 06: 122.27– 30), eine „allmähliche Annäherung“ sei jedoch gemäß der „wahren Aufklärung“ (als notwendigem Wegweiser) möglich.

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lernt.“³⁸ Indes, nicht solcher Zweifel ist nach Kant das eigentliche Ziel, sondern eher dies, nach Ablegung der „mystischen Hüllen“ der „positiven Religionen“ zum Kern der „natürlichen Religion“, des „moralischen Monotheismus“, vorzudringen. Dieses Ziel hätte Kant mit Blick auf die durch „Allgemeinheit, Einheit und Notwendigkeit“ ausgezeichnete „natürliche Religion“ (der „Idee nach“ das Christentum) in Zweifel gezogen, weil ihm zufolge doch keine der historischen „Glaubensarten“ über die geforderte „Allgemeinheit und Einheit der wesentlichen Glaubensmaximen“ (SF, AA 07: 52.8 – 9) verfügt,³⁹ wenngleich dem „zur Weltreligion berufenen“ Christentum (als der „allgemeinen Menschenreligion“: RGV, AA 06: 155. 25 – 26) zweifellos eine gewisse Sonderstellung eingeräumt wird. Wie dem auch sei: Die seinem „Nathan“ zugedachte Gesinnung „gegen alle positiven Religionen“⁴⁰ hätte Kant in dieser Form jedenfalls kaum akzeptiert, vielmehr hätte er auch darin wiederum eher die Gefahr einer Nivellierung zwischen dem ‚Wesen‘, d.i. „der Idee nach“, und den historischen Erscheinungsformen der Religionen als „Glaubensarten“ gesehen. Dem Urteil Kants zufolge nivelliere eben auch Lessings „Nathan“ damit genau jene Differenz, auf der seine Religionsschrift unbeirrbar insistierte: „Man kann aber alle Religionen in die der Gunstbewerbung (des bloßen Cultus) und die moralische, d. i. die Religion des guten Lebenswandels, einteilen“ (RGV, AA 06: 51.26 – 28)⁴¹ – oder, wie es noch in

 So in seinem Brief v. 18.4. 1779: XVIII, 314. S. dazu Strohschneider-Kohrs 1991, 218 – 237. Indes, schon hier ist im Vorblick auf die „Ringparabel“ zu fragen: Woran soll denn gezweifelt werden, wenn die drei Ringe doch ohnehin – vom Vater gewollt! – gar nicht unterschieden werden können (s.u. Anm. 91, 92, 94, 108)? Es waren wohl auch einschlägige Inkonsistenzen, die Kants Bedenken gegen Lessings „Nathan“ nährten. Die bestehende „Ungewissheit, die ein jeder in sich fühlt, welcher Glaube (unter den historischen) der rechte sei“, hat Kant ja durchaus geteilt, wenn davon nur ja die Ebene des „moralischen Glaubens“ unterschieden bleibt (RGV, AA 06: 132 Anm.).  Es ist der Rekurs auf den ‚Gott aller Menschen‘, der die Frage Rechas gegenüber Daja gebietet: „Wem eignet Gott? Was ist das für ein Gott, der einem Menschen eignet? Der für sich muss kämpfen lassen?“ (Nathan: v. 1556 ff.) Von Daja sagt Recha ja auch: „Ach, die arme Frau – ich sag dir‘s ja – ist eine Christin –muss aus Liebe quälen – ist eine von den Schwärmerinnen, die den allgemeinen, einzig wahren Weg nach Gott zu wissen wähnen“ (Nathan: v. 3585 ff.).  XVI, 444. – Dieser bekundeten „Gesinnung“ widerspricht freilich in gewisser Weise auch Lessings Beteuerung: „ich habe auch … nie das geringste geschrieben, oder öffentlich behauptet, was mich dem Verdachte aussetzen könnte, ein heimlicher Feind der christlichen Religion zu sein“ (XIII, 182 f.). Daran erinnert in der Sache – auch wenn dies bei ihm in einem ganz anderen Kontext steht – Schillers bekanntes Distichon „Mein Glaube“: „Welche Religion ich bekenne? Keine von allen, Die du mir nennst! ‚Und warum keine?‘ Aus Religion“ (F. Schiller, Sämtliche Werke. Band 1, München 31962, 307).  „Was unser Philosoph ‚die Religion des guten Lebenswandels‘ im Gegensatz zur ‚Religion der Gunstbewerbung‘ genannt hat, ist in Lessings Dichtung verkörpert: die eine in Nathan, die andere im Patriarchen. Jenem gilt die Pflicht, ein guter Mensch zu sein als die erste und einzige, dieser

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III Lessings „Nathan der Weise“ in der Sicht Kants

Kants letzten schriftlichen Äußerungen heißt: „Der Religionsglaube ist entweder Geschichtsglaube oder … Vernunftglaube (reiner)“⁴², welcher der „Idee“ des Christentums vorbehalten wird, was nach Kant aus ‚Vernunftgründen‘ durchaus entscheidbar ist.⁴³ Es mag überraschen: „Nathans Gesinnung gegen alle positiven Religionen“, die nicht zuletzt den entscheidenden Unterschied zwischen dem „freien, mithin moralischen Dienst“ Gottes und dem verwerflichen bloßen „Afterdienst“ (s. RGV, AA 06: 179.3 – 7), der das „Nichtwesentliche der Religion zum Religionsstück macht“ (SF, AA 07: 49.23), einebnet – und im Grunde auch den von Kant eingeräumten Stellenwert dieser „positiven Religionen“ als dienlichen „Vehikel(n) für den reinen Religionsglauben“ (RGV, AA 06: 118.23) untergräbt⁴⁴ – ist aufgrund solcher Nivellierung mit der Leitidee der „wahren Aufklärung“ (RGV, AA 06: 179. 6 – 7) doch unvereinbar. Wohlgemerkt, die Frage der Rechtmäßigkeit der

dagegen kennt nur ‚die große Pflicht zu glauben‘, die sittliche Gesinnung hält er für nichts. Den Glauben praktisch zu machen und die Religion von aller unfruchtbaren Glaubensschwärmerei zu läutern, ist in Nathans Erziehung die weise und wahrhaft fromme Absicht.Was gilt ein Glaube, der sich nicht praktisch betätigen kann?“ (Fischer 1910, 367) „Die Religion des guten Lebenswandels im Gegensatze zur bloßen Glaubensschwärmerei ist das Thema in Nathans erster Unterredung mit Recha. Derselbe Gegensatz ist das erste Thema in Kants Religionslehre“ (ebd.). „Und unter allen Dichtungen der Welt gibt es keine, welche gerade diesen Gegensatz [„Rechtfertigung durch den Cultus“ und „Rechtfertigung durch den Glauben und die wiedergeborene Gesinnung“] so mächtig und so rührend zur Anschauung gebracht und dramatisch verkörpert hat, als Lessings Nathan.“ (Fischer 1910, 371)  So in einem aus dem Jahr 1800 stammenden Entwurf zu einem „Prospectus“, der für die Schrift seines Schülers Jachmann gedacht war und auf einem „losen Blatt“ erhalten ist (zit. n. Henrich 1966, 42).  „Das Wesentliche und Vortrefflichste von der Lehre Christi ist eben dieses: dass er die Summe aller Religion darin setzte, rechtschaffen zu sein aus allen Kräften im Glauben d. i. einem unbedingten Zutrauen, dass Gott alsdenn das übrige Gute, was nicht in unserer Gewalt ist, ergänzen werde. Diese Glaubenslehre verbietet alle Anmaßung, die Art, wie Gott dieses tue, wissen zu wollen, imgleichen die Vermessenheit, dasjenige aus eignem Dünkel zu bestimmen, was in Ansehung der Mittel seiner Weisheit am gemäßesten seie, alle Gunstbewerbungen nach eingeführten gottesdienstlichen Vorschriften und lässt von dem unendlichen Religionswahn, wozu die Menschen zu allen Zeiten geneigt sein, nichts übrig als das allgemeine und unbestimmte Zutrauen, dass uns dieses Gute auf welche Art es auch sei, zu Teil werden solle, wenn wir, so viel an uns ist, uns durch unser Verhalten dessen nur nicht unwürdig machen“ (so Kant im Entwurf eines Briefes an Lavater: AA 10, 179).  Indes, „Nathans Gesinnung gegen alle positiven Religionen“ scheint dennoch Lessings Einschätzung einer notwendigen Überwindung der „positiven Religionen“ anzuzeigen und relativiert insofern vermutlich die Auffassung „Die Frage, ob der Nathan eine Vernunftreligion im Sinne des Deismus propagiert oder die Gleichberechtigung der Offenbarungsreligionen fordert, ist bis heute umstritten.“ (Horsch 2004, 71)

2 Ein skeptischer Blick Kants auf Lessings „Ringparabel“?

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kantischen Einschätzung des Judentums und des Islam bleibt davon noch ganz unberührt.

2 Ein skeptischer Blick Kants auf Lessings „Ringparabel“? 2.1 Kants These, dass es „nur eine (wahre) Religion“ geben kann – ein Einspruch gegen Lessings „Ringparabel“. Kant hätte wohl – einerseits – die Antwort Nathans auf die Wahrheitsfrage von Sultan Saladin –„Von diesen drei Religionen kann doch eine nur die wahre sein“ (Nathan: v. 1845 ff.)⁴⁵ – gewiss nicht befriedigt, zumal sie (mit dem Rekurs auf bloße ‚Äußerlichkeiten‘) die Kernproblematik doch nicht einmal berührt: „Spiele nicht mit mir. Ich dächte, dass die Religionen … doch wohl zu unterscheiden wären. Bis auf die Kleidung, bis auf Speis’ und Trank!“ (Nathan: v. 1970 ff.)⁴⁶ Indes, nichts musste – andererseits – den entschiedenen Einspruch Kants mehr provozieren als Nathans direkte Erwiderung auf diesen Protest des Sultans, zumal Nathan hier doch tatsächlich betont, dass er selbst, über diese vom Sultan genannten bloßen ‚Äußerlichkeiten‘ hinaus, keine substanziellen Differenzen zu erkennen vermag – denn, so Nathans (schon zitierte) direkte ‚Erwiderung‘ darauf: „Und nur von seiten ihrer Gründe nicht. – Denn [!] gründen alle [Religionen] sich nicht auf Geschichte?/ Geschrieben oder überliefert! Und Geschichte muss doch wohl allein auf Treu und Glauben angenommen werden? – Nicht?“ (Nathan: v. 1974 ff.)⁴⁷ Genau  Kant unterstützt also offenbar direkt die – zunächst! (s. dazu jedoch u. III., Anm.174) – ja vom Sultan geltend gemachte These, dass es „nur eine (wahre) Religion“ geben könne (RGV, AA 06: 107.28 – 29).  Nicht nur solcher Bezug auf „Außerwesentliches“ erweist sich nach Kant natürlich als völlig irrelevant; Lessings „Ringparabel“ zufolge unterscheiden sich aber die monotheistischen Weltreligionen lediglich durch dieses „Außerwesentliche“: durch „Kleidung“, „Speis und Trank“ – und eben dies ist Kant zu wenig, zumal er auf das „aus der Seele des Menschen selbst [G]eschöpft(e)“ (SF, AA 07: 58.16) setzt, das auch keiner Gefahr der ‚Täuschung‘ ausgesetzt ist.  Es fällt auf, dass solches „Gründen auf Geschichte“ der frühe Lessing (30 Jahre vor dem „Nathan“) jedenfalls nicht als „zureichenden Grund“ für die Geltung der Religion anerkannt hat. So heißt es in einem Brief des zwanzig-jährigen Lessing an den Vater (v. 30. 5.1749): „Die Zeit soll lehren, ob der ein bessrer Xst ist, der die Grundsätze der christl. Lehre im Gedächtnisse, und oft, ohne sie zu verstehen, im Munde hat, in die Kirche geht, und alle Gebräuche mitmacht, weil sie gewöhnlich sind; oder der, der einmal klüglich gezweifelt hat, und durch den Weg der Untersuchung zur Überzeugung gelangt ist, oder sich wenigstens noch dazu zu gelangen bestrebet. Die xstliche Religion ist kein Werk, das man von seinen Ältern auf Treue und Glaube annehmen soll. Die meisten erben sie zwar von ihnen eben so wie ihr Vermögen, aber sie zeugen durch ihre Aufführung auch, was vor rechtschaffne Xsten sie sind. So lange ich nicht sehe, dass man eins der

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gegen diese (‚selbstverschuldete Unmündigkeit‘ begünstigende?) Argumentation⁴⁸ – mit der Nathan diese auf eine „Falle“ abzielende Anfrage des Sultans pariert – wendet sich Kants Einwand, dass Geschichtliches keine Wahrheitsgewähr leisten kann⁴⁹ und deshalb allein die Maßstäbe der „Vernunftreligion“ bzw. des „moralisch bestimmten Monotheismus“ hierfür in Frage kommen (s.o. I., 3.1.), weshalb er auch jene notwendige „innere Beglaubigung“ der natürlichen Religion (s.o. II., 3.3.) davon genau unterschieden hätte, zumal eben „über historische Glaubenslehren der Streit nie vermieden werden kann“ (RGV, AA 06: 115.22– 23). Weil der „Geschichtsglaube“ keine tragfähige Basis bietet,⁵⁰ kommt als taugliches Fundament eben allein die den Maßstäben des „moralisch bestimmten Monotheismus“ genügende „natürliche“⁵¹ und „vollständige Religion“ in Frage, die Kant als die

vornehmsten Gebote des Xstentums, seinen Feind zu lieben nicht besser beobachtet, so lange zweifle ich, ob diejenigen Xsten sind, die sich davor ausgeben.“ (XVII, 17 f.)  Dagegen ist im Grunde Kants auch „auf Tradition und Offenbarung“ Bezug nehmender Einwand gerichtet: „Andererseits werde ich zeigen: dass es in der Tat bloß die Vernunft, nicht ein vorgeblicher geheimer Wahrheitssinn, keine überschwängliche Anschauung unter dem Namen des Glaubens, worauf Tradition oder Offenbarung ohne Einstimmung der Vernunft gepfropft werden kann, sondern … bloß die eigentliche reine Menschenvernunft sei“ es, wodurch es „nötig“ sei, „sich zu orientieren“ (WDO, AA 08: 134.11– 17).  Die motivliche Nähe zu diesem zentralen „Nathan-Thema“ ist unübersehbar, wenn Kant in einem Brief (vom August des Jahres 1783) an Mendelssohn, den engen Freund Lessings, bemerkt, „dass auch endlich die Kirche unserer Seits darauf wird denken müssen, wie sie alles, was das Gewissen belästigen und drücken kann, von der ihrigen absondere, welches endlich die Menschen in Ansehung der wesentlichen Religionspunkte vereinigen muss; denn alle das Gewissen belästigende Religionssätze kommen uns von der Geschichte, wenn man den Glauben an deren Wahrheit zur Bedingung der Seligkeit macht“ (AA 10, 347). Man sieht erneut: In Lessings Ruf: „O Geschichte, O Geschichte! Was bist du?“ (XIII, 404) hätte Kant in dieser Hinsicht durchaus eingestimmt.  Dies hatte Kant offenbar auch mit seinem Hinweis auf den „Offenbarungsglauben“ vor Augen, „der als historischer (obwohl durch Schrift weit ausgebreiteter und der spätesten Nachkommenschaft zugesicherter) Glaube doch keiner allgemeinen überzeugenden Mittheilung fähig ist“, d. h. „eines rechtmäßigen Anspruchs auf Allgemeinheit entbehrt“ (RGV, AA 06: 109.21– 25). Der „historische Glaube“ (der genauer besehen ja eine Art des vermuteten empirischen „Wissens“ sei) kann nach Kant eigentlich auch nicht als ‚Glaube‘ bezeichnet werden (s.o. II., Anm.102).  Mit Blick auf Kants Idee der „natürlichen Religion“ bzw. auf seine Unterscheidung zwischen den „konzentrischen Kreisen“ (s.o. II., 3.2.) ist es freilich besonders denkwürdig, dass Nathan, der „geistige Vater“ Rechas – deren leiblicher Vater Christ ist – „das Mädchen nicht sowohl in seinem, als / vielmehr in keinem Glauben auferzogen,/ und sie von Gott nicht mehr, nicht weniger /gelehrt, als der Vernunft genügt“ (Nathan: v. 2554 ff.); dies könnten nach Kant freilich gar nichts anderes sein als die – partikuläre Maßstäbe überwindenden – Grundpfeiler des „moralischen Theismus“, die sich in dem kantischen „Credo in den drei Artikeln des Bekenntnisses der reinen praktischen Vernunft“ artikulieren, und eben dies auch dem von Nathan in die Seele Rechas eingepflanzten „Samen der Vernunft“ (Nathan: v. 1564) entspricht – d.i. dem „Keim des reinen

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„christliche Religion“ geltend gemacht hat. Die Entscheidung über die Wahrheit der Religionen erlaubt zwar keinen zwingenden theoretischen Beweis, jedoch bietet der „moralisch bestimmte Monotheismus“ (wenigstens ‚ex negativo‘) Maßstäbe, die den kritischen Ansprüchen der „theoretischen“ und der „praktischen Vernunft“ genügen, über die auch der „hundert schöne Farben“ spielende „Opal“ (Nathan: v. 1914) des Ringes und deren glitzernde-blendende Vieldeutigkeit nicht hinwegtäuschen kann. Solche Prüfung – aber auch diejenige der den „Begriff des Menschen als einer Person“⁵² betreffenden notwendigen anthropologischen Differenzierungen (s. o. 78 ff.) – sind so, jenseits „historischer Beweisgründe“, durchaus eine theoretische Angelegenheit,⁵³ d.i. des Wissens (der „theoretischen Auflösung“: RGV, AA 06: 119.4), nicht des „Glaubens“, und widersprechen auch in solcher Hinsicht jener „Gesinnung“ Nathans „gegen alle positiven Religionen“. Wenn Nathan – mit dem Lessing sich wohl ganz identifiziert⁵⁴ – sich von seiner Botschaft wünscht: „Möcht‘ auch doch die ganze Welt uns hören“ (Nathan: v.

Religionsglaubens“ (RGV, AA 06: 131.32). Recha überwindet, als adoptierte Tochter Nathans (ihres „rechten Vaters“), somit die Fixierungen der schlechten ‚Positivität‘ der „historischen Glaubensarten“ – ein Sachverhalt, der unübersehbar darin eine Entsprechung hat, dass Recha, so Kuschel, „wie keine andere Figur im Stück mit den Anteilen aller Religionen ausgestattet“ ist (Kuschel 2016, 170). Recha könne (trotz ihres „Wunderglaubens“ bezüglich ihrer eigenen Rettung?) „in jeder Religion ein Muster der Vollkommenheit sein“, wie Lessing in den Entwürfen zum „Nathan“ (Paralipomena zu Nathan der Weise. In: G.E. Lessing. Werke 1778 – 1780. Hg. v. Bohnen/ Schilson. 9. Band, 657) notiert. – Dass in Rechas Seele der „Same der Vernunft“ „so rein“ eingepflanzt sei, hat so natürlich eine besondere symbolische Bedeutung. Die die monotheistischen „historischen Glaubensarten“ erblich repräsentierende Recha und ihre (abgesehen von ihrem Rest-„Wunderglauben“) davon unabhängige Orientierung am vernünftigen „reinen Religionsglauben“ verkörpert buchstäblich das Erbe der drei abrahamitischen Religionen und bestätigt so geradezu Kants Grundsatz: „Es kann verschiedene Glaubensarten, aber nur eine Vernunftreligion geben“. Indes, dass ausgerechnet der Jude Nathan Recha in diesem „Geist der Vernunftreligion“, d. h. den Prinzipien des „Vernunftglaubens“ gemäß, erzogen haben soll, war für Kant wohl nicht einleuchtend, weil mit seiner (sehr problematischen) Sichtweise des Judentums ganz unverträglich (s. dazu auch II., Anm. 345). Zur Frage, „warum Nathan ein Jude sein musste“, s. o. III., Anm.5.  AA 23: 278.7.  „Das bedeutet, dass die reine Vernunftreligion (die von der Religionsphilosophie rekonstruiert wird, aber in der praktischen Vernunft eines jeden Menschen gründet) der Interpretationsfilter und zugleich der entscheidende Echtheitsmaßstab jeglicher Botschaft ist, die sich als geoffenbart, d. h. als von Gott direkt herkommend darstellt“ (Cunico 2015a, 71).  Oelmüllers Ansicht, dass Lessing „sich als Verfasser keineswegs mit seinen dramatischen Gestalten“ identifiziere, „selbst nicht mit seinem Nathan“ (Oelmüller 39), kann indes nicht überzeugen.Vgl. dazu die Studie Fischers (1881), besonders auch seine Charakterisierung Nathans (157 ff.). Sie wird durch die von Kuschel betonte besondere Würdigung Saladins noch ergänzt.

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1895 f.)⁵⁵, dann aber die Wahrheit der Religionen ihm zufolge „nur von seiten ihrer Gründe [!]“ doch wiederum nicht entscheidbar sein soll,⁵⁶ sondern dies allein aus der geschichtlichen Kontingenz der Umstände zu erklären sei, zumal sie „alle sich … auf Geschichte gründen“ – so musste Kant dem „Nathan“ hier hingegen wohl schon deshalb die Zustimmung verweigern, weil eine Religion doch allein aus moralischen Prinzipien ihren Geltungsanspruch und ihre „innere Beglaubigung“ ableiten kann und derart „von seiten ihrer Gründe“ einlösen muss, dass „Religion eine reine Vernunftsache ist“ (SF, AA 07: 67.26 – 27)⁵⁷ – eben im Unterschied zu den „verschiedenen historischen Glaubensarten“, „geschrieben oder überliefert“;⁵⁸ soll der „Vernunftglaube“ (im Unterschied zum „historischen Glauben“) doch derjenige sein, „welcher sich auf keine andere Data gründet, als die, so in der reinen Vernunft enthalten sind“ (WDO, AA 08: 141.1– 2). Deshalb bleibt gerade auch jener Wunsch Nathans: „Möchte auch doch die ganze Welt uns hören“, nach Kant unabdingbar an das Fundament der „natürliche Religion“ und die rechte „Ordnung der Prinzipien“ (FM, AA 20: 273.2– 3) gebunden, der ihm zufolge freilich allein die christliche Religion als „allgemeine Weltreligion“ entspricht; solche Auszeichnung besagt freilich anderes als der bloße ‚Alleinvertretungsanspruch‘ einer partikulären „Glaubensart“:⁵⁹ „So ist es nun mit allem Geschichts- und Er-

 Damit eröffnet Nathan gewissermaßen seine in der „Ringparabel“ (für „die ganze Welt“) propagierte Version und Vision einer „allgemeinen Menschenreligion“.  Ebendarin hätte Kant zufolge wohl auch Recha, gemäß ihrem – reinen Vernunftprinzipien genügenden – „Glauben“ (s.o. III., Anm. 51), ihrem „rechten Vater“ Nathan widersprechen müssen.  Kants Forderung, dass auch Religion sich der aufgeklärten Kritik nicht entziehen kann, liest sich wie eine Antwort auf die selbstherrliche Stellungnahme des Patriarchen in Lessings „Nathan“: „Wie sich die stolze menschliche Vernunft im Geistlichen doch irren kann“ (Nathan: v. 2518 f.). ‚Patriarchalisches‘ dieser Art hat vermutlich auch Kants Kritik im Blick: „Wo Statute des Glaubens zum Konstitutionalgesetz gezählt werden, da herrscht ein Klerus, der der Vernunft, und selbst zuletzt der Schriftgelehrsamkeit gar wohl entbehren zu können glaubt, weil er als einzig autorisierter Bewahrer und Ausleger des Willens des unsichtbaren Gesetzgebers die Glaubensvorschrift ausschließlich zu verwalten die Autorität hat, und also, mit dieser Gewalt versehen, nicht überzeugen, sondern nur befehlen darf.“ (RGV, AA 06: 180.15 – 21)  Mit dem Hinweis, dass alle Religionen „sich … auf Geschichte“ gründen, „geschrieben oder überliefert“ –, hätte Kant keine mögliche Relativierung derselben verbunden, zumal ungeachtet ihrer Gründung „der Idee nach“ die christliche Religion die „natürliche Religion“ verkörpert.  Freilich entspricht es auch dem leitenden Anliegen des „Nathan“, wenn „die Diener einer Kirche … die Maxime der kontinuierlichen Annäherung zu demselben für verdammlich, die Anhänglichkeit aber an den historischen und statutarischen Teil des Kirchenglaubens für allein seligmachend erklären, des Afterdienstes der Kirche oder (dessen, was durch diese vorgestellt wird) des ethischen gemeinen Wesens unter der Herrschaft des guten Prinzips, mit Recht beschuldigt werden können“ (RGV, AA 06: 153.12– 18).

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scheinungsglauben bewandt: dass nämlich die Möglichkeit immer übrig bleibt, es sei darin ein Irrtum anzutreffen, folglich ist es gewissenlos, ihm bei der Möglichkeit, dass vielleicht dasjenige, was er fordert, oder erlaubt, unrecht sei, d.i. auf die Gefahr der Verletzung einer an sich gewissen Menschenpflicht, Folge zu leisten.“ (RGV, AA 06: 187.11– 15) Im Blick auf Lessings „Nathan“ besagt dies eben: Dass „Geschichte … doch wohl allein auf Treu und Glauben angenommen werden“ müsse, ist das Eine; jedoch gilt solche ‚Annehmung‘ eben nicht für die religions-begründende ‚Tugend‘ und den darauf basierenden „Religionsglauben“. Auch die Muslimin Sittah fungiert bemerkenswerterweise als scharfe und spöttische Kritikerin einer heteronomen Moral: „Du kennst die Christen nicht, willst sie nicht kennen. Ihr Stolz ist: Christen sein; nicht Menschen.[⁶⁰] Denn selbst das, was noch von ihrem Stifter her mit Menschlichkeit den Aberglauben würzt, das lieben sie, nicht weil es menschlich ist: Weils Christus lehrt: weils Christus hat getan.– Wohl ihnen, dass er so ein guter Mensch noch war! Wohl ihnen, dass sie seine Tugend auf Treu und Glaube nehmen können![⁶¹] – Doch Was Tugend? – Seine Tugend nicht; sein Name soll überall verbreitet werden; soll die Namen aller guten Menschen schänden, verschlingen. Um den Namen, um den Namen ist ihnen nur zu tun.“ (Nathan: v. 867– 879). Mit Kant besagt es deshalb auch eine Verkehrung der „Religion Christi“ in die „christliche Religion“, wenn die Verbreitung des „Namens“ an die Stelle der „auf Treu und Glaube“ angenommenen Tugend gesetzt wird … Dass „Treu und Glauben“ „der Seinen“ „am wenigsten in Zweifel“ gezogen wird, steht eben nicht auf einer Ebene mit der auf „Treu und Glauben“ genommenen Tugend; es sind vielmehr die christlichen „Geschäftsleute“ eines „sich beständig erhaltenden Systems“ (RGV, AA 06: 114.23), denen es vornehmlich um die Verbreitung des „Namens“ und nicht um „Tugend“ zu tun ist.⁶² Das bloße Angewiesensein auf „Treu und Glauben“, weil die Offenbarungreligionen ihren Wahrheitserweis nicht historisch zu leisten vermögen, kann nach Kant gemäß den Maßstäben der „reinen Vernunftreligion“ eben gerade nicht das letzte Wort bleiben, weshalb auch die

 Die Muslimin Sittah stimmt darin (im Unterschied zum Patriarchen) offenbar ganz mit dem Juden Nathan überein: „Sind wir unser Volk? Was heißt denn Volk? Sind Christ und Jude eher Christ und Jude, als ein Mensch?“ (Nathan: v. 1309 ff)  Von jener „auf Treu und Glauben angenommenen Geschichte“ unterscheidet sich demnach – grundsätzlich – die „auf Treu und Glauben genommene Tugend“ und die darin verankerte „Vernunftreligion“.  Nach Kant muss freilich sogar der „Heilige des evangelii“ noch auf seinen moralischen Anspruch hin „geprüft“ werden.

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daraus abgeleitete ‚Gleichwertigkeit‘ als voreilig erschienen muss⁶³ und auf die kriteriell begründungs-pflichtige „innere Wahrheit“ verweist, von der das Urteil „Nathans“ jedoch unerlaubterweise abstrahiert. Ebendeshalb hat Kant von dem „historischen Glauben“ den „reinen Vernunftglauben“ unterschieden, „welcher sich auf keine andere [d. h. „auf Treu und Glauben“ basierenden] Data gründet, als die, so in der reinen Vernunft enthalten sind“ (WDO, AA 08: 141.1– 2). Maßgebend bleibt bei Kant allein die schon erwähnte Einsicht, dass alle Berufung auf jenes „geschrieben oder überliefert“ und auf die „auf Treu und Glauben“ angenommene Geschichte (Nathan: v. 1976 ff.) der historischen Glaubensarten eben als „historischer Glaube“ über keinerlei Kriterien für die „innere Wahrheit“ der Religion verfügt – so wenig freilich wie die ‚humane‘ Lebensführung selbst, zumal diese doch auch außerhalb des Glaubens gelebt und bewährt, d,h. auch lebenspraktisch ‚bezeugt‘ wird. Die Auffindung von – über ein bloß gleichgültiges Nebeneinander hinausführenden – verbindlichen Unterscheidungskritierien vermag nach Kant eben allein der „moralische Monotheismus“ mit den ihn konstituierenden Prinzipien anzubieten – und ihm genügt Kant zufolge eben allein das Christentum als „natürliche Religion“. Wenn Lessing noch in einem Entwurf zur Vorrede zum „Nathan“ über die Ringparabel ausdrücklich betont: „Ich habe sie bestimmt, die ganze Geschichte der christlichen Religion darunter vorzustellen“,⁶⁴ so hätte dies insofern Kants Einspruch provoziert, dass darin gleichwohl die entscheidende ‚Prinzipienfrage‘ doch noch ausgeklammert bleibt.⁶⁵ Dies wäre auch Kants Antwort auf den hohen Anspruch gewesen („Möcht‘ auch doch die ganze Welt uns hören“: Nathan: v. 1895), den Nathan mit der „Ringparabel“ verbindet. In Lessings Argumentation konnte Kant offenbar lediglich eine radikale Verfehlung des prinzipien-orientierten Kernanliegens seiner „Vernunftreligion“ erkennen, die sich deshalb, eben ‚prinzipien-orientiert‘, gerade nicht „auf Geschichte gründen“ könne. Hier liegt vermutlich auch ein – genauer: der? – Hauptgrund für die (eingangs erwähnte) kritisch-distanzierte Haltung Kants ge-

 „War früher eine Rangfolge zwischen den Religionen im Sinne einer besonderen Erwählung Wille Gottes, so ist es jetzt die Gleichrangigkeit und Gleichwertigkeit der Religionen Judentum, Christentum und Islam“ (Kuschel 1998, 306) – ebendies hätte Kant jedoch energisch bestritten.  So Lessing in einem Entwurf zur Vorrede des „Nathan“ über die Intention der Ringparabel.  Irritierend mag für Kant auch gewesen sein, dass im „Nathan“ das durch den (Lessing zufolge an Goeze erinnernden? Jaspers hat dies bestritten: Jaspers 1981, 748 f) Patriarchen verkörperte Christentum am schlechtesten eingeschätzt wird, während Kant in den beiden anderen Religionen hingegen „Heidentum“ witterte. Lessing hat diesbezüglich auch den historischen Verweis auf die Kreuzzüge geltend gemacht. Dass die der „Idee nach“ als Schrittmacher fungierende „natürliche Religion“ des Christentums historisch-faktisch (in der Gestalt des Patriarchen verkörpert) dem „Nathan“ zufolge das erreichte Niveau unterbietet, hätte Kant wohl als einen gegen das faktische Christentum gerichteten provozierend-heilsamen ‚literarischen Stachel‘ angesehen.

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genüber Lessings „Nathan“. Denn die ‚Anhänglichkeit‘ des Glaubens ist notwendig anders zu begründen als auf der angeblichen ‚Gleichwertigkeit‘ des derart „geschichtlich Tradierten“ und „Ererbten“, wie Nathan unterstellt. Noch einmal: Kants wiederholt geäußerte Auszeichnung des Christentums, dieses sei der Idee nach als „natürliche Religion“ zur „allgemeinen Weltreligion“ bestimmt, impliziert ebenso – und ebendies markiert ebenfalls einen entscheidenden, weil prinzipiellen Unterschied zu Lessing – , dass ein solcher Prinzipien-Status sowohl dem Islam als auch dem Judentum abgesprochen wird;⁶⁶ beide erreichen nicht das dem Anspruch einer „allgemeinen Weltreligion“ unverzichtbar geschuldete Niveau. Demnach sah Kant in der „Ringparabel“ offenbar nicht nur die ‚Wahrheitsfrage‘, sondern damit auch die – jedoch unumgängliche – ‚Prinzipien‘-Frage gänzlich ausgeklammert,⁶⁷ weshalb sich die in Frage stehende mögliche Unterscheidung fälschlicherweise sogleich auf die Ebene des ‚Geschichtlichen‘ verlagert. Genau deshalb taugt dieser – letztendlich selbst eine ‚Form des Wissens‘ darstellende – „historische Glaube“ nach Kant auch nicht als tragfähiges Fundament des Vernunftglaubens und verlangen „Treu und Glaube“ eine ganz andere Verankerung, die „Geschriebenes und Überliefertes“ indes niemals zu bieten bzw. zu leisten vermag. Demgegenüber – dies liest sich wiederum wie eine Antwort auf die seinem „Nathan“ in den Mund gelegte ‚neutralisierende‘ Berufung auf „Treu und Glauben“ – akzentuierte der späte Kant seine schon erwähnte „fides“-Bestimmung noch auf besondere Weise: „Fides ist eigentlich Treue in Pacto oder subjektives Zutrauen zu einander, dass einer dem andern sein Versprechen halten werde – Treue und Glauben. Das erste, wenn das Pactum gemacht ist; das zweite, wenn man es schließen soll.– Nach der Analogie ist die praktische Vernunft gleichsam der Promittent, der Mensch der Promissarius, das erwartete Gute aus der Tat das Promissum“ (Log, AA 09: 67 Anm.). Indes, Kant hätte Sultan Saladin mit seiner an Nathan gerichteten – von ihm als „Falle“ gedachten? – Wahrheits-Frage nach „Einsicht, Gründen, Wahl des Bessern“ – „Lass mich die Gründe hören, denen ich selber nachzugrübeln nicht die

 In diesem Sinne ist es wohl auch zu verstehen, wenn Allison einen Unterschied zwischen Kant und Lessing darin sieht, dass Lessing gegenüber der Idee der „natürlichen Religion“ als dem apriorischen Maßstab („an apriori norm“) wohl eher noch einem „Leibnizianischen Perspektivismus“ folgt, „which finds an element of truth in every position“ und seine „non-theistic conception of God“ sich zuletzt sogar als eine solche erweist, „which created space for a postChristian theology“. (Allison 2011, 54)  Gerade darin, dass Lessing „in der ‚Ringparabel‘ nicht für die Aufhebung aller geschichtlichen Offenbarungsreligionen im Namen einer neuen Vernunftreligion oder im Namen einer autonomen Moral“ plädierte (Oelmüller 87), sah Kant offenbar ein Versäumnis, das seine erwähnte ‚Ratlosigkeit‘ über die Intention des „Nathan“ begünstigte.

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Zeit gehabt“ (Nathan: v.1850 ff.) – in gewisser Hinsicht durchaus auf der richtigen Spur gesehen,⁶⁸ als dies ein selbstreflexives – und insofern auch selbst-relativierendes, d. h. begründungsorientiertes – Verständnis und auch ‚Wahrhaftigkeit‘ wenigstens ansatzweise erkennen lässt. Genau deshalb musste ihm auch die von Nathan – zunächst – darauf gegebene „Antwort“: „Sultan, ich bin ein Jud’!“ – er kann sich freilich weder als ein „Stockjude“, noch „ganz und gar [als] nicht Jude“ ausgeben (Nathan: v. 1886) – in der Sache natürlich als unzureichend erscheinen. Dass Lessing sodann offenbar sowohl dem Sultan Saladin als auch dem Nathan durchaus ein nachdenkliches,-kritisch-reflexives, d. h. ‚aufgeklärtes‘ Verhältnis zur eigenen Tradition einräumt, während er den Patriarchen davon, in denkbar scharfer Kontrastierung, ausnimmt – auch dergestalt hält Lessing der christlich‚klerikalen‘ Tradition den Spiegel vor –, hätte Kant wohl in einer provokanten – historisch gesehen aber durchaus verständlichen! – Spannung dazu gesehen, dass es ihm zufolge doch das Christentum ist, das „unter allen öffentlichen [Religionen], die es je gegeben hat“, allein als die „moralische Religion“ gelten dürfe (s. o. I.3.). Die ‚ideal-typische‘ Darstellung Nathans⁶⁹ und des Sultans als Repräsentanten einer aufgeklärt-‚erweiterten Denkungsart‘ hätte Kant vielleicht auch als Ausdruck einer ermutigenden Hoffnung auf das „Fortschreiten zum Besseren“ gewürdigt.⁷⁰ Sowohl Nathan als auch Sultan Saladin wären so in dieser kantischen Lesart vielleicht als – ‚antizipierende‘ – Verkörperungen jenes „vernünftelnden Teils der Menschen“ zu verstehen, „der aber … bei zunehmender Kultur, man mag ihn niederdrücken so sehr man will, allmählich sehr groß“ sein wird.⁷¹ Dass der Sultan – gleichwohl damit den „weisen Nathan“ provozierend – sich an der Idee  Saladins Gottesverhältnis hätte Kant auch in Abgrenzung von abergläubischen islamischen Praktiken gewürdigt. Es ist bemerkenswerterweise auch Sultan Saladin, der gegen jede „Uniformierung“ geltend macht: „Gleich viel! Ich habe nie verlangt, dass allen Bäumen eine Rinde wachse“ (Nathan: v. 2687 ff.). Auch dies lässt wohl den Einfluss des „Leibniz’schen Perspektivismus“ erkennen, wogegen Kants Mahnung, dass wir vernünftigerweise „nur einen Gott, also auch nur eine Religion denken, die rein moralisch ist“ (RGV, AA 06: 104.12– 13), eine gewisse Korrektur darstellt.  „Kant würde zum Repräsentanten der idealen Religion schwerlich einen Juden genommen haben, aber gewiss einen Menschen, welcher so denkt und handelt, wie Lessings Nathan. Soll die kantische Religionslehre durch ein Charakterbild anschaulich gemacht werden, so wüsste ich kein anderes zu wählen als diesen Typus.“ (Fischer 1910, 367; s. dazu ebd. 366 – 371) Indes, Nathans „Gesinnung gegen alle positiven Religionen“ hätte Kant aus verschiedenen Gründen so nicht geteilt, sondern demgegenüber notwendige Differenzierungen eingemahnt (s.o. III.,1.1.).  Möglicherweise hätte Kant darin auch eine von Lessing beabsichtigte ‚literarische Exemplifizierung‘ der schon angeführten „cosmopolitischen“ Perspektive erkennen können, wonach die „Religionsgeschichte … vorgetragen werden“ müsse, „so fern die Menschen die Freiheit und Hilfsmittel gehabt haben, sich darin zu bessern“ (Refl. 1439: AA 15, 629).  AA 20: 440.10 – 11.

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der „Wahrheit“ orientiert („Wahrheit, Wahrheit“ will: Nathan: v. 1867), dies womöglich als „der erste Sultan“ geltend macht, ist natürlich keine bloße „Grille“, sondern verrät, dass jedenfalls auch er, sich im ‚Raum der Gründe‘ bewegend, – wenigstens in Ansätzen – in einem durchaus reflexiven Verhältnis zur eigenen Tradition steht und auf den „Standpunkt anderer“ Rücksicht nimmt. Bemerkenswerterweise ist es zuletzt ja der Sultan, der mit seinen Fragen jeden ‚naturwüchsigen‘ Geltungsanspruch religiöser Traditionen problematisiert, so wenn er Nathan mit der gebotenen (‚selbstreflexiven‘) Rechenschaft konfrontiert: „Ein Mann wie du, bleibt da nicht stehen, wo der Zufall der Geburt ihn hingeworfen:⁷² oder wenn er bleibt, bleibt er aus Einsicht, Gründen,Wahl des Bessern. Wohlan! so teile deine Einsicht mir dann mit. Lass mich die Gründe hören, denen Ich selber nachzugrübeln, nicht die Zeit gehabt. Lass mich die Wahl, die diese Gründe bestimmt, – versteht sich, im Vertrauen – wissen, damit ich sie zu meiner mache“ (Nathan: v. 1845 ff.).⁷³ Sultan Saladin hält damit gewissermaßen als Vorreiter die Fahne der ‚Aufklärung‘ hoch – er fungiert mit diesem überraschenden Plädoyer⁷⁴ für einen reflexiven Umgang mit der Tradition also – zunächst! (s.u. III., Anm.174) – gleichsam als Anwalt einer ‚aufgeklärten Denkungsart‘, einer dem ‚Selbstdenken‘ geschuldeten Rechenschaftspflicht,⁷⁵ sofern er so das von Lessing andernorts propagierte Vorhaben artikuliert, über die „Vorurteile ihrer angebornen Religion“⁷⁶ hinwegzukommen (s. dazu allerdings u. III., Anm.174).

 In diesem „Hingeworfensein“ artikuliert sich offenbar Lessings eindringliches Bewusstsein von der radikalen „Kontingenz“ der religiösen Zugehörigkeit, die freilich mit der intendierten „Allgemeinheit und Einheit der wesentlichen Glaubensmaximen“ nur schwer verträglich ist.  Damit ist gesagt, dass die Geltung von ‚Gründen‘ ihre Bestreitbarkeit voraussetzt und somit an einen argumentativen Austausch über ihre Wahrheit gebunden ist, der nicht durch den ‚Wettstreit um das Gute‘ ersetzt werden kann.  Damit setzt sich der Sultan bemerkenswerterweise jedenfalls einer möglichen Abtrünnigkeit aus, die im Koran ausdrücklich untersagt ist (Sure 3, 85): „Wer aber als Religion etwas anderes als den Islām begehrt, so wird es von ihm nicht angenommen werden, und im Jenseits wird er zu den Verlierern gehören“. Saladin, der nichts als „Wahrheit will“, nimmt also offenbar mit der von ihm gesuchten „Wahl der Gründe“, „Wahl des Bessern“, möglicherweise sogar den Abfall (Apostasie) vom Islam auf sich und lässt so gewissermaßen in seinem „Herzen eine Neigung zum Abschweifen“ (Sure 3,7) erkennen – mit allen damit verbundenen sozialen und rechtlichen Konsequenzen?  Der Sultan verkörpert so – vorwegnehmend – gewissermaßen auch die zeitgenössische Antwort Lessings auf den weit verbreiteten Befund: „Der Islam kennt keine Aufklärung“.  XIII, 360. Genau darin erweist sich der Sultan als der von Lessing dargestellte „vernünftige Mann“ (XVI, 445), der so gewissermaßen auch als ein Vertreter bzw. Vorläufer des ‚idschtihad‘ (‚Anstrengung‘, ‚Streben nach selbständigem Urteil‘, nicht zuletzt in der Auslegung der Quellen) – gegen die anti-aufgeklärte, unmündige Haltung der ‚Faulheit‘, „Feigheit“ und „Bequemlichkeit“ (WA, AA 08: 35.9) – und ‚nahda‘ (‚Verknüpfung des Islam mit der Moderne‘) verstanden werden

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Dass es zwar „vielerlei Arten des Glaubens“, aber doch „nur eine (wahre) Religion“ (RGV, AA 06: 107.28 – 29) geben könne, d. h. „verschiedene Glaubensarten an göttliche Offenbarung und deren statutarische Lehren“, diese berühmte Erklärung ist indes in gewisser Weise wohl auch gegen Lessings „Nathan“ gerichtet – und enthält zugleich eine indirekte Antwort auf jene Frage des Sultans nach der „Wahrheit der Religionen“. Der Zustand, dass „es vielerlei Religionen“ gibt, sei zwar als Zeichen politischer Relevanz und Klugheit durchaus wünschenswert,⁷⁷ „(a)n sich aber ist ein solcher öffentlicher Religionszustand doch nicht gut, dessen Prinzip so beschaffen ist, dass es nicht, wie es doch der Begriff der Religion erfordert, Allgemeinheit und Einheit der wesentlichen Glaubensmaximen bei sich führt und den Streit, der von dem Außerwesentlichen herrührt, nicht von jenem unterscheidet[⁷⁸]. Der Unterschied der Meinungen, in Ansehung der größeren oder minderen Schicklichkeit oder Unschicklichkeit des Vehikels der Religion zu dieser als Endabsicht selbst (nämlich die Menschen moralisch zu bessern), mag also allenfalls Verschiedenheit der Religionssekten bewirken, welche der Einheit und Allgemeinheit der Religion (also der unsichtbaren Kirche) gerade zuwider ist.“ (SF, AA 07: 52.6 – 16). Dies ist wohl auch gegen Lessings „Ringparabel“ gesagt. Nicht zuletzt deshalb betonte Kant jedoch (indirekt auch gegen Lessing), man könne „von diesem oder jenem (jüdischem, mohammedanischem, christlichem, katholischem, lutherischem) Glauben“ wohl sprechen, jedoch nicht „von dieser oder jener Religion“ (RGV, AA 06: 108.5 – 6) – so wenig wie von „dieser oder jener

könnte und somit auch dem islamischen Verbot des ‚taqlid‘ – der ‚Erstarrung‘ und Unterwerfung unter den blinden Glauben an ‚Traditionen‘ und ‚Autoritäten‘ – genügt. Bemühungen um eine „authentische Auslegung“ des Koran seien auch (so Cavallar 160) den gegenwärtigen ‚Reformmuslimen‘ nicht fremd.  Es ist wohl ebenso als eine Spitze gegen Lessing (und Mendelssohn) zu verstehen, wenn Kant im „Streit der Fakultäten“ betont, dass man „zwar zu sagen“ pflege: „es ist gut, dass es vielerlei Religionen (eigentlich kirchliche Glaubensarten in einem Staate) gibt, und so fern ist dieses auch richtig, als es ein gutes Zeichen ist: nämlich dass Glaubensfreiheit dem Volke gelassen worden; aber das ist eigentlich nur ein Lob für die Regierung. An sich aber ist ein solcher öffentlicher Religionszustand doch nicht gut“ (SF, AA 07: 52.2– 7); vgl. VASF, AA 23: 443.5 – 6). Den diesbezüglichen Bedenken Kants kommt vermutlich Lessings Bruder Karl durchaus nahe: „Denn der Staat ist wirklich der beste, wo die Freiheiten eines jeden Individuums am wenigsten eingeschränkt sind. Alle [Religionen] aber geltend machen zu wollen, heißt sie aufzulösen suchen“ (Brief an G. E. Lessing v. 1.11.1774: XXI, 44). Mendelssohn hatte betont, dass die „Mannigfaltigkeit“ in Glaubenssachen „offenbar Plan und Endzweck der Vorsehung“ sei (vgl. Mendelssohn JubA 8, 132 ff.).  Möglicherweise bezieht sich diese Äußerung auch auf das von Lessing geltend gemachte „gleich wahr/gleich falsch“ aller „positiven und geoffenbarten Religionen“ (s.o. III.,1.1.).

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Moral“.⁷⁹ In diesem Sinne kritisierte er wiederholt – nicht zuletzt wohl mit direktem Blick auf Mendelssohn und auf die von Lessing geltend gemachte „Unerweislichkeit des echten Ringes“ – die Rede von der „Verschiedenheit der Religionen: ein wunderlicher Ausdruck! gerade als ob man auch von verschiedenen Moralen spräche. Es kann wohl verschiedene Glaubensarten historischer, nicht in die Religion, sondern in die Geschichte der zu ihrer Beförderung gebrauchten, ins Feld der Gelehrsamkeit einschlagender Mittel und eben so verschiedene Religionsbücher (Zendavesta, Vedam, Koran usw.) geben, aber nur eine einzige für alle Menschen und in allen Zeiten gültige Religion.⁸⁰ Jene also können wohl nichts anders als nur das Vehikel der Religion, was zufällig ist und nach Verschiedenheit der Zeiten und Örter verschieden sein kann, enthalten.“ (ZeF, AA 08, 367, Anm.)⁸¹ Diese geltend gemachte Unterscheidung hätte Kant wohl auch gegenüber jener (schon zitierten) frühen – ‚leibnizianisch-perspektivischen‘? – These Lessings angeführt: „Die Wahrheit rühret unter mehr als einer Gestalt“.⁸² Zweifellos weckt jener Satz Kants: „Es ist nur eine (wahre) Religion; aber es kann vielerlei Arten des Glaubens geben“ (RGV, AA 06: 107.28 – 29), der sich indirekt auch gegen das „gleich wahr/gleich falsch aller Religionen“ wendet, nochmals Assoziationen zu jenem schon genannten kusanischen Motiv „una religio in rituum varietate“, das gleichwohl im Sinne des Unterschieds zwischen der

 Dies hätte Kant auch gegen die von Sultan Saladin erhobene Forderung zu bedenken gegeben, „dass die Religionen … doch wohl zu unterscheiden wären“ (Nathan: v, 1971 f.).  Schon in der Religionsschrift heißt es: „Der Begriff eines nach bloßen reinmoralischen Gesetzen bestimmten göttlichen Willens lässt uns, wie nur einen Gott, also auch nur eine Religion denken, die rein moralisch ist“ (RGV, AA 06: 104.5 – 13). Deshalb betonte Kant auch, dass, wenn „die christliche Lehre auf Facta, nicht auf bloße Vernunftbegriffe gebaut ist, … sie nicht mehr bloß die christliche Religion, sondern der christliche Glaube“ heiße (RGV, AA 06: 164.1– 3).  Gegenüber diesem Passus aus der Schrift „Zum ewigen Frieden“ nimmt sich das noch spätere Urteil aus dem „Streit der Fakultäten“ schon wieder ein wenig zurückhaltender aus: „Darum ist sie [die Religion] aber auch nur eine einzige, und es gibt nicht verschiedene Religionen, aber wohl verschiedene Glaubensarten an göttliche Offenbarung und deren statuarische Lehren, die nicht aus der Vernunft entspringen können, d.i. verschiedene Formen der sinnlichen Vorstellungsart des göttlichen Willens, um ihm Einfluss auf die Gemüter zu verschaffen“ (SF, AA 07: 36, 26 – 31). Im Sinne dieser Differenz hätte Kant wohl auch die Rede von einer „doppelten Religion“ korrigiert (s.u. IV., 2.3.1.). Die verschiedenen „Glaubensarten“ sind einem Läuterungsprozess unterworfen – mit dem ‚aufgeklärten‘ Ziel der entwickelten „Vernunftreligion“.  IV, 277. Zu fragen ist natürlich auch: Wenn die „Wahrheit … unter mehr als einer Gestalt“ rühret – was kann es unter den Prämissen der „Ringparabel“ dann erlauben, andere Gestalten des religiösen Bewusstseins angesichts des faktisch bunten ‚Pluralismus‘ von der behaupteten ‚Gleichrangigkeit‘ der Religionen auszuschließen? Der Rekurs auf die bloße Faktizität der vorherrschenden ‚monotheistischen‘ Basis reicht begründungstheoretisch offenbar nicht aus, der Ringe müssten viele sein …

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„wahren Religion“ und den „vielerlei Arten des Glaubens“ diese ‚Varietät‘ prinzipien-orientiert unterbricht; ebenso lässt das thematische Umfeld durchaus Kants Absicht erkennen, dass er das darin implizierte Programm über die innerchristlichen ‚Varietäten‘ hinaus auf die Weltreligionen als die verschiedenen Formen des „Geschichtsglaubens“ überhaupt ausgedehnt wissen wollte. Dafür spricht jedenfalls auch seine Anregung bzw. Ermutigung, „dass der Geschichtsglaube, der als Kirchenglaube ein heiliges Buch zum Leitbande der Menschen bedarf, aber eben dadurch die Einheit und Allgemeinheit der Kirche verhindert, selbst aufhören und in einen reinen, für alle Welt gleich einleuchtenden Religionsglauben übergehen werde; wohin wir dann jetzt, durch anhaltende Entwickelung der reinen Vernunftreligion aus jener gegenwärtig noch nicht entbehrlichen Hülle, fleißig arbeiten sollen“ (RGV, AA 06: 135, Anm.),⁸³ damit auch in solcher Hinsicht ‚am Ende Gott alles in allem sein wird‘ und auch die denkerische Reflexion auf den ‚Einen‘ im Sinne jenes „moralisch bestimmten Monotheismus“ nicht zunehmend abhanden kommt. Nur unter dieser Bedingung schien es Kant offenbar vertretbar (aber auch wünschenswert) zu sein, die drei monotheistischen „Weltreligionen“ in einem ‚house of One‘⁸⁴ ‚symbolisch‘ zu vereinigen – einem Ort, der offenbar nicht nur dem „Wettstreit um das Gute“ – und auch nicht nur religiösen „Geschäftsleuten“ – dienen soll … Schon hier zeigt sich: Jener notwendig argumentativ auszutragende ‚Streit‘, d.i. der begründungs-orientierte Austausch über die „Allgemeinheit und Einheit der wesentlichen Glaubensmaximen“ (SF, AA 07: 52.8 – 9) wurde von Kant offenbar als unumgängliche „fleißige Arbeit“ angesehen⁸⁵ und darf demzufolge nicht auf  Kant hat dies bemerkenswerterweise in der 2. Auflage der Religionsschrift präzisiert, besser wohl: behutsam korrigiert, s. dazu RGV, AA 06: 135 f..  Das in Berlin errichtete ‚house of One‘ ist bekanntlich wesentlich von Lessings „Nathan, der Weise“ inspiriert. Indes, dieses ‚house of One‘ darf nicht sogleich von „göttlichen Geschäftsträgern“ (AA 23: 544) in Beschlag genommen werden, vielmehr scheint es doch der geeignete Ort für das Nachdenken über die „Allgemeinheit und Einheit der wesentlichen Glaubensmaximen“ (SF, AA 07: 52.8 – 9) zu sein, von dem freilich auch die Bedenken jenes Lessing’schen „Freigeistes“ nicht ausgeschlossen bleiben dürfen. Den Leitideen der Aufklärung verpflichtet, verkörpert dieses ‚house of One‘ gewissermaßen die Idee einer ‚hagia sophia‘; darin hätte auch die Philosophie als „Weisheitslehre“ einen notwendigen Ort, „wenn unter dieser nicht bloß verstanden wird, was man tun, sondern was Lehrern zur Richtschnur dienen soll, um den Weg zur Weisheit, den jedermann [!] gehen soll, gut und kenntlich zu bahnen und andere vor Irrwegen zu sichern“ (IV 302). Denn Philosophie ist nach Kant ein „Erkenntnisakt, dessen Produkt nicht bloß auf Wissenschaft (als Mittel), sondern auch als Zweck an sich selbst auf Weisheit abzielt – … (als etwas auf Gott selbst sich Gründende[s] ausgeht)“ (AA 21, 7).  Freilich, erst nach dieser von Kant ‚in the long run‘ erhofften grundsätzlichen Einigung über die „Allgemeinheit und Einheit der wesentlichen Glaubensmaximen“ kann sodann auf dieser gemeinsamen Basis – d. h. nunmehr auf einer neuen Ebene – die friedliche Auseinandersetzung

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einen – von dem „weisen Richter“ in Lessings „Ringparabel“ empfohlenen – „Wettstreit um das Gute“ reduziert werden (s.u. III., 3.);⁸⁶ jener notwendige ‚Streit‘ impliziert so auch eine entschiedene Kritik an einem solchen ‚praxeologischen Kurzschluss‘, der die Wahrheitsfrage gewissermaßen ‚geltungsneutral‘ entschärft und in solchem Verzicht auf den diskursiven Austausch von Argumenten somit ‚entsorgt‘.⁸⁷ Hier kommt der Philosophie „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ eine unentbehrliche Rolle zu⁸⁸ – wenigstens ‚ex negativo‘ zur Klärung, ob die Gottesvorstellung der „Glaubensarten“ und das darin maßgebende ‚religiöse Verhältnis‘ dem „Vernunftbegriff von Gott“ als ‚Richtschnur‘ nur „nicht widerspreche“ (WDO, AA 08: 142.23), ohne damit deren ‚Positivität‘ jedoch einfachhin reduktionistisch zu ‚kürzen‘. Dass der kritischen Philosophie auch diesbezüglich vornehmlich die Aufgabe und das „stille Verdienst“ zufällt, „Irrtümer zu verhüten“ (KrV, B 823), d. h. „nicht zur Erweiterung, sondern nur zur Läuterung unserer

über die unterschiedlichen „Glaubensgehalte“ beginnen, die auch der „Gelehrsamkeit“ und diesbezüglichen „Ungewissheiten“ ihren notwendigen Platz einräumt; es bleibt deshalb beim unvermeidlichen „Streit der Meinungen“. Darin ist der Rekurs auf „Belehrung“ ihm zufolge auch unvermeidlich – erst recht muss hier natürlich die bleibende Aufgabe gelten: „Also muss man in dem Streite der Meinungen, wo beiderseits die Liebe zur Wahrheit regiert, eben sowohl suchen, worin der andere wahr habe, als worin er falsch hat“ (Refl. 2187, AA 16: 263).  Aus dem Munde des „weisen Richters“ hätte Kant wohl auch den – aufklärungs-orientierten – insistierenden Hinweis darauf erwartet, dass allein die neutrale Rechtsgemeinschaft dauerhafte Koexistenz und Frieden zwischen den Konfessionen institutionell zu gewährleisten vermag, das auch ein produktives, kooperatives Miteinander ermöglicht und so bloß historisch zufällige Konstellationen überwindet.  Zu fragen ist deshalb auch, ob die „Ringparabel“ nicht jene ‚aufgeklärt-modernitätsverpflichtete‘ Forderung völlig ausblendet, die Habermas folgendermaßen formuliert: „In modernen Gesellschaften müssen religiöse Lehren mit der unabweisbaren Konkurrenz anderer Glaubensmächte und Wahrheitsansprüche zurechtkommen. Sie bewegen sich nicht mehr in einem geschlossenen Universum, das von der eigenen, für absolut gehaltenen Wahrheit gleichsam regiert wird. Jede Verkündigung begegnet heute dem Pluralismus verschiedener Glaubenswahrheiten – und zugleich der Skepsis eines wissenschaftlichen Profanwissens, das seine gesellschaftliche Autorität der eingestandenen Fallibilität und einem auf Dauerrevision beruhenden Lernprozess verdankt. […] Jede Konfession muss sich zu den konkurrierenden Aussagen anderer Religionen ebenso ins Verhältnis setzen wie zu den Einsprüchen der Wissenschaft und des säkularisierten, halb verwissenschaftlichten common-sense.“ (Habermas 1999, 193) Eben diese Herausforderung scheint Lessings „Ringparabel“ zu missachten; sie steht insofern in einer Spannung zum Geist der „wahren Aufklärung“, der freilich auch mit „Nathans Gesinnung gegen alle positiven Religionen“ kaum verträglich ist.  Besonders Kants „Weltbegriff der Philosophie“ spielt diesbezüglich eine entscheidende Rolle, zumal dieser sich daran orientiert, „was jedermann notwendig interessiert“ (KrV, B 868) und so auf die „wesentlichen“ und „höchsten Zwecke“ führt, d. h. aufklärungs-orientiert die „ganze Bestimmung des Menschen“ thematisiert.

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III Lessings „Nathan der Weise“ in der Sicht Kants

Vernunft dienen, und sie von Irrtümern frei halten“ soll (KrV, B 25; B 879), erhält so noch einen besonderen Akzent. Davon soll im Folgenden noch näher die Rede sein.

2.2 Ist die „Ringparabel“ mit den Maßstäben des „moralischen Monotheismus“ verträglich? Irritieren musste Kant an Lessings Ringparabel auch noch andere Aspekte, die den Maßstäben eines „moralisch bestimmten Monotheismus“ geradewegs widersprechen: Zu nennen ist diesbezüglich zunächst die in der „Ringparabel“ zutage tretende elementare Unstimmigkeit, dass bei Lessing nach der Lieferung des Ringes durch den Künstler „selbst der Vater seinen Musterring nicht unterscheiden“ kann (Nathan: v. 1951 f.), also die drei vom Vater der drei Brüder in Auftrag gegebenen Duplikate des Ringes hinsichtlich ihrer Echtheit auch von ihm selbst nicht mehr auseinanderzuhalten sind, weil sie „der Vater in der Absicht machen ließ, damit [!] sie [auch von ihm selbst?] nicht zu unterscheiden wären.“ (Nathan: v. 1968 f). Dass die einander zum Verwechseln ähnlichen Duplikate des Ringes, die die Offenbarung Gottes symbolisieren, paradoxerweise zuletzt sogar von der ‚OffenbarungsInstanz‘ selbst nicht mehr zu unterscheiden sein sollen (und in dieser ‚Absicht‘ ja auch hergestellt wurden!), hat freilich gravierende Folgen für deren Wahrheitsgehalt und auch für die ‚Identität‘ und die „Vollkommenheit“ dieses ‚Offenbarers‘. Hinzu kommt dies: Der die Ringe austeilende Vater⁸⁹ lässt offenbar überdies die Söhne sowohl über die hergestellten Imitationen als auch darüber in Unkenntnis,⁹⁰ dass er auch selbst den echten Ring wegen ihrer ‚täuschenden‘ Ähnlichkeit nun nicht mehr zu unterscheiden vermag.⁹¹ Für Gott selbst sollte also – seine! –

 Dass der den Ring weitergeben wollende Vater selbst lediglich Glied einer langen Generationenkette ist, kann für diese Analogie vernachlässigt bleiben.  Und täuscht offenbar seine Söhne mit seiner ‚Ring‘-Offenbarung! Muss man einen solchen „Gottesanspruch“ gemäß dem „moralischen Monotheismus“ nicht „doch für Täuschung halten“ (SF, AA 07: 63.17), zumal „dies aber nicht Gott sein könne“ (ebd.). Die Frage liegt freilich nahe: Ist die stillschweigende Duplizierung der Ringe mit echter, authentischer Offenbarung verträglich, „wenn er Duplikate – also Fälschungen – für echte Ringe ausgibt?“ (Tück 46). Dies rührt natürlich auch an die Glaubwürdigkeit des Vaters, die die in der Ringparabel bestimmende Analogisierung mit Gott in vielerlei Hinsicht als problematisch erscheinen lässt. S.u. III., Anm.107.  Die Frage, wie die in der Ringparabel behauptete „Ununterscheidbarkeit der Ringe“ mit der andernorts betonten Vorstellung Gottes vereinbar sein soll, der sich in seiner Selbst-Offenbarung durchaus bestimmt unterscheidbar gemacht hat, bleibt offenbar in der Ringparabel unberücksichtigt; diese Frage wird eher in der (damit jedoch unvereinbaren) Erziehungsschrift thematisch,

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Offenbarung – seiner eigenen Absicht zufolge! – ganz unerkennbar (ununterscheidbar) geworden sein – er ‚offenbart‘ sich um der „Unerweislichkeit“ dieser Offenbarung willen, die jede Gewissheit verbietet?⁹² Dieser seine eigene – als ‚Selbstmitteilung‘ zu verstehende? – Offenbarung gleichsam vergessen habende – gewissermaßen von des ‚Gedankens Blässe‘ (oder einer ‚dementia senilis‘) heimgesuchte? – Vater lässt sich demnach offenbar absichtsvoll auf eine Verwechselbarkeit ein,⁹³ die auch für ihn selbst gilt – und dies soll dennoch – seine? – Offenbarung sein, während sie de facto doch zur bloß pädagogischen Anleitung im ‚Wettstreit [‚Wetteifer‘] um das Gute‘ (s.u. III., 3.) wird? Dabei zeigt sich vielmehr, dass der den ‚Verlust‘ des echten Ringes verbergende– d. h. seine drei Söhne angeblich gleich liebende und sie dennoch bewusst täuschende!⁹⁴ – Vater offenbar den Maßstäben des „moralischen Monotheismus“ deren Status in Lessings Denken allerdings zweifelhaft ist (s.u. II., Anm. 214). Dies bleibt auch gegenüber Kuschels Interpretationsvorschlag (zur Ringparabel) zu bedenken: „Wenn in Generationen, wenn in ‚über tausend tausend Jahren‘, die Kraft des echten Rings sich positiv ausgewirkt haben wird, dann (und nur dann) wird vielleicht [!] ein Richter entscheiden können, bei wem sich der wahre Ring erhalten [!] hat.“ (Kuschel 2011, 179) Ausgeblendet bleibt dabei offenbar der Umstand, dass der nach „tausend, tausend Jahren“ auftretende Richter offenbar doch der ursprüngliche ‚Offenbarer‘ sein soll, der seine Offenbarung doch nicht – ‚vergleichgültigend‘ – ‚vergessen‘ haben kann. War es der „wahre Ring“, oder war er es nicht – was soll dann aber die Frage bedeuten, „bei wem sich der wahre Ring erhalten hat“?  Der sich verschiedentlich offenbarende Gott würde dies demnach in der Absicht tun, damit (!) diese Offenbarungen in ihrem Anspruch und Wahrheitsgehalt gar nicht unterscheidbar wären – wozu dann überhaupt solche Offenbarung? Und wie soll damit noch Lessings eigene Mahnung vereinbar sein: „Weil Ihnen eine geoffenbarte Wahrheit, bei der sich nichts denken lässt, ebenso lieb ist als eine, bei der sich etwas denken lässt?“ (XIII, 131). So ähnlich hätte wohl auch Kant gefragt und hätte dies zudem als mit der Erziehungsperspektive unverträglich angesehen. Und wenn diese Offenbarungen nicht unterscheidbar sein sollen – mit welchem Recht (von welchen Maßstäben her?) bleiben andere Religionen im „Nathan“ jedoch ausgeschlossen? „Es gibt nun aber … im Nathan auch Religionen, die nicht für konkurrenzfähig gehalten werden in dem großen Wettlauf über die nächsten tausend Jahre: Parsismus und Hinduismus werden namentlich genannt; sie brauchen offenbar nicht toleriert zu werden im Goetheschen Sinn der Anerkennung als Zugeständnis möglicher Wahrheitshaltigkeit, sondern allenfalls im Sinne des Gewährenlassens des Irrtums“ (Guthke 45). Von Lessings „gleich wahr/gleich falsch“-Erklärung aus beurteilt bleibt dies freilich ganz unverständlich. S. dazu auch o. III., Anm. 82.  Dies hätte wohl Kants – und auch jenes „ehrlichen Laien“ – Widerspruch auf sich gezogen, weil es im Widerspruch zum Verständnis des Christentums als „natürlicher Religion“ steht, die durch innere „Beglaubigung“ legitimiert ist.  Freilich, der Vater selbst hat diese drei (nicht unterscheidbaren) Ringe in Auftrag gegeben, und zwar – angeblich – aus einem „liebestheozentrischen Grund“ (Kuschel), d.i. „um der Liebe willen“! – Es ist wohl auch eine offenkundige Paradoxie, die in der Bemerkung Kuschels über die „Gleichrangigkeit und Gleichwertigkeit der Religionen“ zum Ausdruck kommt: „Gott selber will diese Religionen so, dass sie weder durch ihn selbst noch gar durch Menschen unterschieden

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nicht genügt und – unaufrichtigerweise? – seine Söhne zu humaner Bewährung aufruft – ist nicht auch dies geradewegs „dem moralischen Gesetz zuwider“ (SF, AA 07: 63.15) und auch dem, „was die Vernunft [!] für Gott anständig erklärt“ (SF, AA 07: 46.23)?⁹⁵ Andererseits: Wenn Lessing andernorts in der Anleitung zum moralischen Handeln geradezu die Essenz bzw. den Maßstab der Religionen erkennen möchte,⁹⁶ dann wäre doch auch der sich in dieser Humanität übende atheistische „Freigeist“, der in seiner ‚authentischen‘ Lebensführung, dem ‚guten

werden können“, denn „die Unterscheidbarkeit“ sei „nun selbst dem Vater (selbst Gott!) unmöglich. […] Und da die Religionen selbst für Gott ununterscheidbar [!] sind, ist eine Berufung auf den ‚Vater‘ künftig sinnlos“ (Kuschel 2011, 170 f; Kuschel 2004, 164) – und dennoch soll es der „sich selbst offenbarende Gott“ sein, der bzw. dessen Anspruch darin „verständlich“ werden will? Wie diese Ununterscheidbarkeit (Kuschel 2011, 171) in der „Ringparabel“ mit dem sich offenbarenden Gott vereinbar sein soll, bleibt freilich rätselhaft – auch wenn es dabei „nicht um eine empirische, sondern um eine anthropozentrische und theozentrische Ununterscheidbarkeit“ (so Kuschel in einer mündlichen Präzisierung, s. auch Kuschel 2011, 172) gehen soll. Die Erinnerung an die an Reimarus gerichtete Frage Lessings liegt in modifizierter Gestalt doch erst recht hier nahe: „Denn was ist eine Offenbarung, die nichts offenbaret?“ (XII, 432) – ebenso an die Frage: „Was ist nötiger, als sich von seinem Glauben zu überzeugen, und was ist unmöglicher, als Überzeugung ohne vorhergegangene Prüfung?“ (V, 319) Und wie soll dies, dass die Offenbarungen „weder durch ihn selbst noch gar durch Menschen unterschieden werden können“, jedoch damit zusammengehen, dass dieser in ihnen sich ‚anspruchsvoll‘ offenbarende Gott und seine Offenbarung nicht bloßes „Menschenwerk“ ist, sondern die „menschliche Vernunft“ darauf „von selbst nimmermehr gekommen wäre“ (so im §77 der „Erziehungsschrift“)? Dies problematisiert im Grunde auch Ficks Interpretation: „Denn in Lessings ‚dramatischem Gedicht‘ gibt es den Gott, der sich den Menschen in einer ‚Offenbarung‘ enthüllt, nicht mehr. Es gibt nur den Gott, den sich die Vernunft denken kann, und dieser Gott entzieht und verbirgt sich, bleibt für die Vernunft unfasslich.“ (Fick 510) Indes, auch die Existenz des (womöglich verloren gegangenen?) „echten Ringes“ selbst ist damit ja noch keineswegs gewährleistet – dies ist doch lediglich die Konsequenz aus jenem „weisen“ ‚richterlichen‘ Spruch, der im „Nathan“ die „inhaltliche Leerstelle im Blick auf die inhaltlichen Differenzen zwischen den Religionen“ (Tück 46) lediglich bestätigt?  Was kann dann noch die Forderung bedeuten, „vor Gott angenehm zu machen“? Es sind offenbar grobe ‚Anthropomorphisierungen‘, die in diesen Zusammenhängen zutage treten und so auch religionskritische Erwägungen nahelegen. Noch einmal; „was die Vernunft [!] für Gott anständig erklärt“, ist eben auch nicht eine Entscheidung des „Gefühls“ (s.o. II., 3.3.).  Vielleicht darf man dies auch als Kants Zustimmung zu der Recha von Lessing in den Mund gelegten Worte verstehen: „Doch so viel tröstender war mir die Lehre, dass Ergebenheit in Gott von unserm Wähnen über Gott so ganz und gar nicht abhängt“ (Nathan: v. 1589 ff.). Rechas Ansicht hätte Kant freilich als einen Grundgedanken seiner „natürlichen Religion“ buchstäblich wahrgenommen (und auch in der „frommen Einfalt“ des Klosterbruders symbolisiert gesehen); er hätte wohl auch jener schon erwähnten Würdigung zugestimmt, dass Nathan Recha „nur eine Erziehung“ geben wolle, „bei der sie in jeder Religion ein Muster der Vollkommenheit“ sein könne (s.o. III., Anm. 51). Mit solcher „Erziehung“ ist „Spinozas Gott“ freilich unverträglich; gleichwohl hätte wohl auch Spinoza die „Anthropomorphismen“ in Lessings „Nathan“ kritisiert.

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Lebenswandel‘, seine ‚humanistische‘ Überzeugung bewährt und so die „Trefflichkeit ihrer Früchte“ bekundet, als ein potentieller Inhaber des „echten Ringes“ rechtens durchaus nicht auszuschließen?⁹⁷ Womöglich erwiese sich dieser in der Humanität bewährende „Rechtschaffene“, jedoch Ungläubige,⁹⁸ sogar als der rechtmäßige Inhaber des („echten“) Ringes und es wäre folglich auch nicht mehr zu behaupten, dass „Moral … nicht diese und jene Religion“, aber „die Grundlage aller Religionen“ ist.⁹⁹ Auch hier treten jedenfalls in Lessings „Ringparabel“ interne Unstimmigkeiten zutage, die Kants diesbezügliche Zweifel offensichtlich eher begünstigten: Weiß Lessing damit wirklich noch, „was er haben will“? Doch auch die vom Sultan ersehnte Auskunft des „weisen Richters“ in der „Ringparabel“ ist nach Kant schwer nachvollziehbar, zumal sie aus mehreren Gründen mit den Prinzipien des „moralischen Monotheismus“ (der zugleich als Richtmaß der Offenbarungsreligionen fungiert) als unvereinbar erscheint. Denn die von ihm aufgetischte Version, „Oh, so seid ihr alle drei betrogene Betrüger!

 Wenn der Ring seine ‚Strahlkraft‘ doch allein dem sittlichen Lebenswandel des Menschen verdankt – denn der „Besitz des Ringes ist nicht der Besitz seiner Kraft, vor Gott und Menschen angenehm zu machen“ (Fischer 1910, 368) –, so könnte möglicherweise ja auch die ‚Strahlkraft‘ eines atheistisch-‚freigeistigen‘ Ringträgers überwiegen … Wenn die „Echtheit des Ringes … sichtbar gemacht werden“ kann „durch die Praxis seines Trägers“ (Kuschel 2011, 175) – warum also sollte solche ‚Bewahrheitung durch Humanität‘ (auch ohne „Gottes Liebe“) dem Atheisten verwehrt sein? Der Losung: „Wo geliebt wird, da ist wahre Religion“ (Kuschel), hätte dieser Atheist seine Zustimmung deshalb wohl verweigert und als eine unstatthafte Vereinnahmung zurückgewiesen (die im Grunde allzu leicht auf den Widersinn hinausliefe, ‚atheistisch an Gott zu glauben‘ und so überdies religionskritischen Einwänden ausgesetzt wäre). Dies gilt dann auch für die Lessing zugeschriebene These: „Wo unter Menschen, welcher Religion auch immer, geliebt wird, da ist dies Ausdruck von Gottes Liebe.“ (Kuschel 2011, 179) Wäre jenes „Wo geliebt wird, da ist wahre Religion“ tatsächlich Lessings Auffassung vom „wahren Kern“ der Religion gewesen, so wäre die anthropologisch-religionskritische Reduktion Feuerbachs freilich lediglich die konsequente Folgerung daraus: nämlich, „daß das Bewusstsein Gottes nichts anderes ist als das Bewußtsein der Gattung, […] daß der Mensch kein andres Wesen als absolutes Wesen denken, ahnen, vorstellen, fühlen, glauben, wollen, lieben und verehren kann als das Wesen der menschlichen Natur. […] Die Verhältnisse des Kindes zu den Eltern, des Gatten zum Gatten, des Bruders zum Bruder, des Freundes zum Freunde, überhaupt des Menschen zum Menschen, kurz, die moralischen Verhältnisse sind per se wahrhaft religiöse Verhältnisse.“ (L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums 317 f. In: L. Feuerbach, Werke in sechs Bänden. Band 5, Frankfurt/Main 1975 f) Ein „Reich Gottes“ – eben ohne Gott: „homo homini deus“.  Dass „man ohne Religion kein rechtschaffner Mann sein könne“, „dass „Rechtschaffenheit ohne Religion widersprechende Begriffe sind“ (VIII, 127; s. auch den 106. Brief: VIII, 245 ff.), dies hat Lessing (so wie natürlich auch Kant) freilich stets zurückgewiesen. Kant verwies diesbezüglich bekanntlich auf das Beispiel des „rechtschaffenen Mann(es)“ Spinoza, „der sich fest überredet hält: es sei kein Gott“ (KU, AA 05: 452.8 – 9).  XVI, 501; s. o. II., Anm.116.

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III Lessings „Nathan der Weise“ in der Sicht Kants

Eure Ringe sind alle drei nicht echt. Der echte Ring vermutlich ging verloren[¹⁰⁰]. Den Verlust zu bergen, zu ersetzen, ließ der Vater die drei für einen machen … Möglich, dass der Vater nun die Tyrannei des einen Rings nicht länger in seinem Hause dulden wollen!“ (Nathan: v. 2023 ff.), begünstigt in Wahrheit doch lediglich den irreal-‚fiktiven‘ Charakter der Religionen, der den kognitiven Anspruch derselben nicht nur relativiert, sondern diesen vielmehr grundsätzlich in Frage stellt. Die Aporie ist klar ersichtlich: Die drei Ringe sind demnach lediglich ein fingierter Ersatz für den (vermutlich) verlorenen einen echten Ring – deshalb sind alle drei „betrogene Betrüger“, die freilich dennoch den drei verschiedenen Offenbarungsansprüchen (im Sinne eines fiktionalen ‚als ob‘¹⁰¹) folgen sollen, während die eine „wahre Offenbarung“ ‚in Wahrheit‘ doch niemand kennt (bzw. es diese auch gar nicht gibt) … Indes wäre der Vater selbst der absichtsvolle Initiator dieser – zuletzt von ihm selbst nicht mehr durchschaubaren! – Täuschung, denn: „Den Verlust zu bergen, zu ersetzen, ließ der Vater die drei für einen machen“ (Nathan: v. 2025 f.), die dem Bild zufolge quasi als „Ersatzoffenbarungen“ der verloren gegangenen einen und ‚eigentlichen Offenbarung‘ fungierten. Der „echte Ring“ (der ‚Musterring‘) wäre dann von den – getäuschterweise – für echt gehaltenen und mit ‚Zuversicht‘ getragenen – „So glaube jeder sicher seinen Ring den echten“ (Nathan: v. 2034 f.)¹⁰² – Ringen gar nicht mehr zu unterscheiden – und zwar auch vom Vater

 Die Maßstäbe des „moralisch bestimmten Monotheismus“ sind notwendigerweise vorausgesetzt, um jenen in der Ringparabel unausgeräumten Zweifeln an der „Unechtheit“ aller drei Ringe – „Eure Ringe sind alle drei nicht echt. Der echte Ring vermutlich ging verloren“ – in prinzipieller Weise zu begegnen. Dieser erlittene Verlust des Ringes ist freilich die Vermutung bzw. Interpretation des Richters, von dem zunächst noch nicht die Rede ist.  Auch Vollhardt spricht – allerdings in einer gemilderten Version – von „Fiktion“: „Hier kommt nun die Fiktion ins Spiel. Es handelt sich um eine echte Fiktion, da der Richter ausschließt, dass einer der Söhne im Besitz des wahren Erbes sein könnte: ‚Eure Ringe sind alle drei nicht echt‘. Gehandelt werden soll also unter der Annahme eines ‚Wahrscheinlichkeitsmoments“ oder, drastischer formuliert, einer ‚bewusst falschen Annahme zur Erreichung eines praktischen Zwecks‘. Dieses Als-Ob bildet … so etwas wie eine ‚Arbeitshypothese‘ und ein Versprechen auf die Zukunft, in der sich auch nach außen die erfreulichen Folgen eines ethischen Handelns zeigen“ (Vollhardt 2018, 358). Dies folgte so freilich der fatalen (auch von jenem Richter geteilten?) Losung, dass man „die alte fromme Sage … nicht etwa leugnete, nicht etwa bezweifelte – sondern bloß an ihren Ort gestellt sein ließe? – Was kümmert es mich, ob die Sage falsch oder wahr ist: die Früchte sind trefflich“ (XIII, 8). Dies also wäre dann letztendlich die fatale Einsicht in „die Zukunft einer Illusion“ … S. dazu u. III., Anm.172 u. 186; IV., Anm.72.  In Nathans Diktum kommt wohl, wie oftmals angemerkt wurde, die Notwendigkeit zur Sprache, dass die Religion ‚subjektiv‘ werden müsse, des Menschen „Herz, sein Innerstes dabei sei“ (Hegel); darin spiegelt sich noch etwas von dem gegen Goeze gerichteten Unterschied zwischen „Glaube“ und „objektiver Religion“. Dass erst das moralische Subjekt in seiner ‚revolutionierten Denkungsart‘ die Religion mit Leben und „Geist“ erfüllt, kommt auch in Kants Be-

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selbst nicht. Die ‚zuversichtlich‘ ihre Ringe tragenden (obgleich illusionär geblendeten) Söhne lebten in Wahrheit also allesamt in einer ‚fiktiven‘ Welt. Kurzum, es gibt die ‚echte‘ Offenbarung gar nicht … ; jener Rat des „weisen Richters“ wäre möglicherweise von einer tendenziell ‚naturalistischen‘ Aufweichung nicht grundsätzlich unterschieden. Agiert der – durch angebliche „Weisheit“ gewissermaßen getarnte? – „bescheidene Richter“ hier nicht im Grunde durchaus ähnlich dem von Lessing ja sehr geachteten Zweifler (‚Apostat‘) Neuser, „der eine geoffenbarte Religion für so erdichtet hielt, als die andere“?¹⁰³ Als geradezu paradox‘ hätte Kant jenen – gar nicht so weisen – „richterlichen Rat“¹⁰⁴ vermutlich auch insofern angesehen, als solches „Bestreben“, „die Kraft des Steins in seinem Ring’ an Tag zu legen“,¹⁰⁵ ja in dem Bewusstsein erfolgen müsste, dass doch nicht alle

merkung zum Ausdruck: „Was man Erbauung nennt – nämlich das Gefühl der Erweckung zum besseren innern u. äußern Lebenswandel ist in ihr in der größten Vollkommenheit anzutreffen, die Bibel ist also das beste Organ desselben“ (VASF, AA 23: 451.12– 14). Dieses Motiv hängt wohl eng mit Lessings Anliegen zusammen, dass der wahre Ring erst der gläubigen „Zuversicht“ des Trägers seine Kraft verdankt – so wie der „Glaube“ in den „Werken sichtbar wird“. Denn der echte Ring „hatte die geheime Kraft, vor Gott und Menschen angenehm zu machen, wer in dieser Zuversicht ihn trug“ und ihm auch „keine äußere wundertätige, sondern eine geistige und sittliche Heilkraft“ verdankt, die deshalb auch „als solche nicht ohne weiteres einem Stein inwohnt“ (Fischer 1881, 60). Diese – fiktive? – ‚Zuversicht‘ ist ja vorausgesetzt, dass der Ring seine Kraft entfalten kann: „Der Ring wirkt nicht aus sich selbst und automatisch, sondern übt seine Wirkung nur an dem, der ihn in einer bestimmten Zuversicht trägt. Damit hat Lessing einen entscheidenden Schritt zur spekulativen Deutung des Kultus vollzogen.“ (Rohrmoser 1970, 49) „Die Echtheit des Ringes besteht nicht in einer quasi magischen Qualität, sondern ist nur aus der sittlichen Bewährung seines Trägers, wenn überhaupt, zu erkennen.“ (Rohrmoser 1958, 115)  XII, 267. Kant hätte demgegenüber für Zurückhaltung plädiert, wie seine Wahl des Titels seiner Schrift „Die Religion innerhalt der Grenzen der bloßen Vernunft“ verrät, die die Möglichkeit der Offenbarung durchaus einräumen wollte (s.o. II., Anm. 236).  „Der Rat des Richters, mit dem die Ringparabel schließt, besagt denn auch sinngemäß, dass Jude, Christ und Muslem ihre Humanität … als Jude bzw. als Christ bzw. als Muselman bewähren mögen. Die Religion wird sich als die ‚wahre‘ oder doch ‚wahrste‘ erweisen, in deren Übung am meisten ‚Sanftmut, ‚herzliche Verträglichkeit‘, ‚Wohltun‘, ‚innigste Ergebenheit in Gott‘ an den Tag gelegt wird“ (Ritzel 219 f.). Dies bestätigt freilich, dass aber auch der Wahrheitsanspruch des „rechtschaffenen“ Atheisten diesbezüglich keinesfalls zum Schweigen verurteilt wäre …  Statt diesem empfohlenen ‚Wettstreben‘ hätte Kant aus dem Munde eines wirklich „weisen Richters“ wohl auch eine vorgängige Besinnung auf die „Weisheitslehre“ erwartet „wenn unter dieser nicht bloß verstanden wird, was man tun, sondern was … zur Richtschnur dienen soll, um den Weg zur Weisheit, den jedermann [!] gehen soll, gut und kenntlich zu bahnen und andere vor Irrwegen zu sichern“ (IV 302). Sie hätte Kant wenigstens als ein unverzichtbares ‚Negativ-Kriterium‘ für den „moralisch-bestimmten Monotheismus“ angesehen und so – auch als bloße „Disziplin“ – „anstatt Wahrheit zu entdecken, nur das stille Verdienst hat, Irrtümer zu verhüten.“ (KrV, B 823) Denn auch gegenüber jenem „richterlichen Rat“ (und gegen kurzschlüssige Berufung auf

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III Lessings „Nathan der Weise“ in der Sicht Kants

Ringe ‚echt‘ sein können – und dennoch auch ihnen bemerkenswerterweise eben solches „Vermögen“ der ‚Strahlkraft‘ zugedacht wird … Indes, schon dies, dass der Vater – stillschweigend – um „den Verlust zu bergen, zu ersetzen … die drei [Ringe] für einen machen“ ließ, ist eine grobe Irreführung, weil damit ja keine der Offenbarungen mehr als ‚authentische‘ gelten kann – Ausdruck einer besonderen „Prinzipienvergessenheit“, die auch in dem Bezug auf die „alle gleich gehorsamen“ Brüder sichtbar wird? Gemäß den Grundsätzen bzw. den Maßstäben des „moralischen Monotheismus“ hätte Kant wohl auch das in der „Ringparabel“ verwendete Bild abgelehnt, dass die die drei monotheistischen Offenbarungsreligionen verkörpernden drei Brüder „alle … gleich gehorsam waren“ (Nathan: v. 1931), bzw. der Vater „alle drei gleich geliebt“ habe. Dies ist nicht zuletzt auch mit Kants Charakterisierung der „natürlichen Religion“ und deren Abgrenzung vom „Heidentum“ unverträglich. Lediglich eine Konsequenz aus all dem wäre wohl dies: Auch jede – von Lessing selbst andernorts geforderte (s.o. II., Anm.197) vernunft-orientierte Prüfung der Offenbarungsansprüche wäre damit freilich unmöglich bzw. gegenstandslos, zumal ja der Vater selbst diese Ringe geradezu „in der Absicht machen ließ, damit [!] sie nicht zu unterscheiden wären“ (Nathan: v. 1968 f.) – also eine Offenbarung initiierte, über deren Anspruch die Vernunft grundsätzlich nichts zu entscheiden vermag, weil sich dabei „nichts denken lässt“?¹⁰⁶ Kants diesbezügliches Urteil wäre vermutlich: Die in der „Ringparabel“ vorgenommene ‚Symbolisierung‘ der drei abrahamitischen ‚Offenbarungsreligionen‘ durch die „drei Ringe“ erweist sich demnach in mehrfacher Hinsicht als brüchig, ja als widersprüchlichparadox und mit den Ansprüchen eines „moralischen Monotheismus“ unvereinbar … Indes, es ist dies ja lediglich eine Vermutung bzw. eine ‚Erfindung‘ des angeblich „weisen“ und „bescheidenen“ – in Wahrheit jedoch (verdeckterweise) religionskritischen? – Richters, dass „der echte Ring vermutlich ging verloren“ (Nathan: v. 2025 f.) – oder sollte etwa der seine Söhne gleich liebende Vater sie auch in täuschender Absicht in Unkenntnis darüber gelassen haben, dass „der echte Ring vermutlich verloren ging“?¹⁰⁷ Schon hier liegt natürlich die Frage nahe,

die ‚Praxis‘) hätte Kant jedenfalls darauf bestanden: „Bloß der Moralbegriff bestimmt den Begriff von Gott ganz.“ (V-Th/Baumbach, AA 28.2.2., 1235)  Dies wäre freilich seltsamerweise – ganz gegen Lessings (gegen Goeze erhobenen) Anspruch – „eine geoffenbarte Wahrheit, bei der sich nichts denken lässt“ (XIII, 131).  „Feststeht in jedem Fall: Der Vater hat vor seinem Tod alle Söhne in der Frage der Echtheit der Ringe getäuscht. Obwohl er wusste, dass nur ein Ring der echte ist, hat er jeden der Söhne im Glauben gelassen, den echten zu haben. Der Vater ist so zumindest an zwei Söhnen zum Betrüger geworden.“ (Kuschel 2011, 175) Dies soll freilich aus einer „Lebensweisheit“ und der „Liebe“

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ob die daran geknüpfte – gewissermaßen pädagogische – Maßnahme des „richterlichen Rates“¹⁰⁸ bezüglich des sodann geforderten ‚Wettstrebens‘ (s.u. III.3.) über die Inkonsequenz hinwegsehen lassen kann, dass Lessing zufolge offenbar alle drei Ringe als unecht anzusehen sind¹⁰⁹ – und dennoch „ein jeder“ – erfolgreich getäuscht! – „sicher [!] seinen Ring den echten“¹¹⁰ glauben und „jeder seiner unbestochnen, von Vorurteilen freien Liebe“¹¹¹ nacheifern solle! Die „geheime Kraft“ des Ringes ist also an jene ‚Zuversicht‘ gebunden und stellt insofern eine Bindung der ‚Offenbarung‘ an den jeweiligen – moralisch motivierten – ‚subjek-

(ebd. 177) resultieren, die allerdings jede Analogisierung mit Gott verbieten muss. Eine ‚aus Liebe‘ motivierte göttliche ‚Unlauterkeit‘ stellt wohl (so wie jene göttliche ‚Täuschung‘) einen zu groben ‚Anthropomorphismus‘ dar, der mit dem „moralisch bestimmten Monotheismus“ auch unvereinbar ist. Indes, eine „liebestheozentrische“ (s.o. III., Anm.94) ‚Suspension des Moralischen‘ kommt nach Kant auch von Seiten Gottes nicht in Frage. Die Auskunft: „Ob vom Vater betrogen oder nicht, die Praxis der Liebe zählt“ (Kuschel 2011, 176), macht wohl eher eine dieser Parabel innewohnende Aporie sichtbar, worauf offenbar auch die genannten Bedenken Tücks (s.o. III., Anm.90 u. 94) abzielen, die insofern Kuschels Interpretation der Sache nach wohl ebenfalls zu Recht problematisieren.  Dieser scheint die Maßstäbe des „moralischen Monotheismus“ indes überhaupt zu ignorieren und in solcher Abstraktion einfach auf der „Unerweislichkeit der Glaubenswahrheit“ (Fuhrmann 73) zu insistieren. Noch einmal: Wenn diese „Unerweislichkeit“ (Unentscheidbarkeit) im Sinne des sokratischen „Wissens des Nichtwissens“ (Fuhrmann 72) das letzte Wort behalten soll: Welchen Sinn hat dann eigentlich die von Lessing mit seinem „Nathan“ bekundete Absicht, zum Zweifel „an der Evidenz und Allgemeinheit seiner Religion“ (XVIII, 314) anzuregen (s.o. III., Anm. 38)? Weiß Lessing also, „was er haben will?“  Kommt dies nicht in Lessings Bemerkung aus dem Entwurf zur Vorrede des „Nathan“ unverhohlen zum Ausdruck: „Nathans Gesinnung gegen alle [!] positiven Religionen ist von jeher [!] die meinige gewesen“? Und was besagt solche „Gesinnung gegen [!] alle positiven Religionen“ dann bezüglich der geforderten ‚Toleranz‘?  Gefordert ist nach Kant hingegen die gemeinsame Orientierung an der „Allgemeinheit und Einheit der wesentlichen Glaubensmaximen“ (SF, AA 07: 52.8 – 9) als Basis der „allgemeinen Menschenreligion“. Zureichend ist eben allein die „allgemeine, jedem gemeinen Menschen beiwohnende Vernunftreligion“ (SF, AA 07: 63.24– 25), während „Gefühl … jeder nur für sich“ haben könne (RGV, AA 06: 114.11– 13) und somit von einem – jeden „Probierstein“ entbehrenden – Eigensinn nicht zu unterscheiden wäre. Dem widerspricht deshalb wohl auch der – im Grunde zur Sprachlosigkeit verurteilende – ‚Rat‘ des Richters: „So glaube jeder sicher seinen Ring den echten“ (Nathan: v. 2034 f).  Dies setzt offenbar die von Kant geforderte „Maxime des Selbstdenkens“ voraus. Sie wäre jene ‚Liebe‘, die jenseits von „Eigenliebe“ und „Parteilichkeit“ als „Liebe zur Wahrheit“ allein dem Urteil der „unparteiischen Vernunft“ folgt. Das „Vor-Urteil“ wäre hingegen jene bloße Meinung, die sich ‚vor‘ dem Urteil der Vernunft breit macht.

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III Lessings „Nathan der Weise“ in der Sicht Kants

tiven‘ Glaubensvollzug dar, ohne den die Echtheit des Ringes doch unerkennbar bleiben soll.¹¹² Nicht zuletzt musste wohl auch Nathans Auffassung, dass der „rechte Ring … nicht erweislich“¹¹³ – „fast so unerweislich, als uns itzt der rechte Glaube“ – sei, schon wegen der darin zutage tretenden Nivellierung der Prinzipienfrage Kants Widerstand gegen Lessing provozieren; insofern hätte Kant – gleichwohl in einer ganz anderen Hinsicht – für den von Sultan Saladin erhobenen Einspruch „Wie? das soll/die Antwort sein auf meine Frage [nach der Wahrheit der Religion]?“ (Nathan: v. 1965 f.) vermutlich durchaus ein gewisses Verständnis gezeigt. Für seine fraglose Zustimmung zur insistierenden Einschätzung des Sultans, dass die „Religionen … doch wohl zu unterscheiden wären“, hätte Kant überdies sogar jene für den Status der „natürlichen Religion“ bedeutsame These geltend machen können, dass „Religion eine reine Vernunftsache ist“ (SF, AA 07: 67.26 – 27); sie wendet sich nicht zuletzt auch gegen Lessings gelegentliche Fundierung der Religion im „Gefühl“ (s. o. II., 3.3.), welche, kantischen Maßstäben gemäß, die Kernfrage der moralischen Prinzipien verkennt bzw. diese relativiert.¹¹⁴ Die be-

 „Von dem zuversichtlichen Glauben des Besitzers, dass seinem Ringe jene Wunderkraft inwohne, ist die Wirksamkeit der letzteren abhängig; sie verschwindet, sobald dieser Glaube wankt oder erschüttert wird. Der Besitzer muss gewiss sein, den echten Ring zu haben, um in der Zuversicht ihn tragen zu können, die seine Wirksamkeit entbindet. Die Kraft ist tot in demselben Augenblick, wo die Zuversicht, dass sie vorhanden ist, aufhört; diese Zuversicht gründet sich auf die Gewissheit des Besitzes, diese auf die Erkennbarkeit des Ringes“ (Fischer 1881, 55 f.), denn „der Glaube ist es, der diese Kraft erzeugt und dem Steine mitteilt. Ohne diesen Glauben verliert der echte Ring seine Kraft und ist nur noch alt“ (ebd. 66) – mit dem Ergebnis, „dass nicht der Ring oder der Stein, sondern nur die Reinheit des Willens und die aufopferungsfreudige Tat die Liebe Gottes und der Menschen verdient und erwirbt“ (ebd. 68).  Dass die Frage der Echtheit des Ringes selbst ihnen – zufolge des verbindlichen, überkonfessionellen moralischen Maßstabes – nebensächlich wird, auch im Wettstreben, dies ist doch lediglich die Konsequenz der Befolgung des richterlichen Rates (der offenbar einem Verzicht auf den argumentativen Erweis der Rationalität der eigenen Religion nahe kommt). Hier liegt natürlich die Frage nahe, ob die gewissermaßen pädagogische Maßnahme des Vaters bzw. der ‚richterliche Rat‘ bezüglich dieses ‚Wettstrebens‘ über die Inkonsequenz hinwegsehen lassen kann, dass – ungeachtet der eingeräumten Unechtheit der Ringe – dennoch „jeder sicher seinen Ring den echten“ glauben und „jeder seiner unbestochnen/ Von Vorurteilen freien Liebe“ nacheifern solle und eine ‚Gleichrangigkeit der Religionen‘ – ungeachtet der nachgemachten Ringe – gewährleisten soll?  Kant bezweifelte offenbar geradewegs, was Cunico als den „einfachsten Sinngehalt dieser Parabel“ betont, nämlich dass „wie die Echtheit der drei Ringe so auch der Wahrheitsanspruch der drei Schriftreligionen von einem (jedem) menschlichen Richter nicht direkt feststellbar ist: dogmatische, kultische oder historische Argumente reichen nicht aus, um die Wahrheit einer Religion nachzuweisen.“ (Cunico 2015a, 55) Dies mag so sein – sehr wohl leistet dies jedoch – wenigstens ‚ex negativo‘– der Maßstab des „moralisch bestimmten Monotheismus“ und an-

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hauptete „Unerweislichkeit“ des „rechten Glaubens“ ist nach Kant in gebotener Rücksicht auf die „Allgemeinheit und Einheit der wesentlichen Glaubensmaximen“ (SF, AA 07: 52.8 – 9) – jenseits des bloß „historischen Glaubens“: „Und Geschichte muss doch wohl allein auf Treu und Glauben angenommen werden?“ (Nathan: v. 1977 f.) – nicht aufrechtzuhalten, ungeachtet der natürlich auch von ihm eingeräumten, erst nach und nach abzubauenden ‚Schlacken‘ des Christentums als einer „historischen Religion“. Dass die Frage der „Echtheit der Ringe“ sehr wohl – und natürlich erst recht vom ursprünglichen Besitzer derselben – zu unterscheiden ist, ist nach Kant ganz selbstverständlich; dies ist durchaus theoretisch, d. i. nach kognitiven Maßstäben und Kriterien gemäß dem „theismus moralis“ zu entscheiden, sofern der „rechte Glaube“ doch notwendig allein „auf Moral“ gegründet sein muss¹¹⁵– „Moral führt unausbleiblich zur Religion“ (RGV, AA 06: 6.8) und nicht umgekehrt –, ungeachtet des stets möglichen Versagens in der ‚moralischen Bewährung‘, denn dies liegt auf einer anderen Ebene: „Vor Gott und Menschen angenehm zu machen“ bleibt ‚praktischer‘ Appell an die Gläubigen; davon unterschieden ist jedoch die „Übereinstimmung mit dem, was die Vernunft [!] für Gott anständig erklärt“ (SF, AA 07: 46.22– 23)¹¹⁶. Dies hätte Kant wohl dem „weisen Rat“ jenes „bescheidenen Richters“ entgegengehalten; er hätte vermutlich auch darauf hingewiesen, dass die behauptete Ununterscheidbarkeit, „Unerweislichkeit“ des „echten Ringes“ ebenso mit der andernorts (jedoch ungefähr zeitgleich) geltend gemachten „Einsicht“ ganz unverträglich ist, dass der „christliche Lehrbegriff“ „Gott anständiger, und dem menschlichen Geschlecht ersprießlicher ist als die Lehrbegriffe aller andern Religionen“.¹¹⁷ Im Übrigen hätte Kant die behauptete „Unerweislichkeit“ der Echtheit der drei Ringe wohl auch im Widerspruch zu Lessings eigener Auffassung gesehen: „Ob eine Offenbarung sein kann, und sein muss, und welche von so vielen, die darauf

thropologische Erwägungen, die entsprechende Abgrenzungen sogar notwendig machen und insofern Kant zufolge das Urteil doch relativieren: „In keiner Religion ist eine absolute Überlegenheit des Ursprungs, der Lehre und der Verhaltensweisen festzustellen“ (Cunico 2015a, 55 f.). Der im Christentum intendierte „reine Religionsglaube“ erhebt nach Kant dennoch („der Idee nach“) solchen Anspruch.  Die ‚Strahlkraft‘ des Ringes ist natürlich an den Respekt und die Anerkennung der anderen gebunden.  Es wird zwar wohl so sein, dass man „nur im Wettstreit um das Gute … vor Gott und Menschen angenehm“ werde (so Kuschel 2011, 177), jedoch erübrigt dies eben keineswegs den notwendigen Streit über die „Allgemeinheit und Einheit der wesentlichen Glaubensmaximen“.  Einleitung in die „Gegensätze des Herausgebers“: XIII, 132.

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Anspruch machen, es wahrscheinlich sei, kann nur die Vernunft entscheiden“.¹¹⁸ Diese von Kant durchaus geteilte Einschätzung ist ihm zufolge jedoch auch mit jener im „Nathan“ scheinbar vorherrschenden Auffassung offenbar unvereinbar, „dass die Wirkung des Ringes – scharf gesehen – nicht eine Wirkung des Ringes, sondern seines Trägers ist und nur an den Ring als eine conditio sine qua non gebunden bleibt“ – eine Eigentümlichkeit, die „mit noch größerer Eindringlichkeit an den drei Ringen in Erscheinung“ tritt, „die der Vater statt des einen echten seinen Söhnen hinterlässt, um keinen vorzuziehen oder zu benachteiligen. Der echte Ring findet sich bei niemandem: Das scheint daraus hervorzugehen, dass es keinem der Besitzer gelingt, sich bei Gott und Menschen angenehm zu machen: alle drei sind in eifersüchtigem Hass gegeneinander entbrannt und beschimpfen sich mit dem Vorwurf, der andere habe den echten Ring widerrechtlich erworben. Die Erklärung des weisen Richters, er müsse wohl verlorengegangen sein, weil so sein entscheidendes Symptom (vor Gott und Menschen angenehm zu machen) ausbleibe, ist in Wahrheit nur Ironie, denn er glaubt ja gar nicht an die Wunderqualität des Ringes. Das geht aus dem Vermittlungsvorschlag hervor, den er den streitenden Brüdern macht: Glaubte er an die Wundereigenschaften des Kleinods, also an seine immanente magische Kraft, dann würde er die Verordnung erlassen, ihn zu suchen, oder mit List Symptome erstreben, an denen der Besitzer erkennbar wäre. Statt dessen macht er den Vorschlag, dass jeder der drei einen Ring besitzenden Brüder der illusionären Kraft seines Ringes mit den Tugenden ‚zu Hilfe‘ kommen solle … , die er eigentlich als ‚fertige’ magische Wirkungen von ihm empfangen müsste. Die Kraft des Ringes ist also in Wirklichkeit keine Gabe, sondern eine Aufgabe, die seinem Träger gestellt ist. Und der Inhalt dieser Aufgabe ist eine Moralität und Religiosität des Menschentums, wie es einem reinen, nur seiner eigenen Autorität unterstehenden Vernunftstreben entspricht … Der Ring bietet für jenes Vernunftstreben nur die entscheidende Anregung und bildet insofern trotz seiner lediglich illusionären Kraft die conditio sine qua non jenes Strebens. Darin liegt seine Qualität.“¹¹⁹ Dies also ist die – durchaus fragwürdige! – Auskunft des – nicht nur ‚ironischen‘, sondern im Grunde eher skeptizistisch-religionskritischen? – „weisen Richters“,¹²⁰ der darin den ‚Fiktionsverdacht‘ lediglich nährt. Mit den

 XII, 432. Kant hätte wohl nicht zuletzt die mangelnde Konsistenz der im „Nathan“ geltend gemachten Auffassungen mit anderen (durchaus zeitnahen) Texten Lessings beanstandet, die offenbar auch sein Urteil über Lessing bestimmte.  Thielicke 126 f.  Darauf gründet wohl die Einschätzung Kuschels: „Nur wenn man erkennt, dass Lessing sehr ernsthaft die Möglichkeit einer völligen Täuschung des Menschen in Sachen Religion gelten lässt, begreift man das Riskante seiner Rettungsoperation.“ (Kuschel 2011, 175) Gegen solches Risiko versichert nach Kant eben allein die Besinnung auf die „Allgemeinheit und Einheit der wesent-

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strengen Kriterien eines „moralisch bestimmten Monotheismus“ und einem darauf beruhenden „symbolischen Anthropomorphismus“ im Sinne Kants ist all dies jedoch offensichtlich ganz unvereinbar. Indes, dass das „in den Religionen gesetzte Telos … also in gleicher Weise wie das in den Ringen liegende Telos (vor Gott und Menschen angenehme zu machen) den jeweiligen menschlichen Subjekten aufgegeben [ist] als eine von diesen hervorzubringende, nicht aber als eine fertige von ihnen zu empfangende Wirkung“,¹²¹ ändert nach Kant nichts an der theoretischen – prinzipien-orientierten – Entscheidbarkeit der ‚Vernünftigkeit‘ der Religionen, obgleich es natürlich auf „das Tun ankommt“¹²² – dies ist aber Sache der jeweiligen Haltung der Individuen, die durch ihr moralwidriges Verhalten den Anspruch ihrer Religion möglicherweise verraten; indes bleibt es beim durchaus ausweisbaren theoretischen Vorzug derselben, der deshalb auch schon vor den „tausend, tausend Jahren“ (im Sinne eines ‚open end‘) rational entscheidbar ist.¹²³ Die richterliche Vertröstung auf einen ‚eschatologischen Erweis‘ der ‚wahren Religion‘ erschien Kant deshalb als kurzschlüssig und auch als widersprüchlich: Wenn dem Richter zufolge, nach „tausend, tausend Jahren“ ein „weisrer Richter“ das eschatologische Urteil über die Religionen sprechen soll – steht dies dann nicht auch grundsätzlich im Widerspruch dazu, dass ebendiesem Richter zufolge doch keiner der drei Ringe echt ist?¹²⁴

lichen Glaubensmaximen“ (SF, AA 07: 52.8 – 9), die den „moralischen Monotheismus“ auszeichnen. Der Gedanke einer ‚völligen Täuschung‘ ist freilich auch mit dem Motiv einer ‚eschatologischen Bewahrheitung‘ unvereinbar. Dem Verdacht einer „völligen Täuschung … in Sachen Religion“ ist jedenfalls nicht durch die Flucht in die ‚Praxis‘ zu entgehen.  Thielicke 127.  „Herzustellen“ ist die Bewährung des Anspruches der Religionen, der aber durch praktisches Versagen nicht infrage gestellt wird: Ein später Refrain auf Lessings Frage: „was hilft es, recht zu glauben, wenn man unrecht lebt“? (XIV, 159)  Dies bleibt auch im Blick auf das: „Die „tausendtausend Jahre deines Richters sind noch nicht um“ zu bedenken. Kant hätte deshalb auch die Auskunft nicht befriedigt: „Nicht die Herkunft des Ringes wird zum entscheidenden Anhalt für die Wahrheitsfrage der Religionen; ebensowenig ist die Gegenwart in der Lage, auf diese eine gültige Antwort zu geben. Der Rat des Richters richtet vielmehr den Blick auf kommende Zeiten, in denen über Wahrheit und Unwahrheit der jeweiligen Religion entschieden wird.“ (Kienzler 112)  Insofern hätte Kant der Sichtweise des Richters wohl widersprochen, die Cavallar so wiedergibt: „Der Richter empfiehlt den drei Söhnen eine mehrfache Wendung: von der theoretischen Reflexion zur moralischen Praxis, vom Streit zum Wettstreit der Religionen, von Dogmatismus und Intoleranz zur Toleranz. Die Wahrheitsfrage wird nicht als unsinnig beiseitegeschoben, sondern ihre endgültige Beantwortung an das Ende der Geschichte verlegt – es geht um die eschatologische Wahrheit. Zentraler Maßstab ist die moralische Glaubwürdigkeit jeder Religion und Theologie. Das Ziel der Verwandlung und der Reform der Offenbarungsreligionen ist nicht

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Lediglich als eine Folge der Missachtung dieser – nach Kant eben keineswegs nebensächlichen – Aspekte resultieren ihm zufolge weitere Defizite, die mit der in Lessings „Ringparabel“ geltend gemachten „Unerweislichkeit des echten Ringes“ zusammen hängen, weil dafür empirische bzw. „historische Beweisgründe“ nicht ausreichen. Noch einmal: Für den historischen Glauben – für die „historischen Beweisgründe“ (RGV, AA 06: 187.20 – 21)¹²⁵ – mag jene Unerweislichkeitserklärung ja durchaus gelten – nicht jedoch für die „der Idee nach“ dem „reinen moralischen Vernunftglauben“ bzw. der „natürlichen Religion“ entsprechende Glaubensart des „Christentums“. Mag also die „Unerweislichkeit“ der „wahren Religion“¹²⁶ auf der Ebene ihrer Beurteilung als „historischer Glaubensarten“ auch das letzte Wort behalten, so sah Kant durch die Maßstäbe seiner prinzipien-orientierten „Vernunftreligion“ (des „moralisch bestimmten Monotheismus“) durchaus einen Ausweg eröffnet, die auch seiner besonderen Version einer „duplex religio“ entsprechen¹²⁷ und vielleicht am direktesten in seiner späten Charakterisierung der

unbedingt eine aufklärerische ‚Vernunftreligion‘ oder die ‚allgemeine Menschenreligion‘ von Lessings jüdischem Freund Moses Mendelssohn.“ (Cavallar 83)  Der Befund befriedigte Kant deshalb nicht: „Aus der Analyse der theoretischen Glaubenswahrheiten, sei es, dass man die den verschiedenen Religionen spezifischen Lehren miteinander vergleicht, kann die wahre der drei Religionen nicht objektiv erkannt werden; denn – wie Nathan auf des Sultans Hinweis, die Religionen seien doch nach Lehre und Gebräuchen verschieden, erwidert, beruhen ihre Gründe alle auf Geschichte, die allein auf Treu und Glauben angenommen wird“ , d. h. „nur auf geschichtlichen Gründen, oder wie es Lessing schon in der Schrift ‚Über den Beweis des Geistes und d der Kraft‘ angeführt hat, auf objektiv ungewissen, zufälligen Geschichtswahrheiten beruht […] Sie sind alle derselben geschichtlichen Unsicherheit ausgesetzt, weil weder ihre theoretischen Lehren auf Grund der überlieferten Geschichtsgründe absolut fundiert werden können, sondern höchstens von ungewisser Wahrscheinlichkeit sind, noch eine Lehre, gleichviel welche, durch eine vergleichende Gegenüberstellung aller den anderen beiden gegenüber relativ als die wahrscheinlichere erwiesen werden kann, da alle drei Lehren gleich wahrscheinliche und gleich unwahrscheinliche Gründe zur Verfügung haben“ (Bothe 100) Die „Antwort Nathans an den Sultan“ sei deshalb negativ: „Die wahre der drei Religionen lässt sich von seinem geschichtlichen Standort aus weder aus ihren spezifischen Lehren noch aus ihrer praktischen Bewährung feststellen, und die positiven Religionen können deshalb schlechthin weder angenommen noch verworfen werden.“ (Bothe 103) Die eingeräumte mögliche Falschheit bezieht sich auf das Christentum als Offenbarungsreligion, sie verbietet sich jedoch nach Kant mit Blick auf dasselbe als „natürlicher Religion“, die gegen jede ‚Täuschung‘ immun ist. Die „Gewissheit“ des „moralischen Glaubens“ verträgt sich nicht mit diesen ‚Sicherheitskalkülen‘.  In diesem Sinne habe die „Ringparabel“ „in aller Deutlichkeit nochmals den tiefen ‚Graben‘ zwischen Vernunft- und Geschichtswahrheiten bestätigt und als prinzipiell unüberwindbar vorgestellt – zumindest in der gegenwärtigen Situation“ (Schilson 1974, 98).  Kants eigene Version einer „duplex religio“ ist auch in der späten Charakterisierung der „wahren inneren und allgemeinen Religion, die von dem partikulären Kirchenglauben als Ge-

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„wahren, inneren und allgemeinen Religion“¹²⁸ angesprochen ist, „die von dem partikulären Kirchenglauben als Geschichtsglauben … unterschieden ist; wobei dann alles mit Ehrlichkeit und Offenheit, ohne Täuschung [!] zugeht“ (SF, AA 07: 67.8 – 10). Denn die Kriterien des „moralischen Monotheismus“ machen die Frage nach der „Echtheit des Ringes“ schon zu Lebzeiten – wenigstens ‚ex negativo‘, im Sinne des ‚Nicht-Widerstreitens‘ – entscheidbar, ohne dem „süßen Wahn“ eines ‚absoluten‘ theoretischen Wahrheitsanspruchs (als ‚Alleinbesitz‘) zu verfallen; „erweislich“ ist nach Kant jedenfalls der „reine Religionsglaube“ – und dies ist das von seinen historischen Schlacken befreite Christentum,¹²⁹ das nach Kant allein jener vom vernunft-gemäßen „Begriff der Religion“ geforderten „Allgemeinheit und Einheit der wesentlichen Glaubensmaximen“ genügt. Mag die end-gültige Einsicht in die ganze Wahrheit der Religion auch geduldigen Aufschub verlangen, so gibt der „moralische Monotheismus“ vorläufig dennoch verlässliche Entscheidungskriterien an die Hand. Wenn Lessings „Nathan“ – der nicht nur klug ist, d. h. „sich auf seinen Vorteil gut versteht“ – als „der Weise“ deshalb gerühmt wurde, weil er durchaus „die Wahrheit nicht verhehlt“, so kann dies nach Kant wiederum lediglich bedeuten, dass diese ‚Weisheit‘ Nathans gerade darin bestehe bzw. den Blick dafür schärft, dass die in moralischen ‚Grundsätzen‘ zu verankernde „natürliche Religion“ so doch allein – und auf sonst nichts –, auf die „wesentlichsten Zwecke“ der menschlichen Vernunft bezogen wird, weshalb andernfalls auch jenes leitende notwendige Bestreben, „vor Gott und Menschen angenehm zu machen“,¹³⁰ noch

schichtsglauben unterschieden ist“ (SF, AA 07: 67.8 – 9), unschwer zu identifizieren. S. dazu u. IV. ,2.3.1..  Kant sprach von der „eigentlichen Religion“ als einem „Vernunftbegriff apriori“ (RGV, AA 06: 12.24), von der „natürlichen Religion“ als einem „reinen praktischen Vernunftbegriff“ (RGV, AA 06: 157.21– 22), sofern sie in ihrer „Reinigkeit“ eben der „Idee“ als „regulativem Prinzip“, einem „unentbehrlichen Richtmaß der Vernunft“ (KrV, B 597 f) entspricht, das von der Realität gleichwohl „weit entfernt“ ist. Es ist diese „wahre Religion“ „der Idee nach“ durch die Grundpfeiler (die „reinen Prinzipien“ der „Theologie und Moral“) des „moralischen Monotheismus“ schon bestimmt, die sich freilich (im Sinne eines ‚idealisierenden Vorgriffs‘) an der potentiellen Zustimmung aller Mitglieder des „ethischen Gemeinwesens“ orientiert, sofern sie sich (als „unsichtbare Kirche“) eben an alle „Vernunftwesen“ wendet und ‚in the long run‘ (im ‚idealen Zustand‘) völlige und „endgültige Übereinstimmung“ und Einverständnis intendiert (wie sich in entfernter Anlehnung an Peirce sagen lässt).  Auch für die christliche Religion bleibt somit nach Kant selbstverständlich in Geltung, dass sich „ihr Selbstverständnis und ihre konkret gelebte Verwirklichung der ungeschriebenen Grundnorm (bzw. dem utopischen Leitbild) der echten Religion annähern“ (Cunico 2015a, 57).  Schon das Fehlen des Artikels in diesem Zitat – es ist eben nicht „von den Menschen“, sondern bloß „von Menschen“ die Rede – könnte in sachlicher Hinsicht wohl nicht nur der ‚metrischen Kunst‘ geschuldet sein; es wäre dies vielleicht auch als Indiz dafür zu lesen, dass es

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III Lessings „Nathan der Weise“ in der Sicht Kants

uneingelöst bliebe. Denn ausschließlich jener moralisch verankerte Bezug auf die „höchsten Zwecke“ der Vernunft erlaubt es nach Kant, von ‚Weisheit‘ zu sprechen, zumal diese gemäß der „vollständigen Religion“ doch genau darin besteht. Indes, ebendies sah Kant vermutlich durch den als „weise“ gerühmten Nathan geradewegs in Frage gestellt.

3 Mögliche kantische Vorbehalte gegen Lessings Motiv eines „Wettstreits der Religionen“: Einige Vermutungen – und eine verbleibende offene Frage. Ein ebenso grundsätzliches Bedenken Kants musste sich – unter der Voraussetzung der von ihm für die Anerkennung einer „natürlichen Religion“ bzw. des „moralischen Monotheismus“ geltend gemachten Maßstäbe (s. o. I., 3.1.) – nicht zuletzt wohl auch daran entzünden, ob denn eine solche an ‚moralischen Prinzipien‘ festgemachte Orientierung bzw. Beurteilung das Leitbild eines – in Lessings „Nathan“ vom Richter vorgeschlagenen – ‚Wettstreits‘ der Religionen hingegen nicht schon aus prinzipiellen Gründen ablehnen muss: „Es strebe von euch jeder um die Wette, Die Kraft des Steins in seinem Ring’ an Tag zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut, mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun, mit innigster Ergebenheit in Gott Zu Hilf’“ (Nathan: v. 2043 ff.). Denn diese moralischen Eigenschaften: „Sanftmut“, „herzliche Verträglichkeit“, „Wohltun“ und „innigste Ergebenheit“ sowie das „Tun des Guten um des Guten willen“, speisen sich offenbar allesamt just aus solchen geistigen Quellen, die – so wie das kantische Motiv der „Liebenswürdigkeit des Christentums“ – einem „Wettstrebens“- und KonkurrenzGeist (‚competition‘) eher hinderlich, d. h. mit heimlichen Impulsen der „Selbstliebe“ und „Ehrsucht“, der „Ungeselligkeit und Eifersucht“ als den „Triebfedern der Kultur“ im „Zustand der bürgerlichen Gesellschaft“,¹³¹ ganz unvereinbar sind.

darin natürlich allein um normative Ansprüche der ‚Humanität‘ zu tun sein kann, keinesfalls jedoch um üblicherweise in der ‚Aufklärung‘ abgewogene – zu- oder aberkannte – ‚Nützlichkeitsaspekte‘ der Religion.  Refl. 1521, AA 15: 885. – Möglicherweise hätte Kant auch Zweifel gehabt, ob solches ‚Wettstreben‘ nicht auch jenem „fröhlichen Herzen in Befolgung seiner Pflicht“ zuwider läuft, zumal dies doch jener gelassenen „fröhlichen Gemütsstimmung“ hinderlich sein könnte, „ohne welche man nie gewiss ist, das Gute auch lieb gewonnen, d. h. es in seine Maxime aufgenommen zu haben“ (RGV, AA 06: 24 Anm.). Dies macht auch ein einschlägiger Passus aus den Vorarbeiten zu Kants Religionsschrift besonders deutlich: „Ich habe immer darauf gehalten, Tugend und selbst Religion in fröhlicher Gemütsstimmung zu kultivieren und zu erhalten. Die mürrische kopfhängende, gleich als unter einem tyrannischen Joch ächzende cartheusermäßige Befolgung seiner

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Die Kennzeichen einer „wahren Religion“ stehen in direktem Gegensatz dazu; denn die „missgünstig wetteifernde Eitelkeit, […] die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben, oder auch zum Herrschen“ (IaG, AA 08: 21.27– 28), bestimmen wohl auch (mehr oder weniger) heimlich die „historischen Glaubensarten“ und sind somit dem Geist der „Gemeinschaft nach Tugendgesetzen“ kaum förderlich. Dies steht also dem Bemühen um eine „alles vereinigende“ Kirche (RGV, AA 06: 115.24), d.i. dem „Volke Gottes unter ethischen Gesetzen“ (RGV, AA 06: 98.17), eher im Wege¹³² und verhindert so geradewegs die darin notwendig maßgebende „freiwillige, allgemeine und fortdauernde Herzensvereinigung“ (RGV, AA 06: 102.25 – 27). Nicht nur müsste der stillschweigend zum „Wettstreit um das Gute“¹³³ transformierte ‚Wettstreit der Religionen‘, der die „Kraft des Steins“ offenbaren soll, damit auch den „allmähligen Übergang des Kirchenglaubens zur Alleinherrschaft des reinen Religionsglaubens“ (RGV, AA 06: 115.2– 3) vernachlässigen bzw. überhaupt verweigern; dieser „Wettstreit um das Gute“ bleibt wohl auch von jener Intention unterschieden, die nach Kant die unter der „Fahne der Tugend Versammelten“ im „ethischen Gemeinwesen“ beseelt: „Es ist von der moralisch gesetzgebenden Vernunft außer den Gesetzen, die sie jedem einzelnen [!] vorschreibt, noch überdem eine Fahne der Tugend als [gemeinschaftsbildender] Vereinigungspunkt für alle, die das Gute lieben, ausgesteckt, um sich darunter zu versammeln, und so allererst über das sie rastlos anfechtende Böse die Oberhand zu bekommen.“ (RGV, AA 06: 94.21– 25).¹³⁴ Dieses „ethische Gemeinwesen“ orientiert

Pflicht ist nicht Achtung, sondern knechtische Furcht und dadurch Haß des Gesetzes.“ (VARGV, AA 23: 99.35 – 100.4)  Die „wirkliche Errichtung“ des auf der „allgemeinen Vernunftreligion“ gegründeten „ethischen Staats“ – als der „Vereinigung aller Rechtschaffenen unter der göttlichen unmittelbaren, aber moralischen Weltregierung“ (RGV, AA 06: 101.9 – 11) sah Kant freilich „noch in unendlicher Weite von uns entfernt“ (RGV, AA06: 122.30). S. dazu o. 28 ff..  „Und jeder hat eine Richtung, nach der er sich kehrt. Wetteifert daher miteinander in guten Werken“ (Sure 2,Vers 148).Vgl. Sure V, 48: „Wetteifert darum im Guten. Zu Allah ist eure Heimkehr allzumal, und er wird euch aufklären, worüber ihr uneins seid.“ Cunico merkt deshalb an, dass die Aufforderung des Richters im „Nathan“ diese „wichtige Mahnung“ des Koran wiederhole (Cunico 2015a, 56; ders., 2015c, 192). S. dazu allerdings o. III., Anm.74.  Auffallend ist auch dies: Während der richterliche Rat zum ‚Wettstreit um das Gute‘ („Es strebe von euch jeder um die Wette …“) eine Reaktion auf den ehrsüchtigen Zwist der sich ‚verklagenden‘ Brüder ist („man zankt, man klagt“: Nathan: v. 1961 f, „jeder schwur dem Richter, unmittelbar aus seines Vaters Hand den Ring zu haben“: Nathan: v. 1994 ff, die sich „des falschen Spiels bezeihen“: Nathan: v. 2005 f), ist der Zusammenschluss zum „ethischen Gemeinwesen“, die besondere gemeinsame „Pflicht, sich zu einem solchen Staat zu vereinigen“, nach Kant jedoch darin begründet, um „allererst über das sie rastlos anfechtende Böse die Oberhand zu bekommen“. Dies ist nach Kant dem Umstand geschuldet, dass die unentrinnbare soziale Verfloch-

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sich, „so viel es durch Menschen geschehen kann“ (RGV, AA 06: 101.25), als eine „sich immer ausbreitende, bloß auf die Erhaltung der Moralität angelegte Gesellschaft“ (RGV, AA 06: 94.9 – 10) an einem „absoluten ethischen Ganzen“, d.i am „Ideal eines Ganzen aller Menschen“ (RGV, AA 06: 96.19). Als eine „Gesellschaft nach Tugendgesetzen“, ein „Reich der Tugend (des guten Prinzips)“ (RGV, AA 06: 95.1) verpflichtet es auch zum öffentlichen Einsatz dafür,¹³⁵ weil die Überwindung des Bösen auch nur von einer „gemeinsamen Wirkung“ zu erhoffen ist. Das Bestreben der einzelnen Person zielt eben darauf, in „vereinigter und darum stärkerer Kraft“ (RGV, AA 06: 151.21) zu diesem „gemeinschaftlichen Zweck des Guten“ (RGV, AA 06: 97.7),¹³⁶ d.i. der „Errichtung und Ausbreitung einer Gesellschaft nach Tu-

tenheit der Menschen untereinander mit der Frage nach dem Ursprung des Bösen engstens zusammenhängt und die Verpflichtung begründet, in soldarischer Gesinnung dem Bösen „gemeinschaftlich“ entgegenzuwirken, denn: „Der Neid, die Herrschsucht, die Habsucht und die damit verbundenen feindseligen Neigungen bestürmen alsbald seine an sich genugsame Natur, wenn er unter Menschen ist, und es ist nicht einmal nötig, dass diese schon als im Bösen versunken, und als verleitende Beispiele vorausgesetzt werden; es ist genug, dass sie da sind, das sie ihn umgeben, und das sie Menschen sind, um einander wechselseitig in ihrer moralischen Anlage zu verderben, und sich einander böse zu machen“ (RGV, AA 06: 93.27– 94.6). Vor diesem Hintergrund ist also auch die besondere ‚Pflicht‘ zu sehen, sich unter der „Fahne der Tugend als Vereinigungspunkt für alle, die das Gute lieben“ zu versammeln. Dieses soll so dem „ethischen Naturzustand“ als einem „Zustand der unaufhörlichen Befehdung durch das Bose“ entgegenwirken, „welches in ihm und zugleich in jedem andern angetroffen wird“ (RGV, AA 06: 97.1– 3). Kants – religionsphilosophisch orientierte – Begründung für das gebotene ‚Hinwirken‘ auf das „gemeinschaftliche [!] Gute“ ist also ‚radikaler‘ als Lessings ‚Wettstreit um das Gute‘, in dem die Bekämpfung des „moralisch Bösen“ im Grunde keine Rolle spielt. Kant benannte jedenfalls auch die zu belebende „sittliche Gesinnung der brüderlichen Liebe“, die sich der „Idee einer weltbürgerlichen moralischen Gemeinschaft“ als einem „Erweiternden“ (RGV, AA 06: 199.37– 200.2) verpflichtet weiß und so alle Menschen umfasst.  Kant betonte die Besonderheit dieser Pflicht: „Wir haben gesehen, dass zu einem ethischen gemeinen Wesen sich zu vereinigen eine Pflicht von besonderer Art … sei, und dass, wenn gleich ein jeder seiner Privatpflicht gehorcht, man daraus wohl eine zufällige Zusammenstimmung aller zu einem gemeinschaftlichen Guten, auch ohne dass dazu noch besondere Veranstaltung nötig wäre, folgern könne, dass aber doch jene Zusammenstimmung aller nicht gehofft werden darf, wenn nicht aus der Vereinigung derselben miteinander zu eben demselben Zwecke und Errichtung eines gemeinen Wesens unter moralischen Gesetzen, als vereinigter und darum stärkerer Kraft, den Anfechtungen des bösen Prinzips (welchem Menschen zu Werkzeugen zu dienen sonst voneinander selbst versucht werden) sich zu widersetzen, ein besonderes Geschäfte gemacht wird“ (RGV, AA 06: 151.12– 24).  „Jede Gattung vernünftiger Wesen ist nämlich objektiv, in der Idee der Vernunft zu einem gemeinschaftlichen Zwecke, nämlich der Beförderung des höchsten als eines gemeinschaftlichen Guts, bestimmt. Weil aber das höchste sittliche Gut durch die Bestrebung der einzelnen Person zu ihrer eigenen moralischen Vollkommenheit allein nicht bewirkt wird, sondern eine Vereinigung derselben in ein Ganzes zu eben demselben Zwecke zu einem System wohlgesinnter Menschen

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gendgesetzen“,¹³⁷ „mit Eintracht hinzuwirken“ (RGV, AA 06: 95.5) und verweist insofern auch auf notwendige „öffentliche Veranstaltungen zur Beförderung des Moralischen in der Religion“ (RGV, AA 06: 106.15). Von einer solchen nur in „vereinigter und darum stärkerer Kraft“ zu erzielenden „gemeinsamen Hinwirkung“ auf dieses „ethische gemeine Wesen“ als dem „höchsten gemeinschaftlichen Gut“, dem „gemeinsamen Guten“, d.i. der „wirklichen Besserung des Menschen“ (RGV, AA 06: 198 Anm.) – und von der notwendigen wechselseitigen „Belebung ihrer moralischen Triebfedern (zur Erbauung)“ (SF, AA 07: 68.23), von wechselseitiger moralischer Ermutigung (und Ermahnung), Zuspruch und Trost in diesem „System wohlgesinnter Menschen“ – ist das von getarnter Rivalität geleitete, vor allem um die „Leuchtkraft des eigenen Steins“ besorgte „Streben eines jeden um die Wette“ (Nathan: v. 2043) (d.i. ein solcher ‚Wettstreit um das Gute‘) vermutlich doch deutlich unterschieden. Dagegen steht bei Kant auch das vornehmlich am „allmählige(n) Übergang … zur Alleinherrschaft des reinen Religionsglaubens“ (RGV, AA 06: 115.2– 3) orientierte „ethische Gemeinwesen“, die „ethisch-bürgerliche Gesellschaft“. Es bestätigt sich: Diese von Kant ausdrücklich erstrebte „Alleinherrschaft des reinen Religionsglaubens“ spielt in Lessings Ringparabel indes keine Rolle. Der von Lessings „Nathan“ dem Richter in den Mund gelegte ‚Wettstreit um das Gute‘ spiegelt im Grunde hingegen noch jenes Lessing‘sche Bekenntnis wider: „Nathans Gesinnung gegen alle positiven Religionen ist von jeher die meinige gewesen“¹³⁸ und bleibt auch hier sein letztes Wort. Auch dies erhärtet wohl den Eindruck seiner (von Kant jedoch distanzierten) „Gleichgültigkeit, oder wohl gar Widersetzlichkeit gegen alle Offenbarung.“ (RGV, AA 06: 119.2– 3) Hinzu kommt dies: Abgesehen davon, dass zwar auch nach Kant in der moralisch verankerten Religion alles auf das „Tun ankommt“ (SF, AA 07: 41.36 – 37)¹³⁹

erfordert, in welchem und durch dessen Einheit es allein zu Stande kommen kann, die Idee aber von einem solchen Ganzen, als einer allgemeinen Republik nach Tugendgesetzen, eine von allen moralischen Gesetzen (die das betreffen, wovon wir wissen, dass es in unserer Gewalt stehe) ganz unterschiedene Idee ist, nämlich auf ein Ganzes hinzuwirken, wovon wir nicht wissen können, ob es als ein solches auch in unserer Gewalt stehe: so ist die Pflicht, der Art und dem Prinzip nach, von allen andern unterschieden.“ (RGV, AA 06: 97.19 – 98.8)  „Die Herrschaft des guten Prinzips, sofern Menschen dazu hinwirken können, ist also, so viel wir einsehen, nicht anders erreichbar, als durch Errichtung und Ausbreitung einer Gesellschaft nach Tugendgesetzen und zum Behuf derselben; einer Gesellschaft, die dem ganzen Menschengeschlecht in ihrem Umfange sie zu beschließen durch die Vernunft zur Aufgabe und zur Pflicht gemacht wird“ (RGV, AA 06: 84.14– 19).  XVI, 444.  Dass nach Kant in der Religion alles „aufs Tun“ ankommt, hat in Nathans Mahnung an Recha eine unübersehbare Entsprechung – ohne dass dies jedoch seine Zustimmung zu Lessings ‚Wettstreit‘-Motiv implizierte. Denn obwohl Nathan seine Adoptiv-Tochter Recha gewissermaßen

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und in diesem Sinne auch das „Wesentliche der Religion im Moralischen“ liegt,¹⁴⁰ so bleibt – gerade in Würdigung der moralisch handelnden Individuen, ungeachtet ihrer religiösen Bindungen – dennoch auch daran zu erinnern, dass die nach Kant für die moralische Qualität entscheidende „innere Gesinnung“ sich jedoch jeder äußeren Beurteilung entzieht¹⁴¹ – ein wohl auch im Blick auf das Motiv des „Wettstrebens der Religionen“ entscheidender Sachverhalt, der ebenso in Kants Konzeption eines „ethischen Gemeinwesens“ (als einer „kosmopolitisch“ orientierten ‚egalitären‘ Gemeinschaft) eine Rolle spielt. Auch mit Blick auf die in Lessings „Nathan“ gerühmten „augenfällig guten Taten“ hätte Kant wohl an seine zentrale Unterscheidung von „Legalität und Moralität“¹⁴² und an die „innere Gesinnung“ erinnert,¹⁴³ an der bemessen weder die – aus einer bloßen zufälligen

schon gemäß dem „Bruchstück eines moralischen Katechismus“ (in Kants „Tugendlehre“ der „Metaphysik der Sitten“: MS, AA 06: 480 ff.) erzogen hat, musste indes auch Recha in ihrem Gefühl der Dankbarkeit erst von bloßer ‚Schwärmerei‘ befreit werden und sich von Nathan (ganz im Sinne Kants) darüber belehren lassen: „Geh! – Begreifst du aber, wie viel andächtig schwärmen leichter, als gut handeln ist? Wie gern der schlaffste Mensch andächtig schwärmt, um nur, – ist er zu Zeiten sich schon der Absicht deutlich nicht bewusst – um nur gut handeln nicht zu dürfen“ (Nathan: v. 359 ff.). An die Ermahnung Rechas durch Nathan, nur nicht einer „andächtigen Schwärmerei“ zu verfallen, erinnert Kants einschlägige Kritik: „Andächtelei (bigotterie, devotio spuria ist die Gewohnheit, statt Gott wohlgefälliger Handlungen (in Erfüllung aller Menschenpflichten) in der unmittelbaren Beschäftigung mit Gott durch Ehrfurchtsbezeigungen die Übung der Frömmigkeit zu setzen; welche Übung alsdann zum Frohndienst (opus operatum) gezählt werden muss, nur dass sie zu dem Aberglauben noch den schwärmerischen Wahn vermeinter übersinnlichen (himmlischer) Gefühle hinzu tut“ (RGV, AA 06: 185 Anm.).  Dies in ausdrücklichem Unterschied zu Goeze, für den das „Wesentliche der Religion“ in den „geoffenbarten Glaubenslehren“ liegt.  Insofern ist die Feststellung Nisbets doch problematisch: „Die Empfehlung des Richters, dass nur das moralische Verhalten der drei Söhne über ihre Ansprüche entscheiden könnte … ist übrigens in Einklang mit Kants Moralphilosophie“ (Nisbet 2013b, 108).  Auch bezüglich eines ‚Wettstreits um das Gute‘ (und auch der vom Sultan geforderten „Wahl des Besseren“) bleibt nach Kant doch zu bedenken, dass die „Legalität der Handlungen, die in die Augen fällt“, von der „inneren Moralität“ zu unterscheiden bleibt, „von der hier allein die Rede ist“ (RGV, AA 06: 99.2– 3). Maßgebend bleibt also auch hier notwendig dieser Unterschied, „wenn die Handlung nicht bloß Legalität, sondern auch Moralität enthalten soll“ (KpV, AA 05: 118.13 – 14). Auch diese Unterscheidung zwischen „Moralität und Legalität“ steht also der Auffassung im Wege, dass allein die ‚Praxis‘ den Besitzer des „echten Ringes“ erweisen könne. Die moralische ‚Bonität‘ ist eben keiner Handlung abzulesen, was auch für den geforderten „Wettstreit um das Gute“ zu bedenken bleibt – ebenso jedoch für die Behauptung: „Nicht die Übereinstimmung in den Meinungen, sondern die Übereinstimmung in tugendhaften Handlungen ist es, welche die Welt ruhig und glücklich macht“ (V, 321).  Die Übereinstimmung der „Lehre Christi“ „mit der Moral und mit der natürlichen Weltweisheit“ hat Lessing schon in der „Rettung des Hieron. Cardanus“ betont: „Christus als vollkommenstes Muster aller Tugend“: diese von Lessing als „gründlichste(r) Auszug, den man aus

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Laune entspringende – „Begnadigung des Tempelherrn durch Saladin“ noch die Rettung Rechas durch den (oftmals von Juden- und Menschenverachtung geleiteten) Tempelherrn in moralischer Hinsicht als ‚gut‘ genannt zu werden verdiente. Jene kantische Unterscheidung wirft deshalb auch auf jene Forderung, „bei Gott und Menschen angenehm zu machen“, ein besonderes Licht – aber auch auf den ‚Wettstreit um das Gute‘; denn diese Forderung ist schon deshalb zweischneidig, weil der Maßstab dafür, „vor Gott angenehm zu machen“, nach Kant doch allein im Gewissen, im „Innersten der Gesinnungen“ (RGV, AA 06: 99.14), verborgen liegt, während bei den Menschen doch das Urteil nach den „augenfällig guten Taten“ gefällt wird, ohne dass dabei jedoch „die moralische Grundlage im Menschengeschlechte im mindesten vergrößert werden“ muß (SF, AA 07: 92. 4– 5). Auch jenen gewiss erstrebenswerten Fortschritt vom ‚Streit zum Wettstreit‘ und vom ‚Wettstreit‘ zum ‚Wettstreben“ der Religionen als „historischen Glaubensarten“, der sich letztendlich doch stillschweigend zu einem ‚Wettstreit (Wetteifer) um das Gute‘ verflüchtigt hat,¹⁴⁴ hätte Kant deshalb mit einschlägigen Rückfragen konfrontiert – somit auch die leitende Auffassung, dass die „Echtheit des Ringes … sichtbar gemacht werden“ könne allein „durch die Praxis seines Trägers“.¹⁴⁵ Auch dies hätte

allen Verteidigungen der christlichen Religion … machen kann“, gerühmte Auffassung hat Kant in seiner Lehre von der „personifizierte(n) Idee des guten Prinzips“ (RGV, AA 06: 60.8) (dem „Urbild der Gott wohlgefälligen Menschheit [den Sohn Gottes]“) (RGV, AA 06: 119.7) in gewisser Hinsicht zwar geteilt (vgl. auch seine zurückhaltende Bemerkung über die Entdeckung der „allgemeine[n] sittliche[n] Gesetze in ihrer ganzen Reinigkeit“ durch das „Evangelium“: AA 11: 76, s. o. I., Anm.100); ihm zufolge bleibt jedoch auch die von Lessing (mit Cardanus) vorgenommene Würdigung der moralischen Qualität des Christentums ‚prinzipiell‘ unbegründet.  Jener Rat des Richters: „Es strebe von euch jeder um die Wette, Die Kraft des Steins in seinem Ring’ an Tag zu legen!“ (Nathan: v. 2043 f) liefe zuletzt darauf hinaus, dass die existenz-erhellende „Kraft des Steins in seinem Ring“ ‚moralisierend neutralisiert‘ wäre. Die aufgegebene Aufhebung des „Kirchenglaubens“ in die „reine Vernunftreligion“ (in den „öffentlichen Religionsglauben“: RGV, AA 06: 152.26), die Prüfung der „Allgemeinheit und Einheit der Glaubensmaximen“, fiele damit völlig aus – und noch einmal (s.o. 222 f.): Auch der sich in der Humanität bewährende Atheist wäre natürlich nicht weniger dazu in der Lage (Kant verweist diesbezüglich, wie erwähnt, auf den „rechtschaffenen“ Spinoza), die „Kraft des Steins in seinem Ring“ „durch die Praxis seines Trägers“ (s. nächste Anm.) zu demonstrieren …  Kuschel 2011, 175. „Bewahrheitung also nur durch gottergebene Humanität im Leben selbst! Mit einem Wort: Jede Religion ist echt, ist wahr, insofern sie faktisch und praktisch die ‚Wunderkraft‘ beweist, ‚vor Gott und Menschen angenehm‘ zu machen. Ein klarer Standpunkt?“ (Küng 1988, 96). D. h. näherhin: „Ein ebenso klarer wie einfacher Standpunkt, der es uns erspart, die so verhängnisvolle Wahrheitsfrage zu stellen?“ (Küng 1986, 537) Fürwahr, diese Fragezeichen bleiben (und werden wohl auch durch die erwähnten Erklärungen Kuschels nicht aufgehoben, sondern eher noch bekräftigt!). Mit Blick auf Lessing kommt Küng sodann freilich zu dem (doch ein wenig zu kurz greifenden?) Urteil: „Denn jener damals langsam heraufkommende, moderne, heute intellektuell gängige Beliebigkeitspluralismus, der undifferenziert die eigene und die an-

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Kant aus den genannten Gründen wohl nicht als letztes Wort akzeptiert – nicht zuletzt deshalb nimmt sich seine berühmte These aus der Religionsschrift, wonach die „moralische Religion … unter allen öffentlichen, die es je gegeben hat, allein [!] die christliche ist“ (RGV, AA 06: 51.37– 52.1), und seine Würdigung derselben als „vollständige Religion“ auch diesbezüglich als eine direkte kritische Reaktion auf Lessing aus. Jene ‚Wettstreit‘-Vorstellung orientiert sich offenbar lediglich an – stets bloß relativen – Vorteilen, an einem zu ermessenden Vorsprung bzw. an entsprechenden Bewertungs-‚Maßstäben‘,¹⁴⁶ die jedenfalls – insgeheim narzisstisch und buchstäblich ‚ehr-geizig‘? – einem wahrhaft religiösen Orientierung und einer kritischen Aufklärung zuwider laufen;¹⁴⁷ auch ein „weisrer“ Richter könnte dann ein Urteil über sie ja gerade nicht an einem prinzipien-vergessenen Wett-Maßstab fällen wollen! Und auch nach „tausend, tausend Jahren“ muss doch (der schon zitierte Hinweis) gelten: „Religion auf Erden (in der engsten Bedeutung des Worts) … ist, als auf dem reinen moralischen Glauben gegründet, kein öffentlicher Zustand, sondern jeder kann sich der Fortschritte, die er in demselben gemacht hat, nur für sich selbst bewusst sein“ (RGV, AA 06: 124.9 – 13). Sichtbarer Maßstab des zu einem ‚Wettstreit um das Gute‘ ausgedünnten ‚Wettstreits der Religionen‘ können hingegen nur Fortschritte in der „Zivilisierung“ und „Kultivierung“ sein, die jedoch auch keine „Moralisierung“ gewährleisten bzw. daran heranreichen (s. dazu u. III., Anm.183). Auch in diesem Sinne ist Kants beiläufige besorgte Frage aufzunehmen: „Ob die christl. Rel. sich durch ihre Sanftheit und liebevollen Charakter auszeichne“,¹⁴⁸ die auch an jene richterlich geforderte „Sanftmut, herzliche Verträglichkeit“ und „Wohltun“ erinnert. deren Religionen billigt, kann sich ebensowenig auf Lessing berufen wie jener Indifferentismus, für den alle religiösen Positionen und Entscheidungen gleich gültig sind und der sich die Mühe der ‚Unterscheidung der Geister‘ spart.“ (Küng 1986, 542)  Zu einschlägigen ‚sozialgeschichtlichen‘ Problematisierungen der ‚Wettbewerbs-Idee‘ s. Fick 501 f.  Es widerspricht dies einer „liberale(n) Denkungsart – gleichweit entfernt vom Sklavensinn und von Bandenlosigkeit – , wovon das Christentum für seine Lehre Effekt erwartet, durch die es die Herzen der Menschen für sich zu gewinnen vermag, deren Verstand schon durch die Vorstellung des Gesetzes ihrer Pflicht erleuchtet ist“ (EaD, AA 08: 338.23 – 27).  Refl. 8099, AA 19, 642. Diese Frage weckt wohl auch Assoziationen zu der in Lessings „Ringparabel“ geäußerten Empfehlung (Nathans). – In diesem engeren Kontext darf an Kants Hinweis auf das „Liebenswürdige“ des Christentums erinnert werden, der sich bei ihm allerdings – nicht zuletzt mit biographischen Bezügen – mit der Mahnung verbindet, diese „moralische Liebenswürdigkeit, welche das Christentum bei sich führt“ (EaD, AA 08: 339.20 – 21), nicht zu verlieren, dann nämlich, „wenn es, statt seines sanften Geistes, mit gebieterischer Auktorität bewaffnet würde): so müsste, weil in moralischen Dingen keine Neutralität (noch weniger Koalition entgegengesetzter Prinzipien) Statt findet, eine Abneigung und Widersetzlichkeit gegen

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Jenes ‚Wettstreit‘-Motiv hätte Kant wohl als mit einem wahren „Beweis des Geistes und der Kraft“ und der von ihm geforderten „moralischen Liebenswürdigkeit“¹⁴⁹ und dem „sanften Geist“ (EaD, AA 08: 339.28) unvereinbar angesehen, zumal dies doch auch mit der recht verstandene Forderung unverträglich wäre: „Es eifre jeder seiner unbestochnen /Von Vorurteilen freien Liebe nach!“ (Nathan: v. 2041 f.), das jener Idee des ‚Wettstreits‘ und den damit verbundenen ‚Idolen‘ eines latenten ‚Religions-Ranking‘ geradewegs widerspricht. Wenn solches WettstreitMotiv nicht der egozentrisch-ehrsüchtigen Konkurrenz-Logik des (durch den ‚Wettstreit um das Gute‘ getarnten) ‚Wir sind die Besseren‘¹⁵⁰ (in einem „ethischen Naturzustand“) folgen soll, sondern sich lediglich an dem von Lessing vorgeschlagenen Kriterium der „inneren Wahrheit“ bemisst, so ist indes die Frage nach den maßgeblichen Prinzipien nicht zu umgehen und führt so unvermeidlich auf andere Maßstäbe der „inneren Wahrheit“, die sich in den jedenfalls vom früheren Lessing hierfür angegebenen Kriterien gewiss nicht erschöpfen. Jener geforderte ‚Wettstreit‘ zwischen den Religionen darf auch den notwendigen – internen – „beständigen Kampf zwischen dem gottesdienstlichen und dem moralischen Religionsglauben“ (RGV, AA 06: 124.23 – 24) nicht aus den Augen verlieren, weil andernfalls allerorten eifrige kirchliche Funktionäre und „Geschäftsleute“ eines sich „beständig erhaltenden Systems“ (RGV, AA 06: 114.23) über ein „reines Vernunftsystem der Religion“ (RGV, AA 06: 12.20 – 21) endgültig triumphieren und dies geradewegs verhindert, was „die wahre Kirche auszeichnet“ (RGV, AA 06: 115.16). Möglicherweise hätte Kant auch noch Lessings Verweis auf den Eifer, „um die Wette/Die Kraft des Steins in seinem Ring‘ an Tag zu legen“ (Nathan: v.2044 f.) lediglich als zwar gutgemeint, jedoch als ‚prinzipienlos‘ verworfen, – und überdies

dasselbe die herrschende Denkart der Menschen werden“ (EaD, AA 08: 339.27– 31) – und sich die Berufung des Christentums zur „allgemeinen Weltreligion“ ins Gegenteil verkehren; eine Assoziation zu der nicht von Sanftmut bestimmten Figur des „Patriarchen“ in Lessings „Nathan“ liegt zweifellos nahe.  Indes, nur durch seine bleibende Orientierung am „moralischen Endzweck“ habe sich das Christentum auch „zur Zeit der größten Aufklärung“ seine „moralische Liebenswürdigkeit“ erhalten (EaD, AA 08: 339.24).  Auch wenn diese „Konkurrenz freilich … nicht auf ökonomischem, sondern auf moralischem Gebiet ausgetragen wird, sodass sie als ‚Tugendwettbewerb‘ oder als Wettbewerb in der sittlichen Selbstvervollkommnung mit der Konkurrenz in der Produktion von Waren für den Markt nur den Namen und die Form gemein hat“ (Fuhrmann 70). Dennoch spiegelt sich darin möglicherweise die mentale Vorherrschaft einer „Konkurrenzgesellschaft“ wider, das einem „Miteinander“ der „Arbeiter am gleichen Werk“ (F. Rosenzweig) eher hinderlich ist. Der ‚Wettstreit‘ (‚Wetteifer‘) ist naturgemäß eher durch ein latentes ‚Gegeneinander‘ bestimmt, nicht durch „Sanftmut“ und „herzliche Verträglichkeit“; zwischen ‚Wetteifer‘ und „Eifersucht“ sind die Grenzen wohl fließend.

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als gefährdet angesehen. Dies verrät, genauer besehen, womöglich ohnehin eher eine lediglich subtilere Form der Selbstbehauptung partikulärer Ansprüche,¹⁵¹ worin das sachfremde – und auch nicht unbedingt von „Sanftmut“ geleitete – Motiv des vorsprung-orientierten Konkurrenzdenkens und selbstsüchtigen Überlegenheitsstrebens zwischen den geschichtlichen Religionen allzu leicht den wahren ‚Gottesdienst des Lebens‘ und die praktische Bewährung darin überlagert und so im Grunde auch der – bei Lessing angeblich so sehr im Vordergrund stehenden – ‚Orthopraxis‘ völlig zuwiderläuft, der eine solche – heimlich rivalisierende – Gesinnung freilich ganz fremd bleiben muss.¹⁵² Und ein ‚Wettstreit um das Gute‘ kann natürlich auch die institutionalisierte verständigungsorientierte Zusammenarbeit nicht ersetzen – ein potentielles Zentrum hierfür ist gewiss auch das ‚house of One‘.¹⁵³ Auch die Frage lässt sich wohl gerade mit Blick auf Kant nicht vermeiden: Wird durch jenes Wett-Bild – mit seinen ‚kompetitiv‘ orientierten Imperativen und Bewertungsmaßstäben, d.i. der wettkampf-orientierten Konkurrenz, des erstrebten Vorteils bzw. Vorsprungs – die Idee der Wahrheit nicht den für ein solches Wettstreit-Bild maßgebenden ‚funktional‘-quasi-utilitaristischen Kriterien der Nützlichkeit und Dienlichkeit¹⁵⁴ – d. h. bloß äußerer Zweckmäßigkeit¹⁵⁵ – ausgeliefert,  Womöglich sah Kant solchen ‚Wettstreit‘ – wenigstens latent – aber auch von der Gefahr eines „Lasters der Kultur“ bedroht, näherhin von dem sublimierten Hang bzw. der Neigung, „sich in der Meinung anderer einen Wert zu verschaffen; und zwar ursprünglich bloß den der Gleichheit: keinem über sich Überlegenheit zu verstatten, mit einer beständigen Besorgnis verbunden, daß andere darnach streben möchten; woraus nachgerade eine ungerechte Begierde entspringt, sie sich über Andere zu erwerben. – Hierauf, nämlich auf Eifersucht und Nebenbuhlerei, können die größten Laster geheimer und offenbarer Feindseligkeiten gegen Alle, die wir als für uns fremde ansehen, gepfropft werden“ (RGV, AA 06: 27.8 – 15) – wenngleich „die Natur doch die Idee eines solchen Wetteifers (der an sich die Wechselliebe nicht ausschließt) nur als Triebfeder zur Kultur brauchen wollte.“ (RGV, AA 06: 27.19 – 21)  Das Streben nach „Vorrecht und Vorteil, Macht und Ansehen vor den anderen“ (Fuhrmann 69) wäre bei dem „krummen Holz, … woraus der Mensch gemacht ist“ (IaG, AA 08: 23.22– 23), kaum überwunden, auch wenn der ‚Streit zum Wettstreit‘ sublimiert ist, der allerdings von einem „liebenden Wettstreit“ (Kuschel) unvermeidlich unterschieden bleibt.  Zu fragen ist überdies, ob denn der in der „Ringparabel“ empfohlene ‚Wettstreit um das Gute‘ nicht vollends von der Notwendigkeit ablenkt, „die eigenen Glaubenswahrheiten sowohl zu konkurrierenden Glaubensmächten wie zum Monopol der Wissenschaften auf die Produktion von Weltwissen in Beziehung zu setzen.“ (Habermas 2009, 414) Gefordert ist also ein „reflektierter Glaube, der sich zu anderen Religionen in ein Verhältnis setzt, der die falliblen Erkenntnisse der institutionalisierten Wissenschaften respektiert und die Menschenrechte akzeptiert.“ (Habermas 2012, 99). Das notwendige „reflexive Selbstverständnis im Verhältnis zu den jeweils anderen Religionen“ bliebe andernfalls ausgeblendet.  Mag diese ‚Wettstrebens‘-Idee unter pragmatischen Gesichtspunkten zwar für das Verhältnis von Politik und Religion, d. h. des Staates zu den Religionsgemeinschaften im Sinne eines ‚modus

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also den Kalkülen tüchtiger ‚theologischer Geschäftsmänner‘ preisgegeben, die sich eben gerade nicht an der Wahrheitsfrage als dem unbedingten Maßstab orientieren – und wird solcherart nicht geradewegs auch einer flachen ‚aufklärerischen‘ Verkürzung der Religion Vorschub geleistet? ‚Einfältig vor seinem Gott zu wandeln‘, sieht gewiss anders aus; deshalb können ‚nutzens-orientierte‘, überlegenheits-besessene Wettstreit-Kriterien zuletzt auch kaum ein angemessenes Urteil darüber erlauben, ob und wie weit diese Religionen es vermögen, „vor Gott und Menschen angenehm zu machen“ (Nathan: v. 1915 f.), zumal dem offenbar doch irgendwie auch die Idee einer Einheit von Gottes- und Menschenliebe vor Augen steht, der das zwar unverdrossen wiederholte, nette und schale – in der Tat „so matt, so kahl, so nichtsbedeutend“ – „Kinderchen, liebt euch!“,¹⁵⁶ „darum, weil [!] es der Herr befohlen“,¹⁵⁷ – keinesfalls genügt und überdies offenkundig einen „heteronomen Beigeschmack“ behält: denn nicht, weil es – ‚kantisch‘ – ein „Zweck, der zugleich Pflicht“ ist, sondern weil es ein „Befehl des Herrn“ ist, sei also dieses Gebot (dem „Testamentum Johannis“ zufolge) verbindlich,was freilich auch jener Forderung geradewegs widerspricht, „das Gute [zu] … tun, weil es das Gute ist“.¹⁵⁸ Solche Bedenken treten auch bei Kant in religionsphilosophischem Kontext in verschiedenen Akzentuierungen zutage – gleichwohl stets so, dass doch gerade jene notwendig in moralischen Prinzipien verankerte Einheit von Gottes- und Menschenliebe jene Vorstellung eines ‚Wettstreits‘ und damit verbundene latente

vivendi‘, angemessen und in mancher Hinsicht ja auch von Nutzen sein, so kann dies jedoch nicht die entscheidende Grundsatz-Frage der „Prinzipien der Religion“ ersetzen bzw. überlagern. Natürlich gibt es auch nach Kant vernünftige Maßstäbe für die Beurteilung dessen, was die einzelnen Religionen in ihrer institutionellen Verfassung zur Humanisierung der Welt – auch zum Verhältnis von Politik–Recht–Religion – beitragen, nicht zuletzt in einer globalisierten Welt.  Dies hatte Kant vermutlich auch mit seinem schon erwähnten Bedenken vor Augen: „Man sagt, es ist gut, dass es vielerlei Religionen oder öffentliche Glaubensmeinungen gebe“, womit jedoch noch nicht gewährleistet ist, dass eine solche „Mannigfaltigkeit“ auch eine „innere Haltbarkeit hat“ (VASF, AA 23: 443.5 – 6). Zu fragen ist, ob die „Ringparabel“ nicht eine bloß (reduktionistische) ‚funktionale Religionsbegründung‘ unterstützt.  Die im Koran geforderte kämpferische Ausbreitung des Islam steht freilich auch nach Kant im Kontrast dazu.  S. Lessings „Testamentum Johannis“: XIII, 9 – 17, 14. Dies widerspricht offenbar auch jener Forderung, das Gute zu tun, „weil es das Gute ist“ (Erziehungsschrift § 85: XIII, 433). – Lessings „Nathan“ ist nicht zuletzt wohl im Lichte seiner kleinen Schrift „Das Testament Johannis“ zu lesen – aber eben auch nicht völlig abgelöst von der „Erziehung des Menschengeschlechts“ – ungeachtet der damit verbundenen Schwierigkeiten.  Erziehungsschrift § 85: XIII, 433.

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‚Rivalitäten‘ eines ‚Wettkampfes‘ verbieten muss¹⁵⁹ – und zwar ungeachtet der nach Kant fraglos gebotenen moralischen Bewährung der Religion im ‚Gottesdienst des Lebens‘, nicht zuletzt in der stets geforderten Sensibilität für die einander geschuldeten Pflichten und somit in jedwedem Verzicht auf ‚supererogatorische‘ Höhenflüge sowie auf die Zuflucht in jenes – in der Tat „ein wenig dumpfig gewordene“ – „Kinderchen liebt euch!“ Indes, Lessings gelegentliche Bezugnahme auf das geforderte „opus supererogatum“¹⁶⁰ – er ‚betet an die Macht der Liebe‘ – hätte Kant wohl nicht nur mit seiner Unterscheidung zwischen „Rechts- und Tugendpflichten“ beantwortet, sondern auch mit einer ernüchternden Warnung vor ‚moralischer Überschwänglichkeit‘ und der Erinnerung an die Pflichterfüllung als die uns Menschen angemessene „sittliche Stufe“ (KpV, AA 05: 84.28) … Vermutlich wäre jedoch auch Lessings frühe Mitleids-Moral – „unsre Fähigkeit, Mitleid zu fühlen“ – dem kantischen Einwand gegen eine bloße Mitleids-Ethik ausgesetzt gewesen, zumal Kant das Mitleid doch lediglich als „pathologisch“ bedingt ansah und es deshalb als moralische ‚Quelle‘ entschieden

 Die von Vollhardt zu Recht als Lessings „pragmatischer Lösungs-Vorschlag“ vorgestellte Auffassung hätte Kant deshalb wohl kaum als letztes Wort akzeptiert, zumal dies den Kriterien eines „moralisch bestimmten Monotheismus“ in mehrfacher Hinsicht nicht genügt und auf voreilig „den Knoten (durch eine praktische Maxime)“ „zerhauenden“ (Kant: s.u. 256 f.) Standpunkt hinausliefe, der die diskursive Verständigung ‚im Raum der Gründe‘ aufkündigt: „Am Ende steht nicht die Botschaft von der Indifferenz gegenüber allen Religionen … , sondern die Aufforderung zu einem Wettbewerb, aus dem sich die Lösung [!] der nicht verabschiedeten Wahrheitsfrage ergeben wird, nicht argumentativ, sondern ethisch-paränetisch. Der Spruch des Richters fordert von den Söhnen, eine Wendung in mehreren Schritten zu vollziehen, die sich stichwortartig wie folgt benennen lässt: Vom Objekt zum Subjekt, vom Inhalt zur Form der Aneignung, von der Theorie zur Praxis, vom Besitz zum Streben, vom Streit zum Wettstreit der Religionen und vom Ausschließlichkeitsanspruch zur Toleranz.Vorausgesetzt ist dabei stets … , dass der Wunsch nach theoretischer Einsicht durch Glauben ersetzt wird: die gesuchte Wahrheit lässt sich nun einmal nicht historisch, ‚sondern nur eschatologisch erweisen‘“ (Vollhardt 2013b, 35, in sachlicher Bezugnahme auf Fuhrmann 1983; diesbezüglich recht ähnlich Cunico 2015a, bes. 56 ff und Kuschel 2011). Das wird wohl auch nach Kant so sein; gleichwohl gibt es ihm zufolge schon jetzt – nicht erst nach „tausend, tausend Jahren“ – prinzipien-orientierte Kriterien, die dabei nicht ausgeblendet bleiben dürfen und eine Unterscheidbarkeit und grundsätzliche Orientierung ermöglichen, ja sogar fordern. Zwischen dem „historischen Beweis“ und dem ‚eschatologischen Erweis‘ gibt es eben doch – ex negativo – den Maßstab des „moralischen Monotheismus“ und damit verbundene, aus dem „Begriff des Menschen“ gewonnene anthropologische Einsichten, die mit Kants differenzierter Bestimmung des „moralischen („reflektierenden“) Glaubens“ eng verbunden sind.  XIII, 360. Das geplante Stück über den „Frommen Samariter“, das wohl die „opera supererogata“ thematisiert hätte, ist nicht mehr zustande gekommen. – Die behauptete zunehmende Abkehr Lessings von Leitbildern der christlichen Moral (G. Pons: Gotthold Ephraim Lessing et le Christianisme. Paris, 1964) ist zweifelhaft.

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verworfen hat. Auch in Fragen der Moralphilosophie und Ethik gibt es offenbar gravierende Unterschiede zwischen Kant und Lessing – ebenso in der Beurteilung des Mitleids, dem Lessing hingegen offenbar eine hohe Bedeutung einräumte: „Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmut der aufgelegteste“.¹⁶¹ Mitleid zu haben, ist nach Kant keine Pflicht, obgleich „mitleidige natürliche (ästhetische) Gefühle in uns zu kultivieren“ der Ausbildung „moralischer Grundsätze“ durchaus dienlich ist (vgl. MS, AA 06: 457.26 – 27). Nicht zuletzt hätte Kant die im ‚Wettstreit um das Gute‘ Vereinten eindringlich daran erinnert, dass das Ziel, „vor Gott und Menschen angenehm zu machen“ wohl an die gebotene Sensibilität dafür gebunden ist, dass auch die „Pflicht, mit andern wegen ihrer Unterdrückung gemeinschaftliche Sache zu machen, … mehr [ist] als bloß gütige Pflicht“.¹⁶² Überdies, so der nüchtern-sensible Kant, sei es doch ohnedies so: „Man darf nur ein wenig nachsinnen, man wird immer eine Schuld finden, die man sich irgend wodurch in Ansehung des Menschengeschlechts aufgeladen hat (sollte es auch nur die sein, dass man, durch die Ungleichheit der Menschen … Vorteile genießt, um deren willen andere desto mehr entbehren müssen), um durch die eigenliebige Einbildung des Verdienstlichen den Gedanken an Pflicht nicht zu verdrängen“ (KpV, AA 05: 155, Anm.).¹⁶³ Und gerade die der „unbestochnen, von Vorurteilen freien Liebe“ Nacheifernden werden sich dann wohl selbst auch ehrlicherweise fragen müssen: „Verdient unter solchen Umständen der Beistand, den der Reiche den Notleidenden erweisen mag, wohl überhaupt den Namen der Wohltätigkeit, mit welcher man sich so gern als Verdienst brüstet?“ (MS, AA 06: 454.26 – 28)  So in einem Brief an Nicolai v. 13.11.1756: XVII, 66. Hutcheson und Shaftesbury waren für Lessing in ethischer Hinsicht wichtige Referenz-Autoren, nicht zuletzt bezüglich des (von Kant kritisierten) ‚falschen Mitleids‘: „da er [Hutcheson] bloß von Liebe und Wohlwollen gegen andre redet[;] nicht der sensitive Stachel der Gewogenheit, der sympathetischen Teilnehmung […] soll Triebfeder sein“ (AA 27: 15); jedoch auch Rousseaus Mitleid-Plädoyer hat Kant nicht geteilt. Im Rekurs auf die „pathologische Triebfeder“ der „Sympathie“ und des Mitleids erblickte Kant lediglich „eine windige, überfliegende, phantastische Denkungsart“ (KpV, AA 05: 85.13 – 14).  Refl. 6997, AA 19, 222. – Grundsätzlich bleibt ja erinnernswert: „Pflichten können eigentlich nie in Beziehung auf Belohnung, sondern nur auf Freisprechung von der Schuld stehen“ (VAMS, AA 23: 382.4– 6).  Freilich wusste auch Kant darum (Refl. 6601, AA 19, 104): „Wir haben einen größeren Trieb, geachtet als geliebt zu werden, – aber einen größeren zur Liebe gegen andere als zur Achtung. Denn in der Liebe gegen andere empfindet er seinen eignen Vorzug, in der Achtung vor andere schränkt er diesen ein.“ „Daher vor aller Anpreisung der Regeln der Gütigkeit zuerst der Nacken unter das Joch der schuldigen Pflichten muss gebeugt werden. Der ist immer ein Rebell gegen das göttliche Regiment, der es sich ausnimmt, als ein Freigeist nach bloßem eigenen Gutdünken zu tun, was Menschen von ihm fordern können“ (Refl. 6736, in: AA 19, 145).

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Die von Lessing eingeschärfte Rücksichtnahme darauf, dass – bleibend sensibilisiert durch jene Rückfrage Nathans: „Sind Christ und Jude eher Christ und Jude, als ein Mensch?“ (Nathan: v. 1310) – eben keineswegs bloß „solche Menschen sich gegen solche Menschen“¹⁶⁴ (d. h. als „Christen und Juden und Türken“) verhalten, sondern als „bloße Menschen gegen bloße Menschen“, ist die eine Seite; umgekehrt sensibilisiert jedoch jene recht verstandene ‚gottergebene‘ Haltung dafür, gerade nicht für „bloße Menschen“, sondern vielmehr für das konkrete Schicksal eben „solcher Menschen“ den Blick zu schärfen, zumal ebendies doch erst die eigentliche ‚Nagelprobe‘ auch für die Authentizität jener „Ergebenheit in Gott“¹⁶⁵ (s.u. III., 3.1.) darstellt – nicht zuletzt für „solche Menschen“, die sich den Ansprüchen des „ausübenden Christentums“¹⁶⁶ im Sinne Lessings verpflichtet wissen, und dies auch seinem Diktum zugrunde liegt: „Wohl uns! Denn was mich Euch zum Christen macht, das macht Euch mir zum Juden“ (Nathan: v. 3068 ff.). Gewiss, auch diese unmittelbare Erwiderung Nathans auf den Klosterbruder (und gegen dessen Vereinnahmung Nathans als einen ‚anonymen Christen‘) ist wohl ein eindrucksvolles Zeugnis bewährter Humanität, die dennoch die Frage nach den Prinzipien der Religion und ihrer Wahrheit nicht erübrigt.¹⁶⁷ Dafür nämlich, dass „über historische Glaubenslehren der Streit nie vermieden werden kann“ (RGV, AA 06: 115.22– 23),¹⁶⁸ bietet nach Kant der im Sinne der richterlichen Empfehlung in Lessings „Nathan“ empfohlene ‚Wettstreit der Religionen‘ keinen gangbaren Ausweg, zumal die Entscheidbarkeit (der ‚Entscheidungsgrund‘) doch auf andere Weise gesucht werden muss – dies aber auch möglich ist und allein den Ansprüchen der ‚wahren Religion‘ genügt. Ebendies tritt bei Kant an die Stelle eines ‚Wettstreits der Religionen‘ und vermag so allein, im argumentativen ‚Angebot und  Ernst und Falk, 2. Gespräch: XIII, 357.  Sie kennzeichnet Cunico als „fides qua creditur (glaubende Haltung)“ (Cunico 2015a, 58).  XIV, 159.  Die „Überlegenheit einer auf die Gleichwertigkeit aller Menschen bauenden humanen Praxis“ (Bohnen-Schilson 1993, 1137) bietet hinsichtlich des „virulenten Wahrheitsproblems“ doch keinen Ausweg – auch nicht durch jene Perspektive, „die die Wahrheitsfrage der theoretischen Verfügbarkeit entzieht und an die praktische Wirksamkeit des einzelnen Menschen verweist“ (ebd. 1149). Dies verweist eben auf den Anspruch der Universalität der „allgemeinen Menschenreligion“. Der Schluss des „Nathan“ führt wohl das Anliegen der „allgemeinen Menschenreligion“ deutlich vor Augen.  Diese unausräumbaren, bloß auf „Geschichte gründenden“ Differenzen markieren eben, wie gesagt, den entscheidenden Unterschied zu dem „einen reinen Religionsglauben, über welchen es keine streitende(n) Meinungen geben kann“ (RGV, AA 06: 131.22– 23). Zur Erinnerung: Mit dem „Vernunftglauben“ ist es eben „nicht so, wie mit dem historischen bewandt, bei dem es immer noch möglich ist, dass Beweise zum Gegenteil aufgefunden würden, und wo man sich immer noch vorbehalten muss, seine Meinung zu ändern, wenn sich unsere Kenntnis der Sachen erweitern sollte“ (WDO, AA 08: 141 f Anm.).

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Austausch von Gründen‘, auch verbindliche (und nicht auf „historische Beweisgründe“ reduzierbare!) Beurteilungskriterien der tradierten religiösen Überlieferungen über die „Allgemeinheit und Einheit der wesentlichen Glaubensmaximen“ anzubieten. Erneut stellt sich also die Frage:Verdrängt der zwar ‚verträgliche‘, d. h. kultiviert-geläuterte ‚Wettstreit um das Gute‘ im Grunde nicht diesen – verständigungs-orientierten – notwendigen Streit um die „Allgemeinheit und Einheit der wesentlichen Glaubensmaximen“ mit dem erstrebensweren Ziel einer Überwindung jener „streitenden Meinungen“?¹⁶⁹ Muss der Sinndimension der Religion (im Unterschied zu den „historischen Glaubensarten“), aber auch der moralisch ‚revolutionierten Gesinnung‘ und dem „Ideal eines Ganzen aller Menschen“ (RGV, AA 06: 96.19), dem „absoluten ethischen Ganzen“ (RGV, AA 06: 96.23 – 24), hingegen nicht jedwede Vorstellung eines ‚Wettstrebens‘ und ‚Rangelns‘, gar eines ‚Wettstreits‘, fremd, d. h. ganz unangemessen bleiben? Abgesehen von der – ohnehin stillschweigend-heimlich vollzogenen – Verwandlung des ‚Wettstreits der Religionen‘ in den ‚Wettstreit um das Gute‘, die die maßgeblichen Differenzen gewissermaßen ‚lebenspraktisch neutralisiert‘, bliebe auch zu fragen, ob ein solcher ‚Wettstreit um das Gute‘ nicht doch jene von Lessing propagierte reine Absicht, „das Gute zu tun, weil es das Gute ist“, wiederum trübt, d. h. sublimierten Eigeninteressen – gegen den „gemeinschaftlichen Zweck des Guten“ (RGV, AA 06: 97.7) – einen ungebührenden Platz einräumt und so wenigstens Gefahr läuft, ‚partikularistisch‘ in einen „ethischen Naturzustand“ zurückzufallen, der dem moralisch anzustrebenden Ideal der „unsichtbaren Kirche“ vollends widerspricht?¹⁷⁰

 Dies bleibt m. E. auch gegenüber der direkt auf Lessings „Wettstrebens“-Motiv („Es strebe von euch jeder um die Wette“: Nathan: v. 2043 ff.) bezogenen Bemerkung Cunicos (auch von Kant her) kritisch zu bedenken, der darin dies „vor Augen“ geführt sieht: „Die Verpflichtung auf Wahrheit [!], die zu jeder religiösen Haltung gehört, und die nicht nur einen gegenseitigen Anspruch bedeutet, muss sich gerade in der Lebensgestaltung durch Offenheit und Bereitschaft zum Dialog bewähren. Dazu wird in Lessings dramatischem Gedicht Nathan der Weise (III, 7) mit den berühmten Worten des ‚bescheidenen‘ Richters der Ringparabel eingeladen […]. Diese Aufforderung [„Es strebe …“], wie die hier nachklingende, ebenso berühmte Mahnung, die in einer Stelle des Koran (V, 48) zu finden ist, möchte heute noch als eine Richtlinie für jedes echt religiöse Bewusstsein und ein immer aktueller Wegbegleiter für das Miteinandersein [!] und das Gespräch der Religionen wirken.“ (Cunico 2015c, 192) Von einem (von Kant geforderten) „Streit“ um die „Allgemeinheit und Einheit der wesentlichen Glaubensmaximen“ (SF, AA 07: 52.8 – 9) (der zwar in dem Anliegen des Sultans durchaus vernehmbar ist) ist in jenem Rat des „bescheidenen (resignativen?) Richters“ offenbar gar nicht mehr die Rede. Ist dies etwa auch der Grund dafür, warum der (diskursive) „Wettstreit der Religionen“ zuletzt durch ein „Wettstreben“ ersetzt wird?  Zu fragen ist ebenso, ob sich hinter dem stillschweigend in einen „Wettstreit um das Gute“ transformierten „Wettstreit der Religionen“ nicht doch lediglich ein – durchaus noch moral-ferner – sublimierter „Wetteifer“ als „Triebfeder zur Kultur“ verbirgt, den Kant in den „Anlagen für die Menschheit“ im Sinne einer bloß „vergleichenden Selbstliebe“entdeckte und von ihr (in Abhe-

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Der ‚Wettstreit‘ um den Wahrheitsgehalt der Religionen kann also, ohne Nivellierung der unterschiedlichen Problemebenen, wohl auch nicht – stillschweigend! – durch den ‚praktischen‘ ‚Wettstreit um das Gute‘ ersetzt werden – was sollte (bzw. könnte) darin denn noch ‚strittig‘ sein?¹⁷¹ Das Wettstreben um das stichhaltigere Argument kann eben nicht durch den (sprachlosen) ‚Wettstreit um das Gute‘ ersetzt werden, zumal dies nicht zuletzt auf eine ‚moralisierende Reduktion‘ der Religion hinausliefe. „Moral“ führte so nicht „unumgänglich zur Religion“, vielmehr wäre in diesem Fall Moral mit Religion schlechthin gleichgesetzt¹⁷² und nicht (wie auch Lessing meint: s.o. III., Anm.99) das Fundament der Religion. Auch der am ‚Wettstreit um das Gute‘ partizipierende ‚moralische Atheist‘ wäre demnach, wie schon erwähnt (s. o. 222 f.), gewissermaßen ‚anonym religiös‘ – eine freilich unstatthafte Vereinnahmung. Es ist dies lediglich eine Konsequenz daraus, dass die Frage nach der „Wahrheit der Religionen“ ja angeblich ‚aus Gründen‘ nicht entscheidbar sein soll, zumal diese, dem „weisen“ Nathan zufolge, ja allesamt „auf Geschichte?/ Geschrieben oder überliefert!“

bung von der „Anlage für die [moralische] Persönlichkeit“) mit psychologischem Feingespür feststellte: „Von ihr rührt die Neigung her, sich in der Meinung anderer einen Wert zu verschaffen; und zwar ursprünglich bloß den der Gleichheit: keinem über sich Überlegenheit zu verstatten, mit einer beständigen Besorgnis verbunden, dass andere darnach streben möchten; woraus nachgerade eine ungerechte Begierde entspringt, sie sich über andere zu erwerben. – Hierauf, nämlich auf Eifersucht und Nebenbuhlerei, können die größten Laster, geheimer und offenbarer Feindseligkeiten gegen alle, die wir als für uns Fremde ansehen, gepfropft werden: die eigentlich doch nicht aus der Natur, als ihrer Wurzel, von selbst entsprießen, sondern, bei der besorgten Bewerbung anderer zu einer uns verhassten Überlegenheit über uns, Neigungen sind, sich der Sicherheit halber diese über andere als Vorbauungsmittel selbst zu verschaffen: da die Natur doch die Idee eines solchen Wetteifers (der an sich die Wechselliebe nicht ausschließt [!]) nur als Triebfeder zur Kultur brauchen wollte. Die Laster, die auf diese Neigung gepfropft werden, können daher auch Laster der Kultur heißen“ (RGV, AA 06: 27.7– 22), der es in ihrer bloßen Orientierung an der „Trefflichkeit der Früchte“ gleichwohl an intellektueller „Wahrhaftigkeit“ mangeln mag (s.u. 261 f.). Trifft also der von Kant beobachtete „Wetteifer“ als „Triebfeder zur Kultur“ auch Lessings Ringparabel? Die „Wahrheitsfrage“ und der daran geknüpfte Anspruch auf Rechtfertigung wäre dieserart eben doch verabschiedet, d. h. eben „geltungsneutral entsorgt“ – der „Knoten ist zerhauen“ … (s.u. 256).  Bezeichnenderweise fordert auch nach Kuschel Lessing in seiner Ringparabel „zu einem ‚Wettstreit um das Gute‘“ auf (Kuschel 2011, 37), der freilich doch „ein Wettstreit der Religionen“ sein soll: indes, vom strittigen „Wahrheitsgehalt“ der Lehren und der „inneren Wahrheit“ derselben ist dabei in solcher „Moralisierung“ im Grunde gar nicht mehr die Rede. Preisgegeben wäre damit doch auch die bei Kant leitende Absicht, „sich dem reinen Vernunftglauben…beständig zu nähern, und den Kirchenglauben…mit der Zeit entbehren zu können“ (RGV, AA 06: 153.4– 8), also den partikulären „Kirchenglauben“ nicht unberührt lässt.  In gewisser Weise wäre damit auch das gegenwärtig vielfach erhobene Programm „Ethik statt Religion“ vorweggenommen.

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gründen sollen, was Kant (wie erwähnt) entschieden bestritten hat. Ein vermeintlicher Ausweg aus dieser Aporie wäre in diesem Fall in der Tat die diesbezüglich zu aktualisierende frühe – womöglich von Spinozas ‚Hermeneutik‘ inspirierte – sehr konsequente (bezeichnenderweise schon zeitnah zum „Nathan“ formulierte?) Erklärung Lessings: dass „ich die alte fromme Sage … nicht etwa leugnete, nicht etwa bezweifelte – sondern bloß an ihren Ort gestellt sein ließe? – Was kümmert es mich, ob die Sage falsch oder wahr ist: die Früchte sind trefflich“.¹⁷³ In solcher ‚Unbekümmertheit‘ (der, wohlgemerkt, auch der wahrheit-suchende Sultan Saladin widerspricht) wird die Wahrheitsfrage eben doch augenfällig ‚beiseitegeschoben‘ und (im Verzicht auf die notwendige ‚Unterscheidung der Geister‘) nicht „theoretisch aufgelöst“ (vgl. RGV, AA 06: 119.4) (s.o. III., Anm. 124).¹⁷⁴ Noch einmal: Wäre die aporetische Konsequenz daraus nicht dies, dass der moralisch vorbildliche Atheist in seiner Überzeugung, „es sei kein Gott“, „homo homini deus sit“, und in seiner gleichwohl gelebten „Rechtschaffenheit“ die Wahrheit seines ‚Unglaubens‘ eindrucksvoll demonstrieren würde, zumal gläubige

 So in der im Herbst 1777 erschienenen (schon ganz den Geist des „Nathan…“ verratenden) Schrift: „Über den Beweis des Geistes und der Kraft“ (XIII, 8). Ist dies etwa der vorweggenommene (ungeschminkte) ’Klartext’ des richterlichen (und des Nathan) Rates in der kaum ein Jahr später verfassten ’Ringparabel’, mit dem er in dieser Schrift die Unentscheidbarkeit der Wahrheitsfrage der (christlichen) Religion quittiert? Im Grunde variiert solche „Unbekümmertheit“ doch lediglich die noch in der Vorrede zum „Nathan“ geäußerte-Erklärung, „dass es nicht erst von gestern her unter allerlei Volke Leute gegeben, die sich über alle geoffenbarte Religion hinweggesetzt [!] hätten, und doch gute Leute gewesen wären; wenn man hinzufügen wird, dass ganz sichtbar meine Absicht dahin gegangen sei, dergleichen Leute in einem weniger abscheulichen Lichte vorzustellen, als in welchem der christliche Pöbel sie gemeiniglich erblickt: so werde ich nicht viel dagegen einzuwenden haben.“ (XVI, 444) Jene Unbekümmertheit relativiert doch wenigstens das Urteil Kuschels: „Nicht propagiert wird eine Indifferenz gegenüber allen Religionen, Toleranz als Ergebnis einer Vergleichgültigung der Wahrheitsfrage. […] Er [Lessing] überwindet die Indifferenz durch Hinzufügen des Motivs der ‚Wunderkraft‘ im Stein des Rings und des Wettbewerbs zwischen den Erben. Wahrheit einer Religion steht bei ihm (im Unterschied zu aller Orthodoxie) weder ‚objektiv‘ offenbarungstheologisch fest, noch bleibt sie neutralisiert in einer vergleichgültigenden Indifferenz.“ (Kuschel 2011, 178)  Die eigentliche theologische Aufgabe der Suche nach der „Wahrheit der Religionen“ wird so vernachlässigt; an deren Stelle tritt die im Grunde bequeme „pluralistische“ – der „völligen Aufklärung“ im Grunde hinderliche – Einstellung der „Gleichwertigkeit“ der religiösen Gehalte – freilich um den hohen Preis, dass Geltungsansprüche beseitigt werden und das begründungspflichtige ‚Für-wahr-halten‘ der Inhalte offenbar zufälligen („außerwesentlichen“) subjektiven Präferenzen weichen muss. Dies ist demnach an die Stelle der ehemaligen Forderung getreten: „Was ist nötiger, als sich von seinem Glauben zu überzeugen, und was ist unmöglicher, als Überzeugung ohne vorhergegangene Prüfung?“ (V, 319) Dies wird zunächst ja auch von Sultan Saladin vertreten, bevor er sodann – allzu voreilig-hastig? – sein begeistertes „Herrlich! Herrlich!“ zum Rat des „weisen Richters“ anstimmt (s.u. IV., Anm.45).

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und ungläubige Menschen zum moralisch ‚guten Lebenswandel‘ doch gleichermaßen befähigt und berufen sind?¹⁷⁵ Dass in der Religion alles auf das individuelle „moralische Tun“ ankommt und auch alle – gläubigen und ungläubigen Menschen – dazu gleichermaßen in der Lage sind, weil doch gewiss „alle Länder gute Menschen tragen“ (Nathan: v. 1274), ändert nach Kant jedoch nichts an der notwendigen – kriteriellen – prinzipienorientierten Einschätzung der Religionen als „Glaubenssystemen“, wie auch sein Verweis auf die „Geschichte des Glaubens“ besagt (s.o. 138).¹⁷⁶ Dies entscheidet aber noch nichts über den theoretischen Anspruch und das Niveau der Religionen und reicht nach Kant jedoch auch noch nicht an die Frage nach den Kriterien heran (bzw. erübrigt sie auch nicht), die der Leitidee eines „moralisch bestimmten Monotheismus“ genügen müssen, von denen her Kant zufolge die Abgrenzung vom „Heidentum“ allererst nach verbindlichen Maßstäben möglich wird – eben diese entscheidenden Fragen und Problemaspekte sah Kant wohl auch bei Lessing (nicht zuletzt in seinem „Nathan“) ausgeblendet.¹⁷⁷ Aus den genannten Gründen

 Wie gesagt: Auch Atheisten sind selbstverständlich zu vorbildlicher Lebensführung (und zum ‚Wettstreit um das Gute‘) befähigt – ganz „ohne Religion, aber voller tugendhafter Gesinnungen“ (so auch Kant mit Blick auf Spinoza: KU, AA 05: 452.8 – 15) – , wie Lessing offenbar schon in seinem frühen Stück „Der Freigeist“ (aus dem Jahr 1749) anzeigt (III, 262); der Freigeist namens Adrast ‚verkörpert‘ gleichsam die Auffassung des französischen Materialisten La Mettrie, zu dessen ‚reduktionistischen‘ Auffassungen Lessing indes auf Distanz ging (vgl. Fick, 81 ff.). Lessing hat den „Freigeist“ La Mettrie zwar verteidigt, obwohl er sich gegen dessen ‚naturalistische Reduktionismen‘ (betreffend Geist, Freiheit, auch Gott) wandte, ebenso (wie Kant) bei ihm einen „Angriff auf ‚Tugend‘ und ‚Sittlichkeit’ wittert“ und demgegenüber den „Freigeist“ Diderot favorisiert (Fick 238). (Auch Kant hat LaMettrie kritisiert, der „die Sittlichkeit zur bloßen Geschicklichkeit in Befriedigung unserer Begierden“ mache: Refl. 6611: AA 19, 109.) „Ganz im Sinne der religiösen Gefühlsphilosophie macht nun der junge Lessing einen Schritt weiter, indem er Materialismus, Atheismus und Fatalismus aus jenem Geist ableitet, ‚der nichts als Glauben hasst/ Und nichts als Gründe liebt‘ … Die so begründete Beurteilung des Materialismus wird Lessing nie ändern“ (Kondylis 596 f.). Vgl. allerdings auch Lessings frühes Fragment „Aus einem Gedichte über die menschliche Glückseligkeit“: I 237 ff.). Das „Lieben der Gründe“ ist in Lessings Ringparabel eben doch ‚praktisch‘ relativiert – mit Kant gesprochen: „der Knoten ist zerhauen …“ (vgl. RGV, AA 06: 119.2– 3).  Kants Blick auf die Religionen als „konkurrierenden Weltanschauungen“ ist demnach ein solcher, der durchaus eine „rationale Entscheidung zulässt.“ (Habermas 2007, 381)  Diese Aporie spiegelt sich auch in Rohrmosers Charakterisierung der Lessing„schen Problemstellung wider: „Das Wahrheitsproblem der Religionen ist dem Verfügungsbereich der theoretischen Vernunft entzogen und der praktischen Vernunft zur Entscheidung vorgelegt. Das heißt aber, dass die Subjektivität als bewegende und lebendige Mitte gelebter Religion hervortritt. Der neutestamentliche Satz von den Früchten, an denen man sie erkennt, wird mit einer bedrängenden Aktualität von Lessing auf der Höhe des aufgeklärten Jahrhunderts wiederentdeckt. Gleichzeitig wird er auch von Lessing in einer dem Neuen Testament widersprechenden Weise auf

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kann auch der gewiss erstrebenswerte Fortschritt vom ‚Streit zum Wettstreit der Religionen‘ (Kuschel) im begrüßenswerten Prozess der „Kultivierung“ nach Kant wohl nicht das letzte Wort in der Sache bleiben; und der ‚Wettstreit um das Gute‘ ist eben rechtens – ohne Nivellierung der Problemebenen – keinesfalls mit dem ‚Wettstreit der Religionen‘ gleichzusetzen, ohne dass jene unbekümmerte Losung: „Was kümmert es mich, ob die Sage falsch oder wahr ist: die Früchte sind trefflich“ in verhängnisvoller Weise – heimlich – das letzte Wort behielte.¹⁷⁸ Indes, läuft darauf zuletzt nicht auch jener (angeblich „weise“) „richterliche Rat“ hinaus – ist dies letztendlich also das heimliche Fazit der ’Ringparabel’? Direkt gefragt: Was soll den zum ‚Wettstreit um das Gute‘ verflachten ‚Wettstreit der Religionen‘, der jenen unumgänglichen ‚Streit‘ über die „Allgemeinheit und Einheit der wesentlichen Glaubensmaximen“ vernachlässigt bzw. zu vermeiden sucht,¹⁷⁹ von dieser die Entscheidungsfrage der Vernunft in ihrem Verhältnis zur Religion bezogen. Die sittliche Praxis wird zum Kriterium der Beantwortung der Frage nach der wahren Religion.“ (Rohrmoser 1970, 49) Genau dies markiert freilich auch die angezeigte Aporie des „Nathan“, die somit mit Blick auf Rohrmosers Befund zu beachten ist: „Im Mittelpunkt des ‚Nathan‘ steht die Frage nach der Wahrheit der Religion“ (Rohrmoser 1970, 32). Insofern lässt sich jedoch nicht sagen: „Kant setzt das Werk Lessings radikal fort“ (ebd. 53). Die ‚Radikalität‘ Kants liegt wohl nicht zuletzt in einer grundlegenden Problematisierung dieser Lessing’schen Position.  In einem gewissen Widerspruch dazu steht freilich die nahezu zeitgleich erschienene Erklärung im „Testament Johannis“, das einerseits die „christliche Liebe“ unabhängig von der „christlichen Religion“ erklärt, und dieses ‚Praktische‘ dann eben doch in der „christlichen Glaubenslehre“ verankert sehen will. Dann heißt es aber wiederum, ähnlich jener Bemerkung über die „Trefflichkeit der Früchte“: „So ziehen immer gewisse Leute den Kopf aus der Schlinge. – Genug, dass sie die christliche Liebe beibehalten: mag doch aus der christlichen Religion werden, was da will“ (Das Testamentum Johannis aus dem Jahr 1780: XIII, 15). „Denn ein anders sind die Glaubenslehren der christlichen Religion, und ein andres das Praktische, welches sie auf diese Glaubenslehren will gegründet wissen“ (XIII, 16) – jedoch nur das sei „wahre christliche Liebe … , die auf christliche Glaubenslehren gegründet [!] wird“ (ebd.). Dies setzt die Reflexion auf die „Allgemeinheit und Einheit der wesentlichen Glaubensmaximen“ (SF, AA 07: 52.8 – 9) freilich voraus. Zu fragen ist nochmals, ob nicht auch der den ‚Wettstreit um das Gute‘ propagierende „weise Richter“ in der genannten Weise „den Kopf aus der Schlinge“ zieht und nicht im Grunde jene Losung teilt: „Was kümmert es mich, ob die Sage falsch oder wahr ist: die Früchte sind trefflich“? Im anschließenden „Testamentum Johannis“ besagt diese – durchaus schon ‚wettstreitorientiert‘-‚praktische‘ – Konsequenz im Blick auf das Christentum dann eben die (im Grunde resignative) ‚orthopraktische‘ Ausflucht: „Genug, dass sie die christliche Liebe beibehalten: mag doch aus der christlichen Religion werden, was da will“ (Das Testamentum Johannis: XIII, 15). Dies darf freilich mit dem biblischen „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“ nicht verwechselt werden. Auch kann jener „augenfällige“ „Wettstreit um das Gute“ jedenfalls die Zweifel darüber nicht ausräumen, ob jene vermeintlich „trefflichen Früchte“ (s.o. III., Anm.172) nicht doch Spuren von innerer „Fäulnis“ zeigen …  Darüber können auch die quasi-‚innerfamiliären‘ „allseitigen Umarmungen“ am Schluss des „Nathan“ nicht hinwegtäuschen.

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bloß an der „Trefflichkeit der Früchte“ Maß nehmenden ‚Unbekümmertheit‘¹⁸⁰ denn noch unterscheiden, die im Grunde doch lediglich jene von Kant diagnostizierte (und kritisierte) „Gleichgültigkeit in Ansehung der Religion“ (SF, AA 07: 51.28 – 29) widerspiegelt?¹⁸¹ Jene Unbekümmertheit um die ‚Wahrheit‘ ist jedenfalls mit der als Pflicht geforderten ‚diskursiven Rechtfertigung‘ des Glaubens unvereinbar, die allein das faktische und auch taktische ‚Nebeneinander‘ in ein produktives ‚Miteinander‘ zu verwandeln vermag. Auch dies ist lediglich die Folge daraus, dass jene von Sultan Saladin gesuchten „Einsichten, Gründe, Wahl des Besseren“ (s. o. 213 ff.) und jene von Kant geforderte Prüfung der „Allgemeinheit und Einheit der wesentlichen Glaubensmaximen“ sich dergestalt – infolge des „richterlichen Rates“ – in den allein auf humanitäre Ziele verpflichteten ‚Wettstreit um das Gute‘ gewandelt haben. Jener richterliche Rat: „Es strebe von euch jeder um die Wette, die Kraft des Steins in seinem Ring’ an Tag zu legen!“ ist freilich auch in einer anderen Hinsicht paradox: denn es ist dies ein ‚Wettstreben‘, das sich gerade aus den Quellen „vorurteilsfreie Liebe“, „Sanftmut“, „herzliche Verträglichkeit“, „Wohltun, innigster Ergebenheit in Gott“ speisen soll: dies sah Lessing wohl in der Bewährung Nathans verkörpert, während jene Quellen freilich aller ‚Wettstrebens‘-Logik zuwider sind und dergestalt offenbar auf einen besonderen „Beweis des Geistes und der Kraft“ abzielen bzw. ihn zur Geltung bringen. Einer jeden bloß äußeren „Zweckmäßigkeit“ der Religion ist damit freilich eine Absage erteilt, woran sich die Frage nach dem „gleich wahr/gleich falsch der Religionen“ und die hierfür angeführten Kriterien bemessen lassen (ohne damit die mit dem Fortschritt vom ‚Streit zum Wettstreit der Religionen‘ zweifellos mitgemeinten historischen und ‚religionspolitischen‘ Errungenschaften jedoch ignorieren zu wollen). Indes, allein

 Sie weckt natürlich ebenso Assoziationen zu dem in jenem Entwurf zur Vorrede des „Nathan“ geäußerten ‚Bekenntnis‘: „Nathans Gesinnung gegen alle positiven Religionen ist von jeher die meinige gewesen“ (XVI, 444). – Dennoch: Vielleicht darf man jedoch in dieser „Unbekümmertheit“ auch eine als „Gleichgültigkeit“ auftretende skeptische ‚Ratlosigkeit‘ vermuten, der Kant wohl mit den beiden Grundpfeilern des „reinen Religionsglaubens“: „Theologie und Moral“ begegnet wäre.  Die zeitliche Nähe jener bekundeten ‚Unbekümmertkeit‘ über die „Wahrheit/Falschheit“ jener „alten frommen Sage“ (in der 1777 erschienenen Schrift: Über den Beweis des Geistes und der Kraft: XIII, 8) – bzw. darüber, „mag doch aus der christlichen Religion werden, was da will“ (XIII, 15) – zu der genau dazwischen endgültig erfolgten Abfassung der Ringparabel ist jedenfalls auffallend und wohl auch sachlich bedenkenswert. Im Grunde spiegelt sich sowohl in jener „Unbekümmertheit“ als auch in der angeführten Stelle aus dem „Testamentum Johannis“ doch lediglich „Nathans Gesinnung gegen alle positiven Religionen“ (s.o. III., 1.1.) wider, die sich freilich mit der von Kant geforderten Prüfung der „Allgemeinheit und Einheit der wesentlichen Glaubensmaximen“ nicht verträgt.

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der geist-geleitete Besitzer des „echten Ringes“ wäre wohl auch erst frei von der bedrängenden Sorge um die „Echtheit des Ringes“ bzw. von dem drohenden Erweis seiner Unechtheit; ebensolche Fessel wäre der Haltung einer „von Vorurteilen freien Liebe“ hinderlich, während allein der wahre Besitzer des „echten Ringes“ auch von der beherrschenden ‚Wettstreit‘-Perspektive frei geworden, d. h. so erst zu jener „von Vorurteilen freien Liebe“ befreit wäre, welche die „Änderung des Herzens“ (RGV, AA 06: 47.28) voraussetzt. Die in einer solchen „Herzensänderung“ verankerte „Religion des guten Lebenswandels“ kennt jedenfalls keine vergleichenden – ehrgeizig rivalisierenden – Hin- und Rücksichten, sie ist vielmehr in ihrem Leitbild ‚absolut‘ und tut „das Gute, weil es das Gute ist“. Vermutlich hätte Kant jenen „richterlichen Rat“ – es ist dies ein ‚Rat‘, kein ‚Urteilsspruch‘ – schon insofern problematisiert, als das moralisch verankerte religiöse Verhältnis eben auch keine relativierende Perspektive auf andere Menschen erlaubt, d. h. gar keine anderen Rücksichten gestattet. Jenseits allen vergleichend-eifersüchtigen ‚Schielens‘, das ein ‚Wettstreben‘ – auch einen ‚liebenden Wettstreit‘ (was auch immer dies näher sein soll!) – unvermeidlich kennzeichnet, ist der „Rechtschaffene“ und wahrhaft Religiöse gewissermaßen ‚absolut zu Gott‘¹⁸² – während jener WettstreitGeist vermutlich, mit Kant gesprochen, doch eher jene ring-tragenden „Geschäftsleute“ eines sich „beständig erhaltende(n) System(s)“ (RGV, AA 06: 114.23) bzw. auch jene Vorstellung einer heimlichen Religions-Konkurrenz begünstigt, welche die Haltung des „Jeder liebt sich selber nur am meisten“ (Nathan: v. 2022) lediglich in sublimierter Form fortsetzt.¹⁸³ Bezüglich der Konzeption eines solchen ‚Wettstrebens‘ enthält freilich schon Kants Hinweis ein wichtiges kritisches – auf die „Revolution in der Gesinnung“ (RGV, AA 06: 47.24) abzielendes – Korrektiv:

 Hingegen ist es bei Lessing wohl Recha, die in ihrer Person die von Lessing angezeigte Perspektive des „neuen Evangeliums“ verkörpert, so aber wohl auch einen Status ganz ‚jenseits‘ des ‚Wettstreits der Religionen‘ symbolisiert. Sie ist es wohl in Lessings „Nathan“, die offenbar die Überwindung der ‚Vorurteile‘ der „angebornen Religion“ verkörpert und als Frucht daraus auch nicht mehr „glaubte, dass alles notwendig gut und wahr sein müsse, was sie für gut und wahr erkennen“ (Ernst und Falk, 2. Gespräch: XIII, 360). Dass Lessing diese „Recha“ – trotz ihrer ‚Wundergläubigkeit‘ – in einem Vorentwurf zum „Nathan“ (s. Göpfert-Ausgabe 2, 716 – 757) als „ein unschuldiges Mädchen ohne alle geoffenbarte Religion“ – allein der Vernunft verpflichtet – auszeichnete (Göpfert-Ausg. 2, 743.) und als „Muster der Vollkommenheit“ würdigte (s.o. III., Anm.51), passt recht genau dazu.  Dann weckt ein solcher kultivierter ‚Wetteifer‘ freilich unweigerlich auch Assoziationen zu Kants ernüchterndem Befund: „Wir sind im hohen Grade durch Kunst und Wissenschaft kultiviert. Wir sind zivilisiert bis zum Überlästigen zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit. Aber uns für schon moralisiert zu halten, daran fehlt noch [ungeachtet alles „Sittenähnlichen“, „äußerer Anständigkeit“ und Religion!] sehr viel.“ (IaG, AA 08: 26.20 – 23) Und diese (freilich nicht beobachtbare) ‚Moralisierung‘ wäre doch das erklärte Ziel jenes ‚Wettstreits‘?

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„(W)ir haben kein anderes Richtmaß unserer Handlungen, als das Verhalten dieses göttlichen Menschen in uns, womit wir uns vergleichen [!], beurteilen und dadurch uns bessern, obgleich es niemals erreichen können“ (KrV, B 597). All dies zeigt: Die von Lessing zwar nicht einfachhin preisgegebene, sondern auf die ‚Wettstreit‘-Ebene verlagerte Wahrheitsfrage auf diesem Wege entscheiden (besser: ‚entsorgen‘?) zu wollen, hätte wohl kaum die Zustimmung Kants gefunden. Auch diese Wettstreit-Idee der monotheistischen „Glaubensarten“ vermag nach Kant in der Ringparabel die notwendige Orientierung an dem „einen [echten] Ring“ – als eine vom Vater angeblich nicht mehr geduldete „Tyrannei“? – nicht zu ersetzen.¹⁸⁴ Mit Blick auf die entscheidende ‚Prinzipienfrage‘ kann nach Kant von der ‚relativistischen‘ Bezugnahme auf die „Tyrannei des einen Ringes“ (Nathan: v. 2036), von der jener Richter sprach, auch gar nicht die Rede sein. Deshalb kann der gewiss erstrebenswerte ‚kultivierte‘ Fortschritt – und sei es auch in der Gestalt eines ‚Wettstrebens‘ – ihm zufolge wohl nicht das letzte Wort in der Sache behalten, sondern bliebe vielmehr selbst noch den Maßstäben einer ‚über sich selbst noch unaufgeklärten Aufklärung‘ verhaftet. Gerade eine solche maßgebende ‚Wettstreit‘-Perspektive könnte dem Anspruch einer „von Vorurteilen freien Liebe“ wohl kaum genügen, sondern bliebe ‚umwegig‘ noch einmal auf sich selbst fixiert und hätte sich so auch noch nicht aus dem Bannkreis des stets drohenden Erweises der ‚Unechtheit des Ringes‘ befreit. Der gemeinsamen Orientierung an dem „Reich Gottes auf Erden“, der „ethisch-bürgerlichen Gesellschaft“ (RGV, AA 06: 94.27– 28) als einem „System wohlgesinnter Menschen“ (RGV, AA 06: 98.1), wäre ein solcher ‚Wettstreit‘ vermutlich wenig dienlich, zumal für diesen die Vereinigung zur „Beförderung des höchsten, als eines gemeinschaftlichen Guts“ (RGV, AA

 Die für die ‚Wahrheit‘ der Religion unverzichtbare Verankerung in ‚moralischen Prinzipien‘ kann nach Kant deshalb auch nicht durch jene Zukunftsperspektive ersetzt bzw. relativiert werden, „in der sich auch nach außen die erfreulichen Folgen eines ethischen Handelns zeigen, das sich an einfachen Regeln ausrichtet, die man die ‚officia humanitatis‘ nennen könnte und die zudem mit den Grundsätzen der natürlichen, einer – um eine Formulierung Moses Mendelssohns aufzugreifen – ‚allgemeinen Menschenreligion‘ übereinstimmen“ (Vollhardt 2015, 409). Indes, Kant hätte wohl auch dem (auch von Vollhardt [ebd. 409] geteilten) diesbezüglichen Bedenken Timms zugestimmt: „Das Ansinnen scheint paradox. Wie soll der gerichtsnotorische Sachverhalt einer nicht subsumierbaren Pluralität von Absolutheitsansprüchen hingenommen werden, ohne dass die Gewissheit, der eine Einzige zu sein, daran Schaden nimmt? Es müsste dieser Gewissheit ein Wissen zukommen, das sich durch den Verlust der Singularität weder agnostizistisch infizieren lässt, noch den Einflüsterungen der anti-metaphysischen Betrugshypothese erliegt“ (Timm 1983, 120). Kants Auffassung zufolge musste Lessing wohl an diesem „paradoxen Ansinnen“ scheitern – im Unterschied zu seiner eigenen Konzeption einer prinzipien-orientierten Idee der „natürlichen Religion“ und einer ihr gemäßen Unterscheidung zwischen dem Christentum als „natürlicher Religion“ und als „historischer Glaubensart“.

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06: 97.20 – 21), d.i. den „gemeinschaftlichen Zweck des Guten“, doch allzu leicht in Vergessenheit geraten könnte. Zu fragen bleibt zuletzt: Was darf – und sollte – denn eigentlich die leitende Absicht in diesem ‚Wettstreben‘ sein – ein aus jenem ‚Konkurrenzverhältnis‘ resultierender getarnter (an Selbstbehauptung orientierter) ‚Machtkampf in einem geheimen „Antagonism“ der „ungeselligen Geselligkeit“ (IaG, AA 08: 20.30) etwa, dem „Sanftmut“, „herzliche Verträglichkeit“; „Tun des Guten um des Guten willen“, offenbar eher fremd bleiben müssen, zumal dies doch allein die Mitglieder einer „Gesellschaft nach Tugendgesetzen“ (im Sinne Kants) auszeichnet? So wenig die „Wahrheit eine Münze“ ist (Nathan: v. 1869), so sehr bleibt nach Kant also auch die Vorstellung eines ‚praktischen Wettstreits‘ der Orientierung der Idee der Wahrheit äußerlich-fremd bzw. unangemessen. Dies verlangt nach Kant demnach eine notwendige Zurückhaltung gegenüber der in Lessings Ringparabel zentralen Idee eines ‚Wettstrebens‘ der Religionen, so unzweifelhaft darin auch die „fromme Raserei“ der „historischen Glaubensarten“ – „Den bessern Gott zu haben, diesen bessern/der ganzen Welt als besten aufzudringen“ (Nathan: v. 1298 f.) – überwunden sein mag. In Lessings diesbezüglicher Ablehnung war Kant freilich ganz auf seiner Seite, gleichwohl bietet allein der „moralisch bestimmte Monotheismus“ hierfür einen zureichenden Maßstab, der die leitende „Absicht, das Sittlich-Gute zu befördern“ (RGV, AA 06: 193.4), notwendig noch ergänzt. Denn ungeachtet dessen, dass ein gezähmtes ‚Wettstreben der Religionen‘ zwar eine „fromme Raserei“ derselben als „Glaubensarten“ verwerfen mag, so ist – nicht zuletzt – ein solches konkurrenz-orientiertes Wettstreben auch mit dem von Kant als „Endzweck der Schöpfung“ ausgewiesenen Motiv der „Ehre Gottes“ wohl kaum vereinbar und widerspricht auch der spezifischen Intention der „alleinigen und wahren Religion“ als „Erkenntnis unserer Pflichten als göttlicher Gebote“ (MS, AA 06: 443.30 – 31), die keinerlei andere – gar vergleichende – Rück- und Hinsichten erlaubt;¹⁸⁵ solche Wettstrebens-Hinsichten bleiben deshalb dem allein jener „Ehre

 Die allseitigen (quasi-‚innerfamiliären‘) Umarmungen vor dem Fallen des Vorhanges verkörpern das „Ganze der Idee der Menschheit“ im Sinne der allgemeinen „Menschenreligion“. Die vorgestellte Einheit der Familie – jedoch ist kein Vertreter des Christentums in der Schlussszene anwesend – ist im Grunde die kantische „Gesellschaft nach Tugendgesetzen“, als „das Ideal eines Ganzen aller Menschen“, als ein „absolutes ethisches Ganzes“ verkörpert, worin alle im „reinen Religionsglauben“ vereint sind – freilich inklusive der ‚humanen‘ Atheisten. Dies unterläuft also gewissermaßen alle Trennungen hinsichtlich der (trennenden) Religionszugehörigkeiten und ist so gleichsam als eine kontrafaktische Anzeige aufzunehmen. S. dazu Kuschel 2016, bes. Abschnitt „4. Die Entdeckung als Familie: Strategische Aufwertung II“: 166 ff. Kuschel weist darauf hin, dass Lessing sehr entschieden allein den Patriarchen von diesen Beziehungen ausnimmt, darin dessen Exklusiv-Ansprüchen solcherart gewissermaßen einen Spiegel vorhält und ihn so sehr bewusst

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Gottes“ entsprechenden „Gott wohlgefälligen Lebenswandel“ nicht nur fremd, sondern sind diesem wohl auch hinderlich. Sie sind jedenfalls einem wahrhaft religiösen Orientierung ganz zuwider und werden von einer „wahren Aufklärung“ geradewegs unterbrochen, die sich – durchaus wettstreit-fern – am „Dienst Gottes“ orientiert, der „dadurch allererst ein freier, mithin moralischer Dienst“ (RGV, AA 06: 179.6 – 7) ist. Deshalb muss für eine kantische Variation dieses Motivzusammenhanges wohl gelten: Vom ‚Streit zum Wettstreit‘, vom ‚Wettstreit‘ zum ‚Wettstreben‘ der Religionen – und, mit Blick auf seine Rezeption des Leibniz’schen Motivs der „Ehre Gottes“, zuletzt wohl auch über dieses ‚Wettstrebens-Motiv‘ noch einmal hinaus … Es bleibt dabei die unumgängliche Aufgabe der den ‚Wettstreit um das Gute‘ notwendig leitenden (oder doch wenigstens begleitenden) philosophischen Reflexion, die (jenseits einer „Tyrannei des einen Rings“) die unverrückbaren Grundpfeiler des „moralischen Monotheismus“ und die daran geknüpften anthropologischen (Grenz‐)Fragen zu klären hat, ohne die es bei einem gleichgültig ‚koexistierenden‘ bzw. konkurrenz-orientierten Nebeneinander der „Glaubensarten“ bleiben müsste und so auf ihre kritische Selbstaufklärung geradewegs verzichten würde.¹⁸⁶ Nochmals ist zu fragen: Worüber sollen die im ‚Wettstreit um das Gute‘ Vereinten denn eigentlich noch ‚streiten‘ (können), wenn solcher ‚Wettstreit‘ sich jenen von Sultan Saladin erstrebten „Einsichten, Gründen, Wahl des Bessern“ – dem „zwanglosen Zwang des besseren Argumentes“ (J. Habermas) – im Grunde doch geradewegs verweigert, vielmehr bei jener „Trefflichkeit der Früchte“ (s.o. III., Anm.173) Zuflucht sucht und dergestalt die Wahrheitsfrage eben doch ‚geltungs-indifferent‘ verabschiedet, d. h. argumentativen Stillstand eher begünstigt?¹⁸⁷ Der sich zum ‚Wettstreit um das Gute‘ verflüchtigende ‚Wettstreit der Religionen‘ hätte doch seinen bestreitbaren Inhalt vollends preisgegeben bzw. verloren; auch dies hätte Kant wohl als einen „wirklichen Fehler“ angesehen (s.o. III., Anm. 3). Daraus wird aber auch noch einmal deutlich: Jene Kritik Kants an

außerhalb dieser menschlichen Schicksalsgemeinschaft ‚ansiedelt‘, wie ja auch der Schluss des „Nathan“ deutlich macht.  Der ‚Wettstreit der Religionen‘ wäre so eher ein gemeinsamer, obgleich in getrennten Bahnen verlaufender Kampf jener religiösen ‚Geschäftsleute‘ um die „Zukunft einer Illusion“.  Ein wenig erinnert diese Situation doch auch an Adornos entlarvenden Befund: „Wird Religion um eines andern als ihres eignen Wahrheitsgehaltes willen angenommen, so unterminiert sie sich. Dass darauf neuerdings die positiven Religionen so willig sich einlassen und womöglich mit anderen öffentlichen Institutionen wetteifern, bezeugt bloß die Verzweiflung, die latent ihrer eigenen Positivität innewohnt.“ (Th.W. Adorno, Vernunft und Offenbarung 613. In: GS 10.2, 608 – 616) Dies trifft offenbar auch noch für jene (vereinnahmende) Diagnose zu: „Wo geliebt wird, da ist wahre Religion“ (s.o. III., Anm.97). Diese ‚all-you-need-is-love‘-Devise ist jedenfalls keine befriedigende Antwort auf die Frage nach der „Wahrheit der Religion“.

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bloßer „Gleichgültigkeit oder gar Widersetzlichkeit gegen alle Offenbarung“ (RGV, AA 06: 119.2– 3) wendet sich also nicht nur – direkt – gegen Reimarus, sondern gleichermaßen – indirekt – gegen Lessing, nicht zuletzt gegen „Nathans Gesinnung gegen alle positiven Religionen“. Es bestätigt sich: Dass es „nur eine (wahre) Religion“ geben kann (RGV, AA 06: 107.28 – 29), ist auch nicht durch einen ‚Wettstreit um das Gute‘ zu entscheiden – oder auch nur zu ‚entschärfen‘. Gleichwohl bleibt abschließend, an schon Gesagtes anknüpfend, noch eine offene Frage – genauer besehen erweist sich nämlich die Sachlage auch bei Kant selbst als kompliziert und jedenfalls als nicht ganz eindeutig. Eine Unklarheit bzw. Verständnisschwierigkeit sei hier als Rückfrage an Kant noch benannt: An jenen Einspruch gegen die „Gleichgültigkeit oder gar Widersetzlichkeit gegen alle Offenbarung“ fügte er direkt folgende (auch gegen die Auflösung in einen ‚Wettstreit um das Gute‘ gerichtete) Begründung an: „Das wäre aber den Knoten (durch eine praktische Maxime) zerhauen, anstatt ihn (theoretisch [!]) aufzulösen, welches auch allerdings in Religionsfragen erlaubt ist.“ (RGV, AA 06: 119.2– 3) Die daran anschließenden Ausführungen zur „Gottessohnschaft“ (s. dazu o. II., Anm.80 u. 175) legen es nun vielleicht nahe, Kant folgende Auffassung zuzuschreiben: ‚Intrakonfessionell‘, d. h. hier: ‚binnenchristlich‘, mag es ja erlaubt und sogar unumgänglich sein, (in der Art von Lessings „Nathan“) „den Knoten (durch eine praktische Maxime) [zu] zerhauen“, zumal in der „vernünftigen Religion“ doch „alles aufs Tun“ ankomme „und diese Endabsicht, mithin auch ein dieser gemäßer Sinn … allen biblischen Glaubenslehren untergelegt werden“ muss (SF, AA 07: 41.37– 42.2) – ganz gemäß jener angeführten Losung Lessings: „Genug, dass sie die christliche Liebe beibehalten“ (s.o. III., Anm.178). Dies erlaubt es jedoch mitnichten, im Blick auf die in theoretischen und praktischen „Grundsätzen“ divergierenden „Glaubensarten“ auf eine diesbezügliche ‚theoretische Auflösung‘ im Sinne der normativen Grundsätze des „moralischen Monotheismus“ (und der anthropologischen Differenzen) zu verzichten, zumal dagegen doch auch jene geforderte Einlösung der „Allgemeinheit und Einheit der wesentlichen Glaubensmaximen“ (SF, AA 07: 52.8 – 9) steht. Vor allem dies hinderte Kant ja auch daran, der ‚Lösung‘ der „Ringparabel“ zuzustimmen. Indes, das unvermeidliche weitere Problem ist freilich dies: Wenn in der „fortgehenden Kultur“ eine Annäherung der monotheistischen „Glaubensarten“ an den „für alle Welt gleich einleuchtenden“ „reinen Religionsglauben“, d. h. ein „allmählige[r] Übergang des Kirchenglaubens zur Alleinherrschaft des reinen Religionsglaubens“ (RGV, AA 06: 115.2– 3) aber doch wenigstens möglich und längerfristig (obgleich in großer „Entfernung“) vielleicht auch zu erwarten ist, d. h. ein diesbezüglicher „Streit der Meinungen“ ‚in the long run‘ vermieden bzw. ausgeräumt werden kann (was Kant, als eine durch „fleissige Arbeit“ zu leistende „anhaltende Entwicklung der reinen

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Vernunftreligion“ [RGV, AA 06: 135. Anm.], nur zögernd¹⁸⁸ in Aussicht genommen, es jedenfalls nicht ausgeschlossen hat); wenn dann also die Grundsätze des „moralischen Monotheismus“ akzeptiert sein mögen und jene „Allgemeinheit und Einheit der wesentlichen Glaubensmaximen“ sich etwa auch im Islam durchgesetzt hätte, desgleichen die Akzeptanz der Autorität der Wissenschaften und der profanen „Grundsätze eines universalistischen Egalitarismus in Recht und Moral“, und so die Annäherung an die „natürliche Religion“ vollzogen wäre – wandelt sich dann etwa das Urteil, dass das „Christentum, so viel wir wissen [!], die schicklichste Form“ (SF, AA 07: 36.32) unter den „verschiedenen Glaubensarten“ sei, weil seine Lehren eher „aus der Vernunft entspringen“ könnten (SF, AA 07: 36.29)? Wären so die im Christentum noch bleibend vorherrschenden wundersamen ‚übernatürlichen‘ Anleihen verabschiedet, d. h. abgefertigt, während hingegen womöglich die Grundsätze eines ‚aufgeklärt-geläuterten‘ Islam an Plausibilität gewännen, sofern diese sodann „mit der allerstrengsten Vernunft übereinkommen“?¹⁸⁹ Bliebe so dem Christentum gewissermaßen lediglich ein ‚historischer Vorsprung‘ im Sinne eines hilfreichen „Vehikels“ – unterstützt von seiner „liberalen Denkungsart“ (EaD, AA 08: 338.23) und seiner „moralischen Liebenswürdigkeit“ (EaD, AA 08: 339.20)? Und wie steht es, unter solchen Vorzeichen, dann jedoch um jene Erlaubnis, „den Knoten (durch eine praktische Maxime) [zu] zerhauen“, die freilich jener durch „fleissige Arbeit“ intendierten „Allgemeinheit und Einheit der wesentlichen Glaubensmaximen“ geradewegs widerspricht? Wenn es also nunmehr zwar über den (nach Kant in der Absicht des Christentums erreichten) „reinen Religionsglauben … keine streitenden Meinungen [mehr] geben kann“ (RGV, AA 06: 131.22– 23)¹⁹⁰ – wie steht es also damit, wenn dennoch – bleibend – „Zänkereien um den Kirchenglauben“ (RGV, AA 06: 108.18) stets neu aufleben, weil die empirische „Ungewissheit“, „die ein jeder in sich fühlt, welcher Glaube (unter den

 Insgesamt war Kant bezüglich einer solchen ‚Annäherung‘ doch ziemlich skeptisch und hatte nur „wenig Hoffnung“ (RGV, AA 06: 123 Anm.).  Lessing V, 326. S. dazu o. II., Anm.413 u. Anm.446. Dies weckt natürlich (mit Blick auf Kant) auch nochmalige Assoziationen zu der Frage, was beim späteren Lessing aus seinen früheren Sympathie-Bekundungen für den Islam geworden ist, der ja in der späten Erziehungsschrift überhaupt keine Erwähnung mehr findet. Dies gilt dann wohl auch für die lapidare Erklärung Lessings: „Das Christentum hat über die Heidnische und Jüdische Religion gesiegt. Es ist da.“ (Gegensätze des Herausgebers: XII, 448) Und wo bleibt der Islam?  Dies bleibt nach Kant jedenfalls das erklärte Ziel, das durch den – vermeintlich ‚theoretisch entlastenden‘ – ‚Wettstreit um das Gute‘ auch nicht ersetzt werden kann. Dieser ‚Wettstreit‘ scheint doch das Bemühen, jene „wahre erste Absicht“ des Christentums wiederum zu relativieren, „einen reinen Religionsglauben, über welchen es keine streitenden Meinungen geben kann, einzuführen“ (RGV, AA 06, 131.21– 23); gleichwohl bleiben offene Fragen.

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historischen) der rechte sei“ (RGV, AA 06: 132 Anm.), auch nach Kant prinzipiell nicht zu beheben ist?¹⁹¹ Wie also wäre dann mit bleibenden Differenzen bezüglich des „empirischen (historischen) Glaubens“ (RGV, AA 06: 119.12– 13) umzugehen, die dennoch nicht einfach auf „Parerga“ (RGV, AA 06: 52.19), „Anhängsel“ (RGV, AA 06: 121.20), „Statuten, welche auf Geschichte beruhen“ (RGV, AA 06: 121.14) abzuschieben sind? Verleiht dies, unter diesen nunmehr geänderten Bedingungen, etwa doch Motiven der „Ringparabel“ – ungeachtet jener mit der „Echtheit der Ringe“ bzw. der ‚Wettstreit-Idee‘ verbundenen Aporien – wiederum eine gewisse (freilich eingeschränkte) Plausibilität – ohne dass davon jedoch der kantische Vorwurf berührt wäre, dass Lessings Lösung doch insgesamt mangelnde Differenziertheit verrate und er nicht wisse, „was er haben will“?

3.1 Anmerkung: Zu Kants religionsphilosophischem Motiv der „Ergebung“ – ein Unterschied zum theodizee-geprägten „Ergebenheits“-Motiv in Lessings „Nathan“?¹⁹² Das auch in Lessings „Nathan“ anklingende Motiv der „Ergebenheit in Gott“¹⁹³ ist bei ihm vornehmlich im Kontext der beiläufig anklingenden Theodizee-Thematik

 Und wie steht es dann um jene – notwendige? – „Beglaubigung (dazu Gelehrsamkeit oder Wunder, die nicht jedermanns Sache sind, erfordert würde)“ (RGV, AA 06: 162.18 – 21)? Dass die „das Gewissen belästigenden Religionssätze … uns von der Geschichte“ kommen (Brief Kants an Mendelssohn v. 16.8. 1783: AA 10, 347 und öfter), erhält dann unvermeidlich neue Aktualität. Es bleibt also dabei: „Aber Glaubensbekenntnisse von ihrer [der „Geschichten oder vorgebliche[n] Offenbarung] Wahrheit sind … eine Last für das Gewissen“ (Refl. 6308, AA 18, 602).  Kant hätte zweifellos dem berühmten Wort Goethes widersprochen: „Wenn Islam Gott ergeben heißt, Im Islam leben und sterben wir alle“ (Johann Wolfgang Goethe: West-östlicher Divan Bd. I. 65. In: Johann Wolfgang Goethe, West-östlicher Divan. 2 Bände (Frankfurter Ausgabe) 1994, hg.v. H. Birus). – Rosenzweig machte hingegen in anderer Hinsicht eine Korrektur bzw. eine Präzisierung der „Ergebenheit in Gott“ im Islam geltend: „Schon dass ‚Islam‘ Gottergebensein heißt, wie Goethe meint, ist eine irreführende Übersetzung. Islam heißt nicht gottergeben sein, sondern sich Gott ergeben, sich zufrieden geben. Das Wort, das in seiner schlichten Stammform in der heiligen Sprache jenen stillen, seienden Frieden Gottes bezeichnet, wird in dem Wort ‚Islam‘ durch die Vorsilbe in ein Causativ, ein Machen, ein Veranlassen, eine Tat umgewandelt. Das Gibdichzufrieden des Islam mündet nicht in ein ‚sei stille‘, sondern es bleibt immer weiter beim Sichzufriedengeben, das immer wieder in jedem Augenblick erneuert werden muss. So behält auch die Demut des Menschen, an den die Offenbarung geht, im Islam das Vorzeichen des Trotzes des Selbst, das sich in jedem Augenblick selbst verleugnende Nein. ‚Islam‘ ist keine zuständliche Haltung der Seele, sondern eine unaufhörliche Folge von Pflichterfüllungen. Und zwar nicht etwa so, dass diese Pflichterfüllungen gewissermaßen nur symbolisch, eben als Zeichen und Ausdruck des befriedeten Seelenzustandes oder als Mittel zu seiner Erreichung verstanden würden, son-

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(und mit Blick auf Nathans Adaption von Recha) verortet. Dieses zwar auch Kant durchaus geläufige (von Leibniz her aufgenommene) Motiv der „Ergebung“ steht bei ihm jedoch im engeren Kontext der Thematik der unerforschlichen „Geheimnisse der Freiheit“: „Berufung, Erwählung und Genugtuung“ und somit der ‚Gnaden‘-Thematik;¹⁹⁴ es impliziert, wie bei Leibniz, auch bei Kant gleichermaßen eine Verwerfung der mit der Autonomie der Moral unverträglichen Unterwerfung und eines vernunftwidrigen „Fatalismus“ und somit auch eine entschiedene Abgrenzung gegenüber der Idee des „fatum Mahometanum“ sowie auch gegenüber der Spinoza-nahen Auskunft Lessings: „Ich begehre keinen freien Willen“:¹⁹⁵ „Die Entsagung (Resignation) in Ansehung des göttlichen Willens ist unsre Pflicht. Wir entsagen unserm Willen, und überlassen etwas einem andern, der es besser versteht, und es mit uns gut meint. Folglich haben wir Ursache, Gott alles zu übergeben, und den göttlichen Willen schalten zu lassen; das heißt aber nicht: wir sollen nichts tun und Gott alles tun lassen, sondern wir sollen das, was nicht in unserer Gewalt stehet, Gott abgeben und das unsrige, was in unsrer Gewalt stehet, tun. Und dies ist die Ergebung in den göttlichen Willen.“¹⁹⁶ Demzufolge wird in

dern sie werden an sich gewertet und sind mehr oder weniger auch derart rationell, dass eine solche unmittelbare Wertung wohl statthaben kann. So kommt der Islam zu einer ausgesprochenen Ethik der Leistung. An der einzelnen sittlichen Tat wird das Maß der Gottergebung geschätzt, das zu ihrer Vollbringung erforderlich ist. Je schwieriger die Tat ist, umso mehr wird sie geschätzt, denn umso höher ist die Gottergebung, die zu ihr erforderlich war.“ (Rosenzweig 191)  Lessing war die Bedeutung des ‚Islam‘ wohl bekannt: „Islam ein Arabisches Wort, welches die Überlassung seiner in den Willen Gottes bedeutet“ (aus Lessings Notizen: Bohnen-Schilson 1993, 660, zit. n. Fick 491). Dieses Motiv der „Ergebenheit in Gott“ im „Nathan“ setzt freilich die ‚absolute Differenz‘ zwischen ‚Gott und Mensch‘ voraus, die allerdings mit seiner (ziemlich zeitgleich zum „Nathan“ bekundeten) ‚Spinoza-Sympathie‘ kaum vereinbar ist (s. auch o. II., Anm.18). Diese ‚Spinoza-Sympathie‘ verbindet vermutlich (gegen Kant) auch Lessing und Goethe – nicht zuletzt im gemeinsamen Blick auf den Islam (s. auch Kuschel 2011, 192 ff).  Diese von Kant durchaus als „Geheimnisse“ gewürdigten „Gegenstände der Religion“ hätte er jedoch – mit Lessing – von bloßen ‚Heimlichkeiten‘ entschieden abgehoben, denn letztere „sind Dinge, die sich wohl sagen lassen, und die man nur zu gewissen Zeiten, in gewissen Ländern, teils aus Neid verhehlte, teils aus Furcht verbiß, teils aus Klugheit verschwieg“ (Lessing, Ernst und Falk, 4. Gespräch: XIII, 394).  Jacobi 2000, 27. S. dazu o. II., Anm.5 u.6.  AA 27.1: 320. Die motivliche Nähe zu Leibnizens Charakterisierung des „fatum christianum“ – das Leibniz allerdings gegen das „fatum mahometanum“ richtete – ist augenfällig und ist, wie oftmals auch in der Literatur angemerkt wurde, unschwer auch bei Lessing erkennbar: „Es ist das gleichsam, als ob man den Menschen sagte: Tut eure Pflicht, und seid zufrieden mit dem, was auch kommen möge, nicht nur, weil ihr der göttlichen Vorsehung oder der Natur der Dinge nicht widerstehen könnt – was genügen kann, um ruhig zu werden, aber nicht: zufrieden – sondern auch, weil ihr es mit einem guten Herrn zu tun habt. Diese Auffassung könnte man als Fatum christianum bezeichnen“ (Leibniz 1968, 8 f.). Letzteres hätte Kant wohl in dem Klosterbruder als

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diesem, mit den von Kant so bezeichneten „Geheimnissen der Vernunft“¹⁹⁷ – „sofern sie die moralische Lebensgeschichte jedes Menschen betreffen“ (RGV, AA 06: 143.33 – 34) – eng verknüpften „Ergebenheits“-Motiv offenbar geradezu eine (freilich durch moralisch-praktische Vernunft selbst vermittelte) ‚Inversion‘ praktischer Vernunftansprüche sichtbar, die von der „praktischen Bestimmung des Menschen“, aber auch vom „moralisch bestimmten Monotheismus“ nicht abgelöst werden kann. „Ergebenheit in Gott“ – ja,¹⁹⁸ jedoch keinesfalls als knechtische ‚Unterwerfung‘ unter ein theokratisch-‚theonomes‘ System, das eine ‚autonome Moral‘ mit Füßen tritt¹⁹⁹ und mit seiner Behauptung bzw. strengen Reglementierung kultischzeremonieller Observanzen jeden geistig-freien Lebensvollzug ersticken müsste. Ohne diese geforderte „Feuerprobe der Wahrhaftigkeit“ (MpVT, AA 08: 268 Anm.) und „Aufrichtigkeit des Herzens“ – und zwar „in Ansehung seiner selbst bei der schärfsten Selbstprüfung“²⁰⁰ und damit der „Rechtschaffenheit als der Redlichkeit gegen sich selbst“ – ist nach Kant von einer „Ergebenheit in Gott“ gar nicht zu reden, wie er bezeichnenderweise gerade auch im Theodizee-Kontext betonte.²⁰¹ Ebenso wusste Kant – durchaus im Einklang mit Lessing –, dass solche recht

„gottergebnen Menschen“ verkörpert gesehen, der, jenseits allen ‚Wettstrebens‘, in seiner „frommen Einfalt … allein versteht, was sich der gottergebne Mensch für Taten abgewinnen kann“ (Nathan: v. 3032 ff.). Hier ist auch jenes Motiv der „Entsagung“ – eine keineswegs „fatalistische“ „Ergebung in Gott“ – angesprochen, das bei Kant freilich die Einsicht in die Begrenztheit der „moralischen Selbsterkenntnis“ und das Gnaden-Motiv – eine „Gütigkeit, die doch der Gerechtigkeit nicht Abbruch tut“ (RGV, AA 06: 140 Anm.) – voraussetzt und der „Tiefendimension menschlicher Existenz“ (Kuschel 2011, 188) eingeschrieben ist. Auch für Kant muss freilich gelten, was Kuschel für Lessing geltend macht: „Gottergebenheit … ist für Lessing das Gegenteil von Theoretisieren über Gott“ (Kuschel 2011, 187). – weil auch für Kant die „Ergebenheit in Gott von unserm Wähnen über Gott so ganz und gar nicht abhängt“ (Nathan: v. 1589 ff.). Auch dieses ‚Ergebenheits‘-Motiv indiziert nach Kant freilich signifikante Unterschiede zwischen Christentum und Islam, wohl auch im Sinne der „authentischen Theodizee“.  Diese Themen hat bezeichnenderweise auch Lessing in seiner „Erziehungsschrift“ als jene besonderen ‚Spekulationen‘ des Christentums als des „zweiten bessern Elementarbuches“ (§ 71 der Erziehungsschrift: XIII, 430) ausgewiesen.  S. dazu nochmals die Überlegungen zu ‚Kants Kritik am Islam‘,s.o. II., 5.2..  Der Mensch als existierender „Endzweck“ kann auch von Gott nicht zu einem bloßen Mittel degradiert werden, ohne die Idee eines „Endzwecks der Schöpfung“ zu desavouieren.  AA 18, 604.  In der Tat transzendiert Lessings „Nathan“ mit diesem ‚Ergebenheits‘-Motiv den Rahmen einer „Humanitätsreligion“ und lässt einen „tieferen Grund“ erkennen: „sie wurzelt im Glauben und Vertrauen in die weise Lenkung der Vorsehung“ und lässt „Ergebenheit in Gott“ als einen „Zentralbegriff Lessingscher Frömmigkeit“ erscheinen (so Schilson [1974, 253] in Bezug auf Fittbogen). Erst in dieser Verbindung mit dieser „innigsten Ergebenheit in Gott“ könne sich „Humanität voll bewahrheiten“ (ebd.).

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verstandene „Ergebenheit in Gott“ nicht nur von frömmelnder ‚Unterwürfigkeit‘ unterschieden bleiben, sondern doch auch erst ihre tätige Bewährung finden muss: „was sich der gottergebne Mensch für Taten abgewinnen kann“ (Nathan: v. 3034 f.) – und muss. Solche „Ergebenheit in Gott“²⁰² setzt also Maßstäbe voraus, weil sie sonst von bloß passiver Unterwürfigkeit und falschem (fatalistischem) Quietismus nicht zu unterscheiden ist. Dieses Motiv der „Ergebenheit in Gott“ wendet sich bei Kant aber wohl auch gegen die ‚radikale Ungeduld‘ bezüglich des „neuen ewigen Evangeliums“, zumal er diese Vorstellung, wie erwähnt, grundsätzlich ablehnte. Indes, im christlich akzentuierten Motiv der „Ergebung“ sah Kant freilich das gerade Gegenteil zur jüdischen (und auch zur islamischen) Religion, die, so Kants (schon erwähnte) unnachgiebige Einschätzung, lediglich „aus einem mechanischen Kultus das Hauptwerk macht“, für die bloße „Gebote einer geschäftigen Nichtstuerei“ (Anth, AA 07: 148.1) maßgebend bzw. verantwortlich seien (s. o. II., 5.1.1.). Kants Idee einer „authentischen Theodizee“, die bekanntlich in besonderer Weise Hiobs unbeirrbare „Aufrichtigkeit“ rühmte, bleibt freilich für dessen hoffende Klage sensibel: „Ach Erde, bedecke mein Blut nicht! und mein Geschrei finde keine Ruhestätte!“ (Hiob 16,18); dies ist gewissermaßen dem kantischen „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ und dem darin verankerten „Zweifelglauben“ als einem „überwiegenden [!] praktischen Fürwahrhalten“ (KU, AA 05: 473.1) eingeschrieben – in aufrichtiger Achtsamkeit dafür, dass die – von Kant als ‚unüberschreibar‘ geltend gemachte! – „Stimme der Vernunft“ (KpV, AA 05: 35.13 – 14) und deren Gewissheit, „es müsse anders zugehen“ (KU, AA 5: 458.17– 18), als „Schrei einer offenen Frage“ (F. Rosenzweig) auch nicht einfach besänftigt‘, d. h. ‚frömmelnd‘ überlagert und zum Verstummen gebracht wird … Dennoch: Kants – zeitnah zu seinem Theodizee-Aufsatz erfolgte – Kennzeichnung des „Zweifelglaubens“ als „überwiegendes praktisches Fürwahrhalten“ lässt sich wohl auch in Nathans Worten wiederfinden: „Doch nun kam die Vernunft allmählich wieder. Sie sprach mit sanfter Stimm: ‚und doch ist Gott!‘“ (Nathan: v.

 „Willige Einlassung in den Gang der Vorsehung, tatkräftige Ergebung in ihren Willen und letztes Vertrauen auf eine von Vorsehung und Mensch gemeinsam herbeigeführte gute und beste Lösung aller Schwierigkeiten machen den Kern der in Nathan selbst vorgestellten Religion aus“ (Schilson 1974, 199; s. auch ebd. 251 ff.). Schilson sieht in diesem ‚Ergebenheits‘-Motiv das eigentliche thematische Zentrum, den „eigentlichen Höhepunkt“ (Schilson 1997, 37) von Lessings „Nathan“, der durch die Ringparabel nicht überlagert werden dürfe: denn letztere „stellt weder den Ausgangs- noch den Endpunkt des Dramas dar – und auch nicht seine Mitte.“ (ebd. 34). „Ergebenheit in Gott“ deute den „‚cantus firmus‘ seiner Nathan-Predigt“ an (ebd. 39). Gleichwohl bleibt die Ringparabel offenkundig das unbestreitbare ‚Herzstück‘ von Lessings „Nathan“.

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3053 f.)²⁰³ – ein Anspruch, der doch nur unter der Voraussetzung eines ‚theistischen Gottesbegriffs‘ und der ‚Autonomie der Moral‘ – also unter den Vorzeichen eines „moralisch bestimmten Monotheismus“ – sinnvoll ist, sofern er sich offenbar hoffend an den „Ich bin, der ich bin!“ und nicht an einen „deus sive natura“ wendet.²⁰⁴ Gleichwohl mag es die „Aufrichtigkeit“ und „Redlichkeit des Herzens“ Kant zufolge verbieten,²⁰⁵ dass Nathan daran sogleich – allzu rasch? – hinzufügt, d. h. als eine die „wiederkehrende Stimme der Vernunft“²⁰⁶ manifestierende ‚Einsicht‘ dies geltend macht: „Doch war auch Gottes Ratschluss das! Wohlan! Komm! übe, was du längst begriffen hast,/Was sicherlich zu üben schwerer nicht/ ,Als zu begreifen ist, wenn du nur willst. Steh auf!“ (Nathan: v. 3055 ff.).²⁰⁷ Eben-

 Dass die „Stimme der Vernunft“ („und doch ist Gott!“) in Nathan leise wiederkehrt, weckt Erinnerungen an Kants „beharrlich“ festgehaltenes „Ich will, dass ein Gott sei“ (KpV, AA 05: 143.24– 25). Auch Nathans Nähe zum ‚Hiob-Motiv‘ ist mit Lessings ‚Spinoza-Sympathie‘ offenbar kaum vereinbar.  Insofern ist H. Heines Interpretation wohl zu korrigieren: „‚Nathan der Weise‘ ist im Grunde nicht bloß eine gute Komödie, sondern auch eine philosophisch theologische Abhandlung zu Gunsten des reinen Deismus“ (Heine 88) – jedenfalls, wenn man den Kantischen Begriffsbestimmungen (s.o. I., 3.1.) folgt.  „Die äußere Aufrichtigkeit (in Äußerungen gegen andere) ist Wahrhaftigkeit, die innere ist Redlichkeit, beide zusammen, so fern sie geprüft … sicher sind, Rechtschaffenheit […]. Ehrlich kann jemand sein, aber darum ist er nicht auch redlich, d. i. Ehrlichkeit aus Grundsätzen (gegen andere); Rechtschaffenheit ist noch mehr, nämlich Aufrichtigkeit in Ansehung seiner selbst bei der schärfsten Selbstprüfung. Hiob“ (Refl. 6309, AA 18, 603 f.).  Insofern ergeben sich an Rohrmosers Interpretation doch kritische Rückfragen. Er sieht in diesem berühmten Vers: „Doch nun kam die Vernunft allmählich wieder. Sie sprach mit sanfter Stimme: ‚und doch ist Gott!‘“ die Haltung Lessings zum Ausdruck gebracht: „Wenn die Offenbarungsreligion für Nathan auch nur die geringste Bedeutung hätte, dann wäre es in dieser Situation deutlich geworden. Das Organ, mit dem Nathan das Vernehmen Gottes vollzieht, ist die Vernunft und keine Anrufung einer geschichtlichen Stifter-, Erlöser- oder Heilandgestalt. Was vernommen wird ist nichts anderes als die Annahme des Geschicks als Fügung Gottes. Dies geschieht mit der merkwürdigen Feststellung: ‚… ich will, willst du nur, dass ich will!‘ Die Hinwendung zu Gott behält also den Charakter persönlicher Anrede, Gott wird aber nicht zugunsten einer irgendwem oder irgend etwas angerufen, vielmehr übereignet sich Nathan selbst an Gott mit der demütigen Bitte, das Opfer seiner selbst anzunehmen. Die hier von Nathan vollzogene totale Selbstaufhebung als unbedingtes Sichanheimstellen unter den Willen Gottes, der in allem auch noch so begreiflichen und grauenvollen Geschehen in Natur und Geschichte als waltende Macht anerkannt und hingenommen wird, dürfte die wirkliche Aussage Lessings zum Problem der Religionen sein.“ (Rohrmoser 1970, 50)  „… die Gottheit aufgenommen hat in seinen Willen“ (Nathan). „Ich stand! und rief zu Gott: Ich will, willst du nur, dass ich will“ (Nathan: v.3058 ff.). Auch dieses Motiv setzt offenbar die absolute Differenze zwischen Gott und Mensch (Schöpfer und Geschöpf) voraus. Indes, für Nathan haben dergestalt „die orthodoxen Begriffe von der Gottheit“ offenbar durchaus noch etwas zu bedeuten – und auch für Lessing, zumal sich in diesen Theodizee-Bezügen ja auch sein eigenes

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dies waren für Kant – als vermeintlicher Anspruch, „die Sache Gottes [zu] verfechten“ –, wohl doch einige Verse zu viel,²⁰⁸ worin „gefühltes Bedürfnis“ sich doch „zur Einsicht in die Vorsehung“ verkehrt²⁰⁹ und dergestalt – erneut ‚vermessen‘?²¹⁰ – letztendlich wiederum ‚vernünftelnde‘ Ansprüche einer „doktrinalen Theodizee“ das letzte Wort behalten sollen;²¹¹ dagegen bringt der „Zweifelglaube“

Lebensschicksal – der Verlust von Kind und Frau – widerspiegelt. (Dies zeigt sich aber auch in den wiederholten Bezugnahmen auf das Vorsehungs-Motiv). – Dass Kants Konzeption der „authentischen Theodizee“ von ihm (wider alles ‚Vernünfteln‘) als „Glaubenssache“ bestimmt wird, findet eine Entsprechung bei Lessing. Ist diese „authentische Theodizee“ als „Glaubenssache“ im Nathan geradezu verkörpert? Lessings früh geäußerte Zweifel, „welche wider alles Göttliche aus dem inneren und äußeren Elende des Menschen gemacht werden können“ (so in der „Vorerinnerung“ zu: Die Religion. Erster Gesang: I, 255), erinnert natürlich auch an Kants Auseinandersetzung mit Leibniz.  Insofern hätte Kant der Lessing zugesprochenen Auffassung bzw. dem Anspruch widersprochen: „‚Unweisliches Reden‘ in der mit Gott rechtenden Klage – abgelöst und überwunden durch die Einsicht in einen ‚höheren‘, das rechtend-rechnende Denken übersteigenden Zusammenhang der der Schöpfung innewohnenden Gottesweisheit; darin liegt der Wandel des Verstehens, für das Lessing in seinem Nathan-Text auf durchaus angemessene Weise das Wort ‚Vernunft‘ verwendet hat“ (Strohschneider-Kohrs 1991, 77). Hier kommt Kants verständnisvoller Verweis auf „Hiobs gerade Freimütigkeit“ wohl doch ein wenig zu kurz, dass nämlich „Hiob spricht, wie er denkt, und wie ihm zumute ist, auch wohl jedem Menschen in seiner Lage zu Mute sein würde“ und „fast an Vermessenheit grenzt“ (MpVT, AA 08: 265.27– 266.2). Zu erinnern ist auch bezüglich jenes ‚Ergebenheits‘-Motivs an Kants frühe Identifikation mit dem, „der kein Mittel kennt, was in dem letzten Augenblicke des Lebens Stich hält, als die reinste Aufrichtigkeit in Ansehung der verborgensten Gesinnungen des Herzens und der es mit Hiob vor ein Verbrechen hält, Gott zu schmeicheln und innere Bekenntnisse zu tun, welche vielleicht die Furcht erzwungen hat und womit das Gemüt nicht in freiem Glauben zusammenstimmt“(so Kant in dem schon zitierten Brief an Lavater: AA 10, 176).  Zurückhaltender ist offensichtlich der § 91 der Erziehungsschrift (XIII, 434): „Geh deinen unmerklichen Schritt, ewige Vorsehung! Nur lass mich dieser Unmerklichkeit wegen an dir nicht verzweifeln. – Lass mich an dir nicht verzweifeln, wenn selbst deine Schritte mir scheinen sollten, zurück zu gehen! – Es ist nicht wahr, dass die kürzeste Linie immer die gerade ist“.  Kants Kennzeichnung und Kritik einer „Vermessenheit“ erweist sich gerade auch in diesem Theodizee-Kontext als sehr erhellend, zumal sie in der Sache ja auch seiner Unterscheidung zwischen „doktrinaler“ und „authentischer Theodizee“ zugrunde liegt: „Das deutsche Wort vermessen ist ein gutes, bedeutungsvolles Wort. Ein Urteil, bei welchem man das Längenmaß seiner Kräfte (des Verstandes) zu überschlagen vergisst, kann bisweilen sehr demütig klingen und macht doch große Ansprüche und ist doch sehr vermessen.Von der Art sind die meisten, wodurch man die göttliche Weisheit zu erheben vorgibt, indem man ihr in den Werken der Schöpfung und der Erhaltung Absichten unterlegt, die eigentlich der eigenen Weisheit des Vernünftlers Ehre machen sollen“ (KU, AA 05.383 Anm.).  Mit Bedacht hat Kant die ‚Theodizee‘ als „Glaubenssache“ bestimmt: „Die Theodizee hat es, wie hier gezeigt worden, nicht sowohl mit einer Aufgabe zum Vorteil der Wissenschaft, als vielmehr mit einer Glaubenssache zu tun. Aus der authentischen sahen wir: dass es in solchen

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das „Überwiegende“ seines Fürwahrhaltens doch ungleich ‚zögerlicher‘ zur Geltung, weil darin die praktische Vernunft als „teilnehmende“ und „fragende Vernunft“ (KU, AA 05: 477.9) wiederkehrt – darin aber auch ihre Stimme „sanfter“ als in jenem „Und doch ist Gott!“ erhebt?²¹² Jenes „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ steht bei Kant der „Anklage, welche die Vernunft aus dem Zweckwidrigen in der Welt“ gegen die „göttliche Weisheit“ erhebt (MpVT, AA 08: 255.2– 3), durchaus nahe. Gegenüber der in Gestalt von Lessings „Nathan“ wiederkehrenden Gewissheit: „Doch war auch Gottes Ratschluss das!“²¹³ muss nach Kant wohl erneut die „Vernunft ins Stocken“ geraten;²¹⁴ sie bleibt durch die von ihm vernommene „Stimme: es müsse anders zugehen“ (KU, AA 05: 458.17– 18) und seinen „Zweifelglauben“ gewissermaßen ‚unterbrochen‘, so wie Nathans apodiktisches „Und doch ist Gott!“ durch Kants – „aus einem Bedürfnis der reinen Vernunft“ gespeiste – ‚assertorische‘ Bemerkung: „ich will, dass ein Gott sei … ich beharre darauf und lasse mir diesen Glauben nicht nehmen“ (KpV, AA 05: 143.24– 28), notwendig ‚postulatorisch gebrochen‘ ist und sich auch „zur Geduld verwiesen“ sieht, obgleich jenes „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ dadurch noch „nicht befriedigt wird“.²¹⁵ Das darauf bezogene „nicht nachlassen dürfende“ Vernunftinteresse hat

Dingen nicht so viel aufs Vernünfteln ankomme, als auf Aufrichtigkeit in Bemerkung des Unvermögens unserer Vernunft, und auf die Redlichkeit, seine Gedanken nicht in der Aussage zu verfälschen, geschehe dies auch in noch so frommer Absicht, als es immer wolle“ (MpVT, AA 08: 267.16 – 22).  Diese Frage stellt sich wohl auch im Blick auf Vollhardts Interpretation des Lessing’schen Motivs der „Ergebenheit in Gott“, in dem er sogar den „Schlüsselsatz der Ringparabel“ (Vollhardt 2015, 414) und die von Lessing mit seinem „Nathan“ geteilte „Einsicht in die Vorsehung“ erkennen will (und danach noch einen abschließenden Blick auf Kants Theodizee-Aufsatz wirft). – Das Theodizee-Motiv stellt F. Rosenzweig ins Zentrum seiner kritischen Nathan-Interpretation (F. Rosenzweig, Lessings Nathan: GS III, 449 ff.), die die Hiobs-Gestalt engstens mit dem Geschick Nathans verknüpft. Rosenzweigs Lessing-Kritik ist hier nicht näher zu verfolgen.  Dass Lessing „‘mit der Idee eines persönlichen, schlechterdings unendlichen Wesens, in dem unveränderlichen Genusse seiner allerhöchsten Vollkommenheit‘ nichts anfangen“ konnte (zit. n. Schilson 1974, 217), hätte Kant wohl auch mit Blick auf Nathans Theodizee-Bezug („Gottes Ratschluss“ in Nathan: v. 3054) irritiert (s.o. 262 ff.), ist aber wohl auch mit Lessings (gelegentlicher) Rühmung des christlichen Gottesbegriffs unvereinbar.  AA 28., 1120.  Statt einer „Rechtfertigung der Vorsehung“ sah Kant angesichts der penetranten „Dissonanz der unverschuldeten Übel des Lebens“ (MpVT, AA 08: 261.29 – 30) lediglich einen „Machtspruch der moralisch-gläubigen Vernunft“ als möglich an, „wodurch der Zweifelnde zur Geduld verwiesen, aber nicht befriedigt wird.“ (MpVT, AA 08: 262.7– 8) Dies hätte er wohl auch gegen die Interpretation Rohrmosers zu bedenken gegeben: „Die hier von Nathan vollzogene totale Selbstaufhebung als unbedingtes Sichanheimstellen unter den Willen Gottes, der in allem auch noch so unbegreiflichen und grauenvollen Geschehen in Natur und Geschichte als waltende Macht dankbar anerkannt und hingenommen wird, dürfte die wirkliche Aussage Lessings zum

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sich im Theodizee-Kontext bei Kant also zu jener (in „empörten Gemütern“ laut werdenden) „Stimme: es müsse anders zugehen“ gleichsam radikalisiert;²¹⁶ dieses unbeirrbare Vernunftinteresse setzt so allein auf die „moralisch“ begründete „Zweckmäßigkeit“, von der Kant – in diesem Theodizee-Kontext offenbar doch ein wenig zögernd – nun lediglich sagt, diese sei „einzig von der Art, die man in der Welt einigermaßen [!] wahrzunehmen hoffen kann“ (MpVT, AA 08: 260 Anm) Daraus wird das sehr behutsam geltend gemachte „Überwiegende“ jenes „Zweifelglaubens“ jedenfalls noch deutlich vernehmbar …

4 Eine abschließende – an Kant orientierte – skeptische Frage: Eine „strategische Aufwertung“ von Judentum und Islam in Lessings „Nathan“? Es wurde schon erwähnt: Jener gewiss unstrittige Sachverhalt, dass allen – religiösen wie auch a-religiösen – Menschen potentiell eine moralisch untadelige Lebensführung zuzuerkennen ist und dass es „nicht erst von gestern her unter allerlei Volk Leute gegeben, die sich über alle geoffenbarte Religion hinweggesetzt hätten, und doch gute Leute gewesen wären“²¹⁷ (s.o. III., Anm.173), wie auch das ebenso selbstverständliche Bekenntnis, dass die „Seligkeit“ nicht allein an eine konfessionelle Zugehörigkeit welcher Art auch immer gebunden sein kann, reicht nach Kant noch nicht an die notwendige Entscheidung über angemessene Kriterien heran, die der Leitidee eines „moralisch bestimmten Monotheismus“ entsprechen und für eine prinzipien-orientierte Abgrenzung vom „Heidentum“ taugen. Für die angemessenen Maßstäbe in der Beurteilung der Religion und auch für

Problem der Religionen sein“ (Rohrmoser 1958, 123). Für Lessing sei „die Vorsehung mehr als eine Chiffre für die Totalität der Vernunft, sie ist vielmehr eine göttliche Garantie dafür, dass die Vernunft sein wird, was sie sein kann: eine die Positivität bestimmende und verwandelnd in sich aufhebende Wirklichkeit“ (ebd. 126).  Denn: „Wenn der rechtschaffene Mann unglücklich und der lasterhafte glücklich ist, so ist der Mensch nicht unvollkommen, sondern die Ordnung der Natur“. (Refl. 6590, AA XIX: 98) Dagegen wendet sich Kants ‚postulatorischer‘ Protest, der sich in der Empörung artikuliert: „Es ist: als ob sie in sich eine Stimme wahrnähmen, es müsse anders zugehen“ (KU, AA 05: 458.17– 18).  So Lessing im Entwurf einer Vorrede zu Lessings „Nathan“: XVI, 444. Dass dies auch gegenüber dem „christlichen Pöbel“ eingeschärft werden müsse, war natürlich auch Kant ganz selbstverständlich. Indes ist aus der Verteidigung dieser „guten Leute“ keine „strategische Aufwertung“ dieser „Glaubensarten“ abzuleiten.

4 Eine abschließende – an Kant orientierte – skeptische Frage

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einen qualifizierten ‚interreligiösen Dialog‘ braucht es nach Kant eben noch andere Gesichtspunkte. Die Würdigung der beispielhaften Humanität Nathans (und auch des Sultans!), die Lessing in seinem „Nathan“ den Christen in mancher Hinsicht als Spiegel vorhält,²¹⁸ ist das Eine;²¹⁹ und auch wenn Lessing – gegen alle auf bloße Buchstabentreue fixierte quasi-‚patriarchalische‘ („so ekel, so widerstehend, so aufstoßend“²²⁰ empfundene) „Orthodoxie“²²¹ in seinem „Nathan“ – den gewissermaßen den „frommen Samariter“ verkörpernden Klosterbruder (namens „bona fides“!)²²² zu Nathan sagen lässt: „Bei Gott, Ihr seid ein Christ – ein bessrer Christ war nie“ (Nathan: v 3066 f.) – „Gleiches wird durch Gleiches erkannt“? – so bleibt davon der „christliche Lehrbegriff“ noch unterschieden – betrifft dies doch nicht die wesentlichen Lehrgehalte und spezifischen Sinnpotentiale der christlichen Tradition selbst. In solcher Hinsicht hätte zwar auch Kant, im Sinne der Pflicht der Wohltätigkeit („sonder Ansehn“), Nathans Haltung – des „allgemeinen Menschentums“ – als vorbildhaft angesehen, die der Derwisch Al-Hafi an ihm so sehr rühmt (Nathan: v. 1069 ff.): „Jud‘ und Christ und Muselmann und Parsi, alles ist

 Lessing hält in der Tat mit dem „Nathan“ der christlichen Tradition den Spiegel vor: Den Patriarchen in Lessings „Nathan“ hätte wohl auch Kant geradezu als eine Personifikation des „seelenlosen Orthodoxism“ (SF, AA 07: 59.19 – 20) angesehen – als einer „angemaßte(n) alleinige(n) Rechtgläubigkeit der Lehrer oder Häupter einer Kirche“ im Sinne „despotischer Orthodoxie“ (RGV, AA 06: 109.4– 6), für den verständlicherweise der einfache Klosterbruder „großen Ekel“ empfindet und der so gewiss auch nach kantischen Maßstäben das „Heidentum“ verkörpert. Auch der Vergleich des Patriarchen mit dem Klosterbruder bestätigt die Einschätzung des LessingBruders Karl: „der Wert aller Personen in diesem Stücke kommt nicht daher, welcher Religion sie anhangen, sondern wie sie ihr anhangen“ (K. G. Lessing 1795, 391 f.). Dies markiert den Kontrast zwischen Nathan und Saladin auf der einen Seite und dem Patriarchen andererseits.  So hätte Kant wohl daran Anstoß genommen, dass Nathan als Repräsentant der „allgemeinen Menschenreligion“, und nicht als positiv-gläubiger Jude vorgestellt wird, obwohl er ausdrücklich für sich beansprucht: „Ich bin ein Jud“. (Nathan: v 1842)  XII, 443.  Von dieser Orthodoxie ist eben jene von Lessing hochgeschätzte „Orthodoxie“ als „Religionssystem“ zu unterscheiden: „Ich weiß kein Ding in der Welt, an welchem sich der menschliche Scharfsinn mehr gezeigt und geübt hätte, als an ihm“ (so in seinem Brief an Bruder Karl v. 2. 2. 1774, zit.n. Fick 412).  Indes, auch die allzu „schöne Seele“ dieses der ‚Welt entsagenden‘ – eher wohl: weltflüchtigen? – Klosterbruders (und dessen zärtliche Besorgtheit um sich selbst, nämlich sich in der Welt nur ja nicht die ‚Hände schmutzig zu machen‘) bleibt Lessing nicht verborgen, wenn er ihn sagen lässt: „Denn seht, ich denke so: wenn an das Gute/Das ich zu tun vermeine/gar zu nah, was gar zu Schlimmes grenzt: so tu ich lieber/ das Gute nicht; weil wir das Schlimme zwar so ziemlich zuverlässig kennen, aber / Bei weiten nicht das Gute“ (Nathan: v. 2997 ff.).

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III Lessings „Nathan der Weise“ in der Sicht Kants

ihm eins“.²²³ Dass diese Menschen ungeachtet ihrer religiösen Zugehörigkeit „ihm eins“ sind und ihnen wie auch allen „guten Leuten“ – „allen Menschen guten Willens“ – selbstverständlich – jenseits offener oder latenter Diskriminierung – die mögliche praktische Bewährung in der Humanität zuerkannt wird, kann indes gerade nicht über die in den Religionen maßgebende Prinzipien-Differenz hinwegsehen lassen; die gelebte Humanität Nathans (und auch des Sultans!²²⁴) darf Kant zufolge jedoch, so wenig wie die gleichermaßen eindringliche Demonstration (als ‚Negativ-Bild‘) der Inhumanität des „Patriarchen“, nicht diese begründungstheoretischen Defizite (bzw. Nivellierungen) in Lessings Religionsauffassung verdecken (s. auch o. III., 2.2.). Die Begründung des Christentums als „natürliche Religion“, die „das Wesentliche aller Verehrung Gottes in der Moralität des Menschen setzt“ und nicht „etwas anderes, als die Gesinnung eines sittlich wohlgeführten Lebenswandels, also das Nichtwesentliche der Religion, zum Religionsstück macht“ (SF, AA 07: 49.22– 23), muss folglich auch von der gebotenen Unvoreingenommenheit und von der Sympathie für Angehörige anderer Religionen, die sich in der Humanität ja

 Dass „Jud so viel wie Christ gilt“, wollte Lessing zeigen (zit. n. Kuschel 2004, 194). Indes, die „Originalität“ des „Nathan“ liege „in der strategischen Aufwertung von Muslimen und damit eines islamischen Humanismus als religiöser Grundhaltung“ (Kuschel 2011, 125). Kuschel verweist besonders auf die „promuslimische Tendenz des ‚Nathan‘“ (Kuschel 2004, 123) und hält für die Kennzeichnung desselben „die Kategorie ‚Promuslimisches Stück‘ für angemessener“ (ebd. 213 Anm. 126). Die „strategische Aufwertung von Muslimen“ (die Kuschel im Detail eindrucksvoll nachgezeichnet hat) werde eben besonders im Sultan repräsentiert. Indes, jene „promuslimische Aufwertung“ hätte gewiss auch Kants Zustimmung gefunden: In seinen frühen „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ findet sich im Kontext seiner „religionsgeographischen“ Erkundungen ein Passus, den man auch als eine „strategische Aufwertung der Muslime“ lesen könnte: „Gehen wir mit einem flüchtigen Blicke noch die andere Weltteile durch, so treffen wir den Araber als den edelsten Menschen im Oriente an, doch von einem Gefühl, welches sehr in das Abenteuerliche ausartet. Er ist gastfrei, großmütig und wahrhaft; allein seine Erzählung und Geschichte und überhaupt seine Empfindung ist jederzeit mit etwas Wunderbarem durchflochten. Seine erhitzte Einbildungskraft stellet ihm die Sachen in unnatürlichen und verzogenen Bildern dar, und selbst die Ausbreitung seiner Religion war ein großes Abenteuer. Wenn die Araber gleichsam die Spanier des Orients sind, so sind die Perser die Franzosen von Asien. Sie sind gute Dichter, höflich und von ziemlich feinem Geschmacke. Sie sind nicht so strenge Befolger des Islam und erlauben ihrer zur Lustigkeit aufgelegten Gemütsart eine ziemlich milde Auslegung des Koran“ (GSE, AA 02: 252.4– 15). Auch in seiner „physischen Geographie“ charakterisierte Kant die „mohammedanischen“ „Araber“ als „aufrichtig, ernsthaft, liebreich und wohltätig“ (PG, AA 09: 398.30); diese (pauschalisierende) Charakterisierung ist offenbar ungleich ‚freundlicher‘ als diejenige der Juden (vgl. o. II., Anm. 345).  Die Würdigung Saladins im Sinne eines „Idealbildes eines Mohamedaners“ ist diejenige eines „vom Christentum als ‚Ungläubige(r) abgestempelte(n) Religionsrepräsentant(en)“, der „eine überlegene Toleranz und Nächstenliebe verwirklichte“ (Bohnen-Schilson 1993, 1140).

4 Eine abschließende – an Kant orientierte – skeptische Frage

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durchaus bewähren mögen, unterschieden werden, wenn es um den Wahrheitsgehalt der Religionen, d. h. um die „Vernunftlehren des Glaubens“ und dessen ‚Prinzipien‘ geht, der gegenüber der notwendigen kritischen Bewährung auch nur eine ‚relative‘ Bedeutung zukommt. Ebenso gilt solche uneingeschränkte Wertschätzung also für ‚ungläubige‘, jedoch rechtschaffene „gute Leute“, wie – beispielsweise – auch Kants Einschätzung der Person Spinozas verrät. Die allein auf dieser– nicht zu überspringenden – Ebene einzulösende Aufgabe ist auch durch die von Kant unterstützte, gegen vorherrschende Vorurteile und Diskriminierung von Andersgläubigen ankämpfende Forderung einer „Gerechtigkeit im Urteil auch gegenüber Menschen nichtchristlicher Religionen“ und die Herausstellung der „oft ausgeblendeten positiven Züge“ derselben nicht zu ersetzen.²²⁵ Dass Kants eigene Einschätzung der ‚jüdischen Religion‘ diesen Forderungen indes keineswegs genügt, wurde schon erwähnt. Eine ‚kalkulierte‘ oder „strategische Aufwertung des Verachteten“ (Kuschel)²²⁶ sowie die von ihm selbstverständlich geteilte energische Kritik an der Unglaubwürdigkeit und „gnadenlosen Rechthaberei“ eines hohen Repräsentanten der christlichen Religion (des Patriarchen), der die Humanität mit Füßen tritt – und dementsprechend im gesuchten, den Wettstreit der Wahrheit der Religionen²²⁷ ersetzenden ‚Wettstreit um das Gute‘ von Lessing auch geradezu als ausdrückliches Negativ-Bild zu den beiden Hauptpräsentanten des Judentums und des Islam und deren humanes Niveau ‚vorgeführt‘ wird –, reicht Kant zufolge dennoch an die religionstheologisch-philosophische Ebene im strengen Sinne nicht nur nicht heran, sondern blendet diese im Grunde sogar aus. Auch die gewiss notwendige Schärfe in Lessings Protest gegen jene klischeehaften Verzeichnungen und Vorurteile, in denen Anders- und auch Nichtgläubige in einem „abscheulichen Licht“

 Schon in seiner frühen Schrift über die „Rettung des Hier. Cardanus“ ist das – dann wohl auch noch für den späteren „Nathan …“ maßgebende – Motiv erkennbar, dass bei einer „Vergleichung der Religionen“ der „Christ […] nichts verlieren, der Heide, Jude und Türke aber unendlich viel gewinnen kann“ (V, 319) – ein Motiv, das Kant wohl auch noch in Lessings „Nathan“ als bestimmend ansah und seinen Einspruch provozierte. Gleichwohl ist diese Gleichstellung von „Christen, Heiden, Juden und Türken“ nicht selbstverständlich als eine „strategische Aufwertung“ bestimmter Konfessionen zu verstehen, sondern eher in dem Sinne: „Sind Christ und Jude eher Christ und Jude, Als Mensch?“ (Nathan: v. 1310 f.)  In Kuschels sogenannter „strategischen Aufwertung des Islam“ werde „allerdings nicht berücksichtigt, dass Lessing den Islam der ‚natürlichen Religion‘ angleicht und mit keinem Wort das entscheidende Problem, den Anspruch einer übernatürlichen und geschichtlich beglaubigten Offenbarung, berührt“ (Fick 141).  Ihn hat offenbar das „brüderliche Ringen um die Wahrheit“ („fraterna aemulatio“) der Religionen vor Augen, von dem im II. Vatikanischen Konzil die Rede war.

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III Lessings „Nathan der Weise“ in der Sicht Kants

gezeichnet werden,²²⁸ und die darin beabsichtigte, dem ‚Ideal der Humanität‘ verpflichtete „strategische Aufwertung des Verachteten“²²⁹ qualifiziert bzw. disqualifiziert zwar den religiösen Lebenswandel der Menschen; dies begünstigt womöglich sogar die Vernachlässigung der erforderlichen religionstheologischreligionsphilosophischen Differenzierungen. Vielleicht war es nicht zuletzt jene erwähnte Einebnung des Unterschiedes zwischen der unstrittig ‚praktizierten Humanität‘ der Gläubigen und der prinzipientheoretischen Ebene, weshalb Kant auch Lessings „Nathan“ einigermaßen ratlos bzw. zurückhaltend begegnet wäre (bzw. tatsächlich ist!), und seinen Einspruch gegen Lessing provozierte. Aufzuwerten ist ihm zufolge also zwar die humane Praxis der Angehörigen dieser „Glaubensarten“, nicht jedoch die innere Verfassung dieser „historischen Glaubensarten“ als solchen; entsprechend darf auch Lessings berechtigte Würdigung des humanen Niveaus des Sultans (das sich auch in dessen Verhältnis zu Nathan – und zwar gerade auch gegenüber den inhumanen Ausfällen des Tempelherrn gegen Nathan – manifestiert) nicht mit einer „strategischen Aufwertung des Islam“ verwechselt werden bzw. damit einhergehen. Kant hätte also vermutlich darauf

 Im Grunde besagt freilich auch Lessings (schon zitierte) Motiv-Erklärung in jener geplanten Vorrede zum „Nathan“ nicht mehr, als in den hier benannten Aspekten zum Ausdruck kommt: „Wenn man sagen wird, dieses Stück lehre, dass es nicht erst von gestern her unter allerlei Volke Leute gegeben, die sich über alle geoffenbarte Religion hinweggesetzt hätten, und doch gute Leute gewesen wären; wenn man hinzufügen wird, dass ganz sichtbar meine Absicht dahin gegangen sei, dergleichen Leute in einem weniger abscheulichen Lichte vorzustellen, als in welchem der christliche Pöbel sie gemeiniglich erblickt: so werde ich nicht viel dagegen einzuwenden haben. […] Wenn man aber sagen wird, dass ich wider die poetische Schicklichkeit gehandelt, und jenerlei Leute unter Juden und Muselmännern wolle gefunden haben: so werde ich zu bedenken geben, dass Juden und Muselmänner damals die einzigen Gelehrten waren; dass der Nachteil, welchen geoffenbarte Religionen dem menschlichen Geschlechte bringen, zu keiner Zeit einem vernünftigen Manne müsse auffallender gewesen sein, als zu den Zeiten der Kreuzzüge, und dass es an Winken bei den Geschichtsschreibern nicht fehlt, ein solcher vernünftiger Mann habe sich nun eben in einem Sultane gefunden.“ (XVI, 444 f.) Dies – wie auch seine ausdrücklich bekundete Distanz gegenüber allen „positiven Religionen“ – steht offenbar in einer Spannung zu anderen Äußerungen Lessings, nicht zuletzt auch zu seiner späten Erziehungsschrift und zu seiner späten Bezugnahme auf die „Religion Christi“ aus dem Jahr 1780.  Dazu passt recht gut die Bemerkung des Bruders: „Er wollte mehr den Unterdrückten zu Hülfe kommen, als mit den Siegenden den Triumph halten“ (K. Lessing, 1793/1795, II, 84). Dass Lessing „seinen Helden aus dem jetzt verachtetsten, einstmals von Gott selbst erwählten Volke, aus dem jüdischen“ (K.G. Lessing 1795, 391) auswählt, passt ebenfalls zu dieser Interpretation. Schon als Kind hat Lessing betont: „Deshalb wollen wir die Juden nicht verurteilen, obwohl sie Christus verurteilt haben, denn Gott selbst sagt: Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet.Wir wollen nicht die Mohammedaner verurteilen; auch unter Mohammedanern gibt es anständige Menschen. Schließlich ist niemand ein Barbar, außer der inhuman und grausam ist“ (zit. n. Kuschel 2004, 44).

4 Eine abschließende – an Kant orientierte – skeptische Frage

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insistiert, die berechtigte und selbstverständlich gebotene Aufwertung der Muslime in ihrer gesellschaftlichen Stellung von einer „strategischen Aufwertung des Islam“ als eines „Glaubenssystems“ zu unterscheiden.²³⁰ Eine solche Lessing’sche „strategische Aufwertung des Islam“²³¹ ging Kant wohl doch zu weit, zumal auch der Islam den Ansprüchen des „moralischen Monotheismus“ ihm zufolge gerade nicht genügt und vielmehr der wahren Verehrung Gottes widerspricht. Zweifellos hätte Kant deshalb zwar für jene eindringliche Frage Nathans: „Sind Christ und Jude eher Christ und Jude, als ein Mensch?“ (Nathan: v. 1310 f.) uneingeschränktes Verständnis gezeigt und dies sogleich ohne Zögern verneint;²³² gleichwohl hätte er vermutlich darauf insistiert, dass damit jedoch keinesfalls schon die unumgängliche Frage nach den Prinzipien der Religion beantwortet sei bzw. diese sich für die entscheidende Frage des Sultans nach der Wahrheit der Religion etwa erübrige und sich daraus etwa eine „strategische Aufwertung des Islam“ ableiten bzw. rechtfertigen ließe, zumal dies zuletzt eben doch auf eine Verwechslung verschiedener Ebenen hinausliefe. Noch einmal: Der sinn-orientierte Anspruch der Religionen ist unabhängig von der gebotenen moralischen Lebensführung sehr wohl ‚theoretisch‘ zu entscheiden – andernfalls macht man sich einer Verwechslung der verschiedenen Ebenen schuldig – ein Vorwurf, den Kant wohl explizit mit Blick auf Lessings „Nathan“ vor Augen hatte.²³³ Ebendies hätte Kant also auch mit Blick auf den „Nathan“ geltend gemacht; und ebenso hätte er deshalb unbeirrt – und zwar in einer prinzipientheoretischen Hinsicht – seinen Einspruch dagegen erhoben, dass daraus begründetermaßen

 Das von Lessing behauptete „gleich wahr/gleich falsch“ aller „positiven und geoffenbarten Religionen“ (XIV, 313) und „Nathans Gesinnung gegen alle [!] positiven Religionen“ (XVI, 444) müssen ihm zufolge offenbar einer „strategischen Aufwertung“ einer jeden der „historischen Glaubensarten“ widersprechen.  Ob Lessings (vermutlich für das Jahr 1776 zu datierende) Schrift „Meines Arabers Beweise, dass nicht die Juden, sondern die Araber die wahren Nachkommen Abrahams sind“ (in: Lessing, Werke Band 8: Schilson, 617 f.) als eine indirekte Aufwertung der islamischen Religion zu lesen ist, „insofern nicht die Juden, sondern die (arabischen) Moslems als die wahren Nachkommen Abrahams anzusehen sind“ (Lessing, Werke Band 8: Schilson, 1083), bleibe hier dahingestellt.  Und natürlich hätte auch Kant Sittahs (schon erwähnten) Befund über ein weit verbreitetes Erscheinungsbild bedauerlicherweise allzu oft bestätigt gesehen: „Ihr Stolz ist: Christen sein; nicht Menschen“ (Nathan: v. 868); dass dies die Ansprüche der Humanität ebenso missachtet wie damit verbundene – heilsgewisse – Exklusivansprüche bedarf keines weiteren Kommentars.  Dies ist auch zu der an sich berechtigten Feststellung Fischers kritisch anzumerken: „Und auf die Frage Saladins, welcher Glaube der wahre sei, ist Nathans positive Antwort genau dieselbe, welche die kantische Religionslehre gibt. Der wahre Glaube ist moralisch bedingt, nicht historisch; die verschiedenen Glaubensarten, sofern sie ausschließend sind, gründen sich auf Geschichte, geschrieben oder überliefert; es gibt nur ein Kriterium des wahren Glaubens, nur eine echte Glaubensfrucht: das sittliche Handeln.“ (Fischer 1910, 368)

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eine „strategische Aufwertung“ des Judentums bzw. des Islam als „Glaubensarten“ abzuleiten bzw. zu rechtfertigen wäre. Zwar sei damit – in der „moralischen Anstalt“ des Theaters, Lessings „alter Kanzel“²³⁴ – in gewiss sehr eindrucksvoller Weise und in pädagogischer Absicht exemplarisch vor Augen geführt, dass jene „guten Leute“ Lessings (gerade so wie jener von Kant so gern angeführte „Rechtschaffene“) als „Gläubige“ dem Ideal der „natürlichen Religion“ im Sinne eines „moralisch bestimmten Monotheismus“ offenkundig ungleich näher stünden als ein beanspruchter ‚Offenbarungsglaube‘, dem jedoch das unentbehrliche Fundament einer „natürlichen Religion“ fehlt und der deshalb wohl viel eher als „Heidentum“ anzusehen sei, das Kant wohl auch in Lessings Figur des Patriarchen besonders markant verkörpert sah.²³⁵ Mag es auch so sein, dass demgegenüber dieses Nathan-„Drama“ – „in radikaler Kritik am gesellschaftlichen und kirchlichen Antijudaismus – auch eine strategische Aufwertung eines Juden [!] als ‚edlen Helden‘ auf einer deutschen Bühne und damit einer durch einen Juden praktizierte Menschlichkeit [vollzieht]. Genauso aber vollzieht es eine strategische Aufwertung von Muslimen [!] und damit einer von einem Muslim gelebten Menschlichkeit“.²³⁶ Solche – analog der Mendelssohn’schen Würdigung seiner Religion – gewiss ehrenhafte und unterstützenswerte Absicht vermag nach Kant jedoch nichts daran zu ändern, dass die von Lessing gezeichneten Charaktere und die darin intendierte Aufwertung dennoch nicht an jene notwendige prinzipien-orientierte Bewertung heranreicht, die Kant in Lessings religionstheologischen Erkundungen wohl grundsätzlich vermisst hätte – und zwar gerade deshalb, weil sie als solche gelten wollen und man eben, im Sinne von Kants Kritik an Lessings Nathan, „im Ganzen“ doch nicht recht wisse,

 Als Lessing sich im Juli 1778 mit der Zensur konfrontiert sah, reifte bekanntlich sehr rasch der (sodann schon im August gefasste) Entschluss, seinen Nathan auf die Bühne zu bringen. Auf diese Umstände bezieht sich seine „Ankündigung des Nathan“: „so führt mir mehr Zufall als Wahl einen meiner alten theatralischen Versuche in die Hände, von dem ich sehe, dass er schon längst die letzte Feile verdient hätte.“ (XIII, 337) Näherhin bedeutet dies: „Ich muss versuchen, ob man mich auf meiner alten Kanzel, auf dem Theater wenigstens, noch ungestört will predigen lassen“ (Brief an E. Reimarus v. 6.9. 1778: XVIII, 287) – denn, so das Motto des „Nathan“, „auch hier sind Götter!“ (s.u. IV., Anm. 30). Vgl. auch Lessings Hinweis auf seinen einem nächtlichen „närrischen Einfall“ verdankten Plan (s.o. III., Anm.4): „Ich habe es [den „Nathan“] jetzt nur wieder vorgesucht, weil mir auf einmal beifiel, dass ich, nach einigen kleinen Veränderungen des Plans, dem Feinde auf einer andern Seite damit in die Flanke fallen könne“ (Brief an Karl Lessing v. 7.11. 1778: XVIII, 292).  Auf ihn ist vielleicht auch die von Kant bekämpfte „angemaßte alleinige Rechtgläubigkeit der Lehrer oder Häupter einer Kirche in dem Punkte des Kirchenglaubens“ als „despotische (brutale) Orthodoxie“ (RGV, AA 06: 109.6) zu beziehen (s. auch o. II., Anm.150; III., Anm. 218).  Kuschel 2016, 158.

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„was er haben will“. Solche – schon mehrmals erwähnte – Ratlosigkeit Kants hängt nicht zuletzt wohl damit zusammen, dass er Lessings Absicht einer (exemplarischen) Würdigung Nathans und auch des Sultans (in der von ihnen praktizierten Menschlichkeit) gegen (auch) auf christlicher Seite vorherrschende Verachtungstendenzen gegenüber Juden und Muslimen gewiss uneingeschränkt akzeptiert und auch gutgeheißen hätte. Ein nicht unwichtiger Gesichtspunkt sei abschließend noch erwähnt: Mit Kants unnachgiebigem – begründungstheoretischem – Insistieren auf der nicht relativierbaren ‚Prinzipienfrage‘ ist seine dem ‚Geist der Freiheit‘ verpflichtete Ablehnung einer „hochmütigen Toleranz“ engstens verbunden: „Ein Fürst, der es seiner nicht unwürdig findet, zu sagen: dass er es für Pflicht halte, in Religionsdingen den Menschen nichts vorzuschreiben, sondern ihnen darin volle Freiheit zu lassen, der also selbst den hochmütigen Namen der Toleranz von sich ablehnt, ist selbst aufgeklärt und verdient von der dankbaren Welt und Nachwelt als derjenige gepriesen zu werden, der zuerst das menschliche Geschlecht der Unmündigkeit, wenigstens von Seiten der Regierung entschlug und jedem frei ließ, sich in allem, was Gewissensangelegenheit ist, seiner eigenen Vernunft zu bedienen“ (WA, AA 08: 40.28 – 35). Dies vermochte Kant ‚tendenziell‘ womöglich auch als die Haltung Nathans und des Sultans zu würdigen. Dennoch hätte Kant – eben in einer prinzipientheoretischen Hinsicht – unbeirrt Einspruch dagegen erhoben, dass daraus legitimerweise auch eine „strategische Aufwertung“ des Judentums und des Islam abzuleiten bzw. zu rechtfertigen wäre. Für eine solche Aufwertung hätte Kant in religionstheologischer Hinsicht wohl keinen hinreichenden Grund gesehen – so beeindruckend ein in bewährter Humanität sichtbares Lebenszeugnis der Gläubigen (welcher Konfession auch immer) selbst auch sein mag. Die Vertreter des Judentums und des Islam (im Unterschied zum christlichen Patriarchen) im Sinne einer „strategischen Aufwertung“ derselben als Vorreiter einer ‚aufgeklärten Denkungsart‘ hinzustellen – um sodann die Gleichgültigkeit der Religionen zu behaupten und dabei auf notwendige Differenzierungen zu verzichten – und zuletzt doch wiederum, im Sinne der Erziehungsperspektive, eine (den Islam übrigens ausschließende?) Stufung geltend zu machen: War es nicht zuletzt auch dieses ‚Gemisch‘ recht unterschiedlicher Stellungnahmen, die Kants Eindruck festigten, Lessing selbst wisse nicht so recht, „was er haben will“? Denn (wie schon erwähnt) in der Tat steht die im „Nathan“ vertretene Gleichwertigkeit der Religionen in einem unübersehbaren Widerspruch zu der in der Erziehungsschrift bestimmenden Auffassung, der zufolge das Judentum bzw. das „erste Elementarbuch“ entwicklungsgeschichtlich durch das Christentum überholt bzw. aufgehoben ist; wie weit diese unübersehbare Span-

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nung – auch – ein Grund für die anonyme‘ Veröffentlichung dieser Erziehungsschrift war, ist hier nicht näher zu verfolgen.²³⁷

 Nisbet weist auf diese Widersprüchlichkeit bzw. Differenz zum „Nathan“ hin (Nisbet 2008, 762 f.). Zu den Widersprüchen zwischen Lessings Erziehungsschrift und seinem „Nathan“ und der darin zutage tretenden „Inkonsequenz“ vgl. Nisbet 2008, 762 f. Cunico erkennt zwar im „Nathan“ gegenüber der Erziehungsschrift bei Lessing eine ganz andere „Religionsauffassung“, die sich gleichwohl „ergänzen“ und „gegenseitig beleuchten“ und erst „zusammen genommen ein adäquates Bild der Religionsphilosophie Lessings“ darbieten sollen (Cunico 2015a, 55); jedoch sind die schwerwiegenden (wohl nicht zu ‚glättenden‘) Spannungen zwischen beiden Texten nicht zu übersehen. Kant, der sowohl Lessings „Nathan“ als auch dessen Erziehungsschrift kannte, wird sich möglicherweise auch dadurch in seiner Einschätzung bestätigt gesehen haben, Lessing wisse nicht so recht, „was er haben will“.

IV Ein kritischer Blick auf Jan Assmanns Lessingund Kant-Rezeption 1 Zu Assmanns (problematischer) Würdigung der „performativen Wendung der Wahrheitsfrage“ in Lessings Religionskonzeption und zu seiner „Nathan“-Interpretation Im thematischen Umfeld seiner Studien zur „religio duplex“¹ und in den daraus gewonnenen und weiterentwickelten Perspektiven hat Jan Assmann wiederholt auf Lessing Bezug genommen und auf dessen besondere Bedeutung für seine einschlägigen Forschungsperspektiven hingewiesen. Dabei kommt auch den Kernmotiven des „Nathan“ ein besonderer Stellenwert zu. Zu einigen Hauptpunkten von Assmanns Würdigung der Leitideen in Lessings „Nathan“² bzw. der „Ringparabel“³ und zu seinen daran geknüpften Bezügen auf Kant seien im Folgenden einige kritische Anmerkungen und Rückfragen riskiert. Assmann charakterisiert das Kernanliegen der in Lessings Ringparabel zutage tretenden „performativen Wendung der Wahrheitsfrage“ folgendermaßen: „In der Ringparabel wird die Wahrheitsfrage eingeklammert. Dass es die Wahrheit gibt, wird nicht bestritten. Es gibt den echten Ring[⁴]: Aber er ist nicht auszumachen, die Wahrheit ist verborgen, sie ist immer nur anzustreben, aber niemals zu besitzen. Man muss sie, wie Goethe sagt, ‚aus ihren Manifestationen erraten‘. Diese Manifestationen bestehen für Lessing im Handeln. Nicht die beste Theo-

 S. J. Assmann 2010.  Assmann erkennt in Lessings „Nathan“ eine direkte Fortsetzung seiner mit Goeze geführten „Kontroverse … auf einer anderen Ebene“ (Assmann 2010, 171) bzw. „die Fortführung der theologischen Kontroverse mit anderen Mitteln“ (ebd. 410, Anm. 27); der „Nathan“ sei also in gewisser Weise als ein Produkt der Auseinandersetzung mit Goeze zu verstehen. Dabei kann Assmann sich durchaus auf Lessing selbst berufen, der damit ja auch für die Theologen eine besondere Provokation liefern wollte.  Zu Assmanns Interpretation der Ringparabel. s. auch ders., 2010, 165 – 172.  Dies steht freilich im Widerspruch zur Vermutung des Richters: „Der echte Ring vermutlich ging verloren“ (Nathan: v. 2024 f.). Der erwogene Verlust des „echten Ringes“ nährt ja auch jenen richterlichen ‚Fiktionsverdacht‘ (s.o. 223 f.; III., Anm.101), wogegen auch Kants These steht: „Gott ist doch kein Wahn“ (Refl. 6220, AA XVIII, 510). Die Differenz bzw. Spannung zwischen der Behauptung, dass es „den echten Ring gibt“ zu der richterlichen These, dass der „echte Ring vermutlich ging verloren“, bleibt von Assmann meines Wissens undiskutiert. – Dass der „echte Ring vermutlich ging verloren“ ist nach Lessing wohl kaum im Sinne des erlittenen ‚Todes Gottes‘ zu verstehen, der durch einen ‚atheistischen Humanismus‘ zu kompensieren sei, wie manche Interpretationen (auch mit Blick auf das ‚dritte Zeitalter‘ der Erziehungsschrift) es nahelegen. https://doi.org/10.1515/9783110716191-006

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IV Ein kritischer Blick auf Jan Assmanns Lessing- und Kant-Rezeption

logie, sondern die beste Handlungsweise manifestiert die Wahrheit, jenes Handeln nämlich, das dazu angetan ist, den Handelnden ‚bei Gott und den Menschen beliebt zu machen‘. Es kommt also nicht auf die Gotteserkenntnis,[⁵] sondern auf die Lebensführung an, ganz im Sinne von Mendelssohns Verständnis der mosaischen Gesetze … , aber auch des freimaurerischen Ideals der Wohltätigkeit. Das Geheimnis hat sich aus der Sphäre esoterischer Lehre in die Verborgenheit der nie zu ergründenden Echtheit beziehungsweise Wahrheit zurückgezogen.“⁶ Dieser Hauptpunkt der „Ringparabel“ besage demnach: Gegenüber der „eingeklammerten Wahrheitsfrage“ trete also die „performative Wendung Lessings“ in den Mittelpunkt – Assmann spricht sogar von einer „Suspension der Wahrheitsfrage“,⁷ wie er, wiederum in einer gewissen Spannung zu anderen Äußerungen, betont (wonach wiederum die Vorstellung der „Wahrheit der Religion“ doch nicht einfach aufgehoben sein soll).⁸ Mit Verweis auf „wichtige Unterscheidungen der modernen Sprechakttheorie“⁹ macht er bezüglich dieser „performativen Wendung der Wahrheitsfrage“ in Lessings „Ringparabel“ geltend, dass ihr „zufolge performative Sätze in die Ordnung der herzustellenden Wirklichkeit [gehören]. Auf die Ringparabel angewandt, kann man sagen, dass sie die Wahrheit der Religion der Ordnung des Gegebenen entzieht und in die Ordnung  S. allerdings o. II., Anm.49.  Assmann 1010, 167 f; ähnlich 2016, 20. „Die Idee der allgemeinen, aber verborgenen Wahrheit hinter den Religionen dürfte wohl in keinem Text des 18. Jahrhunderts einen prägnanteren und repräsentativeren Ausdruck gefunden haben.“ (ebd. 166)  Assmann 2016, 20. Assmann folgt diesbezüglich offenbar Sloterdijk, der mit Blick auf Lessings „Nathan“ von der „praktischen Suspension der Wahrheitsfrage“ spricht (P. Sloterdijk, Gottes Eifer. Vom Kampf der drei Monotheismen. Frankfurt/Main 2007, 170 f.). Mögliche Verschiebungen (und darin vermutlich zutage tretende Unausgewogenheiten) in Assmanns Argumentation sind hier nicht näher zu verfolgen.  Eine wichtige Differenzierung macht hingegen die Interpretation Timms geltend, der Lessings Intention folgendermaßen wiedergibt: „Es darf die dem Wissen zu konzedierende Gleichheit der Wahrheitsansprüche nicht mit Gleichgültigkeit der Wahrheit selbst gegenüber verwechselt werden. Sie ist und bleibt eine, weil Gott als jeweils einziger erfahren wird, wohingegen die Vielzahl der historischen Götterbilder weder Liebe noch Eifer inspirieren, allenfalls die bibliothekarische Sammlerkunst. Und die hat es noch nie zu einer bühnenreifen Dramatik gebracht“ (Timm 1983, 123).  Mit Bezug darauf nimmt seine Charakterisierung der „performativen Wende“ von der Unterscheidung ihren Ausgang: „Konstative Sätze stellen einen Sachverhalt fest und sind entweder wahr oder falsch. Performative Sätze stellen im Akt ihrer Äußerung einen Sachverhalt her und sind darin erfolgreich oder erfolglos, aber nicht wahr oder falsch“ (Assmann 2016, 29). Hier ist nicht weiter zu verfolgen, dass diese Unterscheidung bzw. Gegenüberstellung ‚konstativ‘/‚performativ‘ auch in der Sprechakttheorie so jedoch kaum vertreten wurde, zumal ‚Performativa‘ ‚konstative‘ Elemente aufweisen wie auch diese ‚konstativen‘ Äußerungen ‚performative‘ Züge enthalten.

1 Zu Assmanns Würdigung der „performativen Wendung der Wahrheitsfrage“

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der herzustellenden [!] Wirklichkeit verweist.“¹⁰ Näherhin bedeute dies: „Die Wahrheit, auf die Lessing mit der Ringparabel abhebt, ist nicht fiktiv, sondern performativ. Das ‚als ob‘ zielt nicht auf Erfindung, sondern auf Wirklichkeit, aber nicht auf gegebene Wirklichkeit, sondern auf Verwirklichung, auf im Handeln herzustellende [!] Wirklichkeit.“¹¹ Nach Assmann besagt solche „performative Wendung der Wahrheitsfrage“ – und dies sei die eigentliche „Botschaft der Ringparabel“ – jedenfalls die zweifache Zumutung bzw. Bereitschaft, „die eigene Religion [zu] praktizieren und sie zugleich … zurückzunehmen“ – „genau dies“ möchte Assmann in seinem intendierten Aufweis dieser „performativen Wendung der Wahrheitsfrage bei Lessing“ jedoch als „Lessings Forderung“ erkennen, die freilich mit dem richterlichen Rat: „So glaube jeder sicher seinen Ring den echten“ nur schwer vereinbar ist. Vernünftigerweise kann dies wohl nur bedeuten, den Wahrheitsanspruch der eigenen Religion zu vertreten und zugleich für erforderliche Revisionen, Korrekturen offen zu bleiben. Die Verknüpfung ebendieser Motive liege nun auch der in Lessings „Nathan“ in den Vordergrund gerückten Leitidee eines ‚Wettstrebens der Religionen‘ zugrunde (s. dazu o. III., 3.). Auch wenn in der Tat vieles dafür spricht, dass diese in Lessings „Nathan“ ausgesprochene richterliche Empfehlung eines ‚Wettstrebens der Religionen‘ an jenes genannte Motiv aus dem frühen Fragment „Über die Entstehung der geoffenbarten Religion“ („einen Gott erkennen und sich die würdigsten Begriffe von ihm zu machen suchen“) anknüpft und dieses überdies besonders akzentuiert, so darf dabei jedoch der Unterschied dieser frühen Auffassung zur späteren Position der „Erziehung des Menschengeschlechts“ nicht aus dem Blickfeld geraten (s.o. II., 4.4.), auf die Assmann sich allerdings ebenfalls beruft. Hinzu kommen auch Spannungen und modifizierte Auffassungen, die in Lessings Argumentation nicht zu übersehen sind. Im Folgenden soll Assmanns Interpretation der „Ringparabel“ und deren „Moral von der Geschichte“¹² vorgestellt und auch gezeigt werden, weshalb sein daran geknüpftes Resümee doch in mehrfacher Hinsicht kritische Rückfragen aufwirft.

 Assmann 2016, 29.  Assmann 2016, 32.  Assmann 2016, 15; 33.

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IV Ein kritischer Blick auf Jan Assmanns Lessing- und Kant-Rezeption

1.1 Die von Assmann aus Lessings „Ringparabel“ abgeleitete „Moral von der Geschichte“ – kritische Rückfragen Zu fragen bleibt schon im Blick auf die „performative Wendung der Wahrheitsfrage“, ob denn diese Auffassung nicht doch wenigstens Gefahr läuft, „religiöse Auffassungen“ auf „performative Äußerungen“ schlichtweg zu reduzieren, d. h. den ‚propositionalen Gehalt‘ – von dem bei Assmann bezeichnenderweise auch gar nicht die Rede ist – stillschweigend überhaupt aufzulösen bzw. preiszugeben. Deshalb lässt sich ohne Problemverlust – d. h. ohne Verflüchtigung bzw. performative Entsorgung dieses ‚propositionalen Gehaltes‘ – daraus keineswegs die daran geknüpfte Folgerung ziehen: „Gott ist nicht, sondern ereignet sich, wo immer an ihn geglaubt und nach seinen Geboten gelebt wird“¹³. Es ist nicht zu übersehen, dass diese These Assmanns wohl auch für religionskritische Einwände eine recht gute Gelegenheit bietet, zumal sein Interpretationsvorschlag gewissermaßen einer restlosen Auflösung der Gottesthematik in den ‚Glaubensvollzug‘ (und damit dem Eingeständnis des Verlustes des „echten Ringes“!, s. o. III. ,202; 205) offenbar recht nahekommt. Damit verträgt sich freilich auch jene im Theodizee-Kontext „mit sanfter Stimm“ im Munde Nathans wiederkehrende These der Vernunft: „und doch ist Gott!“ (Nathan: v. 3053 f.) nicht. Auch dürfte Assmanns Bezugnahme auf diese „performative Wende“ anderen elementaren Auffassungen Lessings widersprechen, die offenbar auch in dessen „Ringparabel“ maßgebend geblieben sind. So ist in Lessings frühem (für das Jahr 1763 datierten) Fragment „Über die Entstehung der geoffenbarten Religion“ von der schon mehrmals zitierten Forderung die Rede: „einen Gott erkennen [!] und sich die würdigsten Begriffe von ihm zu machen suchen; auf diese würdigsten Begriffe bei allen unsern Handlungen und Gedanken Rücksicht nehmen: ist der vollständigste Inbegriff aller natürlichen Religion. […] Zu dieser natürlichen Religion ist ein jeder Mensch, nach dem Maß seiner Kräfte, aufgelegt und verbunden.“¹⁴ Lessing identifizierte sich hier also ganz eindeutig mit diesem der „natürlichen Religion“ immanenten Anspruch, „einen Gott erkennen …“ usw. – ebendies ist jedenfalls mit jener von Assmann diagnostizierten „performativen Wendung der Wahrheitsfrage“ unvereinbar. Denn der dieser „natürlichen Religion“ immanente Anspruch setzt offenbar den erbrachten Erweis des „Daseins Gottes“ als einer ‚gegebenen Wirklichkeit‘ immer schon voraus. Schon damit ist deshalb die von Assmann betonte ‚performativ‘ „herzustellende Wirklichkeit“ der religiösen Gehalte (s.o. IV., Anm.11) jedoch kaum verträglich; seine (schon zi-

 Assmann 2016, 33.  Lessing XIV, 312.

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tierte) These muss in der Folge durchaus als fragwürdig erscheinen (und kann sich demnach auch nicht auf Lessings Schrift „Über die Entstehung …“ berufen): „Nicht die beste Theologie, sondern die beste Handlungsweise manifestiert [!] die Wahrheit, jenes Handeln nämlich, das dazu angetan ist, den Handelnden ‚bei Gott und den Menschen beliebt zu machen‘. Es kommt also nicht auf die Gotteserkenntnis, sondern auf die Lebensführung an“¹⁵.Wie schon gesagt (s.o. 222 f.), eine solche humane ‚Lebensführung‘ wird man ja auch dem atheistischen „Freigeist“ nicht absprechen wollen, ohne dass dies als eine „performative Wendung der Wahrheitsfrage“ gelten könnte. Für Assmann ist die daraus resultierende Konsequenz in der Lessing’schen „Ringparabel“ ganz eindeutig – dass nämlich die „Wahrheit der Religion … weder historisch noch theologisch zu erweisen“ sei.¹⁶ Demnach besage also die Kern„Botschaft der Ringparabel“¹⁷ vielmehr das darin begründete „gleich wahr und gleich falsch“ aller „positiven und geoffenbarten Religionen“,¹⁸ zumal diese doch „alle in gleicher [!] Entfernung zur verborgenen Wahrheit stehen, nach der die natürliche Religion strebt“.¹⁹ Deshalb sei die „Moral von der Geschichte … klar: erstens: die Wahrheit der Religion ist weder historisch noch theologisch zu erweisen, sondern nur praktisch bzw. ‚performativ‘. Die Wahrheit einer Religion erweist sich in ihren Wirkungen und nicht in ihren Dogmen. Zweitens: Es gibt zwar Offenbarungen – der Vater selbst hat ja seinen Söhnen die Ringe gegeben – aber sie sind nicht exklusiv und absolut. Die Wahrheit der Offenbarung gilt nur für den jeweiligen Sohn und ist durch die Liebe des Vaters – nicht die Echtheit des Steins – gedeckt. Das heißt: Die Begriffe Wahrheit und Offenbarung müssen ganz neu bestimmt werden, so dass sie andere Wahrheiten und andere Offenbarungen nicht ausschließen. Keiner kann sich der Wahrheit seines Ringes absolut sicher sein, jeder muss aber einerseits von der Hypothese der Echtheit ausgehen und danach handeln [„So glaube jeder sicher [!, obwohl getäuscht!] seinen Ring den

 Assmann 2010, 168. Eine solche „Beliebtheit bei den Menschen“ ist natürlich ein durchaus fragwürdiges ‚Wahrheitskriterium‘.  Diese Auffassung ist jedoch nach Kant – auf den Assmann sich allerdings ebenfalls beruft – wohl zu bezweifeln.  So Assmann (2010, 172) in Berufung auf Lessing.  Lessing, Über die Entstehung … : XIV, 313.  So ausdrücklich Assmann (2010, 172) in Berufung auf Lessings „gleichwahr und gleich falsch“. Wenn Assmann dies auch als die „Botschaft der Ringparabel“ ansieht, so lässt er dabei wohl auch den Sachverhalt unberücksichtigt, „dass seine [Lessings] religiösen Anschauungen sich seit der Abfassung des Fragments Über die Entstehung der geoffenbarten Religion entscheidend geändert hatten“ (so Nisbet 2008, 712). Assmann ignoriert offenbar diesen Sachverhalt, dass der spätere Lessing auch andere – und insgesamt durchaus nicht miteinander verträgliche – Auffassungen vertreten hat – auch in seiner Haltung gegenüber allen „positiven Religionen“.

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echten“: Nathan: v. 2034 f], dabei aber andererseits sich immer der Möglichkeit bewusst bleiben, dass der echte Ring beim anderen ist. Plädiert wird für eine Anerkennung des Anderen auf der Grundlage einer Selbstzurücknahme, einer Relativierung der eigenen Wahrheit.“²⁰ Solche „Relativierung der eigenen Wahrheit“ ist freilich ein seltsames und auch widersprüchliches Unternehmen, wie sich noch zeigen soll – denn ‚relativiert‘ werden kann wohl der je individuelle Wahrheitsanspruch, aber nicht eine je „eigene Wahrheit“.²¹ Auch kann dies nicht übersehen lassen, dass Lessing doch ausdrücklich (in den „Axiomata“) auf die „inneren Merkmale“ der „geoffenbarten Wahrheit“ rekurrierte, was einer Relativierung – „nicht exklusiv und absolut“ – und ihrer „Ununterscheidbarkeit“ offensichtlich zuwider läuft – ebenso der Frage: „Hat ihr unmittelbar göttlicher Ursprung an ihr und in ihr keine Spur zurückgelassen, als die historische Wahrheit, die sie mit so vielen Fratzen gemein hat?“²² Und wäre eine „nicht exklusive und absolute“ Offenbarung nicht in der Tat eine solche, die Lessing selbst doch geradewegs in Frage stellt – „denn was ist eine Offenbarung, die nichts offenbaret?“²³ – zumal ja die Ringe selbst – und zwar der Absicht des Vaters zufolge! (Nathan: v. 1968 ff.) – auch von ihm selbst nicht mehr zu unterscheiden sein sollen und diese „Offenbarungen“ dennoch durchaus solche sein sollen, bei denen „sich etwas denken lässt“ … ²⁴ Die Assmann‘sche Interpretation dieser Kernbotschaft der Lessing’schen „Ringparabel“ und die von ihm daraus abgeleitete „Moral von der Geschichte“ wirft – gewissermaßen Lessing-immanent – notwendig weitere Rückfragen auf: Denn seine Lesart dieser „Moral von der Geschichte“ ist wohl auch mit der in Lessings späterer „Erziehungsschrift“ geäußerten (und noch für seinen „Nathan“

 Assmann 2016, 15 f. Die Konsequenzen, die Assmann zufolge aus der verständlichen Zurückweisung partikularistischer religiöser Selbstverabsolutierungen vermeintlich notwendig resultieren, hätte Kant wohl wenigstens als missverständlich problematisiert.  Hier ist nochmals an Kants Warnung vor jenen „falschen Friedensstiftern“ zu erinnern, „die durch die Zusammenschmelzung verschiedener Glaubensarten allen genug zu tun meinen (Synkretisten)“, wo im Grunde jedoch völlige „Gleichgültigkeit in Ansehung der Religion überhaupt zum Grunde liegt.“ (SF, AA 07: 51.25 – 28). Eine solche „Gleichgültigkeit“ hätte Kant wohl auch in jenem Rat des „bescheidnen Richters“ in Lessings „Nathan…“ vermutet (s. dazu o. 252 ff.).  XIII, 113.  XII, 432.  XIII, 131.Was Assmann als „Grundgedanken der Ringparabel“ geltend macht, birgt vermutlich doch einen unübersehbaren – und schwer auflösbaren – Widerspruch bzw. eine elementare Paradoxie in sich: „Der Grundgedanke der Ringparabel“ sei, „dass nämlich die Wahrheit verborgen sei und dass es trotzdem eine verbindliche [!] Offenbarung gibt“ (Assmann 2010, 167): Eine „verbindliche Offenbarung“, die (so wie die Ringe) von den anderen indes gar nicht unterscheidbar sein und bei der sich dennoch „etwas denken lassen“ soll?

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bestimmenden) Leitthese schwerlich vereinbar, wonach der geschichtliche Prozess der „Offenbarung“ und der sich darin entfaltende bzw. manifestierende Fortschritt sich auf das „Menschengeschlecht“ erstreckt;²⁵ es ist die darin implizierte „Geschichtlichkeit der Offenbarung“, die als solche in dieser „göttlichen Pädagogik“ (Gal 3, 24 f.)²⁶ den je konkreten – d. h. stets geschichtlich bedingten – Verstehenshorizont der Offenbarungsadressaten notwendig miteinschließen muss, weil andernfalls für diese gar nichts ‚offenbar‘ werden, d. h. für ihr Weltund Selbstverständnis sich gerade nichts Bedeutendes erschließen könnte. Dies besagt wohl auch Lessings indirekter Hinweis auf die ‚Geschichtlichkeit‘ der Offenbarung, wonach eben „nicht alle Menschen zu gleicher Zeit, in gleichem Grade“, für „Offenbarung“ empfänglich wären, d. h. ‚daran Teil nehmen‘ könnten.²⁷ Deshalb kann mögliche Offenbarung eben stets nur in Bezug (d. h. ‚relativ‘) zu solchem jeweiligen Verstehenshorizont erfolgen und diesen wiederum ‚verwandeln‘, was freilich ein dem jeweiligen geschichtlichen Selbstverständnis des Menschen entsprechendes – moralisch-praktisches – Verhältnis des menschlichen Bewusstseins zum ‚Absoluten‘ voraussetzt, weil nur so – in solcher offenbarungs-konstituierenden ‚Hin-Sicht‘ – Offenbarung den Menschen, freilich weder „ganz verhüllend noch ganz entdeckend“, angehen kann und auch nur so ein Unterscheidungsmerkmal anzuführen ist zwischen einer „geoffenbarten Wahrheit“, bei der sich nichts denken lässt, von einer solchen, „bei der sich etwas denken lässt“. Solche unumgängliche ‚Bezüglichkeit‘, die in der geschichtlich bedingten Situiertheit und Konkretheit ihres Standpunktes begründet ist – und die darum auch weiß, d. h. sich schon allein dadurch ‚relativiert‘ und sich schon in solcher Hinsicht „nicht exklusiv und absolut“ behaupten kann –, besagt jedoch gerade keinen ‚Relativismus‘ in dem Sinne, wie er offenbar in Assmanns These entge-

 Auch Assmann beruft sich freilich auf Lessings Vorstellung der Offenbarung als „einen fortlaufenden, sich in der Menschheitsgeschichte und ihrer geistigen Entwicklung entfaltenden Prozess“ (Assmann 2016, 23).  Immer wieder wurde in der Lessing-Forschung darauf hingewiesen, dass die Idee einer „Erziehung des Menschengeschlechts“ durchaus eine „lange Geschichte“ (auch bei den dabei auf Gal 3, 24 f. rekurrierenden Kirchenvätern) habe und von Lessing aufgenommen bzw. transformiert wurde (vgl. z. B. Nisbet 2008, 748).  XII, 436. – Vgl. den §5 der Erziehungsschrift (XIII, 416): „Und so wie es der Erziehung nicht gleichgültig ist, in welcher Ordnung sie die Kräfte des Menschen entwickelt; wie sie dem Menschen nicht alles auf einmal beibringen kann: eben so hat auch Gott bei seiner Offenbarung eine gewisse Ordnung, ein gewisses Maß halten müssen“, sofern dies eben den jeweiligen Bewusstseins- und Verstehenshorizont des Adressaten berücksichtigen muss. Mit der „Ununterscheidbarkeit“ der Ringe ist diese Einhaltung einer „gewissen Ordnung“, eines „gewissen Maßes“, freilich nicht vereinbar.

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IV Ein kritischer Blick auf Jan Assmanns Lessing- und Kant-Rezeption

gentritt, dass die „Wahrheit der Offenbarung … nur für den jeweiligen Sohn“²⁸ gelte – welche ‚Wahrheit‘ könnte darin (in solcher ‚Privatheit‘) denn ‚offenbar‘ werden? Der Umstand, dass diese „innere Wahrheit“ nur in je geschichtlich konkreter Erscheinungsgestalt und in ihren Traditionen offenbar und so auch nur in geschichtlicher Weise zur lebensbestimmenden Wirklichkeit werden kann, lässt es insofern wohl als irreführend erscheinen, auf die „eigene Wahrheit“ bzw. auf „andere Wahrheiten“ zu rekurrieren.²⁹ Auch die geforderte Toleranz kann im Rückzug auf die je „eigene Wahrheit“³⁰ wohl schon deshalb nicht das letzte Wort behalten, weil die echte – und stets anerkennungs-orientierte – Wahrheitssuche ja überdies doch von der keineswegs bloß ‚toleranten‘ Auffassung ausgehen muss, dass der andere nicht nur etwas „zu sagen hat“,³¹ sondern überdies auch tatsächlich im Recht sein könnte³² – was Assmann ja ausdrücklich geltend macht,³³  Assmann 2016, 15.  Von einer „inneren Wahrheit“ der Religion, aus der „die schriftlichen Überlieferungen erklärtet werden“ müssen, „die keiner Beglaubigung von außen bedarf“ (XIII, 129), wäre in diesem Falle gar nicht zu reden.  Der Rückzug in die „eigene Wahrheit“ gleicht eher demjenigen des Schlafenden in die je nur „eigene Welt“, die deshalb, im Unterschied zur „gemeinsamen Welt“ der Wachen, schon nach Heraklit eben die „Welt des bloßen Scheins“ ist. „Darum ist es Pflicht, dem Gemeinsamen zu folgen. Aber obschon der Sinn ein gemeinsamer ist, leben die Vielen so, als hätten sie eine eigene Wahrheit“ („Einsicht“). „Die Wachenden haben eine einzige und gemeinsame Welt, doch im Schlummer wendet sich jeder von dieser ab in seine eigene.“ (Diels-Kranz: Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch. Von H. Diels. Hg. v. W. Kranz. 1. Band, Hildesheim 1985: Fragmente 2 u. 89 (S. 151 u. 171). Jedenfalls ist die Berufung auf die „eigene Wahrheit“ von der bloßen „Privatgültigkeit des Gefühls“ nicht so ohne weiteres zu unterscheiden, weil eine solche Berufung auf das Gefühl „alle Gründe der Vernunft aufgibt“ (Menzer 46) und so gerade nicht von dem für Lessings „Nathan“ gewählten („herakliteischen“) Motto zu überzeugen vermag: „Introite, nam et heic dii sunt“ … Wie schon gesagt: Die Berufung auf die je „eigene Wahrheit“ ist nach Kant offenbar von jenem „überschwenglichen“ „Illuminatism innerer Offenbarungen“ nicht abzugrenzen, „deren ein jeder alsdenn seine eigene hat und kein öffentlicher Probierstein der Wahrheit mehr Statt findet.“ (SF, AA 07: 46.8 – 10)  Kant hätte mit gebotener Rücksicht auf die Prinzipienfrage der Jaspers’schen Auffassung durchaus folgen können: „Lessings Toleranz ist der Kommunikationswille. Dieser Kommunikationswille in Diskussion und Polemik“ (Jaspers 1981, 736); gerade darin kann die Prinzipien-Frage nicht ausgeblendet bleiben, wie Kant freilich gleichermaßen gegenüber den christlichen Konfessionen als „Glaubensarten“ geltend gemacht hätte. Lessings „Kommunikationswille in Diskussion und Polemik“ wird freilich auch in seinem Schreiben an Goeze besonders deutlich: „Schreiben Sie, Herr Pastor, und lassen Sie schreiben, so viel das Zeug halten will: ich schreibe auch. Wenn ich Ihnen in dem geringsten Dinge, was mich oder meinen Ungenannten angeht, Recht lasse, wo Sie nicht Recht haben: dann kann ich die Feder nicht mehr rühren“ (so Lessing in seinem „Absagungsschreiben“ an Goeze: XIII, 103).  Insofern greift vermutlich auch Arendts Würdigung von Lessings Geistesart in mehrfacher Hinsicht noch zu kurz: „Was Lessing aber betrifft, so hat ihn das gefreut, was die Philosophen seit

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sich jedoch gerade nicht ‚performativ‘ entscheiden lässt. Ebendies verrät doch auch Saladins ausdrückliche Frage: „Lass mich die Wahl, die diese Gründe bestimmt, … wissen, damit ich sie zu meiner mache“ (Nathan: v. 1852 ff.)! Wozu andernfalls ein geforderter ‚Dialog‘ zwischen den Religionen? Wenn die „Wahrheit der Offenbarung … nur für den jeweiligen Sohn“ gelten soll³⁴ (die dann aber vom Vater selbst gar nicht mehr unterscheidbar sein soll?, s.o. 220 f.) – wozu dann also die geforderte dialogische Auseinandersetzung zwischen den damit verbundenen Ansprüchen differierender Glaubensformen? Auch jene von Sultan Saladin erhobene Forderung: „Lass mich die Wahl, die diese Gründe bestimmt, … wissen, damit ich sie zu meiner mache“, besagt doch geradewegs das Gegenteil eines Rückzugs in die (ohnehin widersprüchliche) „eigene Wahrheit“ und verlangt die Übernahme der Perspektive anderer. Freilich, gerade die bewusst gewordene und anerkannte geschichtliche Bedingtheit der konkreten Offenbarungsansprüche enthält auch die Forderung, solche „Offenbarung“ nicht als exklusiven Besitz zu reklamieren; gerade die darin maßgebende Orientierung an der Wahrheit verlangt gleichermaßen die Offenheit für sinnerschließende Potentiale anderer religiöser Traditionen und somit auch die Anerkennung, dass diese auch der jeweiligen eigenen religiösen Tradition etwas Bereicherndes ‚zu sagen‘ haben können – und eben gerade nicht nur für den „jeweiligen Sohn“ (wie

eh und je […] so bekümmert hat, nämlich dass die Wahrheit, sobald sie geäußert wird, sich sofort in eine Meinung unter Meinungen verwandelt [?], bestritten wird, umformuliert, Gegenstand des Gespräches ist wie andere Gegenstände auch. Nicht nur die Einsicht, dass es die eine Wahrheit innerhalb der Menschenwelt nicht geben kann, sondern die Freude, dass es sie nicht gibt und das unendliche Gespräch zwischen den Menschen nie aufhören werde, solange es Menschen überhaupt gibt, kennzeichnet die Größe Lessings“ (Arendt 51).  Damit wäre auch unverträglich, was Assmann mit Blick auf die Ringparabel anmerkt: „Jeder soll seine bestimmte Religion praktizieren, als ob sie die wahre wäre, in voller Anerkennung der Möglichkeit, dass die Wahrheit bei einer anderen liegt oder vielmehr: dass die Wahrheit verborgen ist und alle Religionen sie auf ihre Weise anstreben. Da es Religion nun einmal nur im Plural gibt und geben wird, ist diese Form des ’Sowohl-Als auch’ – sowohl Treue zum Eigenen als auch Respekt vor dem Anderen – eine vernünftige Lösung. Diese Form schafft die Differenz nicht ab, sondern respektiert sie im Hinblick auf etwas Übergreifendes, das man im 18. Jahrhundert ‚natürliche Religion‘ nannte und das sich heute in erster Linie mit dem Begriff der Menschenrechte verbindet“ (J. Assmann, Monotheismus und Gewalt, s. Literaturverzeichnis). Dass es „Religion nun einmal nur im Plural gibt“, hätte Kant mit Blick auf die Unterscheidung zwischen der „Religion“ und den „historischen Glaubensarten“ freilich bezweifelt (s.o. I., 2.).  Assmanns Argumentation zieht hier vermutlich jenen Einwand auf sich, den Stegmüllers „Psychologismus“-Kritik gegen den „Relativismus“ gerichtet hat: „Es kann nicht für den einen das Urteil ‚Gott existiert‘ wahr sein, für den anderen hingegen das Urteil ‚Gott existiert nicht‘. Den Begriff der Wahrheit mit der Präposition ‚für‘ zu verbinden, ergibt keinen Sinn; was wahr ist, ist absolut und ‚an sich‘ wahr“ (Stegmüller 52).

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Assmann suggeriert). Dies gebietet somit auch die – ‚affirmativ‘-tolerante – Bereitschaft dazu, dass Andersgläubige auch berechtigte Ansprüche, Fragen und auch Einwände artikulieren mögen, d. h. eben auch Recht haben könnten,³⁵ weil andernfalls sich hinter der geforderten Toleranz³⁶ und ‚Akzeptanz‘ eher bloß indifferent-‚relativistische‘ und strategisch motivierte Gleichgültigkeit gegenüber den erhobenen Ansprüchen verbirgt, die niemals den theoretischen Ansprüchen einer „allgemeinen Menschenreligion“ genügen könnten. Dies liefe zuletzt doch lediglich auf die – bequeme – Losung hinaus, dass im Grunde ja ohnedies alle einund dasselbe wollen und die Differenzen nebensächlich und harmlos sind; dies hat jedoch – auch nach Lessing³⁷ – mit Toleranz nichts zu tun,³⁸ die sich dem-

 Dies besagt freilich schon die Anerkennung der „erweiterten Denkungsart“, „wenn er sich über die subjektiven Privatbedingungen des Urteils, wozwischen so viele andere wie eingeklammert sind, wegsetzt und aus einem allgemeinen Standpunkte (den er dadurch nur bestimmen kann, dass er sich in den Standpunkt anderer versetzt) über sein eigenes Urteil reflektiert“ (KU, AA 05: 295.10 – 14). Diese Haltung lässt also auch Sultan Saladin erkennen. Massive Verstöße gegen die „sich erweiternde Denkungsart“ sah Kant auch bei „erzkatholischen Protestanten“, die ihren partikulären „Kirchenglauben für allgemein verbindlich“ ausgeben (RGV, AA 06: 109.7) und so die „Unkultur rechthaberischen Streits“ (Kuschel 2011, 179) demonstrieren.  Zur notwendigen Differenzierung des Toleranz-Begriffs s. Forst 2003. – Vor allem Sultan Saladin steht dafür: „Toleranz zeigt und entwickelt sich im ‚Nathan‘ als ein Prozess, welcher von der formalen Duldung zum Bemühen um ein inhaltliches Verständnis der anderen und für die anderen führt.“ (Arens 73) Wird ebendiese Haltung durch den empfohlenen „Wettstreit um das Gute“ jedoch nicht wiederum unterlaufen?  Das Publikum „ … scheinet vergessen zu wollen, dass es die Aufklärung so mancher wichtigen Punkte dem bloßen Widerspruche zu danken hat und dass Menschen noch über nichts in der Welt einig sein würden, wenn sie noch über nichts in der Welt gezankt hätten“ (so Mann 137, Lessings Schrift „Wie die Alten den Tod gebildet“ zitierend; s. dazu u. 331).  Toleranz, die mehr als bloße „Duldung“ ist, besagt die Hör-Bereitschaft für fremde Überzeugungen, sie gründet nicht zuletzt in der schon zitierten Sichtweise Kants (die er als die „erweiterte Denkungsart“ hochhält): „Allein, wie viel und mit welcher Richtigkeit würden wir wohl denken, wenn wir nicht gleichsam in Gemeinschaft mit andern, denen wir unsere und die uns ihre Gedanken mitteilen, dächten!“ (WDO, AA 08: 144.19 – 22) (Allein dies heißt doch, sich „seiner eigenen Vernunft zu bedienen“: WA, AA 08: 40.28 – 35) Die kantische Aufforderung, „selbst zu denken“, ist also notwendig verbunden mit der Bereitschaft, „in Gemeinschaft mit andern“ zu denken. Dies klingt auch nach in Jaspers‘ Charakterisierung der ‚Toleranz‘ als ‚Denkungsart‘ bei Lessing: „das achtende und liebende Anerkennen des Anderen, Fremden – das Hörenkönnen, – die Urteilsweise“ (Jaspers 1981, 735), die ‚ansatzweise‘ auch in Sultan Saladin verkörpert ist. Denn Toleranz impliziert nach Lessing „das Ernstnehmen des Fremden, das Hinhören und Sichangehenlassen“ (Jaspers 1962, 207). Die im Sinne der ‚Glaubensfreiheit‘ natürlich auch nach Kant zu fordernde ‚Toleranz‘ darf ihm zufolge jedoch den notwendigen diskursiven Streit über die geforderte „Allgemeinheit und Einheit der wesentlichen Glaubensmaximen“ nicht erschlaffen lassen, weil sich andernfalls Toleranz in „Geringschätzung der Religion“ und Gleichgültigkeit ihr gegenüber verkehren würde. Dies gilt deshalb wohl auch für eine ‚Auflösung‘ des ‚Wettstreits der

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gegenüber auf stets irrtums-bedrohte Überzeugungen von anderen Menschen bezieht, die wir indes als prinzipiell ‚wahrheitsfähig („capax veritatis“) achten.³⁹ Der Rekurs auf die je „eigene Wahrheit“ ist geradewegs das Gegenteil von Überzeugung, die ja gleichwohl auf ‚Wahrheit an sich‘ zielt. Mit dem recht verstandenen dialogischen ‚Wettstreit der Religionen‘ ganz unverträglich ist deshalb auch der geforderte Rückzug der Religion in die ‚Privatsphäre‘, zumal solcherart eben „kein öffentlicher Probierstein der Wahrheit mehr Statt findet“ (SF, AA 07: 46.4– 10)⁴⁰ und der Austausch über die ‚das Leben tragenden Überzeugungen‘ und der mit religiösen Lehren verbundene Wahrheitsanspruch verunmöglicht und somit auch ein schiefes (‚relativistisches‘, auf bloße ‚Gleich-Gültigkeit‘ hinauslaufendes) Verständnis von ‚Toleranz‘ lediglich begünstigt wäre. Dies wird auch aus Saladins Anspruch deutlich; mag seine Anfrage an Nathan auch „die Wahrheit nur als Falle brauchen“ (Nathan: v. 1878 f.), in der Sache besteht sie dennoch zu Recht. Dies impliziert also selbstverständlich die „Anerkennung des anderen“⁴¹ auch in dem Sinne, dass dieser eben auch Recht haben könnte – und genau dies ist doch nur möglich, weil bzw. wenn die Wahrheit eben nicht lediglich die jeweils ‚eigene‘ und ‚performativ‘ ist. Deshalb kann wohl auch nicht von einer „eigenen Religionen‘ in den ‚Wettstreit um das Gute‘, zumal dies jene im Sinne des „moralischen Monotheismus“ geforderte „Allgemeinheit und Einheit der wesentlichen Glaubensmaximen“ völlig außer Acht lassen würde.  In der Tat: „Grundlage der Tugend der Toleranz ist die Einsicht in die Endlichkeit und Mangelhaftigkeit auch des eigenen Menschseins, in eigene sowie fremde Irrtumsanfälligkeit und in die Wahrheitsfähigkeit aller“ (Cavallar 84) – eine elementare Forderung an eine „aufgeklärte, erweiterte Denkungsart“. – Zu den notwendigen historischen und sachlichen Differenzierungen der ‚Aufklärung‘ s. auch die thematisch einschlägigen Publikationen von W. Schneiders.  Das Vorurteile und ‚Aberglauben‘ abwehrende ‚Selbstdenken‘ ist eben begleitet von jener erwähnten Forderung einer ‚erweiterten Denkungsart‘ (s.o. IV., Anm. 35), die doch auch diesbezüglich darauf abzielt, dass „die Streitenden ihre Verblendung und Vorurteile, welche sie veruneinigt haben, einsehen lernen“ (KrV, B 775). Dies setzt freilich „Selbstdenken“ als die „Maxime einer niemals passiven Vernunft“ (KU, AA 05: 294.20) voraus, die auch der „Befreiung vom Aberglauben“ zugrunde liegt: „Befreiung vom Aberglauben heißt Aufklärung …: weil, obschon diese Benennung auch der Befreiung von Vorurteilen überhaupt zukommt, jener [d.i. der Aberglaube] doch vorzugsweise (in sensu eminenti) ein Vorurteil genannt zu werden verdient, indem die Blindheit, worin der Aberglaube versetzt, ja sie wohl gar als Obliegenheit fordert, das Bedürfnis von andern geleitet zu werden, mithin den Zustand einer passiven Vernunft vorzüglich kenntlich macht.“ (KU, AA 05: 294.24– 295.2)  Assmann 2016, 16. – Hier findet sich zweifellos auch ein Anschluss zu Assmanns Anliegen: „Es kann heute nicht mehr darum gehen, im Anderen nur den Bruder zu sehen, und mit den offenen Armen der Menschenliebe ins Eigene einzuschließen […] Worauf es vielmehr ankommt, ist, den Anderen auf dem Boden zu bestimmender Gemeinsamkeiten als Anderen anzuerkennen, mit seiner anderen Religion, Kultur und Hautfarbe.“ (Assmann 2010, 194 f.)

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IV Ein kritischer Blick auf Jan Assmanns Lessing- und Kant-Rezeption

Wahrheit“, sondern lediglich von eigenen – stets begründungspflichtigen, d. h. geltungsorientierten und somit auch mitteilbaren – ‚Überzeugungen‘ von der Wahrheit die Rede⁴² sein – dies macht ja ebenso Sultan Saladins Berufung auf „Einsicht, Gründe, Wahl des Bessern“ (Nathan: v. 1848) geltend; ebendies impliziert selbstverständlich die „Anerkennung des anderen“ auch in dem Sinne, dass die Wahrheit eben gerade nicht lediglich die jeweils „eigene“ ist bzw. sein kann.⁴³ Andernfalls könnte auch weder von einer „Entzogenheit [!] der Wahrheit: der echte Ring ist nicht erweislich“,⁴⁴ noch von einer „inneren Wahrheit“ der Religion (wie Lessing doch ausdrücklich betont) die Rede sein – ebenso wenig könnte die Zumutung als sinnvoll erscheinen, diese „eigenen Überzeugungen“ stets einer begründenden Prüfung durch andere auszusetzen;⁴⁵ die für Wahrheitsansprüche notwendigerweise beanspruchte Geltung wäre andernfalls ‚in Wahrheit‘ doch kaum etwas anderes als die jeweils eigene – geschichtlich bzw. biographisch kontingente, in ihrer Genese erklärbare – ‚Befindlichkeit‘ bzw. bevorzugte Vorurteile und Eigentümlichkeiten – denn „der Besitz der Wahrheit macht ruhig, träge, stolz“.⁴⁶

 Wohl in diesem Sinne betonte Lessing in dem schon zitierten Brief an J. A. Heinrich Reimarus die Fallibilität der Wahrheitsansprüche und die damit verbundene Notwendigkeit, die „eigene Überzeugung“ von der Wahrheit (und deren gebotene ‚Bewährung‘) von der irreführenden Berufung auf die „eigene Wahrheit“ zu unterscheiden. Kurz und prägnant reklamierte Lessing in diesem Sinne: „Aber was tuts. Jeder sage, was ihm Wahrheit dünkt [!], und die Wahrheit selbst sei Gott empfohlen“ (XVIII, 269). Solches zwar stets fehlbarkeits-sensible „Dünken“ muss es also geradewegs verbieten, von einer „eigenen Wahrheit“ zu sprechen. Dass die „Wahrheit … doch nur für Gott allein“ sei, entbindet jedoch nicht von der prinzipien-orientierten Prüfung der Wahrheitsansprüche derselben, die den „Zustand einer passiven Vernunft“ (KU, AA 05: 295.1– 2) bekämpft.  Kierkegaards Rekurs auf „meine Wahrheit“ (im Sinne seines Satzes: „Die Subjektivität ist die Wahrheit“) verweist freilich auf ein ganz anderes Problem.  Assmann 2016, 18.  Genau dies tut auch Sultan Saladin, wenn er Nathan zur Angabe seiner „Gründe“ auffordert und wissen möchte, warum Nathan „kein Muselmann“ sein könne. Es erscheint deshalb doch als inkonsequent, wenn der Sultan das vom „weisen Richter“ geschilderte Täuschungsmanöver des Vaters – „Eure Ringe sind alle drei nicht echt. Der echte Ring vermutlich ging verloren. Den Verlust zu bergen, zu ersetzen, ließ der Vater die drei für einen machen“ – erstaunlicherweise und allzu rasch mit einem „Herrlich! Herrlich!“ (Nathan: v. 2024– 2028) quittiert. Damit, dass der Sultan „Wahrheit, Wahrheit“ will (Nathan: v. 1867), ist dies nur schwer vereinbar; wird damit die vom Sultan so energisch geforderte „Einsicht, Gründe, Wahl des Bessern“ nicht relativiert? Im Grunde scheint jenes „Herrlich! Herrlich!“ die gesuchte „Einsicht, Gründe, Wahl des Bessern“ jedoch wiederum zu dementieren. Damit hatte der Sultan einem nicht verhandelbaren ‚Absolutheitsanspruch‘ der Religionen doch gerade den Boden entzogen.  XIII, 23 f. Das wissen nach Lessing eben jene Leute, „die dem Vorurteile ihrer angebornen Religion nicht unterlägen; [die] nicht glaubten, dass alles notwendig gut und wahr sein müsse,

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Jene – vermeintliche – Bescheidung auf die je „eigene Wahrheit“ erweist sich demzufolge als in sich widersprüchlich und im Grunde auch mit der nach Kant gebotenen Orientierung am „ethischen Gemeinwesen“ unverträglich: Denn schon der empfohlene Rückzug auf die – im Grunde überzeugungsferne – je „eigene Wahrheit“ und die (gleichzeitig vollzogene) Berufung auf die „Entzogenheit der Wahrheit“ schließen einander offenbar aus, müsste es dies doch genauer besehen geradewegs verbieten, von einer „Entzogenheit (!) der Wahrheit“ zu sprechen. Und auch von jener „Unerweislichkeit des echten Ringes“ kann doch überhaupt nur dann die Rede sein, wenn – auch ganz gegen Kants Intention – ‚Religion‘ (ihre „Beglaubigung“) fälschlicherweise mit den „historischen Glaubensarten“ identifiziert⁴⁷ wird bzw. diesbezüglich auf den kritischen Maßstab der Idee der „natürlichen Religion“ bzw. der von Lessing ausdrücklich geltend gemachten „inneren Wahrheit“ derselben geradewegs verzichtet wird; dass – wie es im „Nathan“ genauer heißt – der „rechte Ring“ „fast [!] so unerweislich“ sei „als uns itzt der rechte Glaube“ (Nathan: v. 1963 f.), setzt indes solchen Verzicht auf die Maßstäbe der Idee der „natürlichen Religion“ und somit auch die problematische Identifikation der Religion mit den „historischen Glaubensarten“ voraus:⁴⁸ Wenn der „(r)echte Ring“ nicht „erweislich“ ist, dann behielte wohl, wie erwähnt, auch jenes bloße – buchstäblich nichtssagende, jede Verständigung überflüssig machende, d. h. ‚gleich-gültige‘ – Nebeneinander derselben das letzte Wort und würde so auch die – von einem recht verstandenen Toleranz-Verständnis unablösliche – Anerkennung nicht erlauben, dass „(k)einer sich der Wahrheit seines Ringes absolut sicher sein“⁴⁹ kann, d. h. dass der andere Recht haben, also „der echte Ring beim anderen“ sein könnte (wie ja Assmann auch ausdrücklich einräumt). Der Rekurs auf die je „eigene Wahrheit“ verträgt solche Unsicherheit nicht und widerspricht wohl auch der von Kant geforderten ‚erweiterten Denkungsart‘. Und dies ist es doch allein, was begründeterweise den von Assmann (im Blick auf Lessing) geforderten „Raum für Respekt zwischen den Religionen“ und den ihnen immanenten Wahrheitsansprüchen gebietet – ein ‚Respekt‘, der als solcher über

was sie für gut und wahr erkennen“ (XIII, 360): eine deutliche – auch widersprüchliche? – aufklärungs-orientierte Relativierung der „Geschichte – geschrieben oder überliefert“ (Nathan: v. 1976)?  Dies tut allerdings Assmann, wie das (o. IV., Anm. 33) angeführte Zitat belegt: Nur auf die geschichtlichen Glaubenswahrheiten bezieht sich folglich auch die betonte ‚Fallibilität‘ des Wahrheitsanspruchs.  Dagegen steht Kants Unterscheidung zwischen „Offenbarungsreligion“ und „natürlicher Religion“.  Assmann 2016, 16. Hinsichtlich des „empirischen (historischen) Glaubens“ teilte Kant diese Vorbehalte ja auch.

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IV Ein kritischer Blick auf Jan Assmanns Lessing- und Kant-Rezeption

die bloße Akzeptanz und den ‚faulen Frieden‘ des faktischen – buchstäblich ‚gleich gültigen‘ und deshalb auch gleichgültig-stummen – Nebeneinanders (als notgedrungen erforderlicher ‚modus vivendi‘) hinausweist und das sachorientierte Offenhalten der Diskussion im lebendigen Austausch im ‚Raum der „Gründe‘ erfordert. Allein dies erlaubt es, von „kosmopolitischen Perspektiven“⁵⁰ zu reden und verlangt so, infolge der geforderten „Mitteilbarkeit“,⁵¹ auch die (anti‚solipsistische‘) Übernahme des ‚Standpunkts anderer‘, die sich an der ‚Gültigkeit für jedermann‘ orientiert. Andernfalls würde sich doch auch Lessings Frage erübrigen: „Was ist nötiger, als sich von seinem Glauben zu überzeugen, und was ist unmöglicher, als Überzeugung ohne vorhergegangene Prüfung?“⁵² Solchen Anspruch artikuliert ja auch noch jene erwähnte – berechtigte – Frage von Sultan Saladin (s.o. III., Anm.428). Auch dies verbietet eine ‚performative‘ Auflösung der „Wahrheitsfrage“ und einen Rückzug auf die je „eigene Wahrheit“, weshalb sich auch von Kant her die Rückfrage an Assmanns Kernbotschaft und deren Maßstäbe nahelegt: Wenn „die Wahrheit der Religion … nur praktisch bzw. ‚performativ‘ zu

 Assmann 2010, 212. Gesucht ist freilich eine Anbindung der leitenden ‚Glaubensüberzeugungen‘ an die geltenden säkularen Vorgaben, die durch die Anerkennung des religiösen Pluralismus, die Autorität der wissenschaftlichen Rationalität und die Prinzipien des modernen Verfassungstaates bestimmt sind.  Eben dies besagt auch Kants Forderung bzw. die darin ausgesprochene Abgrenzung, dass „unser eigen Urteil durch einen fremden Standpunkt muss rektifiziert werden. Selbst sich dünkende und teilnehmende [!] Vernunft. Egoist und Pluralist, im logischen Verstande“ (Refl. 2147, AA 16, 252).  V, 319. In diesem – Lessing‘schen! – Sinne hätte Kant wohl die Auffassung korrigiert: „Gott selbst wollte die Pluralität der Religionen, nicht die ‚Tyrannei‘ einer als der exklusiv wahren“ (Kuschel 2004, 166), wie Kuschel mit Blick auf die Ringparabel anmerkt. Der Ausschluss „exklusiver Offenbarungsansprüche“ wird von ihm wohl zu Recht als die eigentliche „Pointe der Ringparabel“ geltend gemacht. Indes, diese Auskunft bleibt offenbar ebenso problematisch wie die – offiziell von katholischer Seite geäußerte – dunkle Stellungnahme wohl eher ratlos macht, Gott habe die „Pluralität der Religionen“ keineswegs „gewollt“, sondern nur „zugelassen“, weil „die Vielfalt der Religionen den duldenden Willen Gottes meine“ (so Papst Franziskus in seiner in den Medien wiedergegebenen Erläuterung der Widerstand provozierenden Aussage: „Der Pluralismus und die Vielfalt der Religionen, Hautfarben, Geschlechter, Rassen und Sprachen sind von Gott in Seiner Weisheit gewollt.“). Hier werden offenbar divergierende ‚Geltungsansprüche‘ mit buchstäblich ‚naturwüchsigen‘ Differenzen in seltsamer Weise vermischt, Religion wäre einem bloßen Naturprodukt ‚assimiliert‘. Das Bemühen um eine verständigungs-orientierte Überwindung der ‚Glaubensdifferenzen‘ wäre dann wohl gegen den ‚göttlichen Willen‘ und dessen ‚Weisheit‘? Die „liebestheozentrisch“ begründete Auskunft, dass „Gott die Existenz der drei Religionen nebeneinander mit derselben Liebe gewollt hat, und zwar mit der Konsequenz, dass die Anhänger der Religionen diese Liebe Gottes in liebendem Wettstreit untereinander sichtbar machen sollen“ (Kuschel), kann jedoch die darin zutage tretende Aporie nicht verbergen. Ich danke Karl-Josef Kuschel für einen diesbezüglichen Gedankenaustausch.

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erweisen“ sein soll – ist bzw. bleibt es dann tatsächlich noch die „Wahrheit der Religion“⁵³ – und was wären dann genau genommen noch jene geforderten „kosmopolitischen Perspektiven“? Kant hat jedenfalls, wie erwähnt, den argumentativ auszutragenden Streit über die „Allgemeinheit und Einheit der wesentlichen Glaubensmaximen“ (SF, AA 07: 52.8 – 9) ausdrücklich, „wie es doch der Begriff der Religion [als „reine Vernunftsache“] erfordert“ (ebd.), als unentbehrlich, weil notwendig vernunft-orientiert, angesehen und so auch jener vermeintlich eleganten Losung „Was kümmert es mich, ob die [fromme] Sage falsch oder wahr ist: die Früchte sind trefflich“ (s.o. III., Anm.173) eine klare Absage erteilt. Auch dies impliziert im Grunde seine ausdrückliche Kritik an der „Gleichgültigkeit … gegen alle Offenbarung“ (RGV, AA 06: 119.2– 3). Zuletzt läuft die nach Assmann geforderte ‚Zurücknahme‘ im Sinne der je „eigenen Wahrheit“ doch wohl Gefahr, ungeachtet jener Berufung auf „Farbe und Verbindlichkeit“ den Verbindlichkeitsanspruch des bestimmten Glaubens und somit auch die (in jener Frage Saladins implizit eingeräumte) Möglichkeit geradewegs preiszugeben, sich von der Wahrheit der „Religion des anderen“ zu überzeugen, d. h. ihr womöglich mehr Plausibilität und sinnerschließende Potentiale als der eigenen „Glaubensart“ einzuräumen, zumal dies auch den Ansprüchen der Idee der „natürlichen Religion“ im Sinne Kants womöglich eher entspricht. Insofern wäre Kant wohl auch jene Forderung wenigstens als missverständlich erschienen, dass sich die „bestimmten Religionen … erstens gegenseitig respektieren und zweitens im Hinblick auf eine allgemeine Menschenreligion zurücknehmen müssen.“⁵⁴ Daraus mag einsichtig werden: Jene – andernorts erwähnte – vorausgesetzte Bereitschaft, „sich mit den Augen der anderen zu sehen“,⁵⁵ kann – aus den schon angeführten Gründen – auch nicht auf eine relativierende Rücknahme im Sinne einer bloß „eigenen Wahrheit“ hinauslaufen. Und nicht zuletzt impliziert jene auch von Assmann ausdrücklich geforderte „Verständigung über die jeweiligen Besonderheiten“ ja ebenso, wie schon erwähnt, die unumgängliche Anerkennung, dass die jeweils andere Position ja durchaus im Recht sein könnte und gleichermaßen dazu berechtigt ist, andere Auffassungen zu problematisieren, d. h. sie in kritischer Absicht auch in Frage zu stellen – denn ‚einander verständlich werden‘ sollen ja letztlich nicht bloß unterschiedliche ‚jeweilige Besonderheiten‘ als faktische ‚Befindlichkeiten‘ und vorherrschende Gemütslagen,  Nochmals sei Lessings zweifelhaftes Diktum in Erinnerung gebracht, das doch lediglich die unvermeidliche – gleichgültige – Konsequenz daraus darstellt: „Was kümmert es mich, ob die Sage falsch oder wahr ist: die Früchte sind trefflich“ (Über den Beweis des Geistes …: XIII, 8).  Assmann 2010, 211.  Assmann 2010, 210.

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sondern vielmehr geltungs-orientierte, überzeugte prinzipielle Ansprüche, die sich als solche wohl allesamt – notwendig – an der Idee der Wahrheit und am Aufweis ‚guter Gründe‘ orientieren, d. h. an der „inneren Wahrheit“ derselben – andernfalls könnte (bzw. müsste) man sie auch nur „stehen lassen“.⁵⁶ Ebendies ist eine Perspektive geschuldeter Anerkennung, die sich nicht in einem (in Wahrheit nivellierenden) Rückzug auf bloße beanspruchte faktische Gleich-Gültigkeit – Abbruch der Kommunikation? – erschöpft. Wie anders wäre der geforderte interreligiöse Dialog indes auch als ein die eigene Tradition bereichernder Lernprozess zu verstehen, den doch auch Lessing anerkennt? Klar ist demnach dies: Auszuschließen, dass die anderen Recht haben könnten, liefe unweigerlich darauf hinaus, den Dialog zu erübrigen und eben gerade nicht ‚der größeren Wahrheit‘ die Ehre zu erweisen bzw. für diese offen zu bleiben; genauer besehen hieße dies lediglich, die je eigenen Selbstbehauptungsansprüche auf mehr oder weniger subtile – bzw. ‚massive‘ – Weise zu verfolgen. Dass gerade der entsprechende Umgang der religiösen Traditionen unterbzw. miteinander dabei an die Maßstäbe aufgeklärter Humanität gebunden ist und dies auch ein bedeutsames Beurteilungskriterium darstellt, versteht sich wohl von selbst. Die Pflicht der Verständigung sowie das Bemühen um ‚Verstehen‘ impliziert ebendies – und ebenso die Berechtigung dazu, auch die Ansprüche anderer Religionen zu problematisieren, d. h. sie – buchstäblich – ‚in Frage zu stellen‘, zumal sie doch nur auf solche Weise auch gewürdigt werden können; erhobene Wahrheitsansprüche haben in der Tat gewissermaßen ein Recht darauf, in ihrem ‚propositionalen Gehalt‘ geltungsorientiert problematisiert zu werden – davon lebt doch der allein an ‚guten Gründen‘ orientierte dialogische Prozess.⁵⁷ Nur in und durch die diskursive Verständigung über die „Allgemeinheit und Einheit der wesentlichen Glaubensmaximen“ kann sich das „reine Vernunftsys-

 Ein solcher – auf Toleranz pochender – Rückzug auf die beanspruchte „je eigene Wahrheit“ liefe dann allzu leicht auf die von Hegel kritisierte Haltung hinaus: „Man beruft sich häufig auf sein Gefühl, wenn die Gründe ausgehen. So einen Menschen muss man stehen lassen; denn mit dem Appellieren an das eigene Gefühl ist die Gemeinschaft unter uns abgerissen“ (Hegel 16, 129); es ist dies eben eine kritisierenswerte Haltung: „Wenn ein Mensch sich über etwas nicht auf die Natur und den Begriff der Sache oder wenigstens auf Gründe, die Verstandesallgemeinheit, sondern auf sein Gefühl beruft, so ist nichts anderes zu tun, als ihn stehen zu lassen, weil er sich dadurch der Gemeinschaft der Vernünftigkeit verweigert, sich in seine isolierte Subjektivität, die Partikularität“, einschließt (so Hegel 10, 248).  Und doch soll nach Assmann die „Botschaft der Ringparabel“ zugleich dies sein, dass „alle Religionen“ „in gleicher Entfernung zur verborgenen Wahrheit stehen, nach der die natürliche Religion strebt“? (Assmann 2010, 172) Das empfohlene Festhalten am jeweiligen „Geschichtsglauben“ verhindert nach Kant gerade die gemeinsame Orientierung an der Einheit und Allgemeinheit des „rein moralischen Religionsglaubens“ (AA XXIII, 438).

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tem der Religion“ (RGV, AA 06: 12.20 – 21) herausschälen (worüber es, ‚in the long run‘, „keine streitenden Meinungen [mehr] geben kann“ [RGV, AA 06: 131.22 – 23]), sofern dabei auch die „Glaubensarten“ im gemeinsamen ‚Raum der Gründe‘ als „Vehikel der Religion“ (ZeF, AA 08: 367) fungieren, wobei zunächst in der notwendigen „Erziehung des Menschengeschlechts“ offenbar der Abbau von hartnäckigen, tief verwurzelten Vorurteilen in „fleissiger Arbeit“ im Vordergrund stehen muss (wie ja auch Kant selbst demonstriert!) … Also nur die unkritische und intolerante Auffassung, die sich weigert, die eigenen Überzeugungen der Prüfung anderer auszusetzen (und sie in diesem buchstäblichen Sinne zu ‚relativieren‘), kann mit der von Assmann in der Ringparabel ausgemachten Zurückweisung „eines allzu starken absoluten Wahrheitsanspruch(s) und Offenbarungsbegriff(s)“⁵⁸ vereinbar sein. Gewiss bleiben die an der „Idee der Wahrheit“ orientierten lebenstragenden Überzeugungen auf ihre Bewährung im Lebensvollzug, in der „moralischen Lebensgeschichte jedes Menschen“ (RGV, AA 06: 143.33 – 34) angewiesen und implizieren also auch ein argumentatives und praktisches ‚Einstehen dafür‘, das die Ansprüche der anderen Religionen nicht ignoriert und sich durch diese auch buchstäblich ‚in Frage stellen‘ lässt;⁵⁹ dies besagt aber doch etwas anderes als dies, „die eigene Religion [zu] praktizieren und sie zugleich [!] … zurückzunehmen“, zumal dies in der Tat auf jene völlige „Suspension der Wahrheitsfrage“ hinausliefe, die jener Berufung auf die „innere Wahrheit“ jedoch vollends widerspricht. Wie schon gesagt: Die anzuerkennende ‚Geschichtlichkeit‘ der Offenbarung und der damit verbundenen Wahrheitsansprüche, die als solche auch stets neu interpretiert, angeeignet und somit auch ‚umgeschrieben‘ werden müssen (weil sie nur so für die jeweilige Gegenwart verständlich, ‚lebendig‘ und erschließend bleiben bzw. werden können), erlaubt es jedoch nicht, von einer gebotenen „Selbstzurücknahme, einer

 Assmann 2016, 18.  Damit ist jeder bornierten Engstirnigkeit eine Absage erteilt; auch dies übersieht offenbar Burgers besorgter Hinweis auf die „Gefährlichkeit“ der Ringparabel. Diesen Befund begründet der Wiener Philosoph Rudolf Burger damit, „dass der moderne, säkulare Flächenstaat als Neutralisierungsinstanz entstanden ist in einer Periode, in der ununterbrochen konfessionelle Kriege getobt haben, in ganz Europa. Die Berufung auf irgendwelche transzendente Wahrheiten hat die Sache nicht befriedet, im Gegenteil. Und deshalb [!] halte ich die Botschaft von Lessings Ringparabel im Grunde für gefährlich: Der Muslim, der Christ und der Jude, jeder der drei glaubt, sein Ring sei der richtige. Das ist genau das Problem, nicht die Lösung!“ (So Rudolf Burger im Interview der österreichischen Tageszeitung „Der Standard“ v. 9. April 2019, S. 21). Dass diese Zuversicht in die Echtheit des Ringes jedoch von der gebotenen „Sanftmut, herzlichen Verträglichkeit“ und „Wohltun“ begleitet sein soll, bleibt in Burgers Befürchtung allerdings ganz unerwähnt.

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Relativierung der eigenen Wahrheit“ zu sprechen, wie Assmann jedoch geltend macht.⁶⁰ Jene Formulierungen Assmanns erhärten wohl eher die Zweifel darüber, ob solches Ansinnen letztendlich nicht geradewegs darauf hinausliefe, jene Forderung eines „Raumes für Respekt zwischen den Religionen“⁶¹ stillschweigend zu unterlaufen, weil die darin implizierte Anerkennung doch vielmehr den begründend einzulösenden Wahrheitsanspruch voraussetzen muss und gerade auch in solcher Voraussetzung anderes als bloße (‚beleidigende‘) ‚Duldung‘ meint. Und allein dies lässt es wohl auch vermeiden, dass einschlägige Ansprüche in ‚pluralen Religionstheorien‘ bzw. Theorien ‚religiöser Erfahrung‘ im Grunde zuletzt völlig maßstablos blieben und über eine – vermeintlich tolerante, in Wahrheit jedoch buchstäblich ‚anspruchslose‘ – bloße ‚Ko-existenz‘ kaum hinaus kämen und von einer ‚Verbindlichkeit‘ auch gar nicht zu reden erlaubte. Denn die allein entscheidungsrelevanten Maßstäbe der „Vernunftreligion“ als „allgemeiner Menschenreligion“ sind doch solche, die sich – ‚prinzipien-orientiert‘ – eben gerade nicht bloß „auf Geschichte“ gründen und auch nur so einen gangbaren Ausweg aus der andernfalls unentscheidbaren Frage bzw. Aporie eröffnen – wenn solche notwendigen ‚Gründe‘ (und deren „innere Wahrheit“) doch tatsächlich innerhalb eines „historischen Glaubens“ nicht zu erbringen sind: „Wie kann ich meinen Vätern weniger als Du den deinen glauben?“ (Nathan: v. 1985 f.) Dies bleibt vielmehr auf die Fundamente eines „theismus moralis“ (s.o. I., 3.1.) rückverwiesen, der bei Kant deshalb eine entscheidende kritische Funktion einnimmt. Assmanns These, dass die „positiven Religionen“ „alle in gleicher [!] Entfernung zur verborgenen Wahrheit stehen“ (s.o. IV., Anm.19), ist offenbar auch mit Kants Maßstab des „moralisch bestimmten Monotheismus“ und der „natürlichen Religion“ unverträglich. Deshalb trifft auf Kant auch Assmanns Kritik an einem problematischen „eindimensionalen Monotheismus“ nicht zu, „der die eigene Wahrheit nicht nur absolut, sondern auch universal setzt und nicht nur Gott, sondern auch Religion nur im Singular denken kann.“⁶² Bezeichnenderweise lässt Assmanns Bezugnahme auf Kant auch dessen (schon erwähntes) Bedenken ganz unberücksichtigt: „Der Begriff eines nach bloßen reinmoralischen Gesetzen bestimmten göttlichen Willens lässt uns, wie nur einen Gott, also auch nur eine Religion denken, die rein moralisch ist“ (RGV, AA 06: 104.5 – 13); vgl. auch nochmals Kants kritischen Hinweis auf den „wunderlichen Ausdruck“: „Ver Assmann 2016, 16. – Jedoch auch die Lessing’sche Würdigung des neuen Testamentes als des „bessren Elementarbuches für das Menschengeschlecht“ (§64 der Erziehungsschrift: XIII, 429) bliebe andernfalls unverständlich, weil maßstablos.  Assmann 2016, 18 f.  Assmann 2010, 373.

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schiedenheit der Religionen“ (ZeF, AA 08, 367, Anm.). Gefordert ist die gemeinsame Orientierung an den Maßstäben des „reinen moralischen Religionsglaubens“. Mit Blick auf Kants Bestimmung des Christentums als „Weltreligion“ bedeutet dies: Diese Würdigung des Christentums, zur „allgemeinen Weltreligion“ berufen zu sein, besagt ja keinesfalls eine ‚einäugig‘-einseitige Verwerfung der in anderen Religionen artikulierten bzw. geltend gemachten Wahrheitsmomente; gerade jene von Kant empfohlene „authentische Schriftauslegung“ impliziert mit der darin maßgebenden Unterscheidung von „Buchstaben und Geist“ die Anerkennung des Anspruchs anderer Traditionen und ebenso das anerkennungs-orientiert zu befolgende ‚principle of charity‘ auch gegenüber religiösen Traditionen. Nicht zuletzt darin bringt sich auch die von Kant geteilte hermeneutische Einsicht zum Ausdruck, dass auch ein ‚heiliger‘ Text ‚mit sich reden lassen muss‘, weil er doch nur so – im Sinne jenes ‚tua res agitur‘ – auch etwas ‚zu sagen hat‘, und nicht bloß dessen starre – ‚nichts-sagende‘ Wiederholung diktiert, die derart ‚Worte des Lebens‘ in „tote Buchstaben verwandelt“⁶³ bzw. damit verwechselt, das heißt, sich nicht als „seelenloser Orthodoxism“ auf ein bloßes „da stehts geschrieben“ beruft. Solch gebotener respektabler ‚Umgang‘ mit anderen religiösen Traditionen veranlasste Kant aber auch zu einem kritischen Ausblick darauf, ob und wie weit ebendies auch in anderen Traditionen der Fall ist.⁶⁴ Also nicht nur für die den „historischen Glaubensarten“ innewohnenden Sinngehalte und ‚semantischen Potentiale‘ sah Kant die Möglichkeit und Notwendigkeit einer maßstab-orientierten Beurteilung, sondern ebenso für den vernunftorientierten Umgang mit den für diese religiösen Traditionen maßgebenden ‚heiligen Texten‘ selbst, wie er mit Blick auf erhobene Ansprüche des „biblischen Theologen“ (und anderer ‚Überlieferungsautoritäten‘) betonte (s.o. II., 3.2.). Im Vorblick auf Assmanns Kant-Bezug sei noch dies angemerkt: Schon gegenüber der von Assmann resümierten „Moral von der Geschichte“ der Lessingschen Ringparabel (s.o. IV., Anm. 20) hätte auch Kant – im Sinne einer philosophisch-theologischen ‚Kunst der Differenzierung‘ – wohl jene ausweisbaren Kriterien geltend gemacht, die ja keinesfalls auf die Behauptung bzw. Rechtfertigung ‚exklusiver und absoluter‘ Offenbarungsansprüche hinauslaufen, sondern durchaus auch der Idee der Geschichtlichkeit einer möglichen Offenbarung Rechnung tragen bzw. jedenfalls den Raum dafür offenhalten müssen. Auch sein einschlägiger Verweis auf den diesbezüglichen „Fortschritt des Menschenge XIII, 120.  Insofern hätte Kant freilich seinen prüfenden Versuch, „nämlich von irgend einer [!] dafür gehaltenen Offenbarung auszugehen“ (RGV, AA 06: 12.16 – 17), über das Christentum hinaus weiter ausdehnen müssen.

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schlechts“ (in der „Kultivierung der Vernunft“, durch jene „größere Bearbeitung sittlicher Ideen, die durch das äußerst reine Sittengesetz unserer Religion notwendig gemacht wurde“ (KrV, B 845), erlaubt ebendies und eröffnet ebenso die Aussicht auf eine geist-geleitete⁶⁵ Möglichkeit sowie die Notwendigkeit eines geschichtlich fortschreitenden sinn-erschließenden Verstehens von Offenbarungsansprüchen, die folglich eine einseitige Verabsolutierung diesbezüglicher Wahrheitsansprüche geradewegs verbieten muss und gleichwohl auf möglichen und auch unentbehrlichen Maßstäben der Beurteilung insistiert – ungeachtet der notwendigen ‚praktischen‘ Bewährung der Religionen.

2 Eine von Assmann diagnostizierte Selbstrelativierung der „historischen Glaubensarten“ bei Kant? Weshalb sich die „performative Wendung der Wahrheitsfrage“ zu Unrecht auf Kant beruft Man kann Assmanns Anliegen auf den ersten Blick im Zusammenhang mit einem von Kant entschieden herausgestellten Grundübel bzw. der Gefahr sehen, die den „historischen Glaubensarten“ latent innewohnt –, dass nämlich die zwar notwendigen „Vehikel der Introduktion“ der „reinste(n) moralische(n) Religionslehre“ sich selbst eben nicht lediglich als ‚Medium‘ derselben verstehen (und sich im buchstäblichen Sinne ‚relativieren‘), sondern sich in ihrer geschichtlichen Partikularität vielmehr zur exklusiven Hauptsache verkehren, statt ein reflexives Bewusstsein über diese je eigene Partikularität – und eine daran geknüpfte ‚dezentrierende‘ Selbstrelativierung und Horizont-Erweiterung – auszubilden. Dies erst erlaube eine „Selbsterhaltung der Vernunft“ im Sinne einer Unabhängigkeit von der ‚Fremdbestimmung‘ des „historischen Glaubens“ als eines (an sich jedoch unzureichenden) „bestimmte(n), sich beständig erhaltenden Systems“ (RGV, AA 06: 114.23) und könnte zugleich – in Überwindung ihrer „nur partikuläre(n) Gültigkeit“ (RGV, AA 06: 115.8 – 9)⁶⁶ – als ein notwendiges und gleichermaßen als solches anerkanntes Richtmaß dafür fungieren. Natürlich hätte deshalb auch Kant – und zwar in gebotener Rücksichtnahme auf die Grundsätze – der

 Die Forderung, „zwischen Buchstabe und Geist, das heißt: zwischen Bibel und Religion [zu] unterscheiden“ (Assmann 2016, 21), ist ein Grundprinzip der „philosophischen Schriftauslegung“ Kants, die zweifellos an Lessing erinnert (s.o. II., 3.2.).  Schon das Bewusstsein „von dem partikulären Kirchenglauben als Geschichtsglauben“ (SF, AA 07: 67.8 – 9) setzt freilich ein distanzierend-reflexives Verhältnis zu eben dieser ‚Partikularität‘ voraus.

2 Eine von Assmann diagnostizierte Selbstrelativierung

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„christlichen Religion“ als „natürlicher Religion“ offenbar in besonderer Weise die künftig noch einzulösende Aufgabe zugemutet, auch ein solches reflexives Bewusstsein über die je eigene (geschichtliche) Partikularität auszubilden – denn erst dies befähigt dazu, sich zu diesen Weltreligionen auf eine Weise ins Verhältnis zu setzen, die nicht zuletzt auch ein bloß inflationäres Toleranz-Verständnis vermeiden lässt. Derart ist nach Kant den jeweiligen Gestalten des „Kirchenglaubens“ sodann freilich das selbstrelativierende Bewusstsein zugemutet, „dass der geglaubte Gegenstand [nicht] so und nicht anders sein müsse, sondern nur, dass er so sei“ (RGV, AA 06: 115.11), d. h. somit auch eingeräumt werden müsse, dass es vom „Kirchenglauben“ durchaus „mehrere geben kann“ (ebd. 115.13 – 14). Kants Anliegen wäre demnach nach Assmann folgendermaßen zu verstehen: Die allein im Erwachen „geläuterter Religionsbegriffe“ geleistete Selbsterhaltung als „Religion“ wäre geradewegs mit einer notwendigen Selbstrelativierung als „historischer Glaubensart“ engstens verbunden. Erst dadurch, dass sich das Christentum aus seinen partikulären Erscheinungsformen als „historischen Glaubensarten“ entbindet, vermag es seinen substanziellen Gehalt als „natürliche Religion“ auf eine Weise zu entwickeln, die es nunmehr erst dazu freisetzt, „allgemeine Weltreligion“ zu sein. Indes, die von Kant nur beiläufig angedeutete letzte – paradoxe – Konsequenz daraus wäre sodann freilich dies, dass das „zur Weltreligion“ bestimmte Christentum sich hinsichtlich seiner eigenen geschichtlichen „Partikularität“ und Kontingenz – d. h. freilich: als „bloßer Geschichtsglaube“ überhaupt – gewissermaßen selbst überwinden, von sich selbst loslösen (bzw. gerade von seiner partikulären geschichtlichen Erscheinung ‚abstrahieren‘) müsste und erst dergestalt, das heißt in bzw. durch solche ‚Selbstaufhebung‘, ‚absolut‘ werden, d. h. als „allgemeine Menschenreligion“ taugen könnte (s. dazu o. I., 3.).⁶⁷ Gewiss sind die Institutionen jener geschichtlichen „Glaubensarten“ nicht zuletzt auch daran zu bemessen, was sie – prinzipien-orientiert – zu ihrer humanisierenden ‚Selbstrelativierung‘ beigetragen haben – nämlich im Sinne der zu überwindenden Partikularität und ihrer verständigungs-orientierten Beziehung

 Diese Konsequenz zieht offenbar Dörflinger, der im Blick auf die „entwickelten aufgeklärten Maßstäbe Kants“ zu dem „ernüchternden Befund“ darüber gelangt, „in welchem Religionszustand … sich unsere Zeit befindet“: „Es ist nicht zu erkennen, dass eine der partikularen historischen Glaubensarten den absoluten Anspruch aufgegeben hätte, die einzig wahre zu sein. Verlangt wäre allerdings noch mehr als dies, nämlich das Ziel der letztlichen Selbstaufhebung um der Universalität der moralischpraktischen Vernunft willen ins Selbstverständnis aufzunehmen“ (Dörflinger 178); erst so wären die Ansprüche der geschichtlichen „Besonderheit“ mit dem „Allgemeinen“ vereint.

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untereinander und der daraus resultierenden Wirklichkeits-Erschließung jenseits bloßer ‚Selbstbehauptungs-Interessen‘ (von jenen „Geschäftsleuten eines sich selbst erhaltenden Systems“) –, ohne damit jedoch den jeweiligen Wahrheitsanspruch der Religionen im Grunde stillschweigend preiszugeben; erst dies eröffnet auch ein angemessenes Verständnis von ‚Toleranz‘ und vermag Religion gleichermaßen vor ‚kulturrelativistischen‘ Aushöhlungen und vor ‚psychologisierenden‘ Verkürzungen zu bewahren. Freilich wäre vor diesem Hintergrund – wohl im Sinne einer sehr provokanten Zuspitzung – nicht zuletzt im Vorblick auf Lessing die Frage geradezu unabweislich: Liefe Kants Programm einer „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ letztendlich nicht darauf hinaus, dass das von seinen historisch bedingten „Hüllen“ und „Observanzen“ befreite Christentum, das eben als „natürliche Religion“ dazu bestimmt wäre, „allgemeine Weltreligion zu sein“, sich selbst konsequenterweise in seinen Ansprüchen als „historischer Glaube“ relativieren müsste – d. h.: sich als „sich selbst erhaltendes System“ eines „Kirchenglaubens“ (vgl. RGV, AA 06: 114.22– 23) nicht lediglich zu den anderen (monotheistischen) „Glaubensarten“ ins Verhältnis zu setzen, sondern sich, ungeachtet gegenteiliger Versicherungen, auch selbst als eine solche aufzuheben – d. h.: aufzugeben? – hätte? Müsste es sich, einer solchen (vermeintlich) kantischen Perspektive zufolge, somit nicht aus dem geschichtlichen Entwicklungsprozess der Religionen gleichermaßen als ‚sich relativierend‘ begreifen – möglicherweise als eine kantische Version der Lessing’schen Ringparabel und ebenso als Versuch, den Absolutheitsanspruch des Christentums als der „natürlichen Religion“ aus den genannten Gründen zugleich noch einmal zu legitimieren? Der jüdisch-christlichen Religion als „historischer Religion“ bliebe demnach nach Kant folgerichtig ihre besondere Stellung bzw. die Erfüllung der Aufgabe insofern einzuräumen, dass sie, gemäß jenem Hinweis auf die „durch hergebrachte fromme Lehren erleuchtete praktische Vernunft“, diesen für die Entfaltung der „Geschichte der reinen Vernunft“ so bedeutsamen Fortschritt selbst ermöglicht und auch ‚bewirkt‘ hat⁶⁸  Nicht zuletzt hätte Schelling in solcher Relativierung lediglich eine notwendige Konsequenz aus dem „vulgären Rationalismus“ der kantischen Religionsphilosophie gesehen, die den wesentlich geschichtlichen Charakter des Christentums verkennt – und damit auch dies, dass der geschichtliche ‚Jesus als der Christus‘ eben nicht nur Lehrer, sondern der wesentliche Inhalt des Christentums ist. Gegen Lessing und auch gegen Kant richtete sich wohl Schellings Bemerkung, „dass der Begriff einer Offenbarung entweder gar keinen Sinn hat und völlig aufgegeben werden muss, oder dass man genötigt ist, einzuräumen, der Inhalt der Offenbarung müsse ein solcher sein, der ohne sie nicht nur nicht gewusst würde, sondern nicht einmal gewusst werden könnte“ (Schelling XIV, 5). Indes, Kant und auch Lessing waren für dieses Anliegen Schellings in gewisser Weise durchaus empfänglich, wie auch die von Kant eingeräumte notwendige „Belehrung“ (s.o. II., Anm. 236) und Lessings Rekurs auf jenes „etwas Mehreres“ (s.o. II., 4.2.) zeigt.

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und nur daraus auch die resultierende „Allgemeinheit, Einheit und Notwendigkeit“ als „natürliche Religion“ beanspruchen kann. Lediglich als eine Konsequenz aus diesem Gedanken könnte demnach die – gewissermaßen paradoxe – Zumutung erscheinen, dass dergestalt die eigentliche ‚Realisierung‘ als eine ‚geschichtlich-positive Religion‘ geradewegs auf ihre Selbstaufhebung hinauslaufen müsste –, das heißt aber: dass ihre besondere ‚Positivität‘ als ‚geschichtliche Religion‘, ebenso deren spezifische Legitimation als „reine Vernunftsache“, infolgedessen doch genau darin zu sehen wäre. Indes, (wie) könnte dies eine „historische Glaubensart“ denn als ‚universale concretum‘ leisten, ohne damit ihre besondere Identität als geschichtliche Religion vollends preiszugeben? Dies wäre freilich auch lediglich eine Konsequenz jenes Gedankens, dem zufolge „die biblische Glaubenslehre … vermittelst der Vernunft aus uns selbst [!] entwickelt werden kann“ (SF, AA 07: 59.21– 23) Einschlägige Rückfragen auch an Kant sind wohl unumgänglich. Assmanns „performative Wendung der Wahrheitsfrage“ und seine daraus gezogene „Moral von der Geschichte“ beruft sich zuletzt auch auf Kant. Es ist deshalb erforderlich, sowohl im Blick auf Lessing als auch auf Assmanns LessingInterpretation einige Leitmotive Kants zu vergegenwärtigen, die mit Assmanns Sichtweise bzw. mit seiner Bezugnahme auf Kant ohne nähere Differenzierungen wohl nicht vereinbar sind.Wenn jene Sichtweise Assmanns – die er sodann als die „performative Wendung Lessings“ geltend macht – richtig ist (wofür in der Tat vieles spricht), so sind eben damit, wenigstens indirekt, jedoch auch wesentliche Unterschiede zu Kant angezeigt. Dessen kritische Überlegungen widersprechen jedenfalls auch diesem Vorhaben einer „performativen Wende“ in einigen grundlegenden Hinsichten und machen überdies nochmals deutlich, weshalb Kants Religionsphilosophie der Sache nach – und zwar ungeachtet der in vielen Bezügen unübersehbaren motivlichen Nähe seiner Religionsphilosophie zu Lessing – auch gewichtige Einwände gegen ihn gerichtet hat (bzw. hätte), die freilich zum Teil auch Leitideen des „Nathan“ – und nicht zuletzt auch deren Interpretation durch Assmann – betreffen. Dass Assmann im Kontext des von ihm intendierten Aufweises einer „performativen Wende der Wahrheitsfrage“ in Lessings „Nathan“ in motivlicher Hinsicht auch bei Kant Anhaltspunkte finden will, ist freilich auch mit Blick auf seine Einschätzung der „Ringparabel“ von besonderem Interesse. Dabei soll sich unter neuen Gesichtspunkten erweisen, weshalb Kant jener – von Assmann geltend gemachten – angeblichen „Kernbotschaft der Ringparabel“ wohl widersprochen und darin überdies eine unsachgemäße – weil nivellierende – Gewichtung gesehen hätte, die auch wesentliche Aspekte des „moralisch bestimmten Monotheismus“ und dessen kritische Maßstab-Funktion ausblendet. Ebenso soll sich zeigen, weshalb Kant die von Assmann aus Lessings Ringparabel

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abgeleitete (schon zitierte) „Moral von der Geschichte“ wohl kaum als letztes Wort akzeptiert hätte, dass nämlich die „Wahrheit der Religion … weder historisch noch theologisch zu erweisen“ sei, „sondern nur praktisch bzw. ‚performativ’. Die Wahrheit einer Religion erweist sich in ihren Wirkungen und nicht in ihren Dogmen“⁶⁹. So sehr Kant Lessings Ablehnung einer sich selbst vergötzenden Dogmatik (und deren Vertreter) teilte und auch ihm zufolge „alles … in der Religion aufs Tun“ ankommt (SF, AA 07: 41.36 – 37), so entschieden bestand er wohl auf der nicht – ‚gleich-gültig‘ – zu nivellierenden Prinzipienfrage, die den Rückzug auf eine je „eigene Wahrheit“ verbieten muss; ebendies impliziert ja auch jene berechtigte – weil begründungsorientierte – Frage Saladins (s.o. III., Anm.45).

2.1 Assmanns Berufung auf das – kantische? – Motiv einer „Theologie des als ob“: Die Wahrheit der Religion „im Modus des als ob“? Nun will Assmann jedoch seine Interpretation der performativen Wendung der Wahrheitsfrage in Lessings Ringparabel und in dessen Verständnis der „performativen Theologie“ als einer „Theologie des Als ob“ auch in einem engen Zusammenhang mit zu erwägenden religionsphilosophisch-theologischen „Als-ob“Kennzeichnungen sehen. Er beruft sich diesbezüglich im Kontext seines beanspruchten Aufweises der „performativen Wende der Wahrheitsfrage“ bei Lessing nun bemerkenswerterwiese vor allem auf theologische ‚Als-ob‘-Perspektiven Kants: In der kantischen „Verbindung von Als ob und Performativität“ möchte Assmann sogar „genau die Moral von Lessings Ringparabel“⁷⁰ wiedererkennen und führt als Beleg dafür auch folgende Stelle aus einem „losen Blatt“ von Kants später Preisschrift über „die wirklichen Fortschritte in der Metaphysik …“ an: „Die Ideen von Gott und Zukunft bekommen durch moralische Gründe nicht objektiv theoretische sondern bloß praktische Realität so zu handeln als ob [!] eine andere Welt wäre“.⁷¹ So will Assmann Lessings Ringparabel und sein Verständnis der „performativen Theologie“ als einer „Theologie des Als ob“ also auch in einem engen sachlichen Zusammenhang mit religionsphilosophisch-theologischen „Als-ob“-Bestimmungen bei Kant verstehen. Dieses ‚als ob‘ hat indes bei Kant keinesfalls einen ‚fiktionalen‘ Sinn, sondern zielt vielmehr in der Tat auf die

 Assmann 2016, 15.  Assmann 2016, 33.  FM/Lose Blätter, AA 20: 341.25 – 27. Zum Folgenden s. auch Langthaler (2018).

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notwendige ‚praktische Bewährung‘, die durch keine Demonstrierbarkeit ersetzt werden kann.⁷² So auffällig und in sachlicher Hinsicht bemerkenswert diese späten ‚als-ob‘Wendungen Kants zweifellos auch sind (sie sind allesamt in seiner ausdrücklich vollzogenen Analogisierung von „natürlicher“ und „moralischer Teleologie“ verankert),⁷³ so hätte Kant jedoch Assmanns Interpretation der „performativen Wende der Wahrheitsfrage“ – abgesehen von den schon erwähnten Punkten (s. o. IV., 1.) – wohl eher skeptisch-ablehnend beurteilt. Assmanns einschlägige Bezugnahmen – so nicht zuletzt schon die behauptete kantische „Verbindung von

 Refl. 6351 (AA 18, 678): „(V)om synthetisch praktischen Erkenntnis apriori heißt es auch, dass es bloß subjektiv sei; (des Willens) Freiheit ist das erste, – und die transzendentalen Begriffe von Gott und Unsterblichkeit gehen nur auf die Prinzipien meiner Handlungen. Ich soll so handeln, also ob ein Gott und künftig Leben sei. Wie sind synthetische Sätze des Übersinnlichen möglich? Als regulative Prinzipien des Praktischen, nicht als konstitutive des theoretischen Erkenntnisses“; als solche „regulative Prinzipien des Praktischen“ (nicht des „Theoretischen“) begründen sie auch die „Artikel des Glaubens“. Vgl. auch Refl. 6358, AA 18, 683: „Praktische Idee als regulativ princip, so zu handeln, als ob ein Gott und andere Welt wäre“; s. ebenso die erhellende Refl. 6360: „ … so zu handeln, als ob jene Ideen zugleich objektive theoretische Realität haben“ (AA 18, 690). „Nur durch und für das moralische Gesetz bekommen die theoretischen Ideen von Gott und Unsterblichkeit ihre (practische) Realität.“ (Refl. 6357, AA 18, 682); „so zu handeln, als ob ein Gott sei“ (Log, AA 09: 93.7); „so zu handeln, als ob wir wüssten, dass diese Gegenstände (Gott, höchstes Gut, Unsterblichkeit der Seele) wirklich wären“ (FM, AA 20: 298.29 – 30). „Wir haben hinreichende und genugsame Erkenntnisse Gott zu denken als angemessen unsrer praktischen Vernunft, was zureichend ist, so zu handeln, als ob wir ihn erkennten. Wir haben, wenn wir einen Gott glauben, mehrere Triebfedern gut zu handeln, und sehen ein, dass die Handlungen nach der göttlichen Güte und Gerechtigkeit Erfolge haben werden, die sie verdienen, und dass die Bestrebung nach dem höchsten Gut nicht auf eine Chimäre hinausläuft. Die Annahme, dass ein Gott sei, ist von der höchsten Wichtigkeit für unsere Moralität, und hierzu ist es hinreichend, dass wir ihn nur per analogiam erkennen.“ (V-Met/Heinze, AA 28.2.1.: 800). Diese keinesfalls als ‚fiktionalistisch‘ zu entlarvende praktische ‚Als-ob‘-Perspektive begegnet vornehmlich auch in den oben angeführten späten Reflexionen Kants, so auch in der auf „frühestens Oktober 1797“ datierten Refl. 6351 (AA 18, 678); vgl. nochmals auch Refl. 6358: AA 18, 683; und die ähnliche Aufforderung, „nämlich uns so zu verhalten, als ob ihre Gegenstände (Gott und Unsterblichkeit), die man also in jener (praktischen) Rücksicht postulieren darf, gegeben wären“ (VNAEF, AA 08: 416.19 – 21).  „(M)an kann und soll die Welt nach der Analogie mit der physischen Teleologie, welche letztere uns die Natur wahrnehmen lässt (auch unabhängig von dieser Wahrnehmung) apriori als bestimmt, nämlich dem Endzweck aller Dinge nach Gesetzen der Freiheit zusammen anzutreffen, annehmen, um der Idee des höchsten Gutes nachzustreben, welches als ein moralisches Produkt, den Menschen selbst, als Urheber (so weit es in seinem Vermögen ist), auffordert [!]“ (FM, AA 20: 307.29 – 35). Dieser „Analogie“ verdankt sich offenkundig auch Kants bemerkenswerte Bestimmung des „reflektierenden Glaubens“ (RGV, AA 06: 52.32).

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Als ob und Performativität“ – bleiben in der Tat mehreren schwerwiegenden Einwänden ausgesetzt. Vor allem bleibt schon darauf zu achten,⁷⁴ dass der ‚performative‘ Sinn des kantischen ‚Als ob‘ in diesem religionsphilosophischen Kontext einen ungleich radikaleren – buchstäblich an die ‚Wurzel‘ gehenden – Anspruch artikuliert, als dies bei Lessing der Fall ist – so etwa, wenn es bei Kant auch heißt: „An ihn [Gott als „Weltherrscher“] aber moralisch praktisch glauben, heißt nicht seine Wirklichkeit vorher theoretisch für wahr annehmen [⁷⁵], damit man, jenen gebotenen Zweck zu verstehen, Aufklärung und, zu bewirken, Triebfedern bekomme: denn dazu ist das Gesetz der Vernunft schon für sich objektiv hinreichend; sondern um nach dem Ideal jenes Zwecks so zu handeln, als ob eine solche Weltregierung wirklich wäre: weil jener Imperativ (der nicht das Glauben, sondern das Handeln gebietet) auf Seiten des Menschen Gehorsam und Unterwerfung seiner Willkür unter dem Gesetz, von Seiten des ihm einen Zweck gebietenden Willens aber zugleich ein dem Zweck angemessenes Vermögen (das nicht das menschliche ist) enthält, zu dessen Behuf die menschliche Vernunft zwar die Handlungen, aber nicht den Erfolg der Handlungen (die Erreichung des Zwecks) gebieten kann, als der nicht immer oder ganz in der Gewalt des Menschen ist.“ (VT, AA 08: 396 Anm.)⁷⁶ Demnach liegt der performative Gehalt des kantischen ‚Als ob‘ auf einer Ebene, die derjenigen Lessings offenbar noch voraus- bzw. zugrunde liegt; sie zielt nämlich auf die Frage nach dem „Dasein Gottes“ („Ist ein Gott?“), die der strittigen Frage nach der Wahrheit der Religionen bzw. der Offenbarungsansprüche noch vorausliegt. Anders gesagt: Man muss doch schon auf dem festen Boden des

 Die nachfolgenden Überlegungen sind eine Ergänzung zu den im 2. Kapitel des „ersten Teiles“ vorgestellten Ausführungen, die nunmehr an Assmanns Lessing- und Kant-Interpretation anschließen.  Auch hier klingt noch seine Kritik an den Ansprüchen in Mendelssohns Konzeption der „natürlichen Religion“ nach: nämlich dass dieser darin der „Maxime der Notwendigkeit, im spekulativen Gebrauche der Vernunft (welchem er sonst in Ansehung der Erkenntnis übersinnlicher Gegenstände sehr viel, sogar bis zur Evidenz der Demonstration, zutraute) durch ein gewisses Leitungsmittel, welches er bald den Gemeinsinn (Morgenstunden), bald die gesunde Vernunft, bald den schlichten Menschenverstand (an Lessings Freunde) nannte, sich zu orientieren“ (WDO, AA 08: 133.22– 28).  Ähnlich lautende Stellen finden sich auch beim späteren Kant, so z. B. EaD, AA 08: 330.24– 29: „Mithin müssten wir uns auch der jenem Verdienst oder dieser Schuld angemessenen Folgen, unter der Herrschaft des guten oder des bösen Prinzips, für die Ewigkeit gewärtigen; in welcher Rücksicht es folglich weise ist, so zu handeln, als ob ein andres Leben, und der moralische Zustand, mit dem wir das gegenwärtige endigen, samt seinen Folgen, beim Eintritt in dasselbe unabänderlich sei“.

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‚Gottesglaubens‘ stehen, um überhaupt die Frage nach der rechtmäßig beanspruchten Offenbarung Gottes (und somit der „Echtheit des Ringes“) stellen zu können; deshalb stellt sich, mit Blick auf Lessings Ringparabel gesprochen, auch die Frage nach der „Erweislichkeit des rechten Ringes“ nach Kant doch wesentlich radikaler: Diese strittige Frage nach der Entscheidbarkeit der Echtheit des Ringes – „der echte Ring ist nicht erweislich“⁷⁷ – setzt jedenfalls die Existenz dieses (oder doch verloren gegangenen?) Ringes sowie diejenige des diesen Ring ‚spendenden‘ Vaters schon voraus. Kants performatives ‚Als ob‘ zielt hingegen auf diese Wirklichkeit Gottes selbst, die weder unbefragt-‚dogmatisch‘ vorausgesetzt noch als eine erst performativ „herzustellende Wirklichkeit“ aufgelöst werden darf. Dagegen formulierte Kant sein (wohl auch gegen Lessing gerichtetes) Bedenken: „Der Begriff von Gott und selbst die Überzeugung von seinem Dasein kann nur allein in der Vernunft angetroffen werden, von ihr allein ausgehen, und weder durch Eingebung, noch durch eine erteilte Nachricht von noch so großer Auktorität zuerst in uns kommen“ (WDO, AA 08: 142.9 – 12). Mit Blick auf Assmanns Interpretation von Lessings Ringparabel erweist sich demnach: Lessings „performative“ Wendung (im Sinne Assmanns) ist im Vergleich zu Kant schon deshalb weniger grundsätzlich, weil Kants Problemstellung doch auf die grundsätzliche Frage nach der Existenz des Ringes („Ist ein Gott?“) abzielt und sich nicht mit der Entscheidung darüber begnügt, wer den echten Ring besitzen mag (dessen Existenz dabei ja stillschweigend schon vorausgesetzt wird). Um in Assmanns Bild zu bleiben: Gegenüber der Lessing‘schen Voraussetzung „Dass es die Wahrheit gibt, wird nicht bestritten. Es gibt den echten Ring: Aber er ist nicht auszumachen, die Wahrheit ist verborgen, sie ist immer nur anzustreben, aber niemals zu besitzen“,⁷⁸ bleibt für Kant indes ebendiese Existenz des „echten Ringes“ eine (auch von Lessing) noch ganz unausgewiesene Voraussetzung einer – deshalb noch vorkritischen – Konzeption einer „natürlichen Religion“, auf deren rational-undogmatische Einlösung – d. h. jenseits eines „doktrinalen“ Glaubens einer „dogmatischen Metaphysik“ – sich zunächst die Einlösung des mit seinem ‚performativen Als-ob‘ verbundenen Anspruchs bezieht. Das von Assmann mit Blick auf Lessing geltend gemachte Motiv der „Kraft des Rings, seinen Träger ‚bei Gott und Menschen angenehm’ zu machen“,⁷⁹

 Assmann 2016, 18.  Assmann 2016, 20.  Assmann gibt mit Bezug auf den angeführten Lessing-Passus „bei Gott und den Menschen beliebt zu machen“ (so lautet – hier – Assmanns abweichende Version desselben) dies zu bedenken: „Dieses ‚und‘ [Gott und den Menschen] ist übrigens alles andere als verständlich. Zur biblischen Ethik gehört die Vorstellung, dass göttliches und menschliches Urteil weit auseinandergehen können und dass dem auf Erden bei den Menschen Verachteten und Verfolgten bei Gott

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IV Ein kritischer Blick auf Jan Assmanns Lessing- und Kant-Rezeption

überspringt gewissermaßen diese noch elementarere Begründungsebene. Die Auffassung von einer „der Ordnung des Gegebenen“ entzogenen, erst „im Handeln herzustellenden [!] Wirklichkeit“ widerspricht dieser Auffassung ohnehin und wird damit auch dem Anspruch der erst einzulösenden kantischen These noch nicht gerecht: „Es ist moralisch notwendig, das Dasein Gottes anzunehmen“ (KpV, AA 05: 125.30). Die von Lessing als Basis in Anspruch genommene „natürliche Religion“ ist folglich nicht einfachhin mit der „natürlichen Religion“ Kants und deren Begründung gleichzusetzen; auch jener von Lessing geltend gemachte „performative“ Akt vermag sich nach Kant eben nicht selbst zu begründen bzw. zu tragen, sondern setzt ihm zufolge den vorgängig theoretisch als nicht „unmöglich“, ja sogar als notwendig ausgewiesenen ‚Grenzbegriff‘ des Absoluten (als Idee des „allerrealsten Wesens“) schon voraus.⁸⁰ So aufschlussreich bzw. denkwürdig diese einschlägigen späten ‚Als-ob‘-Bestimmungen Kants auch sind (in denen die von ihm früher so bezeichneten „beiden Kardinalsätze: Es ist ein Gott, es ist ein künftiges Leben“ [KrV, B 769 f] in der Tat einen gewandelten Status gewinnen), so darf dies jedoch auch nicht über den entscheidenden Sachverhalt hinwegsehen lassen, dass Kant vorgängig eben schon die widerspruchsfreie Denkbarkeit und die Unverzichtbarkeit der philosophischen ‚Gottesidee‘ als „Minimum der Erkenntnis (es ist möglich, dass ein Gott sei)“ (RGV, AA 06: 153 Anm.) ausgewiesen hat, sofern das „transzendentale Ideal“ als der „notwendige Inhalt der Vernunft“

im Himmel Liebe und Gerechtigkeit widerfährt“ (Assmann 2010, 410 Anm. 35). Und schon dafür bedarf es eben ausweisbarer Kriterien, die folglich auch nicht empirischer Natur sein können. Indes, sachlich bedeutsamer scheint das zu Beginn dieser Anmerkung erwähnte (in Assmanns ungenauer Wiedergabe des Zitats jedoch unberücksichtigte) Fehlen des Artikels zu sein; dies könnte demnach gerade im Sinne einer Abwehr eines gewissermaßen verflachten „aufklärerischen“ Religionsverständnisses verstanden werden. Relativiert wird diese Vermutung freilich dadurch, dass Nathan später jedoch ausdrücklich von der „Wunderkraft“ des „rechten Rings“ spricht, „beliebt zu machen; vor Gott und Menschen angenehm“ (Nathan: v. 2015 ff.); s. nächste Anm.. Das Fehlen des Artikels erinnert aber vor allem auch an Lessings Unterscheidung (in den zeitnahen Freimaurergesprächen zwischen Ernst und Falk) zwischen „solchen Menschen“ (die ihre ‚Identität‘ aus ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion oder ‚Nation‘ definieren bzw. ableiten) und jenen „Menschen“, auf die Nathans berühmte Frage abzielt: „Sind Christ und Jude eher Christ und Jude, als Mensch? Ah! wenn ich einen mehr in Euch Gefunden hätte, dem es genügt, ein Mensch zu heißen!“ (Nathan: v. 1310 ff.)  Es bleibt eben darauf zu achten, dass Kant die „Vernunftideen“ als die jetzt erwogenen „reinen Vernunftbegriffe“ als „nicht willkürlich erdichtet, sondern durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben“ ausweist (KrV, B 384), und auf diesem unumgänglichen Fundament erst seine Religionsphilosophie errichtet; erst dadurch ist gewährleistet, dass die späteren „als-ob-Bestimmungen“ („handle so als ob …“ u. ä.) nicht ‚freischwebend‘-fiktional werden.

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bestimmt wurde,⁸¹ der diese erst „abschließt und krönt“. Dieser „transzendentale Begriff von Gott, als dem allerrealsten Wesen“, erweist sich sonach als unumgänglich, weil nur so der notwendige ‚terminus ad quem‘ des „Vernunftglaubens“ gewahrt bleibt und folglich auch nicht durch eine beanspruchte „affektive Beziehung zur Wirklichkeit Gottes“⁸² ersetzt bzw. überlagert werden kann. Die (von Lessing) darin stillschweigend – eben ‚vor-kritisch‘ – vorausgesetzte Basis der „natürlichen Religion“ (s.o. II.,2.) schien deshalb für Kant eine noch unausgewiesene ‚metabasis‘ zu sein – denn die hier schon vorausgesetzte Gotteserkenntnis stellt nach Kant einen überzogenen – überschwänglichen – Anspruch dar, in dem sich eine (auch von Lessing noch nicht durchschaute) ‚dogmatische‘ Vermessenheit manifestiert. Einer „moralisch konsequenten Denkungsart“ (und dem darin verankerten ‚Vernunftbedürfnis‘) zufolge ‚assertorisch‘ glauben zu müssen, „als ob ein Gott sei …“: Dies stellt – jenseits von bloßem Wunschdenken, Option und Fiktion – eine späte Version der kantischen Figur der „Einschränkung der theoretischen“ und der „Erweiterung der praktischen Vernunft“ dar (s. dazu bes. KpV, AA 05: 134 ff) und relativiert so auch die Vorstellung, dass die Wahrheit „in der Religion nur im Modus des als ob gegeben“ sei.⁸³ Nach Kant müssen die Menschen eben nicht allein so leben, ‚als ob‘ die Offenbarungsansprüche der je eigenen Religion legitim wären und ebendies in der praktischen Bewährung sich manifestieren müsse bzw. könne; sie beziehen sich in ihrem umfassenden Bedürfnis, sich „im unermesslichen und für uns mit dicker Nacht erfüllten Raum des Übersinnlichen“ (WDO, AA 08: 137.10 – 11) im Denken, Handeln und Hoffen (in der „Welt, darin wir leben“: FM, AA 20: 307.25 – 26) orientieren zu müssen, vielmehr vorgängig auf das schon vorausliegende – freilich nicht ‚fiktionale‘ – ‚als ob‘ des Daseins Gottes selbst. Wohl auch deshalb wird Assmanns Bezugnahme auf jene kritischen ‚Als-ob‘-Aspekte den radikalen Ansprüchen, die Kant mit der Fundierung einer kritischen Konzeption eines „Vernunftglaubens“ (und somit einer „allgemeinen Menschenreligion“) verbindet, noch nicht gerecht.⁸⁴

 Dies ist nach Kant eine Voraussetzung für den gesuchten Nachweis, dass „Gott doch kein Wahn“ sei (AA 18, 510),  Assmann 2016, 30.  Assmann 2016, 19. Damit kommt Assmann freilich der berühmten fiktionalen „Als-ob-Konzeption“ Vaihingers doch sehr nahe.  Die nach Assmann bei Mendelssohn zu beobachtende (und von ihm als „das Neue“ gewürdigte) Ergänzung von „Offenbarungsreligion und natürliche Religion“ (Assmann 2010, 175) hätte Kant – abgesehen von den gegen diese „natürliche Religion“ geäußerten kritischen Bedenken – wohl mit der Rückfrage konfrontiert, ob denn ein solches „Nebeneinander“ mit der Idee der „natürlichen Religion“ als Maßstab der „geschichtlichen Glaubensarten“ verträglich ist.

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IV Ein kritischer Blick auf Jan Assmanns Lessing- und Kant-Rezeption

Allein dies erlaubt es Kant auch, seine späten „Als-ob“-Bestimmungen darauf zu stützen und veranlasste ihn zuletzt zu der gewiss sehr bemerkenswerten Argumentation, die offenbar auch vorweg dem ‚Fiktions‘-Verdacht begegnen will: Denn es sei sein „Argument, das Dasein Gottes, als eines moralischen Wesens, für die Vernunft des Menschen, so fern sie moralisch-praktisch ist … also eigentlich nicht ein Beweis von seinem Dasein schlechthin (simpliciter), sondern nur in gewisser Rücksicht (secundum quid), nämlich auf den Endzweck, den der moralische Mensch hat, und haben soll, bezogen, mithin bloß der Vernunftmäßigkeit ein solches anzunehmen, wo dann der Mensch befugt ist, einer Idee, die er, moralischen Prinzipien gemäß, sich selbst macht, gleich als ob [!] er sie von einem gegebenen Gegenstande hergenommen, auf seine Entschließungen Einfluss zu verstatten.“ (FM, AA 20: 305.20 – 31)⁸⁵ Damit wollte Kant offenbar geradewegs den Eindruck vermeiden, dass jenes „als ob“ zuletzt doch auf eine gewissermaßen in „performativer“ Hinsicht erst „herzustellende Wirklichkeit“ hinausliefe.⁸⁶ Diese „gleich als ob … von einem gegebenen Gegenstande hergenommene“ Idee markiert so gleichsam eine mittlere Position zwischen der ‚Wahrheit der Religion‘ als einer erst „herzustellenden Wirklichkeit“ (im Sinne Assmanns) und der leitenden Vorstellung der ‚Gotteserkenntnis‘ als der „natürlichen Religion“ (wie diese offenbar noch von Mendelssohn und Lessing fraglos vertreten wurde). Nebenbei sei noch dies angemerkt: Assmanns Rekurs auf die Ordnung einer „performativ“ erst „herzustellenden Wirklichkeit“ wird wohl auch dem bei Lessing tragenden Motiv der „Ergebenheit in Gott“ nicht gerecht, das gerade auch bei Kant – ebenso wie bei Lessing – offenbar von Leibnizens Charakterisierung des „fatum christianum“ inspiriert ist (s. dazu o. III., Anm.196); bemerkenswerterweise zeigt sich nun gerade in Kants Bezugnahme auf dieses ‚Entsagungs‘-Motiv ein ‚Als-ob‘-Aspekt, der – als ein ‚Selbstbegrenzungsaspekt‘ praktischer Vernunftansprüche – sich zur Perspektive einer durch „performative Sätze herzustellenden Wirklichkeit“ sei es überhaupt gegenläufig verhält, oder diese „herzustellende Wirklichkeit“ ganz besonders akzentuiert.⁸⁷  Dieses kantische „gleich als ob“ weckt natürlich wiederum Assoziationen zu jenen wiederholten „instar“-Wendungen in der Kennzeichnung der „Erkenntnis unserer Pflichten als (instar) göttlicher Gebote“, die sich auch noch beim späten Kant finden: z. B. MS, AA 06: 443.30 – 31; AA 22: 64 120; Refl. 8110: AA 19: 650.  Nochmals sei Assmanns Einschätzung vergegenwärtigt: „Die Wahrheit, auf die Lessing mit der Ringparabel abhebt, ist nicht fiktiv, sondern performativ. Das ‚als ob‘ zielt nicht auf Erfindung, sondern auf Wirklichkeit, aber nicht auf gegebene Wirklichkeit, sondern auf Verwirklichung, auf im Handeln herzustellende [!] Wirklichkeit“ (Assmann 2016, 32) – so wie die erst ‚herzustellende Strahlkraft‘ des Ringes …  Die einschlägige Stelle sei hier nochmals angeführt: „Die Entsagung (Resignation) in Ansehung des göttlichen Willens ist unsre Pflicht. Wir entsagen unserm Willen, und überlassen etwas

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2.2 Bleibt auch die von Assmann diagnostizierte „performative Wendung“ Lessings zuletzt prinzipienlos? In engstem Zusammenhang damit steht auch dies: Das an diesen unumgänglichen Kriterien des theoretischen und praktischen Vernunftgebrauchs orientierte – negative – Richtmaß des „moralisch bestimmten Monotheismus“ (s.o. I., 3.1.) – denn „bloß der Moralbegriff bestimmt den Begriff von Gott ganz“⁸⁸ –, das (durch die Bestimmung des „allerrealsten Wesens“) im Sinne einer unhintergehbaren Schutzwehrfunktion ‚ex negativo‘ die Gottesidee vor Verendlichungen bzw. die Religion vor moralischen Unterbietungen bewahrt, bietet somit auch Kriterien für die notwendige Unterscheidung der in der Geschichte auftretenden religiösen Erscheinungsformen an und verbietet somit auch jenes erwähnte – dann unvermeidlich maßstablose – geltungs-indifferente bloße Nebeneinander eines ‚faulen Friedens‘, das in der Folge auch den wesentlichen Unterschied zwischen Religion und „Heidentum“ zu einem mehr oder weniger gleichgültigen bloßen „Sektenunterschied“ (SF, AA 07: 49.13) nivelliert bzw. solche Tendenzen doch wenigstens begünstigt. Dieses in der kantischen Leitidee eines „moralisch bestimmbaren Monotheismus“ formulierte zweifache – theoretische und praktische – Richtmaß („rationale Theologie“ und Moral) muss wohl auch – und zwar in mehrfacher Hinsicht – als das eigentliche Kriterium für die von Assmann diagnostizierte „performative Wende“ der Wahrheitsfrage in den Religionen gelten. Jene für Kants „moralischen Monotheismus“ als ‚Richtschnur‘ maß-gebenden Negativ-Kriterien erlauben nicht nur eine im Sinne der kantischen ‚Kritik‘ verstandene Unterscheidung der „historischen Glaubensarten“, sondern lassen eine solche gleichermaßen als unverzichtbar erscheinen. Denn in solcher Hinsicht stellt dieser „moralisch bestimmte Monotheismus“ eben auch das Kriterium für die Entscheidbarkeit des „gleich wahr und gleich falsch“ „im Raum der Religion“⁸⁹ dar und fungiert sodann – in dem Aufweis, dass „Moral unumgänglich zur Religion führt“ (und nicht umgekehrt!) – auch als Richtmaß gegenüber den erhobenen Ansprüchen bezüglich der „Echtheit des Ringes“ (s.o. 220 ff.). Indes, der von Assmann (im Blick auf Lessing)

einem andern, der es besser versteht, und es mit uns gut meint. Folglich haben wir Ursache, Gott alles zu übergeben, und den göttlichen Willen schalten zu lassen; das heißt aber nicht: wir sollen nichts tun und Gott alles tun lassen, sondern wir sollen das, was nicht in unserer Gewalt stehet, Gott abgeben und das unsrige, was in unsrer Gewalt stehet, tun. Und dies ist die Ergebung in den göttlichen Willen“ (V-Mo/Collins, AA 27.1.: 320). Auch dies ist, wie schon erwähnt, freilich eine entschiedene Absage an einen passiven „Fatalismus“.  V-Th/Baumbach, AA 28.2.2.: 1235.  Assmann 2010, 205 ff.

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ausdrücklich geltend gemachten „Gleichheit der Offenbarungsreligionen“ als verschiedener historischer „Glaubensarten“ hätte Kant wohl auch deshalb widersprochen, weil ihm zufolge sein „moralisch bestimmter Monotheismus“ durchaus differenzierte Kriterien anzubieten vermag, die eine kritische Abwägung bzw. Entscheidung ermöglichen und dies auch fordern. Nochmals sei (gegenüber Assmann) betont: Gerade die „allgemeine Menschenreligion“ enthält mit dem Maßstab des „moralischen Monotheismus“⁹⁰ Kriterien, die einen Vergleich „wahrfalsch“ notwendig macht und so auch eine „Übereinstimmung mit dem“ verlangt, „was die Vernunft für Gott anständig erklärt“ (SF, AA 07: 46.23). Indirekt übernimmt ja auch Assmann diesen negativ akzentuierten Maßstab des „moralisch bestimmten Monotheismus“ insofern, als er die Forderung des Respekts und der über bloße Toleranz hinausgehenden ‚Anerkennung‘ – auch diejenige der ‚unhintergehbaren Differenzen‘ – ausdrücklich an universalistische Gesichtspunkte binden will,⁹¹ die allein die Kontinuität ermöglichende „Einheit des Prinzips“ (RGV, AA 06: 125.7) gewährleisten. Nochmals sei darauf hingewiesen: Wenn indes jenes „gleich wahr/gleich falsch“ aller „positiven Religionen“, wie Assmann betont, tatsächlich die eigentliche „Botschaft der Ringparabel“ sein sollte,⁹² an die sich sodann die richterliche Empfehlung des ‚Wettstrebens der Religionen‘ anschließt, um so jeweils „die Kraft des Steins in seinem Ring‘ an Tag zu legen“ (Nathan: v. 2044 f.), so hätte Kant solcher ‚Kernbotschaft‘ wohl entschieden widersprochen und darin eine unsachgemäße – weil nivellierende – Gewichtung gesehen, die eben auch den Anspruch jenes „moralischen Monotheismus“ und dessen kritische Maßstab-Funktion – und damit die entscheidende „Einheit des Prinzips“ – ignoriert und wichtige Differenzen ‚vergleichgültigt‘.⁹³

 Allein dieser Maßstab ist konstitutiv für die ‚kantische Unterscheidung‘ von „wahr“ und „falsch“ in den Religionen.  Vgl. Assmann 2010, 205 ff.  Assmann 2010, 172; 2016, 25. Wenn Assmann in jenem „gleich wahr/gleich falsch“ die eigentliche „Botschaft der Ringparabel“ erkennen möchte, so ignoriert er jedoch auch den wesentlichen Unterschied dieser frühen Auffassung zur späteren Position der „Erziehung des Menschengeschlechts“, auf die Assmann sich allerdings ebenfalls beruft.  Sowohl gegen „sektiererisches Christentum“ als auch gegen Judentum und Islam ist wohl Kants Mahnung gerichtet: „denn eine Religion, die der Vernunft unbedenklich den Krieg ankündigt, wird es auf die Dauer gegen sie nicht aushalten.“ (RGV, AA 06: 10.19 – 20) Dass die „religiöse Seite … die Autorität der ‚natürlichen‘ Vernunft als die fehlbaren Ergebnisse der institutionalisierten Wissenschaften und die Grundsätze eines universalistischen Egalitarismus in Recht und Moral anerkennen“ muss (Habermas 2009, 409), formuliert lediglich eine Mindestbedingung und bleibt so von den zu vermittelnden „sinnerschließenden“ Potenzialen der Religionen noch zu unterscheiden. Ein Negativ-Kriterium der „Vernünftigkeit“ der Religionen (das möglicherweise nach wie vor ihre „Gleichrangigkeit“ in Frage stellt) hat Habermas schon früher

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Abgesehen von der schon wiederholt berührten „Prinzipien“-Frage machte Kant also durchaus ausweisbare Kriterien dafür geltend, dass bzw. inwiefern das Christentum jedoch auch hinsichtlich des menschlichen Selbst- und Weltverständnisses besondere wirklichkeits- und sinnerschließende Potentiale in sich berge,⁹⁴ die es im Vergleich zu anderen eben am ehesten dafür qualifiziere, zur „Weltreligion“ (RGV, AA 06: 131.29), zur „allgemeinen Menschenreligion“ (RGV, AA 06: 155.25 – 26), bestimmt zu sein. Einer von Lessing insinuierten – angeblich sogar gott-gewollten! – ‚Gleichrangigkeit der Religionen‘ (im Sinne der „historischen Glaubensarten“) hätte Kant aus den genannten Gründen – nicht zuletzt gemäß dem Maßstab des „moralisch bestimmten Monotheismus“ – nicht zugestimmt, denn noch einmal: „Es ist nur eine (wahre) Religion; aber es kann vielerlei Arten des Glaubens geben.“ (RGV, AA 06: 107.28 – 29)⁹⁵

folgendermaßen formuliert: „Gewiss, aus der Sicht des liberalen Staates verdienen nur die Religionsgemeinschaften das Prädikat ‚vernünftig‘, die aus eigener Einsicht auf eine gewaltsame Durchsetzung ihrer Glaubenswahrheiten und auf den militanten Gewissenszwang gegen die eigenen Mitglieder, erst recht auf eine Manipuation zu Selbstmordattentaten Verzicht leisten. Jene Einsicht verdankt sich einer dreifachen Reflexion der Gläubigen auf ihre Stellung in einer pluralistischen Gesellschaft. Das religiöse Bewusstsein muss erstens die kognitiv dissonante Begegnung mit anderen Konfessionen verarbeiten. Es muss sich zweitens auf die Autorität von Wissenschaften einstellen, die das gesellschaftliche Monopol an Weltwissen innehaben. Schließlich muss es sich auf die Prämissen des Verfassungsstaates einlassen, die sich aus einer profanen Moral begründen. Ohne diesen Reflexionsschub entfalten die Monotheismen in rücksichtslos modernisierten Gesellschaften ein destruktives Potential.“ (Habermas 2001, 13 f) Es ist auch für Kant der absolute Vorrang des „säkularen“ Rechts, den es gegenüber (konkurrierenden) religiösen Ansprüchen zu beachten gilt. Es sind dies Gesichtspunkte, die für die Beurteilung der „Schicklichkeit“ der Religionen unverzichtbar sind und die wohl auch das Urteil des „weisen Richters“ in der „Ringparabel“ ohne Schaden nicht außer Acht lassen dürfte …  Die auch von säkularer (nicht: säkularistischer) Seite eingeforderte Rücksichtnahme auf die für das Welt- und Selbstverständnis des Menschen geltend gemachte „Substanz des heilsgeschichtlichen Denkens jüdisch-christlicher Herkunft“ (Habermas 1988, 23) darf ja auch als indirekter Verweis auf mögliche und auch unverzichtbare Kriterien für die Beurteilung der sinnerschließenden Potentiale der Religionen verstanden werden.  Wie eine wörtliche Wiedergabe dieser Stelle liest sich die (auch von Assmann angeführte: 2010, 203) Bemerkung Gandhis (wobei eben die Groß- und Kleinschreibung des Wortes „religion“ entscheidend ist und offenbar jener kantischen Unterscheidung zwischen „Glaubensarten“ und „Religion“ entspricht): „There are many religions, but Religion is only one“. Gleichwohl wird diese Nähe durch Gandhis Bemerkung wiederum relativiert: „Religion, even as soul, is both, one and many.“ (M. Gandhi, The collected works of M. Gandhi, Bd. XXXII, 381) „Gandhi unterschied zwischen konkreten Religionen wie Hinduismus, Buddhismus, Islam, Judentum sowie Christentum und einer wahren Religion oder Religion der Wahrheit, auf die sie alle hinzielen“ (Assmann 2010, 203) und nach Kant freilich den unbeugsamen Kriterien des „moralischen Monotheismus“ ausgesetzt sind.

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IV Ein kritischer Blick auf Jan Assmanns Lessing- und Kant-Rezeption

So wäre mit besonderem Blick auf Kants Religionsschrift und seine späteren religionsphilosophischen Schriften wohl auch zu erwägen, ob denn die dort in den Vordergrund tretenden – und von ihm in ihrer Vernunftverträglichkeit beanspruchten – Themen der christlichen Tradition als christliches ‚Sondergut‘ zu beanspruchen sind bzw. als solche – gemäß der „Bestimmung des Menschen“ – ausgewiesen werden können: Neben den die ‚Personalität‘ und ‚Individualität‘ des Menschen – somit die Anerkennung individueller Freiheit und der ‚Absolutheit des Gewissens‘, ‚Theonomie[⁹⁶] und Autonomie‘, Politik, Moral und Religion – betreffenden, also im engeren Sinne ‚existenziellen‘ Sinndimensionen und den daran geknüpften Fragen (wie der Unterscheidung zwischen ‚Schuld und Sünde‘, Unversöhntheit, dem ‚radikal Bösen‘, Leid und Tod) wäre – wiederum in der Spur der kantischen Religionsphilosophie – wohl auch an das Problem der „moralischen Selbsterkenntnis“, an die (moralische) ‚Unverfügbarkeit des Heiles‘ sowie an die damit eng verbundenen Ideen der ‚Heiligkeit‘, der Gnade und ‚Erlösung‘ (die als „Geheimnisse“⁹⁷ bezeichneten Themen ‚Rechtfertigung und Erwählung‘) zu denken – und natürlich ist auch Kants (mahnender!) Verweis auf die „moralische Liebenswürdigkeit des Christentums“, d.i. seine „liberale Denkart“ (EaD, AA 08: 339.14), die auch als kritisches Korrektiv zu Lessings ‚Wettstreit-Motiv‘ fungiert, nicht zu vergessen … Diese genannten anthropologisch-theologischen Themen (die freilich nicht Gegenstand „historischer Beweisgründe“ sind, ohne solche historische Bezüge jedoch auch nicht auskommen) dürfen allesamt für die Frage nach der zu beurteilenden „Wahrheit der Religionen“ (und der hierfür anzuführenden Gründe) nicht außer Acht gelassen werden, wenn jenes nivellierende „gleich wahr/gleich falsch“ nicht das letzte Wort behalten soll⁹⁸ – nicht zuletzt auch für eine nicht kurzschlüssige Antwort darauf, was es denn (im Sinne

 Sie findet sich auch im Munde des Patriarchen: „Wer darf sich da noch unterstehn, die Willkür des, der die Vernunft erschaffen, nach Vernunft zu untersuchen? Und das ewige Gesetz der Herrlichkeit des Himmels, nach den kleinen Regeln einer eiteln Ehre zu prüfen?“ (Nathan: v. 2486 ff.) Nicht zuletzt dagegen wandte sich der scharfe Protest Kants in seinem Rekurs auf das „Zeitalter der Kritik“ (s.o. II., Anm.145) und auf den „öffentlichen Vernunftgebrauch“, dem freilich auch für die Berufung auf die „eigene Wahrheit“ ausgesetzt ist.  Gerade auch in jenen religionsphilosophischen Bezügen auf „heilige Geheimnisse“, auf die Kant zufolge die Wirklichkeit der Freiheit selber unvermeidlich führt (RGV, AA 06: 138.23 – 24; vgl. dazu 39 f.), sah er – über jene prinzipien-orientierte Verankerung der Religion noch hinaus – Kriterien und „semantische Potentiale“, die auch für die Entscheidbarkeit der Frage, was es denn heißen mag (und heißen darf!), „vor Gott und Menschen angenehm zu machen“, unverzichtbar sind.  In diesem Fall hätte freilich der angeblich notwendige „interreligiöse Dialog“ im Grunde auch schon sein Ende gefunden, ehe er begonnen hat, jedenfalls wenn es um mehr als politischstrategische Kalküle und „Kooperationen“ gehen soll.

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Lessings) vernünftigerweise bedeuten mag, „vor Gott und Menschen angenehm zu machen“. In all den damit zusammenhängenden Fragen sah Kant offenbar – über jene prinzipien-orientierte Verankerung der Religion noch hinaus – Kriterien und ‚semantische Potentiale‘ zur Geltung gebracht, die das in seiner Religionsphilosophie leitende Bestreben bestätigen, die „moralisch-praktische Vernunft“ nicht bloß gegen Gehalte der positiven Religion zu mobilisieren; vielmehr ist es Kant doch vor allem darum zu tun, auch die ‚Vernünftigkeit‘ jener Gehalte zu demonstrieren.⁹⁹ Nur so entgeht die von der natürlich-„moralischen Religion“ intendierte Allgemeinheit auch einer vorschnellen ‚Partikularisierung‘.

2.2.1 Die aus Kants „Bestimmung des Menschen“ und dem „ethischen Monotheismus“ gewonnenen Maßstäbe der „Humanität“ – mit nochmaligem Blick auf Lessings Wettstreit-Motiv Es hat sich gezeigt: Eine an der kantischen Idee des „moralischen Monotheismus“ orientierte Prinzipienfrage impliziert zwar notwendigerweise die (von Assmann mit Blick auf Lessing geltend gemachte) Zurücknahme von ‚absoluten Wahrheitsansprüchen‘, sofern diese lediglich auf Selbstbehauptung und Machtsicherung hinauslaufen (womit übrigens unweigerlich auch ein falsches Verständnis von ‚Toleranz‘ einhergeht). Dies schließt freilich notwendigerweise die (auch von Assmann mit Blick auf Lessing geltend gemachte) Zurücknahme von ‚absoluten Wahrheitsansprüchen‘ und den gebotenen Respekt Andersgläubiger bzw. deren Glauben ein, und somit auch das notwendige gemeinsame Bemühen um einen „Raum für Respekt zwischen den Religionen“;¹⁰⁰ diesen macht Assmann natürlich zu Recht gegenüber Andersgläubigen geltend – aber doch nur deshalb, weil sie eben weder bloße faktische „Befindlichkeiten“ bzw. Gefühle, noch allesamt „gleich wahr“ oder „gleich falsch“ und je „meine Wahrheiten“ sind. Gleichwohl erschöpfen sich diese Maßstäbe keineswegs darin und sind somit auch an ihrem existenzerhellenden und sinn-erschließenden Anspruch und Potential zu beurteilen, das freilich gerade auch nach Kant – von einem differenzierten „Begriff des Menschen“ her beurteilt – unterschiedliche Einschätzungen erlaubt und dazu auch nötigt. Kant hat all diese Fragen zuletzt an die in seinem (schon erwähnten, s.o. II., Anm. 248) „Weltbegriff der Philosophie“ differenzierten „wesentlichen“ und „höchsten Zwecke“ des Menschen (KrV, B 868) (und  Deshalb lässt sich mit Blick auf diese an die Vernunft ‚anstoßenden Fragen‘ (RGV, AA 06: 52.21) nicht einfach behaupten, dass Kant in seiner Religionsschrift „Religion“ „aus den Grenzen der reinen Vernunft verbannen“ wollte (so Assmann in seinem „Nachwort“ zu: C.L. Reinhold, Die Hebräischen Mysterien … 192).  Assmann 2016, 18 f.

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deren Verhältnis zueinander) rückgebunden, der gleichermaßen auf eine „Ordnung der Zwecke“ seines Daseins abzielt. Dies steht in engem Zusammenhang mit der von Kant sogenannten „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“, die bekanntlich auf dasjenige abzielt, was der Mensch „als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll“ (Anth, AA 07, 119.13 – 14).¹⁰¹ Dies erlaubt freilich gerade auch nach Kant – eben von einem differenzierten „Begriff des Menschen“ und seinen „höchsten Zwecken“ aus beurteilt – durchaus unterschiedliche Einschätzungen tradierter religiöser Ansprüche und verweist somit auf vernunftorientierte (und den moralischen Prinzipien genügende) Kriterien, die aus einem hinreichend differenzierten Begriff der ‚Humanität‘ zu begründen sind. Sie müssen in einer „Ordnung der Zwecke“ gemäß den verschiedenen Sinnansprüchen von Politik, Recht, Moral, Freundschaft, Liebe, Religion entwickelt werden und erweisen sich nicht zuletzt im Blick darauf als unentbehrlich, dass Assmann ja „in dem Motiv der Kraft des Rings, seinen Träger ‚vor Gott und Menschen angenehm‘ zu machen“, sogar „die ganze Pointe von Lessings humanistischer Umdeutung der Tradition“ erkennen will.¹⁰² Indes, schon solche an einem differenzierten Begriff der Humanität (an der „Bestimmung des Menschen“) bemessenen Kriterien können bzw. dürfen jene – vom späteren Lessing in der „Erziehungsschrift“ selbst korrigierte? – Auffassung des „gleich wahr/gleich falsch aller positiven Religionen“ nicht als das letzte Wort akzeptieren. Nur eine – diesen Begriff der „Humanität“ systematisch entfaltende – Differenzierung jener „wesentlichen und höchsten Zwecke“ lässt mit den aus dieser resultierenden Rangordnung gewonnenen Kriterien auch theokratische Kurzschließungen (bezüglich Wissenschaft, Politik, Moral und Religion) ebenso vermeiden wie einen ‚theologischen Nominalismus‘ hinsichtlich der Begründung und Verbindlichkeit rechtlicher bzw. moralischer Ansprüche. Die in dieser Idee der ‚Humanität‘ begründete „Ordnung der Zwecke“¹⁰³ besagt im Blick auf die Ansprüche der Religionen die Wahrung und Anerkennung der – insofern notwendig religionsneutralen – Basis des Rechts (das Kant einmal den „Augapfel

 Damit greift Kant auf eine frühe ‚programmatische‘ Perspektive zurück, die schon auf den „Weltbegriff der Philosophie“ verweist: „Wenn es irgend eine Wissenschaft gibt, deren der Mensch bedarf, so ist es die, so ihn lehret, die Stelle geziemend zu erfüllen, welche ihm in der Schöpfung angewiesen ist, und aus der er lernen kann, was man sein muss, um ein Mensch zu sein“ (AA 20, 45.17– 20).  Assmann 2016, 19.  Sie „gibt dem Humanum nicht Exklusivität, wohl aber Priorität vor dem Religiösen“ (Kuschel 2004, 85), was freilich eine Differenzierung der „wesentlichen“ und „höchsten Zwecke“ (gemäß der „Bestimmung des Menschen“) im Sinne des kantischen „Weltbegriffs der Philosophie“ schon voraussetzt.

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Gottes“ genannt hat),¹⁰⁴ die so freilich selbst als Grundlage auch der geforderten Toleranz entspricht. In der darin zutage tretenden „Ordnung der Zwecke“ findet bei ihm also die ‚Idee der Humanität‘ und somit auch die „Bestimmung des Menschen“ ihre systematische Entfaltung, die Kant als die „höchste Angelegenheit“ der Philosophie angesehen hat und die als solche auch für die Beurteilung des Anspruchs der Religionen unentbehrlich ist. Schon dies impliziert somit auch eine Selbstrelativierung religiöser Ansprüche, die freilich ein – institutionell verankertes und gesichertes – respektvolles Nebeneinander (als ‚Koexistenz‘) und darüber hinaus eine Annäherung sowie ein anerkennungs-orientiertes Miteinander allererst ermöglicht.¹⁰⁵ Nicht zuletzt darauf zielt Kants „Weltbegriff der Philosophie“ ab, „der das betrifft, was jedermann notwendig interessiert“ (KrV, B 868, Anm.), um in solcher Hinsicht durch jene „Ordnung der Zwecke“ auch durchaus verbindliche Unterscheidungs- bzw. Beurteilungskriterien zur Verfügung zu stellen, die auch für die Beurteilung der „Wahrheit der Religionen“ bedeutsam sind,¹⁰⁶ zumal dies zweifellos auch für jene Entscheidung der „Echtheit des Ringes“ einen wichtigen Aspekt darstellt. Kants harte Kritik lief, wie erwähnt, offenbar (vorläufig?) darauf hinaus: Auch weil es dem Judentum und dem Islam an einem hinreichend differenzierten „Begriff des Menschen“ (noch?) mangelt, ist ihm zufolge die behauptete ‚Gleichrangigkeit der Religionen‘ eben nicht aufrechtzuhalten. Die gebotene Rücksichtnahme auf jene angezeigten Dimensionen der ‚Humanität‘ erlaubt vielleicht – was Kant bei Lessing eben vermisste – eine differenziertere Sichtweise bzw. Beurteilung dessen, was Assmann im Blick auf Lessings Ringparabel als die eigentliche „Moral von der Geschichte“ (s.o. IV., 1.1.) ausgemacht hat. Daraus wäre nach Kant offenbar auch der einzige vor ‚Vermessenheit‘ bewahrende Maßstab zu gewinnen, an dem die einzelnen Religionen „nach tausend, tausend Jahren“ in ihren Ansprüchen auf die „Echtheit des Ringes“ gemäß der Lessing’schen „Ringparabel“ bemessen werden. Diese Perspektive auf das späte historisch-empirische Urteil nach „tausend, tausend Jahren“  Es ist das in der Aufklärung entwickelte Vernunftrecht, das mit Menschenrechten und Menschenwürde auch die friedliche Koexistenz der Religionen gewährleistet.  In diesem Sinne hätte auch Kant natürlich den energischen, ja geradezu beschwörenden Appell Nathans gewürdigt: „Kommt, wir müssen, müssen Freunde sein!“ (Nathan: v. 1306), der auch die mögliche und notwendige Verständigung und Kooperation unter den Religionen zum Ausdruck bringt.  Im Blick auf diesen kantischen „Weltbegriff der Philosophie“ wäre so vermutlich auch ein Fundament für eine problem-orientierte Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Religionen (als „Glaubensarten“) zu gewinnen, die das Ziel einer verständigungs-bereiten Toleranz und eines über ein bloß ko-existierendes Nebeneinander hinausgehenden Friedens innerhalb einer pluralistischen Weltgesellschaft verfolgt.

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IV Ein kritischer Blick auf Jan Assmanns Lessing- und Kant-Rezeption

über die „Wahrheit der Religionen“ im Sinne der ‚geschichtlichen Erfahrung‘ kann jedenfalls die notwendige prinzipien-orientierte Sichtweise bzw. das Urteil nicht erübrigen, denen zufolge der „rein moralische Glaube“ doch „allein in jedem Kirchenglauben dasjenige ausmacht, was darin eigentliche Religion ist“ (RGV, AA 06: 112.11– 12) und bietet dergestalt auch für eine an ‚Aufklärung‘ orientierte Vernunft einen unverzichtbaren Maßstab für die Beurteilung der Religionen, der so auch einen Ausweg aus der Vertröstung eröffnet, „den echten Ring bloß glauben“ zu müssen.¹⁰⁷ Für die Entscheidbarkeit jener Frage, was es denn heißen mag (und heißen darf!), „vor Gott und Menschen angenehm zu machen“, erweist sich dies geradezu als unumgänglich. Ohne die Rücksicht auf jene diese Idee der „Humanität“ gemäß einer „Rangordnung der Zwecke“ erst explizierenden Maßstäbe (die so den „Begriff des Menschen“ entfalten) müsste dies auch in inhaltlicher Hinsicht unbeantwortet bleiben; indes, davon bleibt die praktisch-moralische Bewährung der ‚Humanität‘ freilich noch einmal unterschieden, die offenbar zentral in Lessings ‚Wettstreit‘-Motiv angesprochen ist.

2.3 Nochmals zu Kants „moralisch bestimmtem Monotheismus“ – mit Blick auf J. Assmanns Konzeption einer „duplex religio“ Der Umstand, dass Assmann bei Lessing für sein „religio-duplex“-Verständnis eine bedeutsame Vorgestalt erkennt und in diesem thematischen Kontext gelegentlich – obgleich nur beiläufig – auch auf Kant Bezug nimmt, legt es ebenso nahe, dessen Konzeption der „Vernunftreligion“ und des „theismus moralis“¹⁰⁸ zu Assmanns Rezeption und Umdeutung der in der Geschichte aufgetretenen Gestalten einer „religio duplex“ in Beziehung zu setzen.¹⁰⁹

 Dies wäre Kants Antwort auf die Frage Lessings: „Also besteht die ganze Vernunftmäßigkeit der christlichen Religion darin, dass sie nicht unvernünftig ist?“ (XIII, 130)  S. dazu nochmals die Überlegungen zu Kants Konzeption eines „theismus moralis“ (o. I., 1.3.1.).  Kant hat darauf gelegentlich Bezug genommen; erwähnt sei in diesem Zusammenhang sein beiläufiger Verweis auf die „Ägypter“ sowie auf die „doppelte Lehrart“ der Pythagoras: „Historie der Unterschiede zwischen sensitivis und intellectualibus[.] aegypter. Pythagoras. Heraclyt (eleatische). Plato (ideae innatae) und Pythagoras[.] Machten die intellectualia zu besonderen Objecten der möglichen Anschauung (seine Schule, die academischen philosophen, exoterisch sceptice und esoterisch dogmatice. Intuitus intellectualis, aus dem alles abstammt“ (Refl 4449: AA 17: 555). S. auch den Hinweis auf Pythagoras (Log, AA 09: 29.8 – 12): „Unter seinen Lehren gab es einige exoterische, die er dem ganzen Volke vortrug; die übrigen waren geheim und esoterisch, nur für die Mitglieder seines Bundes bestimmt, von denen er einige in seine vertrauteste

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Assmanns frühere Ausführungen über Lessing fügen sich nahtlos denjenigen über die „religio duplex“ an:¹¹⁰ Sein Plädoyer für eine zeitgemäße – unter den Vorzeichen der Aufklärung stehende und ihren Anforderungen genügende – „duplex religio“ hat er an die Forderung geknüpft, unter den gegenwärtigen Bedingungen der Globalisierung „die Religion des anderen nicht als Heidentum oder Unglaube einzustufen“. Dies soll näherhin bedeuten, „dass sie sich in ihrer Besonderheiten einander verständlich [!] machen, aufeinander Rücksicht nehmen und sich im Blick auf übergeordnete, in der menschlichen Natur oder in der Natur der Sache eines gemeinsamen Überlebens gelegene Kategorien zivilen Zusammenlebens zurücknehmen müssen, ohne dabei ihre Farbe und ihre Verbindlichkeit zu verlieren“¹¹¹. Indes, auch dies wirft mehrere Rückfragen an Assmann auf: Zunächst kann solche von Assmann geforderte Zurücknahme der Disqualifikation anderer Religionen als „Heidentum oder Unglaube“ (a) ja nicht bedeuten, dass auch die von Kant als kritische „Richtschnur“ ‚ex negativo‘ geltend gemachten Prinzipien des „moralischen Monotheismus“ (und die darin an moralischen Maßstäben vollzogene Abgrenzung vom „Heidentum“) etwa im Namen der ‚Toleranz‘ einfachhin sistiert werden könnten. Den Aspekt (b) der gebotenen Rücksichtnahme auf die „in der Natur der Sache eines gemeinsamen Überlebens gelegene Kategorien zivilen Zusammenlebens“ hätte Kant natürlich als einen notwendigen ‚religionspolitisch-strategischen‘ Gesichtspunkt der

Freundschaft aufnahm und von den übrigen ganz absonderte“. – Offenbar in einer kritischen Abgrenzung davon heißt es hingegen auch schon in Refl. 1992 (AA 16: 186): „in der Religion braucht der Mensch als Mensch (esoterisch, exoterisch) nur wenig; dabei ist die Absicht aber praktisch.“ – Dass Kant die einschlägigen historischen Bezüge und die darin zutage tretenden Probleme durchaus bekannt waren, verrät auch folgende Bemerkung in einer Vorlesung: „Es ist merkwürdig, dass man auch zu den allerältesten Zeiten zwischen den intellectualibus und sensibilibus einen Unterschied gemacht hat. Die Ägyptier waren die ersten, die in ihren öffentlichen oder exoterischen Vorträgen die sensualia annahmen, in ihren Privat-Vorträgen möchten sie vielleicht ein anderes gelehrt haben. Pythagoras scheint diese Gewohnheit aus Ägypten gebracht zu haben, weil er seinen Schülern in langer Zeit ihn zu fragen verboten. Sonst drückte er die intellectualia durch Zahlen aus“ (Heinze, Vorlesungen Kants über Metaphysik aus drei Semestern [667], zit. n. Glasenapp 161).  Schon deshalb hätte Kant dem von Assmann (mit Bezugnahme auf Nisbet) geltend gemachten „Prinzip der religio duplex“ nicht zustimmen können, wenn dies nach Assmann besagt: „Lessings Konzeption der religio duplex machte … es ihm möglich, sowohl in der Offenbarung wie auch in der natürlichen Religion, sowohl im orthodoxen Christentum wie auch in Reimarus’ Christentumskritik eine gewisse Wahrheit zu entdecken … Dieses Sowohl-Als-auch ist das Prinzip der religio duplex“ (Assmann 2010, 172).  Assmann 2010, 210.

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IV Ein kritischer Blick auf Jan Assmanns Lessing- und Kant-Rezeption

‚Staatsräson‘ akzeptiert,¹¹² obgleich ihm – im Sinne eines zwar akzeptablen ‚modus vivendi‘ – hinsichtlich der sachlichen Relevanz einer „duplex religio“ doch lediglich ein untergeordneter Stellenwert zukommt (s.o. 284 ff.). Die kantische Unterscheidung zwischen der „einen Religion und den verschiedenen Glaubensarten“ („Vernunftreligion“-„Offenbarungsglaube“) hat deshalb nicht nur anderes im Blick als die für die Konzeption einer „religio duplex“ maßgebende „Religion auf zwei Ebenen“;¹¹³ sie impliziert auch Kants Kritik an der von Assmann – im Blick auf Mendelssohn und Lessing – geltend gemachten „entscheidende(n) Umdeutung [„Wende“] der Idee der doppelten Religion im Sinne des Gegensatzes von Partikularität und Universalität“ (während darin „allerdings die Mysterien keinen Raum mehr“ haben), in welcher Gestalt sie nach Assmann „auch für uns eine gewisse Aktualität beanspruchen kann“.¹¹⁴ Hier sei lediglich darauf hingewiesen: Jene dem „moralisch bestimmten Monotheismus“ entsprechende „natürliche Religion“ (der ihr gemäße „Glaube“) muss auch die Berufung auf die nur Eingeweihten vorbehaltenen „Geheimnisse“ im Sinne einer solchen „duplex religio“ und der für sie konstitutiven „Zwei-Ebenen-Struktur“ geradewegs verbieten. Auch in solcher Hinsicht ist wohl ein zentraler (schon zitierter, s.o. 39 f.) Passus aus der Religionsschrift aufschlussreich, der jene Konzeption des kantischen „Vernunftglaubens“ – in dieser bestimmten Akzentuierung – von aller Inanspruchnahme „besonderer Geheimnisse“ entschieden bewahrt und auch in dieser bestimmten Hinsicht als ‚Schutzwehr‘ fungiert:

 Vermutlich hätte Kant jedoch auch hier vor jenem „Synkretismus“ gewarnt, dem zufolge ein jeder Kirchenglaube „so gut wie der andere sei, wenn er sich nur durch die Regierung zu ihren Zwecken gut handhaben lässt“ (SF, AA 07: 51.25 – 28), in Wahrheit jedoch völlige „Gleichgültigkeit in Ansehung der Religion überhaupt zum Grunde“ liege (ebd.).  Assmann 2010, 195. Für diese kantische Unterscheidung und die daran geknüpfte Bestimmung der „Religion“ als „eine reine Vernunftsache“, in der als dem „allgemeine(n) wahre(n) Religionsglaube(n) … eigentlich kein Geheimnis“ enthalten ist (RGV, AA 06: 138 Anm.), gilt deshalb auch nicht einfach: „Im Zeichen der Freiheit ist es mit dieser Form des [freimaurerischen „strategischen“] Geheimnisses [und seine „Funktionen“] vorbei. Kosmopolitismus und Menschenrechte haben nichts Geheimnisvolles. An seine Stelle ist aber ein strukturelles, im Wesen der Sache gelegenes Geheimnis getreten. Das Geheimnis der Wahrheit, deren verborgene Existenz alle positiven Wahrheiten relativiert, ohne sie zu vergleichgültigen. Dies ist das wirkliche Geheimnis der menschlichen Existenz“ (Assmann 2010, 195 f.). Jedenfalls gilt für Assmann nach Lessings/ Mendelssohns „Umdeutung“: „Die Menschenreligion ist nicht die Sache von Geheimnis und Esoterik“ (ebd. 195).  Assmann 2010, 21. Daran knüpft Assmann den Befund: „Nur als religio duplex, das heißt eine Religion auf zwei Ebenen, die sich als eine unter vielen und mit den Augen der anderen zu sehen gelernt hat und dennoch den verborgenen Gott oder die verborgene Wahrheit als Fluchtpunkt aller Religion nicht aus den Augen verliert, hat Religion in unserer globalisierten Welt einen Ort.“ (ebd. 23) Dies hätte wohl Kants Einspruch auf sich gezogen.

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„Dieser Glaube enthält eigentlich kein Geheimnis, weil er lediglich das moralische Verhalten Gottes zum menschlichen Geschlechte ausdrückt; auch bietet er sich aller menschlichen Vernunft von selbst dar und wird daher in der Religion der meisten gesitteten Völker angetroffen. Er liegt in dem Begriffe eines Volks als eines gemeinen Wesens, worin eine solche dreifache obere Gewalt (pouvoir) jederzeit gedacht werden muss, nur dass dieses hier als ethisch vorgestellt wird, daher diese dreifache Qualität des moralischen Oberhaupts des menschlichen Geschlechts in einem und demselben Wesen vereinigt gedacht werden kann, die in einem juridisch-bürgerlichen Staate notwendig unter drei verschiedenen Subjekten verteilt sein müsste“ (RGV, AA 06: 140.1– 11). Kants Maßstab, an dem er die „historischen Glaubensarten“ bemisst und auch ‚relativiert‘, war eben stets jene Idee der „natürlichen Religion“, an der ihm zufolge durchaus nichts ‚Geheimnisvolles‘ mehr ist,¹¹⁵ weshalb auch die „religio duplex“ bei ihm noch eine besondere Akzentuierung gegenüber der von Assmann (mit Blick auf Lessing und Mendelssohn) geltend gemachten Umdeutung der „religio duplex“ erfährt: „Aus dem Gegensatz von öffentlicher und geheimer Religion wird der Gegensatz von partikularer beziehungsweise positiver und universaler beziehungsweise natürlicher Religion.“¹¹⁶ Kant polemisierte bekanntlich auch gegen „Gesellschaften (Sektierer), deren einige noch besondere, nicht fürs große Publikum gehörende, geheime Lehren aus eben demselben Schatz {“gewisser Glaubenslehren“] her holen (gleichsam Clubbisten der Frömmigkeit)“ (SF, AA 07: 51.24).¹¹⁷ Dass auch Kants Verweis auf die Vernunftreligion als „vollständige Religion, die allen Menschen durch ihre eigene Vernunft fasslich und überzeugend vorgelegt werden

 Kants ausdrücklicher Hinweis, „dass im Vernunftglauben eigentlich gar nichts Geheimnisvolles sei“, entspricht lediglich der These Assmanns, „dass zuletzt das Geheimnis in nichts anderem mehr besteht als im Verbergen der Tatsache, dass es nichts zu verbergen gibt“ (Assmann 1998, 185 f.). Gleichwohl verwies Kant auf „Geheimnisse der Vernunft“ (s.o. 39 f.; 124 f; IV., Anm.97).  Assmann 2010, 173.  Kant stand deshalb auch in entschiedenem Widerspruch zu der von Assmann angeführten Identifikation der „Illuminaten und andere[r] im Sinne der Aufklärung wirkende[n] Geheimgesellschaften … mit dem ägyptischen Modell der religio duplex“ (Assmann 2010, 117); wenn, wie Assmann darlegt, Reinholds „Rekonstruktion der Entstehung des biblischen Monotheismus“ sich für Reinhold „in eine allgemeine Verfallsgeschichte, vom ‚gedachten‘ zum ‚geglaubten‘ Sinn, von Vernunft zu Glauben, Phantasie, Schwärmerei, von Geistigkeit zu Sinnlichkeit“ einschreibt (ebd. 321), so impliziert Reinholds „Bekehrung“ zum ‚Kantianer‘ auch dessen Abkehr von der (von Assmann auch Reinhold zugeschriebenen) Auffassung: „Aus der ägyptischen Religion der Vernunft ist in Israel ein Organ blinden Glaubens geworden“ (ebd. 142). Mit seiner Version eines (nicht ‚vermessenen‘ und sittlich geläuterten) „moralisch bestimmten Monotheismus“ schien gleichermaßen die „aegyptische“ und die „jüdische Religion“ unverträglich zu sein.

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IV Ein kritischer Blick auf Jan Assmanns Lessing- und Kant-Rezeption

kann“ (RGV, AA 06: 162.14– 15), eine Absage an elitäre Gestalten einer „duplex religio“ enthält, ist evident.

2.3.1 Eine ‚kantianische‘ Stellungnahme zu Assmanns Konzeption einer „duplex religio“ Einer näheren Prüfung bedürfte dabei also vor allem dies, ob (bzw. wie weit) jene kantische Unterscheidung zwischen der „einen Religion“ und den „verschiedenen Glaubensarten“ bzw. zwischen der „christlichen Religion“ und dem „christlichen Glauben“ selbst im Sinne jener umgedeuteten „duplex religio“¹¹⁸ zu verstehen ist und ob dies nicht weitere Differenzierungen unumgänglich macht.¹¹⁹ Dies ist schon deshalb von besonderem Interesse, weil die von Assmann¹²⁰ angeführten Erscheinungsformen bzw. Umdeutungen eines „doppelten Religionsbegriffs“ auch bei Kant allesamt wenigstens eine beiläufige Erwähnung finden. Es ist evident, dass vor diesem motivlichen Hintergrund einer „duplex religio“ auch seine Auskunft besondere Bedeutung gewinnt – aber ebenso eine besondere Herausforderung darstellt –, wonach die „Vernunftreligion“ als „vollständige Religion, die allen Menschen durch ihre eigene Vernunft fasslich und überzeugend vorgelegt werden kann“ (RGV, AA 06: 162.14– 15); erneut bestätigt sich auch dieserart: „Es ist nichts einfacher als der reine moralische Religionsglaube“.¹²¹ Diese späte Bemerkung aus den Vorarbeiten zum „Streit der Fakultäten“ – die augenfällig eine entschiedene Absage an sich elitär gebärdende Gestalten einer „duplex religio“ impliziert (s.u. 316 f.) – akzentuiert freilich lediglich in besonderer Weise eine frühe programmatische Auskunft Kants, die ihn nicht nur als Kritiker einer ‚dogmatischen Metaphysik‘, sondern auch als aufklärungs-orientierten Anwalt der „allgemeinen menschlichen Angelegenheit“ ausweist. Dies berührt – indirekt – auch die Verteidigung der humanen Basis („Sittlichkeit und Religion“: KrV, B XXXI) und somit auch einen besonderen Aspekt einer „religio

 Nur nebenbei sei erwähnt: Eine sehr interessante Variante des „religio duplex“-Motivs findet sich bei Schelling, die allerdings überhaupt das Verhältnis von ‚Wissen und Glauben‘ betrifft und dies mit der gegenwarts-kritischen Diagnose verbindet, dass die eigentlichen Themen der Metaphysik in den Glauben ausgelagert bzw. abgedrängt wurden: SW VI, Einleitung.  Dabei bleibt die Unterscheidung zwischen der „einen Religion“ und den „verschiedenen Glaubensarten“ von derjenigen „Duplizität“ abzugrenzen und gleichermaßen in Beziehung zu setzen, die in Kants Unterscheidung zwischen der „christlichen Religion“ (als der „rein moralischen Religion“, gewissermaßen „subjektiv betrachtet“) und der „christliche(n) Religion als gelehrter Religion“ (RGV, AA 06: 163.9) zum Ausdruck kommt.  Assmann 2010, 351 f.  VASF, AA 23: 438.21. Dies besagt auch Kants Kennzeichnung der „natürlichen Religion“ als „reiner praktischer Vernunftbegriff“ (RGV, AA 06: 157.17– 25); s. dazu o. I.,1.1.1..

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duplex“ in kantischem Kontext: „so bleibt ja nicht allein dieser Besitz ungestört, sondern er gewinnt vielmehr dadurch noch an Ansehen, dass die Schulen nunmehr belehrt werden, sich keine höhere und ausgebreitetere Einsicht in einem Punkte anzumaßen, der die allgemeine menschliche Angelegenheit betrifft, als diejenige ist, zu der die große (für uns achtungswürdigste) Menge auch eben so leicht gelangen kann, und sich also auf die Kultur dieser allgemein fasslichen und in moralischer Absicht hinreichenden Beweisgründe allein einzuschränken. Die Veränderung betrifft also bloß die arroganten Ansprüche der Schulen, die sich gerne hierin (wie sonst mit Recht in vielen anderen Stücken) für die alleinigen Kenner und Aufbewahrer solcher Wahrheiten möchten halten lassen, von denen sie dem Publikum nur den Gebrauch mitteilen, den Schlüssel derselben aber für sich behalten (quod mecum nescit, solus vult scire videri)“ (KrV, B XXXIII). Im Grunde impliziert schon Kants Rekurs auf den allein „auf die Voraussetzung moralischer Gesinnungen“ gegründeten „Vernunftglauben“ (in seiner ‚ersten Kritik‘) eine entschiedene – gewissermaßen aus ‚egalitären‘ Impulsen gespeiste – Absage an die mit einer „duplex religio“ möglicherweise verbundenen Sonderansprüche und somit auch an einen „Antagonismus zwischen Volks- und Elitereligion“:¹²² „Ist das aber alles, wird man sagen, was reine Vernunft ausrichtet, indem sie über die Grenzen der Erfahrung hinaus Aussichten eröffnet? nichts mehr als zwei Glaubensartikel [d.i. des Daseins Gottes und der „Unsterblichkeit der Seele“]? So viel hätte auch wohl der gemeine Verstand, ohne darüber die Philosophen zu Rate zu ziehen, ausrichten können! Ich will hier nicht das Verdienst rühmen, das Philosophie durch die mühsame Bestrebung ihrer Kritik um die menschliche Vernunft habe; gesetzt, es sollte auch beim Ausgange bloß negativ befunden werden; denn davon wird in dem folgenden Abschnitte noch etwas vorkommen. Aber verlangt ihr denn, dass ein Erkenntnis, welches alle Menschen angeht, den gemeinen Verstand übersteigen und euch nur von Philosophen entdeckt werden solle? Eben das, was ihr tadelt, ist die beste Bestätigung von der Richtigkeit der bisherigen Behauptungen, da es das, was man anfangs nicht vorhersehen konnte, entdeckt, nämlich dass die Natur in dem, was Menschen ohne Unterschied angelegen ist, keiner parteiischen Austeilung ihrer Gaben zu beschuldigen sei, und die höchste Philosophie in Ansehung der wesentlichen

 Assmann 2010, 115. Dagegen wandte sich übrigens auch Lessing sehr entschieden und setzte dieser Unterscheidung einer „zweifache(n) christliche(n) Religion“ – „eine für den gemeinen Mann und eine andere für den feinern, gelehrten Kopf, die unter jener nur verborgen liege“ – vielmehr dies entgegen, dass er „die Religion von der Geschichte der Religion … getrennt wissen“ wolle (XIII, 133, s. o. II., Anm.111).

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IV Ein kritischer Blick auf Jan Assmanns Lessing- und Kant-Rezeption

Zwecke der menschlichen Natur es nicht weiter bringen könne[¹²³], als die Leitung, welche sie auch dem gemeinsten Verstande hat angedeihen lassen“ (KrV, B 858 f.).¹²⁴ Diese unüberhörbare Ablehnung ‚elitärer‘ Ansprüche verbietet geradewegs die Berufung auf eine für „höhere Mysterien“ vorausgesetzte – und lange Übung verlangende – „mystische Anschauung“ (der „Epopten“: Anth, AA 07: 187.16). Derart ‚enthüllt‘ Gott sich also nicht „besonders Begünstigten“, etwa auserwählten ‚epopteischen‘ Begabungen, sondern allein jenem „Rechtschaffenen“, der einfältig vor seinem Gott als dem „Herzenskündiger“ wandelt, sich im ‚Gottesdienst des Lebens‘, also in der „Religion des guten Lebenswandels“, übt und sich dabei – nicht nur als Mensch, sondern auch als „Bürger“ – an der gemeinschaftlichen Beförderung des „höchsten Gutes“ orientiert, d. h. in solchem Bemühen auch an jenem „ethischen Gemeinwesen“ partizipiert, das aus den „unter der Fahne der Tugend als Vereinigungspunkt“ (RGV, AA 06: 94.22– 23) Versammelten besteht. Jener von Kant gern angeführte „Rechtschaffene“, der in dem „Gott wohlgefälligen Lebenswandel“ und im Blick auf das Ganze seiner „moralischen Lebensgeschichte“ sich bewährt, ist einer ‚epopteischen‘ Steigerung und Lüftung von esoterischen „Geheimnissen“¹²⁵ weder fähig noch bedarf er einer solchen. Die von Kant so entschieden verfochtene Einfachheit des „reinen moralischen Religionsglaubens“ und die damit verbundene Abwehr eines „vorgebliche(n) geheime(n) Wahrheitssinn[s]“ sowie einer „überschwengliche[n] Anschauung unter dem Namen des Glaubens“ (WDO, AA 08: 134.12– 13) verbietet deshalb auch den „Zug einer gewissen elitären, undemokratischen Arroganz, der  Dies betonte auch noch der (aufklärungs-orientierte) späte Kant: „Philosophia (doctrina sapientiae) ist nicht eine Kunst von dem, was aus dem Menschen zu machen ist, sondern was er aus sich selbst machen soll [sapere aude] Versuche, dich Deiner eigenen Vernunft zu Deinen wahren absoluten Zwecken zu bedienen. – Dazu wird keine Wissenschaft (scientia) erfordert. Die Lehre des obersten Zwecks (Gebot) weiß jeder.“ (AA 21: 117)  Dies impliziert offensichtlich eine – obgleich indirekte – Kritik an der nach Platon nur wenigen Philosophen vorbehaltene Erkenntnis der „Idee des Guten“. In Refl. 1524 (über „Die Geschichte der Menschengattung“: AA 15, 898) heißt es über jene einfache „negative Religion“ (offenbar im Unterschied zu den „positiven Religionen“): „Die negative Religion bringt alles auf den einfältigen Begriff eines Gott wohlgefälligen Lebenswandels zurück. Hebt die Priester auf und lässt nur die Geistlichen. Nimmt die Satzungen weg und lässt nur die Vorschrift der Vernunft übrig und ist dem Einfältigsten eben so klar als dem Gelehrtesten“. Deshalb ist nach Kant auch „nichts einfacher als der reine moralische Religionsglaube“ (VASF, AA 23: 438.21).  Die von Kant schon früh angezeigte prinzipielle – geradezu programmatische – Abgrenzung des Anspruchs des „Vernunftglaubens“ („Es bleibt immer Glauben, niemals wirds Wissen“: Refl. 2446, AA 16, 371 f.) impliziert die Abwehr der (allerdings für die „religio duplex“ maßgeblichen) Vorstellung, dass das ‚Geglaubte‘ jemals in ‚epopteischen‘ Höhen als ‚Wissbares‘ bzw. ‚Gewusstes‘ enthüllt werden könnte.

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nun einmal der Idee der religio duplex von Anfang bis Ende anhaftet“,¹²⁶ den Assmann mit Blick auf die „ägyptischen Grundlagen“¹²⁷ der „religio duplex“ diagnostiziert. Jener „reine moralische Religionsglaube“ muss mit der Verwerfung jenes „Antagonismus zwischen Volks- und Elitereligion“ auch diejenige zwischen den „großen“ und „kleinen Mysterien“ verabschieden. Offensichtlich enthalten die angeführten Passagen ‚in nuce‘ also auch Kants Kritik an verschiedenen Erscheinungsformen einer „religio duplex“. Es ist gut denkbar, dass Kant in seinen einschlägigen Ausführungen (nicht zuletzt in seiner Kritik am Dünkel der sich als ‚auserwählt‘ und ‚seherisch‘ inszenierenden vermeintlichen „göttlichen Favoriten“: vgl. RGV, AA 06: 200.17) indirekt das biblische Motiv „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ übersetzt, wonach Gott sich dergestalt allein den ‚Einfältigen‘ kundtut und für diese so zur lebensbestimmenden Wirklichkeit wird, „um sich zu derselben niedrigen Stufe, der alle Menschen fähig sind, herabzulassen, für welche jene Glaubenssachen eben so zugänglich sein müssen als dem subtilsten Nachforschen.“¹²⁸ Jene genuin kantische Version einer „duplex religio“ findet – in einer anderen, positiven Akzentuierung – wohl auch in dem Unterschied zwischen dem „Kirchenglauben, der ihm in die Sinne fällt anstatt dass Religion verborgen ist und auf moralische Gesinnungen ankommt“ (RGV, AA 06: 108.10 – 12) ihre besondere Gestalt – so, wenn Kant anschließend betonte, dass auch in den jeweiligen geschichtlichen Gestalten des „Volksglaubens“ als des „Kirchenglaubens“ durch die Bemühungen „vernünftiger und wohldenkender Volkslehrer“ dennoch ein „geistiger Sinn“ durch „symbolische“ Auslegung freigelegt werden könne. Entscheidend ist hierfür (bzw. für das Verhältnis des „Vernunftbegriffs in concreto“ und „abstracto“) nach Kant offenbar das zunehmende Bewusstsein der Differenz zwischen dem ‚Symbol‘ und dem darin ‚Symbolisierten‘ – eine Differenz, die freilich (ganz im Sinne des „Fortschritts der Metaphysik“ in der Bestimmung des „Übersinnlichen“) Möglichkeit und Notwendigkeit der „Erkenntnis nach der Analogie“ bzw. des „symbolischen Anthropomorphismus“ erst begründet.¹²⁹  J. Assmann 2010, 32. Assmann betont so den „Hochmut, der in der Idee der religio duplex steckt“ (ebd. 33), der auch die spätere – von Assmann besonders an Lessing und Mendelssohn demonstrierte – ‚Umdeutung‘ der „religio duplex“ notwendig gemacht habe.  Nicht zuletzt auch (indirekt, d.i. der Sache nach) gegen Reinholds Verweis auf den „großen Vorzug“ der „ägyptischen Epopten“ – welche die „Wahrheit durch ihre Vernunft“ erkannten, während die „Hebräer … höchstens nur blind daran glauben“ konnten (so Schiller, zit. n. C. L. Reinhold, Die Hebräischen Mysterien [Hg. v. J. Assmann], 192) – richtet sich auch die späte Bemerkung Kants über die „verschleierte Göttin“ (VT, AA 08: 405.7). S.dazu u. 320 f..  Refl. 6317: AA 18, 628 f.  Eine damit zusammenhängende (hier nicht näher zu verfolgende) kritische Rückfrage wäre freilich, ob Kant solcherart nicht indirekt ein ‚schiefes‘ Mythosverständnis verrät, das ebenso

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Gleichwohl bleibt von dieser – gewissermaßen „immanenten“ – „symbolischen Vorstellung“ genauer besehen noch diejenige „moralische Auslegung“ im eigentlichen Sinne zu unterscheiden, die den „reinen Religionsglauben“ sodann zum einzigen Maßstab der Auslegung hat und von Kant als einzig verbindlich angesehen wird, „weil, was aus Schriftstellen für die Religion (die bloß ein Gegenstand der Vernunft sein kann) auszumitteln sei, auch von der Vernunft diktiert werden müssen“ (SF, AA 07: 38.22– 24). Ergänzend sei noch angemerkt: Kants spätes – in seiner Auseinandersetzung mit zeitgenössischen ‚neuplatonisierenden‘ Tendenzen angeführtes – ‚Sonnengleichnis‘ darf in seiner ‚egalitären‘ Stoßrichtung auch als eine unmissverständliche Absage an (womöglich mit elitärem Gestus auftretende) ‚mystagogische‘ Ansprüche und beanspruchte ‚ahnungs-philosophische‘ Aufstiegs-Wege zu den „hohen Wahrheiten“ und einschlägigen „Mysterien“ gelesen werden: „Zwar in die Sonne (das Übersinnliche) hinein sehen, ohne zu erblinden, ist nicht möglich; aber sie in der Reflexe (der die Seele moralisch erleuchtenden Vernunft), und selbst in praktischer Absicht hinreichend, zu sehen, … ist ganz tunlich.“ (VT, AA 08: 399.12– 16)¹³⁰ Dies richtet sich also vornehmlich gegen jene ahnungs-vollen Ansprüche des „Mystagogen, der nicht bloß für sich schwärmt, sondern zugleich Clubbist ist und, indem er zu seinen Adepten, im Gegensatz von dem Volke (worunter alle Uneingeweihete verstanden werden) spricht, mit seiner vorgeblichen Philosophie vornehm tut“ (VT, AA 08: 398: 32– 35). Ebendies wird nach Kant sodann zum Ausgangspunkt für eine Bestimmung der Prädikate eines ‚theistischen‘ Gottesbegriffs, wodurch erst „Gott der Gegenstand der Religion wird“ (KpV, AA 05: 131 Anm.); allein durch das moralisch bestimmte Verhältnis des Menschen zu ihm wird er sodann auch als „allmächtiger Schöpfer“ und als „heiliger Gesetzgeber“, „gütiger Regierer und moralischer Versorger“ und zuletzt als „gerechter Richter“ allein ‚für uns‘ – durch dieses ‚Verhältnis‘ – gemäß einem kritischen „symbolischen Anthropomorphismus“ ‚bestimmbar‘ und vermag so eine Religion zu fundieren, die – in solcher Hinsicht – auch keiner „Geheimnisse“

Schellings berühmter Kritik an falschen Mythos-Konzeptionen ausgesetzt bleibt, so fern diese den „tautegorischen“ Charakter (Schelling) unweigerlich verfehlen und demgegenüber unangemessene Abstraktionen geradewegs voraussetzen. Schellings Mythos-Verständnis impliziert freilich auch eine Kritik an der Vorstellung einer durch ‚Offenbarungs-Akkommodationen‘ bedingten „Entwicklung des Menschengeschlechts“.  Darin klingt auch die andernorts geltend gemachte Auffassung nach: „die praktische Vernunft offenbart sich auch überhaupt klärer und richtiger durch das Organ des gemeinen als durch das des spekulativen Verstandesgebrauchs“ (Log, AA 09: 79.15 – 18). In jenem ‚Sonnengleichnis‘ ‚veranschaulichte‘ Kant seinen früheren Hinweis, dass allein aus der Verbindung von „Theologie und Moral“ Religion entstehe (KrV, B 395, Anm.).

2 Eine von Assmann diagnostizierte Selbstrelativierung

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bedarf und allen einschlägigen „vornehmen Tönen in der Philosophie“ Abbruch tut. Nicht zuletzt ist es die auch vom späten Kant (in seiner Auseinandersetzung mit der „Kaste“ der zeitgenössischen Geheimnis- und Ahnungs-Philosophen und deren „gewissen mystischen Takt“: VT, AA 08: 398.1) betonte Notwendigkeit, Gott als unentbehrliche „Idee der Vernunft“ auszuweisen, die es jedoch auch verbietet, sich für den „Begriff der Natur als der erhabenen Gottheit der Mysterien: abstrakt, geistig, anonym, unsichtbar und fast [!] außerhalb der Reichweite menschlicher Vernunft“¹³¹, auf Kant zu berufen und sodann zu resümieren: „Isis ist für Kant und Schiller, ebenso wie für Reinhold und Warburton, nichts anderes als ‚die Mutter Natur‘ … Sie ist es, die bei der letzten Stufe der Einweihung geschaut wird …“.¹³² Sowohl Kants ausdrücklicher Verweis darauf, dass das „Übersinnliche“ allein in der „Reflexe (der die Seele moralisch erleuchtenden Vernunft), und selbst in praktischer Absicht hinreichend, zu sehen“ sei (VT, AA 08: 399.14– 15),¹³³ als auch seine – in Abwehr allen „Überschwangs“, d. h. ‚Vermessenheit‘ – entschiedene Bezugnahme auf das „moralische Gesetz in uns“ als der „verschleierten Göttin“ (VT, AA 08: 405.7), hinter deren Schleier sich nach Kant gerade keine „großen Mysterien der All-Einheit“ verbergen, nötigen hier zu weiteren Differenzierungen. Assmanns Versuch, auch Kant den „Begriff der Natur als der erhabenen Gottheit der Mysterien“ zuzuschreiben, steht hingegen schon zu dessen energischer Warnung, „unter dem Begriff von Gott nicht etwa bloß eine blindwirkende ewige Natur, als die Wurzel der Dinge … zu verstehen“ (KrV, B 660 f.),¹³⁴ in einer unübersehbaren Spannung; dies ignoriert ebenso jene späte – gegen ‚epopteische‘ Ansprüche gerichtete – Aufforderung Kants, den „Begriff von Gott“ nicht als „Inbegriff“, sondern als „obersten Grund aller Realitäten“ (VT, AA 08: 399 Anm.) zu fassen. „Isis“ ist für Kant, wie der späte Passus aus der Schrift „Von einem neuerdings erhobenen Ton in der Philosophie“ verdeutlicht, eben gerade nicht die „Mutter Natur“, sondern ausschließlich das „moralische Gesetz in uns“ ist die „verschleierte Göttin“ – und auch das damit verbundene „Geheimnis“ ist

 J. Assmann in seinem Nachwort zu C.L. Reinhold, Die Hebräischen Mysterien 185.  Ebd. 189.  Diese Gewissheit der die „Seele moralisch erleuchtenden Vernunft“ ist der Widerschein des Absoluten „in uns“ und fungiert so als der ‚archimedisch‘-feste Punkt, an den sich die anderen Ideen anknüpfen; im Ausgang davon resultieren jene „höchsten Zwecke“, die zu erkennen es nach Kant weder der Wissenschaft noch einer „fremden Führung“ bedarf.  Ähnlich charakterisierte er bekanntlich den dem physikotheologischen Gottesbeweis zugrunde liegenden Gottesgedanken als „eine erhabene und weise Ursache (oder mehrere), die nicht bloß, als blindwirkende allvermögende Natur, durch Fruchtbarkeit, sondern als Intelligenz durch Freiheit die Ursache der Welt sein muss“ (KrV, B 653).

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von anderer Natur: „Die verschleierte Göttin, vor der wir … unsere Knie beugen, ist das moralische Gesetz in uns, in seiner unverletzlichen Majestät. Wir vernehmen zwar ihre Stimme, und verstehen auch gar wohl ihr Gebot; sind aber beim Anhören in Zweifel, ob sie von dem Menschen, aus der Machtvollkommenheit seiner eigenen Vernunft selbst, oder ob sie von einem anderen, dessen Wesen ihm unbekannt ist und welches zum Menschen durch diese seine eigene Vernunft spricht herkomme […] Jene Göttin also ahnen zu können, würde ein Ausdruck sein, der nichts mehr bedeutete als: durch sein moralisches Gefühl zu Pflichtbegriffen geleitet zu werden, ehe man noch die Prinzipien, wovon jenes abhängt, sich hat deutlich machen können“ (VT, AA 08: 405.1– 31). Es ist nicht zu überhören: Hier findet Kants Ablehnung einer „nur wenigen Auserwählten“ vorbehaltenen epopteisch-‚mystischen Schau‘ einen besonders eindringlichen Ausdruck. Jedoch darf auch die eigentlich kritische Pointe jenes kantischen Rekurses auf die „verschleierte Göttin“ nicht übersehen werden: Dass das „moralische Gesetz“ als „verschleierte Göttin“, uns lediglich hinsichtlich seiner „Herkunft“ „von einem anderen, dessen Wesen … unbekannt ist“ oder „durch diese seine eigene Vernunft“ in Unsicherheit lasse, verbindet sich mit Kants Mahnung, diese Erfahrung ‚in uns‘ nicht zu „objektivieren, zu hypostasieren und zu personifizieren“, d. h. nicht zu vergessen, dass die daraus abgeleitete Vorstellung der „verschleierten Isis“ selbst als eine „ästhetische Darstellungart“ aufzufassen ist, weil andernfalls eine unkritische ‚Subreption‘ die unvermeidliche Folge wäre (s.u. 325 ff.). Genau dies scheint jedoch – als ein weiteres gravierendes Manko – in der Vorstellung einer geheimen, ‚esoterischen‘ Elitereligion der Fall zu sein, die auch in dieser Hinsicht den Ansprüchen eines kritischen „moralischen Monotheismus“ wohl kaum genügt. Zu beachten bleibt freilich auch die eigentümliche Spannung, dass Kant einerseits das alttestamentliche Bilderverbot zwar ausdrücklich gewürdigt hat; gleichwohl bleibt es mit der Selbsterschließung Gottes als ‚ich bin, der ich bin‘ verbunden, worin der Mensch sich auch als anerkannt ‚wiederzufinden‘ vermag – und ebendies auch den „moralischen Monotheismus“ eines „lebendigen Gottes“ und „Herzenskündigers“ begründet. Daraus ergibt sich: Vor dem Hintergrund dieser kantischen Konzeption seines – als ganz und gar ‚geheimnislos‘ beanspruchten – „Vernunftglaubens“ und seiner ausdrücklichen – distanzierenden – Berufung auf das „moralische Gesetz in uns“ als die „verschleierte Göttin“ (VT, AA 08: 405.7),¹³⁵ die auch eine scharfe  In den früheren Entwürfen der „Preisschrift“ findet sich eine andere Version dieser thematischen Bezüge, zumal hier die Moralität erst die „Freiheit“ ‚entschleiert‘: „Allererst nachdem die moralischen Gesetze das Übersinnliche im Menschen, die Freiheit, deren Möglichkeit keine Vernunft erklären, ihre Realität aber in jenen praktisch-dogmatischen Lehren beweisen kann, entschleiert haben: so hat die Vernunft gerechten Anspruch auf Erkenntnis des Übersinnlichen,

3 Eine abschließende kritische Anmerkung

323

und spöttische Kritik an zeitgenössischen Positionen impliziert,¹³⁶ wäre auch die Auseinandersetzung mit Assmanns Konzeption einer „duplex religio“ zu suchen. Dabei bliebe wohl vorrangig zu prüfen, ob nicht gerade auch Kants Unterscheidung zwischen „der einen Religion“ (die eine „reine Vernunftsache ist“) und den „verschiedenen Glaubensarten“ noch eine weiter gehende Differenzierung dieser „duplex religio“ verlangt bzw. eine solche auch ermöglicht.¹³⁷ Die von Assmann – vornehmlich in Anknüpfung an Reinhold und Schiller – aufgenommene Differenz zwischen einer „esoterischen“ und einer „exoterischen“ Religion hat jedenfalls in jener von Kant geltend gemachten Verschiedenheit zwischen der Religion als „reiner Vernunftsache“ und den „historischen Glaubensarten“ keine direkte Entsprechung; gleichwohl kann das Thema „duplex religio“ in modifizierter Gestalt auch darauf bezogen werden.

3 Eine abschließende kritische Anmerkung: Zu Assmanns problematischem Rekurs auf die kantische „Idee des Erhabenen“ Im Kontext seiner Skizze der Rezeptionsgeschichte der „duplex religio“ bzw. des „All-Einheits-Motivs“ rekurriert Assmann auch auf zwei berühmte – von ihm nebeneinander gestellte – Passagen aus Kants „Kritik der ästhetischen Urteilskraft“, die er sodann mit zeitgenössischen (nicht zuletzt Reinholds und Schillers)

aber nur mit Einschränkung auf den Gebrauch in der letztern Rücksicht gemacht“ (FM, AA 20: 310.3 – 9).  In der späten Schrift „Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie“ hat Kant bekanntlich die – eher anmaßenden als vornehmen – Ansprüche der „Philosophen seinwollenden“ ‚Ahnungsphilosophen‘ (deren „Ahnung des Übersinnlichen“ und deren „Aufruf, durchs Gefühl zu philosophieren“: VT, AA 08: 401.1– 2) und philosophierenden Verwalter „religiöser Geheimnisse“ („die Philosophie hat ihre fühlbaren Geheimnisse“: VT, AA 08: 395.18 – 19) und die auf die „verschleierte Göttin“ rekurrierenden „Schleiermacher“ einer scharfen Kritik und beißendem Spott ausgesetzt.  Dies würde eine Anknüpfung und gleichermaßen (hinsichtlich des „Verborgenen“) eine Kritik an Assmann (mit Blick auf Schiller) nahelegen: „Religion, das ist zum einen die bestimmte, historische Religion, zu der man sich als Angehöriger einer Religionsgemeinschaft bekennt, das ist zum anderen aber auch das Wissen um eine verborgene, universale, von allen Religionen letztlich angezielte Wahrheit und der Respekt für die Wege der anderen Religionen. Mit diesem Bewusstsein einer allen Religionen gemeinsamen, aber verborgenen Wahrheit und dem Gedanken, dass alle Namen, die die Völker und Religionen der Welt ihren Göttern geben, letztlich auf dieselbe universale Gottheit zielen, kehren im 18. Jahrhundert kosmopolitische Motive des Hellenismus zurück“ (Assmann 2010, 162).

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IV Ein kritischer Blick auf Jan Assmanns Lessing- und Kant-Rezeption

Bezugnahmen auf die „Gottheit des ‚verschleierten Bildes zu Sais‘“ in Verbindung bringt. Indes weisen die beiden im Folgenden angeführten Kant-Stellen inhaltlich durchaus in verschiedene Richtungen und akzentuieren entsprechend auch unterschiedliche Aspekte einer ‚negativen Theologie‘. (1) „Vielleicht gibt es keine erhabenere Stelle im Gesetzbuche der Juden, als das Gebot: du sollst dir kein Bildnis machen, noch irgend ein Gleichnis, weder dessen, was im Himmel, noch auf der Erden, noch unter der Erden ist u. s. w. Dieses Gebot allein kann den Enthusiasm erklären, den das jüdische Volk in seiner gesitteten Epoche für seine Religion fühlte, wenn es sich mit andern Völkern verglich, oder denjenigen Stolz, den der Mohammedanism einflößt“ (KU, AA 05: 274.20 – 27). Dieser berühmte Passus über das alttestamentliche Bilderverbot, der so entschieden auf der „Darstellung des Unendlichen“ als einer notwendig „negative(n) Darstellung … , die aber doch die Seele erweitert“ (ebd.), insistiert, lässt darin unschwer die ‚absolute Transzendenz‘ und die daran orientierte ‚negative Theologie‘ als das vorrangige Motiv erkennen. (2) Demgegenüber tritt an der späteren Kant-Stelle, die Assmann anführt, jedoch ein anderer – davon genau zu unterscheidender – Aspekt in den Vordergrund: „Vielleicht ist nie etwas Erhabeneres gesagt, oder ein Gedanke erhabener ausgedrückt worden, als in jener Aufschrift über dem Tempel der Isis (der Mutter Natur): ‚Ich bin alles was da ist, was da war, und was da sein wird, und meinen Schleier hat kein Sterblicher aufgedeckt’“ (KU, AA 05: 316 Anm.). Assmann kommentiert diese Kant-Stelle folgendermaßen: „Das ist die Natur, die ebenso apolitisch wie amoralisch ist, die weder Freund und Feind noch Gut und Böse kennt. Natur ist das schlechthin Allumfassende, das All-Eine – welche Unterscheidung könnte hier eine Grenze ziehen und dem Allumfassenden ein Gegenteil gegenüberstellen?“¹³⁸ Wenn Assmann in jenem angeführten Kant-Zitat auch eine ‚Grenze‘ gezogen sah, die „zwischen Vernunft und Glaube beziehungsweise Natur und Offenbarung“ trenne (ebd.), so spricht dagegen vermutlich nicht nur dies, dass es Kant auch aus mehreren Gründen unangemessen schien, dafür die Kennzeichnung ‚Monotheismus‘ zu verwenden; vielmehr kommt jene Charakterisierung des „All-Einen“ offenbar doch eher jener „blindwirkenden ewigen Natur“ (KrV, B 660) sehr nahe, auf die Kant den „Begriff von Gott“ gerade nicht bezogen sehen wollte. Ebenso lässt sich Assmanns Interpretation dieserart wohl kaum mit den kantischen Grenzziehungen „zwischen Vernunft und Glaube beziehungsweise Natur und Offenbarung“ in Einklang bringen. Dass Kant zufolge „nie etwas Erhabeneres gesagt, oder ein Gedanke erhabener ausgedrückt worden“

 Assmann 2010, 135.

3 Eine abschließende kritische Anmerkung

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sei, wäre demzufolge gerade nicht so zu verstehen, dass er darin das „Erhabene“ selbst thematisierte. Demnach bliebe gegen Assmanns diesbezüglichen Rekurs auf Kant vor allem dies zu bedenken: In jenem „erhaben ausgedrückten Gedanken“ ist keineswegs das „Erhabene“ selbst Thema, vielmehr steht das in diesem Gedanken zur Sprache gebrachte Motiv offenbar eher jener in der ‚ersten Kritik‘ Kants (im Kontext des „kosmologischen Gottesbeweises“) verfolgten Argumentation nahe, die auf die Schwierigkeit bzw. Unmöglichkeit der Bestimmung eines „absolut notwendigen Wesens“ abzielt, das sich nach Kant bekanntlich als der „wahre Abgrund für die menschliche Vernunft“ erweist und so das Thema einer ‚negativen Theologie‘ unverkennbar anders akzentuiert: „Die unbedingte Notwendigkeit, die wir als den letzten Träger aller Dinge so unentbehrlich bedürfen, ist der wahre Abgrund für die menschliche Vernunft. Selbst die Ewigkeit, so schauderhaft erhaben sie auch ein Haller schildern mag, macht lange den schwindelichten Eindruck nicht auf das Gemüt; denn sie misst nur die Dauer der Dinge, aber trägt sie nicht. Man kann sich des Gedanken nicht erwehren, man kann ihn aber auch nicht ertragen, dass ein Wesen, welches wir uns auch als das höchste unter allen möglichen vorstellen, gleichsam zu sich selbst sage: Ich bin von Ewigkeit zu Ewigkeit, außer mir ist nichts, ohne das, was bloß durch meinen Willen etwas ist; aber woher bin ich denn? Hier sinkt alles unter uns, und die größte Vollkommenheit, wie die kleinste schwebt ohne Haltung bloß vor der spekulativen Vernunft, der es nichts kostet, die eine so wie die andere ohne die mindeste Hindernis verschwinden zu lassen“ (KrV, B 641). Dieser darin angesprochene „Abgrund der Vernunft“ (im Sinne des gen. obj. u. gen. subj.) bezüglich der „absoluten Notwendigkeit“ (als einem „Ideal der reinen Vernunft“) ist bei Kant demzufolge jedoch keineswegs im Sinne der „unsichtbare(n), sich im Sichtbaren verschleiernde(n) natura naturans“ zu verstehen, wie Assmanns Interpretation es jedoch nahelegt.¹³⁹ In den beiden Passagen kommen vielmehr durchaus unterschiedliche Aspekte einer ‚negativen Theologie‘ zur Sprache und dürfen deshalb in ihrer recht verschiedenen motiv-

 Bestätigt wird diese Sichtweise vermutlich auch dadurch, dass die oben angeführte Stelle genau einen Passus aus Kants früher Schrift „Über den einzig möglichen Beweisgrund …“ aufnimmt; hier bestimmte er den „Begriff von dem höchsten Wesen, der alles in sich fasst, was man nur zu gedenken vermag“, im Sinne der „göttlichen Allgenugsamkeit“: „Gott ist allgenugsam.Was da ist, es sei möglich oder wirklich. Das ist nur etwas, in so ferne es durch ihn gegeben ist. Eine menschliche Sprache kann den Unendlichen so zu sich selbst reden lassen: Ich bin von Ewigkeit zu Ewigkeit, außer mir ist nichts, ohne insofern es durch mich etwas ist. Dieser Gedanke, der erhabenste unter allen, ist noch sehr vernachlässigt, oder mehrenteils gar nicht berührt worden.“ (BDG, AA 02: 151.9 – 15). Dieser ‚sehr vernachlässigte Gedanke‘ wird sich sodann, nicht mehr ‚vernachlässigt‘, nach Kant geradezu als der wahre „Abgrund der bzw. für die Vernunft“ erweisen

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lichen Stoßrichtung auch nicht nivelliert werden.¹⁴⁰ Indes sind beide Aspekte, ungeachtet ihrer unterschiedlichen Intention, auch als entschiedene Absage gegenüber dem Anspruch einer den Epopten „nach langer Übung“ vorbehaltenen „Schau der Wahrheit“ in den „großen Mysterien“ zu lesen. In diesem Problemkontext sei noch an den – auch für Lessings Spinoza-Rezeption interessanten – bemerkenswerten Sachverhalt erinnert, dass die in zeitgenössischen philosophischen Rezeptionen erkennbare Nähe zu All-EinheitsKonzeptionen in spinozistisch-pantheistischen Gestalten Kant möglicherweise zu einer bedeutsamen Differenzierung veranlasst (und er diese indirekt auch gegen Reinhold geltend gemacht) hat. Wenn Reinhold zufolge mit der „Epopteia, die Schau des Höchsten“ der „eine und einzige Gott, und zwar als Gott, der ‚alle Dinge enthält‘ bzw. ‚Ursache alles Daseins‘ ist“, verehrt werde,¹⁴¹ so fällt umso mehr auf, dass Kant ausgerechnet im Kontext seiner Auseinandersetzung mit zeitgenössischen ‚neuplatonisierenden Mystagogen‘ und Geheimlehrern seine frühere Unterscheidung zwischen „Grund und Inbegriff aller Realitäten“ noch einmal dahingehend modifiziert und geltend gemacht hat, dass er nunmehr ausdrücklich auf Gott – als „ens realissimum“, auf dessen „Begriff als Grund aller Realitäten“ – rekurrierte – näherhin freilich auf „Gott als das Wesen, welches den Grund alles dessen in der Welt enthält, wozu wir Menschen einen Verstand anzunehmen nötig haben“ (VT, AA 08: 399 Anm.); dass Gott, der den „Grund aller Realitäten“ enthält, demzufolge vom „Grund aller Realitäten“ offenbar selbst noch unterschieden bleibt, ist dann auch noch für die nachfolgende weitere Bestimmung Gottes als jenes „Wesens“ bedeutsam, „von welchem das Dasein aller Weltwesen seinen Ursprung hat, nicht aus der Notwendigkeit seiner Natur (per emanationem)“ (ebd.) – eine Differenzierung, die offenbar gerade in diesem Kontext – und nicht zuletzt auch mit Blick auf Lessings spinozistische ‚Hen-kai-Pan-Sympathie‘ (s.o. II., Anm. 30) – wichtig bleibt. Noch ein weiterer kritischer Hinweis zu Assmanns Rekurs auf Kants Idee des „Erhabenen“ soll diese Arbeit beschließen: In seinem Rekurs auf Kants „Analytik

 Diese durchaus unterschiedliche Stoßrichtung wird wohl auch in Schmalenbachs Bemerkung ausgeblendet: „… die Metaphysik des pantheistischen Monismus, die ja doch das große Erlebnis des jungen Kant gewesen war und zudem auch von dem späteren niemals zu völligem Schweigen gebracht werden konnte, [hat] sich die Herabminderung zu bloß unselbständiger Antithesis und dann gar nur innerhalb des sie in sich einbeziehenden religiösen Dualismus zum wenigsten auf die Dauer nicht gefallen lassen: in der Kritik der Urteilskraft, der Lehre von der Erhabenheit des Unendlichen, bricht das in Wahrheit selbständige Erleben der kantischen Jugend, wenn auch jetzt aus metaphysischem in angeblich [!] nur ästhetischen Rang versetzt, mächtig wieder herauf“ (Schmalenbach 79).  So Bondeli 2002, 256.

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des Erhabenen“, der zufolge das „Erhabene“ als „das schlechthin Überwältigende“ bestimmt sei, „dem jedoch die menschliche Natur dennoch standzuhalten vermag“, macht Assmann des Weiteren (in direktem Bezug auf den angeführten Passus) als die darin von Kant angeblich ausgesprochene Einsicht dies geltend: „Das Erhabene widersteht menschlicher Darstellbarkeit, Verstehbarkeit und Mitteilbarkeit, aber ein starkes Selbst widersteht dem Erhabenen. Es ist möglich, Gott zu denken, ohne ihn auf ein Bild und Gleichnis zu reduzieren.“¹⁴² Indes, diese Interpretation kann sich kaum auf Kant berufen;¹⁴³ sie ist vermutlich schon deshalb irreführend (und der kantischen Intention der „Analytik des Erhabenen“ zuwider), weil sie den von Kant wiederholt betonten Sachverhalt einer drohenden ‚Subreption‘ (d.i. eine „Verwechslung einer Achtung für das Objekt statt der für die Idee der Menschheit in unserem Subjekte“) verkennt bzw. selbst geradewegs begünstigt,¹⁴⁴ ja diese geradezu selbst widerspiegelt: Denn wiederholt verwies Kant auf diese „gewisse Subreption“, der zufolge „das Gefühl des Erhabenen in der Natur Achtung für unsere eigene Bestimmung“ ist, die wir hingegen „einem Objekte der Natur … beweisen“ (KU, AA 05: 257.21– 24), damit jedoch den Status der „Idee des Erhabenen“ insofern verkennen, weil eben „(n)ichts … , was Gegenstand der Sinnen sein kann, … erhaben zu nennen“ sei: „Mithin ist die Geis J. Assmann, Die Hebräischen Mysterien … 189 f.  Diese (Kant zugeschriebene) Auffassung Assmanns, dass „ein starkes Selbst dem Erhabenen widerstehe“, ist schon insofern missverständlich, als wir doch Kant zufolge – gerade umgekehrt – „diese Gegenstände [„kühne überhangende gleichsam drohende Felsen, … Donnerwolken, … Vulkane … Orkane“, den „grenzenlosen Ozean“, einen „hohen Wasserfall … u. dgl.“] gerne erhaben“ nennen, „weil sie die Seelenstärke über ihr gewöhnliches Mittelmaß erhöhen, und ein Vermögen zu widerstehen von ganz anderer Art in uns entdecken lassen, welches uns Mut macht, uns mit der scheinbaren Allgewalt der Natur messen zu können“ (KU, AA 05: 261.21– 24) und in uns so einen „andern nicht-sinnlichen Maßstab“ offenbart (ebd.261.29), dem zufolge „das Gemüt die eigene [!] Erhabenheit seiner Bestimmung selbst über die Natur sich fühlbar machen kann“ (KU, AA 05: 262.12– 13): „Erhaben ist das, was durch seinen Widerstand gegen das Interesse der Sinne unmittelbar gefällt“ (KU, AA 05: 267.28 – 29).  Eine solche ‚Subreption‘ tritt offenbar auch darin zutage: „Das Erhabene übersteigt die Begriffe und die Einbildungskraft und ist uns doch auf besondere Weise zugänglich. Es erfüllt uns mit heiligem Schauer, gerade aufgrund seiner Entzogenheit und ‚Unangemessenheit‘, an der die menschliche Einbildungskraft scheitert, über die aber gleichwohl die Vernunft ins Unnachvollziehbare hinauszugreifen vermag. So wie der bildlose Gott ist auch die verschleierte Isis den menschlichen Begriffen und dem Vorstellungsvermögen entzogen. Und doch ist diese Entzogenheit ein Faszinosum, das uns fesselt durch den heiligen Schauer, den das Entzogene und Geheimnisvolle einflößt. Gott ist bildlos, weil er alles ist und weil kein Name und kein Bild seine Größe fassen kann. Ebenso ist Isis notwendig verschleiert, weil sie alles ist, alles was da war, was da ist und was da sein wird. Nicht weil sie unsichtbar ist, sondern weil sie alles ist, entzieht sie sich unseren Blicken. Das Erhabene ist unabbildbar, unbenennbar und unentschleierbar.“ (Assmann 1998, 109)

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tesstimmung durch eine gewisse die reflektierende Urteilskraft beschäftigende Vorstellung, nicht aber das Objekt erhaben zu nennen“ (KU, AA 05: 250.32). Es ist nach Kant eben gerade nicht der „Gegenstand, als vielmehr die Gemütsstimmung in Schätzung desselben, als erhaben [zu] beurteilen“ (KU, AA 05: 256.1– 2),¹⁴⁵ also „die wahre Erhabenheit nur im Gemüte des Urteilenden, nicht in dem Naturobjekte, dessen Beurteilung diese Stimmung desselben veranlasst, müsse gesucht werden“ (KU, AA 05: 256.12– 14). Es betrifft dies also lediglich die „Gehobenheit des Gemüts“¹⁴⁶ bzw. „das Gefühl dieser übersinnlichen Bestimmung“ (KU, AA 05: 257.35 – 36)¹⁴⁷ und zeige so eine „notwendige Erweiterung der Einbildungskraft zur

 Deshalb ist die „Erhabenheit der Gesinnung“ die Voraussetzung der Erfahrung des ‚Erhabenen‘, die er folglich auch mit dem „moralisch bestimmten Monotheismus“ eng verbunden sieht.  Dies bleibt auch bezüglich des kantischen Hinweises auf die „Größenschätzung der Naturdinge, die zur Idee des Erhabenen erforderlich ist“ (KU, AA 05: 251.2– 3), zu bedenken, die sich auf diese „Gehobenheit des Gemüts“ und seinen „heiligen Schauer“ bezieht.  Kant spricht denn auch im weiteren bezüglich der Gottesidee von der der „Idee der Erhabenheit dieses Wesens“ gemäßen Erfahrung der „Erhabenheit der Gesinnung bei sich selbst“ (KU, AA 05: 263.36), die sich (als Ausdruck der „Liberalität der Denkungsart“: KU, AA 05: 268.34) über alle „Furcht“ und darin begründete „Superstition“ erhebt; „und nur unter der Voraussetzung dieser Idee in uns, und in Beziehung auf sie, sind wir fähig, zur Idee der Erhabenheit desjenigen Wesens zu gelangen, welches nicht bloß durch seine Macht, die es in der Natur beweiset, innige Achtung in uns wirkt, sondern noch mehr durch das Vermögen, welches in uns gelegt ist, jene ohne Furcht zu beurteilen, und unsere Bestimmung als über dieselbe erhaben zu denken.“ (KU, AA 05: 264.18 – 24) Freilich scheint diese Charakterisierung die ursprüngliche Korrelation von Gottes- und Selbstverständnis wiederum im Sinne eines bloß einseitigen Begründungsverhältnisses (in einseitigem Ausgang von der „Entwickelung sittlicher Ideen“: KU, AA 05: 265.10) abzuspannen. Bemerkenswert (gerade auch bezüglich dieses letztgenannten Punktes) ist ein Passus aus der „Allgemeine(n) Anmerkung zur Exposition der ästhetischen reflektierenden Urteile“, der ausführlich zitiert (und auch mit besonderem Blick auf Kants Lehre vom „symbolischen Anthropomorphismus“ wirklich genau beim Wort genommen) zu werden verdient: „Buchstäblich genommen, und logisch betrachtet, können Ideen nicht dargestellt werden. Aber, wenn wir unser empirisches Vermögen (mathematisch, oder dynamisch) für die Anschauung der Natur erweitern: so tritt unausbleiblich die Vernunft hinzu, als Vermögen der Independenz der absoluten Totalität, und bringt die, obzwar vergebliche, Bestrebung des Gemüts hervor, die Vorstellung der Sinne dieser angemessen zu machen. Diese Bestrebung, und das Gefühl der Unerreichbarkeit der Idee durch die Einbildungskraft, ist selbst eine Darstellung der subjektiven Zweckmäßigkeit unseres Gemüts im Gebrauche der Einbildungskraft für dessen übersinnliche Bestimmung [v. Verf. hervorgehoben], und nötigt uns, subjektiv die Natur selbst in ihrer Totalität, als Darstellung von etwas Übersinnlichem, zu denken, ohne diese Darstellung objektiv zu Stande bringen zu können.“ (KU, AA 05: 268.4– 15) Wäre nicht auch hier ein kritischer Anknüpfungspunkt dafür gewesen, das Problematische und Einseitige jenes „symbolischen Anthropomorphismus, der bloß die Sprache und nicht das Objekt selbst angeht“, zu überwinden? Kant spricht – was wiederum recht genau genommen zu werden verdient – wenige Seiten später (nicht zufällig im Verweis auf das jüdische Bilderverbot!) bezüglich der radikalen Transzendenz des Erhabenen von seiner notwendig „ab-

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Angemessenheit mit dem, was in unserem Vermögen der Vernunft unbegrenzt ist“ (KU, AA 05: 259.36 – 37), an. Es bleibt demnach dabei, dass „das Erhabene … nicht in den Dingen der Natur, sondern allein in unseren Ideen zu suchen sei“ (KU, AA 05: 250.8 – 9)¹⁴⁸ und sich somit bestätigt: „Die Stimmung des Gemüts zum Gefühl des Erhabenen erfordert eine Empfänglichkeit desselben für Ideen“ (KU, AA 05: 265.1– 2).¹⁴⁹

gezogene(n) Darstellungsart, die in Ansehung des Sinnlichen gänzlich negativ wird […] und jene Absonderung ist [!] also eine Darstellung des Unendlichen, welche zwar eben darum niemals anders als bloß negative Darstellung sein kann, die aber doch die Seele erweitert.“ (KU, AA 05: 274.14– 20) – Vgl. auch Hegels Bezugnahme auf die Bestimmung des „Erhabenen“ bei Kant: „Das Erhabene ist das Bestreben, eine Idee sinnlich darzustellen, wo zugleich die Unangemessenheit, das Nichtgefaßtwerdenkönnen der Idee durch das Sinnliche sich darstellt.“ (20, 378) Im „Erhabenen nämlich […] drückt die endliche Erscheinung das Absolute, das sie zur Anschauung bringen soll, nur so aus, dass an der Erscheinung selber heraustritt, sie könne den Inhalt nicht erreichen.“ (Hegel 13, 438 f.) „Die Erhabenheit setzt die Bedeutung in einer Selbständigkeit voraus, für welche das Äußerliche als unterworfen bestimmt ist, insofern das Innere nicht darin erscheint, sondern so darüber hinausgeht, dass eben nichts als dieses Hinaussein und Hinausgehen zur Darstellung kommen kann“ (13, 479) – d. h. im Sinne Kants also „bloß negative Darstellung sein kann.“ Auch für Kant ist das „Erhabene überhaupt […] der Versuch, das Unendliche auszudrücken, ohne in dem Bereich der Erscheinungen einen Gegenstand zu finden, welcher sich für diese Darstellung passend erwiese. Das Unendliche, eben weil es aus dem gesamten Komplex der Gegenständlichkeit für sich als unsichtbare, gestaltlose Bedeutung herausgesetzt und innerlich gemacht wird, bleibt seiner Unendlichkeit nach unaussprechbar und über jeden Ausdruck durch Endliches erhaben“ (13, 467), ist doch die „Erhabenheit“ das „erste durchgreifende Reinigen […] und ausdrückliche Abscheiden des An- und für-sich-Seienden von der sinnlichen Gegenwart … , welche das Absolute über jede unmittelbare Existenz hinaushebt“ (ebd. 466).  „Also ist die Erhabenheit in keinem Dinge der Natur, sondern nur in unserem Gemüte enthalten, sofern wir der Natur in uns, und dadurch auch der Natur (sofern sie auf uns einfließt) außer uns, überlegen zu sein uns bewusst werden können. Alles, was dieses Gefühl in uns erregt, wozu die Macht der Natur gehört, welche unsere Kräfte auffordert, heißt alsdenn (obzwar uneigentlich) erhaben“ (KU, AA 05:264.13 – 18).  S. dazu den ganzen § 29: „Von der Modalität des Urteils über das Erhabene der Natur“. Deshalb sei die „Entwicklung sittlicher Ideen“ bzw. der ‚Kultur‘ auch der Erfahrung des Erhabenen vorausgesetzt und infolgedessen auch erst dadurch der „Monotheismus“ hinreichend qualifiziert, weil dieser an die „Anlage zum Gefühl für (praktische) Ideen, d.i. zu dem moralischen“ (KU, AA 05: 265.29 – 30) gebunden ist, das die „Macht des Gemüts“ offenbart, „sich über gewisse Hindernisse der Sinnlichkeit durch moralische Grundsätze zu schwingen“ (KU, AA 05: 271.34– 35). Als schlechthin entscheidend erweist sich demnach all den angeführten Bestimmungen zufolge eben dies, dass für Kant „das Erhabene jederzeit Beziehung auf die Denkungsart haben“ müsse (KU, AA 05: 274.9 – 10), also „das Erhabene der Natur nur uneigentlich so genannt werde und eigentlich bloß die Denkungsart, oder vielmehr der Grundlage zu derselben in der menschlichen Natur beigelegt werden müsse“ (KU, AA 05: 280.1– 4), und dies auch für eine nicht reduktionistische Bestimmung des „Monotheismus“ maßgebend bleibt. Darin gründet demzufolge auch Kants Kritik am „ägyptischen“ und „jüdischen Monotheismus“.

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IV Ein kritischer Blick auf Jan Assmanns Lessing- und Kant-Rezeption

Es sollte erkennbar geworden sein, weshalb Jan Assmanns Lessing- und KantRezeption wichtige kritische Rückfragen aufwerfen, die auch nur in einer Verbindung von historischen Perspektiven mit systematischen Hinsichten beantwortet werden können.

Schlussbemerkung Ebenso sollte deutlich geworden sein – dies lässt auch Assmanns Auseinandersetzung mit Lessing und Kant erkennen –, dass die in diesem Buch vorgestellten Probleme und offenen Fragen an Aktualität nichts verloren haben und deshalb in sachorientierten – d. h. nicht nur strategisch-politischen – ökumenisch-interreligiösen Gesprächen zwischen den monotheistischen Weltreligionen und auch in interkulturellen Dialogen nach wie vor Beachtung verdienen. Die zwischen Lessing und Kant verhandelten Probleme und die darin zutage tretenden Kontroversen bestimmen latent nach wie vor auch die gegenwärtige Situation und sind jedenfalls keineswegs bloß von philosophie-historischem und literaturwissenschaftlichem Interesse. Nicht zuletzt sollten diese Themen wohl auch vermehrt Gegenstand in wünschenswerten Auseinandersetzungen zwischen den akademischen theologischen Studienrichtungen der christlichen Theologie, der Judaistik und der Islamwissenschaften sein und – unter der Oberaufsicht der Philosophie – zu einem produktiven „Streit der Fakultäten“ über die „Wahrheit der Religionen“ im Dienste ihrer „Selbstaufklärung“ auch in einem religionstheologischen Kontext und im interreligiösen Dialog führen. Dies würde auch die Diskussionen und Kontroversen zum Themenfeld ‚Aufklärung und Religion‘ wesentlich bereichern, zumal dies offenbar nach wie vor ein ‚unvollendetes Projekt‘ darstellt und deshalb auch nicht nur von historischem Interesse ist. Wie gesagt: Das in Berlin errichtete ‚house of One‘ wäre weder ein bloßes ‚Museum‘ noch lediglich eine gemeinsame ’Kultstätte’, sondern – als die dem Geist der „wahren Aufklärung“ (RGV, AA 06: 179.6) verpflichtete wahre ‚hagia sophia‘ – ein ausgezeichneter und herausragender Ort für diese Herausforderungen in einem modernen Europa. Im ‚Entree‘ dieses ‚house of One‘ wäre vielleicht als Einladung das Motto zu Lessings „Nathan der Weise“ anzubringen: „Introite, nam et heic dii sunt“¹ – ‚gezähmt‘ allerdings durch Kants „moralisch bestimmten Monotheismus“ und verbunden mit seiner späten Aufforderung: „sapere aude, sei weise“,² die ein kritikloses Verharren im „Zustand einer passiven Vernunft“ (KU, AA 05: 295.1– 2) überwindet und sich demgegenüber notwendig an seiner ‚aufklärungs-affinen‘ Bestimmung der ‚Weisheit‘ orientiert:³

 Lessing übersetzte diesen ‚herakliteischen‘ – von ihm „bei Gellius“ zitierten – Spruch: „Tretet ein, denn auch hier sind Götter!“  AA 21: 134.  Der kritische Philosoph als „Gesetzgeber der menschlichen Vernunft“, der sich an den „wesentlichen“ und „höchsten Zwecken“ (KrV, B 867 f.) der Vernunft und an deren „Rangordnung“ https://doi.org/10.1515/9783110716191-007

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Schlussbemerkung

„Weisheit, als die Idee vom gesetzmäßig-vollkommenen praktischen Gebrauch der Vernunft, ist wohl zu viel von Menschen gefordert; aber auch selbst dem mindesten Grade nach kann sie ein anderer ihm nicht eingießen, sondern er muß sie aus sich selbst herausbringen. Die Vorschrift, dazu zu gelangen, enthält drei dahin führende Maximen: 1) Selbstdenken, 2) sich (in der Mitteilung mit Menschen) an die Stelle des Anderen zu denken, 3) jederzeit mit sich selbst einstimmig zu denken.“ (Anth, AA 07: 200.31.37) Dem hätte zweifellos auch der ‚Aufklärer‘ Lessing zugestimmt, zumal eine solche ‚wahre‘ hagia sophia sich nicht bloß an der ‚Selbstbehauptung‘ einer „historischen Glaubensart“, sondern allein an der „Selbsterhaltung der Vernunft“ zu orientieren hätte, die auch durch den praktischen „Wettstreit um das Gute“ nicht zu ersetzen ist. Vielmehr bleibt doch Lessings eigene ’polemische’ These zu beherzigen: „Nicht zwar, als ob ich unser itziges Publicum gegen alles, was Streitschrift heißt und ihr ähnlich siehet, nicht für ein wenig allzu ekel hielte. Es scheinet vergessen zu wollen, daß es die Aufklärung so mancher wichtigen Punkte dem bloßen Widerspruche zu danken hat, und daß die Menschen noch über nichts in der Welt einig sein würden, wenn sie noch über nichts in der Welt gezankt hätten. ‚Gezankt‘; denn so nennet die Artigkeit alles Streiten; und Zanken ist etwas so unmanierliches geworden, dass man sich weit weniger schämen darf, zu hassen und zu verleumden, als zu zanken. Bestünde indes der größere Teil des Publici, das von keinen Streitschriften wissen will, etwa aus Schriftstellern selbst: so dürfte es wohl nicht die bloße Politesse sein, die den polemischen Ton nicht dulden will. Er ist der Eigenliebe und dem Selbstdünkel so unbehaglich! Er ist dem menschlichen Namen so gefährlich! Aber die Wahrheit, sagt man, gewinnet dabei so selten. – So selten? Es sei, daß noch durch keinen Streit die Wahrheit ausgemacht worden: so hat dennoch die Wahrheit bei jedem Streite gewonnen. Der Streit hat den Geist der Prüfung genähret, hat Vorurteil und Ansehen in einer beständigen Erschütterung erhalten; kurz, hat die geschminkte Unwahrheit verhindert, sich an der Stelle der Wahrheit festzusetzen.“⁴

orientiert, sollte da nicht fehlen, zumal in Absehung davon eine notwendige Differenzierung des Begriffs der „Humanität“ nicht zu gewinnen ist.  Lessing, „Wie die Alten den Tod gebildet“, Vorrede: XI, 3. Indes, auch dieses Streit-Motiv atmet offenbar in gewisser Weise den kantischen Geist des „reinen, für alle Welt gleich einleuchtenden Religionsglauben(s)“ (RGV, AA 06: 135 Anm.).

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Siglenverzeichnis AA Anth BDG

Akademie-Ausgabe Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (AA 07 Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes (AA 02) EAD Das Ende aller Dinge (AA 08) FM Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnitzens und Wolf’s Zeiten in Deutschland gemacht hat? (AA 20) FM/Lose Blätter FM: Lose Blätter (AA 20) GMS Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (AA 04) IaG Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (AA 08) KpV Kritik der praktischen Vernunft (AA 05) KrV Kritik der reinen Vernunft (AA 03) KU Kritik der Urteilskraft (AA 05) Log Logik (AA 09) MpVT Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee (AA 08) MS Die Metaphysik der Sitten (AA 06) TL Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre (AA 06) PG Physische Geographie (AA 09) Prol Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik (AA 04) RGV Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (AA 06) SF Der Streit der Fakultäten (AA 07) TP Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (AA 08) VAEaD Vorarbeit zu Das Ende aller Dinge (AA 23) VAKpV Vorarbeit zur Kritik der praktischen Vernunft (AA 23) VAMS Vorarbeit zur Metaphysik der Sitten (AA 23) VARGV Vorarbeit zur Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (AA 23) VASF Vorarbeit zum Streit der Fakultäten (AA 23) VATP Vorarbeit zu Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (AA 23) VNAEF Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie (AA 08) V-Mo/Collins Vorlesungen Wintersemester 1784/1785 Moralphilosophie Collins (AA 27) V-Met/Heinze Kant Metaphysik L1 (Heinze) (ca. 1770–1775) (AA 28) V-Met-L1/Pölitz Kant Metaphysik L 1 (Pölitz) (Mitte 1770er) (AA 28) V-Phil-Th/Pölitz Vorlesungen Wintersemester 1783/1784 Philosophische Religionslehre nach Pölitz (AA 28) V-Th/Baumbach Vorlesungen Wintersemester 1783/1784 Danziger Rationaltheologie nach Baumbach (AA 28) VT Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie (AA 08) WA Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (AA 08) WDO Was heißt: Sich im Denken orientieren? (AA 08) ZeF Zum ewigen Frieden (AA 08)

https://doi.org/10.1515/9783110716191-010

Personenregister Adorno, Theodor W. 256 Albert, Hans 62 Albrecht, Michael 148, 180 Allison, Henry E. XI, 52, 72, 140 f., 213 Amery, Jean 62, 140 Anaxagoras 33 Arendt Hannah 282 f Arens, Edmund 284 Arnoldt, Emil XI f., 8, 39, 63, 70, 75 f., 81, 83, 87, 91, 100, 103, 106, 108 f., 127, 130, 135, 194 Assmann, Jan XVI, 59, 83, 151, 156, 200, 275 – 331 Axt-Piscalar, Christine 122 Barner, Wilfried 67, 110, 130, 136, 184, 204 Barth, Ulrich 10, 66, 79, 145 Baumgarten, Alexander Gottlieb 51 Baumgartner, Hans-Michael 142 f.. Beck, Sigismund 13 Beutel, Albrecht 67, 79, 115 Biester, Johann Erich 51, 196 Bloch, Ernst XIII Boethius 172 Bohatec, Josef 97, 103, 106, 108 – 110, 112, 134, 142, 144, 152, 159, 161 Bondeli, Martin 326 Bothe, Bernd 232 Böttiger, Karl, August 110 Brachtendorf, Johannes 135, 139, 152, 161 Brandt, Reinhard 26 Burger, Rudolf 291

Diderot, Denis 250 Dörflinger, Bernd 295 Feuerbach, Ludwig 223 Fichte, Johann Gottlieb 51 Fick, Monika 52, 56, 85, 102, 115, 123 f., 127 f., 132, 161, 175, 179, 182 f., 193, 196, 199, 222, 240, 250, 260, 267, 269 Fischer, Kuno XII f., 73, 83, 112, 116, 130, 132, 152, 171, 194 – 196, 198 – 200, 206, 209, 214, 223, 225, 228, 271 Fittbogen, Gottfried 261 Forst, Reiner 189, 284 Fuhrmann, Helmut XVI, 179, 227, 241 f., 244 Gandhi, Mahatma 1 f., 307 Glasenapp, Helmuth 39, 173, 198, 313 Goethe, Johann Wolfgang XV, 196, 259 f., 275 Goeze, Johan Melchior 15, 62, 67, 69, 76, 78, 81, 83, 86 – 91, 93, 97, 99 – 102, 107 f., 130, 138, 196, 204, 212, 224, 226, 238, 275, 282 Guthke, Karl S. 175, 202, 221

Cassirer, Ernst 3, 62 Cavallar, Georg 176 f., 183, 216, 231 f., 285 Cohen, Hermann 161 Cunico, Gerardo IX, 15, 28, 65, 84, 124, 136, 142, 145 f., 149, 156, 164, 192, 198, 209, 228 f., 233, 235, 244, 246 f., 274 Cyranka, Daniel 110, 115, 137, 202

Habermas, Jürgen 13, 151, 219, 242, 250, 256, 306 f. Hammacher, Klaus 44, 112 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich XVI, 6, 180, 224, 290, 329 Heine, Heinrich 263 Henrich, Dieter 206 Heraklit 282 Herder, Johann Gottlieb 44, 56, 147, 194, 197 Höffe, Otfried 120, 139 Hölderlin, Friedrich 6, 17 Horsch, Silvia 175 f., 178, 183 – 185, 187 f., 206 Hutcheson, Francis 245

Danz, Christian

Irrlitz, Gerd

84, 155

https://doi.org/10.1515/9783110716191-011

XIII, 14, 106, 108

343

Personenregister

Jacobi, Friedrich Heinrich 42, 44 – 48, 50 – 52, 55 f., 63, 86, 91, 104, 174 f., 196, 260 Jaspers, Karl XIII, XV, 55, 69, 115 f., 124, 130, 212, 282, 284 Kienzler, Klaus 231 Kierkegaard, Sören XV, 92, 286 Klemme, Heiner 55 Kondylis, Panajotis 202, 250 Kroner, Richard 23 Kühn, Manfred XII Kuschel, Karl-Josef 121, 161, 180, 185, 192 f., 198 – 200, 209, 212, 221 – 223, 226 f., 229 f., 239, 242, 244, 248 f., 251, 255, 260 f., 268 – 270, 272, 284, 288, 310 La Mettrie, Julien Offray de 250 Langthaler, Rudolf 298 Lavater, Johann Caspar 5, 68, 71, 74, 85, 98, 114, 206, 264 Leibniz, Gottfried Wilhelm 44, 46, 52, 57 f., 104, 154 f., 170, 174, 178, 186, 189, 191, 214, 256, 260, 264 Leisegang, Hans XV Lichtenberg, Christoph 50, 200 Locke, John 112, 116 Lüpke, Johannes v. 141 Luther, Martin 45, 86 f., 98, 138 Malter, Rudolf 194 Mann, Thomas 77, 196, 284 Mendelssohn, Moses 26 f., 30, 41, 43 f., 46 – 48, 51, 56 – 61, 72, 74, 76, 86, 104, 111, 116, 123, 137, 142, 148, 150 f., 154, 157 f., 161, 163 – 168, 196, 198, 201, 208, 216 f., 232, 254, 259, 272, 276, 300, 303 f., 314 f., 319 Menzer, Paul 150, 282 Meyer, Bernhard 52 Multhammer, Michael 183 Nicolai, Friedrich 245 Nisbet, Hugh Barr XV, 44, 46, 52, 56 f., 92, 104, 110, 139, 143, 175, 179, 182, 184 f., 195, 238, 274, 279, 281, 313

Oelmüller, Willi

209, 213

Peirce, Charles Sanders 233 Platon 33, 318 Plessing, Friedrich Victor Lebrecht Pons, George 244 Pythagoras 171, 312 f.

156

Reimarus, Hermann Samuel 11, 42, 69, 88, 90, 94, 110, 120, 124, 129 – 132, 146, 153, 178, 222, 257, 272, 286 Reinhold, Carl Leonhard 151, 159, 309, 315, 319, 321, 323, 326 Ritzel, Wolfgang 45, 225 Rohls, Jan 22, 44 Rohrmoser, Günter 75, 101 f., 114, 198, 225, 250 f., 263, 265 f. Rosenzweig, Franz 241, 259 f., 262, 265 Röttgers, Kurt XV Rousseau, Jean-Jaques 245 Schaeffler, Richard 150 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph XVI, 6, 17, 25, 34, 41, 48, 51, 69, 116 f., 125, 167, 296, 316, 320 Schiller, Friedrich 151, 159, 196, 205, 319, 321, 323 Schilson, Arno XV, 36, 76, 104, 112, 123, 135, 170, 184, 196 – 198, 203, 209, 232, 246, 260 – 262, 265, 268, 271 Schlegel, Friedrich 196 Schmalenbach, Hermann 326 Schneiders, Werner 285 Semler, Johann Salomo 55, 70 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper 3rd Earl of 245 Sloterdijk, Peter 276 Spinoza, Baruch de 37, 44 – 50, 52, 54 – 57, 99, 112, 132, 222 f., 239, 249 f., 260, 263, 269, 326 Stangneth, Bettina 152 Stapfer, Johann Friedrich 112 Stäudlin, Carl-Friedrich 89 f., 112 Stegmüller, Wolfgang 283 Stieglecker, Hermann 138, 187 Strohschneider-Kohrs, Ingrid 79, 100, 115, 203 – 205, 264

344

Personenregister

Thielicke, Helmut 123, 230 f. Timm, Hermann 62, 91, 115, 151, 200, 254, 276 Tück, Jan-Heiner 220, 222, 227 Vaihinger, Hans 303 Vollhardt, Friedrich 88, 94, 115, 135, 175, 200, 202, 224, 244, 254, 265 Voltaire 19, 185 Vorländer, Karl XI, XVI, 54, 73, 85, 109, 141, 152, 160 Vossenkuhl, Wilhelm 152

Wagdi 138, 187 Wagner, Falk 72 Warburton, William 321 Warda, Arthur XI Wolff, Christian 44, 57, 132, 170 Wundt, Max 16 Zahim, M., Al-Shammary 175 Zimmermann, Robert 52

Sachregister Anthropomorphismus 25, 46 f., 51 – 54, 227, 231, 319 f., 328 Atheismus 51, 250 Aufklärung 6, 55, 66, 71, 88, 107 f., 123 f., 130, 134 – 137, 139, 142, 158, 161, 171, 175 – 178, 181, 184, 187, 189, 201, 204, 206, 215, 218 f., 234, 240 f., 249, 254, 256, 284 f., 287, 300, 311 – 313, 315 f., 318, 331 f., 341 Bestimmung des Menschen 33, 44, 122, 133, 144, 219, 261, 308 – 311 Deismus 47, 183, 206, 263 duplex religio 17, 35, 40, 232, 312 – 314, 316 f., 319, 323 Endzweck 18, 25, 32 f., 41, 44, 47, 49, 63, 82, 90, 130, 165, 168, 186, 216, 241, 255, 261, 299, 304 Ergebenheit 31, 178, 186, 222, 225, 234, 246, 252, 259 – 262, 264 f., 304 Erhabenheit 326 – 329 Erziehung des Menschengeschlechts 10, 23, 30, 46, 55, 62, 73, 110 – 112, 115 f., 121, 124 f., 133, 135, 137, 140, 143 – 146, 148, 153, 201 f., 243, 277, 281, 291, 306 Evangelium 11, 32, 42, 85, 118, 122, 126, 132 – 142, 144, 160, 202, 204, 239, 253, 262 Fatalismus 46, 186, 250, 260, 305 Freigeist 57, 79, 86, 185, 218, 222, 245, 250, 279 Gefühl 33, 43, 64, 80, 84 f., 92, 100 – 106, 182, 222, 225, 227 f., 238, 245, 268, 282, 290, 309, 322 f., 327 – 329 Geschichtsglaube 8, 13, 15, 23, 30, 61, 67, 72, 74 f., 83, 86, 95, 98, 118, 137, 189, 206, 208, 218, 233, 290, 294 f. Geschichtsphilosophie 133

https://doi.org/10.1515/9783110716191-012

Geschichtswahrheit 60, 75 – 77, 101, 129, 232 Gesinnung 2, 4, 14, 16, 74, 78, 98, 129, 131, 157, 162, 167, 176, 178, 189, 192, 199, 201, 203 – 206, 209, 214, 219, 227, 236 – 239, 242, 247, 250, 252 f., 257, 264, 268, 271, 317, 319, 328 Glaubensart 1, 3, 6 – 15, 17, 19 – 22, 24 – 29, 32, 38, 43, 53, 56 f., 65 f., 73, 75, 78, 93, 99, 114, 121 f., 134 – 136, 142 f., 146 f., 151, 154, 173, 176, 181, 190 f., 193, 200 f., 203 – 205, 209 f., 212, 216 f., 219, 232, 235, 239, 247, 254 – 258, 266, 270 – 272, 280, 282 f., 287, 289, 291, 293 – 297, 303, 305 – 307, 311, 314 – 316, 323, 332 Gottesbeweis 59, 321, 325 Heiligkeit 9, 13, 27, 88, 106, 134, 168 – 170, 172 f., 308 hermeneutische Wahrheit 82, 96 Humanität 62, 112, 166, 179, 193, 222 f., 225, 234, 239, 246, 261, 267 – 271, 273, 290, 309 – 312, 332 Islam 2, 10, 27, 31, 79, 115, 121 f., 128, 138, 145, 150 f., 153 f., 158, 175 – 191, 198 f., 202 f., 207, 212 f., 215, 243, 258 – 261, 266, 268 – 273, 306 f., 311 Judentum 2, 10, 26 f., 31, 79, 112, 121 f., 128, 135, 141 f., 144, 146, 148 – 162, 166, 168 f., 173, 175, 178, 187 – 191, 195, 198 f., 202 f., 207, 209, 212 f., 266, 269, 272 f., 306 f., 311 Kirchenglaube 2 f., 7, 13, 18, 22 – 24, 32, 35, 43, 61, 71 f., 75 f., 78, 98, 108 f., 143, 153, 155, 157 f., 188 f., 218, 232 f., 248, 258, 284, 294 f., 312, 314, 319 Menschenreligion 19 f., 24, 26 f., 30, 34, 60 f., 86, 132, 140, 151, 153, 184, 203,

346

Sachregister

205, 210, 227, 232, 246, 254 f., 267, 284, 289, 292, 295, 303, 306 f., 314 Mohammed 175, 179 f., 184 f. Monotheismus 20, 30 f., 33 – 37, 39, 41, 43 f., 54, 60, 62, 66, 92, 134, 148 f., 151, 153 f., 156 – 161, 163 f., 168, 173, 176, 179 – 181, 186 – 191, 197, 199 f., 205, 208 f., 212, 218, 220 f., 223 – 228, 231 – 234, 244, 250, 255 – 258, 261, 263, 266, 271 f., 283, 285, 292, 297, 305 – 307, 309, 312 – 315, 322, 324, 328 f., 331 Moralität 1 f., 17, 27, 38, 79, 96 f., 101, 103, 132, 145, 157, 171, 173, 177, 190, 199, 230, 236, 238, 268, 299, 322 Nathan der Weise 175, 194, 209, 247, 263, 331 Naturalismus 124, 130 Natürliche Religion 1 f., 7, 9 f., 12, 14, 19 – 22, 24, 26, 28, 30 – 34, 41, 43, 46, 55 – 61, 65 – 67, 69, 71 f., 74 f., 78, 82, 84 f., 94 – 96, 105, 107, 109, 114, 121, 124, 126, 129 f., 133 – 135, 137 – 140, 143, 145 f., 151 f., 155 – 158, 161 f., 166, 168, 178 – 181, 183 – 186, 189 – 191, 198, 200, 203 – 205, 208, 210, 212 f., 221 f., 226, 228, 232 – 234, 254, 258, 268 f., 272, 278 f., 283, 287, 289 f., 292, 295 – 297, 300 – 304, 313 – 316 Neologie 54 f. Offenbarung 1 f., 8, 12, 22 – 25, 36, 41 f., 52, 55, 60 f., 63, 70 – 73, 77, 81 – 83, 85 – 88, 90 – 95, 97, 101, 103, 105, 109 – 127, 129 – 131, 134, 136, 143 – 146, 157 f., 163 f., 167, 170, 176, 182 f., 187, 191, 200, 208, 216 f., 220 – 222, 224 – 227, 229, 237, 256 f., 259, 269, 279 – 283, 289, 291, 293, 296, 301, 313, 320, 324 Offenbarungsglaube 2, 10, 22, 85, 109, 134, 157, 164, 208, 272, 314 Offenbarungsreligion 1, 8, 72, 82, 95, 109, 113, 120, 129, 136, 149, 179, 185, 189, 200, 202 f., 206, 213, 223, 226, 231 f., 263, 287, 303, 306 Orthodoxie 32, 54 f., 89, 204, 249, 267, 272

performative Wendung 275 – 279, 294, 297 f., 305 Polytheismus 5, 7, 14, 34, 37, 54, 64 f., 73, 77 – 79, 84, 96, 110, 129 f., 133, 137, 143, 145 f., 185, 201 – 206, 209, 214, 219, 227, 232, 237, 252, 256 f., 270 f., 279, 292, 297, 306, 309 f., 318 Religionsglaube 2 f., 7 – 9, 11, 13, 15 f., 18, 22 – 24, 29, 38, 41, 76 – 78, 85 f., 91, 99, 103, 109, 131, 135, 137 f., 144, 148, 155 f., 169, 179, 181, 188 – 190, 198, 203, 206, 209, 211, 218, 229, 233, 239, 241, 246, 255, 257 f., 314, 316, 318 – 320, 332 Religionskritik 34, 62 Religionsphilosophie 3, 6, 18, 72, 75, 110, 120, 132, 145, 150, 209, 274, 296 f., 302, 308 f. Ringparabel 10, 53, 65, 99, 110, 115, 145, 183, 191, 193, 199, 202 f., 205, 207, 210, 212 f., 216 f., 219 – 226, 232, 237, 240, 242 f., 247 f., 250, 252, 254 f., 257, 259, 262, 265, 275 – 280, 283, 288, 290 f., 293, 296 – 298, 301, 304, 306 f., 311 Seelenwanderung 50, 170 – 172, 175, 204 Schriftauslegung 2, 55, 82, 84 – 86, 89 f., 92, 95 – 98, 106 f., 160, 182, 293 f. Spinozism 49 f., 171 Theismus 29, 31, 33 – 35, 38, 41 – 43, 46 f., 52, 57, 133, 135, 147 f., 150 f., 166, 208, 229, 292, 312 Toleranz 19, 156, 176, 179, 188, 194, 227, 231, 244, 249, 268, 273, 282, 284 f., 287, 290, 295 f., 306, 309, 311, 313 Trinität 53, 124, 126, 180, 191 Unsterblichkeit 7, 10, 39 f., 46, 149, 153, 161, 168 – 170, 172 – 174, 183, 202, 299, 317 Vehikel 16, 23, 72, 74, 81, 83 – 85, 90, 92, 96, 100, 108 f., 113 f., 119, 124 f., 144, 149, 151, 206, 216 f., 258, 291, 294

Sachregister

Vernunftbegriff 8, 12, 16 – 18, 24, 33, 39, 64, 82, 97, 107, 109, 116, 118, 149, 176, 183, 190, 217, 219, 233, 302, 316, 319 Vernunftglaube 7, 10, 13 f., 34, 38 f., 64, 66, 74, 85, 124, 128, 138, 166, 182, 188, 190, 206, 210, 212, 232, 246, 315, 317 Vernunftreligion 3, 7, 10 – 12, 14 – 17, 19, 23 – 25, 27 – 32, 39, 43, 46, 61, 71, 77 – 84, 86, 96, 100, 108, 111, 113, 116, 120, 124, 127, 129, 133 f., 136 – 138, 143 f., 151, 158, 161, 165, 184, 186 – 189, 202 – 204, 206, 208 f., 211 – 213, 217 f., 227, 232, 235, 239, 258, 292, 312, 314 – 316 Vernunftwahrheit 7, 10, 17, 26, 40, 56, 63, 72, 75 f., 83, 85, 91, 94, 97, 101, 113,

347

116 f., 123 f., 126, 129, 133, 135 f., 153, 164, 191 vollständige Religion 9, 31, 73, 93, 112, 132 – 135, 137, 140, 198, 203, 208, 234, 240, 315 f. Wahrheitsfrage 175, 207, 213, 219, 231, 239, 243 f., 246, 248 f., 254, 256, 275 – 279, 288, 291, 294, 297 – 299, 305 Weltreligion 19 f., 24, 26, 34, 73, 140, 192, 199, 205, 207, 210, 213, 218, 241, 293, 295 f., 307, 331 Wettstreben 139, 225, 227 f., 234, 238 f., 242, 247 f., 252 – 256, 261, 277, 306 Wettstreit 215, 218 f., 221, 229, 231, 234 – 248, 250 – 259, 269, 284 f., 288, 308 f., 312, 332