Jugendgerichtsgesetz: Kommentar [14., neubearbeitete Aufl.] 9783110686401, 9783110678192

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Jugendgerichtsgesetz: Kommentar [14., neubearbeitete Aufl.]
 9783110686401, 9783110678192

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Jugendgerichtsgesetz
Einführung
Übersicht über die bisherigen Änderungen des JGG
Erläuterungen
Erster Teil. Anwendungsbereich
Zweiter Teil. Jugendliche
Erstes Hauptstück Verfehlungen Jugendlicher und ihre Folgen
Erster Abschnitt Allgemeine Vorschriften
Zweiter Abschnitt Erziehungsmaßregeln
Dritter Abschnitt Zuchtmittel
Vierter Abschnitt Die Jugendstrafe
Fünfter Abschnitt Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung
Sechster Abschnitt Aussetzung der Verhängung der Jugendstrafe
Siebenter Abschnitt Mehrere Straftaten
Zweites Hauptstück Jugendgerichtsverfassung und Jugendstrafverfahren
Erster Abschnitt Jugendgerichtsverfassung
Zweiter Abschnitt Zuständigkeit
Dritter Abschnitt Jugendstrafverfahren
Drittes Hauptstück Vollstreckung und Vollzug
Erster Abschnitt Vollstreckung
Zweiter Abschnitt Vollzug
Viertes Hauptstück Beseitigung des Strafmakels
Fünftes Hauptstück Jugendliche vor Gerichten, die für allgemeine Strafsachen zuständig sind
Dritter Teil. Heranwachsende
Erster Abschnitt Anwendung des sachlichen Strafrechts
Zweiter Abschnitt Gerichtsverfassung und Verfahren
Dritter Abschnitt Vollstreckung, Vollzug und Beseitigung des Strafmakels
Vierter Abschnitt Heranwachsende vor Gerichten, die für allgemeine Strafsachen zuständig sind
Vierter Teil. Sondervorschriften für Soldaten der Bundeswehr
Fünfter Teil. Schluß- und Übergangsvorschriften
Sachregister

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Brunner/Dölling Jugendgerichtsgesetz De Gruyter Kommentar

Brunner/Dölling

Jugendgerichtsgesetz

Kommentar 14., neu bearbeitete Auflage

begründet von Rudolf Brunner (†) fortgeführt und bearbeitet von Dieter Dölling

Dr. Rudolf Brunner (†), Leitender Oberstaatsanwalt beim Landgericht Nürnberg-Fürth a.D. Professor Dr. Dieter Dölling, ordentlicher Professor und Direktor des Instituts für Kriminologie der Universität Heidelberg i. R. Zitiervorschlag: z.B. Brunner/Dölling, § 17 Rn 7

ISBN 978-3-11-067819-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-068640-1 e-ISBN (E-PUB) 978-3-11-068643-2 Library of Congress Control Number: 2022941769 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort Die vorliegende Auflage bringt den Kommentar auf den neuesten Stand. Gesetzesänderungen, Rechtsprechung und Literatur sind bis Ende 2021 und teilweise darüber hinaus berücksichtigt. Insbesondere war das Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren vom 9.12.2019, durch das die Richtlinie (EU) 2016/800 vom 11.5.2016 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für Kinder, die Verdächtige oder Beschuldigte in Strafverfahren sind, in das deutsche Recht umgesetzt wurde, einzuarbeiten. Die inhaltliche Ausrichtung des Kommentars bleibt unverändert. Der Kommentar möchte die Praxis der Jugendstrafrechtspflege unterstützen und dazu beitragen, durch ein erzieherisch ausgestaltetes und rechtsstaatliches Jugendstrafrecht weitere Delikte von Jugendlichen und Heranwachsenden zu verhindern und die jungen Menschen in die Gesellschaft zu integrieren. Für umfangreiche Schreibarbeiten danke ich Marlis Peters-Hofmann herzlich. Für gründliche Unterstützung bei der Aktualisierung der Rechtsprechung und Literatur bedanke ich mich bei Max Schlie und Julian Wejlupek. Heidelberg, im September 2022

V https://doi.org/10.1515/9783110686401-201

Dieter Dölling

Inhaltsverzeichnis Vorwort V Abkürzungsverzeichnis

XIII

Jugendgerichtsgesetz (JGG) 1 Einführung Übersicht über die bisherigen Änderungen des JGG

59

Erläuterungen Erster Teil Anwendungsbereich 65 §1 Persönlicher und sachlicher Anwendungsbereich §2 Ziel des Jugendstrafrechts; Anwendung des allgemeinen Strafrechts

72

Zweiter Teil Jugendliche Erstes Hauptstück Verfehlungen Jugendlicher und ihre Folgen Erster Abschnitt Allgemeine Vorschriften 79 §3 Verantwortlichkeit 88 §4 Rechtliche Einordnung der Taten Jugendlicher 89 §5 Die Folgen der Jugendstraftat 92 §6 Nebenfolgen 94 §7 Maßregeln der Besserung und Sicherung 104 §8 Verbindung von Maßnahmen und Jugendstrafe Zweiter Abschnitt Erziehungsmaßregeln 106 §9 Arten 108 § 10 Weisungen § 11 Laufzeit und nachträgliche Änderung von Weisungen; Folgen der Zuwiderhand130 lung 134 § 12 Hilfe zur Erziehung Dritter Abschnitt Zuchtmittel 138 § 13 Arten und Anwendung 139 § 14 Verwarnung 140 § 15 Auflagen 146 § 16 Jugendarrest § 16a Jugendarrest neben Jugendstrafe Vierter Abschnitt Die Jugendstrafe 160 § 17 Form und Voraussetzungen 184 § 18 Dauer der Jugendstrafe 197 § 19 (aufgehoben) VII

155

Inhaltsverzeichnis

Fünfter Abschnitt Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung 198 § 20 (weggefallen) 198 § 21 Strafaussetzung 207 § 22 Bewährungszeit 208 § 23 Weisungen und Auflagen 210 § 24 Bewährungshilfe § 25 Bestellung und Pflichten des Bewährungshelfers 219 § 26 Widerruf der Strafaussetzung 219 § 26a Erlaß der Jugendstrafe

211

Sechster Abschnitt Aussetzung der Verhängung der Jugendstrafe 228 § 27 Voraussetzungen 232 § 28 Bewährungszeit 233 § 29 Bewährungshilfe § 30 Verhängung der Jugendstrafe; Tilgung des Schuldspruchs Siebenter Abschnitt Mehrere Straftaten 237 § 31 Mehrere Straftaten eines Jugendlichen § 32 Mehrere Straftaten in verschiedenen Alters- und Reifestufen

233

248

Zweites Hauptstück Jugendgerichtsverfassung und Jugendstrafverfahren 256 Vor § 33 Erster Abschnitt Jugendgerichtsverfassung 256 § 33 Jugendgerichte 256 § 33a Besetzung des Jugendschöffengerichts 257 § 33b Besetzung der Jugendkammer 265 § 34 Aufgaben des Jugendrichters 267 § 35 Jugendschöffen 269 § 36 Jugendstaatsanwalt § 37 Auswahl der Jugendrichter und Jugendstaatsanwälte 281 § 37a Zusammenarbeit in gemeisamen Gremien 282 § 38 Jugendgerichtshilfe Zweiter Abschnitt Zuständigkeit 305 § 39 Sachliche Zuständigkeit des Jugendrichters § 40 Sachliche Zuständigkeit des Jugendschöffengerichts 305 § 41 Sachliche Zuständigkeit der Jugendkammer 318 § 42 Örtliche Zuständigkeit

273

305

Dritter Abschnitt Jugendstrafverfahren Erster Unterabschnitt Das Vorverfahren § 43 Umfang der Ermittlungen

325 VIII

Inhaltsverzeichnis

§ 44 § 45 § 46 § 46a

Vernehmung des Beschuldigten bei zu erwartender Jugendstrafe 334 Absehen von der Verfolgung 356 Wesentliches Ergebnis der Ermittlungen 357 Anklage vor Berichterstattung der Jugendgerichtshilfe

333

Zweiter Unterabschnitt Das Hauptverfahren 359 § 47 Einstellung des Verfahrens durch den Richter 364 § 47a Vorrang der Jugendgerichte 367 § 48 Nichtöffentlichkeit 374 § 49 Vereidigung von Zeugen und Sachverständigen 374 § 50 Anwesenheit in der Hauptverhandlung 379 § 51 Zeitweilige Ausschließung von Beteiligten 386 § 51a Neubeginn der Hauptverhandlung 387 § 52 Berücksichtigung von Untersuchungshaft bei Jugendarrest 387 § 52a Anrechnung von Untersuchungshaft bei Jugendstrafe 392 § 53 Überweisung an das Familiengericht 394 § 54 Urteilsgründe Dritter Unterabschnitt Rechtsmittelverfahren 401 § 55 Anfechtung von Entscheidungen 424 § 56 Teilvollstreckung einer Einheitsstrafe Vierter Unterabschnitt Verfahren bei Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung 426 § 57 Entscheidung über die Aussetzung 428 § 58 Weitere Entscheidungen 433 § 59 Anfechtung 437 § 60 Bewährungsplan 439 Nach § 60 Sicherungshaftbefehl nach § 453c StPO 443 § 61 Vorbehalt der nachträglichen Entscheidung über die Aussetzung 445 § 61a Frist und Zuständigkeit für die vorbehaltene Entscheidung § 61b Weitere Entscheidungen bei Vorbehalt der Entscheidung über die Ausset446 zung Fünfter Unterabschnitt Verfahren bei Aussetzung der Verhängung der Jugendstrafe 449 § 62 Entscheidungen 450 § 63 Anfechtung 451 § 64 Bewährungsplan Sechster Unterabschnitt Ergänzende Entscheidungen 452 § 65 Nachträgliche Entscheidungen über Weisungen und Auflagen § 66 Ergänzung rechtskräftiger Entscheidungen bei mehrfacher Verurteilung

454

Siebenter Unterabschnitt Gemeinsame Verfahrensvorschriften 457 § 67 Stellung der Erziehungsberechtigten und der gesetzlichen Vertreter 464 § 67a Unterrichtung der Erziehungsberechtigten und der gesetzlichen Vertreter 469 § 68 Notwendige Verteidigung IX

Inhaltsverzeichnis

§ 68a Zeitpunkt der Bestellung eines Pflichtverteidigers 481 § 68b Vernehmung und Gegenüberstellung vor der Bestellung eines Pflichtverteidi483 gers 485 § 69 Beistand 486 § 70 Mitteilungen an amtliche Stellen 490 § 70a Unterrichtung des Jugendlichen 494 § 70b Belehrungen 495 § 70c Vernehmung des Beschuldigten 497 § 71 Vorläufige Anordnungen über die Erziehung 502 § 72 Untersuchungshaft 510 § 72a Heranziehung der Jugendgerichtshilfe in Haftsachen § 72b Verkehr mit Vertretern der Jugendgerichtshilfe, dem Betreuungshelfer und 512 dem Erziehungsbeistand 512 § 73 Unterbringung zur Beobachtung 515 § 74 Kosten und Auslagen 523 § 75 (weggefallen) Achter Unterabschnitt Vereinfachtes Jugendverfahren 524 Vor §§ 76–78 § 76 Voraussetzungen des vereinfachten Jugendverfahrens 525 § 77 Ablehnung des Antrags 525 § 78 Verfahren und Entscheidung

524

Neunter Unterabschnitt Ausschluß von Vorschriften des allgemeinen Verfahrensrechts 533 § 79 Strafbefehl und beschleunigtes Verfahren 533 § 80 Privatklage und Nebenklage 538 § 81 Adhäsionsverfahren Zehnter Unterabschnitt Anordnung der Sicherungsverwahrung § 81a Verfahren und Entscheidung

539

Drittes Hauptstück Vollstreckung und Vollzug Erster Abschnitt Vollstreckung Erster Unterabschnitt Verfassung der Vollstreckung und Zuständigkeit 540 Vor § 82 543 § 82 Vollstreckungsleiter 548 § 83 Entscheidungen im Vollstreckungsverfahren 550 § 84 Örtliche Zuständigkeit 551 § 85 Abgabe und Übergang der Vollstreckung Zweiter Unterabschnitt Jugendarrest § 86 Umwandlung des Freizeitarrestes § 87 Vollstreckung des Jugendarrestes

563 563 X

Inhaltsverzeichnis

Dritter Unterabschnitt Jugendstrafe 568 Vor § 88 568 § 88 Aussetzung des Restes der Jugendstrafe 576 § 89 Jugendstrafe bei Vorbehalt der Entscheidung über die Aussetzung § 89a Unterbrechung und Vollstreckung der Jugendstrafe neben Freiheitsstrafe 581 § 89b Ausnahme vom Jugendstrafvollzug Vierter Unterabschnitt Untersuchungshaft § 89c Vollstreckung der Untersuchungshaft

576

584

Zweiter Abschnitt Vollzug 586 Vor § 90 587 § 90 Jugendarrest 591 § 91 (aufgehoben) 591 § 92 Rechtsbehelfe im Vollzug § 93 Gerichtliche Zuständigkeit und gerichtliches Verfahren bei Maßnahmen, die der vorherigen gerichtlichen Anordnung oder der gerichtlichen Genehmigung 594 bedürfen 594 § 93a Unterbringung in einer Entziehungsanstalt Viertes Hauptstück Beseitigung des Strafmakels 599 §§ 94 bis 96 (weggefallen) 599 Vor § 97 605 § 97 Beseitigung des Strafmakels durch Richterspruch 607 § 98 Verfahren 608 § 99 Entscheidung § 100 Beseitigung des Strafmakels nach Erlaß einer Strafe oder eines Strafrestes 610 § 101 Widerruf

609

Fünftes Hauptstück Jugendliche vor Gerichten, die für allgemeine Strafsachen zuständig sind 613 Vor § 102 614 § 102 Zuständigkeit 615 § 103 Verbindung mehrerer Strafsachen 623 § 104 Verfahren gegen Jugendliche Dritter Teil Heranwachsende Erster Abschnitt Anwendung des sachlichen Strafrechts 627 § 105 Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende § 106 Milderung des allgemeinen Strafrechts für Heranwachsende; Sicherungsverwah645 rung

XI

Inhaltsverzeichnis

Zweiter Abschnitt Gerichtsverfassung und Verfahren 652 § 107 Gerichtsverfassung 652 § 108 Zuständigkeit 654 § 109 Verfahren Dritter Abschnitt Vollstreckung, Vollzug und Beseitigung des Strafmakels 661 § 110 Vollstreckung und Vollzug 662 § 111 Beseitigung des Strafmakels Vierter Abschnitt Heranwachsende vor Gerichten, die für allgemeine Strafsachen zuständig sind 663 § 112 Entsprechende Anwendung Vierter Teil Sondervorschriften für Soldaten der Bundeswehr 665 Vor § 112a 666 § 112a Anwendung des Jugendstrafrechts 667 § 112b (aufgehoben) 667 § 112c Vollstreckung 668 § 112d Anhörung des Disziplinarvorgesetzten § 112e Verfahren vor Gerichten, die für allgemeine Strafsachen zuständig sind

669

Fünfter Teil Schluß- und Übergangsvorschriften 671 § 113 Bewährungshelfer § 114 Vollzug von Freiheitsstrafe in der Einrichtung für den Vollzug der Jugend671 strafe 673 § 115 (aufgehoben) 673 § 116 Zeitlicher Geltungsbereich 673 § 117 bis § 120 (aufgehoben) 673 § 121 Übergangsvorschrift 674 § 122 bis § 124 (aufgehoben) 674 § 125 Inkrafttreten Anhang nach § 125 Das Jugendschutzverfahren für Jugendgericht und Jugendkam674 mer Sachregister

689

XII

Abkürzungsverzeichnis Teil I Die in den jeweils im Anschluss an den Gesetzestext abgedruckten Hinweisen verwendeten Abkürzungen bedeuten: 1. Hw. Hw-J Hw-JRecht [Hw.] 2. ErwG [ErwG] Zu 1 und 2 z.B. Hw … ErwG … z.B. [Hw.] … ErwG 3. Sold.

Die Vorschrift gilt auch für Heranwachsende. Die Vorschrift gilt für Hw., wenn die Voraussetzungen des § 105 I (Anwendung des materiellen JRechts) gegeben sind. Die Vorschrift gilt für Hw., auf die im Urteil gem. § 105 I materielles JRecht angewendet worden ist. Die Vorschrift gilt für Hw. nie. Diese Vorschrift muss auch das ErwGericht beachten, wenn es (auch) gegen einen J verhandelt. Diese Vorschrift darf das ErwG nicht anwenden. Die Kombination von 1 und 2 zeigt, ob diese Vorschrift vor dem ErwGericht gilt, wenn es (auch) gegen einen Hw. verhandelt, ohne dass ein J beteiligt ist. Die Vorschrift muss auch das ErwGericht beachten, wenn es gegen Hw. allein oder neben Erw. verhandelt. Die Vorschrift gilt nicht, wenn das ErwGericht nur gegen Hw. oder gegen Hw. und Erw. verhandelt. Die angegebene Fundstelle sagt Näheres. Die Vorschrift ist nicht oder nur mit Einschränkungen oder Abwandlungen anzuwenden, wenn der Täter Soldat ist. Die angegebene Fundstelle sagt Näheres.

Teil II Zitierweise und Abkürzungen 1. Paragraphen ohne Gesetzesangabe sind solche des JGG; Absätze oder Richtlinien ohne Paragraphenangabe beziehen sich auf den eben erläuterten Paragraphen. Absätze eines Paragraphen werden durch römische Zahlen, Sätze durch arabische Ziffern bezeichnet (z.B. § 87 III 1); bei Paragraphen ohne Absätze oder isoliert zitiert, werden Sätze mit einem vorangestellten S. (z.B. S. 2) bezeichnet. Randnummern ohne vorangestellte Paragraphenbezeichnung im Text bezeichnen Randnummern des eben erläuterten Paragraphen; bei Hinweisen auf einen anderen Paragraphen werden diesem die Randnummern mit einem Komma beigeordnet. Andere Kommentare werden gleicherweise mit Randnummern, bei deren Fehlen mit Anmerkungen zitiert. Gesetzesblätter, Zeitschriften und Entscheidungssammlungen werden grds. nach Jahrgang und Seite zitiert; dies gilt nur dann nicht, wenn eine andere Zitierweise allgemein üblich ist (z.B. BGH). 2. Im Abkürzungsverzeichnis und in den Schrifttumsverzeichnissen bei den einzelnen Paragraphen zitierte Autoren werden, soweit Verwechslungen ausgeschlossen sind, im Text nur mit Namen und Seite zitiert, bei Zeitschriften wird im Text auf Überschriften verzichtet. aA aaO abl. Abs. aE aF AG Albrecht allg.

anderer Ansicht am angegebenen Ort ablehnend Absatz am Ende alte Fassung Amtsgericht Peter-Alexis Albrecht, Jugendstrafrecht. Ein Studienbuch, 3. Aufl. 2000 allgemein

XIII https://doi.org/10.1515/9783110686401-202

Abkürzungsverzeichnis

ÄndG Anh. Anm. AO Art. Aufl.

Änderungsgesetz Anhang Anmerkung Abgabenordnung Artikel Auflage

B BA BAG BAnz BayGVBl. BayJMBl. BayObLG

Bemerkung Zeitschrift „Blutalkohol“ Bundesarbeitsgemeinschaft Bundesanzeiger Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt Bayerisches Justizministerialblatt Bayerisches Oberstes Landesgericht; auch Entscheidungssammlung des BayObLG in Strafsachen Band Bundesdatenschutzgesetz v. 30.6.2017 (BGBl. I 2097), letztes ÄndG v. 23.6.2021 (BGBl. I 1858) Gertler/Kunkel/Putzke, Hrsg., Beck’scher Online-Kommentar JGG Beck-Rechtsprechung Begründung berichtigt besonders Jugendstrafrecht. Eine systematische Darstellung, 16. Aufl. 2020 Bewährung, auch in Zusammensetzungen, z.B. BewHelfer Bewährungshilfe. Fachzeitschrift für Bewährungs-, Gerichts- und Straffälligenhilfe Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof; auch Entscheidungen des BGH in Strafsachen BGH bei Böhm BGH bei Holtz BGH-Rechtsprechung in Strafsachen, hrsg. von den Richtern des BGH Bundeskriminalamt Bundesministerium der Justiz Einführung in das Jugendstrafrecht, 4. Aufl. 2004 Bundestagsdrucksache Betäubungsmittelgesetz idF d. Bekanntmachung v. 1.3.1994 (BGBl. I 358), letztes ÄndG v. 8.11.2021 (BGBl. I 4791) Das Verbot der Schlechterstellung Jugendlicher und Heranwachsender gegenüber Erwachsenen in vergleichbarer Verfahrenslage, 2000 Bundesverfassungsgericht Entscheidungssammlung des BVerfG Bundeszentralregistergesetz idF d. Bekanntmachung v. 21.9.1984 (BGBl. I 1229, ber. 1985 I 195), letztes ÄndG v. 10.8.2021 (BGBl. I 3420) Erste allg. Verwaltungsvorschrift zur Durchführung des Bundeszentralregistergesetzes (1. BZRVwV) v. 24.5.1985 (BAnz Nr. 99)

Bd. BDSG BeckOK-JGG BeckRS Begr. ber. bes. Beulke/Swoboda Bew. BewH BGB BGBl. BGH BGH B BGH H BGHR BKA BMJ Böhm/Feuerhelm BT-Drs. BtMG Burscheidt BVerfG BVerfGE BZRG BZRVwV

Dallinger/Lackner DAR dh DHL DIV DJ DJGT DJZ DR

Jugendgerichtsgesetz. Kommentar, 2. Aufl. 1965 Zeitschrift „Deutsches Autorecht“ das heißt Dölling/Hermann/Laue, Kriminologie. Ein Grundriss, 2022 Deutsches Institut für Vormundschaftswesen Deutsche Justiz Deutscher Jugendgerichtstag Deutsche Juristenzeitung Deutsches Recht

XIV

Abkürzungsverzeichnis

DRiG DRiZ DSS DtZ DVJJ DVJJ-J DVJJ-BW EGGVG EGRCh EGStGB Einf. Eisenberg/Kölbel EJF Erw. Erz., erz. EuAlÜbk EzSt FamFG

FamRZ Fischer ff FN FPKK FS FuR G GA Ganske gem. GG ggf. GKG Göhler Göppinger grds. Grethlein GS GVBl. GVG

H Handb. d. For. Psychiatrie

XV

Deutsches Richtergesetz idF d. Bekanntmachung v. 19.4.1972 (BGBl. I 713), letztes ÄndG v. 25.6.2021 (BGBl. I 2154) Deutsche Richterzeitung Diemer/Schatz/Sonnen, Jugendgerichtsgesetz. Kommentar, 8. Aufl. 2020 Deutsch-Deutsche Rechts-Zeitschrift Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e.V. DVJJ-Journal DVJJ-Landesgruppe Baden-Württemberg Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz v. 27.1.1877 (RGBl. 77), letztes ÄndG v. 25.6.2021 (BGBl. I 2099) Charta der Grundrechte der Europäischen Union Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch v. 2.3.1974 (BGBl. I 469), letztes ÄndG v. 14.9.2021 (BGBl. I 4250) Einführung Jugendgerichtsgesetz Kommentar, 22. Aufl. 2021 Entscheidungen aus dem Jugend- und Familienrecht, Loseblattsammlung (bis 1961) Erwachsener, auch in Zusammensetzungen, z.B. ErwRecht Erziehung, erzieherisch, auch in Zusammensetzungen, z.B. ErzBerechtigter Europäisches Auslieferungsübereinkommen v. 13.12.1957 (BGBl. 1964 II 1371; 1976 II 1778) Entscheidungssammlung zum Straf- u. Ordnungswidrigkeitenrecht Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit v. 17.12.2008 (BGBl. I 2586), letztes ÄndG v. 5.10.2021 (BGBl. I 4607) Zeitschrift „Ehe und Familie im privaten und öffentlichen Recht“ Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen, 69. Aufl. 2022 Folgende Fußnote Zeitschrift „Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie“ Festschrift für; Forum Strafvollzug Zeitschrift „Familie und Recht“ Gesetz Goltdammer’s Archiv für Strafrecht Der Begriff des Nachteils bei den strafprozessualen Verschärfungsverboten, 1960 gemäß Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland v. 25.5.1949 (BGBl. 1), letztes ÄndG v. 29.9.2020 (BGBl. I 2048) gegebenenfalls Gerichtskostengesetz v. 5.5.2004 (BGBl. I 718), letztes ÄndG v. 25.6.2021 (BGBl. I 2099) Kommentar zum Ordnungswidrigkeitengesetz, 18. Aufl. 2021 Kriminologie. Begründet von Hans Göppinger, hrsg. von Michael Bock, 6. Aufl. 2008 grundsätzlich Problematik des Verschlechterungsverbotes im Hinblick auf die besonderen Maßnahmen des Jugendrechts, 1963 Gedächtnisschrift für Gesetz- und Verordnungsblatt Gerichtsverfassungsgesetz v. 27.1.1877 idF v. 9.5.1975 (BGBl. I 1077), letztes ÄndG v. 7.7.2021 (BGBl. I 2363) Heft Kröber/Dölling/Leygraf/Saß, Hrsg., Handbuch der Forensischen Psychiatrie Bd. 1 2007, Bd. 2 2010, Bd. 3 2006, Bd. 4 u. 5 2009

Abkürzungsverzeichnis

Heinz

HESt. HK-GS HK-JGG hM HRR Hrsg. HS Hw. Hw-J Hw-JRecht idF idR insbes. Internat. Handb. d. Kriminologie IRG iSd Itzel iVm J j. JA JAVollzO JGG JGGÄndG JGH JMBl. Joachimski/Haumer JR JStA JStrafrecht an der Wende JuMiG JuS Justiz JW JWG JWohl JZ Kaiser Kaiser/Kerner/Sack/ Schellhoss Kaiser/Schöch/Kinzig KG

Sekundäranalyse empirischer Untersuchungen zu jugendkriminalrechtlichen Maßnahmen, deren Anwendungspraxis, Ausgestaltung und Erfolg. Zusammenfassung, 2019 (Internetquelle) Höchstrichterliche Entscheidungen, Sammlung von Entscheidungen der Oberlandesgerichte und der obersten Gerichte in Strafsachen Dölling/Duttge/König/Rössner, Hrsg., Gesamtes Strafrecht. StGB/StPO/ Nebengesetze. Handkommentar, 5. Aufl. 2022 Meier, Rössner, Trüg, Wulf, Hrsg., JGG. Handkommentar, 2. Aufl. 2014 herrschende Meinung Höchstrichterliche Rechtsprechung Herausgeber Halbsatz Heranwachsender Heranwachsender, auf den gem. § 105 materielles Jugendrecht anzuwenden ist Heranwachsender, auf den gem. § 105 materielles Jugendrecht angewendet wurde in der Fassung in der Regel insbesondere H.J. Schneider, Hrsg., Internationales Handbuch der Kriminologie Bd. 1, 2007 Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen idF d. Bekanntmachung v. 27.6.1994 (BGBl. I 1537), letztes ÄndG v. 5.10.2021 (BGBl. I 4607) im Sinne des Die Abgrenzung der Weisungen von den Auflagen nach dem JGG, 1987 in Verbindung mit Jugend, Jugendliche(r), auch in Zusammensetzungen, z.B. JGericht jugend(lich), auch in Zusammensetzungen, z.B. jgemäß Jugendarrest Jugendarrestvollzugsordnung idF d. Bekanntmachung v. 30.11.1976 (BGBl. I 3270), zuletzt geändert durch G v. 8.12.2010 (BGBl. I 1864) Jugendgerichtsgesetz Jugendgerichts-Änderungsgesetz (Erstes –) v. 30.8.1990 (BGBl. I 1853), (Zweites –) v. 13.12.2007 (BGBl. I 2984) Jugendgerichtshilfe Justizministerialblatt (z.B. NRW = für Nordrhein-Westfalen) Betäubungsmittelgesetz, 7. Aufl. 2002 Juristische Rundschau Jugendstaatsanwalt Dölling, Hrsg., Das Jugendstrafrecht an der Wende zum 21. Jahrhundert. Symposium zum 80. Geburtstag von Dr. Rudolf Brunner, 2001 Justizmitteilungsgesetz u. Gesetz zur Änderung kostenrechtlicher Vorschriften u. anderer Gesetze v. 18.6.1997 (BGBl. I 1430) Juristische Schulung Die Justiz. Amtsblatt des Justizministeriums Baden-Württemberg Juristische Wochenschrift Jugendwohlfahrtsgesetz (außer Kraft ab 1.1.1991 durch Art. 24 KJHG v. 26.6.1990) Zeitschrift „Jugendwohl“ Juristenzeitung Kriminologie. Eine Einführung in die Grundlagen, 10. Aufl. 1997 Kleines Kriminologisches Wörterbuch, 3. Aufl. 1993 Juristischer Studienkurs Kriminologie Jugendstrafrecht Strafvollzug, 8. Aufl. 2015 Kammergericht

XVI

Abkürzungsverzeichnis

KindRG KJHG KK KMR KostO KrimJ krit. Lackner/Kühl LAG LBN LG LK LM LNNV Löwe/Rosenberg

Mann Maurach/Zipf Maurach/Gössel/Zipf MBH Meyer-Goßner/Schmitt

Gesetz zur Reform des Kindschaftsrechts (Kindschaftsreformgesetz) v. 16.12.1997 (BGBl. I 2942) Gesetz zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts (Kinder- und Jugendhilfegesetz) v. 26.6.1990 (BGBl. I 1163) Hannich, Hrsg., Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung mit GVG, EGGVG u. EMRK, 8. Aufl. 2019 Kommentar zur StPO, begr. v. Kleinknecht/Müller/Reitberger, hrsg. von HeintschelHeinegg/Bockemühl Kostenordnung idF v. 26.7.1957 (BGBl. I 960), aufgehoben durch G v. 23.7.2013; außer Kraft ab 1.8.2013 Kriminologisches Journal kritisch Strafgesetzbuch mit Erläuterungen, 29. Aufl. 2018 Landesarbeitsgericht Laubenthal/Baier/Nestler, Jugendstrafrecht, 3. Aufl. 2015 Landgericht Cirener ua, Hrsg., Strafgesetzbuch. Leipziger Kommentar. Großkommentar, 13. Aufl. 2019 ff Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofes, hrsg. von Lindenmaier-Möhring Laubenthal/Nestler/Neubacher/Verrel, Strafvollzugsgesetze, 12. Aufl. 2015 Erb ua, Hrsg., Die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz. Großkommentar, 26. Aufl. 2006 ff, 27. Aufl. 2016 ff

mwN

Beschleunigungspotential im Jugendstrafverfahren, 2004 Strafrecht Allgemeiner Teil Teilband 1, 8. Aufl. 1992 Strafrecht Allgemeiner Teil Teilband 2, 8. Aufl. 2014 Meier/Bannenberg/Höffler, Jugendstrafrecht, 4. Aufl. 2019 Strafprozessordnung. Gerichtsverfassungsgesetz, Nebengesetze und ergänzende Bestimmungen, 64. Aufl. 2021 Monatsschrift für Deutsches Recht Erb/Schäfer, Hrsg., Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 4. Aufl. 2020 ff Kudlich ua, Hrsg., Münchener Kommentar zur Strafprozessordnung, 2014 ff Anordnung über Mitteilungen in Strafsachen idF v. 1.8.2015 (BAnz Nr. 126a S. 1) Monatsschrift f. Kriminologie und Strafrechtsreform Münder/Meysen/Trenczek, Hrsg., Frankfurter Kommentar SGB VIII Kinder- und Jugendhilfe, 9. Aufl. 2022 (= Menschenrechtskonvention) Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 4.11.1950 (BGBl. 1952 II 685) mit weiteren Nachweisen

NdsRpfl. n.F. Nix NJ NJW NK Nothacker NRW NStE NStZ NStZ-RR NZWiSt

Niedersächsische Rechtspflege neue Fassung Nix, Hrsg., Kurzkommentar zum JGG, 1994 Neue Justiz Neue Juristische Wochenschrift Zeitschrift „Neue Kriminalpolitik“ „Erziehungsvorrang“ und Gesetzesauslegung im JGG, 1985 Nordrhein-Westfalen Rebmann/Dahs/Miebach, Hrsg., Neue Entscheidungssammlung für Strafrecht Neue Zeitschrift für Strafrecht NStZ-Rechtsprechungs-Report Strafrecht Neue Zeitschrift für Wirtschafts-, Steuer- und Unternehmensstrafrecht

oa oJ

oben angeführt ohne Jahr

MDR MK-StGB MK-StPO MiStra MKrim. MMT MRK

XVII

Abkürzungsverzeichnis

OLG OLGSt

OrgStA Ostendorf OWiG

Oberlandesgericht Entscheidungen der Oberlandesgerichte zum Straf- und Strafverfahrensrecht, Neuauflage: Entscheidungen der Oberlandesgerichte in Strafsachen und über Ordnungswidrigkeiten Anordnung über Organisation u. Dienstbetrieb der Staatsanwaltschaften JGG. Kommentar, 11. Aufl. 2021 Gesetz über Ordnungswidrigkeiten idF v. 19.2.1987 (BGBl. I 602), letztes ÄndG v. 5.10.2021 (BGBl. I 4607)

PDV Pohlmann/Jabel/Wolf Potrykus Putzke/Feltes PVF

Polizeidienstvorschrift Strafvollstreckungsordnung. Kommentar. 9. Aufl. 2016 Kommentar zum Jugendgerichtsgesetz, 4. Aufl. 1955 Jugendstrafrecht, 2012 Patzak/Volkmer/Fabricius, Betäubungsmittelgesetz. Kommentar, 10. Aufl. 2022

RdJ RE RegE RG RGBl. RiStBV

Zeitschrift „Recht der Jugend und des Bildungswesens“ Referentenentwurf Regierungsentwurf Reichsgericht; auch Entscheidungen des RG in Strafsachen Reichsgesetzblatt Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren v. 1.1.1977 i.d. ab 1.2.1997 geltenden Fassung Reichsjugendgerichtsgesetz von 1943; mit Zusatz „23“: Reichsjugendgerichtsgesetz von 1923 Richtlinien zum Jugendgerichtsgesetz i.d. ab 1.8.1994 geltenden Fassung Randnummer Strafverfahrensrecht. Ein Studienbuch, 29. Aufl. 2017 Der Deutsche Rechtspfleger Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege v. 11.1.1993 (BGBl. I 50), außer Kraft ab 6.12.2011 Rechtspflegergesetz idF v. 5.11.1969 (BGBl. I 2065), letztes ÄndG v. 10.8.2021 (BGBl. I 3490)

RJGG RL Rn Roxin/Schünemann Rpfl. RpflEntlG RpflG

s. SBJL SchlHA Schönke/Schröder Schwind/Schwind SGB VIII SjE SL sog. SoldG StA Stat. BA StGB StPO StrEG

siehe Schwird/Böhm/Jehle/Laubenthal, Hrsg., Strafvollzugsgesetz – Bund und Länder, 7. Aufl. 2020 Schleswig-Holsteinische Anzeigen Strafgesetzbuch, 30. Aufl. 2019 Kriminologie und Kriminalpolitik. Eine praxisorientierte Einführung mit Beispielen, 24. Aufl. 2021 Sozialgesetzbuch (SGB) Achtes Buch (VIII) Kinder- und Jugendhilfe idF v. 14.12.2006 (BGBl. I 3134), letztes ÄndG v. 5.10.2021 (BGBl. I 4607) Sammlung jugendrechtlicher Entscheidungen Schomberg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 6. Aufl. 2020 sogenannt Gesetz über die Rechtsstellung der Soldaten (Soldatengesetz) idF v. 30.5.2005 (BGBl. I 160), letztes ÄndG v. 20.8.2021 (BGBl. I 3932) Staatsanwalt oder Staatsanwaltschaft Statistisches Bundesamt. Soweit kein zusätzlicher Quellennachweis erfolgt: Strafverfolgung 2020 Strafgesetzbuch idF v. 13.11.1998 (BGBl. I 3322), letztes ÄndG v. 22.11.2021 (BGBl. I 4906) Strafprozessordnung idF v. 7.4.1987 (BGBl. I 1074, ber. 1319), letztes ÄndG v. 21.12.2021 (BGBl. I 5252) Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen v. 8.3.1971 (BGBl. I 157), letztes ÄndG v. 30.9.2020 (BGBl. I 2049)

XVIII

Abkürzungsverzeichnis

Streng StrFrG StV StVÄG StVollstrO StVollzG

Jugendstrafrecht, 5. Aufl. 2020 Straffreiheitsgesetz Zeitschrift „Strafverteidiger“ Strafverfahrensänderungsgesetz Strafvollstreckungsordnung v. 1.8.2011 (BAnz Nr. 112a S. 1), zuletzt geändert durch ÄndVwV v. 10.8.2017 (BAnz AT 18.8.2017 B6) Strafvollzugsgesetz v. 16.3.1976 (BGBl. I 581, ber. 2088 u. 1977 I 436), letztes ÄndG v. 5.10.2021 (BGBl. I 4607)

u. ua UHaft UJ uU UVollzO

und unter anderem oder und andere Untersuchungshaft Zeitschrift „Unsere Jugend“ unter Umständen Untersuchungshaftvollzugsordnung v. 12.2.1953 i.d. ab 1.1.1977 geltenden Fassung

VG VGH vgl. VO Vorb. VRS

Verwaltungsgericht Verwaltungsgerichtshof vergleiche Verordnung Vorbemerkung Verkehrsrechtssammlung

WDO

Wehrdienstdisziplinarordnung idF v. 16.8.2001 (BGBl. I 2093), letztes ÄndG v. 20.8.2021 (BGBl. I 3932) Strafe und Erziehung nach dem JGG, 1984 Wehrpflichtgesetz idF v. 16.9.2008 (BGBl. I 1886), letztes ÄndG v. 28.6.2021 (BGBl. I 2250) Wehrstrafgesetz idF v. 24.5.1974 (BGBl. I 1213), letztes ÄndG v. 30.10.2017 (BGBl. I 3618)

Wolf WpflG WStG

z.B. Zbl. ZfStrVo ZIS ZJJ ZPO ZRP ZStW zust. zZ

XIX

zum Beispiel Zentralblatt für Jugendrecht Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe Zeitschrift für internationale Strafrechtsdogmatik Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft zustimmend zu der Zeit

Jugendgerichtsgesetz (JGG) In der Fassung der Bekanntmachung vom 11.12.1974 (BGBl. I 3427), zuletzt geändert durch Art. 21 des Gesetzes zur Fortentwicklung der Strafprozessordnung und zur Änderung weiterer Vorschriften vom 25.6.2021 (BGBl. I 2099)

Einführung Übersicht I.

Jugendkriminologische Aspekte 1. JKriminalrechtspflege und Kriminolo1 gie 3 2. Bereiche der Kriminologie 10 3. JKriminalität in der Statistik 13 4. Entwicklung der JKriminalität 17 5. Entstehung der JKriminalität 18 6. Frühkindliche Schäden 19 7. Kriminalität und Verwahrlosung 20 8. Kinderdelinquenz 22 9. Pubertät 23 10. Familie und Erziehung 26 11. Rollenfixierung 27 12. Schule 28 13. Beruf 29 14. Freizeit 30 15. Massenmedien 31 16. Wohlstand und Arbeitslosigkeit 17. Eigentums- und Vermögenkriminali34 tät 35 18. Gewaltdelikte 39 19. Sexualstraftaten 40 20. Straßenverkehrsdelikte 41 21. Mehrfachtäter 45 22. Junge Ausländer 58 23. Gruppenkriminalität 65 24. Alkohol u. Drogen

25. 26. II.

73 Prognose Kriminalprävention

79

Grundgedanken und Erziehungsauftrag des JGG 80 1. Altersgrenzen des JGG 82 2. Eigenständigkeit des JRechts 83 3. Erziehung im JGG 94 4. Erziehung der Heranwachsenden 96 5. Die Tat 98 6. Die Schuld 102 7. Subsidiaritätsprinzip 8. Reaktionsbeweglichkeit bei den Maßnah106 men 107 9. Täterpersönlichkeit 10. Reaktionsbeweglichkeit des Verfah108 rens 112 11. JGerichtsverhandlung 114 12. Weitere Besonderheiten 119 13. Jugendhilferecht 121 14. Diskussion um Strafmündigkeit 124 15. Die Heranwachsenden 16. Internationale und europäische Regel130 werke 17. Die Entwicklung des JGG 131 seit 1990 18. Jugendstrafrecht in anderen Staa140 ten

I. Jugendkriminologische Aspekte 1. JKriminalrechtspflege und Kriminologie Diese kriminologischen Aspekte wollen weder eine Einführung in die Kriminologie ersetzen, noch 1 die Richtungen der gegenwärtigen kriminologischen Forschung erschöpfen und werten. Es geht vielmehr darum, den in der JKriminalrechtspflege Tätigen Hilfen und Anregungen für eigene Weiterarbeit und dem täterbezogenen Ausgangspunkt und den Zielvorstellungen des JGG den notwendigen Hintergrund zu geben. Wie wichtig es gerade für diesen Personenkreis ist, den Umgang mit Informationen aus der Kriminologie und anderen Erfahrungswissenschaften zu erlernen, ist

1 https://doi.org/10.1515/9783110686401-001

Einf

Einführung

nicht erst bei H. J. Schneider1 nachzulesen, schon Nietzsche hat in seiner Sammlung 18832 gesagt: „Bevor man den Menschen sucht, muss man die Laterne gefunden haben“ (Nr. 62) und „Über Gut und Böse glaubt sich Jedermann Kenner und irrt sich“ (Nr. 143). Das JGG verlangt deshalb seit 2022 in § 37 I 2, dass JRichter und JStaatsanwälte über Kenntnisse auf den Gebieten der Kriminologie, Pädagogik und Sozialpädagogik sowie der JPsychologie verfügen sollten. 2 Mittelpunkt des JStrafverfahrens ist der noch in der Entwicklung stehende, also prägbare junge Mensch, der von uns die rechte Maßnahme zur rechten Zeit fordert. Die schwere Entscheidung des JRichters, ob die Tat nur Episode oder schon Symptom ist3, muss dazu führen, bei vorwiegend entwicklungsbedingten, also zumeist episodischen Tätern nicht durch überschießende Maßnahmen sekundäre Sozialabweichung und Stigmatisierung4 zu riskieren, aber auch die erheblich Gefährdeten frühzeitig zu erkennen, um zu versuchen, sie mit gezielten Maßnahmen rechtzeitig erz. nachhaltig zu beeinflussen und von weiteren Straftaten abzuhalten. Diese verantwortungsvolle Aufgabe erhellt die Bedeutung des JStrafverfahrens, aber auch die Notwendigkeit fördernder und schützender Maßnahmen im präjustiziellen Raum. Der Großteil der JKriminalität ist vorübergehende Gelegenheitsdelinquenz und nicht die ErwKriminalität von morgen5. Andererseits kann erhebliche frühe Kriminalität einen Indikator für einen möglichen Weg in die Intensivtäterschaft darstellen6.

2. Bereiche der Kriminologie 3 Die Kriminologie befasst sich als empirische Wissenschaft von der Kriminalität und dem Umgang mit Kriminalität mit den in Wechselbeziehungen zueinander stehenden Bereichen Verbrechen, Verbrecher, Opfer und Verbrechenskontrolle7. Für das Verständnis der und den Umgang mit JKriminalität sind insbes. die Befunde der Kriminologie über die JDelinquenz sowie die Resultate der Sanktions- und der Rechtstatsachenforschung von Bedeutung. Für die Erfassung von Umfang und Struktur der JKriminalität kommt neben der Auswertung 4 der Kriminalstatistiken der Dunkelfeldforschung erhebliches Gewicht zu. Registriert werden nur die durch eigene Wahrnehmung der Polizei oder durch Anzeige bekannt gewordenen Straftaten, wobei im Bereich der „herkömmlichen“, gegen die Person sowie gegen Eigentum und Vermögen gerichteten Kriminalität die registrierten Taten zu etwa 90 % durch Anzeige bekannt werden. Der größte Teil der Straftaten bleibt jedoch im Dunkelfeld, also der Polizei und der Justiz verborgen. So betrug bei der Göttinger Opferbefragung 1973/74 das Verhältnis zwischen registrierter und nicht registrierter Kriminalität 1:108. Das erhebliche, von Delikt zu Delikt unterschiedliche Dunkelfeld wird durch schwankendes Anzeigeverhalten beeinflusst und verbirgt vermutlich eher Erw. als J. 5 Die Kriminologie versucht, mittels in anonymisierter Form durchgeführter Täter-, Opferund Informantenbefragungen das Dunkelfeld aufzuhellen. Jede dieser Befragungen bietet eine Reihe methodischer Schwierigkeiten und stößt an Grenzen des Aussagewertes9. Die Täterbefragungen haben jedoch übereinstimmend die „Normalität“ und „Ubiquität“ der JKriminalität in dem Sinne ergeben, dass es kaum einen männlichen J gibt, der nicht irgendwann einmal gegen

1 2 3 4 5 6 7 8 9

Kriminologie, 1987, S. 155. Böse Weisheit, Sprüche u. Sprichwörtliches, Pfeile. Exner Kriminologie, 1949, S. 27. H. J. Schneider MKrim. 70, 16. Heinz in Rabe, Hrsg., Jugend, 1984, S. 86. Beulke/Swoboda Rn 21 ff mwN. Zu Begriff, Aufgaben u. Rolle der Kriminologie vgl. Kaiser S. 1 ff; DHL/Dölling § 1 Rn 1 ff. Vgl. Schwind ua Dunkelfeldforschung in Göttingen 1973/74, 1976, S. 122. Zu den methodischen Problemen der Dunkelfeldforschung vgl. Kreuzer NStZ 94, 10, 164; DHL/Hermann § 10 Rn 4 ff. 2

I. Jugendkriminologische Aspekte

Einf

die Normen des StGB verstoßen hat10. Zumeist handelt es sich allerdings um gelegentliche relativ leichte Delikte wie Schwarzfahren, kleinere Diebstähle oder Sachbeschädigung11. Mädchen sind weniger belastet als Jungen12. Diese JDelinquenz bleibt überwiegend Episode und klingt im Rahmen des Reifungsprozesses ab13. Daneben steht die relativ kleine Gruppe der Mehrfachtäter (dazu Rn 41–44), auf die ein großer Teil der JKriminalität entfällt14. Des Dunkelfeldes halber unterscheidet Heinz15 nicht zwischen „Kriminellen“ und „Nichtkriminellen“, sondern zwischen „Nicht- und Niedrigbelasteten“ einerseits und „Hochbelasteten“ andererseits16. Nach diesen Befunden lässt sich JKriminalität überwiegend aus den Schwierigkeiten der 6 konfliktreichen Reifungs- und Sozialisierungsvorgänge herleiten17 und bleibt dann zumeist episodenhaft, kann aber auch nach der Qualität der Taten und der Persönlichkeitsstruktur der Täter bereits Symptom für ernste Gefährdung sein18. Gerade das macht jrichterliche Entscheidungen so schwer und gewichtig in ihren Wirkungen. JKriminalität beschränkt sich nicht auf die Unterschicht, andererseits ist deren Anteil un- 7 ter Tatverdächtigen und Verurteilten überproportional. Hieraus vor allem leitet der kriminalsoziologische Etikettierungsansatz (Definitionsansatz, labeling approach) her, dass die vom Mehrfaktorenansatz (Rn 17) ermittelten kriminogenen Merkmale lediglich Selektionskriterien der Strafverfolgungsorgane seien, abweichendes Verhalten also Ergebnis gesellschaftlicher Zuschreibungsprozesse sei und die Selektion bestimmter Personen die hierarchische Struktur der Gesellschaft widerspiegele. Dies wird teilweise dahin zugespitzt, dass die Instanzen der Sozialkontrolle, insbes. Polizei und Justiz, durch selektive Sanktionierung die Unterschichten diskriminierten und kriminalisierten19. Nach der sozialpsychologischen Variante des labeling approach führt die Etikettierung einer Person als „kriminell“ dazu, dass diese das an sie herangetragene Fremdbild, ein „Krimineller“ zu sein, in ihr Selbstbild übernimmt und entsprechend handelt, sodass die Strafverfolgung Delinquenz in Form „sekundärer Abweichung“ und verfestigte „kriminelle Karrieren“ produziert20. Der Labeling-Ansatz weist zutreffend auf die mit Stigmatisierungsprozessen verbundenen Gefahren hin und hat als Tendenz zur „Entkriminalisierung“ die jstrafrechtliche Theorie und Praxis sowie die Kriminalpolitik erheblich beeinflusst21. Eine ausreichende empirische Bestätigung der Thesen des Etikettierungsansatzes steht aber noch aus22. Die Problematik der Kriminalität erschöpft sich zudem nicht in Definitionsprozessen23. Kriminelle Handlungen können gravierende materielle und immaterielle Schäden verursachen. Delinquenz hängt ua mit defizitären Lebenssituationen und psychischen

10 Kerner in JStrafrecht an der Wende, S. 99; Boers MKrim. 19, 7. 11 Heinz Handb. d. For. Psychiatrie Bd. 4, 2009, S. 24, 26; Kaiser S. 171 f; Beulke/Swoboda Rn 33; Dölling in Rössner, Hrsg., Toleranz – Erziehung – Strafe, 1989, S. 7 f. 12 Walter/Neubacher JKriminalität, 4. Aufl. 2011, Rn 394; zusammenf. zur Mädchendelinquenz Bruhns/Wittmann RdJ 99, 355; zur niedrigeren Belastung von Mädchen mit Gewaltkriminalität Oberwittler MKrim. 10, 255; Könning Kriminalistik 15, 267; zu gewaltbereiten Mädchen Bruhns/Wittmann ZJJ 03, 133; zur Erklärung von Mädchenkriminalität Enning UJ 17, 402; zu einem Behandlungsprogramm Steingen/Gehring-Decker/Knors Mädchengewalt: Verstehen u. Handeln. Das Kölner Anti-Gewalt-Programm für Mädchen, 2016; s. auch die Beiträge in ZJJ 11, 356 ff. 13 Heinz BewH 88, 271; Kaiser in JStrafrecht an der Wende, S. 15; Boers ua MKrim. 14, 183; Boers MKrim. 19, 8. 14 Dölling Zbl. 89, 314 mwN. 15 BewH 88, 270. 16 Ähnlich Kürzinger FS Jescheck, 1985, S. 1070. Zur Entwicklung der Delinquenz im Lebenslauf s. Boers in DVJJ, Hrsg., Fördern Fordern Fallenlassen, 2008, S. 340 ff, die Beiträge in MKrim 09, 97 ff, Boers ua NK 10, 58 u. MKrim 14,183. 17 Zur Entwicklungsphase der Jugend s. die Beiträge in ZJJ 11, 4 ff. 18 Vgl. Hamacher Kriminalistik 1982, 388. 19 Vgl. die Nachweise bei H. J. Schneider JZ 73, 573, 578. 20 Siehe Rn 32 u. die Darstellung bei Bock in Göppinger S. 158 ff. 21 Schaffstein Neue Entwicklungen des deutschen JStrafrechts, Coimbra 1987/88, S. 6 ff. 22 Krit. daher Schöch in Kaiser/Schöch/Kinzig S. 21; Grunewald NStZ 02, 454. 23 Siehe die Kritik von H. Schneider MKrim 99, 202 an der deutschen Rezeption des labeling approach. 3

Einf

Einführung

Belastungen, aber auch mit der Art und Weise zusammen, mit der sich Menschen mit den auf sie einwirkenden Einflüssen und den zu bewältigenden Aufgaben und Konflikten auseinandersetzen. Kriminalität hat daher auch eine menschlich-ethische Dimension. Gerade auch der junge Täter sollte nicht nur als „Opfer der Verhältnisse“ angesehen werden, sondern auch als „Träger seiner Tat24. Außerdem ist es nicht verantwortbar, die Augen vor Fehlentwicklungen junger Menschen und der Notwendigkeit des Gegensteuerns zu verschließen25. Der labeling approach vermag daher die „traditionelle“ Kriminologie nicht zu ersetzen, kann sie aber in wichtigen Punkten ergänzen. 8 Die Sanktionsforschung versucht mit empirischen Erfolgskontrollen der Wirkungen strafrechtlicher Rechtsfolgen dem Richter Entscheidungshilfen und der Rechtspolitik Material zu geben. Die Messung von Sanktionswirkungen wirft freilich erhebliche methodische Probleme auf26. Nach den vorliegenden Befunden ist die durchschnittliche Rückfallhäufigkeit nach ambulanten Maßnahmen geringer als nach stationären Sanktionen27. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass dies zu einem erheblichen Teil auf Auswahlprozesse zurückzuführen ist, die der Sanktionsentscheidung zugrunde liegen und dazu führen, dass Täter mit günstiger Prognose eher ambulante und solche mit ungünstiger Prognose stationäre Sanktionen erhalten. Werden Verurteilte mit ähnlichen Merkmalen miteinander verglichen, nähern sich die Rückfallraten an, sodass von „Austauschbarkeit“ der Sanktionen gesprochen wird28. Sachgerecht wird die Wirkung von Sanktionen nur abzuschätzen sein, wenn auch die spezifische Problematik der Personen berücksichtigt wird, auf welche die Sanktionen angewendet werden29. Nach dem gegenwärtigen Forschungsstand kann der Beurteilung von Böhm/Feuerhelm30 gefolgt werden, es spreche „einiges dafür, dass Verurteilungen und Maßnahmen des JStrafrechts mitunter nützlich sind, manchmal aber auch schaden und sicher oft gar keine nachweisbare Auswirkungen auf das künftige Verhalten des Verurteilten haben“. Liegen aber keine Befunde dafür vor, dass die intensiver eingreifende Sanktion spezialpräventiv wirksamer ist als die weniger belastende, ist nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip die geringer belastende Maßnahme zu wählen und insbes. einer ambulanten Reaktion der Vorrang vor einer stationären Sanktion zu geben31. Insgesamt sprechen die empirischen Befunde somit für eine behutsame und zurückhaltende Anwendung der jstrafrechtlichen Handlungsmöglichkeiten32. Die Rechtstatsachenforschung gibt JStAen und JRichtern Kenntnis von verschiedenen 9 Handlungs- und Entscheidungsmustern der JStrafrechtspflege und regional unterschiedlichen Erledigungsstrukturen und lässt die bundesweite Wandlung der Sanktionspraxis (vgl. bes. § 45, 7) nachvollziehen. Sie postuliert die notwendige Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Praxis bis hin zu interdisziplinär zusammengesetzten Forscherteams33. Entsprechend angelegte Forschungsprojekte eröffnen die Chance, auf Praxis und Gesetzgebung einzuwirken, wobei freilich die Wissenschaft ihre Unabhängigkeit von Praxis und Rechtspolitik bewahren muss.

24 25 26 27

Hellmer JZ 81, 154. Bock FS Hanack, 1999, S. 634. Dölling RdJ 93, 373 f. Berckhauer/Hasenpusch MKrim. 82, 319; Jehle/H.-J. Albrecht/Hohmann-Fricke/Tetal Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen. Eine bundesweite Rückfalluntersuchung 2013 bis 2016 u. 2004 bis 2016, 2020, S. 17. 28 Streng Strafrechtliche Sanktionen, 3. Aufl. 2012, Rn 331 ff. 29 Vgl. Grunewald NStZ 02, 455: „Maßnahmen wirken auf unterschiedliche Täter unterschiedlich“. 30 S. 25. 31 Heinz MKrim. 87, 148. 32 Böhm/Feuerhelm S. 26. 33 Vgl. Heinz, Hrsg., Rechtstatsachenforschung heute, 1986. 4

I. Jugendkriminologische Aspekte

Einf

3. JKriminalität in der Statistik Die registrierte JKriminalität unterliegt den gleichen Einwirkungen wie die allg. Kriminalsta- 10 tistik, also ua statistikimmanenten Fehlerquellen und schwankendem Anzeigeverhalten34, und kann sich insbes. „erhöhen“ durch verbesserte Ermittlungstechniken der Polizei und verfeinerte Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen. Denn diese versprechen gerade bei J verstärkten Erfolg, weil diese noch weniger raffiniert und eher unsicher sind, weil die „kriminell gleichsam noch Übenden“35 aussage- und geständnisfreudiger und häufiger geneigt sind, reinen Tisch zu machen. Das Verhalten junger Tatverdächtiger ist oft einfacher strukturiert und leichter sichtbar. Da bei J und Hw. Gruppenkriminalität (Rn 58–64) eine erhebliche Rolle spielt, ergeben sich auch daraus bessere Ansatzpunkte zu Ermittlungserfolgen der Polizei. Zu bedenken bleibt stets, dass die Statistik nicht ein wirklichkeitsgetreues Bild der Gesamtkriminalität, sondern nur eine, auch je nach Deliktsart verschiedene, mehr oder weniger starke Annäherung an die Wirklichkeit der Kriminalität zu geben vermag36. Der „künstliche Zählverlust“ von den polizeilich registrierten Tatverdächtigen zu den Ver- 11 urteilten wird wesentlich verursacht durch die vorgegebene Kluft zwischen dem Tatverdacht, welcher der Polizei zur Registrierung ausreicht, und dem genügenden Anlass zur Anklage für die StA (§ 170 I StPO) sowie dem hinreichenden Tatverdacht für die Eröffnung des Hauptverfahrens durch das Gericht (§ 203 StPO), welche die Zahlen der tatsächlich rechtskräftig Verurteilten ebenso absinken lässt wie das für eine Verurteilung notwendige Maß an Sicherheit, dem gegenüber unter Berücksichtigung der Unschuldsvermutung vernünftige Zweifel nicht mehr aufkommen dürfen, und die Erfahrung, dass sich in der Hauptverhandlung das Beweisergebnis aus mannigfachen Gründen ganz anders darstellen kann als im Ermittlungsverfahren37. Der Schwund zwischen polizeilicher Registrierung und Verurteilung gilt insbes. für die JKriminalität, wo mit stetig wachsenden Diversionsstrategien (vgl. § 45, 7) Urteil und stationärer Eingriff möglichst vermieden werden sollen. Gerade die von der StA entsprechend dem Opportunitätsprinzip nach § 45 JGG und nach 12 §§ 153, 153a, 154 StPO eingestellten und deshalb in der Strafverfolgungsstatistik nicht registrierten und die vom Richter eingestellten Verfahren, die in der Verurteiltenziffer nicht erscheinen, sind zahlreich und verursachen ua insbes. bei J und Hw. den „Kriminalitätsschwund“ von der polizeilichen zur justiziellen Statistik. Strafe und Strafmakel möglichst vermeidend, wird so das ErzZiel des JGG angestrebt und es sind keineswegs nur Bagatellen, die deshalb nicht in der Strafverfolgungsstatistik registriert werden, obwohl der von der Polizei angenommene Tatverdacht bestätigt ist. Im Jahr 2017 wurde bei 75 % der eines Vergehens oder Verbrechens verdächtigten J oder Hw. das Verfahren nach §§ 45, 47 eingestellt38.

4. Entwicklung der JKriminalität Wie in den meisten großen Industriestaaten ist auch in Deutschland die registrierte JKrimina- 13 lität von den fünfziger Jahren bis in die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts erheblich angestiegen. Während sich die Kriminalitätsbelastungszahlen Mitte der achtziger Jahre auf dem erreichten relativ hohen Niveau einpendelten, war seit Ende der achtziger Jahre bis zum Ende

34 Kaiser S. 162 ff; Heinz Handb. d. For. Psychiatrie Bd. 4, 2009, S. 4 ff. 35 Herold Kriminalistik 76, 340. 36 Vgl. Heinz in Eser/Kaiser, Hrsg., Drittes deutsch-sowjetisches Kolloquium über Strafrecht u. Kriminologie, 1987, S. 195; DHL/Dölling § 9 Rn 16 ff. 37 Vgl. BGH 23, 304, 306. 38 Streng Rn 195. 5

Einf

Einführung

der neunziger Jahre wieder ein Anstieg der registrierten JKriminalität zu verzeichnen39. Seitdem ist ein Rückgang festzustellen40. In den Phasen des Anstiegs der JKriminalität waren bei Gewaltdelikten wie Körperverletzung und Raub überproportionale Steigerungsraten zu verzeichnen41. Diese beruhten freilich auf geringen Basiszahlen42; schwere Gewaltkriminalität im JAlter ist weiterhin eine Ausnahmeerscheinung43. In den letzten Jahren sind die Raubdelikte zurückgegangen44. Der bis vor einigen Jahren festzustellende Anstieg bei den registrierten Körperverletzungsdelikten dürfte nach den Befunden der Dunkelfeldforschung zu einem erheblichen Teil nicht auf einer tatsächlichen Zunahme der Delikte, sondern auf einer erhöhten Anzeigequote beruhen45. 14 Inwieweit aus den Zahlen der Kriminalstatistik auf tatsächliche Veränderungen der JKriminalität geschlossen werden kann und wie diese ggf. kriminalpolitisch zu bewerten sind, ist umstritten46. Quensel47 bezeichnet es als „wesentliche Aufgabe einer kritischen Kriminologie“, ansteigende JKriminalität als „verdummende Märchen und Mythen aufzudecken“. Mit verstärktem Verfolgungsdruck allein dürften sich die kriminalstatistischen Daten freilich kaum erklären lassen48. Richtig ist jedoch, dass es sich bei der JKriminalität ganz überwiegend um leichtere Delikte handelt49. Wann eine Straftat als Bagatelldelikt einzustufen ist, kann freilich zweifelhaft sein. Wenn z.B. Delikten wie Raub und Diebstahl im bes. schweren Fall unter Berufung auf eine häufig geringe Schadenshöhe Bagatellcharakter zugesprochen wird, ist darauf hinzuweisen, dass die Höhe des Schadens kaum ein allein ausreichendes Kriterium für die Schwere der Tat abgibt. Es lehrt die Praxis, dass bei Raub das eklatante Missverhältnis zwischen der zu erwartenden Beute, dem Maß an Gewalt und dem Risiko der Tat häufig geradezu typisch ist. Diebstahl im bes. schweren Fall, bei dem vielfach gerade bei J der nicht zur Registrierung kommende Sachschaden den registrierten eigentlichen Stehlschaden weit überwiegt (z.B. Zerstörung eines Automaten bei geringer Beute), fordert idR einen erheblichen Aufwand krimineller Energie. Dürfte somit geringer Schaden solche Straftaten nicht als Bagatellen kennzeichnen, so kann doch gerade bei einem J eine schwere Straftat ein vorübergehendes Ereignis bleiben, während eine leichte Tat durchaus Gefährdung zu signalisieren vermag, sodass es immer auf den Einzelfall ankommt. Festzuhalten ist aber, dass JKriminalität ganz überwiegend episodenhaft bleibt. Dies zeigt die Alterskurve der Verurteilten, deren Gipfel bei Hw. und Jungerw. erreicht wird und dann stark abfällt; dies ergeben die Dunkelfeldforschung und die Analyse der Rückfälligkeit polizeilich registrierter Ersttäter, wonach Mehrfachtäter (dazu Rn 41–44) selten sind, und dies geht auch aus der Untersuchung der justiziellen Regist-

39 Vgl. zur Entwicklung der JKriminalität Walter in JStrafrecht an der Wende, S. 37 ff; Schulz Die Entwicklung der Delinquenz von Kindern, J u. Hw. in Deutschland, 2007; H.-J. Albrecht MKrim. 98, 387 f. 40 BKA, Hrsg., Polizeiliche Kriminalstatistik 1999 ff; Kerner in DVJJ, Hrsg., Fördern, Fordern, Fallenlassen, 2008, S. 35 ff; Baier/Pfeiffer/Hanslmair ZJJ 13, 279; Reinecke ua NK 13, 214; Dölling/Hermann/Laue/Weninger FPPK 14, 72; H.-J. Albrecht RdJ 14, 363; 16, 395; Antholz FPPK 17, 81; Lösel FS Streng, 2017, S. 539; Baier FPPK 20, 141; Naplava FS H.-J. Albrecht, 2021, S. 953. 41 Neubacher ZRP 98, 433. 42 P.-A. Albrecht S. 4 ff. 43 H.-J. Albrecht MKrim. 98, 393. 44 Kerner (FN 40), S. 35. 45 Oberwittler/Köllisch NK 04, 144; Neubacher ZRP 08, 192; Baier/Pfeiffer/Rabold Kriminalistik 09, 331 f; Heinz Handb. d. For. Psychiatrie Bd. 4, 2009, S. 52. 46 Zur Aussagekraft der kriminalstatistischen Daten Walter in JStrafrecht an der Wende, S. 52 ff. 47 MKrim. 88, 413–415, 418, ua unter Berufung auf Albrecht/Lamnek JKriminalität im Zerrbild der Statistik, 1979. 48 Kaiser 9. Aufl. S. 344 f; zur bisher nicht ausreichend geklärten Kriminalitätsentwicklung im Dunkelfeld s. Lösel/ Bliesener/Averbeck DVJJ-J 98, 115; Mansel/Hurrelmann Kölner Zeitschrift für Soziologie u. Sozialpsychologie 98, 78; Boers/Walburg/Reinecke MKrim. 06, 63. 49 P.-A. Albrecht S. 8; Dölling in BMJ, Hrsg., Grundfragen des JKriminalrechts u. seiner Neuregelung, 1992, S. 53 f; Kaiser in JStrafrecht an der Wende, S. 14. Zu den Kosten der JKriminalität s. Glaubitz ua MKrim. 16, 123. 6

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rierung einzelner Geburtsjahrgänge hervor50. Die altersspezifischen Verurteiltenziffern mit der enormen Kluft zwischen J- und ErwKriminalität weisen auch auf das Positivum hin (was neuere Kohortenstudien bestätigen), dass JKriminalität von heute in der Regel nicht ErwKriminalität von morgen ist51. Ein Vergleich der JKriminalität in der Bundesrepublik und in der ehemaligen DDR ist unge- 15 mein schwierig. Abgesehen davon, dass die DDR kein Hw.-Recht kannte, JKriminalität dort also nur die J bis 18 Jahre meinte, wurden dort Kriminalstatistiken nur auszugsweise veröffentlicht und wurde eine quellenkritische Analyse dadurch erschwert, dass über das Zustandekommen der Zahlen kaum informiert wurde52. Freiburg53 spricht von Geheimniskrämerei bei Statistiken. Ein Vergleich wird weiter dadurch erschwert, dass über die Hälfte aller JStrafsachen nicht an die ordentlichen Gerichte – und in die Justizstatistik – kam, weil sie von „gesellschaftlichen Gerichten“ (§ 77 DDR StPO) verhandelt wurden54. Dunkelfelduntersuchungen gab es in der ehemaligen DDR kaum. Wegen der ungesicherten Datenlage kann nur vermutet werden, dass die Kriminalität in 16 der ehemaligen DDR niedriger war als in der Bundesrepublik, wenn auch nicht in dem von offizieller Seite der DDR verlautbarten Ausmaß55. Dies lässt sich auch für die JKriminalität annehmen56. Eine Befragung der Studienanfänger an den Universitäten Gießen, Jena und Potsdam um die Jahreswende 1990/91 ergab bei der erfragten leichteren Delinquenz bei deliktsspezifischen Unterschieden eine im Wesentlichen gleich hohe Gesamtdelinquenzbelastung in Ost und West, wobei die Autoren jedoch annehmen, dass schwere Kriminalität in der DDR weniger verbreitet war als in der Bundesrepublik57. Mit der Wiedervereinigung und nach dem Auslaufen der Umbruchsituation hat sich die JKriminalität in den neuen Bundesländern der Situation in den alten Bundesländern angenähert58.

5. Entstehung der JKriminalität Zu den Ursachen der Kriminalität sind zahlreiche Theorien aufgestellt worden, ohne dass es bisher 17 gelungen ist, eine empirisch gut bestätigte und überzeugende Theorie zu entwickeln, die den Gesamtbereich der Kriminalität abdeckt59. Zu den Entstehungsbedingungen der JKriminalität vorzustoßen60, hilft ein auf einer vergleichenden Untersuchung der persönlichen und sozialen Merkmale von registrierten Delinquenten und von Probanden aus der „Normalbevölkerung“ beruhender Mehrfaktorenansatz61. Will der Richter nicht nur vordergründig die Tat sehen, sondern den jun50 Heinz/Spieß/Storz in Kaiser/Kury/H.-J. Albrecht, Hrsg., Kriminologische Forschung in den 80er Jahren, 1988, S. 631 ff. Zur Episodenhaftigkeit u. zur Häufung der Kriminalität in einem eng begrenzten Lebensintervall – u. zu Folgerungen daraus – auch Kerner BewH 89, 205 sowie Rn 5 u. 41. Eingehend zur JKriminalität Bundesministerium des Innern/Bundesministerium der Justiz, Hrsg., Erster Periodischer Sicherheitsbericht, 2001 S. 475 ff; Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht, 2006 S. 354 ff. 51 Heinz in Rabe, Hrsg., Jugend, 1984, S. 86. 52 Heinz in Eser/Kaiser, Hrsg., Drittes deutsch-sowjetisches Kolloquium über Strafrecht u. Kriminologie, 1987, S. 192 mwN. 53 In Helwig, Hrsg., JKriminalität in beiden deutschen Staaten, 1985, S. 75. 54 Näher dazu Luther MKrim. 87, 16; krit. Brunner NStZ 90, 473. 55 So Kreuzer ua JDelinquenz in Ost u. West, 1993, S. 45. 56 Zur Entwicklung der registrierten JKriminalität in der DDR vgl. Ewald, DVJJ-J 91, 229; zu deliktsspezifischen Selektionsprozessen bei der Verfolgung J im Ost-West-Vergleich Walter/Fischer MKrim. 91, 146. 57 Kreuzer ua aaO, S. 273, 282. 58 Zur JKriminalität in Sachsen vgl. Traulsen Kriminalistik 95, 47. 59 Vgl. die Übersichten über die Kriminalitätstheorien bei Bock in Göppinger S. 119 ff; Hermann Handb. d. For. Psychiatrie Bd. 4, 2009, S. 286 ff; H. J. Schneider Kriminologie, 1987, S. 359 ff; Schöch in Kaiser/Schöch/Kinzig S. 5 ff. 60 Zusammenfassend dazu Lösel in Neuhaus, Hrsg., Sicherheit in der Gesellschaft heute, 2000, S. 51 ff. 61 Dölling Zbl. 89, 315 unter Hinweis auf Göppinger Der Täter in seinen sozialen Bezügen, 1983. 7

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gen Täter erkennen und ihm mit der richterlichen Reaktion zugleich helfen, ist es daher notwendig, in einer Längsschnittbetrachtung sorgsam seine Entwicklung, seinen Lebenslauf und seine Persönlichkeit in ihren spezifischen Merkmalen sowie in ihrer Prägung durch die Umwelt kennen zu lernen, aber auch die Tat selbst näher als besonderes Ereignis im Verlauf des menschlichen Lebens zu berücksichtigen. So wird bei jungen Tätern ein höchst kompliziertes Zusammenspiel von Anlagen, Einflüssen der Herkunftsfamilie, des sonstigen persönlichen Umfeldes, von übergreifenden wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verhältnissen sowie von speziellen Erlebnissen und Erfahrungen und der individuellen Auseinandersetzung mit diesen Einflüssen und Erfahrungen wirksam sein62. Aus diesem Mosaik der Wirkungszusammenhänge lässt sich nur schwer eine einzelne „Ursache“ als die entscheidende herauslösen.

6. Frühkindliche Schäden 18 Teilweise werden frühkindliche Hirnschädigungen, die sich ua in emotionaler Labilität, mangelnder affektiver Steuerung, Impulsivität, mangelnder Konzentrationsfähigkeit und Lernschwierigkeiten äußern können, als wichtiger kriminogener Faktor in der Reifezeit angesehen63. Die Befunde sind jedoch mit Vorsicht zu beurteilen, da sie an nicht repräsentativen Stichproben, nämlich von JPsychiatern untersuchten Kindern und J, gewonnen wurden64. Die Prognose wird als günstig angesehen, da die J mit fortschreitendem Alter in der Lage seien, ihre Schwächen unter Kontrolle zu bringen65. In neuerer Zeit wird das Konzept der frühkindlichen Hirnschädigung kritisch gesehen66. Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) erhöhen das Risiko dissozialen Verhaltens67. Es finden sich Hinweise, dass Persönlichkeitsdimensionen der „Psychopathy“, die mit einem erhöhten Delinquenzrisiko verbunden sind, bereits im Kindes- und JAlter auftreten können68. Frühkindliche Erlebnisse sind deshalb bes. bedeutsam, weil das Kind auf die angebotenen Lernerfahrungen angewiesen und von den Einflüssen seiner Umwelt abhängig ist. Mangelnde Liebe und Zuwendung sowie missgeleitete Erz. durch die Eltern können schwere Störungen in der Persönlichkeitsentwicklung zur Folge haben69. Aus psychoanalytischer Sicht wird angenommen, dass sich Ich und Über-Ich schwer zurückgesetzter Kinder nicht angemessen zu entwickeln vermögen, da der Aufbau dieser Fähigkeiten ua über Prozesse der Identifikation erfolgt und das Kind sich nur mit einer Person identifizieren kann, zu der es freundliche Gefühle hegt70.

7. Kriminalität und Verwahrlosung 19 Der enge Zusammenhang zwischen Kriminalität und Verwahrlosung als zwei Erscheinungsformen der Dissozialität junger Menschen ist empirisch bestätigt71. Gerade die Delinquenz aber gibt zumeist der Entwicklung einen bes. Stellenwert, die schwerere Straftat kennzeichnet symptomatisch das Maß der Entwicklungsstörung des Täters und dessen soziale Gefährdung72. Neben

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Schüler-Springorum MKrim. 69, 10; Paasch Kriminalistik 01, 373, 447; Boers MKrim. 19, 20 ff. Lempp Kriminalbiolog. Gegenwartsfragen 58, 100 u. NJW 59, 798. Schneider Kriminologie, 1987, S. 378. Lempp aaO, 103 ff. Vgl. Kröber/Wendt in Göppinger S. 95 f mwN. Vloet ua FPPK 08, 180; Just ua FPPK 17, 96; Allroggen ZJJ 18, 107. Ortner/Preiß/Sevecke FPPK 18, 207. Gareis/Wiesnet Frühkindheit u. JKriminalität, 1974; Allroggen ZJJ 18, 107, 108. Schneider Kriminologie, 1987, S. 492. Z.B. Künzel JKriminalität u. Verwahrlosung, 1971. Schaffstein GA 71, 129. 8

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der in Sozialisationsstörungen wurzelnden JKriminalität gibt es in nicht geringem Umfang aber auch JKriminalität der Normalentwickelten. So ist JKriminalität überwiegend nicht Ausdruck einer Fehlentwicklung oder einer abnormen sozialen Gefährdung, sondern eine nicht pathologische und keineswegs außergewöhnliche Erscheinungsform eines bestimmten Entwicklungsstadiums, das jeder normale Mensch im Jugendalter zu durchlaufen hat73. Die Praxis trägt dem durch Verfahrenseinstellung gem. §§ 45, 47 Rechnung.

8. Kinderdelinquenz Bei der Kinderdelinquenz ist die Dunkelziffer bes. groß. Nach den Verhandlungen des 13. DJGT 20 196574 sollte mehr getan werden, um dieses Dunkelfeld aufzuhellen, die Ursachen kriminellen Fehlverhaltens von Kindern zu erforschen und geeignete institutionelle ErzMaßnahmen und konkrete ErzZiele zur Verfügung zu stellen. Den Hauptanteil aller angezeigten Delikte von Kindern machen Diebstahl und Sachbeschädigung aus75. Eine andere Verteilung der Delikte im Dunkelfeld lässt darauf schließen, dass Kinder bevorzugt bei Verletzung von Eigentum angezeigt werden76. Rechtsbrüche von Kindern dürfen nicht einheitlich unter dem Begriff kriminellen Handelns gesehen werden. Ein Großteil der Kinderdelinquenz entspricht vielmehr ganz normalem kindlichen Verhalten wie Sport, Spiel und Abenteuer77. Brandstiftung durch Kinder kann auf Symboltaten hindeuten (vgl. Rn 22). Seelische Not kann Kinder zu Straftaten – vor allem zu Diebstählen – führen, um die Eltern auf sich aufmerksam zu machen. Kinder können sich in erhebliche Kriminalität verstricken, weil Erw. sie dazu missbrauchen und regelrecht anlernen, um, wie sie glauben, deren Schuldunfähigkeit zu nutzen (dazu § 1, 29). Die polizeilich registrierte Delinquenz von Kindern ist vom Ende der achtziger Jahre bis 1998 gestiegen und dann wieder zurückgegangen78. Es handelt sich nach wie vor ganz überwiegend um episodenhafte leichte Delikte aus den Bereichen Diebstahl und Sachbeschädigung79; Gewaltdelikte sind selten80. Der größte Teil der mit einem Delikt auffällig werdenden Kinder wird nur einmal polizeilich 21 registriert; nur wenige begehen eine große Zahl von Delikten81. Ein genereller Zusammenhang zwischen Kinderdelinquenz und Straffälligkeit im JAlter besteht nicht82. Massive Delinquenz im Kindesalter kann jedoch kriminalprognostisch bedenklich sein83, insbes. wenn sie mit weiteren sozialen Belastungsmerkmalen zusammentrifft. Kerner84 weist darauf hin, dass gerade (spätere) Mehrfachtäter schon zwischen 8 und 11 Jahren mitunter hohe Delinquenzwerte zeigen, prognos-

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Schaffstein aaO; DHL/Dölling § 12 Rn 4. Siehe DVJJ, Hrsg., Erstkriminalität u. Frühkriminalität, 1966. Feest in Kaiser/Kerner/Sack/Schellhoss S. 211. Walter/Remschmidt/Höhner FS Stutte, 1979, S. 127, 138. Kaiser S. 267. BKA, Hrsg., Polizeiliche Kriminalstatistik 2009, S. 75; 2019, S. 31; zur eingeschränkten Aussagekraft der Statistik Neubacher ZRP 98, 122. 79 Elsner/Steffen/Stern Kinder- u. JKriminalität in München, 1998, S. 180. 80 Traulsen DVJJ-J 97, 48. Zu Delinquenz von Kindern an Grundschulen s. Pongratz Zum Umgang mit kindlichen Auffälligkeiten, 2000. 81 Kaiser S. 267; Thomas ZRP 98, 193 f; zu kindlichen Mehrfachtätern s. Deutsches Jugendinstitut, Hrsg., Der Mythos der Monsterkids, 1999. 82 Walter/Remschmidt/Höhner aaO, S. 139; Remschmidt/Walter ZJJ 13, 48; Pongratz/Jürgensen Kinderdelinquenz u. kriminelle Karrieren, 1990, S. 175; Traulsen Delinquente Kinder u. ihre Legalbew., 1976. 83 Traulsen NJW 74, 598 f. 84 BewH 89, 203. 9

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tisch bedeutsam scheine aber allenfalls die Kombination von Häufigkeit und Schwere sowie das Anhängigwerden bei mehreren Behörden zu sein (vgl. auch Rn 41 f)85.

9. Pubertät 22 Die Pubertätszeit ist für J eine Phase innerer Umwälzungen mit erheblichen seelischen Konflikten. Dazu bringt die sich ständig wandelnde Gesellschaft für den jungen Menschen eine gefährliche Statusunsicherheit mit sich; er lebt in einer Übergangsphase zwischen Kindheit und Erwachsensein, in der er zahlreiche Entwicklungsaufgaben zu bewältigen hat. Bei der überwiegenden Mehrzahl der jungen Delinquenten handelt es sich um Entwicklungstäter, deren „Kriminalität im Rahmen der Persönlichkeitsreifung86 mit dem Auslaufen der schwierigen und konfliktreichen Lebensphase der Jugend abklingt. Einzelne Delikte können auf spezifischen psychischen Konflikten beruhen. So können schwelende Selbstwertkonflikte aufgrund wirklicher oder eingebildeter körperlicher Missbildungen oder Unterbegabung87 sich in dieser schwierigen Lebensphase in kriminellen Handlungen entladen. Der Konflikt zwischen dem Drang nach Selbstentfaltung und den Begrenzungen durch die Umwelt erzeugt mannigfache Symptome der Unsicherheit und Überkompensation. Als Reaktion auf mangelnde Beachtung, soziale Kränkung, Unterdrückung oder fehlende Anerkennung kann es zu Symboltaten, z.B. in Form von Diebstählen oder Brandstiftungen, kommen88. Die Auseinandersetzung des jungen Menschen mit seiner Sexualität kann sich in Delikten niederschlagen. Überstark einsetzender Geschlechtstrieb kann zu entsprechenden Straftaten führen. Zum Sozialisationsprozess gehört auch die Bildung von Gewissen und Werthaltungen89. Wertorientierungen und Delinquenz stehen in einem engen Zusammenhang90. In einer Zeit, in der viele Menschen ein Höchstmaß an Selbstbestimmung und Selbstentwicklung beanspruchen und überkommene handlungsbegrenzende Normen als weniger selbstverständlich empfunden werden, ist es für junge Menschen nicht einfach, Verhaltensstile zu entwickeln, in denen sich Autonomie und Konformität in sozial akzeptabler Weise miteinander verbinden. Sich abschwächende Bindungen an Familie und Nachbarschaft und Anonymität und Mobilität des modernen Lebensstils dürften als integrationsgefährdende Faktoren hinzukommen91.

10. Familie und Erziehung 23 Die Familie, die sich im Zeitalter der Industrialisierung von der Groß- zur Kleinfamilie entwickelt hat, nimmt im Sozialisationsprozess eine Schlüsselstellung ein. Sie prägt grundlegend die Einstellungen und Verhaltensweisen der Kinder. Mit Störungen belastete Familien können zu einer

85 Zur Prävention von Kinderdelinquenz s. Thomas ZRP 98, 194 ff; Schäfer DVJJ-J 00, 134. Allg. zur Kinderkriminalität Müller/Peter, Hrsg., Kinderkriminalität, 1998. Siehe auch die Beiträge zur Kinderdelinquenz in DVJJ-J 02, 143 ff u. ZJJ 12, 352 ff; zu einem ambulanten Hilfsangebot für strafunmündige Mehrfachtäter s. Burgthaler DVJJ-J 02, 454. 86 Bock in Göppinger S. 309 ff. 87 Stutte MKrim. 57, 71. 88 Zulliger Über symbolische Diebstähle von Kindern u. J, 1960. 89 Gilen Das Gewissen bei Fünfzehnjährigen, 1965; Hupperschwiller Gewissen u. Gewissensbildung in jkriminologischer Sicht, 1970; Rauchfleisch Praxis der Kinderpsychologie u. Kinderpsychiatrie 80, 271; Wiesnet/Gareis Schuld u. Gewissen bei j Rechtsbrechern, 1976. 90 Hermann Werte und Kriminalität, 2003. 91 Dölling in Rössner, Hrsg., Toleranz – Erziehung – Strafe, 1989, S. 15 f mwN. 10

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Hauptquelle sozial abweichenden Verhaltens J werden92. Überwiegend wachsen die Kinder und J in Deutschland jedoch in verhältnismäßig stabilen Familien auf93. ErzFehler der Eltern beeinträchtigen den Sozialisationsprozess und können mit verursa- 24 chen, dass J später das Grundvertrauen abgeht und sie sich zu einem Leben in sozialer Verantwortung unfähig erweisen. Als erz. ungünstig und delinquenzfördernd werden insbes. angesehen mangelnde Zuwendung und Vernachlässigung, ein überstrenger autoritärer ErzStil, eine gleichgültige Laissez-faire-Haltung, ein übermäßig behütender ErzStil und inkonsistentes ErzVerhalten94. Gewaltsame Erziehung und spätere Delinquenz der Kinder stehen in einem Zusammenhang95. Es kommt darauf an, in liebevoller Zuwendung die richtige Mischung zwischen Verstehen und Entgegnen zu finden. Unterforderung ist dabei nicht besser als Überforderung, auch Mut zu „unbequemer Erz.“96 ist gefordert. Ungünstig können sich auch Straffälligkeit sowie Alkohol- und Drogenmissbrauch der El- 25 tern, verwahrloste häusliche Verhältnisse, ständige Konflikte zwischen Vater und Mutter und Vernachlässigung der Arbeit und sonstiger sozialer Pflichten durch die Eltern auswirken. Junge Mehrfachauffällige kommen häufig aus Multiproblemfamilien, in denen sich derartige Belastungsmerkmale häufen97.

11. Rollenfixierung Zu Recht hebt Schüler-Springorum98 die überragende Bedeutung der sozialen Rolle für die Ent- 26 wicklung des Kindes und J sowie die Rollenverteilung innerhalb der Familie und anderer Bezugsgruppen hervor. Gerade J neigen dazu, eine rasch bis zur Stigmatisierung fortschreitende Rollenerwartung zu erfüllen. Im Umgang mit jungen Tätern muss deshalb sorgfältig darauf geachtet werden, dass nicht die Übernahme delinquenter Rollen durch die J gefördert wird. Versteht sich der Täter als „Krimineller“, kann dies zur Rückkehr ins kriminogene Milieu und zur Verfestigung der Kriminalität trotz aller Hilfen beitragen99. Alle, die mit J arbeiten, sollten sich der Gefahren einer Stigmatisierung, auf die der labeling approach (Rn 7) hingewiesen hat, bewusst sein und diesen Gefahren entgegenwirken. Nach Herz100 werden durch das JStrafrecht traditionelle geschlechtsspezifische Rollenklischees gefestigt.

12. Schule Die Schule, das Zwischenmilieu des Übergangs von der Familie zum Beruf, ist eine neue Um- 27 weltsphäre, mit der sich der junge Mensch auseinandersetzen muss und der für seine weitere Entwicklung erhebliche Bedeutung zukommt. Bei Rückfalltätern sind wesentlich häufiger als im Bevölkerungsdurchschnitt Störungen im schulischen Bereich wie Schwänzen, schlechte Leis-

92 Eingehend zur Familie als primärer Sozialisationsinstanz Schwind/Schwind § 10 Rn 1 ff. 93 Siehe Bruhns in DVJJ-BW, Hrsg., Entwicklungen u. Perspektiven der JStrafrechtspflege, 2000, S. 7 ff; Nave-Herz in Beinroth, Hrsg., Familie u. JHilfe, 1998, S. 15 ff; Reinecke ua NK 13, 223 ff; vgl. auch Bohrhardt Ist wirklich die Familie schuld? 1999. 94 Schwind/Schwind § 10 Rn 35 ff; Raithel NK 02, 62. 95 Bentrup MKrim. 20, 97, 113 f. 96 Schwind ZRP 81, 279. 97 Bock in Göppinger S. 342 f; zu familiärer Gewalt als Auslöser von J- u. ErwGewalt H.-J. Albrecht RdJ 08, 126. 98 MKrim. 69, 7. 99 Schüler-Springorum aaO. 100 KrimJ 94, 307. 11

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tungen, Sitzenbleiben und vorzeitiger Abgang von der Schule festgestellt worden101. Erhebliche Defizite im Schulablauf können daher als Indikator für eine kriminelle Gefährdung angesehen werden, dürfen aber nicht einfach als Delinquenzursache interpretiert werden, sondern stellen meist Symptome eines umfassenden Fehlanpassungs-Syndroms dar, das zu einem erheblichen Teil in Defiziten in der Herkunftsfamilie wurzelt102. Auf nicht diagnostizierte oder nicht richtig therapierte Legasthenie als mögliche Mitursache für kriminelle Verhaltensweisen hat Weinschenk103 hingewiesen. Auf schulische Misserfolge darf nicht in herabsetzender Weise reagiert werden, denn hierdurch würden die im Leistungsbereich bestehenden Probleme des J verschärft. Vielmehr bedarf es stützender und fördernder Maßnahmen, um den Weg zu schulischen Erfolgen zu eröffnen und damit auch einen Beitrag zur Delinquenzprophylaxe zu leisten104. Zu Gewalt in der Schule u. Vandalismus Rn 37, 38. Zu gegenseitigen Mitteilungspflichten zwischen Schule, JStA u. JRichter § 70, 1, 6–8; § 109, 1; zur Beurteilung von Kindern u. J durch Lehrer im JSchutzverfahren Anh. § 125, 22105.

13. Beruf 28 Zu den wichtigsten Aufgaben der Jugendphase gehören das Erlernen eines Berufs und das Hineinwachsen in das Berufsleben. Der Beruf sichert nicht nur die materielle Existenz, sondern schafft auch Bindungen an konventionelle Aktivitäten, die sich delinquenzhemmend auswirken können106. Die Konfrontation mit der Erwachsenenwelt des Berufslebens ist für junge Menschen freilich häufig nicht einfach zu bewältigen. Nichtantritt oder Abbruch einer Ausbildung, häufiger Arbeitsstellenwechsel, Ausübung von Berufen mit niedrigem sozialen Status, berufliches Desinteresse und Arbeitslosigkeit werden bei Rückfalltätern häufiger festgestellt als bei Vergleichspersonen und stellen daher ebenso wie schulische Defizite (Rn 27) einen Indikator für kriminelle Gefährdung dar107. Aus kriminalpräventiver Sicht ist daher die Förderung von Ausbildung und beruflicher Tätigkeit angezeigt, wobei auch Belastbarkeit und Frustrationstoleranz gestärkt werden müssen, um den jungen Menschen in die Lage zu versetzen, die im Arbeitsleben unvermeidlich auftretenden Schwierigkeiten zu bewältigen.

14. Freizeit 29 Wie der junge Mensch seine Freizeit personell (Familie, Freunde, wechselnde Bekannte), institutionell (Vereine, Verbände), örtlich (Wohnung, Lokale) und sachlich (Sport, Lesen, Internet, Film, Hobby) gestaltet, kann wichtige kriminologische Aufschlüsse geben108. Die Freizeit ist ein Frühwarnbereich für eine beginnende Hinentwicklung zur Kriminalität. Nach den Befunden Göppingers dehnten die Straffälligen die Freizeit zunächst auf Kosten des Schlafs und

101 Schöch in Kaiser/Kerner/Sack/Schellhoss S. 458; zum Schulabsentismus s. Ricking ZJJ 17, 263; zum Zusammenhang zwischen Schulabsentismus u. Delinquenz Mau/Messer/vom Schemm NK 07, 122; Beckmann/Bergmann ZJJ 17, 347. 102 Schöch aaO, S. 459. 103 MKrim. 67, 308; 70, 13 u. 382. 104 Zur Zusammenarbeit zwischen Schule u. JHilfe s. die Beiträge in ZJJ 05, 120 ff; zum Schulschwänzen vgl. Buck DRiZ 13, 134; Mollik ZJJ 16, 168; Reissner ua FPPK 17, 133; Ricking ZJJ 17, 263 sowie die Beiträge in RdJ 12, 20 ff u. UJ 16, 146 ff. 105 Zur Verletzung der Schulpflicht durch die ErzBerechtigten als Straftat oder Ordnungswidrigkeit Rinio Zbl. 01, 221. 106 Vgl. zu den Bindungstheorien Hermann Handb. d. For. Psychiatrie Bd. 4, 2009, S. 303 ff. 107 Bock in Göppinger S. 274 ff. 108 Wüstendörfer/Toman/Lösel MKrim. 76, 133. 12

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dann auf Kosten des Leistungsbereichs aus. Ihre Freizeittätigkeiten waren durch inhaltlich nicht vorhersehbare völlig offene Abläufe gekennzeichnet, oft verbunden mit einer Bereitschaft zu exzessiven Handlungen wie übermäßigem Alkoholkonsum, unkontrollierten Geldausgaben oder auch gewalttätigen Auseinandersetzungen109. Bei J, die nur während einer Entwicklungsphase vorübergehend delinquent waren, zeigten sich zwar auch Auffälligkeiten in der Freizeitgestaltung, die Freizeit wurde jedoch zumeist nicht zu Lasten des Leistungsbereichs ausgeweitet110. Zwischen riskantem Freizeitverhalten (Ausgehen und Alkoholkonsum mit der Clique) und Delinquenz besteht ein deutlicher Zusammenhang111. Angesichts der Verlockungen eines umfangreichen konsumorientierten Freizeitangebots, dessen Wahrnehmung erhebliche Geldmittel erfordert, der Suche nach immer mehr Aufregung und Spannung in der Freizeit, die zu äußerst riskanten und illegalen Aktivitäten führen kann („S-Bahn-Surfing“, „Joy-riding“) und der Möglichkeit, dass Langeweile in deliktisches Handeln umschlägt, kommt es darauf an, bedürfnisgerechte Freizeitangebote für J zu entwickeln und sie zur sinnvollen Freizeitgestaltung zu motivieren und zu befähigen112.

15. Massenmedien Die Inanspruchnahme insbes. audiovisueller Massenmedien (Rundfunk, Fernsehen, Kino, Inter- 30 net) spielt im Leben Jugendlicher eine große Rolle. Es wird bereits über die Medien als „dritter Elternteil“ diskutiert113. Ob die zahlreichen massenmedialen Gewaltdarstellungen Aggressivität und Kriminalität fördern, ist umstritten. Nach der Katharsis-Hypothese hat die Betrachtung von Gewaltdarstellungen eine Ersatz- und Ventilfunktion, die sich aggressionsmindernd auswirkt; nach der Inhibitionshypothese löst das Ansehen gewaltsamer Handlungen Aggressionsangst aus und hemmt auf diese Weise aggressives Verhalten. Demgegenüber regen nach der Stimulationshypothese Gewaltdarstellungen zur Nachahmung an und führen sie nach der Habitualisierungshypothese zu Abstumpfung und Gewöhnung114. Die empirischen Befunde sind nicht einheitlich. Die Medienwirkung darf nicht isoliert betrachtet werden, sondern hängt von Persönlichkeit und Umfeld des Konsumenten und den sonstigen auf ihn einwirkenden Faktoren ab. Bei J kommt dem ErzVerhalten der Eltern und den Möglichkeiten zur Verarbeitung des Gesehenen wesentliche Bedeutung zu. Der gegenwärtige Forschungsstand deutet darauf hin, dass massenmediale Gewaltdarstellungen wahrscheinlich langfristig Einstellungen prägen und unter bestimmten Randbedingungen prädisponierte Personen kurzfristig zu Nachahmungskriminalität reizen können115. Wegen des Einflusses der Massenmedien auf den Sozialisationsprozess hat neben der Medienkontrolle116 die Erz. der J zu einem kritischen Umgang mit den Medien zentrale Bedeutung117.

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Bock in Göppinger S. 278 f. AaO, S. 310. Walburg MKrim. 18, 31. Schwind/Schwind § 13 Rn 32 ff. Schwind/Schwind § 14 Rn 14. Kaiser S. 379; DHL/Hermann § 17 Rn 3 ff. Vgl. Kaiser/Kinzig in Kaiser/Schöch/Kinzig S. 61 f; Brunner JR 97, 120; Groebel DVJJ-J 98, 46; Raithel MKrim. 03, 287; die Beiträge in UJ 03, 145 ff; Mößle/Kleimann/Rehbein/Pfeiffer ZJJ 06, 295; Streng ZJJ 07, 198; Kanz Medienkonsum u. Delinquenz, 2014; Hirtenlehner/Strohmeier MKrim. 15, 444; Hermann FS Streng, 2017, S. 465; DHL/Hermann § 17 Rn 20 ff. 116 Dazu Schwind/Schwind § 14 Rn 48 ff. 117 Zum Einfluss des suchtartigen Konsums von Horrorvideos auf Strafmündigkeit u. Schuldfähigkeit LG Passau NJW 97, 1165 = JR 97, 118 mit Anm. Brunner sowie § 3, 18. 13

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16. Wohlstand und Arbeitslosigkeit 31 Der Anstieg der Eigentumskriminalität nach dem Zweiten Weltkrieg trotz lang dauernden wirtschaftlichen Aufschwungs hat zum Begriff der Wohlstandskriminalität geführt118. Junge Täter sind an der gestiegenen Eigentumskriminalität in einem hohen Maß beteiligt. Als Gründe für die Wohlstandskriminalität werden genannt: Zunahme der Tatgelegenheiten infolge massenweise vorhandener und verhältnismäßig leicht zugänglicher Güter, geringere Wertschätzung des Eigentums angesichts der Vielzahl und Ersetzbarkeit der Güter, Steigerung der Ansprüche, die mit legalen Mitteln nicht erfüllt werden können, eine materialistische Einstellung der Gesellschaft, die den zwischenmenschlichen Zusammenhalt schwächt, und die Verstädterung, die zu einem Absinken der informellen Sozialkontrolle führt119. Gerade auf junge Menschen dürften raffinierte Werbemethoden einen nicht unerheblichen Einfluss ausüben und dürfte es wegen der geringer als bei Erw. ausgeprägten Selbstkontrolle schneller zur Wegnahme von Gütern kommen, auf die insbes. in Warenhäusern unmittelbar zugegriffen werden kann. Hinzu kommt, dass Diebstahlshandlungen für junge Täter auch mit Abenteuerlust, Selbstbestätigung und Status in der Gleichaltrigengruppe verbunden sein können. Außerdem kann die Beobachtung, dass vielfach Straftaten im Wirtschafts- und Geschäftsleben von Erw. als „Kavaliersdelikte“120 heruntergespielt werden, Jugendlichen die Relativierung ihrer Taten durch Neutralisierungstechniken121 erleichtern. Weiterhin wird darauf hingewiesen, dass es in einer materialistisch orientierten Gesellschaft an Möglichkeiten für die J zur Selbsterfahrung, Bewährung und Übernahme von Verantwortung fehlt122. Der bes. Aufmerksamkeit bedürfen die J, die sozial-ökonomisch randständige Positionen einnehmen und bei denen sich die Frage nach der Notkriminalität in der Wohlstandsgesellschaft stellt. Pfeiffer/Ohlemacher123 nehmen einen Zusammenhang zwischen Zahl der Sozialhilfeempfänger und Kriminalität an124. Die Beziehung zwischen JArbeitslosigkeit und JKriminalität muss differenziert beurteilt 32 werden125. Während Exner126 bezogen auf die Zeit von 1926 bis 1938 von einem unmittelbaren Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Diebstahlskriminalität gesprochen hat, lässt sich ein genereller Zusammenhang zwischen Arbeitslosenquote und Kriminalitätsrate für die neuere Zeit nicht mehr sichern127. Dies kann an den sozialen Sicherungssystemen liegen, die Notkriminalität auch in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit weniger wahrscheinlich machen. Außerdem könnten solche Situationen kriminalitätsreduzierend wirken, weil in wirtschaftlichen Rezessionen eine Straftat den Arbeitsplatz eher gefährdet und vorbestrafte Arbeitslose schwerer einen neuen Arbeitsplatz finden dürften128. Andererseits sind insbes. unter den j. und hw. polizeilich registrierten Tatverdächtigen und Verurteilten Arbeitslose überrepräsentiert129. Arbeitslosigkeit trifft häufig mit anderen Integrationsmängeln zusammen, sodass schwierig zu beurteilen ist, ob Arbeitslosigkeit zu Kriminalität führt oder Kriminalität zu Arbeitslosigkeit oder ob beide durch Sozialisationsmängel verursacht werden130. Auf einen Wechselwirkungszusammenhang weist H.-J. Albrecht131 hin: Arbeitslosigkeit sei zwar nicht direkt ursächlich an der Kriminalitätsentste118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129 130 131

Schneider Kriminologie, 1987, S. 253. Kaiser S. 226 ff; Schneider aaO, S. 254 f. Helfer MKrim. 67, 175. Egg/Sponsel MKrim. 78, 38. Hellmer MKrim. 63, 109; Schaffstein MKrim. 65, 66; Beulke/Swoboda Rn 49. In Lamnek, Hrsg., Jugend u. Gewalt 1995, S. 259. Krit. zu einem Zusammenhang zwischen Armut und Kriminalität jedoch Kaiser S. 225. Vgl. Dessecker, Hrsg., JArbeitslosigkeit u. Kriminalität, 2006. Kriminologie, 3. Aufl. 1949, S. 88 f. Kaiser S. 225 f. Steinhilper/Wilhelm-Reiss in Schwind/Berckhauer/Steinhilper, Hrsg., Präventive Kriminalpolitik, 1980, S. 349. Spieß in Kaiser/Kerner/Sack/Schellhoss S. 35 f. Kaiser S. 226. BewH 88, 133 u. KrimJ 84, 218. 14

I. Jugendkriminologische Aspekte

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hung beteiligt, verstärke aber vorhandene Defizite im sozialen Bereich und erhöhe damit das schon vor der Arbeitslosigkeit vorhandene Risiko einer Straftat. Umgekehrt trage kriminelle Auffälligkeit zu einer Verstärkung der sonstigen sozialen Defizite und Probleme, darunter auch der Arbeitslosigkeit, bei. Arbeitslosigkeit verhindere aber idR den Ausreifungsprozess nicht. Die Bedeutung von Arbeitslosigkeit dürfte daher nicht in einer unmittelbaren Verursachung von Straffälligkeit, sondern in der Verstärkung von Integrationsdefiziten zu sehen sein, die mit einem erhöhten Delinquenzrisiko verbunden sind132. Als kriminalitätsgefährdend wird insbes. früh einsetzende und längerfristige Arbeitslosigkeit angesehen, vor allem bei arbeitslosen Schulabgängern133. Die Blockade der Integration in die durch das Berufsleben geprägte Erwachsenenwelt, ein Gefühl, von der Gesellschaft nicht gebraucht zu werden, mit zunehmender Perspektivlosigkeit sinkende Leistungsmotivation oder auch Langeweile könnten die Wahrscheinlichkeit von Delinquenz erhöhen. In einer Untersuchung von Schumann134 ergab sich jedoch kein Zusammenhang zwischen Arbeitsbiografie und Delinquenz. Berufsschulen und Arbeitsämter bieten arbeitslosen J Maßnahmen zur Verbesserung 33 von schulischer und beruflicher Qualifikation, damit auch zur Erhöhung der Chancen auf dem Arbeitsmarkt, an. Solche Maßnahmen müssen mit sozialpädagogischen Programmen kombiniert werden, um auch die J zu erreichen, die mit vermindertem Selbstbewusstsein, sozialer Isolation und Resignation belastet oder auch in die Drogenszene, in Verwahrlosung und Kriminalität abgeglitten sind135. Diese Möglichkeiten müssen im Rahmen von ambulanten Sanktionen, BewHilfe und Vollzug genutzt werden. Soweit junge Täter in Ausbildung und Beruf integriert sind, sollte dies durch die jstrafrechtlichen Reaktionen möglichst nicht gefährdet werden.

17. Eigentums- und Vermögenkriminalität Die Delinquenz junger Menschen besteht zum größten Teil in Eigentums- und Vermögensdelik- 34 ten. Weit verbreitet sind einfache Diebstähle, insbes. Ladendiebstähle. Diese dienen teilweise als Mutprobe zum Erwerb von Anerkennung in der Gleichaltrigengruppe136. Einen verhältnismäßig hohen Anteil haben junge Täter am schweren Diebstahl137, wobei häufig Beschädigungen verursacht werden, die mit der eigentlichen Einbruchshandlung nicht im Zusammenhang stehen. Diebstähle junger Menschen betreffen häufig Fahrzeuge138. Ein häufiges Delikt junger Menschen ist auch die Beförderungserschleichung. Komplexe Vermögensdelikte junger Täter sind dagegen selten.

18. Gewaltdelikte Über den Begriff der Gewaltkriminalität besteht keine Einigkeit. Teilweise wird er auf aggressive 35 Delikte beschränkt, die sich – wenigstens mittelbar – gegen eine Person richten139, teilweise wird zu Recht auch Gewalt gegen Sachen einbezogen140. Nach beiden Definitionen sind J und

132 133 134 135 136 137 138 139 140 15

Spieß aaO, S. 37. Spieß aaO, S. 36. MKrim 04, 222. Steinhilper/Wilhelm-Reiss (FN 128), S. 357 ff. Lempp Gerichtliche Kinder- und JPsychiatrie, 1983, S. 310. Zu Wohnungseinbruchsdiebstählen durch j. u. hw. Täter s. Dreißigacker/Wollinger ZJJ 17, 138. Dölling Internat. Handb. d. Kriminologie Bd. 1, 2007, S. 481. Kürzinger in Kaiser/Kerner/Sack/Schellhoss S. 171. Schneider Kriminologie der Gewalt, 1994, S. 13 f.

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Hw. bei Gewaltdelikten überrepräsentiert141. Andererseits werden junge Menschen überproportional häufig Opfer von Gewalttaten142. Gewaltdelikte werden im Vergleich zu Eigentums- und Vermögensdelikten seltener begangen, können aber im Einzelfall bes. gravierende Folgen haben und werden von der Bevölkerung als bes. bedrohlich empfunden143. 36 Die Erscheinungsformen der Gewaltkriminalität sind vielfältig. Bei J und Hw. spielen vor allem Körperverletzung und Straßenraub eine Rolle. Zur Erklärung für Gewaltdelikte werden heute gegenüber psychoanalytisch oder verhaltensbiologisch begründeten Theorien von einem angeborenen Aggressionstrieb Lerntheorien bevorzugt, die aggressives Verhalten auf Lernprozesse ua in der Familie zurückführen144. Als Teilstück einer multikausalen Aggressionstheorie auf lerntheoretischer Basis wird auch die Frustations-Aggressions-Hypothese angesehen, die einen Zusammenhang zwischen Enttäuschungserlebnissen und gewalttätigem Verhalten annimmt145. Eine Theorie, die alle Gewaltphänomene befriedigend erklärt, ist nicht ersichtlich. Bei Erklärungsversuchen wird daher nach den verschiedenen Erscheinungsformen der Gewaltdelinquenz zu differenzieren sein146. Die registrierte Gewaltkriminalität ist in der Bundesrepublik bis vor etwa 15 Jahren gestiegen, was vor allem auf der starken Zunahme bei gefährlicher und schwerer Körperverletzung beruhte147. Diese Zunahme dürfte zu einem erheblichen Teil auf eine gestiegene Anzeigebereitschaft zurückzuführen sein (Rn 13). Außerdem wurde darauf hingewiesen, dass einschneidende soziale Wandlungsprozesse ua in Familie und Arbeitswelt zu Belastungssituationen geführt haben, die teilweise nicht konfliktfrei verarbeitet werden konnten, sondern sich in Frustration und Orientierungslosigkeit niedergeschlagen und damit die Wahrscheinlichkeit von Gewaltdelinquenz erhöht haben148. Seit 2007 ist ein deutlicher Rückgang der registrierten JGewalt zu verzeichnen149. Schwere Gewalttaten j. Menschen sind weiterhin ein Ausnahmetatbestand150. Erhebliche Aufmerksamkeit hat der Bereich der Gewalt in der Schule gefunden. Nach vor37 liegenden Untersuchungen, die einer sorgfältigen Interpretation bedürfen151, sind Gewalttätigkeiten zwischen Schülern nicht auf breiter Front, sondern in bestimmten Schulen zu verzeichnen, insbes. in großen Schulen mit „schlechtem“ Schulklima und in bestimmten Hauptschulen, wobei wahrscheinlich problembelastete Einzugsgebiete eine Rolle spielen152. Der „harte Kern“ gewaltorientierter Schüler wird auf 3–10 % der Schüler veranschlagt; bei ihm werden in erhöhtem Maße Schulleistungsprobleme festgestellt153. Nach einer in Bochum durchgeführten Befra141 Schneider aaO, S. 29. 142 BKA, Hrsg., Polizeiliche Kriminalstatistik 2009, S. 58; 2019, S. 14, 19. Zu jugendlichen Opfern u. Tätern von Gewaltdelikten s. Mansel Angst vor Gewalt, 2001. 143 Kaiser S. 367. 144 Zu den Entstehungsbedingungen von Gewalt s. Biedermann/Plaum Aggressive Jugendliche, 1999, S. 9 ff; Schubarth Gewaltprävention in Schule u. JHilfe, 2000, S. 13 ff; zur Psychologie j. Gewalttäter Füllgrabe Kriminalistik 04, 243; zur Biografie von Gewalttätern u. dem Erleben von Gewalt in der Herkunftsfamilie s. Böttger Gewalt u. Biographie, 1998; ders. DVJJ-J 98, 224; Bannenberg/Rössner DVJJ-J 00, 121; zum Zusammenhang zwischen Erfahrungen der Missachtung und Gewaltdelinquenz Sitzer Jugendliche Gewalttäter, 2009. 145 Kaiser S. 374. Zur Bedeutung von Gleichaltrigengruppen Wetzels/Enzmann DVJJ-J 99, 116; zur Wirkung der Massenmedien Rn 30. 146 Kaiser S. 375. 147 Heinz Handb. d. For. Psychiatrie Bd. 4, 2009, S. 45 ff. 148 Kaiser S. 376 f; Schneider (FN 140), S. 28. Zu Amokläufen s. Bannenberg Amok, 2010; vgl. auch Lempp Nebenrealitäten, 2009. Zu Gewaltdelikten von Mädchen s. Neumaier Die Ursachen des Anstiegs der Gewaltkriminalität von Mädchen, 2011. 149 Baier/Kliem ZJJ 19, 104. 150 H.-J. Albrecht MKrim. 98, 393; Skepenat J u. Hw. als Tatverdächtige u. Opfer von Gewalt, 2000, S. 282. 151 Vgl. die methodologische Kritik bei H.-J. Albrecht MKrim. 98, 394 ff. 152 Vgl. Biedermann/Plaum (FN 144), S. 59 ff; Schubarth (FN 144), S. 66 ff; ders. RdJ 99, 372; Schwind/Schwind § 11 Rn 25; Funk, Hrsg., Nürnberger Schüler Studie 1994: Gewalt an Schulen, 1995; Schwind/Roitsch/Ahlborn/Gielen Gewalt in der Schule, 1995; die Beiträge von Schwind ua in Lamnek, Hrsg., Jugend u. Gewalt, 1995, S. 99 ff; Böttger DVJJ-J 96, 126; Traulsen ZJJ 03, 250. 153 Schwind/Schwind § 11 Rn 25, 27. 16

I. Jugendkriminologische Aspekte

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gung sind verbale Aggressionen in fast allen Schulen weit verbreitet und fürchten sich über 30 % der Schüler auf dem Schulweg oder Pausenhof154. Entstehungsbedingungen für Gewalt in der Schule werden ua in ErzProblemen in der Herkunftsfamilie und deren sozialen Belastungen (z.B. durch Arbeitslosigkeit und beengte Wohnsituation), in großen und unübersichtlichen Schuleinheiten und in fehlendem Gemeinschaftsgefühl in der Schule gesehen155. Die Vorschläge der Gewaltkommission zur Prävention von Gewalt in der Schule156 sind anscheinend bisher nur in geringem Maß umgesetzt worden157. Vandalismus im Sinn einer als sinn- und zwecklos erscheinenden Zerstörung oder Beschä- 38 digung von Sachen ist sowohl innerhalb als auch außerhalb der Schule festzustellen. Die Taten werden meistens von jungen Tätern in Gruppen begangen158. Als Tatobjekte kommen ua neben Einrichtungsgegenständen und Lehrmaterialien von Schulen, Verkehrszeichen, Straßenlaternen, Bänke und Parkanlagen, also vor allem Gemeinschaftseinrichtungen, in Betracht. Die Gesamtheit der durch Vandalismus verursachten Schäden wird als sehr hoch veranschlagt159. Bes. gefährdet sind ungepflegte und verwahrloste Gebäude, Objekte mit nicht beseitigten Vorbeschädigungen und weniger überwachte und schlecht einsehbare Einrichtungen160. Vandalismus von J und Hw. wird mit Abreaktion von Wut und Ärger, Suche nach Abwechslung, Spannung und Vermeidung von Langeweile, Erhöhung des Selbstwertgefühls und Kompensation von Defiziten in anderen Bereichen durch Gewaltanwendung, Statusgewinn in der Gleichaltrigengruppe und Festigung des Gruppenzusammenhalts in Zusammenhang gebracht161. Zu rechnen ist auch mit Nachahmungstätern. Das gilt auch für Graffiti-Sprüher, die zum Teil stolz ihr Kennzeichen beifügen, wobei Presseberichte, die nur Kunst, aber nicht den Schaden sehen, als Verstärker wirken können162.

19. Sexualstraftaten Sexualdelikte haben einen geringen Anteil an der Delinquenz junger Menschen. Bei Sexualstraf- 39 taten Jugendlicher kann es sich um puberales Suchverhalten junger Menschen mit Schwierigkeiten im Aufbau sexueller Beziehungen zu gleichaltrigen Partnerinnen handeln, in Einzelfällen kann die Delinquenz Ausdruck einer fixierten sexuellen Fehlentwicklung sein163. Untersuchungen, die häufig psychiatrisch begutachtete Täter betrafen, ergaben bei jungen Sexualdelinquen-

154 Schwind/Schwind § 11 Rn 25, 26. 155 Schneider Kriminologie der Gewalt, 1994, S. 117 f; Schwind/Schwind § 11 Rn 27 ff; Schwind/Baumann, Hrsg., Ursachen, Prävention u. Kontrolle von Gewalt. Analysen u. Vorschläge der Unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt (Gewaltkommission), Bd. I, 1990, S. 255 f. 156 Schwind/Baumann aaO, S. 270 ff. 157 Schwind DVJJ-J 94, 116. Zur Eindämmung von Schülergewalt durch Maßnahmen der Schule Mühlig Die Kontrolle von Schülergewalt durch die Institution Schule, 2004. Zur Gewaltprävention s. auch Gropper/Zimmermann, Hrsg., Raus aus Gewaltkreisläufen, 2000; Hücker DVJJ-J 00, 73; Klees/Marz/Moning-Konter, Hrsg., Gewaltprävention. Praxismodell aus JHilfe u. Schule, 2003; Wolke/Walter RdJ 06, 493; Bannenberg/Rössner/Kempfer ZJJ 04, 159 (zum Präventionskonzept von Olweus); Hermann/Dölling ZJJ 10, 398 (zu Gewaltprävention durch Schulsozialarbeit). 158 Schneider Kriminologie der Gewalt, 1994, S. 144; Hirtenlehner ua ZJJ 19, 120, 124. 159 Kube/Schuster Vandalismus, 2. Aufl. 1983, S. 7, 15: Hirtenlehner ua aaO, 121. 160 Kube/Schuster aaO, S. 23; Schneider aaO, S. 145; Hirtenlehner ua aaO, 124. 161 Kube/Schuster aaO, S. 26 ff; Schneider aaO, S. 144 f; Schwind/Baumann (FN 155), S. 259 f.; Hirtenlehner ua aaO, 127 f. 162 Zu den Vorschlägen der Gewaltkommission zur Eindämmung von Vandalismus u. deren Verwirklichung vgl. Schwind/Baumann (FN 155), S. 275 ff; Schwind DVJJ-J 94, 117. 163 Lempp Gerichtliche Kinder und JPsychiatrie, 1983, S. 260 ff; Zusammenstellung der Befunde über junge Sexualstraftäter bei Quenzer Jugendliche u. hw. Sexualstraftäter, 2010, S. 63 ff. 17

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ten vielfach ein Aufwachsen unter belasteten Bedingungen, Entwicklungsverzögerungen und Kontaktstörungen164.

20. Straßenverkehrsdelikte 40 Bei einem erheblichen Teil der Delikte junger Menschen handelt es sich um Taten im Straßenverkehr. Während J vor allem wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis verurteilt werden, sind bei Hw. Verurteilungen wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort und Trunkenheit im Verkehr am häufigsten165. Bei fahrlässigen Tötungen und Körperverletzungen im Straßenverkehr wirken sich fehlende Verkehrsroutine und Risikofreude junger Menschen, teilweise gesteigert durch Alkohol- und Drogenkonsum, und gruppendynamische Prozesse, aus166. Straßenverkehrsdelikte junger Menschen werden vielfach episodenhaft sein, in häufiger Straßenverkehrsdelinquenz kann allerdings eine dissoziale Entwicklung zum Ausdruck kommen167.

21. Mehrfachtäter 41 Auf die relativ kleine Gruppe der Mehrfachtäter („Mehrfachauffällige, Intensivtäter“) entfällt ein großer Teil der JDelinquenz168. Im Dunkel- wie im Hellfeld begeht nur ein kleiner Teil der befragten bzw. erfassten Täter sowohl schwere als auch häufige Straftaten. Delinquenz ist überwiegend episodenhaft (vgl. Rn 5, 14 aE). Bei 73 % der registrierten männlichen J des Geburtsjahrganges 1967 blieb es bei einer Eintragung während des JAlters; 90 % wiesen nur eine oder zwei Registrierungen auf; 10 % hatten 3 und mehr Eintragungen, nur knapp 2 % fünf und mehr169. In NRW begingen 1983 5 % der j. „Intensivtäter“ 30 % aller Straftaten ihrer Altersgruppe und 5 % Hw. 32 %170. In München waren 10 % der J, die 1991 im Alter von 14 oder 15 Jahren als Tatverdächtige erfasst wurden, für 52 % der Straftaten verantwortlich, die von dieser Kohorte bis 1996 begangen wurden171. Die Struktur der Delikte der Mehrfachtäter entspricht etwa der ihrer Altersgruppe172. Eine ständige Steigerung der Deliktsschwere oder eine Spezialisierung konnte überwiegend nicht festgestellt werden173. Auch bei Mehrfachtätern läuft die kriminelle Karriere idR im Zuge des Älterwerdens aus174.

164 Deegener in Egg, Hrsg., Sexueller Missbrauch von Kindern – Täter und Opfer, 1999, S. 190 ff; Elz Sexuell deviante J u. Hw., 2003, S. 67 ff. Zur Behandlung sexuell gewalttätiger Kinder u. J s. Waschlewski ZJJ 11, 312. 165 MBH/Meier § 3 Rn 38. 166 Stephan in Lempp/Schütze/Köhnken, Hrsg., Forensische Psychiatrie u. Psychologie des Kindes- u. JAlters, 1999, S. 271. 167 Lempp Gerichtliche Kinder- u. JPsychiatrie, 1983, S. 316. 168 Dölling Zbl. 89, 313, 314; Kaiser in JStrafrecht an der Wende, S. 14 f; Kerner ebd. S. 111 ff; Steffen BewH 04, 62; Naplava BewH 06, 260; Reinecke ua NK 13, 213; Boers MKrim. 19, 9; krit. zum Begriff des Intensivtäters Walter RdJ 03, 272 ff. 169 Heinz/Spieß/Storz in Kaiser/Kury/H.-J. Albrecht, Hrsg., Kriminologische Forschung in den 80er Jahren, 1988, S. 650. 170 Kerner Kriminologische Gegenwartsfragen 17, 1986, S. 118 ff. 171 Elsner/Steffen/Stern Kinder u. JKriminalität in München, 1998, S. 187. 172 Kerner aaO, S. 122; näher zur Deliktsstruktur Traulsen DVJJ-J 99, 311. 173 Dölling Zbl. 89, 315; Boers MKrim. 19, 5 ff. 174 Dölling, Internat. Handb. d. Kriminologie Bd. 1, 2007, S. 485, vgl. auch die Beiträge zu j. Mehrfachtätern in DVJJ-BW, JKriminalität u. Reform des JStrafrechts, 2003, S. 1 ff u. in ZJJ 03, 152 ff sowie Stelly/Thomas ZJJ 06, 45; Boers/Herlth MKrim. 16, 101; Boers MKrim. 19, 3, 13 ff. 18

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Nach dem Mehrfaktorenansatz (vgl. Rn 17) wurden bei Mehrfachtätern ermittelt175: Defizite 42 und Belastungsmerkmale in der Herkunftsfamilie bei richtungsloser Erz. (dazu Rn 24, 25), häufiger Wechsel der ErzPersonen und Heimaufenthalte, unzulängliche Schul- und Berufsausbildung (Rn 27, 28), häufiger Wechsel der Arbeitsstelle (Rn 28) sowie ausgedehnte und außerhalb der Familie planlos verbrachte Freizeit (Rn 29). Die aktuelle Lebenssituation ist häufig gekennzeichnet durch Arbeitslosigkeit (Rn 32), Verschuldung, ungesicherten Lebensunterhalt, Alkoholismus und Drogengefährdung (Rn 65–72). An Persönlichkeitsmerkmalen wurden festgestellt: emotionale Labilität, Impulsivität, Risikoneigung, Aggressivität (Rn 36), Depressivität und ungünstiges Selbstbild (Rn 22)176. Göppinger177 schreibt Mehrfachtätern überwiegend eine „kontinuierliche Hinentwicklung zur Kriminalität mit Beginn in der frühen Jugend“ zu178. Vgl. auch Rn. 21 zur Kinderkriminalität. Bei den Sanktionen gegen Mehrfachtäter sind, wie stets, zu berücksichtigen die Persönlich- 43 keit des Täters und das Primat der Erz. (Rn 83–91), aber auch das Gewicht der Taten (Rn 96) und das Maß der Schuld (Rn 98–101). Bei jungen Mehrfachtätern ohne kriminelle Gefährdung, deren Straftaten sich „eben nur … als Realisierung eines allgemeinen Entwicklungsrisikos darstellen“, will Breymann179 höchstens positiv bestärken und auf „Spontanremissionen“ vertrauen, äußerstenfalls Schadenswiedergutmachung oder ähnliche Maßnahmen unter weitgehender Vermeidung von Justizkontakten vereinbaren. Man wird jedoch auf den Einzelfall abstellen und berücksichtigen müssen, dass auch geringere Taten je nach Persönlichkeitsstruktur bereits ernste Gefährdung anzeigen können (dazu Rn 7 mwN) und Verzicht auf jegliche Reaktion dann auch Schaden bringen kann. Gefährdeten Mehrfachtätern mit erheblichen kriminellen Serientaten muss nicht nur im Interesse des Rechtsgüterschutzes deutlich entgegengetreten werden, sondern gerade auch im Interesse des J, um zu versuchen, die kriminelle Karriere abzubrechen, weil sie die soziale Situation (vgl. Rn 42) des Täters zunehmend verschlechtert und, auch bei der Hoffnung auf spätere Abflachung, seine Entfaltungschancen beeinträchtigt180. Teilweise wird angeregt, auch bei Mehrfachtätern im Wege der Diversion zu reagieren, weil 44 mit der Zahl der Auffälligkeiten nicht notwendig auch die Gefährlichkeit wachse181. Es gehe darum, die jungen Täter aus den Anstalten herauszuhalten. Dies kann bei sorgfältiger Persönlichkeitsermittlung ein Erfolg versprechender Weg sein. Die von Heinz/Hügel182 ermittelte Rückfallquote von über 65 % bei den vorbelasteten Tätern auch nach informeller Erledigung legt allerdings weitere Überlegungen nahe. Keineswegs ist immer ein extensiver Gebrauch von Di-

175 Zusammenfassend Dölling Zbl. 89, 315; Meier RdJ 08, 424 ff; Bliesener BewH 10, 361 ff; Hausam/Seewald/Mannert/Dahle FPPK 20, 67.

176 Siehe Lay/Ihle/Esser/Schmidt MKrim. 01, 119; Matt/Rother MKrim. 01, 472. 177 Der Täter in seinen sozialen Bezügen, 1983, S. 198 ff. 178 Vgl. auch Kolbe Kindliche u jugendliche Intensivtäter, 1989; Posiege/Steinschulte-Leidig Intensivtäter, 1999; Kunkat Junge Mehrfachauffällige u. Mehrfachtäter in Mecklenburg-Vorpommern, 2002; Ohder ZJJ 07, 56 zu Berlin; Block/Brettfeld/Wetzels ZJJ 09, 129 zu Hamburg; Koch-Arzberger/Bott/Kerner/Reich/Vester Mehrfach- u. Intensivtäter in Hessen – Abschlussbericht –, 2010; Huck Jugendliche Intensivtäter/-innen, 2009; Huck/Mielenz ZJJ 11, 404. Zu polizeilichen Mehrfach- u. Intensivtäterprogrammen Wolke Kriminalistik 03, 500; Hunecke NK 11, 122; Riesner/Bliesener/Thomas ZJJ 12, 40; J.-V. Schwind Kriminalistik 13, 243; Schwind/Schwind FS Kerner, 2013, 221; Walsh RdJ 14, 347; zu Fallkonferenzen Müller-Rakow ZJJ 08, 275; Sturzenhecker/Karolczak/Braband ZJJ 11, 305; zu Gefährderansprachen Tomschütz Gefährderansprachen, 2015; Meyn Kriminalistik 08, 672; Gloss RdJ 10, 323; Wesely ZJJ 15, 64; zur Beschleunigung von Verfahren gegen Mehrfachtäter Khostevan Zügiges Strafverfahren bei j. Mehrfach- u. Intensivtätern, 2008; K. A. Laue Das vorrangige JVerfahren – Ein Modell zur beschleunigten Verfolgung besonders gefährlicher Jugendstraftäter, 2011; zur pädagogischen Betreuung von Intensivtätern Scheidler ZJJ 15, 413. 179 Zbl. 88, 450. 180 Vgl. Dölling Zbl. 89, 318. Zu den gemischten Ergebnissen kriminalpräventiver Projekte für „Intensivtäter“ s. Walsh ZJJ 17, 28; zu j. „Intensivtätern“ im JStrafvollzug u. in der Sozialtherapie vgl. Hausam/Seewald/Mannert/Dahle FPPK 20, 67. 181 Walter in ders., Hrsg., Diversion als Leitgedanke – Über den Umgang mit jungen Mehrfachtätern, 1986, S. 23. 182 Erz. Maßnahmen im deutschen JStrafrecht, 1987, S. 63. 19

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versionsmöglichkeiten angemessen183. Angezeigt ist insbes. ein verstärkter Ausbau ambulanter Maßnahmen auch und gerade für Mehrfachtäter184. Die auch von Ludwig185 gerügte ansteigende Härte jstrafrechtlicher Sanktionen lässt sich nach Heinz186 aus empirischer Sicht spezialpräventiv nicht begründen. Es darf daher nicht zu einer Automatik der Sanktionssteigerung kommen187. Für solche Mehrfachtäter, bei denen Freiheitsentzug letztlich unvermeidbar ist, muss ein erz. gestalteter Vollzug188 versuchen, die ultima ratio zur Hilfe zu wenden189.

22. Junge Ausländer 45 Die Aussagen zur Kriminalitätsbelastung junger Ausländer sind unterschiedlich190. Weder die Polizeiliche Kriminalstatistik noch die Verurteiltenstatistik der Justiz bringen unanfechtbare Ergebnisse. Vielmehr sind zahlreiche Verzerrungsfaktoren zu berücksichtigen191, z.B. möglicherweise unterschiedliches Anzeigeverhalten; der Umstand, dass Mitglieder der Stationierungsstreitkräfte und deren Angehörige, Touristen und Ausländer, die sich illegal in der Bundesrepublik aufhalten, zwar bei den polizeilich registrierten Tatverdächtigen, nicht aber bei der Wohnbevölkerung erfasst werden, sodass Tatverdächtigenbelastungszahlen (Zahl der Tatverdächtigen pro 100.000 einer Bevölkerungsgruppe) bei den Ausländern überhöht sind; der Umstand, dass Ausländer überwiegend in den bes. kriminalitätsbelasteten Großstädten wohnen, oder das Absetzen ins Heimatland vor Verurteilung. Dies macht Aussagen über die Kriminalität von Ausländern schwierig, die zudem keine homogene Einheit bilden, sondern sich aus unterschiedlichen Gruppen zusammensetzen192. Nach der Polizeilichen Kriminalstatistik weisen junge Ausländer eine höhere Delinquenzbelastung auf als die entsprechenden deutschen Altersgruppen193. Dunkelfelduntersuchungen, die sich auf Selbstberichte der Befragten stützen, ergeben überwiegend, aber nicht stets eine höhere Belastung junger Migranten194. Nach Traulsen195 würde die Höherbelastung der jungen Ausländer weitgehend reduziert, wenn man ihnen eine ihren sozialen und geographischen Verhältnissen entsprechende deutsche Vergleichsgruppe gegenüberstellen könnte. 46 In der Verurteiltenstatistik fiel die Höherbelastung der Ausländer lange Zeit geringer aus196. Als Gründe hierfür wurden erörtert: häufigere Erledigung nach §§ 45, 47, wobei teilweise angenommen wurde, dass gegen junge Ausländer öfter Verfahren wegen Bagatelldelikten eingeleitet werden, die dann zu einer Einstellung durch die Staatsanwaltschaft führen197, Verfahrenseinstellung mangels Beweisbarkeit der Tat ua wegen geringerer Geständnisbereitschaft und Sprachbarrieren198, Absetzen ins Heimatland oder Ausweisung vor Verurteilung199. Inzwischen 183 184 185 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196 197

Löhr ZRP 97, 286; Grunewald NStZ 02, 454: „Verfahrenseinstellung kontraindiziert“. Dölling Zbl. 89, 319; Löhr aaO. In Schüler-Springorum, Hrsg., Mehrfach auffällig, 1982, S. 121. In DVJJ-BW, Jugendliche Wiederholungstäter, 1989, S. 30. Löhr aaO, 285. Dölling aaO. Zum Umgang mit Mehrfachtätern s. auch die Debatte zwischen Reusch ZJJ 07, 295 u. Ostendorf ZJJ 07, 300. Walter BewH 87, 60. Villmow in Kaiser/Kerner/Sack/Schellhoss S. 39; DHL/Laue § 14 Rn 8 ff. Schwind/Schwind § 23 Rn 11; Walburg MKrim. 18, 19. Kaiser S. 351, 360; Villmow aaO, S. 43. Walburg MKrim. 18, 18, 24 ff. MKrim. 88, 28. Schöch/Gebauer Ausländerkriminalität in der Bundesrepublik Deutschland, 1991, S. 54. Mansel in Kaiser/Kury/H.-J. Albrecht, Hrsg., Kriminologische Forschung in den 80er Jahren, 1988, S. 1077; anders Mansel/Sucharek/Albrecht KrimJ 01, 295. 198 Schwind/Schwind § 24 Rn 35. 199 Schöch/Gebauer aaO, S. 40. 20

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hat sich allerdings das Verurteilungsrisiko von nichtdeutschen und deutschen Tatverdächtigen angeglichen200. Werden einzelne Deliktskategorien betrachtet, sind ausländische J und Hw. nach der Polizeilichen Kriminalstatistik insbes. bei Gewaltdelikten überrepräsentiert201. Für den Bereich der Eigentums- und Vermögensdelikte wird davon ausgegangen, dass junge Ausländer eher Bagatelldelikte begehen202. Die Kriminalitätsbelastung ausländischer junger Menschen sollte mit Aufmerksamkeit, aber ohne Dramatisierung betrachtet werden203. Heinz204 führt gegen die These von der „sozialen Zeitbombe“ der zweiten Ausländergeneration den Rückgang der Kriminalitätsbelastung ab der Altersgruppe der 25-jährigen an205. Zur Erklärung der Kriminalitätsbelastung der jungen Ausländer werden angeführt: der Kul- 47 turkonflikt zwischen der hergebrachten elterlichen Lebensweise und den Verhaltenserwartungen und Wertvorstellungen des Gastlandes, den die J nicht zu verarbeiten vermögen und der ihre Selbstfindung erschwert206; von der Herkunftskultur übernommene gewaltlegitimierende Männlichkeitsnormen207; geringere Sozialisations- und Kontrollkapazität der Elternfamilie208; sozialstrukturelle Benachteiligung durch Schlechterstellung hinsichtlich Schul- und Berufsausbildung; Arbeitslosigkeit und ghettoähnliche Wohnsituation209; Ablehnung durch die deutsche Majoritätsgruppe und verschärfte Kontrolle210. Soweit eine höhere Kriminalitätsbelastung von jungen Migranten festgestellt wird, können somit neben dem gehäuften Auftreten allgemeiner – also auch für einheimische J relevanter – Risikofaktoren migrationsspezifische Risikofaktoren wie etwa Schwierigkeiten in Anpassungsprozessen von Bedeutung sein211. Große Bedeutung kommt der Integration der jungen Ausländer zu212. Gelingt diese nicht, machen soziale Randständigkeit und die damit verbundenen negativen Erfahrungen durch Reaktionen der Umwelt es wahrscheinlich, dass sich ausländische J verstärkt zu Gruppen zusammenschließen, die auch kriminell agieren213. Besondere Anstrengungen sind zur Integration unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge erforderlich214. Zum Vorverfahren: Das JGG gilt für Straftaten ausländischer J und Hw. in der Bundesre- 48 publik Deutschland, auch für Touristen (vgl. § 3 StGB)215. Zur Auslieferung von ausländischen J 200 Rebmann Ausländerkriminalität in der Bundesrepublik Deutschland, 1998, S. 214 ff. 201 Schöch/Gebauer aaO, S. 39; Steffen ua Ausländerkriminalität in Bayern, 1992, S. 152 ff; zur Beteiligung Minderjähriger an der Straßenkriminalität in Frankfurt/Main Bauer DVJJ-J 93, 360 f. Zu den nicht einheitlichen Befunden der Dunkelfeldforschung s. Walburg MKrim. 18, 18, 24 ff. 202 Traulsen MKrim. 88, 40; Villmow aaO, S. 44. 203 Kaiser/Kinzig in Kaiser/Schöch/Kinzig S. 266; differenzierte Befunde bei Walburg Migration u. JDelinquenz, 2014. 204 In Eser/Kaiser, Hrsg., Drittes deutsch-sowjetisches Kolloquium über Strafrecht u. Kriminologie, 1987, S. 211. 205 Zusammenfassend zu den Befunden über die Kriminalität j. Ausländer Heinz FS Miyazawa, 1995 S. 105 ff; Traulsen DVJJ-J 00, 398 ff; Walburg NK 07, 142; Haug/Rühl/v. Gostornski BewH 08, 211; Geissler-Frank/Sutterer in DVJJ, Hrsg., Fördern Fordern Fallenlassen, 2008 S. 524; s. auch die Beiträge in ZJJ 04, 359 ff. 206 Schneider Kriminologie, 1987, S. 307 f. 207 Walburg MKrim. 18, 20. 208 Schwind/Schwind § 24 Rn 21 ff, § 25 Rn 15b. 209 Hartmann Handb. d. For. Psychiatrie Bd. 4, 2009, S. 202. 210 Hamburger/Seus/Wolter Zur Delinquenz ausländischer J, 1981. Kritisch zu Kulturkonfliktstheorie, Ghetto-Vorstellungen und Anomietheorie Schüler-Springorum NStZ 83, 529. 211 Titzmann/Nissen ZJJ 19, 32. 212 Villmow aaO, S. 46 f. 213 Kube/Koch MKrim. 90, 14, 24. Zur Kriminalität junger Ausländer u. dem Umgang damit vgl. auch die Beiträge in DVJJ-J 93, 342 ff; ZJJ 13, 4 ff; Kiehl DVJJ-J 96, 19; zur Delinquenz j. Türken s. Pfeiffer/Wetzels DVJJ-J 00, 106; Toprak DVJJ-J 00, 174, 364. 214 Vgl. dazu die Beiträge in UJ 13, 146 ff; ZJJ 15, 272 ff, ZJJ 15, 390; Cornel ua BewH 15, 381; Cremer ZJJ 16, 4; Schacht in DVJJ-BW, JStrafrecht in Deutschland, Regeln aus Europa, Jugendliche aus aller Welt, 2016, S. 19; ders. RdJ 16, 428; Verrel in: BMJ (Hrsg), Berliner Symposium zum JKriminalrecht u. seiner Praxis, 2017, S. 177; Haverkamp RdJ 18, 471; Schwind/Schwind § 35 Rn 49 ff. 215 BGH StV 82, 336. 21

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und Hw. § 1, 6. Aufgrund von Befragungen ausländischer J wird teilweise diskriminierendes Verhalten der Polizei angenommen216. Es muss jedoch vor vorschnellen Verallgemeinerungen gewarnt werden217. Der UHVollzug wird durch nicht deutschsprachige j. Ausländer vor bes. Herausforderungen gestellt, denen etwa durch Deutschkurse und Dolmetschertermine (auch per Video) begegnet werden kann218. 49 Die Hilfe der JGH ist gerade für j. Ausländer, auch für Touristen, und zugleich für JStA und JRichter, bes. wichtig219, auch zur Vorbereitung informeller Erledigung. Wird die JGH nicht herangezogen, liegt ein Verfahrensverstoß vor220; die Aufklärungspflicht des Gerichts ist verletzt, wenn der JGHelfer (bei einem 17-jährigen Türken, der seinen Vater besucht) zwar am ersten Sitzungstag teilnimmt, dann aber krankheitshalber fernbleibt (vgl. § 38, 22, 23). Sprach- und Verständnisschwierigkeiten lassen oftmals schwer Kontakt finden, Abwehrhaltung und Misstrauen des J, der Familie und anderer Bezugspersonen sind häufig schwer zu durchbrechen, sodass die Familiensituation undurchsichtig bleibt221. Wenn möglich, sollten Sozialarbeiter der betreffenden Länder zugezogen werden222. Es kann schon schwierig sein, das Geburtsdatum festzustellen, und das nicht nur, wenn Papiere fehlen. Türkische JGHelfer berichten z.B., dass in der Türkei wegen weiter Entfernungen zwar oftmals das erste Kind angemeldet, dessen Tod (bei hoher Kindersterblichkeit) aber nicht gemeldet wird und dann das nachgeborene Kind unter den Daten des verstorbenen lebt (zur forensischen Altersfeststellung § 1, 22). Die Situation in der Herkunftsfamilie und die Entwicklung j. Ausländer können sehr unterschiedlich sein223 und müssen daher von der JGH möglichst differenziert erfasst werden. 50 Ausländische J dürften häufiger mangels Reife nicht verantwortlich (§ 3) sein als deutsche. Dies muss stets bes. sorgfältig geprüft werden224. So kann die Steuerungsfähigkeit durch kulturell bedingte Abhängigkeiten innerhalb eines Familienverbandes eingeschränkt sein225. Die Reifeentscheidung nach § 105 I ist für JGH und JRichter häufig sehr schwer zu treffen, wobei oft auch Mentalität, Erscheinungsbild und Gestik zu Fehlschlüssen verleiten können226. In der Hauptverhandlung ist oft nur schwer zu erfassen, ob der J die deutsche Sprache, 51 auch in den Feinheiten, so beherrscht, dass er alles verstehen und auch artikulieren kann. Andererseits lehrt die Erfahrung, dass manche Angeklagte recht gern über einen Dolmetscher jede Frage zweimal vor ihrer Erwiderung hören. Im Zweifel wird man einen Dolmetscher beiziehen. §§ 185, 187 GVG und Art. 6 III e MRK räumen dem der Gerichtssprache nicht kundigen Beschuldigten unabhängig von seiner finanziellen Lage einen Anspruch auf unentgeltliche Zuziehung eines Dolmetschers bzw. Übersetzers ein, auch wenn kein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt227. Zur Auferlegung der Auslagen für einen Dolmetscher auf den Beschuldigten durch das Gericht § 464c StPO u. Nr. 9005 des Kostenverzeichnisses zum GKG. Der Anspruch aus Art. 6 III e MRK besteht auch für vorbereitende Gespräche mit einem Verteidiger228. Wegen des Anspruchs auf einen Dolmetscher ist einem Angeklagten nicht allein deswegen ein Pflichtverteidiger beizuordnen, weil er die deutsche Sprache nicht beherrscht und die Kosten für

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Bielefeld/Kreissl/Münster Junge Ausländer im Konflikt, 1982 S. 168; Hamburger/Seus/Wolter (FN 210), S. 147. Vgl. zum Verhältnis der Polizei zu Ausländern Stock/Klein MKrim. 94, 286. Siehe Staudinger UHaft bei jungen Ausländern, 2001; Heber FS 17, 104. BGH StV 82, 336; BGH JWohl 82, 496; Molketin JWohl 82, 491; Schmitz DVJJ-J 93, 375. BGH aaO, 336. Hubert BewH 85, 338. Hubert BewH 98, 378. Hubert aaO, 379 ff. Eisenberg/Kölbel § 3, 30; Ostendorf § 3, 7; Böhm/Feuerhelm S. 39. Siehe dazu Günter in Venzlaff/Foerster/Dreßing/Habermeyer Psychiatrische Begutachtung, 7. Aufl. 2021, S. 656. Vgl. BGH H MDR 90, 888 zur sozialen Entwurzelung als entscheidungsrelevantem Gesichtspunkt. Zur Begutachtung von Ausländern Horn MKrim. 95, 382; Schepker/Toker/Eggers MKrim. 95, 121; Toker DVJJ-J 99, 41. 227 BGH 46, 178. 228 BGH aaO; KG NStZ 90, 402. 22

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einen Dolmetscher nicht aufbringen kann229. Bei Ausländern, die noch nicht in unser Gesellschafts- und Justizsystem integriert sind, wird freilich häufig ein Pflichtverteidiger (§ 140 II StPO) zu bestellen sein, auch wenn ein Dolmetscher eingeschaltet ist230. Nach OLG Hamm231 gegen OLG Zweibrücken232 und LG Köln233 ist aber die Nichtbeherrschung der deutschen Sprache allein kein Grund, unabhängig von der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage und der Bedeutung des Strafvorwurfs einen Verteidiger beizuordnen. Es kommt vielmehr auf die Besonderheiten des Einzelfalls an234. Sind sämtliche für den J auftretenden Schwierigkeiten mit Hilfe eines Dolmetschers zu beseitigen, bedarf es keines Pflichtverteidigers235 (vgl. auch § 68, 20, 21). Für einen Rechtsmittelverzicht ist die Fürsorge des JRichters bes. gefordert236. Nach OLG Karlsruhe237 ist einem der deutschen Sprache nicht mächtigen (erw.) Ausländer zuzumuten, sich nach Abklingen der Aufregung über das verkündete Urteil zu vergewissern, ob er die ihm mit Hilfe des Dolmetschers erteilte Rechtsmittelbelehrung richtig verstanden hat. In Befragungen haben betroffene J über Fehlbewertungen durch den JRichter aufgrund Ausländerfeindlichkeit geklagt238. Beobachtungen von Hauptverhandlungen haben dagegen keine Ungleichbehandlung gegenüber deutschen J ergeben239; hierbei ist nach Eisenberg/Kölbel240 allerdings zu berücksichtigen, inwieweit es sich um verdeckte oder offene Beobachtungen handelte. Sanktionen: Kaum der Erwähnung bedarf, dass die „Ausländereigenschaft“ nicht zu einer 52 Strafverschärfung führen darf (Art. 3 III GG)241. Gegen ausländische J und Hw. sollen – bei regionalen Unterschieden – seltener ErzMaß- 53 regeln angewendet werden242. Bei Betreuungsweisungen muss der geeignete Helfer bes. sorgfältig ausgesucht werden, wenn ein erz. Erfolg erzielt werden soll. Die einem ausländischen Hw. erteilte Weisung, für 2 Jahre nicht in die Bundesrepublik einzureisen, wurde zu Recht aufgehoben, weil sie nicht die Erz. fördern, sondern nur die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten des Hw. schützen sollte243 (vgl. § 9, 4 u. 6). Das OLG Koblenz244 hat eine mit einer Strafrestaussetzung zur Bew. verbundene Weisung (§ 57 III iVm §§ 56a–56g StGB), die Bundesrepublik zu verlassen, als unzulässig aufgehoben, weil eine solche Weisung nicht künftigen Straftaten des Verurteilten durch geeignete Beeinflussung seiner Lebensführung entgegentritt und das Gericht auch nicht zu einer Ausweisungsverfügung an Stelle der Ausländerbehörde befugt ist. M.-K. Meyer fügt in ihrer Anm.245 hinzu, dass eine solche Weisung auch unzulässig wäre, wenn sie die Einhaltung eines verwaltungsrechtlich begründeten Verbots der Wiederein-

229 BGH aaO; weitergehend LG Freiburg StV 89, 296, wonach schon die Notwendigkeit, einen Dolmetscher beizuziehen, für die Bestellung eines Pflichtverteidigers spricht. 230 BVerfG 64, 150; OLG Köln StV 86, 238; LG Heilbronn u. LG Osnabrück StV 84, 506. 231 NStZ 90, 143. 232 StV 88, 379. 233 StV 90, 59. 234 OLG Stuttgart VRS Bd. 99 [00], 75. 235 OLG Stuttgart aaO; dazu auch BayObLG StV 90, 103 sowie BGH StV 90, 101 u. OLG Hamm StV 90, 101 (Übersetzung der schriftlichen Urteilsbegründung). 236 OLG Hamm NJW 83, 530; allg. BGH StV 83, 268. 237 Justiz 89, 202. 238 Bielefeld/Kreissl/Münster aaO, S. 173; Hamburger/Seus/Wolter aaO, S. 149. 239 Autorengruppe Ausländerforschung Untersuchung von Straftaten, Problemen des Strafvollzuges u. der Resozialisierung bei Ausländern in Berlin. Teil 3, 1980, S. 66. 240 § 50, 13a. 241 Vgl. BGH StV 87, 20 zur Zumessungsbegründung „obwohl er erst knapp ein Jahr in Europa war“ und BGH StV 93, 358 zur strafschärfenden Erwägung, der Angeklagte habe „das Gastrecht der Bundesrepublik Deutschland“ missbraucht. 242 Albrecht/Pfeiffer Die Kriminalisierung junger Ausländer, 1979, S. 83 für 1978/79. 243 LG Freiburg JR 88, 523 mit Anm. Eisenberg. 244 NStZ 87, 24 zum ErwRecht. 245 AaO, S. 26. 23

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reise erzwingen sollte246. Bei den Zuchtmitteln sind die Voraussetzungen für Geldauflagen (dazu § 15, 15) bes. sorgfältig zu prüfen. 54 Gegen ausländische J und Hw. wird nach Savelsberg247 vergleichsweise häufiger JA verhängt. Befragungen der JGH zur Sanktionspraxis der JGerichte haben ergeben, dass entweder keine Unterschiede zwischen Ausländern und Deutschen festzustellen seien oder dass im „unteren“ Bereich der Kriminalität eher härter, im „oberen“ eher milder als gegen Deutsche reagiert werde248. Das LG Hamburg249 hat unter Berücksichtigung der in Rn 47 ausgeführten Umstände wegen des „Kulturkonflikts“ bei einem ausländischen Hw. bes. Umstände iSd § 21 II aF angenommen und eine JStrafe zwischen 1 und 2 Jahren zur Bew. ausgesetzt250. Mitteilungen bei Ausländern ordnet Nr. 42 MiStra an. Nach Maeck251 und Ostendorf252 soll 55 diese Vorschrift gegen § 57 – jetzt § 61 – BZRG verstoßen253. Dagegen spricht jedoch die Ablehnung der Erstreckung des BZRG auf Auskunftserteilungen aus Akten bei den Gesetzesberatungen254; außerdem verpflichtet § 87 IV AufenthG zur Mitteilung der Verfahrenseinleitung und -erledigung an die Ausländerbehörde (vgl. jetzt auch §§ 474 II Nr. 2 u. 480 StPO)255. Der JStrafvollzug belastet die ausländischen J und Hw. bes., diese wiederum stellen an 56 den Vollzug wegen ihrer oft andersartigen Mentalität, Sprachschwierigkeiten und der gebotenen speziellen Betreuung bes. Anforderungen. Der Anteil der Ausländer und Staatenlosen im JStrafvollzug betrug am 31.3.2019 34 %256. In einer Reihe von Anstalten liegen die Anteile der Nichtdeutschen erheblich höher257. Albrecht/Pfeiffer258 berichten von Diskriminierung durch die deutschen Mitgefangenen und andererseits von weitgehender Anpassung der j. Ausländer an die Erwartungen der Anstaltsleitung. Nach Eisenberg/Kölbel259 kann jedoch nicht einheitlich von Benachteiligungen gegenüber Deutschen ausgegangen werden. Die Situation der j. Ausländer im Strafvollzug muss vielmehr differenziert betrachtet werden260. Zu erwartende Ausweisungen führen jedoch aufgrund der einschlägigen Verwaltungsvorschriften zur restriktiven Handhabung von Vollzugslockerungen261. Die Betreuung durch ehrenamtliche Helfer ist schwierig. Martens262 hat in der JVA Hamburg-Vierlande nicht feststellen können, dass Anstaltsbedienstete ausländische J und Hw. schlechter als deutsche behandeln. Es würden eher junge, selbstsicher auftretende Türken für sie negative Entscheidungen mit Ausländerdiskriminierung in Zusammenhang bringen. Dort stünde unauffälligen jungen Türken mit stabilen sozialen Beziehungen und eher günstiger Sozialprognose eine kleine Gruppe wegen schwerer Gewalttaten verurteilter Türken gegenüber, die Funktionsposten (Hausarbeiter) anstrebten, um Macht auszuüben; sie hätten den „anstaltsinternen“ Drogenmarkt in Händen und spielten auch in ihren Familien eine 246 247 248 249 250

Zur Gruppenarbeit mit jungen Ausländern s. Lorenz BewH 95, 200. In DVJJ, Hrsg., Und wenn es künftig weniger werden, 1987, S. 371. Albrecht/Pfeiffer aaO, S. 78. StV 84, 31. Zur BewHilfe für Ausländer s. Shehadeh/Fischer BewH 95, 205. Zusammenfassend zu j. Ausländern im JStrafverfahren Henninger Nichtdeutsche Beschuldigte im JStrafverfahren, 2003. 251 MDR 81, 187. 252 DRiZ 86, 257. 253 Krit. auch Eisenberg/Kölbel § 70, 21 iVm 10. 254 BT-Drs. 6/1550, S. 24. 255 Zu ausländer- u. asylrechtlichen Folgen jstrafrechtlicher Sanktionen s. Heinhold ZJJ 16, 271. 256 Stat. BA, Fachserie 10 Rechtspflege Reihe 4.1 Strafvollzug – Demogr. u. kriminolog. Merkmale der Strafgefangenen zum Stichtag 31.3.2019, S. 13 f. 257 Streng Rn 529. Zur Situation der Ausländer in der UHaft Steinke BewH 95, 170. 258 Stat. BA aaO, S. 87. 259 § 92, 16a. 260 Näher Mey/Wirth FS Böhm, 1999, S. 611 ff. Zur Situation türkischer Insassen vgl. Bukowski ZfStrVo 96, 225. 261 J. Walter DVJJ-J 93, 247, 248. 262 JAmt der Stadt Nürnberg u. DVJJ-Regionalgruppe Nordbayern, Arbeitshilfen Nr. 2 für den Umgang mit Türken in Deutschland, 1987, S. 32. 24

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beherrschende Rolle, sodass auch von dort aus keine Verhaltensänderung bewirkt werden könne. Nach Bannenberg/Eifert/Herden263 ist im hessischen JStrafvollzug der Anteil der türkischen Gefangenen stark gesunken und der Anteil der Gefangenen aus Marokko, Algerien und Afghanistan deutlich gestiegen. Besonders bei Tätern aus dem Maghreb ist nach Bannenberg/Eifert/ Herden264 häufig ein durch fehlende positive Bindungen zu Erwachsenen, hohe Gewaltbereitschaft und Drogenhandel zum Lebensunterhalt gekennzeichneter „krimineller Lebensstil“ festzustellen265. Sollen die jungen Ausländer nicht nur „sitzen“, so müssen sie in der JVA sprachlich und durch – möglicherweise nachholende – Schul- und Berufsausbildung und sorgfältige Entlassungsvorbereitungen266 bes. betreut werden, was erhöhten zeitlichen Aufwand, gezielte Schulung der Bediensteten und möglichst Einschaltung von Sozialarbeitern gleicher Herkunft fordert267. Bes. ist darauf zu achten, dass durch die Anstaltsverhältnisse nicht rechtsextreme Einstellungen bei den deutschen Insassen gefördert werden268. Auch beim Umgang mit der Delinquenz j. Spätaussiedler kommt angesichts der bestehen- 57 den Integrationsprobleme den Bemühungen um soziale Integration (ua Sprachförderung u. Förderung der schulischen u. beruflichen Ausbildung) große Bedeutung zu269. Zu unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen s. Rn 47 aE.

23. Gruppenkriminalität J und auch Hw. begehen Straftaten häufig gemeinschaftlich. Überwiegend handelt es sich um 58 lockere Zusammenschlüsse, die Zweierverbindung steht im Vordergrund270. Gruppenprozesse sind in mehrfacher Hinsicht kriminologisch relevant. In der Gemeinschaft mit anderen riskiert der einzelne mehr, werden Hemmungen geschwächt und fühlt er sich weniger verantwortlich271. Für die Entwicklung junger Menschen spielt die Gruppe der Gleichaltrigen eine wichtige Rolle272. So werden sich J mit Problemen in der Familie, in der Schule oder im Arbeitsleben um den Anschluss an Gruppen von Altersgenossen bemühen, die ähnliche Schwierigkeiten haben, und kann sich das Bemühen um Anerkennung und Selbstbestätigung dann in durch die Gruppendynamik gefördertem delinquenten Verhalten niederschlagen.

263 Kriminalistik 19, 26. 264 AaO, 28. 265 Einen hohen Anteil von j. Flüchtlingen aus den Maghreb-Staaten berichtet auch Fritsch FS 17, 105 für die JVA Adelsheim. 266 Vgl. dazu die Betreuungsweisung des AG Berlin Tiergarten § 17, 39 aE. 267 Zu Betreuungsmaßnahmen für Ausländer s. Heitmann/Korn/Mücke BewH 08, 238; Matt/Bührs BewH 08, 260; Fritsche FS 17, 105; zur Entwicklung junger Migranten nach unbedingter JStrafe s. Rau NK 16, 193. 268 J. Walter aaO, 248. 269 Zur „Aussiedlerkriminalität“ Luff Kriminalität von Aussiedlern, 2000 u. Kriminalistik 01, 29; Grundies MKrim. 00, 290; Kleespies Kriminalität von Spätaussiedlern, 2006; Bals/Bannenberg ZJJ 07, 180; Ostendorf, Hrsg., Kriminalität der Spätaussiedler – Bedrohung oder Mythos?, 2007; Stelly/Walter NK 11, 50; zur Herkunft u. Lebenssituation j. Spätaussiedler Heuer/Ortland DVJJ-J 96, 54; Bodenburg DVJJ-J 99, 73; Jeschawitz in DVJJ-BW, Deeskalation, 1998 S. 9; Giest-Warsewa in DVJJ-BW, Integrieren statt Ausgrenzen, 1999 S. 9; Strasser/Zdun ZJJ 03, 266; Osterloh ZJJ 04, 149; zur Prävention, zu j. Aussiedlern im Strafvollzug u. vor dem JGericht s. die Beiträge von Müller, Walter/Grübl u. Helmken in DVJJ-BW, Integrieren, aaO, S. 25 ff; s. auch die Beiträge in DVJJ-Regionalgruppe Nordbayern, Gefährdete Jugend zwischen Konflikt u. Integration, 2000 S. 79 ff; zusammenfassend zu den Integrationsproblemen j. Aussiedler Reich/Weitekamp/Kerner BewH 99, 335; Reich Integrations- und Desintegrationsprozesse j. männlicher Aussiedler aus der GUS, 2005; zur Subkultur inhaftierter Ausländer s. Otto/Pawlik-Mierzwa DVJJ-J 01, 124; Hosser/Taefi MKrim. 08, 131. 270 Kaiser/Kinzig in Kaiser/Schöch/Kinzig S. 228. 271 Kaiser S. 283; DHL/Dölling § 21 Rn 1. 272 Hartmann Handb. d. For. Psychiatrie Bd. 4, 2009, S. 213. 25

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Die Formen des Zusammenschlusses bei j. Gemeinschaftsdelinquenz sind mannigfach und in den Übergängen fließend. Spontangruppen können aus bestimmten Situationen (z.B. Musikfestival) entstehen und sich in Aggressionsdelikten entladen. Bei Gelegenheitsgruppen, die keinen anhaltenden Bestand haben, sollen Eigentumsdelikte im Vordergrund stehen273. Dies wird auch für halborganisierte Gruppen angenommen, die sich zusammengehörig fühlen, aber nicht über eine bestimmte Funktionsverteilung verfügen274. Bei den JBanden handelt es sich demgegenüber um auf gewisse Dauer angelegte Verbindungen, die stärker organisiert sind und zu deren Zielen die Begehung von Straftaten gehört275. Spiel- und Straßengruppen ohne deliktisches Verhalten können eine Übergangsphase zu differenzierteren Zusammenschlüssen darstellen, in denen es zu Straftaten kommt. 60 JBanden treten in Deutschland insbes. in Großstädten in Erscheinung. Die Aktivitäten einiger Banden sind auf die Verschaffung von Vermögensvorteilen gerichtet, vor allem durch Diebstähle, teilweise auch durch Raubtaten276. Weiterhin wird von „Streetgangs“ berichtet, die versuchen, mit deliktischen Mitteln das von ihnen beanspruchte „Revier“ zu beherrschen277. Rocker, Punks und Skins gehören zu den Gruppierungen, die durch ihr Erscheinungsbild ihre Zusammengehörigkeit und zugleich Distanz von „der Gesellschaft“ demonstrieren und im deliktischen Bereich vor allem durch Gewalttaten auffallen. Den Gruppen gehören ganz überwiegend männliche J an. Während bei den Rockern Motorradfahren das Gefühl von Freiheit und Abenteuer vermitteln soll, wird das Verhalten der Punks als Protest gegen die traditionellen bürgerlichen Normen interpretiert und werden die Gewalttätigkeiten der Skins als Ausdruck von Perspektiv- und Orientierungslosigkeit gesehen278. Es wird angenommen, dass in einer durch Individualisierung und Durchsetzungswillen gekennzeichneten Gesellschaft soziale Desorganisation durch Auflösung der Beziehungen zu anderen Personen, insbes. zu den Eltern, Ausdünnung gemeinsamer Norm- und Wertvorstellungen und abnehmende Teilnahme an gesellschaftlichen Institutionen zur Bildung gewaltbereiter Gruppierungen junger Menschen führt, in denen Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, Wir-Gefühl und Selbstbestätigung befriedigt werden können279. In der Gruppe können Selbstwertkonflikte durch Kraftakte und provozierendes Verhalten kompensiert werden, Alkohol und das Scheinwerferlicht der Medien können als Verstärker wirken. Nach Kersten280 geht es in gewaltorientierten JBanden um die Darstellung von Männlichkeit281. Das OLG Zweibrücken282 hat zur Verurteilung eines Skinheads zutreffend ausgeführt, dass die Hinwendung zu einer Gruppe Gleichgesinnter, verbunden mit Unterordnung und Preisgabe individueller Freiräume, aber dem Gefühl solidarischer Geborgenheit, Ausdruck mangelnder Reife iSd § 105 I Nr. 1 sein kann. Die Anwendung von Gewalt und rowdyhaftes Benehmen könne als JVerfehlung (§ 105 I Nr. 2) Vorstellungen von „Heldenhaftigkeit, Mutbeweis und Imponiergehabe“ entsprechen und sich aus Mangel an Mitgefühl, Selbstsicherheit und Hemmungskraft erklären283. 61 Auch und gerade bei Straftaten mit und aus „politischem“ Hintergrund laufen Gruppenprozesse ab und sind häufig Entwicklungsdefizite festzustellen. Das gilt auch für die ausländerfeindlichen Straftaten, an denen überwiegend J und Hw. beteiligt sind. Die Täter haben häufig 59

273 274 275 276 277 278 279 280 281

Göppinger Kriminologie, 4. Aufl. 1980, S. 557. Göppinger aaO. Kaiser S. 284. Middendorf in BKA, Hrsg., Bekämpfung von Diebstahl, Einbruch, Raub, 1988, S. 153. Schwind/Schwind § 29 Rn 32a, 32b. Hartmann (FN 272), S. 216, 221 ff; Schwind/Schwind § 29 Rn 20 ff. Heitmeyer DVJJ-J 92, 76. DVJJ-J 93, 23, 25. Zu Gruppenkulturen von J s. Eckert/Reis/Wetzstein „Ich will halt anders sein wie die anderen!“ 2000. Zusammenfassend Förtig JBanden, 2002. 282 NStZ 87, 89 mit Anm. Molketin. 283 Zur Strafbarkeit wegen Körperverletzung bei einem Aufnahmeritual in eine JBande s. BayObLG NJW 99, 372 = JR 99, 122 mit Anm. Otto = NStZ 99, 458 mit Anm. Amelung. 26

I. Jugendkriminologische Aspekte

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keine festgefügte politische Einstellung oder Weltanschauung. Dies zeigt sich z.B. daran, dass Wechsel in eine Gruppe mit entgegengesetzter politischer Orientierung vorkommen284. Hinter den ausländerfeindlichen Delikten können Zukunftsangst und das Gefühl stehen, zu kurz zu kommen und nicht hinreichend beachtet zu werden, wobei „die Ausländer“ als Sündenböcke fungieren285. Eine Rolle spielen können auch – wie bei anderen Gewaltdelikten j. Gruppierungen – die Suche nach einer Gemeinschaft Gleichgesinnter, Anerkennung und Erlebnishunger286. Es kann auch um Provokation der etablierten Ordnung durch Tabuverletzungen gehen287. Die Gewalttaten werden vielfach spontan unter Alkoholeinfluss begangen288. Nach Kubink289 sind die Tatumstände häufig für herkömmliche JKriminalität typisch. Ähnliche Aspekte spielen bei rechtsextremistischen Radikalisierungsprozessen eine Rolle290. Für Religiosität wurden bei jungen Christen und Muslimen delinquenzreduzierende Effekte festgestellt291; allerdings erwiesen sich vor allem von jungen Muslimen vertretene religiöse Exklusivitätsansprüche („Meine Religion ist die einzig wahre Religion“) als delinquenzsteigernd292. Als Reaktionen auf diese Delikte sind einerseits eine konsequente und schnelle Strafverfol- 62 gung und andererseits Integrationshilfen für die jungen Täter geboten293. Durch die Strafverfolgung sind Unantastbarkeit und Wert der angegriffenen Rechtsgüter und die Verbindlichkeit der sie schützenden Normen zu verdeutlichen. Hierbei dürfen von einem rechtsstaatlichen und fairen Strafverfahren keine Abstriche gemacht werden294. Die Strafzumessungspraxis der JGerichte ist nach Neubacher295 maßvoll und dem ErzGedanken verpflichtet. Bei den Integrationshilfen geht es darum, Gewaltbereitschaft abzubauen und Handlungsmöglichkeiten für eine gewaltfreie sinnerfüllte Lebensgestaltung aufzuzeigen296. Die Täter sind dabei zu unterstützen, sich aus Bindungen an extremistische Gruppen zu lösen und neue positive Bindungen aufzubauen, die eine konforme Erfüllung ihrer Bedürfnisse ermöglichen297. Aufsuchende Sozialarbeit, soziale Einzelfallhilfe, soziale Gruppenarbeit und Gemeinwesenarbeit im Sinne eines abgestimmten 284 285 286 287 288 289 290

Frehsee KrimJ 93, 266. Ostendorf NK 93, 26. Zum „fun“-Aspekt der Gewalt Koch in DVJJ-BW, Gegen-Gewalt, 1994, S. 16, 21. Baumgarten/Breymann DVJJ-J 94, 69; Kersten DVJJ-J 93, 23. Best DVJJ-J 94, 56 f. Fremdenfeindliche Straftaten, 1997, S. 249. Zu Delikten J mit „politischem“ Hintergrund s. auch Bela BewH 88, 328; Kube BewH 93, 287; die Beiträge von Erb ua in Lamnek, Hrsg., Jugend u. Gewalt, 1995, S. 39 ff; Mentzel Rechtsextremistische Gewalttaten von J und Hw. in den neuen Bundesländern, 1998; Dünkel/Geng, Hrsg., Rechtsextremismus u. Fremdenfeindlichkeit, 1999; die Beiträge in DVJJ-J 01, 4 ff, RdJ 02, 6 ff, ZJJ 10, 116 ff u. ZJJ 19, 4 ff; Günter ZJJ 04, 15; Baier/Manzoni/Bergmann MKrim. 16, 171; Ehrt ZJJ 18, 11; Knäble/Breiling/Rettenberger FPPK 21, 99; zu „Hassdelikten“ Schneider BewH 03, 115; Schwertberger ZJJ 20, 120; Gräßer/Riffi ZJJ 20, 187; zum soziobiografischen Hintergrund rechtsextremistischer Gewalttäter Marneros/Steil/Galvao MKrim. 03, 364; Meier/Bögelein/Neubacher FPPK 22, 19; zur Schuldfähigkeit Marneros/Steil/ Galvao ZJJ 05, 434. Zur Prävention BMJ, Hrsg., Hasskriminalität–Vorurteilskriminalität. Projekt Primäre Prävention von Gewalt gegen Gruppenangehörige – insbes.: junge Menschen, 2006; zur Intervention gegen Radikalisierungsprozesse Vertone FPPK 21, 119. 291 Brettfeld/Wetzels MKrim 11, 409. 292 AaO, 425. Zu protektiven oder kriminogenen Effekten der Religiosität bei j. Muslimen s. auch Beller/Kröger/ Hosser FPPK 19, 188. Zur islamistischen Radikalisierung s. H.-J. Albrecht RdJ 19, 70; Datschke ZJJ 15, 43; Heinke/ Persson ZJJ 15, 48; Matt ZJJ 18, 19; zur pädagogischen Arbeit mit islamistisch radikalisierten jungen Menschen Glaser/Figlestahler ZJJ 16, 259; Ülger/Çelik ZJJ 16, 294; Möller/Neuscheler ZJJ 19, 12; zur Prävention islamistischer Radikalisierung im Justizvollzug Hatton/Rettenberger/Dessecker FPPK 21, 127. 293 Ostendorf (FN 285); Viehmann ZRP 93, 81; Günter ZJJ 04, 19. 294 Hamm NJW 94, 3180. 295 Fremdenfeindliche Brandanschläge, 1998, u. MKrim 99, 1. 296 Zur sozialpädagogischen Arbeit mit jungen Tätern von Gewaltdelikten s. die Beiträge von Seitz, Walpuski, Hosmann u. Peterich in DVJJ-BW (FN 286), S. 23 ff; Geretshauser/Lenfert/Weidner DVJJ-J 93, 33; Lautenbacher/Jahnke/ Speer/Beelmann FPPK 21, 134. 297 Matt ZJJ 18, 19; Möller/Neuscheler ZJJ 19, 12. 27

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Vorgehens der vor Ort mit gewaltbereiten J befassten Personen und Einrichtungen eröffnen Chancen für Deradikalisierung und Deeskalation von Gewalt298. 63 In der JGerichtsverhandlung wird es darauf ankommen, die Täter mit gelassener Entschiedenheit zu behandeln (vgl. Rn 112). Gemeinsame Verhandlung mit erw. Mittätern (dazu auch § 103, 9 u. 10) kann ebenso schädlich sein wie öffentliche Verhandlung und Sensationsberichterstattung durch die Medien (vgl. § 48, 3); politische Parolen können bei jungen Menschen ein die Erw. provozierendes Gehabe sein, für das durch die Berichterstattung der Medien ein Gewicht erreicht wird, das die J sonst für sich nicht realisieren könnten299. Gruppierungen von J und Hw. werden auch bei Gewalttaten anlässlich von Sportveranstal64 tungen, insbes. bei Fußballspielen, auffällig300. Neben Gewalttätigkeiten gegenüber anderen Zuschauern, vor allem „Fans“ der „gegnerischen“ Mannschaft, und Sachbeschädigungen in Stadien kommt es ua zu Beschädigungen öffentlicher Verkehrsmittel auf der An- und Abreise. Während es bei den als „Ultras“ bezeichneten „Extremfans“ zu Gewaltanwendungen etwa gegen gegnerische Fans kommen kann, interessieren sich die Hooligans weniger für das Fußballspiel und suchen die gewaltsame Auseinandersetzung mit anderen Hooligan-Gruppen301. Für die Ausschreitungen werden unterschiedliche Gründe angenommen, ua das Abreagieren von „Arbeitsfrust“ und das Bedürfnis, sich auszutoben302, die Suche nach Spannung und Nervenkitzel303 und die Kompensation einer Lebensperspektive ohne große Erwartungen durch Gewalttätigkeiten304. Nach Pilz305 handelt es sich bei Ausschreitungen J oft um einen „Hilferuf an die Gesellschaft“, ernst genommen zu werden und Sinn- und Zukunftsperspektiven eröffnet zu bekommen. Als Faktoren, die sich im Sinne einer Erhöhung der Gewaltbereitschaft auswirken, sind ua in Betracht zu ziehen: das Anschauen von Gewalt unter Spielern, die Identifikation mit Spielern und Mannschaft, die Belastung des Spiels mit Symbolen und Feindbildern, die Fixierung auf den Sieg, die Kommerzialisierung des Sports, die Dramatik des Spiels, der Alkoholkonsum und die Entindividualisierung, die der Zuschauer in der Masse erlebt306. Detaillierte Vorschläge zur Prävention und Kontrolle von Gewalt anlässlich Sportveranstaltungen hat die „Gewaltkommission“ der Bundesregierung unterbreitet307.

298 Möller/Neuscheler ZJJ 19, 12; Koch (FN 286), S. 17 ff; zu Möglichkeiten kommunaler Gewaltprävention Best (FN 288), 57; Trenz in DVJJ-BW (FN 286), S. 73 ff; s. auch die Projektbeispiele bei Klose/Rademacher/Hafeneger/Jansen Gewalt u. Fremdenfeindlichkeit – pädagogische Auswege, 2000, die Beiträge in UJ 01, 505 ff, UJ 09, 50 ff u. UJ 16, 450 ff; Hafeneger UJ 04, 338, UJ 06, 171; Hohnstein/Greuel/Glaser Einstiege verhindern, Ausstiege begleiten, 2015, u. zur Gedenkstättenpädagogik Nickolai DVJJ-J 00, 147; Nickolai/Lehmann, Hrsg., Grenzen der Gedenkstättenpädagogik mit rechten Jugendlichen, 2002; Mensing ZJJ 10, 315. 299 Vgl. Seidel Zbl. 87, 207. Zu Gruppenzwang und falsch verstandener Solidarität BGH StV 86, 305 u. BGH B NStZ 88, 491 bei § 17, 11a. Zum Wohlwollensgebot nach BVerfG gegenüber Gewissenstätern im Bereich der Strafzumessung u. Strafaussetzung zur Bew. OLG Stuttgart MDR 88, 1080; OLG Bremen StV 89, 395 (Dienstflucht, hw. Totalverweigerer) u. OLG Zweibrücken StV 89, 379 (Zeuge Jehovas), zur Strafaussetzung zur Bew. bei politischen Überzeugungstätern § 21, 9. Vgl. auch § 105, 12. Zum Umgang mit gewalttätigen rechtsorientierten J im Strafvollzug s. Nickolai/Walter ZfStrVo 94, 69; Heitmann/Korn ZJJ 06, 38. 300 Vgl. Brunner Zbl. 84, 224; Albers/Feltes/Ruch MKrim, 15, 481; Thalheim ZJJ 19, 113. 301 Kett-Straub NK 12, 99 f; Lösel/Bliesener MKrim 06, 229; Kidza Hooliganismus u. Gewalt beim Fußball in Deutschland u. Großbritannien, 2014. 302 Schwind/Schwind § 29 Rn 29a ff. 303 Kett-Straub NK 12, 102. 304 Schwind/Baumann, Hrsg., Ursachen, Prävention u. Kontrolle von Gewalt. Analysen u. Vorschläge der Unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung u. Bekämpfung von Gewalt. Gewaltkommission, Bd. I, 1990, S. 257. 305 DVJJ-J 92, 89. 306 Schwind/Baumann aaO, S. 257; vgl. auch die Beiträge in MKrim. 06, 158 ff. 307 Schwind/Baumann aaO, S. 277 f; zur Umsetzung Schwind DVJJ-J 94, 117. 28

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24. Alkohol u. Drogen Alkohol spielt bei Straftaten, insbes. bei Rückfälligkeit, eine erhebliche Rolle308. Zahlreiche 65 Straftaten J werden unter Alkoholeinfluss begangen309, und zur „Wohlstandskriminalität“ können auch unter Alkoholeinfluss begangene JDelikte gehören310. Eine Reihenuntersuchung in Hamburg hat für 1968 und 1969 ergeben, dass nahezu jeder zweite j. und hw. Täter unter Alkoholeinfluss stand311. Alkoholkonsum ist insbes. bedeutsam für Straßenverkehrsdelikte und die Schwere der hierdurch verursachten Unfallfolgen sowie bei allg. Kriminalität für Körperverletzungsdelikte312. Mit wachsender Vorstrafenbelastung steigt der Anteil der chronischen Alkoholkonsumenten unter den Tätern313, der Anteil der Alkoholiker ist jedoch bei verurteilten J und Hw. geringer als bei Erw. Es wird allerdings angenommen, dass bei einem erheblichen Anteil der j. Täter gerade bei Trunkenheitsdelikten im Straßenverkehr das Suchtproblem Alkohol verschleiert bleibt314. Daldrup ua315 weisen darauf hin, dass von Unfallbeteiligten mit einer BAK zwischen 0,7 und 1,3 Promille 11 % und bei den unter 25-jährigen jeder fünfte Cannabis konsumiert hatte. Alkohol kann zu illegalen Drogen führen316 und wird von Abhängigen häufig neben illegalen Drogen konsumiert317. Im Bereich der illegalen Drogen ist die Arbeit der JGerichte gekennzeichnet und erschwert 66 durch die Vielfalt und den ständigen Wechsel der Drogenszene und der ihr innewohnenden und folgenden Kriminalität, nicht weniger aber auch durch die bes. Situation und die psychischen Probleme der Drogentäter318. Das Herausfallen aus sozialen Bezügen, Erlahmen jeder regelmäßigen Tätigkeit, steigende finanzielle Belastung, die mit fortschreitendem körperlichen Verfall und zunehmender Leistungsschwäche, aber auch enormen Ansprüchen, Fehlerwartungen und Ungeduld korrespondieren, hängen eng mit krimineller Verstrickung, u.a. Beschaffungskriminalität, zusammen. Dies alles lässt sich nicht einheitlich für jede Droge und für jeden Täter beschreiben319. Aggressionsdelikte Drogenabhängiger spielen sich zumeist innerhalb der „Szene“ ab, sodass hier ein erhebliches Dunkelfeld zu vermuten ist320. Das Gericht muss sich um Erforschung der Persönlichkeit des Drogenabhängigen, Ermitt- 67 lung des Stellenwerts der Tat und Feststellung von Ansatzpunkten für therapeutische Maßnahmen bemühen. Erschwert werden können diese Bemühungen dadurch, dass Angeklagten in depravationsbedingter Gleichgültigkeit ihr Schicksal und erst recht der Ausgang der Hauptverhandlung völlig uninteressant ist; auch deshalb, weil manche ihre Situation positiv interpretieren, ja ideologisieren, weil andere sich in vage formulierter Protesthaltung sperren und manche gar nicht wissen, welcher Droge, welcher Zusammensetzung und Dosierung sie ihre Gesundheit anvertrauen. Allgemeinen Redewendungen und Augenblicksbeteuerungen wird kein Erfahrener 308 309 310 311 312

Zusammenfassend Dölling in Kiesel, Hrsg., Rausch, 1999, S. 152. Dölling in Rössner, Hrsg., Toleranz – Erziehung – Strafe, 1989, S. 13 mwN. Siehe zur Wohlstandskriminalität Kaiser S. 225 ff. Struck JDelinquenz u. Alkohol, Diss. Hamburg 1970, S. 109. Eisenberg/Kölbel § 5, 65. Zu Gewalttaten unter Alkoholeinfluss s. Özsöz ZJJ 14, 152; zu ambulanten sozialpädagogischen Maßnahmen für diese Täter Hoops/Holthusen ZJJ 19, 155. 313 Kerner in Kaiser/Kerner/Sack/Schellhoss S. 7. 314 Bußmann/Gerhardt BA 84, 199; zu jungen Verkehrstätern s. Jehle/Hohmann/Fricke ZJJ 06, 286. 315 BA 87, 144. 316 Kreuzer BewH 86, 398. 317 Vgl. auch die Beiträge in DVJJ-Regionalgruppe Nordbayern, Ursachen u. Sanktionierung von JKriminalität, 2009 S. 7 ff. 318 Zu den komplexen Zusammenhängen zwischen Drogenkonsum und Delinquenz s. Kreuzer Handb. d. For. Psychiatrie Bd. 4, 2009 S. 500 ff; König BewH 03, 182; Passow FPPK 19, 233. Zur Drogendelinquenz Jugendlicher vgl. auch die Beiträge in ZJJ 05, 232 ff. 319 Zur Beschaffungskriminalität s. Kreuzer/Römer-Klees/Schneider Beschaffungskriminalität Drogenabhängiger, 1991. 320 Kreuzer in Kreuzer/Wille Drogen – Kriminologie u. Therapie, 1988, S. 57 ff. 29

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echter Motivation gleichsetzen wollen. Wichtig sind deshalb Verhandlungsstil, Fragetechnik und Fachkenntnisse der Entscheidenden321. Vgl. hierzu auch Rn 112. 68 Es werden deshalb interessieren322: die inneren und äußeren Faktoren, die zum Drogenmissbrauch geführt haben; Art und Umfang des Drogenmissbrauchs323 und die daraus folgende Entwicklung nebst Grad der Identifikation mit der Subkultur und Motivation zur Überwindung der Abhängigkeit; die psychosoziale Depravation324 und die kriminelle Verflechtung325. Erschwert werden können Feststellungen im Einzelfall zusätzlich dadurch, dass Drogenabhängige nur das einräumen, was nach dem Ergebnis der Ermittlungen einfach nicht mehr abgeleugnet werden kann, und ihre Aussagen taktisch so einzurichten versuchen, dass sie zwar in den schützenden Bereich der verminderten Schuldfähigkeit nach § 21 StGB, nicht aber zur Unterbringung nach § 64 StGB führen (§ 3, 16). Deshalb sind eingehende Ermittlungen bereits beim ersten Zugriff geboten, um spätere Behauptungen überprüfen zu können326. 69 Unter therapeutischen Gesichtspunkten wünschenswert sind Einsicht in die Krankheit und in die Bedeutung von Eigeninitiative und Eigenverantwortung für die Heilung327. In der Praxis aber wird das Gericht sich zumeist mit der risikobeladenen Erkenntnis begnügen müssen, dass die Therapie vielleicht tatsächlich freiwillig, aber jedenfalls nur unter dem Druck einer drohenden Strafe begonnen werden kann, und es notfalls dem Therapeuten überlassen müssen, während der Therapie, wenn auch mit Hilfe gerichtlicher Reaktionen, den inneren Leidensdruck zu wecken und zu erhalten, um zu einem wirklich freiwillig bejahten Drogenverzicht zu kommen328. StA und Gericht müssen die auszuwählenden Therapiestellen kennen (vgl. § 17, 23 ff zum 7. Abschnitt des BtMG). Erforderlich sind Einrichtungen mit einem Personal, das über die erforderlichen ärztlichen, psychologischen und sozialarbeiterischen Kompetenzen verfügt. Auch Selbsthilfegruppen können wichtige Beiträge zur Überwindung von Drogenabhängigkeit leisten. Zu Therapieeinrichtungen nach § 35 I 2 BtMG haben die Länder Anerkennungsverfahren entwickelt und entsprechende Listen veröffentlicht329. 70 Die Drogenproblematik hat eine erhebliche Tragweite330. Kreuzer331 hat Grundpositionen einer Drogenpolitik entwickelt, die zu Kurskorrekturen führen, zu Selbstbescheidung in den Zielsetzungen und zu Modifikationen in der Wahl der Mittel anregen sollen, aber nicht einer Resignation das Wort reden. Als Wegbereiter harter Drogen bezeichnet er Rauchen, Alkoholmissbrauch, frühzeitigen Medikamentenumgang und Schnüffeln, die in aller Regel der ersten Haschischerfahrung vorausgingen332. Bei Besitz und Erwerb von Cannabis in kleineren Mengen, die auf Eigengebrauch schließen ließen, regt er Abstufung der Ahndung (Ordnungswidrigkeit) an, aber nicht Freigabe. Diese berge schwer abschätzbare Risiken in sich, beispielsweise für den Straßenverkehr und bei Kombination mit Medikamenten und Alkohol. Auch würden Marktmechanismen freigesetzt, vor allem Werbung, sodass eine Konsumausweitung nicht auszuschließen wäre. Eine Legalisierung stoße daher auf grds. Bedenken333. Kreuzer spricht sich bei Kleinkonsumenten, Erst- und Bagatelltätern sowie bei selbst drogenabhängigen Tätern für eine 321 322 323 324 325 326 327 328 329

Brunner Zbl. 71, 243; 80, 415; jeweils mwN. Nach Kleiner MKrim. 71, 51 u. Zbl. 79, 51. Dazu Schneider Suchtgefahren 84, 229. Dazu Stutte MKrim. 72, 137. Siehe auch Brunner aaO. Dazu Brunner aaO. Stosberg Monatskurse f. ärztliche Fortbildung 1978, H 4, 5. Brunner aaO. Dazu PVF/Fabricius § 35 BtMG 145 ff. Zur Therapie von Suchtstörungen s. Schmidt/Gastpar/Falkai/Gaebel, Hrsg., Evidenzbasierte Suchtmedizin, 2006; Thomasius/Schulte-Markwort/Küstner/Riedesser, Hrsg., Suchtstörungen im Kindes- u. JAlter, 2009, S. 211 ff. 330 Zur Verbreitung des Konsums illegaler Substanzen s. Quednow FPPK 19, 214. 331 BewH 86, 395; NStZ 98, 217. 332 BewH 86, 398. 333 NStZ 98, 221. 30

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extensive Ausnutzung von Diversionsmöglichkeiten und sozialpädagogisch-therapeutischen Chancen aus; strafjustizieller und therapeutischer Ansatz dürften sich nicht gegenseitig behindern334. Erforderlich sei weiterhin eine „Politik der kleinen Schritte“ zur Minderung der mit dem Drogenmissbrauch verbundenen Schäden335. Schließlich bedürfe es verstärkter Prävention im gesamten Suchtmittelbereich336. Es erscheint sachgerecht, Bemühungen um Eindämmung des Drogenmissbrauchs auf die 71 Säulen Prävention, Therapie und Strafrecht zu stützen337. Grundlegende Bedeutung kommt der Vorbeugung als gesamtgesellschaftlicher Aufgabe zu. Eltern, Erzieher, Lehrer, Ausbilder, JArbeit, Vereine und möglichst alle gesellschaftlichen Gruppen sollten sich in Kooperation um die Förderung der Lebenskompetenz junger Menschen und die Stärkung der Widerstandsfähigkeit gegenüber Drogenmissbrauch bemühen. Mit steigender Fähigkeit zur Problembewältigung sinkt die Wahrscheinlichkeit des Ausweichens in Drogenmissbrauch338. Therapie von Drogenabhängigkeit ist schwierig, aber nicht aussichtslos. Die Chancen können durch ein Verbundsystem von niedrigschwelligen Hilfs- und Beratungsangeboten, ambulanten, teilstationären und stationären Therapieeinrichtungen sowie Nachsorgeeinrichtungen verbessert werden339. Schadensminderung ist notwendig, sollte aber das Ziel der Abstinenz nicht ersetzen. Abgestützt werden sollten diese Bemühungen durch ein Drogenstrafrecht, das auf die verschiedenen Erscheinungsformen der Drogenkriminalität in abgestufter Form reagiert340. Spezielle Ausführungen im Zusammenhang mit Drogen finden sich zur Frage der Schuldfä- 72 higkeit (auch Alkohol) in § 3, 15 ff; zu Weisungen § 10, 42, 49, 51; zur Entziehungskur § 10, 40 ff; zu Therapieeinrichtungen Rn 57 aE; zur Drogenhilfe durch das JAmt § 38, 10; zur Urinkontrolle § 10, 33, 42 aE, 49; § 21, 22; zu Methadon § 10, 43; zu Auflagen § 15, 24; zu Ungehorsamsarrest § 11, 14; zu JA § 16, 28 u. 29; zu schädlichen Neigungen § 17, 24; zu Schwere der Schuld § 17, 33, auch Rn 18 u. 22; zu Strafaussetzung zur Bew. § 21, 22; zum Verhältnis des § 21 zum BtMG § 17, 44; zum Widerruf § 26a, 17 mit 7 aE; zur Aussetzung des Strafrestes § 88, 14; zum Verhältnis § 88 zu § 36 I 3 BtMG § 88, 3; zum Strafvollzug § 17, 41 u. 42; zur Einschränkung der Tätigkeit des Rechtspflegers beim BtMG § 17, 40; § 82, 10 aE; zur Entziehungsanstalt § 93a, 1 ff; zu HIV-Infizierten u. Aids § 25, 8; zur Anwendung von JStrafrecht § 105, 45; zum Absehen von Strafe nach § 29 V BtMG u. § 55 I § 55, 19; zur Zurückstellung der Strafvollstreckung nach §§ 38, 35, 36 BtMG § 17, 40 ff; zum Absehen von der Anklage nach §§ 31a, 38 II, 37 BtMG § 45, 53 ff; zu Mitteilungen an die u. Verhalten der Schule § 70, 5.

25. Prognose Der Kriminalprognose kommt in der JStrafrechtspflege erhebliche Bedeutung zu. Um die tref- 73 fende, weiterführende Maßnahme zu finden, um z.B. über informelle Erledigung, ambulante Sanktionen, Strafaussetzung zur Bew. oder bedingte Entlassung aus dem JStrafvollzug zu ent334 BewH 86, 401, 402. 335 NStZ 98, 219. 336 Kreuzer DVJJ-Rundbrief März 1990, S. 6 f. Zu den organmedizinischen, psychischen und psychosozialen Risiken des Cannabiskonsums s. Petersen/Thomasius Auswirkungen von Cannabiskonsum und -missbrauch, 2007, die ua auf die bes. Gefahren eines Konsums vor dem 16. Lebensjahr hinweisen, aaO, S. 53. 337 Näher Dölling Eindämmung des Drogenmißbrauchs zwischen Repression u. Prävention, 1995. 338 Zur Präventionsforschung s. Künzel-Böhmer/Bühringer/Janik-Konecny Expertise zur Primärprävention des Substanzmißbrauchs, 1993. 339 Vgl. Heckmann in ders., Hrsg., Drogentherapie in der Praxis, 1991, S. 71 f. 340 Zur Verfassungsmäßigkeit des Drogenstrafrechts BVerfGE 90, 145. Zu strafrechtlichen Rechtsfolgen u. Therapie als Gesamtkonzeption für Drogenabhängige Brunner Zbl. 80, 415. Zur Kooperation von Drogenhilfe u. Justiz Baudis BewH 00, 436; ders. in DVJJ-BW., Neue Wege im Umgang mit JKriminalität, 2004 S. 39; zu Drogenkonsumräumen § 10a BtMG u. Katholnigg NJW 00, 1217; Ullmann Kriminalistik 00, 578. Zusammenfassend Paul Drogenkonsumenten im JStrafverfahren, 2005; Nötzelmann ZJJ 12, 185. Vgl. auch die Beiträge in ZJJ 09, 292 ff u. Kriminalistik 15, 627 ff. 31

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scheiden, muss der Diagnose die Prognose folgen, welche den Versuch enthält, das künftige Legalverhalten des jungen Täters vorauszusagen. Da sich menschliches Verhalten nicht mit Sicherheit vorausberechnen lässt, sind Kriminalprognosen mit einem erheblichen Fehlerrisiko behaftet. Umso wichtiger ist es, sich um möglichst tragfähige Grundlagen der Prognoseerstellung zu bemühen. Hierzu wurden verschiedene Prognosemethoden entwickelt341. In der Praxis wird ganz überwiegend mit intuitiven Prognosen gearbeitet. Richter und Staatsanwälte versuchen dabei, idR ohne spezifische Fachausbildung, insbes. aufgrund der Ermittlungen der JGH und aus dem Gesamteindruck der Hauptverhandlung die Persönlichkeit des J zu erfassen und seine weitere Entwicklung sowie Notwendigkeit und Wirkung von Sanktionen einzuschätzen, wobei sie sich auf ihre Menschenkenntnis und berufliche Erfahrung stützen. Bei den intuitiven Prognosen handelt es sich also um „geronnene“ Erfahrung. Da die Erfahrungswerte von Praktikern jedoch begrenzt sind und nicht systematisch erhoben, ausgewertet und überprüft werden, können die Prognosen durch empirisch nicht fundierte individuelle Einstellungen und Werthaltungen beeinflusst sein und deshalb zu Fehleinschätzungen führen342. Die klinische Prognose erstellen Psychologen und Psychiater mit kriminologischer Erfahrung, indem sie umfassend explorieren, psychodiagnostische und andere klinische Untersuchungen zugrunde legen und die erhobenen Befunde zum kriminologischen Wissensstand in Beziehung setzen343. Die klinische Prognose ermöglicht es in bes. Maße, kriminologischen Sachverstand für die Praxis nutzbar zu machen; sie steht und fällt freilich mit der Qualität des Sachverständigen. Wegen des zeitlichen und finanziellen Aufwandes und der begrenzten Zahl der zur Verfügung stehenden kriminologisch erfahrenen Sachverständigen kommt sie nur in Einzelfällen in Betracht. Die statistische Prognose stellt Faktoren, die in einem statistischen Zusammenhang mit Rückfälligkeit stehen, in Prognosetafeln zusammen. Für Personen mit gleicher Faktorenzahl wird der Anteil der Rückfälligen ermittelt. Dieser Prozentsatz gibt die Rückfallwahrscheinlichkeit für alle Täter an, bei denen die entsprechende Zahl von Faktoren festgestellt wird. Eine Weiterentwicklung stellen die Strukturprognosetafeln dar, die für bestimmte Merkmalskombinationen unterschiedliche Rückfallwahrscheinlichkeiten angeben344. Prognosetafeln sind verhältnismäßig leicht handhabbar. Ihre mechanische Anwendung birgt jedoch erhebliche Gefahren. Manche Faktoren, die in früheren Prognosetafeln als Schlechtpunkte verwertet werden, haben sich als nicht bedeutsam erwiesen345. Die Tafeln sind anhand bestimmter Tätergruppen konstruiert worden, außerdem können sich die Lebensverhältnisse schnell ändern. Je abhängiger eine Prognose von Umweltfaktoren ist, desto unsicherer wird sie durch deren Variabilität. Für die Vielzahl der Täter mit mittleren Punktzahlen ist die Aussagekraft der Prognosetafeln unsicher346. Besonderheiten des Einzelfalles bleiben bei statistischen Prognosen, die nur gruppenbezogene Wahrscheinlichkeiten angeben347, unbeachtet. Die Bedeutung der statistischen Prognose liegt deshalb vor allem darin, dass sie bei Extremgruppen mit bes. hoher bzw. niedriger Punktzahl Hinweise für eine günstige bzw. ungünstige Prognose zu geben vermag. Sachgerecht ist es, den Weg einer strukturierten Einzelfallprognose auf der Grundlage kriminologischen Erfahrungswissens zu gehen348. Wesentliche Grundlagen hierfür hat Göppin-

341 Darstellung der Methoden bei Brettel in Göppinger S. 230 ff; Dahle Handb. d. For. Psychiatrie Bd. 3, 2006, S. 25 ff; Schöch Intern. Handb. d. Kriminologie Bd. 1, S. 371 ff; DHL/Dölling § 20 Rn 8 ff.

342 Kaiser S. 411. 343 Zum kriminalprognostischen Gutachten s. Kröber Handb. d. For. Psychiatrie Bd. 3, 2006, S. 69 ff u. die Empfehlungen für Prognosegutachten von Boetticher ua sowie Kröber ua NStZ 19, 553 ff u. 574 ff. 344 Schöch in Kaiser/Schöch/Kinzig S. 137. 345 Schaffstein ZStW 67, 209. 346 Kaiser S. 413; Schnorr Kriminalistik 20, 680. 347 Schöch in Kaiser/Schöch/Kinzig S. 136; Schnorr aaO. 348 Wulf MKrim. 05, 290; DHL/Dölling § 20 Rn 17. 32

I. Jugendkriminologische Aspekte

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ger erarbeitet349. Danach sind als für das Legalverhalten des Täters relevante Bereiche zu analysieren: die Herkunftsfamilie, die Persönlichkeit des Täters, der Aufenthalts-, Leistungs- und Freizeitbereich, die Kontakte und Bindungen sowie die eigene Familie, die Problembereiche Alkohol, Nikotin und Drogen, Schwierigkeiten im Vorfeld von Delinquenz, frühere Straftaten und die letzte Straftat, das Verhalten nach der Tat und die Zukunftsüberlegungen des Täters. Auf der Basis dieser Erhebungen kann im Wege der idealtypisch-vergleichenden Einzelfallanalyse eine Beurteilung des Täters im Hinblick auf die Stellung der Tat im Lebenslängsschnitt (z.B. kontinuierliche Hinentwicklung zur Kriminalität oder Kriminalität im Rahmen der Persönlichkeitsreifung), das Vorhandensein kriminalitätsbegünstigender oder -hemmender Konstellationen im aktuellen Lebensquerschnitt und die Relevanzbezüge und Wertvorstellungen des Täters erfolgen. Diese Beurteilung ermöglicht eine Voraussage der künftigen Entwicklung des Täters und seiner Beeinflussbarkeit durch die verschiedenen jstrafrechtlichen Reaktionsformen350. Hilfreich ist auch der Blick auf die von Rasch351 herausgearbeiteten prognostisch relevanten 78 Dimensionen: die bekannte Kriminalität in ihrer Beziehung zur Persönlichkeit des Täters und zu situativen Umständen, der Persönlichkeitsquerschnitt des Täters, der Verlauf seit Begehung der Tat und die Perspektiven des Täters. In ähnlicher Weise unterscheiden Müller/Nedopil352 die folgenden (noch in Unterpunkte aufgegliederten) Hauptbereiche, auf die bei einer Prognosestellung einzugehen ist: das Ausgangsdelikt, anamnestische Daten, die postdeliktische Persönlichkeitsentwicklung und den sozialen Empfangsraum353. Wird gefragt, woher der Täter kommt, wie er sich im Verlauf seines Lebens mit den auf ihn einwirkenden Einflüssen auseinandergesetzt hat, welche Faktoren bei der Tat wirksam waren, welche Stellung die Tat im Leben des Täters einnimmt und wie er sich mit ihr auseinandersetzt, welche Schwächen und welche Stärken der Täter hat und welche Stützungsmöglichkeiten und Zukunftsperspektiven erkennbar sind, und werden die Befunde entsprechend dem kriminologischen Erfahrungswissen sorgfältig gewichtet, kann eine Prognose in verantwortbarer Weise erstellt werden. Dies ist idR auch dem kriminologisch geschulten Juristen möglich. Kommen dagegen psychische Störungen des Täters in Betracht oder lässt sich aus sonstigen Gründen keine Klarheit gewinnen, muss ein Sachverständiger zur Erstellung einer klinischen Prognose herangezogen werden. Einzelfallbeurteilung und statistische Prognoseverfahren sollten miteinander verknüpft werden354. Bei der Prognoseerstellung sind stigmatisierende Formulierungen zu vermeiden, damit nicht eine ungünstige Prognose zu ihrer eigenen Erfüllung beiträgt (vgl. Rn 7). Die zu ermittelnden prognostisch relevanten Dimensionen sollten sich aus dem Sachverhalt des Urteils herauslesen lassen (s. § 54, 11)355.

349 Kriminologie, 4. Aufl. 1980, S. 166 ff; Angewandte Kriminologie, 1985; vgl. auch Bock in Dölling, Hrsg., Die Täter-Individualprognose, 1995, S. 1 ff. 350 Zur Anwendung dieser Methode in der Praxis der JStrafrechtspflege s. Schallert DVJJ-J 98, 17; Koch DVJJ-J 98, 23; Wulf ZJJ 06, 147; Bock ZJJ 06, 282; Oetting NK 08, 124; für eine Anwendung der Methode in gewichtigen Fällen Herre Die Prognoseklauseln der §§ 56 StGB u. 21 JGG, 1997 S. 119; krit. MMT/Trenczek § 52 SGB VIII Rn 44; Graebsch/ Burkhardt ZJJ 06, 140. 351 Forensische Psychiatrie, 1986, S. 297; Modifizierung dieser Konzeption bei Konrad/Huchzermeier/Rasch Forensische Psychiatrie u. Psychotherapie, 5. Aufl. 2019, S. 429 ff. 352 Forensische Psychiatrie, 5. Aufl. 2017, S. 352. 353 Zum vergleichbaren Basler Kriterienkatalog für die Kriminalprognosen („Dittmann-Liste“) s. Hachtel/Vogel/ Graf FPPK 19, 73. 354 Vgl. Rettenberger FPPK 18, 28; Dahle/Lehmann FPPK 18, 37; Endres/Stemmler ZJJ 21, 32. 355 Zur Prognose im JStrafrecht s. auch die Beiträge in ZJJ 06, 120 ff sowie ZJJ 10, 236 ff, Karanedialkova-Krohn/ Fegert ZJJ 07, 285 u. Maschke in DVJJ-BW, Gutachten im JStrafverfahren, 2008, S. 85. Zu einem Kriterienkatalog für die Risikobewertung in der polizeilichen JSachbearbeitung vgl. Bergmann/Wesely ZJJ 20, 170, die krit. Beiträge von Bode/Seidensticker, Lindenberg/Lutz u. Graebsch/Schorsch in ZJJ 21, 5 ff u. dazu Bergmann/Wesely ZJJ 21, 194 u. Schilling ZJJ 21, 201. 33

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26. Kriminalprävention 79 In den letzten Jahren hat die Kriminalprävention zu Recht starke Beachtung gefunden356. Die strafrechtliche Reaktion auf Kriminalität ist unverzichtbar, aber in ihren Wirkungen begrenzt. Es bedarf daher umfassender Anstrengungen zur Vorbeugung von Kriminalität. Dies gilt insbes. auch für die JKriminalität357. Förderung der Erz. in der Familie, Schaffung gedeihlicher Sozialisationsbedingungen, Eröffnung von Perspektiven in Schule und Beruf, Angebote sinnvoller Freizeitgestaltung, Förderung von sozialer Handlungskompetenz und Verantwortungsbereitschaft sowie Abbau von delinquenzfördernden Faktoren und Tatgelegenheiten gehören zu den Aufgaben der Kriminalprävention358. Die Erfüllung dieser Aufgaben ist nicht nur Sache des Staates, erforderlich ist vielmehr die Mitarbeit möglichst vieler Bürgerinnen und Bürger und gesellschaftlicher Gruppen. Bes. wichtig ist die Kriminalprävention „vor Ort“ in den Gemeinden. Im Rahmen der Kommunalen Kriminalprävention359 sollte in gemeinsamen Gremien ermittelt werden, welche Kriminalitätsprobleme bestehen, und sollten Lösungen entwickelt und verwirklicht werden360. Die JGH sollte an Maßnahmen zur Prävention von JKriminalität mitwirken361 und auch die Mitarbeit der StA in Präventionsgremien kann sinnvoll sein362.

II. Grundgedanken und Erziehungsauftrag des JGG 1. Altersgrenzen des JGG 80 „Die Jugendlichen“ und „die Heranwachsenden“ sind keine einheitlichen Gruppen, die für alle Zeiten gleich bleiben. Es gibt keine festen, klar erkennbaren Entwicklungsetappen, sondern nur eine alles andere als gleichmäßig fortlaufende Entwicklung jedes einzelnen Menschen. Heute vollzieht sich im allg. vor allem die körperliche, aber auch die intellektuelle Entwicklung schneller als früher (Akzeleration), während die sittlich-charakterliche Entwicklung zurückbleiben kann (Dissoziation der Reife). Gleichzeitig ist aber auch die Streuungsbreite bei der Entwicklung wesentlich größer als früher, auch bei der körperlichen Entwicklung. Den Entwicklungsabschnitt JAlter bestimmen also nicht feste Altersgrenzen363. 356 Vgl. Meier Kriminologie, 6. Aufl. 2021, § 10; DHL/Hermann § 27; Walsh ua, Hrsg., Evidenzorientierte Kriminalprävention, 2018; Steffen ZJJ 17, 4. 357 Näher Kerner in JStrafrecht an der Wende S. 99 ff. 358 Beispiele von Präventionsprojekten in Bendit/Erler/Nieberg/Schäfer, Hrsg., Kinder- u. JKriminalität, 2000; s. auch die Beiträge in DVJJ-Regionalgruppe Nordbayern, Hrsg., Kriminalprävention, 2002; DVJJ-BW, Neue Wege im Umgang mit JKriminalität, 2004, S. 7 ff u. in DVJJ-BW, Prävention von JKriminalität, 2005, S. 7 ff sowie Füllgrabe Kriminalistik 00, 181 u. Bannenberg/Rössner ZJJ 03, 111 zu Ergebnissen des in den USA über Präventionsmaßnahmen erstellten Sherman-Reports; s. auch die Beiträge in ZJJ 12, 4 ff u. ZJJ 17, 4 ff. 359 Vgl. dazu Schwind/Schwind § 18; Bubenitschek/Greulich/Wegel Kriminalprävention in der Praxis, 2014; Hermann/Dölling in Walsh ua (FN 356), S. 709 ff. 360 Siehe dazu DVJJ-BW, Kriminalprävention auf kommunaler Ebene, 1997; Dölling/Feltes/Heinz/Kury, Hrsg., Kommunale Kriminalprävention – Analysen und Perspektiven, 2003; Feltes, Hrsg., Kommunale Kriminalprävention in Baden-Württemberg, 1995; Görgens BewH 00, 169; Heinz DVJJ-J 97, 61, 155; Kury, Hrsg., Konzepte Kommunaler Kriminalprävention, 1997; Trenczek/H. Pfeiffer, Hrsg., Kommunale Kriminalprävention, 1996; Ernst/Fehrenbach/Jensen in: DVJJ-BW, JKriminalität – Prävention u. Reaktionen, 2014, S. 7. 361 Weyel DVJJ-J 96, 249; Beispiele bei Jetter-Schröder in DVJJ-BW, Entwicklungen u. Perspektiven der JStrafrechtspflege, 2000 S. 27 ff; Tiedeken DVJJ-J 02, 331; zur Kriminalprävention in der Kinder- u. JHilfe s. auch Gabriel/Holthusen/Schäfer RdJ 99, 346; Lüders Zbl. 00, 1. 362 Schaefer NJW 96, 1324. Zu Jugendrechtshäusern als Beratungsstellen und rechtspädagogischen Bildungseinrichtungen s. von Hasseln DVJJ-J 01, 150; NK 02, 50; von Hasseln-Grindel/Petzold RdJ 10, 530; krit. Höynck NK 02, 28. 363 Siehe auch BGH 36, 37 = BGH JR 89, 519 mit zust. Anm. Brunner; Günter in Venzlaff/Foerster/Dreßing/Habermeyer Psychiatrische Begutachtung, 7. Aufl. 2021, S. 644, 659. 34

II. Grundgedanken und Erziehungsauftrag des JGG

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Deshalb hat das JGG zwar, wie die praktischen Bedürfnisse unabweisbar fordern, feste Al- 81 tersgrenzen zwischen strafunmündigen Kindern, J, Hw. und Erwachsenen gezogen (§ 1; zur Diskussion um die Strafmündigkeit Rn 121–123). Doch ist diesen Grenzen dadurch die Starrheit genommen, dass in ihrer Entwicklung zurückgebliebene J strafrechtlich nicht verantwortlich sein können (§ 3) und dass gegen – noch nicht zu weitgehend selbständigen Persönlichkeiten ausgereifte – Hw. die gleichen auf die Entwicklung abgestimmten Maßnahmen verhängt werden können, wie sie für J vorgesehen sind (§ 105). Die Vorschriften der §§ 3, 105 rufen den Richter allerdings zur Beantwortung von Fragen auf, die er auch mit Hilfe von Sachverständigen oftmals nicht befriedigend zu lösen vermag, was in der Praxis zu Rechtsunsicherheit und Rechtsungleichheit führen kann. Umgekehrt bietet das JRecht eine so reiche Auswahl verschiedenster Reaktionsmittel, dass aus ihnen sowohl für den noch etwas zurückgebliebenen J wie für den sich dem Abschluss seiner Reifeentwicklung nähernden Hw. das jeweils Passende gefunden werden kann.

2. Eigenständigkeit des JRechts Die JKriminalität ist nach Täterpersönlichkeit und Tat anders als die allg. Kriminalität, was – 82 ungeachtet der gleichen Straftatbestände – zur Eigenständigkeit des JRechts führt (§ 2)364. Die Bestrafung von J mit den Strafen des ErwRechts wäre nicht nur nicht gerechtfertigt, sondern meist auch für deren weitere Entwicklung gefährlich. J, die Straftaten begangen haben, müssen mit den ihrer Persönlichkeit und ihrer Entwicklung angemessenen Maßnahmen wieder in die Gemeinschaft eingegliedert werden. Das Plädoyer von Kusch365 für die Abschaffung des JStrafrechts ist daher verfehlt366. Die Eigenständigkeit des JStrafrechts ist geboten, gekennzeichnet und in ihren Wirkungen insbes. sichtbar durch das Primat der Erz.

3. Erziehung im JGG Schrifttum H.-J. Albrecht Ist das deutsche JStafrecht noch zeitgemäß? Gutachten D zum 64. DJT, 2002; Beulke Wieviel Erz. ist im JStrafrecht möglich? in Rösner, Hrsg., Toleranz – Erz. – Strafe. Hofgeismarer Protokolle Nr. 266, 1989, S. 65; Bietz Erz. statt Strafe, ZRP 81, 212; Bohnert Strafe u. Erz. im JStrafrecht, JZ 83, 517; Breymann Zur inneren Reform des JStrafverfahrens, Zbl. 88, 448; Busch/Müller-Dietz/Wetzstein, Hrsg., Zwischen Erz. u. Strafe. FS Härringer, 1995; Dölling Erz. im JKriminalrecht u. Legalbewährung nach jstrafrechtlichen Sanktionen, RdJ 93, 370; ders. Täterbehandlung: Ende oder Wende? Eine Bilanz, in Jehle, Hrsg., Täterbehandlungen u. neue Sanktionsformen, 2000, S. 21; Eckert Zur Technik strafrechtl. Verhaltenssteuerung, Zbl. 82, 135; Eisenberg Zur Verantwortung vor dem ErzGedanken im JStrafrecht, JR 74, 485; Foerster Schuld u. Sühne. Grundfragen des Verbrecherproblems u. der JFürsorge, 4. Aufl. 1961; ders. Strafe u. Erz. – Sühne u. Besserung, in Schaffstein/Miehe, Hrsg., Weg u. Aufgabe des JStrafrechts, 1968, S. 31; Götte Die Bedeutung des Strafbedürfnisses u. der Strafprovokation für das erz. Handeln, 1965; Grunewald Der Individualisierungsauftrag des JStrafrechts, NStZ 02, 452; ders. Die De-Individualisierung des ErzGedankens im JStrafrecht, 2003; Häußling/Reindl, Hrsg., Sozialpädagogik u. Strafrechtspflege. GS Busch, 1995; Heinz Neue ambulante Maßnahmen nach dem JGG, MKrim. 87, 129; Heinz/Hügel Erz. Maßnahmen im deutschen JStrafrecht, 1986; Justizministerium Baden-Württemberg, Hrsg., Verantwortung j. Menschen im Recht, 2000; Hellmer Schuld u. Gefährlichkeit im JStrafrecht, 1964; ders. Erz. u. Strafe, 1957; Kaiser Strafen statt Erziehen?, ZRP 97, 451; ders. Internationale Tendenzen der JKriminalität u. des JKriminalrechts, in JStrafrecht an der Wende, S. 1; Kupfer Erz. als Strafform, KrimJ 74, 249; Loofs Erz. u. Strafe, JWohl 66, 146; M.-K. Meyer JStrafe wegen „Schwere der Schuld“, Zbl. 84, 446; Mörke JStrafe – ein ErzMittel, SchlHA 65, 153; Nothacker ErzVorrang u. Gesetzesauslegung im JGG, 1985; ders. Das sozialisationstheoretische Konzept des JKriminalrechts 1986; Ostendorf Maßloses ErzStrafrecht oder gebändigtes

364 Nothacker S. 143. 365 NStZ 05, 65. 366 Vgl. Ostendorf NStZ 06, 320. 35

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Präventionsrecht, in Walter 1989, S. 91 ff; ders. Das deutsche JStrafrecht – zwischen Erz. u. Repression, StV 98, 297; Pieplow Erz als Chiffre, in Walter 1989, S. 5 ff; Philipp Zur Weiterentwicklung des ErzGedankens, Zbl. 83, 596; v. Schlotheim Zur ErzAufgabe des JStrafrechts, RdJ 68, 321; Schlüchter De nihilo nihil oder Der ErzGedanke im JStrafrecht, GA 88, 110; dies. Der ErzGedanke als Leitbild der Verteidigung im JStrafverfahren, in BMJ, Hrsg., Verteidigung in JStrafsachen. Kölner Symposium, 1987, S. 29 ff; dies. Plädoyer für den ErzGedanken, 1994; Schüler-Springorum Zur aktuellen Diskussion über Strafe u. Erz. in der deutschen JGerichtsbarkeit, FS Dünnebier, 1982, S. 649; Streng Der ErzGedanke im JStrafrecht, ZStW 94, 60; Thomae Bewußtsein, Persönlichkeit u. Schuld, MKrim. 61, 114; Trede Hat die Erz. ausgedient? in DVJJ, Hrsg., Verantwortung für Jugend, 2006, S. 128; Viehmann Anmerkungen zum ErzGedanken im JStrafrecht aus rechtsschaffender Sicht, in Walter 1989, S. 111 ff; Walter Einführung, Über die Bedeutung des ErzGedankens, in ders., Hrsg., Beiträge zur Erz. im JKriminalrecht, 1989, S. 1 ff u. S. 59 ff; Wolf Strafe u. Erz. nach dem JGG, 1984; v. Wolffersdorff Wir werden euch helfen! Die vielen Gesichter des ErzGedankens in JFürsorge u. Justiz, ZJJ 09, 96; s. auch die Beiträge in ZJJ 13, 240 ff u. 14, 4 ff.

83 Das Gesetz fordert vom JRichter Entscheidungen, die tief in die weitere Entwicklung des J eingreifen können, im positiven Sinne auch sollen (vgl. § 5, 13). Deshalb betont der BGH in ständiger Rechtsprechung das „Primat der Erz.“, die er als die „Basis aller Regelungen des JStrafrechts“ erkennt367. In dem 2007 in das JGG eingefügten § 2 I hat der Gesetzgeber in S. 2 ausdrücklich festgelegt, dass Rechtsfolgen und Verfahren mit dem Ziel der Rückfallverhinderung vorrangig am ErzGedanken auszurichten sind. Der Grundsatz der Erz. ist so vorrangig368, dass bereits der Versuch des Täters, sein Leben in geordnete Bahnen zu lenken, und Ansätze positiver Entwicklung eingehende Darlegungen dahin verlangen, ob und inwieweit eine längere JStrafe oder ein Strafrest von 4 Monaten zur weiteren Förderung und Festigung durch Nacherz. geboten ist; das Tatunrecht ist gegen die Folgen der Straftat für die weitere Entwicklung des J (z.B. Behinderung einer begonnenen Ausbildung oder deren Beendigung) abzuwägen369. Werden erz. Gründe überhaupt nicht geprüft, hat das Urteil keinen Bestand370. 84 In der Diskussion wird allerdings teilweise die Streichung des ErzGedankens aus dem JGG gefordert und besteht auch unter den Befürwortern des ErzGedankens keine Einigkeit über den Inhalt des ErzBegriffs. Wie Beulke371 dargelegt hat, hat die Ernüchterung auf die ErzEuphorie der 70er Jahre eine Reihe von Autoren den ErzGedanken im JStrafrecht schlechthin ablehnen und an Stelle der Erz. verfahrensrechtliche Garantien und möglichst geringe Sanktionierung für J und Hw. fordern lassen372. Gerken/Schumann373 bezeichnen Erz. als die verschleiernde Schimäre, die in Wirklichkeit Strafe etikettiert, und nach Ludwig374 lässt sich leichter einsperren, wenn man vorgebe zu erziehen. Gerken/Berlitz375 meinen, „wer es mit der Erz. ernst meint, muss bereit sein, das gesamte JStrafsystem aufzugeben“. Nach Zach376 soll der ErzGedanke aus dem JGG gestrichen werden, weil er mit einem „autoritären Zwangsmaßregelungskonzept von Erz.“ verbunden ist und bleibt. Nach Eisenberg/Kölbel377 „werden die Voraussetzungen zur Verwirklichung zentraler Elemente des ErzAuftrags – etwa Schutz …, Förderung und Integration … – nicht nur im öffentlichen Bewusstsein, sondern mitunter auch bei den Amtsträgern nur eingeschränkt akzeptiert“. Sie erkennen aber die erz. Grundausrichtung des JGG grds. als begrüßens-

367 368 369 370 371 372

Z.B. BGH 36, 42 = JR 89, 519 mit zust. Anm. Brunner; BGH NJW 02, 76 = NStZ 02, 204 mit Anm. Walter. BGH StV 82, 173 = JR 82, 432 mit zust. Anm. Brunner. BGH B NStZ 89, 522; auch BGH StV 89, 478. BGH B NStZ 86, 446 u. BGH NStZ 87, 442. 1989, S. 80. Ludwig Zbl. 86, 333, 338; Müller/Otto in Damit Erz. nicht zur Strafe wird, 1986, S. XV; Voß J ohne Rechte, 1986, S. 214; Feltes ZStW 88, 158, 173. 373 Ein trojanisches Pferd im Rechtsstaat, zit. bei Pieplow S. 29. 374 Zbl. 86, 338. 375 Zit. bei Pieplow S. 52. 376 DVJJ-J 96, 253. 377 Einl. 41. 36

II. Grundgedanken und Erziehungsauftrag des JGG

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wert an378. H.-J. Albrecht379 kritisiert den ErzGedanken als unbestimmt und Erz. im JStrafrecht als ineffizient und fordert die Aufgabe des ErzPrinzips als Grundlage des JStrafrechts. Auch Nix380 spricht sich dafür aus, vom ErzGedanken im Strafrecht gänzlich Abschied zu nehmen. Der Begriff jstrafrechtlicher Erz. wird als unscharf381, mit Unsicherheiten verbunden382 85 und seine Verwendung als inflationär383 bezeichnet. In der Tat wird der ErzGedanke unterschiedlich verstanden. Pieplow384 bezeichnet „Erz. statt Strafe“ als historischen Kern des JStrafrechts und hält am ErzBegriff jedenfalls wegen seiner Transportfunktion für kriminalpolitische Fortschritte fest385. Er sieht Erz. als ein „Synonym für Entkriminalisierung, für ein SubsidiärMachen-Wollen“ von Bestrafung386. Walter387 hält einen spezifisch kriminalpolitisch ausgerichteten ErzBegriff für notwendig, der sowohl gegenüber pädagogischer Wissenschaft als auch gegenüber allgemeinen Inhalten des Straf- und Strafprozessrechts eigenständig und unabhängig ist. Der ErzGedanke verliere aber jegliche innovative Kraft, wenn Strafe als Form der Erz. angesehen werde388. Der Begriff der Erz. stehe für ein JRecht, das bei einer Minimierung staatlicher Eingriffe kompensatorische Formen der Tatbewältigung sucht389. Heinz390 hält es für geboten, den ErzGedanken von überzogenen Erwartungen an die spezialpräventive Wirksamkeit von justiziellen Sanktionen zu entschlacken, sieht ihn jedoch in seiner Begrenzungsfunktion für Normsetzung und Normanwendung als Eckpfeiler des JStrafrechts an. Nothacker391 deutet den ErzBegriff als Sozialisationsbegriff mit dem Ziel, Legalbewährung in der notwendigen Differenzierung anzustreben, und fordert392, den aus soziologischer Sicht obsoleten ErzBegriff durch den Sozialisationsbegriff zu ersetzen393. Ostendorf beklagt ein „veraltetes, autoritäres ErzVerständnis“394. Ziel strafrechtlicher Einflussnahme dürfe nur Verhinderung des Rückfalls sein395. Auch Balbier396 sieht im ErzGedanken ein spezialpräventives Anliegen. Beulke/Swoboda397 bezeichnen als Ziel der Erz. ebenfalls die Verhütung des Rückfalls, fügen aber hinzu, Erz. müsse den J positiv beeinflussen und festigen, weil Rückfallgefahr meist in der Persönlichkeit des J wurzele. Durch den Vollzug der Sanktionen soll nach Beulke398 „ein Leben in sozialer Verantwortung erreicht werden“. Auch Streng399 beschränkt das strafrechtliche ErzAnliegen auf Rückfallprophylaxe, sieht die Bedeutung der Erz. im JStrafrecht hauptsächlich in der Vermeidung von schädlichen Eingriffen sowie der Rücksichtnahme auf Entwicklungsvorgänge und anderweitig zu leistende Erz. und betrachtet außerdem spezialpräventive Normbekräftigung als erz. Aufgabe des JStrafrechts. Bohnert400 fordert „Entmischung in ein reines Erz.- und ein reines Strafverfah378 379 380 381 382 383 384 385 386 387 388 389 390 391 392 393 394 395 396 397 398 399 400 37

Einl. 40. Gutachten zum 64. DJT, D 97 ff. Einl. 12. Nothacker S. 59, 64, 378; Pieplow S. 16. Walter 1989, S. 1. Pfeiffer Kriminalprävention im JGerichtsverfahren, 1983, S. 91, 112. 1989, S. 56. S. 16, 57. S. 15; ihm folgend Swoboda ZStW 13, 92; 21, 865 f; ähnlich MMT/Trenczek § 52 SGB VIII Rn 8. 1989, S. 75. Walter in Kaiser/Kury/H.-J. Albrecht, Hrsg., Kriminologische Forschung in den 80er Jahren, 1988, S. 802. Walter 1989, S. 89. In Wolff/Marek, Hrsg., Erz. u. Strafe, 1990, S. 41. S. 83. Das sozialisationstheoretische Konzept des JKriminalrechts, 1986, S. 116. S. 110. NStZ 89, 195. In Walter 1989 S. 103. DRiZ 89, 404. Rn 2 ff. 1989, S. 71 f, 76. ZStW 94, 83 ff. JZ 83, 517.

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ren“401 und sieht darin einen Gewinn an Rechtsklarheit innerhalb des Verfahrens und an Überzeugungskraft gegenüber dem J. Nach Wolf402 ist das Verhältnis Strafe-Erz. das – ungelöste – Problem des JStrafrechts; er meint, als ErzMaßnahmen kämen nur Handlungen und Unterlassungen in Betracht, die objektiv geeignet seien, die angestrebte Persönlichkeitsentwicklung des „Zöglings“ zu fördern oder zu sichern403, und unterscheidet zwischen „reinen Bestrafungen“, „reinen ErzMaßnahmen“ und „ErzStrafen404. Schließlich: Der Vorrang des ErzGedankens gegenüber dem Schuldprinzip sei nichts anderes als die Subsidiarität der JStrafe wegen Schwere der Schuld gegenüber den übrigen jgerichtlichen Strafen und Maßnahmen405. Nach Miehe406 muss Erz. im JStrafrecht als Komponente der strafrechtlichen Sozialkontrolle407 gerechtfertigt werden, wofür auch die historische Entwicklung des modernen JStrafrechts spreche. Nach Böhm/Feuerhelm408 sind erz. Hilfen in den jstrafrechtlichen Maßnahmen integriert, um den J organisch an seine Verantwortlichkeit als Erw. heranzuführen. Nach Grunewald409 geht es beim ErzGedanken um die Behandlung individueller Defizitlagen bei den jungen Tätern. 86 Aus der Diskussion ist das Fazit zu ziehen, dass am ErzGedanken als Grundlage des JStrafrechts festzuhalten ist410. Die Ausrichtung des JStrafrechts am ErzGedanken entspricht dem entwicklungsbedingten Charakter der JKriminalität. Der weite Spielraum bei der Sanktionsauswahl macht die jrichterlichen Maßnahmen als ErzMittel geeignet411. Eine Demontage des ErzGedankens würde die Fortführung der JStrafrechtsreform gefährden412. Auch Heinz413 lehnt eine Aufgabe des ErzGedankens zugunsten eines „Hilfe-“ oder „Rechtsstaatlichkeitsmodells“ ab. Der ErzGedanke lässt sich ausreichend konkretisieren. Bei der Erz. iSd JGG geht es um das Bemühen, weitere Delikte des jungen Täters zu verhindern. Hierbei müssen die Reaktionen auf den Entwicklungsstand des Täters abgestimmt werden. Erz. iSd JGG ist also jugendgemäße Spezialprävention414. Legalverhalten vollzieht sich nicht losgelöst von der Person des Handelnden. Es hat bestimmte innere Voraussetzungen. Die erz. Bemühungen müssen daher darauf gerichtet sein, die J und Hw. bei der Entwicklung der Fähigkeit und des Willens zu unterstützen, ihr Leben ohne Straftaten zu gestalten415. Das setzt die Herausbildung sozialer Handlungskompetenz voraus, verlangt aber auch die Förderung einer verantwortungsbewussten, die Rechtsgüter anderer Personen und der Gemeinschaft achtenden Einstellung und damit die Verinnerlichung von Werten416. Normverinnerlichung ist nach den Befunden der Kriminologie ein wesentlicher Faktor für konformes Verhalten417. Unterstützung der jungen Täter bei der Bewältigung ihrer mit der Delinquenz zusammenhängenden Probleme und Normverdeutlichung sind daher die

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S. 523. S. 4. S. 177. S. 181 ff. S. 362. In Mußgnug, Hrsg., Rechtsentwicklung unter dem Bonner GG, 1990, S. 249, 268. BVerfGE 74, 102, 122; BVerfG NStZ 88, 34: „staatliches Wächteramt“. S. 3. Die De-Individualisierung des ErzGedankens im JStrafrecht, 2003, S. 22, 266. Walter NStZ 87, 481; NJW 89, 1023; Kaiser ZRP 97, 457 f; ders. in JStrafrecht an der Wende, S. 32, 33; Dölling ebd. S. 183; Bindzus/Musset Grundzüge des JRechts, 1999, Rn 540; Streng Rn 21 ff; Beschlüsse des 64. DJT, NJW 02, 3077. 411 Vgl. Beulke GS Karlheinz Meyer, 1990, S. 682, der als Gebot der Stunde nicht die Ersetzung des ErzGedankens, sondern dessen stetigen Ausbau bezeichnet, aaO, S. 696. 412 AaO, S. 695. 413 In Wolff/Marek, Hrsg., Erz. u. Strafe, 1990, S. 42. 414 Dölling RdJ 93, 370; zust. LBN/Laubenthal/Nestler Rn 5; Burscheidt S. 32; vgl. auch Grunewald NStZ 02, 452: „individualisierende, jugendadäquate Intervention“; Ostendorf RdJ 20, 462: „jugendadäquates Präventionsstrafrecht“. 415 Bock FS Hanack, 1999, S. 637 f. 416 Schlüchter GA 88, 125; dies. Plädoyer für den ErzGedanken 1994, S. 41 f, 94. 417 Dölling aaO, 377 mwN. 38

II. Grundgedanken und Erziehungsauftrag des JGG

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Aufgaben eines erz. gestalteten JKriminalrechts418. Wie im Einzelnen auf JDelinquenz zu reagieren ist, hängt von den jeweiligen Problemlagen und dem Erkenntnisstand von Kriminologie und Sozialpädagogik ab. Es ist daher Nothacker419 und Walter420 zuzustimmen, die dartun, dass „Bestrebungen, zu einem zeitlos gültigen ErzBegriff zu gelangen“, an der Bedeutung der Erz. für das JKriminalrecht vorbeigehen, sowie der Auffassung von M.-K. Meyer421, dass der ErzBegriff allg. eine spezialpräventive Orientierung umschreibt, ohne es allerdings dabei genügen zu lassen. Die neuere kriminologische Forschung zeigt, dass theoretisch fundierte, klar strukturierte Behandlungsprogramme, die auf die Vermittlung von sozialen Fertigkeiten und die Veränderung kriminalitätsfördernder Einstellungen abzielen, Rückfälligkeit in einem zwar begrenzten, aber doch ins Gewicht fallenden Ausmaß vermindern können422. Im Wandel der Reaktionen auf JKriminalität seit Ende der 70er Jahre erkennt Heinz423 die 87 Tendenz einer (Rück)Besinnung auf den Grundgedanken des JStrafrechts, nämlich auf den Vorrang der Erz. und die jstrafrechtlich-kriminologische Devise „im Zweifel weniger“424. Der „Weg der inneren Reformen“ durch eine „Kriminalpolitik von unten“425 hat die in den §§ 45, 47 normierte Subsidiarität des Strafverfahrens (dazu Rn 102 ff) zu einem bedeutsamen Ausdruck des ErzGedankens werden lassen426. Der Begriff Erz. erinnert JStAe und JRichter an wohlwollende Grundhaltung und Zuwendung (vgl. Rn 112) und hat zu vermehrten informellen Erledigungen im Wege der Diversion geführt; 2017 standen 75 % informellen Sanktionen nur 25 % Verurteilungen im Bundesgebiet gegenüber427. Dies wird unterstützt durch Zurückdrängung stationärer Maßnahmen, großzügigere Strafaussetzung zur Bew., erweiterte ambulante Betreuung sowie Erprobung und Praktizierung neuer ambulanter Maßnahmen428. Es geht, wie in der Hauptverhandlung, um die schwierige Balance zwischen Nähe und Distanz, zwischen Zuwendung und Konsequenz. Erz. so gesehen kann nach Viehmann429 „Weg und Brücke aus dem Strafrecht hinaus, Rechtfertigung und Fundament für eine anders geartete Behandlung“ sein. Viehmann fordert Vertrauen auf Selbstregulierung, auf die Episodenhaftigkeit straffälligen Verhaltens im überwiegenden Bereich der JKriminalität, Toleranz und Gelassenheit gegenüber Ärgernissen dieser Phase und empfiehlt Hilfen und Normverdeutlichung. Das Vertrauen auf „Selbstregulierung“ hat freilich seine Grenzen. Beulke430 weist zu Recht darauf hin, dass mehr als völlige Untätigkeit fordern muss, wer ernst genommen werden will. Gefährdete oder bereits geschädigte J und Hw. bedürfen der Hilfe. Erz heißt im JStrafrecht 88 nicht allein „weniger“ tun, sondern auch die Lebensführung regeln431, Legalbewährung fördern durch „Verinnerlichung der allgemeinen Werte der Gesellschaft“432 und „geistig-charakterliche 418 419 420 421 422

Weyel DVJJ-J 94, 30. S. 59, 60. 1989, S. 71. Zbl. 84, 446. Zusammenfassend Dölling in Jehle, Hrsg., Täterbehandlung u. neue Sanktionsformen, 2000, S. 35 ff; Dünkel in Jehle, aaO, S. 379 ff; Lösel/Koehler/Hamilton BewH 12, 175; Lösel ZJJ 13, 260; ders. FPPK 20, 35; siehe aber auch Heinz in: DVJJ-BW, JKriminalität – Prävention u. Reaktionen, 2014, S. 142 u. Heinz S. 88 zum Mangel an methodisch fundierten Evaluationsstudien über die einzelnen jstrafrechtlichen Sanktionen. 423 MKrim. 87, 129, 135. 424 Heinz MKrim. 87, 153. 425 Heinz MKrim. 87, 135 mwN. 426 Heinz in Eser/Kaiser/Weigend, Hrsg., Drittes deutsch-polnisches Kolloquium über Strafrecht u. Kriminologie, 1988, S. 391. 427 Streng Rn 195. 428 Vgl. BMJ, Hrsg., Neue ambulante Maßnahmen nach dem JGG, 1986; Dünkel/Geng/Kirstein Soziale Trainingskurse u. andere neue ambulante Maßnahmen nach dem JGG in Deutschland, 1998. 429 Bei Walter 1989, S. 126. 430 1989, S. 90. 431 Ähnlich Breymann Zbl. 88, 450. 432 Bindzus/Musset Grundzüge des JRechts, 1999, Rn 535. 39

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Formung auf die Gesellschaft hin“433, damit J und Hw. „als selbstverantwortliche Personen innerhalb der menschlichen Gemeinschaft ihr Leben führen können“434. ErzZiel im JStrafrecht ist ganz gewiss nicht Pestalozzis „Reinheit der inneren Anschauung“435, aber doch die „Weckung der Einsicht in die sozialethischen Grundwerte und der Fähigkeit, ihnen entsprechend zu handeln“436. Zwischen Wertorientierungen und Kriminalität besteht ein enger Zusammenhang437. Die J sollen befähigt werden, Konflikte sozialadäquat auszutragen. Künftige Straffreiheit wird sich oftmals nur über eine positive Veränderung der Persönlichkeit des Straftäters erreichen lassen438. Warum sollte dem Richter, der das unter dem Primat der Erz. stehende JStrafrecht (Rn 83) anzuwenden hat und durch Berücksichtigung erz. Bedürfnisse Missgriffe vermeiden soll439, der Blick hierauf verwehrt werden (vgl. Rn 90 aE)? Es ist aber Erz. im JGG nicht mit Pädagogik gleichzusetzen440; eine solche Gleichsetzung kann gefährlich sein, weil rechtliche Maßstäbe und Sicherungen vernachlässigt werden könnten441. Geboten ist es, die Legalbewährung über die Förderung sozialer Handlungskompetenz und die Verinnerlichung von Werten anzustreben. Eine „totale Pädagogisierung“ des JStrafrechts würde jedoch zu unnötiger Dramatisierung von auch geringer Delinquenz fern von ErzDefiziten (dazu Rn 26), zu unverhältnismäßigem Eindringen in die Persönlichkeitssphäre des J und zu Überbetreuung bei gelegentlicher Delinquenz führen442. Der JRichter ist nicht Erzieher, auch nicht Richter und Erzieher zugleich443 und darf sich nicht zu letztlich schädlichen Husarenritten in die Pädagogik verleiten lassen (vgl. § 10, 4). 89 Schlüchter betont zu Recht444, dass auf eine Tat dann deutlich reagiert werden muss, wenn sie sich als Symptom für eine kriminelle Entwicklung darstellt, dass aber eine Episode nicht zum Symptom umgestaltet werden darf (dazu Rn 2). Der J muss die Erfahrung machen, dass die Gesellschaft auf Verstöße gegen die gesetzliche Ordnung reagiert – wenn auch nur mit maßvoller Normverdeutlichung. Der J muss erkennen, dass er sein Tun zu verantworten hat, dass er sein Verhältnis zur Umgebung selbst gestaltet445. Letztlich muss der J Normbefolgung erlernen446; er muss die Fähigkeit zur Selbstkontrolle lernen, es geht auch um Zwang gegen sich selbst447. Das JStrafrecht hat daher die Aufgabe, Normenlernen durch „konstruktive Grenzziehung“448 zu fördern449. Die Schwierigkeit und Gefahr bleibt, dass nur „richtige“ Maßnahmen der Erz. dienen, falsche aber schaden, uU auch ein ungerechtfertigter Freispruch450. 90 „Erz. durch Strafe“ erweist sich als ein zu undifferenziertes Schlagwort, wenn man berücksichtigt, dass Erz. nicht das alleinige Steuerungselement jrichterlicher Entscheidung ist451 und dass viele Straftaten keineswegs einem ErzDefizit entspringen. Es hilft aber auch nichts darüber

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Schlüchter GA 88, 117, 125, 126. BVerfG NStZ 87, 275; vgl. auch BVerfGE 7, 205; 52, 168. Zit. bei Hellmer Erz. u. Strafe, 1957, S. 110; Tenckhoff JR 77, 485, 487. Miehe Die Bedeutung der Tat im JStrafrecht, 1964, S. 23; Tenckhoff aaO; Grunewald NStZ 02, 457; Putzke Beschleunigtes Verfahren bei Hw., 2004, S. 52; Buckolt Die Zumessung der JStrafe, 2009, S. 391 f; Putzke/Feltes S. 35: „Herausbildung sozialer Handlungskompetenz und Normverinnerlichung“. 437 Siehe Hermann Werte und Kriminalität, 2003. 438 Nothacker S. 79 ff.; Tenckhoff JR 77, 485, 487; Beulke 1989, S. 72. 439 BGH 36, 37 = JR 89, 519 mit zust. Anm. Brunner. 440 Pieplow S. 16, 46. 441 Walter 1989, S. 80, 82. 442 Dölling Zbl. 89, 318. 443 Wolf S. 361. 444 GA 88, 108; Plädoyer für den ErzGedanken, S. 110. 445 Breymann Zbl. 88, 450; Hellmer Erz. u. Strafe, S. 124. 446 Bottke Generalprävention u. JStrafrecht aus kriminologischer u. dogmatischer Sicht, 1984, S. 15. 447 Schlüchter GA 88, 127. 448 Rössner in Justizministerium Baden-Württemberg, 2000, S. 71. 449 Näher zum Normenlernen MBH/Rössner/Bannenberg § 1 Rn 1 ff. 450 Schlüchter in BMJ, Hrsg., Verteidigung in JStrafsachen, 1987, S. 31. 451 Pieplow 1989, S. 42. 40

II. Grundgedanken und Erziehungsauftrag des JGG

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hinweg, dass letztlich allen jstrafrechtlichen Sanktionen Eingriffscharakter zukommt452; so wird nicht nur der Betroffene meist empfinden; der Zwang ist schließlich ein Hauptwesenszug des Rechts, und selbst das Zivilrecht ist zwangsläufig „repressiv“ (dazu auch § 9, 6 mwN). Beulke453 bezeichnet das JGG als Kompromiss zwischen Erz. und Strafe. Ihm454 erscheint zu Recht eine Erz. utopisch, die „gerade bei straffällig gewordenen J und Hw…. vollkommen ohne das Zwangsmittel der Strafe auskommt“. Im Spannungsverhältnis zwischen Schuld- bzw. Tatstrafrecht und Erz.- bzw. Täterstrafrecht ist danach die JStrafe auch ein Mittel der Erz.455. Dem ist zuzustimmen, auch die JStrafe macht – allerdings als ultima ratio – wie jede andere Sanktion den J für sein Tun verantwortlich. Wir haben mit unbestimmten Rechtsbegriffen leben gelernt, sie sind so unentbehrlich, wie 91 sie allerdings auch missbrauchbar sind, indem sie zu einer Verzerrung des ErzGedankens führen können. Die hier vorgenommene Festlegung erscheint hilfreich für den J und erträglich nach allen Seiten, wenn man Extreme fernhält (vgl. § 37, 6). Es ist das Essentiale des jstrafrechtlichen ErzBegriffs, dass entwicklungsfördernde Reaktionsformen den vergeltenden vorgehen (s. § 5, 1–2, 4–6)456. Erz. darf ebenso wenig Strafe als wohlmeinende Zuwendung etikettieren457, wie sie auch nicht dazu führen darf, J in unangemessener Weise schlechter zu stellen als Erw. Deshalb können „Gründe der Erz.“ niemals zu einer JStrafe führen, welche das Maß der Tatschuld, die gerade bei J oftmals geringer wiegt, überschreitet (näher § 18, 23 ff)458, zumal das gerade dem ErzGedanken entgegenstünde, der die Überschreitung „rechtfertigen“ sollte (näher § 18, 26). Deshalb darf auch die JStrafe nie die Höchststrafe des ErwStrafrechts überschreiten (näher § 18, 28), wohl aber – zumeist – niedriger bleiben. Die berechenbare Reaktionsbegrenzung durch die Tatschuld wahrt – auch im JStrafrecht – Menschenwürde und Humanität besser als ein bloßes Behandlungskonzept459 oder die alleinige Berufung auf ein unergründliches ErzBedürfnis460. Tat und Schuld sind also ein notwendiges und letztlich auch erz. wirkendes Regulativ, die Tat ist der Anlass für das Verfahren und die Sanktionen und zugleich äußerste Begrenzung. Es geht beim ErzGedanken nicht um „wilhelminische Kadetten-Pädagogik“461, sondern „um eine sinnvolle, auf die Besonderheit des Entwicklungsstandes der J oder Hw. abgestimmte Reaktion“462. Die „bescheidene Forderung, den J gegenüber Erw. jedenfalls nicht zu benachteiligen“463, ist Ausgangs-, aber nicht Begrenzungslinie. Ausführungen zum ErzGedanken finden sich insbes. bei ErzMaßregeln § 5, 5; bei Zucht- 92 mitteln § 13, 2; bei JA § 16, 8, 11 u. 12; § 87, 1–5; § 90, 1 ff; bei JStrafe § 17, 1 ff u. 11; § 18, 13 ff, 23 ff; bei Nichteinbeziehung nach § 31 III § 31, 33 u. 34; bei Verteidigung § 68, 1, 8–13; bei Kosten § 74, 7 aE. Dazu wird auf Erz. und Schuld hingewiesen bei Rn 98–101; auf die Bedeutung der Tat bei Rn 96 u. 97; auf den Subsidiaritätsgrundsatz bei Rn 102–105. In das elterliche ErzRecht nach Art. 6 II GG darf der Staat im Rahmen seines Wächteramts 93 gem. Art. 6 II 2 GG und zur Erfüllung der Verfassungsaufgabe der Durchsetzung des Strafrechts eingreifen. Hierbei tritt das Elternrecht nicht zwangsläufig zurück; Konflikte zwischen Elternrecht und strafrechtlichem Rechtsgüterschutz sind durch Abwägung zu lösen464. Zum Elternrecht gehört auch die Befugnis, die Rechte des Kindes dem Staat gegenüber zu schützen. Den 452 453 454 455 456 457 458 459 460 461 462 463 464 41

Vgl. Schlüchter GA 88, 123. StV 87, 458. 1989, S. 73. AaO, S. 76. Walter 1989, S. 88. Walter aaO, S. 85. BGH StV 90, 389 bei § 18, 25; BGH B NStZ 95, 536. Vgl. Bertram BewH 85, 10, 16, 17. Vgl. Weitl Die dogmatischen Grundlagen des geltenden JStrafrechts, Diss. München 1967, S. 192. So aber Müller/Otto Damit Erz. nicht zur Strafe wird, 1986, S. VIII. Beulke GS Karlheinz Meyer, 1990, S. 697. Walter in Wolff/Marek, Hrsg., Erz. u. Strafe, 1990, S. 51 ff. BVerfGE 107, 104 = NJW 03, 2004 mit Bespr. Grunewald NJW 03, 1995.

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Eltern muss daher im JStrafverfahren die Möglichkeit einer frühzeitigen Beteiligung und der Geltendmachung ihrer Vorstellungen über die Reaktion auf den Tatvorwurf eingeräumt werden465. Eingriffe in das Elternrecht bedürfen einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage466.

4. Erziehung der Heranwachsenden 94 Auch auf die volljährigen Hw. darf und muss der Staat kriminalitätsvorbeugend einwirken. Zum strafrechtlichen „Schutz der Allgemeinheit“ und zum „Schutze des Betroffenen“, nicht jedoch zu seiner „Besserung“, sind nach dem BVerfG467 auch gegen Erw. Eingriffe in das bes. hohe Rechtsgut der Freiheit der Person (Art. 2 II 2 GG) verfassungsrechtlich zulässig, solange sie den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wahren. Darüber hinaus ist nach dem BVerfG468 auch gegenüber Hw. der subsidiäre ErzAuftrag des Staates gerechtfertigt469. Wenngleich der J die Volljährigkeit mit 18 Jahren erreicht und damit das elterliche ErzRecht 95 erlischt, darf nach dem BVerfG der Gesetzgeber davon ausgehen, dass das staatliche ErzRecht zeitlich begrenzt bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres fortdauert, in der schon vor dem das Volljährigkeitsalter senkenden G v. 31.7.1974470 vom GG gebilligten Annahme, dass junge Menschen bis zu diesem Zeitpunkt erzfähig und -bedürftig sind. Schaffstein471 hat diese Entscheidung des BVerfG „unter pragmatischen Gesichtspunkten“ begrüßt. Das GG verwehrt es deshalb nicht, iSd §§ 1 II, 105, also in auch gegenständlich begrenztem Umfang, die ErzHilfe des Staates fortwirken zu lassen. Während das Volljährigkeitsalter generell einheitlich festgelegt werden musste, entspricht es der Lebenserfahrung, dass der Reifegrad der J unter strafrechtlichen Gesichtspunkten unterschiedlich sein kann (vgl. Rn 80, 124 ff). Auch wenn der Angeklagte bei seiner Verurteilung das 21. Lebensjahr vollendet hat, kann daher bei der Rechtsfolgenentscheidung auf erz. Gründe abgehoben werden472. Auch bei der Bemessung einer JStrafe gegen einen Hw. sind erz. Gesichtspunkte vorrangig473. Jede Weisung ist daraufhin zu prüfen, ob sie für einen – volljährigen – Hw. angemessen ist (näher § 10, 7; § 105, 35 f). Die §§ 108–110 regeln, welche Verfahrensvorschriften des JGG auf Hw. anzuwenden sind.

5. Die Tat 96 Die Tat behält aber auch im JRecht ihr Gewicht474. Dazu Rn 91; § 5, 5 bes. aE. Ihretwegen wird der J verantwortlich gemacht. Sie allein macht das Eingreifen des Strafrichters erforderlich. Daher muss die gerichtliche Reaktion auch in Beziehung zur Tat stehen, jene darf nicht außer Verhältnis zu dieser sein475. Bei einem Missverhältnis wäre auch erz. nichts gewonnen: Der zu hart angefasste J müsste sich ungerecht behandelt fühlen und mit Trotz reagieren; überdies sind 465 466 467 468 469

BVerfGE 107, 104, 121 f. BVerfGE 107, 104. BVerfGE 22, 180 = NJW 67, 1795. BVerfGE 74, 102 = NStZ 87, 275; dazu Brunner Zbl. 87, 257; Ostendorf EzSt Nr. 1 zu § 10. Ebenso KG NStZ 03, 207 f. Zur Kriminalität der Hw. s. Elsner/Molner Kriminalität Hw. u. Jungerwachsener in München, 2001; Antholz ZJJ 14, 230. 470 BGBl. I 1713. 471 NStZ 87, 502, 503. 472 BGH NJW 02, 76 = NStZ 02, 204 mit Anm. Walter. Für Verfassungswidrigkeit der erz. Einwirkung auf im Urteilszeitpunkt Erw. Bachmann JZ 19,762. 473 BVerfG NJW 03, 2228; BGH StV 88, 307. 474 Blau Zbl. 59, 117 u. MDR 58, 731; Miehe Die Bedeutung der Tat im JStrafrecht, 1964; Hermann/Wild MKrim. 89, 13. 475 Ostendorf § 5, 2; Böhm/Feuerhelm S. 154. 42

II. Grundgedanken und Erziehungsauftrag des JGG

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die Möglichkeiten erz. Beeinflussung durchaus beschränkt. Der zu mild Behandelte verkennt leicht das Gewicht seiner Tat, die offensichtlich nicht ernst genommen wurde. Auch der BGH fordert eine differenzierte Berücksichtigung der Tat, allerdings nur „in zweiter Linie“ neben dem vorrangig zu berücksichtigenden ErzGedanken476. Bei Einbeziehung einer früheren Verurteilung in eine EinheitsJStrafe ist deshalb neben der Würdigung des Täters auch eine Gesamtwürdigung aller der Einbeziehung zugrunde liegenden Taten geboten (§ 31, 11, 12). Damit ist aber nicht einem Strafen um der Sühne – also um des Strafens – willen das Wort 97 geredet. Das lassen schon die Ursachen der JKriminalität und der alle Bestimmungen des JGG berührende ErzGedanke nicht zu. Deshalb wird auf jede Unrechtsreaktion verzichtet, wenn das Eingreifen des Strafgerichts nicht – oder wegen inzwischen angeordneter erz. Maßnahmen nicht mehr – notwendig ist (§§ 5 III, 45, 47). Grds. wird auch nicht härter eingegriffen, als es zur erz. Beeinflussung dieses Täters erforderlich ist (zu Kapitalverbrechen gem. § 17 II 2. Alternative vgl. § 17, 25 ff). So kann und muss die vom Gericht verhängte Maßnahme für eine gleiche Tat bei verschieden gearteten J unterschiedlich sein. Nicht jede JStraftat ist nur puberale Entgleisung oder Ergebnis behebbarer Umwelteinflüsse, sie kann auch Frühsymptom einer tiefer in der Persönlichkeit verwurzelten Verbrechensbereitschaft sein477, was der Tat einen ganz anderen Stellenwert gibt und andere richterliche Reaktion fordert. Zur gerichtlichen Sanktionspraxis s. § 37, 6.

6. Die Schuld Auch im JStrafrecht begrenzt die Tatschuld die Höhe der Strafe nach oben478. Denn „Strafe 98 setzt Schuld voraus, Schuld ist Vorwerfbarkeit“479. An dieser Begrenzung muss um so mehr festgehalten werden, als JStraf- und JAVollzug in der Praxis trotz aller Bemühung mit Mängeln behaftet sind und bleiben werden, weil man es nicht mit berechenbaren Größen, sondern mit Menschen zu tun hat. Auch bei den ambulanten Maßnahmen wird wegen der weithin bestehenden Überlastung von JÄmtern und BewHelfern oft Erreichbares nicht erreicht. Bei den ErzMaßregeln, die ja nur aus Anlass der Tat angeordnet werden (§ 5 I), wird man es niemals zu einem Missverhältnis zwischen Tat und Maßnahme kommen lassen dürfen480. Dagegen setzt die in der Tat hervorgetretene Schuld keine Grenze nach unten. Schließlich 99 ermöglicht § 45 I, II bei jeder Tat den Verzicht auf eine strafrechtliche Reaktion. Mit Lackner481 kann man auch dann von Vergeltung absehen, wenn ErzMaßregeln ausreichen, die oft auch eine sühnende Wirkung haben, obgleich sie das weder sollen noch müssen (vgl. Rn 90). Doch setzt das JGG hier selbst Grenzen, einmal, indem § 13 I die Verhängung von Zuchtmitteln vorschreibt, wenn dem J eindringlich zum Bewusstsein gebracht werden muss, dass er für Unrecht einzustehen hat (dazu Rn 89), zum andern, indem § 17 II in der zweiten Alternative die Verhängung von JStrafe gebietet, wenn das wegen der Schwere der Schuld erforderlich ist. Gerade im Interesse der Erz. ist oft die nachdrückliche Konfrontierung mit Tat und Schuld notwendig (Rn 89 u. 90). Das will bedacht sein, bevor von der Verfolgung ganz abgesehen (§ 45) oder nur ErzMaßregeln ohne jede repressive Wirkung angeordnet werden. Praktiker stellen immer wieder fest, dass gerade die jungen Menschen ein starkes Gefühl 100 für die Tat und ihre Folgen, für die Angemessenheit der Reaktion haben. Die Verletzung dieses Gefühls durch eine nicht angemessene richterliche Maßnahme könnte leicht zu einem Misserfolg des erz. Bemühens führen. Denn wirkliche Erz., dh eine positive Beeinflussung der Ein476 BGH StV 81, 27; 130; StV 82, 78; 173; BGH B NStZ 83, 448; Hermann/Wild MKrim. 89, 14. 477 Beulke/Swoboda Rn 21. 478 Hermann/Wild MKrim. 89, 16; Burscheidt S. 92; allg. zum Schuldprinzip im JGG Weber Die Bedeutung des Schuldprinzips im JStrafrecht, 2011. 479 BGH 2, 200. 480 Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; Böhm/Feuerhelm S. 154; abl. Weinschenk UJ 90, 151. 481 JR 65, 30. 43

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stellung des Täters zum Zusammenleben und zu den Werten unserer Kultur (Rn 88), setzt eine personale Beziehung zwischen Erzieher und dem jungen Menschen voraus; diese kommt aber gerade dann nicht – oder für längere Zeit nicht – zustande, wenn der J die Maßnahme des Gerichts als unangemessen hart empfindet und sich unverstanden fühlt (dazu Rn 89). 101 Im JRecht darf also nicht ohne Rücksicht auf erz. Notwendigkeiten nur um des Schuldausgleichs (Sühne) willen gestraft, aber auch nicht nur um der Erz. willen ohne Bezug zur Tat erzogen werden482; die Tat muss vielmehr auch um der Erz. willen (vgl. Rn 89) geahndet oder auch nicht geahndet werden. Die in den §§ 45, 47 normierte Subsidiarität des Strafverfahrens ist bedeutsamer Ausdruck und die Folge des das gesamte JStrafrecht durchziehenden ErzGedankens (dazu Rn 83–94, insbes. 87 u. Rn 102 aE). Deshalb müssen die Maßnahmen sowohl dem Schuldgehalt der Tat wie den erz. Notwendigkeiten entsprechen. Erz. Maßnahmen über die durch das Gewicht der Tat gezogenen Grenzen hinaus sind im JStrafrecht nicht zulässig; allein auf das Gewicht der Schuld kann nur bei schwerster Kriminalität abgestellt werden (§ 17, 11). Insgesamt geht es um die Frage, wie dieser Täter durch eine seiner Tat angemessene Reaktion von künftigen Straftaten abgehalten werden kann. Im Mittelpunkt der Überlegungen steht nicht die Tat, sondern der Täter. Dabei können rechtsstaatliche Erfordernisse in Widerstreit mit dem ErzZiel des JGG geraten (§ 2, 17).

7. Subsidiaritätsprinzip 102 Das Gesetz stellt entsprechend den erheblichen Unterschieden in Entwicklung sowie Umwelt des Täters und Tatgewicht eine reiche Auswahl verschiedenster Reaktionsmittel, nämlich ErzMaßregeln (§§ 9–12), Zuchtmittel (§§ 13–16a) und JStrafe (§§ 17–30) zur Verfügung, die meist auch nebeneinander verhängt werden können (§ 8). Aus der Erkenntnis, dass der Täter noch in der Entwicklung steht, also noch beeinflussbar ist, ergibt sich bei der Abkehr vom bloßen Vergeltungsstrafrecht von selbst die Folgerung, dass bei dieser Auswahl erz. Bemühungen den Vorrang haben müssen (§ 5), zumal die Schuld der j. Täter oft nicht allzu schwer wiegt. Das Gesetz bestimmt deshalb in § 5 II, dass weder JStrafe (§§ 17 ff) noch Zuchtmittel (§§ 13 ff), nämlich Verwarnung, Auflagen und JA, verhängt werden dürfen, wenn ErzMaßregeln (§§ 9 ff), nämlich Weisungen oder die Verpflichtung zur Inanspruchnahme von Hilfe zur Erz. iSd § 12, ausreichen483. Den vielgestaltigen Weisungen (§ 10) kommt dabei bes. Bedeutung zu. Die JStrafe ist das letzte Mittel, wenn weder ErzMaßregeln noch Zuchtmittel ausreichen. Der J soll nur im äußersten Notfall der Obhut seiner Eltern entzogen werden. Also: keine stationäre Behandlung, wo ambulante genügt! Keine JStrafe, wo eine ErzMaßregel oder ein Zuchtmittel ausreicht. Keine Hilfe nach § 12 Nr. 2, wo die ErzBeistandschaft oder eine Weisung zum Ziel führt. Kein JA, wo eine Ermahnung, Verwarnung oder eine Auflage genügt. Der JRichter weiß um vergebliche ErzVersuche und ErzFehler im präjustiziellen Raum und muss in Kauf nehmen, dass auch sein Eingriff nur ein Versuch mit Aussicht auf Erfolg sein kann484. Die aus solcher Einsicht folgende Verminderung der stationären Sanktionen485 enthebt gleichwohl nicht von der Pflicht, im gegebenen Falle auf solche zurückzugreifen. Je mehr Eingriffsmöglichkeiten jeglicher Art das Gesetz aber bereitstellt, desto größer ist – neben der Gefahr des Fehlgriffs – auch die Chance, dass die „richtige“ Sanktion – jenseits von Strenge und Milde – gefunden wird. Informelles Eingreifen gewinnt immer mehr Raum (Diversion § 45, 6 ff). 2017 wurde bei 75 % der nach JStrafrecht verfolgten J und Hw. das Verfahren nach §§ 45, 47 eingestellt486. Ein Vergleich der Geburtskohorten 1967 und 1961 zeigt, dass die erste Sanktionserfahrung im JAlter in 2 von 3 Fällen informeller 482 483 484 485 486

Knögel NJW 58, 609; Lackner JZ 54, 13. Subsidiarität, welche Nothacker, S. 156, als Variante des Verhältnismäßigkeitsprinzips bezeichnet. Vgl. Schüler-Springorum FS Dünnebier, 1982, S. 656. AaO, S. 654. Streng Rn 195. 44

II. Grundgedanken und Erziehungsauftrag des JGG

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Art war und dass 85 % der erstmalig informell Sanktionierten über das JAlter ohne formelle Verurteilung bleiben487. Zu Mehrfachtätern Rn 43. Das Subsidiaritätsprinzip darf jedoch nicht dazu führen, mildere Maßnahmen zu verhängen, 103 wenn sie zur Erz. nicht ausreichen. Die Praxis zeigt, dass „Milde“ am falschen Platz, bes. die wiederholte Verhängung von JA gegen kriminelle oder verwahrloste J, zur Verschärfung „krimineller Karrieren“ führen kann. Der erz. Eingriff des JRichters setzt nicht nur ein gutes Einfühlungsvermögen voraus, sondern fordert in gleicher Weise die Bereitschaft, möglichst nur helfend einzugreifen, wo dies noch ausreichend, wenn auch riskant erscheint, aber auch Entschlossenheit zu schwerwiegenden Entscheidungen, wo die Persönlichkeit des J dies gebietet. Die Chancen für den Erfolg der Maßnahmen des JRichters sind umso größer, je weniger die Fehlhaltung verfestigt ist, je kürzere Zeit sie besteht. Halbe Maßnahmen bewirken, dass später die kriminelle Entwicklung eingeschliffen ist und Diagnose und Therapie um ein Vielfaches schwieriger und aufwendiger, wenn nicht vergeblich sein werden488. Bei der Auswahl der Maßnahmen ist das Gericht weder an den Strafrahmen (aber § 18, 28) 104 noch an die Zweiteilung in Verbrechen und Vergehen (§ 12 StGB) des ErwRechts gebunden. Allein aus Tat und Sühnegedanken bestimmte Straftaxen sind dem JStrafrecht fremd. Entscheidend ist die Frage, wie der Täter gebessert werden kann. Aus Anlass eines Verbrechens können z.B. ErzMaßregeln angeordnet werden, wobei es nicht einmal zu einer Hauptverhandlung kommen muss (§ 45, 25, 31). Umgekehrt kann aber ein geringes Vergehen (z.B. nach § 248a StGB) nicht mit einer JStrafe geahndet werden, weil hier die Folge außer Verhältnis zur Tat läge (§ 17, 11 u. 16). Das Gewicht der Schuld begrenzt also die jrichterlichen Maßnahmen nur nach oben; dagegen kann, wo erz. keine oder nur geringe Maßnahmen geboten sind, die Reaktion unter dem der Schuld entsprechenden Maß bleiben (vgl. jedoch §§ 13–16 u. § 17, 11). Mehrere Taten führen grds. nur zu einer einheitlichen Unrechtsreaktion (§ 31); denn der Täter steht im Vordergrund, nicht die Tat. Auch sonst lassen sich keine festen Einteilungen finden489, man kann nicht ErzMaßregeln für 105 die kleine, Zuchtmittel für die mittlere und JStrafe für die schwere Kriminalität reservieren490 oder unterscheiden in „reine Bestrafungen“, „reine ErzMaßnahmen“ und „ErzStrafen“491 oder das Verfahren in ein reines Erz- und ein reines Strafverfahren entmischen492. Nur Elastizität ermöglicht im Einzelfall eine Verbindung von Straf- und ErzZweck; eine generell befriedigende Lösung ist noch nicht gefunden493 und wird sich auch kaum finden lassen. Wegen der groben Abgrenzung, die nur ungenau sein kann, ohne damit fehlerhaft zu werden494, s. § 5, 5 ff. Für eine jrichterliche Fortbildung der Sanktionen fordern Walter/Pieplow495 „eine wie auch immer zu konkretisierende Bedürfnislage“ und warnen – zu Recht – vor unkontrollierten Wucherungen.

8. Reaktionsbeweglichkeit bei den Maßnahmen Bei den getroffenen Maßnahmen kann es nicht ein für allemal sein Bewenden haben. Denn die 106 Erz. muss mit der fortschreitenden Entwicklung Schritt halten. Dazu müssen alle erz. Maßnahmen abgeändert werden können, soweit sie nicht für nur kurze Zeitdauer getroffen werden. Deshalb können Weisungen ausgetauscht und verändert werden (§ 11 II; § 10, 1). Auch die JStra-

487 Heinz/Spieß/Storz in Kaiser/Kury/H.-J. Albrecht, Hrsg., Kriminologische Forschung in den 80er Jahren, 1988, S. 656. Weinschenk MKrim. 84, 18. Zust. Itzel S. 112 mwN in FN 634. So Hellmer Erz. u. Strafe, 1957. So Wolf S. 362. So Bohnert JZ 83, 517. Hellmer NJW 64, 117, 178 u. RdJ 67, 225. So aber Wolf S. 104. NStZ 88, 167.

488 489 490 491 492 493 494 495 45

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fe ist, jedenfalls bei längerer Dauer, hinsichtlich der Vollstreckungsdauer unbestimmt; denn die Entlassung kann schon nach Teilverbüßung erfolgen (§ 88). Nicht nur die Vollstreckung (§§ 21 ff), auch die Verhängung (§§ 27 ff) einer JStrafe kann zur Bewährung ausgesetzt werden; wie die BewZeit genutzt wird, kann im Einzelfall recht unterschiedlich sein und sich im Zeitverlauf ändern (§ 22–25, 28 f, bes. §§ 22 II 2, 23 I 3, 24, 28 II 2). Für die Ausgestaltung des Vollzugs der JStrafe wie des JA (§ 90), der Unterbringung in der Entziehungsanstalt (§ 93a II) und der Hilfe zur Erz nach § 12 Nr. 2 bleibt ein weiter Raum. Gleiches gilt für die Durchführung der ErzBeistandschaft. In diesen Regelungen ist der erz. Gedanke der Reaktionsbeweglichkeit im JGG, einer erhöhten Variabilität der Rechtsfolgen, deren Kombination und der Verfahrensformen496, verwirklicht. Das darf aber nie zu einer Loslösung der Maßnahme von Tat und Schuld führen497. Maßregeln der Besserung und Sicherung sowie Nebenstrafen und Nebenfolgen sind nur in beschränktem Umfang zulässig (§§ 6, 7).

9. Täterpersönlichkeit 107 Es muss die Persönlichkeit des jungen Täters im Rahmen des Verhältnismäßigen gründlich erforscht und versucht werden, ihn zu erkennen und richtig zu beurteilen, um die rechte Maßnahme zur rechten Zeit zu treffen. Sein bisheriges Legalverhalten, seine soziale Einbindung und seine Beziehungen zur Tat sind dabei beachtenswerte, aber letztlich nur äußere Merkzeichen, die zur Beurteilung eines in der Entwicklung befindlichen Menschen keinesfalls ausreichen. Bes. JGerichte (§ 33) mit bes. örtlicher und sachlicher Zuständigkeit (§§ 39–42) und die sorgsame Auswahl der JRichter, -schöffen und -staatsanwälte (§§ 35–37) sind damit ebenso unumgänglich wie die gesetzlich normierte und maßgebliche Mithilfe der JGH zu den Ermittlungen zur Täterpersönlichkeit (§ 38), wobei der JGH zur Erfüllung ihrer Aufgaben bedeutsame Rechte im Verfahren eingeräumt sind (§§ 50 III, 72b). Dem dient auch eine Spezialisierung der Polizei498. Wegen der großen Bedeutung des polizeilichen Umgangs mit jungen Beschuldigten sind bei der Aus- und Fortbildung von Polizeibeamten für die Bearbeitung von JSachen erhebliche Anstrengungen erforderlich499. Zur Zusammenarbeit von Polizei u. Sozialarbeit § 38, 49–51.

10. Reaktionsbeweglichkeit des Verfahrens 108 Um die Persönlichkeit des j. Täters anzusprechen, muss auch das Verfahren bes. elastisch sein und viele Möglichkeiten bieten. Neben dem förmlichen stehen das vereinfachte JStrafverfahren (§§ 76 ff) und das formlose ErzVerfahren (§§ 45, 47), die beide durch die Befreiung von Förmlichkeiten einen weitgehenden Einfluss erz. Gedanken ermöglichen. Zu Hauptverhandlung und Gespräch am runden Tisch vgl. Rn 112 u. 113. Ggf. können dem Familiengericht Anordnung und Auswahl von ErzMaßregeln überlassen werden (§ 53). – Auch der Verfolgungszwang (Legalitätsprinzip des § 152 II StPO) ist erheblich eingeschränkt.

496 Nothacker S. 203. 497 Zur Abwägung zwischen Flexibilität u. Rechtsstaatlichkeit s. Ostendorf GA 06, 515. 498 Zu Entwicklung polizeilicher JSachbearbeitung Folberth DVJJ-J 94, 327; zu den Aufgaben der Polizei im JStrafverfahren Ostendorf DVJJ-J 95, 103; zur polizeilichen Bearbeitung von JSachen Polizeidienstvorschrift 382, abgedruckt in DVJJ-J 97, 5; Lauton Jugend u. Polizei 1983; Clages/Nisse Bearbeitung von Jugendsachen. Lehr- und Studienbriefe Kriminalistik Nr. 27, 2001; Hübner ua DVJJ-J 97, 26; H. Pfeiffer DVJJ-J 99, 188; Meffert/Hegemann DVJJ-J 03, 40; Kunath ZJJ 12, 427; zur Notwendigkeit spezieller polizeilicher JDienststellen Bartmann DVJJ-J 96, 386; Piencka DVJJ-J 98, 16. 499 Wieben DVJJ-J 92, 65. 46

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Das JGerichtsverfahren ist auch wesentlich anders gestaltet als das allg. Strafverfahren. Im 109 Interesse der Erz. bedarf es bes. Beschleunigung (§§ 72 IV, 78 III, 56; § 55 RL 1 S. 1)500, die jedoch nicht auf Kosten der Persönlichkeitserforschung (§§ 43 f, 73) gehen darf, weshalb das beschleunigte Verfahren der StPO für J (nicht für Hw.) ausgeschlossen ist (§ 79 I). Der Beschleunigungsgrundsatz gilt auch in Nichthaftsachen501. Der Beschleunigung dient auch die Beschränkung der Rechtsmittel (§ 55)502. Der Gesichtspunkt der Beschleunigung bedarf der differenzierten Betrachtung. Bliesener/Thomas503 konnten in einer Untersuchung über Mehrfachtäter keine rückfallmindernde Wirkung der Verfahrensdauer feststellen. Die nordrhein-westfälischen Projekte „StA vor/für den Ort“ führten zu einer Verfahrensbeschleunigung, aber nicht zu einer Senkung der Rückfallquote504. Eine Beschleunigung hat also nicht ohne weiteres eine Verbesserung der Legalbewährung zur Folge505. Nach dem OLG Hamm506 ist ausnahmsweise eine längere Aussetzung der Hauptverhandlung zulässig, um die Grundlagen für die Rechtsfolgenentscheidung weiter zu ermitteln507. Im Interesse der Erz. soll grds. in Anwesenheit des J verhandelt werden (§§ 50 f); dabei soll er mit erw. Angeklagten möglichst nicht in Berührung kommen (vgl. aber auch § 103, 9 f). Außer in den Fällen der §§ 45, 47 ist jedes summarische schriftliche Verfahren ausgeschlossen, damit auch der Erlass eines Strafbefehls untersagt (§ 79 I; gegen Hw. zulässig, wenn ErwRecht angewendet wird; § 109, 13). Aus erz. Gründen soll die UHaft soweit wie möglich durch vorläufige erz. Anordnungen ersetzt werden (§§ 71 ff; dazu § 72, 2 u. 3); bei der Nichtanrechnung stehen erz. Gesichtspunkte im Vordergrund (§ 52a). Auch Anklage und Urteil müssen auf die Belange der Erz. ausgerichtet sein (§§ 46, 54). Bes. betont ist die Stellung der ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter (§§ 50 II, 67, 67a). In bestimmten Fällen ist die Anhörung des Disziplinarvorgesetzten von Soldaten vorgesehen (§ 112d). Verteidigung und Beistandschaft (§§ 68 ff) sind ebenso wie Kosten und Auslagen (§ 74) und die Mitteilungspflichten (§ 70) bes. geregelt. Interessen der Verletzten und der Allgemeinheit müssen, soweit möglich, hinter den Forderungen der Erz. zurücktreten; das Verfahren gegen J ist nicht öffentlich (§ 48); es gibt bei J keine Privatklage – wohl aber Widerklage – (§ 80 I, II); die Nebenklage gegen J ist nur eingeschränkt zulässig (§ 80 III); die Zubilligung einer Entschädigung des Verletzten im Strafverfahren ist nicht möglich (§ 81). – Das Verfahren für die Entscheidungen, die nach den §§ 21– 31 (Strafaussetzung zur Bew., Aussetzen der Verhängung der JStrafe u. nachträgliche Bildung einer Einheits-„Strafe“) und § 11 II (Abänderung von Weisungen); § 15 III 1 (Änderung von Auflagen); §§ 11 III, 15 III 2 (Verhängung von JA bei Verstoß gegen Weisungen oder Auflagen) zu treffen sind, wird in den §§ 57–66 geregelt.

500 BVerfG ZJJ 13, 315, 316 f; BGH NStZ 03, 364; NStZ-RR 04, 139, 140; BGH NStZ 10, 94, 95; OLG Stuttgart Justiz 04, 169; ZJJ 09, 156; KG StV 15, 42. 501 OLG Karlsruhe NStZ-RR 17, 59. 502 Zu Möglichkeiten der Beschleunigung vgl. Thesen des Arbeitskreises 7 des 34. DJGT in DVJJ, Hrsg., Kinder u. J als Opfer u. Täter, 1999, S. 779 ff; Ostendorff DVJJ-J 98, 240; ZJJ 14, 253; Stahlmann-Liebelt DVJJ-J 00, 176; Mann S. 37 ff; Khostevan Zügiges Strafverfahren bei j. Mehrfach- u. Intensivtätern, 2008; K.-A. Laue Das vorrangige JVerfahren – Ein Modell zur beschleunigten Verfolgung bes. gefährlicher Jugendstraftäter, 2011. Zu Möglichkeiten für ein schnelles Tätigwerden der JHilfe s. Arbeitsstelle Kinder- u. JKriminalitätsprävention, Hrsg., Schnelle Reaktion, 2001. Zu den Grenzen des Beschleunigungsgrundsatzes s. Mann S. 25 ff; Mertens Schnell oder gut? Die Bedeutung des Beschleunigungsgrundsatzes im JStrafverfahren, 2003; Mertens/Murges-Kemper ZJJ 08, 356; Rose NStZ 13, 315; Dollinger ZJJ 15, 192; Plewig FS Ostendorf, 2015, S. 669; Schatz FS Ostendorf, 2015, S. 797; vgl. auch die Beiträge in ZJJ 15, 4 ff; rechtsvergleichend Dünkel FS Ostendorf, 2015, S. 271. 503 ZJJ 12, 382. 504 Verrel FS Heinz, 2012, S. 524 ff. 505 Bliesener/Klett ZJJ 20, 10; vgl. Heinz S. 72, 80 f, nach dem die Annahme, eine schnelle strafrechtliche Reaktion sei spezialpräventiv bes. wirksam, bisher empirisch nicht bestätigt werden konnte. 506 StV 02, 404. 507 Für ein Zuwarten in bestimmten Fällen, um die Sanktionswahl sicherer zu machen, auch Rose NStZ 13, 318, 327. 47

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Insgesamt kann das JStrafverfahren nicht als bloße Unterart des allg. Strafverfahrens angesehen werden; es ist vielmehr nach Zielrichtung, Aufbau und Durchführung ein eigenständiges Verfahren508. Schaffstein hat zu Recht das JStrafrecht „als Pionier der allg. Strafrechtsreform“ bezeichnet509. Inzwischen allerdings hat das ErwStrafrecht entschieden aufgeholt, inspiriert gewiss durch das JStrafrecht. Bedeutung und Einfluss auf die Rechtspolitik hat die jstrafrechtliche „Reform durch die Praxis“ gewonnen (vgl. dazu § 45, 7). Aus der Eigenständigkeit des JStrafverfahrens gegenüber dem allg. Strafverfahren folgt, 111 dass es einen allg. Grundsatz, wonach ein J oder Hw. in vergleichbarer Verfahrenslage nicht schlechter gestellt werden dürfe als ein Erw. (Schlechterstellungsverbot), nicht gibt510. Wie gegenüber J und Hw. zu verfahren ist, das ist den speziellen Vorschriften und den Grundgedanken des JGG zu entnehmen und nicht einem formal-quantitativen Vergleich mit dem ErwRecht. Dieses Vorgehen rechtfertigt sich aus dem Bemühen des JGG, den Besonderheiten der Jugenddelinquenz gerecht zu werden, und ist daher mit Art. 3 GG vereinbar511. Zu Recht führt Böhm512 aus, dass der J nach geltendem JStrafrecht „nicht besser, sondern anders gestellt“ wird als der Erw. und „die Schablone, besser‘ – ,schlechter‘ … auf zwei Rechtsordnungen nicht angewendet werden kann, die der Gesetzgeber gerade nicht nach diesem Prinzip …, sondern nach anderen, von ihm als erz. verstandenen Vorstellungen organisiert hat“513. Nach Burscheidt514 folgt aus dem allg. Gleichheitssatz nicht, dass j. gegenüber erw. Delinquenten nicht schlechter gestellt werden dürfen; eine Schlechterstellung ist vielmehr zulässig, wenn sie auf nachvollziehbaren jspezifischen Gründen beruht und im Verhältnis zum ErzZweck angemessen ist.

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11. JGerichtsverhandlung 112 Die erste Verhandlung kann für den jungen Menschen in ihrer Gestaltung erhebliche Bedeutung gewinnen515. Mit oft geradezu abenteuerlichen Vorstellungen über Gericht und Verhandlung wird diese häufig nur schablonenhaft erlebt516. Die Kürze der Hauptverhandlung und die Dramatik der Situation517 verhindern leicht die Chance, die Hauptverhandlung als Lernfeld zu nutzen. Der JRichter sollte beim Angeklagten in Panik und Trotz die Angstgefühle erkennen und dem jungen Menschen helfen, sie zu überwinden, aber auch eine Selbsterhöhung des sich oft erstmals im Mittelpunkt des Interesses Fühlenden (vgl. § 48, 3) zurechtrücken, was nichts damit zu tun hat, dass der J für JStA und JRichter natürlich Mittelpunkt des Verfahrens ist. Die Hauptverhandlung muss in einer für den J verständlichen Weise geführt werden518. Zulässiges Verteidigungsverhalten darf nicht strafschärfend berücksichtigt werden (§ 18, 19 aE). Dem J wird man in Wertung seiner Unerfahrenheit, seiner Angst oder auch seines Trotzverhaltens mehr nachsehen müssen als Erw. Wann eine leichte Hand und wann „Strenge“ angebracht sind, sollte erkannt und genützt werden. Was der J in der ersten Verhandlung zugibt, wie er reagiert und sich verhält, ist weithin vom Richter und den anderen Verfahrensbeteiligten (zur Verteidigung § 68, 508 BGH 8, 349, 354. 509 In Immenga, Hrsg., Rechtswissenschaft u. Rechtsentwicklung, 1980, S. 247. 510 Beulke/Swoboda Rn 575; Streng Rn 13; Böhm FS Spendel, 1992, S. 779; Bindzus/Musset Grundzüge des JRechts, 1999, Rn 538; Scheffler NStZ 92, 492; Miehe in JStrafrecht an der Wende, S. 157 f; Mann S. 140; Buckolt Die Zumessung der JStrafe, 2009, S. 308; Fahl NStZ 09, 615; Hornbacher JurArbl. 09, 892; aA Albrecht S. 82; Eisenberg/Kölbel § 45, 9b; LBN/Laubenthal/Nestler Rn 6, 263; Nothacker S. 306. 511 Vgl. Beulke/Swoboda Rn 575. 512 AaO, S. 780. 513 Ebenso Bock in FS Hanack, 1999, S. 630; Geisler NStZ 02, 452; Grunewald NStZ 02, 456. 514 S. 169. 515 Siehe Brunner FS Böhm, 1999, S. 800 ff. 516 Böhm/Feuerhelm S. 70 f. 517 Schüler-Springorum MKrim. 69, 13. 518 Zu Verstehensproblemen j. Angeklagter vgl. Artkämper Verfahren vor JGerichten, 2020; ders. ZJJ 21, 231. 48

II. Grundgedanken und Erziehungsauftrag des JGG

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8 ff) abhängig und kann entscheidend für das spätere Verhalten des J sein. Der junge Mensch soll in der Verhandlung das Bemühen des JRichters und der anderen Verfahrensbeteiligten um ein gerechtes Urteil erleben und sich dabei ernst genommen und angenommen fühlen519. Schüler-Springorum520 hält Beziehungen zwischen einem verbesserten Kontakt des verhandelnden JRichters zum Angeklagten und dessen späterer Bewährung für möglich, wenn das stärker auf Verstehen und Verständigung abzielende Prozessverhalten des JRichters nicht der Gefahr erliegt, dem J eine dem folgenden Urteil widersprechende Atmosphäre vorzuspiegeln. Wie Ostendorf/Schady521 ausgeführt haben, sollte der JRichter den J weder duzen noch den hoheitlichen Verhandlungsführer „spielen“. Er muss den ehrlichen Mittelweg finden und darf, auch in Anbetracht des am Ende stehenden Urteils, nicht missbrauchbare Güte vorspiegeln. Es geht um die schwierige Balance zwischen Nähe und Distanz, um gelassene Entschiedenheit (Rn 63). Ein eindringliches „Verhandlungsgespräch“ kann bei jungen Menschen, die aus Neugier an Drogen geraten sind oder über die Droge Pseudokonfliktlösungen versuchen, helfen522. Zu jungen Ausländern, zu Dolmetschern und Rechtsmittelbelehrung Rn 51; zu j Straftätern mit oder aus politischem Hintergrund Rn 62, 63. Dem Urteil folgende Belehrungen über die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung aus dem Strafvollzug werden leicht missverstanden und können zu erz. Schwierigkeiten in der Vollzugsanstalt führen. Mit dem Versuch, die Hauptverhandlung durch Gespräche am „Runden Tisch“ möglichst 113 unter Verzicht auf die Robe zu entformalisieren523 sollen die Verständigungsmöglichkeiten in der Hauptverhandlung verbessert werden; es soll dem J erleichtert werden, seine Sichtweise in die Verhandlung einzubringen; hierdurch sollen die Chancen für eine Akzeptanz der Entscheidung durch den J und damit für eine erz. Einwirkung verbessert werden524. Diese Bemühungen müssen allerdings von der Gefahr einer Irreführung freigehalten werden, die besteht, wenn am Ende eines nahezu unverbindlich wirkenden freundlichen Gesprächs der eine „Partner“ eine Strafe ausspricht525. Bei geringer Alltagskriminalität wird vielfach ein Vorgehen nach §§ 45, 47 ausreichen. Im vereinfachten JVerfahren kann formfrei, soweit dies den Rechtsschutz des J nicht beeinträchtigt, im Richterzimmer und ohne Robe verhandelt werden. Schließlich kann der kundige JRichter auch eine „förmliche“ Hauptverhandlung im Rahmen der StPO verständlich und kommunikationsfreundlich gestalten.

12. Weitere Besonderheiten Auch die Vollstreckung (§§ 82 ff), der Vollzug (§ 90) und die Vorschriften des BZRG hinsichtlich 114 der jstrafrechtlichen Entscheidungen (Vor § 97) wurden den Besonderheiten des JAlters angepasst. Hervorzuheben ist, dass der JRichter auch die Vollstreckung leitet und einige bes. wesentliche Entscheidungen in richterlicher Unabhängigkeit trifft.

519 Krit. zur Rechtswirklichkeit Ludwig-Mayerhofer Das Strafrecht u. seine administrative Rationalisierung, 1998, S. 248, nach dem die Hauptverhandlungen überwiegend einem Routineprogramm folgen und Kommunikation zumeist nur in fiktiver Form zulassen; s. auch Dollinger ua MKrim 16, 325. Gegen eine erz. geprägte JGerichtsverhandlung Minkley Strafprozessuale Verfahrensgarantien versus verfahrensrechtliche Erz., Diss. Leipzig 2011. 520 FS Dünnebier, 1982, S. 652. 521 Grdl. zu §§ 48–51, 4. 522 Brunner Zbl. 71, 243; JR 73, 89 u. Zbl. 80, 415. 523 Vgl. Schreiber/Schöch/Bönitz Die JGerichtsverhandlung am „Runden Tisch“, 1981; Schüler-Springorum FS Dünnebier, 1982, S. 649, 652. 524 Für eine Verhandlung am Runden Tisch nach einem Schuldinterlokut Ostendorf/Schady Grdl. zu §§ 48–51, 5; ablehnend Tröndle DRiZ 70, 218. 525 Vgl. auch Schaffstein in Immenga, Hrsg., Rechtswissenschaft u. Rechtsentwicklung, 1980, S. 257 f. 49

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Auch im (Schul-)Disziplinarrecht526 sind die Grundsätze des JGG zu beachten. Eine Entlassung aus allen Schulen des Landes ist nicht gerechtfertigt wegen einer Tat, deretwegen das JGericht nur JA verhängt hat527. Zur Problematik der Mitteilungen an die Schulen § 70, 6. Die Regelungen des JGG gelten mit einigen Abweichungen auch für j. oder hw. Soldaten 116 (§§ 112 ff). Sie gelten weitgehend auch, wenn ausnahmsweise eine Strafsache gegen einen J oder Hw. vor einem ErwGericht verhandelt wird (§§ 102–104, 112, 112e). Hinsichtlich der Zuständigkeit der JGerichte gilt das Vorrangprinzip, welches, um die 117 Sachkunde bes. erfahrener oder bes. ausgewählter (§ 37) Richter besser nutzen zu können, die JGerichte gegenüber den gerichtsverfassungsgemäß gleichrangigen ErwGerichten als Gerichte höherer Ordnung (§ 209a Nr. 2a, b StPO) gelten lässt. Die JGerichte bestimmen somit selbst über ihre Zuständigkeit hinsichtlich der in ihren Zuständigkeitsbereich fallenden Spezialaufgaben (näher § 33b, 4 ff; § 41, 25 ff; § 103, 3 ff) Die JGerichte sind in JSchutzverfahren auch wahlweise neben den ErwGerichten zuständig 118 (s. Anh. nach § 125). 115

13. Jugendhilferecht 119 Die JRechtskommission der Arbeiterwohlfahrt hat 1970 vorgeschlagen, die Zweispurigkeit von JWohlfahrts- und JKriminalrecht durch ein einheitliches „JHilferecht“ oder „JKonfliktsrecht“ zu ersetzen528. Die nachfolgenden gesetzgeberischen Vorarbeiten einer im Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit eingesetzten Sachverständigenkommission haben im Diskussionsentwurf eines JHilferechts 1973 die Schwierigkeiten und Nachteile einer solchen Konzeption aufgezeigt529. Unter weitgehender Eliminierung des JStrafrechts waren die vorgeschlagenen personalintensiven ErzHilfen einseitig auf den entwicklungsgestörten, sozial gefährdeten J abgestellt. Es wurde übersehen, dass es auch eine weit gestreute JKriminalität der Normalentwickelten gibt, auf die im Interesse der Rechtsordnung und der Entwicklung des J nicht mit hier eher gefährlichen sozialpädagogischen oder psychotherapeutischen Maßnahmen, sondern schlicht und angemessen mit den vorhandenen und ausbaufähigen Sanktionen des JGG reagiert werden muss530. Insbes. blieb auch unbeachtet, dass Taten einigen Gewichts und einschneidende ErzMaßnahmen ein rechtsstaatlich gesichertes, strafprozessuales Verfahren fordern531. Ein Referentenentwurf 1974 des BMJ hat versucht, zwischen JHilfen und JKriminalrecht zu vermitteln. Den weiteren Referentenentwürfen des BMJ (Stand Oktober und Dezember 1977) folgte ein von der Bundesregierung am 23.5.1980 eingebrachter Entwurf eines Sozialgesetzbuches, welches das JWG ablösen sollte und „Hilfen zur Erz.“ nicht mehr als Eingriff in die Individualsphäre des Betroffenen, sondern als „Leistungsangebote“ aufgrund eines Rechtsanspruches des J normierte. Dieser Entwurf hätte das JGG einbezogen, soweit es schon bisher mit dem JWG verzahnt war532. Der Bundesrat hat diesem Entwurf eines JHilfeG nicht zugestimmt. Gegen ein reines JHilferecht bestehen über das bereits zum Entwurf 1973 oben Gesagte hi120 naus erhebliche Bedenken. Dazu auch § 5, 13; § 17, 1, 6–8. Die mit den Reformvorschlägen angebotenen „Hilfen“ sind letztlich nichts anderes als dubiose Ersatzbegriffe533 und die Etikettierung

526 Dazu Rux Schulrecht, 6. Aufl. 2018, § 2 Rn 421 ff. 527 VGH Baden-Württemberg JZ 64, 627 mit im Wesentlichen zust. Anm. Baumann JZ 64, 612. 528 Arbeiterwohlfahrt, Vorschläge für ein erweitertes JHilferecht, 3. Aufl. 1970; vgl. schon Peters MKrim. 66, 49; krit. Schaffstein GA 71, 129. 529 Vgl. Schaffstein aaO; Böhm ZfStrVo 74, 29; Müller-Dietz Zbl. 73, 453; Thiesmeyer RdJ 72, 339 u. Zbl. 78, 7; Walter Zbl. 74, 41. 530 Schaffstein GA 71, 129 u. MKrim. 73, 326. 531 Heinz BewH 88, 267. 532 Gesetzestext u. nähere wertende Ausführungen in der 6. Aufl. dieses Kommentars. 533 Vgl. Schüler-Springorum FS Dünnebier 1982, S. 658; Heinz BewH 88, 267: „Etikettenschwindel“. 50

II. Grundgedanken und Erziehungsauftrag des JGG

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eines möglicherweise mehrjährigen Freiheitsentzugs als „spezielles Leistungsangebot“ ist eine leicht durchschaubare Worthülse und deshalb erzwidrig. Im Übrigen hätte das geplante JHilfeG auch die von Nr. 7. 1 der Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die JGerichtsbarkeit534 geforderten grundlegenden Verfahrensgarantien nicht gewahrt. Der Weg von den „schlechten“ kriminalrechtlichen zu den „guten“ jhilferechtlichen Maßnahmen hat sich damit als eine Sackgasse erwiesen. Kriminalrechtliche Wandlungen im jrechtlichen Bereich fordern eine Zusammenarbeit mit der JHilfe535, nicht aber ein Aufgehen des JGG im JHilferecht. Die Lösung dürfte in kleinen, wissenschaftlich durchdachten, aber praxisnahen Schritten im Rahmen der Grundstruktur unseres JStrafrechts zu suchen sein, wie dies vom 1. JGGÄndG begonnen worden ist, das an der Grundstruktur unseres JGG festhält und versucht, die „Reformen durch die Praxis“ unter weiteren Einfügungen zu stabilisieren. Zum Kinder- und JHilfeG v. 26.6.1990 u. weiteren Reformen des JHilferechts s. Rn 137.

14. Diskussion um Strafmündigkeit Die Diskussion um die „richtige“ Altersgrenze spiegelt das Spannungsverhältnis zwischen 121 JStrafrecht und JHilferecht wider. Nach dem Diskussionsentwurf eines JHilferechts 1973 der vom Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit eingesetzten Sachverständigenkommission sollte der JRichter nur noch bei Straftaten J nach Vollendung des 16. Lebensjahres zuständig sein. Bereits der Referentenentwurf des BMJ 1974 ließ die Strafmündigkeitsgrenze unberührt. Den Beschluss der Konferenz der Jugend-Minister und -Senatoren vom 28.11.1980, die Frage 122 der Heraufsetzung der Strafmündigkeit und der „Bestrafungsmündigkeit“ auf die Vollendung des 16. Lebensjahres zu prüfen, hat die Konferenz der Justizminister und -senatoren vom 29.9. bis 2.10.1981 zur Kenntnis genommen und mit einstimmigem Beschluss eine Heraufsetzung des Strafmündigkeitsalters abgelehnt. Ostendorf536 fordert dagegen Anhebung der Strafmündigkeitsgrenze unter Einsatz eines reformierten JHilferechts. Auch Frehsee537 spricht sich für eine Heraufsetzung der Strafmündigkeit auf jedenfalls 16 Jahre aus. Dies ist jedoch bei schweren Delikten538 weder im Hinblick auf das Opfer und die Gesellschaft noch hinsichtlich des jungen Täters eine angemessene Lösung539. Auch bei anderen Delikten wird eine pauschale Heraufsetzung der Strafmündigkeit trotz komplizierter Umweltverhältnisse dem Entwicklungsstand junger Menschen nicht gerecht540. Auch eine Herabsetzung der Strafmündigkeit ist nicht angezeigt541. Werden die Möglichkeiten der Einwirkung auf delinquente Kinder nicht für ausreichend gehalten, sollte vielmehr über Ergänzungen des Familienrechts und des SGB VIII nachgedacht

534 535 536 537 538 539

Beijing-Grundsätze, ZStW 87, 253, 263. Walter Zbl. 86, 430. Grdl. zu §§ 1 u. 2, 10 mwN. FS Schüler-Springorum, 1993, S. 395. Siehe dazu Brunner FS Böhm, 1999, S. 813 f. Schaffstein FS Schüler-Springorum, 1993, S. 374; für eine Heraufsetzung auf 16 Jahre bei leichten, nicht aber bei mittelschweren u. schweren Delikten Fischer Strafmündigkeit u. Strafwürdigkeit im JStrafrecht, 2000, S. 202. 540 Zur Diskussion um das Strafmündigkeitsalter vgl. auch Berckhauer/Steinhilper ZRP 81, 265; Dietz ZRP 81, 212; Schaffstein MKrim. 73, 326; Schüler-Springorum FS Jescheck, 1985, S. 1131; Thiesmeyer Zbl. 78, 7; Voß Neue Praxis 81, 215. 541 Wolfslast FS Bemmann, 1997, S. 283; Neubacher ZRP 98, 123; Thomas ZRP 99, 194; Hefendehl JZ 00, 606; Momsen ZJJ 05, 184; Roesler Die Diskussion über die Herabsetzung der Strafmündigkeitsgrenze u. den Umgang mit Kinderdelinquenz, Diss. Köln 2008, S. 236 ff; Ackermann Die Altersgrenze der Strafbarkeit in Deutschland, Österreich u. der Schweiz, 2009, S. 74; Preuß ZJJ 20, 357; für Herabsetzung auf 12 Jahre Klosinski DVJJ-J 97, 406; Hinz ZRP 00, 113; Heinke ZRP 04, 23; für eine vorsichtige Öffnung des JStrafrechts für Kinder ab 12 Jahren Paul ZRP 03, 204; dagegen Lütkes/Rose ZRP 03, 472. 51

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werden542. Nach Lösel/Bliesener543 besteht auch aus entwicklungspsychologischer Sicht keine Bedarf für eine Änderung der Altersgrenze. Die Befunde von Hommers/Lewand544 stützen diese Auffassung. Die Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die JGerichtsbarkeit545 haben zu keinem Konsens über ein Mindestalter geführt. 123 Im internationalen Vergleich finden sich sehr unterschiedliche Grenzen für das Strafmündigkeitsalter. Nach Dünkel546 beginnt die Strafmündigkeit in England und Wales, Nordirland, Frankreich und der Schweiz mit 10 Jahren, in Irland, den Niederlanden und der Türkei mit 12 Jahren, in Italien, Spanien, Österreich, Russland, Ungarn, der Slowakei, Rumänien und Bulgarien mit 14 Jahren, in Dänemark, Finnland, Norwegen, Schweden und Tschechien mit 15 Jahren, in Portugal mit 16 Jahren und in Belgien grds. mit 18 Jahren. In den meisten Bundesstaaten der USA liegt das Strafmündigkeitsalter etwa bei 7 Jahren, in Kanada bei 12 Jahren547. Zur Rechtshilfe für einen Staat mit niedrigerer Strafmündigkeitsgrenze als in Deutschland § 1, 6. Zu JStrafe u. UHaft bei 14–15-jährigen § 17, 5 u. § 89 c. Zur zivilrechtlichen Haftung Minderjähriger s. § 828 BGB.

15. Die Heranwachsenden 124 Die Einbeziehung der Hw. in die JGerichtsbarkeit hat sich aus den unter Rn 80 dargelegten Gründen als richtig erwiesen, was von Praxis und Wissenschaft weitgehend einmütig anerkannt wird548. Heute wird in der Praxis – gestützt durch die Ergebnisse der Forschung – überwiegend JStrafrecht auf Hw. angewendet (näher § 105, 1)549. Welch problematische Fragen § 105 dem JGericht – und kaum weniger ggf. dem Sachver125 ständigen – zu lösen aufgibt, wie leicht durch schwankende Bewertungen eine gewisse Rechtsunsicherheit und Rechtsungleichheit gefördert werden kann, ist unbestritten550. Die Denkschrift 1977 der DVJJ (vgl. Rn 127) sieht die „Fragwürdigkeit“ vor allem darin, dass der „normale“ J und der „normale“ Erw. rein fiktive Größen sind, die in der Realität mit ihren zahllosen Abstufungen und Nuancen keine Entsprechungen finden551. Die sog. Marburger Richtlinien552 geben dem Richter entscheidungserleichternde Anhaltspunkte, die allerdings wiederum einzeln und in ihrem Zusammenhang gewertet werden müssen. Die Rechtsprechung leistet Beistand, indem der BGH553 aus dem Grundsatz „in dubio pro reo“ im Zweifel die Anwendung von JStrafrecht ableitet (näher § 105, 31) und554 eine Verfehlung schon dann als jugendtümlich ansieht, wenn sie „Antriebskräften der Entwicklung“ entspringt. Die Problematik des § 105 entschärfen auch § 106, der bei Anwendung von ErwStrafrecht auf Hw. dessen Milderung zulässt555, und § 114, 542 543 544 545 546 547 548

Dazu näher Brunner JR 97, 492; Thomas ZRP 99, 196; Hinz ZRP 00, 112 f. DVJJ-J 97, 393. MKrim. 01, 425 u. MKrim. 05, 61. Beijinger Grundsätze, v. 29.11.1985, ZStW 87, 253. NK 08, 106. Klosinski DVJJ-J 97, 404. Zur Entwicklung in England vgl. näher Crofts ZStW 99, 728; Horsfield NK 06, 42. Vgl. BGH NJW 89, 1491; Kaiser in JStrafrecht an der Wende, S. 9; Pruin Die Heranwachsendenregelung im deutschen JStrafrecht, 2007; Dölling FS Kreuzer, 2. Aufl. 2009, S. 119. 549 Für grds. Anwendung des allg. Strafrechts auf Hw. aber mehrere Gesetzentwürfe des Bundesrates, etwa v. 23.3.2006, BT-Drs. 16/1027; für generelle Anwendung des allg. Strafrechts mit obligatorischer Strafmilderung Gehb/ Drange ZJJ 04, 264; dazu Riehe ZJJ 04, 429; s. auch Böttcher in DVJJ-Regionalgruppe Nordbayern, Hrsg., Praxis u. Reform des JStrafrechts, 2004, S. 85. 550 Z.B. Janssen Hw. im JStrafverfahren, 1980, S. 79, 219; Heinz S. 28. 551 S. 3; vgl. Thomae Das Problem der „sozialen Reife“ von 14- bis 20-jährigen, 1973. 552 MKrim. 55, 60. 553 Bd. 12, 116 u. BGH H MDR 82, 104. 554 Bd. 8, 90. 555 Vgl. insbes. BGH 31, 189 mit zust. Anm. Brunner NStZ 83, 218. 52

II. Grundgedanken und Erziehungsauftrag des JGG

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wonach an geeigneten Verurteilten bis zu 24 Jahren Freiheitsstrafen auch in der JStrafanstalt vollzogen werden dürfen. Nicht nur hierdurch wird § 105 praktikabel und erträglich. Schulung, Verständnis und eigenes Engagement der JStaatsanwälte und JRichter tragen wesentlich dazu bei. Zur Fortwirkung des subsidiären ErzAuftrags des Staates bei den volljährigen Hw., auch zu den zeitlichen u. gegenständlichen Grenzen Rn 94, 95. Es wird seit langem von Teilen der Wissenschaft und Praxis gefordert, die Hw. voll in das JStrafrecht zu integrieren. Die DVJJ hat deshalb in ihrer Denkschrift 1977 über die kriminalrechtliche Behandlung junger Volljähriger vorgeschlagen, die Hw. unter Verzicht auf den eine „vergangenheitsbezogene Persönlichkeitsanalyse“ fordernden § 105 voll in das JStrafrecht einzubeziehen556. Zu diesem Vorschlag führte die gesicherte Erkenntnis, dass die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen zwar unterschiedlich verläuft, gerade die Ausbildung sozialer Verhaltensweisen aber bis weit in das dritte Lebensjahrzehnt hineinreicht557. Bei den Hw. kann idR von einer den J vergleichbaren persönlichen Prägbarkeit und spezialpräventiven Ansprechbarkeit ausgegangen und diese können mit den kriminalpädagogischen Reaktionsmitteln des JGG genützt werden. Der Eintritt der Volljährigkeit mit Abschluss des 18. Lebensjahres verschafft den jungen Erw. zwar – oft als Danaergeschenk – die volle Teilhabe am Rechtsleben, fordert aber zugleich und insbes. im Kriminalrecht flankierende Maßnahmen558. Gerade junge Straftäter weisen typischerweise Sozialisationsmängel auf559. Die fließenden Übergänge vom J- zum ErwStatus erschweren die von § 105 geforderte Abgrenzung erheblich560. Für die generelle Einbeziehung der Hw. in das JStrafrecht hat sich auch die 2. JStrafrechtsreformkommission der DVJJ561 ausgesprochen. Jedenfalls ist eine generelle Zurückdrängung des JStrafrechts zugunsten des allg. Strafrechts nicht angezeigt. Werden die Hw. nicht generell dem JStrafrecht unterstellt, sollte § 105 JGG bestehen bleiben562. Werden die Hw. voll in das JStrafrecht einbezogen, kann es nicht genügen, das jrechtliche Instrumentarium einfach auf die dann stets betroffene Gruppe der Hw. mit ihren altersmäßigen Besonderheiten und dem gerade hier schon vielgestaltigen und oftmals bedrohlicheren Erscheinungsbild ihrer Kriminalität auszudehnen. Die DVJJ-Denkschrift hat deshalb ua ein neues Verfahren der „Bewährung in Freiheit“ und neue Regelungen insbes. bei JA (vgl. näher § 16, 9), Bew. und JStrafe vorgeschlagen. Gegenwärtig fehlen geeignete Sanktionen, mit denen auch die mit gravierenderen Formen der Kriminalität belasteten Hw.563 nachhaltig beeindruckt werden können, noch weitgehend im JStrafrecht, bedürfen zumindest weiterer eingehender Erprobung. Insbes. müsste ein dem Strafbefehlsverfahren ähnliches Verfahren geschaffen werden, um der Massenkriminalität der Hw. angemessen entgegentreten zu können. Die Denkschrift564 hat hierzu einen „jrichterlichen Bescheid“ vorgeschlagen und festgestellt, dass dieses Verfahren den JRichter für seine eigentlichen Aufgaben freistellen und den Hw. von den zwangsläufigen Nebenfolgen einer Hauptverhandlung befreien würde565.

556 Zust. Schöch in JStrafrecht an der Wende, S. 132 f; für uneingeschränkte Einbeziehung auch Heinz S. 92. 557 Vgl. die Literaturanalyse bei Thomae (FN 551); Bericht vom 10. internationalen Richterkongreß 1966 in Paris, MKrim. 68, 80; für ein JTäterrecht bis zum Alter von ca. 25 Jahren Dünkel/Geng/Passow ZJJ 17, 123.

558 Becker Zbl. 72, 380; Stutte/Remschmidt Die Herabsetzung des Volljährigkeitsalters im Urteil der Betroffenen, 1973, S. 82; Thiesmeyer RdJ 70, 33; Thomae (FN 551), S. 68. 559 Bertram Zbl. 70, 33. 560 Jädke Zbl. 96, 126 f. 561 Vorschläge für eine Reform des JSrafrechts, 2002 S. 6. 562 Dölling FS Kreuzer, 2. Aufl. 2009, S. 129; Palmowski Sanktionierung u. Rückfälligkeit von Hw., 2019, S. 591. 563 Denkschrift, S. 7 u. 9. 564 S. 60. 565 Zu der durch extremistische Gewalttaten ausgelösten Diskussion über eine verstärkte Anwendung des ErwStrafrechts auf Hw. vgl. die Beiträge in DVJJ-J 93, 103 ff u. 00, 328 ff. 53

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16. Internationale und europäische Regelwerke 130 Misst man die prozessualen und materiellen Vorschriften des JGG an den „Mindestgrundsätzen“, welche die Vereinten Nationen für die JGerichtsbarkeit aufgestellt haben566, so steht das JGG recht gut da567. Dazu auch Rn 120, 122 aE568. Das UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes v. 20.12.1989 ist in Deutschland am 5.4.1992 in Kraft getreten569. Es gilt für Kinder und J, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, soweit die Volljährigkeit nicht früher eintritt. Das Übereinkommen betont ua die erz. Aspekte bei der Reaktion auf Delinquenz, bezeichnet Freiheitsentzug als letztes Mittel und führt völkerrechtlich anerkannte Mindestgarantien in Strafverfahren an570. 2008 hat der Europarat eine Empfehlung für inhaftierte und ambulant sanktionierte jugendliche Straftäter verabschiedet571. Aus der Europäischen Menschenrechtskonvention ergeben sich Konsequenzen für die Gestaltung und Anwendung des JStrafrechts572. Teilweise wird ein vereinheitlichtes europäisches JStrafrecht gefordert573. Am 11.6.16 ist die Richtlinie 2016/800 der EU574 über Verfahrensgarantien für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, in Kraft getreten, die bis zum 11.6.2019 in deutsches Recht umgesetzt werden musste. Die Richtlinie sieht einen erheblichen Ausbau der Rechte der j. Beschuldigten vor. Diese müssen unverzüglich, insbes. vor ihrer Befragung durch die Polizei, durch einen Rechtsbeistand unterstützt werden. Hiervon kann aus Verhältnismäßigkeitsgründen abgesehen werden, nicht aber bei Vorführung vor Gericht zur Entscheidung über eine Haft, Aufenthalt in Haft und Verhängung von Freiheitsentzug als Strafe (Art. 6). Die J haben ein Recht auf Begleitung durch den Träger der elterlichen Verantwortung bei Gerichtsverhandlungen und unter bestimmten Voraussetzungen in anderen Phasen des Verfahrens (Art. 15). Von dem Verfahren und den Rechten des J sind die Träger der elterlichen Verantwortung möglichst rasch zu informieren; wenn dies nicht möglich ist, muss ein anderer geeigneter Erwachsener informiert werden (Art. 5). Der J hat ein Recht auf individuelle Begutachtung (Art. 7). Über seine Rechte ist der J umfassend zu informieren (Art. 4). Vernehmungen des J müssen audiovisuell aufgezeichnet werden, wenn dies verhältnismäßig ist (Art. 9). Für das Personal der Strafverfolgungsbehörden, Richter und Verteidiger sollen Schulungsmaßnahmen erfolgen (Art. 20)575. Die Richtlinie wurde durch das G zur Stärkung der Verfahrens-

566 Beijinger Grundsätze v. 29.11.1985, ZStW 87, 253 ff. 567 Vgl. aber auch Schüler-Springorum ZStW 87, 834 ff. 568 Zu den Richtlinien der Vereinten Nationen für die Prävention von JKriminalität vgl. Schüler-Springorum ZStW 92, 169; zu einem von Experten der UN erarbeiteten „Model Law on Juvenile Justice“ s. Dünkel FS Streng, 2017 S. 417. 569 BGBl. II 121, 990. 570 Siehe Gerstein DVJJ-J 96, 13. 571 Rec [2008] 11; dazu Dünkel RdJ 08, 375 u. in DVJJ, Hrsg., Fördern Fordern Fallenlassen, 2008, S. 55 sowie in GS Walter, 2014, S. 275. Zu den internationalen Regelungen über die JGerichtsbarkeit s. auch BMJ, Hrsg., Internationale Menschenrechtsstandards u. das JKriminalrecht, 2001; Kiessl Die Regelwerke der Vereinten Nationen zum JStrafrecht in Theorie u. Praxis, 2001; Bochmann Entwicklung eines europäischen JStrafrechts, 2009; Hinz Old enough to commit a Crime – Old enough to do the Time. Zur Durchsetzung internationaler jstrafrechtlicher Mindeststandards, 2021; Giagkou Internationale Standards für das JStrafrecht u. ihre Verwirklichung in Deutschland u. in Griechenland, 2022. Eine Zusammenstellung der internationalen Dokumente findet sich bei Höynck/Neubacher/Ernst/Zähringer, Hrsg., Internationale Menschenrechtsstandards u. das JKriminalrecht, 2020. 572 Siehe Knauer ZJJ 19, 39. 573 Bochmann aaO. Zu europäischen Einflüssen auf das JStrafrecht s. die Beiträge in ZJJ 11, 120 ff. 574 Amtsblatt der EU L 132. 575 Zur Diskussion über die Richtlinie s. Eisenberg/Kölbel Einl. 32 f; Drenkhahn in DVJJ-BW, JStrafrecht in Deutschland, Regeln aus Europa, Jugendliche aus aller Welt, 2016, S. 7 ff; Höynck StraFo 18, 267; dies. FS Dünkel, 2020, S. 625; Sommerfeld in: BMJ, Hrsg., Berliner Symposium zum JKriminalrecht u seiner Praxis, 2017, S. 63; ders. ZJJ 17, 165; ZJJ 18, 296; Kemme in Berliner Symposium, S. 203; Nixdorf NK 18, 355; Bock StV 19, 508, sowie die Beiträge in ZJJ 15, 288 ff. 54

II. Grundgedanken und Erziehungsauftrag des JGG

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rechte von Beschuldigten im JStrafverfahren v. 9.12.2019 (dazu Rn. 136) in deutsches Recht umgesetzt576.

17. Die Entwicklung des JGG seit 1990 Das 1. JGGÄndG v. 30.8.1990577 hält an der Grundstruktur des JGG fest und versucht, die „Refor- 131 men durch die Praxis“ (dazu § 45, 6 ff) unter weiteren Einfügungen zu stabilisieren und die Rechtsgleichheit zu fördern. Den ErzGedanken will das 1. JGGÄndG vor allem dadurch verstärken, dass es weitere erz. wirkende Rechtsfolgen in den Katalog der ErzMaßregeln und Zuchtmittel einfügt, die JStrafe von unbestimmter Dauer abschafft, die Strafaussetzung zur Bew. vorsichtig erweitert, den erz. Aspekt beim JA stärker betont sowie die informellen Erledigungsmöglichkeiten, die Funktion der JGH und die Regelung der einstweiligen Unterbringung in einem ErzHeim zu verbessern sucht. Schließlich will es die Möglichkeit der Verhängung von UHaft wegen Fluchtgefahr gegen J, die noch nicht 16 Jahre alt sind, deutlich einschränken und den J, die sich in UHaft befinden, einen Verteidiger zur Seite stellen578. Das 1. JGGÄndG bestätigt mit Augenmaß den durch Praxis und Wissenschaft eingeleiteten Trend zur weitgehenden Ablösung der stationären Maßnahmen durch ambulante und umschreibt damit zugleich auch für die weitere Entwicklung Möglichkeiten und Grenzen. Wenn zu starke Zurückhaltung des Gesetzgebers teilweise beklagt wurde, so muss bedacht werden, dass Rechtsreformen des gesellschaftlichen Konsenses bedürfen. Erst wenn Rechtsreformen vom überwiegenden Teil der Bevölkerung akzeptiert sind, können sie ohne Verlust in das Vertrauen auf den Rechtsstaat verwirklicht werden. Rechtsreformen sollten möglichst auch die überwiegende Zustimmung der Richter haben, weil diese mit den neuen Gesetzen arbeiten, sie auslegen und mit Leben erfüllen müssen. Deshalb sollten sie auch die gebotene Zeit zu Stellungnahmen zu neuen Gesetzesnovellen bekommen, damit der Einleitungssatz „nach Anhörung der Praxis“ nicht nur eine Floskel bleibt. Dies behindert die weitere Rechtsentwicklung nicht, sondern stabilisiert sie. Der Deutsche Bundestag hat am 20. Juni 1990 zu dem von ihm verabschiedeten 1. JGGÄndG 132 die folgende Entschließung579 angenommen: „Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, bis zum 1. Oktober 1992 den Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes vorzulegen, der den weiteren Reformbedarf aufgreift und Lösungsvorschläge insbes. zu folgenden Problembereichen enthält: – Die strafrechtliche Behandlung Heranwachsender, – das Verhältnis zwischen Erziehungsmaßregeln und Zuchtmitteln, – die Voraussetzungen für die Verhängung von Jugendstrafe, – die vermehrte Mitwirkung von Verteidigern im Jugendstrafverfahren, – die Gefahr der Überbetreuung Jugendlicher (Erziehungsgedanke/Grundsatz der Verhältnismäßigkeit), – Straftaxendenken und Aufschaukelungstendenzen in der Sanktionspraxis der Jugendgerichtsbarkeit, – die Stellung und die Aufgaben der Jugendgerichtshilfe im Jugendstrafverfahren, – das Ermittlungs- und das Rechtsmittelverfahren, 576 Zur Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit der Richtlinie im Zeitraum vom Ende der Umsetzungsfrist am 11.6.2019 bis zum Inkrafttreten des Umsetzungsgesetzes am 17.12.2019 s. Eckel/Körner NStZ 19, 433; Bock/Puschke ZJJ 19, 244. 577 BGBl. I 1853; dazu Böhm NJW 91, 534; Böttcher/Weber NStZ 90, 561; 91, 7; Heinz ZRP 91, 183; Trenczek NJ 91, 195, 245, 288; Viehmann FuR 91, 256; zur Entwicklung des JGG seit 1990 zusammenfassend Stolp Die geschichtliche Entwicklung des JStrafrechts von 1923 bis heute, 2015, S. 174 ff; Kölbel ZStW 21, 169; ZJJ 21, 307. 578 BT-Drs. 11/5829, S. 11. 579 BT-Drs. 11/7421 – Buchstabe c der Beschlussempfehlung. 55

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die Aus- und Fortbildung von Richtern, Staatsanwälten und Rechtsanwälten in Bezug auf jugendstrafrechtliche Besonderheiten, – die verstärkt notwendige Berücksichtigung von Belangen junger Mädchen und Frauen in der Anordnung und Durchführung jugendlicher Sanktionen, – Aufwertung des Täter-Opfer-Ausgleichs.“ 133 Ein 2. JGGÄndG wurde zunächst nicht erlassen. Stattdessen erfolgten einzelne Änderungen des JGG. Änderungen der JGerichtsverfassung hat das G zur Entlastung der Rechtspflege v. 11.1.1993580 gebracht (s. §§ 33–33b, 9). Das VerbrechensbekämpfungsG v. 28.10.1994581 hat das JGG nur in § 109 geändert (dazu § 109, 12). Für das JStrafverfahren ist aber auch das durch dieses G eingeführte länderübergreifende staatsanwaltliche Verfahrensregister von Bedeutung (Vor § 97, 38). Einige Änderungen und Ergänzungen haben das JuMiG vom 18.6.1997582, das KindRG v. 16.12.1997583, das G zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten v. 26.1.1998584, das 1. JuMoG v. 24.8.2004585, das AnhörungsrügenG v. 1.12.2004586, das G zur Vereinfachung u. Vereinheitlichung der Verfahrensvorschriften zur Wahl u. Berufung ehrenamtlicher Richter v. 21.12.2004587 und das 2. JuMoG v. 22.12.2006588 gebracht. Zum Einigungsvertrag § 1, 11–18. 134 Durch das G zur Änd. der Vorschriften über die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung v. 27.12.2003589 wurde die vorbehaltene und durch das G zur Einf. der nachträglichen Sicherungsverwahrung v. 23.7.2004590 die nachträgliche Sicherungsverwahrung gegen Hw., auf die allgemeines Strafrecht angewendet wird, eingeführt. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung auch gegen J brachte das G zur Einf. der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen nach JStrafrecht v. 8.7.2008591. Änderungen erfolgten durch das G zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen v. 22.12.2010592. Die kriminalpolitische Tendenz zu einer Verstärkung des Sicherheitsgedankens hatte sich somit auch auf das JStrafrecht ausgewirkt. Die Vorschriften über die Sicherungsverwahrung wurden jedoch 2011 durch das BVerfG593 für verfassungswidrig erklärt und durften nur noch bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber längstens bis zum 31.5.2013 angewendet werden. Durch das G v. 5.12.2012594 ist mit Wirkung vom 1.6.2013 an die Stelle der nachträglichen grds. die vorbehaltene Sicherungsverwahrung getreten (vgl. § 7, 16). 135 Nachdem 2006 das BVerfG dem Gesetzgeber aufgegeben hatte, bis Ende 2007 eine den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügende gesetzliche Grundlage für den JStrafvollzug zu schaffen595, und mit der Föderalismusreform in demselben Jahr die Gesetzgebungszuständigkeit für den Strafvollzug auf die Länder übergegangen war, erließen die Länder JStrafvollzugsgesetze (dazu Vor § 90, 2). Das 2. JGGÄndG v. 13.12.2007596 hat daraufhin die bisherigen Vorschriften des JGG über die Gestaltung des JStrafvollzugs gestrichen und in § 92 JGG die Rechtsbehelfe in JVollzugssachen geregelt. Außerdem hat das Gesetz in dem neuen § 2 I JGG die Spezialpräventi580 581 582 583 584 585 586 587 588 589 590 591 592 593 594 595 596

BGBl. I 50. BGBl. I 3186. BGBl. I 1430. BGBl. I 2942. BGBl. I 160. BGBl. I 2198. BGBl. I 3220. BGBl. I 3599. BGBl. I 3426; insbes. Zulassung der Nebenklage gegen J, dazu Stuppe ZJJ 07, 18; Höynck ZJJ 07, 76. BGBl. I 2007. BGBl. I 1838. BGBl. I 1212. BGBl. I 2300. BVerfGE 128, 326 = NJW 11, 1931. BGBl. I 2425. BVerfGE 116, 69. BGBl. I 2894; dazu Goerdeler ZJJ 08, 137. 56

II. Grundgedanken und Erziehungsauftrag des JGG

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on als primäres Ziel des JStrafrechts und die Erziehung als vorrangiges Mittel zur Erreichung dieses Ziels festgelegt. Die Föderalismusreform hat zu einer problematischen Aufspaltung der Gesetzgebungszuständigkeiten in der JStrafrechtspflege geführt. Zur Erreichung der Ziele des JStrafrechts ist es erforderlich, dass Bund und Länder von ihren Gesetzgebungszuständigkeiten in aufeinander abgestimmter Weise Gebrauch machen. Die Vorschriften über die Besetzung der JKammer wurden durch das G über die Besetzung der großen Straf- und JKammern in der Hauptverhandlung v. 6.12.2011597 neu gefasst. Durch das G zur Erweiterung der jgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten v. 4.9.2012598 wurden die Möglichkeit der Kombination von Strafaussetzung und JA geschaffen (Einstiegsarrest, vgl. § 16a), die Vorbewährung geregelt (§§ 61 bis 61b) und in § 105 III 2 die Höchststrafe für Mordtaten nach JStrafrecht verurteilter Hw. heraufgesetzt. Das G zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs v 26.6.2013599 brachte eine Erweiterung der Vorschrift des § 36 über die JStaatsanwalt600. Durch das G zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im JStrafverfahren 136 v. 9.12.2019601 wurde die Richtlinie (EU) 2016/800 (dazu Rn. 130) in deutsches Recht umgesetzt. Durch dieses Gesetz wurde die Rechtsstellung des j. Beschuldigten erheblich verstärkt. Die notwendige Verteidigung wurde ausgebaut (vgl. §§ 51a, 68 n.F., 68a, 68b), die Rechtsstellung der ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter wurde erweitert (s. §§ 67 n.F., 67a), es wurden umfangreiche Mitteilungs- und Unterrichtungspflichten geschaffen (vgl. §§ 67a, 70 n.F. und 70a) und die Vorschriften über die JGH wurden überarbeitet (s. §§ 38 n.F., 46a)602. Diese Regelungen können aus rechtsstaatlicher Sicht begrüßt werden603. Zu bedenken ist allerdings, dass durch das Gesetz das JStrafverfahren erheblich komplizierter geworden ist. Dies begründet die Gefahr, dass entweder im Bemühen um penible Einhaltung der zahlreichen Vorschriften der Erfüllung der Kernaufgaben des JStrafverfahrens – Ermittlung des Sachverhalts und persönlichkeitsadäquate Reaktion auf JDelinquenz – nicht mehr hinreichend Aufmerksamkeit geschenkt wird oder zur praktikablen Verfahrensdurchführung problematische Gesetzeshandhabungen entwickelt werden. Es wird daher sorgfältig zu untersuchen sein, wie das neue Recht in der Praxis angewendet wird und ob es tatsächlich zu einer Verbesserung der JStrafrechtspflege führt. Durch das Kinder- und JStärkungsG v. 3.6.2021604 wurde § 37a über die Zusammenarbeit in gemeinsamen Gremien in das JGG eingefügt. Das G zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder v. 16.6.2021605 hat durch Erweiterung des § 37 die Anforderungen an die Qualifikation von JRichtern und JStaatsanwälten angehoben. Dies sind im Grundsatz begrüßenswerte Weiterentwicklungen des JGG. Für die JStrafrechtspflege ist auch das JHilferecht von Bedeutung. Das Gesetz zur Neuord- 137 nung des Kinder- und Jugendhilferechts (KJHG) v. 26.6.1990606 hat das JGG zum Teil abgeändert (z.B. § 12), das JWohlfahrtsG durch das 8. Buch des SGB Kinder- und JHilfe (SGB VIII) ersetzt und wirkt in verschiedenen Bereichen auf das JGG ein. Durch das 1. G zur Änderung des 8. Buches SGB v. 16.12.1993607 sind die das JGG betreffenden Regelungen des SGB VIII teilweise

597 BGBl. I 2554. 598 BGBl. I 1854. Dazu Eisenberg StV 13, 44; Verrel NK 13, 07; Gebauer in DVJJ-BW, Aktuelle Entwicklungen im JStrafrecht, 2013, S. 38 ff. Zur Bewährung des Gesetzes s. Höffler/Kaspar RdJ 18, 449.

599 BGBl. I 1805. 600 Zur Situation der deutschen JStrafrechtspflege s. die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, JStrafrecht im 21. Jahrhundert, BT-Drs. 16/13142 v. 26.5.2009, u. dazu Sonnen ZJJ 09, 214 sowie die Beiträge in ZJJ 09, 346 ff. 601 BGBl. I 2146. 602 Vgl. zu dem Gesetz Riekenbrauck ZJJ 20, 50; Höynck/Ernst ZJJ 20, 245. 603 Eisenberg/Kölbel Einl. 33. 604 BGBl. I 1444. 605 BGBl. I 1810. 606 BGBl. I 1163. 607 BGBl. I 239. 57

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abgeändert worden608. Wichtige Änderungen und Ergänzungen des SGB VIII brachten das TagesbetreuungsausbauG (TAG) v. 27.12.2004609, das Kinder- und JHilfeweiterentwicklungsG (KICK) v. 8.9.2005610, das KinderförderungsG (KiföG) v. 10.12.2008611, das BundeskinderschutzG v. 22.12.2011612, das G zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher v. 28.10.2015613 und das Kinder- und JStärkungsG (KJSG) v. 8.6.2021614. 138 Zur Reform des JStrafrechts sind zahlreiche Vorschläge vorgelegt worden615. Angezeigt scheint eher eine kontinuierliche Weiterentwicklung des JGG als seine fundamentale Veränderung616. Die Landesjustizverwaltungen haben 1955 Richtlinien zum JGG vereinbart und gleich lau139 tend erlassen. Die RL binden als Verwaltungsvorschriften die StA, nicht aber das Gericht. Die RL wurden 1994 überarbeitet und gelten in der vom Strafrechtsausschuss der Justizministerkonferenz vom 14./15.4.1994 gebilligten Fassung seit 1.8.1994 (näher § 2, 13 f)617. Die RL werden zurzeit überarbeitet. Im Folgenden sind die RL Stand September 2022 dem jeweils betroffenen Gesetzestext nachgesetzt.

18. Jugendstrafrecht in anderen Staaten 140 In Österreich hat das am 1.1.1989 in Kraft getretene JGG eine grundsätzliche Neuordnung der JGerichtsbarkeit gebracht und insbes. die Voraussetzungen dafür neu gestaltet, dass die StA von der Verfolgung absieht oder das Gericht ein Strafverfahren einstellt, und bes. die Bereitschaft des Verdächtigen zu außergerichtlichem Tatausgleich berücksichtigt. Durch die JGG-Novelle 2001 wurde entsprechend dem herabgesetzten Volljährigkeitsalter die Altersgrenze für J, die 1988 auf 19 Jahre angehoben worden war, auf 18 Jahre herabgesetzt und wurden Sonderbestim-

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Vgl. dazu Maas Zbl. 94, 68; Kiehl NJW 93, 1052 f u. Zbl. 93, 226. BGBl. I 3853. BGBl. I 2403. BGBl. I 2403. BGBl. I 2975. Dazu Meysen/Eschelbach Das neue BundeskinderschutzG, 2012; Meysen FamRZ 12, 405; Götte in DVJJ-BW, Kindeswohlgefährdung, JStrafverfahren u. Zusammenarbeit der Institutionen, 2012, S. 9 ff. 613 Dazu Wiesner/Schindler/Schmid Das neue Kinder- und JHilferecht, 2006. 614 BGBl. I 1444; dazu Meysen/Lohse/Schönecker/Smessaert Das neue Kinder- u. JStärkungsG –KJSG, 2022; Struck ZJJ 21, 263. 615 Vgl. die Vorschläge der DVJJ-Kommission zur Reform des JKriminalrechts, DVJJ-J 92, 4; 2. JStrafrechtsreformKommission der DVJJ, Vorschläge für eine Reform des JStrafrechts, 2002; Diskussionspapier der Kommission JHilfe und JKriminalrecht der Arbeiterwohlfahrt, Jugend ohne Zukunft? – Befähigen statt Strafen, 1993; Beschlüsse der Abteilung Strafrecht des 64. DJT zum Thema „Ist das deutsche JStrafrecht noch zeitgemäß?“, NJW 02, 3077, sowie die Gutachten, Referate und Diskussionen der Abteilung Strafrecht in Verhandlungen des 64. DJT, 2002; dazu Schöch RdJ 03, 299 ff. Zur Reform des JGG s. auch Fritschka BewH 91, 282; Heinz JuS 91, 896; Jung JuS 92, 186; Viehmann in BMJ, Hrsg., Grundfragen des JKriminalrechts u. seiner Neuregelung, 1992 S. 436; Walter NStZ 92, 470; die Beiträge in DVJJ-J 00, 328 ff; Hinz JR 01, 50 u. ZRP 01, 106; Höynck/Sonnen ZRP 01, 245; Brunner Kriminalistik 02, 418; Dünkel NK 02, 90; Geisler NStZ 02, 449; Goerdeler/Sonnen ZRP 02, 347; Heinz ZStW 02, 519; Kornprobst JR 02, 309; Kreuzer NJW 02, 2345; Laubenthal JZ 02, 807; Walter GA 02, 431; Scheffler NJ 02, 449; Sonnen DVJJ-J 02, 115; ZRP 03, 473; Hotter/H.-J. Albrecht RdJ 03, 282; H. Böhm DRiZ 03, 218; Ostendorf NK 03, 16; Wernigk-Hertweck/Rebmann ZRP 03, 225; Viehmann ZRP 03, 377; Lütkes/Rose ZRP 03, 472; Hinz ZRP 04, 90; Sieveking/Eisenberg/Heid ZRP 05, 188; Merk ZRP 08, 71; Frank ZRP 08, 71; Köhne ZRP 08, 266; JR 08, 369; Ostendorf StV 08, 148; Hoffmann Reformkonzepte im deutschen JStrafrecht, 2008; Brehm Fragen der Weiterentwicklung des jkriminalrechtlichen Rechtsfolgensystems, 2009; Gebauer FS Schöch, 2010, S. 204 ff; Dünkel RdJ 14, 294. 616 Kaiser in JStrafrecht an der Wende, S. 35. 617 Zu früheren Änderungen der RL von 1955 vgl. die Zusammenstellung in der 9. Aufl. S. 70. 58

Übersicht über die bisherigen Änderungen des JGG

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mungen für junge Erwachsene (bis 21. Lebensjahr) geschaffen618. In der Schweiz ist am 1.1.2007 ein neues JStrafrecht (JStG) in Kraft getreten. Es hat das Strafmündigkeitsalter von 7 auf 10 Jahre angehoben und kennt als Rechtsfolgen Schutzmaßnahmen und Strafen619.

Übersicht über die bisherigen Änderungen des JGG EinfG z. WehrstrafG v. 30.3.1957 (BGBl. I 306): eingefügt §§ 112a–112e, 115 III. 2. G z. Änderung u. Ergänzung d. RJWG v. 11.8.1961 (BGBl. I 1193): weggefallen § 38 II 6, geändert §§ 8 II, 3, 9, 12, 34 III, 48 II, 76 I, 82 II, 93 III, 112a. 3. 2. G z. Sicherung d. Straßenverkehrs v. 26.11.1964 (BGBl. I 921): geändert §§ 39 I, 75 I, 76 I. 4. StPÄG v. 19.12.1964 (BGBl. I 1067): eingefügt §§ 39 I 2, 40 I 2, aufgehoben § 68 Nr. 1, geändert §§ 34 III, 61 II, 69 III, 71 II. 5. EGOWiG v. 24.5.1968 (BGBl. I 503): aufgehoben § 75 I 2, geändert § 42 I. 6. 1. StrRG v. 25.6.1969 (BGBl. I 645): eingefügt §§ 10 I 2, 15 I 2, 23 II, 26a, 57 III, aufgehoben § 20, geändert §§ 6, 18 I, 21, 22, 24, 25, 26, 28, 30 I, 58 I, 60 I, 87 III, 88 I und V, 89 I, 92 II, 94 I, 96 II, 106, 108 III, 112a, 114. 7. G z. allg. Einf. eines 2. Rechtszuges in Staatsschutzstrafsachen v. 8.9.1969 (BGBl. I 1582): eingefügt § 102 S. 2. 8. BZRG v. 18.3.1971 (BGBl. I 243): aufgehoben §§ 94–96, 100, geändert §§ 13 III, 97, 101, 111. 9. BtMG v. 22.12.1971 (BGBl. I 2092): eingefügt § 93a, geändert §§ 5 III, 7, 10 II, 110 I. 10. G z. Neuordnung d. WehrdisziplinarR v. 21.8.1972 (BGBl. I 1481): aufgehoben § 112c IV. 11. Bekanntmachung d. Neufassung d. JGG v. 1.3.1974 (BGBl. I 149): aufgehoben §§ 117 I 2, 3, 118, 121, Zweiter Abschnitt d. 4. Hauptstücks mit Überschrift. 1.

618 Siehe zum österreichischen JStrafrecht Jesionek ZJJ 07, 120; Birklbauer in DVJJ, Hrsg., Fördern Fordern Fallenlassen, 2008, S. 486; Maleczky Österreichisches JStrafrecht, 4. Aufl. 2008; Gerstberger ZJJ 18, 26. 619 Vgl. zum neuen schweizerischen JStrafrecht Hebeisen ZJJ 07, 135; Aebersold Schweizerisches JStrafrecht, 2007; Bürgin in DVJJ (FN 618), S. 479; Riesen-Kupper ZJJ 18, 29. Zum niederländischen JStrafrecht Sagel-Grande Zbl. 96, 48; DVJJ-J 00, 9; van der Laan DVJJ-J 96, 119; Emig DVJJ-J 98, 49; Kowalzyck DVJJ-J 02, 378; uit Beijerse ZJJ 19, 50; zu England und Wales Graham DVJJ-J 98, 317; Horsfield NK 06, 42; zu Frankreich Steindorff-Classen ZJJ 03, 241; Kasten ZJJ 03, 382; zu Spanien Cano ZJJ 04, 275, 406; zu Schweden u. Finnland Haverkamp RdJ 07, 167; zum dänischen „JVertrag“ Weiler/Matzke Zbl. 96, 171; zu Tschechien Válková/Sima in DVJJ, Hrsg., Verantwortung für Jugend, 2006, S. 482; zu Ungarn Ligeti RdJ 07, 190; allg. zur Entwicklung des JStrafrechts in Europa Dünkel/van Kalmthout/ Schüler-Springorum, Hrsg., Entwicklungstendenzen u. Reformstrategien im JStrafrecht im europäischen Vergleich, 1997; H.-J. Albrecht/Kilchling, Hrsg., JStrafrecht in Europa, 2002; Kilchling DVJJ-J 02, 371; Dünkel/Grzywa/Horsfield/ Pruin, Hrsg., Juvenile Justice Systems in Europe, 2010; H.-J. Albrecht RdJ 18, 382; s auch die Beiträge in ZJJ 11, 120 ff; zu Japan Kuzuno NK 04, 106; Takeuchi BewH 05, 370. 59 https://doi.org/10.1515/9783110686401-002

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geändert (z.T. nur redaktionell) §§ 34 I und III, 59 III und IV, 72 V, 88 IV, 109, 119; die Überschriften § 77 und des Vierten Hauptstückes. EGStGB v. 2.3.1974 (BGBl. I 469): eingefügt §§ 52a, 55 III, 83 II, 100, 105 II, 109 II 2, 123, aufgehoben §§ 1 III, 8 II 2, 13 III 2, 22 III, 38 III 3, 52 II und III, 75, 76 II, 80 III 2, 90 III und IV, 97 I, 119 II, geändert § 4 (mit Überschrift), 5 III, 6 I und II, 7 (mit Überschr.), 8 II, 10 I, 11 I, II und III (mit Überschr.), 13 II und III, 15 I und III (mit Überschr.), 19 III, 21 I, 23 I und II (mit Überschr.), 24 II (mit Überschr.), 25 S. 4, 26 I, II und III, 29 S. 1 (mit Überschr.), 38 II, 39 II, 45 I, 48 II, 50 II, 52 (mit Überschr.), 57 III und IV, 59 II, 60 I und III, 62 I, 64 S. 2, 65 I (mit Überschr.), Überschr. d. 8. Unterabschnitts, 76 I, 78 I, 81, 83 S. 1, 88 I–V (mit Überschr.), 89 I–IV (mit Überschr.), 93 III, 93a I (mit Überschr.), Überschr. d. 4. Hauptstücks, 97 II und III (mit Überschr.), 105 III, 106 II, 109 II, Abschnittsüberschr. Vor § 110, 111, 112a, 112d, je die Bezifferung der §§ 123, 124. Gesetz zur Neuregelung des Volljährigkeitsalters v. 31.7.1974 (BGBl. I 1713): geändert §§ 105 I, 107, 109 I, II, 110 I. 1. StVRG v. 9.12.1974 (BGBl. I 3393): eingefügt §§ 82 I 2, 112 S. 3, aufgehoben § 61, geändert §§ 33 II, IV, 34 I, 35 I 1, 39 I 1, 40 III, 69 III 2, 83, 104 I Nr. 5, 108 II, 112 S. 1. Bekanntmachung der Neufassung des JGG v. 11.12.1974 (BGBl. I 3427): Redaktionell geändert §§ 83 III, 88 V, 109 I. Art. 326 V Nr. 5 G v. 2.3.1974 (BGBl. I 469) ab 1.1.1978: § 106 II 1 entfällt; Satz 2 redaktionell angeglichen. Strafverfahrensänderungsgesetz v. 5.10.1978 (BGBl. I 1645): eingefügt § 39 I 2; S. 3 (vormals S. 2) redaktionell angeglichen; § 40 I 2 redaktionell angeglichen; § 41 I Nr. 1 und 2 geändert, Nr. 3 eingefügt; eingefügt § 47a; § 58 II; bisheriger Abs. II wird Abs. III, § 62 IV redaktionell angeglichen; § 102 S. 1 geändert; S. 3 entfällt; § 103 II geändert; § 109 I 1 redaktionell angeglichen. Zwanzigstes Strafrechtsänderungsgesetz v. 8.12.1981 (BGBl. I 1329): geändert § 26 II. G zur Änderung des StrafvollzugsG v. 20.12.1985 (BGBl. I 1645): durch Änderung angeglichen hinsichtlich der Verweisungen § 7; § 106 II 2. G zur Neuordnung des Kinder- u. JHilferechts (KJHG) v. 26.6.1990 (BGBl. I 1163, 1190): aufgehoben § 34 III Nr. 3; § 43 II; § 71 I 2; § 90 II 3, geändert § 8 I 2 (redaktionell); § 9; § 12 (mit Überschr.); § 34 III Nr. 2 (redaktionell); § 55 I 2; § 71 S. 1; § 76 S. 1, § 77 I 1; § 78 I 2; § 82 II; § 112a Nr. 1. JGGÄndG v. 30.8.1990 (BGBl. I 1853): aufgehoben § 16 III 3; § 30 I 2; § 52a II; § 89; § 90 II 3; § 116 III, eingefügt § 10 I Nr. 4, Nr. 5–7; § 24 II; § 26 I 2; § 38 II 7, III 3 HS 2; § 50 IV, § 68 Nr. 4; § 72 I 2, 3, II, III 1; § 72a (mit Überschrift); § 85 II, III, IV, VI, VII; § 89a (mit Überschrift); § 96 I 2, 3, geändert § 10 I Nr. 3, 9; § 11 I 2; § 15 III 1; § 16 II; § 21 I, II; § 24 I 1, III 5; § 25 S. 2 (redaktionell); § 26 II; § 29; § 34 II 2, III Nr. 1, 2 (redaktionell); § 38 II; § 39 II (redaktionell); § 43 I 2, 3, II, III 2; § 45; § 47 I, II 1; § 48 II; § 58 I; § 59 II; § 60 I 2, 3; § 62 IV; § 64 S. 2 (redaktionell); § 65 I 2, 3, 4; § 68 Nr. 2, 3; § 71 II; § 72 IV 1 (redaktionell); § 73 I 1; § 76 S. 1; § 83 I (redaktionell); § 87 III; § 88 I, II 1, VI; § 89 III (redaktionell); § 91 II 3 (redaktionell); § 93 I, III; § 109 I 1, II 1, § 110 II; § 121 (auch § 98 OWiG – III eingefügt; II IV geändert). G zur Entlastung der Rechtspflege v. 11.1.1993 (BGBl. I 50): aufgehoben § 33 III (bisheriger IV wird III), eingefügt §§ 33a, b; § 109 III, geändert § 107 (redaktionell); § 108 III 1.

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Übersicht über die bisherigen Änderungen des JGG

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23. 1. G zur Änderung des 8. Buches Sozialgesetzbuch v. 16.2.1993 (BGBl. I 239): geändert § 9 Nr. 2 (redaktionell); § 12; § 35 I 1, II 1, III 1 IV (redaktionell); § 55 I 2 (redaktionell). 24. G zur Änderung des StGB, der StPO und anderer Gesetze (VerbrechensbekämpfungsG) v. 28.10.1994 (BGBl. I 3186): eingefügt § 109 II S. 3. 25. JustizmitteilungsG und G zur Änderung kostenrechtlicher Vorschriften und anderer G (JuMiG) v. 16.12.1997 (BGBl. I 1430): eingefügt § 70 S. 3. 26. G zur Reform des Kindschaftsrechts (KindschaftsreformG – KindRG) v. 16.12.1997 (BGBl. I 2942): geändert § 3 S. 2; § 34 II S. 1 (neu) III; § 42 I Nr. 1, II; § 53 (mit Überschrift); § 54 I S. 1; § 55 I S. 1; § 70 S. 3; § 84 II S. 1; § 98 Abs. 1 S. 1; § 104 IV 1, eingefügt § 84 Abs. 2 S. 2, aufgehoben § 34 II S. 1 (bisherige S. 2 und 3 werden S. 1 und 2). 27. G zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten v. 26.1.1998 (BGBl. I 160): geändert § 88 I, III S. 2, eingefügt § 97 I S. 3; § 180 S. 2. 28. G zur Verlängerung der Besetzungsreduktion bei Strafkammern v. 19.12.2000 (BGBl. I 1756): eingefügt § 33b II S. 2. 29. G zur Veränderung der Vorschriften über die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und zur Änderung anderer Vorschriften v. 27.12.2003 (BGBl. I 3007): geändert § 106 I und II (Satz 1) neu, eingefügt § 106 III und IV, aufgehoben § 106 II 1 (bisheriger § 106 II Satz 2 wird Satz 1). 30. G zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung v. 23.7.2004 (BGBl. I 1838): geändert § 106 Überschrift; § 108 III, eingefügt § 106 V und VI. 31. Erstes G zur Modernisierung der Justiz (1. JustizmodernisierungsG) v. 24.8.2004 (BGBl. I 2198): geändert Inhaltsübersicht, aufgehoben § 49. 32. G über die Rechtsbehelfe bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Anhörungsrügengesetz) v. 9.12.2004 (BGBl. I 3220): angefügt § 55 IV. 33. G zur Vereinfachung und Vereinheitlichung der Verfahrensvorschriften zur Wahl und Berufung ehrenamtlicher Richter v. 21.12.2004 (BGL. I 3599). geändert § 35 I 1, II 1. 34. Zweites G zur Modernisierung der Justiz (2. JustizmodernisierungsG) v. 22.12.2006 (BGBl. I 3416): geändert § 41 I Nr. 2 und 3; § 48 II 1; § 51 II; § 80 III; § 109 I 1, II 2, eingefügt § 41 I Nr. 4; § 51 III bis V; § 68 Nr. 3; § 78 III 3; § 109 II 4; bisherige § 68 Nr. 3 und 4 werden Nr. 4 und 5. 35. G zur Reform der Führungsaufsicht und zur Änderung der Vorschriften über die nachträgliche Sicherungsverwahrung v. 13.4.2007 (BGBl. I 513): eingefügt § 106 V 2. 36. Zweites G zur Änderung des JGG und anderer G v. 13.12.2007 (BGBl. I 2894): geändert § 2 (Überschrift); § 17 I; § 83 I; § 85 II 1, III Satz 1 bis 3; § 91; § 92; § 112b II 2; § 114 samt Überschrift; § 121, eingefügt § 2 I, aufgehoben § 115 I und II; bisheriger § 2 wird § 2 II; § 115 III wird § 115.

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Einführung

37. G zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht v. 8.7.2008 (BGBl. I 1212): geändert § 41 I Nr. 3 und 4; § 7 II bis IV; § 41 I Nr. 5; § 82 III, eingefügt § 106 VII; bisheriger § 7 wird § 7 I. 38. G zur Reform des Verfahrens in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGG-Reformgesetz – FGG-RG) v. 17.12.2008 (BGBl. I 2586): geändert § 2 S. 2; § 34 II 1, III; § 42 I Nr. 1, II; § 53 Überschrift, S. 1 u. 2; § 54 I 1; § 55 1; § 67 IV 3; § 70 S. 1 u. 3; § 84 II 1 u. 2; § 98 I 1; § 104 IV 1. 39. G zur Änderung des Untersuchungshaftrechts v. 29.7.2009 (BGBl. I 2274): geändert § 83 I; § 92 VI 1; § 109 I 1; 110 II, eingefügt § 72b; § 89b; § 89c; § 121 II, aufgehoben § 91, 93. 40. G zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren (2. Opferschutzreformgesetz) v. 29.7.2009 (BGBl. I 2280): geändert § 80 III 2. 41. G über die weitere Bereinigung von Bundesrecht v. 8.12.2010 (BGBl. I 1864): geändert § 35 III 2; § 112d; § 112e; § 116 I, eingefügt § 35 VI, aufgehoben § 112a Nr. 2; § 112b; § 112c I; § 115; §§ 117 bis 120; §§ 122 bis 124; bisheriger § 112c II wird I, § 112c III wird II und neu gefasst. 42. G zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen v. 22.12.2010 (BGBl. I 2300): geändert § 7 III Satz 1 Nr. 2; § 104 I; § 106 I; § 106 III S. 3, VI Satz 1 Nr. 1; § 109 Abs. 1 Satz 1, eingefügt § 81a, aufgehoben: § 106 Abs. 7. 43. Art. 3 G über die Besetzung der großen Straf- und Jugendkammern in der Hauptverhandlung und zur Änd. weiterer gerichtsverfassungsrechtl. Vorschriften sowie des BundesdisziplinarG v. 6.12.2011 (BGBl. I 2554): geändert § 33a, § 33b, § 108, § 121. 44. Art. 1 G zur Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten v. 4.9.2012 (BGBl. I 1854): geändert § 8, § 21, § 26, § 30, § 31, § 57, § 59, § 87, § 104, § 105, § 109 eingefügt § 16a, § 61, § 61a, § 61b, § 70a, § 89. 45. Art. 2 G zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebots im Recht der Sicherungsverwahrung v. 5.12.2012 (BGBl. I 2425): geändert § 7, § 81a, § 82, § 92, § 106, § 108. 46. Art. 3 G zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs v. 26.6.2013 (BGBl. I 1805): geändert § 36, § 109. 47. Art. 7 G zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in der Berufungsverhandlung und über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe v. 17.7.2015 (BGBl. I 1332): geändert § 69. 48. Art. 6 Abs. 28 G zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung v. 13.4.2017 (BGBl. I 872): geändert § 76. 49. Art. 2 G zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens v. 17.8.2017 (BGBl. I 3202): geändert §§ 8, 89a. 50. Art. 4 Zweites G zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren und zur Änderung des Schöffenrechts v. 27.8.2017 (BGBl. I 3295):

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Übersicht über die bisherigen Änderungen des JGG

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53. 54.

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Einf

eingefügt: § 67a, geändert: § 78 III 2, § 104 I Nr. 9. Art. 7 G zur Stärkung der Rechte von Betroffenen bei Fixierungen im Rahmen von Freiheitsentziehungen v. 19.6.2019 (BGBl. I 840): neu gefasst: § 93 Art. 1 G zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren v. 6.12.2019 (BGBl. I 2146): geändert: § 1, § 38, § 43, § 44, § 50, § 51, § 67, § 68, § 70b, § 78, § 89c, § 92, § 93, § 104, § 109, § 110 neu gefasst: § 67a, eingefügt: § 46a, § 51a, § 68a, § 68b, § 70a, § 70c. Art. 5 G zur Modernisierung des Strafverfahrens v. 10.12.2019 (BGBl. I 2121): geändert: § 80. Art. 15 Abs. 25 G zur Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts v. 4.5.2021 (BGBl. I 802): geändert: § 34. Art. 6 Kinder- und JStärkungsG v. 5.6.2021 (BGBl. I 1444): eingefügt: § 37a. Art. 6 G zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder v. 16.6.2021 (BGBl. I 1810): geändert: § 37, § 106. G zur Fortentwicklung der Strafprozessordnung und zur Änderung weiterer Vorschriften v. 25.6.2021 (BGBl. I 2099): geändert: § 35, § 81, § 109.

Erläuterungen Erster Teil Anwendungsbereich §1 Persönlicher und sachlicher Anwendungsbereich (1) Dieses Gesetz gilt, wenn ein Jugendlicher oder ein Heranwachsender eine Verfehlung begeht, die nach den allgemeinen Vorschriften mit Strafe bedroht ist. (2) Jugendlicher ist, wer zur Zeit der Tat vierzehn, aber noch nicht achtzehn, Heranwachsender, wer zur Zeit der Tat achtzehn, aber noch nicht einundzwanzig Jahre alt ist. (3) Ist zweifelhaft, ob der Beschuldigte zur Zeit der Tat das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat, sind die für Jugendliche geltenden Verfahrensvorschriften anzuwenden. 1. Hw.: Rn 19. – 2. ErwG: § 104, 1.

Richtlinien zu § 1 1.

2.

Auf Handlungen, für die Ordnungs- oder Zwangsmittel vorgesehen sind, findet das Jugendgerichtsgesetz keine Anwendung. Für das Bußgeldverfahren gelten die Vorschriften des Jugendgerichtsgesetzes sinngemäß, soweit das Gesetz über Ordnungswidrigkeiten nichts anderes bestimmt (§ 46 Abs. 1 OWiG). Stellt die Staatsanwaltschaft ein Verfahren wegen Schuldunfähigkeit (vgl. § 19 StGB) ein, so prüft sie, wer zu benachrichtigen ist (vgl. insbesondere § 70 Satz 1, § 109 Abs. 1 Satz 2) und ob gegen Aufsichtspflichtige einzuschreiten ist.

Übersicht 1. 2. 3.

Sachlicher Anwendungsbereich 1 3 Ordnungs- und Zwangsmittel Internationales Strafrecht, Auslieferung und 5 Vollstreckung

4. 5. 6.

Geltung des JGG in den neuen Bundeslän11 dern Altersgrenzen, Bestimmung und Folgen 25 Straftaten von Kindern

19

1. Sachlicher Anwendungsbereich Das allg. Strafrecht (§ 2, 10) einschließlich des Nebenstrafrechts bestimmt, ob eine Verfehlung 1 (rechtswidrige Tat iSd § 12 StGB) gegen eine Strafvorschrift vorliegt. Das JGG gilt sinngemäß für das OWiG-Verfahren nach den Vorschriften des Gesetzes über 2 Ordnungswidrigkeiten (OWiG), soweit dieses Gesetz nichts anderes bestimmt (§ 46 I OWiG; RL 1 S. 2), und zwar für Verwaltungsbehörde1 und Gericht (§ 2, 15). § 12 I OWiG regelt, dass ein Kind nicht, ein J nur unter den Voraussetzungen des § 3 S. 1 JGG vorwerfbar handelt. Im gerichtlichen Verfahren ist gem. § 68 II OWiG der JRichter zuständig2. Außerhalb der Vollstreckung (§ 98 OWiG; § 82, 13) sind im OWiG-Verfahren gegen J und Hw. ErzMaßregeln und Zuchtmittel als Ahndung ausgeschlossen3. Solche Aufgaben wären für die Verwaltungsbehörde wesensfremd und die grds. Einschaltung des JRichters unangemessen4. Das Einheitsprinzip des § 31 gilt im 1 2 3 4

Krumm NZV 10, 68. Näher zum OWi-Verfahren vor dem JRichter Krumm NZV 10, 68 ff. BayObLG NJW 72, 837; OLG Köln VRS Bd. 60 (81), 454; Krumm NZV 10, 70. Göhler/Gürtler/Thoma § 12 OWiG 8.

65 https://doi.org/10.1515/9783110686401-003

§1

1. Teil. Anwendungsbereich

Ordnungswidrigkeitsverfahren nicht. Nach Bohnert5 verlieren die Regeln des JGG „gleichsam im fremden Rechtskreis eingebürgert, ihre anderweitigen übergreifenden Sinnbedeutungen“, was tief greifende erz. Eingriffe verbiete. Zur örtlichen Zuständigkeit für die Einspruchs-Verhandlung bestehen Verordnungen der Länder. Zur Vollstreckungszuständigkeit des JGerichts § 82, 10 ff.

2. Ordnungs- und Zwangsmittel 3 Das JGG gilt nicht für Ordnungsmaßnahmen (RL 1 S. 1; §§ 178 GVG, 51, 70 StPO, 380, 390 ZPO, 89 FamFG ua). Auch gegen J wird Ordnungsgeld oder Ordnungshaft verhängt; diese kann aber in einer JA-Anstalt verbüßt werden. Bei J muss die Altersreife nach § 3 S. 1 vorliegen6. Gegen schuldunfähige Kinder können entsprechend § 19 StGB Ordnungsmaßnahmen nicht 4 verhängt werden7; Vorführung ist grds. zulässig8, kann aber unverhältnismäßig sein. Mangels gesetzlicher Regelung sind auch gegen Eltern, die ihre Kinder nicht als Zeugen vor Gericht stellen, keine Ordnungsmaßnahmen zulässig9. Dazu auch Anh. § 125, 33. Hier kann nur das Familiengericht nach § 1666 BGB helfen. Anders aber bei § 50 II.

3. Internationales Strafrecht, Auslieferung und Vollstreckung 5 Das JGG gilt nach Maßgabe der §§ 3–7 StGB auch für Ausländer und für Auslandstaten deutscher J und Hw. (§ 2 II). Zur Kriminalität u. zur jrechtlichen Behandlung ausländischer J u. Hw. Einf. 17–23. Die Internationale Rechtshilfe richte sich nach dem Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) und völkerrechtlichen Abkommen. Das IRG enthält hinsichtlich der Staaten der EU in den §§ 78 ff Spezialregelungen, ua §§ 80 ff zur Auslieferung, §§ 84 ff zur Vollstreckung freiheitsentziehender Sanktionen, §§ 86 ff zur Vollstreckung von Geldsanktionen und §§ 90a ff zur Bewährungsüberwachung10. Im Übrigen gelten die §§ 1 ff IRG. Die Auslieferung eines zur Tatzeit nach § 19 StGB strafunmündigen Kindes ist unzulässig 6 (§§ 83 I Nr. 2, 73 IRG)11. Jugendliche und Hw. (vgl. § 40 II Nr. 3 IRG) dürfen grds. ausgeliefert werden, die Auslieferung kann aber im Einzelfall wegen Verstoßes gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nach § 73 IRG unzulässig sein12. Nach § 9 Nr. 1 IRG ist die Auslieferung dann nicht zulässig, wenn für die Tat konkurrierend die deutsche Gerichtsbarkeit begründet ist und ein deutsches Gericht oder eine Behörde wegen der gleichen Tat gegen den Verfolgten ein Urteil oder eine Entscheidung mit entsprechender Rechtswirkung erlassen hat. Gleiches gilt, wenn eine Entscheidung nach §§ 204, 174 StPO getroffen, ein Verfahren nach § 153a StPO eingestellt oder nach JStrafrecht von der Verfolgung abgesehen (also auch durch die JStA nach § 45 I, II = Behörde) oder das Verfahren eingestellt wurde (§ 153 StPO; §§ 45, 47). Die StA bei dem OLG bereitet die Entscheidung über die Auslieferung vor und führt die bewilligte Auslieferung durch (§ 13 II IRG), das OLG erlässt die gerichtlichen Entscheidungen (§ 13 I IRG). Bei der Auslieferungshaft sind die §§ 25 II, 27 I IRG zu beachten. Zur sonstigen Rechtshilfe hat das OLG Stuttgart13 in der Feststellung der Strafmündigkeit eines zur Tatzeit 13-Jährigen nach türkischem Recht durch fachärztliches Zeugnis keinen Verstoß gegen den ordre public gesehen und hat das 5 Ordnungswidrigkeiten u. JRecht, 1989. 6 LAG Nürnberg MDR 99, 1342; Eisenberg/Kölbel 34. 7 BVerfGE 20, 331 zu § 890 ZPO; LG Bremen NJW 70, 1429; Meyer-Goßner/Schmitt § 51 StPO 15; Skupin MDR 65, 865. 8 OLG Düsseldorf FamRZ 73, 547; HK-GS/Trüg § 51 StPO 4; aA Skupin aaO. 9 OLG Hamm NJW 65, 1613; Meyer-Goßner/Schmitt § 51 StPO 1; Skupin aaO. 10 Siehe zu dieser Rothärmel ZJJ 16, 232. 11 OLG Hamm StrafFo 07, 160. 12 OLG Stuttgart Justiz 04, 362; 364; StraFo 06, 416; OLG Schleswig SchlHA 03, 217; Eisenberg/Kölbel 46. 13 NJW 85, 573. 66

Persönlicher und sachlicher Anwendungsbereich

§1

OLG Schleswig14 entschieden, dass es nicht dem ordre public widerspricht, einen nach Art. 54 Türk. StGB strafmündigen Elfjährigen dem Strafrecht zu unterstellen und als Beschuldigten richterlich nach dem zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei geltenden Europäischen Übereinkommen über Rechtshilfe in Strafsachen v. 20.4.1959 zu vernehmen. Nach Walter15 steht kein Völkerrechtsgrundsatz dieser erbetenen Rechtshilfe entgegen; die Regelungen des IRG berühren diesen Fall nicht, denn das Europäische Rechtshilfeübereinkommen geht diesen vor (§ 1 III IRG)16. Die Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die JGerichtsbarkeit17 Nr. 4 lassen die Frage des Mindestalters offen, denn darüber war ein Konsens nicht zu erzielen18. Dazu Einf. 48, 122 f, 13019. Rechtshilfe durch Vollstreckung rechtskräftiger ausländischer Erkenntnisse ist unter den Voraussetzungen der §§ 84 ff, 49 IRG zulässig. Sie ist gegen Kinder unzulässig und gegen J und Hw. nicht zulässig, wenn nach deutschem Recht wegen dieser Tat eine Sanktion nicht hätte getroffen werden können (§§ 84a I, 84b I Nr. 1, 87b III Nr. 7, 90b I 1 Nr. 3, 90c I Nr. 1, 49 I Nr. 3 IRG). Wird das ausländische Erkenntnis für vollstreckbar erklärt, so ist die von diesem verhängte Sanktion für J und Hw. zugleich in die ihr nach den hierbei entsprechend anzuwendenden Vorschriften des JGG am meisten entsprechende jrechtliche Rechtsfolge umzuwandeln (§§ 84g V Nr. 2, 87i IV S. 1, 2; 90h V 1 Nr. 2, 54 I, III IRG). Wurde ein Hw. im Ausland nach ErwStrafrecht verurteilt, ist § 105 I zu prüfen20. Über die Vollstreckbarkeit entscheidet das LG (§ 50 IRG), zuständig ist die JKammer21, denn in JSachen werden die Aufgaben der Strafvollstreckungskammer von den JGerichten wahrgenommen (§§ 82 ff, 110), denen nach der gesetzlichen Wertung die hierfür erforderliche bes. jstrafrechtliche Befähigung zukommt. Für die Vollstreckung der umgewandelten Sanktion gelten die Vorschriften des JGG entsprechend (§ 57 IV IRG)22. Ein Absehen von der Vollstreckung bei Auslieferung oder Ausweisung nach § 456a StPO ist über § 2 II auch bei JStrafe möglich23. Auslieferungs- und Zulieferungshaft werden als UHaft angerechnet (näher § 52a, 1). Wegen der Besonderheiten der Vollstreckung einer JStrafe bedarf eine Vollstreckung im Ausland im Rahmen der Vollstreckungshilfe nach §§ 71, 85 IRG bes. sorgfältiger Prüfung24.

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9 10

4. Geltung des JGG in den neuen Bundesländern Mit der Wiedervereinigung stellte sich auch für die JKriminalrechtspflege die Problematik der 11 Rechtsvereinheitlichung. Die DDR hatte am 23.5.1952 ein JGG erlassen und dieses mit dem StGB und der StPO v. 12.1.1968 wieder aufgehoben. Besonderheiten waren danach nur für J im Allg. Teil 4. Kapitel des StGB, in § 41 des 3. Strafrechtsänderungsgesetzes von 1979 und im 2. Kapitel 5. Abschnitt der StPO normiert. Als Reaktionen auf Straftaten J kamen danach neben dem Absehen von der Strafverfolgung bei Vergehen eine Entscheidung durch ein gesellschaftliches Gericht, die Auferlegung bes. Pflichten (z.B. Schadenswiedergutmachung), Strafen ohne Frei-

14 15 16 17 18 19 20 21

NJW 89, 2207. Anm. zu OLG Schleswig NStZ 89, 537. BVerfG Beschl. v. 30.9.1987 – BvR 510/85; BGH 33, 26. „Beijinger Regeln“ ZStW 87, 253. Schüler-Springorum ZStW 87, 809, 821. Vgl. auch BVerfG NJW 82, 1214. Eisenberg/Kölbel 51. Eisenberg/Kölbel 52; Ostendorf 17; aA KG NStZ 99, 196 mit abl. Anm. Eisenberg/Goeckenjan NStZ 99, 536: die Strafvollstreckungskammer. 22 Vgl. allg. Wilkitzki JR 83, 227. 23 Eisenberg/Kölbel 54. 24 Vgl. für das ErwRecht OLG Düsseldorf NStZ 90, 188. 67

§1

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1. Teil. Anwendungsbereich

heitsentzug (Verurteilung auf Bewährung, Geldstrafe u. öffentlicher Tadel), JHaft und Freiheitsstrafe in Betracht. Den §§ 105 ff entsprechende Vorschriften für Hw. fehlten25. Der Einigungsvertrag v. 31.8.1990 mit Einigungsvertragsgesetz v. 23.9.199026 hat das JStrafrecht der Bundesrepublik mit Wirksamwerden des Beitritts der DDR am 3.10.1990 mit gewissen Modifikationen auf das Beitrittsgebiet erstreckt. Die das JKriminalrecht betreffenden Gesetze der DDR sind damit im Wesentlichen außer Kraft getreten27. Nach Kapitel III Art. 8 des Einigungsvertrags tritt in dem in Kapitel II Art. 3 umschriebenen Gebiet der ehemaligen DDR Bundesrecht in Kraft, soweit es nicht in seinem Geltungsbereich auf bestimmte Länder oder Landesteile der Bundesrepublik Deutschland beschränkt ist und soweit durch den Einigungsvertrag und dessen Anlage I nichts anderes bestimmt ist. Diese Anlage I regelt die Rechtsangleichung systematisch und nach Sachgebieten. Es wird bestimmt, welche Teile des Bundesrechts in der DDR nicht gelten, welche geändert werden müssen und welche nur mit bestimmten Maßgaben gelten. Anlage II regelt, welche Rechtsnormen der DDR fortgelten und inwieweit sie zum Teil aufgehoben, ergänzt oder geändert werden. Nach Anlage I Kapitel III (Geschäftsbereich des BMJ) Sachgebiet C (Strafrecht und Ordnungswidrigkeitenrecht) Abschnitt III Nr. 3 trat das JGG mit einer Reihe von Maßgaben in Kraft28. So waren die §§ 116 bis 125 nicht anzuwenden, traten in der Überschrift vor § 3 sowie in §§ 1 I, 15 II Nr. 1, 33 I, 39 I, 40 I, 67 IV, 80 I, 164 I Nr. 1, 105 I und 108 jeweils an die Stelle des Wortes „Verfehlung“ bzw. „Verfehlungen“ die Worte „rechtswidrige Tat“ bzw. „rechtswidrige Taten“, traten in der Überschrift vor § 13 und in §§ 5 II, III, 8 I, III, 13 I, III, 17 II, 31, 39 I, 54 I, 55 I, 66 I und 76 jeweils an die Stelle des Wortes „Zuchtmittel“ bzw. „Zuchtmitteln“ die Worte „Verwarnung, Erteilung von Auflagen und JArrest“, war § 13 II nicht und § 34 III in modifizierter Fassung anzuwenden und galten einige Sonderregelungen über die zeitliche Geltung des JGG, Freiheitsstrafen und JHaft, Teilvollstreckung einer Einheitsstrafe, Amnestiefälle und Verweisungen. Diese Maßgaben sind nach Art. 109 Nr. 2 des G über die weitere Bereinigung von Bundesrecht v. 8.12.201029 bis auf wenige Ausnahmen nicht mehr anzuwenden. Die Ausnahmen bestehen darin, dass nach Abschnitt III Nr. 3a) weiterhin § 116 nicht anzuwenden ist und der in Abschnitt III Nr. 3 f) enthaltene § 1 II beibehalten wurde. Nach dieser Vorschrift wird das JGG auch auf rechtswidrige Taten angewandt, die vor dem Wirksamwerden des Beitritts begangen worden sind. Die Geltung des JGG für Alttaten bedeutet nicht, dass ergänzend zum JGG stets die Vorschriften des StGB gelten sollen. Vielmehr bleibt es insoweit bei der allg. Übergangsvorschrift des § 2 StGB. Dies kann dazu führen, dass das JGG iVm dem Angeklagten günstigeren alten Regelungen des StGB der DDR anzuwenden ist30. Bei einem nach dem Strafrecht der DDR zu Freiheitsstrafe und Schadensersatz verurteilten Hw. wurde durch den BGH der Rechtsfolgenausspruch aufgehoben, um dem Tatgericht eine dem JGG entsprechende Entscheidung, insbes. Prüfung des § 105 JGG, zu ermöglichen31; bei Anwendung von JStrafrecht kam wegen § 109 iVm § 81 eine Verurteilung zu Schadensersatz nicht in Betracht32. Die vor dem 3.10.1990 nach DDRRecht erfolgte Verurteilung eines zur Tatzeit Jugendlichen wegen Mordes und Kindesmissbrauchs zur Freiheitsstrafe von 13 Jahren war vom BGH im Strafausspruch aufzuheben, damit

25 Zum JStrafrecht der DDR in ihrem letzten Jahrzehnt s. Steinberg ZStW 20, 397. 26 BGBl. II 885, 889. 27 Zum deutsch-deutschen Rechtsvergleich auf dem Gebiet der JKriminalrechtspflege, insbes. zu den gesellschaftlichen Gerichten der DDR, vgl. 9. Aufl. Rn 6 ff u. Brunner NStZ 90, 473 ff; zur Rechtsvereinheitlichung s. Lilie NStZ 90, 153; Roggemann JZ 90, 363; Wassermann ZRP 90, 259. 28 Siehe im Einzelnen 11. Aufl. Rn 6c, 6d. 29 BGBl. I 1864. 30 BGH NStZ 91, 331. 31 BGH NStZ 91, 235 = JR 1991, 347 mit zust. Anm. Eisenberg. 32 BGH, aaO. 68

Persönlicher und sachlicher Anwendungsbereich

§1

die Sanktion nach dem JGG verhängt werden konnte33. Im Sachgebiet C Abschnitt II 3b) wurde dem StVollzG ein § 202 („Freiheitsstrafe und JHaft der DDR“) eingefügt, wonach gem. Abs. I für den Vollzug einer nach dem StGB der DDR erkannten Freiheitsstrafe gegen J und Hw. die Vorschriften für den Vollzug von JStrafe sowie für den Vollzug von JHaft die Vorschriften über den Vollzug von JA gelten. Zur Aufhebung rechtsstaatswidriger Entscheidungen von DDR-Strafgerichten kamen zu- 16 nächst das Kassationsverfahren gem. §§ 311 ff DDR-StPO und das Rehabilitationsgesetz v. 6.9.1990 in Betracht, die nach der Wiedervereinigung mit Änderungen weitergalten. Diese Vorschriften wurden 1992 durch das Strafrechtliche Rehabilitationsgesetz34 als einheitliche Rechtsgrundlage für die Rehabilitierung von Opfern rechtsstaatswidriger strafrechtlicher Maßnahmen ersetzt. Zum Aufbau einer dem GVG entsprechenden Strafgerichtsbarkeit in den neuen Bundes- 17 ländern und der Besetzung der Richter- und StA-Stellen s. 11. Aufl. Rn 6 f, 6g. Wesentlich ist, dass § 105 voll übernommen, die Gruppe der Hw. also sachlich und prozes- 18 sual nach JGG behandelt wird.

5. Altersgrenzen, Bestimmung und Folgen Das JGG schafft im Interesse der Rechtssicherheit feste Altersgrenzen. Für Täter ab 21 Jahre 19 gilt stets das allg. Strafrecht; die noch nicht 14-jährigen werden als Strafunmündige (Rn 25) ausgeklammert. Für die übrigen – J (14–17 Jahre) und Hw. (18–20 Jahre) – gilt das JGG. Es gilt auch für j. und hw. Soldaten (§§ 112a ff). Zur Diskussion über die „richtige“ Altersgrenze Einf. 121–123. Die Einteilung richtet sich nach dem Alter zZ der Tat, dh im Zeitpunkt des eigenen strafrecht- 20 lich erheblichen Verhaltens ohne Rücksicht auf den Eintritt des Erfolges (§ 8 StGB). Dauern mehrere eine rechtliche Bewertungseinheit bildende Betätigungen35, der rechtswidrige Zustand eines Dauerdelikts oder die Handlungspflicht beim Unterlassungsdelikt über das 14. Lebensjahr hinaus, ist der Täter strafbar; das Verhalten im strafunmündigen Alter bleibt aber außer Betracht, hinsichtlich des späteren Verhaltens sind die Voraussetzungen des § 3 bes. zu prüfen. Wegen anderer Altersgrenzen vgl. § 32, 1. Sind mehrere an einer Tat beteiligt, kommt es auf die für den Tatbeitrag entscheidende Willensbetätigung des Einzelnen an: Ein Tun im strafunmündigen Alter kann nicht dadurch strafbar werden, dass die Tatbeiträge der Mittäter später geleistet werden36. Auch wenn der Vorsatz des nur im strafunmündigen Alter tätig gewordenen Gehilfen schon alle Handlungen der Täter umfasst, die erst nach Vollendung seines 14. Lebensjahres ausgeführt werden sollen, kann er strafrechtlich nicht verantwortlich gemacht werden37. Die Grundsätze, welche die Rechtsprechung für die Verjährung entwickelt hat38, können nicht übertragen werden. Denn bei der Verjährung geht es um die Frage, wann die Handlung beendet ist, hier dagegen kommt es darauf an, ob der Täter für sein Handeln strafrechtlich verantwortlich gemacht werden kann. Das Alter zZ der Tat ist in den Urteilsgründen festzustellen. Dies kann nach dem OLG Hamburg39 nicht durch im Urteilsrubrum angeführte Daten ersetzt werden. Das Alter zZ der Aburteilung ist für die Einordnung der Tat ohne Belang, bei der Auswahl 21 der Maßnahmen aber oft von großer Bedeutung. Gegen einen inzwischen 22-jährigen z.B. sind 33 34 35 36

BGH B NStZ 91, 525. Zu Strafverfahren gegen DDR-Grenzsoldaten aus der Sicht der JHilfe Reinecke NJ 95, 184. Art. 1 des Ersten SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes, BGBl. I 1814. Zur grds. aufgegebenen fortgesetzten Handlung vgl. BGH 40, 138. Dallinger/Lackner 7; Eisenberg/Kölbel 5; Ostendorf 9; vgl. § 29 StGB, offen bei BGH JR 54, 271 für Altersgrenze J-

Hw.

37 Eisenberg/Kölbel 5; Ostendorf 9. 38 BGH 20, 227. 39 StV 20, 673. 69

§1

1. Teil. Anwendungsbereich

viele Weisungen nicht mehr geeignet (§ 10, 7), auch Verwarnung oder JA meist nicht mehr angebracht (§ 14, 4; § 16, 18). Dagegen können Auflagen regelmäßig noch auferlegt werden (§ 15, 2). Die JStrafe wird bei J von 14 und 15 Jahren nur in Ausnahmefällen gewählt werden (§ 17, 5). Bei fortgeschrittenem Alter sind die erz. Voraussetzungen für die Aussetzung der Verhängung der JStrafe idR nicht mehr gegeben (§ 27, 8). Nach Budelmann40 ist die Anordnung erz. jstrafrechtlicher Maßnahmen gegen im Verfahrenszeitpunkt Erw. verfassungswidrig und allein die Verhängung einer JStrafe wegen Schwere der Schuld mit dem GG vereinbar. Zur ErzAufgabe des JGG bei den volljährigen Hw. Einf. 94 f. 22 Das Alter ist nach allg. Grundsätzen zu berechnen. Der am 1.7.2000 Geborene ist am 30.6.2018, 24.00 Uhr, J, am 1.7.2018, 0.00 Uhr, Hw. (§§ 186, 187 II BGB entsprechend)41. Der am 29.2.2000 Geborene ist am 1.3.2018, nicht am 28.2.2018 Hw. und volljährig (§ 188 III BGB entsprechend). Zur Feststellung des Alters kann eine forensische Altersdiagnostik z.B. durch röntgenologische Untersuchung der Skelettreifung der Hand erforderlich sein42. Zweifel über das Alter sind zugunsten des Täters zu lösen43. Bei der 14-Jahres-Grenze 23 bleibt der Täter straffrei. Bei der 18-Jahres-Grenze kann die Altersreife (§ 3) fehlen. Sonst ist JRecht anzuwenden, wenn die Voraussetzungen des § 105 gegeben sind. Auch in sonstigen nicht behebbaren Zweifelsfällen ist JRecht anzuwenden44. Die Sanktion nach JRecht ist hierbei so zu wählen, dass sie nicht schwerer in die Rechtsstellung des Betroffenen eingreift als die Unrechtsfolge, die nach ErwRecht angemessen wäre (vgl. § 105, 31). Ein Vermischen der verschiedenen Unrechtsfolgen – etwa die Verhängung einer JStrafe von 4 Monaten, wenn entweder 10 Monate JStrafe oder 4 Monate Freiheitsstrafe verwirkt wären45 – ist unzulässig, weil eine solche Strafe weder nach J- noch nach ErwRecht verwirkt ist46. Welche Maßnahme im Vergleich zwischen JRecht und ErwRecht im Einzelfall die mildere ist, wird beim Verschlechterungsverbot (§ 55, 54–59) dargestellt. Das dort Gesagte gilt auch hier. Bei der 21-Jahres-Grenze ist unter Berücksichtigung des § 106 ErwRecht anzuwenden, wenn die Voraussetzungen des § 105 nicht gegeben sind. Andernfalls ist auch hier im Zweifel JRecht anzuwenden47. Die Regel, dass im Zweifelsfall die jrechtlichen Vorschriften anzuwenden sind, gilt auch in verfahrensrechtlichen Fragen. Dies stellt der in Umsetzung von Art. 3 Unterabsatz 2 der Richtlinie (EU) 2016/800 eingefügte Abs. III klar. Bei Zweifeln über die Altersgrenze ist das JGericht zuständig (§ 33b, 1 aE)48. Jedes Urteil ist anfechtbar, das auf der Einreihung in eine falsche Altersgruppe beruht. 24 Ein rechtskräftiges Urteil ist aber aus diesem Grunde nur ausnahmsweise nichtig49, nämlich allg. Grundsätzen entsprechend nur, wo der Bestand des Urteils für die Rechtsgemeinschaft unerträglich wäre und wo ein solches Urteil offensichtlich nicht hätte ergehen dürfen, also schon aus sich heraus unrichtig ist50. Das ist nicht der Fall, wenn die falsche Einstufung auf falschen Tatsachenfeststellungen beruht; hier ist meist die Wiederaufnahme des Verfahrens

40 JStrafrecht für Erw.? 2005, S. 93, 155. 41 BayObLG NStZ-RR 02, 305. 42 Zu den medizinischen Grundlagen der Altersschätzung s. Schmeling ua NJW 00, 2720; Rötzscher/Grundmann Kriminalistik 04, 337; Jung StV 13, 51; Schmidt ua Archiv für Kriminologie 16, 25; Niemitz Kriminalistik 18, 157; s. auch Stenger/Bertolini Kriminalistik 18, 502; zur Beweiswürdigung bei einem odontologisch-röntgendiagnostischen Gutachten OLG Hamburg StV 05, 206. 43 BGH 5, 366; 47, 311, 313 = NStZ 03 mit zust. Anm. Rieß; EisenbergKölbel 28 f. 44 Böhm/Feuerhelm S. 63; für Vergleich der Rechtsfolgen nach JStrafrecht u. allg. Recht im Einzelfall Eisenberg/ Kölbel 32. 45 So Schnitzerling NJW 56, 1384. 46 Dallinger/Lackner 13; Lackner GA 55, 34; Potrykus NJW 54, 1349. 47 BGH 47, 311, 313; BGH NStZ-RR 96, 250. 48 Ostendorf/Schady § 33, 1. 49 Luther ZStW 58, 87. 50 BVerfG NJW 85, 125; BGH 33, 127; HK-GS/Dölling Vor § 1 StPO 58. 70

Persönlicher und sachlicher Anwendungsbereich

§1

(§§ 359, 362 StPO) möglich51. Die Verurteilung eines Erw. nach JRecht und eines J nach ErwRecht bewirkt keine Nichtigkeit52. Die Verurteilung eines Strafunmündigen aber führt zur Nichtigkeit. Ein nichtiges Urteil darf nicht beachtet werden; die Nichtigkeit wird nach § 458 StPO festgestellt; außerdem sind Rechtsmittel möglich53. Ist ein Urteil nichtig, so kann das Verfahren vor dem zuständigen Gericht erneuert bzw. von dem Verfahrensstand vor Ergehen des nichtigen Urteils fortgesetzt und neu entschieden werden54. – Zum unzuständigen Richter § 33b, 24. Zum Strafbefehl gegen J: § 79, 3.

6. Straftaten von Kindern Tatbestandsmäßige und rechtswidrige Gesetzesverstöße von Kindern (Einf. 20 f) sind nie schuld- 25 haft; diesen fehlt die Schuldfähigkeit (§ 19 StGB)55. Auch Maßregeln der Besserung und Sicherung dürfen gegen Kinder nicht verhängt werden; zulässig ist jedoch die Sicherungseinziehung nach §§ 74b, 74d iVm 76a II StGB56. Bei Taten von Kindern obliegt der JStA die Prüfung, wer zu benachrichtigen ist (dazu bes. § 70 I 1, § 109 I 3), ggf. auch die Einleitung eines Verfahrens gegen den Aufsichtspflichtigen (RL 2). Eingreifen kann nur das Familiengericht. Ggf. wird es, wenn die Kinder in eine polizeiliche Untersuchung einbezogen werden, um einen pädagogischen Abschluss des Verfahrens den Kindern gegenüber bemüht sein müssen. Ob die Eingriffsbefugnisse der StPO gegen Kinder gegeben sind, ist durch Auslegung der je- 26 weiligen Norm zu ermitteln57. Kinder dürfen vorläufig festgenommen werden (§ 127 StPO)58, um ihre Identität und die Personalien ihrer gesetzlichen Vertreter und deren eventuelle Straftaten zu klären59, zumal in der Situation des § 127 StPO das Alter des Verdächtigen häufig zweifelhaft sein wird60. § 111b StPO kann wegen der Zulässigkeit der Sicherungseinziehung auch bei Kindern eingreifen61. Zwangsmaßnahmen nach § 163b I StPO sind zulässig, wenn zweifelhaft ist, ob der Verdächtige noch ein Kind ist62. Zulässig ist die Vernehmung von Kindern als Zeugen. Erkennungsdienstliche Maßnahmen nach Polizeirecht dürfen unter den dort geregelten Voraussetzungen und unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auch gegen Kinder vorgenommen werden63. Zu Ordnungs- u. Zwangsmitteln gegen Kinder Rn 4. Informationen der Polizei und des JAmtes über kindliche Delinquenz dürfen in einem späteren Strafverfahren gegen den dann J nach Maßgabe der §§ 38 II, 43 JGG, 69 I Nr. 1 SGB X, 62 II Nr. 2c, 64, 65 SGB VIII verwertet werden64.

51 OLG Hamburg NJW 52, 1150; Dallinger/Lackner 20; Lackner GA 55, 38 f; aA Potrykus B 4 u. NJW 53, 93; Ostendorf 13.

52 BGH bei Dallinger MDR 54, 400 u. bei Herlan GA 54, 309; OLG Hamm NStZ 11, 527, 528; im Wesentlichen übereinstimmend Dallinger/Lackner 21; Lackner GA 55, 39; Eisenberg/Kölbel 36; aA Potrykus aaO. Ostendorf 14; Roxin/Schünemann § 52 Rn 31. Vgl. Eisenberg/Kölbel 37. Vgl. dazu Weinschenk MKrim. 84, 15. LK-Verrel/Linke/Koranyi § 19 StGB 4; Schönke/Schröder/Perron/Weißer § 19 StGB 4. Vgl. Steiger Strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen gegen Kinder, 2014. Fischer Vor § 32 StGB 7; Verrel NStZ 01, 287; aA OLG Bamberg NStZ 89, 40 mit Anm. Wassmuth; Ostendorf 2, 3. KG JR 71, 30. Für Anwendbarkeit des § 81b 2. Alt. StPO gegen Kinder VG Freiburg NJW 80, 901; Hussels DVJJ-J 96, 74; Verrel aaO, 286; aA Meyer-Goßner/Schmitt § 81b StPO 7; Walter-Freise DVJJ-J 95, 315; Apel/Eisenhardt StV 02, 491. 61 Näher zur Problematik Verrel aaO, 285 f; aA Ostendorf 4. 62 Hussels aaO; Verrel aaO, 285. Generell für Anwendbarkeit der gegen Beschuldigte gerichteten Normen der StPO gegen Kinder Schoene DRiZ 99, 321; dagegen Walter DRiZ 99, 325; gegen die Anwendbarkeit der an die Beschuldigteneigenschaft anknüpfenden Normen auch Frehsee ZStW 88, 301; Mayer GA 90, 509. 63 OVG Münster NJW 99, 2689. 64 Näher Verrel aaO, 288 f.

53 54 55 56 57 58 59 60

71

§2

1. Teil. Anwendungsbereich

Dass der Täter zZ der Tat 14 Jahre alt war, ist darüber hinaus eine Prozessvoraussetzung, die zur Verfahrenseinstellung, nicht zum Freispruch zwingt65. Das gilt auch dann, wenn sich nicht ausschließen lässt, dass der Täter zZ der Tat noch nicht 14 Jahre alt war66. Auch hier ist RL 2 zu beachten. Stellt der Staatsanwalt das Verfahren ein, weil der Täter noch nicht 14 Jahre alt war, ist ein Klageerzwingungsverfahren gem. § 172 II StPO nur möglich, wenn Zweifel bestehen, ob der Täter zZ der Tat schon 14 Jahre alt war. Sonst ist sicher, dass eine Strafverfolgung nicht stattfinden kann; wie bei unbekannten Tätern67 ist auch hier der verletzte Anzeigeerstatter nur formlos von der Einstellung zu benachrichtigen. Nur im ersten Fall ist Zustellung mit Rechtsmittelbelehrung geboten. 28 Gegen rechtswidrige Angriffe von Kindern darf mit Einschränkungen68 Notwehr geübt werden. Es ist umstritten, ob eine Aufrechnung (Kompensation nach § 199 StGB) möglich ist, wenn der Gegner ein Kind war69. Der Wortlaut des § 199 StGB zwingt nicht zu der engen, Kinder ausschließenden Auslegung. 29 Die Strafbarkeit von Mittätern und Teilnehmern bleibt bestehen. Auch kann ein Kind Vortäter der Hehlerei sein70, im Zusammenwirken mit einem schuldfähigen Täter die Körperverletzung für diesen zu einer gefährlichen qualifizieren71 oder sachlich begünstigt werden. Dagegen ist die persönliche Begünstigung (Strafvereitelung) eines Kindes ausgeschlossen, weil es schuldunfähig ist und deshalb der Bestrafung nicht entzogen werden kann. Es kann jedoch ein strafbarer untauglicher Versuch vorliegen. 27

§2 Ziel des Jugendstrafrechts; Anwendung des allgemeinen Strafrechts (1) 1Die Anwendung des Jugendstrafrechts soll vor allem erneuten Straftaten eines Jugendlichen oder Heranwachsenden entgegenwirken. 2Um dieses Ziel zu erreichen, sind die Rechtsfolgen und unter Beachtung des elterlichen Erziehungsrechts auch das Verfahren vorrangig am Erziehungsgedanken auszurichten. (2) Die allgemeinen Vorschriften gelten nur, soweit in diesem Gesetz nichts anderes bestimmt ist. 1. Hw.: § 1. – 2. ErwG: § 104, 1.

Übersicht 1. 2. 3. 4.

Ziel des JStrafrechts 1 JGG als Sondervorschrift Allgemeine Vorschriften Verwaltungsvorschriften

5 10 12

5. 6.

15 OWiG Rechtsstaatliche Erfordernisse und Erziehungs17 aufgabe

65 66 67 68 69

Dallinger/Lackner 39; Eisenberg/Kölbel 11; Lackner/Kühl § 19 StGB 2. BGH 18, 274 u. OLG Stuttgart NJW 62, 1272 (zur Verjährung) entsprechend. Meyer-Goßner/Schmitt § 171 StPO 9. Dazu Schönke/Schröder/Perron/Eisele § 32 StGB 52. Ja: Schönke/Schröder/Eisele/Schittenhelm § 199 StGB 6; nein: KG GA 745, 214; Fischer § 199 StGB 3. Vgl. auch BGH 10, 374; BayObLG 58, 244, OLG Hamburg NJW 65, 1611 u. Schwarz NJW 58, 10 zum vergleichbaren Fall der Ehrennotwehr, wonach der Beleidigte schon durch die Beleidigung hinreichend bestraft sei. 70 BGH 1, 47. 71 BGH 23, 122, da der natürliche Tatwille genügt. 72 https://doi.org/10.1515/9783110686401-004

Ziel des Jugendstrafrechts; Anwendung des allgemeinen Strafrechts

§2

1. Ziel des JStrafrechts In dem durch das 2. JGGÄndG v. 13.12.2007 in § 2 eingefügten Abs. I hat der Gesetzgeber erstmals 1 das Ziel und die erz. Ausrichtung des JGG, die sich bisher aus der Zusammenschau der Einzelvorschriften ergaben, ausdrücklich im Gesetz festgeschrieben. Abs. I gibt eine Orientierungshilfe für die Auslegung und Anwendung der Einzelvorschriften und trägt zur Bestimmung der Eigenart der jstrafrechtlichen Sanktionen bei1. Ziel des Jugendstrafrechts ist nach Abs. I 1 die Spezialprävention: Weitere Straftaten des J oder Hw. sollen verhindert werden. Aus der Formulierung „vor allem“ geht hervor, dass nachrangig auch andere Sanktionszwecke berücksichtigt werden dürfen. Hierbei handelt es sich um den Schuldausgleich. Eine JStrafe verhängt der Richter nach § 17 II auch, wenn wegen Schwere der Schuld Strafe erforderlich ist (dazu § 17, 25 ff), und das Schuldprinzip kann als Zumessungsprinzip für die JStrafe eine Strafhöhe gebieten, die über das spezialpräventiv Erforderliche hinausgeht (§ 18, 17). Unzulässig ist es dagegen, die jstrafrechtliche Sanktionszumessung an der Generalprävention auszurichten (§ 18, 21). Generalprävention wird von dem spezialpräventiv ausgerichteten JStrafrecht nicht unmittelbar bezweckt, kann aber mittelbare Folge der Anwendung des JStrafrechts sein2. Nach Abs. I 2 ist das vorrangige Mittel zur Erreichung des spezialpräventiven Ziels des 2 JStrafrechts die erz. Einwirkung auf den J o. Hw. Die Vorschrift verankert damit den ErzGedanken als Leitprinzip des JGG3. Bei der Erz. geht es darum, die Fähigkeiten, Verhaltensweisen und Einstellungen des jungen Täters in der Weise positiv zu beeinflussen, dass künftiges straffreies Verhalten gefördert wird4. Erz. ist somit positive Spezialprävention und – da sie auf die Eigenart junger Menschen abgestellt sein muss – jugendspezifische Spezialprävention5. Näher Einf. 83– 93. Wie sich aus dem Zusatz „vorrangig“ ergibt, kommen neben der Erz. iS von Hilfe und Förderung auch andere Formen der Einwirkung zur Erreichung des spezialpräventiven Ziels in Betracht. So kann es angezeigt sein, durch Zuchtmittel iS einer Individualabschreckung auf den jungen Täter einzuwirken (§ 13, 2) oder durch eine längere Jugendstrafe oder Maßregeln der Besserung und Sicherung Sicherungsinteressen Rechnung zu tragen. Gegenüber dieser negativen Spezialprävention (Individualabschreckung und Sicherung) hat jedoch die positive Spezialprävention den Vorrang. Es ist zunächst zu prüfen, ob erz. Maßnahmen erforderlich und ausreichend sind. Ist dies der Fall, bedarf es unter spezialpräventiven Aspekten keiner weiteren Sanktion. Maßnahmen der negativen Spezialprävention kommen nur in Betracht, wenn erz. Maßnahmen zur Rückfallverhinderung nicht ausreichen (vg. § 5 II) oder wenn ein Bedarf für eine erz. Intervention nicht besteht, aber eine Sanktion mit Appell- und Denkzettelwirkung angezeigt ist. Damit JRichter und JStaatsanwälte der ihnen in Abs. I übertragenen Aufgabe der am ErzGe- 3 danken ausgerichteten Spezialprävention gerecht werden können, müssen sie die empirischen Befunde über JDelinquenz und die Wirkungen jstrafrechtlicher Maßnahmen berücksichtigen und die Erkenntnisse der Kriminologie, Psychologie, Pädagogik und anderer mit jungen Menschen befassten Wissenschaften beachten. Abs. I steht daher in engem Zusammenhang mit in § 37 geregelten Qualifikationsanforderungen an JRichter und JStaatsanwälte6 (dazu § 37, 9 ff). Die erz. Ausrichtung des JStrafrechts wird durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und das Schuldprinzip begrenzt. Erz. Maßnahmen sind nur im Rahmen des Erforderlichen und der Tat und Rückfallgefahr Angemessenem zulässig und die Dauer der JStrafe darf nicht aus erz. Gründen die durch den Grundsatz schuldangemessenen Strafens gezogene Obergrenze überschreiten 1 Begr. RegE, BT-Drs. 16/6293, S. 8, 9. 2 Begr. RegE aaO, S. 10; für die positive Generalprävention als ergänzendem Zweck des JStrafrechts Kaspar FS Schöch, 2010, S. 211, 224 f; allg. zur Bedeutung der Generalprävention im JStrafrecht Dölling ZJJ 12, 124. 3 Begr. RegE aaO, S. 9. 4 MK-StGB/Laue § 2 JGG 3. Zu Begriff u. Methoden der Erz. s. auch Eisenberg/Kölbel 8 ff. 5 Dölling RdJ 93, 370. 6 Begr. RegE aaO, S. 10. 73

§2

1. Teil. Anwendungsbereich

(§ 18, 23 ff). Außerdem ist Erz. im JStrafrecht an das Ziel der Rückfallverhinderung gebunden. Es geht nicht um eine umfassende Erz. junger Menschen, sondern Erz. ist das Mittel, um ein künftiges straffreies Leben des J oder Hw. zu erreichen. 4 Die in Abs. I festgelegte Ausrichtung auf den ErzGedanken bezieht sich sowohl auf die Rechtsfolgenauswahl als auch auf das Verfahren. Bei der Festsetzung der Rechtsfolgen ist zu prüfen, ob zur Rückfallverhinderung ein erz. Bedarf besteht und – wenn dies der Fall ist – die erz. am besten geeignete Rechtsfolge zu wählen. Aus dem Gebot der erz. Ausrichtung des Verfahrens folgt, dass dieses für den jungen Beschuldigten verständlich (vgl. § 70b), beschleunigt und fair zu führen ist, und ein erz. schädliches Vorgehen zu vermeiden ist. Bei strafprozessualen Eingriffen sind im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit die Auswirkungen der Maßnahmen auf die Entwicklung des J zu berücksichtigen7. Dies hat unter Beachtung des elterlichen ErzRechts zu erfolgen. Damit trägt das Gesetz der Entscheidung BVerfGE 107, 104 Rechnung, nach der während eines noch nicht abgeschlossenen Strafverfahrens für eine allein mit erz. Zielen begründete Zurückdrängung des Elternrechts verfassungsrechtlich kein Raum ist. Dies schließt aber erz. begründete Maßnahmen vor einer rechtskräftigen Verurteilung nicht aus, wenn sie keinen Zwangscharakter haben oder für den jugendlichen Beschuldigten lediglich vorteilhaft sind – z.B. vorläufige Anordnungen über die Erz. statt UHaft – oder die erz. Wirkung etwaiger im Urteil zu treffender Anordnungen sichern8. Nach rechtskräftiger Verurteilung sind dann in größerem Umfang Eingriffe in das elterliche ErzRecht zum Zweck der Rückfallverhütung zulässig9.

2. JGG als Sondervorschrift 5 Das JGG enthält zur Erfüllung seiner spezialpräventiven Zielsetzung für J und Hw. Sondervorschriften, die nach Abs. II als leges speciales den Normen des allg. Rechts vorgehen. § 10 StGB stellt ausdrücklich klar, dass das StGB für J und Hw. nur gilt, soweit im JGG nichts anderes bestimmt ist. Das JGG schließt dabei das allg. Recht nicht nur dort aus, wo es eine ausdrückliche Rege6 lung trifft, sondern schon dort, wo das allg. Recht den Grundsätzen des JGG widerspricht10 oder wo es zu einem nicht jgemäßen Ergebnis führen würde11. Vgl. dazu OLG Stuttgart12 zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (s. auch Rn 9; § 55, 64). Zum Widerstreit mit rechtsstaatlichen Erfordernissen vgl. aber Rn 17. Sonst kommen die ohne Rücksicht auf das Alter geltenden Vorschriften des allg. Rechts 7 ergänzend zur Anwendung (Vor § 33, 2–6). Die Abgrenzung kann nicht formalistisch erfolgen. Gleiche Begriffe können unterschiedlich 8 gebraucht werden. So ist nach dem JGG die JStrafe die einzige Strafe (§ 13 III); im allg. Recht dagegen wird der Strafbegriff häufig in einem weiteren Sinn gebraucht, z.B. in § 60 StGB13, in § 466 StPO14, beim Verschlechterungsverbot (§ 55, 37) und im BZRG. In diesen Fällen sind die ErzMaßregeln und Zuchtmittel – unbeschadet der gegenteiligen Abgrenzung des JGG – Strafen im weiten Sinn der entsprechenden Bestimmungen des allg. Rechts. Nach OVG Münster15 ist

7 VG Göttingen ZJJ 10, 71 mit krit. Anm. Bezjak/Sommerfeld. 8 Begr. RegE aaO, S. 9. 9 AaO. 10 Dallinger/Lackner 7; Grethlein NJW 57, 1370. 11 Potrykus B 2. 12 MDR 87, 340. 13 BayObLG NJW 92, 1521 = JR 92, 387 mit zust. Anm. Brunner; dazu § 5, 10. 14 KG JR 62, 271. 15 NJW 72, 1965. 74

Ziel des Jugendstrafrechts; Anwendung des allgemeinen Strafrechts

§2

Ahndung mit einem Zuchtmittel eine Verurteilung iSd § 10 I Nr. 2 des damaligen AusländerG, das nicht auf Bestrafung, sondern auf Verurteilung abstelle. Die öffentliche Zustellung (§ 40 StPO) widerspricht so sehr einem tragenden Grundsatz 9 des JGG – nämlich der Nicht-Öffentlichkeit – (vgl. § 48; § 6, 3), dass sie gegen J unzulässig ist16; sie kann auch das Verfahren gegen einen J nicht fördern, denn sie wird ihn nicht erreichen; in seiner Abwesenheit soll aber grds. nicht verhandelt werden (§ 50 I). Das gilt auch für die Berufungsverhandlung17. Zur öffentlichen Zustellung des Sicherungshaftbefehls Nach § 60, 11.

3. Allgemeine Vorschriften „Allg. Vorschriften“ enthalten neben StGB, StPO und GVG das gesamte Nebenstrafrecht (AO, 10 BtMG, WStG, s. Vor § 112a, 4), das Landesstrafrecht, das Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen18 und die Straffreiheitsgesetze. Welches Verhalten strafbar ist, bestimmt stets das allg. Recht19. Auch dessen Auslegung 11 erfolgt nach allg. Grundsätzen. Nur die Folgen des Unrechts sind nach JGG andere. Für eine bes. „jgemäße Auslegung“20 bietet das Gesetz keine Grundlage21. Sie ist auch nicht notwendig, weil – nach Bejahung des Straftatbestandes und nach Überprüfung aller Möglichkeiten, das Verfahren einzustellen (§§ 45, 47 JGG; §§ 153 ff StPO) – alle Schwierigkeiten bei richtiger Anwendung des § 3 und richtiger Auswahl der Unrechtsreaktion (§ 5) vermieden werden. Bei wertausfüllungsbedürftigen Begriffen kann allerdings gleiches Tun bei einem J anders zu beurteilen sein als bei einem Erw. (vgl. böswillig: kindlich-gefühllos; rücksichtslos: kindlichunbedacht)22. Zum Tatbestandsirrtum § 3, 19. Wulf23 weist darauf hin, dass es einem J, der eine mit einem Fan-Club-Emblem versehene Jeansjacke als Siegestrophäe für den Clubraum unter Drohungen herauspresst, nur um den idealen Wert gehe; eine solche atypische Tat werde deshalb jgemäß(!) richtiger als Nötigung und nicht als räuberische Erpressung behandelt, was auch Folgen für Verfahrensverlauf und Registrierung habe. Auch das vermag jedoch eine „jspezifische Tatbestandsauslegung“ nicht zu rechtfertigen, da so die Sicherheit und Berechenbarkeit des Rechts wie auch dessen gleichmäßige Anwendung gefährdet erscheinen. Im Übrigen kann auch entsprechend der hM ein jgemäßes Ergebnis erzielt werden. § 244a StGB gilt auch für JBanden24. Märker25 will Zurechnung jugendlichen Verhaltens zum Vorsatz ausschließen, wenn der J lediglich mit bedingtem Vorsatz gehandelt hat und als Rechtsfolge ErzMaßregeln oder Zuchtmittel in Betracht kämen; Fahrlässigkeitshaftung soll bei unbewusster Fahrlässigkeit ausgeschlossen sein. Aus dem geltenden Recht lässt sich dies jedoch nicht ableiten. Bei der Anwendung der Vorschriften der StPO sind die Besonderheiten des JAlters zu beachten. So sind bei Entscheidungen nach § 81g StPO bei jugendlichen Ersttätern im pubertären Alter bei der Abwägung auch die Erkenntnisse der Kriminologie über jtypische Delikte, die in der Jugendlichkeit des Täters begründeten Umstände der Tat, das Verhalten 16 OLG Stuttgart StV 87, 309; Eisenberg/Kölbel 46; Ostendorf/Schady § 48, 7; Nothacker S. 279; Meyer-Goßner/ Schmitt § 40 StPO 2.

17 OLG Stuttgart aaO, das einem inzwischen längst Volljährigen deshalb Wiedereinsetzung gewährte; Meyer-Goßner/Schmitt § 329 StPO 9; Schäfer NStZ 98, 330; aA KG NStZ-RR 06, 120 = JR 06, 302 mit abl. Anm. Eisenberg/ Haeseler; LG Zweibrücken MDR 91, 985; Nowak JR 08, 234, 238. 18 Dazu Eisenberg GA 04, 385. 19 Für Aufnahme einer allg. Geringfügigkeitsklausel in das JGG Heinz S. 94. 20 Dafür DSS/Sonnen 8 ff; Eisenberg/Kölbel 20 ff; Ostendorf § 1, 10. 21 MK-StGB/Laue § 2 JGG 23; Beulke/Swoboda Rn 163; LBN/Baier Rn 64. 22 Dallinger/Lackner 5; s. auch AG Saalfeld ZJJ 04, 206: Verneinung des Tatbestandes der Bedrohung gem. § 241 StGB bei prahlerischen Redensarten aus jtümlicher Groß- u. Wichtigtuerei. 23 Informationsdienst der DVJJ-BW 1983, 97. 24 BGH NStZ-RR 00, 344; NStZ 08, 625 mit abl. Besprechung Möller StraFo 09, 92. 25 Vorsatz u. Fahrlässigkeit bei jugendlichen Straftätern, 1995, S. 280. 75

§2

1. Teil. Anwendungsbereich

nach der Tat sowie die möglichen Auswirkungen einer Erfassung und Speicherung von Genmerkmalen auf die weitere Entwicklung des J zu berücksichtigen26.

4. Verwaltungsvorschriften 12 § 2 gilt auch für Verwaltungsvorschriften wie GnadenO (§ 13, 7; Vor § 82, 7), Mitteilungen in Strafsachen und RiStBV, die nur ergänzend zu den RL zum JGG (dazu Rn 13 f) anwendbar sind27. Werden in diesen Vorschriften allg. Begriffe verwendet, die für das JRecht bes. bestimmt sind, wirkt das JGG auf diese Vorschriften ein. Wenn z.B. in einer Gnadenordnung der Vollstreckungsbehörde Rechte eingeräumt oder Pflichten auferlegt sind, wird der nach §§ 82 ff zuständige Vollstreckungsleiter tätig. Zur Einwirkung von Grundsätzen des JGG in Verwaltungsentscheidungen vgl. Einf. 115 u. § 17, 13. Die RL zum JGG wurden 1994 von den Landesjustizverwaltungen bundeseinheitlich erneu13 ert (Einf. 139). Die Einführung wurde sprachlich neu gefasst. Sie besagt vor allem, dass die RL das Gericht nicht binden, sondern nur Hinweise und Empfehlungen geben, die zu berücksichtigen „dem Gericht überlassen“ bleibt, soweit sie nicht „die Art der Ausführung eines Amtsgeschäfts“ betreffen. Der (weisungsgebundenen) StA, an die sich die RL vornehmlich wenden, geben sie „für den Regelfall Anleitungen und Orientierungshilfen, von denen wegen der Besonderheit des Einzelfalles abgewichen werden kann“. Soweit die RL nichts Besonderes bestimmen, gelten ergänzend die RiStBV. Die RL sind gestrafft, zum Teil wiederholen sie nur Regelungen des JGG und des BZRG. 14 Ostendorf28 übt herbe Kritik an den RL von 1994. Die Einführung vernebele „ihren Geltungsbereich mehr als sie ihn verdeutliche“; die als „hilfreiche, überflüssige, anmaßende oder kontraproduktive“ katalogisierten Hinweise der RL29 nähmen nach Berichten aus der Praxis „zum Teil gesetzesersetzende Funktion“ ein und gäben nur eine bestimmte Sichtweise, nicht unabhängig von exekutiv-administrativen Wünschen wieder30. Zurzeit werden die RL überarbeitet.

5. OWiG 15 Begeht ein J oder Hw. eine Ordnungswidrigkeit nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten – nach Bundes- oder Landesrecht (§ 2 OWiG) –, so gelten für das Verfahren sinngemäß die Vorschriften des JGG, soweit das OWiG nichts anderes bestimmt (§ 46 I OWiG). Gegen J und Hw. kann somit von Verwaltungsbehörde und Gericht bei Ordnungswidrigkeiten nur auf Geldbuße oder Fahrverbot erkannt werden31. Dazu auch § 1, 2, § 50, 6 u. § 67a, 3 aE. Der JRichter kann allerdings zugleich mit der Festsetzung der Geldbuße im Urteil oder Be16 schluss bestimmen, dass der J oder Hw. unter den Voraussetzungen des § 98 I OWiG an Stelle der Geldbuße eine bestimmte oder mehrere Anordnungen dieser Vorschrift zu befolgen hat (§ 82, 14)32. Auf die sonstigen Folgen einer JStraftat (§ 5) darf nicht erkannt werden. Wegen der Möglichkeiten in der Vollstreckung § 11, 12; § 82, 8–19.

26 27 28 29 30 31

BVerfG NJW 08, 231. Zum Verhältnis von JGG u. StPO s. auch Eisenberg NStZ 99, 281. Eisenberg/Kölbel 18; Nothacker Zbl. 85, 107; aA Ostendorf 14. DVJJ-J 94, 191 f. AaO, 192. AaO. BayObLG NJW 72, 837; OLG Köln Verkehrsrechtl. Mitt. 76, 36 u. VRS Bd. 60 (81), 454; OLG Stuttgart HESt. zu § 9 JGG 3. 32 OLG Köln aaO. 76

Ziel des Jugendstrafrechts; Anwendung des allgemeinen Strafrechts

§2

6. Rechtsstaatliche Erfordernisse und Erziehungsaufgabe Allg. rechtsstaatliche Erfordernisse können mit dem ErzAuftrag des JStrafrechts in Widerstreit 17 geraten. So ist z.B. der J nicht verpflichtet, bei der Vernehmung vor Polizei, StA oder Richter zur Sache auszusagen, und muss darüber belehrt werden (§§ 136, 163a StPO). Der J kann mit dieser Entscheidung, auszusagen oder zu schweigen, überfordert sein und schweigt uU aus Trotz oder Angst entgegen seinem inneren Drang, sich zu offenbaren und reinen Tisch zu machen. Damit kann er sich die ihm günstigen Verfahrensmöglichkeiten gem. §§ 45, 47 I Nr. 1 bis 3 verbauen, die nach einem Geständnis ohne überschießenden Aufwand sinnvollere erz. Einwirkung erlauben. Da das JGG hierzu keine Sondervorschriften enthält, der Hinweis auf die zwei Verteidigungsmöglichkeiten aber dem Art. 1 GG zu entnehmenden Grundsatz entspricht, dass niemand gegen sich selbst auszusagen braucht33, kann diese Vorschrift nicht aus dem Sinngehalt des JGG (Rn 6) unbeachtet bleiben. Als Lösung wird es darauf ankommen, den J bei dieser möglicherweise auch für seine künftige Haltung und Entwicklung bedeutsamen Entscheidung nicht allein zu lassen und ihn mit aller Offenheit verständlich und vorsichtig zu belehren (§ 70b; Einf. 112)34, um den Sinngehalt des JGG zu erfüllen.35 Solche Überlegungen dürfen aber nie dazu führen, dass die bes. Mentalität des J unfair ausgenutzt, dass versucht wird, ihn zu überreden, und er sich „hereingelegt“ fühlen könnte. Das Anwesenheitsrecht der ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter nach § 67 III kann hier helfen. Nach dem BGH36 führt es aber zu keinem Verwertungsverbot, wenn ein Polizeibeamter ein spontan vor der Beschuldigtenbelehrung abgelegtes Geständnis entgegennimmt, solange dies ohne sein Zutun geschehen ist.

33 34 35 36 77

Meyer-Goßner/Schmitt § 136 StPO 7. Siehe dazu auch Nothacker S. 149 u. S. 272. Vgl. Kaiser NJW 68, 777; Bertram MKrim. 68, 286. MDR 90, 68.

Zweiter Teil Jugendliche Erstes Hauptstück Verfehlungen Jugendlicher und ihre Folgen Erster Abschnitt Allgemeine Vorschriften §3 Verantwortlichkeit 1

Ein Jugendlicher ist strafrechtlich verantwortlich, wenn er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug ist, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. 2Zur Erziehung eines Jugendlichen, der mangels Reife strafrechtlich nicht verantwortlich ist, kann der Richter dieselben Maßnahmen anordnen wie das Familiengericht. 1. [Hw.]: § 105 I, RL 1 zu § 105. – 2. ErwG: § 104 I Nr. 1.

Richtlinien zu § 3 1.

2.

Verbleiben nach Ausschöpfung anderer Ermittlungsmöglichkeiten ernsthafte Zweifel an der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, ist zu prüfen, ob ein Sachverständigengutachten einzuholen ist (vgl. auch die §§ 38, 43, 73 und die Richtlinien dazu). Dabei ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Ergibt die Prüfung, dass der Jugendliche mangels Reife nicht verantwortlich ist oder kann die Verantwortlichkeit nicht sicher festgestellt werden, so stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren ein (§ 170 Abs. 2 StPO); ist die Anklage bereits eingereicht, so regt die Staatsanwaltschaft die Einstellung des Verfahrens an (§ 47 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4).

Schrifttum Barnikol Unterstellt statt überprüft? Das richterliche Vorgehen bei der Verantwortlichkeitsbegutachtung nach § 3 JGG, 2012; Bauer/Remschmidt Forensisch-Psychiatrische Begutachtung von Kindern und Jugendlichen, in Handb. d. For. Psychiatrie Bd. 1, 2007, S. 464; Bauer/Thoss Die Schuldunfähigkeit des Straftäters als interdisziplinäres Problem, NJW 83, 305; Beckmann Die Bestimmung der strafrechtl. Verantwortlichkeit nach § 3 JGG, Diss. Kiel 1969; Bohnert Strafmündigkeit u. Normkenntnis, NStZ 88, 249; Bresser JZurechnungsfähigkeit oder Strafmündigkeit?, ZStW 62, 579; ders. Psychologie u. Psychopathologie der J, in Göppinger/Witter, Hrsg., Hdb. der Forensischen Psychiatrie, 1972, S. 534; Dehne-Niemann Zur Psychiatrieunterbringung von J bei Zusammentreffen von Entwicklungsdefiziten u pathologischen Störungen der Bewusstseinstätigkeit, NStZ 19, 374; Freisleder Rechtsfragen bei Kindern, J u. Hw., in Müller/Nedopil, Forensische Psychiatrie, 5. Aufl. 2017, S. 97; Gabber Das Verhältnis von § 3 JGG zu den §§ 20, 21 StGB, ZJJ 07, 167; Günter Strafrechtliche Begutachtung von J u. Hw., in Venzlaff/ Foerster/Dreßing/Habermeyer, Psychiatrische Begutachtung, 7. Aufl. 2021, S. 643; Günter/Karle Das Gutachten zu Strafmündigkeit und Entwicklungsstand, in Handb. d. For. Psychiatrie Bd. 2, 2010, S. 561; Haddenbrock Medizinisch-psychiatrisches oder (und) psychologisches Kriterium der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit, Psychologische Rundschau 66, 1; Kaufmann/Pirsch Das Verhältnis von § 3 JGG zu § 51 StGB, JZ 69, 358; Keller Die Entscheidung nach § 3 JGG, med. Diss. Tübingen 1974; Keller/Kuhn/Lempp Untersuchungen über die Entscheidungen gem. §§ 3 u. 105 JGG an süddeutschen Amtsgerichten, MKrim. 75, 153; Klosinski Zu den Voraussetzungen des § 3 JGG aus jpsychiatrischer Sicht, FPPK 08, 162; Konrad/Huchzermeier/Rasch Forensische Psychiatrie u. Psychotherapie, 5. Aufl. 2019; Lemm Die strafrechtliche Verantwortlichkeit j. Rechtsbrecher, 2000; Lempp JPsychiatrisch-psychologische Beurteilung der Strafmündigkeit gem. § 3 JGG, 1967; ders. Das Problem der Strafmündigkeit aus kinderu. jpsychiatrischer Sicht, RdJ 72, 326; ders. Gerichtliche Kinder- u. JPsychiatrie, 1983; Miehe Zur Anordnung von Hilfen zur Erz. nach §§ 27 bis 35 SGB VIII durch Vormundschafts- u. JRichter, FS Fenge, 1996, S. 429 = DVJJ-J 97, 260; Nix § 3 JGG – eine immer wieder neu vergessene Rechtsvorschrift, ZJJ 11, 416; Oehler Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit J, Münchener mediz. Wochenschrift 65, 174; Ostendorf Die Prüfung der strafrechtl. Verantwortlichkeit nach § 3 JGG, JZ 86, 664; Ottinger Die bedingte strafrechtliche Reife (§§ 3, 105 JGG), in Blau/Müller79 https://doi.org/10.1515/9783110686401-005

§3

2. Teil. Jugendliche

Luckmann, Hrsg., Gerichtliche Psychologie, 1962, S. 192; Peters Die Beurteilung der Verantwortungsreife, in Undeutsch, Hrsg., Forensische Psychologie. Handbuch der Psychologie Bd. 11, 1967, S. 260; Schaffstein Die JZurechnungsfähigkeit in ihrem Verhältnis zur allg. Zurechnungsfähigkeit, ZStW 65, 191; Schilling Begutachtung von strafrechtlicher Verantwortlichkeit u. Schuldfähigkeit aus der Sicht des JPsychologen, NStZ 97, 261; Schmidt Die Frage der psychologischen Kriterien für die Beurteilung der Schuldfähigkeit, Psychologische Rundschau 66, 80; Schmitz Die Problematik der Altersgrenzen gem. § 3 u. § 105 JGG, RdJ 74, 163; Schöttle Die Schuldfähigkeitsbegutachtung in JStrafverfahren – Eine Bestands- u. Qualitätsanalyse, 2013; Schütze/Schmitz Strafrechtliche Verantwortlichkeit, Strafreife u. schädliche Neigungen, in Lempp/Schütze/Köhnken, Hrsg., Forensische Psychiatrie u. Psychologie des Kindes- u. JAlters, 1999, S. 127; Streng Die Einsichts- u. Handlungsreife als Voraussetzung strafrechtlicher Verantwortlichkeit, DVJJ-J 97, 379; ders. Die Beurteilung der Strafmündigkeit bei j. Straftätern, GS Walter, 2014, S. 423; Strunk § 3 des JGG u. der medizinische Sachverständige, MKrim. 65, 217; Uslar Vorl. Mitteilung über d. Anwendung von Sozialtests bei d. Reifebeurteilung, MKrim. 71, 136; Walter/Kubink § 3 JGG – § 17 StGB: gleiche Tatbestandsstruktur?, GA 95, 51. Vgl. auch die Beiträge in DVJJ-J 97, 366 ff.

Übersicht Vorbemerkungen 1 1. Strafmündigkeit und deren Prüfung 9 2. Teilbarkeit der Strafmündigkeit 3. Strafmündigkeit als Schuldvorausset10 zung 13 4. Verhältnis zu §§ 20, 21 StGB

4

5. 6. 7. 8. 9. 10.

15 Alkohol und Drogen 19 Tatbestandsirrtum 20 Verbotsirrtum 21 Die Eidesmündigkeit Familiengerichtliche Maßnahmen 27 Anfechtung

22

Vorbemerkungen 1 § 3 regelt die strafrechtliche Verantwortlichkeit Jugendlicher. Bei der kriminalpolitischen Beurteilung ist zu berücksichtigen, dass die ErzMaßregeln des JGG geradezu für die angemessene Behandlung strafunmündiger, aber erzmündiger Täter geschaffen sind. Die Frage müsste also eher nach der ErzMündigkeit gestellt werden. Diese ist aber schon bei normalen Schulkindern gegeben; Ausnahmen gibt es eigentlich nur bei geistig oder seelisch kranken J, denen man gem. §§ 20, 21 StGB gerecht werden kann. Umgekehrt kann die Exkulpierung J erz. gefährlich sein; denn die Ausbildung ethischer Normen bei einem jungen Menschen kann empfindlich gestört werden, wenn er für Straftaten nicht zur Rechenschaft gezogen wird; sie kann als Freibrief für weitere strafbare Handlungen verstanden werden (Einf. 89)1. Außerdem kann die Verneinung der Verantwortungsreife für den J stigmatisierende Konsequenzen haben und das Selbstwertgefühl beeinträchtigen2. 2 Aus all diesen Gründen hält Bresser3 den § 3 für ein historisches Überbleibsel; denn die ihm entsprechende Vorschrift des alten Rechts (§ 56 StGB aF) sei geschaffen worden, als schon die 12-jährigen bestraft wurden, und zwar mit den Strafen des ErwStrafrechts. Die Bedenken gegen § 3 beruhten auch darauf, dass eine wirklich begründete Entscheidung nicht getroffen werden könne, weshalb die Ergebnisse zwischen den einzelnen Gerichten und Gutachtern weit auseinander gingen4. Andererseits wird § 3 als eine Grundlage dafür angesehen, die Anwendung des

1 2 3 4

Merguet MKrim. 58, 102 schon für Kinder; Bauer/Remschmidt S. 471. Schöch in JStrafrecht an der Wende, S. 138; Bauer/Remschmidt aaO. ZStW 62, 579; zust. Hellmer NJW 64, 179. Vgl. dazu auch Bohnert in Rn 4 u. Miehe in JStrafrecht an der Wende, S. 143, 160, der § 3 als gescheitert bezeichnet u. für ersatzlosen Wegfall plädiert. 80

Verantwortlichkeit

§3

Strafrechts auf J zurückzudrängen und durch eine extensive Interpretation der Vorschrift eine Entkriminalisierung zu erreichen5. Die Strafmündigkeit gem. § 3 ist in jedem Einzelfall sorgfältig zu prüfen und im Urteil 3 darzulegen. Es ist eine Gesamtbetrachtung unter Berücksichtigung der Persönlichkeit des J, seiner Entwicklung und der näheren Tatumstände vorzunehmen6. Maßgeblich ist nicht der Entwicklungsstand in seiner Allgemeinheit, sondern speziell für die Unrechtseinsicht und die entsprechende Handlungskompetenz7. Nach empirischen Befunden wird § 3 jedoch in vielen Urteilen nicht erwähnt oder nur knapp und formelhaft behandelt8. Ostendorf9 hält der Justiz daher vor, § 3 nicht ernst zu nehmen, P.-A. Albrecht10, ihn tendenziell nicht zu beachten. Viele Delikte Jugendlicher sind allerdings so einfach strukturiert, dass eine Exkulpierung wegen Strafunmündigkeit die Ausnahme sein wird11. Dass oft JStrafe nicht in Betracht kommt, ändert daran nichts, da § 5 in solchen Fällen den Richter veranlasst, nur auf ErzMaßregeln zu erkennen; das entspricht auch der Praxis, die JStrafe nur in Ausnahmefällen gegen unter 16 Jahre alte Angeklagte verhängt (näher § 17, 5). Zur JStrafe wegen Schwere der Schuld § 17, 25. Der einheitliche Strafmündigkeits-Begriff bleibt also unangetastet. – Der Sachverständige wird, falls er den J nur für strafmündig für ErzMaßregeln hält, das in seinem Gutachten bes. hervorheben müssen12. Allg. zum Sachverständigen im JStrafverfahren § 43, 15 ff.

1. Strafmündigkeit und deren Prüfung Kinder sind stets schuldunfähig (§ 19 StGB), Hw. wie Erw. immer strafmündig (§ 105 nennt § 3 4 nicht). J sind nur bedingt strafmündig, nämlich nur, wenn bei ihnen Verstandesreife, ethische Reife und Widerstandsfähigkeit (auch: Willensbildungsfähigkeit) gegeben sind. Der J muss nicht nur Recht und Unrecht allg. auseinander halten, sondern auch im Einzelfall verstehen können, dass die Rechtsordnung dieses Verhalten nicht erlaubt13. Ob er das Unrecht tatsächlich eingesehen hat oder einsieht, ist nur als Anzeichen für die Einsichtsfähigkeit von Bedeutung. Das Abstellen auf die Einsichtsfähigkeit bedeutet entgegen Walter/Kubink14 nicht die Einführung eines Verschuldens für Reifemängel. Vielmehr kommt es auf die Persönlichkeit des J zum Zeitpunkt der Tat an und kann ein Entwicklungsrückstand gerade zur Verneinung der Einsichtsfähigkeit führen. Die Strafbarkeit braucht der J nicht erkennen zu können15; andererseits genügt die Erkenntnis des Sittenwidrigen oder Unmoralischen nicht16. Der J muss nach seinem Entwicklungsstand zu der Erkenntnis befähigt sein, dass seine Handlung mit einem geordneten und friedlichen Zusammenleben der Menschen unvereinbar ist und deshalb von der Rechtsordnung nicht geduldet werden kann17; er muss das Verbot als sittlichen Wert erleben und seine Hand-

5 Ostendorf JZ 86, 664 u. in BMJ, Hrsg., Grundfragen des JKriminalrechts u. seiner Neuregelung, 1992, S. 200; Walter NStZ 92, 473.

6 BGH NStZ 13, 286 mit Bespr. Eisenberg ZKJ 13, 347; NStZ 17, 644 mit Anm. Laue. 7 OLG Hamm NStZ-RR 07, 123; Ostendorf 5. 8 Ostendorf Grdl. zu § 3, 4; Frehsee FS Schüler-Springorum, 1993, S. 383 f, jeweils mwN; Heinz S. 26. 9 AaO. 10 S. 99. 11 Freisleder 2017, S. 99; Lempp 1983, S. 206; Miehe JStrafrecht. Kurseinheit 1, 1994, S. 13; Konrad/Huchzermeier/ Rasch 2019, S. 152; Schöch in JStrafrecht an der Wende, S. 138; vgl. auch Weinschenk MKrim. 84, 15. 12 Vgl. dazu Schaffstein ZStW 63, 207; Miehe Zbl. 82, 89; aA Ostendorf Grdl. zu § 3, 6. Zur jpsychologischen Begutachtung der Strafmündigkeit Schilling NStZ 97, 261. 13 HK-JGG/Remschmidt/Rössner 24. 14 GA 95, 58. 15 RG DR 44, 659; Ostendorf 7; aA Eisenberg/Kölbel 18. 16 Dallinger/Lackner 4; BGH 10, 41 für den Verbotsirrtum. 17 LG Passau NJW 97, 1166; Beulke/Swoboda Rn 173. 81

§3

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2. Teil. Jugendliche

lung rechtlich als beanstandenswert empfinden können18. Kritisch dazu Bohnert19: Es würde damit zu Beurteilungsleistungen erstaunlicher Art aufgerufen, was häufig zu Freisprüchen und Einstellungen führen müsste; die geforderten Explorationen seien beim mitwirkungswilligen J wenig aussichtsreich, beim inaktiven fast erfolglos20. Geistig und sittlich reif, das Unrecht einzusehen iSd § 3 ist jedenfalls, wem bewusst ist, dass er etwas Verbotenes tut21. Nur bei außergewöhnlichem ErzNotstand und bei ganz bes. schlechten Vorbildern in Elternhaus und Umwelt wird diese Voraussetzung bei den üblicherweise vorkommenden Delikten – abgesehen von erheblichen geistigen Entwicklungsrückständen – einmal nicht gegeben sein22; meist wird dann aber eine sittliche Verwahrlosung vorliegen, die ein Eingreifen des Familiengerichts erfordert. Das Beispiel bei Böhm/Feuerhelm23 kann aufmerken lassen, dass wohl jedes Kind weiß, dass man ein fremdes Fahrrad nicht stehlen darf, dass aber manche J sich nicht vorstellen können, dass dessen Verkauf an einen Gutgläubigen den Tatbestand des Betrugs erfüllt. Dazu auch Rn 8. Der J muss schließlich nach der geistigen Einsicht und dem sittlichen Empfinden handeln, also den Verlockungen zur Tat widerstehen können, und zwar kraft schützender Gegenvorstellungen, bes. kraft der Einsicht in seine Rechtspflichten24. Auch wenn dem Täter das Unrecht der Tat bewust ist, kann die Steuerungsfähigkeit fehlen25. Bes. Abhängigkeiten von älteren Personen oder Gleichaltrigengruppen sowie Geschlechts- und Besitztrieb können bei J trotz richtiger Einsicht und Wertung alle Hemmungen überwinden26. Dies gilt insbes., wenn Autoritätspersonen an der Tat beteiligt sind27. Gerade dann ist erz. die Entwicklung von Hemmungsvorstellungen notwendig, weshalb familiengerichtliche Maßnahmen (§ 3 S. 2), mindestens eine eindringliche Ermahnung, nie unterbleiben sollten28. Eine entwicklungsbedingte Einschränkung der Handlungsreife muss die Verantwortlichkeit nicht ausschließen29. Verstandesreife, ethische Reife und Willensbildungsfähigkeit müssen bei diesem Täter zZ der Tat für die spezielle Tat vorhanden sein. Die Strafmündigkeit muss also für jede Tat gesondert geprüft und eigens beantwortet werden30. Vgl. auch Rn 9. – Wegen der Bedeutung einer krankheitsbedingten Entwicklungsstörung für die Strafmündigkeit Rn 13. Zu ausländischen J Einf. 50. Die notwendigen Feststellungen können nur aufgrund einer eingehenden individuellen Prüfung getroffen werden, da die Gruppe der J ganz verschiedenartige Persönlichkeiten umfasst. J weisen große Schwankungen im Reifeprozess auf (Einf. 80). Auch „normale“ J bis 16 Jahre sind oft noch in der kindlichen ich-bezogenen Vorstellungswelt befangen, weshalb ihnen das Verständnis für die Belange anderer abgeht. Die 16- und 17-jährigen leben häufig im „Sturm und Drang“; sie können oft nicht genügend Widerstandskraft aufbringen, zumal ihrem Selbständigkeitsdrang häufig nur unentwickelte ethische Vorstellungen entgegenstehen; doch fehlt die Altersreife nur dort, wo der Drang übermächtig ist31. Nach Maurach/Zipf32 darf diese den J eigentümliche seelische Unausgeglichenheit als solche nicht mit dem Fehlen von Einsichts- und Steuerungsvermögen gleich18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32

BGH EJF C I Nr. 3; Dallinger/Lackner 5. NStZ 88, 250. Vgl. aber zum Vorgehen des jpsychologischen Sachverständigen Schilling NStZ 97, 261. BGH bei Herlan GA 59, 47. Konrad/Huchzermeier/Rasch S. 151 ff. S. 38 f. Beispiele bei v. Schlotheim UJ 56, 152. LG Hamburg StV 19, 478. Lempp 1983, S. 207 ff; Bauer/Remschmidt S. 471. OLG Hamm NStZ-RR 07, 123; Eisenberg/Kölbel 26. Vgl. Lempp, 1983 S. 206, nach dem in jedem Fall ein klärendes Gespräch zu führen ist. BGH NStZ 13, 286. BGH bei Herlan GA 61, 358; NStZ 17, 644, 645 mit Anm. Laue; Schaffstein ZStW 65, 202; Bohnert NStZ 88, 249. Potrykus B 2 c. § 36 Rn 88. 82

Verantwortlichkeit

§3

gesetzt werden, könne aber als übermächtiger Antrieb trotz Einsichtsfähigkeit zu einem Versagen des Direktionsvermögens führen. – Bes. sorgfältig ist zu prüfen, wenn es um Tatbestände geht, die ein bes. Verantwortungsbewusstsein (Amtsdelikte, Untreue, Berufsgeheimnis, Aufsichtspflicht) oder tiefere Einsichten in die Sozialordnung (Warenhausdiebstahl, Betrug zum Nachteil einer öffentl.-rechtl. Körperschaft) voraussetzen oder die in der Umgebung des J als „Kavaliersdelikte“33 angesehen werden (Schmuggel, einfache Karten-Glücksspiele) oder die nur die Fortsetzung eines im strafunmündigen Alter begonnenen Verhaltens sind. „Raufen wird ab 14 Jahren Körperverletzung“34. Zur Prüfung der Altersreife bei Ordnungswidrigkeiten durch die Polizei Vor § 76, 3.

2. Teilbarkeit der Strafmündigkeit Die Strafmündigkeit ist teilbar, weil strafrechtliche Rechtsfolgen stets nur an bestimmte, in den 9 Tatbeständen umrissene Verhaltensweisen geknüpft werden35. Sie kann für einige von mehreren tatmehrheitlich oder tateinheitlich zusammentreffenden36 oder im Verhältnis der Gesetzeseinheit stehenden Tatbeständen gegeben sein, für andere nicht37, und zwar auch im Verhältnis des Grundtatbestandes zur Qualifikation38. Es kann immer nur soweit verurteilt werden, als die Unrechtseinsichts- und die Willensbildungsfähigkeit reicht.

3. Strafmündigkeit als Schuldvoraussetzung Die Strafmündigkeit ist Schuldvoraussetzung39. Fehlt sie oder kann sie nicht sicher festgestellt 10 werden, stellt die StA das Verfahren nach § 170 II StPO mangels ausreichenden Tatverdachts ein; das Gericht lehnt die Eröffnung des Hauptverfahrens nach § 204 StPO ab, nach Eröffnung des Hauptverfahrens spricht es bei Entscheidung durch Urteil frei oder stellt das Verfahren außerhalb oder in der Hauptverhandlung nach § 47 I Nr. 4 ein (RL 2)40. Wo ein erz. meist ungünstiger Freispruch unvermeidlich ist, muss idR wenigstens der äußere Tatbestand festgestellt werden, denn das Fehlen der Altersreife kann nur im Hinblick auf einen bestimmten Geschehensablauf beurteilt werden. Auch wird der J durch die Eintragung der Entscheidung in das ErzRegister (§ 60 I Nr. 6 BZRG) beschwert, was nur bei Nachweis der Erfüllung eines Straftatbestandes gerechtfertigt ist41. Ausnahmen kommen nur nach sorgfältiger Einzelfallabwägung in Betracht42. Ist der Angeklagte strafunmündig, können sich Maßnahmen nach § 3 S. 2 empfehlen (Rn 22 ff)43. Eine Verurteilung setzt voraus, dass die Altersreife positiv festgestellt ist44. Die schwieri- 11 gen Feststellungen sind grds. unter Einschaltung der JGH45, bei verbleibenden Zweifeln unter

33 34 35 36 37 38 39 40 41 42

Helfer MKrim. 67, 175; Brunner Zbl. 74, 378; Egg/Sponsel MKrim. 78, 38. Ostendorf 9. BGH 10, 38. Unabhängig von der zeitlichen Reihenfolge, BGH bei Herlan GA 61, 358. RG 47, 387. BGH ZJJ 05, 205 mit Anm. Ostendorf; Dallinger/Lackner 19; Eisenberg/Kölbel 12 f; Ostendorf 8; Lange JZ 49, 399. BGH 9, 382; Dallinger/Lackner 18. Eisenberg/Kölbel § 47, 12; DSS/Diemer § 3, 31–33; Bohnert NStZ 88, 255. DSS/Diemer 34. Vgl. AG Kiel NJW 52, 1429, um die Vernehmung eines Kindes als Zeugen zu vermeiden; dazu krit. Potrykus NJW 53, 276. 43 Vgl. aber auch Dallinger/Lackner 46, nach denen die Verhängung von ErzMaßnahmen dem Familiengericht überlassen werden sollte. 44 OLG Hamm ZJJ 05, 447; § 54, 14. 45 Vgl. Momberg Die Ermittlungstätigkeit der JGH u. ihr Einfluss auf die Entscheidung des JRichters, Diss. Göttingen 1982, S. 133. 83

§3

2. Teil. Jugendliche

Zuziehung eines Sachverständigen sorgfältig zu treffen (§ 43)46; dabei ist es zweckmäßig, wenn sich der Sachverständige auch über die aus dem Entwicklungsstand zu ziehenden Folgerungen äußert. Beurteilt die JGH den Entwicklungsstand des J anders als der JRichter, zwingt das noch nicht zur Einholung eines Sachverständigengutachtens47. Bei nicht behebbaren Zweifeln ist zugunsten des J Strafunmündigkeit anzunehmen48 (s. auch Rn 10). Nach dem auch hier zu beachtenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (RL 1 S. 2) darf ein Sachverständigengutachten bei Bagatelldelikten nicht eingeholt werden, wenn bei Berücksichtigung aller Umstände, insbes. auch der zu erwartenden Sanktion, der J dadurch unnötigen Belastungen ausgesetzt würde. 12 Für andere an der Straftat Beteiligte und für die Anwendung des § 199 StGB gilt bei fehlender Altersreife iSv § 3 dasselbe wie bei Kindern (§ 1, 28 f). Bei nach § 3 Strafmündigen kann unter den Voraussetzungen des § 81g StPO eine Identitätsfeststellung im Hinblick auf künftige Strafverfahren vorgenommen werden49. Dazu § 2, 11 aE.

4. Verhältnis zu §§ 20, 21 StGB 13 Die §§ 20, 21 StGB betreffen von der Entwicklung unabhängige, überwiegend bleibende Störungen, § 3 dagegen Reifemängel im normalen, regelwidrigen oder krankhaften biologischen Entwicklungsprozess von vorübergehender Natur50. § 3 setzt voraus, dass eine Nachreifung noch möglich ist51. Überschneidungen sind möglich, bes. bei Persönlichkeitsstörungen52. Beide Vorschriften stehen unabhängig nebeneinander; mangelnde Reife kann niemals der Schuldunfähigkeit gleichgestellt werden53. Der nur mangels Altersreife nicht verantwortliche J kann nicht nach § 7, § 63 StGB untergebracht werden54. Andererseits ist z.B. bei jungen Debilen, die oft nur den Entwicklungsstand eines Kindes erreichen, die Unterbringung angebracht, eine erz. Maßnahme aber nicht veranlasst. Liegen aber bei einem nach § 3 strafunmündigen J zugleich die Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB vor, so ist die Unterbringung statthaft55. Diese Entscheidung sollte den Gesetzgeber veranlassen, § 3 zur Klarstellung in diesem Sinne zu ergänzen56. Es muss also grds. zuerst geprüft werden, ob bei dem J die §§ 20, 21 StGB vorliegen und eine Reaktion verlangen57. Ist bei einem nach § 3 strafunmündigen J, bei dem daneben Schuldunfähigkeit nach § 20 StGB vorliegt, die mögliche Unterbringung nicht notwendig, so können ErzMaßnahmen nach § 3 S. 2 angeordnet werden. Nach der Gegenauffassung geht § 3 vor, wenn dessen Voraussetzungen und zugleich die der §§ 20, 21, 63 StGB vorliegen58. § 3 betrifft jedoch nur entwicklungsbedingte Störungen und sagt nichts darüber aus, wie zu verfahren ist, wenn 46 OLG Hamm NStZ-RR 07, 123. 47 OLG Hamm aaO, 124. 48 BGH ZJJ 05, 205 mit Anm. Ostendorf; NStZ 13, 286; NStZ 17, 644, 645 mit Anm. Laue; OLG Jena NStZ-RR 07, 217, 218.

49 Senge NJW 99, 254. 50 BayObLG 58, 264; Dallinger/Lackner 27; aA Stutte MKrim. 55, 58: nur bei normal verlaufender, wenn auch verzögerter Entwicklung. 51 Schütze/Schmitz S. 130. 52 Zur Zuordnung s. OLG Hamm NJW 77, 1498. 53 BayObLG 58, 263. 54 Fischer § 63 StGB 4; Beulke/Swoboda Rn 182. 55 BGH 26, 67 = JR 76, 116 mit zust. Anm. Brunner; OLG Jena NStZ-RR 07, 217; DSS/Diemer 28; Maurach/Zipf § 36 Rn 93 ff; Nothacker S. 177; Streng Rn 61; Gabber ZJJ 07, 172; Dehne-Niemann NStZ 19, 377 f. 56 So schon Sauer NJW 49, 291. 57 Maurach/Zipf § 36 Rn 94; Potrykus B 3; Dallinger/Lackner 28: sachliche Gleichberechtigung unter Vorrang der Prüfung des § 20 StGB; Dehne-Niemann NStZ 19, 379; zur Praxis der Schuldfähigkeitsbegutachtung im JStrafverfahren s. Schöttle S. 119 ff. 58 OLG Karlsruhe NStZ 00, 485; Eisenberg/Kölbel 51 f; MK-StGB/Laue § 3 JGG 27; LBN/Baier Rn 80; für Wahlrecht zwischen den Rechtsfolgen HK-JGG/Remschmidt/Rössner 34; Beulke/Swoboda Rn 185; MBH/Meier § 5 Rn 18. 84

Verantwortlichkeit

§3

zugleich pathologisch bedingte Störungen vorliegen59. Für solche Störungen hat das Gesetz vielmehr in § 7 entschieden, dass zum Schutz der Allgemeinheit und im Behandlungsinteresse des J die Unterbringung nach § 63 StGB zulässig ist60. § 3 ist daher keine den § 7 verdrängende Spezialvorschrift (vgl. weiter § 7, 2). Kann nicht aufgeklärt werden, ob die Schuldunfähigkeit nur entwicklungsbedingt iSv § 3 14 ist oder (zugleich) auf einem vom Reifungsvorgang unabhängigen pathologischen Zustand beruht (§ 20 StGB), so ist nur § 3 anzuwenden61. Verminderte Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) als fakultativer Schuldminderungsgrund erfordert stets noch die Prüfung nach § 3. Die Altersreife kann auch bei erheblich verminderter Schuldfähigkeit gegeben sein62. Wo strafrechtliche Verantwortlichkeit besteht, wird die Schuldminderung meist durch erhöhte ErzBedürftigkeit ausgeglichen63. Die Strafmilderung des § 21 StGB wirkt sich auch auf JStrafe aus64.

5. Alkohol und Drogen Eine Einschränkung der Schuldfähigkeit durch Alkoholgenuss kann grds. nicht allein aus be- 15 stimmten BAK-Werten gefolgert werden; es ist vielmehr durch sorgfältige Analyse des Einzelfalls zu ermitteln, ob zur Tatzeit eine relevante psychische Beeinträchtigung durch Alkoholkonsum vorgelegen hat65. Der BGH hatte eine Rechtsprechung entwickelt, wonach trotz verminderter Schuldfähigkeit im Tatzeitpunkt eine Strafmilderung nach § 21 StGB idR dann zu versagen ist, wenn sich aufgrund der persönlichen oder situativen Verhältnisse des Einzelfalls das Risiko der Begehung von Straftaten vorhersehbar signifikant infolge der Alkoholisierung erhöht hat. Das ist der Fall, wenn der Täter entweder aufgrund vergleichbarer Vorerfahrungen die ungünstigen Wirkungen von Alkohol auf sein Verhalten kennt oder kennen muss oder wenn er in einer gefahrträchtigen Lage Alkohol konsumiert bzw. sich betrunken in eine gefahrträchtige Situation begibt66. Demgegenüber hat der Große Senat für Strafsachen des BGH entschieden, dass im Rahmen des tatgerichtlichen Ermessens eine selbst verschuldete Trunkenheit die Versagung der Strafmilderung tragen kann, auch wenn eine vorhersehbare signifikante Erhöhung des Risikos der Begehung von Straftaten aufgrund der persönlichen oder situativen Verhältnisse des Einzelfalls nicht festgestellt ist67. Bei jungen Tätern ist aber stets sorgfältig zu prüfen, ob für sie die risikoerhöhenden Wirkungen des Alkoholkonsums voraussehbar waren. Eine bloße Drogenabhängigkeit ohne weitere Auffälligkeiten oder sonstige bes. Umstände 16 gibt nach dem BGH noch keinen Anlass, einen medizinischen Sachverständigen zur Frage einer etwaigen Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit heranzuziehen68. Will das Gericht jedoch verminderte Schuldfähigkeit bei Heroinabhängigkeit im Zusammenhang mit schweren Auffälligkeiten in der Persönlichkeit im Einzelfall positiv feststellen, so bedarf es idR eines weiterreichenden medizinisch-psychiatrischen Fachwissens, über das nur ein in Drogensachen erfahrener ärztlicher Sachverständiger verfügt; andernfalls muss das Gericht die eigene erforderliche 59 BGH 26, 68 f; Dehne-Niemann NStZ 19, 377. 60 BGH 26, 70; Dehne-Niemann aaO. 61 Eisenberg/Kölbel 48; Ostendorf 3; Kaufmann/Pirsch JZ 69, 358; Peters S. 279; Schaffstein ZStW 77, 191; Schönke/ Schröder/Perron/Weißer § 20 StGB 44.

62 BGH 5, 367; BGH GA 54, 303; NStZ 85, 447; LG Passau NJW 97, 1166; Ostendorf 4. 63 Dallinger/Lackner 34; Potrykus B 5. Zur Einwirkung verminderter Schuldfähigkeit auf die Schwere der Schuld BayObLG bei Rüth DAR 85, 243. 64 BGH NJW 72, 963; MDR 77, 107; StV 82, 437; 84, 254. 65 BGH 43, 66 gegen BGH 37, 231; BGH NStZ 98, 457; Dölling in Kiesel, Hrsg., Rausch, 1999, S. 170; Kröber NStZ 96, 569. 66 BGH 49, 239; BGH NStZ 06, 274. 67 BGH 62, 247; vgl. auch BGH NStZ 22, 349; für eine grds. Versagung der Strafrahmenverschiebung bei selbstverschuldeter Trunkenheit bereits BGH NJW 03, 2394. 68 BGH bei Spiegel DAR 77, 175; vgl. auch OLG Köln Zbl. 78, 487. 85

§3

2. Teil. Jugendliche

Sachkunde in den Urteilsgründen ausweisen69. Eine langjährige Drogenkarriere mit erfolglosen Entziehungskuren und drogenbedingten Vorstrafen macht es unerlässlich, einen Sachverständigen zur Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit anzuhören70. Treffen Aufputschmittel mit einem hirnorganischen Anfallleiden zusammen, muss zur Beurteilung des Hemmungsvermögens ein Sachverständiger herangezogen werden71. 17 Bei Drogenbeschaffungsdelikten kommt ein Ausschluss der Schuldfähigkeit nur bei schwersten Persönlichkeitsveränderungen oder unwiderstehlichem Drang (Rauschhunger), der anderes Handeln ausschließt, in Betracht72. Eine erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit liegt regelmäßig nur vor bei schweren Persönlichkeitsveränderungen aufgrund langjährigen Betäubungsmittelgebrauchs oder akuten körperlichen Entzugserscheinungen (Heroin) zur Tatzeit73, Angst vor schon als äußerst unangenehm erlebten Entzugserscheinungen74 oder Tatbegehung in einem akuten Rauschzustand75. In einem Fall suchtartigen Konsums gewaltdarstellender Horror-Videos bei gleichzeitigem 18 schweren ErzVersagen der Familie hat das LG Passau76 § 21 StGB wegen einer schweren anderen seelischen Störung bejaht77.

6. Tatbestandsirrtum 19 Ein Tatbestandsirrtum (§ 16 StGB) ist unabhängig von der Altersreife78. Jugendliches Alter und Unreife des Täters können gegen eine Vorsatztat sprechen79. Führt ein solcher Irrtum zur Annahme einer fahrlässigen Tat, ist bei den „vorschnellen“ J die Altersreife bes. zu prüfen. Auch Unwissenheit und Unerfahrenheit können einen Irrtum veranlassen. – Zur Abgrenzung von Tatbestandsirrtum und Strafunmündigkeit Bruns80: Der natürliche Vorsatz muss alle positiven Merkmale des Tatbestandes umfassen. Nur wenn allein die Schuldfähigkeit fehlt, ist der Täter schuldunfähig. Fehlt es schon am natürlichen Vorsatz, liegt gar keine strafbare Handlung vor81.

69 OLG Köln Zbl. 81, 278 mwN. 70 BGH 3, 169 u. BGH H MDR 78, 109 zu § 21 StGB; OLG Köln NJW 76, 1801 zu §§ 20, 21 StGB; OLG Köln MDR 81, 598 zu § 21 StGB; vgl. Brunner Zbl. 71, 243, 250; JR 73, 89 u. Zbl. 80, 415; Kleiner MKrim. 71, 151; Mechler bei Chilian MKrim. 74, 42; Täschner/Wanke MKrim. 74, 151. 71 BGH StV 86, 45. 72 BGH H MDR 77, 982. 73 BGH NJW 99, 501. 74 BGH NJW 89, 2336. 75 Zusammenfassend BGH NStZ 99, 448; 01, 82, 83, 85; BayObLG NJW 99, 1795; Theune NStZ 97, 57. Zu verminderter Schuldfähigkeit bei Haschischkonsum BGH StV 89, 103, 386; allg. zur Schuldfähigkeit bei Drogenkonsumenten, zu den spezifischen Motivationen für Beschaffungsdelikte u. zu § 64 StGB Täschner NJW 84, 638, 639. Zu hw. Drogentätern § 105, 45. Zu Drogenkonsum u. Fahrtüchtigkeit BVerfG NJW 05, 349; BGH 44, 219 mit Besprechung L. H. Schreiber NJW 99, 1770; VGH Baden-Württemberg DAR 88, 430; 90, 35; Harbort NJW 98, 348. Zu Alkohol u. Drogen auch Einf. 65–72. Vgl. auch KG StV 90, 298 bei § 68, 20 aE. 76 NJW 97, 1165 = JR 97, 118 mit Anm. Brunner u. mit Bespr. Eisenberg NJW 97, 1136, Laue Jura 99, 634 sowie Günter u. Lamnek DVJJ-J 97, 200 u. 201. 77 Zur Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit bei „Glücksspielsucht“ s. AG München NStZ 96, 334 mit Anm. Kellermann u. LG München NStZ 97, 282 mit Anm. Stoll. 78 Bruns JZ 64, 473. 79 BGH bei Altvater NStZ 06, 87; BGH NJW 18, 3658 mit zust. Anm. Kretschmer. 80 JZ 64, 473 ff. 81 Aus BGH 18, 235 erweiternd. 86

Verantwortlichkeit

§3

7. Verbotsirrtum Verbotsirrtum (§ 17 StGB) und mangelnde Altersreife sind voneinander unabhängig. Doch ist 20 jener grds. dort zu entschuldigen, wo die Altersreife fehlt. Liegt sie vor, so ist er regelmäßig nicht entschuldbar, weil feststeht, dass der J das Unrecht seines Tuns hätte einsehen können. Deshalb ist § 3 vor dem Verbotsirrtum zu prüfen82. Die Möglichkeit, die Strafe bei verschuldetem Verbotsirrtum zu mildern, ist im JRecht wegen des eigenständigen Strafrahmens praktisch ohne Bedeutung, aber doch zu berücksichtigen. Bohnert83 hingegen ist der Ansicht, dass § 3 S. 1 Alt. 1 neben § 17 StGB keinen eigenen nachweisungspflichtigen Inhalt hat.

8. Die Eidesmündigkeit Sie ist keine selbständige Schuldvoraussetzung. Nach der Änderung des § 60 Nr. 1 StPO durch 21 das 2. OpferrechtsreformG v. 29.7.2009 ist bei Personen unter 18 Jahren von der Vereidigung abzusehen.

9. Familiengerichtliche Maßnahmen Familiengerichtliche ErzMaßnahmen können auch dort vom JGericht angeordnet werden, wo 22 die Altersreife fehlt (§ 3 S. 2) oder das Fehlen der Altersreife zugunsten des Täters unterstellt werden muss, weil diese Maßnahmen gegen Strafmündige ebenso wie gegen Strafunmündige ergriffen werden können. Vor Anordnung muss der JRichter aber freisprechen oder das Verfahren einstellen84. Dem JRichter stehen hier die Maßnahmen des BGB zur Verfügung, nicht aber ErzMaßre- 23 geln nach § 9 JGG, denn das Familiengericht ist für deren Anordnung nicht zuständig85. Die Voraussetzungen der Vorschriften des BGB müssen gegeben sein, sie hat der JRichter ebenso zu prüfen, wie dies auch das Familiengericht hätte tun müssen86, denn § 3 S. 2 enthält nur eine „bedingte Kompetenzzuweisung von Befugnissen und keine eigenen materiellen Anlässe“87. Hilfen zur Erziehung nach §§ 27 ff SGB VIII darf der JRichter zwar nicht für das JAmt bindend anordnen88, er kann aber den Eltern und dem J die Inanspruchnahme solcher Hilfen aufgeben89. Dies entspricht § 1666 III Nr. 1 BGB, wonach zu den gerichtlichen Maßnahmen nach § 1666 I BGB insbes. Gebote gehören, öffentliche Hilfe wie z.B. Leistungen der Kinder- und JHilfe in Anspruch zu nehmen. Ggf. darf der JRichter einen Pfleger bestellen, der einen Anspruch auf ErzHilfe gegenüber dem JAmt geltend machen kann90. – Grds. sollte der Richter diese Maßnahmen dem Familiengericht überlassen; eine Ausnahme aus erz. Gründen kann dort geboten sein, wo es bereits zur Hauptverhandlung gekommen ist, um zu einem pädagogischen Abschluss zu kommen. Ordnet der JRichter Maßnahmen nach S. 2 an, so gelten für die Anfechtung die Vorschriften des JGG und daneben die der StPO91. Bohnert92 lässt dagegen ausnahmslos nur die

82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 87

Dallinger/Lackner 36; Eisenberg/Kölbel 44; Böhm/Feuerhelm S. 39; aA Ostendorf 2. NStZ 88, 252. Dallinger/Lackner 46. DSS/Diemer 37; Eisenberg/Kölbel 34, 36; Ostendorf 18. Dallinger/Lackner 44; Eisenberg/Kölbel 36; Ostendorf 19; Wolf S. 302 m. FN 38. Bohnert NStZ 88, 255. Eingehend Miehe FS Fenge, 1996, S. 439 ff = DVJJ-J 97, 262 ff. DSS/Diemer 36. Für eine Anordnungskompetenz des JRichters Eisenberg/Kölbel 36; Ostendorf 19. Eisenberg/Kölbel 42; Roestel UJ 64, 23. NStZ 88, 255.

§4

2. Teil. Jugendliche

Rechtsbehelfe zu, wie sie auch gegen die Entscheidungen des Familiengerichts gegeben sind; es sei nicht sinnvoll, die bürgerlich-rechtlichen Voraussetzungen von Strafgerichten nachprüfen zu lassen. – Die Fahrerlaubnis kann bei fehlender Altersreife entzogen werden (§ 7, 14). 24 Spätere Änderungen der getroffenen Maßnahmen kann nur das Familiengericht vornehmen93. Die Verhängung von JA nach § 11 II ist ausgeschlossen. Greift bereits im Ermittlungsverfahren § 3 S. 1 ein, so stellt die StA das Verfahren nach 25 § 170 II StPO ein94. Freispruch und Einstellung des Verfahrens wegen mangelnder Reife (§ 3 S. 1) führen zur 26 Kostenregelung des § 467 StPO, sie werden nach § 60 I Nr. 6 BZRG, Anordnung von Maßnahmen nach § 3 S. 2 gem. § 60 I Nr. 1 BZRG in das ErzRegister eingetragen. § 47 I Nr. 4 gibt dem Richter eine bes. Einstellungsmöglichkeit, wenn § 3 eingreift.

10. Anfechtung 27 Eine Beschwer und damit eine Anfechtungsmöglichkeit nach Freispruch ist nicht gegeben95. Anders ist es nur, wenn der JRichter durch gesonderten Beschluss familiengerichtliche Maßnahmen (§ 3 S. 2) angeordnet oder die Fahrerlaubnis (§ 7, 14) entzogen hat; denn diese Maßnahmen beschweren. Dazu Rn 23. Auch die Einstellung nach § 47 I Nr. 4 ist einer Anfechtung entzogen (§ 47 II 3).

§4 Rechtliche Einordnung der Taten Jugendlicher Ob die rechtswidrige Tat eines Jugendlichen als Verbrechen oder Vergehen anzusehen ist und wann sie verjährt, richtet sich nach den Vorschriften des allgemeinen Strafrechts. 1. Hw.: Rn 2. – 2. ErwG: § 104 I Nr. 1.

1 Die Einteilung erfolgt nach der abstrakten1 Strafdrohung des allg. Rechts gem. § 12 StGB. Das ist ua bedeutsam für Versuch (§§ 22, 23 StGB) und Strafverfolgungsverjährung (§§ 78 ff StGB)2. Die Verjährung wird nur durch die in § 78a StGB aufgeführten Handlungen unterbrochen. Eine entsprechende Anwendung von § 78c I Nr. 1, 7, 8 StGB auf Maßnahmen des JRichters nach §§ 45 III, 47 und des JStA gem. § 45 I, II ist nicht möglich3. Die Vorschriften über die Verjährungsunterbrechung sind als Ausnahmeregelungen mit weitreichenden Folgen eng auszulegen und einer analogen Anwendung nicht zugänglich4. Die Beauftragung eines Sachverständigen zur Untersuchung nach § 43 (§ 43, 15) unterbricht unter den Voraussetzungen des § 78c I Nr. 3 StGB5. Die Einteilung gilt auch für Hw., und zwar entweder über § 105 oder nach allg. Recht unmittel2 bar. Die Vollstreckungsverjährung ist im JGG nicht geregelt. Die Vollstreckung von JStrafe ver3 jährt wie die von Freiheitsstrafe (§§ 79 ff StGB). Die Verjährung ruht während der BewZeit (§ 79a

93 Dallinger/Lackner 43; BeckOK/Schlehofer 44; aA DSS/Diemer 37; Eisenberg/Kölbel 42. 94 Eisenberg/Kölbel 31; Nothacker S. 238; Bohnert NStZ 88, 255. 95 BGH 16, 374; BGH NStZ 22, 192; BayObLG NJW 61, 576; OLG Saarbrücken NJW 60, 2069. 1 BGH 8, 79. 2 Eisenberg/Kölbel 4. 3 DSS/Diemer 3; Eisenberg/Kölbel 4; Ostendorf 3. 4 BGH 22, 383; LG Kaiserslautern NStZ 81, 439 f mit Anm. Lilie; LK/Greger/Weingarten § 78c StGB 2. 5 Vgl. hierzu BGH 27, 78, aber auch BGH 28, 381. 88 https://doi.org/10.1515/9783110686401-006

Die Folgen der Jugendstraftat

§5

Nr. 2b StGB; § 22, 6). Eine Unterbrechung der Vollstreckungsverjährung ist nicht mehr vorgesehen; zum seltenen Fall der gerichtlichen Verlängerung § 79b StGB6. Sonst gibt es im JRecht keine Vollstreckungsverjährung. Vgl. jedoch für JA § 87 IV (§ 87, 1 f), 4 für Geldbußen nach dem OWiG § 34 OWiG. Bei Weisungen und Auflagen, die bei zu später Vollstreckung ihr Ziel verfehlen, sogar schädlich sein können, vermag und muss letztlich die Möglichkeit helfen, sie abzuändern oder teilweise oder ganz von ihnen zu befreien (§§ 11 II, 15 III). Dem sollte bes. Aufmerksamkeit gewidmet werden. 5 Für Maßregeln der Besserung und Sicherung (§ 7) gilt § 79 IV StGB unmittelbar.

§5 Die Folgen der Jugendstraftat (1) Aus Anlaß der Straftat eines Jugendlichen können Erziehungsmaßregeln angeordnet werden. (2) Die Straftat eines Jugendlichen wird mit Zuchtmitteln oder mit Jugendstrafe geahndet, wenn Erziehungsmaßregeln nicht ausreichen. (3) Von Zuchtmitteln und Jugendstrafe wird abgesehen, wenn die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt die Ahndung durch den Richter entbehrlich macht. 1. Hw.-J: § 105 I. – 2. ErwG: § 104 I Nr. 1.

Richtlinie zu § 5 Ergibt sich in der Hauptverhandlung, dass bereits eine erzieherische Maßnahme durchgeführt oder eingeleitet worden ist, und hält die Staatsanwaltschaft deshalb eine Ahndung für entbehrlich, so regt sie die Einstellung des Verfahrens an (§ 47 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2).

Schrifttum Lenz Das Rechtsfolgensystem im Jugendgerichtsgesetz (JGG), 2007; Petersen Sanktionsmaßstäbe im JStrafrecht, 2008.

Genügt es nicht, auf die Straftat (rechtswidriger, schuldhafter Verstoß gegen einen Straftatbe- 1 stand des allg. Rechts) eines J nur durch Einstellung des Verfahrens als folgenlose Normverdeutlichung oder durch eine informelle Maßnahme (§§ 45, 47) zu reagieren, so ist zunächst zu prüfen, ob ErzMängel vorliegen und es genügt, hierauf mit ErzMaßregeln zu reagieren (Abs. I). Nur wenn ErzMaßregeln keinesfalls ausreichen und die gesetzlichen Voraussetzungen für Zuchtmittel (§ 13 I) oder JStrafe (§§ 17 II) erfüllt sind, ist auf solche zu erkennen (Abs. II; Erforderlichkeitsprinzip). Hieraus folgt auch, dass die JStA in der Hauptverhandlung die Einstellung des Verfahrens nach § 47 I Nr. 2 anregt, wenn sich ergibt, dass eine notwendige und ausreichende erz. Maßnahme bereits durchgeführt oder eingeleitet ist (RL). Hinzu kommt, dass ErzMaßregeln nur in dem Umfang angeordnet werden dürfen, in dem auch eine ErzBedürftigkeit besteht (§ 9, 4). So werden zwar „ausreichende“, aber zu harte ErzMaßregeln aus der Betrachtung ausgeschlossen1. Liegen keine ErzMängel vor, kommen ErzMaßregeln nicht in Betracht und wird Abs. II nicht relevant. Es ist dann gem. §§ 13 ff zu prüfen, ob Zuchtmittel zu verhängen sind oder nach § 17 II 2. Alt. eine JStrafe wegen Schwere der Schuld erforderlich ist2.

6 Krit. Eisenberg/Kölbel 5 ff. 1 Zust. Itzel 1987, S. 27, 28; abl. Wolf S. 44. 2 Dölling ZJJ 06, 311. 89 https://doi.org/10.1515/9783110686401-007

§5

2. Teil. Jugendliche

Nach Abs. III muss der JRichter bei verminderter Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) von JStrafe und Zuchtmitteln absehen, wenn die – unabweisbare – Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt eine darüber hinausgehende Ahndung entbehrlich macht. Damit sichert Abs. III eine „einheitliche Reaktion (auch) innerhalb mehrerer Rechtsfolgekategorien“3 und wahrt die sog. Einspurigkeit freiheitsentziehender Maßnahmen im JStrafrecht4, schlicht das „So wenig wie möglich“ und das „So viel wie nötig“, indem die jstrafrechtliche Maßnahme ausnahmsweise hinter die nach ErwRecht (§§ 21, 63, 64 StGB) zurücktritt5. Dass diese Maßregeln der Besserung und Sicherung den jstrafrechtlichen Sanktionen vorgehen, soll den J „bessern“, ihn so wenig wie möglich belasten, also falls auf Unterbringung schon nicht verzichtet werden kann, ihm durch rasch einsetzende stationäre fachärztliche Betreuung helfen und auch dem Schutz der Allgemeinheit gerecht werden. Die Vorschrift gilt auch bei Kapitaldelikten6. 3 Bei Verurteilung zu JStrafe und Anordnung der Unterbringung nach § 63 oder § 64 StGB muss das Urteil erkennen lassen, dass die JKammer geprüft hat, ob gem. § 5 III von JStrafe abgesehen werden kann7. Das gilt auch bei einem nach JStrafrecht zu beurteilenden Hw.8. Die Entscheidung ist unter Berücksichtigung der erz. und therapeutischen Belange einerseits und der Gefährlichkeit des J andererseits zu treffen9. Erforderlich ist ein zusätzliches Bedürfnis für die Verhängung der JStrafe, wobei auch der Gedanke des Schuldausgleichs zu berücksichtigen ist10. Fehlt die Prüfung des § 5 III, ist regelmäßig die Verhängung der Jugendstrafe und wegen des engen Sachzusammenhangs auch der Maßregelausspruch aufzuheben11. Berücksichtigt das JGericht, dass die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus sich auf die weitere Entwicklung des J bes. nachteilig auswirken kann (näher § 7, 2), und prüft es die Notwendigkeit der Unterbringung mit der gebotenen Sorgfalt und Zurückhaltung (vgl. die Nachweise in § 7, 1 aE) bei sachverständiger Beratung, so wird daneben nahezu stets auf jrechtliche Maßnahmen verzichtet werden können12. Zur Unterbringung in einer Entziehungsanstalt s. § 7, 4 ff, insbes. 7 u. § 93a, 2 ff. Abs. III geht in seinen Voraussetzungen und Wirkungen weiter als die durch ihren Abs. II modifizierte Vorschrift des § 67 I StGB. Werden aber im Urteil die Voraussetzungen des § 5 III verkannt, kann später immer noch § 67 I StGB helfen. 4 Abs. III macht die Entscheidungen über die Unterbringung und über die jstrafrechtlichen Sanktionen derart voneinander abhängig, dass eine JStrafe nicht vorweg in Rechtskraft erwachsen darf, wenn über die Unterbringung noch nicht abschließend entschieden ist. Wurde ein J zu einer JStrafe verurteilt, kann deshalb die StA ihre Revision nicht wirksam auf die Nichtanordnung der Unterbringung beschränken (§ 55, 14)13. Die möglicherweise zu Unrecht abgelehnte Unterbringung kann insbes. im Hinblick auf § 5 III die Aufhebung des gesamten Rechtsfolgeausspruchs einschließlich der JStrafe zur Folge haben14. Damit soll dem Tatgericht die ihm nach § 5 III obliegende Entscheidung erhalten bleiben. Dagegen lässt der BGH die Beschränkung der Revision auf eine neben einer JStrafe angeordnete Unterbringung im psychiatrischen Kranken2

3 Nothacker S. 238. 4 BGH 39, 92, 95; BGH NStZ-RR 02, 182; NJW 09, 2694, 2695 mit Bespr. Rose ZJJ 10, 196; BGH Strafo 11, 288; StV 16, 736; BGH NStZ-RR 17, 346; 20, 158.

5 Näher Brunner JR 90, 210. 6 BGH StraFo 11, 288. 7 BGH StV 93, 534; BGH B NStZ 94, 528; BGH NStZ-RR 97, 281; StV 98, 341; NStZ-RR 02, 182; 03, 186; NStZ 04, 296; BGH bei Miebach/Feilcke NStZ 07, 573; BGH NStZ-RR 09, 354; NStZ 10, 93; NStZ 15, 394, 395.

8 BGH NStZ-RR 17, 346. 9 BGH NStZ-RR 98, 190. 10 BGH StV 16, 736. 11 BGH B NStZ-RR 00, 321; BGH NStZ-RR 02, 182, 183; 03, 186; BGH NStZ 10, 93, 94; NStZ-RR 14, 28; 15, 322. 12 BGH StV 93, 534; vgl. aber auch Ott JurArbbl. 10, 887, der darauf hinweist, dass bei JStrafe wegen Schwere der Schuld Belange des Schuldausgleichs die parallele Verhängung der JStrafe erfordern können.

13 BayObLG 89, 48 = JR 90, 210 mit zust. Anm. Brunner. 14 BGH B NStZ 97, 481. 90

Die Folgen der Jugendstraftat

§5

haus zu15. § 5 III steht nach dem BGH auch der Ausnahme der Nichtanordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt vom Rechtsmittelangriff nicht entgegen16. Vgl. zum Verhältnis von JStrafe u. Maßregel auch § 18, 9; zur Revision § 55, 50. Zum Verhältnis des § 5 III zu § 35 BtMG § 17, 50; zur JStrafe bei Drogenabhängigen § 17, 24, 33, 40 ff; § 10, 40–43; zum Vorwegvollzug der JStrafe § 93a, 6. ErzMaßregeln werden aus Anlass der Straftat angeordnet (Abs. I; vgl. Einf. 96, 97); sie betonen den ErzGedanken, sind jedoch, da im Strafverfahren angeordnet, nicht ohne Sühnefunktion, wenn sie auch nicht als Sühne für die Tat (Tatschuldvergeltung) angeordnet werden dürfen (Einf. 96, 97; § 9, 6)17; oft greifen sie hart ein und werden schon deshalb als Sühne empfunden (z.B. Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2, Arbeitsweisung). Ein Eingriffscharakter jedweder jrechtlichen Sanktion – wenn auch nur subjektiv – ist trotz präventiver Ausrichtung unvermeidlich (näher Einf. 90)18. Art und Umfang der ErzMaßregeln werden deshalb nicht allein durch die ErzBedürftigkeit bestimmt19, sie dürfen auch nicht außer Verhältnis zur Tat stehen (Einf. 96; § 9, 6). Das wird bei Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2 oft nicht gegeben sein (s. § 12, 5). Die Tat muss Symptom der ErzBedürftigkeit sein. Sie hat bei allen jrechtlichen Sanktionen – nach den erz. Gesichtspunkten – eine sehr bedeutsame Funktion (Einf. 91, 96)20, und zwar fern des viel zitierten „Taxendenkens“21. Zu den Hilfen zur Erz. nach dem SGB VIII insbes. § 10, 34; § 12; § 38, 10; § 45, 29. Nur wenn ErzMaßregeln oder die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt nicht angebracht sind oder wenn deren Anordnung allein nicht ausreicht, wird die Tat mit Zuchtmitteln oder JStrafe geahndet. Den Zuchtmitteln kommt eine Denkzettelfunktion zu, und bei der JStrafe werden neben den Belangen der Erz. auch das Sühnebedürfnis und das Schutzbedürfnis der Allgemeinheit berücksichtigt. – JStrafe (auch mit Strafaussetzung) darf nur verhängt werden, wenn die vorliegenden schädlichen Neigungen anders (durch ErzMaßregeln oder Zuchtmittel) nicht mehr wirksam bekämpft werden können (§ 17 II). Bei unlösbaren Zweifeln ist die Schuld festzustellen und die Verhängung der JStrafe zur Bew. auszusetzen (§ 27). Auch bei bes. schwerer Schuld ist auf JStrafe zu erkennen (§ 17 II). Der ErzGedanke bestimmt auch bei der JStrafe das Strafmaß (§ 18 II) und den Vollzug. Für JA vgl. § 90 I. Auf den Vollzug der JStrafe kann ganz (§§ 21 ff) oder wenigstens zum Teil (§ 88) verzichtet werden, wenn das erz. sinnvoll und zweckmäßig ist. Zur Abgrenzung der 3 Gruppen der Unrechtsreaktionen des JGG lässt sich – ganz grob gerastert – Folgendes sagen: Die Zuchtmittel, bes. Verwarnung, Geldauflage und JA, sind der erhobene Zeigefinger (§ 13, 2); durch sie können nur junge Menschen beeindruckt werden, die geistig und seelisch genügend ansprechbar sind. Sind ErzMängel – gleich welchen Grades – erkennbar und beruht die Tat auf ihnen (§ 9, 5), sind idR ErzMaßregeln angebracht. Zusätzliche Zuchtmittel sind nur zu verhängen, wenn sie zur Verdeutlichung von Unrecht und Verantwortlichkeit erforderlich sind22. JStrafe ist nur verwirkt, wenn erhebliche Anlage- oder ErzMängel zu einer kriminell geprägten Fehlhaltung geführt haben oder wenn eine bes. schwere Straftat geahndet werden muss (§ 17, 11 u. 15). Bei der Abgrenzung von Weisungen, Auflagen, ErzBeistandschaft nach § 12 Nr. 1 und Verwarnung entstehen in der Praxis keine bes. Schwierigkeiten; handelt es sich doch um ähnliche,

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BGH NStZ 16, 105. BGH NStZ-RR 19, 32. Heublein Zbl. 94, 466; Beulke/Swoboda Rn 303 f. Schlüchter GA 88, 123. So aber Dallinger/Lackner 12. Hermann/Wild MKrim. 89, 16. AA Wolf S. 269: Grund zur Verhängung von ErzMaßregeln seien nicht ein Verhalten des J, sondern Umstände, welche die Person des ErzBerechtigten oder die Bedingungen der Erz. durch ihn betreffen. 22 Dölling ZJJ 06, 310. 91

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nicht allzu schwerwiegende Eingriffe23, die zudem noch nebeneinander angeordnet werden können (§ 8 I). Es kann insoweit auf die Erläuterungen bei den einzelnen Vorschriften (§§ 10, 12, 14, 15) Bezug genommen werden. – Zu diesen Maßnahmen und untereinander stehen dagegen Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2, JA und JStrafe (§§ 12, 16, 17) sowie die Aussetzung der Verhängung der JStrafe (§ 27) oft im Verhältnis des Entweder-oder; wegen ihrer Abgrenzung wird auf § 16, 1, § 17, 25 und § 21, 11 verwiesen. Die Praxis greift teilweise schematisch zu JA und Geldauflagen. In vielen Fällen wäre eine genau auf den Täter abgestimmte Weisung besser. Immer wieder wird auch JA verhängt, wo bereits JStrafe angebracht wäre, und damit, wie nur zu oft die spätere Entwicklung deutlich macht, eine erz. Chance verschenkt. Jeder JRichter sollte vor der Verhängung von JA oder von Geldauflagen gründlich überlegen, ob nicht andere, vielfach auch geringer eingreifende Maßnahmen besser geeignet sind. Unter den Begriff „Strafe“ in Vorschriften des allg. Rechts können auch ErzMaßregeln und Zuchtmittel fallen (vgl. § 2, 8). Ein Absehen von Strafe gem. § 60 StGB ist auch im JStrafrecht möglich24. Ob eine Sanktion offensichtlich verfehlt ist, ist im JStrafrecht nach dessen Grundgedanken zu entscheiden; unter den Voraussetzungen des § 60 StGB ist auch von ErzMaßregeln und Zuchtmitteln abzusehen25. Gleiches gilt für § 46a StGB26. Wegen der Geldbußen nach dem OWiG § 2, 15, 16. Über die Koppelung mehrerer Maßnahmen § 8; zur Urteilsfassung vgl. § 54, 3, 15. – Wegen der Nebenstrafen und Nebenfolgen und Maßregeln der Besserung u. Sicherung s. §§ 6 ff. In dem Spannungsfeld der „Erz. zur Freiheit in Unfreiheit“ und der unabweisbaren Notwendigkeit, JStrafe als ultima ratio einzusetzen (dazu § 17, 3), mit dem Nebeneinander also von auch schuldvergeltender JStrafe (vgl. § 18, 26) und Sozialisationsfunktionen aller Sanktionen des JStrafrechts muss der Praktiker leben. Näher Einf. 8, 9; 83–91; § 17, 7, 10.

§6 Nebenfolgen (1) 1Auf Unfähigkeit, öffentliche Ämter zu bekleiden, Rechte aus öffentlichen Wahlen zu erlangen oder in öffentlichen Angelegenheiten zu wählen oder zu stimmen, darf nicht erkannt werden. 2Die Bekanntgabe der Verurteilung darf nicht angeordnet werden. (2) Der Verlust der Fähigkeit, öffentliche Ämter zu bekleiden und Rechte aus öffentlichen Wahlen zu erlangen (§ 45 Abs. 1 des Strafgesetzbuches), tritt nicht ein. 1. Hw.-J: § 105; sonstige Hw. § 106 II. – 2. ErwG: § 104 I Nr. 1.

Richtlinie zu § 6 Soweit eine in § 6 nicht genannte Nebenstrafe oder Nebenfolge nicht zwingend vorgeschrieben ist, beantragt der Staatsanwalt sie nur, wenn sie erzieherisch notwendig erscheint.

Schrifttum Bareis Nebenstrafen u. Nebenfolgen jstrafrechtlicher Verurteilungen, ZJJ 06, 272; Börner Vermögensabschöpfung als Königsweg im System des Strafrechts – Auswirkungen auf Rolle u. Aufgabe der Verteidiger, StraFo 20, 89; Eckel Die Vermögensabschöpfung im JStrafverfahren: Rechtslage u. Reformbedarf, ZJJ 20, 265; Höynck Die Neuregelung der

23 Grethlein S. 111. 24 BayObLG NJW 92, 1520 = JR 92, 387 mit zust. Anm. Brunner = NStZ 91, 584 mit Anm. Scheffler NStZ 92, 491; AG Osterode NdsRpfl. 71, 262; Eisenberg/Kölbel § 2, 19; Ostendorf 23. 25 BayObLG NJW 92, 1521; gegen die Anwendbarkeit des § 60 StGB auf Erziehungsmaßregeln Bringewat NStZ 92, 318; gegen Anwendbarkeit im JStrafrecht überhaupt Terdenge JA 78, 95. 26 Eisenberg/Kölbel § 2, 19; Dölling ua Täter-Opfer-Ausgleich in Deutschland, 1998, S. 489. 92 https://doi.org/10.1515/9783110686401-008

Nebenfolgen

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strafrechtlichen Vermögensabschöpfung – ein weiterer Schritt der „feindlichen Übernahme“ des JStrafrechts? FS Eisenberg zum 80. Geburtstag, 2019, S. 245; Nobis Einziehung im BtM-Verfahren … u. mögliche Verteidigungsansätze gegen eine solche, StraFo 20, 50; Ostendorf Die Einziehung zur Vermögensabschöpfung im JStrafrecht, FS Dünkel, 2020, S. 667; Reitemeier Die Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung, ZJJ 17, 354; Rose Das Absehen von der vermögensrechtlichen Einziehung im jstrafrechtlichen Verfahren, NStZ 19, 648; Schady/Sommerfeld Die Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung u. der ErzGedanke, ZJJ 18, 219; Schumann Die neue strafrechtliche Vermögensabschöpfung u. das JStrafverfahren, StraFo 18, 415; ders. Die Einziehung von Taterträgen im JStrafrecht – Richterliches Ermessen oder zwingendes Recht? NK 20, 171.

Nebenstrafen und Nebenfolgen, die nach allg. Recht nur neben einer Hauptstrafe verhängt werden dürfen, können auch neben ErzMaßregeln und Zuchtmitteln grds. verhängt werden (§ 8 III). Es ist jedoch Zurückhaltung geboten (RL); solche anzuordnen, und kann über § 6 hinaus im Einzelfall unzulässig sein, wo dies den Grundsätzen des JGG zuwiderliefe (§ 2, 6). Eine Nebenstrafe oder -folge, deren Ausspruch nach allg. Recht zwingend und die nach JRecht zulässig ist, muss jedoch auch gegen J oder Hw. angeordnet werden1. Die im allg. Strafrecht gem. § 45 I StGB bei einer Verurteilung wegen eines Verbrechens zu Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr zwingende Nebenfolge des Verlustes der Fähigkeit, öffentliche Ämter zu bekleiden und Rechte aus öffentlichen Wahlen zu erlangen, tritt bei Anwendung von JRecht nicht ein (Abs. II). Auf diese Nebenfolgen darf auch nicht gem. § 45 II StGB erkannt werden, ebenso wenig darf gem. § 45 V StGB das Recht aberkannt werden, in öffentlichen Angelegenheiten zu wählen oder zu stimmen (Abs. I 1). Abs. I 2 verbietet, die Bekanntgabe der Verurteilung (§§ 165, 200 StGB) anzuordnen. Darüber hinaus ist die Einziehung des Wertersatzes nach § 74c StGB in Form eines Geldbetrages ausgeschlossen, weil das JGG Geldstrafen nicht kennt2. Hat der J aber den Wertersatz noch in Besitz, so hindern jrechtliche Überlegungen eine Einziehung nicht3; vgl. § 15 I Nr. 4, II Nr. 2 u. die Geldbußen nach dem OWiG. Zulässig sind Einziehung (§§ 73 ff StGB, § 76 S. 1 JGG)4 und Unbrauchbarmachung (§ 74d StGB). Die Einziehung des Wertersatzes nach § 73c StGB hat nach dem Großen Senat für Strafsachen des BGH zwingend zu erfolgen, auch dann, wenn der Wert des Erlangten nicht mehr im Vermögen des J vorhanden ist; die Entscheidung steht nicht im Ermessen des Tatgerichts5. Wie sich aus der Nennung der Einziehung in § 76 S. 1 ergibt, sollen die Vorschriften des StGB über die Einziehung auch im JStrafrecht gelten6. § 8 III S. 1, der die Verbindung von Rechtsfolgen und nicht die Voraussetzungen der Anordnung von Maßnahmen betrifft7, § 15 II Nr. 2, der neben 1 BayObLG zu § 123 Branntwein-Monopol-Ges. Dallinger/Lackner Rechtsprechung JGG, S. 3 zu § 6. 2 BGH 6, 259; Potrykus B 3; NJW 54, 244. 3 Eisenberg/Kölbel 17; für Zulässigkeit der Einziehung nach § 74c StGB, auch wenn der Wertersatz beim J nicht mehr vorhanden ist, Ostendorf 20. 4 BGH 6, 259. 5 BGH (Großer Senat) 65, 242 = NStZ 21, 679 mit abl. Anm. Kölbel/Eisenberg/Sonnen = JR 21, 587 mit zust. Anm. Kudlich/Lang = ZJJ 21, 376 mit zust. Anm. Eckel = StV 22, 31 mit Anm. Eisenberg; BGH (2. Strafsenat) NStZ 19, 221 mit abl. Anm. Eisenberg; ZJJ 20, 306; BGH (5. Strafsenat) ZJJ 18, 328 mit krit. Anm. Laue; ZJJ 19, 285; NStZ 20, 124 = ZJJ 20, 201 mit abl. Anm. Eisenberg; BGH (4. Strafsenat) NStZ-RR 20, 261; OLG Frankfurt ZKJ 19, 379 mit abl. Bespr. Eisenberg ZKJ 19, 356; OLG Brandenburg ZJJ 21, 60 mit abl. Anm. Eisenberg ZJJ 21, 63; LG Köln NStZ-RR 19, 232; Reitemeier ZJJ 17, 254; Rose NStZ 19, 648; zum früheren Recht vgl. BGH 55, 174 = NStZ 11, 270 mit zust. Anm. Altenhain = StV 10, 578 mit abl. Anm. Eisenberg; aA (Entscheidung nach Ermessen) BGH (1. Strafsenat) NStZ 19, 682 (Vorlagebeschluss an den Großen Senat) = JR 19, 593 mit zust. Anm. Eisenberg; mit abl. Anm. Schumann StraFo 20, 425; LG Münster NStZ 18, 669 mit abl. Anm. Köhler NStZ 18, 720 u. zust. Bespr. Berberich/Singelnstein StV 19, 505; LG Neuruppin ZJJ 19, 284 mit zust. Anm. Eisenberg; LG Cottbus ZJJ 21, 61 mit Anm. Eisenberg; AG Frankfurt a.M. ZJJ 18, 249, 251; AG Rudolstadt StV 19, 462; Schady/Sommerfeld ZJJ 18, 224; 19, 225; Swoboda ZStW 21, 879 f; zu einem unzulässigen Vorlagebeschluss s. BVerfG NStZ-RR 20, 156. 6 BGH (Großer Senat) 65, 242, 247. 7 AaO, 255. 93

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den Einziehungsvorschriften steht und keinen Vorrang gegenüber diesen hat8, und § 81, der einen zivilrechtlichen Streit zwischen dem J und dem Opfer im JStrafverfahren vermeiden will9, stehen dem nicht entgegen. Dem ErzGedanken (§ 2 I) kann durch Entscheidungen nach § 456g V 1 StPO Rechnung getragen werden10. Zulässig sind außerdem Abführung des Mehrerlöses (§§ 8 ff WiStG), Einziehung des Jagdscheines (§ 40 Bundesjagdgesetz), Fahrverbot (Kfz) gem. § 44 StGB (vgl. §§ 8 III 2, 76 S. 1 JGG)11. 6 Tatgewinn und Entgelt der Tat können nach § 15 II Nr. 2 erfasst werden12. Auch landesrechtliche Nebenstrafen und -folgen sind möglich.

§7 Maßregeln der Besserung und Sicherung (1) Als Maßregeln der Besserung und Sicherung im Sinne des allgemeinen Strafrechts können die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt, die Führungsaufsicht oder die Entziehung der Fahrerlaubnis angeordnet werden (§ 61 Nr. 1, 2, 4 und 5 des Strafgesetzbuches). (2) 1Das Gericht kann im Urteil die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorbehalten, wenn 1. der Jugendliche zu einer Jugendstrafe von mindestens sieben Jahren verurteilt wird wegen oder auch wegen eines Verbrechens a) gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder die sexuelle Selbstbestimmung oder b) nach § 251 des Strafgesetzbuches, auch in Verbindung mit § 252 oder § 255 des Strafgesetzbuches, durch welches das Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt oder einer solchen Gefahr ausgesetzt worden ist, und 2. die Gesamtwürdigung des Jugendlichen und seiner Tat oder seiner Taten ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut Straftaten der in Nummer 1 bezeichneten Art begehen wird. 2 Das Gericht ordnet die Sicherungsverwahrung an, wenn die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Tat oder seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung bis zum Zeitpunkt der Entscheidung ergibt, dass von ihm Straftaten der in Satz 1 Nummer 1 bezeichneten Art zu erwarten sind; § 66a Absatz 3 Satz 1 des Strafgesetzbuches gilt entsprechend. 3Für die Prüfung, ob die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung am Ende des Vollzugs der Jugendstrafe auszusetzen ist, und für den Eintritt der Führungsaufsicht gilt § 67c Absatz 1 des Strafgesetzbuches entsprechend. (3) 1Wird neben der Jugendstrafe die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorbehalten und hat der Verurteilte das siebenundzwanzigste Lebensjahr noch nicht vollendet, so ordnet das Gericht an, dass bereits die Jugendstrafe in einer sozialtherapeutischen Anstalt zu vollziehen ist, es sei denn, dass die Resozialisierung des Verurteilten dadurch nicht besser gefördert werden kann. 2Diese Anordnung kann auch nachträglich erfolgen. 3 Solange der Vollzug in einer sozialtherapeutischen Einrichtung noch nicht angeordnet oder der Gefangene noch nicht in eine sozialtherapeutische Einrichtung verlegt worden ist, ist darüber jeweils nach sechs Monaten neu zu entscheiden. 4Für die nachträgliche 8 AaO, 250 f. 9 AaO, 252. 10 AaO, 252 ff. 11 Eisenberg/Kölbel 6; Ostendorf 2; aA (vor Inkrafttreten des § 8 III 2) Halecker Der „Denkzettel“ Fahrverbot, 2009, S. 195. 12 Wegen Nebenstrafen und -folgen nach der AO s. Goetzeler NJW 60, 1656. 94 https://doi.org/10.1515/9783110686401-009

Maßregeln der Besserung und Sicherung

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Anordnung nach Satz 2 ist die Strafvollstreckungskammer zuständig, wenn der Betroffene das vierundzwanzigste Lebensjahr vollendet hat, sonst die für die Entscheidung über Vollzugsmaßnahmen nach § 92 Absatz 2 zuständige Jugendkammer. 5Im Übrigen gelten zum Vollzug der Jugendstrafe § 66c Absatz 2 und § 67a Absatz 2 bis 4 des Strafgesetzbuches entsprechend. (4) Ist die wegen einer Tat der in Absatz 2 bezeichneten Art angeordnete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 67d Abs. 6 dieses Strafgesetzbuches für erledigt erklärt worden, weil der die Schuldfähigkeit ausschließende oder vermindernde Zustand, auf dem die Unterbringung beruhte, im Zeitpunkt der Erledigungsentscheidung nicht bestanden hat, so kann das Gericht nachträglich die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung anordnen, wenn 1. die Unterbringung des Betroffenen nach § 63 des Strafgesetzbuches wegen mehrerer solcher Taten angeordnet wurde oder wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer solcher Taten, die er vor der zur Unterbringung nach § 63 des Strafgesetzbuches führenden Tat begangen hat, schon einmal zu einer Jugendstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt oder in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht worden war und 2. die Gesamtwürdigung des Betroffenen, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung bis zum Zeitpunkt der Entscheidung ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut Straftaten der in Absatz 2 bezeichneten Art begehen wird. (5) Die regelmäßige Frist zur Prüfung, ob die weitere Vollstreckung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung zur Bewährung auszusetzen oder für erledigt zu erklären ist (§ 67e des Strafgesetzbuches), beträgt in den Fällen der Absätze 2 und 4 sechs Monate, wenn die untergebrachte Person bei Beginn des Fristablaufs das vierundzwanzigste Lebensjahr noch nicht vollendet hat. 1. Hw.-J: § 105 I; sonstige Hw.: § 106 II. – 2. ErwG: § 104 I Nr. 1.

Schrifttum Bartsch Eine verpasste Chance? Zur Reform der Vorschriften über die Sicherungsverwahrung im JGG, ZJJ 13, 182; Brettel Der Vollzug der Sicherungsverwahrung nach § 7 II JGG, ZJJ 09, 331; ders. Gesetzeslücken bei Sicherungsverwahrung nach Verurteilung zu JStrafe, ZRP 10, 121; Bruhn Die Sicherungsverwahrung im JStrafrecht, 2010; Bruns Zur Problematik rausch-, krankheits- u. jugendbedingter Willensmängel des schuldunfähigen Täters im Straf-, Sicherungs- u. Schadensersatzrecht, JZ 64, 473; Burchard/Hohmann/Schulze JForensische Patienten in einer Klinik für Kinder- u. JPsychiatrie, MKrim. 18, 403; Carroll Die nachträgliche Sicherungsverwahrung im JStrafrecht, 2014; Drenkhahn Sicherungsverwahrung nach JStrafrecht. Ist nach dem Ilnseher-Urteil alles klar? ZJJ 17, 176; Eisenberg Nachträgliche Sicherungsverwahrung bei zur Tatzeit J bzw. Hw.? JZ 07, 1143; ders. Zur Rolle der Sachverständigen im Verfahren gemäß §§ 7 II, 81a JGG, erörtert an Hand eines Einzelfalls, FS Kerner, 2013, S. 577; Eisenberg/Schlüter Extensive Gesetzesauslegung bei Anordnung von Sicherungsverwahrung, NJW 01, 188; Graebsch Sicherungsverwahrung im JStrafrecht, ZJJ 08, 284; Gundelach Die Führungsaufsicht nach der Vollverbüßung einer JStrafe, 2015; Jesse Führungsaufsicht nach JStrafe, ZJJ 20, 373; Karmroth Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen nach JStrafrecht, 2012; Kinzig Entwicklung, Stand u. Perspektiven einer Sicherungsverwahrung für J u. Hw., RdJ 07, 155; ders. Die Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung für J, ZJJ 08, 245; ders. Das Recht der Sicherungsverwahrung nach dem Urteil des EGMR in Sachen M gegen Deutschland, NStZ 10, 233; Koll-Bernards Die Unterbringung Minderjähriger gemäß § 42b StGB, Soziale Arbeit 64, 249; Koller Teenager lebenslang hinter Gittern? DRiZ 11, 251, Kreuzer Sicherungsverwahrung nach JStrafrecht angesichts divergierender Urteile des BGH u. EGMR, NStZ 10, 473; Laue Die Sicherungsverwahrung auf dem europäischen Prüfstand, JR 10, 198; ders. Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Sicherungsverwahrung, FPPK 10, 147; ders. Konsequenzen aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Sicherungsverwahrung, FPPK 10, 283; Müller Die Sicherungsverwahrung, das Grundgesetz u. die Europäische Menschenrechtskonvention, StV 10, 207; Nestler/Wolf Sicherungsverwahrung gem. § 7 II JGG u. der Präventionsgedanke im Strafrecht – krit. Betrachtung eines legislativen Kunstgriffs, NK 08, 1253; Ostendorf/Bochmann Nachträgliche Sicherungsverwahrung bei jungen Menschen auf dem internationalen und verfassungsrechtlichen Prüfstand, ZRP 07, 146; Ostendorf/Petersen Nachträgliche Sicherungsverwahrung im JStR, ZRP 10, 245; Radtke Konventionswidrigkeit des Vollzugs erstmaliger Sicherungsverwahrung nach Ablauf der früheren Höchstfrist? NStZ 10, 537; Renzikowski Abstand halten – Die Neurege95

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lung der Sicherungsverwahrung, NJW 13, 1638; Rüter Nachträgliche Sicherungsverwahrung im JStrafrecht, 2011; Schmitz Die Unterbringung minderjähriger Rechtsbrecher nach § 42b StGB, MKrim. 64, 152; Sommerfeld Führungsaufsicht nach vollständiger Vollstreckung einer EinheitsJStrafe, NStZ 09, 247; Ullenbruch Das „Gesetz zur nachträglichen Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen nach JStrafrecht“ – ein Unding? NJW 08, 2609; Wille Ambulante psychiatrische Hilfen bei Störungen im Kindes- u. Jugendalter, Zbl. 89, 337; Wüstenhagen Sicherungsverwahrung gegen Hw. u. J, 2008.

Übersicht 1. 2. 3.

Maßregeln 1 Psychiatrisches Krankenhaus 4 Entziehungsanstalt

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4. 5. 6.

9 Führungsaufsicht Entziehung der Fahrerlaubnis 16 Sicherungsverwahrung

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1. Maßregeln 1 Maßregeln der Besserung und Sicherung sind in § 61 StGB abschließend aufgezählt. Wo materielles JStrafrecht angewendet wird, können Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, in einer Entziehungsanstalt, Führungsaufsicht, Entziehung der Fahrerlaubnis und unter den Voraussetzungen von Abs. II, IV vorbehaltene bzw. nachträgliche Sicherungsverwahrung angeordnet werden, nicht aber ein Berufsverbot. Die Maßregeln sind – abgesehen von der Sonderregelung für die Sicherungsverwahrung – zu verhängen, wenn die Voraussetzungen des allg. Strafrechts vorliegen, ohne dass dem JRichter ein zusätzliches Ermessen zusteht1. Das JStrafrecht fordert jedoch eine bes. sorgfältige, jgerechte, einzelfallorientierte und eingehend zu begründende Prüfung2. Vgl. dazu auch Rn 14 aE.

2. Psychiatrisches Krankenhaus 2 Bei der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ist bes. sorgfältig zu prüfen, ob die Maßregel erforderlich ist oder eine weniger einschneidende Maßnahme (§ 10 II, ErzBeistandschaft, anderweitige Unterbringung) ausreicht, da eine Unterbringung sich in der Entwicklung bes. nachteilig auswirken kann3. Das gilt auch bei Hw., die nach ihrer Reife Jugendlichen gleichstehen4. Eine Unterbringung nach § 63 wird nur in bes. Ausnahmefällen als ultima ratio gerechtfertigt sein5. Bei Kleinkriminalität (z.B. Schwarzfahren, Kleindiebstähle) kommt Unterbringung nicht in Betracht6. Auch bei J genügt die Feststellung, dass die Gesamtwürdigung des J und seiner Tat, auch früherer Taten, ergibt, dass von ihm zufolge seines Zustandes (Kausalität) weitere erhebliche rechtswidrige Taten iSd § 63 S. 1 StGB zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist7. Bei der Gefährlichkeitsprognose kommt es allein auf die Ver-

1 BGH 37, 374 mit Anm. Walter NStZ 92, 100; 39, 95 = JR 93, 513 mit zust. Anm. Brunner = JZ 93, 529 mit Anm. Eisenberg/Sieveking; DSS/Diemer 2; Ostendorf 3; aA LG Oldenburg bei Böhm NStZ 85, 447 u. 88, 491.

2 BGH 37, 373; 39, 95; BGH StV 81, 543; OLG Zweibrücken StV 89, 314; OLG Jena NStZ-RR 07, 217; Bedenken wegen mangelnder Vereinbarkeit der Maßregeln mit dem ErzGedanken, auch hinsichtlich Führungsaufsicht u. Entziehung der Fahrerlaubnis, bei Eisenberg/Kölbel 4 f. 3 BGH 37, 374; 39, 95; BGH NJW 51, 450; OLG Schleswig SchlHA 57, 61. Vgl. Dehne-Niemann NStZ 19, 378 f: Bei Vorliegen von § 3 S. 1 kann ein Vorgehen nach § 3 S. 2 das mildere Mittel sein. 4 BGH DVJJ-J 02, 464. 5 BGH B NStZ 93, 527; BGH NStZ 98, 87; 00, 470; OLG Jena NStZ-RR 07, 217, 219. 6 BGH NJW 89, 2959 ErwRecht. 7 BGH 37, 374; 39, 95. 96

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hältnisse zZ der Hauptverhandlung an8. Eine verbindliche Voraussage, dass der J auch nach Strafverbüßung die Rechtsordnung unmittelbar bedrohen werde, ist nicht gefordert; doch bedarf auch die erforderliche Wahrscheinlichkeitsfeststellung bei J sorgfältiger Prüfung9. Nach dem BGH10 kann § 63 entgegenstehen, dass ein ErzDefizit bereits durch normgerechten Vollzug der JStrafe ausgeglichen werden kann. UU kann auch eine Unterbringung nach § 64 StGB als weniger beschwerende Maßregel ausreichen11. Von der Beweiserhebung über das Verhalten des J kann nicht mit der Begründung abgesehen werden, dass ein bestimmtes Verhalten als wahr unterstellt wird12. Die Maßregel darf nicht außer Verhältnis zu den zu erwartenden Taten und dem Grad der vom Täter ausgehenden Gefahr stehen (§ 62 StGB), was bei J bes. zu beachten ist. Der nur mangels Altersreife strafunmündige J kann nicht nach § 7, § 63 StGB untergebracht werden (näher § 3, 13). Zur Vollstreckung § 85, 8–11. Der Vollzug der Unterbringung richtet sich weitgehend nach Landesrecht13. Der Rechtsschutz gegen Vollzugsmaßnahmen obliegt gem. § 92 der JKammer, in deren Bezirk das Krankenhaus seinen Sitz hat. Gegen die Ablehnung des Antrags der StA auf Widerruf einer zur Bewährung ausgesetzten Unterbringung ist – anders als gegen die Ablehnung des Widerrufs der Aussetzung der JStrafe (§ 59, 5) – nach §§ 463 V, 462 III StPO sofortige Beschwerde statthaft14. Bei verminderter Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) schließen Strafe und Unterbringung einander 3 auch im JStrafrecht grds. nicht aus15. Der JRichter muss jedoch von Zuchtmitteln und JStrafe nach § 5 III absehen, wenn die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (oder in einer Entziehungsanstalt) eine darüber hinausgehende Ahndung entbehrlich macht (näher § 5, 2). Wird aber ausnahmsweise zugleich auf JStrafe erkannt, so kann abweichend von der gesetzlichen Reihenfolge nach § 67 II StGB die JStrafe vor der Unterbringung vollzogen werden. Dies bedarf sorgfältiger Prüfung der Persönlichkeit des J, der Länge der Strafzeit und der Art der notwendigen Behandlung. „Leidensdruck“ allein rechtfertigt dies nicht16. Eine Umkehr der Reihenfolge ist nur zulässig, wenn dadurch der Zweck der Maßregel leichter erreicht wird17. Fehlende Begründung führt zur Aufhebung18. Vgl. auch § 93a, 6. JStrafe und Unterbringung stehen selbständig nebeneinander (näher § 5, 2; § 18, 9 aE). Mit dem Wesen der JStrafe ist es nicht vereinbar, ihre Höhe von der voraussichtlichen Heilungsdauer (einer krankhaften seelischen Störung) abhängig zu machen19. Über bes. Zuständigkeiten im JRecht § 41, 13, 18, 21.

3. Entziehungsanstalt Mit der Einbeziehung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt20 ist einem dringenden 4 Anliegen unserer Zeit, insbes. der Eindämmung der Drogenszene, Rechnung getragen. Die umfangreiche Literatur über die angemessene medizinische Behandlung der Drogenabhängigkeit lässt sich dahin zusammenfassen, dass physische Drogenabhängigkeit idR stationärer Behandlung bedarf, dass aber auch bei den psychopathologischen Auswirkungen sowohl von Halluzi-

8 BGH NStZ 88, 498. 9 BGH bei Herlan GA 59, 339; BGH StV 86, 163; vgl. auch BayObLG 58, 263. 10 BGH 37, 375; BGH B NStZ 93, 527. 11 BGH B NStZ 93, 527. 12 OLG Schleswig SchlHA 57, 161. 13 Zur Vollzugspraxis Stöver/Weissbeck/Wendt FPPK 08, 255; Weissbeck JMaßregelvollzug in Deutschland, 2009. 14 OLG Nürnberg NStZ-RR 98, 242. 15 BVerfG NStZ-RR 07, 198. 16 BGH B NStZ 88, 493. 17 BGH NStZ 86, 331; vgl. auch OLG Hamm B NStZ 85, 447. 18 OLG Hamm aaO. 19 BGH StV 88, 307. 20 Dazu Dessecker/Egg, Hrsg., Die strafrechtliche Unterbringung in einer Entziehungsanstalt, 1995. 97

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nogenen (LSD, Meskalin) als auch von Cannabis (Haschisch/Marihuana) eine initiale klinische Behandlung erforderlich sein kann21. 5 Die Voraussetzungen für die Unterbringung ergeben sich aus § 64 StGB (vgl. Einf. 65–72; § 3, 15–18; § 93a, 1–5). Die Anordnung hängt auch im JStrafrecht nicht davon ab, ob verminderte Schuldfähigkeit gem. § 21 StGB vorliegt22. Liegen diese Voraussetzungen vor, muss die Unterbringung auch dann angeordnet werden, wenn es an geeigneten Anstalten fehlt23 (vgl. auch § 93a, 5 u. 6). Der BGH24 weist nachdrücklich darauf hin, dass ein Gericht gegen das Gesetz handelt, wenn es bei der Urteilsfindung einem eindeutigen Gesetzesbefehl deshalb die Gefolgschaft versagt, weil die Exekutive nicht die zu seiner Durchführung erforderlichen Mittel bereithält. Allein die Gefahr der Selbstgefährdung des Drogenabhängigen führt nicht zur Unterbringung nach § 64 StGB25, es greifen nur die landesrechtl. Unterbringungsgesetze ein. Werden die Verhängung von JStrafe und die Anordnung nach § 64 StGB miteinander verbunden, gilt für die Reihenfolge der Vollstreckung § 67 StGB einschließlich § 67 II 2 StGB26. Die Unterbringung darf nach § 64 S. 2 StGB nur angeordnet werden, wenn eine hinreichend konkrete Aussicht besteht, den Süchtigen zu heilen oder doch über eine gewisse Zeitspanne vor dem Rückfall in die akute Sucht zu bewahren. Sie muss nach § 67d V StGB für erledigt erklärt werden, wenn entgegen einer anfänglichen positiven Prognose keine hinreichend konkrete Aussicht mehr auf einen solchen Behandlungserfolg besteht27. Die konkrete Aussicht darf nicht wegen fehlender Therapiemotivation verneint werden, wenn nicht geprüft und festgestellt worden ist, dass ein ausreichender Therapiewille auch nicht durch positive Beeinflussung des Angeklagten im Zuge der Behandlung zu erreichen ist28. § 64 S. 2 StGB verweist in seiner durch G v. 1.8.2016 ergänzten Fassung auch auf § 67d I 3 StGB. Somit kann eine konkrete Erfolgsaussicht auch vorliegen, wenn die prognostizierte Therapiedauer die Zweijahresfrist des § 67d I 1 StGB überschreitet29. Wenn eine Weisung, sich einer Entziehungskur zu unterziehen, ausreicht, um den Täter an ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben zu gewöhnen (vgl. aber Rn 4 u. insbes. § 10, 40), ist die Unterbringung nicht zulässig. Notwendig ist es, für J und Hw. ausreichend geeignete Institutionen zu schaffen (§ 93a). 6 Die stationäre Therapie Drogenabhängiger gliedert sich in die Phasen des Entzugs (Entgiftung), der Entwöhnung und der Nachsorge30. In der Nachsorgephase sollten sozialpädagogische, gruppentherapeutische und allg. helfende Bemühungen erfolgen, die das Erreichte sichern und auf Stärkung der Persönlichkeit hinarbeiten. Vgl. § 10, 41, insbes. § 93a, 4. 7 Wird die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet, kann nach § 5 III von Zuchtmitteln und JStrafe abgesehen werden (näher § 5, 2). Die Ahndung durch Zuchtmittel ist hier regelmäßig nicht nur entbehrlich, sondern schlechthin ungeeignet und wäre im Fall des JA für andere Arrestanten gefährlich. Bei JStrafe kommt es auf sorgfältige Abwägung im Einzelfall an; hier kann Ahndung und weitere erz. Einwirkung notwendig sein.

21 Näher Schalast in Handb. d. For. Psychiatrie Bd. 3, 2006, S. 326 ff. 22 BGH StV 19, 262. 23 BGH 28, 327; OLG Hamm MDR 81, 70; s. auch Mösl NStZ 81, 427; aA LG Dortmund – ErwRecht – StV 82, 371 mit zust. Anm. Budde. BGH 28, 329. OLG Hamm NJW 74, 614 zum insoweit gleich lautenden § 42b StGB. BGH NJW 09, 2694 mit Bespr. Rose ZJJ 10, 196. Zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen dieser Regelungen BVerfGE 91, 1 = NStZ 94, 578; dazu kritisch MüllerDietz JR 95, 353. 28 BGH NStZ-RR 09, 277; StV 19, 264. 29 HK-GS/Best § 64 StGB 10; so bereits BGH (5. Senat) NJW 14, 1978, 1979; anders früher BGH (3. Senat) NJW 12, 2292. 30 Vgl. Täschner Therapie der Drogenabhängigkeit, 1983; Heckmann, Hrsg., Drogentherapie in der Praxis, 1991.

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Die Anordnung nach § 64 StGB geht der Vollstreckungslösung der §§ 35 ff BtMG vor; daran 8 hat sich durch die Änderung des § 64 StGB durch das Gesetz v. 16.7.2007 nichts geändert31. Auf Unterbringung in einer Entziehungsanstalt kann im vereinfachten Jugendverfahren nicht erkannt werden (§ 78 I 2). Zu Drogentätern in JStrafanstalten § 17, 42; zum Fehlen eines Therapieplatzes § 93a, 7; zum Abbruch § 93a, 8; zu Vollzugsentscheidungen § 93a, 11 u. 12. Zur Zurückstellung der Strafvollstreckung bei betäubungsmittelabhängigen J u. Hw. nach §§ 38, 35, 36 BtMG § 17, 40 ff. Zum Absehen von der Anklageerhebung nach §§ 38 II, 37 BtMG § 45, 54.

4. Führungsaufsicht Die Führungsaufsicht soll gefährliche oder gefährdete Täter in ihrer Lebensführung in der Frei- 9 heit über gewisse Zeiträume hinweg unterstützen und überwachen, um sie vor weiteren Straftaten abzuhalten32. Von dieser Doppelfunktion der Sozialisierungshilfe und des Schutzes der Allgemeinheit ist im JRecht vor allem erstere von Bedeutung. Auch bei J und Hw. kommt die Führungsaufsicht in Betracht nach § 68 I StGB und im Bereich des § 68 II StGB nach §§ 67b, 67c, 67d II bis VI StGB sowie nach § 68 f StGB. Die Führungsaufsicht selbst und die Weisungen, welche die Führungsaufsicht konkret ausgestalten und auf den Einzelfall abstellen, verstoßen weder gegen das Verbot der Doppelbestrafung (Art. 103 III GG) noch gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz33. Führungsaufsicht nach § 68 I StGB kann angeordnet werden, wenn JStrafe, die nach hM 10 der Freiheitsstrafe gleichsteht34, wegen einer Straftat verwirkt ist, bei der das Gesetz ausdrücklich Führungsaufsicht vorsieht (vgl. §§ 129a, 181b, 218, 228, 239c, 245, 256, 262, 263, 263a, 321 StGB, § 34 BtMG). Das Gericht wird von dieser Kann-Vorschrift nicht Gebrauch machen, wenn weniger einschneidende Maßnahmen die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten beseitigen können oder die Rückfallwahrscheinlichkeit nicht sehr groß ist und die Taten voraussichtlich unter der mittleren Kriminalität bleiben. Berücksichtigt man hierzu jkriminologische Erkenntnisse (Einf. 1 ff), die bes. Prägbarkeit und spezialpräventive Ansprechbarkeit junger Menschen sowie die weit gespannten Einwirkungsmöglichkeiten nach dem JGG, so wird im JRecht die fakultative Führungsaufsicht nur in bes. Ausnahmefällen anzuordnen sein. Wurden mindestens 2 Jahre JStrafe wegen vorsätzlicher Straftaten oder 1 Jahr JStrafe wegen 11 in § 181b StGB genannten Straftaten vollständig vollstreckt35, so tritt mit der Entlassung Führungsaufsicht kraft Gesetzes ein (§ 68 f I StGB). Das AG Mönchengladbach36 lehnt dies ab, weil JStrafe gegenüber der Freiheitsstrafe eigenständig sei; dies ist unbestritten, rechtfertigt aber die abweichende Meinung nicht37. Die Auslegung, dass § 7 auch auf die Normen des StGB, nach denen Führungsaufsicht kraft Gesetzes eintritt, verweist, ist auch nach Inkrafttreten des G zur Reform der Führungsaufsicht v. 14.4.2007 verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden38. Die Ansicht des AG Hameln39, nach dem diese Auslegung nach Inkrafttreten des G zur Reform der Führungsaufsicht nicht mehr aufrechterhalten werden kann, überzeugt nicht40. Führungsauf31 BGH NStZ-RR 96, 228, 257; 97, 344; 03, 12; BGH bei Detter NStZ 05, 148; 06, 150; 07, 209, 632; StV 08, 405; 09, 353; NStZ 09, 441; StV 11, 622; NStZ-RR 12, 314; 16, 209; 17, 239; 283, 284. Schönke/Schröder/Stree/Kinzig § 68 StGB 3. BVerfGE 55, 28 = NStZ 81, 21. Fischer Vor § 68 StGB 4. Anrechnung von UHaft steht der Annahme vollständiger Vollstreckung nicht entgegen; Lackner/Kühl § 68 f StGB 1. 36 Beschl. v. 7.8.1981–7 Ls/10 Js 631/76 jug. 37 Zust. Füllkrug BewH 89, 145. 38 BVerfG NStZ-RR 08, 217. 39 ZJJ 08, 83; ebenso Pollähne ZJJ 08, 4; vgl. auch Fiebrandt ZJJ 08, 278. 40 Vgl. auch Sommerfeld NStZ 09, 250, der den Eintritt der Führungsaufsicht kraft Gesetzes auf § 2 II iVm § 68 f I 1 StGB stützt.

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sicht tritt kraft Gesetzes auch dann ein, wenn das Gericht die weitere Vollstreckung der Unterbringung zur Bew. aussetzt (§ 67d II StGB)41. Bei positiver Sozialprognose ordnet das Gericht an, dass die Maßregel entfällt (§ 68 f II StGB). In den seltenen Fällen, in denen sich die Aussetzung des Strafrestes gerade aus erz. Gründen nicht empfiehlt, ist die Führungsaufsicht eine wertvolle erz. Weiterhilfe (vgl. auch § 85, 3 aE). Bei ihrer Ausgestaltung ist der ErzGedanke zu berücksichtigen42. Schließt sich an eine Vollverbüßung die Vollstreckung von Strafhaft in anderer Sache an, beginnt die Führungsaufsicht erst mit endgültiger Entlassung in die Freiheit43. Ist die Anschlussvollstreckung in anderer Sache dagegen nach § 35 I BtMG zurückgestellt, hindert dies den Eintritt der Führungsaufsicht nicht44. 12 Aus dem durch das G zur Reform der Führungsaufsicht geänderten Wortlaut des § 68 f I 1 StGB, nach dem Führungsaufsicht kraft Gesetzes auch dann eintritt, wenn eine Gesamtfreiheitsstrafe von mindestens 2 Jahren – bei Straftaten der in § 181b StGB genannten Art von mindestens 1 Jahr – wegen vorsätzlicher Straftaten vollständig vollstreckt worden ist, ist zu folgern, dass Führungsaufsicht kraft Gesetzes auch dann eintritt, wenn eine wegen vorsätzlicher Straftaten verhängte mindestens zweijährige EinheitsJStrafe vollständig vollstreckt worden ist; es ist nicht erforderlich, dass wegen einer zugrunde liegenden Straftat mindestens 2 Jahre (bzw. 1 Jahr) JStrafe verwirkt sind45. Wurde die EinheitsJStrafe wegen vorsätzlicher und fahrlässiger Straftaten verhängt, muss erkennbar sein, dass mindestens 2 Jahre bzw. 1 Jahr auf die Vorsatztaten entfallen. Nach Verbüßung einer EinheitsJStrfe von 2 Jahren tritt keine Führungsaufsicht ein, wenn die Strafe auch wegen einer Fahrlässigkeitstat verhängt wurde46. 13 Wie das Institut der Führungsaufsicht sich in der Praxis bewährt, hängt von der Arbeit der BewHilfe und der Aufsichtsstellen und ihrer Kooperation ab47. Zuständig für die Vollstreckungsmaßnahmen im Zusammenhang mit der Führungsaufsicht ist der Vollstreckungsleiter nach § 82 I (vgl. RL VII 2 zu § 85; § 54a StVollstrO; § 82, 1)48. Während des Vollzugs einer JStrafe in anderer Sache ruht die Führungsaufsicht nach § 68e I 2 StGB. Während dieses Zeitraumes gleichwohl zu treffende Entscheidungen über die Führungsaufsicht können aufgrund des Gesichtspunkts der Vollzugsnähe dem JRichter, dem nach § 85 II die Vollstreckung der JStafe obliegt, übertragen werden49.

5. Entziehung der Fahrerlaubnis 14 Bei der Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69 StGB) ist nicht milder als gegen Erw. zu verfahren, da das Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit hier im Vordergrund steht50. Das LG Oldenburg51 meint zwar, die Regelvermutung des § 69 II StGB widerspreche dem ErzGedanken des JGG. Aber gerade im Straßenverkehr gefährden J und Hw. aus jspezifischen Gründen (vgl. § 105, 8) sich und andere, sodass die Entziehung aus erz. Gründen und spezialpräventiv geboten sein kann. Die Regelvermutung des § 69 II StGB gilt daher auch im Rahmen des § 7 I JGG52. Zur 41 42 43 44 45

Siehe OLG Celle StV 16, 716. Vgl. LG Berlin NStZ 10, 286 zur Dauer der Führungsaufsicht. OLG Düsseldorf NStZ-RR 02, 190 = JR 03, 168 mit zust. Anm. Dölling. KG NStZ 06, 580. LG Berlin NStZ 09, 46; LG Hannover (JKammer II) ZJJ 08, 82; Eisenberg/Kölbel 57; aA LG Hannover (JKammer I) ZJJ 08, 82: weiterhin 2 Jahre wegen einer vorsätzlichen Einzeltat erforderlich; zum Streitstand vor der Gesetzesänderung s. die 12. Aufl. 46 OLG Saarbrücken StV 18, 719. 47 Jesse ZJJ 20, 373; Literaturnachweise bei Fischer Vor § 68 StGB 1a. 48 OLG Koblenz GA 75, 285. 49 BGH NStZ-RR 18, 227. 50 OLG Nürnberg NStZ 11, 286. 51 Bei Böhm NStZ 85, 447. 52 OLG Nürnberg NStZ-RR 11, 386; OLG Karlsruhe ZJJ 22, 60, 61. 100

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Begründung der Entziehung reicht allerdings „mangelnde praktische Erfahrung“ allein nicht aus53. Die Entziehung der Fahrerlaubnis kann auch neben ErzMaßregeln und Zuchtmitteln verhängt werden und kommt auch neben einer Strafaussetzung zur Bew. in Betracht54. Über die Zulässigkeit von Weisungen, die in ihrer Auswirkung ähnlich sind, u. die Unterschiede zu solchen Weisungen § 10, 32. Die Fahrerlaubnis kann auch bei fehlender Altersreife (§ 3) entzogen werden55. Hebt das Revisionsgericht ein Urteil wegen Anwendung von ErwRecht auf, so muss es wegen der geforderten jspezifischen Prüfung (dazu Rn 1 aE) auch die Entziehung der Fahrerlaubnis und die Sperrfrist aufheben56. 15 Zur Nebenstrafe des Fahrverbots s. § 6, 5 u. § 8, 8.

6. Sicherungsverwahrung Mit den durch G v. 8.7.2008 angefügten Abs. II–IV hatte der Gesetzgeber erstmals gegen J und 16 gegen nach JStrafrecht verurteilte Hw. die Sicherungsverwahrung in Form der nachträglichen Sicherungsverwahrung zugelassen. Nachdem das BVerfG durch Urteil v. 4.5.201157 unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR58 die damaligen Regelungen der Sicherungsverwahrung für mit Art. 2 II 2 iVm Art. 104 I und Art. 20 III GG unvereinbar erklärt hat, ist durch das am 1.6.2013 in Kraft getretene G v. 5.12.2012 in § 7 an die Stelle der nachträglichen grds. die vorbehaltene Sicherungsverwahrung getreten59. Nachträgliche Sicherungsverwahrung ist nur noch im Fall des Abs. IV zulässig. Eine entsprechende Regelung wurde in § 106 für nach allg. Recht verurteilte Hw. getroffen. Die Neuregelung gilt gemäß Art. 316 f I EGStGB für nach dem 31.5.2013 begangene Taten. In allen anderen Fällen ist das frühere Recht (dazu die 12. Aufl.) nach Maßgabe von § 316 f II und III EGStGB anzuwenden, § 7 II aF unter den Voraussetzungen dieser Vorschriften auch auf vor seinem Inkrafttreten begangene Taten60. Unmittelbar durch das erkennende Urteil angeordnete Sicherungsverwahrung ist nur gegen im Tatzeitpunkt Erw. zulässig. Hierfür reicht es aus, dass der Täter wenigstens eine der Symptomtaten als Erw. begangen hat.61 Die Anordnung von vorbehaltener Sicherungsverwahrung gegen J oder ihnen gleichgestellte Hw. ist wegen der sich aus der kurzen Lebensgeschichte und Legalbiografie sowie der noch nicht abgeschlossenen Entwicklung ergebenden Unsicherheit der Kriminalprognose und des bes. schweren Eingriffs sehr problematisch62. Sie kommt nur nach bes. sorgfältiger Prüfung in äußersten Ausnahmefällen63 in Betracht. 53 OLG Hamm VRS Bd. 13 (57), 32. Vgl. auch AG Saalfeld DVJJ-J 01, 426: keine Anordnung trotz Indiztat nach § 69 II StGB bei einmaliger durch bes. Umstände bedingter Entgleisung, deren Wiederholung nicht wahrscheinlich ist; ZJJ 05, 211, 213: bes. Zurückhaltung mit Entziehung der Fahrerlaubnis bei J und Hw., keine Entziehung, wenn ein Fahrverbot gem. § 44 StGB hinreicht. Zur Dauer der Sperre BGH 15, 393; OLG Nürnberg NStZ-RR 11, 386; LG Oldenburg BA 85, 186; vgl. auch Bußmann/Gerhardt BA 84, 210. 54 OLG Düsseldorf NJW 97, 2765 zum ErwRecht für die Benutzung eines Kfz zur Einfuhr von Betäubungsmitteln. 55 BGH 6, 397; BayObLG 58, 263; OLG Hamm DAR 64, 137. 56 OLG Zweibrücken StV 89, 314. 57 BVerfGE 128, 326 = NJW 11, 1931 = StV 11, 470 mit Anm. Kreuzer/Bartsch u.Eisenberg u. mit Bespr. Hörnle NStZ 11, 488; Streng JZ 11, 827 u. Zabel JR 11, 467. 58 NJW 10, 2495 = NStZ 10, 263 mit Bespr. Kinzig NStZ 10, 233, Laue JR 10, 198 u. Müller StV 10, 207. 59 Zur Verfassungsmäßigkeit des Instituts der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung s. BVerfG NJW 12, 3357. 60 BGH 58, 292, 294 f = StV 13, 767 mit Anm. Brettel; BGH NStZ-RR 19, 386; 20, 325; zu § 7 II aF s. OLG München StV 11, 596 mit abl. Anm. Eisenberg. 61 BGH bei Detter NStZ 02, 420. 62 Für Abschaffung der vorbehaltenen u. nachträglichen Sicherungsverwahrung bei J u. Hw. Heinz S. 104. 63 Begr. RegE, BT-Drs. 16/6562, S. 1; BGH 65, 221, 229 = NJW 21, 1687, 1689 mit krit. Anm. Kinzig; BGH NJW 10, 1539, 1541; LG Berlin NStZ 10, 96, 97; LG Zweibrücken; ZJJ 11, 453, 454 mit Anm. Möller (jeweils zu § 7 II aF); HK-JGG/ Rössner 22: „Extremgruppe von allenfalls einigen Prozentpunkten“; Schilderungen eines Falles bei Marquardt der kriminalist 16, 4 u. Eisenberg NK 16, 389. 101

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Der Vorbehalt der Sicherungsverwahrung nach Abs. II setzt eine Verurteilung wegen eines der folgenden Verbrechen voraus: – Verbrechen gegen das Leben nach dem 16. Abschnitt des Besonderen Teils des StGB; das sind die §§ 211, 212 (auch iVm § 213) und 221 II, III, – Verbrechen gegen die körperliche Unversehrtheit nach dem 17. Abschnitt: §§ 225 III, 226, 227 StGB, – Verbrechen gegen die sexuelle Selbstbestimmung nach dem 13. Abschnitt64: §§ 176, 176c, 176d, 177 IV, V, VII, VIII, 178, 184b I 1, II, III, 184e I 1, II 1 StGB (vor dem Inkrafttreten des G zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder am 1.7.2021: §§ 176a, 176b, 177 IV, V, VII, VIII, 178 StGB), oder – Raub mit Todesfolge nach § 251 StGB, auch iVm § 252 oder § 255 StGB. Durch das Verbrechen muss das Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt oder einer solchen – konkreten – Gefahr ausgesetzt worden sein. Schwere körperliche Schädigungen sind solche des § 226 I StGB oder von ähnlichem Gewicht, unter schwere seelische Schädigungen fällt insbes. die posttraumatische Belastungsstörung65. Der Täter muss jedenfalls auch wegen dieses Verbrechens zu einer JStrafe von mindestens 7 Jahren verurteilt worden sein. Hierfür reichen – wie sich aus Wortlaut und Entstehungsgeschichte der Vorschrift ergibt – eine JStrafe wegen einer Katalogtat in Tateinheit mit einer Nichtkatalogtat und eine Einheitsstrafe nach § 31 wegen in Tatmehrheit stehender Katalog- und Nichtkatalogtaten in dieser Höhe aus66. Es muss also nicht in den Urteilsgründen ausgewiesen sein, dass schon allein mit Rücksicht auf die Katalogtat eine JStrafe von 7 Jahren verhängt worden wäre.67 Es genügt eine Verurteilung; Abs. II kommt also auch bei Ersttätern in Betracht. Weiterhin muss eine Gesamtwürdigung des J und seiner Tat oder seiner Taten eine äußerst ungünstige Kriminalprognose ergeben: Es müssen Straftaten der in Abs. II bezeichneten Art zu befürchten sein; die Gefahr weniger schwerer Taten reicht nicht. Die Gesamtwürdigung muss die hohe Wahrscheinlichkeit erneuter Straftaten dieser Art ergeben. Damit werden hohe Anforderungen an die Rückfallprognose gestellt. Es reicht nicht aus, wenn nur überwiegende Umstände auf eine künftige Delinquenz des Verurteilten hindeuten68. Es muss vielmehr ein „hohes Maß an Gewissheit“ über die die Rückfallgefahr bestehen69. Erforderlich ist eine konkrete, auf den Einzelfall bezogene hohe Wahrscheinlichkeit; eine bloß abstrakte, auf statistische Wahrscheinlichkeiten gestützte Prognoseentscheidung reicht nicht aus70. Von dem Betroffenen muss eine gegenwärtige Gefahr ausgehen71. Für die Prognose kommt es auf den Zeitpunkt der Verurteilung an72. Das Vorliegen eines Hanges verlangt das Gesetz nicht73. Liegen die genannten Voraussetzungen vor, steht der Vorbehalt der Sicherungsverwahrung im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts („kann“). Insoweit kann die Überlegung eine Rolle spielen, ob mildere Mittel wie Führungsaufsicht und Entlassungshilfe zur Eindämmung der Rückfallgefahr ausreichen74. Die Entscheidung über die Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung muss nach Abs. II 2 HS 2 iVm § 66a III 1 StGB bis zur vollständigen Vollstreckung der JStrafe getroffen werden. Die Voraussetzungen für die Anordnung regelt Abs. II 2 HS 1: Danach ist in die wie nach 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73

Zur Maßgeblichkeit der jeweiligen Abschnitte des StGB s. BGH 51, 25 zu § 66b I StGB aF. HK-JGG/Rössner 19. BGH 65, 221, 224 ff; LG Zweibrücken ZJJ 11, 453 (zu § 7 II aF); HK-JGG/Rössner 20. BGH NJW 21, 1687, 1688; aA MK-StGB/Laue § 7 JGG 28; Kinzig ZJJ 08, 246. BGH NJW 10, 1541 zu § 7 II aF; 21, 1687, 1689; BVerfG NJW 06, 3483 zu § 66b StGB aF. BGH 65, 221, 230. BVerfG NJW 06, 3483. BVerfG aaO. Eisenberg/Kölbel 40. HK-JGG/Rössner 21; ebenso zu § 7 II aF BGH NJW 10, 1540; LG Regensburg ZJJ 09, 383; LG Zweibrücken ZJJ 11, 453, 454; aA LG Berlin NStZ 10, 97; Ullenbruch NJW 08, 2614. 74 LG Regensburg ZJJ 09, 383. 102

Maßregeln der Besserung und Sicherung

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Abs. I erforderliche kriminalprognostische Gesamtwürdigung neben den in Abs. I genannten Umständen die Entwicklung des Verurteilten im Vollzug der JStrafe einzubeziehen. Die Anordnung der Sicherungsverwahrung setzt kene substantiell neuen Tatsachen voraus. Erforderlich und ausreichend ist, dass die Gefährlichkeitsprognose unter Einbeziehung neu hinzutretender prognoserelevanter Umstände nunmehr eindeutig positiv begründet werden kann75. Nach Abs. IV kann Sicherungsverwahrung nachträglich angeordnet werden, wenn die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 67d VI StGB wegen Nichtbestehens des die Schuldfähigkeit ausschließenden oder vermindernden Zustandes für erledigt erklärt worden ist76. Voraussetzung ist nach Abs. IV Nr. 1, dass der Betroffene wegen mehrerer Taten iSv Abs. II nach § 63 StGB untergebracht wurde oder dass die Unterbringung wegen einer solchen Tat erfolgte und der Betroffene wegen einer oder mehrer solcher Taten, die er vor der zur Unterbringung führenden Tat begangen hat, schon einmal zu einer JStrafe von mindestens drei Jahren verurteilt oder nach § 63 StGB untergebracht wurde. Außerdem muss nach Abs. IV Nr. 2 eine ungünstige Prognose iSv Abs. II vorliegen. Auch die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach Abs. IV ist eine Ermessensentscheidung. Die gerichtliche Zuständigkeit für die Entscheidung nach Abs. II 2 und IV und das Verfahren sind in § 81a geregelt. Abs. III enthält Regelungen für den Vollzug der JStrafe bei vorbehaltener Sicherungsverwahrung. Hat der Verurteilte das 27. Lebensjahr noch nicht vollendet, ordnet das erkennende Gericht nach S. 1 den Vollzug der JStrafe in einer sozialtherapeutischen Einrichtung an, es sei denn die Resozialisierung kann dadurch nicht besser gefördert werden. Über eine nachträgliche Anordnung ist gemäß S. 3 jeweils nach 6 Monaten neu zu entscheiden, bis zur Vollendung des 24. Lebensjahrs des Betroffenen durch die nach § 92 II zuständige JKammer, dann durch die Strafvollstreckungskammer (S. 4.). Nach S. 5 iVm § 66c II StGB ist im JStrafvollzug eine Betreuung iSd § 66c I StGB anzubieten, um die Sicherungsverwahrung entbehrlich zu machen. S. 5 iVm § 67a II bis IV ermöglicht die Überweisung aus dem JStrafvollzug in ein psychiatrisches Krankenhaus oder eine Entziehungsanstalt, wenn diese zur Durchführung einer Heilbehandlung oder einer Entziehungskur angezeigt ist und die Resozialisierung dadurch besser gefördert werden kann. Die Unterbringungszeit wird auf die Strafhaft angerechnet.77 Ist die Sicherungsverwahrung angeordnet, ist die Vollstreckung der Unterbringung nach Abs. II 3 iVm § 67c I StGB am Ende des Vollzugs der JStrafe zur Bewährung auszusetzen, wenn (1.) der Maßregelzweck die Unterbringung nicht mehr erfordert, oder (2.) die Unterbringung unverhältnismäßig wäre, weil dem Täter im JStrafvollzug ausreichende Betreuung iSd § 66c II iVm § 66c I Nr. 1 StGB nicht angeboten worden ist. Der Prüfung nach (1.) bedarf es gemäß § 67c I 2 nicht, wenn die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung im 1. Rechtszug weniger als ein Jahr vor dem Ende des Vollzugs der JStrafe angeordnet wurde. (2.) ist ein Druckmittel, um die von Abs. III 5 iVm § 66c II StGB geforderte Behandlung im Strafvollzug zu gewährleisten78. Die Vorschrift ist nur auf Versäumnisse nach dem 31.5.2013 anzuwenden.79 Abs. V sieht eine Frist von 6 Monaten zur regelmäßigen Überprüfung der Fortdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung in den Fällen der Abs. II und IV vor, wenn die untergebrachte Person bei Beginn des Fristlaufs das 24. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Dies entspricht einer Vorgabe des BVerfG80 zu Abs. II aF. Später gilt § 67e II StGB. Nach § 82 III richten sich die Vollstreckung der Unterbringung und die Zuständigkeit hierfür nach den Vorschriften der StPO, wenn der Betroffene das 21. Lebensjahr vollendet hat.

75 76 77 78 79 80 103

BGH 65, 319, 324 zu § 66a III 2 StGB. Zu § 67d VI StGB s. Fischer § 67d StGB 23 ff; HK-GS/Braasch § 67d StGB 15 ff. Begr. RegE, BT-Drs. 17/9874, S. 24. Renzikowski NJW 13, 1641. OLG Frankfurt NStZ-RR 13, 359; HK-JGG/Rössner 24. BVerfGE 128, 326, 333 = NJW 11, 1931, 1934.

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§8

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§8 Verbindung von Maßnahmen und Jugendstrafe (1) 1Erziehungsmaßregeln und Zuchtmittel, ebenso mehrere Erziehungsmaßregeln oder mehrere Zuchtmittel können nebeneinander angeordnet werden. 2Mit der Anordnung von Hilfe zur Erziehung nach § 12 Nr. 2 darf Jugendarrest nicht verbunden werden. (2) 1Neben Jugendstrafe können nur Weisungen und Auflagen erteilt und die Erziehungsbeistandschaft angeordnet werden. 2Unter den Voraussetzungen des § 16a kann neben der Verhängung einer Jugendstrafe oder der Aussetzung ihrer Verhängung auch Jugendarrest angeordnet werden. 3Steht der Jugendliche unter Bewährungsaufsicht, so ruht eine gleichzeitig bestehende Erziehungsbeistandschaft bis zum Ablauf der Bewährungszeit. (3) 1Neben Erziehungsmaßregeln, Zuchtmitteln und Jugendstrafe kann auf die nach diesem Gesetz zulässigen Nebenstrafen und Nebenfolgen erkannt werden. 2Ein Fahrverbot darf die Dauer von drei Monaten nicht überschreiten. 1. Hw.-J: § 105 I; Rn 8 aE. – 2. ErwG: § 104 I Nr. 1; § 9, 8.

1 Regel ist, dass die verschiedenen Reaktionsmittel des JGG nebeneinander verhängt werden können (Abs. I 1, II, III). Erst dadurch kann oft der erz. beste Erfolg erzielt werden, bes. wenn sühnende und rein erz., zur Ordnung rufende mit länger erz. einwirkenden Maßnahmen gekoppelt werden. Auch kann eine Maßnahme erst die Voraussetzung schaffen und den Boden bereiten für eine andere, die allein keine Aussicht auf Erfolg bieten würde1. Allerdings darf der J nicht überfordert werden und gilt nicht der Grundsatz „umso mehr Reaktionsmittel, desto besser“2. Die Auflage der Schadenswiedergutmachung als selbstständiges Zuchtmittel gem. § 15 I Nr. 1 darf nach § 8 II 1 mit einer JStrafe auch dann kombiniert werden, wenn die Vollstreckung der JStrafe zur Bew. ausgesetzt wird und deshalb die inhaltsgleiche Auflage auch gem. § 23 I 2 als Nebenentscheidung infolge der Strafaussetzung erteilt werden könnte3. 2 Einige Kombinationen sind wegen unvereinbarer Zielsetzungen verboten, und zwar auch dann, wenn in einem Verfahren mehrere Taten abgeurteilt werden (§ 31 I 2): ErzBeistandschaft und Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2; – Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2 und JA (Abs. I 2); – Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2 und JStrafe (Abs. II); – JStrafe und Verwarnung (Abs. II)4. Bei den volljährigen Hw. können von den ErzMaßregeln nur Weisungen angeordnet werden. 3 Dieses Koppelungsverbot gilt nur für die gleichzeitige Verhängung. Der JRichter kann aber alle diese Maßnahmen nebeneinander bestehen lassen, wenn in verschiedenen Verfahren auf sie erkannt worden und das Nebeneinander erz. zweckmäßig ist (§§ 31 II, III, 66 I; vgl. § 31, 21), weil nicht verbunden werden muss5. Der JRichter kann auch auf JA (nicht auf JStrafe; vgl. § 53; der ErwRichter kann auch das: § 104 IV, § 53 RL 3) erkennen und dem Familiengericht daneben die Verhängung erz. Maßnahmen gem. § 53 überlassen, das dann auch Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2 anordnen darf, wenn das Verfahren gem. § 53 nicht nur der Umgehung des Koppelungsverbotes dient6. Denn die Übertragung nach § 53 entspricht der Anordnung von Weisun-

1 Grethlein NJW 57, 1462. 2 Krit. zur Koppelung von Sanktionen Eisenberg/Kölbel 2; für einen restriktiven Gebrauch von Kombinationsmöglichkeiten Ostendorf 7. 3 BGH NJW 22, 953; BeckOK-JGG/Putzke 6. 4 OLG Schleswig bei Döllel/Dreeßen SchlHA 04, 261. 5 BGH 10, 101. 6 Potrykus B 2. 104 https://doi.org/10.1515/9783110686401-010

Verbindung von Maßnahmen und Jugendstrafe

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gen (vgl. § 55, 41)7. Die Gewährung von Hilfe zur Erz. nach § 34 SGB VIII oder Maßnahmen des Familiengerichts hindern die Anwendung aller Reaktionsmittel des JStrafrechts nicht8. Zum nach Abs. II 2 zulässigen Einstiegsarrest s. § 16a, 1 ff. Über das gesetzliche Verbot hinaus ist die Kombination in folgenden Fällen meist unzweckmäßig: Weisungen und Auflagen neben Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2, da diese die umfassendere Maßnahme ist; – Verwarnung neben JA, da dieser die in der Verwarnung liegende Missbilligung in viel schärferer Form enthält; – ErzMaßregeln und Zuchtmittel neben vollstreckbarer JStrafe, da grds. erst deren Erfolg abgewartet werden sollte. Doch kann z.B. die Verpflichtung, den Schaden gutzumachen, neben JStrafe von 6 Monaten angebracht sein9. Der JRichter soll sich im gesetzlichen Rahmen von jedem Schematismus freihalten und nur darauf achten, was im Einzelfall geboten ist; er wird dabei immer wieder von allg. Grundsätzen abweichen müssen. Dies gilt bes. bei JStrafe, deren Vollstreckung ausgesetzt ist; zwar ist diese echte JStrafe (§ 21, 2), doch unterscheidet sie sich von der vollstreckten JStrafe nicht unbeträchtlich nach Anordnung, Bedeutung und Wirkung10. Die gem. Abs. II 3 ruhende ErzBeistandschaft lebt nach dem Ende der BewZeit wieder voll auf, wenn sie nicht inzwischen aufgehoben worden oder erloschen ist. Während die Verbindungsmöglichkeit bei Nebenstrafen und Nebenfolgen unbeschränkt ist (Abs. III), erwähnt das JGG die Koppelung der Maßregeln der Besserung und Sicherung nicht. Sie ist in § 72 StGB geregelt. Das Fahrverbot gemäß § 44 StGB ist auch im JStrafrecht zulässig (§ 6, 5). Durch das G zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 17.8.2017 ist das Fahrverbot auf alle Straftaten ausgeweitet worden.11 Während für das allg. Strafrecht eine Höchstdauer von sechs Monaten vorgesehen ist, wird das Fahrverbot im JStrafrecht durch den neuen § 8 III 2 auf drei Monate begrenzt. Bei der Verhängung eines Fahrverbots gegen J und Hw. für Straftaten außerhalb des Straßenverkehrs ist Vorsicht geboten, denn eine solche Sanktion könnte als ungerecht empfunden werden und Trotzreaktionen auslösen.

7 Abl. Ostendorf 6: „Trick“; DSS/Diemer 4; Bedenken gegen die Zweckmäßigkeit bei Eisenberg/Kölbel 13. 8 Potrykus B 2 letzter Abs.; Roestel Zbl. 67, 10; aA Heinen BewH 55/56, 233, wenn Fürsorgeerziehung [aF] allein oder ua wegen derselben Tat angeordnet ist. 9 Abl. Böhm JR 89, 298. 10 Jagusch JZ 53, 688; Grethlein NJW 57, 1463. 11 Siehe dazu den RegE v. 21.12.2016, BR-Drs. 79/16. 105

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Zweiter Abschnitt Erziehungsmaßregeln §9 Arten 1. 2.

Erziehungsmaßregeln sind die Erteilung von Weisungen, die Anordnung, Hilfe zur Erziehung im Sinne des § 12 in Anspruch zu nehmen.

1. Hw.-J: hinsichtlich Nr. 1: § 105 I. – 2. [Hw.]: hinsichtlich Nr. 2, 3: § 105 I. – 3. ErwG: Rn 9; § 104 I Nr. 1, IV. – 4. Sold. § 112a Nr. 1, 2; Rn 8.

Richtlinie zu § 9 Wegen der Eintragung in das Zentralregister und das Erziehungsregister wird auf § 5 Abs. 2 und § 60 Abs. 1 Nr. 2 BZRG hingewiesen.

1 JStAen und JGerichte haben bis 1990 – auch außerhalb der informellen Maßnahmen der §§ 45, 47 – deutlich vermehrt auf ErzMaßregeln erkannt. Sie verwirklichen den das JGG durchziehenden ErzGedanken auch damit, dass sie ambulante Maßnahmen, wo auch immer zu verantworten, vorziehen. So waren 1955 ErzMaßregeln bei 1126 = 2 % der nach JRecht Verurteilten die schwerste Maßnahme1 und 1990 bei 14.978 = 19 %2. Der Rückgang auf 7.352 = 14 % im Jahr 20203 beruht darauf, dass aufgrund des 1. JGGÄndG seit 1991 Arbeitsleistungen auch als Auflage verhängt werden können. Überwiegend werden ErzMaßregeln in Kombination mit Zuchtmitteln verhängt4. 2020 standen bei den Verurteilungen 21 % stationären Sanktionierungen 79 % ambulante Rechtsfolgen gegenüber5. 2 Die ErzMaßregeln führt § 9 abschließend auf. Bei Hw. sind hiervon nur Weisungen (Nr. 1) zulässig (§ 105 I), da sie volljährig sind. Auch das Familiengericht ist, wenn es nach § 53 tätig wird, an diesen Katalog gebunden (§ 53, 7), sonst dagegen nicht (§ 53, 9). – Den ErzMaßregeln sehr ähnlich ist die Ermahnung (§ 45 III). Andere Maßnahmen zur Erz. kann der JRichter nur nach § 3 S. 2 (Maßnahmen des Familiengerichts) oder im Rahmen der §§ 45, 47 („erz. Maßnahmen“) anordnen. – Zu Abgrenzungsfragen Rn 4 u. § 5, 5. 8. Wegen des Verhältnisses der ErzMaßregeln zu den familiengerichtlichen Maßnahmen des Bürgerlichen Rechts s. § 53, 9. 3 Die Anordnung von ErzMaßregeln setzt Schuldfähigkeit iSd der §§ 3 und 20 StGB voraus6. Dies ergibt sich aus § 3 S. 1 im Vergleich mit S. 2, der von Maßnahmen des Familiengerichts, nicht von ErzMaßregeln spricht, und aus § 5 I im Gegensatz zu „Verfehlung“ in § 1 I (§ 5, 5; § 1, 1)7. ErzMaßregeln werden aus Anlass der Straftat eines J angeordnet (§ 5 I). Daraus folgt: Sie 4 dienen der Erz. Deshalb müssen ErzBedürftigkeit und ErzFähigkeit für die ErzMaßregeln des JGG bestehen. Wolf8 betrachtet zu Unrecht beide nur als je ein anderes Wort „für das Ausreichen bzw. Nichtausreichen“ der ErzMaßregel. – Ein einmaliger Streich eines sonst integrierten J kann ErzMaßregeln idR nicht rechtfertigen, weil er der Erz. nicht bedürftig ist. – Die ErzMaßregeln des JGG müssen gerade bei diesem Täter Erfolg versprechen, sie müssen „ausreichen“ (§ 5 II); 1 2 3 4 5 6 7 8

Heinz MKrim. 87, 140. Berechnet nach Stat. BA 1990, S. 40 f. Berechnet nach Stat. BA 2020, S. 96 f. Heinz S. 41, 61. Berechnet nach Stat. BA, aaO, S. 318 ff. Eisenberg/Kölbel 6; Ostendorf 5. Dallinger/Lackner 12; Streng Rn 340; aA Potrykus B 5. S. 45. 106

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Arten

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so kann ein verwahrloster straffälliger J im Hinblick auf ErzMaßregeln nicht erzfähig, wohl aber erzbedürftig sein (vgl. § 17, 37). Die in Betracht kommende ErzMaßregel muss sowohl der ErzBedürftigkeit als auch der ErzFähigkeit dieses Täters entsprechen. ErzMaßregeln sind also nicht anzuordnen, wenn ErzBedürftigkeit nur für Weisungen oder ErzBeistandschaft gegeben ist, diese aber nicht ausreichen (also insoweit die ErzFähigkeit fehlt), oder wenn eine ErzFähigkeit hinsichtlich Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2 vorhanden wäre, diese jedoch nicht erforderlich ist (also insoweit die ErzBedürftigkeit fehlt). Ist eine erz. Einflussnahme wegen erkennbaren Widerstands des J nicht möglich, so darf eine ErzMaßregel nicht angeordnet werden (§ 10, 4, 38)9. – Auch wenn JStrafe wegen der Schwere der Schuld verhängt werden muss (§ 17 II), scheiden ErzMaßregeln meist aus. Die ErzMängel müssen in der Straftat ihren Ausdruck gefunden haben („aus Anlass der 5 Straftat“). Denn der JRichter erzieht nicht um der Erz. willen (Einf. 91). Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2 kann deshalb in JStrafverfahren weder gegen ein sexuell verwahrlostes Mädchen nach einer mit der Verwahrlosung nicht in Zusammenhang stehenden Fahrlässigkeitstat noch gegen einen desintegrierten J aus Anlass einer einfachen Verkehrsübertretung angeordnet werden10. Diese ErzMängel müssen mit ihnen angemessenen Mitteln behoben werden. Die ErzMaßregeln dienen nicht der Schuldvergeltung oder Sühne („aus Anlass der Straf- 6 tat“), sondern der Erz.11. Es ist deshalb unzulässig, ErzMaßregeln anzuordnen, um so die Tat zu sühnen. Das bedeutete aber nicht, dass die ErzMaßregeln keine sühnende Wirkung haben dürften12. Denn bei der Erz. kann die Tat, die für alle Rechtsfolgen des JGG eine bedeutsame Funktion hat13, nicht außer Acht gelassen werden, in der ja auch die ErzMängel zum Ausdruck gekommen sind. Es ist ein erz. Anliegen, dem Täter klarzumachen, was er angerichtet hat, und sein Verantwortungsgefühl zu schärfen (Einf. 89; zur Arbeitsweisung § 10, 15). Der Täter selbst wird die ErzMaßregel idR als Reaktion auf sein Fehlverhalten begreifen; denn nur um seiner Tat willen steht er vor Gericht und wird schuldig gesprochen. So tragen alle in § 10 I genannten Weisungen auch repressiven Charakter (Einf. 90), weil immer dem Täter unter Bezug auf die Tat Beschränkungen auferlegt werden. Auch Itzel14 hält nichts davon, auf einen „postulierten (straffreien) Charakter der Weisungen“ abzustellen. Vgl. auch § 23, 1. Solange der ErzGedanke der vorherrschende ist, die Auswahl um der Erz. willen und nicht um der Sühne willen erfolgt, steht eine mittelbare Sühnewirkung der Verhängung nicht im Wege, solange die angeordnete ErzMaßregel nicht außer Verhältnis zur geahndeten Tat steht (vgl. Einf. 91)15. Der zusätzliche Strafcharakter der Weisungen kann nicht geleugnet werden16. Die Beachtung des Sühnegedankens wird aus erz. Gründen auch bei den ErzMaßregeln sogar gefordert werden müssen (Einf. 91). – Wie es allerdings erz. vertretbar, ja geboten sein kann, von der Strafverfolgung überhaupt abzusehen (§§ 45, 47), können auch ErzMaßregeln ohne jeden repressiven Charakter angebracht sein, etwa die heilerz. Behandlung (§ 10 II; § 10, 36). Bei solchen Weisungen wird aber auch zu überlegen sein, ob nicht dem Gedanken der Schuldvergeltung im Interesse der Erz. durch die zusätzliche Verhängung von Zuchtmitteln Rechnung getragen werden sollte. Die Voraussetzungen, ErzMaßregeln anzuordnen, sind öfter gegeben als die Praxis an- 7 nimmt. Sie können wegen ihrer reichen Auswahl den Erfordernissen des Einzelfalles schon bei

9 Vgl. Ostendorf 6; Eisenberg/Kölbel § 5, 20 zählen ErzWilligkeit zu den Voraussetzungen. 10 Eisenberg/Kölbel 6; Blau MDR 58, 731 u. Zbl. 59, 117. 11 BVerfG NStZ 87, 275. 12 Ebenso Blau Zbl. 59, 121; Böhm/Feuerhelm S. 178, 179 f.; Eckert Zur systematischen Zuordnung jrechtlicher Interventionen, Diss. Köln 1978, S. 137; Miehe Die Bedeutung der Tat im Strafrecht, 1964, S. 45; auch Itzel S. 68 mwN FN 308, 317. Verkannt wird dies von Goebel NJW 54, 15; Ostendorf 6 u. Eisenberg JR 87, 487. 13 Hermann/Wild MKrim. 89, 16. 14 S. 87, 88. 15 Blau Zbl. 59, 116 ff; Itzel S. 60 mwN FN 256, 257. 16 Dallinger/Lackner 2; Potrykus B 1; § 10 B 1; Beulke/Swoboda Rn 304; Vins UJ 55, 97; Bietz ZRP 81, 213. 107

§ 10

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der Anordnung am besten angepasst und später bei veränderten erz. Situationen abgeändert werden (§ 11 II; § 10, 1). Bei Hw. sind von den ErzMaßregeln nur die Weisungen anwendbar; § 105 I, näher Einf. 94 zu BVerfGE 22, 180; § 12, 8; § 53, 1; § 105, 34; § 109, 5. Das ErwGericht kann die erforderlichen (§§ 5, 104 I Nr. 1) ErzMaßregeln nicht selbst anordnen, sondern muss Auswahl und Anordnung dem Familiengericht überlassen (§ 104 IV; § 53 RL 3 S. 1). Hält das ErwGericht jedoch gegen einen Hw. Weisungen für erforderlich, so muss es deren Anordnung und Auswahl dem JRichter überlassen, in dessen Bezirk sich der Hw. aufhält (§ 112 S. 1 u. 3; § 104, 10). Wegen der Urteilsformel § 54, 4; wegen des ErzRegisters § 60 I Nr. 2 BZRG. Zu den Hilfen zur Erz. nach dem SGB VIII insbes. § 10, 34; § 12; § 38, 10 u. 47; § 45, 28.

§ 10 Weisungen (1) 1Weisungen sind Gebote und Verbote, welche die Lebensführung des Jugendlichen regeln und dadurch seine Erziehung fördern und sichern sollen. 2Dabei dürfen an die Lebensführung des Jugendlichen keine unzumutbaren Anforderungen gestellt werden. 3 Der Richter kann dem Jugendlichen insbesondere auferlegen, 1. Weisungen zu befolgen, die sich auf den Aufenthaltsort beziehen, 2. bei einer Familie oder in einem Heim zu wohnen, 3. eine Ausbildungs- oder Arbeitsstelle anzunehmen, 4. Arbeitsleistungen zu erbringen, 5. sich der Betreuung und Aufsicht einer bestimmten Person (Betreuungshelfer) zu unterstellen, 6. an einem sozialen Trainingskurs teilzunehmen, 7. sich zu bemühen, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen (Täter-Opfer-Ausgleich), 8. den Verkehr mit bestimmten Personen oder den Besuch von Gast- oder Vergnügungsstätten zu unterlassen oder 9. an einem Verkehrsunterricht teilzunehmen. (2) 1Der Richter kann dem Jugendlichen auch mit Zustimmung des Erziehungsberechtigten und des gesetzlichen Vertreters auferlegen, sich einer heilerzieherischen Behandlung durch einen Sachverständigen oder einer Entziehungskur zu unterziehen. 2Hat der Jugendliche das sechzehnte Lebensjahr vollendet, so soll dies nur mit seinem Einverständnis geschehen. 1. Hw.-J: Rn 7; § 105 I. – 2. ErwG: §§ 104 I Nr. 1, IV; 112, S. 1, 3; § 9, 9. – 3. Sold. Rn 8; § 112a Nr. 3 S. 1; § 9, 8.

Richtlinien zu § 10 1.

2.

Die Lebensführung gestaltende Gebote sind Verboten im Allgemeinen vorzuziehen. Eine Weisung wird in der Regel besonders wirksam sein, wenn das auferlegte Verfahren in einem inneren Zusammenhang mit der Tat steht. Die Weisung, sich einem Betreuungshelfer zu unterstellen (§ 10 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5) wird auch im Hinblick auf die damit für den Jugendlichen verbundenen Belastungen und den personellen und zeitlichen Aufwand im Bereich der Jugendgerichtshilfe bei geringfügigen Verfehlungen* nicht in Betracht kommen. Gegenüber Jugendlichen wird die Maßnahme nur sinnvoll sein, wenn die Erziehungsberechtigten zustimmen. Kommt eine Anordnung der Maßnahme in Betracht, so empfiehlt es sich, frühzeitig mit der Jugendgerichtshilfe Verbindung

* Vgl. Anhang [= Abdruck von Kapitel III Sachgebiet C Abschnitt III 3 b) und c) der Anlage 1 zum Einigungsvertrag; siehe dazu § 1, 14]. 108 https://doi.org/10.1515/9783110686401-012

Weisungen

3.

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5. 6.

7. 8.

9.

§ 10

aufzunehmen. Auf § 38 Abs. 2 Satz 7 und § 38 Abs. 3 Satz 2 sowie die Richtlinien dazu wird hingewiesen. Die Person des Betreuungshelfers ist möglichst genau zu bezeichnen. Im Verfahren nach § 45 ist die Weisung nicht zulässig (vgl. § 45 Abs. 3 Satz 1). Auch bei der Weisung, an einem sozialen Trainingskurs teilzunehmen (§ 10 Abs. 1 Satz 3 Nr. 6), handelt es sich um eine verhältnismäßig aufwendige Maßnahme, die für den Jugendlichen je nach struktureller und zeitlicher Gestaltung der Kurse mit nicht unerheblichen Belastungen verbunden sein kann. Nr. 2 Satz 1, 3 und 6 gilt entsprechend. Die Weisung, an anderen Formen sozialer Gruppenarbeit teilzunehmen, wird durch § 10 Abs. 1 Satz 3 Nr. 6 nicht ausgeschlossen. Der Täter-Opfer-Ausgleich (§ 10 Abs. 1 Satz 3 Nr. 7) verdient im gesamten Verfahren Beachtung (vgl. § 45 Abs. 2 Satz 2, § 45 Abs. 3 Satz 1, auch in Verbindung mit § 47 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3, § 23 Abs. 1 Satz 1, § 29 Satz 2 und § 88 Abs. 6 Satz 1). Besondere Bedeutung kommt ihm in Verbindung mit dem Verfahren nach § 45 Abs. 2 zu. Nr. 2 Satz 3 gilt entsprechend. Er zielt darauf ab, bei dem Verletzten den immateriellen und materiellen Schaden auszugleichen und bei dem Jugendlichen einen Lernprozess einzuleiten. Hinsichtlich des Versicherungsschutzes bei Arbeitsleistungen wird auf § 540 RVO hingewiesen. Ist die Befolgung einer Weisung mit Kosten verbunden, sollte die Staatsanwaltschaft darauf hinwirken, dass vor Erteilung der Weisung geklärt wird, wer die Kosten trägt. Wenn der Jugendliche oder die Unterhaltspflichtigen die Kosten nicht aufbringen können, kann der Träger der Sozialhilfe oder eine andere Stelle als Kostenträger in Betracht kommen. Eine Verpflichtung dritter Stellen, die Kosten für die Durchführung einer Weisung nach § 10 Abs. 2 zu übernehmen, kann sich aus dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, dem Achten Buch Sozialgesetzbuch (§§ 91, 92 SGB VIII) und dem Bundessozialhilfegesetz (subsidiäre Krankenhilfe nach § 37 BSHG, Eingliederungshilfe nach § 39 BSHG nebst Eingliederungshilfe-VO, Gefährdetenhilfe nach § 72 BSHG) ergeben. Bei Zuständigkeitsüberschneidungen kann durch das Zusammenwirken der in Betracht kommenden Kostenträger sichergestellt werden, dass keine Lücken in der Kostenträgerschaft entstehen (z.B. bei kombinierten Behandlungsmethoden). Vor der Erteilung von Weisungen sind die Vertreter der Jugendgerichtshilfe zu hören (§ 38 Abs. 3 Satz 3). Die Staatsanwaltschaft wirkt darauf hin, dass das Gericht den Jugendlichen über die Bedeutung der Weisungen und Folgen schuldhafter Zuwiderhandlung (§ 11 Abs. 3 Satz 1) belehrt und diese Belehrung in der Niederschrift über die Hauptverhandlung vermerkt oder sonst aktenkundig gemacht wird. Bevor Jugendlichen die Weisung erteilt wird, sich einer heilerzieherischen Behandlung oder einer Entziehungskur zu unterziehen, wird es in der Regel notwendig sein, einen Sachverständigen gutachterlich zu hören.

Schrifttum Zu Weisungen allg.: BAG für ambulante Maßnahmen nach dem JRecht in der DVJJ, Hrsg., Neue Ambulante Maßnahmen. Grundlagen – Hintergründe – Praxis, 2000; BMJ, Hrsg., JStrafrechtsreform durch die Praxis. Konstanzer Symposium, 1989; Bareis Verstößt § 36a I SGB VIII gegen die richterliche Unabhängigkeit? ZJJ 06, 11; Beulke § 36a SGB VIII u. seine Auswirkungen auf die Sanktionspraxis der JGerichte, FS Kreuzer, 2. Aufl. 2009, S. 62; Brakhage/ Drewniak „Sonst wäre ich im Knast gelandet …“ Die ambulanten Maßnahmen aus der Perspektive der betroffenen J, 1999; Brandt Zukunft ambulanter jstrafrechtlicher Maßnahmen vor dem Hintergrund von § 36a SGB VIII, NStZ 97, 190; Breiholt Zulässigkeitsgrenzen strafrechtl. BewAuflagen, Diss. Hamburg 1966; Bruns Rechtsgrundlage u. Zulässigkeitsgrenzen strafrichterlicher Auflagen u. Weisungen, GA 59, 191; ders. Zur rechtsdogmatischen Problematik strafrichterlicher Auflagen, NJW 59, 1391; Çağlar Neue ambulante Maßnahmen in der Reform, 2005; Coskun Kommunikation u. Kooperation durch fachliche Konfrontation zwischen J(gerichts)hilfe u. Justiz in Verfahren nach dem JGG, 2013; DVJJ-BW, Hrsg, Auffällig Kinder u. J im Spannungsfeld zwischen Erlebnispädagogik, geschlossener Unterbringung u. Therapie, 2000; Drewniak Ambulante Maßnahmen für j Straffällige, 1996; dies. Wirkungsorientierte JHilfe: Konzeptionelle Anforderungen an die ambulanten Maßnahmen für junge – so genannte – Intensivtäter, ZJJ 07, 273; dies. Ambulante Maßnahmen im JStrafrecht – Bestandsaufnahme u. Perspektiven, in DVJJ-BW, Hrsg., Ambulante Maßnahmen u. BewHilfe im JKriminalrecht, 2010, S. 21; Dünkel/Geng/Kirstein Soziale Trainingskurse u. andere ambulante Maßnahmen nach dem JGG in Deutschland, 1998; Gleumes Die Praxis der „Erz. in Freiheit“, 1961; Göbel Grenzen jgerichtlicher Weisungen, NJW 54, 15; Goerdeler Der Bundesrat verabschiedet das G zur Weiterentwicklung der Kinder- und JHilfe (KICK), ZJJ 05, 315; ders. The never ending story: das Verhältnis von JHilfe u. Justiz im JStrafrecht, ZJJ 06, 4; Grasnick Die verfassungsmäßigen Schranken der Auflagen nach § 24 StGB, NJW 59, 1999; Hofbauer Die jstrafrechtlichen Weisungen u. ihre verfassungsrechtlichen Zulässigkeitsgrenzen, Diss. Würzburg 1966; Holzschuh Auflagen u. Weisungen im JStrRecht, JWohl 52, 157; Hoops/Permien Die Ambulante Intensive Begleitung (AIB) – Kurzzeit-Krisenintervention mit Dauererfolg? ZJJ 03, 145; dies. Evaluation des Pilotprojekts Ambulante Intensive Begleitung (AIB), 2003; Knögel Jugend, JRichter u. JKriminalität, NJW 58, 609; Königschulte Die Kompetenzverteilung zwischen Justiz und JHilfe bei Entscheidungen zu erz. ambulanten Maßnahmen im JGG, insb. § 10 109

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JGG, 2017; dies. Anordnungs- oder Steuerungskompetenz? – Ein noch immer ungelöster Konflikt, ZJJ 18, 36; Körner Wirksamkeit ambulanter Arbeit mit delinquenten J, ZJJ 06, 267; dazu ZJJ 06, 275, 307; ZJJ 07, 78; Körner/Jaletzke/ Jokschies „Denkzeit“. Ein sozialkognitives Einzeltraining mit delinquenten J, DVJJ-J 02, 60; Kremer Der Einfluß des Elternrechts auf die Maßnahmen des JGG, Diss. Mainz 1985; Kunkel Steuerungsverantwortung des JAmtes – § 36a SGB VIII – u. eventuelle Auswirkungen auf das JStrafverfahren, ZJJ 06, 311; Lobinger Kostentragung u. Anordnungskompetenz im Verhältnis von Justiz u. JHilfe, 2015; Maelicke Ambulante Alternativen zum JA u. JStrafvollzug, 1988; Miehe Verfassungsrechtliche Grenzen jrichterlicher Weisungen, in Schöch, Hrsg., Wiedergutmachung u. Strafrecht, 1987, S. 112; Meißner Vom Aufbau zum Rückbau – ambulante sozialpädagogische Maßnahmen u. ihr Stellenwert in der JKriminalrechtspflege, ZJJ 04, 124; Mollik Jenseits von Arbeitsstunden – phantasievolle Überlegungen über „sinnvolle erz. Maßnahmen“, ZJJ 06, 71; ders. „Lesen statt Fragen“ – Der „Dresdner-Bücher-Kanon“, ZJJ 07, 301; Mrozynski Zur Problematik strafrechtlicher Weisungen, JR 83, 397; ders. Kinder- u. jhilferechtliche Fragen jstrafrechtlicher ErzMaßregeln, Zbl. 92, 445; Musiol/Nalbach Naikan u. Kunsttherapie in den Neuen Ambulanten Maßnahmen der Brücke Dachau e. V. ZJJ 10, 312; Neßeler Finanzielle Begleitkosten ambulanter jstrafrechtlicher Sanktionen, ZJJ 19, Niedersächsischer Minister der Justiz, Hrsg., Neue ambulante Maßnahmen nach § 10 JGG in Niedersachsen, 2. Aufl. 1986; Ostendorf JHilfe u. Justiz. Organisationsbedingungen einer Gesamtverantwortung, ZJJ 06, 155; Pätzold § 36a SGB VIII u. die Folgen, ZJJ 09, 238; Potrykus Theorie und Praxis der Erz. in Freiheit, UJ 54, 437 (vgl. auch NJW 58, 821); Prelinger/Pentz Bewährungsauflagen u. Grundgesetz, JR 61, 496 u. 62, 99; Rebbe Die Möglichkeiten der Ausgestaltung jrichterlicher Weisungen, Zbl. 83, 347; Scheunemann Die Bedeutung freier Träger für ambulante Maßnahmen in der JStrafrechtspflege, 1998; Schnitzerling Die jrichterl. Weisungen gegenüber Verkehrsdelinquenten, DAR 56, 124; ders. Jugendrichterliche Weisungen u. Zuchtmittel in der Rechtsprechung, Zbl. 66, 66; Scholz Was kann, was darf die Justiz von Ambulanten Maßnahmen erwarten?, in DVJJ, Hrsg., Verantwortung für Jugend, 2006, S. 267; Schwer Die Stellung der ErzBerechtigten u. gesetzlichen Vertreter im JStrafverfahren, 2004; Sommerfeld Finanzierungsnotstand der ambulanten Maßnahmen mit der Folge vermehrten Freiheitsentzugs? ZJJ 05, 295; ders. Wer steuert, wer zahlt, wer ist verantwortlich? – Kooperation JHilfe u. Justiz, in DVJJ, Hrsg., Fördern Fordern Fallenlassen, 2008, S. 195; Strafrechtsausschuss der Justizministerkonferenz, Auswirkungen des § 36a SGB VIII auf die jstrafrechtliche Sanktionspraxis, ZJJ 07, 439; Stree Deliktsfolgen u. GG, 1960; Synowiec Wirkung u. Effizienz der ambulanten Maßnahmen des JStrafrechts, 1999; Trenczek Strafe, Erz. oder Hilfe? 1996; ders. JGH: Aufgaben u. Steuerungsverantwortung, ZJJ 07, 31; ders. Steuerungsverantwortung für Leistungen der JHilfe im JStrafverfahren, in DVJJ, Hrsg., Fördern Fordern Fallenlassen, 2008, S. 174; Trenczek/Drewniak Qualitätsstandards in den Neuen Ambulanten Maßnahmen, ZJJ 03, 189; Vins Weisungen u. Pflichten. Von den Grenzen richterl. Freiheit u. Verantwortung, UJ 55, 97; Wedler Weisungen nach § 10 I JGG u. elterliches ErzRecht, 2011; dies. Die Erteilung von Weisungen nach § 10 I JGG gegen den Willen der Eltern, NStZ 2013, 293; Winter Verfassungsrechtliche Grenzen jrichterl. ErzMaßregeln u. Zuchtmittel, Diss. Hamburg 1966. Arbeitsweisung: Brunner Bemerkungen zur Entscheidung des BVerfG v. 13.1.1987, Zbl. 87, 257; Feuerhelm Stellung u. Ausgestaltung der gemeinnützigen Arbeit im Strafrecht, 1997; Fock/Schefold Arbeitsleistungen im JStrafrecht. Ein ambulanter „Klassiker“ auf dem Prüfstand, ZJJ 16, 71; Franzen Arbeitsstunden nach dem JGG, ZJJ 18, 43; Hönicke Arbeitszwang als Kriminalrechtsreaktion, 1999; Höynck Arbeitsweisungen u. Arbeitsauflagen im JStrafrecht – Massenprodukt ohne klare Konturen, FS Ostendorf, 2015, S. 451; Kremerskothen Arbeitsweisungen u. Arbeitsauflagen im JStrafrecht, 2001; Petrow Projekte zur Umsetzung begleiteter Arbeitsleistungen, ZJJ 12, 442; Preis Verfassungsmäßigkeit strafrechtlicher Arbeitsauflagen, BewH 90, 159; Ruf Gemeinnützige Arbeit als Sanktion im JStrafrecht, DVJJ-J 01, 63; Seiwert Pädagogische Angebote für Sozialstundenleistende – Das Projekt PASST, ZJJ 14, 288; Trenczek JStrafrechtliche Arbeitsleistungen – Grenzen der Zulässigkeit u. Beteiligung der JHilfe, ZJJ 04, 57. Betreuungsweisung: Gerhardt/Vögele Die Betreuungsweisung nach § 10 JGG, Zbl. 79, 371; Matenaer Betreuungsweisung nach § 10 JGG, Zbl. 84, 281; Schaar Die Bedeutung der Betreuungsanweisung gem. § 10 JGG, Zbl. 87, 18. Sozialer Trainingskurs: Behn/Bindel-Kögel Von der Mode zur Methode? Kritische Überlegungen zur Qualität von Anti-Gewalt-Trainings, UJ 08, 356; Bizer Kostentragungspflicht für die jrichterliche Weisung, einen Sozialen Trainingskurs zu besuchen, Zbl. 92, 616; dazu Mayer Zbl. 93, 188; Busch/Hartmann/Mehlich Soziale Trainingskurse im Rahmen des JGG, 3. Aufl. 1986; Cosmai/Hein Anti-Aggressivitäts-Training mit j. Gewalttätern, BewH 06, 396; DeisRedecker/Dölker/Mangelsdorf Gruppenprozess u. ästhetische Bildung – Herausforderung an delinquente J, ZJJ 07, 202; C. Dreßing Das Anti-Aggressivitätstraining als Maßnahme der JHilfe u. JStrafrechtspflege, 2016; Dünkel/Geng/ Kirstein Soziale Trainingskurse u. andere ambulante Maßnahmen nach dem JGG in Deutschland, 1998; Frey ua JArbeit mit Straffälligen. Theorie u. Praxis des sozialen Trainings, 1997; Fröhlich-Gildhoff/Beuter Anti-Gewalt-Trainings mit Mädchen – Erfahrungen mit einem geschlechtsspezifischen Angebot, UJ 08, 361; Gehring-Decker/Pfleger/ Steingen Erfahrungsbericht des ersten Anti-Aggressivitätstrainings mit Mädchen bei der JGH der AWO Köln, ZJJ 06, 57; Hein Rechtliche Grenzen von Anti-Aggressivitäts-Trainings, 2007; Hirtenlehner/Hiebinger Rückfallergebnisse eines gruppenorientierten Antigewalttrainings in der Bewährungshilfe – Befunde aus Österreich, ZJJ 13, 57; Hofmann

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Soziale Trainingskurse als ambulante Maßnahmen im Rahmen des JStrafverfahrens, 2014; Höynck/Ohlemacher/ Sögding/Ethé/Welte Anti-Aggressivitäts-Training u. Legalbewährung, RdJ 04, 540; Kempf Der soziale Trainingskurs u. seine rechtliche Einordnung, 2014; Kraus/Rolinski Rückfall nach Sozialem Training, MKrim. 92, 32; Marx/Marx Anti-Gewalt-Training des Sozialen Dienstes der Justiz u. der JVA Magdeburg, BewH 06, 386; Matt Anti-Gewalt-Training für Mädchen u. junge Frauen, ZJJ 09, 246; Mücke/Korn/Heitmann Gewalt verlernen – ohne Demütigung: Das Antigewalt- u. Kompetenztraining (AKT), UJ 08, 389; Palloks Cool sein auf Kommando? Konfrontative Pädagogik in der Praxis, UJ 06, 158; Piel/Schmitt Anti-Aggressionstraining der JGH des JAmtes Düsseldorf, Zbl. 01, 291; Plank Übungs- u. Erfahrungskurse in der JGH, Kriminalpäd. Praxis 83, 23; Plewig Neue deutsche Härte – Die „Konfrontative Pädagogik“ auf dem Prüfstand, ZJJ 07, 363, ZJJ 08, 52; dazu Heyder ZJJ 08, 183; Reinecke/Fuchs „ErzKurse“ RdJ 83, 359; Rempe Erfahrungsbericht über „Soziale Gruppenarbeit“ der JGH Düsseldorf, Zbl. 95, 366; Roggmann/Ebel Arbeits- u. Begegnungscamp in Russland, ZJJ 03, 277; Röskens Tatkonfrontation: Keine neue deutsche Härte, sondern sozialpädagogische Notwendigkeit – Zum „heißen Stuhl“, ZJJ 08, 279; Rzepka Anti-Aggressivitäts-Training – Anmerkungen aus verfassungsrechtlicher u. kriminologischer Sicht, UJ 04, 126; Schanzenbächer Anti-Aggressivitätstraining für Gewalttäter, 1993; Schawohl Konfrontation provoziert prosoziales Verhalten, ZJJ 03, 271; ders. Sprich mit ihnen – von Mensch zu Mensch! UJ 04, 99; Sellinger/Stiels-Glenn/Witt Konfrontative Trainings zur Gewaltprävention unwirksam, aber erfolgreich? BewH 08, 288; dies. Konfrontative Trainings zur Gewaltprävention, BewH 09, 58; Streib-Brzic/Schäfer Gender inklusive – der geschlechtsbewusste Ansatz im TESYA – Trainingskonzept zum Umgang mit Aggressionen, UJ 08, 382; Toprak Der heiße Stuhl – eine konfrontative Methode im Aufwind? Erfahrungswerte mit männlichen J aus dem türkischen Kulturkreis, DVJJ-J 02, 67; van Rennings Begleitforschungsprojekt zu sozialen Trainingskursen für j. Gewalttäter in Hamburg, DVJJ-J 03, 46; Weidner Anti-Aggressivitätstraining für Gewalttäter, 1993; Wellhöfer Soziale Trainingskurse u. JA. Versuch einer vergleichenden Erfolgskontrolle, MKrim. 95, 42. Täter-Opfer-Ausgleich: Bannenberg Wiedergutmachung in der Strafrechtspraxis, 1993; Bindel-Kögel/Karliczek TOA als Chance für die Opfer von Gewalttaten, BewH 15, 65; Böttcher Täter-Opfer-Ausgleich, BewH 94, 45; Bunar Täter-Opfer-Ausgleich im JStrafrecht der Bundesrepublik Deutschland – Ein Überblick, DVJJ-J 96, 372; BMJ, Hrsg., Täter-Opfer-Ausgleich. Bonner Symposium, 1991; DVJJ-BW, Hrsg., Täter-Opfer-Ausgleich u. JStrafrechtspflege, 1993; Dölling Der Täter-Opfer-Ausgleich, JZ 92, 493; ders. Täter-Opfer-Ausgleich im JStrafverfahren – Ein Überblick über den Stand der Forschung, in DVJJ-Regionalgruppe Nordbayern, 25 Jahre DVJJ Nordbayern – Opferorientierung im JStrafrecht – Resozialisierung in Zeiten von Arbeitslosigkeit u. Sozialabbau, 2007, S. 33; Dölling ua Täter-Opfer-Ausgleich in Deutschland, 1998; Dölling/Hartmann/Traulsen Legalbewährung nach Täter-Opfer-Ausgleich im JStrafrecht, MKrim. 02, 185; Drenkhahn Möglichkeiten u. Herausforderungen von Restorative-Justice-Maßnahmen im JStrafrecht, in BMJ, Hrsg., Berliner Symposium zum JKriminalrecht u. seiner Praxis, 2017, S. 43; Driebold Täter-OpferAusgleich – eine Alternative? BewH 95, 82; Hartmann Schlichten oder Richten, 1995; Hartmann/Schmidt/Settels/ Kerner Täter-Opfer-Ausgleich in Deutschland. Auswertung der bundesweiten TOA-Statistik für die Jahrgänge 2019 u. 2020, 2021; v. Hasseln Vom Fremdenhass zur Toleranz – Interkultureller Täter-Opfer-Ausgleich, NJ 02, 182; Helmken Plädoyer für die flächendeckende Einrichtung von Opferfonds, ZJJ 09, 50; Kerner ua Täter-Opfer-Ausgleich im JStrafrecht, BewH 90, 169; Kerner ua, Hrsg., Täter-Opfer-Ausgleich – auf dem Weg zur bundesweiten Anwendung? 1994; Kerner/Belakouzova Zur Praxis des Täter-Opfer-Ausgleichs in Deutschland, ZJJ 20, 232; Keudel Die Effizienz des Täter-Opfer-Ausgleichs, 2000; Kriechbaum Täter-Opfer-Ausgleich mit J in Baden-Württemberg, 2008; Kuhn ua „TatSachen“ als Konflikt, 1989; Matt Mediation statt Strafrecht? DVJJ-J 99, 44; Meier Der Täter-Opfer-Ausgleich vor dem Aus? ZJJ 06, 261; Müller-Dietz Täter-Opfer-Ausgleich (TOA) in der Bundesrepublik Deutschland, BewH 92, 153; Netzig/Wandrey „Was ist drin, wenn TOA draufsteht?“ DVJJ-J 96, 6; Schimmel Täter-Opfer-Ausgleich als Alternative? 2000; Schöch Täter-Opfer-Ausgleich im JRecht, RdJ 99, 278; Schreckling Täter-Opfer-Ausgleich nach JStraftaten in Köln, 2. Aufl. 1991; Schreckling ua Bestandsaufnahme zur Praxis des Täter-Opfer-Ausgleichs in der Bundesrepublik Deutschland, 1991; Taubner Entsteht Einsicht im Täter-Opfer-Ausgleich?, MKrim. 08, 281; Wölfl Mediation im JStrafrecht, Zbl. 03, 266; Wopperer Täter-Opfer-Ausgleich u. Schadenswiedergutmachung im JStrafrecht, 2013. Verkehrsunterricht: Bußmann/Gerhardt Die Nachschulung alkoholauffälliger Kraftfahrer als Weisung nach dem JRecht, BA 84, 117; dies. Der Alkoholverkehrstäter in der jrichterlichen Praxis, BA 84, 199; dies. Legalbew. junger Alkoholverkehrstäter, BA 84, 21; Thomson Verkehrserziehungskurse im Rahmen der JGH, DVJJ-J 99, 425. Heilerzieherische Behandlung: Aichhorn Verwahrloste Jugend, 1965; Bittner Psychotherapie für Kriminelle, BewH 60, 274; Demski Psychotherapeutische Behandlung als BewAuflage, NJW 59, 2100; Dührsen Psychotherapie bei Rechtsbrechern aus der Sicht des Psychiaters, NJW 61, 245; Engstler Die heilerz. Behandlung gem. § 10 II JGG in der jstrafrechtlichen Praxis, Diss. Göttingen 1985; u. MKrim. 88, 1; Hartmann Heilpädagogische Psychiatrie in Stichworten, 1986; Krüger Die psychotherapeutische Behandlung als Auflage im Deutschen Strafrecht, Diss. Freiburg 1964; Künzel JKriminalität u. Verwahrlosung, 5. Aufl. 1976; Minzel Praxis-Kinderpsychologie 1973, 131 ff; Mückenberger Die heilerz. Behandlung nach § 10 II JGG, Diss. Hamburg 1970; ders. Die Praxis der heilerz. Behandlung nach § 10 II JGG, MKrim. 71, 292; Pfeiffer Erfahrungsbericht über richterlich angeordnete heilerz. Behandlung iSd

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§ 10 II JGG, MKrim. 60, 162; Pielmaier Verhaltenstherapie bei delinquenten J, 1979; Seeger Therapeutischer u. pädagogischer Umgang mit dissozialen J, in Deutsche Akademie für medizinische Forschung Kassel, Hrsg., JKriminalität u. Resozialisierung, 1975, S. 67; Strasser Strafe u. Psychotherapie, BewH 60, 91; Stutte Indikation u. Möglichkeiten heilerz. Behandlung bei jungen Straffälligen, RdJ 59, 37; ders. Zur Frage der heilerz. Behandlung iSv § 10 II des JGG, MKrim. 56, 103; Thomann Psychotherapeutische Behandlung von Straffälligen, BewH 61, 330; Wendt Die Möglichkeiten u. Grenzen psychotherapeutischer Behandlung von erw. u. j. Rechtsbrechern, MKrim. 57, 193. Entziehungskur: Ladewig/Graw Entwicklungstendenzen Drogenabhängiger, 1985; Täschner/Bloching/Bühringer/Wiesbeck Therapie der Drogenabhängigkeit, 2. Aufl. 2010; Waldmann ua Therapeutische Prinzipien bei j. Drogenabhängigen, in Waldmann/Zander Zur Therapie der Drogenabhängigkeit, 1975, S. 36.

Übersicht Vorbemerkungen 1 1. Voraussetzungen, Gestaltung und Aus2 wahl 9 2. Grenzen 11 3. Beispiele und Einzelheiten 36 4. Heilerzieherische Behandlung

5. 6. 7. 8. 9.

Entziehungskur 40 44 Ungehorsamsfolgen 45 Überwachung Versicherungsschutz und Kosten der Durchfüh46 rung 49 Weisungen bei Drogentätern

Vorbemerkungen 1 Das Gesetz spricht zwar immer von bestimmten Weisungen, die angeordnet werden. Da aber jede Weisung aus Gründen der Erz. nachträglich geändert und durch eine andere ersetzt werden kann (§ 11 II), bedeutet die Anordnung einer Weisung nichts Endgültiges. Vielmehr wird nur ausgesprochen, dass der J durch Weisungen allg. erz. gefördert werden soll, wobei dieses Ziel zunächst durch die im Urteil ausgesprochene Weisung angestrebt wird. Erweist sich später eine andere Weisung als erz. günstiger, wird sie an Stelle jener angeordnet. Der Richter behält also freie Hand, wenn er auf Weisungen erkennt. Es kann zweckmäßig sein, das bereits im Urteilsspruch zum Ausdruck zu bringen, etwa durch folgende Fassung „… Zu seiner Erz. werden Weisungen angeordnet. Zunächst wird ihm die Weisung erteilt …“.1 Über die Grenzen der Abänderbarkeit § 11, 2.

1. Voraussetzungen, Gestaltung und Auswahl 2 Im Gegensatz zu den anderen Unrechtsreaktionen des JGG, die gesetzlich genau festgelegt und ausgestaltet sind, ist die Art und Ausgestaltung der Weisungen dem JGericht überlassen, das dabei im Rahmen des § 10 frei ist. Gebote und Verbote im JGerichtsurteil, die nicht in anderen Bestimmungen des JGG aufgeführt sind, sind immer zulässig, wenn sie die Voraussetzungen und Grenzen des § 10 einhalten. 3 Ambulante Maßnahmen haben nach starkem Anwachsen in den letzten Jahren in Deutschland eine weite Verbreitung gefunden2. In einem beträchtlichen Teil der JAmtsbezirke fehlt allerdings noch ein hinreichend differenziertes, sorgfältig konzipiertes, institutionell und finanziell abgesichertes kontinuierliches Angebot3. Um das erforderliche breite Angebot zu gewährleisten, kann sich der Zusammenschluss benachbarter JGerichtshilfen zu einer Arbeitsgemeinschaft emp1 Grethlein S. 168. 2 Vgl. Dünkel/Geng/Kirstein Soziale Trainingskurse u. andere neue ambulante Maßnahmen nach dem JGG in Deutschland, 1998; dies. DVJJ-J 99, 170. 3 Dünkel/Geng/Kirstein aaO. 112

Weisungen

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fehlen4. Notwendig ist weiterhin die Entwicklung und Verwirklichung von Qualitätsstandards für ambulante Maßnahmen5. Wandel und Bedeutung der Weisungen zeigen sich ua darin, dass 1955 von den nach JGG Verurteilten 5.067 (= 10 % aller Verurteilten) eine Weisung erhielten und die entsprechende Zahl 1985 49.655 (= 42 % aller Verurteilten) betrug6. 2020 wurden bei 23.046 Verurteilten (= 45 % aller Verurteilten) Weisungen erteilt7. Das waren 99 % aller ErzMaßregeln. Weisungen können angeordnet werden, wenn der Täter schuldfähig, erzbedürftig und 4 erzfähig ist (§ 9, 4). Sie müssen dazu bestimmt und geeignet sein, die Lebensführung allg. oder in einzelnen Bereichen zu regeln, dadurch die Erz. zu fördern und dürfen nicht nur der Wiedergutmachung oder Sühne dienen (näher § 9, 6, auch Einf. 91). Weisungen dürfen auch nicht im Wesentlichen auf den Schutz der Allgemeinheit abgestellt werden, sondern müssen der Erz. dienen8. Die Weisung, Deuschland zu verlassen, ist daher unzulässig9, ebenso ein Einreiseverbot10. Die Weisung muss geeignet sein (also nicht gegen den Widerstand des J, vgl. § 9, 4)11, notwendig sein, dh geringfügigere Eingriffe dürfen nicht ausreichen, und schließlich muss sie angemessen sein, dh ambulante (sozialpädagogische) Maßnahmen dürfen dem J nicht die Selbständigkeit nehmen und nicht in Überbetreuung ausarten12. Die Einflussnahme braucht jedoch nicht bes. gewichtig oder von längerer Dauer zu sein (vgl. Arbeitsleistungen, Verkehrsunterricht). – Die Weisungen müssen mit den Kräften des Täters ausgeführt werden können und in einem angemessenen Verhältnis zur Tat stehen (§ 9, 6), sinnvoll und einleuchtend sein und das Ehrgefühl des J schonen. Weisungen sind kein Bewährungsfeld für filmnahe Husarenritte in die Pädagogik (Einf. 88 aE). Sie sollen die Persönlichkeit des J berücksichtigen und, soweit dies zwanglos möglich ist, eine ungekünstelte Beziehung zur Tat herstellen (RL 1 S. 2, dazu aber auch die Warnung Rn 5). Nur dann nimmt sie der J mit der für den erz. Erfolg notwendigen Bereitschaft auf sich. Die Weisungen müssen auf die Lösung der spezifischen Probleme ausgerichtet sein, die mit der Delinquenz des J im Zusammenhang stehen. – Sie müssen klar und bestimmt (Rn 16; § 11, 8)13, durchführbar und vor allem zu überwachen sein. Deshalb wurde zur Recht das problematische Verbot, geistige Getränke zu genießen oder zu rauchen, gestrichen (alte Nr. 6; zum Alkoholgenuss vgl. auch Rn 10). Gerade die Möglichkeit der Überwachung ist wichtig. Bedenklich sind generelle Weisungen, etwa, den Anforderungen der JGH oder anderer Personen nachzukommen, denn das JGericht darf das ihm vom Gesetzgeber überantwortete Recht, Weisungen zu erteilen, nicht übertragen. Zur wichtigen Betreuungsweisung Rn 19. Zur Dauer der Weisung § 11, 1. „Altväterliche“ Weisungen, wie ein Besinnungsaufsatz ua, kommen bei J nicht an14 und können J mit Bildungsnachteilen überfordern15 (vgl. auch Rn 10). Komplizierte oder psychologisch ungeschickte oder die Tat stupide oder nahezu hämisch 5 abspiegelnde Weisungen sind bedenklich; gesuchte Originalität findet bei J kein Verständnis. Die Ausgestaltung der Weisungen und die – vom Richter ggf. initiierte oder überwachte – Durchführung der Weisung können und sollen den ErzEffekt wahren, vielleicht auch steigern. Bei vielen Weisungen hat es sich in der Praxis bewährt, dem J zusätzlich ins Einzelne gehende 4 Brings DVJJ-J 98, 55. 5 Vgl. dazu die „Mindeststandards“ in BAG für ambulante Maßnahmen nach dem JRecht, Hrsg., Neue Ambulante Maßnahmen, 2000 S. 407 ff; Göppner DVJJ-J 00, 277; Kessel DVJJ-J 00, 373.

6 Berechnet nach Stat.BA, Die Abgeurteilten u. Verurteilten 1955, S. 46, 124 f, 148 f; Stat. BA, Strafverfolgung 1985, S. 98 f.

7 Stat. BA, S. 346 f, einschließlich neue Bundesländer. 8 OLG München StV 18, 359. 9 AaO. 10 LG Aachen StV 19, 481. 11 Siehe Ostendorf § 9, 6. 12 Vgl. dazu Ostendorf 7. 13 BGH B NStZ-RR 01, 321. 14 Ebenso Ostendorf 23. 15 Eisenberg/Kölbel 40. 113

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Anweisungen schriftlich in die Hand zu geben, denen zugleich die Belehrung über den Ungehorsamsarrest beigefügt wird16 (vgl. Rn 12; § 11, 8). 6 Weisungen greifen in das ErzRecht der Eltern nach Art. 6 II 1 GG ein. Eine Zustimung der Eltern zu den Weisungen ist aber nicht erforderlich, denn die Verhängung von Weisungen ist durch das staatliche Wächteramt nach Art. 6 II 2 GG und die verfassungsrechtliche Aufgabe des Staates, eine wirksame Strafrechtspflege zu gewährleisten, gerechtfertigt17. Das elterliche ErzRecht und die Überlegung, dass gegen den Willen der Eltern verhängte Weisungen häufig keinen Erfolg versprechen werden, gebieten es jedoch, Weisungen möglichst im Einverständnis mit den Eltern zu verhängen (Rn 44). Ist eine Weisung jedoch zur Rückfallverhinderung geboten, darf sie notfalls auch gegen den Willen der Eltern verhängt werden18. Für die Auswahl spielen eine große Rolle das Alter und der Entwicklungsstand zZ der 7 Aburteilung. Ist der Täter inzwischen erw. (s. § 105, 35), sind Weisungen, die vorwiegend die Erz. des noch in der Entwicklung stehenden J im Auge haben, bes. auf ihre Brauchbarkeit zu prüfen. Die volljährigen Hw. (Einf. 94) dürfen nicht zum Objekt kindlicher Erz. gemacht werden. Ein „Besinnungsaufsatz“ etwa würde wirkungslos bleiben, da ihn der Hw. als „Kinderei“ empfindet, darüber hinaus wegen der Volljährigkeit auch rechtlich unzulässig sein19. Eisenberg/Kölbel20 nehmen bei offensichtlich ungeeigneten Weisungen Ermessensmissbrauch des Richters an. Es wird sehr auf den Einzelfall ankommen. Bejaht man Ermessensmissbrauch, so würde die Rechtsmittelbeschränkung ausgeschaltet sein (vgl. § 55, 21)21. Es kommen hier vor allem Maßnahmen in Betracht, wie sie gegen Erw. als BewWeisungen verhängt werden (§ 56c II StGB), z.B. Beschränkungen hinsichtlich des Aufenthalts, der Benutzung eines Kfz und der Verwendung des Einkommens, Erfüllung der Unterhaltspflicht, Übernahme einer ständigen Arbeit, Unterstellung unter einen Betreuungshelfer (Rn 19), Teilnahme an einem Verkehrsunterricht. Es muss vermieden werden, dass Hw. durch Weisungen, die sie als unangemessen, als einen nicht mehr altersentsprechenden Eingriff empfinden, in Opposition getrieben werden. Bei Soldaten sind die Besonderheiten des Wehrdienstes zu berücksichtigen (§ 112a Nr. 3 8 S. 1). Anordnungen, die mit den militärischen Notwendigkeiten schlechthin unvereinbar sind, verstoßen gegen das Gesetz und sind ohne Beschränkung durch § 55 I anfechtbar22. So sind Weisungen, die sich auf den Aufenthaltsort beziehen (Abs. I Nr. 1, 2), die Annahme einer Ausbildungs- oder Arbeitsstelle (Abs. I Nr. 3), Arbeitsleistungen (Abs. I Nr. 4) oder Verkehrsunterricht, der nicht mehr nur ein polizeilicher zu sein braucht (Abs. I Nr. 9), oder eine heilerz. Behandlung (Abs. II) anordnen, nicht oder nur selten angebracht23. Auch sonst ist die Auswahl bei Soldaten nach Art und Umfang durch die zwingend vorgeschriebene Berücksichtigung des Wehrdienstes sehr beschränkt24. Betreuungshelfer nach Abs. I Nr. 5 sollten grds. Soldaten sein (§ 112a Nr. 4 entsprechend). – Vor der Anordnung von Weisungen soll der nächste Disziplinarvorgesetzte gehört werden (§ 112d, 1). Vgl. auch § 112a, 4.

16 Zust. Nothacker S. 196. Zu Weisungen gegen junge Ausländer Einf. 53 mit OLG Koblenz NStZ 87, 24 u. LG Freiburg JR 88, 523 mit Anm. Eisenberg.

17 BVerfGE 74, 102, 124 f; 107, 104, 115, 117, 118 ff; VerfGH Rheinland-Pfalz NStZ 13, 292, 293 f; DSS/Diemer 12; Ostendorf 5; Streng Rn 346 f; Walter/Wilms NStZ 04, 606; aA H. Mayer Strafrecht Allg. Teil, 1953, S. 393: Weisungen ohne elterliche Zustimmung verstoßen gegen Art. 6 GG; Böhm/Feuerhelm S. 182 f; Kremer S. 82 ff; Schwer S. 209 ff: Weisungen von größerem Gewicht bedürfen der Zustimmung der Eltern; ähnlich Eisenberg/Kölbel 8. 18 Nach Wedler S. 92 ff, 192 ff ist dies nur bei ErzUnfähigkeit und -unwilligkeit der Eltern zulässig. 19 Beulke/Swoboda Rn 329. 20 § 105, 50. 21 Itzel S. 12; Mrozynski JR 83, 379. 22 Dallinger/Lackner § 112a, 21. 23 Potrykus NJW 57, 815. 24 Potrykus aaO. 114

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2. Grenzen Weisungen sind unzulässig, wenn sie die Grenzen überschreiten, die der staatlichen Strafgewalt 9 durch die Verfassung gezogen sind. Insbes. kommen hier in Betracht die Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 4 GG), die freie Meinungsäußerung (Art. 5 GG), die Koalitionsfreiheit (Art. 9 GG) und die freie Berufswahl (Art. 12 GG, der auch die Ausbildungsstätte einbezieht; dazu Rn 12)25. Weisungen sind auch unzulässig, wenn sie gegen das Sittengesetz verstoßen. Danach ist z.B. unzulässig die Weisung, einem bestimmten Verein beizutreten, nicht aber: irgendeiner JGruppe beizutreten oder aus einem die Erz. gefährdenden Verein auszutreten, was durch unmittelbare Gefährdung des J begründet sein kann. Auch eine Weisung, für 1½ Jahre das Gymnasium zu verlassen, ist abzulehnen26. Stets muss sich der JRichter hüten, die seinem Richteramt gezogenen Grenzen zu überschreiten; er darf nicht vergessen, dass „er kein Kindergärtner ist“27. Weisungen sind schließlich auch unzulässig, wenn sie in ihrer Wirkung bes. Einschränkungen einer anderen gesetzlichen Vorschrift umgingen, z.B. den Ausschluss des Berufsverbots (§ 70 StGB) in § 7 durch die Weisung, einen bestimmten Beruf aufzugeben28. Um Fehlentwicklungen zu steuern, darf die Weisung jedoch in Persönlichkeitsrechte eingreifen29. Abs. I 2 normiert, dass Weisungen an die Lebensführung des J keine unzumutbaren An- 10 forderungen stellen dürfen (vgl. dazu Rn 47). Weisungen dürfen insbes. nicht gegen uneinschränkbare Grundrechte verstoßen, nicht einen so einschneidenden Eingriff in die Lebensführung enthalten, dass sie nicht zumutbar sind. Der Einzelne muss stets nur die Schranken seiner Handlungsfreiheit auf sich nehmen, welche der Gesetzgeber zur Förderung des sozialen Zusammenlebens zieht30. Unzumutbar sind schon Weisungen, welche die körperlichen (zB Arbeit) oder geistigen Kräfte (zB Besinnungsaufsatz; dazu auch Rn 4 aE) überbeanspruchen31. Das OLG Düsseldorf32 hat die Weisung an einen Erw., sich jeglichen Alkoholgenusses zu enthalten, als zumutbar bezeichnet; der Hebel müsse an der Stelle angesetzt werden, wo die kriminogenen Faktoren sitzen. Wie aber soll dies kontrolliert werden? Vgl. Rn 4. Nach dem KG33 ist bei einem Verurteilten, der unfähig ist, durchgängig alkoholabstinent zu leben, eine Abstinenzweisung grds. iSv § 68b III StGB unzumutbar. Der das JGG beherrschende ErzGedanke unterstreicht die Forderung der Zumutbarkeit, welche §§ 56b I 2, 56c I 2 StGB auch für die Auflagen und Weisungen an den erw. Verurteilten normieren. Dieser Grundsatz ist damit zugleich für die BewAuflagen gem. § 23 JGG festgelegt, da diese in den Formen der §§ 10, 15 erteilt werden (§ 23, 2).

3. Beispiele und Einzelheiten Abs. I 3 bringt Beispiele, die dem JRichter bewährte Weisungen vor Augen stellen, ihn aber 11 nicht hindern, in den in Rn 4–10 aufgezeigten Grenzen und unter Beachtung von Rn 5 andere erz. Weisungen zu „erfinden“. Die in Nr. 1 und 2 genannten Weisungen, sich an einem bestimmten Ort aufzuhalten oder ihn zu meiden oder bei einer Familie oder in einem Heim zu wohnen, bedürfen nicht unbedingt der Zustimmung der Eltern (Rn 6). Die Kostenübernahme sollte geklärt sein (vgl. RL 6; Rn 47). Die Weisung der Heimunterbringung ist unbeschadet einer Heranziehung zu den Kosten nach §§ 91 ff SGB VIII nicht unzumutbar, wenn dem J Eingliede25 26 27 28 29 30 31 32 33 115

OLG Hamm NStZ 85, 310; LG Hannover RdJ 62, 13; BVerfG NStZ 81, 21 zu § 68b StGB. LG Hannover SjE F 2 S. 81; Dallinger/Lackner 24; Potrykus B 3. Maurach/Gössel/Zipf/Dölling § 72 Rn 10; s. auch BVerfG bei § 7, 9 aE. Vgl. Beulke/Swoboda Rn 320. Vgl. OLG Zweibrücken JR 90, 122 in Rn 33 aE. BVerfGE 4, 16; Mrozynski JR 83, 398. Beulke/Swoboda Rn 322. Beschl. v. 20.3.1984 – 3 Ws 68 u. 159/84. StV 20, 700, 701.

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rungshilfe nach SGB VIII gewährt wird34. Heimeinweisungen nach Nr. 2 dürfen nach Art und Umfang nicht der Erz. in einer Einrichtung über Tag und Nacht iSv § 12 Nr. 1 gleichkommen35. In Betracht kommt z.B. die Aufenthaltnahme in einem Wohnheim36. Die Koppelung mit einer Weisung nach Nr. 3 kann sich empfehlen. Die Anordnung eines elektronisch überwachten Hausarrestes kommt allenfalls iVm einer Strafaussetzung zur Bew. in Betracht (§ 23, 2)37. 12 Die Weisung Nr. 3, eine Ausbildungs- oder Arbeitsstelle anzunehmen, wird von Art. 12 GG eingegrenzt und darf deshalb den J gegen seinen Willen nur anweisen, irgendeine, also nicht eine bestimmte Arbeitsstelle anzutreten oder beizubehalten (Rn 9)38. Die Weisung, eine sozialversicherungspflichtige Arbeit anzunehmen, ist zulässig39 (vgl. § 23, 2 aE). Das BVerfG40 hat keine Verletzung der Grundrechte darin gesehen, dass das LG Würzburg41 eine hw. Schwangere im Wege einer BewWeisung angewiesen hat, sich nach der Entbindung um eine versicherungspflichtige Tätigkeit zu bemühen. Bei Arbeitslosigkeit (Einf. 32) hat es sich bewährt, den J mit der Weisung, eine versicherungspflichtige Arbeit aufzunehmen, zusätzlich schriftlich anzuweisen, sich beim zuständigen Arbeitsamt (genau bezeichnet) zu melden, die dort gegebenen Meldetermine einzuhalten, seine Bemühungen dem Gericht nach 4 Wochen auf einem beigefügten Kontrollblatt (Abstempelung durch Arbeitsamt) nachzuweisen und die Aufnahme der Arbeit mitzuteilen. Dem sollte die Belehrung über den Ungehorsamsarrest hinzugefügt werden (§ 11, 8). Die Weisung, den Arbeitsplatz und die Wohnung nicht ohne Zustimmung des Gerichts oder eines Helfers zu wechseln, verstößt nicht gegen die Grundrechte der Berufsfreiheit und der Freizügigkeit42, da das Interesse der Allgemeinheit an der Resozialisierung des Täters ein überragendes Gemeinschaftsgut ist, das gesetzliche Einschränkungen dieser Grundrechte rechtfertigt43. Die Weisung, (gemeinnützige; vgl. Rn 15 aE) Arbeitsleistungen zu erbringen (Nr. 4), dient 13 der Praxis insbes. in Verwirklichung des ErzGedankens als problemorientierte präventiv wirksame Hilfsmaßnahme der Verlagerung von stationären auf ambulante Sanktionen44. Sie hat sich bewährt45. Die zahlreichen Diversionsmodelle46 lassen durchaus über „erz. Wildwuchs“47 nachdenken, aber sie bieten doch weithin die erforderlichen Hilfen zur Durchführung der Arbeitsweisung48. Mit der Arbeitsweisung können delinquenzfördernde Schwächen des J im Arbeitsbereich 14 angegangen werden. Er kann seine Fähigkeiten und Grenzen kennen lernen, Durchhaltevermögen erwerben und es können etwa durch ein Bewerbungstraining die Chancen auf einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz erhöht werden49. Insoweit ist die sozialpädagogische Begleitung der Arbeitsleistung angezeigt50. Teilweise wird die Arbeitsweisung nur für zulässig gehalten, wenn

34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50

OLG Hamm NStZ-RR 04, 151. DSS/Diemer 28; Eisenberg/Kölbel 14. DSS/Diemer u. Eisenberg/Kölbel aaO. Für Unzulässigkeit einer solchen Weisung im Rahmen des § 10 Ostendorf ZRP 97, 475; Hudy DVJJ-J 98, 154. LG Würzburg NJW 83, 463. BVerfG NStZ 81, 21. NJW 83, 442. NJW 83, 463. BVerfG NStZ 81, 22 für ErwRecht. Ebenso OLG Hamm MDR 85, 692. Vgl. Heinz MKrim. 87, 137; Pfeiffer BewH 89, 196. Fock/Schefold ZJJ 16, 71; krit. Höynck FS Ostendorf, 2015, S. 458. Vgl. BMJ, Hrsg., „Diversion“ im deutschen JStrafrecht, 1989. Heinz in ders., Hrsg., Rechtstatsachenforschung heute, 1986, S. 76. Siehe M. Steinhilper in Nds. Minister der Justiz, 1986, S. 13 ff. Meißner DVJJ-J 96, 371. Meißner aaO; Lehnhoff/Wunsch DVJJ-J 99, 70. 116

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durch sie die Einstellung zur Arbeit beeinflusst werden soll51. Es ist jedoch an der Meinung festzuhalten, dass mit der Arbeitsweisung J und Hw. auch allg. erz. beeinflusst werden dürfen und können52. Nach dem BVerfG ist diese Ansicht „aus verfassungsrechtlicher Sicht jedenfalls nicht unvertretbar“53. Das BVerfG hat überzeugend begründet, dass die Arbeitsweisung nicht gegen das Verbot von Arbeitszwang und Zwangsarbeit (Art. 12 II, III GG) verstößt, dass sie hinreichend bestimmt ist (Art. 103 II GG) und im Einklang mit dem Grundrecht auf allg. Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) und dem Elternrecht (Art. 6 II, III GG) steht. Im Rahmen seiner Stellungnahme zur Verfassungsbeschwerde hat der Präsident des BGH mitgeteilt, dass der 4. Senat im Gegensatz zum 1. Senat die Zulässigkeit der Arbeitsweisung für unverzichtbar halte, ihr Anwendungsbereich solle im Hinblick auf den das JStrafrecht beherrschenden ErzGedanken soweit wie möglich ausgedehnt werden54. Miehe55 entnimmt dieser Entscheidung des BVerfG die Rechtfertigung der erz. aufgefassten Arbeitsweisung aus dem Wächteramt des Staates56. Die Meinung, dass über die zu enge Eingrenzung hinaus durch die Arbeitsweisung die Le- 15 bensführung des J und Hw. beeinflusst werden kann, indem ihm sein Fehlverhalten bewusst gemacht und sein Verantwortungsgefühl geschärft wird, und auch dadurch, dass er den Wert der Rechtsgüter Dritter schätzen lernt und ein gewisses Erfolgs-, ein Gemeinschafts- und oft weiterführendes Kontakterlebnis bekommt, hat das BVerfG ausdrücklich bestätigt und hinzugefügt, dass hierdurch sozialfestigende Wirkungen erzielt werden können, welche die Gefahr erneuter Straftaten vermindern. Eisenberg57 hält eine Arbeitsweisung, wie sie das BVerfG gebilligt hat, für gesetzeswidrig und befürchtet, der J könne nur strafende Zwangsarbeit empfinden. Ostendorf58 meint, die Arbeitsweisung könne wohl eingesetzt werden, um Sozialisationsdefizite auszugleichen, es werde aber nicht nur die regelmäßige Praxis verkannt, sondern auch die Arbeit einseitig und heroisierend betrachtet. Hier wird übersehen, dass es sich um gemeinnützige Arbeiten (vgl. § 56b II Nr. 3 StGB) handelt. Gewiss müssen gerade bei der Arbeitsweisung die Grenzen der Verhältnismäßigkeit und 16 der Zumutbarkeit sorgfältig gewahrt werden59. Nach § 8 II des österreichischen JGG darf die Erbringung gemeinnütziger Leistungen im Rahmen der Diversion höchstens für die Dauer von täglich 6 Stunden, wöchentlich 20 Stunden und insgesamt 120 Stunden angeordnet werden. Diese Regelung könnte auch den deutschen JRichtern als Richtschnur dienen60. Das der Arbeitsweisung innewohnende „repressive“ Element (dazu § 9, 6; Einf. 90) verfälscht weder deren Sinn noch die erz. Zielsetzung, solange sie nicht zur bloßen Ahndung eingesetzt wird61. Arbeitsweisungen müssen hinreichend bestimmt sein, sodass Zuwiderhandlungen einwandfrei festgestellt werden können und der verurteilte J unmissverständlich erkennen kann, wenn ihm deshalb JA droht62. Das Gericht muss die Zahl der abzuleistenden Arbeitsstunden und die Zeit, in

51 BGH H MDR 76, 634; KG JR 65, 29; BayObLG StV 84, 354; OLG Karlsruhe Justiz 88, 488; Dallinger/Lackner 9; Lackner JR 65, 30.

52 Eisenberg/Kölbel 16; Ostendorf 13; Böhm/Feuerhelm S. 185; Arloth StV 84, 255; Winter Verfassungsrechtliche Grenzen jrechtlicher ErzMaßregeln, 1966, S. 153. 53 BVerfGE 74, 102 = NStZ 87, 502 [LS] mit zust. Anm. Schaffstein u. Bosch FamRZ 87, 566; zust. Brunner Zbl. 87, 257; krit. Anm. Ostendorf EzSt JGG § 10 Nr. 1. 54 BVerfG aaO. 55 In Mußgnug, Hrsg., Rechtsentwicklung unter dem Bonner GG, 1990, S. 249, 268. 56 Für Verfassungswidrigkeit der Arbeitsweisung aber Hönicke 1999, S. 344. 57 JR 87, 489. 58 FN 53, S. 30. 59 Vgl. Schaffstein FS Jescheck, 1985, S. 952. 60 Vgl. Beulke/Swoboda Rn 341 zu § 20 II des österreichischen JGG 1988. 61 Vgl. Dölling in BMJ, Hrsg., JStrafrechtsreform durch die Praxis, 1989, S. 259. 62 OLG Braunschweig NStZ 12, 575; BVerfG StV 12, 482; NJW 16, 148, 149 (für BewAuflagen). 117

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der die Leistungen zu erbringen sind, ausdrücklich angeben63. Die Auswahl der Arbeitsstelle kann das Gericht der JGH überlassen64. 17 Das JArbeitsschutzG ist bei den Arbeitsweisungen sinngemäß zu beachten (Art. 293 II 2, III EGStGB)65. Zur Haftpflichtfrage Rn 46. Durch die Arbeitsleistung wird kein Beschäftigungsverhältnis iSd Arbeitslosenversicherung begründet (Art. 293 II 1, III EGStGB) und die Verfügbarkeit iSd SGB III nicht ausgeschlossen (§ 120 I SGB III), sodass die Streichung von Arbeitslosengeld nicht zu befürchten ist. Zur Hilfe der JGH § 38, 8 ff. Seit dem 1. JGGÄndG ist neben der Arbeitsweisung auch eine Arbeitsauflage nach § 15 I 18 Nr. 3 zulässig, um die mit der Leistung gemeinnütziger Arbeit verbundene Chance sozialen Lernens und die Notwendigkeit, für begangenes Unrecht einzustehen, bewusst zu machen. Ebenso wie die Arbeitsweisung ist auch die Arbeitsauflage verfassungsgemäß66. Bedenken wegen verschwimmender Grenzen zwischen ErzMaßregeln und Zuchtmitteln haben sich im Gesetzgebungsverfahren nicht durchgesetzt, wobei eine Rolle gespielt haben mag, dass die Trennung zwischen diesen „Sanktionsarten“ für den Gesetzgeber ohnehin auf dem Prüfstand steht67 (vgl. auch Einf. 132). Außerdem sind auch Auflagen erz. geprägt und begrenzt. Nach einer auf einen Landkreis bezogenen Untersuchung von Kremerskothen68 bestehen in der Justizpraxis allerdings keine klaren Kriterien für die Unterscheidung von Arbeitsweisung und Arbeitsauflage im Einzelfall. Arbeitsleistungen können auch nach § 98 I 1 Nr. 1 OWiG aufgegeben werden. 19 Die Weisung, sich der Betreuung und Aufsicht einer bestimmten Person, einem Betreuungshelfer, zu unterstellen (Nr. 5), soll die Erz. fördern und sichern (Abs. I). Sie ermöglicht es, den J durch eine bestimmte, möglichst genau bezeichnete (RL 2 S. 5) Bezugsperson zeitlich begrenzt und gezielt zu betreuen und ihn bei der Lösung kriminalitätsfördernder persönlicher und sozialer Probleme zu unterstützen. Die Verhältnismäßigkeit zwischen der Schwere der Straftat und den mit dieser Weisung verbundenen Belastungen für den J sowie ggf. auch dem zeitlichen und personellen Aufwand für die JGH muss austariert werden (vgl. RL 2 S. 1), wobei im Vordergrund zu bleiben hat, ob solche Hilfe für den J geeignet und erforderlich ist. Die Betreuungsweisung ist nicht für Bagatellfälle bestimmt69. Die Begründung des RegE eines 1. JGGÄndG nennt als Anwendungsfälle der Praxis die wiederholte Begehung leichter bis mittelschwerer Delikte70. Die Betreuungsweisung kann daher auch bei erheblicher krimineller Gefährdung die geeignete erz. Reaktion sein71. Aufgaben des Betreuungshelfers sind kontinuierliche Zuwendung für den J, Hilfe bei lebenspraktischen Problemen, Förderung der sozialen Handlungskompetenz, Vermittlung gesellschaftlicher Anforderungen und Aufzeigen von Grenzen72. Wesentlich ist es, einen geeigneten und bereiten Helfer zu finden, der die Mitte zwischen der Betreuung und dem Freiraum findet, dessen der Betreute bedarf, um selbständig zu werden. Die JGH ist kraft Gesetzes berufen, den JRichter hierbei zu unterstützen (§ 38 VI 3 HS 2; § 38, 9). Denn sie kennt die Persönlichkeit des J und seine Bedürfnisse am besten und auch als Betreuungshelfer geeignete 63 OLG Braunschweig NStZ 12, 575; für BewAuflagen BVerfG NJW 16, 148; OLG Hamm StV 04, 657; OLG Dresden StV 09, 531; KG StV 14, 746, 747. 64 OLG Braunschweig NStZ 12, 575; OLG Hamm ZJJ 14, 174; für BewAuflagen BVerfG NJW 16, 148; KG StV 14, 746; HK-JGG Buhr 8; Ostendorf 2; nach OLG Hamm StV 04, 657 u. OLG Dresden StV 09, 531 hat dagegen das Gericht auch die Art und nach Möglichkeit auch den Ort der Arbeitsleistung und die Institution, bei der sie abzuleisten ist, zu bestimmen; ebenso LG Kaiserslautern ZJJ 10, 431 (für die Auferlegung von Arbeitsleistungen nach § 98 S. 1 Nr. 1 OWiG) u. ZJJ 15, 327 (für Auflagen nach § 56b StGB). 65 Ähnlich Eisenberg/Kölbel 17; Ostendorf 15. 66 Vgl. BVerfGE 83, 119, wonach die Auflage gemeinnütziger Leistungen nach § 56b II Nr. 3 StGB nicht den Schutzbereich des Art. 12 II und III GG berührt. 67 Böttcher/Weber NStZ 90, 565. 68 2001, S. 144 ff, 202 ff. 69 Böttcher/Weber NStZ 90, 564. 70 BT-Drs. 11/5829, S. 15 f. 71 Böhm NJW 91, 535. 72 Fröhlich-Gildhoff DVJJ-J 97, 232. 118

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und bereite Personen. Die Betreuungsweisung gewinnt gerade für Hw. als Ausgleich für den Wegfall der ErzBeistandschaft (§ 12, 8) erhöhte Bedeutung (§ 105 RL 3). Bei J wird eine solche Weisung nur dann Erfolg versprechen, wenn die Einwilligung der ErzBerechtigten gesichert oder unterstellt werden kann (RL 2 S. 2). Im Gegensatz zu § 24 I 1 ist beim Betreuungshelfer nicht von „Leitung“ die Rede, aber doch von „Aufsicht“, allerdings nur „nachrangig“73. Verbindliche Anordnungen, die letztlich zu Ungehorsamsarrest führen könnten, darf der Helfer nicht treffen; denn dieses Recht hat der Gesetzgeber nur dem Richter zuerkannt und dieser kann es nicht wieder in Form einer Weisung delegieren. Befolgt der J die Ratschläge des Helfers nicht, so kann dieser notfalls beim Richter gezielte Weisungen anregen, die dann die Folgen des § 11 III 1 haben können. Schon die Erfahrungen mit Weisungen nach RL 3 alter Fassung waren gut74. Die Betreuungsweisung kann isoliert oder in Verbindung mit anderen Weisungen erteilt werden; sie eignet sich als vorläufige ErzMaßnahme nach § 71 I und als Auflage zur Verschonung mit UHaft. Sie bietet dem J Hilfe und Vermittlung bei Schwierigkeiten (vgl. § 15, 10)75. Zu beachten ist, dass die Laufzeit der Betreuungsweisung 1 Jahr nicht überschreiten soll (§ 11 I 2); das entspricht dem intensiven Eingriff und begrenzt ihn. Vgl. auch Rn 16. Beulke/Swoboda76 regen an, in der Weisung den Bereich zu bezeichnen, auf den sich die 20 Betreuung (im Besonderen) beziehen soll. Im Übrigen ermöglicht es gerade diese Weisung, den Bedürfnissen und Gefährdungen des Betreuten rasch und gezielt zu folgen. Es ist Aufgabe der JGH, dem Richter ggf. rechtzeitig einen geeigneten Helfer zu benennen, stets eine natürliche Person, nicht eine Behörde mit wechselnden Sachbearbeitern (§ 38 VI 3 HS 2). Kommt eine Betreuungsweisung in Betracht, wird der Richter frühzeitig Verbindung mit der JGH aufnehmen (vgl. § 38 VI 2; RL 2 S. 3). Weil der Richter nicht immer in der Hauptverhandlung einen Helfer benennen kann, übernimmt dann zwingend kraft Gesetzes ein – bestimmter – JGerichtshelfer die Betreuung (§ 38 V 3). Überlässt der JRichter der JGH die Benennung eines Betreuungshelfers, so fordern Böttcher/Weber77 zu Recht, dass er die „Entscheidung in den Umrissen selbst trifft, indem er etwa bestimmt, daß einer der Sozialarbeiter des JAmts oder eines bestimmten freien Trägers die Aufgabe übernimmt“. Der Betreuungshelfer kann und soll an einer Hauptverhandlung gegen den Betreuten teilnehmen (§ 48 II 1) und zu dessen Entwicklung gehört werden (§ 50 IV). Er wird auch bei nachträglichen Entscheidungen über Weisungen und Auflagen gehört (§ 65 I 2). Vgl. außerdem § 72 b78. Zu einer Betreuungsweisung bei vollstreckbarer JStrafe § 17, 39. Die Betreuungsweisung ist wegen ihrer Eingriffsintensität vom Katalog des § 45 ausgenommen (§ 45, 42)79. Bei Strafaussetzung zur Bew. wird die Betreuungsweisung durch die BewHilfe ausgeschaltet. Vgl. dazu § 38 V 3. Die Weisung, an einem sozialen Trainingskurs teilzunehmen (Nr. 6) umfasst zahlreiche For- 21 men erz. Gruppenarbeit (Erz.-, Übungs- und Erfahrungskurse) bis hin zur Einzelbetreuung durch die für die Gruppe verantwortlichen Personen. Im Übrigen kann der JRichter auch zur Teilnahme an Gruppen anweisen, die nicht in das Schema der sozialen Trainingskurse passen (RL 3 S. 3; Rn 2). Er muss aber diese Gruppe kennen. Diese Weisung will die soziale Handlungskompetenz sowie die persönliche und soziale Verantwortlichkeit fördern, mittels eines sozialpädagogischen Konzepts zur sozialadäquaten Lösung von Konflikten befähigen, aber auch sinnvolle Möglichkei-

73 BT-Drs. 11/5829, S. 42. 74 Pfeffer UJ 64, 174. 75 Zum Projekt einer ambulanten intensiven Begleitung, in dem ein Team von Sozialpädagogen ein Netzwerk von Institutionen und Bezugspersonen aufbaut, in das der J zur Entwicklung eines stabilen sozialen Umfeldes integriert werden soll, vgl. Möbius DVJJ-J 00, 389; Hoops/Permien Evaluation des Pilotprojekts Ambulante Intensive Begleitung (AIB), 2003. 76 Rn 343. 77 NStZ 90, 564. 78 Zu 3 Jahren Praxiserprobung der Betreuungsweisung Schaar Zbl. 87, 18. 79 Vgl. auch Frehsee MKrim. 88, 281. 119

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ten der Nutzung der Freizeit (vgl. Einf. 29) anbieten80 Die eingesetzten Methoden sind vielfältig. Busch81 beschreibt etwa 400 Projekte; danach kommen ua in Betracht (S. 16 ff): Kurse an einem oder mehreren Wochenenden (dazu Rn 22), Blockkurse über mehrere Tage oder Wochen, erlebnisorientierte Gebirgswanderungen (vgl. Rn 22), Dauerkurse über mehrere Monate an Wochenenden, kombinierte Kurse zur Aufarbeitung von Arbeitsweisungen, Kurse in JA- oder JStrafanstalt, auch Drogenseminare82. Gerade handlungs- und erlebnisorientierte Kurse werden gut angenommen, gehen von den Bedürfnissen der J aus, vermitteln Erfolgserlebnisse und handwerkliche Fähigkeiten83. Bes. Programme vor Ort in kleineren Gruppen können viel erreichen und möglicherweise auch nicht straffälligen J offen sein84, wobei allerdings die dabei auftretenden bes. Probleme gesehen werden müssen. Häufig bedarf es der ergänzenden Einzelfallhilfe85. Bei Gewalttätern kommt ein Anti-Gewalt-Training in Betracht, das den J mit der Tat konfrontiert, Rechtfertigungsstrategien abbaut und Unrechtseinsicht fördert, die Opferperspektive vermittelt sowie Handlungsalternativen aufzeigt und einübt86. Es wird aber auch Kritik an den sozialen Trainingskursen geübt, u.a. wegen Bevorzugung ohnehin weniger belasteter Probanden87. 22 Die JGH kann und soll aufgrund umfassender Persönlichkeitsforschung dem JRichter auf frühzeitige Anfrage hin (RL 3 S. 2 iVm RL 2 S. 3) mitteilen, ob ihr die Teilnahme an einem sozialen Trainingskurs sinnvoll erscheint (vgl. § 38 VI), und auf geeignete Kurse hinweisen. Der JRichter entscheidet über Anordnung, Umfang und Beendigung des Trainingskurses. Voraussetzung ist eine Straftat, die auf einen ErzMangel hinweist, maßgeblich sind die psychische Verfassung des J sowie sein persönliches und soziales Umfeld88. Die Belastungen, welche die aufwendige Maßnahme allseits birgt, fordern stets Beachtung (vgl. RL 3 S. 1). Der soziale Trainingskurs eignet sich nicht für Bagatellfälle89. In geeigneten Fällen stellt er eine vorzugswürdige Alternative zu JA oder kürzerer JStrafe dar90. Betreuungszeiten zwischen 3 und 6 Monaten haben sich bewährt, einmalige Wochenendveranstaltungen weniger91, Kombination mit JA kann in Ausnahmefällen erwogen werden92. Der JRichter überwacht den Trainingskurs, damit die Rechte der J gewahrt werden. Diese Gesamteinschaltung des JRichters lässt geäußerte rechtliche Bedenken (Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz, Umgehung rechtsstaatlicher Garantien) zurücktreten93. Es ist selbstverständlich, dass der JRichter den Veranstaltern den Gestaltungsspielraum belässt, den eine eigenverantwortliche Arbeit nach pädagogischen Grundsätzen benötigt. Zwischen JRichtern und Veranstaltern sind regelmäßiger Gedankenaustausch und Zu-

80 Zu den Zielen s. Kraus DVJJ-J 97, 309 f. 81 Neue ambulante Maßnahmen nach dem JGG, 1986, S. 8 ff; vgl. auch die Bestandsaufnahmen von Dünkel/Geng/ Kirstein 1998 u. Hofmann 2014. 82 Schaar Zbl. 85, 118. 83 Vgl. auch Böhm NJW 91, 535, nach welchem der soziale Trainingskurs sich bewährt hat. Zur Erlebnispädagogik s. Heckner in DVJJ-BW, Hrsg., Auffällige Kinder u. J, 2000, S. 11 ff. 84 Breymann Zbl. 88, 448; Dölling Zbl. 89, 319. 85 Hofmann S. 208; Roggemann/Schröter/Ebel DVJJ-J 96, 193. 86 Vgl. dazu Schanzenbächer 2003; Hein 2007; Kohaus/Cladder-Micus DVJJ-J 95, 347; Hansen/Römhild DVJJ-J 98, 383; Brand/Saasmann DVJJ-J 99, 419; Kilb/Weidner DVJJ-J 99, 379; Piel/Schmitt Zbl. 01, 291; s. auch Hirtenlehner/ Hiebinger ZJJ 13, 57 (Wiederverurteilungsrate nach Anti-Gewalt-Training nicht niedriger als in einer Vergleichsgruppe); Dreßing S. 158 ff: Wirksamkeit des Anti-Aggressivitätstrainings noch nicht eindeutig belegt. 87 Köhnke Zbl. 83, 213. Bezüglich der Literatur vgl. die Auswahlbibliographie in BMJ, Hrsg., „Diversion“ im deutschen JStrafrecht, 1989, S. 69 ff, auch Bericht Viehmann BewH 89, 355. 88 Vgl. Dölling in BMJ, Hrsg., JStrafrechtsreform durch die Praxis 1989, S. 261; BMJ, Hrsg., „Diversion“ im deutschen JStrafrecht, 1989, S. 23. 89 Böttcher/Weber NStZ 90, 564. 90 Böhm NJW 91, 535; vgl. auch Wellhöfer MKrim. 95, 42, der nach sozialen Trainingskursen geringere Rückfallquoten ermittelte als nach Dauerarrest. 91 „Diversion“ (FN 88), S. 25. 92 „Diversion“ (FN 88), S. 24. 93 Dölling aaO, S. 261; Dreßing S. 163 ff. 120

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sammenarbeit notwendig (vgl. § 37a I). Sind solche Kurse als Alternative zum JA geeignet, so muss im Übrigen auch die Gefahr der „Überbetreuung“ gesehen werden. Die Laufzeit dieser Weisung ist grds. auf 6 Monate begrenzt (§ 11 I 2), was den gebotenen raschen Beginn fördert und die erforderliche Intensität verlangt und zugleich begrenzt. Wegen ihres Eingriffcharakters sollte die Weisung möglichst entsprechend § 10 II nur mit 23 Zustimmung der ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter oder mit Einverständnis des J, wenn dieser das 16. Lebensjahr vollendet hat, verhängt werden94. Zur Anhörung des Kursleiters in der Hauptverhandlung s. § 50 IV, zu seiner Anhörung vor nachträglichen Entscheidungen über Auflagen u. Weisungen § 65 I 2. Vom Katalog des § 45 ist diese Weisung wegen ihres Eingriffcharakters ausgeschlossen (§ 45, 42). Die Weisung, sich zu bemühen, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen (Täter- 24 Opfer-Ausgleich, Nr. 7) hat das Ziel, den j. Täter mit dem Verletzungscharakter seiner Tat, der Geltung strafrechtlicher Normen und der Bedeutung der Rechtsordnung für ein gedeihliches Zusammenleben zu konfrontieren und ihn zu motivieren, sich durch aktive Beteiligung an der Wiedergutmachung seiner Verantwortung zu stellen95. Fremdwertbegriffe werden angelernt und durch die Anbahnung der Versöhnung mit dem Opfer der Sozialisationsprozess gefördert. Der Täter soll durch konstruktive Tatverarbeitung Verantwortlichkeit und Normtreue erlernen96. Diesen erz. und sozialpädagogischen Wirkungen auf den Täter steht gegenüber, dass beim Opfer Ängste und seelische Belastungen abgebaut, das Vertrauen in die Rechtsordnung wiederhergestellt oder gestärkt und Täter und Opfer die Chance gegeben werden soll, den Konflikt aufzuarbeiten. Das alles ist leichter postuliert als erreicht und fordert Sorgfalt und Sensibilität bei Auswahl und Durchführung (dazu Rn 27 f). In der „Wiederentdeckung des Opfers“ treffen sich in „überraschender Konvergenz“97 Anhänger der Generalprävention und Resozialisierungstheoretiker, Befürworter des Vergeltungsgedankens und prinzipielle Kritiker des Strafrechts98. Der Täter-Opfer-Ausgleich (TOA) wird begrüßt als „hoffnungsvollste Alternative zum übelzufügenden Sanktionskatalog des Strafrechts“99, als „derzeit hoffnungsvollste Perspektive der Kriminalpolitik“100 und als „ein Programm, fast eine Vision zur Ablösung strafrechtlichen Denkens“101. Schaffstein102 hat davor gewarnt, den TOA als Allheilmittel anzusehen, ihn jedoch als eine Bereicherung der Möglichkeiten der JStrafrechtspflege bewertet. Die Entwicklung des TOA ist dadurch gekennzeichnet, dass die Zahl der im Wege des TOA 25 erledigten Fälle in den neunziger Jahren erheblich zugenommen hat, das vorhandene Fallpotential aber weiterhin nicht ausgeschöpft wird103. Die feste Etablierung des TOA an einer Reihe von Orten spricht gegen die Befürchtung, die zunächst ins Leben gerufenen Modellprojekte könnten eine Modeerscheinung sein104. Gegenwärtig wird der TOA vor allem bei Körperverletzungsdelikten, Sachbeschädigung und anderen Eigentums- und Vermögensdelikten praktiziert; er findet aber auch in Fällen von Raub und Erpressung Anwendung105. Täter und Opfer sind ganz überwiegend zur Beteiligung am TOA bereit, der idR mit einer Augleichsvereinbarung endet, die insbes. Verpflichtungen des Täters zu Entschuldigung, Schmerzensgeld und Schadensersatz 94 „Diversion“ (FN 88), S. 25. 95 Vgl. Begr. RegE eines 1. JGGÄndG, BT-Drs. 11/5829, S. 17. 96 Rössner/Klaus in Dölling ua 1998, S. 116; Rose SchlHA 14, 4: „in der Lebenswelt bereitliegendes Programm zur Normerziehung“.

97 Schöch NStZ 84, 385. 98 Vgl. auch Seelmann NJW 89, 670. 99 Schreckling/Pieplow ZRP 89, 10. 100 Schöch RdJ 99, 290. 101 Viehmann in BMJ, Hrsg., JStrafrechtsreform durch die Praxis, 1989, S. 350 unter Hinweis auf Walter. 102 In Schöch, Hrsg., Wiedergutmachung u. Strafe, 1987, S. 163. 103 Wandrey/Weitekamp in Dölling ua 1998, S. 130 ff, 142 f; Hartmann/Schmidt/Settels/Kerner 2021. 104 Schünemann NStZ 96, 194; Kerner in Jansen/Kerner, Hrsg., Verbrechensopfer, Sozialarbeit u. Justiz, 1985, S. 495, 497.

105 Hartmann/Stroezel in Dölling ua 1998, S. 165. 121

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enthält106. Die bisherigen positiven Erfahrungen sprechen für einen weiteren Ausbau des TOA. Nach dem BGH wird der TOA im JStrafrecht erfolgreich angewandt107. Mit Recht gibt daher § 155a StPO der StA und dem Richter auf, in jedem Stadium des Verfahrens die Möglichkeiten eines TOA zu prüfen und in geeigneten Fällen darauf hinzuwirken. 26 Die rechtsstaatlichen Grundsätze eines fairen Verfahrens müssen gerade beim TOA im Rahmen der Diversion (Rn 27) exakt eingehalten werden. Der Beschuldigte muss geständig und die Tat nachgewiesen sein108. Er muss belehrt werden, dass er sich frei entscheiden kann, ob er sich auf den Ausgleich einlassen will109. Hier will die Gefahr bedacht sein, dass der J uU unter dem Druck des Verfahrens und in der Hoffnung auf eine ihm günstige Entscheidung „gestehen“ und seine Möglichkeiten überschätzen könnte (vgl. auch § 23, 8)110. Zu weit geht aber die Ansicht von Kondziela111, wonach der TOA erst durchgeführt werden soll, nachdem der Richter das Geständnis überprüft und sich von der Schuld überzeugt hat. Der Verletzte darf ebenso wenig im Übereifer als „pädagogisches Instrument“ missbraucht werden, wie seine Weigerung mitzuwirken den J nicht benachteiligen darf. Nach § 155 S. 3 StPO darf gegen den ausdrücklichen Willen des Verletzten die Eignung eines Falles für den TOA nicht angenommen werden. Mit Schöch112 ist darauf zu achten, dass nicht unangemessener Versöhnungsdruck, sondern die Entscheidungsfreiheit der Betroffenen das Verhandlungsklima prägt. Es sollte auch der finanzielle Aspekt nicht derart beherrschend im Mittelpunkt stehen, dass der erzwidrige Eindruck entstehen könnte, mit Geld sei alles abzumachen113. Probleme können auch aus der zivilrechtlichen Verflechtung einer strafrechtlichen Wiedergutmachung entstehen (dazu § 15, 4–6)114. 27 Da zu den tragenden Prinzipien des TOA die Anerkennung eines autonomen Beitrags des Täters zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens gehört, empfiehlt es sich idR, den TOA nicht durch eine Weisung anzuordnen, sondern ihn im Rahmen der Diversion nach §§ 45, 47 durchzuführen oder – wenn auf eine Verurteilung nicht verzichtet werden kann – der Hauptverhandlung vorzulagern115. Wird der Weg der Diversion beschritten, muss sich die StA darauf verlassen können, dass der J ernstlich geständig und schuldig ist – ggf. das nachprüfen –, aber auch, dass die Bemühungen um einen Ausgleich die Beweislage nicht verschlechtern116. Unter solchen Voraussetzungen kann die StA einen erfolgten TOA als getroffene erz. Maßnahme und damit als Grundlage für eine Einstellung nach § 45 II werten. Die StA kann aber auch den Ausgleich selbst herbeiführen und so die bereits durchgeführte oder eingeleitete erz. Maßnahme erst schaffen (§ 45 II). Siehe weiter § 45, 27 u. § 47, 8. Teilweise wird allerdings für eine stärkere Beteiligung des Richters am TOA plädiert117. Der TOA ist keineswegs nur auf Bagatellfälle oder auf Erstauffällige beschränkt118, er kann auch bei Verbrechen eingesetzt werden. Die Begründung des RegE

106 Hartmann/Stroezel aaO, S. 173 ff; Hartmann/Schmidt/Settels/Kerner 2021, S. 48 ff, 61 ff. 107 BGH 48, 134, 137; vgl. auch Heinz S. 96: „Nach dem gegenwärtigem Stand der Wirkungsforschung hat der TOA eine zumindest rückfälligkeitsneutrale Wirkung“.

108 Vgl. auch Schöch RdJ 99, 287, nach dem ein Geständnis nicht unbedingt erforderlich ist, auf einen TOA-Versuch jedoch verzichtet werden sollte, wenn vernünftige Zweifel an der Täterschaft des Beschuldigten bestehen. 109 Vgl. Dölling in BMJ, Hrsg., JStrafrechtsreform durch die Praxis, 1989, S. 263. 110 Brunner Zbl. 76, 276. 111 MKrim. 89, 177. 112 RdJ 99, 290. 113 Brunner Zbl. 76, 276. 114 Vgl. Brunner Zbl. 76, 270; Frehsee NJW 81, 1253; Jakobs/Molketin JWohl 83, 159. 115 Dölling in JStrafrecht an der Wende, S. 190; Rössner/Klaus in Dölling ua 1998, S. 117; Schöch RdJ 99, 280; ders. in JStrafrecht an der Wende, S. 126; Bedenken gegen einen verordneten TOA auch bei Kerner/Marks/Rössner/ Schreckling BewH 90, 169. 116 BMJ, Hrsg., „Diversion“ im deutschen JStrafrecht, 1989, S. 21. 117 Schöch in ders., Hrsg., Wiedergutmachung u. Strafrecht, 1987, S. 148 ff, 154: Termin vor einem bes. „Restitutionsrichter“; Miehe in Schöch aaO, S. 159. 118 Walter in Kaiser/Kury/Albrecht, Hrsg., Kriminologische Forschung in den 80er Jahren, 1988, S. 813. 122

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eines 1. JGGÄndG119 scheidet idR Straftaten jenseits der leichten, mittleren und mittelschweren Kriminalität aus. Die Grenzen hinsichtlich Tatschwere und Opferschäden sind aber noch nicht ausgelotet, es kommt entscheidend auf den Einzelfall und auf Täter und Opfer an. Das breite Spektrum der Delikte, das in der Praxis des TOA erfolgreich bearbeitet worden ist120, zeigt, dass eine Beschränkung des TOA auf bestimmte Delikte nicht sinnvoll ist121. Ist eine Sanktionierung durch Urteil angezeigt, kann der TOA zugunsten des Täters berücksichtigt werden bei der Entscheidung, ob und ggf. welche ErzMaßregeln oder Zuchtmittel geboten sind bzw. ausreichen, ob JStrafe geboten und in welcher Höhe sie angemessen ist und ob Strafaussetzung zur Bew. verantwortet werden kann. Unter den Voraussetzungen des § 46a StGB ist auch ein Schuldspruch mit Absehen von Strafe möglich122. Die Bemühungen um den Ausgleich und die Überwachung der Abwicklung sind personal- 28 und zeitaufwendig und fordern die Entwicklung neuer Arbeitsmethoden. JGH, StA und Richter müssen in der Lage sein, die „geeigneten“ J und Fälle zu erspüren. Einschätzungen der Polizei können hierfür hilfreich sein. Die Vermittlungsperson muss unparteilich sein, sollte nicht gleichzeitig Betreuer des Täters oder des Opfers sein und muss für die schwierige Aufgabe der Vermittlung ausreichend qualifiziert sein123. Die Vermittlungsperson muss viel Einfühlungsvermögen zeigen, wenn Begegnungen zwischen Täter und Opfer echte Annäherung und Konfliktbereinigung bringen sollen. Die Abwicklung der Wiedergutmachungsvereinbarungen (Ratenzahlungen, Abarbeiten)124 verlangt ebenfalls ein sachkundiges Vorgehen. Es hat sich erwiesen, dass die Mitwirkungsbereitschaft bei Täter und Opfer sehr hoch ist (Rn 25). Die Rechtsgrundlage für die Datenweitergabe zwischen Justiz und Vermittlungsstelle im Rahmen des TOA enthält § 155b StPO125. Zur Schadenswiedergutmachung vgl. § 15, 3 ff. Siehe auch § 45, 11 u. 27. Zur Akteneinsicht 29 (JGH-Bericht) des Vertreters des Verletzten § 38, 34126. Das OpferschutzG v. 18.12.1986, das ZeugenschutzG v. 13.4.1998, das OpferrechtsreformG v. 30 24.6.2004, das 2. OpferrechtsreformG v. 29.7.2009, das G zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs v. 26.6.2013, das 3. OpferrechtsreformG v. 21.12.2015, das G zur Änderung des StGB – Verbeserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung v. 4.11.2016 und das G zur Fortentwicklung der Strafprozessordnung und zur Änderung weiterer Vorschriften v. 25.6.2021 wollen die Stellung des Verletzten im Strafverfahren verbessern. Sie enthalten keine Einschränkung hinsichtlich des JGG. Die erz. Eignung und die sozialpädagogische Einwirkung würden aber bereits im Ansatz zunichte gemacht, wenn die Genugtuung des Verletzten allzu beherrschend in den Vordergrund geschoben wird und dadurch dessen Belange nahezu zum Hauptinhalt des JGerichtsverfahrens werden127 und möglicherweise das Verfahren zu Lasten des J beeinflussen könnten. Diese Überlegungen und das ErzZiel des JGG sind dadurch rechtlich abgesichert, dass die allg. Vorschriften, also auch die in die StPO eingegangenen Bestimmungen der genannten Gesetze, nur gelten, soweit das JGG nichts anderes bestimmt, und auch schon dort nicht eingreifen, wo sie den Grundsätzen des JGG widersprechen (vgl. § 2, 6). In diesem Sinne muss jede einzelne Bestimmung auf ihre Anwendbarkeit im JGerichtsverfahren überprüft 119 120 121 122 123 124 125

BT-Drs. 11/5829, S. 17. Vgl. dazu Hartmann/Stroezel in Dölling ua 1998, S. 160 ff. Schöch RdJ 99, 286. Dölling ua 1998, S. 489; Schöch RdJ 99, 281. Zu den Standards für die Umsetzung des TOA vgl. Wandrey/Weitekamp in Dölling ua 1998, S. 122 ff. Zur Zumutbarkeit der Naturalrestitution für den Verletzten Brunner Zbl. 76, 272, 275. Zur Finanzierung des TOA Rn 47 u. Törnig DVJJ-J 00, 281. Zur Einrichtung von Opferfonds, die es dem J ermöglichen, sich den für den Schadensersatz notwendigen Betrag durch gemeinnützige Arbeit zu erarbeiten, Helmken ZJJ 09, 50. 126 Siehe auch Schreckling Zbl. 90, 626. Zu den Erfahrungen in Österreich nach der JGG-Reform zu Konfliktregelung und Tatausgleich Jesionek in Frank/Harrer, Hrsg., Drogendelinquenz – JStrafrechtsreform, Forensia-Jahrbuch 2, 1991 S. 213. 127 Vgl. Brunner ZBl. 76, 269 zur Wiedergutmachungsauflage. 123

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werden128. Soweit veranlasst, wird bei den einzelnen §§ des JGG hierauf hingewiesen (Zusammenstellung der Fundstellen in § 80, 16)129. 31 Die Weisung, den Verkehr mit bestimmten Personen oder den Besuch von Gast- oder Vergnügungsstätten zu unterlassen (Nr. 8), kann dazu dienen, J und Hw. aus sie gefährdenden Gruppierungen herauszunehmen130. Wird der Besuch von bestimmten Gast- oder Vergnügungsstätten untersagt, muss eine wirksame Kontrolle sichergestellt werden (vgl. Rn 4). Über Nr. 8 hinaus kann auch der Umgang mit bestimmten Gruppierungen verboten werden131. Ähnliche Ziele können auch zeitliche Ausgangsbeschränkungen verfolgen. Dazu ist Maß, bes. bei Hw., und Überwachung geboten. Die Weisung, an einem Verkehrsunterricht teilzunehmen (Nr. 9), ist nicht die einzige Wei32 sung, die Verfehlungen im Straßenverkehr folgen kann, noch fordert sie als auslösende Tat eine Verkehrsverfehlung; sie kann auch sonst erz. sinnvoll sein. Dies erweitert ihre Möglichkeiten. Der Verkehrsunterricht sollte sich nicht in Belehrungen erschöpfen, sondern handlungsorientiert ausgestattet sein132. Die zulässige Weisung, bestimmte Gegenstände für eine gewisse Zeit nicht zu gebrauchen oder abzuliefern, gilt auch für Kraftfahrzeuge, wenn die Weisung – die auch in der Form ergehen kann, den Führerschein für eine bestimmte Zeit zu den Akten zu reichen – nicht ganz oder vorwiegend der Ahndung eines Verkehrsverstoßes oder der Sicherung des Straßenverkehrs dienen soll; dann wäre sie als Umgehung der §§ 44, 69 StGB gesetzwidrig133. Nach dem OLG Braunschweig134 ist für eine derartige Weisung dann kein Raum, wenn die Fahrerlaubnis gem. § 69 StGB zu entziehen oder sonst ein Fahrverbot auszusprechen ist. Zulässig ist eine derartige Weisung nur, wenn sie vorwiegend erz. auf die Lebensführung des Täters einwirken soll, z.B. auf einen j. Motorradfahrer, der durch seine Motorradleidenschaft in Schulden geraten ist und gestohlen oder betrogen hat135. – Auch die Weisung, gerichtet an einen rücksichtslosen Radfahrer oder undisziplinierten Fußgänger, eine Haftpflichtversicherung abzuschließen, fällt noch in diesen Rahmen, weil sie das Verantwortungsbewusstsein fördern kann136. Bei wiederholtem Fahren ohne Fahrerlaubnis kommt auch die Weisung in Betracht, eine Fahrerlaubnis in einer bestimmten Zeit zu erwerben, wenn die Kosten dafür zumutbar sind137. Die erprobte Nachschulung alkoholauffälliger Kraftfahrer bietet sich als Weisung für J und Hw. an, um neben dem Entzug der Fahrerlaubnis oder zur isolierten Sperre Hilfe zur Bewältigung der Problematik „Trinken und Fahren“ zu geben138. Innerhalb der bei Rn 9 und 10 aufgezeigten Grenzen kann der JRichter über den Beispielska33 talog der Nr. 1–9 hinaus weitere geeignete Weisungen erteilen. Von Bedeutung, auch bei den volljährigen Hw., sind Weisungen über Verwendung und Nachweis des Einkommens und Verbote, Kredit- oder Ratenzahlungsverträge abzuschließen, was nicht in völlige Reglementierung ausarten darf. Es kann auch die Erfüllung bestehender Pflichten (Schule, Ausbildung, Arbeit, Unterhalt) durch Weisungen, welche die Pflichten einzeln bezeichnen müssen, gefördert wer128 Dazu Stock MKrim. 87, 352 ff; Rössner in JStrafrecht an der Wende, S. 165 ff; Schöch ZJJ 12, 246; Zapf Opferschutz u. ErzGedanke im JStrafverfahren, 2012, S. 54 ff.

129 Zur Einstellungsverfügung der StA bei Körperverletzungsdelikten vor dem Hintergrund des OpferentschädigungsG v. 7.1.1985 Steyer DRiZ 89, 201. 130 Vgl. OLG Hamburg NJW 64, 1814; zust. Heinitz JR 65, 65; Becker Zbl. 85, 161. 131 Vgl. BGH H MDR 78, 623. 132 Thomson DVJJ-J 99, 426. 133 OLG Düsseldorf, NJW 68, 2156 mit Anm. van Els, der die Weisung auch zu erz. Zweck als gefährlich leichten Weg bezeichnet. 134 NdsRpfl. 69, 235. 135 AA DSS/Diemer 19; Eisenberg/Kölbel 39; Halacker Der „Denkzettel“ Fahrverbot, 2009, S. 175 f. 136 Schnitzerling DAR 56, 125. 137 LG Oldenburg B NStZ 85, 447; AG Saalfeld StV 05, 65; Seiler DAR 74, 260 u., insbes. auch zur Frage der Nichterfüllung, Händel DAR 77, 309. Zur Ausbildung von Kursleitern für Verkehrserziehungskurse Thomson DVJJ-J 99, 425. 138 Dazu Bußmann/Gerhardt BA 80, 117 u. 84, 199, 214. 124

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den. Schließlich ist es auch zulässig und notwendig, bei einer Entziehungskur (Rn 40 ff), den J anzuweisen, an einem Urinkontrollprogramm teilzunehmen139 (näher § 21, 24). Diese in das Persönlichkeitsrecht eingreifende Weisung ist nicht gesetzeswidrig, denn sie soll gerade vor Fehlentwicklungen bewahren140. Der JRichter kann über § 10 auch geeignete Hilfen aus dem SGB VIII (dazu § 45, 29) nach 34 Rücksprache mit dem JAmt als Weisungen erteilen. Zur Erforderlichkeit der Zustimmung des JAmts Rn 48. Die Hilfen nach §§ 30, 34 SGB VIII aber können nicht im Wege einer Weisung auferlegt werden, weil sie in § 12 Nr. 1 und 2 für das JStrafrecht abschließend geregelt sind und so § 12 umgangen würde (vgl. § 12, 9; auch § 45, 29). Ob neben JA Weisungen über das Verhalten im JA gegeben werden können, ist strittig141. 35 Es ist dies nicht notwendig, möglicherweise nicht einmal bes. förderlich. Hingegen ist bei Verurteilung zu JA die zusätzliche Weisung zu empfehlen „den Arrest zu dem in der Ladung genannten Termin pünktlich unter Vorlage eines Ausweispapiers anzutreten“142. Eine derartige Weisung vermeidet Vorführungen, die zu erheblichen Kosten und Schwierigkeiten führen; sie ist zulässig, da sie durchaus ErzKomponenten aufweist und mindestens ebenso auf die Lebensführung einwirkt wie die Weisung, eine Arbeitsleistung zu erbringen oder an einem Verkehrsunterricht teilzunehmen (§ 10 I Nr. 4 u. 9). Mit einer derartigen Weisung wurden beste Erfahrungen gemacht.

4. Heilerzieherische Behandlung Die Weisung, sich einer heilerz. Behandlung (Abs. II, RL 9) zu unterziehen, führt in der jstraf- 36 rechtlichen Praxis ein unverdientes Kümmerdasein. Der Grund hierfür mag in Unsicherheit um die Möglichkeiten und Grenzen der heilerz. Behandlung, in dem Mangel an geeigneten Sachverständigen und Behandlungseinrichtungen, schließlich auch in Bedenken hinsichtlich der Kostenregelung liegen. So auch Engstler143, nach dessen Umfrage nur 1/3 der JÄmter erklärt haben, dass überhaupt eine solche Weisung vorgekommen ist144. Der Anteil der heilerz. Weisungen an der Gesamtzahl der Weisungen im Jahre 1975 betrug nach Engstler145 nur etwa 0,3 %. Engstler rät in diesem Zusammenhang, das Prinzip der Freiwilligkeit zu versachlichen und die Beziehungen zwischen Freiwilligkeit und Motivation herauszuarbeiten146. Die heilerz. Behandlung ist in allen ihren Formen eine längerfristige, auf die Einzelperson zugeschnittene Lenkung und Betreuung, die sich in geeigneten Fällen als das optimale ErzMittel erweisen kann und bei jungen Menschen bis zu 20 Jahren vom Lebensalter her den günstigsten Ansatzpunkt findet. Die Behandlung empfiehlt sich bei ambulant therapierbaren psychischen Störungen, die zur Delinquenz des J geführt haben. Teilweise wird angenommen, sie sei insbes. bei erworbenen seelischen Störungen angezeigt, wenn ursprünglich leistungsfähige Anlagen der Persönlichkeit durch Ungunst der Lebensumstände an ihrer natürlichen Entfaltung gehindert wurden147, sie werde aber bei anlagebedingten Persönlichkeitsmängeln häufig versagen148. Die Behandlung verspricht gegen leugnende, nur durch Indizien überführte Täter kaum Erfolg. 139 Für Erw. OLG Stuttgart Justiz 87, 234. 140 Zur Zulässigkeit von Urinkontrollen als BewWeisung BVerfG NStZ 93, 482; OLG Zweibrücken JR 90, 121 mit zust. Anm. Stree; Verrel Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, 2001, S. 59 ff, 284 f; aA Hoferer NStZ 97, 174. 141 Dallinger/Lackner 23: nein, da keine Weisung iSd § 10; OLG München NStZ 85, 411 lehnt Weisungen nach § 56c StGB, sich in Strafhaft gut zu führen, mangels Rechtsgrundlage ab. 142 AA Eisenberg/Kölbel 37; Ostendorf 22. 143 1985, S. 93. 144 S. 75. 145 MKrim. 88, 4. 146 AaO, 5. 147 Wendt MKrim. 57, 211. 148 Mückenberger 1970. 125

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Aufgabe der Behandlung ist vor allem, den Grund der Gesetzesverletzungen aufzudecken, ihn dem J bewusst zu machen, ihm dabei einen Weg aus der Delinquenz aufzuzeigen und Hilfen zur Lebensbewältigung zu geben. Anlasstaten können vor allem Aggressionstaten „aus nichtigem Grund“, Sexualdelikte, Brandstiftungen, aber auch andere Delikte sein149. Die heilerz. Behandlung umfasst Heilpädagogik150 (vgl. zur Legasthenie Einf. 27), Gesprächs- und Verhaltenstherapie, aufdeckende Behandlungsformen (zB analytische Psychotherapie), je in Gruppenoder Einzeltherapie151. Die Bereitschaft des J kann bes. geweckt werden, wenn der Therapeut zunächst konkrete Hilfe (in Familie, Schule, Beruf) anbietet152. Die Behandlung sollte nur nach vorheriger Anhörung des für ihre Durchführung in Betracht 38 kommenden Sachverständigen im Einvernehmen mit dem J und seinen Eltern angeordnet werden (RL 9)153. Da § 10 II 2 im Gegensatz zu § 57 III 2 das Einverständnis des J nicht zwingend fordert, könnte sie in Ausnahmefällen auch gegen dessen Willen angeordnet werden154, dies brächte aber eine denkbar schlechte Startposition. Es wird auch notwendig sein, den Eltern klarzumachen, warum eine derartige Behandlung notwendig ist und dass sie ohne deren Förderung kaum Erfolg verspricht155. Beim Hw. entfällt die Zustimmung der ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter; umso wichtiger wird deshalb das Einverständnis – und damit die Mitwirkung – des Hw, denn Widerstand verhindert eine erz. Einwirkung (vgl. § 9, 4 aE). Das Vorliegen der nach Abs. II erforderlichen Erklärungen ist in den Urteilsgründen mitzuteilen156. Gefährliche Methoden sind idR unzumutbar (§ 10 I 2)157. Zur Zurücknahme der Einwilligung § 26a, 5 aE. Zu den Kosten RL 6. Engstler158 verweist auf § 43 SGB I (vorläufige Leistungserbringung 39 durch Sozialleistungsträger). Nach Mückenberger159 wäre es förderlich, eine gesetzliche Vorleistungspflicht des sachlich am ehesten zuständigen JAmtes oder der Justizbehörden „im Rahmen der Vollstreckungskosten“ zu normieren. Dazu aber u. allg. zu den Kosten der Durchführung einer Weisung Rn 47. 37

5. Entziehungskur 40 Die Weisung, sich einer Entziehungskur zu unterziehen, ist nicht erzwingbar und darf nicht dazu dienen, die schärfer umrissenen Gesetzesbestimmungen zur zwangsweisen Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 7 I) zu umgehen. Auch hier sollte die Mithilfebereitschaft der Eltern erreicht werden. Zur Behandlung der Drogenabhängigkeit s. § 7, 4 u. Einf. 66–71. Die ambulanten Beratungs- und Therapiemöglichkeiten bei Minderjährigen mit chronischem Drogenkonsum sind begrenzt und versprechen nur Erfolg bei „solchen Jugendlichen, die zwar bereits Drogenerfahrung haben, bei denen jedoch aufgrund der speziellen Gegebenheiten ihrer Drogenkarriere, ihrer sozialen und pädagogischen Situation und ihrer Charakterstruktur Aussicht auf Distanzierung von ihren Vorerfahrungen unter psychotherapeutischer Hilfe besteht“160. 41 Dies beleuchtet die Schwierigkeit der Entscheidung. Inwieweit eine Entziehungskur helfen kann, hängt von der Motivation, dem Persönlichkeitsbild (Depravation?), von Art und Umfang 149 150 151 152 153 154 155 156 157 158 159 160

Engstler 1985, S. 236; Kaiser NStZ 82, 105. Siehe Biewer Grundlagen der Heilpädagogik u. Inklusiven Pädagogik, 3. Aufl. 2017. Vgl. Eisenberg/Kölbel 45. Minsel Praxis-Kinderpsychologie 1973, S. 131 ff. Pfeiffer MKrim. 60, 162. Thiesmeyer RdJ 70, 33. Mückenberger 1970. BGH B NStZ-RR 01, 321. Fischer § 56c StGB 12. MKrim. 88, 7. 1970. Stutte MKrim. 71, 9. 126

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des Drogengebrauchs161, der kriminellen Verflechtung und den vorhandenen speziellen personellen und sächlichen Ressourcen ab. Sorgfältige Persönlichkeitsermittlung und gutachtliche Äußerung eines Sachverständigen müssen der Entscheidung vorangehen (näher Einf. 66–69). Es gilt auch das bei Rn 38 Gesagte. Da Drogenabhängige sich häufig nicht krank fühlen, ihre Situation sogar positiv interpretieren und ideologisieren oder in depravationsbedingter Gleichgültigkeit dahinleben, bedarf diese Weisung bes. auch psychologisch unterbauter Hilfen, wenn möglich unter Einbeziehung des Umfeldes, und Überwachung. Die über § 10 II angeordnete Entziehungskur könnte darüber hinaus ein wirksames Instrument zur Nachbehandlung nach stationärer Entgiftung und Entwöhnung werden (§ 7, 6; § 93a, 4), soweit der Stufenaufbau der Drogenkliniken dies einbezieht. Sie kommt auch als BewAuflage in Frage, sowohl bei Strafaussetzung wie auch bei bedingtem Erlass der Reststrafe. Wie belastet die Entscheidung ist, wird deutlich, wenn man berücksichtigt, wie schwer es für das Gericht ist, den Therapiewillen festzustellen und zu fördern (Einf. 67)162. Mit Rückfällen muss man rechnen; idR führen nur langfristige Bemühungen aus der Drogenabhängigkeit hinaus. Zur Zurücknahme der Einwilligung § 26a, 5 aE. Therapeutische Gemeinschaften auf freiwilliger Grundlage versuchen, die psychische Ab- 42 hängigkeit zu beseitigen163. Kontrolle durch die Gruppe ist medizinisch geboten und therapeutisches Prinzip; bei Verstoß gegen die Grundregel „keine Drogen, kein Alkohol, keine Gewalt“ droht sofortiger Ausschluss. Die Behandlungsdauer sollte mindestens 1 Jahr betragen164. Der JRichter sollte aber die Einrichtungen gut kennen, bevor er sie auswählt165. Zu Drogenseminaren Rn 21; zur Urinkontrolle Rn 33; § 21, 23166; zu Weisungen bei Drogentätern allg. Rn 49 ff; zu Therapieeinrichtungen auch Einf. 69. Zu den Kosten Rn 39, 47; zum Einverständnis der ErzBerechtigten u. des J Rn 38, 44; zum BtMG § 45, 54 ff u. § 17, 40 ff. Siehe auch § 93a. Die Substitution mit Methadon/Polamidon kann im Einzelfall hilfreich sein (zu den 43 Rechtsgrundlagen vgl. insbes. § 13 BtMG u. § 5 BtM-VerschreibungsVO)167. Erforderlich sind jedoch ua eine sorgfältige Indikationsstellung und begleitende soziale und therapeutische Maßnahmen. Nach vorliegenden Erfahrungen führen Methadon-Programme zu einer gesundheitlichen und einer gewissen sozialen Stabilisierung, die Überwindung der Drogenabhängigkeit gelingt aber bisher anscheinend nur in wenigen Fällen168. Quensel169 und Grimm170 stehen positiv zu Methadon. Butzko171 meint, Methadon werde das Drogenproblem nicht lösen, leiste aber einen humanitären Beitrag. Demgegenüber hat das Berliner Methadon-Colloquium (1984) Methadon-Programme abgelehnt172. Ostendorf/Drenkhahn173 schlagen ein Verbundsystem von Abstinenz- und Ersatzmitteltherapie vor, räumen aber ein, dass bloßes Verschreiben von Ersatzdrogen lebensgefährdend sein kann, wie die Todesrate solcher Patienten beweise. MethadonProgramme können eine abstinenzorientierte Therapie nicht ersetzen, sondern nur ergänzen. Sie dürfen diese daher nicht verdrängen, sondern kommen dann in Betracht, wenn abstinenz-

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Dazu Schneider Suchtgefahren 1984, S. 229. Brunner Zbl. 80, 415. Siehe Brömer/Weinrich Kriminalpädagog. Praxis 86, 16. Vgl. insgesamt Eisenberg/Kölbel 54. Näher Brunner Zbl. 80, 417 unter Hinweis auf Täschner JWohl 78, 410. Zur Verweigerung einer Urinprobe LG Kleve NStZ 89, 48. Siehe näher Katholnigg NJW 00, 1225 ff. Vgl Raschke Substitutionstherapie, 1994; Täschner Drogen, Rausch u. Sucht, 1994; Bühringer/Künzel/Spies Methadon-Expertise, 1995; Hellebrand Methadon – Chance oder Illusion? 2. Aufl. 1989 u. ZRP 89, 161. 169 Mit Drogen leben, 1985, S. 127. 170 Die Lösung des Drogenproblems, 1985. 171 BewH 87, 306. 172 BewH 87, 320; vgl. auch Kühne ZRP 89, 1 u. Heckmann BewH 89, 80. 173 Grdl. zu § 93a, 6. 127

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2. Teil. Jugendliche

orientierte Programme nicht greifen und Substitution zur Verhinderung schwerer Schäden angezeigt ist174. Allg. zum Umgang mit Drogendelinquenz Einf. 66 ff.

6. Ungehorsamsfolgen 44 Die Befolgung der Weisungen kann nicht erzwungen, sondern nur die Nichtbefolgung mit JA geahndet werden (§ 11 III). Darüber soll der J belehrt werden (RL 8: aktenkundig!); darauf hat die JStA hinzuwirken (RL 8). Verbieten die ErzBerechtigten die Befolgung der Weisung (z.B. den Heimaufenthalt), so handelt der J nicht schuldhaft und es kann nur durch Änderung der Weisung geholfen werden (§ 11, 4). Weisungen sollten deshalb möglichst nicht gegen den Willen der ErzBerechtigten erteilt werden (Rn 6)175. Zur Zurücknahme der Einwilligung § 11, 8 u. § 26a, 5 aE.

7. Überwachung 45 Die Überwachung der Weisungen und häufig deren Durchführung obliegt der JGH (§ 38 V 1); deshalb muss sie vor der Anordnung gem. § 38 VI 3 gehört werden (RL 7; näher § 45, 50). Vollstreckungsleiter ist der JRichter (§ 82 I 2). Da die JGH nur als Helfer des JRichters überwacht, darf auch dieser selbst die Einhaltung der Weisungen kontrollieren. Neben der JGH kann auch ein bes. Helfer zur Überwachung herangezogen werden176. Die amtl. BewHelfer haben Weisungen nur zu überwachen, wenn diese im Rahmen einer Strafaussetzung zur Bew. erteilt sind177. Die Überwachung der Weisungen ist wesentlich. Sie hilft dem J, macht erhebliche Verstöße dem Richter bekannt und ermöglicht bei Änderung der Umstände, nicht mehr wirksame oder gar schädlich gewordene Weisungen abzuändern oder zu ersetzen178.

8. Versicherungsschutz und Kosten der Durchführung 46 Fragen des Versicherungsschutzes treten zum einen auf, wenn der J bei der Erfüllung von Weisungen einen Unfall erleidet. Bei Weisungen nach Abs. I 3 Nr. 3 besteht gesetzlicher Unfallversicherungsschutz nach § 2 Abs. I Nr. 1 SGB VII, bei Arbeitsweisungen gem. Abs. I 3 Nr. 4 und Arbeitsauflagen gem. § 15 I Nr. 3 nach § 2 Abs. 2 SGB VII179. Dieser Schutz greift auch ein, wenn die Arbeitsleistung aufgrund staatsanwaltlicher oder jbehördlicher Anordnung erfolgt180. Er kommt auch in Betracht, wenn im Rahmen eines TOA oder einer Schadenswiedergutmachung nach § 15 I Nr. 1 Arbeitsleistungen erbracht werden181. Im Übrigen greift die jeweilige Krankenversicherung des J. Bei Schädigung anderer durch den J haftet dieser nach den allg. gesetzlichen Vorschriften, ggf. unterstützt durch eine private Haftpflichtversicherung. Trifft der Schaden nicht die Arbeits-Einsatzstelle, sondern Dritte, kann er durch eine kommunale Haftpflichtversicherung oder eine Betriebshaftpflichtversicherung abgedeckt sein182. Lücken im Versicherungs-

174 Dölling Eindämmung des Drogenmißbrauchs zwischen Repression u. Prävention, 1995, S. 24: s. auch Laufs NJW 99, 1769, nach dem die ärztlich verordnete Substitution höchste Vorsicht verlangt u. für den Arzt die abstinenzorientierte Therapie im Vordergrund stehen muss, u. Servais Kriminalistik 99, 124 zu den Risiken von Methadon. 175 Beulke/Swoboda Rn 319; Middendorff RdJ 55, 141. 176 Für Unzulässigkeit DSS/Diemer 63; Ostendorf 29; die Zulässigkeit bezweifelnd Eisenberg/Köbel 62. 177 Dallinger/Lackner 41. 178 Brunner Zbl. 73, 58; Kellner Zbl. 68, 65. 179 Näher Brosi ua ZJJ 21, 248. 180 Brandt NStZ 07, 194. 181 Wimmer DVJJ-J 98, 37; Höynck DVJJ-J 00, 286. 182 Wimmer aaO, 36; Höynck aaO, 286. 128

Weisungen

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schutz, die insbes. bei der Verursachung von Schäden der Ableistungsstelle bestehen können, sollten gesehen und regional übergreifend gelöst werden183. Die zur Durchführung der Weisung erforderlichen Kosten gehören nicht zu den Kosten und 47 Auslagen des § 74, weil die Weisung nicht erzwingbar ist (Rn 44), es sich also nicht um Kosten der Vollstreckung handelt (§ 74, 10)184. Wo die Kosten für die Durchführung der Weisung dem J oder den Eltern zur Last fallen, kann die Weisung unzumutbar sein (Rn 10). Bei ausreichenden Eigenmitteln des J oder insbes. Hw. aber kann die Übernahme zumutbar und erz. sein. Dagegen will Ostendorf185 die Kosten ambulanter Maßnahmen als notwendige Auslagen des J definieren und nach § 74 der Staatskasse aufbürden, um ein Hindernis für ambulante Maßnahmen zu beseitigen. Wenn es sich bei der vom JRichter angeordneten Weisung um eine Hilfe zur Erz. iSd §§ 27 ff 48 SGB VIII handelt, greift der am 1.10.2005 aufgrund des G zur Weiterentwicklung der Kinder- und JHilfe (KICK) in Kraft getretene § 36a SGB VIII ein, der an der früheren Rechtslage substantiell nichts geändert hat186. Danach kann das Urteil des JRichters das JAmt – abgesehen von der Betreuungsweisung – nicht im Einzelfall zur Durchführung der Weisung verpflichten187. Führt das JAmt die Weisung durch, hat es die Kosten der Maßnahme zu tragen188. Der soziale Trainingskurs fällt unter die soziale Gruppenarbeit iSv § 29 SGB VIII, der Betreuungshelfer ist in § 30 SGB VIII aufgeführt (vgl. auch § 38 V 3 JGG). Auch andere jrichterliche Weisungen, wie z.B. der Täter-Opfer-Ausgleich, können Hilfen zur Erz. iSd SGB VIII zum Gegenstand haben, denn der Katalog der §§ 28 bis 35 SGB VIII ist nicht abschließend (vgl. § 27 II 1 SGB VIII: „insbesondere“). Ob die Maßnahmen durchgeführt werden, richtet sich nach der Beurteilung des erz. Bedarfs durch das JAmt (§ 27 II 2 SGB VIII). Der JRichter sollte daher Weisungen, die eine Hilfe zur Erz. iSd SGB VIII betreffen, nur verhängen, nachdem er zuvor mit der JGH die Durchführung der Maßnahmen abgeklärt hat (s. auch § 38 VI 3 JGG). Aus dem Zusammenspiel von JGG und SGB VIII (§§ 9 ff JGG, §§ 27 ff, 52 II SGB VIII) ergibt sich allerdings eine allg. Verpflichtung des JAmts, in angemessenem Umfang Hilfen zur Erz. für junge Straffällige anzubieten189. JRichter und JAmt müssen bei ihren Entscheidungen die wechselseitigen Auffassungen jeweils angemessen berücksichtigen. Auch bei dieser Frage kommt der vertrauensvollen Zusammenarbeit entscheidende Bedeutung zu. Teilweise wird angenommen, § 36a SGB VIII verstoße gegen den verfassungsrechtlichen Richtervorbehalt gemäß Art. 92 GG bzw. die richterliche Unabhängigkeit nach Art. 97 GG190. Einen auf die Verletzung von Art. 92 GG gestützten Vorlagebeschluss des AG Eilenburg191 hat das BVerfG192 als unzulässig angesehen193. Siehe auch § 12, 7. Zu Vollstreckungsanordnungen im Bußgeldverfahren vgl. § 2, 16 u. § 82, 16.

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Brandt (FN 180), 195. Eisenberg/Kölbel 64; Löwe/Rosenberg/Hilger26 § 465 StPO 11; Lobinger S. 469. 29 u. ZRP 88, 432. Meier ZJJ 06, 261; Trenczek ZJJ 07, 37. MMT/Trenczek § 52 SGB VIII Rn 66; Coskun S. 131, 155; Lobinger S. 469; Goerdeler ZJJ 05, 315, 316; Meier ZJJ 06, 264; Strafrechtsausschuss der Justizministerkonferenz ZJJ 07, 439; Miehe DVJJ-J 97, 266; H. Pfeiffer DVJJ-J 96, 137; Wiesner FS Heinz, 2012, S. 535; aA Ostendorf/Sommerfeld § 38, 21 f u. – vor Inkrafttreten des § 36a SGB VIII – Bizer Zbl. 92, 619; Hohendorf BewH 94, 92. 188 Meier ZJJ 06, 262, 264; Strafrechtsausschuss der Justizministerkonferenz ZJJ 07, 440; Miehe aaO; H. Pfeiffer DVJJ-J 06, 135; aA – vor Inkrafttreten des § 36a SGB VIII – Mayer DVJJ-J 93, 64. 189 Vgl. AG Rudolstadt NStZ-RR 16, 229: Das JGericht kann dem JAmt keine verbindliche Anordnung erteilen, das JAmt ist aber bei Vorliegen der Voraussetzungen des SGB VIII verpflichtet, die erz. Hilfe zu erbringen (= ZJJ 16, 307 mit Anm. Bausch/Feuerhelm). 190 Ostendorf/Sommerfeld § 38, 22; Ostendorf ZJJ 06, 160 f; Bareis ZJJ 06, 11; für Verfassungsmäßigkeit Goerdeler ZJJ 06, 7 ff; Trenczek ZJJ 07, 36; Brandt NStZ 07, 192. 191 ZJJ 06, 85. 192 ZJJ 07, 213. 193 Dazu Franzen ZJJ 08, 17. Zur Kostenerhebung bei dem J u. seinen Eltern nach dem SGB VIII s. Spiehl DVJJ-J 91, 263. 129

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9. Weisungen bei Drogentätern 49 Der Erfolg von Weisungen bei Drogentätern bleibt stets problematisch (Rn 40 f); der JRichter darf und soll aber auch ein Risiko des Misslingens auf sich nehmen, zumal ja Weisungen stets den Erfordernissen ihrer Wirkung angepasst werden können (§ 11 II). 50 Bei Drogenabhängigen bieten sich Weisungen nur dann an, wenn der Abhängige körperlich bereits entzogen ist und nach gründlicher Erforschung der Persönlichkeit ausreichende Aussicht auf Erfüllung besteht. Denn für den Weigerungsfall sind sie mit bis zu 4 Wochen JA als Ungehorsamsstrafe bewehrt und es geraten dann auf solchem Umwege doch wieder arrestuntaugliche Abhängige in den JA (§ 16, 29). Bei noch bestehender physischer Drogenabhängigkeit sind Weisungen aussichtslos und schlechthin ungeeignet194. Die Weisung nach § 10 II, sich einer Entziehungskur zu unterziehen (Rn 40), kann unterstützt werden durch Weisungen, die sich auf Aufenthalt und Wohnung beziehen (§ 10 I Nr. 1, 2; Rn 11), und durch die Weisung, Arbeitsleistungen zu erbringen (§ 10 I Nr. 4; Rn 13), insbes. aber an einem Urinkontrollprogramm teilzunehmen (näher Rn 33; § 21, 24). Die Unterstellung unter einen Betreuungshelfer nach Abs. I Nr. 5 (näher Rn 19) empfiehlt sich dabei regelmäßig. Die Weisung, eine Ausbildungsoder Arbeitsstelle anzunehmen (Nr. 3), dürfte für viele Drogenabhängige verfrüht und, als von vornherein aussichtslos, auch erz. abträglich sein. Die Weisungen, den Verkehr mit bestimmten Personen oder den Besuch von Drogenlokalen zu unterlassen (Abs. I Nr. 8), erscheinen nur vordergründig bes. geeignet, denn sie können nicht so klar und gezielt erteilt werden, wie es geboten, und ihre Einhaltung kann nicht so zuverlässig überwacht werden, wie es unerlässlich ist, um nicht als nur papierene Drohung eher das Gegenteil zu bewirken. Die erz. gebotene Überwachung dient zugleich der Auslotung und Anregung eventuell notwendig werdender Änderungen der Weisungen (§ 11, 2, 3). Der JRichter könnte, soweit gesetzlich zulässig (Rn 2–4, 33), geeignete weitere Weisungen „erfinden“, es muss aber vor filmnahen, psychologisierenden Spielereien gewarnt werden (Rn 4)195. Zur Therapie von Suchtstörungen Einf. 69. Bei noch nicht drogenabhängigen Tätern, auch bei Anfangs-Kleindealern, verspricht der Ein51 satz bloßer Weisungen eher Erfolg, auch die Möglichkeiten, geeignete auf die Person des Täters zugeschnittene Weisungen einzusetzen, sind erheblich erweitert. Die Weisung, eine Drogenberatungsstelle aufzusuchen, kann hier helfen, denn auch der erzwungene Beginn kann zu freiwilliger und fruchtbarer Mitarbeit führen; ein solcher Versuch ist dem Täter zuzumuten und aller Mühe wert196. Weisungen können bei geeigneten Tätern uU durch vorgehenden JA eingeleitet und gestützt werden (§ 16, 28). Zum Widerruf § 26a, 17. Zu Auflagen § 15, 24; allg. zu Drogentätern Einf. 66–71.

§ 11 Laufzeit und nachträgliche Änderung von Weisungen; Folgen der Zuwiderhandlung (1) 1Der Richter bestimmt die Laufzeit der Weisungen. 2Die Laufzeit darf zwei Jahre nicht überschreiten; sie soll bei einer Weisung nach § 10 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 nicht mehr als ein Jahr, bei einer Weisung nach § 10 Abs. 1 Satz 3 Nr. 6 nicht mehr als sechs Monate betragen. (2) Der Richter kann Weisungen ändern, von ihnen befreien oder ihre Laufzeit vor Ablauf bis auf drei Jahre verlängern, wenn dies aus Gründen der Erziehung geboten ist. (3) 1Kommt der Jugendliche Weisungen schuldhaft nicht nach, so kann Jugendarrest verhängt werden, wenn eine Belehrung über die Folgen schuldhafter Zuwiderhandlung erfolgt war. 2Hiernach verhängter Jugendarrest darf bei einer Verurteilung insgesamt die Dauer von

194 Ähnlich Kreuzer in Schäfer, Hrsg., Grundlagen der Kriminalistik, Bd. 9, 1972, S. 282 f. 195 Vgl. insgesamt Brunner Zbl. 80, 415, 419. 196 Zur Weisung, an einem Drogenseminar teilzunehmen, Schaar Zbl. 85, 118. 130 https://doi.org/10.1515/9783110686401-013

Laufzeit und nachträgliche Änderung von Weisungen; Folgen der Zuwiderhandlung

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vier Wochen nicht überschreiten. 3Der Richter sieht von der Vollstreckung des Jugendarrestes ab, wenn der Jugendliche nach Verhängung des Arrestes der Weisung nachkommt. 1. Hw.-J: § 105 I. – 2. ErwG: § 104 I Nr. 1, IV; § 65, 4. – 3. Sold. Rn 4, § 112a Nr. 3.

Richtlinien zu § 11 1.

2.

3.

Bei Weisungen, denen der Jugendliche längere Zeit hindurch nachzukommen hat, empfiehlt es sich, in angemessenen Zeitabständen zu prüfen, ob es aus Gründen der Erziehung geboten ist, die Weisung oder ihre Laufzeit zu ändern oder die Weisung aufzuheben. Zur Anhörung der Jugendgerichtshilfe, eines bestellten Betreuungshelfers und des Leiters eines sozialen Trainingskurses wird auf § 65 Abs. 1 Satz 2 hingewiesen. Unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit soll die Staatsanwaltschaft darauf hinwirken, dass bei Zuwiderhandlungen gegen Weisungen Jugendarrest nur verhängt wird, wenn mildere Maßnahmen, z.B. eine formlose Ermahnung, nicht ausreichen. Ist Jugendarrest nach § 11 Abs. 3 Satz 1 zu verhängen, so regt die Staatsanwaltschaft an, ein solches Maß festzusetzen, das im Wiederholungsfall gesteigert werden kann, falls sich dies aus erzieherischen Gründen als notwendig erweist. Vor der Verhängung von Jugendarrest ist dem Jugendlichen Gelegenheit zur mündlichen Äußerung zu geben (§ 65 Abs. 1 Satz 3).

Schrifttum Kratochwil-Hörr Der Beschlussarrest: Dogmatische Probleme u. Anwendungspraxis im Land Berlin, 2016; Seidl/Holthusen/Hoops Ungehorsam? – Arrest! Ungehorsamsarrest als vergessene Herausforderung im JStrafverfahren, ZJJ 13, 292; Wohlfahrt Zur Rechtsnatur des Beschlussarrestes nach § 11 III JGG, ZJJ 12, 392.

Der Richter bestimmt im Urteil für jede Weisung deren Laufzeit, die 2 Jahre ab Rechtskraft nicht 1 überschreiten darf. Diese in Abs. I getroffene Regelung folgt der Erfahrung, dass eine längere Dauer durch die zunehmende Entfernung von der die Weisung auslösenden Tat, durch Abstumpfung und Gewöhnung gerade bei jungen Menschen der gewünschten erz. Wirkung entgegenstünde. Nach Abs. I 2 HS 2 aber beträgt grds. die Laufzeit bei der Betreuungsweisung höchstens 1 Jahr (näher § 10, 19 aE) und bei der Weisung, an einem sozialen Trainingskurs teilzunehmen, höchstens 6 Monate (näher § 10, 22 aE). Der Vergleich der Abs. I 2 HS 2 und II ergibt, dass eine nachträgliche Verlängerung nach Abs. II bei diesen beiden Weisungen kaum in Betracht kommt. Bei den übrigen Weisungen aber kann der JRichter in bes. Fällen die Laufzeit um höchstens 1 Jahr, also auf insgesamt 3 Jahre, aus Gründen der Erz. verlängern (Abs. II). Der „Einbruch in die Rechtskraft“ durch Änderung einer Weisung gemäß Abs. II nach dem 2 Grundsatz der Reaktionsbeweglichkeit (Einf. 106) ist nicht nur möglich, wenn sich die Tatsachen geändert haben (Änderung der persönl. Verhältnisse, der Entwicklung, Erreichen des erstrebten erz. Erfolges, Wehrdienst: § 112a Nr. 3 S. 2), sondern auch dann, wenn die Situation anders beurteilt wird (J ist schwerer oder leichter erziehbar, die neue Umgebung oder Aufsichtsperson erweist sich als ungeeignet, die Weisung kann nicht überwacht werden); Verschulden ist nicht erforderlich. Denn das Gesetz verlangt nur allg., dass Gründe der Erz. eine Änderung gebieten. Die Achtung vor der Rechtskraft kann einer Abänderung nicht entgegenstehen, weil im Hinblick auf § 11 II nicht die angeordnete Weisung in Rechtskraft erwächst, sondern nur die Anordnung, dass dieser J durch Weisungen in der jeweils angemessenen Form erzogen werden soll (§ 10, 1)1. Wegen der Grenzen Rn 4. – Wenn eine Änderung notwendig ist, muss sie vorgenommen werden; das ist für den Wehrdienst in § 112a Nr. 3 S. 2 ausdrücklich ausgesprochen, gilt aber allg. Länger währende Weisungen sind deshalb von Zeit zu Zeit zu überprüfen, ob sie noch den Verhältnissen entsprechen (RL 1). Das alles gilt auch für Auflagen (§ 15 III 1; § 15, 20). Bei nachträglichen Entscheidungen über Weisungen nach Abs. II und III (oder über Aufla- 3 gen § 15 III 1) soll der JRichter neben der StA und dem J (§ 65 I 1) den Vertreter der JGH, den Betreuungshelfer (vgl. § 10, 20) oder den Leiter des sozialen Trainingskurses (vgl. § 10, 22) anhö1 Grethlein S. 98 f. 131

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ren (§ 65 I S. 2; RL 1 S. 2). Dies ist insbes. dann geboten, wenn diese die Weisung (oder Auflage) zu überwachen hatten. Der Richter entscheidet nach seinem pflichtgemäßem Ermessen („soweit erforderlich“); idR wird sich mündliche Anhörung empfehlen. Die neuen Weisungen dürfen auch härter und anders geartet sein2 (vgl. auch § 23, 5 für BewAuflagen). Es sind die allg. Grenzen zu beachten, die den Weisungen gesetzt sind. Bes. wichtig ist, dass auch die neuen Weisungen nicht von der Tat losgelöst werden dürfen; sie müssen also auch zu ihr in Beziehung stehen und angemessen sein (§ 9, 6 u. Einf. 96, 97). – Auch eine bloße Ergänzung durch eine weitere Weisung ist möglich, wenn schon eine Weisung erteilt war. Ebenso können alle Weisungen aufgehoben werden, z.B. wenn der Erfolg erreicht ist oder mit Weisungen nicht zu erreichen ist. Aufhebung kann bes. bei Beginn von Wehrdienst angebracht sein (§ 112a Nr. 3 S. 2)3. Eine Umwandlung von Weisungen in Auflagen ist nicht zulässig. Auflagen haben eine andere Funktion als Weisungen. Sie können nicht im Nachhinein angeordnet werden, ohne dass ihre Voraussetzungen in der Hauptverhandlung festgestellt worden sind4. Das gilt auch bei Soldaten, denn § 112a Nr. 3 S. 2 hebt die Funktionsunterschiede zwischen den beiden Rechtsfolgenarten nicht auf5. Der vorsätzliche oder fahrlässige Verstoß gegen eine Weisung (oder gegen eine Auflage oder BewAuflage – §§ 15 III 2, 23 I 4) ist ein spezifisch jstrafrechtl. Tatbestand des Ungehorsams6 und kann mit JA geahndet werden. Ungehorsamsarrest ist unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur bei erhebl. Verstößen angebracht (RL 2; s. § 38 V 2); oft genügt eine Ermahnung oder eine Änderung der Weisung. Doch ist auch eine zu große Geduld des JRichters erz. gefährlich7. Bevor der JRichter Ungehorsamsarrest verhängt, muss er dem J Gelegenheit zur mündlichen Äußerung geben (RL 3; näher § 58, 4 u. § 65, 6). Denn es wäre zu befürchten, dass Trotz und Gleichgültigkeit leicht schriftliche Mitteilungen vergeblich sein lassen. Eine mündliche Anhörung aber gibt dem J Gelegenheit, sich zu eröffnen und Missverständnisse zu klären, der Richter kann das Verhalten des J besser einschätzen. Aber nicht „mündliche Anhörung“ ist gefordert, es muss dem J nur – zwingend – Gelegenheit dazu gegeben werden. Vereitelt der J die Anhörung, aus welchem Grund auch immer, kann sein Erscheinen nicht erzwungen werden (vgl. § 60, 7 u. § 65, 7). Der J kann aber dann aus der Nichtanhörung keine Rechte herleiten. Auch die Androhung des Arrestes kann schon Wirkung zeigen, in Einzelfällen, die erkannt werden wollen, auch ein ruhiges Anhörungsgespräch. Die Verhängung von JA wegen Ungehorsams gegen Weisungen und Auflagen kann auch gem. §§ 154 StPO, 47 JGG unterbleiben, z.B. wenn der J inzwischen zu einer vollstreckbaren JStrafe verurteilt worden ist; eine solche Einstellung ist auch noch möglich, wenn schon JA verhängt, der Beschluss aber noch nicht rechtskräftig ist8. JA kann nur verhängt werden, wenn der Täter belehrt war (wohl Bedingung der Strafbarkeit; vgl. Hinweise zur Belehrung § 10, 5, 12), auch sonst schuldhaft gehandelt hat, und wenn die Zuwiderhandlung nachgewiesen ist. Ist die Befolgung der Weisung z.B. wegen eines entgegenstehenden Gebotes des ErzBerechtigten nicht zumutbar, fehlt die Schuld. Bei einem Konflikt mit militärischen Pflichten gehen diese vor (§ 10, 8). Die Zuwiderhandlungen gegen die Weisungen und Auflagen sind für den Soldaten dann nicht rechtswidrig9. Befolgt ein mindestens 16 Jahre alter J eine mit sei2 3 4 5 6

Dallinger/Lackner 1; DSS/Diemer 8; aA Ostendorf 4 „Vertrauensprinzip“. Potrykus NJW 57, 815. DSS/Diemer 6; Eisenberg/Kölbel 5; Ostendorf 4; aA Böttcher/Weber NStZ 90, 560 u. 91, 8 mit FN 69. DSS/Diemer aaO u. § 112a, 11; aA Ostendorf aaO. Dallinger/Lackner 7; Böhm/Feuerhelm S. 193; Itzel S. 37; Miehe Die Bedeutung der Tat im JStrafrecht, 1964, S. 43; Dölling ZJJ 14, 93; für reines Beugemittel DSS/Diemer 11; HK-JGG/Buhr 19; für Ersatzmaßnahme, mit der die ursprüngliche Reaktion korrigiert wird, Ostendorf 11; anderweitige Konzeptionen bei Potrykus B 4 u. Schnitzerling JZ 56, 274. 7 Für konsequente Anwendung des Ungehorsamsarrestes Kropp NJ 03, 240; gegen den Ungehorsamsarrest Hinrichs DVJJ-J 96, 59; Heinz S. 98; für Beibehaltung Franzke RdJ 18, 441; zur Anwendungspraxis s. Kratochwil-Hörr S. 70 ff. 8 AA DSS/Diemer 23; Eisenberg/Kölbel 23. 9 Dallinger/Lackner § 112a, 22. 132

Laufzeit und nachträgliche Änderung von Weisungen; Folgen der Zuwiderhandlung

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ner Zustimmung erteilte Therapieweisung nach § 10 II nicht, darf nach dem LG Marburg10 kein JA verhängt werden, weil in der Nichtbefolgung eine Rücknahme der Zustimmung liegt (s. auch § 26a, 5 aE). – Die Weisung muss hinreichend bestimmt sein. Die Ermittlung des objektiven Tatbestandes ist schwierig, wenn die Weisung nicht bestimmt ist. Der Nachweis des subjektiven Tatbestandes fällt schwer, wenn die Weisung nicht klar und verständlich ist. JA ist unzulässig, wenn bei der Weisung, Kontakt zur Drogenberatung zu halten, keine Laufzeit bestimmt und keine nähere Ausgestaltung der Kontaktaufnahme zur Drogenberatung erfolgt ist11. Weiter muss eine Weisung verletzt sein, die im Urteil, nach § 11 II, als BewAuflage (§ 23 I) oder nach § 53 vom Familiengericht erteilt wurde. Da Ungehorsamsarrest einen Schuldspruch durch Urteil voraussetzt, genügt es nicht, wenn die Weisung nach §§ 45, 47 ergangen ist12 oder vom Familiengericht in eigener Zuständigkeit ausgesprochen worden ist. Kann die Weisung wegen Ablaufs der Laufzeit nicht mehr befolgt werden, darf JA nach dem LG Landau13 nicht verhängt werden, denn er kann nicht mehr der Durchsetzung der Weisung dienen. Dass der inzwischen ältere Täter bei einer strafbaren Handlung zum gleichen Zeitpunkt nicht mehr nach materiellem JRecht abzuurteilen wäre, steht der Verhängung von JA hier nicht entgegen14. Es kann wegen des einzelnen Verstoßes JA bis zum Höchstmaß, insgesamt aber bei einer 9 Verurteilung nicht über die Dauer von 4 Wochen hinaus verhängt werden (Abs. III 2). Dies gilt auch, wenn die Weisung, deren Nichterfüllung geahndet wird, neben JA ausgesprochen worden ist; das Höchstmaß gilt also unabhängig für beide Arten des JA15. Das ergibt sich auch aus BVerfG NJW 89, 2529. Andernfalls wären Weisungen und Auflagen neben einem JA von 4 Wochen nicht durchsetzbar16. Für das Höchstmaß ist die Verhängung, nicht die Vollstreckung maßgeblich. Ein Absehen von der Vollstreckung nach Abs. III 3 ist danach für die Berechnung unerheblich17. Bei wiederholter Verhängung von JA (§ 16, 15) ist Vorsicht geboten (vgl. dazu RL 2); in diesen Fällen wird oft die Weisung den Verhältnissen nicht gerecht18. Der Ungehorsamsarrest kann nicht mit Sanktionen des JGerichts zu einer einheitlichen Entscheidung nach § 31 zusammengefasst werden (näher § 31, 39)19. Von der Vollstreckung des Ungehorsamsarrestes muss der Richter absehen, wenn der J nach 10 Verhängung des JA der Weisung nachkommt (Abs. III 3). Diese Regelung engt allerdings den JRichter sehr ein und nimmt ihm eine Reaktionsmöglichkeit, denn gerade erz. Gründe können gleichwohl die Vollstreckung fordern, auch in dem gewiss seltenen Fall, dass der J es mehrfach darauf ankommen lassen will. Das gilt auch für das OWiGVerfahren (§ 82, 13, 18). Das Absehen von der Vollstreckung des Ungehorsamsarrestes nach §§ 11 III 3, 15 III 2 oder § 98 II, III OWiG obliegt dem Richter des ersten Rechtszuges (§ 65 I, § 104 I OWiG). Dies gilt auch, wenn die Vollstreckung bereits an den Vollstreckungsleiter der JAAnstalt abgegeben worden ist20. Die Weisung oder Auflage bleibt unabhängig von Verhängung und Vollzug des JA bestehen21, es sei denn, der Richter befreit aus10 NStZ-RR 06, 122. 11 LG Bielefeld StV 01, 175. Vgl. auch KG JR 87, 124 zu § 145a StGB mit Anm. Grothe JR 88, 258, wo die Weisung, sich bei der Führungsaufsichtsstelle und dem BewH zu den von diesen zu bestimmenden Zeitpunkten zu melden, als zu unbestimmt bezeichnet worden ist und auf § 68b I 2 StGB hingewiesen wird. 12 OLG Düsseldorf MDR 94, 505. 13 StV 03, 461. 14 Böhm Einf. in das JStrafrecht, 3. Aufl. 1996, S. 178; Potrykus B 7; aA Ostendorf 14. 15 BeckOK-JGG/Kreiner/Gertler 26; DSS/Diemer 18; HK-JGG/Buhr 22; Wohlfahrt ZJJ 12, 395; StraFo 17, 439; Dölling ZJJ 14, 94; aA LG Zweibrücken, ZJJ 12, 88 mit zust. Anm. Eisenberg ZJJ 12, 75; Ostendorf 13. 16 Dölling aaO. 17 OLG Zweibrücken StV 91, 425 = NStZ 92, 84 mit Anm. Ostendorf; DSS/Diemer 17; Eisenberg/Kölbel 21. 18 Vgl. LG Hannover NdsRpfl. 69, 191 zur Frage der Verhältnismäßigkeit bei wiederholter Anordnung von Ungehorsamsarrest. 19 Ebenso Eisenberg Zbl. 89, 17, 18. 20 BGH 48, 1 mit Besprechung Landmann Rpfl. 03, 483 = JR 03, 215 mit zust. Anm. Eisenberg; DSS/Diemer 22; LBN/ Baier Rn. 631; Ostendorf/Drenkhahn § 65 Rn 2; Streng Rn 374; Wohlfahrt StraFo 17, 442; aA Böttcher/Weber NStZ 91, 8. 21 Übereinstimmend DSS/Diemer 21. 133

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drücklich von ihr, was nur in ganz bes. Fällen sinnvoll sein wird. Es könnte sich sonst in der Praxis ein nicht vorgesehenes Wahlrecht des J zwischen Erfüllung der Weisung oder Ungehorsamsarrest einspielen. Der Ungehorsamsarrest ist nicht eine „Ersatzfreiheitsstrafe“, sondern er soll die künftige Befolgung der Weisung oder Auflage sichern22, es stünde ohne ihn die Sanktion erzwidrig nur auf dem Papier23. Nach Landmann24 muss der JRichter nach Verhängung des JA dem J eine Frist zur nachträglichen Erfüllung der Weisung setzen und darf der Richter die Vollstreckung erst einleiten, wenn der J die Nachfrist ungenutzt verstreichen lässt. Nach dem Gesetz hat der J jedoch vor Verhängung des JA Gelegenheit, die Weisung zu erfüllen oder eine Entscheidung nach Abs. II zu erreichen (vgl. § 65 I 3), sodass es einer Nachfristsetzung nicht bedarf. Die Auffassung von Landmann25, nach Einleitung der Vollstreckung dürfe von dieser wegen nachträglicher Erfüllung der Weisung nicht mehr abgesehen werden, ist mit Abs. III 3 nicht vereinbar. Der Ungehorsamsarrest ist eine spezifische Maßnahme der gebotenen Überwachung der Weisung (oder BewAufsicht) und daher von ihr selbst unabhängig26, was Dörig27 übersieht, der von der Vollstreckung des Ungehorsamsarrestes absehen will, wenn die Weisung gegenstandslos geworden ist. Bestenfalls könnte aus III S. 3 ein dahingehendes Ermessen hergeleitet werden. Nach Eisenhardt28 ist der Ungehorsamsarrest bei einer wachsenden Gruppe von Probanden geeignet, die Erfüllung von Weisungen und Auflagen zu erzwingen, wobei diese allerdings denen gleichen, die als größere Gruppen für den JA grds. nicht geeignet erscheinen. Dies alles gilt entsprechend beim Verstoß gegen eine Auflage (§ 15 III), gegen eine BewAuflage (§ 23 I 3) und in den Fällen des § 98 II, III OWiG (§ 82, 13, 18). Zuständigkeit (Rn 10), Verfahren u. Anfechtung § 65; § 53, 8; Einheitsprinzip § 31, 39; der Ungehorsamsarrest wird nach § 60 I Nr. 2 BZRG eingetragen, was im Falle des § 98 II OWiG nicht gilt29. Einzutragen ist nach § 60 III BZRG auch die vollständige Nichtvollstreckung eines Ungehorsamsarrestes. Bei Drogenabhängigen ist JA schlechthin ungeeignet (näher § 16, 29). Dies wird aus den dort ausgeführten Gründen auch für den Ungehorsamsarrest gelten müssen, was zu Schwierigkeiten führen kann.30

§ 12 Hilfe zur Erziehung Der Richter kann dem Jugendlichen nach Anhörung des Jugendamts auch auferlegen, unter den im Achten Buch Sozialgesetzbuch genannten Voraussetzungen Hilfe zur Erziehung 1. in Form der Erziehungsbeistandschaft im Sinne des § 30 des Achten Buches Sozialgesetzbuch oder 2. in einer Einrichtung über Tag und Nacht oder in einer sonstigen betreuten Wohnform im Sinne des § 34 des Achten Buches Sozialgesetzbuch in Anspruch zu nehmen.

22 Böttcher/Weber NStZ 91, 8. 23 AA Ostendorf 12, nach dem mit der Verbüßung eines „Zwangsarrestes“ von den zuvor angeordneten Weisungen zu befreien ist; nach Eisenberg/Kölbel 24 ist eine Befreiung angezeigt, wenn die Erforderlichkeit des JA auf fehlende Geeignetheit der Weisung hindeutet. 24 Rpfl. 99, 251. 25 AaO, 256; Rpfl. 03, 484, 489. 26 Vgl. BVerfG NJW 89, 2529. 27 DRiZ 87, 277. 28 Gutachten über den JA, 1989, S. 145. 29 Götz GA 73, 195. 30 Brunner Zbl. 80, 415, 419; Kreuzer Zbl. 74, 214. 134 https://doi.org/10.1515/9783110686401-014

Hilfe zur Erziehung

§ 12

1. [Hw.]: Rn 2; § 105 I. – 2. ErwG: § 104 I Nr. 1, IV; § 9, 9. – 3. Sold. Rn 8; § 112a Nr. 1.

Richtlinie zu § 12 Auf die Richtlinie Nr. 2 zu § 105 wird hingewiesen.

Den Hilfen zur Erz. kommt in der jstrafrechtlichen Praxis nur noch geringe Bedeutung zu. 2020 wurde lediglich bei 107 J ErzBeistandschaft und bei 17 Heimerz. angeordnet1. Das sind 0,5 bzw. 0,1 % aller ErzMaßregeln. Die ErzBeistandschaft iSd § 30 SGB VIII und die Unterbringung in einer Einrichtung über Tag und Nacht oder in einer sonstigen betreuten Wohnform iSd § 34 SGB VIII sind Hilfen, welche auf Antrag durch das JAmt angeordnet werden können und Zustimmung des Personensorgeberechtigten oder des „jungen Volljährigen“ (Rn 8) voraussetzen. Denn das SGB VIII versteht sich als reines „Leistungsgesetz“, was darin Ausdruck findet, dass Hilfen des SGB VIII nur auf Antrag der oa Zustimmungsberechtigten und nicht zwangsweise erfolgen dürfen. Ist sonach eine Hilfe nach dem SGB VIII geboten und wird von der zustimmungsberechtigten Person nicht zugestimmt, müssen die Hilfen also zwangsweise angeordnet werden, so ist der Weg über das Familiengericht (§§ 1666, 1837 BGB) oder den JRichter vorgesehen, soweit Hilfen nach dem SGB VIII im JGG als ErzMaßregeln (§ 9 Nr. 2 iVm § 12) angeordnet werden können (vgl. auch § 10, 34). Der JRichter kann also, wenn Weisungen nach §§ 9 Nr. 1, 10 oder Auflagen nach § 15 nicht mehr ausreichen oder erz. unangebracht sind, nach Anhörung des JAmts (Rn 6) dem J auferlegen, unter im SGB VIII genannten Voraussetzungen, die in Nr. 1 u. 2 des § 12 umschriebenen Hilfen in Anspruch zu nehmen. Die durch das KJHG in das JGG aufgenommene Formulierung „verpflichten, … Hilfe … in Anspruch zu nehmen“ hat das 1. G zur Änderung des SGB VIII in Anlehnung an die Terminologie des § 10 JGG2 durch die Formulierung ersetzt, dass der Richter dem Jugendlichen „auferlegen“ kann, die Hilfe in Anspruch zu nehmen. Schwenkel/Omar3 befürchten, dass durch Gleichsetzung der Sanktionen nach dem JGG und der Hilfen zur Erz. nach dem SGB VIII Unterschiede verwischt würden; denn nach dem SGB VIII finde Erz., mit Ausnahme der schulischen, im „staatsfernen Raum“ statt. Dagegen spricht sich Lempp4 dafür aus, § 12 JGG auf alle Maßnahmen der JHilfe zu erweitern. Die ErzBeistandschaft ist bei straffälligen J selten ein geeignetes Mittel und durch die vorverlegte Volljährigkeit noch weiter eingeschränkt. Der JRichter erteilt in den entsprechenden Fällen besser eine unmittelbar an den J sich wendende Betreuungsweisung (§ 10, 19), da der J durch § 11 III wenigstens mittelbar gezwungen ist, den Weisungen des Helfers nachzukommen. Die Hilfe zur Erz. nach Nr. 2 ist ein sehr schwerwiegender Eingriff (dazu Rn 9), der sorgsam zu prüfen fordert, ob nicht ambulante Maßnahmen genügen (Subsidiarität, Einf. 102) und ob nicht diese Maßnahmen außer Verhältnis zur Tat stehen (§ 5, 5), was bei der unbestimmten langen Dauer des Freiheitsentzuges nicht selten der Fall sein wird5. Wie für die frühere Fürsorgeerziehung6, lässt sich auch hier die Meinung vertreten, dass der JRichter die Anordnung der Maßnahme nach Nr. 2 besser dem Familiengericht nach § 53 oder § 1666 BGB überlassen sollte. Dieses ist freier, nicht an die Tat gebunden und es geht allein um die Erz. Hierfür spricht neben der Befürchtung, dass allzu häufige Anordnung durch das J(Straf)gericht diesem Institut scha1 2 3 4 5

Stat. BA, S. 346 f. BT-Drs. 12/3711, S. 47. Zbl. 90, 493, 494. Zbl. 94, 369. Zur Diskussion über eine geschlossene Unterbringung vgl. die Beiträge von Remschmidt ua in DVJJ-J 94, 269 ff; von Wolffersdorff RdJ 99, 319; Gerlich in DVJJ-BW, Hrsg., Auffällige Kinder u. J im Spannungsfeld zwischen Erlebnispädagogik, geschlossener Unterbringung u. Therapie, 2000 S. 27 ff. 6 Vgl. Potrykus UJ 56, 253. 135

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den könnte, vor allem, dass das JGerichtsverfahren durch die notwendigen diffizilen Ermittlungen in seinem Ablauf behindert wird. Anders stellt sich die Lage aber dar, wenn sich die Notwendigkeit, zu einer solchen Hilfe zu greifen, erst in der Hauptverhandlung ergibt und die erforderlichen Feststellungen vorliegen oder unschwer getroffen werden können. In der durch das KJHG geschaffenen Fassung hatte § 12 für die Anordnung von Hilfen zur Erz. das Einvernehmen mit dem JAmt verlangt. Dieses unter dem Aspekt der richterlichen Unabhängigkeit gem. Art. 92, 97 GG verfassungsrechtlich bedenkliche Erfordernis7 ist durch das 1. G zur Änderung des SGB VIII 1993 zu Recht durch die sinnvolle Voraussetzung der Anhörung des JAmts ersetzt worden8. Vgl. aber Rn 7. Der JRichter ordnet die – unbefristeten9 – Hilfen zur Erz. nach § 12 Nr. 1 und 2 an. Ihre Durchführung und Aufhebung obliegt dem JAmt und richtet sich nach den Vorschriften des SGB VIII (§ 82 II). Mit Rechtskraft des Urteils gilt der nach SGB VIII erforderliche Antrag auf Gewährung der ErzHilfe als gestellt und wird der J zur Mitwirkung am weiteren Verfahren verpflichtet10. Einer Zustimmung der ErzBerechtigten bedarf es nicht11. Rechtliche Möglichkeiten, die Mitwirkungspflicht gegenüber dem J durchzusetzen, hat der JRichter jedoch nicht12. Das JAmt trägt nach dem am 1.10.2005 in Kraft getretenen § 36a I SGB VIII (§ 10, 48) die Kosten der Hilfe grds. nur dann, wenn sie auf der Grundlage seiner Entscheidung nach Maßgabe des Hilfeplans erbracht wird, wobei dies auch dann gilt, wenn der J durch den JRichter zur Inanspruchnahme der Hilfe verpflichtet worden ist. Nach dem Inkrafttreten dieser Vorschrift kann nicht mehr von einer Verpflichtung des JAmtes zur Gewährung der Hilfe ausgegangen werden13. Der JRichter sollte daher die Hilfe nur anordnen, wenn er zuvor mit dem JAmt dessen Bereitschaft zur Durchführung der Maßnahme abgeklärt hat. Führt die JHilfe die Hilfe durch, fallen die Kosten bei ihr an. Der J und seine Eltern werden zu den Kosten der Unterbringung in einem Heim oder einer sonstigen betreuten Wohnform nach Maßgabe der §§ 91 ff SGB VIII herangezogen (vgl. auch § 10, 46, 47). Gegen Hw. kann der JRichter weder ErzBeistandschaft nach Nr. 1 noch Hilfe zur Erz. nach Nr. 2 in einer Einrichtung über Tag und Nacht oder in einer sonstigen betreuten Wohnform anordnen. Stattdessen kommt insbes. eine Betreuungsweisung nach § 10 I 3 Nr. 5 in Betracht (RL zu § 12 iVm RL 2 zu § 105). Zwar erklärt § 41 SGB VIII diese beiden Hilfen zur Erz. ua nicht nur für Hw., sondern sogar für „junge Volljährige bis zu 27 Jahren“ (§ 7 Nr. 3 SGB VIII) als zulässig. Da aber § 105 I nicht auf die §§ 9 Nr. 2 und 12 verweist, darf der JRichter auch bei Anwendung von JStrafrecht diese beiden Maßnahmen nicht gegen Hw. anordnen, wenn auch sonst erz. Maßnahmen noch gegen Hw. zulässig sind (Einf. 94). § 12 darf nicht dadurch umgangen werden, dass die dort genannten ErzHilfen als bloße Weisungen erteilt werden, weil sie in Nr. 1 und 2 für das JStrafrecht abschließend geregelt sind (dazu auch § 10, 11, 34; § 45, 29). Die Hilfe nach § 12 Nr. 2 ist – wie vordem die Fürsorgeerz. – die härteste ErzMaßregel, die für die Frage des Verschlechterungsverbots nur unterhalb vollstreckbarer JStrafe bleibt; zwar kann diese Hilfe nach § 34 SGB VIII in verhältnismäßig freien Formen durchgeführt werden, sie ist aber gleichwohl eine auf Dauer angelegte Freiheitsentziehung (§ 55, 39). Hilfen zur Erz. nach Nr. 1 und 2 können auch bei fehlender Altersreife als familiengerichtliche Maßnahmen nach § 3 S. 2 durch den JRichter angeordnet werden (§ 3, 23). 7 DSS/Diemer 7. 8 Zust. auch Eisenberg/Kölbel 4; Maas Zbl. 94, 70; aA Mrozynski Zbl. 92, 446; für Bindung der Entscheidung des JRichters an ein „Votum einer ErzKonferenz“ Schwenkel/Omar Zbl. 90, 493, 494. 9 OLG Düsseldorf Zbl. 84, 437 zur Fürsorgeerz. 10 Possin Heimerz. gemäß §§ 27, 34 SGB VIII als jstrafrechtliche Intervention, 1995, S. 74. 11 Possin aaO, S. 91; Schaffstein FS Grünwald, 1999, S. 616 f. 12 Possin aaO, S. 82, 121. 13 So schon für die frühere Rechtslage Miehe DVJJ-J 97, 263 ff; aA Ostendorf 11; Beulke FS Kreuzer, 2. Aufl. 2009, S. 74; Möller/Schütz ZKJ 07, 180. 136

Hilfe zur Erziehung

§ 12

Die vom JRichter angeordnete Hilfe zur Erz. darf erst nach Rechtskraft durchgeführt werden. 11 Vor Rechtskraft kommen Anordnungen nach § 71 in Betracht. Gegen Soldaten darf weder Hilfe zur Erz. nach Nr. 2 noch Erzbeistandschaft nach Nr. 1 an- 12 geordnet werden (§ 112a Nr. 1). Neben der Entscheidung nach § 27 darf Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2 nicht angeordnet wer- 13 den14 (vgl. § 27, 14). Eine analoge Anwendung des § 12 in dem Sinne, dass der JRichter der JGH die Durchführung einer erz. Maßnahme überlässt und sich aus der Vollstreckung ganz zurückzieht, ist nicht zulässig15. Für andere als die in § 12 genannten erz. Hilfen kommt nur eine Weisung gem. §§ 10, 11 in Betracht.

14 BGH 35, 288. 15 AA Scholz DVJJ-J 94, 168. 137

Dritter Abschnitt Zuchtmittel § 13 Arten und Anwendung (1) Der Richter ahndet die Straftat mit Zuchtmitteln, wenn Jugendstrafe nicht geboten ist, dem Jugendlichen aber eindringlich zum Bewußtsein gebracht werden muß, daß er für das von ihm begangene Unrecht einzustehen hat. (2) Zuchtmittel sind 1. die Verwarnung, 2. die Erteilung von Auflagen, 3. der Jugendarrest. (3) Zuchtmittel haben nicht die Rechtswirkungen einer Strafe. 1. Hw.-J: § 105 I. – 2. ErwG: § 104 I Nr. 1.

Richtlinie zu § 13 Wegen der Eintragung in das Zentralregister oder in das Erziehungsregister wird auf § 5 Abs. 2 und § 60 Abs. 1 Nr. 2 BZRG hingewiesen.

1 Zur Abgrenzung gegen ErzMaßregeln u. JStrafe § 5, 5 ff. Die Definition des BGH 18, 209 über den JA (§ 16, 1 f) trifft auf die Zuchtmittel schlechthin zu. Auch der Anwendungsbereich hinsichtlich der Täterpersönlichkeit stimmt weithin mit dem für den JA erarbeiteten überein (§ 16, 2). Das Zuchtmittel ist ein eindringlicher tatbezogener Mahn- und Ordnungsruf (Abs. I) ohne 2 die Fernwirkungen der Strafe (Abs. III). Es hat Übelscharakter und dient der Ahndung und Sühne1, soll aber damit die Entwicklung des Täters erz. günstig beeinflussen und dadurch weitere Straftaten verhindern. Dem Täter soll es die Autorität der Rechtsordnung zum Bewusstsein bringen und ihn erkennen lassen, dass er für sein Tun einzustehen hat und dass sich Unrecht nicht lohnt2 (vgl. Einf. 89). Im Gegensatz zu ErzMaßregeln und zur JStrafe ist das Zuchtmittel nicht auf Dauerwirkung angelegt; deshalb sind Verbindungen (§ 8) oft angezeigt3. Wichtig ist, dass irgendwelche Nachwirkungen auch in Schule und Beruf vermieden werden (vgl. § 70, 6). Zuchtmittel dürfen nach dem BGH4 nur gegen strafrechtlich verantwortliche (§ 3 S. 1), im 3 Grunde „gutgeartete“, erz. ansprechbare J verhängt werden. Ostendorf5 bezeichnet diese Formulierung nicht zu Unrecht als „überholte Charakterisierung“; davon abgesehen aber bleibt, dass die J erz. ansprechbar sein sollen (woran der Wegfall der früheren RL 1 S. 3 nichts ändert), weshalb bei intensiv kriminellen, verwahrlosten, schwer gefährdeten oder geistig erhebl. zurückgebliebenen J Zuchtmittel ausscheiden. Bei üblichen JFlegeleien sind Zuchtmittel wegen ihres ernsten Charakters nicht angebracht (§ 45), bei bes. schwerer Schuld nicht ausreichend (§ 17 II). Vgl. auch § 5, 7. Nach Ostendorf6 wird der Anwendungsbereich durch Rückfallprognose und das Verhältnismäßigkeitsprinzip bestimmt. Dazu auch § 10, 27 aE. Zuchtmittel kann der JRichter durch Urteil, Auflagen auch als BewAuflagen (§ 23) und im 4 Rahmen der §§ 45, 47, JA gem. § 11 III durch Beschluss verhängen. Der JStA kann im Rahmen des § 45 II unter bestimmten Voraussetzungen dem J die Erfüllung von Auflagen zur Vermeidung weiterer Strafverfolgung anbieten (näher § 45, 23 ff). Die Bedeutung der Zuchtmittel in der Pra1 2 3 4 5 6

BVerfG NJW 05, 2141; Eisenberg/Kölbel 7; Heublein Zbl. 94, 466; abl. Ostendorf Grdl. zu §§ 13–16 Rn 4. BGH 18, 209. § 23 u. Grethlein NJW 57, 1462 für BewZeit. 18, 207. AaO. AaO. 138

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Verwarnung

§ 14

xis ist erheblich. 2020 waren 70 % der nach JStrafrecht verhängten jeweils schwersten formellen Sanktionen Zuchtmittel7. Zuchtmittel sind keine Strafe (Abs. III), doch kann neben ihnen die Fahrerlaubnis entzogen 5 werden (§ 7, 14). Auch rechtfertigt die Gefahr der Verhängung von Zuchtmitteln die Verweigerung der Aussage8. Wegen der Urteilsformel § 54, 4; wegen der Eintragung in das ErzReg. § 60 I Nr. 2 BZRG. 6 Auch Zuchtmittel sind der Begnadigung nicht entzogen9, es kommt hier aber selten ein 7 Gnadenakt in Betracht. Bei JA darf die Vollstreckung nur in bes. Ausnahmefällen und nur kurzfristig aufgeschoben oder unterbrochen werden10.

§ 14 Verwarnung Durch die Verwarnung soll dem Jugendlichen das Unrecht der Tat eindringlich vorgehalten werden. 1. Hw.-J: Rn 4; § 105 I. – 2. ErwG: § 104 I Nr. 1. – 3. Sold. Rn 4.

Richtlinie zu § 14 Wegen des Ausspruchs der rechtskräftig angeordneten Verwarnung (Vollstreckung) wird auf Abschnitt IV Nr. 1 der Richtlinien zu §§ 82 bis 85 hingewiesen.

Die Verwarnung weist den Täter zurecht und hält ihm das Unrecht seiner Tat vor. Durch sie 1 wird er auf die Schwere des Schuldvorwurfs und auf die Folgen für den Verletzten und die Allgemeinheit hingewiesen; zugleich wird er vor weiteren Verfehlungen im eigenen Interesse gewarnt, seine Ehre und sein Gewissen angerufen und er zur Rücksicht gegen die Mitmenschen ermahnt. Unterschied zur Ermahnung des § 45: Rn 5 aE. Eine solche Zurechtweisung ist an sich jeder Verurteilung eigen. Die Verwarnung zeichnet 2 sich darüber hinaus durch die bes. Form aus, in der auf sie erkannt wird (Urteilssatz) und bes. in der sie vollzogen wird1. Dadurch erhält sie Sühnefunktion und wird zum Zuchtmittel. Sie ist deshalb neben JStrafe oder JA nicht mehr (§ 8, 5), in leichtesten Fällen aber überhaupt nicht notwendig, weil hier eine formlose Ermahnung genügt. Wenn auch davon ausgegangen wird2, dass weniger Art und Höhe der Strafe als die straf- 3 rechtliche Verfolgung, die Sanktionswahrscheinlichkeit und die außergerichtlichen Konsequenzen beeindrucken, so wird doch eine isoliert ausgesprochene Verwarnung nur selten Erfolg versprechen. Als einzige Reaktion des Richters wird sie zumeist nicht ernst genommen und als Bestätigung dafür angesehen, dass doch nichts passiert3. Glaubt der Richter, dass eine Verwarnung allein genügen kann, so ist es häufig sinnvoller, gleich nach § 45 zu verfahren und eine Ermahnung genügen zu lassen, zumal dann auch die Schwierigkeiten der Vollstreckung (Rn 5, 6) vermieden werden. Dabei ist es aber immer möglich, dass es sich in der Hauptverhandlung herausstellt, dass im Einzelfall eine Verwarnung ausreichend und wirksam sein kann. Im Übrigen sollte die Verwarnung mit Weisungen oder Auflagen verbunden werden, wenn das in der

7 Berechnet nach Stat. BA, S. 96 f. 8 BGH 9, 34 für § 55 StPO u. JA. 9 Vgl. § 4 III Bay. GnadenO v. 29.5.2006. 10 § 29 Bay. GnadenO. 1 Heinen UJ 52, 29 u. 120. 2 Ostendorf 3 mwN. 3 Vgl. auch Böhm/Feuerhelm S. 197. 139 https://doi.org/10.1515/9783110686401-016

§ 15

2. Teil. Jugendliche

Tat enthaltene Unrecht bes. betont werden soll4. Die Verwarnung muss dann aber, um eine pädagogische Eigenwirkung zu entfalten, individuell und nachdrücklich ausgesprochen werden5. 4 Eine Verwarnung verspricht gegen Hw. oder J, die zZ des Urteils schon über 18 Jahre alt sind, nur unter bes. günstigen Umständen Erfolg, weil sie auf die Mentalität der J abgestimmt ist6. Ähnliches gilt bei Soldaten. In der Praxis wurden aber 2020 immerhin 28 % aller Zuchtmittel in Form einer Verwarnung erteilt7. Der Ausspruch ist nur die Verhängung und bedarf des Vollzugs, der erst nach Rechtskraft 5 möglich ist. Bei allseitigem Rechtsmittelverzicht ist die Verwarnung grds. im Anschluss an die Verhandlung zu erteilen. Dabei kann die Anwesenheit der ErzBerechtigten hilfreich sein, der JRichter kann darauf aber auch verzichten (vgl. RL IV 1 zu §§ 82–85). Wenn die ErzBerechtigten schon die Hauptverhandlung nicht wahrnehmen, wird häufig auch beim Ausspruch der Verwarnung auf sie verzichtet werden können. Oft wird aber das Urteil erst später rechtskräftig, da auf Verwarnung meist im vereinfachten JVerfahren in Abwesenheit des JStA erkannt wird (§ 78, 21). Dann ist eine nachdrückliche Zurechtweisung am Ende der Sitzung und eine entsprechend gefasste schriftliche Verwarnung unter Bezug auf die Zurechtweisung in entsprechender äußerer Form noch das Beste. Denn das ist erz. wirksamer als der bes. Verwarnungstermin, zu dem der J wegen derselben Tat zum 2. Mal ggf. von weit außerhalb unter Verlust an Arbeitszeit vor Gericht erscheinen muss. Der Grundsatz, dass die Verwarnung nur mündlich erteilt werden soll8, muss hier zurücktreten, zumal das Gesetz die schriftliche Verwarnung nicht ausschließt. Es ist aber zu befürchten, dass sie, weil zu unpersönlich, wenig beeindruckt (vgl. Rn 3 aE). Es kann auch ein anderer JRichter im Wege der Amtshilfe um Erteilung der mündlichen Verwarnung ersucht werden9, da Maßnahmen des Vollstreckungsleiters, soweit nicht gem. § 83 jrichterliche Entscheidungen, Akte der Justizverwaltung (§ 83, 1) sind10. Aber auch hier dürften Nachdruck und Entschiedenheit fehlen. Die Ermahnung nach § 45 III hingegen wird ohne Trennung zwischen Anordnung und Vollziehung erteilt. Die Frage, ob der säumige J zum Verwarnungstermin vorgeführt werden darf, ist entspre6 chend den in § 60, 7 dargelegten Gründen zu verneinen11. Zur Urteilsfassung § 54, 4; zur Eintragung RL zu § 13.

§ 15 Auflagen (1) 1Der Richter kann dem Jugendlichen auferlegen, nach Kräften den durch die Tat verursachten Schaden wiedergutzumachen, sich persönlich bei dem Verletzten zu entschuldigen, Arbeitsleistungen zu erbringen oder einen Geldbetrag zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung zu zahlen. 2 Dabei dürfen an den Jugendlichen keine unzumutbaren Anforderungen gestellt werden.

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4 Böhm/Feuerhelm S. 197; nach Eisenberg/Kölbel 7 ist die Verbindung „fraglich“. 5 Beulke/Swoboda Rn 400. 6 Dallinger/Lackner 63; Potrykus B 6 je zu § 105. 7 Berechnet nach Stat. BA, S. 346 f. 8 Dallinger/Lackner 9; Potrykus B 5. 9 OLG Hamm Zbl. 70, 56 gegen frühere Entscheidungen – Rechtshilfe – GA 69, 251. 10 Zust. Ostendorf 9, der vorschlägt, die Verwarnung unter Vorbehalt der Rechtskraft nach dem Urteil auszusprechen.

11 Dallinger/Lackner 7; DSS/Diemer 7; Eisenberg/Kölbel 9; Ostendorf 7; Böhm/Feuerhelm S. 198. 140 https://doi.org/10.1515/9783110686401-017

Auflagen

§ 15

(2) Der Richter soll die Zahlung eines Geldbetrages nur anordnen, wenn der Jugendliche eine leichte Verfehlung begangen hat und anzunehmen ist, daß er den Geldbetrag aus Mitteln zahlt, über die er selbständig verfügen darf, oder 2. dem Jugendlichen der Gewinn, den er aus der Tat erlangt, oder das Entgelt, das er für sie erhalten hat, entzogen werden soll. (3) 1Der Richter kann nachträglich Auflagen ändern oder von ihrer Erfüllung ganz oder zum Teil befreien, wenn dies aus Gründen der Erziehung geboten ist. 2Bei schuldhafter Nichterfüllung von Auflagen gilt § 11 Abs. 3 entsprechend. 3Ist Jugendarrest vollstreckt worden, so kann der Richter die Auflagen ganz oder zum Teil für erledigt erklären. 1.

1. Hw.-J: Rn 2; § 105 I. – 2. ErwG: § 104 I Nr. 1. – 3. Sold. Rn 22 u. 23; § 113a Nr. 3.

Richtlinien zu § 15 1. 2. 3. 4. 5.

6.

Die Wiedergutmachung des Schadens kann auch in Arbeitsleistungen für den Geschädigten bestehen (vgl. hierzu die Richtlinie Nr. 5 zu § 10). Im Hinblick auf eine Wiedergutmachung des Schadens oder eine Entschuldigung bei dem Verletzten wird auf die Richtlinie Nr. 4 zu § 10 hingewiesen. Zur Auflage, Arbeitsleistungen zu erbringen, wird auf § 540 RVO hingewiesen. Wegen der Kosten der Durchführung von Auflagen wird auf die Richtlinie Nr. 6 zu § 10 hingewiesen. Die Staatsanwaltschaft wirkt darauf hin, dass das Gericht den Jugendlichen über die Bedeutung der Weisungen und Folgen schuldhafter Zuwiderhandlung (§ 11 Abs. 3 Satz 1) belehrt und diese Belehrung in der Niederschrift über die Hauptverhandlung vermerkt oder sonst aktenkundig gemacht wird. Wegen der Folgen schuldhafter Nichterfüllung von Auflagen wird auf die Richtlinien Nrn. 2 und 3 zu § 11 hingewiesen. Geldleistungen, die nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 4 auferlegt worden sind, können nicht zwangsweise beigetrieben werden.

Übersicht 1. 2. 3. 4. 5.

Allgemeines 1 Schadenswiedergutmachung 13 Arbeitsleistungen 14 Entschuldigung 15 Geldauflage

6. 3 7. 8. 9.

Abänderung und Befreiung von Auflagen, Nicht20 erfüllung 21 Überwachung 22 Soldaten 24 Auflagen bei Drogentätern

1. Allgemeines Es gibt nur die vier in Abs. I genannten Auflagen. Sie fördern die Erz. durch echte, tatbezogene 1 Sühneleistungen. Die auferlegten Leistungen sollen dem J sein Unrecht und die auf ihn selbst zurückfallenden Folgen deutlich machen1, sie sollen deshalb stets den Bezug zur Tat wahren. Ähnliche Auflagen sind oft als Weisungen möglich, wenn sie die bes. Voraussetzungen des § 10 erfüllen. Die begrifflich scharfe Grenze zwischen Auflagen und Weisungen ist in der Praxis flüssig2 (vgl. dazu § 10, 18). Schadenswiedergutmachung und Geldauflage sind ohne Rücksicht auf das Alter zZ des Ur- 2 teils, also auch und gerade bei Hw. (§ 105) angebracht, zumal diese meist schon erheblichere Mittel zu ihrer Verfügung haben. Die Entschuldigung dagegen ist bei dieser Gruppe meist verfehlt. Bei der Arbeitsauflage kommt es auf den Einzelfall an.

1 Beulke/Swoboda Rn 402. 2 Beulke/Swoboda Rn 327, 403. 141

§ 15

2. Teil. Jugendliche

2. Schadenswiedergutmachung Schrifttum Baur Die BewAuflage der Schadenswiedergutmachung u. das Zivilrecht, GA 57, 338; Brunner Die Auflage der Schadenswiedergutmachung im JStrafrecht, Zbl. 76, 269; Dilcher Die BewAuflage der Schadenswiedergutmachung im Verhältnis zur zivilrechtlichen Haftung, NJW 56, 1346; Dölling ua Täter-Opfer-Ausgleich in Deutschland, 1998; Frehsee Wiedergutmachungsauflage u. Zivilrecht, NJW 81, 1253; ders. Wiedergutmachung statt Strafe, KrimJ 82, 126; Hellmer Identitätsbewußtsein u. Wiedergutmachung, JZ 79, 41; Jakob/Molketin Aufl. d. Schadenswiedergutmachung u. Zivilrecht, JWohl 83, 159; Maiwald Die Beteiligung des Verletzten am Strafverfahren, GA 70, 33; Pentz Nochmals: Die BewAuflage der Schadenswiedergutmachung, NJW 56, 1867; Schnitzerling Die Schadenswiedergutmachung im Strafrecht, DAR 59, 201; Schöch, Hrsg., Wiedergutmachung u. Strafrecht, 1987; Theißen Die kriminalrechtliche Auflage der Schadenswiedergutmachung, Zbl. 84, 543; Wulf Opferausgleich u. Strafverfahren, DRiZ 80, 205 (s. auch das Schrifttum zu § 10).

3 Die Schadenswiedergutmachung ist in ihrer Verknüpfung mit der Tatverursachung und ihrem sozialpädagogischen Bezug auf J und Hw. erz. bes. geeignet. Die Person des Täters muss aber stets Mittelpunkt des Verfahrens bleiben, dann können gerade mit der Schadenswiedergutmachung Fremdwertbegriffe fühlbar angelernt und der Überbewertung des Materiellen entgegengewirkt werden. Das abstractum der allg. Rechtsgüter-Schutzfunktion der Strafrechtsordnung gewinnt beziehungsvolles Leben, die erzwungene personale Beziehung zwischen Schädiger und Geschädigten führt zu ausgleichendem eigenen Handeln und kann echtes Bemühen auslösen. Die Schadenswiedergutmachung vermag als wichtiger Aspekt den Sozialisationsprozess zu fördern und sollte häufig eingesetzt werden. Dieses sollte primär im Verfahren nach § 45 angestrebt werden, vgl. zum Täter-Opfer-Ausgleich § 10, 24 ff. Eine Auflage ist jedoch angezeigt, wenn der J zur freiwilligen Schadenswiedergutmachung nicht bereit ist und ihm deshalb verdeutlicht werden muss, dass er für die Folgen von ihm verschuldeten Unrechts einstehen muss3. 4 Die Auflage setzt voraus, dass der Täter zivilrechtlich verpflichtet ist, aus welchem Rechtsgrund auch immer, Wiedergutmachung zu leisten4; sie ist deshalb gesetzeswidrig (Rechtsmittel trotz § 55 I), wenn die mit ihr verbundene Belastung keine Grundlage im Bürgerlichen Recht hat5. Überschreitet die auferlegte Wiedergutmachung den angerichteten Schaden, so entspricht sie nicht mehr dem Gesetz und kann vom Rechtsmittelgericht abgeändert werden6. Zur Ratenauferlegung § 22, 4 aE. Eine völlige oder teilweise Abweisung einer gegen den Verurteilten gerichteten zivilrechtlichen Schadensersatzklage kann deshalb die Abänderung der Auflage erzwingen7. Der mögliche Einwand der Verjährung hindert die Auflage nicht8. Die Höhe des zivilrechtlichen Anspruchs des Verletzten umschreibt zugleich die uU mögli5 che, aber nicht notwendig auszufüllende Höchstgrenze der Auflage. „Nach Kräften“ besagt, dass der J durch den Richterspruch, hinter dem der Zwang des Ungehorsamsarrestes steht, nicht überbeansprucht und mutlos gemacht, aber doch zur Anspannung seiner Kräfte angehalten wird. Die Mehrspurigkeit strafrichterlicher Auflage und zivilrechtlichen Anspruchs muss be6 dacht werden. Die Auflage lässt den Zivilrechtsweg für Verurteilten und Verletzten offen; darüber hinaus kann es zu Schwierigkeiten wegen der zivilrechtlichen Wirkung der Erfüllung (vgl. §§ 362 ff, 366 BGB), wegen Verzichts des Verletzten, wegen Erfüllung durch Dritte, bei gesamtschuldnerischer Haftung oder einer Mehrheit von Gläubigern und wegen der Zumutbarkeit der

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Rössner/Klaus in Dölling ua 1998, S. 116; Rössner in JStrafrecht an der Wende, S. 177. BGH StV 17, 713; Dallinger/Lackner 2; DSS/Diemer 6; Eisenberg/Kölbel 9; Itzel S. 133 FN 69. BGH StV 17, 713; NJW 22, 953, 955; OLG Stuttgart MDR 71, 1025; NJW 80, 1114. OLG Hamburg MDR 80, 246. OLG Hamburg MDR 82, 340. OLG Stuttgart (FN 5); OLG Hamm NJW 76, 527; Schall NJW 77, 1046. 142

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Naturalrestitution für den Geschädigten kommen9. Nach Ostendorf10 wird die Schadenswiedergutmachung nicht gegenstandslos, wenn ein Dritter bezahlt oder das Opfer verzichtet11. Schöch12 weist auf die Schwierigkeit hin, strafprozessuale Beweisanforderungen und Würdigungen mit den zivilrechtlichen Beweisregeln (prima-facie-Beweis, freie Schadensschätzung, differenzierte Mitverschuldensabwägungen) zusammenzubringen. Die Lösung dürfte in der Formulierung „nach Kräften“ zu finden sein (vgl. Rn 5). In zivilrechtlich streitige Fragen sollte die Auflage nicht hineinstoßen13, um rechtliche Komplikationen zu vermeiden, welche den pädagogischen Sinn der Auflage in sein Gegenteil verkehren können14. Da aber der Schaden weder voll ausgeschöpft werden muss, noch idR unter Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit des Täters und der pädagogischen Wirksamkeit der Auflage überhaupt ausgeschöpft werden kann, bleibt für die Auflage ein weiter Raum. Es ist aber geboten, mit der Auflage genau Art15 und Höhe der Wiedergutmachung festzusetzen16. Dies dient der notwendigen Klarstellung für alle Betroffenen, vermeidet nachfolgende Schwierigkeiten, erleichtert die Überwachung und ist Fixpunkt für evtl. Verhängung des Ungehorsamsarrestes oder Widerruf der Strafaussetzung. Zur Schadenswiedergutmachung durch Arbeitsleistung für den Geschädigten RL 1 zu § 10 u. § 10, 4617. Die Auflage, die Verfahrenskosten zu bezahlen, ist nicht zulässig18. Zwar kann in einem weiteren Sinn ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Tat und den der Allgemeinheit zur Last fallenden Verfahrenskosten angenommen werden, insbes. wenn mutwillig eine umfangreiche Beweisaufnahme oder eine kostenträchtige Verzögerung des Verfahrens herbeigeführt worden ist. Dieser Zusammenhang ist jedoch für den J weniger einsichtig als bei den Schäden, die das Opfer durch die Tat erlitten hat. Die Bezahlung der Verfahrenskosten wird daher dem Sinngehalt der Auflage der Schadenswiedergutmachung, dem J die Unrechtsfolgen plastisch vor Augen zu führen, nicht gerecht. Außerdem enthält § 74 für die Verfahrenskosten eine bes. Regelung19. Wiedergutmachung sollte in geeigneten Fällen in Verbindung mit anderen Maßnahmen (§ 8) angeordnet werden20. Gerade die Betreuungsweisung (vgl. § 10, 19) ergänzt sinnvoll und lässt den J bei seinen Verpflichtungen nicht allein, kann auch der Vermittlung bei auftretenden Schwierigkeiten dienen. Zum Täter-Opfer-Ausgleich § 10, 24 ff; zu den Opferschutzgesetzen § 10, 30; § 80, 15 mit weiteren Hinweisen in § 80, 16. In den USA und anderen Staaten versucht man seit Mitte der siebziger Jahre des vorherigen Jahrhunderts im Wege der sog. „Restitution“, j. Rechtsbrecher für ihr Handeln verantwortlich zu machen, indem sie durch eine Leistung dem Tatopfer Genugtuung leisten sollen21. Solche 9 Näher Brunner Zbl. 76, 269. 10 10. 11 AA Brunner Zbl. 76, 272 mwN. 12 1987, S. 145. 13 Zust. Eisenberg/Kölbel 7. 14 Näher Brunner Zbl. 76, 269 ff. 15 Z.B. Schmerzensgeld, LG Bremen NJW 71, 153. 16 BGH NJW 22, 953; Ostendorf 9. 17 Zur Zumutbarkeit für den Geschädigten Brunner Zbl. 76, 269. 18 Dallinger/Lackner 3; DSS/Diemer 9; Eisenberg/Kölbel 10; Ostendorf 8; Böhm/Feuerhelm S. 201; aA Meyer NJW 57, 371; Potrykus UJ 57, 355.

19 Zur Unzulässigkeit der Auflage, die Verfahrenskosten zu bezahlen, im ErwRecht BGH 9, 365; OLG Hamm NJW 56, 1887. 20 Brunner Zbl. 76, 269; abl. Eisenberg/Kölbel 11; Hellmer JZ 76, 47; Kaiser NStZ 82, 105; Theißen Zbl. 84, 540; Ostendorf 3, der aber einräumt, dass eine Betreuungsweisung, etwa bei Ratenzahlungsverpflichtungen, dienlich sein kann. 21 Insgesamt Herz BewH 84, 240; Janssen BewH 82, 141. 143

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2. Teil. Jugendliche

Leistungen können finanzielle Schadenswiedergutmachung, Naturalrestitution oder als indirektes Opfer auch Sozialdienste an der Allgemeinheit sein. Unter den Sanktionen des JGG ermöglichen die Auflage der Schadenswiedergutmachung (§ 15 I Nr. 1) und der Täter-Opfer-Ausgleich (§ 10, 24 ff) ein derartiges sozialpädagogisches Vorgehen.

3. Arbeitsleistungen 13 Die durch das 1. JGGÄndG eingeführte Auflage „Arbeitsleistungen zu erbringen“ ist identisch mit dem Wortlaut der Weisung des § 10 I Nr. 4; es wird insgesamt auf die Ausführungen § 10, 13–18 verwiesen. Der Gesetzgeber hat die Erbringung von Arbeitsleistungen auch als Auflage zugelassen, „um eine flexible Handhabung dieser Maßnahme in jedem Einzelfall zu gewährleisten“22. Er will damit dem Bedürfnis der jrichterlichen Praxis Rechnung tragen, „Verpflichtungen zur Leistung gemeinnütziger Arbeit nicht nur als reine ErzMaßregel, sondern auch dann auferlegen zu können, wenn damit dem J zudem eindringlich zum Bewusstsein gebracht werden soll, dass er für das von ihm begangene Unrecht einzustehen hat (§ 13 I JGG)“23. Zur Verfassungsmäßigkeit der Arbeitsauflage vgl. § 10, 14. Zum Versicherungsschutz nach dem SGB VII s. § 10, 46. § 540 RVO, auf die RL 3 verweist, ist aufgehoben worden.

4. Entschuldigung 14 Die Entschuldigung kommt nur in Betracht, wenn der J dazu bereit ist, sie kann ihrer Natur entsprechend nicht erzwungen werden24. Eine Weigerung lässt oft wichtige Schlüsse zu. Es sollte auch gesichert sein, dass der Verletzte die Entschuldigung entgegenzunehmen bereit ist25. Bei Hw. ist diese Auflage seltener angebracht (§ 105, 36)26. Nach Wolf27 kann die Entschuldigung als Auflage gerade dann angebracht sein, wenn der J nicht dazu bereit ist. Die Auflage sei auch erfüllt, wenn der Verletzte die Entschuldigung nicht annehme, was gewiss richtig ist. Deshalb aber sollte der JRichter gleichwohl bedenken, dass beides idR pädagogisch schädlich sein wird. Zu den Folgen auch § 11, 4.

5. Geldauflage 15 Geldauflagen (Abs. I 1 Nr. 4) als Buße haben nur Sinn, wenn der J sie aus eigenen Mitteln (Lohn, Taschengeld; Abs. II Nr. 1; anders im OWiG-Verfahren: § 45, 48) unter Opfern aufbringt und wenn er sie als echte Sühne anerkennt. Der Eindruck, mit Geld sei alles gutzumachen, muss vermieden werden28. Nach Einführung der Arbeitsleistung als Auflage ist der Anteil der Geldbußen an den Auflagen in der Praxis von 93 % 1990 auf 33 % 2020 zurückgegangen29. Diese Auflage ist grds. nur zur Ahndung kleinerer Delikte geeignet (Abs. II Nr. 1), weil sie keine erz. Hilfen anbietet, sie gewinnt aber bei den Verkehrsdelikten Hw. und deren oft relativ hohem

22 23 24 25 26 27 28

Begr. RegE eines 1. JGGÄndG, BT-Drs. 11/5829, S. 18. AaO. Eisenberg/Kölbel 14; Ostendorf 12. Beulke/Swoboda Rn 405. Nach Eisenberg/Kölbel 14 handelt es sich um eine Einzelfallfrage. S. 310. Maurach/Gössel/Zipf/Dölling § 73 Rn 8; aA Böhm/Feuerhelm S. 202: „idealistische pädagogische Vorstellungen, die den heutigen tatsächlichen Verhältnissen nicht mehr entsprechen“. 29 Berechnet nach Stat. BA 1990, S. 60 f u. 2020, S. 346 f. 144

Auflagen

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Einkommen erheblich an Bedeutung (§ 105, 36). Der zu zahlende Geldbetrag soll den wirtschaftlichen Verhältnissen des J angepasst sein und die Wiedergutmachung nicht gefährden30. Mit der Geldauflage dürfen an den J keine unzumutbaren Anforderungen gestellt werden (Abs. I 2). Die Geldbuße ist dann unzumutbar, wenn sie in einem offenbaren Missverhältnis zu Tatschuld oder Einkommen (evtl. auch Vermögen) des J steht31. Eisenberg/Kölbel32 weisen auf die Gefahr der Vertiefung wirtschaftlicher Problemlagen und der Einschränkung von Entwicklungsmöglichkeiten des J hin. Die Geldauflage kann auch die Wirkung der Gewinnabschöpfung haben (Abs. II Nr. 2). Wo der Täter noch Vorteile aus der Tat hat33 und diese nicht an einen Geschädigten abgeführt werden können, sollte die Geldauflage stets ohne Rücksicht auf die sonstigen Vermögensverhältnisse des Täters neben anderen Maßnahmen angeordnet werden. Zur Einziehung des Wertersatzes § 6, 4, 5. Im Urteil muss nicht nur der Betrag, sondern auch die Einrichtung genau bezeichnet werden34. Gemeinnützig sind nur solche Einrichtungen, durch deren Tätigkeit ausschließlich und unmittelbar die Allgemeinheit gefördert wird35. Die Einrichtung muss weder formell durch das Finanzamt anerkannt, noch in die beim OLG geführte Liste aufgenommen sein. Zahlungen an die Staatskasse dürfen nicht auferlegt werden36, denn J ist eine finanzielle Einbuße eher verständlich zu machen, wenn sie einer gemeinnützigen Einrichtung zugute kommt37. Analog § 42 StGB kann Ratenzahlung gewährt werden. Es empfiehlt sich, zur Auflage dem Verpflichteten zusätzlich ein Schriftstück auszuhändigen, wonach er selbst die Zahlungsbelege dem Gericht vorzulegen und bei Zahlungsschwierigkeiten das Gericht rechtzeitig unter Angabe von Gründen zu unterrichten hat. Dem sollte die Belehrung über den Ungehorsamsarrest beigefügt werden (s. dazu § 10, 5; § 11, 8). Vgl. auch § 112a, 11; für Drogentäter Rn 24. Es kommt auf den Einzelfall an, ob Zahlung der Geldauflage durch einen Dritten als Nichterfüllung gewertet werden und zu Ungehorsamsarrest führen kann.

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6. Abänderung und Befreiung von Auflagen, Nichterfüllung Auflagen können nachträglich abgeändert werden (Abs. III 1), der Richter kann aber auch 20 nachträglich aus erz. Gründen von Auflagen ganz oder zum Teil befreien (Abs. III 1). Diese Regelung erspart dem Richter den erz. abträglichen Ausweg, überholte Auflagen durch Nichtstun gegenstandslos zu machen. Ein Austausch von Auflagen gegen Weisungen ist ebenso wenig zulässig wie die Umwandlung von Weisungen in Auflagen (§ 11, 4). Bei schuldhafter Nichterfüllung der Auflage kann JA gem. § 11 III verhängt werden (Abs. III 2), was für die Entschuldigung aber wohl nur gelten könnte, wenn sie freiwillig zuvor zugesichert war, aber auch dann höchst bedenklich bleibt. § 11 III ist in vollem Umfange entsprechend anwendbar (RL 6; RL 2 u. 3 zu § 11 u. § 11, 5 ff). Geldleistungen, die nach § 15 I Nr. 1 und 4 auferlegt worden sind, können nicht zwangsweise beigetrieben werden (RL 6). Nach Vollstreckung des JA kann der Richter gem. III 3 die Auflagen ganz oder zum Teil für erledigt erklären. Dies sollte nicht unbesehen und grds. geschehen (vgl. hierzu § 11, 10). Auch die als BewAuflagen erteilten Auflagen sind nach § 23 I 3 abänderbar. 30 31 32 33 34 35 36

Zur Bemessung bei Trunkenheitsdelikten im Straßenverkehr Bußmann/Gerhardt BA 84, 207. OLG Hamm Zbl. 72, 357. 20. Vgl. zu dieser Voraussetzung BGH NStZ 19, 682, 683 = JR 19, 593 mit Anm. Eisenberg. OLG Düsseldorf JMBl. NRW 60, 220. OLG Düsseldorf JMBl. NRW 62, 191. BGH B NStZ-RR 00, 321; OLG Zweibrücken StV 91, 425 = NStZ 92, 84 mit Anm. Ostendorf; OLG Nürnberg NStZRR 08, 128 mit Anm. Ebner ZJJ 08, 385. 37 BGH aaO. 145

§ 16

2. Teil. Jugendliche

7. Überwachung 21 Die Überwachung erfolgt wie bei einer Weisung grds. durch die JGH (§ 10, 45). Die JGH sollte deshalb auch hier gehört werden38, was ja auch schon zu Art und ggf. Gestaltung der Auflage geboten ist.

8. Soldaten 22 Bei Soldaten soll vor der Anordnung von Auflagen der nächste Disziplinarvorgesetzte gehört werden (§ 112d), weil die Besonderheiten des Wehrdienstes berücksichtigt werden sollen (§ 112a Nr. 3 S. 1). Grds. werden gegen Soldaten nur Geldauflagen zur Wiedergutmachung, Buße und – ausnahmsweise (Rn 2, 14) – die Entschuldigung in Betracht kommen. Doch müssen die Zahlungsauflagen dem Wehrsold angepasst sein39. Wiedergutmachung durch Arbeit ist für Soldaten kaum möglich. § 112a Nr. 3 S. 2 sieht die Anpassung bereits auferlegter Auflagen an den Wehrdienst vor 23 (vgl. Rn 20).

9. Auflagen bei Drogentätern 24 Bei Drogentätern käme nur die Auflage, einen Geldbetrag zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung zu bezahlen (§ 15 I Nr. 4), in Betracht und auch diese ist höchstens in bes., leichten Fällen sinnvoll, kann dann aber den mit Dealen gezogenen Gewinn entziehen (§ 15 II Nr. 2). Jedoch gegen einen aus den sozialen Bezügen mehr oder weniger ausgetretenen Drogenabhängigen, den seine Sucht finanziell überfordert und in Beschaffungskriminalität treibt, wäre eine Geldbuße eher gefährdend als nützlich und nicht durchsetzbar, damit auch erz. verfehlt. Vgl. Rn 16. Allg.: Einf. 66–7140.

§ 16 Jugendarrest (1) Der Jugendarrest ist Freizeitarrest, Kurzarrest oder Dauerarrest. (2) Der Freizeitarrest wird für die wöchentliche Freizeit des Jugendlichen verhängt und auf eine oder zwei Freizeiten bemessen. (3) 1Der Kurzarrest wird statt des Freizeitarrestes verhängt, wenn der zusammenhängende Vollzug aus Gründen der Erziehung zweckmäßig erscheint und weder die Ausbildung noch die Arbeit des Jugendlichen beeinträchtigt werden. 2Dabei stehen zwei Tage Kurzarrest einer Freizeit gleich. (4) 1Der Dauerarrest beträgt mindestens eine Woche und höchstens vier Wochen. 2Er wird nach vollen Tagen oder Wochen bemessen. 1. Hw.-J: Rn 15; § 105 I. – 2. ErwG: § 104 I Nr. 1. – 3. Sold. § 112a, 7.

Richtlinien zu § 16 1.

Wöchentliche Freizeit ist die Zeit von der Beendigung der Arbeit am Ende der Woche bis zum Beginn der Arbeit in der nächsten Woche. Bei Jugendlichen, die an Sonntagen beschäftigt werden, tritt an die Stelle

38 Potrykus B 7. 39 Potrykus NJW 57, 815. 40 Vgl. auch Brunner Zbl. 80, 415, 417. 146 https://doi.org/10.1515/9783110686401-018

Jugendarrest

2.

§ 16

dieser Freizeit die entsprechende Freizeit während der Woche. Der Freizeitarrest kann auch an einem Feiertag vollstreckt werden, jedoch nicht über die regelmäßige Dauer der wöchentlichen Freizeit hinaus. Hinsichtlich der Arrestdauer wird auf § 25 JAVollzO und § 5 BwVollzO verwiesen. Wegen der Berücksichtigung von Untersuchungshaft bei Jugendarrest wird auf § 52 und die Richtlinien dazu verwiesen.

Schrifttum Arndt Kriminologische Untersuchungen zum JA, Diss. Göttingen 1970; Becker JA u. Erzkurs, MDR 74, 106; Berckhauer Soll der Freizeitarrest abgeschafft werden? ZRP 82, 145; Bihs/Walkenhorst JA als Jugendbildungsstätte, ZJJ 09, 11; Bliesener/Klatt Der JA in Niedersachsen u. Schleswig-Holstein nach Inkrafttreten der Landesvollzugsgesetze, UJ 19, 465; Boldt Um den JA, ZStW 40, 336; Brunner Kurzmaßnahmen im JRecht? JR 70, 91; Bruns Jugendliche im Freizeitarrest, 1984; Burkert JA – sofort vollziehbar, Zbl. 78, 310; DVJJ-BW, Hrsg., Hat der JA noch eine Zukunft? 1991; Dölling Rechtliche Grundlagen des JA, ZJJ 14, 92; Dünkel Freiheitsentzug für j. Rechtsbrecher, 1990; ders. Was bringt uns der JA? Zbl. 90, 423; Eisenhardt Der ErzAuftrag des JGG u. seine Durchführung in UHaft u. JA, Zbl. 71, 240; ders. Gutachten über die kriminalpolitische u. kriminalpädagogische Zweckmäßigkeit u. Wirksamkeit des JA, 1974; ders. Die Wirkungen der kurzen Haft auf J, 2. Aufl. 1980; ders. Gutachten über den JA, 1989; ders. Der JA. Eine Chance der Kriminalprävention, 2010; Eisenhardt/Naumann Neue Aspekte in der Durchführung des JA unter Berücksichtigung obj. Kriterien zur „subj. Wirksamkeit“ des JA, RdJ 71, 198; Endres/Lauchs Der Vollzug des JA. Erhebung aus Bayern in den Jahren 2015 u. 2016, BewH 18, 384; Ernst Der JA, 2020; Feltes Der JA, NStZ 93, 105; Fluck Der JA als Mittel z. Bekämpfung d. JKriminalität, Diss. Saarbrücken 1969; Franzen Gehört der Arrest geschlossen? ZJJ 14, 114; Franzke Keine einfachen Lösungen – Überlegungen zur Reform des JA, RdJ 18, 428; Gramlich Handhabung u. Bew. des JA, Diss. Freiburg 1961; Hartenstein Die Vollstreckungszeiten im JA, MKrim. 64, 271; ders. Zur Wirksamkeit des JAVollzugs, MKrim. 66, 314; Hartwig/Krieg/Rathke Vom „Zuchtmittel“ zum Hilfsangebot, NK 1989 H. 3, 40; Heinz JA im Aufwind? FS 11, 71; ders. JA im Kontext freiheitsentziehender Sanktionen. Einige rechtstatsächliche Betrachtungen, ZJJ 14, 97; Hilpert Der JAVollzug an 615 J und Hw der JAAnstalt Radolfszell, Diss. Freiburg 1961; Hinrichs Auswertung einer Befragung der JAAnstalten in der Bundesrepublik Deutschland 1999, DVJJ-J 99, 267; ders. Die Vollstreckung des JA seit dem 1. JGGÄndG, DVJJ-J 02, 441; Höynck Der JA – mehr als nur Detailfragen, ZJJ 14, 140; Hügel Quo vadis JA? FS Heinz, 2012, S. 414; Jung Der JA im j(straf)rechtlichen Sanktionensystem, JZ 78, 621; Kaiser Zum Stand der Behandlungs- u. Sanktionsforschung in der JKriminologie, dargestellt am Beispiel des JA, Zbl. 69, 16; Kaplan Aktuelle Entwicklungen u. zukünftige Aufgaben des JA in Deutschland, FS 18, 313; Klatt/Bliesener Evaluierung des JA in Schleswig-Holstein, KFN-Forschungsbericht Nr. 142, 2018; dies. Die Evaluation des JA in SchleswigHolstein, FS 18, 320; dies. Evaluation des JAVollzuges in Niedersachsen, KFN-Forschungsbericht Nr. 153, 2020; Klosterkemper Erfolg u. Mißerfolg ambulanter Maßnahmen u. des Dauerarrestes, Diss. Gießen 1971; Kobes/Pohlmann JA – zeitgemäßes Zuchtmittel? ZJJ 03, 370; Koepsel JA – Eine zeitgemäße Sanktionsform des JStrafrechts? FS Böhm, 1999, S. 619; Kühndal-Hensel Der individualpräventive Schock im JKrimalrecht, 2014; Laue JA in Deutschland, DVJJJ 95, 91; Leu Erz. Ausgestaltung des JA, 2007; Meyer-Höger Der JA. Entstehung u. Weiterentwicklung einer Sanktion, 1998; Miehe Rückfall u. Bewährung nach JStraf- u. Arrestvollzug, RdJ 69, 81; Nolte Die Rückfälligkeit J u. Hw. nach der Verbüßung von JA, Diss. Göttingen 1978; Ostendorf, Hrsg., Abschlußbericht der Arbeitsgruppe „Reform des JA in Schleswig-Holstein“, 1994; Patzschke Pädagog. JAVollzug, in Schaffstein/Miehe, Hrsg., Weg u. Aufgabe des JStrafrechts, 1968, S. 277; Peters Die JA-VO, ZStW 41, 551; Pfeiffer JA – für wen eigentlich? MKrim. 81, 28; Pieplow Die Einführung des JA in Deutschland – Kontinuität oder Zäsur? ZJJ 14, 108; Plewig Zur Reform des JA, MKrim. 80, 20; Rangol Der JA. Anordnung u. Vollzug, ZfStrVo 66, 288; Reuther Elternrecht bei Trennung aufgrund stationärer jstrafrechtlicher Sanktionen, 2008; Riechert-Rother JA u. ambulante Maßnahmen, 2008; Rinio Zur Frage der Zulässigkeit einer polizeilichen Zuführung zum Antritt des JA, Zbl. 00, 300; Roestel Hat Freizeitarrest einen erz. Wert?, Zbl. 69, 223; Schäffer JA – eine kritische Betrachtung, DVJJ-J 02, 43; Schaffstein Zur Problematik des JA, ZStW 70, 853; ders. Zum Funktionswandel des JA, FS Hilde Kaufmann, 1986, S. 393; Schneemann Beobachtungen zum JAVollzug u. die Bewährung entlassener Dauerarrestanten, Diss. Göttingen 1970; Schneider/Kaplan/Fereidooni JAVollzug u. JStrafvollzug als politischer Bildungsraum, ZJJ 18, 321; Schumann, Hrsg., JA und/oder Betreuungsweisung, 1985; ders. Der Arrest (Zucht) Mittel zu jedem Zweck, Zbl. 86, 353; Schwarz JKriminalität u. JA, Diss. Bonn 1963; Schwegler Dauerarrest als ErzMittel für j. Straftäter, 1999; Sieverts Die ErzAufgabe des JA, in Schaffstein/Miehe, Hrsg., Weg u. Aufgabe des JStrafrechts, 1968, S. 255; Süssenguth JA in Bayern, Diss. Saarbrücken 1973; Trips Die Rückfälligkeit der Bruchsaler JAArrestanten des Vollzugsjahres 1958, MKrim. 63, 228; Ullrich JA der „moderne Hexenhammer“, UJ 67, 30; ders. Zuviel JA, RdJ 67, 244; Voss Der JA, SchlHA 59, 135; Wehner Die pädagogische Aufgabe des JA, Zbl. 66, 180; Willsch Die Zuführung zum JA gemäß § 10 JVVollzG SH, FS Ostendorf, 2015, S: 933; Witteck Aktuelle Entwicklungen imJA am Beispiel der JAA Friedberg, FS 09 137.

147

§ 16

2. Teil. Jugendliche

Übersicht 1. 2. 3. 4.

Sinn und Ziel 1 2 Zielgruppe Geschichte, Kritik und Weiterentwick4 lung 14 Tat- und Tätervoraussetzungen

5. 6. 7. 8. 9.

19 Ungehorsamsarrest 20 Arrestformen 23 Koppelung 25 Arrestladung Jugendarrest bei Drogentätern

28

1. Sinn und Ziel 1 Der JA ist ein kurzfristiger, rasch eingesetzter Freiheitsentzug mit sühnendem und erz. (§ 90 I) Charakter1, aber keine Strafe. Er soll ohne Neben- und Fernwirkungen einer Strafe (BZRG: vgl. auch Rn 4) als tatbezogener Ordnungsruf den J zur Selbstbesinnung führen, ihm eindringlich zum Bewusstsein bringen, dass er für begangenes Unrecht einzustehen hat, und künftigen Verfehlungen durch sozialpädagogische Hilfen vorbeugen2. Der JA muss als schärfstes Zuchtmittel rasch und erzwirksam eingesetzt werden und darf deshalb ausnahmslos nicht zur Bewährung ausgesetzt werden (§ 87, 5), weil das seinem Wesen zuwiderliefe.

2. Zielgruppe 2 Nach seiner Entstehungsgeschichte und den ihr zugrunde liegenden kriminalpädagogischen Vorstellungen war der JA vor allem gedacht „für Verfehlungen aus Unachtsamkeit, j. Kraftgefühl oder Übermut, aus typisch j. Neigungen und j. Vorwärtsstreben, j. Trotzhaltung, j. Abenteuerlust, mangelnder Selbständigkeit, sowie bei Gelegenheits- und Augenblicksverfehlungen, die sich aus einer plötzlich auftretenden Situation ergeben, ohne dass der Täter sonst zu kriminellem Verhalten neigt“3. So sollte der JA also im Grunde „gut geartete“, also kriminell nicht gefährdete J mit Ehrgefühl treffen, die keiner länger dauernden erz. Einwirkung, wohl aber eines energischen Hinweises auf die Verbindlichkeit der Rechtsordnung und eines fühlbaren Anrufs zur Selbstbesinnung bedürfen4. Deshalb hatte die JAVollzO v. 1.9.1966 neben erz. Hilfen (§ 10 I) vor allem eine strenge Behandlung betont, welche bei dieser Zielgruppe des JA ausreichend erschien, den ErzAuftrag des JGG zu erfüllen5. 3 Gleichwohl wurden in der Praxis und werden voraussichtlich weiterhin dem JA J und Hw. zugeführt, welche zwar nicht arrestuntauglich sind, aber nicht in die oben beschriebene Zielgruppe passen und geeigneter, wenn auch zwangsläufig kurzfristiger, aber auch nachgehender Hilfen bedürfen. Durch Kindheit und Umwelt belastete, kriminell bereits gefährdete und durch frühere Verfehlungen rückfalllabile J treffen mit den unter Rn 2 geschilderten Arrestanten und mit den wieder andersgearteten J zusammen, die mit Ungehorsamsarrest belegt wurden. Dazu auch Rn 11. Die JAVollzO idF v. 18.8.19766 hatte sich deshalb die Aufgabe gestellt, „rechtliche Grundlagen dafür einzuführen, dass der JA den erz. Auftrag d. JStrafrechtspflege auch denjenigen J gegenüber besser erfüllen kann, für die der JA nach seiner ursprünglichen Konzeption nicht vorgesehen war“7, und die seit 2013 von den Ländern erlassenen JAVollzG (§ 90, 6) sind

1 2 3 4 5 6 7

BVerfG NJW 05, 2141; BGH 18, 209; Wohlfahrt StraFo 17, 438. Dölling ZJJ 14, 92. BGH 18, 210. Begr. RE einer VO z. Änderung d. JAVollzO v. 1.10.1975, S. 11. Vgl. Begr. RE, S. 12. BGBl. I 2349. Begr. RE, S. 16. 148

Jugendarrest

§ 16

erz. orientiert. Dies enthebt das Gericht nicht von der Verpflichtung, die Arresttauglichkeit (Rn 16) des J sorgfältig zu prüfen. Zum Wandel des JA auch Rn 12.

3. Geschichte, Kritik und Weiterentwicklung Die beginnende JGerichtsbewegung hatte eine kurze, aber harte ErzStrafe, verbunden mit ernsthafter Arbeitstherapie, gefordert, die nicht rückfallbegründend sein und nicht ins Strafregister eingetragen werden sollte. In solchem Sinne hat Schaffstein 19368 erneut für einen „JA“ ohne Strafmakelstigmatisierung und zur Vermeidung krimineller Ansteckung plädiert. Mit einer VO wurde dann 1940 ein JA zur Zurückdrängung kurzfristiger Gefängnisstrafen (zusammen mit Erw.), aber auch – zeitentsprechend – zu harter Disziplinierung („Arbeitsbummelei“) mit einem Höchstmaß von 4 Wochen eingeführt und 1943 im damaligen JGG normiert. Die DDR hatte 1952 den JA als „nazistische Erfindung“ abgeschafft, im Jahre 1968 aber unter der Bezeichnung „JHaft“ eine kurze Freiheitsentziehung (1–6 Wochen; später 1 Woche bis 3 Monate nach § 74 DDR-StGB) wieder eingeführt. Auch in anderen europäischen Staaten (z.B. Großbritannien, Niederlande, Schweiz) wurden nach 1945 ähnliche Einrichtungen geschaffen9. Der JA ist heute ein Ahndungsmittel eigener Art mit erz. Charakter für noch prägbare junge Menschen, aber auch als kurzfristiger Freiheitsentzug das schärfste der Zuchtmittel. Ohne die Neben- und Fernwirkungen einer Strafe (Rn 1) wird der JA durch die bewusst angelegte „Lücke“ von höchstens 4 Wochen (§ 16 IV) bis 6 Monate (§ 18 I 1) deutlich von der JStrafe geschieden, was dem JRichter warnend den Übergang zu einer Kriminalstrafe signalisiert. Die Gründe, welche zur Zurückdrängung der kurzen Freiheitsstrafen im ErwStrafrecht geführt haben, stellen den JA als eigenständige, kurzfristig disziplinierende Sanktion für J und Hw. nicht in Frage. Die Kritik an der Institution des JA10 ist notwendig, in weiten Teilen berechtigt und hat Wesentliches bewirkt. Eisenberg/Kölbel11 halten nach derzeitigen Befunden und Erfahrungen den JA für erz. ungeeignet. Dies beruhe auf darauf, „dass er sich nicht selten als bloße Einsperrung ausnimmt oder oftmals keine ausreichend produktiven Interventionen vornimmt“12. In Bremen lief 1983/84 als Alternative zum JA ein praxisverbundenes Modellprojekt („Probe“) mit Betreuungsweisungen. In der über die Begleitforschung entstandenen Studie13 wird als Ergebnis festgestellt, dass diese Sanktionsalternative bei gleichem Personenkreis wirksamer als JA gewesen sei14 und eine beachtliche Senkung der Rückfallquote erlaubt habe15. 1989 hat man im Land Bremen die JAAnstalt Bremen-Lesum geschlossen, weil „der sozialen Problemlage der Betroffenen … durch jegliche Arrestreform nicht wirksam begegnet werden“ kann16. Es wurden von freien Trägern der Straffälligenhilfe „Beratungsstellen zur Arrestvermeidung“ eingerichtet, die Hilfsangebote erschließen sollen. Beim AG Bremen wurde ein Koordinator eingesetzt, der im Rahmen der JGH in Fällen drohenden Ungehorsamsarrestes frühzeitig sozialarbeiterisch intervenieren soll, „damit der JRichter von der Verhängung des Arrestes absehen kann“. Die Zahl der – in Niedersachsen – vollstreckten Arreste lag im ersten Jahr nach der Schließung der JAAnstalt Bremen-Lesum deutlich niedriger als im Jahr davor17.

8 Deutsches Recht 1936, 66. 9 Vgl. Schaffstein MKrim. 69, 2. 10 Für viele H.-J. Albrecht Gutachten zum 64. DJT, 2002 D 148; Bietz ZRP 81, 216; Eisenhardt UJ 74, 413; Möller ZfStrVo 72, 45; Pfeiffer MKrim. 81, 33; für Abschaffung Kaplan FS 18, 317; Heinz S. 100. § 13, 9. AaO. Schumann 1985. Schumann ua in Schumann aaO, S. 174. Schumann ua in Schumann aaO, S. 139. Hartwig/Krieg/Rathke NK 1989 H 3, 40. Hartwig DVJJ-J 91, 50; vgl. auch Emig in DVJJ-BW 91 S. 57 f.

11 12 13 14 15 16 17

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§ 16

2. Teil. Jugendliche

Ob allerdings auf JA völlig verzichtet werden kann, erscheint zweifelhaft. Bei aller berechtigten Kritik sollte man heute nicht mehr pauschal das Schemen einer längst in die Rechtsgeschichte eingegangenen Arrestideologie „short – sharp – shock“ beschwören. Denn es darf bei unbestrittener Problematik nicht verkannt werden, dass heute Arrestanten nicht mehr nur ihrer „Selbstbesinnung“ und einer „säkularisierten Fastenzeit“18 überlassen werden, sondern dass in den JAAnstalten ErzArbeit geleistet wird, die nicht selten von den J angenommen wird19. Auch bei Beachtung des Grundsatzes „keine stationäre Behandlung, wo ambulante genügt“ (Einf. 102–105) kann es J und Taten geben, für die JA geeignet und in der Lage sein könnte, härtere Maßnahmen zu vermeiden20. Teilweise werden allerdings die Möglichkeiten des JA durch zu geringe personelle Ausstattung der Anstalten und bauliche Mängel stark beeinträchtigt21. Nach Koepsel22 ist die Situation in etlichen JAAnstalten „so unbefriedigend, dass der Negativeffekt des bloßen Einsperrens die mögliche erz. Wirkung des JA verdrängt“. Schaffsteins Ausführungen23 verdienen nach wie vor Beachtung, dass „JKriminalität keineswegs immer oder auch nur meistens Ausdruck einer Fehlentwicklung oder einer abnormen sozialen Gefährdung“ ist, sondern dass es auch heute in großem Umfang eine JKriminalität der „Normalentwickelten“ gibt, für welche die Zuchtmittel einschließlich des JA „ein einstweilen unentbehrliches Mittel der Sozialisation“ sind24. Während Vorschläge der Arbeiterwohlfahrt 1970 für ein erweitertes JHilferecht und ein Dis9 kussionsentwurf eines JHilferechts des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit 1973 (vgl. näher Einf. 119, 120) noch meinten, auf den JA verzichten zu können, haben die folgenden RE des BMJ25 zu einem 1. JGGÄndG die Sanktion des JA aufrechterhalten, aber bes. auf die erz. Gestaltung des Vollzugs in einer der kurzen Vollzugszeit angemessenen Weise hingewiesen. – Die DVJJ hielt in ihrer Denkschrift 1977 über die kriminalrechtliche Behandlung junger Volljähriger an einem behandlungsorientierten JA fest. Während die DVJJ-Kommission zur Reform des JKriminalrechts die Abschaffung des JA forderte26, befürwortete die 2. JStrafrechtsreformkommission der DVJJ die Beibehaltung des Dauerarrestes27. 10 Eisenhardt hat im Auftrag des BMJ ein Gutachten über die kriminalpolitische und kriminalpädagogische Zweckmäßigkeit und Wirksamkeit des JA erstellt28. Aufgrund umfangreicher, kritischer Untersuchungen hat er letztlich keinen ausreichenden Ersatz für den JA gefunden, aber als Behandlungsmodell vorgeschlagen, zunächst einen Freizeitarrest anzuordnen, um das Schockerlebnis zu nutzen, und bei erneuter Straffälligkeit einen Dauerarrest von 4 Wochen zu verhängen, der mit einer Diagnosephase von einer Woche beginnen und dem ein dreiwöchiger Sozialisationskurs folgen soll, um durch Gruppentraining Einstellungsänderungen zu bewirken; in geeigneten Fällen soll sich eine Nachbetreuung von einem Jahr anschließen29. 8

18 Patzschke in Schaffstein/Miehe, Hrsg., Weg u. Aufgabe des JStrafrechts, 1986, S. 286. 19 Bliesener/Klatt UJ 19, 471; zu den unterschiedlichen Verhältnissen in den Anstalten s. Hinrichs DVJJ-J 99, 266 ff; Kobes/Pohlmann ZJJ 03, 371. 20 Franzke RdJ 18, 436 f. Zu Möglichkeiten des JA vgl. Müller in DVJJ-BW, Hrsg., Hat der JA noch eine Zukunft? 1991, S. 83 ff; Bihs/Walkenhorst ZJJ 09, 11. 21 Hinrichs DVJJ-J 99, 267. 22 FS Böhm, 1999, S. 622 f. 23 GA 71, 129, 130. 24 Zur Diskussion um den JA vgl. auch die Beiträge von Dünkel ua in DVJJ-J 91, 23 ff, Herrlinger DVJJ-J 91, 156; Hügel FS Heinz, 2012, S. 415; die Beiträge in FS 11, 66 ff u. die Beiträge in DVJJ, Hrsg., Jugend ohne Rettungsschirm, 2015, S. 109 ff. 25 1977, 1983, 1987 u. RegE 1989. 26 DVJJ-J 92, 33 f. 27 Vorschläge für eine Reform des JStrafrechts, 2002, S. 81. 28 1974. 29 Für Kurzzeitbehandlungsprogramme mit Nachbetreuung auch Böhm/Feuerhelm S. 216. 150

Jugendarrest

§ 16

In seinem – ergänzenden – Gutachten über den JA30 hat Eisenhardt zusammenfassend fest- 11 gestellt31: Der JA sei prinzipiell für J und jüngere Hw. als Reaktion auf Fehlverhalten geeignet; unter den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen und bei den Problemen der im JA Befindlichen aber könne lediglich der Freizeitarrest für eine kleine Gruppe „gut gearteter Täter“ als geeignete erz. Reaktion gelten. Mit der derzeitigen Vollzugsstruktur aber würden die Probleme der Probanden nicht gelöst. Nur ein konsequent sozialtherapeutisch ausgestalteter Vollzug erscheine sinnvoll. Eisenhardt empfiehlt als Vollzugsformen: 1. Freizeitarrest mit maximal 2 Freizeiten (dem entspricht nun § 16 II nach dem 1. JGGÄndG) einschließlich einer Betreuungsweisung im Regelfall. 2. Unter Umständen ein kurzer Dauerarrest von einer Woche, mit einer Betreuungsweisung verbunden. 3. Dauerarrest in einer neuen Form von 3–4 Wochen oder bis zu 3 Monaten, möglichst mit einer Nachbetreuung verbunden. Weiterhin empfiehlt Eisenhardt, die kriminalpräventiven Chancen des JA durch sorgfältige Diagnose, strukturierte Behandlungsprogramme und Nachsorge zu nutzen32. Vgl. auch § 90, 1. Nach den Befunden von Eisenhardt und von anderen löst die Einsperrung bei den Tätern einen Schock aus, der im Lauf des Freiheitsentzugs nachlässt33. Schwegler34 ermittelte bei Befragungen von 86 Dauerarrestanten einer JAAnstalt, dass sich die Mehrheit vom Vollzug beeindruckt zeigte, sich jedoch die „moralische Urteilsfähigkeit“ und die „Einstellung zum Recht“ nicht signifikant veränderten. Untersuchungen des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen über den JA in Schleswig-Holstein und Niedersachsen ergaben, dass sich im Vollzug der JA die Selbstwerteinschätzung der Arrestierten erhöhte und sich eine kritischere Einstellung zum eigenen Delikt entwickelte35. Außerdem zeigte sich in Schleswig-Holstein ein günstiger Effekt auf die Perspektivenübernahme und nahm in Niedersachnsen die allgemeine Kompetenzerwartung der Arrestanten zu36. Nach den Einschätzungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Arrestvollzugs waren bei etwa jedem zehnten bis vierten Arrestanten positive Veränderungen der Einstellungen zu Recht und Gesetz, zur eigenen Straffälligkeit, zu Gewalt sowie zu Drogen und Alkohol zu verzeichnen37. Soweit die Arrestanten rückfällig wurden, lag die Deliktsschwere niedriger als bei den Taten vor dem JA38. Diese Befunde sprechen für ein kriminalpädagogisches Potential des JA. Zum Ungehorsamsarrest vgl. § 11, 11. Die Praxis hat in den letzten Jahrzehnten in steigendem Maß an Stelle von JA ambulante 12 Sanktionen verhängt. Der Anteil des JA an den Verurteilungen ist von 42 % 1955 über 21 % 1980 auf 17 % 1990 zurückgegangen39 und lag 2020 bei 15 %40. Hinsichtlich eines zwischenzeitlichen Anstiegs der JA-Anteile an den Verurteilungen vor einigen Jahren ist die steigende Diversionsrate zu berücksichtigen; bezogen auf die Gesamtheit der formell oder informell Sanktionierten war keine Zunahme festzustellen41. Die Zahl der J und Hw., die zu JA verurteilt werden, ist aber weiterhin erheblich. Sie betrug 2020 7.51442. Zu dem begrüßenswerten Rückgang des JA haben geführt „in einer Wechselbeziehung von Ursache und Wirkung“43 der Ausbau geeigneter ambu30 31 32 33

1989. S. 145 ff. 2010, S. 99 ff. Eisenhardt 1974, S. 566; 1989, S. 141, 156; 2010, S. 94; Bruns S. 130; Schwegler S. 110; zusammenfassend KühndalHensel S. 112 ff. 34 S. 273 ff. 35 Klatt/Bliesener FS 18, 323 f.; Bliesener/Klatt UJ 19, 468. 36 AaO. 37 Bliesener/Klatt UJ 19, 469. 38 Klett/Bliesener Evaluierung des JA in Schleswig-Holstein, 2018, S. 36 f; dies. Evaluation des JAVollzuges in Niedersachsen, 2020, S. 78. 39 Dölling in DVJJ, Hrsg., Jugend ohne Rettungsschirm, 2015, S. 144. 40 Berechnet nach Stat. BA, S. 346. 41 Heinz FS 11, 73 f. 42 Stat. BA, aaO. 43 Schaffstein GS Hilde Kaufmann, 1986, S. 397. 151

§ 16

2. Teil. Jugendliche

lanter Alternativen (dazu § 10, 19–28) und die steigende Zahl informeller Erledigungen im Wege der Diversion nach §§ 45, 47. Das hat bei den Arrestanten und der kriminalpolitischen Zielsetzung des JA zu einem Wandel geführt. Die „Gutgearteten“ (vgl. Rn 2) werden nun überwiegend ambulanten Maßnahmen zugeführt, während in den JA eher bes. gefährdete J gelangen (vgl. Rn 3)44. Diese mischen sich mit den wegen Ungehorsams Arrestierten (Rn 3). Es ist im Ergebnis Schaffstein45 zuzustimmen: „Eine weitere Zurückdrängung des JA durch ambulante Maßnahmen ist wünschenswert, eine völlige Beseitigung ist weder erwünscht noch ohne Schaffung einer kaum zu schließenden Lücke in unserem jkriminalrechtlichen Rechtsfolgensystem möglich.“ Dies setzt allerdings eine stärkere sozialpädagogische Ausgestaltung des JA voraus46. 13 Die Rückfälligkeit nach JA betrug nach einer für Deutschland durchgeführten Untersuchung nach 3 Jahren (Bezugsjahr 2004) 66 % und nach 12 Jahren 80 %; hinsichtlich stationärer Folgeentscheidungen lag die Rückfallquote nach 3 Jahren bei 12 % und nach 12 Jahren bei 22 %47. In früheren Untersuchungen wurden nach Abzug von 30–35 % „Arrestungeeigneter“ Rückfallquoten von 45 % für alle Rückfälle und von 19 % für erhebliche Rückfälle ermittelt48.

4. Tat- und Tätervoraussetzungen 14 Als Tatahndung ist der JA für leichte Verfehlungen nicht erforderlich, für schwere zumeist nicht ausreichend. Eine gewisse Orientierungshilfe mag die sog. Jungsche Formel geben, wonach es sich um Taten handeln soll, die es notwendig machen, dem Entstehen von Entwicklungsschäden entgegenzuwirken, andererseits der JA geeignet (ausreichend) sein soll, auf den J iS einer Änderung seines Verhaltens einzuwirken. 15 JA darf nicht schematisch verhängt werden, wenn der Täter erstmals vor Gericht steht. Es ist auch selten gerechtfertigt, JA – insbes. Dauerarrest – mehrmals in kurzer Zeit zu wiederholen, hier ist meist ein anderes Ahndungsmittel angebracht, was schon daraus folgt, dass die Rückfallquote selbst der einfachen Arrestwiederholer den allg. Rückfallsatz um 10–11 % übersteigt49. Entscheidend ist die Persönlichkeit des Täters. Der JA ist kein Allheilmittel. JA bei sog. 16 Arrestuntauglichen (für Drogentäter vgl. Rn 28, 29), insbes. bei schon kriminell verhärteten Tätern, bei bereits verwahrlosten und geistig erheblich zurückgebliebenen J, ist sinnlos und belastet die mögliche ErzArbeit im Vollzug. Gleiches gilt idR, wenn der Täter bereits in einer Einrichtung oder Wohnform nach § 12 Nr. 2, im J- oder gar ErwVollzug war. Zur Bedeutung der Tätervoraussetzungen § 90, 1 u. 250. Bleibt es zweifelhaft, ob der Täter durch JA ansprechbar ist und reichen ambulante Maß17 nahmen keinesfalls aus, so lassen die JAVollzG mit erweiterten ErzMöglichkeiten seine Anordnung und die weithin im JA angebotenen Hilfsangebote sowie die tatsächliche Ausgestaltung (soziale Einzelfallhilfe, Gruppenarbeit, Unterricht, Freizeitgestaltung), soweit die Kürze der Zeit solche Ansätze zulässt, den Einsatz von JA verantworten. Eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung kann dazu führen, dass ein zu verhängender JA als vollstreckt gilt51.

44 Eisenhardt 1989, S. 125; Pfeiffer MKrim. 81, 28. 45 AaO, S. 393, 394. 46 Laue DVJJ-J 95, 95; Koepsel FS Böhm, 1999, S. 631: Ausgestaltung als „pädagogischer Intensivkurs“; Hügel FS Heinz, 2012, S. 420: Ausgestaltung als sozialer Trainingskurs.

47 Jehle/Albrecht/Hohmann-Fricke/Tetal Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen. Eine bundesweite Rückfalluntersuchung 2013 bis 2016 und 2004 bis 2016, 2020, S. 144. Beulke/Swoboda Rn 439. Schaffstein ZStW 70, 853, 869. Zu bes. schwierigen Fällen LG Hamburg bei Böhm NStZ 89, 524 u. § 87, 10. BGH NStZ-RR 14, 119, 120.

48 49 50 51

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Jugendarrest

§ 16

Gerade bei geeigneten Hw. kann JA wirksam sein, es wird aber Persönlichkeit und An- 18 sprechbarkeit sorgfältig geprüft werden müssen. Bedenklich ist es, wenn ein Hw. gegen Ende der Altersgrenze nach seiner Entwicklung JA als unangemessen empfinden muss; dann bieten sich andere Zuchtmittel an. Wegen JA gegen Soldaten § 112a, 8. Zum JA gegen ausländische J u. Hw. Einf. 54.

5. Ungehorsamsarrest Bei Ungehorsam gegen erz. Anordnungen, nämlich Weisungen (§ 10), Auflagen (§ 15), auch bei 19 Strafaussetzung (§ 23 I 4) und Maßnahmen gem. § 98 OWiG (§ 82, 18) sieht der Gesetzgeber JA vor (§ 11 III 1). Näheres § 11, 5–12. Auch neben JA, der in der gleichen Entscheidung verhängt worden ist, kann für den Ungehorsamsarrest das Höchstmaß von 4 Wochen ausgeschöpft werden (s. § 11, 9; § 31, 39). Vgl. auch § 11, 11.

6. Arrestformen Im Jahre 2020 wurden 2.638 J und Hw. zu Freizeitarrest, 333 zu Kurzarrest und 3.991 zu Dauerar- 20 rest verurteilt52. In den letzten Jahren ist der Anteil der Freizeitarreste an den Arresten gesunken und der Anteil der Dauerarreste gestiegen53. Freizeitarrest (Abs. II) dauert im Regelfall (RL 1, § 25 III JAVollzO, § 5 III BWVollzO) von Samstag 8 Uhr oder 15 Uhr bis Montag 7 Uhr. Das G erlaubt zu Recht nur noch, 1 oder 2 Freizeiten bei einer Verurteilung zu verhängen54. Bei mehr als 2 Freizeiten müsste erz. abträgliche Gewöhnung befürchtet werden. Freizeitarrest nimmt weder Arbeits- noch Schulzeit in Anspruch und wird damit auch nicht bekannt. Gegen die Effizienz des Freizeitarrestes werden Bedenken erhoben55. Nach Koepsel56 werden junge Menschen vielfach ohne jede Betreuung für zwei Tage in Einzelzellen untergebracht. Berckhauer57 stimmt Initiativen zur Beseitigung des Freizeitarrestes zwar zu, hält aber gleichwohl ersatzlosen Wegfall wegen weitgehenden Fehlens sozialpädagogischer ambulanter Alternativen für unzweckmäßig. Jedenfalls ist eine pädagogische Ausgestaltung des Freizeitarrestes geboten58. Freizeitarrest kann etwa bei arbeitslosen J auch während der Woche vollzogen werden (Abs. II, § 25 IV JAVollzO). Wenn auch die Kürze der Zeit im Freizeitarrest idR nicht viel mehr erlaubt, als über eine „Denkzettelwirkung“59 zu versuchen, das Verhalten nicht oder kaum belasteter J und Hw. zu ändern, so suchen doch gleichwohl engagierte JStAe, JRichter und Sozialarbeiter erz. Einwirkungen (vgl. Rn 17) damit zu verbinden und nicht nur „Schlafmöglichkeit“60 zu bieten. § 87 III ermöglicht selbst hier dem Vollzugsleiter, den JA auf das erz. Notwendige und Gebotene einzuschränken. Hinsichtlich der Arrestdauer s. RL 1 S. 3, § 25 JAVollZO u. § 5 BwVollzO. Der Kurzarrest (Abs. III) tritt nur an die Stelle des Freizeitarrestes und beträgt deshalb 21 mindestens 2 Tage, und wegen der Beschränkung des Freizeitarrestes auf höchstens 2 Freizeiten nicht mehr als 4 Tage. Die Umwandlung ist zu begründen und ermöglicht es, Urlaub, Ferien

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Stat. BA, S. 346 f. Franzke RdJ 18, 430. OLG Celle StV 01, 181. Schaffstein ZStW 70, 838; Roestel Zbl. 69, 233; Sieverts in Schaffstein/Miehe, Hrsg., Weg u. Aufgabe d. JStrafrechts, 1968, S. 272, der meint, die Großstadtjugend schüttle den Freizeitarrest heute eher wie Wasser ab und sähe ihn als günstige Gelegenheit zum Ausschlafen an; Franzke RdJ 18, 438. 56 FS Böhm, 1999, S. 623. 57 ZRP 82, 145. 58 Maurach/Gössel/Zipf/Dölling § 73 Rn 12. 59 BT-Drs. 11/5829 S. 19. 60 Ostendorf 10. 153

§ 16

2. Teil. Jugendliche

und Zeiten der Arbeitslosigkeit zu nutzen. Eine Änderung der Verhältnisse erlaubt nachträgliche Umwandlung (§ 86), aber nicht deren Rückgängigmachung61. 22 Das Höchstmaß des Dauerarrestes (Abs. IV) beträgt 4 Wochen (nicht 1 Monat!). Auch hier sollte, um Abstumpfung und Gewöhnung zu vermeiden, nur in bes. Fällen das Höchstmaß verhängt werden62. Bei der Bemessung des Dauerarrestes wird der JRichter auch mit berücksichtigen, was das erz. Programm in der zuständigen JAAnstalt bietet63. Der Vollstreckungsleiter kann gem. § 87 III von der Vollstreckung des Restes, unter bestimmten Voraussetzungen von der Vollstreckung auch ganz absehen (§ 87, 8).

7. Koppelung 23 Über Koppelung § 8. Durch Koppelung mit Weisungen und Auflagen kann der JA mit weiterführender ErzArbeit verknüpft und eine gewisse Langzeitwirkung erzielt werden64. Eine mit der Verhängung des JA erteilte entsprechende Weisung, insbes. eine Betreuungsweisung, kann die gebotene Nachbetreuung sichern und erleichtern65. Eisenhardt und die Denkschrift der DVJJ 1977 regen eine derartige Nachbetreuung an (Rn. 9–11). Die verschiedenen Formen des JA (Abs. II-IV) sind grds. nicht zu koppeln; niemals dürfen in einem Urteil insgesamt mehr als 28 Tage JA verhängt werden. Zum Ungehorsamsarrest aber Rn 19. Zum Einstiegsarrest § 16a. 24 Über Vollstreckung u. Vollzug §§ 86 ff, 90; wegen der Urteilsfassung § 54, 4, 15; wegen UHaft § 52a, 8–11; wegen Begnadigung § 13, 7.

8. Arrestladung 25 Es empfiehlt sich, dass der Vollzugsleiter (§ 90 II 2) den JRichtern des Einzugsbereichs seiner JAAnstalt gem. RL V Nr. 1 S. 2 zu §§ 82–85 die allg. Zustimmung erteilt, den rechtskräftig Verurteilten unmittelbar (möglichst nach Besprechung mit dem J im Anschluss an die Verurteilung) zum Arrestantritt zu laden66. Vgl. dazu auch RL V Nr. 4 S. 2 zu §§ 82–85. Dies ist in der Praxis technisch unschwer zu lösen und führt zur gebotenen raschen Vollstreckung. Nach der Ladung durch den Rechtspfleger gibt der JRichter die Akte an den Vollzugsleiter ab, wobei zunächst eine beglaubigte Abschrift des erkennenden Teils mit Rechtskraftbescheinigung genügt (Vor § 82, 4). Dies vermag Vorführungen, welche J und Polizei gleichermaßen unnötig belasten, zu ver26 mindern. Wird das Urteil nicht sofort rechtskräftig, weil in der Hauptverhandlung die Erzberechtigten und gesetzlichen Vertreter des J nicht anwesend waren, so kann diesem ein (Formblatt-)Schreiben mitgegeben werden, welches das Urteil, den vorgesehenen Ladungstermin und die Bitte enthält, die Erzberechtigten und gesetzlichen Vertreter mögen mitteilen, ob sie mit der Entscheidung einverstanden sind. Auch das hat sich in der Praxis bewährt. Es ist dies eine Möglichkeit, erz. zweifelhafte polizeiliche Vorführungen zu vermeiden. Solche Vorführungen sind allerdings zulässig (RL V 7 zu §§ 82–85)67. Die Befugnis kann sich aus einem LandesarrestvollzugsG ergeben (zB § 10 JAVollzG Schleswig-Holstein)68. Besteht eine spezialgesetzliche Rege-

61 Kritik am Vollzug des Kurzarrestes bei Koepsel FS Böhm, 1999, S. 625. 62 Beulke/Swoboda Rn 416; für Anhebung auf 3 Monate mit der Chance vorzeitiger BewEntlassung Koepsel aaO S. 626, 631. Wohlfahrt StraFo 17, 439. Bedenken hiergegen bei Eisenberg/Kölbel § 8, 12. Franzke RdJ 18, 447 f. Vgl. auch Eisenberg/Kölbel 36. DSS/Diemer § 90, 8; Ostendorf/Rose § 87, 19; Rinio Zbl. 00, 302; aA Hinrichs StV 90, 380; DSS/Sonnen 26 u. § 85, 2. 68 Dazu Willsch FS Ostendorf, 2015, 933.

63 64 65 66 67

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Jugendarrest neben Jugendstrafe

§ 16a

lung nicht, kann zwar gegen eine analoge Anwendung des § 457 StPO das zwischen JStrafe und JA bestehende Gefälle in der Eingriffsintensität angeführt werden69. Durch den Justizverwaltungsakt der Ladung wird der Verurteilte jedoch zum Antritt des JA verpflichtet. Kommt er dieser Verpflichtung nicht nach, kann sich der Vollstreckungsleiter der Amtshilfe der Polizei zur Durchsetzung des Verwaltungsaktes bedienen. Die Polizei ist zur Anwendung unmittelbaren Zwangs nach Maßgabe des Landesverwaltungsvollstreckungsrechts befugt70. Nach DSS/Diemer71 ist die Polizei zur Anwendung unmittelbaren Zwangs im Rahmen ihrer allg. Aufgabe zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit u. Ordnung befugt. Auch bei erz. Ausgestaltung des JA ist die zwangsweise Zuführung zum Arrest nicht völlig zu entbehren72. 27 Zur arrestbewehrten Weisung, den JA pünktlich anzutreten, § 10, 35.

9. Jugendarrest bei Drogentätern Bei noch nicht drogenabhängigen Tätern, wohl auch noch bei Klein-Dealern für Eigenbedarf, 28 kann nach bes. gründlicher Persönlichkeitserforschung, die insbes. klären muss, ob der J (Hw.) durch JA überhaupt noch ansprechbar erscheint, JA geeignet sein, zumal im Arrestvollzug wertvolle ErzArbeit geleistet werden kann. Ein Dauerarrest etwa von 4 Wochen führt daneben auch zu einer zwangsläufigen Entziehung des gefährdenden Milieus. Zugleich mit dem JA wird es sich häufig empfehlen, zusätzlich Weisungen (§ 10, 49, 51) als Langzeithilfe (§ 8, 1) einzusetzen. Bei wirklich Drogenabhängigen aber scheidet JA schlechthin aus, weil diese infolge ihrer 29 Passivität, Lethargie und allg. Ablehnungshaltung schlechterdings arrestuntauglich sind, der JA nach Anlage und ErzZiel für sie ungeeignet ist und die Arrestanstalten ohne Nutzen mit schwierigen, andere sogar gefährdenden Arrestanten belastet werden. JAAnstalten lehnen es meist ab, Drogenabhängige aufzunehmen73. Sie tun es wegen der Kürze der Zeit und fehlender personeller und sächlicher Einrichtung zu Recht74. Zum Ungehorsamsarrest § 11, 14. Allg. zu Drogentätern: Einf. 66–72; § 10, 40 ff; § 93a.

§ 16a Jugendarrest neben Jugendstrafe (1) Wird die Verhängung oder die Vollstreckung der Jugendstrafe zur Bewährung ausgesetzt, so kann abweichend von § 13 Absatz 1 daneben Jugendarrest verhängt werden, wenn 1. dies unter Berücksichtigung der Belehrung über die Bedeutung der Aussetzung zur Bewährung und unter Berücksichtigung der Möglichkeit von Weisungen und Auflagen geboten ist, um dem Jugendlichen seine Verantwortlichkeit für das begangene Unrecht und die Folgen weiterer Straftaten zu verdeutlichen, 2. dies geboten ist, um den Jugendlichen zunächst für eine begrenzte Zeit aus einem Lebensumfeld mit schädlichen Einflüssen herauszunehmen und durch die Behandlung im Vollzug des Jugendarrests auf die Bewährungszeit vorzubereiten, oder

69 70 71 72 73

Ostendorf/Rose, DSS/Diemer u. Rinio aaO. Ostendorf/Rose u. Rinio aaO. § 90, 8; ebenso Wohlfahrt StraFo 17, 442 f. Rinio aaO, 303; aA Hinrichs StV 90, 381; DSS/Sonnen § 85, 2. Vgl. auch Eisenberg/Kölbel 26: Hinweis auf Ungeeignetheit von Alkohol- und Drogenabhängigen „vage orientierende Tendenz“. 74 Vgl. auch Brunner Zbl. 80, 415, 419; Kreuzer Zbl. 74, 214. 155 https://doi.org/10.1515/9783110686401-019

§ 16a

2. Teil. Jugendliche

3.

dies geboten ist, um im Vollzug des Jugendarrests eine nachdrücklichere erzieherische Einwirkung auf den Jugendlichen zu erreichen oder um dadurch bessere Erfolgsaussichten für eine erzieherische Einwirkung in der Bewährungszeit zu schaffen. (2) Jugendarrest nach Absatz 1 Nummer 1 ist in der Regel nicht geboten, wenn der Jugendliche bereits früher Jugendarrest als Dauerarrest verbüßt oder sich nicht nur kurzfristig im Vollzug von Untersuchungshaft befunden hat. 1. Hw.-J: § 105 I. – 2. ErwG: § 104 I Nr. 1. – 3. Sold. § 112a, 10.

Schrifttum Antholz Warnschussarrest, Kriminalistik 15, 99; Brettel/Bartsch Der sog. Kopplungsarrest nach § 16a JGG – Hintergrund, Regelungsprogramm, offene Fragen, RdJ 14, 299; Breymann/Sonnen Wer braucht eigentlich den Einstiegsarrest? NStZ 05, 669; Endres/Maier Wie wird der Koppelungsarrest (§ 16a JGG) in der Rechtspraxis angewandt? FS Streng, 2017, S. 427; Findeisen Der Einstiegs- bzw. Warnschussarrest – ein Thema in der Diskussion, ZJJ 07, 25; Gernbeck Soziales Training im (Warnschuss-)Arrest – Evaluation eines Modellprojekts in Baden-Württemberg, in DVJJ-BW, JKriminalität – Prävention und Reaktionen, 2015, S. 27; dies. Stationäres soziales Training im (Warnschuss-)Arrest. Implementation u. Evaluation eines Modellprojekts in Baden-Württemberg, 2017; Gernbeck/Höfller/ Verrel Der Warnschussarrest in der Praxis – Erste Eindrücke, NK 13, 307; Gernbeck/Hohmann-Fricke Hat der Warnschussarrest Potential? ZJJ 16, 362; Götting Überlegungen zur Einführung eines Warnschussarrests aus statistischer Sicht, FS Schöch, 2010, S. 254; Höffler/Kaspar Die Neuerungen des „G zur Erweiterung der jgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten“ vom 4.9.2012 – eine Bilanz, RdJ 18, 449; Holste „Warnschussarrest“ und Rückwirkungsverbot, StV 13, 660; ders. Der § 16a-Arrest, das strafrechtliche Rückwirkungsverbot u. der Umgang mit fehlerhaften Urteilen, ZJJ 13, 289; Kinzig/Schnierle Der neue Warnschussarrest im JStrafrecht auf dem Prüfstand, JuS 14, 210; Klatt/Ernst/ Höynck/Baier/Treskow/Bliesener/Pfeiffer Evaluation des neu eingeführten JA neben zur Bew. ausgesetzter JStrafe (§ 16a JGG), 2016; dies. ZJJ 16, 354; dies. FS 18, 323; Kreuzer „Warnschussarrest“: Ein kriminalpolitischer Irrweg, ZRP 12, 101; Müller-Piepenkötter/Kubink „Warn(schuss)arrest“ als neue Sanktion – rationale Perspektiven für eine ewige Kontroverse, ZRP 08, 176; Radtke Der sogenannte Warnschussarrest im JStrafrecht – Verfassungsrechtliche Vorgaben u. dogmatisch-systematische Einordnung, ZStW 09, 416; Reichenbach Über die Zulässigkeit der Verbindung eines Schuldspruchs nach § 27 JGG mit JA, NStZ 05, 136; Schmidt Die Verknüpfung von JA u. bedingter JStrafe als sog. „Warnschussarrest“ in Bayern, NK 19, 74; Schumann Der Einstiegsarrest – Renaissance der kurzen Freiheitsstrafe, ZRP 84, 319; Sonnen Reform des JStrafrechts, ZRP 03, 473; Verrel/Käufl „Warnschussarrest“ – Kriminalpolitik wider besseres Wissen? NStZ 08, 177; Viehmann Reform des JStrafrechts, ZRP 03, 377; Vietze Der Einstiegsarrest – eine zeitgemäße Sanktion? 2004; Werwigk-Hertneck/Rebmann Reformbedarf im Bereich des JStrafrechts? ZRP 2003, 225.

Übersicht 1. 2. 3.

Gesetzgebungsgeschichte 1 Zweck und Verhältnismäßigkeit 3 Voraussetzungen

2

4. 5. 6.

6 Verhängung Vollstreckung und Vollzug 9 Anwendungspraxis

7

1. Gesetzgebungsgeschichte 1 Der durch das G zur Erweiterung der jgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten v. 4.9.2012 in das JGG eingefügte § 16a, der am 7.3.2013 in Kraft getreten ist, erlaubt unter bestimmten Voraussetzungen eine Koppelung von Aussetzung der Verhängung oder Vollstreckung der JStrafe und JA und entscheidet damit eine seit langem umstrittene Problematik. § 61 III 1 lässt diese Koppelung auch beim Vorbehalt der Entscheidung über die Aussetzung einer verhängten JStrafe zu. Vor dem Inkrafttreten dieser Regelung war die Koppelung der Aussetzung der Vollstreckung der JStrafe mit JA nach § 8 II aF unzulässig. Die Koppelung der Aussetzung der Verhängung der JStrafe mit JA wurde teilweise für zulässig gehalten, der BGH und die hM lehnten dies jedoch 156

Jugendarrest neben Jugendstrafe

§ 16a

zutreffend ab1 und das BVerfG2 erklärte diese Kombination als Verstoß gegen das Verbot analoger Rechtsanwendung zum Nachteil des Betroffenen (Art. 103 III GG) für verfassungswidrig. Die Forderung nach Zulassung der Koppelung durch Einführung eines „Einstiegs-“ oder „Warnschussarrestes“ wurde immer wieder erhoben, begegnete aber auch erheblichen rechtspolitischen Bedenken3. Mit dem G v. 4.9.2012 hat der Gesetzgeber das Koppelungsverbot aufgehoben, die Koppelung aber strikt an bestimmte, in Abs. I Nr. 1 bis 3 abschließend geregelte Voraussetzungen gebunden4. Für vor dem 7.3.2013 begangene Taten gilt das Rückwirkungsverbot (Art. 103 II GG, §§ 1, 2 III StGB). Arrest nach § 16a darf wegen solcher Taten nur verhängt werden, wenn dies zu einer gegenüber dem Tatzeitrecht milderen Sanktionierung führt, also insbes. nach früherem Recht eine JStrafe ohne Bewährung zu verhängen wäre5. Ist eine unter Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot erfolgte Verurteilung zu einem JA nach § 16a rechtskräftig geworden, kann das Gnadenrecht helfen6. Ein Absehen von der Vollstreckung nach § 87 III ist nicht möglich7.

2. Zweck und Verhältnismäßigkeit Arrest nach § 16a darf nur verhängt werden, um die Aussichten für eine erfolgreiche Bewälti- 2 gung der Bewährungszeit und damit die Vermeidung künftiger Straftaten zu verbessern8. Nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz scheidet die Anordnung aus, wenn der Zweck durch eine geeignete JHilfeleistung, z.B. einen sozialen Trainingskurs (§ 10 I S. 3 Nr. 6) oder eine intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung (§ 35 SGB VIII) erreicht werden kann9. Ob durch den JA zur Förderung der Bewährung beigetragen werden kann, hängt von dem Behandlungsangebot im Arrestvollzug ab. Das JGericht muss dieses daher kennen und bei seiner Entscheidung berücksichtigen10. Hierbei sind auch das Übergangsmanagement und die Anschlussbetreuung durch Jugend- bzw. Bewährungshilfe in den Blick zu nehmen11.

3. Voraussetzungen Nach Abs. I Nr. 1 (Verdeutlichungsarrest) kann JA verhängt werden, wenn dies geboten ist, 3 um dem J seine Verantwortung für das begangene Unrecht und die Folgen weiterer Straftaten zu verdeutlichen12. Dies kann nach der Gesetzesbegründung der Fall sein, wenn der J eine „bloße“ Bewährung als „Freispruch zweiter Klasse“ auffassen würde oder angesichts von Mitverurteilten mit Verurteilung (nur) zu JA die Strafaussetzung zur Bewährung nicht ernst nehmen würde13. Die Anordnung des Arrestes setzt voraus, dass dem J seine Verantwortlichkeit nicht durch eine erz. gestaltete Belehrung nach §§ 268a III StPO, 60 I 2, 61 III 4, 64 und 70a sowie durch Weisungen und Auflagen hinreichend verdeutlicht werden kann. Nach Abs. II ist Verdeutlichungsarrest 1 2 3 4

Siehe 12. Aufl. § 27, 13 f. NJW 05, 2140. Vgl. 12. Aufl. § 27, 15. Der Regelung zust. Baier Die Bedeutung der Aussetzung der Verhängung der JStrafe nach § 27 JGG u. der Vorbewährung in der jgerichtlichen Praxis in Bayern, 2015, S. 213. 5 LG Münster ZJJ 13, 223, 224 mit Anm. Eisenberg ZJJ 13, 328; LG München ZJJ 14, 398 mit Anm. Eisenberg; Eisenberg/ Kölbel 15. 6 Holste ZJJ 13, 291. 7 LG München ZJJ 14, 399; aA Holste aaO; HK-JGG/Wulf 2. 8 Begr. RegE, BT-Drs. 17/9389, S. 12; Wohlfahrt StraFo 17, 438. 9 Begr. RegE aaO; Eisenberg/Kölbel 9. 10 Begr. RegE aaO. 11 Begr. RegE aaO, S. 12; Eisenberg/Kölbel 8. 12 Vgl. AG Cloppenburg ZJJ 14, 394; AG Bonn ZJJ 16, 77; jeweils mit krit. Anm. Eisenberg. 13 Begr. RegE, BT-Drs. 17/9389, S. 12 f. 157

§ 16a

2. Teil. Jugendliche

idR nicht geboten, wenn der J bereits früher Dauerarrest verbüßt oder sich nicht nur kurzfristig im UHaft-Vollzug befunden hat, denn dann ist von einem JA kein zusätzlicher Verdeutlichungseffekt zu erwarten14. 4 Der Herausnahmearrest nach Abs. I Nr. 2 setzt die Feststellung voraus, dass der J sich in einem Lebensumfeld mit schädlichen Einflüssen aufhält. Das kann z.B. eine delinquenzgeneigte Gleichaltrigengruppe sein. Der JA muss geboten sein, um den J aus diesem Umfeld herauszunehmen und ihn durch die Behandlung im Arrestvollzug auf die Bewährungszeit vorzubereiten. Indem das Gesetz auf die Behandlung im Vollzug abstellt, macht es deutlich, dass ein Herausnahmearrest regelmäßig nur sinnvoll ist, wenn er sich nicht auf den Freiheitsentzug beschränkt, sondern eine erfolgversprechende Behandlung anbietet; außerdem muss eine angemessene Übergangs- und Nachbetreuung zu erwarten sein15. Im Arrestvollzug kann gemeinsam mit der Bewährungshilfe ein Konzept für die Bewährungszeit erarbeitet werden, das z.B. auch den Umgang mit einer Gleichaltrigengruppe betreffen kann16. Eine freiwillige oder im familiengerichtlichen Verfahren angeordnete Heimunterbringung (§ 34 SGB VIII) kann den Herausnahmearrest entbehrlich machen17; das JGericht darf die Heimunterbringung wegen § 8 II 1 nicht neben einer JStrafe anordnen. 5 Der in Abs. I Nr. 3 geregelte Einwirkungsarrest umfasst zwei Alternativen. Bei der 1. Alternative muss JA geboten sein, um im Arrestvollzug eine nachdrückliche erz. Einwirkung auf den J zu erreichen, Hier geht es um Fälle, in denen vor der eigentlichen Bewährungszeit eine stationäre Intensivbetreuung angezeigt ist, der sich der J nicht entziehen kann18. Nach der 2. Alternative muss JA geboten sein, um dadurch bessere Erfolgsaussichten für eine erz. Einwirkung in der Bewährungszeit zu schaffen. Hier steht die stationäre Vorbereitung und Einleitung der längerfristigen Betreuung in der Bewährungszeit im Vordergrund, etwa durch Aufbau einer Vertrauensbeziehung mit dem BewHelfer und Erarbeitung eines Betreuungskonzepts19. In beiden Varianten muss sich aus konkret festzustellenden Umständen ergeben, dass der JA zur Verbesserung der Legalbewährungsaussichten geeignet ist20.

4. Verhängung 6 Der JA nach § 16a wird im erkennenden Urteil verhängt. Ein nachträglicher Beschluss kommt nur bei Aussetzung der Entscheidung über die Strafaussetzung in Betracht21. In den Urteilsgründen ist darzulegen, welche Arrestart nach Abs. I verhängt wurde22.

5. Vollstreckung und Vollzug 7 Der Vollzug des JA muss nach § 87 IV 2 vor Ablauf von 3 Monaten seit Eintritt der Rechtskraft des Urteils beginnen; andernfalls greift ein Vollstreckungsverbot ein. Hat der Vollzug vor Fristablauf begonnen, kann er danach noch abgeschlossen werden23. Die Arrestvollstreckung ist nach § 87 IV 3 außerdem nach Widerruf der Aussetzung der JStrafe (§ 26 I), Ausspruch einer

14 15 16 17 18 19 20 21 22 23

AaO, S. 13. AaO. AaO. AaO; HK-JGG/Wulf 30. Begr. RegE, BT-Drs. 17/9389, S 13. AaO. AaO; Eisenberg/Kölbel 14. HK-JGG/Wulf 46; für Unzulässigkeit der Verhängung im Beschluss nach § 61 Eisenberg/Kölbel 16. HK-JGG/Wulf aaO. Begr. RegE, BT-Drs. 17/9389, S. 20. 158

Jugendarrest neben Jugendstrafe

§ 16a

JStrafe, deren Verhängung zur Bewährung ausgesetzt war (§ 30 I 1), und Ablehnung der Aussetzung der JStrafe in einem nachträglichen Beschluss (§ 61a I) unzulässig, weil der Arrest in diesen Fällen seinen Zweck der Förderung des Bewährungserfolges nicht mehr erfüllen kann. Die Ausgestaltung des Vollzugs des JA richtet sich nach § 90 und den JAVollzugsG der Län- 8 der (§ 90, 6). Ihr kommt für den Erfolg des Einstiegsarrests wesentliche Bedeutung zu24. Wird die Aussetzung der JStrafe widerrufen, wird verbüßter JA nach § 26 III 3 auf die JStrafe angerechnet (mit entsprechender Anwendung in §§ 30 I 2 und 61b IV 3).

6. Anwendungspraxis Nach bisherigen Evaluationen wird § 16a eher zurückhaltend und regional unterschiedlich ange- 9 wendet25. Die Verhängung eines JA wird vor allem mit der Unrechtsverdeutlichung und der Ermöglichung einer nachdrücklicheren erz. Einwirkung begründet26. Allerdings setzen sich die schriftlichen Urteilsgründe häufig mit den Voraussetzungen des § 16a nicht gründlich auseinander27. Ein beträchtlicher Teil der zu einem Einstiegsarrest Verurteilten hatte bereits zuvor einen Dauerarrest verbüßt28.

24 HK-JGG/Wulf 53. Zu einem sozialen Training im baden-württembergischen JAVollzug s. Gernbeck in DVJJ-BW, JKriminalität – Prävention und Reaktionen, 2015, S. 27 ff. 25 Antholz Kriminalistik 15, 99; Klatt ua S. 209; Endres/Maier FS Streng, 2017, S. 437; Heinz S. 47. 26 Klatt ua S. 211 ff; Schmidt NK 19, 84 f. 27 Klatt ua S. 91, 95 f, 215; Schmidt NK 19, 83 f. 28 Klatt ua S. 215; Gernbeck 2017, S. 217; Endres/Lauchs BewH 18, 392; Schmidt NK 19, 80. Zusammenfassend zu den empirischen Befunden zum Einstiegsarrest Höffler/Kaspar RdJ 18, 461 ff. 159

Vierter Abschnitt Die Jugendstrafe § 17 Form und Voraussetzungen (1) Die Jugendstrafe ist Freiheitsentzug in einer für ihren Vollzug vorgesehenen Einrichtung. (2) Der Richter verhängt Jugendstrafe, wenn wegen der schädlichen Neigungen des Jugendlichen, die in der Tat hervorgetreten sind, Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel zur Erziehung nicht ausreichen oder wenn wegen der Schwere der Schuld Strafe erforderlich ist. 1. Hw.-J: § 105 I. – 2. ErwG: § 104 I Nr. 1; § 112 S. 1, 2 – 3. Sold: § 112a, 9.

Richtlinien zu § 17 1. 2.

Jugendstrafe darf nur verhängt werden, wenn andere Rechtsfolgen des Jugendgerichtsgesetzes nicht ausreichen. Sie soll in erster Linie der Erziehung dienen und darf deshalb mit der Freiheitsstrafe nicht gleichgesetzt werden. Wenn Jugendliche und Erwachsene gemeinsam abgeurteilt werden (§ 103), wird es sich in der Regel empfehlen, in der mündlichen Urteilsbegründung das Wesen der Jugendstrafe und ihre Verschiedenheit von der Freiheitsstrafe darzulegen.

Schrifttum Bachmann Der ErzGedanke im JStrafrecht: Wohin steuert der BGH? JZ 19, 759; Balzer Der strafrechtl. Begriff der schädlichen Neigungen, Diss. Kiel 1965; Baumann Der Begriff der schädl. Neigungen, BewH 67, 177; Baumhöfener Schwere der Schuld i.S.d. § 17 II Alt. 2 JGG bei erfolgsqualifizierten Delikten, ZJJ 11, 428; Belloni Anwendungsbereich u. Wirksamkeit der bestimmten JStrafe, 1965; Bergmann Zur Legitimationskrise der JStrafe, ZRP 91, 44; Beulke JStrafe wegen Schwere der Schuld – Notanker oder Achillesferse? NK 19, 269; Böhm Rückfall u. Bew. nach verbüßter JStrafe, RdJ 73, 33; Bottke Generalprävention u. JStrafrecht aus kriminologischer u. dogmatischer Sicht, 1984; Bringewat Verurteilung zu JStrafe – rückfallbegründende Verurteilung zu Strafe iSd § 48 StGB? JZ 82, 11; Bruns Zur Antinomie der Strafzwecke im JStrafrecht, StV 82, 5; Coester/Kerner/Stellmacher/Issmer/Wagner Die Evaluation des Hessischen JStrafvollzugs, FS 19, 16; Deichsel Was JRichter/innen beim Richten ausrichten u. anrichten! Eine krit. Auseinandersetzung mit dem Begriff der „Schädlichen Neigungen“, ZJJ 04, 266; Dünkel Situation u. Reform von JStrafe, in Dünkel/Meyer, Hrsg., JStrafe u. JStrafvollzug, 1985, S. 45; Dünkel/Geng/Harrendorf Einwicklungsdaten zu Belegung, Öffnung u. Merkmalen der Insassenstruktur im JStrafvollzug, ZJJ 19, 317; Eisenberg ErzBedürftigkeit u. –fähigkeit als Voraussetzungen der Verhängung der JStrafe wegen Schwere der Schuld (§ 17 II Alt. 2 iVm § 2 I 2 JGG), NStZ 13, 636; Endres/Breuer/Nolte Wiederinhaftierung u. Entlassung aus dem JStrafvollzug, MKrim. 16, 242; Frey Möglichkeiten u. Grenzen der Therapie bei Frühkriminellen, in Bittner, Hrsg., Heilen statt Strafen, 1957, S. 309; Galli Der JStrafvollzug der Zukunft, ZJJ 19, 279; Heinen Abgrenzung von JStrafe u. Fürsorgeerziehung, UJ 58, 460; Hellmer Erz. u. Strafe, 1957, S. 252 ff; Herrmann Erz. im JStrafvollzug, in Schaffstein/Miehe, Hrsg., Weg u. Aufgabe des JStrafrechts, 1968; Hinz Soziales Gebot oder „Lebenslüge“? – Der ErzGedanke bei der JStrafe, ZRP 05, 192; JM Baden-Württemberg, Hrsg., JVollzug – Hilfe oder Strafe? 1986; Kaiser Der erz. Sinn der JStrafe u. seine Verwirklichung, Diss. Heidelberg 1971; H. Kaufmann/Marquardt ua JStraftäter u. ihr Verfahren, 1975; Kemme Die strafprozessuale Notwendigkeit zur Hinzuziehung eines Sachverständigen bei Feststellung schädlicher Neigungen gem. § 17 II JGG, StV 14, 760; Kemme/ Stoll Bestehende Benachteiligungen junger Straftäter im Lichte der Forderungen nach Verschärfungen im JStrafrecht, MKrim 12, 32; Konze Die JStrafe wegen schädlicher Neigungen gemäß § 17 II Fall 1 JGG, 2015; Lange Rückfälligkeit nach JStrafe, Diss. Göttingen 1973; Lobitz/Giebel/Suhling Strukturelle Merkmale des JStrafvollzugs in Deutschland, FS 13, 341; Matzke Der Leistungsbereich bei JStrafgefangenen, Diss. Berlin 1982; M.-K. Meyer JStrafe wegen Schwere der Schuld – ErzStrafe und/oder Schuldausgleich? Zbl. 84, 445; Meyer-Odewald Die Verhängung u. Zumessung der JStrafe, 1993; Miehe Zur Anordnung der Fürsorgeerziehung bei Unerziehbaren, RdJ 66, 5, 34, 64; Mörke JStrafe ein ErzMittel? SchlHA 65, 153; Mösl Verhängung u. Bemessung von JStrafe, NStZ 81, 428; Nolting Freigänger im JStrafvollzug, Diss. Göttingen 1985; Pauli/Stoll/Prätor/Lobitz/Wirth Schulische u. berufliche Bildung im JStrafvollzug, FS 19, 8; Pedal Die Voraussetzungen der JStrafe, JuS 08, 414; Reuther Elternrecht bei Trennung aufgrund stationärer jstrafrechtlicher Sanktionen, 2008; Rose Die Bedeutung des ErzGedankens bei der JStrafe wegen Schwere der Schuld, NStZ 19, 57; ders. Die Voraussetzungen der JStrafe. Neue Aktualität durch notwendige Verteidigung nach 160 https://doi.org/10.1515/9783110686401-020

Form und Voraussetzungen

§ 17

europäischem Recht, ZJJ 20, 43; Schaffstein Schädliche Neigungen und Schwere der Schuld als Voraussetzungen der JStrafe, FS Heinitz, 1972, S. 461; v. Schlotheim Zum Problem d. schädlichen Neigungen, RdJ 59, 150, 168, 181; ders. Die Höchstdauer der JStrafe, MKrim. 61, 107; Streng Die JStrafe wegen schädlicher Neigungen (§ 17 II 1. Alt.) – Ein Beitrag zu den Grundlagen u. zum System der JStrafe –, GA 84, 147; Swoboda Die JStrafe wegen schädlicher Neigungen, ZJJ 16, 278; Tenckhoff JStrafe wegen Schwere der Schuld, JR 77, 485; Trenczek, Hrsg., Freiheitsentzug bei jungen Straffälligen, 1993; Villmow/Savinsky Länderspezifische Entwicklungen im JVollzug: das Beispiel Hamburg, ZJJ 19, 329; Wachter Untersuchungen über Erfolg u. Mißerfolg der Erz. durch die JStrafe, Diss. Heidelberg 1966; Walter/Wilms Künftige Voraussetzungen für die Verhängung der JStrafe: Was kommt nach dem Wegfall der „schädlichen Neigungen“? NStZ 07, 1; Weber Die Anwendung der JStrafe, 1990; Werner JStrafe u. Fürsorgeerziehung, RdJ 64, 114 u. 134; Wiesbrock Probleme des offenen Strafvollzugs u. seine Bew, Diss. Göttingen 1971; Wirth Befähigung – Eingliederung – Legalbewährung: Die Zieltrias des JStrafvollzugs als Evaluationsgrundlage, ZJJ 19, 340.

Übersicht 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Rechtsnatur 1 3 Anwendung und Diskussion 9 Vollzug 11 Voraussetzungen und Wirkungen 15 Schädliche Neigungen 25 Schwere der Schuld Fahrlässigkeitstaten und weitere Besonderhei31 ten

8. 9. 10.

Abgrenzung von anderen 35 Maßnahmen Schädliche Neigungen und 38 Strafaussetzung Zurückstellung der Strafvollstreckung bei betäubungsmittelabhängigen J und Hw. nach §§ 38 I, 35 I, 40 36 BtMG

1. Rechtsnatur JStrafe ist die einzige Rechtsfolge des JGG mit dem Charakter einer Kriminalstrafe, gleichwohl eher 1 notwendiges als strafendes Übel1. Sie ist sowohl nach den Voraussetzungen (§ 17) wie nach den Vollzugsvorschriften auf die bes. Lage junger Menschen zugeschnitten und gegenüber den Strafen des allg. Rechts eigenständig (aliud; RL 1 S. 2)2. Sie enthält alle Elemente des allg. Strafbegriffs3 (vgl. § 18, 17). Der BGH hat nicht beanstandet, dass eine JKammer 10 Jahre JStrafe wegen Mordes für erforderlich gehalten hat, „um über die erz. notwendige Einwirkung hinaus dem auch im JStrafrecht geltenden Grundsatz der tatvergeltenden Sühne und Abschreckung zu genügen“4 (zur Abschreckung § 18, 21 f). Auch die JStrafe wegen schädlicher Neigungen ist eine Strafe und keine Maßregel der Besserung und Sicherung5. Der vorrangige Grundsatz der Erz. und die Elemente des allg. Strafbegriffs treffen sich darin, dass die JStrafe, wie jede Sanktion, den J für sein Handeln verantwortlich machen soll. Dies ist eine der stärksten pädagogischen Kräfte, denn der junge Mensch soll frühzeitig lernen, dass nichts ihn von der Verantwortung für sein Tun und Lassen freistellt und dass er selbst entscheidend sein Verhältnis zu seiner Umgebung gestaltet6. Dazu auch Einf. 89 u. insbes. § 18, 17. Stets aber bleibt der ErzGedanke so vorrangig, dass bereits der Versuch des Täters, sein Leben in geordnete Bahnen zu lenken, und Ansätze zu positiver Entwicklung eingehende Darlegungen dazu verlangen, ob diesem „nur durch Verbüßung einer lang dauernden Haftstrafe, die 1 Schaffstein FS Heinitz, 1971, S. 461. 2 BGH 10, 103. 3 Schuldausgleich, Abschreckung, Besserung, Schutz der Allgemeinheit, BGH 18, 209; BGH StV 82, 173 = JR 82, 432 mit zust. Anm. Brunner; OLG Frankfurt NStZ 84, 383; M.-K. Meyer Zbl. 84, 446; Nothacker S. 113, 144; Wolf S. 97.

4 BGH B NStZ 87, 442. 5 MK-StGB/Radtke/Scholze § 17 JGG 8; Swoboda ZJJ 16, 283; vgl. aber auch Eisenberg/Kölbel 23: „erhebliche Ähnlichkeiten mit einer Maßregel der Besserung und Sicherung“. 6 Vgl. Hellmer in JM Baden-Württemberg, 1986, S. 40, 41. 161

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2. Teil. Jugendliche

noch dazu die begonnene Lehre unterbrechen und womöglich beenden würde, hinreichend Rechnung getragen werden kann“7. Es treten die allg. Strafzwecke (dazu RL 2 zu § 18) zurück hinter das ErzZiel aller jrechtlichen Maßnahmen und gerade auch der JStrafe wegen schädlicher Neigungen (wegen Schwere der Schuld aber Rn 25) und ihres Vollzugs: den Täter zu bessern, dh vor allem ihn zu befähigen, sein Leben eigenverantwortlich zu gestalten und künftig keine Straftaten mehr zu begehen. Denn es sollen – und es können auch – junge, in der Entwicklung befindliche, noch prägbare Täter beeinflusst werden, was Sühne weithin zurückdrängt und Generalprävention (§ 18, 21 f) ausschließt. Nach Nothacker8 könne und dürfe Aufgabe des JStrafrechts nur sein, „weiterer strafrechtlicher Erfassung des Verhaltens einzelner Personen dadurch entgegenzuwirken, dass die Voraussetzungen für ihre Legalbew. geschaffen werden“, und er fügt hinzu, dass dies im Besonderen heiße, „Bedingungen zu schaffen, unter denen eventuelle Mängellagen bei J und Hw. durch Selbsthilfe und Angebote von ErzPersonen reduziert werden könnten“. Dies entspreche auch dem Sozialisationsbegriff im JStrafrecht9. Anstelle des unsystematischen „Vorrangs des ErzGedankens“ sollten die angezeigten jstrafrechtlichen Anwendungsprinzipien der Entscheidung zugrunde gelegt werden10. Ludwig11 meint kritisch, es lasse sich „eben leichter einsperren, wenn dies geschieht, um jemand zu erziehen“. Zum ErzBegriff bes. Rn 6 ff; auch Einf. 83–93; § 18, 13, 14 u. 23. 2 Durch das 2. JGGÄndG vom 13.12.2007 wurde in § 17 I das Wort „Jugendstrafanstalt“ durch die Wörter „für ihren Vollzug vorgesehenen Einrichtung“ ersetzt. Hierdurch hat der Gesetzgeber dem Umstand Rechnung getragen, dass JStrafe heute nicht mehr ausschließlich in JStrafanstalten vollzogen wird, sondern im Rahmen des Vollzugs in freien Formen auch in Einrichtungen freier Träger12. So zeigen die Erfahrungen mit dem Projekt Chance in Baden-Württemberg, dass es bei geeigneten Gefangenen möglich ist, die JStrafe in Einrichtungen der JHilfe zu vollziehen13.

2. Anwendung und Diskussion 3 Die JStrafe ist als „ultima ratio“ des JStrafrechts konzipiert (RL 1 S. 1), spielt aber in der Praxis weiterhin eine beträchtliche Rolle. 1980 erhielten 17.982 Verurteilte eine JStrafe (14 % aller nach JStrafrecht Verurteilten), 1991 waren es 12.938 (18 % der Verurteilten bei zurückgegangenem Anteil der Verurteilungen an den Verfahrenserledigungen) und 2020 – in allen Bundesländern – 8.174 (16 %)14. Eine JStrafe ohne Bew. wurde 1980 gegen 6790 Verurteilte verhängt (5 % aller nach JStrafrecht Verurteilten), 1991 gegen 4812 Personen (7 %) und 2014 gegen 4.550 (6 %)15. Der Anteil der zu JStrafe Verurteilten an allen formell oder informell (gem. §§ 45, 47) nach JStrafrecht Sanktionierten betrug 1981 8 % (für JStrafe ohne Bew. 3 %), 2000 6 % (für JStrafe ohne Bew. 2 %) und 2015 4 % (für JStrafe ohne Bew. 1,5 %)16. Nach empirischen Befunden wurden in bestimmten Konstellationen (zB Verurteilung wegen einfachen Diebstahls oder Unterschlagung bei Vorliegen von Vorbelastungen) J und Hw. häufiger zu einer Jugendstrafe ohne Bew. verurteilt als Erw. zu einer Freiheitsstrafe ohne Bew.17 und erhielten Hw. bei Verurteilung nach JStrafrecht 7 BGH StV 88, 307; BGH StV 89, 478 bei § 18, 19; Brunner JR 90, 305. 8 S. 60. 9 S. 83. 10 S. 383. 11 Zbl. 86, 338. 12 Begr. RegE, BT-Drs. 16/6293, S. 10. 13 Vgl. zu dem Projekt Goll/Wulf Zbl. 03, 219; Biendl JStrafvollzug in freier Form am Beispiel des „Projekt Chance“, 2005; Dölling in Schöch/Jehle, Hrsg., Angewandte Kriminologie zwischen Freiheit u. Sicherheit, 2004, S. 99 ff; Dölling/Stelly/Thomas in DVJJ, Hrsg., Fördern Fordern Fallenlassen, 2008, S. 118 ff; Dölling/Kerner GS Walter, 2014, S. 525; Dreßel „Projekt Chance“. Eine Alternative zu herkömmlichen JStrafanstalten, 2007; Stelly ZJJ 14, 257. 14 Heinz in Trenczek 1993, S. 78; Stat. BA, S. 318. 15 Berechnet jeweils nach Stat. BA. 16 Heinz S. 242. 17 Pfeiffer DVJJ-J 91, 114 ff; Kemme/Stoll MKrim 12, 36. 162

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häufiger eine JStrafe ohne Bew. als bei Verurteilung nach allg. Strafrecht eine Freiheitsstrafe ohne Bew.18. Insgesamt lässt sich jedoch nicht belegen, dass die nach JStrafrecht Verurteilten allg. oder auch nur mehrheitlich schlechter gestellt werden als die Erw.19. Die JStrafe ist verfassungsgemäß20. Bedenken, die JStrafe sei „per se erzfeindlich“ und der 4 vom Gesetzgeber mit ihr vorgegebene ErzGedanke werde in der Praxis generell nicht realisiert21, sind ernst zu nehmen, greifen aber im Ergebnis nicht durch. Wird die JStrafe nach den Vorgaben des BVerfG vollzogen, werden die Grundrechte der jungen Gefangenen nicht verletzt, wenn das angestrebte ErzZiel nur mehr oder weniger gut erreicht wird; einzelne Verstöße gegen Grundrechte führen nicht zur Verfassungswidrigkeit des strafrechtlichen Gesetzesbefehls und der hieraus abgeleiteten strafgerichtlichen Erkenntnisse, sondern zum Rechtsweg nach § 92. Kritisch Eisenberg22 und Schüler-Springorum23, der dem Urteil des OLG Schleswig24 für JStrafe die Leitlinie entnimmt, dass bei JStrafe wegen „Schwere der Schuld“ äußerste Zurückhaltung geboten sei, und bei JStrafe wegen „schädlicher Neigungen“ die Einsicht den Vorzug verdiene, „dass außerhalb der JVA besser erzogen werden kann“. Dies entspricht Bestrebungen der Praxis, soweit irgend angängig ErzMaßregeln und Auflagen den Vorzug zu geben und in steigendem Maße mit Hilfe von Diversionsprogrammen zu Einstellungen mit Auflagen nach §§ 45, 47 zu kommen. Die Praxis folgt der Erkenntnis, dass JStrafe gegen 14- und 15-Jährige, auch noch gegen 5 16-Jährige, nur in ganz bes. Fällen zu verantworten und unentbehrlich ist25. So befanden sich am 31.3.2019 insgesamt 3.679 Gefangene, darunter 424 J und darunter 2 14–15-Jährige im JStrafvollzug26. Dies zeigt, wie vorsichtig die JGerichte mit der Verhängung und Vollstreckung von JStrafen gegen J, insbes. gegen 14- bis 15-jährige J, sind. Bereits die Denkschrift der DVJJ von 1977 über die kriminalrechtliche Behandlung junger Volljähriger27 hat festgestellt, dass im JStrafvollzug die unter 18-Jährigen die Ausnahme, die jungen Volljährigen aber die Regel sind28. Hieraus schließen Beulke/Swoboda29 zu Recht, dass die Frage, ob die JStrafe gegen 14- bis 15jährige ausgeschlossen oder in Heimen der JHilfe vollzogen werden sollte, nur geringe praktische Bedeutung hat und dass der JStrafvollzug insbes. auf die älteren über 18 Jahre alten Jahrgänge ausgerichtet sein muss. Auch Matzke30 stellt entsprechend der Altersstruktur seiner Untersuchungspopulation fest, dass es sich beim Vollzug der JStrafe im Wesentlichen um einen „Hw.-Vollzug“ handelt31. Nur bei schwersten Straftaten ist vollziehbare JStrafe auch bei 14- bis 15-jährigen unverzichtbar. J werden zur besseren Betreuung häufig in einer bes. Anstalt zusammengefasst, so in Bayern in der weitgehend offenen JStrafanstalt Laufen-Lebenau. Ein Teil der Akten dieser J lässt erkennen, dass kein ErzHeim mehr bereit war, diese 14- bis 15-jährigen aufzunehmen und so zu verwahren, dass die oftmals schon wiederholten Fluchtversuche vereitelt werden könnten. 18 Dünkel Freiheitsentzug für junge Rechtsbrecher, 1990, S. 124 ff; Kemme/Stoll MKrim 12, 41. 19 Siehe Böhm/Feuerhelm S. 13 ff; Streng FS Böttcher, 2007, S. 447 ff; Palmowski Sanktionierung u. Rückfälligkeit von Hw., 2019, S. 557, 581 f; Heinz S. 58 f. 20 BVerfGE 116, 69 = NJW 06, 209 mit Bespr. Ostendorf NJW 06, 2073; Goerdeler/Pollähne ZJJ 06, 250; Sachs JuS 06, 924; OLG Schleswig NStZ 85, 475 mit Anm. Schüler-Springorum = StV 85, 420 mit Anm. Streng; Weber S. 58; MKStGB/Radtke/Scholze § 17 JGG 11; für Verfassungswidrigkeit der JStrafe wegen schädlicher Neigungen Konze S. 127 f. 21 So ua Streng GA 84, 163; Frehsee 1984 zit. vom OLG Schleswig NStZ 85, 475; Kaiser NStZ 82, 102; SchülerSpringorum FS Dünnebier, 1982, S. 656; Hellmer JKriminalität,4. Aufl. 1978, S. 107. 22 JR 87, 488. 23 NStZ 85, 478. 24 NStZ 85, 475. 25 LG Gera StV 99, 661. 26 Stat. BA, Strafvollzug Merkmale der Strafgefangenen, 2019, S. 15. 27 S. 7. 28 Zahlen bei Mey/Wirth FS Böhm, 1999, S. 607. 29 Rn 962. 30 1982, S. 33. 31 Ebenso Eisenberg/Kölbel § 92, 14. 163

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Die JStrafe ist als stationäre Maßnahme für eine verbleibende kleine Gruppe (Rn 3) von nur wenigen J und überwiegend Hw., auch bei „konfliktorientiertem Verständnis“32, unverzichtbar. Gerade die in diese Gruppe fallenden jungen Menschen erweisen sich als in Freiheit kaum erreichbar, sodass auf den Versuch einer stationären Behandlung nicht verzichtet werden kann (dazu Rn 8 aE). Die ambulanten Maßnahmen leben auch davon, dass nach ihnen ein stationärer Vollzug möglich ist, und werden von manchen auch nur deshalb angenommen33. Ein Nebeneinander von JStrafe und ambulanten sozialisationsfördernden Sanktionen ist unabweisbar. Hierbei ist jedoch ein quantitativer und qualitativer Ausbau der ambulanten Maßnahmen gerade für kriminell gefährdete Täter notwendig, um die JStrafe soweit wie möglich zurückdrängen zu können. Dazu kommt, dass die Hw. zum Teil mit durchaus gewichtiger Kriminalität belastet sind. Auch um des Rechtsfriedens willen kann eine JStrafe unverzichtbar sein34, wie etwa bei der Tat eines zum Verhandlungszeitpunkt erwachsenen und inzwischen sozial angepassten Täters, der als 19-jähriger (§ 105) als Bewacher eines KZ-Lagers einen Mord begangen hat35. 7 Teilweise wird versucht, die JStrafe zu „entschärfen“. Streng36 geht z.B. davon aus, JStrafe wegen schädlicher Neigungen solle vor allem die Gesellschaft vor weiteren Straftaten des J schützen37. Um „der hochproblematischen Vermengung von Wohlfahrtsdenken und repressivem Strafen“ zu entgehen, schlägt er vor38, de lege lata die sog. „ErzStrafe“ zu meiden und auf ErzMaßregeln auszuweichen, die keinen Strafersatz darstellen. De lege ferenda solle die JStrafe wegen schädlicher Neigungen nur noch bei einem gegenwärtigen, schwerwiegenden Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft zulässig sein. Vgl. aber auch Einf. 43 aE. Die Meinungen, welche im pädagogischen, aber zum Teil auch im jstrafrechtlichen Sinn 8 von einer unauflöslichen Antinomie von Erz. und Strafe (vgl. näher Rn 1 ff; Einf. 89 u. bes. 90; § 18, 17 u. 23 ff) ausgehen, kommen über die These, Repression und Zwang seien einer pädagogischen „ErzStrafe“ schlechthin wesensfremd, Strafe setze zumindest einen im Wesentlichen abgeschlossenen ErzProzess voraus, ehe sie überhaupt zu rechtfertigen sei, bis zur letzten Konsequenz: Strafe als pädagogischer Akt sei deshalb völlig ausgeschlossen, weil damit lediglich das äußere künftige (Wohl-)Verhalten des Betroffenen manipuliert werde39. Dem Vorschlag, aus ähnlichen Gründen auf JStrafe völlig zu verzichten40, ist nicht zu folgen, denn im Hinblick auf die komplexe Erz.- und Schutzaufgabe des JKriminalrechts kann auf stationären Vollzug nicht verzichtet werden. Die JStrafe durch eine stationäre Maßnahme anderer Art zu ersetzen, bliebe bei der durch die fortschreitende Zurückdrängung der JStrafe zumeist verbleibenden bes. problematischen Gruppe zwangsläufig nur ein Wechsel des Etiketts. 6

3. Vollzug 9 Der JStrafvollzug bemüht sich in einem erheblichen Maß, die Anforderungen zu erfüllen, die an ihn als ErzStrafvollzug gestellt werden41. Es werden zahlreiche Behandlungsmaßnahmen angeboten, wobei ein Schwerpunkt auf der schulischen und beruflichen Qualifizierung der Gefange32 33 34 35 36 37 38 39 40

Eisenberg/Kölbel § 92, 37. Böhm in JM Baden-Württemberg, 1986, S. 50. M.-K. Meyer Zbl. 84, 453. Vgl. Böhm/Feuerhelm S. 226; Strunk MKrim. 68, 135. GA 84, 149. S. 151; dagegen Weber S. 60. S. 165. Nachweise bei Nothacker S. 361, 362, 363. Für Abschaffung des geschlossenen JStrafvollzugs Cornel UJ 09, 402; dazu Heisig UJ 09, 416 u. Frede UJ 09, 419; gegen den JStrafvollzug auch Nickolai FS 15, 100; für Streichung der JStrafe wegen schädlicher Neigungen Heinz S. 103. 41 Vgl. zum JStrafvollzug Werner JStrafvollzug in Deutschland, 2012; Jehle/Werner FS Heinz, 2012, S. 426 sowie die Beiträge in FS 13, 339 ff; ZJJ 15, 112 ff u. 232 ff. 164

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nen liegt42 Das BVerfG43 hat wichtige Vorgaben für den JStrafvollzug aufgestellt. Die Forderung nach einer – realitätsbezogenen – Erz. im JStrafvollzug, zugleich aber auch deren Grenzen, werden deutlich, wenn man in der Praxis die schwierigen Persönlichkeitsstrukturen vieler Gefangener erlebt hat44. Die Wissenschaft ist aufgerufen, dem JStrafvollzug durch in der Praxis umsetzbare Erkenntnisse zu helfen, die in enger Zusammenarbeit zwischen interdisziplinären Wissenschaften und Praxis erarbeitet werden. Kerner45 weist treffend darauf hin, dass „zahlreiche Innovationen im Bereich des Strafvollzugs in langem hartnäckigem Kampf von engagierten Praktikern entwickelt worden (sind), lange bevor sie die Weihe der theoretischen Beachtung durch die Wissenschaft gefunden haben“. Dazu auch Rn 6–8. Ein JRichter aber, der wegen der unbestreitbar noch vorhandenen Mängel des Vollzugs „ein 10 Zeichen setzen will“ und von der Verhängung der JStrafe absieht, wo das Gesetz sie fordert, handelt gesetzeswidrig. Denn es ist „nicht Sache des Gerichts, einem eindeutigen Gesetzesbefehl deshalb die Gefolgschaft zu versagen, weil die Exekutive nicht die zu seiner Durchführung erforderlichen Mittel bereithält“46. Zu Drogentätern Rn 41, 42.

4. Voraussetzungen und Wirkungen Weil die JStrafe nach dem Willen des Gesetzgebers in erster Linie ErzStrafe (RL 1 S. 2) ist, darf 11 sie grds. nicht verhängt werden, wenn sie zu schweren Schäden in der Entwicklung des jungen Menschen führen müsste, was bes. bei langen Freiheitsstrafen der Fall sein kann (§ 18, 3). Da sie aber nur bei entsprechender Tatschuld zu rechtfertigen ist, muss sich Notwendigkeit und Berechtigung der JStrafe auch aus der Schuld ableiten lassen47. Auch im JRecht wird die Prüfung der Schuld nicht durch den Nachweis einer Verwahrlosung überflüssig, da die JStrafe keine bloße ErzMaßregel ist48. Die JStrafe darf auch – und gerade – aus erz. Gründen das Maß der Schuld nicht überschreiten. Näher § 18, 23. Verurteilung und Verbüßung von JStrafe entspricht deshalb der Verurteilung und Verbü- 12 ßung von Freiheitsstrafe, wie sie § 66 StGB für die Anordnung der Sicherungsverwahrung fordert49. Näher § 31, 18. Vollzogene JStrafe gilt auch als „Freiheitsstrafe“ bei den Voraussetzungen für Führungsaufsicht (§ 7, 9–13) und bei den Voraussetzungen zur Aussetzung des Strafrestes bei zeitiger Freiheitsstrafe nach § 57 II Nr. 1 StGB und verhindert hier die Erstverbüßerregelung50. Die JStrafe darf nicht dort der Freiheitsstrafe gleichgesetzt werden, wo im Beamtenrecht 13 die Entlassung aus dem Dienst an ein Jahr Freiheitsstrafe geknüpft wird. JStrafe ist nicht Freiheitsstrafe iSd Beamtenrechts51. Der VGH Baden-Württemberg hat entschieden52, dass auch im (Schul-)Disziplinarrecht die Grundsätze des JGG zu beachten sind (Einf. 115). Es wird nicht verkannt, dass nach gefestigter Rechtsprechung die Resozialisierung eines beamteten erw. Straftäters nicht Aufgabe des Disziplinarrechts sein kann und er nur dann im Dienst belassen werden

42 43 44 45 46 47 48 49

Pauli/Stoll/Prätor/Lobitz/Wirth FS 19, 11 ff. BVerfGE 116, 85 ff. Vgl. Schüler-Springorum FS Würtenberger, 1977, S. 438; Thiesmeyer Zbl. 78, 14. In Feltes, Hrsg., Kriminologie u. Praxisforschung, 1988, S. 21. BGH 28, 329. Dallinger/Lackner 5. LG Frankfurt Zbl. 60, 218. BGH 26, 155; BGH H MDR 80, 628; BGH NStZ-RR 02, 183; Fischer § 66 StGB 7; Ostendorf § 31, 26; abl. Eisenberg/ Kölbel 62; Nothacker S. 141, 142, 317; Knauer ZStW 12, 222. 50 OLG Hamm JMBl. NRW 87, 7; OLG Karlsruhe Justiz 87, 319 u. NStZ 89, 323; OLG Oldenburg NStZ 87, 174; OLG Stuttgart JZ 87, 1085 u. MDR 88, 250; Fischer § 57 StGB 23; Dölling NJW 87, 1043; aA Eisenberg/Kölbel 61; Eisenberg NStZ 87, 169. 51 OVG Berlin-Brandenburg DRiZ 20, 30 = ZJJ 20, 207. 52 JZ 64, 627. 165

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darf, wenn er für den Dienstherrn und die Öffentlichkeit noch tragbar ist53. Solche Härte wird als nicht unbillig bezeichnet, weil sie im Risikobereich eines für sein Handeln verantwortlichen Beamten liege, der mit der Tat bewusst seine berufliche Existenz aufs Spiel setze54. Dies könnte bei den relativ seltenen Fällen eines zu JStrafe verurteilten Beamten eine – zulässige – Prüfung nahe legen, ob die Entfernung aus dem Dienst sich entsprechend dem Sinne des JGG wegen erzfeindlicher Spätfolgen und sekundärer Sozialabweichung verbietet, zumal der jüngere noch prägbar ist. 14 JStrafe kann nur55 unter den bes. Voraussetzungen des Abs. II, nämlich beim Vorliegen schädlicher Neigungen oder bei (bes.) schwerer Schuld verhängt werden. Außerdem dürfen andere Maßnahmen des JGG nicht ausreichen (§§ 5 II, 13 I, 27). Dann aber muss JStrafe verhängt werden, auch wenn der Täter inzwischen erwachsen ist; für Hw. (§ 105) gelten hinsichtlich der Voraussetzungen keine Besonderheiten56. Dazu auch § 10, 27 aE.

5. Schädliche Neigungen 15 Der Begriff der schädlichen Neigungen ist in den 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts in Anlehnung an das österreichische Recht in das Gesetz gekommen57. Der Begriff ist der Kritik ausgesetzt. Nach Eisenberg/Kölbel58 ist er inhaltlich disponibel und geeignet, den J als „Defekt-Persönlichkeit“ zu beurteilen; nach Ostendorf59 ist er provozierend, kränkend und stigmatisierend; nach Walter/Wilms60 ist er empirischer Erfassung nicht zugänglich und nicht ausreichend bestimmt61. Der Sache nach geht es dem Gesetz um die Erfassung von Tätern, bei denen die Gefahr erheblicher Rückfälligkeit besteht62. Schädliche Neigungen sind danach Anlage- oder ErzMängel, die ohne längere Gesamterz. des Täters die Gefahr von Störungen der Gemeinschaftsordnung durch weitere Straftaten begründen63; die Gefahr nur sittlich anstößigen Verhaltens genügt nicht64. Die Anlage- oder Entwicklungsschäden müssen so schwer sein, dass deren Beseitigung sinnvoll nur in einem länger dauernden Strafvollzug versucht werden kann65. Der Täter muss sich bereits „daran gewöhnt haben, aus einer in seiner Persönlichkeit wurzelnden falschen Trieb- oder Willensrichtung zu handeln“66; ein Hang iSd Haltung des Gewohnheitsverbrechers wird aber nicht gefordert67. Gelegenheits-, Konflikts- und Notkriminalität scheiden aus68, ebenso Neigungen als Ausfluss normaler Entwicklungserscheinungen, auch wenn sie im Augenblick als schädlich erscheinen69. 53 Z.B. Bay. VGH Urt. v. 28.9.1983 – 16 B 83 A 14. 83; BVerwG Urt. v. 7.7.1981 – 1 D 27. 80 – u. v. 25.10.1983 – 1 D 37. 83, je mwN. 54 Bay. VGH aaO, S. 7 mwN. 55 BGH JR 54, 149. 56 BGH bei Herlan GA 59, 339. 57 Beulke/Swoboda Rn 448. 58 21. 59 3. 60 NStZ 07, 6. 61 Zur Auseinandersetzung mit der Kritik vgl. Weber S. 32 ff. 62 Zust. Rose ZJJ 20, 44. 63 BGH 11, 169; BGH NStZ 81, 250; StV 82, 335; NStZ 02, 89; NStZ 13, 287; NStZ-RR 15, 323; NStZ 16, 681; 682; NStZ 18, 658; 20, 738; StV 18, 423; OLG Hamm StV 05, 69, 70; 07, 2; ZJJ 08, 78, 80; OLG Karlsruhe StV 07, 3, 4; KG StV 11, 582; NStZ 13, 291; vgl. auch BGH B NStZ 86, 446 bei Rn 14. 64 BGH EJF C I 22. 65 BGH 18, 210. 66 Dallinger/Lackner 10. 67 Seibert MDR 62, 171; Mrozynski MKrim. 85, 14: „im Vorfeld des Hanges angesiedelt“. 68 BGH 11, 169; 16, 261; Seibert aaO; Rose ZJJ 20, 46. 69 Brückner Die JKriminalität, 2. Aufl. 1961, S. 254. 166

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Wie ein erheblicher Tatvorwurf – stärkere Verletzungen durch Messerstiche70, schwerer 16 Raub71, Totschlagsversuch72, Erwerb harter Drogen73, Beteiligung an Handel mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge74 – nicht zwingend „schädliche Neigungen“ oder Mängel in der Charakterbildung anzeigt, so können sich auch in einer leichteren Straftat oder bei Eingreifen des § 21 StGB schädliche Neigungen zeigen, wenn frühere gleichartige Straftaten bereits auf schädlichen Neigungen beruhten; denn diese sind dann noch nicht überwunden75. Doch dürfte in solchen Fällen meist das geringere Gewicht der Tat, also der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, einer Verhängung der JStrafe entgegenstehen76 (vgl. § 18, 23–27). Es muss eine Rückfallgefahr für erhebliche Straftaten und nicht nur für Bagatelldelikte bestehen77. Häufig wiederholtes „Schwarzfahren“ genügt nicht, ebenso wenig ständig wiederholtes Fahren ohne Fahrerlaubnis eines 15-jährigen78, auch nicht kleinere Ladendiebstähle, die gemeinlästig sein mögen, aber doch keine schädlichen Neigungen anzeigen79. Die schädlichen Neigungen müssen in der Tat hervorgetreten und anders nicht zu bekämp- 17 fen sein. Dies fordert idR den Nachweis, dass erhebliche Persönlichkeitsmängel schon vor der Tat, wenn auch verborgen, angelegt waren80. Solches kann gefolgert und muss eingehend begründet werden ua aus dem Lebensweg und der Lebensperspektive81 (vgl. auch Rn. 24), zumal zumeist Störungen im Familienbereich Kriminalität mit verursachen (Einf. 23–25)82. Das Vorliegen schädlicher Neigungen versteht sich auch angesichts festgestellter Verhaltensauffälligkeiten seit der 6. Klasse und dem Umstand, dass es seit mehreren Jahren zu Straftaten gekommen ist, nicht von selbst83. Die Defizite müssen nicht nur auf entwicklungsbedingten Reifeverzögerungen beruhen, sondern auf erheblichen, schon verfestigten Persönlichkeitsmängeln84. Für schädliche Neigungen können sprechen: wiederholtes, vom Täter zu verantwortendes Scheitern beruflicher Integrationsmaßnahmen, Verweigerung gemeinnütziger Arbeit bei Gewährung von Sozialhilfe, umgehende Fortsetzung von Straftaten nach vorübergehender Inhaftierung oder Verurteilung zu einer Bewährungsstrafe, auch nicht einschlägige Vorverurteilungen, zeitnah nach der zu verhandelnden Tat begangene weitere Delikte85, rücksichtlose Einstellung gegenüber Frauen bei Sexualstraftätern86. Auch die Tatsituation kann bedeutsam sein, es genügt aber nicht festzustellen, der Täter habe „aus falsch verstandener Kameradschaft“ oder aus „krimineller Abenteuerlust“ trotz stabiler Familienverhältnisse gehandelt87. Gerade ein gewisser Gruppenzwang, falsch verstandene Solidarität und der Einfluss von Mittätern können gegen schädliche

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BGH StV 82, 335. BGH StV 84, 253. BGH StV 85, 155. BGH StV 89, 313; vgl. dazu auch OLG Zweibrücken JR 90, 304 mit zust. Anm. Brunner u. Rn 24. BGH NStZ 18, 658, 659. Zust. Rose ZJJ 20, 45. OLG Hamm NStZ-RR 04, 152; ebenso Beulke/Swoboda Rn 449 mwN; Mrozynski MKrim. 85, 14. BGH NStZ 02, 89; OLG Hamm StV 01, 177; NStZ 07, 45; KG StV 03, 456, 457; LG Gera StV 99, 660; Rose ZJJ 20, 44, 48. 78 LG Gera aaO. 79 AG Rudolstadt StV 13, 36; aA LG Hamburg MDR 59, 511. 80 BGH B NStZ 83, 448 u. 84, 445; BGH NStZ 84, 413; StV 84, 253; GA 86, 370; BGH B NStZ 88, 491; BGH StV 92, 431; NStZ 10, 280; NStZ-RR 10, 387; NStZ 13, 287; 16, 681; 682; KG StV 03, 456, 457; NStZ 13, 291; NStZ-RR 15, 154; NStZ 18, 658; NStZ-RR 19, 159; NStZ 20, 738; OLG Hamm StV 07, 2. 81 BGH B NStZ 88, 491. 82 BGH StV 88, 367; BGH B NStZ 89, 522: Drogenbereich; OLG Zweibrücken JR 90, 304 mit Anm. Brunner. 83 BGH B NStZ 93, 528. 84 BGH NStZ-RR 10, 387, 388; OLG Karlsruhe StV 07, 3. 85 BGH B NStZ-RR 01, 322; StV 18, 423. 86 LG Hannover ZJJ 21, 385, 388 f. 87 BGH H MDR 84, 796. 167

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Neigungen sprechen88, ebenso dass die Tat eine Reaktion auf eine Demütigung ist89. Zu Straftaten mit politischem Hintergrund Einf. 61. Die Grundlagen für die Wertung, bei dem J habe sich eine erhöhte Neigung zu aggressivem Verhalten bereits so manifestiert, dass die Tat nicht als einmaliges situationsbedingtes Versagen angesehen werden könne, müssen im Urteil mitgeteilt werden90. Weitere Straftaten eines J sind nicht schon deshalb zu befürchten, weil er sich zur Selbstverteidigung ein Messer gekauft, es fast ständig bei sich geführt und bei seiner ersten Tat bedenkenlos gebraucht hat91. Bei Berücksichtigung von Verurteilungen durch ein Gericht der DDR bedarf es einer näheren Klärung des der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhaltes92. 18 Die schädlichen Neigungen können erst im Verlauf der zur Aburteilung stehenden mehreren Taten durch Verführung und/oder Gewöhnung geweckt worden sein93. Schon in der ersten Straftat können sich schädliche Neigungen ausgewirkt haben94. Die Annahme eines solchen Falles bedarf jedoch eingehender Begründung und sorgfältiger Darlegung, warum es sich nicht um eine Gelegenheitstat gehandelt hat95. Es genügt nach dem BGH96 nicht, wenn ein bisher nicht in Erscheinung getretener Täter dem Einfluss anderer erlegen ist (falls nicht gerade wegen allzu leichter Beeinflussbarkeit weitere Straftaten befürchtet werden müssen), denn um schädliche Neigungen feststellen zu können, müssen schon vor der Tat entwickelte Persönlichkeitsmängel (= anlagen-, erz- oder umweltbedingte Mängel der Charakterbildung) nachgewiesen werden, die auf die Tat Einfluss hatten, im Zeitpunkt der Entscheidung noch bestehen und weitere Straftaten befürchten lassen97. Ein Urteil, welches diese Feststellungen nicht enthält, verfällt der Revision98. 19 Vorverurteilungen müssen inhaltlich so dargestellt werden, dass eine Beurteilung, ob es sich um erhebliche Straftaten handelte, aus denen auf schädliche Neigungen geschlossen werden kann, möglich ist99. Wird auf die Warnwirkung früherer Verurteilungen oder Verfahren abgestellt, müssen die Feststellungen zu den früheren Verfahren den Rückschluss auf die Warnfunktion ohne weiteres ermöglichen100. Das Fehlen strafrechtlicher Vorbelastungen kann der Feststellung schädlicher Neigungen entgegenstehen101. Ist von der Verfolgung früherer Taten nach § 45 II abgesehen worden, kann das dafür sprechen, dass die Taten so geringfügig waren, dass sie für die Annahme schädlicher Neigungen nicht herangezogen werden können102. Will das Gericht die Annahme schädlicher Neigungen auf nach § 45 oder § 47 eingestellte Verfahren stützen, muss es daher in den Urteilsgründen die näheren Umstände der Taten darlegen und

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BGH StV 86, 305; BGH B NStZ 88, 491; BGH NStZ 10, 280, 281; Rose ZJJ 20, 46, 47. BGH NStZ 10, 280, 281. BGH B NStZ 91, 522. BGH StV 85, 155. BGH B NStZ 93, 528. BGH 11, 169. BGH bei Mösl NStZ 81, 428; BGH B NStZ 81, 250; BGH NStZ 84, 413; BGH NStZ-RR 97, 21; BGH NStZ 02, 89; 19, 216; LG Passau NJW 97, 1165. 95 BGH StV 98, 331; NStZ-RR 19, 159; OLG Köln StV 01, 178; OLG Hamm StV 05, 69, 70; 07, 2 f. 96 NStZ 88, 498; StV 91, 423. 97 Vgl. BGH 16, 261; BGH bei Martin DAR 72, 113; BGH StV 84, 30; BGH B NStZ 85, 47; BGH StV 84, 253; BGH B NStZ 86, 446; BGH GA 86, 370; StV 92, 431; B NStZ 97, 481; BGH NStZ 10, 280, 281; NStZ-RR 10, 387; NStZ 13, 287; KG StV 03, 456, 457; NStZ 13, 291; NStZ-RR 15, 154; NStZ 16, 681; 682; StV 18, 423; NStZ 19, 216; OLG Stuttgart Justiz 04, 169; OLG Hamm StV 07, 2, 3; ZJJ 22, 59; OLG Frankfurt StV 14, 743; OLG Schleswig bei Güntge/Füssinger SchlHA 15, 297; Ostendorf 3; Nothacker Zbl. 85, 335. 98 BGH H MDR 80, 986 u. MDR 82, 448; BGH StV 92, 431. 99 BGH NStZ 10, 281; KG StV 11, 582, 583; OLG Frankfurt StV 14, 743, 744; OLG Hamm StV 14, 747, 748; OLG Koblenz ZJJ 16, 414, 415. 100 KG StV 11, 582, 583. 101 BGH NStZ-RR 02, 20; OLG Celle StV 17, 722, 723. 102 BGH NStZ-RR 15, 323; Rose ZJJ 20, 47. 168

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§ 17

sich mit diesen Verfahren auseinandersetzen103. Nach dem BGH104 wird der Täter eines vorsätzlichen Tötungsdelikts idR erhebliche Persönlichkeitsmängel aufweisen, die weitere gravierende Straftaten befürchten lassen. Für die Annahme schädlicher Neigungen bei einem nicht vorbestraften J genügt es jedoch nicht, dass dieser sich vor der Tat tagsüber meistens in einer „Clique“ aufhielt und nachts in einem Asylantenheim schlief105. Die Feststellung von schon vor der Tat angelegten Persönlichkeitsmängeln ist auch dann erforderlich, wenn zwar Vortaten vorliegen, diese aber so geringfügig waren (zB Anwendung der §§ 45, 47), dass sie für die Annahme schädlicher Neigungen nicht herangezogen werden können106. Bei einer Augenblickstat, zu welcher der J sich durch erheblichen Alkoholgenuss und die eingetretene Ermüdung hat hinreißen lassen, wiegen Bedenken gegen die Bejahung schädlicher Neigungen stärker.107 Gegen schädliche Neigungen spricht, dass die Tat als einmaliges situationsbedingtes Versagen anzusehen sein kann, bei dem der Angeklagte zudem dem Einfluss seiner Mittäter erlegen ist, alkoholbedingt leicht enthemmt war, das Tatgeschehen für ihn überraschend kam und sein Tatbeitrag vergleichsweise gering war108. Der Erwerb „harter Drogen“ begründet noch keine schädlichen Neigungen109. Auch beim wiederholten Verkauf „harter Drogen“ durch einen nicht vorbelasteten J müssen sie nicht vorliegen110. Bei ordentlichem Leben vor und nach der Tat bedürfen schädliche Neigungen bes. Begründung111. Da es auch auf den Urteilszeitpunkt ankommt, ist auch die Entwicklung und das Verhalten des J nach der Tat, z.B. die Lösung aus einer Bande, keine Straffälligkeit in einem längeren Zeitraum nach der Tat, Beginn einer Therapie oder Stabilisierung der persönlichen Verhältnisse, zu berücksichtigen112. Das Tatgericht muss wesentliche gegenläufige Feststellungen erwägen, die Zweifel an der Fortdauer schädlicher Neigungen oder die Annahme von deren Überwindung hätten begründen können, z.B. Leistung eines frühen Aufklärungsbeitrags oder Entschuldigung beim Opfer113. Auch die Auswirkungen von Untersuchungshaft können zur Verneinung schädlicher Neigungen führen114. Spielt die Begehung neuer Taten für das Vorliegen schädlicher Neigungen eine Rolle115, müssen die neuen Taten feststehen116. Liegt die Tat (Vergewaltigung) vier Jahre zurück, ist der Täter, abgesehen von einem Fahren ohne Fahrerlaubnis, nicht mehr straffällig geworden, hat er eine Familie gegründet und regelmäßig gearbeitet, liegt die Besorgnis fern, dass zum Urteilszeitpunkt weitere Straftaten zu befürchten sind117. Die Fehlentwicklung braucht nicht verschuldet zu sein; sie kann auf ererbter Anlage, neu- 20 rotischer Fehlentwicklung, ErzFehlern, Verführung oder sonstigen Umwelteinflüssen beruhen118. Bei unverschuldeter Fehlentwicklung kann Prüfung gem. § 3, auch Eingreifen des Familiengerichts statt des JRichters, geboten sein. Zur Unterscheidung von Verwahrlosung Rn 37. Der Charakter interessiert nur bei der Feststellung der schädlichen Neigungen, im Übrigen ist die

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BGH StV 16, 699; KG NStZ 13, 291. NStZ 02, 89. BGH B NStZ-RR 98, 289. OLG Köln StV 93, 531. BGH H MDR 82, 448. BGH StV 93, 531; Rose ZJJ 20, 45, 46. OLG Zweibrücken StV 89, 313. OLG Hamm StV 05, 69. BGH GA 86, 370. BGH StV 98, 331; NStZ-RR 15, 155; 323; OLG Hamm StV 99, 660; NStZ-RR 05, 58, 59. BGH NStZ-RR 10, 397; Rose ZJJ 20, 47. OLG Köln StV 03, 457; OLG Hamm StV 05, 69, 70; 07, 2, 3. Siehe LG Berlin NStZ 07, 46, 47. OLG Hamm StV 01, 177. BGH B NStZ 92, 528. BGH 11, 169; BGH StV 98, 334; Ostendorf 3; Beulke/Swoboda Rn 450; Tenckhoff JR 77, 485; Bedenken bei Eisenberg/Kölbel 23. 169

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Schuld des § 17 „Einzeltatschuld“119. Liegen schädliche Neigungen vor und reichen weniger einschneidende Maßnahmen zu ihrer Verringerung nicht aus, ist nach dem OLG Zweibrücken120 JStrafe, ggf. mit Aussetzung zur Bew., auch dann zu verhängen, wenn anzunehmen ist, dass der einem J gleichstehende Hw. mit Mitteln des JStrafrechts überhaupt nicht mehr zu beeinflussen ist. Die Tat muss Ausfluss der schädlichen Neigungen sein, so ein Bettelbetrug des Landstreichers, nicht der gelegentliche Warenhausdiebstahl eines sexuell übergriffigen Jungen (§ 9, 5). Dass andere Maßnahmen des JGG nicht ausreichen, um die auf kriminelle Taten gerichteten Neigungen erfolgreich zu bekämpfen, kann nur nach eingehender Persönlichkeitsforschung (§ 43) – idR aus eigener Sachkunde121 (vgl. § 43, 15–17) – entschieden und bei entsprechendem Gewicht der Tat begründet werden122 (Einf. 107). Rechtfertigt das Gewicht der Tat JStrafe nur von einer Dauer, die die erforderliche erz. Einwirkung nicht ermöglicht, ist die Verhängung von JStrafe sinnlos (vgl. § 18 II; § 18, 13); hier kommt ggf. Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2 in Betracht. Über die anderen Maßnahmen Rn 35–37. Wegen unbehebbarer Zweifel über das Vorliegen dieser Voraussetzungen §§ 27–30. Bei J und Hw., die im Drogenbereich straffällig werden, insbes. bei Betäubungsmittelabhängigen, sind bei der Prüfung, ob „schädliche Neigungen“ vorliegen, die vom BGH123 herausgearbeiteten Grundsätze (Rn 18, 19) zu beachten und reichen zu Abgrenzung und Eingriff aus. Eine im ErzRegister vermerkte richterliche Ermahnung wegen verbotener Einfuhr von Drogen allein weist nicht auf vorhandene Persönlichkeitsmängel hin124. Auch bei Vorverurteilung wegen eines Drogendelikts zu JA können wegen Besonderheiten der Entstehungszusammenhänge der Delinquenz schädliche Neigungen zu verneinen sein125. Neben schädlichen Neigungen können auch Krankheit oder Hang (Drogen) gegeben sein126. Mit dem schlagwortartigen Begriff „toxische Verwahrlosung“ wird das Vorliegen schädlicher Neigungen nicht ausgeschlossen; andererseits zeigt Erwerb harter Drogen nicht zwingend schädliche Neigungen an127 (Rn 19). Bei drogenabhängigen Straftätern bedarf es einer sorgfältigen Abstimmung von therapeutischen und strafrechtlichen Maßnahmen (vgl. Einf. 66–71, auch Rn 40 ff zum BtM-Recht). Zu „Schwere der Schuld“ im Drogenbereich Rn 33128. Zum Vollzug bei betäubungsmittelabhängigen J u. Hw. Rn 41 f; zur Zurückstellung der Strafvollstreckung Rn 43 ff129.

6. Schwere der Schuld 25 Die Schwere der Schuld allein kann die JStrafe fordern130. Sie ermisst der Richter aus dem Gewicht der Tat und der persönlichkeitsbegründeten Beziehung des J zu seiner Tat131. Entscheidend ist die innere Tatseite, dh inwieweit sich die charakterliche Haltung und die Persön-

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Beulke/Swoboda Rn 457. NStZ-RR 98, 118 mit abl. Anm. Ostendorf NStZ 99, 515. AG Winsen/Luhe NStZ 87, 448. Dallinger/Lackner 13. BGH 11, 169; 16, 261; BGH H MDR 82, 448. BGH B NStZ 88, 491. AG Bremen-Blumenthal StV 94, 600: 16-jähriger kurdischer Asylbewerber, der unter dem Einfluss Drogenhandel betreibender Landsleute stand. 126 Vgl. Mrozynski MKrim. 85, 16. 127 OLG Zweibrücken StV 89, 313. 128 Vgl. Brunner Zbl. 80, 415, 420 ff. 129 Insgesamt näher OLG Zweibrücken JR 90, 304 mit Anm. Brunner. 130 BayObLG StV 85, 156 „Schuldausgleich“ mit zust. Anm. Böhm. 131 BGH 15, 224; BGH B NStZ 89, 522; StV 05, 66; NStZ 12, 164; 13, 289, 290; NStZ 20, 738, 739; OLG Zweibrücken JR 90, 304 mit zust. Anm. Brunner; KG StV 09, 11. 170

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lichkeit sowie die Tatmotivation des J in vorwerfbarer Schuld niedergeschlagen haben132. Der äußere Hergang der Tat, wie auch deren Einstufung im StGB, hat nur Bedeutung für Rückschlüsse von der Beziehung des Täters zu ihr auf das Maß seiner Schuld und Haltung133. Schwere der Schuld kann nur angenommen werden, wenn der Verzicht auf die JStrafe für das Rechtsempfinden schlechthin unverständlich wäre134. Schwere der Schuld zeigen auch die stärkeren Hemmungen an, die der Täter bei Begehung 26 schwerer Taten überwinden muss135. Es kann zu berücksichtigen sein, ob die Tat ein situativer Ausdruck gruppendynamischer Prozesse ist136. Bei geringfügigen Aktivitäten des Mittäters fordert dessen Schwere der Schuld bes. Begründung137. Schwere der Schuld kann jedoch vorliegen, wenn der Mittäter einer schweren Brandstiftung sich bes. aktiv beteiligt und die Tat schon tagelang vorher in sein Vorhaben aufgenommen hat138. Bei einer Teilnahme ist vorrangig auf die Schuld des Teilnehmers abzustellen139. Bei freiwilligem Rücktritt vom Versuch ist bei der Prüfung der Schuldschwere hinsichtlich eines verbleibenden Delikts die freiwillige Abkehr vom Vollendungsvorsatz zu berücksichtigen140. Gegen Schwere der Schuld können Enthemmung durch ungewohnten Alkoholkonsum und die Spontaneität der Tat („jtypische Kurzschlusshandlung“) sprechen141. Erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit ist zugunsten des Angeklagten in die Betrachtung einzubeziehen142. Das Ausmaß der Schuld – bei sexueller Nötigung eines Kindes – kann durch nicht vorwerfbare Wesenszüge des Täters so verringert sein, dass statt Schwere der Schuld schädliche Neigungen zu prüfen sind143. Neben den in der Praxis allerdings häufig überbewerteten verschuldeten schweren Folgen der Tat144 (vgl. Rn 31) sind alle für das Maß der Schuld bedeutsamen Gesichtspunkte, insbes. auch die Tatmotive zu berücksichtigen; Schuld iSd § 17 ist „Einzeltatschuld“, nicht „Charakterschuld“145. Das objektive Gewicht der Tat ergibt nur die Schwere des Unrechts, nicht der Schuld146. Schwere der Schuld kann daher nicht mit dem bloßen Hinweis auf die Tatanzahl und die große Menge Rauschgift begründet werden147. Die Schwere der Schuld ist nicht abstrakt messbar, sondern nur in Beziehung zu dem Gewicht einer bestimmten Tat zu erfassen, sodass der äußere Unrechtsgehalt der Tat nicht unberücksichtigt bleiben darf148. Der objektive Unrechtsgehalt der Tat muss zutreffend gewichtet 132 BGH 61, 188, 192; BGH NStZ 10, 281; 12, 164; 13, 289, 290; NStZ-RR 13, 291; 14, 119; StV 17, 714; NStZ 18, 659; 728 mit abl. Anm. Eisenberg = JR 19, 38 mit Anm. Kölbel; NStZ 20, 301; StV 22, 513 mit krit. Anm. Eisenberg = ZJJ 22, 51, 53 mit krit. Anm. Pieplow; KG StV 13, 35; NStZ-RR 16, 325; OLG Hamburg NStZ 17, 544; OLG Hamm StV 17, 719. 133 BGH 61, 188, 191; BGH NStZ-RR 01, 216; NStZ 12, 164; 13, 289, 290; 14, 407, 408; NStZ-RR 13, 291; NStZ 14, 409; NStZ-RR 16, 325, 326; NStZ 18, NStZ 18, 659; 728 mit abl. Anm. Eisenberg = JR 19, 38 mit Anm. Kölbel; NStZ 20, 301; 21, 372; BayObLG StV 85, 155 mit zust. Anm. Böhm u. ders. in NStZ 85, 477; OLG Köln StV 91, 426; 99, 667; OLG Zweibrücken StV 94, 599, 600, OLG Hamm StV 01, 175; NStZ-RR 05, 245; StV 11, 583, 585; StV 17, 719; OLG Hamburg NStZ 17, 544. 134 OLG Schleswig bei Döllel/Dreeßen SchlHA 04, 261; AG Rudolstadt ZJJ 17, 284, 285; Ostendorf 7; Beulke/Swoboda Rn 457; Rose ZJJ 20, 48. Für Zurückführung der JStrafe wegen Schwere der Schuld auf die positive Generalprävention Ostendorf 5; Kaspar FS Schöch, 2010 S. 222; Rose ZJJ 20, 48. 135 Böhm/Feuerhelm S. 223; Schaffstein FS Heinitz, 1972, S. 467. 136 BGH NStZ 16, 681, 682. 137 BGH B NStZ 86, 446; AG Rudolstadt ZJJ 14, 51. 138 BGH B NStZ 94, 528. 139 BGH NStZ 12, 164; zur Schwere der Schuld bei psychischer Beihilfe zu § 125 StGB: OLG Naumburg NJW 01, 2034. 140 BGH 61, 188 = ZJJ 16, 299 mit zust. Anm. Eisenberg; BGH NStZ 18, 660, 661. 141 BGH NStZ 18, 659, 660. 142 OLG Zweibrücken StV 94, 599. 143 BGH StV 86, 305. 144 Hierzu zu Recht ablehnend BGH 15, 224. 145 M.-K. Meyer Zbl. 84, 447. 146 Schaffstein FS Heinitz, 1972, S. 467; Meyer aaO. 147 OLG Hamm StV 01, 175. 148 BGH StV 82, 335; StV 05, 66; NStZ 09, 450; Meyer aaO. 171

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werden, um die persönliche Schuldschwere angemessen zu erfassen149. Hierbei sind auch die Strafdrohungen des ErwStrafrechts zu berücksichtigen150, namentlich dort, wo sich die Tat nach ErwStrafrecht als minder schwerer Fall darstellen würde151. Liegt ein minder schwerer Fall eines Verbrechens vor, z.B. § 29a II BtMG, kann dies gegen die Schwere der Schuld sprechen152. Stets will aber bedacht sein, dass die Tat eines J nicht die eines Erwachsenen ist. Gerade bei J ist unter Berücksichtigung des Entwicklungsstandes und des gesamten Persönlichkeitsbildes bes. zu prüfen, inwieweit sie sich bereits frei und selbstverantwortlich gegen das Recht und für das Unrecht entschieden haben153; eine solcherart bestimmte schuldangemessene Strafe wird nach dem BGH154 regelmäßig auch dem ErzGedanken nicht widersprechen. Krit. Wolf155, der rügt, dass jedes Merkmal dafür fehle, welche Schwere der Schuld JStrafe erfordere. JStrafe wegen Schwere der Schuld darf nicht damit begründet werden, der leugnende Angeklagte habe in der Hauptverhandlung kein Wort der Entschuldigung geäußert, denn mit einer Entschuldigung würde sich der Angeklagte in Widerspruch zu seinem zulässigen Verteidigungsverhalten setzen156. 27 Der BGH157 will die JStrafe wegen der Schwere der Schuld nur zulassen, „wenn diese aus erz. Gründen zum Wohle des J erforderlich ist“. Diese Entscheidungen vermengen jedoch die beiden Alternativen des § 17, widersprechen dem Wortlaut, dem Sinn und der Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift158 und verkürzen die Doppelaufgabe der JStrafe auf eine „Wohltat“ für den Angeklagten159. Mit § 17 II 2. Alt. stellt das Gesetz allein auf das Schuldprinzip ab. Die amtliche Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des RJGG160 weist ausdrücklich darauf hin, dass auf die „Schuldstrafe“ nicht verzichtet werden könne, „da sonst die Möglichkeit einer Bestrafung J, die zwar schuldhaft gehandelt haben, aber nicht erzbedürftig oder erzfähig sind, ganz ausgeschlossen werde“. Mit §§ 18 I 2, 105 III hat das JGG auch sonst den Sühnegedanken bei schwerster Kriminalität über das erznotwendige Maß hinaus berücksichtigt, denn eine Strafe über 5 Jahre ist rein erz. nicht zu rechtfertigen, mehr noch: sie gefährdet die Persönlichkeitsentwicklung (§ 18, 3)161. Da nach dem BGH162 auch die JStrafe wegen schädlicher Neigungen unter Vorrang des ErzZieles Schuld vergelten und Sühne ermöglichen soll, wird mit diesen Entscheidungen der Voraussetzung „Schwere der Schuld“ gegenüber der Voraussetzung der „schädlichen Neigungen“ jede selbständige Bedeutung genommen163. Was soll nach der Rechtsprechung des BGH zur Schuldalternative der JRichter mit Tätern machen, die durch die Schwere der Schuld ihre Gefährlichkeit erwiesen haben, denen aber die Voraussetzungen für eine Verarbeitung der erziehenden Strafe fehlen, oder die zwischenzeitlich sozial eingegliedert sind und zZ der Verurteilung offensichtlich keiner Erz. mehr bedürfen164, bei denen aber in solchen bes. Fällen Schuldvergeltung unabweis149 150 151 152 153

BGH StV 22, 513, 516 mit krit. Anm. Eisenberg = ZJJ 22, 51, 54 f mit krit. Anm. Pieplow. BGH NStZ-RR 01, 216; StV 05, 66; NStZ 18, 659, 660; KG StV 13, 35. BGH NStZ-RR 15, 155. OLG Hamm StV 11, 583. BGH NStZ 82, 332; StV 94, 598; OLG Köln StV 99, 667; auch BGH 2, 200 zum inneren Grund der Vorwerfbarkeit im ErwRecht; Rose ZJJ 20, 49. 154 NStZ 82, 332. 155 S. 237. 156 BGH StV 99, 657. 157 15, 224; 16, 261; StV 93, 531; 94, 602; NStZ-RR 01, 216; NStZ-RR 14, 119; NStZ 18, 659, 660; ebenso OLG Brandenburg StV 99, 658; OLG Hamm ZJJ 05, 447, 448; StV 11, 583, 585; StV 17, 719; KG StV 09, 91, 92; 13, 35. 158 Beulke/Swoboda Rn 458; Bachmann JZ 19, 759 f. Auch nach BGH NStZ 13, 658 findet die bisherige Rechtsprechung des BGH weder im Wortlaut des § 17 II noch in dessen Entstehungsgeschichte eine Stütze. 159 Näher Tenckhoff JR 77, 488; ebenso Bringewat JZ 82, 14. 160 BT-Drs. – 1. Wahlperiode – Nr. 3264, S. 40 ff. 161 Schaffstein Zbl. 67, 135; Rose NStZ 19, 59. 162 Urt. v. 15.5.1968 – 4 StR 89/68. 163 Insoweit stimmt auch Ostendorf 4 zu. 164 Vgl. Tenckhoff (FN 159). 172

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bar JStrafe fordert? Aus all diesen Gründen stößt die Auffassung des BGH auf weitgehende Ablehnung in der Literatur165. Hellmer166 bezeichnet diese Entscheidungen als nicht recht verständlich und Tenckhoff167 kommt zum Schluss, dass „eine Harmonisierung der in § 17 II JGG angelegten Friktionen durch Aufhebung der Eigenständigkeit der Schuldalternative“ nicht möglich ist. Wolf sieht „infolge ungenauer Formulierung des BGH“ zwischen dessen und der abl. Meinung des Schrifttums nur Unterschiede gradueller, nicht prinzipieller Natur168 und nach MBH/Schöch/Höffler169 geht es dem BGH darum, in Grenzfällen den Begriff der Schwere der Schuld im Hinblick auf den ErzGedanken eng auszulegen. Eisenberg/Kölbel170 halten der Auffassung des BGH die allg. Grundsätze des JStrafrechts zugute171. Der 1. Strafsenat des BGH172 neigt dazu, die bisherige Rechtsprechung aufzugeben und be- 28 reits ein gewisses Schuldmaß allein ohne eine erz. Notwendigkeit für die Verhängung einer JStrafe wegen Schwere der Schuld genügen zu lassen. Nach dem 2. Strafsenat173 kann auf die Möglichkeit der Bestrafung schwerer Straftaten durch Verhängung einer JStrafe auch in Fällen nicht verzichtet werden, in denen ein J oder Hw. nicht erzbedürftig oder erzfähig ist. Nach dem 3. Strafsenat174 kommt ein JStrafe wegen Schwere der Schuld grds. nur in Betracht, wenn dies auch aus erz. Gründen erforderlich ist. Belangen des Schuldausgleichs kann ausnahmsweise eigenständige Bedeutung beigemessen werden, insbes. bei Kapitaldelikten oder anderen bes. schweren Taten. Der 5. Strafsenat175 hat offen gelassen, ob das Bestehen eines ErzBedürfnisses Voraussetzung für die Verhängung einer JStrafe wegen Schwere der Schuld ist. Nach dem OLG Hamm176 und dem OLG Düsseldorf177 kann die Verhängung von JStrafe bei Kapitaldelikten und sonstigen Fällen schwerster Kriminalität ausschließlich auf den Gedanken der Sühne und des Schuldausgleichs gestützt werden; im Übrigen müsse die JStrafe wegen Schwere der Schuld auch erz. erforderlich sein. Im Übrigen will der BGH die gesetzliche Bewertung der Schwere des in einer Straftat hervorgetretenen Unrechts beachtet wissen178. Der BGH179 tritt ausdrücklich einer Fehlinterpretation seiner Meinung entgegen, der ErzZweck könne bei Schwere der Schuld das ausschlaggebende Kriterium sein und allein die Obergrenze der JStrafe bestimmen, und lässt Sühne und Abschreckung über die erz. Einwirkung hinaus zu180 (näher Rn 1). Nach dem

165 Bachmann JZ 19, 759; Böhm NJW 77, 2200; S. 208 f; Böhm/Feuerhelm S. 226; Grethlein NJW 61, 697; Hellmer Schuld u. Gefährlichkeit im JStrafrecht, 1962, S. 43, 57; ders. NJW 64, 179; HK-JGG/Laue 28; LBN/Baier S. 324; MKStGB/Radtke/Scholze § 17 JGG 60; Miehe Die Bedeutung der Tat im JStrafrecht, 1964 S. 60; Rose NStZ 19, 59; Schaffstein FS Heinitz, 1972, S. 461; Beulke/Swoboda Rn 458; M.-K. Meyer RdJ 85, 452; Schmidhäuser Strafrecht Allg. Teil, 2. Aufl. 1975, S. 851 FN 11; Weber S. 110; Westphal Die Aussetzung der JStrafe zur Bew., 1995, S. 90 f; Streng Rn 436 u. GA 84, 149, 150; Strunk MKrim. 68, 136; Tenckhoff JR 77, 487; für eigenständige Bedeutung des § 17 II Var. 2 in Fällen bes. schwerer Schuld Beulke NK 19, 269; im Grunde auch ablehnend Dallinger/Lackner 19. 166 NJW 64, 179. 167 JR 77, 488. 168 S. 29, 30. 169 § 11 Rn 16. 170 58 f. 171 Dem BGH zustimmend Bender JGG, 1965, § 17, 14; Riedel JGG 1965 § 17, 3c; Buckolt Die Zumessung der JStrafe, 2009, S. 47. 172 NStZ 13, 658 mit abl. Bespr. Eisenberg NStZ 13, 636; zust. LG Ravensburg NStZ-RR 16, 227 (jedenfalls bei im Verurteilungszeitpunkt Erw.) = ZJJ 16, 303 mit krit. Anm. Höynck. 173 BGH NStZ 18, 728 mit abl. Anm. Eisenberg = JR 19, 38 mit Anm. Kölbel; NStZ 20, 301. 174 BGH StV 17, 710, 711. 175 ZJJ 22, 51, 56 mit krit. Anm. Pieplow. 176 NStZ-RR 05, 58. 177 StraFo 07, 475. 178 BGH bei Beyer DRiZ 73, 161; BGH H MDR 81, 101. 179 MDR 82, 332 = JR 82, 4321 mit Anm. Brunner. 180 BGH B NStZ 84, 445. 173

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BGH181 kann auch bei vorrangiger Berücksichtigung des ErzGedankens182 der Schwere der Schuld eigenständige Bedeutung beigemessen werden; welches Gewicht solchen Erwägungen zukomme, sei Sache des Einzelfalles und hänge von den Umständen der Tat und der Persönlichkeit des Täters ab. Ob JStrafe wegen Schwere der Schuld auch erz. notwendig ist, sei nach dem Persönlichkeitsbild, der charakterlichen Haltung und der zu erstellenden Sozialprognose zu entscheiden183. Wenn der BGH184 bei 4 Jahren JStrafe und bestimmter Situation des Angeklagten eine eingehende Erörterung fordert, inwieweit eine längere Strafe – oder nach evtl. Widerruf der Bew. ein Rest von nur 4 Monaten185 – zur weiteren Förderung und Festigung durch Nacherz. geboten ist, so entspricht die weitere Forderung, „das Tatunrecht gegen die Folgen der Strafe für die weitere Entwicklung des Angeklagten“ abzuwägen, dem allg. und stets zu beachtenden Täterstrafrecht186. Eine gewisse Annäherung der Rechtsprechung des BGH an die hM der Lehre wird man feststellen dürfen187. 29 Mordet ein noch so gut beleumundeter J, so sind 4 Wochen JA mit dem Gedanken gerechter Schuldvergeltung unvereinbar188. Die Gerechtigkeit fordert bei schwerster Kriminalität eine Kriminalstrafe; der sühnebereite J erwartet sie, der uneinsichtige legt den Verzicht auf Strafe als Schwäche und Aufmunterung zu neuen Straftaten aus189. Dem J muss das Gewicht seiner Tat nachdrücklich vor Augen geführt werden, damit er in dieser Projektion die Schwere der Schuld erkennt, sich mit der Tat auseinandersetzen und sie schließlich überwinden kann190. Dagegen ist die Schuld eines charakterschwachen J, der ein ungewichtiges Vergehen gewissenlos begeht, nie eine schwere; das Gewicht der Tat ist zu gering191. Neben Kapitalverbrechen können auch andere bes. schwere Taten allein wegen der 30 Schwere der Schuld JStrafe fordern192. Schwere Gewaltdelikte begründen regelmäßig, wenngleich nicht ausnahmslos, die Schwere der Schuld193. Ein Vergehen mit vergleichsweise geringem Gewicht, z.B. unterlassene Hilfeleistung, kann dagegen die Schwere der Schuld nicht begründen, selbst wenn es äußerst niederträchtig und bedenkenlos begangen wurde194. Auch eine einfache Körperverletzung gemäß § 223 StGB reicht idR nicht aus195. Gründe, welche nach § 21 StGB die Schuldfähigkeit vermindern, können bei vorsätzlich verursachten schweren Tatfolgen die Schwere der Schuld ausschließen, zumindest mindern; gleiches gilt für J an der unteren Grenze der Altersreife (§ 3). Bestimmte Wesenszüge des Täters, die ihm nicht vorgeworfen wer-

181 182 183 184 185 186 187

B NStZ 83, 448; ZJJ 22, 51, 53. BGH NStZ 84, 508. BGH StV 88, 307. StV 89, 545. BGHR § 18 II Tatumstände 2. Vgl. auch BGH StV 88, 307 bei § 18, 13. Siehe auch Böhm NStZ 84, 445 zu den Beschlüssen des BGH v. 23.11.1983 u. 9.5.1984, u. M.-K. Meyer Zbl. 84, 453, welche die Zeit gekommen sieht, dass der BGH hier allein auf die schuldangemessene Strafe abstellt und damit JStrafe wegen Schwere der Schuld auch ermöglicht, wenn der J weder erzfähig noch -bedürftig ist. 188 BGH 10, 223; BGH H MDR 78, 280. 189 Dallinger/Lackner 19. 190 Potrykus B 3. 191 BGH NStZ-RR 98, 318; Grethlein NJW 61, 687. 192 BGH VRS Bd. 13 (57), 125; BGH StV 05, 66; NStZ 12, 163; 13, 658; 16, 102 mit Anm. Laue: gravierendes Sexualdelikt; OLG Hamm StV 11, 583, 584 f; KG StV 13, 35; LG Berlin NStZ 07, 46: brutaler Raubüberfall; LG Ravensburg NStZRR 16, 227, 228; LG Hannover ZJJ 21, 385, 389; AG Rudolstadt ZJJ 14, 51, 53; StV 20, 679; AG Waldshut-Tiengen StV 19, 481: wenn das Tatopfer besonderes Leid erlitten hat; Dallinger/Lackner 19; aA Ostendorf 7: nur wenn das Leben bedroht ist; Potrykus B 4 b. 193 BGH NStZ 18, 728 mit abl. Anm. Eisenberg = JR 19, 38 mit Anm. Kölbel. 194 BGH StV 05, 66; OLG Frankfurt StV 09, 92 für Handeltreiben mit 1,27g Kokainhydrochlorid; OLG Hamm StV 11, 583, 585. 195 OLG Hamm ZJJ 05, 447; Rose ZJJ 20, 48. 174

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den dürfen, können seine Schuld verringern196 (dazu Rn 34 aE), wie auch die in der konkreten Situation zur Tat drängenden und von ihr abhaltenden Motive zu berücksichtigen sind197.

7. Fahrlässigkeitstaten und weitere Besonderheiten Fahrlässigkeitstaten scheiden idR aus198. Bei der Schwere der Schuld kommt es auf das äußere 31 Tatgeschehen nur soweit an, als es auf das Maß der persönlichen Schuld, insbes. die charakterliche Haltung des Täters, Schlüsse zulässt. Gerade bei Verkehrsdelikten überwiegt der schwere Erfolg häufig weit die Schwere der Schuld (innere Tatseite) und darf nicht zu Fehlschlüssen verleiten199. Bei wiederholten persönlichkeitstypischen Fahrlässigkeitstaten (wohl nur im Straßenverkehr denkbar) und bei bes. grober Leichtfertigkeit kann jedoch nach eingehender Persönlichkeitsermittlung im Einzelfall Schwere der Schuld bejaht werden200. Beulke/Swoboda201 weisen zu Recht darauf hin, dass schuldhafter handelt, wer grob leichtfertig das Leben eines Menschen vernichtet, als der, welcher vorsätzlich fremdes Eigentum beschädigt. Fahrlässigkeitstaten begründen danach Schwere der Schuld, wenn in ihnen eine bes. gesteigerte Fehlhaltung des Täters iS einer gesteigerten Gleichgültigkeit gegenüber dem Anspruch Dritter auf körperliche Unversehrtheit zum Ausdruck kommt202. Es muss sich um einen „bes. verwerflichen Grad von leichtsinniger oder rücksichtsloser Gefährdung fremden Lebens und fremder Gesundheit“ handeln203. Das kann insbes. bei Wiederholungstaten oder einer Mehrzahl von gravierenden Pflichtverstößen der Fall sein204. – War der J vermindert schuldfähig, als er seine Fahruntüchtigkeit erkannte und gleichwohl fuhr, so ist dies für die Beurteilung der Schwere der Schuld beachtlich205. Zur Generalprävention § 18, 21 f. Es scheiden ggf. auch Taten eines nicht erziehbaren, der sofortigen Behandlung bedürftigen 32 Geisteskranken206 oder Taten an der Grenze der Altersreife aus. Überhaupt spielt das Alter auch hier eine Rolle, weil mit zunehmendem Alter die Schuld anders zu würdigen ist, das Sühnebedürfnis gewichtiger wird (s. § 105 II; § 18, 4, 31). JStrafe wegen Schwere der Schuld kann bei Drogendealern angebracht sein, auch wenn 33 sie – was bei größeren Dealern meist nicht der Fall ist – selbst drogenabhängig sind207; sorgfältige Prüfung des Einzelfalles ist selbstverständlich208. Der Vollzug dient zwangsweiser Entgiftung, entzieht das gewohnte Milieu als Verstärker des Fehlverhaltens und eröffnet Möglichkeiten psychischer Einwirkung und Hilfe (dazu näher Rn 42 u. 51). Wenn aber die notwendige Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 7, 4 ff) die JStrafe (und Zuchtmittel) entbehrlich macht, muss 196 197 198 199 200

BGH StV 86, 305. Beulke/Swoboda Rn 457. Entgegen der hM fordern Ostendorf 6 u. Putzke/Feltes S. 98 bei Schwere der Schuld stets Vorsatz. BayObLG StV 85, 155 mit zust. Anm. Böhm; OLG Karlsruhe NStZ 97, 241 mit zust. Anm. Böhm. BayObLG u. OLG Karlsruhe aaO; OLG Hamm NJW 68, 462; OLG Celle NdsRpfl. 69, 95 = VRS Bd. 36 (69), 415; OLG Braunschweig NZV 02, 195 = NJW 02, 2334 (LS) mit zust. Anm. Molketin NZV 02, 416; AG Dillenburg NStZ 87, 409 mit zust. Anm. Böhm; LBN/Baier Rn 756; MBH/Schöch/Höffler § 11 Rn 19; Beulke/Swoboda Rn 457; Schaffstein FS Heinitz, 1972, S. 467, 468: bes. grobe Leichtfertigkeit bei fahrlässiger Tötung, JA befriedige Sühnebedürfnis nicht; Streng Rn 434; Maurach/Gössel/Zipf/Dölling § 74 Rn 7; Nix/Teschner 7; Rose ZJJ 20, 48 f; Eisenberg/Kölbel 52 einengend; aA Tenckhoff JR 77, 492, der „Schwere der Schuld“ in „Schwere des Unrechts“ umdeutet; völlig abl. Ostendorf 6. 201 Rn 455. 202 OLG Karlsruhe NStZ 97, 242. 203 Böhm NStZ 97, 242. 204 Böhm aaO, 242 f. 205 BayObLG bei Rüth DAR 85, 243. 206 BGH bei Herlan GA 55, 364. 207 Krit. Eisenberg/Kölbel 42 f. 208 Dazu OLG Zweibrücken JR 90, 304 mit zust. Anm. Brunner. 175

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der Richter nach § 5 III von ihrer Verhängung absehen209 (näher § 5, 2–4). Zu schädlichen Neigungen im Drogenbereich Rn 24. Allg. zur Drogendelinquenz Einf. 66–72. 34 In der Praxis liegen neben der Schwere der Schuld häufig zusätzlich schädliche Neigungen des Täters vor210. Werden in der Revisionsinstanz die neben der Schwere der Schuld festgestellten schädlichen Neigungen verneint, so kann dies wegen des Einflusses auf die Höhe der erkannten JStrafe zur Aufhebung des Urteils führen211. Verringern bestimmte Wesenszüge die Schuld des Täters (dazu Rn 30 aE), so muss neben der Schwere der Schuld auch das Bestehen schädlicher Neigungen geprüft werden212. Wegen der Folgen im Zentralregister Vor § 97, 15.

8. Abgrenzung von anderen Maßnahmen 35 Die Abgrenzung zwischen JStrafe und anderen Maßnahmen des JGG ist relativ einfach, wenn JStrafe wegen der Schwere der Schuld in Betracht kommt. Hier muss das Bedürfnis nach Ahndung so stark sein, dass die nur aus Anlass der Tat anzuordnenden ErzMaßregeln unangemessen erscheinen und die Zuchtmittel wegen des Missverhältnisses zwischen ihnen und dem Gewicht der Tat dem J nicht mehr zum Bewusstsein brächten, dass er für das von ihm begangene Unrecht einzustehen hat (§ 13 I JGG; Einf. 89, 90). Aussetzung der Verhängung der JStrafe kommt hier nach dem klaren Wortlaut des § 27 nicht in Betracht. Dagegen kann und muss die nur wegen der Schwere der Schuld ausgesprochene JStrafe zur Bewährung ausgesetzt werden, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen (§ 21) gegeben sind, was oft der Fall sein wird, bes. wenn der Vollzug der JStrafe für den integrierten J eine Gefahr für seine Entwicklung werden könnte. 36 Überschneidungen der JStrafe wegen schädlicher Neigungen mit Zuchtmitteln, Weisungen und ErzBeistandschaft sind selten. Alle genannten Maßnahmen setzen einen Täter voraus, der keine erheblichen Erz.- und Anlagemängel aufweist, idR seine Tat einsieht, zu Sühne und Mitarbeit bereit ist und auch keine allzu schwerwiegende Tat begangen hat (§ 10, 4; § 12, 4; § 13, 3; § 16, 2). 37 Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2 hat im JStrafrecht ganz wesentlich an Bedeutung verloren (näher § 12, 1). Sie von JStrafe abzugrenzen, kann Schwierigkeiten bereiten. Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2 wird überwiegend außerhalb des JStrafrechts angeordnet, wenn ein Minderjähriger verwahrlost ist oder zu verwahrlosen droht (vgl. auch § 3, 22 ff). Sie ist eine Art öffentlicher Ersatzerziehung gefährdeter Minderjähriger anstelle der primär ErzBerechtigten213. Aus solchem Grund anlässlich einer Straftat vom JRichter angeordnet (oder vom Familiengericht über § 53), ist sie eine reine ErzMaßregel, während JStrafe, wenn auch vorwiegend der Erz. dienend, sich aus der Schuld ableitet (näher Rn 1 u. 6; § 18, 23 ff)214 und auf Täter zielt, von denen die Gefahr weiterer Störungen der Gemeinschaftsordnung ausgeht215. „Schädliche Neigungen“ sind gegenüber der „Verwahrlosung“ der engere Begriff. Schädliche Neigungen, die in der JVerfehlung (§ 1, 1) ihren Ausdruck finden, zeigen idR zugleich Verwahrlosung an. Verwahrlosung hingegen kann ohne schädliche, also kriminelle Neigungen vorliegen, z.B. Prostitution. Bei kriminellen Taten am Ende des JAlters ist Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2 kaum jemals angebracht; Hilfe zur Erz. nach § 34 SGB VIII als Maßnahme der JHilfe neben Vollzug der JStrafe kommt kaum in Betracht216.

209 BayObLG 89, 48 = JR 90, 209 mit zust. Anm. Brunner. 210 LG Berlin NStZ 07, 46; zust. Böhm/Feuerhelm S. 226; Ostendorf 9: nur ausnahmsweise. 211 BGH 16, 261; BGH B NStZ 81, 251; 82, 414; 83, 448; 84, 446; 88, 491; BGH StV 92, 431; 93, 531; 96, 268; 98, 331, 391; BGH B NStZ-RR 99, 290. BGH StV 86, 305. Beulke/Swoboda Rn 363 ff. Weber S. 30, 39. BGH 11, 169. OLG Hamm Zbl. 74, 115 zur Fürsorgeerziehung.

212 213 214 215 216

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9. Schädliche Neigungen und Strafaussetzung Die rechtlichen Voraussetzungen der JStrafe wegen schädlicher Neigungen stehen nicht notwen- 38 dig einer Strafaussetzung zur Bew. entgegen. Die Prognose kann bei sorgfältiger Berücksichtigung von Persönlichkeit und Lebensverhältnissen ergeben, dass die erforderliche längere Gesamterziehung217 durch die Wirkung der Verhängung von JStrafe und die mit der Aussetzung verbundene BewHilfe, die Weisungen und Auflagen, schließlich auch durch die ständige Drohung des Widerrufs erreicht werden kann. Ein ähnliches Spannungsverhältnis ergibt sich bei § 47 StGB: Hier wird die für die Aussetzung erforderliche günstige Prognose nicht dadurch ausgeschlossen, dass die Verhängung einer Freiheitsstrafe unter 6 Monaten zur Einwirkung auf den Täter erforderlich erscheint218. Ist ungewiss, ob schädliche Neigungen in einem Ausmaß vorliegen, dass JStrafe erforderlich ist, so sind nur die Voraussetzungen für den Schuldspruch nach § 27 gegeben, der für solche Fälle eine erz. bessere Lösung gibt219. JStrafe wegen der Schwere der Schuld ist als scharfe Missbilligung der Tat auch dann erforderlich, wenn eine günstige Prognose Strafaussetzung zur Bew. erlaubt220. Das AG Berlin-Tiergarten221 hat neben einer EinheitsJStrafe von 2 Jahren 10 Monaten eine 39 Betreuungsweisung (dazu § 10, 19 f) erteilt und damit praktisch den Hw. sogleich und für die Entlassungsvorbereitung einem BewHelfer unterstellt, weil Entlassung zur Bew. nicht mehr in Frage komme. Das ist zulässig und bringt eine intensivierte Hilfestellung für den Verurteilten im Vollzug und danach.

10. Zurückstellung der Strafvollstreckung bei betäubungsmittelabhängigen J und Hw. nach §§ 38 I, 35 I, 36 BtMG Das BtMG eröffnet in §§ 35 f Möglichkeiten der Zurückstellung der Strafvollstreckung gegen be- 40 täubungsmittelabhängige Straftäter zugunsten einer Therapie222. Diese Vorschriften gelten nach § 38 I BtMG bei Verurteilung zu JStrafe sinngemäß. Das BtMG will in seinem 7. Abschnitt dem Betäubungsmittelabhängigen eine Therapie „au- 41 ßerhalb des Straf- und Maßregelvollzugs auch in den Fällen ermöglichen, in denen für die ersten Monate der Behandlung eine gute Prognose noch nicht gestellt werden kann“223. § 35 BtMG bringt damit eine Sonderregelung für betäubungsmittelabhängige Täter224. Zugleich hoffte der Gesetzgeber mit solchen Regelungen die Therapiebereitschaft drogenabhängiger Täter erheblich steigern zu können225. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Therapieresistenz vieler Drogenabhängiger „nicht primär Ausdruck bösen Willens, sondern ein Charakteristikum der Drogenabhängigkeit überhaupt, ein Symptom der Krankheit“ ist226. Es kommt deshalb darauf an, niedrigschwellige Hilfs- und Beratungsangebote, Plätze für den körperlichen Entzug, ambulante, teilstationäre und stationäre Therapieeinrichtungen und Nachsorgeeinrichtungen zu einem Verbundsystem zu verknüpfen, das wirksame Hilfe zu leisten und den Weg aus der Abhängigkeit zu fördern vermag227. Trotz vielfältiger Bemühungen bestehen im Angebot noch erhebliche Defizite. Es gelangen daher 217 218 219 220 221 222 223 224 225 226 227

BGH 11, 169. BGH 24, 165; Dünnebier JR 70, 241, 246. Grethlein JR 64, 88; Seibert MDR 62, 171; Sieverts UJ 52, 292; Potrykus Zbl. 51, 280 u. 52, 104. Dallinger/Lackner § 20, 10; Bruns GA 56, 196. NStZ 88, 428 mit zust. Anm. Matzke. Rechtsprechungs-Übersichten Katholnigg NStZ 84, 496; Weichert NJW 99, 827; vgl. auch Körner NStZ 98, 227. BT-Drs. 8/483, S. 7. Slotty BewH 82, 223. Körner NJW 82, 676. Tröndle MDR 82, 5 unter Hinweis auf Coignerai-Weber/Hege MKrim. 81, 144. Vgl. Dölling Eindämmung des Drogenmißbrauchs zwischen Repression u. Prävention, 1995, S. 21, 23; Heckmann in ders., Hrsg., Drogentherapie in der Praxis, 1991, S. 71 f. 177

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zahlreiche j. Straftäter mit Drogenproblemen in den JStrafvollzug. Deshalb sind Bemühungen gerade dort gefordert, zumal J und Hw. im Drogenbereich stärker gefährdet und relativ stärker beteiligt sind als Erw. und Besonderheiten der altersmäßigen Entwicklung auch in der Therapie beachtet werden müssen228. 42 Der allg. Behandlungsauftrag an den Vollzug bezieht auch und gerade die drogenabhängigen Verurteilten in der JStrafanstalt ein229. Ansatzpunkte für die Behandlung könnten darin liegen, dass die Absperrung eine Entgiftung bringen und das gewohnte Milieu als Verstärker des Fehlverhaltens entziehen kann. Gründliche Prüfung bei Lockerung des Vollzugs und bei Urlaub wirken der Einschleusung von Drogen entgegen. Kindermann230 schlägt vor, die Drogenabhängigen von den anderen Gefangenen zu trennen, was aus vielerlei Gründen wohl besser sein mag. Es könnte sich sogar empfehlen, annähernd motivierte von nicht motivierten Drogenverurteilten zu trennen; eine derartige Handhabung nützt die oft übersehene Unterscheidung zwischen zwangsweiser Unterbringung und zwangsweiser Therapie. JStrafanstalten haben mit ihrem ärztlichen und ErzPersonal und unter Einbeziehung externer Drogenberater Möglichkeiten zu Entziehung und Entwöhnung aufgebaut und versuchen mit Hilfe neuer Bezugsgruppen, mit Gruppen-, Verhaltens- und Beschäftigungstherapie das gestörte Verhältnis zur Realität und zu sozialen Bezügen neu zu ordnen231. Zur Entlassungsvorbereitung u. Nachsorge § 88, 22. 43 Entscheidend für die Bewährung der Vorschriften über die Zurückstellung der Strafvollstreckung nach §§ 38 I, 35 BtMG sind sorgfältige Erforschung der Persönlichkeit in der JStrafanstalt, Motivationshilfen und enge Zusammenarbeit zwischen Vollzug und Vollstreckungsleiter (vgl. Rn 46, 51). Durch Teilvollstreckung, die kein bloßes „Absitzen“ ist, können möglicherweise die Therapieaussichten iSd § 35 BtMG gebessert werden (Rn 44). Die bisherigen Erfahrungen deuten darauf hin, dass der Gesetzgeber mit den §§ 35 f, 38 BtMG einen richtigen Weg gegangen ist. Die strafjustiziell in die Therapie übergeleiteten Drogenabhängigen scheinen nach einer Untersuchung der Kriminologischen Zentralstelle Wiesbaden im Vergleich mit Klienten, die freiwillig eine Therapie beginnen, zumindest nicht schlechter abzuschneiden. 90 % der Verurteilten traten die Therapie an und knapp die Hälfte beendete die Behandlung regulär232. Die Wiedereinweisungsquote in den Vollzug innerhalb eines dreijährigen Zeitraums nach Entlassung scheint nicht höher zu sein als in den vorliegenden Untersuchungen zum Rückfall nach Strafvollzug allgemein233. 44 Die Möglichkeit der Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG enthebt den erkennenden JRichter nicht der Verpflichtung, auch bei betäubungsmittelabhängigen J und Hw. die Voraussetzungen der Strafaussetzung zur Bew. nach § 21 sorgfältig zu prüfen und vorrangig darüber zu entscheiden234 (zu den entsprechenden BewAuflagen § 21, 22–24; vgl. auch § 26a, 17 aE). Denn § 35 BtMG tritt erst nach Versagung der Strafaussetzung zur Bew. wegen schlechter Sozialprognose nach Rechtskraft des Urteils ein (die nachträgliche Entscheidung nach § 57 verliert hier an Bedeutung), wenn erst nach Rechtskraft des Urteils die Voraussetzungen des § 35 I BtMG hervortreten, sich nach Teilvollstreckung die Therapieaussichten entscheidend bessern (Rn 42) oder erst dann die Betäubungsmittelabhängigkeit bekannt wird (§ 35 I 1 BtMG „oder steht sonst fest“). Letztere Möglichkeit könnte manchen in Versuchung führen, sich mit nachträglichen Schutzbehauptungen über § 35 I 1 BtMG die versagte Strafaussetzung zur Bew. zu

228 229 230 231 232 233

Brunner Zbl. 80, 415 ff; ähnlich Eisenberg/Kölbel § 45, 29b; Körner NJW 82, 673. Vgl. OLG Hamm MDR 81, 70. MKrim. 79, 218. Vgl. zur Drogenarbeit im Vollzug auch Borkenstein BewH 94, 80; Stöver BewH 16, 354. Kurze Strafrechtspraxis und Drogentherapie, 1993, S. 267. AaO, S. 239; zu dieser Untersuchung vgl. auch Egg BewH 93, 26; Kurze NStZ 96, 178. Zur Umsetzung der §§ 35 ff BtMG s. auch Schulte BewH 93, 38; Jehle in Handb. d. For. Psychiatrie Bd. 1, 2007, S. 365 ff. 234 BT-Drs. 8/4283, S. 7; Joachimski/Haumer § 35 BtMG 43; Körner NJW 82, 677; Slotty NStZ 81, 327; Tröndle MDR 82, 2. 178

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erschleichen235. Solches wird gerade der erkennende JRichter bei Prüfung der erforderlichen Zustimmung zu erwägen haben. Zum Verhältnis zu § 64 StGB s. § 7, 8. Grundsatz ist, dass mit der Zurückstellung der Vollstreckung dem Verurteilten die Therapie außerhalb des Strafvollzugs ermöglicht werden soll. Dies kann nur erreicht werden, wenn die Therapie nicht durch die Vollstreckung einer anderen Strafe gestört wird236 (vgl. dazu Rn 48, 57). Bei betäubungsmittelabhängigen J oder nach JStrafrecht verurteilten Hw. kann der je nach Stand des Vollstreckungsverfahrens ursprüngliche (§§ 82 I, 84) oder nachfolgende Vollstreckungsleiter (§ 85 II) zuständig sein237. Er holt die Zustimmung (oder Stellungnahme, wenn Ablehnung beabsichtigt ist) des Gerichts des ersten Rechtszuges ein238. Das gilt auch dann, wenn Vollstreckungsleiter und Gericht des ersten Rechtszuges in einer Person zusammentreffen (§§ 38, 35 I BtMG)239, denn die Zustimmung und deren Versagung sind richterliche Entscheidungen, der Vollstreckungsleiter aber entscheidet als weisungsgebundene Verwaltungsbehörde (§ 83, 1)240 nach seinem pflichtgebundenen Ermessen241. Beschwerde Rn 52. Der Vollstreckungsleiter kann die Vollstreckung der Strafe, eines Strafrestes oder der Maßregel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt für längstens 2 Jahre zurückstellen, wenn folgende Voraussetzungen vorliegen: Rechtskräftige Verurteilung wegen einer aufgrund Betäubungsmittelabhängigkeit begangenen Tat, was sich aus den Urteilsgründen ergeben oder „sonst feststehen“ muss. Hinsichtlich des Vorliegens einer für die Tat kausalen Betäubungsmittelabhängigkeit242 ist die Vollstreckungsbehörde nicht an die Feststellungen des Urteils gebunden, sondern kann und muss sie ggf. eigenständige Feststellungen treffen243. Eine über die Urteilsfeststellungen hinausgehende Aufklärung ist aber nur geboten, wenn ausreichender Anlass für die Annahme besteht, die Tat könne doch auf einer Betäubungsmittelabhängigkeit beruhen244. Insoweit ist es Sache des Verurteilten, die notwendigen Hinweise zu geben245. Ergibt sich die Kausalität gemäß § 35 I BtMG aus den Urteilsgründen, ist der Beurteilungsspielraum der Vollstreckungsbehörde stark eingeschränkt246. Die Abhängigkeit muss auch im Zeitpunkt der Bewilligung der Zurückstellung gegeben sein247. Sie muss sicher feststehen248. Alkoholabhängigkeit genügt nicht249; Polytoxikomanie (Drogen- und Alkoholabhängigkeit) kann ausreichen250. Entweder Verurteilung zu Strafe von nicht mehr als 2 Jahren oder eine höhere Strafe, bei welcher der nach Teilverbüßung251 noch zu vollstreckende Rest zwei Jahre nicht übersteigen

235 236 237 238 239 240 241

Vgl. dazu Unterrichtung durch den Bundesrat, BT-Drs. 8/4407, S. 4; Joachimski/Haumer § 35 BtMG 8. OLG Karlsruhe JR 83, 433. Wohlfahrt StraFo 20, 274. OLG Karlsruhe StV 81, 257. OLG Stuttgart NStZ 86, 141; OLG Hamm StV 88, 112; Reisinger NStZ 90, 57. LG Offenburg NStZ-RR 02, 347. OLG Karlsruhe NStZ 08, 576; NStZ-RR 11, 259; StV 19, 347; OLG Nürnberg StV 19, 349, 350; Katholnigg NJW 81, 418; Körner/Sagebiel NStZ 92, 216. 242 Dazu KG bei Kotz/Rahlf NStZ-RR 00, 78; KG NStZ-RR 08, 185; OLG Hamm NStZ-RR 08, 185; NStZ-RR 11, 91; OLG Rostock NStZ-RR 13, 250. 243 OLG Hamm MDR 84, 75 f; KG StV 88, 213; OLG Saarbrücken NStZ-RR 96, 246; OLG Stuttgart NStZ 99, 626; OLG Oldenburg StV 01, 467; OLG Brandenburg NStZ-RR 03, 376; OLG Dresden StV 06, 585, 586; OLG Karlsruhe NStZRR 12, 250; NStZ-RR 15, 47. 244 OLG Hamm NStZ 83, 25; OLG Frankfurt NStZ-RR 98, 314. Zur Verneinung der Abhängigkeit entgegen den tatgerichtlichen Feststellungen s. OLG München StV 17, 306. 245 OLG Schleswig bei Döllel/Dreeßen SchlHA 10, 265. 246 BayObLG StV 22, 591. 247 OLG Frankfurt NStZ 09, 214. 248 KG StV 13, 711; OLG Hamm StV 20, 405. 249 OLG Karlsruhe Justiz 98, 639; krit. zur gesetzlichen Regelung Tröndle MDR 82, 5. 250 OLG Dresden StV 06, 585; OLG Nürnberg StV 17, 307. 251 Vgl. Körner JR 83, 434. 179

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darf (§ 35 II Nr. 2 BtMG)252. Hier ist die Anrechnung von UHaft zu beachten253. Die Zurückstellung wird von bestehender und noch vollstreckbarer J- und Freiheitsstrafe, die zusammen 2 Jahre überschreiten, nicht ausgeschlossen, weil eine Zusammenrechnung nicht vorgenommen werden braucht254. Die Zurückstellung kann jedoch – wie sich aus § 35 VI Nr. 2 BtMG ergibt – nicht erfolgen, wenn eine weitere, nicht zurückstellungsfähige Strafe zu vollstrecken ist255 oder ihre Vollstreckung nach § 454b StPO unterbrochen ist256. 49 Der Verurteilte muss sich wegen seiner Abhängigkeit bereits in einer seiner Rehabilitation dienenden Behandlung befinden oder er muss zusagen, sich einer solchen zu unterziehen (schriftlich oder zu Protokoll und bedingungslos) und der Beginn muss gewährleistet sein (Zusage seitens der Institution, Klärung der Kostenfrage). Die der Rehabilitation dienende Behandlung kann stationär, aber auch ambulant erfolgen257. Es kann sich auch um eine ambulante Substitutionstherapie handeln, sofern diese psychosozial betreut wird258. Stets muss die Behandlung aber auf die Befreiung von der Drogenabhängigkeit gerichtet sein259. Nach dem KG260 kommt eine ambulante Substitutionstherapie nur als letztes Mittel nach mehreren gescheiterten Langzeittherapien in Betracht. Zu den Therapieeinrichtungen Einf. 69. Einer Zusage des J muss der ErzBerechtigte und der gesetzliche Vertreter zustimmen (§ 38 I 2 BtMG). Wird die Einwilligung grundlos und gegen das Interesse des J versagt, kann sie durch das Familiengericht ersetzt werden (§ 1666 BGB)261. Die Anforderungen an Therapiewilligkeit dürfen nicht übersteigert werden262. Therapiebereitschaft ist zu bejahen, wenn der Verurteilte ernsthaft gewillt ist, eine bestimmte Therapie anzutreten und durchzustehen263. Vgl. auch Rn 51. Droht einem ausländischen Verurteilten die Abschiebung, kann eine Zurückstellung nach Abwägung im Einzelfall wegen der Gefahr des „Untertauchens“ versagt werden264. Anders ist es, wenn trotz Ausweisung keine Abschiebung droht265. § 35 BtMG setzt eine rechtskräftig verhängte JStrafe voraus, während § 5 III den JRichter an50 hält, von JStrafe gerade dann abzusehen, wenn die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt die Ahndung entbehrlich macht (vgl. § 5, 2–4). Das muss nicht zwingend zu einer Spannung zwischen beiden Vorschriften führen. Auf JStrafe zu erkennen, um die Anwendung der §§ 35, 36 BtMG zu ermöglichen266, dürfte aber kaum einen Ausweg bieten. Adams/Eberth267 raten dem Richter, in den Urteilsgründen sich zum Scheitern der Bew. und zu eventueller Therapie nach Rechtskraft zu äußern. Dies kann allerdings Schwierigkeiten heraufbeschwören (vgl. Einf. 112). Der JGH und dem ErzPersonal der JStrafanstalt (vgl. Rn 43) fallen hier wichtige Aufgaben 51 zu, denn gerade Drogenabhängige weisen eine schwierige, häufig schwer durchschaubare Per252 253 254 255 256 257

Vgl. OLG Koblenz StV 85, 379. PVF/Fabricius § 35 BtMG 115. BGH 33, 14 = NStZ 85, 126 mit zust. Anm. Katholnigg. OLG Karlsruhe MDR 85, 698; OLG Celle NdsRpfl. 98, 155; OLG Hamm NStZ 00, 557. BGH 55, 243. OLG Zweibrücken StV 83, 249; 84, 124; OLG Karlsruhe StV 00, 631; OLG Oldenburg StV 05, 284; PVF/Fabricius § 35 BtMG 141. 258 OLG Frankfurt NJW 95, 1626; OLG Hamburg StV 03, 290; OLG Celle StV 22, 592. 259 OLG Oldenburg NStZ 94, 347 f; NStZ-RR 96, 49; OLG Köln StV 95, 649; OLG Celle StV 22, 592. 260 Bei Kotz/Rahlf NStZ-RR 00, 78. 261 Zust. Eisenberg/Kölbel § 82, 15; Ostendorf/Rose § 82, 12. 262 OLG Hamm MDR 82, 1044; OLG Karlsruhe StV 83, 112; Justiz 99, 329 ff; KG NStZ-RR 08, 257; OLG Celle NdsRpf. 16, 269; Eisenberg/Kölbel § 82, 14; Ostendorf/Rose aaO. 263 BayObLG StV 22, 591; OLG Karlsruhe StV 07, 308; OLG Celle NdsRpf. 16, 269, 270 f. 264 OLG Hamm NStZ 99, 591; OLG Frankfurt NStZ-RR 00, 152; OLG Nürnberg StV 19, 349. 265 OLG Stuttgart StV 98, 672. Vgl. auch OLG Düsseldorf StV 99, 444, nach dem sich im Hinblick auf den Vorrang des staatlichen Strafanspruchs eine Abschiebung regelmäßig verbietet, wenn nicht von der weiteren Strafvollstreckung gem. § 456a StPO abgesehen wurde. 266 Vgl. Meyer MDR 82, 178. 267 NStZ 83, 194. 180

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sönlichkeitsstruktur auf (Einf. 67) und bedürfen bes. Betreuung. Diese Helfer müssen die unter Rn 49 dargestellten Voraussetzungen vorbereiten, überprüfen, aus ihrer Sphäre – möglichst objektiv – werten und dem Verurteilten und ggf. auch dessen gesetzlichem Vertreter Motivationshilfen geben. Mit seiner nach § 35 I 1 BtMG notwendigen Zustimmung zur Zurückstellung bestimmt der JRichter des ersten Rechtszugs zugleich, ob und inwieweit nach § 36 I 1 BtMG die Zeit des Aufenthalts in der Therapieeinrichtung auf die Strafe angerechnet wird (§ 36 I 2 BtMG). Auch dies soll die Motivierung verstärken. Nach dem OLG Karlsruhe268 müssen die Tatsachen und Erwägungen, aus denen der Vollstreckungsleiter auf ungünstige Therapieaussichten schließt, im Ablehnungsbeschluss mitgeteilt werden, um die nach § 28 III EGGVG gebotene Prüfung zu ermöglichen. Dabei sollen bei § 35 das Ausmaß der Tatschuld nicht berücksichtigt und Zweifel an der Therapiebereitschaft nicht allein daraus hergeleitet werden dürfen, dass der Verurteilte bisher keine freiwillige Therapie versucht hat269 oder mehrere Therapieversuche gescheitert sind270. Es ist grds. von einer Prüfung der Rehabilitationsprognose abzusehen, da gerade Risikopatienten eine Therapie ermöglicht werden soll und idR zahlreiche Therapieversuche für einen Therapieerfolg notwendig sind271. Eine Ablehnung der Zurückstellung darf also nicht darauf gestützt werden, dass keine günstige Erfolgsprognose besteht272. Therapieunfähigkeit darf nur angenommen werden, wenn die Behandlung von vornherein als völlig oder nahezu aussichtlos erscheint273 und vernünftige Zweifel an der fehlenden Therapieaussicht ausgeschlossen sind274. Ob die Vollstreckungsbehörde die Stellungnahme des Gerichts auch dann einholen muss, wenn sie beabsichtigt, die Zurückstellung abzulehnen, ist umstritten275. Siehe auch Rn 49. Gegen die Weigerung des Gerichts erster Instanz, der Zurückstellung nach § 35 I BtMG zuzu- 52 stimmen, steht gemäß § 35 II 1 BtMG der Vollstreckungsbehörde Beschwerde nach § 304 StPO zu. Der Verurteilte kann die Verweigerung der Zustimmung nur zusammen mit der Ablehnung der Zurückstellung durch die Vollstreckungsbehörde nach §§ 23 ff EGGVG anfechten (§ 35 II 2 BtMG). Diese Regelung findet gem. § 38 I 1 BtMG auch in JStrafverfahren Anwendung. Das Beschwerderecht nach § 35 II 1 steht im JStrafverfahren der Staatsanwaltschaft bei dem OLG zu. Da der als Vollstreckungsbehörde tätige JRichter nicht selbst Beschwerdeführer sein kann, muss das Beschwerderecht von der vorgesetzten Behörde wahrgenommen werden276. Beabsichtigt die StA die Zurückstellung, muss sie nach OLG Celle277 Beschwerde gegen die Weigerung des Ge-

268 Justiz 83, 128. 269 OLG Karlsruhe aaO. 270 OLG Karlsruhe StV 02, 263; NStZ-RR 05, 57; StV 07, 308; vgl. aber auch OLG Koblenz NStZ-RR 14, 375, wonach der Therapiewille sorgfältig zu prüfen ist, um missbräuchliche Antragstellungen abzulehnen u. die begrenzten Therapieplätze nur ernsthaft Therapiewilligen bereitstellen zu können. 271 OLG Hamburg StV 98, 390, OLG Koblenz StV 03, 288, OLG Karlsruhe NStZ-RR 09, 122; StA beim OLG Frankfurt StV 03, 289. 272 OLG Celle NdsRpfl. 98, 155; OLG Koblenz StV 06, 588 mit Anm. Rühlmann u. StV 13, 711; vgl. auch OLG Saarbrücken NStZ-RR 96, 50: keine Ablehnung der Zurückstellung, weil der Verurteilte trotz früherer Therapien erneut straffällig geworden ist oder Therapiechancen nicht genutzt hat; OLG Zweibrücken StV 00, 158 zur nur eingeschränkt möglichen Überprüfung der Therapiemotivation; OLG Frankfurt NStZ-RR 03, 246: kein Schluss auf fehlenden Therapiewillen allein aus Verweigerung von Urinkontrollen im Strafvollzug; OLG Schleswig bei Döllel/Dreeßen SchlHA 07, 318: keine Ablehnung der Zurückstellung allein wegen drogenbedingter erneuter Straffälligkeit während laufender Bewährungszeit; anders, wenn die Therapie von vornherein aussichtslos erscheint: OLG Karlsruhe NStZRR 09, 122. 273 BGH NStZ-RR 17, 283; OLG Karlsruhe StV 19, 347. 274 OLG Karlsruhe NStZ-RR 14, 14; OLG Naumburg StraFo 12, 424. 275 Dafür OLG Karlsruhe NStZ 86, 288; NStZ 13, 552 (wenn es die Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung gebietet, durch Einholung der gerichtlichen Zustimmungsentscheidung die Erkenntnisse der Hauptverhandlung mit zur Entscheidungsgrundlage zu machen); KG StV 88, 24; dagegen OLG Frankfurt StV 89, 439; OLG Hamm NStZ-RR 98, 315. 276 OLG München NStZ 93, 456 = JR 94, 296 mit Anm. Katholnigg. 277 NStZ 96, 304 mit abl. Anm. Katholnigg NStZ 96, 615. 181

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richts einlegen, vor deren Erledigung ein Antrag des Verurteilten nach §§ 23 ff EGGVG nicht zur Entscheidung reif ist. Ein gegen die Ablehnung der Zurückstellung durch die Vollstreckungsbehörde gerichteter Antrag des Verurteilten gemäß §§ 23 ff EGGVG ist erst zulässig, wenn das Vorschaltverfahren nach §§ 24 II EGGVG, 21 StVollstrO durchgeführt worden ist278. Das Vorschaltverfahren hat nach OLG Zweibrücken279 auch stattzufinden, wenn der Zurückstellung die Versagung der gerichtlichen Zustimmung entgegensteht280; die Beschwerdeinstanz legt dann ggf. die Sache dem Gericht erneut zur Entscheidung über die Zustimmung vor. Bei der Entscheidung nach § 23 EGGVG kann das OLG auch die Versagung der richterlichen Zustimmung auf Ermessensfehlgebrauch prüfen und ggf. die Zurückstellung selbst vornehmen.281 Nach Zurückstellung der Vollstreckung kann der Vollstreckungsleiter aus wichtigem Grund (§ 85 V) die Vollstreckung an das Gericht des ersten Rechtszuges zurückgeben, denn die §§ 35 ff BtMG gehen als Sonderbestimmungen den Vorschriften über die Strafvollstreckung vor und übertragen alle wesentlichen Entscheidungen dem Gericht des ersten Rechtszuges; dem entspricht die Zurückgabe der Vollstreckung282. § 35 IV BtMG erlegt den behandelnden Personen oder Therapiestellen die Rechtspflicht283 auf, dem Vollstreckungsleiter einen Abbruch der Behandlung mitzuteilen284. Dies haben manche Einrichtungen strikt verweigert. Das BtMG sieht für den Fall der Verweigerung keine Sanktion vor; ob solche der StPO entsprechend anwendbar wären, ist zweifelhaft. Bei beharrlichem Entgegenstellen aber wird die Behandlung durch solche Personen oder Therapiestellen nicht mehr als genügende Voraussetzung nach § 35 I 1 BtMG anzusehen (vgl. Rn 49) und die staatliche Anerkennung (dazu Einf. 69 aE) zurückzunehmen sein285. Die Verletzung der sich aus § 35 IV BtMG ergebenden Rechtspflicht, den Abbruch mitzuteilen, kann bei behandelnden Personen und Verantwortlichen der Therapieeinrichtung den Tatbestand der Vollstreckungsvereitelung erfüllen. Der Nichtantritt muss nicht gemeldet werden. Bei freiwillig übernommener Meldepflicht kann aber Vollstreckungsvereitelung in Betracht kommen286. Dies macht zugleich deutlich, wie wesentlich es ist, dass Therapie und Strafjustiz sich gegenseitig anerkennen und im Interesse der Betäubungsmittelabhängigen vertrauensvoll zusammenarbeiten. Der Vollstreckungsleiter kann den Verurteilten – unterstützend und zugleich prüfend – auch anweisen, Aufnahme und Fortführung der Therapie selbst nachzuweisen und Ärzte und Therapeuten für Stellungnahmen über Verlauf und Ergebnis der Therapie von der Schweigepflicht zu entbinden287. Weisungen und Auflagen, mit denen der Vollstreckungsleiter die Zurückstellung nach § 35 BtMG verbindet, können im Verfahren nach §§ 23 ff EGGVG auf ihre Gesetzmäßigkeit überprüft werden288. Der Vollstreckungsleiter widerruft nach § 35 V BtMG die Zurückstellung, wenn der Verurteilte die Behandlung gar nicht erst beginnt oder sie nicht fortgeführt wird und nicht zu erwarten ist, dass der Verurteilte eine Behandlung derselben Art alsbald beginnt oder wieder aufnimmt289. Zu widerrufen ist auch, wenn der Verurteilte die ihm vom Vollstreckungsleiter nach 278 OLG München NStZ 93, 455; OLG Stuttgart MDR 94, 297; OLG Oldenburg StV 00, 325 unter Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung; PVF/Fabricius § 35 BtMG 345. 279 NStZ-RR 99, 59. 280 AA KG bei Kotz/Rahlf NStZ-RR 00, 78. 281 OLG Dresden StV 06, 585. 282 BGH 32, 58. 283 Vgl. BT-Drs. 8/4283, S. 8; Katholnigg NStZ 81, 419. 284 Zur Definition des Abbruchs, Zeitpunkt und Form der Mitteilung Adams/Eberth NStZ 83, 197; PVF/Fabricius § 35 BtMG 420 ff. 285 Katholnigg aaO. 286 BayObLG NStZ 90, 85. 287 OLG Hamm NStZ 86, 333 mit abl. Anm. Kreuzer. 288 OLG Hamm aaO. 289 Dazu OLG Koblenz NStZ 95, 294; NStZ 09, 395; OLG Karlsruhe NStZ-RR 03, 311; OLG Nürnberg StV 04, 385; LG Köln StV 87, 210; AG Karlsruhe StV 85, 247; PVF/Fabricius § 35 BtMG 445 ff. 182

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§ 35 IV BtMG auferlegten Nachweise nicht erbringt. § 35 V 3 BtMG gibt die Chance des „zweiten Anlaufs“. Teilvollstreckung kann oft erst Therapiebereitschaft wecken (Rn 44). Straftaten vor der Zurückstellung stellen keinen Widerrufsgrund dar, auch wenn sie zu UHaft nach der Zurückstellung führen290. Begeht der Täter aufgrund Drogenabhängigkeit eine neue Straftat und wird diese in eine 57 EinheitsJStrafe einbezogen und deren Vollstreckung nach § 35 I u. III BtMG zurückgestellt, so muss nicht nach § 35 VI Nr. 1 BtMG widerrufen werden. Das gilt auch, wenn die EinheitsJStrafe die Voraussetzungen einer Gesamtstrafe des ErwRechts nicht erfüllt, denn mangels einer zu vollstreckenden Strafe ist weder für einen Widerruf nach Nr. 1 noch nach Nr. 2 von § 35 VI BtMG Raum291. Stehen mehrere JStrafen nebeneinander, ist zu berücksichtigten, dass der Gesetzgeber die Zurückstellung der Vollstreckung mehrerer zu vollstreckender Strafen nicht ausschließt, denn es weist nicht auf gesteigerte Schuld oder geringere Therapiechancen hin, wenn gegen einen Mehrfachtäter aus Rechtsgründen statt auf eine EinheitsJStrafe auf mehrere JStrafen oder auf J- und Freiheitsstrafe erkannt werden muss292 (vgl. Rn 48). Wird aber bei einer neuerlichen Verurteilung zu JStrafe oder zu einer freiheitsentziehenden Maßregel die Vollstreckung nicht zurückgestellt, so ist nach § 35 VI Nr. 2 BtMG zu widerrufen293. Gegen den Widerruf kann die Entscheidung des Gerichts des ersten Rechtszuges herbei- 58 geführt werden, was den Fortgang der Vollstreckung aber nicht hemmt (§ 35 VII 2, 3 BtMG). War der Vollstreckungsleiter erkennender Richter (vgl. Rn 46), so entscheidet an seiner Stelle die JKammer (§ 83, 2)294. Die Ablehnung des Widerrufs kann von der StA nicht angefochten werden295. Zur Abgabe bei Zurückstellung § 85, 19. § 36 BtMG regelt die Anrechnung der Therapiezeit296 und die Strafaussetzung zur Bew. nach 59 durchgeführter Therapie. Die nach Zurückstellung in einer staatlich anerkannten Therapieeinrichtung verbrachte Zeit ist auch bei destruktivem Verhalten des Verurteilten und eigenmächtigem Abbruch der Behandlung anzurechnen297. Bei lediglich stundenweisen therapeutischen Sitzungen im Rahmen einer ambulanten Maßnahme sind nur diejenigen Tage anrechenbar, an denen die Behandlung tatsächlich stattfindet298. Es kommt auf die Zeit des aktiven Arbeitens an der Suchtproblematik an299. Zum Verhältnis des § 36 I 3 BtMG zu § 88: § 88, 3. Die Aussetzung der Vollstreckung des Strafrestes nach § 36 I 3 BtMG setzt nicht voraus, dass der Verurteilte ein Mindestmaß der Strafe durch die Anrechnung des Therapieaufenthaltes verbüßt hat300. § 36 I 3 BtMG ist daher auch dann anzuwenden, wenn eine Anrechnung der Therapiezeit auf die Strafe deshalb nicht in Betracht kommt, weil schon vor der Zurückstellung zwei Drittel der Strafe verbüßt sind301. Zuständig für die Entscheidung über die Strafaussetzung und die damit verbundenen Nebenentscheidungen ist nach § 36 V 1 das Gericht des ersten Rechtszugs302. Das gilt auch bei einer Abgabe der Voll-

290 291 292 293 294 295 296 297 298 299 300

LG Offenburg StV 07, 309. Vgl. auch Eisenberg/Kölbel § 82, 26; Ostendorf/Rose § 82, 12. OLG Karlsruhe JR 83, 432 mit Anm. Körner. KG StV 83, 291; OLG Saarbrücken StV 83, 468. Eisenberg/Kölbel § 82, 27; Ostendorf/Rose § 82, 12; Wohlfahrt StraFo 20, 274 f. LG Offenburg NStZ-RR 02, 347. Dazu PVF/Fabricius § 36 BtMG 1 ff; Maatz MDR 85, 11. OLG Düsseldorf NStZ-RR 97, 248; PVF/Fabricius § 36 BtMG 17. KG NStZ-RR 09, 321. KG NStZ 11, 103. OLG Düsseldorf JR 90, 349 mit krit. Anm. Katholnigg; zum fehlenden Erfordernis eines Mindestverbüßungszeitraums auch OLG Stuttgart StV 98, 672; LG Bückeburg StV 04, 386. 301 BGH 48, 275; LG Offenburg StV 96, 218. 302 BGH 48, 252 = JR 04, 81 mit zust. Anm. Immel; BGH 48, 275; BGH NStZ 08, 472; OLG Stuttgart Justiz 09, 272; OLG Koblenz NStZ-RR 11, 26. 183

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streckung nach §§ 85 VI, 89a III303. Für J und nach JStrafrecht verurteilte Hw. sind abweichend von § 36 IV BtMG (§§ 56a–56g StGB) die §§ 22–26a entsprechend anzuwenden (§ 38 I 4 BtMG), insbes. beträgt also die BewZeit höchstens 3 Jahre und kann auf 4 Jahre verlängert werden (§ 22 I, II 2); die Beiordnung eines BewHelfers ist obligatorisch (§ 24 I 1) und muss nicht mit dem Zeitraum der Bew. übereinstimmen (§ 24 I 1). Bei Entscheidungen nach § 36 I 3 und II BtMG gelten neben § 454 StPO die bes. jrechtlichen Zuständigkeitsvorschriften des § 58, die Anfechtungsvorschriften des § 59 II–IV und die Bestimmungen über den BewPlan nach § 60 (§ 38 I 5 BtMG). Für nachträgliche Entscheidungen insbes. über Straferlass oder Widerruf ist der Vollstreckungsleiter zuständig304. Erfolgt kein Widerruf, so wird die Verurteilung nicht in das Führungszeugnis aufgenommen (§ 32 II Nr. 6 BZRG). Zum Absehen von der Anklageerhebung nach §§ 38 II, 37 BtMG § 45, 31. Allg. zur Drogenkriminalität Einf. 66–71; Hinweise auf spezielle Ausführungen im Zusammenhang mit Drogen: Einf. 72. 60 Zu den Erfahrungen mit §§ 35 ff BtMG s. Rn 43.

§ 18 Dauer der Jugendstrafe (1) 1Das Mindestmaß der Jugendstrafe beträgt sechs Monate, das Höchstmaß fünf Jahre. 2Handelt es sich bei der Tat um ein Verbrechen, für das nach dem allgemeinen Strafrecht eine Höchststrafe von mehr als zehn Jahren Freiheitsstrafe angedroht ist, so ist das Höchstmaß zehn Jahre. 3Die Strafrahmen des allgemeinen Strafrechts gelten nicht. (2) Die Jugendstrafe ist so zu bemessen, daß die erforderliche erzieherische Einwirkung möglich ist. 1. Hw.-J: Rn 4; § 105 I, II, § 105, 33. – 2. ErwG: § 104 I Nr. 1.

Richtlinien zu § 18 1.

2.

3.

Der Umstand, daß Jugendstrafe von weniger als sechs Monaten nicht ausgesprochen werden kann, darf nicht dazu führen, daß Jugendarrest in Fällen verhängt wird, in denen dieser nicht angebracht ist. Ist weder Jugendstrafe noch Jugendarrest gerechtfertigt, so kann das Gericht mehrere Maßnahmen miteinander verbinden (§ 8) und vor allem Weisungen erteilen, die eine länger dauernde erzieherische Einwirkung ermöglichen (vgl. § 10 und die Richtlinien dazu). Die vom Gesetz angeordnete vorrangige Berücksichtigung des Erziehungsgedankens bedeutet nicht, daß Belange des Schuldausgleichs ausgeschlossen wären. Sie darf nicht dazu führen, daß die obere Grenze schuldangemessenen Strafens überschritten wird. Wegen der Anrechnung von Untersuchungshaft auf Jugendstrafe wird auf § 52a und die Richtlinien dazu hingewiesen.

Schrifttum Benske Die Bedeutung des Erzgedankens für die Bemessung der JStrafe, Diss. Kiel 1966; Beulke JStrafe bei lange zurückliegenden Taten gegenüber inzwischen erw. Straftätern, FS Streng, 2017, S. 403; Buckolt Die Zumessung der JStrafe, 2009; Dölling Über die Höhenbemessung bei der Freiheits- und der JStrafe, FS Schreiber, 2003, S. 55; Hellmer Sozialisation, Personalisation u. Kriminalität, 1968; Kurzberg JStrafe aufgrund schwerer Kriminalität, 2009; ders. Der ErzGedanke bei schweren Straftaten, ZJJ 11, 181; Mörke JStrafe – ein ErzMittel, SchlHA 65, 153; Müller Egon Zum ErzErfolg der JStrafe, 1969; Müller Ines Die Mindeststrafe im JStrafrecht im Vergleich zum allg. Strafrecht, FS Eisenberg, 2009, S. 415; Pankiewicz Absprachen im JStrafrecht, 2008; Rose Wenn die (J-)Strafe der Tat nicht auf dem Fuße folgt: Die Auswirkung von Verfahrensverzögerungen im JStrafverfahren, NStZ 13, 315; Schaffstein Die Bemessung

303 KG NStZ 14, 413. Zur Anrechnung nach § 36 III BtMG u. zur Aussetzung nach § 36 II BtMG s. OLG Köln StV 00, 324; 10, 701; OLG Schleswig bei Döllel/Dreeßen SchlHA 03, 215; LG Bochum StV 97, 316; LG Görlitz NStZ-RR 04, 283; LG Berlin NStZ-RR 04, 348. 304 BGH 37, 338; 48, 252, 254 f; OLG Schleswig bei Döllel/Güntge SchlHA 13, 321. 184 https://doi.org/10.1515/9783110686401-021

Dauer der Jugendstrafe

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der JStrafe, Zbl. 67, 135; ders. Die Dauer der Freiheitsstrafe bei jungen Straffälligen, FS Würtenberger, 1977, S. 449; Schulz Die Höchststrafe im JStrafrecht (10 Jahre) – eine Analyse der Urteile von 1987–1996, 2000; ders. Die Höchststrafe im JStrafrecht (10 Jahre) – eine Urteilsanalyse, MKrim. 01, 310; Schumann/Berlitz/Kaulitzki JKriminalität u. die Grenze der Generalprävention, 1987; Streng Sanktionswahl u. Strafzumessung im JStrafrecht – Ergebnisse einer empirischen Studie, FS Böttcher, 2007, S. 431; ders. JStrafrechtliche Strafzumessung zwischen Tat- und Täterprinzip, GA 17, 80; Weitl Die dogmatischen Grundlagen des geltenden JStrafrechts, Diss. München 1965; Zipf Die Strafmaßrevision, 1969, S. 449. Vgl. auch das Schrifttum zu § 17.

Übersicht 1. 2. 3. 4.

Mindestmaß Höchstmaß Strafrahmen Strafbemessung

1 3 6 und Erziehungsgedanke

13

5. 6. 7. 8.

17 Schuldvergeltung 21 Generalprävention 23 Erziehungsgedanke und Schuld Die Höchststrafe des allgemeinen Rechts

28

1. Mindestmaß Das Mindestmaß der JStrafe von 6 Monaten soll erz. Einwirkung ermöglichen (Rn 6), andererseits 1 aber auch den JRichter dazu zwingen, JStrafe nur als letztes Mittel (§§ 5 II, 17 II) zu verhängen, sonst aber möglichst durch länger wirksame Weisungen und andere Maßnahmen den erz. Erfolg zu erstreben (RL 1 S. 2; Rn 23; § 17, 22). Nach Heinz1 wird durch die Hintertür der UHaft eine kurze JStrafe wieder eingeführt. Eine sehr kurze Strafe aber hat alle Nachteile einer Strafe ohne deren erz. Chance. Das Mindestmaß darf nur zur Befolgung des Verschlechterungsverbotes (vgl. § 55, 56) unter- 2 schritten werden2. Minder schwere Fälle, Versuch, Beihilfe uä berechtigen dagegen nicht zur Unterschreitung des Mindestmaßes3.

2. Höchstmaß Das Höchstmaß ist ebenso absolut, beträgt 5 Jahre und beruht auf der Erkenntnis, dass An- 3 staltserz. nur bis 5 Jahre Erfolg verspricht4. Graßberger5 und ihm folgend Noll6 halten einen erfolgreichen ErzVollzug nur für die Dauer eines Jahres, höchstens von 1 ½ Jahren, für möglich. Dem widersprechen allerdings teilweise Rückfalluntersuchungen und Beobachtungen von Einzelfällen in der Praxis, wonach bei längeren JStrafen günstigere Erfolge festgestellt wurden7. Mit Ostendorf8 kann bei dem jetzigen Stand der Sanktionsforschung nicht festgestellt werden, ob ein längerer oder kürzerer Strafvollzug mehr Aussicht auf (Re)Sozialisierung verspricht. Spätestens nach 5 Jahren überwiegen aber die entsozialisierenden Wirkungen. Eine JStrafe zwischen 5 und 10 Jahren lässt sich daher idR erz. nicht begründen9. Allerdings ergibt sich nach dem

1 2 3 4

BewH 87, 16. AA Ostendorf 3, der hier auf eine mildere Sanktion ausweichen will. Potrykus NJW 56, 656. Böhm StV 86, 71; Stenger in DVJJ, Hrsg., JGerichtsverfahren u. Kriminalprävention, 1984, S. 463; Bruns StV 82, 593; Mollenhauer MKrim. 61, 162; Frh. v. Schlotheim MKrim. 61, 107; Hombrecher JurArbl. 08, 456. 5 Österreichische Juristenzeitung 61, 173. 6 Die ethische Begründung der Strafe, 1962, S. 23 FN 48. 7 Böhm StV 86, 71 mwN. 8 11. 9 BGH NStZ 96, 232; 97, 29; StV 98, 344; NStZ 07, 522 mit Anm. Eisenberg/Schmitz NStZ 08, 95; NStZ-RR 20, 30. 185

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BGH10 aus § 18 I 2 und II, dass eine JStrafe von mehr als 5 Jahren dem ErzGedanken nicht zuwiderlaufen muss11. Für die pädagogisch-therapeutische Einwirkung auf junge Täter bedarf es jedoch in aller Regel keines Freiheitsentzuges über 5 Jahre hinaus; allenfalls aus Gesichtspunkten der Tatverarbeitung (Vermittlung der Unrechtsschwere und der persönlichen Verantwortlichkeit) kommen bei schwerster Kriminalität unter erz. Aspekten Jugendstrafen von mehr als 5 Jahren in Betracht12 (s. auch Rn 4). 4 Das Höchstmaß ist erhöht auf 10 Jahre bei Hw. wegen des größeren Gewichts des Sühnegedankens (§ 105 III mit weiterer Anhebung auf 15 Jahre bei Mord) und bei den durch Abs. I 2 umschriebenen Fällen schwerster Kriminalität J wegen der dann zumeist vorliegenden Schwere der Schuld (§ 17, 11). Es kommt hier auf die Strafrahmen des allg. Rechts an; die Höchststrafe von mehr als 10 Jahren Freiheitsstrafe ist dem allg. Strafrahmen ohne Rücksicht auf minderschwere Fälle zu entnehmen13. Verkennung des Strafrahmens führt idR zur Aufhebung des Rechtsfolgenausspruchs14. 10 Jahre JStrafe wegen Mordes können neben dem pauschalen Hinweis auf die Schwere der Schuld nicht allein damit begründet werden, dass diesem Angeklagten nur die Höchststrafe erz. gerecht werde15. Die Höchststrafe wird selten und im Wesentlichen nur bei Tötungsdelikten verhängt16. 5 Der JRichter als Einzelrichter darf JStrafe nur bis zu 1 Jahr verhängen (§ 39 II).

3. Strafrahmen 6 Mindest- und Höchstmaß bestimmen den Strafrahmen der JVerfehlung. Die Strafrahmen des allg. Rechts dürfen die im JStrafrecht maßgeblichen Strafrahmen des § 18 I nicht relativieren. Auch die im allg. Recht für bes. schwere Fälle mit Regelbeispielen vorgesehenen Strafrahmen, z.B. § 243 StGB, finden im JStrafrecht keine Anwendung17. Die Konkurrenzregeln des allg. Rechts gelten aber auch im JStrafrecht. Bei einem Einbruchsdiebstahl ist der J daher nach § 242 StGB schuldig zu sprechen; eine gleichzeitig begangene Sachbeschädigung steht nach dem BGH18 zu § 242 StGB in Tateinheit und muss daher im Tenor erscheinen, wenn insoweit keine Beschränkung der Strafverfolgung nach § 154a StPO erfolgt. Es ist unzulässig, in Orientierung an der Strafdrohung des verletzten Gesetzes nicht nur die Schwere der Tat auszuloten, sondern auf solche Weise „eine grobe Unverhältnismäßigkeit zwischen Tat und jstrafrechtlicher Reaktion vermeiden“ zu wollen19. Aus der Verwirklichung eines bestimmten Tatbestandes darf bei J nicht ohne weiteres auf eine dem Tatunrecht entsprechende Schuldschwere geschlossen werden20. Die Strafrahmen des StGB wirken nur im Rahmen des Abs. I 2 ein; nur deshalb muss das Revisionsgericht wegen der höheren Strafandrohung des StGB den Rechtsfolgenausspruch aufheben, wenn es eine Tat nicht mehr als Vergehen, sondern als Verbrechen mit einer Höchststrafe von mehr als 10 Jahren bewertet21. Bei der legitimen Berücksichtigung von Art und Erfolg der Tat aber darf auch eine Beziehung zur Strafandrohung des ErwRechts, zu dessen gesetzlicher

10 NStZ 96,496 mit Anm. Dölling NStZ 98, 39 u. Streng StV 98, 336. 11 Ebenso BGH NStZ-RR 97, 281; 98, 285. 12 Dölling aaO; vgl. auch BGH B NStZ 97, 482, wonach die Straferwartung auch im Rahmen der Erz. eine große Rolle spielt. BGH 8, 79. BGH B NStZ-RR 98, 290; anders jedoch im Fall BGH B NStZ-RR 99, 289 f. BGH B NStZ 97, 481. Schulz 2000, S. 95, 97, 104. OLG Düsseldorf NStZ-RR 99, 310 für § 29 III Nr. 1 BtMG. 63, 253. BGH StV 87, 306-LS = B NStZ 87, 442. BGH B NStZ 88, 491. BGB B NStZ 84, 446.

13 14 15 16 17 18 19 20 21

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Bewertung des Tatunrechts, hergestellt werden, wenn nur § 18 für die Festsetzung der JStrafe maßgebend bleibt22 Weil aber darüber hinaus die Strafrahmen des StGB ohne Bedeutung sind (vgl. aber Rn 23), 7 gehört in den Urteilstenor nicht der Ausspruch, dass es sich um einen minder schweren Fall (§§ 213, 250 III StGB) oder um einen bes. schweren Fall handelt, weil dies nur Strafzumessungsvorschriften sind23. Der minder schwere Fall nach ErwRecht umfasst alle Umstände, die für die Bewertung von Tat und Täter von Bedeutung sind24, es ist also von Gewicht, ob der Täter J, Hw. oder Erw. ist; denn dies ist in vergleichender Parallelwertung für die Bemessung der JStrafe wesentlich25. Alle Umstände, die für Erw. die Anwendung eines erschwerten oder gemilderten Strafrahmens begründet hätten, bleiben bei den nach § 18 gebotenen Strafzumessungserwägungen bedeutsam26. So bei minder schweren Fällen § 176a IV StGB aF27, § 177 IX StGB28, § 213 StGB29, § 227 II StGB30 und 250 III StGB31. Das JGericht muss daher prüfen, ob im Falle der Anwendung von ErwStrafrecht ein minder schwerer Fall vorliegt32. Mangelnde Feststellungen insoweit lassen befürchten, dass sich Fehler bei dieser Prüfung bei der Bemessung der Höhe der JStrafe zum Nachteil des Angeklagten ausgewirkt haben33. Die Erörterung eines minder schweren Falles ist jedoch entbehrlich, wenn seine Annahme nach den Feststellungen zu Tat und Täter fern liegt34. Die Bejahung eines minder schweren Falles im JStrafrecht ist kein Umstand iSd § 267 III 2 StPO35. Der unterschiedliche Unrechtsgehalt von Beihilfe und Täterschaft bleibt für die Bemessung der JStrafe so bedeutsam, dass der fehlende förmliche Hinweis nach § 265 I StPO (ev. Beihilfe) in der Revision zur Aufhebung in den Rechtsfolgen führt36. Die mögliche Strafmilderung wegen Versuchs (§§ 23 II, 49 I StGB) wirkt auch auf die erz. Bemessung der JStrafe ein37. Da im JRecht die Anwendung des § 49 I StGB und damit eine Verschiebung des Strafrah- 8 mens ausscheidet, muss die Verminderung der Schuldfähigkeit iSd § 21 StGB mit ihrem vollen Gewicht bei der eigentlichen Strafzumessung berücksichtigt werden38; die zweimalige Milderungsmöglichkeit aus § 213 StGB und § 21 StGB fordert zur Höhe der JStrafe eine abwägende nähere Begründung39. Das gilt auch bei Beihilfe und § 21 StGB40 und bei einem unechten Unterlassungsdelikt und § 21 StGB41. Tatunrecht, das seine Ursache gerade in den Tätermerkmalen hat, die § 21 StGB begründen, kann dem Täter nicht uneingeschränkt zum Vorwurf gemacht

22 BGH NJW 72, 693; BGH H MDR 80, 814; 82, 104; 82, 625 u. 972; BGH NStZ 81, 251; 82, 466; 89, 119; 00, 195; B NStZ 97, 481; B NStZ-RR 00, 322 mit Anm. Eisenberg NStZ 01, 334; BGH NStZ 14, 409; LG Essen ZJJ 18, 57, 61, 62. 23 BGH bei Herlan GA 59, 340; BGH MDR 76, 769; BGH B NStZ 88, 491; 91, 523; BGH NStZ 00, 194. 24 BGH 26, 97. 25 BGH StV 86, 304. 26 BGH StV 92, 432; NStZ-RR 15, 155; 18, 159. 27 BGH NStZ-RR 13, 291. 28 BGH B NStZ 87, 442; BGH StV 87, 306; GA 86, 177; BGHR § 18, I 3, minder schwerer Fall; BGH NStZ-RR 19, 159. 29 BGH StV 19, 213. 30 BGH B NStZ 87, 442. 31 BGH B NStZ 85, 447; BGH StV 87, 306; BGH DVJJ-J 02, 464, 465; BGH NStZ 21, 372. 32 BGH B NStZ-RR 99, 290; BGH NStZ-RR 13, 50; BGH NStZ 14, 409; NStZ-RR 15, 155; NStZ 16, 105; OLG Zweibrücken StV 94, 599, 600; OLG Köln u. OLG Hamm StV 01, 178; AG Rudolstadt ZJJ 14, 51, 52 f; Ott JurArbbl. 10, 887. 33 BGH StV 93, 532. 34 BGH B NStZ 94, 529. 35 BGH aaO. 36 BGH MDR 77, 63; vgl. BGH StV 84, 254 u. BGH B NStZ 86, 44. 37 BGH B NStZ 83, 448; 84, 446; BGH StV 93, 532; vgl. allg. BGH JZ 89, 1018. 38 BGH StV 89, 545; vgl. auch BGH StV 82, 27; BGH H MDR 82, 972; BGH NStZ 84, 75; OLG Zweibrücken StV 94, 599 f. 39 BGH B NStZ 84, 446; aber auch BGH NStZ 86, 71. 40 BGH B NStZ 84, 446. 41 BGH StV 92, 432. 187

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werden42. Doch muss die verminderte Schuldfähigkeit auch im JStrafrecht nicht zu einer Strafmilderung führen, z.B. bei übermäßigem Alkoholgenuss43 (vgl. § 3, 15). Andererseits hat der BGH bestätigt, dass die Schuldfähigkeit j. und hw. Täter schon bei einem BAK-Wert unter 2 ‰ erheblich vermindert sein kann, wobei mangelnde Alkoholgewöhnung und Reifedefizite die enthemmende Wirkung des Alkohols noch vergrößern können44 und allein aus dem Leistungsverhalten des Täters nicht auf uneingeschränkte Schuldfähigkeit geschlossen werden darf45. Eine fehlerhafte Blutalkoholberechnung kann sich bei der Bemessung der JStrafe zum Nachteil des Angekl. auswirken, auch wenn die alkoholische Enthemmung bei der Strafzumessung berücksichtigt ist46. Da bei J und Hw. Reifegrad und Alkoholgewöhnung für die Wirkung des Alkohols von Bedeutung sein können, empfiehlt sich die Heranziehung eines Sachverständigen47. 9 Die Einwirkung einer polizeilichen Vertrauensperson, die den Täter in erhöhte Schuld verstrickt, ist bei der Strafzumessung idR zu würdigen – gleichgültig, ob sie sich im rechtsstaatlichen Rahmen gehalten hat oder nicht48. Es ist zulässig, die Verleitung zu einem Rauschgiftgeschäft durch einen verdeckten Ermittler nur allg. strafmildernd zu berücksichtigen und gleichwohl wegen der Menge des Rauschgifts einen bes. schwerwiegenden Fall anzunehmen49. Hat die Gesamtmenge der Betäubungsmittel nicht das 75 fache, sondern lediglich das 60 fache der nicht geringen Menge betragen, ist das Tatgericht bei der Bemessung der JStrafe von einem zu großen Schuldumfang ausgegangen50. Wegen der Abweichungen in der Zumessung sollten Sinn und Zweck der JStrafe bei der mündlichen Urteilsbegründung stets bes. erläutert werden (§ 17 RL 2; vgl. § 54, 15). Niemals reichen für die Bemessung der JStrafe allg. Strafzumessungserwägungen aus51. Der Strafmilderungsgrund des § 31 BtMG ist auch bei der Bemessung einer JStrafe zu beachten52; auch wenn seine Voraussetzungen nicht vorliegen, sind bei der Strafzumessung die Aufklärungsbemühungen des J zu berücksichtigen53. Auch § 46b StGB ist zu beachten54. Mit dem Wesen der JStrafe ist es unvereinbar, deren Höhe von der voraussichtlichen Heilungsdauer einer krankhaften seelischen Störung (Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB) abhängig zu machen, denn JStrafe und die Maßregel der Unterbringung (§ 7) stehen selbständig nebeneinander55. Eine Vermischung von JStrafe und Maßregel dadurch, dass Gründe, die zur Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus herangezogen werden, zur Erhöhung der JStrafe verwendet werden, ist unzulässig56. Führt eine behandlungsbedürftige Störung zur Unterbringung, ist zur Beseitigung der Störung allein die Maßregel die zulässige Reaktion57. Zum Absehen von JStrafe bei Unterbringung § 5, 2. Eine Verfahrensverzögerung, für die der J nicht verantwortlich ist – eine nicht angemesse10 ne Frist nach Art. 6 I 1 MRK – muss, auch entsprechend dem allg. Beschleunigungsgrundsatz des JGG, bei der Strafzumessung zugunsten des J berücksichtigt werden58. Ob die Verfahrens-

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BGH StV 98, 333. BGH MDR 60, 938; NStZ 88, 449; NStZ 12, 262; OLG Zweibrücken StV 94, 600. BGH NStZ 84, 75; BGH B NStZ 88, 491; BGH StV 92, 432; 97, 348. BGH StV 97, 348; NStZ-RR 97, 65. Anders im Fall BGH B NStZ-RR 01, 323. BGH B NStZ 93, 528. BGH NStZ-RR 20, 30. BGH B NStZ 92, 528. BGH B NStZ 93, 528. BGH B NStZ 81, 250 f. BGH NStZ 98, 90. BGH aaO. BGH NStZ 21, 372; LG Würzburg ZJJ 18, 155, 157 f mit Anm. Kölbel. BGH B NStZ 87, 442. BGH NStZ 98, 86. BGHR JGG § 18 II Erziehung 1. BVerfG NJW 03, 2225; BGH NStZ 87, 232; 97, 29 mit zust. Anm. Scheffler; OLG Stuttgart Justiz 04, 169. 188

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dauer noch angemessen ist, muss nach den Umständen des Einzelfalles beurteilt werden59. Bei überlanger Verfahrensdauer kann Einstellung nach § 47 I geboten sein60. Das Gericht muss Art und Ausmaß der Verzögerung feststellen und das Maß der Kompensation ausdrücklich und konkret bestimmen61. Nach neuerer Rechtsprechung erfolgt die Kompensation nicht durch eine Strafmilderung, sondern durch den Ausspruch, dass ein bezifferter Teil der verhängten Strafe als vollstreckt gilt (Vollstreckungsmodell)62. Dies gilt auch für die Verhängung von JStrafe, jedenfalls wenn diese allein auf die Schwere der Schuld gestützt ist63. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass dem Beschleunigungsgebot im JStrafverfahren aus erz. Gründen eine erhöhte Bedeutung zukommt64. Nach dem BGH (3. Strafsenat)65 soll aber eine Kompensation zumindest in den Fällen ausscheiden, in denen schädliche Neigungen eine JStrafe erforderlich machen u. erz. Überlegungen die Höhe der Strafe ausschlaggebend bestimmen; der Ausgleich dürfe keine Unterschreitung der erz. erforderlichen Dauer der JStrafe bewirken. Er könne nur insoweit zur Strafmilderung führen, als Gedanken des Schuldausgleichs in die Strafzumessung einflössen66. Der Ausgleich einer pflichtwidrigen Verfahrensverzögerung ist jedoch ein Gebot der Gerechtigkeit, das auch bei der JStrafe wegen schädlicher Neigungen – wenn auch unter Abwägung mit dem ErzZiel – Geltung verlangt67. Das BVerfG hat die von ihm für die Berücksichtigung einer Verfahrensverzögerung entwickelten Grundsätze auch auf die JStrafe angewendet68. Nach dem BGH (1. u. 4. Strafsenat)69 ist eine Kompensation nach dem Vollstreckungsmodell auch vorzunehmen, wenn die JStrafe auf Schwere der Schuld und auf schädliche Neigungen gestützt wird. Nach dem OLG Düsseldorf70 darf bei einer wegen schädlicher Neigungen verhängte JStrafe eine Teilvollstreckungserklärung erfolgen, wenn die Gefahr der Unterschreitung der zur Erz. erforderlichen Strafdauer ausgeschlossen ist. Im Fall des § 27 JGG kann über eine Teilvollstreckungskompensation erst im Nachverfahren nach § 30 entschieden werden71. Bei Weisungen und Auflagen ist die Vollstreckungslösung nach dem BGH72 nicht geeignet, die mit diesen Sanktionen verfolgten erz. Zwecke zu erreichen; die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung ist bei der Bestimmung des Maßes des ErzBedarfs zu berücksichtigen. Nach dem OLG Hamm73 kommt auch bei JA eine Teilvollstreckungserklärung nicht in Betracht, sondern ist die Verfahrensverzögerung als Gesichtspunkt bei der Zuchtmittelbemessung zu berücksichtigen. Darüber hinaus sind – als gegenüber einer Verletzung des Beschleunigungsgebots eigenständige Strafmilderungsgründe – eine lange Verfahrensdauer74 und ein langes Zurückliegen der Tat zu berücksich-

59 BVerfG aaO. 60 Kreisgericht Saalfeld StV 93, 535. Vgl. auch BGH NJW 90, 1000: Einstellung nach § 153 II StPO; seit der Tat (Beihilfe zur Untreue in 4 Fällen, Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren 6 Monaten) waren mehr als 16 Jahre, seit Anklageerhebung mehr als 12 Jahre vergangen (UHaft 1 Jahr 4 Monate); BGH NJW 95, 737: Einstellung nach § 153 II StPO nach mehr als zehnjähriger Verfahrensdauer. 61 BVerfG NStZ 97, 591; BGH NStZ 99, 181. 62 BGH 52, 124 für das allg. Strafrecht. 63 BGH NStZ 10, 94; ZJJ 10, 326, 330 mit Anm. Eisenberg; NStZ 12, 152, 154; 20, 301, 302. 64 BGH StV 99, 661. 65 NStZ 03, 364 = JR 03, 509 mit abl. Anm. Scheffler = StV 03, 388 mit abl. Anm. Ostendorf u. NStZ-RR 07, 61 = StV 08, 113 mit abl. Anm. Ostendorf u. mit abl. Anm. Rose ZJJ 07, 217. 66 BGH NStZ 03, 365; zust. Volkmer NStZ 08, 609. 67 Für eine Kompensation auch bei JStrafe wegen schädlicher Neigungen Rose NStZ 13, 323, 326 f. 68 BVerfG NJW 03, 2225. 69 BGH (1. Strafsenat) NJW 18, 2062 = NStZ 19, 218 mit zust. Anm. Kett-Straub; BGH (4. Strafsenat) NStZ 22, 552; dazu neigt auch der 5. Strafsenat: NStZ 11, 524, 525. 70 NStZ 11, 525 = StV 11, 585 mit Anm. Ostendorf. 71 OLG Düsseldorf NStZ 11, 525. 72 ZKJ 17, 426 = bei Detter NStZ 18, 391; dazu Eisenberg ZKJ 17, 419. 73 NStZ 12, 576. 74 Fischer § 46 StGB 61. 189

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tigen75. In außergewöhnlichen Einzelfällen kann eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung, die im Rahmen einer Sachentscheidung nicht mehr angemessen berücksichtigt werden kann, zu einem Verfahrenshindernis führen76. 11 Die von der Rechtsprechung77 schon bisher grds. unter bestimmten Voraussetzungen als zulässig angesehenen Absprachen sind durch Gesetz v. 28.5.2009 ausdrücklich in der StPO geregelt worden, vgl. insbes. § 257c StPO. Diese Regelungen können jedoch im JStrafverfahren gem. § 2 II JGG nur insoweit Anwendung finden, als nicht dessen Regelungen und Grundgedanken entgegenstehen. Dies führt dazu, dass Absprachen im JStrafverfahren nur ausnahmsweise zulässig sind78. Nach § 2 I ist grds. die Sanktion zu verhängen, die am besten zur Rückfallverhinderung beiträgt. Diese Sanktion kann nicht ausgehandelt werden, sondern ist nach sorgfältiger Persönlichkeitsforschung festzusetzen. Ein Aushandeln der Sanktion kann sich zudem erz. nachteilig auswirken79. Der BGH hat vor Inkrafttreten der gesetzlichen Regelung entschieden, dass die Anwendung von JStrafrecht auf einen Hw. nicht Gegenstand einer Absprache sein kann, weil diese Frage in § 105 zwingend geregelt ist80. Dies gilt auch nach Inkrafttreten der gesetzlichen Regelung81. Eine Absprache kommt ausnahmsweise über die Höhe einer JStrafe wegen Schwere der Schuld in Betracht, weil hier eine Parallele zum ErwStrafrecht besteht82. 12 Die Strafzumessungspraxis ist dadurch gekennzeichnet, dass vielfach JStrafen bis zu einem Jahr verhängt werden, der Anteil längerer JStrafen aber gestiegen ist. 2020 erhielten 42 % der zu JStrafe Verurteilten eine JStrafe bis zu 1 Jahr, 41 % JStrafen von mehr als 1 bis 2 Jahren und 16 % eine JStrafe von mehr als 2 Jahren83. Der Anteil der JStrafen bis 1 Jahr ist von 82 % 1960 über 72 % 1980 auf 42 % 2020 gesunken, die Quote der JStrafen von mehr als 1 bis 2 Jahren von 14 % über 20 % auf 41 % gestiegen; bei den JStrafen von mehr als 2 J erhöhte sich der Anteil von 4 % 1960 auf 7 % 1980 und 16 % 202084 Es ist somit eine Tendenz zu längeren JStrafen erkennbar, die der kritischen Analyse bedarf85.

4. Strafbemessung und Erziehungsgedanke 13 Bei der Strafbemessung hat der ErzZweck Vorrang (Abs. II; RL 2 S. 1) 86. Das gilt auch, wenn eine JStrafe ausschließlich wegen Schwere der Schuld verhängt wird87, und bei der Bemessung von

75 76 77 78

BGH B NStZ 92, 528; B NStZ-RR 98, 290; vgl. näher LK/U. Schneider § 46 StGB 234 ff. BGH NJW 01, 1146. Vgl. insbes. BGH 43, 195; 50, 40. Begr. RegE, BT-Drs. 16/12310, S. 10; BGH StV 19, 437; Knauer ZJJ 10, 19; für grds. Zulässigkeit der Verständigung im JStrafverfahren Beier Zulässigkeit u. Modalitäten von Verständigungen im JStrafrecht, 2014; für Einsatz der Verständigung als Instrument einer kooperativen Konfliktbewältigung im JStrafverfahren Heller Das Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren – No big deal? 2012, S. 281 f. 79 Begr.RegE, aaO. 80 BGH NJW 01, 2642 = NStZ 01, 555 mit Anm. Eisenberg = StV 01, 555 mit Bespr. Noak StV 02, 445. 81 Ott JurArbbl. 10, 889; aA Meyer-Goßner/Schmitt § 257c StPO 7. 82 BGH 52, 165, 169, 175 = NStZ 08, 416 mit Anm. Eisenberg NStZ 08, 698 u. Bespr. Fahl NStZ 09, 613 = JZ 08, 1056 mit Anm. Fezer = JR 09, 79 mit Anm. Lindemann; Pankiewicz S. 386 f; vgl. auch Nowak JR 10, 256: Zulässigkeit von Absprachen nur über die Höhe, nicht über die Voraussetzung einer Sanktion. 83 Berechnet nach Stat. BA, S. 318 f. 84 Ostendorf Grdl. zu § 17–18, 5; Stat. BA, S. 318 f. 85 Zu den Strafzumessungskriterien der jrichterlichen Praxis s. Buckolt S. 236 ff u. Kurzberg S. 206 ff. 86 BGH B NStZ 91, 522; BGH StV 93, 532; NStZ-RR 97, 281; 10, 290, 291; NStZ 13, 287; 22, 553 mit Anm. Kölbel. 87 BGH StV 94, 599; BGH B NStZ 94, 529; BGH StV 96, 269; NStZ-RR 98, 285; StV 03, 458; NJW 05, 767; NStZ-RR 05, 27; 08, 258; 11, 305; 385; NStZ 13, 287; NStZ-RR 12, 186; 13, 113; NStZ 14, 407; NStZ 16, 683; NStZ-RR 17, 231; NStZ 18, 662; NStZ-R 18, 358 f; StV 22, 513, 515 mit krit. Anm. Eisenberg = ZJJ 22, 51, 53 mit krit. Anm. Pieplow; OLG Köln StV 99, 667; OLG Hamm NStZ 05, 645. 190

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JStrafe gegen Hw.88 (Einf. 94 f). Gleichwohl besteht darüber Einigkeit, dass nicht nur bei JStrafe wegen schwerer Schuld, sondern auch bei JStrafe wegen schädlicher Neigungen die Strafdauer neben erz. Bedürfnissen auch von der Schwere der schuldhaften Tat bestimmt wird89. Bei der Zumessung der JStrafe ist daher vorrangig zu prüfen, welche Strafdauer erz. geboten ist; diese Straflänge ist mit dem Grundsatz des gerechten Schuldausgleichs auszutarieren90 (Rn 14 aE). Gehört zum Wesen der JStrafe der gerechte Schuldausgleich (RL 2 S. 1; Rn 23, 26, 28), so muss sie bei schädlichen Neigungen unabdingbar die zur Erz. und Resozialisierung erforderliche Zeit umfassen. Aufgrund von Erfahrungen der Vollzugspraxis wird angenommen, dass bei schädlichen Neigungen Erfolge erst bei einer Strafdauer von mindestens einem Jahr erzielt werden können, wobei noch die wegen der nachfolgenden BewHilfen gebotene vorzeitige Entlassung zu berücksichtigen ist91. Dies schließt JStrafen wegen Bagatellvergehen schlechthin aus (§ 17, 11). Die zur Erz. erforderliche Zeit genau zu bestimmen, ist nicht möglich. Die weit gespannten Möglichkeiten, den Rest einer JStrafe zur Bew. auszusetzen, lassen die nachträgliche sichere Anpassung an die Stelle der oft unsicheren Prognose treten. Dies ist keine Abkehr von dem Sühnegedanken, der die JStrafe durchdringt (§ 17, 1). Denn auch das Verhalten in der Strafanstalt kann mehr oder weniger intensive Sühne sein, diese kürzere oder längere Zeit erfordern. Zur Diskussion über die erz. nutzbare Länge der Strafzeit Rn 3. Die Anstalt muss den Täter so weit bringen, dass er von der Tat sich abkehrt, sie überwindet; die weitere Erz. erfolgt dann besser in Freiheit. Der in der Bemessung der JStrafe einzubringende ErzGedanke (Einf. 83–91, für Hw. 94 f) for- 14 dert – wie § 21 (näher § 21, 7) – eine Gesamtwürdigung des J92, die nicht damit dargetan ist, dass im Urteil nur „die Lebensverhältnisse und ein Wesenszug“ erwähnt werden93. Es ist zu prüfen, welche Straflänge erforderlich ist, um auf den J erz. einzuwirken und ihm den Unrechtsgehalt seiner Tat zu verdeutlichen94. Das Maß der erforderlichen erz. Einwirkung lässt sich regelmäßig nicht ohne Betrachtung des Umfangs des dem J zuzurechnenden Tatunrechts ermitteln95. Die Strafe soll möglichst so bemessen werden, dass gewichtige Nachteile für die persönliche Entwicklung des Täters vermieden werden; die Möglichkeit eines Neubeginns soll ihm nicht versperrt werden96. Die Folgen der Verbüßung einer längeren JStrafe für die weitere Entwicklung des J sind abzuwägen97. Ggf. muss dargetan werden, warum trotz erkennbarer Ansätze zu positiver Entwicklung dem vorrangigen ErzGedanken nur die Verbüßung einer langdauernden JStrafe dient, noch dazu, wenn sie eine Berufsausbildung oder ein Studium unterbricht, womöglich beendet98. Es kann auch eingehende Erörterung geboten sein, inwieweit eine längere JStrafe99 oder ein bei ev. Widerruf der Bew. zu verbüßender Rest von nur 4 Monate100 zur „weiteren Förderung und Festigung durch Nacherz.“ geboten ist. Die Urteilsgründe müssen erkennen lassen, dass dem ErzGedanken die ihm zukommende Beachtung geschenkt worden ist101. Werden die erz. Gründe über-

88 OLG Celle NStZ 12, 576. 89 BGH B NStZ 92, 528; NStZ-RR 10, 290, 291; OLG Frankfurt NStZ 84, 383; OLG Hamburg NStZ 17, 544; Blau MDR 58, 731 u. Zbl. 59, 117; Miehe Die Bedeutung der Tat im JStrafrecht, 1964, S. 118 ff; Schaffstein FS Würtenberger, 1977, S. 450. 90 Dölling S. 60 ff. 91 Schaffstein aaO, S. 456. 92 BGH NStZ-RR 10, 290, 291. 93 BGH StV 86, 69. 94 Dölling S. 61. 95 BGH StV 13, 758. 96 BGH 43, 81; BGH StV 93, 27. 97 BGH NStZ 14, 407, 408; NStZ-RR 20, 30, 31. 98 BGH StV 88, 307; 98, 335. 99 BGH B NStZ 89, 522; OLG Köln StV 91, 427. 100 BGHR § 18 II Tatumstände 2 = B NStZ 89, 522. 101 BGH NStZ-RR 11, 385; NStZ 13, 287; 14, 407; NStZ-RR 15, 154; 17, 231; NStZ 18, 662; NStZ-RR 20, 387; NStZ 22, 553 mit Anm. Kölbel; StV 22, 39. 191

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haupt nicht geprüft, hat das Urteil keinen Bestand102. Auch eine nur formelhafte Erwähnung des ErzGedankens ist rechtsfehlerhaft103. Zumessungserwägungen, die auch bei einem erw. Täter zu beachten wären, reichen nicht aus104. Zu Hw. s. § 105, 36. Bei erneuter Hauptverhandlung ist die Entwicklung seit der ersten Verhandlung zu berücksichtigen105. Das Gewicht des Tatunrechts ist gegen die Folgen der Strafe für den J abzuwägen106. 15 Bei der Bemessung der JStrafe zu prüfende Umstände, die für eine weniger lange Strafe sprechen, können sein: bisher problemlose Persönlichkeitsentwicklung des Angeklagten, Ausnahmecharakter der Tat, Alkoholisierung, Einfluss älterer Mittäter, Auflösung der Gruppe, mit der der J die Straftaten begangen hat, Loslösung von den Mittätern nach der Tat, Einwirkung der Untersuchungshaft oder einer anderen Freiheitsentziehung, Wiederaufnahme in das intakte Elternhaus nach Haftentlassung, Rückkehr zu einer geordneten Lebensführung, insbes. bei langem Zurückliegen der Tat eines inzwischen in vollem Umfang sozial integrierten, strafrechtlich nicht nennenswert in Erscheinung getretenen Angeklagten107. Hält der Tatrichter eine nachhaltige erz. Einwirkung in Form von JStrafe über einen längeren Zeitraum für erforderlich, muss er sich mit gewichtigen Veränderungen in der Einstellung und in den Lebensumständen des Angeklagten auseinandersetzen108. Dazu auch § 10, 27 aE. Erwägungen zur Strafzumessung dürfen mit solchen zur Strafaussetzung zur Bewährung nicht vermischt werden109. 16 Der BGH110 lässt es zu, bei der Dauer der JStrafe zu berücksichtigen, dass dem J ein Schulabschluss ermöglicht werden soll, fordert aber, dass die Urteilsgründe erkennen lassen, ob dafür während des Vollzugs eine reale Chance besteht. Dem ist zuzustimmen111. Die Zusammenhänge zwischen Schul- und Berufsausbildung im Vollzug und Legalbewährung sind noch nicht hinreichend geklärt112. Eine Berücksichtigung der voraussichtlichen Ausbildungszeit bei der Bemessung der JStrafe kommt daher nur nach sehr sorgfältiger Prüfung im Einzelfall in Betracht113. Zur Berücksichtigung einer laufenden Ausbildungszeit Rn 14. Wegen der jrechtlichen Abweichungen in der Bemessung der Strafe ist deren Sinn und Zweck bei der mündlichen Urteilsbegründung bes. zu erläutern (§ 17 RL 2; vgl. § 54, 15).

5. Schuldvergeltung 17 Der Gedanke des gerechten Schuldausgleichs (RL 2 S. 1), der dem J hilft, das Strafübel auf sich zu nehmen und zu verarbeiten, ist im JStrafrecht oft ganz anders zu berücksichtigen als im ErwStrafrecht, da sich die Schuld sich entwickelnder J anders darstellt als die Erw. bei gleichen Taten. Bei einem J ist daher bes. sorgfältig zu prüfen, in welchem Ausmaß er sich bereits frei 102 BGH B NStZ 86, 446 u. NStZ 87, 442; BGH NStZ-RR 98, 86. 103 BGH StV 98, 335; BGH B NStZ-RR 01, 323; BGH NStZ 10, 281; 12, 164; 13, 287; StV 13, 38, 758, 759; NStZ 14, 407, 408; 16, 105; NStZ-RR 20, 387; StV 22, 39; OLG Celle NStZ 12, 576; vgl. aber auch BGH NStZ-RR 10, 88, wonach eine floskelhafte Formulierung in bes. Fällen ausreichen kann. 104 BGH StV 16, 702; 17, 714; NStZ-RR 17, 231; 20, 30, 31; NStZ 22, 553 mit Anm. Kölbel; OLG Köln StV 99, 667 f; 11, 590; OLG Hamm NStZ 05, 646. 105 BGH NStZ 86, 71. 106 BGH StV 93, 532; 96, 269; 98, 334; 335; 03, 458; NStZ-RR 11, 305; NStZ 13, 287 f; 14, 407; NStZ-RR 15, 154; NStZ 16, 683; NStZ-RR 17, 231; NStZ 18, 662; NStZ-RR 20, 30, 31; 387; NStZ 22, 553 mit Anm. Kölbel; StV 22, 39; OLG Hamm NStZ 05, 645; NStZ-RR 05, 245, 246; OLG Hamburg NStZ 17, 544. 107 BVerfG NJW 03, 2228; BGH StV 82, 173; NStZ 84, 508; StV 86, 68; 90, 505; 91, 423; 93, 532; 96, 269; 98, 335; NStZ 07, 43; 08, 258, 259; 11, 524, 525; NStZ-RR 11, 305; 385; 12, 186; 13, 113; StV 13, 38; NStZ 16, 105. 108 BGH StV 91, 423. 109 BGH NStZ 08, 693; 13, 288. 110 StV 87, 306. 111 Ebenso Buckolt S. 287. 112 Geissler Ausbildung u. Arbeit im JStrafvollzug, 1991, mwN. 113 Generell ablehnend Ostendorf 11. 192

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und selbstverantwortlich gegen das Recht und für das Unrecht entschieden hat114, wobei neben jugendlicher Unreife auch eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit zu berücksichtigen ist115. Für die Bewertung der Schuld als Strafzumessungsgesichtspunkt sind in erste Linie die charakterliche Haltung und das Persönlichkeitsbild, wie sie in der Tat zum Ausdruck gekommen sind, von Bedeutung. Dem äußeren Unrechtsgehalt der Tat kommt nur insofern Bedeutung zu, als aus ihm Schlüsse auf die Täterpersönlichkeit und die Schuldhöhe gezogen werden können116. Der BGH117 lässt bei JStrafe tatvergeltende Sühne und Individualabschreckung ausdrücklich zu. Das nach jspezifischen Kriterien zu bestimmende Ausmaß der individuellen Schuld bildet nach dem BGH den Rahmen, innerhalb dessen die erz. erforderliche Strafe gefunden werden muss118. Das Mindestmaß der JStrafe muss schuldangemessen sein119. Eine JStrafe darf nicht so gering bemessen werden, dass das Maß der Schuld unangemessen verniedlicht wird und damit zugleich erz. Zwecke verfehlt werden120. Namentlich bei Kapitalverbrechen und Gewaltdelikten mit erheblichen Folgen für das Opfer ist das Erfordernis des gerechten Schuldausgleichs zu beachten121. Im JRecht dürfen im Gegensatz zum ErwRecht unter Beachtung der oben stehenden Erwä- 18 gungen auch Tatbestandsmerkmale im Vergleich mit anderen Tatbeständen strafschärfend berücksichtigt werden, z.B. dass ein Mensch getötet wurde, weil diese Tatbestandsmerkmale im eigenständigen Strafrahmen des JGG noch nicht straferhöhend wirken122. Dem Doppelverwertungsverbot des § 46 III StGB kommt bei der Bemessung der JStrafe grds. keine eigenständige Bedeutung zu123. Unzulässig ist es jedoch, dem J allein die Tatbegehung als solche, z.B. dass er bei einer Straftat nach § 176 StGB die eigenen sexuellen Bedürfnisse über die Integrität des Kindes gesetzt hat, strafschärfend vorzuwerfen124. Das OLG Hamm125 berücksichtigt bei der Bemessung der JStrafe auch außertatbestandsmäßige Folgen (anhaltende Angstzustände einer Überfallenen), die der Täter in den Einzelheiten nicht voraussehen konnte. Das ist nicht unbedenklich; vgl. die Grundsätze bei § 17, 31. Der BGH126 hat bei einer von einem Hw. und einem Erw. in Mittäterschaft begangenen Strafttat zur Höhe der Strafe gegen den Erw. ausgeführt, dass gegen Mittäter verhängte Strafen auch in einem gerechten Verhältnis zueinander stehen sollten. Diese Erwägung des BGH darf jedoch nicht zu einer Verwischung der Unterschiede in der Bemessung von JStrafe und Freiheitsstrafe führen127. Zum „Wohlwollensgebot“ bei „Gewissenstätern“ nach BVerfG im Bereich der Strafzumessung Einf. 63 FN 299. Die Erwägung, dass eine länger dauernde JStrafe einen bisher ausreichend sozial eingeord- 19 neten J oder Hw. aus der sozialen Ordnung herausreißen könnte, darf und soll im Rahmen der Schuld zu einer Strafmilderung führen. Denn eine Strafe, die mit Gewissheit zunächst entsozialisiert und für den Zeitpunkt der Entlassung eine schlechtere Situation wahrscheinlicher sein 114 BGH StV 94, 598. 115 BGH aaO, 599. 116 BGH 15, 226; 16, 263; BGH NStZ 96, 496; StV 96, 269; NStZ-RR 18, 358; OLG Köln StV 99, 667. Zu Schuldausgleich, Sühne u. Vergeltung im ErwStrafrecht BVerfGE 28, 278; 32, 109; 45, 254, 259; 64, 271; BVerfG NJW 95, 713; Fischer § 46 StGB 2, 4; im JStrafrecht BGH StV 81, 26; JR 82, 432 mit zust. Anm. Brunner; BGH StV 94, 598, 599. 117 B NStZ 87, 442. 118 BGH NJW 18, 2062, 2063; NStZ-RR 18, 358. 119 BGH NStZ 20, 301. 120 BGH NStZ 94, 125; NStZ-RR 96, 120; 18, 358, 359. 121 BGH NJW 92, 380; NStZ-RR 96, 120; NStZ 07, 522 mit Anm. Eisenberg/Schmitz NStZ 08, 95; NStZ-RR 10, 290, 291; StV 17, 710, 711. 122 BGH bei Herlan GA 56, 346; BGH H MDR 80, 814; BGH bei Mösl NStZ 81, 428; BGH NStZ-RR 97, 22; NStZ 07, 522; 14, 409; Ostendorf 5; aA Eisenberg/Kölbel § 17, 51. 123 BGH NStZ 14, 409; StV 21, 31; Ott JurArbbl. 10, 887; Streng GA 17, 87. 124 BGH NStZ 14, 409. 125 B NStZ 85, 447. 126 B NStZ 91, 523. 127 Krit. zu der Entscheidung Böhm NStZ 91, 523. 193

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lässt, als sie vorher bestand, verhindert von vornherein den erz. Ansatz und wird neben diesem offensichtlichen Schaden auch noch die weitere Persönlichkeitsentwicklung gefährden. Das wertet der BGH ähnlich im ErwRecht128 in einem Fall, bei dem der Verlust einer in Aussicht gestellten Arbeit drohte. Der Gesichtspunkt des gerechten Schuldausgleichs tritt umso weiter zurück, je mehr der ErzGedanke durch Sanktionen konterkariert werden könnte129. Solche Erwägungen werden insbes. auch in die Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bew. einfließen müssen (§ 21, 14). Auch aufenthaltsrechtliche Folgen wie die bei einer bestimmten Strafhöhe zwingende Ausweisung sind zu berücksichtigen130. Man wird allerdings gerade bei solcher Entscheidung auch im JStrafrecht das Regulativ der Schuld (Einf. 98; § 17, 1) beachten müssen131. Zulässiges Verteidigungsverhalten darf nicht strafschärfend berücksichtigt werden132 (vgl. auch Einf. 112; § 17, 26 aE). 20 Bei Verhängung einer verhältnismäßig hohen JStrafe muss das Urteil erkennen lassen, dass alle iSd § 267 III StPO bestimmenden strafmildernden Umstände geprüft wurden, auch wenn deren Vorliegen oder Auswirkungen auf die Strafhöhe im Ergebnis zu verneinen sind133. Diese Umstände sind schon bei der Bemessung der JStrafe und nicht erst im Zusammenhang mit der Frage einer Strafaussetzung zur Bewährung zu erörtern134. Eine JStrafe, die zu Recht wegen Schwere der Schuld und fehlerhaft auch wegen schädlicher Neigungen verhängt worden ist, muss idR neu bemessen werden, weil sich die fehlerhafte Annahme schädlicher Neigungen zuungunsten des Angeklagten ausgewirkt haben kann (vgl. die Nachweise in § 17, 34).

6. Generalprävention 21 Nach ständiger Rechtsprechung des BGH und hM darf bei der Verhängung und Bemessung der JStrafe der Gesichtspunkt der Generalprävention keine Rolle spielen, soweit solches nicht schon aus jeder gerichtlichen Ahndung folgt135. Demgegenüber hält ein Teil der Literatur die Berücksichtigung der positiven Generalprävention, also der Stärkung der allg. Rechtstreue, für zulässig136. Krumme137 lässt für die Bemessung der JStrafe generalpräventive Überlegungen dann zu, wenn sich der J der ansteckenden Wirkung seiner Tat oder der durch sie hervorgerufenen Unsicherheit bei ihrer Begehung bewusst gewesen ist. Trotz gewichtiger Gründe für die Gegenauffassung138 erscheint es sachgerecht, mit dem BGH 22 auf die Berücksichtigung der Generalprävention zu verzichten. § 18 nennt als Strafzumessungsgesichtspunkt lediglich den ErzGedanken. Anders als der gerechte Schuldausgleich gehört die gene128 129 130 131 132

BGH StV 89, 478. OLG Koblenz NStZ-RR 08, 323, 324. OLG Frankfurt StV 03, 459. Allg. zu solchen nicht gewollten Nebenwirkungen der Strafe BGH StV 88, 307 u. Brunner JR 90, 305. BGH NStZ-RR 10, 88; für Erw. BGH StV 90, 403. Zur Berücksichtigung sonstigen Prozessverhaltens BGH StV 90, 404. 133 BGH StV 93, 531. 134 BGH StV 93, 532. 135 BGH 15, 224; 16, 261; JR 54, 149; BGH bei Herlan GA 56, 346; BGH H MDR 79, 281; BGH B NStZ 81, 251; BGH H MDR 81, 454; BGH NStZ 82, 332; JR 82, 432; BGH bei Theune NStZ 86, 160; BGH StV 90, 505; NStZ 94, 125; BGH B NStZ 94, 529; BayObLG NJW 80, 2424; BayObLG StV 85, 155 mit zust. Anm. Böhm. Ebenso schlechthin ablehnend für die Abschreckung Böhm/Feuerhelm S. 233; Bruns FS von Weber, 1963, S. 74; DSS/Sonnen 16; Eisenberg/Kölbel 43; Schöch in DVJJ, Hrsg., JGerichtsverfahren u. Kriminalprävention, 1984, S. 273; Buckolt S. 329; Ostendorf Grdl. zu § 17–18, 3, der aber JStrafe – ausnahmsweise – unter Beachtung des Schädigungsverbotes zulassen will, um dem Strafbedürfnis der Allgemeinheit Rechnung zu tragen (§ 17, 15). Ablehnend für die positive Generalprävention Eisenberg ZJJ 18, 144. 136 Dallinger/Lackner 10; M.-K. Meyer Zbl. 84, 445 ff; Kaspar FS Schöch, 2010, S. 223. 137 Anm. zu BGH 15, 224 in LM § 17 II Nr. 4. 138 Siehe Brunner JR 82, 432. 194

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ralpräventive Strafbemessung nicht zum „Wesen“ der Strafe. Den Begriff der Verteidigung der Rechtsordnung, der Elemente der Generalprävention enthält, hat das JGG im Gegensatz zum StGB nicht aufgenommen139. Bedürfnissen der Stärkung der Rechtstreue der Bevölkerung auch bei Taten J wird durch den Strafzumessungsgrundsatz des gerechten Schuldausgleichs (Rn 17) hinreichend Rechnung getragen. Darüber hinausgehender Strafschärfungen bedarf es nicht140.

7. Erziehungsgedanke und Schuld ErzGedanke und Schuld in ein angemessenes Verhältnis zu bringen, ist schwer und bleibt prob- 23 lematisch; viele sehen darin einen unlösbaren Widerspruch; versuchte Lösungen allerdings führen zu neuen, anderen Widersprüchen und Schwierigkeiten. Dazu u. zum ErzBegriff allg. Einf. 83–93, insbes. 89 u. 90; § 17, 1–10; 29. Die ungleichen Paarungen Strafe und Hilfe zur Resozialisierung, Sühne und Erz. erlegen dem Richter bei der Strafzumessung und bei der Ermessensentscheidung über die Aussetzung des Restes einer bestimmten JStrafe141 schwerwiegende, in die weitere Entwicklung des J eingreifende Entscheidungen auf. Nach dem BGH142 stehen ErzGedanke und Schuldausgleich allerdings zumeist miteinander im Einklang, namentlich wenn die charaktlerliche Haltung und das Persönlichkeitsbild, wie sie in der Tat zum Ausdruck gekommen sind, nicht nur für das ErzBedürfnis, sondern auch für die Bewertung der Schuld von Bedeutung sind. Zwar gibt § 18 II dem ErzGedanken den Vorrang; die JStrafe ist aber echte Strafe. Deshalb ist auch im JRecht eine Strafe unzulässig, die aus erz. Gründen das Maß der Tatschuld überschreitet (RL 2 S. 2; Einf. 91)143. Das folgt aus Art. 1 GG144 und Art. 3 MRK145. Das Prinzip nulla poena sine culpa hat den Rang eines Verfassungsgrundsatzes146. Wie Stra- 24 fe ohne Schuld rechtsstaatswidrig, so ist auch eine über das Maß der Schuld hinausgehende Strafe im Erw.- wie im JRecht eine mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbare Vergeltung über das hinaus, was der Betroffene zu verantworten hat147. Verfassungsrang hat auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz148. Es wird bei der Abwägung von Täterschuld (Einf. 98) und ErzNotwendigkeit beachtet werden müssen, dass im ErwRecht eine Strafzumessung, die sich vom gerechten Schuldausgleich löst, das Gesetz verletzt149, denn das wirkt sich zugunsten des J aus. Ein solches Merkzeichen hindert den JRichter nicht, die Dauer des Freiheitsentzuges nach der Wirkung auf den Täter zu bestimmen und führt auch nicht zu einem schädlichen Mittelweg150; denn wo die Täterschuld die erz. zu nützende Zeit allzu sehr verkürzen könnte, erhebt sich die 139 Ostendorf Grdl. zu §§ 17–18, 3. 140 Andere Konzeption bei Meyer-Odewald Die Verhängung u. Zumessung der JStrafe, 1993, S. 86 f, 180, der eine Unterschreitung der schuldangemessenen Strafe für zulässig hält und aus der positiven Generalprävention eine Untergrenze für die Strafe ableiten will. 141 Böhm NJW 77, 2198. 142 NStZ-RR 10, 290; NStZ 17, 648; StV 17, 710, 711; NStZ 18, 728, 729 mit abl. Anm. Eisenberg = JR 19, 38 mit Anm. Kölbel; NStZ-RR 18, 358; StV 22, 513, 515 mit krit. Anm. Eisenberg = ZJJ 22, 51, 53 mit krit. Anm. Pieplow. 143 BGH B NStZ 95, 536; NStZ 97, 481; 20, 301; LBN/Baier Rn 756; Heublein Zbl. 94, 467; Momberg Die Ermittlungstätigkeit der JGH, Diss. Göttingen 1982, S. 29; Hermann/Wild MKrim. 89, 16; Burscheidt S. 92. 144 Eine das Maß der Schuld übersteigende Strafe „entpersönlicht“ den Täter zum Erziehungsobjekt und verletzt die Menschenwürde; Miehe Die Bedeutung der Tat im JStrafrecht, 1964, S. 96 ff. 145 Dazu BGH NJW 64, 176; Beulke/Swoboda Rn 474; Schaffstein Zbl. 67, 129; FS Würtenberger, 1977, S. 449; FS Heinitz, 1972, S. 470; Streng StV 85, 424; vgl. auch BGH MDR 82, 155 u. 339. 146 BVerfG NJW 67, 195. 147 Ebenso Eisenberg/Kölbel § 17, 5; Nix/Teschner 6; Ostendorf 7, der aber auch auf die Wiederholungsgefahr abstellt; Beulke/Swoboda Rn 474; Miehe aaO, S. 33 u. ZStW 81, 593; Streng GA 84, 163; Hermann/Wild MKrim. 89, 10; aA Bruns StV 82, 595. 148 Z.B. BVerfG NJW 68, 979. 149 BGH MDR 76, 941. 150 Schaffstein JStrafrecht, 6. Aufl., S. 98. 195

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Frage, ob JStrafe überhaupt angebracht war. Wie der Gesichtspunkt der Generalprävention im ErwRecht nicht dazu führen darf, dass die obere Grenze der schuldangemessenen Strafe überschritten wird151, so darf dies im JStrafrecht auch der ErzGedanke nicht, der dadurch pervertiert würde (vgl. RL 2 S. 2; Einf. 91). 25 Verfassungsgrundsätze gelten für jede Verhängung von Strafe, im JRecht führt das zu einer Begrenzung des ErzGedankens (vgl. Einf. 91). Das JStrafrecht muss die ihm durch die Verfassung gesetzten Schranken einhalten, mag dies auch einen Verzicht auf ungehinderte Einwirkung nach pädagogischen Gesichtspunkten bedeuten152. Der BGH153 hat ein Urteil aufgehoben, bei dem eine JStrafe von 6 Jahren 6 Monaten damit begründet war, es übersteige „das Maß der erz. notwendigen Strafe dasjenige seiner Schuld“, weil der Gesamtzusammenhang der Strafzumessungserwägung nahe lege, der Tatrichter habe geglaubt, aus Gründen der Erz. und der Spezialprävention die obere Grenze schuldangemessenen Strafens überschreiten zu dürfen154. Zudem steht eine das Maß der Schuld überschreitende Strafe gerade dem ErzGedanken ent26 gegen, der die Überschreitung rechtfertigen soll. Denn nur die gerechte und als gerecht empfundene Strafe hat pädagogischen Wert; der junge Mensch hat ein bes. ausgeprägtes und empfindliches Gefühl für die Gerechtigkeit, wenn auch oft nicht bereits in der bes. Situation der Verurteilung. Gerecht erscheint dem sühnebereiten, aber auch dem „abwartenden“ J die Strafe nur, wenn sie nach der Schwere der Schuld und Tat155, nicht über diese hinaus nach einem unergründlichen ErzBedürfnis bemessen wird156. Verletztes Gerechtigkeitsgefühl und Trotzhaltung vereiteln dann die ErzBemühungen und belasten die JStrafanstalten157. Schon aus diesem Grunde allein wäre beispielsweise eine JStrafe wegen wiederholter Schulversäumnisse (im Jahre 1978 nach dem damals noch geltenden Hessischen Schulpflichtgesetz erkannt und danach möglich) nicht zu rechtfertigen158. Kommt man somit zum Ergebnis, dass auch bei evidenter ErzBedürftigkeit und ErzFähigkeit 27 des Täters die Erz. nur im Rahmen gerechter Schuldvergeltung angestrebt werden darf159, so bleibt im Rahmen der Schuld für Anwendung und Auswirkung des ErzGedankens genügend Raum. Wo man ErzMaßnahmen über das Maß der Schuld hinaus für notwendig hält, muss das Familiengericht eingreifen. Will man schlechterdings den Vorrang der Erz., muss man das Jugend-Straf-Gericht abschaffen. Es sind Hilfen und Maßnahmen im präjustiziellen Raum gefordert.

8. Die Höchststrafe des allgemeinen Rechts 28 Der BGH hat es zugelassen, dass die JStrafe in Ausnahmefällen die im ErwStrafrecht normierten Höchststrafen überschreitet160. Dem ist nicht zu folgen. Weil JStrafe nie höher sein darf, als es die Tatschuld rechtfertigt (dazu Rn 23 ff), und weil die Berufung auf den ErzGedanken zur Begründung einer höheren Strafe, als sie für Erw. für die entsprechende Straftat vorgesehen ist, nicht zulässig sein kann (Rn 24 aE; Einf. 91 u. 98), darf eine JStrafe niemals höher sein als die entsprechende

151 152 153 154 155 156 157 158 159 160

BGH Urt. v. 22.8.1978 – 1 StR 139/78. Tenckhoff JR 77, 491; Miehe (FN 144), S. 70, 118. StV 90, 389. Vgl. auch BGH NStZ 86, 71; BGH B NStZ 95, 536; BVerfGE 50, 205; 214, 215. Vgl. OLG Frankfurt NStZ 84, 383. Weitl S. 192. Noll Die ethische Begründung der Strafe, 1962, S. 22; Graßberger, Österreichische Juristenzeitung 1961, 173. Vgl. insgesamt dazu Rehbein Zbl. 79, 99. BGH StV 22, 513 mit krit. Anm. Eisenberg = ZJJ 22, 51, 53 mit krit. Anm. Pieplow; Miehe (FN 144). BGH 8, 78; BGH MDR 55, 372; StV 82, 27; NJW 96, 2665. 196

Dauer der Jugendstrafe

§ 18

Höchststrafe des ErwRechts161. Denn die Höchststrafe des allg. Rechts bezeichnet das Maß der Strafe, das der Gesetzgeber in extrem schweren Fällen als dem Gewicht dieser Art von Straftaten entsprechend ansieht, wenn also ein kriminell verfestigter Erw. die Tat in der schwersten Ausführungsart begeht. Ein solches Gewicht wird die Tat eines J nie haben können; damit aber kann eine höhere JStrafe mit dem Sühnegedanken nicht mehr in Einklang gebracht werden, denn der J darf gegenüber einem Erw. nicht entgegen dem Schuldprinzip benachteiligt werden. Dagegen kann die gerechte Schuldvergeltung eine höhere Strafe erfordern als für die Erz. notwendig162; das folgt aus §§ 18 I 2, 105 III (näher Rn 17, 23; vgl. auch § 17, 29)163, kann allerdings nur für Fälle bes. schweren Verschuldens oder allerschwerster Folgen gelten, da in allen anderen Fällen dem Sühnebedürfnis schon durch die Verhängung der JStrafe Genüge getan ist164. Allein nach den Grundsätzen des allg. Strafrechts als reine Schuldstrafe ist auch die JStrafe zu bemessen, wenn ausnahmsweise feststeht, dass der Täter unerziehbar ist. Ähnliches gilt für eine JStrafe von mehr als 5 Jahren, weil auch hier das erz. Moment zurücktritt, der Sühnegedanke (vgl. Rn 17, 23) überwiegt (§ 105, 33). Mit zunehmendem Alter und entsprechender Reife ist die Schuld schwerer zu bewerten, das Sühnebedürfnis wird größer. Entsprechend tritt der ErzGedanke mehr zurück165 (vgl. auch Rn 4). Bei einem im Urteilszeitpunkt Erw. kommt dem ErzGedanken ein mit Fortschreiten des Lebensalters immer geringer werdendes Gewicht zu166 und kann ihm eine nur untergeordnete Bedeutung beizumessen sein167. Der BGH168 gibt zu erwägen, dass auch aus verfassungsrechtlichen Gründen bei im Urteilszeitpunkt Erw. der ErzGedanke kein taugliches Strafzumessungskriterium sein könnte. Zur Verfassungsmäßigkeit der erz. Einwirkung auf zum Urteilszeitpunkt Erw. s. Einf. 95. Allg. zu beachten ist, dass Freiheitsentzug J wegen ihres größeren Freiheitsdranges meist härter trifft als Erw.169.

§ 19 (aufgehoben)

161 So entgegen BGH OLG Köln GA 84, 519; Eisenberg/Kölbel 8 f; Nix/Teschner 7; Ostendorf § 5, 4; Beulke/Swoboda Rn 474; Schaffstein FS Würtenberger, 1977, S. 457; Beulke in Rössner, Hrsg., Toleranz – Erz. – Strafe, 1989, S. 78; Streng GA 84, 149, 163; ders. GA 17, 89; Miehe ZStW 85, 998; Nothacker Zbl. 85, 11; Weber Die Anwendung der JStrafe, 1990, S. 121; Burscheidt S. 95, 98. 162 BGH NStZ 96, 232 f; StV 98, 335. 163 Heublein Zbl. 94, 468. 164 Grethlein NJW 61, 687. Bestätigt durch Urt. des BGH v. 14.9.1971 – 1 StR 305/71. 165 BGH B NStZ-RR 98, 290; BGH NStZ 06, 587, 588; OLG Hamm NStZ-RR 05, 58, 59; 245, 246; Heublein Zbl. 94, 468. 166 BGH StV 19, 466 f. 167 BGH NStZ 06, 588: Angeklagter im Urteilszeitraum 36 Jahre alt; NStZ 16, 101 = ZJJ 16, 76 mit krit. Anm. Sonnen: Angeklagter 23 Jahre alt; NStZ 16, 680: Angeklagte 24 u. 26 Jahre alt; BGH 64, 273, 276 f: Angeklagter 38 Jahre alt. Anders im Fall BGH NStZ-RR 17, 231, in dem der Angeklagte bei Urteilserlass noch nicht einmal seit 4 Monaten 21 Jahre alt war. 168 NStZ 16, 101, 102; 680, 681; krit. dazu Beulke FS Streng, 2017, S. 411 ff. 169 Potrykus B 8. 197 https://doi.org/10.1515/9783110686401-022

29

30

31

32

Fünfter Abschnitt Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung § 20 (weggefallen)

§ 21 Strafaussetzung (1) 1Bei der Verurteilung zu einer Jugendstrafe von nicht mehr als einem Jahr setzt das Gericht die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung aus, wenn zu erwarten ist, daß der Jugendliche sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs unter der erzieherischen Einwirkung in der Bewährungszeit künftig einen rechtschaffenen Lebenswandel führen wird. 2Dabei sind namentlich die Persönlichkeit des Jugendlichen, sein Vorleben, die Umstände seiner Tat, sein Verhalten nach der Tat, seine Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Aussetzung für ihn zu erwarten sind. 3Das Gericht setzt die Vollstreckung der Strafe auch dann zur Bewährung aus, wenn die in Satz 1 genannte Erwartung erst dadurch begründet wird, dass neben der Jugendstrafe ein Jugendarrest nach § 16a verhängt wird. (2) Das Gericht setzt unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 auch die Vollstreckung einer höheren Jugendstrafe, die zwei Jahre nicht übersteigt, zur Bewährung aus, wenn nicht die Vollstreckung im Hinblick auf die Entwicklung des Jugendlichen geboten ist. (3) 1Die Strafaussetzung kann nicht auf einen Teil der Jugendstrafe beschränkt werden. 2Sie wird durch eine Anrechnung von Untersuchungshaft oder einer anderen Freiheitsentziehung nicht ausgeschlossen. 1. Hw.-J: § 105 I. – 2. ErwG: § 104 Nr. 1 u. Rn 19 aE.

Richtlinien zu § 21 1.

2.

3.

4.

Die Entscheidung darüber, ob eine Jugendstrafe zur Bewährung auszusetzen ist, setzt – auch bei Erstbestraften – eine sorgfältige Erforschung der Persönlichkeit und der Lebensverhältnisse des Jugendlichen voraus. Bei günstiger Prognose ist eine Jugendstrafe von nicht mehr als einem Jahr auszusetzen. Bei Jugendstrafe von mehr als einem Jahr bis zu zwei Jahren bedarf es jedoch zusätzlich der Prüfung, ob besondere Umstände in der bisherigen und absehbaren Entwicklung des Jugendlichen die Vollstreckung gebieten. Für den Erfolg der Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung ist es von Bedeutung, ob der Jugendliche fähig und willens ist, sich zu bessern. Sein Einverständnis mit der Maßnahme ist zwar nicht vorgeschrieben; eine Aussetzung ohne dieses Einverständnis ist aber nur sinnvoll, wenn erwartet werden kann, daß der Jugendliche in der Bewährungszeit zu einer bejahenden Einstellung kommt. Aus erzieherischen Gründen empfiehlt es sich, dem Jugendlichen bewußt zu machen, daß die Jugendstrafe im Vertrauen auf seine Fähigkeit und seinen Willen, sich zu bewähren, ausgesetzt wird und daß ihm daraus eine besondere Verpflichtung erwächst. Die Verurteilung zu einer Jugendstrafe von nicht mehr als zwei Jahren wird nicht in das Führungszeugnis aufgenommen, wenn Strafaussetzung zur Bewährung bewilligt und diese Entscheidung nicht widerrufen worden ist (vgl. § 32 Abs. 2 Nr. 3 BZRG).

Schrifttum Bindzus Die Strafaussetzung zur Bew. bei J u. Hw., Diss. Göttingen 1966; Bockwoldt BewHilfe u. Wissenschaft, GA 83, 546; Dölling Die Verlängerung der BewZeit nach § 56 f II StGB, NStZ 89, 345; Feltes Strafaussetzung zur Bew. bei Strafen von mehr als einem Jahr, 1982; Hausen Die Strafaussetzung zur Bew. bei Strafen von über 1 Jahr bis zu 2 Jahren gem. § 23 II StGB u. § 21 II JGG, 1980; Heinz Straf(rest)aussetzung, BewHilfe u. Rückfall, BewH 77, 296; 198 https://doi.org/10.1515/9783110686401-024

§ 21

Strafaussetzung

Hellmer Die Strafaussetzung im JStrafrecht, 1959; ders. Wesen u. Widersprüche der Strafaussetzung zur Bew. nach §§ 20 ff JGG, RdJ 59, 209; ders. Die subjektiven Voraussetzungen der Aussetzung nach §§ 20 ff JGG, RdJ 59, 244; Hermanns Sozialisationsbiographie u. gerichtliche Entscheidung, 1983; Herre Die Prognoseklauseln der §§ 56 StGB u. 21 JGG, 1997; Jäckel Aussetzung der Verhängung einer JStrafe, Strafaussetzung zur Bewährung u. Vorbewährung im JStrafrecht, JurArbBl. 10, 539; Lenartz Strafaussetzung zur Bew. … trotz Risikos, BewH 64, 137; Meyer K. Strafaussetzung, Bew. u. BewHilfe, Diss. Münster 1963; Meyer K.-P. Rückfall bei … Strafaussetzung zur Bew., MKrim. 82, 281; Nerlich Die kriminalpolitischen Auswirkungen der Strafaussetzung zur Bew. nach § 20 JGG, Diss. Heidelberg 1966; Peters Grundprobleme der Kriminalpädagogik, 1960, S. 314 ff; Pieth Bedingte Freiheit, 2001; Prelinger u. Pentz BewAuflagen u. Grundgesetz, JR 61, 496 u. JR 62, 99; Schaffstein Erfolg, Mißerfolg u. Rückfallprognose bei jungen Straffälligen, ZStW 67, 209; Schnorr Legalprognose im Rahmen der §§ 56 StGB bzw. 21 JGG. Zuhilfenahme statistischer Prognoseinstrumente – zugleich eine Kritik an der bisherigen Forschung, Kriminalistik 20, 679; Schünemann BewHilfe bei J u. Hw., 1971; Spieß Wie bewährt sich die Strafaussetzung? MKrim. 81, 308; ders. Strafaussetzung u. BewHilfe, in Dünkel/Spieß, Hrsg., Alternativen zur Freiheitsstrafe, 1983, S. 23; ders. BewHilfe als Alternative zum Vollzug der JStrafe: Erfahrungen u. Kriterien, KrimPäd 89 H 29, S. 9; Sydow Erfolg u. Mißerfolg der Strafaussetzung zur Bew., 1963; Tenckhoff Die Kriminalprognose bei Strafaussetzung zur Bew., DRiZ 82, 95; Terhorst BewPrognosen u. der Grundsatz „in dubio pro reo“, MDR 78, 973; Ulmschneider Durchführung, Erfolg u. rechtliche Grenzen der BewAuflage bei J, Diss. Kiel 1966; Vogt Strafaussetzung zur Bew. u. BewHilfe bei J u. Hw., Diss. Göttingen 1972; Walter Strafaussetzung z. Bew., in Sieverts/Schneider, Hrsg., Handwörterbuch d. Kriminologie, 2. Aufl. Bd. 5, 1983, S. 151; Weigelt Bewähren sich Bewährungsstrafen? 2009; Westphal Die Aussetzung der JStrafe zur Bew. gemäß § 21 JGG, 1995.

Übersicht 1. 2. 3.

Einordnung und Rechtsnatur 5 Voraussetzungen 13 Aussetzungszwang

1

4. 5. 6.

JStrafe zwischen 1 und 2 Jahren 18 Weitere Einzelheiten Strafaussetzung für Drogentäter

14 22

1. Einordnung und Rechtsnatur Das geltende Recht bietet drei Möglichkeiten, die Verhängung oder den Vollzug einer Strafe 1 durch erz. Behandlung in Freiheit abzuwenden, nämlich gem. §§ 45, 47 durch eine Art formlos angeordneter „BewZeit“, nach deren Erfolg das Verfahren eingestellt wird (§ 45, 30, 45; § 47, 12, 16), gem. §§ 27 ff durch einen Schuldspruch iVm der Aussetzung der Verhängung einer JStrafe zur Bew. und nach §§ 21 ff, 57, 61 ff durch Ausspruch einer Strafe unter gleichzeitiger oder durch nachträglichen Beschluss erfolgender Aussetzung der Vollstreckung zur Bew. Alle Maßnahmen wollen den Täter vor den oft unguten Wirkungen bes. kürzerer Strafe bewahren, wenn seine Resozialisierung in der Freiheit erwartet werden kann. Durch die Bew. zeigt der Täter, dass seine schädlichen Neigungen kleiner als befürchtet waren, mindestens dass sie ohne Strafvollzug beseitigt werden konnten. Zugleich verdient er sich durch gute Führung den Straferlass, sühnt also auch seine Tat durch seine Bemühungen und gute Führung. Die Probanden dürfen aber nicht sich selbst überlassen bleiben (vgl. Rn 8). Der Richter muss vielmehr mit Hilfe von Weisungen, Auflagen und BewHelfer den Täter bei der Resozialisierung unterstützen, da das „Damoklesschwert“ der drohenden Strafe allein gerade bei den neuen Eindrücken leicht zugänglichen J nicht genügt. Trotz Strafaussetzung bleibt die verhängte JStrafe echte JStrafe; ein Unterschied besteht 2 nur in der Vollstreckung, die von einem späteren Widerruf abhängig ist. Deshalb ist das Strafmaß festzusetzen und erst dann die Frage der Strafaussetzung zur Bew. zu prüfen1. Gleichwohl führt diese im ErwRecht und JRecht übereinstimmende Konstruktion des Gesetzes zu erhebli1 BGH NJW 54, 39; BGH NJW 55, 1485; BGH 32, 65 zum ErwRecht; BGH NStZ 08, 693; einschränkend Eisenberg/ Kölbel 4 f; aA Ostendorf Grdl. zu §§ 21–26a, 3, der bei Festsetzung der JStrafe die BewMöglichkeit zu bedenken 199

§ 21

2. Teil. Jugendliche

chen Schwierigkeiten, weil eine zur Bew. ausgesetzte Strafe nach ihrem Wesen und ihrem Ziel etwas anderes ist als die zu vollstreckende Strafe. Auch die ausgesetzte Strafe ist eine Maßnahme im Strafensystem, keine Gnade2. Nach Ablehnung der Strafaussetzung zur Bew. durch das Gericht kann die Gnadenbehörde einen entsprechenden Gnadenerweis gewähren, sollte dies aber nur in ganz bes. Fällen. 3 Zum Spannungsverhältnis zwischen den Voraussetzungen der JStrafe und der für die Aussetzung notwendigen günstigen Prognose § 17, 38. Die Strafaussetzung ist ein geeignetes Mittel, erz. unerwünschte Folgen des JStrafvollzugs an jungen Menschen zu vermeiden, wenn die Prognose (Einf. 73–78) einem ErzVersuch in Freiheit hinreichende Aussicht auf Erfolg gibt. Hierbei sollte der Richter aus erz. Gründen von vornherein zum Scheitern verurteilte Experimente vermeiden, aber auch Mut zum Risiko haben, wenn eine echte Erfolgschance besteht (Rn 7)3. Die JStrafrechtspraxis hat seit Inkrafttreten des JGG von 1953 zunehmend von der Möglich4 keit der Strafaussetzung Gebrauch gemacht. Der Anteil der zur Bew. ausgesetzten JStrafen ist seit den 50er Jahren von einem Drittel auf etwa zwei Drittel gestiegen4. 2020 wurden 60 % der JStrafen zur Bewährung ausgesetzt5. Die Widerrufsquote ist in den letzten Jahrzehnten gesunken. Weigelt6 ermittelte auf der Grundlage der bundesweiten Rückfallstatistik für Verurteilungen des Jahres 1994 eine Widerrufsquote von 16 %. Das spricht für die Richtigkeit des von den Gerichten eingeschlagenen Weges7.

2. Voraussetzungen 5 Voraussetzungen für Strafaussetzung sind eine JStrafe bis zu 1 Jahr (Abs. I) oder eine höhere Strafe, die 2 Jahre nicht übersteigt, wenn nicht die Vollstreckung im Hinblick auf die Entwicklung des J geboten ist (Abs. II; Rn 14–17)8, und in beiden Fällen eine günstige Prognose für den Täter. Ob JStrafe von höchstens 1 Jahr oder 2 Jahren verhängt ist, wird nach der Höhe der er6 kannten Strafe beurteilt; die Höhe des – z.B. nach Anrechnung von UHaft – zu verbüßenden Teiles ist ohne Bedeutung9 (anders bei § 35 BtMG: § 17, 48); nur muss noch ein Strafrest übrig sein, die Strafe darf also durch Anrechnung von UHaft noch nicht voll verbüßt sein, weil dann kein Raum mehr für die Aussetzung der Vollstreckung bleibt10. Ohne Einfluss ist es auch, wenn eine früher verhängte JStrafe noch nicht erledigt ist (§ 31, 21). Wird eine JStrafe zur Bew. ausgesetzt, obwohl sie im Zeitpunkt des Urteils durch erlittene UHaft bereits verbüßt war, ist der Angeklagte beschwert11. Bei JA gibt es keine Strafaussetzung zur Bew. Ob eine günstige Prognose12 gerechtfertigt ist, kann nur eine umfassende Persönlichkeits7 erforschung (§ 43)13 ergeben (RL 1). Näher zur Erstellung der Prognose Einf. 73–78. Für die Prognose kommt es auf den Zeitpunkt der Verurteilung und nicht auf den Tatzeitpunkt an14. Die bei fordert, u. Westphal S. 163, nach dem bei JStrafe wegen schädlicher Neigungen zuerst zu fragen ist, ob eine zur Bew. ausgesetzte Strafe ausreicht, u. erst danach die konkrete Strafhöhe festzulegen ist. 2 BGH NJW 54, 40. 3 Bindzus/Musset Grundzüge des JRechts, 1999, Rn 608. 4 Heinz in BAG für ambulante Maßnahmen nach dem JRecht, Hrsg., Neue ambulante Maßnahmen, 2000, S. 186. 5 Berechnet nach Stat. BA, S. 318. 6 S. 231. 7 Vgl. Heinz S. 101: „Strafaussetzung zur Bewährung hat sich bewährt“. 8 Für Erweiterung des Anwendungsbereichs der Strafaussetzung auf mindestens 3 Jahre Heinz S. 103. 9 BGH 5, 377. 10 BGH NJW 61, 1220 u. 82, 1768. 11 BGH 31, 25; BGH NJW 61, 1220; BGH NStE Nr. 6 zu § 21. 12 Schnitzerling RdJ 57, 353. 13 BGH GA 83, 472. 14 BGH StV 91, 424. 200

Strafaussetzung

§ 21

beiden Alternativen (Abs. I u. II) maßgebliche „erschöpfende Gesamtwürdigung“ der Persönlichkeit des Täters und seiner Beziehung zur Tat15 (vgl. § 18, 14), welche Aufgabe des Tatgerichts ist, muss daher auch Umstände einbeziehen, die erst nach der Tat eingetreten sind, und berücksichtigen, dass seit der Tat eine nicht unerhebliche Zeit vergangen ist16. Es sind das Vorleben (nicht nur die Vorstrafen) und – als Indiz für die Stellung des Täters zur Tat – die Umstände der und das Verhalten nach der Tat (Form der Tatbeteiligung, Geständnis, Reue, Wiedergutmachung, Änderung bisheriger Gewohnheiten, weitere Entwicklung der Persönlichkeit des J, z.B. Verbesserung des Lern- und Sozialverhaltens in der Schule, Wirkung von UHaft17, Behandlungen, denen sich der J freiwillig unterzogen hat18) zu würdigen. Bei der Bewertung des Verhaltens nach der Tat, insbes. des Prozessverhaltens, ist gerade beim J Vorsicht geboten, um nicht Angst und Hilflosigkeit mit Gleichgültigkeit oder Trotz zu verwechseln. Fehlende Wiedergutmachung allein rechtfertigt die Ablehnung der Strafaussetzung bei einem 15-jährigen Moped-Dieb nicht; es kann von ihm nicht verlangt werden, sich bei der Polizei nach dem Geschädigten zu erkundigen und sich diesem gegenüber zur Wiedergutmachung zu verpflichten19. Bestreitet der Angekl. die Tat, dürfen fehlende Reue und Schuldeinsicht nicht als Argumente gegen eine günstige Prognose herangezogen werden20. Auch die Umweltverhältnisse, unter denen der Täter sich bewähren soll (Elternhaus, Freunde, JVerbände, Arbeit, BewHelfer), oder Krankheiten sind zu beachten21. Wichtig ist, ob der J aus der ungünstigen Umgebung herausgekommen ist, welche die Tat ausgelöst hat22 (vgl. § 18, 14 f), was auch bes. für positive Veränderungen in der Lebensführung (Ausbildung, Arbeit) und Bindung an positiv bewertete Bezugspersonen gilt23. Günstige Veränderungen können auch durch BewAuflagen erst vom Gericht oder anderweitig herbeigeführt werden24. Nach Abs. I 3 reicht es auch aus, wenn die günstige Prognose erst durch einen Einstiegsarrest gemäß § 16a begründet wird. Es dürfen nicht bestimmte Tätergruppen von vornherein ausgegrenzt werden25. Böhm/Feuerhelm26 warnen davor, schuldlos sozial Gefährdete und Geschädigte durch globales Absprechen von BewChancen zusätzlich zu entmutigen und zu stigmatisieren. Dazu § 10, 27 aE, auch § 10, 20 aE. Beachtung verdienen die Untersuchungen von Spieß27. Er stellt zur Vorstrafenbelastung 8 fest, dass der Anteil der Probanden ohne Vorstrafe bei der Strafaussetzung zur Bew. im Jahre 1987 gegenüber 1963 auf weniger als die Hälfte des ursprünglichen Anteils gesunken ist, dass die bereits zum wiederholten Male verurteilten Probanden mit 80 % bereits den Regelfall darstellen und dass sich der Anteil der schon zum wiederholten Male der Bew. unterstellten Probanden verdreifacht hat. Dem stehen allerdings bei einer Untersuchungsgruppe von 170 Probanden gegenüber: nur 22 % Widerrufe der Bew. bei Probanden ohne Vorstrafe, 41 % Widerrufe bei Probanden mit „Vorstrafen“ unterhalb der JStrafe und 59 % Widerrufe bei Probanden, die bereits mehrfach zu JStrafe verurteilt waren. Dies muss freilich im Zusammenhang mit den in der BewZeit festgestellten Belastungen gesehen werden, welche das Widerrufsrisiko erhöhen. Solche Belastungsmerkmale waren bei der oa Gruppe: Arbeitslosigkeit; hohe Schuldenbelastung; noch keine Vereinbarung zur Schuldenregulierung oder Stundung; kein regelmäßiges Einkommen; akuter Drogen- oder Alkoholmissbrauch; keine feste Partnerbindung; Unselbständigkeit, na15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 201

BGH StV 86, 69; 93, 533. BGH StV 87, 306; 91, 424; BGH NStZ 92, 52. BGH NStZ-RR 07, 61. BGH StV 91, 424. BGH bei Herlan GA 61, 358. BGH StV 93, 533. BGH 10, 287. Vgl. BGH StV 86, 68. BGH B NStZ 86, 447; BGH StV 96, 270 f; Hermanns S. 170 ff. BGH 8, 185; BGH NStZ 13, 288. BGH 6, 298 ErwRecht. S. 238. KrimPäd. 89, H 29, S. 9 ff.

§ 21

2. Teil. Jugendliche

mentlich im Umgang mit Behörden28. Insgesamt folgert Spieß hieraus, dass nicht aus der Vorstrafenbelastung allein ein überdurchschnittliches Bew.-Rückfallrisiko angenommen werden darf, denn dies entscheide sich erst in der BewZeit nach den günstigen oder ungünstigen Bedingungen für eine soziale Reintegration. Dies umreißt die ebenso wichtige wie schwierige Aufgabe des BewHelfers und fordert schon in einem möglichst frühen Stadium der BewZeit existenzsichernde Maßnahmen. Der BGH sucht dem Stereotyp entgegenzuwirken, dass frühere Verurteilungen und ein Versagen in der BewZeit einer (erneuten) Strafaussetzung gänzlich entgegenstünden oder eine erneute Strafaussetzung von speziellen, eng definierten Voraussetzungen abhängig sei29. Der BGH hat bei einem Alkoholiker bei mehrfach wiederholter einschlägiger Straffälligkeit und wiederholtem Widerruf die erneute Strafaussetzung gebilligt30. 9 Die Erwartung (nicht bloß die Hoffnung) künftig rechtschaffenen Lebenswandels muss gegeben sein. Das bedeutet aber nicht sichere Gewähr künftig straffreien Lebens, sondern eine hinreichende Wahrscheinlichkeit hierfür31. Die Wahrscheinlichkeit künftigen straffreien Verhaltens muss größer sein als diejenige neuer Straftaten32. Allerdings genügt die bloße Möglichkeit, der Täter werde keine neuen Straftaten begehen, nicht. Nach Herre33 ist diejenige Wahrscheinlichkeit künftiger Straffreiheit erforderlich, die es unter Abwägung der Interessen von Täter und Allgemeinheit vertretbar erscheinen lässt, die Vollstreckung auszusetzen. Eine ausreichende Erwartung kann z.B. auch bei ungefestigten J begründet sein, wenn die Tat überwiegend auf ungünstigen Umwelteinflüssen (Not, schlechtes Beispiel, Verführung) beruht, bei Pubertätstaten (aus Trotz, Protest gegen die Gesellschaft, Streben nach Geltung, plötzlich hervorbrechendem Geschlechtstrieb, sexueller Neugier; Einf. 14, 58–64) oder bei persönlichkeitsfremden Kurzschlusshandlungen aus starken, außergewöhnlichen Reizeinflüssen selbst bei krimineller Gefährdung und fortgeschrittener Verwahrlosung, wenn die Fehlentwicklung überwiegend auf ungünstigen Umwelteinflüssen beruht, nun aber günstige Verhältnisse bestehen34. Auch bei Vorstrafen ist eine positive Sozialprognose möglich35 (Rn 8). Die Wirkung der UHaft kann zu einer günstigen Prognose führen36. Andererseits kann aber auch bei Ersttätern die Prognose ungünstig sein37. Nach dem BVerfG38 gilt gegenüber Gewissenstätern im Bereich der Strafzumessung und der Strafaussetzung zur Bew. ein „Wohlwollensgebot“39. Bei politischen Überzeugungstätern führt das Festhalten an einer politischen Überzeugung allein noch nicht zu einer ungünstigen Prognose; äußert sich die politische Gesinnung jedoch in einer strafbaren Handlung und besteht die Gefahr eines weiteren Abgleitens in Straftaten, müssen für eine günstige Prognose gewichtige Tatsachen vorliegen40. Das Gesetz fordert, dass ein rechtschaffener Lebenswandel zu erwarten sei. Dieser Begriff 10 ist umstritten. Nach Dallinger/Lackner41 reicht anders als im ErwRecht die äußere Anpassung 28 29 30 31 32

S. 13–15. BGH bei Horstkotte BewH 89, 382; BGH StV 96, 270. BGH NStZ 88, 451. BGH NStZ 88, 452. BGH NStZ 97, 594; NStZ-RR 05, 38; vgl. auch BGH NStZ 86, 27; BGH bei Theune NStZ 89, 217: Die Begehung weiterer Straftaten darf nicht wahrscheinlich sein; Westphal S. 205: Es ist grds. auszusetzen, es sei denn, es lässt sich ausnahmsweise eine begründbare Schlechtprognose stellen. 33 S. 138. 34 Vgl. BGH StV 90, 304; Eisenberg/Kölbel 22 f. 35 Vgl. OLG Koblenz OLGSt zu § 56 StGB S. 45; OLG Frankfurt NJW 77, 2175. 36 OLG Hamm StV 05, 69, 70. 37 Eisenberg/Kölbel 22. 38 BVerfGE 23, 127, 134. 39 OLG Stuttgart MDR 88, 1080; OLG Bremen StV 89, 395 – je hw. Totalverweigerer, Dienstflucht; OLG Zweibrücken StV 89, 397 – Zeuge Jehovas. 40 BGH NJW 95, 341; OLG Karlsruhe Justiz 96, 94, beide zu § 56 StGB. Zu Ausländern Einf. 52 mit LG Freiburg JR 88, 523 u. OLG Koblenz NStZ 87, 24 ErwRecht. 41 2. 202

Strafaussetzung

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aus Opportunität an die innerlich abgelehnte Rechtsordnung nicht aus; vorausgesetzt wird vielmehr die Anerkennung wenigstens der Grundwerte, die für das Zusammenleben in der Rechtsgemeinschaft konstituierend sind42. Ostendorf43 will demgegenüber nur die Gefahr neuer Straftaten prüfen, weil die Gesinnung frei sei und mit Rücksicht auf die Menschenwürde nur eine Verhaltensänderung angestrebt werden dürfe44. Nach Eisenberg/Kölbel45 „verträgt es sich nicht mit grundrechtlichen Gewährleistungen, wenn das Strafrecht nicht nur die gesellschaftliche Verträglichkeit des Verhaltens sichern, sondern darüber hinaus auch dezidiert gewissens-, überzeugungs- und moralbildend auf das Innere seiner Adressaten einwirken soll“. In der Tat darf der Begriff nicht dazu dienen, mit den Mitteln des Strafrechts Moralvorstellungen einzelner gesellschaftlicher Gruppen durchzusetzen. Dies ist aber auch nicht die Intention des § 21. Vielmehr ist Gegenstand der Prognose entsprechend der allg. spezialpräventiven Zielsetzung des JGG (§ 2 I) letztlich die Legalbewährung. Inhalt der Prognoseentscheidung ist, ob der Verurteilte künftig keine Straftaten mehr begehen wird46. Mit dem Begriff des rechtschaffenen Lebenswandels weist das Gesetz aber zum einen darauf hin, dass dieses Ziel bei jungen Menschen praktisch nur über eine innere Bejahung der Rechtsordnung und nicht über einen äußeren „Dressurakt“ erreicht werden kann47. Erz. junger Menschen zur Rechtstreue verstößt nicht gegen die Menschenwürde, sondern ist unabdingbare Voraussetzung für die Existenz einer freiheitlichen Rechtsordnung (vgl. weiter Einf. 86). Außerdem zeigt der Begriff des rechtschaffenen Lebenswandels, dass die Möglichkeit von Gelegenheitstaten mit Bagatellcharakter, die sich auch bei rechtstreuen Bürgern kaum völlig ausschließen lassen, einer Strafaussetzung nicht entgegensteht. Es wird daher die Kraft zur Selbsterziehung in Freiheit mit Hilfe der obligatorischen BewHilfe und von Weisungen und Auflagen (§ 23 I) zu verlangen sein48. Neben der geistig-charakterlichen Formung auf die Gesellschaft hin49 ist entscheidend, ob die Erz. besser durch Aussetzung zur Bew. oder durch Vollstreckung der Strafe erreicht wird50. Der Richter wird dem J auf geeignete Weise eindringlich bewusst machen, dass die Aussetzung der Vollstreckung darauf vertraut, dass er fähig und willens ist, sich zu bewähren, und dies ihm eine bes. Verpflichtung auferlegt (RL 3). – Insgesamt wird der Richter hierbei auch ein Risiko – und Enttäuschungen – auf sich nehmen müssen. Im Einzelfall kann es genügen, dass der J zZ der Urteilsfindung fähig und ernstlich gewillt erscheint, ein rechtschaffenes Leben aufzunehmen (RL 2)51. Dabei dürfen und müssen auch Umstände berücksichtigt werden, die eine positive Wirkung erst erwarten lassen52. JStrafe sollte nach Möglichkeit zur Bew. ausgesetzt werden, wenn der Vollzug der JStrafe 11 eine bereits angeordnete erfolgversprechende ErzMaßregel gefährden würde, falls nicht überhaupt von der Verhängung einer JStrafe abgesehen werden kann oder eine einheitliche Sanktionierung möglich ist (§ 31 II). Vollstreckung trotz günstiger Prognose aus Gründen der Verteidigung der Rechtsord- 12 nung, einem Teilaspekt der Generalprävention, ist im Gegensatz zum ErwRecht nicht zulässig, weil § 21 anders als § 56 StGB die Verteidigung der Rechtsordnung nicht erwähnt und der ErzZweck entgegensteht53.

42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 203

Vgl. auch OLG Koblenz GA 78, 83; aA Streng GA 84, 152. 6. Für ein Abstellen auf ein Leben ohne Straftaten auch DSS/Sonnen 9. § 5, 4. BGH NStZ 18, 658, 659. Vgl. bereits Dallinger/Lackner 2. OLG Koblenz GA 78, 83. Schlüchter GA 88, 125. BGH 10, 233, 234. OLG Celle GA 70, 27; OLG Koblenz aaO; Nix/Schendler 8. BGH NJW 78, 559. BGH B NStZ 94, 530.

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3. Aussetzungszwang 13 Liegen die Voraussetzungen der Strafaussetzung vor, so muss der Richter bei Abs. I u. II die Strafe zur Bew. aussetzen. Diese Regelung ist die Konsequenz aus dem Rn 15 Gesagten und sichert die Gleichbehandlung.

4. JStrafe zwischen 1 und 2 Jahren 14 Während nach der früheren Fassung des Abs. II „bes. Umstände in der Tat und in der Person des J“ für die Aussetzung erforderlich waren, ist seit der Neufassung des Abs. II durch das 1. JGGÄndG vom 30.8.1990 nicht mehr die Bew., sondern deren Versagung der Ausnahmefall. Bei JStrafe zwischen 1 und bis zu 2 Jahren muss also bei Vorliegen der auch hier geforderten Voraussetzungen des Abs. I (Rn 5–12) Bew. bewilligt werden, falls nicht ausnahmsweise die Vollstreckung im Hinblick auf die Entwicklung des J geboten ist54. Dies folgt der Erkenntnis und Erfahrung55, dass „mit der obligatorischen BewHilfe im JStrafrecht eine Behandlungsart zur Verfügung steht, die bei günstigen Voraussetzungen ebenso gut oder sogar besser geeignet ist, das angestrebte Ziel zu erreichen, als dies bei einer stationären Behandlung in einer JStrafanstalt der Fall ist“. Damit ermöglicht es das Gesetz auch bei schwereren Taten oder erheblicherer Belastung des J, dem Subsidiaritätsgrundsatz (Einf. 102–105) folgend, ambulante Maßnahmen den stationären vorzuziehen. Was der BGH56 zu Zumessungserwägungen über die entsozialisierenden Wirkungen einer längeren Freiheitsstrafe für Erw. ausgeführt hat (dazu § 18, 19), gilt für J in erhöhtem Maße. Nach der Neufassung von Abs. II durch das 1. JGGÄndG ist es fehlerhaft, die Strafaussetzung abzulehnen, weil die Taten keinerlei bes. Umstände aufweisen, die es rechtfertigen könnten, die JStrafe nicht zu vollstrecken57. Die obligatorische Aussetzung zur Bew. wird bei Abs. II nur durchbrochen, wenn die Voll15 streckung im Hinblick auf die Entwicklung des J geboten ist. Diese Einschränkung ist bewusst58 und deutlich von Abs. I abgesetzt, wo Gründe der Erz., die auch bei der Strafbemessung entscheidendes Gewicht haben (§§ 17 II, 18 II), in die Sozialprognose hineinwirken. Bei Abs. II dürfen also erz. Gründe nicht nochmals eine – und hier dem J nachteilige (vgl. dazu Einf. 91) – Wirkung entfalten. Der Begriff „Entwicklung“ schließt auch klar eine Einschränkung aus Gründen der Verteidigung der Rechtsordnung, einem Teilaspekt der Generalprävention, aus (vgl. Rn 12). Trotz günstiger Prognose kann im Einzelfall die – insbes. auch absehbare – Entwicklung des J oder Hw. aus weiteren Gründen gegen die Aussetzung der JStrafe sprechen. Das trifft insbes. JStrafen wegen Schwere der Schuld (dazu näher § 17, 29), auch bei gut eingeordneten J, bei Konflikttaten und bei Verführung. Denn es kann sowohl eine JStrafe von mehr als 2 Jahren als auch Strafaussetzung bei der geringeren Strafe unangemessen sein und auch vom J so empfunden werden59. Böhm60 kann sich bei guter Prognose einen Grund zur Vollstreckung in der Entwicklung des J nicht vorstellen. Auch nach Westphal61 hat Abs. II keinerlei eigenständige Bedeutung. Bestimmte Delikte dürfen nicht grds. eine Strafaussetzung zur Bew. verhindern62.

54 55 56 57 58 59 60 61 62

BGH StV 91, 423. Begr. RegE zum EGStGB, BT-Drs. VI/3250, S. 314 f; Begr. RegE eines 1. JGGÄndG, BT-Drs. 11/5829, S. 20. StV 89, 478. BGH StV 91, 424. BT-Drs. 11/5829, S. 20. Vgl. Böttcher/Weber NStZ 91, 8. NJW 91, 537. S. 24. Schon BGH 6, 300. 204

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Für die Anwendung des Abs. II ist eine Gesamtwürdigung von Tat und Täterpersönlichkeit 16 erforderlich63. Auch bei der Frage, ob die Strafvollstreckung im Hinblick auf die Entwicklung des J geboten ist, wird der Subsidiaritätsgrundsatz (vgl. Rn 14) entscheidend. Denn auch drohenden Entwicklungsschäden kann mit geeigneten therapeutischen oder sonstigen ambulanten Maßnahmen entgegengetreten werden (§§ 23, 10, 15). Erz. Erwägungen, die allerdings grds. nur bei der Prüfung der Voraussetzungen des Abs. I eine wesentliche Rolle spielen, fordern und rechtfertigen es, auch ein Risiko zu übernehmen; dieser das gesamte JStrafrecht beherrschende Grundgedanke darf und soll bei der Prüfung der Frage, ob die Entwicklung des J die Vollstreckung fordert, zu dessen Gunsten ins Gewicht fallen. Ist die negative Entwicklung noch nicht zu eingefahren, können sorgsam gewählte Auflagen im Zusammenwirken mit der drohenden Vollstreckung möglicherweise die weitere Entwicklung günstig beeinflussen. Die Aussetzung nach Abs. II kann auch bei Tatbegehung während einer laufenden BewZeit gerechtfertigt sein, wenn der durch UHaft beeindruckte Täter sich bemüht, sein bisheriges Leben zu verändern, in einem festen Arbeitsverhältnis steht, wieder bei seinen Eltern wohnt und versucht, seine Alkoholprobleme in den Griff zu bekommen64. Die schwierige und entscheidend eingreifende Ausnahmeentscheidung nach Abs. II setzt eine eingehende Persönlichkeitserforschung und die prognostische Beurteilung (vgl. Einf. 73–78) des Entwicklungsganges voraus, was zu bes. Vorsicht mahnt. In der Gesetzesbegründung65 wird sogar darauf hingewiesen, dass auf Beratung durch einen Sachverständigen (§ 43 II) meist nicht verzichtet werden könne, wenn ein solcher Ausnahmefall nahe liege. Abs. II entspricht mit der Erleichterung der Strafaussetzung dem Bedürfnis und Wunsch der 17 Praxis, was sich auch in den Zahlen der BewHilfestatistik zeigt. Er gibt den Weg frei, für die J und Hw. „die Möglichkeiten des modernen Strafrechts möglichst individualisierend und iSd kontrollierten Risikos der Resozialisierung anzuwenden“66. Zugleich führt auch hier das stets zu beachtende Grundprinzip der Erz. zu dem J günstigen Lösungen.

5. Weitere Einzelheiten Es kann immer nur die ganze Strafe ausgesetzt werden (Abs. III 1). Doch hindert die Anrechnung von UHaft67 oder vorher verbüßter JA oder JStrafe im Falle des § 31 II die Strafaussetzung nicht (Abs. III 2; Rn 6). Nach Vollstreckung eines Teils ist Aussetzung des Strafrestes gem. § 88 möglich. Strafaussetzung zur Bew. wird im Anschluss an die Verhandlung durch Urteil oder nachträglich durch Beschluss angeordnet (§ 57). Zur Vorbewährung §§ 61 ff; zur Abstimmung § 57, 2. Das Erw.-Gericht muss die Folge-Entscheidungen (§§ 22–26a) dem JRichter übertragen, in dessen Bezirk sich der J oder Hw. aufhält (§ 104 V 1). Zum Verhältnis der „schädlichen Neigungen“ zu § 21 vgl. § 17, 38. Mit der Anordnung der Strafaussetzung sollen helfende und spürbare Weisungen und Auflagen angeordnet werden (§ 23); gleichzeitig muss ein BewHelfer bestellt werden (§ 24; vgl. § 23, 3). Zur Bew. ausgesetzte JStrafe bis zu 2 Jahren wird nicht in das Führungszeugnis aufgenommen (§ 32 II Nr. 3 BZRG; Vor § 97, 21). Urteilsfassung § 54, 3; Urteilsbegründung RL 3, § 54, 15; Rechtsmittel § 59, 1 f. Schweigen die Urteilsgründe zu einer Strafaussetzung, obwohl nach den Feststellungen eine solche Erörterung nicht fern liegt, so liegt darin ein sachlich-rechtlicher Mangel68. 63 64 65 66 67 68 205

BGH StV 96, 270. BGH StV 96, 27. BT-Drs. 11/5829, S. 20. Kerner in Nörr, Hrsg., 40 Jahre Bundesrepublik Deutschland 40 Jahre Rechtsentwicklung, 1990, S. 371. BGH 6, 391. BGH Beschl. v. 31.7.1978 – 4 StR 378/78 – u. v. 7.9.1978 – 4 StR 456/78.

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6. Strafaussetzung für Drogentäter 22 Die dem Vollstreckungsleiter eingeräumte Möglichkeit, bei Betäubungsmittelabhängigen nach § 35 BtMG die Strafvollstreckung zurückzustellen, enthebt den erkennenden JRichter nicht der Verpflichtung, auch hier die Voraussetzungen nach § 21 zu prüfen und vorrangig hierüber zu entscheiden (näher § 17, 44; zur Zurückstellung der Strafvollstreckung insgesamt § 17, 40–60). 23 Bei JStrafe69 kann der Therapiewille des Drogenabhängigen unter Annahme günstiger, hier notwendig bes. risikobelasteter Sozialprognose (Rn 7) durch Strafaussetzung berücksichtigt werden, wobei der das JStrafrecht beherrschende ErzGedanke zu weitergehenden Entscheidungen als bei Erw. führen kann70. Entscheidend ist es, durch bes. auf die Täterpersönlichkeit abgestimmte BewWeisungen nach §§ 23 I, 10 (Entziehungskur, § 10, 40–43; Aufenthalt, Arbeit, Herausnahme aus gefährdenden Gruppierungen § 10, 11, 12, 13, 31; allg. zu Weisungen u. Auflagen an Drogentäter § 10, 49–51; § 15, 24) die Entscheidung zu stützen, den Probanden zu leiten und zu motivieren (Einf. 66–69) und eine therapeutische Kette zur Beseitigung der psychischen Abhängigkeit aufzubauen. Bei noch bestehender physischer Abhängigkeit verspricht eine ambulante Behandlung kaum Erfolg. Unmittelbar vor der Hauptverhandlung erlittene UHaft kann im Einzelfall das Risiko der Prognose vermindern und für den Abhängigen eine wertvolle Motivationshilfe sein. Der BGH71 hat bei einer Konsumentin von Heroin und Kokain eine für Bew. günstige Sozialprognose gebilligt, weil sie nach der Inhaftierung drogenfrei geblieben war, freiwillig und konstruktiv an einer ambulanten Drogentherapie teilgenommen und ihr Verhältnis zu den Eltern verbessert hatte. Zu Vorstrafen Rn 8. Die an sich möglichen freiwilligen Zusagen (§ 23 II; näher § 23, 8) sollte man bei Drogenabhängigen schon deshalb nicht genügen lassen, weil sie ohne Hilfe außerstande sind, solche einzuhalten, weil der unmittelbare Motivationsdruck der drohenden Strafe fehlt und weil bei ernstlichem Versagen nicht prompt Widerruf der Bewährung folgen kann, sondern erst mit therapiefeindlicher Verzögerung erstmals eine entsprechende BewAuflage erteilt werden muss. 24 Eine verständnisvolle, aber auch sorgfältige Führung und Überwachung durch BewHelfer ist für den Erfolg entscheidend72, denn es fehlt zumeist das gesicherte Umfeld und auf Vorsätze und Ausdauer des Abhängigen kann man kaum bauen. Der BewHelfer muss die Weisungen überwachen und soll Verbindung zu geeigneten Einrichtungen haben, um dem Probanden wirklich helfen und ihm auch das verführerische Scheinargument nehmen zu können, er sei besten Willens, aber außerstande, bei einer solchen Einrichtung anzukommen. So wird auch die notwendige Effizienzkontrolle73 gewährleistet, der auch Urinkontrollen (zur Zulässigkeit § 10, 33) dienen74. Urinkontrollen können nur als Weisung und nicht als Auflage aufgegeben werden75. Die Weisung, die Kosten für die Untersuchung der abgegebenen Urinprobe zu tragen, ist nach LG Baden-Baden76 nicht zulässig. Es zeigt die Praxis, dass bei allen Enttäuschungen, die Helfer im Drogensektor auf sich nehmen müssen, eine gezielte Betreuung durch einen BewHelfer unter Strafdruck – zugleich unter intensiver ambulanter Bemühung und Führung – die Strafaussetzung für Drogenabhängige davor bewahren kann, eine „Entlassung in den Rückfall“77 zu werden. Es bleiben aber Fälle, bei denen der bindende Gesetzesauftrag, insbes. bei krimineller Ver69 Zu den Voraussetzungen „Schwere der Schuld“ u. „schädliche Neigungen“ bei Drogenabhängigen Brunner JR 73, 89 ff u. Zbl. 80, 415 ff. 70 BGH bei Spiegel DAR 79, 184; OLG Düsseldorf StV 83, 373. 71 B NStZ 89, 522. 72 Zu praktischen Erfahrungen des Sozialarbeiters im Umgang mit Drogenabhängigen s. Butzko BewH 82, 245. 73 Barth Die medizinische Welt 1973, Nr. 3. 74 Zur Verweigerung einer Urinprobe LG Kleve NStZ 89, 48. Über eine Abnahme positiver Befunde bei Urinkontrollen als BewWeisung berichten Leber/Friedrich/Weigend BewH 93, 186; dazu kritisch Faller BewH 93, 357; zur Durchführung der Kontrollen s. Musshoff/Sachs ZJJ 16, 345. 75 LG Detmold StV 99, 662. 76 NStZ-RR 01, 277. 77 So aber Körner ZRP 80, 57. 206

Bewährungszeit

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flechtung, dem Richter auch und gerade bei Berücksichtigung der Täterpersönlichkeit nur auf JStrafe ohne Bewährung zu erkennen erlaubt (vgl. dazu aber auch § 17, 44). Zum Widerruf der Strafaussetzung bei Drogentätern § 26a, 17 f; zur Aussetzung des Restes einer JStrafe § 88, 22. Zur Entziehungskur § 10, 40–43. Zu Therapieeinrichtungen Einf. 69 u. § 10, 42. Zur Entziehung der Fahrerlaubnis § 7, 14. Allg. Einf. 66–71. Weitere Hinweise Einf. 72.

§ 22 Bewährungszeit (1) 1Der Richter bestimmt die Dauer der Bewährungszeit. 2Sie darf drei Jahre nicht überschreiten und zwei Jahre nicht unterschreiten. (2) 1Die Bewährungszeit beginnt mit der Rechtskraft der Entscheidung über die Aussetzung der Jugendstrafe. 2Sie kann nachträglich bis auf ein Jahr verkürzt oder vor ihrem Ablauf bis auf vier Jahre verlängert werden. 3In den Fällen des § 21 Abs. 2 darf die Bewährungszeit jedoch nur bis auf zwei Jahre verkürzt werden. 1. Hw.-J: § 105 I. – 2. ErwG: § 104 I Nr. 1, V 1; § 21, 19 aE, § 58, 11.

Das Gesetz kennt nur eine bestimmte BewZeit zwischen 2 und 3 Jahren. Wegen der Unsicherheit aller Voraussagen ist streitig, ob sich der Richter am Mindestmaß1 oder am Höchstmaß orientieren soll. Es kommt auf den Einzelfall an. Die BewZeit sollte danach bemessen werden, wie lange der Verurteilte voraussichtlich benötigt, um vollständig in ein straffreies Leben integriert zu werden2. Im Übrigen ist Verkürzung oder Verlängerung (Rn 3 u. 4) möglich. Die BewZeit beginnt mit der Rechtskraft des Urteils oder Beschlusses, welche die Strafaussetzung anordnen (§ 57). Der Endtermin wird am besten durch ein Datum festgelegt3. Andernfalls ist das Ende nach § 188 BGB zu berechnen. In der BewZeit erlittener Freiheitsentzug verlängert jene nicht4. Für die Dauer der BewZeit ist dem BewH als Person ein Amt übertragen5. Verkürzung auf ein Jahr ist nach pflichtgemäßem Ermessen möglich, etwa bei unerwartet günstiger Entwicklung und rascher Resozialisierung. Wurde jedoch eine JStrafe von mehr als 1 Jahr zur Bew. ausgesetzt (§ 21 II), darf die BewZeit nur bis auf 2 Jahre verkürzt werden (§ 22 II 3). Eine Verlängerung der BewZeit ist auf längstens 4 Jahre möglich. Anstelle eines sonst gebotenen Widerrufs kann die Verlängerung der BewZeit auch nach deren Ablauf erfolgen6. Kann die Bew. auch nach Ablauf der BewZeit widerrufen werden, darf die Möglichkeit der Widerrufsvermeidung durch Verlängerung der BewZeit nicht genommen werden7. Die nachträgliche Verlängerung schließt sich unmittelbar, also rückwirkend, an die ursprüngliche BewZeit an; eine Straftat zwischen dem Ende der ursprünglichen BewZeit und dem Verlängerungsbeschluss darf aber nicht zum Widerruf führen, weil der Verurteilte zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß, ob die BewZeit weiterläuft8. Die BewZeit darf bis zum Höchstmaß verlängert werden, wenn die

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So tendenziell Eisenberg/Kölbel 3; Ostendorf 2 u. StV 87, 320. KG DVJJ-J 02, 467, 468. Zust. Eisenberg/Kölbel 3; aA Ostendorf 3 u. StV 87, 321. Dreher Anm. zu OLG Braunschweig NJW 64, 1581, das nach der Länge der Zeit differenziert; zust. Eisenberg/ Kölbel 9; Ostendorf 6. 5 Neupert BewH 82, 313. 6 OLG Stuttgart MDR 81, 69; OLG Koblenz NJW 81, 1971; OLG Karlsruhe Justiz 82, 437; OLG Düsseldorf MDR 85, 516; OLG Köln StV 96, 218 jeweils zu § 56 f StGB; DSS/Sonnen § 26a, 16; Eisenberg/Kölbel 8; Ostendorf 4; aA OLG Hamm MDR 80, 1036 u. NJW 81, 697; OLG München MDR 82, 689 jeweils zu § 56 f StGB aF; Hein NStZ 83, 252. 7 Eisenberg/Kölbel § 26a, 18. 8 OLG Schleswig NStZ 86, 363; SchlHA 98, 116; OLG Stuttgart Justiz 98, 131, jeweils zu § 56 f StGB; Dölling NStZ 89, 348; Ostendorf § 26, 12. 207 https://doi.org/10.1515/9783110686401-025

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bisher festgesetzte BewZeit bei den dem Verurteilten möglichen Ratenzahlungen die auferlegte Schadenswiedergutmachung sonst nicht erreicht9. 5 Wegen der prozessualen Fragen §§ 58, 59 II. 6 Die Vollstreckungsverjährungsfrist verlängert sich um die tatsächliche BewZeit (§§ 79a Nr. 2b StGB, 2 II JGG).

§ 23 Weisungen und Auflagen (1) 1Der Richter soll für die Dauer der Bewährungszeit die Lebensführung des Jugendlichen durch Weisungen erzieherisch beeinflussen. 2Er kann dem Jugendlichen auch Auflagen erteilen. 3Diese Anordnungen kann er auch nachträglich treffen, ändern oder aufheben. 4Die §§ 10, 11 Abs. 3 und § 15 Abs. 1, 2, 3 Satz 2 gelten entsprechend. (2) Macht der Jugendliche Zusagen für seine künftige Lebensführung oder erbietet er sich zu angemessenen Leistungen, die der Genugtuung für das begangene Unrecht dienen, so sieht der Richter in der Regel von entsprechenden Weisungen oder Auflagen vorläufig ab, wenn die Erfüllung der Zusagen oder des Anerbietens zu erwarten ist. 1. Hw.-J: § 105 I; § 10, 7 und § 15, 2. – 2. ErwG: § 104 I Nr. 1, V 1; § 21, 19 aE, § 58, 11. – 3. Sold. Rn 3.

Richtlinien zu § 23 1.

2. 3. 4.

Wegen des Inhalts von Weisungen und Auflagen im Rahmen der Bewährung wird auf die Richtlinie Nr. 1 zu § 10 und die Richtlinien Nrn. 1 bis 3 zu § 15, wegen der Kosten ihrer Durchführung auf die Richtlinie Nr. 6 zu § 10 hingewiesen. Für die nachträgliche Änderung von Weisungen oder Auflagen gilt die Richtlinie Nr. 1 zu § 11 entsprechend. Die Weisungen oder Auflagen werden in einem Bewährungsplan zusammengestellt, der dem Jugendlichen auszuhändigen ist (§ 60). Für die Befragung, ob der Jugendliche Zusagen machen oder sich zu Leistungen erbieten will, gilt § 57 Abs. 3 Satz 1.

1 Der J soll in der BewZeit intensiv erzogen und muss deshalb – bis auf ganz wenige Ausnahmen – einschneidenden („die Lebensführung beeinflussenden“) Weisungen oder (und) Auflagen unterworfen werden, die seiner Persönlichkeit und seinen Lebensverhältnissen entsprechen. Sie haben neben der Erz.- auch Ahndungsfunktion.1 Die Strafaussetzung zur Bew. sollte in ihrer Wirkung regelmäßig nicht wesentlich hinter dem Strafvollzug zurückbleiben2, denn während der BewZeit steht der J nach Hellmer3 „in einer vom Staat abgeleiteten und zweckgebundenen Freiheit“. Als BewAuflage sind nur Weisungen (§ 10) und Auflagen (§ 15) vorgesehen. Grds. gilt das 2 dort Gesagte, bes. die Warnung vor jedem Schema und das in §§ 10 I 2, 15 I Nr. 3 S. 2 normierte Verbot, unzumutbare Anforderungen zu stellen (§ 10, 10; § 15, 16). Weisungen und Auflagen müssen klar, bestimmt und in ihrer Einhaltung überprüfbar sein (§ 10, 16; § 11, 8)4. Der J muss unmissverständlich wissen, wann er einen Widerruf der Strafaussetzung zu erwarten hat5. Die Anordnung, sich einer ambulanten Drogentherapie zu unterziehen, reicht nicht, vielmehr müs9 OLG Hamburg MDR 80, 246; aA Ostendorf 5, weil damit der Tatbezug nicht beachtet werde. 1 Eisenberg/Kölbel 3; Itzel S. 39; Miehe Die Bedeutung der Tat im JStrafrecht, 1964, S. 56 ff; Ulmschneider Durchführung, Erfolg u. rechtl. Grenzen der BewAuflage bei J, Diss. Kiel 1966, S. 195. 2 Potrykus B 1. 3 Die Strafaussetzung im JStrafrecht, 1959, S. 56. 4 OLG Frankfurt ZJJ 03, 414; KG StV 14, 746; OLG Braunschweig NStZ 12, 575 (zur Weisung nach § 10). 5 BVerfG StV 12, 481; NJW 16, 148, 149; OLG Braunschweig NStZ 12, 575; KG StV 14, 746. 208 https://doi.org/10.1515/9783110686401-026

Weisungen und Auflagen

§ 23

sen Festlegungen über die Einrichtung sowie die Art und Häufigkeit der wahrzunehmenden Termine getroffen werden6. Zur Arbeitsweisung § 10, 16. Zu unzulässigen Weisungen, Deutschland zu verlassen bzw. nicht einzureisen, § 10, 4. Zur unzulässigen Weisung „allen Weisungen des BewHelfers Folge zu leisten“: Rn 3. Die in § 15 nicht vorgesehene Auflage, Geldzahlungen an die Landeskasse zu leisten, ist unzulässig7. Die Maßnahmen haben als BewAuflagen durch die Drohung des Widerrufs ein größeres Gewicht und noch dort Erfolgsaussichten, wo Weisungen und Auflagen ohne den Druck der Strafaussetzung nicht mehr am Platze wären. Oft sind Weisungen angezeigt, die die Durchführung der BewAufsicht erleichtern, ja eine sinnvolle Betreuung häufig erst ermöglichen, etwa die Verpflichtung, den Vorladungen des BewHelfers zur Sprechstunde Folge zu leisten. Der JRichter darf den J anweisen, sich um eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu bemühen (vgl. § 10, 12)8 und Wohnung sowie Arbeitsplatz nur mit Genehmigung des BewHelfers zu wechseln9. Ist der Verurteilte wirtschaftlich nicht in der Lage, die Kosten einer Therapieweisung zu tragen, muss nach dem OLG Karlsruhe10 und dem OLG Stuttgart11 (jeweils zum allg. Strafrecht) die Staatskasse dafür aufkommen. Die Anordnung einer „elektronischen Fessel“ kommt – mit Einwilligung des J – allenfalls dann in Betracht, wenn andernfalls eine Strafaussetzung nicht verantwortet werden könnte12. Die Auflagen sind auf die obligatorische Mitwirkung des BewHelfers (§ 24) abzustellen, 3 wobei beachtet werden muss, dass BewZeit und Zeitraum der Unterstellung unter den BewHelfer auseinander fallen können und zumeist auch werden (näher § 25, 1 u. 2). Sie flexibel zu gestalten, empfiehlt Müller-Engelmann13. Zu spezielle Auflagen würden die Tätigkeit des Bewährungshelfers ungünstig einengen14. Es kann die Weisung, sich der Aufsicht und Leitung des BewHelfers generell oder im Hinblick auf ein bestimmtes Gebiet (Arbeit, Freizeit, Geld) zu unterstellen, genügen. Fügt sich der J nicht und verweigert er sich bes. gegenüber Ratschlägen, deren Nichtbefolgung den Erfolg der Bew. in Frage stellt, kann der JRichter gem. § 23 I 3 entsprechende Weisungen erteilen15. Dem BewHelfer kann dieses staatliche Hoheitsrecht nicht übertragen werden16 (vgl. § 10, 19). Bei Soldaten soll der Richter die Besonderheiten des Wehrdienstes berücksichtigen und erteilte Weisungen und Auflagen diesen Besonderheiten anpassen (§ 112a, 7; § 11, 4; § 15, 22 f). Nach § 112d soll vorher der nächste Disziplinarvorgesetzte gehört werden. Die Auflagen im Einzelnen können nur für die BewZeit getroffen werden, sich innerhalb 4 dieser aber auch auf einen kürzeren Zeitraum erstrecken oder sich in einem einmaligen Tun erschöpfen. Die Auflagen im Bereich des BewVerfahrens können auch erst nachträglich getroffen, aufge- 5 hoben oder – sogar zuungunsten (näher § 55, 48) – geändert, auch durch andere ersetzt werden, wenn neue tatsächliche Umstände eingetreten oder schon früher vorhandene Tatsachen nachträglich bekannt geworden sind17. Eine bloße Änderung der Bewertung von Rechtsfragen reicht jedoch nicht aus18. Die Entscheidungen über BewAuflagen enthalten somit keine endgültigen Anordnungen (§ 23 I 3), was es ermöglicht, den Behandlungsplan der weiteren Entwick6 OLG Frankfurt ZJJ 03, 414. 7 OLG Zweibrücken NStZ 92, 84 mit Anm. Ostendorf. 8 Vgl. BVerfG NJW 83, 463. 9 BVerfG NStZ 81, 21; zum Teil zweifelnd Eisenberg/Kölbel 12. 10 NStZ-RR 11, 30; 14, 62. 11 StV 13, 168; zust. Böhm Kriminalistik 15, 594. 12 Vgl. LG Frankfurt NJW 01, 697 zu § 56c StGB; für Notwendigkeit einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung Ostendorf ZRP 97, 475; Walter ZfStrVo. 99, 291. BewH 82, 335. Dallinger/Lackner § 24, 3. Berndt BewH 63, 229. Pentz NJW 58, 1768; Berndt BewH 63, 229. BGH NJW 82, 1544 = JR 82, 338 mit zust. Anm. Meyer, dazu näher § 55, 48; OLG Nürnberg GA 62, 91; OLG Hamm NJW 76, 527 u. 78, 1596; Fischer § 56e StGB Rn 2; LK/Hubrach § 56e StGB 3. 18 Fischer aaO.

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lung des J, seinen Fortschritten und Rückschlägen oder einer einschneidenden Veränderung seiner Lebensverhältnisse anzupassen (RL 2 iVm RL 1 zu § 11)19. Die BewAuflagen können sogar erst nachträglich getroffen werden, was dann zweckmäßig ist, wenn noch Ermittlungen über die günstigste Möglichkeit der Beeinflussung geführt werden müssen. Sinnvolle Auflagen sind häufig erst nach dem Erstbericht des BewHelfers über Persönlichkeit und Umwelt des Verurteilten möglich; im Hinblick auf die Abänderbarkeit können zur Überbrückung der Zwischenzeit vorläufige Auflagen angeordnet werden. Ostendorf20 hingegen sieht hierin eine etappenweise Sanktionierung mit unangemessener Härte. Kommt der Proband den als BewAuflagen erteilten Weisungen oder Auflagen schuldhaft nicht nach, so kann JA verhängt werden, wenn eine Belehrung über die Folgen schuldhafter Zuwiderhandlung – zweckmäßigerweise bei der Belehrung über die Strafaussetzung und (oder) mit dem Bewährungsplan (§ 60, 9) – erfolgt war (§§ 23 I 4, 11 III, 15 III 2). Es gelten die in § 11, 5 dargelegten Grundsätze. Rasch verhängter JA kann den Widerruf vermeiden helfen. Wegen Nichtbefolgung der unzulässigen Auflage, einen Geldbetrag an die Landeskasse zu zahlen, darf JA nicht verhängt werden21. Nach Ablauf der BewZeit kommt JA nicht mehr in Betracht22. Abs. II ermöglicht es, bei Zusagen und Anerbieten angemessener Leistungen vorläufig von Auflagen abzusehen und dem J selbst die Initiative für eine Genugtuungsleistung zu überlassen. Dies kann ein wirksamer Appell an den guten Willen und das Ehrgefühl des J sein. In der Ausnahmesituation der Hauptverhandlung (Einf. 112) jedoch wird der J idR mit einer solchen Entscheidung überfordert, selbst wenn er vorher von Eltern und JGH oder Verteidiger beraten wurde und der Richter zu ruhigem Gespräch die nötige Zeit findet. Das Ob und Wie der Fragestellung fordern pädagogisches Einfühlungsvermögen. Nur der Gutwillige wird hierdurch angesprochen werden und nicht nur eine augenblickliche Ausflucht suchen; häufig dagegen wird der J nur die Alternative Freiheit oder Strafe sehen und die Last seiner Anerbieten unter-, seine Möglichkeiten aber überschätzen. Auf in dieser Situation nahe liegende Versprechungen, die zum Inhalt eines BewVerfahrens zu machen nichts helfen würde, darf der Richter nicht eingehen (§ 23 II „idR“). Ostendorf23 empfiehlt, in der Hauptverhandlung auf Zusagen und Anerbieten erst einzugehen, wenn die Frage nach den Straftatvoraussetzungen informell beantwortet ist (informelles Schuldinterlokut). – Hält der J seine Zusagen nicht ein, so ist dies kein Widerrufsgrund (s. § 26a, 7), sondern Anlass, einen entsprechenden Auflagenbeschluss zu erlassen, der dann allerdings mit Ungehorsamsarrest bewehrt ist. Die Überwachung obliegt nicht der JGH, sondern dem BewHelfer (§ 24 I). Durchsuchungen und Beschlagnahmungen zur Überwachung der Lebensführung während der BewZeit sind nicht zulässig24. Zu prozessualen Fragen u. BewPlan RL 3 u. §§ 58–60, insbes. § 26a, 16; zur Anfechtung § 59, 6; zum Verschlechterungsverbot § 55, 47, 63. Zur Bestellung eines Betreuungshelfers (§ 10) bei vollziehbarer JStrafe § 17, 39.

§ 24 Bewährungshilfe (1) 1Der Richter unterstellt den Jugendlichen in der Bewährungszeit für höchstens zwei Jahre der Aufsicht und Leitung eines hauptamtlichen Bewährungshelfers. 2Er kann 19 20 21 22 23 24

Zust. Ostendorf 11; einschränkend Eisenberg/Kölbel 9 f. 10. OLG Zweibrücken NStZ 92, 84 mit Anm. Ostendorf. AG München ZJJ 16, 83. 7. KG NJW 99, 2979. 210

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Bestellung und Pflichten des Bewährungshelfers

§ 25

ihn auch einem ehrenamtlichen Bewährungshelfer unterstellen, wenn dies aus Gründen der Erziehung zweckmäßig erscheint. 3§ 22 Abs. 2 Satz 1 gilt entsprechend. (2) 1Der Richter kann eine nach Absatz 1 getroffene Entscheidung vor Ablauf der Unterstellungszeit ändern oder aufheben; er kann auch die Unterstellung des Jugendlichen in der Bewährungszeit erneut anordnen. 2Dabei kann das in Absatz 1 Satz 1 bestimmte Höchstmaß überschritten werden. (3) 1Der Bewährungshelfer steht dem Jugendlichen helfend und betreuend zur Seite. 2 Er überwacht im Einvernehmen mit dem Richter die Erfüllung der Weisungen, Auflagen, Zusagen und Anerbieten. 3Der Bewährungshelfer soll die Erziehung des Jugendlichen fördern und möglichst mit dem Erziehungsberechtigten und dem gesetzlichen Vertreter vertrauensvoll zusammenwirken. 4Er hat bei der Ausübung seines Amtes das Recht auf Zutritt zu dem Jugendlichen. 5Er kann von dem Erziehungsberechtigten, dem gesetzlichen Vertreter, der Schule, dem Ausbildenden Auskunft über die Lebensführung des Jugendlichen verlangen. 1. Hw.-J: § 105 I. – 2. ErwG: § 104 I Nr. 1, V 1; § 21, 19 aE, § 58, 11. – 3. Sold. Rn 17.

§ 25 Bestellung und Pflichten des Bewährungshelfers 1

Der Bewährungshelfer wird vom Richter bestellt. 2Der Richter kann ihm für seine Tätigkeit nach § 24 Abs. 3 Anweisungen erteilen. 3Der Bewährungshelfer berichtet über die Lebensführung des Jugendlichen in Zeitabständen, die der Richter bestimmt. 4Gröbliche oder beharrliche Verstöße gegen Weisungen, Auflagen, Zusagen oder Anerbieten teilt er dem Richter mit. 1. Hw.-J: § 105 I. – 2. ErwG: § 104 I Nr. 1. – 3. Sold. Rn 17.

Richtlinien zu §§ 24 und 25 1.

2. 3.

4.

5. 6.

Da der Bewährungshelfer seine Überwachungsaufgaben im Einvernehmen mit dem Gericht erfüllt und das Gericht ihm auch für seine betreuende Tätigkeit Anweisungen erteilen kann, ist eine enge persönliche Zusammenarbeit zwischen Gericht und Bewährungshelfer unerläßlich. Es empfiehlt sich jedoch, die Selbständigkeit des Bewährungshelfers bei der Betreuung des Jugendlichen möglichst nicht einzuschränken. Das Gericht unterstützt den Bewährungshelfer in dem Bemühen, ein persönliches, auf Vertrauen beruhendes Verhältnis zu dem Jugendlichen zu gewinnen. Um die Entwicklung des Jugendlichen während der Bewährungszeit beobachten zu können, empfiehlt es sich, dem Bewährungshelfer zur Pflicht zu machen, in anfangs kürzeren, später längeren Zeitabständen über seine Tätigkeit und über die Führung des Jugendlichen zu berichten (§ 25 Satz 3). Ferner empfiehlt es sich, darauf hinzuwirken, daß der Bewährungshelfer nicht nur gröbliche und beharrliche Verstöße des Jugendlichen gegen Weisungen, Auflagen, Zusagen oder Anerbieten (§ 25 Satz 4), sondern auch alles Wesentliche mitteilt, was ihm über die Entwicklung des Jugendlichen, seine Lebensverhältnisse und sein Verhalten bekannt wird. Besondere Vorfälle teilt der Bewährungshelfer dem Gericht sofort mit. Für den Schlußbericht des Bewährungshelfers wird auf die Richtlinie Nr. 1 zu §§ 26, 26a hingewiesen. Gegenüber anderen Personen und Stellen wird der Bewährungshelfer Verschwiegenheit wahren, um insbesondere auch das für die Erziehungsarbeit notwendige Vertrauensverhältnis zwischen ihm und dem Jugendlichen nicht zu beeinträchtigen. Dies gilt nicht im Verhältnis zu den dienstaufsichtsführenden Stellen. Vor Bestellung eines ehrenamtlichen Bewährungshelfers soll seine Eignung für die Betreuung des Jugendlichen sorgfältig geprüft und seine Einwilligung eingeholt werden. Soweit in den Ländern für die Tätigkeit der Bewährungshilfe, auch im Rahmen der Führungsaufsicht (§§ 68a ff StGB), spezielle Verwaltungsvorschriften ergangen sind, wird auf diese hingewiesen.

211 https://doi.org/10.1515/9783110686401-028

§ 25

2. Teil. Jugendliche

Schrifttum Ayass RegE zur Änderung des JGG, BewH 90, 117; Becher Beiträge zur rechtlichen Stellung des BewHelfers, Diss. Hamburg 1966; Becker Bew. u. BewHilfe, Diss. Münster 1961; Block Rechtliche Strukturen der Sozialen Dienste in der Justiz, 2. Aufl. 1997; Brause Datenschutz in der Bew- u. Gerichtshilfe unter Berücksichtigung Thüringens, BewH 96, 221; Bruns Die Schweigepflicht der Sozialen Dienste der Justiz, 1996; Butzko Praktische Erfahrungen des Sozialarbeiters im Umgang mit Drogenabhängigen, BewH 82, 245; Cornel Rechtl. Aspekte der Wahrnehmung der Dienst- u. Fachaufsicht im Bereich der BewHilfe, GA 90, 55; ders. Probanden der BewHilfe für J u. Hw. in Berlin, BewH 00, 302; Cyrus Ehrenamtliche Laienhelfer … in der BewH, BewH 82, 357; Damian Geheimnisschutz u. Offenbarungspflichten in der BewHilfe, BewH 92, 325; Dölling Qualitätsstandards für die BewHilfe, FS Rösner, 2015, S. 75; Dölling/ Entorf/Hermann Kriminologisch-ökonomische Evaluation der fachlichen Qualität der Bew.- u. Gerichtshilfe sowie des Täter-Opfer-Ausgleichs in Baden-Württemberg, 2015; Foth Grenzen der Berichtspflicht des BewHelfers, BewH 87, 194; Friedrichs Stellung, Aufgabe u. Arbeitsweise des BewHelfers, in Röhrs, Hrsg., Sozialpädagogik u. ihre Theorie, 1968, S. 310; Fünfsinn BewHilfe u. Datenschutz im Strafverfahren, BewH 93, 117; Gräber Die Stellung des BewHelfers in Strafrechtspflege u. Justizverwaltung, BewH 82, 302; Haverkamp/Walsh Intensivbewährungshilfe bei j. u. hw. Intensiv- u. Mehrfachtätern, BewH 14, 117, Helgerth Das Verhältnis BewH u. Proband – Rechtliche Aspekte, BewH 81, 248; Hellmer Die rechtl. Stellung des BewHelfers, RdJ 57, 383; Hesener Die Arbeitsbeziehung BewHelfer – Proband, 1986; Hulsebosch Motivierende Gesprächsführung für Begleiter von delinquenten J. u. Hw., BewH 12, 370; Kawamura-Reindl/Stancu Die Beziehungsqualität zwischen BewHelfern u. ihren j. u. hw. Probanden, BewH 10, 133; Kerner Strukturen von „Erfolg“ u. „Mißerfolg“ der BewHilfe, BewH 77, 285; Matt Berufshilfe u. JBewHilfe, BewH 03, 319; Middendorff/Schnitzerling/Jung Praktische BewHilfe, 1957; Müller Professionelle Beziehungen in Zwangskontexten, ZJJ 11, 170; Mutz Berichte u. Mitteilungen des BewHelfers, BewH 07, 140; Naß BewHilfe, 1968; H. Peters/CremerSchäfer Die sanften Kontrolleure, 1975; Posch Die Beziehungsarbeit der BewHelfer, DVJJ-J 99, 366; Posser 20 Jahre BewHilfe in Nordrhein-Westfalen, 1973; Potrykus JRecht in den Strafrechtsreformgesetzen, Zbl. 70, 5; Schaper „Das war besser als Chemie“ oder Erlebnispädagogik in der BewHilfe, BewH 04, 389; Schmitt Verschwiegenheitspflicht – Recht auf informationelle Selbstbestimmung: Neue Wege der BewHilfe, BewH 92, 359; Schünemann BewHilfe bei J u. Hw., Diss. Göttingen 1971; Schwarz Profis u. Ehrenamtliche, BewH 90, 50; Sindlinger Zur Berichtspflicht des BewHelfers, insbes. bei neuen Straftaten, BewH 92, 365; Stein/Krämer Intensivhilfe Köln. Neue Wege in der BewHilfe?, BewH 01, 193; Stiels-Glenn Haben Opferperspektiven in der Arbeit der BewHilfe Platz?, BewH 97, 164; Thiesmeyer JGG u. Strafrechtsreform, RdJ 70, 33; Vogt Strafaussetzung zur Bew. u. BewHilfe bei J u. Hw., Diss. Göttingen 1972; Wahl BewHilfe nach dem Ersten u. Zweiten Strafrechtsreformgesetz, BewH 69, 271; Walsh Intensive BewHilfe u. junge Intensivtäter, 2018; dies. Der Einfluss von Intensivbewährungshilfe auf die kriminelle Karriere junger Mehrfach- u. Intensivtäter in Bayern, ZJJ 19, 241; Walter Einige grds. Bemerkungen zum Standort der BewHilfe, BewH 77, 1; Wecker Rechtl. Aspekte der unterlassenen Bestellung eines BewHelfers, BewH 97, 321; Witha u. Gerd Winter BewHelfer im Rollenkonflikt, 1974; vgl. auch die Beiträge in ZJJ 16, 220 ff.

Übersicht 1. 2. 3. 4.

Bewährungs- und Unterstellungszeit Verhältnis des BewHelfers zum Richter 4 Berichtstätigkeit Verhältnis des BewHelfers zum Proban6 den

1 3

5. 6. 7. 8.

Verhältnis des BewHelfers zu Dritten 11 Zutritt zum Jugendlichen und Auskunfts14 recht 15 Anforderungen an die Bewährungshilfe 17 BewHilfe bei Soldaten

1. Bewährungs- und Unterstellungszeit 1 BewZeit und Zeitraum der Unterstellung unter einen BewHelfer fallen auseinander (§§ 22 I, 24 I 1), beginnen aber beide stets mit der Rechtskraft der Entscheidung über die Strafaussetzung (§ 24 I 2 iVm § 22 II 1). Es ist Aufgabe des Richters, eine sinnvolle Beziehung zwischen der Bew.und der Unterstellungszeit für den jeweiligen Probanden herzustellen (dazu Rn 2), was dadurch erleichtert wird, dass bei gebotenem Anlass diese Zeiten nachträglich abgeändert werden können. Als Regel sieht § 24 I 1 innerhalb der BewZeit eine Unterstellungszeit bis zu höchstens 2 Jahren vor. Der Gesetzgeber ist davon ausgegangen, dass der Proband im Regelfall der Hilfe in 212

Bestellung und Pflichten des Bewährungshelfers

§ 25

der Anfangsphase am dringlichsten bedarf1 und er sich nach einer Zeit des Übergangs entweder gefangen hat oder hierzu auch mit Hilfe des BewHelfers nicht imstande ist. Dafür spricht nach der Begründung zum 1. JGGÄndG2 die Tatsache, dass der weitaus überwiegende Teil der jrechtlichen Widerrufsentscheidungen innerhalb von 2 Jahren nach Strafaussetzung ergeht. Eine Betreuung über die erfolgversprechende Zeit hinaus könnte höchstens die Statistik über die Belastung des BewHelfers „verbessern“, wobei selbst „Karteileichen“ zwar nicht viel, aber doch unnötige Arbeit bringen. – Die Bestellung eines BewHelfers ist obligatorisch; unterbleibt sie, ist sie durch Beschluss nach § 58 I 1 nachzuholen3. Die gerade im JStrafrecht zu fordernde Reaktionsbeweglichkeit (Einf. 106) wird dadurch 2 gewahrt, dass der Richter nach § 24 II 1 HS 1 seine Entscheidung über die Zeit der Unterstellung vor deren Ablauf ändern oder aufheben und sogar – innerhalb der BewZeit, die er auch verkürzen oder verlängern kann (§ 22 II 2) – nach § 24 II 1 HS 2 erneut die Unterstellung bis auf insgesamt 4 Jahre anordnen kann (§ 24 II 2 iVm § 22 II 2), was als Extrem aber eine ganz bes. Fallgestaltung voraussetzen dürfte. Das bedeutet für den Richter, dass es idR sinnvoll sein wird, die BewZeit über die Unterstellungszeit hinausreichen zu lassen, um Reaktionsmöglichkeiten zu behalten, zumal er sie stets vorzeitig beenden kann. Der BewHelfer aber wird beim Richter die Abkürzung oder Aufhebung der Unterstellung anregen, wenn sich herausstellt, dass seine Hilfe nicht mehr erforderlich ist oder – mit sehr viel Vorsicht – vergeblich bleibt; ggf. aber kann er auch umgekehrt – während der Unterstellungszeit – deren Verlängerung auf höchstens 4 Jahre vorschlagen. In beiden Fällen wird seine Begründung dem Richter die Nachprüfung ermöglichen müssen. Diese Bestimmungen erlauben es dem Richter und dem BewHelfer, der Entwicklung des Probanden zu folgen und rasch entsprechend zu reagieren. Es werden dadurch Proband und BewHelfer nur belastet, solange und soweit dies sinnvoll ist, und es kann bei entsprechender Beurteilung auch ein neuer Anlauf versucht werden (§ 24 II 1 HS 2). Ayass4 hält es nach den bisherigen Erfahrungen für konsequent, die BewZeiten kürzer zu halten, den Verurteilten aber idR für die gesamte BewZeit einem BewHelfer zu unterstellen, und hat grds. Bedenken, die Dauer der Bestellung von der BewZeit zu lösen5.

2. Verhältnis des BewHelfers zum Richter Mit der Anordnung der Strafaussetzung zur Bew. gibt der Richter durch sinnvolle und gezielte 3 Weisungen und Auflagen (§ 23, 3) der im JStrafrecht zwingend vorgeschriebenen Tätigkeit des BewHelfers die Richtung. Er entscheidet damit, wie sein Versuch durchgeführt und ob er ggf. abgebrochen wird. Den BewHelfer namentlich im Unterstellungsbeschluss zu benennen, kann die personale Beziehung zwischen BewHelfer und Proband fördern6. §§ 24, 25 lockern zu Recht das Unterstellungsverhältnis des BewHelfers zum Richter. Er steht nicht mehr „unter Aufsicht des Richters“ (§ 24 I aF; die Dienstaufsicht liegt bei der Anstellungsbehörde, § 113), sondern überwacht im Einvernehmen mit dem Richter die Erfüllung der Weisungen, Auflagen, Zusagen und Anerbieten (§ 24 III 2; RL 1) und steht dem J zur Seite. Dies gibt dem BewHelfer den für eine hilfreiche Arbeit erforderlichen größeren Spielraum und wahrt im gegebenen Rahmen den Grundsatz der Entscheidungsnähe. Der Richter kann dem BewHelfer für seine Tätigkeit Anweisungen erteilen (§ 25 S. 2). Er sollte jedoch grds. den BewHelfer möglichst frei arbeiten lassen (RL 1 S. 2; § 23, 3), der Richter muss aber das Verfahren so ausgestalten, dass er ein möglichst

1 2 3 4 5 6

Böhm NJW 91, 537. BT-Drs. 11/5829, S. 20. Wecker BewH 97, 324. BewH 90, 117, 120. S. 119. Vgl. Helgerth BewH 81, 249.

213

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vollständiges Bild über den Verlauf der BewZeit gewinnt7. – Nur ein enges, unbürokratisches Vertrauensverhältnis kann zum Erfolg führen; ständiger persönlicher Kontakt durch offene Gespräche ist unentbehrlich (RL 1 S. 1, 2)8. Der Richter muss (§ 58 I 2) den BewHelfer vor der Erteilung und Abänderung von Auflagen, vor Verlängerung und Verkürzung der Bew.- oder Unterstellungszeit und vor der Abschlussentscheidung hören, er soll ihn bei seiner ganzen Tätigkeit unterstützen (RL 2). Der BewHelfer soll den Richter möglichst eingehend unterrichten (Rn 4). Auch Rn 12.

3. Berichtstätigkeit 4 Durch Berichte (§ 25 S. 3, 4; RL 3) des BewHelfers wird der Richter stets auf dem Laufenden gehalten und von gröblichen und beharrlichen Verstößen gegen Weisungen, Auflagen, Zusagen oder Anerbieten (§ 25 S. 4) sofort unterrichtet. Mündliche Berichte sind möglich. Häufig wird aber ein schriftlicher Bericht auch bei der Belastung der BewHelfer aus vielerlei Gründen sinnvoll und sicherer sein. Das Hauptgewicht liegt bei der Mitteilung der Tatsachen (insbes. Familienverhältnisse, Arbeit, Schule, Freundschaften, Freizeitgestaltung, Verhältnis zur Tat, wirtschaftliche Verhältnisse, Pläne, Verhältnis des J zum BewHelfer). Daneben ist eine daraus abgeleitete Beurteilung des Täters und seiner Situation zu geben; weiter müssen die Folgerungen, die der BewHelfer daraus zieht, und seine Absichten über die Gestaltung der BewHilfe angegeben werden. – Soweit der Richter das Ermittlungsergebnis für seine Entscheidung benutzen will, darf dies nur nach den Vorschriften der StPO geschehen; der BewHelfer wird deshalb im Bericht zweckmäßig Beweismittel angeben. Der erste Bericht muss umfassend sein; spätere können sich auf die Mitteilung von Änderungen beschränken. Der Schlussbericht (§ 26 RL 1) muss so rechtzeitig vorgelegt werden, dass erforderlichenfalls die Bew.- oder Unterstellungszeit noch verlängert werden kann (§§ 26 II, 22 II 2; RL 1 zu §§ 26, 26a), und sich zur Frage des Straferlasses oder des Widerrufes äußern. 5 Gröbliche oder beharrliche Verstöße gegen Weisungen oder Auflagen (§ 26) müssen umgehend dem Richter mitgeteilt werden (§ 25 S. 4), andere Verstöße teilt der BewHelfer dem Richter nach pflichtgemäßem Ermessen mit oder bereinigt sie selbst. Diese freiere Regelung stärkt das Vertrauen des Probanden zum BewHelfer. Mitteilungen an andere Stellen über Umstände, welche den Probanden belasten, oder Anzeige an die Strafverfolgungsbehörden sind (außerhalb des Bereichs des § 138 StGB) nie Sache des BewHelfers9. Straftaten hat der BewHelfer dem Richter mitzuteilen10, nicht ausgesprochene Bagatellen, aber auch nicht nur erhebliche11. Er muss – gerade auch in Zweifelsfällen – den Richter informieren und es ihm hierdurch ermöglichen, entsprechend einzugreifen (vgl. RL 3 S. 2, 3)12. Diese Berichtspflicht besteht unabhängig von einer Zustimmung des Probanden13. Nach Eisenberg/Kölbel14 spricht bei Vorfällen unerhalb der Schwelle des § 25 S. 4 „die Anbahnung oder Aufrechterhaltung eines gewissen Vertrauensverhältnisses für eine größere Zurückhaltung“. Das Vertrauensverhältnis wird aber nicht berührt, wenn der BewHelfer den Probanden auf die Berichtspflicht hingewiesen hat15. Der Richter muss sich auf die Berichte des BewHelfers, auf ihre Objektivität und Vollständigkeit verlassen kön-

7 KG ZJJ 16, 175, 178 mit Anm. Eisenberg. 8 R. Böhm BewH 95, 308; Müller ZJJ 11, 170. 9 Gräber BewH 82, 304; aber uU Dienstvergehen. 10 So auch Ostendorf 11. 11 So aber Beulke/Swoboda Rn 567. 12 Ostendorf 11; Helgerth BewH 81, 252; Gräber BewH 82, 304. 13 Bruns BewH 97, 8. 14 16. 15 Ostendorf 11. 214

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§ 25

nen16 und darf nicht fürchten müssen, dass der BewHelfer nur „restriktiv“ nach seinem Ermessen mitteilt17. Es ist zweckmäßig, wenn das JAmt eine Kopie des Berichtes erhält18. Der Richter wird nicht nur Berichte über Verstöße nach § 25 S. 4 einfordern, sondern auch über alles Wesentliche im Hinblick auf die Entwicklung des J, seine Lebensverhältnisse und sein Verhalten (RL 3 S. 2), um ggf. nach § 24 II reagieren zu können. Bes. Vorfälle muss der Richter sofort erfahren (RL 3 S. 3).

4. Verhältnis des BewHelfers zum Probanden Es soll menschlich, unbürokratisch und muss auf Vertrauen und Achtung aufgebaut sein 6 (RL 2); Ostendorf19 hält dagegen ein Vertrauensverhältnis für tendenziell falsch, weil damit die Kontrollfunktion verdeckt werde. Verschwiegenheit des BewHelfers gegen Dritte (Rn 13) ist eine wesentliche Voraussetzung. Bes. in der Anfangszeit hat die Einzelbetreuung Vorrang vor der Gruppenarbeit20. Eine wirksame Hilfe (§ 24 III) ist nur möglich, wenn der BewHelfer sich eingehend mit der 7 Person des J vertraut gemacht hat, also weiß, was Not tut21. In der Eingangsphase der BewHilfe muss daher eine Diagnose des Probanden und seiner Situation erfolgen22. Auf dieser Grundlage sind die erforderlichen Hilfs- und Kontrollmaßnahmen festzulegen und möglichst mit dem Probanden zu vereinbaren23. Diese Maßnahmen sind im anschließenden Hilfe- und Kontrollprozess auszuführen und je nach Erkenntnisstand ggf. zu ändern. Die Tätigkeit des BewHelfers darf sich hierbei nicht auf die sehr wichtige Arbeitsvermittlung und existenzsichernde Hilfen beschränken (dazu § 21, 8); er soll vor allem auch den J in schwierigen Fragen beraten, ihn zur Fortbildung und Weiterentwicklung anregen und so an der Gestaltung des Lebens des J mitwirken24. Je höher der Betreuungsbedarf ist, desto intensiver muss die BewHilfe sein25. Vgl. auch § 38, 42. Zur BewHilfe gehört auch eine Auseinandersetzung mit der Tat, der Tatverantwortung und Rückfallgefahren26. In der Abschlussphase findet insbes. ein Abschlussgespräch des BewHelfers mit dem Probanden statt. Da Straffälligkeit häufig mit Alkohol- und Drogenproblemen zusammenhängt, muss sich 8 die Diagnose auch darauf erstrecken, ob bei dem J Alkohol- oder Drogenmissbrauch vorliegt. Gegebenfalls ist Vermittlung in Suchtberatung und Therapie erforderlich. Der Proband ist zu motivieren, die Suchtberatung anzugehen, und bei der Begründung stabiler sozialer Beziehungen zu unterstützen27. Ein gutes Vertrauensverhältnis gibt auch bei der Betreuung von HIVInfizierten Ansatzpunkte zu persönlicher Beratung, auch zu Aids-Prävention28. Klingmann29 16 17 18 19 20

Kästner BewH 97, 2. Einschränkend zur Berichtspflicht Eisenberg/Kölbel 15 f, 18. Ziethen BewH 61, 128. 6. Günstige Befunde über die Arbeitsbeziehungen zwischen J u. BewHelfern bei Kawamura-Reindl/Stancu BewH 10, 133. 21 Zur Bedeutung jpsychiatrisch-forensischer Gutachten für die BewHilfe Fendel/Klosinski DVJJ-J 97, 149. 22 Zu den Phasen der BewHilfe s. Dölling FS Rössner, 2015, S. 75 ff. 23 Zur intensiven Betreuung von Mehrfachtätern s. Haverkamp/Walsh BewH 14, 117. 24 Zur Beziehungsarbeit in der BewHilfe Posch DVJJ-J 99, 366. 25 Zum bayerischen Intensivbewährungshilfeprojekt RUBIKON s. Walsh Intensive BewHilfe u. junge Intensivtäter, 2018, u. dies. ZJJ 19, 241. 26 Zur Einbeziehung der Opferperspektive Stiels-Glenn BewH 97, 164; zur Arbeit mit Sexualstraftätern in der BewHilfe instruktiv Stiels-Glenn/Willing BewH 96, 54. 27 Zur BewHilfe bei Probanden mit Suchtmittelproblemen s. Butzko BewH 82, 245; Becker/Schimkus BewH 82, 252; Hammel BewH 16, 340; Stöver BewH 16, 354; Grill BewH 17, 70. 28 Zur Gesamtproblematik Franck Strafverfahren gegen HIV-Infizierte, 2001. 29 BewH 87, 138. 215

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weist auf Einzelfallhilfe und Gruppenarbeit hin, um die HIV-Infizierten aus ihrer Isolation zu holen, Fritschka30 empfiehlt Zurückhaltung und Einfühlungsvermögen beim Thema Sexualität. Zur Vorbereitung einer angemessenen Rechtsfolgenentscheidung sollten Mitarbeiter von AidsHilfen und Drogenberater in das Strafverfahren einbezogen werden31. Schwierig wird die Situation für den BewHelfer, wenn ein HIV-infizierter Proband erkrankt und er die einzige verlässliche Bezugs- und Vertrauensperson ist. Nicht nur wegen solcher extremer Entwicklungen sind gezielte Fortbildungsveranstaltungen für BewHelfer, JGHelfer und alle gefordert, deren Entscheidungen hier nötig werden können32. In kritische Konflikte gerät der BewHelfer, wenn er von ungeschützten Sexualkontakten erfährt. Es wird sich empfehlen, dass er diese Problematik mit dem Probanden in aller Offenheit bespricht. 9 Neben Hilfen hat der BewHelfer den J zu beaufsichtigen (§ 24 III; § 23, 3, 9), um entsprechend berichten zu können. Ob im Rahmen der Betreuung Aufsicht oder Hilfe überwiegt, richtet sich nach der Persönlichkeit des J, seinen Lebensverhältnissen und deren Entwicklung. Über die vom Richter erteilten Weisungen und Auflagen hinaus hat der Proband zumindest solche Anordnungen des BewHelfers zu befolgen, die dieser ihm zur Gewährleistung seiner Hilfs- und Aufsichtsfunktion erteilt (z.B. Sprechstundenbesuch, Mitteilung eines Aufenthaltswechsels ua). Dagegen ist die Weisung, „allen Weisungen des BewHelfers Folge zu leisten“, unzulässig, da der Richter sein Weisungsrecht nicht delegieren darf (vgl. § 10, 19) und die Weisung selbst zu unbestimmt und weit gefasst ist. 10 Zum Verteidiger kann der BewHelfer nicht bestellt werden, selbst wenn er die erste juristische Staatsprüfung abgelegt hat33. Die Bestellung zum Beistand (§ 69) wird besser zur Vermeidung erz. Nachteile unterbleiben. Beides könnte den BewHelfer in gefährliche Rollenkonflikte bringen. Soweit der BewHelfer sonst im Rahmen seines Aufgabenkreises den Probanden rechtlich berät und betreut, wird er von § 8 I Nr. 1 des Rechtsdienstleistungsgesetzes gedeckt.

5. Verhältnis des BewHelfers zu Dritten 11 Ein gutes Verhältnis zu ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertretern ist wünschenswert (vgl. § 24 III 3, 4, 5), da die Erz. einheitlich sein soll; der BewHelfer muss sich darum bemühen. Nach Eisenberg/Kölbel34 darf die anzustrebende einheitliche Erz. aber nicht zu einer „kumulierten Machtausübung“ gegenüber dem J werden. Bei unverständigen ErzBerechtigten wird eine Zusammenarbeit manchmal nicht möglich sein; dann kann es notwendig werden, den J aus seiner häuslichen Umgebung zu entfernen. 12 Ebenso notwendig ist eine gute Zusammenarbeit mit Behörden, JAmt, Arbeitsamt, Wohnungsamt, Vollzugsanstalt und Sozialarbeit im Vollzug, die zur Amtshilfe verpflichtet sind (Art. 35 GG), mit Wohlfahrts-Organisationen, Heimen, aufgeschlossenen Firmen ua, da nur dann die Möglichkeit gegeben ist, dem J zu helfen (Rn 7). 13 Doch soll der BewHelfer möglichst unauffällig auftreten und allen Dritten gegenüber schweigen, um das Vertrauen des J nicht zu enttäuschen (RL 4 S. 1; vgl. auch § 203 I Nr. 5, II StGB u. § 38, 45). Das gilt auch gegenüber den Eltern; doch wird der BewHelfer hier ggf. versuchen, den J selbst zur Mitteilung an seine Eltern zu bewegen. Vorstrafen des zur Bew. entlasse-

30 BewH 87, 112. 31 Franck aaO, S. 99 f, 119, 133 f. 32 Vgl. insgesamt zur Betreuung von HIV-Infizierten durch die BewHilfe Heckmann BewH 87, 147; Kleiber BewH 90, 201; Klingmann BewH 89, 91; Bruns BewH 89, 18; Heide BewH 89, 58; Baumgartner/Büttner/Spannagl BewH 89, 157; B.-D. Meier MKrim. 89, 207; Frankenberg ZRP 89, 412. Zur Berücksichtigung einer HIV-Infektion bei der Rechtsfolgenentscheidung Franck aaO, S. 81 ff. 33 BGH 20, 95. 34 24. 216

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nen Probanden darf und braucht er dem künftigen Arbeitgeber nicht mitzuteilen35. Gegenüber höheren Rechtsgütern muss allerdings die Schweigepflicht zurücktreten36. Der BewHelfer hat deshalb auch kein Zeugnisverweigerungsrecht37, bedarf jedoch der Aussagegenehmigung nach den beamtenrechtlichen Vorschriften38. Soweit irgend möglich, wird der verständige Richter den BewHelfer nicht als Zeugen gegen den Probanden beiziehen; die von Ziethen39 geforderte Vernehmung als Sachverständiger ist allerdings nicht möglich. Zur Anhörung des BewHelfers nach § 50 IV u. zur prozessualen Verwertung seiner Angaben s. § 50, 15 iVm § 38, 37. Angaben des BewHelfers außerhalb einer förmlichen Vernehmung können bei Bestätigung durch den J auf diesem Weg in das Verfahren eingeführt werden. Als solche sind die formlosen Angaben prozessual nicht verwertbar; formlose „Vernehmung“ des BewHelfers führt zur Aufhebung des Urteils, wenn die Möglichkeit besteht, dass es auf diesem Fehler beruht40. Gegenüber dienstaufsichtsführenden Stellen hat der BewHelfer kein Schweigerecht (RL 4 S. 2)41. Zu den bes. Aufgaben bei der Betreuung nach Aussetzung einer JStrafe § 88, 13 u. 16. Die Vorschriften des JGG über die BewHilfe enthalten bereichsspezifische Datenschutzregelungen, die den Datenschutzgesetzen vorgehen42.

6. Zutritt zum Jugendlichen und Auskunftsrecht Zutritt zum J kann sich der BewHelfer jedem Dritten gegenüber mit polizeilicher Hilfe erzwingen 14 (§ 24 III 4)43, sollte es aber grds. nicht44. Ist der J in UHaft, darf der BewHelfer ihn wie der Verteidiger besuchen (§ 72b). Weiter hat er gegenüber Erziehern und Ausbildern ein Auskunftsrecht über die Lebensführung (§ 24 III 5), das aber nur dadurch erzwungen werden kann, dass der Richter bei Auskunftsverweigerung selbst vernimmt45. – Beide Rechte darf der BewHelfer nur ausüben, soweit die BewHilfe das erfordert.

7. Anforderungen an die Bewährungshilfe Die schwierige Aufgabe eines BewHelfers können auch gut ausgebildete und erfahrene Sozialar- 15 beiter mit hoher Einsatzbereitschaft, Festigkeit und Geduld nur dann lösen, wenn sie nicht überlastet sind. Der BewHelfer darf nicht bürokratisch arbeiten. Seine Zuständigkeit richtet sich grds. nach der Geschäftsverteilung. Doch kann der Richter entgegen der Geschäftsverteilung auch einen anderen BewHelfer (zB Frau statt Mann) bestellen; er könnte den zuständigen amtlichen BewHelfer ja auch durch einen ehrenamtlichen ausschalten (§ 24 I 2). Versagt der BewHelfer, führt die Strafaussetzung oft zum Misserfolg. Wegen dieser Bedeutung des BewHelfers und der hohen persönlichen Voraussetzungen 16 sollte ein ehrenamtlicher BewHelfer (§ 24 I S. 2; RL 5) nur bestellt werden, wenn erzbefähigte, 35 36 37 38 39 40 41

LG Stuttgart Justiz 76, 469 zu § 839 BGB. Dazu Helgerth BewH 81, 253. BVerfG NJW 72, 2214; Eisenberg/Kölbel 19; Ostendorf 12; Foth BewH 87, 199. Gräber BewH 82, 304, 305; v. Schenk BewH 60, 35. BewH 60, 3. OLG Oldenburg MDR 77, 775. Brause BewH 96, 228; näher zur Frage einer innerorganisatorischen Schweigepflicht Bruns Die Schweigepflicht der Sozialen Dienste der Justiz, 1996, S. 84 ff. 42 Brause BewH 96, 222 f; zum Datenschutz in der BewHilfe s. auch die Beiträge von Lübbemeier ua in BewH 97, 3 ff. 43 Dallinger/Lackner § 24, 27; Eisenberg/Kölbel 25; Potrykus § 24 B 6; Dorsch BewH 64, 209. 44 Zust. Rappenecker BewH 73, 236. 45 Dallinger/Lackner § 24, 28; aA Potrykus § 24 B 6, der § 33 FGG (jetzt § 35 FamG) anwenden will; völlig abl. Ostendorf 8. 217

§ 25

2. Teil. Jugendliche

gefestigte Persönlichkeiten vorhanden sind, die den J gut kennen, auf ihn Einfluss haben (Verwandte) und auch bereit sind, tätig zu werden (RL 5). Auch wo der amtliche BewHelfer zu bekannt ist und sein Einsatz den J ins Gerede bringen könnte, kann der Einsatz eines ehrenamtlichen BewHelfers erwogen werden. Der ehrenamtliche BewHelfer hat alle Rechte und Pflichten eines BewHelfers. Eine Verpflichtung zur Übernahme dieses Amtes besteht nicht. Die bei manchen Bewerbern auffallende „Sozialromantik“ reicht meist nicht weit und kann gefährlich werden46.

8. BewHilfe bei Soldaten 17 Bei Soldaten hat der BewHelfer, der nicht Soldat ist, gem. § 112a Nr. 5 nur geringe Befugnisse. Er muss sich praktisch auf die zivilen Maßnahmen (Täter-Opfer-Ausgleich, Schadenswiedergutmachung, Vorbereitung für die Zeit nach dem Wehrdienst) beschränken, kann aber kaum Einfluss auf Haltung und Lebensführung des Soldaten nehmen47. Auch unzulässige Maßnahmen des Disziplinarvorgesetzten haben nach § 112a Nr. 5 letzter Satz Vorrang; BewHelfer und Richter können dagegen bei dessen militärischem Vorgesetzten Beschwerde einlegen48. BewHelfer kann jeder Soldat sein, auch der Disziplinarvorgesetzte. Er sollte jedoch eine in 18 der Sozialarbeit erfahrene, ausgeglichene Persönlichkeit und älter als der Verurteilte sein. Ist ein Vorgesetzter BewHelfer, besteht die Gefahr, dass es nicht zu dem erforderlichen menschlichen Kontakt kommt. Vor der Bestellung eines Soldaten muss der nächste Vorgesetzte des J (oder Hw.) gehört werden (§ 112d). Die Auswahl muss bes. sorgsam erfolgen, weil der Richter keine Anweisungen geben kann (§ 112a Nr. 4 S. 2). Auch der militärische BewHelfer muss dem Richter berichten; doch darf der Richter ihm keine bestimmten Anweisungen erteilen, um militärische Interessen nicht zu gefährden (§ 112a Nr. 4 S. 2). Bei nicht behebbaren Schwierigkeiten kann der Richter auch den militärischen BewHelfer entlassen49. – Als Soldat ist der BewHelfer Befehlen Vorgesetzter nur im Rahmen des Dienstverhältnisses unterworfen; Anordnungen ohne Bezug auf den Dienst trifft er selbständig50. Ob der JRichter den amtlichen BewHelfer (oder einen anderen Zivilisten – vgl. § 24 I S. 2 –) 19 oder einen Soldaten zum BewHelfer bestellt, liegt in seinem Ermessen. Wo, wie meist, zivile Verhältnisse der Regelung bedürfen, verdient – bes. bei Taten ohne Bezug auf den Wehrdienst – der zivile BewHelfer den Vorzug, zumal die allg. Sorgepflicht des militärischen Vorgesetzten besteht (§ 10 II, III SoldG). Bei Taten aus der Zivilzeit sollte die BewHilfe bei Wehrpflichtigen grds. am Heimatort weitergeführt werden51. Roestel52 und Potrykus53 geben dem ehrenamtlichen militärischen BewHelfer den Vorzug; das ist für Taten mit Bezug zum Wehrdienst richtig. Die militärischen Interessen sind zum Schaden einer wirksamen BewHilfe und -Aufsicht 20 überbetont. Ein gewisser Ausgleich liegt in der Pflicht der militärischen Vorgesetzten gem. § 10 II, III SoldG, sich dafür einzusetzen, dass ein unter BewAufsicht stehender Soldat das Ziel der Bew. erreicht, und in der meist guten Zusammenarbeit zwischen Truppe und zivilem BewHelfer. Spezielle Gesetze und Verwaltungsvorschriften der Länder für die BewHilfe, auch im Rahmen 21 der Führungsaufsicht (§§ 68a ff StGB), sind zu beachten (RL 6). Zu BewHelfern näher § 113, 2. 46 Ähnlich Cyrus BewH 82, 363; Gerlicher Laienhelfer in der ErzBeratung, 1979. Zu den rechtlichen Strukturen der ehrenamtlichen BewHilfe Block BewH 98, 121. 47 Potrykus NJW 57, 814. 48 Dallinger/Lackner § 112a, 39. 49 Dallinger/Lackner § 112a, 38. 50 Dallinger/Lackner § 112a, 37. 51 BGH NJW 59, 1503 mit Anm. Grethlein; OLG Köln SjE F 3, S. 291; zust. Ostendorf 5. 52 UJ 59, 200. 53 NJW 57, 814, 817. 218

Erlaß der Jugendstrafe

§ 26a

§ 26 Widerruf der Strafaussetzung (1) 1Das Gericht widerruft die Aussetzung der Jugendstrafe, wenn der Jugendliche in der Bewährungszeit eine Straftat begeht und dadurch zeigt, daß die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag, sich nicht erfüllt hat, 2. gegen Weisungen gröblich oder beharrlich verstößt oder sich der Aufsicht und Leitung des Bewährungshelfers beharrlich entzieht und dadurch Anlaß zu der Besorgnis gibt, daß er erneut Straftaten begehen wird, oder 3. gegen Auflagen gröblich oder beharrlich verstößt. 2 Satz 1 Nr. 1 gilt entsprechend, wenn die Tat in der Zeit zwischen der Entscheidung über die Strafaussetzung und deren Rechtskraft begangen worden ist. 3Wurde die Jugendstrafe nachträglich durch Beschluss ausgesetzt, ist auch § 57 Abs. 5 Satz 2 des Strafgesetzbuches entsprechend anzuwenden. (2) Das Gericht sieht jedoch von dem Widerruf ab, wenn es ausreicht 1. weitere Weisungen oder Auflagen zu erteilen, 2. die Bewährungs- oder Unterstellungszeit bis zu einem Höchstmaß von vier Jahren zu verlängern oder 3. den Jugendlichen vor Ablauf der Bewährungszeit erneut einem Bewährungshelfer zu unterstellen. (3) 1Leistungen, die der Jugendliche zur Erfüllung von Weisungen, Auflagen, Zusagen oder Anerbieten (§ 23) erbracht hat, werden nicht erstattet. 2Das Gericht kann jedoch, wenn es die Strafaussetzung widerruft, Leistungen, die der Jugendliche zur Erfüllung von Auflagen oder entsprechenden Anerbieten erbracht hat, auf die Jugendstrafe anrechnen. 3 Jugendarrest, der nach § 16a verhängt wurde, wird in dem Umfang, in dem er verbüßt wurde, auf die Jugendstrafe angerechnet. 1.

1. Hw.-J: § 105 I. – 2. ErwG: § 104 I Nr. 1, V 1; § 21, 19 aE, § 58, 11. Anmerkungen und Richtlinien hierzu s. nach § 26a.

§ 26a Erlaß der Jugendstrafe 1

Widerruft der Richter die Strafaussetzung nicht, so erläßt er die Jugendstrafe nach Ablauf der Bewährungszeit. 2§ 26 Abs. 3 Satz 1 ist anzuwenden. 1. Hw.-J: § 105 I. – 2. ErwG: § 104 I Nr. 1, V 1; § 21, 19 aE, § 58, 11.

Richtlinien zu §§ 26 und 26a 1.

2. 3. 4.

Vor Ablauf der Unterstellungszeit legt der Bewährungshelfer dem Gericht einen Schlußbericht so rechtzeitig vor, daß Maßnahmen nach § 26 Abs. 2 in der gebotenen Zeit getroffen werden können, namentlich die Bewährungs- oder Unterstellungszeit noch verlängert werden kann (§ 26 Abs. 2 Nr. 2, § 22 Abs. 2 Satz 2, § 24 Abs. 2 Satz 1). Der Bewährungshelfer ergänzt diesen Schlußbericht bis zum Ablauf der Unterstellungszeit, falls ihm Umstände bekannt werden, die für die Entscheidung über den Erlaß der Jugendstrafe oder den Widerruf der Strafaussetzung von Bedeutung sein können. Kommt eine Entscheidung nach § 26 in Betracht, ist dem Jugendlichen Gelegenheit zur mündlichen Äußerung zu geben (§ 58 Abs. 1 Satz 3); auf § 58 Abs. 1 Satz 2 wird hingewiesen. Wegen der Beseitigung des Strafmakels nach Erlaß einer Strafe oder eines Strafrestes wird auf § 100 hingewiesen. Falls der Widerruf der Aussetzung in Betracht kommt, kann das Gericht vorläufige Maßnahmen treffen, um sich der Person des Jugendlichen zu versichern (§ 58 Abs. 2 JGG iVm § 453c StPO).

219 https://doi.org/10.1515/9783110686401-030

§ 26a

2. Teil. Jugendliche

Schrifttum Frommeyer Aus der Rechtsprechung zum Widerruf der Strafussetzung, StraFo 18, 403.

Übersicht 1. 2. 3. 4.

Zeitpunkt des Widerrufs 1 2 Widerrufsvoraussetzungen 8 Subsidiarität des Widerrufs Sicherungshaftbefehl und Gelegenheit zur 10 mündlichen Äußerung

5. 6. 7. 8.

12 Rückerstattung und Anrechnung 14 Rechtsmittel 15 Erlass Widerruf der Bewährung bei Drogentä17 tern

1. Zeitpunkt des Widerrufs 1 Der Widerruf ist bis zum Erlass der JStrafe (Rn 15) bei Vorliegen der Voraussetzungen (Rn 2–7) jederzeit, auch nach Ablauf der BewZeit möglich. Wenn auch aus rechtsstaatlichen Gründen baldmöglichst zu entscheiden ist1, so ist doch nach hM der Widerruf nur bei ganz außergewöhnlichen Verzögerungen unzulässig2. Nach dem OLG Hamm3 ist ein Widerruf auch 3 Jahre nach Ablauf der BewZeit zulässig, nach dem OLG Düsseldorf4 ist die Strafaussetzung nach 2 Jahren bzw. unbefristet widerruflich, falls nicht im Einzelfall der Vertrauensschutz entgegensteht. Nach dem BGH5 und dem OLG Düsseldorf6 ist der Widerruf unzulässig, wenn die Entscheidung ungebührlich lange hinausgezögert worden ist und der Verurteilte mit ihr nicht mehr zu rechnen braucht. Das OLG Bremen7 hat einem in der BewZeit rechtskräftig Verurteilten Vertrauensschutz zugebilligt, falls binnen 1½ Jahren kein Widerruf erfolgt ist. Nach dem KG8 kann der Widerruf auch vor Ablauf der BewFrist ausnahmsweise aus Gründen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes ausgeschlossen sein. Nach dem LG München I9 ist ein Zeitabstand von 10 Monaten zwischen erneutem Urteil und Widerruf zu lang. Nach dem LG Trier10 ist der Widerruf unzulässig, wenn die Entscheidung nicht binnen angemessener Frist erfolgt, dem Verurteilten kein Hinweis gegeben wurde, dass ein Widerruf nach Ablauf der BewZeit zulässig ist, und der rechtskräftige Abschluss eines neues Verfahrens abgewartet werden soll. Jedenfalls sollen die Ermittlungen schon im Hinblick auf § 22 II 2 (vgl. RL 1 S. 1) frühzeitig eingeleitet werden; auch muss die Entscheidung über Widerruf oder Erlass im ErzInteresse bald ergehen11. Eine Verzögerung der Entscheidung ist nicht zulässig, wenn keine begründete Aussicht besteht, dass weitere Erkenntnisse über die Lebensführung des Verurteilten zu gewinnen sind12. Zur notwendigen Ergänzung des Schlussberichts RL 1 S. 2.

1 OLG Hamburg NJW 70, 64. 2 OLG Hamm NJW 74, 1520; OLG Karlsruhe Justiz 76, 436; OLG Koblenz MDR 77, 513; OLG Stuttgart MDR 82, 949; Justiz 82, 273, 336.

3 JMBl. NRW 82, 166. 4 GA 83, 87. 5 NStZ 93, 235. 6 VRS Bd. 89 (15), 35. 7 StV 86, 165. 8 NJW 03, 2468. 9 StV 02, 434. 10 StV 19, 481. 11 Schrader NJW 73, 1832; Eisenberg/Kölbel 22. 12 KG JR 67, 307. 220

Erlaß der Jugendstrafe

§ 26a

2. Widerrufsvoraussetzungen Die Widerrufsvoraussetzungen sind in § 26 I Nr. 1–3 abschließend und rechtsstaatlichem Erfor- 2 dernis entsprechend möglichst bestimmt geregelt. Die Gründe, welche zum Widerruf führen können, sind zeitlich verschieden eingegrenzt. Als BewZeit wird der Zeitraum zwischen der Rechtskraft des auf Strafaussetzung erkennenden Urteils und dem Ablauf der darin festgesetzten oder darüber hinaus der nachträglich nach § 22 II geänderten BewZeit bezeichnet. Das Vertrauen eines Verurteilten, der in der verlängerten BewZeit eine Straftat begeht, auf Nichtverlängerung der BewZeit ist jedenfalls dann nicht schutzwürdig, wenn er den Zugang des Verlängerungsbeschlusses durch bewwidriges Verhalten, z.B. Nichterreichbarkeit für das Gericht, schuldhaft vereitelt hat13. Straftaten in der Zeit zwischen dem Ende der ursprünglich bestimmten BewZeit und deren Verlängerung vermögen einen Widerruf jedenfalls dann nicht zu begründen, wenn der Verurteilte nicht zuvor auf die Möglichkeit einer Verlängerung der BewZeit hingewiesen worden war14. Widerruf nach Nr. 1 setzt eine Straftat in der Rn 2 bezeichneten BewZeit oder in der Zeit 3 nach der letzten tatrichterlichen Verhandlung, aber noch vor Rechtskraft der Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bew., voraus (§ 26 I 2 iVm I 1 Nr. 1; ebenso § 56 f I 2 StGB). § 26 I 2 gilt auch bei Anordnung der Aussetzung durch nachträglichen Beschluss (§§ 57 I 1 Alt. 2, 61a) für Taten zwischen dem anordnenden Beschluss und dessen Rechtskraft. Für Taten zwischen der Verurteilung und dem anordnenden Beschluss greift § 26 I 3 iVm § 57 V 2 StGB ein: Der Widerruf erfolgt, wenn die Tat bei der Entscheidung über die Aussetzung aus tatsächlichen Gründen nicht berücksichtigt werden konnte und im Fall ihrer Berücksichtigung zur Versagung der Aussetzung geführt hätte. Es müssen alle Straftatvoraussetzungen einschließlich der Schuldfähigkeit gegeben sei15. Bei zu einer rechtlichen Bewertungseinheit zusammengefassten Handlungen oder einem Dauerdelikt genügt es, dass ein Teilakt in die BewZeit fällt. Nach früher herrschender Rechtsprechung und Lehre musste wegen der neuen Straftat noch kein rechtskräftiges Urteil ergangen sein, die schuldhafte Tatbegehung musste jedoch, insbes. aufgrund glaubhaften Geständnisses, zur Überzeugung des über den Widerruf entscheidenden Gerichts feststehen16. Das BVerfG17 hat hierin keinen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung gesehen. Der EGMR18 hat jedoch entschieden, dass ein Gericht gegen die Unschuldsvermutung des Art. 6 II MRK verstößt, wenn es Aussagen zur Schuld einer Person trifft, die noch nicht verurteilt ist und noch kein Geständnis abgelegt hat19. Aufgrund dieses Urteils halten neuere Entscheidungen einen Widerruf nur noch für zulässig, wenn wegen der neuen Tat eine rechtskräftige Verurteilung oder ein glaubhaftes Geständnis vorliegt20. Auch ein rechtskräftiger Strafbefehl wird grds.

13 14 15 16

OLG München NStZ 99, 638 zum allg. Strafrecht. KG StV 12, 484; Frommeyer StraFo 18, 494. KG JR 83, 424; OLG Karlsruhe Justiz 98, 569. OLG Stuttgart Justiz 72, 319; NJW 76, 200; Justiz 90, 303; 91, 403; OLG Hamm NJW 73, 911; JMBl. NRW 92, 46; OLG Karlsruhe GA 74, 156; Justiz 98, 533; OLG Bremen StV 84, 125; 86, 165; OLG Zweibrücken StV 85, 465; OLG Düsseldorf StV 86, 346; JMBl. NRW 1991, 235; NJW 92, 1183; StV 93, 35; OLG Köln NJW 91, 505; OLG Hamburg NStZ 92, 130; LG Osnabrück NStZ 91, 533 mit zust. Anm. Brunner; LG Hamburg MDR 94, 1140; Stree NStZ 92, 153. 17 NStZ 88, 21; 91, 30. 18 NJW 04, 43 = StV 03, 82 mit Anm. Pauly; Bespr. Neubacher GA 04, 402; StV 16, 703 mit Anm. Pauly; Peglau NStZ 04, 248; Seher ZStW 06, 101, 119; ebenso BerlVGH NStZ-RR 13, 242. 19 Dazu Kraus Der BewWiderruf gem. § 56 f I 1 Nr. 1 StGB u. die Unschuldsvermutung, 2007. 20 OLG Jena StV 03, 574, 575; OLG Celle StV 03, 575; OLG Düsseldorf NJW 04, 790; OLG Nürnberg NJW 04, 2032; OLG Stuttgart NJW 05, 83; OLG Oldenburg StV 12, 484; OLG Hamm StV 20, 683; LG Saarbrücken ZJJ 05, 449 mit zust. Anm. Möller; LG Aurich ZJJ 20, 205, 206; vgl. auch OLG Hamm StV 04, 83; für das Erfordernis einer rechtskräftigen Verurteilung schon bisher OLG Celle StV 90, 504 gegen NJW 71, 1665; OLG Schleswig NStZ 86, 363, einschränkend jedoch StV 92, 327; OLG München StV 91, 174; Ostendorf 7; DSS/Sonnen 7; für eine Neufassung des § 26 I Nr. 1 in diesem Sinn Esser NStZ 16, 704 f. 221

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als ausreichend angesehen21. Für das glaubhafte Geständnis wird teilweise verlangt, dass es im Beisein eines Verteidigers und vor einem Richter abgegeben wird und kein begründeter Widerruf vorliegt22. Das OLG Hamm23 neigt demgegenüber dazu, dass bei strenger Prüfung der Glaubhaftigkeit auch ein Geständnis vor der Polizei ausreichen kann. Der bloße Bezug auf eine Anklage oder die Zustimmung des Beschuldigten zu einer Einstellung nach § 153a StPO reicht zum Widerruf nicht aus24, ebensowenig ein Adhäsions-Anerkenntnisurteil25. Ein Freispruch oder eine rechtskräftige Verurteilung darf nach dem OLG Hamm26 nicht nachgeprüft werden. Das OLG Düsseldorf27 tritt dieser Entscheidung entgegen und fordert, dass das Gericht sich selbst die Überzeugung verschafft, dass der Verurteilte die erneute Tat begangen hat, ein rechtskräftiger Freispruch oder eine rechtskräftige Verurteilung binde es nicht. Nach dem KG28 kann eine rechtskräftige Verurteilung nicht Grundlage eines Widerrufs sein, wenn sie auf materiellrechtlich ersichtlich unzutreffender Rechtsanwendung beruht, der Widerruf könne indessen ausgesprochen werden, wenn in dem Urteil sämtliche Feststellungen zur objektiven und subjektiven Tatseite getroffen seien, die Tat jedoch rechtlich fehlerhaft gewürdigt sei. 4 Ob eine neue Straftat den Widerruf fordert, hängt von ihrer Art, dem Umfang und dem Motiv, wesentlich von der Beziehung des J zu seiner Tat ab. Hieraus kann geschlossen werden, ob der J durch diese Tat zeigt, dass die der Strafaussetzung zur Bew. zugrunde liegende günstige Prognose sich nicht erfüllt hat. Eine Straftat iSv Nr. 1 verbietet eine weitere günstige Prognose nicht schlechthin29. Eine neuerliche günstige Sozialprognose setzt freilich bes. Umstände voraus30, die aber gerade im JRecht häufiger gegeben sein dürften31, etwa Änderung der Lebensbedingungen oder eine neue, feste Beziehung32. Eine fahrlässige Straftat wird nur in Ausnahmefällen für den Widerruf genügen können, wenn der J hierdurch zu erkennen gegeben hat, dass er nicht ernstlich gewillt ist, sich Straffreiheit zu verdienen33. Verschuldensform und Intensität der neuen Straftat müssen die ursprüngliche günstige Prognose widerlegen34. Wird die wegen der neuen Straftat verhängte Freiheitsstrafe wiederum zur Bew. ausgesetzt, wird dies idR ein Absehen vom Widerruf rechtfertigen35. Dies gilt jedoch nicht, wenn die der erneuten Aussetzung zugrunde liegende Prognoseentscheidung von unzutreffenden Voraussetzungen ausgeht oder nicht nachvollziehbar bzw. nicht überzeugend ist36. 5 Nr. 2 gilt innerhalb der BewZeit (Rn 2) und setzt voraus, dass der J gröblich oder beharrlich gegen Weisungen verstößt oder im Zeitraum der rechtskräftigen Unterstellung unter einen BewHelfer sich der Aufsicht und Leitung des BewHelfers beharrlich entzieht. Zuwiderhandlungen gegen unzulässige, z.B. nicht hinreichend bestimmte Weisungen rechtfertigen einen Wider-

21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35

KG ZJJ 15, 75; Frommeyer StraFo 18, 493 f. Ostendorf 7. StV 21, 600. BVerfG StV 96, 163; OLG Hamm StV 19, 683. OLG Hamm StV 20, 683. GA 57, 57. NStZ 90, 541. NStZ-RR 05, 94. BGH StV 83, 364. OLG Saarbrücken NJW 75, 2215 f. ErwRecht; LG Marburg bei Böhm NStZ 82, 415. Zust. Molketin Zbl. 81, 266. Vgl. Ostendorf 6. OLG Hamm MDR 71, 942; zust. Ostendorf 5; Molketin aaO. Fischer § 56 f StGB 8a; Frank MDR 82, 355. BVerfG NJW 85, 357; OLG Köln StV 93, 429; OLG Düsseldorf StV 94, 198; OLG Schleswig bei Lorenzen/Schiemann SchlHA 97, 146; 98, 165. 36 BVerfG NStZ 87, 118; OLG Köln, aaO; OLG Düsseldorf, aaO u. VRS Bd. 89 (95), 34; vgl. auch OLG Schleswig bei Lorenzen/Thamm SchlHA 96, 85. 222

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ruf nicht37. Gegen Weisungen verstößt der J dann gröblich, wenn sein Verhalten eindeutig zeigt, dass er sich Straffreiheit nicht verdienen will, weil er bei gutem Willen, wenn auch mit Anstrengung, in der Lage gewesen wäre, den Weisungen nachzukommen. Wichtig sind also neben einem nicht unwesentlichen Verstoß38 vor allem die Gründe, welche zu solchem Verhalten geführt haben. Der Verstoß muss objektiv schwerwiegend und subjektiv vorsätzlich sein39. Beharrlich handelt der Proband, wenn er mindestens schon einmal zuwidergehandelt hat40 und aus Missachtung oder Gleichgültigkeit dies immer wieder tut oder zu tun bereit ist41. Der Proband muss objektiv wiederholt und subjektiv nachdrücklich handeln42. Ein einzelner weisungswidrig nicht mitgeteilter Wohnungswechsel reicht nicht43. Ist der Proband über die Folgen von Weisungsverstößen nicht ordnungsgemäß belehrt worden, ist dies bei der Beurteilung der Schwere und Beharrlichkeit eines Weisungsvertoßes zu berücksichtigen44. Das Gesamtverhalten muss befürchten lassen, dass der J erneut Straftaten begehen wird45, und die Auflehnung des Verurteilten gegen erteilte Weisungen dartun46. Dies setzt im Rahmen einer Gesamtwürdigung nicht die Überzeugung des Gerichts von der Begehung einer erneuten Straftat, aber konkrete und objektivierbare Verdachtsmomente für künftige Straftaten voraus47. Vgl. auch § 88, 19. Ein beharrlicher Verstoß muss nicht zugleich gröblich sein48. Gerade bei gröblichen oder beharrlichen Verstößen gegen Weisungen genügt oftmals ein rasch verhängter Ungehorsamsarrest (Rn 9)49. Der Proband entzieht sich der Aufsicht und Leitung des BewHelfers, wenn er sich für ihn unerreichbar macht, z.B. durch Wohnungswechsel ohne Benachrichtigung des BewHelfers. Beharrlichkeit liegt vor, wenn sich der Proband durch wiederholtes Handeln oder andauerndes Verhalten dem Einfluss des BewHelfers entzieht oder trotz Mahnung der Kontakthaltung wiederholt oder längerfristig nicht nachkommt50. Ein bloßes Nichteinhalten von Terminen genügt nach Ostendorf51 nicht. Doch ist auch da eine Fallgestaltung denkbar, die ausreicht; im Übrigen kann er durch richterliche Weisung dazu angehalten werden. Nach dem BGH52 liegt nicht ohne weiteres ein gröblicher oder beharrlicher Verstoß (nach § 56c I StGB) gegen die erteilte Weisung vor, wenn der Verurteilte seine (notwendige) Einwilligung in eine angeordnete Heilbehandlung oder Entziehungskur oder in einen angeordneten Aufenthalt in einem Heim oder einer Anstalt zurücknimmt. Dies gilt jedenfalls dann, wenn er aus seiner Sicht die Einwilligung nachträglich aus verständlichen Gründen für verfehlt hält und er sich die Strafaussetzung nicht unter Vortäuschung seines Einverständnisses von vornherein erschlichen hat. Nr. 3 gilt während der BewZeit (Rn 2) und ist dann erfüllt, wenn der J gröblich oder beharr- 6 lich (Rn 5) gegen Auflagen verstößt. Bei solcherart qualifizierten Verstößen gegen Auflagen (§§ 15, 23 I 2) setzt der Widerruf weder voraus, dass der J die Erwartungen nicht erfüllt hat, 37 OLG München NStZ 85, 411; OLG Frankfurt ZJJ 03, 414; LG Saarbrücken ZJJ 05, 449, 450 mit zust. Anm. Möller; LK/Hubrach § 56 f StGB 18; Frommeyer StraFo 18, 495. 38 Vgl. OLG Hamm StV 17, 719, 720; Frank MDR 82, 354. 39 OLG Hamm StV 17, 719, 720; DSS/Sonnen 11; vgl. auch BVerfG NJW 20, 1501 zu § 56 f I 1 Nr. 2 StGB. 40 BGH 23, 172. 41 Dreher JR 74, 43, 53; Eisenberg/Kölbel 13; OLG Hamm ZJJ 08, 387, 388: wenn er „immer wieder oder auf längere Zeit“ zuwiderhandelt; Ostendorf 9 verlangt zusätzlich eine „Abmahnung“. 42 OLG Hamm StV 719, 720; DSS/Sonnen 11; s. auch BVerfG NJW 20, 1501. 43 LG Saarbrücken ZJJ 05, 449. 44 OLG Hamm StV 17, 719, 721. 45 Für Streichung dieses Erfordernisses Schoene NJW 00, 713. 46 Frank MDR 82, 355 mwN. 47 OLG Hamm StV 17, 719, 721; LG Bückeburg NStZ 05, 168; für ErwRecht OLG Karlsruhe Justiz 75, 350; OLG Hamm MDR 76, 505; LG Hamburg MDR 76, 946. 48 Insgesamt vgl. Kratzsch JR 80, 369. 49 Ebenso Molketin Zbl. 81, 266. 50 OLG Hamm StV 17, 719, 721. 51 9. 52 36, 97 = JR 90, 71 mit abl. Anm. Terhorst. 223

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welche der Strafaussetzung zugrunde lagen, noch dass sich aus ihnen besorgen lässt, dass der J erneut Straftaten begehen wird. Denn gerade die Auflagen sollten eine gewisse notwendige Genugtuung erzwingen und sind unlösbar mit der Bewährungsentscheidung verknüpft53. Zugleich aber ist das unter Rn 8 Gesagte zu berücksichtigen, was der Entscheidung des Richters die erz. gebotene Reaktionsbeweglichkeit erhält. Nur ein Verstoß gegen eine zulässige Auflage rechtfertigt den Widerruf54. 7 Erfüllt der Jugendliche Zusagen oder Anerbieten nach § 23 II nicht, so ist das kein Widerrufsgrund (§ 23, 8) und kann nur zur Erteilung von Weisungen und Auflagen nach § 23 I, evtl. unter Verlängerung der BewZeit (§ 22 II 2), führen. Verstöße gegen Zusagen oder Anerbieten können aber andere Widerrufsgründe unterstützen.

3. Subsidiarität des Widerrufs 8 Alle Widerrufsgründe (Rn 2–7) führen nur dann zum Widerruf, wenn nicht ein milderes Eingreifen des Richters dem J noch helfen kann, sich zu bewähren. Hierfür ist der Widerrufsgrund nach Gewicht und Ursache an dem Persönlichkeitsbild des J zu messen. Es können zugunsten des J Ansätze zu positiver Entwicklung, günstige Veränderungen jeglicher Art, auch verminderte Schuldfähigkeit oder entwicklungsbedingte Schwierigkeiten55 berücksichtigt werden. Es gelten die Grundsätze des § 5; damit wird jeder schematische Zwang vermieden und eine jgemäße Entscheidung gewährleistet. So kann und muss der JRichter, wo ein Erfolg möglicherweise riskant, aber doch möglich erscheint, es versuchen, die Verbüßung der Strafe zu vermeiden, indem er weitere oder andere, speziell abgestimmte, auch intensiver eingreifende Weisungen oder Auflagen erteilt, die Bew.- oder Unterstellungszeit verlängert (§ 26 II), uU auch unter Auswechslung des BewHelfers, bis zu einem Höchstmaß von 4 Jahren (insgesamt), oder auch, indem der Richter den J vor Ablauf der BewZeit zugleich mit deren Verlängerung erneut einem BewHelfer unterstellt (vgl. § 22 II 2; § 22, 4). Beschwerde § 59 II (dazu § 59, 6). Die Verlängerung der BewZeit kann auch nach deren Ablauf erfolgen (§ 22, 4). Nach dem OLG Celle56 ist die Strafe zu erlassen, wenn der Widerruf durch Verlängerung der BewZeit vermieden werden könnte, dies aber wegen Erreichung des Höchstmaßes nicht möglich ist. Es wird dabei auf den Einzelfall ankommen. Die Entscheidung über den Widerruf kann nach dem OLG Celle57 zurückgestellt werden, wenn in anderer Sache eine Zurückstellung nach § 35 BtMG erfolgt ist. Widerruf kann – wohlüberlegt und in geeigneten Fällen – auch vermieden werden durch 9 Verhängung eines Ungehorsamsarrestes, den § 23 I 4 bei als BewAuflagen erteilten Weisungen und Auflagen zulässt. Rasch gehandelt – und vollstreckt – ist dies eine angemessene, wirksame Maßnahme, dem J Bedenklichkeit und Folgen seines Fehlverhaltens in der BewZeit vor Augen zu halten und den schwerwiegenden Widerruf zu vermeiden (§ 23, 7)58. Eisenberg/Kölbel59 jedoch halten Ungehorsamsarrest für spezialpräventiv kaum funktional und bevorzugen die Änderung der Weisung oder Auflage, das LG Münster erachtet den Ungehorsamsarrest – allerdings vor Änderung des § 23 I 4 – für schlechthin ungeeignet60. Ostendorf61 hält hier den Ungehor-

53 Einschränkend Eisenberg/Kölbel 15; Ostendorf 10 fordert zusätzlich eine negative Prognose; dagegen Walter in Sieverts/Schneider, Hrsg., Handwörterbuch der Kriminologie, 2. Aufl. Bd. 5, S. 164. OLG Schleswig SchlHA 95, 16; LK/Hubrach § 56 f StGB 24. Vgl. AG Krefeld StV 83, 250. NdsRpfl. 89, 257. StV 12, 485. Vgl. Kratzsch JR 72, 374, der eine ähnliche Regelung sogar für das ErwRecht vorschlägt. § 23, 11. NJW 70, 2259. Vgl. zu § 26 II Molketin Zbl. 81, 265. 16.

54 55 56 57 58 59 60 61

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samsarrest jedenfalls für ein geringeres Übel als die Strafverbüßung, deren resozialisierenden Wert er als noch zweifelhafter bezeichnet.

4. Sicherungshaftbefehl und Gelegenheit zur mündlichen Äußerung Ist Widerruf zu erwarten, kann sich der Richter durch Sicherungshaftbefehl (RL 4; § 58 II iVm 10 § 453c StPO) der Person des J versichern. Näher nach § 60. Wenn Eisenberg/Kölbel62 es als klaren Fall der Zweckentfremdung bezeichnen, die Sicherungshaft durch bewusst verspäteten Änderungstermin als „Denkzettel“ anzulegen, so wird dem niemand widersprechen; allerdings ist in der Praxis noch kein Fall bekannt geworden, der Anlass gegeben hätte, solches zu argwöhnen. Vor Entscheidung über den Widerruf – oder Erlass der JStrafe – sind die StA, der J und 11 der BewHelfer zu hören (§ 58 I 2). Vor einem Widerruf ist dem J Gelegenheit zur mündlichen Äußerung vor dem Richter zu geben (RL 2; § 58 I 3). Diese Vorschrift muss sehr ernst genommen werden. So kann rechtzeitig manches Missverständnis ausgeräumt und Zuwiderhandeln aus bloßer Hilflosigkeit erkannt werden. Vgl. im Übrigen § 58.

5. Rückerstattung und Anrechnung Nach Widerruf werden Leistungen, die der J in Erfüllung von Weisungen, Auflagen, Zusagen 12 oder Anerbieten (§ 23) erbracht hat, nicht zurückerstattet (§ 26 III 1). Der Richter kann jedoch solche Leistungen auf die JStrafe anrechnen, soweit sie nicht in der Erfüllung von Weisungen (§§ 10, 23 I 1) bestanden (§ 26 III 2). Ostendorf63 will diese Ermessensentscheidung in eine Verpflichtung umdeuten und zweifelt die Ausgrenzung der Weisungen an. Diese Anrechnung gilt als verbüßte Strafe iSd § 88 I (näher § 88, 1)64. Leistungen aufgrund von Weisungen oder entsprechenden Zusagen können deshalb nicht angerechnet werden, weil sie die Lebensführung beeinflussen sollen, eine Anrechnung des hierfür Geleisteten sich deshalb verbietet65. Verbüßter Einstiegsarrest nach § 16a wird gemäß § 26 III 3 angerechnet. Nach § 23 I 4 ver- 13 büßter Ungehorsamsarrest kann nach später doch erfolgtem Widerruf nicht auf die JStrafe angerechnet werden, da er nur die Reaktion auf den Ungehorsam ist. Deshalb lässt § 26 III eine solche Möglichkeit auch zu Recht unerwähnt66. Ostendorf67 will den Ungehorsamsarrest anrechnen, weil er Weisungen und Auflagen ersetze; gerade dies trifft aber nicht zu.

6. Rechtsmittel Die sofortige Beschwerde gegen den Widerruf (§ 59 III) hat nach dem Wortlaut des § 307 StPO 14 keine aufschiebende Wirkung. Der Widerrufsbeschluss gehört aber zu den urteilsvertretenden Beschlüssen, die zu ihrer Vollstreckbarkeit der Rechtskraft bedürfen68. Dies verbietet bei sofortiger Beschwerde die Einleitung der Vollstreckung, wofür schon spricht, dass § 58 II iVm § 453c

62 63 64 65

21. 18. Eisenberg/Kölbel 25. LG Offenburg NStZ-RR 04, 58, nach dem aber Therapiezeiten nach §§ 36 III, 38 I BtMG angerechnet werden können. 66 Gegen die Anwendung auch BeckOK-JGG/Nehring 32; aA LG Limburg ZJJ 22, 62 f u. Schady FS Ostendorf, 2015, S. 784 (analoge Anwendung von § 26 III 2); DSS/Sonnen 20; Eisenberg/Kölbel 26. 67 18. 68 Meyer-Goßner/Schmitt § 307 StPO 1; Molketin Zbl. 81, 266. 225

§ 26a

2. Teil. Jugendliche

StPO bis zur Rechtskraft des Widerrufsbeschlusses einen Sicherungshaftbefehl zulässt69. Zur Wiederaufnahme § 55, 66. Die StA hat gegen die Ablehnung ihres Antrags auf Widerruf kein Rechtsmittel (§ 59, 5)70.

7. Erlass 15 Wo nicht widerrufen wird und kein Grund zur Verlängerung der BewZeit besteht, ist nach den Abschlussermittlungen (RL 1) die Strafe unanfechtbar (§ 59 IV) und konstitutiv zu erlassen; der Strafmakel muss als beseitigt erklärt werden (§ 100; RL 3). Vor Straferlass muss sich das Gericht Gewissheit über das endgültige Fehlen der Widerrufsvoraussetzungen verschaffen71. Die Ermittlungen sollen rechtzeitig einsetzen, der Erlass jedoch kann jederzeit, auch noch nach Ablauf der BewZeit (Rn 2) ergehen und tritt mit Verkündung oder Zustellung ein. Im Rahmen der BewAuflagen oder durch Anerbieten oder Zusagen (§ 23 I, II) erbrachte Leistungen werden nach Straferlass nicht zurückerstattet (§ 26a S. 2 iVm § 26 III 1). Der Erlass ist nicht widerrufbar72. Der im ErwRecht gem. § 56g II StGB unter bestimmten Voraussetzungen mögliche Widerruf des Straferlasses wurde in das JGG nicht übernommen. 16 Verfahren: § 58; Anfechtung: § 59 III, IV. Zum Widerruf nach Aussetzung des Restes einer JStrafe durch den Vollstreckungsleiter § 88, 11. Die Gnadenentscheidung eines Justizministeriums eröffnet nicht die Möglichkeit zu gerichtlichen Entscheidungen nach §§ 22, 23, 26, 26 a73. Zur Übertragung nach § 58 III 2 in diesem Falle § 58, 14. Widerruf und Erlass werden in das Zentralregister eingetragen (§ 12 Nr. 3 u. 5 BZRG).

8. Widerruf der Bewährung bei Drogentätern 17 Nimmt der Proband weiter Drogen oder entzieht er sich der Therapie, so wird häufig bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen (Nach § 60, 5) rasche Sicherungshaft nach § 453c StPO geboten sein, um hierdurch weitere Gefährdung zu vermeiden und durch umgehenden Widerruf der Bewährung für die Zukunft eine „operante Konditionierung gegen den Drogengebrauch“ zu setzen74 und dem Fehlverhalten eine prompte „Bestrafung“ auch in lernpsychologischer Hinsicht folgen zu lassen. Versuche, den Widerruf zu vermeiden, dürften durch rasch verhängten Ungehorsamsarrest (Rn 9 u. insbes. § 16, 28 f) kaum je, durch Verlängerung der BewZeit unter entsprechender Änderung oder Ergänzung der Auflagen aber in bestimmten Fällen nach gründlicher Überprüfung angebracht und erfolgversprechend sein, so wenn eine wesentliche Änderung der Lebensführung (Antritt einer Langzeittherapie oder Substitution mit Methadon bis zum Beginn einer Langzeittherapie) nunmehr Straffreiheit erwarten lässt75. Der JRichter wird in seine Entscheidung einbeziehen und ggf. gerade auch nach Sicherungshaft berücksichtigen müssen, dass bei Drogenabhängigen Rückfall fast zur Regel wird und in bes. Fällen Rückfall als Motivationsanstoß für neuerliche BewAuflagen Erfolg versprechen kann. Oftmals kann ein Überwechseln in andere Hilfsstellen erforderlich und erfolgbringend sein. 18 Verstoßen psychisch Drogenabhängige gegen Weisungen, so ist eine Gesamtabwägung des widerrufsbegründenden Verhaltens, der Täterpersönlichkeit und der Befürchtung weiteren wei69 Eisenberg/Kölbel § 59, 28; Ostendorf § 59, 16. 70 Zur Aufhebung eines rechtskräftigen, auf der irrtümlichen Annahme beruhenden Widerrufsbeschlusses, eine Auflage sei nicht erfüllt, LG Bremen StV 90, 311: § 359 Nr. 5 StPO entsprechend. BGH NStZ 93, 235; OLG Düsseldorf VRS Bd. 89 (95), 365. BGH StV 92, 432; OLG Stuttgart StV 96, 271. BGH NJW 84, 2541. Rubner Ärztl. Praxis 1978 Nr. 11, 12, 13; Wanke/Täschner Zs. f. Rechtsmedizin 1979, 209. OLG Köln StV 96, 218; OLG Düsseldorf StV 98, 215.

71 72 73 74 75

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Erlaß der Jugendstrafe

§ 26a

sungsfeindlichen Verhaltens entscheidend76 (s. auch Rn 8). Zum Widerruf der Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 IV BtMG: § 17, 56. Diese Grundsätze (auch § 17, 57) werden idR auch bei Widerruf nach § 26 entsprechend zu berücksichtigen sein. Steht Widerruf der Strafaussetzung in Frage und ist beim gleichen Täter bereits eine Strafvollstreckung nach § 35 I BtMG zurückgestellt, so kann es angezeigt sein, mit der Entscheidung bis zum Abschluss der Therapie zuzuwarten, wenn im Falle des Erfolgs der Therapie andere Maßnahmen nach § 26 II (vgl. Rn 8) ausreichen77. Auch beim Antritt einer Alkoholtherapie durch einen Täter, der seine Taten unter Alkoholeinfluss begangen hat, kann ein Aufschub der Entscheidung über den Widerruf geboten sein78. Maßregelvollzug in anderer Sache darf nach dem OLG Hamburg79 nicht zur Aussetzung der Widerrufsentscheidung führen, wenn nach den voll aufgeklärten Prognoseumständen die Widerrufsvoraussetzungen vorliegen. Nimmt der J seine Einwilligung mit einer angeordneten Heilbehandlung zurück, so ist dies nach dem BGH (Rn 5) nicht ohne weiteres ein gröblicher oder beharrlicher Verstoß gegen eine entsprechende Weisung. Zu Drogenkriminalität allg. Einf. 66–71; Hinweise auf spezielle Ausführungen zur Drogenproblematik bei anderen §§: Einf. 72.

76 Vgl. OLG Karlsruhe Justiz 81, 238 bei Unterbringung eines Erw. 77 OLG Zweibrücken MDR 83, 150; OLG Düsseldorf StV 89, 159 mit Anm. Hellebrand; StV 98, 215; OLG Celle StV 98, 216; jeweils für ErwRecht; Körner JR 83, 434. 78 OLG Schleswig bei Lorenzen/Schiemann SchlHA 98, 165. 79 NStZ-RR 05, 221 222. 227

Sechster Abschnitt Aussetzung der Verhängung der Jugendstrafe § 27 Voraussetzungen Kann nach Erschöpfung der Ermittlungsmöglichkeiten nicht mit Sicherheit beurteilt werden, ob in der Straftat eines Jugendlichen schädliche Neigungen von einem Umfang hervorgetreten sind, daß eine Jugendstrafe erforderlich ist, so kann der Richter die Schuld des Jugendlichen feststellen, die Entscheidung über die Verhängung der Jugendstrafe aber für eine von ihm zu bestimmende Bewährungszeit aussetzen. 1. Hw.-J: Rn 3, 7; § 105 I. – 2. ErwG: § 104 I Nr. 1.

Richtlinie zu § 27 Der Schuldspruch nach § 27 wird nicht in das Führungszeugnis aufgenommen (vgl. § 32 Abs. 2 Nr. 2 BZRG).

Schrifttum Baier Die Bedeutung der Aussetzung der Verhängung der JStrafe nach § 27 JGG u. der Vorbewährung in der jgerichtlichen Praxis in Bayern, 2015; Bandemer Der Weg vom „ob“ zum „als ob“: Die Zulässigkeit des Ausspruchs nach § 27 JGG bei Zweifeln über das Vorliegen schädlicher Neigungen, Zbl. 91, 368; Heublein § 27 JGG – eine ungeliebte Vorschrift? Zbl. 95, 436; Kreischer Die Aussetzung der Verhängung der JStrafe (§ 27 JGG) in ihrer praktischen Bedeutung, Diss. Heidelberg 1971; Lorbeer Die Problematik der Aussetzung der Verhängung der JStrafe nach § 27 JGG, Diss. Marburg 1980; Memmler Schuldspruch gem. § 27 JGG – u. was dann? RdJ 66, 225; Meyer K. P. Möglichkeiten des Absehens von JStrafe u. die Effizienz solcher Maßnahmen, Zbl. 81, 365; Ostendorf Bew. ohne Freiheitsstrafe – eine Falltür im JStrafrecht, NJW 81, 378; Potrykus Über die bedingte Verurteilung nach §§ 27 ff JGG, MDR 54, 456.

Übersicht 1. 2. 3. 4.

Sinn, Praxis und Rechtsnatur 4 Umfang der Rechtskraft 6 Voraussetzungen 10 Folgerungen

1

5. 6. 7.

12 Zuständigkeit Verbindung mit anderen Maßnahmen Maßregeln der Besserung und 15 Sicherung

13

1. Sinn, Praxis und Rechtsnatur 1 Die bedingte Verurteilung1 (s. auch § 21, 1) erspart dem Täter jeden Strafmakel und soll ein bes. Anlass zu guter Führung sein, der bei weiterem Versagen angedrohten Folgen halber und mit Hilfe der BewAuflagen. Sie kann der Strafaussetzung zur Bew. nicht gleichgestellt werden, da bei ihr gerade keine JStrafe verhängt wird2. Sie ist keine Verurteilung iSd § 44 StGB3. Die Praxis wendet die bedingte Verurteilung nach § 27 nur sehr zurückhaltend an. 2020 2 wurde lediglich bei 3 % der durch Urteil nach JStrafrecht Sanktionierten nach § 27 entschieden4. Dabei empfiehlt sich die bedingte Verurteilung durch manchen Erfolg5, auch wenn sich die §§ 27,

1 2 3 4 5

BayObLG GA 71, 181; DSS/Diemer 2; Beulke/Swoboda Rn 528; Potrykus JR 61, 407. BGH 9, 160. Feiertag DAR 02, 153. Berechnet nach Stat. BA, S. 60 f. Dem Institut zustimmend auch Baier S. 179, 215 f. 228

https://doi.org/10.1515/9783110686401-031

Voraussetzungen

§ 27

21 wegen der unterschiedlichen Probanden nicht ohne weiteres vergleichen lassen6. Beulke/ Swoboda7 warnen aber zu Recht davor, die Persönlichkeitsermittlung im Vorverfahren zu vernachlässigen und aus Unentschlossenheit nach § 27 zu entscheiden. Die Rechtsnatur der bedingten Verurteilung ist umstritten. Potrykus8 betrachtet die Ent- 3 scheidung nach § 27 als reinen, von anderen Erwägungen isolierten Schuldspruch und leugnet jede Ahndungsmöglichkeit. Diese Ansicht kann schon deshalb nicht richtig sein, weil sie den erheblich gefährdeten J sich selbst überlässt, den JRichter in die Rolle des passiven Beobachters verweist, der nur abwartet, wie der J sich weiterentwickelt. Die Entscheidung über die Verhängung der JStrafe wird nicht zur Beobachtung, sondern zur Bewährung ausgesetzt. Die §§ 28 ff treffen alle Voraussetzungen, dass dem J geholfen werden kann. Solange ungeklärt ist, ob nichts anderes als JStrafvollzug zur erzgünstigen Beeinflussung ausreicht (Rn 6, 8), stellt der JRichter die Entscheidung über die Verhängung der JStrafe zurück, verharrt aber nicht untätig, sondern versucht, durch andere Maßnahmen (gem. §§ 29, 23, 24 Weisungen, Auflagen, Hilfe eines BewHelfers oder durch Verbindung mit weiteren Maßnahmen) den J so zu beeinflussen, dass JStrafe überflüssig wird. Es kann deshalb nicht von einer Zweiteilung des Verfahrens in Schuld- und Straffrage nach angelsächsischem Vorbild9 gesprochen werden, zumal keineswegs immer eine neue (zweite) Hauptverhandlung stattfindet (vgl. § 30 II). § 27 unterscheidet sich auch von der „Verwarnung mit Strafvorbehalt“ nach § 59 StGB, die nach Ostendorf10 – neben der Verwarnung – eine auflösend bedingte Verurteilung zu einer Geldstrafe ist, welche bereits mit dem Urteil bestimmt wird, also eher eine „Geldstrafe mit Bew.“. Die Entscheidung nach § 27 ist vielmehr eine echte Strafentscheidung (schon im Schuldspruch liegt eine schuldvergeltende Missbilligung), in der die schuldhafte Straftat festgestellt und das zur Erz. Erforderliche und möglicherweise Ausreichende sofort getan wird, jedoch im Interesse der Erz. auch die aus Gründen der Schuldvergeltung allein nicht gebotene, aber mögliche Verhängung von JStrafe für den Fall vorbehalten bleibt, dass anders eine Beeinflussung des Täters nicht erreicht werden kann11. Ostendorf12 beschreibt, im Grunde kaum abweichend, die Entscheidung nach § 27 als missbilligende Unrechtszuschreibung, die gleichzeitig mit der Warnungs- und Hilfefunktion ein eigenständiges, wenn auch vorbehaltliches Sanktionsinstitut darstellt13.

2. Umfang der Rechtskraft Die Rechtskraft umfasst nur den Schuldspruch selbst und die ihn unmittelbar tragenden Fest- 4 stellungen, bei Hw. auch die Entscheidung nach § 105 (§ 30, 2, 3). An alle weiteren Feststellungen besteht keine Bindung im Nachverfahren, weil diese ja nur die Voraussetzungen des § 27, also die bestehende Unsicherheit, dartun sollen. Eine Bindung an sie widerspräche der materiellen Gerechtigkeit und wäre auch deshalb nicht tragbar, weil der J keine Möglichkeit hat, diese den Schuldspruch nicht tragenden Feststellungen anzugreifen14. Ob die Straffrage ganz offen bleibt und nachträglich noch jede Maßnahme des JGG angeordnet werden kann, oder ob auch hier jedenfalls insoweit eine Bindung besteht, als nur noch auf JStrafe erkannt werden kann, ist bestritten (§ 30, 3).

6 Zu den nur bedingt vergleichbaren empirischen Befunden s. Eisenberg/Kölbel § 30, 6; Ostendorf Grdl. zu §§ 27– 30, 4; Streng Rn 553. 7 Rn 530 FN 846; ebenso Neubacher/Bachmann NStZ 13, 387. 8 JR 61, 407. 9 So aber Beulke/Swoboda Rn 528: entsprechend der englischen Probation. 10 NJW 81, 379. 11 Ebenso Böhm/Feuerhelm S. 272. 12 NJW 81, 378. 13 Für eine eigenständige Sanktionsart auch HK-JGG/Meier 2; Streng Rn 547; Jaglarz NStZ 15, 194. 14 Dallinger/Lackner § 30, 14. 229

§ 27

5

2. Teil. Jugendliche

Die neben dem Schuldspruch getroffenen Maßnahmen können in Rechtskraft erwachsen, soweit sie deren fähig sind. Das ist für die BewAuflagen und für die BewZeit wegen der Abänderbarkeit (§§ 28 S. 2; 29, 23 I 3) nicht der Fall. Wegen anderer Verbindungen Rn 13 f.

3. Voraussetzungen 6 Die Entscheidung nach § 27 mit dem Vorbehalt der nachträglichen Verhängung der JStrafe ist nur unter den folgenden Voraussetzungen möglich, nämlich: a) dass der Täter schuldig ist; b) dass eingehende Persönlichkeitsermittlungen im allg. vorgeschriebenen Umfang geführt sind; deshalb kann im vereinfachten JVerfahren keine bedingte Verurteilung nach § 27 ausgesprochen werden (§ 78, 3)15; c) dass dennoch nicht geklärt werden konnte, ob schädliche Neigungen überhaupt vorliegen oder deren Umfang schon zur Verhängung einer JStrafe zwingt16. Verschiedenes muss für JStrafe sprechen, anderes für andere Maßnahmen des JGG; es muss also Art oder Umfang der schädlichen Neigungen oder die erz. Ansprechbarkeit des Täters fraglich sein. Der BGH17 beschränkt die Vorschrift dagegen „auf Fälle, in denen nicht das Vorliegen, sondern nur der Umfang schädlicher Neigungen zweifelhaft ist“. Dies berücksichtigt jedoch die Verschränkungen zwischen dem Vorliegen und dem Umfang schädlicher Neigungen nicht18 und nimmt der Praxis Handlungsspielraum. Der Wortlaut des § 27 kann als Umschreibung aller Vorausetzungen für die Verhängung einer JStrafe wegen schädlicher Neigungen verstanden werden; d) dass JStrafe bei Art der Tat und der Schwere der Schuld mit dem Gedanken der Schuldvergeltung vereinbar, aber nicht geboten ist (§ 17, 11); letzteres ergibt sich aus dem Wortlaut des § 27, der nur auf schädliche Neigungen abstellt19. 7 Diese Voraussetzungen sind bes. im Hinblick auf die doch begrenzten erz. Möglichkeiten der JStrafanstalten öfter gegeben, als in der Praxis angenommen wird, weil es sich bei der Frage, ob schädliche Neigungen iSd § 17 vorliegen, um die grundlegende „Entweder-oder“-Entscheidung des JStrafrechts handelt, wie auch die Spanne zwischen 4 Wochen JA und 6 Monaten JStrafe zeigt. Die erforderliche Klarheit wird bei nur schwer durchschaubaren J häufig nicht gewonnen werden können, auch nicht bei bisher unauffälligen Tätern, die nun wegen mehrerer nicht unerheblicher, aus der bisherigen Entwicklung nicht ableitbarer Taten vor Gericht stehen20. Erfolgreich wird die Entscheidung nach § 27 bes. dann sein, wenn die Möglichkeit besteht, den J aus seiner ungünstigen Umgebung zu bringen. Es muss im Urteil dargelegt werden, welche Umstände für und gegen das Vorhandensein schädlicher Neigungen sprechen und warum die Frage nicht geklärt werden konnte21. Die bedingte Verurteilung scheidet also aus, wenn schon die Schwere der Schuld eine 8 JStrafe erfordert, bei Bagatelldelikten, welche die Verhängung einer JStrafe nie rechtfertigen (§ 17, 11), bei anderen als den bei Rn 6 genannten Unklarheiten; hier sind Zweifel zugunsten des Täters zu beheben. Ist der Täter zZ der Aburteilung schon über 24 Jahre alt, sind die Voraussetzungen grds. nicht mehr gegeben, weil dann die Entwicklung meist zu einem gewissen Abschluss gekommen ist. Auch wo von einer BewZeit keine günstige Beeinflussung erwartet wer15 BayObLG 70, 216; Eisenberg/Kölbel 12; aA Ostendorf/Drenkhahn § 62, 1. 16 OLG Düsseldorf MDR 90, 466; HK-JGG/Meier 6; Beulke/Swoboda Rn 529. 17 BGH 35, 288; BGH NStZ 21, 373 = StV 22, 39 mit zust. Anm. Dehne-Niemann; ebenso OLG Oldenburg ZJJ 11, 91; DSS/Sonnen 6; Eisenberg/Kölbel 10. Siehe dazu HK-JGG/Meier 6. Eisenberg/Kölbel 10. Heublein Zbl. 95, 439. OLG Schleswig bei Döllel/Dreeßen SchlHA 03, 208.

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Voraussetzungen

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den kann (darüber § 21, 1), kommt eine Entscheidung nach § 27 als erz. sinnlos nicht in Betracht; falls es nicht noch andere Möglichkeiten der Beeinflussung gibt, bleibt nur die JStrafe, weil alle anderen Maßnahmen nicht zur Behebung der schädlichen Neigungen ausreichen. Ob eine Amnestie der Anwendung des § 27 entgegensteht22, ist zweifelhaft; die bejahen- 9 de Ansicht des BGH zwingt den Richter zu einer Feststellung, die er an sich nicht treffen kann.

4. Folgerungen Nur wenn die fest umrissenen Voraussetzungen vorliegen, kann die Aussetzung, darf jedenfalls 10 keine JStrafe angeordnet werden23. Andere, z.B. erz. Gründe berechtigen dazu nicht24. Wegen dieser festumrissenen Voraussetzungen kann von einem Ausnahmecharakter der Vorschrift nicht die Rede sein25. Die Gegenmeinung26 verkennt die Schwierigkeiten, denen die gewissenhafte Feststellung begegnet, schädliche Neigungen von so großem Umfang lägen vor, dass nur noch JStrafe hilft (§ 17, 15). Der Schuldspruch wird nicht in das Führungszeugnis aufgenommen (§ 32 II 2 BZRG; RL; 11 vgl. auch Vor § 97, 18). Anrechnung von UHaft ist nur im Nachverfahren (§ 30) möglich, wenn JStrafe verhängt wird27. Es empfiehlt sich daher, in den Gründen des Urteils gem. § 27 darauf hinzuweisen, daß die Entscheidung über die Anrechnung von UHaft dem Nachverfahren vorbehalten bleibt28. Auch eine positive Entscheidung über die Gewährung von Haftentschädigung kann erst im Nachverfahren erfolgen29.

5. Zuständigkeit Die nach dem Schuldspruch erforderlich werdenden Entscheidungen obliegen dem erkennen- 12 den Richter (§ 62, 6). Der J(Einzel)Richter sollte deshalb den Schuldspruch nur aussprechen, wenn sich ausnahmsweise sicher voraussehen lässt, dass bei einem Nachverfahren höchstens JStrafe nicht über 1 Jahr verhängt wird; andernfalls ist Vorlage an das JSchöffengericht geboten (§ 41, 27, 35, 41), um zu vermeiden, dass ein anderes Gericht die Entscheidung nach § 30 trifft (§ 62, 6)30.

6. Verbindung mit anderen Maßnahmen Neben der Entscheidung nach § 27 können Weisungen und Auflagen als BewAuflagen (§§ 29, 13 23, 10, 15) verhängt werden. Eine Verwarnung (§ 14) ist neben dem Gewicht der Entscheidung nach § 27 nicht am Platze, ebenso wenig die Anordnung der ErzBeistandschaft (§ 12 Nr. 1), weil durch die BewHilfe das gleiche Ziel besser, vor allem mit mehr Nachdruck angestrebt werden kann. Die Koppelung mit JA („Einstiegsarrest“) ist jetzt unter den Voraussetzungen

22 23 24 25 26 27 28 29 30 231

So BGH 9, 104 zum StrFrG 195. Ebenso Eisenberg/Kölbel 13. BayOblG 71, 864. Dallinger/Lackner 12. Potrykus B 2; Beulke/Swoboda Rn 530. LG Offenburg NStZ-RR 03, 351, 352. Dallinger/Lackner 17; Potrykus NJW 56, 654. LG Offenburg aaO. Eisenberg/Kölbel 19; Potrykus NJW 56, 655; aA Ostendorf 2.

§ 28

2. Teil. Jugendliche

des § 16a zulässig (s. § 16a, 3 ff; zur umstrittenen Rechtslage nach früherem Recht vgl. 12. Aufl. § 27, 14 ff). 14 Mit dem BGH31 ist es als unzulässig anzusehen, neben der Aussetzung nach § 27 Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2 anzuordnen32. Der BGH überzeugt mit dem Einwand, der JRichter werde durch eine gleichzeitige Anordnung von Fürsorgeerz. (Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2) im Nachverfahren unzulässig eingeschränkt, weil er diese nicht selbst aufheben kann. Überdies erscheint es nicht sinnvoll, Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2 anzuordnen, da dies dem Sinn des Instituts des § 27 widerspricht, was auch die §§ 28, 29 zeigen.

7. Maßregeln der Besserung und Sicherung 15 Neben der Entscheidung nach § 27 können, wenn die Voraussetzungen vorliegen, die im JRecht zulässigen Maßregeln der Besserung und Sicherung, Nebenstrafen und Nebenfolgen ausgesprochen werden33. Denn die Entscheidung nach § 27 ist eine ebenso spezifisch jrechtliche Unrechtsreaktion wie ErzMaßregeln und Zuchtmittel, neben denen diese Entscheidungen zulässig sind (§ 8 III für Nebenstrafen und Nebenfolgen, § 5 III für Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt)34; doch wird bei der Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus regelmäßig eine Entscheidung gem. § 27 nach § 5 III entbehrlich sein, anders bei der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 7, 7). Ob neben dem Schuldspruch auf ein Fahrverbot erkannt werden darf, ist streitig35. 16 Nachträgliche Entscheidung über die Verhängung von JStrafe § 30; Verfahren § 62; Urteilsfassung u. Begründung § 54, 6; Kosten § 74, 5, 10; Rechtsmittel § 55, 21, 43; Wiederaufnahme gegen Entscheidungen nach § 27: § 55, 65; BZRG Vor § 97, 18.

§ 28 Bewährungszeit (1) Die Bewährungszeit darf zwei Jahre nicht überschreiten und ein Jahr nicht unterschreiten. (2) 1Die Bewährungszeit beginnt mit der Rechtskraft des Urteils, in dem die Schuld des Jugendlichen festgestellt wird. 2Sie kann nachträglich bis auf ein Jahr verkürzt oder vor ihrem Ablauf bis auf zwei Jahre verlängert werden. 1. Hw.-J: § 105 I. – 2. ErwG: § 104 I Nr. 1, § 62, 6.

1 Die BewZeit muss hier immer zwischen 1 und 2 Jahren liegen. Die Dauer richtet sich nach der Zeit, die voraussichtlich zur Erkenntnis des Täters (§ 27, 3, 6) notwendig ist. Solange Unklarheit besteht, kann eine kürzere BewZeit vor ihrem Ablauf ohne weitere Gründe bis zur Höchstgrenze von 2 Jahren verlängert werden. Im Übrigen gilt das bei § 22 Gesagte (bes. 2, 4) entsprechend. Die Strafverfolgungsverjährung ruht in der BewZeit (§ 78b I Nr. 2 StGB). Zur Unterstellungszeit § 29, 1. 2 Wegen verfahrensrechtlicher Fragen §§ 62 IV; 63 II; 58 I, II 1; 59 II, V. Eine Übertragung nachträglicher Entscheidungen oder gar des Verfahrens als Ganzes ist also nicht möglich (§ 62, 6). 31 BGH 35, 288 = JR 89, 297 mit zust. Anm. Böhm. 32 Ebenso OLG Frankfurt NJW 55, 603; OLG Hamm Zbl. 75, 407; LG Münster MDR 74, 602; Ostendorf 11; Eisenberg/ Kölbel § 8, 7; Potrykus NJW 55, 245; vgl. auch Bietz NStZ 88, 316 jeweils mit zum Teil unterschiedlichen Begründungen. 33 Einschränkend Eisenberg/Kölbel 16, 17. 34 Für Entziehung der Fahrerlaubnis s. BGH 6, 394. 35 Vgl. Böhm JR 89, 298 mwN. 232 https://doi.org/10.1515/9783110686401-032

Verhängung der Jugendstrafe; Tilgung des Schuldspruchs

§ 30

§ 29 Bewährungshilfe 1 Der Jugendliche wird für die Dauer oder einen Teil der Bewährungszeit der Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers unterstellt. 2Die §§ 23, 24 Abs. 1 Satz 1 und 2, Abs. 2 und 3 und die §§ 25, 28 Abs. 2 Satz 1 sind entsprechend anzuwenden.

1. Hw.-J: § 105 I; § 10, 7 und § 15, 2. – 2. ErwG: § 104 I Nr. 1, V 2; § 62, 6. – 3. Sold. § 23, 3; § 25, 17.

Auch hier fallen Bew- und Unterstellungszeit auseinander; wie bei der Strafaussetzung zur 1 Bew. wird der J für die Dauer oder auch nur einen Teil der BewZeit – obligatorisch – der Aufsicht und Leitung eines BewHelfers unterstellt (Abs. I). Nach S. 2 sind die §§ 23, 24 I 1 u. 2, Abs. II u. III und die §§ 25, 28 II 1 entsprechend anzuwenden. Es gilt also insbes. das § 24, 1 u. 2 Ausgeführte mit dem Abmaß des § 28 II 2. Die Bew.- und die Betreuungszeit beginnt mit der Rechtskraft des Urteils, in welchem die Schuld des J festgestellt wird (§ 28 II 1). Der Unterschied zur Strafaussetzung zur Bew. aber liegt darin, dass Auflagen und Bew- 2 Hilfe auch darauf zugeschnitten werden müssen, den Täter zu erkennen (§ 28, 1). Daneben darf aber nichts unversucht bleiben, den Täter günstig zu beeinflussen und zu einem rechtschaffenen Leben zu erziehen (ähnlich wie bei der Strafaussetzung zur Bew.). Die Folgen eines Verstoßes gegen Weisungen oder Auflagen sind an sich die gleichen wie 3 bei der Strafaussetzung (§ 26a, 9), also Ungehorsamsarrest nach § 23 I 4; doch berechtigt gröblicher und beharrlicher Ungehorsam allein im Gegensatz zu § 26 I nicht zur Verhängung von JStrafe (§ 30, 9). Im Übrigen gilt das bei den §§ 23, 24, 25 Gesagte entsprechend. Wegen der verfahrensrechtlichen Fragen § 28, 2 u. § 64.

§ 30 Verhängung der Jugendstrafe; Tilgung des Schuldspruchs (1) 1Stellt sich vor allem durch schlechte Führung des Jugendlichen während der Bewährungszeit heraus, daß die in dem Schuldspruch mißbilligte Tat auf schädliche Neigungen von einem Umfang zurückzuführen ist, daß eine Jugendstrafe erforderlich ist, so erkennt das Gericht auf die Strafe, die es im Zeitpunkt des Schuldspruchs bei sicherer Beurteilung der schädlichen Neigungen des Jugendlichen ausgesprochen hätte. 2§ 26 Absatz 3 Satz 3 gilt entsprechend. (2) Liegen die Voraussetzungen des Absatzes 1 Satz 1 nach Ablauf der Bewährungszeit nicht vor, so wird der Schuldspruch getilgt. 1. Hw.-J: Rn 3; § 105 I. – 2. ErwG: § 104 I Nr. 1, V 2.

Schrifttum Jaglarz Vorhandensein schädlicher Neigungen im Zeitpunkt der Nachverfahrensentscheidung als Verhängungsvoraussetzung der JStrafe gemäß §§ 30, 62 JGG? NStZ 15, 191.

Übersicht 1. 2. 3. 4.

Bindung an den Schuldspruch 1 3 Unrechtsreaktion nur JStrafe 4 Ungehorsam gegen BewAuflagen 5 Weitere Aussetzung

233 https://doi.org/10.1515/9783110686401-034

5. 6. 7.

Tilgung des Schuldspruchs 6 Zeitpunkt und Voraussetzungen der 7 JStrafe 15 Straftaten während der BewZeit

§ 30

2. Teil. Jugendliche

1. Bindung an den Schuldspruch 1 Im Nachverfahren sind nur 3 Entscheidungen möglich: Weitere Aussetzung der Verhängung (Rn 5), Tilgung des Schuldspruchs (Rn 6) und Verhängung der JStrafe (Rn 7). 2 Gegenstand der Entscheidung ist die Tat, deretwegen der J nach § 27 schuldig gesprochen wurde. Eine Bindung an das Urteil nach § 27 besteht nur hinsichtlich des Schuldspruchs und der ihn unmittelbar tragenden Feststellungen (§ 27, 4). Im Nachverfahren darf hier ebenso wenig eine Nachprüfung einsetzen wie im Verfahren über eine auf das Strafmaß beschränkte Berufung. Nach § 30 ist auch zu entscheiden, wenn sich nach Rechtskraft des Schuldspruchs herausstellt, dass der als J Angeklagte im Tatzeitpunkt bereits Erw. war; die Hauptverhandlung ist dann öffentlich1. Eine Bindung fehlt nur dort, wo die im Schuldspruch bezeichnete Rechtsnorm keine strafrechtlichen Folgen haben kann, Prozessvoraussetzungen fehlen oder Prozesshindernisse gegeben sind (Verjährung, Strafantrag, ne bis in idem). Das Verfahren ist dann einzustellen (§§ 260 III, 206a StPO). Das Persönlichkeitsbild des J ist dagegen selbständig und ohne jede Bindung zu beurteilen (vgl. auch Rn 12).

2. Unrechtsreaktion nur JStrafe 3 Als Unrechtsreaktion kann aufgrund des Schuldspruchs nur JStrafe verhängt werden, weil nur deren Verhängung im Urteil nach § 27 vorbehalten ist. Bei Hw. findet deshalb im Nachverfahren keine Prüfung nach § 105 mehr statt2. Aus dem gleichen Grund ist es auch nicht möglich, zugleich mit der Anordnung der Tilgung ErzMaßregeln oder Zuchtmittel zu verhängen3. Die Tat ist – ähnlich wie bei Strafaussetzung auf Bew. – mit dem erfolgreichen Abschluss der BewZeit gesühnt (§ 29, 2). Die gebotenen erz. Einwirkungen sind während der BewZeit vorzunehmen, die höchstens 2 Jahre betragen darf (§ 28). Zur JStrafe im Nachverfahren nach § 30 I: 10 u. 11.

3. Ungehorsam gegen BewAuflagen 4 Wegen Ungehorsams gegen Weisungen und Auflagen, die als Bewährungsauflagen gem. § 29 angeordnet wurden, kann gem. §§ 11 III, 15 III JA verhängt werden (§§ 29 S. 2, 23 I 4). Solches Eingreifen ist oft bei erheblicheren Verstößen geboten, wenn die Verhängung der vorbehaltenen JStrafe nicht angezeigt ist (Rn 9). Eine Anrechnung dieses JA auf eine später verhängte JStrafe (Rn 14) ist nicht möglich, da er nur die Reaktion auf den Ungehorsam, nicht auf die abgeurteilte Tat ist4. Dazu auch Rn 14 aE.

4. Weitere Aussetzung 5 Ergibt eine zur Festsetzung der JStrafe in der BewZeit anberaumte Verhandlung nicht die Voraussetzungen für die Verhängung von JStrafe (Rn 7, 9), so muss die Entscheidung über die Verhängung weiterhin ausgesetzt bleiben (§ 62 III), falls nicht die BewZeit inzwischen – uU durch Verkürzung – abgelaufen ist. Die Tilgung des Schuldspruchs vor Ablauf der BewZeit5 ist nicht möglich. Konnte der Täter nämlich trotz eingehender Persönlichkeitsforschung in der 1 OLG Hamm NStZ 11, 527. 2 Dallinger/Lackner § 106, 69; Potrykus B 2; NJW 56, 655 gegen NJW 55, 246. 3 BGH 18, 211; Dallinger/Lackner 8; Ostendorf 8; Beulke/Swoboda Rn 540; aA OLG Schleswig NJW 58, 34; Potrykus B 1c u. NJW 55, 246.

4 AA Schady FS Ostendorf, 2015, S. 787. 5 AA Eisenberg/Kölbel § 62, 13; Nothacker S. 200. 234

Verhängung der Jugendstrafe; Tilgung des Schuldspruchs

§ 30

Verhandlung nach § 27 nicht erkannt werden, ist eine Beobachtung während der BewZeit, also mindestens 1 Jahr lang (eine längere BewZeit kann verkürzt werden; § 28 S. 2) erforderlich, um zu sicheren Ergebnissen zu kommen und Trugschlüsse zu vermeiden. Das hat das Gesetz in §§ 30 II, 62 III hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht6.

5. Tilgung des Schuldspruchs Ist während der BewZeit keine Strafe ausgesprochen worden und ergibt sich auch bei den 6 Schlussermittlungen und aufgrund der in der gesamten BewZeit gesammelten Erfahrungen keine Notwendigkeit für die Verhängung von JStrafe (Rn 7 ff), so muss der Schuldspruch getilgt werden (durch Urteil oder Beschluss: § 62 I, II). Die Entscheidung soll möglichst rasch ergehen (vgl. auch Rn 3).

6. Zeitpunkt und Voraussetzungen der JStrafe Auf JStrafe kann im Nachverfahren durch Urteil (§ 62 I S. 1; § 62, 3) erkannt werden, sobald der Schuldspruch rechtskräftig ist und sich herausstellt, dass zZ der Entscheidung nach § 27 schädliche Neigungen in einem die Verhängung von JStrafe erfordernden Umfang vorgelegen haben und (§ 17, 18) auch jetzt noch vorhanden sind7. Dies ist während der ganzen BewZeit bis zur Tilgung des Schuldspruchs (§ 26a, 1) möglich. Der JRichter kann auf schädliche Neigungen zZ der Entscheidung nach § 27 aus Feststellungen schließen, die ein Verhalten während der BewZeit betreffen, aber auch aus nun erst bekannt gewordenen Tatsachen aus der Zeit vor der Entscheidung nach § 27 oder aus erst nachträglich ermittelten Umständen bei der dieser Entscheidung zugrunde liegenden Tat, soweit sie nicht den Feststellungen widersprechen, welche den Schuldspruch unmittelbar tragen und damit rechtskräftig sind8. Der Verstoß gegen BewAuflagen genügt ebenso wenig wie allg. schlechte Führung oder neue strafbare Handlungen für sich allein (Rn 15 ff)9. Solche Vorkommnisse können vielmehr nur als Indiz dafür gewertet werden, dass bereits bei der ersten Entscheidung schon erhebliche schädliche Neigungen vorgelegen haben. In gleicher Richtung können auch andere Umstände gewertet werden, auch wenn sie schon vor der Entscheidung nach § 27 lagen und zwischenzeitlich bekannt geworden sind. Alle ermittelten Umstände dürfen also nur herangezogen werden, um die Täterpersönlichkeit, bes. den Umfang der schädlichen Neigungen und die Möglichkeit der erz. Beeinflussung, zu erkennen. Deshalb ist auch die JStrafe so zu bemessen, wie sie bei der Entscheidung nach § 27 bei sicherer Erkenntnis der Täterpersönlichkeit bemessen worden wäre. Das Verhalten in der BewZeit kann deshalb nie zur Strafschärfung führen, sondern nur zur Beurteilung der Gesamtpersönlichkeit des J mit herangezogen werden10. Die Streichung des Abs. I 2 durch das 1. JGGÄndG vom 30.8.1990 erlaubt es, eine im Nachverfahren nach Abs. I 1 zu verhängende JStrafe zur Bew. auszusetzen. Dieses Ergebnis ist kriminalpolitisch zu begrüßen, es fügt sich harmonisch in das System des JGG ein, entspricht dessen Sinn und Ziel und erlaubt dem JRichter flexibel und unter Wahrung des Subsidiaritätsgrundsatzes (Einf. 102) zu reagieren. Es ist eine wichtige Möglichkeit mehr, die stationären Maßnahmen, wo

6 Dallinger/Lackner 17, § 62, 19; aA OLG Schleswig NJW 58, 34; Potrykus B 1 c. 7 Eisenberg/Kölbel 10; aA Jaglarz NStZ 15, 196. 8 Vgl. Dallinger/Lackner 4, 14; Eisenberg/Kölbel 11. 9 BGH 9, 160, 162. 10 Dallinger/Lackner 8; Eisenberg/Kölbel 13; aA Ostendorf 5, weil auch bei einer einheitlichen Entscheidung das Verhalten nach einer Tat für die Prognose zu berücksichtigen u. eine Nichtbeachtung praktisch unmöglich sei. 235

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angängig, zurückzudrängen. Die Gesetzesbegründung11 gibt der Vermutung Raum, dass die JRichter früher die Entscheidung nach § 27 vor allem deshalb gemieden haben, um sich nicht einem in manchen Fällen unguten Zwang auszusetzen, im Nachverfahren für die JStrafe in keinem Falle Bew. bewilligen zu können. Der Wegfall des Verbotes, die im Nachverfahren nach § 30 I erkannte JStrafe zur Bew. auszusetzen, wirkt noch weiter. Die früher in Rechtsprechung und Literatur heftig umstrittene Frage, ob bei Einbeziehung eines Schuldspruchs nach § 27 wegen einer neuerlichen Straftat gem. § 31 II zu einer einheitlichen JStrafe Bew. bewilligt werden darf, hat durch Wegfall des Abs. I 2 ihre Grundlage verloren. Denn es besteht nicht mehr die Gefahr, dass ein J durch neue Straftaten in der nach §§ 28, 29 laufenden BewZeit sich besser stellt als der, welchem nach früherer Regelung nach strafrechtlich „neutralen“ BewVerstößen im Nachverfahren eine Bew. kraft Gesetzes versagt werden musste. Der JRichter kann nun in beiden Fällen frei nach Beurteilung der Persönlichkeit des J und dessen Tatverstrickung unter dem Vorrang des ErzGedankens eine gezielte Entscheidung treffen. Vgl. dazu auch § 31, 13. Stellt sich erst im Nachverfahren heraus, dass der Täter schuldunfähig (§ 20 StGB) oder nach § 3 nicht verantwortlich ist, kann bei noch so negativer Persönlichkeitsbeurteilung keine JStrafe verhängt werden, weil die grundlegende Voraussetzung für die Verhängung einer Strafe fehlt und weil diese auch kein geeignetes Mittel gegen diesen Täter ist12. Wird ein Prozesshindernis festgestellt, ist das Verfahren trotz des rechtskräftigen Schuldspruchs einzustellen (§§ 260 III, 206a StPO)13. – War der Schuldspruch sonst offensichtlich unrichtig und ist keine Strafvorschrift verletzt, wird man ebenfalls die Verhängung einer JStrafe ablehnen müssen14. Hierzu auch Rn 2. Es kann nur JStrafe, jedoch in jedem Umfang und auch mit Strafaussetzung zur Bew. (Rn 10) verhängt werden (Rn 3). Auch bei der im Nachverfahren festgesetzten JStrafe dürfen das Gewicht der Tat und die Schwere der Schuld (§ 18, 23) nicht unbeachtet bleiben. Vor dem Schuldspruch (§ 27) erlittene UHaft ist nach Maßgabe des § 52a anzurechnen15, ebenso in der BewZeit erlittene UHaft (§ 62, 4) und verbüßter Einstiegsarrest (Abs. I 2 iVm § 26 III 3). Ungehorsamsarrest ist nicht anzurechnen (Rn 4).

7. Straftaten während der BewZeit 15 Neue Straftaten während der BewZeit können verschieden behandelt werden: Genügt es zur Ahndung, die im BewVerfahren gegebenen Möglichkeiten auszuschöpfen, so 16 kann unter Verständigung des die BewAufsicht führenden Richters das neue Verfahren gem. § 45 JGG (§ 154 StPO) eingestellt werden. Ist dies nicht der Fall und werden ErzMaßregeln oder Zuchtmittel erforderlich, ist eine Been17 digung der BewHilfe aber erz. unerwünscht, so wird von einer Einbeziehung der Entscheidung gem. § 27 abzusehen (§ 31, 21) und allein über die neue Tat zu entscheiden sein. Das weiterlaufende BewVerfahren wird dann ggf. auf die neue Lage abgestimmt. Wird im neuen Verfahren eine JStrafe erforderlich, so ist gem. § 31 II auf eine Einheitsstrafe 18 zu erkennen, welche die frühere Aussetzung der Verhängung der JStrafe hinfällig werden lässt (dazu auch Rn 11). Es kann auch hier erneut nach § 27 mit neu beginnender Bew- und Unterstellungszeit entschieden werden. Verfahrensrechtliche Fragen § 62; Anfechtung § 63; Urteilsfassung § 54, 6, 15; BZRG Vor § 97, 18. 19

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BT-Drs. 11/5829, S. 21. Zust. Eisenberg/Kölbel 9. Ebenso Eisenberg/Kölbel 7. Zust. Eisenberg/Kölbel 9; Ostendorf 3; aA DSS/Diemer 5. Potrykus NJW 56, 655. 236

Siebenter Abschnitt Mehrere Straftaten § 31 Mehrere Straftaten eines Jugendlichen (1) 1Auch wenn ein Jugendlicher mehrere Straftaten begangen hat, setzt das Gericht nur einheitlich Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel oder eine Jugendstrafe fest. 2Soweit es dieses Gesetz zuläßt (§ 8), können ungleichartige Erziehungsmaßregeln und Zuchtmittel nebeneinander angeordnet oder Maßnahmen mit der Strafe verbunden werden. 3Die gesetzlichen Höchstgrenzen des Jugendarrestes und der Jugendstrafe dürfen nicht überschritten werden. (2) 1Ist gegen den Jugendlichen wegen eines Teils der Straftaten bereits rechtskräftig die Schuld festgestellt oder eine Erziehungsmaßregel, ein Zuchtmittel oder eine Jugendstrafe festgesetzt worden, aber noch nicht vollständig ausgeführt, verbüßt oder sonst erledigt, so wird unter Einbeziehung des Urteils in gleicher Weise nur einheitlich auf Maßnahmen oder Jugendstrafe erkannt. 2Die Anrechnung bereits verbüßten Jugendarrestes steht im Ermessen des Gerichts, wenn es auf Jugendstrafe erkennt. 3§ 26 Absatz 3 Satz 3 und § 30 Absatz 1 Satz 2 bleiben unberührt. (3) 1Ist es aus erzieherischen Gründen zweckmäßig, so kann das Gericht davon absehen, schon abgeurteilte Straftaten in die neue Entscheidung einzubeziehen. 2Dabei kann es Erziehungsmaßregeln und Zuchtmittel für erledigt erklären, wenn es auf Jugendstrafe erkennt. 1. Hw.-J: § 105, I, II. – 2. ErwG: § 104 I Nr. 1.

Richtlinien zu § 31 1. 2.

3.

4.

5.

Ein rechtskräftiges Urteil wird im Gegensatz zu § 55 StGB auch einbezogen, wenn die weitere Straftat nach seiner Verkündung begangen worden ist. Ist durch das frühere Urteil Jugendstrafe verhängt und die Vollstreckung nach § 21 zur Bewährung ausgesetzt worden, so bedarf es zur Einbeziehung nicht des Widerrufs der Aussetzung. Das gleiche gilt, wenn nach §§ 88, 89 während der Vollstreckung einer Jugendstrafe Aussetzung zur Bewährung angeordnet worden ist. Ist in dem früheren Urteil nach § 27 lediglich die Schuld festgestellt worden, so wird durch die Einbeziehung dieses Urteils auch das ihm zugrundeliegende Verfahren erledigt. Bei der neuen Entscheidung ist von den tatsächlichen Feststellungen und dem Schuldspruch des einzubeziehenden rechtskräftigen Urteils auszugehen. Es wird jedoch insoweit erneut Beweis zu erheben sein, als dies für die Gesamtbeurteilung des Angeklagten, insbesondere im Hinblick auf die Festsetzung einer neuen Maßnahme oder Jugendstrafe, erforderlich ist. Ist wegen der neuen Straftat eine Verschärfung des früheren Urteils nicht angemessen, so verfährt die Staatsanwaltschaft in der Regel nach § 154 StPO. Dies gilt auch, wenn es ausreicht, die Aussetzung einer Jugendstrafe oder eines Strafrestes zur Bewährung zu widerrufen (§§ 26, 88, 89) oder ein nach Schuldspruch ausgesetztes Verfahren fortzusetzen (§ 30). Über die Anrechnung oder Berücksichtigung von Untersuchungshaft, die im Zusammenhang mit einem einbezogenen Urteil vollzogen worden ist, wird neu zu entscheiden sein.

Schrifttum Wohlfahrt Die einheitliche Rechtsfolgenentscheidung im JStrafrecht, insbes. im Falle von mehreren Taten in verschiedenen Altersstufen, StraFo 19, 265.

237 https://doi.org/10.1515/9783110686401-035

§ 31

2. Teil. Jugendliche

Übersicht 1. 2. 3. 4.

Einheit der Unrechtsfolgen 1 3 Einbeziehung in einem Verfahren Einbeziehung rechtskräftiger Entscheidun5 gen 11 Art der Einbeziehung

5. 6. 7. 8.

17 Wirkung der Einbeziehung 19 Unterlassen der Einbeziehung 21 Absehen von Einbeziehung Einbeziehung von Strafen nach Erw37 Recht

1. Einheit der Unrechtsfolgen 1 § 31 regelt nur die bes. Folgen der Tatmehrheit im JRecht. Ob Tatmehrheit oder Tateinheit, ob eine natürliche Handlungseinheit oder ein Dauerdelikt vorliegt, bestimmt das allg. Recht. Eine fortgesetzte Handlung kommt nach dem Beschluss des Großen Senats für Strafsachen des BGH von 19941 in aller Regel nicht mehr in Betracht. Trotz gleicher materieller Folgen (Rn 2, 3) muss die Frage der Konkurrenz, bes. aus verfahrensrechtlichen Gründen (§ 55, 10, 16), auch im JRecht beantwortet werden2. Wo eine Handlung vorliegt (Tateinheit, natürliche Handlungseinheit, Dauerdelikt, rechtli2 che Bewertungseinheit), ist auf nur eine Unrechtsfolge zu erkennen, die allerdings gem. § 8 aus mehreren Maßnahmen bestehen kann. Über den Strafrahmen Rn 3.

2. Einbeziehung in einem Verfahren 3 Auch bei mehreren Handlungen kennt das JRecht nur eine Unrechtsfolge, gleich wie wenn nur eine Handlung vorläge. Das gilt ausnahmslos, wenn alle Taten in einem Verfahren abgeurteilt werden. Als Täter- und ErzStrafrecht will das JRecht weniger die Ahndung der mehreren Taten als die erz. Beeinflussung des einen Täters; diese aber kann nur einheitlich sein (Grundsatz der Wirkungseinheit, Einheitsprinzip)3. Es stehen alle Maßnahmen (§§ 6, 7; 9–30) und alle Verbindungsmöglichkeiten (§ 8) des JGG zur Verfügung. – Der Strafrahmen ist der gleiche wie bei einer Tat; auch die Höchstgrenzen der einzelnen Maßnahmen (z.B. 4 Wochen bei JA) sind zu beachten; gilt für eine der mehreren Taten der erhöhte Strafrahmen der §§ 18 I 2, 105 III, so ist dieser für alle einheitlich zu ahndenden Taten maßgebend4. – Wegen der Auswirkungen Rn 18. In eine Einheitsstrafe einbezogen werden können freilich nur solche Taten, die von einem 4 deutschen Gericht verfolgt werden können. So hat der Grundsatz der Spezialität des Auslieferungsrechts den Vorrang; soweit hiernach eine Strafverfolgung ausgeschlossen ist, kann kein Schuldspruch und damit keine Einbeziehung erfolgen. Auch das bedeutsame Konzentrationsgebot des § 31 rechtfertigt es nicht, Grundsätze des Auslieferungsrechts, die im Interesse des internationalen Rechtsverkehrs bestehen, außer Acht zu lassen5; das Verfahren wegen solcher Taten muss vorläufig eingestellt werden. Werden auch solche Taten einbezogen, ist das Urteil anfechtbar, aber nicht nichtig6; vgl. IRG u. Richtlinien für den Verkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten; Rn 31, 41 u. § 1, 5.

1 BGH 40, 138. 2 AA Foth JR 14, 390, nach dem die §§ 52, 53 StGB zur Strafzumessung gehören u. daher im JStrafrecht nicht anwendbar sind. OLG Celle StV 20, 653, 654. DSS/Schatz 14; Wohlfahrt StraFo 19, 266. BGH H MDR 82, 104. Grethlein NJW 63, 945 mwN, bes. BGH 15, 125.

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Mehrere Straftaten eines Jugendlichen

§ 31

3. Einbeziehung rechtskräftiger Entscheidungen Das erz. gebotene Prinzip der Einheitsstrafe (besser: einheitliche Maßnahme) gilt grds. (Ausnahme: Rn 21) auch, wenn mehrere Taten eines J in verschiedenen Verfahren abgeurteilt werden. Auch wenn die Voraussetzungen des ErwRechts für die Bildung einer Gesamtstrafe nicht vorliegen (RL 1), wird die frühere Entscheidung in das neue Urteil einbezogen, wenn die folgenden vier Voraussetzungen vorliegen: Die frühere Entscheidung muss rechtskräftig sein (sonst nach eingetretener Rechtskraft § 66; dort Rn 2, 3). Eine rechtskräftige Verurteilung darf aber zur Vermeidung von Doppelbestrafungen nicht einbezogen werden, wenn sie bereits in ein anderes – noch nicht rechtskräftiges – Urteil einbezogen worden war7. Die Maßnahmen – nicht nach §§ 45, 47 angeordnete – der früheren Entscheidung dürfen noch nicht vollständig ausgeführt, verbüßt oder erledigt sein; die Einbeziehung ist z.B. nicht möglich, wenn Gebote oder Auflagen erfüllt sind, wenn die Zeit abgelaufen ist, für die ein Verbot ausgesprochen ist, wenn eine Weisung oder eine Auflage nicht mehr erfüllt werden kann (Tod des Beleidigten vor Entschuldigung, Kinderlähmung des Verurteilten vor Erfüllung der Arbeitsauflage), wenn die Verwarnung vollzogen ist (§ 14, 5), wenn die Hilfe nach § 12 Nr. 2 oder ErzBeistandschaft beendet ist, wenn JA restlos verbüßt ist, von seiner Vollstreckung abgesehen wird (§ 87 III) oder wenn 1 Jahr seit Rechtskraft seiner Verhängung abgelaufen ist (§ 87 IV), wenn bei Aussetzung der Verhängung der JStrafe der Schuldspruch nach § 30 getilgt ist, wenn eine zur Bewährung ausgesetzte JStrafe erlassen ist8, wenn eine JStrafe ganz verbüßt ist oder wenn Vollstreckungsverjährung (§ 4, 3), Gnadenerweis oder Amnestie der Vollstreckung entgegensteht, wenn bei Entziehung der Fahrerlaubnis die Sperrfrist abgelaufen ist9. – Ist ein Teil der Maßnahmen erledigt, werden nur die übrigen einbezogen10. Es empfiehlt sich, im Tenor des neuen Urteils klarzustellen, dass das frühere Urteil bezüglich der vollstreckten Rechtsfolge erledigt ist11. Bei der Festsetzung der neuen Rechtsfolge ist eine mögliche erz. Wirkung der ausgeführten oder verbüßten Sanktion zu berücksichtigen und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hinsichtlich der Gesamtheit der erledigten und neu zu verhängenden Rechtsfolgen zu beachten12. Die Nichteinbeziehung der Vorverurteilung wegen Vollverbüßung stellt für den J einen Nachteil dar, der namentlich bei Verhängung von JStrafe wegen Schwere der Schuld zu seinen Gunsten zu berücksichtigen ist13. Vgl. weiter Rn 11 u. 14. Nach Aufhebung eines Urteils in der Revision und Zurückverweisung zur erneuten Entscheidung hat jedoch das nun zuständige Gericht eine im Zeitpunkt der neuen Hauptverhandlung bereits erledigte frühere Verurteilung nach § 31 zu berücksichtigen, wenn sie zZ der Hauptverhandlung, die dem aufgehobenen Urteil zugrunde lag, noch nicht vollständig erledigt war14. Aus dem früheren Urteil müssen nach dem Gesetzestext noch ErzMaßregeln, Zuchtmittel, JStrafe oder die Aussetzung der Verhängung der JStrafe übrig geblieben und solche Maßnahmen müssen auch wegen der neuen Tat zu verhängen sein. Ein früheres Urteil kann auch dann einbezogen werden, wenn es nach § 5 III von der Verhängung von JStrafe oder Zuchtmitteln abgesehen hat, denn Entscheidungen nach § 5 III setzen einen Schuldspruch voraus und es entspricht dem gesetzgeberischen Willen, alle schuldhaft begangenen Straftaten in das Einheitsprinzip des § 31 einzubeziehen15.

7 BGH NJW 03, 2036. 8 BGH StV 92, 432. 9 BGH 42, 299 = NStZ 98, 355 mit zust. Anm. Dölling. 10 OLG Celle StV 20, 653, 654. 11 BGH 42, 299. 12 BGH NStZ-RR 10, 257, 259; NJW 20, 1009, 1010; OLG Schleswig bei Güntge/Füssinger SchlHA 15, 297, 298; OLG Celle StV 20, 653, 654; Ostendorf 23; Dölling NStZ 98, 355 f. 13 BGH aaO. 14 BGH StV 92, 433; 01, 179; StraFo 11, 288; NStZ 22, 556, 557. 15 BGH 39, 92, 93 f = JR 93, 513 mit zust. Anm. Brunner = JZ 93, 529 mit Anm. Eisenberg/Sieveking, nach denen eine analoge Anwendung des § 31 II möglich ist. 239

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2. Teil. Jugendliche

Darüber hinaus ist die Einbeziehung auch dann zulässig, wenn nur noch Nebenstrafen, Nebenfolgen oder Maßregeln der Besserung und Sicherung aus dem alten Urteil übrig oder im neuen Verfahren nur solche zu treffen sind. Diese Rechtsfolgen haben ebenso wie die spezifisch jstrafrechtlichen Sanktionen eine präventive Funktion. Ihre Einbeziehung entspricht dem Gesetzeszweck, eine auf die Täterpersönlichkeit abgestimmte einheitliche Rechtsfolgenentscheidung zu ermöglichen, die auf aktueller Diagnose und Prognose beruht16. Die Einbeziehung setzt bei der Aussetzung der Verhängung der JStrafe (§ 27) nicht ein formelles Nachverfahren nach §§ 30 I, 62 I voraus17. Dazu auch Rn 15 u. § 41, 55. – Wegen Einbeziehung von ErwStrafen Rn 37, aber auch § 32, 8. 9 Die Einbeziehung darf nicht erz. unzweckmäßig sein (Rn 21). 10 Liegen diese Voraussetzungen vor, muss die frühere Strafe einbezogen werden. Schwierigkeiten hinsichtlich der Höchstgrenze der JStrafe berechtigen nicht dazu, von der Einbeziehung abzusehen, falls nicht dadurch erz. Bedenken gegen die Einbeziehung begründet werden18 (Rn 32). Vgl. aber auch Rn 33. Die Möglichkeit des § 66 vermag das Fehlen der Prüfung nach § 31 II nicht zu heilen19.

4. Art der Einbeziehung 11 Bei der Einbeziehung müssen der Gesamtkomplex einheitlich bewertet und Unrechtsfolgen wie bei gleichzeitiger Aburteilung ausgesprochen werden. Einbezogen werden also nicht nur die Maßnahmen des früheren Urteils, sondern dieses selbst mit seinem Schuldspruch20 (Urteilsformel § 54, 8). Alle einbezogenen Entscheidungen sind im Urteilstenor zu kennzeichnen21, bei Einbeziehung einer früheren Entscheidung, die bereits ein anderes Urteil einbezogen hatte, auch dieses Urteil22. Es muss der Sachverhalt aller einbezogenen früheren Verurteilungen einschließlich der Strafzumessungsgründe dargestellt werden, um Art und Schwere der früheren Straftaten erkenn- und nachprüfbar zu machen23, auch soweit sie bereits selbst in eine der einbezogenen früheren Entscheidungen einbezogen waren24. Denn es sind nicht nur die früheren Strafen, sondern die früheren Urteile einzubeziehen25. Für die Darstellung der früheren Tat reicht die Angabe, es handele sich um einen der jetzt abzuurteilenden Tat vergleichbaren Sachverhalt, nicht aus26. Zum Tenor aber auch Rn 12 aE. Neben der Würdigung des Täters ist auch eine Gesamtwürdigung aller der Einbeziehung zugrunde liegenden Taten, also auch der bereits abgeurteilten27, geboten28, lediglich rechnerische Einbeziehung wäre rechtsfehlerhaft29.

16 DSS/Schatz 19; Nix/Nicolai 12 ff; Ostendorf 7, 23; in der Tendenz auch Eisenberg/Kölbel 17; aA Dallinger/Lackner 10.

17 BGH 31, 255; Brunner JR 81, 262. 18 Dallinger/Lackner 42; Frisch NJW 59, 1669; wohl auch Nothacker S. 253; aA Potrykus NJW 59, 1064 entgegen dem Wesen der Einheitsstrafe. 19 BGH B NStZ 94, 530. 20 BGH bei Detter NStZ 91, 276; BGH NStZ 17, 539; OLG Schleswig EJF C I 46; Potrykus NJW 59, 1064. 21 BGH B NStZ 97, 482. 22 BGH StV 89, 308; NJW 98, 467; BGH B NStZ-RR 00, 322; 01, 323; BGH NStZ-RR 06, 12, 13; 14, 356. 23 BGH B NStZ 89, 522; BGH StV 89, 307 iVm StV 89, 546; BGH StV 89, 308; 99, 661; NStZ-RR 96, 120; BGH B NStZRR 01, 323; BGH NStZ 09, 43; BGH NStZ-RR 17, 28; OLG Celle StV 01, 180; NStZ 12, 576, 577; OLG Hamm StV 02, 404, 405; ZJJ 08, 78, 79; StV 14, 747; OLG Koblenz NZV 11, 267; KG StV 13, 762. 24 BGH StV 89, 308; 545; 93, 533; 20, 683. 25 BGH H MDR 92, 321 f. 26 BGH B NStZ 95, 537. 27 BGH NStZ 87, 443; StV 92, 432; 93, 533; NStZ-RR 17, 28; OLG Koblenz StV 11. 591. 28 BGH 16, 135 u. NStZ 82, 466; BayObLG bei Rüth DAR 82, 251; OLG Koblenz NStZ-RR 08, 323. 29 BGH B NStZ 83, 449; BGH NStZ 88, 492; BGH H MDR 88, 278; BGH B NStZ 97, 482. 240

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Der Schuldspruch des einbezogenen Urteils und die ihn tragenden Feststellungen sind 12 bindend30; es gilt das § 30, 2 Ausgeführte. Hinsichtlich des Rechtsfolgenausspruchs besteht dagegen keine Bindung (Rn 13)31. Die dazu getroffenen Feststellungen unterliegen der freien Beweiswürdigung, eine Wiederholung der früheren Beweisaufnahme ist jedoch ausgeschlossen, denn die alten Taten werden nicht neu abgeurteilt32. Unter zusammenfassender Würdigung der rechtskräftig erkannten und der neuen Taten33 ist auf diejenige einheitliche Rechtsfolge zu erkennen, die das Gericht nach etwaiger besserer Erkenntnis der Täterpersönlichkeit (RL 3) für alle Straftaten selbständig und losgelöst vom früheren Strafausspruch als angemessen ansieht34. Im Tenor sind nur die Einbeziehung der früheren Urteile und die neu begangenen Straftaten, nicht aber die den einbezogenen Urteilen zugrunde liegenden Taten aufzuführen, weil sie sonst zweimal erwähnt würden35. Die neue Sanktion kann milder ausfallen als die Rechtsfolge der früheren Verurteilung. 13 Die Gegenmeinung, nach der die Einbeziehung nicht der Korrektur des einbezogenen Urteils dient, berücksichtigt nicht hinreichend, dass mit der Einbeziehung das frühere Urteil im Rechtsfolgenausspruch seine Wirkung verliert und nunmehr eine einheitliche Sanktion selbständig und losgelöst von dem früheren Strafausspruch zu bestimmen ist36. Nach den Grundgedanken des JGG ist die Rechtsfolge zu verhängen, die nach dem aktuellen Erkenntnisstand angemessen ist. Hierbei ist die Überlegung Seisers37 zu beachten, dass eine Nichterhöhung der Sanktion vom J nicht als Freispruch missverstanden werden darf. Zur Teilvollstreckung § 56, 2 aE u. 5. Bei einer zu vollstreckenden ausländischen Verurteilung kann ein Härteausgleich geboten sein38. JStrafe oder JA des früheren Urteils werden ganz einbezogen, auch wenn schon ein Teil 14 verbüßt ist39. Die verbüßten Teile der einbezogenen JStrafen sind nach § 51 II StGB iVm § 2 II zwingend auf die neue EinheitsJStrafe anzurechnen40. Das gehört nicht in den Urteilssatz41, weil das Gericht insoweit gar keine Entscheidungsmacht hat und diese Anrechnung dem Vollstreckungsleiter obliegt (§§ 82, 84, 85). Dazu § 54, 8; 66, 5. Eine Einfügung in den Urteilstenor wäre unschädlich (§ 260 IV 5 StPO), aber überflüssig. In der mündlichen Urteilsbegründung aber muss die Anrechnung dem Verurteilten mitgeteilt werden, in der schriftlichen muss sie als Merkposten erscheinen42. Da stets der Rechtsfolgenausspruch des einbezogenen Urteils seine Wirkung verliert und durch den davon losgelösten und selbständigen einheitlichen „Strafausspruch“ ersetzt wird, muss die dazugehörige Frage der Anrechnung der UHaft in dem einbezogenen Verfahren nun erneut entschieden werden (RL 5)43, auch wenn dort die Anrech-

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BGH GA 53, 83; NStZ 09, 400; Wohlfahrt StraFo 19, 267. BGH 41, 99. Zust. Ostendorf 21, aber aA, wenn Widersprüche oder Zweifel aufzulösen seien. BGH StV 89, 308; NStZ 17, 539. BGH 16, 335; 49, 91 f; BGH bei Martin DAR 75, 118; BGH bei Spiegel DAR 79, 184; BGH bei Detter NStZ 91, 276; BGH H MDR 92, 322; BGH B NStZ 92, 529; BGH StV 93, 533; 98, 382; 99, 661; NStZ-RR 06, 12, 13; NStZ 09, 400 f; StV 16, 706; NStZ 17, 539; OLG Koblenz NZV 11, 267; StV 11, 591; KG StV 13, 762; OLG Hamm StV 14, 747. 35 BGH B NStZ 88, 492. 36 BGH 37, 39 f; 42, 300; 49, 92; BGH StV 92, 432; StV 16, 706; OLG Koblenz NStZ-RR 08, 323; LG Mannheim NStZ 97, 388; LG Gera DVJJ-J 98, 281; AG Bernau ZJJ 07, 418 mit zust. Anm. Wapler; AG Rudolstadt StV 19, 482; Eisenberg/ Kölbel 44, 45; Ostendorf 21; von Beckerath JStrafrechtliche Reaktionen bei Mehrfachtäterschaft, Diss. Tübingen 1997, S. 116 ff; aA OLG Karlsruhe MDR 79, 781; 81, 519; Dallinger/Lackner 26; Meyer JR 80, 261; Seiser NStZ 97, 374. 37 AaO, 376. 38 BGH StraFo 11, 155. 39 BGH 16, 335 u. BGH bei Herlan GA 63, 105; BGH H MDR 79, 457; BGH StV 86, 70. 40 BGH 16, 335; DSS/Schatz 44; Wohlfahrt StraFo 19, 268. 41 BGH 41, 315 = NStZ 96, 279 mit zust. Anm. Brunner gegen die bisherige hM. 42 Näher Anm. Brunner aaO. Zur Pflichtverteidigung OLG Köln StV 91, 151. 43 Zust. Eisenberg/Kölbel 42; Ostendorf 22. 241

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nung abgelehnt worden war44. Bleibt es bei der Anrechnung der UHaft kraft Gesetzes (§ 52a S. 1), muss dies nicht in den Urteilssatz aufgenommen werden, eine Aufnahme kann sich aber bei der EinheitsJStrafe zum Zweck der Klarstellung empfehlen. Die Anordnung nach § 52a S. 2 gehört stets in den Tenor. Ein zum Teil verbüßter JA aus dem früheren Urteil kann angerechnet werden, wenn auf JStrafe erkannt wird (Abs. II 2). Soll das geschehen, ist es in den Urteilstenor aufzunehmen, weil Abs. II 2 es dem Richter überlässt, ob und inwieweit verbüßter JA angerechnet werden soll, also eine eigenständige Entscheidung des Spruchrichters vorliegt, die nur er treffen kann45. Dazu § 54, 8 aE. Abs. II 2 betrifft den im Urteil verhängten JA, nicht den Ungehorsamsarrest46. 15 Die Anordnung der Strafaussetzung zur Bew. (§ 21), der Aussetzung der Verhängung der JStrafe (§ 27; dazu Rn 8 u. § 41, 55) und der Entlassung zur Bew. werden dabei hinfällig (RL 2). Die Einbeziehung einer ausgesetzten JStrafe eröffnet auch dann weder Berufung, noch Revision, noch sofortige Beschwerde nach § 59 I, III, wenn die neue EinheitsJStrafe nicht ausgesetzt wird (§ 55, 10; vgl. auch Rn 19)47. Entfällt die Strafaussetzung zur Bew., ist nach dem BGH48 für einen die Strafvollstreckung verkürzenden Ausspruch über die Anrechnung von Bewährungsleistungen kein Raum49. Die erbrachten Leistungen sind nach dem BGH vielmehr bei der Neubestimmung der Strafe zu berücksichtigen. Die Vergleichbarkeit der Situation mit § 26 III 2 und § 58 II 2 StGB und Gesichtspunkte der erz. Klarheit und Konsequenz, der Gerechtigkeit und Rechtssicherheit50 sprechen jedoch für die Anrechnungslösung51. Verbüßter Einstiegsarrest wird nach Abs. II 3 iVm §§ 26 III 3 und 30 I 2 kraft Gesetzes angerechnet. Ein Ausspruch über die Anrechnung ist daher entbehrlich52. Eine Anrechnung der früheren BewZeit auf die neue BewZeit ist ausgeschlossen53. Bei Einbeziehung einer JStrafe läuft der Strafvollzug weiter. War der Verurteilte nach Teilvollzug aus dem einbezogenen Urteil bis zu dem einbeziehenden Urteil in Freiheit, liegt eine Strafunterbrechung vor; es gilt § 40 StVollstrO. Zur Teilvollstreckung § 56, 2 aE. 16 Früher angeordnete Maßregeln der Besserung und Sicherung, Nebenstrafen und -folgen müssen nach erneuter Prüfung54 in den Einheitsstrafausspruch ebenfalls aufgenommen werden, wenn sie noch nicht vollständig erledigt sind (Rn 7). Es genügt nicht, die zuvor angeordnete Maßregel lediglich aufrechtzuerhalten; vielmehr ist die Maßregel aufgrund eigener Sachprüfung ggf. erneut anzuordnen55. Kosten: § 74 RL 2 S. 2, 3; 3 S. 2; § 41 I 2 GKG. Wird entgegen § 74 RL 2 S. 2, 3 in dem neuen Urteil § 74 voll angewandt, während im ersten Urteil dem Angeklagten Kosten aufgebürdet waren, sind schon bezahlte Kosten zurückzuvergüten, weil nur noch das 2. Urteil besteht (Rn 17) und deshalb die Staatskasse ungerechtfertigt bereichert ist56 (§ 74, 5 aE). Wegen der sich aus dem Auslieferungsrecht ergebenden Schwierigkeiten u. ihrer Behebung Rn 4 u. 20.

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BGH 25, 355; BGH NStZ 96, 233. DSS/Schatz 43; Wohlfahrt StraFo 19, 268. Wohlfahrt StraFo 19, 267; aA Schady FS Ostendorf, 2015, S. 795. OLG Stuttgart MDR 76, 1043; Ostendorf 31; aA Eisenberg/Kölbel 67. 49, 90 = JR 04, 392 mit abl. Anm. H. E. Müller = JZ 04, 687 mit abl. Anm. Eisenberg. Ebenso OLG Koblenz NStZ-RR 08, 323, 324. Eisenberg JZ 04, 688. Dafür OLG Köln NStZ-RR 01, 151; Eisenberg/Kölbel 53; Ostendorf 23; LBN/Baier Rn 503. BGH NStZ 20, 739. Potrykus NJW 59, 1065; Eisenberg/Kölbel 53; aA Ostendorf 23. Zur Strafzeitberechnung bei Einbeziehung einer JStrafe Krauss NJW 65, 1167. 54 BGH H MDR 88, 278; BGH bei Nehm DAR 94, 184; BGH StV 11, 591; OLG Celle StV 20, 653 für eine Einziehungsentscheidung. 55 BGH NStZ 97, 101 mit zust. Anm. Brunner; StV 11, 591; 17, 469. Zur Höchstdauer der Sperrfrist bei erneuter Entziehung der Fahrerlaubnis Dölling NStZ 98, 356. 56 BGH 15, 529; AG Frankfurt B NStZ 91, 523; Eisenberg/Kölbel 48; Ostendorf 23. 242

Mehrere Straftaten eines Jugendlichen

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5. Wirkung der Einbeziehung Mit der Einbeziehung fallen die Rechtsfolgen der einbezogenen Entscheidung weg, als wäre diese 17 Entscheidung nicht ergangen57; das gilt selbst für die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus58. Es gilt nur noch die neue Entscheidung. Die nicht ausdrücklich aufrechterhaltenen ErzMaßregeln und Zuchtmittel des früheren Urteils werden gegenstandslos, ob sie verbüßt sind oder nicht59. Vgl. auch Rn 16. Da das einbezogene Urteil durch die Einbeziehung gegenstandslos wird, kann es später nicht isoliert in eine weitere Entscheidung einbezogen werden. Vielmehr kann nur die früher nach § 31 ergangene Entscheidung insgesamt zur Bildung einer EinheitsJStrafe herangezogen werden60. Wird die neue wie die alte JStrafe zur Bew. ausgesetzt, müssen eine neue BewZeit ohne Anrechnung der alten (Rn 15) festgesetzt, neue Weisungen und Auflagen erteilt und ein neuer BewPlan aufgestellt werden, da die auf die Bew. bezogenen früheren Anordnungen mit dem Wegfall der Strafaussetzung der früheren Entscheidung, auf die sie allein gegründet waren, ebenfalls gegenstandslos geworden sind. Zur Teilvollstreckung § 56, 2; zur Anrechnung erbrachter Auflagen Rn 15; zur Kostenentscheidung Rn 16; § 74, 5. Weitergehende Folgen als die der Vereinheitlichung aller gegen diesen Täter getroffenen 18 Maßnahmen hat die Bildung einer Einheitsstrafe nicht. Die Einheitsstrafe gilt deshalb als eine Verurteilung iSd § 66 I Nr. 2 StGB (Sicherungsverwahrung) nur dann, wenn sie den engeren Voraussetzungen der Gesamtstrafe des allg. Rechts entspricht, also erkennen lässt, dass bei einer der ihr zugrunde liegenden Straftaten eine JStrafe von mindestens einem Jahr verwirkt wäre61. Für die zweite erforderliche Verurteilung reicht es aus, wenn die Taten nicht gesamtstrafenfähig sind (§ 66 IV 1 StGB) und nach Abzug der weggefallenen Strafe von mindestens einem Jahr noch mindestens ein Strafrest von einem Jahr verbleibt62. Der über die Anordnung der Sicherungsverwahrung entscheidende Richter darf sich aber nicht durch eigene Strafzumessung bei der rechtskräftig abgeurteilten Tat an die Stelle des Tatrichters im Vorverfahren setzen, sondern nur feststellen, wie jener die einzelnen Taten bewertet hat63. Das ist schwierig; gelingt es nicht, was wohl häufig der Fall sein wird, so erfüllt die EinheitsJStrafe nicht die Voraussetzungen des § 66 I Nr. 2 StGB64. Dann muss auch die Verbüßung dieser JStrafe bei der Prüfung der Voraussetzungen der Nr. 3 des § 66 I StGB außer Betracht bleiben65. Zur Führungsaufsicht kraft Gesetzes nach § 68 f I StGB s. § 7, 12. Die Einheitsstrafe des § 31 will aus erz. Gründen verschiedene Maßnahmen zusammenfassen und gestattet deshalb, im Gegensatz zu § 55 StGB, ein rechtskräftiges Urteil auch dann einzubeziehen, wenn die weitere Straftat nach dessen Verkündung begangen worden ist (Rn 5; RL 1)66. Zu § 35 BtMG § 17, 57. – Weiter hindert die EinheitsJStrafe auch nicht die Teilanfechtung des Schuldspruchs (§ 55, 10); sie ändert auch nichts daran, dass Verfahrensverstöße vom Revisionsgericht nur auf ausdrückliche Rüge beachtet werden (§ 55, 16). Der Wegfall der Verurteilung in einem von mehreren zu einer EinheitsJStrafe führenden Fällen hat in aller Regel deren Aufhebung durch das Revisionsgericht zur Folge, denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich die weggefallene Verurteilung auf die Bemessung der JStrafe ausgewirkt hat67. Das gleiche gilt – selbst bei sehr mildem Strafausspruch – wenn eine 57 58 59 60 61

BGH StV 19, 469; OLG Celle StV 20, 653, 654. Vgl. BGH H MDR 88, 278; BGH NStZ 97, 101 mit zust. Anm. Brunner. BGH 14, 381. BGH B NStZ 93, 528. BGH 26, 152; BGH H MDR 80, 628; BGH NJW 85, 2840; MDR 87, 799; StV 91, 63; BGH bei Detter NStZ 93, 477; BGH B NStZ 94, 530; BGH NStZ 96, 331; StV 98, 343; NJW 99, 3723; BGH B NStZ-RR 00, 322; BGH NStZ 02, 29; NStZRR 07, 171; StV 12, 215; NStZ 17, 650. 62 Ebenso Ostendorf 26, 27; Böhm/Feuerhelm S. 162; Bedenken bei Eisenberg/Kölbel 57; Nothacker S. 317. 63 BGH H MDR 80, 628; 87, 799. 64 BGH aaO. 65 BGH NStZ 96, 332. 66 BGH 7, 300; OLG Hamm NJW 71, 1664. 67 BGH B NStZ 91, 522 f. 243

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JStrafe unter nicht zulässiger Einbeziehung einer früheren Verurteilung gebildet worden ist68. – Die einheitliche Ahndung betrifft nur die Straffrage und beeinflusst nicht den Prozessgegenstand69. – Bei der Prüfung der Frage, ob eine Amnestie der Höhe nach bei bestimmten Einzeltaten eingreift, ist bei der EinheitsJStrafe für jede einzelne Tat nachträglich eine – gedachte – Einsatzstrafe festzusetzen, da § 31 durch die Vereinheitlichung der getroffenen Maßnahmen eine mögliche Amnestierung für die Einzeltat nicht verhindern will und kann70.

6. Unterlassen der Einbeziehung 19 Das unberechtigte (Rn 21) Unterlassen der Einbeziehung ist ein Anfechtungsgrund, der der Beschränkung des § 55 I nicht unterliegt (§ 55, 21), wohl aber der Beschränkung des § 55 II. Die Anfechtung eines Urteils kann nicht darauf beschränkt werden, dass eine nicht verbüßte JStrafe nicht einbezogen wurde; denn die sich aus § 31 II, III ergebenden Fragen können nicht von den übrigen Strafzumessungserwägungen getrennt werden71. Wird der Strafausspruch wegen Nichteinbeziehung einer noch nicht vollständig erledigten früheren Entscheidung aufgehoben, steht das Verschlechterungsverbot einer auf der Einbeziehung des bisher nicht einbezogenen Urteils beruhenden Erhöhung der in dem angefochtenen Urteil verhängten JStrafe nicht entgegen72. Das Verschlechterungsverbot hindert auch nicht eine Erhöhung einer EinheitsJStrafe um den bereits verbüßten Teil der einbezogenen JStrafe eines früheren Urteils, wenn in dem aufgehobenen Urteil rechtsirrig nur der noch nicht verbüßte Teil der JStrafe aus dem früheren Urteil einbezogen war73. Vgl. auch Rn 15; § 55, 10 u. 45. 20 Aufgrund der übergeordneten Normen des Auslieferungsrechts kann es noch im Vollstreckungsverfahren zu einer Ausgliederung eines Teiles der Taten kommen74. Näher Rn 4.

7. Absehen von Einbeziehung 21 Die Bildung der Einheitsstrafe kann unterbleiben, wenn dies erz. zweckmäßig ist und die Taten Gegenstand mehrerer Verfahren sind (Abs. III, kein Zwang zur Verbindung)75. Dazu auch § 30, 17 u. § 31 RL 476. Macht ein Gericht von der Ausnahmevorschrift des Abs. III Gebrauch, bedürfen die hierfür maßgeblichen Erwägungen einer ausdrücklichen Darlegung77. Eine formelhafte Begründung genügt nicht78. Die Entscheidung hat sich ausschließlich am ErzZweck zu orientieren79. Für ein Absehen müssen Gründe vorliegen, die unter dem Gesichtspunkt der Erz. von ganz bes. Gewicht sind und zur Verfolgung dieses Zwecks über die üblichen Strafzumessungsgesichtspunkte hinaus das Nebeneinander zweier JStrafen notwendig erscheinen lassen80. Erst nach der Feststellung solcher Gründe ist der tatrichterliche Ermessensspielraum eröffnet81. Sol68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80

BGH StV 92, 432. Dallinger/Lackner Vor § 55, 15–22. BayObLG 70, 186 für das StFG 1970. BGH 16, 335; BGH bei Herlan GA 63, 105. BGH B NStZ 93, 528. BGH 16, 335. Grethlein NJW 63, 945. BGH 10, 101; BGH StV 16, 706. Vgl. auch Brunner JR 81, 260. BGH B NStZ 93, 528. BGH B NStZ 96, 479. BGH 22, 23; BGH NStZ 97, 388; OLG Brandenburg NStZ-RR 08, 388, 389. BGH 36, 43 f; BGH NStZ 97, 387; NJW 02, 77 = NStZ 02, 204 mit Anm. Walter; StV 11, 590; NStZ 18, 660; 21, 373; 22, 556; OLG Brandenburg aaO; OLG Koblenz NStZ-RR 08, 323. 81 BGH NStZ 18, 660, 661; 22, 556. 244

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che Gründe liegen nicht vor, wenn nach allg. Recht eine Gesamtstrafe zu bilden wäre und die Taten einschlägig sind82. Der Umstand, dass die neue Tat nach Art und Schwere weit über die frühere Tat hinausgeht, ist für sich allein noch kein Grund, von einer Einbeziehung abzusehen. Wird eine Entscheidung einbezogen, in die bereits weitere frühere Entscheidungen einbezogen waren, ist insoweit für die Anwendung von § 31 III kein Raum mehr83. Auch die Überlegung, der J werde durch eine EinheitsJStrafe ungerechtfertigt begünstigt, begründet ein Absehen nicht84, da allein erz. Gründe dies rechtfertigen. Die Anwendung von Abs. III kommt jedoch in Betracht, wenn es nach einem ersten Urteil unter Missachtung der davon ausgehenden Warnfunktion erneut zu Straftaten kommt85. Der Arbeitskreis XI des 19. DJGT86 warnt JRichter und JStAe davor, zur Verbesserung der Statistik von einer Einbeziehung abzusehen. Obwohl aus der Praxis eine derartige gesetzeswidrige Anwendung des Abs. III 1 nicht bekannt ist, ist der Warnung beizutreten. Zum Zusammentreffen mehrerer JStrafen infolge Absehens von der Einbeziehung § 89a, 8. Eine Einheitsstrafe sollte z.B. in folgenden Fällen nicht gebildet werden: wenn die übrig gebliebenen Maßnahmen der früheren Urteile gegenüber der Reaktion des neuen Urteils ohne Bedeutung sind; dies ist näher dazugelegen87; die früheren Maßnahmen können für erledigt erklärt werden (Rn 36); wenn die neuen Taten keine wesentliche selbständige Bedeutung haben88. Hier ist Einstellung nach § 154 StPO zu erwägen, ggf. mit Widerruf einer Strafaussetzung zur Bew.89 oder einer Entlassung zur Bew. (§ 88 V) oder unter Fortsetzung eines nach Schuldspruch ausgesetzten Verfahrens nach § 30 (RL 4); auch die Abänderung von BewAuflagen kommt in Betracht oder die Verlängerung der BewZeit; wenn die neue Tat eine auf einer ganz anderen Ebene liegende Gelegenheitstat (Verkehrsstraftat des „Diebes“), ein mit der früheren Tat erzpsychologisch nicht vergleichbares Delikt90 oder ein aus einer bes. Situation entsprungener Rückfall in die an sich schon überwundene frühere Haltung ist. Hier ist der Ausspruch einer neuen Maßnahme zu empfehlen, die neben die alte tritt, aber auf sie abzustimmen ist91; wenn die Einbeziehung zu einer unverhältnismäßig langen JStrafe oder zum unangemessenen Inlaufsetzen einer neuen BewZeit92 zwingen würde. Hier sollte ggf. eine neue selbständige Strafe neben einen Strafrest treten; wenn die neue Maßnahme den Vollzug der früheren nicht hindert, bes. wenn eine Bew. uU nach anfänglichen Schwierigkeiten erfolgreich abgelaufen ist; wenn eine Ergänzung der früheren Maßnahmen geboten ist, die im Wege des § 31 II wegen des Koppelungsverbotes (§ 8) nicht möglich ist93. Das AG Kiel94 ließ eine neue JStrafe mit Strafaussetzung neben eine bereits bestehende bei einer neuen gleichartigen, aber leichten Tat treten; wenn eine Einheitsstrafe wegen der Höhe nicht mehr zur Bew. ausgesetzt werden könnte, obwohl Strafaussetzung zur Bew. aus bes. Gründen angezeigt ist95. Erfolgt keine Einbeziehung, 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 245

BGH NStZ-RR 96, 120. BGH B NStZ 97, 482. BGH bei Theune NStZ 86, 160. BGH NStZ 00, 263 mit krit. Anm. Eisenberg NStZ 00, 484. In DVJJ, Hrsg., JGerichtsverfahren u. Kriminalprävention, 1984, S. 508. BGH B NStZ 96, 479. Wohlfahrt StraFo 19, 267. Eisenberg/Kölbel 34; Ostendorf 17. AG Rudolstadt StV 16, 706. Potrykus NJW 56, 654; Grethlein NJW 57, 1462. AG Rudolstadt StV 16, 706, 707 f; HK-JGG/Buhr 33. AA Ostendorf 14; zweifelnd Eisenberg/Kölbel § 8, 10. Zbl. 65, 55. OLG Brandenburg NStZ-RR 08, 388; OLG Koblenz NStZ-RR 08, 323; Wohlfahrt StraFo 19, 266.

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kann nämlich die neue JStrafe ebenfalls zur Bew. ausgesetzt werden, auch wenn die Summe beider JStrafen 1 Jahr (bzw. 2 Jahre – § 21 II) übersteigt, da § 21 nur für jede Strafe einzeln gilt96. Für ein Absehen von der Einbeziehung reicht es allerdings nicht aus, dass eine Aussetzung erz. noch vertretbar ist. Vielmehr müssen darüber hinaus erz. Gründe von bes. Gewicht das Nebeneinander zweier Jugendstrafen gebieten97. Ist der Angeklagte zZ der Hauptverhandlung Erw., ist zu berücksichtigen, dass dann dem ErzGedanken nur noch ein geringes Gewicht zukommen kann98. Entsprechendes gilt hinsichtlich der Verhinderung des Überschreitens der Zwei-Jahres-Grenze des § 35 III Nr. 1 BtMG99. Die Ermessensentscheidung muss auf den Einzelfall bezogen sein; wenn im früheren Urteil Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2 angeordnet und noch nicht erledigt ist100. Einer Einbeziehung von Vorverurteilten kann das Verfahrenshindernis der Spezialität nach Art. 14 EuAlÜbk entgegenstehen101. In Ausnahmefällen darf von der Einbeziehung nach Abs. III abgesehen werden, auch wenn dies dazu führt, dass die gesetzlichen Höchstgrenzen der JStrafe (§§ 18 I, 105 III) überschritten werden102. Der BGH103 hat zur Begründung dafür, dass ausnahmsweise die Höchst-JStrafe von 10 Jahren neben einer weiteren JStrafe bestehen bleiben darf, zutreffend ausgeführt, dass beim Widerstreit zweier gesetzlicher Prinzipien des JGG, nämlich der Begrenzung der Höhe der JStrafe und dem Absehen von der üblichen EinheitsJStrafe aus erz. Gründen, nicht eine dieser Maximen generell Vorrang vor der anderen hat, sondern im Vordergrund der ErzGedanke als Basis aller Regelungen des JStrafrechts steht, und zwar für den jeweiligen Einzelfall104 (dazu Einf. 83–95). Liegt ein einbeziehbares Urteil vor, hat der JRichter nach Abs. II unter Beachtung der Höchstgrenzen (§§ 18 I, 31 I 3, 105 III) einheitlich über alle Straftaten zu entscheiden, es sei denn, erz. Gründe nach Abs. III rechtfertigen es, das frühere Urteil auszuklammern. Dass die in Abs. I 3 trotz der Regelungen in §§ 18 I, 105 III wiederholte ausdrückliche Bindung an die Höchstgrenzen des JA und der JStrafe in Abs. III nicht wiederkehrt, führt mit dem BGH zu dem Schluss, dass hier die Höchstgrenzen nicht gelten sollen, was auch sinnvoll ist, weil bei dem oft geringen oder ganz fehlenden Spielraum zwischen der früheren Strafe und der Höchstgrenze im Einzelfall eine angemessene Reaktion auf die neue Tat nicht mehr möglich wäre. Der BGH hat zu Recht diesen Weg eröffnet, zugleich aber betont, dass für eine solche Überschreitung der Höchstgrenzen allg. Strafzumessungsgründe für das durch rationale Erwägungen gebundene Ermessen des JRichters105 keinesfalls ausreichen106, sondern erz. Gründe ganz bes. Gewichts vorliegen müssen107. Dafür lässt der BGH im zu entscheidenden Falle eine bislang nur kurzfristige Strafverbüßung ebenso wenig genügen wie die Tatsache, dass die neue Tat innerhalb 96 Potrykus NJW 56, 654; 59, 1064. 97 BGH NStZ 18, 660, 661; OLG Düsseldorf MDR 83, 956. 98 BGH NStZ 18, 660, 661. 99 DSS/Schatz 60; Wohlfahrt StraFo 19, 267. 100 Potrykus NJW 59, 1066 zur früheren Fürsorgeerziehung. 101 BGH StV 98, 32. 102 BGH 36, 37 = JR 89, 519 mit grds. zust. Anm. Brunner = NStZ 89, 574 mit krit. Anm. Walter/Pieplow; BGH NStZ 95, 596; 00, 263; NJW 02, 76 = NStZ 02, 204 mit Anm. Walter; KG JR 81, 306 – kein Freibrief für Gefangenenmeuterei; Dallinger/Lackner 42; Ostendorf 15: bei neuen schwersten Verbrechen; LBN/Baier Rn 530; Potrykus NJW 59, 1064; Beulke/Swoboda Rn 285; Streng Rn 277; Wohlfahrt StraFo 19, 266; aA Böhm/Feuerhelm S. 159 ff; Böhm StV 86, 70; Frisch NJW 59, 1671; von Beckerath JStrafrechtliche Reaktionen bei Mehrfachtäterschaft, Diss. Tübingen 1997, S. 145; Nothacker S. 253 mit der Begründung, eine angemessene Vermittlung der Rechtsfolge könne effektiver sein als ihre repressive Aufstockung unter den Aspekten eines fremden Taxendenkens. Differenzierend Eisenberg/Kölbel 37 f. 103 36, 37. 104 Vgl. BGH 22, 21. 105 Vgl. BGH NStZ 85, 410. 106 So schon BGH 22, 21. 107 Ebenso BGH NStZ 95, 596; NJW 02, 77. 246

Mehrere Straftaten eines Jugendlichen

§ 31

einer BewZeit begangen wurde. Hinzu kam aber, dass das LG dem Hw. durch Unterlassen der Einbeziehung des früheren Urteils das Gewicht des Mordes, „der in seiner Furchtbarkeit kaum seinesgleichen findet“, vor Augen stellen wollte. Das LG sei davon ausgegangen, dass nur die Höchststrafe allein wegen Mordes dem Hw. die Bedeutung der Mordtat ausreichend bewusst machen könne, zumal er bereits in der Hauptverhandlung trotz Geständnisses zur Verharmlosung geneigt habe. Walter/Pieplow108 bedauern, dass in einer „Rechtsprechungswende“ die strikten Anforderun- 35 gen an eine Nichteinbeziehung gem. Abs. III entscheidend abgesenkt worden seien. Der BGH habe das Konzept des Erstgerichts „Erz. durch Beeindruckung“ mit ungeschmälerter Höchststrafe und die „Freibrief-Sorge-Argumentation“, also eine „schlichte Vergeltungsphilosophie“, bestätigt und den ErzGedanken verzerrt. „Dammbruchängste“ aber seien gleichwohl unbegründet, da bei einem in der JStrafanstalt einsitzenden Hw. Anlässe, zu weiteren Freiheitsstrafen greifen zu müssen, ohnehin begrenzt seien. Es geht bei der Erz. straffällig gewordener J und Hw. aber auch um Normverdeutlichung und deutliche Reaktion109. Erz. kann und muss sich auch der Sühne bedienen dürfen110 (vgl. dazu Einf. 89–91). Man sollte auch nicht fürchten, dieses Urteil könnte als falsches Signal missverstanden werden. Bei JA wird ein Überschreiten der Höchstgrenze regelmäßig abzulehnen sein. Ein Absehen von der Einbeziehung aus erz. Gründen kommt auch bei Angeklagten in Betracht, die bei der Verurteilung das 21. Lebensjahr vollendet haben111. Der Anwendung von § 31 III 1 steht nicht entgegen, dass eine Aburteilung der Taten in 36 einem Verfahren möglich gewesen wäre112. In diesem Fall muss das Gericht jedoch bedenken, dass bei einer Beurteilung nach ErwStrafrecht eine Gesamtfreiheitsstrafe mit der Folge, dass die Höchststrafe des § 38 StGB nicht überschritten werden dürfte, zwingend wäre113. Wird § 31 III 1 angewendet, darf nur noch die JStrafe verhängt werden, die zusammen mit der ersten Strafe erforderlich ist, um auf den J erz. einzuwirken. Bei der Strafbemessung muss der ErzGedanke ganz im Vordergrund stehen, der Schuldausgleich muss weitgehend in den Hintergrund treten114. Wird auf JStrafe erkannt, können nach Abs. III 2 ErzMaßregeln und Zuchtmittel aus dem ersten Urteil für erledigt erklärt werden. Zulässig ist nur die Erklärung für erledigt, nicht die Umwandlung in eine mildere Sanktion115.

8. Einbeziehung von Strafen nach ErwRecht Bei Anwendung von JStrafrecht gegen Hw. kann mit bereits rechtskräftigen Verurteilungen nach 37 allg. Strafrecht – auch nachträglich (§§ 109 II 2, 66) – eine einheitliche Maßnahme oder EinheitsJStrafe gebildet (§§ 105 II, 31 II 1)116, aber auch aus erz. Gründen davon abgesehen werden (§§ 105 II, 31 III). Die Verhängung einer EinheitsJStrafe erfordert eine Neubewertung der früheren Taten hinsichtlich der Frage, ob aufgrund neuer Erkenntnisse für sie JStrafrecht anwendbar ist117. Hierfür ist eine Gesamtbewertung der bereits abgeurteilten und der neuen Taten erforderlich118. Hier gewinnen für die zu bildende EinheitsJStrafe wegen schädlicher Neigungen erz. Gesichtspunkte bes. Bedeutung. Über die im einbezogenen ErwVerfahren nach § 51 StGB angerechnete UHaft wird nun nach § 52a erneut entschieden (Rn 14)119. Durch § 105 II wird insbes. in solchen 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 247

NStZ 89, 576. Schlüchter GA 88, 108. Itzel S. 29, bes. 30. BGH NJW 02, 76. BGH NStZ 95, 596. BGH aaO. BGH aaO. OLG Celle StV 01, 17. BGH B NStZ 81, 251; 97, 483; B NStZ-RR 01, 323. BGHSt 37, 35, 37; BGH NStZ 09, 43. BGH aaO. BGH 25, 355.

§ 32

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2. Teil. Jugendliche

Fällen die ungute Vollstreckung wesensverschiedener Strafarten nacheinander vermieden. Weitere Einzelheiten § 105, 39; auch § 66, 12; § 109, 14. Beachte weiter insbes. § 32, 8–16. Das Einheitsprinzip gilt für Urteile, aber nicht für Maßnahmen nach §§ 45, 47120. Das Einheitsprinzip gilt nicht im Verhältnis von Zuwiderhandlungen gegen Weisungen und Auflagen (Ungehorsamsarrest nach §§ 11 III 1, 15 III 2, 23 I 3) zu Straftaten. Der wegen Ungehorsams verhängte JA kann also nicht zu einer einheitlichen Entscheidung mit Maßnahmen des JGerichts wegen Straftaten zusammengefasst werden (vgl. § 11, 9)121. Dagegen wird nach Dörig122 mit der Einbeziehung eines Urteils mit den anderen nicht aufrechterhaltenen Rechtsfolgen auch ein im einbezogenen Verfahren verhängter Ungehorsamsarrest gegenstandslos; ebenso die Beschwerdeentscheidung des gegen die Ablehnung der Vollstreckung des Arrestes angerufenen Generalstaatsanwalts123. § 31 gilt auch nicht für Geldbußen im OWiG-Verfahren124. Die Einheitsstrafe kann auch nachträglich gebildet werden (§ 66). Urteilsfassung: § 54, 8; Bedeutung im Rechtsmittel- u. Wiederaufnahmeverf.: § 55, 10, 16, 63; Zuständigkeit: § 41, 55; Taten in verschiedenen Altersstufen: § 32, 1; zum Verschlechterungsverbot § 55, 45, 49; Gerichtskosten: § 41 I GKG; BZRG: Vor § 97, 16.

§ 32 Mehrere Straftaten in verschiedenen Alters- und Reifestufen 1

Für mehrere Straftaten, die gleichzeitig abgeurteilt werden und auf die teils Jugendstrafrecht und teils allgemeines Strafrecht anzuwenden wäre, gilt einheitlich das Jugendstrafrecht, wenn das Schwergewicht bei den Straftaten liegt, die nach Jugendstrafrecht zu beurteilen wären. 2Ist dies nicht der Fall, so ist einheitlich das allgemeine Strafrecht anzuwenden. 1. Hw.-J: § 105 I. – 2. ErwG: § 104 I Nr. 1.

Übersicht 1. 2. 3.

Anwendungsbereich 1 Einheitlich Jugend- oder 2 ErwRecht Schwergewichtsent4 scheidung

4. 5. 6.

EinheitsJStrafe durch Einbeziehung einer 8 ErwStraftat „Gesamtfreiheitsstrafe“ durch Einbeziehung 11 einer JStrafe 19 Dauerdelikt

1. Anwendungsbereich 1 § 32 gilt bei Tatmehrheit und entsprechend für Dauerdelikte und mehrere Vorgänge, die kraft Bewertungseinheit eine Tat im Rechtssinne bilden1. Die Vorschrift wird erst angewendet, wenn feststeht, dass bei gleichzeitiger Aburteilung ein Teil der Taten nach JRecht, ein anderer nach 120 Eisenberg/Kölbel 6; Ostendorf 2. 121 Potrykus § 11 B 8 u. NJW 67, 187; aA Eisenberg/Kölbel 8 u. Eisenberg Zbl. 89, 17, 18; widersprüchlich Ostendorf 2, 7.

122 DRiZ 87, 277. 123 AaO, S. 278 FN 13. 124 Eisenberg/Kölbel 9; Göhler/Gürtler/Thoma § 20 OWiG 5. 1 BGH 6, 7; BGH NStZ 88, 492; StV 89, 308; NStZ-RR 96, 250; NStZ 05, 650; NStZ-RR 07, 282; StV 19, 470; OLG Düsseldorf JR 83, 479 mit zust. Anm. Brunner; KG StV 19, 438. 248 https://doi.org/10.1515/9783110686401-036

Mehrere Straftaten in verschiedenen Alters- und Reifestufen

§ 32

ErwRecht abzuurteilen wäre. Das ist nicht der Fall, wenn die Taten mit 17 und 19 Jahren begangen wurden, für die späteren Taten aber die Voraussetzungen des § 105 I vorliegen, oder wenn die Taten mit 20 und 22 Jahren begangen wurden, § 105 I aber auf die früheren Taten nicht anwendbar ist. Im ersten Fall sind alle Taten nach JRecht, im zweiten alle nach ErwRecht abzuurteilen. Hat ein Dauerdelikt vor Vollendung des 21. Lebensjahres begonnen, ist zunächst gem. § 105 I die Anwendbarkeit des JStrafrechts zu prüfen, bevor § 32 zur Anwendung kommt2. § 32 setzt voraus, dass der Angeklagte für jede der Taten schuldig gesprochen werden kann; so scheidet von im JAlter begangenen Taten jede aus, für welche die Altersreife gem. § 3 fehlt, andererseits aber auch jede Tat, die im Zustande der Schuldunfähigkeit begangen wurde. Bei Zweifeln über das Alter § 1, 233. Vgl. auch Vor § 102, 2.

2. Einheitlich Jugend- oder ErwRecht Treffen Taten zusammen, die getrennt teils nach JRecht und teils nach ErwRecht abzuurteilen 2 wären, so wird für alle Taten bei gleichzeitiger Aburteilung einheitlich entweder JRecht oder ErwRecht angewendet. Liegt das Schwergewicht bei den nach dem 21. Lebensjahr begangenen Teilakten, so ist einheitlich und insgesamt ErwRecht anzuwenden. Denn § 32 schließt es aus, in einem Urteil auf eine EinheitsJStrafe und eine Freiheitsstrafe zu erkennen4. Kommt JRecht zur Anwendung, ist eine Einheitsstrafe (§ 31) zu bilden. Andernfalls sind für alle Taten – also auch für die vor Vollendung des 18. Lebensjahres begangenen – Einzelstrafen des ErwRechts auszuwerfen und ist im Rahmen der §§ 53 ff StGB eine Gesamtstrafe zu bilden5. Die Lage ist so, als wären im ersten Fall alle Taten JTaten, im zweiten Fall nur ErwTaten. Jedoch ist bei der Straffrage im ersten Fall zu berücksichtigen, dass die Persönlichkeitsentwicklung bereits fortgeschritten ist (vgl. § 1, 21); im zweiten Fall ist das j. Alter bei den früheren Taten zu beachten. § 32 betrifft nur den Rechtsfolgenausspruch. Einheitlich nach J- oder ErwRecht wird des- 3 halb auch dann erkannt, wenn ein Berufungsgericht zu einem bei ihm anhängigen Verfahren mit rechtskräftigem Schuldspruch ein erstinstanzliches Verfahren verbindet6; vgl. auch Rn 7. Erwächst infolge Beschränkung des Rechtsmittels eine Tat in Teilrechtskraft und wird die andere Tat erst vom Rechtsmittelgericht oder nach Zurückverweisung abgeurteilt, so ist § 32 entsprechend anzuwenden7 (vgl. auch § 55, 11).

3. Schwergewichtsentscheidung Ob ErwRecht oder JRecht anzuwenden ist, entscheidet das Schwergewicht der Taten, wobei bei 4 Zweifeln nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes ErwRecht gilt8. Die schwierige und uU in die Entwicklung des Beschuldigten stark eingreifende Entscheidung, einheitlich J- oder ErwStrafrecht anzuwenden, verlangt in einer Gesamtbetrachtung aller wesentlichen Gesichtspunkte9 vorsichtig abzuwägen, wie sich die einzelnen Taten als bes. Ereignisse in den Lebenslauf, in die Entwick-

2 KG StV 19, 438. 3 Für entsprechende Anwendung des § 32, wenn das Verfahren wegen der nach JRecht abzuurteilenden Taten nach § 154 StPO eingestellt wird, Drees NStZ 95, 481. BGH NJW 79, 2572; NStZ 00, 484; 16, 101. BGH bei Herlan GA 54, 309. BGH 29, 67 = JR 80, 262 mit Anm. Brunner. BGH LM Nr. 4 zu § 32; Eisenberg/Kölbel 6; Ostendorf 5; aA BGH 10, 100; vgl. auch Nothacker S. 129. BGH 12, 134; BGH B NStZ 97, 483; B NStZ-RR 98, 291; 00, 323; BGH NStZ 05, 644, 645; BGH NStZ-RR 08, 324; BGH NStZ 16, 101; StV 20, 393, 395, Dallinger/Lackner 12; Beulke/Swoboda Rn 231; Wohlfahrt StraFo 19, 270; aA Potrykus B 4. 9 BGH NStZ 03, 493.

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lungsphase des Angeklagten und in die stete Wechselwirkung persönlicher und sozialer Faktoren einfügen. Hartmann-Hilter10 fordert ua deshalb hierfür die Bestellung eines Pflichtverteidigers. Die Zahl der Straftaten und deren äußere Schwere sind lediglich Anzeichen und Hinweise verschiedenen Gewichts11, auch wenn sie einen gewissen Schluss auf das Maß des rechtsbrecherischen Willens zu erlauben scheinen12. Den Tatwurzeln und der Persönlichkeitsentwicklung nachgehend13 kann oftmals eher der Weg zur Straftat als deren Fortsetzung14 das Schwergewicht anzeigen15. Zu prüfen ist daher, ob eine frühere Straftat auslösende Bedeutung für spätere Delikte hatte und letztere in der früheren Straftat gewissermaßen angelegt waren16. Häufig werden sich auch Taten im ErwAlter als Fortsetzung des in der Adoleszenz gesetzten prägenden Beginns erweisen17. Stellt sich eine nach dem 21. Lebensjahr begangene Straftat als Folge und Ausfluss der früheren Taten dar, so kann daraus geschlossen werden, dass das Schwergewicht bei diesen liegt, denn wesentlich sind vor allem die Persönlichkeitsentwicklung und die Tatwurzeln18. Anders verhält es sich, wenn zwischen 4 Taten als Hw. und 8 Taten als Erw. die Verbüßung einer aus anderem Grund verhängten JStrafe und ein Intervall von 3 Jahren liegen19. Es kann im komplizierten Zusammenspiel der zur Tat führenden Faktoren und folgend den wechselnden inneren und äußeren Tatsituationen (ua Verführung, Gruppentat – Einzeltat, Gelegenheit, Planung, Intensität, Motivation) gerade auch den in einen späteren Alters- und Entwicklungsabschnitt fallenden TatTeilen das Schwergewicht zukommen. Es können die Straftaten eine Entwicklung eingeleitet haben, aber auch das Ergebnis einer inzwischen abgeschlossenen Altersentwicklung sein, sie können persönlichkeitsentsprechend oder -fremd sein. Dies macht es unerlässlich, für die Gesamtheit der Taten die Persönlichkeitsentwicklung sowie den Tathintergrund aufzuhellen und die kriminalpolitischen Zielvorstellungen des JGG einzubeziehen. Bei Mordtaten hält es der BGH20 für denkbar, nach § 32 ErwRecht anzuwenden, wenn für den als Erw. begangenen vierten Mord bei getrennter Aburteilung lebenslange Freiheitsstrafe verwirkt wäre. 5 Die Zuständigkeit des Gerichts wird von der Schwergewichtsentscheidung des § 32 nicht berührt. Bei fortgesetzter Tat als Hw. und Erw.21 ist stets das JGericht zuständig22. Zu § 103 I, II 1 Rn 18. Es kommt auf das Schwergewicht im Zeitpunkt der Verhandlung, nicht der Tat, an23, da 6 nur so der Entwicklung gefolgt und gezielt reagiert werden kann. Die Abwägung des Schwergewichtes unterliegt dem pflichtgemäßen Ermessen des Tatrichters und ist der Nachprüfung durch das Revisionsgericht grds. verschlossen24. Liegt aber ein Ermessensfehler vor oder erörtert das Urteil die Anwendung von J- oder ErwRecht überhaupt nicht, so verfällt es im Strafausspruch der Revision25. Die Revision kann innerhalb der Straffrage nicht auf die Entscheidung

10 11 12 13 14 15 16 17 18

Notwendige Verteidigung, 1989, S. 84–86. BGH StV 86, 305; 20, 393, 395. BGH NJW 86, 1504; BGH JR 54, 271. BGH 6, 7; BGH NJW 86, 1504. Vgl. OLG Bremen MDR 51, 569; OLG Düsseldorf StV 83, 378; LG Berlin StV 84, 520; B NStZ 85, 448. Vgl. aber auch BGH NStZ 03, 495. BGH StV 20, 393, 395. BGH H MDR 93, 9; AG Rudolstadt NStZ-RR 13, 387; Miehe Zbl. 82, 83. BGH NJW 86, 1504; BGH B NStZ-RR 00, 323; BGH NStZ 18, 662; LG Kaiserslautern ZJJ 15, 76; Wohlfahrt StraFo 19, 269. 19 BGH B NStZ-RR 99, 290. 20 NJW 86, 1504. 21 Vgl. aber BGH 40, 138. 22 OLG Hamburg StV 85, 158. 23 Dallinger/Lackner 10; Eisenberg/Kölbel 16; aA OLG Bremen MDR 51, 569; Potrykus B 4; Ostendorf 13. 24 BGH NJW 86, 1504; BGH B NStZ 87, 492; BGH StV 89, 308; NJW 92, 2104; BGH H MDR 93, 9; BGH NStZ 16, 101. 25 OLG Düsseldorf JR 83, 479 mit zust. Anm. Brunner. 250

Mehrere Straftaten in verschiedenen Alters- und Reifestufen

§ 32

zu den §§ 105, 32 beschränkt werden; eine fehlerhafte Zuordnung betrifft die Straffrage insgesamt26 (vgl. § 105, 43). Die Schwergewichtsentscheidung nach § 32 setzt gleichzeitige Aburteilung voraus27 (vgl. 7 Rn 2). Bei Anwendung von JRecht auf Hw. (§ 105 I) kann darüber hinaus auch mit rechtskräftigen Verurteilungen nach ErwStrafrecht – auch nachträglich – nach §§ 105 II, 31 eine einheitliche Maßnahme oder Einheitsjugendstrafe gebildet werden (näher § 31, 37; auch § 105, 39; § 66, 12; § 109, 14).

4. EinheitsJStrafe durch Einbeziehung einer ErwStraftat Zu einer EinheitsJStrafe kann es nach § 105 II iVm § 31 II auch dann kommen, wenn das einzube- 8 ziehende auf Freiheitsstrafe lautende Urteil gegen einen Erw. wegen einer ErwStraftat ergangen ist, weil eng verbundene sich wechselseitig erklärende Taten aus Adoleszenz und ErwAlter nicht mit unterschiedlichen Sanktionen des J- und des ErwRechts belegt werden dürfen28. Der BGH29 hat zur Begründung ua ausgeführt, wenn bereits der „genaueren Persönlichkeitserforschung“ des später entscheidenden JRichters nach § 105 II der Vorrang eingeräumt werde, so müsse dies erst recht gelten, wenn ein ErwGericht vorher über eine einzelne ErwTat entschieden habe, ohne die zur Anwendung von JStrafrecht führenden Gesichtspunkte überhaupt berücksichtigen zu können, obgleich die abgeurteilte ErwTat lediglich Teil einer Reihe von Taten ist, die nach JStrafrecht zu beurteilen sind. Der BGH30 hat deshalb die von einer JKammer ausgesprochene EinheitsJStrafe bestätigt, 9 welche teils Hw.-, teils ErwStraftaten zusammengefasst und eine rechtskräftige Verurteilung zu Freiheitsstrafe wegen einer einzelnen schon als Erw. begangenen Straftat einbezogen hat. Denn die Gesamtbetrachtung dieser mit Freiheitsstrafe belegten ErwTat mit den teils als Hw. und teils als Erw. begangenen Straftaten habe nach den Grundsätzen des § 32 die Anwendung von JStrafrecht geboten. Mit der Entscheidung nach §§ 105 II, 31 II verliert der einbezogene auf Freiheitsstrafe 10 lautende Strafausspruch seine Wirkung, sodass die einheitliche JStrafe selbständig und losgelöst davon zu bestimmen ist31. Die neue EinheitsJStrafe kann die einbezogene Freiheitsstrafe unterschreiten, denn es kommt zu einer völligen Neubewertung der Taten und zu einer vorrangig an erz. Gesichtspunkten orientierten neuen Bemessung der Rechtsfolgen32 (vgl. § 31, 13). Allerdings hat die Anwendung des § 105 II auf rechtskräftige Verurteilungen wegen ErwStraftaten nicht zur Folge, dass auf alle Taten automatisch einheitlich JStrafrecht anzuwenden ist. Vielmehr hat eine Gesamtbewertung der Taten nach dem Maßstab des § 32 S. 1 zu erfolgen33. Liegt das Schwergewicht nicht bei den nach JStrafrecht zu beurteilenden Taten, findet – vorbehaltlich einer Entscheidung iSd § 31 III 1 mit § 105 II – auf alle Taten das allg. Strafrecht Anwendung34.

26 BGH bei Herlan GA 64, 135. 27 BGH JR 80, 262 mit Anm. Brunner; BGH NStZ 87, 24. 28 BGH 37, 34 = NStZ 91, 184 mit Anm. Ostendorf; BGH StV 98, 345; 18, 423; OLG Stuttgart Justiz 16, 35, 36; AG Rudolstadt NStZ-RR 13, 387; Brunner JR 80, 262; Böhm/Feuerhelm S. 68; Streng Rn 287; Knüllig-Dingeldey NStZ 87, 226; Lackner GA 55, 33, 40; Ostendorf 9; Schoreit NStZ 89, 461. 29 37, 34, 38. 30 37, 34. 31 BGH 25, 356; 37, 34; BGH StV 98, 345. 32 BGH 37, 39 f. 33 BGH 40, 1; BGH StV 98, 345; 18, 423, 425; Streng Rn 287; Wohlfahrt StraFo 19, 272. 34 BGH aaO. 251

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2. Teil. Jugendliche

5. „Gesamtfreiheitsstrafe“ durch Einbeziehung einer JStrafe 11 Ist aber im anhängigen Verfahren eine ErwStraftat abzuurteilen, so lehnt der BGH in gefestigter Rechtsprechung bei früherer Verurteilung nach JStrafrecht die nachträgliche Bildung einer Gesamt-Freiheitsstrafe nach § 55 StGB ebenso ab wie eine EinheitsJStrafe35. Zur Begründung hat der BGH36, die bisherige Rechtsprechung zusammenfassend, ausge12 führt: Es könne dahinstehen, ob J- und Freiheitsstrafe „ihrem Wesen nach völlig verschiedene Strafübel“ sind. Eine analoge Anwendung des § 32 käme nur in Betracht, wenn insoweit eine „planmäßige Unvollständigkeit“ des Gesetzes festgestellt werden könne; dies sei aber nicht der Fall, weil der Gesetzgeber des JGG 1953 eine Verbindung von J- und ErwStrafe sogar ausdrücklich abgelehnt habe. Dies würde auch nicht durch die Einfügung des § 105 II durch das EGStGB v. 2.3.1974 korrigiert. § 105 II erlaube nur eine Änderung der ursprünglichen Entscheidung, wenn eine neue Verhandlung ergeben habe, dass der Angeklagte entgegen der Annahme im zuerst ergangenen Urteil auf Freiheitsstrafe doch noch einem J gleichzusetzen sei37. Im Entscheidungsfalle aber sei der Angeklagte einmal zutreffend als Hw. nach JStrafrecht und einmal als Erw. nach ErwStrafrecht verurteilt worden. Nur wegen der noch nicht (vollständig) erledigten Verurteilung zu JStrafe dürfe er gegenüber anderen Erw. nicht derart begünstigt werden, dass wegen einer ErwStraftat nachträglich eine jstrafrechtliche Sanktion verhängt werden könne. Davon abgesehen griffe hier die Zulassung der Bildung einer einheitlichen Strafe aus J- und Freiheitsstrafe so sehr in die Gesetzessystematik ein, dass richterliche Rechtsfortbildung nicht angehe. Die Einbeziehung einer rechtskräftig erkannten JStrafe in eine nach § 55 StGB gebildete Gesamtstrafe erscheine schlechthin ausgeschlossen, weil infolge des Verschlechterungsverbotes eine EinheitsJStrafe nicht einfach in eine gleich hohe Freiheitsstrafe umgewandelt werden könne38, andererseits für die der EinheitsJStrafe zugrunde liegenden Straftaten nicht nachträglich Einzelstrafen nach ErwStrafrecht verhängt werden könnten, weil dies die Befugnisse des zweiten Richters überschreiten und auch zu einer Verschlechterung führen würde. Auch die §§ 88 II und 89b ließen es nicht zu, statt der JStrafe eine Freiheitsstrafe verbüßen zu lassen39; auch eine Umwandlung der JStrafe in eine entsprechende niedrigere Freiheitsstrafe sei im Verfahren nach § 55 StGB ausgeschlossen. Es bedürfe also einer ins Einzelne gehenden gesetzlichen Regelung. Es sei mit § 32 nicht vereinbar, die Zusammenfassung nur zuzulassen, wenn das Ergebnis eine einheitliche JStrafe sei, um solche Schwierigkeiten zu vermeiden. Entgegen § 103 II 1 – vom Ausnahmefall des § 103 II 2 abgesehen – würde hier ein ErwGericht JStrafe verhängen, obwohl es nur ein gegen einen Erw. gerichtetes Strafverfahren durchführe. Eine Entscheidung des Gesetzgebers sei deshalb unverzichtbar. 13 Der unverkürzte Vollzug einer J- und einer ErwStrafe nacheinander, nur weil eine gleichzeitige Aburteilung nach § 32 nicht stattgefunden hat, stellt jedoch nach dem BGH eine durch die Schwere der Straftaten nicht gerechtfertigte Härte dar40. Um dies auszugleichen, hält der BGH im Einzelfall einen Härteausgleich nicht erst bei der Gesamtstrafe, sondern schon bei den Einzelstrafen für geboten, wenn nur das die Benachteiligung ausgleichen kann41.

35 BGH 10, 100; 14, 287; 27, 295; 36, 270 = NStZ 91, 130 mit abl. Anm. Böhm/Büch-Schmitz; BGH 36, 295; 41, 312; BGH H MDR 79, 106; BGH MDR 79, 281; BGHR § 32 Aburteilung getrennte 2; BGH B NStZ 96, 479 auch für den Fall, dass irrtümlich, aber rechtskräftig JStrafrecht angewendet worden ist; BGH NStZ-RR 98, 151; 08, 388; NStZ 16, 683, 684. 36 36, 270. 37 BGH NStZ 87, 24. 38 BGH 29, 269. 39 Vgl. BGH H MDR 79, 106. 40 BGH 14, 287; 36. 275; 41, 312; BGH H MDR 79, 106. 41 BGHSt 36, 270; 41, 312; BGH NStZ-RR 98, 152; vgl. Mindestgesamtstrafe nach §§ 53 I, 54 I 2 StGB; BGH 31, 102. BGH StV 20, 660: Härteausgleich, wenn aufgrund der Verurteilung zu unbedingter Freiheitsstrafe mit dem Widerruf einer zur Bew. ausgesetzten JStrafe zu rechnen ist. 252

Mehrere Straftaten in verschiedenen Alters- und Reifestufen

§ 32

Diese Begründung steht der Entscheidung BGH 37, 34 (Rn 8 ff) nicht entgegen, weil, wie 14 dort ausgeführt wird, § 105 II eine solche Entscheidung ausdrücklich gestattet, eine Zusammenfassung von J- und Freiheitsstrafe nicht stattfindet und flexible, sowohl den ErzGedanken als auch das Schuldausgleichsprinzip beachtende Entscheidungen möglich sind. Wenn der BGH in diesem Zusammenhang darauf hinweist, dass § 31 III es erlaubt, Freiheits- neben JStrafe bestehen zu lassen, so wird doch betont, dass hierfür ganz außerordentliche, schwerwiegende erz. Gründe vorliegen müssen (dazu § 31, 21). Dieser Rechtsprechung, wonach die Bildung einer Gesamtstrafe nach § 55 StGB aus J- und 15 Freiheitsstrafe bei getrennter Aburteilung unzulässig ist, ist im Ergebnis problematisch42. Es sollten die Folgen einer Straftat nicht vom Zufall gemeinsamer oder getrennter Verhandlung ohne Bezug auf Persönlichkeit und Schuld des Täters abhängen. Deshalb wollen die §§ 31 II, 66 und §§ 55 StGB, 460 StPO verhindern, dass sich dies nachteilig auswirkt. Es führen aber nur die §§ 105 II, 31 II 1 zu einer einheitlichen JSanktion und § 55 StGB erfasst allein erw. Täter. Da es Sinn und Ziel des JGG widerspricht, dass J- und ErwStrafen nacheinander vollstreckt werden43 und hier die notwendige Brücke zwischen J- und ErwStrafrecht fehlt, um alle möglichen Fälle zu erfassen, kann man entgegen dem BGH davon ausgehen, dass hier eine „planwidrige Regelungslücke“ die analoge Anwendung des § 32 gestattet44. So nehmen Dingeldey45, Knülling/Dingeldey46 und Böhm/Büch-Schmitz47 an, dass weder „der Wille des historischen Gesetzgebers“ noch der Einwand der Unterschiedlichkeit der Strafarten und auch nicht die Forderungen der §§ 88 II und 89b eine analoge Anwendung des § 32 ausschließen. Der Eingriff des Verschlechterungsverbotes ließe sich vermeiden, die Regelungen der §§ 88 II und 89b könnten unschwer beachtet werden; denn in ausreichender, eher formaler Wertung, wird nicht mehr an jrechtlichem Erfahrungsschatz vorausgesetzt, als es der vom BGH geforderte Härteausgleich auch tut48. Schließlich würde eine analoge Anwendung des § 32 auch nicht so bedenklich in die Gesetzessystematik eingreifen, wie der BGH fürchtet; denn das ErwGericht verhandelt und beurteilt eine Tat im ErwAlter und bindet die rechtskräftige JStrafe nur ein, sodass nicht davon ausgegangen werden muss, dadurch trete neben den Ausnahmefall des § 103 II 2 ein weiterer. Bezieht sich eine Teileinstellung des Verfahrens nach § 154 II i.V.m. I Nr. 1 StPO auf eine JStraftat, während der nicht eingestellte Teil nach ErwStrafrecht zu beurteilen ist, findet nach OLG Düsseldorf49 § 32 entsprechende Anwendung, weil sonst die Prüfungspflicht des § 32 umgangen würde. Hat die StA Taten im Hw.-Alter nach § 154 I StPO eingestellt und wird der Angeklagte nur wegen Taten im Erw.-Alter verurteilt, kann nach dem BGH § 32 S. 1 i.V.m. § 105 I nicht analog angewendet werden50. Wenn der BGH hier eine Änderung seiner Rechtsprechung offensichtlich ausschließt, könn- 16 te nur ein Eingreifen des Gesetzgebers eine „Gesamtlösung“ bringen. Schoreit51 fordert, die Einbeziehung an sich gesamtstrafenfähiger JStrafen in eine Gesamtstrafe entsprechend § 55 StGB zuzulassen. Die bei Freiheitsstrafe eintretende Schlechterstellung bei vorzeitiger Entlassung zur Bew. (vgl. § 55, 55) könnten die Gerichte unschwer berücksichtigen und vermeiden (vgl. Rn 15); es könne auch die maximale Anrechenbarkeit nur eines Teiles der JStrafe festgelegt werden.

42 Wie der BGH aber DSS/Schatz 26; Ostendorf 8; Bringewat JuS 91, 24. 43 Vgl. Begr. zum Entw. eines EGStGB, BT-Drs. VII/550, S. 332. 44 So Dallinger/Lackner 5; Eisenberg/Kölbel 8: Analogie zu § 31 II; Beulke/Swoboda Rn 235 (sofern nach allg. Strafrecht eine Gesamtstrafe zu bilden wäre); Streng Rn 291; Burscheidt S. 102 FN 349; aA von Beckerath JStrafrechtliche Reaktionen bei Mehrfachtäterschaft, Diss. Tübingen 1997, S. 181 f. 45 Zbl. 81, 153 u. NStZ 81, 355. 46 NStZ 82, 226. 47 NStZ 91, 131. 48 Vgl. BGH NStZ 90, 436. 49 NStZ-RR 17, 28 = ZJJ 17, 388 mit zust. Anm. Bachmann. 50 BGH 64, 178 (= ZJJ 19, 398 mit abl. Anm. Eisenberg) unter Ablehnung von BGH NZWiSt 19, 298, 299. 51 ZRP 90, 175 ff, ähnlich schon NStZ 89, 461. 253

§ 32

2. Teil. Jugendliche

Ist der Angeklagte früher durch ein JGericht wegen einer Straftat als Hw. nach allg. Strafrecht verurteilt worden, kann nach dem BGH unter den Voraussetzungen des § 55 StGB eine Gesamtstrafe gebildet werden52. § 32 ist auf die Fälle tatsächlich gleichzeitiger Aburteilung beschränkt (Rn 2, 7), ohne dass ein Zwang zur Verbindung besteht (aber Rn 18). Deshalb hat der BGH53 es für rechtens erklärt, dass ein Täter, der bereits zur HöchstJStrafe verurteilt ist, danach wegen Taten, die er vor dieser Verurteilung als Erw. begangen hat, zusätzlich zu Freiheitsstrafe verurteilt werden kann54. Bei verbundenen Sachen gegen J und (oder) Hw. mit Erw. sind (mit der Ausnahmeregel des 18 § 103 II 2 u. 3) stets JGerichte zur Entscheidung berufen (§§ 103 I, II 1, 112 S. 1). Vgl. näher Vor § 102, 2. Ob vor und nach dem 21. Lebensjahr begangene Straftaten ein und desselben Täters diesen vor den JRichter führen, hängt deshalb allein davon ab, welche Anforderungen an Verbindung und Trennung gestellt werden55. Es muss deshalb die JStA von vornherein durch gemeinsame Anklage von in verschiedenen Altersstufen begangenen Taten oder durch den Antrag, derartige anhängige Verfahren zu verbinden, dem JGericht die notwendige Gesamtschau und die Möglichkeit für eine Entscheidung nach § 32 geben56. Denn nachträglich darf aus einer JStrafe und einer Freiheitsstrafe bei getrennter Aburteilung nach ständiger Rechtsprechung keine Gesamtstrafe gebildet werden (Rn 11 ff). § 105 II JGG erweitert zwar sinnvoll die erz. Eingriffsmöglichkeiten des JRichters und ermöglicht es, nachträglich in eng umgrenzten Fällen Fehlentscheidungen aus besserer rückblickender Sicht auszugleichen, dieser Weg ist aber häufig aus Rechtsgründen versperrt57. Jede Verbindung weist nun mit der HwTat auch die ErwTat zwangsläufig dem JRichter zu; für den Hw. wird damit neben der Strafdrohung des allg. Strafrechts auch das gesamte Instrumentarium der jstrafrechtlichen Reaktionsmittel eröffnet. Der Meinung, dass wegen des unzweckmäßigen, schädlichen Nebeneinanders von Rechtsfolgen des J- und des allg. Strafrechts und der nur beschränkten Möglichkeit nachträglicher Zusammenfassung regelmäßig von vornherein verbunden werden solle, wenn nicht gewichtige Gründe für getrennte Verhandlung sprechen, stehen nur noch die Warnungen Peters58 vor einer zu umfangreichen Befassung der JGerichte mit ErwSachen gegenüber. Letzteres aber erscheint als Argument nicht tragend und als Ermessenserwägung zur Frage der Verbindung oder Trennung ungeeignet. Der Auffassung, dass das Auseinanderreißen von durch jtypische entwicklungsbedingte Tatverstrickung eng verbundenen Taten aus Adoleszenz und ErwAlter ermessensmissbräuchlich sein kann59, nähert sich Miehe60 mit seiner Meinung an, dass bei innerem Zusammenhang der Taten61, bei der zumeist vorliegenden Vermutung, dass nicht zu weit auseinander liegende Erwund HwTaten sich wechselseitig erklären, die Verbindung nicht nur zulässig, sondern geboten ist. Das ist nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden (vgl. Vor § 102, 2; § 103, 1 u. 26). Dazu auch Rn 1762. Zu den Folgerungen für die Verbindung mit Erw. vgl. § 103, 9. Zur Verbindung zweier Verfahren wegen Taten eines Erw. teils als Hw. und teils als Erw. in der Berufungsinstanz Rn 5. 17

52 BGH NStZ 16, 683, 684. 53 36, 294 = JR 90, 523 mit Anm. Brunner = StV 91, 4 mit Anm. Walter/Pieplow. Die Entscheidung stützt sich auf BGH 36, 37 (§ 31, 33 ff) u. BGH 36, 270 (Rn 12 ff). Grds. zust. Brunner JR 90, 523; krit. Walter/Pieplow StV 91, 5. Vgl. Miehe FS Stutte, 1979, S. 241. Ostendorf 17; Brunner JR 83, 479. Vgl. die Fallgestaltungen in BGH 27, 297; BGH H MDR 79, 106 u. H MDR 79, 281. NJW 56, 492. BGH NStZ 20, 299; Brunner JR 74, 429. AaO, S. 244, 245. Vgl. BGH 8, 352. Vgl. auch von Beckerath JStrafrechtliche Reaktionen bei Mehrfachtäterschaft, Diss. Tübingen 1987 S. 224, nach dem eine grds. Verpflichtung zur Verbindung besteht.

54 55 56 57 58 59 60 61 62

254

Mehrere Straftaten in verschiedenen Alters- und Reifestufen

§ 32

6. Dauerdelikt Bei Dauerdelikten und einheitlichen Taten kraft Bewertungseinheit kommt bei der Prüfung, wo 19 das Schwergewicht liegt, dem Umstand, dass der (Gesamt-) Vorsatz noch im Geltungsbereich des JRechts gefasst worden ist, oft bes. Bedeutung zu (näher Rn 4). Die einzelnen Tat-Teile laufen zwar letztlich zur gedachten rechtlichen Einheit zusammen, erfüllen aber gleichwohl im Zeitpunkt der Begehung den äußeren und inneren Tatbestand der Straftat63. Deshalb darf und kann ein ErwGericht, bei dem eine fortgesetzte Handlung64 angeklagt ist, deren Einzelhandlungen der Täter teils als J oder Hw., teils als Erw. begangen hat, seine Zuständigkeit nicht dadurch begründen, dass es die vor Vollendung des 21. Lebensjahres begangenen Einzelhandlungen gem. § 154a StPO ausscheidet, denn der entscheidende Tatentschluss, der die Handlungen zur fortgesetzten Tat zusammenfasst, ist in solchen Fällen meist vor Vollendung des 21. Lebensjahres gefasst65. – Der BGH66 hat für den Fall der Realkonkurrenz zugelassen, dass ein Schwurgericht bei einem Angeklagten (versuchter Mord im Alter von 16 Jahren und 3 Morde nach dem 25. Lebensjahr) die JStraftat abgetrennt und an die JKammer verwiesen hat. Dagegen bestanden im gegebenen Fall keine Bedenken. Der BGH ging aber67 davon aus, dass das JGG die Vorschriften über Verbindung und Trennung stets unberührt lasse. Bei einer Tötungstat kurz vor und einer kurz nach dem 21. Lebensjahr dürfte jedoch die in solchem Falle sich aufdrängende Frage der Prüfung und Entscheidung des Schwergewichts nach § 32 – schon wegen der unterschiedlichen Androhung der Höchststrafe im JStrafrecht und ErwStrafrecht – einer Trennung im Weg stehen68. Wird bei einer fortgesetzten Tat die Strafverfolgung auf den Tatzeitraum ab Vollendung des 21. Lebensjahres beschränkt, so muss im Rahmen der Strafzumessung gleichwohl auch die Entwicklung des Angeklagten im Zeitraum vor dem 21. Lebensjahr berücksichtigt werden69. Vgl. dazu auch § 106, 1.

63 64 65 66 67 68 69 255

BayObLG 57, 1. Vgl. aber BGH 40, 138. BayObLG 66, 119; von Beckerath aaO, S. 235. MDR 74, 54. Im Anschluss an BGH 10, 102. Brunner JR 74, 429 mit weiteren Gründen; dazu auch BGHR § 32 Schwergewicht 2. OLG Zweibrücken StV 87, 308.

Zweites Hauptstück Jugendgerichtsverfassung und Jugendstrafverfahren Vor § 33 1 Auch für das Gerichtsverfassungs- und Verfahrensrecht kommt es auf das Alter zZ der Tat an (§§ 33–33b, 19); die Stellung der ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter allerdings richtet sich nach dem Alter des Angeklagten zZ der Verhandlung (§ 67, 29). 2 Das allg. Recht gilt nur ergänzend. Es kommt in Betracht 3 für Verbindung (§§ 2 ff, 13, 237 StPO; 17 RiStBV; vgl. §§ 31 ff; 103, 109, 112), für die Zuständigkeit im Eröffnungsverfahren und damit auch für die Anfechtung des Eröffnungsbeschlusses (§§ 209, 209a StPO), für Zuständigkeitsverschiebung nach Eröffnung des Hauptverfahrens (§§ 225a, 270 StPO; § 74e GVG; im Einzelnen § 41, 25 ff), für den Ausschluss des Richters wegen Befangenheit, 4 für den Begriff des gesetzlichen Richters (nicht nur Spruchkörper, sondern auch der im 5 Einzelfall berufene Richter)1, für die Ordnung in der Verhandlung (Sitzungspolizei, §§ 176 ff GVG). Keine Ungebühr iSd 6 § 178 GVG stellt es dar, wenn der Angeklagte mit einer nicht üblichen Haartracht vor Gericht erscheint2; denn eine solche Frisur zu tragen, ist sein Recht. Anders wäre es, wenn der Angeklagte durch Aufsetzen einer Perücke gerade für die Sitzung das Gericht bewusst provozierte3.

Erster Abschnitt Jugendgerichtsverfassung § 33 Jugendgerichte (1) Über Verfehlungen Jugendlicher entscheiden die Jugendgerichte. (2) Jugendgerichte sind der Strafrichter als Jugendrichter, das Schöffengericht (Jugendschöffengericht) und die Strafkammer (Jugendkammer). (3) 1Die Landesregierungen werden ermächtigt, durch Rechtsverordnung zu regeln, daß ein Richter bei einem Amtsgericht zum Jugendrichter für den Bezirk mehrerer Amtsgerichte (Bezirksjugendrichter) bestellt und daß bei einem Amtsgericht ein gemeinsames Jugendschöffengericht für den Bezirk mehrerer Amtsgerichte eingerichtet wird. 2Die Landesregierungen können die Ermächtigung durch Rechtsverordnung auf die Landesjustizverwaltungen übertragen.

§ 33a Besetzung des Jugendschöffengerichts (1) 1Das Jugendschöffengericht besteht aus dem Jugendrichter als Vorsitzenden und zwei Jugendschöffen. 2Als Jugendschöffen sollen zu jeder Hauptverhandlung ein Mann und eine Frau herangezogen werden. (2) Bei Entscheidungen außerhalb der Hauptverhandlung wirken die Jugendschöffen nicht mit. 1 Entsprechend BVerfGE 17, 294 u. 18, 344. 2 OLG München NJW 66, 1935. 3 KG JR 66, 73. Dazu auch OLG Düsseldorf JMBl. NRW 81, 215 zu salopper Freizeitkleidung u. bewusster Provokation. Anders für den Strafvollzug OLG Frankfurt JR 64, 393. 256 https://doi.org/10.1515/9783110686401-039

Besetzung der Jugendkammer

§ 33b

§ 33b Besetzung der Jugendkammer (1) Die Jugendkammer ist mit drei Richtern einschließlich des Vorsitzenden und zwei Jugendschöffen (große Jugendkammer), in Verfahren über Berufungen gegen Urteile des Jugendrichters mit dem Vorsitzenden und zwei Jugendschöffen (kleine Jugendkammer) besetzt. (2) 1Bei Eröffnung des Hauptverfahrens beschließt die große Jugendkammer über ihre Besetzung in der Hauptverhandlung. 2Ist das Hauptverfahren bereits eröffnet, beschließt sie hierüber bei der Anberaumung des Termins zur Hauptverhandlung. 3Sie beschließt eine Besetzung mit drei Richtern einschließlich des Vorsitzenden und zwei Jugendschöffen, wenn 1. die Sache nach den allgemeinen Vorschriften einschließlich der Regelung des § 74e des Gerichtsverfassungsgesetzes zur Zuständigkeit des Schwurgerichts gehört, 2. ihre Zuständigkeit nach § 41 Absatz 1 Nummer 5 begründet ist oder 3. nach dem Umfang oder der Schwierigkeit der Sache die Mitwirkung eines dritten Richters notwendig erscheint. 4 Im Übrigen beschließt die große Jugendkammer eine Besetzung mit zwei Richtern einschließlich des Vorsitzenden und zwei Jugendschöffen. (3) Die Mitwirkung eines dritten Richters ist nach Absatz 2 Satz 3 Nummer 3 in der Regel notwendig, wenn 1. die Jugendkammer die Sache nach § 41 Absatz 1 Nummer 2 übernommen hat, 2. die Hauptverhandlung voraussichtlich länger als zehn Tage dauern wird oder 3. die Sache eine der in § 74c Absatz 1 Satz 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes genannten Straftaten zum Gegenstand hat. (4) 1In Verfahren über die Berufung gegen ein Urteil des Jugendschöffengerichts gilt Absatz 2 entsprechend. 2Die große Jugendkammer beschließt ihre Besetzung mit drei Richtern einschließlich des Vorsitzenden und zwei Jugendschöffen auch dann, wenn mit dem angefochtenen Urteil auf eine Jugendstrafe von mehr als vier Jahren erkannt wurde. (5) Hat die große Jugendkammer eine Besetzung mit zwei Richtern einschließlich des Vorsitzenden und zwei Jugendschöffen beschlossen und ergeben sich vor Beginn der Hauptverhandlung neue Umstände, die nach Maßgabe der Absätze 2 bis 4 eine Besetzung mit drei Richtern einschließlich des Vorsitzenden und zwei Jugendschöffen erforderlich machen, beschließt sie eine solche Besetzung. (6) Ist eine Sache vom Revisionsgericht zurückverwiesen oder die Hauptverhandlung ausgesetzt worden, kann die jeweils zuständige Jugendkammer erneut nach Maßgabe der Absätze 2 bis 4 über ihre Besetzung beschließen. (7) § 33a Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 gilt entsprechend. 1. Hw.: Rn 18; § 107. – 2. [ErwG:] § 104, 2.

Übersicht 1. 2. 3. 4.

Einordnung der JGerichte 1 9 Besetzung der JGerichte 17 BezirksJGericht Geschäftsbereich der JGerichte

5.

19

257 https://doi.org/10.1515/9783110686401-040

6. 7.

Die Entscheidung eines örtlich oder sachlich un24 zuständigen Gerichtes 34 Sicherungsverfahren 36 Verwaltungsbehörden

§ 33b

2. Teil. Jugendliche

1. Einordnung der JGerichte 1 Die JGerichte sind Teile der ordentlichen Gerichtsbarkeit (§ 33 II) und nach hM lediglich Abteilungen des Gerichts mit einem eigenen Geschäftsbereich1. Die JGerichte haben aber ihrer bes. Aufgabe entsprechend einen bes. Aufbau (Rn 9 ff), bes. Zuständigkeit (§§ 39 ff) und ein in vielen und entscheidenden Punkten eigenständiges Verfahren (Einf. 110). Die Vorschriften des JGG sollen den J und Hw. die Mitwirkung bes. ausgewählter, jkriminologisch geschulter, erfahrener und, wie die Praxis zeigt, auch engagierter JRichter (§§ 34, 37)2, ebensolcher JStaatsanwälte (§ 36) sowie durch den JHilfeausschuss benannter und in der JErziehung erfahrener JSchöffen (§ 35) sichern. Mit der Einrichtung der JGH und deren Tätigwerden in allen Verfahrensabschnitten wird bei den JGerichten die für die Beurteilung junger Menschen und für eine jgemäße Entscheidung unentbehrliche umfassende Persönlichkeitserforschung (§§ 38, 28) ermöglicht. Dies alles dient einer möglichst treffenden Beurteilung und einer aus dem abgestuften Sanktionskatalog fließenden, gezielten und zugleich helfenden richterlichen Entscheidung; so sollen und nur so können – ohne zufällige Ausnahmen – die bes. Prägbarkeit und Ansprechbarkeit junger Täter zu Sozialisationserfolgen genützt werden. Bei Zweifeln über Alter oder Tatzeit ist deshalb zugunsten des Beschuldigten stets das JGericht zuständig (vgl. § 1 III; § 1, 23)3. 2 Wegen dieser bes. Ausstattung und Bedeutung der JGerichte und um deren Sonderzuständigkeit zu betonen und deren Durchsetzung zu sichern, hatte der BGH bis 1962 die JGerichte für J und Hw. als Gerichte für bes. Sachgebiete (Art. 101 II GG) behandelt. Mit der einhelligen Meinung der Lehre hatten die obersten Gerichte4 in der Überschreitung der Aufgabengrenze zwischen J- und ErwGerichten jedenfalls dann einen von Amts wegen zu beachtenden Verstoß gesehen, wenn dadurch ein J oder Hw. der JGerichtsbarkeit entzogen wurde. Dies hatte ua dazu geführt, dass das Revisionsgericht diesen Mangel von Amts wegen beachten und das Verfahren an das zuständige JGericht verweisen musste. Seit 1962 berührt nach der geänderten Rechtsprechung des BGH unter weitgehender Zu3 stimmung der Lehre die unberechtigte Entscheidung eines JGerichts gegen Erw., aber auch eines ErwGerichts gegen J oder Hw. nicht mehr die sachliche Zuständigkeit. Es geht nur um eine Überschreitung des Geschäftskreises, die vom Revisionsgericht zwar auf Rüge, aber nicht mehr von Amts wegen zu beachten ist5. Diese Rechtsprechungsänderung gefährdete zunächst den Grundsatz, dass J und Hw. stets an für sie bes. geeignete JGerichte kommen und diese und die JStA von der Justizverwaltung wie geboten besetzt und durch stete Fortbildungsangebote betreut werden6. Mit dem StVÄG 19797 wurde aber wieder eine Einordnung der JGerichte erreicht, die eine solide Grundlage für eine möglichst wirksame JGerichtsbarkeit bildet. Denn der durch das StVÄG 1979 normierte höhere Ordnungsrang der JGerichte tritt an die Stelle der zuvor als maßgebend angesehenen höheren Strafgewalt und ist als bes. Merkmal einer Zuständigkeit nach § 6 StPO eine zwingende Zuständigkeitsregel8. Bei den JGerichten, auch den JSchutzgerichten, hat der Gesetzgeber unter Verzicht auf eine 4 gewisse Flexibilität9 den Grundsatz der Spezialität normiert, weil „die JGerichte gegenüber den ErwGerichten … bes. sachliche Geschäftskreise einnehmen“ und „um die Sachkunde bes. erfah-

1 BGH 18, 79, 173; 22, 48; BayObLG 74, 135; OLG Karlsruhe Justiz 99, 142; Dallinger/Lackner 4; Meyer-Goßner/Schmitt Vor § 1 StPO 10.

2 Brunner JR 78, 499. 3 BGH 5, 370; 7, 26 = MDR 55, 180 mit Anm. Dallinger. 4 BGH 7, 26; 8, 349; 9, 399; BayObLG 55, 530; 57, 1; 61, 89; 64, 91; NJW 67, 216; OLG Frankfurt NJW 56, 1211; KG NJW 64, 2473; OLG Saarbrücken NJW 66, 1041. OLG Karlsruhe Justiz 99, 142. Brunner JR 75, 20. BGBl. 1978 I S. 1645. Für § 103 II 1 BGH H MDR 80, 456; allg. OLG Oldenburg NJW 81, 1384. Katholnigg NJW 78, 2375.

5 6 7 8 9

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Besetzung der Jugendkammer

§ 33b

rener oder bes. ausgewählter (§ 37) Richter besser nutzen zu können“10. Im Verhältnis zu gleichrangigen ErwGerichten gelten die JGerichte als Gerichte höherer Ordnung (§ 209a Nr. 2 StPO). Durch die Regelung in § 209 I und II StPO bestimmen sie selbst über ihre Zuständigkeit hinsichtlich der in ihren Zuständigkeitsbereich fallenden Spezialaufgaben (KompetenzKompetenz), weil „für die von ihnen zu behandelnden Sachen bes. Spezialkenntnisse oder Spezialerfahrungen notwendig sind. Dem entspricht es auch, dass der Spezialspruchkörper darüber entscheidet, ob das Hauptverfahren wegen solcher Sachen zu eröffnen ist“11. Insgesamt näher § 41, 25 ff. Für den Fall der Verbindung von Erw.- zu JSachen ist in § 103 II 1 „wegen der bes. Aufgaben der JGerichtsbarkeit grds. der Vorrang der Jugendgerichte“12 auch hier hergestellt. Bei Verbindung ist somit stets das JGericht für das gesamte Verfahren zuständig (Ausnahme vom Erw. her § 103 II 2, 3); es hat die Kompetenz-Kompetenz für den Verbindungsbeschluss. Wenn Erw. nicht mit angeklagt sind, geht auch die Zuständigkeit der Staatsschutzkammer der der JGerichte nicht mehr vor (§ 102 S. 1). Insgesamt näher § 103, 6. Das Verhältnis gleichrangiger Gerichte der JGerichtsbarkeit und der ErwGerichtsbarkeit wurde nicht nach § 6a StPO, sondern nach § 6 StPO geregelt. Es muss also der Vorrang der JGerichte (insoweit Gerichte höherer Ordnung) in jeder Lage des Verfahrens, also nicht wie bei Erw. lediglich bis zum Zeitpunkt des Eröffnungsbeschlusses (§ 6a StPO), von Amts wegen geprüft und berücksichtigt werden (§ 270 I 1 HS 2 StPO, § 47a)13. Dies beruht auf folgenden Überlegungen14: „Das Verhältnis der JGerichte zu den ErwGerichten ist mit dem gleichrangiger Strafkammern nach den §§ 74, 74a, 74c GVG nicht vergleichbar. Zwar ist auch hier die Strafgewalt in beiden Fällen gleich und sind die jeweiligen Spruchkörper mit der gleichen Zahl von Richtern besetzt. Für die Richter der JGerichtsbarkeit gelten aber bes. Auswahlkriterien (vgl. §§ 35, 37), vor allem gelten aber für das Verfahren vor den JGerichten bes. Verfahrensvorschriften, die auf die bes. Bedürfnisse jgemäßer Verhandlung zugeschnitten sind. Dieser bes. Rechtsposition würde ein J verlustig gehen, wenn er entgegen dem grds. unbedingten Vorrang der JGerichtsbarkeit, den das Gesetz mit § 103 II 1 bestimmt, vor einem ErwGericht abgeurteilt würde.“ Der Erw. wird nicht benachteiligt, wenn er statt von einem ErwGericht von einem mit gleicher Zuständigkeit ausgestatteten JGericht verurteilt wird und die Voraussetzungen des § 103 I, II 1 vorlagen. Deshalb bleiben in verbundenen Strafsachen gegen J (Hw.) und Erw. die JGerichte (mit Ausnahme der Fälle des § 103 II 2, 3) auch dann zuständig, wenn sich erst nach Eröffnung des Verfahrens herausstellt, dass für den hierzu verbundenen Erw. eigentlich ein ErwGericht gleicher oder niedrigerer Ordnung zuständig wäre (§ 47a; vgl. näher dort). Der Erw. ist nur im gegenteiligen Fall durch eine Entscheidung des JGerichts beschwert, nämlich, wenn dieses JGericht nach seiner Besetzung einem ErwGericht entspricht, dessen Zuständigkeit zur Aburteilung dieser Tat nicht ausreicht (§ 103, 5)15. Deshalb weist § 41 I Nr. 3 die verbundene Sache dann der JKammer zu, wenn für den Erw. eine große ErwStrafkammer zuständig wäre (§ 41, 13). Der Erw. ist auch dann beschwert, wenn eine Wirtschaftsstrafkammer oder eine Kammer nach § 74a GVG zuständig gewesen wäre (§ 103 II 2) und dies rechtzeitig nach § 6a StPO gerügt worden ist. Die JGerichte haben damit eine ihrer Aufgabe und Bedeutung entsprechende Heraushebung und eine Vorrangstellung erhalten, die in der Tatsacheninstanz in jedem Verfahrensabschnitt den J (Hw.) die Verhandlung vor dem JGericht sichert. Dies ist dadurch gewährleistet, dass jedes Tatsachengericht die Frage der Zuständigkeit eines JGerichts ohne Einschränkung in jeder Phase des 10 11 12 13

BT-Drs. 8/976, S. 20. BT-Drs. 8/976, S. 44. BT-Drs. 8/976, S. 70. BGH 47, 311, 313 = NStZ 03, 47 mit zust. Anm. Rieß; BGH H MDR 81, 269; BGH StV 03, 454; NStZ 20, 299 f; OLG Oldenburg NJW 81, 1384; Rn 28. 14 BT-Drs. 8/976, S. 33. 15 OLG Oldenburg NJW 57, 1329; Ostendorf/Schady 9. 259

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Verfahrens von Amts wegen zu prüfen und ggf. nach §§ 209, 209a, 225a, 270 StPO, § 103 II die Entscheidung eines JGerichts zu ermöglichen hat. Das Berufungsgericht darf die Berufung des nicht erschienenen Angeklagten nicht nach § 329 I StPO verwerfen, wenn in erster Instanz statt des ErwGerichts das JGericht zuständig war. Die Sache ist vielmehr gem. § 328 II StPO an das zuständige JGericht zu verweisen16. Erlässt ein ErwGericht ein Urteil in einer Sache, welche nach den Vorschriften des JGG vor ein JGericht gehört, so kann hierauf der J (Hw.), ohne dass es eines vorausgegangenen Einwands der Unzuständigkeit des ErwGerichts bedarf, die Revisionsrüge stützen17. Diese auf §§ 338 Nr. 4, 344 II 2 StPO gestützte Revisionsrüge18 wird durchdringen; dass in der Revisionsinstanz die Unzuständigkeit des JGerichts nicht ohne Rüge überprüft wird19, kann in Anbetracht der sonstigen Regelungen, welche insgesamt dem J (Hw.) die Verhandlung vor dem zuständigen JGericht sicherstellen, hingenommen werden (vgl. auch Rn 28).

2. Besetzung der JGerichte 9 JGerichte werden nur am Amts- und Landgericht gebildet. Das Revisionsgericht ist also auch in JSachen ein allg. Gericht, wenngleich gerade hier, da Leitlinien gegeben werden, im JRecht erfahrene Richter entscheiden sollten. Auch Dallinger/Lackner20, Eisenberg/Kölbel21 und Ostendorf/Schady/Sommerfeld22 fordern für BGH und OLG spezielle JGerichte. Über das Verhältnis des JGerichts zu OLG und Staatsschutzkammern als erstinstanzliche Gerichte s. bei §§ 39–41. Es gibt den JRichter als Einzelrichter, das JSchöffengericht und die – seit dem RpflEntlG große und kleine – JKammer. Ein erweitertes Schöffengericht oder ein Schwurgericht gibt es bei den JGerichten – auch gegen Hw. – nicht, auch nicht in JSchutzverfahren (Anh. § 125, 5). §§ 33a I, 33b regeln die Besetzung in der Hauptverhandlung, außerhalb entscheiden beim 10 AG der JRichter, bei der kleinen JKammer der Vorsitzende und bei der großen JKammer die drei Berufsrichter (§§ 33a II, 33b VII). Die Besetzung (Zahl der Berufsrichter) der großen JKammer in der Hauptverhandlung ist durch G v. 6.12.2011 in § 33b II bis VI neu geregelt worden (mit Überleitungsvorschriften in § 121 II, III). Das G hat für die 1993 zunächst befristet eingeführte Möglichkeit der Besetzungsreduktion eine dauerhafte Regelung geschaffen und hierbei die Fälle, in denen in Dreierbesetzung zu verhandeln ist, stärker konturiert23. Die große JKammer muss stets darüber entscheiden, wie sie in der Hauptverhandlung besetzt ist. Nach Abs. II 3 beschließt sie die Dreierbesetzung in Schwurgerichtssachen, bei Begründung ihrer Zuständigkeit nach § 41 I Nr. 5 (damit in Fällen, in denen die vorbehaltene Sicherungsverwahrung oder die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus in Betracht kommen) oder wenn nach Umfang oder Schwierigkeit der Sache die Dreierbesetzung notwendig erscheint. Die letzte Variante wird in Abs. III durch drei Regelbeispiele konkretisiert. Danach ist die Dreierbesetzung nach Abs. II S. 3 Nr. 3 in der Regel notwendig bei von der JKammer nach § 41 I Nr. 2 übernommenen Sachen, voraussichtlicher Dauer der Hauptverhandlung von mehr als 10 Tagen oder Verhandlung über eine der in § 74c I 1 GVG genannten, die Zuständigkeit der Wirtschaftsstrafkammer begründen-

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OLG Celle NStZ 94, 298; aA Meyer-Goßner in der Anm. NStZ 94, 402 f. BGH 30, 260; BGH StraFo 10, 466; Löwe/Rosenberg/Stuckenberg27 § 209a StPO 48. BGH 8, 335; 10, 75; OLG Karlsruhe Justiz 99, 142; Eisenberg/Kölbel 41; Ostendorf/Schady 8. BGH NStZ-RR 96, 250; Meyer-Goßner/Schmitt § 338 StPO 34. 5. 12. Grdl. zu §§ 33–38, 11. Zur Handhabung der Besetzungsreduktion vor der Gesetzesänderung s. Dölling/Feltes/Hartmann/Hermann/ Laue/Pruin, Die Besetzungsreduktion bei den großen Straf- u. JKammern – Evaluierung der §§ 76 II GVG u. 33b II JGG, 2011; zum G v. 6.12.2011 Schlothauer StV 12, 749. Zur Verfassungsmäßigkeit der Besetzungsreduktion vgl. BVerfG NJW 12, 3357, 3365. 260

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den Straftaten. Liegt keiner Fälle des Abs. II S. 3 iVm Abs. III vor, beschließt die große JKammer die Zweierbesetzung (Abs. III 4). In Zweifelsfällen gebührt der Dreierbesetzung der Vorrang24. Die Besetzungsentscheidung ergeht stets außerhalb der Hauptverhandlung durch Kammerbeschluss mit 3 Berufsrichtern ohne Beteiligung der Schöffen. Eine Verfügung des Vorsitzenden zur Gerichtsbesetzung genügt nicht25. Die Entscheidung erfolgt grds. bei Eröffnung des Hauptverfahrens (Abs. II 1), ist aber nicht Teil des Eröffnungsbeschlusses26. Ist das Hauptverfahren bereits eröffnet (z.B. im Fall des § 270 StPO), ergeht der Beschluss bei der Anberaumung des Termins zur Hauptverhandlung (Abs. II 2). Fehlt ein Beschluss, ist in Dreierbesetzung zu verhandeln27. Nach Abs. IV 1 gelten die in Abs. II über die Besetzungsreduktion getroffenen Regelungen auch in Berufungsverfahren gegen Urteile des JSchöffengerichts. Damit hat der Gesetzgeber die nach früherem Recht umstrittene Frage28 der Zulässigkeit der Besetzungsreduktion in der Berufungsinstanz entschieden. Der Kammerbeschluss über die Besetzung ergeht nach Abs. II 2 bei der Anberaumung des Termins zur Hauptverhandlung. Da Abs. II 3 Nr. 1 und 2 in der Berufungsinstanz nicht in Betracht kommen, ist Maßstab für die Besetzungsentscheidung Abs. II 3 Nr. 3, wobei auch in der Berufungsinstanz die Regelbeispiele des Abs. III bis auf die hier nicht einschlägige Nr. 1 heranzuziehen sind29. Außerdem ist nach Abs. IV 2 in Dreierbesetzung zu verhandeln, wenn im angefochtenen Urteil eine JStrafe von mehr als 4 Jahren verhängt wurde. Die Änderung der Besetzungsentscheidung regelt Abs. V. Hat die große JKammer die Zweierbesetzung beschlossen, ergeben sich aber vor Beginn der Hauptverhandlung neue Umstände, die nach Maßgabe der Absätze II bis IV eine Dreierbesetzung erforderlich machen (z.B. eine Verfahrensverbindung), ist obligatorisch30 die Dreierbesetzung zu beschließen. Im Umkehrschluss folgt aus dieser Regelung, dass eine beschlossene Dreierbesetzung – abgesehen von den Fällen des Abs. VI – nicht rückgängig gemacht werden darf31. Die Änderung nach Abs. V ist nach Beginn der Hauptverhandlung nicht mehr möglich. Die Hauptverhandlung darf auch nicht nur deshalb ausgesetzt werden, um eine Besetzungsänderung nach Abs. VI vorzunehmen32. Der Weg nach Abs. VI kann aber beschritten werden, wenn ein sachlicher Grund für die Aussetzung vorliegt33. Abs. VI ermöglicht eine neue Besetzungsentscheidung nach Zurückverweisung vom Revisionsgericht und nach Aussetzung der Hauptverhandlung. Der Wortlaut des Abs. VI („kann“) spricht dafür, dass es im Ermessen des Gerichts steht, über die Besetzung neu zu entscheiden, auch wenn die Voraussetzungen der zunächst beschlossenen Besetzung nicht mehr vorliegen. Da jedoch Abs. V zu beachten ist, besteht das Ermessen nur hinsichtlich des Übergangs von der Dreier- zur Zweierbesetzung34. Soll die Besetzung beibehalten werden, bedarf es keiner erneuten Beschlussfassung. Bei der Entscheidung über die Besetzung steht der JKammer kein Ermessen, aber ein weiter Beurteilungsspielraum zu, dessen Überschreiten in unvertretbarer Weise die Revision begründen kann35. Die Revision kann auf die fehlerhafte Besetzung mit 2 statt mit 3 Berufsrichtern in der ersten Instanz nur nach Maßgabe der §§ 222a, 222b und 338 Nr. 1 StPO gestützt werden36.

24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 261

BGH 44, 328, 335; BGH NJW 10, 3045, 3046 f. OLG Brandenburg NStZ-RR 08, 58; HK-JGG/Habetha 3; Ostendorf/Schady 14. BGH 44, 328, 332; HK-JGG/Habetha 3; Ostendorf/Schady 14. HK-JGG/Habetha 3; Ostendorf/Schady 14. Siehe dazu 12. Aufl. Rn. 9. HK-JGG/Habetha 10. HK-JGG/Habetha 12; Ostendorf/Schady 15. HK-JGG/Habetha 12; Ostendorf/Schady 15. Begr. RegE, BT-Drs. 17/6905, S. 10; HK-JGG/Habetha 12. Begr. RegE, aaO. HK-JGG/Habetha 13; Ostendorf/Schady 15. BGH 44, 328; BayObLG 00, 110. BGH 44, 361.

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Als Schöffen können 2 Männer, 2 Frauen oder 1 Mann und 1 Frau mitwirken. Letzteres ist das vom Gesetz mit Recht Gewünschte und wird in der Praxis auch eingehalten. Um das zu verwirklichen, werden die Haupt- und Ersatzschöffen getrennt nach Geschlecht ausgelost und müssen die Listen getrennt geführt werden (§ 35 V). Zur Wahl § 35, 3. – Die ordentlichen Sitzungstage müssen für das ganze Geschäftsjahr von vornherein festgesetzt und hierfür die JSchöffen ausgelost werden (§§ 45, 77 GVG). Es ist unzulässig, gemeinsame Sitzungstage für Jund ErwStrafkammer festzusetzen und es dem Vorsitzenden zu überlassen, an welchen dieser Sitzungstage die JKammer tagt37. Zu außerordentlichen Sitzungen u. zur Verwendung von Ersatzschöffen §§ 47, 49 GVG38.

3. BezirksJGericht 17 BezirksJRichter (§ 33 III) sind nur in Großstädten mit mehreren Gerichten wünschenswert. Bei kleineren Gerichten, insbes. in Flächenstaaten und in überwiegend ländlichen Bezirken, sollte wegen des Grundsatzes der Entscheidungsnähe39 jedes seinen JRichter haben, zumal dieser in bes. Maße ErzRichter ist40. Insgesamt ist Zurückhaltung geboten. Die Bildung von Haftgerichten nach § 58 I GVG gilt für J und Hw. nur, wenn dies ausdrücklich klargestellt ist. Der BezirksJRichter ist mangels ausdrücklicher Beschränkung JRichter für den ganzen Bezirk im Umfang des § 34 (§ 34, 3), also auch im Vorverfahren41. Dagegen ist die Bildung von BezirksJSchöffengerichten wünschenswert und vertretbar, da sie über Taten von größerem Gewicht entscheiden müssen und die örtlichen Gegebenheiten meist eine weniger bedeutsame Rolle spielen42. Es gilt § 58 II, III GVG. Die Konzentration ist hier wie sonst nur eine Änderung der örtlichen Zuständigkeit. BezirksJRichter und BezirksJSchöffengericht für mehrere Amtsgerichtsbezirke sind den ErwStrafrichtern und ErwSchöffengerichten ihres erweiterten Bezirks gegenüber Gerichte gleicher Ordnung. Umgekehrt sind auch das JSchöffengericht und das erweiterte Schöffengericht des ErwRechts Gerichte gleicher Ordnung, wobei in beiden Fällen allerdings das JGericht dem gleichgeordneten ErwGericht gegenüber für Zuständigkeitsregelungen als Gericht höherer Ordnung gilt (Rn 4; § 41, 34). 18 Die JGerichte sind gegen Hw. im gleichen Umfang wie gegen J zuständig. Wenn auch eine Geschäftsverteilung zwischen den verschiedenen Kammern oder Referaten (auch JStA) durch Aufteilung nach J und Hw. nicht unzulässig sein dürfte43, so widerspräche sie doch dem Sinn des Gesetzes44 und wäre überaus unzweckmäßig, weil der JRichter und der JStA genügend Erfahrungen für die Reife-Beurteilungen beider Altersgruppen nur gewinnen kann, wenn er für J und Hw. zugleich zuständig ist. Gleiches gilt für die BezirksJRichter und die BezirksJSchöffengerichte.

4. Geschäftsbereich der JGerichte 19 Das JGericht entscheidet (§ 33 I) über alle Verfehlungen (§ 1, 1), bei denen der Täter zZ der Tat schon 14, aber noch nicht 21 Jahre alt war45, oder wenn darüber Zweifel bestehen (vgl. § 1, 23

37 38 39 40 41 42 43 44 45

BGH 15, 107. Siehe auch BGH NJW 96, 267. Zur Gewährung von Akteneinsicht für Schöffen BGH 43, 36. Vgl. Nothacker S. 262. Dallinger/Lackner 38; Eisenberg/Kölbel 23. Bach, Potrykus je DRiZ 54, 190. Ebenso Dallinger/Lackner 40; aA Eisenberg/Kölbel 26; Ostendorf/Schady 18. So aber Becker JR 53, 413. Zust. Nothacker S. 256. BGH 6, 354 für Hw. 262

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aE)46. Wegen mehrerer Taten, rechtlicher Bewertungseinheit oder Dauerdelikt aus der Zeit vor u. nach Vollendung des 21. Lebensjahres Vor § 102, 2. Ausnahmen sind nach §§ 103 II 2, 112 ggf. bei Verbindung mit Erw. (§ 41, 22; § 103, 6 u. 15) gegeben. § 102 ist, seit der Eingriff der Zuständigkeit der Staatsschutzkammer in das JGG entfallen ist, keine Ausnahmevorschrift; im Übrigen ergibt sich aus § 33 II, dass JGerichte nur auf der Ebene der AG und LG gebildet werden. Über das anzuwendende Recht §§ 104, 112 S. 2. JGerichte sind gegen Erw. auch als JSchutzgerichte (§§ 26, 74b GVG) und ggf. bei Verbindung (§ 103) zuständig. Dazu Anh. § 125, 5 u. 6. Sind im Geschäftsverteilungsplan eines mit mehreren Richtern besetzten Gerichts die JGerichtssachen nicht erwähnt, müssen diese als nicht verteilt angesehen werden. Es besteht also an diesem Gericht kein JGericht, weshalb ein hier abgeurteilter J seinem gesetzlichen Richter entzogen ist47. – Wegen der Folgen Rn 17, 26, 28. Die auswärtige Strafkammer eines LG ist auch für J und Hw. aus ihrem örtlichen Bezirk zuständig48. Im OWiG-Verfahren gelten die §§ 33–37, soweit sie sich nicht auf das JSchöffengericht beziehen. Die Vorschrift über die JKammer ist nur für das Beschwerdeverfahren von Bedeutung (§ 1, 2). Wegen der örtlichen Zuständigkeit § 42, 15.

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5. Die Entscheidung eines örtlich oder sachlich unzuständigen Gerichtes Urteile eines örtlich oder sachlich unzuständigen Gerichts sind wirksam und der Rechtskraft fähig49. Die rechtskräftige Entscheidung eines nicht zuständigen Gerichts ist nicht nichtig50. Eine andere Frage ist, inwieweit solche Urteile durch Rechtsmittel angegriffen werden können. Das örtlich unzuständige Gericht erklärt sich im Eröffnungsverfahren durch Beschluss für unzuständig51 (vgl. § 42, 9). Abgabe an ein anderes Gericht ist nicht möglich. Im Hauptverfahren darf das Gericht seine örtliche Unzuständigkeit nicht mehr aussprechen, muss aber auf rechtzeitigen Einwand des Angeklagten (§ 16 S. 2, 3 StPO) bei Bejahung der örtlichen Unzuständigkeit das Verfahren nach § 206a StPO oder 260 III StPO einstellen52. Die örtliche Unzuständigkeit kann der Angeklagte nur dann mit der Revision nach § 338 Nr. 4 StPO rügen, wenn sein entsprechender rechtzeitiger Einwand nach Eröffnung des Hauptverfahrens (§ 16 S. 2, 3 StPO) als unbegründet verworfen worden ist53. Hat ein Gericht niederer Ordnung unter Überschreitung seines Strafbannes entschieden, wo ein Gericht höherer Ordnung zuständig gewesen wäre, z.B. der JRichter, wo ein JSchöffengericht zuständig gewesen wäre, so stand dem Urteil ein Verfahrenshindernis entgegen, das von Amts wegen zu prüfen (§ 6 StPO) und vom Revisionsgericht ohne Rüge nach § 338 Nr. 4 StPO zu berücksichtigen ist54. Vgl. auch § 41, 50. Jede andere Art der Unzuständigkeit (vgl. aber § 47a, 3) wird vom Revisionsgericht nur auf Rüge (§ 344 II 2 StPO) beachtet, z.B. die örtliche Unzuständigkeit (Rn 25). Hat ein ErwGericht eine Sache entschieden, für welche ein JGericht zuständig gewesen wäre, so hat das Berufungsgericht die Sache an das zuständige JGericht zurückzuverweisen, da es sich um ein Merkmal der (sachlichen oder bes. funktionellen) Zuständigkeit iSd § 328 II StPO

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BGH 5, 370. OLG Saarbrücken NJW 66, 1041; Eisenberg/Kölbel 38; Ostendorf/Schady 9. OLG Karlsruhe Beschl. v. 2.8.1978 – 1 Ws 257/78 – iVm BGH 18, 173, 175; 21, 70. RG 71, 378; Meyer-Goßner/Schmitt § 6 StPO 2. Vgl. BGH bei Herlan GA 54, 308; OLG Hamburg NJW 52, 1150; BGH 27, 331 für den örtlich unzuständigen JRichter. Meyer-Goßner/Schmitt § 16 StPO 4. OLG Karlsruhe GA 77, 58. Meyer-Goßner/Schmitt § 16 StPO 7. BGH 18, 83; Eisenberg/Kölbel 37; Ostendorf/Schady § 39, 10. Zur Unzuständigkeit nach dem Geschäftsverteilungsplan (§ 338 Nr. 1 StPO) vgl. BayObLG VRS Bd. 59 (80), 24. 263

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handelt55. Zum Ausbleiben des Angeklagten in der Berufungsverhandlung s. Rn 8. Das Berufungsgericht kann nicht nach § 260 III StPO einstellen, weil die Verteilung der Aufgaben zwischen J- und ErwRichter gem. § 209a StPO eine Frage der Zuständigkeit iSd § 328 II StPO ist56. In solchem Falle verweist das Revisionsgericht nicht nach § 354 II StPO, sondern prozessökonomisch nach § 355 StPO direkt an das JGericht zurück57. Vgl. zum Fall des „übrig gebliebenen“ Erw. § 47a, 7. Die Unzuständigkeit des ErwGerichts kann uneingeschränkt mit der Revision geltend gemacht werden, und zwar mit und nur auf die Rüge, dass nach Eröffnung des Hauptverfahrens die in jeder Lage des Verfahrens zu prüfende Zuständigkeit eines JGerichtes pflichtwidrig nicht beachtet worden ist58. Eines vorausgegangenen Einwandes des Angeklagten, das ErwGericht sei unzuständig, bedarf es nicht (vgl. Rn 8). Zu berücksichtigen ist jedoch, dass es sich bei dem Alter des Angeklagten um eine doppelrelevante Tatsache handelt, die nicht nur die gerichtliche Zuständigkeit, sondern wegen der nach Altersstufe unterschiedlichen Rechtsfolgen auch das materielle Recht betrifft. Das Revisionsgericht ist daher an entsprechende Feststellungen gebunden, soweit sie rechtsfehlerfrei getroffen sind59. Der Freibeweis ist unzulässig60. Hat das unzuständige ErwGericht JStrafrecht nicht angewendet bzw. bei Hw. dessen Anwendbarkeit nicht geprüft, ist das Urteil auf die Sachbeschwerde jedenfalls für die Rechtsfolgenentscheidung an das zuständige JGericht zurückzuverweisen61. Zur Frage, ob das ErwGericht durch Einstellungen nach §§ 154, 154a StPO seine Zuständigkeit begründen kann, s. Vor § 102, 2. Auch für den Erw. bestimmt § 103 I, II 1 den gesetzlichen Richter, sodass der zu einem Verfahren mit J oder Hw. verbundene Erw. die Unzuständigkeit des in solcher Sache tätig gewordenen ErwGerichts rügen kann, obwohl dieses ErwGericht ohne solche Verbindung für ihn zuständig gewesen wäre62. Vgl. § 47a, 1–5; § 103, 23. Zu den Entscheidungen über Revisionen eines Erw., über den ein JGericht entschieden hat § 47a, 3, 5. Bei negativem sachlichen Kompetenzkonflikt, der durch die Neuregelung nahezu ausgeschlossen ist, gelten die §§ 14, 19 StPO entsprechend63, falls sich keine andere Möglichkeit des Verfahrensfortganges mehr bietet64. Sind die Voraussetzungen für eine Verbindung nach §§ 112 S. 1, 103 I, § 3 StPO gegeben, lehnt die ersuchte gleichrangige JKammer aber die Übernahme ab, so ist für eine Verbindung der Sachen durch das gemeinsame übergeordnete Gericht nur dann Raum, wenn andernfalls die Gefahr eines Verfahrensstillstandes besteht65. Vgl. § 103, 16. Beim örtlichen Kompetenzkonflikt gilt der Grundsatz der Eröffnungspriorität nach § 12 StPO66, notfalls die Bestimmung des gemeinschaftlichen oberen Gerichts nach §§ 14, 19 StPO. Vgl. aber auch § 103, 17 u. 22. Untersuchungshandlungen des unzuständigen Richters sind voll gültig (§ 20 StPO entsprechend). Über die Folgen der Anwendung des materiellen JRechts auf Erw. u. umgekehrt § 1, 24. Über die bes. Frage der Zuständigkeit nach Verbindung § 103, 3 ff.

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OLG Oldenburg NJW 81, 1384; OLG Karlsruhe Justiz 99, 142; LG Rostock StraFo 08, 211. OLG Oldenburg aaO; OLG Koblenz VRS Bd. 71 (86), 462. OLG Koblenz aaO. BGH NStZ-RR 07, 282; NStZ 13. 290; Meyer-Goßner/Schmitt § 338 StPO 34; Löwe/Rosenberg/Stuckenberg27 § 209a StPO 48; eher für Berücksichtigung von Amts wegen Eisenberg/Kölbel 39. 59 BGH NStZ 00, 388. 60 BGH NStZ 13, 290. 61 BGH NStZ-RR 96, 250; OLG Karlsruhe Justiz 99, 142. 62 BGH H MDR 80, 456 u. MDR 81, 269; Meyer-Goßner/Schmitt § 338 StPO 34; vgl. auch Hilger NStZ 83, 340. 63 BGH 18, 381. 64 OLG Hamm NJW 72, 1909; OLG Karlsruhe NStZ 87, 375 zur Abtrennung eines Hw. aus verbundener Sache vor der Wirtschaftsstrafkammer an die JKammer nach §§ 209a, 4 II StPO; § 103 II, III. 65 OLG Düsseldorf MDR 80, 1042. 66 Vgl. Meyer-Goßner/Schmitt § 12 StPO 1. 264

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6. Sicherungsverfahren Im Sicherungsverfahren (§§ 413 ff StPO) gegen J (Hw.) entscheidet grds. das JSchöffengericht 34 oder im Fall des § 41 I Nr. 5 die JKammer (§ 41, 16). Wenn in Verfahren, in denen Sachen gegen J (Hw.) und Erw. verbunden sind, bei dem Erw. 35 die Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus zu erwarten ist, so wird für den Erw. die JKammer zuständig, was dann zwangsläufig auch für die zum gleichen Verfahren verbundenen J (Hw.) gilt (§ 41, 22 u. 13). Weitere Ausnahme § 41, 18.

7. Verwaltungsbehörden Verwaltungsbehörden können wegen Verfehlungen von J und Hw. tätig werden, wenn und soweit 36 dies in den einzelnen Vorschriften für zulässig erklärt ist und es sich nicht um die Verhängung von Kriminalsanktionen handelt. Wegen der Bußgeldbescheide nach dem OWiG näher § 1, 2.

§ 34 Aufgaben des Jugendrichters (1) Dem Jugendrichter obliegen alle Aufgaben, die ein Richter beim Amtsgericht im Strafverfahren hat. (2) 1Dem Jugendrichter sollen für die Jugendlichen die familiengerichtlichen Erziehungsaufgaben übertragen werden. 2Aus besonderen Gründen, namentlich wenn der Jugendrichter für den Bezirk mehrerer Amtsgerichte bestellt ist, kann hiervon abgewichen werden. (3) Familiengerichtliche Erziehungsaufgaben sind 1. die Unterstützung der Eltern, des Vormunds und des Pflegers durch geeignete Maßnahmen (§ 1631 Absatz 3, § 1802 Absatz 1 Satz 1, § 1813 Absatz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs), 2. die Maßnahmen zur Abwendung einer Gefährdung des Jugendlichen (§§ 1666, 1666a, auch in Verbindung mit § 1802 Absatz 2 Satz 3 und § 1813 Absatz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches). Abs. I: 1. Hw.: § 107. – 2. [ErwG]: § 104, 2. Abs. II und III: 1. (Hw.): § 107. – 2. [ErwG]: § 104, 4.

Richtlinien zu § 34 1.

2.

3.

Zu den Aufgaben des Jugendrichters gehören nach § 34 Abs. 1 auch die richterlichen Handlungen im Ermittlungsverfahren sowie die Erledigung der Rechtshilfeersuchen in Jugendsachen. Es empfiehlt sich, ihm bei der Geschäftsverteilung auch die Erledigung der Rechtshilfe in sonstigen Strafsachen zu übertragen, wenn um Vernehmung von Minderjährigen ersucht wird. Wird der Richter beim Amtsgericht als Jugendrichter oder Vollstreckungsleiter mit Jugendlichen oder Heranwachsenden befasst, für die ein anderes Amtsgericht als Vormundschaftsgericht zuständig ist, so kann es angebracht sein, dass das Gericht des Jugendrichters oder Vollstreckungsleiters gemäß § 46 des Gesetzes über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit die Aufgaben des Vormundschaftsgerichts übernimmt. Die übernommenen vormundschaftsrichterlichen Aufgaben kann der Jugendrichter nach der gleichen Vorschrift wieder abgeben. Werden nach Einleitung eines Strafverfahrens vormundschaftsrichterliche Maßnahmen für Jugendliche oder Heranwachsende erforderlich, gegen die Anklage vor einem anderen Gericht erhoben ist oder erhoben werden soll, so sollte das Vormundschaftsgericht prüfen, ob sich die Abgabe der vormundschaftsrichterlichen Aufgaben an das Jugendgericht empfiehlt, das bereits mit ihnen befasst ist oder demnächst befasst werden wird.

265 https://doi.org/10.1515/9783110686401-041

§ 34

2. Teil. Jugendliche

Schrifttum Hartmann Die Anordnung von U-Haft, Diss. Mainz 1988; Otto Der Grundsatz der Ämtereinheit des J- u. Vormundschaftsrichters, Diss. Hamburg 1977; Schmidt Die Personalunion des Jugend- und Familienrichters, 2014; Wohlfahrt Der zuständige Ermittlungsrichter in JSachen, StraFo 20, 59.

1 Durch das KindRG von 1997 wurde wegen der Verlagerung verschiedener Aufgaben des Vormundschaftsgerichts auf das Familiengericht der Begriff der vormundschaftsrichterlichen ErzAufgaben in Abs. II und III durch denjenigen der familien- und vormundschaftsrichterlichen ErzAufgaben ersetzt. Da eine Übertragung sämtlicher vormundschafts- und familienrichterlicher Aufgaben auf den JRichter zu einer Überlastung geführt hätte, wurde die zuvor in Abs. II 1 enthaltene Richtlinie, nach welcher der JRichter zugleich auch Vormundschaftsrichter sein sollte, gestrichen1 und Abs. II 1 auf die Maßgabe beschränkt, dass dem JRichter für die J die familienund vormundschaftsrichterlichen ErzAufgaben übertragen werden sollen2. Durch das FGG-Reformgesetz v. 17.12.2008 wurde wegen der Konzentration auch der vormundschaftsrichterlichen Aufgaben beim Familiengericht der Begriff der familien- und vormundschaftsrichterlichen ErAufgaben durch denjenigen der familiengerichtlichen ErzAufgaben ersetzt. 2 Die Vorschrift gilt nur für das AG. 3 Abs. I bindet das Präsidium bei der Geschäftsverteilung3. Der JRichter ist Einzelrichter (§§ 33 II, 39) und Vorsitzender des JSchöffengerichts (§§ 33 III, 40). Er trifft wie der Richter beim AG im allg. Strafverfahren alle außerhalb der Hauptverhandlung anfallenden Entscheidungen (§ 30 II GVG), einschließlich der des Vollstreckungsleiters (§ 82 I), nimmt die richterlichen Handlungen im vorbereitenden Verfahren vor (§§ 162, 165 StPO) und ist im JVerfahren Rechtshilferichter (RL 1 S. 1, § 157 GVG). Da nach dem Sinn des § 34 I das gesamte JGerichtsverfahren und nicht nur die Hauptverhandlung bei einem Richter mit bes. Sachkunde und Erfahrung zu konzentrieren ist, ist es unzulässig, die Ermittlungssachen auf dem Gebiet des JStrafverfahrens einem Richter zuzuweisen, der im Übrigen nicht als JRichter eingesetzt ist4. Das gleiche gilt für einzelne, die J und Hw. betreffende Rechtsgebiete (z.B. Rechtshilfe). Derartige Mängel in einem Geschäftsverteilungsplan sind nicht durch die Regelung des § 22d GVG heilbar, denn diese Vorschrift betrifft ein Abweichen vom Geschäftsverteilungsplan im Einzelfall und setzt einen gesetzmäßigen Geschäftsverteilungsplan voraus5. Der JRichter entscheidet auch in Haftsachen vor Anklageerhebung (§ 125 StPO; über die bes. Haftgerichte §§ 33–33b, 17). Nach dem BVerfG6 verstößt allerdings die Einrichtung spezieller „JErmittlungsrichter“ nicht gegen Art. 101 I 2 GG. Das alles gilt auch für JSchutzverfahren, sobald das JGericht vor sich eröffnet hat (Anh. § 125, 5). Wegen des OWiG-Verfahrens § 1, 2 u. §§ 33–33b, 23. 4 Abs. II enthält für die Geschäftsverteilung eine weitere – nicht bindende, aber beherzigenswerte7 – RL, welche Hw. wegen deren Volljährigkeit nicht betrifft. Danach sollen dem JRichter für die J die familiengerichtlichen ErzAufgaben übertragen werden. Das entspricht seiner Aufgabe als ErzRichter, die er vor allem als Einzelrichter hat, und dient der Einheitlichkeit der Erz. Was familiengerichtliche ErzAufgaben sind, ist in Abs. III geregelt. §§ 152, 4 FamFG geben Gelegenheit, alle anhängigen Verfahren auch örtlich in eine Hand zu bringen (vgl. auch RL 2, 3; Mitteilungspflichten: § 70 JGG, Nr. 31 MiStra.). Auch der BezirksJRichter und der JRichter als

1 BT-Drs. 13/4899, S. 143. 2 Krit. zur Rechtsentwicklung Miehe in JStrafrecht an der Wende, S. 147 ff, der von einer Demontage des Bildes des ErzRichters spricht.

3 LG Göttingen NdsRpfl. 77, 218; VG Schleswig DRiZ 91, 98. 4 VG Schleswig DRiZ 91, 98; DSS/Schatz 10; Eisenberg/Kölbel 6; Ostendorf/Schady 2; aA LG Berlin NStZ 06, 525; Reichenbach NStZ 05, 617.

5 LG Göttingen NdsRpfl. 77, 219. 6 NStZ 05, 643. 7 Also nicht gesetzeswidrig besetzt: OLG Köln Zbl. 81, 34 mit Anm. Molketin Zbl. 81, 220; aA Ostendorf/Schady 3: bindend, aber nicht erzwingbar; für intensiven Austausch statt Personalunion Schmidt S. 383 ff. 266

Jugendschöffen

§ 35

Vorsitzender des BezirksJSchöffengerichts sollte in seinem AG-Bezirk die familiengerichtlichen ErzAufgaben wahrnehmen. Auch die Vernehmung Jugendlicher bei Rechtshilfe in allg. Strafsachen sollte dem JRichter übertragen werden (RL 1 S. 2). Wegen der zwischen Täter- und Tatstrafrecht, J- und ErwRecht bestehenden Unterschiede sollte der JRichter möglichst nicht zugleich ErwStrafrichter sein; ebenso ist eine Referatsteilung durch die Trennung J-Hw. zu vermeiden (§§ 33–33b, 18). Doch hindert der mit der Einrichtung von JGerichten verfolgte Zweck der Förderung des ErzGedankens nicht, bei der Geschäftsverteilung (bes. an kleinen Gerichten) JStrafsachen und allg. Strafsachen einer Kammer8 oder einem JRichter zuzuweisen. Die Verbindung JGericht-Familiengericht scheidet bei Hw., da sie volljährig sind, aus 5 (§ 107).

§ 35 Jugendschöffen (1) 1Die Schöffen der Jugendgerichte (Jugendschöffen) werden auf Vorschlag des Jugendhilfeausschusses für die Dauer von fünf Geschäftsjahren von dem in § 40 des Gerichtsverfassungsgesetzes vorgesehenen Ausschuß gewählt. 2Dieser soll eine gleiche Anzahl von Männern und Frauen wählen. (2) 1Der Jugendhilfeausschuß soll ebensoviele Männer wie Frauen und muss mindestens die doppelte Anzahl von Personen vorschlagen, die als Jugendschöffen und Jugendersatzschöffen benötigt werden. 2Die Vorgeschlagenen sollen erzieherisch befähigt und in der Jugenderziehung erfahren sein. (3) 1Die Vorschlagsliste des Jugendhilfeausschusses gilt als Vorschlagsliste im Sinne des § 36 des Gerichtsverfassungsgesetzes. 2Für die Aufnahme in die Liste ist die Zustimmung von zwei Dritteln der anwesenden stimmberechtigten Mitglieder, mindestens jedoch der Hälfte aller stimmberechtigten Mitglieder des Jugendhilfeausschusses erforderlich. 3Die Vorschlagsliste ist im Jugendamt eine Woche lang zu jedermanns Einsicht aufzulegen. 4Der Zeitpunkt der Auflegung ist vorher öffentlich bekanntzumachen. (4) Bei der Entscheidung über Einsprüche gegen die Vorschlagsliste des Jugendhilfeausschusses und bei der Wahl der Jugendschöffen und Jugendersatzschöffen führt der Jugendrichter den Vorsitz in dem Schöffenwahlausschuß. (5) Die Jugendschöffen werden in besondere für Männer und Frauen getrennt zu führende Schöffenlisten aufgenommen. (6) Die Wahl der Jugendschöffen erfolgt gleichzeitig mit der Wahl der Schöffen für die Schöffengerichte und die Strafkammern. 1. Hw.: § 107. – 2. [ErwG]: § 104, 2.

Schrifttum Delitzsch Empfiehlt es sich, den JSchöffen durch einen ehrenamtlich tätigen JFachrichter zu ersetzen? MKrim. 79, 21; DVJJ, Hrsg., Leitfaden für JSchöffen, 5. Aufl. 2008; Gerstein Die Aufgabe von JSchöffen im Strafprozeß, ZBl. 97, 47; Grotenbeck Reflexionen zur Funktion des JWohlfahrtsausschusses, Zbl. 83, 604; Haegert Einschaltung der Jugend in JGerichtsbarkeit u. JBehörden, NJW 68, 927; Hauber Ist die Laienbeteiligung im JStrafverfahren noch vertretbar?, Zbl. 78, 329; Heinen Auswahl u. Aufgaben der JSchöffen, Zbl. 54, 163; Klausa Zur Typologie der ehrenamtl. Richter, Diss. Berlin 1970; Lennartz Erziehung durch JSchöffen? Eine empirische Untersuchung zu Funktion u. Stellung der JSchöffen im JGerichtsverfahren, 2016; von Schönfeld Leitfaden für JSchöffen, 1977; Schorn Rechtsfragen bei der Berufung von Schöffen u. Geschworenen, DRiZ 66, 115; Ullrich Minderjährige JSchöffen, RdJ 69, 305; Villmer/ ter Veen/Walkowiak/Gerken Die Mitwirkung von Laien in der (J)Strafgerichtsbarkeit, in FS Pongratz, 1986, S. 306; Wagner Die Rechtsstellung der JSchöffen, Zbl. 82, 325; Weil/Wilde Der JSchöffe im JStrafverfahren, JWohl 83, 303.

8 BGH NJW 66, 1037. 267 https://doi.org/10.1515/9783110686401-042

§ 35

2. Teil. Jugendliche

1 Die JSchöffen üben während der Hauptverhandlung das Richteramt in vollem Umfang und mit gleichem Stimmrecht wie die Richter aus (§ 30 I GVG). Sie sollten insbes. dazu beitragen, dass die Verhandlung auch für den Angeklagten verständlich abläuft, und Kenntnisse und Erfahrungen aus ihren Lebensbereichen beisteuern1. Für das Amt und die Wahl der JSchöffen gilt grds. das GVG (§§ 30 bis 57, 77 GVG). 2 Für die Wahl gelten die in § 35 geregelten Besonderheiten. Erzbefähigte und in der JErz. 3 erfahrene Personen (Abs. II 2)2 sind in allen Bevölkerungskreisen zu finden (z.B. Eltern, Ausbilder, freie Mitarbeiter der Wohlfahrtsorganisationen). In entsprechender Anwendung des § 33 Nr. 3 GVG genügt es, wenn die JSchöffen 1 Jahr im Bezirk des JHilfeausschusses und zZ der Aufstellung der Vorschlagsliste3 im Bezirk des zu besetzenden AG wohnen. Der JHilfeausschuss ist bei der Wahl nicht weisungsgebunden4. Das Gesetz über die weitere Bereinigung von Bundesrecht v. 8.12.2010 hat Abs. III S. 2 neu gefasst und zur Erleichterung für die Praxis das Zustimmungserfordernis für die Aufnahme in die Vorschlagsliste der Regelung für die allg. Schöffenliste in § 36 I 2 GVG angepasst. Der ebenfalls durch dieses Gesetz angefügte Abs. VI übernimmt den nicht gegenstandslos gewordenen Inhalt des aufgehobenen § 117. Sind für einen AGBezirk mehrere JÄmter zuständig, gelten die §§ 43 I, 58 II GVG entsprechend5. Der BezirksJRichter führt, falls seine Zuständigkeit nicht beschränkt ist (§ 33b, 17), in allen Wahlausschüssen seines Bezirkes den Vorsitz6, da nur er für diesen Bezirk JRichter ist. Bei der Einreichung der Vorschlagsliste (Abs. II) hat der Leiter der zuständigen Verwaltungsbehörde die Art der öffentlichen Bekanntmachung (Abs. III 4), die Tage, in denen die Liste öffentlich aufgelegen hat (Abs. III 3) und die Tatsache der Zweidrittelmehrheit (Abs. III 2) zu bescheinigen. Es sind 4 JSchöffenlisten zu führen (Abs. V), nämlich die Haupt- und Ersatzschöffenlisten, je getrennt für Männer und Frauen; entsprechend erfolgt die Auslosung. Für die Auslosung der JSchöffen für ordentliche und außerordentliche Sitzungen und für die Ersetzung eines weggefallenen Hauptschöffen gelten die §§ 45, 47, 48, 49 GVG mit der Maßgabe, dass diese Vorschriften jeweils nur entweder für die Männer-Haupt-und-Ersatzliste oder für die Frauen-Haupt-und-Ersatzliste gelten (Abs. V). Wirken nicht ein männlicher und ein weiblicher JSchöffe mit, so begründet dies nicht eine 4 Revision (§ 338 Nr. 1 StPO), weil § 35 insoweit nur und nicht zwingend die Art der Auslosung regelt (§§ 45, 77 GVG)7. Werden aber JSchöffen gewählt, die nicht vom JHilfeausschuss vorgeschlagen wurden, ist die Wahl ungültig. Sie dürfen wie JSchöffen, welche die gesetzlichen Voraussetzungen nicht erfüllen, nicht in der Sitzung mitwirken. Jede Mitwirkung ist ein absoluter Revisionsgrund gem. § 338 Nr. 1 StPO8; die gesetzeswidrige Ernennung ist während des Geschäftsjahres zu ändern9. Zur Auslosung zu ordentlichen u. außerordentlichen Sitzungen §§ 33– 33b, 16. Der Landgerichtspräsident muss wegen des Zwecks möglichst breit gestreuter Laienbeteiligung die für die JKammern erforderlichen JSchöffen möglichst gleichmäßig aus allen zugehörigen AG-Bezirken nehmen. Geschieht dies nicht, wird im Regelfall nur ein error in procedendo, nicht eine die Revision begründende (objektive) Willkür vorliegen10. Vgl. insgesamt §§ 33– 33b, 911.

1 Gerstein Zbl. 97, 51 f; zur Rechtswirklichkeit s. Lennartz S. 137 ff. 2 Für höhere Anforderungen an die JSchöffen de lege ferenda Lennartz S. 338 ff u. Wiesener Qualifikationsanforderungen an JRichter und JStaatsanwälte, 2014, S. 171 ff.

3 Eisenberg/Kölbel 6a. 4 Krit. zur Praxis der Wahlen Gerstein Zbl. 97, 49. 5 Dallinger/Lackner 8. 6 Dallinger/Lackner 16; aA Heinen Zbl. 54, 165. 7 BeckOK/Wellershoff § 33a, 10; aA Eisenberg/Kölbel § 33b, 43. 8 BGH 26, 391. 9 BGH 12, 206. 10 OLG Celle MDR 80, 426. 11 Krit. gegen die Beschränkung auf Deutsche nach § 31 GVG Eisenberg/Kölbel 6; Ostendorf/Schady 3. 268

Jugendstaatsanwalt

§ 36

§ 36 Jugendstaatsanwalt (1) 1Für Verfahren, die zur Zuständigkeit der Jugendgerichte gehören, werden Jugendstaatsanwälte bestellt. 2Richter auf Probe und Beamte auf Probe sollen im ersten Jahr nach ihrer Ernennung nicht zum Jugendstaatsanwalt bestellt werden. (2) 1Jugendstaatsanwaltliche Aufgaben dürfen Amtsanwälten nur übertragen werden, wenn diese die besonderen Anforderungen erfüllen, die für die Wahrnehmung jugendstaatsanwaltlicher Aufgaben an Staatsanwälte gestellt werden. 2Referendaren kann im Einzelfall die Wahrnehmung jugendstaatsanwaltlicher Aufgaben unter Aufsicht eines Jugendstaatsanwalts übertragen werden. 3Die Sitzungsvertretung in Verfahren vor den Jugendgerichten dürfen Referendare nur unter Aufsicht und im Beisein eines Jugendstaatsanwalts wahrnehmen. 1. Hw.: § 107; vgl. § 36 RL 2 S. 2. – 2. [ErwG]: Rn 9; § 104, 4.

Richtlinie zu § 36 Der zuständige Jugendstaatsanwalt soll nach Möglichkeit die Anklage auch in der Hauptverhandlung vertreten, sofern er nicht im vereinfachten Jugendverfahren von der Teilnahme an der mündlichen Verhandlung absieht (§ 78 Abs. 2).

Übersicht 1. 2. 3. 4. 5.

Grundlagen 1 2 Ordnungsvorschrift 3 Spezialreferate 4 Weichenstellung 6 Richter auf Probe

6. 7. 8. 9.

7 Amtsanwälte 8 Referendare 9 Hauptverhandlung Sachliche und örtliche 11 Zuständigkeit

1. Grundlagen Das Ziel des § 2 I, weiteren Straftaten J und Hw. durch vorrangig erz. Einwirkungen entgegenzu- 1 wirken, kann nur bei entsprechender Qualifikation der Staatsanwälte und Richter erreicht werden. Das JGG überträgt deshalb die richterlichen Entscheidungen gegen J und Hw. den JGerichten als Spezialspruchkörpern (§§ 33 bis 35, 107 f), sieht in § 36 für die Verfahren, die zur Zuständigkeit der JGerichte gehören, die Bestellung von JStaatsanwälten vor und verlangt in § 37, dass die JRichter und JStaatsanwälte erz. befähigt und in der JErziehung erfahren sind. Es ist häufig kritisiert worden, dass die gesetzlichen Qualifikationsanforderungen in der Praxis nicht hinreichend beachtet werden1. Der RegE für das G zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG) sah daher vor, durch Ergänzungen der §§ 36 und 37 die Übertragung von Aufgaben der JStrafrechtspflege auf Richter auf Probe, Amtsanwälte und Referendare einzuschränken und die Qualifikationsanforderungen für JRichter und JStaatsanwälte auf belegte oder alsbald zu erwerbende Kenntnisse auf den Gebieten der Kriminologie, Pädagogik und Sozialpädagogik sowie der JPsychologie zu erweitern (vgl. auch § 37, 9)2. Diese Regelungen stießen auf Ablehnung des Bundesrates, der die Gestaltungsmöglichkeiten beim Personaleinsatz und den Grundsatz des universell einsetzbaren Richters und Staatsanwalts gefährdet sah3. 1 Begr. RegE zum StORMG, BT-Drs. 17/6261, S. 15. 2 Begr. RegE, aaO, S. 6 f; dazu Gebauer in DVJJ-BW, Aktuelle Entwicklungen im JStrafrecht, 2013, S. 52 ff. 3 BR-Drs. 213/11, S. 3 ff; vgl. auch Limberg/Wulf in DVJJ-BW aaO, S. 23 ff. 269 https://doi.org/10.1515/9783110686401-043

§ 36

2. Teil. Jugendliche

Als Kompromiss ergänzte das StORMG § 36 um Abs. I 2 und Abs. II und ließ es § 37 unverändert4. Weitere Qualifikationsanforderungen für JRichter und JStaatsanwälte wurden aber dann durch das G zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder v. 16.6.2021 in § 37 aufgenommen (vgl. § 37, 9–14).

2. Ordnungsvorschrift 2 Nach dem BGH5 ist diese Vorschrift eine bloße Ordnungsvorschrift, deren Verletzung keine Folgen hat, da die „Staatsanwaltschaft“ vertreten war (§ 338 Nr. 5 StPO) und kein Anhalt dafür besteht, dass die Entscheidung des Gerichts anders ergangen wäre, wenn ein anderer (nämlich der J-)Staatsanwalt mitgewirkt hätte (§ 337 StPO)6. Dies aber bedeutet nicht, dass § 36 einfach unbeachtet bleiben kann, nur weil seine Verletzung die Revision nicht begründet7. Die Bestellung sämtlicher allg. Dezernenten auch zu Jugenddezernenten ist unzulässig8. Zu Bedenken bei Spezialreferaten Rn 3. Zur Kooperation mit der Polizei u. zur Diversion § 45, 23 ff.

3. Spezialreferate 3 Bedenken erweckt allerdings die steigende Zahl von Spezialreferaten bei der StA, denen durch Geschäftsverteilung die Zuständigkeit in Erw.- und zugleich in JSachen zugesprochen wird. Das ist zwar vom Spezialgebiet her gesehen nahe liegend und verständlich; es kann aber bei weiterer Häufung § 36 tangiert werden, auch wenn er nur als Ordnungsvorschrift angesehen wird (vgl. Rn 2). Zuberbier9 fordert, dass in Spezialreferaten die j. und hw. Beschuldigten von ausgewählten JStAen bearbeitet werden. Es könnte letztlich der ErzAuftrag des JGG gefährdet werden, was insbes. die freiere Stellung der StA im Rahmen des § 45 deutlich macht10. Vgl. auch Rn 11. Zum Gerichtsstand bei Spezialreferaten § 42, 2 aE. Ostendorf11 bezeichnet die Herabstufung einer Gesetzesbestimmung zur Ordnungsvorschrift12 als Zauberformel, die nicht wirke. Vgl. auch § 37, 15 u. zu den Anforderungen § 37, 5.

4. Weichenstellung 4 Die bes. Bedeutung des StA in JVerfahren liegt darin, dass er nicht nur die bes. Persönlichkeitsforschung (§ 43) leiten13 und sich dazu häufig persönlich in die Ermittlungen einschalten muss (vgl. §§ 43, 44), sondern auch entscheidenden Einfluss auf das Verfahren selbst dadurch nimmt, dass er – von der Anklagepflicht weithin befreit – zu entscheiden hat, ob es überhaupt zu einem Hauptverfahren kommt. Vgl. § 45, 23 ff; § 47, 14 u. insbes. das in der Praxis sich ausweitende direkte erz. förderliche Eingreifen des JStA: § 45, 31 ff. Bei Anklageerhebung (s. auch § 41, 8 u. § 108, 1) gibt er dem Verfahren durch die Wahl der Verfahrensart (Einf. 108) eine bestimmte

4 Vgl. Beschlussempfehlung u. Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drs. 17/12735, S. 23. 5 Bei Herlan GA 61, 358. 6 BGH aaO; OLG Karlsruhe NStZ 88, 241; OLG Hamm JMBl. NRW 94, 23; zweifelnd Eisenberg/Kölbel 13; aA Ostendorf/Schady 8.

7 Vgl. Zuberbier DRiZ 88, 336. 8 Eisenberg GA 02, 579. 9 DRiZ 88, 336. 10 Entschieden gegen Spezialreferate, welche die JStA verdrängen, Eisenberg NStZ 94, 67. 11 8. 12 Mit Grünwald JZ 68, 752. 13 BGH 6, 328. 270

Jugendstaatsanwalt

§ 36

Richtung. Weiter hat er bei der Wahl des örtlich zuständigen Gerichts die verfahrenswichtige, jgemäße Auswahl unter den Möglichkeiten örtlicher Zuständigkeit nach § 42 (dort Rn 8) zu treffen und bei Hw. die sinnvolle Anwendung der RL zu § 108 (dort Rn 6) zu verantworten. Diese Entscheidungen erfordern viel Fingerspitzengefühl. Zur Hauptverhandlung Rn 9 f. Zu den Verpflichtungen des JStA bei Strafanzeigen gegen Kinder § 1, 25. – Durch seinen Überblick über die JKriminalität im ganzen LG-Bezirk weiß der JStA am besten, was Not tut; er kann durch seine Anträge und Anregungen, in entscheidenden Fällen – zurückhaltend (§ 55 RL 1 S. 2) – durch Rechtsmittel die Rechtsprechung bes. weniger erfahrener JRichter an kleinen Gerichten günstig beeinflussen. Er ist, wie im allg. Recht, stets zu hören (§ 33 StPO). Dem JStA obliegt es im Falle der UHaft eines J sorgfältig zu prüfen, ob deren Zweck nicht durch andere Maßnahmen auch erreicht werden kann (§ 72, 3). Er hat bei UHaft für bes. Beschleunigung zu sorgen und ggf. das Verfahren gegen den J abzutrennen (§ 72 RL 1). Bei Verhaftung an einem anderen Ort ordnet er idR unverzüglich Einzeltransport an und beantragt zugleich die Übertragung der Aufgaben des bisherigen Haftrichters auf den nach § 42 I Nr. 1 zuständigen Richter (§ 72 RL 2). Der JStA wird auch bei Straftaten eines Hw., die in das ErwAlter hineinreichen, das Ermitt- 5 lungsverfahren zusammenfassend führen; dazu ist er bes. aufgrund seiner Erfahrung und seiner von § 37 I verlangten interdisziplinären Weiterbildung zur gebotenen kriminologischen Ganzheitsbetrachtung (vgl. § 43, 5) besser geeignet als der allg. StA (vgl. Rn 12)14. Durch Verbindung, ggf. Unterlassung von Trennung, verschafft er dem JRichter gerade in solchen Fällen die Zuständigkeit und Möglichkeit zur Entscheidung nach § 32 (vgl. § 32, 9; § 103, 26). Zum Ermessen vor § 102, 2, § 103, 1 u. 27, § 32, 6, aber auch folgende Rn 11. Damit werden die in § 32, 8 und 9 abgehandelten Schwierigkeiten vermieden und auch berücksichtigt, dass es in JSachen nicht angeht, kleinere Vergehen iSd allg. Rechts schlechthin als Bagatellsachen zu behandeln, da sie ein durchaus beachtenswertes Symptom beginnender Kriminalität sein können und nur eine einheitliche Bearbeitung die gebotene erz. Erfahrung gibt und sichert.

5. Richter auf Probe Nach Abs. I 2 sollen Richter und Beamte auf Probe im ersten Jahr nach ihrer Ernennung nicht 6 zum JStA bestellt werden. Die Vorschrift beruht auf der Erwägung, dass während der Einarbeitung in die staatsanwaltliche Tätigkeit als solche eine hinlängliche Beschäftigung mit den spezifischen jkriminologischen und pädagogischen Erfahrungen kaum möglich ist15. Die Regelung ist als Sollvorschrift ausgestaltet, um insbes. kleineren Staatsanwaltschaften eine höhere Flexibilität bei der Geschäftsverteilung zu ermöglichen16. Die Bestellung als JStA muss die Ausnahme bleiben und darf nur erfolgen, wenn die Qualifikationsanforderungen des § 37 erfüllt sind17.

6. Amtsanwälte Die Landesjustizverwaltungen können die Geschäfte des StA im amtsgerichtlichen Bereich auf 7 Amtsanwälte (Rechtspfleger) übertragen (§§ 142 I Nr. 3, II; 145 II GVG)18. Die Übertragung jstaatsanwaltlicher Aufgaben ist jedoch nach § 36 II 1 nur zulässig, wenn die Amtsanwälte die Anforderungen des § 37 erfüllen. Hinsichtlich der besonderen Qualifikation für JSachen gilt also für Amtsanwälte dasselbe wie für JStA19. Den Zuständigkeitsbereich der Amtsanwälte (sogar Verbre14 15 16 17 18 19 271

Bandemer Zbl. 89, 319, 322. Begr. RegE zum StORMG, BT-Drs. 17/6261, S. 15. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drs. 17/12735, S. 23. AaO. Zur Verfassungsmäßigkeit BVerfG NJW 81, 1033. Begr. RegE zum StORMG, BT-Drs. 17/6261, S. 16.

§ 36

2. Teil. Jugendliche

chen) bestimmt das Landesrecht (OrgStA). Das alles gilt entsprechend auch für örtliche Sitzungsvertreter im Bereich des JRichters. Selbst wenn ein Amtsanwalt entgegen der revisionsrechtlich bedeutungslosen OrgStA die Anklage vor dem JSchöffengericht vertritt, begründet dies die Revision weder nach § 338 Nr. 5 StPO, weil die Anklage ordnungsgemäß vertreten war, noch nach § 337 StPO, weil § 36 nur als bloße Ordnungsvorschrift angesehen wird20. Bei den bes. Anforderungen an den JStA bleibt dies aber bedenklich.

7. Referendare 8 Nach § 142 III GVG kann Referendaren die Wahrnehmung der Aufgaben eines Amtsanwalts und im Einzelfall die Wahrnehmung der Aufgaben eines StA unter dessen Aufsicht übertragen werden. § 36 II 2 schränkt dies für jstaatsanwaltliche Aufgaben dahin ein, dass diese auch in Amtsanwaltssachen nur im Einzelfall und unter Aufsicht eines JStA übertragen werden dürfen. Die Sitzungsvertretung in Verfahren vor den JGerichten dürfen Referendare nach Abs. II 3 nur unter Aufsicht und im Beisein eines JStA wahrnehmen. Dies ist angesichts des Gewichts der nicht nach den §§ 45, 47 eingestellten in die Hauptverhandlung kommenden JSachen sachgerecht, denn selbständiges, alleiniges Auftreten kann mangels Erfahrung der Referendare und wegen des notwendigerweise eingeschränkten Handlungsspielraums, bes. auch wegen nicht ausreichenden Einblicks in die Besonderheiten des JStrafrechts, kaum verantwortet werden. Unter Anleitung und Aufsicht eines durchgehend anwesenden JStA aber kann ein wertvoller, praxisnaher Beitrag zur Ausbildung geleistet werden. Nach Czerner/Habetha21 ist bei nicht durchgehender Anwesenheit des JStA sogar der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO gegeben. Zur Bestellung von Referendaren zu Verteidigern § 68, 5.

8. Hauptverhandlung 9 Der zuständige JStA soll nach Möglichkeit die Anklage auch in der Hauptverhandlung vertreten (RL; Ausnahme § 78 II). Der JStA hat als „Wächter“ insbes. in der Hauptverhandlung durch Hinweise, Anregungen und Anträge dafür zu sorgen, dass Sinn und ErzZiel des JGG vor allem auch prozessual gewahrt bleiben (vgl. dazu RL zu § 5; RL 2 zu § 11; RL 5 zu § 15; RL 6, 7 zu § 43; auch § 43 Rn 5 u. 21; RL 2 zu § 72). Es ist in jeder Hinsicht ungut, wenn empfohlen wird22, dass der JStA in der Sitzung keine 10 bestimmten Anträge stellt. Zumindest bei der Frage der Auswahl der angemessenen Reaktion oder der Strafbemessung soll der JStA seine Meinung äußern23, zumal er JKriminalität und Rechtsprechung im LGBezirk besser als das JGericht übersieht; ob dies in Form eines Vorschlages oder eines Antrages geschieht, ist erz. wohl ohne Bedeutung. Bei entsprechend enger und längerer Zusammenarbeit zwischen JRichter und JStA ergeben sich aus der Stellung eines bestimmten Antrags erfahrungsgemäß keine Schwierigkeiten. – Aber auch zur Schuldfrage muss sich der JStA äußern; das ist nicht nur konsequent, sondern wird vom J erwartet. Einen Schlussvortrag muss der StA halten24. Es gilt § 46, der die Fassung der Anklageschrift behandelt, entsprechend25, es sollen also nachteilige Wirkungen für den J möglichst vermieden werden. Oft wird es sich empfehlen, ihn direkt anzusprechen26. 20 21 22 23 24 25 26

BGH GA 61, 358; OLG Karlsruhe NStZ 88, 241. HK-JGG 9. Dallinger/Lackner 8; Potrykus B 3. Zust. Eisenberg/Kölbel 5a. OLG Zweibrücken StV 86, 51. Zust. Nothacker S. 149. Siehe auch die Anleitung für Sitzungsvertreter der StA von Ostendorf ZJJ 10, 183. 272

Auswahl der Jugendrichter und Jugendstaatsanwälte

§ 37

9. Sachliche und örtliche Zuständigkeit Der JStA wird in allen Verfahren tätig, für die das JGericht zuständig ist; er bearbeitet die JSchutzsachen (dazu Anh. § 125, 6 u. 13), wenn Anklage zum JGericht in Betracht kommt (vgl. Wortlaut des § 36). Der JStA ist auch zuständig für die Verbindung von Strafsachen gegen J (Hw.) mit solchen gegen Erw., da dem JGericht die Kompetenz-Kompetenz zukommt (dazu Rn 4; § 103, 4). Hierbei trifft der JStA eine wichtige Entscheidung, weil Erw. bei Verbindung grds. vor JGerichte kommen (§ 103, 3) und diese hierdurch überlastet und ihren eigentlichen Aufgaben entzogen werden können (§ 103, 9; für das Revisionsgericht aber § 41, 48); auch weil eine an sich gebotene Trennung nach Eröffnung des Verfahrens vor dem JGericht nur mehr in Ausnahmefällen möglich ist (§ 103, 18, 20) und zudem auch noch die JKammer als Berufungsgericht mit Sachen gegen Erw. unnötig belastet wird (§ 41, 49). Der JStA wird im Revisionsverfahren nicht tätig, weil dort keine JGerichte bestehen27. Bei Straftaten ein und desselben Täters vor und nach dem 21. Lebensjahr weist die JStA durch gemeinsame Anklage dieser Sachen oder Antrag auf Verbindung bereits rechtshängiger Sachen dem JGericht das Gesamtverfahren zu und verschafft ihm die notwendige Gesamtschau und die Möglichkeit für eine Entscheidung nach § 32 (näher § 32, 8, 9)28. Zum zuständigen StA, wenn ein Erw. die mit seinem Verfahren verbundenen J (Hw.) vor die Staatsschutz- oder die Wirtschaftsstrafkammer zieht, § 102, 4. Sind nur J (Hw.) wegen Wirtschaftsstraftaten oder Delikten nach § 74a GVG Beschuldigte, bleibt die Zuständigkeit des JStA unberührt, weil insoweit die Zuständigkeit der JGerichte vorgeht. Zum Strafbefehlsverfahren § 109, 13. Neben den JVerfahren können dem JStA auch noch andere Geschäfte zugewiesen werden (vgl. § 34, 4). Für die örtliche Zuständigkeit der JStA gilt § 42 (vgl. § 108, 6; § 42, 8; § 143 GVG)29. Über die örtliche Zuständigkeit muss also möglichst frühzeitig entschieden werden. Wird im Wege der Abgabe oder bei der Vollstreckung (dazu § 85, 22) ein anderes Gericht zuständig, ändert sich damit auch die Zuständigkeit der JStA (§ 143 GVG)30, wodurch Beschleunigung und Vollstreckungsnähe gewährleistet sind. Denn die Zuständigkeit der StA richtet sich nach der jeweiligen Gerichtszuständigkeit31. Zur Anklageerhebung gegen Hw. RL zu § 108 u. § 108, 6. Dateien der StA Vor § 97, 34–38; Akteneinsicht u. Auskunftserteilung Vor § 97, 27–33, 35. Fehlerhaftes Verhalten der StA stellt den Strafanspruch nicht zur Disposition.

§ 37 Auswahl der Jugendrichter und Jugendstaatsanwälte (1) 1Die Richter bei den Jugendgerichten und die Jugendstaatsanwälte sollen erzieherisch befähigt und in der Jugenderziehung erfahren sein. 2Sie sollen über Kenntnisse auf den Gebieten der Kriminologie, Pädagogik und Sozialpädagogik sowie der Jugendpsychologie verfügen. 3Einem Richter oder Staatsanwalt, dessen Kenntnisse auf diesen Gebieten nicht belegt sind, sollen die Aufgaben eines Jugendrichters oder Jugendstaatsanwalts erstmals nur zugewiesen werden, wenn der Erwerb der Kenntnisse durch die Wahrnehmung von einschlägigen Fortbildungsangeboten oder eine anderweitige einschlägige Weiterqualifizierung alsbald zu erwarten ist. (2) Von den Anforderungen des Absatzes 1 kann bei Richtern und Staatsanwälten, die nur im Bereitschaftsdienst zur Wahrnehmung jugendgerichtlicher oder jugendstaatsan27 28 29 30 31

Zust. Eisenberg/Kölbel 8a; aA Ostendorf/Schady 2. Brunner JR 80, 262. Dallinger/Lackner § 42, 1; Grethlein UJ 55, 307. Zust. Eisenberg/Kölbel 9. Dallinger/Lackner § 42, 1; aA LG Kiel SchlHA 56, 274; Voß SchlHA 67, 139.

273 https://doi.org/10.1515/9783110686401-044

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waltlicher Aufgaben eingesetzt werden, abgewichen werden, wenn andernfalls ein ordnungsgemäßer und den betroffenen Richtern und Staatsanwälten zumutbarer Betrieb des Bereitschaftsdiensts nicht gewährleistet wäre. (3) 1Als Jugendrichter beim Amtsgericht oder als Vorsitzender einer Jugendkammer sollen nach Möglichkeit Personen eingesetzt werden, die bereits über Erfahrungen aus früherer Wahrnehmung jugendgerichtlicher oder jugendstaatsanwaltlicher Aufgaben verfügen. 2Davon kann bei Richtern, die nur im Bereitschaftsdienst Geschäfte des Jugendrichters wahrnehmen, abgewichen werden. 3Ein Richter auf Probe darf im ersten Jahr nach seiner Ernennung Geschäfte des Jugendrichters nicht wahrnehmen. 1. Hw.: § 107. – 2. [ErwG]: § 104, 4.

Richtlinien zu § 37 1.

2.

3.

4.

Bei der Besetzung der Jugendgerichte und bei der Auswahl der Jugendstaatsanwälte sollte in besonderem Maße auf Eignung und Neigung Rücksicht genommen werden. Die Jugendkammer soll nach Möglichkeit mit erfahrenen früheren Jugend- und Vormundschaftsrichtern besetzt werden. In der Jugendstrafrechtspflege sind besondere Erfahrungen notwendig, die regelmäßig erst im Laufe längerer Zeit erworben werden können. Ein häufiger Wechsel der Richter bei den Jugendgerichten und der Jugendstaatsanwälte muss daher nach Möglichkeit vermieden werden. Für die Tätigkeit der Richter bei den Jugendgerichten und der Jugendstaatsanwälte sind Kenntnisse auf den Gebieten der Pädagogik, der Jugendpsychologie, der Jugendpsychiatrie, der Kriminologie und der Soziologie von besonderem Nutzen. Eine entsprechende Fortbildung sollte ermöglicht werden. Den Richtern bei den Jugendgerichten und den Jugendstaatsanwälten wird empfohlen mit Vereinigungen und Einrichtungen, die der Jugendhilfe dienen, Fühlung zu halten.

Schrifttum Adam/Albrecht/Pfeiffer JRichter u. StAe in der Bundesrepublik Dtschl., 1986; Breymann JAkademie – Zu den Grundlagen der Weiterbildung für JRichter u. JStaatsanwälte, ZJJ 05, 185, 279; Brunner JRichter. Anspruch u. Möglichkeit, JR 78, 499; ders. Weder Memoiren noch JGG-Kommentierung, sondern Ernte aus den Feldern der Praxis, FS Böhm, 1999 S. 791; Cornel 100 Jahre JGerichte – Die Zeit war reif, ZJJ 08, 232; DVJJ, Hrsg., Die JKriminalrechtspflege als Personenfrage u. als Aufgabe der Zusammenarbeit, Bericht über den 11. JGT 1959, 1962; Dick ErwBildung, Arbeitsforschung, Professionsentwicklung. Ein Ansatz zur Förderung jrichterlicher Kompetenz, ZJJ 05, 290; Dick/Breymann Mehr als nur Wissenszuwachs: Professionelle Entwicklung in der JGerichtsbarkeit durch das Netzwerk JAkademie, DRiZ 09, 72; dies. JAkademie: Von der Notwendigkeit u. dem Scheitern eines Fortbildungskonzeptes für JRichter u. JStAe, FS Ostendorf, 2015, 209: Döppner Geheimwissenschaft Pensenschlüssel u. Geschäftsverteilung, DVJJ-J 03, 5; Drews Die Aus- u. Fortbildungssituation von JRichtern u. JStaatsanwälten in der Bundesrepublik Deutschland – Anspruch u. Wirklichkeit von § 37 JGG, 2005; dies. Anspruch u. Wirklichkeit von § 37 JGG, ZJJ 05, 409; Eckelt Der spezialisierte richterliche Bereitschaftsdienst, ZJJ 21, 372; Eilsberger Die Hauptverhandlung aus der Sicht j. u. hw. Angeklagter, MKrim. 69, 304; Grotenbeck Überlegungen zu gemeinsamen Fortbildungsmaßnahmen für JRichter u. JGerichtshelfer, Zbl. 77, 252; Hauber Das Bild vom JRichter in der Entwicklung des JKriminalrechts, Zbl. 77, 315; ders. Spezialisierung als Legitimation jrichterlichen Handelns, Zbl. 77, 372; Hauser Der JRichter – Idee u. Wirklichkeit, MKrim. 80, 1; Hellmer Zur Frage der Vor- u. Ausbildung der JRichter, RdJ 55, 366; Helmken Der JStA: Anspruch u. Wirklichkeit – Sitzungsvertretung durch Rechtsreferendare, ZJJ 09, 147; ders. Rechtspolitische Überlegungen zu § 37 JGG unter bes. Berücksichtigung des JStAs, ZRP 12, 209; Hermann/Wild Die Bedeutung der Tat bei der jrichterlichen Rechtsfolgenbestimmung, MKrim. 89, 13; Höynck/Leuschner Das Jugendgerichtsbarometer, 2014; dies. Das Jugendgerichtsbarometer, ZJJ 14, 364; Hupfeld Zur Bedeutung des ErzGedankens u. des richterlichen Spezialisierungsgrades in der JStrafrechtspraxis, DVJJ-J 93, 11; ders. JRichter u. ihre Handlungsmöglichkeiten, DVJJ-J 93, 146; ders. Richteru. gerichtsbezogene Sanktionsdisparitäten in der deutschen JStrafrechtspraxis, MKrim. 99, 342; Jung JRichter. Eine Momentaufnahme zum Hundertjährigen, GA 08, 599; Krauß Die strafrechtliche Problematik kriminologischer Ziele u. Methoden 1972; Kreuzer Aus- u. Fortbildung von JRichtern u. JStAen, ZRP 87, 235; ders. Ursprünge, Gegenwart u. Entwicklungen des deutschen JStrafrechts, ZJJ 08, 122; Lignitz Die Ausbildung des französischen JRichters im Centre de Vaucresson, 1976; Ludwig-Mayerhofer/Rzepka Diversion u. Täterorientierung im JStrafrecht, MKrim 98, 17; Melder Pädagogische Aspekte im JStrafrecht, Diss. Frankfurt 1969; Müller Aufgabe, Persönlichkeit u. Stellung des JRichters, RdJ 1955; Ostendorf Reform u. Gegenreform durch Organisation, DVJJ-J 03, 3; Pommerening Pädagogisch relevante Dimensionen des Selbstbildes von JRichtern, 1982; dies. Das Selbstbild der deutschen JRichter, MKrim. 82, 193; 274

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Potrykus Der JRichter u. die Anforderungen an seine Vorbildung, RdJ 55, 361; Sach JRichterausbildung, RdJ 69, 298; Schaffstein Zur Situation des JRichters NStZ 81, 286; Scholz Realität der u. Erwartungen an die JGerichtsbarkeit in Deutschland, DVJJ-J 99, 232; Schropp Zur Kommunikation am JGericht, Zbl. 86, 340; Simon Der JRichter im Zentrum der JGerichtsbarkeit, 2003; Stettner Um ein echtes JGericht, RdJ 54, 297; Streng „Richter u. Erzieher zugleich“? ZIS 15, 605; Vaupel Zum Selbstverständnis jrichterlicher Tätigkeit, UJ 80, 391; Vins Die Begegnung des Jugendlichen mit seinem Richter, UJ 53, 437; Walter JGerichte u. JGerichtshilfen als Wegbereiter einer fortdauernden Kriminalrechtsreform, ZJJ 08, 224; Weil/Wild Der JRichter im JStrafverfahren, Zbl. 83, 497; Wiesener Qualifikationsanforderungen an JRichter u. JStaatsanwälte, 2014.

Übersicht 1. 2. 3.

Freiheit und Grenzen 1 Zu den Eigenschaften des JRichters 6 Die Rechtsfolgenbestimmung

5

4. 5. 6.

Qualifikationsanforderungen 15 Nur Ordnungsvorschrift Geburtenschwache Jahrgänge

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1. Freiheit und Grenzen Der JRichter hat von allen Spruchrichtern wohl den größten Spielraum in der Auswahl der zu 1 ergreifenden Maßnahmen (Einf. 106) und in der Gestaltung des Verfahrens (Einf. 108, 109). So kann jeder Täter in der ihm gemäßen Art angesprochen werden. Mit der Größe des Spielraums wächst aber auch die Gefahr, daneben zu greifen. Die Verantwortung des JRichters wird noch dadurch erhöht, dass er mit Hilfe der JGH (ggf. § 43) und in der Kürze der Hauptverhandlung versuchen muss, die Persönlichkeit des Täters zu erkennen, um mit gezieltem Rechtsfolgenausspruch im Rahmen seines ErzAuftrags die weitere Erz. des J bei Durchführung der Maßnahmen nicht zu gefährden, sondern zu fördern. Er muss bedenken, dass seine Maßnahmen einen noch weithin prägbaren Täter treffen und damit – oft entscheidenden – Einfluss auf dessen weiteres Leben nehmen1. – Gleiches gilt für den JStA (§ 36, 4); vgl. insbes. § 45, 23. Karl Almenröder hat auf dem 1. JGT 1909 in Berlin gesagt: „Wir fühlen uns am meisten in 2 den Lücken des Gesetzes wohl und richten uns dort zugunsten unserer J ein.“ Wenn, diesem frühen Wort grds. zustimmend, gleichwohl sehr ernst auf die Grenzen hingewiesen wird, so richtet sich das nicht gegen die dem JRichter eröffneten Beurteilungs- und Handlungsfreiräume2, aus denen die sog. „Reform durch die Praxis“ erwachsen ist (dazu § 45, 7). Gerade die Praxis ist ein Bewährungsfeld für behutsame Rechtsfortbildung. Kerner3 hat treffend darauf hingewiesen, dass „zahlreiche Innovationen im Bereich des Strafvollzugs in langem, hartnäckigem Kampf von engagierten Praktikern entwickelt worden (sind), bevor sie die Weihe der theoretischen Beachtung durch die Wissenschaft gefunden haben“. Wenn Eisenberg/Kölbel4 vom JRichter eine gewisse Fähigkeit zu „normativer Distanz“ for- 3 dern, welche „auf dem Hintergrund sonstiger Prinzipien strafverfolgender und richterlicher Tätigkeit allerdings als erwartungswidrig und abw. beurteilt und innerbehördlich entsprechend (informell oder gar formell) sanktioniert werden … bzw. sich negativ auf die berufliche Wertschätzung auswirken“ mag, so ist dies durch den Hinweis auf „Ausfüllung nicht abschließend geregelter Rechtsfolgeninhalte“ hinnehmbar. Wie in Rn 2 betont, soll der JRichter wohl engagiert die vielseitigen, einem beliebten Schlagwort gemäß auch die „noch nicht ausgereizten“ Möglichkeiten des JGG ausschöpfen, er darf sich aber der Grenze nicht nähern, welche den dem Gesetz verpflichteten StA und Richter von dem „Sozialingenieur“ unüberbrückbar trennt. 1 2 3 4

Vgl. BGH 8, 354; 9, 402. Vgl. Walter Beiträge zur Erz., 1989, S. 69. In Feltes, Hrsg., Kriminologie u. Praxisforschung, 1988, S. 21. 5.

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JGerichtsbarkeit ist nicht bloße Sozialarbeit5. Zu Recht weist Miehe6 auf die kritische Problematik hin, wenn an Stelle methodisch-exakter Auslegung eine eher politisch-soziologische Berücksichtigung der Rechtslage tritt, und Schaffstein7 warnt vor übergesetzlichem Wildwuchs, der in zunehmendem Maße die Grenzen des noch allenfalls Vertretbaren erreicht oder schon überschritten hat (vgl. Einf. 105 aE). Dies ist sehr ernst zu nehmen. 4 Die kriminalpolitischen Debatten strahlen unbestreitbar auf die Normanwendung aus8. Es kann aber jeder Einzelfall und der jeweilige kriminologische Erkenntnisstand nur im weitgesteckten Rahmen der vom Gesetz zur Verfügung gestellten Sanktionen berücksichtigt werden. Die Ebenen des geltenden anzuwendenden Rechts und die kriminologisch-rechtspolitisch begründeten Ebenen zu vermengen9, dient dem Rechtsschutzinteresse der J nicht, es darf nicht einfach auf rechtspolitische Forderungen durchgegriffen werden10. Es ist dem Richter auch versagt, seine Urteilsgründe mit rechtspolitischen Forderungen für eine künftige Ausgestaltung des JStrafrechts „anzureichern“. Der BGH11 musste darauf hinweisen, dass solche Darlegungen nicht ins Urteil gehören und das Revisionsgericht besorgen lassen können, der JRichter wolle gar nicht geltendes Recht anwenden12. Der BGH13 hat anlässlich eines Extremfalles (Verurteilung eines JStA wegen Rechtsbeugung)14 ausgeführt, der JRichter und JStA, der sein Handeln als Organ des Staates an seinen eigenen Maßstäben anstelle der vom Gesetzgeber statuierten ausrichte, könne sich nicht darauf berufen, er habe den Geist des JStrafrechts nicht verletzen und das erz. Richtige tun wollen. Selbst wenn ein von vornherein gegebener Vorsatz, als Amtsträger bei Leitung einer Rechtssache zu handeln, nicht feststellbar sein sollte, könne schon allein die Einstellung des Verfahrens strafbare Rechtsbeugung sein, denn es genüge auch, zugunsten der J oder Hw. den Anspruch des Staates auf eine dem JGG entsprechende Rechtsfolge zu verletzen. Der BGH hat aber auch ausdrücklich hervorgehoben – und damit das Subsidiaritätsprinzip des JStrafrechts bewahrt –, dass ein „Amtsträger“ im JStrafrecht auch dann „gerecht“ sein kann, „wenn er aus sachbezogenen Erwägungen mit der Intention zur Gerechtigkeit auf letzte Konsequenz dieses Straf-(Rechtsfolgen-)anspruchs nicht besteht“ (vgl. § 45, 1 ff). Denn § 336 StGB wolle den Rechtsbruch erfassen, nicht aber beim Entscheidungsträger ein Gefühl der Rechtsunsicherheit erzeugen.

2. Zu den Eigenschaften des JRichters 5 Nur die besten Richter und StAe werden diesen Anforderungen gewachsen sein15 (vgl. RL 1–3). Der Versuch einen „besten“ JRichter oder JStA zu beschreiben, ist ebenso oft unternommen worden, wie das Ergebnis aus mannigfachen Gründen abgelehnt worden ist. Will man die vielfältigen Anforderungen an den Jugendrichter unter Anlegung eines groben Rasters bewusst überspitzt und plakativ formulieren, so ergibt sich Folgendes16: Er soll erfahren sein, ohne Erfahrungen erst sammeln zu können; sich eine wertende Gesamtschau der weit gestreuten einschlägigen Forschung verschaffen, aber auch der fordernden Praxis des Richteralltags gerecht werden; sich nicht zu erzschädlichen, psychologisierenden Husarenritten in die Pädagogik ver5 Beulke/Swoboda Rn 572. 6 ZStW 85, 566. 7 ZStW 86, 11. 8 Walter/Pieplow Anm. NStZ 89, 577. 9 Walter/Pieplow aaO, S. 576. 10 Walter/Pieplow aaO. 11 NStZ 89, 1491. 12 Vgl. auch BGH 28, 327 in § 17, 10. 13 32, 357 = NStZ 86, 27 mit zust. Anm. Fezer. 14 Fallschilderung 8. Aufl. § 37, 2a. 15 Dallinger/Lackner 3; Weinkauff DRiZ 51, 85. 16 Siehe Brunner FS Böhm, 1999, S. 791. 276

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leiten lassen, aber auch nicht in eingefahrener Routine erstarren; weder in sozialer Romantik schwelgen, noch in tatbezogenes Taxendenken verfallen; bereit zu Milde, aber auch entschlossen zu notwendigem Zugriff sein; in der Hauptverhandlung die Sprachbarriere überwinden, sich aber nicht kumpelhaft anbiedern; auf den J eingehen, aber nicht den allezeit Verständigen vortäuschen, der am Ende doch die Zuchtrute hervorholt; sich Zeit nehmen, die er kaum hat; dem Fortschritt aufgeschlossen, aber kein ideologischer Eiferer sein; Ausgeglichenheit, die nicht persönliche Probleme ins Spiel bringt; eine Haltung, die junge Menschen anspricht; Zurückhaltung und Bescheidenheit, die den JRichter und JStA manches Scheitern seiner Bemühungen lehrt; Weiterbildung und Fortbildung mit dem überlasteten Schreibtisch im Hintergrund. Das sind Annäherungen, die versuchen, das zu sagen, was man nicht allg. fordern, aber doch wünschen kann. Bescheidenheit also auch insoweit. Die Auswahl ist für das JRecht von entscheidender Bedeutung17. Die Meinung des BGH18, dass diese Gedanken Gemeingut seien, findet in der Praxis teilweise Bestätigung. Nach Adam ua19 sind 43 % der befragten JRichter und 31 % der JStAe aufgrund eigener Bemühung in das JReferat gekommen; nach Simon20 war dies bei knapp der Hälfte der befragten JRichter der Fall, nach Drews21 bei 54 % der JRichter und 44 % der JStA. Bohnert22 meint, das „duale System“ zwinge, zwischen ErzMaßnahmen und Strafe zu wählen; es gebe damit aber dem selbstherrlichen Richter keine Schranke, dem ängstlichen keine Stütze und dem sorgfältigen kein festes Maß. Das umschreibt neben anderem Verantwortung und Last des JRichters.

3. Die Rechtsfolgenbestimmung Bei der schwierigen und entscheidenden Frage der Rechtsfolgenbestimmung, die durch die sub- 6 jektiven Entscheidungen der Diagnose und Prognose gefährdet ist, sind dem JRichter Extrempositionen keine Hilfe. Er muss den Weg zwischen dem Vorrang der Erz. und den übrigen, auch im JStrafrecht geltenden Strafzwecken (§ 18, 13 u. 17) finden und versuchen, gerade dem J, der vor ihm steht, gerecht zu werden. Hermann/Wild23 kamen bei ihren Untersuchungen zum Ergebnis, die Praxis der jrichterlichen Rechtsfolgenbestimmung habe starke tatstrafrechtliche Züge getragen. Nach der Untersuchung von Ludwig-Mayerhofer/Rzepka24 steigt mit der Stärke sozialbiographischer Anfälligkeiten des J die Härte der jrichterlichen Sanktionen; auch nach dieser Untersuchung haben aber Merkmale der Tatschwere den größten Einfluss auf die Sanktionsentscheidung25. Pommering26 bezweifelt das Ergebnis ihrer Befragung von 142 JRichtern, wonach diese sich nicht vorwiegend strafrechtlich orientieren. Nach der Untersuchung von Hupfeld27 bestehen in der jstrafrechtlichen Sanktionspraxis gerichts- und richterbezogene Unterschiede. Breymann28 stellt ein „neugeordnetes Gesamtkonzept der JStrafrechtspflege“ vor. Danach 7 hätten der JRichter und der JStA das Amt des Wächters des Rechtsstaates inne, während die JGH die pädagogische Kompetenz vertrete. Zwar bleibe der JGHelfer der Entscheidungsgewalt des Richters nachgeordnet, er sei aber gleichzeitig Partner im Entscheidungsprozess und JRich17 18 19 20 21 22 23 24 25 die

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BGH 9, 402 f; Dallinger/Lackner 1. 8, 354. S. 32. S. 166. S. 91. JZ 83, 522. MKrim. 89, 13. MKrim. 98, 17. Vgl. auch Ludwig-Mayerhofer Das Strafrecht u. seine administrative Rationalisierung, 1998, S. 248, nach dem Sanktionsentscheidungen weitgehend einem Routineprogramm folgen. 1982, S. 38, 75, 231¸ unter Berufung auf Hauser MKrim. 80, 1. MKrim. 99, 342. DVJJ Rundbrief März 1990 S. 8.

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ter und JStA seien darauf angewiesen, Übereinstimmung zu erzielen. Die nach Breymann mit diesem „Gleichgewicht zwischen Erz. und Strafe“ verbundenen Risiken und die „gegenseitige Blockade im Extremfall“ sind unschwer vorstellbar. Mehr noch: Das geltende JGG und das Grundgesetz (Art. 92) lassen ein solches Konzept schlechthin nicht zu, was mit der unentbehrlichen Hilfe durch die JGH nichts zu tun hat (vgl. § 38, 1). 8 Zur Befürchtung zu „erhöhter Anpassung iS behördeninterner Handlungsnormen“ Rn 9. Zu hoffentlich abstrusen Warnungen, den J nicht der Statistik wegen zu benachteiligen § 31, 21 aE. Zu den Folgerungen aus einem Rückgang des Bevölkerungsanteils junger Menschen Rn 18.

4. Qualifikationsanforderungen 9 § 37 bestand bisher nur aus dem jetzigen Abs. I 1, der die Anforderungen an die JRichter und JStAe in einer allg. Formulierung dahingehend festlegt, dass diese erz. befähigt und in der JErziehung erfahren sein sollen. Nach Erfahrungsberichten aus der Praxis und empirischen Untersuchungen fanden diese Anforderungen teilweise keine hinreichende Beachtung und waren die Auswahlkriterien in der Justizpraxis uneinheitlich und nicht immer genügend29. Middendorf30 bezeichnete die JRichterstellen als „Aschenputtelstellen der Justiz für weniger Tüchtige oder ganz junge Beamte, die zudem häufig wechseln“. Viele JRichter und JStAe widmen sich allerdings ihren Aufgaben mit ernstem Engagement und großer Sachkunde. Die Befürchtung von Eisenberg/Kölbel31 hinsichtlich einer erhöhten „Anpassung im Sinne institutionalisierter Handlungsnomen wegen etwa besorgter Marginalisierung“ vermag nicht verifiziert zu werden. Nachdem der Vorschlag verbindlicherer Qualifikationsanforderungen im RegE eines G zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (STORMG) v. 15.4.201132 nur zu Änderungen von § 36 geführt hatte33 (vgl. § 36, 1), wurden durch das G zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder v. 16.6.202134 mit Wirkung ab 1.1.2022 genauere Qualifikationsvorgaben in § 37 aufgenommen. Dem Gesetzgeber ging es hierbei neben der Gewährleistung der erforderlichen richterlichen und staatsanwaltlichen Kompetenz in JStrafverfahren insbes. auch darum sicherzustellen, dass JRichter und JStAe in den JSchutzsachen nach §§ 26, 74b GVG, in denen Kinder und J über häufig sehr stark belastende Erlebnisse zu vernehmen sind, über die notwendigen Qualifikationen verfügen35. Durch die Ergänzung des § 37 wird der Beurteilungsspielraum der Präsidien und Behördenleitungen bei der Geschätsverteilung erheblich verringert36. Nach Abs. I 2 sollen die JRichter und JStAe über Kenntnisse auf den Gebieten der Krimino10 logie, Pädagogik, Sozialpädagogik sowie der JPsychologie verfügen. Die Kenntnisse müssen über „rudimentäre Grundkenntnisse“ hinausgehen37. Für das Gebiet der Kriminologie werden sie durch die Ausbildung im kriminologischen Schwerpunktbereich im Rahmen des Jurastudiums vermittelt. Für die Gebiete Pädagogik, Sozialpädagogik und JPsychologie muss die Justiz entsprechende Foltbildungsangebote zur Verfügung stellen. Auf die in der RL Nr. 3 angeführten Kenntnisse in der JPsychiatrie hat der Gesetzgeber verzichtet, weil diese erforderlichenfalls von medizinischen Sachverständigen vermittelt werden können38. Anstelle der in der RL genannten 29 Begr. RegE eines G zur Bekämpfung sexualiserter Gewalt gegen Kidner, BR-Drs. 634/20, S. 66; Hauber Zbl. 77, 372; Beulke/Swoboda Rn. 587; Vaupel UJ 80, 391. Überblick über die empirischen Untersuchungen zur Auswahl, Aus- und Fortbildung der JRichter bei Streng ZIS 15, 606 ff. 30 Kriminelle Jugend in Europa, 1953, S. 93. 31 11. 32 BR-Drs. 213/11. 33 Begr. RegE eines G zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder, BR-Drs. 634/20, S. 67. 34 BGBl. I 1810. 35 Begr. RegE, BR-Drs. 634/20, S. 25, 65 ff. 36 Ostendorf/Schady 6a. 37 Begr. RegE, BR-Drs.634/20, S. 68. 38 AaO, S. 67 f. 278

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Soziologie führt das Gesetz die Sozialpädagogik an, u.a. weil hierdurch die Zusammenarbeit mit der JGH, deren Vertreter zu einem großen Teil eine sozialpädagogische Ausbildung haben, gefördert wird39. Über die Kenntnisse gem. S. 2 wird keine Prüfung verlangt, sie müssen aber belegt werden40. Über die Erfüllung der Anforderungen hat das Präsidium oder die Behördenleitung zu entscheiden41. Die Anforderungen gelten zwar grds. nicht nur für Berufsanfänger, hinsichtlich der Belegbarkeit der Kenntnisse können aber nach der Soll-Vorschrift des S. 2 an schon seit längerem in JSachen Tätige deutlich geringere Anforderungen gestellt werden42. Sind die Kenntnisse noch nicht belegt, sollen nach S. 3 die Aufgaben eines JRichters oder JStAs erstmals nur zugewiesen werden, wenn der Erwerb der Kenntnisse durch die Wahrnehmung von einschlägigen Fortbildungsangeboten oder eine anderweitige einschlägige Weiterqualifizierung alsbald zu erwarten ist. Die Formulierung „alsbald“ ist an die Stelle der im RegE vorgesehenen Frist von sechs Monaten getreten, um der Praxis flexiblere Gestaltungsmöglichkeiten zu eröffnen43. Gemeint ist ein „zeitnaher Kenntniserwerb“, der „in deutlich weniger als einem Jahr abgeschlossen sein soll“44. Abs. II enthält eine Ausnahme von Abs. I. Die jgerichtliche Zuständigkeit nach § 34 I umfasst 11 auch die richterlichen Untersuchungshandlungen und Entscheidungen im Ermittlungsverfahren, weil auch hierfür die bes. Qualifikationen des Abs. I erforderlich sind (§ 34, 3)45. Entsprechendes gilt für den JStA. Da sich aber für JSachen im Bereitschaftsdienst bei einer uneingeschränkten Geltung der Anforderungen des Abs. I insbes. bei kleineren Gerichten und Behörden praktische Probleme ergeben würden46, kann nach Abs. II bei Richtern und Staatsanwälten, die nur im Bereitschaftsdient in JSachen eingesetzt werden, von den Anforderungen des Abs. I abgewichen werden. Dies gilt jedoch nur, wenn andernfalls ein ordnungsgemäßer und den betroffenen Richtern und Staatsanwälten zumutbarer Betrieb des Bereitschaftsdienstes nicht gewährleistet wäre. Nach Abs. III 1 sollen als JRichter beim Amtsgericht oder Vorsitzender einer JKammer nach 12 Möglichkeit Personen eingesetzt werden, die bereits jrichterliche oder jstaatsanwaltliche Erfahrungen gesammelt haben. Hiermit soll der bes. Verantwortung Rechnung getragen werden, die beim JRichter als Einzelrichter und als Vorsitzenden des JSchöffengerichts und beim Vorsitzenden der JKammer liegt47. S. 2 lässt Ausnahmen von dieser Anforderung bei Richtern zu, die nur im Bereitschaftsdienst Aufgaben des JRichters wahrnehmen. S. 3 bestimmt korrespondierend mit der in § 36 I 2 für den JStA getroffenen Regelung, dass ein Richter auf Probe im ersten Jahr nach seiner Ernennung Geschäfte des JRichters nicht wahrnehmen darf. Allerdings ist S. 3 anders als die Soll-Vorschrift des § 36 I 2 als zwingende Norm ausgestaltet48. Der Ausbilung in JSachen kann insbes. die Tätigkeit als Beisitzer in einer JKammer dienen49. Revisionsgerichte sind zwar keine JGerichte im Wortsinn, doch sollten auch hier Richter mit spezieller Erfahrung mitwirken, weil etwa die Aufklärungsrüge im JRecht eine eigenständige Dimension gewinnt, insbes. aber weil Revisionsgerichte Leitlinien geben (vgl. § 33b, 9). Um qualifizierte Juristen für das JStrafrecht zu gewinnen, sollten bereits in Studium (nur 13 Schwerpunktbereich) und Vorbereitungsdienst Ausgangspunkt, Möglichkeiten und ErzZiel des JGG und die bes. Kenntnisse aus übergreifenden Wissensgebieten (RL 3) breiter vermittelt werden, um angehende Richter und Staatsanwälte „Eignung“ selbst erkennen zu lassen und An-

39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 279

AaO, S. 68. AaO. AaO. AaO, S. 69. Begr.des Änderungsvorschlags des Rechtsausschusses, BT-Drs. 19/27928, S. 31 iVm S. 26. AaO; Ostendorf/Schady 6a. Begr. RegE (FN 33), S. 69; Eisenberg/Kölbel § 34, 6. AaO, S. 74. AaO. Ostendorf/Schady 6c. Ostendorf/Schady 3; Simon S. 187.

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satzpunkte zu schaffen, sie zu messen. Vgl. § 36, 850. Eine kriminalwissenschaftliche Schwerpunktsetzung bei der Ausbildung könnte ein Kriterium für die Auswahl der JRichter sein51. Für die Bestellung zum JRichter oder JStA bedarf es der Kenntnisse nach Abs. I. Den JRichtern und JStA müssen die erfahrungswissenschaftlichen Kenntnisse vermittelt werden, die für eine sachgerechte Amtsführung erforderlich sind. Es geht nicht darum, die Juristen zu Kriminologen, Pädagogen oder Psychologen zu machen, das Ziel sind vielmehr empirisch informierte Juristen, die zum Umgang mit j. Menschen und zur interdisziplinären Zusammenarbeit in der Lage sind. 14 JRichter und JStAe möglichst lange in einem Referat zu belassen (RL 2 S. 2) empfiehlt sich wegen der zu fordernden und notwendigen „Investitionen“ sogar fiskalischem Denken. JRichter und JStAe müssen mit der JArbeit verbunden bleiben (RL 4) und ständig an ihrer Fortbildung arbeiten und sich über jkriminologische Erkenntnisse und Forschungen (Einf. 1 ff) unterrichten (dazu auch Rn 5). Die Justizverwaltung soll durch Kurse, Tagungen – insbes. mit interdisziplinärer Beteiligung – und Büchereimittel ihrerseits die Gelegenheit zur Fortbildung geben (näher: Rn 18 u. RL 3 S. 2), wie sie auch durch entsprechende Pensenberechnung nicht nur die Fortbildung, sondern auch eine unbürokratische, menschlich aufgeschlossene Behandlung der „kleineren Fälle“ ermöglichen soll. Da es nicht dem Zufall oder der überdurchschnittlichen Eigeninitiative einzelner Richter überlassen bleiben sollte, ob und wann neue Einsichten oder Methoden in die Praxis Eingang finden52, sollten ländereinheitlich Möglichkeiten für eine qualifizierte kontinuierliche Fortbildung der JRichter verstärkt geschaffen werden53. Diese sollten den JRichtern eine wertende Gesamtschau der weit verstreuten einschlägigen Forschung ermöglichen und ihnen – möglichst interdisziplinär – Gelegenheit geben, sich mit der „strafrichterlichen Problematik kriminologischer Ziele und Methoden“54 auseinanderzusetzen. Wissenschaftliche Vertreter einschlägiger Wissensgebiete sollten häufiger als zurzeit ihre Forschungsergebnisse vortragen und den Widerhall der Praxis erleben; manche beiderseitigen Missverständnisse könnten so zum Wohle der Sache ausgeräumt werden (RL 3)55. Das eigene Institut für Aus- und Fotbildung der JRichter im französischen Vaucresson scheint allerdings die Probleme nur wenig verringert zu haben56.

5. Nur Ordnungsvorschrift 15 § 37 ist trotz seiner großen Bedeutung weiterhin bloße Ordnungsvorschrift; seine Verletzung begründet grds. die Revision nicht57; der BGH betont aber, dass ein Verstoß gegen § 37 die Rüge begründen könne, das Gericht hätte mangels ausreichender eigener Erfahrung einen Sachverständigen auf dem Gebiet der JErziehung beiziehen müssen58. Vgl. § 36, 2 u. 3. Gleichwohl darf § 37 nicht einfach unbeachtet bleiben, nur weil seine Verletzung eine Revision nicht begründet59. Bei einem Verstoß gegen Abs. III 3 kann nach Ostendorf/Schady60 der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 1 StPO angenommen werden. 50 51 52 53 54 55

Vgl. auch Kreuzer ZRP 87, 236. Simon S. 186. Kreckl in DVJJ, Hrsg., Möglichkeiten u. Methoden der Behandlung in der JKriminalrechtspflege, 1972, S. 61. Streng ZIS 15, 613. Krauß S. 96. Zur Aus- u. Fortbildung eingehend Kreuzer ZRP 87, 237, der eher Verwertung von Aktenmaterial und nicht Lehrbuchkriminalität, eben die Wirklichkeit des Lebens in Lehrveranstaltungen fordert. Für die Schaffung einer JAkademie als Aus- und Fortbildungsstätte die Abteilung Strafrecht des 64. DJT, NJW 02, 3079; Simon S. 188; zu entsprechenden Bestrebungen Breymann ZJJ 05, 185, 279; Dick/Breymann DRiZ 09, 72. 56 Lignitz 1976. 57 BGH MDR 58, 356; Ostendorf/Schady 7. 58 BGH aaO, Aufklärungsrüge; dazu Brunner JR 78, 175. 59 Vgl. Zuberbier DRiZ 88, 336; Drews S. 40. 60 7. 280

Zusammenarbeit in gemeisamen Gremien

§ 37a

Zur Verpflichtung, Robe zu tragen, § 78, 18; zur JGerichtsverhandlung Einf. 112. Zur Verbin- 16 dung des Amtes des JRichters und JStA mit anderen Referaten § 34, 4 u. § 36, 11. Zum Sachverständigengutachten § 43, 15-.17. 17 JSchöffen § 35; Verteidiger § 68; JAmt § 72 SGB VIII.

6. Geburtenschwache Jahrgänge Die Diskussion über die Auswirkungen geburtenschwacher Jahrgänge auf die JStrafrechtspflege 18 könnte angesichts der absehbaren demographischen Entwicklung wieder an Bedeutung gewinnen. Ein Rückgang des Bevölkerungsanteils junger Menschen würde eine Chance für die Entzerrung der durchwegs zu stark belasteten JReferate bei StA und Gericht eröffnen, kann ruhigere und intensivere Beschäftigung mit dem Einzelfall ermöglichen und auch der Fortbildung zugute kommen. Man sollte nicht (zum Teil unter Hinweis auf einen nicht vergleichbaren, gelenkten Polizeieinsatz) von einem derart negativen Bild des JStA und des JRichters ausgehen, dass man befürchtet, eine Verringerung der Arbeitslast werde sie rigoros J und Hw. verfolgen lassen, um ihre bedrohte Existenzberechtigung nachzuweisen. Eher noch wäre angesichts der Gesamtbelastung der Justiz zu gewärtigen, dass dies Anlass zu entsprechender Verkleinerung der JReferate und JAbteilungen geben könnte. Die im Hinblick auf die demographischen Veränderungen so anschauliche Warnung vor dem „Sog der leeren Zellen“ scheint einem ähnlichen Richterbild zu entspringen. Vgl. auch Einf. 13; § 45, 8 u. § 68, 13.

§ 37a Zusammenarbeit in gemeisamen Gremien (1) Jugendrichter und Jugendstaatsanwälte können zum Zweck einer abgestimmten Aufgabenwahrnehmung fallübergreifend mit öffentlichen Einrichtungen und sonstigen Stellen, deren Tätigkeit sich auf die Lebenssituation junger Menschen auswirkt, zusammenarbeiten, insbesondere durch Teilnahme an gemeinsamen Konferenzen und Mitwirkung in vergleichbaren gemeinsamen Gremien. (2) An einzelfallbezogener derartiger Zusammenarbeit sollen Jugendstaatsanwälte teilnehmen, wenn damit aus ihrer Sicht die Erreichung des Ziels nach § 2 Absatz 1 gefördert wird. 1. Hw.: § 107. – 2. [ErwG]: § 104, 4.

Die Vorschrift wurde durch das G zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und 1 JStärkungsG – KJSG) v. 3.6.20211 in das JGG eingefügt. Sie stellt klar, dass die Zusammenarbeit mit anderen Stellen, insbes. in Gremien und Konferenzen, zum zulässigen Instrumentarium der JStrafrechtspflege gehört, will die Bereitschaft zur Mitwirkung stärken und die Berücksichtigung der Teilnahme bei der Bemessung von Pensen erleichtern2. Korrespondierende Regelungen für das JAmt enthalten die §§ 52 I 2, 3 und 81 SGB VIII. Abs. I betrifft die fallübergreifende Zusammenarbeit von JRichtern und JStAen mit ande- 2 ren Stellen, deren Tätigkeit sich auf die Lebenssituation j. Menschen auswirkt, zum Zweck einer abgestimmten Aufgabenwahrnehmung, insbes. die Teilnahme an gemeinsamen Konferenzen und die Mitwirkung in gemeinsamen Gremien. Die Vorschrift gibt keine bestimmte Form und kein bestimmtes Verfahren für die Zusammenarbeit vor, sodass Freiraum sowohl für bewährte

1 BGBl. I 1444. 2 Begr. RegE, BT-Drs. 19/26107, S. 134. 281 https://doi.org/10.1515/9783110686401-045

§ 38

2. Teil. Jugendliche

Formen der Kooperation als auch für die Entwicklung neuer Modelle besteht3. Die Teilnahme der JRichter und JStAe steht in deren Ermessen bzw. dem ihrer Behörde4. Die Möglichkeiten der fallübergreifenden Zusammenarbeit sollten genutzt werden. So kann z.B. erreicht werden, dass vor Ort ein ausreichendes Angebot von ambulanten Maßnahmen vorhanden ist. 3 Abs. II bezieht sich auf die einzelfallbezogene Zusammenarbeit. Wenn durch die Teilnahme an ihr aus Sicht der JStA die Erreichung des Ziels des § 2 I, erneuten Straftaten der betroffenen J entgegenzuwirken, gefördert wird, „sollen“ sie teilnehmen, wird also die Teilnahme zur Regel5. Eien förderliche Wirkung der einzelfallbezogenen Zusammenarbeit wird vielfach zu bejahen sein6.

§ 38 Jugendgerichtshilfe (1) Die Jugendgerichtshilfe wird von den Jugendämtern im Zusammenwirken mit den Vereinigungen für Jugendhilfe ausgeübt. (2) 1Die Vertreter der Jugendgerichtshilfe bringen die erzieherischen, sozialen und sonstigen im Hinblick auf die Ziele und Aufgaben der Jugendhilfe bedeutsamen Gesichtspunkte im Verfahren vor den Jugendgerichten zur Geltung. 2Sie unterstützen zu diesem Zweck die beteiligten Behörden durch Erforschung der Persönlichkeit, der Entwicklung und des familiären, sozialen und wirtschaftlichen Hintergrundes des Jugendlichen und äußern sich zu einer möglichen besonderen Schutzbedürftigkeit sowie zu den Maßnahmen, die zu ergreifen sind. (3) 1Sobald es im Verfahren von Bedeutung ist, soll über das Ergebnis der Nachforschungen nach Absatz 2 möglichst zeitnah Auskunft gegeben werden. 2In Haftsachen berichten die Vertreter der Jugendgerichtshilfe beschleunigt über das Ergebnis ihrer Nachforschungen. 3Bei einer wesentlichen Änderung der nach Absatz 2 bedeutsamen Umstände führen sie nötigenfalls ergänzende Nachforschungen durch und berichten der Jugendstaatsanwaltschaft und nach Erhebung der Anklage auch dem Jugendgericht darüber. (4) 1Ein Vertreter der Jugendgerichtshilfe nimmt an der Hauptverhandlung teil, soweit darauf nicht nach Absatz 7 verzichtet wird. 2Entsandt werden soll die Person, die die Nachforschungen angestellt hat. 3Erscheint trotz rechtzeitiger Mitteilung nach § 50 Absatz 3 Satz 1 kein Vertreter der Jugendgerichtshilfe in der Hauptverhandlung und ist kein Verzicht nach Absatz 7 erklärt worden, so kann dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe auferlegt werden, die dadurch verursachten Kosten zu ersetzen; § 51 Absatz 2 der Strafprozessordnung gilt entsprechend. (5) 1Soweit nicht ein Bewährungshelfer dazu berufen ist, wacht die Jugendgerichtshilfe darüber, dass der Jugendliche Weisungen und Auflagen nachkommt. 2Erhebliche Zuwiderhandlungen teilt sie dem Jugendgericht mit. 3Im Fall der Unterstellung nach § 10 Absatz 1 Satz 3 Nummer 5 übt sie die Betreuung und Aufsicht aus, wenn das Jugendgericht nicht eine andere Person damit betraut. 4Während der Bewährungszeit arbeitet sie eng mit dem Bewährungshelfer zusammen. 5Während des Vollzugs bleibt sie mit dem Jugendlichen in Verbindung und nimmt sich seiner Wiedereingliederung in die Gemeinschaft an.

3 4 5 6

AaO; Ostendorf/Sommerfeld 3. Begr. RegE, BT-Drs. 19/26107, S. 134. AaO. Ostendorf/Sommerfeld 4 („in aller Regel“). 282

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Jugendgerichtshilfe

§ 38

(6) 1Im gesamten Verfahren gegen einen Jugendlichen ist die Jugendgerichtshilfe heranzuziehen. 2Dies soll so früh wie möglich geschehen. 3Vor der Erteilung von Weisungen (§ 10) sind die Vertreter der Jugendgerichtshilfe stets zu hören; kommt eine Betreuungsweisung in Betracht, sollen sie sich auch dazu äußern, wer als Betreuungshelfer bestellt werden soll. (7) 1Das Jugendgericht und im Vorverfahren die Jugendstaatsanwaltschaft können auf die Erfüllung der Anforderungen des Absatzes 3 und auf Antrag der Jugendgerichtshilfe auf die Erfüllung der Anforderungen des Absatzes 4 Satz 1 verzichten, soweit dies auf Grund der Umstände des Falles gerechtfertigt und mit dem Wohl de Jugendlichen vereinbar ist. 2Der Verzicht ist der Jugendgerichtshilfe und den weiteren am Verfahren Beteiligten möglichst frühzeitg mitzuteilen. 3Im Vorverfahren kommt ein Verzicht insbesondere in Betracht, wenn zu erwarten ist, dass das Verfahren ohne Erhebung der öffentlichen Klage abgeschlossen wird. 4Der Verzicht auf die Anwesenheit eines Vertreters der Jugendgerichtshilfe in der Hauptverhandlung kann sich auf Teile der Hauptverhandlung beschränken. 5Er kann auch während der Hauptverhandlung erklärt werden und bedarf in diesem Fall keines Antrags. 1. Hw.: Rn 43, 45; § 107. – 2. ErwG: § 104 I Nr. 2, III; § 104, 5. – 3. Sold. Rn 43.

Richtlinien zu § 38 1.

2.

Die Staatsanwaltschaft und das Gericht wirken darauf hin, dass der Bericht, in dem die Jugendgerichtshilfe ihre Erhebungen niederlegt, unter Verzicht auf Ausführungen zur Schuldfrage ein Bild von der Persönlichkeit, der Entwicklung und der Umwelt der beschuldigten Person ergibt. Der Bericht soll angeben, auf welchen Informationen er beruht. Werden im Bericht nicht alle vorliegenden Informationen verarbeitet, so soll dies zum Ausdruck gebracht werden. Es ist anzugeben, ob Leistungen der Jugendhilfe in Betracht kommen (§ 52 Abs. 2 SGB VIII). Berichte der Jugendgerichtshilfe sind von der Akteneinsicht nach Nr. 185 Abs. 3 und 4 RiStBV grundsätzlich auszuschließen.

Schrifttum Arbeitsgruppe JGH in der DVJJ, JGH – Standort u. Wandel, Zbl. 90, 554; Arbeitsstelle Kinder- u. JKriminalitätsprävention, Hrsg., Schnelle Reaktion, 2001; dies., Hrsg., Das JGHB@rometer, 2011; BAG JHilfe im Strafverfahren, Grundsätze für die Mitwirkung der JHilfe in Verfahren nach dem JGG, 2. Aufl. 2022; Becker JGH als Institution sozialer Kontrolle, KrimJ 80, 108; Bex Beschlagnahme von Akten der JGerichts- u. JHilfe, DVJJ-J 00, 409; Bindel-Kögel „Also irgendwas Cooles sollte der machen …“ Handeln von Polizei u. JHilfe aus der Sicht delinquenter J., BewH 03, 358; Bottke Das JAmt als ermittelnde JGerichtshilfe – ein Unding?, Zbl. 80, 12; Brachold Der Beitrag der JGH zur strafprozessualen Sachvorbehaltsermittlung u. -bewertung, 1999; Breymann JGH „90“ Neuorientierung, DVJJ Rundbrief März 1990, 8; ders. Die Zusammenarbeit zwischen JHilfe u. Justiz, in: DVJJ-BW, Kindeswohlgefährdung, JStrafverfahren u. Zusammenarbeit der Institutionen, 2012, S. 37; Brunner Spezialisierte JGH? Ein Beitrag aus richterlicher Sicht, Zbl. 72, 321; ders. JRichter u. JGHelfer nach 20 Jahren JGG, Zbl. 73, 53; ders. Die Eltern des volljährigen Hw. im Gerichtsverfahren, insbes. bei der Persönlichkeitserforschung durch den JGHelfer im Bereich der Verletzung von Privatgeheimnissen (§ 203 StGB), Zbl. 77, 366; ders. Justiz u. JGH in Praxis u. Wissenschaft – Partner oder zerstrittene Geschwister, in Stadt Essen – JAmt, Hrsg., Dokumentation des Fachforums JGH 2001; Bucher Ist das JGG in bezug auf die JGH reformbedürftig? Zbl. 87, 104; ders. JGH im Dilemma, Zbl. 87, 331; Bukowski Mehrfachtäter können identifiziert werden – Neue Möglichkeiten für die JGH-Statistik, BewH 01, 399; ders. Ein möglicher Indikator für die Qualität der JPflege. JDelinquenzdaten aus der Abteilung JGH, UJ 03, 383; BMJ, Hrsg., JGH – Quo vadis? 1991; Busch Zusammenarbeit JGH u. Justiz, Zbl. 85, 393; Coskun Kommunikation u. Kooperation durch fachliche Konfrontation zwischen J(gerichts)hilfe u. Justiz in Verfahren nach dem JGG, 2013; Dölling Datenschutz u. JGH-Bericht, BewH 93, 128; ders. JGH im reformierten JStrafverfahren, in DVJJ, Hrsg., J im sozialen Rechtsstaat, 1996 S. 417; Dollinger Die JGH im Fokus sozialwissenschaftlicher Forschung, ZJJ 12, 416; Drewniak/Kreichelt/Enzmann/Mandel Selbstevaluation in der JGH: Vorstellung eines Evaluationsinstruments, ZJJ 10, 172; Dyck Erfahrungen mit der Spezialisierung der JGH, Zbl. 75, 425; Eberitzsch Haftentscheidungshilfe – Der Beitrag der JHilfe zur Untersuchungshaft, ZJJ 12, 296; ders. Haftentscheidungen im JStrafverfahren – wie bewerten Richter die Haftentscheidungshilfe sowie die Angebote zur U-Haftvermeidung, ZJJ 13, 296; Eisenberg Beschlagnahme von Akten der JGH durch das JGericht, NStZ 86, 308; Eisenberg/Singelnstein Die jgerichtliche Rezeption von Stellungnahmen der JGH, ZJJ 03, 354; Emig „JHilfe im Straf283

§ 38

2. Teil. Jugendliche

verfahren“: „Neuer Wein in alten Schläuchen?“ DVJJ-J 01, 51; Ernst/Höynck Zeugnisverweigerung der JHilfe im Strafverfahren?, ZJJ 18, 228; Feldmann Sozialdatenschutz in der JGH, ZJJ 08, 21; Füllkrug Der JGHelfer als Zeuge vor Gericht, BewH 88, 322; Gadow/Holthusen/Hoops JGH als One-Man-Show? ZJJ 12, 203; Goerdeler JGerichtshilfe durch freie Träger, ZJJ 05, 422; Goldberg Das G zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im JStrafverfahren. Fort- und Rückschritte aus der Perspektive der JHilfe im Strafverfahren. Elektronische Quelle, Ev. Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, 2021; Grotenbeck Überlegungen zu gemeinsamen Fortbildungsmaßnahmen f. JRichter u. JGHelfer, Zbl. 77, 252; ders. Unterliegen Bericht u. Ahndungsvorschlag der JGH einer verwaltungsgerichtl. Nachprüfung?, Zbl. 81, 302; Gundelach Der Bericht der JGH – eine verkannte Chance der Strafverteidigung, StrafFo 19, 45; Harnach Psychosoziale Diagnostik in der JHilfe, 7. Aufl. 2021; Hauber Der JGHelfer als „Sozialanwalt“ des j. Straftäters, Zbl. 80, 509; ders. Der Kompetenzstreit zwischen Psychiater u. Psychologen im JStrafverfahren, Zbl. 82, 157; Heck/Quirin Praxis nachgehender Betreuung in der JGH, Zbl. 89, 414; Heinz JGH in den 90er Jahren, BewH 88, 261; Heinz/Hügel Der Einfluß der JGH auf Sanktionsentscheidungen, BewH 88, 319; Hellmer Der JGHelfer im Spannungsfeld seiner Funktionen, RdJ 67, 309; Hoffmann Datenerhebung durch die JGH, ZJJ 05, 59; Holthusen/Hoops Die JHilfe im Strafverfahren – „Alles wie immer, alles im grünen Bereich … oder?“ Ergebnisse aus dem JGerichtshilfeb@rometer, UJ 14, 98; Hügel Es geht auch ohne JGH, BewH 88, 308; Jens Handbuch für die JGH, 1968; John Was nützt das Rollenkonzept für die Reform der JGH?, Zbl. 82, 10; Kiehl Zum pragmatischen Vordergrund u. den konzeptionellen Hintergründen von Problemen mit der örtlichen Zuständigkeit der JGH, DVJJ-J 97, 39; Klier/Brehmer/Zinke JHilfe in Strafverfahren – JGH, 1995; Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden-Württemberg (Hrsg.), Grundlagen für die JHilfe im Strafverfahren in Baden-Württemberg, 2022; Kreutz Zwischen Scylla und Charybdis. JGerichtshilfe u. Zeugenschaft, UJ 01, 16; v. Kullwitz Berufsbild u. Tätigkeitsmerkmal des JGHelfers, Zbl. 75, 421; Kunkel Der Datenschutz in der JHilfe nach der Änderung des SGB, ZBl. 95, 354; ders. Hat der JGerichtshelfer ein Zeugnisverweigerungsrecht im Strafprozess?, ZJJ 04, 425; Landschaftsverband Westfalen-Lippe Landesjugendamt Westfalen (Hrsg.), Mitwirkung der JHilfe im Strafverfahren. Arbeitshilfe aus der Praxis für die Praxis, 2016; Laubenthal JGH im Strafverfahren, 1993; Lindemann Fürsorge für strafentlassene J, JWohl 63, 406; ders. Nachgehende Fürsorge der JGH, Kriminalistik 65, 38; Lux Die Schuldfrage als Brücke zur Persönlichkeitserforschung u. Vorschlag zum Strafmaß als Problem der JGH, Zbl. 78, 340; dies. Computer ante portas – JGH, was nun?, Zbl. 89, 414; dies. JGH-Statistik, 1993; Matenaer Die Beteiligung der JGH bei der Unterbringung von J u. Hw. in UHaft, Zbl. 83, 21; Mollik Elternarbeit in der JGH, ZJJ 08, 371; ders. Das Projekt „Neuanfang“: Durchgehende Betreuung im JStrafverfahren Dresden, ZJJ 09, 143; ders. Übergangsmanagement im JStrafverfahren, FS 10, 272; ders. „… Und es geht doch!“ Gelingende JHilfe im Strafverfahren, UJ 14, 110; Momberg Die Ermittlungstätigkeit der JGH u. ihr Einfluß auf die Entsch. des JRichters, Diss. Göttingen 1982; ders. Der Einfluß der JGH auf die Entsch. des JRichters, MKrim. 82, 65; Müller-Dietz JGerichtsbarkeit u. Sozialarbeit, MKrim. 75, 1; Neuland/Berg Wie sieht der j. Strafgefangene das JAmt?, RdJ 64, 97; Nicolas JGH als JHilfe für straffällige J u. junge Volljährige, Zbl. 94, 159; Nixdorf Die Anforderungen der EU-Richtlinie 2016/ 800 über Verfahresgarantien in Strafverfahren an die JGH/JuHiS, NK 18, 255; Ostendorf Rückzug der JHilfe aus dem JStrafverfahren? NK 04, 101; ders. Justiz u. Kinder-/JHilfe im Dienste für eine kooperative Kriminalprävention, ZKJ 14, 348; Pfeiffer JGH als Brücke zwischen JHilfe u. JGerichtsbarkeit, Zbl. 80, 403; Philipp Betreuung durch die JGH, Zbl. 77, 393; Projahn Die psychologisch-pädagogische Diagnostik im Rahmen des JStrafverfahrens, ZJJ 03, 350; Reineke 100 Jahre JGH in Berlin, ZJJ 08, 229; Riekenbrauk Haus des Jugendrechts u. Sozialdatenschutz, ZJJ 11, 74; ders. Die Weitergabe von Daten der JHilfe/JGH durch die JGerichte u. ihre datenschutzrechtlichen Einschränkungen, ZJJ 14, 361; ders. Neuerungen des Sozialdatenschutzes für die JHilfe – auch – im Strafverfahren durch die DatenschutzGrundverordnung (DS-GVO) sowie durch die entsprechenden Änderungen des SGB I und X, ZJJ 18, 146; ders. Das G zur Stärkkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im JStrafverfahren u. seine datenschutzrechtlichen Implikationen für die JGH/JHilfe im Strafverfahren, ZJJ 20, 50; Schaffstein Aufgabe u. verfahrensrechtl. Stellung der JGH, FS Dünnebier 1982, S. 661; ders. JHilfe, JGH u. JGerichtsbarkeit in ihrem wechselseitigen Verhältnis, FS Grünwald, 1999, S. 607; Schenker Die Zusammenarbeit JGH u. Polizei, Zbl. 77, 247; Scherr JGH als professionelle Praxis, ZJJ 11, 175; v. Schlotheim/Ullrich/Meng Praktische JGH, 1961; Scherr JGH als professionelle Praxis – Anforderungen und Konflikte, ZJJ 11, 175; Schrapper Sozialpädagogische Diagnostik – Anforderungen, Konzepte, Bausteine, ZJJ 03, 336; Seidel Die JGH in ihrer Ermittlungsfunktion u. ihr Einfluß auf richterliche Entscheidungen in JStrafverfahren gegen weibliche Jugendliche, 1988; Sontag Die prozessuale Stellung des Gerichtshelfers, NJW 76, 1436; Trede/Wesche J(gerichts)hilfen zwischen fachlichen Herausforderungen u. begrenzten finanziellen Ressourcen – am Beispiel Böblingen, ZJJ 04, 120; Trenczek Die JGH – das (un)bekannte Wesen im Kriminalverfahren, DVJJ-J 99, 151; ders. Was tut die JGH im Strafverfahren, DVJJ-J 99, 375; 00, 44; ders. JHilfe u. Strafjustiz, MKrim. 00, 259; ders. Stellungnahme der JHilfe im Strafverfahren, DVJJ-J 03, 35; ders. Die JGH ist im Umbruch – die Bewertung ihrer Praxis ist ambivalent, ZJJ 03, 141; ders. JGH: Aufgaben u. Steuerungsverantwortung, ZJJ 07, 31; ders. Verantwortungsgemeinschaft in der JStraffälligenhilfe. Zum Verhältnis von JHilferecht und JStrafrecht, ZKJ 10, 142; ders. Unterschiedliche Logiken u. Diskurse – JHilfe im Kontext der strafrecht6lichen Sozialkontrolle, FS Ostendorf, 2015, S. 883; ders. Ist § 38 JGG in

284

Jugendgerichtshilfe

§ 38

Teilen verfassungswidrig? Zur Berichts- u. Anwesenheitspflicht der Fachkräfte des JAmts im jstrafrechtlichen Verfahren, ZJJ 21, 240; Trenczek/Goldberg JKriminalität, JHilfe u. Strafjustiz. Mitwirkung der JHilfe im strafrechtlichen Verfahren, 2016; Trenczek/Mörsberger JGH – Quo vadis?, Zbl. 90, 566; Ullrich Die nachgehende Fürsorge bei strafentlassenen J, RdJ 56, 75; ders. Sinn u. Aufgabe der JGH, Zbl. 70, 97; ders. Fünfzig Jahre JGH sind kein Grund zum Jubilieren, Zbl. 73, 60; ders. Der JGHelfer – Entwurf eines Berufsbildes, Zbl. 71, 253; ders. Wider den Gerichtsgeher, UJ 71, 412; ders. Nochmals: Wer unterschreibt den Ermittlungsbericht?, Zbl. 72, 125; ders. Das ist keine JGH, Zbl. 77, 337; ders. Delegierung – ungelöstes Problem der JGH, Zbl. 80, 216; ders. JGH bei jungen Ausländern, Zbl. 79, 244; ders. Arbeitsanleitung für JGHelfer, 1982; Viet Der Täter-Opfer-Ausgleich als eine Aufgabe der JGH, Zbl. 88, 17; Vieten/Gross Die Anforderungen der Justiz an die JGH, Zbl. 97, 170; Wagner Die Stellung der JGH im JStrafverfahren, JWohl 80, 97; Walkenhorst Zum Verhältnis von JHilfe u. JStrafrechtspflege – Versäulung oder gemeinsamer Förderauftrag, FS Ostendorf, 2015, S. 901; Walter Die ermittelnden, berichtenden u. beratenden Aufgaben der JGH, Zbl. 73, 485; ders. Organisation des Jugendamtes: JGH, 1976; Webers Datenschutz in der öffentlichen JGH, 2005; Werner Die Persönlichkeitserforschung im JStrafverfahren, 1967; Weyel Der Einfluß der JGH auf Sanktionsentscheidungen, BewH 88, 313; ders. Haftentscheidungshilfe durch die JGH, Zbl. 92, 29; ders. Das einsame Siechtum der JGH in Deutschland, DVJJ-J 96, 246; ders. Qualität in der JGH u. die Möglichkeit der Selbstevaluation, Zbl. 00, 46; Wiesner 20 Jahre KJHG – Zur Zusammenarbeit von JHilfe u. JGericht, FS Heinz, 2012, S. 531; Wilbrand/Unbehend Praxisleitfaden für die JGH, 1995; Wild JGH in der Praxis, 1989; Zach JHilfe u. Strafjustiz – Streitthema ohne Ende?, DVJJ-J 96, 251.

Übersicht 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

Aufgabe 1 4 Träger 6 Mitwirkung im Verfahren 8 Betreuung und Hilfe 13 Unterrichtung vom Haftbefehl 19 In der Hauptverhandlung 28 Persönlichkeitserforschung 28a Bericht Verwertung des Berichts in der Hauptverhand34 lung

10. 11. 12. 13. 14. 15.

Kein Zeugnisverweigerungs37 recht 41 Überwachende Tätigkeit 42 Nachgehende Betreuung 43 Die Heranwachsenden Der Datenschutz des 47 SGB VIII Arbeit der Polizei und der Sozialarbeiter im Vorfeld; Krisen49 intervention

1. Aufgabe Ohne gute JGH könnten die JGerichte ihre Aufgaben nicht erfüllen. Durch Aufklärung und Vor- 1 trag der erz., sozialen und sonstigen für die JHilfe bedeutsamen Gesichtspunkte (Rn 28) schafft die JGH die Voraussetzungen für gezielte Anwendung des JGG als Täterstrafrecht (Einf. 17, 107; § 43, 3)1. Weiter hilft die JGH dem J (Rn 8–12, 42) und bereitet durch Unterstützung und Betreuung, Beratung und Leitung des J, aber auch durch seine Überwachung und durch Zusammenarbeit mit der BewHilfe (Rn 41) den Boden für den Erfolg der vom JGericht getroffenen Maßnahmen. Somit hilft die JGH gleichzeitig dem Gericht und dem Täter2. Die JGH ist aber weder Gehilfe der Polizei oder der JStA noch Verteidiger oder Vertreter des J oder dessen ErzBerechtigter3.

1 Momberg Diss. 1982, S. 40. 2 BGH NJW 05, 766; OLG Frankfurt NStZ-RR 96, 251; Dallinger/Lackner 5; Schaffstein FS Grünwald, 1999, S. 609 ff; Wilbrand/Unbehend S. 6.

3 Dirnaichner Der nordamerikanische Diversionsansatz, 1990, S. 176. 285

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In der neueren Diskussion um die JGH wird diese verstärkt als Organ der JHilfe gesehen und deren Abgrenzung von der Justiz gefordert4. Es wird von JHilfe im Strafverfahren statt von JGH gesprochen. Die Aufgaben der JGH werden in der Unterstützung der j. Beschuldigten, dem Angebot von Leistungen der JHilfe und dem Hinwirken auf eine aus der Sicht von Sozialpädagogik und JHilfe sachgerechte Erledigung des JStrafverfahrens gesehen, nicht in „Dienstleistungen“ für die Justiz5. Nach DSS/Sonnen6 bedeutet JHilfeorientierung der JGH u.a. Verselbständigung und häufig Parteilichkeit für junge Menschen und Konfliktbereitschaft auch gegenüber der Justiz. Nach Zach7 soll sich die JGH als „eine Sozialanwaltschaft bzw. auch als ein Systemfehler in der Bannmeile der JStrafjustiz“ verstehen. – Im geltenden Recht kommt der Auftrag der JGH zur JHilfe vor allem dadurch zum Ausdruck, dass sie Leistungen der JHilfe für die j. Beschuldigten prüft und ggf. in die Wege leitet (§ 52 II SGB VIII) und die Gesichtspunkte der Sozialpädagogik und JHilfe in das JStrafverfahren einbringt, ua durch Betreuung der J und Hw. und durch den Reaktionsvorschlag (§ 38 II). Die JGH hat aber auch durch sorgfältige und möglichst objektive Ermittlung und Berichterstattung zur Persönlichkeit des jungen Beschuldigten die justizielle Entscheidung vorzubereiten (§ 38 III)8 und außerdem an deren Umsetzung mitzuwirken (§ 38 V). Insoweit ist die JGH in die Aufgaben der JStrafrechtspflege eingebunden. Es ist zweifelhaft, ob ein Wegfall dieser Einbindung de lege ferenda für die J und Hw. von Vorteil wäre9. Für diese derart umschriebene, wichtige und neutrale Aufgabe ist die JGH als bes. Instituti3 on geschaffen (Rn 4), die als Prozessorgan eigener Art10 eine bedeutsame Rechtsstellung im Verfahren gegen J und Hw. hat (Rn 11); auf ihre Mitwirkung kann nur nach Maßgabe von Abs. VII verzichtet werden (s. auch § 104, 5). Dieser bedeutsamen Stellung der JGH entspricht ihre Konzeption als eigenständige, selbstverständlich auch gegenüber der Justiz selbständige, spezialisierte JGH11. Zur Mitwirkung der JGH bei Straftaten von Hw. Rn 43–46; bei jungen Ausländern Einf. 49. Die seit 1994 geltenden RL zu § 50 haben zwar die Formulierung der früheren RL 5 zu § 50 nicht übernommen, wonach der Vertreter der JGH „in der Hauptverhandlung weder als Gehilfe der StA noch als Verteidiger oder Vertreter des J oder seines ErzBerechtigten“ auftritt. Hierdurch sollte jedoch nicht an der neutralen Stellung und Aufgabe der JGH12 gerüttelt werden. Der die JGH regelnde § 38 ist durch das G zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im JStrafverfahren v. 9.12.2019 (dazu Einf. 136) zur Anpassung an Artikel 7 der Richtlinie (EU) 2016/800, der eine individuelle Begutachtung des j. Beschuldigten vorsieht, überarbeitet worden.

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2. Träger 4 Die JGH ist Pflichtaufgabe des JAmtes, sollte dort aber eigenständig und weithin selbstverantwortlich arbeiten können. Das JAmt wirkt mit den Vereinigungen der (freien, privaten) JHilfe zusammen (Abs. I). Diese haben damit ein Recht auf Beteiligung und Mitwirkung. Das JAmt 4 Vgl. zu den verschiedenen Standpunkten Arbeitsgruppe JGH in der DVJJ: JGH – Standort u. Wandel, Zbl. 90, 554; BMJ, Hrsg., JGH – Quo vadis?, 1991; die Berichte über die Bundeskongresse der JGH, DVJJ-J 91, 327; 95, 7; 97, 224; 00, 213; ZJJ 03, 311; 06, 220; 09, 267. 5 Vgl. MMT/Trenczek § 52 SGB VIII Rn 4, 11, 22; Klier/Brehmer/Zinke S. 15 ff. 6 15. 7 DVJJ-J 96, 251. 8 Brachold S. 10, 26; Miehe in Jugendstrafrecht an der Wende, S. 150. 9 Dölling in DVJJ, Hrsg., J im sozialen Rechtsstaat, 1996, S. 425 ff. 10 BGH NJW 05, 766; OLG Frankfurt NStZ-RR 96, 251; MK-StPO/Höffler § 38 JGG 10; krit. MMT/Trenczek § 52 SGB VIII Rn 4, 14; Gundelach StraFo 19, 45. 11 Dazu Brunner Zbl. 72, 321; Ullrich Arbeitsanleitung, 1982, S. 21; Momberg 1982, S. 317; Ostendorf DVJJ-J 97, 242; ders. ZKJ 14, 351; Weyel DVJJ-J 96, 259; Wild 1989, S. 49, 50, 206; Schaffstein FS Grünwald, 1999, S. 612 ff. 12 Brachold S. 26. 286

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kann im Rahmen des JGG die Geschäfte der JGH auf die freien Vereinigungen widerruflich übertragen, behält aber auch dann die Verantwortung für eine sachgemäße Erledigung; eine Pflicht zur Übertragung einzelner Aufgaben besteht nicht. Bei schwerer Kriminalität und wenn Widerstand zu erwarten ist, sollte nicht übertragen werden, weil die JGH hoheitliche Befugnisse und auch die größere Autorität hat. Die örtliche Zuständigkeit des JAmts richtet sich nach § 87b iVm §§ 86 I bis IV und 86a I 5 und III SGB VIII. Danach ist grds. bei J der gewöhnliche Aufenthalt der Eltern und bei Hw. deren gewöhnlicher Aufenthalt maßgeblich13. Andere JÄmter können im Wege der Amtshilfe gehört werden14. Bei Geburt im Ausland und fehlendem Aufenthalt im Inland ist nach § 88 I 2 SGB VIII das Land Berlin zuständig15.

3. Mitwirkung im Verfahren Die JGH muss immer (Ausnahme: Rn 26) so früh wie möglich (dazu Rn 10) und für das ganze 6 Verfahren eingeschaltet werden (Abs. VI 1, 2; § 43 RL 6)16, auch und bes. bei jungen Ausländern (Einf. 49)17 und bei Hw., auch wenn sie zwischenzeitlich erw. sind (Rn 43–46). Nach § 70 II muss die JGH spätestens zum Zeitpunkt der Ladung des J zu seiner ersten Vernehmung als Beschuldigter von der Einleitung des Verfahrens unterrichtet werden, bei einer „Spontanvernehmung“, also einer Vernehmung ohne vorherige Ladung, spätestens unverzüglich nach der Vernehmung. Zuständig für die Mitteilung ist gem. Nr. 4 Abs. I Nr. 1 MiStra die StA, praktisch erfolgt die Information der JGH idR durch die Polizei18. Was sollte es sonst besagen, dass die StA nach RL 6 zu § 43 auf die Verständigung des JAmtes hinwirkt, sobald der Stand der Ermittlungen dies erlaubt. Wenn das Verfahren bereits bei ihr ist, „wirkt“ sie nicht „darauf hin“, sondern verständigt sie das JAmt. Die StA sollte von der Polizei die gleiche Mitteilung erhalten, um eine klare Lage zu schaffen. Nach Nr. 3. 2. 7 der bundeseinheitlichen Polizeidienstvorschrift PDV 38219 unterrichtet die Polizei das JAmt unverzüglich, wenn erkennbar wird, dass Leistungen der JHilfe in Frage kommen, was uU vor dem Zeitpunkt des § 70 II der Fall sein kann20. Nach empirischen Untersuchungen21 wurde die JGH bisher überwiegend erst von der JStA durch Übersendung eine Kopie der Anklage oder des Antrags auf Entscheidung im vereinfachten JVerfahren informiert. Diese Praxis ist mit § 70 II nicht vereinbar. Wenn eine Einschaltung der JGH vor dem Zeitpunkt des § 70 II in Betracht gezogen wird, will bedacht sein, dass ein in Verdacht geratener Unschuldiger vor voreiligen Eingriffen in seine Privatsphäre bewahrt werden muss (vgl. § 43, 21)22. In solchen Fällen muss abgewogen werden. Verspätete Einschaltung der JGH wiederum kann die Aufklärungsrüge begründen23. Bei Haftbefehlen wird die gebotene frühzeitige Verständigung der JGH durch § 72a sichergestellt (dazu Rn 13). Vgl. § 43, 21. Zentrale Aufgaben der JGH sind die Erforschung von Persönlichkeit, Entwicklung und des 7 familiären, sozialen und wirtschaftlichen Hintergrundes des Beschuldigten (Rn 28)24, der 13 Eisenberg/Kölbel 83; Ostendorf/Sommerfeld 6; Kiehl DVJJ-J 97, 39; Laubenthal 1993, S. 43; näher Eschelbach ZJJ 21, 143; für Zuständigkeit des JAmts des Gerichtsbezirks in entsprechender Anwendung von § 143 GVG nach altem Recht Becker NJW 54, 337; Dallinger/Lackner 17. 14 Eisenberg/Kölbel 83; Kiehl aaO, 42. 15 Sommerfeld ZJJ 10, 404. 16 BGH 27, 250. 17 BGH H MDR 80, 456; BGH StV 82, 337. 18 Eisenberg/Kölbel § 72, 18a. 19 Abgedruckt in DVJJ-J 97, 5. 20 Eisenberg/Kölbel § 72, 18. 21 Heinz BewH 88, 280 mwN; Trenczek MKrim. 00, 271. 22 Wild S. 59 mwN. 23 BGH StV 82, 336. 24 BGH NJW 05, 766. 287

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schriftliche Bericht über deren Ergebnis (Rn 28a-33) und Mitwirkung und Vortrag in der Hauptverhandlung (Rn 19–27, bes. 20). Weitere wesentliche Aufgaben sind: Beratung des Gerichts bei Weisungen und Auflagen (Abs. II 2 u. VI 3; vgl. Rn 10); Äußerung insbes. bei der Auswahl des Betreuungshelfers (Abs. VI 3 HS 2; § 10, 19); falls der Richter nicht eine andere Person als Betreuungshelfer bestellt hat, Übernahme von Betreuung und Aufsicht (Abs. V 3); Überwachung der Weisungen und Auflagen, falls nicht ein BewHelfer die Erfüllung überwacht (Rn 41); beschleunigte Nachforschungen in Haftsachen und Informierung des JRichters (dazu Rn 13 u. 14); Vorbereitung und Hilfe bei möglicher informeller Erledigung (Diversion; §§ 45, 47; vgl. § 45, 16), bei Absehen von der Anklageerhebung in BtM-Sachen (vgl. § 45, 53) und der Zurückstellung der Strafvollstreckung in BtM-Sachen (vgl. § 17, 40). Im Übrigen soll die JGH möglichst weitgehend herangezogen werden, auch wenn das nicht ausdrücklich vorgeschrieben ist (z.B. bei der Änderung von Weisungen, § 11 RL 1). Dabei müssen JGH, JGericht und JStA möglichst eng und vertrauensvoll zusammenarbeiten. Nur so kann die JGH ihre wichtige Aufgabe voll erfüllen, ohne dass das Verfahren über Gebühr verzögert wird (§ 43, 21). Die erwünschten mündlichen Besprechungen zwischen JGH, JStA und JRichter dürfen natürlich nicht dazu dienen, schon vor der Hauptverhandlung eine bestimmte Meinung zu erarbeiten25, also offene, auch gegensätzliche Aussprache, aber keine Mauschelei.

4. Betreuung und Hilfe 8 Gleichrangig neben der Mitwirkung im Verfahren und den Aufgaben der JStA und dem JGericht gegenüber stehen die Betreuung und Hilfe für in Straftaten verwickelte junge Menschen26, wobei allerdings die in diesem Zusammenhang häufig gewählte Bezeichnung „Klient“ eine etwas emotionale Gewichtung und unnötige Dramatisierung von Rollenkonflikten befürchten lässt27. Offenheit, Klarheit und Wahrheit von der ersten Begegnung an kann, wie vielfache Erfahrung zeigt, gerade das Vertrauensverhältnis aufbauen, welches Hilfe möglich und fruchtbar macht (vgl. Rn 12, 37). Der junge Mensch, auf den ein Strafverfahren zukommt, ist in einer außerordentlichen Situation, die Hilfe fordert und sozialpädagogischen Erfolg verspricht28. Der JGHelfer kann und muss auf die aktuelle Lebenssituation, auch auf das soziale Umfeld eingehen. Hierzu gehören das ruhige Gespräch, das seine Zeit fordert, vor allem aber die Erhaltung oder Wiederherstellung des Kontaktes zu Eltern, ErzBerechtigten oder anderen Bezugspersonen, Vermittlung von Wohnung, anderweitige Unterbringung, Mitsorge für Ausbildung, Arbeit und Schuldenregelung. Dazu kommen Hilfen, die einen drohenden Haftbefehl vermeidbar machen können. Neben der Verpflichtung, in Haftsachen beschleunigt zu berichten (Abs. III 2; dazu Rn 13 u. 14), sind gerade für junge UHäftlinge Hilfen durch den JGHelfer (Besuche § 72b iVm § 148 StPO) notwendig und bes. erfolgreich. Ganz wichtig ist die Vorbereitung auf die Hauptverhandlung (dazu Einf. 112; § 50, RL 3 S. 1)29 und auf zu erwartende Rechtsfolgen30. Viele Hilfen sind eng verflochten mit den Pflichtaufgaben der Justiz gegenüber; das 9 sollte man auch sehen und nicht nur Konflikte in den Vordergrund drängen. Diese Hilfsfunktion wird auch dadurch deutlich, dass der JGHelfer von Amts wegen die Betreuung und Aufsicht bei Unterstellung unter einen Betreuungshelfer ausübt, falls nicht der JRichter, wiederum unter Mithilfe des JGHelfers (Abs. VI 3 HS 2), eine andere Person damit betraut (Abs. V 3). Stets berät er den JRichter kraft Gesetzes bei der Auswahl (Abs. VI 3 HS 2; näher § 10, 19). Diese Verflech25 Roestel Zbl. 65, 5. 26 BGH NJW 05, 766; Schaffstein FS Dünnebier, 1982, S. 666. 27 Dazu John Zbl. 82, 10; Walter Zbl. 73, 485; Eisenberg/Kölbel 55, die auf die Antinomie zwischen Strafverfolgung als [idR] einem [reaktiven] Angriff auf den J u. der Hilfe als Ausdruck von „Schutz und Förderung“ hinweisen.

28 Vgl. Bucher Zbl. 87, 33. 29 Berg RdJ 64, 103; Brunner FS Böhm, 1999, S. 801. 30 Peters JWohl 51, 275. Zur Mitarbeit von Psychologen in der JGH s. Altner DVJJ-J 00, 302. 288

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tung wird auch sichtbar bei dem Versuch, die Eltern oder ErzBerechtigten zu erz. Maßnahmen anzuregen, die der JStA die Einstellung des Verfahrens erlauben (§ 45 II; für den Richter § 47 I Nr. 2). Auf der gleichen Linie liegt die Vorbereitung des J auf eine informelle Erledigung des Verfahrens (§ 45, 23, 32; Einf. 107) und die Unterrichtung der JStA über individuell geeignete faktische Möglichkeiten für Auflagen. Das gilt ganz allg. auch für den Nachweis geeigneter Stellen für Arbeitsweisungen (§ 10, 13), für Hilfe bei Entziehungskuren (§ 10, 40) und heilerz. Behandlung (§ 10, 36). Dazu gehört auch die Auslotung und Anbahnung eines Täter-Opfer-Ausgleichs (§ 10, 24; § 45, 11), um dem Beschuldigten hierdurch günstige Möglichkeiten zu eröffnen31. Hilfen für ein Absehen von der Anklageerhebung in BtM-Sachen (§ 45, 56) und für eine Zurückstellung der Strafvollstreckung in BtM-Sachen (§ 17, 40), etwa durch Besorgung eines Therapieplatzes, durch Erzeugung oder Stärkung der Motivierung und Beistand beim Durchhalten und bei den notwendigen Nachweisen sind ebenfalls zu nennen32. Selbst die Überwachung kann zugleich Hilfe sein (näher Rn 41). Zu Hilfen für junge Ausländer Einf. 48 ff. Bei Hw., auch noch bei inzwischen Erw.33, gehen die erz. Hilfen der JGH mehr in Sozialisationshilfen über (dazu Rn 43 aE). Zur Problematik der Betreuung von HIV-Positiven u. Aidskranken § 24, 8. Zur nachgehenden Betreuung (Rn 42) ist der Übergang fließend. Zur umstrittenen Zusammenarbeit mit der Polizei u. Hilfen vor Ort Rn 49–51. Auch § 52 I 1 SGB VIII verpflichtet das JAmt, die JGH also, nach Maßgabe der §§ 38, 50 III 10 2 JGG im Verfahren nach dem JGG mitzuwirken. Nach § 52 I 2 u. 3 SGB VIII soll die JGH dabei mit anderen Stellen zusammenarbeiten. Der Mitarbeiter des JAmtes oder eines anerkannten Trägers der freien JHilfe, der nach § 38 II 2 JGG tätig wird, ist nach § 52 III SGB VIII gehalten, den J oder den Hw. während des gesamten Verfahrens zu betreuen. Dieser Auftrag zur Hilfe (Rn 8 u. 9) verpflichtet die JGH, frühzeitig zu prüfen, ob für den J oder Hw. Leistungen der JHilfe nach dem SGB VIII in Betracht kommen (§ 52 II 1 SGB VIII). Dem JAmt stehen dazu die gesamten Hilfen des SGB VIII nach dessen Voraussetzungen und Begrenzungen zur Verfügung. Zu diesen Hilfen für J u. Hw. im Einzelnen § 45, 29. Dies setzt voraus, dass die JGH so früh wie möglich von Ermittlungen gegen einen J oder Hw. unterrichtet wird (Rn 6). Kommen Leistungen der JHilfe in Betracht oder ist eine geeignete Leistung bereits eingeleitet oder gewährt worden, hat die JGH nach § 52 II 2 SGB VIII den StA oder Richter umgehend davon zu unterrichten, damit geprüft werden kann, ob ein Vorgehen nach §§ 45, 47 möglich ist (vgl. dazu § 45, 23 ff). Frühzeitige Prüfung der Möglichkeit, Hilfen nach dem SGB VIII einzusetzen, und Unterrichtung des StA oder Richters kann auch der Wahl des gerichtlichen Verfahrens (§§ 76 ff) und der Vermeidung von UHaft dienen (vgl. Rn 13, 14). Um die Mitwirkung der JGH sicherzustellen, hat sie bestimmte Verfahrensrechte. Die JGH 11 darf mit Verhafteten mündlich und schriftlich verkehren (§§ 72b JGG, 148 StPO; vgl. Rn 13 u. 14), kann in der nicht öffentlichen Hauptverhandlung, deren Zeit und Ort ihr mitzuteilen sind (§ 50 III 1; Rn 19; § 50, 12), anwesend sein (§ 48 II) und das Wort ergreifen (§ 50 III 2; dazu Rn 21; § 50, 14). Zur Ausschließung des J und von Angehörigen von der Hauptverhandlung im Interesse der Arbeit der JGH: § 51, 2 u. 8. Sie soll möglichst schnell von der Tat unterrichtet werden (§ 43 RL 6 S. 2; Rn 6). Von der Vollstreckung eines Haftbefehls muss sie unverzüglich unterrichtet werden (§ 72a 1 HS 1; Rn 13), schon der Erlass eines Haftbefehls soll möglichst mitgeteilt werden (§ 72a 1 HS 2; Rn 14); vor der Erteilung von Weisungen ist sie zu hören (Abs. VI 3 HS 1; vgl. Rn 9), und auch zur Person des Betreuungshelfers soll sie sich äußern (Abs. VI 3 HS 2). Im Übrigen hat sie das Recht auf laufende Mitteilungen (§ 70 JGG, Nr. 32 MiStra). Es sollte im Interesse des J und der abschließenden Entscheidung lieber eine Mitteilung – beiderseits – zu viel, lieber eine nicht vorgeschriebene Anhörung mehr erfolgen, als eine Möglichkeit, das Richtige zu treffen, zu verspielen. 31 Vgl. Viet Zbl. 88, 17. 32 Zur Drogenhilfe als Aufgabe des JAmtes Hubert Zbl. 96, 502; Ziegler Zbl. 97, 177; zur Zusammenarbeit zwischen Straffälligenhilfe u. Drogenhilfe Meyer BewH 97, 168. 33 BGH StV 82, 336 mit zust. Anm. Gatzweiler. 289

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Die Betreuung und Hilfe für den J hat große Bedeutung (Rn 8–10). Wenn aber Hauber34 de lege ferenda eine gewisse Annäherung der JGH an die Stellung des Beistandes (§ 69) befürwortet und sich davon erweiterten Rechtsschutz, verbesserten ErzProzess und Aufwertung der Stellung des JGHelfers verspricht, so kann dem nicht gefolgt werden; ebenso Schaffstein35, der die JGH als „Sozialanwalt“ oder eine Art von Beistand auch de lege ferenda nicht für wünschenswert hält. Man sollte dem JRichter nicht Sorge wegen „Kompetenzbeschneidung“36 unterstellen und meinen, er betrachte den JGHelfer als „willfährigen Ermittlungshelfer“37, wenn er die Mitwirkung der JGH für unverzichtbar, aber zugleich, entsprechend der klaren gesetzlichen Definition als Prozessorgan eigener Art (Rn 3) und der Bewährung solcher „neutralen“ Hilfe in der Praxis, deren freie Stellung im Interesse gerade des J und des Gelingens erz. Einwirkung bewahrt wissen will. Es muss bezweifelt werden, ob eine derartige Wendung die Wirksamkeit der JGH im Verfahren, auch die notwendige Persönlichkeitsaufklärung, fördern und damit letztlich dem J nutzen könnte (vgl. Rn 2).

5. Unterrichtung vom Haftbefehl 13 Die JGH ist unverzüglich von der Vollstreckung eines Haftbefehls zu unterrichten (§ 72a S. 1 HS 1 u. RL; vgl. auch Nr. 32 MiStra). Diese zwingende Vorschrift gewährleistet die möglichst frühzeitige Einschaltung der JGH (Rn 6) und soll deren rasche Hilfe sichern, um mit möglichst vollständigen Erkenntnissen über die Persönlichkeit des Beschuldigten und seine Umwelt die UHaft iSd Subsidiaritätsgrundsatzes (Einf. 102–105) aufzuheben oder wenigstens abkürzen zu können oder Möglichkeiten der Haftverschonung aufzutun (§ 72, 4; auch 2). Zugleich wird die JGH als Hilfe für den Beschuldigten eingeschaltet (dazu Rn 8). Der JGH soll bereits der Erlass eines Haftbefehls mitgeteilt werden (§ 72a S. 1 HS 2 u. RL). 14 Bei Vorführung vor den Ermittlungsrichter fallen Erlass und Vollzug idR zusammen. Bei Erlass eines Haftbefehls und gleichzeitiger Außervollzugsetzung wird stets diese Mitteilung zu machen sein. Wo eine Mitteilung bereits bei Erlass eines Haftbefehls gemacht wird, können rasche und gründliche Nachforschungen der JGH uU noch vor dessen Vollzug zur Aufhebung oder zumindest zur Außervollzugsetzung führen und den J vor UHaft bewahren. Dazu § 72, 2 u. 4. Bereits von der vorläufigen Festnahme eines J ist die JGH zu unterrichten, wenn nach dem 15 Stande der Ermittlungen zu erwarten ist, dass der J gem. § 128 StPO dem Richter vorgeführt wird (§ 72a S. 2 u. RL). Diese Mitteilung ist zwingend, um der JGH rasche Einschaltung zu ermöglichen (vgl. Rn 14 zum Erlass); erwarten ist mehr, als damit rechnen müssen. Dies alles wird man auch für den Sicherungshaftbefehl nach § 453c StPO gelten lassen 16 müssen, vor allem, wenn die Unterstellung unter einen BewHelfer abgelaufen ist (§ 24 I 1; vgl. auch Nach § 60, 4). Gerade in diesem Bereich können gründliche Ermittlungen Leerlauf vermeiden und den J entlasten. Diese Mitteilungen wird die StA oder der JRichter anordnen, der den Haftbefehl erlässt 17 (RL zu § 72a). Der Sicherstellung der Ausführung wird ein – vorgedruckter – Vermerk auf dem Haftbefehlsformular dienen. Für den Fall der vorläufigen Festnahme werden Regelungen getroffen werden müssen. Es bietet sich an, die Polizei zu verpflichten, die StA zu verständigen, die dann ggf. die JGH informiert. Die Verletzung der Mitteilungspflicht nach § 72a S. 1 führt nicht zur Aufhebung des Haftbefehls, wenn eine Auswirkung der Pflichtverletzung auf die Haftentscheidung ausgeschlossen ist38.

34 35 36 37 38

Zbl. 80, 517. FS Dünnebier, 1982, S. 666. Hauber ZBl. 80, 518. Hauber aaO. BGH NStZ 18, 665, 666 mit Anm. Eisenberg. 290

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Diesem Recht auf Mitteilung (Rn 13) und dem Recht, mit dem Inhaftierten mündlich und 18 schriftlich zu verkehren (§ 72b; § 148 StPO), steht die Verpflichtung der JGH gegenüber, beschleunigt über ihre Nachforschungen zu berichten (Abs. III 3), sie natürlich auch bevorzugt und gründlich durchzuführen39. Insbes. sollen Alternativen zur Vermeidung von UHaft dargetan werden, wie etwa zuverlässige Hilfe durch die Eltern, ausreichende Meldepflichten, helfende Verbindung zu Vertrauenspersonen, geeignete und ausreichende Weisungen, wie Aufenthaltsbeschränkungen, Weisungen, einen bestimmten Aufenthalt zu nehmen, Abgabe der Fahrerlaubnis, der Personalpapiere oder geeignete Heimunterbringung (insges. zu Rn 13–18 vgl. § 72a, 1–4). Zur Ausstattung der JGH insbes. im Hinblick auf die Haftentscheidungshilfen § 72a, 1 aE40.

6. In der Hauptverhandlung In die Hauptverhandlung soll der Vertreter der JGH entsandt werden, der die Nachforschun- 19 gen angestellt hat (Abs. IV 4). Denn dieser kennt den Angeklagten, ihm vertraut dieser, und nur der ermittelnde JGHelfer ist in der Lage, auch über jüngste, uU wesentliche Entwicklungen zu unterrichten. Es handelt sich zwar nur um eine Sollvorschrift, ihre Nichtbeachtung kann aber die Aufklärungspflicht verletzen (vgl. allg. Rn 22). Deshalb muss nach § 50 III 1 der JGH Ort und Zeit der Hauptverhandlung rechtzeitig mitgeteilt werden (näher § 50, 12). Ist diese Mitteilung unterblieben und ohne Vertreter der JGH verhandelt worden, verfällt das Urteil der Revision (zu mehrtägigen Sitzungen § 50, 13; Ausnahmen Rn 26)41. Das gilt auch, wenn sich der für den Mitangeklagten erschienene JGHelfer kurz äußert, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass der zuständige JGHelfer durch seinen Vortrag die Bemessung der Strafe zugunsten des Angeklagten hätte beeinflussen können42. Einen Vertreter des JGHelfers, der ermittelt hat, wird man dann akzeptieren können, wenn er sich angemessen mit dem Fall vertraut gemacht, vor der Hauptverhandlung zumindest das Notwendigste mit dem Angeklagten besprochen hat und auch über letzte Entwicklungen orientiert ist43; gerade in einfacher gelagerten und nach der Persönlichkeit „klaren“ Fällen kann der Beschleunigungsgrundsatz eine solche Lösung empfehlen und rechtfertigen. Der viel beredete „installierte Gerichtsgeher“ aber kann keinesfalls toleriert werden. In der öffentlichen Anhörung vor dem Rechtsausschuss des Bundestages am 16.2.1990 hat Klier Abs. IV 4 als Schritt in die richtige Richtung bezeichnet, aber hinzugefügt, die Stellung des JGHelfers bleibe marginal, solange das Gesetz nicht von der Vertreterformel abrücke44. Es kann aber das sog. Regionalprinzip entschärfen, nämlich die vereinbarte Zuständigkeit des JRichters, des JStA, der JGH und des BewHelfers für den gleichen Bezirk, wo dies machbar ist. Auch § 52 III SGB VIII versucht, den „Gerichtsgeher“ auszuschließen. Nach dem durch das G zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im JStrafverfah- 20 ren v. 9.12.2019 zur Umsetzung von Art. 7 Abs. VII und VIII der Richtlinie (EU) 2016/80045 eingefügten Abs. IV 1 besteht eine grds. Pflicht der JGH zur Teilnahme an der Hauptverhandlung. Der frühere Streit über eine Teilnahmeverpflichtung der JGH46 ist damit durch den Gesetzgeber ent-

39 Vgl. Heinz BewH 87, 5; Matenaer Zbl. 83, 21; 85, 158 u. BewH 87, 41; Reinicke BewH 87, 35; Dünkel ZfStrVo 85, 340; Eberitzsch ZJJ 12, 296.

40 Zu Möglichkeiten für ein schnelles Reagieren der JHilfe s. Arbeitsstelle Kinder- u. JKriminalitätsprävention, Hrsg., Schnelle Reaktion, 2001. BGH NStZ 82, 257. BGH StV 89, 308. Brunner Zbl. 72, 321, 323; Wild 1989, S. 174. DVJJ Rundbrief März 1990, S. 13. Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 48. Vgl. dazu Voraufl. Rn 28.

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schieden worden47. Das JGericht kann aber gem. Abs. VII 1 auf Antrag der JGH auf deren Teilnahme an der Hauptverhandlung verzichten, soweit dies auf Grund der Umstände des Falles gerechtfertigt und mit dem Wohl des J vereinbar ist. Das JGericht entscheidet über den Verzicht nach pflichtgemäßem Ermessen. Es kommt darauf an, ob auch ohne Mitwirkung der JGH eine bestmögliche Verfahrenshandhabung und -erledigung erfolgen kann48. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass nach § 50 Abs. III 3 unter den Voraussetzungen des § 38 VII 1 ein schriftlicher Bericht der JGH in der Hauptverhandlung verlesen werden kann und diese Möglichkeit im Einzelfall eine Befreiung der JGH von der Teilnahmepflicht rechtfertigen kann49. Der Verzicht ist der JGH und den weiteren Verfahrensbeteiligten gem. Abs. VII 2 möglichst frühzeitig mitzuteilen, wodurch Gegenvorstellungen ermöglicht werden50. Nach Abs. VII 4 kann der Verzicht auf Teile der Hauptverhandlung beschränkt werden, was bei Verhandlungsteilen in Betracht kommt, die im Hinblick auf die Aufgaben der JGH im konkreten Falle nicht von Bedeutung sind51. Der Verzicht kann gem. Abs. VII 5 auch während der Hauptverhandlung erklärt werden und bedarf in diesem Fall keines Antrages. Ein erklärter Verzicht kann zurückgenommen werden52. Er muss dies, wenn sich im Verlauf der Hauptverhandlung zeigt, dass die Mitwirkung der JGH erforderlich ist. Trotz eines Verzichts hat die JGH weiterhin das Recht, an der Hauptverhandlung teilzunehmen53. Zu den kostenrechtlichen Folgen des Ausbleibens der JGH s. § 50, 12. 21 Die JGH hat in der Hauptverhandlung nicht das Recht, Fragen oder Beweisanträge zu stellen54 und Rechtsmittel einzulegen55. Natürlich kann die JGH Anregungen geben, und der Richter kann ihr im Einzelfall auch gestatten, den Angeklagten direkt zu befragen. Akteneinsicht der JGH kommt nach § 474 II, III StPO in Betracht. Es ist auch nicht Sache der JGH, j. Zeugen über die Bedeutung des Zeugnisverweigerungsrechts zu belehren56, wenn sich auch der Vorsitzende durch sie unterstützen lassen darf57. Wird die JGH nicht herangezogen, obgleich ihre Mitwirkung vorgeschrieben ist (Abs. VI 1, 22 § 50 III 1), liegt allein darin ein Verfahrensverstoß iSd § 337 StPO, auf dem das Urteil idR beruht58. Zumeist wird mit §§ 38 VI 1 und 50 III 1 zugleich die Aufklärungspflicht (§ 43, § 244 II StPO) verletzt59 (dazu auch Rn 20; § 43, 4; § 50, 12). Für Hw. § 50, 13; für j. Ausländer Einf. 49. Teilweise wird bei unzulässiger Nichtheranziehung der JGH ein absoluter Revisionsgrund nach § 338 Nr. 5 StPO angenommen60. Hiergegen bestehen jedoch Bedenken, weil die Anwesenheit der JGH nicht erzwingbar und ggf. verzichtbar ist. Wegen der bes. Bedeutung folgende Einzelfälle aus der Rechtsprechung: Selbst wenn der 23 Bericht des JGHelfers über den Sachverständigen verwertet und auf den Hw. JStrafrecht ange47 Vgl. aber Trenczek ZJJ 21, 240, 244 u. MMT/Trenczek § 52 SGB VIII Rn 53, nach dem der „Durchgriff“ der Strafjustiz auf das JAmt durch Berichts- u. Anwesenheitspflichten gegen das kommunale Selbstverwaltungsrecht nach Art. 28 II GG verstößt. 48 Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 50. 49 AaO, S. 49. 50 AaO, S. 51. 51 AaO. 52 AaO. 53 AaO, S. 50. 54 OLG Frankfurt NStZ-RR 96, 251; Eisenberg/Kölbel 41; Ostendorf/Schady § 50, 14. 55 OLG Frankfurt aaO; Eisenberg/Kölbel 46. 56 BGH 9, 197. 57 Potrykus NJW 57, 1137. 58 BGH 6, 356; 27, 250; BGH bei Dallinger MDR 56, 146; BGH bei Herlan GA 61, 358; BGH H MDR 80, 456; BGH StV 82, 27; 336; 93, 536; 01, 172; BayObLG bei Rüth DAR 71, 207; OLG Hamburg GA 58, 57; OLG Saarbrücken NStZ-RR 99, 284; Dallinger/Lackner 54; DSS/Sonnen 38; Eisenberg/Kölbel 86; Ostendorf/Sommerfeld 29; Beulke/Swoboda Rn 690. Zu einem Ausnahmefall, in dem das Beruhen ausgeschlossen war, BGH B NStZ-RR 00, 323. 59 BGH EJF C I 1; BGH 27, 250 = JR 78, 175 mit zust. Anm. Brunner; BGH StV 89, 308; BayObLG bei Rüth DAR 71, 207; OLG Stuttgart OLGSt § 50 S. 3; OLG Karlsruhe MDR 75, 422; LG Bonn NStZ 86, 40. 60 Eisenberg/Kölbel 88; Ostendorf/Sommerfeld 30; Höynck/Ernst ZJJ 20, 254. 292

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wendet wird, rechtfertigt es die Revision, wenn dem Vertreter der JGH Ort und Zeit der Hauptverhandlung nicht mitgeteilt wurden und er deshalb in der Hauptverhandlung nicht anwesend war; denn es könnte dadurch die Entscheidung über die Strafhöhe beeinflusst sein61. Nimmt der JGHelfer am 1. Sitzungstag frei und wird dann die Verhandlung wegen dessen Erkrankung ohne JGH zu Ende geführt, steht dies unterbliebener Ladung gleich62. Ein Verfahrensverstoß liegt auch vor, wenn statt der JGH die Gerichtshilfe unterrichtet wird63. Auch ein ausdrücklicher Verzicht des Verteidigers auf die Anwesenheit der JGH ist unbehelflich64, denn der Umfang der sich aus § 244 II StPO ergebenden Aufklärungspflicht ist der Disposition des Angeklagten entzogen. Ein solcher Verstoß gegen die Aufklärungspflicht kann auch in der Nichtanhörung in der Sitzung liegen, selbst wenn die JGH nicht um das Wort gebeten hat65. Doch besagt § 38 VI 1 nicht, dass es ohne schriftlichen oder mündlichen Bericht der JGH überhaupt nicht geht; denn es sind Fälle denkbar, in denen ein entsprechender Bericht nicht erstattet werden kann66. Nach dem OLG Koblenz67 bedarf es im Berufungsverfahren nicht immer einer nochmaligen Anhörung des JGHelfers; dies dürfte aber nur in Ausnahmefällen zutreffen. In jedem Fall wird ein solcher Verstoß grds. nur den Straf-, nicht den Schuldspruch berühren68. Nimmt die JGH die Hauptverhandlung nicht wahr, obwohl ihr Ort und Zeit ordnungsgemäß 24 mitgeteilt worden sind, ist nach bisheriger Rechtsprechung nach Maßgabe der Aufklärungspflicht zu prüfen, ob von der JGH weitere Aufklärung zur Frage der Anwendung von JStrafrecht (§ 105 I) oder zur Wahl der Rechtsfolgen und Bemessung der Strafe zu erwarten ist69. Eine Verletzung der Aufklärungspflicht ist jedoch nur bei konkreten, greifbaren Anhaltspunkten dafür gegeben, dass die JGH von Berichterstattung oder Hauptverhandlungsteilnahme abgesehen hat, obgleich sie Erkenntnisse hatte oder gewinnen konnte, die für den Rechtsfolgenausspruch von Bedeutung gewesen wären70. Solche Anhaltspunkte müssen in der Revisionsrüge dargetan werden71. Ergeben sich etwa aus einem JGH-Bericht Erkenntnisse, die nicht Gegenstand der Hauptverhandlung gewesen sind, und steht die dort mitgeteilte Einschätzung der JGH in deutlichem Widerspruch zur Überzeugung des Gerichts, muss dieses die JGH in der Hauptverhandlung hören. Andernfalls kann der Rechtsfolgenausspruch keinen Bestand haben72. Diese Rechtsprechung behält auch nach der Überarbeitung des § 38 Bedeutung. Kann das Gericht die erforderlichen Kenntnisse auch in Abwesenheit der JGH gewinnen, kann es nach Abs. VII 5 auf die Teilnahme der JGH verzichten und die Verhandlung ohne diese zu Ende führen. Zur Verlesbarkeit schriftlicher JGH-Berichte nach § 50 III 3 siehe § 50, 14a. Bedarf es der Teilnahme der JGH an der Hauptverhandlung, muss das Gericht einen neuen Termin anberaumen. Dem Träger der JGH sind ggf. nach Abs. IV 3 die durch das Nichterscheinen im ersten Termin verursachten Kosten aufzuerlegen (siehe dazu § 50, 12). Weigert sich die JGH trotz angemessener Bemühungen des Gerichts weiterhin, an der Hauptverhandlung teilzunehmen, darf und muss das Gericht die entscheidungserheblichen Umstände mit den sonstigen ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnismöglichkeiten ermitteln, denn andernfalls könnte die JGH das Verfahren dauerhaft blockieren.

61 BGH VRS Bd. 53 (77), 126 gegen BGH Urt. v. 28.8.1962 – 5 StR 314/62, das noch die Verwertung des Berichts genügen ließ. BGH StV 89, 308. BGH StV 01, 172. BGH StV 82, 27; OLG Karlsruhe MDR 75, 422. BGH RdJ 61, 313. BGH bei Herlan GA 59, 340. MDR 73, 873. BGH H MDR 80, 456; OLG Karlsruhe MDR 75, 422. BGH 27, 250 = JR 78, 175 mit Anm. Brunner; BGH NStZ-RR 03, 344; BGH StV 85, 153; BayObLG bei Rüth DAR 82, 251; OLG Köln NStZ 86, 570. 70 BayObLG 04, 169 = Zbl. 95, 280; OLG Brandenburg DVJJ-J 02, 351 mit Anm. Trenczek. 71 BayObLG aaO. 72 BGH NStZ 12, 574.

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Wird die JGH nicht beteiligt, so kann der hierin liegende Verfahrensverstoß auch dann zur Aufhebung des Urteils in der Revision führen, wenn der Hw. zZ der Hauptverhandlung bereits erwachsen ist, wenn die Anwendung von ErwStrafrecht nahe liegt73 und uU selbst dann, wenn mangelnder fester Wohnsitz wenig Ergebnis verspricht74. – Zahlen zur bisher unterschiedlichen Beteiligung der JGH an der Hauptverhandlung bei Momberg75 u. Trenczek76. Ist eine Mitwirkung der JGH nicht zu erreichen, so kommt eine Einstellung des Verfahrens nach § 260 III StPO nicht in Betracht; das Gericht hat sich dann die notwendigen Kenntnisse auf andere Weise zu beschaffen77, da sonst eine sich verweigernde JGH die Verfahrenseinstellung erzwingen könnte. In Ausnahmefällen kann auf die Einschaltung der JGH nach Abs. VII 1 verzichtet werden, 26 z.B. wegen faktischer Unmöglichkeit zu berichten78, bei ausgesprochenen Bagatellen und bei einem krassen Missverhältnis zwischen Aufklärungsinteresse, -möglichkeit und Belastung des J79. Wild80 weist allerdings darauf hin, dass der Verzicht auf Persönlichkeitserforschung aus einem „Ex-Ante-Urteil auf schmaler Basis“ folgt. Ergänzend Rn 43, 9; vgl. auch den Sonderfall des § 104, 5. Die JGH muss dann nicht eingeschaltet werden, wenn nur eine Ordnungswidrigkeit vorliegt und die Mitwirkung der JGH entbehrlich ist (§ 46 VI OWiG). Bei Vollstreckungsmaßnahmen nach § 98 OWiG (§ 82, 13) allerdings wird es sich häufig empfehlen, die JGH einzuschalten81. Sonst aber braucht die JGH auch nicht vom Verhandlungstermin nach § 50 III benachrichtigt zu werden, weil § 46 VI OWiG für das gesamte Verfahren gilt82. Für Erwägung und schließlich erzwirksame Durchführung des Diversionsverfahrens kann 27 enge und zeitsparende Zusammenarbeit der JStA mit der JGH von wesentlicher Bedeutung sein. Auch im vereinfachten JVerfahren sollte die JGH gehört werden (§ 78, 18; § 43, 22). Ggf. empfiehlt sich der Eilbedürftigkeit halber fernmündlicher Informationsaustausch. 25

7. Persönlichkeitserforschung 28 Als Ermittlungshilfe (Abs. II 2) wirkt die JGH entscheidend bei der durch § 43 gebotenen Erforschung der Persönlichkeit, der Entwicklung und des familiären, sozialen und wirtschaftlichen Hintergrundes des Täters mit83. In bes. Einzelfällen werden auch Verfehlungen als Kind von Bedeutung sein können. Die JGH hat dabei die Wahrheit ohne Rücksicht auf die Folgen für den Täter zu ermitteln und die ermittelten Tatsachen streng objektiv vorzutragen84 (vgl. Rn 29). JRichter und JStA sind dadurch nicht gehindert, auch eigene Ermittlungen zur Persönlichkeitserforschung durchzuführen (§ 43, 14). Im Gegensatz zur Polizei, die durch die Aufklärung der Tat die Grundlagen für den Schuldspruch legt, schafft die JGH durch die Erforschung der Täterpersönlichkeit die Voraussetzungen für die Wahl der richtigen Unrechtsreaktion. Die Aufklärung der Tat ist also nicht Sache der JGH, sondern der Polizei. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass ein Blick auch auf die Tat entscheidende Anhaltspunkte für die Auswahl der zu berichtenden Fakten geben kann85 und gerade die Verknüpfung von Tat und Persönlichkeit sehr wesentlich sein kann. Die JGH ist keine Strafverfolgungsbehörde und nicht über den allg. Rahmen (§ 138 StGB) hinaus zu Strafan73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85

BGH StV 01, 172. BGH NStZ 82, 257; vgl. auch BGH 27, 251. MKrim. 82, 70. MKrim. 00, 272. OLG Köln NStZ 86, 570. BGH bei Herlan GA 59, 350. HK-GS/Hartmann § 160 StPO 37. S. 80. Vgl. Schenker Zbl. 83, 524. Vgl. Göhler/Seitz/Bauer § 46 OWiG 34; § 71 OWiG 64. Zur sozialpädagogischen Diagnostik s. die Beiträge von Schrapper ua in ZJJ 03, 336 ff. Vgl. LG Bonn NStZ 86, 40; HK-GS/Hartmann § 160 StPO 21. Wild S. 129. 294

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zeigen verpflichtet. Sie ist auch nicht Verteidiger des J. Sie muss sich möglichst jeder Äußerung zur Schuldfrage enthalten (RL 1 S. 1)86. Nur im Rahmen der Folgerungen aus den zur Person ermittelten Tatsachen kann sie vorsichtig Stellung nehmen, ob die Tat in das allg. Persönlichkeitsbild des Täters passt. Die JGH hat den Beschuldigten vor dessen Befragung entsprechend § 136 I 2, 163a III 2 und IV 2 StPO über seine Aussagefreiheit und die Befugnis, einen Verteidiger zu befragen, zu belehren87. Gerade während der UHaft ist Persönlichkeitserforschung wichtig und durch § 38 III 2 angeordnet (dazu Rn 13 u. 14). Damit zugleich wird hier oft notwendige Hilfe gewährt werden können (Rn 8). Die Gefahr sachlich unzutreffender Selbstbelastung in der Drucksituation der Haft88 muss berücksichtigt werden. Die JGH hat auch zu ermitteln, ob bei dem J eine bes. Schutzbedürftigkeit vorliegt (Abs. II 2). Diese kann sich z.B. aus eigenen Opfererfahrungen oder Retardierungen ergeben89. Ggf. sind entsprechende Hilfsmaßnahmen einzuleiten bzw. vorzuschlagen. Zu den Aufgaben u. Schwierigkeiten bei j. Ausländern Einf. 49.

8. Bericht Sobald es für das Verfahren von Bedeutung ist, soll die JGH gem. Abs. III 1 über das Ergebnis 28a ihrer Nachforschungen nach Abs. II möglichst zeitnah Auskunft geben. Diese Berichtspflicht der JGH bedeutet nicht, dass sie immer zum frühestmöglichen Zeitpunkt einen umfassenden Bericht vorzulegen hat. Vielmehr hat sie im Sinne einer abgestuften Handhabung über die Aspekte zu berichten, die im konkreten Verfahren tatsächlich relevant sind90. Der Bericht muss grds. rechtzeitig vor der Entscheidung der JStA über die Anklageerhebung vorliegen. Eine Ausnahme regelt § 46a. Nach Abs. VII 1 können das JGericht und im Vorverfahren die JStA auf den JGH-Bericht verzichten, soweit dies auf Grund der Umstände des Falles gerechtfertigt und mit dem Wohl des J vereinbar ist. Dies kommt im Vorverfahren nach Abs. VII 3 insbes. in Betracht, wenn eine Verfahrenserledigung ohne Anklageerhebung zu erwarten ist. Über den Verzicht ist nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Maßgeblich ist, ob eine sachgerechte und dem Wohl des J entsprechende Handhabung und Erledigung des Verfahrens auch ohne Informierung und Beratung durch die JGH erfolgen kann91. Der Verzicht ist nach Abs. VII 2 der JGH und den weiteren Verfahrensbeteiligten möglichst frühzeitig mitzuteilen. Abs. III 3 legt der JGH in Umsetzung von Art. 7 Abs. VIII der Richtlinie (EU) 2016/800 eine Aktualisierungspflicht auf: Bei einer wesentlichen Änderung der Umstände, die Gegenstand ihres Berichtsauftrags sind, muss die JGH nötigenfalls ergänzende Nachforschungen durchführen und der JStA und nach Anklageerhebung auch dem JGericht darüber berichten. Der Bericht der JGH hat unter Verzicht auf Äußerungen zur Schuldfrage (RL 1 S. 1) alle 29 ermittelten Tatsachen streng objektiv aufzuführen92, wobei die Verhältnismäßigkeit zwischen dem Umfang – zugleich dem Eingriff – von Ermittlungen sowie Bericht und deren Bedeutung für Person und Tat nicht außer Acht gelassen werden darf (Rn 26; § 43, 9)93. Umstände, die nach der Prognoseforschung bedeutsam sind, sollten möglichst aufgeklärt und in den Bericht aufgenommen werden (§ 43, 6; Einf. 73–78). Wild94 hat bei seiner Untersuchung von JGH-Berichten festgestellt, dass stets nach der intuitiven, nie nach der statistischen Methode prognostiziert worden ist. Dem Bericht kann ein Formblatt („JFragebogen“) zugrunde gelegt werden, das davor 86 87 88 89 90 91 92 93 94 295

Dirnaichner Der nordamerikanische Diversionsansatz, 1990, S. 276. BGH NJW 05, 766; Eisenberg/Kölbel 63; Ostendorf/Sommerfeld 11. So Eisenberg/Kölbel 17a. Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 47. Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 50. AaO. Vgl. LG Bonn NStZ 86, 40; nach MMT/Trenczek § 52 SGB VIII Rn 40 ist eine objektive Darstellung nicht möglich. Wild S. 119 mwN. S. 161.

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bewahrt, wichtige Punkte zu vergessen. Dabei muss der Berichtende auf alle Fragen des Bogens eingehen, sich aber von Schematismus freihalten und ggf. Ergänzungen vornehmen, Schwerpunkte setzen oder ganz frei berichten95. 30 Auf die Gefahr der Verfälschung durch Weglassungen, Betonungen und Gebrauch (meist moralisierender) Stereotypen sowie durch das Bestreben, Widersprüchlichkeiten „stimmig“ zu machen, weist Walter96 zu Recht hin. Wild97 hat bei seinen Untersuchungen negativlastige Berichte nur ausnahmsweise vorgefunden, in der Masse wurde ein positives oder indifferentes Täterbild vermittelt. Eine wohlwollende Haltung der Verfasser war überwiegend unverkennbar, was z.B. Erklärungen mit Entschuldigungstendenz deutlich gemacht haben. Gerade Aussparungen können das Persönlichkeitsbild verfälschen. Wild98 hat bei seinen Untersuchungen eine „eigenartige Scheu“ festgestellt, Suchtprobleme, auch bei unübersehbaren Hinweisen, zu erwähnen. Es bleibt ein Fall im Gedächtnis, bei welchem im Bericht als Tätigkeit der Hw. Schneiderin angegeben war und das Gericht in der Hauptverhandlung erst auf Nachfrage (wegen der gerichtsbekannten Straße und Hausnummer) vom JGHelfer erfuhr, dass sie der Prostitution nachging. Werden im Bericht nicht alle vorliegenden Informationen verarbeitet, soll dies nach RL 1 S. 3 zum Ausdruck gebracht werden. Die Warnung von Eisenberg/Kölbel99, es dominierten häufig Eindrücke und subjektive Bewertungen, worunter sich nicht selten kompetenzüberschreitende Äußerungen bezüglich fachpsychologischer oder psychiatrischer Kategorien fänden, kann nicht ernst genug genommen werden. 31 Im Bericht sind die Beweismittel zu bezeichnen, ggf. ist anzugeben, dass der JGH Beweismittel (z.B. „zwei gut beleumundete Zeugen“, „ein Brief“) bekannt sind (Rn 34). Auch sind Umstände zu benennen, die für die Glaubwürdigkeit von Bedeutung sind (Verwandtschaft, Freundschaft, Feindschaft uä)100. RL 1 S. 2 fordert anzugeben, auf welchen Informationen der Bericht beruht. JStA und JRichter wirken auf die Ergänzung des Berichtes hin, wenn er Lücken enthält und kein klares Bild des Täters gibt. In der Hauptverhandlung muss der Vertreter der JGH in der Lage sein, den Bericht auf den letzten Stand zu ergänzen. – Die JGH regt psychiatrische oder psychologische Untersuchungen (auch nach § 73) an, wenn sie auf Tatsachen gestoßen ist, die Zweifel über Reife (§ 3), Entwicklung (§ 105), schädliche Neigungen (§ 17 II) oder über die allg. strafrechtliche Verantwortlichkeit (§§ 20, 21 StGB) begründen (§ 43, 15). 32 Maßnahmen nach §§ 45, 47 oder 71 kann die JGH anregen, zur Frage der Zweckmäßigkeit bestimmter Weisungen (§ 10) oder Auflagen (§ 15) Stellung nehmen oder sich zur Frage äußern, ob Hilfe zur Erz. nach § 12 oder JStrafe (mit oder ohne Strafaussetzung zur Bew.) geboten ist. Weiterhin sollte die JGH angeben, ob Leistungen der JHilfe in Betracht kommen (RL 1 S. 4; § 52 II SGB VIII). Wie weit die JGH ihren Reaktionsvorschlag konkretisieren sollte, wird vom Einzelfall abhängen101. Wild102 hat bei seiner Untersuchung nur konkrete Vorschläge gefunden. Der Befund von Heinz/Hügel103, „die Sanktionierungsvorschläge der JGH (seien) eingriffsintensiver und schwerer“ gewesen als die gerichtliche Entscheidung, wurde von Weyel104 heftig angegriffen. Heinz/Hügel haben diese 95 Vgl. Hinrichsen UJ 54, 494; Nesselmüller UJ 55, 187; Potrykus UJ 63, 80; Momberg MKrim. 82, 66; gegen die Verwendung von Formblättern Roestel UJ 65, 543; Ullrich Zbl. 69, 185; Bedenken wegen der Vorprägung der Auswahl der erhobenen Informationen durch Formblätter bei Eisenberg/Kölbel 70; gegen Formblätter, aber für eine möglichst einheitliche Strukturierung der Berichte Ostendorf/Sommerfeld 20. 96 Zbl. 73, 489. 97 S. 141 ff. 98 S. 125. 99 71. 100 Sehr krit. zum „positiven Beitrag“ der Berichte Eisenberg/Kölbel 71, 81. 101 Vgl. auch Momberg Diss. 1982, S. 157; für einen möglichst konkreten Vorschlag Ostendorf/Sommerfeld 19; nach MMT/Trenczek § 52 SGB VIII Rn 47 ist nes nicht Aufgabe der JGH, (j-)strafrechtliche Sanktionen vorzuschlagen, sie soll nur Interventionen vorschlagen, die vom JAmt initiiert bzw. angeboten werden können. 102 S. 161. 103 Erz. Maßnahmen im deutschen JStrafrecht, 3. Aufl. 1987, S. 49. 104 BewH 88, 313. 296

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Kritik zurückgewiesen105. Die Untersuchungen von Heinz/Hügel haben bei positiven oder negativen Wertungen der JGH keinen messbaren Zusammenhang mit dem Verfahrensausgang ergeben106. Es steht der JGH frei, aus den ermittelten Tatsachen Schlüsse auf die Persönlichkeit des 33 Täters zu ziehen. Gerade aber bes. bemühte „gutachtenähnliche“ Berichte sind nach den Untersuchungen Wilds107 der Gefahr unterlegen, den Tatsachenvortrag zu vernachlässigen. Es sollten solche Ausführungen schon äußerlich getrennt werden von den Tatsachenfeststellungen, die das Kernstück des Berichts sind und bleiben müssen108. Die JGH sollte dabei Zurückhaltung üben, da sie hier auf das Gebiet des JRichters übergreift, der aus dem „Tatsachenmaterial“ eigenverantwortlich werten muss. In diesem Rahmen und mit Bedacht abgegebene Anregungen und Schlussfolgerungen aber sind für den Richter hilfreich. Dazu sollte die JGH Grundbegriffe des JStraf- und Verfahrensrechts kennen und beachten und nicht „aus der besseren Kenntnis des Täters … Vorschläge unterbreiten, ohne auf juristische Gesichtspunkte Rücksicht zu nehmen“109. Tatsachenbehauptungen in JGH-Berichten (Vater spricht Alkohol zu) sind verwaltungsgerichtlich nicht überprüfbar110. Nach dem OVG Koblenz111 überwiegt das private Interesse am Namen eines Informanten des JAmtes (zwecks Durchführung eines erneuten familiengerichtlichen Verfahrens) angesichts der dem JAmt obliegenden umfassenden Sachaufklärung das öffentliche Interesse an der Wahrung der zugesicherten Vertraulichkeit nicht. Das gilt erst recht für die JGH. – Die Berichtspflicht wird durch allg. Mitteilungspflichten ergänzt (§§ 70 S. 2, 109 I 3; § 109, 1; Rn 11 aE; Rn 13 u. 14; zum Schülerbogen § 43, 14).

9. Verwertung des Berichts in der Hauptverhandlung Der Ermittlungsbericht der JGH ist Bestandteil der Akten und damit dem Verteidiger zugänglich112. 34 Der Hinweis in RL 2 auf Nr. 185 III und IV RiStBV betrifft nicht den Verteidiger. Bei Akteneinsicht des Vertreters des Verletzten nach § 406e I StPO kann ggf. der JGH-Bericht ausgenommen werden (§ 406e II StPO; näher Vor § 97 Rn 33). Zur Akteneinsicht sonstiger Privatpersonen s. § 475 StPO. – Im Urteil darf nur verwertet werden, was Gegenstand der Verhandlung war (§ 261 StPO; Art. 103 I GG)113. Der Tatsachenteil des JGH-Berichts kann nur auf eine prozessrechtlich zulässige Weise in die Hauptverhandlung eingeführt werden. Dies geschieht durch die Bekundung des Angeklagten selbst (auch auf Vorhalt des Vorsitzenden hin) oder durch förmliche Vernehmung des Vertreters der JGH als Zeuge114. Der Richter dürfte den Bericht der JGH nur dann verlesen, wenn einer Vernehmung des Vertreters unüberwindliche tatsächliche Hindernisse iSd § 251 I Nr. 3 StPO entgegenstünden, um in solchem Falle Beweisverlust zu vermeiden und die zügige Durchführung des Strafverfahrens zu ermöglichen115. Auf § 256 StPO kann die Verlesung nicht gestützt werden116.

105 BewH 88, 320. 106 BewH 88, 321. Eine Gegenüberstellung von Berichts- u. Urteilsinhalt allg. findet sich bei Momberg Diss. 1982, S. 217, 219 u. MKrim. 82, 74. 1989, S. 206. Ebenso Momberg Diss. 1982, S. 12. So aber Bucher Zbl. 87, 105. VGH Baden-Württemberg bei Böhm NStZ 83, 449. NJW 83, 2957. Lüttger NJW 51, 744. OLG Hamm Zbl. 05, 324 mit Anm. Nix; Schnitzerling JWohl 57, 187. Dallinger/Lackner § 38, 33; Eisenberg/Kölbel 75; Beulke/Swoboda Rn 698; eingehend zur Verwertung des Berichts Brachold 1999, S. 53 ff. 115 BGH 10, 186, 189. 116 Eisenberg/Kölbel § 50, 35.

107 108 109 110 111 112 113 114

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Auch eine Verlesung des Berichts durch den JGHelfer genügt für die Einführung des Tatsachenstoffs in die Hauptverhandlung nicht117. Nach dem BGH118 soll der Vertreter der JGH den Bericht zwar ebenso wie ein Sachverständiger das Gutachten in der Hauptverhandlung verlesen können119. Hierbei wird jedoch nicht hinreichend berücksichtigt, dass der Vertreter der JGH an der Hauptverhandlung nicht als Beweismittel, sondern als Prozessorgan teilnimmt120. Zudem wäre der Vertreter der JGH ohne die einschränkende Vorschrift des § 251 I StPO freier gestellt als das Gericht121. Soll der Inhalt des Berichts durch den Vertreter der JGH in die Hauptverhandlung eingeführt werden, so muss dieser also unter Wahrung der prozessualen Vorschriften als Zeuge vernommen werden. Nur, wenn er ordnungsgemäß als Zeuge (wohl kaum als Sachverständiger) vernommen wird, darf er daneben seinen Bericht teilweise oder ganz verlesen122. Der Vertreter der JGH kann auch als „Zeuge vom Hörensagen“ über die Angaben von Gewährspersonen vernommen werden. Urkunden wie z.B. Schülerbogen oder Zeugnisse (nicht aber Leumundzeugnisse) können verlesen werden (vgl. §§ 249 ff, 256 I StPO); doch kann die Aufklärungspflicht zu einer Vernehmung des Ausstellers zwingen. Zur Verlesung des JGH-Berichts nach § 50 III 3 s. § 50, 14a. 36 Das Revisionsgericht darf im Zweifel immer davon ausgehen, dass der Bericht der JGH im Wege statthaften Vorhaltes in die Hauptverhandlung eingeführt worden ist, wenn weder die Sitzungsniederschrift noch die Urteilsgründe erkennen lassen, auf welche Weise das Gericht Kenntnis vom Inhalt des Berichts erhalten hat123. Nach den Erfahrungen der Praxis können in aller Regel in abgewogenem Zwiegespräch zwischen Vorsitzendem und Angeklagten – also nicht etwa durch Vortrag des Vorsitzenden unter dem Anschein eines Vorhalts und auch nicht durch drängendes Hineinreden – anhand der tatsächlichen Informationen aus dem Bericht die Entwicklung der Persönlichkeit des J und dessen Beziehungen zur Umwelt in die Hauptverhandlung eingeführt werden. So kann eine meist ungute förmliche Zeugenvernehmung des Vertreters der JGH und damit eine mögliche Erschwerung seiner Arbeit vermieden werden, sodass er nur noch formlos – wertend und beratend – tätig zu werden braucht (vgl. Rn 38). 35

10. Kein Zeugnisverweigerungsrecht 37 Der JGerichtshelfer hat kein Zeugnisverweigerungsrecht124. Das BVerfG125 hat ein allg. Zeugnisverweigerungsrecht des Sozialarbeiters und damit auch des JGHelfers verneint126. Ein Zeugnisverweigerungsrecht widerspräche der bes. verantwortungsvollen Aufgabe der JGHelfer und deren Einbau in das JGG, da die JGHelfer neben der erz. und nachgehenden Betreuung ein objektives, vollständiges und zutreffendes Persönlichkeitsbild zu ermitteln und weiterzugeben haben, um dem

117 MK-StPO/Höffler § 38 JGG 15; Miehe JStrafrecht. Kurseinheit 3, 1994, S. 45. 118 NStZ 84, 467 mit abl. Anm. Brunner; Anm. Eisenberg NStZ 85, 84. 119 Vgl. auch Gundelach StraFo 19, 45, nach dem auf den Bericht der JGH die Vorschriften des Sachverständigenbeweises anzuwenden sind. Eingehend gegen den BGH Brachold S. 81 ff. Ebenso Laubenthal S. 119 f. BGH 1, 4; 20, 260; AKStPO/Dölling § 250 StPO 11; Meyer-Goßner/Schmitt § 250 StPO 12. BGH NJW 1958, 559 u. BGH Urteil v. 18.6.1959 – 2 StR 215/59; OLG Koblenz OLGSt zu § 338 StPO S. 20; Dallinger/ Lackner 33. 124 Eisenberg NStZ 86, 309 unter Hinweis auf Ausnahmefälle nach Art. 2 iVm Art. 1 I GG; Dallinger/Lackner 38; Beulke/Swoboda Rn 700; Streng Rn 112; Walter Zbl. 73, 495; Kreutz UJ 01, 20; Ernst/Höynck ZJJ 18, 231; die aber darauf hinweisen, dass Regeln des Sozialdatenschutzes dazu führen können, dass bestimmte Daten nicht übermittelt werden dürfen. 125 BVerfGE 33, 367 = NJW 72, 2214. 126 Vgl. auch BVerfGE 44, 353; zust. Foth JR 76, 7 angesichts des Postulats der Aufrechterhaltung einer funktionsfähigen Strafrechtspflege.

120 121 122 123

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Jugendgerichtshilfe

§ 38

Richter eine kriminologische Diagnose zu ermöglichen127. Ein Zeugnisverweigerungsrecht widerspräche damit dem gesetzlichen und dienstlichen Auftrag des JGHelfers und würde zum Nachteil des J die Erkenntnismöglichkeiten der Persönlichkeitserforschung erheblich erschweren. Mit ausgewähltem Teilvortrag aber wäre weder der Sache noch dem Richter gedient128. Auch der Vorschlag, wegen eines Zeugnisverweigerungsrechts betreuende und ermittelnde Tätigkeit zu trennen (2 Personen erforderlich!), bringt deutliche Nachteile129. Eine Verweigerung der Aussagegenehmigung nach § 54 StPO kommt nur in eng begrenz- 38 ten Ausnahmesituationen in Betracht, denn durch eine generelle Nichterteilung der Genehmigung würde die gesetzliche Entscheidung gegen ein Zeugnisverweigerungsrecht umgangen130. Vgl. auch Rn 39. Hierbei ist auch zu bedenken, dass das Strafgericht faktisch an eine derartige Behördenentscheidung gebunden ist, denn Rechtsschutz gegen die Verweigerung der Aussagegenehmigung gewährt nur das Verwaltungsgericht131. Dem Lösungsversuch Steins132 über das Sozialgeheimnis (§ 35 SGB I) stehen §§ 52 SGB VIII, 38 JGG entgegen. Der Versuch, den Rollenkonflikt des JGHelfers durch ein Zeugnisverweigerungsrecht zu beseitigen, würde zudem durch den dadurch letztlich verursachten Wegfall der Ermittlungsfunktion zu teuer erkauft133. Füllkrug134 sieht de lege ferenda gewichtige Argumente für ein Zeugnisverweigerungsrecht hinsichtlich von Umständen, die nicht Gegenstand des Ermittlungsberichtes sind. Ein Zeugnisverweigerungsrecht für Suchtberater ist in § 53 I Nr. 3b StPO verankert135. Das VG Schleswig-Holstein136 hat es zugelassen, einem JGHelfer die Aussagegenehmigung zu 39 versagen, weil er als Zeuge zu einer ihm vom Angeklagten vertraulich gemachten Angabe gehört werden sollte, die einen Mitangeklagten, der sich ihm ebenfalls anvertraut hatte, belasten würde. In eine solche Situation zu geraten, sollte der JGHelfer möglichst vermeiden. Das VG hat darauf hingewiesen, dass im Einzelfall bes. Umstände auch gegen eine derartige Versagung sprechen könnten. Ist es unumgänglich (Rn 34, 35), den JGHelfer als Zeugen (Aussagegenehmigung beachten) zu 40 vernehmen, so sollte dies mit Takt und Verständnis für seine Arbeit geschehen. Der Angeklagte kann während der Zeugenvernehmung – oder auch des Vortrags – im Interesse der Arbeit des JGHelfers nach § 51 I nur dann ausgeschlossen werden, wenn sonst Nachteile für seine Erz. entstehen könnten (§ 51, 2). Eine solche Ausschließung kann der JGHelfer auch anregen. Der gesetzliche Vertreter oder Angehörige können im Interesse der JGH nach § 51 II Nr. 1 ausgeschlossen werden (§ 51, 8). Es sollte aber stets abgewogen werden, ob nicht gerade eine solche Ausschließung zu Misstrauen Anlass gibt, das Gericht belastet und die weitere Arbeit der JGH erst recht erschwert. Der Vorschlag, den JGHelfer als Sachverständigen oder sachverständigen Zeugen zu hören, würde die Problematik nicht entschärfen; im Übrigen ist er kein „Sachverständiger“ (dazu § 43, 15 ff).

127 Füllkrug BewH 88, 322. 128 Ebenso Brachold S. 95; Kaiser JRecht u. JKriminalität, 1973, S. 183; Momberg Diss. 1982, S. 323; Ullrich Arbeitsanleitung, S. 25; aA Hauber Zbl. 80, 515. 129 Näher Momberg aaO, S. 324. 130 HK-GS/Hartmann § 160 StPO 34; Laubenthal S. 132; vgl. auch Brachold S. 105 f; Füllkrug BewH 88, 325; Ernst/ Höynck ZJJ 18, 232: keine Aussagegenehmigung, wenn im Einzelfall die Funktionsfähigkeit der JHilfe erheblich erschwert würde; weitergehend Ostendorf/Sommerfeld 12, nach denen die Aussagegenehmigung zu verweigern ist, wenn nur im Vertrauen auf den Geheimnisschutz Tatsachen mitgeteilt wurden, u. MMT/Trenczek § 52 SGB VIII Rn 36, nach dem die Aussagegenehmigung idR zu verweigern ist. 131 Ziegler DRiZ 89, 11. 132 BewH 82, 174 u. 87, 153. 133 Vgl. Schaffstein FS Dünnebier, 1982, S. 667. 134 BewH 88, 327. 135 Für ein Zeugnisverweigerungsrecht für Aidsberater de lege ferenda Franck Strafverfahren gegen HIV-Infizierte, 2001, S. 156 ff. 136 Zbl. 87, 539. 299

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2. Teil. Jugendliche

11. Überwachende Tätigkeit 41 Die JGH überwacht die Befolgung der Weisungen und der Auflagen (Abs. V 1, vgl. § 10, 45; § 15, 21; § 45, 46)137, auch wenn sie vor der Erteilung nicht gehört wurde; denn ein solcher Verfahrensverstoß kann die rechtskräftige gerichtliche Anordnung nicht unbeachtlich machen138. Die JGH muss ihre Verpflichtung nach Abs. V 1 auch dann erfüllen, wenn sie die Sanktion pädagogisch nicht für sinnvoll hält139, kann aber in diesem Fall eine Änderung der Maßnahme anregen. Die JGH muss dem JRichter nur von schweren Verstößen des J berichten (Abs. V 2) und kann bei leichteren selbst ermahnen. Die Überwachung soll dem J helfen und dient nicht nur dazu, erhebliche Verstöße dem Richter mitzuteilen, sondern ermöglicht es bei geänderten Umständen auch, die Änderung oder Ersetzung von nicht mehr wirksamen oder gar schädlich gewordenen Weisungen anzuregen. – Die JGH tritt jedoch hinter die BewHilfe zurück, wenn eine solche besteht (Abs. V 1). Die Aufgaben nach Abs. II 1, 2 verbleiben aber der JGH, auch bei laufender BewHilfe (Abs. V 1 „soweit“), was insbes. für den Bericht gilt. Während der BewZeit unterstützt sie den BewHelfer auf allen Gebieten nach besten Kräften (Abs. V 4; § 25, 12). Auch wenn die BewHilfe dem JAmt übertragen ist, sollten JGHilfe und BewHilfe doch von verschiedenen Personen durchgeführt werden140. Wird die BewHilfe der JGH übertragen, steht ihr dagegen keine Beschwerde zu; sie kann nur Gegenvorstellung erheben oder bei der StA die Beschwerdeeinlegung anregen141. Im Falle der Unterstellung unter einen Betreuungshelfer (§ 10 I Nr. 5) betreut und beaufsichtigt stets die JGH, falls nicht der Richter eine andere Person damit betraut (Abs. V 3; § 10, 20).

12. Nachgehende Betreuung 42 Schließlich geht Hilfe und Betreuung von Anfang an (Rn 8 u. 9) in die sog. nachgehende Betreuung über, um dem Täter die Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu erleichtern und ihm notwendigen Beistand zu leisten142. Hierzu gehört auch die Belehrung über das registerliche Verschweigungsrecht (Vor § 97, 11, 26). Der Kontakt sollte möglichst auch während der Zeit der Strafverbüßung aufrechterhalten werden (Abs. V 5)143. – Nach den Vollzugsgeschäftsordnungen der Länder ist von JStrafanstalt und ErwVollzugsanstalt die Aufnahme und die Änderung der Strafzeit mitzuteilen, wenn deren Ende vor Vollendung des 21. Lebensjahres liegt144. Im Übrigen gilt das § 25, 7 für die BewHilfe Gesagte hier entsprechend. Auch nach Beendigung der Vollstreckung kann der JGHelfer den J weiterhin betreuen.

13. Die Heranwachsenden 43 Die JGH wirkt in gleicher Weise auch in Verfahren gegen Hw. mit (§§ 107, 109 I)145, falls es nicht nur um Ordnungswidrigkeiten geht (Rn 26). Dabei ist unerheblich, ob der Hw. zwischenzeitlich erw. geworden ist146 oder es bei einem Teilakt einer einheitlichen Handlung bereits war147. Lehnt

137 138 139 140 141 142 143 144 145 146 147

Brunner Zbl. 73, 58. Dallinger/Lackner 43, 44; aA Potrykus B 8. DIV-Gutachten v. 16.3.1993, Zbl. 93, 257. Zust. Eisenberg/Kölbel 23. OLG Frankfurt NStZ-RR 96, 251. Brunner Zbl. 73, 58; Lindemann Kriminalistik 65, 38. Lindemann JWohl 63, 406; Ullrich RdJ 56, 76; Wehner Zs. f.d. Fürsorgewesen 63, 229. Vgl. etwa Bayerische Vollzugsgeschäftsordnung v. 29.11.2019, BayMBl. Nr. 537, Nr. 23. BGH 27, 251; BGH NJW 05, 766; OLG Köln NStZ 86, 570. BGH 6, 354; BGH bei Martin DAR 65, 59; BGH StV 82, 336. Dallinger/Lackner 14; Eisenberg/Kölbel 13 je bei § 107. 300

Jugendgerichtshilfe

§ 38

die JGH bei Weigerung eines Hw. ein Tätigwerden ab, so handelt sie rechtswidrig148 (Rn. 46). Wesentlich erscheint die rechtzeitige Einschaltung (ev. telefonisch) und Äußerung der JGH, wenn gegen Hw. eine informelle Erledigung nach §§ 45, 47 in Frage kommt (§ 109, 6). § 109 I 3 erlegt es der Justiz auf, die JGH von Einleitung und Ausgang eines Verfahrens gegen einen Hw. zu unterrichten, da § 70 nur bei J Anwendung findet (§ 109 I 1). Dies entspricht der Gesamteinschaltung der JGH auch in Verfahren gegen Hw. Ebenso liegt die in § 109 I 4 normierte Pflicht der JGH, den StA von weiteren ihr bekannt gewordenen Verfahren gegen einen beschuldigten Hw. zu unterrichten, bereits in ihrem Aufgabenbereich (§ 38), um die erwünschte erz. Gesamtbereinigung zu fördern. – Auch im Verfahren gegen hw. Soldaten wirkt die JGH mit149. Auch gegen Hw. besteht der subsidiäre ErzAuftrag des Staates fort150 (Einf. 94). Die Hilfen der JGH gehen aber von den erz. mehr zu den Sozialisationshilfen über; bei Anwendung von ErwStrafrecht beschränken sie sich auf letztere. Zu den Leistungen der JHilfe an junge Erw. vgl. §§ 41, 41a SGB VIII. Der JGHelfer muss bei Hw. über Persönlichkeit, Entwicklung und Umwelt auch dann ermit- 44 teln (Rn 28), wenn voraussichtlich allg. Recht angewendet wird. Denn die nach § 105 zu treffende Entscheidung kann – von seltenen Ausnahmen abgesehen151 – nur nach eingehenden, grds. der JGH übertragenen Ermittlungen getroffen werden. Auch bei Anwendung allg. Rechts kann der Bericht der JGH für die Ermessensentscheidungen nach § 106 große Bedeutung haben (vgl. § 107, 1 aE), sonst für die allg. Strafzumessung. Der JGHelfer ist berechtigt und verpflichtet, auch die Eltern des volljährigen Hw. zu hören, 45 denn § 109 I 1 erstreckt das Gebot des § 43 ausdrücklich auch auf diese Gruppe und die §§ 107, 38 VI verlangen die Heranziehung der JGH auch bei Hw.152. Manche Hw. werden sich gegen die Anhörung ihrer Eltern sperren, sei es mehr vordergründig im Zuge des Ablösungsprozesses, sei es aus anderen Gründen. Ein ruhiges klärendes Wort wird hier oftmals weiterhelfen können. Im Vordergrund steht aber nicht der durchaus legitime Schutz der Privatsphäre des Hw., sondern dessen objektivierbares Interesse. An die Zustimmung des Hw. darf und kann deshalb die Anhörung seiner Eltern gerade in seinem wohlverstandenen Interesse und um ihm die im JGG verankerten Hilfen zu sichern, nicht gebunden werden153. Ohne eine gewisse Information über den Tatverdacht werden die Eltern oftmals nicht bereit sein, sich zu äußern, zumindest wird es schwierig sein, über Allgemeines hinaus gerade das Wesentliche zu erfahren. Den Grund der Anhörung zu verschweigen, wäre unfair den Eltern gegenüber und uU nicht unbedenklich im Interesse der Sache und des Hw. Teilt der JGHelfer den Eltern den Tatverdacht mit, so macht er sich als staatlich anerkannter Sozialarbeiter (§ 203 I Nr. 5 StGB), als Amtsträger beim Jugendamt (Abs. II Nr. 1) oder als Praktikant (Abs. III 1) nicht wegen Verletzung von Privatgeheimnissen nach § 203 StGB strafbar, solange er nicht verbotene Mittel anwendet oder zulässige missbraucht154. Entziehen sich die Eltern gleichwohl einer Anhörung, bleibt die Heranziehung von Akten und die Anhörung anderer Personen aus dem persönlichen Nahraum des Hw. Letztlich kann der Richter jederzeit die Eltern als Zeugen vernehmen, aber auch an ihrem Zeugnisverweigerungsrecht scheitern. Bei Hw., auf die JRecht nicht angewandt wurde, wird die erz. oft durch eine fürsorgerische Betreuung ersetzt werden müssen. Lehnt die JGH ein Tätigwerden entgegen ihrem Gesetzesauftrag ab, so handelt sie rechts- 46 widrig, und das Gericht hat dem z.B. durch Beschlagnahme von Unterlagen, Ladung des JGHelfers als Zeugen oder Dienstaufsichtsbeschwerde entgegenzuwirken155. Zunächst sollte aber das 148 149 150 151 152 153 154 155

OLG Köln aaO. OLG Schleswig EJF C I 47. BVerfGE 74, 125; dazu Brunner Zbl. 87, 257; Ostendorf EzSt JGG § 10 Nr. 1. BGH 6, 329; § 105, 15. BGH 27, 250. Vgl. dazu LG Bonn NStZ 86, 40. Näher Brunner Zbl. 77, 366; ebenso Janssen Hw. im JStrafverfahren, 1980, S. 65 ff, insbes. 68. OLG Köln NStZ 86, 570; LG Trier NStZ-RR 00, 250; für Unzulässigkeit der Beschlagnahme von Jugendamtsakten MMT/Trenczek § 52 SGB VIII Rn 27. 301

§ 38

2. Teil. Jugendliche

Gespräch mit der JGH gesucht werden. Eine Einstellung des Verfahrens nach § 260 III StPO, welche die JGH sonst jederzeit herbeiführen könnte, kommt nicht in Betracht. Dazu Rn 24, 25 jeweils aE.

14. Der Datenschutz des SGB VIII 47 StA und JRichter können ihre Aufgaben iSd ErzAuftrags des JGG (Einf. 83–95, bes. 91) nur dann erfüllen, die Rechtsfolgen nur dann gezielt und abgewogen auf den einzelnen J und Hw. abstellen, wenn sie über die nötigen Informationen, die vorwiegend sensible und schutzwürdige Daten sind, verfügen. Diese – im wohlverstandenen Interesse des J – beizubringen, ist Aufgabe vor allem der JGH, die andererseits durch deren Weitergabe das gewünschte Vertrauensverhältnis, das erst Hilfe ermöglicht, stören und gefährden kann. Mit dem Inkrafttreten des SGB VIII am 1.1.1991 wurde streitig, ob die Datenschutzvorschriften der §§ 61 ff SGB VIII die JGH bei der Erhebung und Übermittlung personenbezogener Daten an den Willen des J binden156. Das am 1.4.1993 in Kraft getretene 1. G zur Änderung des SGB VIII hat durch Einfügung eines neuen Abs. III in § 61 SGB VIII klargestellt, dass der JGHelfer Daten auch ohne Einwilligung des J oder Hw. bei anderen Personen erheben und an StA und JRichter weitergeben darf. § 61 III SGB VIII hat für die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten durch das JAmt bei der Mitwirkung im JStrafverfahren auf die Vorschriften des JGG verwiesen. § 61 III SGB VIII wurde durch das am 1.10.2005 in Kraft getretene Kinder- u. JHilfeweiterentwicklungsgesetz (KICK) durch eine Ergänzung des § 62 III Nr. 2c SGB VIII ersetzt, ohne dass damit eine sachliche Änderung verbunden ist. Nach dieser Vorschrift dürfen ohne Mitwirkung des Betroffenen Sozialdaten erhoben werden, wenn ihre Erhebung beim Betroffenen nicht möglich ist oder die jeweilige Aufgabe ihrer Art nach eine Erhebung bei anderen erfordert, die Kenntnis der Daten aber für die Wahrnehmung einer Aufgabe nach § 52 SGB VIII, also für die Mitwirkung der JGH im Verfahren nach dem JGG nach Maßgabe der §§ 38, 50 III 2, erforderlich ist. Danach157 hat die JGH gem. § 38 II unter Vermeidung unverhältnismäßiger Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht des J, aber ohne Bindung an dessen Willen, die Daten zu erheben, die nach fachkundigem Urteil für die Berichterstattung erforderlich sind. §§ 62 III Nr. 2c, 52 SGB VIII iVm §§ 38, 50 III JGG bilden eine verfassungsrechtlich ausreichende Ermächtigungsgrundlage für die Erhebung personenbezogener Daten ohne Einsatz von Zwangsmitteln. Daten, die das JAmt auf anderen Gebieten der JHilfe zusammengetragen hat, dürfen für die Berichtstätigkeit der JGH nur unter den Voraussetzungen der §§ 69 I Nr. 1 SGB X, 64, 65 SGB VIII verwendet werden158. 48 Datenspeicherung ist in den Grenzen des Erforderlichen zulässig; für die Zusammenführung mit auf anderen Gebieten der JHilfe erhobenen Daten gilt § 63 Abs. 2 SGB VIII. Die Datenübermittlung von der JGH an StA und JRichter findet ihre Grundlage in §§ 64, 52 SGB VIII, 38 II. Die JGH hat danach alle Umstände mitzuteilen, die nach fachlicher Beurteilung für die justizielle Entscheidung von Bedeutung sind. Sie ist hierbei nicht an den Willen des J gebunden (§ 65 SGB VIII findet insoweit keine Anwendung)159, hat ihn aber vor der Datenerhebung über ihre Aufgaben aufzuklären, sodass der J in voller Kenntnis der Rechtslage entscheiden kann, ob er der JGH Informationen geben will. Kommt die JGH ihrer Verpflichtung zur Datenübermittlung nicht nach, kann sich die Justiz die Daten notfalls unter Beachtung der §§ 54, 96 StPO und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes durch strafprozessuale Zwangsmaßnahmen

156 157 158 159

Dazu 9. Aufl. u. die Beiträge von Dölling u. Mörsberger in BMJ 1991. Vgl. Dölling BewH 93, 128; Feldmann ZJJ 08, 23; kritisch Kiehl NJW 93, 1052 f. Bex DVJJ-J 00, 412; Feldmann ZJJ 08, 24. LG Trier NStZ-RR 00, 250 = Zbl. 00, 398 mit abl. Anm. Eisenberg = DVJJ-J 00, 186 mit abl. Anm. Sonnen, abl. Anm. Krahmer DVJJ-J 00, 314 u. krit. Besprechung Bex DVJJ-J 00, 413. 302

Jugendgerichtshilfe

§ 38

verschaffen160. Die Beschlagnahme eines im Rahmen der JHilfeaufgaben des JAmts zur JAmtsakte gelangten ärztlichen Krankenberichts ist nach §§ 61 I SGB VIII, 35 SGB I, 69 I Nr. 1, 76 I SGB X unzulässig, wenn nicht der Arzt selbst offenbarungsbefugt wäre161. In den Grenzen des Erforderlichen darf die JGH Daten an freie Träger weitergeben, die auf der Grundlage von § 38 I Aufgaben der JGH wahrnehmen oder an der Verwirklichung jstrafrechtlicher Rechtsfolgen (zB Täter-Opfer-Ausgleich) mitwirken. An BewHilfe und Vollzug darf die JGH nach §§ 64, 52 SGB VIII, 38 V 4 und 5 für die Wiedereingliederungsbemühungen bedeutsame Daten übermitteln.

15. Arbeit der Polizei und der Sozialarbeiter im Vorfeld; Krisenintervention Wesentliche – allerdings umstrittene (Rn 51) – Hilfen, nicht nur allg. im präjustiziellen Bereich, 49 sondern gezielt im Vorfeld polizeilichen Eingreifens, können durch JBeamte der Polizei und Sozialarbeiter erfolgen. Die Polizeibehörden leisten an manchen Orten nicht ohne Erfolg Präventionsarbeit. Die rechtlichen Voraussetzungen gestatten sinnvolles Eingreifen162. JBeamte, polizeiliche Sachbearbeiter in JFragen, nehmen teilweise im polizeilichen „Voreingriffsbereich“ Kontakt zu J, insbes. zu j. Randgruppen, auf und leisten in enger Zusammenarbeit mit Streetworkern und Freizeitheimen des JAmtes präventive Hilfe. Der Beamte muss sich hierbei im Rahmen der rechtlichen Bindungen eines Polizeivollzugsbeamten und einer Ermittlungsperson der StA, insbes. des Legalitätsprinzips, halten. In einem Modellversuch in Hannover „Präventionsprogramm Polizei/Sozialarbeit (PPS)“ 50 wurden ab 1979 Sozialarbeiter im Handlungsfeld der Polizei eingesetzt. Sechs Sozialarbeiter, die nahezu rund um die Uhr bei einem Polizeirevier und bei der Kriminalpolizei arbeiten, haben die Aufgabe, tatnahe und auf die Problemsituation ausgerichtete psychosoziale Hilfe zu leisten (Krisenintervention), Gefährdungsmomente zu erkennen, zu prüfen, ob weitere Betreuung geboten ist, und ggf. geeignete soziale Dienste zu vermitteln. Schwerpunkte der Arbeit liegen bei Kindern und J, Alkohol- und Drogengefährdeten, Familienstreitigkeiten und Suizidproblemen163. Nach Folberth164 hat sich die Zusammenarbeit zwischen Polizei und Sozialarbeit soweit bewährt, dass die „Kontaktstelle PPS“ in Hannover zur Dauereinrichtung geworden ist165. Ostendorf/Sommerfeld166 sprechen sich dagegen aus, die grds. Aufgabentrennung von Poli- 51 zei und JGH im Wege einer institutionellen Zusammenarbeit zu überbrücken. In der Tat müssen die jeweiligen Aufgaben von Polizei und Sozialarbeit möglichst klar bestimmt sein und darf es nicht zu Aufgabenverwischungen kommen. Die vielfältigen mit JKriminalität verbundenen 160 Vgl. LG Trier aaO; s. auch LG Bonn NStZ 86, 40 mit abl. Anm. Eisenberg NStZ 86, 307 u. OLG Köln NStZ 86, 570, die – allerdings vor Inkrafttreten des SGB VIII – angenommen haben, § 35 SGB I finde auf das Verhältnis zwischen JGH und JGericht keine Anwendung; dagegen LG Hamburg NStZ 93, 401 mit zust. Anm. Dölling. 161 LG Hamburg aaO. 162 Schreiber in Schwind/Berckhauer/Steinhilper, Hrsg., Präventive Kriminalpolitik, 1980, S. 380; Dietsch/Gloss Handbuch der polizeilichen JArbeit, 2005; Gloss ZJJ 07, 278; Wesely ZJJ 12, 439. 163 Vgl. die Projektbeschreibung von Wilhelm-Reiss in Schwind/Berckhauer/Steinhilper aaO, S. 405; Steinhilper Kriminalistik 83, 105. 164 DVJJ-J 94, 333. 165 Allg. zur polizeilichen JSachbearbeitung u. Präventionsarbeit in Niedersachsen Brandes/Piszczan-Präger Kriminalistik 13, 550; zu in Sachsen-Anhalt bei der Polizei eingerichteten sozialpädagogischen JBeratungsstellen mit positiver Beurteilung Enke DVJJ-J 98, 24; zur Zusammenarbeit von Polizei u. JHilfe in Nürnberg Gref ZJJ 05, 193, Heusinger/Steinkirchner/Lenkner UJ 09, 254, in Berlin Fritsch/Schendel/von Walter ZJJ 06, 51; zum Projekt „Kurve kriegen“ in Nordrhein-Westfalen Grohmann ZJJ 12, 436; zum Dresdner Interventions- u. Präventionsprogramm mit einer Außenstelle der JGH in der Polizeidirektion Mollik UJ 14, 112, 121 f; allg. zur Kooperation von JHilfe u. Polizei Fritsch ZJJ 11, 393. 166 § 43, 13. 303

§ 38

2. Teil. Jugendliche

Probleme stehen jedoch miteinander im Zusammenhang. Es ist deshalb sinnvoll, wenn die unter verschiedenen Aspekten mit JDelinquenz befassten Institutionen bei klarer Aufgabentrennung vor Ort miteinander kooperieren und sich abstimmen167. Zu einem Vertrauensverlust bei den Klienten der Sozialarbeit muss dies insbes. dann nicht führen, wenn diese Problematik gesehen und berücksichtigt wird168 (zu den Häusern des Jugendrechts s. § 45, 18).

167 Dölling in DVJJ, Hrsg., Sozialer Wandel u. JKriminalität, 1997, S. 325. 168 Zum Verhältnis zwischen Polizei u. Sozialarbeit vgl. auch Krafeld ua DVJJ-J 98, 342; Haunstein/Schendel DVJJJ 98, 345; Arbeitsstelle Kinder- u. JKriminalitätsprävention, Hrsg., Schnelle Reaktion, 2001; die Beiträge in DVJJRegionalgruppe Nordbayern, Entwicklungen im JStrafrecht. Polizei-Strafvollzug, 2005, S. 7 ff; Lukas/Hunold RdJ 10, 339; Lindenberg ZJJ 12, 410. 304

Zweiter Abschnitt Zuständigkeit § 39 Sachliche Zuständigkeit des Jugendrichters (1) 1Der Jugendrichter ist zuständig für Verfehlungen Jugendlicher, wenn nur Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel, nach diesem Gesetz zulässige Nebenstrafen und Nebenfolgen oder die Entziehung der Fahrerlaubnis zu erwarten sind und der Staatsanwalt Anklage beim Strafrichter erhebt. 2Der Jugendrichter ist nicht zuständig in Sachen, die nach § 103 gegen Jugendliche und Erwachsene verbunden sind, wenn für die Erwachsenen nach allgemeinen Vorschriften der Richter beim Amtsgericht nicht zuständig wäre. 3§ 209 Abs. 2 der Strafprozeßordnung gilt entsprechend. (2) Der Jugendrichter darf auf Jugendstrafe von mehr als einem Jahr nicht erkennen; die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus darf er nicht anordnen. 1. Hw.-J: § 108 I; sonstige Hw. § 108 II; – 2. [ErwG]: § 41, 6. Anmerkungen und Richtlinie hierzu siehe nach § 41.

§ 40 Sachliche Zuständigkeit des Jugendschöffengerichts (1) 1Das Jugendschöffengericht ist zuständig für alle Verfehlungen, die nicht zur Zuständigkeit eines anderen Jugendgerichts gehören. 2§ 209 der Strafprozeßordnung gilt entsprechend. (2) Das Jugendschöffengericht kann bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens von Amts wegen die Entscheidung der Jugendkammer darüber herbeiführen, ob sie eine Sache wegen ihres besonderen Umfangs übernehmen will. (3) Vor Erlaß des Übernahmebeschlusses fordert der Vorsitzende der Jugendkammer den Angeschuldigten auf, sich innerhalb einer zu bestimmenden Frist zu erklären, ob er die Vornahme einzelner Beweiserhebungen vor der Hauptverhandlung beantragen will. (4) 1Der Beschluß, durch den die Jugendkammer die Sache übernimmt oder die Übernahme ablehnt, ist nicht anfechtbar. 2Der Übernahmebeschluß ist mit dem Eröffnungsbeschluß zu verbinden. 1. Hw.-J: § 108 I; § 108, 1, 2; sonstige Hw. § 108 I–III; [ErwG]: § 41, 6. Anmerkungen und Richtlinie hierzu siehe nach § 41.

§ 41 Sachliche Zuständigkeit der Jugendkammer (1) Die Jugendkammer ist als erkennendes Gericht des ersten Rechtszuges zuständig in Sachen, 1. die nach den allgemeinen Vorschriften einschließlich der Regelung des § 74e des Gerichtsverfassungsgesetzes zur Zuständigkeit des Schwurgerichts gehören, 2. die sie nach Vorlage durch das Jugendschöffengericht wegen ihres besonderen Umfangs übernimmt (§ 40 Abs. 2), 3. die nach § 103 gegen Jugendliche und Erwachsene verbunden sind, wenn für die Erwachsenen nach allgemeinen Vorschriften eine große Strafkammer zuständig wäre, 4. bei denen die Staatsanwaltschaft wegen der besonderen Schutzbedürftigkeit von Verletzten der Straftat, die als Zeugen in Betracht kommen, Anklage bei der Jugendkammer erhebt, 305 https://doi.org/10.1515/9783110686401-049

§ 41

2. Teil. Jugendliche

5.

bei denen dem Beschuldigten eine Tat der in § 7 Abs. 2 bezeichneten Art vorgeworfen wird und eine höhere Strafe als fünf Jahre Jugendstrafe oder die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zu erwarten ist. (2) 1Die Jugendkammer ist außerdem zuständig für die Verhandlung und Entscheidung über das Rechtsmittel der Berufung gegen die Urteile des Jugendrichters und des Jugendschöffengerichts. 2Sie trifft auch die in § 73 Abs. 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes bezeichneten Entscheidungen.

1. Hw.-J: § 108 I; sonstige Hw. § 41 RL 3; § 108 III; – 2. [ErwG]: § 41, 6.

Richtlinie zu §§ 39 bis 41 Die Entscheidung der Jugendkammer nach § 40 Abs. 2 kann nicht die Staatsanwaltschaft oder der Angeschuldigte, sondern nur der Vorsitzende des Jugendschöffengerichts herbeiführen. Für die Übernahme werden namentlich Strafsachen in Betracht kommen, die wegen der großen Anzahl von Beschuldigten oder Zeugen von einem Berufsrichter allein nicht sachgemäß erledigt werden können.

Übersicht Vorbemerkungen 1 5 1. Sachliche und funktionelle Zuständigkeit 8 2. Anklage zum JRichter 11 3. Anklage zur JKammer 19 4. Anklage zum OLG 20 5. Anklage zum JSchöffengericht 6. Strafbann des JRichters nach Eröffnung des 24 Hauptverfahrens 7. Das sachlich unzuständige J- oder ErwGericht 25 vor Eröffnung des Hauptverfahrens

8.

9. 10. 11. 12.

Das sachlich unzuständige J- oder ErwGericht nach Eröffnung des Hauptverfahrens, aber au35 ßerhalb der Hauptverhandlung Das sachlich unzuständige J- oder ErwGericht in 41 der Hauptverhandlung 46 Besondere Übertragungsmöglichkeiten JKammer als Berufungs- und Beschwerdege49 richt Zuständigkeit zur Einheitsstrafenbil55 dung

Vorbemerkungen 1 Auf die §§ 209, 209a, 225a, 270 StPO, § 74e GVG wird hingewiesen. §§ 33, 107 setzen JGerichte für Verfahren gegen J und Hw. ein. Die Frage, wann ein allg. 2 Strafgericht gegen J und Hw. tätig werden kann, ist in den §§ 102, 103, 112, der umgekehrte Fall in §§ 103, 112 und §§ 209a, 225a, 270 StPO, §§ 26, 74b GVG behandelt. Die Folgen einer Überschreitung dieser Abgrenzung zwischen J- und ErwGericht werden bei § 33b, 28 und § 47a, 1, 3, 5 erörtert. Ob das allg. Strafgericht oder das JGericht zur Entscheidung berufen ist, muss neben und unabhängig von der sachlichen (§§ 39–41, 108), örtlichen (§§ 42, 108) und allg. funktionellen (Rn 7) Zuständigkeit geprüft werden. Die Schwergewichtsentscheidung des § 32 berührt die Zuständigkeit der JGerichte nicht (§ 32, 5). Wie im allg. Recht ist auch im JRecht das höhere Gericht zuständig, wenn „ein nicht allzu 3 fern liegender Verdacht einer Tat“ besteht, für welche die Zuständigkeit dieses Gerichts gegeben ist1; entsprechend liegt die Zuständigkeit des höheren Gerichts auch dann vor, wenn eine nicht allzu fern liegende Möglichkeit besteht, dass Strafen oder andere Maßnahmen verhängt werden, über deren Anordnung das höhere Gericht befinden soll (Rn 8).

1 BGH GA 62, 149. 306

Sachliche Zuständigkeit der Jugendkammer

§ 41

Auch im JRecht ist durch den nicht angefochtenen Beschluss, das Gericht sei sachlich oder 4 örtlich nicht zuständig (= Unzuständigkeitserklärung), nur dieses Gericht gebunden. Anklage zu einem Gericht gleichen Ranges an einem anderen Ort bleibt zulässig2.

1. Sachliche und funktionelle Zuständigkeit Die JGerichte haben in Verfahren gegen J eine andere sachliche Zuständigkeit als die ErwGe- 5 richte. Diese bes. Zuständigkeit besteht auch für Verfahren gegen Hw., auf die JRecht anzuwenden ist. Dagegen gilt für die sachliche Zuständigkeit bei Hw. allg. Recht, wenn sie nach ErwRecht abzuurteilen sind (§ 108, 2), die Zuständigkeit der JGerichte an sich bleibt aber unberührt3. Bei zu einem Verfahren gegen J und Hw. verbundenen Erw. aber ist die Zuständigkeit der JGerichte nach §§ 39 I 2 und 41 I Nr. 3 modifiziert, weil sich die Zuständigkeitsbereiche von JRichter und ErwRichter auf der Ebene des AG nicht decken (Rn 9 u. 13). Auch im JSchutzverfahren gilt die sachliche Zuständigkeit des allg. Rechts (Anh. § 125, 6). Die §§ 39 und 40 I sind für das ErwGericht von geringer Bedeutung, weil nach §§ 102, 103 6 II 2, 112 S. 1 für J und Hw. nur noch das OLG oder die Wirtschaftsstraf- oder die Staatsschutzkammer unter ganz bestimmten Voraussetzungen zuständig sein können (§ 103, 6; § 112, 1). Zu einem Ausnahmefall vgl. § 80, 6. Die Schwurgerichts-Strafkammer hat nie die Schwurgerichtszuständigkeit der JKammer (Rn 11). Die §§ 41 I Nr. 2, II, 40 II–IV gelten nur für das Verfahren vor JGerichten4. Die Zuständigkeit der OLG als Gerichte 1. Instanz bestimmt sich nur nach allg. Recht (§§ 102 S. 1, 33 II). Im OWiG-Verfahren gilt § 68 II OWiG; dazu Rn 10; im JSchutzverfahren §§ 26 I 2, 74b S. 2 GVG. Die funktionelle Zuständigkeit ist im JRecht – mangels abweichender Regelung – die glei- 7 che wie im allg. Recht (§ 2 II)5, so der Instanzenzug (Rn 53), die Zuständigkeiten im Vorverfahren und für Rechtshilfe (§ 34, 3). § 41 II ist an sich überflüssig6, ebenso insoweit § 34 I.

2. Anklage zum JRichter Die Anklage wird zum JRichter (§ 39 I) erhoben, wenn nur ErzMaßregeln (§ 9), Zuchtmittel 8 (§ 13), nach § 6 zulässige Nebenstrafen und -folgen oder Entziehung der Fahrerlaubnis (§§ 69 ff StGB) zu erwarten sind; also nicht, wenn JStrafe (mit oder ohne Aussetzung zur Bew.), die Aussetzung der Verhängung der JStrafe oder Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Rn 21, 22) oder in einer Entziehungsanstalt oder Führungsaufsicht in Betracht kommt. Für die Frage der Zuständigkeit des J(Einzel)Richters gilt § 39 I, nicht § 39 II (s. zu diesem Rn 24); schon bei Zweifeln ist der JRichter nicht zuständig7 (vgl. auch § 108, 1). Ist an sich die Zuständigkeit des JRichters gegeben, liegt es doch noch im Ermessen des JStA, ob das Verfahren vor den JRichter oder vor das JSchöffengericht kommt. Bei Taten von größerem Gewicht (fahrlässiger Tötung) oder größerem Umfang oder Aufsehen in der Öffentlichkeit sollte stets zum JSchöffengericht angeklagt werden. Sonst aber – und zwar auch bei Verbrechen – verdient das schnellere

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BGH 18, 1. OLG Karlsruhe GA 75, 27. Vgl. Dallinger/Lackner § 104, 6 u. 34. Zust. Eisenberg/Kölbel § 39, 6. Dallinger/Lackner § 41, 12. Dallinger/Lackner § 39, 4, 5; Potrykus NJW 57, 1135; Roestel NJW 66, 334; aA Eisenberg/Kölbel § 39, 8a. Für Anklage beim JSchöffengericht nur bei erheblichen Zweifeln DSS/Schatz § 39, 9, nur bei Zweifeln auch hinsichtlich der Sanktionskompetenz des § 39 II Ostendorf/Schady 4. De lege ferenda für Erweiterung der Zuständigkeit des JRichters auf Verfehlungen, für die JStrafe bis zu 2 Jahren zu erwarten ist, Strewe ZRP 03, 287 f; dagegen Kuba ZRP 04, 28; Kropp ZRP 04, 57. 307

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Verfahren vor dem JRichter auch deshalb den Vorzug, weil hier die Einheit JRichter – Familiengericht (§ 34, 4) häufig gewahrt ist. Aus dem Grundsatz der Einheitsstrafenbildung ergibt sich, dass Taten, für die an sich der J(Einzel)Richter zuständig wäre, zum JSchöffengericht anzuklagen sind, wenn dort schon ein Verfahren anhängig ist oder wird (Rn 42; falls nicht Einstellung gem. §§ 45, 47 JGG, 153, 154 StPO oä in Betracht kommt). 9 Nach § 103 II 1 kommen Verfahren, bei denen Sachen gegen J (oder Hw.: § 112) mit solchen gegen Erw. verbunden sind, stets vor die JGerichte, wenn nicht die in § 103 II 2, 3 statuierten Ausnahmen eingreifen. Da der Erw. aber Anspruch darauf hat, vor ein JGericht zu kommen, das der funktionellen Ordnung des ErwGerichts entspricht (vgl. § 33b, 7; § 103, 5), darf der J(Einzel)Richter nicht entscheiden, wenn für den zum Verfahren verbundenen Erw. nach den allg. Vorschriften die Zuständigkeit des ErwRichters beim AG überschritten wäre (§ 39 I 2). Die Regelung des § 39 I 2 ist deshalb erforderlich, weil sich die Zuständigkeitsbereiche von JRichter und ErwRichter beim AG nicht decken, und entspricht auf der Ebene des Einzelrichters der Vorschrift des § 41 I Nr. 3 für den Zuständigkeitsbereich der JKammer. In solchem Fall führt die für den Erw. geltende Zuständigkeitsregelung auch den verbundenen J (Hw.) mit vor das JSchöffengericht oder die JKammer, was im Einzelfall die Prüfung anregen wird, ob die Verbindung wirklich notwendig und erz. sinnvoll ist (§ 103 I; näher § 103, 9). Zum Strafbann nach Eröffnung des Hauptverfahrens Rn 24. Für Erw. vgl. § 47a, 4 u. 5. 10 Im OWiG-Verfahren sind die §§ 39, 40 nicht anwendbar, da § 68 OWiG die sachliche und örtliche Zuständigkeit des Gerichts in Bußgeldsachen abschließend bestimmt8, auch für J und Hw. § 41 ist nur für das Beschwerdeverfahren in Bußgeldsachen von Bedeutung (§ 41 II 2, § 73 I GVG iVm § 46 VII OWiG; näher Rn 54). Die Zuständigkeitsregelung des § 42 jedoch bleibt unberührt (§ 42, 15).

3. Anklage zur JKammer 11 Zur JKammer kann in 6 Fällen angeklagt werden: Gegen J und Hw. wegen Schwurgerichtssachen, die nach den allg. Vorschriften für Erw. zur Zuständigkeit der Schwurgerichtskammer gehören (§ 41 I Nr. 1; § 74 II GVG; zum Sicherungsverfahren Rn 18). Dies gilt schon dann, wenn insoweit ein nicht allzu fern liegender Verdacht besteht9 und selbst, wenn bei Hw. voraussichtlich ErwStrafrecht zur Anwendung kommen und uU auf lebenslange Freiheitsstrafe zu erkennen sein wird. Sind Verfahren gegen J (Hw.) mit solchen gegen Erw. verbunden und würde die Strafsache des Erw. vor das allg. Schwurgericht gehören, so geht die Zuständigkeit der JKammer vor. Dieser Vorrang der Schwurgerichtszuständigkeit der JKammer nach § 41 I Nr. 1 bleibt auch erhalten, wenn beim Erw. die Zuständigkeit der Wirtschaftsstrafkammer oder der Staatsschutzkammer durch die ebenfalls bestehende des ErwSchwurgerichts nach § 74e GVG verdrängt wird10. Denn die Bezugnahme auf die Regelung des § 74e GVG in § 41 I Nr. 1 stellt klar, dass in Verfahren, bei denen auch Erw. angeklagt sind, die sonst nach § 103 II 2 vorgehende Zuständigkeit der Wirtschaftsstrafkammer und der Staatsschutzkammer (§ 103, 6) hinter die Schwurgerichtszuständigkeit der JKammer nach § 41 I Nr. 1 zurücktritt. Auch der Erw. kann sich im Falle des § 103 II auf die Unzuständigkeit der Schwurgerichtskammer berufen (gesetzlicher Richter)11. 12 Zur JKammer ist auch dann anzuklagen, wenn bei Hw. voraussichtlich ErwStrafrecht zur Anwendung kommen wird, falls nach konkreter Betrachtung eine Freiheitsstrafe von mehr

8 Göhler/Seitz/Bauer Vor § 67 OWiG 24; BGH 23, 79 für örtliche Zuständigkeit. 9 BGH GA 62, 149; Rn 2; enger Eisenberg/Köbel 5; Ostendorf/Schady 3 je zu § 41. 10 Katholnigg NJW 78, 2376; Eisenberg/Köbel 7; Ostendorf/Schady 3 je zu § 41. 11 BGH H MDR 80, 456. 308

Sachliche Zuständigkeit der Jugendkammer

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als 4 Jahren oder die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in der Sicherungsverwahrung zu erwarten ist (§ 108 III 2)12. Anklage zur JKammer ist auch dann zu erheben, wenn bei nach § 103 II verbundenen Verfahren gegen J (Hw.) und Erw. die Strafsache des Erw. nach den allg. Vorschriften in die Zuständigkeit einer großen Strafkammer fallen würde (§ 41 I Nr. 3). Der Erw. führt in derart verbundenen Verfahren die J (Hw.) dann in erster Instanz mit sich vor die JKammer, wenn ihm Verbrechen zur Last liegen, die nicht zur Zuständigkeit des AG oder des OLG gehören oder wenn ihm Straftaten angelastet werden, bei denen eine höhere Strafe als 4 Jahre Freiheitsstrafe oder die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (s. Rn 21 u. 22) oder Sicherungsverwahrung zu erwarten ist (§ 74 I GVG). Bei der Straferwartung ist die unter den konkreten Umständen den oberen Rand der Straferwartung bildende Strafe maßgeblich, damit ausreichender Spielraum für die Rechtsfolgenbemessung besteht und Verweisungen nach § 270 I StPO vermieden werden13. Wenn die StA bei einem Erw. wegen der bes. Bedeutung des Falles hinsichtlich des Erw. Anklage beim LG erheben will (§§ 24 I Nr. 3, 74 I GVG), sieht sie, wie auch bei drohender Unterbringung, schon aus erz. Gründen dem jungen Mitangeklagten gegenüber besser von einer Verbindung ab14. Wenn aber in verbundenen Sachen für die Tat des Erw. die Wirtschaftsstrafkammer oder die Staatsschutzkammer zuständig ist, tritt die JKammer zurück und der Erw. zieht die mit ihm in einem Verfahren verbundenen J (Hw.) vor diese ErwStrafkammern mit ihrer bes. Zuständigkeitskonzentration (§ 103 II S. 3, 2. HS; § 209a StPO, § 74e GVG; näher § 103, 6). Die JKammer wird aber in solchen Fällen dann wieder zuständig, wenn eine Schwurgerichtssache die Zuständigkeit der ErwKammern nach §§ 74c, 74a GVG verdrängt (§ 41 I Nr. 1 iVm § 74e GVG)15. Dies wird im Einzelfall zur Prüfung der Frage anregen, ob die Verbindung tatsächlich notwendig und erz. sinnvoll ist (§ 103 I; näher § 103, 9). Nach § 41 I Nr. 4 ist die Zuständigkeit der JKammern begründet, wenn die StA wegen der bes. Schutzbedürftigkeit von Verletzten der Straftat, die als Zeugen in Betracht kommen, Anklage bei der JKammer erhebt. Die dem § 24 I Nr. 3 GVG nachgebildete Vorschrift will Opferzeugen die 2. Tatsacheninstanz ersparen16. Erforderlich ist, dass bei einer weiteren Vernehmung in der 2. Tatsacheninstanz gravierende psychische Auswirkungen auf den Opferzeugen zu befürchten sind; dabei kommt es auf die individuelle Schutzbedürftigkeit des Zeugen im konkreten Strafverfahren an17. Die Vorschrift kommt insbes. bei kindlichen und jugendlichen Opfern von Sexualdelikten in Betracht, nicht bei Bedrohung eines Zeugen aufgrund seines Aussageverhaltens18. Die Umstände, die die bes. Schutzbedürftigkeit des Opferzeugen begründen, sind in der Anklage anzugeben, sofern sie nicht offensichtlich sind19. Die Entscheidung der StA unterliegt der vollen gerichtlichen Überprüfung20. Weiterhin erhebt die StA nach § 41 I Nr. 5 Anklage vor der JKammer, wenn dem Beschuldigten eine Tat der in § 7 II bezeichneten Art (dazu § 7, 17) vorgeworfen wird und eine höhere Strafe als 5 Jahre JStrafe oder die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zu erwarten ist. Durch diese durch G v. 8.7.2008 eingefügte Vorschrift soll erreicht werden, dass die JKammer stets bereits als erkennendes Tatgericht zuständig ist, wenn (vorbehaltene) Siche12 13 14 15 16

OLG Hamm JMBl. NRW 54, 181; OLG Karlsruhe GA 75, 27. OLG Köln NStZ-RR 00, 314. Ostendorf/Schady § 41, 5. Eisenberg/Kölbel § 41, 7. Beschlussempfehlung des RA, BT-Drs. 16/3038, S. 74; krit. im Hinblick auf Art. 101 GG Eisenberg/Kölbel § 41, 7a; Heghmann DRiZ 05, 291. 17 Stellungnahme des BR, BT-Drs. 16/3038, S. 74; OLG Celle NStZ 17, 495; LG Hechingen NStZ-RR 06, 51 jeweils zu § 24 I Nr. 3 GVG; LG Koblenz ZJJ 12, 208. 18 LG Koblenz ZJJ 12, 208. 19 Stellungnahme des BR aaO; OLG Hamburg NStZ 05, 654; OLG Celle NStZ 17, 495 jeweils zu § 24 I Nr. 3 GVG. 20 Stellungnahme des BR aaO; BVerfGE 9, 223; OLG Hamburg aaO; OLG Celle aaO, 496; Meyer-Goßner/Schmitt § 24 GVG 9; aA OLG Schleswig NStZ 1985, 74. 309

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rungsverwahrung in Betracht kommt21. Die Zuständigkeit der JKammer ist allerdings nicht an die Voraussetzung geknüpft, dass die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung zu erwarten ist. Von dieser unsicheren Prognose wollte der Gesetzgeber die Zuständigkeit nicht abhängig machen22. Er hat deshalb allein auf die „äußeren Voraussetzungen“ der Sicherungsverwahrung abgestellt, wobei er die Grenze für die JStrafe wegen der nicht präzise zu treffenden Sanktionsprognose schon bei 5 Jahren gezogen hat23. 17 Letztlich kann die JKammer sich selbst dadurch zuständig machen, dass sie eine Sache nach Vorlage durch das JSchöffengericht wegen des bes. Umfangs übernimmt (§ 41 I Nr. 2; näher Rn 47). 18 Liegt einem Hw. ein Verbrechen zur Last, für welches die Zuständigkeit der JKammer nach § 41 I Nr. 1 gegeben ist, so entscheidet im Sicherungsverfahren über die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus die JKammer ausschließlich24.

4. Anklage zum OLG 19 Das OLG ist für alle in § 120 GVG aufgezählten Delikte zuständig und allen JGerichten gegenüber Gericht höherer Ordnung. Es genügt ein nicht allzu fern liegender Verdacht (Rn 3). Einheitsstrafenbildung Rn 55. Die Staatsschutzkammer bei dem LG nach § 74a GVG ist eine „bes. Strafkammer“ mit gesetzlich bestimmter Geschäftsaufgabe, die für J und Hw. nicht zuständig ist, es sei denn zu dem Verfahren gegen J (Hw.) sind auch Erw. verbunden, deren Taten in die Zuständigkeit der Staatsschutzkammer fallen (Rn 14 u. 34). Zur Zuständigkeit der OLG als gemeinschaftliche obere Gerichte iSd § 4 II 2 StPO: § 103, 17.

5. Anklage zum JSchöffengericht 20 Zum JSchöffengericht (§ 40 I) ist die Anklage in allen übrigen Verfahren zu erheben, also wenn kein Delikt nach § 108 III 2, § 120 GVG vorliegt, die Verhängung einer JStrafe gleich welcher Höhe oder die Aussetzung der Verhängung einer JStrafe – auch bei bestehenden Zweifeln – in Betracht kommt, sowie immer dann, wenn die JStA nicht vor dem JRichter anklagt. Das JSchöffengericht kann alle nach dem JGG zulässigen Sanktionen sowie Maßregeln (außer Sicherungsverwahrung) bis zum Höchstmaß aussprechen, Freiheitsstrafe aber nur bis zu 4 Jahren (§ 108 III 1; dazu Rn 12 u. 13). J und Hw. sind grds. zum JSchöffengericht auch dann anzuklagen, wenn die Unterbringung 21 in einem psychiatrischen Krankenhaus zu erwarten ist25. Dies ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden26. Denn die §§ 39–41 ersetzen in JSachen die nur für das ErwStrafverfahren geltende Vorschrift des § 24 I Nr. 2, II GVG, welche für den Erw. insoweit die große Strafkammer vorsieht (§ 2 II)27; es folgt auch aus § 108. Andernfalls hätte sich in Anbetracht des § 24 I Nr. 2, II GVG die Einfügung des § 39 II HS 2 erübrigt. Der J(Einzel)Richter darf die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht anordnen (§ 39 II). In diesem Fall ist also das JSchöffengericht in erster Instanz im Rahmen seiner allg. Auffangzuständigkeit zur Entscheidung be-

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Begr. RegE, BT-Drs. 16/6562, S. 10. AaO. AaO. OLG Saarbrücken NStZ 85, 93; OLG Düsseldorf JMBl. NRW 92, 69. Für Zuständigkeit der JKammer de lege ferenda Neßeler ZJJ 19, 146. BVerfG NJW 86, 771. OLG Schleswig bei Güntge/Füssinger SchlHA 15, 297; LG Bonn NJW 76, 2312; zust. Eisenberg/Kölbel § 40, 7. 310

Sachliche Zuständigkeit der Jugendkammer

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rufen, es sei denn, die JKammer ist wegen des angeklagten Verbrechens nach § 41 I Nr. 1 oder 5 zuständig28 oder sie hat das Verfahren nach §§ 40 II, 41 I Nr. 2 übernommen. Gegen einen Hw. darf das JSchöffengericht bei Anwendung von allg. Recht die Unterbrin- 22 gung in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht anordnen; hierfür ist nach § 108 III 2 die JKammer zuständig. Ist zu einem Verfahren gegen J (Hw.) ein Erw. verbunden und für diesen die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zu erwarten, so ist für den Erw. die JKammer in erster Instanz zuständig (§ 41 I Nr. 3; § 24 I Nr. 2, II GVG), was dann zwangsläufig auch für die zum gleichen Verfahren verbundenen J (Hw.) gilt29. In der Praxis wird sich eine derartige Verbindung wegen der unnötigen Zuständigkeitsverschiebung und der möglichen unguten Wirkung des Verfahrens auf die J nicht empfehlen (vgl. § 103, 9). Dies alles gilt auch für die Durchführung des Sicherungsverfahrens nach §§ 413 ff StPO30 (dazu aber Rn 18). Die abschließende Regelung der sachlichen Zuständigkeit durch das JGG ist auch für das Sicherungsverfahren sinnvoll, da der JRichter als Vorsitzender des JSchöffengerichts eine bes. Erfahrung in der Auswahl von Maßnahmen hat, die zur Abwendung der bes. bei J unerwünschten (§ 7, 2) Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ausreichen können31. Wenn es nur um die Entziehung der Fahrerlaubnis geht, wird auch der JRichter zuständig sein können32. Durch Sachzusammenhang (§ 3 StPO) kann auch ein höheres Gericht zuständig werden. 23

6. Strafbann des JRichters nach Eröffnung des Hauptverfahrens Ist das Hauptverfahren vor dem JRichter eröffnet, so braucht er nicht mehr zu prüfen, ob ev. 24 eine JStrafe zu erwarten ist33. Er darf dann auch aus prozessökonomischen Gründen JStrafe bis zu einem Jahr verhängen (zur Einheitsstrafenbildung Rn 55), eine Entscheidung nach § 27 (aber § 27, 12) treffen (§ 39 II) und Maßregeln der Besserung und Sicherung (Unterbringung in einer Entziehungsanstalt, Führungsaufsicht) anordnen34, nicht aber die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 39 II). Reicht der durch § 39 II erweiterte Strafbann nicht aus, so verweist der JRichter Verfahren gegen J und Hw. an das JSchöffengericht (Rn 42), was auch ohne diese Voraussetzung zum Zwecke der Verbindung mit einem beim JSchöffengericht anhängigen Verfahren geschehen kann (vgl. § 31 I).

7. Das sachlich unzuständige J- oder ErwGericht vor Eröffnung des Hauptverfahrens Der Inhalt der Anklage bestimmt die Zuständigkeit des Gerichts (§§ 170 I, 206 StPO): Verneint 25 ein Gericht höherer Ordnung den hinreichenden Tatverdacht für eine Straftat, die seine Zuständigkeit begründen würde, oder beschränkt es die Verfolgung nach § 154a StPO insoweit, so eröffnet es das Hauptverfahren vor dem zuständigen nachgeordneten Gericht (§ 209 I StPO)35. Hält das mit der Anklage angegangene J- oder ErwGericht sich für sachlich nicht zuständig, 26 so bietet sich als einfachster Weg an, der JStA diese Bedenken formlos mitzuteilen. Teilt die JStA die Bedenken des Gerichts hinsichtlich seiner Zuständigkeit – was zumeist unschwer zu klären 28 29 30 31

OLG Saarbrücken NStZ 85, 93; OLG Stuttgart MDR 88, 433. Eisenberg/Kölbel § 108, 12 u. Eisenberg NJW 86, 2410. OLG Stuttgart MDR 88, 433; abl. Eisenberg/Kölbel § 40, 7. OLG Oldenburg NJW 58, 1200; OLG Karlsruhe JZ 57, 31; LG Bonn NJW 76, 2312; Dallinger/Lackner § 40, 4; Eisenberg/Kölbel § 40, 7. 32 Vgl. Löwe/Rosenberg/Gössel26 § 414 StPO 14. 33 BGH GA 81, 321 mit Anm. Rieß; BayObLG 85, 33 zu § 25 Nr. 3 GVG aF. 34 Zust. Eisenberg/Kölbel § 39, 12. 35 BGH 29, 341; Meyer-Goßner/Schmitt § 209 StPO 2. 311

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ist – so nimmt sie ihre Anklage zurück (§ 156 StPO) und erhebt sie erneut vor dem zuständigen Gericht, ggf. nach Einfügen des nunmehr erforderlichen wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen (§ 200 II StPO). Gelingt eine solche rasche und einfache Klärung nicht, so ist zu unterscheiden: Gleichrangige JGerichte des gleichen Gerichts geben ohne bindende Wirkung36 formlos aneinander ab37. Die Sache wird beim anderen Richter erst dann anhängig, wenn dieser sich zur Übernahme bereit erklärt38. Lehnt dieser die Übernahme ab, so entscheidet diesen Streit über die Anwendung des Geschäftsverteilungsplanes – es geht nicht um eine gesetzliche Aufgabenregelung – das Präsidium des Gerichts nach § 21e GVG durch revisionsgerichtlich nur auf Ermessensmissbrauch überprüfbaren39 Beschluss40, in Eilfällen der Präsident41. 27 Hält ein rangniedrigeres JGericht ein ranghöheres JGericht seines Bezirks für zuständig, so legt es diesem die Sache nach § 39 I 3, § 209 II StPO durch Vermittlung der JStA nach Durchführung des Verfahrens gem. § 201 StPO, idR bei Entscheidungsreife, zur Übernahme vor42, also: der JRichter dem JSchöffengericht, der JKammer oder dem OLG (kein JGericht); das JSchöffengericht der JKammer oder dem OLG; die JKammer dem OLG. Beschwerde gegen den Vorlegungsbeschluss nach § 209 II StPO ist nicht zulässig43. Die Vorlage muss immer durch Vermittlung der JStA erfolgen44, auch wenn der JRichter dem JSchöffenrichter beim gleichen Gericht vorlegt45, schon um der JStA nach § 33 II StPO Gelegenheit zur Äußerung zu geben (vgl. aber auch Rn 24). Die JStA kann die Anklage bis zur Entscheidung des ranghöheren JGerichts zurücknehmen (§ 156 StPO) oder vor Weiterleitung der Akten Stellung nehmen und ggf. das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen beifügen (§ 200 II StPO). Für die Zuständigkeitsprüfung in diesem Zwischenverfahren ist nur Abs. I, nicht Abs. II des § 39 in Betracht zu ziehen46; dies gilt auch für die Rn 28. Das vorgelegte Verfahren wird bei dem ranghöheren Gericht erst dann anhängig, wenn es durch Beschluss oder zumindest unmissverständliche Stellungnahme des Spruchkörpers in seiner Gesamtheit47 das Verfahren übernimmt. Anders als bei § 270 StPO wird hier das ranghöhere Gericht durch die Vorlage der Akten nicht gebunden, da eine derartige Vorlage einer Anklageerhebung entspricht. Es muss das Gericht also das Hauptverfahren vor sich selbst, nach § 209 I StPO vor einem Gericht niedrigerer Ordnung (auch dem vorlegenden) eröffnen oder auch seinerseits wieder nach § 209 II StPO vorlegen48. Hält ein ranghöheres ein rangniedrigeres JGericht seines Bezirks für zuständig, so eröff28 net es, falls Rückverweisung nach § 270 StPO praktisch auszuschließen ist49, nach § 209 I StPO vor diesem das Hauptverfahren, also das JSchöffengericht vor dem JRichter50, die JKammer vor dem JSchöffengericht oder dem JRichter. Mit Eingang des Eröffnungsbeschlusses wird das Verfahren vor dem rangniedrigeren JGericht rechtshängig. Dieses ist gebunden; es kann nicht mehr nach §§ 209 II, 225a I StPO an ein Gericht höherer Ordnung vorlegen, wohl aber in der Hauptverhandlung nach § 270 StPO dorthin verweisen51. Das OLG kann das Verfahren vor jedem nachge-

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OLG Hamm NJW 72, 1909. BGH 26, 200. KG NJW 64, 237. BGH MDR 75, 770. BGH 25, 244; 26, 200; OLG Schleswig SchlHA 77, 29. BGH H MDR 77, 416. Löwe/Rosenberg/Stuckenberg27 § 209 StPO 33. Meyer-Goßner/Schmitt § 209 StPO 9. Löwe/Rosenberg/Stuckenberg27 § 209 StPO 43. LG Lübeck SchlHA 66, 47. Dallinger/Lackner § 39, 7. LG Bonn NJW 76, 2312. Vgl. Rieß NJW 79, 1536. OLG Karlsruhe Justiz 86, 50. LG Bielefeld StV 20, 683, 684. KMR/Seidl § 209 StPO 15. 312

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ordneten Gericht eröffnen, wenn es den hinreichenden Tatverdacht hinsichtlich der seine Zuständigkeit begründenden Straftat verneint oder insoweit nach § 154a StPO verfährt52. Das Verhältnis der JGerichte zu den ErwGerichten wurde hinsichtlich der Verbindung und Trennung rechtshängiger Sachen und hinsichtlich der Zuständigkeit im Eröffnungsverfahren durch das StVÄG 1979 grundlegend geändert. Allg. dazu § 33b, 3–8. Die ErwGerichte haben die Spezialzuständigkeit der JGerichte in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen, weil insoweit § 6 StPO, nicht § 6a StPO gilt53. Zu JSchutzsachen Anh. § 125, 6, 12. Zwischen rangverschiedenen J- und ErwGerichten gilt vor Eröffnung des Hauptverfahrens bei Zuständigkeitskonkurrenz nur § 209 StPO, weil die Sondervorschrift des § 209a StPO Gerichte „gleicher Ordnung“ voraussetzt und bei diesen Zuständigkeitsstreit vermeiden will. Kommt ein JGericht zur Auffassung, dass ein bei ihm angeschuldigter J oder Hw. zur Tatzeit schon erwachsen war, so legt das rangniedrigere JGericht dem ranghöheren ErwGericht das Verfahren, in Form und Wirkung wie Rn 27 ausgeführt, zur Übernahme vor (§ 209 II StPO), also: der JRichter dem ErwSchöffengericht oder – wie auch das JSchöffengericht – der ErwStrafkammer (auch Schwurgerichts-, Wirtschaftsstraf- oder Staatsschutzkammer) und dem OLG. Das ranghöhere JGericht eröffnet, in Form und Wirkung wie Rn 28 ausgeführt, vor dem rangniedrigeren ErwGericht (§ 209 I StPO), also: das JSchöffengericht vor dem ErwStrafrichter; die JKammer vor diesem und dem ErwSchöffengericht. Kommt ein ErwGericht zur Auffassung, auch nur einer der Angeschuldigten sei zur Tatzeit J oder Hw. gewesen, so legt das rangniedrigere ErwGericht dem ranghöheren JGericht zur Übernahme vor (§ 209 II StPO), also: der ErwStrafrichter dem JSchöffengericht und der JKammer; das ErwSchöffengericht der JKammer. Das ranghöhere ErwGericht eröffnet vor dem rangniedrigeren JGericht (§ 209 I StPO), also: das OLG vor JKammer, JSchöffengericht und JRichter; die ErwStrafkammer vor JSchöffengericht und JRichter; das ErwSchöffengericht vor dem JRichter. Bei gleichrangigen J- und ErwGerichten stellt § 209a StPO die JGerichte den ErwGerichten gegenüber Gerichten höherer Ordnung gleich, wenn zu entscheiden ist, ob ein Verfahren nach den Vorschriften des JGG vor ein JGericht gehört. Ist aber in einer Sache zu J (Hw.) ein Erw. zu gemeinsamer Verhandlung und Entscheidung verbunden und wäre für die Strafsache des Erw. die Wirtschaftsstraf- oder die Staatsschutzkammer zuständig, so geht deren Zuständigkeit auch für J (Hw.) vor (§ 103 II 2, 3; näher § 103, 6). Es eröffnet also: der JRichter oder BezirksJRichter vor dem ErwStrafrichter; das JSchöffengericht oder BezJSchöffengericht vor ErwSchöffengericht und erweitertem ErwSchöffengericht; die JKammer vor großen ErwStrafkammern in der Rangfolge des § 74e GVG, nicht aber in verbundenen JSachen mit einer zur Kompetenz der Wirtschaftsstraf- oder Staatsschutzkammer gehörenden ErwSache (§ 103 II 2, 3). Wegen dieser Ausnahme muss in solchen Sachen die JKammer der Wirtschaftsstraf- und der Staatsschutzkammer das gesamte verbundene Verfahren zur Übernahme vorlegen, da diese Spezialgerichte in diesem Falle auch über die jrechtlichen Voraussetzungen der Verbindung (§ 103 I) entscheiden (§§ 103, 6 u. 9). Nach § 209a StPO haben also zur Übernahme vorzulegen: der ErwStrafrichter an den JRichter oder BezirksJRichter; das ErwSchöffengericht und das erweiterte ErwSchöffengericht an das JSchöffengericht oder das BezirksJSchöffengericht; die Erw Strafkammer – auch die Schwurgerichtskammer – stets und die Wirtschaftsstraf- und Staatsschutzkammer (falls nicht die Ausnahme § 103 II 2, 3 eingreift) der JKammer.

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8. Das sachlich unzuständige J- oder ErwGericht nach Eröffnung des Hauptverfahrens, aber außerhalb der Hauptverhandlung Nach Eröffnung des Hauptverfahrens gestattet § 225a StPO die Vorlage des Verfahrens durch 35 begründeten, unanfechtbaren Beschluss über die JStA an das zuständige Gericht höherer Ord52 BGH 29, 341. 53 Rieß NJW 78, 2267. 313

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nung zur Übernahme vor der Hauptverhandlung und auch wieder nach dieser, wenn die Hauptverhandlung das Verfahren nicht für die Instanz beendet hat54. Im Berufungsverfahren ist § 225a StPO nicht anwendbar (§ 323 I 1 StPO), auch nicht im JSchutzverfahren (Anh. § 125, 12). An ein Gericht niederer oder gleicher Ordnung kann nach Eröffnung des Hauptverfahrens nicht mehr verwiesen werden (§ 269 StPO; § 47a). Eine Ausnahme gilt für das JGericht nur für den Fall des § 103 II 2, 3 (näher § 47a, 4). Die Rechtsfolgenerwartung nach § 39 I 1 und andere normative Zuständigkeitsmerkmale sind nach der Eröffnung des Hauptverfahrens nicht mehr zu prüfen und rechtfertigen es nicht, das Verfahren nach § 225a StPO dem Gericht höherer Ordnung vorzulegen oder es nach § 270 StPO dorthin zu verweisen55. Die Missachtung normativer Zuständigkeitsmerkmale ist deshalb auch irreversibel. Hält ein ErwGericht ein JGericht für zuständig, so kann es nicht nur jedem ranghöheren Gericht, sondern, weil § 225a I 1 StPO auf § 209a Nr. 2a StPO verweist, auch jedem gerichtsverfassungsgemäß an sich gleichgeordneten JGericht das Verfahren zur Übernahme vorlegen. Die gleichrangigen JGerichte haben deshalb auch die Prüfungskompetenz der Gerichte höherer Ordnung56. Es legen deshalb vor: ErwStrafrichter an JRichter; ErwSchöffengericht an JSchöffengericht; ErwStrafkammer und Schwurgerichtskammer an JKammer; JKammer an OLG und im Falle des § 103 II 2, 3 auf Rüge (§ 6a StPO) an Wirtschaftsstraf- und Staatsschutzkammer (§ 225a IV StPO). Zu Form und Wirkung der Vorlage Rn 27. Das übernehmende Gericht kann zwar den hinreichenden Tatverdacht nicht mehr verneinen, es kann aber im unanfechtbaren Übernahmebeschluss den Eröffnungsbeschluss in der rechtlichen Würdigung abändern (§ 207 II Nr. 3 StPO entsprechend) oder die Verfolgung nach § 207 II Nr. 2, 4 StPO beschränken oder erweitern57. Nach § 154a StPO darf es erst nach Übernahme beschränken, also nicht dadurch die Ablehnung herbeiführen. – Der zu begründende Ablehnungsbeschluss berührt die Rechtshängigkeit nicht, die Akten werden stets nur an das vorlegende Gericht zurückgeleitet58. Das höherrangige Gericht kann mehrfache Rechtshängigkeit der gleichen prozessualen Tat durch Verbindungsbeschluss beseitigen59.

9. Das sachlich unzuständige J- oder ErwGericht in der Hauptverhandlung 41 Die Verweisung an ein Gericht niederer Ordnung ist ausgeschlossen (§ 47a; § 269 StPO). Die sachliche Zuständigkeit eines Gerichts höherer Ordnung ist in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu beachten (§ 6 StPO; Ausnahme § 6a StPO für die bes. ErwStrafkammern). Für JGerichte untereinander findet die Gesetzesanweisung des § 270 StPO Anwendung. Es 42 verweist etwa der JRichter an das JSchöffengericht, wenn sein Strafbann nach § 39 II nicht ausreicht (Rn 24). Die Rechtsfolgenerwartung nach § 39 I 1 aber rechtfertigt eine Verweisung nach § 270 in diesem Verfahrensstadium nicht mehr (Rn 36). Das ErwGericht kann, da § 270 I StPO auf § 209a Nr. 2a StPO Bezug nimmt, nicht nur an 43 ein JGericht höherer Ordnung, sondern auch an ein JGericht gerichtsverfassungsgemäß gleicher Ordnung verweisen, weil JGerichte insoweit als Gerichte höherer Ordnung gelten. Zur Verweisungsfolge, auch für JGerichte zu ErwGerichten, Rn 27. Die Zuständigkeit der JGerichte ist nach § 6 StPO in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu beachten, § 6a StPO gilt insoweit nicht (§ 33b, 6)60. Ergibt sich in der Hauptverhandlung vor der Strafkammer die Zuständigkeit der 54 55 56 57 58 59 60

Löwe/Rosenberg/Jäger27 § 225a StPO 5. Rieß NJW 78, 2267; Meyer-Goßner/Schmitt § 225a StPO 5, § 270 StPO 5. Löwe/Rosenberg/Jäger27 § 225a StPO 19. Löwe/Rosenberg/Jäger27 § 225a StPO 22; zur Form des Übernahmebeschlusses s. BGH NStZ 21, 179. Meyer-Goßner/Schmitt § 225a StPO 19. BGH 36, 175. BGH 47, 311 = NStZ 03, 47 mit zust. Anm. Rieß. 314

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JKammer, ist die Sache auch dann nach § 270 I StPO an die JKammer zu verweisen, wenn diese das bei ihr angeklagte Verfahren gem. § 209 I iVm § 209a Nr. 2a StPO vor der Strafkammer eröffnet hatte61. Das Gericht, an welches nach § 270 StPO verwiesen wurde, darf das Verfahren nicht mehr 44 an das verweisende Gericht zurückverweisen; die Verweisung nach § 270 StPO bindet auch nachrangige wie im Range vorgehende Spezialkammern62. Eine Verweisung an ein Gericht niederer Ordnung ist ausgeschlossen (Rn 41), eine Verweisung aber an ein Gericht höherer Ordnung oder an ein JGericht gerichtsverfassungsmäßig gleicher Ordnung ist stets möglich63. Es wird deshalb nach § 270 StPO an andere Gerichte in der Reihenfolge verwiesen, wie in Rn 27 im Einzelnen aufgeführt ist. Ein fehlerhafter Verweisungsbeschluss nach § 270 StPO bindet nur dann nicht, wenn er auf Willkür beruht64 oder die Verweisung bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist65; das ist auch dann der Fall, wenn das Gesetz keine Verweisungen vorsieht, weil eindeutige Zuständigkeitsregeln einen Kompetenzkonflikt gar nicht zulassen, und gleichwohl verwiesen wird66. Nach Aussetzung der Hauptverhandlung gilt wieder § 225a StPO (Rn 35). Zur Trennung verbundener Verfahren nach Eröffnung des Hauptverfahrens § 103, 18 f. Die Unzuständigkeit des ErwGerichts in Sachen, die nach dem JGG vor JGerichte gehören, 45 kann uneingeschränkt mit der Revision geltend gemacht werden67. Zur Revisibilität einzelner Verstöße gegen Zuständigkeitsvorschriften s. § 33b, 25–27; § 47a, 2, 3, 5.

10. Besondere Übertragungsmöglichkeiten Daneben sieht das Gesetz noch verschiedene bes. Übertragungsmöglichkeiten vor. 46 Vom JSchöffengericht zur JKammer wegen des bes. Umfangs der Sache (§§ 40 II, 41 I Nr. 2), 47 so etwa bei 18 Angeklagten68, nicht bei 4 Zeugen, einem Sachverständigen und 4 Verhandlungstagen69. Nicht aber kann gebilligt werden, eine Übernahme wegen des Umfangs dadurch herbeizuführen, dass ein Verfahren mit relativ geringem Tatvorwurf über den Sachzusammenhang mit einem Verfahren mit einer Vielzahl von Beschuldigten und zum Teil schwerwiegenden Straftaten verbunden wird70. Ob der JRichter als Vorsitzender des JSchöffengerichts vorlegt (RL S. 1) und ob die Kammer übernimmt, liegt in ihrem sachlich nicht nachprüfbaren Ermessen (§ 40 IV 1)71. Weil der die Übernahme ablehnende Beschluss der JKammer nicht anfechtbar ist (§ 40 IV 1) und weil es kein erweitertes JSchöffengericht gibt, fordert Simon72 mehr Übernahmebereitschaft der JKammern. Nach Nothacker73 und Burscheidt74 darf jedoch wegen des mit der Übernahme verbundenen Verlustes einer Tatsacheninstanz die Übernahme nur erfolgen, wenn konkrete Anhaltspunkte für eine den J ggf. erhöht belastende Verfahrensdauer bei Verfahrensdurchführung vor dem JSchöffen61 62 63 64 65

BGH aaO. Löwe/Rosenberg/Stuckenberg27 § 270 StPO 35. Löwe/Rosenberg/Stuckenberg27 § 270 StPO 36. BGH 29, 216; OLG Karlsruhe Justiz 80, 278; OLG Stuttgart NStZ 86, 74. BVerfGE 29, 49; BGH NJW 80, 1586; OLG Düsseldorf NStZ 86, 426; OLG Köln NStZ-RR 11, 288; vgl. auch Hilger NStZ 83, 340. 66 OLG Schleswig NStZ 81, 49. 67 Löwe/Rosenberg/Stuckenberg27 § 209a StPO 48; Löwe/Rosenberg/Jäger27 § 225a StPO 71; vgl. auch OLG Koblenz VRS Bd. 71 (86), 462. 68 BGH B NStZ 83, 450. 69 LG Koblenz ZJJ 12, 208. 70 Eisenberg/Kölbel § 40, 12. 71 OLG Karlsruhe MDR 80, 427. 72 DRiZ 80, 455. 73 S. 318, 319. 74 S. 40. 315

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gericht bestehen. Die Vorlage ist erst nach Einreichung der Anklageschrift an das JSchöffengericht und nur bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens möglich. Der BGH75 hat aber ein Verfahren, in dem das Urteil der Strafkammer aufgehoben wurde, weil das Verfahren vor ein JGericht gehört hätte, an die JKammer statt an das zuständige JSchöffengericht verwiesen, weil die Sache für das JSchöffengericht zu umfangreich und durch die unrichtige Ausschaltung des JGerichts im bisherigen Verfahren die Übertragung gem. §§ 40 II, 41 I Nr. 2 nicht möglich war. Der Übernahmebeschluss muss mit dem Eröffnungsbeschluss verbunden werden (§ 40 IV 2), er ersetzt den Eröffnungsbeschluss nicht76. Nach dem LG Frankfurt77 kann die JKammer die Sache zunächst übernehmen und bei Reduzierung des im Eröffnungsbeschluss zuzulassenden Anklageumfangs das Hauptverfahren vor dem JSchöffengericht eröffnen78. Dies ist jedoch mit § 40 IV 2 nicht vereinbar79. Abgabegrund ist nur der bes. Umfang des Verfahrens, der die Kraft eines Richters übersteigt (z.B. Banden), nicht aber rechtliche Schwierigkeiten oder das bes. Aufsehen, das die Tat erregt hat (RL S. 2)80. Eine bes. Bedeutung des Falles (wie § 24 I Nr. 3 GVG für Erw.) kennt das JGG nicht81. § 40 III gibt dem Angeschuldigten dabei bes. Schutz als Ausgleich für den Verlust einer Tatsacheninstanz. Darüber hinaus steht dem Vorsitzenden der JKammer bereits im Übernahmeverfahren Beweissicherung offen82. Verbindet die JKammer das übernommene Verfahren wegen Sachzusammenhangs mit einem anderen, so kann eine Revisionsrüge allenfalls auf „willkürliche Verfahrensweise“ (§ 338 Nr. 4 StPO) gestützt werden83. Vgl. Rn 44. Die §§ 40 II, 41 I Nr. 2 gelten im JSchutzverfahren nicht (Anh. § 125, 6). 48 Das Revisionsgericht verweist eine Sache nach § 354 II StPO an ein anderes JGericht gleicher Ordnung zurück, auch an eine vorsorglich eingerichtete „Ersatz“JKammer, uU auch nach § 354 III StPO an ein JGericht niederer Ordnung, wenn die noch in Frage kommende Straftat zu dessen Zuständigkeit gehört. Wenn sich aber bei verbundenen Verfahren das weitere nur noch gegen einen Erw. richtet, kann das Revisionsgericht statt an die JKammer an eine allg. Strafkammer zurückverweisen84. Es überzeugt die Begründung des BGH, dass § 47a S. 1 zwar das JGericht nach Eröffnung des Verfahrens bindet, dies aber für die Revisionsentscheidung nichts besagt, weil es in der Revisionsinstanz kein JGericht gibt. Insoweit hat das Revisionsgericht also nicht nach Vorschriften des JGG, sondern nach § 354 II und III StPO zu entscheiden. Gegenüber der allg. Strafkammer ist die JKammer kein höheres Gericht, sondern nach § 209a StPO nur iSd §§ 4, 209, 210 II StPO einem solchen gleichgestellt. Dieser Entscheidung ist zuzustimmen, zumal hierdurch die JGerichte sinnvoll und ohne Schaden entlastet werden. Wenn dies sachlich geboten ist, kann das Revisionsgericht allerdings auch das sich nur noch gegen einen Erw. richtende Verfahren an eine JKammer zurückverweisen85 (vgl. auch § 47a, 7). Im umgekehrten Fall, nämlich nach Beendigung des Verfahrens gegen den Erw. und Weiterführung gegen den J, hat der BGH86 zu Recht eine Sache von der allg. Strafkammer an die JKammer zurückverwiesen. Zur Zurückverweisung durch die JKammer Rn 49.

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NJW 60, 2203. BGH NStZ-RR 03, 95. NStZ-RR 96, 251. Zust. MK-StPO/Höffler § 40 JGG 16. Ebenso DSS/Schatz § 40, 16; Eisenberg/Kölbel § 40, 16a. Zust. Eisenberg/Kölbel § 40, 12. OLG Karlsruhe GA 75, 27. OLG Schleswig SchlHA 68, 290. Zum Vorschlag, einen Fall notwendiger Verteidigung anzunehmen (§ 68 Nr. 1, § 140 II StPO), Molketin Zbl. 81, 378. 83 BGH bei Hilger NStZ 83, 340. 84 BGH 35, 267. 85 BGH StV 94, 415 mit abl. Anm. Schneider. 86 21, 291. 316

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11. JKammer als Berufungs- und Beschwerdegericht Die JKammern treten als Berufungs- und Beschwerdeinstanz (§ 73 I GVG, auch gegen bestimmte Entscheidungen der StA nach § 161a III StPO) an die Stelle der Strafkammern des allg. Rechts. Nach § 33b entscheidet die JKammer über Berufungen gegen Urteile des JSchöffengerichts mit drei – ggf. zwei (§ 33b, 12) – Berufsrichtern und zwei JSchöffen (große JKammer) und über Berufungen gegen Urteile des JRichters mit einem Berufsrichter und zwei JSchöffen (kleine JKammer). Über Beschwerden entscheiden drei Berufsrichter. Die JKammer hat stets zu entscheiden, auch wenn das angefochtene Urteil gegen einen Hw. ErwRecht angewendet hat87. Die JKammer ist für die Berufung eines Erw. gegen das Urteil eines JGerichts, auch wenn dieser allein Berufung eingelegt hat, zuständig, weil es für den Rechtsmittelzug nur darauf ankommt, welches Gericht in der vorgehenden Instanz entschieden hat88. Zur Zurückverweisung durch ein ErwGericht § 47a, 7; § 103, 25; zur Zurückverweisung durch das Revisionsgericht Rn 48. War das Erstgericht sachlich nicht zuständig, verweist die JKammer unter Aufhebung des Urteils an das zuständige Gericht (Rn 48)89. Als Berufungsgericht ist die JKammer an sich an den Strafbann des Erstgerichts gebunden, also z.B. an § 39, wenn das Urteil eines JRichters angefochten ist, oder an die Grenze von 4 Jahren Freiheitsstrafe für das AG allg. (§ 108 III). Dies hat das Revisionsgericht ohne Rüge zu beachten (§ 33b, 26)90. Das Berufungsurteil einer JKammer, mit dem sie die Strafgewalt des JSchöffengerichts – möglicherweise auch versehentlich – überschritten hat, kann jedoch in ein erstinstanzliches (ohne die Beschränkung des § 55 II mit Revision zum BGH anfechtbares) Urteil umgedeutet werden, wenn die JKammer die für das erstinstanzliche Verfahren geltenden zwingenden Verfahrensvorschriften eingehalten hat91. Dies gilt aber nicht, wenn die JKammer das Verschlechterungsverbot verletzt hat. Es ist dann das OLG zuständiges Revisionsgericht92. Auch eine Verbindung von Verfahren 1. und 2. Instanz wird man danach zulassen können, wenn sie sich in der gleichen Verfahrenslage befinden93. Wird auf Revision eine Sache der JKammer „an eine andere Strafkammer des Landgerichts“ zurückverwiesen (dazu Rn 48) und besteht dort keine zweite JKammer, so kann entweder der Geschäftsverteilungsplan für den Rest des Geschäftsjahres nachträglich ergänzt94 oder nach § 15 StPO das zuständige Gericht bestimmt werden95. Die JKammer trifft alle Entscheidungen gegen Anordnungen des Vollstreckungsleiters, wenn dieser in gleicher Sache als erkennender Richter tätig geworden ist oder in Wahrnehmung der Aufgaben der Strafvollstreckungskammer über seine eigene Anordnung zu entscheiden hätte (§ 83 II; RL II Nr. 5 zu §§ 82–85; § 83, 2, 7). Der sonstige Instanzenzug ist wie im ErwRecht, doch beschränkt durch § 55 II. Die JKammer entscheidet im OWiG-Verfahren als Rechtsmittelgericht nach §§ 70 II, 100 II 2, 104 III 1, 108 I 2 HS 2, 110 II 2 OWiG. Vgl. auch Rn 10. Weitere Beschwerde ist nicht gegeben 87 KG VRS Bd. 23 (62), 301. 88 BGH 22, 48 gegen BGH 13, 157; ebenso BayObLG Urt. v. 1.2.1972 – RRg. 2 St 139/71; OLG Nürnberg Beschl. v. 12.7.1978 – Ws 440/78. 89 Eisenberg/Kölbel § 41, 10. 90 BGH NJW 70, 155. 91 BGH 21, 229; 23, 283; BGH GA 68, 340; BGH B NStZ 96, 480; BGH NStZ 10, 94; Pentz GA 58, 299; DSS/Schatzt § 41, 26; aA Ostendorf/Schady 13. 92 BGH 31, 63 u. NJW 70, 155 für ErwGericht im Anschluss an BGH 23, 283. 93 BGH 23, 283; 25, 51; BGH NJW 76, 720; Faber JZ 78, 117; einschränkend Ostendorf/Schady § 41, 13; gegen eine Verbindung nach § 4 StPO wegen Eingriffs in den Rechtsmittelzug u. für Vorgehen nach § 237 StPO Meyer-Goßner NStZ 04, 358. Zur Umdeutung von Berufungs- in erstinstanzliche Verfahren vgl. auch BGH bei Miebach NStZ 90, 29. Zur Frage der Verbindung erstinstanzlicher mit Berufungsverfahren auch BGH 36, 348; BGH MDR 90, 448; StV 90, 385 u. 386. 94 BGH Beschl. v. 25.8.1970 – 1 StR 49/70; OLG Schleswig bei Ernesti/Jürgensen SchlHA 76, 169. 95 BGH Beschl. v. 10.10.1972 – 1 StR 358/71; Ostendorf/Schady § 41, 14; vgl. auch BGH H MDR 77, 810. 317

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(§ 46 I OWiG iVm § 310 II StPO). Wird nach Eröffnung des Hauptverfahrens wegen einer Straftat der Angeklagte lediglich wegen einer Ordnungswidrigkeit verurteilt, so verbleibt es für die Anfechtung dieses Urteils bei den strafprozessualen Rechtsmitteln; die Rechtsbeschwerde ist nicht statthaft96.

12. Zuständigkeit zur Einheitsstrafenbildung 55 Zur Einheitsstrafenbildung (§ 31) ist jedes Gericht im Rahmen seines Strafbannes berufen, der JRichter also auch bei Einbeziehung früherer Verurteilungen nur bis zu einem Jahr JStrafe97 (vgl. auch Rn 8), auch wenn die früheren Verfahren vor dem OLG wegen in § 120 GVG aufgeführter Delikte anhängig waren. Denn diese Sonderzuständigkeit betrifft nur die Aburteilung der Taten selbst; diese ist aber bei der Einbeziehung schon erfolgt. Etwas anderes gilt nur, wenn ein Schuldspruch (§ 27) einbezogen wird; denn hier wird insoweit die Tat hinsichtlich der Straffrage abgeurteilt98.

§ 42 Örtliche Zuständigkeit (1) Neben dem Richter, der nach dem allgemeinen Verfahrensrecht oder nach besonderen Vorschriften zuständig ist, sind zuständig 1. der Richter, dem die familiengerichtlichen Erziehungsaufgaben für den Beschuldigten obliegen, 2. der Richter, in dessen Bezirk sich der auf freiem Fuß befindliche Beschuldigte zur Zeit der Erhebung der Anklage aufhält, 3. solange der Beschuldigte eine Jugendstrafe noch nicht vollständig verbüßt hat, der Richter, dem die Aufgaben des Vollstreckungsleiters obliegen. (2) Der Staatsanwalt soll die Anklage nach Möglichkeit vor dem Richter erheben, dem die familiengerichtlichen Erziehungsaufgaben obliegen, solange aber der Beschuldigte eine Jugendstrafe noch nicht vollständig verbüßt hat, vor dem Richter, dem die Aufgaben des Vollstreckungsleiters obliegen. (3) 1Wechselt der Angeklagte seinen Aufenthalt, so kann der Richter das Verfahren mit Zustimmung des Staatsanwalts an den Richter abgeben, in dessen Bezirk sich der Angeklagte aufhält. 2Hat der Richter, an den das Verfahren abgegeben worden ist, gegen die Übernahme Bedenken, so entscheidet das gemeinschaftliche obere Gericht. 1. Hw.: § 108 I; – 2. [ErwG]: § 104, 2. Abs. 1 Nr. 1: 1. [Hw.]: Rn 4–2. [ErwG]: § 104, 2.

Richtlinien zu § 42 1.

2.

Bei Verfehlungen von geringem Unrechtsgehalt, bei denen vormundschaftsrichterliche Maßnahmen nicht erforderlich sind, stellt die Staatsanwaltschaft den Antrag in der Regel bei dem Jugendgericht, in dessen Bezirk sich die auf freiem Fuß befindliche beschuldigte Person zur Zeit der Erhebung der Anklage aufhält (§ 42 Abs. 1 Nr. 2) oder in dessen Bezirk diese Person ergriffen worden ist (§ 9 StPO). Wird die Anklage im Falle des § 42 Abs. 1 Nr. 3 nicht vor dem danach zuständigen Gericht erhoben, so übersendet die Staatsanwaltschaft dem Vollstreckungsleiter eine Abschrift der Anklage und teilt ihm den Ausgang des Verfahrens mit.

96 OLG Hamm NJW 69, 1500. Vgl. aber auch BayObLG 73, 190. 97 OLG Celle GA 60, 86; OLG Schleswig bei Lorenzen/Thamm SchlHA 96, 119; Eisenberg/Kölbel § 39, 13, § 40, 6. 98 Ebenso Dallinger/Lackner § 40, 2; aA Ostendorf § 31, 9; Eisenberg/Kölbel § 40, 6 (anders aber § 102, 3). 318 https://doi.org/10.1515/9783110686401-050

Örtliche Zuständigkeit

§ 42

Übersicht 1. 2. 3.

Gerichtsstände 1 Gerichtsstand der familiengerichtlichen Zustän5 digkeit Gerichtsstand des freiwilligen Aufent6 halts

4. 5. 6. 7.

7 Gerichtsstand des Vollstreckungsleiters Auswahl durch StA, Eröffnung durch Ge8 richt 11 Abgabe des Verfahrens 17 Weitere Übertragungsmöglichkeiten

1. Gerichtsstände Auch für das JGericht gelten die allg. Gerichtsstände (§§ 7 ff StPO). Daneben treten im Verfahren vor dem JGericht (nicht vor dem ErwGericht: §§ 104, 112) noch die drei bes. Gerichtsstände des Abs. I, die deshalb von bes. Bedeutung sind, weil sie die persönlichen Bindungen des Täters berücksichtigen und damit die Belange des JRechts als Täterstrafrecht wahren1. Die bes. Gerichtsstände haben grds. Vorrang vor den allg.2 (Abs. II; RL 1; s. aber auch Rn 8). Sie gelten auch für JSchöffengericht und JKammer 1. Instanz, weil die für sie maßgeblichen Gesichtspunkte – wenn auch etwas eingeschränkt – für alle Gerichte zutreffen, in deren Bezirk der Täter sich aufhält oder die familiengerichtlichen ErzAufgaben oder die Aufgaben des Vollstreckungsleiters wahrzunehmen sind3. § 42 JGG enthält eine Sondervorschrift der örtlichen Zuständigkeit im JGerichtsverfahren, in der die erz. wichtigen Belange der Entscheidungsnähe und der Einheit der Erz. ihren Niederschlag gefunden haben. Durch die Einführung der Wörter „oder nach bes. Vorschriften“ in § 42 I ist ein langer Streit vom Gesetzgeber erledigt worden. § 42 JGG hat nun den ihm zukommenden Vorrang auch vor den bes. Konzentrationsvorschriften für bestimmte Verfahren und Delikte4. Wenn JRichter und Spezialreferat nicht zusammenfallen, geht die JNähe vor5. Krit. zu Spezialreferaten bei der StA § 36, 3. Entsprechend seinen Grundgedanken gilt § 42 auch im Ermittlungsverfahren und wird die Vorschrift durch § 126 I StPO nicht ausgeschlossen6. In Binnenschiffahrtssachen gilt § 42 nicht. Nach § 3 III des BinnschVerfG ist (falls nicht nach § 4 eine andere landesrechtliche Regelung gilt) das Tatort-Gericht auch für J und Hw. ausschließlich zuständig. Denn das JGG hat diese Zuständigkeitsvorschrift vorgefunden und nicht eingegriffen7. Die bes. Gerichtsstände gelten gem. § 143 GVG auch für die JStA8.

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2. Gerichtsstand der familiengerichtlichen Zuständigkeit Der Gerichtsstand der familiengerichtlichen Zuständigkeit (§ 34) besteht ohne Rücksicht da- 5 rauf, ob beim Familiengericht schon ein Verfahren anhängig war oder ist, ob dem JRichter die familiengerichtliche ErzAufgaben übertragen sind oder ob er in Familiensachen überhaupt nicht tätig war9. Dieser Gerichtsstand besteht nicht mehr, wenn der Täter zZ der Anklageerhebung schon volljährig ist (§ 108, 6), also niemals bei Hw. (näher zu Hw. Rn 8): – Die Zuständig-

1 Grethlein NJW 57, 1370. 2 LG Verden StV 08, 118; Eisenberg/Kölbel 6. 3 Dallinger/Lackner 3; Eisenberg/Kölbel 5b; Ostendorf/Schady 2; Grethlein UJ 55, 303; BGH 18, 1 für die dem Vollstreckungsleiter übergeordnete JKammer auch gegen Hw.; aA Potrykus B 5 u. NJW 54, 823. 4 Zu diesen Vorschriften Meyer-Goßner/Schmitt § 58 GVG 2. 5 Eisenberg/Kölbel 5a; Ostendorf/Schady 4. 6 AG Kiel ZJJ 08, 392; Eisenberg/Kölbel 7; aA LG Köln ZJJ 08, 390; eine gesetzliche Klarstellung der Geltung des § 42 fordern Bezjak/Sommerfeld ZJJ 08, 251. 7 BGH 11, 116. 8 Dallinger/Lackner 1; Grethlein UJ 55, 307. 9 Eisenberg/Kölbel 8; Ostendorf/Schady 5. 319

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keit des Familiengerichts ergibt sich aus § 152 I bis III FamFG. Maßgeblich ist also grds. der gewöhnliche Aufenthalt des J. Die Tätigkeit eines an sich nicht zuständigen Familiengerichts zur Behebung eines augenblicklichen Notstandes (§ 152 IV FamFG) begründet keine JGG-Zuständigkeit.

3. Gerichtsstand des freiwilligen Aufenthalts 6 Der Gerichtsstand des freiwilligen Aufenthaltes setzt nicht einen gewöhnlichen Aufenthalt oder einen Aufenthalt von langer Dauer voraus. Es genügt, dass der Angeklagte ohne festen Wohnsitz an einem bestimmten Ort lebt10. Auf den Wohnsitz oder die Meldeanschrift kommt es nicht an11. Jedoch ist bei ganz kurzem Aufenthalt eine Anklage zum Gericht des Aufenthaltsortes unzweckmäßig12. Nur auf freiem Fuß muss sich der Beschuldigte befinden. Das ist nicht der Fall bei Strafgefangenen, JArrestanten, UHäftlingen, vorläufig Festgenommenen (§ 127 StPO), zur Beobachtung Untergebrachten (§ 73, § 81 StPO), einstweilig Untergebrachten (§§ 71 II, 72 III 1, § 126a StPO), im Maßregelvollzug (§ 7, §§ 63, 64 StGB) oder in Sicherungshaft Befindlichen (§ 453c StPO) und bei allen, denen die Freiheit aufgrund von Vorschriften des Straf- und Strafverfahrensrechts, auch der Länder, entzogen worden ist. Nicht auf freiem Fuß sind nach der Rechtsprechung des BGH alle, auch nur vorläufig, aufgrund richterlicher Anordnung in einem ErzHeim Untergebrachten. „Auf freiem Fuß befindet sich somit nur, wer in keiner Weise durch eine behördliche Anordnung in seiner Freiheit und in der Wahl seines Aufenthaltsortes beschränkt ist“13. Die Rechtsprechung des BGH führt zu wenig praktikablen Ergebnissen, was die StAen dazu veranlassen kann, sich über diese Rechtsprechung hinweg auf einen auch zulässigen, praktikablen örtlichen Gerichtsstand zu einigen. So hätte im Jahre 1980 bei der StA Nürnberg-Fürth ein J über 780 km einfache Fahrt auf sich nehmen müssen, wenn die StAe dem BGH gefolgt wären. Die Rechtsprechung hat weiterhin eine erz. bedenkliche Unterbrechung der Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2 und eine unterschiedliche Behandlung der Insassen eines Heimes zur Folge. Zudem begründet § 42 I Nr. 3 sogar eine Zuständigkeit bei der JStrafanstalt. Entscheidend sollte nur sein, ob die Strafverfolgungsbehörde Einfluss auf den Gerichtsstand nehmen kann; das ist bei nach § 12 Nr. 2 Untergebrachten ebenso wie bei Soldaten und Beamten nicht der Fall. Die aufgrund sonstiger Hilfen nach dem SGB VIII Untergebrachten befinden sich nach zutreffender hM auf freiem Fuß14, ebenso die aufgrund einer Weisung des JRichters in einem Heim Untergebrachten oder sonst in ihrem Aufenthalt nach § 10 I 3 Nr. 1 u. 2 Beschränkten15 und die Soldaten in der Kaserne16

4. Gerichtsstand des Vollstreckungsleiters 7 Der Gerichtsstand des Vollstreckungsleiters besteht nur bei JStrafe, die entweder gerade verbüßt wird oder für deren Rest Entlassung zur Bew. angeordnet ist, wenn die Bew. noch läuft; nicht 10 11 12 13

BGH ZJJ 07, 82; NStZ-RR 15, 353. BGH NStZ-RR 15, 353. Zust. DSS/Schatz 6. BGH 13, 209; BGH NJW 54, 1775 beiläufig; OLG Celle NJW 58, 1835; OLG Schleswig SchlHA 60, 179; Dallinger/ Lackner 10; Eisenberg/Kölbel 11; Potrykus B 3 u. NJW 54, 823; Schnitzerling DRiZ 58, 316; vgl. auch Löwe/Rosenberg/ Graalmann-Scheerer27 § 35 StPO 24, wonach nicht auf freiem Fuß jeder von einer Freiheitsentziehung iSd Art. 104 GG Betroffene ist; aA OLG Hamm NJW 59, 1095; Grethlein DRiZ 55, 111 u. EJF C I 51; Becker NJW 54, 336; Dünnhaupt NJW 54, 1775 u. 58, 1835; Hinrichsen RdJ 55, 100. 14 Prahl NJW 64, 530; differenzierend Eisenberg/Kölbel 11. 15 Dallinger/Lackner 9; DSS/Schatz 14; Grethlein DRiZ 55, 112, FN 12; zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit dieser Auffassung Burscheidt S. 43 f; differenzierend Eisenberg/Kölbel 11; aA Ostendorf/Schady 8. 16 OLG Karlsruhe Justiz 63, 244; aA Potrykus B 4. 320

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genügt JAVollzug oder Strafaussetzung zur Bew. für eine JStrafe, auch nicht Vollstreckung einer früheren Freiheitsstrafe. Ist die Vollstreckung gem. § 85 V widerruflich abgegeben, ist die Zuständigkeit bei dem abgebenden (zweifelhaft) und dem übernehmenden Gericht gegeben17. – Diese Zuständigkeit endet mit der vollständigen Verbüßung oder dem Erlass der JStrafe (§§ 88 VI iVm §§ 26a, 59 IV).

5. Auswahl durch StA, Eröffnung durch Gericht Die Auswahl trifft der StA, ohne dass Gericht oder J einen Einfluss haben18. Dass der StA eine ent- 8 sprechende Anregung des J in seine Erwägungen einbezieht19, steht außer Frage. Der StA soll dem Gerichtsstand des Vollstreckungsleiters den Vorrang geben (ErzRichter; keine unnötigen Transporte des Gefangenen), sonst dem der familiengerichtlichen Zuständigkeit (Abs. II), welcher aber bei Hw. ausscheidet (§ 108, 6; insbes. auch hinsichtlich des auf freiem Fuß befindlichen Hw.). Es können aber überwiegende Interessen entgegenstehen, sodass bei kleiner Kriminalität, die es nicht rechtfertigt, den Täter aus seiner Umgebung herauszureißen, der Gerichtsstand des Aufenthalts (RL 1)20, bei größeren Verkehrsdelikten mit zu erwartendem Augenschein und vielen Zeugen der Gerichtsstand des Tatorts vorzuziehen ist21. Abs. II enthält lediglich eine Richtlinie für das Auswahlermessen der StA und begründet keinen Zuständigkeitsvorrang eines bestimmten Gerichts22. Die Ermessensentscheidung der StA ist grds. nicht überprüfbar23. Für Hw. vgl. § 36, 5; RL zu § 108 u. dortige Rn 6. Das Gericht lehnt die Eröffnung ab, wenn bei ihm keiner der vielen Gerichtsstände für 9 nur eine der im Verfahren verbundenen Taten gegeben ist und Abs. III nicht eingreift. § 209 StPO gilt hier nicht. Eine Verweisung ist nicht vorgesehen24; doch soll eine Verweisung unschädlich sein, wenn die StA einverstanden war und das angegangene Gericht ausdrücklich noch einmal über die Eröffnung des Hauptverfahrens entschieden hat25. – Nach Eröffnung des Hauptverfahrens kann die örtliche Unzuständigkeit nur auf Rüge des Angeklagten noch beachtet werden (§ 16 StPO); auf begründete Rüge ist gem. §§ 206a, 260 III StPO einzustellen; wird sie nicht beachtet, ist der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 4 StPO gegeben26; vgl. auch Rn 16. Kommt das Verfahren nicht zum Gericht der familiengerichtlichen ErzAufgaben, kann Ab- 10 gabe des familiengerichtlichen Verfahrens angezeigt sein (§ 4 FamFG u. § 34 RL 2). – Wegen der Mitteilungspflichten RL 2, § 70 u. MiStra 31.

6. Abgabe des Verfahrens Vor Erhebung der Anklage kann der JStA das Ermittlungsverfahren entsprechend Abs. III formlos 11 an den JStA, nach Eröffnung des Hauptverfahrens stets das JGericht das Verfahren an das Gericht des neuen Aufenthaltsortes abgeben27, wenn der Angeklagte seinen Aufenthalt nach Erhebung 17 18 19 20 21 22 23

Dallinger/Lackner 14; DSS/Schatz 18; aA Ostendorf/Schady 9. Dallinger/Lackner 18, 22; Eisenberg/Kölbel 16. Ostendorf/Schady 10: „beachten“. Vgl. BGH 13, 190. Dallinger/Lackner 18, 21; Ostendorf/Schady 10; Grethlein UJ 55, 307; Potrykus NJW 56, 656. BGH NStZ 08, 695. BGH aaO; für Überprüfung auf Ermessensfehler LG Verden StV 08, 118; für Überprüfung auf Willkür AG Eilenburg ZJJ 20, 402, 403. 24 OLG Hamm NJW 61, 232; OLG Braunschweig JZ 62, 420. 25 OLG Braunschweig aaO; vgl. aber auch BGH 23, 82; OLG Karlsruhe GA 77, 58. 26 Eisenberg/Kölbel 26. 27 BGH 10, 325; 10, 391; 13, 209; BGH B NStZ-RR 99, 290; OLG München NJW 58, 1056. 321

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der Anklage geändert hat28. Die Abgabe ist auch zulässig, wenn ein erster Aufenthaltswechsel vor Anklageerhebung beim Tatortgericht und ein zweiter danach erfolgt ist, denn es ist nicht erforderlich, dass der J sich im Zeitpunkt der Anklageerhebung noch im Bezirk des abgebenden Gerichts aufgehalten hat29. Voraussetzung für die Abgabe durch den JRichter ist die Eröffnung des Hauptverfahrens30; eine nur teilweise Eröffnung – Zulassung einer von mehreren Anklagen zur Hauptverhandlung – reicht nicht31. Abs. III ist auch anwendbar, wenn der Aufenthaltswechsel zwischen Anklageerhebung und Eröffnung des Hauptverfahrens stattfindet; die Abgabeentscheidung darf aber erst nach Eröffnung des Hauptverfahrens ergehen32. Für eine Abgabe muss feststehen, dass der Angeklagte sich in dem dortigen Bezirk tatsächlich aufhält33. Die Abgabe ist auch bei unfreiwilliger Aufenthaltsänderung zulässig34. Bei mehrfachem Aufenthaltswechsel kann mehrfach abgegeben werden35. Das Verfahren wird voll und unwiderruflich abgegeben, das neue Gericht ist allein und unbeschränkt zuständig. Anders ist die Lage bei der Übertragung der Entscheidungen im Anschluss an Aussetzung oder Entlassung zur Bew. (§§ 58, 88 VI) oder bei Abgabe der Vollstreckung (§ 85 V). Im ersten Fall ist auch eine teilweise Übertragung möglich, im letzten Fall nur eine widerrufliche Übertragung zulässig. In beiden Fällen müsste jede Weiterübertragung zu einer Zersplitterung und zu Unklarheiten und Schwierigkeiten führen. Im Fall des § 42 III ist dagegen kein Grund ersichtlich, warum für den neuen Richter die Abgabemöglichkeit nicht mehr bestehen sollte. Wiederholte Abgaben sollten aber möglichst vermieden werden36. 12 Auch bei kurzfristigem Aufenthalt ist Abgabe möglich, doch selten zweckmäßig; das Verfahren darf durch die Abgabe nicht verzögert werden37, weshalb z.B. bei kleineren Verkehrsverstößen eine Abgabe nur selten angebracht ist38. Das OLG Düsseldorf39 hält deshalb eine Abgabe nicht für sachgerecht, wenn beide Gerichte räumlich nahe beieinander liegen oder mit wiederholtem Aufenthaltswechsel zu rechnen ist und die Abgabe zu einer unvertretbaren Verfahrensverzögerung führt. Es wird abzuwägen sein zwischen wesentlichen Interessen an der Durchführung des Verfahrens (Zeugen, Augenschein) und der bes. Bedeutung der persönlichen Bindungen, die bei einem inzwischen erwachsen gewordenen Angeklagten jedenfalls eher zurücktreten40. Die Abgabe kann zweckmäßig sein, wenn der Angeklagte geständig ist, sodass eine Beweisaufnahme nicht erforderlich ist41, insbes. wenn weitere Verfahren am neuen Aufenthaltsort anhängig sind42. Die Abgabe kann auch im Hinblick auf die am Verfahren zu beteiligende JGH des neuen Wohnortes zweckmäßig sein43. Unzweckmäßig ist die Abgabe, wenn der neue Wohnort des Angeklagten von

28 BGH 13, 209; BGH B NStZ 82, 415; BGH bei Kusch NStZ 94, 26; BGH B NStZ-RR 00, 324; BGH StraFo 10, 159; BGH NStZ-RR 14, 229; OLG München NJW 58, 1056; OLG Stuttgart Justiz 91, 94 = MDR 91, 787; Eisenberg/Kölbel 19; Ostendorf/Schady 12. 29 BGH 10, 325; BGH B NStZ-RR 00, 324. 30 BGH B NStZ-RR 99, 290; BGH NStZ 19, 679, 680 mit Anm. Kaspar. 31 BGH NStZ-RR 97, 380. 32 OLG Hamm NStZ-RR 13, 357. 33 BGH NStZ-RR 19, 160. 34 BGH NJW 54, 1775; BGH 13, 214; je für Fürsorgeerz.; BGH bei Herlan GA 63, 106: Unterbringung in ErzHeim auf richterl. Anordnung; OLG Celle Zbl. 58, 273; OLG Schleswig SchlHA 60, 179; offen gelassen durch OLG Karlsruhe Justiz 63, 244, wonach jedenfalls auch derjenige freiwillig handelt, der – wie ein versetzter Soldat oder Beamter – zu dem Aufenthaltswechsel aufgrund allg. Regelung rechtlich verpflichtet ist. Vgl. insgesamt zur Abgabe des Verfahrens Lackner GA 56, 379; Schnitzerling DRiZ 58, 315. 35 BGH 13, 286; Eisenberg/Kölbel 23; Ostendorf/Schady 12. 36 BGH NStZ-RR 15, 353, 354. 37 BGH B NStZ-RR 01, 324; BGH NStZ-RR 15, 354, 355; OLG Köln NStZ-RR 09, 117, 119; Kohlhaas EJF C 160. 38 BGH 13, 190. 39 B NStZ 84, 447; B NStZ 92, 529; NJW 93, 1150; NStZ-RR 96, 348. 40 Vgl. BGH B NStZ 82, 415. 41 BGH B NStZ-RR 99, 290 f. 42 BGH B NStZ-RR 00, 324. 43 BGH StraFo 10, 150. 322

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beiden Gerichtsorten annähernd gleich weit entfernt ist, die zwei von der Anklage benannten Zeugen im Bezirk des abgebenden Gerichts wohnen und die Sache nur für einen Tag terminiert ist44 oder wenn zahlreiche Zeugen im Bereich des abgebenden Gerichts wohnen45. Die Abgabevoraussetzungen sind nicht gegeben, wenn der J sich nur gelegentlich in dem anderen Ort aufhält und im Übrigen sein Aufenthalt unbekannt ist46. Der Grundsatz, dass vor dem für den Aufenthalt zuständigen Gericht verhandelt werden soll, darf nur durchbrochen werden, wenn sonst erhebliche Erschwernisse das Verfahren belasten würden47. Die Abgabe an das Gericht des Aufenthaltsortes hat der BGH48 in einem Fall für unzweckmäßig gehalten, in dem der Angeklagte zur Tatzeit fast volljährig war, das abgebende Gericht ihn bereits einmal hatte vorführen lassen und mit der Sache vertraut war und die Zeugen entweder im dortigen Bezirk oder im Umkreis wohnten. Ist der Angeklagte inzwischen volljährig, tritt der erzrelevante Gesichtspunkt der Entscheidungsnähe (Abs. II u. Abs. III 1) des für den derzeitigen Wohnsitz des Angeklagten zuständigen Gerichts zurück49. Auch bei einem inzwischen 21 Jahre alten Angeklagten, der nach Ableistung seines Ersatzdienstes an seinen früheren Wohnort zurückgekehrt ist, kann die Abgabe jedoch sachgerecht sein, zumal wenn er die Tat nicht bestreitet und Zeugen vermutlich nicht benötigt werden50. Lebt der Angeklagte seit 15 Monaten am neuen Aufenthaltsort und hat er dort wegen der notwendigen Zukunftsplanung mit der JGH dauernd Kontakt, ist die Abgabe auch dann zweckmäßig, wenn Zeugen vernommen werden müssen, die im Bereich des abgebenden Gerichts leben51. Hat der Angeklagte seinen Aufenthalt wiederholt gewechselt und keinen festen Wohnsitz, ist eine Abgabe nicht zweckmäßig52. – Der Abgabebeschluss muss erkennen lassen, ob sich das JGericht bewusst gewesen ist, dass eine Abgabeentscheidung im pflichtgemäßen Ermessen steht und deshalb einer sachlichen Begründung bedarf53. Die Abgabe ist an die Zustimmung der StA und die Bereitschaft des Gerichts am neuen Aufenthaltsort zur Übernahme gebunden; lehnt dieses die Übernahme ab, kann das gemeinschaftliche obere Gericht (JKammer, OLG, BGH)54 angerufen werden. Das BayObLG ist nicht das gemeinschaftliche obere Gericht iSd Abs. III 255. Erst mit der Übernahme oder der die Übernahme anordnenden Entscheidung des oberen Gerichts wird das Verfahren beim übernehmenden Gericht anhängig. Später auftauchende Bedenken können nicht berücksichtigt werden56. Eine Abgabe gem. § 42 III ist im vereinfachten JVerfahren nicht zulässig57, weil hier niemals 13 die zur Abgabe erforderliche Bindung des Gerichts eintritt, da das Gericht bis zur Entscheidung dieses Verfahrens ablehnen kann (§ 77 I). Ein Ablehnungsgrund ist, dass ein Aufenthaltswechsel vorliegt, der im Regelverfahren zur Abgabe nach § 42 III führen würde58. Aus denselben Gründen ist eine Abgabe im beschleunigten Verfahren gegen Hw. nach §§ 417 ff StPO nicht möglich59 (vgl. §§ 419 I, II StPO; 77 JGG). – Im Strafbefehlsverfahren ist Abgabe nach § 42 III und Übertragung

44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57

BGH bei Kusch NStZ 94, 230. BGH StraFo 05, 79; 06, 41; ZJJ 20, 399. BGH bei Kusch NStZ-RR 98, 266. BGH B NStZ 87, 443; BGH StraFo 06, 415; NStZ-RR 15, 353; StV 22, 44; OLG Celle NdsRpfl. 08, 194. Bei Kusch NStZ 93, 31. BGH ZJJ 20, 399. OLG Stuttgart Justiz 91, 95. BGH B NStZ 94, 531. BGH StraFO 15, 163. BGH StV 22, 44. BGH 16, 84. BayObLG NStZ 20, 48. BGH 13, 284. BGH 12, 180; BGH NStZ 19, 679 mit zust. Anm. Kaspar NStZ 20, 305; Eisenberg/Kölbel 20; differenzierend Schnitzerling DRiZ 58, 316; aA Ostendorf/Schady 12. 58 BGH 12, 180. 59 BGH NJW 61, 789. 323

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nach § 12 II StPO erst nach Beginn der auf rechtzeitigen Einspruch hin anberaumten Hauptverhandlung möglich, idR aber nicht mehr zweckmäßig60 (ebenso im OWiG-Verfahren: Rn 15). 14 Die Abgabe ist nur bis zum Erlass eines Urteils möglich, weil § 42 III nicht in den Instanzenzug eingreifen kann61. Deshalb kann auch das Rechtsmittelgericht oder das Erstgericht nach Zurückverweisung nicht mehr nach dieser Vorschrift abgeben62, auch nicht im Nachverfahren gem. § 30 (§ 62, 6). In OWiG-Sachen ist bei J und Hw. (zur Einschränkung bei letzteren Rn 5) die Zuständig15 keitsregelung des § 42 JGG neben der örtlichen Zuständigkeitsbestimmung des § 68 OWiG gleichberechtigt anwendbar (§ 46 I OWiG)63; dies gilt auch für ggf. von § 68 I OWiG abweichende landesrechtliche Vorschriften gem. § 68 III OWiG. Mit § 68 II OWiG ist die Zuständigkeitsregelung des § 42 übernommen worden64. Sieht die nach § 68 III OWiG erlassene Verordnung die Zuständigkeit des Amtsgerichts vor, in dessen Bezirk die Ordnungswidrigkeit begangen wurde, gilt diese neben § 42 bestehende Zuständigkeit auch für J und Hw65. Eine Abgabe nach § 42 III 1 ist aber erst nach Beginn der auf den rechtzeitigen Einspruch anberaumten Hauptverhandlung zulässig66 (vgl. auch Rn 11). Bei Ordnungswidrigkeiten im Straßenverkehr sprechen nach dem OLG Hamm67 überwiegende Gesichtspunkte für die Entscheidung durch den Richter am Sitz der Verwaltungsbehörde. Für die zur Vollstreckung eines Bußgeldbescheids notwendigen Entscheidungen hat die Zuständigkeit nach § 42 I Nr. 1 Vorrang vor dem allg. Gerichtsstand68. 16 Eine fehlerhafte Abgabe ist Revisionsgrund gem. § 338 Nr. 4 StPO (aber Heilung nach § 16 StPO), weil ein unzuständiges Gericht entschieden hat69 (dazu Rn 9 aE); etwas anderes gilt nur, wenn auch bei diesem Gericht ein Gerichtsstand begründet, die StA einverstanden war und das Verfahren bei dem angegangenen Gericht ordnungsgemäß eröffnet wurde.

7. Weitere Übertragungsmöglichkeiten 17 Die allg. Vorschrift des § 12 II StPO ermöglicht eine Änderung des Gerichtsstandes durch Beschluss des gemeinsamen oberen Gerichts auch dann, wenn der Aufenthalt schon vor der Erhebung der Anklage gewechselt wurde, setzt aber voraus, dass bei Anklageerhebung auch bei dem anderen Gericht eine Zuständigkeit bestand70; in späteren Verfahrensabschnitten: §§ 58 III 2, 3; 88 V 3; § 65 I 2, 3; bei UHaft: § 72 V.

60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70

BGH 13, 188; BGH StraFo 11, 218; Eisenberg/Kölbel 20; DSS/Schatz 24. BGH 10, 177; 18, 261; 19, 179. BGH 10, 177; 18, 261. Göhler/Seitz/Bauer § 68 OWiG 6; Krumm NZV 10, 69. BGH 23, 79 u. BGH NJW 74, 708. LG Cottbus NStZ-RR 98, 285. BGH NJW 74, 708. JMBl. NRW 74, 119. BGH NStZ 12, 575. Eisenberg/Kölbel 26; Ostendorf/Schady 15. BGH 13, 209; OLG Hamm NJW 59, 1095; Dallinger/Lackner 26; Eisenberg/Kölbel 25. 324

Dritter Abschnitt Jugendstrafverfahren Erster Unterabschnitt Das Vorverfahren § 43 Umfang der Ermittlungen (1) 1Nach Einleitung des Verfahrens sollen so bald wie möglich die Lebens- und Familienverhältnisse, der Werdegang, das bisherige Verhalten des Beschuldigten und alle übrigen Umstände ermittelt werden, die zur Beurteilung seiner seelischen, geistigen und charakterlichen Eigenart dienen können. 2Der Erziehungsberechtigte und der gesetzliche Vertreter, die Schule und der Ausbildende sollen, soweit möglich, gehört werden. 3Die Anhörung der Schule oder des Ausbildenden unterbleibt, wenn der Jugendliche davon unerwünschte Nachteile, namentlich den Verlust seines Ausbildungs- oder Arbeitsplatzes, zu besorgen hätte. 4§ 38 Abs. 6 und § 70 Abs. 2 sind zu beachten. (2) 1Soweit erforderlich, ist eine Untersuchung des Beschuldigten, namentlich zur Feststellung seines Entwicklungsstandes oder anderer für das Verfahren wesentlicher Eigenschaften, herbeizuführen. 2Nach Möglichkeit soll ein zur Untersuchung von Jugendlichen befähigter Sachverständiger mit der Durchführung der Anordnung beauftragt werden. 1. Hw.: Rn 2, 13; RL 9; § 109 I 1. – 2. ErwG: RL 9; § 104 I Nr. 3, III; § 109 I 1. – 3. Sold. Rn 12; § 112d, 6.

Richtlinien zu § 43 1. 2.

3.

4. 5.

6.

7.

Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft haben auch die Aufgabe, eine sachgerechte Entscheidung über die Rechtsfolgen der Tat zu ermöglichen. Nr. 17 RiStBV gilt entsprechend. Zur Persönlichkeitserforschung sollen Akten über Vorstrafen und vormundschaftsrichterliche Akten beigezogen werden. Wichtige Aufschlüsse über die Persönlichkeit des Jugendlichen können Akten von Vollzugsanstalten, Berichte von Heimen der Jugendhilfe sowie Aufzeichnungen der Schule geben. Befindet sich der Jugendliche in Untersuchungshaft, so fordert die Staatsanwaltschaft oder das Gericht in der Regel von der Vollzugsanstalt einen Bericht über die von ihr vorgenommene Persönlichkeitserforschung, über das Verhalten des Jugendlichen in der Anstalt und über seine besonderen Eigenarten an (Nr. 79 UVollzO). Ebenso ist zu verfahren, wenn der Jugendliche sich in Strafhaft befindet. Ist die einstweilige Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe (§ 71 Abs. 2, § 72 Abs. 4) erfolgt, so soll die Heimleitung gehört werden. Wird dem Beschuldigten Hilfe zur Erziehung in einem Heim oder einer vergleichbaren Einrichtung gewährt, so soll außer dem Jugendamt auch die Leitung der Einrichtung unmittelbar um Äußerung ersucht werden. Untersteht der Beschuldigte der Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers oder ist für ihn ein Erziehungsbeistand bestellt, so soll auch dieser gehört werden. Dies gilt entsprechend, wenn der Beschuldigte einem Betreuungshelfer unterstellt ist oder an einem sozialen Trainingskurs teilnimmt. Die Maßnahmen und Strafen des Jugendstrafrechts sind regelmäßig dann am wirksamsten, wenn sie der Tat auf dem Fuße folgen. Die Staatsanwaltschaft wirkt darauf hin, dass das Jugendamt verständigt wird, sobald der Stand der Ermittlungen dies erlaubt, und dass das Jugendamt seine Erhebungen mit größter Beschleunigung durchführt. In geeigneten Fällen kann ein mündlicher oder fernmündlicher Bericht – dem schriftlichen Bericht vorausgehend oder statt eines solchen – angefordert werden, dessen Inhalt die Staatsanwaltschaft oder das Gericht in den Akten vermerkt. Die Staatsanwaltschaft teilt dem Jugendamt so bald wie möglich – in der Regel fernmündlich – mit, ob und bei welchem Gericht sie Anklage erheben oder Antrag im vereinfachten Jugendverfahren (§ 76) stellen wird. Soll das Verfahren durchgeführt werden, so wird das Jugendamt im allgemeinen dem Gericht unmittelbar berichten und der Staatsanwaltschaft eine Abschrift des Berichts übersenden. Dies sollte so rechtzeitig erfolgen, dass das Erforderliche noch vor Durchführung der Hauptverhandlung veranlaßt werden kann. Erwägt die Staatsanwaltschaft, nach § 45 von der Verfolgung abzusehen, hält sie aber noch eine Äußerung des Jugendamtes für erforderlich, so ersucht sie das Jugendamt, ihr zu berichten. In anderen geeigneten Fällen, namentlich

325 https://doi.org/10.1515/9783110686401-051

§ 43

8.

9.

2. Teil. Jugendliche

wenn die Staatsanwaltschaft wegen nicht erwiesener Schuld das Verfahren einstellen will, benachrichtigt sie das Jugendamt, dass und weshalb sich der Bericht erübrigt. Die Untersuchung des Jugendlichen durch einen Sachverständigen kann insbesondere veranlaßt sein, a) wenn Grund zu der Annahme besteht, dass die Verfehlung mit einer psychischen Krankheit des Jugendlichen zusammenhängt, b) wenn der Jugendliche durch seelische, geistige oder körperliche Besonderheiten auffällt oder c) wenn der Jugendliche ohne erkennbare Ursachen erheblich verwahrlost ist. § 43 gilt auch im Verfahren gegen Jugendliche vor den für allgemeine Strafsachen zuständigen Gerichten und im Verfahren gegen Heranwachsende (§ 104 Abs. 1 Nr. 3, § 109 Abs. 1 Satz 1; vgl. jedoch § 104 Abs. 3, § 112).

Schrifttum Bauer/Remschmidt Forensisch-psychiatrische Begutachtung von Kindern und J, in Hdb. d. For. Psychiatrie Bd. 1, 2007, S. 464; Blau Der psychologische Sachverständige im Strafprozeß, in Blau/Müller-Luckmann, Hrsg., Gerichtliche Psychologie, 1962, S. 344; Bresser Grundlagen u. Grenzen der Begutachtung j. Rechtsbrecher, 1965; Detter Der Sachverständige im Strafverfahren, NStZ 98, 57; DVJJ-BW, Gutachten im JStrafverfahren, 2009; Ell Der Psychologe als Helfer des Richters, Zbl. 80, 531; Focken/Pfeiffer Thesen zur Zusammenarbeit des JRichters mit dem psychiatrischpsychologischen Sachverständigen, Zbl. 79, 378; Freisleder Rechtsfragen bei Kindern, J u. Hw., in Müller/Nedopil, Forensische Psychiatrie, 5. Aufl. 2017, S. 97; Gerchow Forensisch-medizinische Beurteilung der J u. Hw., in Ponsold, Hrsg., Lehrbuch der Gerichtl. Medizin, 3. Aufl. 1967, S. 90; Günter Strafrechtliche Begutachtung von J u. Hw., in Venzlaff/Foerster/Dreßing/Habermeyer, Psychiatrische Begutachtung, 7. Aufl. 2021, S. 643; Günter/Karle Begutachtung des Entwicklungsstandes nach § 43 II JGG, in Handb. d. For. Psychiatrie Bd. 2, 2010, S. 592; Hauber Die Funktionsverteilung zw. Richter u. Sachverständigen im dtsch. JGerichtsverfahren, Diss. Freiburg 1976; ders. Der Sachverständige im JStrafverfahren, Zbl. 81, 92; ders. Der Kompetenzstreit zwischen Psychiater u. Psychologen im JStrafverfahren, Zbl. 82, 157; Heim JStrafverfahren: Psychiatrisch-psychologische Begutachtung am Beispiel von Aggressionstätern, StV 88, 318; Jessnitzer Der gerichtl. Sachverständige, 1966; Illchmann-Christ Gerichtsärztl. Probleme des neuen JGG, Zbl. 55, 69; Konrad/Huchzermeier/Rasch Forensische Psychiatrie u Psychotherapie, 5. Aufl. 2019; Lempp Gerichtliche Kinder- u. JPsychiatrie, 1983; Lempp ua, Hrsg., Forensische Psychiatrie u. Psychologie des Kindes- u. JAlters, 1999; Naß Erforschung der Täterpersönlichkeit im Ermittlungsverfahren, 1958; Nedopil Verständnisschwierigkeiten zwischen dem Juristen u. dem psychiatrischen Sachverständigen, NStZ 99, 433; Potrykus Sachverständigenaufgaben im neuen JGG, Jahrbuch f. JPsychiatrie Bd. III, S. 135; Roestel Ist die Persönlichkeitserforschung in der Hauptverhandlung gegen J nur begrenzt zulässig? RdJ 67, 239; Schneider Probleme der Erforschung der Täterpersönlichkeit im Strafverfahren, Neue Polizei 62, 34; Schüler-Springorum Sachverständiger u. Verhältnismäßigkeit, FS Stutte, 1979, S. 307; Specht Angeborene u. früherworbene Beeinträchtigungen der geistigen Entwicklung, in Venzlaff/Foerster, Hrsg., Psychiatrische Begutachtung, 2. Aufl. 1994, S. 257; Thomae Beobachtung u. Beurteilung von Kindern u. J, 12. Aufl. 1976; Warnke/Trott/Remschmidt, Hrsg., Forensische Kinder- u. JPsychiatrie, 1997; Werner Die Persönlichkeitserforschung im JStrafverfahren, 1967; Thesen des Marburger Symposions vom Dez. 1978, DRiZ 80, 20.

Übersicht 1. 2. 3.

Bedeutung 1 5 Gegenstand der Ermittlungen Umfang und Schwergewicht der Ermittlun9 gen

4. 5.

12 Wer ermittelt? Eilbedürftigkeit und 21 Sorgfalt

1. Bedeutung 1 Die Vorschrift befasst sich nur mit den Ermittlungen zur Persönlichkeit des Täters (Rn 5) und wird durch § 44 ergänzt. Die übrigen Ermittlungen zum Tathergang richten sich nach den allg. Vorschriften (§ 2 II). Bes. zu beachten sind die RiStBV 4–6, 15, 17, 19. Die Ermittlungen sind immer, auch bei Hw., von der JStA und der JGH zu führen. Doch auch die Polizei kann wertvolle Beiträge leisten. 326

Umfang der Ermittlungen

§ 43

Nur wenn die Persönlichkeit nach Anlage, Entwicklung und allgemeinen wie tatauslösen- 2 den Umwelteinflüssen eingehend erforscht ist, kann in einem vorwiegend nach erz. Gesichtspunkten ausgerichteten Täterstrafrecht, wie es das JGG ist, das rechte ErzMittel, die richtige Sanktion bestimmt (Einf. 73, 107; § 105, 28) und kann auch das Verfahren den bes. Erfordernissen dieses Täters und dieser Tat angepasst werden1. Deshalb ist diese Persönlichkeitserforschung neben der Aufklärung des Sachverhalts eine bes. Verfahrensaufgabe von überragender Bedeutung, da es im JRecht weniger auf das Geschehene ankommt als darauf, wie dieser Täter in seiner weiteren Entwicklung beeinflusst werden kann. Deshalb gilt § 43 auch bei Hw. (§ 109 I 1; RL 9) und grds. auch in den Verfahren der ErwGerichte gegen J oder Hw. (RL 9 u. § 104, 5). Nach Art. 7 der EU-Richtlinie 2016/800 (dazu Einf. 130) hat der J ein Recht auf eine individuelle Begutachtung, von der nur abgesehen werden kann, wenn dies aufgrund der Umstände des Falles gerechtfertigt und mit dem Kindeswohl vereinbar ist. Die Persönlichkeitserforschung ist Sache der JGH2 (Rn 12; § 38 II u. VI; § 38, 28), deren 3 Überwachung und ev. Ergänzung Aufgabe der JStA3 (RL 1, 6 u. 7); sie lässt sich von der JGH, soweit erforderlich, unterrichten. Nur eine reibungslose, vorurteilsfreie Zusammenarbeit zwischen JStA, Polizei und JGH4 gewährleistet die verfahrensentscheidende Persönlichkeitserforschung. Nach Ostendorf/Sommerfeld5 aber soll die JStA nur „formell“ nach § 160 StPO Untersuchungsführer sein; sie habe deshalb weder Leitungs- noch Überwachungsfunktion, weil die JGH nicht ihr Gehilfe sei. § 43 ist eine Soll-Vorschrift; sie bezieht sich zunächst auf das Vorverfahren. Ein Verstoß ist 4 an sich kein Revisionsgrund6. Doch verletzt das Gericht seine Aufklärungspflicht (§ 244 II StPO), wenn es ein Urteil ohne gründliche Persönlichkeitserforschung spricht, bes. also wenn es nicht prüft, ob die in § 43 vorgesehenen Maßnahmen nicht eine bessere Aufklärung des Persönlichkeitsbildes ermöglichen und damit für eine gerechte Urteilsfindung notwendig sind (Umfang Rn 9–11)7. Nur in der Verletzung der Aufklärungspflicht liegt ein Revisionsgrund8. Damit das Gericht dieser Pflicht genügen kann, müssen JGH und JStA (Rn 12 u. 14) im Vorverfahren gem. § 43 ermitteln9.

2. Gegenstand der Ermittlungen Die JStA muss die Umstände ermitteln, die ihr und dem Gericht eine sachgerechte Entscheidung 5 über die Rechtsfolgen der Tat ermöglichen (RL 1 S. 1). Dazu hat sie auch festzustellen, ob gegen den J noch weitere Strafverfahren anhängig sind, ob er eine frühere Sanktion noch nicht voll verbüßt hat und ob mehrere Verfahren zu verbinden oder die Ergebnisse des einen Verfahrens in dem anderen zu berücksichtigen sind (RL 1 S. 2 iVm Nr. 17 RiStBV). Zu ermitteln sind – so bald wie möglich (§ 43 I 1) – alle Umstände, welche die seelische, geistige und charakterliche Eigenart des J erkennen lassen (Abs. I 1), bes. auch Entwicklungsstand und Reife. Dies soll ermöglichen, die Tat sowie die innere und äußere Lage, der sie entsprungen ist, in ihren wesentlichen Zügen darzustellen und aus den seelischen Zuständen und Beweggründen zu erklären. Das ist eine kriminologische Aufgabe. Um die Persönlichkeit und ihre Umwelt als Ganzes zu erfassen, müssen alle Zweige der Kriminologie zusammenwirken; über der Ermittlung einzelner 1 2 3 4 5 6 7 8 9

Vgl. bereits BGH NJW 51, 770 für das noch vorwiegend tatbezogene ErwRecht. BGH NJW 05, 766. BGH 6, 328. So auch Eisenberg/Kölbel 17. 12. BGH 6, 326, 328. Näher zu § 244 II StPO Brunner JR 78, 175; zust. Eisenberg/Kölbel 61; Ostendorf/Sommerfeld 27. BGH 6, 329. BGH MDR 54, 694.

327

§ 43

2. Teil. Jugendliche

Umstände darf die Ganzheitsbetrachtung nicht vergessen werden, welche die erhobenen Befunde zueinander in Beziehung setzt. 6 Um Art und Maß richterlichen Eingreifens zu bestimmen, können in wechselndem Zusammenspiel (vgl. Einf. 17) von – unterschiedlicher – Bedeutung sein: Herkunftsfamilie, Persönlichkeit des J einschließlich Krankheiten und psychischen Auffälligkeiten, Verlauf der Erz., Schul- und Ausbildungsbereich, Freizeitverhalten, Kontakte und Bindungen zu Bezugspersonen und -gruppen, Umgang mit Alkohol, Nikotin und Drogen, Auffälligkeiten im Vorfeld von Kriminalität, frühere Straftaten und jetzige Delinquenz und die Auseinandersetzung mit dieser10. Außerdem sind die Norm- und Wertvorstellungen des J von Interesse; weiterhin, wie er sich selbst einschätzt und ob und ggf. wie er seine Zukunft plant. Zur Berücksichtigung von kindlicher Delinquenz s. Einf. 20 f; § 1, 25. 7 Da die Entscheidung über die jstrafrechtliche Reaktion eine Prognose über die weitere Entwicklung des Täters voraussetzt, sind alle von der Prognoseforschung (dazu Einf. 73–78) als bedeutsam herausgearbeiteten Umstände für die Ermittlungen nach § 43 relevant. Die einzelnen Punkte dürfen hierbei nicht isoliert gesehen, sondern müssen zu einer vorsichtig abwägenden Gesamtschau herangezogen werden. Hierbei können auch Feststellungen nicht unberücksichtigt bleiben, welche der Strafbemessung bei Erw. dienen (zB strafrechtliche Vorbelastung), sie müssen aber in ihrer spezifischen Bedeutung für die Entwicklung junger Menschen gewertet werden. 8 Dienen die Ermittlungen nach § 43 nicht der Aufklärung des Tatgeschehens selbst, so sollen sie doch den Stellenwert der Tat im Lebenszusammenhang des J herausschälen11. Das bedeutet, die Tatsituation zu klären von der Vorgeschichte der Tat über den Tatentschluss und die Art und Weise der Durchführung mit ihren möglichen vielfachen Verästelungen der Täter-OpferBeziehung bis zum Verhalten nach der Tat und der jetzigen Einstellung des J zur Tat (vgl. auch Rn 11).

3. Umfang und Schwergewicht der Ermittlungen 9 Der Umfang der Ermittlungen wird von der Aufklärungspflicht (§ 244 II StPO; Rn 4) bestimmt; er ist auch von der Bedeutung der Sache abhängig und unterliegt dem Verhältnismäßigkeitsprinzip (§ 73 RL 1; § 73, 3)12. Der bloße Eindruck in der Verhandlung, der nur die körperliche, höchstens auch die geistige, nicht aber die ethische Entwicklung erkennen lässt, genügt niemals13. Die Anhörungen nach Abs. I S. 2, 3 und RL 3–5 (näher Rn 12) sind grds. vorzunehmen. In Bagatellfällen (z.B. leichte Straßenverkehrsdelikte) genügen polizeiliche Ermittlungen, sonst in einfach gelagerten Fällen Ermittlungen der JGH (Rn 12) allein; bei größeren Schwierigkeiten ist ein Sachverständiger (Rn 15) zuzuziehen; in dem dazwischen liegenden Bereich kann die Einschaltung der JStA oder des JGerichts (Rn 14) die erforderliche Aufklärung bringen. – Das alles gilt auch für Hw. (s. aber Rn 10), also auch für die Ermittlungen zu § 105 I14. Liegt die Tat längere Zeit zurück, müssen ggf. Zeugen über den Stand der Entwicklung zZ der Tat gehört werden15. 10 Handelt es sich eindeutig um leichte Gelegenheitskriminalität, genügt es, wenn das Bild des Täters skizziert wird. Wo aber schwerere Taten vorliegen, die in der Persönlichkeit verwurzelt oder auch persönlichkeitsfremd sind, hilft nur eine eingehende Ermittlung. Nur so können die Voraussetzungen für Leistungen der JHilfe (§ 52 II SGB VIII), ErzMaßregeln, Zuchtmittel oder 10 11 12 13 14 15

Göppinger Kriminolog. Gegenwartsfragen 76, 61. Zust. Burscheidt S. 59. Ostendorf/Sommerfeld Grdl. zu §§ 43, 44, 3. BayObLG DAR 56, 19 für § 105. Kohlhaas EJF C I 36. BGH 12, 120 für Hw. 328

Umfang der Ermittlungen

§ 43

JStrafe dargetan oder abgelehnt oder die Voraussetzungen für Strafaussetzung zur Bew. festgestellt werden (RL 1). Bes. sorgfältig muss ermittelt werden, wenn die Tat nicht zur bisherigen Lebensführung des J passt oder wenn der J ohne ersichtlichen Grund verwahrlost ist (Einf. 19); hier finden sich oft tiefer liegende, bisher nicht erkannte Ursachen. – Wo genügend Anhaltspunkte (also nicht nur der Eindruck) dafür vorliegen, dass die Tat eines Hw. nach ErwRecht abzuurteilen ist und dabei § 106 nicht in Betracht kommt, können die Ermittlungen nach § 43 ganz unterbleiben16; doch werden so klar liegende Fälle seltene Ausnahme sein. Das Schwergewicht der Ermittlungen liegt bei der Gesamtheit der Feststellungen, welche 11 dem JRichter ein nach Art und Maß gezieltes Eingreifen ermöglichen. Die hierfür maßgeblichen Ausführungen Rn 5–8 sind beispielhafte Anregungen, die weder vollständig sein können, noch dies auch nur versuchen. Denn es sollen junge Menschen beurteilt werden, die sich formaler Einordnung entziehen, zumeist dem breiten Mittelfeld der sog. Prognosetafeln angehören und nicht in ein „Gut- und Schlecht-Punkte-System“ eingespannt werden dürfen (Einf. 76).

4. Wer ermittelt? Die Ermittlungen betreibt grds. die JGH (Rn 3). Diese hört den J und seine Umgebung. Abs. I 3 12 gilt entsprechend; beachte § 38, 47. Zu hören sind vor allem die ErzBerechtigten und die gesetzlichen Vertreter. Mag letzteres auch nur eine Sollvorschrift sein (Abs. I 2), so ist ein Verzicht darauf doch nur in bes. Ausnahmefällen denkbar, etwa, wenn sie sich sperren. Das Persönlichkeitsbild wird abgerundet durch die Anhörung der Schule und des Ausbildenden; dies unterbleibt aber dann, wenn dem J hieraus Nachteile oder der Verlust des Ausbildungs- oder Arbeitsplatzes drohen könnten (Abs. I 3; vgl. § 70, 7). Schließlich gibt die JGH, ggf. die StA oder das Gericht, je nach Situation dem Leiter einer UHaft-Vollzugsanstalt, einer JVA, eines Heims der JHilfe nach §§ 71 II, 72 IV (RL 3), dem Leiter eines Heims oder einer vergleichbaren Einrichtung, in welcher dem J Hilfe zur Erz. gewährt wird (RL 4), dem ErzBeistand sowie dem Betreuungs- und BewHelfer (RL 5) Gelegenheit zur Äußerung. Dies alles bedürfte eigentlich keines Hinweises im Gesetz oder in den RL, denn es gehört zwingend zur Persönlichkeitserforschung. Bei Soldaten ist meist der nächste Disziplinarvorgesetzte zu hören (§ 112d, 6). Zur Persönlichkeitsermittlung während der UHaft § 38, 28. – Daneben greift die JGH auf frühere Feststellungen, auf Beobachtungen auch aus früheren Verfahren und aus Verfahren gegen andere Täter zurück. Bei der Verwertung früherer Erkenntnisse darf jedoch in Akten Fixiertes nicht unkritisch fortgeschrieben werden. – Die JGH hat ihren Bericht grds. bei der JStA einzureichen (§ 38, 28a). Näheres über den Bericht u. die Verwertung der Ermittlungen der JGH § 38, 28a ff. Ermittler sollten nur notfalls als Zeugen vernommen werden (§ 38, 37). – Die Aufgabe zu ermitteln berechtigt die JGH nicht, den befragten Stellen Mitteilungen über das Verfahren zu machen; § 70 und Nr. 33 III MiStra behalten z.B. die Anordnung einer Mitteilung an die Schule allein dem JRichter oder der JStA vor. Das gilt nicht uneingeschränkt gegenüber den Eltern (Rn 13; § 38, 45). Der JGHelfer ist idR auch berechtigt und verpflichtet, die Eltern des volljährigen Hw. anzu- 13 hören. Zu Begründung, Schwierigkeiten u. über mögliche Mitteilung des Tatverdachtes § 38, 45. Aber auch die JStA, ggf. auch das JGericht, können Berichte der in Rn 12 genannten Perso- 14 nen oder Institutionen sowie Vorstrafen- oder Familiengerichtsakten, Akten von Vollzugsanstalten, Berichte von Heimen der JHilfe, Schulzeugnisse, Schulakten, -aufzeichnungen uä einholen (RL 2). Die Schulen sind grds. gehalten, den Schülerbogen auf Verlangen herauszugeben (§ 95 I StPO); dies kann durch Beschlagnahme, Ordnungs- und Zwangsmittel erzwungen werden (§§ 94 II, 95 II StPO), da der Ausnahmefall des § 96 StPO in solchen Fällen nicht vorliegen wird. In der Praxis dürfte es zu keinen Schwierigkeiten kommen, vgl. § 70, 6 f. – An Hand des Erz.- und Zentralregisters erholt die JStA frühere Akten und zieht auch die Akten des Familiengerichts, 16 BGH 6, 329: Taten mit 19 u. 20 Jahren, seit 3 Jahren verheiratet, ordentliche Ehe, gesicherte Lebensgrundlage, 1 Kind, als Unrecht leicht erkennbare Taten. 329

§ 43

2. Teil. Jugendliche

der Vollzugsanstalten und ErzHeime bei (vgl. RL 2), weiter erholt sie den Bericht der UHaftAnstalt, eines Heimes oä, wenn der J dort untergebracht ist (RL 3). Von wesentlicher Bedeutung kann auch die Vernehmung des J durch die JStA oder das JGericht sein (§ 44), welche auch der Entscheidung dienen kann, ob die Untersuchung des J nach Abs. II oder § 73 I angezeigt ist (§ 44 RL 1 S. 3). 15 Ist dadurch keine genügende Klärung zu erzielen, so ordnet das JGericht oder die JStA eine Untersuchung durch einen fachspezifisch befähigten und im Einzelfall geeigneten Sachverständigen an (Abs. II). Anlass dazu geben insbes. die Annahme, dass die Tat mit einer psychischen Krankheit zusammenhängt, dass bei dem J seelische, geistige oder körperliche Besonderheiten vorliegen oder der J ohne erkennbare Ursachen erheblich verwahrlost ist (RL 8). Die in das Ermessen gestellte Auswahl des Sachverständigen wird durch kontroverse wissenschaftliche Diskussionen erschwert und fordert vom Richter gründliche Beschäftigung mit dieser Materie. Der BGH17 hat keinen Unterschied zwischen Psychiatern und Psychologen als Sachverständigen in Fällen ohne Krankheitsgehalt gemacht, das Gericht, das vom Gutachten des beigezogenen Psychiaters abweichen und der von diesem unterbreiteten Ansicht eines Psychologen folgen will, aber verpflichtet, auch noch einen Psychologen hinzuzuziehen. Bei auch nur entfernten Anhaltspunkten für psychische Störungen oder abnorme Veranlagung ist nach dem BGH18 jedoch Anlass gegeben, einen JPsychiater zusätzlich oder anstelle eines Psychologen zu hören. Nach dem BGH19 ist zur Frage, ob das Vorliegen krankhafter Erlebnis- und Verhaltensformen ausgeschlossen werden kann, ein JPsychiater beizuziehen, wenn der Psychologe keine klinische Erfahrung hat. Da es zur Feststellung der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) nicht auf psychologisches, sondern auf medizinisches Wissen ankomme, hat der BGH20 die Heranziehung eines JPsychologen für einen solchen Fall als nicht geboten erachtet. Das OLG Karlsruhe21 weist gegen den Anspruch von Fachpsychologen die Beurteilung psychischer Extremsituationen iS von Bewusstseinsstörungen oder hochgradiger bewusstseinseinengender Affekte vorrangig der klinischen Psychiatrie zu. Vgl. auch Anh. § 125, 19. Nach dem überwiegenden Schrifttum soll im medizinischen Sinne krankhafte Verhaltensweisen und körperliche Befunde der Psychiater, allg. psychologische Fragen hingegen der Psychologe beurteilen, wobei alle Sachverständigen über spezielle Fachkunde in der Beurteilung von J verfügen sollen22. Ostendorf/Sommerfeld23 geben dem Richter bei §§ 20, 21 StGB ein Auswahlermessen zwischen JPsychiater und JPsychologen, fordern aber mit der Rechtsprechung einen Sachverständigen mit klinischer Erfahrung, soweit eine Krankheit zu diagnostizieren ist. Zur Reifebeurteilung nach § 3 wird ein (Entwicklungs-)Psychologe vorgeschlagen24, zur Prognose nach § 7, §§ 63, 64 StGB wird ein JPsychiater heranzuziehen sein25. Für Beurteilungen bezüglich Rückfall- und Sanktionsprognose kommen nach Ostendorf/Sommerfeld26 Erz.- und Sozialpsychologen, Psychotherapeuten, Kriminalsoziologen und kriminologisch geschulte Sozialpädagogen und Sozialarbeiter in Betracht. Insoweit ist allerdings fraglich, wer sich hinter nicht geschützten Begriffen verbirgt. Wesentlich ist, dass JRichter und JStAe sich sachkundig machen, damit sie Sachverständigen nicht kritiklos gegenüberstehen. Der JGHelfer ist – nicht als „Sachverständiger“ (§ 38, 35) – ein wertvoller Mithelfer27. Zur Beurteilung durch die Schule Anh. § 125, 22; ergänzend § 70, 7. 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27

NJW 59, 2315. Urt. v. 23.2.1966 – 2 StR 15/66, insoweit in BGH 21, 62 nicht enthalten. 23, 15. RdJ 61, 313. Justiz 74, 94. Eisenberg/Kölbel 42 mwN. 24. Eisenberg/Kölbel 43. Eisenberg/Kölbel 46, 47. 24. Zum Verhältnis Sachverständiger – Richter Detter NStZ 98, 57 u. Nedopil NStZ 99, 433, zur interdisziplinären Zusammenarbeit Bauer/Thoss NJW 83, 305. 330

Umfang der Ermittlungen

§ 43

Vor der Entscheidung über die Beauftragung eines Sachverständigen wird zwischen dem Anlass und den zu erwartenden Rechtsfolgen abzuwägen sein. Eine Bagatellverfehlung oder eine Tat, die voraussichtlich nur Entscheidungen nach §§ 45, 47 auslösen wird, kann idR eine derartige Untersuchung nicht rechtfertigen; die Untersuchung durch einen Sachverständigen muss in jedem Fall durch andere Mittel der Persönlichkeitserforschung nicht ersetzbar sein28, zumal auch die Zahl der geeigneten Sachverständigen begrenzt ist29. Dem steht nicht entgegen, dass, wie stets im JStrafrecht, die Schwere der Verfehlung allein nicht Maßstab für Reaktionen sein darf. Zur Unterbrechung der Verjährung § 4, 130. Ein erfahrener JRichter wird einen Sachverständigen weniger oft heranziehen müssen31 als ein JRichter, der sich noch einarbeiten muss oder ein ErwGericht. Zur Einschaltung eines Sachverständigen für die Reifebeurteilung nach § 105 I Nr. 1: § 105, 29. Zur Frage, wann ein psychologischer Sachverständiger zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines missbrauchten Mädchens beigezogen werden muss, Anh. § 125, 18. Außer in den in RL 8 sowie § 10 RL 9 genannten Fällen ist uU ein Sachverständiger einzuschalten, wenn noch zu klären ist, ob die Verfehlung noch Episode (Pubertät, Gelegenheitsdelikt) oder schon Symptom für eine Hinentwicklung zur Kriminalität ist, auch, wenn die Tat nach dem bisherigen Verhalten nicht verständlich ist. Wie im allg. Recht sind auch diese Sachverständigen nur Gehilfen des Gerichts, das die Verantwortung trägt und sich selbst eine Meinung bilden muss32. Auskünfte, die der Sachverständige von dritter Seite erhalten hat, können durch ihn nicht in den Prozess eingeführt werden. Bestreitet der Angeklagte, ist über solche Tatsachen bes. Beweis zu erheben, falls sie für das Urteil bedeutsam sind33 (näher Anh. § 125, 32). Die Untersuchung soll vorrangig ambulant erfolgen. Sucht der J auf schriftliche Ladung des JStA oder JRichters den Sachverständigen nicht auf, so ist eine Vorführung in entsprechender Anwendung der §§ 133 II, 163a III StPO nicht zulässig, denn der Sachverständige ist anders als Richter und StA zu Vernehmungen nicht befugt34. Die JStA oder das JGericht können zu sich vorladen und nach § 80 II StPO verfahren. In § 81a StPO hat das OLG Celle35 keine gesetzliche Grundlage zur Vorführung vor den Sachverständigen gesehen. Ist die ambulante Untersuchung vom erkennenden Gericht gem. § 43 II angeordnet, gibt es dagegen keine Beschwerde; denn mit der Ausführung ist weder ein Freiheitsentzug noch ein körperlicher Eingriff verbunden36. Wo ambulante Untersuchung nicht genügt, muss die Unterbringung zur Beobachtung (§ 73) angeordnet werden, falls nicht die Untersuchung gelegentlich einer aus anderen Gründen angeordneten UHaft oder einstweiligen Unterbringung in einem ErzHeim möglich wird. – Die Anordnung nach § 43 II umfasst nicht die Befugnis, körperliche Untersuchungen vorzunehmen37, anders § 81a, b StPO. – Unabhängig davon gilt § 246a StPO, wenn mit Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, in der Sicherungsverwahrung oder in einer Entziehungsanstalt zu rechnen ist. Hält der Sachverständige seine Anwesenheit bei der Beweisaufnahme des Gerichts für geboten, um Unterlagen für sein Gutachten zu gewinnen, verstößt das Verhandeln in seiner Abwesenheit gegen die Aufklärungspflicht38. Der nach § 43 II beauftragte Gutachter hat kein Zeugnisver28 Zust. Nothacker S. 161. 29 Vgl. Eisenberg/Kölbel 28 ff. 30 Zur Abgrenzung von (verwertbarer) eigener richterlicher Sachkunde u. (unerlaubter) Vorwegnahme des Gutachtenergebnisses OLG Köln Zbl. 79, 116 u. § 105, 29. 31 Vgl. dazu AG Winsen/Luhe NStE Nr. 1 zu § 43. 32 BGH 7, 238. 33 BGH 9, 292. 34 Ostendorf/Sommerfeld 25; Eisenberg/Kölbel 37a. 35 NdsRpfl. 89, 79. 36 OLG Düsseldorf NJW 64, 2217 für Begutachtung ohne körperlichen Eingriff durch Nervenfacharzt gem. § 81a StPO zur Frage des § 20 StGB. 37 Eisenberg/Kölbel 39. 38 BGH 19, 367. 331

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2. Teil. Jugendliche

weigerungsrecht (Anh. § 125, 33). Freiwillige Tat-Geständnisse anlässlich der Begutachtung hat der Sachverständige dem Gericht vorzutragen39, wenn der J insoweit von ihm über sein Aussageverweigerungsrecht ausdrücklich belehrt worden ist. Zu Angehörigen vgl. Anh. § 125, 32 aE. Wird ein Erkenntnismittel – Gutachten – vor der Entscheidung nicht zugänglich gemacht und konnte der Betroffene nicht Stellung nehmen, liegt ein Verstoß gegen Art. 103 I GG vor, von dem nicht ausgeschlossen werden kann, dass er für die Entscheidung ursächlich war40. 20 Will das Gericht von einem Gutachten abweichen, so ist es nicht gezwungen, einen weiteren Sachverständigen zu hören. Es muss sich aber mit dem erstatteten Gutachten auseinandersetzen, die Anknüpfungstatsachen mitteilen und seine abweichende Ansicht begründen41. Die Begründung kann ua sein, dass der Sachverständige sich bei der Begutachtung unsicher gezeigt hat und von einem rechtlichen Verständnis ausgeht (zB §§ 1 II, 105 I Nr. 1), das von der Rechtsprechung und einem Großteil der Literatur nicht geteilt wird (vgl. auch Rn 15, Anh. § 125, 21)42. Gegenüber einem Gutachten zur Reifebeurteilung kann mit der Sachrüge nicht mit Erfolg geltend gemacht werden, dass ein am Verfahren nicht beteiligter Sachverständiger eine abweichende Auffassung vertritt43.

5. Eilbedürftigkeit und Sorgfalt 21 Diese weitgehende Ermittlungspflicht könnte zu einer Verzögerung des Verfahrens führen. Das muss aber aus erz. Gründen vermieden werden. Bes. bei der kleineren und mittleren Kriminalität ist auch die beste Maßnahme erz. weniger wirksam, wenn sie der Tat nicht auf dem Fuße folgt (RL 6 S. 1). Das JVerfahren kann jedoch in angemessener Zeit durchgeführt werden, wenn die Tatbestandsermittlung schnell betrieben (RiStBV 5) und möglichst gleichzeitig (Abs. I; § 38 VI 2) die Persönlichkeitserforschung rasch durchgeführt wird. Deshalb veranlasst die StA die Verständigung der JGH, sobald der Stand der Ermittlungen es erlaubt (spätestens zum Zeitpunkt des § 70 II), wirkt auf größte Beschleunigung der Ermittlungen des JAmtes hin, regt vorausgehenden mündlichen oder fernmündlichen Bericht an (RL 6) und teilt der JGH sobald wie möglich mit, bei welchem Gericht er anklagen oder Antrag nach § 76 stellen will oder dass er nach § 45 vorgehen oder nach § 170 II StPO das Verfahren einstellen will (RL 7). Vielfach wird sich bei hinreichendem Tatverdacht eine Verständigung der JGH schon durch die Polizei empfehlen (vgl. § 38, 6). Um die Nachteile unnötiger Bloßstellung (RiStBV 4a) zu vermeiden, kann das JAmt zunächst nur im Rahmen seiner allg. Tätigkeit (§ 38, 8) auftreten44. Kann der Schuldnachweis nicht geführt werden, muss die JGH sofort unterrichtet werden, dass und weshalb sich der Bericht erübrigt (RL 7 S. 5). 22 Unter der notwendigen Beschleunigung darf aber die Sorgfalt des Verfahrens nicht leiden (Rn 2). Denn eine richtige Maßnahme nach etwas längerer Zeit ist besser als eine schnelle, aber falsche Maßnahme. Schon die Entscheidung der JStA, welche Verfahrensart zu wählen und zu welchem Gericht anzuklagen ist (§ 36, 4), ja ob überhaupt ein Verfahren durchzuführen ist (§§ 3, 45), hängt von dem Ergebnis der Persönlichkeitserforschung ab, also davon, ob der J die Alters-

39 BGH 13, 1; Eisenberg/Kölbel 52. 40 BVerfG Zbl. 83, 93. Zur Information des Beschuldigten über das psychiatrisch-psychologische Gutachten Tzschaschel NJW 90, 749. 41 BGH NStZ 83, 377; NJW 89, 1491; NStZ 94, 503; 00, 551. 42 BGH NJW 89, 1491. Vgl. auch BGH NStZ 84, 467 mit zust. Anm. Brunner; Anm. Eisenberg NStZ 85, 85. Zur Beurteilung der Frage, ob die Sachkunde eines Gutachtens zweifelhaft ist, auch BGH Urt. v. 15.3.1988 – 1 StR 8/88 zum ErwRecht. Zur Bestellung eines weiteren Sachverständigen bei umstrittener medizinischer Auffassung BGH StV 87, 434; 88, 58; Miebach NStZ 90, 27. Zur Aufklärungspflicht bei widersprechenden Sachverständigengutachten BGH StV 90, 339. 43 BGH NJW 98, 3654. 44 Ähnlich Eisenberg/Kölbel 16c. 332

Vernehmung des Beschuldigten bei zu erwartender Jugendstrafe

§ 44

reife hat (§ 3), ob der Hw. altersgemäß entwickelt ist (§ 105), ob die Tat anlage- oder gelegenheitsbedingt ist, ob sie auf Verwahrlosung oder schädlichen Neigungen beruht ua. Vielfach wird sich jedoch schon aus den polizeilichen Ermittlungen ein Anhalt ergeben, welches Gewicht dem Verfahren zukommt. Unter den Voraussetzungen des § 46a darf die Anklage vor einer Berichterstattung der JGH erhoben werden. Auch wenn der JGH-Bericht abgewartet wird, braucht eine untragbare Verzögerung nicht einzutreten, wenn die Ermittlungen nur im notwendigen Umfang (Rn 9) geführt werden, JGH, Polizei und JStA rasch und konzentriert arbeiten und das Gericht kurzfristig die Termine anberaumt.

§ 44 Vernehmung des Beschuldigten bei zu erwartender Jugendstrafe Ist Jugendstrafe zu erwarten, so soll der Staatsanwalt oder der Vorsitzende des Jugendgerichts den Beschuldigten vernehmen, ehe die Anklage erhoben wird. 1. [Hw.]: § 109 II; aber § 44 RL 1 S. 2 HS 2; Rn 6. – 2. ErwG: RL 1 S. 2 HS 1; § 104 II; Rn 6.

Richtlinien zu § 44 1.

2.

Die Vernehmung dient vor allem dem Zweck, vor der Hauptverhandlung, in der der Jugendliche sich vielfach nicht unbefangen gibt, ein persönliches Bild von ihm zu erhalten und dadurch auch die Prüfung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit (§ 3) zu erleichtern. Eine solche Vernehmung kann auch im Verfahren gegen Jugendliche vor den für allgemeine Strafsachen zuständigen Gerichten angezeigt sein, obwohl sie dort nicht vorgeschrieben ist (§ 104); das Gleiche gilt im Hinblick auf § 105 auch im Verfahren gegen Heranwachsende (§ 109). Die Vernehmung kann die Grundlage für die Entschließung bilden, ob die Untersuchung des Jugendlichen nach § 43 Abs. 2 oder § 73 Abs. 1 angezeigt ist. Dies gilt auch für die Entscheidung über eine Verteidigerbestellung gemäß § 68. Bei der Vernehmung sind die in Nr. 19 RiStBV dargelegten Grundsätze und, wenn Schulkinder vernommen werden, etwa hierfür ergangene Bestimmungen zu beachten.

Die „Vernehmung“ dient der Persönlichkeitserforschung durch den persönlichen Eindruck 1 (RL 1 S. 1, 3). Sie ist am besten zwanglos und ohne Protokollführer und bei richterlicher Vernehmung ohne StA durchzuführen1, weil sich der J so am besten aufschließt; jedoch sind die §§ 136 I und 163a III StPO (Hinweis auf das Recht, nicht zur Sache auszusagen und vor der Vernehmung einen Verteidiger zu befragen) auch bei dieser – ersten – Vernehmung von Richter oder StA zu beachten, so sehr dies in einem Spannungsverhältnis zum ErzZweck stehen mag; vgl. § 2, 17; das Ergebnis sollte der Vernehmende anschließend in einer Aktenfeststellung niederlegen. Es ist Ostendorf/Sommerfeld2 zuzustimmen, dass die frühzeitige „Personifizierung der Akte“ dem J zugute kommt. Die Vernehmung kann zugleich der Ermittlung des Sachverhalts dienen und dabei die 2 polizeiliche Vernehmung ersetzen (was oft wünschenswert ist; vgl. RL 2 iVm RiStBV 19) oder ergänzen. Für die richterliche Vernehmung gelten dann die §§ 133 ff, 162, 166, 168, 169 I StPO; 34 I JGG; hier muss grds. ein Protokollführer zugezogen werden (vgl. auch RiStBV 45). Es sind die in RiStBV 19 zur Vernehmung von Kindern und J normierten Grundsätze zu beachten, bei Schulkindern auch etwa hierfür ergangene Bestimmungen (RL 2). Wo der Sachverhalt bereits ermittelt ist, sollte die Vernehmung nur der Persönlichkeitserforschung dienen. Die Vernehmung kann auch den Entschließungen nach §§ 43 II, 73 I und der Entscheidung über eine Verteidigerbestellung nach § 68 dienen (RL 1 S. 3 u. 4). 3 Über die Rechte des ErzBerechtigten und des gesetzlichen Vertreters § 67, 18–20. 1 Ostendorf/Sommerfeld 5. 2 Grdl. zu §§ 43, 44, 3. 333 https://doi.org/10.1515/9783110686401-052

§ 45

2. Teil. Jugendliche

Ob der JStA oder JRichter vernimmt, hängt vom Einzelfall ab3. Eine Regel, dass grds. der JRichter vernehmen sollte4, besteht nicht. Der JStA ist Herr des Vorverfahrens; ein persönlicher Eindruck kann für seine Entscheidung (§ 36, 4; § 43, 22) oft wesentlich sein. Andererseits unterbricht die richterliche Vernehmung die Verjährung (§ 163a StPO, § 78c I Nr. 1 u. 2 StGB). Einen Antrag der JStA auf Vernehmung nach § 44 kann der JRichter nicht ablehnen (§§ 162 5 StPO, 158 GVG)5. Zuständig ist der Vorsitzende des Gerichts, zu dem Anklage erhoben werden soll. § 44 ist eine Sollvorschrift. Da der Zugang zum J oft zeitraubend ist, bleibt § 44 bei der 6 Überbelastung der JRichter und JStAe leider zumeist unbeachtet. Das aber kann wegen ungenügender Persönlichkeitserforschung (§§ 244 II StPO, 43 JGG) zur Aufhebung des Urteils führen, wenn weitere ähnliche Mängel in der Hauptverhandlung hinzutreten6. § 44 gilt auch vor dem ErwGericht nach dessen Ermessen (RL 1 S. 2 HS 1; § 104, 3). Bei Hw. gilt § 44 an sich nicht (§ 109 II), ist aber mit Anwendung von JStrafrecht zu rechnen, so ist eine Vernehmung iSd § 44 möglich und im Einzelfall zu empfehlen (vgl. RL Nr. 1 S. 2 HS 2).

4

§ 45 Absehen von der Verfolgung (1) Der Staatsanwalt kann ohne Zustimmung des Richters von der Verfolgung absehen, wenn die Voraussetzungen des § 153 der Strafprozeßordnung vorliegen. (2) 1Der Staatsanwalt sieht von der Verfolgung ab, wenn eine erzieherische Maßnahme bereits durchgeführt oder eingeleitet ist und er weder eine Beteiligung des Richters nach Absatz 3 noch die Erhebung der Anklage für erforderlich hält. 2Einer erzieherischen Maßnahme steht das Bemühen des Jugendlichen gleich, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen. (3) 1Der Staatsanwalt regt die Erteilung einer Ermahnung, von Weisungen nach § 10 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4, 7 und 9 oder von Auflagen durch den Jugendrichter an, wenn der Beschuldigte geständig ist und der Staatsanwalt die Anordnung einer solchen richterlichen Maßnahme für erforderlich, die Erhebung der Anklage aber nicht für geboten hält. 2Entspricht der Jugendrichter der Anregung, so sieht der Staatsanwalt von der Verfolgung ab, bei Erteilung von Weisungen oder Auflagen jedoch nur, nachdem der Jugendliche ihnen nachgekommen ist. 3§ 11 Abs. 3 und § 15 Abs. 3 Satz 2 sind nicht anzuwenden. 4§ 47 Abs. 3 findet entsprechende Anwendung. 1. Hw.-J: § 109 II 1. – 2. ErwG: RL 5; § 104 I Nr. 4.

Richtlinien zu § 45 1. 2.

3.

Bei kleineren bis mittelschweren Verfehlungen* ist stets zu prüfen, ob auf eine jugendstrafrechtliche Sanktion durch Urteil verzichtet werden kann. Eine Anwendung von § 45 Abs. 1 ist insbesondere bei Taten erstmals auffälliger Jugendlicher zu prüfen, wenn es sich um jugendtypisches Fehlverhalten mit geringem Schuldgehalt und geringen Auswirkungen handelt, das über die bereits von der Entdeckung der Tat und dem Ermittlungsverfahren ausgehenden Wirkungen hinaus keine erzieherischen Maßnahmen erfordert. Erzieherische Maßnahmen im Sinne von § 45 Abs. 2 sollen geeignet sein, die Einsicht des Jugendlichen in das Unrecht der Tat und deren Folgen zu fördern. Sie können von den Erziehungsberechtigten, aber z.B. auch vom Jugendamt, der Schule oder dem Ausbilder ausgehen. Ist noch keine angemessene erzieherische Reaktion

3 4 5 6 *

Eisenberg/Kölbel 8. Potrykus B 3. Dallinger/Lackner 5; zweifelnd Eisenberg/Kölbel 9; abl. Ostendorf/Sommerfeld 4. Dallinger/Lackner 3; Eisenberg/Kölbel 12; Ostendorf/Sommerfeld 7. Vgl. Anhang (= Abdruck von Kapitel III Sachgebiet C Abschnitt III 3. b) und c) der Anlage 1 zum Einigungsvertrag; siehe dazu § 1, 14). 334

https://doi.org/10.1515/9783110686401-053

Absehen von der Verfolgung

4. 5.

§ 45

erfolgt, so prüft die Staatsanwaltschaft, ob sie selbst die Voraussetzungen für die Einstellung des Verfahrens herbeiführen kann (z.B. indem sie ein erzieherisches Gespräch mit dem Jugendlichen führt oder ihn ermahnt oder eine Schadenswiedergutmachung im Rahmen eines Täter-Opfer-Ausgleichs anregt). Erforderlich hierfür ist, dass der Beschuldigte den Tatvorwurf nicht ernstlich bestreitet, das Anerbieten der Staatsanwaltschaft annimmt und die Erziehungsberechtigten und die gesetzlichen Vertreter nicht widersprechen. Erwägt die Staatsanwaltschaft eine Anregung nach § 45 Abs. 3, so unterrichtet sie die Jugendgerichtshilfe unter Mitteilung des Tatvorwurfs, sofern sie diese nicht schon zur Vorbereitung dieser Entscheidung gehört hat. § 45 gilt auch im Verfahren gegen Jugendliche vor den für allgemeine Strafsachen zuständigen Gerichten (§ 104 Abs. 1 Nr. 4), im Verfahren gegen Heranwachsende nur, wenn Jugendstrafrecht zur Anwendung kommt (§ 109 Abs. 2).

Schrifttum Albrecht, P.-A., Hrsg. Informalisierung des Rechts, 1990; Aulinger Rechtsgleichheit u. Rechtswirklichkeit bei der Strafverfolgung von Drogenkonsumenten, 1997; Beckmann Möglichkeiten zur Diversion im JStrafverfahren in der Praxis der JGH, Zbl. 83, 210; Bietz Zur „Diversion“ u. Funktion der JGH im Rahmen des § 45 JGG, Zbl. 83, 321; Blau/ Franke Diversion u. Schlichtung, ZStW 84, 485; Böhm Zur sog. Staatsanwaltschaftsdiversion im JStrafverfahren, FS Spendel, 1992, S. 777; Bohnert Die Reichweite der staatsanwaltlichen Einstellung im JStrafrecht, NJW 80, 1927; Breymann Diversion – für wen eigentlich? Zbl. 85, 14; BMJ, Hrsg., „Diversion“ im deutschen JStrafrecht, 1989; BMJ, Hrsg. JStrafrechtsreform durch die Praxis, 1989; Deichsel Überlegungen anläßlich des Hamburger Diversionsmodells, MKrim. 91, 224; DVJJ-BW, Diversion in der Alltagspraxis der JStrafrechtspflege, 1990; Dirnaichner Der nordamerikanische Diversionsansatz u. rechtliche Grenzen seiner Rezeption, 1990; ders. Grenzen der Diversionsbefugnisse des JStA gem. § 45 II S. 1 JGG, Zbl. 91, 12; Dölling Artikel „Diversion“, in Sieverts/Schneider, Hrsg., Handwörterbuch der Kriminologie, 2. Aufl. Bd. 5 Nachtrags- u. Registerband, 1991, S. 275; Fasoula Rückfall nach Diversionsentscheidungen im JStrafrecht u. im allg. Strafrecht, 2003; Feigen Staatsanwaltschaftliche Diversion in Theorie u. Praxis, ZJJ 08, 349; Feltes/Ruch Polizeidiversion zwischen sachgerechter Kompetenzverteilung u. Ausweitung formeller sozialer Kontrolle, FS Ostendorf, 2015, S. 305; Frank Diversion im JStrafverfarehn, in DVJJ-BW, Hrsg., Prävention von JKriminalität, 2005, S. 65; Goeckenjan Neuere Tendenzen in der Diversion. Exemplarisch dargestellt anhand des Berliner Diversionsmodells – Zurückdrängung staatsanwaltlicher Entscheidungskompetenz? 2005; Gräf Die Diversion im JStrafrecht im Lichte der Angewandten Kriminologie, 2015; Gräfin von Galen/Beth Sind Diversionsentscheidungen nach §§ 45, 47 JGG ohne Beschwer? FS Eisenberg zum 80. Geburtstag, 2019, S. 201; Gréus Das Absehen von der Verfolgung, Diss. Heidelberg 1978; Grote Diversion im JStrafrecht, 2006; Heinz Diversion im JStrafverfahren, ZRP 90, 7 u. ZStW 92, 591; ders. Neues zur Diversion im JStrafverfahren, MKrim. 93, 355; ders. Diversion im JStrafrecht u. im Allg. Strafrecht, DVJJ-J 98, 245; 99, 11, 131, 261; ders. Zahlt sich Milde aus? Diversion u. ihre Bedeutung für die Sanktionspraxis, ZJJ 05, 166, 302; Heinz/Hügel Erz. Maßnahmen im deutschen JStrafrecht, 1987; Heinz/Storz Diversion im JStrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, 1992; Herbert Wer kommt vor Gericht? 1992; Hering/Sessar Praktizierte Diversion, 1990; Hock-Leydecker Die Praxis der Verfahrenseinstellung im JStrafverfahren, 1994; Jesionek Diversion in der Praxis der österreichischen JStrafrechtspflege, BewH 92, 77; Jung, Hrsg., Alternativen zur Strafjustiz u. die Garantie individueller Rechte der Betroffenen, 1989; Kalpers-Schwaderlapp Diversion to nothing, Diss. Mainz 1989; Kerner, Hrsg., Diversion statt Strafe?, 1983; Kleinbrahm Divergente Diversion im JStrafverfahren, 2015; Kuhlen Diversion im JStrafverfahren, 1988; Lehmann Das formlose ErzVerfahren u. seine rechtlichen Grenzen, Diss. Gießen 1991; Linke Diversionsrichtlinien im JStrafverfahren – Bundeseinheitliche Einstellungspraxis durch Verwaltungsvorschriften der Länder? NStZ 10, 609; ders. Diversionstage in Nordrhein-Westfalen, ZJJ 11, 296; Löhr Diversion in der Praxis der JStrafrechtspflege, BewH 92, 77; Löhr-Müller Diversion durch den JRichter, 2001; Ludwig Diversion: Strafe im neuen Gewand, 1989; Marks Es geht auch ohne Anklage, Zbl. 82, 25; Matheis Intervenierende Diversion, Diss. Mainz 1991; Messmer Sozialarbeiter u. Proband im Verfahren jamtlicher Diversion, MKrim. 91, 90; Mohren Die Veranlassung erz. Maßnahmen durch den StA nach § 45 JGG, 1998; Müller-Piepenkötter/Kubink „Gelbe Karte“ für junge Straftäter – Ein Projekt der rationalen Kriminalpolitik, ZRP 07, 61; Nothacker Das Absehen von der Verfolgung im JStrafverfahren (§ 45 JGG), JZ 82, 57; Pfohl JRichterliche Ermahnungen, 1973; Pitz Robe versus Brief im Diversionsverfahren, 2020; Plewig Diversion statt Strafe? KrimJ 85, 59; Pohl-Laukamp Legalitätsprinzip u. Diversion, Kriminalistik 83, 131; Rautenberg Eintragung in das ErzRegister beim Absehen von der Verfolgung nach § 45 II Nr. 2 JGG? Zbl. 84, 507; Riehe Diversionstage, Teen Courts & Co: Kriminalpolitik mit, ohne oder gegen das JGG, in DVJJ, Hrsg., Fördern Fordern Fallenlassen, 2008, S. 502; Rosenkötter Die Sperrwirkung des jrichterlichen Beschlusses nach § 45 I S. 1 JGG, 1970; Schaffstein Überlegungen zur Diversion, FS Jescheck, 1985, S. 937; Schweckendieck Die „Einstellung zur Bewährung“ nach den §§ 45, 47 JGG, ZRP 88, 276; Spieß Drei Prüfsteine zur Bewertung der jstrafrechtlichen Diversionspraxis – eine Untersuchung anhand rückfallstatistischer Befunde, FS Heinz, 2012, S. 287; Staeter Diversion zwischen Theorie u. Praxis, Zbl. 84, 498; Theißen Die informelle Verfahrenserledigung nach §§ 45, 47 JGG, Zbl. 85, 285; 335

§ 45

2. Teil. Jugendliche

Tönnies Legitimation durch Verfahren im JStrafrecht, ZRP 93, 462; Untersteller Der Begriff „öffentliches Interesse“ in den §§ 153 StPO u. 45 JGG, 2015; van den Woldenberg Diversion im Spannungsfeld zwischen „Betreuungsjustiz“ u. Rechtsstaatlichkeit, 1993; Verrel § 45 JGG – Quo vadis?, in FS Schöch, 2010, S. 227; ders. Die regional ungleiche Diversionspraxis im JStrafrecht – wie lange noch? ZIS 15, 614; Walter Wandlungen in der Reaktion auf Kriminalität, ZStW 83, 32; Walter, Hrsg., Diversion als Leitgedanke, 1986; Walter/Koop, Hrsg., Die Einstellung des Strafverfahrens im JRecht, 1984; Winterfeld Das formlose jrichterliche ErzVerfahren – Förderung sanktionslosen Ungehorsams? MDR 82, 273; Wölffel Diversion im Hamburger JStrafverfahren, 1993.

Übersicht 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

Einstellung durch die StA nach allgemeinem 1 Recht 6 Diversion 7 Strafrechtsreform durch die Praxis 8 Kritik 11 Anregungen 12 Bedenken für den Justizbereich Möglichkeiten und Grenzen von Diver13 sion 16 Rechtsfragen zur Diversion 22 Das 1. JGG-Änderungsgesetz Absehen von der Verfolgung durch die 23 StA

11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18.

29 Hilfe der JGH (SGB VIII) 31 Aktives Eingreifen der StA 39 Mit Einschaltung des Richters Geltung im Ordnungswidrigkeitsverfah48 ren 49 Mitteilungen Anhörungen und Rechts50 behelfe 52 Kosten für die Maßnahmen ua Absehen von der Anklageerhebung bei betäubungsmittelabhängigen J und Hw. nach §§ 31a, 38 II, 53 37 BtMG

1. Einstellung durch die StA nach allgemeinem Recht 1 Wie im allg. Recht stellt die StA das Verfahren ein, wenn die Tat nicht strafbar oder nicht nachzuweisen ist oder wenn eine Prozessvoraussetzung fehlt (§ 170 II StPO). Gleiches gilt, wenn die Altersreife fehlt (§ 3) oder nicht nachweisbar ist (§ 3, 10). Die Einstellung nach § 170 II StPO hat Vorrang vor der Anwendung von § 451. Bei Einstellung gem. § 170 II StPO ist das Klageerzwingungsverfahren für den Verletzten 2 auch im JStrafverfahren zulässig2. Zwar könnte mit einem Ausschluss des Klageerzwingungsverfahrens vermieden werden, dass der J sich einem Übermaß an Verfolgung, uU Racheaktionen des Anzeigeerstatters, ausgesetzt fühlt, und wären die Beeinträchtigungen der berechtigten Interessen der Verletzten begrenzt, weil J weniger und meist nicht sehr geschickt leugnen und die Entscheidung der StA auf Beschwerde der Nachprüfung durch den vorgesetzten Beamten unterliegt. Die Zulässigkeit des Klageerzwingungsverfahrens ergibt sich jedoch aus dessen Funktion, die gerichtliche Kontrolle des Legalitätsprinzips zu ermöglichen3, und der Geltung des Legalitätsprinzips auch im JStrafverfahren außerhalb des Anwendungsbereichs von Opportunitätsentscheidungen und damit insbes. für die Entscheidung nach § 170 II StPO. 3 Weiter kann die StA wie im allg. Recht unter den bes. Voraussetzungen der §§ 153–154e, 376 StPO bei sonst auch im JStrafrecht geltendem Legalitätsprinzip4 von der Verfolgung absehen (Opportunitätsprinzip). Die §§ 153 (dazu Rn 23), 153a und 376 StPO sind allerdings für das JRecht durch die §§ 45, 47, 80 I 2 abgewandelt, insbes. ersetzen die speziellen jrechtlichen Vorschrif1 Eisenberg/Kölbel 8; Ostendorf/Sommerfeld 4. 2 OLG Braunschweig NJW 60, 1214; OLG Hamm NJW 60, 1968; Dallinger/Lackner 4; Eisenberg/Kölbel 41; Nix/Rzepka 8; Ostendorf/Sommerfeld 23; Löwe/Rosenberg/Graalmann-Scheerer27 § 172 StPO 30; aA OLG Frankfurt MDR 59, 415; Potrykus B 2. 3 OLG Celle NdsRpfl. 63, 25. 4 Vgl. Nachweise bei Nothacker JZ 82, 60 FN 59. 336

Absehen von der Verfolgung

§ 45

ten bei Anwendung von JRecht die §§ 153, 153a StPO5. Demgegenüber wird teilweise ein Vorrang des § 153 StPO gegenüber § 45, der zu einer Eintragung ins ErzRegister führt (§ 60 I Nr. 7 BZRG), angenommen6 oder eine Einstellung nach § 153 I StPO befürwortet, wenn die Zustimmung des Gerichts vorliegt7. Nach einer Ansicht8 soll § 153a StPO bei J dann angewendet werden, wenn mangels Geständnisses die §§ 45, 47 nicht eingreifen oder die mit der Entscheidung nach § 45 III verknüpfte Eintragung in das ErzReg. vermieden werden soll, um die J nicht gegenüber den Erw. zu benachteiligen. Ostendorf/Sommerfeld9 bezeichnen es zu Recht als unzulässig, die Voraussetzung eines Geständnisses über § 153a StPO zu umgehen, wollen aber doch § 153a StPO anwenden, wenn die Maßnahmen des § 45 III nicht „passen“. Walter10 befürchtet, dass die mit der Entscheidung nach § 45 III verbundene Registrierung eine ungute Aufschaukelung der Sanktionen vorzeichnen könnte. Dem nachfolgenden Richter ist die Bedeutung des Verfahrens nach § 45 bekannt, sodass 4 dem J kein Nachteil erwachsen muss11. Die §§ 45, 47 enthalten ein abgestuftes, am ErzGedanken orientiertes System von Möglichkeiten der Verfahrensbeendigung ohne Urteil, das durch die Eintragung in das ErzRegister nach § 60 I Nr. 7 BZRG ergänzt wird und nicht durch die Anwendung der §§ 153, 153a StPO ausgehebelt werden darf. Weiterhin hat Böhm12 zutreffend darauf hingewiesen, dass die Befürworter einer Anwendbarkeit der §§ 153, 153a StPO im JStrafrecht bisher keine klaren und überzeugenden Kriterien für die Abgrenzung zwischen diesen Vorschriften und §§ 45, 47 entwickelt haben. § 153a StPO ist daher auch dann nicht anwendbar, wenn man zugunsten des J auf ein Geständnis verzichten und die Registrierung vermeiden will. Nach der Neufassung des § 153a StPO durch G v. 24.4.1998 sind StA und Gericht nicht mehr an einem enumerativen Katalog von Auflagen und Weisungen gebunden, sondern können neue Auflagen und Weisungen „erfinden“. Die Anwendung dieser Vorschrift im JStrafverfahren würde daher das System der §§ 45, 47 JGG vollends durcheinander bringen13. Die unterschiedliche registerrechtliche Behandlung J gegenüber Erw. und die in § 45 III anders als in § 153a StPO festgelegte Geständnisvoraussetzung sind mit Art. 3 I GG vereinbar; deshalb ist den §§ 153, 153a StPO nicht aus Gründen des Gleichheitssatzes der Vorrang einzuräumen14. Die übrigen StPO-Vorschriften aber werden durch § 45 nicht ausgeschaltet. Es gibt immer 5 wieder Fälle, bei denen die Voraussetzungen des § 45 nicht vorliegen oder wenigstens zweifelhaft sind, während eine Einstellungsmöglichkeit der StPO unzweideutig gegeben ist. Da § 45 den Verfolgungszwang weiter auflockert, kann aus ihm keine Einschränkung der allg. Einstellungsmöglichkeiten abgeleitet werden. Neben §§ 45, 47 stehen also die Einstellungsmöglichkeiten nach § 153b I15, §§ 153c I, II, IV; 153d I; 153e I und insbes. §§ 154 I; 154a I, 154b und 154c StPO, die jgemäß der Beschleunigung dienen, zur Verfügung16. Spezielle Vorschriften für das Absehen von der Verfolgung mit Vorrang vor § 45 enthalten die §§ 31a, 38 II, 37 I BtMG17. Zwar 5 LG Aachen NStZ 91, 450 mit abl. Anm. Eisenberg; BeckOK-JGG/Schneider 17, 22; Böhm FS Spendel, 1992, S. 783; DSS/Diemer 9; Dölling in BMJ, Hrsg., JStrafrechtsreform durch die Praxis, 1989, S. 255 f; Löwe/Rosenberg/Beulke § 153 StPO 14; KK/Diemer § 153a StPO 7; Burscheidt S. 82; Beck/Kreißig NStZ 07, 309; Fahl NStZ 09, 615; Hombrecher JurArbl. 09, 892; Mann S. 142; Mohren S. 17; Putzke Beschleunigtes Verfahren bei Hw., 2004, S. 75; Wolf S. 331. 6 LG Itzehoe StV 93, 537 mit zust. Anm. Ostendorf; Ostendorf/Sommerfeld 5; Nix/Rzepka 59; Bohnert NJW 80, 1931; Bottke ZStW 83, 93. 7 Eisenberg/Kölbel 10b; Nothacker JZ 82, 61. 8 Eisenberg/Kölbel 12, Bohnert, Bottke und Nothacker aaO. 9 6. 10 In ders., Hrsg., Beiträge zur Erz., 1989, S. 81. 11 Zust. Burscheidt S. 72. 12 FS Spendel, 1992, S. 780 f, 783. 13 Dölling in JStrafrecht an der Wende, S. 184. 14 Burscheidt S. 64 ff. 15 Vgl. BayObLG 61, 174. 16 Ebenso Eisenberg/Kölbel 13–15; Ostendorf/Sommerfeld 7. 17 Ostendorf/Sommerfeld 8; MBH/Meier § 7 Rn 33; Streng Rn 192. 337

§ 45

2. Teil. Jugendliche

hat die Anwendung von § 31a BtMG die Nichteintragung im ErzRegister zur Folge18; da jedoch § 38 II BtMG den § 37 BtMG ausdrücklich für auf J. anwendbar erklärt, kann für § 31a BtMG nichts anderes gelten19. Im Bereich der genannten Opportunitätsvorschriften ist das Klageerzwingungsverfahren (vgl. auch Rn 2) durch § 172 II 3 StPO ausgeschlossen.

2. Diversion 6 Die §§ 45, 47 bieten die Möglichkeit zur Diversion, dh zur Beendigung der Strafverfolgung ohne förmliche, durch Strafurteil erfolgende Sanktionierung des Täters. Diversionsprogramme wurden in den sechziger Jahren vor allem in den USA nachhaltig gefördert. Sie sollten unverhältnismäßige strafrechtliche Sanktionen vermeiden, die Möglichkeit zu schnellen, flexiblen und resozialisierungsfreundlichen informellen Reaktionen eröffnen und die Justiz entlasten20. Diese Bestrebungen nach Diversion haben auch auf die deutsche JStrafrechtspflege weittragende Auswirkungen gehabt. Im deutschen JStrafrecht erwächst Diversion aus dem ErzGedanken (Einf. 83–91) und dem Grundsatz der Subsidiarität (Einf. 102–105). Sie vermeidet Stigmatisierung und folgt der kriminologischen Erkenntnis, dass das Ausprobieren von Grenzen Teil der (normalen) Entwicklung zum Erwachsenwerden ist und geringfügige Normverletzungen auch ohne einschneidende Reaktion idR vorübergehend bleiben. Es kann deshalb davon ausgegangen werden, dass die JKriminalität von heute nicht die ErwKriminalität von morgen ist21, sondern meist Episode bleibt (Einf. 14). Mit steigenden Diversions-Erledigungen leisten JStAe und JRichter ein Stück „Entdramatisierung“22, indem sie „auf erste Auffälligkeiten zurückhaltend und lediglich normverdeutlichend reagieren“23 und die notwendige, aber zugleich geringstmögliche prozessuale und materiellrechtliche Rechtsfolge wählen. Die Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die JGerichtsbarkeit (dazu Einf. 130) wie auch der Ministerrat des Europarates24 haben sich für einen weiteren Ausbau von Diversion in der JGerichtsbarkeit ausgesprochen. Der Förderung der Diversion dienen auch die Empfehlungen der Ad-hoc-Kommission „Diversion“ der deutschen Jugend- und Justizministerkonferenzen v. 5.2.198825 und die in zahlreichen Bundesländern erlassenen Diversions-Richtlinien26.

3. Strafrechtsreform durch die Praxis 7 Im Wege einer „JStrafrechtsreform durch die Praxis“ haben JStA und JRichter in den letzten Jahrzehnten verstärkt von den Möglichkeiten der §§ 45, 47 Gebrauch gemacht. Während diese Vorschriften 1981 auf 43 % der nach JStrafrecht verfolgten Beschuldigten angewendet wurden, waren es 2017 75 %27. Heute kommt es nur bei etwa einem Drittel der verfolgten J und Hw. zu förmlicher Verhandlung und Strafurteil28. Diese Entwicklung kann als (Rück-)Besinnung auf den Grundgedanken des JStrafrechts, nämlich den Vorrang der Erz., interpretiert werden und 18 Deshalb für Vorrang des § 45 I Aulinger S. 60 f. 19 Zu § 31 BtMG s. AG Saalfeld StV 07, 16, nach dem diese Vorschrift im JStrafverfahren grds. nicht angewendet werden sollte. Zusammenfassend Dölling 1991, S. 277 ff. Heinz in Rabe, Hrsg., Jugend, 1984, S. 86. Heinz BewH 88, 276. Walter in ders., Hrsg., Diversion als Leitgedanke, 1986, S. 23. 2 Empfehlungen; Heinz ZRP 90, 7 mwN. Abgedruckt im BMJ, Hrsg., „Diversion“ im deutschen JStrafrecht, 1989, S. 11. Zusammenstellung der Richtlinien bei Ostendorf/Sommerfeld/Schady Grdl. zu §§ 45 u. 47, 8; zu den Unterschieden zwischen den Richtlinien s. Linke NStZ 10, 611 ff; Pitz S. 88 ff. 27 Streng Rn 195. 28 Heinz S. 24, 33.

20 21 22 23 24 25 26

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folgt den kriminologischen Befunden zur Ubiquität und Episodenhaftigkeit der JKriminalität29. Allerdings hat sich eine nicht nur regional, sondern teilweise sogar von Gericht zu Gericht unterschiedliche Bereitschaft herausgebildet, ein JStrafverfahren einzustellen (dazu Rn 10).

4. Kritik Die Diversion stieß von Anbeginn an auf heftigste Kritik aus Teilen der Kriminologie30. Die haupt- 8 sächlichen Befürchtungen waren: Diversion führe zu einer Ausweitung des „Netzes sozialer Kontrolle“; die mit Diversion verbundenen „neuen ambulanten Maßnahmen“ dienten nicht dem Abbau der stationären Sanktionen, sondern dem Abbau der Überbelegung sowie einer Verbesserung der Trennschärfe der strafjustiziellen Maßnahmen und seien deshalb Teil einer „Doppelstrategie“ der Instanzen strafrechtlicher Sozialkontrolle; Diversion sei eine Folge von Kapazitätsengpässen der Justiz, eine Trendwende sei mit Strafmündigkeit der geburtenschwachen Jahrgänge zu erwarten. Walter31 macht auf folgende Gefahren aufmerksam: „Kurzer Prozess“ ohne Verringerung der Sanktionsintensität; großer Aufwand an Resozialisierungsversuchen bei Bagatellen; neue Sanktionen in einem unkontrollierten rechtsfreien Raum; zersplitterte Reaktionsvielfalt; Wandel vom Rechtsschutz gewährenden Strafverfahren zur nötigenden Bedrohung. Entgegen den Befürchtungen der Kritiker bestehen gegenwärtig keine empirisch begründe- 9 ten Anhaltspunkte für eine Ausdehnung des Netzes sozialer Kontrolle in dem Sinne, dass die vermehrte Anwendung der §§ 45, 47 zu einem Rückgang der Einstellungen nach § 170 II StPO und der Freisprüche geführt hat32. Noch nicht hinreichend empirisch geklärt ist die Frage, ob Diversion dadurch zu einer Verstärkung sozialer Kontrolle geführt hat, dass informelle erz. Maßnahmen in Fällen ergriffen werden, die sonst „folgenlos“ wegen Geringfügigkeit eingestellt worden wären33. Aufgrund einer schriftlichen Befragung der JÄmter der Bundesrepublik im Jahr 1984 ist Heinz34 zum Ergebnis eines nahezu beliebigen Nebeneinanders von Organisationsformen, Inhalten und Methoden, Zielvorstellungen und Zielgruppen sowie einer „institutionalisierten Undurchsichtigkeit“ bezüglich der Selektion der Klientel und ihrer Betreuung gekommen. Infolge Konzentration auf eine aus jstrafrechtlich-kriminologischer Sicht eher unproblematische Klientel bestehe die konkrete Gefahr der aus kriminologischer Sicht schädlichen und aus jstrafrechtsdogmatischer Sicht falschen Überbetreuung35. Die Formlosigkeit der Erledigung lässt somit bes. Schutzbedürfnisse entstehen. Bei der Anwendung der §§ 45, 47 bestehen erhebliche regionale Unterschiede36. Die Diver- 10 sionsrate (Anteil der Einstellungen gemäß §§ 45, 47 bezogen auf alle informell oder formell nach JStrafrecht Sanktionierten) schwankte z.B. 1998 zwischen 60 % in Bayern und 91 % in Hamburg37. Diese Diskrepanzen dürften nicht auf Unterschiede in Tat- und Tätermerkmalen zurückzuführen sein. Beim Geburtsjahrgang 1961 variierten die Anteile informeller Rechtsfolgen bei erstmaliger Sanktionierung im JAlter für einfachen Diebstahl zwischen 43 % in Rheinland-Pfalz und 91 % in Hamburg und für Fahren ohne Fahrerlaubnis zwischen 45 % in Baden-Württemberg und 96 % in Hamburg38. Auch zwischen Landgerichtsbezirken eines Landes und sogar inner-

29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 339

Heinz in BMJ, Hrsg., JStrafrechtsreform durch die Praxis, 1989, S. 16–18. Heinz MKrim. 87, 131 mit Nachweis der Autoren in FN 14. In Jung, Hrsg., Alternativen zur Strafjustiz u. Garantie individueller Rechte der Betroffenen, 1989, S. 137. Heinz/Storz 1992 S. 93 mwN; Heinz S. 37; Verrel ZIS 15, 614. Heinz/Storz aaO, S. 93 f; Heinz aaO. MKrim. 87, 145. AaO, S. 146. Kleinbrahm S. 204 ff; Heinz S. 35 f. Heinz in JStrafrecht an der Wende, S. 74. Heinz/Storz aaO, S. 155.

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halb derselben Behörde wurden erhebliche Unterschiede festgestellt39. Diese Diskrepanzen dürften mit Heinz/Storz40 auf unterschiedliche Strafpräferenzen zurückzuführen sein. Auch die Diversionsrichtlinien der Bundesländer weichen erheblich voneinander ab41.

5. Anregungen 11 Um Bedenken auszuräumen, regt Heinz42 an, die ambulanten Maßnahmen zu Lasten der stationären weiter auszubauen, verstärkt theoretisch zu begründen und empirisch abzusichern, sie auf die richtige Zielgruppe zu beschränken und die Anordnungspraxis zu vereinheitlichen. Die jstrafrechtlich-kriminologische Devise „im Zweifel weniger“43 müsse auch für die neuen ambulanten Maßnahmen gelten44. Der Forderung von Heinz45, die mit Diversionsentscheidungen verbundenen ambulanten Maßnahmen durch einen (Minimal-)Kriterienkatalog zu strukturieren, ist zuzustimmen. Darüber hinaus fordert Heinz46 Ausbau des Täter-Opfer-Ausgleichs und Erwerb entsprechender zusätzlicher sozialarbeiterischer Kompetenz durch die JGH, Förderung von Schuldentilgung und Opferentschädigung (mit entsprechender zusätzlicher Kompetenz der JGH sowie Aufbau von Entschädigungsfonds), Aus- und Fortbildung sämtlicher im Bereich der JGerichtsbarkeit tätiger Berufsgruppen, Beseitigung bürokratischer Hemmnisse in der Justiz und Verbesserung der Informationsgrundlage des JStA durch organisatorische Maßnahmen der Polizei (dazu auch Rn 32) sowie47 Kommunikation und Information über die Handhabung der §§ 45, 47 sowie die empirischen Befunde der Wirkungsforschung und verstärkte Zusammenarbeit der Verfahrensbeteiligten, um die ambulanten Angebote abzustimmen und einem etwaigen, durch praxisbegleitende Forschung festzustellenden Fehlgebrauch derartiger Angebote gegensteuern zu können. Außerdem empfiehlt Heinz eine bundesgesetzliche Konkretisierung der Voraussetzungen für eine Verfahrenseinstellung nach § 4548. Pitz49 schlägt ein Modell vor, nachdem der JStA aufgrund des Registerauszugs, der Tatschwere und der von der Polizei und ggf. durch die JGH ermittelten personalen und situativen Faktoren über die Diversion entscheidet, und spricht sich für die Vernetzung der mit JDelinquenz befassten Institutionen und fachübergreifende Fortbildung aus (vgl. auch Rn 26 aE).

6. Bedenken für den Justizbereich 12 Beachtung verdienen die kritischen Ausführungen von Schaffstein50: Die Diversion erweitere die Richtermacht bei Sanktionswahl und -bemessung außerordentlich, der Verzicht auf die rechtsstaatlichen Garantien des Anklageprozesses bringe Gefahren gerade für einen jungen, im Umgang mit Polizei und Justiz ungeschickten Beschuldigten, auch wenn die „Umlenkung“ nur mit Einverständnis und zugunsten des J erfolgen könne; der gewollte Entlastungs- und Beschleunigungseffekt lasse für eine einigermaßen genaue Persönlichkeitsermittlung wenig Raum. Es müsse auch die Gefahr gesehen werden, dass über die jrechtliche Diversion das gewaltenverteilende

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Heinz/Storz aaO, S. 46 mwN. AaO, S. 47. Linke NStZ 10, 611 ff. MKrim. 87, 133. Kerner in DVJJ, Hrsg., JGerichtsverfahren u. Generalprävention, 1984, S. 30; vgl. dazu Einf. 102 zur Subsidiarität. Heinz MKrim. 87, 153. In ders., Hrsg., Rechtstatsachenforschung heute, 1986, S. 76. ZRP 90, 11. Heinz DVJJ-J 99, 142, 265 f. S. 94 f. S. 219 ff. FS Jescheck, 1985, S. 948–953. 340

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System aus den Angeln gehoben werden könne. Der Gesetzeswortlaut erlaube zwar, dass der JStA nach § 45 zunehmend selbst eingreife, er biete auch die gleiche fachliche Kompetenz wie der Richter; in zweifelhaften Fällen aber, vor allem bei schweren Taten, solle er auf dessen Mitwirkung nicht verzichten. Rechtsstaatliche Bedenken gegen die Diversion erhebt auch Müller51. Breymann52 hält, bei aller Zunahme der Diversionsentscheidungen, den (meisten) StA vor, sie akzeptierten nur Bagatellfälle und die Auswahlkriterien seien überwiegend tat-, kaum täterbezogen. Die deutliche Divergenz der informellen Erledigungen zwischen einzelnen StA und Landgerichtsbezirken ist wegen der Ungleichheit der Behandlung in der Tat bedenklich. Viehmann53 fordert deshalb eine stärkere Beteiligung der Verteidiger. Das 1. JGGÄndG vom 30.8.1990 hat versucht, ein Signal zu gleichmäßigerer Anwendung informeller Erledigungen zu geben (Rn 22)54.

7. Möglichkeiten und Grenzen von Diversion Nach den bisherigen Erfahrungen hat sich die vermehrte Anwendung der §§ 45, 47 grds. bewährt. 13 Sie hat zu einem Abbau unnötiger, weil erz. nicht erforderlicher förmlicher Sanktionierungen geführt. Bei vergleichbaren Tat- und Tätergruppen ist nach den vorliegenden Untersuchungen die Rückfallquote nach Verfahrenseinstellung nicht höher als nach einer Verurteilung55. Von den J des Geburtsjahrganges 1961, die erstmals sanktioniert wurden und deren Sanktionierung einen einfachen Diebstahl betraf, wurden innerhalb eines Zeitraums von drei Jahren nach Verfahrenseinstellung 27 % und nach förmlicher Verurteilung 36 % erneut registriert. Bei einer erneuten Registrierung kam es bei den im ersten Verfahren informell sanktionierten J häufiger zu einer informellen Reaktion auch wegen der Rückfalltat und eher zu einer ambulanten statt zu einer stationären Sanktion56. Allerdings ist Diversion kein Allheilmittel. So wurden bei vorbelasteten Tätern sowohl nach Verurteilung als auch nach Verfahrenseinstellung hohe Rückfallquoten festgestellt57. Der jstrafrechtliche Grundsatz der Individualisierung steht einer schematischen Anwendung der Diversionsvorschriften entgegen58. Außerdem muss die Gefahr gesehen werden, dass eine schematische Abwicklung von Diversion langfristig zu einer Beeinträchtigung der normbekräftigenden Wirkung staatlicher Reaktionen führen könnte59. Es wird daher darauf ankommen, sich mit Augenmaß um eine Weiterentwicklung der 14 Diversion zu bemühen, die zu mehr Gleichmäßigkeit in der Rechtsanwendung und zur Auswahl zwischen den verschiedenen Reaktionsmöglichkeiten nach theoretisch und empirisch möglichst gut fundierten Maßstäben führt. Hierbei gilt es, das rechte Verhältnis zwischen sozialpädagogischer Betreuung und Normverdeutlichung zu finden. Das JGG will mit der Stufenfolge seiner Sanktionen, beginnend durch „Nichtintervention“, wo dies angeht, die J vor allem fördern, sie erziehen und ihnen helfen, nicht nur in die anerkannten gesellschaftlichen Wertvorstellungen und Verhaltensweisen hineinzuwachsen, sondern auch die Verbindlichkeit und Unverbrüchlichkeit unserer Rechtsordnung anzuerkennen und sich ihr einzufügen. Die dissozialen J müssen zeitig wenigstens mit einer pädagogisch gefärbten Mischform des Strafrechts konfrontiert60 und

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DRiZ 96, 443; dazu Breymann DRiZ 97, 82; krit. zur Diversion auch Putzke (FN 5), S. 74 ff. In BMJ, Hrsg., JStrafrechtsreform durch die Praxis, 1989, S. 101. In BMJ, Hrsg., Verteidigung in JStrafsachen, 1987 S. 108, 110. Überlegungen zu einer weiteren gesetzlichen Konkretisierung bei Linke NStZ 10, 614. Zu Bedenken wegen der Personalbedarfsberechnung der Justiz hinsichtlich §§ 45, 47 Heinz ZRP 90, 11. 55 Heinz DVJJ-J 99, 13; Heinz S. 72 ff; Fasoula S. 128; Pitz S. 118. 56 Heinz aaO; Heinz/Storz 1992, S. 58 f, 159 ff. 57 Heinz/Hügel 1987, S. 63. 58 Gräf S. 267 f. 59 Schöch in JStrafrecht an der Wende, S. 130; Bock FS Hanack, 1999, S. 625, 635. 60 Schüler-Springorum FS Dünnebier, 1981, S. 658. 341

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dürfen nicht zur Meinung verführt werden, es gebe weder Schuld noch Verantwortung und jedwede Straftat lasse nur verstärkte Betreuung erwarten. Vgl. Einf. 89. Es muss den J auch durch unterschiedliche, auf Persönlichkeit und Tat abgestimmte Maßnahmen zum Bewusstsein gebracht werden, dass sie für begangenes Unrecht einzustehen haben61. Sonst kann die Ausbildung ethischer Normen gestört werden. Stationäre Sanktionen sind weitmöglichst zurückzudrängen. Da manche J anscheinend ambulant nicht erreichbar sind, kann freilich auf stationäre Maßnahmen nicht ganz verzichtet werden, sondern ist geduldiges pädagogisches Bemühen in diesem Rahmen erforderlich62. 15 Nach RL 1 ist bei kleineren bis mittelschweren Verfehlungen stets zu prüfen, ob auf eine jstrafrechtliche Sanktion durch Urteil verzichtet werden kann. Diese Prüfung darf nicht formalisiert erfolgen. Auch eine Tat, die formal als Verbrechen zu qualifizieren ist, kann als „mittelschwere Verfehlung“ zu werten sein, z.B. ein im Verlauf von kindlichem Spielverhalten begangener Raub eines J.

8. Rechtsfragen zur Diversion 16 Bei den Entscheidungen nach den §§ 45 und 47 StGB handelt es sich weder um Vorstrafen noch um jgerichtliche Ahndungen; mit ihnen ist keine Feststellung der Schuld verbunden63. Das Rechtsprechungsmonopol des Art. 92 GG, die Unschuldsvermutung und die Grundsätze eines fairen, rechtsstaatlichen Strafverfahrens erlauben es daher der JStA, gem. § 45 I u. II nach den Prinzipien der Subsidiarität und Opportunität von der Verfolgung ohne Zustimmung des Richters abzusehen, unter bestimmten Voraussetzungen und Beschränkungen sogar aktiv einzugreifen, um das Verfahren einstellen zu können64. Die Warnwirkung durch ein nach § 45 oder § 47 eingestelltes Verfahren darf bei der Strafzumessung in einem späteren Verfahren schärfend berücksichtigt werden, hat aber nicht den strafzumessungsrechtlichen Stellenwert einer Vorverurteilung65. 17 Hingegen ist der Polizei aufgrund ihrer strikten Bindung an das Legalitätsprinzip eine diversionsähnliche Nichtintervention versagt66. Ist „polizeiliche Diversion“ also gesetzeswidrig, so darf die Polizei doch präventiv-polizeiliche Maßnahmen treffen, etwa einem J aufgeben, sein Moped in ordnungsgemäßem Zustand vorzuführen67. Im OWiG-Verfahren kann die Verwaltungsbehörde das Verfahren einstellen, solange es bei ihr anhängig ist (näher zum OWiG-Verfahren Rn 48; §§ 35 I, II, 47 I 2 OWiG)68. Zur Zusammenarbeit von Polizei u. Sozialarbeit § 38, 49–51. Es spricht auch nichts dagegen, dass die JStA eine aus den Akten ersichtliche polizeiliche „Ermahnung“ oder Belehrung über § 45 II nützt (Rn 25)69. Die Polizei sollte sich bemühen, ihren Umgang mit den jungen Beschuldigten, insbes. die Vernehmung, jgemäß unter Beachtung der Erkenntnisse von JKriminologie und Sozialpädagogik zu gestalten. Gelingt dies, kann die polizeiliche Vernehmung in vielen Fällen eine Grundlage für die Verfahrenseinstellung durch die JStA sein. Die Polizei kann aufgrund ihrer Kenntnisse über die Tat und den Beschuldigten und des Eindrucks, den sie von dem

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Zust. Schöch aaO. Schlüchter GA 88, 127 f. BayObLG StV 21, 257, 258. Näher unter Einbeziehung der Rechtsprechung des BVerfG Dölling in BMJ, Hrsg., JStrafrechtsreform durch die Praxis, 1989, S. 245 ff. 65 BGH NStZ 19, 400. 66 Ostendorf/Sommerfeld 16; Schaffstein FS Jescheck, 1985, S. 953; Beulke/Swoboda Rn 732. 67 Mann S. 113; Pitz S. 264. 68 BVerfGE 27, 18. 69 Für Unzulässigkeit eines normverdeutlichenden Gesprächs durch die Polizei aber Pitz S. 263 f. 342

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Beschuldigten gewonnen hat, auch Vorschläge für eine Erledigung des Falles im Wege der Diversion unterbreiten70. In einigen DiversionsRL ist vorgesehen, dass die Polizei erz. Maßnahmen nach telefonischer 18 Zustimmung der StA selbst gegenüber dem J anregen und überwachen kann71 oder nach telefonischer Abklärung mit der StA einen Diversionsmittler einschalten kann, der dann erz. Maßnahmen anregen und ggf. auch selbst durchführen kann72. Dieser Weg bedarf aber sorgfältiger Prüfung73. Bei diesem Vorgehen besteht die Gefahr, dass die Zuständigkeit für die Entscheidung über Diversionsmaßnahmen entgegen dem JGG faktisch von der StA auf die Polizei übergeht74. Eine Verfahrensbeschleunigung lässt sich auch auf andere Weise durch eine enge Zusammenarbeit von Polizei und StA erreichen, z.B. in Häusern des JRechts75. In dem an das Modell des Diversionstages76 anschließenden Projekt „Gelbe Karte“ in Nordrhein-Westfalen77 wurden an einem Tag bis zu 30 j. Beschuldigte mit ihren Eltern zu mehrstufigen Anhörungen und Vernehmungen vorgeladen, an denen Polizeibeamte, Vertreter des JAmtes und ggf. der JStA teilnahmen. Der JStA entschied in enger Abstimmung mit JAmt und Polizei über das weitere Vorgehen (Anregung erz. Maßnahmen oder Anklageerhebung). Dieses Vorgehen führte in begrenztem Umfang zu einer Verfahrensbeschleunigung. Die Rückfallquoten waren jedoch nicht niedriger als bei der herkömmlichen Diversion78. Vgl. zur Polizei auch Rn 32; Einf. 107. Ebenso wenig darf die JGH selbständig tätig werden, indem sie etwa, das Einverständnis 19 der JStA unterstellend, selbst sanktionierend eingreift. Nur der StA ist zur Einstellung befugt und muss den Überblick über seinen Zuständigkeitsbezirk behalten und die Gleichbehandlung sichern. Deshalb bestehen gegen das sog. „Marler Modell“79 mit seiner „Sanktionskompetenz“ der JGH im Rahmen des § 45 ganz erhebliche Bedenken80; Dirnaichner81 betont, dass die streng objektiviert zu realisierende Hilfefunktion der JGH für Gericht und Betroffenen (dazu § 38, 1)

70 Zu den Aufgaben der Polizei im jstrafrechtlichen Vorverfahren Wieben DVJJ-J 92, 65; Ostendorf DVJJ-J 95, 106; zum „Bielefelder Informationsmodell“ mit Reaktionsvorschlägen der Polizei Rzepka/Voss BewH 89, 227; zum „Hammer Modell“ mit polizeilicher Beurteilung der erz. Wirkung des bisherigen Verfahrens Schröer DVJJ-J 91, 310; für Unzulässigkeit polizeilicher Reaktionsvorschläge Pitz S. 263, 264 f; zur Problematik der Polizeidiversion auch Feltes/ Ruch, FS Ostendorf, 2015, S. 305. 71 So die schleswig-holsteinischen DiversionsRL v. 24.6.1998, abgedr. in DVJJ-J 98, 260. 72 So die Berliner DiversionsRL vom 22.3.1999, abgedr. in DVJJ-J 99, 201; dazu Haustein/Nithammer DVJJ-J 99, 427; Goeckenjan S. 67 ff, 82 ff. 73 Ablehnend Engel DVJJ-J 98, 257; Heinz DVJJ-J 99, 137, 141; Herrlinger DVJJ-J 99, 148; Schöch in JStrafrecht an der Wende, S. 132; Miehe ebd. S. 156; Mann S. 107; Goeckenjan S. 128 ff; Grote S. 344 ff; positive Beurteilung durch das Justizministerium Schleswig-Holstein DVJJ-J 00, 78. 74 Dölling in JStrafrecht an der Wende, S. 185. 75 Vgl. z.B. zum Stuttgarter Haus des JRechts Feuerhelm DVJJ-J 00, 139; ders. in DVJJ-BW, JKriminalität u. Reform des JStrafrechts, 2003, S. 57; Schairer/Kühner Kriminalistik 01, 101; Käppler-Krüger/Lattauer/Lippok/Rudat in DVJJBW, Aktuelle Fragen der JStrafrechtspflege: Häuser des JRechts u. Gewalt im JStrafvollzug, 2015, S. 7; zu den Häusern des JRechts in Frankfurt a.M./Höchst u. Wiesbaden Linz in DVJJ-BW, Kindeswohlgefährdung, JStrafverfahren u. Zusammenarbeit der Institutionen, 2012, S. 53; Denny ZJJ 19, 392; zum Haus des JRechts Pforzheim-Enzkreis JungPätzold/Hoffmann in DVJJ-BW, Aktuelle Fragen der JStrafrechtspflege, 2015, S. 15; zum Virtuellen Haus des JRechts in Aschaffenburg (intensivierte Zusammenarbeit nicht in einem Gebäude, sondern telefonisch, elektronisch u. durch regelmäßige Besprechungen) Fleckenstein Kriminalistik 19, 399. Überblick über die Häuser des JRechts bei Lohmann/ Schaerff ZJJ 21, 126; krit. zum Konzept des Hauses des JRechts MMK/Trenczek § 52 SGB VIII Rn 80; Riekenbrauk GS Walter, 2014, S. 387 ff. 76 Dazu Achenbach DVJJ-J 00, 384. 77 Dazu Müller-Piepenkötter/Kubink ZRP 07, 61. 78 Verrel FS Schöch, 2010, S. 231 ff; krit. zu dem Projekt Riehe in DVJJ, Hrsg., Fördern Fordern Fallenlassen, 2008, S. 502. 79 Dazu Beckmann Zbl. 83, 210. 80 Ostendorf/Sommerfeld 15; Bietz Zbl. 83, 329. 81 1990 S. 271 ff, 397 ff. 343

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nicht in die Aufgabenbereiche der Strafverfolgungsorgane und der jstrafrechtlichen Entscheidungsinstanzen übergreifen darf. 20 Eine „JStrafrechtsreform durch die Praxis“ (dazu auch Rn 7) war und ist auch künftig eingegrenzt durch die Beachtung geltenden Rechts. Die ernsten Warnungen Miehes und Schaffsteins82 vor einer eher politisch-soziologischen Berücksichtigung der Rechtslage anstelle exakter Auslegung und Rechtsfortbildung und vor der Problematik übergesetzlichen Wildwuchses haben Gewicht. Die bisher praktizierten Diversionsstrategien der Justiz sind jedoch mit den geltenden Regelungen des JGG vereinbar83. Außerdem können wissenschaftlich begleitete, räumlich und zeitlich begrenzte Feldexperimente für Praxis und Gesetzgeber Alternativen zur Zurückdrängung stationärer Maßnahmen aufzeigen. Der BGH84 hat herausgestellt, dass ein Richter auch „gerecht“ sein kann, „wenn er aus 21 sachbezogenen Erwägungen mit der Intention der Gerechtigkeit auf letzte Konsequenz des Rechtsfolgenausspruchs nicht besteht“. Notwendig für das Gelingen von Diversion ist das Bemühen um Aussprache und Verständigung unter den Verfahrensbeteiligten, ohne dass hierbei die unterschiedlichen Aufgaben und Rollen verwischt und das Recht des Angeklagten auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren beeinträchtigt wird (zu Möglichkeiten u. Grenzen der Verständigung im Strafprozess § 18, 11).

9. Das 1. JGG-Änderungsgesetz 22 Angesichts der Entwicklung durch die „Strafrechtsreform von unten“ haben die Änderungen der §§ 45, 47 durch das 1. JGGÄndG vom 30.8.1990 Klarstellungen gebracht und versucht, ein „Signal zu gleichmäßiger Anwendung informeller Erledigungen“ zu geben85. Die geänderte Reihenfolge der Absätze des § 45 spiegelt das systematische Stufenverhältnis wider und folgt dem Verfahrensgang. Es entspricht auch dem Grundsatz der Subsidiarität, dass das Absehen von der Verfolgung durch den StA als die eingriffsschwächste Maßnahme nun vor die Beteiligung des Richters gestellt ist. Dabei ist klargestellt, dass der StA nach den Abs. I und II verfahren muss, wenn deren Voraussetzungen vorliegen86. Seit Jahren geht die Zahl der Einstellungen nach Abs. III zurück, während die nach Abs. I u. II kontinuierlich ansteigt87. Offensichtlich will das JGGÄndG auch die häufigere Anwendung des Abs. I erreichen88.

10. Absehen von der Verfolgung durch die StA 23 Abs. I gibt dem JStA die Möglichkeit, von der Verfolgung unter den Voraussetzungen des § 153 StPO abzusehen, wenn also bei Vergehen geringe Schuld vorliegt und kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht. Wegen der bei Anwendung des § 45 obligatorischen Eintragung in das ErzRegister ist die Schuldfrage sorgfältig zu prüfen. Auch bei § 45 I geht deshalb eine mögliche Einstellung nach § 170 II StPO (oder der Eingriff eines Amnestiegesetzes) vor89. Die Einstellungsentscheidung darf keine Schuldfeststellung enthalten; das folgt aus der Un-

82 83 84 85 86 87 88

ZStW 85, 566; 86, 119. Näher Dölling in BMJ, Hrsg., JStrafrechtsreform durch die Praxis, 1989, S. 243 ff. 32, 357 = NStZ 86, 27 mit zust. Anm. Fezer. Begr. RegE, BT-Drs. 11/5829, S. 23. Begr.RegE aaO, S. 24; Böttcher/Weber NStZ 90, 563. Streng Rn 195. Vgl. auch die Empfehlungen der Ad-hoc-Kommission „Diversion“ in BMJ, Hrsg., „Diversion“ im deutschen JStrafrecht, 1989, S. 11 ff. 89 Eisenberg/Kölbel 8; Ostendorf/Sommerfeld 4. 344

Absehen von der Verfolgung

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schuldsvermutung90. Zulässig ist eine Beschreibung der Verdachtslage; hierbei sind Formulierungen zu verwenden, die jeden Anschein einer unzulässigen Schuldzuweisung vermeiden91. Bei Einstellung nach Abs. I ist im Gegensatz zu § 153 StPO die Zustimmung des Richters nicht erforderlich92. Nach der Begründung des RegE zum 1. JGGÄndG93 ist die Anwendung von Abs. I sachgerecht, wenn es sich um eine jtypische Verfehlung mit geringerem Schuldgehalt und geringen Auswirkungen der Tat handelt; nach RL 2 ist unter diesen Voraussetzungen Abs. I insbes. bei Taten erstmals auffälliger J zu prüfen. Abs. I kommt aber z.B. auch bei erheblichen Vergehen aus einer Konfliktsituation heraus oder bei einer Tat in Betracht, die so lange zurückliegt, dass der Täter keine Beziehung mehr zu ihr hat. Auch mehrfache Auffälligkeit muss nicht stets hinderlich sein (vgl. aber zur Differenzierung Einf. 43). Die Begründung zum RegE94 weist zu Recht darauf hin, dass (uU) schon die Wirkung der Tatentdeckung und das Ermittlungsverfahren mitsamt den dadurch ausgelösten Reaktionen der Bezugspersonen weitere erz. Maßnahmen entbehrlich machen können (vgl. auch RL 2). Die jgemäße Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe der geringen Schuld und des fehlenden öffentlichen Interesses ermöglicht es dem JStA, eine dem Einzelfall und dem jeweiligen kriminologischen Erkenntnisstand entsprechende Entscheidung zu treffen95 (vgl. auch Rn 16 aE). Da der aus § 153 StPO übernommene Begriff des öffentlichen Interesses auch die Generalprävention umfasst, ist es trotz des das JGG prägenden ErzGedankens in gewissem Umfang zulässig, bei der Anwendung des § 45 I auch generalpräventive Gesichtspunkte wie eine drohende Einbürgerung von Strafrechtsverstößen zu berücksichtigen, wenn dies nicht mit ungünstigen erz. Wirkungen für den J verbunden ist96. Es muss auch das Verfahren selbst erz. sinnvoll gestaltet werden. Entscheidend kann 24 gerade im Verfahren nach § 45 die persönliche Begegnung werden, bes. bei folgenloser Einstellung. So werden stets die Wirkungen zu bedenken sein, die eine lediglich schriftliche Mitteilung der Einstellung an den J ohne vorheriges persönliches Gespräch haben kann. Im Einzelfall kann es sich empfehlen, solcher Wirkungen halber den JRichter einzuschalten (vgl. Rn 37 u. 39)97. Ergeht ein Einstellungsschreiben, kann dieses personalisiert ausgestaltet werden98. Der JStA sieht nach Abs. II 1 auch dann von der Verfolgung ab, wenn eine erz. Maßnahme 25 bereits durchgeführt oder eingeleitet ist und er weder eine Beteiligung des Richters nach Abs. III noch die Erhebung der Anklage für erforderlich hält. Das gilt auch für Straftaten, die das StGB als Verbrechen einstuft. Der JStA muss nach Abs. II 1 verfahren (sieht … ab), wenn er der Meinung ist, dass der J durch eine anderweitige erst eingeleitete oder bereits durchgeführte erz. Maßnahme so gefördert werden kann oder bereits ist, dass auf eine jrichterliche Entscheidung verzichtet werden kann. Andererseits ist es allein der StA, der entscheidet, ob eine erz. Maßnahme von anderer Seite ausreichend ist99. RL 3 S. 1 stellt auf die Eignung der Maßnahmen ab, die Einsicht des J in das Unrecht der Tat und deren Folgen zu fördern. Es kommen Maßnahmen der Eltern in Betracht, deren ErzRecht, soweit angängig, im Vordergrund bleiben soll (Art. 6 II GG), oder von der Schule, vom Ausbildenden, vom BewHelfer, JGHelfer (dazu aber Rn 19), vom ErzBeistand, Familiengericht oder anderen – nahen – Bezugspersonen. In der Begründung zum RegE100 wird darauf hingewiesen, dass tatnahe erz. Maßnahmen aus dem sozialen Umfeld

90 91 92 93 94 95 96 97

BVerfG NJW 17, 1539. AaO, 1539 f. Dallinger/Lackner 11; Ostendorf/Sommerfeld 10. BT-Drs. 11/5829, S. 23. AaO. Dölling in BMJ, Hrsg., JStrafrechtsreform durch die Praxis, 1989, S. 246. Näher Untersteller S. 385 ff, 417 ff. Siehe auch Empfehlungen der Ad-hoc-Kommission „Diversion“ in BMJ, Hrsg., „Diversion“ im deutschen JStrafrecht, 1989, S. 13. 98 Vgl. Pitz S. 307 ff mit Beispielen auf S. 363 u. 365. 99 Begr. RegE eines 1. JGGÄndG, BT-Drs. 11/5829, S. 24. 100 AaO. 345

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des J nachdrücklicher empfunden werden und bes. geeignet sind, Schuldeinsicht zu fördern und sein Verhalten zu ändern. 26 Die Persönlichkeit des J, aber auch das persönlichkeitsbegründete Tatbild werden die Ausfüllung des Beurteilungsspielraums des StA bestimmen, ob eine solcherart bereits getroffene, uU auch recht geringe Maßnahme als ausreichend angesehen werden kann. Schon Abmahnungen oder Belehrungen durch die Polizei (aber Rn 17, 18) oder durch die JGH (aber Rn 19) im Laufe des Ermittlungsverfahrens können ggf. genügen, falls sie den J offensichtlich beeindruckt haben. Derartige, bereits außerhalb des Justizbereichs getroffene Maßnahmen, auch beachtliche Verhaltensänderungen des J, muss die JGH ermitteln, nach der Persönlichkeit des J werten und schnell der JStA bekannt geben. Auch erlittene UHaft kann und soll der JStA als Maßnahme ansehen, die eine Ahndung durch den JRichter uU entbehrlich macht. Auch aus Niederschriften oder Vermerken der Polizei, die bei ihrer Vernehmung auch auf die persönliche und soziale Situation des J eingehen darf und soll, kann der StA sich Kenntnis über getroffene Maßnahmen von anderen Trägern der Sozialkontrolle verschaffen. Die für die Diversionsentscheidung der StA erheblichen Befunde der Polizei können nach einem Vorschlag von Pitz101 in einem standardisierten Fragebogen erfasst werden. Reichen diese Befunde iVm dem Registerauszug für die Diversionsentscheidung nicht aus, muss der JStA die JGH einschalten102. Teilweise103 wird angenommen, dass auch eine medienöffentliche Vorverurteilung eine erz. Maßnahme iSv Abs. II 1 sein kann. 27 Insbes. ist das Bemühen des J um einen Ausgleich mit dem Verletzten (Täter-Opfer-Ausgleich) (vgl. näher § 10, 24 ff) als „hoffnungsvollste Alternative104 geeignet, den StA von der Verfolgung absehen zu lassen (Abs. II 2). Gerade bei Körperverletzungsdelikten und auch bei Sachbeschädigung und Diebstahl ist Ausgleichsbedarf offensichtlich105. Es können aber auch vielfältige andere Delikte für einen Ausgleich geeignet sein (§ 10, 27). Neben dem persönlichen Gespräch kommen als Leistungen des Täters an das Opfer in Betracht: verschiedene Formen der Entschuldigung, Geschenke, symbolische Gesten, Arbeitsleistungen, gemeinsame Aktivitäten und nicht zuletzt finanzieller Schadensersatz und Schmerzensgeldleistungen106. Auch die Vergütung für gemeinnützige Leistungen des J kann zu Schadensersatzleistungen an den Geschädigten dienen107, sodass auch Unbemittelten diese Möglichkeit nicht verbaut ist. Für die Erfüllung der Maßnahme genügt das ernstliche Bemühen des J um einen Ausgleich, ein Ausgleichserfolg ist nicht erforderlich108. Vgl. auch Rn 11, § 15, 3 ff109. 28 In den kriminalpädagogischen Schülerprojekten, die mit einem Modellprojekt in Aschaffenburg begonnen haben, vereinbart ein Schülergremium mit dem J eine Maßnahme, nach deren Erfüllung der StA das Verfahren idR gem. § 45 II 1 einstellt110.

101 S. 250 ff. 102 Pitz S. 272. 103 Altemann Medienöffentliche Vorverurteilung – strafjustizielle Folgerungen für das Erw.- u. für das JStrafverfahren? 2009, S. 254, 268. 104 Schreckling/Pieplow ZRP 89, 19. 105 Schreckling in BMJ, Hrsg., JStrafrechtsreform durch die Praxis, 1989, S. 222; Schreckling/Pieplow aaO. 106 Schreckling aaO, S. 223. Zur Wiedergutmachung bei Graffiti-Delikten s. Höffler Graffiti – Prävention durch Wiedergutmachung, 2008, u. dies. ZJJ 10, 33. 107 Dölling in BMJ aaO, S. 250. 108 LG Osnabrück StraFo 15, 301. 109 Siehe auch Brunner Zbl. 76, 269 mwN. 110 Vgl. dazu Schöch/Traulsen DVJJ-J 02, 54; FS Böttcher, 2007, S. 379; GA 09, 19; FS Heinz, 2012, S. 507; Sabaß Schülergremien in der JStrafrechtspfelge, 2004; Löffelmann ZJJ 04, 171; Englmann Kriminalpädagogische Schülerprojekte in Bayern, 2009; ders. ZJJ 09, 216; Traulsen ZJJ 13, 160; RdJ 15, 349; zu Schülerverfahren als kriminalpräventives Angebot der JHilfe Traulsen FS Schöch, 2010, S. 267; krit. Rautenberg NJW 06, 2749; Breymann ZJJ 07, 4; Plewig ZJJ 08, 237; Riehe in DVJJ, Hrsg., Fördern Fordern Fallenlassen, 2008, S. 508; Stephan Justizia in Jugendhand? 2009; Heinz S. 36 f („unzulässig“); vgl. auch Block/Kohlberg ZJJ 06, 8. 346

Absehen von der Verfolgung

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11. Hilfe der JGH (SGB VIII) Bei den ambulanten Maßnahmen im Rahmen des § 45 (und § 47) ist die Mithilfe der JGH bes. 29 wichtig. Nach § 52 Abs. II SGB VIII hat sie frühzeitig zu prüfen, ob für den J oder Hw. Leistungen der JHilfe in Betracht kommen, und, soweit dies der Fall ist oder eine geeignete Leistung bereits eingeleitet oder gewährt worden ist, den StA oder Richter umgehend davon zu unterrichten, damit eine Verfahrensbeendigung nach §§ 45, 47 geprüft werden kann. Soweit erz. Bedarf besteht und im Rahmen des Möglichen hat die JGH also erz. Maßnahmen nach dem SGB VIII in die Wege zu leiten, die der StA ein Absehen von der Verfolgung nach Abs. II ermöglichen. In Betracht kommen insbes. die Hilfen zur Erz. nach §§ 27 ff SGB VIII, so ErzBeratung (§ 28), soziale Gruppenarbeit (§ 29), ErzBeistand, Betreuungshelfer (§ 30), Vollzeitpflege (§ 33), Heimerz. oder sonstige betreute Wohnform (§ 34), intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung (§ 35) und bei J (nach § 41 II nicht bei Hw.) sozialpädagogische Familienhilfe (§ 31). Werden ErzBeistandschaft und Heimerz. auf Antrag als Leistung der JHilfe gewährt, wird in ihrer Vermittlung durch die JGH keine Umgehung von § 12 zu sehen sein111; als Leistungen der JHilfe kommen diese ErzHilfen auch für Hw. in Betracht, auch wenn sie durch den JRichter nicht gegen Hw. verhängt werden dürfen (§ 105 I). Der JStA kann und braucht nicht zuzuwarten, bis eine uU längerfristig angelegte erz. Maßnah- 30 me (z.B. Aufnahme eines Ausbildungsverhältnisses) abgeschlossen ist112. Bricht der J die Maßnahme ab oder ist bis zu einem sonstigen Abschluss kein nennenswerter erz. Erfolg eingetreten und kommt auch keine andere Diversionsmaßnahme in Betracht, so nimmt der StA das bereits eingestellte Ermittlungsverfahren wieder auf, denn die Entscheidung nach Abs. II setzt nicht die Erfüllung einer konkreten Weisung voraus113 Neue Tatsachen oder Beweismittel brauchen nicht vorzuliegen, § 47 III gilt auch nicht entsprechend114. Nach Ostendorf/Sommerfeld115 gilt es, „im Hinblick auf das Vertrauensprinzip die Selbstbindung der staatsanwaltschaftlichen Ermessensentscheidung zu beachten“. Eine „grundlose“ Wiederaufnahme des Ermittlungsverfahrens wäre in der Tat erz. schädlich. Warum aber soll sich derjenige J auf Vertrauensschutz berufen dürfen, der die erz. Maßnahme, die zur Verfahrenseinstellung geführt hat, nicht auf sich nimmt oder der die Verfahrenseinstellung durch – erlaubtes – Verschweigen anderer Straftaten erreicht hat. Die Einstellungsverfügung erwächst nicht in Rechtskraft und ist nur im Wege der Dienstaufsicht anfechtbar.

12. Aktives Eingreifen der StA Ist keine erz. Maßnahme von anderer Seite getroffen, so erlaubt Abs. II dem JStA auch, selbst 31 die Voraussetzungen für ein Absehen von der Verfolgung zu schaffen. Das wird er auch dann können, wenn er eine bereits eingeleitete oder abgeschlossene erz. Maßnahme von anderen Trägern der Sozialkontrolle nicht für ausreichend hält. Solches aktives Eingreifen bedeutet für den StA nicht anordnen, sondern anregen116. Der RegE zum 1. JGGÄndG117 stellt ausdrücklich fest: „Der StA kann auch selbst die Voraussetzungen für ein Absehen von der Verfolgung nach § 45 II schaffen, falls noch keine angemessene erz. Reaktion erfolgt ist“ (ebenso RL 3 S. 3). Entgegen Dirnaichner118, der unter Berufung auf das Richtermonopol des Art. 92 GG, auf das Legali111 112 113 114 115 116 117 118 347

Vgl. Possin Heimerz. gem. §§ 27, 34 SGB VIII als jstrafrechtliche Intervention, 1995, S. 34. Böttcher/Weber NStZ 90, 563. Dallinger/Lackner 21; Begr. RegE, BT-Drs. 11/5829, S. 24. Ebenso Böttcher/Weber NStZ 90, 563. 20. Dallinger/Lackner 15; Eisenberg/Kölbel 20, 21; Ostendorf/Sommerfeld 13. BT-Drs. 11/5829, S. 24. 1990, S. 341 ff, 400 ff.

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tätsprinzip und auf die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 IV GG ein aktives Eingreifen der StA explizit ablehnt, wird man davon ausgehen dürfen, dass die Schwere des Eingriffs „der nichtrichterlichen Stelle“ (StA; vgl. Rn 36, 37) einer Kriminalstrafe nicht gleichkommt119 und deshalb im Einklang mit der Verfassung steht. Der J, welcher das Angebot der StA annimmt, durch eine Leistung die Einstellung des Verfahrens zu erreichen, wird zudem dazu motiviert, aus eigener Kraft zur Beendigung des durch die Straftat ausgelösten Konflikts beizutragen120. 32 Um zu erkennen, ob solch eigenes Eingreifen nicht etwa zu viel oder zu wenig ist, um Umfang und möglichen Erfolg anzuregender erz. Maßnahmen abschätzen zu können, muss die JStA die Entwicklung des J, die persönlichkeitsbedingte Tatverstrickung und seine Einlassung bei der Polizei (vgl. Rn 26) werten. Das setzt eine funktionierende Zusammenarbeit der JStA mit Polizei und JGH voraus. Diese vertrauensvolle und unbürokratische Kooperation mit der JGH, anderen Institutionen, Vereinigungen und Personen muss dem JStA darüber hinaus ein Reservoir an erz. Einwirkungsmöglichkeiten schaffen. Rechtzeitige und sachangemessene Persönlichkeitsermittlung sichert erzwirksames Handeln. Nach § 38 VII 1 und 3 kommt ein Verzicht der StA auf die Beteiligung der JGH insbes. in Betracht, wenn ein Verfahrensabschluss ohne Erhebung der öffentlichen Klage zu erwarten ist. Ob und inwieweit die JGH im weiteren Verfahren eingeschaltet wird, hängt im Einzelfall vom J, den Gegebenheiten und der Gestaltung der Zusammenarbeit zwischen StA und JGH ab. Hügel121 hält nach ihren Untersuchungsergebnissen eine Beteiligung der JGH im Bereich der leichten und mittleren Delinquenz im Regelfall für entbehrlich. Von Modellversuchen abgesehen, haben die Untersuchungen von Heinz/Hügel122 ergeben, dass die JGH bei Verfahren nach § 45 nur selten eingeschaltet worden ist123. Die sinnvolle Zusammenarbeit der beteiligten Institutionen und Personen im einzelnen Fall setzt voraus, dass bereits zuvor durch Kommunikation und Kooperation vor Ort die Grundlagen für ein abgestimmtes Vorgehen geschaffen worden sind124. § 37a I bietet hierfür eine Grundlage. Von der JGH und Kaufhäusern getragene Informationsgespräche oder Präventionskurse bei Ladendiebstählen125 kommen im Rahmen des Abs. II bei Wiederholungstätern oder rückfallgefährdeten J in Betracht.126Bei Ersttätern ohne erkennbares Rückfallrisiko werden häufig eine angemessen durchgeführte polizeiliche Vernehmung und Reaktionen des sozialen Umfeldes des J präventiv ausreichend sein127. 33 Das eigene Tätigwerden der JStA ist an ganz bestimmte Voraussetzungen gebunden. Es müssen die Ermittlungen die Schuld des J ergeben, das Ermittlungsverfahren also faktisch bis zur Anklagereife geführt sein, aus erz. Gründen rasch und vertretbar konzentriert. Ein unvermeidbarer Verbotsirrtum schließt Schuld und Strafbarkeit aus. 34 Der J muss Tat und Schuld glaubhaft eingestehen128. Bei der Schaffung des § 45 in der Fassung des JGG 1953 hat der Rechtsausschuss des Bundestages Wert darauf gelegt, „dass formlose Maßnahmen, die ein Absehen von der Verfolgung rechtfertigen, nur dann getroffen werden 119 120 121 122 123 124

Vgl. BVerfGE 22, 49 zur Herabstufung als Ordnungswidrigkeit. Dölling in BMJ, Hrsg., JStrafrechtsreform durch die Praxis, 1989, S. 248. BewH 88, 312. 1987 S. 48. Hügel BewH 88, 310. Zum vernetzten Denken u. Handeln in der JKriminalrechtspflege Bruns DVJJ-J 94, 172; Supèr DVJJ-J 94, 175; Dölling in DVJJ, Hrsg., Sozialer Wandel u. JKriminalität, 1997, S. 325 f. 125 Dazu Schmitt BewH 00, 64; Mayer BewH 00, 70 sowie Orgatzki-Rojahn, Messing u. JGH Stuttgart DVJJ-J 00, 300 ff; ablehnend Bregmann/Fischer DVJJ-J 00, 291 u. – einseitig – Bettinger DVJJ-J 98, 275. 126 Siehe die differenzierte Beurteilung bei Bussmann BewH 00, 34. 127 Allg. zu Reaktionen auf Ladendiebstahl Ostendorf DVJJ-J 99, 354. 128 Empfehlungen der Ad-hoc-Kommission „Diversion“ in BMJ, Hrsg., „Diversion“ im deutschen JStrafrecht, 1989, S. 14; Breymann Zbl. 85, 16; Dölling (FN 120), S. 251; Schaffstein FS Jescheck, 1985, S. 951 FN 25; Miehe in JStrafrecht an der Wende, S. 158; aA DSS/Diemer 13; Eisenberg/Kölbel 18; MK-StPO/Höffler § 45 JGG 22; OstendorfSommerfeld 14; Bohnert NJW 80, 1931; Heinz DVJJ-J 99, 133; Mann S. 131; nach RL 3 S. 4 genügt, dass der J den Tatvorwurf nicht ernstlich bestreitet. 348

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können, wenn der Beschuldigte geständig ist“129. Es ist schwer einzusehen, weshalb der StA ein Geständnis nicht benötigen, der Richter aber nach Abs. III darauf angewiesen sein soll130. Man sollte dem StA auch nicht zumuten, von einem J, der nicht gesteht, aber zu erkennen gibt, dass er des gewollten Effekts halber als „Unschuldiger“ gleichwohl eine angeregte Leistung erbringen will, Leistungszusagen entgegenzunehmen; das erscheint auch erz. kaum vertretbar131. Die Problematik des Geständnisses junger Menschen132 ist zu berücksichtigen, verliert aber im Zusammenhang mit Abs. II (und III) entscheidend an Brisanz, weil das Geständnis in den umstrittenen Fällen erst nach einem zu einer Anklage ausreichenden Schuldnachweis (Rn 33) zusätzlich in Betracht kommt. Verhindert aber Trotz ein Geständnis, können Motivierung und Erfolgsaussicht zweifelhaft sein133. Die Vorstellung, sich strafbar gemacht zu haben (anders der unvermeidbare Verbotsirrtum Rn 33), ist nicht Voraussetzung der Strafbarkeit und braucht deshalb vom Geständnis nicht umfasst zu sein. Der J (Hw.) muss sein Einverständnis mit den vom JStA angeregten und im einzelnen darge- 35 legten Maßnahmen erklären, der ErzBerechtigte und gesetzliche Vertreter des J zustimmen134. Hierfür reicht es aus, wenn sie der Maßnahme nicht widersprechen (RL 3 S. 4)135. Denn in der Praxis stellt sich die entscheidende Frage, wie Einverständnis und Zustimmung rechtsstaatlich ausreichend gesichert und in allseitigem Interesse möglichst rasch beigebracht werden können, ohne dass der J durch Trotzreaktion oder auch nur Nachlässigkeit sich selbst schadet und sich diesen günstigeren und jgemäß rascheren Weg verbaut. Es wird deshalb genügen, wenn leicht verständlich und klar Gelegenheit zur Ablehnung eines solchen Verfahrens gegeben wird136; dies entspricht dem Bedürfnis nach rascher Erledigung, der Praktikabilität sowie dem Gewicht und den Folgen dieser Entscheidung. Ein solcher Weg ist vertretbar, weil der ErzBerechtigte und der J oder Hw. eine andere Meinung immer noch rechtzeitig dadurch wirksam dokumentieren können, dass Weisung oder Auflage nicht erfüllt werden. Sind mehrere erzberechtigt, so darf und muss bei Zustimmung durch nur einen der ErzBerechtigten davon ausgegangen werden, dass er insoweit den anderen vertritt (vgl. § 67, 2). In einem mündlichen Erörterungstermin (besser ohne Robe; vgl. § 78, 18) oder schriftlich teilt der JStA mit, welcher Straftat er den J für hinreichend verdächtig, welche erz. Maßnahme (Weisungen, Auflagen, nicht JA) er deshalb für geboten hält, und belehrt ihn, dass das Verfahren seinen Fortgang nimmt, wenn er seine Zusagen nicht erfüllt. Dieser Weg ist geboten, weil nur der Richter Sanktionen anordnen darf. Liegen diese Voraussetzungen vor, so kann der JStA Anregungen zu Leistungen in dem 36 Maße geben, wie der JRichter nach Abs. III im Vorverfahren Sanktionen auferlegen kann (dazu Rn 40 ff)137. Darüber hinaus geht seine Kompetenz auf keinen Fall. Die Gegenansicht will dem JStA nur die Anregung von Maßnahmen unterhalb der Eingriffsintensität des JRichters

129 Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Rechtswesen u. Verfassungsrecht, BT-Drs. I/4437 S. 8. 130 Vgl. Schaffstein aaO; Böhm FS Spendel, 1992, S. 793, nach dem es sich als „ziemlich unsinniger Wertungswiderspruch“ darstellen würde, wenn der J dem StA die Einstellung ohne Zugeständnis der Schuld „abkaufen“ könnte, dem JRichter gemäß Abs. III aber nicht. 131 Näher zur erz. Bedeutung des Geständnisses Burscheidt S. 78. 132 Dazu Eisenberg/Kölbel 24, Ostendorf/Sommerfeld 14, jeweils mwN. 133 Siehe auch Böhm aaO, S. 784, der es als nicht unplausibel bezeichnet, dass eine Hauptverhandlung gegen einen leugnenden J pädagogischer ist als das „Abkaufen der Verfolgung“. 134 Dölling (FN 120), S. 251; Mohren S. 121, 125 f; nach Eisenberg/Kölbel 20 ist bei staatlichen erz. Maßnahmen die Zustimmung der ErzBerechtigten u. gesetzlichen Vertreter einzuholen, nach Ostendorf/Sommerfeld 13 ist diese formal nicht notwendig, ein Einverständnis aber anzustreben. 135 Heinz DVJJ-J 99, 136. 136 Mann S. 135; Mohren S. 121 FN 4. 137 BeckOK-JGG/Schneider 63; MK-StPO/Höffler § 45 JGG 20; Dölling (FN 120), S. 249 ff; Heinz in Speck/Martin, Hrsg., Sonderpädagogik und Sozialarbeit, 1990, S. 493; ZStW 92, 630 u. DVJJ-J 99, 137; Pitz S. 297; LBN/Laubenthal/ Nestler Rn 296; Beulke/Swoboda Rn 757; Streng Rn 180. 349

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nach Abs. III (Rn 40) zugestehen, die „nicht einer Sanktionierung gleichkommen“138. Gewiss kann der JStA – und er wird es tun, wo dies verantwortbar ist – im Rahmen des Abs. II den J durch ein „Ermahnungsgespräch“ zu beeinflussen versuchen und erkennbare positive Ansätze stützen, gewiss kann er bei Eltern und anderen Bezugspersonen erz. Maßnahmen anregen. Beschränkt man aber den JStA auf Maßnahmen unterhalb des Katalogs des Abs. III, so sind seine Möglichkeiten so eingriffsschwach, dass es um so häufiger zur von keiner Seite gewollten Steigerung kommen muss, nämlich zum eingriffsintensiveren Antrag nach Abs. III139. Warum soll der StA nicht gemeinnützige Arbeit anregen dürfen, um auch dem Unbemittelten Gelegenheit zu geben, vom Entgelt Wiedergutmachung zu leisten; warum soll er einen pädagogisch Erfolg versprechenden Kontakt mit dem J zunächst abbrechen müssen, um den Richter nach Abs. III einzuschalten, wenn der J eine Leistung zur Wiedergutmachung erbringen will? Durch die Beschränkung des StA, wie manche sie für richtig halten, wird dem J eher eine Chance verbaut, als ihm geholfen. Dem J steht es frei, die Mitwirkung abzulehnen, wenn auch zumindest mit der Konsequenz des Abs. III. Die Kompetenz des StA zur Anregung auch von Maßnahmen iSv Abs. III entspricht dem Grundgedanken der §§ 45, 47, die nächste Verfahrensstufe erst dann zu beschreiten, wenn Maßnahmen auf der vorherigen Stufe nicht ausreichen140. Diese Auffassung dürfte auch der Neufassung des § 45 durch das 1. JGGÄndG zugrunde liegen141. Nach der Begründung zum RegE ist wichtigstes Unterscheidungskriterium zwischen den neuen Absätzen II und III „die Antwort auf die Frage, ob der StA eine Entscheidung/Anklage durch den Richter für entbehrlich oder aber für erforderlich hält“142. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen diese Auffassung bestehen nicht143. Sie ermöglicht außerdem eine rasche erz. Einwirkung nach der Tat, intensivere Kommunikation des StA mit dem J und spart personellen und verfahrensmäßigen Aufwand. 37 Die JStA wird den Weg eigenen aktiven Helfens zur Verfahrenseinstellung durch Anregung von Leistungen richtigerweise nur dann wählen, wenn sie sich auf weniger schwerwiegende Leistungen beschränken kann. Hält sie hingegen Leistungen erheblichen Gewichts für erz. notwendig, wird sie dies dem Richter überlassen144. Ungehorsamsarrest ist auch hier ausgeschlossen, die zugesagte Leistung kann nicht er38 zwungen werden. Zur unmittelbaren Einstellung nach Zusage der Leistung und Wiederaufnahme des Ermittlungsverfahrens gilt das Rn 30 Gesagte. Die Nichterbringung von im Wege der Diversion auferlegten Leistungen darf nicht strafschärfend berücksichtig werden145.

13. Mit Einschaltung des Richters 39 Hält der JStA aus erz. oder anderen Gründen (vgl. Rn 37) die Einschaltung des JRichters, nicht aber das vereinfachte JVerfahren (§ 76) oder eine Anklage für erforderlich, so muss er bei dem JRichter nach Abs. III entsprechende erz. Maßnahmen, also das sog. (formlose) richterliche ErzVerfahren anregen. Auch hier wird der StA die JGH einschalten (RL 4), die Wesentliches beitragen kann. Auch Abs. III ist „Diversion“ und ermöglicht in einer dem förmlichen richterli-

138 Eisenberg/Kölbel 21 u. Eisenberg NStZ 87, 561; Ostendorf/Sommerfeld 13; DSS/Diemer 16; Böhm FS Spendel, 1992, S. 790; Böttcher DVJJ 87, 78; Löhr DVJJ 87, 106; MBH/Meier § 7 Rn 17, 18; Putzke/Feltes S. 56; Tilmann-Reinking DVJJ 87, 88; Walter ZStW 83, 61; vgl. auch LG Osnabrück StraFo 15, 301, 302, wonach Abs. II keine ahndenden Maßnahmen zulässt. 139 Heinz DVJJ-J 99, 137. 140 Heinz ZStW 92, 630. 141 Heinz aaO. 142 BT-Drs. 11/5829 S. 25. 143 Dölling (FN 120), S. 251. 144 Beulke/Swoboda Rn 757. 145 OLG Hamm NStZ-RR 07, 123 = ZJJ 06, 76 mit Anm. Goerdeler. 350

Absehen von der Verfolgung

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chen Verfahren vorgelagerten Verfahrensform dem J, durch Erfüllung der jrichterlichen Anordnungen bereits im Vorverfahren ein Absehen von der Strafverfolgung (Rn 44) zu erreichen. Das Verfahren ist rasch, persönlich und belastet den J nur wenig (vgl. Rn 24). Voraussetzung sind auch hier Schuldnachweis (näher Rn 33) und Geständnis (näher Rn 34). Entsprechend der Formlosigkeit des Verfahrens (vgl. Rn 39) sind die Maßnahmen, die der Richter treffen kann, beschränkt. Es kommen in Betracht, allein oder in bes. Fällen nebeneinander: die Ermahnung (dazu Rn 41); Erbringung von Arbeitsleistungen (§ 10, 13); Bemühungen im Rahmen eines Täter-Opfer-Ausgleichs (Rn 27; § 10, 24); Teilnahme an einem Verkehrsunterricht (§ 10, 32) und die Auflagen Schadenswiedergutmachung (§ 15, 3 ff), persönliche Entschuldigung (§ 15, 14), Erbringung von Arbeitsleistungen (§ 15, 13) und Bezahlung eines Geldbetrages an eine gemeinnützige Einrichtung (§ 15, 15). Die Ermahnung ist im Unterschied zur Verwarnung (§ 14, 5) formlos und bedarf keiner Vollstreckung; sie sollte möglichst mündlich ausgesprochen werden146, weil sie dann erz. mehr Gewicht erhalten kann. Die Umstände können aber auch dazu zwingen, sie durch den Amtshilferichter147 oder schriftlich, sorgsam abgefasst, zu erteilen. Ostendorf/Sommerfeld148 halten in entsprechender Anwendung des § 42 I Nr. 2 den Richter des jeweiligen Aufenthaltsortes für zuständig. Die Weisungen und Auflagen können aus erz. Gründen nachträglich geändert, auch ganz oder zum Teil aufgehoben werden (§ 11 I; § 15 III 1). Sie sind aber nicht erzwingbar, Ungehorsamsarrest ist ausgeschlossen (Abs. III 3 iVm § 11 III u. § 15 III 2). Der Gesetzgeber hat die Betreuungsweisung (§ 10, 19) und die Weisung, an einem sozialen Trainingskurs (§ 10, 21) teilzunehmen (§ 10 I 3 Nr. 5 u. 6), nicht in den abschließenden Katalog des Abs. III aufgenommen, weil diese Weisungen mit ihrer bes. Eingriffsintensität und dem benötigten längeren Zeitraum sich den Zwecken der informellen Erledigung, bes. rascher Reaktion bei geringerer Belastung, nicht einfügen149. Es ist auch die bei diesen Weisungen vorgeschriebene (§ 38 VI 3) und bes. wichtige Beteiligung der JGH über die bloße Information hinaus in Anbetracht der gebotenen beschleunigten Erledigung schwerlich sicherzustellen. Zur Frage der Diversion bei Mehrfachtätern Einf. 43 f. Der Richter ist in seiner Entscheidung frei; er kann dem Vorschlag des StA entsprechen oder er kann ihn ablehnen. Er kann auch eine andere zulässige Maßnahme treffen. Solche Abweichungen sollten grds. im Einvernehmen mit dem StA erfolgen; durch seine Zustimmung ändert der StA seinen Antrag, sodass der Richter mit der Anordnung dem – geänderten – Vorschlag entspricht. Der Richter kann aber auch ohne Zustimmung des StA, ja gegen dessen Willen eine andere zulässige Maßnahme treffen150. In diesem Fall kann der StA Anklage erheben, da keine Bindungswirkung nach Abs. III 2 besteht151. Eine solche Situation sollte in der Praxis vermieden werden. Entspricht der Richter dem Vorschlag des StA und erfüllt der J die Anordnung, muss der StA von der Verfolgung absehen (Abs. III 2). Es liegt ein echtes Verfahrenshindernis vor. Denn der Hinweis auf entsprechende Anwendung des § 47 III in Abs. III 4 stellt klar, dass der JStA in diesem Falle nur dann das Ermittlungsverfahren erneut aufnehmen darf, wenn neue Tatsachen und Beweismittel vorliegen152. Es gelten hier in vollem Umfang die Ausführungen § 47, 20. Eine Anklage oder einen Antrag nach § 76 müsste das Gericht deshalb auch dann zurückweisen (§ 204 StPO), wenn der StA zwar zunächst eingestellt, das Verfahren später aber wiederaufgenommen hätte, ohne dass ein rechtfertigender Grund (§ 47 III entsprechend) gegeben wäre. Deshalb bleibt der an 146 147 148 149 150

Ebenso Eisenberg/Kölbel 26; Ostendorf/Sommerfeld 17. OLG Hamm Zbl. 70, 56. 17. Begr. RegE eines 1. JGGÄndG, BT-Drs. 11/5829, S. 25. Dallinger/Lackner 28; DSS/Diemer 26; Eisenberg/Kölbel 29; LBN/Laubenthal/Nestler Rn 300; Pentz NJW 54, 1352; aA Potrykus B 6; Ostendorf/Sommerfeld 18, die nur gänzliche Ablehnung des Verfahrens für zulässig halten. 151 Dallinger/Lackner 33; MBH/Meier § 7 Rn 28; Beulke/Swoboda Rn 766. 152 Anders BGH 10, 104 zur alten Rechtslage gegen die hM der Lehre. 351

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sich zulässigen Dienstaufsichtsbeschwerde gegen die Einstellung regelmäßig der Erfolg versagt, wenn nicht die Voraussetzungen des § 47 III vorliegen. Auch ein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO ist deshalb nur gegeben, wo die Voraussetzungen des § 47 III vorliegen. 45 Allerdings ist der JStA nicht gehalten, unmittelbar nach Erteilung der Maßnahmen durch den JRichter das Verfahren einzustellen. Bei der richterlichen Erteilung von Weisungen und Auflagen sieht der JStA vielmehr nach Abs. III 2 erst von der Verfolgung ab, nachdem der J ihnen nachgekommen ist. Bis zur endgültigen Einstellung kann der JStA das Verfahren fortsetzen und Anklage erheben, wenn der J die Weisungen oder Auflagen nicht erfüllt153. Insoweit wird sich vielfach eine Absprache mit dem Richter empfehlen. Ebenso kann der JStA schon vor dem Antrag nach Abs. III mit dem Verfahren innehalten, wenn noch Erkenntnisse darüber zu erwarten sind, ob nach Abs. II oder nach Abs. III oder nach § 76 I zu verfahren ist. Immer aber wird er auch dabei den in jeder Lage des Verfahrens zu beachtenden Grundsatz der Beschleunigung berücksichtigen müssen154. 46 Es kann sich empfehlen, dass die nach Abs. III 1 erteilten Maßnahmen der Ortsnähe wegen besser der Richter mit Hilfe der JGH überwacht. Der JStA wird dies übernehmen, wenn er schon persönliche Kontakte zum J hatte, aus den Rn 3 genannten oder aus anderen bes. Gründen155. Erzwingbar sind auch die vom Richter erteilten Maßnahmen nicht, Ungehorsamsarrest ist ausgeschlossen (Abs. III 3). 47 Entspricht der Richter dem Vorschlag des StA nicht, d.h. trifft er keine oder eine vom StA nicht beantragte Maßnahme, oder erfüllt der J die im Einvernehmen mit dem StA vom Richter erlassene Anordnung nicht, ist der StA frei156. Einschränkungen der Zustimmung des StA sind nach LG Zweibrücken157 nur hinsichtlich Art und Umfang der Geldbuße, aber nicht zur Frage der empfangenden Einrichtung beachtlich. Der StA kann also anklagen, wenn die Voraussetzungen (noch) gegeben sind, oder aus einem anderen Grunde das Verfahren einstellen. Bereits erbrachte Leistungen sind in einem späteren Urteil zu berücksichtigen158, soweit sie nicht zurückerstattet werden können159.

14. Geltung im Ordnungswidrigkeitsverfahren 48 Eine Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen J und Hw. ist der StA vorbehalten. Im OWiGVerfahren jedoch kann auch die Verwaltungsbehörde als Verfolgungsbehörde (§ 35 I, II OWiG) das Verfahren einstellen, solange es bei ihr anhängig ist (§ 47 I OWiG)160, zumal die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten in ihrem pflichtgemäßen Ermessen liegt. Als Maßnahme kann nur eine Geldbuße in Betracht kommen; sie ist im OWiG-Verfahren anders als nach § 15 II Nr. 1 JGG auch dann möglich, wenn der J oder Hw. mittellos ist161, weil in der Vollstreckung anstelle der Geldbuße Weisungen und Auflagen auferlegt werden können (§ 98 OWiG; § 82, 13). Im Übrigen ist „Polizei-Diversion“ ausgeschlossen (näher Rn 17, 18); lediglich präventiv-polizeiliche Maßnahmen, wie etwa die Vorführung des in Ordnung gebrachten Mopeds, sind zulässig162. Das Klageerzwingungsverfahren ist gem. § 46 III 3 OWiG ausgeschlossen. Zur Einstellung durch das Gericht § 47, 6. Rechtsgrundlage für die Einstellung im OWiG-Verfahren ist allein § 47 OWiG, der 153 154 155 156

Beulke/Swoboda Rn 765. Begr. RegE (FN 149), S. 25. Vgl. Begr. RegE aaO. Dallinger/Lackner 32, 36; Eisenberg/Kölbel 32; Ostendorf/Sommerfeld 18; Potrykus B 6; Dölling in BMJ, Hrsg., JStrafrechtsreform durch die Praxis, 1989, S. 254; Pentz NJW 54, 1352. 157 NJW 90, 1247 zu § 153a II StPO. 158 Dallinger/Lackner 37; Eisenberg/Kölbel 32. 159 Ostendorf/Sommerfeld 21; Potrykus B 6. 160 BVerfGE 27, 18. 161 Göhler/Seitz/Bauer § 47 OWiG 21; Krumm NZV 10, 69; Bedenken bei Eisenberg/Kölbel 3 wegen „Leistungsabwälzbarkeit“. 162 Ebenso Ostendorf/Sommerfeld 16. 352

Absehen von der Verfolgung

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als anderweitige Bestimmung iSv § 46 I OWiG die Anwendbarkeit der §§ 45, 47 JGG ausschließt163.

15. Mitteilungen Mitteilungen sind erforderlich an Beschuldigten (entsprechend § 170 II 2 StPO, Nr. 88, 91 I 49 RiStBV), an ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter (§ 67a I), an Antragsteller (§ 171 StPO, Nr. 89, 91 II RiStBV) und allg. gem. §§ 70 I S. 1, 109 I 3 (zu Besonderheiten von Mitteilungen an die Schule § 70, 6), an ErzRegister nach §§ 59, 20, 60 I Nr. 7, Abs. II BZRG. Der Wegfall der Eintragung in das ErzRegister wird de lege ferenda vielerseits befürwortet. Man wird auch bei J den StA und Richter für verpflichtet halten dürfen, dem Verletzten in den Fällen der §§ 45, 47 den Verfahrensausgang nach §§ 171, 406d I StPO mitzuteilen; häufig kommt ohnehin ein Täter-Opfer-Ausgleich in Betracht.

16. Anhörungen und Rechtsbehelfe Vor der Entscheidung nach § 45 hört der JStA bei J den ErzBerechtigten und den gesetzlichen 50 Vertreter und setzt sich mit der JGH in Verbindung, wenn er nicht nach § 38 VII 1, 3 auf die Einschaltung der JGH verzichtet. Bei bes. Eilbedürftigkeit – oft auch gerade hier dem Gewicht der Tat und der Persönlichkeit des Beschuldigten angemessen – kann fernmündlicher Informationsaustausch genügen. Bei der Arbeitsweisung (§ 10, 13) und beim Täter-Opfer-Ausgleich (Rn 27; § 10, 24) wird die gebotene enge Zusammenarbeit mit der JGH evident und für die Frage der Angemessenheit, der möglichen Einwirkungen und wegen der Modalitäten der Durchführung unentbehrlich (vgl. Rn 32 u. 46; § 38, 8 u. 41). Ein Mitwirken des Richters ist nur im Falle des Abs. III vorgeschrieben; doch sollte seine Stellungnahme in Zweifelsfällen eingeholt werden. Nach RiStBV 90 muss der StA interessierte Behörden vor der Einstellung des Ermittlungsverfahrens hören. Ob dies auch gilt, wenn ein formloses ErzVerfahren gem. § 45 beabsichtigt wird, ist umstritten, doch zu verneinen164. Denn § 45 eröffnet ein bes. jgemäßes Verfahren, keine bloße Verfahrenseinstellung; ob es erz. geeignet ist, können Verwaltungsbehörden nicht beurteilen. Ist durch Justizverwaltungsvorschriften allerdings die Geltung der RiStBV 90 auch für § 45 I bejaht, liegt darin eine verbindliche Weisung für die StA. Die Entscheidung der StA nach Abs. I und II ist nur mit Dienstaufsichtsbeschwerde, nicht 51 im Klageerzwingungsverfahren anzufechten (§ 172 II 3 StPO; wegen des Klageerzwingungsverfahrens sonst: Rn 1, 2)165, es sei denn, die StA hat die ihr durch § 45 gesetzten Grenzen überschritten166. Beim Absehen nach Abs. III versagt regelmäßig auch diese Beschwerde. Der Rechtsweg nach §§ 23 ff EGGVG ist stets ausgeschlossen167.

17. Kosten für die Maßnahmen ua Zu den Kosten für die Maßnahmen nach §§ 45, 47 vgl. § 10, 47 u. § 74, 10. Eine nach § 45 getroffe- 52 ne Maßnahme kann nicht zu einer Einheitsstrafe einbezogen werden (§ 31, 38). § 45 gilt auch 163 164 165 166 167

DSS/Diemer 10; Eisenberg/Kölbel 3; Ostendorf/Sommerfeld 3; Krumm NZV 10, 69. Zust. Eisenberg/Kölbel 38. OLG Braunschweig NJW 60, 1214; Eisenberg/Kölbel 44. Pentz NJW 58, 819. OLG Hamm MDR 83, 255 mwN; aA Mohren S. 142. Für Einführung einer Beschwerdemöglichkeit gegen Verfahrenseinstellungen nach den §§ 45, 47, wenn der J eine Entscheidung über die Schuldfrage haben möchte, weil er nicht der Täter gewesen sei, Heinz S. 95.

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im Verfahren gegen J vor den für allg. Strafsachen zuständigen Gerichten (§ 104 I Nr. 4), im Verfahren gegen Hw. nur, wenn JStrafrecht zur Anwendung kommt (§ 109 II, RL 5; näher § 109, 6).

18. Absehen von der Anklageerhebung bei betäubungsmittelabhängigen J und Hw. nach §§ 31a, 38 II, 37 BtMG 53 Dem § 45 vorgehende Spezialregelungen (Rn 3) enthalten die §§ 31a, 38 II, 37 BtMG. Nach § 31a I BtMG kann die JStA von der Verfolgung absehen, wenn (1.) das Verfahren ein Vergehen nach § 29 I, II oder IV BtMG zum Gegenstand hat; (2.) die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre, was vor allem bei Probierern in Betracht kommt, aber Wiederholungstäter nicht ausschließt168; (3.) kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht; (4.) der Täter die Betäubungsmittel lediglich zum Eigenverbrauch in geringer Menge anbaut, herstellt, einführt, ausführt, durchführt, erwirbt, sich in sonstiger Weise verschafft oder besitzt. 54 Die Anwendung von § 31a I BtMG kommt bei J insbes. in Betracht, wenn es sich um abgeschlossene episodenhafte Vorgänge handelt oder der J die tatauslösende Problematik aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer bewältigt hat169. Die Erfüllung der vom BVerfG170 auferlegten Pflicht, für eine im Wesentlichen einheitliche Einstellungspraxis der Staatsanwaltschaften zu sorgen, fällt den Ländern, die unterschiedliche Verwaltungsvorschriften erlassen haben, schwer171. Nach Anklageerhebung kann das Gericht nach § 31a II BtMG unter den genannten Voraussetzungen das Verfahren mit Zustimmung der StA und des Angeschuldigten einstellen. Hält das Gericht entgegen der Auffassung der StA die Voraussetzungen des § 31a BtMG für gegeben, darf es die Eröffnung des Hauptverfahrens nicht ablehnen172. Es besteht für das Gericht unter den Voraussetzungen des § 29 V BtMG die Möglichkeit des Absehens von Strafe. Stellt das Gericht die Voraussetzungen der §§ 29 V, 31a BtMG fest, muss das Urteil erkennen lassen, dass sich das Gericht seiner Verpflichtung, entsprechend dem BVerfG173 regelmäßig von Strafe abzusehen, bewusst war, und es muss die Gründe, die im Einzelfall zur Abweichung von dieser grds. Verpflichtung veranlasst haben, eingehend darlegen174. 55 Die JStA kann (nach pflichtgemäßem Ermessen) gem. §§ 38 II, 37 I 1 BtMG mit Zustimmung des nach § 42 I zuständigen JRichters vorläufig von der Erhebung der öffentlichen Klage absehen, wenn (1.) der J oder Hw. verdächtig ist, eine Straftat aufgrund einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen zu haben; erforderlich ist hinreichender Tatverdacht iSd §§ 170 I, 203 StPO175; (2.) konkret im Einzelfall eine JStrafe von nicht mehr als 2 Jahren zu erwarten ist; (3.) der Beschuldigte nachweist, dass er sich wegen seiner Abhängigkeit einer in § 35 I BtMG bezeichneten Behandlung unterzieht und seine Resozialisierung zu erwarten ist. 56 Die JGH kann und soll den J motivieren, Möglichkeiten und Pflichten mit ihm durchsprechen sowie ihm dann behilflich sein, sich der notwendigen Behandlung rechtzeitig zu unterziehen, sie durchzuhalten und den ihm obliegenden Nachweis zu erbringen. Die JStA wird sich entsprechend der dem § 38 I 2 BtMG gleichenden Interessenlage bei J um die Einwilligung und zugleich 168 169 170 171 172 173 174 175

PVF/Patzak § 31a BtMG 66, 70. PVF/Patzak § 31a BtMG 69. NJW 94, 1583. Dazu eingehend Aulinger S. 163 ff. LG Oldenburg NStZ-RR 02, 119 = JR 02, 302 mit zust. Anm. Aulinger. NJW 94, 1583. OLG Koblenz NStZ 98, 260. Zu § 29 V BtMG u. § 55 I vgl. LG Mainz NStZ 84, 121 bei § 55, 19. Joachimski/Haumer § 37 BtMG 2. 354

Absehen von der Verfolgung

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Hilfe der ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter bemühen (vgl. § 17, 49)176 und eng mit der JGH zusammenarbeiten. Die JStA sollte vor der Entscheidung den J oder Hw. anhören, um sich auch selbst ein Bild zu machen, und ihn eingehend belehren, um so der Entscheidung mehr Erfolgsaussicht zu sichern. Die JStA darf erst dann von der Verfolgung absehen, wenn der Fall ausermittelt und anklagereif ist177, was auch dem JRichter die Prüfung der Zustimmung erleichtert. Mit der vorläufigen Einstellung setzt die JStA die – keinesfalls zu weiträumigen – Zeitpunkte fest, zu denen der Beschuldigte die Fortdauer der Behandlung nachzuweisen hat (§ 37 I 2 BtMG)178. Die vorläufige Einstellung des Verfahrens bewirkt ein beschränkt wirksames Verfolgungshindernis (vgl. § 37 I 3 BtMG); 2 Jahre nach Zugang der entsprechenden Verfügung oder des Beschlusses (Rn 59) an den Beschuldigten179 wird sie zu einem endgültigen, das keine Fortsetzung des Verfahrens mehr gestattet (§ 37 I 5 u. II 3 BtMG). Dass eine so weitreichende Entscheidung nicht registrierpflichtig ist, erweckt Bedenken180. Denn dies erschwert die gerade im Drogenbereich bes. schwierige Persönlichkeitserforschung und kann zu erz. unguten Fehlentscheidungen führen. Nichtaufnahme in das Führungszeugnis würde den Beschuldigten ausreichend schützen, ohne zu den vorerwähnten Nachteilen zu führen. Die JStA führt das Ermittlungsverfahren weiter, wenn einer der in § 37 I 3 Nr. 1 bis 4 BtMG abschließend aufgezählten Fortsetzungsgründe eintritt; Ausnahme § 37 I 4 BtMG. In der ersten und in der Berufungsinstanz – auch bei Beschränkung der Berufung auf das Strafmaß und nach Zurückverweisung durch das Revisionsgericht181 – kann das Gericht mit Zustimmung der JStA das Verfahren nach § 37 II BtMG durch unanfechtbaren Beschluss vorläufig einstellen. Im Übrigen gilt hier das zu § 37 I BtMG Gesagte entsprechend. Entscheidet das Gericht ohne Zustimmung des JStA, so kann dieser nach § 304 Beschwerde einlegen182. Das Verfahren wird formlos oder durch nicht anfechtbaren Beschluss fortgesetzt. Die §§ 38 II, 37 I BtMG gehen als leges speciales dem § 45 an sich vor. Tatsächlich dürfte eine Konkurrenz dieser Vorschriften aber schon deshalb kaum praktisch werden, weil der JStA § 45 dann anwendet, wenn er die danach möglichen Sanktionen für ausreichend hält, § 37 BtMG aber, wenn er im Zeitpunkt der Entscheidungsreife konkret eine JStrafe bis zu 2 Jahren für geboten erachtet. Die versagte richterliche Zustimmung nach § 37 I BtMG durch eine Verfügung nach § 45 II 1 (oder gar § 45 I) zu „ersetzen“, ist nicht zulässig183, weil die Ausgangslage zu unterschiedlich ist und keiner der Verfahrensbeteiligten meinen sollte, er allein beurteile die Sachlage richtig und müsse dies unter Umgehung von wohlüberlegten Bestimmungen des Spezialgesetzes durchsetzen. Zudem könnten das Absehen von der Verfolgung nach § 45 I und die Einstellung wegen Geringfügigkeit nach § 153 StPO gerade bei drogenabhängigen J und Hw. als Freispruchssurrogat oder halbherzige Tolerierung missverstanden werden. Zu geringe richterliche Reaktionen könnten als Erfolgserlebnisse Verstärkerfunktion haben184 (vgl. auch Einf. 67). Insbes. aber fehlen die bei Betäubungsmittelabhängigen bes. gebotenen Einwirkungsmöglichkeiten und Hilfen; denn das Absehen von der Verfolgung nach § 45 III (wie die Einstellung nach Erfüllung von Auflagen nach § 153a StPO) lässt zwar Auflagen und bestimmte Weisungen (z.B. Arbeitsleistungen zu erbringen) zu, führt aber nicht zur Weisung, sich einer Entziehungskur zu unterziehen, und erlaubt es nicht, einen BewHelfer zu bestellen. § 45 greift bei wirklich Abhängigen kaum 176 177 178 179 180 181 182 183 184 355

Eisenberg/Kölbel 29b. Vgl. Katholnigg NStZ 81, 420. Zu den Anforderungen an Therapiewilligkeit u. -fähigkeit OLG Hamm MDR 82, 1044. Katholnigg NStZ 81, 420. Ebenso Joachimski/Haumer § 37 BtMG 1. Joachimski/Haumer § 37 BtMG 14. Vgl. OLG Stuttgart MDR 80, 250. Ostendorf/Sommerfeld 8; aA Nothacker JZ 82, 62. Rubner Ärztl. Praxis 1978, Nr. 11, 12, 13.

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und ist auch deshalb gerade dann bedenklich, wenn die spezielle betäubungsrechtliche (dem § 153a StPO rechtsähnliche) Lösung, aus welchen Gründen auch immer, nicht eingesetzt werden kann. 62 Zur Zurückstellung der Vollstreckung nach §§ 38 I, 35 BtMG: § 17, 40 ff. Zum Verhältnis des § 36 I 3 zu § 88: § 88, 3. Hinweis auf die Fundstellen zu Drogenfragen allg. Einf. 72.

§ 46 Wesentliches Ergebnis der Ermittlungen Der Staatsanwalt soll das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen in der Anklageschrift (§ 200 Abs. 2 der Strafprozeßordnung) so darstellen, daß die Kenntnisnahme durch den Beschuldigten möglichst keine Nachteile für seine Erziehung verursacht. 1. [Hw.]: § 109 RL 6; aber § 46 RL 2. – 2. [ErwG]: § 104; aber § 46 RL 2.

Richtlinien zu § 46 1.

2.

Auf eine für den Beschuldigten verständliche Fassung der Anklageschrift hat die Staatsanwaltschaft besonderes Gewicht zu legen. Einzelheiten über Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung oder kriminelle Methoden und ähnliche Angaben sind nur insoweit aufzunehmen, als dies unerläßlich ist. Ausführungen über eine mangelhafte Erziehung des Jugendlichen durch die Eltern sollen unterbleiben. Wenn auch § 46 im Verfahren gegen Jugendliche vor den für allgemeine Strafsachen zuständigen Gerichten und im Verfahren gegen Heranwachsende nicht unmittelbar gilt (§§ 104, 109), so wird doch sein Grundgedanke auch dort zu beachten sein.

1 Nur die StA klagt an (§ 36). Wenn Anklage erhoben wird (auch im vereinfachten JVerfahren gem. § 76; nicht beim formlosen Erziehungsverfahren gem. § 45), muss der Abschluss der Ermittlungen festgestellt werden (§ 169a StPO). Durch diesen Vermerk werden der Ermittlungsteil und der Entschließungsteil des Verfahrens getrennt1. Die Anklageschrift hat die Tat unter Hervorhebung ihrer gesetzlichen Merkmale nicht nur 2 durch Angabe des Gesetzeswortlautes und des Ortes und der Zeit der Tat, sondern auch durch Angabe konkreter Tatumstände individualisierend zu schildern2. Einschränkungen hierzu enthält RL 1 S. 2. Hierbei ist jedoch die Erwägung von Ostendorf/Sommerfeld3 zu berücksichtigen, dass nur ein detaillierter Schuldvorwurf eine detaillierte Verteidigung erlaubt. Sorgfältige Abwägung ist geboten. Es darf nicht durch Gedankenlosigkeit Schaden angerichtet und es muss die Anklage so abgefasst werden, dass sie der J ohne weiteres versteht (RL 1 S. 1); stigmatisierende und moralisierende Wendungen sind so überflüssig, wie sie schädlich sein können. Unter den Strafgesetzen ist bei J stets § 3 als Schuldvoraussetzung zu nennen; bei Hw., 3 gegen die JRecht zur Anwendung kommen wird, § 105; die näheren Einzelheiten der Begründung gehören in das wesentliche Ermittlungsergebnis4. Es muss auch der Name des Verteidigers aufgenommen werden (§ 200 I 2 StPO). 4 Das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen braucht nur (vgl. aber RiStBV 112) bei Anklagen 5 zum JSchöffengericht und zu höheren Gerichten aufgenommen zu werden (§§ 200 II 2 StPO, 33 II, 39 JGG). Es dient dem rechtsstaatlichen Schutz des Angeklagten, indem es die wesentlichen Einzelheiten des Beweisstoffes aufdeckt, der im „geheimen“ Vorverfahren gesammelt wurde, ihm dadurch erst die Möglichkeit zu Anträgen nach § 201 StPO gibt und eine wirksam vorbereitete (§ 219 StPO) Verteidigung gestattet. Wird nach Anklage zum J(Einzel)richter das Verfahren vor dem 1 2 3 4

Meyer-Goßner/Schmitt § 169a StPO 1. BGH NJW 54, 360; vgl. auch BGH 5, 227 u. 10, 139. 4. Zust. Eisenberg/Kölbel 5. 356

https://doi.org/10.1515/9783110686401-054

Anklage vor Berichterstattung der Jugendgerichtshilfe

§ 46a

JSchöffengericht eröffnet, sollte der StA die Anklage durch Einfügung des „wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen“ ergänzen. Eine Pflicht dazu besteht jedoch nicht (§ 41, 27)5. Deshalb hat das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen seinen festen Platz auch im JRecht. Bei Fassung der Anklageschrift entsprechend RL 1 werden sich aus der Mitteilung an den J (Rn 8) regelmäßig keine erz. Nachteile ergeben. Bei unlösbarem Konflikt aber geht der rechtsstaatliche Schutz (Rn 5) erz. Bedenken vor6. Bei erheblichen ErzDefiziten genügt regelmäßig ein knapper Hinweis auf die familiäre Problematik und die Entwicklungsschwierigkeiten des J; detaillierte Angaben sind insbes. zu vermeiden, wenn die Anklage einem Mitangeschuldigten zuzustellen ist7. Gerade im JVerfahren muss die Anklageschrift klar und verständlich sein (RL 1 S. 1; 110 I RiStBV). Zur Auswahl der Beweismittel RiStBV 111. Die Anklageschrift ist dem J, seinen ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertretern in vollem Umfang zuzustellen (§§ 201 StPO, 67a I JGG) und dem Verteidiger in Abschrift zuzusenden. Die MiStra sieht Mitteilung der Anklageschrift an verschiedene Behörden und Stellen vor. Auch im JVerfahren ist die Nachtragsanklage (§ 266 StPO) zulässig. Der Grundsatz der Einheitsstrafe (§ 31 I), verwirklicht durch die gemeinsame Verhandlung aller bekannten Taten, und die Beschleunigungsmaxime machen die schriftliche oder mündliche Nachtragsanklage im JRecht häufig notwendig. Nachteile ergeben sich in der Praxis nicht; die Nachtragsanklage muss natürlich in einer dem Verständnis des J angepassten Weise erhoben und zugelassen werden8. Im Verfahren gegen J vor den ErwGerichten und bei Hw. gilt § 46 zwar nicht unmittelbar (§§ 104, 109), es ist aber dessen Grundgedanke zu berücksichtigen (RL 2)9.

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§ 46a Anklage vor Berichterstattung der Jugendgerichtshilfe 1 Abgesehen von Fällen des § 38 Absatz 7 darf die Anklage auch dann vor einer Berichterstattung der Jugendgerichtshilfe nach § 38 Absatz 3 erhoben werden, wenn dies dem Wohl des Jugendlichen dient und zu erwarten ist, dass das Ergebnis der Nachforschungen spätestens zu Beginn der Hauptverhandlung zur Verfügung stehen wird. 2Nach Erhebung der Anklage ist der Jugendstaatsanwaltschaft und dem Jugendgericht zu berichten.

1. [Hw.]: § 109 I. – 2. [ErwG]: § 104 I Nr. 2.

Die durch das Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im JStrafverfahren 1 v. 9.12.2019 (dazu Einf. 136) eingefügte Vorschrift regelt auf der Grundlage von Art. 7 Abs. VI der Richtlinie (EU) 2016/800 eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass die individuelle Begutachtung des J vor Anklageerhebung vorzuliegen hat (Art. 7 Abs. V der Richtlinie, § 38 III 1). Nach teilweise vertretener Ansicht gilt die Vorschrift nicht im vereinfachten JVerfahren1. Jedenfalls kann nach § 78 III 1 von ihr abgesehen werden2. Die Anklageerhebung vor Berichterstattung der JGH ist nach der Vorschrift unter zwei Ausnahmevoraussetzungen zulässig. Der Begriff „Ausnahme“ ist nach der Gesetzesbegründung hier „normativ und nicht quantitativ“ zu verste5 6 7 8

Roestel NJW 66, 334. Eisenberg/Kölbel 8a, 10; Ostendorf/Sommerfeld 4. LG Berlin DVJJ-J 00, 86. Eisenberg/Kölbel 2; Ostendorf/Sommerfeld 2, der sorgfältige Prüfung der Handlungskompetenz des J anmahnt; aA Roestel NJW 66, 334. 9 Eisenberg/Kölbel 1; Ostendorf/Sommerfeld 1. 1 DSS/Diemer 3; Eisenberg/Kölbel 4. 2 Ostendorf/Sommerfeld 3. 357 https://doi.org/10.1515/9783110686401-055

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2. Teil. Jugendliche

hen. Die quantitative Bedeutung in der Praxis hänge davon ab, „wie häufig die Voraussetzungen eines Abweichens von der Grundregel tatsächlich erfüllt sind“3. Die Vorschrift darf aber nicht so gehandhabt werden, dass entsprechend der häufigen früheren Praxis (vgl. § 38, 6) die Anklageerhebung vor Berichterstattung zur Regel wird4. Die Anklageerhebung vor Berichterstattung setzt zunächst voraus, dass dies dem Wohl des J dient. Dieses Vorgehen muss also nicht nur mit dem Wohl des J vereinbar, sondern diesem förderlich sein5. Das kommt insbes. in Betracht, wenn ein Zuwarten zu einer Verlängerung der Untersuchungshaft führen würde6. Auch in Verfahren ohne Haft können sich Verfahrensverzögerungen wegen seelischer Belastungen durch das schwebende Verfahren oder nachteiliger tatsächlicher Konsequenzen, etwa bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz, negativ auf das Wohl des J auswirken, sodass ein Verzicht auf die Zurückstellung der Anklageerhebung angezeigt sein kann7. Es dürfen keine von der JGH zu klärenden Anhaltspunkte für eine Verfahrenserledigung im Wege der Diversion bestehen8. Dann wird einer Beschleunigung im Interesse des J insbes. erhebliches Gewicht zukommen, wenn trotz Anklageerhebung keine schwerwiegenden Rechtsfolgen, namentlich keine freiheitsentziehenden, zu erwarten sind9. Die zweite Voraussetzung für eine Anklageerhebung vor der JGH-Berichterstattung ist die Erwartung, dass das Ergebnis der Nachforschungen der JGH spätestens zu Beginn der Hauptverhandlung zur Verfügung stehen wird. Das ist nicht nur dann der Fall, wenn zu diesem Zeitpunkt ein schriftlicher JGH-Bericht vorliegt, sondern auch, wenn ein Vertreter der JGH anwesend ist, der über das Ergebnis der Nachforschungen vortragen kann10. Dies wird durch die grds. Anwesenheitspflicht der JGH gem. § 38 IV 1 abgesichert11. Liegen die beiden Voraussetzungen vor, entscheidet die JStA nach pflichtgemäßem Ermessen über die Anklageerhebung vor der JGH-Berichterstattung12. Die Berichterstattung der JGH nach Anklageerhebung hat nach S. 2 sowohl an die JStA als auch an das JGericht zu erfolgen. Hierdurch wird sichergestellt, „dass beide justizielle Organe der JGerichtsbarkeit auch nach Anhängigkeit bei Gericht die für sie nützlichen bzw. notwendigen Informationen der JGH erhalten“13, und Zeitverzug vermieden, der bei Berichterstattung nur an das Gericht und anschließender Weitergabe an die StA entstehen würde14. Ein vollständiger Verzicht auf die Berichterstattung der JGH nach § 37 VII 1 kommt im Fall der Anklageerhebung nur ausnahmsweise in Betracht, etwa bei noch aktueller Berichterstattung in anderer Sache15.

3 Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 51. 4 Ostendorf/Sommerfeld 5. 5 Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 52. 6 AaO. 7 AaO. 8 AaO. 9 Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 52; DSS/Diemer 5; aA Eisenberg/Kölbel 6. 10 Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 52. 11 AaO. 12 Eisenberg/Kölbel 8. 13 Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 52. 14 Eisenberg/Kölbel 9; Ostendorf/Sommerfeld 8. 15 Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 51; Ostendorf/Sommerfeld 4; für generelle Unzulässigkeit einer Anklageerhebung unter vollständigem Verzicht auf die JGH-Berichterstattung Eisenberg/Kölbel 3, 4. 358

Zweiter Unterabschnitt Das Hauptverfahren § 47 Einstellung des Verfahrens durch den Richter (1) 1Ist die Anklage eingereicht, so kann der Richter das Verfahren einstellen, wenn die Voraussetzungen des § 153 der Strafprozeßordnung vorliegen, eine erzieherische Maßnahme im Sinne des § 45 Abs. 2, die eine Entscheidung durch Urteil entbehrlich macht, bereits durchgeführt oder eingeleitet ist, 3. der Richter eine Entscheidung durch Urteil für entbehrlich hält und gegen den geständigen Jugendlichen eine in § 45 Abs. 3 Satz 1 bezeichnete Maßnahme anordnet oder 4. der Angeklagte mangels Reife strafrechtlich nicht verantwortlich ist. 2 In den Fällen von Satz 1 Nr. 2 und 3 kann der Richter mit Zustimmung des Staatsanwalts das Verfahren vorläufig einstellen und dem Jugendlichen eine Frist von höchstens sechs Monaten setzen, binnen der er den Auflagen, Weisungen oder erzieherischen Maßnahmen nachzukommen hat. 3Die Entscheidung ergeht durch Beschluß. 4Der Beschluß ist nicht anfechtbar. 5Kommt der Jugendliche den Auflagen, Weisungen oder erzieherischen Maßnahmen nach, so stellt der Richter das Verfahren ein. 6§ 11 Abs. 3 und § 15 Abs. 3 Satz 2 sind nicht anzuwenden. (2) 1Die Einstellung bedarf der Zustimmung des Staatsanwalts, soweit er nicht bereits der vorläufigen Einstellung zugestimmt hat. 2Der Einstellungsbeschluß kann auch in der Hauptverhandlung ergehen. 3Er wird mit Gründen versehen und ist nicht anfechtbar. 4Die Gründe werden dem Angeklagten nicht mitgeteilt, soweit davon Nachteile für die Erziehung zu befürchten sind. (3) Wegen derselben Tat kann nur auf Grund neuer Tatsachen oder Beweismittel von neuem Anklage erhoben werden. 1. 2.

1. Hw.-J: § 105 I; § 109 II 1. – 2. ErwG: RL 3; § 104 I Nr. 4.

Richtlinien zu § 47 1.

2.

3.

Das Gericht kann in jedem Verfahrensstadium – auch schon vor Eröffnung des Hauptverfahrens – prüfen, ob die Durchführung oder Fortsetzung einer Hauptverhandlung erforderlich ist oder mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft nach § 47 iVm § 45 verfahren werden kann. Dies wird insbesondere in Betracht kommen, wenn inzwischen angemessene erzieherische Reaktionen im sozialen Umfeld des Jugendlichen erfolgt sind oder sich auf Grund der Einschaltung der Jugendgerichtshilfe entsprechende Möglichkeiten eröffnen. Im vereinfachten Jugendverfahren bedarf es der Zustimmung der Staatsanwaltschaft zu der Einstellung des Verfahrens nach § 47 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 1 in der mündlichen Verhandlung nicht, wenn die Staatsanwaltschaft an dieser nicht teilnimmt (§ 78 Abs. 2 Satz 2). § 47 gilt auch im Verfahren gegen Jugendliche vor den für allgemeine Strafsachen zuständigen Gerichten (§ 104 Abs. 1 Nr. 4), jedoch nicht im Verfahren gegen Heranwachsende (§ 109 Abs. 1). Wendet das Gericht Jugendstrafrecht an, so gilt § 47 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 und 3, Abs. 2 und 3 entsprechend (§ 109 Abs. 2).

Schrifttum Siehe zu § 45.

Übersicht 1.

Einstellung nach Einreichung der An1 klage

359 https://doi.org/10.1515/9783110686401-056

2. 3.

Einstellungen nach § 47 I 1 Nr. 1–4 12 Vorläufige Einstellung

7

§ 47

4. 5.

2. Teil. Jugendliche

Zustimmung der StA 16 Die Einstellung

14

6. 7.

Form der Entscheidung und Beschwerde 20 Eingeschränkte Rechtskraft

17

1. Einstellung nach Einreichung der Anklage 1 § 47 legt die Möglichkeiten des § 45, Diversion also, nach Einreichung der Anklage in die Hand des JRichters und erlaubt aus Gründen der jgemäßen Beschleunigung, auch der Verfahrensökonomie, das Verfahren möglichst früh zu beenden, nämlich vom Eingang der Anklage an in jeder Lage des Verfahrens und selbst noch in der Revisionsinstanz (Rn 5). Die Reihenfolge der Regelungen folgt der des § 45. Eine Einstellung nach § 47 kann eine sinnvolle Reaktion sein. Nach einer Untersuchung von Pitz1 lag die Rückfallquote in zwei bayerischen Landgerichtsbezirken nach Diversion mit Hauptverhandlung niedriger als nach Einstellung ohne Hauptverhandlung. Ist die Anklage gegen einen J oder Hw. (Rn 21) erhoben oder gegen einen J Entscheidung 2 im vereinfachten JVerfahren beantragt (§ 76 S. 2), gilt – solange nicht die Klage zulässig zurückgenommen (§ 156 StPO) ist – Folgendes: Wie im allg. Recht ist zunächst zu prüfen, ob „der Angeschuldigte einer strafbaren Hand3 lung hinreichend verdächtig“ erscheint (§ 203 StPO). Das Hauptverfahren wird nicht eröffnet, wenn eine Verurteilung nicht zu erwarten ist; es gilt dasselbe wie für die Einstellung des Vorverfahrens durch die StA (§ 45, 1). Daneben kann das Gericht das Verfahren wie im ErwStrafrecht nach den §§ 153b II, 153c III, 153d 4 II, 153e II, 154 II, 154a II, 154b IV 1, 154e II StPO einstellen (Opportunitätsprinzip). Es gilt das § 45, 5 Ausgeführte entsprechend. Es sind aber die §§ 153 II und 153a II StPO in § 47 völlig aufgegangen2. § 383 II StPO ist durch § 80 I gegenstandslos. Die §§ 31a II, 38 II, 37 II BtMG sind anwendbar (§ 45, 60). Das erz. bedingte Subsidiaritätsprinzip (Einf. 102) führt dazu, dass jedes Gericht (RL 3) 5 das Verfahren bis zur Rechtskraft wie in Rn 4 ausgeführt oder nach § 47 (Rn 7 ff) einstellt, wo das genügt. Diese Einstellung ist also noch im Revisionsverfahren und auch dann möglich, wenn kein die Anfechtung rechtfertigender Grund zur Abänderung der Entscheidung zwingt3. Im OWiG-Verfahren kann der JRichter das Verfahren nach § 47 II OWiG in jeder Lage (auch 6 noch im Rechtsbeschwerdeverfahren) mit Zustimmung der StA – wenn sie an der Hauptverhandlung teilnimmt (§ 75 II OWiG) – durch nicht anfechtbaren Beschluss einstellen oder beschränken. § 47 II OWiG geht als spezielle Einstellungsregelung (§ 46 I OWiG) dem § 47 JGG vor4. Ergeht die Einstellung zugleich mit einer Sachentscheidung in Form des Urteils, kann einheitlich in Urteilsform entschieden werden5.

2. Einstellungen nach § 47 I 1 Nr. 1–4 7 Der Richter kann das Verfahren gem. Abs. I 1 Nr. 1 nach § 153 StPO ohne Maßnahmen einstellen. Im Regelfall werden sich jtypische Verfehlungen geringeren Schuldgehalts und mit geringen Auswirkungen anbieten. Es gelten die Ausführungen § 45, 23 entsprechend. Nach Abs. I 1 Nr. 2 kann auch der Richter das Verfahren einstellen, wenn erst nach Einrei8 chung der Anklage festgestellt wird, dass eine ausreichende erz. Maßnahme iSd § 45 II (§ 45, 25 u. 27) bereits durchgeführt oder eingeleitet wurde. Dabei ist es unerheblich, ob dies vor oder nach Anklageerhebung geschehen ist. Der Richter kann auch nach Abs. I 1 Nr. 2 verfahren, wenn der StA 1 Robe versus Brief im Diversionsverfahren, 2020, S. 177 ff. 2 Ebenso LG Frankfurt SjE F 3, 243 für § 153 III StPO aF; LG Aachen NStZ 91, 450, nach dem § 153a StPO nur ausnahmsweise Anwendung finden kann; dagegen Eisenberg NStZ 91, 450 f.

3 Dallinger/Lackner 9; Eisenberg/Kölbel 6; Ostendorf/Schady 3. 4 Eisenberg/Kölbel 8; Ostendorf/Schady 4; Krumm NZV 10, 69. 5 Göhler/Seitz/Bauer § 47 OWiG 42. 360

Einstellung des Verfahrens durch den Richter

§ 47

im Vorverfahren eine solche Maßnahme von dritter Seite für nicht ausreichend angesehen hat, um von der Verfolgung nach § 45 II (dazu § 45, 25) abzusehen. Es können sich zwischenzeitlich der J oder auch die Situation positiv verändert haben. Im Übrigen ist zur Einstellung des Richters nach § 47 stets die Zustimmung des StA erforderlich (Rn 14). Auch der Richter kann selbst bei einer der in § 45, 25 bezeichneten Personen eine solche erz. Maßnahme anregen, die es ihm erlaubt, nach Abs. I 1 Nr. 2 das Verfahren einzustellen6. Zur vorläufigen Einstellung Rn 12. Auch beim JRichter kann die JGH die Voraussetzungen für eine Einstellung des Verfahrens 9 nach Abs. I 1 Nr. 2 dadurch herbeiführen, dass sie dem J oder Hw. (§ 41 SGB VIII; näher § 12, 8) mit Zustimmung des Richters und des StA Hilfen nach dem SGB VIII gewährt (§ 52 II SGB VIII). Es gilt hier das in § 45, 29 Ausgeführte. Ist der J geständig (dazu § 45, 34) und hält der Richter eine Entscheidung durch Urteil für 10 entbehrlich, so kann er das Verfahren nach Abs. I 1 Nr. 3 einstellen und eine der in § 45 III 1 bezeichneten Weisungen oder Auflagen (§ 45, 40–42) anordnen. Bei Berücksichtigung des Geständnisses mag hilfreich sein, dass der StA mit der Anklageerhebung den hinreichenden Tatverdacht bereits seinerseits bejaht und der Richter selbst den hinreichenden Tatverdacht bestätigt hat (§ 203 StPO). Zur vorläufigen Einstellung Rn 12 u. 13. Im Rüsselsheimer Modell ordnet der durch die Polizei informierte JRichter ggf. bereits vor Eingang des Antrags nach § 76 S. 2 Maßnahmen an7. Der Richter stellt das Verfahren nach Abs. I 1 Nr. 4 ein, wenn sich inzwischen herausge- 11 stellt hat, dass die Altersreife (§ 3 – nicht die Schuldfähigkeit nach § 20 StGB) fehlt oder nicht nachweisbar ist. Das erspart dem J ein unnötiges weiteres Verfahren und vermeidet Freisprüche wegen mangelnder Altersreife, die sich uU erz. ungünstig auswirken können8. Grds. sollte hier aber die Tat als solche festgestellt (§ 3, 10) und nach § 3 S. 2 verfahren werden, bes. wenn die Einstellung erst in der Verhandlung erfolgt (§ 3, 23)9; wegen der Begründung § 54, 14.

3. Vorläufige Einstellung Der JRichter kann in den Fällen des Abs. I 1 Nr. 2 u. 3 (Rn 8–10) das Verfahren vorläufig einstellen 12 (Abs. I 2). Das erleichtert ihm – mit Hilfe der JGH – die Kontrolle, ob und inwieweit der J den von anderer Seite eingeleiteten erz. Maßnahmen und den vom Richter angeordneten Weisungen und Auflagen (Rn 10 iVm § 45, 40–42) nachzukommen willens ist. Denn diese eingeleiteten bzw. angeordneten erz. Maßnahmen sind allesamt nicht erzwingbar, Ungehorsamsarrest (§ 16, 19) ist hier nicht zulässig (Abs. I 6 iVm § 11 III u. § 15 III 2). Winterfeld10 befürchtet damit eine „Förderung sanktionslosen Ungehorsams“. Es kann zuweilen auch erst die weitere Entwicklung klären, ob das Verfahren überhaupt eingestellt werden kann, das künftige Verhalten des J ist oftmals nicht absehbar. Es kann der J in vorgefasster Absicht die vorgesehenen Maßnahmen nicht mehr erfüllen oder auch einfach deshalb, weil sie ihm lästig werden. Im Laufe dieser Art „Vorbewährung“ kann die JGH auch einen J wieder zurechtrücken und ihm die Einstellung bewahren. Diese ausdrückliche Normierung der vorläufigen Einstellung kann den Richter in bes. Fällen auch den Versuch wagen lassen, einem aus Trotz widerspenstigen J mit ein wenig Hoffnung auf Erfolg doch eine Chance einzuräumen. Der Rechtsklarheit halber muss der Richter die vorläufige Einstellung durch einen förmli- 13 chen, nicht anfechtbaren Beschluss (Abs. I 3 u. 4) manifestieren (vgl. Rn 17). Dieser Beschluss bedarf der Zustimmung des StA (Abs. I 2), der sich darüber klar sein muss, dass er diese 6 Begr. RegE eines 1. JGGÄndG, BT-Drs. 11/5829, S. 26. 7 Dazu Löhr-Müller Diversion durch den JRichter, 2001. 8 Beulke/Swoboda Rn 181; krit. zu letzterem Eisenberg/Kölbel 12; Ostendorf/Schady 10 u. § 3, 16. 9 Eisenberg/Kölbel 12a. 10 MDR 82, 273. 361

§ 47

2. Teil. Jugendliche

Zustimmung zugleich für die möglicherweise folgende „endgültige“ Verfahrenseinstellung gibt (näher zur Zustimmung des StA u. zu seinem Beschwerderecht in bes. Fällen Rn 14 u. 17). Der J braucht nicht zuzustimmen (Rn 14 aE). Mit dem Beschluss setzt der Richter dem J eine Frist von höchstens 6 Monaten, binnen derer er von anderer Seite eingeleiteten erz. Maßnahmen oder den vom Richter angeordneten Weisungen und Auflagen nachzukommen hat. Diese Frist – eine Art „Vorbew.“ – lässt das Verfahren nicht erzwidrig lange in der Schwebe11 und gibt andererseits der Erfüllung ausreichend Zeit, was ggf. bei den Weisungen und Auflagen berücksichtigt werden muss. Es zwingen auch nicht alle erz. Maßnahmen dazu, diese Frist auszuschöpfen. Kommt der J den Weisungen und Auflagen (Rn 10) oder den erz. Maßnahmen (Rn 8 u. 9) nach, so stellt der Richter das Verfahren „endgültig“ ein (vgl. Rn 20). Es wird hierbei nicht in jedem Fall erforderlich sein, die vollständige Erfüllung voll abzuwarten, wobei es an der JGH sein kann, entsprechende Anregungen zu geben.

4. Zustimmung der StA 14 Die Zustimmung der StA ist zu jedweder Einstellung des Verfahrens gem. § 47 erforderlich (Abs. I 2, Abs. II 1 HS 1), als Prozesshandlung unwiderruflich und bedingungsfeindlich. Hat der StA bereits der vorläufigen Einstellung (Rn 13) zugestimmt, so umfasst dies auch die endgültige Einstellung (Abs. II 1 HS 2). Jedoch ist es zulässig, dass der StA seine Zustimmung auf vom Gericht angekündigte Maßnahmen beschränkt, die Zustimmung für davon abweichende Maßnahmen also fehlt und dem StA insoweit ein Beschwerderecht gegen die Einstellung eröffnet ist (Rn 17)12. Wo die Zustimmung nicht erteilt wird, muss im förmlichen Verfahren so entschieden werden, als gäbe es § 47 nicht. Die Zustimmung des StA ist jedoch in der Verhandlung des vereinfachten JVerfahrens nicht erforderlich, wenn der StA an der Verhandlung nicht teilnimmt (RL 2; § 78 II 2); hier kann also jederzeit und ohne Zustimmung des StA eingestellt werden. Nach dem LG Aachen13 betrifft § 78 II 2 nur die Einstellungen nach §§ 45, 47 JGG und ist für im JStrafrecht nur ausnahmsweise zulässige Einstellungen nach §§ 153 II, 153a II StPO auch im vereinfachten JVerfahren die Zustimmung des StA erforderlich. Hält man aber §§ 153 f StPO im JStrafverfahren überhaupt für anwendbar (dazu § 45, 3; § 47, 4), muss § 78 II 2 auch für Einstellungen nach diesen Vorschriften gelten14. Eine Zustimmung des J zu Maßnahmen nach § 47 ist nicht erforderlich15. 15 Die Verhängung eines Ungehorsamsarrestes bei Nichterfüllung von Weisungen, Auflagen oder erz. Maßnahmen erlaubt § 47 ebenso wenig wie § 45 (Abs. I 6 iVm § 11 III u. § 15 III 2).

5. Die Einstellung 16 Zu den Einstellungen nach Abs. I 1 Nr. 1 u. 4 vgl. Rn 7 u. 11. In den Fällen des Abs. I 1 Nr. 2 u. 3 iVm I 2 muss der Richter nach Abs. I 5 das Verfahren dann „endgültig“ einstellen, wenn der J den bereits eingeleiteten Maßnahmen (Abs. I 1 Nr. 2) oder den angeordneten Weisungen und/ oder Auflagen (Abs. I 1 Nr. 3) nachgekommen ist. Dies beurteilt der Richter nach seinem pflichtgemäßen Ermessen, das auch den StA bindet. Im Übrigen vgl. Rn 17 u. 19.

11 12 13 14 15

Krit. aber Ostendorf/Schady 12. OLG Hamm MDR 77, 949; Eisenberg/Kölbel 19. NStZ 91, 450 mit abl. Anm. Eisenberg. Zur Einschränkung der Zustimmung des StA LG Zweibrücken NJW 90, 1247 zu § 153a StPO. BVerfG Beschl. v. 27.1.1983 – 2 BvR 92/83; Eisenberg/Kölbel 18. 362

Einstellung des Verfahrens durch den Richter

§ 47

6. Form der Entscheidung und Beschwerde Die Entscheidung ergeht auch in der Verhandlung durch Beschluss. Dieser muss zur Feststel- 17 lung des Umfangs der Rechtskraft (Rn 20) begründet werden (Abs. II 3). Die Gründe werden aber dem J nicht mitgeteilt, wenn zu befürchten ist16, dass dies für die Erz. nachteilig ist (Abs. II 4). Für den Hw. gilt das nicht17. Der Beschluss ist nicht anfechtbar (Abs. II 3), auch nicht die nach § 74 getroffene Kostenentscheidung18. Das BVerfG19 hat die eindeutige Ausschließung der Anfechtung (§ 47 II 3) für verfassungsrechtlich unbedenklich erachtet. Auch die Auffassung, eine Einstellung nach § 47 bedürfe nicht der Zustimmung des Angeklagten, ist nach dieser Entscheidung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Doch ist Beschwerde (§ 304 StPO) zulässig, wenn Maßnahmen verhängt sind, die nicht in § 45 III 1 genannt sind; denn das wäre ein unerlaubter – weil in dieser Form vom Gesetz nicht zugelassener – Eingriff20. Beschwerde der StA ist dann zulässig, wenn entgegen Abs. II 1 ohne ihre Zustimmung eingestellt oder diese nicht wirksam erteilt wurde21 oder sonst eine prozessuale Einstellungsvoraussetzung fehlte22, bei Abs. I 1 Nr. 1 ein Verbrechen vorliegt23 oder die Einstellung unter der irrtümlichen Annahme der Erfüllung der Auflage erfolgte24. Für ein Wiederaufnahmeverfahren gegen eine Einstellung nach § 47 ist kein Raum; Unzuträglichkeiten aufgrund Eintragung in das ErzRegister kann durch § 63 IIII BZRG abgeholfen werden25. Jeder Beschluss nach § 47 muss eine Kostenentscheidung enthalten, auch wenn Gerichts- 18 gebühren nicht anfallen (§ 464 I StPO)26. Nach § 467 I StPO sind die Kosten idR der Staatskasse aufzuerlegen. Gem. § 467 IV StPO kann jedoch davon abgesehen werden, die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten der Staatskasse aufzuerlegen27; vgl. auch die Regelung des § 467 V StPO zu § 153a StPO. Maßgeblich für die Entscheidung sind die Grundsätze des § 7428. Siehe auch Ostendorf/Schady29, wonach von § 467 IV StPO nur ganz ausnahmsweise Gebrauch zu machen ist. Nach dem BVerfG30 verstößt es gegen die Unschuldsvermutung, eine Entscheidung nach § 467 IV StPO damit zu begründen, dass nach den bisherigen Feststellungen eine schuldhafte Begehung einer Straftat vorliege. Bei Einstellungen gem. Abs. I 1 Nr. 4 ist Abs. IV des § 467 StPO nicht anwendbar, weil hier die Einstellung zwar im Ermessen des Gerichts liegt, aber doch nur an Stelle eines erz. unerwünschten Freispruchs tritt, bei welchem § 467 IV StPO nicht angewendet werden kann. Vgl. auch § 74, 5. Bei Einstellungen nach Abs. I Nr. 2 ist § 6 II StrEG anwendbar31. 19 Mitteilungen: Es gilt das § 45, 49 Ausgeführte entsprechend.

16 Dh die nicht zu entfernt liegende Möglichkeit besteht; enger Eisenberg/Kölbel 23 „konkrete Anhaltspunkte“; Ostendorf/Schady 13 „ausnahmsweise“. Vgl. Eisenberg/Kölbel 2 u. 23. OLG Zweibrücken OLGSt S. 1 zu § 47; LG Hamburg NStZ-RR 96, 217. FN 15. LG Osnabrück StraFo 15, 301. Zust. Eisenberg/Kölbel 26a; Ostendorf/Schady 16; vgl. OLG Hamm MDR 77, 949 zu § 153a II StPO; OLG Köln NJW 52, 1029 zu § 153 IIIa. 22 LG Krefeld NJW 76, 815. 23 Vgl. OLG Celle NdsRpfl. 66, 178 zu § 153 III StPO aF. 24 AG Eggenfelden NStZ-RR 11, 357. 25 LG Baden-Baden NStZ 04, 513. 26 Potrykus NJW 57, 1136; Eisenberg/Kölbel 22. 27 AG Berlin-Tiergarten StV 20, 656 mit krit. Anm. Eisenberg. 28 Eisenberg/Kölbel 22. 29 13. 30 NJW 90, 2741 = NStZ 90, 598 mit krit. Anm. Paulus. 31 KG NStZ 10, 284.

17 18 19 20 21

363

§ 47a

2. Teil. Jugendliche

7. Eingeschränkte Rechtskraft 20 Der Beschluss ist der beschränkten Rechtskraft fähig wie der Beschluss, durch den die Eröffnung des Verfahrens abgelehnt wird (Abs. III; § 211 StPO): Die neuen Tatsachen und Beweismittel müssen gegenüber den Gründen des Einstellungsbeschlusses erheblich sein32; es genügt aber, wenn sie nur für das Gericht neu sind33. Der neu ermittelte Sachverhalt muss einen neuen rechtlichen Gesichtspunkt ergeben; ein stärker zu wertender Schuldgehalt bei gleicher rechtlicher Beurteilung genügt nicht34. – Allg. schlechte Führung nach der Tat ist keine solche Tatsache, auch nicht die Nichterfüllung der auferlegten Weisungen oder Auflagen35, weil dadurch das Bild der Tat an sich nicht verändert wird. Nur darauf, nicht auf die Einschätzung des Täters kommt es aber hier an, wie der Vergleich mit § 211 StPO zeigt. Unzuträglichkeiten entstehen nicht, wenn nach Rn 12 (vorläufige Einstellung) verfahren wird. Nach dem BGH36 liegt es allerdings auf der Hand, dass nach dem das JStrafrecht prägenden ErzGedanken in Bezug auf die Tat später bekannt werdende Tatsachen bei dem J einen bes. ErzBedarf auslösen können und aufgrund der sich rückwirkend anders darstellenden Entwicklung eine jrichterliche Sanktion aus erz. Gründen notwendig werden könnte. Liegen die Voraussetzungen des Abs. III vor, kann das schon eingestellte Verfahren nicht fortgesetzt werden; es muss vielmehr erneut angeklagt werden. 21 Zu den Kosten für die Maßnahmen nach §§ 47 u. 45 vgl. § 10, 47 u. § 74, 10. Eine nach § 47 getroffene Maßnahme kann nicht in eine Einheitsstrafe einbezogen werden (§ 31, 38). § 47 ist auch bei Hw. anwendbar, wenn auf sie JStrafrecht angewendet wird (§ 109 II 1; RL 3; § 109, 4). Dies gilt nicht für Abs. I Nr. 4 und Abs. II 437.

§ 47a Vorrang der Jugendgerichte 1

Ein Jugendgericht darf sich nach Eröffnung des Hauptverfahrens nicht für unzuständig erklären, weil die Sache vor ein für allgemeine Strafsachen zuständiges Gericht gleicher oder niedrigerer Ordnung gehöre. 2§ 103 Abs. 2 Satz 2, 3 bleibt unberührt. 1. Hw.-J: § 109 I 1. – 2. ErwG: ./.

1 Da ein Erw. nicht benachteiligt wird, wenn seine Sache statt von einem allg. von einem JGericht zumindest gleicher Ordnung verhandelt wird (§ 33b, 7)1 übernimmt § 47a im Interesse zügiger Erledigung anhängiger Verfahren den Rechtsgedanken des § 269 StPO ins JRecht. Es wird in § 47a S. 1 das Verhältnis zwischen den JGerichten und gleichrangigen sowie niedrigerrangigen Gerichten der ErwGerichtsbarkeit über die sonstigen Zuständigkeitsvorschriften hinaus dahin geklärt, dass das JGericht dann zuständig bleibt, wenn sich erst nach Eröffnung des Hauptverfahrens ergibt (vorher §§ 209 I, 209a Nr. 2a StPO), dass für diese Sache eigentlich ein ErwGericht gleicher oder niedrigerer Ordnung zuständig wäre. Hierdurch werden die Verweisungen rechtshängiger Sachen vermindert und unnötige Kompetenzkonflikte verhindert, der Rechtsgang also 32 33 34 35

Zust. Nothacker S. 323. BGH 7, 66 für § 211 StPO. Zust. Eisenberg/Kölbel 24a; Ostendorf/Schady 14; vgl. BGH 18, 225 zu § 211 StPO. Dallinger/Lackner 25; Eisenberg/Kölbel 24b; Ostendorf/Schady 14; Pentz NJW 54, 1352; Winterfeld MDR 82, 275; aA Potrykus B 5. 36 48, 331, 336. 37 Eisenberg/Kölbel 2. 1 Vgl. Begr. RegE eines StrafverfahrensÄndG – StVÄG 1979 – BT-Drs. 8/976, S. 69; Grethlein NJW 61, 2144; Hanack JZ 70, 90; Miehe FS Stutte, 1979, S. 243. 364 https://doi.org/10.1515/9783110686401-057

Vorrang der Jugendgerichte

§ 47a

insgesamt beschleunigt. Es kann ein JGericht nach Eröffnung des Hauptverfahrens nur einem ErwGericht höherer Ordnung zur Übernahme vorlegen, also das JSchöffengericht der als zuständig erkannten ErwStrafkammer, der JRichter dieser und dem ErwSchöffengericht. Das JSchöffengericht ist dem erweiterten ErwSchöffengericht gleichgeordnet. Zu JSchutzsachen s. Anh. § 125, 6 u. 12. Hat ein JGericht das Verfahren eröffnet, greift also § 47a S. 1 ein (Rn 1), so muss das Revisionsgericht ein auf mangelnde Zuständigkeit gestütztes Rechtsmittel (z.B. Urteil gegen einen Erw., obwohl für dessen Sache ein ErwGericht zuständig gewesen wäre) als unbegründet verwerfen, auch wenn die Rüge insoweit in der Sache zutreffend wäre (dazu auch Rn 3). Denn das JGericht war nach Eröffnung (§ 47a S. 1) gehalten, trotz mangelnder Zuständigkeit das Hauptverfahren fortzuführen2. Hier bindet § 47a S. 1 auch das Revisionsgericht, weil das Rechtsmittel, ohne dass es auf die Sache selbst ankommt, der Aufhebung verfällt. Anders aber bei der Fallgestaltung Rn 7, anders auch bei der Fallgestaltung Rn 5 und falls eine willkürliche Zuständigkeitsbestimmung dargetan werden könnte3. Hat ein JGericht hingegen nach Eröffnung des Hauptverfahrens entgegen § 47a an ein ErwGericht niedrigerer Ordnung verwiesen, liegt ein Verfahrenshindernis vor, welches nach § 6 StPO in jeder Lage des Verfahrens zu beachten ist4. Das Rechtsmittel gegen das Urteil eines ErwGerichts gleicher Ordnung, an welches das JGericht entgegen § 47a verwiesen hat, bedarf der Revisionsrüge nach § 338 Nr. 4 StPO5, denn § 209a Nr. 2 StPO greift hier nicht ein. Vgl. auch § 33b, 27 ff. Ist aber zu einem Verfahren gegen J (Hw.) ein Erw. verbunden und für diesen die Wirtschaftsstrafkammer oder die Staatsschutzkammer zuständig, so ist die JKammer nach §§ 47a S. 2, 103 II 2, 3 auch nach Eröffnung des Verfahrens befugt, sich für unzuständig zu erklären und das gesamte verbundene Verfahren (Erw., J, Hw.) einer dieser Spezialkammern zur Übernahme vorzulegen. Da aber nur die Zuständigkeit der JGerichte in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen und zu beachten ist, kommt eine solche Vorlage nur in Betracht, wenn der erw. Angeklagte nach Eröffnung des Hauptverfahrens diesen Einwand der Unzuständigkeit bis zum Beginn seiner Vernehmung zur Sache in der Hauptverhandlung erhoben hat (§ 6a S. 2, 3 StPO)6. Nach diesem Zeitpunkt ist dieser Einwand der Unzuständigkeit unzulässig und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung dieser Ausschlussfrist ausgeschlossen7. Vgl. dazu § 103, 7 u. 19. Im Falle des § 47a S. 2 (Rn 4) wird man dem Erw. die Revisionsrüge des § 338 Nr. 4 StPO nur dann zubilligen können, wenn die JKammer seinen nach Eröffnung des Hauptverfahrens rechtzeitig erhobenen Einwand der Unzuständigkeit des JGerichts nicht verbeschieden oder als unbegründet verworfen hat8. Ein revisibler Zuständigkeitsverstoß ist nur bei dem Angeklagten zu beachten, der davon betroffen ist9. Hat der Erw. die Unzuständigkeit des JGerichts nicht rechtzeitig gerügt (Rn 4), so entscheidet das Revisionsgericht wie Rn 2 ausführt. Eine nach Eröffnung des Hauptverfahrens abgetrennte und nur noch Erw. betreffende Sache kann das JGericht – entgegen dem Wortlaut des § 103 III – nicht an ein ErwGericht gleicher oder niedrigerer Ordnung abgeben, weil § 47a vorgeht und § 103 II 1 für alle verbundenen J- und ErwSachen zwingend die Zuständigkeit der JGerichte bestimmt, soweit nicht nach § 103

2 BayObLG 80, 46; Eisenberg/Kölbel 5; Meyer-Goßner/Schmitt § 355 StPO 8; Löwe/Rosenberg/Stuckenberg/Schmitt27 § 209a StPO 48; Rieß NJW 78, 2267. 3 BGH GA 70, 240. 4 Meyer-Goßner/Schmitt § 338 StPO 32. 5 Vgl. BGH 18, 83; ebenso Eisenberg/Kölbel 9, 10. 6 Zust. Ostendorf/Schady 4. 7 Löwe/Rosenberg/Erb27 § 6a StPO 14. 8 Vgl. Löwe/Rosenberg/Erb27 § 6a StPO 26. 9 BGH 10, 119; BGH NJW 62, 261. 365

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II 2 u. 3 eine Wirtschafts- oder Staatsschutzkammer zuständig ist10 (vgl. auch § 103, 18 u. 20). Eine solche Verweisung bindet nicht11. § 47a S. 1 lässt es idR auch nicht zu, dass bei Verfahren, in denen Sachen gegen J (Hw.) mit solchen gegen Erw. verbunden sind, nach Rechtskraft des Urteils nur hinsichtlich der J (Hw.) oder auch nach Ausscheiden der J (Hw.) vor Rechtskraft das JGericht nunmehr die noch nicht abgeurteilten Erw. einem ErwGericht zuführt12. Vgl. aber auch Rn 7. Diese Wirkung des § 47a gebietet dem JStA, eine Verbindung mit Erw. bes. sorgfältig zu prüfen und sehr zurückhaltend zu beurteilen (§ 36, 5)13. Zur Trennung verbundener Verfahren nach Eröffnung des Hauptverfahrens auch § 103, 18 ff. 7 Wird in einer gegen J und Erw. nach § 103 I 1 vor einem JGericht verbundenen Sache die gegen die J ergangene Entscheidung rechtskräftig oder sind die J nach Eröffnung des Hauptverfahrens ausgeschieden, richtet sich das Verfahren also nur noch gegen einen Erw., so kann das Revisionsgericht statt an das JGericht (zumeist handelt es sich um die JKammer) die Sache nach Aufhebung an ein ErwGericht gleicher Ordnung zurückverweisen14. Die Zurückverweisung richtet sich nach § 354 II u. III StPO, wobei zu beachten ist, dass die JGerichte gegenüber den ErwGerichten nicht höhere Gerichte, sondern nach § 209a StPO nur iSd §§ 4, 209, 210 II StPO solchen gleichgestellt sind15. Der BGH16 führt aus, dass § 47a S. 1 zwar das JGericht nach Eröffnung des Verfahrens bindet, dies aber für die Revisionsentscheidung nichts besagt17, weil es in der Revisionsinstanz keine JGerichte gibt und es für die Entscheidungsbefugnis des Revisionsgerichts nicht auf die vergangene, sondern auf die gegenwärtige Rechtslage im Blick auf das weitere Verfahren ankommt18. Die Revisionsentscheidung im Falle der Zurückverweisung richtet sich deshalb nicht nach JGG, sondern nach der StPO (dazu auch § 41, 48). Diese Entscheidung überzeugt und entlastet zudem die JGerichte sinnvoll von Aufgaben, für die sie nicht bestimmt sind. Das Revisionsgericht ist allerdings auch dann, wenn sich das weitere Verfahren nur gegen einen Erw. richtet, nicht an einer Zurückverweisung an eine JKammer gehindert, wenn dies sachlich geboten ist, z.B. weil jspezifische Umstände der Tat berücksichtigt werden müssen19. Da es auf die Rechtslage im Zeitpunkt der Revisionsentscheidung ankommt, bleibt es auch 8 dabei, dass das Revisionsgericht im umgekehrten Fall, nämlich bei Beendigung des Verfahrens gegen den Erw. und Weiterführung gegen den J die Sache von der ErwStrafkammer an die JKammer zurückverweist. Gleiches gilt, wenn auch noch nach der Zurückverweisung ein J oder Hw. am Verfahren beteiligt ist20. Auch auf begründete Rüge, dass die Sache vor der Erw.-, statt – wie nach § 103 II geboten – vor der JKammer verhandelt worden ist, verweist das Revisionsgericht an die JKammer zurück21. Der BGH22 hat auf Rüge zweier Erw., die gemeinsam mit einer Hw., welche das Urteil nicht angefochten hatte, von einer Schwurgerichtskammer und nicht nach § 112 iVm § 103 II 1 von einer JKammer verurteilt worden sind, das Urteil aufgehoben und die Sache an eine andere Schwurgerichtskammer zurückverwiesen, weil bisher ein JGericht mit dieser Sache nicht befasst war und deshalb § 47a S. 1 unberührt blieb und bleibt.

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BGH 30, 260; 47, 116, 119; BayObLG 80, 46; KG StV 85, 408; Eisenberg/Kölbel 8; Ostendorf/Schady 5. OLG Koblenz OLGSt zu § 47a S. 3. OLG Koblenz VRS Bd. 71 (86), 462; Ostendorf/Schady 5. Zust. Fahl NStZ 83, 309. BGH 35, 267 gegen BGH NJW 82, 1238; BGH B NStZ 91, 524; BGH NJW 15, 3463, 3464. Die übrigen Strafsenate des BGH haben zu BGH 35, 267 erklärt, dass sie an entgegenstehenden Entscheidungen nicht mehr festhalten. 15 BGH aaO u. BGH 18, 79. 16 35, 267. 17 Anders noch KG StV 85, 409. 18 So auch BGH H MDR 77, 810 u. MDR 84, 444. 19 BGH StV 94, 415 mit abl. Anm. Schneider. 20 Beschl. des BGH v. 22.1.1980 – 5 StR 12/80, zit. in BGH 35, 267. 21 So schon BGH 30, 260. 22 StV 85, 356. 366

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§ 48 Nichtöffentlichkeit (1) Die Verhandlung vor dem erkennenden Gericht einschließlich der Verkündung der Entscheidungen ist nicht öffentlich. (2) 1Neben den am Verfahren Beteiligten ist dem Verletzten, seinem Erziehungsberechtigten und seinem gesetzlichen Vertreter und, falls der Angeklagte der Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers oder der Betreuung und Aufsicht eines Betreuungshelfers untersteht oder für ihn ein Erziehungsbeistand bestellt ist, dem Helfer und dem Erziehungsbeistand die Anwesenheit gestattet. 2Das gleiche gilt in den Fällen, in denen dem Jugendlichen Hilfe zur Erziehung in einem Heim oder einer vergleichbaren Einrichtung gewährt wird, für den Leiter der Einrichtung. 3Andere Personen kann der Vorsitzende aus besonderen Gründen, namentlich zu Ausbildungszwecken, zulassen. (3) 1Sind in dem Verfahren auch Heranwachsende oder Erwachsene angeklagt, so ist die Verhandlung öffentlich. 2Die Öffentlichkeit kann ausgeschlossen werden, wenn dies im Interesse der Erziehung jugendlicher Angeklagter geboten ist. 1. [Hw.]: § 109 I 4; RL 2. – 2. [ErwG]: Rn 3; § 104 II.

Richtlinie zu § 48 Personen, die sich im juristischen Studium oder Vorbereitungsdienst befinden, sowie Personen, die in Ausbildung bei der Polizei oder für soziale Dienste stehen, kann die Anwesenheit im allgemeinen gestattet werden. Aus erzieherischen Gründen empfiehlt es sich nicht, Schulklassen oder anderen größeren Personengruppen die Teilnahme an der Verhandlung zu erlauben. Dies gilt auch für die Presse; entschließt sich der Vorsitzende dennoch, die Presse in der Hauptverhandlung zuzulassen, so sollte er darauf hinwirken, dass in den Presseberichten der Name des Jugendlichen nicht genannt, sein Lichtbild nicht veröffentlicht und auch jede andere Angabe vermieden wird, die auf die Person des Jugendlichen hindeutet. Nr. 131 Abs. 2 Satz 3 RiStBV gilt sinngemäß.

Schrifttum Gerbig Öffentlichkeitsarbeit im Jugendstrafverfahren, 2020; ders. Kinderrechtsbasierte Anforderungen an die (Nicht-)Öffentlichkeit im JStrafverfahren, ZJJ 20, 259.

Übersicht 1. 2. 3. 4.

Grundsätze 1 Ausschluss aus jugendrechtlichen Gründen 3 (Hw.) 11 Ausschluss bei Jugendlichen 13 Anwesenheitsberechtigte, Zeugen

5. 6. 7. 8.

15 Opfer- und Zeugenschutzgesetze 22 Zulassung Form und Wirkungen des Ausschlusses der Öf24 fentlichkeit 27 Ausschluss nach allgemeinem Recht

1. Grundsätze Der bedeutsame Grundsatz der Öffentlichkeit von Verhandlung und Urteilsverkündung (§§ 169, 1 173 GVG), dessen Verletzung absoluter Revisionsgrund ist (§ 338 Nr. 6 StPO)1 gilt im Interesse der Erz. nicht, wo nur J (Alter zZ der Tat) vor JGerichten abgeurteilt werden (§ 48 I). Die Vorschrift will neben dem Schutz der Persönlichkeitsrechte des J aus erz. Gründen und zur Wahr-

1 BGH GA 63, 106 für Hw. 367 https://doi.org/10.1515/9783110686401-058

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2. Teil. Jugendliche

heitsfindung eine jugendgerechte Kommunikationsatmosphäre schaffen2. Zum OWiG-Verfahren Rn 93. 2 Die allg. Grundsätze über die Öffentlichkeit gelten jedoch auch vor dem JGericht, wenn nur gegen Erw.4 oder gegen Hw. und Erw. zugleich verhandelt wird (Abs. III 1)5.

2. Ausschluss aus jugendrechtlichen Gründen (Hw.) 3 Soweit nicht Abs. I eingreift, kann die Öffentlichkeit über die Möglichkeit des allg. Rechts hinaus nach dem Ermessen des Gerichts – auch des ErwGerichts (dazu Rn 4 u. 7) – aus bes. jrechtlichen Gesichtspunkten heraus ausgeschlossen werden (§§ 48 III 2; 109 I 5), um die Verhandlung und Verurteilung des J oder Hw. nicht über ein unvermeidliches Maß hinaus bekannt werden zu lassen, also um ihn zu schützen und spätere berufliche und soziale Schwierigkeiten zu vermeiden6. Es soll eine Bloßstellung vermieden werden, zumal die persönliche Entwicklung eingehend erörtert werden muss7. Auch sollen die Hemmungen eines durch Zuhörer eingeschüchterten J oder Hw. nicht noch mehr verstärkt und ein offenes und freies Gespräch mit dem JRichter (dazu Einf. 112) ermöglicht werden. Andererseits soll auch verhindert werden, dass ein geltungssüchtiger, sich erstmals im Mittelpunkt fühlender J oder Hw. den ihm bekannten oder fremden Zuhörern imponieren und sie – möglicherweise zu seinem Schaden – unterhalten will8. All das kann die Wahrheitsfindung ernstlich gefährden (Einf 112)9. Ostendorf/Goerdeler/Rose10 wollen nicht den Eindruck entstehen lassen, dem Hw. solle durch Ausschluss seiner Freunde eine psychische Unterstützung genommen werden. So kann die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden, 4 wenn ein J durch das ErwGericht abgeurteilt wird (§§ 104 II, 48 I), 5 wenn gegen Hw. (nach dem Alter zZ der Tat)11 vor dem JGericht verhandelt wird (§ 109 I 5), 6 wenn gegen J und Hw., gegen J und Erw. oder gegen J, Hw. und Erw. verhandelt wird 7 (Abs. III 2), gleichgültig ob vor dem J- oder ErwGericht (§ 104 II). Hier kann sowohl – und in erster Linie – das Interesse der Erz. des mitangeklagten J (Abs. III 2) als auch das Interesse des mitangeklagten Hw. (§ 109 I 5) die Ausschließung gebieten. Vgl. aber Rn 10. Die Möglichkeit der Rn 7 besteht nur so lange, als ein J am Verfahren beteiligt ist, also z.B. 8 nicht im Rechtsmittelverfahren eines Erw. oder von Hw. und Erw., wenn gegen alle J rechtskräftig entschieden ist; sind nur noch Hw. vorhanden, gilt Rn 6. – In den Fällen Rn 6 und Rn 7 aE verlangt das Gesetz, dass der im Ermessen des Gerichts liegende („kann“) Ausschluss der Öffentlichkeit im Interesse des Hw. geboten ist. Die Änderung des Gesetzes (früher „im Interesse der Erz.“) erlaubt es gleichwohl, dabei auch erz. Gesichtspunkte des JStrafverfahrens zu berücksichtigen, die zumeist mit den Interessen des Hw. identisch sein werden. Eine einschränkende Auslegung wäre verfehlt. Das persönliche Interesse des Hw. erlaubt und fordert aber gleichwohl eine bes. Abwägung mit dem gegenlaufenden und je nach Alter der Hw. immer gewichtiger zu wertenden Grundsatz der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung (vgl. dazu Einf. 112

2 BVerfG NJW 10, 1739; Gerbig ZJJ 20, 260. Zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen der Ausgestaltung des Öffentlichkeitsgrundsatzes durch den Gesetzgeber s. auch BVerfG NJW 01, 1633.

3 De lege ferenda für Öffentlichkeit der erstinstanzlichen Verhandlungen vor der JKammer Hinz ZRP 05, 195; für Ausschluss der Öffentlichkeit nur in Ausnahmefällen Pelster MKrim. 06, 420.

4 Z.B. im JSchutzverfahren vgl. BGH MDR 55, 246; BGH 23, 82. 5 Für Streichung von Abs. III Gerbig ZJJ 20, 262 f. 6 BGH 42, 296; 44, 44. 7 KG NStZ-RR 06, 120, 121 = JR 06, 301, 303 mit Anm. Eisenberg/Haeseler. 8 KG aaO. 9 Brunner Zbl. 73, 337; Graupner DRiZ 85, 389; Beulke/Swoboda Rn 777. 10 § 109, 4b. 11 BGH GA 63, 106. 368

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u. 63). – Wenn Hw. oder Erw. neben einem J angeklagt sind, können insbes. die in Rn 3 genannten Gründe einen Ausschluss der Öffentlichkeit gem. Abs. III 2 geboten erscheinen lassen. 9 Im OWiG-Verfahren gelten für J und Hw. die §§ 48, 109 I 5 sinngemäß (§ 46 I OWiG)12. Hat der Angeklagte seine Straftaten teils als Hw., teils als Erw. begangen, gelten die Ausfüh- 10 rungen zu § 109, 15. Im Verfahren gegen Erw. vor JGerichten (§ 103 I, II 1) und in JSchutzverfahren gilt § 48 nicht (Rn 2)13. Beachte aber Rn 7.

3. Ausschluss bei Jugendlichen Ist die Öffentlichkeit kraft Gesetzes ausgeschlossen (Abs. 1), sind die §§ 169–174 GVG (über § 175 11 GVG Rn 13 und 28) nicht anwendbar. Es gilt Folgendes: Die Öffentlichkeit ist für Verhandlung und Urteilsverkündung in allen Rechtszügen ausge- 12 schlossen, und zwar auch dann, wenn der J inzwischen 18 oder 21 Jahre alt geworden ist. Es kommt also nur auf den Tatzeitpunkt an14. Dies gilt gleicherweise, wenn einem Angeklagten zur Last liegt, eine Tat oder einen Teilakt einer Tat als J und die übrigen als Hw. begangen zu haben15. Eine entsprechende Anwendung des § 32 (Schwergewicht) scheidet hier aus, weil die Ausgangslage anders ist16. Die Hauptverhandlung findet auch dann noch unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, wenn in ihrem Verlauf das Verfahren wegen als J begangener Taten nach § 154 II StPO eingestellt wird und nur noch wegen als Hw. begangener Taten verhandelt wird17, weil die Einstellung noch während der Hauptverhandlung rückgängig gemacht werden kann und die ausgeschiedenen Tatvorwürfe für Entscheidungen nach § 105 I und über die Rechtsfolgen ihre Bedeutung behalten18. Ein Verstoß ist nur ein relativer Revisionsgrund nach § 337 StPO19, der zur Aufhebung des Urteils führt, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Urteil auf diesem Verstoß beruht, etwa weil der J durch die vielen Zuhörer eingeschüchtert wurde20. Auch außerhalb der Hauptverhandlung selbst, z.B. vor dem Sitzungssaal, sollten auf dem Terminzettel nicht Tat und Namen des J und bei Zeugenladungen die dem J vorgeworfene Tat nicht bezeichnet werden.

4. Anwesenheitsberechtigte, Zeugen Zur Anwesenheit berechtigt (Abs. II 1) sind alle am Verfahren Beteiligten, also ErzBerechtigte 13 und gesetzliche Vertreter, JGHelfer, Verteidiger, Pfleger (§ 67 IV), Beistand (§ 69). Darüber hinaus ist die Anwesenheit gestattet (Abs. II 1) dem Verletzten, der in seinen durch die verletzte Strafvorschrift rechtlich geschützten Interessen beeinträchtigt ist (§ 373b StPO), auch den Angehörigen eines durch die Straftat Getöteten (vgl. § 395 II Nr. 1 StPO)21, den Gefährdeten22 und deren Rechtsbeiständen (dazu Rn 16 u. 18). Ein Anwesenheitsrecht haben auch die ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter des Verletzten. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass minder-

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Krumm NZV 10, 69. Eisenberg/Kölbel 5; Ostendorf/Schady 5. BGH 22, 24 f. BGH 22, 21; BGH 23, 178; Eisenberg/Kölbel 3. BGH 22, 25. BGH 44, 43 = JR 99, 171 mit abl. Anm. Wölfl. BGH 44, 44 f. BGH 23, 176: § 338 Nr. 6 StPO gilt nur bei unberechtigtem Ausschluss der Öffentlichkeit; aA Roxin/Schünemann § 47 Rn 26. 20 Böhm/Feuerhelm S. 74 f; Ostendorf/Schady 20 mwN. 21 Meyer-Goßner/Schmitt § 172 StPO 11. 22 Vgl. BGH 10, 372 für § 61 Nr. 2 StPO aF; so auch Dallinger/Lackner 9; für Gefährdeten abl. Ostendorf/Schady 12. 369

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jährige Tatopfer bes. Schutz und Beistand in der Hauptverhandlung benötigen23. Abs. II 1 berechtigt zur Anwesenheit auch den Betreuungshelfer (§ 10, 19), den BewHelfer und den ErzBeistand, solange das Betreuungsverhältnis besteht. Auch danach kann die Anwesenheit dieser Personen dienlich sein, der Richter ihnen nach Abs. II 3 die Anwesenheit gestatten (vgl. § 50, 15). Die Anwesenheit ist nach Abs. II 2 auch gestattet, idR wird sie sogar geboten sein, dem Leiter eines Heimes oder einer Einrichtung, in der dem J Hilfe zur Erz. gewährt wird. Aus der Reihe der Anwesenheitsberechtigten ist der Beamte der Kriminalpolizei gestrichen worden; in bes. Fällen aber kann ihm die Anwesenheit nach Abs. II 3 gestattet werden. Zur Anwesenheit ist schließlich nach § 175 III GVG berechtigt der die Dienstaufsicht führende Richter oder Beamte der Justizverwaltung. Nicht zur Anwesenheit berechtigt sind die geschiedene Mutter, wenn dem Vater allein das Sorgerecht zusteht (Zulassung aber möglich), und der Ehegatte (s. aber § 149 StPO). 14 Zeugen haben kein Anwesenheitsrecht nach Abs. II 1. Zwar sind sie bis zum Abschluss ihrer Vernehmung verfahrensbeteiligt, müssen aber nach §§ 58 I, 243 II 1 StPO bis zu ihrer Vernehmung außerhalb des Sitzungssaales warten. Nach ihrer Vernehmung sind sie deshalb ehest möglich zu entlassen24. Anwesenheitsberechtigte Zeugen (Abs. II 1, 2; Rn 13) können bis zu ihrer Vernehmung gleichwohl aus dem Sitzungssaal entfernt werden, um die Wahrheitserforschung zu sichern25 (Ausnahme: §§ 397 I 1, 406h I 2 StPO); das kann ihnen in einem ruhigen Gespräch einsichtig gemacht werden. Es kann ihnen aber auch vor ihrer Vernehmung die Anwesenheit gestattet werden, weil die §§ 58 I und 243 II 1 StPO nur Ordnungsvorschriften sind. Gerade der Verletzte sollte aber möglichst als erster vernommen werden26. Zum Ausschluss Rn 30; § 51, 17.

5. Opfer- und Zeugenschutzgesetze 15 Der Verletzte ist kraft Gesetzes in der nichtöffentlichen JGerichtsverhandlung anwesenheitsberechtigt (Rn 13). Insoweit bringen die durch die Opfer- und Zeugenschutzgesetze (allg. § 80, 7– 16) in die StPO eingefügten Bestimmungen, welche der besseren Information und dem Schutz des Verletzten dienen sollen, nichts Neues. Den gewiss nicht unberechtigten Bedenken (näher § 10, 26, 30) steht gegenüber der Schutz legitimer, rechtsstaatlicher Belange des Verletzten, die durch seine Kontroll- und Schutzrechte gesichert werden27. Darüber hinaus kann die Anwesenheit des Verletzten auch der Anbahnung des Täter-Opfer-Ausgleichs und der Einleitung von Wiedergutmachungsleistungen dienen und im Ergebnis dem J nützen. Dazu auch § 50, 15 aE28. Das Recht des Rechtsanwalts als Beistand des Verletzten in der Hauptverhandlung punk16 tuell bei dessen Zeugenvernehmung anwesend zu sein (§ 406 f I StPO) ist, wie jede dieser Bestimmungen, daraufhin zu prüfen, ob sie den Grundsätzen des JGG entspricht und anwendbar ist (§ 2, 6; bes. § 10, 30). Dies trifft für diese Bestimmung nach Abwägung der beiderseitigen Interessenlage jedenfalls für die nichtöffentliche JGerichtsverhandlung zu29. Dies gilt auch für die Vernehmung durch StA und Polizei30 (vgl. §§ 68b, 161a I 2, 163 III 2 StPO). Den grds. Erwägungen § 10, 30 ist anzufügen, dass es dem JRichter oder StA leicht fällt, jfremde Einflüsse fernzuhalten, zumal der Rechtsanwalt als Beistand des Verletzten keine Frage-, Beweisantrags-

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Begr. RegE eines 2. JuMoG, BT-Drs. 16/3038, S. 59. Kühling UJ 60, 320. BGH Zbl. 56, 87. BGH 4, 206 für Angehörige. So auch Schaal/Eisenberg NStZ 87, 51. Vgl. auch die Beiträge in ZJJ 05, 4 ff. OLG Stuttgart NJW 01, 1589; Dölling in Weisser Ring, Hrsg., Täterrechte – Opferrechte, 1996, S. 76; Ostendorf/ Schady 12; Beulke/Swoboda Rn 868; Rössner in JStrafrecht an der Wende, S. 171; Löwe/Rosenberg/Hilger26 Vor § 406d StPO 6. 30 Vgl. Meyer-Goßner/Schmitt § 406 f StPO 2 iVm § 68b StPO 3. 370

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oder sonstige Aktivrechte hat31, sondern nur Schutzrechte für den Verletzten geltend machen kann. Für den Zeitraum der Vernehmung des Verletzten wird man dessen Rechtsanwalt als anwesenheitsberechtigten Verfahrensbeteiligten anzusehen haben. Die Anwesenheit des Rechtsanwalts ist auch zeitlich umgrenzt, denn vor und nach der Vernehmung des Verletzten hat er als bloßer Zeugenbeistand kein Anwesenheitsrecht. Im Übrigen wären Belange des Zeugenschutzes zumindest ein bes. Grund zur Zulassung des Rechtsanwalts iSd Abs. II 3 (Rn 19)32. Eisenberg/ Kölbel33 und Beulke/Swoboda34 fordern bei Anwesenheit des Rechtsanwalts die Bestellung eines Pflichtverteidigers für den J. Das geht jedoch zu weit, zumal jener nur während der Zeugenvernehmung anwesend sein darf; dies entspricht auch nicht dem Ungleichgewicht zwischen einem J oder Hw. und dem anwaltlichen Nebenklagevertreter35 (vgl. § 68, 20). Bei der Vernehmung des Verletzten als Zeugen ist nach § 406 f II StPO auf seinen Antrag 17 einer Person seines Vertrauens die Anwesenheit zu gestatten, wenn hierdurch nicht der Untersuchungszweck gefährdet werden könnte. Diese Vorschrift ist auch im JRecht anwendbar, wobei in jgemäßer Auslegung eine Gefährdung des Untersuchungszwecks im JStrafverfahren auch bei Gefährdung des ErzZwecks des JGG angenommen werden kann. Dem nebenklageberechtigten Verletzten, der seinen Anschluss (noch) nicht erklärt hat, 18 gibt § 406h StPO bes. Rechte, die an die Zulässigkeit der Nebenklage geknüpft sind und die deshalb im JRecht nur gelten, wenn der Verletzte nach § 80 III nebenklagebefugt ist. Im Übrigen ist § 406h StPO nicht anwendbar36. Zwar gehen die Befugnisse des § 406h StPO weniger weit als diejenigen des Nebenklägers und seines Anwalts, sodass die Gefahren für den ErzZweck des JGG geringer sind als bei der nur in den Fällen des § 80 III zugelassenen Nebenklage. Die StPO knüpft die Rechte nach § 406h StPO aber ausdrücklich an die Befugnis zur Erhebung der Nebenklage an, und diese Berechtigung besteht in Verfahren gegen J nur in den Fällen des § 80 III. § 406h StPO steht in einem engen Zusammenhang mit der Nebenklage37. Die §§ 406d ff StPO sprechen über die allg. Verletztenrechte hinausgehende Befugnisse nur den Opfern zu, die Nebenklage erheben können. Durch die Anwendung der §§ 406d ff StPO im JStrafverfahren kann nicht entgegen dieser Systematik eine dritte Kategorie von Verletzten geschaffen werden, die zwar nicht zur Nebenklage befugt sind, aber über Rechte verfügen, die über die allg. Verletztenbefugnisse hinausgehen. Für die Anwendung des § 406h StPO mögen sich kriminalpolitische Gründe anführen lassen, diesen könnte aber nur durch eine Gesetzesänderung Rechnung getragen werden. Gegen die Nichtanwendung des § 406h StPO in Strafverfahren gegen J bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken38. Im Falle der Nichtanwendbarkeit des § 406h StPO kommt eine Anwesenheit des anwaltli- 19 chen Beistands des Verletzten außerhalb der Vernehmung des Opfers in der nicht öffentlichen Hauptverhandlung daher nur nach § 48 II 3 in Betracht. Einen Anspruch auf Anwesenheit bei richterlichen Vernehmungen außerhalb der Hauptverhandlung und Einnahme eines Augen-

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Stock MKrim. 87, 358. Ebenso Eisenberg/Kölbel 16d. AaO. Rn 868. LG Essen NStZ 87, 184. BGH StraFo 03, 58; OLG Stuttgart NJW 01, 1588; NStZ-RR 03, 29; KG NStZ-RR 07, 28; NStZ 07, 44 f; OLG Zweibrücken NStZ 02, 496 mit abl. Anm. Sack; OLG Düsseldorf NStZ 03, 496; LG Baden-Baden NStZ-RR 00, 53; Dölling (FN 29), S. 75; Eisenberg/Kölbel § 80, 14; Schaal/Eisenberg NStZ 88, 51 f; DSS/Schatz § 80, 29; Beulke(/Swoboda Rn 869; Kaster MDR 94, 1076; Kondziela Opferrechte im JStrafverfahren, 1991, S. 152; Löwe/Rosenberg/Hilger26 Vor § 406d StPO 6; aA OLG Koblenz NJW 00, 2436; OLG München NJW 03, 1543; Stock MKrim. 87, 359; Rössner in JStrafrecht an der Wende, S. 171; Böhm NStZ-RR 01, 326 FN 57; Wölfl Zbl. 02, 95; Koudmani Zbl. 03, 12; Rohde Die Rechte u. Befugnisse des Verletzten in Strafverfahren gegen J, 2009, S. 92 ff. 37 OLG Stuttgart aaO, 1589; OLG Düsseldorf aaO. 38 BVerfG NJW 02, 1487. Zur Bestellung eines Rechtsanwalts als Beistand des mutmaßlich Verletzten im Vorverfahren LG Oldenburg ZJJ 11, 92 mit Anm. Sommerfeld. 371

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scheins hat der Verletztenanwalt in Verfahren gegen J nicht. § 406g StPO über die psychosoziale Prozessbegleitung39 gilt auch im JStrafverfahren40. 20 Die erweiterten Vorschriften für den Zeugenschutz (§§ 68a, 247 StPO) sind im JGerichtsverfahren anwendbar41. Das gilt auch für den anwaltlichen Zeugenbeistand nach § 68b StPO42. Zum Zeugenschutz nach § 241a StPO u. § 172 Nr. 4 GVG u. zum Einsatz der Videotechnologie näher Anh. § 125, 8. Die Hinweispflicht nach § 406i StPO auf die Befugnisse nach §§ 406d bis 406h StPO fordert 21 in JStrafsachen zusätzlich die Belehrung, dass bei J Nebenklage nur in den Fällen des § 80 III zulässig und in diesen Fällen und bei Hw. mit einem Kostenrisiko belastet ist, weil der J oder der Hw. bei Anwendung von JStrafrecht von der Tragung der Nebenklagekosten nach § 74 freigestellt werden kann und Ansprüche gegen die Staatskasse nach hM nicht bestehen (§ 74, 9). Das ist nicht unproblematisch. Denn der Polizei kann nur ein recht allg. Hinweis zugemutet werden43. Für diese zusätzliche Belehrung bietet sich die erste Vernehmung des Verletzten durch StA oder Richter an oder eine (nicht geforderte) schriftliche Belehrung (Formblatt). Letztlich sollte man dies auch vom angegangenen Rechtsanwalt beim Eingangsgespräch erwarten dürfen. Bei Antrag auf Prozesskostenhilfe (§§ 406h III, 397a StPO) ergibt sich zwanglos die entsprechende Belehrung.

6. Zulassung 22 Daneben kann anderen Personen die Anwesenheit gestattet (Abs. II 3) werden, wenn ein bes. Grund vorliegt, wie z.B. bei erw. Angehörigen, Jura-Studenten, Referendaren, Sozialarbeitern, Polizeibeamten in der Ausbildung (RL S. 1); doch sollte es sich stets nur um Einzelgenehmigungen handeln (RL S. 2)44. Für Presse und Rundfunk gelten RL S. 2, 3 und RiStBV 129, 131 II. Größere Personengruppen (RL S. 2) und ohnehin nur außerhalb der Hauptverhandlung in Betracht kommende Fernsehaufnahmen sollten aus den in Rn 3 erörterten Gründen nicht zugelassen werden. Werden Pressekorrespondenten zugelassen, kann deren Zahl beschränkt werden45. Eine identifizierende Berichterstattung über j. oder hw. Angeklagte durch die Medien ist grds. unzulässig46. Bei Schulklassen (RL S. 2) gilt es abzuwägen; auf jeden Fall muss die Entwicklung im Sitzungssaal sorgsam beobachtet und ggf. rasch reagiert werden. Es empfiehlt sich, die Klasse vorher zu belehren und auch nach der Verhandlung den Fall zu besprechen und falsche Eindrücke zu korrigieren47. – Bei der Entscheidung über die Zulassung sind auch die Gesichtspunkte zu beachten, die in den Ausschließungsgründen des allg. Rechts (§§ 171a, 171b, 172 GVG) ihren Niederschlag gefunden haben48. Die Zuhörerzahl sollte stets begrenzt bleiben. – Über die Zulassung entscheidet der Vorsitzende widerruflich, ohne dass es einer Anhörung der Verfahrensbeteiligten bedarf (§ 175 II 3 GVG)49. Die Anregung von Ostendorf/Schady50, den J, um dessen Interesseneinbußen es geht, anzuhören, ist aber beherzigenswert. 39 Dazu näher Riekenbrauk ZJJ 16, 25. 40 Ostendorf/Sommerfeld § 80, 1a; aA Eisenberg ZJJ 16, 33, 36, nach dem der Einsatz eines psychosozialen Prozessbegleiters in einem erheblichen Teil der Verfahren nicht mit § 2 I JGG vereinbar ist. Ebenso Schaal/Eisenberg NStZ 88, 53; Rössner (FN 36); vgl. dazu auch Böttcher JR 87, 133. OLG Stuttgart NJW 01, 1589. Vgl. Böttcher JR 87, 135. Für restriktive Handhabung der Vorschrift Gerbig ZJJ 20, 260. EGMR NJW 13, 521; BVerfG NJW 10, 1739. J. Eisenberg StraFo 06, 16. Vgl. Brunner u. Graupner in Rn 3; für Unzulässigkeit der Zulassung von Schulklassen Gerbig ZJJ 20, 260. Brunner Zbl. 73, 337; Ostendorf/Schady 9. Zust. Eisenberg/Kölbel 18; Ostendorf/Schady 10. 17. Nach Gerbig ZJJ 20, 261 hat der J gem. Art. 12 der UN-Kinderrechtskonvention u. Art. 24 I 2 der Charta der Grundrechte der EU einen Anspruch auf Anhörung.

41 42 43 44 45 46 47 48 49 50

372

Nichtöffentlichkeit

§ 48

Der nach Abs. II 1, 2 oder einer anderen Vorschrift zur Anwesenheit Berechtigte kann sich 23 gegen die Nicht-Zulassung beschweren (§ 304 StPO)51; die grundlose (Rn 12, 13) Verweigerung des Zutritts kann als relativer Revisionsgrund dann erfolgreich geltend gemacht werden, wenn dadurch Sachdienliches unerörtert geblieben ist52. – Alle übrigen Personen (Abs. II 3) haben kein Recht auf Anwesenheit und deshalb auch keinen Rechtsbehelf, auch nicht Anrufung des Gerichts gem. § 238 II StPO, wenn sie nicht zugelassen werden oder eine Zulassung widerrufen wird53. Gegen die Zulassung gibt es kein Rechtsmittel54. Vgl. ergänzend § 50, 15. Zum Ausschluss der in Rn 13–14 genannten Personen aus der Hauptverhandlung § 51, 17.

7. Form und Wirkungen des Ausschlusses der Öffentlichkeit Wird die Öffentlichkeit aus jrechtlichen Gründen (Rn 3) ausgeschlossen, gilt Folgendes: Die Aus- 24 schließung erfolgt nach § 174 I GVG55; bes. müssen alle Beteiligten Gelegenheit zur Äußerung erhalten haben56, auch ist der Ausschließungsbeschluss gem. § 174 I 3 GVG zu begründen57 und öffentlich zu verkünden58. Die Wirkungen der Ausschließung sind die gleichen wie bei der gesetzlichen Ausschlie- 25 ßung nach § 48 I59. Das Rn 12 ff Gesagte gilt auch hier. Denn die Ausschließung erfolgt in beiden Fällen, um den J oder Hw. zu schützen. Die Anwendung der auf einer ganz anderen Interessenlage beruhenden Vorschriften des GVG wäre verfehlt60. Die Öffentlichkeit kann auch nur für einen Teil des Verfahrens ausgeschlossen werden61, weil die Ausschließung nur im Einzelfall erfolgt und erz. Gesichtspunkte z.B. der öffentlichen Urteilsverkündung nicht immer entgegenstehen müssen. Auch hier kann aber die Öffentlichkeit von der Urteilsverkündung ausgeschlossen werden62. Nach Verkündung der Ausschließung kann über Gegenvorstellungen nichtöffentlich verhandelt werden63. Der Ausschluss der Öffentlichkeit schlechthin nach §§ 48 III 2 und 109 I 5 umfasst auch die Urteilsverkündung64. Dies ergibt sich aus dem Zweck der §§ 48 III 2, 109 I 5, den J oder Hw. zu schützen; diese Spezialregelungen schließen nach § 2 II den § 173 Abs. 1 GVG aus65. Der Ausschluss gilt nur für die jeweilige Instanz, weil jede Instanz selbständig ist und Bindungen nur dort bestehen, wo sie im Gesetz ausdrücklich festgelegt sind. Der Ausschluss der Öffentlichkeit ohne nähere Prüfung und ohne Verhandlung darüber 26 oder die nicht öffentliche Verhandlung ohne Ausschließungsbeschluss beschwert nur die mitangeklagten Hw. und Erw., für die der absolute Revisionsgrund nach § 338 Nr. 6 StPO besteht66;

51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61

KG NStZ-RR 07, 28; Dallinger/Lackner 14; DSS/Schatz 39; Eisenberg/Kölbel 17; Ostendorf/Schady 20. Vgl. BGH 23, 176; zust. Eisenberg/Kölbel 23. KG StraFo 15, 122 f.; Ostendorf/Schady 20. Krit. dazu im Hinblick auf den J Gerbig ZJJ 20, 264. OLG Hamm StraFo 00, 195 zu § 48 III 2. BGH 10, 120. Vgl. BGH 27, 117 zu § 172 Nr. 4 GVG u. BGH 27, 187 zu § 172 Nr. 2 GVG. BGH H MDR 76, 988: drei Entscheidungen für ErwRecht; zust. Ostendorf/Schady 19. Ostendorf/Schady 18 „Persönlichkeits- und Präventionsinteressen“. OLG Oldenburg NJW 59, 1506. BGH B NStZ-RR 01, 325; BGH NJW 03, 2037: Ausschluss für Erörterung der persönlichen Lebensverhältnisse des

J.

62 OLG Oldenburg aaO; OLG Düsseldorf NJW 61, 1547. 63 BGH NStZ 15, 230. 64 BGH 42, 294, 296 = NStZ 98, 53 mit abl. Anm. Eisenberg; OLG Düsseldorf aaO; DSS/Schatz 11; aA Eisenberg/ Kölbel 22.

65 BGH 42, 295. 66 OLG Koblenz GA 77, 374; OLG Hamm VRS Bd. 99 (00), 72. 373

§ 49

2. Teil. Jugendliche

der J kann deshalb auf diese Verstöße keine Revision gründen67. Es genügt für das Revisionsgericht, wenn die Entscheidung über den Ausschluss der Öffentlichkeit bei Beginn der Hauptverhandlung vertretbar war.

8. Ausschluss nach allgemeinem Recht 27 Die Möglichkeit, die Öffentlichkeit nach dem JGG auszuschließen (§§ 48 III 2, 109 I 5, 104 II), hindert den Ausschluss der Öffentlichkeit nach allg. Recht (§§ 171a, 171b, 172 GVG) nicht. In diesen Fällen haben von den in § 48 II genannten Anwesenheitsberechtigten nur die Prozessbeteiligten das Recht auf Anwesenheit, weil § 48 hier gar nicht zur Anwendung kommt (weitere Gründe Rn 28). Gründe der Staatssicherheit können vor dem ErwGericht sogar zum Ausschluss Prozessbeteiligter führen (§ 104 III). 28 § 175 I GVG, mehr ein Teil der Sitzungspolizei, gilt im JVerfahren entsprechend. Danach können die Anwesenheitsberechtigten (Rn 13), soweit sie nicht Prozessbeteiligte sind68, von der Teilnahme an der Verhandlung ausgeschlossen werden69. Gleiches gilt, wenn die Voraussetzungen der §§ 171a, 171b, 172 GVG gegeben sind; denn § 48 ist zwar Sondervorschrift, dient aber nur der Einschränkung des Grundsatzes der Öffentlichkeit und kann deshalb nicht zu einer Erweiterung der Öffentlichkeit gegenüber dem allg. Recht führen70. Prozessbeteiligte können nur nach §§ 176 ff GVG, 51 JGG oder nach § 104 III ausgeschlossen 29 werden. Diese wie alle anderen Anwesenheitsberechtigten (vgl aber §§ 397 I 1, 406h I 2 StPO) können 30 auch ausgeschlossen werden, wenn sie als Zeugen in Betracht kommen (§§ 58 I, 243 II 1 StPO).

§ 49 Vereidigung von Zeugen und Sachverständigen Die Vorschrift wurde durch das 1. JuMoG v. 24.8.2004 aufgehoben. Es gilt seitdem der neu gefasste § 59 StPO, der dem bisherigen § 49 JGG weitgehend entspricht.

§ 50 Anwesenheit in der Hauptverhandlung (1) Die Hauptverhandlung kann nur dann ohne den Angeklagten stattfinden, wenn dies im allgemeinen Verfahren zulässig wäre, besondere Gründe dafür vorliegen und die Jugendstaatsanwaltschaft zustimmt. (2) 1Der Vorsitzende soll auch die Ladung der Erziehungsberechtigten und der gesetzlichen Vertreter anordnen. 2Die Vorschriften über die Ladung, die Folgen des Ausbleibens und die Entschädigung von Zeugen gelten entsprechend. (3) 1Der Jugendgerichtshilfe sind Ort und Zeit der Hauptverhandlung in angemessener Frist vor dem vorgesehenen Termin mitzuteilen. 2Der Vertreter der Jugendgerichtshilfe erhält in der Hauptverhandlung auf Verlangen das Wort. 3Ist kein Vertreter der Jugendgerichtshilfe anwesend, kann unter den Voraussetzungen des § 38 Absatz 7 Satz 1 ein schriftlicher Bericht der Jugendgerichtshilfe in der Hauptverhandlung verlesen werden. 67 BGH 10, 119; BGH NJW 03, 2037; NStZ-RR 07, 55 = JR 06, 389, 390 mit zust. Anm. Humberg; zust. Eisenberg/ Kölbel 24; Ostendorf/Schady 21. 68 Dallinger/Lackner 13. 69 Zust. Eisenberg/Kölbel 13. 70 Dallinger/Lackner 13; Eisenberg/Kölbel 13; Ostendorf/Schady 9. 374 https://doi.org/10.1515/9783110686401-060

Anwesenheit in der Hauptverhandlung

§ 50

(4) 1Nimmt ein bestellter Bewährungshelfer an der Hauptverhandlung teil, so soll er zu der Entwicklung des Jugendlichen in der Bewährungszeit gehört werden. 2Satz 1 gilt für einen bestellten Betreuungshelfer und den Leiter eines sozialen Trainingskurses, an dem der Jugendliche teilnimmt, entsprechend. Abs. 1: 1. [Hw.]: Rn 4; § 109 I 1. – 2. ErwG: Rn 5; § 104 II. Abs. 2: 1. [Hw.]: Rn 10; § 109 I 1; aber § 104 III. – 2. ErwG: RL 5; § 104 I Nr. 9, III; § 104, 5. Abs. 3 u. 4: Hw.: Rn 15; § 109 I 1. – 2. ErwG: Rn 15; § 104 I Nr. 2, III; aber § 104 III; § 104, 5.

Richtlinien zu § 50 1.

2.

3.

4.

5.

Im Jugendstrafverfahren ist der persönliche Eindruck, den das Gericht von dem Jugendlichen erhält, von entscheidender Bedeutung. Eine Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten sollte deshalb nur in Erwägung gezogen werden, wenn es sich um eine geringfügige Verfehlung handelt, auf Grund des Berichts der Jugendgerichtshilfe ein klares Persönlichkeitsbild vorliegt und das Erscheinen des Jugendlichen wegen weiter Entfernung mit großen Schwierigkeiten verbunden ist oder wenn gegebenenfalls eine Abtrennung des Verfahrens gegen den abwesenden Jugendlichen mit Rücksicht auf eine umfangreiche Beweisaufnahme unangebracht ist. Nimmt die Staatsanwaltschaft im vereinfachten Jugendverfahren an der mündlichen Verhandlung nicht teil, so bedarf es ihrer Zustimmung zur Durchführung der Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten nicht (§ 78 Abs. 2 Satz 2). § 50 Abs. 2 trägt der Tatsache Rechnung, dass die Hauptverhandlung ein bedeutsames Ereignis im Leben und für die Erziehung von Jugendlichen ist. Deshalb ist die Anwesenheit von Erziehungsberechtigten und gesetzlichen Vertretern regelmäßig wichtig. Ihre Teilnahme an der Hauptverhandlung kann auch dazu beitragen, dass das Verfahren alsbald rechtskräftig abgeschlossen wird. Auf § 67 Abs. 5 wird hingewiesen. Schon vor der Hauptverhandlung sollte geprüft werden, ob es im Interesse des Angeklagten angezeigt ist, den in § 50 Abs. 4 Satz 2 und § 48 Abs. 2 genannten Helfern und Betreuungspersonen im Hinblick auf die Betreuung Nachricht vom Hauptverhandlungstermin auch dann zu geben, wenn ihre Ladung nicht aus anderen Gründen erforderlich ist. § 50 Abs. 2 gilt auch im Verfahren gegen Jugendliche vor den für allgemeine Strafsachen zuständigen Gerichten (§ 104 Abs. 1 Nr. 9; vgl. jedoch Ausnahme in § 104 Abs. 3), nicht jedoch im Verfahren gegen Heranwachsende (§ 109 Abs. 1, 112).

Übersicht 1. 2.

Anwesenheit des J 1 Ladung und Anwesenheit der Erziehungsberech7 tigten und gesetzlichen Vertreter

3. 4.

Jugendgerichtshilfe 12 Bewährungshelfer und sonstige Perso15 nen

1. Anwesenheit des J Der angeklagte J sollte immer anwesend sein, weil sich das Gericht nur so ein genügendes 1 Bild von ihm machen kann (RL 1 S. 1; § 43); zugleich wird der J prozessual geschützt. Bes. Schwierigkeiten stehen dem bei richtiger Handhabung der Zuständigkeitsvorschriften (§ 42) nicht entgegen; überdies kommt es bei leichten Verfehlungen gar nicht zur Verhandlung (§ 45). Deshalb müssen bei einer Verhandlung ohne den J nicht nur die Voraussetzungen des 2 allg. Rechts (§§ 231, 231a, 231b, 231c, 232, 233 StPO) gegeben sein, sondern darüber hinaus bes. Gründe (RL 1 S. 2) und die Zustimmung der JStA (Ausnahme beim vereinfachten JVerfahren; RL 2) vorliegen (Abs. I). Die Verhängung von Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2 und JStrafe sowie die Aussetzung der Verhängung der JStrafe (§ 78, 3) sind dann nicht zulässig (§§ 232 I, 233 I StPO,

375

§ 50

3 4

5 6

2. Teil. Jugendliche

§ 78 I 2 JGG entsprechend)1. Alle Einschränkungen entfallen, wenn der Angeklagte sich unerlaubt aus der Verhandlung entfernt (§ 231 StPO; vgl. § 51, 1)2, seine Verhandlungsunfähigkeit vorsätzlich herbeigeführt hat (§ 231a StPO) oder wegen ordnungswidrigen Benehmens entfernt werden muss (§ 231b StPO). Verfährt der Richter im JStrafverfahren gem. §§ 232 I, 233 I StPO iVm § 50 I JGG, so treten an Stelle von Geld- und Freiheitsstrafe die Erziehungsmaßregeln (außer Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2) und Zuchtmittel3. Nach Dallinger/Lackner4 soll bei Entbindung vom Erscheinen (§ 233 StPO) JStrafe möglich sein, aber doch vermieden werden. Dies lässt sich daraus, dass § 233 I StPO Freiheitsstrafe bis zu 6 Monaten zulässt, nicht herleiten5; erweckt es schon Bedenken, dass gerade und nur die Mindeststrafe zulässig sein soll (§ 18 I), so widerspricht es dem Sinn des JGG, wenn es dem Richter gestattet sein sollte, die schwierige Entscheidung über „schädliche Neigungen“ und „Schwere der Schuld“ in Abwesenheit des Angeklagten zu treffen. Nicht vergleichbar ist der Fall der §§ 231a, 231b StPO; diese Vorschriften enthalten keine Strafbegrenzung und ermöglichen eine Verurteilung nur, wenn die weitere Anwesenheit des Angeklagten nicht erforderlich, dh auch die Aufklärung zur Person vollständig ist. Ein Urteil, das gegen den abwesenden Angeklagten ergeht, ohne dass alle Voraussetzungen vorliegen, verfällt der Revision (§ 338 Nr. 5 StPO)6. Der Angeklagte kann jedoch zeitweilig gem. § 51 I von der Verhandlung ausgeschlossen werden (§ 51, 2–5). Abs. I gilt nur für J vor JGerichten, nicht für Hw. (§ 109). Doch sollte das Gericht den Grundgedanken des Abs. I selbst bei der Anwendung des allg. Rechts bei der Ausübung seines Ermessens gebührend berücksichtigen7. Wegen der schwierigen und wichtigen Entscheidung über die Altersreife (§ 105) ist eine Hauptverhandlung gegen einen nicht anwesenden Hw. nur möglich, wenn ausnahmsweise auch ohne ihn ausreichend geprüft werden kann, ob J- oder ErwRecht anzuwenden ist (§ 105, 28)8. Bei Taten desselben Angeklagten als J u. als Hw. vgl. § 109, 15. In Verfahren gegen J vor ErwGerichten kann und sollte stets Abs. I entsprechend angewendet werden (§ 104, 3)9. Im OWiG-Verfahren gilt § 73 OWiG. Danach ist der Betroffene zum Erscheinen verpflichtet, kann aber unter den Voraussetzungen des § 73 II von dieser Verpflichtung entbunden werden, wobei der ErzGedanke eine restriktive Anwendung des § 73 II gebieten kann10. Erfolgt keine Entbindung des J, sollten die ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter nach § 50 II geladen werden11. Bei Entbindung des J von der Erscheinenspflicht genügt der Hinweis an ErzBerechtigte und gesetzliche Vertreter, dass ihnen das Erscheinen zur Hauptverhandlung frei steht12. Von der Benachrichtigung der JGH gem. § 50 III kann in OWiG-Verfahren abgesehen werden, wenn ihre Mitwirkung für die sachgemäße Durchführung des Verfahrens entbehrlich ist (§ 46 V OWiG). Vgl. auch § 2, 15 u. zur Mitteilung des Bußgeldbescheids an die ErzBerechtigten § 67a, 3 aE.

1 Eisenberg/Kölbel 17: nur sachlich nicht vertretbar; Ostendorf/Schady 10: auch unzulässig, wenn JA zu erwarten ist. Dallinger/Lackner 2, 5. Dallinger/Lackner 4; Eisenberg/Kölbel 17. 5. Zust. Eisenberg/Kölbel 17. Eisenberg/Kölbel 31; Ostendorf/Schady 16; vgl. auch dies. 10, die letztlich wegen § 42 die §§ 232, 233 StPO für entbehrlich halten. 7 Zust. Eisenberg/Kölbel 2. 8 OLG Hamburg NJW 63, 67. 9 Dallinger/Lackner 30; Eisenberg/Kölbel 1; Ostendorf/Schady 1; aA Potrykus B 3 je zu § 104. 10 Eisenberg/Kölbel 9; Krumm NZV 10, 69. 11 DSS/Schatz 12; Eisenberg/Kölbel 10; Ostendorf/Schady 8; Krumm NZV 10, 69. 12 Eisenberg/Kölbel 10; Krumm aaO.

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376

Anwesenheit in der Hauptverhandlung

§ 50

2. Ladung und Anwesenheit der Erziehungsberechtigten und gesetzlichen Vertreter Abs. II ist eine einfach-rechtliche Ausgestaltung des Elternrechts nach Art. 6 II GG13. ErzBerechtigte und gesetzliche Vertreter (nur bei J; Rn 10) haben ein Recht auf Anwesenheit (§ 67, 16) und sind wie Zeugen zu laden und zu entschädigen; bleiben sie aus, können sie nach den Zeugenvorschriften sanktioniert und vorgeführt werden (§§ 48, 51, 71 StPO). Es steht also nicht in ihrem Belieben, ob sie zur Verhandlung – auch im vereinfachten JVerfahren (§ 78 III 2) – kommen. Denn ihre Anwesenheit ist für die Persönlichkeitserforschung und die Auswahl der zu treffenden Maßnahmen wichtig, unterstreicht die Bedeutung der Verhandlung und kann zu dem erwünschten beschleunigten Eintritt der Rechtskraft führen (RL 3). Für sie gilt nach Bohnert14 das gesamte Zeugenrecht. Über Vernehmung des gesetzlichen Vertreters als Zeuge § 48, 14; über zeitweilige Ausschließung § 51, 6 ff15. Üblich ist die formlose Ladung, die ja auch gegenüber Zeugen zulässig ist16. Der förmlichen Zustellung bedarf es nicht17. Es genügt, wenn einer von mehreren ErzBerechtigten geladen wird (§ 67 V 3). Ihre Ladung kann nur aus wichtigen Gründen (§ 51, § 67 IV) unterbleiben („soll“). Ein Verstoß kann zugleich gegen die Sachaufklärungspflicht (§ 244 II StPO; Persönlichkeitserforschung) gerichtet sein oder die Verteidigung behindern und dann auf Revision zur Aufhebung des Urteils führen18; daneben kann ein Verstoß gegen Abs. II einen Wiedereinsetzungsgrund gegen die Versäumung der Rechtsmittelfrist bilden (§ 67, 17). Abs. II gilt nach Eintritt der Volljährigkeit, also allg. für Hw., nicht mehr, weil der Volljährige weder einen ErzBerechtigten noch einen gesetzlichen Vertreter hat (§ 109). Bei Taten desselben Angeklagten als J u. als Hw. vgl. § 109, 15. Zum ErwGericht § 104, 6.

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3. Jugendgerichtshilfe Der JGH (Zuständigkeit § 38, 5) muss nach Abs. III 1 bei J und Hw. Ort und Zeit der Hauptver- 12 handlung in angemessener Frist vor dem vorgesehenen Termin mitgeteilt werden. IdR wird das mindestens die Ladungsfrist des § 217 StPO sein19. Die Mitteilung muss so frühzeitig erfolgen, dass die JGH ihre Teilnahme an der Hauptverhandlung organisatorisch und inhaltlich vorbereiten und ihre Aktualisierungspflicht erfüllen kann20. Das Benachrichtigungsgebot besteht ungeachtet der Mitteilungspflicht nach § 70 I 1, II21. Die Terminsnachricht muss auch erfolgen, wenn das Gericht nach § 38 VII auf die Anwesenheit der JGH verzichtet hat, denn der Verzicht berührt nicht das Recht der JGH, an der Hauptverhandlung teilzunehmen22. Fernmündliche Mitteilung kurz vor Beginn der Hauptverhandlung genügt nicht23. Folgen § 38, 22. Mit der Terminsmitteilung kann der Richter ggf. darauf hinweisen, dass die Hauptverhandlung ohne vorherigen Bericht oder ohne Anwesenheit des JGHelfers, der die Ermittlungen angestellt hat, oder eines informierten Vertreters (falls dieser ausreicht) nicht stattfinden kann. Erscheint die JGH trotz 13 BVerfGE 107, 104, 122. 14 Zbl. 89, 234. 15 Für Einschränkung der Kostenerstattung an ErzBerechtigte u. gesetzliche Vertreter de lege ferenda Kropp NJ 07, 299.

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Meyer-Goßner/Schmitt § 48 StPO 1b. OLG Hamm NStZ 09, 44, 45. Eisenberg/Kölbel 32a; Ostendorf/Schady 16. Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 53; Ostendorf/Schady 12. DSS/Schatz 24; Eisenberg/Kölbel 24; Ostendorf/Schady 12. DSS/Schatz 24. Eisenberg/Kölbel 25; Ostendorf/Schady 12. BGH StV 82, 336.

§ 50

2. Teil. Jugendliche

rechtzeitiger Mitteilung in der Hauptverhandlung nicht und ist kein Verzicht nach § 38 VII erklärt worden, kann das JGericht nach § 38 IV 3 dem Träger der öffentlichen JHilfe die dadurch verursachten Kosten auferlegen. Durch diese durch das G zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im JStrafverfahren v. 9.12.2019 (dazu Einf. 136) eingefügte Vorschrift hat der Gesetzgeber den früheren Streit über die Zulässigkeit der Kostenauferlegung24 entschieden. Danach unterbleibt die Auferlegung der Kosten insbes. bei rechtzeitiger genügender Entschuldigung des Fernbleibens. Liegen die Voraussetzungen für die Kostenüberwälzung vor, ist diese nicht zwingend. Vielmehr entscheidet das JGericht darüber einzelfallbezogen nach pflichtgemäßem Ermessen. Hierbei kann es anerkennenswerten Hinderungsgründen auf Seiten der JGH Rechnung tragen, die sich aber nicht in generellen Organisationsproblemen oder generellen Begrenzungen durch die Personalausstattung der JGH erschöpfen dürfen25. 13 Die Verpflichtung zur Information der JGH vom Hauptverhandlungstermin besteht grds. auch im vereinfachten JVerfahren (§ 78 RL u. § 78, 18)26, jedoch nicht vor dem Revisionsgericht, das nur in rechtlicher Hinsicht nachzuprüfen hat27. Bei mehrtägigen Sitzungen genügt es, wenn der JGH Zeit und Ort des ersten Sitzungstages mitgeteilt sind; Nachrichten von den weiteren Terminen sind nicht notwendig28. Teilt der Richter im Verfahren gegen Hw. der JGH Ort und Zeit der Hauptverhandlung nicht mit, kann das Urteil auf einer Verletzung der Aufklärungspflicht insbes. dann beruhen, wenn die Voraussetzungen des § 105 I 1 verneint werden29. Wegen der Rechte der JGH in der Hauptverhandlung: Rn 14 u. § 38, 11, 21. Wird in Abwesenheit des JGHelfers verhandelt, waren ihm aber Ort und Zeit der Hauptverhandlung mitgeteilt, so ist nicht § 50 III, möglicherweise aber die allg. Aufklärungspflicht nach § 244 II StPO verletzt30 (s. § 38, 24). 14 Wie oft und wann (am besten nach der Beweisaufnahme) der JGH das Wort erteilt wird, ist eine Frage der Verhandlungsleitung (§ 238 I, II StPO); häufig wird sich eine Äußerung nach Ende der Beweisaufnahme, aber vor dem Schlussvortrag der StA empfehlen31. Der Vertreter der JGH braucht in der Hauptverhandlung zwar nicht gehört zu werden, wenn er dies nicht verlangt32; doch wird zumeist die Aufklärungspflicht dies gebieten (s. § 38, 22), zumal es dem JGHelfer obliegt, den J während des ganzen Verfahrens zu betreuen (§ 52 II, III SGB VIII) und er im Rahmen seiner Mitwirkung nach den §§ 38 u. 50 III 2 gehalten ist, dem Gericht mitzuteilen, welche Hilfen zur Erz. nach seiner Beurteilung in Betracht kommen (§ 52 II SGB VIII). Über die Stellung der JGH in der Hauptverhandlung § 38, 21. Über die Folgen, wenn die JGH nicht eingeschaltet wird, s. § 38, 22. 14a Ist kein Vertreter der JGH in der Hauptverhandlung anwesend, kann nach dem durch das G zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im JStrafverfahren v. 9.12.2019 eingefügten Abs. III 3 unter den Voraussetzungen des § 38 VII 1 ein schriftlicher JGH-Bericht verlesen werden. Die Verlesung ersetzt dann den mündlichen Vortrag des Vertreters der JGH. Zulässig ist die Verlesung jedenfalls, wenn das Gericht nach § 38 VII 1 auf Antrag der JGH auf deren Anwesenheit verzichtet hat und die materiellen Voraussetzungen des § 38 VII 1 vorliegen. Umstritten ist, ob die Verlesung auch erfolgen darf, wenn die JGH keinen Antrag nach § 38 VII 1 gestellt hat, aber die materiellen Voraussetzungen des § 38 VII 1 gegeben sind33. Für die Verlesbarkeit

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Dazu Voraufl. § 50, 12. Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 49. Ostendorf/Schady 7. Dallinger/Lackner 32; Eisenberg/Kölbel 6; Ostendorf/Schady 6; aA Potrykus B 4. BGH bei Martin DAR 1964, 100; s. aber auch BGH StV 89, 308; aA DSS/Schatz 24; Eisenberg/Kölbel 26; Ostendorf/ Schady 12. 29 BayObLG bei Rüth DAR 71, 207. 30 BayObLG bei Rüth DAR 82, 251; vgl. auch BGH NStZ 85, 448. 31 Brachold Der Beitrag der JGH zur strafprozessualen Sachverhaltsermittlung u. -bewertung, 1998 S. 117. 32 Dallinger/Lackner 28. 33 Dafür Ostendorf/Schady 14b; dagegen DSS/Schatz 42; Eisenberg/Kölbel 28. 378

Zeitweilige Ausschließung von Beteiligten

§ 51

des Berichts in dieser Konstellation spricht, dass das Gericht gem. § 38 VII 5 in der Hauptverhandlung den Verzicht auf die Anwesenheit der JGH ohne deren Antrag erklären kann und kaum angenommen werden kann, dass das Gericht zwar auf die Anwesenheit der JGH verzichten kann, in diesem Fall aber gehindert sein soll, den JGH-Bericht kompensatorisch zu verlesen34. Abs. III 3 ist danach so zu verstehen, dass er sich nur auf die materiellen Voraussetzungen des § 38 VII 1 bezieht. Wenn eine Verlesung erfolgt, kann die Aufklärungspflicht nach § 244 II StPO weitere gerichtliche Maßnahmen gebieten35 (s. auch § 38, 24).

4. Bewährungshelfer und sonstige Personen Dem bestellten BewHelfer und dem Betreuungshelfer (§ 10, 19) ist die Anwesenheit in der 15 nichtöffentlichen Hauptverhandlung ausdrücklich gestattet (§ 48 II 1; § 48, 13). Zur Problematik ihrer Vernehmung als Zeugen § 25, 13; § 48, 14. Zur Anwesenheit in der Hauptverhandlung sind sie an sich nicht verpflichtet. Nehmen sie jedoch an der Hauptverhandlung teil, so soll sie der Richter hören (Abs. IV 1 u. 2). Denn sie kennen aus ihrer Betreuung den J gut und sind über die Persönlichkeitsentwicklung und die neuesten Vorgänge im sozialen Umfeld orientiert. Das wird dem Richter oftmals nahe legen, sie ausdrücklich zu laden (RL 4); die Praxis hat gezeigt, dass sie meist selbst die Initiative ergreifen. Gleiches gilt für den Leiter eines sozialen Trainingskurses (§ 10, 21), der zwar nicht kraft Gesetzes anwesenheitsberechtigt ist, aber zugelassen werden kann (§ 48, 22) und sinnvollerweise auch wird. Diese können ihr Wissen und ihre Erfahrungen mit dem J dem Richter übermitteln (Abs. IV 2). Es kann ähnliches auch für andere zugelassene Personen (§ 48, 22) gelten, wenn sie imstande und willens sind, zur Persönlichkeitserforschung beizutragen. Zur prozessualen Verwertung ihrer mündlichen und schriftlichen Berichte in der Hauptverhandlung § 38, 34–36. Das alles gilt auch für den anwesenheitsberechtigten Verletzten (§ 48, 13 u. 15). Es ist gut, ihn zu hören, soweit er sich nicht von Rachegefühlen hinreißen lässt36. Das entspricht den Intentionen der Opferschutzgesetze (§ 80, 7–15, § 48, 15– 21) und kann zum Täter-Opfer-Ausgleich beitragen (§ 10, 24). Abs. III und IV gelten auch gegenüber Hw. (§ 109 I) und vor dem ErwGericht (§ 104 I 16 Nr. 2)37; Ausnahmen aus Gründen der Staatssicherheit: § 104 III u. dort Rn 5. Für OWiG-Verfahren Rn 6. Zu ausländischen J u. Hw. in der Hauptverhandlung Einf. 51. 17

§ 51 Zeitweilige Ausschließung von Beteiligten (1) 1Der Vorsitzende soll den Angeklagten für die Dauer solcher Erörterungen von der Verhandlung ausschließen, aus denen Nachteile für die Erziehung entstehen können. 2Er hat ihn von dem, was in seiner Abwesenheit verhandelt worden ist, zu unterrichten, soweit es für seine Verteidigung erforderlich ist. (2) 1Der Vorsitzende kann auch Erziehungsberechtigte und gesetzliche Vertreter des Angeklagten von der Verhandlung ausschließen, soweit 1. erhebliche erzieherische Nachteile drohen, weil zu befürchten ist, dass durch die Erörterung der persönlichen Verhältnisse des Angeklagten in ihrer Gegenwart eine erforderliche künftige Zusammenarbeit zwischen den genannten Personen und der Ju-

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Ostendorf/Schady 14b. DSS/Schatz 42; Eisenberg/Kölbel 28; Ostendorf/Schady 14c. Vgl. Brunner Zbl. 76, 269. BGH bei Herlan GA 64, 106.

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gendgerichtshilfe bei der Umsetzung zu erwartender jugendgerichtlicher Sanktionen in erheblichem Maße erschwert wird, 2. sie verdächtig sind, an der Verfehlung des Angeklagten beteiligt zu sein, oder soweit sie wegen einer Beteiligung verurteilt sind, 3. eine Gefährdung des Lebens, des Leibes oder der Freiheit des Angeklagten, eines Zeugen oder einer anderen Person oder eine sonstige erhebliche Beeinträchtigung des Wohls des Angeklagten zu besorgen ist, 4. zu befürchten ist, dass durch ihre Anwesenheit die Ermittlung der Wahrheit beeinträchtigt wird, oder 5. Umstände aus dem persönlichen Lebensbereich eines Verfahrensbeteiligten, Zeugen oder durch eine rechtswidrige Tat Verletzten zur Sprache kommen, deren Erörterung in ihrer Anwesenheit schutzwürdige Interessen verletzen würde, es sei denn, das Interesse der Erziehungsberechtigten und gesetzlichen Vertreter an der Erörterung dieser Umstände in ihrer Gegenwart überwiegt. 2 Der Vorsitzende kann in den Fällen des Satzes 1 Nr. 3 bis 5 auch Erziehungsberechtigte und gesetzliche Vertreter des Verletzten von der Verhandlung ausschließen, im Fall der Nummer 3 auch dann, wenn eine sonstige erhebliche Beeinträchtigung des Wohls des Verletzten zu besorgen ist. 3Erziehungsberechtigte und gesetzliche Vertreter sind auszuschließen, wenn die Voraussetzungen des Satzes 1 Nr. 5 vorliegen und der Ausschluss von der Person, deren Lebensbereich betroffen ist, beantragt wird. 4Satz 1 Nr. 5 gilt nicht, soweit die Personen, deren Lebensbereiche betroffen sind, in der Hauptverhandlung dem Ausschluss widersprechen. (3) § 177 des Gerichtsverfassungsgesetzes gilt entsprechend. (4) 1In den Fällen des Absatzes 2 ist vor einem Ausschluss auf ein einvernehmliches Verlassen des Sitzungssaales hinzuwirken. 2Der Vorsitzende hat die Erziehungsberechtigten und gesetzlichen Vertreter des Angeklagten, sobald diese wieder anwesend sind, in geeigneter Weise von dem wesentlichen Inhalt dessen zu unterrichten, was während ihrer Abwesenheit ausgesagt oder sonst verhandelt worden ist. (5) Der Ausschluss von Erziehungsberechtigten und gesetzlichen Vertretern nach den Absätzen 2 und 3 ist auch zulässig, wenn sie zum Beistand (§ 69) bestellt sind. (6) 1Werden die Erziehungsberechtigten und die gesetzlichen Vertreter für einen nicht unerheblichen Teil der Hauptverhandlung ausgeschlossen, so ist für die Dauer ihres Ausschlusses von dem Vorsitzenden einer anderen für den Schutz der Interessen des Jugendlichen geeigneten volljährigen Person die Anwesenheit zu gestatten. 2Dem Jugendlichen soll Gelegenheit gegeben werden, eine volljährige Person seines Vertrauens zu bezeichnen. 3Die anwesende andere geeignete Person erhält in der Hauptverhandlung auf Verlangen das Wort. 4Wird keiner sonstigen anderen Person nach Satz 1 die Anwesenheit gestattet, muss ein für die Betreuung des Jugendlichen in dem Jugendstrafverfahren zuständiger Vertreter der Jugendhilfe anwesend sein. (7) Sind in der Hauptverhandlung keine Erziehungsberechtigten und keine gesetzlichen Vertreter anwesend, weil sie binnen angemessener Frist nicht erreicht werden konnten, so gilt Absatz 6 entsprechend. 1. [Hw.]: RL S. 2; § 109 RL 6. – 2. ErwG: RL S. 1; § 104 II.

Richtlinie zu § 51 Im Verfahren gegen Jugendliche vor den für allgemeine Strafsachen zuständigen Gerichten kann § 51 nach dem Ermessen des Gerichts angewendet werden (§ 104 Abs. 2). Im Verfahren gegen Heranwachsende gilt die Vorschrift nicht (§ 109); hier kann das Gericht den Angeklagten nur nach den allgemeinen Verfahrensvorschriften von der Verhandlung ausschließen (vgl. insbesondere § 247 StPO).

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Zeitweilige Ausschließung von Beteiligten

Übersicht 1. 2.

Ausschließung des Angeklagten 1 Ausschließung von Erziehungsberechtigten und 6 gesetzlichen Vertretern

3. 4.

Ausschluss anderer Personen Begleitung durch andere 20 Erwachsene

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1. Ausschließung des Angeklagten Der Angeklagte hat das Recht und die Pflicht (§ 231 StPO), während der ganzen Verhandlung anwesend zu sein. Das Gericht darf grds. (Ausnahme Rn 2) nicht anordnen oder dulden, dass der Angeklagte sich entfernt; grds. kann also weder das Gericht den Angeklagten für einen Teil der Verhandlung beurlauben (§ 231c StPO greift hier idR nicht ein), noch kann dieser auf seine Anwesenheit verzichten1. § 231 II StPO (§ 50, 2) trifft nur den Fall, dass sich der Angeklagte gegen den Willen des Gerichts („dennoch“) entfernt. Deshalb gilt § 51 auch, wenn sich der J auf einen entsprechenden Hinweis des Vorsitzenden „freiwillig“ entfernt2. Ausnahmen nach allg. Recht sind in §§ 247 StPO, 177 GVG iVm § 231b StPO enthalten. § 51 I JGG tritt neben diese Vorschriften3 und erlaubt, J – nicht Hw. – nicht nur für die Beweisaufnahme, sondern für alle dem J uU ErzNachteile bringenden Ausführungen in der Sitzung einschließlich der Schlussvorträge auszuschließen4; dagegen ist Urteilsverkündung und -begründung keine Erörterung iSd § 51 I 15. § 51 I steht neben § 247 StPO und umfasst auch die Verhandlung über die Vereidigung und Entlassung eines Zeugen6. Es kommt nicht nur auf das Thema der Erörterungen an, sondern auch auf den J selbst; ist er schon selbständig und einsichtig, wird seine Ausschließung selten in Frage kommen. Überhaupt ist bei der Ausschließung Zurückhaltung geboten, da sie in grundlegende Rechte eingreift und Misstrauen gegen das Gericht begründen kann. Ausschließung im Interesse der Arbeit der JGH ist nur möglich, wenn sonst Nachteile für die Erz. dieses Angeklagten entstehen könnten7. Vgl. § 38, 37. Bottke8 lehnt Ausschließungen nach Abs. I 1 als „Winkelzüge“ von Pädagogen ab, „deren ErzVerständnis … nur zur Pseudolegitimierung unbeschränkter Machtausübung taugt“, und P.-A. Albrecht9 meint, wenn einem J zugemutet werde, einen Gefängnisaufenthalt zu ertragen, könne er auch die Gründe erfahren, die ihn dorthin bringen. Auch Pollähne10 ist der Ansicht, man solle die §§ 51 I 1 und 54 II äußerst restriktiv, möglichst überhaupt nicht anwenden. Der Ausschluss nach § 51 I erfolgt durch den Vorsitzenden (sonst durch das Gericht: § 247 S. 1 StPO)11, ggf. auf Anregung. Die Anordnung ist in allen Fällen (JGG, StPO) nach Anhörung der Prozessbeteiligten zu verkünden, zu begründen und in der Niederschrift zu vermerken12. Die Maßnahme des Vorsitzenden nach § 51 I 1 kann beim Gericht nur mit der Begründung angefochten werden, sie sei gesetzlich unzulässig (§ 238 II StPO). Wegen der Bedeutung der Anwesenheit kann der Angeklagte seinen vom Vorsitzenden verfügten Ausschluss auch dann

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Zust. Böhm/Feuerhelm S. 73; Ostendorf/Schady 5. AA Dallinger/Lackner 25; Potrykus B 3; vgl. aber BGH 3, 385; NJW 63, 166. BGH NStZ 02, 216 mit Anm. Eisenberg NStZ 02, 331. BGH NStZ 02, 217. Dallinger/Lackner 4; Eisenberg/Kölbel 7; Ostendorf/Schady 5; aA Potrykus B 2. BGH NStZ 02, 216. Dallinger/Lackner 7; Ostendorf/Schady 6; Beulke/Swoboda Rn 786; gegen einen Ausschluss in dieser Konstellation idR Eisenberg/Kölbel 9a. 8 ZStW 83, 91. 9 S. 370. 10 In Rössner, Hrsg., Toleranz – Erz. – Strafe, 1989, S. 115. 11 BGH 4, 364. 12 BGH 4, 364; 15, 194. 381

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mit Revision anfechten (absoluter Revisionsgrund: § 338 Nr. 5 StPO), wenn er die Entscheidung des Gerichts nicht angerufen hat13. 5 Nach der Wiederzulassung muss der Vorsitzende unverzüglich14 den nach § 51 ausgeschlossenen Angeklagten in einer dem Zweck der Ausschließungsvorschrift angepassten, für die Verteidigung genügenden (Art. 103 I GG) Weise unterrichten (Abs. I 2), also bes. alle belastenden Umstände darlegen15, aber auch über entlastende Umstände informieren16. Hartmann-Hilter17 fordert hier wegen der Selektionsbefugnis des Vorsitzenden und um das Fragerecht zu gewährleisten die Bestellung eines Pflichtverteidigers. Bei Ausschluss nach allg. Recht ist „sofort“18 alles Wesentliche mitzuteilen. Die Unterrichtung ist in der Niederschrift zu vermerken. Unterlassung ist Revisionsgrund (§ 338 Nr. 8 StPO)19, und zwar auch im JVerfahren, wenngleich die Anrufung des Gerichts nach § 238 II StPO möglich ist20.

2. Ausschließung von Erziehungsberechtigten und gesetzlichen Vertretern 6 Abs. II sah ursprünglich vor, dass der Vorsitzende auch Angehörige, den ErzBerechtigten und den gesetzlichen Vertreter des Angeklagten von der Verhandlung ausschließen soll, soweit gegen ihre Anwesenheit Bedenken bestehen. Diese Regelung hat das BVerfG mangels hinreichender Bestimmtheit für mit Art. 6 II GG unvereinbar und nichtig erklärt, soweit die Vorschrift die Ausschließung von Personen erlaubt, die elterliche Verantwortung iSv Art. 6 II GG tragen21. Das 2. JuMoG v. 22.12.2006 hat darauf in einem neuen § 51 II die Ausschließung von ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertretern des Angeklagten detailliert geregelt. Abs. II regelt den Ausschluss von ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertretern des Ange7 klagten. Diese können nach Abs. V auch dann ausgeschlossen werden, wenn sie gemäß § 69 zum Beistand bestellt worden sind. Dann ist zu prüfen, ob ein anderer Beistand zu bestellen ist. Zum Ausschluss von ErzBrechtigten und gesetzlichen Vertretern des Verletzten s. Rn 13, zum Ausschluss von anderen Personen vgl. Rn 17 f. Abs. II 1 enthält 5 Ausschlussgründe: Nr. 1 setzt die Befürchtung voraus, dass durch die Erörterung der persönlichen Verhältnisse 8 des Angeklagten in Gegenwart der ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter deren erforderliche künftige Zusammenarbeit mit der JGH bei der Sanktionsumsetzung in erheblichem Maß erschwert wird und deshalb erhebliche erz. Nachteile drohen. Gedacht ist an Fälle, in denen die Erörterung der persönlichen Verhältnisse von den Eltern in hohem Maße als verletzend empfunden wird, sie sich als Versager „vorgeführt“ vorkämen, und deshalb das Verhältnis zwischen den Eltern und der den familiären Hintergrund darlegenden JGH derart gestört wird, dass eine gedeihliche Zusammenarbeit nicht mehr zu erwarten ist22. Durch den Ausschluss soll die erz. Wirkung im Urteil zu treffender Anordnungen gesichert werden23. Die Befürchtung hinsichtlich der erheblichen Erschwerung der Zusammenarbeit erfordert wie in § 67 IV 2 (dort Rn 25) eine nahe liegende und ernsthafte, durch tatsächliche Anhaltspunkte begründete Gefahr. Das Dro-

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Dallinger/Lackner 12; Eisenberg/Kölbel 22; Ostendorf/Schady 13; vgl. BGH 3, 370; BGH 15, 196. BGH 3, 386. Tröndle Zbl. 53, 194. DSS/Schatz 42; Eisenberg/Kölbel 12; Ostendorf/Schady 7. Notwendige Verteidigung … im JStrafverfahren, 1989, S. 82–84. BGH StV 90, 52. BGH 1, 350. Dallinger/Lackner 15; Potrykus B 5. Über Ausnahmen bei fortgesetztem ungebührlichen Verhalten u. bei Mitwirkung eines Verteidigers: BGH NJW 57, 1326. 21 BVerfGE 107, 104 = DVJJ-J 03, 68 mit Anm. Ostendorf; Bspr. Eisenberg/Zötsch GA 03, 226; Grunewald NJW 03, 1995. 22 Begr. RegE, BT-Drs. 16/3038, S. 61. 23 AaO, S. 60. 382

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hen erheblicher erz. Nachteile setzt eine konkrete Gefahr voraus24. Allein die Wahrnehmung von Verfahrensrechten oder abweichende erz. Vorstellungen der Eltern rechtfertigen einen Ausschluss nicht25. Nach Nr. 2 kommt ein Ausschluss beim Verdacht der Beteiligung an der Verfehlung des Angeklagten oder bei einer entsprechenden Verurteilung in Betracht. Wie bei § 67 IV 1 (dort Rn 24) reicht der einfache Tatverdacht aus. Dieser kann sich auch erst während der Hauptverhandlung ergeben. Tatverdacht oder Verurteilung rechtfertigen einen Ausschluss nur, wenn sie zu einer nicht unerheblichen Gefährdung des Kindeswohls oder einer wirksamen Strafverfolgung führen26. Nr. 3 lässt in der 1. Alt. den Ausschluss zu, wenn eine Gefährdung des Lebens, des Leibes oder der Freiheit des Angeklagten, eines Zeugen oder einer anderen Person zu besorgen ist. In Betracht kommen die Gefahr körperlicher Übergriffe gegen den Angeklagten wegen der im Einzelnen bekannt gewordenen Tatbegehung oder von ihm dargestellter familiärer Verhältnisse oder die Befürchtung von Racheakten gegen Zeugen27. Besorgnis ist wie in § 172 Nr. 1a GVG die begründete Möglichkeit, die sich auch aus kriminalistischer Erfahrung ergeben kann28. Nach der 2. Alt. muss eine sonstige erhebliche Beeinträchtigung des Wohls des Angeklagten zu besorgen sein. Das ist der Fall, wenn ein Missbrauch des Sorgerechts durch die Eltern oder eine nachhaltige Beeinträchtigung des Verhältnisses zwischen dem Angeklagten und seinen Eltern droht29. Nach Nr. 4 kann ein Ausschluss erfolgen, soweit zu befürchten ist, dass durch die Anwesenheit der ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter die Ermittlung der Wahrheit beeinträchtigt wird. Dies kommt in Betracht, wenn die Eltern Einfluss auf das Aussageverhalten des Angeklagten nehmen wollen oder wenn dieser es nicht wagt, in Anwesenheit der Eltern seinen Tatbeitrag, sein Tatmotiv oder sein Verhältnis zu den Eltern zu schildern30. Prozessordnungsgemäßes Verhalten der Eltern kann allein den Ausschluss nicht rechtfertigen31. Wünscht der Angeklagte, dass sich die Eltern entfernen, gibt das dem Richter Anlass zur näheren Prüfung32. Nr. 4 kann auch eingreifen, wenn aufgrund der Anwesenheit der ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter eine Beeinflussung ihrer späteren Zeugenaussage zu befürchten ist. In diesen Fällen ist nach dem BVerfG33 und dem BGH34 ein Ausschluss auch nach §§ 58 I, 243 II 1 StPO möglich. Der Begriff des Befürchtens ist in Nr. 4 ebenso zu verstehen wie in Nr. 1 (dazu Rn 8). Nr. 5 lässt den Ausschluss zu, wenn Umstände aus dem persönlichen Lebensbereich eines Verfahrensbeteiligten, Zeugen oder Verletzten zur Sprache kommen, deren Erörterung in Anwesenheit der ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter schutzwürdige Interessen verletzen würde, es sei denn, das Anwesenheitsinteresse der ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter überwiegt. Eine Verletzung schutzwürdiger Interessen kommt insbes. bei der Erörterung von Tatsachen aus der Intimsphäre in Betracht35. Bei mehreren Angeklagten kann ein Ausschluss der Eltern der Mitangeklagten geboten sein36. Stets muss eine Abwägung mit dem Anwesenheitsinteresse der ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter vorgenommen werden. Nach der Gesetzesbegründung besteht ein Regel-Ausnahme-Verhältnis: Das Anwesenheitsinteresse kann

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AaO, S. 60. BVerfGE 107, 104, 121 f. Begr. RegE aaO, S. 61; Eisenberg/Kölbel 16. Begr. RegE aaO, S. 61. Vgl. Löwe/Rosenberg/Wickern26 § 172 GVG 13. Begr. RegE aaO, S. 61. Begr. RegE aaO, S. 62. Eisenberg/Kölbel 18. Begr. RegE aaO. BVerfGE 107, 104, 125. LM § 67 JGG Nr. 1 = NJW 56, 520 (LS). Eisenberg/Kölbel 19b. Begr. RegE aaO, S. 63.

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ausnahmsweise überwiegen37. Ist das nicht der Fall, wird der Ausschluss regelmäßig angezeigt sein, kann aber unterbleiben, wenn etwa die Sachaufklärung die Erörterung der persönlichen Umstände in Anwesenheit der Eltern gebietet38. Liegen die Voraussetzungen der Nr. 5 vor und stellt die Person, deren Lebensbereich betroffen ist, den Antrag auf Ausschluss, hat dieser nach S. 3 zu erfolgen. Andererseits darf nicht ausgeschlossen werden, wenn die Person, deren Lebensbereich betroffen ist, in der Hauptverhandlung dem Ausschluss widerspricht (S. 4). Nach S. 2 können unter den Voraussetzungen von S. 1 Nr. 3 bis 5 auch ErzBerechtigte und gesetzliche Vertreter des Verletzten ausgeschlossen werden. Dies ist in den Fällen der Nr. 3 auch dann möglich, wenn eine erhebliche Beeinträchtigung des Wohls des Verletzten zu besorgen ist. Wie das Wort „soweit“ in Abs. II S. 1 zeigt, ist ein Ausschluss regelmäßig nur zeitweilig, beschränkt auf einen genau zu bezeichnenden Verhandlungsteil, zulässig. Ein Ausschluss für die gesamte Verhandlungsdauer kommt nur ausnahmsweise in Betracht39. Die Ausschluss-Regelung ist als Kann-Bestimmung ausgestaltet. Das Vorliegen der Voraussetzungen der Nr. 1 bis 5 führt daher nicht zwingend zum Ausschluss (vgl. aber Rn 12 aE). Der Vorsitzende muss daher in jedem Einzelfall die durch die Ausschlussgründe geschützten Interessen mit dem Elternrecht abwägen40. Nach Abs. III gilt § 177 GVG entsprechend. Bei schweren Ordnungsstörungen können daher auch ErzBerechtigte und gesetzliche Vertreter aus dem Sitzungssaal entfernt werden. Die Entziehung von über das Anwesenheitsrecht hinausgehenden Verfahrensrechten ist nur nach § 67 IV möglich. Für Verfahren und Form des Ausschlusses gilt Folgendes: Vor einem Ausschluss hat der Vorsitzende nach Abs. IV 1 auf ein einvernehmliches Verlassen des Sitzungssaals hinzuwirken. Nur wenn eine gütliche Einigung nicht gelingt, kommt als ultima ratio der Ausschluss in Frage41. Der Ausschluss der ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter erfolgt wie der des Angeklagten (Rn 3, 4) und ist, wenn er zu Unrecht erfolgt, (relativer) Revisionsgrund. Sind die ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter des Angeklagten wieder im Sitzungssaal anwesend, hat der Vorsitzende sie nach Abs. IV S. 2 über den wesentlichen Inhalt des in ihrer Abwesenheit Ausgesagten oder sonst Verhandelten zu unterrichten. Wesentlich ist, was zur wirksamen Wahrnehmung der Verteidigungsrechte erforderlich ist42. Die Unterrichtung hat „in geeigneter Weise“ zu erfolgen, darf also den Grund für den Ausschluss nicht nachträglich konterkarieren43. Reicht die nachträgliche Unterrichtung oder die Anwesenheit einer anderen geeigneten volljährigen Person (Rn 20–22) zur Wahrnehmung der Verteidigungsrechte nicht aus, ist nach § 68 Nr. 3 ein Pflichtverteidiger zu bestellen (§ 68, 23).

3. Ausschluss anderer Personen 17 BewHelfer, Betreuungshelfer, ErzBeistand und Heimleiter, die nach § 48 II 1, 2 ein Anwesenheitsrecht haben, können entsprechend § 51 II von der Hauptverhandlung (dazu aber auch § 48, 13) ausgeschlossen werden, weil deren Anwesenheitsrecht nicht stärker sein kann als das der in § 51 II genannten Personen44. Dies gilt auch für den Verletzten, soweit dieser nicht nach § 80 III zur Nebenklage befugt ist. Angehörige, die nicht ErzBerechtigte und gesetzliche Vertreter sind, sowie andere Personen, denen die Anwesenheit gem. § 48 II 3 gestattet wurde, können durch Widerruf der Zulassung (§ 48, 22) entfernt werden. – Zum Ausschluss von Zeugen § 48, 14. 37 38 39 40 41 42 43 44

AaO. AaO. Begr. RegE aaO, S. 60. AaO. Begr. RegE. aaO, S. 64. Eisenberg/Kölbel 24a. Begr. RegE aaO. Dallinger/Lackner 18; Eisenberg/Kölbel 20; Ostendorf/Schady 10. 384

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18 StA, Verteidiger und Vertreter der JGH dürfen nicht entfernt werden. § 51 kann und soll auch das ErwGericht nach seinem Ermessen anwenden (RL S. 1; RL 1 zu 19 § 104; § 104, 3). Die Vorschrift gilt entsprechend für das Anwesenheitsrecht bei Untersuchungshandlungen außerhalb der Hauptverhandlung45.

4. Begleitung durch andere Erwachsene Der durch das G zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im JStrafverfahren vom 9.12.2019 (dazu Einf. 136) zur Umsetzung von Art. 7 Abs. II der Richtlinie (EU) 2016/800 eingefügte Abs. VI sieht vor, dass bei Ausschluss der ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter nach Abs. II 1 für einen nicht unerheblichen Teil der Hauptverhandlung der Vorsitzende einer anderen für den Schutz des J geeigneten volljährigen Person die Anwesenheit zu gestatten hat. Die Ersatzperson soll die sonst den ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertretern obliegende Schutz- und Beistandsfunktion für den J wahrnehmen46. Bei ihr sollte es sich möglichst um eine Vertrauensperson handeln, die den J und seine Situation kennt47. Nach Abs. VI 2 soll dem J Gelegenheit gegeben werden, eine volljährige Person seines Vertrauens zu bezeichnen. Der Benennung durch den J muss nicht zwingend Folge geleistet werden, entscheidend bleibt die Eignung der Person48. Auch bei grds. Eignung können andere sachliche Gründe, insbes. Ausschlussgründe nach Abs. II 1, zur Ablehnung des von dem J benannten Erw. führen49. Nach Abs. VI 3 hat die Ersatzperson ein Äußerungsrecht. Weitere Verfahrensrechte stehen ihr nicht zu. Sie tritt nicht in die Rechtsstellung der ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter ein und hat nicht die Rechte eines Verteidigers oder eines Beistandes nach § 6950. Wird keiner Ersatzperson nach Abs. VI 1 die Anwesenheit gestattet, muss gem. Abs. VI 4 ein für die Betreuung des J in dem JStrafverfahren zuständiger Vertreter der JHilfe anwesend sein. Ein Verzicht auf die Anwesenheit der JGH in der Hauptverhandlung nach § 38 VII kommt in diesem Fall nicht in Betracht51. Sollte im Einzelfall der Schutz des J durch die Ersatzperson oder den Vertreter der JGH nicht ausreichend sein, muss das JGericht von Amts wegen prüfen, ob ein Beistand (§ 69) oder ein Pfleger (§ 67 IV 3) zu bestellen ist52. Nach Abs. VII gilt Abs. VI entsprechend, wenn in der Hauptverhandlung keine ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter anwesend sind, weil sie binnen angemessener Frist nicht erreicht werden konnten. Hiermit wird Art. 15 Abs. II Unterabs. 1 Buchstabe b) der Richtlinie (EU) 2016/800 umgesetzt. Die Unerreichbarkeit der ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter kann sich daraus ergeben, dass ihr tatsächlicher Aufenthalt nicht ermittelt werden konnte oder dass ihre Identität unbekannt geblieben ist53. Aus der Gesetzesformulierung, dass die ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter „nicht erreicht werden konnten“ (nicht lediglich „nicht erreicht wurden“) ergibt sich, dass angemessene Anstrengungen zur Aufenthalts- bzw. Identitätsermittlung unternommen werden müssen54. Bei der Bestimmung der angemessenen Frist sind verfahrensbezogene Erfordernisse, insbes. das dem Kindeswohl dienende Beschleunigungsinteresse, und der zeitliche Vorlauf, der erforderlich ist, um den Betroffenen das Erscheinen zu ermöglichen, abzuwä45 Dallinger/Lackner 27; Eisenberg/Kölbel 3; Bedenken bei Nothacker S. 325 FN 247, da § 51 I eng auszulegen sei; abl. Ostendorf/Schady 2. 46 DSS/Schatz 46. 47 DSS/Schatz 48; Eisenberg/Kölbel 25a; Ostendorf/Schady 14b. 48 Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 53; vgl. auch Eisenberg/Kölbel 25a: Abweichung von der Benennung nur bei konkreten Gründen. 49 Begr. RegE aaO. 50 Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 53 f; DSS/Schatz 50; Eisenberg/Kölbel 25a; Ostendorf/Schady 14 f. 51 Begr. RegE aaO, S. 54; DSS/Schatz 51; Eisenberg/Kölbel 25b; Ostendorf/Schady 14g. 52 Begr. RegE aaO; DSS/Schatz 52; Ostendorf/Schady 14g. 53 Ostendorf/Schady 14h. 54 Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 54; DSS/Schatz 54; Ostendorf/Schady 14h. 385

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gen55. Die Vorschrift greift nicht ein, wenn die ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter rechtzeitig eine Ladung bzw. Terminnachricht erhalten haben, aber – aus mangelndem Interesse oder weil sie ihre Anwesenheit nicht für erforderlich halten – nicht zur Hauptverhandlung erschienen sind56. Das folgt aus dem Gesetzeswortlaut, nach dem die Abwesenheit gerade auf der Nichterreichbarkeit beruhen muss („weil“), und der Gesetzesbegründung57.

§ 51a Neubeginn der Hauptverhandlung Ergibt sich erst während der Hauptverhandlung, dass die Mitwirkung eines Verteidigers nach § 68 Nummer 5 notwendig ist, so ist mit der Hauptverhandlung von neuem beginnen, wenn der Jugendliche nicht von Beginn der Hauptverhandlung an verteidigt war. 1. Hw.: § 109 I 1. – 2. [ErwG]: Rn. 1.

1 Die Vorschrift wurde durch das G zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten in JStrafverfahren v. 9.12.2019 (dazu Einf. 136) zur Umsetzung von Art. 6 Abs. VI Unterabs. 3 der Richtlinie (EU) 2016/800 eingefügt, nach der Freiheitsentzug als Strafe nur verhängt werden darf, wenn der J während der Hauptverhandlung durch einen Rechtsbeistand unterstützt worden ist. Die Regelung gilt nach § 109 I 1 auch für Hw. Vor dem ErwG findet sie keine Anwendung. In Verfahren vor dem OLG nach § 102 S. 1 und vor dem LG gem. § 103 II 2 liegt bereits vor Beginn der Hauptverhandlung nach § 68 Nr. 1 iVm § 140 I Nr. 1 StPO ein Fall notwendiger Verteidigung vor, und im Fall der Widerklage gegen einen j. Privatkläger gem. § 80 II 1 darf nach § 80 II 2 nicht auf JStrafe erkannt werden1. 2 Die Vorschrift greift ein, wenn nach Beginn einer Hauptverhandlung (§ 243 I 1 StPO) ohne Mitwirkung eines Verteidigers die ursprünglich nicht gegebene Erwartung einer stationären Sanktion iSd § 68 Nr. 5 entsteht2. Auch wenn die freiheitsentziehende Rechtsfolge objektiv bereits zu Beginn der Hauptverhandlung zu erwarten war, das Gericht dies aber erst später erkennt, ist die Vorschrift anzuwenden3. Die Erwartung einer stationären Sanktion umfasst die JStrafe mit und ohne Vollstreckungsaussetzung und mit vorbehaltener Entscheidung über die Vollstreckungsaussetzung (§§ 61 ff), die Aussetzung der Verhängung der JStrafe (§ 27) sowie die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt (§ 7 I iVm §§ 63, 64 StGB)4. Die Erwartung von JA wird nicht erfasst5. 3 Liegen die genannten Voraussetzungen vor, ist eine vollständig neue Hauptverhandlung durchzuführen, so als hätte die vorangegangene Verhandlung nicht stattgefunden6. Es reicht nicht aus, die laufende Hauptverhandlung fortzusetzen und die wesentlichen Teile zu wiederholen, denn hierdurch wird nach Auffassung des Gesetzgebers die EU-Richtlinie (Rn. 1) nicht ausreichend umgesetzt7. Äußerungen des Angeklagten in der abgebrochenen Hauptverhandlung

55 Begr. RegE aaO; DSS/Schatz 55. 56 Begr. RegE aaO; DSS/Schatz 56; Ostendorf/Schady 14i; aA Eisenberg/Kölbel 25d. 57 Ostendorf/Schady 14i mit FN 61. 1 Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 28; DSS/Schatz 4; Ostendorf/Schady 1. 2 Eisenberg/Kölbel 3. 3 Eisenberg/Kölbel 5; Ostendorf/Schady 5. 4 DSS/Schatz 7–9; Ostendorf/Schady 4. 5 DSS/Schatz 10; Ostendorf/Schady 4. 6 DSS/Schatz 11; Eisenberg/Kölbel 4; Ostendorf/Schady 6, 7. 7 Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 27 f; DSS/Schatz 12; Ostendorf/Schady 6. 386 https://doi.org/10.1515/9783110686401-062

Anrechnung von Untersuchungshaft bei Jugendstrafe

§ 52a

können bei Wiederholung in der neuen Verhandlung nach qualifizierter Belehrung verwertet werden8. Die Nichtbeachtung des § 51a führt zum absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO9. 4

§ 52 Berücksichtigung von Untersuchungshaft bei Jugendarrest Wird auf Jugendarrest erkannt und ist dessen Zweck durch Untersuchungshaft oder eine andere wegen der Tat erlittene Freiheitsentziehung ganz oder teilweise erreicht, so kann der Richter im Urteil aussprechen, daß oder wieweit der Jugendarrest nicht vollstreckt wird. 1. Hw.-J: RL 2 HS. 2; § 109 II 1; § 112 S. 1, 2. – 2. ErwG: RL 2 HS 1; § 104 I Nr. 5. Anmerkungen und Richtlinien nach § 52a.

§ 52a Anrechnung von Untersuchungshaft bei Jugendstrafe 1 Hat der Angeklagte aus Anlaß einer Tat, die Gegenstand des Verfahrens ist oder gewesen ist, Untersuchungshaft oder eine andere Freiheitsentziehung erlitten, so wird sie auf die Jugendstrafe angerechnet. 2Der Richter kann jedoch anordnen, dass die Anrechnung ganz oder zum Teil unterbleibt, wenn sie im Hinblick auf das Verhalten des Angeklagten nach der Tat oder aus erzieherischen Gründen nicht gerechtfertigt ist. 3Erzieherische Gründe liegen namentlich vor, wenn bei Anrechnung der Freiheitsentziehung die noch erforderliche erzieherische Einwirkung auf den Angeklagten nicht gewährleistet ist.

1. Hw.-J: RL 2 HS. 2; § 109 II; § 112 S. 1, 2. – 2. ErwG: RL 2 HS 1; § 104 I Nr. 5.

Richtlinien zu §§ 52 und 52a 1. 2.

Als eine andere wegen der Tat erlittene Freiheitsentziehung im Sinne von §§ 52, 52a Abs. 1 Satz 1 ist namentlich die Unterbringung in einem Heim oder einer Anstalt nach § 71 Abs. 2, § 72 Abs. 4 und § 73 anzusehen. Die §§ 52, 52a gelten auch im Verfahren gegen Jugendliche vor den für allgemeine Strafsachen zuständigen Gerichten (§ 104 Abs. 1 Nr. 5), im Verfahren gegen Heranwachsende nur, wenn das Gericht Jugendstrafrecht anwendet (§ 109 Abs. 2).

Schrifttum Wenzel Die Anrechnung vorläufiger Freiheitsentziehungen auf strafrechtliche Rechtsfolgen, 2004.

Übersicht 1. 2.

Allgemeines 1 Anrechnung bei JA

3. 8

Anrechnung bei 12 JStrafe

8 Eisenberg/Kölbel 4; Ostendorf/Schady 7; vgl. aber auch DSS/Schatz 13, wonach der Gesetzgeber von der Normierung eines Verwertungsverbots abgesehen hat. 9 Eisenberg/Kölbel 6; Ostendorf/Schady 8. 387 https://doi.org/10.1515/9783110686401-064

§ 52a

2. Teil. Jugendliche

1. Allgemeines 1 Die Vorschriften dienen dem Ziel, überzogene, weil mit dem ErzZweck unvereinbare, Sanktionen zu verhindern, und sind Ausdruck der Idee der Gerechtigkeit, nach der im Zuge des Verfahrens erlittene Freiheitseinbußen grds. nicht unberücksichtigt bleiben dürfen1. Bei ihrer Auslegung ist die Bedeutung des Grundrechts der Freiheit der Person nach Art. 2 II 2 GG zu berücksichtigen2. Berücksichtigt kann nicht nur UHaft werden, sondern auch jede andere wegen der Tat erlittene Freiheitsentziehung (§ 39 I, III StVollstrO); z.B. Unterbringung in einem Heim oder einer Anstalt (RL 1; §§ 71 II, 72 IV; § 39 I, III Nr. 3 StVollstrO)3, Unterbringung zur Beobachtung (§ 73; § 81 StPO)4, einstweilige Unterbringung (§ 126a StPO), vorläufige Festnahme (§ 127 StPO), Vorführungshaft (§ 230 II StPO), Abschiebehaft vor Rechtskraft der Entscheidung5, Auslieferungs- und Zulieferungshaft6 (§ 1, 10) und Festhaltung durch den Entsendestaat nach Art. VII Abs. 5 des Nato-Truppenstatuts7, wenn der Gewahrsamsvollzug mit einer der UHaft vergleichbaren Freiheitsentziehung verbunden war (nicht bei bloßer Ausgangssperre: „restriction“)8, gleich ob ein förmlicher deutscher Haftbefehl bestanden hat9. Zum Disziplinararrest bei Soldaten § 39 I, III Nr. 4 StVollstrO; § 112a, 1110. Freiheitsentziehung ist auch gegeben, wenn der Betroffene am Verlassen eines bestimmten Ortes durch psychischen Zwang gehindert wird, z.B. bei einem Aufenthalt in der „JGerichtlichen Unterbringung“ aufgrund einer Weisung gem. § 116 I StPO11 oder bei einer mit einem außer Vollzug gesetzten Beschluss nach § 126a StPO verbundenen Auflage an den Betroffenen, sich in einer psychiatrischen Klinik aufzuhalten, wobei der Unterbringungsbeschluss bei Verstoß gegen die Auflage wieder in Vollzug gesetzt werden soll12. Keine Freiheitsentziehung ist der auf einer mit Zustimmung des J erteilten Weisung beruhende Aufenthalt in einer offenen Wohneinrichtung der Kinder- und JHilfe in einer BewZeit13. Festhaltung jeglicher Art kann nur insoweit angerechnet werden, als sie bis zum Eintritt der Rechtskraft des Urteils erfolgt ist14. 2 Die Haft muss aus Anlass einer Tat erlitten sein, die Gegenstand des Verfahrens ist oder gewesen ist15; dass aber die Strafe allein oder jedenfalls mit wegen der Tat verhängt worden ist, deretwegen UHaft angeordnet war, ist nicht notwendig16; es genügt also Verurteilung im gleichen Verfahren, auch wenn die Tat erst nach Verbüßung der UHaft begangen war17. Zur Anrechnung bedarf es nicht notwendigerweise einer förmlichen Verfahrensverbindung; ausreichend ist eine funktionale Verfahrenseinheit, die bei einem irgendwie gearteten sachlichen Bezug zwischen den Verfahren gegeben ist, insbes. wenn sich die vorläufige Freiheitsentziehung in dem einen Verfahren auf den Gang oder den Abschluss des anderen Verfahrens konkret ausge1 2 3 4 5 6 7

BVerfG NStZ 99, 570; 00, 278; Ostendorf/Schady Grdl. zu §§ 52–52a, 4. BVerfG NStZ 99, 125; 570; 00, 278. BGH NStZ 07, 43; offen gelassen vom OLG Brandenburg NStZ-RR 03, 344 für Unterbringung in offener Einrichtung. BGH 4, 326, auch wenn freiwillig unterzogen. OLG Frankfurt NJW 80, 537. LG Stuttgart NStZ 86, 362. OLG Frankfurt NJW 73, 2218; OLG Hamm JMBl. NRW 74, 166; OLG Koblenz NJW 74, 2193; OLG Zweibrücken MDR 76, 68; Marenbach NJW 74, 394. 8 OLG Zweibrücken NJW 75, 209. 9 BGH Urt. v. 13.6.1978 – 1 StR 108/78. 10 Ebenso insgesamt Eisenberg/Kölbel § 52, 8; Ostendorf/Schady § 52, 5, 6. 11 BGH NStZ-RR 14, 59. 12 BVerfG NStZ 99, 570. 13 KG NStZ-RR 13, 291. 14 OLG Düsseldorf JMBl. NRW 90, 42 für UHaft. 15 Verfahrenseinheit; vgl. OLG Celle NJW 89, 1817. 16 BVerfG NStZ 00, 277; BGH 28, 29; BGH B NStZ 84, 447. 17 BGH 28, 29 = JR 79, 73 mit zust. Anm. Tröndle; LG Offenburg NStZ-RR 03, 351, 352; Eisenberg/Kölbel 9, Ostendorf/ Schady 7, je zu § 52. 388

Anrechnung von Untersuchungshaft bei Jugendstrafe

§ 52a

wirkt hat18, z.B. bei Einstellung des Verfahrens mit UHaft nach § 154 II StPO im Hinblick auf das Verfahren mit der Verurteilung19 oder bei Überhaftnotierung in dem Verfahren mit Verurteilung wegen Vollstreckung eines Haftbefehls aus einem anderen Verfahren20. Ein Verfahrenszusammenhang liegt auch vor, wenn ein J wegen einer Tat, die im Falle ihres Erwiesenseins zu einer einheitlichen Rechtsfolge nach § 31 II geführt hätte, UHaft verbüßt hat und dann freigesprochen wird21. Die Berücksichtigung der UHaft in der Tatsacheninstanz geschieht nur gem. §§ 52, 52a. Die Tatsache, dass UHaft verbüßt wurde, darf bei der Festsetzung des JA und der JStrafe nicht berücksichtigt werden, denn an sich bestünde z.B. kein Anlass, überhaupt JA zu verhängen, wenn sein Zweck schon erreicht ist (Rn 9; Einf. 102)22. Die Anrechnung von UHaft oder anderer Freiheitsentziehung (vgl. § 39 III StVollstrO) auf JA setzt die ausdrückliche Anrechnung durch den erkennenden Richter voraus. Die Anrechnung auf JStrafe erfolgt dagegen kraft Gesetzes, soweit keine abweichende richterliche Anordnung nach § 52a S. 2 ergeht. Zum Tenor § 54, 9. Auch die in § 51 III StGB vorgesehene und auch im JStrafrecht nach § 2 II anwendbare Anrechnung von im Ausland erlittener Freiheitsentziehung erfolgt von Gesetzes wegen, soweit es nicht in Ausnahmefällen der Klarstellung der Anrechenbarkeit bedarf23. Festlegen muss das Gericht allerdings nach § 51 IV 2 StGB den Anrechnungsmaßstab24. §§ 52, 52a beziehen sich auf Freiheitsentziehungen, die bis zur Verkündung des die Tatsacheninstanz abschließenden Urteils erlitten wurden, im Revisionsverfahren gilt nur § 52a S. 1 (entsprechend § 51 StGB), ohne dass es eines bes. Urteilsausspruches hierüber bedarf25. Er gilt auch für die Zeit zwischen Urteil und Rechtsmittelzurücknahme26 und bei Verwerfung der Revision nach § 346 StPO27. Nach dem letzten Tatsachenurteil erlittene UHaft ist somit grds. anzurechnen, selbst wenn die bis zum Urteil erlittene UHaft nicht angerechnet worden ist28. Die Entscheidungen nach §§ 52 und 52a S. 2, 3 kann das Revisionsgericht grds. nicht treffen29. Ist das Urteil für den Angeklagten unanfechtbar geworden, wird die UHaft nach § 450 I StPO angerechnet. Dies gilt auch, wenn nur der gesetzliche Vertreter oder ErzBerechtigte das Urteil angefochten hat; übernimmt allerdings der volljährige Hw. das Rechtsmittel, so ist § 450 I StPO nicht mehr anwendbar30.

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2. Anrechnung bei JA Auf JA wird die UHaft dadurch angerechnet, dass er ohne Rücksicht auf die UHaft verhängt, 8 aber angeordnet wird, dass der JA ganz oder zum Teil nicht vollstreckt wird. Zur Urteilsfassung § 54, 9; zur Anwendung des § 450 StPO: § 87, 7. Vgl. auch Rn 10.

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BVerfG NStZ 00, 278; BGH 43, 116, 119 = NStZ 98, 134 mit Anm. Stree; OLG Karlsruhe MDR 93, 66. BVerfG aaO; OLG Nürnberg NStZ 90, 406. BGH 43, 120. BVerfG aaO. BGH 7, 216. BGH StV 85, 503; DSS/Schatz 12; Eisenberg/Kölbel 9; Ostendorf/Schady 9; aA OLG Oldenburg NJW 82, 2741. DSS/Schatz 12; vgl. LG Zweibrücken NStZ-RR 97, 206; LG Berlin StV 98, 347: Anrechnung in Kenia bzw. Bulgarien erlittener Haft auf JStrafe jeweils im Verhältnis 1: 3. 25 BGH NJW 72, 730; Löwe/Rosenberg/Graalmann-Scheerer26 § 450 StPO 24. 26 OLG Frankfurt NJW 70, 1140; OLG München NJW 70, 1141 u. NJW 71, 2275. 27 LG Osnabrück Rpfl. 71, 184 mit teilw. abl. Anm. Pohlmann. 28 Eisenberg/Kölbel § 52, 3. 29 DSS/Schatz § 52, 2; Ostendorf/Schady § 52, 3 verweisen auf § 52 iVm § 458 StPO. 30 LG Bamberg NJW 67, 68 mit zust. Anm. Kaiser. 389

§ 52a

2. Teil. Jugendliche

Voraussetzung ist, dass der Zweck des JA (§ 16, 1) durch die UHaft ganz oder zum Teil erreicht ist; es kommt auf die Persönlichkeit des J, Dauer und Art (auch örtliche Vollzugsverhältnisse) der UHaft sowie die Wirkung hinsichtlich des künftigen Verhaltens an. Einen wichtigen Hinweis gibt der Bericht der UHaftanstalt oder die Vernehmung des betreffenden Beamten, falls der J den Inhalt des Berichts auf Vorhalt nicht anerkennt (§§ 250, 256 StPO). Bei Beachtung des Subsidiaritätsprinzips (Einf. 102) und des in § 52a S. 1 normierten Prin10 zips grds. Anrechnung ist der erlittene Freiheitsentzug grds. zu berücksichtigen31. Von der Vollstreckung des JA kann auch dann ganz abgesehen werden, wenn dessen Dauer den Zeitraum der UHaft übersteigt32. Es kommt bei § 52 nicht auf eine formale Verrechnung, sondern auf die materielle Prüfung an, ob der Zweck des JA erreicht ist. Das kann auch bei einer in der Dauer kürzeren UHaft der Fall sein. Eine Anfechtung des auf JA lautenden Urteils wegen der Nichtberücksichtigung der UHaft 11 ist nicht möglich, weil die Frage der Anrechnung der UHaft nur die Frage betrifft, in welchem Umfang JA angeordnet ist, diese Frage aber der Anfechtung durch § 55 I entzogen ist33. Wird aber geltend gemacht, die Anordnung sei gesetzeswidrig, ist ein Rechtsmittel zulässig (§ 55, 21)34. Es soll auch gesetzeswidrig sein, wenn weder im Tenor noch in den Gründen des Urteils zur Anwendung des § 52 etwas gesagt wird35. Wird aber ein JA zusammen mit einer nicht § 55 I 1 unterfallenden Sanktion angeordnet, so wird wegen der gebotenen Gesamtwürdigung auch das Absehen der Anrechnung nach § 52 anfechtbar36. 9

3. Anrechnung bei JStrafe 12 Bei JStrafe wird die UHaft grds. angerechnet (§ 52a S. 1)37. Es entspricht der Erfahrung, dass eine erz. Gestaltung der UHaft sich in der Praxis als schwer durchführbar erweist38. Meist erschöpft sich die erz. Einwirkung im Schock der – ersten – Einsperrung und führt selten zu echter Selbstbesinnung. Der Richter erfährt im Wesentlichen nur von bes. Verstößen der Häftlinge in der UHaft, die unter Berücksichtigung der Persönlichkeit und des psychischen Hintergrundes allg. Beurteilung dienen können (vgl. Rn 14). Die bei J an sich vorzuziehende einstweilige Unterbringung in einem ErzHeim nach §§ 71 II, 72 IV scheiterte bisher in der Praxis häufig an dem Mangel an Heimplätzen und ist bei Hw. ausgeschlossen (§ 109 I). Dies alles darf nicht zu Lasten des J und Hw. gehen. Es entspricht dem bes. ErzAuftrag des JStrafrechts, dass die Anrechnung der UHaft, wie sich aus § 52a S. 2, 3 ergibt, vom Richter unter der Leitlinie des S. 1 faktisch doch angeordnet werden muss und er in jedem Einzelfall die Entscheidung sorgfältig zu prüfen und zu begründen hat39. Es entspricht dem Primat der Erz. im JStrafrecht, dass auch der Vollzug der UHaft erz. zu 13 gestalten ist, wenn sie schon nicht vermieden werden kann. Gleichwohl ist es auch im JStrafrecht der alleinige Zweck einer derart erz. gestalteten UHaft, die Durchführung des Verfahrens zu sichern. Entsprechend dieser Prämisse ist zu prüfen, ob nach S. 2 das Verhalten des J nach der Tat oder erz. Gründe es gebieten, die erlittene UHaft ganz oder zum Teil ausnahmsweise

31 Dallinger/Lackner 6; Eisenberg/Kölbel 10; Ostendorf/Schady 9 je zu § 52. 32 OLG Hamburg NStZ 83, 78 u. 93 mit Anm. Walter NStZ 83, 367 = JR 83, 170 mit Anm. Eisenberg; DSS/Schatz 16; Eisenberg/Kölbel 11; Ostendorf/Schady 11 je zu § 52; Stein BewH 84, 83.

33 OLG Hamburg aaO; LG Tübingen MDR 61, 170; Dallinger/Lackner § 52, 9; Burscheidt S. 122 f; aA Eisenberg JR 83, 172 u. 13; Nothacker S. 327. OLG Hamburg aaO. Ostendorf/Schady § 52, 12 mwN. BGH B NStZ 84, 447; Ostendorf/Schady aaO. OLG Stuttgart StV 87, 308. Zirbeck Die UHaft bei J u. Hw., Diss. Göttingen 1973; Ostendorf/Schady § 52, 8. Zust. Eisenberg/Kölbel § 52a, 8a: „Anrechnung Regelfall“.

34 35 36 37 38 39

390

Anrechnung von Untersuchungshaft bei Jugendstrafe

§ 52a

nicht anzurechnen40. Entscheidend ist, was unter „Verhalten nach der Tat“ im Einzelnen zu verstehen ist. Nach der Begründung des RegE zum EGStGB41 ist § 52a S. 2 bewusst dem § 51 I 2 StGB nachgebildet, sodass die Rechtsprechung zu letzterer Vorschrift auch zur Bestimmung des „Verhaltens nach der Tat“ im JStrafrecht heranzuziehen ist42. Es ist deshalb dem BGH43 zu folgen, wonach die Nichtanrechnung von UHaft nur durch ein 14 Verhalten nach der Tat gerechtfertigt ist, das nicht der Verteidigung des J dient, sondern darauf abzielt, die UHaft zu verlängern, um sich durch deren spätere Anrechnung ungerechtfertigte Vorteile bei der Strafvollstreckung zu sichern oder das Verfahren böswillig zu verschleppen44. Dem J darf nicht angelastet werden, dass er keine das Verfahren fördernden Handlungen vorgenommen oder keine Bereitschaft gezeigt hat, zu den Hintergründen der eingestandenen Tat Auskunft zu erteilen45. Auch das Leugnen der Tat rechtfertigt die Nichtanwendung regelmäßig nicht46. Widerstand des J gegen erz. Maßnahmen im Vollzug der UHaft, wie auch notwendige Disziplinarmaßnahmen, genügen ebenfalls nicht. Die beiden Gründe für die Nichtanrechnung der UHaft in Abs. I 2 dürfen nicht vermengt, der ErzGedanke für das „Verhalten nach der Tat“ nicht herangezogen werden47. Erz. Gründe rechtfertigen die Nichtanrechnung der UHaft also grds. nur dann48, wenn bei 15 Anrechnung der UHaft die verbleibende Dauer der JStrafe für die noch erforderliche erz. Einwirkung nicht mehr ausreicht (§ 18, 13)49. Dies erfordert die nach § 18 II vorgeschriebene Bemessung der JStrafe und wird bes. deutlich, wenn die Mindestjugendstrafe von 6 Monaten in Betracht kommt. Hierdurch wird der J zugleich hinsichtlich des Maßes der JStrafe mit uU ungünstigeren registerlichen Folgen entlastet. Gerade in der Berufungsinstanz kann der Zeitablauf in Einzelfällen den der Erz. in der JStrafanstalt verbleibenden Zeitraum unter das notwendige Maß herabsinken lassen. Eisenberg/Kölbel50 wenden ein, „dass generell eine positiv zu beurteilende Einwirkung des JStrafvollzugs kaum angenommen werden kann“; ähnlich Ostendorf/Schady51. Dem kann in solcher Generalisierung nicht zugestimmt werden. Der Nichtanrechnung der UHaft unter dem Gesichtspunkt zu kurzer Reststrafzeit können jedoch eine positive erzieherische Wirkung der UHaft und eine günstige Prognose entgegenstehen52. Insbes. bei sehr guter Prognose muss näher dargelegt werden, warum die bei Anrechnung der UHaft verbleibende Zeit zur erz. Einwirkung nicht ausreicht53. Das Ausbleiben einer erz. Wirkung einer freiheitsentziehenden Maßnahme darf nicht zur Nichtanrechnung der Freiheitsentziehung führen. Vielmehr ist die JStrafe so zu bemessen, dass sie auch bei Anrechnung ihre erz. Wirkung noch entfalten kann54. Schweigt das Urteil völlig über die Frage der Anrechnung der UHaft (Rn 4), ist davon aus- 16 zugehen, dass sie nach § 52a S. 1 angerechnet sein soll55.

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Für Streichung von § 52a S. 2 u. 3 Heinz S. 93. BT-Drs. 7/550, S. 330. BGH 37, 77; LG Freiburg StV 82, 338. 37, 77 mit zust. Anm. Walter/Pieplow NStZ 91, 332. Vgl. auch BGH 23, 307 zu § 60 I 2 StGB aF; BGHR § 51 I 2 Prozessverhalten 1 u. BGH NStZ 99, 347 zu § 51 I 2 StGB. OLG Hamm StV 07, 2. OLG Hamm aaO, 3. BGH 37, 77. BGHSt 37, 77; BGH StV 94, 598, 599; NStZ 96, 233; NStZ 07, 43; BayObL bei Bär DAR 93, 372. Beulke/Swoboda RN 852 f; Miehe in JStrafrecht an der Wende, S. 159; dem halten OstendorfSchady 7 entgegen, dass die Rückfallquote bei kürzerer Verbüßung nicht höher sei als bei längerer. 50 § 52a, 8. 51 7. 52 BGH StV 94, 603 für eine zur Bew. ausgesetzte JStrafe u. BGH B NStZ 97, 484 sowie OLG Hamm StV 07, 2 für einschneidende Auswirkungen der UHaft. 53 BGH NStZ 99, 34 mit krit. Anm. Brunner. 54 BGH NStZ 07, 43. 55 Vgl. OLG Köln NJW 53, 796; Eisenberg/Kölbel u. Ostendorf/Schady je 9; Nothacker S. 325. 391

§ 53

2. Teil. Jugendliche

Eine gegen Art. 6 I MRK verstoßende überlange Verfahrensdauer (vgl. näher § 18, 10) stellt zwar grds. kein Verfahrenshindernis dar, führt aber zur Aufhebung des Haftbefehls56. Wegen der UHaft bei Einheitsstrafe s. § 31, 14. Wegen der Urteilsfassung § 54, 957. Verblei18 bende Meinungsverschiedenheiten können durch gerichtliche Entscheidung nach §§ 458 I, 462 I StPO behoben werden58, wofür nach Beginn der Strafvollstreckung gem. § 81 I 2 iVm § 462a I StPO der JRichter als Vollstreckungsleiter zuständig ist59. 17

§ 53 Überweisung an das Familiengericht 1 Der Richter kann dem Familiengericht im Urteil die Auswahl und Anordnung von Erziehungsmaßregeln überlassen, wenn er nicht auf Jugendstrafe erkennt. 2Das Familiengericht muß dann eine Erziehungsmaßregel anordnen, soweit sich nicht die Umstände, die für das Urteil maßgebend waren, verändert haben.

1. [Hw.]: Rn 1, 2; § 109 II. – 2. [ErwG]: RL; § 104 IV; § 112 S. 3. – 3. Sold. Rn 9.

Richtlinie zu § 53 Hält das Gericht im Verfahren gegen Jugendliche vor den für allgemeine Strafsachen zuständigen Gerichten Erziehungsmaßregeln für erforderlich, so hat es deren Auswahl und Anordnung dem Vormundschaftsgericht zu überlassen, selbst wenn es zugleich auf Jugendstrafe erkennt (§ 104 Abs. 4).

1 Das JGericht kann nach seinem Ermessen notwendige ErzMaßregeln selbst anordnen (§§ 5, 8– 10, 12) oder bei J, nicht bei Hw. (da diese volljährig sind und damit eine Zuständigkeit des Familiengerichts nicht mehr in Betracht kommt; vgl. aber Einf. 94), Auswahl und Anordnung von ErzMaßregeln dem Familiengericht überlassen (anders das ErwGericht: es muss überlassen; RL; vgl. § 104, 9). Das JGericht wird im Ausnahmefall überlassen, wenn eine über den Einzelfall hinausgehende Verwahrlosung festgestellt wird, auch, wenn noch weitere Ermittlungen darüber notwendig sind, welche Maßnahme angemessen ist, den größten Erfolg verspricht oder wie sie im Einzelnen ausgestaltet werden soll1. Auch dann, wenn die Mitglieder eines Kollegialgerichts (JSchöffengericht, JKammer) uneinig sind, welche ErzMaßregel die richtige ist, kann § 53 helfen2. Es spricht viel dafür, die Anordnung von Hilfen zur Erz. nach § 12 dem Familiengericht zu überlassen3; Weisungen wird dagegen der JRichter anordnen. Die Überlassung ist nur nicht möglich, wenn der JRichter zugleich auf JStrafe erkennt (anders 2 vor dem ErwGericht: RL; zur Verhängung von JA durch den JRichter s. § 8, 3); sie ist unzweckmäßig – doch im Hinblick auf Weisungen zulässig –, wenn der J bald Hw., also volljährig wird. Sie setzt voraus, dass eine Verfehlung nachgewiesen ist, für die der J strafrechtlich verantwortlich ist. Der Richter darf dem Familiengericht nicht vorschreiben, welche Maßnahme er anzuordnen 3 hat, sondern muss ihm die Auswahl überlassen. Anregungen, auch in den Urteilsgründen, sind möglich, jedoch ist Zurückhaltung angebracht. Eine Bindung hinsichtlich der Auswahl tritt nie ein.

56 OLG Köln NJW 89, 2830; vgl. auch BGH NJW 90, 1000 in § 18, 10, FN 60. 57 Wegen der Berechnung bei Anrechnung der UHaft (Berücksichtigung des Tages der Urteilsfindung) Krauss NJW 65, 1166. 58 BGH NJW 72, 731. 59 KG StV 19, 472; DSS/Schatz 11; Ostendorf/Schady 10. 1 Ebenso Dallinger/Lackner 3; Eisenberg/Kölbel 7; Ostendorf/Schady 5 lehnen wegen fehlender Entscheidungsreife ab. 2 Eisenberg/Kölbel 8; abl. Ostendorf/Schady 5. 3 Ebenso Dallinger/Lackner 3; Bedenken bei Eisenberg/Kölbel 8 u. Ostendorf/Schady 5: darf nicht Umweg zu diesen Sanktionen sein. 392 https://doi.org/10.1515/9783110686401-065

Überweisung an das Familiengericht

§ 53

Urteilsfassung § 54, 5, 15. Entscheidet der JRichter nur nach § 53, so ist das Urteil nach § 55 I 1 unanfechtbar (§ 55, 18)4. Mit der Rechtskraft des Urteils ist das JStrafverfahren zu Ende. Einem neuen Strafverfahren wegen dieser Tat steht die Rechtskraft entgegen (ne bis in idem; Art. 103 III GG)5. Die Auswahl und Anordnung der ErzMaßregeln erfolgt durch das Familiengericht im Verfahren nach dem FamFG. Dieses gilt für die Zuständigkeit (vgl. § 34 II, III), für die Beweisaufnahme und für die Anfechtung der Entscheidung, für die also die Beschränkungen des § 55 nicht gelten6. Das Familiengericht muss ErzMaßregeln des JGG nach §§ 9–12 anordnen7. Ordnet es keine ErzMaßregeln an, so haben das JAmt und der JRichter das Recht der Beschwerde nach § 55 FamFG (ergänzend Rn 10)8. Nur wenn sich die Verhältnisse (Familie, Beruf) seit Erlass des Urteils9 wesentlich geändert haben oder wenn neue – auch die Schuldfrage betreffende – wesentliche Tatsachen bekannt werden, die dem JGericht bei Erlass des Urteils nicht bekannt waren (§ 57, 4)10, kann das Familiengericht – grds. im Einvernehmen mit dem JRichter – von der Anordnung von ErzMaßregeln absehen; das kann – ausnahmsweise – auch der Fall sein, wenn schon Verfahren und Urteil den J hinreichend beeindruckt haben11. Auch die Anordnung familiengerichtlicher ErzMaßnahmen des Bürgerlichen Rechts oder von Hilfen nach dem SGB VIII kann zum Absehen berechtigen (vgl. § 45 II 1: Subsidiaritätsprinzip)12. Das Familiengericht kann auch die von ihm getroffenen ErzMaßregeln nach § 11 I abändern, denn auch die Änderung ist ein Teil der Auswahl, die der JRichter ihm überlassen hat13. Dagegen hat der überlassende JRichter (anders als beim ErwGericht: § 65, 4; § 104, 9) bei Ungehorsam gem. § 11 III JA zu verhängen (§ 65), weil damit ein bes. Unrecht geahndet wird (§ 11, 5) und das Familiengericht nicht zur Ahndung und Verhängung von Zuchtmitteln befugt ist14. Das Familiengericht hat stets die Möglichkeit, neben den vom JRichter oder von ihm selbst gem. § 53 angeordneten jrichterlichen ErzMaßregeln noch familiengerichtliche Maßnahmen des Bürgerlichen Rechts zu treffen, wie es diese auch anordnen kann, wenn das JGericht keine ErzMaßregeln für notwendig gehalten hat. ErzMaßregeln (§§ 9–12) stehen ihm dann nicht zur Verfügung15. Widersprechende Maßnahmen müssen unbedingt vermieden werden. Sind Maßnahmen zweckmäßig, die nur das Familiengericht verhängen kann, sollte der JRichter solche anregen oder – wenn er zugleich als Familiengericht zuständig ist – solche selbst verhängen und nach deren Anordnung gem. § 47 I Nr. 2 verfahren. Zu § 55 I 1 s. dort Rn 18. Ordnet das Familiengericht (Rn 8) nach Rechtskraft des Urteils JA an, so ist sofortige Beschwerde nach § 65 II 2 zulässig. Bei nachträglicher Änderung von Weisungen – nach Ostendorf/ Schady16 auch bei Ablehnung des Antrags, eine Weisung zu ändern – ist Beschwerde nach § 58 FamFG gegeben17, denn in diesem Falle schließt § 65 II 1 die Beschwerde nicht aus. Zur „Untätigkeit des Familiengerichts“ Rn 7.

4 Eisenberg/Kölbel 16 u. § 55, 41. 5 Potrykus B 5. 6 Dallinger/Lackner 19; Potrykus B 5. 7 Eisenberg/Kölbel 10; Roestel Zbl. 68, 61. 8 Dallinger/Lackner 20; Potrykus B 6; Eisenberg/Kölbel 17; Ostendorf/Schady 11. 9 Dallinger/Lackner 17; Eisenberg/Kölbel 10; Ostendorf/Schady 8; aA Potrykus B 8: seit Rechtskraft. 10 Dallinger/Lackner 18; ähnlich Potrykus B 6. 11 OLG Stuttgart Justiz 02, 515, 516. 12 Eisenberg/Kölbel 10; aA Dallinger/Lackner 14. 13 Dallinger/Lackner 22. 14 Dallinger/Lackner 23; Potrykus § 11 B 4; Eisenberg/Kölbel 13; Ostendorf/Schady 10. 15 Dallinger/Lackner 15; Eisenberg/Kölbel 6; aA Potrykus B 7 für Weisungen. 16 11. 17 Eisenberg/Kölbel 18; Ostendorf/Schady 11. 393

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§ 54

2. Teil. Jugendliche

§ 54 Urteilsgründe (1) 1Wird der Angeklagte schuldig gesprochen, so wird in den Urteilsgründen auch ausgeführt, welche Umstände für seine Bestrafung, für die angeordneten Maßnahmen, für die Überlassung ihrer Auswahl und Anordnung an das Familiengericht oder für das Absehen von Zuchtmitteln und Strafe bestimmend waren. 2Dabei soll namentlich die seelische, geistige und körperliche Eigenart des Angeklagten berücksichtigt werden. (2) Die Urteilsgründe werden dem Angeklagten nicht mitgeteilt, soweit davon Nachteile für die Erziehung zu befürchten sind. Abs. I 1. Hw.-J: Rn 15, 16; § 109 II 1. – 2. ErwG: RL 4; § 104 I Nr. 6. Abs. II 1. [Hw.-J]: Rn 19; § 109 II 1. – 2. ErwG: RL 4; § 104 I Nr. 6; § 112 S. 1, 2.

Richtlinien zu § 54 1.

2.

3.

4.

Für die Entscheidung im Jugendstrafverfahren ist die Persönlichkeit des Jugendlichen von ausschlaggebender Bedeutung. Dies sollte sich auch in den Urteilsgründen widerspiegeln, zumal sie eine wertvolle Grundlage für die Erziehungsarbeit im Vollzug und andere spätere Maßnahmen bilden. Der Vorschrift, dass in den Gründen des schuldigsprechenden Urteils die seelische, geistige und körperliche Eigenart des Jugendlichen berücksichtigt werden soll, wird durch eine bloße Schilderung des Lebenslaufes nicht genügt. Das gilt namentlich für Urteile, in denen für Jugendliche eine Betreuungsweisung (§ 10 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5) erteilt, Hilfe zur Erziehung (§ 12) angeordnet, Jugendstrafe verhängt (§ 17 Abs. 2), die Schuld des Angeklagten festgestellt (§ 27) oder in einem der genannten Fälle gegen Heranwachsende Jugendstrafrecht wegen mangelnder Reife (§ 105 Abs. 1 Nr. 1) angewendet wird. Die Verkündung des Urteils ist für die Erziehung von besonderer Bedeutung. Die mündliche Eröffnung der Urteilsgründe soll dem Wesen und dem Verständnis der Jugendlichen angepaßt sein. Alle nicht unbedingt gebotenen rechtlichen Ausführungen können unterbleiben. Erörterungen, die für die Erziehung der Jugendlichen nachteilig sein können, sollten vermieden werden. Soll der Jugendliche eine Ausfertigung oder eine Abschrift des Urteils mit Gründen erhalten (etwa nach § 35 Abs. 1 Satz 2, § 316 Abs. 2, § 343 Abs. 2 StPO), so bestimmt der Vorsitzende, inwieweit ihm die schriftlichen Urteilsgründe mitgeteilt werden. Erhält der Jugendliche nur einen Auszug der Gründe, so wird dies auf der Ausfertigung oder der Abschrift vermerkt, die für ihn bestimmt ist. § 54 gilt auch im Verfahren gegen Jugendliche vor den für allgemeine Strafsachen zuständigen Gerichten (§ 104 Abs. 1 Nr. 6), im Verfahren gegen Heranwachsende gilt nur § 54 Abs. 1, wenn das Gericht Jugendstrafrecht anwendet (§ 109 Abs. 2).

Schrifttum Rösch Handbuch für den JRichter, 2001.

Übersicht 1. 2. 3. 4. 5. 6.

§ 267 StPO und § 54 JGG 1 3 Urteilstenor 4 Erziehungsmaßregeln und Zuchtmittel Aussetzung der Verhängung der Jugendstrafe 6 und Vorbewährung 7 Kostenausspruch 8 Einheitsjugendstrafe

7. 8. 9. 10. 11. 12.

UHaft 9 11 Urteilsbegründung 15 Strafzumessung 17 Abgekürzte Urteile 18 Urteilsverkündung Mitteilung der schriftlichen Urteils19 gründe

394 https://doi.org/10.1515/9783110686401-066

Urteilsgründe

§ 54

1. § 267 StPO und § 54 JGG Auch im JRecht gilt § 267 StPO, der durch § 54 I ergänzt wird1. Die jrechtlichen Besonderheiten 1 ergeben sich zwingend daraus, dass das JRecht ein Erz.- und Täterstrafrecht ist, bei dem ein Urteilsspruch nur bei Beachtung des § 54 wirklich begründet ist2. Nur das Rubrum richtet sich allein nach allg. Recht. Eisenberg/Kölbel3 regen an, das Wort 2 „verurteilt“ in der „Urteils“-Formel zu vermeiden. Das ergibt sich für ErzMaßregeln und Zuchtmittel zwanglos (vgl. Rn 4) und gut begründbar, bei der JStrafe allerdings ist „verurteilt“ trotz der Formulierung „verhängt“ in § 17 II nicht nur unschädlich, sondern ehrlicher.

2. Urteilstenor Die Tat wird wie im allg. Recht mit der gesetzlichen Überschrift bezeichnet (§ 260 IV 1, 2 StPO), 3 nach der Urteilsformel werden die angewendeten Vorschriften nach Paragraph, Absatz, Nummer und Buchstabe und mit der Bezeichnung des Gesetzes aufgeführt (§ 260 V StPO)4. Der Ausspruch, dass es sich um einen bes. schweren Fall handelt (z.B. § 243 StGB), unterbleibt bei Anwendung von JStrafrecht, da § 243 StGB Strafzumessungsvorschrift ist5. Freispruch, Verhängung von Maßregeln der Besserung und Sicherung, Anordnung von Nebenstrafen und -folgen sowie Verurteilung zur JStrafe einschließlich einer Strafaussetzung zur Bew. erfolgen wie im allg. Recht. Dabei kann es sich empfehlen zu formulieren „… ist schuldig …“ und dann erst „… wird deshalb verurteilt …“. Bei Freispruch wegen Strafunmündigkeit kann zugleich im Urteilssatz eine Maßnahme nach § 3 S. 2 angeordnet werden.

3. Erziehungsmaßregeln und Zuchtmittel Bei Anordnung von ErzMaßregeln und Zuchtmitteln lautet der Urteilsspruch: „Der Angeklagte 4 ist eines … schuldig. Ihm wird die Weisung erteilt, …“ oder noch zutreffender: „Zu seiner Erz. werden Weisungen angeordnet; zunächst wird er angewiesen …“ (§ 10, 1); die Laufzeit der Weisung ist anzugeben (§ 11 I), denn es sollen klare Verhältnisse geschaffen werden6. – „Es wird ErzBeistandschaft oder Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2 angeordnet, oder: Für ihn wird NN zum ErzBeistand bestellt. – Er ist zu verwarnen. – Ihm wird auferlegt … (§ 15). – Es wird auf … JA erkannt“. – Wichtig ist, Weisungen und Auflagen sehr genau zu fassen (§ 10, 16; § 11, 8; § 23, 2). Zur Wiedergutmachungsauflage § 15, 7. Die Verwarnung darf nicht im Urteilssatz erteilt werden (§ 14, 5). Bei ErzMaßregeln ist nicht anzuführen, dass von Zuchtmitteln und JStrafe abgesehen wurde; denn dies ist vom Gesetz vorgeschrieben, wenn ErzMaßregeln ausreichen. Zu JA u. EinheitsJStrafe Rn 8. Wird Auswahl und Anordnung der ErzMaßregeln dem Familiengericht überlassen, ergeht 5 folgendes Urteil: „Der Angeklagte ist eines … schuldig. Es soll bei ErzMaßregeln sein Bewenden haben. Ihre Auswahl und Anordnung wird dem Familiengericht überlassen.“

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OLG Jena NStZ-RR 98, 119; OLG Hamm StV 01, 177; KG NStZ 07, 223. OLG Jena aaO. 9–12. Vgl. dazu BGH NJW 78, 230; BayObLG NJW 72, 1149. BGH MDR 76, 769; BGH H MDR 82, 625; OLG Köln Zbl. 78, 45. Allg. zum Tenor BGH 41, 315 = NStZ 96, 279 mit zust. Anm. Brunner; BGH NJW 78, 229. 6 BGH B NStZ-RR 01, 321. 395

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4. Aussetzung der Verhängung der Jugendstrafe und Vorbewährung 6 Bei der Aussetzung der Verhängung der JStrafe (§ 27) lautet das Urteil: „Der Angeklagte ist eines … schuldig. Die Entscheidung über die Verhängung einer JStrafe wird zur Bew. ausgesetzt.“ Die BewZeit wird in einem bes. Beschluss festgesetzt (§§ 62 IV, 58 I). Im Nachverfahren (§ 30) lautet die Entscheidung entweder: „Der im Urteil vom … gegen den Angeklagten getroffene Schuldspruch ist zu tilgen“; oder: „Aufgrund7 des Urteils … wird der Angeklagte zu … JStrafe verurteilt.“ Anrechnung erlittener UHaft ist erst im Nachtragsverfahren (§ 30) möglich, eine Entscheidung hierüber dort aber auch notwendig (§ 27, 11; § 30, 14).Bei einer Vorbewährung lautet das Urteil: „Die Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung bleibt für die Dauer von drei Monaten einem gesonderten Beschluss vorenthalten“.

5. Kostenausspruch 7 Der Kostenausspruch erfolgt wie im allg. Recht8. Bei Anwendung des § 74 kann der Kostenausspruch im Urteilssatz lauten: „Die Kosten trägt die Staatskasse“ oder „von der Auferlegung von Kosten wird abgesehen“. Unterbleibt der Kostenausspruch im Urteilssatz ganz, erhält die Staatskasse keinen Kostenschuldner, was dann in den Gründen darzulegen ist9, aber § 464 I StPO verletzt. Die Anfechtbarkeit der Kostenentscheidung bleibt dadurch unberührt10. Zur Begründung der Kostenentscheidung hat der BGH11 die Feststellung der JKammer genügen lassen, „die Kostenentscheidung rechtfertigt sich nach den §§ 465, 467 StPO“, weil darin zum Ausdruck komme, dass das Gericht den § 74 nicht anwenden wolle. In einer anderen Entscheidung12 dagegen wird eine ausführliche Erörterung der Auferlegung der Kosten jedenfalls dann verlangt, wenn mehrere J mit unterschiedlichen finanziellen Verhältnissen in gleicher Weise zu den Kosten verurteilt werden. – Wegen der bes. Lage, wenn ein Nebenkläger beteiligt ist, § 74, 9.

6. Einheitsjugendstrafe 8 Die Einbeziehung nach § 31 II erfolgt so: „Der Angeklagte wird unter Einbeziehung des Urteils … wegen der dort genannten Taten13 und wegen … zu … JStrafe verurteilt“ (§ 31, 12; oder bei ErzMaßregeln u. Zuchtmitteln die entsprechende Fassung). Die aufgrund des einbezogenen Urteils schon verbüßte JStrafe ist zwingend auf die neue EinheitsJStrafe anzurechnen; das gehört nicht in die Urteilsformel14 (näher § 31, 14). Soll hingegen verbüßter JA angerechnet werden, so ist das in den Urteilstenor aufzunehmen (näher § 31, 14), der lauten kann: „Auf diese Strafe wird der aufgrund des Urteils vom … verbüßte JA in Höhe von … angerechnet.“ Zur Anrechnung erlittener UHaft vgl. § 31, 14.

7 Eisenberg/Kölbel 16; Ostendorf/Schady 8 schlägt vor „in Ergänzung“. 8 Eisenberg/Kölbel 23; Ostendorf/Schady 5; für Ausnahmen aus erz. Gründen Dallinger/Lackner § 74, 15. 9 OLG Schleswig SchlHA 56, 299. 10 OLG Schleswig aaO. 11 Bei Herlan GA 59, 47. 12 16, 261. 13 Dazu BGH B NStZ 88, 492 in § 31, 12 aE. 14 BGH 41, 315 = NStZ 96, 279 mit zust. Anm. Brunner. 396

Urteilsgründe

§ 54

7. UHaft Wird UHaft bei JA berücksichtigt, so ist der JA ohne Rücksicht darauf auszusprechen (Rn 4), aber 9 anzufügen: „Dieser JA wird mit Rücksicht auf die vom Angeklagten erlittene UHaft nicht (oder: nur noch in Höhe von …) vollstreckt.“ – Die Anrechnung von UHaft auf JStrafe erfolgt nach § 52a S. 1 kraft Gesetzes und muss daher nicht in den Tenor aufgenommen werden15. Die Anordnung nach § 52a S. 2 ist dagegen im Tenor auszusprechen16. Dies erfolgt etwa so: „Die Anrechnung von 2 Monaten der erlittenen UHaft unterbleibt.“ Über vor dem Schuldspruch nach § 27 erlittene UHaft wird erst im Nachverfahren entschieden (§ 30, 14). Zur EinheitsJStrafe § 31, 14. Wo Hw. nach allg. Recht abgeurteilt werden, gilt nichts Besonderes; es ist aber § 106, 7 zu 10 beachten.

8. Urteilsbegründung Neben § 267 StPO ist Folgendes zu beachten: Zuerst ist der festgestellte Sachverhalt nach der äußeren und inneren Tatseite zu schildern. Zu dieser Tatschilderung gehört im JRecht als Erz.- und Täterstrafrecht eine Schilderung des Täters, seiner Familie, Entwicklung und Umwelt mit Lebenslauf sowie seiner Eigenarten, also das Ergebnis der Persönlichkeitserforschung (RL 1; § 43). Diese Schilderung ist ein Teil der vom Gericht zu treffenden Feststellungen, die auch bei Erw. nicht fehlen darf17; sie gehört an den Anfang, vor die Darstellung der Tat18, denn diese soll sich ja gerade aus den Feststellungen zur Person erklären lassen und die Darstellung soll zeigen, ob die Tat eher episodisch (Einf. 14 u. 43 aE), tiefer verwurzelt oder nur aus bes. äußeren Umständen entsprungen ist. Die bloße Schilderung des Lebenslaufs wäre ungenügend; das gilt bes. für Rechtsfolgen nach § 10 I S. 3 Nr. 5, § 12, § 17 II, § 27 oder bei § 105 I Nr. 1 (RL 1 S. 3 u. 4). Aus dem Sachverhalt sollten sich insbes. auch die prognostisch relevanten Dimensionen herauslesen lassen (vgl. Einf. 73 ff, bes. 78). Eine eingehende Persönlichkeitsschilderung dient der ErzArbeit im Vollzug und hilft, spätere Maßnahmen wirkungsvoller zu treffen (RL 1 S. 1 u. 2). Vgl. auch Rn 15 u. § 43, 5. – Es darf nur aufgenommen werden, was zur Überzeugung des Gerichts entsprechend den Prozessgrundsätzen festgestellt wurde (§ 38, 34–36); doch kann das im Rahmen der Persönlichkeitsermittlung Festgestellte auch berücksichtigt werden, soweit es nicht Gegenstand der Anklage war19. Hierauf ist das Vorbringen des Angeklagten möglichst zusammenhängend darzustellen. Dann ist unter Auseinandersetzung mit dem Vorbringen des Angeklagten und den Beweismitteln die für die richterliche Überzeugung maßgebliche Beweiswürdigung darzutun. Es folgt die rechtliche Würdigung. Bei mehreren Gesetzesverletzungen ist ihr Verhältnis darzulegen (§ 31, 1). Anschließend muss festgestellt werden, dass der Täter J oder Hw. ist, und – nur bei J, nicht bei Hw. – die Frage der Strafmündigkeit erörtert werden. Bestehen keine Zweifel, genügt die kurze Feststellung, das Gericht habe nach der Entwicklung und dem Auftreten des J in der Verhandlung sowie nach seiner Einlassung und Verteidigung die Überzeugung gewonnen, dass er zZ der Tat die Einsichtsfähigkeit in geistiger und sittlicher20 Hinsicht, auch Hemmungsvermögen besessen habe und für seine Tat verantwortlich sei. Das Fehlen dieser Feststellung begründet die Revision wegen eines sachlich-rechtlichen Mangels oder wegen ungenügender Sachaufklärung (§ 244 II StPO)21. 15 16 17 18 19 20 21

BGH 24, 30; 27, 288 zu § 51 I 1 StGB; BGH B NStZ 97, 484. BGH 24, 30. BGH bei Miebach NStZ 89, 15. Dallinger/Lackner 14; Eisenberg/Kölbel 28; aA Ostendorf/Schady 14: erst bei Begründung der Sanktion. Vgl. BGH NJW 51, 770. BGH EJF C I 3. Momberg Die Ermittlungstätigkeit der JGH u. ihr Einfluss auf die Entscheidung des JRichters, Diss. Göttingen 1982, S. 130. 397

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Bestehen Zweifel, ob Verstandesreife, Erkenntnisfähigkeit und Hemmungsvermögen vorliegen, oder soll die Verantwortlichkeit verneint werden, ist eine eingehende Begründung erforderlich. Auch im letztgenannten Fall können die bis hierher geforderten Ausführungen grds. nicht unterbleiben oder gekürzt werden (§ 3, 10). Doch ist Einstellung durch Beschluss möglich (§ 47 I 1 Nr. 4; § 47, 11), für den das oben Gesagte auch gilt.

9. Strafzumessung 15 Insbes. ist die Strafzumessung sorgfältig zu begründen (vgl. § 18, 13 ff). Bei Hw. muss zunächst eingehend erörtert werden, warum J- oder ErwRecht angewendet wird22 (vgl. auch Rn 16). Ist ein Antrag auf Anwendung des JRechts gestellt, ist dieser entsprechend § 267 II StPO in den Gründen zu verbescheiden23. – Bei Anwendung von ErwRecht gelten für die weiteren Ausführungen die allg. Grundsätze. – Bei Anwendung von JRecht enthält § 54 I eine gegenüber § 267 III 1 StPO erweiterte Begründungspflicht, die eine sorgfältige Auseinandersetzung mit dem Lebenslauf und der Tat des Angeklagten, eine Darstellung der für die Rechtsfolgenzumessung wesentlichen Umstände und eine Begründung der Erforderlichkeit der verhängten Rechtsfolgen verlangt24. Die Anforderungen an die Begründung steigen mit der Schwere der verhängten Rechtsfolge25. Es ist stets darzulegen, ob, ggf. warum nicht ErzMaßregeln ausreichen. Bei Zuchtmitteln ist anzugeben, dass und warum JStrafe nicht geboten ist; bei JStrafe auch, warum Zuchtmittel nicht ausreichen. Bei der Verhängung von JStrafe ist eine bes. sorgfältige Sanktionsbegründung erforderlich26. Insbes. muss das Vorliegen schädlicher Neigungen eingehend – und nicht nur formelhaft – begründet und angegeben werden, welcher Art diese sind27. Zu früheren Straftaten, mit denen schädliche Neigungen begründet werden, müssen konkrete tatsächliche Feststellungen getroffen werden und der Richter muss sich damit auseinandersetzen, warum gerade die abgeurteilte Tat die Verhängung einer JStrafe erfordert28. Wegen der Strafhöhe § 18, 6, 13. Bei JA muss auch die gewählte Form begründet werden. – Ebenfalls begründet werden muss das Absehen von Zuchtmitteln und JStrafe nach § 5 III und dargelegt werden müssen die Gründe für die Überlassung der Auswahl und Anordnung von ErzMaßregeln an das Familiengericht und die Gründe für die Aussetzung der Verhängung von JStrafe zur Bew. (hier bes., worin die Ungewissheit besteht und welche Maßnahmen vergeblich zu ihrer Beseitigung getroffen wurden). – Die Beziehungen zur Entwicklung des J bei § 21 II sind sorgfältig darzustellen (§ 21, 15). – Wie im allg. Recht sind nicht alle, sondern nur die für die Entscheidung des Gerichts bestimmenden Umstände anzuführen. Hinsichtlich der Begründung einer Strafaussetzung zur Bew. und der Wertung des Prozessverhaltens des Angeklagten gelten die Grundsätze des allg. Rechts; wegen des Vorbehalts der Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung § 61, 8. – Im Einzelfall kann es sinnvoll sein, aufgrund der in der Hauptverhandlung gewonnenen Erkenntnisse Hinweise für die Vollzugsgestaltung – mit der gebotenen Zurückhaltung (dazu Rn 18 aE u. Einf. 112 aE) – in das Urteil aufzunehmen29. Nach den Befunden von Meyer30 setzen sich Vollzug u. BewHilfe jedoch häufig nicht mit den im Urteil enthaltenen Aussagen auseinan-

22 BGH MDR 54, 694; OLG Hamm MDR 69, 601; StV 01, 182; Schaffstein NJW 55, 1578. 23 BGH bei Herlan GA 56, 347. 24 OLG Hamm StV 02, 404, 405; ZJJ 08, 78, 79; KG NStZ 07, 223, 224; StV 11, 582; 13, 762; NStZ 13, 291; OLG Celle NStZ 12, 576, 577; StV 17, 722; OLG Frankfurt StV 14, 743. OLG Frankfurt StV 03, 459; 14, 743; KG u. OLG Celle aaO; Eisenberg/Kölbel 24. OLG Jena NStZ-RR 98, 119; OLG Celle StV 01, 180. OLG Hamm StV 01, 177; ZJJ 22, 59. OLG Hamm StV 99, 658; ZJJ 22, 59. Meyer Richterliche Erwägungen bei der Verhängung von JStrafe u. deren Berücksichtigung durch Vollzug u. BewHilfe, Diss. Köln 1994, S. 25. 30 AaO, S. 78, 80 f, 89, 90.

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Urteilsgründe

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der. Zur Verwirklichung des „durchgängigen ErzAuftrags“ des JGG31 bedarf es daher einer verbesserten Zusammenarbeit von Gericht, Vollzug u. BewHilfe. Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt ist 16 bes. eingehend zu begründen (§ 7, 2, 4). Enthält ein Urteil (Unterbringung) zur Frage, ob JRecht oder ErwRecht angewendet wurde, nichts, so ist wegen des Begründungszwangs zu § 105 von der Anwendung von ErwRecht auszugehen32 (vgl. dazu auch § 85, 9 aE).

10. Abgekürzte Urteile Abgekürzte Urteile nach § 267 IV StPO sind zwar zulässig33, jedoch gilt auch für sie § 54. Bei 17 Rechtskrafteintritt nach § 55 II gilt § 267 IV StPO nicht; die fehlende Darstellung der Beweiswürdigung in den abgekürzten Urteilsgründen verletzt das Willkürverbot34. Wesentliche Verkürzungen sind auch im Übrigen nicht möglich und sollten auch deshalb vermieden werden, weil nur eingehende Darlegungen im JGerichtsurteil für Vollzug und bei späteren Straftaten eine zuverlässige, der Bedeutung entsprechende Grundlage schaffen können (RL 1)35. Über das Urteil im vereinfachten JVerfahren § 78, 21.

11. Urteilsverkündung Das Urteil ist wie im allg. Recht zu verkünden; dabei dürfen aber Umstände nicht erörtert wer- 18 den, die für die Erz. des J von Nachteil sein können (RL 2 S. 4), da der J nicht entfernt werden darf (§ 51, 2), Abs. II aber auch für die mündliche Begründung gilt36. Eine eindrucksvolle Urteilsverkündung, die dem Wesen und Verständnis des J angepasst ist, kann großen erz. Wert haben (RL 2 S. 1, 2, 4; s. Einf. 112). Dabei ist für den J viel wichtiger, warum er verurteilt wurde und was die Folgen sind, als aus welchem Rechtsgrund sich das herleitet (RL 2 S. 3). – Daran hat sich die Rechtsmittelbelehrung (bei Ausländern Einf. 51) anzuschließen, wenn nicht auf Rechtsmittel verzichtet wird (§ 35a StPO); diese Belehrung erfordert bes. Takt. Was ungeschickte Rechtsmittelbelehrung anzurichten vermag, erhellt daraus, dass Middendorff37 die Rechtsmittelbelehrung im JStrafverfahren aus erz. Gründen entfallen lassen will38. Es stehen aber rechtsstaatliche Gründe dagegen. Hinweise auf vorzeitige Entlassung aus dem Vollzug sollten unterbleiben, weil sie leicht missverstanden werden und dort die ErzArbeit erschweren könnten.

12. Mitteilung der schriftlichen Urteilsgründe Dem Hw. sind die schriftlichen Urteilsgründe voll mitzuteilen, da § 109 II 1 bei dem volljährigen 19 Hw. im Falle der Anwendung von JStrafrecht nur § 54 I für entsprechend anwendbar erklärt (RL 4). Bei J gilt nach Abs. II Folgendes: Von den schriftlichen Urteilsgründen, die alles enthalten müssen, dürfen dem j. Angeklagten solche Teile nicht mitgeteilt werden, die Nachteile für seine Erz. befürchten lassen. Soweit möglich sollte hier – bes. bei inzwischen volljährigen Tätern – 31 32 33 34 35 36 37 38

Meyer aaO, S. 37. OLG Celle MDR 75, 953. Ebenso Dallinger/Lackner 23; einschränkend Eisenberg/Kölbel 26. BVerfG StV 05, 64. Ähnlich Dallinger/Lackner u. Eisenberg/Kölbel aaO; Ostendorf/Schady 13; Ernst Der JA, 2020, S. 251. Vgl. Hauber/Mayer-Rose Zbl. 83, 484. JKriminologie, 1956, S. 190. Zust. Hauber/Mayer-Rose Zbl. 83, 493; abl. Eisenberg/Kölbel 44; Ostendorf/Schady/Sommerfeld Grdl. zu §§ 46, 46a u. 54, 5. 399

§ 54

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Zurückhaltung geübt werden und das Urteil möglichst so gefasst werden, dass auch der Angeklagte es ganz lesen kann. Die Entscheidung trifft der Vorsitzende (RL 3)39. Die Tatsache, dass es sich nur um einen Auszug handelt, ist auf der Ausfertigung zu vermerken. – Die Erteilung nur eines Auszuges der Urteilsgründe auch an ErzBerechtigte und gesetzliche Vertreter ist mangels entsprechender Bestimmung nicht möglich40. 20 Wegen BewHilfe, BewZeit u. BewAuflagen sowie Kosten §§ 58, 62 IV, 60, 64 u. 74.

39 Dallinger/Lackner 26; Eisenberg/Kölbel 45; Potrykus B 4. 40 Dallinger/Lackner 27; Eisenberg/Kölbel 46; Ostendorf/Schady 23; Nothacker S. 346 mit FN 360; aA Potrykus B 4, wenn ein erz. ungünstiger Missbrauch zu befürchten ist. 400

Dritter Unterabschnitt Rechtsmittelverfahren § 55 Anfechtung von Entscheidungen (1) 1Eine Entscheidung, in der lediglich Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel angeordnet oder die Auswahl und Anordnung von Erziehungsmaßregeln dem Familiengericht überlassen sind, kann nicht wegen des Umfangs der Maßnahmen und nicht deshalb angefochten werden, weil andere oder weitere Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel hätten angeordnet werden sollen oder weil die Auswahl und Anordnung der Erziehungsmaßregeln dem Familiengericht überlassen worden sind. 2Diese Vorschrift gilt nicht, wenn der Richter angeordnet hat, Hilfe zur Erziehung nach § 12 Nr. 2 in Anspruch zu nehmen. (2) 1Wer eine zulässige Berufung eingelegt hat, kann gegen das Berufungsurteil nicht mehr Revision einlegen. 2Hat der Angeklagte, der Erziehungsberechtigte oder der gesetzliche Vertreter eine zulässige Berufung eingelegt, so steht gegen das Berufungsurteil keinem von ihnen das Rechtsmittel der Revision zu. (3) Der Erziehungsberechtigte oder der gesetzliche Vertreter kann das von ihm eingelegte Rechtsmittel nur mit Zustimmung des Angeklagten zurücknehmen. (4) Soweit ein Beteiligter nach Absatz 1 Satz 1 an der Anfechtung einer Entscheidung gehindert ist oder nach Absatz 2 kein Rechtsmittel gegen die Berufungsentscheidung einlegen kann, gilt § 356a der Strafprozessordnung entsprechend. 1. Hw.-J: Rn 33; RL 3; § 109 II 1, § 112 S. 1, 2. – 2. ErwG: RL 3; § 104 I Nr. 7.

Richtlinien zu § 55 1.

2.

3.

Aus erzieherischen Gründen ist es regelmäßig erwünscht, dass das Jugendstrafverfahren möglichst schnell zum Abschluß gebracht wird. Bei der Einlegung von Rechtsmitteln zuungunsten des Angeklagten ist daher besondere Zurückhaltung geboten (vgl. im Übrigen Nr. 147 ff RiStBV). Die Anfechtung der im Verfahren bei Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung oder bei Aussetzung der Verhängung der Jugendstrafe ergehenden Entscheidungen ist in den §§ 59 und 63 geregelt. Für die Anfechtung nachträglicher Entscheidungen über Weisungen wird auf § 65 Abs. 2 hingewiesen. Wegen der Anfechtung von Entscheidungen im Vollstreckungsverfahren wird auf § 83 Abs. 3 Satz 1 hingewiesen. § 55 gilt auch im Verfahren gegen Jugendliche vor den für allgemeine Strafsachen zuständigen Gerichten (§ 104 Abs. 1 Nr. 7), im Verfahren gegen Heranwachsende nur, wenn das Gericht Jugendstrafrecht anwendet (§ 109 Abs. 2).

Schrifttum Bartsch Die Rechtsmittel im JStrafverfahren, ZJJ 16, 112; Baumann L. A. Das strafprozessuale Verbot der reformatio in peius u. seine Besonderheiten im JStrafrecht, 1999; Beulke Verurteilte ohne Rechtsschutz? – Neue Ausjustierung des § 55 II 1 JGG, FS Eisenberg zum 80. Geburtstag, 2019, S. 187; Block Fehlerquellen im JStrafprozess – Eine Untersuchung der Fehlerquellen im JStrafrecht anhand von Revisionsverfahren, 2005; Bode Das Wahlrechtsmittel im Strafverfahren, 2000; Dehne-Niemann/Brandt Beschränkungen der Rechtsmittelbeschränkung beim Wahlrechtsmittel im JStrafrecht, StV 20, 711; Eisenberg Revisionsverwerfung durch Beschluss als „offensichtlich unbegründet“ auch im JStraf(verfahrens)recht (§ 2 II JGG, § 349 II StPO)? NK 13, 229; Kretschmann Das Verbot der reformatio in peius im JStrafrecht, Diss. Saarbrücken 1968; Kretschmer Das strafprozessuale Verbot der reformatio in peius u. die Maßregeln der Besserung u. Sicherung, 1999; Momsen Die Rechtsmitel in JStrafsachen – Beschränkung oder Vereinheitlichung? ZJJ 04, 49; Ostendorf Der Ausschluss eines Rechtsmittels in JStrafsachen gem. §§ 55 I JGG – rechtsstaatswidrig u. dementsprechend reformbedürftig, ZJJ 16, 120; Penkuhn Ist die Rechtsmittelbeschränkung im JStrafrecht noch zeitgemäß? ZJJ 14, 371; Röhling Übertragbarkeit der Rechtsmittelbeschränkung des § 55 II JGG auf das ErwStrafrecht? ZRP 09, 17; Schaumann Die Rechtsmittelbeschränkung des § 55 JGG, 2001.

401 https://doi.org/10.1515/9783110686401-067

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Übersicht 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16.

Allgemeines 1 3 Anfechtungsberechtigte 6 Wirkung für den Angeklagten Ausbleiben bei Berufung des gesetzlichen Vertre7 ters 8 Verzicht, Teilanfechtung, Rücknahme 10 Beschränkung des Rechtsmittels Rechtsmittel bei ErzMaßregeln und Zuchtmit17 teln 25 Nur ein Rechtsmittel 30 Ausnahmen 35 Mehrere Anfechtungsberechtigte 36 Unzulässige Rechtsmittel 37 Verschlechterungsverbot 38 ErzMaßregeln und Zuchtmittel 42 JStrafe 46 UHaft 47 Strafaussetzung zur Bewährung

48 BewAuflagen 49 Sanktionen nebeneinander Maßregeln der Besserung und Siche50 rung 20. Nebenstrafen, Nebenfolgen, Maßnah52 men 53 21. Kostenentscheidung 54 22. JRecht – ErwRecht 55 23. JStrafe – Freiheitsstrafe 58 24. Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2 und JA 59 25. Geldstrafe 60 26. Bei besonderen Verfahrensarten 27. Bei Beschlüssen und Rechtsbeschwer61 den 28. Sanktionen ohne Verschlechterungsver63 bot 64 29. Wiedereinsetzung 65 30. Im Wiederaufnahmeverfahren 17. 18. 19.

1. Allgemeines 1 Auch im JRecht gelten grds. die Vorschriften des allg. Rechts über Rechtsmittel, nicht aber diejenigen über die Annahmeberufung1. § 55 beschränkt jedoch die Rechtsmittel nicht unerheblich (Rn 17, 25), um das Strafverfahren möglichst rasch abzuschließen, wie es erz. geboten ist (RL 1 S. 1; § 43 RL 6 S. 1)2. Teilweise wird dies allerdings schon im Hinblick auf den ohnehin bestehenden Zeitraum zwischen Tatbegehung und rechtskräftiger Verurteilung für wenig überzeugend gehalten3. Den Beschleunigungsgrundsatz selbst sehen Eisenberg/Kölbel4 allerdings als erz. legitimiert an. Das BVerfG5 hat erkannt, dass die Einschränkung der Anfechtbarkeit jgerichtlicher Urteile nach Abs. II auf sachlich einleuchtenden Gründen beruht und mithin nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 I GG verstößt6. Nach Schäfer7 hat sich Abs. II bewährt8. Auch § 59 I, der bei einer auf die Strafaussetzung zur Bew. beschränkten Anfechtung statt Berufung oder Revision nur sofortige Beschwerde zulässt, ist eine Rechtsmittelbeschränkung. 2 Über diese gesetzlichen Beschränkungen hinaus übt die JStA im Interesse des raschen Abschlusses des Verfahrens bes. Zurückhaltung bei der Einlegung von Rechtsmitteln (RL 1 S. 2). – Weitere Regelungen über Rechtsmittel (vgl. RL 2) enthalten die §§ 47 II 3, 59, 63, 65 II, 66 II 3, 71 II 2, 73 II, 77 I 3, 83 III 1, 88 VI 3, 99 III. Zu beachten ist, dass die Rechtsmittelfrist im vereinfach1 Ebert JR 98, 271; Schäfer NStZ 98, 334; aA OLG Stuttgart ZJJ 09, 156. 2 BVerfG NStZ 88, 34; NStZ-RR 07, 385, 386; BayObLG 54, 28; 04, 139; NJW 56, 1488; 64, 1084; Dallinger/Lackner § 2, 7; Böhm/Feuerhelm S. 95; Beulke/Swoboda Rn 805; die Vorschrift grds. befürwortend auch Schaumann S. 198 f; Mann S. 227. 3 Eisenberg/Kölbel 35; Nothacker GA 82, 453; Bottke ZStW 83, 102; die Vorschrift ablehnend Bartsch ZJJ 16, 115; Ostendorf ZJJ 16, 124 (hinsichtlich Abs. I); Heinz S. 98 f. 4 37. 5 NStZ 88, 34. 6 Ebenso BayObLG 56, 163, OLG Oldenburg NStZ 09, 451 u. Burscheidt S. 127, 154. Für rechtsstaatliche Unbedenklichkeit der Rechtsmittelbeschränkungen auch Miehe JStrafrecht. Kurseinheit 3, 1994, S. 58 u. in JStrafrecht an der Wende, S. 158; für Verfassungswidrigkeit des Abs. II im Falle der Verhängung von JStrafe Bode S. 142. 7 NStZ 98, 335. 8 AA Bode, S. 157; Meyer-Goßner FS Eisenberg, 2009, S. 408; Penkuhn ZJJ 14, 371; gegen die Unanfechtbarkeit des JA Franzke RdJ 18, 443. 402

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ten JVerfahren für den StA, der nicht in der Sitzung war, erst von der Zustellung des Urteils ab läuft (§ 78, 18, 21)9. Nothacker10 kommt allerdings zum Ergebnis, dass die ausschließliche Legitimation der bes. Rechtsmittelbeschränkung des § 55 bei der Auslegung der Vorschrift weithin ohne Berücksichtigung bleibe, was eine rechtlich bedenkliche extensive Anwendung unter allg. prozesswirtschaftlichen Gesichtspunkten begünstige11. § 354 Ia StPO ist auch auf eine JStrafe anwendbar12.

2. Anfechtungsberechtigte Der J ist ohne Rücksicht auf Geschäftsfähigkeit13, Alter und ohne Bindung an die Maßnahmen 3 der gesetzlichen Vertreter oder ErzBerechtigten berechtigt, selbständig Rechtsmittel einzulegen, zu beschränken, zurückzunehmen oder auf sie zu verzichten, soweit er nur verhandlungsfähig ist (dazu näher Rn 9)14. Ist der J anwaltlich nicht vertreten, wird der Richter ihn vor einer Rechtsmittelbeschränkung oder -rücknahme sorgsam und verständlich beraten, um Rechtsnachteile zu vermeiden. Zu den Rechtsfragen bei Übergang zur Volljährigkeit Rn 4. Anfechtungsberechtigt sind außerdem: Der Verteidiger, jedoch nicht gegen den ausdrück- 4 lichen Willen des Angeklagten (§ 297 StPO). Diese Beschränkung gilt nicht bei ausdrücklichem Auftrag der gesetzlichen Vertreter und der ErzBerechtigten; er wird dann als deren Beauftragter tätig15. Haben J und Verteidiger wirksame Rechtsmittel eingelegt, so gilt das zuerst bei Gericht eingegangene. Bei gleichzeitiger Einlegung von Berufung und (Sprung)Revision aber hat die Berufung als das umfassendere Rechtsmittel Vorrang16. Bei J (nicht bei den – volljährigen – Hw. § 109 I 1) haben der gesetzliche Vertreter (§ 298 I StPO; § 67, 1) und der ErzBerechtigte (§ 67 II; zur Kostenhaftung für das Rechtsmittel § 74, 15) bis zur Volljährigkeit (§ 67, 29) des J ein selbständiges Anfechtungsrecht zugunsten des Angeklagten, auch gegen dessen Willen. Ein von ihnen vor der Volljährigkeit eingelegtes Rechtsmittel wirkt nach Volljährigkeit des Angeklagten für diesen weiter, selbst wenn er vorher auf ein eigenes Rechtsmittel verzichtet hat17. Die nach Volljährigkeit anfallende Revisionsbegründung obliegt dem Angeklagten, auch wenn der ErzBerechtigte oder gesetzliche Vertreter Revision eingelegt hat18. Nach Volljährigkeit können diese weder ein Rechtsmittel einlegen noch zulässig begründen. – Das Anfechtungsrecht besteht nur innerhalb der für den Angeklagten laufenden Fristen, allerdings ggf. mit dem Recht der Wiedereinsetzung (§ 67, 17). Weil der J selbständig Rechtsmittel einlegen darf (Rn 3), kann ein minderjähriger Gefangener auch Antrag auf gerichtliche Entscheidung gem. § 92 gegen Anordnungen der Vollzugsbeamten stellen19. Zur Zurücknahme u. Beschränkung Rn 8. Nicht anfechtungsberechtigt sind der Beistand, weil er die Rechte des Verteidigers nur in 5 der Hauptverhandlung hat (§ 69 III 2)20, auch wenn es der Ehegatte des Angeklagten ist21, der

9 OLG Neustadt NJW 63, 1074. 10 GA 82, 451, 468. 11 Zur Zahl der Rechtsmittel im JStrafrecht, die erheblich geringer ist als im ErwStrafrecht, vgl. Ostendorf NJ 95, 65.

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BGH NStZ-RR 14, 92. Vgl. OLG Frankfurt JR 64, 393. Eisenberg/Kölbel 5; Ostendorf/Schady 3. AA Eisenberg/Kölbel 6. BayObLG VRS Bd. 53 (77), 362; OLG Hamm VRS Bd. 77 (89), 68. BGH 10, 174; Löwe/Rosenberg/Jesse26 § 298 StPO 17; Pentz GA 58, 303; Pohlmann Rpfl. 63, 368. RG 42, 342; BGH 10, 174; Dallinger/Lackner § 67, 26; Eisenberg/Kölbel 5; Pentz u. Pohlmann aaO; Potrykus NJW 57, 1936; aA Ostendorf/Schady 4. 19 OLG Frankfurt JR 64, 393. 20 Dallinger/Lackner Vorb. 3; Eisenberg/Kölbel 9; Ostendorf/Schady 5; Potrykus unterschiedlich B 2 u. § 69 B 4. 21 Vgl. BGH H MDR 78, 625; Eisenberg/Kölbel 9. 403

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ErzBeistand nach § 12 Nr. 122, auch nicht die JGH (§ 38, 21) und die für Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2 zuständige Stelle23.

3. Wirkung für den Angeklagten 6 Das Rechtsmittel wirkt, gleich, wer es eingelegt hat, immer für den Angeklagten; er ist – auch nach eigenem Rechtsmittelverzicht – Verfahrensbeteiligter und deshalb z.B. zu selbständiger Anfechtung berechtigt, wenn das Gericht ein vom gesetzlichen Vertreter eingelegtes Rechtsmittel zu Unrecht als unzulässig verworfen hat24. Vgl. dazu Rn 24.

4. Ausbleiben bei Berufung des gesetzlichen Vertreters 7 Hat der J keine, der gesetzliche Vertreter (oder ErzBerechtigte) aber Berufung eingelegt, so gilt für die Berufungsverhandlung Folgendes: Erscheinen der J und der gesetzliche Vertreter ohne genügende Entschuldigung nicht und ist auch kein Verteidiger mit schriftlicher Vertretungsvollmacht erschienen, so ist die Berufung wie im ErwRecht unter den Voraussetzungen des § 329 I 1 StPO sofort zu verwerfen (§ 330 II 2 Satzteil 1 StPO). – Erscheint lediglich der Angeklagte nicht, ist gemäß § 330 II 2 Satzteil 2 StPO nach § 329 II und 3 zu verfahren, also in Abwesenheit des Angeklagten zu verhandeln – bei J stets bedenklich – oder seine Vorführung oder Verhaftung anzuordnen. Dagegen kann die Berufung nicht gem. § 329 I 1 StPO verworfen werden25, da es sich um ein selbständiges Rechtsmittel handelt, das der gesetzliche Vertreter nicht ohne Zustimmung des Angeklagten zurücknehmen kann (§ 55 III). – Erscheint der J, jedoch nicht der gesetzliche Vertreter, so ist ohne diesen zu verhandeln (§ 330 II 1 StPO). Wegen der Kosten bei Berufung des gesetzlichen Vertreters § 74, 15.

5. Verzicht, Teilanfechtung, Rücknahme 8 Für Rechtsmittelverzicht, Teilanfechtung und Rücknahme eines Rechtsmittels gilt allg. Recht. Der gesetzliche Vertreter und der ErzBerechtigte können jedoch das von ihnen eingelegte Rechtsmittel nach § 55 III nur mit Zustimmung des Angeklagten zurücknehmen, was auch für nachträgliche Rechtsmittelbeschränkung gilt26. Hat die StA zugunsten des J Rechtsmittel eingelegt, bedarf sie gem. § 302 I 2 StPO zur Zurücknahme der Zustimmung des J. Zum J Rn 3. Ein Anlass zur Einschaltung der gesetzlichen Vertreter beim J besteht nicht, da diese ein selbständiges Anfechtungsrecht haben (§ 298 StPO). Ein Vertrauensschutz wie im umgekehrten Fall (§ 55 III) ist nicht nötig, da ja der gesetzliche Vertreter seine Rechte zum Schutz des noch Minderjährigen hat, auf dessen Entschlüsse noch nicht uneingeschränkt gebaut werden kann. – Das alles gilt entsprechend sowohl für Handlungen des Verteidigers im Auftrag des Angeklagten als auch für Rechtsmittelverzicht, -beschränkung und Teilanfechtung (§ 302 II StPO). In der nachträglichen Revisionsbeschränkung durch den Verteidiger liegt jedoch nach dem BGH27 keine Teilrücknahme, die der ausdrücklichen Ermächtigung durch den Angeklagten bedarf. Ist die Vollmacht für den Verteidiger nur vom gesetzlichen Vertreter unterschrieben, wirkt die darin 22 23 24 25 26

OLG Hamburg NJW 64, 605. Anders Ostendorf/Schady 4 u. Ostendorf/Sommerfeld § 67, 4, 10. OLG Celle NJW 64, 417; OLG Hamm NJW 73, 1850. OLG Bremen NJW 60, 1171. OLG Düsseldorf NJW 57, 840; Eisenberg/Kölbel 11a; Ostendorf/Schady 4. Der ErzBerechtigte kann eine unbeschränkte Berufung des Angeklagten nicht wirksam beschränken, s. OLG Nürnberg StraFo 16, 113. 27 38, 4, gegen die frühere Rechtsprechung. 404

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befindliche Ermächtigung nicht gegen den J28. Nach dem BayObLG29 enthält die Rücknahme eines Rechtsmittels idR zugleich den Verzicht auf erneute Rechtsmitteleinlegung innerhalb der noch laufenden Frist. Nach Rücknahme ist auch im JRecht die isolierte Kostenbeschwerde unzulässig.30 Ein ausdrücklich, eindeutig und vorbehaltlos in Anwesenheit des Verteidigers erklärter Rechtsmittelverzicht ist auch bei Anwendung von JStrafrecht grds. unwiderruflich und unanfechtbar31. Zu einem ausnahmsweise unwirksamen Rechtsmittelverzicht eines Hw. § 68a, 732. Siehe auch Rn 20. Zum Rechtsmittelverzicht bei Ausländern Einf. 51. Ausnahmen vom unbeschränkten Recht des J, ein Urteil selbständig anzufechten, die An- 9 fechtung zurückzunehmen oder auf Anfechtung zu verzichten, gelten nur, wenn dem J offensichtlich die genügende Einsichtsfähigkeit für diese Prozesshandlung fehlt33 und das Gericht nicht ausreichend belehrt hat34. Für die Einsichtsfähigkeit kommt es auf die prozessuale Fähigkeit des J an, sich sachgerecht zu verteidigen und die Bedeutung und Wirkung einer Prozesshandlung zu erfassen35.

6. Beschränkung des Rechtsmittels Die Bildung einer Einheitsstrafe hindert bei Tatmehrheit (§ 31, 1) die auf eine Tat beschränkte 10 Anfechtung des Schuldspruchs nicht36 (s. auch § 56). Doch wird stets der gesamte Strafausspruch von der Anfechtung erfasst; eine Bindung an die rechtskräftigen Teile des Schuldspruches besteht nur hinsichtlich der Schuldfrage; hinsichtlich aller anderen Feststellungen bes. zur Straffrage ist das Gericht frei. Deshalb kann auch die Straffrage nur als Ganzes angegriffen werden. Die Revision kann auch nicht darauf beschränkt werden, dass eine noch nicht verbüßte JStrafe nicht einbezogen wurde, weil die Entscheidung darüber (§ 31 II oder III; vgl. § 31, 15 u. 19) nicht von den übrigen Strafzumessungserwägungen getrennt werden kann37. Bei Tateinheit ist Teilanfechtung ausgeschlossen, weil Straf- und Schuldausspruch unteilbar sind38. Zum Verschlechterungsverbot nach Aufhebung einer EinheitsJStrafe Rn 45. Auch § 32 hindert nicht die Teilanfechtung nur der in einer bestimmten Altersstufe begange- 11 nen Taten. War gem. § 32 eine Einheitsstrafe gebildet, so ist von der Anfechtung notwendig die Straffrage ganz umfasst, weil hier für die einzelnen Taten nicht gesonderte Strafen ausgeworfen sind; es gilt das für § 31 Gesagte. War dagegen gem. § 32 allg. Recht angewendet worden, so kann sowohl die Tat als auch der Rechtsfolgenausspruch isoliert angefochten werden. Lässt aber die Beschränkung des Rechtsmittels die Verurteilung wegen einer Tat (teil)rechtskräftig werden, und werden die übrig gebliebenen Taten erst in der Rechtsmittelinstanz oder nach Zurückverweisung abgeurteilt, so wird trotz getrennter Verhandlung und Aburteilung § 32 entsprechend anzuwenden sein39 (dazu auch § 32, 3). Sind mehrere Straftaten entgegen § 32 teils nach JStrafrecht und teils nach allg. Strafrecht abgeurteilt worden, erfasst nach dem BGH40 eine beschränkte Anfechtung des Schuldspruchs regelmäßig den gesamten Strafausspruch, weil

28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 405

OLG Hamm Zbl. 73, 159. 74, 57 im Anschluss an BGH 10, 245. OLG Düsseldorf NStZ 85, 522. BGH NStZ-RR 17, 95. Zu einem Fall der Umdeutung zugunsten des J OLG Düsseldorf JMBl. NRW 87, 71. Vgl. Meyer-Goßner/Schmitt StPO Einl. Rn 97. OLG Düsseldorf MDR 86, 75. BGH NStZ-RR 98, 60 für die Rechtsmittelrücknahme; d’Alquen/Daxhammer/Kudlich StV 02, 220. BGH GA 53, 85; Dallinger/Lackner Vorb. 15–19; Eisenberg/Kölbel 15a; aA Potrykus § 56 B 1a. BGH bei Herlan GA 63, 105; Eisenberg/Kölbel 16; Ostendorf § 31, 30. BGH GA 53, 85. BGH 29, 67; Eisenberg/Kölbel 19; aA BGH 10, 100. NStZ 00, 483.

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nach § 32 über die Anwendung von JStrafrecht oder allg. Strafrecht nur einheitlich entschieden werden kann. Zur Anfechtung u. Aufhebung der Entscheidung, ob J- oder ErwStrafrecht angewendet wird (§ 105 I): § 105, 43. Selbständig anfechtbar sind grds. Maßregeln der Besserung und Sicherung41, die Einziehung nach § 74 StGB42 und die Anrechnung der UHaft43. Für das JStrafrecht besteht aber eine ganz wesentliche Ausnahme. Wurde nämlich ein vermindert schuldfähiger J zu JStrafe verurteilt, so kann die StA ihr Rechtsmittel nicht wirksam auf die Nichtanordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (oder in einer Entziehungsanstalt) beschränken, weil die JStrafe nicht in Rechtskraft erwachsen darf, bevor nicht auch über die Unterbringung rechtskräftig entschieden ist. Denn damit würde dem Tatrichter die ihm nach § 5 III obliegende Beurteilung und Entscheidung, ob die Unterbringung die Ahndung durch eine JStrafe (oder die Anordnung eines Zuchtmittels) entbehrlich macht, nicht mehr möglich sein44; vgl. dazu auch § 5, 2–4; § 7, 3 u. 7. Gleiches wird für das Rechtsmittel eines vermindert schuldfähigen J gegen die isoliert ausgesprochene Anordnung der Unterbringung gelten müssen, weil § 5 III die Entscheidungen über jstrafrechtliche Rechtsfolgen und Unterbringung voneinander abhängig macht. Die Regelung des § 5 III spricht auch dagegen, dass die Nichtanordnung der Unterbringung der Überprüfung durch das Rechtsmittelgericht dadurch entzogen werden kann, dass nur der Strafausspruch angegriffen wird und das Absehen von der Unterbringung vom Rechtsmittelangriff ausgenommen wird45. Zur Anfechtung der Entscheidung über die Frage der Strafaussetzung zur Bew. allein § 59, 2. Ist nach Abs. II die Revision ausgeschlossen, so ist auch die sofortige Beschwerde nach § 59 I unzulässig46. Rechtsmittelbeschränkung ist Teilverzicht; es gilt das zu Rn 8 Gesagte entsprechend47. Das Revisionsgericht prüft auch bei Einheitsstrafe (§§ 31 f) nur im Rahmen der vorgetragenen Rügen (§§ 352, 344 StPO)48. Bei Zurückverweisung gilt Rn 11 entsprechend.

7. Rechtsmittel bei ErzMaßregeln und Zuchtmitteln 17 Abs. I gilt für jede Entscheidung (Urteil, Beschluss), jede Instanz, jedes Rechtsmittel (Berufung, Revision, Beschwerde, Wiederaufnahme (Rn 65) und jeden Rechtsbehelf49. Voraussetzung ist, dass nur ErzMaßregeln (aber nicht Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2) oder 18 Zuchtmittel (einschließlich Dauerarrest) ausgesprochen sind oder gem. § 53 die Auswahl und Anordnung der ErzMaßregeln, hier einschließlich Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2 (§ 53, 5)50, dem Familiengericht übertragen sind. Vgl. auch § 53, 6. – Abs. I beschränkt also die Rechtsmittel nicht, wenn neben diesen Maßnahmen oder allein Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2 oder JStrafe verhängt, die Verhängung einer JStrafe zur Bew. ausgesetzt ist oder Maßregeln der Besserung und Sicherung51, Einziehung52, Nebenstrafen oder Nebenfolgen ausgesprochen sind; solche Ent41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51

Vgl. BGH bei Dallinger MDR 54, 16; BGH 6, 183; 10, 379; BGH NJW 63, 1414; OLG Schleswig MDR 77, 1039. OLG Düsseldorf GA 77, 21. BGH 7, 214 mwN; KG DAR 54, 189; aA OLG Oldenburg JZ 52, 753. Insgesamt wie hier Eisenberg/Kölbel 17b. BayObLG 89, 48 = JR 90, 210 mit zust. Anm. Brunner. BGH NStZ-RR 98, 188. OLG Düsseldorf MDR 90, 178. OLG Celle NJW 64, 147. BGH GA 53, 83; Dallinger/Lackner Vorb. 21; aA Potrykus § 56 B 1b. Dallinger/Lackner 5, 7; Eisenberg/Kölbel 39, 40, 28; Ostendorf/Schady 25. Dallinger/Lackner 20, 21; Eisenberg/Kölbel 41 u. § 53, 16. BGH B NStZ 84, 447; OLG Hamm JMBl. NRW 57, 36; Potrykus NJW 54, 1350; 55, 246; z.B. isolierte Sperre nach § 69a I 3 StGB – OLG Zweibrücken MDR 83, 1046. 52 BGH bei Bittmann NStZ 20, 519. 406

Anfechtung von Entscheidungen

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scheidungen können in jedem Umfang und mit jeder Begründung angefochten werden53. Schon deshalb gilt die Beschränkung des Abs. I nicht für die in § 59 geregelte Anfechtung der nachträglichen Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bew.54. Auch dann ist die Anfechtung nur unzulässig, wenn sie mit bestimmter Begründung erfolgt, 19 nämlich wenn Umfang oder Auswahl der Maßnahmen (einschließlich § 53) angegriffen wird. Dazu aber § 53, 6. Ein Angriff gegen den Umfang einer Maßnahme liegt auch vor, wenn ein gänzliches Absehen davon erreicht werden soll55, sodass mit Beschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch nicht angefochten werden kann, wenn nicht nach § 29 V BtMG von der Bestrafung nach Abs. I, II, IV abgesehen worden ist56. Solange das Rechtsmittel nicht begründet wird57 oder die Begründung sich nicht nur auf die ausgeschlossenen „Straf“maß-Rügen beschränkt, kann das Rechtsmittel nicht nach § 55 I unzulässig sein58. Eine Verwerfung als unzulässig, wenn nur in Abs. I 1 genannte Maßnahmen angeordnet sind, der Angeklagte in 1. Instanz im Umfang des Schuldspruchs geständig war, der Schuldspruch keinen Rechtsirrtum und die Berufungsschrift keinerlei Hinweis auf zulässige Rügen enthält59, ist nach geltendem Recht nicht möglich60; denn jedes Rechtsmittel, das nicht näher begründet ist, richtet sich gegen die Entscheidung als Ganzes (§ 318 S. 2 StPO), also auch gegen den Schuldspruch61. Das ist ein in der Praxis missliches, aber nicht vermeidbares Ergebnis. Eine Aufklärung dadurch, dass das Gericht den Angeklagten befragt, was er mit seiner 20 Berufung erstrebe, kann nur dann zu einer Verwerfung des Rechtsmittels durch das Berufungsgericht als unzulässig führen, wenn das Rechtsmittel in der Form einer teilweisen Zurücknahme auf die durch Abs. I ausgeschlossenen Beschwer-Punkte beschränkt wird62; der Erklärende muss sich der Tragweite bewusst sein, was bes. im Hinblick auf die Möglichkeiten der §§ 47, 45 oft zweifelhaft sein wird63 (vgl. dazu Rn 19). Bei Erklärungen des Verteidigers, aber auch des gesetzlichen Vertreters oder des ErzBerechtigten, dürfen § 55 III (s. Rn 8) und § 302 II StPO (s. ebenfalls Rn 8) nicht übersehen werden64. Eine Rechtsmittelbeschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch ist nicht wegen § 55 I unwirksam; wird das Rechtsmittel entsprechend beschränkt, führt das zu seiner Unzulässigkeit65. Beschränkt der Verteidiger trotz Belehrung sein Rechtsmittel auf den Umfang der Maßnahmen, so hat er gegen die Verwerfung seiner Berufung kein Rechtsmittel mehr66, weil hier die Möglichkeit einer neuen Sachentscheidung eröffnet war. Bei der Unzulässigkeit der vom Verteidiger auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten Berufung verbleibt es auch dann, wenn nach Ablauf der Berufungsfrist der Angeklagte die Ermächtigung seines Verteidigers zur Berufungsbeschränkung widerruft und erklärt, die Berufung solle unbeschränkt durchgeführt werden67. Die Revision ist unzulässig, wenn im angegriffenen Urteil JA verhängt wurde und die unbeschränkt eingelegte Revision allein mit einem Angriff gegen

53 BGH NJW 22, 953, 954; Dallinger/Lackner 11; Eisenberg/Kölbel 50; Ostendorf/Schady 26; aA Potrykus NJW 54, 1349. 54 Potrykus NJW 60, 1216. 55 BGH NStZ 20, 739. 56 LG Mainz NStZ 84, 121 mit krit. Anm. Eisenberg; bestätigt durch Beschl. des OLG Koblenz v. 14.9.1983 – 1 Ws 588/83; ebenso OLG Celle NStZ-RR 01, 121; OLG Stuttgart Justiz 02, 515. 57 Dallinger/Lackner 29. 58 OLG Celle NJW 64, 417; OLG Köln Zbl. 81, 34; KG StV 11, 595. 59 So Hellmer JR 55, 92, 93; ähnl. Potrykus B 5 A II b. 60 Dallinger/Lackner 24; Eisenberg/Kölbel 52. 61 Vgl. zur Auslegung einer solchen Berufung BayObLG 73, 220. 62 OLG Celle NJW 64, 417; Dallinger/Lackner 29; Ostendorf/Schady 31; Schäfer NStZ 98, 331. 63 OLG Celle aaO. 64 Schäfer aaO. 65 OLG Hamm NStZ 16, 106 mit Anm. Laue. 66 OLG Karlsruhe Justiz 86, 28 gegen BayObLG 73, 220. 67 OLG Oldenburg NStZ 09, 450. 407

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die Strafzumessung begründet wird68. Sie ist auch dann unzulässig, wenn sich der Begründung der Revisionsanträge nicht eindeutig entnehmen lässt, dass ein nach § 55 I zulässiges Ziel verfolgt wird69. Diese Anforderungen an die Revision sind verfassungsgemäß70. 21 Der Schuldspruch kann stets angefochten werden, ebenso der Freispruch (auch wegen Strafunmündigkeit) durch die StA71. Auch der Einwand der Gesetzeswidrigkeit einer Maßnahme ist immer möglich72, so, wenn die Bildung einer Einheitsstrafe aus rechtsirrigen Erwägungen abgelehnt wurde73, wenn das ErwGericht ErzMaßregeln angeordnet hat (§ 104 IV), wenn durch Weisungen die der staatlichen Strafgewalt gezogenen Grenzen überschritten werden (§ 10, 9) oder der Richter sein Ermessen offensichtlich überschritten hat (näher § 10, 9 f)74 oder wenn JA zur Bew. ausgesetzt wurde75 (vgl. § 87, 5) oder wenn disziplinarischer Arrest (§ 22 WDO) nicht angerechnet wurde76. Vgl. dazu § 112a, 11. Zur Überschreitung des Strafbannes des § 76 vgl. § 78, 23. Es kann die Verhängung von JA durch das Berufungsgericht statt der vom Erstrichter verhängten, zur Bew. ausgesetzten Freiheitsstrafe mit der Begründung angefochten werden, das Berufungsurteil sei wegen Verstoßes gegen das Verschlechterungsverbot gesetzeswidrig77 (dazu aber Rn 42). Dagegen ist eine Anfechtung eines auf JA lautenden Urteils nicht deshalb möglich, weil die UHaft nicht gem. § 52 berücksichtigt wurde; denn das gehört zum Umfang der Anordnung des JA, der der Anfechtung entzogen ist (vgl. näher § 52a, 11). 22 Der J kann weiter die Verneinung der Strafmündigkeit (§ 3 S. 1) angreifen, um die Grundlage für nach § 3 S. 2 angeordnete Maßnahmen zu beseitigen; er kann zu diesem Zweck auch geltend machen, dass er keine strafbare Handlung begangen habe oder dass Maßnahmen nach § 3 S. 2 nicht erforderlich seien78 (ähnlich wie bei Freispruch nach § 20 StGB u. Unterbringung gem. § 63 StGB). – Der Hw. kann stets mit der Begründung anfechten, es sei die falsche Rechtsordnung angewandt (s. aber Rn 10). – Die StA hat auch dann ein Rechtsmittel, wenn sie JStrafe (oder mindestens einen Schuldspruch nach § 27), Einziehung, eine Nebenstrafe oder Nebenfolge oder eine Maßregel der Besserung und Sicherung allein oder neben den getroffenen Maßnahmen für notwendig hält79, nicht aber Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2, denn Abs. I 2 dient nur dem Schutz des J80; Anregung an das Familiengericht ist aber möglich: § 53, 9. Bei Nichtgewährung rechtlichen Gehörs kann nach Abs. IV iVm § 356a StPO Nachholung beantragt werden. 23 Ein danach zulässiges Rechtsmittel ergreift das Urteil in vollem Umfang. In ihm können auch Rügen enthalten sein, die allein nicht zulässig waren81. Wird die erstrebte jgemäße Beschleunigung schon durch zulässige Anfechtung verhindert, so soll das Urteil auch voll über-

68 BGH B NStZ-RR 99, 291. 69 BGH NStZ 13, 659 mit Anm. Radtke = StraFo 13, 428 mit Anm. Eisenberg; BGH bei Ciernick/Niehaus NStZ-RR 16, 197; BGH NStZ 20, 739; 22, 557; OLG Celle NStZ-RR 01, 121; OLG Hamm NStZ 20, 748; vgl. auch OLG Hamm ZJJ 17, 283, 284: Zur Klärung des Angriffsziels dürfen auch außerhalb der Rechtsmittelerklärung liegende Umstände berücksichtigt werden. 70 BVerfG NStZ-RR 07, 385. 71 Zust. Eisenberg/Kölbel 46, 47. 72 BVerfG NStZ-RR 07, 385, 386; BGH NStZ 13, 659; StV 17, 713; NStZ 20, 739; NJW 22, 953, 954; OLG Celle NStZ-RR 01,121; Eisenberg/Kölbel 48. 73 OLG Schleswig SchlHA 58, 180. 74 Itzel S. 12. 75 OLG Düsseldorf NJW 61, 891; OLG Frankfurt NJW 63, 969. 76 Ostendorf/Schady 28. 77 OLG Oldenburg Zbl. 67, 343; OLG Düsseldorf NJW 61, 891; OLG Frankfurt NJW 63, 67. 78 Dallinger/Lackner 12. 79 OLG Zweibrücken NStZ-RR 98, 118. 80 Dallinger/Lackner 18; Eisenberg/Kölbel 49; aA DSS/Schatz 61. 81 BGH 10, 198; BGH NJW 20, 1009; BayObLG NJW 92, 1520 = JR 92, 387 mit zust. Anm. Brunner; KG DAR 54, 189; OLG Stuttgart NJW 56, 33; OLG Hamm NJW 56, 1736; Dallinger/Lackner 25; Eisenberg/Kölbel 50, 53; Ostendorf/Schady 26; Böhm/Feuerhelm S. 94; Streng Rn 582; aA OLG Frankfurt NJW 56, 32 mit zust. Anm. Schnitzerling; Arthur Kaufmann JZ 58, 9; Potrykus B 5 B II; NJW 55, 929; Schaumann S. 143. 408

Anfechtung von Entscheidungen

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prüft werden. Das Rechtsmittelgericht kann, wenn das Urteil zulässig angefochten ist, auch ErzMaßregeln, Zuchtmittel oder die Überweisung nach § 53 aufheben und abändern, weil § 55 I nur die Zulässigkeit des Rechtsmittels betrifft, aber keine Bindung des Rechtsmittelgerichts bewirkt82. Es kann aber auf Rechtsmittel des J nicht verschlechtern. So kann auf Berufung des Angeklagten, der seinen Freispruch erstrebt, in 2. Instanz an Stelle eines Dauerarrestes des Ersturteils Freizeitarrest oder eine andere ErzMaßregel (außer Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2) oder ein anderes Zuchtmittel (Rn 38) angeordnet werden83. Das kann notwendig sein, wenn aufgrund neu bekannt gewordener Tatsachen eine Änderung geboten ist; es wäre sinnlos und erz. gefährlich, hier nur auf das Abänderungsverfahren des Erstrichters zu verweisen. Das Rechtsmittelgericht sollte aber gerade in diesem Punkt äußerste Zurückhaltung üben und bedenken, dass es sich vorwiegend um erz. Maßnahmen handelt, deren Notwendigkeit und Umfang vom Erstgericht meist besser beurteilt werden kann als von dem später entscheidenden, mit den örtlichen und persönlichen Verhältnissen weniger vertrauten Rechtsmittelgericht84. Bes. Vorsicht ist hier auch deshalb geboten, weil sonst die in der Praxis gar nicht seltenen Berufungen gefördert werden, welche durch vorgeschobene Beschwerdegründe die Rechtsmittelbeschränkung zu umgehen versuchen. Das Berufungsgericht verwirft als unzulässig nach Abs. I durch nicht anfechtbares Urteil 24 (§ 55 II) oder durch Beschluss, der nach § 322 II StPO mit sofortiger Beschwerde angefochten werden kann. Wird die Berufung des gesetzlichen Vertreters als unzulässig verworfen, so steht dem J, auch wenn er auf Rechtsmittel verzichtet hatte, die Beschwerde offen85.

8. Nur ein Rechtsmittel Abs. II (idR nur ein Rechtsmittel) gilt nur für Urteile. 25 Deren Anfechtung richtet sich grds. nach allg. Recht. Zu beachten ist, dass die JKammer 26 auch über die Berufung gegen Urteile des JRichters als Einzelrichter entscheidet (§ 41 II 1; zur Besetzung § 33b). Die Anfechtung der BewEntscheidung nach § 59 I und § 464 III StPO (Kostenbeschwerde; näher § 74, 16) geben nur dem die sofortige Beschwerde, dem an sich nach Abs. II noch ein Rechtsmittel zusteht. Denn diese Vorschriften begründen kein zusätzliches Rechtsmittel, sondern treten unter bestimmten Voraussetzungen an die Stelle einer Berufung oder Revision, sodass für den Ausschluss der Anfechtung nichts anderes gelten kann als für diese Rechtsmittel86. Ist daher Revision ausgeschlossen, gilt dies auch für die sofortige Beschwerde nach § 59 I87. Vgl. auch § 59, 2, 3. Auf die einfache Beschwerde gemäß § 59 II ist § 55 II jedoch nicht anwendbar (§ 59, 9 aE). Zu § 59 III s. § 59, 5. Nach Berufung verbietet § 55 II auch eine Beschwerde gegen die Kostenentscheidung des Berufungsgerichts88. Auch wenn der J seine 82 83 84 85

BGH 10, 198; BGH NJW 20, 1009; OLG Hamm NStZ 20, 748. BGH 10, 200. BGH NJW 52, 436. OLG Celle NJW 64, 417; OLG Hamm NJW 73, 1850; Dallinger/Lackner 23; Eisenberg/Kölbel 51; Ostendorf/Schady

29.

86 OLG Düsseldorf NStZ 94, 198 f; OLG Hamm VRS Bd. 113 (07), 383; OLG Bamberg NStZ 12, 165, 166; Dallinger/ Lackner § 59, 12.

87 OLG Hamm JMBl. NRW 55, 10; VRS Bd. 113 (07), 383; OLG Stuttgart Justiz 64, 172; OLG Düsseldorf MDR 90, 178; NStZ 94, 198; OLG Frankfurt NStZ-RR 03, 27; Dallinger/Lackner 61; DSS/Schatz 92 u. § 59, 12; Burscheidt S. 154; Schaumann S. 188; aA Eisenberg/Kölbel 71; Ostendorf/Schady 33 u. Ostendorf/Drenkhahn § 59, 2; Bode S. 135. 88 OLG Stuttgart Justiz 70, 190; 72, 42 = OLGSt S. 1 zu § 74; OLG Frankfurt Zbl. 76, 131; B NStZ 82, 416; OLG Koblenz MDR 78, 595; OLG Hamm JMBl. NRW 83, 65; StV 99, 667; NStZ-RR 99, 54; NStZ-RR 14, 96 mit abl. Anm. Eisenberg NStZ 14, 410; OLG Düsseldorf NStZ 85, 522 mit abl. Anm. Eisenberg/von Wedel; OLG Oldenburg NStZ-RR 06, 191; Bode aaO, S. 131; Burscheidt S. 154; Schaumann S. 190; aA Eisenberg/Kölbel 72; Ostendorf/Schady 33; Bedenken bei Nothacker S. 134, 135. Zur Frage, wann eine Revision zugleich als sofortige Kostenbeschwerde zu behandeln ist, BayObLG 72, 7; 73, 74, 146; OLG Frankfurt NJW 74, 202. 409

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Berufung zurückgenommen hat, ist ihm eine Beschwerde gegen den Kostenbeschluss der JKammer versagt89. Nach OLG Hamm90 steht jedoch der Beschwerde gegen eine vor der Berufungsverhandlung getroffene Entscheidung des Vorsitzenden im Zusammenhang mit der Bestellung oder Abberufung eines Pflichtverteidigers Abs. II nicht entgegen91. Auch die Beschwerde gegen die Ablehnung einer Terminverlegung ist nach OLG Koblenz92 zulässig. 27 Gem. Abs. II 1 hat also jeder Anfechtungsberechtigte (Rn 3, 35) nur ein Rechtsmittel, Berufung oder Revision. Haben die nach Abs. II 1 Anfechtungsberechtigten teils Berufung, teils Revision eingelegt, gilt das Rechtsmittel einheitlich als Berufung, solange diese nicht zurückgenommen oder als unzulässig verworfen worden ist (vgl. Rn 35; § 335 III 1 StPO)93. Die Revision gegen das Ersturteil ist im JRecht nicht Sprung-, sondern Wahlrevision. Ungeachtet dieser Abweichung gelten schon mit Rücksicht auf die Bedeutung dieser Wahl und deshalb, weil diese erst nach Kenntnis der schriftlichen Urteilsgründe sinnvoll ausgeübt werden kann, auch hier die Grundsätze des allg. Rechts über die Ausübung des Wahlrechts bis zum Ablauf der Revisionsbegründungsfrist (Rn 30) und über die Behandlung der Anfechtung als Berufung, wenn keine oder keine genügende (§§ 344, 337 StPO) Begründung gegeben wird. Der Anfechtende ist aber an die Wahl gebunden, sobald er sie getroffen hat und sinnvoll treffen konnte. Letzteres ist erst der Fall, wenn ihm das schriftliche Urteil zugestellt ist; auch dann schadet es nicht, wenn das Rechtsmittel irrtümlich falsch bezeichnet ist (§ 300 StPO). Ein vorher eingelegtes Rechtsmittel ist ungeachtet seiner Bezeichnung und Begründung nur eine Anfechtung schlechthin und wird als Berufung behandelt94, kann aber innerhalb der Revisionsbegründungsfrist als Revision bezeichnet werden. Eine Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand gegen die Versäumung der Wahl des Rechtsmittels der Revision ist auch bei Anwendung des JStrafrechts nicht zulässig95. Die endgültige Wahl des Rechtsmittels muss in der für die Einlegung dieses Rechtsmittels vorgeschriebenen Form und gegenüber dem Gericht erklärt werden, dessen Urteil angefochten wird96. Bei wirksamem Übergang von der Berufung auf die Revision steht § 55 II der Zulässigkeit der Revision nicht entgegen, weil über die Berufung nicht zu entscheiden ist97. Bei Zweifeln über die Art des eingelegten Rechtsmittels kann das Revisionsgericht bindend das Berufungsgericht entsprechend § 348 StPO als zuständig bezeichnen98. Wegen des Übergangs zur sofortigen Beschwerde gem. § 59 I s. Rn 26. Auch eine beschränkt eingelegte Berufung führt zur vollen Rechtsmittelbeschränkung99. 28 Jeder hat nur ein Rechtsmittel, auch wenn das auf seine oder eines anderen Anfechtungsberechtigten und des Gegners Berufung ergangene Urteil ihm nachteiliger ist als das Ersturteil100 (Ausnahmen Rn 30), selbst wenn er seine Berufung auf einzelne Punkte beschränkt101, nur ge-

89 OLG Hamm JMBl. NRW 83, 65; NStZ 14, 412. Ebenso zur sofortigen Beschwerde gegen die Zurückweisung eines Ablehnungsantrags OLG Köln ZBl. 76, 308 u. Burscheidt S. 151 f, 154; abl. Eisenberg/Kölbel 72a; Ostendorf/Schady 33. 90 StV 86, 306. 91 Zust. Eisenberg/Kölbel 72b. 92 OLG Koblenz NStZ-RR 12, 21. 93 Eisenberg/Kölbel 67; Ostendorf/Schady 32. 94 BGH 2, 70; Dallinger/Lackner 35, 36; Eisenberg/Kölbel 60; Ostendorf/Schady 35. 95 OLG Hamm NStZ-RR 12, 285; aA Eisenberg/Kölbel 61b. 96 BayObLG NStZ-RR 98, 51. 97 BayObLG aaO, 52. 98 BGH JZ 83, 154. 99 Ostendorf/Schady 36. 100 OLG Hamm NJW 55, 1609; BayObLG DRiZ 55 Nr. 282; BayObLG 88, 120 = NStZ 89, 194 mit abl. Anm. Ostendorf; BayObLG 04, 139; OLG Düsseldorf B NStZ 90, 530; KG NStZ-RR 07, 216, 217; Dallinger/Lackner 46; Eisenberg/Kölbel 64. 101 BayObLG NJW 64, 1084; für Hinweispflicht des Richters bzw. Pflichtverteidigerbestellung in diesen Fällen Ostendorf/Schady 36; Burscheidt S. 132. 410

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gen die Maßnahme der Einziehung gerichtet102 oder zurückgenommen hatte103. Auch ein Verstoß gegen das Verschlechterungsverbot durch das Berufungsgericht gibt hier dem Angeklagten kein 2. Rechtsmittel104. Hier kann und muss aber die StA, wenn sie noch ein Rechtsmittel hat, zugunsten des Angeklagten Revision einlegen. Wird eine rechtskräftig ausgesetzte JStrafe auf Berufung des J in eine neue JStrafe einbezogen, so hat der J weder Revision noch sofortige Beschwerde nach § 59 I105. Die Beschwerde wird auch nicht dadurch eröffnet, dass die neue JStrafe nicht zur Bew. ausgesetzt wurde106. Wird die Berufung eines J oder Hw., der nach JStrafrecht abgeurteilt wurde, wegen unent- 29 schuldigten Ausbleibens (auch des Verteidigers) in der Berufungshauptverhandlung nach § 329 I StPO sofort verworfen, so hat dieser kein Rechtsmittel mehr107. Die vom BGH108 verworfene aA des OLG Celle109, das einem im 1. Rechtszug nach JStrafrecht verurteilten Hw. nach Verwerfung seiner Berufung gemäß § 329 I StPO ein 2. Rechtsmittel gewährt hat (weil nicht JStrafrecht angewendet worden sei), ist nicht haltbar. Die Entscheidung, dass auf den Hw. JStrafrecht anzuwenden ist, wurde bereits in 1. Instanz getroffen110. Etwas anderes gilt nur, wenn auf Berufung der StA der in 1. Instanz freigesprochene Hw. erneut freigesprochen wird. Hier hat die StA ein 2. Rechtsmittel, weil über die Anwendung von JStrafrecht überhaupt nicht entschieden, weil materielles JStrafrecht nicht angewendet worden ist111 und im Übrigen bei Schweigen eines nicht nur formellen Urteils von der Anwendung von ErwStrafrecht auszugehen wäre, weil § 105 ausdrückliche Feststellung erfordert112. Wurde der Angeklagte zur Berufungsverhandlung jedoch nicht geladen, so ist Wiedereinsetzung entsprechend § 44 StPO angebracht113. Ein 2. Rechtsmittel (Revision nach erfolgloser Berufung) hat auch der Nebenkläger, wenn der Hw. in 1. und 2. Instanz freigesprochen worden ist, weil auch hier nicht festgestellt werden kann, ob JRecht angewendet worden ist114. Hat ein nach JRecht Verurteilter gegen ein Urteil des JGerichts Revision eingelegt, kann er nach Aufhebung und Zurückweisung für die Anfechtung des neuen Urteils nach § 55 II 1 die Berufung wählen115. Bei erfolgreicher Revision eines Mitangeklagten gegen das Berufungsurteil ist nach dem BGH116 § 357 StPO nicht auf den nach JRecht Verurteilten anwendbar, der Berufung eingelegt hat und selbst wegen § 55 II keine Revision hätte einlegen können. Der BGH führt ua an, dass § 357 StPO als eine die Rechtskraft durchbrechende Ausnahmeregelung eng auszulegen ist und § 55 II im Interesse der Beschleunigung fehlerhafte Verurteilungen in 102 Dallinger/Lackner 47. 103 OLG Schleswig bei Ernesti/Lorenzen SchlHA 84, 89; KG NStZ-RR 07, 216, 217; Burscheidt S. 136. 104 BayObLG NStZ 89, 194 mit abl. Anm. Ostendorf; Schäfer NStZ 98, 335; aA Schaumann S. 173; nach Bode S. 140 soll in diesem Fall u. bei anderen groben Gerechtigkeitsverstößen eine außerordentliche Revision zulässig sein. 105 OLG Oldenburg NStZ 09, 451; OLG Bamberg NStZ 12, 165. 106 OLG Stuttgart MDR 76, 1043; Burscheidt S. 147 f; Schäfer aaO; für Revisionsbefugnis nur hinsichtlich Bildung u. Umfang der einheitlichen Maßnahme Schweckendieck NStZ 05, 142. 107 BGH 30, 98 mit zust. Anm. Brunner JR 82, 123; BayObLG Urt. v. 26.11.1968 – RReg. 3b St. 193/68; OLG Hamm MDR 81, 340 (Vorlagebeschluss gegen OLG Celle JR 80, 37 mit abl. Anm. Brunner); StV 99, 657; NStZ 20, 304; OLG Celle NJW 68, 1297; OLG Saarbrücken MDR 74, 161; OLG Düsseldorf MDR 88, 343; JMBl. NRW 91, 183 (auch wenn mit absolutem Revisionsgrund behaftetes erstinstanzliches Urteil Rechtskraft erlangt); MDR 94, 1141; OLG Zweibrücken B NStZ 91, 529; OLG Dresden NStZ-RR 10, 186; Eisenberg/Kölbel § 109, 44; Ostendorf/Schady 32; Nothacker S. 136. 108 30, 98. 109 JR 80, 37 unter Aufgabe von NJW 68, 1297. 110 Zu weiteren Gegenargumenten Brunner JR 80, 39. 111 BayObLG Urt. v. 10.10.1980 – RReg. 2 St. 249/80. 112 OLG Frankfurt NStZ-RR 03, 327; OLG Celle NJW 75, 2254 zum Fall der Unterbringung. 113 OLG Düsseldorf MDR 88, 519. 114 OLG Düsseldorf VRS Bd. 75 (88), 474. 115 OLG Celle MDR 92, 286; Eisenberg/Kölbel 57. 116 51, 34 = JR 06, 523 mit abl. Bespr. Mohr JR 06, 499 = StV 07, 6 mit abl. Bespr. Prittwitz StV 07, 52; ebenso OLG Oldenburg NJW 57, 1450; DSS/Schatz 90, u. – jeweils zu § 357 StPO – KK/Gericke 12; Löwe/Rosenberg/Franke26 12; Meyer/Goßner/Schmitt 7. 411

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Kauf nimmt. Nach der Gegenmeinung ist das Revisionsurteil auf den Mitangeklagten zu erstrecken, weil der Gesichtspunkt der Beschleunigung aus Gründen der Erz. und Gerechtigkeit gegenüber einem erwiesenermaßen falschen Urteil zurücktreten sollte117. Hat der Mitangeklagte keine Berufung eingelegt, greift § 357 StPO ein118. Dagegen erstreckt sich die Aufhebung gem. § 354a StPO wegen zwischenzeitlicher Gesetzesänderung nicht auf die Mitangeklagten, die keine Revision eingelegt haben. Das folgt aus dem Gesetzeswortlaut (§§ 357, 354a StPO)119. Zu Hw. Rn 33.

9. Ausnahmen 30 Das schließt jedoch nicht aus, dass auch in JSachen gegen Berufungsurteile Revision eingelegt wird. So kann jeder Verfahrensbeteiligte Revision gegen ein Berufungsurteil einlegen, das nur auf Berufung eines anderen Verfahrensbeteiligten (s. aber Rn 35) ergangen ist, auch wenn er selbst in anderer Eigenschaft Berufung eingelegt hatte (z.B. Berufung als Nebenkläger, Revision als Angeklagter)120 Ein 2. Rechtsmittel kann auch eingelegt werden, wenn – wegen Freispruchs – nicht festgestellt werden kann, ob in der Berufungsinstanz JStrafrecht angewendet worden ist (Rn 29)121. Revision ist auch zulässig, wenn und soweit über die Berufung ausweislich der Urteilsformel nicht mitentschieden wurde122; wird die übergangene Berufung nicht mit der Revision weiterverfolgt, wird sie gegenstandslos123. Der J kann gegen das auf Berufung der StA ergangene Urteil auch dann Revision einlegen, wenn er die von ihm gegen die erstinstanzliche Entscheidung eingelegte „Berufung“ vor Ablauf der Revisionsbegründungsfrist gegen dieses Urteil zurückgenommen hatte124. Die ursprünglich gewählte Bezeichnung des Rechtsmittels hindert zumindest idR nicht, vor Ablauf der Frist des § 345 I StPO endgültig zu Berufung oder Revision überzugehen125; anders aber, wenn die Wahl bereits ausgeübt war126. Die Übergangserklärung und die Revisionsbegründung sind beim Amtsgericht anzubringen127. 31 Die Revision ist auch dem Berufungsführer selbst möglich, der vom Berufungsgericht aufgrund einer gleichzeitigen Berufung der StA oder des Nebenklägers wegen Taten verurteilt wurde, hinsichtlich derer er in 1. Instanz freigesprochen wurde128. Ergeht auf Berufung eines Hw. gegen eine Verurteilung nach JStrafrecht erstmals in der Berufungsinstanz eine Adhäsionsentscheidung gegen ihn, kann er dagegen Revision einlegen, weil Abs. II nur einen Sachverhalt erfasst, der bereits Gegenstand der Berufung war129. Bezieht das Berufungsgericht aber lediglich ein Tatgeschehen, hinsichtlich dessen der J vom Erstgericht freigesprochen war, in eine vom Erstgericht angenommene fortgesetzte Handlung ein, ist kein weiteres Rechtsmittel gegeben130. Auch wenn der Angeklagte gegen ein Urteil und die StA gegen ein anderes Urteil des JRichters jeweils auf das Strafmaß beschränkt Berufung eingelegt haben und die JKammer gem. § 31 JGG nach Verbindung der Verfahren eine Einheitsstrafe gebildet hat, kann der Angeklagte – ebenso 117 So OLG Karlsruhe ZJJ 06, 74 – Vorlagebeschluss; Altenhain NStZ 07, 283; Dallinger MDR 63, 539; Eisenberg/ Kölbel 70; LBN/Laubenthal/Nestler Rn 400; Ostendorf/Schady 41; Satzger FS Böttcher, S. 181 ff; Streng Rn 579. OLG Koblenz StV 09, 90. BGH 20, 78; BayObLG 64, 127. OLG Hamm JMBl. NRW 55, 59; Dallinger/Lackner 53, Ostendorf/Schady 38. Vgl. zum Nebenkläger OLG Düsseldorf VRS Bd. 75 (88), 474. Dallinger/Lackner 52; Eisenberg/Kölbel 62a. BayObLG 51, 593; 59, 168. BGH 25, 321; BayObLG 04, 139, 140. BGH 5, 338; 13, 388; 17, 44; BayObLG 71, 72. OLG Schleswig SchlHA 80, 74. BGH 40, 395 = JR 96, 37 mit Anm. Fezer. BayObLG 72, 274; 04, 139, 140; OLG Karlsruhe Justiz 74, 137; KG NStZ-RR 07, 216; Eisenberg/Kölbel 65. OLG Schleswig bei Döllel/Dreeßen SchlHA 10, 261. BayObLG 77, 16; Eisenberg/Kölbel 64.

118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129 130

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wie die StA – dagegen Revision einlegen131. Das gilt auch bei unbeschränkten Berufungen des J und der StA gegen je ein anderes Urteil, wenn das Berufungsgericht nach Verbindung dieser Verfahren eine EinheitsJStrafe gebildet hat132, denn sonst hätte der J gegen eines der Urteile überhaupt kein Rechtsmittel. Wer Revision gewählt hatte, behält sein Revisionsrecht, wenn sein Rechtsmittel als Beru- 32 fung behandelt wurde, weil ein anderer Verfahrensbeteiligter Berufung eingelegt hat (§ 335 III StPO); er kann es gegen das Berufungsurteil ausüben oder darauf verzichten133. Hat der Rechtmittelführer sein Rechtsmittel nicht konkretisiert, gilt dies jedoch nur dann, wenn er das Rechtsmittel in der Revisionsbegründungsfrist als Revision bezeichnet hat134. Revision ist auch dann zulässig, wenn die JKammer auf Berufung eine Strafe oder Maßnahme verhängt hat, die die Strafgewalt des Gerichts übersteigt, dessen Urteil angefochten ist (z.B. mehr als 4 Jahre Freiheitsstrafe; mehr als 1 Jahr JStrafe oder Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, wenn der J(Einzel)Richter entschieden hatte); denn hier hat die JKammer als Gericht 1. Instanz entschieden (§ 41, 50), die Einlegung der Berufung darf also nicht beachtet werden135. Ein Hw. kann Revision gegen ein das allg. Recht anwendendes Berufungsurteil einlegen, 33 auch wenn er in 1. Instanz nach JRecht verurteilt wurde und selbst zulässige Berufung eingelegt hat; denn § 55 II JGG gilt nur, wenn im konkreten Fall materielles JStrafrecht angewendet wurde136. Umgekehrt hat der Angeklagte, der bereits Berufung eingelegt hatte, auch dann keine Revision gegen das JRecht anwendende Berufungsurteil, wenn er in 1. Instanz nach allg. Recht abgeurteilt wurde137. Das gilt auch dann, wenn die Berufungshauptverhandlung gem. § 231 II StPO in Abwesenheit des Angeklagten zu Ende geführt wurde138. Zum Freispruch in der Berufungsinstanz Rn 29. Beschränkt die StA ihre Berufung gegen einen nach ErwStrafrecht verurteilten Hw. auf die Strafaussetzung zur Bew., darf die JKammer nach OLG Frankfurt139 nicht auf JStrafrecht übergehen. Wird gegen einen Hw. JStrafrecht angewendet, gelten gemäß § 109 II 3 im beschleunigten Verfahren § 55 I und II nicht (§ 109, 12). § 55 schließt die Revision des erw. Einziehungsbeteiligten (§ 427 StPO) nach vorangegangenem Berufungsverfahren nicht aus140. 34 Bei Nichtgewährung rechtlichen Gehörs gilt nach Abs. IV § 356a StPO entsprechend.

10. Mehrere Anfechtungsberechtigte Wenn ein Angeklagter, ErzBerechtigter, gesetzlicher Vertreter oder Verteidiger Berufung einge- 35 legt hat, kann ein anderer der Genannten nicht mehr Revision einlegen und umgekehrt (Abs. II 2). Der Verteidiger übt die Rechte des Mandanten aus; legen beide verschiedene Rechtsmittel ein, gilt das zuerst eingelegte (aber § 297 StPO), weil damit die Wahlmöglichkeit verbraucht 131 OLG Hamm Zbl. 64, 306; Dallinger/Lackner 48; Eisenberg/Kölbel 63b. 132 OLG Hamm NStZ 90, 140 mit zust. Anm. Neuhaus; BayObLG 04, 139, 140; OLG Brandenburg NStZ-RR 05, 49, 50.

133 BayObLG 00, 109; 04, 139, 140; OLG Stuttgart Justiz 69, 228; OLG Celle MDR 64, 527; OLG Koblenz NStZ-RR 08, 218; StV 14, 749; Dallinger/Lackner 57; Eisenberg/Kölbel 67. 134 OLG Stuttgart StV 20, 688 mit abl. Bespr. Dehne-Niemann/Brandt StV 20, 711. 135 Pentz GA 58, 302. 136 BayObLG Urt. v. 10.10.1980 – RReg. 2 St. 249/80; OLG Neustadt MDR 56, 504; OLG Celle NdsRpfl. 62, 88; OLG Köln NJW 63, 1073; Eisenberg/Kölbel § 109, 40; Ostendorf/Schady 32. 137 BayObLG 61, 258 u. bei Rüth DAR 74, 180; OLG Celle NJW 56, 521; OLG Oldenburg VRS Bd. 21 (61), 450; OLG Karlsruhe Justiz 72, 325; StV 01, 173 mit abl. Anm. Kutschera; OLG Schleswig SchlHA 80, 74; OLG Düsseldorf MDR 86, 257; OLG Zweibrücken B NStZ 91, 523; OLG Bamberg NStZ 12, 165: OLG Koblenz StV 20, 685 mit abl. Anm. Dehne-Niemann; Ostendorf/Schady 32; aA Eisenberg/Kölbel § 109, 41; Beulke FS Eisenberg zum 80. Geburtstag, 2019, S. 200. 138 BayObLG 95, 3. 139 NJW 56, 233 mit zust. Anm. Schnitzerling. 140 OLG Oldenburg VRS Bd. 90 (95), 285. 413

§ 55

2. Teil. Jugendliche

ist141. Die in Unkenntnis der Lage erfolgte Rücknahme des wirksamen Rechtsmittels ist aber unwirksam. Hinsichtlich der übrigen hier Genannten gilt in einem solchen Fall § 335 III StPO, alle Rechtsmittel werden als Berufung behandelt (dazu auch Rn 27); doch hat der Revisionsführer wegen Abs. II 2 gegen das Berufungsurteil nicht mehr die Revision.

11. Unzulässige Rechtsmittel 36 Ein gem. § 55 II unzulässiges Rechtsmittel ist nicht von dem Gericht, dessen Urteil angefochten wird, gem. § 346 I StPO, sondern vom Revisionsgericht gem. § 349 I StPO zu verwerfen142. Eine zu Unrecht gem. § 346 I StPO erlassene Entscheidung wird aber wirksam, wenn sie nicht gem. § 346 II StPO angefochten wird143. Die sonst ordnungsgemäße Revision hemmt den Eintritt der Rechtskraft eines Berufungsurteils auch dann, wenn der Beschwerdeführer nach § 55 II 1 ein solches Rechtsmittel nicht mehr hatte144. Nach dem BayObLG145 ist gegen jedes Urteil der JKammer, das eine Berufung – zu Recht oder zu Unrecht – als unzulässig verwirft, Revision zulässig146. Anders für die sofortige Verwerfung der Berufung nach § 329 I StPO: Rn 29.

12. Verschlechterungsverbot 37 Auch in JSachen gilt das Verschlechterungsverbot des allg. Rechts, das sich nur auf die Rechtsfolgen der Tat (§§ 331 I, 358 II 3 StPO), nicht auf die Schuldfrage, auch nicht auf die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt (§§ 331 II, 358 II 3, 373 II 2 StPO) bezieht. Das Verschlechterungsverbot steht auch einer Verschärfung des früheren Urteils nicht entgegen, wenn bei einer fortgesetzten Handlung ein Teil der Handlungsglieder nach dem ersten Urteil begangen ist147; auch kann die alte Maßnahme unverändert aufrechterhalten werden, wenn die Verurteilung wegen mehrerer Taten hinsichtlich einiger Taten keinen Bestand hat148 oder eine Tat rechtlich anders qualifiziert wird149; ersteres wird im JRecht, bei dem es mehr um die Person des Täters und dessen Beeinflussung geht, häufig gerechtfertigt sein (vgl. aber § 56 RL 1). Das Verschlechterungsverbot soll dem Angeklagten die Besorgnis nehmen, sein Rechtsmittel könne ihm den Nachteil härterer Bestrafung bringen150. Die Gesamtschau der verhängten Ahndungsmaßnahmen (Rn 38) darf keine Veränderung zum Nachteil des alleinigen Berufungsführers erkennen lassen151. Legt zugleich die StA Berufung ein, dürfen die Ahndungsmittel nur soweit verschlechtert werden, wie die zuungunsten des Angeklagten eingelegte Berufung der StA reicht152. Ein Verstoß der Berufungskammer gegen das Verschlechterungsverbot rechtfertigt kein 2. Rechtsmittel (Rn 28)153.

141 142 143 144 145 146 147 148 149 150 151 152

Dallinger/Lackner 54; Eisenberg/Kölbel 6, 7. BGH MDR 59, 507; BayObLG 62, 207. BayObLG 62, 207. OLG Stuttgart MDR 80, 518. 73, 220. Vgl. dazu aber OLG Karlsruhe Justiz 86, 28; Brunner JR 74, 523. BGH 9, 330; BayObLG 57, 83; 62, 1 u. bei Rüth DAR 83, 254; OLG Braunschweig NJW 64, 1237; Grethlein S. 31. BGH 7, 86. OLG Frankfurt NJW 69, 1915. BGH 27, 178. BGH 24, 14; OLG Celle StV 01, 180; OLG Brandenburg NStZ-RR 08, 388. OLG Celle NJW 68, 69 – die StA hatte ihre Berufung auf Nichtanordnung der Unterbringung beschränkt. Zur Anordnung der Unterbringung auf eine Berufung des Angeklagten, die auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt ist, BayObLG StV 95, 181 = JR 96, 79 mit Anm. Loos. 153 BayObLG NStZ 89, 194 mit abl. Anm. Ostendorf. 414

Anfechtung von Entscheidungen

§ 55

13. ErzMaßregeln und Zuchtmittel Auch für ErzMaßregeln und Zuchtmittel gilt das Verschlechterungsverbot, und zwar nicht nur 38 in ihrem Verhältnis untereinander, sondern auch in ihrem Verhältnis zu den Rechtsfolgen nach ErwRecht. Es müssen die einzelnen Reaktionsmittel (Strafen, ErzMaßregeln, Zuchtmittel, Maßregeln) in ihrer jeweils konkreten Gestaltung miteinander verglichen werden. Bei der notwendigen vergleichenden „Gesamtschau“154 kommt es „darauf an, ob das im konkreten Fall in Frage stehende Zuchtmittel oder die nach ErwStrafrecht auszusprechende Strafe schwerer in die Rechtssphäre des Angeklagten eingreift“155. Zuchtmittel können wesentlich schärfer auf den Täter einwirken, ihm ein erheblich schwereres Übel als eine Strafe nach ErwStrafrecht zufügen und von ihm auch als solches schwerere Übel empfunden werden156. Es ist also von der konkreten Belastung auszugehen, die das jeweilige Reaktionsmittel bei vernünftiger objektiver Würdigung der Interessenlage des Verurteilten für diesen bedeutet157. Dabei ist zu berücksichtigen, dass nach dem Wertmaßstab unserer Rechtsordnung Freiheitsentzug am schwersten wiegt und dass im Übrigen die Maßnahmen härter sind, die einen größeren Eingriff in die Bewegungs- und Entschlussfreiheit enthalten158. Ein Festhalten an Gruppeneinteilungen (etwa Strafe – andere Maßnahmen oder ErzMaßregeln – Zuchtmittel) führt in die Irre, da es beim Verschlechterungsverbot allein auf die konkrete Belastung ankommt und sonst ein Zuchtmittel stets milder als eine Strafe nach ErwRecht wäre159. Am leichtesten ist die Verwarnung, da sie den Verurteilten zu bloßem Anhören einer rich- 39 terlichen Ermahnung verpflichtet, wie sie wohl mit jeder Verurteilung verbunden ist160. Es folgt die ErzBeistandschaft, da der Verurteilte zu keinem eigenen Handeln verpflichtet wird, doch eine Überwachung dulden muss161. Schwerer sind Weisungen und Auflagen. Weisungen sind untereinander gleichwertig, weil sie abänderbar, jederzeit durch eine „schwerere“ ersetzbar und gegenseitig austauschbar sind (§ 11 II)162. Auflagen sind wegen ihrer Abänderbarkeit und Austauschbarkeit nach § 15 III 1 als untereinander gleichwertig anzusehen163. Für das Verhältnis von Weisungen und Auflagen, die untereinander nicht austauschbar sind, kommt es auf den Einzelfall an164. JA als Freiheitsentzug belastet mehr als alle bisher genannten Maßnahmen, die einen zwangsweisen Eingriff in die freie Aufenthaltsbestimmung nicht kennen165. JA an 1 oder 2 Freizeiten ist fraglos milder als Dauerarrest. Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2 ist im Vergleich zu den genannten die härteste Maßnahme, da sie ein auf die Dauer angelegter Freiheitsentzug ist166, auch wenn sie nun weitgehend freiere Formen zulässt; sie bleibt nur unterhalb JStrafe, vgl. Rn 42167. Die durch das 1. JGGÄndG neu in das Gesetz aufgenommenen Weisungen erschweren den 40 Versuch noch mehr, eine allgemeingültige Reihenfolge der Schwere (Eingriffsintensität) nach 154 155 156 157 158 159 160 161 162

BGH 24, 14. BayObLG 70, 161. BayObLG aaO. Löwe/Rosenberg/Gössel26 § 331 StPO 34. Grethlein S. 99, 107, 111. BayObLG aaO. Dallinger/Lackner Vorb. 26; Grethlein S. 106, 111, 112. Grethlein S. 99, 111, 112. Grethlein S. 98; Kretschmann S. 114; Dallinger/Lackner § 11, 1; Eisenberg/Kölbel 75; DSS/Schatz 34; aA Ostendorf/Schady 16, die nach Eingriffsintensität im Einzelfall unterscheiden. 163 Für Gleichwertigkeit Potrykus § 66 B 4; für Abstellen auf den Einzelfall Eisenberg/Kölbel 78; DSS/Schatz 38; Beulke/Swoboda Rn 821; für eine Schwereabstufung in der Reihenfolge Entschuldigung, Wiedergutmachung u. Geldauflage Grethlein S. 63, 106 f., 109, 112. 164 DSS/Schatz 34, Eisenberg/Kölbel 75b, Ostendorf/Schady 16; Beulke/Swoboda Rn 821. 165 Grethlein S. 103, 109, 112; zust. Eisenberg/Kölbel 79b; Ostendorf/Schady 16 u. Ostendorf NStZ 89, 196. 166 Dallinger/Lackner Vorb. 26; Potrykus § 66 B 4; Grethlein S. 99, 110, 112; Petersen NJW 61, 349. 167 Zust. Nothacker S. 180, 181; Schäfer NStZ 98, 331. 415

§ 55

2. Teil. Jugendliche

zu finden, worauf es indessen für das Verhältnis der Weisungen untereinander nicht ankommt (Rn 39). Schon die Betreuungsweisung nach § 10 I 3 Nr. 5 kann recht unterschiedlich einwirken. Der Täter-Opfer-Ausgleich kann je nach Ausgestaltung die Wiedergutmachungsauflage nicht unerheblich übertreffen. Die Weisung, an einem sozialen Trainingskurs teilzunehmen (§ 10 I 3 Nr. 6), kann an Intensität Auflagen übertreffen. 41 Die Überweisung an das Familiengericht (§ 53) entspricht nach der Schwere den Weisungen; denn den übrigen ErzMaßregeln (Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 1 und 2) vergleichbare Maßnahmen kann das Familiengericht auch ohne die Überweisung anordnen und wird es auch tun, da es vom Strafurteil und dem ihm zugrunde liegenden Sachverhalt gem. § 70 I 1, Nr. 31 MiStra Kenntnis erhält und da der gleiche Richter die gleiche Sachlage gleich beurteilen wird.

14. JStrafe 42 ErzMaßregeln und Zuchtmittel sind milder als JStrafe. Wegen des Gewichts der mit einer Strafaussetzung verknüpften Belastungen einschließlich des potentiellen Freiheitsentzugs darf auch eine zur Bew. ausgesetzte JStrafe durch JA ersetzt werden168. Auch Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2 ist gegenüber JStrafe mit Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung nicht als Verschlechterung anzusehen, wenn die ErzHilfe nicht in einem geschlossenen Heim durchzuführen ist169. 43 Die Aussetzung der Verhängung der JStrafe (§ 27) ist schwerer als ErzMaßregeln und Zuchtmittel, weil sie die Verhängung von JStrafe wegen dieser Tat ermöglicht170. Sie ist auch durch JA und Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2 ersetzbar171. Die Aussetzung der Verhängung ist milder als JStrafe in jeder Form, weil sie noch offen lässt, ob JStrafe verhängt wird172. Ein Urteil des BGH173, das die Ersetzung einer Entscheidung nach § 27 durch eine JStrafe mit Aussetzung der Vollstreckung zur Bew. für zulässig gehalten hat, dürfte einzelfallbedingt sein174. Es ist doch ein erheblicher Unterschied, ob noch ungewiss ist, ob überhaupt eine JStrafe verhängt wird, oder ob schon eine JStrafe verhängt und nur deren Vollstreckung ungewiss ist; zudem ist ein Widerruf der Strafaussetzung zur Bew. eher möglich als die nachträgliche Verhängung von JStrafe (vgl. § 26 I, II 30 I, qualifizierter Verstoß gegen BewAuflage). Eine nachteilige Veränderung der Entscheidung nach § 27 selbst ist nicht möglich, weil sie nur im Schuldspruch besteht, für den das Verschlechterungsverbot nicht gilt175; wegen BewAuflagen u. -zeit Rn 48. – Im Nachverfahren (§ 30) kann die Tilgung mangels Beschwer nicht zugunsten des Angeklagten angefochten werden; für die Verurteilung zu JStrafe gilt nichts anderes, als wenn diese Strafe sofort verhängt worden wäre176. 44 Bei JStrafe kommt es zunächst auf die Höhe an177. Eine Erhöhung – oder Nichtanrechnung früher angerechneter UHaft – ist nicht zulässig, selbst bei gleichzeitiger Gewährung von Strafaussetzung zur Bew.178. Zur EinheitsJStrafe § 31, 19. 168 OLG Düsseldorf NJW 61, 891; OLG Hamburg NJW 63, 67; OLG Oldenburg Zbl. 67, 343; OLG Hamm NJW 71, 1666 = JR 72, 73 mit abl. Anm. Brunner; Dallinger/Lackner 23; Eisenberg/Kölbel 79b; Ostendorf/Schady 17; DSS/Schatz 41; Beulke/Swoboda Rn 821; aA LG Nürnberg-Fürth NJW 68, 120 unter Aufgabe von NJW 62, 326; Grethlein S. 120; Kretschmann S. 126. 169 Eisenberg/Kölbel 77b; DSS/Schatz 36, 41. 170 Grethlein S. 121. 171 Eisenberg/Kölbel 77b, 79b; DSS/Schatz 36, 39, 40. 172 Grethlein S. 93; zust. Eisenberg/Kölbel 80. 173 9, 106. 174 DSS/Schatz 41. 175 Grethlein S. 92. 176 Grethlein S. 93. 177 Grethlein S. 45. 178 BGH JZ 56, 101; OLG Oldenburg MDR 55, 436; OLG Hamm JMBl. NRW 58, 203; OLG Düsseldorf NJW 64, 216; OLG Köln MDR 76, 71; OLG Celle StV 01, 180; OLG Brandenburg NStZ-RR 08, 838; Grethlein S. 50; Eisenberg/Kölbel 83a, 83b; Ostendorf/Schady 18; Löwe/Rosenberg/Gössel26 § 331 StPO 62, 78. 416

Anfechtung von Entscheidungen

§ 55

Ist nach Aufhebung einer EinheitsJStrafe die nach § 31 II einbezogene JStrafe inzwischen 45 verbüßt, sodass keine EinheitsJStrafe mehr gebildet werden kann, darf die neu zu verhängende JStrafe nicht höher bemessen werden als die aufgehobene EinheitsJStrafe abzüglich der zwischenzeitlich verbüßten179. Siehe auch Rn 49.

15. UHaft Der Wegfall der Anrechnung der UHaft ist auch bei entsprechender Ermäßigung der Strafe ein 46 Nachteil180; denn die Entlassung zur Bew. kann erst zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen, weil das erste Strafdrittel (§ 88) erst später verbüßt ist; es wird also ein größeres Strafübel verhängt. Umgekehrt ist die Verlängerung der Strafzeit bei entsprechend höherer Anrechnung von UHaft zulässig, da die Höchst-Strafzeit gleich bleibt, die Mindest-Strafzeit aber ermäßigt wird. – In beiden Fällen ist auch dem Gedanken Rechnung getragen, dass die UHaft im Hinblick auf § 116 StPO stets ein wesentlich kleineres Übel ist als jede Strafe.

16. Strafaussetzung zur Bewährung Der Wegfall der Strafaussetzung zur Bew. verletzt das Verschlechterungsverbot181, und zwar 47 auch dann, wenn die Strafaussetzung zur Bew. nicht ausdrücklich abgelehnt wird, sondern die Entscheidung nach § 61 vorbehalten bleibt, weil Sicherheit mehr als eine bloße Möglichkeit ist182. Selbst der Ausspruch einer wesentlich niedrigeren JStrafe – oder zusätzliche Anrechnung von UHaft – kann den Wegfall der Strafaussetzung zur Bew. nicht rechtfertigen183, auch wenn sehr einschneidende Auflagen angeordnet waren184. Eine Versagung der Strafaussetzung zur Bew. verstößt nur dann nicht gegen das Verschlechterungsverbot, wenn der Angeklagte eine fortgesetzte Handlung nach dem Urteil noch fortgesetzt hat (bestritten) oder wenn die gesamte Strafe bereits durch angerechnete UHaft verbüßt ist185. Ein Wegfall der Strafaussetzung ist auch dann nicht zulässig, wenn dem Berufungsgericht Tatsachen bekannt werden, die den Widerruf rechtfertigen186. Nach dem OLG Hamm187 gilt das Verschlechterungsverbot auch für die Anrechnung einer Auflagenerfüllung. – Keine Verschlechterung bedeutet die ausdrückliche Versagung der Strafaussetzung zur Bew., wenn das Erstgericht darüber noch nicht entschieden hat, also noch eine Bewilligung nach § 57 möglich gewesen wäre. Denn hier hat das Erstgericht keine Entscheidung erlassen, der Angeklagte hat noch keine Rechtsposition erlangt; es ist kein Raum für das Verschlechterungsverbot188.

179 BGH NStZ 86, 483. 180 Grethlein S. 45; Ganske S. 96; Eisenberg/Kölbel 83a; Ostendorf/Schady 18; aA für das allg. Strafverfahren BGH JZ 52, 754; JZ 56, 101; Löwe/Rosenberg/Gössel26 § 331 StPO 62. 181 BGH 7, 182; BayObLG 59, 144 u. 62, 1; Grethlein S. 49; Eisenberg/Kölbel 81a; Ostendorf/Schady 17; Meyer-Goßner/ Schmitt § 331 StPO 17; Beulke/Swoboda Rn 821. 182 Grethlein S. 58; Dallinger/Lackner § 59, 4; Eisenberg/Kölbel 81a; Ostendorf/Schady 17. 183 BGH JZ 56, 101; BayObLG NJW 59, 1838; OLG Frankfurt NJW 64, 368; Ganske S. 65; Grethlein S. 49; Dallinger/ Lackner § 59, 4; Eisenberg/Kölbel 81a; Ostendorf/Schady 17; Löwe/Rosenberg/Gössel26 § 331 StPO 78. 184 BGH NJW 54, 39; 61, 1220; Grethlein S. 49. 185 BGH NJW 61, 1220; Grethlein S. 49. 186 Löwe/Rosenberg/Gössel26 § 331 StPO 82. 187 NStZ 96, 303 (zu § 56 f StGB). 188 Dallinger/Lackner § 59, 6; Grethlein S. 58; aA Eisenberg/Kölbel 81b; Ostendorf/Schady 17. 417

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17. BewAuflagen 48 Bestätigt das Berufungsgericht die vom Erstgericht bewilligte Strafaussetzung zur Bew., so hat es über die BewAuflagen – wie ein Gericht erster Instanz, also insoweit Beschwerde – neu zu entscheiden189. Das Verschlechterungsverbot (§§ 331, 358 II, 373 II StPO) ist auf Beschlüsse nur in bes. Ausnahmefällen analog anwendbar (näher Rn 61). Nach hM unterliegen danach Beschlüsse über BewAuflagen nicht dem Verschlechterungsverbot, denn diese Beschlüsse schließen nicht das Verfahren wie ein Urteil ab, sondern werden neben dem Urteil erlassen und enthalten keine endgültigen Anordnungen, was sie ihre kriminalpolitischen Ziele (§ 23, 5) häufig verfehlen lassen würde190. BewAuflagen stehen unter dem stillschweigenden Vorbehalt der gesetzlich vorgesehenen nachträglichen Abänderbarkeit191. Warum sollte dem Rechtsmittelrichter versagt sein, was dem Erstrichter trotz Rechtskraft des Urteils erlaubt ist (§ 23, 5)? Der BGH192 hat entschieden, dass der Richter, welcher die vom Erstrichter zur Bew. ohne Auflage ausgesetzte Strafe nach Aufhebung und Zurückverweisung der Sache erneut aussetzt, eine Auflage jedenfalls dann erteilen kann, wenn seit der früheren Entscheidung neue Umstände hervorgetreten sind, welche die Auflage rechtfertigen. Ebenso das BayObLG193, nach welchem solche Umstände auch darin gesehen werden können, dass der Angeklagte nach dem Ersturteil sich erneut in gleicher Richtung strafbar gemacht hat. Das Verschlechterungsverbot hindert nach Meyer194, was der BGH im vorliegenden Falle nicht zu entscheiden hatte, aber selbst dann nicht eine Abänderung der BewAuflagen zum Nachteil des Verurteilten, wenn für den Erstrichter die Voraussetzungen hierzu (§ 23, 5) nicht vorliegen würden. Das Verschlechterungsverbot ist daher nicht anwendbar, wenn das Berufungsgericht durch einen neuen Bewährungsbeschluss die vom Vorderrichter getroffenen Anordnungen abändert195.

18. Sanktionen nebeneinander 49 Sind mehrere Maßnahmen nebeneinander angeordnet (§ 8), ist im Wege einer Gesamtschau zu prüfen, ob die Gesamtheit der neu verhängten Sanktionen für den J nachteiliger ist als die Gesamtheit der im ersten Urteil ausgesprochenen Rechtsfolgen196. Darüber, inwieweit der Wegfall oder die Verringerung einer Sanktion die Erhöhung einer anderen auszugleichen vermag, werden sich nur schwer allg. Annahmen aufstellen lassen197. Jedenfalls erlaubt die Gesamtschau nicht die erstmalige Verhängung oder Verschärfung stationärer Sanktionen (z.B. nicht JA anstelle von Weisungen und Auflagen; nicht 7 Monate JStrafe statt 6 Monate JStrafe und Weisungen). Zu berücksichtigen ist auch die Sanktion aus einer Entscheidung, die in 1. Instanz gem. § 31 II 1 einbezogen und von deren Einbeziehung in 2. Instanz gem. § 31 III 1 abgesehen wurde198. Es liegt daher ein Verstoß gegen das Verschlechterungsverbot vor, wenn der Angeklagte in 1. Ins189 Löwe/Rosenberg/Matt26 § 305a StPO 9. 190 BayObLG 56, 233 u. bei Rüth DAR 70, 263; OLG Stuttgart NJW 54, 611; OLG Nürnberg NJW 59, 1452 u. bei Rüth DAR 70, 263; OLG Hamm NJW 78, 1596; OLG Karlsruhe Justiz 79, 211; OLG Hamburg NJW 81, 470 mit Anm. Loos NStZ 81, 363; OLG Koblenz NStZ 81, 154 unter Aufgabe von NJW 77, 1074; OLG Düsseldorf NStZ 94, 198; Grethlein S. 54; Fischer § 56b StGB 10; Löwe/Rosenberg/Matt26 § 305a StPO 7; KMR/Albrecht § 305a StPO 5; Bedenken bei Eisenberg/Kölbel 82; aA OLG Frankfurt NJW 78, 959; abl. auch Ostendorf/Schady 13 und Ostendorf § 11, 4; § 23, 11 unter Hinweis auf das Vertrauensprinzip. 191 Löwe/Rosenberg/Stuckenberg27 § 268a StPO 20. 192 NJW 82, 1544 mit zust. Anm. Meyer JR 82, 338. 193 Bei Rüth DAR 83, 247. 194 JR 82, 339. 195 OLG Düsseldorf NStZ 94, 198. 196 BGH 24, 14; 29, 270; Ostendorf/Schady 15; DSS/Schatz 32. 197 Eisenberg/Kölbel 85; vgl. aber auch Grethlein S. 124 ff. 198 OLG Celle StV 01, 179. 418

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§ 55

tanz unter Einbeziehung einer weiteren Verurteilung zu JA zu einer JStrafe verurteilt wurde und auf seine Berufung für die JStrafe Bew. gewährt und von der Einbeziehung der auf JA lautenden Entscheidung abgesehen wird, denn im Fall des Widerrufs der Bew. müsste der Angeklagte zusätzlich zur JStrafe auch JA verbüßen199.

19. Maßregeln der Besserung und Sicherung Die Maßregeln der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entzie- 50 hungsanstalt unterliegen dem Verschlechterungsverbot nicht (§§ 331 II, 358 II 3, 373 II 2 StPO). Auch wenn nur der Angeklagte Revision eingelegt hat, kann das angefochtene Urteil im Rahmen der Sachrüge auch daraufhin überprüft werden, ob von der Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt zu Recht abgesehen worden ist200. Das Verschlechterungsverbot bewahrt den Angeklagten also nicht davor, dass in der Rechtsmittelinstanz oder nach Zurückverweisung nunmehr die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt oder in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet wird201. Dies gilt nach dem BGH202 nicht, wenn der Angeklagte die Nichtanwendung der §§ 63, 64 StGB von seinem Rechtsmittelangriff ausgenommen hat. Wird das Urteil wegen Nichtanordnung der Unterbringung aufgehoben, hat wegen § 5 III auch der Strafausspruch keinen Bestand203. Vgl. auch Rn 14. Wird der Maßregelausspruch in der Revisionsinstanz aufgehoben, hat das die Aufhebung der Entscheidung nach § 5 III auch dann zur Folge, wenn nur der Angeklagte Revision eingelegt hat (§ 358 II 2 StPO)204. Wird die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus im Berufungsurteil aufgehoben, weil sich im Berufungsverfahren die Schuldfähigkeit des Angeklagten herausstellt, darf die JBerufungskammer entsprechend § 358 II 2 StPO anstelle der Unterbringung JStrafe verhängen205. Eine Weisung nach § 10, den Führerschein zu hinterlegen, darf nicht durch Entziehung 51 der Fahrerlaubnis, einen belastenderen Eingriff, ersetzt werden206. Im Übrigen kann eine solche Frage nur dann auftreten, wenn mit der Weisung bereits gesetzeswidrig § 69 StGB umgangen worden ist (vgl. § 10, 32). An Stelle der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt darf grds. nicht auf JStrafe207 (vgl. aber Rn 50), wohl aber auf ErzMaßregeln (einschl. Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2 bis zur Höchstdauer der Unterbringung) und alle Zuchtmittel erkannt werden208. Man wird aber JStrafe statt der auch möglichen Unterbringung zulassen können, wenn der Angeklagte aus verständigen Gründen darum bittet209. Nach Ostendorf/Schady210 ist der Wechsel von der Unterbringung in der Entziehungsanstalt zur JStrafe „ohne Bitte“ zulässig, wenn die Zweijahresdauer nicht überschritten wird.

199 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209

OLG Celle aaO. BGH B NStZ 93, 527. BGH B NStZ 93, 527. B NStZ 96, 478. BGH StV 19, 262. BGH NStZ-RR 13, 309, 311 = StraFo 12, 165 mit Anm. Eisenberg; StV 19, 253. LG Köln NStZ 21, 380. Dallinger/Lackner, Vorb. 25; Eisenberg/Kölbel 94, Potrykus B 10 u. NJW 55, 931. BGH 11, 319. Dallinger/Lackner Vorb. 24; Eisenberg/Kölbel 93, 93a. Im Anschluss an BGH 5, 316; 25, 38; vgl. Bruns JZ 54, 730; Dallinger MDR 54, 333; Ganske S. 77; Grethlein S. 140; Seibert MDR 54, 331; vgl. Gerhardt Das Verbot der reformatio in peius bei den Nebenstrafen, Nebenfolgen u. Maßregeln der Sicherung u. Besserung, Diss. München 1970; für eine Beurteilung des Nachteilsbegriffs ausschließlich nach generell-objektiven Maßstäben Kretschmer S. 126. 210 22. 419

§ 55

2. Teil. Jugendliche

20. Nebenstrafen, Nebenfolgen, Maßnahmen 52 Das Verschlechterungsverbots gilt auch für Nebenstrafen und die Nebenfolgen des § 45 StGB, die nur aufgrund richterlicher Anordnung eintreten211. Zum Verhältnis der Weisung nach § 10, den Führerschein zu hinterlegen, zum Fahrverbot gilt das Rn 51 zur Entziehung der Fahrerlaubnis Gesagte, zumal auch § 44 StGB nicht durch jene Weisung umgangen werden darf. Bei alleiniger Berufung des J darf nicht erstmals ein Fahrverbot ausgesprochen werden, umgekehrt darf es in der Berufungsinstanz bei höherer Sanktionierung entfallen212. Das Verschlechterungsverbot schließt die erstmalige Anordnung einer Einziehung aus, auch wenn eine selbständige Einziehung nach § 76a StGB möglich wäre213.

21. Kostenentscheidung 53 Die Kostenentscheidung unterfällt nicht dem Verschlechterungsverbot214. Wo geholfen werden soll, hilft § 74.

22. JRecht – ErwRecht 54 Es verstößt im Grundsatz nicht gegen das Verschlechterungsverbot, wenn die Verurteilung nach ErwRecht statt nach JRecht oder umgekehrt erfolgt215. Doch darf im Einzelfall keine schwerere Maßnahme getroffen werden, es sind die Rechtsfolgen im Einzelnen zu vergleichen.

23. JStrafe – Freiheitsstrafe 55 Die JStrafe entspricht in der Schwere der Freiheitsstrafe, beide haben während der Zeit der Vollstreckung die gleichen Auswirkungen216, weshalb sie auch im Vollzug ausgewechselt werden können (§§ 89b, 114). Es darf deshalb eine Freiheitsstrafe nicht durch eine höhere JStrafe ersetzt werden; denn die Belastung durch eine höhere Strafe kann nicht durch die sonstigen kraft Gesetzes eintretenden Vorteile der JStrafe aufgewogen werden, nämlich durch die Möglichkeit früherer Aussetzung der Reststrafe nach § 88, die günstigeren Registerfolgen nach §§ 30, 32, 46 BZRG und die Möglichkeit der Strafmakelbeseitigung vor Ablauf der Tilgungsfristen nach §§ 97 ff. Die Möglichkeit der früheren Aussetzung der RestJStrafe nach § 88 verbietet es andererseits, anstelle einer JStrafe auf eine gleich hohe Freiheitsstrafe zu erkennen217. In der Gesamtschau kann die spätere Entlassungsmöglichkeit bei Freiheitsstrafe einen Angeklagten iSd §§ 331 I, 358 II 1 StPO von der Einlegung eines Rechtsmittels abhalten, weil ein zu Strafe Verurteilter regelmäßig bes. Wert darauf legt, diese Strafe nicht vollständig verbüßen zu müssen; es

Löwe/Rosenberg/Gössel26 § 331 StPO 99, 105. BGH 24, 11. BGH NJW 19, 1008 mit Anm. Gubitz. BGH 5, 52; OLG Karlsruhe Rpfl. 86, 317; Dallinger/Lackner § 74, 17; Löwe/Rosenberg/Gössel26 116; Meyer-Goßner 6 je zu § 331 StPO; für „sinngemäße Anwendung des Verschlechterungsverbots“ Eisenberg/Kölbel 95. 215 OLG Hamburg NJW 63, 67; OLG Köln NJW 64, 1684; OLG Frankfurt ZJJ 21, 259, 260 mit Anm. Ernst/Eisenberg; Dallinger/Lackner § 105, 51; Eisenberg/Kölbel 74a; Ostendorf/Schady 19; Potrykus § 105, B 6; Lackner GA 55, 36; Schaffstein NJW 55, 1578; aA Petersen NJW 61, 350. 216 BGH 5, 369; 10, 103; BGH 29, 269 = Zbl. 82, 248 mit Anm. Molketin; OLG Düsseldorf NJW 64, 216; OLG Oldenburg NJW 56, 1730; OLG Hamm JMBl. NRW 58, 203; Grethlein S. 150, Kretschmann S. 133; Dallinger/Lackner § 1, 14. 217 BGH 29, 269 = Zbl. 82, 248 mit Anm. Molketin; Grethlein S. 153–155; Kretschmann S. 133; Eisenberg/Kölbel 87; Ostendorf/Schady 20.

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420

Anfechtung von Entscheidungen

§ 55

kommt also insoweit nicht auf den Rechtsfolgenausspruch nach Art und Höhe allein an218. Eine Freiheitsstrafe darf an die Stelle einer JStrafe deshalb nur dann treten, wenn sie niedriger ist als die zunächst verhängte JStrafe und so bemessen werden kann, dass der Angeklagte nach § 57 StGB zumindest nach der gleichen Zeit entlassen werden kann, wie es die JStrafe nach § 88 ermöglicht hätte219. Soweit es gesetzlich zulässig ist, muss bei Ersetzung einer JStrafe durch eine geringere Freiheitsstrafe zusätzlich nach § 106 II ausgesprochen werden, dass die weiteren nachteiligen Folgen nicht eintreten, welche eine Verurteilung zu JStrafe nicht gebracht hätte, die eine Freiheitsstrafe aber nach sich zieht220. Kann die Freiheitsstrafe nicht entsprechend den vorzeitigen Entlassungsmöglichkeiten des § 88 bemessen werden, so bleibt es bei der JStrafe. Anstelle einer Freiheitsstrafe darf aber stets eine gleichlange JStrafe treten; dabei kann 56 JStrafe auch in geringerer Höhe als 6 Monate ausgesprochen werden221 und eine Entlassung gem. § 88 vor Verbüßung von 6 Monaten JStrafe erfolgen222. Für die Strafaussetzung und die Anrechnung von UHaft gilt das Rn 42, 46 Entwickelte 57 entsprechend. Wegen des Ausgleichs der Verschlechterung, die in der Unterlassung der Gesamtstrafenbildung liegt, wenn § 105 II nicht eingreift, § 32, 13223.

24. Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2 und JA Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2 und JA sind milder als JStrafe, damit auch milder als Freiheitsstra- 58 fe224. Sie können auch statt zur Bew. ausgesetzter Freiheitsstrafe verhängt werden (Rn 42).

25. Geldstrafe Geldstrafe ist milder als jeder Freiheitsentzug225, milder als Ersatzfreiheitsstrafe226, also milder 59 auch als JA227 und Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2. Tritt Geldstrafe anstelle von JA, so ist zu beachten, dass die Ersatzfreiheitsstrafe den früheren JA (oder Freiheitsstrafe) nicht überschreiten darf228. Geldstrafe ist auch milder als Weisungen, da sie auf einen Eingriff in das Vermögen beschränkt ist, während Weisungen zu einer größeren Beschränkung der persönlichen Freiheit führen können229. Die Geldstrafe entspricht der Auflage der Bußzahlung, da beide ein zusätzliches Vermögensopfer fordern; sie können auch hinsichtlich der Höhe miteinander verglichen werden230. Nach Eisenberg/Kölbel231 entscheidet die Belastung im Einzelfall. Sind mildere jrechtliche Maßnahmen verhängt, nämlich Verwarnung, ErzBeistandschaft, Entschuldigung oder

218 219 220 221

BGH aaO. BGH aaO. BGH aaO. OLG Oldenburg NJW 56, 1730; OLG Hamm JMBl. NRW 58, 203; OLG Düsseldorf NJW 64, 216; Grethlein S. 151; Dallinger/Lackner § 105, 53; Eisenberg/Kölbel 89. 222 Grethlein S. 152: „bes. wichtiger Grund“ nach § 88 II 1; aA Ostendorf/Schady 20, die auf JA oder ambulante Maßnahmen zurückgreifen wollen. 223 Vgl. auch BGH 36, 294 = JR 90, 523 mit zust., aber zur Rechtsentwicklung krit. Anm. Brunner. 224 OLG Oldenburg OLGSt. § 331 StPO S. 1; Grethlein S. 156 für Fürsorgeerziehung. 225 BGH bei Dallinger MDR 75, 541; BayObLG 71, 7; OLG Hamm NStZ 20, 748, 749. 226 BayObLG 76, 4. 227 BayObLG 70, 159; OLG Hamm StV 20, 696: geringe Geldstrafe milder als Freizeitarrest; Eisenberg/Kölbel 91; aA LG Kassel B NStZ 92, 529. 228 BayObLG bei Rüth DAR 71, 207; OLG Köln NJW 64, 1684; Grethlein S. 158; Ganske S. 76. 229 Streng Rn 586; Grethlein S. 159. 230 Streng Rn 586; Grethlein S. 159. 231 91; ebenso HK-JGG/Laue 55. 421

§ 55

2. Teil. Jugendliche

Schadenswiedergutmachung (Rn 39), hat es bei diesen sein Bewenden, auch wenn das Berufungsgericht eine Verurteilung nach allg. Recht für richtiger hält232.

26. Bei besonderen Verfahrensarten 60 Das Verschlechterungsverbot gilt auch im vereinfachten JVerfahren233. Im formlosen ErzVerfahren (§§ 45, 47) kommt das Verschlechterungsverbot deshalb nicht in Betracht, weil der J zu nichts gezwungen, ein Ungehorsam nicht geahndet wird und eine Anfechtung deshalb ausgeschlossen ist234.

27. Bei Beschlüssen und Rechtsbeschwerden 61 Das Verschlechterungsverbot gilt ausnahmsweise auch bei Beschlüssen, welche Rechtsfolgen endgültig festlegen und das Verfahren wie ein Urteil durch eine Sachentscheidung abschließen235. So bei Gesamtstrafenbildung236, bei Ordnungsmittelbeschlüssen nach § 51 StPO237 und bei Beschlüssen über die Anrechnung von Leistungen auf die Strafe nach § 56 f III 2 StGB238. Dies gilt auch, wenn JA wegen Ungehorsams verhängt (§§ 11 III, 15 III, 23 I 4, 65239, die Dauer der BewZeit geändert (§§ 22 II 2, 88 V, § 89 III, 59 II)240, über die Entlassung zur Bew. entschieden (§ 88)241, nachträglich ein Einheitsstrafe gebildet (§§ 31, 66)242, vorzeitige Entlassung aus dem JA bewilligt (§§ 87 III)243 oder bei Ablehnung eines Entlassungsantrages eine Sperrfrist gem. § 88 V festgesetzt ist244. Nicht gilt das Verschlechterungsverbot aber für die Änderung von BewAuflagen245 (näher Rn 48). Das Verschlechterungsverbot gilt auch für die Rechtsbeschwerde gegen die Entscheidung 62 des JGerichts im OWiG-Verfahren (Urteil oder Beschluss) auf Einspruch gegen einen Bußgeldbescheid der Verwaltungsbehörde (§ 79 III OWiG iVm § 358 II StPO). Dagegen darf im Verfahren nach Einspruch gegen einen Bußgeldbescheid der Verwaltungsbehörde das Gericht bei Entscheidung in der Hauptverhandlung (durch Urteil) vom Bußgeldbescheid auch zum Nachteil des Betroffenen abweichen (§ 71 OWiG iVm § 411 IV StPO) und kann sogar zum Strafverfahren übergehen (§ 81 OWiG)246; entscheidet das Gericht jedoch im schriftlichen Verfahren durch Beschluss, gilt das Verschlechterungsverbot (§ 72 III 2 OWiG; § 78, 25)247. Der Verstoß gegen das

232 233 234 235

Grethlein S. 160. Grethlein S. 130. Grethlein S. 131; Eisenberg/Kölbel 24; Ostendorf/Schady 13. Gollwitzer JR 77, 347; Meyer JR 82, 338; KMR/Albrecht Vor § 304 StPO 5; Löwe/Rosenberg/Matt26 Vor § 304 StPO 13; Ostendorf/Schady 13. 236 BGH 8, 203; OLG Nürnberg NJW 59, 1452, OLG Oldenburg NdsRpfl. 79, 428; Maiwald JR 80, 353. 237 OLG Hamm MDR 60, 946. 238 OLG München MDR 80, 517. 239 Grethlein S. 132. 240 Grethlein S. 132; Eisenberg/Kölbel 82c; aA OLG Hamburg NJW 81, 470. 241 Grethlein S. 133. 242 Grethlein S. 126. 243 Grethlein S. 134. 244 Grethlein S. 133; Ostendorf/Schady 13. 245 Eingehend Meyer JR 82, 338. 246 Göhler/Seitz/Bauer § 71 OWiG 4. 247 OLG Frankfurt NJW 76, 328. 422

Anfechtung von Entscheidungen

§ 55

Verschlechterungsverbot eröffnet die Rechtsbeschwerde in entsprechender Anwendung des § 79 I Nr. 5 OWiG248.

28. Sanktionen ohne Verschlechterungsverbot Kein Raum für das Verschlechterungsverbot ist dagegen bei Abänderung von Weisungen und 63 Auflagen (Rn 39, auch § 11, 4), der BewAuflagen oder des BewPlanes (Rn 48; §§ 23 I 3, 29, 58, 60, 62, 64)249, bei der Anfechtung der Strafaussetzung allein250, bei Straferlass (§§ 26a, 59 IV, 88 V)251, Widerruf der Strafaussetzung oder Entlassung zur Bew (§§ 26 I, 58, 88 V).252, bei der nachträglichen Einheitsstrafenbildung selbst (§§ 31, 66)253, im Verfahren zur Beseitigung des Strafmakels (§§ 97 ff)254 und bei vorläufigen Anordnungen nach § 71255. Das Verschlechterungsverbot gilt auch nicht bei der nachträglichen BewEntscheidung (§§ 57, 61a). Wurde Strafaussetzung angeordnet, kann mangels Beschwer nicht zugunsten des Angeklagten angefochten werden. Ist Strafaussetzung versagt, bleibt kein Raum für weitere Verschlechterung. Wendet sich der Verurteilte gegen den weiteren Aufschub der Entscheidung über die Strafaussetzung, kann das Verschlechterungsverbot durch keine Entscheidung verletzt werden, da der Verurteilte ja noch keine Rechtsposition erlangt hat.

29. Wiedereinsetzung Zu jtypischen Fällen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand § 50, 9; § 67, 17; § 59, 4. Sie ist 64 aber auch dort gegeben, wo das allg. Recht deshalb nicht angewendet werden kann, weil es den Grundsätzen des JGG widerspricht oder zu nicht jgemäßen Ergebnissen führen würde, z.B. bei öffentlicher Zustellung gegen J oder Hw. (vgl. § 2, 9)256.

30. Im Wiederaufnahmeverfahren Für die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens gelten 65 §§ 359 ff StPO. Eine Verurteilung iSd Vorschriften ist auch die Verhängung von Zuchtmitteln und die Anordnung von ErzMaßregeln sowie die Entscheidung gem. § 27, die ja das rechtskräftige Urteil ist (vgl. § 27, 3)257. Für das Anfechtungsrecht (§ 365 StPO) gelten Rn 3 bis 9, für die Wiederaufnahme gelten neben §§ 359, 363 StPO die bes. jrechtlichen Beschränkungen des § 55 I (Rn 17)258; wegen der Auswirkungen des Grundsatzes der Einheitsstrafe vgl. das Rn 10 Gesagte. Bei Wiederaufnahme nur wegen einzelner Taten kann die Vollstreckung wegen der übrigen Taten in entsprechender Anwendung des § 56 eingeleitet oder fortgesetzt werden. Das Verschlechterungsverbot (§ 373 II StPO) gilt auch hier. Die Wiederaufnahme hat nach JGG eine bes. Bedeutung, wenn das Urteil auf einer Einreihung in eine falsche Altersstufe beruht (§ 1, 24). 248 OLG Karlsruhe VRS Bd. 53 (77), 370. Zur Frage Rechtsmittel nach StPO oder Rechtsbeschwerde BayObLG 73, 190; OLG Hamm NJW 69, 500. 249 Grethlein S. 132. 250 Grethlein S. 131. 251 Grethlein S. 132. 252 Grethlein S. 132; vgl. aber OLG München MDR 80, 517 zu Beschlüssen nach § 56 f III 2 StGB. 253 Grethlein S. 135. 254 Grethlein S. 128. 255 Grethlein S. 63, 135. 256 OLG Stuttgart MDR 87, 340. 257 Zust. Eisenberg/Kölbel 29. 258 Dallinger/Lackner Vor § 55, 29; Eisenberg/Kölbel 28, 40; Ostendorf/Schady 25. 423

§ 56

2. Teil. Jugendliche

Auch gegen Beschlüsse, durch die gem. §§ 11 III, 15 III JA verhängt wurde, ist die Wiederaufnahme zulässig259. Es macht für den Betroffenen keinen Unterschied, ob der JA gegen ihn durch Urteil oder Beschluss verhängt ist; nachdem in jedem Fall Unrecht gesühnt wird (§ 11, 5), müssen trotz des Ausnahmecharakters der Wiederaufnahmevorschriften im Interesse der gerade gegenüber J bes. wichtigen materiellen Gerechtigkeit die §§ 359, 373a StPO, 85 OWiG entsprechend auf diese Beschlüsse angewendet werden (dazu § 65, 9). Abzulehnen ist die Meinung Hellmanns260, der bei Einstellung des Verfahrens gegen Auflagen Wiederaufnahme mit dem Ziele der Rehabilitierung zulassen will, zumal die Zustimmung aus verfahrenstaktischen Gründen erfolgt sein könne. 67 Gleiches wird für andere urteilsgleiche Beschlüsse zu gelten haben, etwa im Nachverfahren gem. § 30 (§ 62 II), bei der nachträglichen Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung (§§ 57, 61a), beim Widerruf der Strafaussetzung (§ 58 I) und bei der nachträglichen Einheitsstrafenbildung (§ 66 II 2)261. 68 Nichtigkeit: § 1, 24. Rechtsmittelbelehrung: § 54, 18. 66

§ 56 Teilvollstreckung einer Einheitsstrafe (1) 1Ist ein Angeklagter wegen mehrerer Straftaten zu einer Einheitsstrafe verurteilt worden, so kann das Rechtsmittelgericht vor der Hauptverhandlung das Urteil für einen Teil der Strafe als vollstreckbar erklären, wenn die Schuldfeststellungen bei einer Straftat oder bei mehreren Straftaten nicht beanstandet worden sind. 2Die Anordnung ist nur zulässig, wenn sie dem wohlverstandenen Interesse des Angeklagten entspricht. 3Der Teil der Strafe darf nicht über die Strafe hinausgehen, die einer Verurteilung wegen der Straftaten entspricht, bei denen die Schuldfeststellungen nicht beanstandet worden sind. (2) Gegen den Beschluß ist sofortige Beschwerde zulässig. 1. Hw.-J: RL 2; § 109 II 1. – 2. ErwG: RL 2; § 104 I Nr. 7.

Richtlinien zu § 56 1.

2.

Von der Möglichkeit, die Teilvollstreckung einer nach § 31 gebildeten Einheitsstrafe anzuordnen, wird nur mit Zurückhaltung Gebrauch gemacht werden können. Es ist vor allem zu bedenken, ob sich bei einem Wegfall einzelner Schuldfeststellungen ein anderes Bild von der Persönlichkeit des Jugendlichen ergeben und damit die Verhängung von Jugendstrafe überhaupt entbehrlich werden könnte. § 56 gilt auch im Verfahren gegen Jugendliche vor den für allgemeine Strafsachen zuständigen Gerichten (§ 104 Abs. 1 Nr. 7), im Verfahren gegen Heranwachsende nur, wenn das Gericht Jugendstrafrecht anwendet (§ 109 Abs. 2).

1 Jede Anfechtung der Einheitsstrafentscheidung erfasst den ganzen Strafausspruch, während der Schuldspruch ganz oder teilweise in Rechtskraft erwachsen kann (§ 55, 10). Eine Teilvollstreckung der JStrafe aus dem nicht rechtskräftigen Strafausspruch ist nur ausnahmsweise (RL 1) entgegen § 449 StPO aus erz. Gründen (Strafe muss der Tat auf dem Fuße folgen, UHaft soll möglichst vermieden werden) möglich, wenn 4 Voraussetzungen (Rn 2–5) vorliegen:

259 Eisenberg/Kölbel 30a u. § 65, 20; DSS/Schatz 51; Nothacker S. 328; aA LG Stuttgart NJW 57, 1686; Dallinger/ Lackner Vorb. 29 iVm § 65, 13; im allg. Strafverfahren ist die Zulässigkeit der Wiederaufnahme gegen Beschlüsse umstritten, vgl. Meyer-Goßner/Schmitt Vor § 359 StPO 5; Löwe/Rosenberg/Gössel26 Vor § 359 StPO 49–69 mwN. 260 MDR 89, 952. 261 Insgesamt zust. DSS/Schatz 51; Eisenberg/Kölbel 30a u. § 65, 19, 20; Ostendorf/Drenkhahn § 59, 2 u. 17; gegen die Zulässigkeit der Wiederaufnahme gegen einen Widerrufsbeschluss OLG Stuttgart Justiz 96, 150 mwN. 424 https://doi.org/10.1515/9783110686401-068

Teilvollstreckung einer Einheitsstrafe

§ 56

Mehrere in Tatmehrheit stehende Taten sind gem. §§ 31, 32, 66 mit einer EinheitsJStrafe geahndet worden (Abs. I 1). Bei Einbeziehung früherer Entscheidungen ist zu beachten, dass in ihnen ausgesprochene JStrafen bis zur Rechtskraft der Einheitsstrafentscheidung vollstreckbar bleiben, so dass § 56 hier meist nicht angewendet werden muss1. Wurde in eine EinheitsJStrafe nach § 31 II 1 eine rechtskräftige JStrafe zur Bew. einbezogen (vgl. § 31, 15), so ist gleichwohl Teilvollstreckung bis zur Höhe der einzubeziehenden BewStrafe möglich2. Der Schuldspruch ist hinsichtlich einer oder mehrerer (nicht aller) Taten rechtskräftig (Abs. I 1). Ist dagegen der gesamte Schuldspruch rechtskräftig, kann auch bei Teilanfechtung des Strafausspruches keine Teilvollstreckung erfolgen3. Die Teilvollstreckung muss im wohlverstandenen Interesse des Täters liegen (Abs. I 2). Das ist grds. nur der Fall, wenn dadurch statt der erz. indifferenten UHaft oä die ErzArbeit der JStrafanstalt mit hinreichender Aussicht auf Dauer begonnen werden kann (dazu auch Rn 5) oder wenn der verwahrloste Täter möglichst schnell aus seiner Umgebung entfernt werden muss. Dem Angeklagten darf aus der Teilvollstreckung – objektiv betrachtet – kein Rechtsnachteil erwachsen4. Die Möglichkeit, dass durch das Rechtsmittelurteil die JStrafe wegfallen könnte (vgl. RL 1, S. 2), darf nur eine theoretische sein5, selbst wenn alle angefochtenen Schuldsprüche aufgehoben werden müssten (Abs. I 3). Vgl. Rn 2 aE. Das Rechtsmittelgericht entscheidet nach pflichtgemäßem Ermessen. Der zu vollstreckende Teil wird durch die JStrafe bestimmt, die mindestens bleibt, wenn der Schuldspruch im Umfang der Anfechtung wegfällt (Abs. I 3). Die unvermeidliche Unsicherheit (Akten-Entscheidung im Täterstrafrecht) wirkt zugunsten des Täters. Die Anordnung erfolgt durch Beschluss des Rechtsmittelgerichts ggf. mit Rechtsmittelbelehrung (§ 35a StPO). Der Beschluss der JKammer kann mit sofortiger Beschwerde angefochten werden (Abs. II; § 311 StPO). Gegen Entscheidungen höherer Gerichte gibt es kein Rechtsmittel (§§ 304 IV, 310 II StPO)6. Der Beschluss ist entgegen § 307 I StPO erst nach Rechtskraft vollstreckbar (näher § 26a, 14)7. Das Beschwerdegericht kann die Vollstreckung zudem aussetzen (§ 307 II StPO). Wegen der urkundlichen Grundlagen der Vollstreckung § 85 RL II 3. Ab Rechtskraft des Beschlusses rechnet jede Freiheitsentziehung in diesem Verfahren (bes. UHaft) als Strafhaft (§ 450 II StPO entsprechend). § 56 gilt im Wiederaufnahmeverfahren entsprechend (§ 55, 65).

1 BVerfG NStZ 01, 447; Dallinger/Lackner 7; Eisenberg/Kölbel 8; aA Bohlander NStZ 98, 238. 2 OLG Karlsruhe MDR 81, 519; Eisenberg/Kölbel 8; aA Ostendorf/Schady 9; Nothacker MDR 82, 278; von Beckerath JStrafrechtliche Reaktionen bei Mehrfachtäterschaft, Diss. Tübingen 1997, S. 168.

3 Dallinger/Lackner 1. Aufl. 11; Bender JGG, 1965 Rn 4; Eisenberg/Kölbel 9; HK-JGG/Laue 7; von Beckerath Rn 2, S. 166; aA Dallinger/Lackner 2. Aufl. 5; Potrykus B 3; DSS/Schatz 11; Ostendorf/Schady 4, die hier „erst recht“ Teilvollstreckung zulassen. 4 OLG Karlsruhe MDR 81, 519; Ostendorf/Schady 8; krit. Eisenberg/Kölbel 6: Begriff des wohlverstandenen Interesses zu unbestimmt. 5 Dallinger/Lackner 4, 10. 6 Dallinger/Lackner 14; aA Potrykus B 6 hinsichtlich der weiteren Beschwerde. 7 Ebenso Dallinger/Lackner 16; Eisenberg/Kölbel 14a; Ostendorf/Schady 12. 425

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Vierter Unterabschnitt Verfahren bei Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung § 57 Entscheidung über die Aussetzung (1) 1Die Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung wird im Urteil oder, solange der Strafvollzug noch nicht begonnen hat, nachträglich durch Beschluß angeordnet. 2Ist die Entscheidung über die Aussetzung nicht im Urteil vorbehalten worden, so ist für den nachträglichen Beschluss das Gericht zuständig, das in der Sache im ersten Rechtszuge erkannt hat; der Staatsanwalt und der Jugendliche sind zu hören. (2) Hat das Gericht die Entscheidung über die Aussetzung nicht einem nachträglichen Beschluss vorbehalten oder die Aussetzung im Urteil oder in einem nachträglichen Beschluss abgelehnt, so ist ihre nachträgliche Anordnung nur zulässig, wenn seit Erlass des Urteils oder des Beschlusses Umstände hervorgetreten sind, die allein oder in Verbindung mit den bereits bekannten Umständen eine Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung rechtfertigen. (3) 1Kommen Weisungen oder Auflagen (§ 23) in Betracht, so ist der Jugendliche in geeigneten Fällen zu befragen, ob er Zusagen für seine künftige Lebensführung macht oder sich zu Leistungen erbietet, die der Genugtuung für das begangene Unrecht dienen. 2 Kommt die Weisung in Betracht, sich einer heilerzieherischen Behandlung oder einer Entziehungskur zu unterziehen, so ist der Jugendliche, der das sechzehnte Lebensjahr vollendet hat, zu befragen, ob er hierzu seine Einwilligung gibt. (4) § 260 Abs. 4 Satz 4 und § 267 Abs. 3 Satz 4 der Strafprozeßordnung gelten entsprechend. 1. Hw.-J: § 109 II 1. – 2. ErwG: § 104 I Nr. 8.

Übersicht 1. 2. 3.

Möglichkeiten der Entscheidung über die Ausset1 zung 2 Entscheidung im Urteil Vorbehalt der nachträglichen Entschei3 dung

4.

5.

Nachträgliche Entscheidung ohne vorangegangenen 4 Vorbehalt 5 Verfahrensfragen

1. Möglichkeiten der Entscheidung über die Aussetzung 1 Die Vorschriften über das Verfahren bei Aussetzung der JStrafe zur Bew. sind durch das G zur Erweiterung der jgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten v. 4.9.2012 überarbeitet und ergänzt worden, wodurch für das in der Praxis entwickelte Institut der „Vorbewährung“ (Verhängung einer JStrafe mit Weisungen oder Auflagen und Entscheidung über die Aussetzung nach einer Beobachtungszeit)1 eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage geschaffen wurde. Danach bestehen folgende drei Entscheidungsmöglichkeiten über die Aussetzung: Das Gericht kann wie im ErwStrafrecht die Strafe im Urteil aussetzen oder die Aussetzung ablehnen (Abs. I 1 Alt. 1), es kann im Urteil ausdrücklich die Aussetzungsentscheidung einem nachträglichen Beschluss vorbehalten (Abs. I 1 Alt. 2 iVm §§ 61 bis 61b) oder es kann – bei Nichtaufnahme eines Vorbehalts in das Urteil oder Ablehnung der Aussetzung im Urteil oder einem nachträglichen Beschluss – 1 Dazu 12. Aufl. 4 f. 426 https://doi.org/10.1515/9783110686401-069

Entscheidung über die Aussetzung

§ 57

nachträglich bei Hervortreten neuer Umstände aussetzen (Abs. II). Die nach früherem Recht für zulässig gehaltene Möglichkeit des stillschweigenden Hinausschiebens der Aussetzungsentscheidung besteht nach neuem Recht nicht mehr2. Der Gesetzgeber hat dies durch die Neufassung des Abs. II klargestellt3. Ob über die Aussetzung im Urteil oder durch nachträglichen Beschluss entschieden wird, bestimmt das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts auch dann, wenn die Aussetzung ausdrücklich beantragt ist4. Mit einer nachträglichen Entscheidung ist jedoch Zurückhaltung geboten, weil die Schöffen im Nachverfahren nicht beteiligt sind, das Verfahren mit dem Urteil noch nicht abgeschlossen ist und für den J die Ungewissheit, ob er in den Strafvollzug muss, eine erhebliche Belastung darstellt5. IdR sollte die Aussetzung im Urteil angeordnet werden.

2. Entscheidung im Urteil Wird die JStrafe im Urteil ausgesetzt, ist dies in die Urteilsformel aufzunehmen und im Urteil 2 zu begründen (Abs. IV iVm §§ 260 IV 4 und 267 III 4 StPO). Auch ein Arrest nach § 16a wird im Urteilstenor angeordnet. Die Entscheidungen nach den §§ 22 bis 24 ergehen gemäß § 58 I durch einen mit dem Urteil zu verkündenden Beschluss. Die Anordnung der Aussetzung erfordert nur eine einfache, die Ablehnung eine Zweidrittelmehrheit (§ 263 I StPO). Die Ablehnung der Aussetzung kommt nicht in den Urteilstenor, ist aber im Urteil zu begründen, wenn die Aussetzung in der Hauptverhandlung beantragt worden ist (Abs. IV iVm § 267 III 4 StPO) oder die Aussetzung nahe lag6.

3. Vorbehalt der nachträglichen Entscheidung Voraussetzungen und Ausgestaltung des Vorbehalts der Aussetzungsentscheidung für einen 3 nachträglichen Beschluss sind in den §§ 61 bis 61b geregelt.

4. Nachträgliche Entscheidung ohne vorangegangenen Vorbehalt Enthält das Urteil keinen Vorbehalt für die Aussetzungsentscheidung, ist nach Abs. I 2 für den 4 nachträglichen Beschluss das Gericht zuständig, das in der Sache im ersten Rechtszug erkannt hat. Es entscheidet in der Besetzung außerhalb der Hauptverhandlung. Im Falle eines Vorbehalts trifft dagegen nach § 61a II den nachträglichen Beschluss das Gericht der letzten Tatsacheninstanz. Die nachträgliche Aussetzung darf nach Abs. I 1 nur erfolgen, solange der Strafvollzug noch nicht begonnen hat, der J also noch nicht in die JStrafvollzugsanstalt aufgenommen worden ist7. Voraussetzung ist, dass seit Erlass des Urteils Umstände hervorgetreten sind, die allein oder in Verbindung mit bereits bekannten Umständen eine Aussetzung rechtfertigen. Es ist nicht erforderlich, dass die Umstände erst nach Urteilserlass eintreten; vielmehr reicht es aus, wenn sie bis zur Verkündung in letzter Tatsacheninstanz oder gem. § 354 I StPO unbekannt waren8. Diese Umstände müssen nunmehr iVm den bereits bekannten die Aussetzung zulassen; sie dürfen nicht nur den Vorwand zu einer – unzulässigen – Urteilskorrektur bilden. Der nachträgliche Beschluss 2 3 4 5 6 7 8

DSS/Schatz § 61, 12; HK-JGG/Meier 2; aA Eisenberg/Kölbel 11; Ostendorf/Drenkhahn 4. Begr. RegE, BT-Drs. 17/9389, S. 9 f, 16. BGH 14, 74. Eisenberg/Kölbel 6; Ostendorf/Drenkhahn 2. BGH 6, 68 zum allg. Strafrecht. Eisenberg/Kölbel 20. Eisenberg/Kölbel 26; HK-JGG/Meier 7.

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§ 58

2. Teil. Jugendliche

setzt Rechtskraft des Urteils voraus9. Unter den genannten Voraussetzungen kann die Aussetzung auch ausgesprochen werden, wenn sie bereits in einem nachträglichen Beschluss abgelehnt wurde. Die Aussetzung nach Abs. II ist ausgeschlossen, wenn die bereits angeordnete Aussetzung gem. § 26 widerrufen wurde10; eine erneute Anordnung ist nur im Gnadenweg möglich.

5. Verfahrensfragen 5 Für das nachträgliche Beschlussverfahren schreibt Abs. I 2 HS 2 die Anhörung der StA und des J vor. Nach § 67 I sind auch die ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter zu hören. Eine mündliche Verhandlung ist vom Gesetz nicht vorgesehen11, empfiehlt sich aber in geeigneten Fällen12. Insbes. die mündliche Anhörung des J wird vielfach geboten sein13. Sowohl für eine Aussetzung im Urteil als auch durch Beschluss begründet Abs. III Befra6 gungspflichten des Gerichts. Kommen Weisungen oder Auflagen in Betracht, ist in geeigneten Fällen die Bereitschaft zu Zusagen oder Anerbieten iSv § 23 II zu erfragen. Steht eine Weisung einer heilerz. Behandlung oder einer Entziehungskur in Rede, sind J, die das 16. Lebensjahr vollendet haben, nach ihrer Einwilligung zu befragen. Aus dieser Regelung wird teilweise entnommen, dass hier im Gegensatz zu § 10 II 2 die Anordnung einer heilerz. Behandlung oder Entziehungskur gegen den Willen eines über 16 Jahre alten J nicht möglich ist14. Aus einer Verfahrensvorschrift wird man diese materielle Voraussetzung jedoch nicht entnehmen können15. 7 Der im nachträglichen Verfahren ergehende Beschluss ist nach mündlicher Anhörung der Beteiligten zu verkünden, sonst zuzustellen (§ 35 StPO); er muss begründet werden (§ 34 StPO) und eine Belehrung über das Recht der sofortigen Beschwerde (§ 59 I) enthalten (§ 35a StPO). 8 Zur Anfechtung s. § 59, 4.

§ 58 Weitere Entscheidungen (1) 1Entscheidungen, die infolge der Aussetzung erforderlich werden (§§ 22, 23, 24, 26, 26a), trifft der Richter durch Beschluß. 2Der Staatsanwalt, der Jugendliche und der Bewährungshelfer sind zu hören. 3Wenn eine Entscheidung nach § 26 oder die Verhängung von Jugendarrest in Betracht kommt, ist dem Jugendlichen Gelegenheit zur mündlichen Äußerung vor dem Richter zu geben. 4Der Beschluß ist zu begründen. (2) Der Richter leitet auch die Vollstreckung der vorläufigen Maßnahmen nach § 453c der Strafprozeßordnung. (3) 1Zuständig ist der Richter, der die Aussetzung angeordnet hat. 2Er kann die Entscheidung ganz oder teilweise dem Jugendrichter übertragen, in dessen Bezirk sich der Jugendliche aufhält. 3§ 42 Abs. 3 Satz 2 gilt entsprechend. 1. Hw.-J: § 109 II 1. – 2. ErwG: Rn 11; § 104 I Nr. 8, V 1. – 3. Sold. Rn 8.

9 Eisenberg/Kölbel 22; aA DSS/Sonnen 28; HK-JGG/Meier 5; Ostendorf/Drenkhahn 6. 10 Eisenberg/Kölbel 13; Ostendorf/Drenkhahn 7. 11 OLG Hamburg VRS Bd. 124 (2013), 355. 12 HK-JGG/Meier 8. 13 AaO. 14 DSS/Sonnen 30; Ostendorf/Drenkhahn 10. 15 HK-JGG/Meier 10. 428 https://doi.org/10.1515/9783110686401-070

Weitere Entscheidungen

§ 58

Übersicht 1. 2.

Art der Entscheidungen Zuständigkeit und 5 Ermessen

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3. 4.

Rechte des abgebenden und des übernehmen9 den Richters 11 Abgabe durch das ErwGericht

1. Art der Entscheidungen Es handelt sich um Festsetzung und nachträgliche Abänderung der BewZeit (§ 22), um Anordnung und Änderung der von der BewZeit unabhängigen Unterstellung unter den BewHelfer (§ 24 I u. II), um Anordnung, Änderung und Aufhebung von BewAuflagen (§ 23), Widerruf der Strafaussetzung zur Bew. oder Erlass der JStrafe nach Ablauf der BewZeit (§§ 26, 26a) und um Erlass und Vollstreckung von vorläufigen Maßnahmen und des Sicherungshaftbefehls nach § 453c StPO (Abs. II; s. Nach § 60, 15). Auch die Bestellung eines ehrenamtlichen BewHelfers fällt unter die Vorschrift (die Zuständigkeit des hauptamtlichen BewHelfers ergibt sich aus der Geschäftsverteilung). Nicht hierher gehört die Einleitung der Vollstreckung im allg.; dafür bleibt das erkennende Gericht auch nach Übertragung gem. Abs. III 2 zuständig, falls nicht die Vollstreckung gem. § 85 V abgegeben wurde (vgl. § 85, 21)1. § 58 gilt entsprechend für die Zuständigkeit zur Aufstellung des BewPlans (§ 60, 11), weil eine getrennte Zuständigkeit in diesem wichtigen Verfahrensabschnitt nicht tragbar wäre2. Die Entscheidung ergeht durch Beschluss, BewZeit und BewAuflage gehören also auch bei gleichzeitiger Verkündung nicht ins Urteil3. Die Entscheidung kann ohne mündliche Verhandlung ergehen. Die JStA, der J und der BewHelfer sind zu hören, wobei es sich empfiehlt, den J Gelegenheit zur mündlichen Anhörung (Art. 103 GG) zu geben, weil sie häufig sich schriftlich nicht artikulieren können oder dies aus Gleichgültigkeit oder Trotz nicht tun. Darüber hinaus ist die Anhörung der ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter (§ 67 I) sowie des Verteidigers, möglichst auch der JGH (§ 38 VI 1)4, angebracht. Von einer Beteiligung der JGH kann aber abgesehen werden, wenn eine Beeinflussung der Entscheidung durch Einholung einer Stellungnahme der JGH von vornherein ausgeschlossen erscheint5. Vereitelt der Verurteilte selbst die Anhörung, indem er trotz entsprechender Auflage den Wechsel seiner Anschrift nicht mitteilt, soll er sich nach dem OLG Köln6 nicht auf das rechtliche Gehör berufen können. Kommt Widerruf oder Ungehorsamsarrest (vgl. § 11, 6; § 65, 6) in Frage, so muss der Richter nach Abs. I 3 dem J Gelegenheit zur mündlichen Anhörung geben, was uU die Mithilfe der JGH erfordert. Dies betont das Gesetz ausdrücklich, weil der Richter nur so Missverständnisse ausschalten7, Grund und Gewicht des Versagens in der BewZeit besser einschätzen und bei dieser Gelegenheit persönlich auf den J einwirken und möglichst den Widerruf vermeiden kann. Die Einräumung einer Gelegenheit zur schriftlichen Äußerung genügt nicht, der J ist vielmehr zu einem anzuberaumenden Termin zu laden8. Die mündliche Anhörung anlässlich der Verkündung eines Sicherungshaftbefehls durch den beauftragten Rich-

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BGH 27, 25. BGH 19, 173; Eisenberg/Kölbel 5; Nothacker S. 259. BGH NJW 54, 522 für das allg. Recht; Dallinger/Lackner 3; aA Potrykus B 1, 2. Für grds. Beteiligung der JGH am Widerrufsverfahren OLG Koblenz StV 17, 723, 724; OLG Celle NStZ 21, 686; DSS/ Schatz 22. 5 OLG Celle NStZ 21, 686 = ZJJ 20, 399 mit abl. Anm. Eisenberg ZJJ 21, 391. 6 NJW 63, 875 für § 453 I 2 StPO; ebenso Potrykus NJW 67, 1790. 7 LG Arnsberg NStZ 06, 525, 526. 8 OLG Hamm NStZ 17, 543 (auch bei einem inzwischen erw. Verurteilten); LG Heidelberg StV 08, 119. 429

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2. Teil. Jugendliche

ter reicht nicht aus9. Auf die mündliche Anhörung der ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter darf nach dem OLG Koblenz10 nicht wegen unbekannten Aufenthalts verzichtet werden; ggf. ist nach dem OLG eine Ergänzungspflegschaft zu bestellen; seit Inkrafttreten des § 67 III 3 kann dieser angewendet werden. § 58 gilt nach § 109 II 1 auch für Hw., auf die materielles JStrafrecht angewendet wird, und auch dann, wenn der Verurteilte zwischenzeitlich erwachsen geworden ist11. Ein Verstoß gegen diese Pflicht führt zur Aufhebung des Widerrufs12. Der Richter muss allerdings nicht anhören, sondern dem J Gelegenheit dazu geben, denn die Praxis lehrt, dass J oftmals aus bloßer Gleichgültigkeit oder Trotz der Ladung keine Folge leisten. Aber auch dann kann der Richter immer noch bei Vorliegen der Voraussetzungen sich des J gem. § 453c StPO versichern und nach Anhörung möglicherweise den Widerruf noch vermeiden. Zur Pflichtverteidigerbestellung im Widerrufverfahren s. § 68, 27. Das KG13 neigt dazu, dass ebenso wie im allg. Strafverfahren auch im JStrafverfahren die Bekanntmachung der eine Strafaussetzung betreffenden Entscheidung durch Verkündung unzulässig ist und die Entscheidung nach § 35 II 1 StPO zuzustellen ist. Der Beschluss ist zu begründen, auch wo er nicht angefochten werden kann (Abs. I 4 über § 34 StPO hinaus). Rechtsmittelbelehrung § 35a StPO u. § 54, 18; Anfechtung § 59 II–IV. Vgl. aber § 27, 5. Zum BZRG Rn 15.

2. Zuständigkeit und Ermessen 5 Zuständig ist das Gericht, das ausgesetzt hat (Abs. III 1; s. aber Rn 11 für ErwGericht), also auch das Berufungsgericht, wenn es im Gegensatz zum Erstrichter Strafaussetzung zur Bew. angeordnet hat14, dagegen der Erstrichter, wenn das Berufungsgericht seine Entscheidung nur bestätigt hat15. Der JRichter bleibt auch zuständig, wenn der Verurteilte zwischenzeitlich zu Freiheitsstrafe verurteilt wird und diese ganz oder teilweise verbüßt hat; der Konzentrationsgrundsatz des § 462a IV StPO erstreckt sich nicht auf die JStrafe16. Überträgt (Abs. III 2) der Erstrichter zu Unrecht, ist dies gleichwohl nicht unwirksam17, es sei denn, die Übertragung beruht auf Willkür und ist deshalb missbräuchlich18. Entscheidend kann danach sein, wo die Auflagen zu kontrollieren sind (z.B. Wiedergutmachungsauflage). Der JRichter als Vollstreckungsleiter könnte nur aufgrund einer Vorentscheidung gem. § 88 zuständig werden19 (vgl. dazu § 88, 17). Bei Aussetzung einer Maßregel ist Abs. III entsprechend anzuwenden20. 6 Dieses Gericht kann nach pflichtgemäßem Ermessen die Entscheidung (Rn 1) von Anfang an oder später an den JRichter des AG übertragen, in dessen Bezirk sich der J aufhält (Abs III 2)21. Wann dieser Aufenthalt begründet wurde, ist bedeutungslos22. Aufenthalt in einer Einrichtung nach § 12 Nr. 2 genügt23 (vgl. § 42, 11). Zur Wirksamkeit der Übertragung Rn 5. Die JKam-

9 OLG Koblenz StV 17, 723. 10 AaO. 11 LG Saarbrücken ZJJ 20, 311, 312 mit zust. Anm. Möller. 12 OLG Hamm NStZ 17, 543, 544; LG Zweibrücken ZJJ 12, 209; LG Saarbrücken ZJJ 20, 311. 13 ZJJ 03, 303. 14 BGH NStZ 87, 87; OLG Hamm ZJJ 08, 387, 388; OLG Jena NStZ 10, 283, 284. 15 BGH 19, 170; OLG Frankfurt NJW 57, 1486; OLG Zweibrücken NStZ 02, 499; Dallinger/Lackner 8; Eisenberg/Kölbel 35; Ostendorf/Drenkhahn 3; Nothacker S. 258; aA Potrykus B 2. 16 BGH NStZ-RR 07, 190; OLG Hamm NStZ 17, 543. 17 BGH NStZ 87, 87. 18 OLG Düsseldorf JMBl. NRW 90, 7 zu § 453 StPO; OLG Nürnberg NStZ 12, 164, 165. 19 BGH 19, 173. 20 OLG Jena NStZ 10, 283; OLG Nürnberg NStZ 12, 164. 21 Dallinger/Lackner 11; Eisenberg/Kölbel 38. 22 OLG Köln NJW 55, 603. 23 OLG Schleswig SchlHA 57, 106. 430

Weitere Entscheidungen

§ 58

mer kann auch dann übertragen, wenn der J sich in ihrem Bezirk aufhält24. Dem die Gegenauffassung vertretenden OLG Frankfurt25 kann allerdings insoweit zugestimmt werden, als es den JRichter als generell nicht geeigneter als die JKammer bezeichnet; zu Unrecht schließt das OLG aber hieraus, dass die JKammer nicht auf den JRichter übertragen darf, wenn der J sich in ihrem Bezirk aufhält26; es wird auf die Besonderheiten des Einzelfalles ankommen. Die JKammer überträgt jedoch immer an den JRichter, auch wenn das JSchöffengericht Erstgericht war27. Dabei kann sie sich auch einige Entscheidungen vorbehalten (etwa den Widerruf und den Straferlass)28; fehlt ein ausdrücklicher Vorbehalt, ist alles übertragen29. Der Übertragungsbeschluss der JKammer bindet das angegangene Gericht nicht mit der Folge, dass ihm die Anrufung des gemeinschaftlichen oberen Gerichts nach Abs. III 3 versagt wäre30. Für eine Abgabe der weiteren Entscheidungen nach Aussetzung einer JStrafe hat die JKam- 7 mer abzuwägen zwischen den Vorzügen der Entscheidungsnähe und der Kenntnis der Persönlichkeit des J aus dem Verfahren31. Für die Übertragung müssen beachtliche Gründe vorliegen32. Hat der Verurteilte seinen Aufenthalt am Sitz der JKammer, so gewinnt die vom OLG Frankfurt33 zu Recht verneinte Frage Gewicht, ob etwa der J(Einzel)Richter für die nach § 58 I 1 zu treffenden Entscheidungen generell besser geeignet sein könnte als die JKammer. Wer sollte sich berufen fühlen, so allgemein Gültiges zu entscheiden34? Man sollte aber über die Verweisung auf den Einzelfall35 hinaus zunächst davon ausgehen, dass im Regelfall sich die Waage auf die Seite des J(Einzel)Richters neigt. Dafür sprechen schon sein sachlicher Zuständigkeitsbereich (§ 41, 8 u. 24) und die Wirkung der Rechtsmittelbeschränkung des § 55 I, die ihn in der Praxis häufiger mit der Vollstreckung von Weisungen und Auflagen, mit „BewAuflagen“ also, befassen, als es erfahrungsgemäß die Mitglieder der JKammer und ihr Vorsitzender sind. Die bei ihm konzentrierten Vollstreckungsentscheidungen (§ 82 I) geben dem JRichter Praxis und Erfahrung. Auch die gebotene rasche Anpassung der BewAuflagen an die Entwicklung des Probanden ist beim JRichter mit seinen ständigen, häufig persönlichen Verbindungen zu den für seinen Bereich zuständigen BewHelfern, zur JHilfe und zu freien Trägern in besten Händen. Schließlich sind auch bei ihm Eröffnung des BewPlanes, persönliche Belehrung der Beteiligten und Aushändigung des BewPlanes (§ 60 I 2 u. III 1 u. 2), auch die Wiederholung bei wesentlichen Änderungen (§ 60 I 4), besser angebracht, zumal den Beteiligten der Gang zum JRichter oftmals leichter fällt und von weniger Schwellenangst begleitet ist als der zum „höheren Gericht“. Auch die mündliche Anhörung nach Abs. I 3 (Rn 4) erfolgt besser und mit geringerem Aufwand beim JRichter36. Nach dem OLG Zweibrücken37 bildet aber die nur routinemäßige Vorbefassung des JRichters in einem anderen BewVerfahren noch keinen die Übertragung rechtfertigenden wichtigen Grund, sondern ist eine „qualifizierte Vorbefassung“ des JRichters erforderlich, und nach dem OLG Dresden38 reicht allein eine frühere BewAufsicht durch den JRichter für die Übertragung nicht aus. 24 OLG Köln NJW 55, 603; OLG Stuttgart NStZ 90, 358 mit grds. zust. Anm. Brunner; OLG Zweibrücken NStZ 02, 498: nur aus wichtigem Grund; OLG Dresden NStZ-RR 05, 219: nur aus beachtlichen Gründen. 25 NStZ 89, 199 mit krit. Anm. Eisenberg/Krauth. 26 Vgl. Anm. Brunner aaO. 27 BGH 19, 170. 28 BGH 7, 321. 29 Dallinger/Lackner 15; Eisenberg/Kölbel 42. 30 OLG Stuttgart NStZ 90, 358 mit zust. Anm. Brunner; OLG Dresden NStZ-RR 05, 219. 31 OLG Stuttgart u. OLG Dresden aaO; OLG Nürnberg NStZ 12, 164; vgl. auch BGH B NStZ-RR 01, 324. 32 BGH NJW 58, 560 u. bei Herlan GA 59, 47 für allg. Recht. 33 NStZ 89, 199. 34 Vgl. auch Eisenberg/Krauth NStZ 89, 200. 35 Eisenberg/Krauth aaO. 36 Näher Brunner NStZ 90, 358. 37 NStZ 02, 498. 38 NStZ-RR 05, 219. 431

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Die Abgabe nach Abs. III 2 ist zweckmäßig, wenn der Aufenthalt des J in dem anderen Bezirk nicht nur von kurzer Dauer ist und er Kontakt zum dortigen BewHelfer hält39 oder eine Anpassung der Auflagen an die Entwicklung des J geboten ist40. Sie ist unzweckmäßig, wenn der Aufenthalt nur vorübergehend sein wird41 oder wenn nicht sicher ist, ob sich der Verurteilte in dem anderen Ort aufhält42. Bei Wehrpflichtigen kommt eine Übertragung an das Gericht des Garnisonsortes zumeist nicht in Betracht, wenn die Straftaten in der Zivilzeit begangen wurden43; nach Ostendorf/Drenkhahn44 reicht ein derart vorübergehender Aufenthalt nie aus; das wird man freilich nicht so generell sagen können45. Da § 58 in Verfahren gegen Hw. nur bei Anwendung des materiellen JStrafrechts gilt (§ 109 II 1), ist eine Abgabe nach § 58 III 2 bei Verurteilung des Hw. zu einer Freiheitsstrafe nicht zulässig; in Betracht kommt dann eine Abgabe gem. §§ 462a II 2, 453 StPO46.

3. Rechte des abgebenden und des übernehmenden Richters 9 Lehnt der angegangene JRichter die Übernahme des Verfahrens ab, so bleibt bis zur Entscheidung des übergeordneten Gerichts (§ 58 III 3, § 42 III 2; § 42, 12) das Verfahren beim abgebenden Richter anhängig; nur die Abgabe des ErwGerichts (Rn 11) ist bindend. Das Verfahren wird erst mit der Übernahme oder dem die Übernahme anordnenden Beschluss des übergeordneten Gerichts beim angegangenen Gericht anhängig. – Das abgebende Gericht hat bei gleichbleibenden Verhältnissen kein Widerrufsrecht. Dagegen muss es bei einer Änderung der Verhältnisse seine Entscheidung überprüfen und ggf. – bes. bei Wechsel des Wohn- und Aufenthaltsortes – abändern47. Es kann selbst das Verfahren wieder übernehmen oder das Verfahren einem dritten Gericht übertragen; der die erste Übertragung anordnende JRichter bleibt also Herr des Verfahrens48. Der zunächst übernehmende JRichter kann nur beim abgebenden Gericht eine Änderung anregen, indem er Bedenken aufgrund der veränderten Verhältnisse erhebt; dagegen kann er nicht selbst an ein drittes Gericht übertragen49. Folgt das abgebende Gericht den geltend gemachten Bedenken nicht, so entscheidet wiederum das übergeordnete Gericht50. Eine Rückübertragung vom JRichter des Aufenthaltsorts an den erkennenden Richter mit der Begründung, der Verurteilte sei mit unbekanntem Aufenthalt verzogen, kommt dann nicht in Betracht, wenn der Verurteilte möglicherweise noch, wenn auch mit unbekanntem Aufenthalt, im Bezirk des zunächst übernehmenden Richters wohnt51. Das übergeordnete Gericht ist zur Entscheidung aber dann nicht berufen, wenn das Gericht, das die Sache abgegeben hat, nicht zuständig zur Übertragungsentscheidung war52. Das Gericht, an das übertragen wurde, muss bei dem zuständigen Gericht die Änderung der Übertragungsentscheidung anregen; erst dessen Ablehnung macht das übergeordnete Gericht zuständig. Die mangelnde Zuständigkeit des übertragenden 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49

BGH B NStZ 97, 483; OLG Nürnberg NStZ 12, 164, 165. OLG Frankfurt NStZ-RR 05, 60; OLG Nürnberg aaO. BGH bei Kusch NStZ 94, 27; BGH NStZ-RR 05, 280; StV 22, 44. BGH bei Kusch NStZ 96, 327. BGH NJW 59, 1503; OLG Köln SjE F 3, S. 291; Eisenberg/Kölbel 3. 6. Wegen weiterer Probleme bei Soldaten Grethlein NJW 59, 1503. BGH StraFo 07, 87. BGH MDR 86, 952; NStZ 18, 664, 665. BGH 24, 335; zust. Eisenberg/Kölbel 43; abl. Ostendorf/Drenkhahn 9. BGH 11, 332; 19, 170 je zu § 453 II 2 StPO aF, für § 58 offen gelassen; BGH 24, 26 zu §§ 57, 58 II 2 aF; 24, 332 zu § 58 II 2 iVm § 88 V 3 aF; 25, 88 = JR 73, 206 mit Anm. Brunner; 28, 353; BGH MDR 78, 329; 86, 952; NStZ 18, 664; OLG Frankfurt NStZ-RR 05, 60; Eisenberg/Kölbel 44; Ostendorf/Drenkhahn 10. 50 Dallinger/Lackner 17; Eisenberg/Kölbel 45. 51 BGH B NStZ 92, 529. 52 BGH NStZ 87, 87; 18, 664, 665. 432

Anfechtung

§ 59

Gerichts aber macht die Übertragung und die hierauf gegründeten Entscheidungen nicht rechtsunwirksam53. Die Strafvollstreckung leitet stets der abgebende Richter entsprechend § 84 ein54, wenn 10 diese nicht nach § 85 V abgegeben ist; zur Zuständigkeit der StA Rn 13.

4. Abgabe durch das ErwGericht Hat ein ErwGericht die JStrafe zur Bew. ausgesetzt, muss es die Entscheidung (Rn 1) gem. Rn 6 übertragen, der JRichter des Aufenthaltsortes muss übernehmen (§ 104 I Nr. 8, V 1) und ist für alle weiteren Entscheidungen, auch für deren Weiterübertragung, zuständig55; die Entscheidung über Strafaussetzung zur Bew. kann hier also nicht mit der Entscheidung über BewZeit, BewAuflagen uä verbunden werden. Das übernehmende Gericht überträgt hier bei Änderung des Aufenthaltsortes des Probanden selbst an das Gericht des neuen Aufenthaltes56. Das ErwGericht ist mit der zwingenden Abgabe nach § 104 V 1 mit Sache und Person nicht mehr befasst. Die wirksame Übertragung bestimmt auch die danach zuständige JStA (§ 143 I GVG)57. Wegen des Verschlechterungsverbotes § 55, 61; wegen einer Wiederaufnahme dieses Verfahrens § 55, 67. Wegen Abs. II s. Nach § 60, 15. Hat die Gnadenbehörde die Aussetzung der Vollstreckung bewilligt, so kann der JRichter, dem die Gnadenbehörde die Sache zur weiteren Veranlassung übersandt hat, das Verfahren nicht gem. § 58 III 2 einem anderen JRichter übertragen58. Vgl. auch § 88, 21. Die nachträglichen Entscheidungen nach §§ 22 II 2, 26 I, 26a sind dem Zentralregister mitzuteilen (§ 13 I Nr. 3, 4, 6 BZRG).

§ 59 Anfechtung (1) 1Gegen eine Entscheidung, durch welche die Aussetzung der Jugendstrafe angeordnet oder abgelehnt wird, ist, wenn sie für sich allein oder nur gemeinsam mit der Entscheidung über die Anordnung eines Jugendarrests nach § 16a angefochten wird, sofortige Beschwerde zulässig. 2Das gleiche gilt, wenn ein Urteil nur deshalb angefochten wird, weil die Strafe nicht ausgesetzt worden ist. (2) 1Gegen eine Entscheidung über die Dauer der Bewährungszeit (§ 22), die Dauer der Unterstellungszeit (§ 24), die erneute Anordnung der Unterstellung in der Bewährungszeit (§ 24 Abs. 2) und über Weisungen oder Auflagen (§ 23) ist Beschwerde zulässig. 2Sie kann nur darauf gestützt werden, daß die Bewährungs- oder die Unterstellungszeit nachträglich verlängert, die Unterstellung erneut angeordnet worden oder daß eine getroffene Anordnung gesetzwidrig ist. (3) Gegen den Widerruf der Aussetzung der Jugendstrafe (§ 26 Abs. 1) ist sofortige Beschwerde zulässig. (4) Der Beschluß über den Straferlaß (§ 26a) ist nicht anfechtbar. (5) Wird gegen ein Urteil eine zulässige Revision und gegen eine Entscheidung, die sich auf eine in dem Urteil angeordnete Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung be53 54 55 56 57 58

BGH aaO. BGH 27, 25; BGH MDR 86, 952. BGH 25, 88 = JR 73, 206 mit Anm. Brunner. BGH aaO. Zust. Eisenberg/Kölbel 46; Ostendorf/Drenkhahn 7. BGH NStZ 84, 428.

433 https://doi.org/10.1515/9783110686401-071

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§ 59

2. Teil. Jugendliche

zieht, Beschwerde eingelegt, so ist das Revisionsgericht auch zur Entscheidung über die Beschwerde zuständig. 1. Hw.-J: § 109 II 1. – 2. ErwG: § 104 I Nr. 8.

Übersicht 1. 2. 3.

Anfechtung der BewEntscheidung 3 Sofortige Beschwerde 6 Einfache Beschwerde

1

4. 5.

Verschlechterungs10 verbot Revisionsgericht

11

1. Anfechtung der BewEntscheidung 1 Das Urteil wird grds. (Ausnahme Rn 2) mit Berufung oder Revision angefochten. Jede den Strafausspruch berührende Anfechtung umfasst die Strafaussetzung zur Bew. als Teil der Strafzumessung. Dabei kann auch das Rechtsmittelgericht die Entscheidung über die Strafaussetzung dem nachträglichen Beschlussverfahren überlassen (§ 57, 1); wegen der Wirkung des Verschlechterungsverbotes insoweit § 55, 47. 2 Wird das Urteil nur hinsichtlich der Strafaussetzung zur Bew. (Anordnung, Ablehnung, Nicht-Entscheidung) angefochten, ist nur sofortige Beschwerde gegeben (Abs. I), auch dann, wenn diese Entscheidung nach allg. Grundsätzen1 nicht von den übrigen Straffragen zu trennen wäre2. Dies gilt auch, wenn die Aussetzungsentscheidung gemeinsam mit einer Entscheidung über einen Einstiegsarrest angefochten wird. Eine auf die Frage der Strafaussetzung zur Bew. beschränkte Berufung oder Revision ist nicht zulässig, sondern gem. § 300 StPO als sofortige Beschwerde zu behandeln, über die das unmittelbar übergeordnete Gericht entscheidet3. War das Erstgericht ein OLG (§ 120 I, II GVG), entscheidet über die Beschwerde nach § 59 I der BGH (§ 102 S. 2). Auch ein Übergang von Berufung und Revision zur sofortigen Beschwerde ist bei Beschränkung der Anfechtung auf die Frage der Strafaussetzung zur Bew. innerhalb der Revisionsbegründungsfrist möglich4. Das Revisionsgericht leitet dann die Sache dem zuständigen Gericht zu. Bei der Entscheidung nach Abs. I darf das Beschwerdegericht nicht nur eigene Feststellungen treffen, sondern – anders als bei Revision – auch eigenes Ermessen ausüben. Es darf also die Frage der Bewilligung oder Verweigerung der Strafaussetzung zur Bew. selbst entscheiden, wenn es auch stets berücksichtigen wird, dass ihm der unmittelbare persönliche Eindruck vom J fehlt5. § 59 bezieht sich nur auf die JStrafe; eine Anwendung auf JA ist nicht möglich, da die Aussetzung des Vollzugs des JA zwingend ausgeschlossen ist6 (vgl. § 87, 5). Befasst sich das Berufungsgericht rechtsirrig nicht nur mit der Frage der Aussetzung, sondern mit dem gesamten Rechtsfolgenausspruch, so ist seine Entscheidung kein Beschluss, sondern ein Urteil7. Ist nach § 55 II Revision ausgeschlossen, so ist auch die sofortige Beschwerde nach Abs. I unzulässig8 (näher § 55, 26).

1 BGH bei Dallinger MDR 55, 394. 2 OLG Schleswig bei Ernesti/Jürgensen SchlHA 73, 193; OLG Hamm MDR 79, 253; OLG Düsseldorf MDR 90, 178; Eisenberg/Kölbel 5; Schäfer NStZ 98, 332.

3 BGH 6, 208. 4 BGH 6, 207; OLG Koblenz B NStZ 82, 415; Dallinger/Lackner 14; Eisenberg/Kölbel 9; Ostendorf/Drenkhahn 2; für Zulässigkeit des Übergangs auch nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist Ott JurArbbl. 10, 888 f. 5 OLG Düsseldorf NStZ 82, 120; OLG Stuttgart ZJJ 09, 156. 6 OLG Frankfurt NJW 63, 969. 7 OLG Düsseldorf MDR 90, 178. 8 OLG Düsseldorf MDR 90, 178; NStZ 94, 198; OLG Frankfurt NStZ-RR 03, 27; OLG Hamm VRS Bd. 113 [07], 383. 434

Anfechtung

§ 59

2. Sofortige Beschwerde Die sofortige Beschwerde tritt nur an Stelle der Berufung oder Revision. Sie erweitert den 3 Rechtsmittelzug nicht. Urteile der Revisionsgerichte sind deshalb nicht nach Abs. I anzufechten, ebenso nicht Berufungsurteile für den nach § 55 II von der Revision Ausgeschlossenen (§ 55, 26)9. Auch umgekehrt kann der Beschwerdeführer keine weiteren Rechtsmittel einlegen (vgl. § 55, 26). – Umstritten ist, was geschieht, wenn neben der sofortigen Beschwerde nach Abs. I durch einen anderen Verfahrensbeteiligten Berufung oder Revision eingelegt wird. Diese Fragen lösen sich, wenn man auf das Wesen der sofortigen Beschwerde abstellt, also darauf, dass diese eine auf die Strafaussetzung zur Bew. beschränkte, sonst aber umfassende Anfechtung ist, die zur Vereinfachung und Beschleunigung an Stelle der Berufung tritt. Neben einer Berufung ist daher über die sofortige Beschwerde aufgrund der Berufungsverhandlung durch Urteil zu entscheiden10; eine gesonderte Behandlung der sofortigen Beschwerde würde zweckwidrig zu einer Komplizierung führen, ihre Behandlung wie eine Berufung aber gewährleistet die einfachste, volle und erschöpfende Nachprüfung beider Rechtsmittel. Neben der Wahlrevision muss vor der Entscheidung des Revisionsgerichts die Entscheidung des Berufungsgerichts über die sofortige Beschwerde ergehen in Anwendung des Grundgedankens des § 335 III StPO, dass die tatsächliche Nachprüfung den Vorrang hat, doch unter Beachtung des Unterschieds, dass hier das Revisionsurteil nicht durch den Beschluss des Beschwerdeverfahrens ersetzt werden kann11. Dass die Beschwerdeentscheidung an sich keiner Nachprüfung mehr unterliegt (§ 310 StPO), steht dem nicht entgegen; die Beschwerde vertritt hier ja nur zur Vereinfachung die Berufung, mit der Revision werden aber allg. Berufungsurteile nachgeprüft, und zwar auch hinsichtlich der Frage der Strafaussetzung zur Bew., wenn diese durch die Berufung neben anderen Punkten angegriffen würde. Eine Behandlung der sofortigen Beschwerde durch das Revisionsgericht geht nicht an und findet auch im Gesetz keine Stütze12. In dem seltenen Fall, dass gegen das Berufungsurteil gleichzeitig Revision und sofortige Beschwerde eingelegt wird, steht es mangels bes. oder vergleichbarer Vorschrift im Ermessen des auch für die sofortige Beschwerde zuständigen Revisionsgerichts (§ 121 I Nr. 1b, Nr. 2 GVG), ob es über beide Rechtsmittel getrennt oder gleichzeitig entscheiden will13. Für Anwaltsvertretung nach § 59 I fällt keine bes. Gebühr an14. Auch die nachträgliche Beschlussentscheidung nach §§ 57 I, II, 61a über die Strafausset- 4 zung zur Bew. ist mit sofortiger Beschwerde anfechtbar (Abs. I). Es gilt das Rn 2 Gesagte. Behält sich das Gericht die Entscheidung über die Aussetzung vor, kann der Angeklagte dies nach Abs. I 2 anfechten; er ist insoweit beschwert, als die Aussetzung nicht sofort erfolgt ist. Im Umkehrschluss zu Abs. I 2 ist der StA die isolierte Anfechtung der Vorbehaltsentscheidung grds. verwehrt15. Die erfolgreiche sofortige Beschwerde der StA gegen die Bewilligung der Strafaussetzung zur Bew. gibt dem Angeklagten aber nicht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der versäumten Revisionsfrist, wenn er im Vertrauen auf die Strafaussetzung das

9 OLG Hamm JMBl. NRW 55, 10; VRS Bd. 113 (07), 383; OLG Stuttgart Justiz 64, 172; OLG Düsseldorf u. OLG Frankfurt bei Rn 2 aE; OLG Bamberg NStZ 12, 165, 166; Dallinger/Lackner 12; Burscheidt S. 154; Bedenken bei Eisenberg/Kölbel § 55, 71; aA hinsichtlich des Eingreifens des § 55 II Ostendorf/Drenkhahn 2; Bode Das Wahlrechtsmittel im Strafverfahren, 2000, S. 135. 10 Dallinger/Lackner 16; Eisenberg/Kölbel 15; Ostendorf/Drenkhahn 6. 11 Ostendorf/Drenkhahn 7. 12 BGH 6, 208. 13 Dallinger/Lackner 15. 14 OLG Koblenz MDR 73, 957 zu Recht gegen LG Lübeck NJW 63, 2336, weil dem Gesetzgeber bei Erlass des anwaltlichen Gebührenrechts § 59 I bekannt war; DSS/Schatz 19; Eisenberg/Kölbel 12; Ostendorf/Drenkhahn 10. 15 OLG Schleswig SchlHA 78, 90; OLG Stuttgart NStZ 86, 219 mit Anm. Eisenberg/Welski; DSS/Schatz 10; Ostendorf/ Drenkhahn 4; aA OLG München NStZ-RR 05, 152; Dallinger/Lackner 10; Walter/Pieplow NStZ 88, 169; für Anfechtbarkeit der Vorbehaltsentscheidung nur bei offensichtlichem Ermessensfehler Eisenberg/Kölbel 6; HK-JGG/Meier 4. 435

§ 59

2. Teil. Jugendliche

Urteil nicht angefochten hat16. Die Beschwerdeentscheidung unterliegt nicht der weiteren Beschwerde (§ 310 StPO)17. UU greift Nachholung des rechtlichen Gehörs (§ 311a StPO) ein. 5 Weiter ist gegen den Widerruf der Strafaussetzung zur Bew. sofortige Beschwerde gegeben (Abs. III). § 55 II greift nicht ein18. Dagegen kann der Beschluss, durch den ein Antrag auf Widerruf zurückgewiesen wird, im Hinblick auf Abs. IV (Rn 8) nicht angefochten werden19. Zum Widerruf einer zur Bew. ausgesetzten Maßregelunterbringung § 7, 2 aE. – Wegen der Vollstreckbarkeit § 26a, 14.

3. Einfache Beschwerde 6 Mit der einfachen Beschwerde nach Abs. II kann stets die Verlängerung der BewZeit (§ 22 II) angefochten werden, und zwar auch noch nach Rechtskraft des die Strafaussetzung zur Bew. aussprechenden Urteils20. Da BewZeit und Zeitraum der Unterstellung unter einen BewHelfer auseinander fallen können (§ 24 I 1, II), lässt Abs. II 1 die Beschwerde auch gegen die Dauer der Unterstellung in der BewZeit zu. Die Beschwerde kann nur darauf gestützt werden, dass die BewZeit oder die Unterstellungszeit nachträglich verlängert, die Unterstellung erneut angeordnet (§ 24 II 1 HS 2) oder bei der erneuten Anordnung das in § 24 I 1 und II 2 iVm § 22 II 2 bestimmte Höchstmaß überschritten worden ist. Dieses Rechtsmittel ist auch gegen alle anderen Entscheidungen über die BewZeit (Anordnung, Verkürzung), die Unterstellungszeit und über die BewAuflagen (Anordnung, Änderung u. Aufhebung) gegeben, wenn sie gesetzwidrig sind (Abs. II 2; § 453 II StPO). Gesetzwidrigkeit liegt vor, wenn vom Gesetz nicht gedeckte oder überhaupt nicht vorgesehene Maßnahmen angeordnet werden oder der dem Gericht vorbehaltene Ermessensspielraum missbräuchlich überschritten wird21, also z.B. die gesetzlichen Grenzen der BewZeit nicht beachtet werden oder andere BewAuflagen als zulässige Weisungen (§ 10) oder Auflagen (§ 15) festgesetzt werden (vgl. auch § 88, 16 aE). Dies gilt auch für die Beschwerde gegen die Art und Weise der Anrechnung einer als BewAuflage geleisteten Zahlung auf die zu verbüßende Strafe22. Auch Teilanfechtung ist möglich, wenn der angefochtene Teil eine in sich selbständige Prüfung und Beurteilung zulässt23. Eine Begründung der Beschwerde ist nicht vorgeschrieben24, kann aber ggf. die Beschwerde eingrenzen. Sind die Voraussetzungen nicht gegeben, ist die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen; andernfalls ist die gesamte angefochtene Entscheidung nachzuprüfen, auch auf die Vereinbarkeit der Auflagen mit den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und Zumutbarkeit25. Die angeordneten Maßnahmen können – grds. nur aus bes. Gründen (vgl. § 55, 23 entsprechend u. § 23 I 3) – durch andere ersetzt werden (§ 309 II

16 17 18 19

BayObLG JZ 78, 204. OLG München aaO. Burscheidt S. 145 FN 511; zu einem Sonderfall OLG Stuttgart MDR 76, 1043. OLG Celle NJW 71, 1665; KG JR 98, 389; LG München NJW 60, 1216 mit zust. Anm. Potrykus; LG Krefeld NJW 74, 1476; LG Potsdam NStZ-RR 96, 285; LG Magdeburg StV 13, 777; Dallinger/Lackner 26; Eisenberg/Kölbel 27a; Ostendorf/ Drenkhahn 15; aA LG Osnabrück NStZ 91, 533 mit Anm. Brunner; LG Hamburg NStZ 96, 250 mit abl. Anm. Sieveking/ Eisenberg; LG Bückeburg NStZ 05, 168 mit Bespr. Heinrich NStZ 06, 417, nach dem Widerrufsablehnungen nach § 26 I anfechtbar u. solche nach § 26 II unanfechtbar sind (aaO, 423); LG Aurich ZJJ 20, 205; Schnitzerling Zbl. 60, 115 will Beschwerde dann zulassen, wenn der Richter nicht entscheidet. 20 OLG Braunschweig GA 69, 530. 21 OLG Düsseldorf NStZ 94, 198. 22 OLG Stuttgart MDR 80, 1037. 23 BGH 10, 101; M.-K. Meyer NStZ 87, 26. 24 Zust. Eisenberg/Kölbel 26; Ostendorf/Drenkhahn 13; aA OLG Nürnberg NJW 59, 1451. 25 OLG Hamm MDR 75, 1041 zu § 56b StGB. 436

Bewährungsplan

§ 60

StPO)26, im Regelfall wird wegen der Entscheidungsnähe zurückverwiesen27. Hier kommt es also nicht auf die Begründung (wie bei § 55, 19), sondern auf die tatsächliche Beschwer an28. Einfache Beschwerde über Abs. II hinaus ist auch gegeben gegen die Person des BewHel- 7 fers (§ 304 StPO)29. Der Straferlass kann nicht angefochten werden (Abs. IV). 8 Ergänzend gelten die §§ 304 ff StPO, so über die Unanfechtbarkeit der Beschlüsse der OLG 9 und des BGH (beachte aber § 102 S. 2), über die Unzulässigkeit der weiteren Beschwerde (§ 310 StPO; beachte aber auch § 311a StPO); über Form, Frist der Rechtsmittel und Abhilfemöglichkeit durch das erkennende Gericht; zur aufschiebenden Wirkung (§ 307 StPO; § 26a, 14), sowie über Befugnisse und Entscheidungen des Beschwerdegerichts30. Im Ganzen handelt es sich um eine Sonderregelung, neben der § 55 I nicht gilt31 und auch § 55 II keine Anwendung findet32.

4. Verschlechterungsverbot Das Verschlechterungsverbot gilt bei sofortiger Beschwerde gegen Urteile, bei Beschlüssen nur, 10 wenn diese materiell-rechtliche Wirkung haben (s. § 55, 61)33. So könnte das Problem nur bei der Anfechtung der Anordnung oder Veränderung der BewAuflagen auftreten; diese können aber stets auch zum Nachteil abgeändert werden (§ 23, 5) und unterliegen nicht dem Verschlechterungsverbot (§ 55, 48).

5. Revisionsgericht Abs. V gilt nur für die in den Abs. II-IV genannten Entscheidungen, nicht für die Frage der 11 Anordnung der Strafaussetzung zur Bew. (Abs. I); er entspricht § 305a II StPO. Dies folgt nicht nur aus dem Wortlaut, sondern auch daraus, dass die im Fall des Abs. I notwendige Nachprüfung in tatsächlicher Hinsicht und die Ausübung des Ermessens mit den Aufgaben des Revisionsgerichts nicht vereinbar wären34. Abs. V dient der Beschleunigung; notwendige Sachprüfung kann aber zur Zurückverweisung an das Erstgericht führen. Vgl. dazu auch Rn 2.

§ 60 Bewährungsplan (1) 1Der Vorsitzende stellt die erteilten Weisungen und Auflagen in einem Bewährungsplan zusammen. 2Er händigt ihn dem Jugendlichen aus und belehrt ihn zugleich über die Bedeutung der Aussetzung, die Bewährungs- und Unterstellungszeit, die Weisungen und Auflagen sowie über die Möglichkeit des Widerrufs der Aussetzung. 3Zugleich ist ihm aufzugeben, jeden Wechsel seines Aufenthalts, Ausbildungs- oder Arbeitsplatzes

26 27 28 29 30 31 32

Dallinger/Lackner 25; Eisenberg/Kölbel 26a; Ostendorf/Drenkhahn 14. DSS/Schatz 23; Ostendorf/Drenkhahn 14. Dallinger/Lackner 25. Eisenberg/Kölbel 25. Potrykus NJW 60, 1216. Potrykus aaO. OLG Celle NStZ 93, 400 mit Anm. Nix; OLG Düsseldorf NStZ 94, 198; Bode Das Wahlrechtsmittel im Strafverfahren, 2000, S. 130; Burscheidt S. 145 FN 511. 33 Zust. Ostendorf/Drenkhahn 9. 34 BGH 6, 208; Dallinger/Lackner 29; Eisenberg/Kölbel 32. 437 https://doi.org/10.1515/9783110686401-072

§ 60

2. Teil. Jugendliche

während der Bewährungszeit anzuzeigen. 4Auch bei nachträglichen Änderungen des Bewährungsplans ist der Jugendliche über den wesentlichen Inhalt zu belehren. (2) Der Name des Bewährungshelfers wird in den Bewährungsplan eingetragen. (3) 1Der Jugendliche soll durch seine Unterschrift bestätigen, daß er den Bewährungsplan gelesen hat, und versprechen, daß er den Weisungen und Auflagen nachkommen will. 2Auch der Erziehungsberechtigte und der gesetzliche Vertreter sollen den Bewährungsplan unterzeichnen. 1. Hw.-J: Rn 7; § 109 II 1. – 2. ErwG: § 104 I Nr. 8.

Richtlinie zu § 60 Es empfiehlt sich, die Aushändigung des Bewährungsplans und die Belehrung des Jugendlichen in einem gesonderten Termin in Gegenwart der Erziehungsberechtigten, der gesetzlichen Vertreter und des Bewährungshelfers vorzunehmen.

1 Der BewPlan ist keine gerichtliche Entscheidung, sondern nur eine möglichst klare, übersichtliche und allgemeinverständliche Zusammenstellung all dessen, was der J in der BewZeit wissen und beachten muss. Er kann deshalb auch nicht angefochten werden1. Einzutragen sind (Abs. I 1, II): alle Weisungen und Auflagen, soweit sie nicht angefochten 2 sind oder nur für kurze Zeit gelten sollen; Rechtskraft der nur mit einfacher Beschwerde anfechtbaren Auflagen ist nicht notwendig2; der Name des BewHelfers. Ein BewPlan, der seinen Zweck erfüllen soll, muss noch enthalten: genaue Anschrift, Tele3 fonanschluss uä des BewHelfers, BewZeit, Pflichten des Abs. I 3, soweit sie nicht als BewAuflagen festgelegt sind. Sind ausnahmsweise keine Weisungen und Auflagen angeordnet (§ 23: „soll“), besteht auch 4 kein Zwang, einen Bewährungsplan aufzustellen (§ 60 I 1); doch wird ein Bewährungsplan immer zweckmäßig sein3. Der BewPlan wird aufgestellt, sobald Klarheit besteht, welche Maßnahmen endgültig ge5 boten sind (Rn 2)4. Das kann erst dann der Fall sein, wenn der BewHelfer den ersten ausführlichen Bericht erstellt hat, was allerdings so bald wie möglich geschehen muss. Für die bis dahin erteilten Weisungen und Auflagen empfiehlt sich wegen ihres vorläufigen Charakters die Aufstellung eines BewPlanes nicht. Bei späteren Änderungen der im BewPlan angegebenen Auflagen oder auch der Umstände 6 muss der BewPlan neu gefasst werden. Nur bei geringfügigen Änderungen ist eine bloße Abänderung oder Ergänzung vertretbar (Klarheit). Siehe auch Rn 7 aE. Der BewPlan muss dem J durch den Richter persönlich ausgehändigt werden; der J 7 muss „zugleich“ – also mündlich5 – gem. Abs. I 2, 3 eingehend und mit Nachdruck belehrt werden (§ 21 RL 3). Dies geschieht wegen der großen Bedeutung am besten in einem bes. Termin, in dem JRichter, BewHelfer, gesetzliche Vertreter, Erziehungsberechtigte und J die Durchführung der Bew. besprechen und Änderungsvorschläge erörtern können (RL). Der J kann aber nicht gezwungen werden, diesen Termin wahrzunehmen6, ebenso wenig die ge-

1 Dallinger/Lackner 1; Eisenberg/Kölbel 20; Ostendorf/Drenkhahn 9. 2 Ebenso Dallinger/Lackner 3; Eisenberg/Kölbel 6; aA hinsichtlich nur für kurze Zeit geltender Weisungen u. Auflagen Ostendorf/Drenkhahn 3.

3 Ostendorf/Drenkhahn 3 „muss“. 4 Eisenberg/Kölbel 10; aA Ostendorf/Drenkhahn 2 „umgehend nach Rechtskraft der Entscheidung“; dem folgend DSS/Sonnen 3.

5 OLG Hamm StV 17, 719, 721; Eisenberg/Kölbel 14; Ostendorf/Drenkhahn 4; aA Potrykus B 2: nur soll. 6 OLG Celle MDR 63, 523 zu § 453a StPO; Dallinger/Lackner 8; Eisenberg/Kölbel 14; Ostendorf/Drenkhahn 4. 438

Sicherungshaftbefehl nach § 453c StPO

Nach § 60

setzlichen Vertreter und ErzBerechtigten7; denn die darin liegende Freiheitsbeschränkung ist im Gesetz nicht vorgesehen und daher nicht zulässig. – Der dann gebotene schriftliche „Ausweg“ ist jedoch ein schlechter Beginn. – Das alles gilt auch für nachträgliche Abänderungen; bei geringfügigen Änderungen mag schriftliche Zusendung und Belehrung ausreichen (Abs. I 4)8. Bei den volljährigen Hw. sind gesetzliche Vertreter und ErzBerechtigte nicht beteiligt. Stets gibt der JRichter dem J auf, jeden Wechsel seines Aufenthalts, sowie seines Ausbildungs- oder Arbeitsplatzes während des Laufes der BewZeit anzuzeigen (Abs. I 3). Die Belehrung über die Folgen schuldhafter Zuwiderhandlungen gegen zur Bewährung auferlegte Weisungen und Auflagen sollte nachweisbar sein (§§ 11 III 1, 15 III 2, 23 I 4). Im Termin soll der J die Erfüllung der Weisungen und Auflagen versprechen (Abs. III 1). Bei Aushändigung des BewPlanes belehrt der JRichter den J über die Bedeutung der Strafaussetzung, über die Bew.- und Unterstellungszeit, über die Weisungen und Auflagen und die Möglichkeit des Widerrufs (Abs. I 2). Weiter sollen der J, der gesetzliche Vertreter und der ErzBerechtigte den BewPlan in dem bei den Akten verbleibenden Exemplar unterschreiben; nach Dallinger/Lackner9 genügt Unterschrift im Protokoll; Unterschriftsverweigerung hat an sich keine Folgen. § 60 wird in seiner Bedeutung oftmals unterschätzt und unterschiedlich angewendet10. Zuständig ist der Vorsitzende des JGerichts, das die BewAufsicht gem. § 58 III führt; die Aufgaben des § 60 können also mit übertragen werden (§ 58, 2). Hält sich der J nicht im Bezirk des zuständigen JRichters auf, kann der zuständige Rechtshilfe-JRichter mit der Durchführung (Rn 7) beauftragt werden. Übertragung auf Rechtspfleger ist unzulässig11. Der durch Übertragung nach § 58 III 2 zuständige Richter erstellt auch den BewPlan.

Nach § 60 Sicherungshaftbefehl nach § 453c StPO (1) Sind hinreichende Gründe für die Annahme vorhanden, dass die Aussetzung widerrufen wird, so kann das Gericht bis zur Rechtskraft des Widerrufsbeschlusses, um sich der Person des Verurteilten zu versichern, vorläufige Maßnahmen treffen, notfalls, unter den Voraussetzungen des § 112 Abs. 2 Nr. 1 oder 2, oder, wenn bestimmte Tatsachen die Gefahr begründen, dass der Verurteilte erhebliche Straftaten begehen werde, einen Haftbefehl erlassen. (2) 1Die auf Grund eines Haftbefehls nach Absatz 1 erlittene Haft wird auf die zu vollstreckende Freiheitsstrafe angerechnet. 2§ 33 Abs. 4 Satz 1 sowie die §§ 114 bis 115a, 119 und § 119a gelten entsprechend.

Übersicht 1. 2. 3. 4. 5.

Allgemeines 1 3 Voraussetzungen 7 Subsidiarität Zweck im JStrafrecht 9 Beschwerde

6.

8

7. 8.

Besonderheiten des Sicherungshaftbe10 fehls 14 Übergang in Vollstreckungshaft Zuständigkeit und Haftentschädigung

7 OLG Celle MDR 63, 523 für ErwRecht; Eisenberg/Kölbel 14. 8 Ebenso Dallinger/Lackner 12; Ostendorf/Drenkhahn 5; zweifelnd Eisenberg/Kölbel 19. 9 13. 10 Vgl. Schüler-Springorum MKrim. 64, 21. 11 Dallinger/Lackner 17; Eisenberg/Kölbel 9; Ostendorf/Drenkhahn 1. 439 https://doi.org/10.1515/9783110686401-073

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8 9 10

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Nach § 60

2. Teil. Jugendliche

1. Allgemeines 1 Die Vorschrift des § 61 aF – „Sicherungshaftbefehl“ – konnte entfallen, weil nach § 2 II der dieser jrechtlichen Vorschrift nachgebildete, für Erw. geltende § 453c StPO auch auf J und Hw. Anwendung findet. 2 Nach § 58 II iVm § 453c StPO (RL 4 zu §§ 26, 26a) erlässt der Richter unter den Voraussetzungen des § 112 I Nr. 1 und 2 StPO oder bei Gefahr der Begehung erheblicher Straftaten bis zur Rechtskraft des Widerrufsbeschlusses notfalls dann Haftbefehl, wenn hinreichende Gründe für die Annahme vorhanden sind, dass die Strafaussetzung zur Bew. widerrufen wird. Nach Abs. II des § 453c StPO wird die aufgrund dieses Haftbefehls erlittene UHaft auf die zu vollstreckende Strafe angerechnet, die §§ 33 IV 1, 114 bis 115a, 119 und 119a StPO gelten entsprechend.

2. Voraussetzungen 3 JStrafe mit Strafaussetzung zur Bew.; die Aussetzung der Verhängung der JStrafe (§ 27) erlaubt das Zwangsmittel des § 453c StPO nicht (§ 62, 4)1. 4 Hinreichende Gründe für die Annahme, dass die Strafaussetzung zur Bew. widerrufen wird. Es muss also wahrscheinlich sein, dass die Gründe auch nach Anhörung des J zum Widerruf hinreichen2. Dies wird idR die Befragung des BewHelfers oder anderer mit dem J in Berührung stehender Personen, vor allem der JGH (§ 38, 6) erfordern. Zu berücksichtigen ist, dass nach der neueren Rechtsprechung der Widerruf wegen einer neuen Straftat grds. eine rechtskräftige Verurteilung wegen dieser Tat voraussetzt (§ 26, 3). Nach Klinger3 folgt aus diesem Erfordernis, dass das Widerrufsverfahren und damit ein Sicherungshaftbefehl erst nach rechtskräftiger Verurteilung wegen der neuen Straftat zulässig ist. § 453c StPO gilt auch bei der Aussetzung freiheitsentziehender Maßregeln der Besserung und Sicherung (§ 463 I StPO)4. 5 Der J muss bereits flüchtig sein oder sich verborgen halten (§ 112 I Nr. 1 StPO) oder es muss hinreichender Fluchtverdacht bestehen (§ 112 I Nr. 2 StPO). Dabei wird zu berücksichtigen sein, dass J leichter zur Flucht neigen als Erw. in gleicher Lage und dass mit jtümlichen Kurzschlusshandlungen gerechnet werden muss (näher § 72, 7–9). Auch die konkrete Gefahr erheblicher neuer Straftaten5 berechtigt zum Erlass des Sicherungshaftbefehls. Dies dient auch dem Schutze des Probanden vor sich selbst. 6 Der Widerruf darf noch nicht rechtskräftig sein (vgl. § 26a, 14); dann kommt nur noch ein Vollstreckungshaftbefehl in Betracht. Vgl. Rn 9 aE.

3. Subsidiarität 7 Der Haftbefehl nach § 453c StPO ist der schärfste und zuletzt zu erwägende Eingriff („notfalls“). Genügen andere Sicherungsmaßnahmen (zu unterscheiden von den vorläufigen Anordnungen über die Erz. nach § 71), wie etwa Abwendung der Fluchtgefahr durch bes. Überwachung durch BewHelfer, JGHelfer oder zuverlässige ErzBerechtigte, Meldepflicht, Anordnungen über den Aufenthalt, so darf, über die Formulierung des auf Erw. abgestellten § 453c StPO noch hinaus, nach dem das JRecht ganz allg. beherrschenden Subsidiaritätsgrundsatz (Einf. 102) ein

1 2 3 4 5

Zust. Eisenberg/Kölbel § 58, 17. Meyer-Goßner/Schmitt § 453c StPO 3. NStZ 12, 75. Insgesamt zust. Ostendorf/Drenkhahn § 58, 15. Meyer-Goßner/Schmitt § 453c StPO 10, § 112a StPO 14; Rieß NJW 78, 2272. 440

Sicherungshaftbefehl nach § 453c StPO

Nach § 60

Haftbefehl nicht erlassen werden6. Die Rechtsgrundsätze des § 72 I 1–3 (näher § 72, 5) sind auch hier zu beachten. Solche Anordnungen ergehen ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss, soweit sie den J verpflichten7, unter Anhörung der StA (§ 33 II StPO) und weiterer Beteiligter, soweit dies zeitlich möglich ist und der Zweck des Sicherungshaftbefehls nicht gefährdet wird. Anhörung der JGH (fernmündlich) kann einen Sicherungshaftbefehl oftmals vermeiden helfen. Die Maßnahmen können allerdings nicht erzwungen, müssen ggf. also doch durch Haft ersetzt werden. Zur JGH bes. § 38, 13–18; § 72, 4.

4. Zweck im JStrafrecht Der Sicherungshaftbefehl dient der Sicherung der Strafvollstreckung. Das OLG Düsseldorf8 hat 8 für das ErwRecht ausdrücklich betont, dass der Sicherungshaftbefehl nicht bezwecke, die mündliche Anhörung des Verurteilten zu erzwingen. Zwar kann diese Entscheidung nicht ohne weiteres auf das JStrafrecht übertragen werden, weil gerade J oftmals den Ernst der Lage verkennen, ihnen die Chance des Verzichts auf den Widerruf erhalten werden sollte und dem Sicherungshaftbefehl daher im JStrafrecht auch die Funktion zukommen könnte, dem J wirkliches – und nicht nur „rechtliches“ – Gehör zu geben. Bei § 453c StPO handelt es sich jedoch um eine Vorschrift des allg. Strafverfahrensrechts, die auch im JStrafverfahren aufgrund von § 2 II gilt, ohne dass sich dem JGG der Wille entnehmen lässt, dem Sicherungshaftbefehl eine zusätzliche Aufgabe zuzuweisen. Nach § 58 I 3 ist dem J lediglich „Gelegenheit zur mündlichen Äußerung vor dem Richter“ zu geben. Es erscheint auch problematisch, zur Gewährleistung des Prozessgrundrechts auf Gehör dem Grundrechtsträger zwangsweise die Freiheit zu entziehen. § 453c StPO hat daher auch im JStrafrecht ausschließlich Sicherungsfunktion9. Dass damit dem J auch „wirkliches Gehör“ gegeben wird, ist nicht Zweck, sondern faktische Nebenwirkung der Vorschrift und damit wohl auch ein letztes Mittel, um dem sich offensichtlich einer Bew. entziehenden J die Subsidiarität des Widerrufs zu bewahren; vgl. Rn 9 aE.

5. Beschwerde Der Haftbefehl ergeht ohne mündliche Verhandlung durch begründeten Beschluss; gegen ihn 9 ist einfache Beschwerde gegeben, die keine aufschiebende Wirkung hat (§§ 34, 304, 307 I StPO). Weitere Beschwerde ist nicht zulässig10. Da der Widerrufsbeschluss erst mit Rechtskraft vollstreckbar wird (§ 26a, 14), kann Sicherungshaftbefehl auch zugleich mit dem Widerruf erlassen werden11. Mit Rechtskraft des Widerrufs wird der Sicherungshaftbefehl hinfällig; er ist auch aufzuheben, wenn feststeht, dass ein Widerruf nicht in Betracht kommt12. Auch ohne Widerruf kann die Sicherungshaft zu einem erz. Erfolg geführt haben, der erst die Fortführung der Bew. sinnvoll, den Widerruf vermeidbar macht13.

6 Ähnlich Eisenberg/Kölbel § 58, 23. 7 Dallinger/Lackner § 61, 6; Eisenberg/Kölbel § 58, 24; Ostendorf/Drenkhahn § 58, 21. 8 JR 89, 166 mit zust. Anm. Wendisch. 9 Ostendorf/Drenkhahn § 58, 17. 10 OLG Düsseldorf NJW 64, 69; NJW 77, 968; MDR 90, 653; OLG Hamburg NJW 64, 605; OLG Stuttgart MDR 75, 951; OLG Bamberg NJW 75, 1526; Dallinger/Lackner 7; Meyer-Goßner/Schmitt § 453c StPO 17; aA OLG Braunschweig NStZ 93, 604; Eisenberg/Kölbel 25; Ostendorf/Drenkhahn 24 je § 58. 11 Löwe/Rosenberg/Graalmann-Scheerer27 § 453c StPO 8. 12 Zust. Eisenberg/Kölbel § 58, 19a. 13 Abel BewH 64, 129. 441

Nach § 60

2. Teil. Jugendliche

6. Besonderheiten des Sicherungshaftbefehls 10 Der Haftbefehl wird wie ein anderer UHaftbefehl vollstreckt (Inhalt, Eröffnung, Benachrichtigung Angehöriger, Beschwerdebelehrung, Ort und Form des Vollzugs), doch wird aus § 453c II 2 StPO abzuleiten sein, dass nur die dort genannten Vorschriften der UHaft auch hier gelten, denn hier wird UHaft an einem bereits rechtskräftig schuldig Gesprochenen vollzogen (Zuständigkeit Rn 15). Daraus, dass § 453c II 2 StPO nur die §§ 114–115a, 119 und 119a StPO für anwendbar erklärt, folgt, dass die übrigen Vorschriften des Haftrechts nicht gelten, soweit nicht die §§ 114–115a, 119 StPO auf sie weiterverweisen, nämlich die §§ 117 I, II; 118 I, II StPO; die §§ 112 I Nr. 1 und 2 StPO gelten bereits über § 453c I StPO14. Es gilt deshalb der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (also darf die Haft nicht länger dau11 ern als die Strafe, um deren Vollstreckung es geht), es gibt Beschwerde (Rn 9) und auch mündliche Verhandlung über den Haftbefehl, jederzeit kann die gerichtliche Haftprüfung beantragt werden15. Das LG Freiburg16 allerdings will gegen die hM die gerichtliche Haftprüfung versagen. Es gelten auch die Vorschriften über die äußere Form des Haftbefehls, die Bekanntmachung, die Benachrichtigung von Angehörigen und über die Vorführung zum Richter samt Vernehmung. Die öffentliche Zustellung des Sicherungshaftbefehls ist im JStrafrecht nicht zulässig (näher § 2, 9). Ausgeschlossen sind dagegen die Haftprüfung durch das OLG nach 6 Monaten (§§ 121 ff 12 StPO)17, die Anordnung von Ermittlungen durch den Richter (§ 117 III StPO: Das Urteil ist hier ja schon rechtskräftig) und die Außervollzugsetzung des Haftbefehls (§§ 116, 116a StPO; dafür gibt es die anderen Maßnahmen nach dem Subsidiaritätsgrundsatz, Rn 7)18. Ergeht Sicherungshaftbefehl gegen einen Untergebrachten (§ 63 StGB), so ist er vorläufig in einem psychiatrischen Krankenhaus unterzubringen19. Ob bei gleicher Interessenlage Öffentlichkeitsfahndungen entsprechend § 131 III StPO zu13 gelassen werden können, ist bestritten. Die überwiegende Meinung20 lehnt dies ab als zumindest erzwidrig, möglicherweise sogar rechtlich unzulässig; ein Teil der Literatur21 hält es für möglich. Dem Sinn des JGG und den Ausführungen Rn 8 aE folgend, wird man darauf verzichten können.

7. Übergang in Vollstreckungshaft 14 Der Sicherungshaftbefehl geht mit Rechtskraft des Widerrufsbeschlusses in Vollstreckungshaft über (vgl. § 26a, 13)22. Jede Freiheitsentziehung aufgrund des Haftbefehls ab Ergreifung bis zur Entlassung oder bis zur Rechtskraft des Widerrufs der JStrafe wird voll auf die Strafzeit angerechnet. Das geschieht, wie bei gem. § 450 StPO anzurechnender UHaft, in der Weise, dass der Beginn der Strafzeit auf den Zeitpunkt der Verhaftung vorverlegt wird.

Ebenso Löwe/Rosenberg/Graalmann-Scheerer27 § 453c StPO 14. Eisenberg/Kölbel § 58, 30; Ostendorf/Drenkhahn § 58, 24. NStZ 89, 378 mit krit. Anm. Fuchs; krit. auch Paeffgen NStZ 89, 520; abl. Anm. Fischer NStZ 90, 52. Ebenso Burmann Der Sicherungshaftbefehl, 1984, S. 125, 126; abl. Eisenberg/Kölbel § 58, 30; Ostendorf/Drenkhahn 25. 18 Hier zust. Eisenberg/Kölbel § 58, 31; Ostendorf/Drenkhahn § 58, 24; vgl. auch LG Flensburg Rpfl. 84, 112. 19 OLG Hamburg NJW 77, 248. 20 Dallinger/Lackner 10; Bender JGG, 1965 Rn 10; Eisenberg/Kölbel § 58, 29a; Ostendorf/Drenkhahn § 58, 23; Burmann a.a.O., S. 74 FN 85. 21 Potrykus B 1; Löwe/Rosenberg/Graalmann-Scheerer27 § 453c StPO 14. 22 Meyer-Goßner/Schmitt § 453c StPO 14; Eisenberg/Kölbel § 58, 33; aA Dallinger/Lackner § 61, 11 – mit Erlass des Beschlusses.

14 15 16 17

442

Vorbehalt der nachträglichen Entscheidung über die Aussetzung

§ 61

8. Zuständigkeit und Haftentschädigung Der JRichter, welcher die Strafaussetzung zur Bew. angeordnet und sie auch zu widerrufen 15 hat (falls diese Zuständigkeit nicht nach § 58 III 2 oder § 104 V 1 an einen anderen JRichter übertragen wurde), ist auch zuständig für Erlass und Vollstreckung des Sicherungshaftbefehls oder der vorläufigen Maßnahme nach § 453c StPO (§ 58 I, II, III 1; vgl. auch § 85, 17). Dies entspricht der Erlass-Zuständigkeit im ErwStrafrecht23 und insbes. der jrechtlichen und erzwichtigen Einheitlichkeit des Vorgehens, wie zugleich der gebotenen Klarheit von Zuständigkeitsverteilungen. Der Sinn des § 58 legt eine solche Regelung nahe, die Gesetzesfassung verbietet sie nicht. Es ist sinnvoll und wahrt die Belange der Verurteilten, wenn der JRichter, welcher letztlich über den Widerruf der Strafaussetzung zur Bew. entscheiden muss, auch die diesem vorgehenden sichernden Entscheidungen trifft oder unter Wertung der bes. Kenntnis der Persönlichkeit des J eben nicht für notwendig hält24. § 58 II erwähnt allerdings nur die Vollstreckung der vorläufigen Maßnahmen nach § 453c StPO; hierdurch wird die streitig gewordene Frage geklärt, ob im JStrafverfahren zur Vollstreckung dieser vorläufigen Maßnahmen der JRichter oder wie im ErwStrafrecht die StA zuständig ist25. Wurde ein zunächst vollzogener Sicherungshaftbefehl aufgehoben, weil es im Beschwerde- 16 verfahren nicht zum Widerruf der Strafaussetzung zur Bew. kam, so kann der Verurteilte wegen der erlittenen Haft, die nach § 453c II 1 StPO auf die verhängte Strafe angerechnet wird, keine Entschädigung aus der Staatskasse verlangen26.

§ 61 Vorbehalt der nachträglichen Entscheidung über die Aussetzung (1) Das Gericht kann im Urteil die Entscheidung über die Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung ausdrücklich einem nachträglichen Beschluss vorbehalten, wenn 1. nach Erschöpfung der Ermittlungsmöglichkeiten die getroffenen Feststellungen noch nicht die in § 21 Absatz 1 Satz 1 vorausgesetzte Erwartung begründen können und 2. auf Grund von Ansätzen in der Lebensführung des Jugendlichen oder sonstiger bestimmter Umstände die Aussicht besteht, dass eine solche Erwartung in absehbarer Zeit (§ 61a Absatz 1) begründet sein wird. (2) Ein entsprechender Vorbehalt kann auch ausgesprochen werden, wenn 1. in der Hauptverhandlung Umstände der in Absatz 1 Nummer 2 genannten Art hervorgetreten sind, die allein oder in Verbindung mit weiteren Umständen die in § 21 Absatz 1 Satz 1 vorausgesetzte Erwartung begründen könnten, 2. die Feststellungen, die sich auf die nach Nummer 1 bedeutsamen Umstände beziehen, aber weitere Ermittlungen verlangen und 3. die Unterbrechung oder Aussetzung der Hauptverhandlung zu erzieherisch nachteiligen oder unverhältnismäßigen Verzögerungen führen würde. (3) 1Wird im Urteil der Vorbehalt ausgesprochen, gilt § 16a entsprechend. 2Der Vorbehalt ist in die Urteilsformel aufzunehmen. 3Die Urteilsgründe müssen die dafür bestimmenden Umstände anführen. 4Bei der Verkündung des Urteils ist der Jugendliche über die Bedeutung des Vorbehalts und seines Verhaltens in der Zeit bis zu der nachträglichen Entscheidung zu belehren. 1. Hw.-J: § 109 II 1. – 2. ErwG: § 104 I Nr. 8. Meyer-Goßner/Schmitt § 453c StPO 12; Löwe/Rosenberg/Graalmann-Scheerer27 § 453c StPO 16, § 453b StPO 5. Im Ergebnis ebenso Eisenberg/Kölbel § 58, 18; Ostendorf/Drenkhahn § 58, 20. Löwe/Rosenberg/Graalmann-Scheerer27 § 453c StPO 17. OLG Karlsruhe MDR 77, 600; OLG Düsseldorf JMBl. NRW 81, 250; Ostendorf/Drenkhahn 26; Löwe/Rosenberg/ Graalmann-Scheerer27 19; Meyer-Goßner/Schmitt 15 je zu § 453c StPO; aA Eisenberg/Kölbel § 58, 34.

23 24 25 26

443 https://doi.org/10.1515/9783110686401-074

§ 61

2. Teil. Jugendliche

Schrifttum Baier Die Bedeutung der Aussetzung der Verhängung der JStrafe nach § 27 JGG u. der Vorbewährung in der jgerichtlichen Praxis in Bayern, 2015; Beulke Die §§ 61–61b, 89 JGG – Bewährungsprobe bestanden? GS Walter, 2014, S. 259; Flühmann Die Vorbewährung nach § 57 JGG, 1983; Sommerfeld Vorbewährung nach § 57 JGG in Dogmatik und Praxis, 2007.

Übersicht 1. 2.

Grundlagen 1 Voraussetzungen des Vorbehalts

3.

Verfahrensfragen

8

2

1. Grundlagen 1 Mit den durch das G zur Erweiterung der jgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten v. 4.9.2012 in das JGG eingefügten §§ 61 bis 61b und 89 hat der Gesetzgeber das Institut der „Vorbewährung“, das sich in der Praxis herausgebildet hatte, auf eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage gestellt (s. § 57, 1)1. Nach diesem Institut kann das Gericht ausnahmsweise2 in dem Urteil, in dem es eine JStrafe verhängt, die Entscheidung über die Aussetzung zur Bewährung einem nachträglichen Beschluss vorbehalten. Hierdurch sollen die schädlichen Nebenwirkungen eines JStrafvollzugs möglichst vermieden werden3. § 61 regelt die Voraussetzungen für den Vorbehalt, § 61a die Vorbewährungsfrist und die Zuständigkeit für die vorbehaltene Entscheidung, § 61b weitere Entscheidungen beim Vorbehalt und § 89 enthält ein Vollstreckungsverbot während des Laufs der Vorbewährungsfrist.

2. Voraussetzungen des Vorbehalts 2 Grds. ist über die Aussetzung im Urteil zu entscheiden. Ein Vorbehalt ist nur zulässig, wenn die Voraussetzungen des Abs. I oder II vorliegen. Die Voraussetzungen unterscheiden sich danach, ob im Urteilszeitpunkt die Ermittlungsmöglichkeiten hinsichtlich der für eine Aussetzung nach § 21 I 1 erforderlichen günstigen Prognose (§ 21, 7–10) erschöpft sind: 3 Nach Abs. I ist der Vorbehalt zulässig, wenn die Ermittlungsmöglichkeiten erschöpft sind und die getroffenen Feststellungen die Aussetzung nicht rechtfertigen, aufgrund bestimmter Umstände, z.B. Ansätzen in der Lebensführung, wie Einstellung des bisherigen Drogenkonsums, Vorbereitung auf den Hauptschulabschluss4 oder Beginn einer Berufstätigkeit, aber die Aussicht besteht, dass eine günstige Prognose in absehbarer Zeit begründet sein wird. Es muss sich um objektivierbare, bloße Absichtserklärungen des J übersteigende Umstände handeln5. Für den Begriff der absehbaren Zeit verweist das G auf § 61a I und damit einen Zeitraum von bis zu 6 Monaten. Abs. II lässt unter Durchbrechung des § 244 II StPO6 den Vorbehalt zu, wenn zur Ermittlung 4 des Prognosesachverhalts weitere Ermittlungen erforderlich sind, die hierfür erforderliche Unterbrechung oder Aussetzung der Hauptverhandlung aber zu erz. nachteiligen oder unverhältnismäßigen Verzögerungen führen würde. Die Unterbrechung oder Aussetzung ist vorrangig 1 2 3 4 5 6

Der Regelung zustimmend Baier S. 214; krit. Beulke GS Walter, 2014, S. 272 f. OLG Hamburg ZJJ 15, 71, 72. Begr. RegE, BT-Drs. 17/9389, S. 8; BGH NStZ 20, 740. BGH NStZ 20, 740. OLG Hamburg aaO; KG ZJJ 16, 175, 177 mit Anm. Eisenberg. OLG Hamburg aaO. 444

Frist und Zuständigkeit für die vorbehaltene Entscheidung

§ 61a

zu prüfen, das Vorbehaltsverfahren ist nur zu wählen, wenn es sonst zu erz. nachteiligen oder unverhältnismäßigen Verzögerungen kommt7. Die Alternativen des Abs. I und II sind abschließend8. Ein Vorbehalt darf nicht ausgespro- 5 chen werden, um mit der Ungewissheit der Vollstreckung einen zusätzlichen Motivationsdruck auf den J auszuüben, und auch nicht, um dem J trotz Feststellung der Notwendigkeit einer längerfristigen Behandlung im Vollzug aus falsch verstandener Milde eine „letzte Chance“ einzuräumen9. Das G verlangt konkrete Anzeichen für eine positive Entwicklung, die bloße Hoffnung auf eine unerwartete Wende reicht nicht10. Auch ein stillschweigendes Hinausschieben der Aussetzungsentscheidung ist nicht zulässig (s. § 57, 1). Spricht das Gericht keinen Vorbehalt aus, kann eine nachträgliche Aussetzung nur unter den Voraussetzungen des § 57 II erfolgen. Liegen die Voraussetzungen des Abs. I oder II vor, entscheidet das Gericht nach seinem 6 Ermessen, ob es vom Vorbehaltsverfahren Gebrauch macht („kann“). Nach Abs. III 1 kann der Vorbehalt unter den Voraussetzungen des § 16a mit JA verbunden 7 werden. JA kann nur in dem Urteil angeordnet werden, nicht in einem nachträglichen Beschluss11. Die Erteilung von Weisungen und Auflagen sowie die Unterstellung unter BewHilfe regelt § 61b I. In entsprechender Anwendung des § 61 I ist der Vorbehalt auch auf die Aussetzung einer gleichzeitig angeordneten Unterbringung nach § 64 StGB zu erstrecken12.

3. Verfahrensfragen Der Vorbehalt ist in die Urteilsformel aufzunehmen (Abs. III 2; zum Tenor s. § 54, 6), in den 8 Urteilsgründen sind die dafür bestimmenden Umstände anzuführen (Abs. III 3). Die positiven Ansätze iSd Abs. I Nr. 2 müssen konkret bezeichnet werden13. Bei Urteilsverkündung ist der J über die Bedeutung des Vorbehalts und seines Verhaltens während der Vorbewährungszeit nach Maßgabe von § 70a zu belehren (Abs. III 4). Zur Anfechtung s. § 59, 4. 9

§ 61a Frist und Zuständigkeit für die vorbehaltene Entscheidung (1) 1Die vorbehaltene Entscheidung ergeht spätestens sechs Monate nach Eintritt der Rechtskraft des Urteils. 2Das Gericht kann mit dem Vorbehalt eine kürzere Höchstfrist festsetzen. 3Aus besonderen Gründen und mit dem Einverständnis des Verurteilten kann die Frist nach Satz 1 oder 2 durch Beschluss auf höchstens neun Monate seit Eintritt der Rechtskraft des Urteils verlängert werden. (2) Zuständig für die vorbehaltene Entscheidung ist das Gericht, in dessen Urteil die zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen letztmalig geprüft werden konnten. 1. Hw.-J: § 109 II 1. – 2. ErwG: § 104 I Nr. 8.

7 HK-JGG/Meier 7; Ostendorf/Drenkhahn 4; vgl. OLG Hamm NStZ-RR 02, 251, wonach eine langfristige Aussetzung der Hauptverhandlung zulässig sein kann, um die Grundlagen der Rechtsfolgenentscheidung weiter zu ermitteln.

8 HK-JGG/Meier 8. 9 Begr. RegE, BT-Drs. 17/1389, S. 16. 10 HK-JGG/Meier 8. 11 Begr. RegE, BT-Drs. 17/9389; Eisenberg/Kölbel 7a; HK-JGG/Meier 10. 12 BGH NStZ 20, 740. 13 OLG Hamburg ZJJ 15, 71, 72, 73; KG ZJJ 16, 175, 177. 445 https://doi.org/10.1515/9783110686401-075

§ 61b

2. Teil. Jugendliche

1 Abs. I 1 enthält wegen der aufgrund des Vorbehalts nach § 61 bestehenden Ungewissheit über Vollstreckung oder Nichtvollstreckung der JStrafe eine gesetzliche Befristung der Vorbewährungszeit: Das Gericht muss den nachträglichen Beschluss spätestens 6 Monate nach Rechtskraft des Urteils treffen. Abs. I 2 und 3 ermöglichen Modifikationen dieser Frist. Das Gericht kann sie mit dem Vorbehalt abkürzen oder mit Einverständnis des J durch Beschluss auf höchstens 9 Monate nach Eintritt der Rechtskraft des Urteils verlängern. Die Verlängerung darf nur aus bes. Gründen, z.B. laufende Therapie mit noch offenem Ergebnis1 oder deutlich ambivalente Entwicklung des Verurteilten in der BewZeit2, erfolgen. Ein Verstreichen der Frist des Abs. I ohne gerichtliche Entscheidung gilt weder als Ableh2 nung noch als Anordnung der Aussetzung; auf eine entsprechende Fiktion hat der Gesetzgeber bewusst verzichtet3. Das Gericht wird die Entscheidung unverzüglich nachholen, die StA dies nötigenfalls beantragen4. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass nach Fristablauf § 89 der Vollstreckung der JStrafe nicht mehr entgegensteht. Zuständig für die vorbehaltene Entscheidung ist nach Abs. II das Gericht der letzten Tat3 sacheninstanz, auch wenn es nur noch über den Rechtsfolgenausspruch zu befinden hat5. Danach entscheidet das Berufungsgericht nicht nur, wenn es den Vorbehalt erstmals erklärt, sondern auch, wenn es einen erstinstanzlich erklärten Vorbehalt durch Verwerfung der Berufung bestätigt, denn auch dann hat es den aktuelleren Kenntnisstand über die prognoserelevanten Tatsachen6. Ist die Entscheidung über die Aussetzung nicht im Urteil vorbehalten worden, ist nach § 57 I 2 für den nachträglichen Beschluss das Gericht des 1. Rechtszugs zuständig. Zu Verfahrensfragen § 57, 5 ff. Die Entscheidung richtet sich nach den Voraussetzungen des § 21. Eine Aussetzung hat 4 jedenfalls dann zu erfolgen, wenn sich die im Urteil festgestellten positiven Ansätze günstig weiterentwickelt haben, sodass sie jetzt eine positive Prognose tragen7. Umstritten ist, ob auch Umstände, für die es im Urteilszeitpunkt noch keinen Anhalt gab, zur Aussetzung führen können. Teilweise wird dies verneint und wird angenommen, dass diese Umstände nur einer Entscheidung nach § 57 II zugänglich sind8. Ist die Prognose jedoch jetzt günstig, sollte dem J die Aussetzung nicht verwehrt werden9. Bei der Erstellung der Prognose ist die Erfüllung von nach § 61b I erteilten Weisungen im Rahmen der Gesamtwürdigung zu berücksichtigen, allerdings nicht allein entscheidend10. Zur Anfechtung s. § 59, 4. 5

§ 61b Weitere Entscheidungen bei Vorbehalt der Entscheidung über die Aussetzung (1) 1Das Gericht kann dem Jugendlichen für die Zeit zwischen Eintritt der Rechtskraft des Urteils und dem Ablauf der nach § 61a Absatz 1 maßgeblichen Frist Weisungen und Auflagen erteilen; die §§ 10, 15 Absatz 1 und 2, § 23 Absatz 1 Satz 1 bis 3, Absatz 2 gelten

1 2 3 4

Begr. RegE, BT-Drs. 17/9389, S. 17. OLG Hamm ZJJ 16, 302. AaO. Eisenberg/Kölbel 13. Nach OLG Dresden NStZ-RR 98, 318 handelt es sich bei einer Versagung der Aussetzung nach Jahren um einen Bewährungswiderruf. 5 OLG Hamburg VRS Bd. 124 (2013), 355, 357. 6 Begr. RegE, BT-Drs. 17/9389, S. 17; Eisenberg/Kölbel 14; HK-JGG/Meier 3. 7 OLG Hamburg ZJJ 15, 71, 72; KG ZJJ 16, 175, 177 mit Anm. Eisenberg. 8 OLG Hamburg (1. Strafsenat) ZJJ 15, 71, 72; KG ZJJ 16, 175, 177. 9 Ebenso OLG Hamburg (2. Strafsenat) VRS Bd. 124 (2013), 355, 358; DSS/Schatz 15 f; Eisenberg/Kölbel 12b. 10 BGH NStZ-RR 20, 261. 446 https://doi.org/10.1515/9783110686401-076

Weitere Entscheidungen bei Vorbehalt der Entscheidung über die Aussetzung

§ 61b

entsprechend. 2Das Gericht soll den Jugendlichen für diese Zeit der Aufsicht und Betreuung eines Bewährungshelfers unterstellen; darauf soll nur verzichtet werden, wenn ausreichende Betreuung und Überwachung durch die Jugendgerichtshilfe gewährleistet sind. 3 Im Übrigen sind die §§ 24 und 25 entsprechend anzuwenden. 4Bewährungshilfe und Jugendgerichtshilfe arbeiten eng zusammen. 5Dabei dürfen sie wechselseitig auch personenbezogene Daten über den Verurteilten übermitteln, soweit dies für eine sachgemäße Erfüllung der Betreuungs- und Überwachungsaufgaben der jeweils anderen Stelle erforderlich ist. 6Für die Entscheidungen nach diesem Absatz gelten § 58 Absatz 1 Satz 1, 2 und 4, Absatz 3 Satz 1 und § 59 Absatz 2 und 5 entsprechend. 7Die Vorschriften des § 60 sind sinngemäß anzuwenden. (2) Ergeben sich vor Ablauf der nach § 61a Absatz 1 maßgeblichen Frist hinreichende Gründe für die Annahme, dass eine Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung abgelehnt wird, so gelten § 453c der Strafprozessordnung und § 58 Absatz 2 und 3 Satz 1 entsprechend. (3) Wird die Jugendstrafe zur Bewährung ausgesetzt, so wird die Zeit vom Eintritt der Rechtskraft des Urteils, in dem die Aussetzung einer nachträglichen Entscheidung vorbehalten wurde, bis zum Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung über die Aussetzung auf die nach § 22 bestimmte Bewährungszeit angerechnet. (4) 1Wird die Aussetzung abgelehnt, so kann das Gericht Leistungen, die der Jugendliche zur Erfüllung von Weisungen, Auflagen, Zusagen oder Anerbieten erbracht hat, auf die Jugendstrafe anrechnen. 2Das Gericht hat die Leistungen anzurechnen, wenn die Rechtsfolgen der Tat andernfalls das Maß der Schuld übersteigen würden. 3Im Hinblick auf Jugendarrest, der nach § 16a verhängt wurde (§ 61 Absatz 3 Satz 1), gilt § 26 Absatz 3 Satz 3 entsprechend. 1. Hw.-J: § 109 II 1. – 2. ErwG: § 104 I Nr. 8.

Übersicht 1.

Bewährungsweisungen, -auflagen und Bewäh1 rungshilfe

2. 3.

Vorläufige Maßnahmen 4 Anrechnungen

3

1. Bewährungsweisungen, -auflagen und Bewährungshilfe Die Vorschrift regelt Folgeentscheidungen bei einem Vorbehalt nach § 61. Nach Abs. I 1 kann 1 das Gericht dem J für die Vorbewährungszeit Weisungen und Auflagen erteilen. §§ 10, 15 I und II, 23 I 1 bis 3 und II gelten entsprechend. Bei Nichterfüllung von Weisungen und Auflagen ist Ungehorsamsarrest nicht zulässig; dies ergibt sich aus dem fehlenden Verweis auf § 23 I 41. Gem. Abs. I 2 soll ein BewHelfer bestellt werden, es sei denn, ausreichende Betreuung und Überwachung durch die JGH ist gewährleistet. Abs. I 3 erklärt die §§ 24 und 25 für entsprechend anwendbar. Abs. I 4 verpflichtet BewHilfe und JGH zur engen Zusammenarbeit. Abs. I 5 schafft eine gesetzliche Grundlage für den Austausch personenbezogener Daten zwischen diesen Institutionen. Nach Abs. I 7 gilt die Vorschrift des § 60 über den Bewährungsplan entsprechend. Die Entscheidungen nach Abs. I trifft das Gericht gem. S. 6 iVm § 58 I 1, 2 und 4 durch 2 begründeten Beschluss nach Anhörung der StA, des J und des BewHelfers. Zuständig ist nach S. 6 iVm § 58 III 1 das Gericht, das den Vorbehalt angeordnet hat. Es wird angenommen, dies sei das Berufungsgericht auch dann, wenn es den in erster Instanz erklärten Vorbehalt inzident 1 Begr. RegE, BT-Drs. 17/9389, S. 17 f; Ostendorf/Drenkhahn 3; HK-JGG/Meier 3. 447

§ 61b

2. Teil. Jugendliche

bestätigt habe2. Dies führt zu einer Zuständigkeitsharmonisierung mit der Entscheidung nach § 61a II, widerspricht freilich der zu § 58 III 1 weitgehend anerkannten Auslegung, wonach das Erstgericht für den Bewährungsbeschluss zuständig ist, wenn das Berufungsgericht die Aussetzungsentscheidung des Erstgerichts nur bestätigt hat (s. § 58, 5). Anfechtbar ist der Beschluss nach Abs. I 6 iVm § 59 II, V mit der einfachen Beschwerde.

2. Vorläufige Maßnahmen 3 Ergeben sich während der Vorbewährungsfrist hinreichende Gründe für die Annahme, dass die Strafaussetzung abgelehnt wird, kann das Gericht wie in der BewZeit des § 22 gem. Abs. II 1 iVm § 453c StPO vorläufige Maßnahmen einschließlich eines Sicherungshaftbefehls als ultima ratio treffen (näher Nach § 60). Auch hierfür ist das Gericht zuständig, das den Vorbehalt erklärt hat (Abs. II 2 iVm § 58 II und III 1; Rn 2).

3. Anrechnungen 4 Wird die JStrafe zur Bewährung ausgesetzt, wird nach Abs. III die Zeit vom Eintritt der Rechtskraft des Vorbehaltsurteils bis zum Eintritt der Rechtskraft der Aussetzungsentscheidung auf die nach § 22 bestimmte BewZeit angerechnet. Die gesetzliche Höchstdauer der BewZeit (§ 22) darf durch die Kumulation von Vorbewährungszeit und echter Bewährungszeit nicht überschritten werden3. 5 Bei Nichtaussetzung der JStrafe wird verbüßter JA nach § 16a auf die JStrafe angerechnet (Abs. IV 3 iVm § 26 III 3). Leistungen zur Erfüllung von Weisungen, Auflagen, Zusagen oder Anerbieten können angerechnet werden; dies muss erfolgen, wenn sonst die Rechtsfolgen das Maß der Schuld übersteigen würden (Abs. IV 1 und 2).

2 HK-JGG/Meier 5. 3 Begr. RegE, BT-Drs. 17/9389, S. 18; Eisenberg/Kölbel §§ 61, 61a, 18; HK-JGG/Meier 7. 448

Fünfter Unterabschnitt Verfahren bei Aussetzung der Verhängung der Jugendstrafe § 62 Entscheidungen (1) 1Entscheidungen nach den §§ 27 und 30 ergehen auf Grund einer Hauptverhandlung durch Urteil. 2Für die Entscheidung über die Aussetzung der Verhängung der Jugendstrafe gilt § 267 Abs. 3 Satz 4 der Strafprozeßordnung sinngemäß. (2) Mit Zustimmung des Staatsanwalts kann die Tilgung des Schuldspruchs nach Ablauf der Bewährungszeit auch ohne Hauptverhandlung durch Beschluß angeordnet werden. (3) Ergibt eine während der Bewährungszeit durchgeführte Hauptverhandlung nicht, daß eine Jugendstrafe erforderlich ist (§ 30 Abs. 1), so ergeht der Beschluß, daß die Entscheidung über die Verhängung der Strafe ausgesetzt bleibt. (4) Für die übrigen Entscheidungen, die infolge einer Aussetzung der Verhängung der Jugendstrafe erforderlich werden, gilt § 58 Abs. 1 Satz 1, 2 und 4 und Abs. 3 Satz 1 sinngemäß. 1. Hw.-J: § 109 II 1. – 2. Abs. I-III: ErwG: § 104 I Nr. 8; – Abs. IV: ErwG: Rn 6; § 104 I Nr. 8, V 2.

Schrifttum Neubacher/Bachmann Person oder Amt? – Wer ist im Nachverfahren zuständig für die Verhängung einer JStrafe wegen schädlicher Neigungen gemäß §§ 30 I, 62 I JGG? NStZ 13, 386.

Die Entscheidung nach § 27 erfolgt immer durch Urteil. Der Schuldspruch erfordert 2/3, die Aussetzung der Verhängung der JStrafe einfache Mehrheit (§ 263 I StPO)1. Urteilsfassung und -gründe § 54, 6, 15; Anfechtung § 63, 1. Vgl. auch § 27, 3 f wegen der Rechtsnatur dieser Entscheidung u. der Rechtskraft; § 31, 7 wegen der Einbeziehung. Die Nebenentscheidungen (Anordnung, Verkürzung, Verlängerung der BewZeit; Anordnung, Änderung, Aufhebung der BewAuflagen; auch bezüglich BewHelfer) ergehen durch Beschluss, der zu begründen ist (Abs. IV iVm § 58 I 1 u. 4). Verfahren § 58, 4. Die StA, der J und der BewHelfer sind zu hören (Abs. IV iVm § 58 I 2). Näher § 58, 4. Anfechtung § 63, 4; Zuständigkeit Rn 6. Die Verhängung der JStrafe nach § 30 I ist nur aufgrund einer Hauptverhandlung durch Urteil möglich. Grundlage des Verfahrens ist das rechtskräftige Urteil nach § 27, das deshalb in der Hauptverhandlung zu verlesen ist (§§ 243 III, 324 I 2 StPO entsprechend). Gegenstand des Verfahrens sind die Tatsachen, welche die Überzeugung vom Vorliegen schädlicher Neigungen und von der Notwendigkeit der Verhängung einer JStrafe begründen sollen; letztere sind deshalb (mit den Beweismitteln) in einem Beschluss anzugeben und dem Angeklagten mitzuteilen (entsprechend dem Eröffnungsbeschluss)2, da der Angeklagte nicht überrascht werden soll; auch dieser Beschluss ist zu verlesen (§ 243 III StPO entsprechend)3. Das belastende Material ist regelmäßig vor allem in den Berichten des BewHelfers enthalten; für deren Verwertung gilt dasselbe wie für die Berichte der JGH (s. § 38, 34 ff). Die Verhandlung wird in der BewZeit anberaumt, wenn hinreichender Verdacht besteht, dass die Voraussetzungen des § 30 I gegeben sind (§ 203 StPO entsprechend). Ein Antrag der JStA, die Verhandlung durchzuführen, kann abgelehnt werden; wegen der Anfechtung der Ablehnung § 63, 3. Haftbefehl kann gem. §§ 112 ff StPO, 72 JGG erlassen werden, da noch kein 1 DSS/Schatz 4; für 2/3-Mehrheit auch für Aussetzungsentscheidung Ostendorf/Drenkhahn 1. 2 Zust. Eisenberg/Kölbel 20. 3 Zust. Ostendorf/Drenkhahn 5. 449 https://doi.org/10.1515/9783110686401-077

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§ 63

2. Teil. Jugendliche

rechtskräftiger Strafausspruch vorliegt4; § 453c StPO gilt nicht (Nach § 60, 3)5. In der Verhandlung kann nur durch Urteil JStrafe angeordnet werden oder durch Beschluss die Aussetzung aufrechterhalten bleiben (§ 30, 1); eine vorzeitige Tilgung (vgl. Rn 5) ist an Stelle dieser Entscheidung nicht zulässig6. Anfechtung § 63, 1, 3. 5 Nach Abschluss der BewZeit muss entweder JStrafe ausgesprochen oder die Tilgung des Schuldspruchs angeordnet werden. Grds. wird durch Urteil aufgrund einer Hauptverhandlung entschieden. Nur wenn sich keine Anhaltspunkte dafür ergeben haben, dass schädliche Neigungen vorliegen, kann mit Zustimmung der JStA die Tilgung des Schuldspruchs durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung erfolgen. Eine Begründung ist nicht vorgeschrieben, aber erz. zweckmäßig. 6 Zuständig ist das Gericht, das die Verhängung der JStrafe zur Bew. ausgesetzt hat (Abs. IV iVm § 58 III S. 1; s. § 58, 5)7. Die Nebenentscheidungen können nicht übertragen werden8. Abs. IV verweist nicht auf § 58 III 2. Das Verfahren kann erst recht nicht im Ganzen nach § 42 III JGG abgegeben werden, wie ein Schluss aus § 104 V Nr. 2 ergibt9; denn hier ist es der erkennende Richter, der dem J während der Bew. nahe sein soll. Doch muss der JRichter nach § 270 StPO verweisen, wenn sich herausstellt, dass sein Strafbann nicht ausreicht10. Hat das ErwGericht entschieden, bleibt es nur für das Nachverfahren (§ 30) zuständig; die Nebenentscheidungen muss es dem JRichter des Aufenthaltsortes des J übertragen (§ 104 I Nr. 8, V Nr. 2). Registereinträge Vor § 97, 18.

§ 63 Anfechtung (1) Ein Beschluß, durch den der Schuldspruch nach Ablauf der Bewährungszeit getilgt wird (§ 62 Abs. 2) oder die Entscheidung über die Verhängung der Jugendstrafe ausgesetzt bleibt (§ 62 Abs. 3), ist nicht anfechtbar. (2) Im übrigen gilt § 59 Abs. 2 und 5 sinngemäß. 1. Hw.-J: § 109 II. – 2. ErwG: § 104 I Nr. 8.

1 Grds. sind auch hier die allg. Rechtsmittel gegeben. Das Urteil nach § 27 ist ebenso wie die nachträgliche Festsetzung der JStrafe (§ 30) unter der Beschränkung des § 55 II mit Berufung und Revision anfechtbar. Gleiches gilt für das Urteil, das nach Ablauf der BewZeit die Tilgung anordnet. Dagegen ist der Beschluss nicht anfechtbar, durch den nach Ablauf der BewZeit die Til2 gung mit Zustimmung der JStA ohne mündliche Verhandlung angeordnet ist (Abs. I); durch ihn ist niemand beschwert. Fehlt dagegen die Zustimmung der JStA, hat dieser die sofortige Beschwerde wegen des Verfahrensverstoßes1. Auch gegen Tilgung vor Ablauf der BewZeit ist sofortige Beschwerde gegeben, weil die gesetzliche Grundlage fehlt2. 4 AA Heublein Zbl. 95, 437. 5 Zust. Eisenberg/Kölbel 58, 11; Ostendorf/Drenkhahn 1. 6 Dallinger/Lackner 19; § 30, 17; Eisenberg/Kölbel 13 mit erzpsychologischen Bedenken; aA OLG Schleswig NJW 58, 34.

7 Eisenberg/Kölbel 9; Ostendorf/Drenkhahn 4; Neubacher/Bachmann NStZ 13, 386, 388. 8 BGH StV 98, 348; NStZ 99, 361; 11, 524; Eisenberg/Kölbel 9; Heublein Zbl. 95, 438; aA Ostendorf/Drenkhahn 4. 9 BGH 8, 346; BGH NStZ 11, 524; Dallinger/Lackner 8; Eisenberg/Kölbel 9; Ostendorf/Drenkhahn 4; aA Lackner GA 56, 381.

10 Eisenberg/Kölbel 10; Ostendorf/Drenkhahn 4; Potrykus NJW 56, 655; aA Pentz NJW 54, 1353; Neubacher/Bachmann NStZ 13, 388.

1 Dallinger/Lackner 4. 2 LG Hamburg B NStZ 89, 523. 450 https://doi.org/10.1515/9783110686401-078

Bewährungsplan

§ 64

Ebenso unanfechtbar ist der Beschluss, durch den das Gericht nach Verhandlung in der 3 BewZeit die Verhängung der Strafe ausgesetzt lässt (Abs. I). Eine entsprechende Anwendung dieser Ausnahmevorschrift auf die Ablehnung des Antrags der JStA auf Durchführung des Verfahrens nach § 30 I in der BewZeit ist nicht möglich, zumal es hier um die Durchführung der Prüfung, dort aber um die Entscheidung nach Prüfung geht. Es ist einfache Beschwerde gegeben3. Die Nebenentscheidungen (BewZeit, -Auflagen, -Helfer) sind wie bei Strafaussetzung zur 4 Bew. anzufechten, vgl. § 59, 6. Auch hier ist das Revisionsgericht zur Entscheidung über diese Beschwerde berufen, wenn gegen das Urteil Revision eingelegt ist.

§ 64 Bewährungsplan 1 § 60 gilt sinngemäß. 2Der Jugendliche ist über die Bedeutung der Aussetzung, die Bewährungs- und Unterstellungszeit, die Weisungen und Auflagen sowie darüber zu belehren, daß er die Festsetzung einer Jugendstrafe zu erwarten habe, wenn er sich während der Bewährungs- und Unterstellungszeit schlecht führe.

1. Hw.-J: § 109 II 1. – 2. ErwG: § 104 I Nr. 8.

Es gilt das bei § 60, 1, 5 Dargelegte. 1 § 60, 7 gilt mit folgenden Abweichungen: Die Belehrung muss dem J vor allem klarmachen, 2 dass es von seinem künftigen Verhalten abhängt, ob er mit JStrafe belegt werden oder ob er ganz straffrei bleiben wird. Die Weigerung, die Erfüllung der Weisungen und Auflagen zu versprechen, rechtfertigt nicht die Verhängung der JStrafe, sondern kann nur als Indiz gewertet werden1. Ob aber die Anregung von Eisenberg/Kölbel2, den J auch hierauf hinzuweisen, bes. glücklich ist, mag dahingestellt bleiben. Zuständig ist das Gericht, das die Nebenentscheidungen zu treffen hat (§ 62, 6; vgl. § 60, 11). 3

3 Dallinger/Lackner 5; Eisenberg/Kölbel 6; Ostendorf/Drenkhahn § 62, 4. 1 Zust. Eisenberg/Kölbel 5; Ostendorf/Drenkhahn 2; Nothacker S. 269. 2 AaO. 451 https://doi.org/10.1515/9783110686401-079

Sechster Unterabschnitt Ergänzende Entscheidungen § 65 Nachträgliche Entscheidungen über Weisungen und Auflagen (1) 1Nachträgliche Entscheidungen, die sich auf Weisungen (§ 11 Abs. 2, 3) oder Auflagen (§ 15 Abs. 3) beziehen, trifft der Richter des ersten Rechtszuges nach Anhören des Staatsanwalts und des Jugendlichen durch Beschluß. 2Soweit erforderlich, sind der Vertreter der Jugendgerichtshilfe, der nach § 10 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 bestellte Betreuungshelfer und der nach § 10 Abs. 1 Satz 3 Nr. 6 tätige Leiter eines sozialen Trainingskurses zu hören. 3 Wenn die Verhängung von Jugendarrest in Betracht kommt, ist dem Jugendlichen Gelegenheit zur mündlichen Äußerung vor dem Richter zu geben. 4Der Richter kann das Verfahren an den Jugendrichter abgeben, in dessen Bezirk sich der Jugendliche aufhält, wenn dieser seinen Aufenthalt gewechselt hat. 5§ 42 Abs. 3 Satz 2 gilt entsprechend. (2) 1Hat der Richter die Änderung von Weisungen abgelehnt, so ist der Beschluß nicht anfechtbar. 2Hat er Jugendarrest verhängt, so ist gegen den Beschluß sofortige Beschwerde zulässig. 3Diese hat aufschiebende Wirkung. 1. Hw.-JRecht: § 109 II 1. – 2. Abs. I: [ErwG]: Rn 4; § 104 IV; – Abs. II: [ErwG]: Rn 4.

1 § 65 betrifft die Änderung von Weisungen (§ 11, 2) und Auflagen (§ 15, 20) sowie die Verhängung von JA bei schuldhafter Verletzung von Weisungen oder Auflagen (§ 11, 5). Zuständig ist der JRichter des ersten Rechtszuges, nicht der Vollstreckungsleiter nach § 82, 2 der an sich die Befolgung der Weisungen und Auflagen zu überwachen und zu prüfen hat. Für die Abgabe an den JRichter des Aufenthaltsortes (Abs. I 4) gilt § 42, 11 entsprechend. Doch ist hier die Zustimmung der JStA nicht erforderlich (vgl. unterschiedl. Wortlaut hier Abs. I 3 u. § 42 III 1). Die Abgabe kann schon zweckmäßig sein, wenn noch keine nachträgliche Entscheidung ansteht, sondern zunächst nur die Überwachung der Auflagenerfüllung erforderlich ist1. Sie ist zweckmäßig, wenn dem J vor Verhängung von JA Gelegenheit zur mündlichen Äußerung zu geben ist2. Das Familiengericht ist im Fall des § 53 nur zur Änderung von Weisungen selbst berufen; 3 JA wegen Ungehorsams kann nur der übertragende JRichter verhängen (§ 53, 8). Beim ErwGericht könnte neben der Änderung von Auflagen nur die Verhängung von JA 4 wegen Ungehorsams in Frage kommen, weil es die Auswahl und Abänderung der ErzMaßregeln dem Familiengericht überlassen muss (§ 104 IV). Das ErwGericht kann jedoch auch keinen JA verhängen, weil das Gesetz § 65 bei den für das ErwGericht anwendbaren Vorschriften nicht aufführt (§ 104 I) und die stets notwendige Zuständigkeitsregelung nicht dem Ermessen (§ 104 II) überlassen bleiben kann3. Zur Ahndung dieses spezifisch jrechtlichen Unrechtstatbestandes (§ 11, 5) ist vielmehr mangels einer bes. Vorschrift der gem. § 42 örtlich zuständige JRichter berufen (§ 104, 10; § 112, 5). Das ist sehr bestritten. Eisenberg/Kölbel4 wollen § 65 I, II 2, 3 auf das ErwGericht entsprechend anwenden; ebenso Dallinger/Lackner5 mit Ausnahme des Abs. I 5; Potrykus6 begründet die Anwendung von § 104 II und Ostendorf/Drenkhahn7 lassen das ErwGericht

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BGH B NStZ 97, 483. BGH StraFo 09, 437. Zust. Eisenberg/Kölbel 3 u. § 104, 35. 2. 18. § 65 B 3. 1. 452

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Nachträgliche Entscheidungen über Weisungen und Auflagen

§ 65

des 1. Rechtszuges entscheiden, wobei im Falle des Aufenthaltswechsels an den JRichter abgegeben werden kann. Die nachträglichen Entscheidungen über Weisungen und Auflagen (Abänderung, völlige oder teilweise Befreiung, nicht gegenseitige Auswechslung; näher § 11, 4) trifft der Richter des 1. Rechtszuges (Abs. I 1; Rn 2) durch begründeten Beschluss. Es bestehen Anhörungspflichten. Der Richter hört die StA und den J – diesen möglichst mündlich – an (Abs. I 1; näher Rn 7), ggf. auch die gesetzlichen Vertreter und ErzBerechtigten. Ganz wesentlich für die Entscheidung ist es, den Vertreter der JGH, den Betreuungshelfer nach § 10 I 3 Nr. 5 und den Leiter eines sozialen Trainingskurses nach § 10 I 3 Nr. 6 anzuhören. Die Einschränkung des Abs. I 2 „soweit erforderlich“ gibt dem pflichtgemäßen Ermessen des Richters den nötigen Freiraum. Gleichwohl wird nur ausnahmsweise auf diese Anhörungen verzichtet werden können. Darüber hinaus können je nach Fallgestaltung weitere Anhörungen einer gezielten Entscheidung dienen, etwa des ErzBeistandes. Dazu auch § 11, 4; § 58, 4. Kommt die Verhängung eines Ungehorsamsarrestes in Betracht, so muss der Richter dem J Gelegenheit zur mündlichen Äußerung geben (Abs. I 3). Das ist zwingend. Nur durch eine mündliche Anhörung kann rechtzeitig geklärt werden, ob der J tatsächlich schuldhaft gehandelt hat (z.B. Verbot durch die Eltern, vgl. § 10, 44)8 und ob Ungeschicklichkeit oder blanker Ungehorsam den J Weisungen oder Auflagen hat missachten lassen9. Ein derartiges Gespräch kann JA vermeiden helfen. Wird dem J bei der Anhörung eine neue Gelegenheit zur Weisungserfüllung gegeben, ist vor Arrestverhängung eine erneute mündliche Anhörung erforderlich10. Die Gelegenheit zur mündlichen Anhörung muss auch bei wiederholter Verhängung eines Ungehorsamsarrestes gegeben werden11. Näher § 11, 6; § 58, 4. Der J wird „angehört“ (Abs. I 2; Rn 5), es wird ihm „Gelegenheit zur mündlichen Äußerung“ gegeben (Abs. I 3; Rn 6). Diese Vorschriften sind zwingend, im Gesetzeswortlaut kommt aber auch zum Ausdruck, dass das Erscheinen des J nicht erzwungen werden kann (vgl. § 60, 7); vereitelt er die Anhörung, kann er daraus, dass sie unterbleibt, keine Rechte ableiten (vgl. § 58, 4). Wegen Eröffnung u. Rechtsmittelbelehrung s. §§ 35, 35a StPO, 67a I JGG. Die nachträgliche Entscheidung muss dem ErzRegister mitgeteilt werden (§ 60 I Nr. 2 BZRG)12; der JGH sind Änderungen mitzuteilen (§ 85 RL III 1 entsprechend)13. Änderungen von Weisungen und von Auflagen wie auch die vollständige oder teilweise Befreiung von ihnen oder die Ablehnung eines hierauf gerichteten Antrags (nicht jedoch eines Antrags auf Änderung von Weisungen, Abs. II 1) und die Ablehnung, JA zu verhängen, können mit einfacher Beschwerde (§ 304 StPO) angefochten werden14. Zu Recht aber macht Eisenberg15 Bedenken dagegen geltend, wenn die nachträgliche (!) Beschwerde der StA nicht auf neue Tatsachen gestützt wird, sondern auf die Ansicht, die Weisung sei von Anfang an unzulässig gewesen. Zum Familiengericht § 53, 10. Gegen die Verhängung von JA ist sofortige Beschwerde mit aufschiebender Wirkung, doch nur im Rahmen des § 55 I, gegeben (Abs. II 2, 3; zum Familiengericht § 53, 10). Weitere Beschwerde ist nicht statthaft, die Anordnung von Ungehorsamsarrest ist keine Verhaftung i.S.v. § 310 I Nr. 1 StPO16. Wiederaufnahme des Verfahrens ist möglich (§ 55, 66)17.

8 LG Arnsberg NStZ 06, 525, 526. 9 Böhm NJW 91, 536. 10 LG Koblenz ZJJ 18, 166. 11 LG Arnsberg NStZ 06, 525, 526. 12 Ostendorf/Drenkhahn 5; Eisenberg/Kölbel 14. 13 Ostendorf/Drenkhahn aaO. 14 LG Freiburg JR 88, 524 mit Anm. Eisenberg; Eisenberg/Kölbel 16; Ostendorf/Drenkhahn 6. 15 Anm. zu LG Freiburg aaO. 16 OLG München NStZ 12, 166. 17 Zust. Eisenberg/Kölbel 20; Ostendorf/Drenkhahn 8; Nothacker S. 327, 328; aA LG Stuttgart NJW 57, 1868; Dallinger/ Lackner 13. 453

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§ 66

2. Teil. Jugendliche

§ 66 Ergänzung rechtskräftiger Entscheidungen bei mehrfacher Verurteilung (1) 1Ist die einheitliche Festsetzung von Maßnahmen oder Jugendstrafe (§ 31) unterblieben und sind die durch die rechtskräftigen Entscheidungen erkannten Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel und Strafen noch nicht vollständig ausgeführt, verbüßt oder sonst erledigt, so trifft der Richter eine solche Entscheidung nachträglich. 2Dies gilt nicht, soweit der Richter nach § 31 Abs. 3 von der Einbeziehung rechtskräftig abgeurteilter Straftaten abgesehen hatte. (2) 1Die Entscheidung ergeht auf Grund einer Hauptverhandlung durch Urteil, wenn der Staatsanwalt es beantragt oder der Vorsitzende es für angemessen hält. 2Wird keine Hauptverhandlung durchgeführt, so entscheidet der Richter durch Beschluß. 3Für die Zuständigkeit und das Beschlußverfahren gilt dasselbe wie für die nachträgliche Bildung einer Gesamtstrafe nach den allgemeinen Vorschriften. 4Ist eine Jugendstrafe teilweise verbüßt, so ist der Richter zuständig, dem die Aufgaben des Vollstreckungsleiters obliegen. 1. Hw.-JRecht: Rn 12; § 109 II 1, 2. – 2. ErwG: Rn 13; § 104 II.

Richtlinien zu § 66 1. 2.

Liegen die Voraussetzungen des Absatz 1 vor, ist eine gerichtliche Entscheidung herbeizuführen. Das Gericht kann von der einheitlichen Festsetzung von Maßnahmen oder Jugendstrafe absehen (§ 31 Abs. 3). Die Staatsanwaltschaft beantragt die Durchführung einer Hauptverhandlung nach Absatz 2 vor allem dann, wenn zu erwarten ist, dass die ergänzende Entscheidung von den früheren Entscheidungen erheblich abweicht.

1 § 66 sichert das Einheitsprinzip als Ausfluss des ErzGedankens (§ 31, 3), indem auch nachträgliche Entscheidungen ermöglicht werden. Hierfür müssen die folgenden Voraussetzungen vorliegen: Mehrere Taten (§ 31, 1). Es müssen Entscheidungen vorliegen, deren Art die Anwendung des 2 § 31 gestattet (§ 31, 8, 38, 39), auch wenn in ihnen schon teilweise einheitliche Maßnahmen getroffen sind; es genügt auch eine Entscheidung wegen mehrerer Taten, wenn sie § 31 nicht beachtet hat. – Rechtskraft dieser Entscheidungen. Auch Zweifel über die Auslegung des Urteils und über Berechnung der JStrafe, des JA uä müssen gem. §§ 458, 462 StPO schon behoben sein1. Dazu aber auch Rn 4. In allen beteiligten Entscheidungen müssen einbeziehbare Maßnahmen (§ 31, 8) oder JStrafe enthalten sein, die noch nicht vollständig verbüßt sind (§ 31, 7). Nach dem BGH ist eine Schuldfeststellung nach § 27 keine noch nicht vollständig erledigte Entscheidung iSd § 66 I 1 und hat beim Zusammentreffen einer Schuldfeststellung mit einer anderen rechtskräftigen Entscheidung grds. der nach §§ 30, 62 zuständige Richter über den Ausspruch einer JStrafe zu entscheiden2. § 66 bezieht sich jedoch auf § 31, der in Abs. II ausdrücklich die Schuldfeststellung nennt. § 13 II Nr. 2 BZRG setzt voraus, dass Entscheidungen gemäß § 27 nach § 66 einbezogen werden. Außerdem führt § 66 II 3, 4 iVm § 462a III StPO zu einer sachgerechten Zuständigkeitsregelung für das nachträgliche Verfahren. Dem § 66 unterfallen daher auch Entscheidungen nach § 273. – Der früher entscheidende Richter darf nicht nach § 31 III von der Einbeziehung abgesehen haben (s. Rn 6); dies gilt jedoch nur, wenn eine Entscheidung ausdrücklich getroffen und auf § 31

1 BayObLG NJW 55, 601; Eisenberg/Kölbel 19; Ostendorf/Drenkhahn 5. 2 BGH 51, 136 = NStZ 08, 693 mit abl. Anm. Dölling; ebenso Dallinger/Lackner 8; DSS/Schatz 7; Eisenberg/Kölbel 22a; MK-StPO/Kaspar § 66 JGG 6a, 6b; LBN/Baier Rn 506; Streng Rn 282; Potrykus RdJ 56, 200. 3 Ebenso Ostendorf/Drenkhahn 7 u. Ostendorf NJW 81, 378. 454 https://doi.org/10.1515/9783110686401-081

Ergänzung rechtskräftiger Entscheidungen bei mehrfacher Verurteilung

§ 66

III gestützt ist4 und nunmehr keine anderen Taten als die dabei berücksichtigten vorliegen. – Die Zusammenfassung darf nicht erz. unzweckmäßig sein (Rn 6). Im Übrigen ist es gleichgültig (Ausnahme Abs. I 2), warum früher die Einbeziehung nicht erfolgt ist, ob also dem Richter weitere Taten unbekannt waren oder er solche übersehen hat oder ob die Einbeziehung wegen noch nicht eingetretener Rechtskraft nicht möglich war. Das gilt sogar dann, wenn der Richter aus unzutreffenden Erwägungen die Einbeziehung abgelehnt hat, weil das Gesetz diesen Fall nicht ausschließt, die Einbeziehung aber auch hier erz. geboten ist und durch die Möglichkeit, eine Hauptverhandlung durchzuführen und durch Urteil zu entscheiden, erschöpfende Aufklärung gewährleistet ist5. Sobald die Voraussetzungen vorliegen, muss nach § 66 entschieden werden (RL 1 S. 1). Wo dem J keine Rechtsnachteile entstehen, kann auch noch die Rechtskraft einer weiteren Entscheidung abgewartet werden. Auch wenn eine Entscheidung noch nicht rechtskräftig ist, können die übrigen rechtskräftigen nach § 66 zusammengezogen werden6. Für die Bildung einer einheitlichen Maßnahme gilt hier grds. das Gleiche wie bei § 31 (§ 31, 11 ff; § 54, 8). Eine Bindung besteht an die Schuldsprüche, abgeschwächt auch an die Feststellungen zur Straffrage; nur die Wertung ist frei (§ 31, 12). Die Häufung der Taten wird allerdings oft zu einer ungünstigeren Beurteilung der Persönlichkeit und damit zur Verhängung von JStrafe führen, wenn bisher keine JStrafe verhängt war. Das Verschlechterungsverbot gilt nicht7. Die Wirkung ist hier die gleiche wie bei § 31. Auch hier kann der Richter unter den Voraussetzungen des § 31 III (§ 31, 21) davon absehen, eine einheitliche Unrechtsreaktion zu treffen. Er muss das ausdrücklich aussprechen, zumal auch diese Entscheidung nach § 66 I 2 bindet8. Die Entscheidung (Zuständigkeit Rn 10, 11) ergeht aufgrund einer Hauptverhandlung durch Urteil, wenn der Vorsitzende das für angemessen hält. Angemessen ist das idR im Fall der RL 2, vor allem also, wenn Häufung, Tatfolge, Tatzeit uä bei der Gesamtschau eine andere Beurteilung der Täterpersönlichkeit als in den früheren Entscheidungen nahe legen. Gleiches gilt bei einem entsprechenden Antrag der JStA. Anträge sonstiger Verfahrensbeteiligter haben nur die Bedeutung einer Anregung. Eine Anfechtung der Ermessensentscheidung des Vorsitzenden ist nicht möglich (vgl. § 305 S. 1 StPO)9; seine Entscheidung ist auch für das Gericht bindend10. – Das Verfahren richtet sich nach den allg. Vorschriften über die Vorbereitung und Durchführung der Hauptverhandlung; eines Eröffnungsbeschlusses bedarf es nicht. Das Urteil ist im Rahmen des § 55 mit Berufung oder Revision anfechtbar. Der Nachprüfung des Rechtsmittelgerichts unterliegt nur der neue einheitliche Strafausspruch, die Rechtskraft der zugrunde liegenden Schuldsprüche ist auch im Rechtsmittelverfahren zu beachten11. Gegen den Beschluss (Abs. II 2) ist sofortige Beschwerde (Ausnahme § 304 IV StPO) zulässig (Abs. II 3 iVm § 462 III StPO), die den Beschränkungen des § 55 I unterliegt. Wird ein Urteil mit Strafaussetzung zur Bew. einbezogen und erneut eine JStrafe mit Bew. ausgesprochen, können in der früheren BewZeit begangene Straftaten nach dem AG Berlin Tiergarten12 nicht zum Widerruf führen, weil die maßgebliche Bewährungszeit erst mit der Rechtskraft der Entscheidung über die EinheitsJStrafe beginnt. 4 5 6 7

BGH 51, 136. Dallinger/Lackner 3; Eisenberg/Kölbel/ 17; Ostendorf/Drenkhahn 3; Nothacker S. 260. Dallinger/Lackner; Eisenberg/Kölbel 19; Ostendorf/Drenkhahn 5. Dallinger/Lackner 9; DSS/Schatz 15; zweifelnd Eisenberg/Kölbel 7; abl. Ostendorf/Drenkhahn 11, weil der J nicht schlechter gestellt werden dürfe als ein Erw.: § 54 II StGB. 8 Dallinger/Lackner 10; Eisenberg/Kölbel 8; Ostendorf/Drenkhahn 9. 9 Im Ergebnis ebenso LG Zweibrücken MDR 93, 679; Dallinger/Lackner 10, 15; Eisenberg/Kölbel 25; Ostendorf/Drenkhahn 23. 10 Jede Bindung verneinen Dallinger/Lackner 16; Eisenberg/Kölbel 26; Ostendorf/Drenkhahn 18, die aber dann zumindest Entscheidung im Beschlusswege fordern. 11 Dallinger/Lackner 15; Eisenberg/Kölbel 31; Ostendorf/Drenkhahn 21. 12 ZJJ 12, 89. 455

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Sonst wird nach Anhörung des J, der JStA, ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter (§ 462 II StPO; § 67 I), sowie der JGH (§ 38 III 1) ohne mündliche Verhandlung durch begründeten Beschluss entschieden. Wegen Eröffnung u. Rechtsmittelbelehrung s. §§ 35, 35a StPO, 67a I. Zur Anfechtung Rn 7 aE. Kosten § 74 RL 2, 3 S 2; § 41 GKG. Vgl. § 74, 10. Zuständig ist in erster Linie der Vollstreckungsleiter einer nur zum Teil verbüßten JStrafe (Abs. II 4); UHaft oä genügt nicht13. Erlass steht der Vollverbüßung gleich. Die Zuständigkeit liegt bei ihm als JRichter (= Einzelrichter) ohne Rücksicht auf Strafhöhe und Art der Taten; die Zuständigkeit ist ausschließlich, die Begrenzung des § 39 II gilt nicht14. Bei Wechsel der örtlichen Vollstreckungsleiter-Zuständigkeit (§§ 85 I bis V; 88 VI 3 iVm 58 III 2) wechselt auch die Zuständigkeit nach § 66; bei nur teilweiser Übertragung der Entscheidung (§ 58 III 2) wird das Verfahren mit Rücksicht auf die Widerruflichkeit der Übertragung (§ 85 V) zweckmäßig vom abgebenden Vollstreckungsleiter eingeleitet15. Sind mehrere JStrafen ausgesprochen und teilverbüßt, ist der Vollstreckungsleiter zuständig, der das Verfahren zuerst einleitet16. Zur Abgrenzung der Zuständigkeit des Vollstreckungsleiters, der nach Bildung der Einheitsstrafe nach § 85 VI verfährt, u. der Strafvollstreckungskammer s. § 85, 14. Beim Vollstreckungsleiter des JA ist keine Sonderzuständigkeit begründet17. Sonst gilt, außer im Falle des Abs. II 4, § 462a III StPO, es entscheidet also das erkennende erstinstanzliche Gericht, und zwar in der in § 462a III StPO festgelegten Reihenfolge18. Bei Hw. gilt § 66, wenn JStrafrecht angewendet wird (§ 109 II 1). Weiterhin sind die Vorschriften der §§ 105 II, 109 II 2 zu beachten, die eine einheitliche Entscheidung auch mit rechtskräftigen Verurteilungen nach allg. Strafrecht zulassen (§ 31, 37; § 105, 39; § 109, 14; aber auch § 32, 7). Auch hierbei kann nach § 31 III von einer einheitlichen Entscheidung abgesehen werden (Rn 6). Im Übrigen kommt eine entsprechende Anwendung des § 66 auch beim Zusammentreffen von Erw.- und J„Strafen“ in Betracht (vgl. § 32, 8–17), wenn die Voraussetzungen des § 460 StPO vorliegen19. Diese Vorschrift gilt auch für das ErwGericht, bei J nach seinem Ermessen (§ 104, 3)20, bei Hw. nach Ermessen, wenn es JStrafrecht angewendet hat (§ 112 S. 1, 2)21. Ob bei mehreren Entscheidungen das Erw.- oder das JGericht zuständig ist, richtet sich nach Abs. II 3, 4 (Rn 10 f).

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Ebenso Eisenberg/Kölbel 10; Ostendorf/Drenkhahn 14. KG ZJJ 15, 420 mit zust. Anm. Eisenberg; Dallinger/Lackner 22–26; Eisenberg/Kölbel 11; Ostendorf/Drenkhahn 15. Zust. Eisenberg/Kölbel 11a; Ostendorf/Drenkhahn 16. Dallinger/Lackner 22; Eisenberg/Kölbel 11 b; Ostendorf/Drenkhahn 16. Dallinger/Lackner 20; Eisenberg/Kölbel 12; Ostendorf/Drenkhahn 13; aA Potrykus B 6. Ostendorf/Drenkhahn 12. AA Potrykus B 1. Eisenberg/Kölbel 1; Ostendorf/Drenkhahn 2. Ostendorf/Drenkhahn 2. 456

Siebenter Unterabschnitt Gemeinsame Verfahrensvorschriften § 67 Stellung der Erziehungsberechtigten und der gesetzlichen Vertreter (1) Soweit der Beschuldigte ein Recht darauf hat, gehört zu werden oder Fragen und Anträge zu stellen, steht dieses Recht auch den Erziehungsberechtigten und den gesetzlichen Vertretern zu. (2) Die Rechte der gesetzlichen Vertreter zur Wahl eines Verteidigers und zur Einlegung von Rechtsbehelfen stehen auch den Erziehungsberechtigten zu. (3) 1Bei Untersuchungshandlungen, bei denen der Jugendliche ein Recht darauf hat, anwesend zu sein, namentlich bei seiner Vernehmung, ist den Erziehungsberechtigten und den gesetzlichen Vertretern die Anwesenheit gestattet, soweit 1. dies dem Wohl des Jugendlichen dient und 2. ihre Anwesenheit das Strafverfahren nicht beeinträchtigt. 2 Die Voraussetzungen des Satzes 1 Nummer 1 und 2 sind in der Regel erfüllt, wenn keiner der in § 51 Absatz 2 genannten Ausschlussgründe und keine entsprechend § 177 des Gerichtsverfassungsgesetzes zu behandelnde Missachtung einer zur Aufrechterhaltung der Ordnung getroffene Anordnung vorliegt. 3Ist kein Erziehungsberechtigter und kein gesetzlicher Vertreter anwesend, weil diesen die Anwesenheit versagt wird oder weil binnen angemessener Frist kein Erziehungsberechtigter und kein gesetzlicher Vertreter erreicht werden konnte, so ist einer anderen für den Schutz der Interessen des Jugendlichen geeigneten volljährigen Person die Anwesenheit zu gestatten, wenn die Voraussetzungen des Satzes 1 Nummer 1 und 2 im Hinblick auf diese Person erfüllt sind. (4) 1Das Jugendgericht kann die Rechte nach den Absätzen 1 bis 3 Erziehungsberechtigten und gesetzlichen Vertretern entziehen, soweit sie verdächtig sind, an der Verfehlung des Beschuldigten beteiligt zu sein, oder soweit sie wegen einer Beteiligung verurteilt sind. 2 Liegen die Voraussetzungen des Satzes 1 bei einem Erziehungsberechtigten oder dem gesetzlichen Vertreter vor, so kann der Richter die Entziehung gegen beide aussprechen, wenn ein Mißbrauch der Rechte zu befürchten ist. 3Stehen den Erziehungsberechtigten und den gesetzlichen Vertretern ihre Rechte nicht mehr zu, so bestellt das Familiengericht einen Pfleger zur Wahrnehmung der Interessen des Beschuldigten im anhängigen Strafverfahren. 4Die Hauptverhandlung wird bis zur Bestellung des Pflegers ausgesetzt. (5) 1Sind mehrere erziehungsberechtigt, so kann jeder von ihnen die in diesem Gesetz bestimmten Rechte der Erziehungsberechtigten ausüben. 2In der Hauptverhandlung oder in einer sonstigen gerichtlichen Verhandlung werden abwesende Erziehungsberechtigte als durch anwesende vertreten angesehen. 3Sind Mitteilungen oder Ladungen vorgeschrieben, so genügt es, wenn sie an eine erziehungsberechtigte Person gerichtet werden. 1. [Hw.]: RL; Rn 25; § 109 I 1. – 2. ErwG: RL; Rn 24; § 104 I Nr. 9, III; Rn 12.

Richtlinie zu § 67 § 67 gilt auch im Verfahren gegen Jugendliche vor den für allgemeine Strafsachen zuständigen Gerichten (§ 104 Abs. 1 Nr. 9), nicht jedoch im Verfahren gegen Heranwachsende (§ 109).

Schrifttum Bohnert Die ErzBerechtigten in der jstrafrechtlichen Hauptverhandlung, Zbl. 89, 232; Brunner Die Eltern des vollj. Hw. im JGerichtsverfahren, Zbl. 77, 366; Epik Das Elternkonsultationsrecht im JStrafverfahren, StV 20, 703; Güler Die Folgen einer unterbliebenen Belehrung über das Elternkonsultationsrecht nach § 67 I JGG, StraFo 19, 191; Kremer Der Einfluss des Elternrechts nach Art. 6 II, III GG auf die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen des JGG, Diss. Mainz 1984; Ludwig Belehrungspflichten aus § 67 JGG u. mögliche Fehlerfolgen bei Verstößen, NStZ 19, 123; Meyer/Ger457 https://doi.org/10.1515/9783110686401-082

§ 67

2. Teil. Jugendliche

hards Die Rechtsstellung des gesetzlichen Vertreters des Beschuldigten nach der StPO, Diss. Hamburg 1967; Möller Führen Verstöße gegen § 67 I JGG bei polizeilichen Vernehmungen eines j. Beschuldigten zu einem Beweisverwertungsverbot? NStZ 12, 113; Müller/Kraus ErzBerechtigte u. Rechtsstaatlichkeit im JStrafverfahren, JurArbbl. 03, 892; Ostendorf Die Rechte von tatverdächtigen Kindern und J sowie deren Eltern bei der polizeilichen Vernehmung, FS Heinz, 2012, S. 464; Richmann Die Beteiligung des ErzBerechtigten u. des gesetzlichen Vertreters am JStrafverfahren, 2002; Roestel Änderungen im JStrafverfahren Zbl. 75, 326; Schlothauer Das kann doch nicht das letzte Wort sein!? Zur Reihenfolge der Worterteilung an j. Angeklagte u. ihre gesetzlichen Vertreter bzw. ErzBerechtigten, FS Eisenberg zum 80. Geburtstag, 2019, S. 271; Schnitzerling Probleme um die Stellung des ErzBer. u. gesetzlichen Vertreters im JStrafrecht, UJ 57, 367; Schulz-Knappe Zur Stellung des ErzBerechtigten im deutschen JStrafverfahren, RdJ 67, 5, 37; dazu Ullrich RdJ 67, 240; Schwer Die Stellung der ErzBerechtigten u. gesetzl. Vertreter im JStrafverfahren, 2004; vgl. auch die Beiträge in ZJJ 14, 316 ff.

Übersicht 1. 2. 3.

ErzBerechtigte und gesetzliche Vertreter 1 11 Stellung des J im Verfahren Rechte des ErzBerechtigten und des gesetzli12 chen Vertreters

4. 5. 6.

24 Entziehung der Rechte 28 Geltungsbereich 29 Nicht für Heranwachsende

1. ErzBerechtigte und gesetzliche Vertreter 1 Das BGB bestimmt, wer ErzBerechtigter und (oder) gesetzlicher Vertreter ist. ErzBerechtigter ist demnach, wer – allein oder mit anderen – das Recht und die Pflicht zur Sorge für die Person des J hat. Gesetzliche Vertretung und ErzBerechtigung stimmen zumeist überein, denn die elterliche Sorge umfasst gemäß § 1629 I 1 BGB die Vertretung des Kindes; vgl. aber für ein Auseinanderfallen z.B. § 1673 II BGB. 2 Gesetzlicher Vertreter ist, wer das Recht hat, den J in persönlichen Angelegenheiten zu vertreten. Bei bestehender Ehe sind dies beide Elternteile gemeinsam als Gesamtvertreter (Art. 6 II GG; §§ 1626 I, 1629 I BGB)1; zu den jrechtlichen Folgen Rn 10. Den leiblichen Eltern sind Adoptiveltern gleichgestellt (§ 1754 BGB). Es kann jedoch stets ein Elternteil den anderen formlos ermächtigen, für ihn mitzuhandeln2. Zu den hieraus fließenden Rechten u. Pflichten Rn 10–18. Auch nach Scheidung oder bei nicht nur vorübergehendem Getrenntleben der Eltern ver3 treten diese gemeinsam, wenn nicht die elterliche Sorge auf einen Elternteil übertragen worden ist (§§ 1671, 1687 BGB). Sonst vertritt ein Elternteil allein, wenn das elterliche Sorgerecht des anderen ruht 4 (§§ 1673–1675 BGB), wenn ein Elternteil tatsächlich verhindert (§ 1678 BGB)3, gestorben (§ 1680 BGB), für tot erklärt (§ 1677 BGB) oder einem Elternteil die Personensorge entzogen ist (§§ 1666, 1680 BGB). Zur Entziehung der Rechte aus § 67 durch das JGericht Rn 24–27. Sind die Eltern bei der Geburt des Kindes nicht miteinander verheiratet, hat die Mutter 5 die elterliche Sorge und Vertretung, es sei denn, die Eltern erklären die gemeinsame Sorgeübernahme oder heiraten einander oder das Familiengericht überträgt Ihnen die elterliche Sorge gemeinsam (§ 1626a BGB).

1 BVerfGE 10, 59; BGH 22, 103. 2 BGH JZ 57, 67; BayObLG JR 61, 72; aA Eisenberg/Kölbel 16, wegen „Ungewissheit hinsichtlich familieninterner Kommunikations- u. Machtverhältnisse u. etwaiger Interessenkonflikte“. 3 Vgl. OLG Stuttgart NJW 71, 2237 zu § 77 StGB. 458

Stellung der Erziehungsberechtigten und der gesetzlichen Vertreter

§ 67

J ohne Eltern oder mit Eltern ohne Vertretungsmacht und Sorgerecht werden vom Vormund (§ 1793 BGB)4 oder Pfleger (§ 1915 BGB) vertreten, jedoch nie vom Gegenvormund nach § 1792 BGB. Nicht gesetzliche Vertreter oder ErzBerechtigte sind Pflegeeltern – soweit ihnen nicht nach § 1630 III BGB die elterliche Sorge übertragen wurde – oder Ausbilder, weil sie kraft Vertrags zur Erz. verpflichtet sind5. Auch der ErzBeistand6 oder sonstige mit der Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2 befasste Personen haben keine Rechte nach § 677. Ostendorf/Sommerfeld8 zählen dagegen zu den ErzBerechtigten auch Pflegeeltern, ErzBeistände und ErzEinrichtungen gemäß § 38 SGB VIII. Auch nach Ostendorf/Sommerfeld scheiden aber Personen aus, denen allein privatrechtlich Erz. übertragen wurde. Über die gesetzlichen Bestimmungen hinaus mag es, auch bei starker Arbeitsbelastung der JRichter, hin und wieder angezeigt und bes. wertvoll sein, mit den nach § 67 Berechtigten und Verpflichteten vor der Hauptverhandlung zu sprechen. Sie kennen die Persönlichkeitsumstände des J und oft auch die Hintergründe der Tat9. Dies kann zur Persönlichkeit des J wichtige Aufschlüsse geben, Hintergründe der Tat erkennen lassen und bei den ErzBerechtigten Verständnis und Bereitschaft zur Mithilfe wecken, nicht nur ein erzwidriges Gegeneinander vermeiden, sondern sie wirksam mit einbeziehen10. Es verstärkt das erz. Eingreifen des JRichters, wenn es ihm gelingt, die kraft Familienbindung und Gesetz zur Erz. berufenen Personen mit einzuschalten11. Solches fordert darüber hinaus Art. 6 II GG, wonach bei Straffälligkeit das ErzRecht des Staates das elterliche Recht nur ergänzt. Dies sollte den JRichter anregen, persönliche, erz. wirksame Bindungen zu beachten und zu nützen und auch solche Personen (z.B. Großeltern), die auch von den ErzBerechtigten beauftragt sein können, zur Hauptverhandlung zuzulassen und anzuhören. Diese erhalten dadurch allerdings nicht die in § 67 den gesetzlichen Vertretern und ErzBerechtigten zugesprochenen Rechte. Es können sich die durch § 67 Berechtigten auch nicht iSd Vorschrift wirksam vertreten lassen12. Zur Ausschließung der nach § 67 Berechtigten Rn 24–27; zu den Hw. Rn 29. Häufig sind mehrere erzberechtigt (Rn 2, 3, 5). Es hat dann jeder selbständig und unabhängig vom anderen (Abs. V 1) die gleichen Rechte, doch genügt Mitteilung (§ 67a) und Ladung (Rn 16) an einen der ErzBerechtigten. Ostendorf/Sommerfeld13 verlangen bei verschiedener postalischer Anschrift zwingend Mitteilung an alle. Der Richter hat aber das Recht, beide oder einen bestimmten ErzBerechtigten unter Ausschluss der Vertretung zu laden und das Erscheinen zu erzwingen14. Nach Eisenberg/Kölbel15 „ist das JGericht regelmäßig gehalten, die Mitteilung und Ladung (wenn möglich) an alle ergehen zu lassen“; sie halten auch Mitteilungen dort für ratsam, wo das Gericht nicht zu Mitteilungen an den abwesenden ErzBerechtigten verpflichtet ist. Das erscheint allerdings kaum ausreichend, um in der Praxis einen vorsorglichen Aufwand zu rechtfertigen, den das Gesetz nicht für veranlasst hält. Eine Mitteilung an beide Elternteile kann aber insbes. bei dauerhaftem Getrenntleben angezeigt sein. Vgl. auch Rn 17. In jeder Verhandlung, also auch noch bei dem nach der Urteilsverkündung abgegebenen Rechtsmittelverzicht, vertritt der Anwesende den Abwesenden (Abs. V 2); dieser ist an die hier abgegebenen Erklä4 BGH 21, 288. 5 OLG Stuttgart OLGSt S. 3 zu § 67; DSS/Schatz 14; Eisenberg/Kölbel 6; aA Ostendorf/Sommerfeld 4 für Pflegepersonen.

6 OLG Hamburg NJW 64, 60. 7 Zust. Eisenberg/Kölbel 6. 8 4. 9 Bohnert Zbl. 89, 233. 10 Vgl Böhm/Feuerhelm S. 121 f; Beulke/Swoboda Rn 656. 11 BGH 18, 21. 12 BGH GA 61, 358 für gesetzliche Vertreter; KG StraFo 15, 122. 13 14. 14 Dallinger/Lackner 24; Potrykus B 11. 15 23. 459

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§ 67

2. Teil. Jugendliche

rungen gebunden16. Diese Regelung wird auch durch die Auswirkungen der Gleichberechtigung nicht berührt17.

2. Stellung des J im Verfahren 11 Die Stellung des J wird im Verfahren dadurch nicht beeinträchtigt; er hat die gleiche Stellung wie ein Volljähriger18. Er kann alle Anträge stellen, seinen Verteidiger selbständig bestellen (näher § 68a, 4), auch den Arzt von der Schweigepflicht entbinden19, wofür nicht die Geschäftsfähigkeit, sondern nur die natürliche Urteilsfähigkeit erforderlich ist20. Der J kann sein Rechtsmittel selbständig einlegen und zurücknehmen (§ 55, 3). Bei einem prozessunerfahrenen, nicht anwaltlich verteidigten J kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass er alle seine prozessualen Rechte kennt und deshalb durch bloßes Schweigen schlüssig auf sie verzichtet21.

3. Rechte des ErzBerechtigten und des gesetzlichen Vertreters 12 § 67 ist eine einfach-rechtliche Ausprägung des Elternrechts nach Art. 6 II GG22. Die Vorschrift schützt die ErzInteressen der Eltern23 und ermöglicht es ihnen, den J im Verfahren zu unterstützen24. Neben dem J – maßgeblich ist das Alter zum jeweiligen Verfahrenszeitpunkt25 – hat gem. Abs. I, II jeder ErzBerechtigte und gesetzliche Vertreter selbständig und unabhängig (s. Rn 10; § 55 II 2, III) in gleichem Umfang wie der Beschuldigte26 folgende Rechte: 13 auf Gehör (Abs. I; dazu Art. 103 I GG u. §§ 33 III, IV, 33a, 311a StPO); wo also der Beschuldigte Gelegenheit zur Äußerung erhalten muss, ist diese auch dem ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter zu geben. Da aus Art. 6 II GG die Notwendigkeit einer frühzeitigen Beteiligung der Eltern am JStrafverfahren folgt27, gilt Abs. I auch bei Vernehmungen im Vorverfahren (Abs. III)28. Nach den einzelnen Beweismitteln ist dagegen nur die Befragung des Angeklagten selbst nach § 257 StPO notwendig29. Zum Bußgeldbescheid § 2, 15. Neben dem j. Angeklagten ist dessen anwesendem gesetzlichen Vertreter oder ErzBerechtigten (auch dem Vormund) stets von Amts wegen das letzte Wort zu erteilen30. Dies gilt auch dann, wenn er in einem früheren Verfahrensabschnitt als Zeuge gehört worden ist31 oder eine Zeugenaussage unter Berufung auf

16 Abl. Ostendorf/Sommerfeld 14, weil Abs. V 2 dem Beschuldigten nichts nütze, sondern nur der Rechtssicherheit diene. 17 OLG Düsseldorf JMBl. NRW 67, 54; Kohlhaas NJW 60, 3 u. 1940. 18 Vgl. OLG Schleswig MDR 81, 72. 19 Eisenberg/Kölbel 3. 20 Löwe/Rosenberg/Ignor/Bertheau27 § 53 StPO 81 mwN. 21 OLG Köln NStZ-RR 97, 366 zum Verzicht auf die Vereidigung nach § 61 Nr. 5 StPO aF. 22 BVerfGE 107, 104, 122. 23 Vgl. BGH 18, 25 bei Rn 17; aA Ostendorf/Sommerfeld 6, nach denen es primäre Aufgabe der Eltern ist, eine drohende Sanktionierung abzuwehren. 24 DSS/Schatz 5. 25 Vgl. BGH NStZ-RR 09, 354; OLG Hamm ZJJ 06, 201 zum letzten Wort. 26 BGH NStZ-RR 17, 349, 350. 27 BVerfGE 107, 104, 121. 28 BbgVerfG NJW 03, 2011. 29 BGH bei Spiegel DAR 77, 176; Potrykus B 4a; Schnitzerling UJ 57, 367; aA DSS/Schatz 23; Eisenberg/Kölbel 9. 30 BGH 21, 288; BGH NStZ 96, 612 = JR 97, 79 mit krit. Anm. Eisenberg/Düffer; BGH NStZ 99, 426; 00, 436; 553 mit Anm. Eisenberg NStZ 01, 334; NStZ-RR 02, 346; ZJJ 03, 200; NStZ-RR 08, 291; zum Vormund BGH NStZ 17, 539 mit Anm. Eisenberg; BayObLG StV 01, 173; OLG Frankfurt StV 94, 604; OLG Schleswig bei Dölbel/Dreeßen SchlHA 01, 153 f; OLG Zweibrücken StV 03, 455; OLG Hamm ZJJ 05, 446; OLG Köln StV 08, 119; OLG Braunschweig StV 11. 595. 31 BGH 21, 288; BGH StV 19, 471. 460

Stellung der Erziehungsberechtigten und der gesetzlichen Vertreter

§ 67

sein Zeugnisverweigerungsrecht abgelehnt hat32, und wenn das Gericht nach dem letzten Wort des Angeklagten wieder in die Beweisaufnahme eingetreten ist33. Die Reihenfolge, in der dem Angeklagten und seinem ErzBerechtigten bzw. gesetzlichen Vertreter das letzte Wort erteilt wird, steht nach der Rechtsprechung im Ermessen des Vorsitzenden; § 258 II StPO gebietet danach kein „allerletztes“ Wort des Angeklagten34. Unterbleibt die Erteilung des letzten Wortes an den ErzBerechtigten und gesetzliche Vertreter, so ist gem. § 258 II StPO die Revision begründet, wenn und soweit das Urteil auf diesem Fehler beruht35, was jedenfalls hinsichtlich des Rechtsfolgenausspruchs selten auszuschließen sein wird36, auch wenn die Eltern im Verlauf der Hauptverhandlung angehört worden sind37. Hat der J zur Tatzeit das 14. Lebensjahr erst knapp überschritten oder war ein Elternteil an der Tat beteiligt, kann wegen § 3 auch der Schuldspruch berührt sein38; ebenso, wenn der Angeklagte die Tat bestritten hat39, sein Geständnis widerrufen hat40 oder den äußeren Ablauf einer Erpressung nicht bestritten, aber behauptet hat, es habe sich nur um einen Spaß gehandelt41. Für den Revisionsantrag genügt die Mitteilung der Nichterteilung des letzten Wortes; es muss nicht angegeben werden, was bei Erteilung des letzten Wortes vorgebracht worden wäre42. Das letzte Wort des ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreters eines Mitangeklagten entspricht dem letzten Wort eines Mitangeklagten. Insoweit kann der Vorsitzende die Reihenfolge des letzten Wortes bestimmen43. Fragen zu stellen (Abs. I; § 240 II StPO); Anträge zu stellen (Abs. III; z.B. Beweisanträge oder Haftprüfung) und einen Verteidiger zu wählen (Abs. II, § 137 II StPO); in der Hauptverhandlung (§ 50, 7), auch bei vorweggenommenen Teilen (§§ 223, 225, 233 StPO) und bei Untersuchungshandlungen (Abs. III) anwesend zu sein und dazu geladen zu werden (§ 50 II; dortige Rn 7; § 67a I iVm § 224 u. entsprechend § 233 III StPO). Ihre Abwesenheit beeinträchtigt jedoch nicht die Wirksamkeit der Prozesshandlungen44. Unter den Voraussetzungen des § 51 II können sie von der Hauptverhandlung ausgeschlossen werden (§ 51, 6; s. auch § 67, 24 u. 25; § 48, 14). Gegenüber den ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertretern gilt nach Bohnert45 das gesamte Zeugenrecht, auch wenn § 50 II 2 nur Teile herausgreift (vgl. § 50, 7); innerhalb der für den J laufenden Fristen46 und unter den Beschränkungen des § 55 zugunsten des J47 selbständig alle Rechtsbehelfe (nicht nur Rechtsmittel) einzulegen (Abs. II). Über Zurücknahme § 55, 8. Zur Kostenhaftung für das Rechtsmittel § 74, 15. Wiedereinsetzung wegen Versäumung von Rechtsmittelfristen ist nach den allg. Vorschriften nur dann möglich, wenn der gesetzliche Vertreter oder ErzBerechtigte von der Entscheidung weder rechtzeitig Kenntnis hatte noch haben konnte48; dies ist z.B. bei Urteilen nicht der Fall, wenn zur Hauptverhandlung 32 BGH NStZ-RR 08, 291. 33 BGH NStZ 13, 289. 34 BGH 48, 181, 182; BGH NStZ-RR 17, 349 = ZJJ 17, 385 mit abl. Anm. Eisenberg; aA DSS/Schatz 21; Eisenberg/Kölbel 9b; Schlothauer FS Eisenberg zum 80. Geburtstag, 2019, S. 280. BGH 21, 288; 22, 278; BGH bei Spiegel DAR 77, 176 u. H MDR 77, 639; BGH NStZ 85, 230; 96, 612; 99, 426 f. BGH NJW 69, 473; NStZ 00, 436; 553; NStZ-RR 02, 246; OLG Schleswig SchlHA 70, 199. BGH B NStZ-RR 01, 325. BGH NStZ 00, 553; OLG Zweibrücken StV 03, 455; OLG Hamm NStZ-RR 07, 123 f. BGH NStZ 17, 539 mit Anm. Eisenberg; OLG Köln StV 08, 119 f. BGH NStZ 13, 289. BayOblG StV 01, 173. BGH 21, 288, 290; OLG Schleswig bei Dölbel/Dreeßen SchlHA 01, 153; OLG Zweibrücken StV 03, 455; OLG Hamm NStZ-RR 07, 123. 43 BGH 48, 181, 182. 44 Zust. Eisenberg/Kölbel 11. 45 Zbl. 89, 234. 46 BayObLG 54, 51. 47 OLG Düsseldorf NJW 57, 840; OLG Celle NJW 64, 417. 48 OLG Düsseldorf HRR 41, Nr. 749.

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2. Teil. Jugendliche

ordnungsgemäß geladen wurde, weil hier mit dem Erlass eines Urteils zu rechnen und entsprechende Erkundigung geboten war49. Das Gericht ist nicht einmal verpflichtet, den Urteilssatz mit Rechtsmittelbelehrung in der Rechtsmittelfrist mitzuteilen, weil die Sollvorschrift des § 67a I nur der erz. gebotenen Unterrichtung, nicht der Erleichterung der Rechtsmitteleinlegung dient und eine Zustellung des Urteilssatzes mit Rechtsmittelbelehrung sinnlos wäre, da die Anfechtung Kenntnis der Urteilsgründe voraussetzt50. Dagegen ist Wiedereinsetzung angebracht, wenn dem Berechtigten weder rechtzeitig Zeit und Ort der Hauptverhandlung mitgeteilt noch das Urteil dem Abwesenden alsbald nach Erlass übermittelt wurde (§ 55, 64)51. Das Anwesenheitsrecht der ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter ist seit dem G zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im JStrafverfahren v. 9.12.2019 (dazu Einf. 136) nicht mehr in Abs. I, sondern in Abs. III geregelt. Hierdurch soll Art. 15 Abs. IV der Richtlinie (EU) 2016/800 umgesetzt werden, nach dem der J ein Recht auf Begleitung durch die ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter auch außerhalb der Hauptverhandlung hat52. Abs. III begründet ein Anwesenheitsrecht der ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter bei den Untersuchungshandlungen, bei denen der J ein Anwesenheitsrecht hat, z.B. nach § 168c II StPO, und insbes. bei seiner Vernehmung. Die ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter können dieses Recht auch gegen den Willen des J wahrnehmen53. Eine Verpflichtung zur Anwesenheit besteht nicht54. Das Anwesenheitsrecht setzt nach Abs. III 1 Nr. 1 und 2 voraus, dass die Anwesenheit dem Wohl des J dient und das Strafverfahren nicht beeinträchtigt. Dies ist gem. Abs. III 2 idR der Fall, wenn kein Ausschlussgrund nach § 51 II (vgl. § 51, 6–12) vorliegt und der Ungehorsamstatbestand des § 177 GVG nicht erfüllt ist. Liegt also kein Ausschlussgrund nach § 51 II und keine Störung iSd § 177 GVG vor, können die Voraussetzungen des Abs. III 1 nur ausnahmsweise verneint werden55. Damit trägt das Gesetz Art. 6 II GG Rechnung56. Damit das Anwesenheitsrecht ausgeübt werden kann, müssen die ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter rechtzeitig von der Untersuchungshandlung benachrichtigt werden. Bei der richterlichen Vernehmung ergibt sich die Benachrichtigungspflicht aus § 168c V StPO, bei der staatsanwaltlichen Vernehmung aus § 163a III 2 iVm § 168c V StPO. Bei der polizeilichen Vernehmung folgt sie aus dem Sinn und Zweck des § 67 III57. Auch die PDV 382 Nr. 3.6.5 sieht eine Unterrichtung der ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter vor. Die Benachrichtigung kann mündlich oder schriftlich erfolgen. Der J hat das Recht, vor der Vernehmung mit seinen ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertretern Kontakt aufzunehmen und sich mit ihnen zu beraten (sog. Elternkonsultationsrecht)58. Hierüber ist der J zu belehren59. Nur dann kann er sein Elternkonsultationsrecht wirksam ausüben60. Wird die Belehrung unterlassen, wird teilweise ein absolutes Verwertungsverbot für die ohne Be-

49 BGH 18, 23; OLG Hamm NStZ 09, 44; Dallinger/Lackner 19; DSS/Schatz § 67a, 20; Potrykus B 5 u. NJW 54, 1836; aA BayObLG 54, 51; OLG Stuttgart NJW 60, 2353; Ostendorf/Sommerfeld § 67a, 14: würde überfordern. 50 BGH 18, 25; OLG Hamm NStZ 09, 44, 45; DSS/Schatz § 67a, 19; aA OLG Stuttgart NJW 60, 2353; Ostendorf/ Sommerfeld 5. 51 OLG Hamm GA 61, 183. 52 Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 55. 53 DSS/Schatz 27; Ostendorf/Sommerfeld 11. 54 DSS/Schatz u. Ostendorf/Sommerfeld aaO. 55 DSS/Schatz 29; Eisenberg/Kölbel 11 f; Ostendorf/Sommerfeld 11. 56 Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 56. 57 DSS/Schatz 32; Eisenberg/Kölbel 11b; Ostendorf/Sommerfeld 11. 58 DSS/Schatz 33; Eisenberg/Kölbel 11c; Ostendorf/Sommerfeld 11; Epik StV 20, 708. 59 OLG Celle StraFo 10, 114; LG Saarbrücken NStZ 12, 167 mit Bespr. Möller NSTZ 12, 113; LG Köln NZV 16, 529; DSS/Schatz 33; Eisenberg/Kölbel 11d; Ostendorf/Sommerfeld 11; Güler StraFo 19, 193; Ludwig NStZ 19, 125; Epik StV 20, 709. 60 Eisenberg/Kölbel 11d; für entsprechende Anwendung der §§ 163a IV 2, 136 I 2 StPO DSS/Schatz 33; Ostendorf/ Sommerfeld 11. 462

Stellung der Erziehungsberechtigten und der gesetzlichen Vertreter

§ 67

lehrung erfolgten Angaben des J angenommen61. Da das Elternkonsultationsrecht jedoch nicht in gleicher Weise den rechtsstaatlichen Kern der Verteidigung betrifft wie das Recht zur Beratung durch einen Verteidiger, ist ein relatives Verwertungsverbot gegeben, bei dem eine Abwägung der widerstreitenden Interessen nach den Umständen des Einzelfalls über die Verwertbarkeit der Angaben des Beschuldigten entscheidet62. Ein Verwertungsverbot wird danach insbes. in Betracht kommen, wenn durch einen bewussten Rechtsverstoß die Belehrung unterlassen wird, um die j. Unerfahrenheit des Beschuldigten auszunutzen63. Wird ein Verwertungsverbot bejaht, muss der J in einer Folgevernehmung darüber belehrt werden, dass seine Angaben in der ersten Vernehmung unverwertbar sind (sog. qualifizierte Belehrung)64. Eine Verletzung dieser Pflicht führt jedoch nach dem LG Saarbrücken65 nur dann zu einem Verwertungsverbot der Zweitaussage, wenn der J irrig davon ausging, von der Erstvernehmung nicht mehr abrücken zu können. Nach der Rechtsprechung greift ein Verwertungsverbot bei verteidigten oder vom Gericht über die Möglichkeit des Widerspruchs unterrichteten Angeklagten nur ein, wenn der Verwertung in der Hauptverhandlung widersprochen wird66. Wird den ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertretern die Anwesenheit versagt oder können 22 sie nicht binnen anwesender Frist erreicht werden, ist nach Abs. III 3 unter den Voraussetzungen des Abs. III 1 Nr. 1 und 2 einem für den Schutz der Interessen des J geeigneten anderen Erw. die Anwesenheit zu gestatten. Hinsichtlich der Erreichbarkeit binnen angemessener Frist ist zu berücksichtigen, dass die Möglichkeiten zum Festhalten des zu vernehmenden J, insbes. beim Fehlen von Haftgründen, schon aus Verhältnismäßigkeitsgründen idR sehr begrenzt sind67. Die Anwesenheit der Ersatzpersonen muss dem Wohl des J dienen und darf das Strafverfahren nicht beeinträchtigen. Für diese Voraussetzungen gilt die Regelvermutung des Abs. III 2 nicht, sie müssen vielmehr positiv festgestellt werden68. So kann etwa bei Anwesenheit eines Verteidigers bei der Vernehmung oder bei einem alltäglichen Bagatelldelikt fraglich sein, ob die Anwesenheit einer Ersatzperson das Wohl des J fördert69. Als Ersatzpersonen geeignet sind Vertrauenspersonen, die den J und seine individuelle Situation kennen70. Bei der Ersatzperson kann es sich auch um einen Vertreter der JGH handeln71, nicht aber um den Verteidiger72. Die Rechte aus Abs. I und II stehen der Ersatzperson nicht zu73. Abs. III 3 greift nicht ein, wenn die ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter erreicht werden konnten, sich aber gegen eine Anwesenheit bei der Untersuchungshandlung entschieden haben74. 23 Zu Mitteilungen s. § 67a.

4. Entziehung der Rechte Diese Rechte können gem. Abs. IV dem gesetzlichen Vertreter oder ErzBerechtigten ganz oder 24 zum Teil entzogen werden, der verdächtig ist, in strafbarer Weise an der Tat beteiligt zu sein 61 OLG Celle StraFo 10, 114; LG Saarbrücken NStZ 12, 167; Eisenberg/Kölbel 11e; Ostendorf/Sommerfeld 11; Güler StraFo 19, 193; Epik StV 20, 710.

62 BGH NStZ 19, 680 mit abl. Anm. Mitsch = StV 20, 690 mit zust. Anm. Eckel; DSS/Schatz 35; Ludwig NStZ 19, 126 f. DSS/Schatz 36; Ludwig NStZ 19, 126. LG Saarbrücken NStZ 12, 167; DSS/Schatz 36; Ostendorf/Sommerfeld 11. AaO. BGH NStZ-RR 16, 383. Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 56; DSS/Schatz 37; Eisenberg/Kölbel 11i; Ostendorf/Sommerfeld 12. DSS/Schatz 38; Eisenberg/Kölbel 11h; Ostendorf/Sommerfeld 12. Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 56; DSS/Schatz 38; Ostendorf/Sommerfeld 12. DSS/Schatz 38. Eisenberg/Kölbel 11h; Ostendorf/Sommerfeld 12. Eisenberg/Kölbel 11h. Eisenberg/Kölbel 11h; Ostendorf/Sommerfeld 12. Ostendorf/Sommerfeld 12.

63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74

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2. Teil. Jugendliche

(Täterschaft jeder Form, Anstiftung, Beihilfe, Begünstigung, Strafvereitelung, Hehlerei; vgl. § 60 Nr. 2 StPO) oder deshalb schon verurteilt ist75. Auch wenn der zZ der Entziehung bestehende Verdacht, der nicht „hinreichend“ oder „dringend“ im prozessualen Sinne zu sein braucht76, sich später als unberechtigt erweist, war die Entziehung nicht prozessordnungswidrig. 25 Die Gefahr des Missbrauchs dieser Rechte rechtfertigt ihre Entziehung nur, wenn bei einem anderen Berechtigten die Voraussetzungen der Rn 24 vorliegen. Es muss sich um eine nahe liegende und ernsthafte, durch tatsächliche Anhaltspunkte begründete Gefahr handeln77. Verdunkelungsgefahr reicht nach Eisenberg/Kölbel78 nicht aus. Zuständig ist hier (anders § 51 II) ab Einreichung der Anklage das Gericht79, vorher der 26 JRichter. Der Beschluss ist zu begründen und mit einfacher Beschwerde ohne aufschiebende Wirkung anfechtbar (§§ 304, 305 S. 2, 307 StPO); seine Wirkung beschränkt sich auf dieses Verfahren. Sind so alle Berechtigten ausgeschlossen, muss das Familiengericht einen Prozesspfleger 27 bestellen, der diese Rechte ausübt (§§ 1693, 1909, 1915, 1918, 1919 BGB); zugleich muss ein Verteidiger bestellt werden (§ 68 Nr. 2). Bis dahin muss die Hauptverhandlung ausgesetzt werden. – Die Bestellung eines Prozesspflegers kann auch sonst zweckmäßig sein, wenn kein Berechtigter vorhanden, zu ermitteln oder zu erreichen ist80.

5. Geltungsbereich 28 Die Vorschrift gilt auch: vor ErwGerichten (§ 104 I Nr. 9, RL; vgl. jedoch § 104, 6), für das vereinfachte JVerfahren (§ 78 III 2) und für das Vollstreckungsverfahren (§ 83 III 3).

6. Nicht für Heranwachsende 29 Für Hw. (zZ der Tat, aber auch zZ der Entscheidung) gilt § 67 nicht, da sie als Volljährige weder ErzBerechtigte noch gesetzliche Vertreter haben (§ 109 I 1). Vorher getroffene Maßnahmen der ErzBerechtigten oder gesetzlichen Vertreter wirken aber fort. Über die Weiterwirkung von Rechtsmitteln, die von diesen für den J eingelegt worden sind, s. § 55, 4. Soweit bei Hw. noch Bindung an die Familie besteht, wird der JRichter dies nützen und auch hier die Bezugspersonen unaufdringlich in das Verfahren einbeziehen, falls sich der Hw. nicht dagegen sperrt. Das Beistandsrecht der Eltern reduziert sich beim Hw. auf die Zulassung des Ehepartners nach § 149 I StPO81.

§ 67a Unterrichtung der Erziehungsberechtigten und der gesetzlichen Vertreter (1) Ist eine Mitteilung an den Beschuldigten vorgeschrieben, so soll die entsprechende Mitteilung an die Erziehungsberechtigten und die gesetzlichen Vertreter gerichtet werden. 75 Dallinger/Lackner 27; Potrykus Anm. 7; Eisenberg/Kölbel 17a; aA Ostendorf/Sommerfeld 15: nur Täterschaft u. Teilnahme. 76 Eisenberg/Kölbel 17a. 77 Dallinger/Lackner 27, 28. 78 18. 79 Dallinger/Lackner 30; Eisenberg/Kölbel 20; Ostendorf/Sommerfeld 17; aA Potrykus B 7: Vorsitzender. 80 Potrykus B 6. 81 Bohnert Zbl. 89, 237; vgl. Brunner Zbl. 77, 366. 464 https://doi.org/10.1515/9783110686401-083

Unterrichtung der Erziehungsberechtigten und der gesetzlichen Vertreter

§ 67a

(2) 1Die Informationen, die der Jugendliche nach § 70a zu erhalten hat, sind jeweils so bald wie möglich auch den Erziehungsberechtigten und den gesetzlichen Vertretern zu erteilen. 2Wird dem Jugendlichen einstweilig die Freiheit entzogen, sind die Erziehungsberechtigten und die gesetzlichen Vertreter so bald wie möglich über den Freiheitsentzug und die Gründe hierfür zu unterrichten. (3) Mitteilungen und Informationen nach den Absätzen 1 und 2 an Erziehungsberechtigte und gesetzliche Vertreter unterbleiben, soweit 1. auf Grund der Unterrichtung eine erhebliche Beeinträchtigung des Wohls des Jugendlichen zu besorgen wäre, insbesondere bei einer Gefährdung des Lebens, des Leibes oder der Freiheit des Jugendlichen oder bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 67 Absatz 4 Satz 1 oder 2, 2. auf Grund der Unterrichtung der Zweck der Untersuchung erheblich gefährdet würde oder 3. Erziehungsberechtigte oder gesetzliche Vertreter binnen angemessener Frist nicht erreicht werden können. (4) 1Werden nach Absatz 3 weder Erziehungsberechtigte noch gesetzliche Vertreter unterrichtet, so ist eine andere für den Schutz der Interessen des Jugendlichen geeignete volljährige Person zu unterrichten. 2Dem Jugendlichen soll zuvor Gelegenheit gegeben werden, eine volljährige Person seines Vertrauens zu bezeichnen. 3Eine andere geeignete volljährige Person kann auch der für die Betreuung des Jugendlichen in dem Jugendstrafverfahren zuständige Vertreter der Jugendgerichtshilfe sein. (5) 1Liegen Gründe, aus denen Mitteilungen und Informationen nach Absatz 3 unterbleiben können, nicht mehr vor, so sind im weiteren Verfahren vorgeschriebene Mitteilungen und Informationen auch wieder an die betroffenen Erziehungsberechtigten und gesetzlichen Vertreter zu richten. 2Außerdem erhalten sie in diesem Fall nachträglich auch solche Mitteilungen und Informationen, die der Jugendliche nach § 70a bereits erhalten hat, soweit diese im Laufe des Verfahrens von Bedeutung bleiben oder sobald sie Bedeutung erlangen. (6) Für den dauerhaften Entzug der Rechte nach den Absätzen 1 und 2 findet das Verfahren nach § 67 Absatz 4 entsprechende Anwendung. 1. [Hw.]: Rn 1. – 2. ErwG: Rn 1; § 104 I Nr. 9.

Übersicht 1. 2. 3.

Allgemeines 1 2 Mitteilungspflichten Unterbleiben der Mitteilungen

4.

Mehrere ErzBerechtigte und gesetzliche Vertre9 ter, Zuständigkeit

5

1. Allgemeines Die Vorschrift wurde durch das 2. G zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im 1 Strafverfahren und zur Änderung des Schöffenrechts vom 27.8.20171 zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2013/48 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren vom 22.10.20132 eingefügt und begründete zunächst eine Pflicht zur Unterrichtung der ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter bei Freiheitsentzug des J. Durch das G zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im JStrafverfahren vom 9.12.2019 (dazu Einf. 136) wurde die Vor1 BGBl. I 1395. 2 Amtsblatt der EU, L 294/1. 465

§ 67a

2. Teil. Jugendliche

schrift im Sinne einer umfassenden Ausgestaltung der Unterrichtung der ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter erweitert3. Hierdurch soll Art. 5 der Richtlinie (EU) 2016/800, der ein Recht des J auf Information des Trägers der elterlichen Verantwortung vorsieht, umgesetzt werden. Durch die Unterrichtung soll es den ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertretern ermöglicht werden, den J persönlich zu unterstützen und ihre prozessualen Rechte wahrzunehmen4. Die Vorschrift gilt nicht für die volljährigen Hw. Maßgeblich ist das Alter zZ der Mitteilungspflicht, nicht zum Tatzeitpunkt5. Im Verfahren gegen J vor ErwGerichten findet die Vorschrift gem. § 104 I Nr. 9 Anwendung. Sie gilt auch im vereinfachten JVerfahren (§ 78 III 2) und im Vollstreckungsverfahren (§ 83 III 3).

2. Mitteilungspflichten 2 Nach Abs. I soll in den Fällen, in denen eine Mitteilung an den Beschuldigten vorgeschrieben ist, eine entsprechende Mitteilung an die ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter ergehen. Die Mitteilung ersetzt nicht die Mitteilung an den J, sondern hat zusätzlich zu erfolgen6. Eine bestimmte Form für die Mitteilung ist nicht vorgeschrieben, sie kann auch fernmündlich erfolgen7. Die Regelung ist als Soll-Vorschrift ausgestaltet8. Abgesehen von den Ausschlussgründen des Abs. III kommt ein Verzicht auf die Mitteilung nur in seltenen Fällen, etwa bei völlig unverhältnismäßigem Aufwand, in Betracht9. Unterlassen der Mitteilungen ist kein Revisionsgrund, doch kann die Aufklärungspflicht verletzt sein10. Kremer11 hält die Unterrichtung im Bereich des Art. 6 II 1 GG für zwingend; Ostendorf/Sommerfeld12 geben ggf. die Revisionsrüge aus § 338 Nr. 8 StPO. 3 Entscheidungen in Anwesenheit der ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter müssen nicht zusätzlich mitgeteilt werden; gem. § 35 I 2 StPO ist auf Verlangen eine Abschrift zu erteilen. Wird eine Entscheidung, die eine Frist in Gang setzt, in Anwesenheit des Angeklagten, aber in Abwesenheit der ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter verkündet, ist diesen grds. die Mitteilung zu machen, die an den J zu richten wäre, wenn er bei der Verkündung nicht anwesend gewesen wäre13. § 67a gibt aber keine gesonderte Rechtsmittelfrist; der Lauf hängt also nicht davon ab, ob den ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertretern das Urteil zugestellt worden ist (§ 67 Rn. 17)14. Mit der Mitteilung ist eine Rechtsmittelbelehrung zu erteilen, die den Hinweis enthalten muss, dass die ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter ihr Anfechtungsrecht nur innerhalb der für den Angeklagten laufenden Frist ausüben können15. Ein Verstoß begründet nicht die Revision und nicht stets die Wiedereinsetzung (§ 55, 64), da Abs. I eine Sollvorschrift ist und in ihrem Bereich die bloß ergänzende Rechtsmittelbelehrungs-Vorschrift (§ 35a StPO) ihren zwingenden Charakter einbüßt16. Im OWiG-Verfahren ist es weder ein Mangel des 3 4 5 6 7 8

Eisenberg/Kölbel 2. DSS/Schatz 6; Ostendorf/Sommerfeld 2. DSS/Schatz 2; Eisenberg/Kölbel 1; Ostendorf/Sommerfeld 3. Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 56. DSS/Schatz 12. DSS/Schatz 14; für Interpretation als Mussvorschrift Eisenberg/Kölbel 3a; vgl. auch Ostendorf/Sommerfeld 5, wonach die Norm „faktisch in eine Mussvorschrift umzudeuten ist“. 9 DSS/Schatz 14. 10 BGH MDR 52, 564; NStZ 96, 612 = JR 97, 79 mit krit. Anm. Eisenberg/Düffer; Dallinger/Lackner 12; DSS/Schatz 21; aA Eisenberg/Kölbel 3c. 11 S. 172. 12 13. 13 Eisenberg/Kölbel 3b. 14 OLG Hamm NStZ 09, 44, 45; DSS/Schatz 18. 15 BayObLG 54, 51; Dallinger/Lackner 13; DSS/Schatz 18. 16 BGH 18, 21; Dallinger/Lackner 13; Potrykus NJW 54, 1836; ähnlich BayObLG 54, 53 u. OLG Stuttgart NJW 60, 2353. 466

Unterrichtung der Erziehungsberechtigten und der gesetzlichen Vertreter

§ 67a

Verwaltungs- noch des anschließenden gerichtlichen Verfahrens, wenn die Verwaltungsbehörde den Bußgeldbescheid zwar dem J ordnungsgemäß zugestellt, aber nicht nach § 51 II OWiG den gesetzlichen Vertretern mitgeteilt hat17. Allerdings beginnt dann die Rechtsmittelfrist nicht zu laufen. Vgl. auch § 2, 9 u. § 50, 6. Abs. II 1 erstreckt die gegenüber dem J nach § 70a bestehenden Informationspflichten auf 4 die ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter. Deren Unterrichtung hat „sobald wie möglich zu erfolgen“. Diese Formulierung entspricht idR der Unverzüglichkeit, nimmt aber Rücksicht auf Schwierigkeiten, die ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter zu erreichen18. Gem. Abs. II 2 sind im Fall einer einstweiligen Freiheitsentziehung die ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter sobald wie möglich über den Freiheitsentzug und seine Gründe zu unterrichten. Der Begriff der einsteiligen Freiheitsentziehung umfasst jedweden Freiheitsentzug bis zum rechtskräftigen Abschluss des JStrafverfahrens, insbes. Untersuchungshaft, Haft nach vorläufiger Festnahme, einstweilige Unterbringung gem. § 126a StPO, Unterbringung nach § 71 II oder § 72 IV, gem. § 81 StPO oder nach § 73 und das Festhalten gem. § 163c StPO19. Auf einen kurzen Freiheitsentzug, etwa im Rahmen des § 81a StPO, findet die Vorschrift keine Anwendung20. Abs. II begründet strikte Verpflichtungen, es besteht kein Ermessensspielraum21. Auf das Einverständnis des J kommt es nicht an22. Neben Abs. II 2 gelten § 72a JGG und die §§ 114c, 127 IV und 163c I 3 StPO23.

3. Unterbleiben der Mitteilungen Unter den Voraussetzungen des Abs. III haben die Mitteilungen und Informationen nach Abs. I 5 und II zu unterbleiben. Das ist nach Nr. 1 der Fall, soweit eine erhebliche Beeinträchtigung des Wohls des J zu besorgen wäre. Der Gesetzgeber hat diesen Passus an die Stelle der in der früheren Gesetzesfassung verwendeten Formulierung „erhebliche Gefährdung des Kindeswohls“ gesetzt. Unter Kindeswohlgefährdung versteht die familiengerichtliche Rechtsprechung „eine gegenwärtige, in einem solchen Maße vorhandene Gefahr, dass sich bei der weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt“24. Der Begriff der „erheblichen Beeinträchtigung des Wohls“ hat demgegenüber „den Vorteil, dass er bezüglich der Schwere der drohenden Interessenbeeinträchtigung offener und für Grenzziehungen in der Praxis tauglicher ist“25. Als Beispiele nennt Abs. III die Gefährdung des Lebens, des Leibes oder der Freiheit des J oder das Vorliegen der Voraussetzungen des § 67 IV 1 und 2, also des Verdachts der Tatbeteiligung der ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter. Sonstige Fälle der Beeinträchtigung des Wohls des J können nur angenommen werden, wenn sie ähnlich schwer wiegen wie die benannten Fälle26. Nach Abs. III Nr. 2 unterbleibt die Unterrichtung, soweit durch sie der Zweck der Untersu- 6 chung erheblich gefährdet würde. Das kommt in Betracht bei Gefahr der Zeugenbeeinflussung oder Veränderung oder Zerstörung anderer Beweismittel, einer Verzögerung des Verfahrens durch die Unterrichtung und deshalb wegen Zeitablaufs drohendem Verlust von Beweismitteln

17 18 19 20 21 22 23

OLG Karlsruhe MDR 74, 955; OLG Düsseldorf NJW 82, 2833; Krumm NStZ 10, 69. Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 57. DSS/Schatz 23; Eisenberg/Kölbel 7; Ostendorf/Sommerfeld 7. Ostendorf/Sommerfeld 7; MK-StPO/Kaspar 8; auf den Einzelfall abstellend Eisenberg/Kölbel 7. DSS/Schatz 24. Eisenberg/Kölbel 4. DSS/Schatz 5; den § 114c I StPO durch § 67a III einschränkend Ostendorf/Sommerfeld 7a; diese Einschränkung auch auf § 114c II StPO erstreckend Eisenberg/Kölbel 12c, 12d. 24 BGH FamRZ 56, 350; 05, 344, 345. 25 Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 57 f. 26 Eisenberg/Kölbel 9–11. 467

§ 67a

2. Teil. Jugendliche

und wenn eine erhebliche Verfahrensverzögerung mit dem besonderen Beschleunigungsprinzip im JStrafverfahren nicht vereinbar wäre27. Die Unterrichtung unterbleibt schließlich gem. Abs. III Nr. 3, soweit ErzBerechtigte oder gesetzliche Vertreter binnen angemessener Frist nicht erreicht werden können. Dies setzt voraus, dass angemessene Anstrengungen unternommen worden sind, um die Identität und den Aufenthaltsort der ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter zu ermitteln28. Für die Bestimmung der angemessenen Frist bedarf es einer Abwägung verfahrensbezogener Gesichtspunkte einschließlich des Beschleunigungsprinzips mit der Bedeutung der Unterrichtung für die ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter29. Liegt ein Ausschlussgrund vor, muss die Unterrichtung zwingend unterbleiben; ein Ermessensspielraum besteht nicht30. 7 Aus dem Wort „soweit“ in Abs. III ergibt sich, dass sich die Ausschlussgründe nur auf einen Teil der Mitteilungen und Informationen beziehen können31. Außerdem darf die Unterrichtung nur so lange unterbleiben, wie der Ausschlussgrund besteht32. Nach Abs. V 1 sind daher nach Wegfall der Ausschlussgründe die Mitteilungen und Informationen wieder zu erteilen. Gem. Abs. V 2 erhalten die ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter zudem nachträglich die Mitteilungen und Informationen, welche der J nach § 70a bereits erhalten hat, soweit sie von Bedeutung bleiben oder sobald sie Bedeutung erlangen. Neben dem vorübergehenden Entzug der Rechte nach Abs. I und II kommt ausnahmsweise ein dauerhafter Entzug in Betracht33. Auf diesen findet gem. Abs. VI das Verfahren nach § 67 IV entsprechend Anwendung. 8 Unterbleibt nach Abs. III die Unterrichtung, ist nach Abs. IV 1 eine andere volljährige Person zu unterrichten, die für den Schutz der Interessen des J geeignet ist. Die Ersatzperson soll die Schutz- und Beistandsfunktion wahrnehmen, die sonst den ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertretern obliegt, rückt aber nicht in deren Rechtsstellung ein34. Es sollte sich um eine Vertrauensperson handeln, die den J und seine Situation kennt, z.B. ein Angehöriger35. Dem J soll36 zuvor gem. Abs. IV 2 Gelegenheit gegeben werden, eine volljährige Person seines Vertrauens zu bezeichnen. Der Benennung muss nicht zwingend entsprochen werden, entscheidend ist die Eignung der Person37. Die benannte Person ist insbes. abzulehnen, wenn bei ihr ein Ausschlussgrund nach Abs. III vorliegt38. Nach Abs. IV 3 kann Ersatzperson auch der für die Betreuung des J in dem JStrafverfahren zuständige Vertreter der JGH sein. Durch die Bestellung einer Ersatzperson wird die nachträgliche Unterrichtung nach Abs. V nicht entbehrlich39.

4. Mehrere ErzBerechtigte und gesetzliche Vertreter, Zuständigkeit 9 Bei mehreren ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertretern reicht es nach § 67 V 3 grds. aus, nur einen von ihnen zu informieren40. Zuständig für die Informierung ist die zum jeweils maßgeblichen Zeitpunkt das Verfahrens führende Stelle41. 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41

Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 58. DSS/Schatz 30; Ostendorf/Sommerfeld 8. DSS/Schatz 30; Eisenberg/Kölbel 12a. Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 58. Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 57; Eisenberg/Kölbel 7c. DSS/Schatz 32. DSS/Schatz 33. DSS/Schatz 34. DSS/Schatz 35; Ostendorf/Sommerfeld 10. Für Interpretation als Muss-Vorschrift Eisenberg/Kölbel 14. DSS/Schatz 36. DSS/Schatz 36; Ostendorf/Sommerfeld 10. DSS/Schatz 34. DSS/Schatz 15, 24; Ostendorf/Sommerfeld 11; aA Eisenberg/Kölbel 7a. Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 56. 468

Notwendige Verteidigung

§ 68

§ 68 Notwendige Verteidigung 1. 2. 3.

4. 5.

Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt vor, wenn im Verfahren gegen einen Erwachsenen ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegen würde, den Erziehungsberechtigten und den gesetzlichen Vertretern ihre Rechte nach diesem Gesetz entzogen sind, die Erziehungberechtigten und die gesetzlichen Vertreter nach § 51 Abs. 2 von der Verhandlung ausgeschlossen worden sind und die Beeinträchtigung in der Wahrnehmung ihrer Rechte durch eine nachträgliche Unterrichtung (§ 51 Abs. 4 Satz 2) oder die Anwesenheit einer anderen geeigneten volljährigen Person nicht hinreichend ausgeglichen werden kann, zur Vorbereitung eines Gutachtens über den Entwicklungsstand des Beschuldigten (§ 73) seine Unterbringung in einer Anstalt in Frage kommt oder die Verhängung einer Jugendstrafe, die Aussetzung der Verhängung einer Jugendstrafe oder die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt zu erwarten ist.

Nr. 1, 4 und 5: 1. Hw.: § 109 I 1. – 2. ErwG: RL; § 104 I Nr. 10. Nr. 2 und Nr. 3: 1. [Hw.]: § 109 I 1. – 2. ErwG: RL; § 104 I Nr. 10.

Richtlinie zu § 68 § 68 gilt auch im Verfahren gegen Jugendliche vor den für allgemeine Strafsachen zuständigen Gerichten (§ 104 Abs. 1 Nr. 10). Im Verfahren gegen Heranwachsende gilt nur § 68 Nr. 1 und 3 (§ 109 Abs. 1).

Schrifttum Allgeier JStrafrecht, in: Breyer/Endler, Hrsg., AnwaltFormulare Strafrecht, 4. Aufl. 2018, S. 958; Baumhöfener JStrafverteidiger. Eine Untersuchung im Hinblick auf § 74 JGG, 2007; ders. JStrafverteidiger – Eine Untersuchung im Hinblick auf § 74 JGG, ZJJ 07, 267; Beulke Funktionen der Verteidigung im JStrafverfahren, StV 87, 458; ders. Die notwendige Verteidigung im JStrafverfahren – Land in Sicht? FS Böhm, 1999, S. 647; BMJ, Hrsg., Verteidigung in JStrafsachen, Kölner Symposium, 1987; Cohnitz Der Verteidiger in Jugendsachen, RdJ 56, 196; ders. Der Verteidiger in JStrafsachen, 1957; Diehl Der Verteidiger in JStrafsachen im Verhältnis zu anderen Verfahrensbeteiligten, ZRP 84, 296; Eisenberg Der Verteidiger im JStrafverfahren, NJW 84, 2913; Fromm Die Auswechslung des Pflichtverteidigers im JStrafverfahren, ZJJ 09, 26; ders. Verteidigung von Hw. in Strafverfahren gem. § 142 StGB, DAR 14, 754; Fuchs Der Verteidiger im JStrafverfahren, 1992; Gau Drohende JStrafe – ein Fall notwendiger Verteidigung?, StraFo 07, 315; Geisler Reformbedarf im JStrafrecht? – Anmerkungen aus der Praxis zur „notwendigen“ Verteidigung im JStrafverfahren bei Verbrechensvorwurf, NStZ 02, 449; Geiter Verteidigung in JStrafsachen, MKrim. 87, 361; Gersch JStrafverteidigung – aus der Sicht von Rechtsanwälten, JGHelfern u. j. Straftätern, Diss. Mainz 1988; Hartmann-Hilter Notwendige Verteidigung u. Pflichtverteidigerbestellung im JStrafverfahren, 1989; ders. Notwendige Verteidigung im jgerichtlichen Vollstreckungsverfahren. § 83 III 2 – eine vergessene Vorschrift, StV 88, 312; Hauber Die Interessenvertretung der J, in Kerner/Galaway/Janssen, Hrsg., JGerichtsbarkeit in Europa u. Nordamerika, 1986, S. 63; ders. Das Dilemma der Verteidigung j. Straftäter, RdJ 79, 355; Höynck/Ernst Die Neuregelungen im JStrafverfahren u. deren Bedeutung für JStrafverteidigung, StV 22, 58; Kamann Vollstreckung u. Vollzug der JStrafe. Verteidigung u. Rechtsschutz, 2009; Keller Die Pflichtverteidigerbestellung im Ermittlungsverfahren. Polizeiliche Problemstellungen u. rechtliche Herausforderungen im Zuge der Umsetzung EU-rechtlicher Vorgaben. Teil 2: Ermittlungsverfahren gegen J, Kriminalistik 20, 257; Köpcke-Duttler In welchem Sinn hat der Verteidiger/die Verteidigerin im JStrafverfahren eine erz. Aufgabe? Zbl. 01, 243; Möller Die Pflichtverteidigerbeiordnung im jrichterlichen Vollstreckungsverfahren, ZJJ 10, 20; Molketin „Pflichtverteidigung“ im JStrafverfahren, Zb. 81, 199; ders. Die Schutzfunktion des § 140 II StPO, 1986, S. 145–149; Müller Brauchen J einen Anwalt? DVJJ-J 91, 222; Nöding Die Ausweitung der Pflichtverteidigung durch das G zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im JStrafverfahren, StV 22, 52; Ostendorf Pflichtverteidigung im JStrafverfahren, StV 86, 308; Pieplow Verteidigung im JStrafverfahren, in: BMJ, Hrsg., Berliner Symposium zum JKriminalrecht und seiner Praxis, 2017, S. 93; Potrykus Die Verteidigerbestellung in JStrafsachen, RdJ 67, 241; Radbruch Zur Reform der Verteidigung in JStrafsachen, StV 93, 553; Reiche Zur notwendigen Verteidigung im JStrafrecht, SchlHA 65, 225; Reisenhofer JStrafrecht in der anwaltli469 https://doi.org/10.1515/9783110686401-084

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chen Praxis, 2. Aufl. 2012; Schütrumpf Jugendstrafverfahren, in: Müller/Schlothauer/Knauer, Hrsg., Münchener AnwaltsHandbuch Strafverteidigung, 3. Aufl. 2022, S. 2256; Semrau/Kubink/Walter Verteidigung junger Beschuldigter aus der Sicht von Rechtsanwälten, MKrim. 95, 34; Tröndle Die Behandlung der Sozialberichte in den Gerichtsverfahren, Zbl. 53, 190, 233; Walter Stellung u. Bedeutung des Strafverteidigers im jkriminalrechtlichen Verfahren, NStZ 87, 481; ders. Einführung in die „Kölner Richtlinien“ zur notwendigen Verteidigung im JStrafverfahren, NJW 89, 1022; ders., Hrsg., Strafverteidigung für j. Beschuldigte, 1997; Zieger Verteidiger in JStrafsachen, StV 82, 305; Zieger/Nöding Verteidigung in JStrafsachen, 7. Aufl. 2018.

Übersicht 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Verteidigung im Jugendstrafverfahren 1 4 Wahlverteidiger 7 Verkehr und Akteneinsicht 8 ErzGedanke und Verteidigung 14 § 68 Nr. 1 iVm § 140 I Nr. 1 StPO 15 § 68 Nr. 1 iVm § 140 I Nr. 2–11 StPO 18 Schwere der Tat 20 Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage

9. 10. 11. 12. 13. 14. 15.

22 § 68 Nr. 2 23 § 68 Nr. 3 24 § 68 Nr. 4 25 § 68 Nr. 5 Vereinfachtes JVerfahren Vollstreckungsverfahren 28 Vollzug

26 27

1. Verteidigung im Jugendstrafverfahren 1 Für die Verteidigung in JSachen gelten grds. die Vorschriften des allg. Rechts. Die Diskussion kulminiert in der Frage, ob „das jkriminalrechtliche System das gewöhnliche Handlungsspektrum des Verteidigers einengt oder ob umgekehrt das rechtsstaatliche Instrumentarium des Verteidigers den jrechtlichen ErzGedanken mit seinen Besonderheiten begrenzt“1. Diese Frage und das Problem, inwieweit man der Persönlichkeit des J mit den hier einzusetzenden Normen des ErwRechts gerecht werden, wie der Verteidiger die bes. Hilflosigkeit des J (Rn 9) ausgleichen kann2, beherrschen das neuere Schrifttum. Die Lösung kann nicht die völlie „Gleichschaltung“ des J- und des ErwStrafrechts sein3. Die „Kölner Richtlinien“4 sehen im Verteidiger einen „kompensatorischen Verfahrensbeteiligten“, der möglichst früh (§ 68a), wenn die entscheidenden Weichenstellungen erfolgen, zur Sicherung eines rechtsstaatlichen Verfahrens – auch unter der Prämisse von Erz. – beitragen soll. 2 Das Recht der notwendigen Verteidigung ist durch das G zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung v. 10.12.20195 und das G zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im JStrafverfahren v. 9.12.2019 (dazu Einf. 136) in erheblichem Umfang neu geregelt worden. Durch diese Gesetze wurden die Richtlinie (EU) 2016/1919 v. 26.10.2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls6 und die Richtlinie (EU) 2016/800 vom 11.5.2016 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind (dazu Einf. 130) in deutsches Recht umgesetzt. Hiermit wurde die notwendige Verteidigung erweitert. Die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung sind in § 68 geregelt. Für die Bestellung des Pflichtverteidigers gelten die §§ 68a und 68b sowie die §§ 141 ff. StPO. 1 2 3 4 5 6

Walter in BMJ 1987, S. 23. Schlüchter in BMJ 1987, S. 33. Schlüchter aaO. Walter NJW 89, 1022. BGBl. I 2126. Amtsblatt der EU L 297, 1 v. 4.11.2016; L 91, 40 v. 5.4.2017. 470

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In der Praxis der Verteidigung in JSachen bestanden bisher anscheinend erhebliche Män- 3 gel. Nach einer Befragung der am Amtsgericht Köln zugelassenen Anwälte waren nur wenige in nennenswertem Umfang mit der Verteidigung von J oder Hw. befasst. Beim Verteidigerhandeln spielten bes. erz. Gesichtspunkte oder Aktivitäten keine maßgebliche Rolle. Die Verteidigung junger Beschuldigter wurde vielfach als „wenig geliebte und kaum ertragreiche Anwaltstätigkeit“ angesehen7. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Praxis der Verteidigung nach der Neuregelung (Rn 2) entwickeln wird.

2. Wahlverteidiger Der J kann selbständig einen Verteidiger wählen (§ 67, 11); hinsichtlich der Honorarverpflichtung 4 sind aber die §§ 107 und 108 BGB zu beachten8. Für den J können auch die gesetzlichen Vertreter (§ 137 II StPO) und die ErzBerechtigten (§ 67 II) aus eigenem Recht einen Verteidiger beauftragen9. Der Wahlverteidiger kann mit Zustimmung seines Mandanten einem Referendar, der seit 5 mindestens 1 Jahr 3 Monate im Justizdienst beschäftigt ist, die Verteidigung übertragen (§ 139 StPO). Das wird man auch im JGerichtsverfahren gelten lassen müssen, obgleich es immer fraglich sein kann, ob der J die Bedeutung der Zustimmung ohne nähere Erläuterung versteht. Hat der ErzBerechtigte den Rechtsanwalt bevollmächtigt, muss jener zustimmen10. Die allg. Ermächtigung im Vollmachtsformular zur Bestellung von Untervertretern reicht nicht11. Zum Pflichtverteidiger können Referendare nicht bestellt werden (§ 68a, 4 aE). Rechtsbeistände im JStrafverfahren zuzulassen, erscheint sehr bedenklich. Der Richter hat 6 nach pflichtgemäßem Ermessen bei der Genehmigung nach § 138 II StPO abzuwägen das eventuell bestehende bes. Vertrauen des J zu dieser Person und das Erfordernis an Kenntnissen und Erfahrungen im JStrafrecht, das der J nicht beurteilen kann12, denn genügende Sachkunde ist die Voraussetzung13. Bei der Bestellung eines Rechtsbeistandes zum Beistand (§ 69) kann großzügiger verfahren werden, jedoch muss er erz. befähigt sein.

3. Verkehr und Akteneinsicht Der Verteidiger hat das Recht, mit dem in UHaft oder im JStrafvollzug befindlichen J mündlich 7 und schriftlich zu verkehren (§ 148 StPO), und hat Akteneinsicht (§ 147 StPO). Vgl. dazu Vor § 97, 27 ff, insbes. Rn 37. Beherrscht der J die deutsche Sprache nicht, hat er nach Art. 6 III e MRK einen Anspruch auf unentgeltliche Zuziehung eines Dolmetschers für die Gespräche mit dem Verteidiger (Einf. 51). Wie weit der Verteidiger über vertraulich zu behandelnde Aktenbestandteile (z.B. JGH-Berichte) Mitteilung machen darf oder muss, richtet sich in erster Linie nach den Erfordernissen der Verteidigung. Belange der Erz. oder der JGH sind soweit als möglich zu beachten, treten aber im Konfliktfall zurück14. Nach Eisenberg/Kölbel15 scheiden Belange der JGH 7 Semrau/Kubink/Walter MKrim. 95, 34. Vgl. zur Rechtswirklichkeit der Verteidigung in JStrafverfahren auch Bandilla DVJJ-Rundbrief Nr. 131, 1990 S. 27 ff; Ludwig-Mayerhofer/Rzepka u. Barton in Walter 1997, S. 101 ff u. 133 ff.

8 Vgl. OLG Schleswig MDR 81, 72. 9 Zu Fragen, wenn J u. ErzBerechtigte denselben Rechtsanwalt mit verschiedenen Aufträgen bevollmächtigen, Zieger StV 82, 306; Ostendorf StV 86, 309. Meyer-Goßner/Schmitt § 139 StPO 2. KG JR 72, 206. Zum ErwRecht BayObLG 54, 53 = NJW 54, 1212. OLG Koblenz NStZ 81, 489 [LS] bei Lebensmittelsachen. Zurückhaltend auch Ostendorf/Sommerfeld 1, 14; Potrykus NJW 57, 1137. 14 Dallinger/Lackner 19; Lüttger NJW 51, 744. 15 14.

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schlechthin aus; warum es allerdings dem Verteidiger versagt sein soll, auch Belange der JGH in seine Überlegungen einzubeziehen, leuchtet nicht recht ein.

4. ErzGedanke und Verteidigung 8 In die Aufgabe des Verteidigers in JStrafsachen mögen zunächst die Extrempositionen einführen. Einerseits: er müsse die Erzielung eines Freispruchs oder einer milderen Bestrafung den wohlverstandenen erz. Bedürfnissen unterordnen16 und sei gleichwohl noch als „pädagogisches Risiko“ anzusehen17. Andererseits: eine Bindung an erz. Belange würde die eigentliche Aufgabe des Verteidigers als „institutionalisierter Hemmschuh“, als „kollektives Gegengewicht zum Machtmonopol des Staates“ in Frage stellen18, seine Aufgabe sei „einseitiger, parteilicher Schutz gegenüber dem staatlichen Strafanspruch, und zwar prinzipiell bedingungslos“19, er solle aber doch auch plausible Vorschläge vortragen können20. Nach Zieger/Nöding21 hat der Verteidiger dem staatlichen Strafanspruch auch dann entgegenzutreten, „wenn er sich erzieherisch gebärdet“. 9 Wenn auch der JRichter sich um den verteidigungslosen J fair zu bemühen hat, so ersetzt er doch nicht den Verteidiger, der dem J – und dessen Eltern – das Gefühl geben kann, gut und ehrlich vertreten und geschützt zu sein22. J sind zur Wahrnehmung ihrer Interessen idR weit weniger in der Lage als Erw.23. Die Hilflosigkeit des J zeigt sich ganz bes. in den Schwierigkeiten, die Vorgänge richtig einzuordnen und sich zu artikulieren. Die Hauptverhandlung, in die er häufig mit geradezu abenteuerlichen Vorstellungen geht, erlebt er in der Dramatik der Situation oft nur schablonenhaft (näher Einf. 112 mwN). In Angst oder Trotz unsicher bei vorgespielter Sicherheit, mit geringer Lebenserfahrung und in den Schwierigkeiten der Entwicklungsphase (Einf. 22) bedarf er sachkundiger Hilfe24. Andererseits wäre es aber auch ungut, deshalb „bagatellarische Vorfälle … durch Einsatz von Verteidigern zum großen Strafverfahren aufzuwerten“25 (dazu auch Rn 12). 10 Wo nun, zwischen erz. gemeintem Eingriff und parteilicher Interventionsabwehr26 soll der Verteidiger seine Position finden? Einerseits darf eine Überbetonung des ErzGedankens nicht die Rechtsstaatsgarantie gefährden27, andererseits soll der Verteidiger doch auch nicht nur als „strafabwehrendes Prozessorgan“28 im JStrafverfahren nur einseitiger Interessenvertreter seines Mandanten sein29. Verteidigung in JSachen ist – bei dem umfangreichen Instrumentarium des JGG – „entgegen geläufigen Formulierungen nicht nur Abwehr im verneinend-negativen Sinne“, auch konstruktive Beiträge zur Sanktionsfindung dienen der Abwehr von Strafkomponenten30.

16 Potrykus RdJ 56, 202. 17 Hinrichsen RdJ 56, 201. 18 Kahlert Verteidigung in JStrafsachen, 2. Aufl. 1986, Rn 7; vgl. Beulke StV 87, 460 mwN zur „Ablehnungsfront“ FN 18. Kahlert, Verteidigung in JStrafsachen, 1. Aufl. 1983, Rn 7. Kahlert, aaO, Rn 8; vgl. auch Ostendorf/Sommerfeld 3 mwN. Rn 149. Zu entsprechenden Erwartungen j. Beschuldigter s. Barton in Walter 1997, S. 142 f mwN. OLG Saarbrücken NStZ-RR 07, 282; Allgeier S. 959 f. Dazu LG Essen NStZ 87, 184; BGH MDR 52, 564. Schüler-Springorum in BMJ 1987, S. 196. Walter in BMJ 1987, S. 25. Hellmer RdJ 56, 198. Ostendorf StV 86, 308. So aber ua Ostendorf/Sommerfeld 3; Eisenberg NJW 84, 2215; Bottke ZStW 83, 99. Walter in BMJ 1987, S. 28.

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So kann und soll der Verteidiger helfen – nicht der StA und nicht dem Gericht –, sondern damit das ErzStrafrecht nicht zum Tatstrafrecht reduziert wird31. Rieß32 geht davon aus, dass der ErzGedanke dem JVerteidiger zwar keine engeren Schran- 11 ken setze als im ErwStrafrecht, dies aber nicht bedeute, dass er ohne Rücksicht auf die erz. Besonderheiten des JStrafrechts verteidigen dürfe. Der ErzGedanke müsse schon deshalb zugunsten des J voll eingesetzt werden, weil dieser für JStA und JRichter handlungsleitend sein „könne“ – und es hoffentlich auch ist. Auch Walter33 hält eine erz. Einbindung des Verteidigers für geboten, woraus allerdings keine Einschränkung der Verteidigerbefugnisse folgen müsse und wobei zu vermeiden sei, dem J eine heile Welt vorzuspiegeln. Für das Hineinwachsen in die ErwWelt bedeute „die Erfahrung von Interessengegensätzen und von legalen Handlungsmöglichkeiten kein Unglück, sondern im Gegenteil ein wichtiges Fernziel“34. Eine Zwischenlösung bietet Beulke35 an: Weil das JGG ein Kompromiss zwischen Strafe und 12 Erz. sei, seien auch die Funktionen des JVerteidigers ein Spiegelbild dieser kompromisshaften Rechtsnatur. Bei strafendem Charakter des JGG (JStrafe) bestehe seine Aufgabe in der Abwehr dieses Übels, wenn auch hier ein breites Spektrum für eine Mithilfe an der Erz. des J bleibe. Bei den eher erz. Maßnahmen (dazu Einf. 90; § 5, 5) solle der JVerteidiger generell nicht das pädagogisch Sinnlose, aber doch das weniger Belastende anstreben. Die erz. Funktionen des JVerteidigers kämen nur dort voll zum Tragen, wo der erz. Charakter des JStrafverfahrens eindeutig überwiege36. Dies sei ein Appell an die Verteidigervernunft bzw. an sein Gewissen. Hartmann-Hilter37 gibt dem Verteidiger bei JStrafe keinerlei erz. Funktion, bei den anderen Sanktionen habe er sich für die niedrigste Eingriffsebene stark zu machen38; hier könne er sich für die Maßnahmen einsetzen, die ihm für den Mandanten am (erz.) sinnvollsten erscheinen39. Er formuliert die Forderung Schlüchters40, der Verteidiger dürfe sich nicht auf das momentane Minimum beschränken, sondern müsse zum prognostischen Optimum gelangen, dahin um, dass der Verteidiger nur innerhalb des von ihm anzustrebenden (momentanen) Minimums sich auf das prognostische Optimum konzentrieren dürfe41. Nach Reisenhofer42 kann der Verteidiger innerhalb einer Rechtsfolgenkategorie (z.B. ErzMaßregeln) die erz. sinnvollere vorschlagen. Nach Schmitz-Justen43 hat der Verteidiger im JStrafverfahren keine anderen Aufgaben als im Verfahren gegen erw. Beschuldigte; er hat allenfalls zusätzliche Aufgaben, die aus dem Alter des Mandanten folgen. Gefordert sei „eine kritische Distanz gegenüber den Strafverfolgungsbehörden und die solidarische Distanz gegenüber dem eigenen Mandanten“44. Auch Baumhöfener lehnt eine erz. Einbindung des JVerteidigers ab45 und betont besondere Aufgaben des JVerteidigers zur Unterstützung der jugendlichen Mandanten46. Nach Allgeier47 hat die Verteidigung im JStrafrecht genauso wie im ErwStrafrecht „unbedingt und uneingeschränkt für ihre Mandantschaft einzutreten“. Auch nach Schütrumpf48 unterscheidet 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 473

Schlüchter in BMJ 1987, S. 40. In BMJ 1987, S. 44. NStZ 87, 481, 483. Walter aaO, S. 482; ähnlich Ostendorf StV 86, 308. StV 87, 458. S. 462. 1989, S. 21. S. 23. S. 25. In BMJ 1987, S. 35. AaO, S. 25. S. 60. In Walter 1997, S. 174. AaO. S. 17. S. 21 ff. S. 959. S. 2259.

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sich die Verteidigung in JStrafsachen nicht prinzipiell von derjenigen vor den allg. Strafgerichten. Es gelte „die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens zu wahren, sämtliche Entlastungsgesichtspunkte vorzutragen und dem staatlichen Strafanspruch auch dann entgegenzutreten, wenn er im erz. Gewande auftritt“. 13 Diese Zusammenstellung von Gesichtspunkten soll dem Verteidiger einen verantwortbaren Weg zeigen. Ein Hinweis auf die (auch) erz. Aufgaben des Verteidigers im Interesse des J gleicht zwar nach Beulke49 der unverbindlichen Forderung des § 37 (jetzt I 1), auch im folgenlosen Ergebnis. In seiner Beziehung zum J sollte freilich auch nach anwaltlichem Selbstverständnis der ErzGedanke zu einer wirksamen Verteidigung gehören50. Nach Walter51 macht ein vernünftig reformulierter ErzGedanke für den Verteidiger durchaus Sinn. Zur bisherigen Realität der Verteidigung in JSachen vgl. allerdings Rn 3. Die Neuregelung von 2019 (Rn 2) hat eine erhebliche Ausweitung der notwendigen Verteidigung im JStrafverfahren gebracht. Das ist unter dem rechtsstaatlichen Gesichtspunkt einer wirksamen Verteidigung der vor Gericht unsicheren J grds. zu begrüßen. Es dürfen aber auch die Gefahren einer überzogenen Verteidigung nicht übersehen werden: verfahrensverlängernde Aufbauschung (Rn 9 aE), Dramatisierung und Komplizierung52 und damit indirekt ungute Aufwertung von Strafverfahren und Erzeugung eines unangemessenen Konfrontationsklimas53. Insoweit kommt es darauf an, dass die Verteidigung mit Augenmaß wahrgenommen wird. Zur Belastung des J mit den Pflichtverteidigerkosten bei Verurteilung u. Möglichkeiten der Abhilfe nach § 74 s. § 74, 7, 8, 14.

5. § 68 Nr. 1 iVm § 140 I Nr. 1 StPO 14 Nach Nr. 1 ist in JSachen ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben, wenn im Verfahren gegen einen Erw. ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegen würde. Das ist nach § 140 I Nr. 1 StPO stets der Fall, wenn zu erwarten ist, dass die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Oberlandesgericht, dem Landgericht oder dem Schöffengericht stattfindet. Das Schöffengericht wurde durch das G zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung v. 9.12.2019 (Rn 2) hinzugefügt. Damit muss jetzt auch in allen Verhandlungen vor dem JSchöffengericht ein Verteidiger mitwirken. Es besteht somit für alle JGerichte bis auf den JRichter notwendige Verteidigung. § 68 Nr. 1 und Nr. 5 stehen nebeneinander, Nr. 5 hat keine Vorrangstellung54.

6. § 68 Nr. 1 iVm § 140 I Nr. 2–11 StPO 15 Bei Nr. 2 genügt die bloße Möglichkeit, dass eine Tat als Verbrechen qualifiziert wird55. Das Berufsverbot der Nr. 3 kommt bei J nie in Betracht (vgl. § 7, 1; § 10, 9), bei Hw. nur, 16 wenn ErwStrafrecht angewendet wird (s. § 7). Bei möglicher Einbeziehung eines Berufsverbotes (§§ 31 I S. 1; 105 II) will Hartmann-Hilter56 § 140 I Nr. 3 StPO anwenden. Nach Nr. 4 besteht notwendige Verteidigung, wenn der Beschuldigte nach den §§ 115, 115a, 17 128 I oder § 129 StPO einem Gericht zur Entscheidung über Haft oder einstweilige Unterbringung vorzuführen ist, nach Nr. 5, wenn er sich auf Grund richterlicher Anordnung oder mit richterli49 50 51 52 53 54 55 56

StV 87, 462. Viehmann/Walter in BMJ 1987, S. 201. In ders. 1997, S. 14 f. Viehmann in BMJ 1987, S. 110. Schüler-Springorum in BMJ 1987, S. 196. LG Saarbrücken StV 20, 694. OLG Bremen StV 84, 13. 1989, S. 29. 474

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cher Genehmigung in einer Anstalt befindet. Die Nr. 5 greift auch bei §§ 38, 35 BtMG57 und auch bei Aufenthalt in einem ErzHeim ein (§ 71, 11 aE)58. Die Vorschrift gilt auch bei Freiheitsentzug in anderer Sache59. Bei UHaft ist sogar im OWiG-Verfahren ein Pflichtverteidiger zu bestellen60. Wegen Nr. 4 und 5 konnte § 68 Nr. 5 JGG aF, der die notwendige Verteidigung bei Vollstreckung von UHaft oder einstweiliger Unterbringung regelte, aufgehoben werden (Rn 25). Der Verteidiger kann und soll helfen, den Erlass eines Haftbefehls zu vermeiden bzw. die Voraussetzungen für eine Aufhebung oder Außervollzugsetzung des Haftbefehls oder dessen Umwandlung in eine einstweilige Unterbringung in einem Heim der JHIlfe zu schaffen (§§ 71 II, 72 IV; § 71, 2, auch 3– 4; § 72, 6). Der Verteidiger kann auch dazu beitragen, den ersten Schock und die Auswirkungen der Haft allg. auf den noch ungefestigten J so gering wie möglich zu halten. Bedient sich der Nebenkläger auf eigene Kosten des Beistands eines Rechtsanwalts, greift nach KG61 Nr. 9 nicht ein, sondern hängt die Pflichtverteidigerbestellung von der Einzelfallprüfung ab.

7. Schwere der Tat Notwendige Verteidigung ist auch gegeben, wenn wegen der Schwere der Tat oder der Schwere 18 der zu erwartenden Rechtsfolge die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint (§ 140 II StPO). Die Schwere der Tat wird üblicherweise nach der Sanktionserwartung bestimmt, aus der zusätzlichen Nennung der Schwere der Rechtsfolge ergibt sich aber, dass bereits das Gewicht des Delikts allein die notwendige Verteidigung begründen kann62. Schwere Taten definiert Beulke63 für das JStrafrecht als Straftaten, die bereits durch ihre Begehung selbst oder aufgrund der durch sie ausgelösten konkret zu erwartenden Rechtsfolgen, aber auch Neben- und Fernwirkungen für die weitere Entwicklung den J erheblich belasten. Das Merkmal der konkreten Rechtsfolgen64 korrespondiert mit der Verteidigungsfähigkeit des J65 und ist schwierig zu prognostizieren, also großzügig zu definieren. Da nach dem neuen § 68 Nr. 5 bei Erwartung von JStrafe ohne oder mit Bew. stets ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt, ist die bisherige Rechtsprechung zu der Frage, bei welcher Strafhöhe die Erwartung von JStrafe notwendige Verteidigung begründet66, überholt. Wird gegen einen Hw. allg. Strafrecht angewendet, ist die bisherige Rechtsprechung weiterhin zu berücksichtigen. Danach wird bei einer Straferwartung von 1 Jahr Freiheitsstrafe idR notwendige Verteidigung angenommen67, nach BayObLG68 bei mehr als 2 Jahren Freiheitsstrafe. Bei weiteren möglicherweise gesamtstrafenfähigen Verfahren gegen einen Hw. ist auf die zu erwartende Dauer der Gesamtstrafe abzustellen69. Bei erstinstanzlicher Verurteilung zu einer nicht zur Bew. ausgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr 6 Monaten hat das BayObLG70 die Mitwirkung eines Verteidigers idR für geboten erachtet, auch wenn nur der Angeklagte Berufung eingelegt hat71. Legt dagegen ein zu 5 Monaten Freiheitsstrafe verur-

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AG Kleve StV 84, 507 zum ErwRecht; Eisenberg/Kölbel 22b. LG Braunschweig StV 86, 472; Eisenberg/Kölbel aaO. Eisenberg/Kölbel aaO. BayObLG 78, 144. NStZ-RR 16, 53. Eisenberg/Kölbel 24. In BMJ 1987, S. 176, 177; vgl. auch Molketin AnwBl. 81, 217. OLG Köln StV 03, 65. OLG Hamm StV 82, 475; NStZ-RR 97, 78; NJW 04, 1338; OLG Köln StV 91, 152. Vgl. dazu Voraufl. § 68, 22. OLG Karlsruhe StV 92, 23; OLG Düsseldorf NStZ 95, 147; OLG München NJW 06, 789; LG Stade StV 22, 145. NStZ 90, 250. OLG Hamm ZJJ 04, 302. VRS Bd. 78 (90), 214. Zur notwendigen Verteidigung beim Nachverfahren nach § 62 Roestel NJW 69, 2000.

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teilter Hw. Berufung ein, macht die Tatsache allein, dass in diese Verurteilung eine rechtskräftig verhängte Freiheitsstrafe von 5 Monaten und Geldstrafen von 60 und 20 Tagessätzen einzubeziehen sind, nach dem BayObLG72 eine Verteidigerbestellung unter dem Gesichtspunkt der Tatschwere nicht erforderlich73. Das KG74 hält notwendige Verteidigung für angebracht bei möglicher eingeschränkter Schuldfähigkeit wegen Drogenmissbrauchs und 1 Jahr 3 Monaten Freiheitsstrafe. Neben der Strafhöhe sind auch weitere drohende Nachteile wie der Widerruf von Strafaussetzungen und die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt zu berücksichtigen75, was auch bei an sich leichten Delikten zur Beiordnung führen kann76. 19 Notwendige Verteidigung wegen der Schwere der zuwartenden Rechtsfolge kann auch vorliegen, wenn eine Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2 in Betracht kommt77, eine Maßregel wie der Fahrerlaubnisentzug im Einzelfall schwerwiegende Nachteile für den Beschuldigten bewirkt78 oder wenn eine Einziehung von erheblichem Umfang droht, ohne dass die Anwendung von § 421 StPO absehbar ist79. JA ist grds. keine schwere Rechtsfolge iSd § 140 II StPO80. Bei der Einschätzung der Schwere der Rechtsfolgen sind auch außerstrafrechtliche Auswirkungen, wie z.B. eine drohende Ausweisung, zu berücksichtigen81.

8. Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage 20 Notwendige Verteidigung besteht auch bei schwieriger Sach- oder Rechtslage oder wenn ersichtlich ist, dass der Beschuldigte sich nicht selbst verteidigen kann (§ 140 II StPO)82. Es kommt auf die geistigen Fähigkeiten des J an, auf sein Auffassungs- und Ausdrucksvermögen, ob er den Tatvorwurf erfassen und sich ausreichend verteidigen kann, also in der Lage ist, ohne anwaltliche Hilfe die sachlichen und rechtlichen Probleme des Verfahrens zu bewältigen83. Das können J, bes. 14–15-jährige häufig nicht, weil sie unbeholfen, verschüchtert oder trotzig sind84, uU sogar nicht ein Hw., dem die notwendige Lebenserfahrung fehlt85 (auch Rn 9). Im Allg. wird ein Verteidiger umso eher notwendig sein, je jünger der Angeklagte ist86. Nach dem OLG Hamm87 wird im JRecht wegen der idR geringen Lebenserfahrung der Angeklagten eher die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erforderlich sein als im ErwStrafverfahren. Nach dem OLG Saarbrücken88 und dem OLG Schleswig89 ist bei J und Hw. eine extensive und großzügige Auslegung des § 140 II StPO geboten. Nach dem LG Saarbrücken90 besteht dagegen kein Raum für eine generelle und extensive Verteidigerbeiordnung im JStrafrecht. Notwendige Verteidigung wurde als geboten angesehen, wenn

72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90

94, 169 = Zbl. 95, 280. Weitere Beispiele bei Lüderssen NJW 86, 2746 u. Beulke in BMJ 1987, S. 175 ff. StV 90, 298. OLG Karlsruhe StV 07, 3, 4. LG Dessau-Roßlau StraFo 15, 515. Eisenberg/Kölbel 25. Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 34; Ostendorf/Sommerfeld 8. LG Magdeburg BeckRS 22, 14465; Eisenberg/Kölbel 25; Ostendorf/Sommerfeld 8. Ostendorf/Sommerfeld 8; aA HK-JGG/Trüg 8; Eisenberg/Kölbel 24b (für Dauerarrest). Vgl. mit unterschiedlichen Akzenten AG HamburgStV 98, 326; LG Hamburg StV 98, 327 mit Anm. Sättele. Eingehend Beulke in BMJ 1987, S. 178, 179 u. in FS Böhm, 1999, S. 653 f. LG Saarbrücken ZJJ 15, 423, 424 u. 426, 427 mit Anm. Möller. BGH MDR 52, 56. OLG Hamm MDR 86, 517; s. auch OLG Frankfurt NStZ 93, 507. OLG Brandenburg NStZ-RR 02, 184, 185; OLG Saarbrücken NStZ-RR 07, 282. NStZ-RR 06, 26; StV 08, 120. NStZ-RR 07, 282. StV 09, 86 mit Anm. Gubitz. ZJJ 15, 423, 424 u. 426, 427. 476

Notwendige Verteidigung

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die Sachlage Akteneinsicht erfordert91, wenn schwierige Glaubwürdigkeits- oder Indizienbeweise inmitten liegen92, bei zahlreichen Angeklagten und Zeugen93, wenn ein Sachverständigengutachten das entscheidende Beweismittel ist94, wenn Rechtfertigungs- und Schuldausschließungsgründe in Betracht kommen95, wenn einem verteidigerlosen J bei verteidigten Mitangeklagten die Verteidigung sichtlich erschwert wird96, wenn der Nebenkläger anwaltlich vertreten ist97 (vgl. § 48, 16 aE; § 140 I Nr. 9 StPO), wenn in Abwesenheit des Angeklagten bei hoher Straferwartung Zeugen vernommen werden müssen98, wenn sich ein 16 Jahre alter Angeklagter mit außerordentlich ungünstiger Kindheitsentwicklung und bis zuletzt andauerndem Fehlverhalten gegen den Vorwurf zahlreicher Diebstähle verteidigen muss99, wenn ein 16-jähriger Angeklagter justiziell unerfahren ist und sowohl bei der Schulausbildung als auch im Hinblick auf soziale Kompetenzen erhebliche Defizite aufweist100, wenn Zweifel an den geistigen Fähigkeiten und der Reife eines hw. Angeklagten bestehen101. Hartmann-Hilter102 fordert bei Entfernung des J aus dem Verhandlungsraum (§ 51 I) stets Bestellung eines Verteidigers (vgl. § 51, 4 u. 5). Zu § 32 vgl. § 32, 4. Zur Verteidigerbestellung bei Ausländern wegen nicht ausreichender Kenntnis der deut- 21 schen Sprache vgl. OLG Stuttgart StV 87, 8; LG Freiburg StV 89, 296; AG Hamburg StV 98, 326; LG Hamburg StV 98, 327 mit Anm. Sättele; LG Bremen NJW 03, 3646: Verteidigerbestellung für 16-jährigen Kurden, wenn JGH angekündigt hat, an der Hauptverhandlung nicht teilzunehmen; s. auch LG Osnabrück StV 84, 506 u. LG Heilbronn StV 84, 506 je zum ErwRecht; Höfer RdJ 79, 368; zu weiteren Fragen, auch zum Dolmetscher, Einf. 51.

9. § 68 Nr. 2 Nach Nr. 2 ist ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn alle gesetzlichen Vertreter oder ErzBe- 22 rechtigten vollständig oder überwiegend103 nach § 67 IV von der Vertretung ausgeschlossen sind (§ 67, 27). Das gilt entsprechend, wenn sie aus Gründen der Staatssicherheit nach § 104 III ausgeschlossen werden104. Auch auf den Fall, dass die ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter aus tatsächlichen Gründen an der Wahrnehmung ihrer Rechte aus § 67 gehindert sind, wurde bisher überwiegend § 68 Nr. 2 – unabhängig von einer Pflegerbestellung – entsprechend angewendet105. Nach den Änderungen durch das G zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im JStrafverfahren v. 16.12.2019 (dazu Einf. Rn. 136) wird teilweise angenommen, dass dieser Fall nun nach § 67 III 3 primär durch die Hinzuziehung einer anderen Beistandsperson

91 OLG Celle StV 83, 187; OLG Schleswig SchlHA 97, 153; LG Essen NStZ 87, 184; LG Tübingen DVJJ-J 96, 197; LG Gera StV 99, 656; Mehle NJW 07, 972. LG Tübingen u. LG Gera aaO. LG Düsseldorf DVJJ-J 97, 440 mit Anm. Schmitz-Justen; LG Saarbrücken ZJJ 20, 64. LG Braunschweig StV 17, 725. LG Essen aaO. BGH Urt. v. 17.12.1954 – 5 StR 413/54 zit. bei Eisenberg/Kölbel 27b; OLG Brandenburg NStZ-RR 02, 184, 185; OLG Celle VRS Bd. 110 (06), 139; OLG Hamm StV 09, 85; LG Essen ZJJ 18, 242, 243; AG Saalfeld NStZ 95, 150; NStZ-RR 02, 119; vgl. auch Bärens NStZ 96, 52, der auf den Einzelfall abstellt. 97 OLG Hamm ZJJ 04, 197; LG Essen aaO. 98 OLG Zweibrücken NStZ 87, 89. 99 OLG Celle StV 91, 151. 100 OLG Karlsruhe StV 07, 3, 4. 101 OLG Bremen StV 17, 724. 102 1989, S. 82–84. 103 Dallinger/Lackner 12 mwN. 104 Dallinger/Lackner § 104, 20; DSS/Diemer 14. 105 LG Braunschweig StV 98, 325; LG Lüneburg StV 98, 326; DSS/Diemer 14; aA LG Rottweil NStZ-RR 05, 229: Fall der Nr. 1 iVm § 140 II StPO.

92 93 94 95 96

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bewältigt werden solle und, wenn dies nicht ausreicht, ein Fall von § 68 Nr. 1 iVm § 140 II StPO vorliegt106.

10. § 68 Nr. 3 23 Die Nr. 3 kompensiert den Ausschluss der ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter nach § 51 II (dazu § 51, 6 ff) durch die Bestellung eines Pflichtverteidigers, wenn die Beeinträchtigung in der Wahrnehmung der Elternrechte durch die nachträgliche Unterrichtung nach § 51 IV 2 (dazu § 51, 16) oder die Anwesenheit einer anderen geeigneten volljährigen Person (dazu § 51, 20 f) nicht hinreichend ausgeglichen werden kann. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die andere geeignete volljährige Person nach § 51 VI 3 in der Verhandlung in der Sache Stellung nehmen kann und hierdurch möglicherweise die Abwesenheit der ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter kompensiert werden kann107. Im Fall des § 51 III greift die Nr. 3 nicht ein. Dann ist die Bestellung eines Pflichtverteidigers nach Nr. 1 iVm § 140 II StPO zu prüfen108. Auch beim Hinwirken auf ein einvernehmliches Verlassen des Sitzungssaales nach § 51 IV 1 kommt eine Pflichtverteidigerbestellung nach Nr. 1 iVm § 140 II StPO in Betracht109.

11. § 68 Nr. 4 24 Nach Nr. 4 ist ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn Unterbringung in einer Anstalt zur Vorbereitung eines Gutachtens über den Entwicklungsstand (§ 73; vgl. auch Nr. 1 iVm §§ 81, 140 I Nr. 6 StPO) in Betracht gezogen wird, also bereits, wenn ein ernstlicher Antrag gestellt ist110. Ob die Unterbringung dann erfolgt, ist bedeutungslos. Die Verteidigerbestellung wirkt für das ganze Verfahren111.

12. § 68 Nr. 5 25 Das G zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im JStrafverfahren v. 16.12.2019 (dazu Einf. 136) hat die Nr. 5 zur Umsetzung von Art. 6 Abs. IV Unterabs. 5 der Richtlinie (EU) 2016/800 neu gefasst. Der bisher in Nr. 5 geregelte Fall der notwendigen Verteidigung wegen Vollstreckung von UHaft oder einstweiliger Unterbringung wird jetzt von § 68 Nr. 1 iVm § 140 I Nr. 4, 5 abgedeckt (Rn. 17). Nach Art. 6 Abs. VI Unterab. 3 der RL darf Freiheitsentzug nicht als Strafe verhängt werden, wenn der J in dem Verfahren, jedenfalls während der Hauptverhandlung, nicht effektiv durch einen Rechtsbeistand unterstützt worden ist. Nr. 5 sieht zunächst notwendige Verteidigung bei Erwartung einer JStrafe vor112. Einbezogen sind auch die JStrafe mit Bew. und der Fall, dass die Vollstreckungsentscheidung nach §§ 61 ff vorbehalten wird113. Außerdem erfasst Nr. 5 die Erwartung der Aussetzung der Verhängung einer JStrafe nach § 27. Schließlich besteht notwendige Verteidigung bei Erwartung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt. Die Erwartung der Verhängung einer der genannten Sanktionen verlangt „mindestens eine überwiegende Wahrscheinlich106 107 108 109 110 111 112 113

Eisenberg/Kölbel 29; BeckOK/Noak 22. Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 59. Begr. RegE eines 2. JuMoG, BT-Drs. 16/3038, S. 65. Eisenberg/Kölbel 29a. BGH NJW 52, 797. BGH aaO. De lege ferenda für Einbeziehung auch des JA Heinz S. 100. Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 59; DSS/Diemer 20; Ostendorf/Sommerfeld 14. 478

Notwendige Verteidigung

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keit“114, die bloße Möglichkeit reicht nicht115. Es genügt, wenn sich die Sanktionserwartung aus der Bildung einer Einheitssanktion gem. § 31 I oder II ergibt116. Für die erforderliche Sanktionsprognose sind die erreichbaren relevanten Erkenntnisquellen, ggf. Registerauskünfte, heranzuziehen117.

13. Vereinfachtes JVerfahren Auch wenn § 78 III 2 den § 68 nicht erwähnt, wird man mit der hM davon ausgehen dürfen, 26 dass aus Gründen des rechtsstaatlichen Fairnessgebotes § 68 auch hier anwendbar ist, aber abgestellt auf die Besonderheiten der §§ 76 ff. So muss hier nicht schon deshalb ein Pflichtverteidiger nach § 68 Nr. 1 iVm § 140 I Nr. 2 bestellt werden, weil ein Verbrechen Gegenstand des Verfahrens ist118. Die Unterscheidung Verbrechen – Vergehen ist für das JGG irrelevant. Grethlein119 weist auf den 14-jährigen hin, der einem anderen Jungen gewaltsam die Wasserpistole wegnimmt und damit den Tatbestand eines „Verbrechens des Raubes“ erfüllt. Nach AG WanneEickel120 gilt dies jedenfalls dann, wenn kein StA an der Verhandlung teilnimmt121. Es wird auf den Einzelfall ankommen und es wird zumeist auf den Pflichtverteidiger verzichtet werden können, weil das vereinfachte JVerfahren sich von der Persönlichkeit des J, von den zugrunde liegenden Straftaten, wobei es nicht auf die Einordnung im ErwStrafrecht ankommt, und von den möglichen Sanktionen her (§ 78, 3 u. 4) von den zur Hauptverhandlung gebrachten Verfahren grundlegend unterscheidet122. Ein Wahlverteidiger kann immer auftreten.

14. Vollstreckungsverfahren Während der Wahlverteidiger für das gesamte Verfahren gewählt ist, endet die Pflichtverteidi- 27 gung nach § 143 I StPO grds. mit der Rechtskraft des letzten tatinstanzlichen Urteils.123 Sie bleibt jedoch für die nachfolgenden Entscheidungen wirksam, die geeignet sind, den Inhalt der getroffenen Entscheidung zu ändern, und wirkt daher im Verfahren nach § 57 fort124. Für das Vollstreckungsverfahren verweist § 83 III 2 auch auf die entsprechende Anwendung des § 68. Das BVerfG125 hat in einer Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus das Verfassungsgebot entwickelt, bei schwieriger Fallgestaltung im Vollstreckungsverfahren einen Pflichtverteidiger beizuordnen. In Verfahren wegen der Aussetzung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zur Bew. ist regelmäßig ein Fall notwendiger Verteidigung gegeben126 (vgl. § 463 IV S. 8 StPO). Im Vollzug ist es für den Verurteilten schwierig, für sein Vollstreckungsanliegen Günstiges zusammenzutragen. Im Vollstreckungsver114 115 116 117 118

Begr. RegE aaO, S. 60; Eisenberg/Kölbel 31. DSS/Diemer 21; Ostendorf/Sommerfeld 14. Eisenberg/Kölbel 32, BeckOK/Noak 27. Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 60. Grethlein NJW 65, 1365 u. 66, 143; Mann S. 171 f; einschränkend Beulke in BMJ 1987, S. 183; Hartmann-Hilter 1989 S. 104 ff; aA OLG Düsseldorf NStZ 99, 211; DSS/Diemer 3; Bottke ZStW 83, 98; Tamm Diversion u. vereinfachtes Verfahren im JStrafrecht, 2007 S. 68. 119 NJW 65, 1366. 120 JMBl. NRW 66, 48. 121 Zust. Beulke/Swoboda Rn 872 FN 1321; aA Bottke in BMJ 1987, S. 84; Ostendorf/Sommerfeld 2. 122 Im Ergebnis zust. Beulke in BMJ 1987, S. 183; Hartmann-Hilter 1989, S. 108; ähnlich Ostendorf/Sommerfeld 2 u. StV 86, 309; aA Bottke in BMJ 1987, S. 84. 123 Meyer-Goßner/Schmitt § 140 StPO 33. 124 OLG Karlsruhe StV 98, 348; OLG Hamm ZJJ 16, 302. 125 NJW 86, 767. 126 OLG Köln ZJJ 05, 76. 479

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fahren kann notwendige Verteidigung insbes. aus den Gründen des § 68 Nr. 1 iVm § 140 II StPO geboten sein und für § 88, wenn die Reststrafe erheblich ist127, vor allem wenn das Gericht zur Vorbereitung der Entscheidung ein Sachverständigengutachten einholt128, oder wenn eine komplizierte Wechselwirkung zwischen strafrechtlichen Vollstreckungsverfahren und Aufenthaltsrecht besteht129. Hingegen scheidet § 140 I Nr. 5 StPO aus, weil es nicht erforderlich sein kann, faktisch bei jedem Reststrafengesuch einen Pflichtverteidiger beizuordnen130. Nach dem LG München I131 ist in entsprechender Anwendung des Kriteriums der „Schwere der Tat“ (§ 140 II StPO) ein Fall notwendiger Verteidigung gegeben, wenn infolge des Widerrufs die Vollstreckung einer längeren Strafe (369 Tage JStrafe) droht, und ist unter dem Gesichtspunkt der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage der Widerruf einer zur Bewährung ausgesetzten JStrafe nur vertretbar, wenn der Betreffende verteidigt worden ist. Nach DSS/Sonnen132 liegt unter dem Gesichtspunkt der Schwere der Tat ein Fall notwendiger Verteidigung immer vor, wenn es um die Aussetzung eines Strafrestes (unabhängig von der Höhe) oder um den Widerruf einer Aussetzung geht133. Nach den Kölner Richtlinien134 ist beim Widerruf einer Strafaussetzung ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben und ist die Ablehnung eines unter den Voraussetzungen des § 88 II gestellten Antrags auf Rechtsstrafenaussetzung nur vertretbar, wenn ein Verteidiger mitgewirkt hat. Überzogene Forderungen allerdings, wie etwa die Strunks135, jedem inhaftierten J einen „JAnwalt“ zur Verfügung zu stellen, der durch regelmäßigen Kontakt ihn ständig über den Behandlungsverlauf informiert, helfen nicht weiter. Auch im Verfahren über den Widerruf einer Strafaussetzung nach § 26 kann die Bestellung eines Pflichtverteidigers in entsprechender Anwendung des § 140 II StPO136 oder des § 83 III 2137 geboten sein.

15. Vollzug 28 Nach der früher hM fanden die Vorschriften über die notwendige Verteidigung im Strafvollzugsverfahren keine Anwendung138, sondern waren über § 29 III (jetzt IV) EGGVG für die im Vollzug anfallenden gerichtlichen Entscheidungen nach §§ 23 ff EGGVG die Vorschriften über die Prozesskostenhilfe heranzuziehen. Die seit 2008 geltende Regelung des gerichtlichen Verfahrens in Strafvollzugssachen verweist jedoch in § 92 I 2 nur auf § 120 I StVollzG und nicht auf Abs. II der Vorschrift. Dies spricht dafür, in Strafvollzugssachen nach § 140 II StPO bei Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage einen Fall der notwendigen Verteidigung anzunehmen139. Daneben kann der – mittellose – J anwaltliche Beratungshilfe zur Wahrnehmung seiner Rechte außerhalb des gerichtlichen Verfahrens nach dem BeratungshilfeG in Anspruch nehmen140. 29 Zu Fehlerfolgen und Rechtsbehelfen s. § 68a, 6 u. 7.

127 128 129 130 131 132 133

Beulke in BMJ 1987, S. 192 u. in FS Böhm, 1999, S. 660; Hartmann-Hilter 1989, S. 130. LG Saarbrücken ZJJ 10, 80 mit Bespr. Möller ZJJ 10, 20. LG Saarbrücken ZJJ 15, 424 mit Anm. Möller. Beulke in BMJ 1987, S. 192. StV 20, 696. § 83, 10. AA Ostendorf/Rose § 83 5, nach dem das Kriterium der Schwere der Tat für das Vollstreckungsverfahren verbraucht ist. 134 NJW 89, 1026. 135 Zur Lage inhaftierter J u. Hw., 1979, S. 125. 136 Dafür Meyer-Goßner/Schmitt § 140 StPO 33, 33a. 137 Dafür LG Saarbrücken ZJJ 15, 426 mit zust. Anm. Möller. 138 Hartmann-Hilter 1989, S. 133 mwN. 139 Eisenberg/Kölbel § 92, 174a; Kamann S. 175 f. 140 Vgl. auch Rotthaus NStZ 90, 165. 480

Zeitpunkt der Bestellung eines Pflichtverteidigers

§ 68a

§ 68a Zeitpunkt der Bestellung eines Pflichtverteidigers (1) 1In den Fällen der notwendigen Verteidigung wird dem Jugendlichen, der noch keinen Verteidiger hat, ein Pflichtverteidiger spätestens bestellt, bevor eine Vernehmung des Jugendlichen oder eine Gegenüberstellung mit ihm durchgeführt wird. 2Dies gilt nicht, wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung allein deshalb vorliegt, weil dem Jugendlichen ein Verbrechen zur Last gelegt wird, ein Absehen von der Strafverfolgung nach § 45 Absatz 2 oder 3 zu erwarten ist und die Bestellung eines Pflichtverteidigers zu dem in Satz 1 genannten Zeitpunkt auch unter Berücksichtigung des Wohls des Jugendlichen und der Umstände des Einzelfalls unverhältnismäßig wäre. (2) § 141 Absatz 2 Satz 2 der Strafprozessordnung ist nicht anzuwenden. 1. Hw.: § 109 I. – 2. ErwG: § 104 I Nr. 10.

Die Vorschrift wurde durch das G zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im JStraf- 1 verfahren v. 9.12.2019 (dazu Einf. 136) zur Umsetzung von Art. 6 Abs. III 2a) und b) der Richtlinie (EU) 2016/800 in das JGG eingefügt. Während nach allg. Strafprozessrecht nicht in allen Fällen der notwendigen Verteidigung vor der Vernehmung des Beschuldigten oder einer Gegenüberstellung zwingend eine Pflichtverteidigerbestellung von Amts wegen erfolgt (vgl. § 141 StPO), muss nach § 68a I 1 in einem Fall notwendiger Verteidigung dem bisher nicht verteidigten J von Amts wegen spätestens ein Pflichtverteidiger bestellt werden, bevor eine Vernehmung des J oder eine Gegenüberstellung mit ihm stattfindet. Die Bestellung muss also unabhängig von einem Antrag des J erfolgen, und der J kann auf die Beiordnung nicht verzichten1. Die verfahrensführenden Stellen müssen fortwährend prüfen, ob die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung vorliegen2. Die StA muss dann einen Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung stellen (vgl. § 142 II StPO) und die Polizei muss sich, wenn sie einen Fall notwendiger Verteidigung erkennt, an die StA wenden3. Die Pflichtverteidigerbestellung setzt voraus, dass der J noch keinen (Wahl)Verteidiger hat. Haben ErzBerechtigte oder gesetzliche Vertreter einen Verteidiger beauftragt, muss kein Pflichtverteidiger bestellt werden4, es sei denn, der J ist aus beachtenswerten Gründen mit dem Verteidiger nicht einverstanden5. Abs. I 1 lässt das Recht des J unberührt, jederzeit die Bestellung eines Pflichtverteidigers zu beantragen6. Der Antrag ist nach § 142 I StPO vor Anklageerhebung bei den Behörden oder Beamten des Polizeidienstes oder der StA, nach Anklageerhebung bei dem gem. § 143 Abs. 3 Nr. 3 StPO zuständigen Gericht anzubringen. Eine Ausnahme von der Pflichtverteidigerbestellung von Amts wegen ist nach Abs. I 2 unter 2 drei kumulativen Voraussetzungen gegeben: Es muss ein Fall notwendiger Verteidigung allein deshalb vorliegen, weil dem J ein Verbrechen zur Strafe gelegt wird. Außerdem muss ein Absehen von der Strafverfolgung nach § 45 II oder III zu erwarten sein, und schließlich muss die Pflichtverteidigerbestellung zu dem Zeitpunkt des Abs. I 1 auch unter Berücksichtigung des Wohls des J und der Umstände des Einzelfalls unverhältnismäßig sein. Damit sollen leichtere Fälle erfasst werden, die eine rasche Sachbehandlung erlauben und ggf. erz. erfordern7. Gedacht ist insbes. an niedrigschwellige „Abziehdelikte“8. Die Erwartung des Absehens von der Strafverfolgung nach § 45 II

1 2 3 4 5 6 7 8

Eisenberg/Kölbel 8. Ostendorf/Sommerfeld 3. Eisenberg/Kölbel 17. OLG Hamm NJW 58, 641. Dallinger/Lackner 15; Ostendorf/Sommerfeld 5; Potrykus B 3. DSS/Diener 2. Stellungnahme des Bundesrates, BT-Drs. 19/13837, S. 86 f. AaO, S. 87.

481 https://doi.org/10.1515/9783110686401-085

§ 68a

3 4

5

6

2. Teil. Jugendliche

oder III setzt verlässliche Anhaltspunkte9 für die überwiegende Wahrscheinlichkeit des Absehens von der Strafverfolgung voraus10. Ergibt sich später, dass Anklage zu erheben ist, muss die Pflichtverteidigerbestellung nachgeholt werden11. Eine weitere Ausnahme von der Pflichtverteidigerbestellung von Amts wegen regelt § 141 II 3 StPO. Danach kann die Bestellung in den Fällen des § 141 II 1 Nr. 2 und 3 StPO (Anstaltsunterbringung und mangelnde Verteidigungsfähigkeit des Beschuldigten) unterbleiben, wenn das Verfahren alsbald eingestellt werden soll und keine anderen Untersuchungshandlungen als die Einholung von Registerauskünften oder die Beiziehung von Urteilen oder Akten vorgenommen werden sollen. In beiden Ausnahmefällen behält der J das Recht, gem. § 141 I 1 StPO die Bestellung eines Pflichtverteidigers zu beantragen12. Nach Abs. II ist § 141 II 2 StPO nicht anzuwenden, muss also auch in den in dieser Vorschrift genannten Fällen einem J oder Hw ein Pflichtverteidiger von Amts wegen bestellt werden. Zuständig für die Pflichtverteidigerbestellung ist das in § 142 III StPO bestimmte Gericht. Bei bes. Eilbedürftigkeit kann nach § 142 IV 1 StPO über die Bestellung auch die StA entscheiden, die dann gem. § 142 IV 2 StPO unverzüglich die gerichtliche Bestätigung der Bestellung oder Ablehnung des Antrags des Beschuldigten beantragen muss. Bei der Auswahl des Pflichtverteidigers hat das Recht des Beschuldigten auf einen Anwalt seines Vertrauens grds. Vorrang13. Daher ist dem J nach § 142 V 1 StPO Gelegenheit zu geben, innerhalb einer zu bestimmenden Frist einen Verteidiger zu benennen. Gemäß § 142 V 2 StPO gilt § 136 V 3 und 4 StPO entsprechend. Die Frist muss dem J ausreichend Gelegenheit zur Beratung und Überlegung geben14, kann aber in „Eilfällen … äußerst kurz ausfallen“15. Bezeichnet der J innerhalb der Frist einen Verteidiger, ist dieser gem. § 142 V 3 StPO zu bestellen, wenn nicht ein wichtiger Grund entgegensteht, der auch vorliegt, wenn der Verteidiger nicht oder nicht rechtzeitig zur Verfügung steht. Hinsichtlich einer Abweichung von der Benennung ist Zurückhaltung geboten16. Wird ein vom J nicht benannter Verteidiger bestellt, ist er nach § 142 VI 1 StPO aus dem Gesamtverzeichnis der Bundesrechtsanwaltskammer (§ 31 BRAO) auszuwählen. Dabei soll gem. § 142 VI 2 StPO ein Fachanwalt für Strafrecht oder ein Rechtsanwalt ausgewählt werden, der gegenüber der Rechtsanwaltskammer sein Interesse an Pflichtverteidigungen angezeigt hat und für die Übernahme der Verteidigung geeignet ist. Fraglos darf sich das Gericht bei der Ausübung seines Auswahlermessens nicht einen willfährigen Verhandlungspartner aussuchen17, sondern einen engagierten Verteidiger, dessen Spezialkenntnisse und möglichst auch Erfahrung dem J zugute kommen. Referendare können entgegen der früheren Rechtslage (s. § 142 II StPO aF) nicht zum Pflichtverteidiger bestellt werden18. Die Pflichtverteidigerbestellung gilt nach § 143 I StPO grds. für das gesamte Verfahren bis zur Rechtskraft (zu Vollstreckung und Vollzug s. § 68, 27 u. 28). Zur Aufhebung der Bestellung s. § 143 II StPO, zum Verteidigerwechsel § 143a StPO. Die Verwaltungsbehörde hat im OWiGVerfahren die Rechte nach § 68 Nr. 1 zu beachten, die der Nr. 2 bis 5 scheiden aus19. Wird ein Pflichtverteidiger trotz Vorliegens der Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung nicht bestellt, wird teilweise ein absolutes Verwertungsverbot für alle Aussagen nach Entstehung der Bestellungspflicht angenommen20. Angesichts der vielfältigen denkbaren Konstellationen dürfte jedoch ein relatives Verwertungsverbot anzunehmen sein, sodass nach den Umständen 9 Eisenberg/Kölbel 28. 10 Ostendorf/Sommerfeld 4. 11 Eisenberg/Kölbel 12; Ostendorf/Sommerfeld 4. 12 Eisenberg/Kölbel 12; Ostendorf/Sommerfeld 4, 4a. 13 BVerfG NJW 01, 3695. 14 Eisenberg/Kölbel 20. 15 Begr. RegE, BT-Drs. 19/13829, S. 41; Ostendorf/Sommerfeld 7. 16 Eisenberg/Kölbel 22. 17 Ostendorf/Sommerfeld 7. 18 Meyer-Goßner/Schmitt § 142 StPO 58. 19 Göhler/Seitz/Bauer § 60 OWiG 36; Eisenberg/Kölbel § 68, 5. 20 Eisenberg/Kölbel 26. 482

Vernehmung und Gegenüberstellung vor der Bestellung eines Pflichtverteidigers

§ 68b

des Einzelfalls unter Abwägung der widerstreitenden Interessen über die Verwertbarkeit des Beweismittels zu entscheiden ist21. Danach kommt ein Beweisverwertungsverbot insbes. bei schwerwiegenden, bewussten oder objektiv willkürlichen Rechtsverstößen in Betracht22. Die Ablehnung des Antrags auf Bestellung eines Pflichtverteidigers23 und die unerwünschte 7 Bestellung oder Abberufung eines Pflichtverteidigers kann der J mit sofortiger Beschwerde anfechten (§ 142 VII 1 StPO), auch wenn dies erst während der Hauptverhandlung geschehen ist24. Dem steht § 55 II nicht entgegen (§ 55, 26 aE)25. Nach § 142 VII 2 StPO geht bei einem Verteidigeraustausch das Verfahren gem. § 143a II 1 Nr. 1 StPO vor. Wird entgegen gesetzlichen Gebots kein Pflichtverteidiger bestellt, verstößt dies gegen das rechtsstaatliche Prinzip der Verpflichtung zur fairen Verhandlungsführung26. Das Gericht hat in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen, ob der J sich ausreichend verteidigen kann27; geschieht dies nicht, kann das Urteil schon deshalb der Revision verfallen (§ 338 Nr. 5 StPO). Der im Anschluss an die Urteilsverkündung erklärte Rechtsmittelverzicht ist unwirksam, wenn entgegen § 140 StPO kein Verteidiger mitgewirkt hat28. Das OLG Hamm29 hat den Rechtsmittelverzicht eines Hw. für unwirksam erklärt, weil auf die in der Hauptverhandlung erhobene Nachtragsanklage ein Verteidiger hätte bestellt werden müssen. Wegen der Einlegung von Rechtsmitteln u. deren Rücknahme durch den Verteidiger § 55, 3, 8. Zu den Kosten des Verteidigers § 74, 2, 7, 1430. Die nachträgliche Bestellung eines Pflichtverteidigers kommt grds. nicht in Betracht31. Eine Ausnahme wird teilweise gemacht, wenn über den rechtzeitig gestellten Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung aus justizinternen Gründen nicht entschieden worden ist oder die Entscheidung eine wesentliche Verzögerung erfahren hat32. Teilweise wird die nachträgliche Beiordnung im JStrafverfahren generell für zulässig gehalten33.

§ 68b Vernehmung und Gegenüberstellung vor der Bestellung eines Pflichtverteidigers 1

Abweichend von § 68a Absatz 1 dürfen im Vorverfahren Vernehmungen des Jugendlichen oder Gegenüberstellungen mit ihm vor der Bestellung eines Pflichtverteidigers durchgeführt werden, soweit dies auch unter Berücksichtigung des Wohls des Jugendlichen 1. zur Abwehr schwerwiegender nachteiliger Auswirkungen auf Leib oder Leben oder die Freiheit einer Person dringend erforderlich ist oder 21 Vgl. BGH NJW 22, 2126 mit abl. Anm. Schork; für ein relatives Verwertungsverbot bei einem Verstoß gegen § 68a I 2 Ostendorf/Sommerfeld 4. 22 BGH NJW 15, 2594, 2596; AG Westerstede ZJJ 21, 153 mit zust. Anm. Eisenberg: Verwertungsverbot bei Zusammentreffen der unterlassenen Pflichtverteidigerbestellung mit weiteren Verfahrensverstößen. 23 OLG Zweibrücken StV 84, 193; KG StV 90, 209. 24 OLG München NJW 81, 2208; OLG Celle NStZ 85, 519; OLG Hamm StV 86, 519; KG StV 90, 298; aA zu letzterem OLG Stuttgart MDR 90, 174; OLG Hamm NStZ 90, 143 u. StV 90, 103. 25 OLG Hamm StV 86, 519. 26 BVerfGE 46, 202. 27 BGH NJW 53, 116. 28 OLG Stuttgart MDR 85, 344; OLG Köln StV 98, 645; 03, 65; OLG Düsseldorf StV 98, 657; aA OLG Hamburg StV 98, 641 mit Anm. Rogall; OLG Naumburg NJW 01, 2190; OLG Brandenburg bei Müller NStZ-RR 01, 165 f. u. für die Rücknahme eines Rechtsmittels OLG Koblenz NStZ 07, 55. 29 MDR 77, 599. 30 Siehe auch Zieger StV 90, 282. 31 OLG Brandenburg NStZ 20, 625; OLG Bremen NStZ 21, 253. 32 LG Köln NStZ 21, 639; Meyer-Goßner/Schmitt § 142 StPO 20. 33 LG Neubrandenburg StV 17, 724; Eisenberg/Kölbel 15. 483 https://doi.org/10.1515/9783110686401-086

§ 68b

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ein sofortiges Handeln der Strafverfolgungsbehörden zwingend geboten ist, um eine erhebliche Gefährdung eines sich auf eine schwere Straftat beziehenden Strafverfahrens abzuwenden. 2 Das Recht des Jugendlichen, jederzeit, auch schon vor der Vernehmung, einen von ihm zu wählenden Verteidiger zu befragen, bleibt unberührt. 1. Hw.: § 109 I 1. – 2. ErwG: Rn. 1.

1 Die durch das G zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im JStrafverfahren v. 9.12.2019 (dazu Einf. 136) eingefügte Vorschrift dient der Umsetzung von Art. 6 Abs. VIII Buchstabe a) und b) der Richtlinie (EU) 2016/800 in das JGG, der es ermöglicht, in Fällen notwendiger Verteidigung unter außergewöhnlichen Umständen eine Vernehmung oder Gegenüberstellung des Beschuldigten vor der Pflichtverteidigerbestellung durchzuführen. Die Vorschrift gilt nach § 109 I 1 auch für Hw. Für Verfahren vor ErwGerichten ist die Vorschrift in § 104 I nicht genannt. Hierbei handelt es sich nach Ostendorf/Sommerfeld1 um ein Redeaktionsversehen. Das ErwGericht sollte die Vorschrift daher nach § 104 II anwenden2. Die nur im Vorverfahren geltende Vorschrift erlaubt es ausnahmsweise, von der nach § 68a 2 I 1 gebotenen Pflichtverteidigerbestellung vorübergehend abzusehen und eine Vernehmung oder Gegenüberstellung des Beschuldigten ohne Pflichtverteidiger und Einhaltung der Frist des § 70c IV vorzunehmen. Dies kommt nach S. 1 Nr. 1 in Betracht, wenn dies zur Abwehr schwerwiegender nachteiliger Auswirkungen auf Leib oder Leben oder die Freiheit des J oder eines Dritten dringend erforderlich ist. Das ist der Fall, wenn – etwa in einem Entführungsfall – nur durch die sofortige Vernehmung oder Gegenüberstellung wahrscheinlich Informationen erlangt werden können, die zur Verhinderung der genannten Beeinträchtigungen erforderlich sind3. Außerdem greift die Vorschrift nach S. 1 Nr. 2 ein, wenn sofortiges Handeln der Strafverfolgungsbehörden zwingend geboten ist, um eine erhebliche Gefährdung eines Strafverfahrens wegen einer schweren Straftat abzuwenden. Eine schwere Straftat wird nach der Gesetzesbegründung grds. bei einer Tat nach § 100a II StPO gegeben sein4. Zusätzlich wird man eine bes. gewichtige Verwirklichungsform verlangen müssen5. Die erhebliche Gefährdung eines Strafverfahrens setzt eine konkrete Gefahr voraus6. Sie kann vorliegen, wenn ohne sofortige Vernehmung die Vernichtung von Beweismitteln, die Beeinflussung von Zeugen oder die Flucht eines Beschuldigten droht7. Beide Ausnahmekonstellationen dürfen nur unter Berücksichtigung des Wohls des J be3 jaht werden. Hieraus kann abgeleitet werden, dass die Vorschrift restriktiv zu interpretieren ist8. Die Berücksichtigung des Wohls des J tritt an die Stelle des in § 141a S. 1 StPO enthaltenen Erfordernisses, dass der Beschuldigte, der einen Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidigers gestellt hat, sich mit der Vernehmung oder Gegenüberstellung vor der Verteidigerbestellung ausdrücklich einverstanden erklären muss9. Wie aus dem Wort „soweit“ hervorgeht, darf die Bestellung des Pflichtverteidigers nur solange hinausgeschoben werden, wie es die in Nr. 1 und 2 genannten Zwecke erfordern10.

1 2. 2 Ostendorf/Sommerfeld 5: Ermessensreduzierung auf Null; aA Eisenberg/Kölbel 1: Nur § 141a StPO heranzuziehen. 3 Eisenberg/Kölbel 4. 4 Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 60 f. 5 Eisenberg/Kölbel 5; Ostendorf/Sommerfeld 5; BeckOK/Noak 7. 6 Begr. RegE, BT-Drs. 19/13829, S. 38 zu § 141a StPO; Eisenberg/Kölbel 5. 7 Begr. RegE aaO; Ostendorf/Sommerfeld 5. 8 Eisenberg/Kölbel 6; Ostendorf/Sommerfeld 6. 9 Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 61. 10 AaO. 484

Beistand

§ 69

S. 2 stellt klar, dass das Recht des J, jederzeit, auch schon vor der Vernehmung, einen von 4 ihm zu wählenden Verteidiger zu befragen, unberührt bleibt. Hierüber ist der J zu belehren11. Ein Verstoß gegen § 68b soll nach der Gesetzesbegründung nicht automatisch zu einem 5 Verwertungsverbot führen. Vielmehr soll über die Verwertbarkeit nach Abwägung im Einzelfall entschieden werden12.

§ 69 Beistand (1) Der Vorsitzende kann dem Beschuldigten in jeder Lage des Verfahrens einen Beistand bestellen, wenn kein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt. (2) Der Erziehungsberechtigte und der gesetzliche Vertreter dürfen nicht zum Beistand bestellt werden, wenn hierdurch ein Nachteil für die Erziehung zu erwarten wäre. (3) 1Dem Beistand kann Akteneinsicht gewährt werden. 2Im übrigen hat er in der Hauptverhandlung die Rechte eines Verteidigers. 3Zu einer Vertretung des Angeklagten ist er nicht befugt. 1. [Hw.]: Rn 11; § 109 I 1. – 2. ErwG: § 104 II, RL.

Die Beistandschaft dient der Betreuung des J im Verfahren und seiner erz. Lenkung und Leitung nachher1. Der Beistand hat eine fürsorgerische Stellung und soll dem J mit menschlichem Rat und Zuspruch zur Seite stehen, während der Verteidiger der juristische Berater ist2. Der Beistand ist ein Verfahrensbeteiligter mit prozessualer Stellung eigener Art3. Die Beistandschaft hat nur noch geringe praktische Bedeutung, da ihre Aufgaben heute weitgehend von der JGH, ggf. dem BewHelfer oder dem Betreuungshelfer (§ 10 I Nr. 5) erfüllt werden4. Im Übrigen steht die Stellung des gesetzlichen Vertreters und ErzBerechtigten der eines Beistandes kaum nach und ist die Bestellung eines Beistandes mit dem Eintritt der Volljährigkeit ausgeschlossen (s. Rn 11). Gründe für eine „Neubelebung dieses Prozessorgans“ sind bei Hauber5 angeführt. Die jrechtliche Beistandschaft ist etwas anderes als die des Ehegatten und gesetzlichen Vertreters nach § 149 StPO (bloße Fürsprecher); beide sind voneinander unabhängig (vgl. Rn 11 aE). Ein Beistand kann nicht gewählt, sondern nur durch den Vorsitzenden (gerichtliche Zuständigkeit: § 142 III StPO entsprechend) bestellt werden; das ist in jeder Lage des Verfahrens möglich (s. § 83 III 2). Die Bestellung kann (ggf. muss: Rn 5) zurückgenommen werden. Beistandschaft ist nur zulässig, wo kein Fall der notwendigen Verteidigung (§ 68) vorliegt, gleichgültig, ob ein Pflicht- oder Wahlverteidiger auftritt6. Im Fall des § 140 II StPO kann aber das Vorhandensein eines Beistandes dazu führen, dass eine Verteidigung nicht mehr notwendig ist. Sonst können Verteidiger und Beistand nebeneinander auftreten.

11 Ostendorf/Sommerfeld 8. 12 Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 61 iVm BT-Drs. 19/829, S. 38 f; DSS/Diemer 3; Ostendorf/Sommerfeld 9; für absolutes Verwertungsverbot Eisenberg/Kölbel 10.

1 OLG Stuttgart Justiz 76, 278; Eisenberg/Kölbel 3; Hauber Zbl. 82, 217; aA DSS/Diemer 2; Ostendorf/Sommerfeld 2; Wollweber NJW 99, 621: keine erz. Aufgaben, nur verfahrensrechtliche Unterstützungsfunktion.

2 Ebenso Hauber Zbl. 82, 217, 218. 3 Eisenberg/Kölbel 3; Burscheidt S. 108. 4 AA Eisenberg/Kölbel 4, mangels hinreichenden Vertrauens des J zu diesen u. wegen deren Einschränkung durch „behördeninterne Handlungsnormen“.

5 AaO, S. 223. 6 Dallinger/Lackner 6; Eisenberg/Kölbel 5; aA Potrykus B 3: nur bei Pflichtverteidiger. 485 https://doi.org/10.1515/9783110686401-087

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Bestellt werden kann jeder, der die entsprechende erz. Fähigkeit hat und das notwendige Vertrauen besitzt oder sich erwerben kann (Ausbildungsleiter, älterer Arbeitskollege, JAmtsMitarbeiter), auch ein ErzBerechtigter oder gesetzlicher Vertreter (Rn 2) oder ein Rechtsbeistand (§ 68, 6 aE). Nicht bestellt werden kann, wessen Beteiligung erz. Nachteile erwarten oder Missbrauch oder Pflichtenkollision befürchten lässt (Abs. II über den Wortlaut hinaus). Bestellung und Auswahl sind als prozessleitende Maßnahmen nicht anfechtbar7. Anders bei notwendiger Verteidigung (Rn 5: § 304 StPO). Ob Akteneinsicht gewährt werden kann, entscheidet im Vorverfahren die StA, sonst der Vorsitzende nach pflichtgemäßem Ermessen8. Gegen Verweigerung ist Beschwerde gegeben (§ 304 StPO)9. Mündliche Information durch den JRichter ist stets möglich. Die Rechte des Verteidigers hat der Beistand nur in der Hauptverhandlung und deren vorweggenommenen Teilen (§§ 223, 225, 233 StPO); er ist dazu zu laden. Dagegen kann er keine Rechtsmittel einlegen und hat auch nicht das Verkehrsrecht des § 148 StPO. Der Beistand kann nicht nach § 51 II ausgeschlossen werden, denn dies liefe seiner Beistandsfunktion zuwider10. Auch ein Ausschluss entsprechend § 247 S. 1 StPO, wie er beim Beistand des § 149 StPO zulässig ist11, kommt wegen § 69 III 2 nicht in Betracht. Nach Abs. III 3 ist der Beistand zu einer Vertretung des Angeklagten nicht befugt, auch nicht in der Berufungsverhandlung, sodass sein Erscheinen zu Beginn des Termins der Berufungshauptverhandlung der Verwerfung der Berufung nach § 329 I StPO nicht entgegensteht12. Bei Hw. ist § 69 nicht anwendbar (§ 109 I 1), weil die fürsorgerische Stellung des Beistandes darauf angelegt ist, den J in und nach dem Verfahren zu betreuen (Rn 1). Dies ist in solcher Art bei dem volljährigen Hw. nicht mehr angebracht und geboten. Mit dem Eintritt der Volljährigkeit endet deshalb auch eine zuvor bestellte Beistandschaft; ist abzusehen, dass der J im Laufe des Verfahrens volljährig wird, darf ihm kein Beistand mehr bestellt werden13. Hingegen findet § 149 I StPO Anwendung14.

§ 70 Mitteilungen an amtliche Stellen (1) 1Die Jugendgerichtshilfe, in geeigneten Fällen auch das Familiengericht und die Schule werden von der Einleitung und dem Ausgang des Verfahrens unterrichtet. 2Sie benachrichtigen die Jugendstaatsanwaltschaft, wenn ihnen bekannt wird, daß gegen den Beschuldigten noch ein anderes Strafverfahren anhängig ist. 3Das Familiengericht teilt der Jugendstaatsanwaltschaft ferner familiengerichtliche Maßnahmen sowie ihre Änderung und Aufhebung mit, soweit nicht für das Familiengericht erkennbar ist, daß schutzwürdige Interessen des Beschuldigten oder einer sonst von der Mitteilung betroffenen Person oder Stelle an dem Ausschluß der Übermittlung überwiegen. (2) 1Von der Einleitung des Verfahrens ist die Jugendgerichtshilfe spätestens zum Zeitpunkt der Ladung des Jugendlichen zu seiner ersten Vernehmung als Beschuldigter zu

7 DSS/Diemer 13; aA Eisenberg/Kölbel 10; nach Ostendorf/Sommerfeld 10 sind Auswahl u. Nichtbestellung mit der Beschwerde angreifbar. 8 Eisenberg/Kölbel 7; aA Ostendorf/Sommerfeld 6; vgl. Vor § 97, 28. 9 Eisenberg/Kölbel 7; Ostendorf/Sommerfeld 10. 10 DSS/Diemer 11; LBN/Laubenthal Rn 262; Ostendorf/Sommerfeld 7; aA Eisenberg/Kölbel 8b. 11 BGH 47, 62. 12 Ostendorf/Sommerfeld 7a. 13 OLG Stuttgart Justiz 76, 267; Eisenberg/Kölbel 2; Ostendorf/Sommerfeld 1, für welche dann eine Verteidigerbestellung nahe liegt. 14 Eisenberg/Kölbel § 109, 17. 486 https://doi.org/10.1515/9783110686401-088

Mitteilungen an amtliche Stellen

§ 70

unterrichten. 2Im Fall einer ersten Beschuldigtenvernehmung ohne vorherige Ladung muss die Unterrichtung spätestens unverzüglich nach der Vernehmung erfolgen. (3) 1Im Fall des einstweiligen Entzugs der Freiheit des Jugendlichen teilen die den Freiheitsentzug durchführenden Stellen der Jugendstaatsanwaltschaft und dem Jugendgericht von Amts wegen Erkenntnisse mit, die sie auf Grund einer medizinischen Untersuchung erlangt haben, soweit diese Anlass zu Zweifeln geben, ob der Jugendliche verhandlungsfähig oder bestimmten Untersuchungshandlungen oder Maßnahmen gewachsen ist. 2Im Übrigen bleibt § 114e der Strafprozessordnung unberührt. 1. Abs. I: [Hw.]: § 109 I 3, 4. – Abs. II, III: Hw.: § 109 I 1.

Schrifttum Kintzi Datenaustausch zwischen Behörden – kooperative Reaktionen auf JKriminalität sowie (datenschutzrechtliche) Berechtigung u. Pflicht der Schule zur Unterrichtung der Polizei, DRiZ 08, 21; Kirchhoff Datenübermittlung an JÄmter zur Abwehr von Kindeswohlgefährdungen, NJW 20, 1993.

§ 70 I gilt nur für J (§ 109 I 3, 4). Für Hw. erlegt § 109 I 3 es der StA und dem Gericht auf, Einleitung und Ausgang eines Verfahrens der JGH stets und der Schule in geeigneten Fällen (Rn 5) mitzuteilen. Daneben sind die allg. Mitteilungspflichten der MiStra zu beachten (Rn 6). Umgekehrt obliegt es nach § 109 I 4 der JGH und der Schule, den StA zu benachrichtigen, wenn ihnen bekannt wird, dass gegen einen beschuldigten Hw. noch ein anderes Strafverfahren anhängig ist. Dies fördert die erwünschte erz. Gesamtbereinigung. § 70 Abs. II und III gelten auch für Hw. (§ 109 I 1). Mitteilungspflichtig sind StA, Gericht und Vollstreckungsbehörde (MiStra Nr. 4). Von Gewicht sind die zwingend vorgeschriebenen Mitteilungen nach Abs. I S. 1 (Nr. 32 MiStra) an die JGH und, wenn dies zum Wohle des J im Einzelfall geboten ist („in geeigneten Fällen“), auch an das Familiengericht und an die Schule (Rn 5 f) über Einleitung und Ausgang des Verfahrens. Zu den umgekehrten Verpflichtungen nach S. 2 u. 3 Rn 8 u. 9. Besondere jrechtliche Mitteilungspflichten sind außer in § 70 noch in §§ 50 III 1, 67 V 3, § 67a, 109 I 3 enthalten. Die Anordnung über Mitteilungen in Strafsachen (Mistra), Stand 10.5.2022, wird ua ergänzt durch § 1 RL 2, § 42 RL 2, § 43 RL 7, § 85 RL III 1, IV 2, V 6, VI 4, Vorschriften in den Vollzugsgeschäftsordnungen der Länder (ua Mitteilung an JAmt bei Aufnahme in JStrafanstalt) sowie §§ 35 und 47 StVollstrO. Die nach dem „Volkzählungsurteil“ BVerfGE 65, 1 erforderlichen Rechtsgrundlagen für die Übermittlung der personenbezogenen Daten haben das Justizmitteilungsgesetz (JuMiG) v. 18.6.19971 und das Strafverfahrensänderungsgesetz 1999 v. 2.8.20002 geschaffen. Die Datenübermittlung ist danach unter den Voraussetzungen der §§ 474 ff StPO, 12 ff EGGVG zulässig. In diesem Rahmen sind die Mitteilungspflichten nach der Mistra zu erfüllen3. Wegen der jetzt vorhandenen gesetzlichen Befugnisse zur Datenübermittlung ist der frühere Streit über die Verfassungsmäßigkeit von Mitteilungen allein aufgrund der Mistra überholt. Zum Erz.- u. Zentralregister vgl. Vor § 97, 1 ff. Darüber hinaus machen Gericht oder StA nach Mistra Nr. 1 III im Einzelfall eine Mitteilung, wenn sie rechtlich zulässig und wegen eines bes. öffentlichen Interesses unerlässlich ist, etwa in Fällen des § 17 EGGVG. Zum Datenschutz s. weiter Vor § 97, 27. Die an sich in gleichem Umfang bestehende Mitteilungspflicht der ErwGerichte in Verfahren gegen J und Hw. (§§ 104 I Nr. 11, 112) kann aus Gründen der Staatssicherheit eingeschränkt werden (§ 104 III; s. § 104, 5, 7). Für Mitteilungen an die JGH bestimmt der durch das G zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im JStrafverfahren v. 9.12.2019 (dazu Einf. 136) eingefügte Abs. II, dass die 1 Dazu Wollweber NJW 97, 2488. 2 Dazu Brodersen NJW 00, 2536 u. Hilger NStZ 00, 561; 01, 15. 3 DSS/Schatz 11. 487

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JGH von der Einleitung des Verfahrens spätestens zum Zeitpunkt der Ladung des J zu seiner ersten Vernehmung als Beschuldigter zu unterrichten ist und im Fall einer ersten Beschuldigtenvernehmung ohne vorherige Ladung die Unterrichtung spätestens unverzüglich nach der Vernehmung erfolgen muss. Die Regelung dient der Umsetzung von Art. 7 Abs. V der Richtlinie (EU) 2016/800, nach der die individuelle Begutachtung des J in der frühestmöglichen geeigneten Phase des Verfahrens zu erfolgen hat, und soll es der JGH ermöglichen, ihrer Verpflichtung zur möglichst zeitnahen Berichterstattung gem. § 38 III 1 nachzukommen4. Abs. II 1 regelt den spätestmöglichen Mitteilungszeitpunkt, ggf. kann eine frühere Unterrichtung, z.B. nach § 72a, geboten sein5. Die Mitteilungspflicht besteht auch bei einem Verzicht auf Beteiligung der JGH nach § 38 VII 16. Die Verpflichtung aus § 38 VII 2 zur möglichst frühzeitigen Mitteilung des Beteiligungsverzichts bleibt unberührt7. Zuständig für die Unterrichtung ist die jeweils das Verfahren führende Stelle; das ist idR die Polizei8. Über den Inhalt der Mitteilungen an die JGH enthält MiStra Nr. 32 eine nähere Regelung. 6 Zu Mitteilungen an das Familiengericht vgl. MiStra Nr. 31. Bei Mitteilungen an die Schule ist abzuwägen zwischen dem gerechtfertigten Interesse der Schule an Mitteilungen insbes., um andere Schüler nicht zu gefährden (z.B. Drogen-Dealer, auch Kleindealer, uU auch nur zum Eigenbedarf), und der Gefahr von Überreaktionen seitens der Schule9. StA und Richter sollten deshalb die einschlägigen Schulvorschriften kennen, welche die Disziplinarmaßnahmen gegenüber Schülern regeln, die z.B. durch Abgabe oder Gebrauch von Rauschmitteln gegen die Schulordnung verstoßen haben10. Persönliche Fühlungnahme zwischen JStA, JRichter und Schulleiter vermag manches auszugleichen und zumeist der Schule und dem J gerecht zu werden. Bes. Zurückhaltung ist geboten, wenn das Verfahren noch nicht abgeschlossen ist. Nach dem VGH Baden-Württemberg11 ist eine Entlassung aus allen Schulen des Landes nicht gerechtfertigt wegen einer Tat, deretwegen das JGericht nur JA verhängt hat. Die MiStra bestimmt in Nr. 33, dass Mitteilungen an die Schule nach §§ 70, 109 I nur in geeigneten Fällen zu machen sind, und präzisiert: „Es wird in der Regel genügen, die Schule von dem Ausgang des Verfahrens zu unterrichten. Die Einleitung des Verfahrens oder die Erhebung der öffentlichen Klage wird mitzuteilen sein, wenn aus Gründen der Schulordnung, insbes. zur Wahrung eines geordneten Schulbetriebs oder zum Schutz anderer Schülerinnen oder Schüler, sofortige Maßnahmen geboten sein können. Die Mitteilungen sind an die Leiterin oder den Leiter der Schule oder die Vertretung im Amt zu richten. Die Mitteilung ordnen Richterinnen oder Richter, Staatsanwältinnen oder Staatsanwälte an“. Im OWiG-Verfahren (Rn 12) wird an Schulen Mitteilung nur in solchen Fällen erfolgen, die eine ernstliche Gefährdung anderer im Schulbereich besorgen lassen12. Die StA kann (nach § 161 StPO) von der Schule Auskünfte verlangen und in der Schule 7 Ermittlungen selbst vornehmen oder durch die Polizei vornehmen lassen; der Herausgabepflicht unterliegen grds. auch alle amtlichen Schriftstücke, z.B. auch Schülerbogen oder Schülerakte. Vor StA und Gericht sind Lehrer, wie andere auch, verpflichtet auszusagen (§§ 161a, 48 ff StPO). Vor der Polizei besteht nach § 163 III StPO eine Aussagepflicht, wenn ein Auftrag der StA zugrunde liegt13. Zur Glaubwürdigkeitsbeurteilung durch Lehrer Anh. § 125, 22. Nach Abs. I 2 haben Familiengericht, JGH und Schule ihrerseits der StA zum Strafverfah8 ren Mitteilung zu machen, wenn ihnen andere Strafverfahren (nicht: Straftaten) bekannt sind.

4 Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 61. 5 Eisenberg/Kölbel 18. 6 Eisenberg/Kölbel 18a. 7 Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 62. 8 AaO. 9 Zu den Rechtspflichten von Lehrern bei Drogenmissbrauch in Schulen s. Sowa der kriminalist 01, 361. 10 Vgl. Brunner Zbl. 71, 252. 11 JZ 64, 627 mit im Wesentlichen zust. Bespr. Baumann JZ 64, 612. 12 Vgl. Göhler/Seitz/Bauer Vor § 59 OWiG 36. 13 Ostendorf/Sommerfeld 3. 488

Mitteilungen an amtliche Stellen

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Dadurch soll die Verbindung mehrerer Strafverfahren ermöglicht werden. Eine Pflicht zur Anzeige von Straftaten wird dadurch nicht begründet; diese richtet sich nach allg. Vorschriften. Der durch das JuMiG eingefügte Abs. I 3 verpflichtet darüber hinaus das Familiengericht, der StA familiengerichtliche Maßnahmen sowie ihre Änderung und Aufhebung mitzuteilen. Hierdurch soll im Interesse des ErzGedankens eine Berücksichtigung dieser Maßnahmen im JStrafverfahren und eine Koordinierung der verschiedenen Verfahren erreicht werden14. Die Mitteilungspflicht bezieht sich nur auf J, die Beschuldigte in einem Strafverfahren sind15. Sie besteht nicht bei überwiegenden schutzwürdigen Interessen des Beschuldigten oder des sonst von der Mitteilung Betroffenen. Mit dieser Abwägungsklausel soll dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung getragen werden16. Bei der Abwägung sind ua die Schwere des Tatvorwurfs, die Bedeutung der Kenntnis von der Maßnahme für die Entscheidung im JStrafverfahren und der Grad des Eingriffs in die Persönlichkeitssphäre durch die Information zu berücksichtigen. Da die Mitteilung eine sinnvolle Entscheidung im JStrafverfahren ermöglicht, werden schutzwürdige Interessen des J der Mitteilung nur ausnahmsweise entgegenstehen17. Der durch das G zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im JStrafverfahren v. 16.12.2019 eingefügte Abs. III dient der Umsetzung von Art. 8 Abs. II der Richtlinie (EU) 2016/ 800, nach der Ergebnisse aus einer während eines Freiheitsentzugs erfolgten medizinischen Untersuchung bei der Feststellung zu berücksichtigen sind, ob der J Befragungen, anderen Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlungen oder zu seinen Lasten ergriffenen oder geplanten Maßnahmen gewachsen ist. Abs. III greift bei allen Formen vorläufiger Freiheitsentziehung ein, insbes. beim Vollzug der UHaft18. Die den Freiheitsentzug durchführenden Stellen haben der JStA und dem JGericht gem. Abs. III 1 Erkenntnisse aus einer medizinischen Untersuchung mitzuteilen, soweit diese – bei objektiver Betrachtung19 – Anlass zu Zweifeln geben, ob der J verhandlungsfähig oder bestimmten Untersuchungshandlungen oder Maßnahmen gewachsen ist. Nach Abs. III 2 bleibt § 114e StPO unberührt, der auch außerhalb einer medizinischen Untersuchung erlangte sowie nicht medizinische Erkenntnisse betrifft20. Nach § 406d I StPO (zum Opferschutz allg. § 80, 7–16) ist der Verletzte auf seinen Antrag über die Einstellung des Verfahrens, Ort und Zeitpunkt der Hauptverhandlung und den Ausgang des gerichtlichen Verfahrens zu informieren; über seine Antragsbefugnis ist er zu belehren (§ 406i StPO). § 406d StPO ist auch bei J anwendbar, denn dem verletzten Anzeigeerstatter hat schon immer der StA unbestritten die Einstellung des Verfahrens mitzuteilen (§ 171 StPO). Gegenüber seiner Berechtigung, nach § 48 II als Verfahrensbeteiligter in der nichtöffentlichen Verhandlung anwesend zu sein (§ 48, 13), ist § 406d StPO ein Minus. Schaal/Eisenberg21 halten im Interesse des J anstelle der Entscheidungsformel eine allg. gehaltene Mitteilung über den Verfahrensausgang für ausreichend22. Im OWiG-Verfahren kann die Verwaltungsbehörde in JSachen auf Mitteilung an Familiengericht, Schule und JGH verzichten, wenn anzunehmen ist, dass sie für deren Aufgaben ohne Bedeutung ist (§ 70 iVm § 46 I OWiG); idR erfolgt also keine Mitteilung23. Mitteilungen der Strafverfolgungsbehörden sind nach §§ 23 ff EGGVG als Justizverwaltungsakte angreifbar24. Vgl. auch Vor § 97, 28, 29. 14 15 16 17 18 19 20 21 22

BT-Drs. 13/4709 S. 31 f; DSS/Schatz 49; Eisenberg/Kölbel 23. DSS/Schatz 47. DSS/Schatz 48; Eisenberg/Kölbel 23. DSS/Schatz 48. Eisenberg/Kölbel 24; Ostendorf/Sommerfeld 13. AaO. AaO. NStZ 88, 52. Vgl. auch allg. Steyer DRiZ 89, 201 zur Einstellung wegen Körperverletzungsdelikten vor dem Hintergrund der staatlichen Opferentschädigung unter Hinweis auf RiStBV Nr. 86 II u. 90 I, §§ 21, 69 SGB X, § 35 SGB I. 23 DSS/Schatz 2; Göhler/Seitz/Bauer Vor § 67 OWiG 28. 24 OLG Frankfurt NJW 75, 2028; DSS/Schatz 51; Ostendorf/Sommerfeld 14. 489

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§ 70a

2. Teil. Jugendliche

§ 70a Unterrichtung des Jugendlichen (1) 1Wenn der Jugendliche davon in Kenntnis gesetzt wird, dass er Beschuldigter ist, so ist er unverzüglich über die Grundzüge eines Jugendstrafverfahrens zu informieren. 2 Über die nächsten anstehenden Schritte in dem gegen ihn gerichteten Verfahren wird er ebenfalls unverzüglich informiert, sofern der Zweck der Untersuchung dadurch nicht gefährdet wird. 3Außerdem ist der Jugendlich unverzüglich darüber zu unterrichten, dass 1. nach Maßgabe des § 67a die Erziehungsberechtigten und die gesetzlichen Vertreter oder eine andere geeignete volljährige Person zu informieren sind, 2. er in den Fällen notwendiger Verteidigung (§ 68) nach Maßgabe des § 141 der Strafprozessordnung und des § 68a die Mitwirkung eines Verteidigers und nach Maßgabe des § 70c Absatz 4 die Verschiebung oder Unterbrechung seiner Vernehmung für eine angemessene Zeit verlangen kann, 3. nach Maßgabe des § 48 die Verhandlung vor dem erkennenden Gericht grundsätzlich nicht öffentlich ist und dass er bei einer ausnahmsweise öffentlichen Hauptverhandlung unter bestimmten Voraussetzungen den Ausschluss der Öffentlichkeit oder einzelner Personen beantragen kann, 4. er nach § 70c Absatz 2 Satz 4 dieses Gesetzes in Verbindung mit § 58a Absatz 2 Satz 6 und Absatz 3 Satz der Strafprozessordnung der Überlassung einer Kopie der Aufzeichnung seiner Vernehmung in Bild und Ton an die zur Akteneinsicht Berechtigten widersprechen kann und dass die Überlassung der Aufzeichnung oder die Herausgabe von Kopien an andere Stellen seiner Einwilligung bedarf, 5. er nach Maßgabe des § 67 Absatz 3 bei Untersuchungshandlungen von seinen Erziehungsberechtigten und seinen gesetzlichen Vertretern oder einer anderen geeigneten volljährigen Person begleitet werden kann, 6. er wegen einer mutmaßlichen Verletzung seiner Rechte durch eine der beteiligten Behörden oder durch das Gericht eine Überprüfung der betroffenen Maßnahmen und Entscheidungen verlangen kann. (2) Soweit dies im Verfahren von Bedeutung ist oder sobald dies im Verfahren Bedeutung erlangt, ist der Jugendliche außerdem so früh wie möglich über Folgendes zu informieren: 1. die Berücksichtigung seiner persönlichen Verhältnisse und Bedürfnisse im Verfahren nach Maßgabe der §§ 38, 43 und 46a, 2. das Recht auf medizinische Untersuchung, das ihm nach Maßgabe des Landesrechts oder des Rechts der Polizei des Bundes im Fall des einstweiligen Entzugs der Freiheit zusteht, sowie über das Recht auf medizinische Unterstützung, sofern sich ergibt, dass eine solche während des Freiheitsentzugs erforderlich ist, 3. die Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Fall des einstweiligen Entzugs der Freiheit, namentlich a) des Vorrangs anderer Maßnahmen, durch die der Zweck des Freiheitsentzugs erreicht werden kann, b) der Begrenzung des Freiheitsentzugs auf den kürzesten angemessenen Zeitraum und c) der Berücksichtigung der besonderen Belastungen durch den Freiheitsentzug im Hinblick auf sein Alter und seinen Entwicklungsstand sowie der Berücksichtigung einer anderen besonderen Schutzwürdigkeit, 4. die zur Haftvermeidung in geeigneten Fällen generell in Betracht kommenden anderen Maßnahmen, 5. die vorgeschriebenen Überprüfungen von Amts wegen in Haftsachen, 6. das Recht auf Anwesenheit der Erziehungsberechtigten und gesetzlichen Vertreter oder einer anderen geeigneten volljährigen Person in der Hauptverhandlung, 490 https://doi.org/10.1515/9783110686401-089

Unterrichtung des Jugendlichen

§ 70a

7.

sein Recht auf und seine Pflicht zur Anwesenheit in der Hauptverhandlung nach Maßgabe des § 50 Absatz 1 und des § 51 Absatz 1. (3) Wird Untersuchungshaft gegen den Jugendlichen vollstreckt, so ist er außerdem darüber zu informieren, dass 1. nach Maßgabe des § 89c seine Unterbringung getrennt von Erwachsenen zu erfolgen hat, 2. nach Maßgabe der Vollzugsgesetze der Länder a) Fürsorge für seine gesundheitliche, körperliche und geistige Entwicklung zu leisten ist, b) sein Recht auf Erziehung und Ausbildung zu gewährleisten ist, c) sein Recht auf Familienleben und dabei die Möglichkeit, seine Erziehungsberechtigten und seine gesetzlichen Vertreter zu treffen, zu gewährleisten ist, d) ihm Zugang zu Programmen und Maßnahmen zu gewährleisten ist, die seine Entwicklung und Wiedereingliederung fördern, und e) ihm die Religions- und Weltanschauungsfreiheit zu gewährleisten ist. (4) Im Fall eines anderen einstweiligen Entzugs der Freiheit als der Untersuchungshaft ist der Jugendliche über seine dafür geltenden Rechte entsprechend Absatz 3 Nummer 2 zu informieren, im Fall einer polizeilichen Ingewahrsamnahme auch über sein Recht auf die von Erwachsenen getrennte Unterbringung nach den dafür maßgeblichen Vorschriften. (5) § 70b dieses Gesetzes und § 168b Absatz 3 der Strafprozessordnung gelten entsprechend. (6) Sofern einem verhafteten Jugendlichen eine schriftliche Belehrung nach § 114b der Strafprozessordnung ausgehändigt wird, muss diese auch die zusätzlichen Informationen nach diesem Paragrafen enthalten. (7) Sonstige Informations- und Belehrungspflichten bleiben von den Bestimmungen dieses Paragrafen unberührt. 1. Hw.: § 109 I 2. – 2. ErwG: § 104 I Nr. 11a.

Übersicht 1. 2. 3.

Allgemeines 1 Allgemeine Unterrichtungspflichten Anlassbezogene Unterrichtungs4 pflichten

4. 3 5.

Unterrichtungspflichten bei Freiheitsent5 zug Art und Weise der Unterrichtung, Dokumentati6 on, Fehlerfolgen

1. Allgemeines Die Vorschrift wurde durch das G zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im 1 JStrafverfahren v. 9.12.2019 (dazu Einf. 136) zur Umsetzung von Art. 4 der Richtlinie (EU) 2016/ 800, wonach eine detaillierte Information der j. Beschuldigten über ihre Rechte vorgesehen ist, in das JGG eingefügt. Die Richtlinie und ihre Umsetzung im JGG verlangen derart umfangreiche Informationen, dass fraglich ist, ob die j. Beschuldigten sie hinreichend verstehen und verarbeiten können1. Die Organe der JStrafrechtspflege stehen somit vor der schwierigen Aufgabe, den j. Beschuldigten die notwendigen Informationen in einer praktikablen und für die J verständlichen Weise zu vermitteln. Zuständig für die Unterrichtung ist die jeweils zum maßgebli1 Vgl. Ostendorf/Sommerfeld 1c: „Gefahr einer kontraproduktiv wirkenden Überfrachtung“; DSS/Schatz 6: „lebensfremde, nahezu groteske Überregulierung eines an sich berechtigten Anliegens“. Krit. auch Eisenberg/Kölbel 4. 491

§ 70a

2. Teil. Jugendliche

chen Zeitpunkt das Verfahren führende Stelle2. Nach Abs. VII bleiben sonstige Informationsund Belehrungspflichten, wie etwa nach §§ 35a, 114b oder 136 I StPO unberührt. 2 Die Vorschrift gilt für J auch in Verfahren vor dem ErwGericht (§ 104 I Nr. 11a) Auf Hw. ist die Vorschrift nach § 109 I 2 nur insoweit anzuwenden, als sich die Unterrichtung auf Regelungen bezieht, die nach dem für Hw. geltenden Recht nicht ausgeschlossen sind, also nicht von der Minderjährigkeit der Beschuldigten ausgehen3. Maßgeblich ist das Alter zum Zeitpunkt der Unterrichtungspflicht, nicht das Tatzeitalter4. Die Vorschrift ist auch im vereinfachten JVerfahren anzuwenden (§ 78 III 2). Sie gilt unabhängig von der Schwere des Tatvorwurfs, also auch dann, wenn zu erwarten ist, dass das Verfahren im Wege der Diversion beendet werden wird5. Ostendorf/Sommerfeld6 lassen allerdings unter Berufung auf Art. 24 II EGRCh ein Absehen von der Unterrichtung zu, wenn die Unterrichtung dem Wohl des J zuwiderlaufen würde.

2. Allgemeine Unterrichtungspflichten 3 Abs. I begründet allg. Unterrichtungspflichten, die immer dann, wenn der J davon in Kenntnis gesetzt wird, dass er Beschuldigter ist, unverzüglich zu erfüllen sind. Nach S. 1 ist der J über die Grundzüge des JStrafverfahrens, also die wichtigsten Beteiligten, die Verfahrensstadien und die Entscheidungsmöglichkeiten7, zu informieren. Hierfür empfiehlt sich die Aushändigung eines Informationsblattes8. Die von S. 2 geforderte unverzügliche Unterrichtung über die nächsten anstehenden Schritte im Verfahren wird dagegen wegen der Einzelfallabhängigkeit der nächsten Schritte mündlich zu erfolgen haben9. Diese Information hat ausnahmsweise zu unterbleiben, sofern der Zweck der Untersuchung dadurch gefährdet würde. Dies kann etwa bei Anordnung von Untersuchungshaft oder einer Beschlagnahme der Fall sein10. Die schließlich gem. S. 3 gebotene unverzügliche Unterrichtung über die in Nr. 1 bis 6 genannten Gegenstände kann in einem Informationsblatt erfolgen11. Hierbei verlangt Nr. 6 lediglich eine allg. Information darüber, dass bei Rechtsverletzungen generell Rechtsbehelfsmöglichkeiten bestehen12. Sonstige Belehrungspflichten über spezifische Rechtsmittel, insbes. § 35a StPO, bleiben nach Abs. VII unberührt13.

3. Anlassbezogene Unterrichtungspflichten 4 Die Unterrichtung über die in Abs. II angeführten Gegenstände muss nicht unverzüglich bei Bekanntgabe der Beschuldigteneigenschaft erfolgen, sondern soweit der Gegenstand im Verfahren von Bedeutung ist oder sobald er im Verfahren Bedeutung erlangt. Dann muss die Information so früh wie möglich erfolgen. Die Informationspflicht entsteht also, sobald für die Strafrechtspflegeorgane erkennbar ist, dass die jeweilige Information für das prozessuale Verhalten 2 DSS/Schatz 34; Ostendorf/Sommerfeld 8. 3 DSS/Schatz 2. 4 DSS/Schatz 3; Eisenberg/Kölbel 1; Ostendorf/Sommerfeld 3. 5 DSS/Schatz 4; Eisenberg/Kölbel 3. 6 1e. 7 Eisenberg/Kölbel 8. 8 Eisenberg/Kölbel 8; Ostendorf/Sommerfeld 9a. 9 Eisenberg/Kölbel 8; Ostendorf/Sommerfeld 9b. 10 Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 62. Nach Eisenberg/Kölbel 8 sind allerdings mit den nächsten Schritten nur „die den prozessualen Fortgang bewirkenden Entscheidungen u. nicht etwa bevorstehende Ermittlungsmaßnahmen“ gemeint; dagegen Ostendorf/Sommerfeld 4. 11 Eisenberg/Kölbel 9. 12 Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 63; DSS/Schatz 16. 13 Begr. RegE u. DSS/Schatz aaO. 492

Unterrichtung des Jugendlichen

§ 70a

des Beschuldigten relevant werden könnte14. Da die JGH nach § 38 VI 1, 2 möglichst früh in das Verfahren einzubinden ist und die persönlichen Verhältnisse des J stets zu berücksichtigen sind, empfiehlt es sich, die Information nach Nr. 1 mit der Unterrichtung gem. Abs. I 3 zu verbinden15. Nr. 5 beschränkt sich auf von Amts wegen vorzunehmende Haftprüfungen; die Belehrung über Haftprüfungen auf Antrag und Haftbeschwerden hat nach § 114b II Nr. 8 StPO zu erfolgen16. Die Informationen gem. Nr. 6 und 7 müssen spätestens mit der Ladung zur Hauptverhandlung erteilt werden17, nach Ostendorf/Sommerfeld18 sollte dies bereits gem. § 201 I 1 StPO geschehen.

4. Unterrichtungspflichten bei Freiheitsentzug Abs. III sieht Informationspflichten für den Fall vor, dass UHaft vollstreckt wird. Wird der 5 Haftbefehl außer Vollzug gesetzt, greift die Vorschrift auch dann nicht ein, wenn etwa eine alternative Unterbringung in einem Heim der JHilfe erfolgt19. Zu unterrichten ist nach Nr. 1 über den Trennungsgrundsatz des § 89c und gem. Nr. 2 über eine Reihe von Gewährleistungen im UHaft-Vollzug. Da der UHaft-Vollzug in die Gesetzgebungskompetenz der Länder fällt, hat die Information über die Gewährleistungen „nach Maßgabe der Vollzugsgesetze der Länder“ zu erfolgen. Nach Abs. IV Teilsatz 1 ist der J im Fall eines anderen einstweiligen Freiheitsentzugs entsprechend Abs. III Nr. 2 zu informieren. Die Gewährleistungen sind im Landesrecht bzw. in den Vorschriften der Bundespolizei geregelt. Die Einleitung „nach Maßgabe der Vollzugsgesetzte der Länder“ in Abs. III Nr. 2 ist daher bei der entsprechenden Anwendung gem. Abs. IV als „nach Maßgabe des für den betroffenen Freiheitsentzug geltenden Rechts“ zu lesen20. Nach Abs. IV Teilsatz 2 ist der J im Fall einer polizeilichen Ingewahrsamnahme auch über sein Recht auf die von Erw. getrennte Unterbringung nach den dafür maßgeblichen Vorschriften zu informieren, die im Landesrecht und im Recht der Bundespolizei enthalten sind21.

5. Art und Weise der Unterrichtung, Dokumentation, Fehlerfolgen Gem. Abs. V gilt für die Art und Weise der Unterrichtung § 70b entsprechend. Die Information 6 hat also in einer Weise zu erfolgen, die dem Alter und Entwicklungs- und Bildungsstand des J entspricht. Nach dem ebenfalls entsprechend anzuwendenden § 168b III StPO ist die Unterrichtung zu dokumentieren. Nach Abs. VI muss im Fall einer Verhaftung die schriftliche Belehrung gem. § 114b StPO auch die zusätzlichen Informationen nach § 70a enthalten. Ein Verstoß gegen die Unterrichtungspflichten des § 70a führt grds. nicht zu einem Verwer- 7 tungsverbot22. Auf einem solchen Verstoß wird das Urteil in aller Regel nicht iSd § 337 StPO beruhen23.

14 15 16 17 18 19 20 21 22

Eisenberg/Kölbel 10. Eisenberg/Kölbel 11; Ostendorf/Sommerfeld 5b. Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 64; DSS/Schatz 22. Eisenberg/Kölbel 11. 5b. Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 64; DSS/Schatz 28. Begr. RegE aaO, S. 65; DSS/Schatz 30. Begr. RegE aaO; DSS/Schatz 31. Vgl. Eisenberg/Kölbel 14: Verwertungsverbot allein in Ausnahmefällen denkbar, in denen die Aufrechterhaltung einer Desorientierung zu einem irrtumsgetragenen Prozessverhalten führt. 23 Ostendorf/Sommerfeld 10. 493

§ 70b

2. Teil. Jugendliche

§ 70b Belehrungen (1) 1Vorgeschriebene Belehrungen des Jugendlichen müssen in einer Weise erfolgen, die seinem Alter und seinem Entwicklungs- und Bildungsstand entspricht. 2Sie sind auch an seine anwesenden Erziehungsberechtigten und gesetzlichen Vertreter zu richten und müssen dabei in einer Weise erfolgen, die es diesen ermöglicht, ihrer Verantwortung im Hinblick auf den Gegenstand der Belehrung gerecht zu werden. 3Sind Erziehungsberechtigte und gesetzliche Vertreter bei der Belehrung des Jugendlichen über die Bedeutung vom Gericht angeordneter Rechtsfolgen nicht anwesend, muss ihnen die Belehrung darüber schriftlich erteilt werden. (2) Sind bei einer Belehrung über die Bedeutung der Aussetzung einer Jugendstrafe zur Bewährung oder über die Bedeutung des Vorbehalts einer diesbezüglichen nachträglichen Entscheidung auch jugendliche oder heranwachsende Mitangeklagte anwesend, die nur zu Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmitteln verurteilt werden, soll die Belehrung auch ihnen ein Verständnis von der Bedeutung der Entscheidung vermitteln. 1. [Hw.]: § 109 I 1. – 2. ErwG: §§ 104 II (Ermessen), 112 S. 1.

1 Die Vorschrift wurde durch das G zur Erweiterung der jgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten v. 4.9.2012 eingefügt. Der die Belehrung des J betreffende Abs. I 1 gilt für alle Verfahrensabschnitte und –arten, also für Polizei, StA und Gericht, und ist auch im vereinfachten JVerfahren anzuwenden1. Die an sich eine Selbstverständlichkeit zum Ausdruck bringende Vorschrift soll vor dem Hintergrund teilweiser Kommunikationsschwierigkeiten in der Praxis gewährleisten, dass der J den Sinngehalt der Belehrung erfasst2. So kann durch eine wirkungsvolle Belehrung der Gefahr begegnet werden, dass eine Aussetzung der JStrafe zur Bew. als verkappter Freispruch missverstanden wird, und damit ein Verdeutlichungsarrest nach § 16a I Nr. 1 entbehrlich werden3. Der ebenfalls in allen Verfahrensabschnitten geltende Abs. I 2 schreibt in Ergänzung von 2 § 67a eine verständliche Belehrung auch der anwesenden ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter vor, die es diesen ermöglicht, ihrer Verantwortung nach Art. 6 II GG gerecht zu werden. Hierauf findet § 67 V 2 Anwendung4. Abs. I 3 betrifft die Belehrung über gerichtlich angeordnete Rechtsfolgen: Sind die ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter bei der Belehrung des J nicht anwesend, muss ihnen die Belehrung schriftlich erteilt werden. Hierdurch soll die Unterstützung der Eltern bei der Umsetzung der Rechtsfolgen gefördert werden5. Für die schriftliche Belehrung gilt § 67 V 36. Nach Ostendorf/Sommerfeld dürfte sich die Vorschrift in der Praxis als „äußerst kontraproduktiv“ erweisen, da sich die Praxis wegen der seltenen Teilnahme der Eltern mit standardisierten Schreiben behelfen werde, die eine im Einzelfall verständliche Belehrung nicht gewährleisten7. Nach Trüg sind dagegen schriftliche Belehrungen jedenfalls einer fehlenden Kommunikation vorzuziehen8. Es wird darauf ankommen, ob es gelingt, die Schreiben möglichst gut verständlich zu formulieren. Abs. II begründet bei Belehrungen über die Bedeutung der Aussetzung einer JStrafe zur 3 Bew. oder des Vorbehalts einer diesbezüglichen nachträglichen Entscheidung eine Belehrungspflicht über die Bedeutung der Entscheidung auch gegenüber j. oder hw. Mitangeklagten, die 1 2 3 4 5 6 7 8

Ostendorf/Sommerfeld 4. Begr. RegE, BT-Drs. 17/9389, S. 18 f. Begr. RegE, BT-Drs. 17/9389, S. 13, 19; HK-JGG/Trüg 4; Ostendorf/Sommerfeld 5. Ostendorf/Sommerfeld 9. Begr. Reg.E, BT-Drs. 17/9389, S. 19. Ostendorf/Sommerfeld 9. Ostendorf/Sommerfeld 8. HK-JGG/Trüg 6. 494

https://doi.org/10.1515/9783110686401-090

Vernehmung des Beschuldigten

§ 70c

nur zu ErzMaßregeln oder Zuchtmitteln verurteilt werden. Hierdurch soll verhindert werden, dass die Mitangeklagten die Sanktionierung als ungerecht empfinden (z.B. bei Verurteilung des Haupttäters zu einer JStrafe mit Bew. und der Mitangeklagten mit geringerem Tatbeitrag zu einem zu vollstreckenden JA) und hierdurch die Akzeptanz der Rechtsfolge und die Bereitschaft zu ihrer konstruktiven Aufnahme beeinträchtigt wird9. Bei Abs. III handelt es sich anders als bei Abs. I um eine Sollvorschrift.

§ 70c Vernehmung des Beschuldigten (1) Die Vernehmung des Beschuldigten ist in einer Art und Weise durchzuführen, die seinem Alter und seinem Entwicklungs- und Bildungsstand Rechnung trägt. (2) 1Außerhalb der Hauptverhandlung kann die Vernehmung in Bild und Ton aufgezeichnet werden. 2Andere als richterliche Vernehmungen sind in Bild und Ton aufzuzeichnen, wenn zum Zeitpunkt der Vernehmung die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig ist, ein Verteidiger aber nicht anwesend ist. 3Im Übrigen bleibt § 136 Absatz 4 Satz 2 der Strafprozessordnung, auch in Verbindungmit § 163a Absatz 3 Satz 2 oder Absatz 4 Satz 2 der Strafprozessordnung, unberührt. 4Wird die Vernehmung in Bild und Ton aufgezeichnet, gilt § 58a Absatz 2 und 3 der Strafprozessordnung entsprechend. (3) 1Eine Aufzeichnung in Bild und Ton nach Absatz 2 lässt die Vorschriften der Strafprozessordnung über die Protokollierung von Untersuchungshandlungen unberührt. 2 Wird eine Vernehmung des Beschuldigten außerhalb der Hauptverhandlung nicht in Bild und Ton aufgezeichnet, ist über sie stets ein Protokoll aufzunehmen. (4) 1Ist oder wird die Mitwirkung eines Verteidigers zum Zeitpunkt einer Vernehmung des Beschuldigten oder einer Gegenüberstellung (§ 58 Absatz 2 der Strafprozessordnung) notwendig, ist diese für eine angemessene Zeit zu verschieben oder zu unterbrechen, wenn ein Verteidiger nicht anwesend ist und kein Fall des § 68b vorliegt. 2Satz 1 gilt nicht, wenn der Verteidiger ausdrücklich auf seine Anwesenheit verzichtet hat. 1. Hw.: § 109 I 1. – 2. ErwG: § 104 I Nr. 11c.

Schrifttum Neubacher/Bachmann Audiovisuelle Aufzeichnung von Vernehmungen junger Beschuldigter, ZRP 17, 140.

Übersicht 1. 2. 3.

Allgemeines 1 2 Art der Vernehmung Aufzeichnung in Bild und Ton

4. 5. 3

Protokollierung 6 Verschiebung oder Unter7 brechung

1. Allgemeines Die Vorschrift wurde durch das G zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im 1 JStrafverfahren v. 9.12.2019 (dazu Einl. 136) zur Umsetzung einer Reihe von Vorgaben der Richtli-

9 Begr. RegE, BT-Drs. 17/9389, S. 19. 495 https://doi.org/10.1515/9783110686401-091

§ 70c

2. Teil. Jugendliche

nie (EU) 2016/800 in das JGG eingefügt. Sie gilt auch für Hw. (§ 109 I 1) und vor den ErwGerichten (§§ 104 I Nr. 11 c, 112 S. 1). § 44 bleibt unberührt1.

2. Art der Vernehmung 2 Abs. I dient der Umsetzung des Erwägungsgrundes 44 der Richtlinie (EU) 2016/800, nach der J in jedem Fall in einer Weise befragt werden sollten, die ihrem Alter und Reifegrad Rechnung trägt, und lehnt sich an Art. 13 Abs. II der Richtlinie an, nach dem u.a. mögliche Kommunikationsschwierigkeiten der J zu berücksichtigen sind2. Nach der Vorschrift muss die Durchführung der Vernehmung dem Alter sowie dem Entwicklungs- und Bildungsstand des j. Beschuldigten Rechnung tragen. Die Vernehmungsperson muss sich daher an den kommunikativen Fähigkeiten j. Menschen und den Besonderheiten des jeweiligen Beschuldigten ausrichten3.

3. Aufzeichnung in Bild und Ton 3 Abs. II setzt Art. 9 Abs. I der Richtlinie (EU) 2016/800 um, nach dem Befragungen des Beschuldigten durch die Strafverfolgungsbehörden audiovisuell aufzuzeichnen sind, wenn dies unter den Umständen des Falles verhältnismäßig ist. S. 1 erlaubt die Aufzeichnung von Vernehmungen außerhalb der Hauptverhandlung in Bild und Ton. Umfasst sind auch richterliche Vernehmungen außerhalb der Hauptverhandlung4. Über die Vornahme der Aufzeichnung entscheidet die vernehmende Stelle5. Die Entscheidung ist nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen6. Hierbei ist insbes. unter Berücksichtigung des Kindeswohls im Einzelfall zu beurteilen, ob die Aufzeichnung verhältnismäßig ist7. Das wird bei kleinen und mittelschweren Delikten häufig nicht der Fall sein8. Abs. II 2, 3 begründen Verpflichtungen zur audiovisuellen Aufzeichnung von Beschuldig4 tenvernehmungen9. Nach S. 2 müssen nichtrichterliche Vernehmungen aufgezeichnet werden, wenn zum Zeitpunkt der Vernehmung die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig ist, ein Verteidiger aber nicht anwesend ist. Dies ist der Fall, wenn nach Abs. IV 1 eine Vernehmung für eine angemessene Zeit verschoben oder unterbrochen worden ist und ein Verteidiger nicht erscheint, oder wenn der Verteidiger gem. IV 2 auf seine Anwesenheit verzichtet hat. Erfasst sind auch die Konstellationen des § 68b10. In den Fällen des § 68a I 2 greift die Aufzeichnungspflicht dagegen nicht ein11, denn hier muss im Interesse einer zügigen Sachbehandlung kein Verteidiger bestellt werden. Ist ein Verteidiger anwesend, ist nach der Gesetzesbegründung eine audiovisuelle Aufzeichnung generell nicht erforderlich12. Im Einzelfall kann aber die Ermessenausübung nach S. 1 die Erforderlichkeit einer Aufzeichnung ergeben13. S. 3 stellt durch den Verweis auf § 136 IV 2 StPO, auch iVm § 163a III 2 oder IV 2 StPO, klar, dass die in § 136 IV 2 Nr. 1

1 2 3 4 5 6 7 8 9

Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 66; Ostendorf/Sommerfeld 1. Begr. RegE aaO.; DSS/Sonnen 2. Eisenberg/Kölbel 16. Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 66; DSS/Sonnen 3. Eisenberg/Kölbel 18. Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 66 f; DSS/Sonnen 3; Eisenberg/Kölbel 18. Begr. RegE aaO. Ostendorf/Sommerfeld 5. Nach Eisenberg/Kölbel 21 sind die Verpflichtungen zu eng gefasst; die Regelung verteidigend Ostendorf/Sommerfeld 6a, 6b. 10 Eisenberg/Kölbel 20; Ostendorf/Sommerfeld 6. 11 Ostendorf/Sommerfeld 6; aA Eisenberg/Kölbel 20. 12 Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 67. 13 Ostendorf/Sommerfeld 6. 496

Vorläufige Anordnungen über die Erziehung

§ 71

und 2 StPO begründeten Aufzeichnungspflichten auch im JStrafverfahren gelten. Ein Verstoß gegen die Aufzeichnungspflichten berührt die Verwertbarkeit der Aussage grds. nicht14. Nach Abs. II 4 sind im Fall einer audiovisuellen Aufzeichnung die dem Schutz der Privat- 5 sphäre des Vernommenen dienenden § 58a II und II StPO entsprechend anwendbar. Damit wird Art. 14 Abs. III der Richtlinie (EU) 2016/800 umgesetzt, wonach audiovisuelle Aufzeichnungen von Befragungen nicht öffentlich verbreitet werden dürfen15.

4. Protokollierung Nach Abs. III 1 ist auch bei audiovisueller Aufzeichnung einer Beschuldigtenvernehmung nach 6 Maßgabe der §§ 168 bis 168b StPO ein Protokoll anzufertigen. Wird eine Beschuldigtenvernehmung außerhalb der Hauptverhandlung nicht audiovisuell aufgezeichnet, verpflichtet S. 2 in Umsetzung von Art. 9 Abs. II der Richtlinie (EU) 2016/800 zur Aufnahme eines Protokolls über die Vernehmung. Die Verpflichtung geht bei polizeilichen und staatsanwaltlichen Vernehmungen über die Soll-Vorschrift des § 168b II StPO hinaus16. Für richterliche Beschuldigtenvernehmungen besteht die Protokollierungspflicht bereits nach § 168 I 1 StPO.

5. Verschiebung oder Unterbrechung Durch Abs. IV wird Art. 6 Abs. VII der Richtlinie (EU) 2016/800 umgesetzt. Ist oder wird zum Zeit- 7 punkt einer Beschuldigtenvernehmung oder Gegenüberstellung die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig, ist dieser aber nicht anwesend, muss die Vernehmung oder Gegenüberstellung nach S. 1 grds. für eine angemessene Zeit verschoben oder unterbrochen werden. Welcher Zeitraum angemessen ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Von Bedeutung sind insbes. Aspekte des Kindeswohls und des fairen Verfahrens sowie die Dringlichkeit der Vernehmung oder Gegenüberstellung17. Zu beachten sind auch gesetzliche Zeitvorgaben, etwa in Haftsachen nach §§ 115 II und 115a II 1 StPO18. Erscheint der Verteidiger innerhalb der angemessenen Wartefrist nicht, kann die Vernehmung grds. ohne ihn durchgeführt werden19. Keine Verschiebung oder Unterbrechung ist in den Eilfällen des § 68b erforderlich, auch nicht im Fall des § 68a I 220. Nach S. 2 gilt S. 1 auch dann nicht, wenn der Verteidiger ausdrücklich auf seine Anwesenheit verzichtet hat. Eisenberg/ Kölbel21 lassen auch einen Verzicht des j. Beschuldigten auf die Anwesenheit des Verteidigers zu. Bei einem Verstoß gegen Abs. IV wird ein relatives Beweisverwertungsverbot anzunehmen sein22.

§ 71 Vorläufige Anordnungen über die Erziehung (1) Bis zur Rechtskraft des Urteils kann der Richter vorläufige Anordnungen über die Erziehung des Jugendlichen treffen oder die Gewährung von Leistungen nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch anregen. 14 15 16 17 18 19 20 21 22

Eisenberg/Kölbel 14; dagegen sehen Eckel/Körner NStZ 19, 435 die „Gefahr eines Beweisverwertungsverbots“. Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 68; DSS/Sonnen 4. Ostendorf/Sommerfeld 9. Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 68. AaO. AaO; Eisenberg/Kölbel 26; Ostendorf/Sommerfeld 11. Eisenberg/Kölbel 26. 27, 28. Für absolutes Verwertungsverbot Eisenberg/Kölbel 25.

497 https://doi.org/10.1515/9783110686401-092

§ 71

2. Teil. Jugendliche

(2) 1Der Richter kann die einstweilige Unterbringung in einem geeigneten Heim der Jugendhilfe anordnen, wenn dies auch im Hinblick auf die zu erwartenden Maßnahmen geboten ist, um den Jugendlichen vor einer weiteren Gefährdung seiner Entwicklung, insbesondere vor der Begehung neuer Straftaten, zu bewahren. 2Für die einstweilige Unterbringung gelten die §§ 114 bis 115a, 117 bis 118b, 120, 125 und 126 der Strafprozeßordnung sinngemäß. 3Die Ausführung der einstweiligen Unterbringung richtet sich nach den für das Heim der Jugendhilfe geltenden Regelungen. 1. [Hw.]: RL 5 S. 2; § 109 I 1. – 2. ErwG (nach Ermessen): RL 5 S. 1; § 104 II, RL.

Richtlinien zu § 71 1.

2.

3. 4.

5.

Vor Erlass einer vorläufigen Anordnung über die Erziehung sollte das Gericht regelmäßig die Jugendgerichtshilfe und, wenn notwendig, auch die Erziehungsberechtigten sowie die gesetzlichen Vertreter hören. Hiervon kann abgesehen werden, wenn die Anordnung keinen Aufschub duldet. In diesem Falle kann eine nachträgliche Anhörung angezeigt sein. Der Beschluss über die vorläufige Anordnung ist zu begründen (§ 34 StPO). Der einstweiligen Unterbringung in einem geeigneten Heim der Jugendhilfe kommt besondere Bedeutung zu, wenn die Voraussetzungen für den Erlass eines Haftbefehls gem. §§ 112 ff StPO vorliegen (§ 72 Abs. 4 Satz 1). Ist die Maßnahme durchführbar und reicht sie aus, so darf Untersuchungshaft nicht angeordnet oder vollzogen werden (§ 72 Abs. 1 Satz 1 und 3). Staatsanwaltschaft und Gericht sollten deshalb frühzeitig prüfen, ob ein geeignetes Heim zur Verfügung steht, und gegebenenfalls mit der Leitung der Einrichtung in Verbindung treten. Die Jugendgerichtshilfe ist heranzuziehen. Auf § 72a und die Richtlinie dazu wird ergänzend hingewiesen. Ist ein Haftbefehl bereits erlassen und stellt sich nachträglich heraus, dass die Unterbringung möglich ist, so kann der Haftbefehl durch einen Unterbringungsbefehl ersetzt werden. Der Unterbringungsbefehl nach § 71 Abs. 2 sollte insbesondere durch einen Haftbefehl ersetzt werden, wenn sich die einstweilige Unterbringung als undurchführbar oder ungeeignet erweist und die Haftvoraussetzungen fortbestehen (§ 72 Abs. 4 Satz 2). Auch im Verfahren gegen Jugendliche vor den für allgemeine Strafsachen zuständigen Gerichten kann eine vorläufige Anordnung über die Erziehung getroffen und die einstweilige Unterbringung in einem Erziehungsheim angeordnet werden (§ 104 Abs. 2). Im Verfahren gegen Heranwachsende sind diese Maßnahmen nicht zulässig.

Schrifttum Becker Festnahme u. Verhaftung von J u. Hw. – Probleme der geschlossenen Heime, Zbl. 81, 355; Bindel-Kögel/Heßler Vermeidung von UHaft bei J im Spannungsfeld zwischen JHilfe u. Justiz, 1999; Buchhierl Einstw. Unterbringung nach §§ 71, 72 JGG, MKrim. 69, 329; Carspeken Problematik der „einstw. Unterbringung“ nach § 71 II, 72 II JGG, Zbl. 76, 284; Czerner Vorläufige Freiheitsentziehung bei delinquenten J zwischen Repression u. Prävention, 2008; Eisenberg Möglichkeiten u. Grenzen der Heimunterbringung nach §§ 71 II, 72 III JGG, Zbl. 87, 325; Giehring Gewährleistungspflicht der öffentl. Träger der JHilfe für geschlossene Einrichtungen als „geeignetes“ ErzHeim iSd §§ 71 II, 72 III JGG, Zbl. 81, 461; Heßler Vermeidung von UHaft bei J, 2001; Heßler/Raabe/Schruth Das „Heim“ als betreutes Wohnangebot der JHilfe zur Vermeidung von UH, Zbl. 97, 35; Lösel/Pomplun JHilfe statt UHaft, 1998; Lüthke Vorläufige Maßnahmen nach §§ 71, 72 JGG, insbes. die Unterbringung in offenen Einrichtungen als Alternative zur UHaft bei J, Zbl. 82, 125; Miehe Formen der Heimerz. als Alternative zur UHaft, in DVJJ, Hrsg., JGGVerfahren u. Kriminalprävention, 1984, S. 242; Philipp § 71 – eine ungenützte Möglichkeit, Zbl. 79, 429; Roestel UHaft oder ErzHeim für straffällige Minderjährige, SchlHA 68, 155; Scheunemann J u. Hw. in Sicherungshaft, NJW 61, 644; Schnitzerling J u. Hw. in UHaft, RdJ 57, 81; Smok Vorläufige Anordnungen über die Erz. nach § 71 JGG – Eine vernachlässigte Vorschrift? 2009; Wehner Die Heimunterbringung im Strafverfahren nach §§ 71–73 JGG, RdJ 63, 381.

Übersicht 1. 2.

Zweck 1 Einzelheiten

2

3. 4.

Voraussetzungen der Anordnung 9 Verfahren

6

498

Vorläufige Anordnungen über die Erziehung

§ 71

1. Zweck Der ErzZweck des JVerfahrens könnte nicht erreicht werden, wenn der J bis zur Rechtskraft in einer 1 erz. schädlichen Umgebung gelassen oder – bei erheblicheren Straftaten und entsprechender Straferwartung nach der Persönlichkeit des J – die erz. wenig geeignete UHaft angeordnet werden müsste. Dem hilft bis zur Rechtskraft § 71 ab. Allerdings soll nach dem BVerfG1 dem ErzGedanken vor Abschluss des Verfahrens keine bes. Bedeutung zukommen und die erz. Einwirkung grds. den justizförmigen Nachweis der durch eine Straftat erkennbar gewordenen ErzBedürftigkeit und die Festsetzung einer entsprechenden Rechtsfolge voraussetzen. Ist jedoch die Entwicklung des J gefährdet und schnelles Handeln geboten, muss mit erz. Anordnungen nicht bis zu einem rechtskräftigen Urteil gewartet werden. Andernfalls könnten irreparable Schäden entstehen und würde die Möglichkeit zu stabilisierenden Maßnahmen verbaut, durch die Urteile mit eingriffsintensiven Sanktionen vermieden werden könnten2. Abs. II stellt nicht mehr auf die Erwartung von JStrafe ab, was in diesem Stadium des Verfahrens häufig kaum zu prognostizieren ist. Die Abstufung zwischen Abs. I und Abs. II bleibt aber gewahrt und zeigt sich darin, dass nach dem zugrunde liegenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nach Abs. II die Unterbringung im Hinblick auf die zu erwartenden Maßnahmen geboten sein muss, um einer Entwicklungsgefährdung zu begegnen. Für Fortdauer und Beendigung macht Abs. II 2 mit dem Hinweis auf sinngemäße Anwendung des § 120 StPO wiederum den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zur Entscheidungsgrundlage (s. auch Rn 7). Nach dem Subsidiaritätsprinzip kann UHaft nicht angeordnet werden, wenn die Unterbringung in einem geeigneten Heim der JHilfe (Abs. II) genügt (§ 72 I u. IV; RL 2); diese wiederum kann nicht angeordnet werden, wenn andere vorläufige Anordnungen ausreichen (Abs. II: „wenn … geboten“). Ein Haftbefehl kann stets durch einen Unterbringungsbefehl ersetzt werden, wenn nachträglich eine Unterbringung möglich erscheint (RL 3).

2. Einzelheiten Die vorläufigen Anordnungen über die Erz. nach Abs. I entsprechen den Weisungen. Sie 2 sind nicht erzwingbar. Die Verhängung von JA bei Verstößen ist nicht möglich3, notfalls muss Unterbringung oder UHaft angeordnet werden (Rn 5). Im Einzelnen kommen in Frage4: Betreuungsweisung (§ 10, 19), Eintritt in ein Heim, Aufnahme in eine Familie oder betreute Wohngemeinschaft, Übernahme oder Wechsel des Arbeitsplatzes oder einer Ausbildungsstelle, Herausnahme aus unguten Gruppierungen, Kfz-Verbot, auch die Gewährung von Leistungen nach dem SGB VIII. Es gilt das § 10, 34 Gesagte. Stets muss es sich um vorläufige, überbrückende Maßnahmen mit Einfluss auf die Lebensführung handeln. Nie darf damit zwangsweiser Freiheitsentzug wie bei UHaft (§ 72) oder Unterbringung in einem Heim der JHilfe nach § 12 Nr. 2 selbst in freien Formen (Rn 4) verbunden sein. Von den Möglichkeiten des Abs. I wird in der Praxis selten Gebrauch gemacht. Bei einer Befragung von JRichtern aus 4 Bundesländern gaben von 105 Richtern lediglich 9 an, die Vorschrift angewendet zu haben5. Reicht die getroffene Maßnahme nicht aus oder ist sie undurchführbar, so ist notfalls eine allg. 3 vorläufige Anordnung durch eine Heimunterbringung (Rn 4, 5), letztere aber durch Haftbefehl zu ersetzen, wenn dafür die Voraussetzungen vorliegen (RL 4; § 72, 6). Zur Anrechnung § 52a, 1. Die Unterbringung in einem Heim der JHilfe (Abs. II) ist echte Freiheitsentziehung, die ent- 4 sprechend dem Verhältnismäßigkeitsprinzip im Hinblick auf die zu erwartenden Maßnahmen, auch unterhalb der JStrafe, geboten sein muss, um einer Entwicklungsgefährdung des J, insbes. 1 2 3 4 5

BVerfGE 107, 104, 119 f. Grunewald NJW 03, 1996; zur Verfassungsmäßigkeit des § 71 s. Smok S. 265 ff, 317. Eisenberg/Kölbel 5; Ostendorf/Sommerfeld 6. Siehe Czerner S. 104 f. Smok S. 8.

499

§ 71

2. Teil. Jugendliche

der Begehung neuerlicher Straftaten, zu begegnen (Rn 6–8). Sie ist wie UHaft anrechenbar (§ 52a, 1) und erfolgt aufgrund eines dem Haftbefehl entsprechenden Unterbringungsbefehls, der ein bestimmtes Heim benennen muss (dazu Rn 5). Wandelt das Beschwerdegericht einen Haftbefehl in einen Unterbringungsbefehl nach §§ 71 II, 72 IV um und unterlässt es, das Heim zu bezeichnen, so ist dieser Beschluss fehlerhaft und es verbleibt beim Vollzug der UHaft6. Der Unterbringungsbefehl wird wie ein Haftbefehl vollstreckt. Die Unterbringung ist nicht auf ErzHeime im engeren Sinne beschränkt, sondern es kommen alle Heime der JHilfe je nach den Besonderheiten des Einzelfalls in Betracht7. Es muss sich jedoch um ein Heim handeln; andere Einrichtungen der JHilfe hat der Gesetzgeber ua im Hinblick auf die Anrechenbarkeit nach §§ 52, 52a nicht einbezogen8. 5 Es ist Aufgabe des JRichters, mit Hilfe der JStA und der JGH in Abstimmung mit dem Träger und im Einvernehmen mit der Leitung des Heimes das im Einzelfall nach seiner Einrichtung und personellen Besetzung am besten geeignete und auch dem Alter und Entwicklungsstand des J entsprechende Heim zu bestimmen9. Faktisch können sich die Gegebenheiten aber sehr rasch ändern. Durch die jetzige Fassung des Abs. II stellt sich die frühere Streitfrage nicht mehr, ob das Heim fluchtsicher sein muss. Denn Abs. II 1 stellt nicht mehr auf die Erwartung von JStrafe ab und kennzeichnet das ErzHeim nun als Möglichkeit einer vorläufigen ErzMaßnahme, die angeordnet werden kann, „ohne dass die Durchführung des Verfahrens durch Verdunkelungs- oder Fluchtgefahr gefährdet ist“10. Eine intensive und pädagogische Betreuung in den Heimen der JHilfe kann das Verfahren sichern helfen, zusätzliche bauliche Sicherung11 das Risiko des Scheiterns mindern. Es handelt sich aber auch um eine Form der Krisenintervention, um den J aus gefährdender Umgebung herauszunehmen, um ständig neuer Verführung eines labilen J zu steuern, damit einer Entwicklungsgefährdung entgegengewirkt werden kann, die vor allem durch Begehung neuer Straftaten gekennzeichnet ist (vgl. § 72, 10). Zu empirischen Befunden über die in den Heimen geleistete erfolgreiche Arbeit s. § 72, 5 aE. Eine Heimunterbringung kann auch die Anwendung des § 116 StPO noch möglich machen, wenn schwächere Maßnahmen (iSv Abs. I; vgl. Rn 4) nicht auszureichen scheinen12. Der Richter wird zu berücksichtigen haben, dass sich die Ausführung der einstweiligen Unterbringung des J nach den für das Heim der JHilfe geltenden Regeln richtet (Abs. II 3).

3. Voraussetzungen der Anordnung 6 Nach Abs. I: Verdacht einer Straftat, die Maßnahmen des JRichters rechtfertigt, sei es auch nur nach § 3 S. 2. Erforderlich ist hinreichender Tatverdacht iSd §§ 170 I, 203 StPO13. – Noch nicht eingetretene Rechtskraft, also schon vor Anklageerhebung und noch nach Urteilsspruch (s. auch Rn 15). – Notwendigkeit sofortigen Eingreifens aus erz. Gründen; es darf also nicht bloß ein „Denkzettel“ erteilt, ein einmaliges Tun angeordnet werden. 7 Nach Abs. II: Es muss erz. geboten sein, den J vor weiterer Gefährdung seiner Entwicklung zu bewahren (dazu Rn 4). Ostendorf/Sommerfeld14 wollen auf die Gefahr weiterer Deliktsbegehung begrenzen. Das darf aber gerade nicht ausreichen, denn die Wiederholungsgefahr als sol-

6 OLG Koblenz OLGSt S. 3 zu § 71. 7 OLG Hamm NJW 99, 230. 8 BT-Drs. 11/5829, S. 30; OLG Hamm aaO, das die Glenn Mills Schools in den USA nicht als Heim ansieht; dagegen Eickelkamp DVJJ-J 99, 95; eingehend zum Begriff des Heimes Heßler/Raabe/Schruth Zbl. 97, 35.

9 Hinweise zur Praxis der Unterbringung in den verschiedenen Bundesländern bei Eisenberg Zbl. 87, 327. 10 Begr. RegE eines 1. JGGÄndG, BT-Drs. 11/5829, S. 30. 11 Vgl. BMJ, Hrsg., „Diversion“ im deutschen JStrafrecht, 1989, S. 17; Böttcher/Weber NStZ 91, 10. 12 Vgl. Brunner JR 94, 378. 13 KG StV 16, 712; Czerner S. 101 ff. 14 3. 500

Vorläufige Anordnungen über die Erziehung

§ 71

che ist kein hinreichender Grund für diese erheblich eingreifende Maßnahme15, sondern erst die darin ggf. liegende und derart zum Ausdruck gebrachte Entwicklungsgefährdung. Von einer Art Krisenintervention (Rn 5) sprechen auch Böhm16 sowie Busch17 und Eisenberg/Kölbel18. Andere vorläufige Anordnungen über die Erz. dürfen nicht ausreichen (Rn 1). Die Unterbringung muss im Hinblick auf die zu erwartenden Maßnahmen verhältnismäßig sein (vgl. Rn 1). Ein Haftgrund iSd §§ 112, 112a StPO muss nicht vorliegen19. Aus gewichtigen und erz. vorrangigen Gesichtspunkten kann die Unterbringungsdauer im Einzelfall die Höhe der zu erwartenden JStrafe übersteigen20. Die Unterbringung in einem Heim der JHilfe nach Abs. II ist auch zulässig, wenn die Voraussetzungen für den Erlass eines Haftbefehls vorliegen (§ 72 IV) und vorläufige Anordnungen nach Abs. I nicht ausreichen. Die Notwendigkeit einer Untersuchung und Beobachtung hinsichtlich des Entwicklungs- 8 oder Geisteszustandes rechtfertigt eine Anordnung nach § 71 II nicht21; es wäre eine Umgehung der §§ 73 JGG, 81 StPO, doch kann eine zulässige Anordnung zugleich der Persönlichkeitserforschung dienen.

4. Verfahren Zuständigkeit: wie beim Haftbefehl (§ 125 StPO entsprechend; näheres § 72, 11). Daneben kann 9 der J auch nach § 126a StPO einstweilen untergebracht werden. § 71 II (und § 73 I) verdrängen die allg. Regelungen der StPO nur, soweit es um eine Anordnung zur Erz. oder um Einholung eines Gutachtens gem. § 73 I geht22. Die §§ 114–115a, 117–118b, 120, 125 und 126 StPO sind sinngemäß anwendbar. Aus der Nichterwähnung des § 116 StPO folgt, dass die Unterbringung nicht außer Vollzug gesetzt werden kann23. Anhörung: § 33 StPO, RL 1 S. 1–3. Abstimmung mit den Eltern empfiehlt sich stets. Eisen- 10 berg/Kölbel24 fordern Zustimmung der ErzBerechtigten. Was aber tun, wenn sie nicht zustimmen? Entscheidung durch begründeten Beschluss (§ 34 StPO; RL 1 S. 4); der Unterbringungsbe- 11 schluss entspricht dem Haftbefehl auch hinsichtlich der Vorführung vor den Richter, der Benachrichtigung der Angehörigen, der mündlichen Verhandlung auf Antrag, des Haftprüfungsverfahrens und der Aufhebung (Abs. II 2). – Dagegen findet bei der vorläufigen Unterbringung gem. § 71 II auch nach 6 Monaten keine Nachprüfung durch das OLG statt; das folgt schon daraus, dass die dafür geltenden Vorschriften (§§ 121 ff StPO) in § 71 II 2 nicht aufgeführt sind25. Das Strafverfahren muss aber mit bes. Beschleunigung geführt werden; andernfalls kann der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz die Beendigung der Unterbringung gebieten26. Ein Haftbefehl kann in einen Unterbringungsbefehl oder dieser in jenen umgewandelt werden (näher § 72, 6). Nach Umwandlung in einen Haftbefehl wird die im ErzHeim verbrachte Zeit nicht in die Sechsmonatsfrist des § 121 I

15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25

Begr. RegE eines 1. JGGÄndG, BT-Drs. 11/5829, S. 29. FS Dünnebier, 1982, S. 677. Zbl. 85, 399. 7. KG StV 16, 712. OLG Brandenburg NStZ-RR 03, 344. Eisenberg/Kölbel 3. OLG Düsseldorf MDR 84, 603. LG Zweibrücken NStZ-RR 04, 348. 4b. OLG Celle NJW 65, 2069; OLG Bamberg StraFo 15, 329; OLG Stuttgart StV 19, 472; zur Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung Burscheidt S. 49 ff. 26 KG StV 16, 712. 501

§ 72

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2. Teil. Jugendliche

StPO eingerechnet27. Dagegen erfolgt eine Einrechnung, wenn die Heimunterbringung nach § 72 IV 1 angeordnet wird und sich unmittelbar an die Unterbringung Untersuchungshaft (72 IV 2) anschließt28. Bei einem Hw. ist der Aufenthalt in einer nicht geschlossenen Einrichtung zur Haftvermeidung nicht in die Frist des § 121 I StPO einzurechnen29. Für die Frage der notwendigen Verteidigung wird man die Unterbringung gem. § 71 II der Untersuchungshaft gleichzustellen haben (dazu § 68, 17; entsprechende Anwendung)30. Bekanntmachung § 67a I; §§ 35 I, II 2, 41 StPO; MiStra 32 Nr. 2. Rechtsmittel ist die einfache Beschwerde ohne aufschiebende Wirkung (§§ 304, 307 StPO); bei Unterbringung in einem Heim der JHilfe (Abs. II) ist weitere Beschwerde gegeben (§ 310 I StPO entsprechend)31. – Es gelten aber auch hier die Rechtsmittelbeschränkungen des § 55 I, soweit es sich nicht um eine Anordnung nach Abs. II handelt. Beschwerdeberechtigte § 55, 3. Die Kosten der Maßnahmen sind Auslagen des Verfahrens (§ 74, 11 u. dort RL 4)32. Die Anordnung muss ausdrücklich aufgehoben werden. Mit Rechtskraft des Urteils wird nach dem klaren Wortlaut nur die Anordnung unzulässig; schon getroffene Maßnahmen aber bleiben bis zur Aufhebung bestehen33. Die Aufhebung erfolgt, wenn die Anordnung entbehrlich oder unzweckmäßig geworden ist, eine andere Maßnahme angeordnet wird oder wenn sie nach Rechtskraft überflüssig ist. Wo eine Anordnung getroffen wurde, sollte bei Urteilsverkündung auch über ihr Fortbestehen entschieden werden. Doch kann es zweckmäßig sein, die Anordnung noch kurze Zeit über die Rechtskraft hinaus bis zum Anlaufen der endgültigen Maßnahmen aufrechtzuerhalten (z.B. bei § 53)34.

§ 72 Untersuchungshaft (1) 1Untersuchungshaft darf nur verhängt und vollstreckt werden, wenn ihr Zweck nicht durch eine vorläufige Anordnung über die Erziehung oder durch andere Maßnahmen erreicht werden kann. 2Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit (§ 112 Abs. 1 Satz 2 der Strafprozeßordnung) sind auch die besonderen Belastungen des Vollzuges für Jugendliche zu berücksichtigen. 3Wird Untersuchungshaft verhängt, so sind im Haftbefehl die Gründe anzuführen, aus denen sich ergibt, daß andere Maßnahmen, insbesondere die einstweilige Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe, nicht ausreichen und die Untersuchungshaft nicht unverhältnismäßig ist. (2) Solange der Jugendliche das sechzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ist die Verhängung von Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr nur zulässig, wenn er 1. sich dem Verfahren bereits entzogen hatte oder Anstalten zur Flucht getroffen hat oder 2. im Geltungsbereich dieses Gesetzes keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt hat. (3) Über die Vollstreckung eines Haftbefehls und über die Maßnahmen zur Abwendung seiner Vollstreckung entscheidet der Richter, der den Haftbefehl erlassen hat, in dringenden Fällen der Jugendrichter, in dessen Bezirk die Untersuchungshaft vollzogen werden müßte.

27 KG JR 90, 216; OLG Karlsruhe NStZ 97, 452; DSS/Diemer 22; Eisenberg/Kölbel 16a; aA Ostendorf/Sommerfeld 11 bei geschlossener Heimunterbringung; Paeffgen NStZ 91, 424; 96, 74. 28 OLG Dresden JR 94, 377 mit abl. Anm. Brunner; OLG Karlsruhe NStZ 97, 452; DSS/Diemer § 72, 15; Eisenberg/ Kölbel § 72, 13; Ostendorf/Sommerfeld § 72, 14; Meyer-Goßner/Schmitt § 121 StPO 6a; Paeffgen NStZ 96, 74. 29 OLG Köln NStZ-RR 11, 121 = ZJJ 11, 204 mit abl. Anm. Eisenberg. 30 Zust. Eisenberg/Kölbel 14a; Ostendorf/Sommerfeld 11. 31 OLG Hamburg NJW 63, 1167; NJW 64, 605; Dallinger/Lackner 22; Eisenberg/Kölbel 16; Potrykus B 9. 32 Giehring Zbl. 81, 474; Eisenberg/Kölbel 19. 33 Dallinger/Lackner 23; Eisenberg/Kölbel 18; aA Potrykus B 5. 34 Dallinger/Lackner 23; Eisenberg/Kölbel 18. 502 https://doi.org/10.1515/9783110686401-093

Untersuchungshaft

§ 72

(4) 1Unter denselben Voraussetzungen, unter denen ein Haftbefehl erlassen werden kann, kann auch die einstweilige Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe (§ 71 Abs. 2) angeordnet werden. 2In diesem Falle kann der Richter den Unterbringungsbefehl nachträglich durch einen Haftbefehl ersetzen, wenn sich dies als notwendig erweist. (5) Befindet sich ein Jugendlicher in Untersuchungshaft, so ist das Verfahren mit besonderer Beschleunigung durchzuführen. (6) Die richterlichen Entscheidungen, welche Untersuchungshaft betreffen, kann der zuständige Richter aus wichtigen Gründen sämtlich oder zum Teil einem anderen Jugendrichter übertragen. 1. [Hw.]: RL 5; § 109 I 1. – 2. ErwG: RL 5; § 104 I Nr. 5. Zu Abs. 4 vgl. aber auch RL zu § 104.

Richtlinien zu § 72 1.

2.

3. 4. 5.

Das Verfahren gegen verhaftete Jugendliche soll durch Ermittlungen gegen Mitbeschuldigte oder durch kommissarische Zeugenvernehmungen nach Möglichkeit nicht verzögert werden. Erforderlichenfalls ist das Verfahren abzutrennen. Werden Jugendliche an einem Ort ergriffen, der weder ihr gewöhnlicher Aufenthaltsort ist noch zum Bezirk des Gerichts gehört, dem die vormundschaftsrichterlichen Erziehungsaufgaben obliegen, so veranlasst die Staatsanwaltschaft in der Regel unverzüglich, dass die Jugendlichen durch Einzeltransport dem Gericht überstellt werden, das für die vormundschaftsrichterlichen Erziehungsaufgaben zuständig ist. Gleichzeitig beantragt sie beim bisherigen Haftrichter, dass dieser seine Aufgaben auf das Gericht überträgt, das die vormundschaftsrichterlichen Erziehungsaufgaben wahrzunehmen hat. Zur einstweiligen Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe wird auf die Richtlinien zu § 71 hingewiesen. Wegen des Vollzugs der Untersuchungshaft wird auf § 93 und die Richtlinie dazu hingewiesen. § 72 gilt auch im Verfahren gegen Jugendliche vor den für allgemeine Strafsachen zuständigen Gerichten (§ 104 Abs. 1 Nr. 5), aber nicht im Verfahren gegen Heranwachsende (§ 109).

Schrifttum Banike Haftvermeidungsprojekte für j Straftäter als Alternative, ZJJ 04, 290; dies. Möglichkeiten der Haft- u. UHaftvermeidung bei j. u. hw. Straftätern am Beispiel des Kölner Vereins Maßstab e. V., NK 04, 129; Becker UHaft bei J u. Hw., JR 55, 45; Bindel-Kögel/Heßler Vermeidung von UHaft durch JHilfe, DVJJ-J 97, 297; dies. Vermeidung von UHaft in Berlin, DVJJ-J 99, 289; dies. Vermeidung von UHaft bei J im Spannungsfeld von JHilfe u. Justiz, 1999; Blumenberg/ Wetzstein ErzHilfe statt UHaft, 1991; Busch Zusammenarbeit von JGH u. Justiz, Zbl. 85, 393; Cornel UHaft bei J u. Hw., StV 94, 628; ders. Der Beitrag der Sozialarbeit zur Vermeidung von UHaft, BewH 94, 393; Bussmann/England Vermeidung von UHaft an J u. Hw., ZJJ 04, 270; Czerner Vorläufige Freiheitsentziehung bei delinquenten J zwischen Repression u. Prävention, 2008; Dünkel Die Praxis der UHaft in den 90er Jahren, StV 94, 610; Eisenberg/Toth Über Verhängung u. Vollzug von UHaft bei J u. Hw., GA 93, 293; Eisenhardt Der ErzAuftrag des JGG u. seine Durchführung in der UHaft, Zbl. 81, 240; El Zaher/Friedrich/Klawe/Pleiger Menschen statt Mauern, o.J.; Gebauer Die Rechtswirklichkeit der UHaft, 1987; ders. Chancenausgleich u. UHaft-Verkürzung durch frühe Verteidigermitwirkung, StV 94, 622; Großmann Die Persönlichkeitserforschung des inhaftierten Rechtsbrechers, 1972; Heinz Junge Menschen in UHaft, in DVJJ-BW, INFO 1/86, S. 3; ders. Recht u. Praxis der UHaft, BewH 87, 5; Herold UHaft bei J u. Hw., RdJ 57, 103; Heßler Vermeidung von UHaft bei J, 2001; Hotter UHaftVermeidung für J u. Hw. in Baden-Württemberg, 2004; Hubert Handlungsmöglichkeiten, Motive u. Hemmnisse für die Anordnung bzw. Vermeidung von UHaft bei J u. Hw., Zbl. 95, 439; Jehle Voraussetzungen u. Entwicklungstendenzen der UHaft, BewH 94, 373; Jung-Pätzold UHaft bei Hw. in Baden-Württemberg, in DVJJ-BW, Freiheitsentzug im JStrafrecht, 2011, S. 7; Kawamura Zur Praxis der Vermeidung von UHaft durch Angebote der Sozialarbeit, BewH 94, 409; Kowalzyck Geschlossene Unterbringung als Alternative der UHaftVermeidung bei J, DVJJ 02, 300; ders. UHaft, UHaftVermeidung u. geschlossene Unterbringung bei J u. Hw. in Mecklenburg-Vorpommern, 2008; Krause Anordnung u. Vollz. der UHaft bei J, Diss. Kiel 1971; Krebs Über die Durchführung der UHaft insbes. an Minderjährigen, MKrim. 66, 301; Kreuzer UHaft bei J u. Hw., RdJ 78, 337; Laubenthal UHaft bei J: Rechtliche u. tatsächliche Defizite, FS Heinz, 2012, S. 440; Linck Zulässigkeit u. Grenzen der erz. Gestaltung der UHaft bei J nach Art. 6 GG, ZRP 71, 57; Lösel/Pomplun JHilfe statt UHaft, 1998; Mader Präzeptorei Schönberg – Untersuchungshaftvermeidung, Inobhutnahme u. Hilfen zur Erz. seit 1999, ZJJ 18, 240; Matenaer Die Beteiligung der JGH bei der Unterbringung von J u. Hw. in UHaft, Zbl. 83, 21; von Nerée Die Zulässigkeit der Sicherungshaft gemäß § 112a StPO, insbes. bei Anwendung von JStrafrecht, StV 93, 212; Peterich Konzept zur Vermeidung der UHaft bei j. u. hw. Straftäterinnen u. Straftätern, DVJJ-J 97, 144; Pfeiffer Die Anordnung der UHaft … in den 93 503

§ 72

2. Teil. Jugendliche

Landgerichtsbezirken (Kurzfassung des 1. Teils einer Expertise zum 8. JBericht 1988); Reinecke Haftentscheidungshilfen durch die JGH, BewH 87, 41; Sauer Strukturelle Reformen zur U-Haft-Vermeidung, DVJJ-J 97, 141; Schäfer Die UHaftVermeidung in Deutschland, DVJJ-J 02, 313; Schroeder UHaftvermeidung in Mecklenburg-Vorpommern, DVJJJ 02, 310; Schütte UHaftvermeidung bei J, 2008; Seiser UHaft als ErzHaft im JStrafrecht? 1987; Staudinger UHaft bei jungen Ausländern, 2001; M. Steinhilper UHaft bei 14- u. 15-jährigen in Niedersachsen, 1985; Tappe UHaftVermeidung u. Freiheitsentzug in der JHilfe, FS 18, 342; Villmow Junge Tatverdächtige in der UH, ZJJ 09, 226; Villmow/ Roberts UHaftVermeidung bei J, 2004; Villmow/Savinsky Neue Entwicklungen im Bereich der JugendUHaft u. der UHaftVermeidung, FS Heinz, 2012, S. 343; dies. 14-/15-jährige Beschuldigte zwischen JugendUHaft u. UHaftVermeidung bzw. -verkürzung. Wie wirksam sind die §§ 71–72a JGG? ZJJ 13, 388; Voigt Fluchtgefährdete Jugendliche? Zum Verhältnis zwischen § 72 II JGG u. § 112 III StPO, FS Eisenberg zum 80. Geburtstag, 2019, S. 281; Walter UHaft u. Erz. bei jungen Gefangenen, MKrim. 78, 337; Weber Geschlossene Unterbringung im JStrafverfahren, RdJ 99, 305; Weinknecht Die Situation der UHaft u. der Unterbringung an J u. Hw., 1988; Will UHaftvermeidung in Thüringen, DVJJ-J 99, 49; de Wyl Die Wirkungen der UHaft bei J u. Hw., RdJ 58, 305 u. 329; Zender UHaft an weibl. u. männl. J. u. Hw., Diss. Bonn 1998; Zimmer UHaftvermeidung j. Straftäter, DVJJ-J 97, 321; Zirbeck Die UHaft bei J u. Hw., Diss. Göttingen 1973; vgl. auch die Beiträge in ZJJ 11, 240 ff; s. außerdem das Schrifttum zu § 71.

Übersicht 1. 2. 3. 4. 5.

Haftpraxis 1 2 Haftfolgen Verhältnismäßigkeit und Subsidiarität 4 Hilfe der JGH Besondere Begründung des Haftbefehls

3 5

6. 7. 8. 9. 10.

Unterbringungsbefehl, Haftbefehl 7 Fluchtgefahr Fluchtgefahr bei 14- u. 15-jährigen 10 Weitere Haftgründe 11 Verfahren

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1. Haftpraxis 1 Die Zahl der in UHaft genommenen J und Hw. ist in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zurückgegangen und in den neunziger Jahren ua aufgrund eines zunehmenden Ausländeranteils angestiegen; seit der Jahrtausendwende ist eine deutliche Abnahme der j und hw. Inhaftierten zu verzeichnen1. Jeweils zum 1. Januar bzw. ab 2003 zum 31. März befanden sich in der Bundesrepublik in ihrem jeweiligen Bestand in UHaft 1980: 649 J, 1990: 324 J, 2000: 893 J, 2010: 468 J und 2018: 430 J; die Zahlen für die Hw. lauten: 1980: 1.354, 1990: 1.087, 2000: 2.135, 2010: 1.026 und 2018: 1.2152. Für den recht hohen Anteil der UHäftlingen an allen Inhaftierten werden vielfach ungeschriebene („apokryphe“) Haftgründe, z.B. Krisenintervention oder Vorbereitung einer Strafaussetzung durch eine kurze, schockartige Haft, verantwortlich gemacht3. Nur etwa die Hälfte der verurteilten UHäftlinge erhalten eine zu vollziehende Freiheitsstrafe4, was immerhin gegen den Vorwurf spricht, dass versucht werde, die UHaft nachträglich zu „rechtfertigen“. Für inhaftierte junge Ausländer wurde festgestellt, dass sie vor allem bei Eigentumsdelikten ohne Gewaltanwendung überrepräsentiert sind5. M. Steinhilper6 fand bei ihrer Untersuchung von 14- und 15-jährigen UHäftlingen die verhängten Sanktionen in keinem angemessenen Verhältnis zu den negativen Wirkungen der Inhaftierung7. Heinz8 warnt davor, über die Hintertür der UHaft kurze J- oder Freiheitsstrafen wieder einzuführen. Untersuchungen ergaben erheb1 2 3 4 5 6 7 8

Streng Rn 165. Streng aaO. Dünkel StV 94, 613 mwN. Ostendorf/Sommerfeld Grdl. zu §§ 71–73, 6; Dünkel aaO, 614; Heinz S: 31. Schütze in Trenczek, Hrsg., Freiheitsentzug bei jungen Straffälligen, 1993, S. 139. 1985. De lege ferenda für Begrenzung der UH bei 14- u. 15-Jährigen auf Straftaten iSv § 74 II GVG Heinz S. 93. BewH 87, 16. 504

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liche regionale Unterschiede in der Verhängung von UHaft9. Es kommt somit darauf an, die UHaft auf die Fälle zu beschränken, in denen sie unumgänglich ist, und sich um eine gleichmäßige Anwendung zu bemühen. Zur UHaft bei nicht deutschsprachigen j. Ausländern s. Einf. 48.

2. Haftfolgen Es ist unbestritten, dass für J die Folgen der UHaft in krimineller Ansteckung sowie in Identitäts- 2 verlusten bis hin zu dauernden Störungen der seelischen Entwicklung bestehen können10. Vgl. auch § 68, 17. Je jünger der J ist, desto näher liegt eine ernstliche Gefährdung (vgl. Rn 9), zumal M. Steinhilper11 bei ihren Untersuchungen in Niedersachsen bei 10 % der 14–15-jährigen UHäftlingen geistig-seelische Behinderungen festgestellt hat12. Abs. I 2 weist expressis verbis auf die bes. Belastung der J durch den UHaft-Vollzug hin. Auch dies begründet neben Abs. V die hier gebotene Beschleunigung, die auch in §§ 121, 122 StPO ihren Ausdruck findet (weiter Rn 12)13.

3. Verhältnismäßigkeit und Subsidiarität Es darf deshalb UHaft gegen J (u. Hw.) nur dann verhängt werden, wenn der Richter nach einge- 3 hender Prüfung das Gewicht der Tat und die Rechtsfolgenerwartung bei der Persönlichkeit des J nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz für so schwerwiegend hält, dass trotz der Intensität des Eingriffs in die Lebenssphäre des J und der möglichen abträglichen Folgen (Rn 2) UHaft unerlässlich ist und keine andere Maßnahme an ihrer Stelle ausreicht (Abs. I 1; dazu Rn 4 aE), insbes. auch nicht die einstweilige Unterbringung in einem Heim der JHilfe (vgl. Abs. I 3; Rn. 5)14. Geboten ist eine sorgfältige Einzelfallprüfung, um zu gewährleisten, dass der J bis zur Grenze des Vertretbaren von UHaft mit ihrer bes. Belastung verschont bleibt15. Dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kommt gerade im JStrafrecht bes. Gewicht zu (Abs. I 2)16. Bei einem 16jährigen Ersttäter, dem zwei Diebstähle mit Beutewerten von 85 bzw. 300 Euro vorgeworfen werden, ist UHaft unverhältnismäßig17. Als mildere Maßnahme kommt auch die Außervollzugsetzung des Haftbefehls iVm der Anweisung, in einer JArrestanstalt zu wohnen, in Betracht. Mit diesem Vorgehen sind in Hamburg u. Baden-Württemberg recht positive Erfahrungen gesammelt worden18. Das Subsidiaritätsprinzip beherrscht im JStrafrecht alle Maßnahmen und fordert eingehende Prüfung, ob nicht mildere an Stelle eines Haftbefehls ausreichen (§ 71, 1–3). Bei Zweifeln wird der Richter die mildere Maßnahme wählen, zumal der Unterbringungsbefehl (Abs. IV 1) in einen Haftbefehl umgewandelt werden kann, wenn sich das als unumgänglich erweist (Abs. IV 2; Rn 6). Nach dem OLG Hamm19 sind die Haftgründe bei J restriktiv auszulegen.

9 Gebauer 1987 S. 166 ff, 200 ff, 305; Pfeiffer 1988; Heinz S. 32. 10 Begr. RegE eines 1. JGGÄndG, BT-Drs. 11/5829, S. 30. 11 1985 S. 59. 12 Zu Beeinträchtigungen im Sozial-, Ausbildungs- u. Arbeitsbereich Spieß in Kury,Hrsg., Prävention abweichenden Verhaltens, 1982, S. 591. Vgl. OLG Zweibrücken B NStZ 90, 530; StV 02, 433, 434. OLG Köln OLGSt Nr. 1 zu § 226 StGB. OLG Zweibrücken StV 01, 183; StV 02, 433, 434. LG Zweibrücken StV 96, 158. LG Zweibrücken StV 99, 161. Vgl. Hinrichs DVJJ-J 92, 133; Thalmann DVJJ-J 93, 177; Bühler ZfStrVo 95, 278. StV 96, 275; NJW 99, 230; ZJJ 04, 435, 436.

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IdR kommt ein Haftbefehl nur in Betracht, wenn JStrafe zu erwarten ist20. Aus generalpräventiven Gründen darf UHaft nicht verhängt werden21.

4. Hilfe der JGH 4 Die Einschaltung der JGH ist im Regelfall zur Prüfung der jugendspezifischen Haftvoraussetzungen erforderlich22. Wenn irgendwie möglich, sollte der Richter schon vor beabsichtigtem Erlass eines Haftbefehls mit der JGH Verbindung aufnehmen (evtl. fernmündlich, wobei es gut ist, wenn man weiß, mit wem man spricht), um verlässliche Informationen über Persönlichkeit und Umwelt des J zu erhalten oder auf den neuesten Stand zu ergänzen und um qualifizierte Angebote zur Vermeidung der Haft zu bekommen. Insoweit ist eine enge Zusammenarbeit von Polizei, StA, JGH und Haftrichtern erforderlich23. Matenaer24 betont die Aufgabe der JGH, zeitig dem Haftrichter Entscheidungsgrundlagen zu geben, zur Situation des J, zum sozialen Umfeld, zu möglichen individuellen Auswirkungen der UHaft und zu Alternativen (vgl. Abs. I 1–3). Bundesweit bemüht sich die JGH fortschreitend, UHaft-Alternativen bereitzustellen25. Die Möglichkeiten einer alternativen Unterbringung dürften noch nicht ausgeschöpft sein26. Zu den Haftentscheidungshilfen nach § 72a: 72a, 1–4 u. § 38, 13–18.

5. Besondere Begründung des Haftbefehls 5 Während in der schriftlichen Begründung des Haftbefehls im ErwStrafrecht auf die Verhältnismäßigkeit nur eingegangen werden muss, wenn deren Ausschluss naheliegt oder der Beschuldigte sich darauf beruft (§ 112 I 2 iVm § 114 III StPO), muss im JStrafrecht der Richter fallbezogen und konkret darlegen, weshalb andere Maßnahmen, bes. nach § 71 I u. II, nicht ausreichen und dass die UHaft nicht unverhältnismäßig ist (Abs. I 3; dazu auch Rn 3)27. Damit soll in Anbetracht des weiten Beurteilungsspielraumes die bes. Verantwortung des Richters wachgehalten und ein Abgleiten in subjektive Befürchtungen und leere formelhafte Wendungen vermieden werden28. Die Regelung des Abs. I 3 ist zwingend; es handelt sich nicht um eine bloße Ordnungsvorschrift29. Die einstweilige Unterbringung nach Abs. IV 1 iVm § 71 II muss in einem Heim der JHilfe erfolgen; andere Einrichtungen der JHilfe werden von der Vorschrift nicht erfasst30 (vgl. § 71, 4). Einer Unterbringung in den Glenn Mills Schools in den USA steht nach dem OLG Hamm31 neben dem fehlenden Heimcharakter entgegen, dass der J dort dem unmittelbaren 20 OLG Zweibrücken StV 02, 433, 434; Eisenberg/Kölbel 5; enger Ostendorf/Sommerfeld 8: nur wenn unbedingte JStrafe zu erwarten ist.

21 LG Hamburg StV 94, 593; LG Zweibrücken StV 99, 161; StV 02, 433, 434; Eisenberg/Kölbel 5; Rzepka StV 94, 593; aA OLG Hamburg StV 94, 590, das einen Haftbefehl auch aus Gründen der positiven Generalprävention auch dann für zulässig hält, wenn keine JStrafe zu erwarten ist, Art und Schwere des Vorwurfs sowie die Häufigkeit des Auftretens gleichgelagerter Taten aber die Durchführung des Verfahrens unerlässlich machen. 22 OLG Zweibrücken StV 01, 183. 23 Bindel-Kögel/Heßler DVJJ-J 97, 298. 24 BewH 87, 35. 25 Vgl. den Überblick über Projekte zur Vermeidung der UHaft bei Kawamura BewH 94, 409; Bindel-Kögel/Heßler DVJJ-J 97, 297; zu Berlin Bindel-Kögel/Heßler DVJJ-J 99, 289; zu Thüringen Will DVJJ-J 99, 49; zu Lüneburg Peterich DVJJ-J 97, 144; für Rheinland-Pfalz das ministerielle Rundschreiben v. 1.7.1997, abgedruckt in DVJJ-J 97, 432. 26 Zimmer DVJJ-J 97, 321. 27 BVerfG NJW 20, 1504; OLG Zweibrücken StV 01, 183. 28 Böttcher/Weber NStZ 91, 9. 29 OLG Hamm NStZ 10, 281; OLG Karlsruhe Strafo 10, 206. 30 OLG Hamm NJW 99, 230. 31 AaO. 506

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Zugriff der deutschen Justiz entzogen und damit der Grundsatz der Verfahrensbeschleunigung nach Abs. V nicht gewahrt ist32. Die an Stelle von UHaft tretende Anordnung der einstweiligen Unterbringung ist an den für eine Freiheitsentziehung geltenden Garantien zu messen33. Die einstweilige Unterbringung in einem Heim der JHilfe hat sich als Alternative zur UH bewährt34. Sie erfordert bei Fluchtgefahr die Gewissheit des Gerichts, dass es sich auf den J verlassen kann35.

6. Unterbringungsbefehl, Haftbefehl Der nach Abs. IV 1 erlassene Unterbringungsbefehl kann in einen Haftbefehl umgewandelt 6 werden (Abs. IV 2), wenn es sich als unerlässlich erweist. Dallinger/Lackner36 lassen dazu eine andere Beurteilung der Tatsachen ausreichen; der Vertrauensschutz fordert aber eine Änderung der Tatsachen, eine neue Situation, die neue Beurteilung notwendig macht37. Bei Umwandlung müssen seit Einfügung der Abs. I 3 und Abs. II deren bes. Gründe (Rn 5 u. 9) im Einzelnen dargelegt werden, denn der Unterbringungsbefehl ist gerade deshalb erlassen worden, weil die bes. jrechtlichen Haftgründe als nicht gegeben angesehen worden sind. Im Übrigen müssen sich die Umstände verändert haben. So kommt eine Umwandlung in Betracht, wenn der J aus dem Heim entweicht und neue Straftaten begeht38. Zur Einrechnung in die Sechsmonatsfrist des § 121 I StPO bei Umwandlung eines Unterbringungsbefehls in einen Haftbefehl s. § 71, 11. Vgl. auch § 71, 2 u. § 68, 17.

7. Fluchtgefahr Mit zusätzlicher Prüfung der Altersreife (§ 3) gelten im JStrafrecht für den Erlass eines Haftbe- 7 fehls die gleichen Voraussetzungen wie für Erw. Folgende Besonderheiten aber sind zu beachten und führen zumeist zu anderen, dem Beschuldigten günstigeren Ergebnissen. Fluchtgefahr mag bei J, die leichter zu Kurzschlusshandlungen neigen, auch bei Taten 8 geringeren Gewichts vorliegen; dann aber wird es an der Verhältnismäßigkeit fehlen (Rn 3) und sich § 71 anbieten (§ 71, 1, 2). Im Übrigen dürfte der Trend zu ambulanten Sanktionen gerade hier einem Fluchtanreiz entgegenwirken39. Bei der Prüfung von Fluchtgefahr ist zu berücksichtigen, dass die für eine Flucht erforderlichen Handlungsmöglichkeiten bei j. Beschuldigten eingeschränkt sein können40. Zu Recht weist Heinz41 auf die frappierende Mehrdeutigkeit der Tatsachen hin, mit der oftmals die Fluchtgefahr begründet werden soll: Reichtum, der die Flucht ermöglicht, Armut, die nicht an die Scholle fesselt. Vgl. auch Rn 9. Bei der Prüfung von Fluchtgefahr wegen hoher Straferwartung darf bei einem Hw. nicht offen bleiben, ob allg. Strafrecht oder JStrafrecht Anwendung finden wird42. Liegt bei einem Hw. die Anwendung von JStrafrecht nahe, 32 Dazu krit. Eickelkamp DVJJ-J 99, 95 f. 33 BbgVerfG NJW 03, 2009. 34 Vgl. die Begleitforschungen von Bindel-Kögel/Heßler, Blumenberg/Wetzstein, Hotter, Kowalzyk, Lösel/Pomplun, Villmow/Robertz und El Zaher/Friedrich/Klawe/Pleiger sowie Weiß in DVJJ-BW, Zwischen Rationalität und Rationalisierung – JStrafrechtspflege u. JHilfe auf neuen Wegen? 2006, S. 11 und Thomsen ZJJ 09, 52, 53. 35 BGH ZJJ 16, 410, 411 mit krit. Anm. Eisenberg/Wolf; KG NStZ-RR 10, 156 = ZJJ 10, 74 mit abl. Anm. Eisenberg/ Huck. 36 12. 37 So auch DSS/Diemer 14; Potrykus B 4. 38 OLG Hamm NJW 99, 230. 39 Vgl. Heinz BewH 87, 16. 40 KG StV 17, 748. 41 AaO, S. 23. 42 KG StraFo 15, 108 = ZJJ 15, 204 mit zust. Anm. Eisenberg. 507

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dürfen Erwägungen zur Fluchtgefahr nicht von einer Straferwartung in Höhe der nach allg. Strafrecht in Betracht kommenden Freiheitsstrafe ausgehen43. Es ist zu beachten, dass UHaft wegen Fluchtgefahr nur auf die Sicherung des Verfahrens zielt, nicht aber auf Krisenintervention. Vgl. auch Rn 9 aE44.

8. Fluchtgefahr bei 14- u. 15-jährigen 9 In den Jahren 1985/86 waren bundesweit je etwa 250 J von 14–15 Jahren in UHaft45. Nach M.Steinhilper46 wurde in den Jahren 1977–1982 im Jahresdurchschnitt gegen 1 % der Verurteilten dieser Altersgruppe Haftbefehl erlassen und zumeist nach 5–6 Wochen wieder aufgehoben. Ihre Untersuchungen für Niedersachsen47 haben ergeben, dass bei etwa 80 % dieser Altersgruppe Fluchtgefahr als Haftgrund genannt ist. Gebauer48 hat für das Bundesgebiet ermittelt, dass an 1. Stelle UHaft wegen Entlaufens aus Elternhaus oder Heim und an 2. Stelle wegen der zu erwartenden Rechtsfolgen verhängt worden ist, die aber häufig der UHaft und ihren negativen Wirkungen nicht entsprochen hätten. Deshalb und wegen der bes. Gefährdung durch die UHaft (Rn 2) darf nach Abs. II gegen J, die das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, UHaft wegen Fluchtgefahr nur verhängt werden, wenn sie sich dem Verfahren bereits entzogen oder Anstalten zur Flucht getroffen haben (Nr. 1) oder im Geltungsbereich dieses Gesetzes keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt haben (Nr. 2)49. Man wird der ratio legis entsprechend hier auf das Alter zZ des Erlasses des Haftbefehls abzustellen haben. Von dieser Altersgruppe wird also Haft wegen Fluchtgefahr im Wesentlichen wohnsitz- und bindungslos herumreisende Bandenund Serientäter treffen, die sich auch kaum in Heimen halten lassen. Nächtliches Herumtreiben allein reicht für die Bejahung der Nr. 2 nicht50. In Fällen schwerster Kriminalität ist auch bei dieser Altersgruppe UHaft unter gegebenen Voraussetzungen nicht ausgeschlossen. Auch für diese Altersgruppe können in der UHaft bes. Maßnahmen zur Minderung der Gefährdung gefunden werden. Liegen die Voraussetzungen für Fluchtgefahr nach Abs. II nicht vor, kommt auch eine Unterbringung nach Abs. IV nicht in Betracht; möglich ist nur eine Unterbringung nach § 71 II, wenn die dort genannten Voraussetzungen erfüllt sind51.

9. Weitere Haftgründe 10 Verdunkelungsgefahr wird im Wesentlichen nur bei fester strukturierten Gruppen oder Banden (dazu Einf. 58–64) ernstlich zu befürchten sein und zu UHaft führen können. Die Wiederholungsgefahr wird bei J nur in Ausnahmefällen so schwerwiegend und die Allgemeinheit gefährdend sein können, dass sich deshalb ein Haftbefehl rechtfertigt52. Entgegen Weber53 ist der Haftgrund der Wiederholungsgefahr durch § 71 II nicht ausgeschlossen54. Im Regelfall bietet sich die Einweisung in ein ErzHeim (Abs. IV 1)55 oder in eine andere Einrichtung der JHilfe mit geziel43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55

OLG Köln StraFO 97, 279 mit Anm. Hiebl. Zur vorläufigen Festnahme Böttcher/Weber NStZ 91, 10. Begr. RegE eines 1. JGGÄndG, BT-Drs. 11/5829, S. 32. ZfStrVo 85, 140 ff, 165. 1985 S. 19. 1987. Für Erstreckung des § 72 II auf alle J u. Hw. Heinz S. 93. OLG Hamm StV 96, 275. Böttcher/Weber NStZ 91, 10. OLG Hamm StV 96, 275; ZJJ 04, 435, 436. RdJ 99, 311. Czerner S. 111, 374 ff. OLG Hamm NStZ-RR 02, 120. 508

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ter Therapie als „Krisenintervention“ an, um den J vor sich selbst zu schützen und einer (weiteren) Entwicklungsstörung entgegenzusteuern. Ggf. kann der Wiederholungsgefahr durch Auflagen nach § 116 StPO begegnet werden56. Nach § 112a II Nr. 2 StPO muss für die neu abzuurteilenden Taten auch ohne Einbeziehung nach § 31 II oder von Nichtkatalogtaten eine Jugendstrafe von mehr als einem Jahr zu erwarten sein57. Nach dem OLG Bremen58 und dem OLG Frankfurt59 steht die Tatsache, dass die Vortat nur mit Zuchtmitteln geahndet wurde, der Annahme einer die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigenden Straftat iSd § 112a I 1 Nr. 2 StPO nicht entgegen60. Ein Haftbefehl nach § 230 II StPO darf nur ergehen, wenn eine polizeiliche Vorführung nicht ausreicht61.

10. Verfahren Das Verfahren einschließlich Haftprüfung und die Anfechtung richten sich nach allg. Recht 11 (§§ 112 ff StPO); doch sind die Rechte der gesetzlichen Vertreter und der ErzBerechtigten (§ 67 I, II) zu beachten. Zur Benachrichtigung Rn 13. Das gilt auch für die Zuständigkeit (§§ 125, 126, 207 IV; 268b StPO; das Berufungsgericht ist mit Akteneingang zuständig); es nicht das allg., sondern das JGericht zur Entscheidung berufen; auch die bes. örtliche Zuständigkeit des JGerichts (§ 42) ist zu beachten (RL 2 S. 1); wegen bes. Haftgerichte u. des BezirksJRichters § 33b, 17. – Oft ist die Übertragung der die UHaft betreffenden Entscheidungen zweckmäßig (Abs. VI), z.B. an den JRichter des Haftortes (RL 2 S. 2). Der Übertragungsbeschluss hat auch hier keine bindende Wirkung; bei Bedenken des angegangenen Richters entscheidet das gemeinschaftliche obere Gericht entsprechend § 42 III 2 (§ 42, 12 aE)62; § 126 I 3 StPO ist hier nicht anwendbar, weil Abs. VI vorgeht63. Doch sollte man sich gerade hier vor einem das Verfahren verzögernden Zuständigkeitsstreit hüten. Die in Abs. V ausgesprochene Pflicht zur Beschleunigung geht über das allg. Beschleuni- 12 gungsprinzip hinaus64; beachtenswert hierfür RL 1. Verzögerte Gutachtenserstattung kann wegen Abs. V zur Aufhebung des Haftbefehls im Verfahren nach §§ 121, 122 StPO führen65. Die Nachteile gerade für sehr junge J müssen durch alle der Verfahrensbeschleunigung dienenden Maßnahmen (Abtrennung von Verfahren, Mehrfachakten) hintan gehalten werden66. Haftsachen sind vorrangig zu terminieren, Termine in Nichthaftsachen müssen ggf. verlegt werden, denn das bes. Beschleunigungsgebot in Haftsachen hat Vorrang vor dem Anliegen, auch in Nichthaftsachen auf eine möglichst rasche Aburteilung hinzuwirken67. Bei einer 14-jährigen Angeklagten ist eine terminisierungsbedingte Dauer der UHaft von mehr als 6 Monaten seit Anklageerhebung nicht mit dem bes. Beschleunigungsgebot des Abs. IV vereinbar68. Bei Verdacht der Intensivtäterschaft innerhalb bandenähnlicher Strukturen kann die Ermittlung der

56 OLG Karlsruhe ZJJ 05, 322 mit Anm. Allgeier. 57 OLG Braunschweig StV 09, 84; OLG Schleswig bei Döllel/Dreeßen SchlHA 11, 282; LG Kiel StV 02, 433; LG Itzehoe StV 07, 587. 58 StV 13, 773 mit abl. Bespr. Rentzel-Rothe StV 13, 786. 59 BeckRS 18, 37065 bei Wieneck NStZ 19, 706. 60 AA OLG Oldenburg StV 10, 139 u. 12, 252, nach dem wegen der Vortat JStrafe verhängt worden sein muss. 61 LG Berlin ZJJ 14, 47. 62 OLG Hamm JMBl. NRW 61, 224; Eisenberg/Kölbel 11a; Brunner NStZ 90, 358. 63 Dallinger/Lackner 20; Eisenberg/Kölbel aaO; aA Ostendorf/Sommerfeld 12. 64 OLG Zweibrücken StV 02, 433, 434; OLG Hamm ZJJ 04, 435, 436. 65 OLG Schleswig bei Ernesti/Lorenzen SchlHA 81, 93. 66 OLG Hamburg B NStZ 83, 450; OLG Zweibrücken StV 02, 433, 434; OLG Hamm ZJJ 04, 435, 436. 67 OLG Köln NJW 97, 2252. 68 OLG Hamm ZJJ 04, 435. 509

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Verwicklung des Beschuldigten in das Gesamtgeschehen einen wichtigen Grund iSv § 121 I StPO darstellen69. Wegen der Anrechnung §§ 52, 52a. Benachrichtigung der gesetzliche Vertreter u. des ErzBerechtigten von der Verhaftung eines J § 67a II 2, Nr. 34 II MiStra (vgl. auch § 114c StPO), der JGH § 72a, Nr. 32 MiStra. Zu den Kosten § 74, 11. Auch die Vollstreckung (nicht nur der Erlass) des Haftbefehls muss nach Abs. I unterbleiben, wenn sein Zweck durch andere Maßnahmen erreicht werden kann (Rn 3; § 116 StPO), wenn in der Zwischenzeit neue, günstige Erkenntnisse das erlauben. Stets ist zugleich zu prüfen, ob der Haftbefehl nicht ganz aufgehoben werden kann. Zuständigkeit für diese Entscheidung, die bei jeder Überprüfung des Haftbefehls zu treffen ist: Abs. III. Nach Einreichung der Anklageschrift ist der nach Rn 11 zuständige Richter berufen. Nicht unter § 72 fallen die Unterbringung nach §§ 71 II, 73 JGG und 81 StPO. In die 6-MonatsFrist bis zur Einschaltung des OLG in die Haftprüfung wird die Zeit einer Unterbringung nach § 73 JGG, § 81 StPO eingerechnet, da auch hier die UHaft weiterbesteht, nämlich über den Untersuchungszweck hinausgehende Maßnahmen zur Verhinderung von Flucht, Verdunkelung oder Wiederholung, die zulässig und meist notwendig sind70. Dagegen gilt diese Frist grds. nicht, wenn eine einstweilige Unterbringung gem. § 71 II vorliegt (§ 71, 11). Der J, die ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter können selbständig Haftprüfung (§ 117 StPO) sowie mündliche Verhandlung über den Haftbefehl (§ 118 StPO) beantragen oder Haftbeschwerde einlegen. Bei verschiedenen Anträgen macht der Antrag auf Haftprüfung eine daneben eingelegte Haftbeschwerde unzulässig (§ 117 II 1 StPO). Zur OLG-Haftprüfung (§§ 121, 122 StPO) nach Umwandlung § 71, 11. Wird der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt (§ 116 StPO), hat die StA Beschwerde (§ 304 StPO)71, der J bei Ablehnung. Nach dem OLG Koblenz72 sind alle Entscheidungen, die den Bestand oder Vollzug eines Haftbefehls zum Gegenstand haben, mit der weiteren Beschwerde anfechtbar, auch wenn der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt ist. In letzterem Falle aber hält das OLG Düsseldorf73 eine weitere Beschwerde für unstatthaft. Die Entscheidung des Haftrichters, UHaft nicht zur Vollstreckung von Strafhaft zu unterbrechen, kann vom Gefangenen mit Beschwerde und weiterer Beschwerde angefochten werden. Die Unterbrechung ist abzulehnen, wenn der bes. starken Verdunkelungsgefahr im Strafvollzug auch nicht durch beschränkende Maßnahmen begegnet werden kann74. Der Prüfungsumfang der bes. Haftkontrolle durch das OLG nach §§ 121, 122 StPO umfasst auch die in § 72 I geforderte Subsidiarität der UHaft für J75. Eine nach Abs. IV zur Vermeidung von UHaft angeordnete einstweilige Unterbringung ist eine entschädigungspflichtige Strafverfolgungsmaßnahme iSv § 2 II Nr. 1 StrEG76.

§ 72a Heranziehung der Jugendgerichtshilfe in Haftsachen 1

Die Jugendgerichtshilfe ist unverzüglich von der Vollstreckung eines Haftbefehls zu unterrichten; ihr soll bereits der Erlaß eines Haftbefehls mitgeteilt werden. 2Von der vorläufigen Festnahme eines Jugendlichen ist die Jugendgerichtshilfe zu unterrichten, wenn

69 70 71 72 73 74 75 76

KG NStZ 06, 524. Zust. Eisenberg/Kölbel 13. Zur Überprüfung OLG Stuttgart NJW 82, 1296. NStZ 90, 102 unter Aufgabe bisheriger Auffassung u. gestützt auf BGH NJW 80, 1401. MDR 90, 271 u. JMBl. NRW 90, 21 gestützt auf OLG Koblenz StV 86, 442. OLG Hamburg NStZ 92, 206. OLG Zweibrücken StV 01, 182. KG NStZ 10, 284. 510

https://doi.org/10.1515/9783110686401-094

Heranziehung der Jugendgerichtshilfe in Haftsachen

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nach dem Stand der Ermittlungen zu erwarten ist, daß der Jugendliche gemäß § 128 der Strafprozeßordnung dem Richter vorgeführt wird. 1. Hw.: § 38, 43 u. 45. – 2. [ErwG]: § 104 I Nr. 2.

Richtlinie zu § 72a Staatsanwaltschaft und Gericht tragen dafür Sorge, dass die Jugendgerichtshilfe so früh wie möglich, gegebenenfalls durch die Polizei, unterrichtet wird. Ist gemäß § 128 StPO eine Vorführung zu erwarten, so teilen sie der Jugendgerichtshilfe auch Ort und Termin der Vorführung mit.

§ 72a regelt gegenüber § 72, der vor allem die materiellrechtlichen Voraussetzungen und die gerichtliche Zuständigkeit bei Anordnung und Vollstreckung der UHaft an J betrifft, die Haftentscheidungshilfe der JGH gesondert. Damit sind die Mithilfe der JGH im Bereich der UHaft und die ihr gegenüber bestehenden Mitteilungspflichten deutlich hervorgehoben. So ist gesichert, dass die JGH rechtzeitig von der Vollstreckung eines Haftbefehls gegen J und Hw. und ggf. bereits vom Erlass eines Haftbefehls und sogar von der vorläufigen Festnahme eines J oder Hw. erfährt, wenn im letzteren Falle eine Vorführung des J nach § 128 StPO vor den Richter zu erwarten ist. StA und Richter sorgen für frühzeitige Unterrichtung der JGH ggf. durch die Polizei (dazu § 38, 13 u. § 43, 12) und geben auch Ort und Termin einer zu erwartenden Vorführung bekannt (RL). Diesen Mitteilungspflichten steht gegenüber (vgl. § 38, 18), dass die JGH rasch reagiert und stets erkennbar bleibt, dass sie bei ihren Vorschlägen die Persönlichkeit, aber auch die Straftat des J berücksichtigt. Wird die JGH bei den Haftentscheidungshilfen ihrer neutralen Stellung als Prozessorgan eigener Art (§ 38, 1 u. 3) gerecht – weder Gehilfe der Polizei oder der StA noch Verteidiger oder Vertreter des J –, so werden StA, Richter und JGH gemeinsam den besten und allseits verantwortbaren Weg für den J finden. Die JGH kann die Forderung des § 72a nur dann erfüllen, wenn sie personell und sachlich ausreichend ausgestattet wird, wozu der gebotenen Beschleunigung halber auch ein Bereitschaftsdienst, zumindest eine Rufbereitschaft gehört1. Auch hier wird deutlich, dass im Sinne der Aufgabe der JGH und des wohlverstandenen Interesses des J Datenschutzbestimmungen nicht hinderlich eingreifen dürfen (dazu § 38, 47). Die Mitwirkung der JGH hat schon vor Inkrafttreten des § 72a geholfen, UHaft bei J nach Möglichkeit zu vermeiden, wo sie aufgrund der allg. Gesetzesanweisung in § 38 II, III aF Beiträge zur Haftentscheidung geleistet hat. Eine vieldimensionale Aufklärung der Persönlichkeit, die, wo dies angeht, auch eine gebotene Nachprüfung ermöglicht und auch das Umfeld mit seinen positiven und negativen Einwirkungen berücksichtigt, kann Haftalternativen (§ 71, 2 u. 3; § 72, 3 u. 5) eröffnen und oftmals UHaft vermeiden helfen. Die nähere Kommentierung des § 72a ist ihres Gewichtes für die JGH entsprechend zu § 38, 13–18 gezogen. Zur Anordnung der unverzüglichen Unterrichtung der JGH von der Vollstreckung eines Haftbefehls gegen einen J oder Hw.: § 38, 13. Zur Sollvorschrift, die nahe legt, bereits den Erlass eines Haftbefehls der JGH mitzuteilen: § 38, 14; § 72, 4. Zum Fall der Unterrichtung der JGH schon von einer vorläufigen Festnahme: § 38, 15. Zur Frage, wer in diesen Fällen jeweils die Mitteilung an die JGH anordnet: § 38, 17. Zur Geltung für den Sicherungshaftbefehl: § 38, 16. Es wird aber auch Fälle geben, in denen der Fortgang des Verfahrens eine vorherige Mitteilung nicht erlaubt, woraus nicht auf Misstrauen einer bestimmten Person gegenüber geschlossen werden sollte. Allg. zur Zusammenarbeit Polizei, JGH u. Haftrichter in Verfahren, die Haftsachen werden können: § 72, 4; vgl. auch § 38, 8–10.

1 Dazu auch MMT/Trenczek § 52 SGB VIII Rn 50; Böttcher/Weber NStZ 91, 9; Ostendorf ZKJ 14, 352. 511

1

2

3

4

§ 72b

2. Teil. Jugendliche

§ 72b Verkehr mit Vertretern der Jugendgerichtshilfe, dem Betreuungshelfer und dem Erziehungsbeistand 1

Befindet sich ein Jugendlicher in Untersuchungshaft, so ist auch den Vertretern der Jugendgerichtshilfe der Verkehr mit dem Beschuldigten in demselben Umfang wie einem Verteidiger gestattet. 2Entsprechendes gilt, wenn der Beschuldigte der Betreuung und Aufsicht eines Betreuungshelfers untersteht oder für ihn ein Erziehungsbeistand bestellt ist, für den Helfer oder den Erziehungsbeistand. 1. Hw.: § 109 I. – 2. ErwG: § 104 III.

1 Mit der Föderalismusreform von 2006 ist die Gesetzgebungszuständigkeit für den UHaftVollzug auf die Länder übergegangen (s. Art. 74 I Nr. 1 GG). Das Gesetz zur Änderung des UHaftRechts v. 29.7.2009 hat deshalb die Regelungen des JGG über die UHaft neu gefasst. § 93 JGG aF wurde aufgehoben. Die bisher in § 93 III enthaltene Regelung wurde in den neuen § 72b verschoben (vgl. auch §§ 89c u. 110 II). S. 1 gewährt den Vertretern der JGH in demselben Umfang wie dem Verteidiger ein Ver2 kehrsrecht mit dem in UHaft befindlichen J. Das schriftliche und mündliche Verkehrsrecht des Verteidigers ist in §§ 148, 148a StPO geregelt. Das Verkehrsrecht erleichtert es der JGH insbes., ihrer Pflicht zur beschleunigten Berichterstattung in Haftsachen (§ 38 III 2) nachzukommen. Wenn die UHaft vom ErwGericht angeordnet wird, ist das Recht der JGH gem. § 104 III aus Gründen der Staatssicherheit beschränkbar. S. 2 gibt dem Betreuungshelfer (§ 10 I 3 Nr. 5) und dem ErzBeistand (§ 12 Nr. 1) ein entsprechendes Verkehrsrecht. Der Bewährungshelfer ist nicht erwähnt, weil sich dessen Verkehrsrecht bereits aus § 119 IV S. 2 Nr. 1 StPO ergibt.

§ 73 Unterbringung zur Beobachtung (1) 1Zur Vorbereitung eines Gutachtens über den Entwicklungsstand des Beschuldigten kann der Richter nach Anhören eines Sachverständigen und des Verteidigers anordnen, daß der Beschuldigte in eine zur Untersuchung Jugendlicher geeignete Anstalt gebracht und dort beobachtet wird. 2Im vorbereitenden Verfahren entscheidet der Richter, der für die Eröffnung des Hauptverfahrens zuständig wäre. (2) 1Gegen den Beschluß ist sofortige Beschwerde zulässig. 2Sie hat aufschiebende Wirkung. (3) Die Verwahrung in der Anstalt darf die Dauer von sechs Wochen nicht überschreiten. 1. Hw.: RL 3; § 109 I 1. – 2. ErwG: RL 3; § 104 I Nr. 12.

Richtlinien zu § 73 1.

2. 3.

Die Staatsanwaltschaft beantragt die Unterbringung zur Vorbereitung eines Gutachtens über den Entwicklungsstand von Jugendlichen nur, wenn die Bedeutung der Strafsache diese schwerwiegende Maßnahme rechtfertigt und eine Untersuchung nach § 43 Abs. 2 nicht ausreicht (vgl. die Richtlinie Nr. 8 zu § 43 sowie Nrn. 61 ff, Nr. 52 RiStBV). Dem Beschuldigten, der keinen Verteidiger hat, ist ein solcher zu bestellen (§ 68 Nr. 3). § 73 gilt auch im Verfahren gegen Jugendliche vor den für allgemeine Strafsachen zuständigen Gerichten (§ 104 Abs. 1 Nr. 12) und im Verfahren gegen Heranwachsende (§ 109 Abs. 1).

512 https://doi.org/10.1515/9783110686401-096

Unterbringung zur Beobachtung

§ 73

Übersicht 1. 2. 3.

Anlass Zweck Dauer

1 4 5

4. 5.

Entscheidung 8 Verfahren

6

1. Anlass Im Verfahren gegen J und Hw. ist der Entwicklungsstand (Gegensatz: psychischer Zustand in 1 § 81 StPO; Rn 4) von großer, oft entscheidender Bedeutung. Von ihm hängt bei J die strafrechtliche Verantwortlichkeit (§ 3), bei Hw. die Anwendung des J- oder ErwRechts (§ 105) ab; er beeinflusst die Auswahl der Maßnahmen und ihren Umfang (§ 43, 2). Die Feststellung des Entwicklungsstandes ist ein Teil der Persönlichkeitserforschung (§ 43). Liegen konkrete Anhaltspunkte dafür vor, dass Abweichungen vom normalen Entwick- 2 lungsstand bestehen1, und reicht eine ambulante Untersuchung zur Klärung nicht aus (§ 43 RL 8, Nr. 61 ff RiStBV), kann die Unterbringung in einer zur Untersuchung J geeigneten Anstalt geboten sein (§ 43, 15). Zur Durchführung einer ambulanten Untersuchung kann der Weg der Vernehmung des J nach § 80 StPO beschritten werden; es kommt auch eine eintägige Anstaltsunterbringung nach § 73 in Betracht2. Die einschneidende Maßnahme der Anstaltsunterbringung ist gerade bei J nur am Platze 3 bei dringendem Tatverdacht entsprechend §§ 112 StPO (vgl. Rn 6), wenn es sich um eine gewichtige Tat handelt (RL 1). Sie ist nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nur zu vertreten, wenn JStrafe, eine längere Freiheitsstrafe oder Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2 zu erwarten ist3. Lässt die Unterbringung Schäden erwarten, ist bes. Zurückhaltung geboten. Die Lücke in der Aufklärung muss ggf. hingenommen werden, Zweifel wirken zugunsten des Täters4.

2. Zweck Die Unterbringung nach § 73 dient nur der Klärung des Entwicklungsstandes, nicht der Auf- 4 klärung des Tatherganges. Doch muss der Sachverständige dem Gericht z.B. ein Geständnis oder eine andere für den Tathergang wichtige freiwillige Angabe mitteilen5 (Verwertung § 43, 19); als vom Gericht Beauftragter hat er kein Zeugnisverweigerungsrecht (Anh. § 125, 33)6. – Die Anordnung der Unterbringung berechtigt nicht zu körperlichen Untersuchungen und Eingriffen; für diese gelten §§ 81a, 81b StPO. Für die Begutachtung des psychischen Zustandes gilt § 81 StPO. Die Beobachtung des Entwicklungsstandes und Geisteszustandes (§§ 73 JGG, 81 StPO) kann durch die gleiche Unterbringung erfolgen; hier gilt für beide die einmalige Höchstdauer von 6 Wochen. Die gleichen Beobachtungen können aber auch nacheinander je bis zur Höchstdauer von 6 Wochen erfolgen7. Der J kann daneben auch nach § 126a StPO untergebracht werden; näher § 71, 9.

1 2 3 4 5 6 7

Ostendorf/Sommerfeld 3 „ungeklärter Entwicklungsstand“. OLG Celle NStZ 91, 598 mit Anm. Wohlers NStZ 92, 347 zu § 81 StPO. Eisenberg/Kölbel 8b. Eisenberg/Kölbel 9. Eisenberg/Kölbel 7. BGH JR 61, 111; Eisenberg/Kölbel 7. Potrykus B 6; Burscheidt S. 57 FN 165; aA DSS/Diemer 14; Eisenberg/Kölbel 6; Ostendorf/Sommerfeld 4; Nothacker S. 330. 513

§ 73

2. Teil. Jugendliche

3. Dauer 5 Die Unterbringung darf nur für die Dauer von 6 Wochen (länger nur bei UHaft8; Ausnahme auch Rn 4 aE) angeordnet werden (Abs. III), was zweckmäßig im Beschluss ausgesprochen wird (beachte RiStBV 62). Setzt das Gericht aus bes. Gründen eine kürzere Frist, ist deren Verlängerung oder die spätere Ergänzung der Untersuchung bis zu 6 Wochen insgesamt möglich (RiStBV 62)9. Die Untersuchung ist mit allen Mitteln zu beschleunigen; nach Abschluss der notwendigen Untersuchung ist der Untergebrachte sofort zu entlassen.

4. Entscheidung 6 Die Entscheidung trifft das Gericht (Rn 9) nach pflichtgemäßem Ermessen. Es müssen ausreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der J die ihm angelastete Tat begangen hat10, und konkrete Anhaltspunkte für nach dem JGG relevante Abweichungen vom Entwicklungsstand (vgl. Rn 2). 7 Das Gericht muss bei der Anordnung der Unterbringung die Anstalt bezeichnen11, da es bestimmt, auf welche Weise die Aufklärung erfolgen und welcher Sachverständige die Beobachtung und Untersuchung leiten soll. Als Anstalten kommen bes. psychiatrische Krankenhäuser mit abgetrennter Unterbringung der J in Betracht, welche die Landesjustizverwaltungen bekannt gegeben haben.

5. Verfahren 8 Das Verfahren gleicht dem nach § 81 StPO. In der Hauptverhandlung (§ 67 I; § 33 StPO) müssen gehört werden: der J, die ErzBerechtigten oder gesetzlichen Vertreter; ein Sachverständiger (§ 43 II 2; dortige Rn 15), der Gelegenheit zur persönlichen Untersuchung gehabt haben muss; der sofort zu bestellende Verteidiger (§ 68 Nr. 4; RL 2; § 68, 24), der erst nach dem Gutachter gehört wird; die StA (§ 33 StPO) und hier grds. auch die JGH (§ 38 VI). Auch für § 81 StPO ist umstritten, ob der Sachverständige in „klaren“ Fällen sich auch äußern darf, wenn er nur schriftliche Unterlagen und Akten eingesehen hat. Das KG12 verlangt (bei Untersuchung nach § 81 StPO), dass der Sachverständige sich einen persönlichen Eindruck verschafft und den Beschuldigten untersucht haben muss; eine frühere Untersuchung in einem anderen Verfahren soll aber genügen. Da die Einschaltung des Sachverständigen einen rechtsstaatlichen Schutz darstellt, wird man auch für § 73 JGG dieser Entscheidung zustimmen; selbst in anscheinend klaren Fällen kann eine Begutachtung nur aufgrund Aktenlage zu falschen Ergebnissen führen13. Es kann außerhalb der Hauptverhandlung auch ohne Anhörung des J und damit auch ohne Anhörung der gesetzlichen Vertreter und der ErzBerechtigten entschieden werden, es ist dies idR aber gleichwohl geboten14. 9 Zuständig ist das Gericht, bei dem das Verfahren anhängig ist oder das bei gleichzeitiger Anklage-Erhebung nach dem bisherigen Stand der Ermittlungen für die Eröffnung des Haupt8 RG 34, 308 ff. 9 Dallinger/Lackner 8; Eisenberg/Kölbel 11; Potrykus B 5; hM auch zu § 81 StPO. 10 OLG Düsseldorf JMBl. NRW 58, 213; dringender Tatverdacht: DSS/Diemer 6; Eisenberg/Kölbel 8; Ostendorf/Sommerfeld 2.

11 Dallinger/Lackner 17; Ostendorf/Sommerfeld 9. 12 JR 65, 69. 13 Ebenso Eisenberg/Kölbel 16; Ostendorf/Sommerfeld 8; Potrykus B 2; aA – mit Vorbehalt – Dallinger/Lackner 11. Zu § 81 StPO vgl. auch OLG Karlsruhe MDR 73, 425.

14 Eisenberg/Kölbel 14. 514

Kosten und Auslagen

§ 74

verfahrens zuständig wäre. Die Entscheidung kann auf Antrag (in der Sitzung je nach Fassung Beweisermittlungs- oder Beweisantrag)15 oder von Amts wegen (ggf. auf Anregung z.B. des Sachverständigen) ergehen. Der Beschluss ist zu begründen (§ 34 StPO) unter Angabe der Frist (Rn 5) und der Anstalt (Rn 7). Der Anordnungsbeschluss ist gem. § 67a I; §§ 35 I, II 1; 41, 35a StPO mit Rechtsmittelbelehrung zuzustellen, der Ablehnungsbeschluss gem. § 67a I; §§ 35 I, II 2; 41 StPO formlos mitzuteilen. Der Anordnungsbeschluss – entgegen § 305 S. 1 StPO auch, wenn er in der Hauptverhand- 10 lung ergangen ist – kann gem. Abs. II (geht § 305 S. 1 StPO vor) mit der sofortigen Beschwerde angefochten werden, die aufschiebende Wirkung hat16. Das Beschwerdegericht überprüft die ganze Entscheidung einschließlich der richtigen Ausübung des Ermessens17, nach dem OLG Celle18 aber nicht die Auswahl des Sachverständigen19. Weitere Beschwerde ist ausgeschlossen20. Über das Anfechtungsrecht des Verteidigers Rn 11. Der Ablehnungsbeschluss ist unanfechtbar (hM, auch zu § 81 StPO); liegt eine Verletzung der Aufklärungspflicht vor, kann allerdings auch das Revisionsgericht das Urteil deshalb aufheben21. – Die Vollstreckung betreibt die StA; sie kann erst nach Rechtskraft beginnen; es gilt RiStBV 62. Wegen der Kosten § 74, 11. Wegen der Anrechnung auf Strafe u. JA § 52a, 1; RL 122. Im Gegensatz zu § 81 StPO darf der Verteidiger nicht gegen den Willen des Beschuldigten 11 (anders nur im Auftrage eines gesetzlichen Vertreters oder ErzBerechtigten) sofortige Beschwerde einlegen23. Denn der Beschuldigte ist hier regelmäßig schuldfähig; überdies gewährt das Anfechtungsrecht der gesetzlichen Vertreter und der ErzBerechtigten genügend Schutz.

§ 74 Kosten und Auslagen Im Verfahren gegen einen Jugendlichen kann davon abgesehen werden, dem Angeklagten Kosten und Auslagen aufzuerlegen. 1. Hw. – J: RL 6; Rn 1; § 109 II 1. – 2. ErwG: RL 6; § 104 I Nr. 13.

Richtlinien zu § 74 1.

2.

3.

15 16 17 18 19 20 21 22 23

Kosten und Auslagen werden Jugendlichen nur aufzuerlegen sein, wenn anzunehmen ist, dass sie aus Mitteln bezahlt werden, über die sie selbständig verfügen können, und wenn ihre Auferlegung aus erzieherischen Gründen angebracht erscheint. Reichen die Mittel der Jugendlichen zur Bezahlung sowohl der Kosten als auch der Auslagen nicht aus, so können ihnen entweder nur die Kosten oder nur die Auslagen oder ein Teil davon auferlegt werden. Eine Entscheidung über die Kosten und Auslagen wird auch bei der Ergänzung rechtskräftiger Entscheidungen nach § 66 getroffen. Wenn in einer einbezogenen Entscheidung (§ 31 Abs. 2, § 66) von der Ermächti-gung des § 74 kein Gebrauch gemacht worden ist, kann in der neuen Entscheidung ausgesprochen werden, dass es insoweit bei der früheren Kostenentscheidung verbleibt. Das wird sich besonders dann empfehlen, wenn aufgrund der früheren Kostenentscheidung bereits Kosten oder Auslagen eingezogen worden sind. Gerichtsgebühren werden nach § 40 GKG berechnet. Bei der Einbeziehung einer Strafe nach § 31 Abs. 2 oder bei Ergänzung rechtskräftiger Entscheidungen nach § 66 ist bei der Berechnung der Gerichtsgebühren § 41 GKG zu beachten. BGH LM § 244 III 2 StPO. KG JR 65, 69 für § 81 StPO; Dallinger/Lackner 18; Eisenberg/Kölbel 20. OLG Schleswig MDR 59, 415; Dallinger/Lackner 19; Eisenberg/Kölbel 23; Ostendorf/Sommerfeld 12. MDR 66, 949. Hier aA Ostendorf/Sommerfeld 12. Eisenberg/Kölbel 24; hM auch für § 81 StPO. BGH RdJ 61, 313. Vgl. auch BGH 4, 325. Zust. Eisenberg/Kölbel 22.

515 https://doi.org/10.1515/9783110686401-097

§ 74

4. 5.

6.

2. Teil. Jugendliche

Zu den Auslagen des Verfahrens gehören auch die Kosten einer einstweiligen Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe (§ 71 Abs. 2, § 72 Abs. 4) und einer Unterbringung zur Beobachtung (§ 73). Die Kosten, die Jugendlichen dadurch entstehen, dass sie einer ihnen erteilten Weisung (§ 10) oder Auflage (§ 15) nachkommen, gehören nicht zu den Kosten und Auslagen im Sinne des § 74. Sie werden von ihnen selbst oder von für sie leistungspflichtigen oder leistungsbereiten Dritten getragen. § 74 gilt auch im Verfahren gegen Jugendliche vor den für allgemeine Strafsachen zuständigen Gerichten (§ 104 Abs. 1 Nr. 13), im Verfahren gegen Heranwachsende nur, wenn der Richter Jugendstrafe anwendet (§ 109 Abs. 2).

Schrifttum Baumhöfener JStrafverteidiger. Eine Untersuchung im Hinblick auf § 74 JGG, 2007; Fromm Nebenklagekosten im JGerichtsverfahren, ZJJ 10, 387; Körner Die Kostentragung im JStrafverfahren, 2004; Sommerfeld/Schady Die Auferlegung der notwendigen Auslagen des Nebenklägers bei Verurteilung eines J, ZJJ 21, 102.

Übersicht 1. 2. 3. 4. 5.

Grundsätze 1 2 Freispruch 3 Verurteilung 6 Kosten und Auslagen, Gesamthaftung Notwendige Auslagen des Angeklagten bei Ver7 urteilung

6. 7. 8. 9. 10. 11.

9 Auslagen des Nebenklägers 10 Einzelheiten 14 Rechtsanwaltsgebühren 15 Kostenhaftung 16 Rechtsmittel 18 Privat- und Widerklage

1. Grundsätze 1 § 74 baut auf den Kostenvorschriften des allg. Rechts auf, die auch im JRecht gelten; so tritt z.B. die gesamtschuldnerische Haftung gem. § 466 StPO auch bei Verurteilung zu JA ein1. Doch gibt § 74 dem JRichter die Möglichkeit, den J aus erz. Gründen von Kosten und Auslagen ganz oder teilweise (Rn 3) zu entlasten, um ihn von einer zusätzlichen, oftmals schädlichen und uU resozialisationsfeindlichen Belastung freizustellen2. Dies nützt die Praxis zu Recht in weitem Umfang. Kann der J aber die Kosten aus eigenen Mitteln begleichen (RL 1) oder ist es ihm möglich und zumutbar, sie durch Arbeit aufzubringen, so kann es im Einzelfall gerade erz. geboten sein, ihm durch Auferlegung von Kosten auch die finanziellen Folgen seiner Tat vor Augen zu stellen3. Gerade bei oftmals gut verdienenden Hw. wird dies häufiger zutreffen als bei J4.

2. Freispruch 2 Bei Freispruch sind wie bei Erw. die Verfahrenskosten und die notwendigen Auslagen des J der Staatskasse aufzuerlegen. Das gilt auch bei Freispruch wegen erwiesener oder möglicher Altersunreife (§ 3 S. 1; zu § 3 S. 2 s. Rn 5). Die Kosten für einen Wahlverteidiger sind auch dann notwendige Auslagen des J, wenn jener allein von den gesetzlichen Vertretern oder ErzBerechtigten ausgewählt und bevollmächtigt wurde5, es sei denn, die ErzBerechtigten übernehmen 1 KG JR 62, 271. 2 OLG Düsseldorf NStZ-RR 96, 24; OLG Koblenz StV 99, 665; OLG Saarbrücken ZJJ 09, 262 u. LG Saarbrücken ZJJ 09, 263 mit zust. Anm. Möller; ZJJ 10, 428; LG Saarbrücken ZJJ 13, 418 mit zust. Anm. Möller.

3 OLG Düsseldorf aaO; KG NStZ-RR 07, 64; LG Freiburg NStZ-RR 00, 183; Eisenberg/Kölbel 9a „ausnahmsweise“. 4 OLG Hamm ZJJ 08, 193, 194. 5 LG Bückeburg NJW 60, 1026. 516

Kosten und Auslagen

§ 74

dem Rechtsanwalt gegenüber ausdrücklich die Kosten6. Bei der Vergütungsbemessung darf die Angelegenheit nicht allein deshalb als unterdurchschnittlich bewertet werden, weil eine Verurteilung nach JStrafrecht erfolgte und die Diskrepanz zur Strafandrohung in ErwStrafsachen durch eine Herabsetzung der angemessenen Gebühr auszugleichen wäre7. § 74 gilt auch für die obligatorischen Auslagen-Ausnahmen nach § 467 II 2, III 1, V StPO8 (vgl. aber allg. dazu Rn 7); hier können aber auch die Grundsätze des § 74 gegen eine Freistellung sprechen. Zu den fakultativen Auslagen-Ausnahmen des § 467 III 2 Nr. 1 und 2, IV tritt zusätzlich der Sinngehalt und das Ermessen nach § 74 (Rn 4).

3. Verurteilung Da § 74 JGG den starren § 465 I 1 StPO abwandelt, müssen im JRecht dem Verurteilten (Rn 5) die 3 Kosten und Auslagen nicht auferlegt werden (Form: § 54, 7); auch teilweise Auferlegung ist möglich (RL 1 S. 2; z.B. nur Gebühren, nur Auslagen, bestimmte Auslagen, eine bestimmte Summe, ein prozentualer Anteil)9; eine komplizierte Aufteilung ist aber abzulehnen. Ist der Angeklagte wegen des schwerwiegenderen Teils des Anklagevorwurfs nicht verurteilt worden, kann die Belastung mit den ganzen Kosten unbillig sein (§§ 465 II, 464d StPO)10. Auch wenn die Kostenauferlegung erz. angemessen erscheint, ist eine teilweise Entlastung geboten, wenn durch die notwendige Beweisaufnahme bes. hohe Kosten (über 550 Euro) entstanden sind, denen gegenüber die eigentliche Sanktion (20 Stunden gemeinnützige Arbeit) in den Hintergrund treten könnte11. Mit der bloßen Feststellung, der Angeklagte verdiene, kann die Kostenauferlegung nicht begründet werden, wenn feststeht, dass er wöchentlich nur 5 Euro Taschengeld erhält und erhebliche Kosten angefallen sind12. Das Gericht entscheidet nach pflichtgemäßem Ermessen13, wobei es die wirtschaftlichen 4 Verhältnisse des J14, die Art der Tat15 und das Verhalten im Verfahren (mutwilliges Erzwingen einer größeren Beweisaufnahme, böswillige Verzögerung des Verfahrens) berücksichtigen muss16. Auch freiwillige Wiedergutmachungszahlungen sind in die Ermessensentscheidung einzustellen17. Entscheidend sind grds. erz. Gründe (RL 1)18; einerseits muss eine wirtschaftliche Gefährdung des J vermieden19, ihm nach Strafentlassung der Start erleichtert werden20, anderer6 Eisenberg/Kölbel 7 u. Eisenberg NJW 84, 2917; aA Ostendorf/Sommerfeld 5 unter Hinweis auf § 683 BGB. 7 LG Essen StV 08, 375. 8 Löwe/Rosenberg/Hilger26 § 465 StPO 8. 9 OLG Hamm NJW 63, 1168. 10 BGH StV 96, 276. 11 LG Freiburg NStZ-RR 00, 183. 12 BGH bei Herlan GA 64, 13. 13 KG NStZ-RR 99, 121; 07, 64. 14 RL 1; BGH B NStZ 94, 531: Mittellosigkeit des zur Tatzeit 16-jährigen Angeklagten; BGH StV 17, 717, 718: Angeklagter lebte als Student lediglich von Leistungen der Ausbildungsförderung; OLG Saarbrücken ZJJ 09, 262: Angeklagter ist Schüler u. erzielt kein eigenes Einkommen; LG Osnabrück StV 90, 509 = JurBüro 90 Sp. 1031 mit Anm. Mümmler: Angeklagter lebt nur von Sozialhilfe, sodass Auferlegung der Verfahrenskosten ihn in finanzielle Schwierigkeiten bringen würde; LG Saarbrücken ZJJ 09, 263: Angeklagter hat lediglich Aussicht auf ein geringes Einkommen; ZJJ 10, 428: Angeklagter lebt bei den Eltern, ist ohne Arbeit und ohne eigenes Einkommen. 15 OLG Hamm ZJJ 08, 193, 194; krit. Eisenberg/Kölbel 8d; abl. Ostendorf/Sommerfeld 6 u. Kahlert Verteidigung in JStrafsachen 2. Aufl. 1986, S. 104, weil dann Kosten zur Nebenstrafe würden. 16 KG NStZ-RR 99, 121; Löwe/Rosenberg/Hilger26 § 465 StPO 9: „Unrechtseinsicht und Besserungswille sowie sonstige zukunfts- und erzorientierte Überlegungen“; Grotenbeck Zbl. 80, 439; Hinrichsen JKriminalrecht 1957, S. 132; aA Eisenberg/Kölbel 8d „eher nicht“ oder „allenfalls nachrangig“ zu berücksichtigen. 17 OLG Düsseldorf NStZ-RR 11, 293. 18 OLG Jena NStZ-RR 98, 153; LG Gera StV 99, 666. 19 BGH B NStZ-RR 01, 326; OLG Hamm ZJJ 08, 193, 194. 20 BGH B NStZ 97, 484. 517

§ 74

2. Teil. Jugendliche

seits kann es notwendig sein, dem Angeklagten durch Auferlegung der Kosten zu zeigen, dass er für alle Folgen seiner Taten einzustehen hat21. Kann die Kostenauferlegung einem Neuanfang des Angeklagten entgegenstehen und dient die Kostenentscheidung auch nicht einer Unterstützung von Strafzwecken, ist daher von einer Auferlegung der Kosten abzusehen22. Die Gefahr der Abwälzung der Leistungserbringung ist zu beachten23. Die Erwägung, dass der J lernen müsse, alle Konsequenzen seines Fehlverhaltens zu tragen, rechtfertigt die Kostenauferlegung nicht, wenn der J von Sozialhilfe lebt und ihn die Auferlegung in finanzielle Schwierigkeiten bringen würde24 oder wenn nicht abzusehen ist, ob, wann und in welcher Höhe der vermögenslose J über Arbeitseinkommen verfügen wird25. Bei geringem Einkommen des J kann eine Kostenentlastung angezeigt sein, um ihm einen Anreiz zu geben, durch geregelte Tätigkeit seine Einkommensverhältnisse zu verbessern26. Gegen die Anwendung des § 74 sprechen Einkünfte des Angeklagten aus fortgesetzter Erwerbstätigkeit27. Bei einem Hw. kommt eine Belastung mit den Kosten und Auslagen eher in Betracht als bei J28, nicht aber, wenn dem Hw. dadurch jede Perspektive genommen wird29. Erz. Überlegungen haben nur eine untergeordnete Bedeutung, wenn die zur Tatzeit hw. Angeklagten zZ der Aburteilung seit langem Erw. sind30. Für die Anwendung des § 74 besteht bei einem Hw. keine Veranlassung, der eine gut dotierte Arbeitsstelle aufgegeben hat, um seinen Lebensunterhalt durch Bandendiebstähle oder Einzeltaten zu verdienen31. 5 Eine Verurteilung iSd Kostenrechts liegt auch vor, wenn nur ErzMaßregeln angeordnet oder Zuchtmittel verhängt sind32. Dasselbe gilt, wenn der Angeklagte nach § 20 StGB freigesprochen, ihm aber die Fahrerlaubnis entzogen wird33. Entsprechendes gilt bei Freispruch oder Einstellung gem. § 3, wenn der JRichter Maßnahmen nach § 3 S. 2 anordnet; doch dürfte hier idR von einer Auferlegung der Kosten gem. § 74 abzusehen sein. Auch die Entscheidung nach § 27 enthält eine an sich (§ 465 I StPO) zur Kostentragung verpflichtende Verurteilung34. Sie kann allerdings im Nachverfahren (§ 30) nachgeholt werden. – Wegen der Einbeziehung in eine Einheitsstrafe nach § 31: RL 2, 3 S. 2. Zu § 47 dort Rn 18. Ist in dem einbezogenen Urteil von § 74 kein Gebrauch gemacht worden, geschieht dies aber in dem neuen Urteil gem. § 31, sind aufgrund der früheren Verurteilung gezahlte Kosten dem Verurteilten zu erstatten bzw. vorgenommene Aufrechnungen rückgängig zu machen35.

4. Kosten und Auslagen, Gesamthaftung 6 Unter Kosten und Auslagen fallen die Kosten des Ermittlungsverfahrens, die Gerichtsgebühren, die Gerichtsauslagen, die Vollstreckungskosten sowie die erstattungsfähigen Aufwendungen anderer Verfahrensbeteiligter (§ 464a StPO; näher Rn 7). Werden mehrere Angeklagte wegen der21 OLG Koblenz OLGSt S. 9 zu § 74; KG NStZ-RR 99, 121; 07, 64; OLG Hamm aaO; OLG Hamburg VRS Bd. 124 (2013), 355, 360; vgl. auch Grotenbeck Zbl. 80, 439. BGH StV 98, 351; NStZ-RR 06, 224; StV 17, 717. Eisenberg/Kölbel 8c. LG Osnabrück StV 90, 509. BGH B NStZ 91, 524; OLG Jena NStZ-RR 98, 153; LG Gera StV 99, 666. LG Köln B NStZ 97, 48. BGH NStZ-RR 05, 247. OLG Hamm NJW 63, 1168; KG NStZ-RR 99, 121; 07, 64. OLG Düsseldorf NStZ-RR 11, 293, 294. KG NStZ-RR 99, 121. OLG Düsseldorf MDR 93, 1113. KG JR 62, 271. OLG Oldenburg NJW 64, 2439. LG Wuppertal EJF C I 35; Dallinger/Lackner 2; Eisenberg/Kölbel 5; Ostendorf/Sommerfeld 4; Schnitzerling MDR 62, 541; aA Potrykus RdJ 56, 281. 35 AG Frankfurt B NStZ 91, 523.

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selben Tat verurteilt (§ 466 StPO) und wird bei einem von ihnen nach § 74 von der Auferlegung der Kosten oder Auslagen abgesehen, so bleibt der auf diesen entfallende Kopfteil außer Ansatz, um nicht die Entscheidung nach § 74 durch ev. Rückgriff aus der Gesamthaftung unterlaufen zu lassen. Soweit also bei dem beteiligten J auch von der Auferlegung von Auslagen nach § 74 abgesehen wird, fällt dessen Anteil (z.B. Zeugenentschädigung) der Staatskasse zur Last und tritt bei dem anderen Verurteilten keine Gesamtschuldnerhaftung ein36. Eine unvollständige Kostenentscheidung darf auf sofortige Beschwerde, aber nicht von Amts wegen ergänzt werden37.

5. Notwendige Auslagen des Angeklagten bei Verurteilung Unstreitig kann nach § 74 davon abgesehen werden, dem J die erstattungsfähigen, vermögens- 7 werten Aufwendungen eines anderen Verfahrensbeteiligten aufzuerlegen. Es darf aber nicht unterstellt werden, dass § 74 mit „Kosten und Auslagen“ lediglich die Vorschrift des § 464a I 1 StPO wiederholt, welche die Kosten des Verfahrens als Gebühren und Auslagen (eines anderen Beteiligten; vgl. Rn 6) definiert. Da zudem unstreitig § 464a II StPO mit „Beteiligten“ auch den Angeklagten selbst meint38, umfasst die allg. Freistellung nach § 74 („Kosten und Auslagen“) auch die eigenen notwendigen außergerichtlichen Auslagen des J, insbes. also neben den Gebühren für den Pflichtverteidiger39 auch die Gebühren des Wahlverteidigers40. Zur Verpflichtung der Staatskasse unten 8. Die Gegenmeinung41 verkennt, dass der Sinngehalt des § 74 fordert, den J ggf. auch von den zumeist gerade erheblicheren eigenen notwendigen Auslagen freizustellen, weil sonst aus dieser erz.- und resozialisationsfreundlichen Vorschrift ein Kernstück herausgebrochen würde42. Fiskalische Bedenken können eine der erzfremden Geldstrafe ähnliche Belastung des J nicht rechtfertigen43, denn § 74 ordnet sich als „Ausdruck jstrafrechtlicher Flexibilität“44 dem Primat der Erz. und dem Bestreben ein, mit maßvollem Eingreifen zu (Re)Sozialisierung und künftig straffreiem Leben beizutragen. Auch Ostendorf45 betont, dass Kostentragung das Präventionsziel der eigentlichen Sanktionierung verhindern könne46.

36 OLG Koblenz StV 99, 665. 37 OLG Düsseldorf MDR 86, 76. 38 OLG Frankfurt NStZ 84, 422; Eisenberg/Kölbel 15 f; Löwe/Rosenberg/Hilger26 § 464a StPO 22; Mellinghoff NStZ 82, 407.

39 Beulke/Swoboda Rn 798; Hartmann-Hilter Notwendige Verteidigung 1989, S. 182. 40 OLG Stuttgart Rpfl. 82, 438; OLG Oldenburg B NStZ 84, 447; LG Nürnberg-Fürth AnwBlatt 77, 263 u. Beschl. v. 21.4.1983 – Jug Qs 42/83; LG Regensburg JurBüro 78 Sp. 86 mit abl. Anm. Mümmler; LG Darmstadt MDR 82, 603; LG Münster NStZ 83, 138; LG Heidelberg Zbl. 85, 470; LG Osnabrück StV 90, 509 = JurBüro 90 Sp. 1031 mit abl. Anm. Mümmler; Eisenberg/Kölbel 15 f u. Eisenberg NJW 84, 2917; Nix/Nicolai 9; Ostendorf/Sommerfeld 10; Beulke/Swoboda Rn 798; LBW Laubenthal/Nestler Rn 379; Albrecht S. 345; Nothacker S. 133; Bottke in BMJ, Hrsg., Verteidigung in JStrafsachen, 1987, S. 89; Herde DAR 84, 309; Mellinghoff NStZ 82, 405 ff; Körner S. 102; Baumhöfener S. 110. 41 BGH 36, 27 = NStZ 89, 239 mit abl. Anm. Brunner = StV 89, 309 mit abl. Anm. Ostendorf; BGH B NStZ-RR 01, 326; BGH NStZ-RR 06, 224; OLG Frankfurt GA 94, 286 unter Aufgabe von NStZ 84, 138; KG JR 83, 37; OLG München NStZ 84, 138; OLG Düsseldorf MDR 91, 561; OLG Zweibrücken B NStZ 91, 524; NStZ 92, 530 auch für den Fall einer vom Verteidiger eingelegten, nach § 55 II unzulässigen Revision; OLG Oldenburg NStZ-RR 08, 64; OLG Brandenburg NStZ-RR 12, 192; LG Augsburg 84, 263; LG Düsseldorf AnwBl. 85, 151; HK-JGG/Blessing/Weik 16; KK/Gieg § 465 StPO 4; Meyer-Goßner/Schmitt § 465 StPO 1; HK-GS/Meier § 465 StPO 12; Mümmler JurBüro 75, Sp. 309; Waldschmidt NStZ 84, 139; Schmidt AnwBl. 84, 263. 42 Vgl. allg. dazu OLG Hamm NJW 63, 1168 mwN. 43 Vgl. Mellinghoff NStZ 82, 408. 44 Nothacker S. 217. 45 ZRP 88, 432. 46 Vgl. ergänzend Brunner NStZ 89, 239 u. Ostendorf StV 89, 309. 519

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Es kann der JRichter allerdings nicht durch bloßes Absehen nach § 74 entgegen § 467 I StPO die Staatskasse zu einer Leistung zugunsten des J verpflichten47; will er dies, so muss er diese Auslagen ausdrücklich der Staatskasse überbürden (§ 464 II StPO), weil – außer durch zulässige Billigkeitserwägungen im Falle eines Freispruchs – niemand, auch die Staatskasse nicht, ohne förmlichen Ausspruch des Gerichts zur Erstattung notwendiger Auslagen eines Verfahrensbeteiligten herangezogen werden kann48. Schweigt das Urteil deshalb in der Kostenentscheidung nach § 74 über die notwendigen Auslagen des J, so hat er sie selbst zu tragen49. Häufig wird es aber gerade aus erz. Gründen möglich und geboten sein, den J zumindest seine notwendigen Auslagen tragen zu lassen (vgl. RL 1)50.

6. Auslagen des Nebenklägers 9 Bei J ist Nebenklage in den Fällen des § 80 III, bei Hw. stets zulässig. Der Verurteilte hat die Auslagen des Nebenklägers nach § 472 I StPO nur dann zu tragen, wenn sie ihm ausdrücklich auferlegt worden sind51. Der JRichter kann gem. § 74 auch davon absehen, dem Verurteilten die dem Nebenkläger entstandenen Auslagen aufzuerlegen; er kann ihm auch nur einen ziffernmäßig oder prozentual bestimmten Teil dieser Auslagen aufbürden52. Doch können gerade erz. Gründe gebieten, den Verurteilten mit den Auslagen des Nebenklägers zu belasten53. So kann dem Täter eines Tötungsdelikts verdeutlicht werden, dass auch der Nebenkläger zu den Opfern seiner Tat zählt54. Es wird bei der Entscheidung die Frage des Täter-Opfer-Ausgleichs (vgl. § 10, 24) und auch zu berücksichtigen sein, dass durch solche Freistellung allzu leicht die durch die Verurteilung deutlich gemachte Verantwortlichkeit für begangenes Unrecht abgeschwächt und der Eindruck eines Teilsieges erweckt werden kann55. Zu berücksichtigen wird sein die Verwerflichkeit des Verhaltens gegenüber dem Nebenkläger56 und ob die Nebenklage bei sachlicher Betrachtung als gerechtfertigt oder mutwillig erscheint57. Unterbleiben solche Erwägungen, liegt regelmäßig ein Rechtsfehler vor58. Bei Freistellung nach § 74 kann der Nebenkläger seine

47 OLG Stuttgart Rpfl. 82, 438; LG Düsseldorf JurBüro 85, 910; LG Potsdam Rpfl. 14, 624; vgl. aber auch OLG Hamm ZJJ 14, 391 mit Anm. Eisenberg, das eine Kostengrundentscheidung, nach der davon abgesehen wird, dem Angeklagten seine notwendigen Auslagen aufzuerlegen, dahin ausgelegt hat, dass die Staatskasse die notwendigen Auslagen des Angeklagten zu tragen hat. 48 OLG Frankfurt Rpfl. 78, 148; OLG Zweibrücken Rpfl. 79, 110; OLG Frankfurt B NStZ 82, 416; LG Bonn JurBüro 84, 1053; LG Hof JurBüro 85, 908; LG Düsseldorf JurBüro 85, 910; Eisenberg/Kölbel 21; Ostendorf/Sommerfeld 13; wohl auch Mellinghoff NStZ 82, 409; Mümmler JurBüro 75, Sp. 311. 49 OLG Zweibrücken Rpfl. 79, 110, das offen lässt, ob § 74 es erlaubt, notwendige Auslagen der Staatskasse aufzuerlegen; OLG Frankfurt Rpfl. 78, 148; Mümmler aaO, Sp. 312; OLG Karlsruhe MDR 76, 513 für allg. Recht; aA – es genüge bloße Wiedergabe des Wortlauts des § 74 – LG Regensburg JurBüro 78, Sp. 86 mit abl. Anm. Mümmler; LG Darmstadt MDR 82, 603 „nach Sinn u. Zweck des § 74“; LG Frankfurt StV 83, 69; Baumhöfener S. 113. 50 BGH bei Herlan GA 64, 135; Mellinghoff NStZ 82, 409; abl. Ostendorf/Sommerfeld 11, der aber den J wenigstens von den Eigenlasten, z.B. Fahrtkosten, nicht freistellen will. 51 KG JR 96, 216 f mit Anm. Eisenberg/Schimmel; OLG Stuttgart Justiz 88, 170; Meyer-Goßner/Schmitt § 472 StPO 10; Fromm ZJJ 10, 387. 52 BGH B NStZ-RR 01, 326; OLG Hamm NJW 63, 1168; Schnitzerling DAR 66, 40; Sommerfeld/Schady ZJJ 21, 106. 53 BGH StraFo 19, 75 mit abl. Anm. Kölbel/Eisenberg; OLG Hamm NJW 63, 1168. 54 BGH aaO; OLG Hamm ZJJ 08, 193; Sommerfeld/Schady ZJJ 21, 103. 55 KG JR 96, 216 mit abl. Anm. Eisenberg/Schimmel; Sommerfeld/Schady ZJJ 21, 103; vgl. aber auch Eisenberg/Kölbel 16: Auferlegung der Auslagen nur ausnahmsweise. 56 DSS/Schatz 26; aA Eisenberg/Kölbel 16a; Ostendorf/Sommerfeld 12; Sommerfeld/Schady ZJJ 21, 103. 57 Vgl. OLG Hamm NJW 63, 1168, Schnitzerling aaO; Mantler EJF C I 2; Roestel SchlHA 56, 300; Sommerfeld/Schady ZJJ 21, 103. 58 OLG Hamm aaO. 520

Kosten und Auslagen

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Auslagen nicht vom Verurteilten fordern, aber auch nicht von der Staatskasse59. Das Kostenrisiko des Nebenklägers ergibt sich aus dem Gesetz (vgl. aber §§ 397a, 406h III StPO)60. Wegen der Nebenklagekosten bei zugelassener, aber nach § 80 III unzulässiger Nebenklage § 80, 11. Bei Einstellung des Verfahrens nach § 153 II oder § 153a II StPO darf der Angeklagte nicht mit den notwendigen Auslagen des Nebenklägers belastet werden, auch nicht über eine analoge Anwendung des § 471 III Nr. 2 StPO61. Vgl. auch § 48, 21.

7. Einzelheiten Die Verurteilung zu ErzMaßregeln und Zuchtmitteln, auch die Aussetzung der Verhängung 10 der JStrafe nach § 27 lassen keine Gerichtskosten anfallen (Vorbem. 3.1 zu Kostenverzeichnis 3110 ff sieht dies nicht vor); hierdurch entstandene gerichtliche Auslagen können aber auferlegt werden62. Die Kosten, welche dem J durch die Befolgung der Weisung oder Auflage entstehen, gehören nicht zu den Kosten und Auslagen des § 74 (RL 5 u. § 10, 39, 47). Ostendorf63 allerdings hält es für möglich und angebracht, entgegen der hM diese Kosten als notwendige Auslagen zu definieren und nach § 74 auf die Staatskasse abzuwälzen, was über § 467 I StPO auch für Maßnahmen nach §§ 45, 47 gelten soll. Vgl. dazu § 10, 47 u. § 45, 52. Haftkosten in JA-Anstalten werden nicht erhoben64. Berechnet werden die Gerichtskosten bei nachträglicher Bildung einer Einheitsstrafe (§§ 31 II, 66) nach Vorbem. 3.1 (5) zu Kostenverzeichnis 3110 ff und bei Maßregeln der Besserung und Sicherung nach Vorbem. 3.1 (4) zu Kostenverzeichnis 3110 ff. Zu den Auslagen zählen die Kosten der UHaft, der einstweiligen Unterbringung in einem 11 Heim der ErzHilfe (RL 4; §§ 71 II, 72 III)65 und der Unterbringung zur Beobachtung nach § 81 StPO (nicht mehr gem. § 73, die RL 4 ist insoweit überholt)66, nicht aber Heimkosten infolge einer mit der Außervollzugsetzung des Haftbefehls verbundenen Weisung, Aufenthalt in einem Heim zu nehmen67. Hinsichtlich der Auslagen für Vollstreckung und Vollzug der JStrafe gilt, dass nach den JStVollzG der Bundesländer (Vor § 90, 2) unter bestimmten Voraussetzungen Kostenbeiträge erhoben werden68. Für Rechtsmittel fällt nur eine Gebühr an, auch wenn sie Angeklagter und gesetzlicher 12 Vertreter oder ErzBerechtigter eingelegt haben, weil die Gebühr für die Instanz, nicht für das Rechtsmittel gilt69. Wird auf Berufung ein Dauerarrest von 4 Wochen durch einen kombinierten Ausspruch von Verwarnung, Geldbuße und Freizeitarrest ersetzt, so ist dies – in der Abstu-

59 OLG Hamm NJW 63, 1168; OLG Celle MDR 75, 338; OLG Saarbrücken NJW 73, 1943; OLG Frankfurt JurBüro 78, 78 u. Beschl. v. 22.4.1981 SjE F I 3; KG JR 96, 217; LG Frankfurt Zbl. 64, 178; LG Heidelberg Justiz 71, 33 für § 153 III StPO aF; Dallinger/Lackner § 109, 19; Ostendorf/Sommerfeld 12; Nothacker S. 134; Löwe/Rosenberg/Hilger26 § 472 StPO 7; Schmidt SchlHA 64, 85; Schnitzerling RdJ 62, 11 u. DAR 66, 40; Stöber Rpfl. 64, 42; aA OLG Zweibrücken AnwBl. 73, 86; LG Saarbrücken NJW 63, 2334 mit abl. Anm. Tschischgale; LG Darmstadt NJW 64, 1736; NJW 72, 1209 u. NStZ 83, 235; AG Groß-Gerau NJW 69, 707; Eisenberg/Kölbel 16b. 60 Siehe dazu Sommerfeld/Schady ZJJ 21, 104 ff. 61 LG Frankfurt NStZ 81, 451; aA für § 153 II StPO OLG Stuttgart Justiz 81, 57. 62 KG JR 62, 271. 63 ZRP 88, 432. 64 Zust. Eisenberg/Kölbel 11. 65 OLG Dresden DVJJ-J 98, 279. 66 Ostendorf/Sommerfeld 8a. 67 OLG Frankfurt NStZ-RR 96, 183; OLG Jena NStZ-RR 97, 320; OLG Koblenz NStZ-RR 09, 160; aA LG Osnabrück NdsRpfl. 01, 23. 68 Ostendorf/Sommerfeld 9. 69 Ostendorf/Sommerfeld 5. 521

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fung der Zuchtmittel – ein nicht unerheblicher Erfolg im kostenrechtlichen Sinne (§ 473 StPO)70. 13 Im OWiG-Verfahren kann auch die Verwaltungsbehörde davon absehen, dem J und Hw. die Kosten des Bußgeldverfahrens sowie Auslagen, die einem anderen Verfahrensbeteiligten (vgl. § 472b I 2 StPO) entstanden sind, aufzuerlegen (§§ 74, 109 II iVm § 105 I OWiG); auch teilweise Auferlegung ist möglich. Es gelten auch hier die bereits ausgeführten erz. Erwägungen, insbes. soll der J und Hw. nur aus eigenen Mitteln Kosten zahlen. Anders bei der Zumessung der Geldbuße nach dem OWiG (Vor § 76, 4).

8. Rechtsanwaltsgebühren 14 Hinsichtlich der Rechtsanwaltsgebühren gelten keine Besonderheiten (§ 2 II 1 RVG iVm Nr. 4100 ff RVG-VV); wegen der Gebühren bei JKammer-Sachen Nr. 4112, 4114, 4118 u. 4120 RVG-VV71. Zur Honorarverpflichtung des J § 68, 4. Die sofortige Beschwerde gem. § 59 I 2 lässt für den Verteidiger keine bes. Vergütung anfallen (§ 59, 3 aE)72. Die Kosten des Pflichtverteidigers fallen nach Verurteilung dem J zur Last (§§ 465, 464a I StPO), falls nicht nach § 74 von der Auferlegung abgesehen wird. Der Pflichtverteidiger kann auch im JGerichtsverfahren Ansprüche gegen seinen Mandanten gem. § 52 RVG geltend machen73. Das LG Heidelberg74 hat dem Pflichtverteidiger bei kostenfälliger Verurteilung eines mittellosen J den durchgreifenden Anspruch auf Wahlverteidigergebühren versagt und bei Beurteilung der Leistungsfähigkeit nach § 100 II BRAGO (jetzt § 52 II RVG) einen Anspruch nach § 74 gegen die Staatskasse nicht berücksichtigt, weil § 74 den J schützen soll. Hier wird sorgfältig abzuwägen sein. Zu den Gebühren des Wahlverteidigers auch Rn 2. Die Verfahrenskosten des J gehören nicht zu seinem Unterhaltsanspruch gegen die Eltern75.

9. Kostenhaftung 15 Für die Kosten haftet stets nur das Vermögen des J oder Hw., da sich die Pflicht zur Kostentragung nach sachlichem Recht richtet und der gesetzliche Vertreter wie der ErzBerechtigte nur das Recht des J wahrt. Wenngleich der mit seinem Rechtsmittel erfolglos gebliebene gesetzliche Vertreter oder ErzBerechtigte nur mit dem seiner Verwaltung unterliegenden Vermögen des von ihm Vertretenen haftet, werden ihm im Urteilstenor die Berufungskosten überbürdet76. Fehlt dem Berufungsführer die gesetzliche Vertretungsvollmacht, so haftet er als vollmachtloser Vertreter mit seinem eigenen Vermögen77.

70 OLG Karlsruhe Justiz 82, 59. 71 Vgl. auch OLG Zweibrücken StV 82, 349. 72 OLG Koblenz MDR 73, 957 gegen LG Lübeck NJW 63, 2336. Wegen der notwendigen Auslagen bei erfolgreicher Beschwerde gegen eine ablehnende Entscheidung nach § 88 s. OLG Hamburg JR 74, 342 mit krit. Anm. Meyer (zu § 26 I StGB aF). 73 OLG Hamm NJW 61, 1640; Reiche SchlHA 65, 225; Ostendorf/Sommerfeld § 68, 15 u. Ostendorf StV 86, 311; Baumhöfener S. 117; Bedenken bei Eisenberg/Kölbel 17 a u. Eisenberg NJW 84, 2917 FN 42. 74 Zbl. 85, 470. 75 OLG Düsseldorf MDR 82, 342. 76 BGH 8, 346; OLG Hamm bei Dölling NStZ 09, 200; Dallinger/Lackner § 67, 20; Löwe/Rosenberg/Hilger26 § 473 StPO 10; Schäfer NStZ 98, 333. Die OLG Hamburg MDR 68, 73, Düsseldorf MDR 85, 77 u. Schleswig bei Lorenzen/Schiemann SchlHA 98, 196 erlegen dem gesetzlichen Vertreter die Kosten des erfolglosen Rechtsmittels dann nicht auf, wenn der J von Kosten freigestellt wurde (ebenso Eisenberg/Kölbel 24a u. Ostendorf/Sommerfeld 5). 77 LG Lüneburg Nds. Rpfl. 66, 274; Löwe/Rosenberg/Hilger26 § 473 StPO 9; Eisenberg/Kölbel 19a. 522

Kosten und Auslagen

§ 74

10. Rechtsmittel Die Kostenentscheidung unterliegt der sofortigen Beschwerde nach § 464 III 1 StPO, welche 16 aber dem § 55 II unterfällt (§ 55, 26)78. Beanstandet die Revision gegen ein Urteil des JRichters allein die Nichtanwendung des § 74, ist sie als sofortige Beschwerde gegen die Kostenentscheidung anzusehen, über die nicht das Revisionsgericht, sondern die JKammer zu entscheiden hat79. Die vom LG nach Revisionsrücknahme gem. § 473 I StPO, § 74 getroffene Kosten- und Auslagenentscheidung ist unanfechtbar80. Die Ermessensentscheidung des Tatgerichts unterliegt nur einer begrenzten Kontrolle durch das Beschwerdegericht auf fehlerfreie Ermessensausübung81. Ergibt das Urteil (Tenor u. Gründe), dass offensichtlich gar nicht geprüft wurde, ob § 74 eingreift, so ist dies ein Ermessensfehlgebrauch und das Urteil auch zugunsten der Mitangeklagten, die kein Rechtsmittel eingelegt haben, aufzuheben (§ 357 StPO)82. Mangels gegenteiliger Anhaltspunkte ist bei einer erfahrenen JKammer jedoch davon auszugehen, dass sie sich der Möglichkeit des § 74 bewusst gewesen ist, auch wenn in den Urteilsgründen Ausführungen hierzu fehlen83. Die Nichtbegründung einer Kostenentscheidung nach § 74 gefährdet deren Bestand nicht, wenn sich aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe ergibt, dass das Gericht sich bewusst war, eine Ermessensentscheidung zu treffen und dass es von seinem Ermessen rechtsfehlerfrei Gebrauch gemacht hat84. Die Kostenbeschwerde ist nach § 464 III 1 HS 2 StPO unzulässig, wenn die Hauptentscheidung nicht angefochten werden kann. Ausnahmsweise ist die Beschwerde jedoch zur Beseitigung groben prozessualen Unrechts zulässig85. Wegen des Ausspruchs im Urteil: § 54, 7. 17

11. Privat- und Widerklage § 74 gilt auch sonst. Bei Widerklagen (§ 80 II) gibt er einen Anhalt für die Ausübung des Ermes- 18 sens bei der Kostenverteilung nach § 471 III StPO. Wegen der bes. Parteistellung kann es hier allerdings erz. bedenklich sein, dem unterliegenden J die Kosten nicht aufzuerlegen. – Ob § 74 entsprechend angewendet werden kann, wenn ein J eine unbegründete Anzeige erstattet (§ 469 StPO) oder ein J einen Strafantrag zurückgenommen hat (§ 470 StPO) und ihm nach allg. Recht die Kosten aufzuerlegen wären, ist eher zu verneinen86, zumal § 74 nach seinem klaren Wortlaut („gegen“) nicht für den j. Privatkläger gilt, gegen den keine Widerklage erhoben ist87. Zu den Auslagen für den Dolmetscher Einf. 51.

§ 75 (weggefallen)

78 OLG Hamm JMBl. NRW 83, 65; StV 99, 667; OLG Oldenburg NStZ-RR 06, 191; DSS/Schatz 47; Bode Das Wahlrechtsmittel im Strafverfahren, 2000, S. 131; krit. Eisenberg/Kölbel § 55, 72; abl. Ostendorf/Sommerfeld 14. 79 OLG Düsseldorf NStZ-RR 99, 252. 80 OLG Dresden NStZ-RR 00, 224; KG NStZ-RR 08, 263. 81 OLG Hamm ZJJ 08, 193; KG NStZ-RR 08, 291. 82 BGH 16, 263; OLG Hamm NJW 63, 1168; OLG Düsseldorf NStZ-RR 96, 24; Dallinger/Lackner 16; Eisenberg/Kölbel 27; Ostendorf/Sommerfeld 14. 83 OLG Düsseldorf MDR 93, 1113. 84 BGH NStZ-RR 06, 224. 85 BVerfG DVJJ-J 96, 395. 86 Vgl. OLG Stuttgart MDR 82, 510. 87 Löwe/Rosenberg/Hilger26 § 471 StPO 39; Eisenberg/Kölbel 3a. 523 https://doi.org/10.1515/9783110686401-098

Achter Unterabschnitt Vereinfachtes Jugendverfahren Vor §§ 76–78 1 Für die polizeiliche Verwarnung ohne oder mit Verwarnungsgeld wegen einer Ordnungswidrigkeit durch die Polizei gilt Folgendes: 2 Die Altersreife bestimmt sich nach den Regeln von § 1 II JGG; § 19 StGB. Ein Kind kann nicht ordnungswidrig handeln (§ 19 StGB; § 12 I 1 OWiG); es kann deshalb nicht – auch nicht ohne Verwarnungsgeld – verwarnt (§ 56 OWiG) werden; der Polizeibeamte wird es ermahnen, aufklären oder belehren. Bei J kommt es darauf an, ob sie ihrer Entwicklung nach für die Tat voll verantwortlich sind (§ 3 S. 1 JGG; § 12 I 2 OWiG). Ist der J dies, kann er verwarnt, ihm auch ein Verwarnungsgeld auferlegt werden (§ 56 I OWiG)1. Die Prüfung der Altersreife durch den Polizeibeamten kann bei der gegebenen Situation 3 nur sehr oberflächlich sein; dies hat der Gesetzgeber in Kauf genommen, ernstliche Bedenken bestehen bei Berücksichtigung von Tat und Folgen, auch im Hinblick auf die Überlegungen § 3, 3 nicht. Bei Verkehrsordnungswidrigkeiten – die vor allem Anlass zu Verwarnungen geben – hat der durchschnittlich intelligente J in der Regel aus eigenem Interesse, aus Verkehrsunterricht in den Schulen und der allg. Verkehrsaufklärung die genügende Einsichtsfähigkeit; bei anderen Ordnungswidrigkeiten können mangelndes Verstehen des Verbotes und ungezügelter Spieltrieb gerade beim J der erforderlichen Einsicht im Wege stehen. Bei Zweifeln sollte der Polizeibeamte den J nur ermahnen, aufklären oder belehren. 4 Bei der Zumessung der Geldbuße sind nach § 17 III OWiG bei geringfügigen Ordnungswidrigkeiten die wirtschaftlichen Verhältnisse idR nicht zu berücksichtigen. Es gilt dies namentlich für das Verwarnungsgeld, das bei „geringfügigen Ordnungswidrigkeiten“ erhoben wird (§ 56 OWiG)2. Verwarnungsgeld und Geldbuße dürfen auch verhängt werden, wenn der J oder Hw. mittellos ist, weil jgemäße Vollstreckung nach § 98 OWiG möglich ist3. Dies bleibt zumeist von geringer Bedeutung, denn heute verfügt nachgerade jeder J über Mittel in Höhe des Verwarnungsgeldes; daneben könnte der Polizeibeamte dies bei der gegebenen Situation kaum einigermaßen zuverlässig nachprüfen. Die Beamten des Polizeidienstes sind bei Ordnungswidrigkeiten allg. neben der Verwal5 tungsbehörde befugt, Verwarnungen zu erteilen, soweit sie hierzu ermächtigt sind (§§ 57 II, 58 I OWiG), und zwar nicht nur, wenn sie den Täter auf frischer Tat stellen, sondern auch beim ersten Zugriff. Eine auf frischer Tat erteilte Verwarnung mit Verwarnungsgeld wirkt meist besser, als wenn 6 letztlich JGericht und JStA wegen Nichtigkeiten eingeschaltet werden; überdies werden die Gerichte hierdurch zugunsten ihrer eigentlichen Aufgaben entlastet. Ist wirksam mit Verwarnungsgeld verwarnt (§ 56 II OWiG), so kann die Tat nicht mehr 7 unter den tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten verfolgt werden, unter denen die Verwarnung erteilt worden ist (§ 56 IV OWiG)4.

§ 76 Voraussetzungen des vereinfachten Jugendverfahrens 1 Der Staatsanwalt kann bei dem Jugendrichter schriftlich oder mündlich beantragen, im vereinfachten Jugendverfahren zu entscheiden, wenn zu erwarten ist, daß der Jugend-

1 2 3 4

Zu den weiteren Voraussetzungen Göhler/Gürtler/Thoma § 56 OWiG 3 ff. OLG Hamm NJW 69, 1315. Göhler/Seitz/Bauer § 47 OWiG 21. Allg. zu Rechtsfragen der Verwarnung Wetekamp DAR 86, 75. 524

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Verfahren und Entscheidung

§ 78

richter ausschließlich Weisungen erteilen, Hilfe zur Erziehung im Sinne des § 12 Nr. 1 anordnen, Zuchtmittel verhängen, auf ein Fahrverbot erkennen, die Fahrerlaubnis entziehen und eine Sperre von nicht mehr als zwei Jahren festsetzen oder die Einziehung aussprechen wird. 2Der Antrag des Staatsanwalts steht der Anklage gleich. 1. [Hw.]: RL 3; § 109 I, II. – 2. [ErwG]: § 104; RL 3.

Richtlinien zu § 76 1.

2.

3.

Liegen die Voraussetzungen des § 76 Satz 1 vor und kommt ein Absehen von der Verfolgung nach § 45 nicht in Betracht, so stellt die Staatsanwaltschaft in aller Regel Antrag auf Entscheidung im vereinfachten Jugendverfahren. Die Staatsanwaltschaft wird den Antrag im allgemeinen schriftlich stellen, um dem Jugendrichter eine einwandfreie Grundlage für seine Entscheidung nach § 77 Abs. 1 und für das spätere Urteil zu geben. Ein schriftlicher Antrag ist besonders dann angebracht, wenn die Staatsanwaltschaft an der mündlichen Verhandlung nicht teilnehmen will. In dem Antrag werden die dem Beschuldigten zur Last gelegte Tat und das anzuwendende Strafgesetz bezeichnet. Das vereinfachte Jugendverfahren findet weder vor den für allgemeine Strafsachen zuständigen Gerichten noch im Verfahren gegen Heranwachsende statt (§§ 104, 109).

§ 77 Ablehnung des Antrags (1) 1Der Jugendrichter lehnt die Entscheidung im vereinfachten Jugendverfahren ab, wenn sich die Sache hierzu nicht eignet, namentlich wenn die Anordnung von Hilfe zur Erziehung im Sinne des § 12 Nr. 2 oder die Verhängung von Jugendstrafe wahrscheinlich oder eine umfangreiche Beweisaufnahme erforderlich ist. 2Der Beschluß kann bis zur Verkündung des Urteils ergehen. 3Er ist nicht anfechtbar. (2) Lehnt der Jugendrichter die Entscheidung im vereinfachten Verfahren ab, so reicht der Staatsanwalt eine Anklageschrift ein. 1. [Hw.]: § 109 I, II, § 76 RL 3. – 2. [ErwG]: § 76 RL 3.

Richtlinie zu § 77 Hält der Jugendrichter eine richterliche Ahndung der Tat für entbehrlich, so kann er nach § 47 verfahren. In der mündlichen Verhandlung bedarf es hierzu der Zustimmung der Staatsanwaltschaft nicht, wenn diese an der Verhandlung nicht teilnimmt (§ 78 Abs. 2 Satz 2).

§ 78 Verfahren und Entscheidung (1) 1Der Jugendrichter entscheidet im vereinfachten Jugendverfahren auf Grund einer mündlichen Verhandlung durch Urteil. 2Er darf auf Hilfe zur Erziehung im Sinne des § 12 Nr. 2, Jugendstrafe oder Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nicht erkennen. (2) 1Der Staatsanwalt ist nicht verpflichtet, an der Verhandlung teilzunehmen. 2Nimmt er nicht teil, so bedarf es seiner Zustimmung zu einer Einstellung des Verfahrens in der Verhandlung oder zur Durchführung der Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten nicht. (3) 1Zur Vereinfachung, Beschleunigung und jugendgemäßen Gestaltung des Verfahrens darf von Verfahrensvorschriften abgewichen werden, soweit dadurch die Erforschung der Wahrheit nicht beeinträchtigt wird. 2Die Vorschriften über die Anwesenheit der Angeklagten (§ 50), die Stellung der Erziehungsberechtigten und der gesetzlichen 525 https://doi.org/10.1515/9783110686401-102

§ 78

2. Teil. Jugendliche

Vertreter und deren Unterrichtung (§§ 67, 67a), die Mitteilungen an amtliche Stellen (§ 70) und die Unterbringung des Jugendlichen (§ 70a) müssen beachtet werden. 3Bleibt der Beschuldigte der mündlichen Verhandlung fern und ist sein Fernbleiben nicht genügend entschuldigt, so kann die Vorführung angeordnet werden, wenn dies mit der Ladung angedroht worden ist. 1. [Hw.]: § 109 I, II; § 76 RL 3. – 2. [ErwG]: § 76 RL 3.

Richtlinie zu § 78 Die schnelle Durchführung des vereinfachten Jugendverfahrens wird mitunter die Mitteilungen, die vor Erlass des Urteils zu machen sind, unmöglich machen. Für die rechtzeitige, notfalls fernmündliche Benachrichtigung der Jugendgerichtshilfe vom Verfahren und vom Verhandlungstermin sollte jedoch stets Sorge getragen werden.

Schrifttum Frenzel Des Kaisers neue Kleider oder das Neuköllner Modell, ZJJ 11, 70; Ohder/Tausendteufel Evaluation des Neuköllner Modells, ZJJ 15, 38; Schmidt Das beschleunigte vereinfachte JVerfahren in Bamberg, ZJJ 14, 31; Suske-Bonack Das beschleunigt durchgeführte vereinfachte JVerfahren (sog. „Neuköllner Modell“), Kriminalistik 11, 731; Tamm Diversion u. vereinfachtes Verfahren im JStrafrecht, 2007.

Übersicht 1. 2. 3. 4.

Allgemeines 1 2 Sachliche Voraussetzungen 7 Formelle Voraussetzungen Zurücknahme des Antrags der StA

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5. 6. 7. 8.

11 Eröffnung des Verfahrens 17 Die mündliche Verhandlung Verfahren vor dem Rechtsmittelgericht 24 Ordnungswidrigkeitsverfahren

22

1. Allgemeines 1 Das vereinfachte JVerfahren1 steht zwischen dem formlosen ErzVerfahren (§§ 45, 47) und dem förmlichen Verfahren. Von ersterem unterscheidet es sich dadurch, dass nur nach mündlicher Verhandlung durch Urteil entschieden werden kann und ein erweiterter, genau umschriebener Sanktionsbereich eröffnet ist. Im Gegensatz zum förmlichen Verfahren gestattet das vereinfachte JVerfahren ein Abweichen von verschiedenen Vorschriften, die oft einer erz. notwendigen Beschleunigung und der jgemäßen Verfahrensgestaltung entgegenstünden, obgleich die Bedeutung der Sache eine Vereinfachung zuließe (§ 78 III). Für das vereinfachte JVerfahren eignen sich also die nicht ganz unbedeutenden Fälle der kleineren und mittleren Kriminalität, bes. im Anwendungsbereich des JA (Rn 3). Es tritt vielfach an die Stelle des beschleunigten Verfahrens und des Strafbefehlsverfahrens des allg. Rechts (§§ 407 ff, 417 ff StPO), die das JRecht nicht kennt (§ 79). Dazu insbes. Rn 4. Die JStA wird bei Vorliegen der Voraussetzungen (Rn 2 ff) dieses Verfahren wählen, wenn Diversionsmöglichkeiten ausscheiden, ein förmliches Hauptverfahren aber (noch) nicht angebracht ist2. Das vereinfachte JVerfahren ist dem J(Einzel)Richter vorbehalten (vgl. die Fassung der Paragraphen; Rn 22).

1 Heinen UJ 57, 204; Müller RdJ 58, 339; Roestel NJW 66, 1952; Schaffstein MKrim. 78, 313. 2 Für stärkere Nutzung des vereinfachten JVerfahrens Mann S. 272. 526

Verfahren und Entscheidung

§ 78

2. Sachliche Voraussetzungen Sachliche Voraussetzung für den Antrag auf Entscheidung im vereinfachten JVerfahren ist, dass sich die Sache für dieses Verfahren eignet. Zunächst kommt es auf die zu erwartenden Maßnahmen an. Die Eignung fehlt bei Maßnahmen, die vom JRichter überhaupt oder im vereinfachten JVerfahren nicht angeordnet werden dürfen, also bei JStrafe, Hilfe zur Erz. iSd § 12 Nr. 2, Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 78 I 2) und Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 7; § 63 StGB; § 41, 21). Hierher gehört auch der Schuldspruch nach § 27, weil er ggf. die Grundlage für die Verhängung von JStrafe ist und die Ausschöpfung aller gem. § 43 JGG iVm § 244 II StPO vorgeschriebenen Ermittlungsmöglichkeiten voraussetzt3. Sind solche Maßnahmen auch nur zu erwarten (§ 41, 8), ist ein Antrag nach § 76 sinnlos und damit unzulässig (§§ 76 I 1, 77 I 1). – Der Antrag auf Entscheidung im vereinfachten JVerfahren kann dagegen auch gestellt werden, wenn ein Fahrverbot, die Entziehung der Fahrerlaubnis mit Sperre bis zu 2 Jahren und die Einziehung in Betracht kommen (§ 76 I 1). Doch kann auch eine Sperrfrist von mehr als 2 Jahren wirksam im Urteil des vereinfachten JVerfahrens angeordnet werden (§ 78 I 2; vgl. §§ 7, 39 II)4. – Ähnliches gilt von der Überlassung der Anordnung und Auswahl der ErzMaßregeln an das Familiengericht nach § 53. Ist die Überlassung von vornherein zu erwarten, ist der Antrag nach § 76 nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes nicht zulässig (§§ 76 I 1, 77 I 1); die StA wird hier im Interesse wirksamer Beschleunigung meist die entsprechenden Maßnahmen unmittelbar beim Familiengericht anregen und dann nach § 45 verfahren. Ist aber das Verfahren nach § 76 schon im Gang, kann im Urteil auch auf Überlassung nach § 53 erkannt werden, wenn dies nicht gegen die bes. Beschleunigungspflicht des vereinfachten JVerfahrens verstößt5. Das Familiengericht ist dann in den Grenzen des § 53 frei. Der JStA ist der Weg eröffnet, auch leichte bis mittlere Straßenverkehrsdelikte im Wege des vereinfachten JVerfahrens zu verfolgen, weil § 76 S. 1 ihr den entsprechenden Antrag auch erlaubt, wenn zu erwarten ist, dass die Fahrerlaubnis entzogen wird. Damit ist die JStA nicht gezwungen, den J förmlich anzuklagen, wenn die Entziehung der Fahrerlaubnis in Betracht kommt. Der J ist – etwa bei einer folgenlosen Trunkenheitsfahrt – nicht schlechter gestellt als ein Erw. oder Hw., bei denen in vergleichbarer Situation das Strafbefehlsverfahren ausreicht. Andererseits macht die Begrenzung der Sperre auf 2 Jahre deutlich, dass für Straßenverkehrsdelikte mit höherem Unrechts- und Schuldgehalt das vereinfachte JVerfahren nicht mehr geeignet ist, wobei häufig auch schon die in Rn 5 aufgeführten Gründe dieses Verfahren nicht zulassen werden. Im Urteil aber kann auf eine längere Sperrfrist erkannt werden (Rn 3; § 78 I), denn es wäre gegen die Prozessökonomie und würde den J unnötig belasten, deshalb in ein anderes, neues Verfahren übergehen zu müssen. Das vereinfachte JVerfahren eignet sich bei leichter bis mittlerer Kriminalität (aber Rn 6), wobei es vor allem auch auf die Persönlichkeit des J ankommt; es ist bei kompliziertem Sachverhalt nicht angebracht, bes. wenn eine umfangreiche Beweisaufnahme zu erwarten ist (§ 77 I), die Persönlichkeitserforschung bes. Schwierigkeiten macht oder wenn der Eindruck einer förmlichen Hauptverhandlung erz. Vorteile verspricht (Einf. 112); letzteres kann auch bei hartnäckigem Leugnen der Fall sein. Auch für Bagatellen ist das vereinfachte JVerfahren nicht geeignet6, da hier eine Verhandlung ein unverhältnismäßig großer, erz. oft bedenklicher Aufwand wäre. In solchen Fällen sollte die StA das formlose ErzVerfahren nach § 45 durchführen, wenn die danach zulässigen Maßnahmen ausreichen. Doch wird auch bei leichten Taten eine Verhandlung geboten sein, wenn etwa

3 4 5 6

BayObLG 70, 216; Eisenberg/Kölbel 9; Ostendorf/Sommerfeld 11. Eisenberg/Kölbel 30. Dallinger/Lackner § 78, 19. Eisenberg/Kölbel 4; Ostendorf/Sommerfeld Grdl. zu §§ 76–78, 3.

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2. Teil. Jugendliche

die Eltern die Tat gutheißen oder bagatellisieren oder der J bes. leichtfertig ist. – Wegen des Verfahrens nach § 47, wenn in solchen Fällen Antrag nach § 76 gestellt ist, Rn 14.

3. Formelle Voraussetzungen 7 Formelle Voraussetzung ist ein Antrag des JStA (§ 76 I 1; wegen des S. 2 s. Rn 9). Er kommt nur in Betracht, wenn die Sache anklagereif ist (hinreichender Tatverdacht, auch bezüglich der Altersreife; Fehlen von Verfahrenshindernissen; Zuständigkeit). Der JStA muss den Abschluss der Ermittlungen aktenkundig machen, bevor er den Antrag auf Aburteilung im vereinfachten Jugendverfahren stellt (§ 169a StPO; § 46, 1). 8 Der Antrag ist an keine besondere Form gebunden. Er kann ausnahmsweise, z.B. wenn gegen einen dem JRichter vorgeführten J sofort verhandelt werden kann und soll, auch fernmündlich gestellt werden (§ 76 RL 2). Beabsichtigt der StA, an der Verhandlung nicht teilzunehmen, so empfiehlt sich der Klarheit und Begrenzung halber idR die Schriftform, die stets eine sichere Grundlage für die richterlichen Entscheidungen abgibt (§ 76 RL 2)7. – Der Antrag muss wenigstens die Tat iSd § 264 StPO (Ort, Zeit, wesentliche Umstände) und den Beschuldigten sowie das Strafgesetz eindeutig bezeichnen, weil sonst gar kein konkreter Antrag vorliegt (s. § 76 RL 2 S. 3). Die Anführung der Beweismittel, ggf. die Anregung einer bestimmten Maßnahme, ist idR zweckmäßig. Der Antrag kann auch in Form einer Anklage gehalten werden mit dem Zusatz, dass im vereinfachten JVerfahren entschieden werden soll. Dieser Zusatzantrag kann auch noch nach Einreichung einer förmlichen Anklage bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens gestellt werden (nicht umgekehrt; Rn 9)8. Beim „Lemgoer Modell“ kann bereits die Polizei einen Hauptverhandlungstermin beim JGericht vormerken lassen9. Zum „Rüsselsheimer Modell“ s. § 47, 10. Beim „Neuköllner Modell“ soll das vereinfachte JVerfahren u.a. dadurch beschleunigt werden, dass die Polizei in geeigneten Fällen das Verfahren telefonisch bei der StA anregt, diese ggf. den Antrag bei Gericht stellt und das Gericht rasch die mündliche Verhandlung terminiert10. Nach einer Evaluation führt das Modell zu einer Beschleunigung, die Fallzahlen sind allerdings verhältnismäßig gering11. Auch in dem ähnlich konzipierten „Bamberger Modell“ wurde eine Verfahrensverkürzung erreicht12.

4. Zurücknahme des Antrags der StA 9 Der Antrag kann bis zur Vernehmung des J zur Sache zurückgenommen werden. Bei der Formungebundenheit des Verfahrens ist dies der einzig zuverlässig zu ermittelnde Zeitpunkt, der eine missbräuchliche Zurücknahme ausschließt13. Wo die Eröffnung des Verfahrens fehlt, schlagen Ostendorf/Sommerfeld14 als vergleichbaren Zeitpunkt die Terminsanberaumung vor. Das aber führt ohne Not zu Schwierigkeiten, vgl. Rn 17. Mit der Rücknahme ist ebenso wie mit der Ablehnung nach § 77 I das gerichtliche Verfahren beendet (Rn 15). – Eine Überleitung in das förmliche Verfahren ist nicht möglich; es fehlen dafür Anklage und Eröffnungsbeschluss. Ggf. ist nach Rücknahme oder Ablehnung (§ 77 I; Rn 15) des Antrags förmliche Anklage einzureichen (§ 77 II). Der Antrag nach § 76 steht also nur für das vereinfachte JVerfahren der Anklage gleich (§ 76 I 2).

7 Eisenberg/Kölbel 11; Ostendorf/Sommerfeld 2. 8 Dallinger/Lackner § 76, 12; Eisenberg/Kölbel 12; Ostendorf/Sommerfeld 2. 9 Schlie DVJJ-J 99, 335. 10 Suske-Bonack Kriminalistik 11, 731. 11 Ohder/Tausendteufel ZJJ 15, 38; krit. zu dem Modell Frenzel ZJJ 11, 70. 12 Schmidt ZJJ 14, 31. 13 OLG Oldenburg NJW 61, 1127; Dallinger/Lackner § 76, 11; Eisenberg/Kölbel 13; Tamm S. 38; aA Potrykus § 76 B 3. 14 3. 528

Verfahren und Entscheidung

§ 78

Ob der JStA den Antrag nach § 76 stellt oder wieder zurücknimmt, liegt in seinem Ermes- 10 sen. Sind die sachlichen Voraussetzungen (Rn 2–6) gegeben und scheidet ein Absehen von der Verfolgung nach § 45 aus, ist der Antrag in aller Regel zu stellen (§ 76 RL 1). Der JRichter kann die Stellung des Antrags höchstens anregen. Dagegen hat er stets nach Antragstellung nachzuprüfen, ob die sachlichen Voraussetzungen für einen solchen Antrag vorliegen (§ 77; Rn 14, 15).

5. Eröffnung des Verfahrens Geht ein Antrag (§ 76 I 1, Rn 7) beim JRichter ein, prüft er, ob die allg. Verfahrensvoraussetzungen (Rn 12) und die bes. Voraussetzungen für das vereinfachte JVerfahren (Rn 2–6, 14, 15) vorliegen. Ob hinreichender Tatverdacht gegeben ist, muss nicht, kann aber und sollte auch geprüft werden (näher Rn 13). Im Rahmen der Prüfung steht es auch hier dem JRichter frei, die Akten der JStA zur Stellungnahme zu etwaigen Bedenken (ggf. mit Anregungen) oder zu weiteren Ermittlungen des Tathergangs oder der Täterpersönlichkeit zurückzugeben oder selbst zu ermitteln. Je nach dem Ergebnis der Prüfung richtet sich das weitere Verfahren. Fehlt die Zuständigkeit oder bestehen allg. Verfahrenshindernisse (kein Strafantrag, Verjährung oä), lehnt der JRichter ab, das Verfahren zu eröffnen (§ 204 StPO), oder stellt er ggf. das Verfahren nach § 206a StPO ein; gegen diesen Beschluss hat die JStA die sofortige Beschwerde (§§ 210 II, 206a II, 311 StPO). Gleiches gilt, wenn der JRichter feststellt, dass eine Verurteilung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht zu erwarten ist (§ 204 StPO). Zwar trifft den JRichter insoweit keine bes. Prüfungspflicht (§ 77); er ist aber dadurch nicht an dieser Entscheidung gehindert und wird gewiss nicht blindlings jeden Antrag übernehmen, eine aA würde den J unnötig belasten und zu erz. unerwünschten Freisprüchen führen15. Hätte nach Ansicht des JRichters die JStA nach § 45 II vorgehen sollen (Rn 6), ist eine Zurückweisung nach § 77 I nicht möglich. Der JRichter kann aber selbst nach § 47 verfahren (RL zu § 77); der StA kann diese Möglichkeit allerdings dadurch ausschalten, dass er die Zustimmung verweigert, auch wenn er schon ausdrücklich auf die Teilnahme an der Sitzung verzichtet hat16. In der Sitzung jedoch, an welcher der JStA nicht teilnimmt (Rn 18), kann der Richter ohne dessen Zustimmung bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung nach § 47 verfahren (§ 78 II 2; RL zu § 77 S. 2), selbst wenn der JStA vorher widersprochen hat17. Auch dann ist diese Entscheidung nicht anfechtbar (§ 47 II 3)18; zur Einstellung nach § 153 II StPO s. § 47, 14; vgl. auch im Übrigen bei § 47. Hält der JRichter die sachlichen Voraussetzungen wegen Vorgriffs des § 45 I (Bagatelle; Rn 6) nicht für gegeben, lehnt er die Entscheidung im vereinfachten JVerfahren ab (§ 77 I 1). Der Beschluss ist unanfechtbar und kann bis zur Verkündung des Urteils 1. Instanz (wegen der weiteren Instanzen Rn 22) ergehen (§ 77 I 2, 3). Eine Begründung ist nicht vorgeschrieben; doch sollten die Gründe der JStA wenigstens stichwortartig mitgeteilt werden. – Der Beschluss versetzt das Verfahren wieder in den Stand des Ermittlungsverfahrens zurück und der JStA ist in seiner Entscheidung völlig frei19. Will der JStA eine Entscheidung des Gerichts, muss er Anklage erheben; wo schon eine Anklage eingereicht wurde (Rn 8), genügt Bezugnahme; ein Antrag nach § 76 ist ausgeschlossen. § 77 II zwingt aber entgegen Roestel den JStA nicht, in jedem Fall anzuklagen. Er kann z.B. nach § 45 verfahren, wenn er das für angebracht hält (etwa wenn abgelehnt wurde, weil Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2 geboten ist, u. das Familiengericht inzwischen – ggf. auf Anregung des JStA – diese angeordnet hat). Der JStA kann auch aus sonstigen 15 16 17 18 19 529

Eisenberg/Kölbel 15; für Prüfungspflicht Tamm S. 43. Dallinger/Lackner § 78, 18; Potrykus NJW 56, 657. Dallinger/Lackner, Potrykus aaO; Eisenberg/Kölbel 18; Ostendorf/Sommerfeld 12. Winterfeld MDR 82, 273. Eisenberg/Kölbel 17; Ostendorf/Sommerfeld 13; Schaffstein MKrim. 78, 317; aA Roestel NJW 66, 1953 „anklagen“.

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§ 78

2. Teil. Jugendliche

Gründen das Verfahren einstellen, z.B. wenn kein hinreichender Tatverdacht mehr besteht oder ein Verfahrenshindernis vorliegt (z.B. Rücknahme des Strafantrags). Das gilt auch, wenn das Gericht den Antrag erst zurückgewiesen hat, als der JStA den Antrag nicht mehr hätte zurücknehmen können20. Der JStA kann das Verfahren auch abgeben21. 16 Dagegen ist dem JRichter eine Abgabe des vereinfachten JVerfahrens gem. § 42 III nicht erlaubt (näher § 42, 13)22.

6. Die mündliche Verhandlung 17 Gegen einen ohne genügende Entschuldigung ausbleibenden J ist § 230 II StPO nicht anwendbar, da zwar eine mündliche Verhandlung, aber keine Hauptverhandlung iSd § 226 StPO stattfindet23. Der durch das 2. JuMoG v. 30.12.2006 angefügte § 78 III 3 eröffnet jedoch die Möglichkeit zur Vorführung des J. Hierdurch soll einem erz. ungünstigen Eindruck des J vorgebeugt werden, er könne eine gerichtliche Ladung unbeachtet lassen, sowie der Verfahrensbeschleunigung gedient werden24. Zulässig ist nur die Anordnung der Vorführung, nicht der Erlass eines Haftbefehls. Nicht genügend entschuldigt ist der J, wenn weder er selbst noch ein anderer eine genügende Entschuldigung vorgebracht hat und auch sonst keine Entschuldigungsgründe bekannt geworden sind25. Maßgeblich ist also nicht, ob der J sich entschuldigt hat, sondern ob er genügend entschuldigt ist26. Die Vorführung darf nur angeordnet werden, wenn dies mit der Ladung angedroht worden ist. Die Anordnung steht im Ermessen des JRichters. Im Einzelfall kann wegen der hinter dem Nichterscheinen des J stehenden Problematik der Übergang in das Normalverfahren angezeigt sein27. Nur zur Vereinfachung, Beschleunigung und jgemäßen Gestaltung sind Abweichungen 18 von Verfahrensvorschriften zulässig (§ 78 III 1 HS 1). So bedarf es keiner Eröffnung des Verfahrens28 und es brauchen Fristen nicht beachtet werden. Auch in der Ausgestaltung der „mündlichen Verhandlung“ (nicht: „Hauptverhandlung“) ist der Richter frei (z.B. ohne Protokollführer, ohne Robe, nicht im Sitzungssaal)29. Für Verhandlung ohne Robe auch Ostendorf/Schady30. Grds. sind die Richter zum Tragen der Robe in allen zur Verhandlung und zur Verkündung einer Entscheidung bestimmten Sitzungen verpflichtet31. Nach dem Hessischen Dienstgerichtshof für Richter32 kann der JRichter jedoch aufgrund seiner richterlichen Unabhängigkeit zwar nicht pauschal in allen JStrafsachen, jedoch für bestimmte Verfahrensarten oder im Einzelfall aufgrund konkreter Prüfung des zu befürchtenden nachteiligen Einflusses auf die Entscheidungsfindung vom Tragen der Robe absehen. Die Verhandlung kann in Form einer Aussprache ohne die strenge Ordnung des § 243 StPO geführt werden; doch ist es zweckmäßig, auch hier nach dem Aufruf die Personalien aufzunehmen, den Inhalt des Antrags bekannt zu machen und dann den Angeklagten in Abwesenheit der Zeugen zur Sache zu vernehmen. Wegen des rechtlichen Gehörs u. der Sachaufklärung Rn 20; wegen Öffentlichkeit u. Mitteilungen Rn 19. – Der JStA muss nicht an der Sitzung teilnehmen (§ 78 II 1), was idR mehr dem Wesen des vereinfachten 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32

Dallinger/Lackner § 77, 9; Eisenberg/Kölbel 17a. BGH 12, 184. BGH 12, 182; Eisenberg/Kölbel 19; aA Ostendorf/Sommerfeld 17. Kolbe MDR 78, 800. Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses, BT-Drs. 16/3640, S. 53. Meyer-Goßner/Schmitt § 230 StPO 16. Eisenberg/Kölbel 21. Beschlussempfehlung aaO. BGH 12, 182. DSS/Schatz 16. Grdl. zu §§ 48–51, 5. BVerwG NJW 83, 2589; Schmidt-Räntsch DRiG, 6. Aufl. 2009, § 46 Rn 44. NJW 87, 1208. 530

Verfahren und Entscheidung

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JVerfahrens entspricht. Der JStA verliert dadurch allerdings einige Rechte (§ 78 II 2; Rn 14, 21), nicht jedoch das Recht, das in seiner Abwesenheit ergangene Urteil anzufechten. Das Urteil muss ihm auch zugestellt werden (§§ 35 II 1, 41 StPO)33, womit für ihn die Rechtsmittelfrist läuft34. Der örtliche Sitzungsvertreter vertritt die StA hier ebenso wie im förmlichen Verfahren; § 78 II 2 gilt dann also nicht35. – Die Einschaltung der JGH darf das Verfahren nicht verzögern. Grds. aber sollte sie mindestens fernmündlich vom Termin verständigt und gehört werden (RL zu § 78), obgleich es hier sogar zulässig ist, die JGH erst nachträglich zu verständigen36. Die JGH darf mit dem verhafteten J auch hier wie ein Verteidiger verkehren (§ 72b; Rn 20). – Eine Abgabe gem. § 42 III ist nicht zulässig (Rn 16; näher § 42, 13). Dagegen dürfen alle Vorschriften nicht ausgeschaltet werden, die gerade der Vereinfa- 19 chung, der jgemäßen Gestaltung (z.B. Ausschluss der Öffentlichkeit durch § 48) oder der Beschleunigung dienen. Auch die bes. Mitteilungs- und Unterrichtungspflichten (§§ 67a, 70 und 70a) gelten unverändert (§ 78 III 2). Ebenso wenig darf die Wahrheitsermittlung beeinträchtigt werden (§ 78 III 1 HS 2)37. Die- 20 sem Ziel dient die mündliche Verhandlung (§ 78 I 1) mit der notwendigen mündlichen Erörterung des gesamten Prozessstoffes (§ 261 StPO), der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§§ 250 ff StPO; § 38, 34) und dem gegenüber dem förmlichen Verfahren nicht eingeschränkten Recht auf Gehör (Art. 103 I GG) einschließlich des letzten Wortes. Nur die bes. Fragepflicht nach § 257 StPO – eine Ordnungsvorschrift – entfällt (vgl. § 67, 13). – Auch hier hat das Gericht den Sachverhalt (Tathergang, Täterpersönlichkeit) von Amts wegen aufzuklären (§ 244 II StPO); es hat alle Beweise zu erheben, deren Benutzung der bekannte Sachverhalt mindestens nahe legt38. Die Aufklärung darf auch nicht zugunsten des Täters unterbleiben, da dies nicht nur den Interessen der Allgemeinheit zuwiderliefe, sondern auch erz. gefährlich wäre. – An sich ist der Richter hier bei Beweisanträgen freier gestellt; die allg. Vorschriften, insbes. § 244 III StPO, gelten nicht. Da diese Vorschriften jedoch weitgehend der Niederschlag der Rechtsprechung zur Aufklärungspflicht sind, wird die Ablehnung eines Beweisantrags über die allg. Regeln hinaus leicht auch die Aufklärungspflicht verletzen39. Die Ablehnung eines Beweisantrags ist stets zu begründen40; die Begründung, die behauptete Tatsache sei unwahrscheinlich oder erdichtet, der Zeuge werde in bestimmter Weise aussagen oder das Gericht sei schon vom Gegenteil überzeugt, ist unzulässig41. Nur deshalb, weil eine Beweiserhebung beantragt oder ein Zeuge mitgebracht ist (§ 245 StPO), muss hier allerdings nicht Beweis erhoben werden. – In Abwesenheit des J kann nur verhandelt werden, wenn dies auch im förmlichen Verfahren möglich wäre (§§ 78 II 2, 50 I); nur die Zustimmung des StA ist hier entbehrlich, wenn er nicht an der Verhandlung teilnimmt (§ 78 II 2). Ebenso wenig kann die Stellung der gesetzlichen Vertreter und der ErzBerechtigten hier eingeschränkt werden (§§ 78 III 2, 50 II, 67, 67a)42. – Wegen der JGH Rn 18. – Auch ein Wahlverteidiger kann unbeschränkt mitwirken (§§ 137 StPO, 2 JGG). Zum Pflichtverteidiger § 68, 26. Wie im allg. Recht (§§ 147 ff StPO) hat der Verteidiger das Recht auf Akteneinsicht (unbeschränkt spätestens ab Abschluss der Ermittlungen) und auf Verkehr mit dem Beschuldigten (vgl. § 68, 7). Es wird durch Urteil entschieden (§ 78 I 1). Wegen der zulässigen Maßnahmen Rn 3; we- 21 gen der Fassung § 54; die Begründung kann kürzer sein, muss aber stets eine Persönlichkeitsbe-

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Potrykus NJW 56, 657; Gaberdiel NJW 57, 532. OLG Neustadt NJW 63, 1074; Tamm S. 62. AA Potrykus § 78 B 2 ohne Begründung. Eisenberg/Kölbel 26 „zumindest fernmündlich“; aA Ostendorf/Sommerfeld 16, der Einverständnis des J fordert. Eisenberg/Kölbel 23; Ostendorf/Sommerfeld 15; Schaffstein MKrim. 78, 318. BGH LM Nr. 1 zu § 244 StPO. Ähnlich Dallinger/Lackner 17; Eisenberg/Kölbel 23; Ostendorf/Sommerfeld 15. BayObLG 51, 347 zu § 384 StPO. Eisenberg/Kölbel 23; Ostendorf/Sommerfeld 15. Ostendorf/Sommerfeld 16.

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2. Teil. Jugendliche

urteilung und Tatschilderung enthalten. Weitere Besonderheiten gelten nicht. – Auch für die Anfechtung gelten keine Besonderheiten. Die Anordnung einer unzulässigen Maßnahme (dazu näher Rn 3 und 23) begründet nur die Anfechtung, führt aber nicht zur Nichtigkeit43 (vgl. § 1, 24). Die Rechtsmittelfrist beginnt für einen bei der Urteilsverkündung nicht anwesenden Verfahrensbeteiligten erst mit der Zustellung des begründeten Urteils; das ist bei der JStA in diesem Verfahren oft der Fall (Rn 18). Die Rechtskraft tritt wie im förmlichen Verfahren nach allseitigem Rechtsmittelverzicht oder Ablauf der Rechtsmittelfrist ein.

7. Verfahren vor dem Rechtsmittelgericht 22 Vor dem Rechtsmittelgericht gelten die allg. Verfahrensvorschriften; das vereinfachte JVerfahren ist dem JRichter vorbehalten (vgl. Wortlaut der §§ 76–78); bei einem Kollegialgericht mit drei Richtern (§ 33b I) wäre es ein Unding. Doch wird nur das Verfahren und die Entscheidung des vereinfachten JVerfahrens überprüft. Das bedeutet, dass das Fehlen von Anklage und Eröffnungsbeschluss sowie die zulässigen Abweichungen des JRichters von Verfahrensvorschriften nicht schaden, dass auch das Rechtsmittelgericht nur auf die hier zulässigen Maßnahmen (Rn 3) erkennen kann und auch nicht ins förmliche Verfahren übergehen darf, weil dadurch Rechte des Angeklagten verkürzt würden. Meint das Rechtsmittelgericht, die Sache eigne sich nicht für das vereinfachte JVerfahren, muss es das Verfahren einstellen44, weil eine Prozessvoraussetzung fehlt; diese Einstellung (§ 260 III StPO) versetzt das Verfahren, wie die Ablehnung durch den JRichter nach § 77 I, in den Stand des Ermittlungsverfahrens zurück (Rn 15)45; eine Zurückverweisung entsprechend § 328 II StPO46 kommt nicht in Betracht. Einen Beschluss nach § 47 kann auch die JKammer erlassen (§ 47, 5). 23 Hat der Erstrichter den Strafbann des § 78 I überschritten, so braucht das Berufungsgericht nicht zurückzuverweisen, weil kein nicht behebbares Verfahrenshindernis vorliegt; es kann auf eine Sanktion innerhalb des Rahmens des § 78 I selbst erkennen47. Dieser für das beschleunigte Verfahren des ErwRechts ausgesprochene Grundsatz muss auch für die gleichgelagerte Problematik des § 78 I gelten.

8. Ordnungswidrigkeitsverfahren 24 Im OWiG-Verfahren gilt nach zulässigem Einspruch gegen den Bußgeldbescheid der Verwaltungsbehörde (§ 71 I OWiG) für das Verfahren vor dem JRichter gegen J stets die Vorschrift des § 78 III JGG (§ 78 III OWiG), ohne dass es auf die Voraussetzungen des § 76 für das vereinfachte JVerfahren ankommt (deshalb war über § 46 I OWiG hinaus § 78 III OWiG erforderlich). Zu Umfang und vereinfachter Art der Beweisaufnahme beachte §§ 77, 77a, 78 OWiG. 25 Entscheidet der JRichter nach Einspruch durch Urteil, so gilt das Verschlechterungsverbot nicht (§ 71 I OWiG iVm § 411 IV StPO)48; entscheidet er jedoch gem. § 72 I OWiG durch Beschluss, so darf er von der im Bußgeldbescheid getroffenen Entscheidung nicht zum Nachteil des Betroffenen abweichen (§ 72 III 2 OWiG; § 55, 62). Im Rechtsbeschwerdeverfahren (§§ 79 ff OWiG) gilt das Verschlechterungsverbot (§ 79 III OWiG iVm § 358 II StPO)49.

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Dallinger/Lackner § 78, 23; Eisenberg/Kölbel 30a; Potrykus § 78 B 1. BayObLG 70, 218. Zust. Eisenberg/Kölbel 35. So LG Schweinfurt RdJ 59, 351 zur früheren Fassung des § 328 StPO. BGH 35, 251 = JR 89, 119 zu § 212b I 2 StPO aF mit zust. Anm. Terhorst. Göhler/Seitz/Bauer Vor § 67 OWiG 5. Insgesamt ebenso Eisenberg/Kölbel 28, 36. 532

Neunter Unterabschnitt Ausschluß von Vorschriften des allgemeinen Verfahrensrechts § 79 Strafbefehl und beschleunigtes Verfahren (1) Gegen einen Jugendlichen darf kein Strafbefehl erlassen werden. (2) Das beschleunigte Verfahren des allgemeinen Verfahrensrechts ist unzulässig. 1. Abs. I: Hw.-J: Rn 2; § 109 II. – 2. Abs. II: [Hw.]: Rn 2; § 109 II 1. – 3. ErwG: § 104 I Nr. 14.

Richtlinie zu § 79 Wegen des Strafbefehls und des beschleunigten Verfahrens gegen Heranwachsende wird auf die Richtlinien Nrn. 2 und 3 zu § 109 hingewiesen.

Strafbefehl und beschleunigtes Verfahren setzen ein Alter von mindestens 18 Jahren zZ der Tat (§ 1, 19) voraus (Prozessvoraussetzung1); sie werden im Verfahren gegen J und Hw. (bei letzteren alternativ; § 109) durch das formlose ErzVerfahren (auch vor ErwGericht: § 45 RL 5) und für J (nicht auch für Hw.) durch das vereinfachte JVerfahren (nicht vor ErwGericht: § 76 RL 3) ersetzt. Gegen Hw. ist das beschleunigte Verfahren immer (§ 109, 10), das Strafbefehlsverfahren nur dann zulässig, wenn ErwRecht angewendet wird (§ 109, 10, 13). Wegen Besonderheiten § 109, 12. Der JRichter darf nicht grds. und mehr oder weniger unbesehen Strafbefehle gegen Hw. ablehnen, weil das Gesetz sie zulässt und verschiedene Wertungen hinsichtlich der Anwendung von ErwRecht durchaus möglich sind. Ein Strafbefehl gegen einen J ist grds. nicht nichtig (vgl. § 1, 24)2. Bei rechtzeitigem Einspruch wird durch Anberaumung der Hauptverhandlung durch das JGericht der Verfahrensmangel geheilt, weil im Strafbefehlsverfahren die Anklage durch den Strafbefehlsantrag und der Eröffnungsbeschluss durch den Strafbefehl ersetzt wird, auch wenn beide irrtümlich entgegen § 79 I gegen einen J ergangen sind3. Die versehentliche Nichtbeachtung der Unzulässigkeit des Strafbefehlsverfahrens gegen J begründet keine Wiederaufnahme; bei falscher Feststellung des Alters zur Tatzeit oder der Tatzeit handelt es sich aber bei der richtigen Alterseinreihung um eine neue Tatsache iSv § 359 Nr. 5 StPO4. Das JGG ist milderes Strafgesetz iSd § 359 Nr. 5 StPO5. Näher zum Strafbefehl gegen Hw. § 109, 13. Wegen der Bußgeldbescheide nach dem OWiG § 1, 2; wegen Verwarnungen mit oder ohne Verwarnungsgeld Vor § 76, 1 ff.

§ 80 Privatklage und Nebenklage (1) 1Gegen einen Jugendlichen kann Privatklage nicht erhoben werden. 2Eine Verfehlung, die nach den allgemeinen Vorschriften durch Privatklage verfolgt werden kann, ver1 Dallinger/Lackner 4. 2 BayObLG 57, 838; Dallinger/Lackner 5; Löwe/Rosenberg/Gössel26 Vor § 407 StPO 51; aA Ostendorf/Sommerfeld 3; für ausnahmweise Nichtigkeit, wenn die konkrete Sanktion im JStrafrecht nicht zulässig ist, Eisenberg/Kölbel 6. 3 BayObLG aaO; vgl. OLG Düsseldorf NJW 60, 1921; DSS/Schatz 6; aA Ostendorf/Sommerfeld 5. Zur Verhandlung nach verspätetem Einspruch BGH 13, 306. 4 Kreisgericht Saalfeld DVJJ-J 93, 305; LG Landau NStZ-RR 03, 28 mit Bespr. Noak JurArbbl. 05, 539; Eisenberg/ Kölbel 6. 5 Kreisgericht Saalfeld u. LG Landau aaO; für Abstellen auf den Einzelfall Noak aaO, 543. 533 https://doi.org/10.1515/9783110686401-104

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2. Teil. Jugendliche

folgt der Staatsanwalt auch dann, wenn Gründe der Erziehung oder ein berechtigtes Interesse des Verletzten, das dem Erziehungszweck nicht entgegensteht, es erfordern. (2) 1Gegen einen jugendlichen Privatkläger ist Widerklage zulässig. 2Auf Jugendstrafe darf nicht erkannt werden. (3) 1Der erhobenen öffentlichen Klage kann sich als Nebenkläger nur anschließen, wer verletzt worden ist 1. durch ein Verbrechen gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder die sexuelle Selbstbestimmung oder nach § 239 Absatz 3, § 239a oder § 239b des Strafgesetzbuches2), durch welches das Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt oder einer solchen Gefahr ausgesetzt worden ist, 2. durch einen besonders schweren Fall eines Vergehens nach § 177 Absatz 6 des Strafgesetzbuches, durch welches das Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt oder einer solchen Gefahr ausgesetzt worden ist, oder 3. durch ein Verbrechen nach § 251 des Strafgesetzbuches, auch in Verbindung mit § 252 oder § 255 des Strafgesetzbuches. 2 Im Übrigen gelten § 395 Absatz 2 Nummer 1, Absatz 4 und 5 und §§ 396 bis 402 der Strafprozessordnung3) entsprechend. 1. [Hw.]: § 109; Rn 4; RL 3 S. 2, 3; § 109 RL 4; Rn 11. – 2. ErwG: RL 3 S. 1; § 104 I Nr. 14; wegen Widerklage Rn 7; RL 2.

Richtlinien zu § 80 1. 2.

3.

Gründe der Erziehung können die Verfolgung eines Privatklagedeliktes namentlich dann erfordern, wenn Jugendliche wiederholt oder schwere Straftaten begangen haben und eine Ahndung zur Einwirkung auf sie geboten ist. Für die Widerklage bleibt das mit der Privatklage befasste Gericht zuständig. Gegen den jugendlichen Widerbeklagten kann das für allgemeine Strafsachen zuständige Gericht nur Zuchtmittel (§ 13) selbst verhängen; hält es Erziehungsmaßregeln für erforderlich, so verfährt es nach § 104 Abs. 4 Satz 1. Auch vor den für allgemeine Strafsachen zuständigen Gerichten kann gegen Jugendliche eine Privat- oder Nebenklage nicht erhoben werden (§ 104 Abs. 1 Nr. 14). Gegen einen Heranwachsenden sind die Privat- und Nebenklage zulässig, unabhängig davon, ob die Anwendung des allgemeinen Strafrechts oder des Jugendstrafrechts zu erwarten ist (§ 109). Auch insoweit ist grundsätzlich der Jugendrichter zuständig (§ 108 Abs. 1 und 2 JGG iVm § 25 Nr. 1 GVG).

Schrifttum Bühler (Keine) Nebenklage gegen J im deutschen JStrafrecht? StraFo 16, 365; Hinz Nebenklage u. Adhäsionsantrag im JStrafverfahren, ZRP 02, 475; ders. Nebenklage im Verfahren gegen J, JR 07, 140; Höynck Stärkung der Opferrolle im JStrafverfahren?, ZJJ 05, 34; dies. Zu den Ausweitungen der Opferrechte im JGG durch das 2. JuMoG, ZJJ 07, 76; Noak Nebenklage gegen J und Hw., ZRP 09, 15; Rohde Die Rechte u. Befugnisse des Verletzten im Strafverfahren gegen Jugendliche, 2009.

Übersicht 1. 2.

Privatklage Nebenklage

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3.

Sonstige Rechte des 15 Verletzten

1. Privatklage 1 Für eine Privatklage ist Prozessvoraussetzung, dass der Täter mindestens 18 Jahre zZ der Tat (§ 1, 20; § 33b, 1) alt war (Abs. I 1)1. Fehlt sie, ist auch ein Sühneversuch (§ 380 StPO) unzulässig2; 1 Dallinger/Lackner 4. 2 Eisenberg/Kölbel 3; Potrykus B 1 aE u. NJW 57, 1137. 534

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freiwillig soll er zulässig sein3, was wegen der Gefahren eines „Vergleichs“ aber bedenklich sein kann. Ostendorf/Sommerfeld4 ziehen private Konfliktregelung vor, auch wegen „Einschränkung der Staatsgewalt“5, setzen aber Beistand der gesetzlichen Vertreter voraus. Die gegen einen J erhobene Privatklage ist zurückzuweisen (§ 383 I StPO), das schon eröffnete Verfahren einzustellen (§§ 206a, 260 III, 389 StPO); Kostenfolge: § 471 II StPO. Das Privatklage-Urteil gegen einen J ist nur anfechtbar, nicht nichtig (vgl. § 1, 24)6. Privatklagedelikte Jugendlicher (§ 374 I StPO) sind, wenn die allg. Voraussetzungen (auch ein erforderlicher Strafantrag) vorliegen, von der JStA im Offizialverfahren (§§ 45, 76 ff, formelles Verfahren) zu verfolgen, wenn eine der folgenden drei – meist zusammentreffenden – Voraussetzungen gegeben ist (Abs. I 2): Öffentl. Interesse an der Strafverfolgung (§ 376 StPO; vgl. RiStBV Nr. 86 II), Gründe der Erz. (RL 1) – zu berücksichtigen sind dabei auch Alter und ErzVerhältnisse (z.B. Billigung der Straftat durch Eltern; Eisenberg/Kölbel7 befürchten dabei selektives Vorgehen nach „elternbezogenen Gegebenheiten“) – oder berechtigtes Interesse des Verletzten (§ 48, 13 u. 15); dh ein vernünftiger Anlass (nicht Hass und Rache) für den Wunsch nach Verfolgung und Ahndung der Tat8. Dieses Interesse ist jedoch nur dann beachtlich, wenn der ErzZweck nicht entgegensteht; geringe erz. Bedenken können bei stark überwiegenden Interessen des Verletzten hintangestellt werden9. Es werden auch Sinn und Ziel der Opferschutzbestimmungen (Rn 7 ff) abzuwägen sein. Der JStA entscheidet nach pflichtgemäßem Ermessen. Anklage und Bejahung des öffentlichen Interesses sind nicht anfechtbar10. Bei Ablehnung der Verfolgung aus den Gründen des § 80 ist nur Dienstaufsichtsbeschwerde gegeben, nicht das Klageerzwingungsverfahren, denn § 80 durchbricht das Legalitätsprinzip, das Klageerzwingungsverfahren aber soll nur dieses sichern (§ 172 II 3 StPO)11. Das gilt jedoch nicht bei Einstellung des Verfahrens nach § 170 II StPO, denn insoweit gilt das Legalitätsprinzip und damit auch seine Kontrolle durch das Klageerzwingungsverfahren12 (vgl. auch § 45, 2). Der JRichter kann das Vorliegen der Voraussetzungen (Rn 2) nicht nachprüfen (vgl. RiStBV Nr. 86 II); er kann gem. § 47 verfahren. Im förmlichen Verfahren kann er auch JStrafe verhängen13. Gegen Hw. ist Privatklage zulässig, wobei es unbeachtlich ist, ob die Anwendung von Joder ErwStrafrecht zu erwarten ist (RL 3 S. 2). Hat der Hw. aber die zu verhandelnden Taten teils als J, teils als Hw. begangen, so gilt das zu J Gesagte, denn das Verfahren kann nur einheitlich sein (§ 109, 15). J können wie alle Minderjährigen als Privatkläger auftreten (Abs. II 1, § 374 III StPO)14; es gelten die Vorschriften der StPO. Ob das JGericht oder ErwGericht zuständig ist, entscheidet das Alter des Privatbeklagten zZ der Tat. 3 4 5 6

Dallinger/Lackner 6. 1. Ostendorf ZRP 83, 302. Eisenberg/Kölbel 4; aA Ostendorf/Sommerfeld 9, der Nichtigkeit annimmt, wenn wesentliche Teile des JGerichtsverfahrens nicht beachtet wurden. 7 6. 8 Eisenberg/Kölbel 7; nach Ostendorf/Sommerfeld 9 scheiden alle Normen aus, die gemeinschaftliche Rechtsgüter schützen sollen. 9 Dallinger/Lackner 2; DSS/Schatz 8; aA Eisenberg/Kölbel 7; Ostendorf/Sommerfeld 10. 10 Eisenberg/Kölbel 9; Ostendorf/Sommerfeld 12. 11 OLG Frankfurt MDR 59, 415; OLG Braunschweig NJW 60, 1214; Eisenberg/Kölbel 8; Ostendorf/Sommerfeld 13, 11; Meyer-Goßner/Schmitt § 172 StPO 3; Beulke/Swoboda Rn 864; differenziert Dallinger/Lackner 13. 12 OLG Braunschweig NJW 60, 1214; OLG Hamm NJW 60, 1968; OLG Oldenburg MDR 70, 164; OLG Hamburg MDR 71, 596; OLG Stuttgart NStZ 89, 136 mit abl. Anm. Brunner; Eisenberg/Kölbel 8; Ostendorf/Sommerfeld 13; DSS/ Schatz 9; Löwe/Rosenberg/Graalmann-Scheerer27 § 172 StPO 31; Giesler RdJ 61, 87; Kaster MDR 94, 1075; Pentz NJW 58, 819; aA OLG Frankfurt MDR 59, 415; Beulke/Swoboda Rn 864 FN 1309. 13 Dallinger/Lackner 21; Ostendorf/Sommerfeld 12. 14 Eisenberg/Kölbel 10 u. Eisenberg GA 98, 32. 535

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Gegen den j. Privatkläger ist unter den allg. Voraussetzungen (§ 388 StPO) Widerklage zulässig; es bleibt das mit der Privatklage befasste Gericht zuständig (RL 2 S. 1; § 112, 1 aE), also auch das ErwGericht. Vor dem ErwGericht gilt für den j. Widerbeklagten § 104. Gegen ihn ist also immer JRecht anzuwenden; JStrafe kann hier (anders: Rn 3) nicht verhängt werden (Abs. II 2); das ErwGericht darf nur Zuchtmittel verhängen; hält es ErzMaßregeln für erforderlich, so hat es deren Auswahl und Anordnung dem Familiengericht zu überlassen, wobei § 53 S. 2 entsprechend gilt (§ 104 IV; RL 2 S. 2). – Fällt die Privatklage weg, geht das Verfahren an das JGericht über15. Dazu kommt es jedoch nur dann, wenn hinsichtlich der Widerklage ein Rechtsmittel eingelegt oder wenigstens schon zur Sache verhandelt, das Verfahren also gerichtshängig geworden ist16. In allen anderen Fällen kann die Widerklage nicht weiterverfolgt werden, weil die Widerklage nur gegen einen j. Privatkläger zulässig, ein Privatkläger aber nach Wegfall der Privatklage nicht mehr vorhanden ist. Das Verfahren ist gem. § 206a StPO einzustellen. – Wegen der Kosten s. § 74, 18.

2. Nebenklage 7 Nach Abs. III war die Nebenklage gegen J bis 2006 unzulässig. Hierdurch sollte Gefahren für die erz. Ausgestaltung des JStrafverfahrens entgegengewirkt werden17. Das 2. JuMoG v. 30.12.2006 hat die Nebenklage für bestimmte schwere Verbrechen eröffnet, um es dem Verletzten in diesen Fällen zu ermöglichen, „seine Sicht der Tat und der erlittenen Verletzungen einzubringen und seine Interessen aktiv zu vertreten“18. Nach der Zulassung der Nebenklage kommt es darauf an, durch die Verhandlungsführung unter Beachtung berechtigter Opferinteressen die erz. Belange des JStrafverfahrens zu wahren19. Da Abs. III anders als § 395 I StPO nicht vom Anschluss an den Antrag im Sicherungsverfahren spricht, ist Nebenklage in einem Sicherungsverfahren gegen einen J nicht zulässig20. 8 S. 1 eröffnet die Nebenklage dem durch eine der folgenden Straftaten Verletzten, wobei eine Nebenklage des Verletzten teilweise nur bei versuchten Delikten in Betracht kommt: – Verbrechen gegen das Leben. Das sind die §§ 211, 212 (einschließlich § 213), 221 II und III StGB. – Verbrechen gegen die körperliche Unversehrtheit: §§ 225 III, 226 und 227 StGB. – Verbrechen gegen die sexuelle Selbstbestimmung: §§ 176, 176c, 176d, 177 IV, V, VII und 178, 184b I 1, II III, 184e I 1, II 1 StGB (vor dem Inkrafttreten des G zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder am 1.7.2021: §§ 176a, 176b, 177 IV, V, VII, VIII, 178 StGB). – Verbrechen nach §§ 239 III, 239a und 239b StGB. – bes. schwerer Fall eines Vergehens nach § 177 VI StGB. Hinzukommen muss, dass durch die Tat das Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt oder einer solchen Gefahr ausgesetzt worden ist21. Der Schaden muss von bes. Gewicht sein; das ist mehr als eine nicht nur unerhebliche Beeinträchtigung22. Die Gefahr der Schädigung muss konkret sein23. – Verbrechen nach § 251 StGB, auch iVm § 252 oder § 255 StGB. 15 16 17 18

AA Eisenberg/Kölbel 11; Ostendorf/Sommerfeld 12: Verfahren einstellen. Pentz GA 58, 301, der auch noch die Einstellung der Privatklage gem. § 383 II StPO hierher rechnet. LG Saarbrücken NStZ 15, 231. Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses, BT-Drs. 16/3640, S. 54; zust. Hinz JR 07, 145 f; krit. Eisenberg/ Kölbel 16; für allg. Zulässigkeit der Nebenklagen gegen J, wenn Gründe der Erz. nicht entgegenstehen, Bühler StraFo 16, 371. 19 Beschlussempfehlung aaO. 20 Eisenberg/Kölbel 16b; DSS/Schatz 24; aA Rohde S. 133: analoge Anwendung des § 80 III auf das Sicherungsverfahren. 21 Hinz JR 07, 143, 144; für Bezug dieser Voraussetzung nur auf die §§ 239 III, 239 a und 239 b StGB und nicht auf die vorstehenden Delikte Noak ZRP 09, 15. 22 LG Saarbrücken NStZ 15, 231; Eisenberg/Kölbel 18. 23 LG Oldenburg ZJJ 11, 92 mit Anm. Sommerfeld; LG Saarbrücken NStZ 15, 231; Noak aaO, 16. 536

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Die in S. 1 genannten Straftatbestände sind abschließend24. S. 2 räumt durch Verweis auf § 395 II Nr. 1 StPO die Nebenklagebefugnis auch den Angehörigen (Eltern, Kinder, Geschwister, Ehegatte, Lebenspartner) eines durch eine rechtswidrige Tat Getöteten ein. Da nach den Gesetzesmaterialien „die Nebenklage gegen J stets den Vorwurf eines Verbrechens voraussetzen soll“25, muss es sich bei dem Tötungsdelikt um ein Verbrechen handeln; bei fahrlässiger Tötung nach § 222 StGB besteht keine Nebenklagebefugnis26. Nach dem BGH27 ist auch eine auf Freispruch gerichtete Nebenklage zulässig28. Durch den Verweis auf die §§ 395 Abs. IV, V und 396 bis 402 StPO stellt S. 2 klar, dass abgesehen von den besonderen Voraussetzungen für die Nebenklagebefugnis die übrigen Nebenklagevorschriften der StPO entsprechend Anwendung finden29. Liegen die Voraussetzungen des Abs. III nicht vor, ist die Nebenklage gegen J unzulässig. Ist in einem solchen Fall der Verletzte der Ansicht, der Angeklagte sei entgegen der Annahme des Urteils zur Tatzeit nicht mehr J gewesen, sind der Anschluss als Nebenkläger und das Rechtsmittel gegen das JRecht anwendende Urteil zulässig30. Staatliche Behörden (z.B. Finanzamt) können ggf. als Sachverständige gehört werden; Nebenkläger sind sie nie31. Wurde eine Berufung des Nebenklägers entgegen § 80 III zugelassen, so können Gerichtsgebühren und – auslagen der erfolglos gebliebenen Berufung von diesem nur insoweit erhoben werden, als sie bei Erledigung der unzulässigen Berufung ohne Urteil angefallen wären32. Liegen die vorgeworfenen Taten teils vor und teils nach dem 18. Geburtstag des Angeklagten und ist kein Fall des § 80 III gegeben, ist die Nebenklage wegen des Grundsatzes des einheitlichen Verfahrens (§ 109, 15) insgesamt unzulässig33. Zur Nebenklage im verbundenen Verfahren gegen J und Hw. bzw. Erw. s. § 109, 7. Der Verletzte hat ein Anwesenheitsrecht in der JGerichtsverhandlung (§ 48 II 1). Zu den Rechten nach § 406h StPO vgl. § 48, 18. J können Nebenkläger sein (§ 395 StPO)34. Es gilt das zu Rn 5 Gesagte. Gegen Hw. ist Nebenklage zulässig. Die Ausführungen zu Rn 4 gelten entsprechend.

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3. Sonstige Rechte des Verletzten Das OpferschutzG v. 18.12.1986, das ZeugenschutzG v. 13.4.1998, das OpferrechtsreformG v. 15 24.6.2004, das 2. OpferrechtsreformG v. 29.7.2009, das G zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltlichen Verfahren v. 25.4.2013, das G zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs v. 26.6.2013, das 3. OpferrechtsreformG v. 21.12.2015, das G zur Änderung des StGB – Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung v. 4.11.2016 und das G zur Fortentwicklung der Strafprozessordnung und zur Änderung weiterer Vorschriften v. 25.6.2021 wollen die Stellung des Verletzten und der Zeugen im Strafverfahren verbessern. Wie in § 10, 30 ausgeführt, sind die in die StPO eingegangenen Bestimmungen dieser Gesetze im JStrafverfahren nur anwendbar, wenn das JGG nicht ausdrücklich oder sinngemäß etwas anderes bestimmt. In diesem Sinne muss jede Vorschrift im Einzel24 25 26 27

LG Köln ZJJ 14, 175: keine Nebenklage wegen schweren Raubes. Beschlussempfehlung (FN 18). AG Brake ZJJ 12, 90; Hinz JR 07, 144; Noak ZRP 09, 16. 65, 145 = NJW 20, 3398 mit abl. Anm. Kulhanek = NStZ 20, 745 mit Anm. Kulf = JR 21, 410 mit abl. Bespr. Schöch JR 21, 382. 28 AA OLG Schleswig NStZ-RR 00, 277; OLG Rostock NStZ 13, 126 = JR 13, 426 mit Anm. S. Bock. 29 Beschlussempfehlung (FN 18). Zum Widerruf der Zulassung zur Nebenklage s. OLG Celle ZJJ 17, 278 mit Anm. Kölbel u. abl. Anm. Eisenberg StraFo 17, 283. 30 BGH StrafFo 07, 502, 503. 31 KG NJW 55, 723 für § 54 WiStG 1952. 32 OLG Nürnberg Beschl. v. 18.7.1977 – 3 Ws 52/77. 33 OLG Koblenz StV 03, 455; OLG Hamburg StraFo 06, 117; LG Hamburg B NStZ 89, 523. 34 Eisenberg/Kölbel 21. 537

§ 81

2. Teil. Jugendliche

nen überprüft werden, um das JGerichtsverfahren vor jfremden Einflüssen zu bewahren und doch auch das Gebot fairer Verfahrensgestaltung zugunsten des Verletzten zu wahren35. 16 Die Bestimmungen zum Schutze des Verletzten werden im Einzelnen auf ihre Anwendbarkeit im JStrafrecht überprüft und kommentiert: bestimmte Mitteilungspflichten an den Verletzten nach § 406d StPO bei § 70, 9 u. § 45, 49; Akteneinsicht für den Rechtsanwalt des Verletzten nach § 406e StPO Vor § 97 Rn 33; Rechtsanwalt als Beistand des nicht nebenklageberechtigten Verletzten nach § 406 f I StPO bei § 48, 15 u. 16; Rechtsanwalt als Beistand des nebenklageberechtigten Verletzten nach § 406h StPO bei § 48, 15, 18 u. 19; psychosoziale Prozessbegleitung nach § 406g StPO bei § 48, 19; Zuziehung einer Person des Vertrauens bei Zeugenvernehmung des Verletzten nach § 406 f II StPO bei § 48, 17; Hinweispflicht nach § 406i StPO auf die Befugnisse nach §§ 406d bis 406h StPO bei § 48, 21; Anwesenheit des Verletzten in der nichtöffentlichen Hauptverhandlung, auch seines Rechtsanwalts, bei § 48, 15 u. 16; zur Anwesenheit des Verletzten, der als Zeuge vernommen werden soll, Rn 5 u. § 48, 14; erweiterter Zeugenschutz nach § 241a StPO u. § 172 Nr. 4 GVG Anh. § 125, 8 u. nach §§ 68a, 68b u. 247 S. 2 StPO bei § 48, 20; Einsatz der Videotechnologie Anh. § 125, 836.

§ 81 Adhäsionsverfahren Die Vorschriften der Strafprozeßordnung über das Adhäsionsverfahren (§§ 403 bis 406c der Strafprozeßordnung) werden im Verfahren gegen einen Jugendlichen nicht angewendet. 1. Hw.-J: § 109 II 1. – 2. ErwG: RL 2 S. 1; § 104 I Nr. 14.

Richtlinien zu § 81 1. 2.

Auf die Möglichkeiten des Täter-Opfer-Ausgleichs und der Schadenswiedergutmachung wird hingewiesen. Die Vorschriften der §§ 403 ff StPO sind gegen Jugendliche auch im Verfahren vor den für allgemeine Strafsachen zuständigen Gerichten nicht anzuwenden (§ 104 Abs. 1 Nr. 14). Im Verfahren gegen einen Heranwachsenden ist die Anwendung dieser Vorschriften nur ausgeschlossen, wenn Jugendstrafrecht angewandt wird (§ 109 Abs. 2).

1 Nicht nur die Geltendmachung der Ansprüche nach §§ 403 bis 406c StPO ist ausgeschlossen, sondern die Verfolgung aller zivilrechtlichen Ansprüche im Strafverfahren (§ 6, 3). Soweit es erz. geboten ist, den J zur Wiedergutmachung des Schadens zu veranlassen, stehen dafür der Täter-Opfer-Ausgleich (RL 1; § 10, 24) und die Auflage des § 15 I Nr. 1 (§ 15, 3 ff) zur Verfügung, welche erz. sinnvoll („nach Kräften“) eingesetzt und auch im Wege der Bew. auferlegt werden können (§ 23 I). Interessen des Verletzten müssen hier ggf. hinter den ErzAuftrag des JGG zurücktreten1. Näher § 15, 3. Gegen Hw. gelten die Vorschriften der StPO über das Adhäsionsverfahren nach der Ände2 rung des § 109 II durch das 2. JuMoG v. 22.12.2006 auch dann, wenn JStrafrecht angewendet wird. RL 2 S. 2 ist überholt. Zu den Opferschutzgesetzen § 80, 15, 16.

35 Näher zur Position des Verletzten im JStrafverfahren Kondziela Opferrechte im JStrafverfahren, 1991; Rössner in JStrafrecht an der Wende, S. 165 ff; Schöch ZJJ 12, 246; Zapf Opferschutz u. ErzGedanke im JStrafverfahren, 2012; krit. zur Opferorientierung im JStrafverfahren Kölbel ZJJ 15, 58; vgl. auch ders. in: BMJ (Hrsg.), Berliner Symposum zum JKriminalrecht u. seiner Praxis, 2017, S. 9. 36 Zusammenfassend zum Opferschutz im Strafprozessrecht Löffelmann BewH 06, 364. 1 BGH NStZ 91, 235 = JR 91, 347 mit zust. Anm. Eisenberg. 538 https://doi.org/10.1515/9783110686401-105

Zehnter Unterabschnitt Anordnung der Sicherungsverwahrung § 81a Verfahren und Entscheidung Für das Verfahren und die Entscheidung über die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gelten § 275a der Strafprozessordnung und die §§ 74 f und 120a des Gerichtsverfassungsgesetzes sinngemäß. 1. Hw.: § 109 I. – ErwG: § 104 I Nr. 15.

Die Vorschrift, die durch das G zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung v. 1 22.12.2010 eingefügt und durch das G zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung v. 5.12.2012 geändert wurde, erklärt iVm § 109 I für die nach dem JGG zu treffenden Entscheidungen über die Anordnung der vorbehaltenen und der nachträglichen Sicherungsverwahrung (§§ 7 II, IV, 106 VI, VII) § 275a StPO und die §§ 74 f und 120a GVG für anwendbar. Nach den §§ 74 f und 120a GVG liegt die Zuständigkeit für die Entscheidungen über die Anordnung der Sicherungsverwahrung grds. beim Tatgericht. Nach § 41 I Nr. 5 soll die JKammer als Tatgericht zuständig sein. Gem. § 74 f I GVG entscheidet sie dann auch über die Anordnung der Sicherungsverwahrung. Hat als Tatgericht das JSchöffengericht entschieden, ist nach § 74 f II GVG für die Entscheidung über die nachträgliche Sicherungsverwahrung die JKammer zuständig. Die JKammer entscheidet mit 3 Berufsrichtern und 2 Schöffen (§ 74 f IV GVG). Hat im ersten Rechtszug ein Strafsenat des OLG entschieden, ist dieser nach § 120a GVG für die Entscheidung über die nachträgliche Sicherungsverwahrung zuständig. Für das Verfahren ordnet die Vorschrift die sinngemäße Geltung des § 275a StPO an. Die 2 Entscheidung ergeht nach Hauptverhandlung durch Urteil. Die Vorbereitung der Entscheidung durch Vollstreckungsbehörde und StA ist in § 275a I StPO geregelt. Gem. § 275a IV 2 StPO müssen Gutachten von einem und im Verfahren wegen nachträglicher Sicherungsverwahrung von zwei Sachverständigen eingeholt werden, die im Rahmen des Strafvollzugs oder der Unterbringung nicht mit der Behandlung des Verurteilten befasst gewesen sein dürfen. § 275a VI S. 1 StPO ermöglicht bis zur Rechtskraft des Urteils den Erlass eines Unterbringungsbefehls, wenn dringende Gründe für die Annahme vorhanden sind, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung angeordnet wird.

539 https://doi.org/10.1515/9783110686401-106

Drittes Hauptstück Vollstreckung und Vollzug Erster Abschnitt Vollstreckung Erster Unterabschnitt Verfassung der Vollstreckung und Zuständigkeit Vor § 82 1 Vollzug ist die eigentliche Verwirklichung der Entscheidung, also das, was in der JStraf- oder JAAnstalt mit dem Verurteilten geschieht, auch der Ausspruch der Verwarnung uä. Vollstreckung ist alles, was zur Verwirklichung der Entscheidung getan wird, also Prüfung der Vollstreckungsvoraussetzungen, Ladung und Einweisung, Anordnung der Überführung, Fahndung, Zwangsgestellung, Berechnung der Zeit und Überwachung der Art und Dauer des Freiheitsentzuges, Entscheidung über die Entlassung zur Bew. uä. An sich ist der Vollzug ein Teil der Vollstreckung; Vollstreckung ohne Vollzug heißt Betrieb der Vollstreckung; in der Praxis wird dieser Betrieb der Vollstreckung schlechthin als Vollstreckung bezeichnet. – Die Vollstreckung betreibt der Vollstreckungsleiter (§ 82 = Vollstreckungsbehörde des allg. Rechts); für den Vollzug ist der Vollzugsleiter (§ 90 II 2) verantwortlich. 2 Die Vorschriften gelten für alle Urteile und ihnen gleichstehende Entscheidungen (§§ 65, 66), in denen ErzMaßregeln, Zuchtmittel, JStrafe, Nebenstrafen, Nebenfolgen oder Maßnahmen der Besserung und Sicherung verhängt sind. Bei einer vom ErwGericht verhängten JStrafe z.B. kommt nur eine Entlassung zur Bew. durch den nach § 85 II zuständigen JRichter als Vollstreckungsleiter (§§ 88 ff) in Betracht, nicht die Aussetzung des Strafrestes (§ 57 StGB) durch das ErwGericht1. Wegen Vollstreckung der einzelnen Maßnahmen u. Anordnungen § 82, 5, 6. Wurde ein Hw. nach ErwRecht verurteilt, gilt die StVollstrO uneingeschränkt, wurde aber ein inzwischen Erw. vom JGericht gem. § 32 nach JRecht verurteilt, so ist der zuständige JRichter Vollstreckungsleiter2. Das JGG enthält nur Einzelvorschriften (über §§ 82 ff hinaus §§ 57 ff, 62 ff, 56, 65, 66), die 3 durch die §§ 449–463d StPO ergänzt werden, soweit diese nicht durch das JGG ausgeschlossen sind. Da die Vollstreckung Justizverwaltungsangelegenheit ist (§ 83, 1), sind die RL bindend, ebenso die subsidiär geltende StVollstrO (§ 85 RL II 6 S. 1). Die Vollstreckung bedarf gerade in JSachen bes. Nachdrucks und bes. Beschleunigung; § 85 RL II 1 u. VI 1; vgl. auch § 85 RL IV 1, V 4 u. § 55 RL 1; § 43 RL 63. Die Vollstreckung setzt grds. Rechtskraft voraus (§ 449 StPO); urkundliche Grundlage ist des4 halb die Urschrift der Entscheidung (oder eine beglaubigte Abschrift des erkennenden Teils) mit Rechtskraftbescheinigung (StVollstrO § 13; § 85 RL II 2). Haben alle Anfechtungsberechtigten wirksam auf Rechtsmittel verzichtet und legt der Angeklagte dennoch ein unzulässiges Rechtsmittel ein, so bleibt die Rechtskraft des Urteils hierdurch unberührt4. Bei der Vorbewährung gilt § 895. Dieser Grundsatz ist bei Teilvollstreckung eines Einheitsstrafenurteils durchbrochen (§ 56); wegen der Vollstreckungsunterlage in diesem Fall s. § 85 RL II 3. Bei Widerruf einer Bew. ist noch die Urschrift (oder die beglaubigte Abschrift des erkennenden Teils) des rechtskräftigen Widerrufsbeschlusses notwendig (StVollstrO § 14; § 26a, 14). Hat der JRichter Hilfe zur Erz. nach § 12 angeordnet, so richtet sich die weitere Zuständigkeit nach den Vorschriften des SGB VIII (§ 82 II).

1 2 3 4 5

OLG München MDR 57, 437. PJW/Jabel/Wolf § 1 StVollstrO 3, 4. Überblick über die JStrafvollstreckung bei Lissner StraFo 13, 485. OLG München NJW 68, 1001. Vgl. auch KG NStZ 88, 182; OLG Frankfurt NStZ-RR 97, 250; aA OLG Stuttgart NStZ 86, 219. 540

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Verfassung der Vollstreckung und Zuständigkeit

Vor § 82

Für die Berechnung der JStrafe gelten §§ 36 ff StVollstrO. Der Vollstreckungsleiter hat die Strafzeitberechnung der Vollzugsanstalt auf ihre Richtigkeit zu überprüfen6. Besonderheiten für den JA enthält § 85 RL V 8. Nach LG Stralsund7 können erz. Gründe einen Vollstreckungsaufschub nach § 456 StPO rechtfertigen. Wegen der Vollstreckungsverjährung § 4, 3. Soweit die Zuständigkeit in Gnadensachen bei der Vollstreckungsbehörde liegt, ist in JSachen der Vollstreckungsleiter zuständig. Zu beachten ist dabei, dass immer nur der vom Gesetz bezeichnete JRichter (§ 84, § 85 I bis IV) oder der JRichter, an den dieser die Vollstreckung (nicht etwa nur die BewAufsicht) übertragen hat (§ 85 V), Vollstreckungsleiter ist, da eine Weiterübertragung unzulässig ist (§ 85, 13). Die in Gnadenordnungen normierte Zuständigkeit des Generalstaatsanwalts aber gilt auch für J und Hw. § 82 fordert, dass der JRichter als Vollstreckungsleiter die entscheidenden Anordnungen trifft; dies wiederholt § 31 V 1 RpflG. Dem Rechtspfleger sind, abweichend von der Vollstreckung gegen Erw., bei der Vollstreckung im JStrafverfahren nur die Geschäfte übertragen, durch die eine richterliche Vollstreckungsanordnung oder eine die Leitung der Vollstreckung nicht betreffende allg. Verwaltungsvorschrift ausgeführt wird (§ 31 V 2 RpflG). Durch RechtsVO können dem Rechtspfleger bestimmte nichtrichterliche Geschäfte übertragen werden, soweit nicht § 82 I berührt oder das Vollstreckungsgeschäft wegen seiner rechtlichen Schwierigkeit, wegen der Bedeutung für den Betroffenen, vor allem aus erz. Gründen, oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung dem Vollstreckungsleiter vorbehalten bleiben muss (§ 31 V 3 RpflG). Bis zum Inkrafttreten einer derartigen RechtsVO gelten Nr. II 6 RL zu §§ 82–85 und die Bekanntmachung der Landesjustizverwaltungen über die Entlastung des JRichters bei den Vollstreckungsgeschäften v. 1.12.19628 6 Pohlmann Rpfl. 67, 380; PJW/Wolf § 36 StVollstrO 3. 7 ZJJ 10, 81. 8 Bekanntmachung über die Entlastung des Jugendrichters bei den Vollstreckungsgeschäften vom 1.12.1962. I. Zur Entlastung des Jugendrichters sind dem Rechtspfleger durch Abschnitt II Nr. 6 der Richtlinien zu den §§ 82 bis 85 des Jugendgerichtsgesetzes in der Fassung vom 1. Dezember 1962 Vollstreckungsgeschäfte in bestimmtem Umfange übertragen worden. Darüber hinaus kann der Rechtspfleger zur Vorbereitung von Vollstreckungsgeschäften, die dem Vollstreckungsleiter vorbehalten sind, herangezogen werden. Dadurch soll es dem Jugendrichter ermöglicht werden, sich in verstärktem Maße den erzieherischen Aufgaben zu widmen, die ihm innerhalb des Jugendstrafverfahrens auch im Rahmen der Vollstreckung obliegen. II. Hierzu wird folgendes bestimmt: 1) Der Jugendrichter kann den Rechtspfleger zur Mitwirkung bei den ihm vorbehaltenen Geschäften der Vollstreckung heranziehen, ihn insbesondere zur Vorbereitung solcher Geschäfte mit der Fertigung von Entwürfen beauftragen. Die Unterzeichnung bleibt dem Jugendrichter vorbehalten. Die Überwachung von Weisungen und Auflagen ist Sache des Jugendrichters (vgl. auch Abschnitt III Nr. 1 der Richtlinien zu den §§ 82 bis 85 JGG). Er kann sich dabei der Mithilfe des Rechtspflegers oder eines anderen Beamten der Vollstreckungsbehörde bedienen. Eine Mitwirkung des Rechtspflegers bei jugendrichterlichen Entscheidungen (§ 83 Satz 1 JGG) kommt nicht in Betracht. 2) a) Zu den Geschäften, die dem Rechtspfleger durch Abschnitt II Nr. 6 der Richtlinien zu den §§ 82 bis 85 JGG übertragen worden sind, gehören vor allem folgende: die Ausführung einer richterlichen Vollstreckungsanordnung (Anordnung der Ladung zum Arrest- oder Strafantritt, Aufnahme- und Überführungsersuchen und Strafzeitberechnung), der Erlass eines Vollstreckungshaft- oder -Vorführungsbefehls und die Zwangszuführung zum Jugendarrest (Abschnitt V Nr. 8 der Richtlinien zu §§ 82;85 JGG) auf richterliche Anordnung sowie die Maßnahmen zu ihrer Vollziehung, die Anordnung über das Anlegen von Vollstreckungsheften, die Ausführung von richterlichen Anordnungen über Fahndungsmaßnahmen, die Rücknahme erledigter Fahndungsmaßnahmen, die Ausführung von richterlichen Anordnungen nach § 61 Abs. 1 Satz 1 StVollstrO, die nach den §§ 56, 59 und 63 bis 86 StVollstrO erforderlichen Maßnahmen der Vollstreckungsbehörde. Die hiernach vorgesehenen richterlichen Anordnungen sind schriftlich zu erteilen. Der Rechtspfleger ist bei der Ausführung der ihm übertragenen Geschäfte an Weisungen des Jugendrichters nach § 10 Abs. 2 StVollstrO gebunden. Vor allem hat er bei Aufnahmeersuchen besondere Vollzugshinweise des Jugendrichters, die über § 30 Abs. 2 StVollstrO hinausgehen, zu beachten. 541

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Vor § 82

2. Teil. Jugendliche

weiter (§ 33a RPflG)9. Stets aber kann der JRichter die Vorlage der dem Rechtspfleger übertragenen Vollstreckungsgeschäfte anordnen (§ 31 V 4 RpflG), behält dadurch jederzeit Einfluss, aber auch die Verantwortung und ein allg. Weisungsrecht10. Reiß11 fordert baldigen Erlass der in § 31 V S. 3 vorgesehenen RechtsVO und für den Rechtspfleger in der JVollstreckung die gleiche Zuständigkeit wie in der allgemeinen (dazu Rn 9). Wegen der Vollstreckung im OWiG-Verfahren § 82, 8 ff. 9 So kann der Rechtspfleger bei der Vollstreckung von JStrafe und JA (wegen der übrigen Maßnahmen Rn 12, 13) tätig werden, soweit dabei die beim JRichter liegende Leitung der Vollstreckung nicht beeinträchtigt wird (§ 31 V 2 RpflG; RL II 6 zu § 85). Das Nähere ist in der Bekanntmachung der Landesjustizverwaltungen v. 1.12.196212, angepasst an die seit 20.11.1974 geltende Fassung der StVollstrO, geregelt. Die Vollstreckung der gegen Hw. nach allg. Recht verhängten Rechtsfolgen obliegt gemäß § 31 II 1 RpflG grds. dem Rechtspfleger. Das gilt seit dem 1. JuMoG v. 24.8.2004 auch für die Entscheidungen und Maßnahmen hinsichtlich der Zurückstellung der Strafvollstreckung nach §§ 35 f BtMG. Entscheidungen nach § 114 darf der Rechtspfleger jedoch nach § 31 II 2 RpflG nicht treffen. 10 Dass vollstreckt werden soll, bestimmt der Richter. Der Rechtspfleger wird daraufhin tätig wie im allg. Recht; er muss also noch nachprüfen, ob die angeordneten Maßnahmen zulässig und geboten sind. Beispiele für Maßnahmen, die der Rechtspfleger dann selbständig treffen kann, bringt die Bekanntmachung v. 1.12.196213. Die Anordnung der Vollstreckung berechtigt den Rechtspfleger nur, die zur Einleitung der Vollstreckung notwendigen Maßnahmen zu treffen. Der Richter sollte deshalb alle für den Vollzug gebotenen, ihm vorbehaltenen Anweisungen zugleich mit der Anordnung geben (vgl. Bekanntmachung II 2A aE), um Verzögerungen zu vermeiden, also Anordnungen für den Erlass eines Vollstreckungshaft- oder Vorführungsbefehls, für die Zuführung zum JA, uU mit bes. Zusätzen etwa über den Zeitpunkt, vorherige gütliche Versuche uä. Auch Anordnungen über Fahndungsmaßnahmen und ihre Aufhebung vor Erledigung können sogleich getroffen werden, doch kann der Richter seiner Anordnung Beschränkungen beifügen. Für die Vollstreckung in Gegenstände (§ 61 I StVollstrO) bedarf es ebenfalls einer bes. Anordnung, die ggf. ausdrücklich auch die Zwangsvollstreckung durch den Gerichtsvollzieher erwähnen sollte. Die Schlussverfügung – eine bloße Feststellung, kein Vollstreckungsgeschäft – unterschreibt der JRichter wegen ihrer Bedeutung, da nach ihr nichts mehr geschieht. 11 Wird der Rechtspfleger ohne Übertragung tätig, ist das Vollstreckungsgeschäft unwirksam14. Der JRichter muss die Vollstreckungshandlung selbständig wiederholen, damit ein wirksames Vollstreckungsgeschäft zustande kommt15. In Zweifelsfällen sollte der JRichter entweder – ggf. nach Vorbereitung durch den Rechtspfleger – selbst tätig werden oder ausdrücklich und grds. schriftlich übertragen. Eine generelle Anordnung kann als Übertragung für alle Einzelfälle umgedeutet werden.

b) Die Wahrnehmung der dem Rechtspfleger durch Abschnitt II Nr. 6 der Richtlinien zu den §§ 82; 85 JGG übertragenen Vollstreckungsgeschäfte obliegt dem Jugendrichter, wenn der Vollstreckungsbehörde hierfür ein Rechtspfleger nicht zur Verfügung steht. III. Die Zuständigkeit von Beamten des gehobenen oder des mittleren Dienstes zur Anordnung und Ausführung von Nachrichten zum Strafregister, zur Erziehungskartei und zum Verkehrszentralregister sowie von Mitteilungen und Zählkarten richtet sich nach den allgemeinen Vorschriften (vgl. Abschnitt II Nr. 4 der Richtlinien zu den §§ 82; 85 JGG). IV. Diese Verfügung tritt am 1. Januar 1963 in Kraft. Vorschriften, die ihr entgegenstehen, sind vom gleichen Zeitpunkt ab nicht mehr anzuwenden. 9 Pohlmann Rpfl. 70, 274; Lissner StraFo 13, 486. 10 Pohlmann Rpfl. 70, 79; Vogel Rpfl 71, 61. 11 Rpfl. 87, 54. 12 Siehe FN 8. 13 FN 8. 14 PJW/Jabel/Wolf § 1 StVollstrO 16. 15 Eisenberg/Kölbel 24; Ostendorf/Rose 3 aE; DSS/Sonnen 6 je zu § 82. 542

Vollstreckungsleiter

§ 82

Die Sonderregelungen für die Vollstreckung von ErzMaßregeln, Verwarnung und Auf- 12 lagen (RL III, IV zu §§ 82–85) werden nicht beeinträchtigt. Eine Übertragung auf den Rechtspfleger scheidet hier aus; der JRichter kann jedoch den Rechtspfleger wie jeden anderen ihm unterstellten Beamten und Angestellten zur Mitarbeit heranziehen. Die Verantwortung des JRichters wird dadurch nicht eingeschränkt. Die Nebengeschäfte der Vollstreckung (Mitteilungen, Zählkarte uä) werden von den nach 13 allg. Recht zuständigen Beamten oder der von der Landesjustizverwaltung sonst bestimmten Stelle vorgenommen (RL II 4 zu §§ 82–85).

§ 82 Vollstreckungsleiter (1) 1Vollstreckungsleiter ist der Jugendrichter. 2Er nimmt auch die Aufgaben wahr, welche die Strafprozeßordnung der Strafvollstreckungskammer zuweist. (2) Soweit der Richter Hilfe zur Erziehung im Sinne des § 12 angeordnet hat, richtet sich die weitere Zuständigkeit nach den Vorschriften des Achten Buches Sozialgesetzbuch. (3) In den Fällen des § 7 Abs. 2 und 4 richten sich die Vollstreckung der Unterbringung und die Zuständigkeit hierfür nach den Vorschriften der Strafprozessordnung, wenn der Betroffene das einundzwanzigste Lebensjahr vollendet hat. Abs. I: 1. Hw.-JRecht: Rn 1; § 110 I, RL 1; § 85 RL I 3. – 2. ErwG: Rn 1; § 104, 1. Abs. II: [Hw.]: § 110 I.

Richtlinien hierzu nach § 85 Schrifttum Wagner Aufgaben u. Stellung des Vollstreckungsleiters nach dem JGG, Zbl. 91, 334.

Übersicht 1. 2. 3.

JRichter als Vollstreckungsleiter 1 Vollstreckung von Hilfe zur Erz. 5 nach § 12 Vollstreckung von Maßnahmen und 6 JStrafe

4. 5. 6.

7 Vollstreckung von Sicherungsverwahrung Vollstreckung von Entscheidungen nach dem 8 OWiG Vollstreckungsanordnungen nach § 98 13 OWiG

1. JRichter als Vollstreckungsleiter Der JRichter ist Vollstreckungsleiter, wo materielles JRecht angewendet wurde (§ 110 I). Hat 1 der Richter Hilfe zur Erz. nach § 12 angeordnet, so ist dies nach Abs. II durchbrochen und richtet sich die weitere Zuständigkeit nach den Vorschriften des SGB VIII (dazu Rn 5). Sonst ist der JRichter Vollstreckungsleiter auch dann, wenn die JKammer oder ein ErwGericht (auch das OLG) entschieden hat (84 II; Grundsatz der Einheitlichkeit der Erz.; §§ 34, 42)1, wenn es um eine neben den Sanktionen des JGG verhängte Maßregel der Besserung und Sicherung geht (§ 85, 8) oder eine Entscheidung nach §§ 38, 35 BtMG zu treffen ist (näher § 17, 52 u. 53). Wegen seiner

1 Nothacker S. 236. 543 https://doi.org/10.1515/9783110686401-108

§ 82

2. Teil. Jugendliche

Aufgabe und Stellung § 83, wegen der Zuständigkeit und Abgabe §§ 84 ff. Der JRichter ist jedoch von weniger wichtigen Geschäften entlastet (Vorb. 8). 2 Bei mehreren Verurteilten kann die Vollstreckung in verschiedenen Händen liegen; eine Verbindung ist nicht möglich. Das ist z.B. stets der Fall, wenn Mittäter nach JRecht, andere nach allg. Strafrecht verurteilt sind. Auch bei nur einem Verurteilten kann die Vollstreckung getrennt bei der StA und beim JRichter liegen, wenn ein ErwGericht gegen einen Hw. nach allg. Strafrecht auf Strafe und zugleich wegen einer Ordnungswidrigkeit auf eine Geldbuße erkannt hat2. Der Vollstreckungsleiter nimmt nach Abs. I 2 auch die Aufgaben wahr, welche die StPO im 3 ErwRecht den Strafvollstreckungskammern zuweist (§§ 462a, 463 StPO; 78a, 78b GVG)3. Dies gilt aber nur, wenn nach materiellem JStrafrecht verurteilt wurde und bei Anwendung von ErwStrafrecht die Vollstreckungskammer entscheiden müsste. Hat hingegen die JKammer als erstinstanzliches Gericht zu Freiheitsstrafe verurteilt, so ist sie für weitere, die Strafaussetzung betreffende Entscheidungen zuständig, wenn eine Strafvollstreckungskammer nach Strafaussetzung zur Bew. aus der zugrunde liegenden Strafe und einer weiteren Strafe eine neue Gesamtstrafe nach § 460 StPO gebildet hatte4. Zur Zuständigkeit des Vollstreckungsleiters nach § 85 II anstelle der Strafvollstreckungskammer § 85, 3, 8. Der Vollstreckungsleiter ist auch für Vollstreckungsmaßnahmen im Zusammenhang mit der Führungsaufsicht zuständig (RL VII 2 zu § 85; § 54a StVollstrO; § 85, 3)5, ebenso für die Abkürzung der Sperrfrist nach § 69a VII StGB (§ 85, 3). Dies entspricht dem Sinngehalt und der Aufgabe der Einrichtung des Vollstreckungsleiters im JRecht, welche schon stets die Vorzüge in sich vereinte, die nun auch den Erw. zugute kommen. Diese Entscheidungen des Vollstreckungsleiters sind jrichterliche Entscheidungen (§ 83 I 1; § 83, 7), und es gilt für sie zugleich die bes. Vorschrift des § 83 II Nr. 2 (§ 83, 2). Bei Vollzug von Strafarrest nach dem WStG ist die Strafvollstreckungskammer nach § 462a StPO zuständig (§ 112a, 13). 4 Die Strafvollstreckungskammer wird auch nicht dadurch zuständig, dass der Verurteilte zZ des Widerrufs wegen einer als Erw. begangenen Straftat in UHaft oder Strafhaft einsitzt, und auch nicht dadurch, dass er JStrafe im ErwVollzug verbüßt6.

2. Vollstreckung von Hilfe zur Erz. nach § 12 5 Die Vollstreckung von Hilfe zur Erz. nach § 12 (nur bei J; § 12, 8; § 110 I) besteht praktisch nur in der Fertigung der vorgeschriebenen Mitteilungen (§ 70 u. MiStra. 31–35, bes. 33 I) und der Übersendung der erforderlichen Unterlagen entsprechend der Zuständigkeitsvorschrift des Abs. II. Die Vollstreckung selbst, Zuständigkeit, Durchführung und Aufhebung richtet sich nach dem SGB VIII (Abs. II; § 12, 7).

3. Vollstreckung von Maßnahmen und JStrafe 6 Wegen der Vollstreckung von Weisungen § 85 RL III 1; Auflagen § 85 RL IV 2; einer Verwarnung § 85 RL IV 1; § 14, 5; von JA §§ 86 ff; § 85 RL V u. Rn 11, bes. § 16, 22; von JStrafe u. Freiheitsstrafe § 89a, 1 ff; von Maßregeln der Besserung u. Sicherung Rn 7 u. § 85, 8 u. 9; zur Reihenfolge § 93a, 6; von UHaft u. der Maßnahmen zu ihrer Abwendung § 71, 1 ff; § 72, 3; von Sicherungsmaßnahmen Nach § 60, 15. Zur Tätigkeit des Vollstreckungsleiters bei Zurückstellung der Strafvollstreckung bei betäubungsmittelabhängigen J u. Hw. nach §§ 38, 35 I, 36 2 3 4 5 6

Pohlmann Rpfl. 68, 268. OLG Stuttgart MDR 76, 78. OLG Schleswig SchlHA 83, 44. OLG Koblenz GA 75, 285. BGH StV 85, 92. 544

Vollstreckungsleiter

§ 82

BtMG s. Rn 1; § 17, 46, 55 u. 56, auch Vor § 82, 11 aE. Für Entscheidungen über Maßnahmen zur Festnahme nach § 457 III StPO ist auch bei Vollstreckung von JStrafe das Gericht des 1. Rechtszugs zuständig7.

4. Vollstreckung von Sicherungsverwahrung Nach dem durch G v. 8.7.2008 eingefügten und durch G v. 5.12.2012 geänderten Abs. III richtet 7 sich die Vollstreckung der vorbehaltenen und nachträglichen Sicherungsverwahrung gem. § 7 II und IV nicht nach den §§ 82 ff, sondern nach den Vorschriften der StPO, wenn der Betroffene das 21. Lebensjahr vollendet hat. Ein niedrigeres Alter kommt nur bei Betroffenen nach § 7 IV in Betracht und dürfte praktisch äußerst selten sein.

5. Vollstreckung von Entscheidungen nach dem OWiG 8 Für die Vollstreckung der Bußgeldentscheidung nach dem OWiG gilt Folgendes: Bußgeldentscheidungen der Verwaltungsbehörden werden, auch gegen J und Hw., 9 durch die Verwaltungsbehörden vollstreckt (§ 92 OWiG). Die hierbei notwendig werdenden gerichtlichen Entscheidungen (§§ 96, 97 III 2, 98, 99, 102 II, 103 – nicht aber nach § 100 I Nr. 2 OWiG; näher Rn 10) trifft im Verfahren gegen J und Hw. der JRichter, der als Vollstreckungsleiter auch die gerichtlichen Bußgeldentscheidungen zu vollstrecken hat (§ 104 I Nr. 3 OWiG, §§ 82 I, 84, 85 III sinngemäß). Zur örtlichen Zuständigkeit u. zum Übergang der Vollstreckungszuständigkeit Rn 10 aE. Für die Vollstreckung einer gerichtlichen Bußgeldentscheidung – einheitlich Geldbuße 10 für J, Hw. und Erw. (§ 1 I OWiG)8 – und der Erzwingungshaft (§ 96 OWiG) ist bei J und Hw. ausschließlich der JRichter als Vollstreckungsleiter (in § 92 OWiG als „Vollstreckungsbehörde“ bezeichnet) sachlich zuständig (§ 82 I iVm §§ 91, 97 I, 104 I Nr. 3 OWiG). Für Hw. ergibt sich aus § 110 nichts Gegenteiliges9. § 83 II – JKammer ggf. anstelle JRichter – gilt auch hier (§ 91 OWiG). Nur Entscheidungen nach § 100 I Nr. 2 OWiG (nachträglich über die Einziehung) fallen in die Zuständigkeit des JRichters des 1. Rechtszuges, weil sie keine Vollstreckungsentscheidungen sind. Erzwingungshaft ist bei J kaum, bei Hw. uU, aber doch wohl selten angebracht (Rn 13); bei J wäre sie in einer JA-Anstalt zu vollziehen. Dass die Erzwingungshaft die Geldbuße bestehen lässt, macht sie nicht zur Doppelbestrafung10. Das OWiG sieht für J und Hw. eine einheitliche bes. Regelung nur für das Vollstreckungsverfahren vor (§§ 68 II, 91, 97 I, 98 III OWiG). § 98 erfasst jeden Hw., ob er einem J in seiner Entwicklung gleichsteht oder nicht11. Der JRichter als Vollstreckungsleiter ist auch für die weiteren bei der Vollstreckung notwendig werdenden Entscheidungen zuständig (§ 104 I Nr. 3 OWiG). Als Vollstreckungsleiter in Bußgeldsachen wird der JRichter als Organ der Justizverwaltung tätig und ist deshalb weisungsgebunden12. – Gegen die Anordnung der Erzwingungshaft und die Verhängung von JA ist sofortige Beschwerde gegeben (§ 104 III OWiG), über welche die JKammer entscheidet (§ 41 II 2 iVm § 46 I OWiG). Bei Ablehnung einer solchen Anordnung ist kein Rechtsmittel (§ 104 III OWiG „gegen“), bei Ablehnung nur aus formellen Gründen (z.B. wegen Unzulässigkeit) einfache Beschwerde zulässig13.

7 OLG Celle StraFo 14, 172. 8 BayObLG NJW 72, 837; OLG Köln Zbl. 84, 378. 9 BGH NStZ-RR 02, 34. 10 BVerfG Rpfl. 77, 5. 11 Göhler/Seitz/Bauer § 98 OWiG 31. 12 Göhler/Seitz/Bauer § 91 OWiG 3 b. 13 Vgl. RG 32, 234. 545

§ 82

2. Teil. Jugendliche

Die örtliche Zuständigkeit bestimmt sich gem. §§ 84, 85 III JGG und RL zu §§ 82–85 I Nr. 1, II. Für die Vollstreckung des JA gem. § 98 II OWiG gilt § 85 I JGG14. 11 In OWiG-Sachen gegen J und Hw. sind dem Rechtspfleger die dem JRichter als Vollstreckungsleiter obliegenden Vollstreckungsgeschäfte übertragen (§ 31 II 1 RPflG). Dies widerspricht nicht den §§ 31 V und 33a RPflG, weil diese Vorschriften sich nur mit dem JStrafverfahren befassen und auf die Vollstreckung in Bußgeldsachen nicht anwendbar sind. Dies kann deshalb hingenommen werden, weil der JRichter schon im Erkenntnisverfahren jgemäße Anordnungen treffen (§ 78 IV OWiG) und für die Vollstreckung jederzeit Weisungen erteilen kann (§ 31 VI 2 RPflG). 12 Nach Zurücknahme des Einspruchs oder bei verspäteter Einlegung vollstreckt die Verwaltungsbehörde15.

6. Vollstreckungsanordnungen nach § 98 OWiG 13 § 98 OWiG lässt für J und Hw. jgemäße Vollstreckung zu, wenn der Betroffene im Zeitpunkt der Festsetzung der Geldbuße noch J oder Hw. war (vgl. auch § 78 IV OWiG sowie Rn 14, 16)16; auf den Tatzeitpunkt kommt es hier (anders als bei Weisungen und Auflagen nach §§ 10, 15) nicht an17. Der Vollstreckungsleiter kann an Stelle einer Geldbuße (nicht an Stelle einer Nebenfolge, eines Ordnungsgeldes oder der Kosten) erz. Maßnahmen auferlegen und bei Nichtbefolgung JA anordnen. Diese Vorschrift ermöglicht es, auf die erz. häufig abträglichen Vollstreckungshilfen, wie Zahlungserleichterung (Belastung über längere Zeit), und auf Beitreibung der Geldbuße und Erzwingungshaft zu verzichten, gleichwohl aber gezielt und rasch zu reagieren. Bohnert18 kritisiert die Verlagerung jspezifischer Bedürfnisse auf die Vollstreckungsebene. Zuständig ist der JRichter als Vollstreckungsleiter, wenn eine gerichtliche Bußgeldentschei14 dung zu vollstrecken ist, auch wenn die Entscheidung gem. § 98 I OWiG bereits im Erkenntnisverfahren getroffen wurde (§ 78 IV OWiG; Rn 16). § 65 I ist hier nicht anwendbar, weil diese Vorschrift eine Entscheidung in der Sache voraussetzt, während gem. § 78 IV OWiG eine Vollstreckungsanordnung getroffen wird. Wurde der Bußgeldbescheid von der Verwaltungsbehörde erlassen, wird der JRichter als Vollstreckungsleiter auf deren Antrag tätig (Rn 9). Die Anordnung gem. § 98 OWiG setzt voraus, dass der J oder Hw. die Geldbuße nach Ablauf 15 der zweiwöchigen Schonfrist (§ 95 I OWiG) nicht gezahlt hat und die Bewilligung einer Zahlungserleichterung (§ 93 OWiG), die Beitreibung der Geldbuße (§§ 90, 91 OWiG), die Anordnung, dass die Vollstreckung unterbleibt (§ 95 II OWiG), oder die Anordnung der Erzwingungshaft (§ 96 OWiG) nicht möglich oder – was aus erz. Gründen häufig zutreffen wird – nicht angebracht sind. So, wenn der J dartut, dass er in absehbarer Zeit die Geldbuße nicht wird zahlen können. Eine Nachprüfung des „Schuldspruchs“ findet nicht statt19. Die Anordnung ergeht, nachdem der Beteiligte und sein gesetzlicher Vertreter oder ErzBerechtigter Gelegenheit hatten, Anträge zu stellen und sie zu begründen, ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss (§ 104 II OWiG), dessen Begründung sich aus erz. Erwägungen über die Voraussetzungen des § 34 StPO iVm § 46 I OWiG hinaus empfiehlt; die Entscheidung ist bei J auch dem gesetzlichen Vertreter oder ErzBerechtigten bekannt zu machen. Sie ist unanfechtbar (§ 104 III 2 OWiG); der Verpflichtete, sein gesetzlicher Vertreter oder der ErzBerechtigte können aber stets nachträgliche Änderung beantragen. Schon im Erkenntnisverfahren kann gegen J und Hw. im Urteil oder Beschluss zugleich 16 mit der Geldbuße eine Vollstreckungsanordnung gem. § 98 I OWiG getroffen werden (§ 78 IV 14 15 16 17 18 19

Zur Zuständigkeit der JA-Anstalt BGH B NStZ 87, 444. PJW/Jabel/Wolf § 87 StVollstrO 27 mwN. OLG Köln Zbl. 84, 378; AG Düsseldorf StraFo 17, 377; Göhler/Seitz/Bauer § 98 OWiG 1, 2. Göhler/Seitz/Bauer § 98 OWiG 2. Ordnungswidrigkeiten im JRecht, 1989, S. 4 ff. Göhler/Seitz/Bauer § 98 OWiG 4 u. 5. 546

Vollstreckungsleiter

§ 82

OWiG), was sich zumeist empfehlen wird, weil hierdurch die Möglichkeit jgemäßer Vollstreckung aus dem Vollstreckungsverfahren in das Erkenntnisverfahren vorgezogen und das Verfahren vereinfacht wird20. Getrennte Entscheidungen (zugleich) sind unschädlich. Eine solche Anordnung kann auch das ErwGericht treffen. – Über nachträgliche Änderungen der Maßnahmen und die Anordnung des JA entscheidet bei § 78 IV OWiG stets der Vollstreckungsleiter (Rn 14). Die erz. Anordnungen – in § 98 I OWiG abschließend aufgeführt – sind: Arbeitsleistungen 17 zu erbringen (vgl. § 10, 13 ff; Versicherungsschutz § 10, 46). – Wiedergutmachung des Schadens, was der Auferlegung einer Auflage gem. § 15 I 1 JGG entspricht. Doch scheidet Wiedergutmachung durch Geldauflage aus, weil Wiedergutmachung hier gerade an Stelle einer Geldbuße auferlegt wird und nur angeordnet werden kann, wenn deren Beitreibung nicht möglich oder nicht angebracht ist (Rn 15). Es bleibt also Naturalrestitution oder Arbeitsleistung im Werte des Schadens ggf. zugunsten des Geschädigten (s. § 15, 6). – Teilnahme am Verkehrsunterricht, der nach Art und Dauer festzusetzen ist; es kommt auch eine praktische Fahrstunde in Betracht, wenn dem J oder Hw. die Kosten zuzumuten sind oder die Eltern diese übernehmen. Nur auf solchem Wege kann neben der Geldbuße ein Verkehrsunterricht angeordnet werden21. – Eine bestimmte sonstige Leistung zu erbringen. Hier kommen in Betracht die Weisungen des § 10, ggf. auch die Auflage, sich persönlich beim Verletzten zu entschuldigen, was bei Hw. selten erz. wertvoll sein wird (§ 15, 14), zumal die Auswechslung einer Geldbuße gegen eine Entschuldigung als allzu erfreulich empfunden werden könnte. – Für die Erfüllung einer Maßnahme nach § 98 I OWiG ist dem J eine Frist zu setzen (vgl. § 11 I 1), die nachträglich verlängert werden kann, wenn hierfür ausreichende Gründe vorliegen. Die Frist zeigt dem J, bis wann er die Maßnahme durch Zahlung der Geldbuße abwenden kann, und sichert den Eingriff mit Ungehorsamsarrest (Rn 18). Im Übrigen sind bei all diesen erz. Maßnahmen die bei § 10, 4, 9 und 10 herausgearbeiteten Grenzen und Grundsätze zu beachten, im Rahmen des richterlichen Ermessens auch, dass die Maßnahme nicht außer Verhältnis zur festgesetzten Geldbuße stehen darf. Die Anordnung der erz. Maßnahme ersetzt nicht die Geldbuße22, was auch im Falle des § 78 IV OWiG gilt; es steht dem Verpflichteten weiterhin frei, die Geldbuße zu bezahlen und damit die Anordnung gegenstandslos zu machen23. Die einzelnen Maßnahmen können nebeneinander angeordnet, nachträglich geändert, auch ausgetauscht werden. Eine ersatzlose Befreiung von allen Auflagen ist nicht möglich, da die Maßnahme dem Verpflichteten nur eine zusätzliche Möglichkeit verschafft, die Geldbuße hierdurch zu erledigen, ihn also begünstigt. Hätte der Gesetzgeber eine völlige Befreiung zulassen wollen, so hätte er auf §§ 11 II, 15 III verwiesen24. Die Erfüllung der angeordneten Maßnahmen kann nicht erzwungen werden; wird die Maß- 18 nahme jedoch schuldhaft nicht erfüllt und auch die Geldbuße nicht bezahlt, kann der JRichter JA verhängen (§ 98 II 1 OWiG), wenn der J oder Hw. entsprechend belehrt worden ist25. Dieser Ungehorsamsarrest darf bei einer Bußgeldentscheidung eine Woche nicht übersteigen (§ 98 II 2 OWiG) und wegen desselben Betrags nicht wiederholt angeordnet werden (§ 98 III 1 OWiG). Auch hier ist dem J vor Verhängung des Arrestes Gelegenheit zur mündlichen Äußerung zu geben (§ 98 II 3 OWiG); es gilt dazu das bei § 65, 6 Ausgeführte. Insbes. ist zu prüfen, ob – auch in Anbetracht des idR geringeren Gewichts einer Ordnungswidrigkeit – eine Ermahnung ausreicht oder die Umstände eine Abänderung der Anordnung erfordern. Kommt der J nach Verhängung des Arrestes der Anordnung nach oder zahlt er die Geldbuße, so muss der Richter von der Vollstreckung des Arrestes absehen (§ 98 III 2 OWiG). Ist der Ungehorsamsarrest vollstreckt worden, so kann der Richter die Vollstreckung der Geldbuße ganz oder zum Teil für 20 21 22 23 24 25

Vgl. Kramm NZV 10, 69, 70. OLG Köln Verkehrsrechtl. Mitt. 76, 36. BayObLG NJW 72, 327; OLG Köln Zbl. 84, 379. OLG Köln Zbl. 84, 378; Göhler/Seitz/Bauer § 98 OWiG 15. Göhler/Seitz/Bauer § 98 OWiG 17a. Zur Durchsetzung der Schulpflicht durch JA s. Höynck/Klausmann ZJJ 12, 403; Ernst/Höynck ZJJ 18, 312; für Abschaffung des § 98 II OWiG Franzke RdJ 18, 439 f. 547

§ 83

2. Teil. Jugendliche

erledigt erklären (§ 98 III 3 OWiG). Gegen die Verhängung des JA ist sofortige Beschwerde zulässig (§ 104 III 1 OWiG), weitere Beschwerde ist nicht gegeben (Rn 10); unanfechtbar aber sind die Anordnung des JRichters nach § 98 I 1 und 2 OWiG und die Ablehnung eines Antrags, die Geldbuße für erledigt zu erklären (§ 104 III 2 OWiG). Es bleiben nur Gegenvorstellungen. Hat der JRichter nach Vollstreckung des JA die Geldbuße für erledigt erklärt (§ 98 III 3 OWiG), entfällt auch die „an Stelle“ der Geldbuße angeordnete erz. Maßnahme. Der JRichter wird die Geldbuße für erledigt erklären, wenn durch die Vollstreckung des JA der mit der Geldbuße erstrebte Zweck erreicht erscheint und nicht erz. Gründe weitere Vollstreckungsmaßnahmen fordern. § 98 IV OWiG erstreckt diese Regelungen auch auf Hw., wobei es entgegen § 105 I Nr. 1 auf den Entwicklungsstand des Hw. nicht ankommt. 19 In das ErzRegister werden mangels ausdrücklicher Bestimmung weder Maßnahmen nach § 98 I 1 OWiG noch der Ungehorsamsarrest nach Abs. II eingetragen, was auch dem geringen Gewicht des Bußgeldverfahrens entspricht26. Weitere Begründung Vor § 97, 6.

§ 83 Entscheidungen im Vollstreckungsverfahren (1) Die Entscheidungen des Vollstreckungsleiters nach den §§ 86 bis 89a und 89b Abs. 2 sowie nach den §§ 462a und 463 der Strafprozeßordnung sind jugendrichterliche Entscheidungen. (2) Für die bei der Vollstreckung notwendig werdenden gerichtlichen Entscheidungen gegen eine vom Vollstreckungsleiter getroffene Anordnung ist die Jugendkammer in den Fällen zuständig, in denen 1. der Vollstreckungsleiter selbst oder unter seinem Vorsitz das Jugendschöffengericht im ersten Rechtszug erkannt hat, 2. der Vollstreckungsleiter in Wahrnehmung der Aufgaben der Strafvollstreckungskammer über seine eigene Anordnung zu entscheiden hätte. (3) 1Die Entscheidungen nach den Absätzen 1 und 2 können, soweit nichts anderes bestimmt ist, mit sofortiger Beschwerde angefochten werden. 2Die §§ 67 bis 69 gelten sinngemäß. 1. Hw.-JRecht: § 110 I; RL 1; § 85 RL I 3. – 2. ErwG: § 104, 1. – 3. Sold. Rn 7; § 112c III.

Richtlinien hierzu nach § 85 1 Der Vollstreckungsleiter wird grds. als Organ der Justizverwaltung tätig; er ist dann weisungsgebunden und unterliegt der Dienstaufsicht des Generalstaatsanwalts1. Seine Entscheidungen sind Verwaltungsakte (§ 85 RL II 5 S. 1, 2)2. Die bloße förmliche Einleitung der Vollstreckung ist keine jrichterliche Tätigkeit iSd Abs. I; ein Streit über die Zuständigkeit ist daher kein Zuständigkeitsstreit zwischen mehreren Gerichten iSd § 14 StPO3. 2 War der Vollstreckungsleiter in gleicher Sache als erkennender Richter tätig geworden, so ist die JKammer zuständig für alle bei der Vollstreckung notwendig werdenden gerichtlichen Entscheidungen gegen seine als Vollstreckungsleiter getroffenen Anordnungen (Abs. II Nr. 1; Rn 6; § 41, 52)4. Damit wird ausgeschlossen, dass der erkennende Richter über die Rechtmäßig26 Vgl. Göhler/Seitz/Bauer § 98 OWiG 32; Götz GA 73, 195; Wollny NJW 70, 599. 1 BVerfG NJW 94, 2750; BGH StV 22, 44; OLG Hamm NStZ-RR 02, 21; OLG Celle StraFO 14, 172, 173; Eisenberg/Kölbel 2; PJW/Wolf § 21 StVollstrO 6; Dörig DRiZ 87, 277.

2 OLG Saarbrücken StV 17, 724; LG Leipzig StV 13, 39, 40. 3 BGH NStZ 20, 744; NStZ-RR 20, 290; Eisenberg/Kölbel 2. 4 Eisenberg/Kölbel 4. 548 https://doi.org/10.1515/9783110686401-109

Entscheidungen im Vollstreckungsverfahren

§ 83

keit der von ihm in gleicher Sache als Vollstreckungsleiter getroffenen Entscheidungen selbst entscheidet. Dies gilt auch im OWiG-Verfahren (§ 91 OWiG). Vgl. auch § 17, 58. Aus gleichem Grunde ist die JKammer zuständig, wenn der Vollstreckungsleiter in Wahrnehmung der Aufgaben der Strafvollstreckungskammer (§§ 78a, 78b GVG) über seine eigene Anordnung zu entscheiden hätte (Abs. II Nr. 2). Dazu aber auch § 17, 53. Ist ein J oder Hw. im ersten Rechtszug von einem OLG verurteilt worden, ist das OLG anstelle der JKammer für Entscheidungen über Beschwerden gegen Entscheidungen des JRichters als Vollstreckungsleiter zuständig; die Aufgaben der StA werden in diesem Fall vom Generalbundesanwalt wahrgenommen, sofern nicht eine Abgabe an die Landes-StA erfolgt ist5 (s. auch § 84, 4 aE). Bei jrichterlicher Tätigkeit des Vollstreckungsleiters (Rn 7) ist Dienstaufsichtsbehörde der Amts- oder Landgerichtspräsident (§ 26 DRiG), weil einem StA nicht die Dienstaufsicht über einen Richter übertragen werden darf (§ 151 S. 2 GVG)6. Über Beschwerden gegen Entscheidungen des Vollstreckungsleiters, die er als Organ der Justizverwaltung trifft (Rn 1), entscheidet der Generalstaatsanwalt beim OLG (§ 21 StVollstrO), dann das Landesministerium (Senat); Art. 19 IV GG eröffnet schließlich in Verbindung mit §§ 23 ff EGGVG den Rechtsweg zum Strafsenat des übergeordneten OLG7. Gegen Maßnahmen beim Vollzug von JA, JStrafe oder Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt ist nach § 92 der Antrag auf gerichtliche Entscheidung zur JKammer, in deren Bezirk die beteiligte Vollzugsbehörde ihren Sitz hat, gegeben. Nur in den von der StPO bes. bezeichneten Fällen entscheidet über Beschwerden gegen Maßnahmen des Vollstreckungsleiters das Gericht 1. Instanz; § 85 RL II 5 S. 3. Hat der JRichter über einen Antrag auf Vollstreckungsaufschub entschieden, kann dagegen nur Antrag auf gerichtliche Entscheidung gem. §§ 458 II, 462 I StPO gestellt werden, da der JRichter zunächst als Vollstreckungsbehörde tätig war8; s. aber Rn 2. Eine Beschwerde gegen den JRichter als Vollzugsleiter (vgl. weiter § 90, 13) richtet sich an den Landesjustizminister. Zu § 35 BtMG § 17, 53. Der Vollstreckungsleiter hat bei Zweifeln über die Auslegung des Urteils (Strafzeit – vgl. Vor § 82, 5 – Anrechnung der UHaft uä) als Vollstreckungsbehörde die Pflicht, eine Entscheidung des erkennenden Gerichts gem. § 458 StPO herbeizuführen. Nach Beginn der Vollstreckung einer JStrafe entscheidet der JRichter in Wahrnehmung der Aufgaben der Strafvollstreckungskammer9. Das Beschwerderecht nach § 462 III StPO hat der JRichter nicht10. Wegen der Einschaltung des Rechtspflegers hier (anders bei jrichterlichen Entscheidungen: Rn 9) Vor § 82, 10 mit FN 8. § 83 Abs. I und § 112c II erklären jedoch bes. bedeutsame Entscheidungen des Vollstreckungsleiters als jrichterliche Entscheidungen, nämlich die Umwandlung von Freizeitarrest in Kurzarrest (§ 86), das Absehen von der Vollstreckung von JA nach oder uU auch vor Teilverbüßung (§ 87 III) oder bei Soldaten wegen Besonderheiten des Wehrdienstes (§ 112c II), die Aussetzung des Restes einer JStrafe zur Bew. (§ 88), einschl. Bew.Zeit, -Auflagen, Widerruf, Straferlass und die Ausnahme vom JStrafvollzug (§ 89b) sowie die Entscheidungen in Wahrnehmung der Aufgaben der Strafvollstreckungskammer (§ 82 I 2 iVm §§ 462a, 463 StPO). – Die Berücksichtigung von UHaft bei JA unter den Voraussetzungen des § 450 StPO (§ 87 II) ist keine Entscheidung, sondern eine bindende, einer Entscheidung nicht zugängliche Anweisung für die Berechnung; bei Zweifeln und Einwendungen entscheidet das Gericht des ersten Rechtszuges (§ 458 I StPO)11. Zur Abgabe nach § 85 VI s. § 85, 14. 5 OLG Düsseldorf NStZ 01, 616. 6 Dörig DRiZ 87, 177. 7 GenStA Hamburg NStZ 85, 285; Eisenberg/Kölbel 3. 8 BGH StV 22, 44; OLG Hamm SjE F 1, S. 15. 9 Ostendorf/Rose 4. 10 Ostendorf/Rose 4; KK/Appl § 462 StPO 4; Löwe/Rosenberg/Graalmann-Scheerer27 § 462 StPO 9; aA Krauß NJW 58, 49.

11 Dallinger/Lackner 3; Eisenberg/Kölbel 8; aA Potrykus B 1: jrichterliche Entscheidung. 549

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§ 84

2. Teil. Jugendliche

Diese bes. jrichterlichen Entscheidungen trifft der Vollstreckungsleiter auf Grund eines gerichtlichen Verfahrens in richterlicher Unabhängigkeit. Die JStA (Zuständigkeit: § 143 I GVG), der gesetzliche Vertreter und der ErzBerechtigte (§ 83 III 2) sind beteiligt, ebenso der Verurteilte. Auch ein Verteidiger kann mitwirken (Abs. III 2); zur notwendigen Verteidigung im Vollstreckungsverfahren § 68, 27, in Vollzugssachen § 68, 28. – Das rechtliche Gehör ist zu beachten; teilweise (§§ 87 III, 88 III, 112d) bestehen bes. Anhörungspflichten. Die Entscheidung ergeht ohne mündliche Verhandlung (ggf. jedoch nach mündlicher Anhörung: §§ 88 IV 2)12 durch begründeten (§ 34 StPO) Beschluss, der gem. §§ 35 StPO, 67a I JGG bekannt zu machen ist (Rechtsmittelbelehrung nach § 35a StPO) und der überwiegend mit der sofortigen Beschwerde ohne aufschiebende Wirkung angefochten werden kann (§ 83 III 1; §§ 88 VI 3 – dazu § 88, 15 –, 59 II, IV: zum Teil einfache Beschwerde, zum Teil unanfechtbar). Die Ablehnung eines Antrags auf Unterbrechung der Vollstreckung einer JStrafe zur Behandlung in einer „freien“ psychiatrischen Klinik durch den Vollstreckungsleiter ist eine jrichterliche Entscheidung iSv § 83 I, gegen die gem. § 83 III sofortige Beschwerde an die JKammer gegeben ist13. Ein Fall des § 83 II Nr. 2 liegt auch vor, wenn der JRichter wegen Ausweisung von der weiteren Vollstreckung einer JStrafe absieht und die Nachholung der Vollstreckung bei Rückkehr anordnet14. Die allg. Rechtsmittelbeschränkungen (§§ 59 II 2, 55 I) gelten. Darüber hinaus empfiehlt sich für das Beschwerdegericht Zurückhaltung bei der die Tat- und Rechtsfrage umfassenden Prüfung, da ihm der unmittelbare Kontakt fehlt. 9 Hier ist eine Übertragung auf den Rechtspfleger nicht möglich15. Vgl. auch § 82, 14 aE.

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§ 84 Örtliche Zuständigkeit (1) Der Jugendrichter leitet die Vollstreckung in allen Verfahren ein, in denen er selbst oder unter seinem Vorsitz das Jugendschöffengericht im ersten Rechtszuge erkannt hat. (2) 1Soweit, abgesehen von den Fällen des Absatzes 1, die Entscheidung eines anderen Richters zu vollstrecken ist, steht die Einleitung der Vollstreckung dem Jugendrichter des Amtsgerichts zu, dem die familiengerichtlichen Erziehungsaufgaben obliegen. 2Ist in diesen Fällen der Verurteilte volljährig, steht die Einleitung der Vollstreckung dem Jugendrichter des Amtsgerichts zu, dem die familiengerichtlichen Erziehungsaufgaben bei noch fehlender Volljährigkeit oblägen. (3) In den Fällen der Absätze 1 und 2 führt der Jugendrichter die Vollstreckung durch, soweit § 85 nichts anderes bestimmt. 1. Hw.-JRecht: Rn 4; § 110 I, RL 1; § 85 RL I 3. – 2. ErwG: § 104, 1.

Richtlinien hierzu nach § 85 1 Die ursprüngliche (primäre) örtliche Zuständigkeit (Abs. I, II) kann wechseln (§ 85: nachfolgende – sekundäre – Zuständigkeit; § 85 RL I 1, 2) oder erhalten bleiben (Abs. III). Bei Streit über die Zuständigkeit entscheidet das gemeinschaftliche obere Gericht (§ 14 2 StPO entspr.)1, also JKammer, OLG oder BGH (§ 42, 12a aE)2.

12 Ostendorf/Rose 5 empfehlen bei kontroversen Stellungnahmen mündliche Verhandlung. 13 OLG Karlsruhe NStZ 93, 104; für Zuständigkeit der JKammer nach § 83 II Nr. 2 Böhm NStZ 93, 529. 14 KG B NStZ 97, 484. 15 Bekanntmachung Ziff. II 1 Abs. 2 in FN 8 zu Vorb. 8 vor § 82. 1 BGH 16, 78, 80; BayObLG NJW 55, 601; Eisenberg/Kölbel 8; Ostendorf/Rose 5. 2 Eisenberg/Kölbel 8; Ostendorf/Rose 5. 550 https://doi.org/10.1515/9783110686401-110

Abgabe und Übergang der Vollstreckung

§ 85

Die ursprüngliche Zuständigkeit liegt stets bei dem JRichter, wenn dieser als Einzelrich- 3 ter oder Vorsitzender des JSchöffengerichts in 1. Instanz tätig war, ohne Rücksicht auf Rechtsmittel und deren Erfolg (§ 85 RL I 1a) und darauf, ob der zur Tatzeit hw. Verurteilte zwischenzeitlich erwachsen geworden ist3; bei Einheitsstrafe ist zuständig, wer diese gebildet hat (§ 66 II 3, 4; § 66, 10)4. Hat die JKammer oder ein ErwGericht in erster Instanz entschieden, so liegt die ur- 4 sprüngliche Zuständigkeit beim JRichter des AG, an dem die familiengerichtlichen ErzAufgaben wahrgenommen werden, oder beim BezirksJRichter (nicht beim Vorsitzenden des BezirksJSchöffengerichts), zu dessen Bezirk dieses AG gehört (§ 33 III; § 85 RL I 1b)5. Dies gilt über die Ländergrenzen hinweg (§ 85, 5). Bei Verurteilten, die volljährig sind, ist – wie der durch das KindRG eingefügte Abs. II 2 klargestellt hat – der JRichter zuständig, der zuständig wäre, wenn der Verurteilte noch nicht volljährig wäre6. Für die Zuständigkeit stellt § 152 II FamFG auf den gewöhnlichen Aufenthalt ab, bei anhängigen Ehesachen § 153 I FamFG auf das Gericht der Ehesache im ersten Rechtszug. Für den Aufenthaltsort ist ohne Bedeutung, ob der Verurteilte ihn frei gewählt hat7. Ist der von der JKammer rechtskräftig zu einer JStrafe Verurteilte, der im Inland weder Wohnsitz noch Aufenthalt hatte, in die zuständige JStrafanstalt verlegt worden, ist nach dem OLG Zweibrücken8 der JRichter, in dessen Bezirk die JStrafanstalt liegt, für die Einleitung der Vollstreckung zuständig. Auch wenn ein OLG im ersten Rechtszug gegen einen J oder Hw. entschieden hat, ist der JRichter als Vollstreckungsleiter auch für die jrichterlichen Entscheidungen nach § 83 zuständig; § 462a V StPO findet insoweit keine Anwendung9 (s. auch § 83, 2 aE). Wegen der Zuständigkeit für die Nebengeschäfte der Vollstreckung § 85 RL II 4 u. Vor § 82, 5 13; wegen Vollstreckung des Bußgeldbescheides s. § 82, 9, 10.

§ 85 Abgabe und Übergang der Vollstreckung (1) Ist Jugendarrest zu vollstrecken, so gibt der zunächst zuständige Jugendrichter die Vollstreckung an den Jugendrichter ab, der nach § 90 Abs. 2 Satz 2 als Vollzugsleiter zuständig ist. (2) 1Ist Jugendstrafe zu vollstrecken, so geht nach der Aufnahme des Verurteilten in die Einrichtung für den Vollzug der Jugendstrafe die Vollstreckung auf den Jugendrichter des Amtsgerichts über, in dessen Bezirk die Einrichtung für den Vollzug der Jugendstrafe liegt. 2Die Landesregierungen werden ermächtigt, durch Rechtsverordnung zu bestimmen, daß die Vollstreckung auf den Jugendrichter eines anderen Amtsgerichts übergeht, wenn dies aus verkehrsmäßigen Gründen günstiger erscheint. 3Die Landesregierungen können die Ermächtigung durch Rechtsverordnung auf die Landesjustizverwaltungen übertragen. (3) 1Unterhält ein Land eine Einrichtung für den Vollzug der Jugendstrafe auf dem Gebiet eines anderen Landes, so können die beteiligten Länder vereinbaren, daß der Jugendrichter eines Amtsgerichts des Landes, das die Einrichtung für den Vollzug der Jugendstrafe unterhält, zuständig sein soll. 2Wird eine solche Vereinbarung getroffen, so geht die Vollstreckung auf den Jugendrichter des Amtsgerichts über, in dessen Bezirk die für die Einrichtung für den Vollzug der Jugendstrafe zuständige Aufsichtsbehörde ihren 3 4 5 6 7 8 9

OLG Celle NJW 75, 2254; OLG Karlsruhe JR 80, 468 mit Anm. Brunner; Brunner JR 76, 344. Dallinger/Lackner 4. OLG Karlsruhe JR 80, 468. So schon für die frühere Rechtslage BGH 20, 157. BGH NStZ-RR 96, 350. B NStZ 91, 524. OLG Düsseldorf NStZ 01, 616.

551 https://doi.org/10.1515/9783110686401-111

§ 85

2. Teil. Jugendliche

Sitz hat. 3Die Regierung des Landes, das die Einrichtung für den Vollzug der Jugendstrafe unterhält, wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung zu bestimmen, daß der Jugendrichter eines anderen Amtsgerichts zuständig wird, wenn dies aus verkehrsmäßigen Gründen günstiger erscheint. 4Die Landesregierung kann die Ermächtigung durch Rechtsverordnung auf die Landesjustizverwaltung übertragen. (4) Absatz 2 gilt entsprechend bei der Vollstreckung einer Maßregel der Besserung und Sicherung nach § 61 Nr. 1 oder 2 des Strafgesetzbuches. (5) Aus wichtigen Gründen kann der Vollstreckungsleiter die Vollstreckung widerruflich an einen sonst nicht oder nicht mehr zuständigen Jugendrichter abgeben. (6) 1Hat der Verurteilte das vierundzwanzigste Lebensjahr vollendet, so kann der nach den Absätzen 2 bis 4 zuständige Vollstreckungsleiter die Vollstreckung einer nach den Vorschriften des Strafvollzugs für Erwachsene vollzogenen Jugendstrafe oder einer Maßregel der Besserung und Sicherung an die nach den allgemeinen Vorschriften zuständige Vollstreckungsbehörde abgeben, wenn der Straf- oder Maßregelvollzug voraussichtlich noch länger dauern wird und die besonderen Grundgedanken des Jugendstrafrechts unter Berücksichtigung der Persönlichkeit des Verurteilten für die weiteren Entscheidungen nicht mehr maßgebend sind; die Abgabe ist bindend. 2Mit der Abgabe sind die Vorschriften der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes über die Strafvollstreckung anzuwenden. (7) Für die Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft im Vollstreckungsverfahren gilt § 451 Abs. 3 der Strafprozeßordnung entsprechend. 1. Hw.-JRecht: RL I 3; § 110 I, RL 1. – 2. ErwG: § 104, 1. – 3. Sold. Rn 13; § 112c, 3.

Richtlinien zu §§ 82 bis 85 I.

II.

Zuständigkeit zur Vollstreckung 1. Vollstreckungsleiter ist a) der Jugendrichter in allen Verfahren, in denen er selbst oder unter seinem Vorsitz das Jugendschöffengericht im ersten Rechtszug erkannt hat (§ 82 Abs. 1, § 84 Abs. 1), b) in allen anderen Fällen der Jugendrichter des Amtsgerichts, dem die vormundschaftsrichterlichen Erziehungsaufgaben obliegen (§ 84 Abs. 2, § 34 Abs. 3) bzw. der Bezirksjugendrichter, zu dessen Bezirk dieses Amtsgericht gehört (§ 33 Abs. 3). 2. Bei der Vollstreckung von Jugendarrest und Jugendstrafe tritt unter Umständen ein Wechsel der Zuständigkeit ein. An Stelle des zu Nr. 1 genannten Jugendrichters wird Vollstreckungsleiter a) der Jugendrichter am Ort des Vollzugs nach Abgabe bzw. Übergang der Vollstreckung (§ 85 Abs. 1 iVm § 90 Abs. 2 Satz 2 bzw. § 85 Abs. 2 Satz 1), b) der gemäß § 85 Abs. 2 Satz 2 oder gemäß § 85 Abs. 3 bestimmte Jugendrichter nach der Aufnahme von zu Jugendstrafe Verurteilten in die Jugendstrafanstalt. 3. Hat das Gericht wegen der Straftat von Heranwachsenden das allgemeine Strafrecht angewendet, so bestimmt sich die Zuständigkeit nach den Vorschriften der Strafvollstreckungsordnung. Verfahren im allgemeinen 1. Die bei der Strafvollstreckung grundsätzlich erforderliche Beschleunigung ist für die Vollstreckung der für Jugendliche festgesetzten Maßnahmen und Strafen besonders wichtig. Je mehr sich für sie der innere Zusammenhang zwischen Tat, Urteil und Vollstreckung durch Zeitablauf lockert, um so weniger ist damit zu rechnen, dass die Maßnahme oder Strafe die beabsichtigte Wirkung erreicht. Alle beteiligten Stellen müssen daher bestrebt sein, die Vollstreckung nachdrücklich zu fördern. 2. Nach Eintritt der Rechtskraft des Urteils sind dem in Abschnitt I Nr. 1 genannten Vollstreckungsleiter unverzüglich die Strafakten mit der Bescheinigung der Rechtskraft des Urteils zu übersenden. Falls die Akten noch nicht entbehrlich sind, werden ihm ein Vollstreckungsheft und zwei Ausfertigungen des vollständigen Urteils zugeleitet. Hat ein Mitangeklagter gegen die Verurteilung wegen einer Tat, an der der rechtskräftig Verurteilte nach den Urteilsfeststellungen beteiligt war, Revision eingelegt, so ist dem Vollstreckungsheft eine Abschrift der Revisionsbegründung beizufügen oder nachzusenden. Auf die Beachtung von § 19 der Strafvollstreckungsordnung und § 357 StPO wird hingewiesen.

552

Abgabe und Übergang der Vollstreckung

3.

III.

IV.

V.

553

§ 85

Wird die Teilvollstreckung einer Einheitsstrafe nach § 56 angeordnet, so werden dem Vollstreckungsleiter unverzüglich nach Eintritt der Rechtskraft des Beschlusses je zwei beglaubigte Abschriften des vollständigen Urteils und des Beschlusses übersandt. 4. Die mit der Rechtskraft des Urteils anfallenden Nebengeschäfte der Vollstreckung (Mitteilungen, Zählkarten usw.) werden von dem nach den allgemeinen Vorschriften zuständigen Beamten bei dem zunächst als Vollstreckungsleiter berufenen Jugendrichter (vgl. Abschnitt I Nr. 1) oder der von der Landesjustizverwaltung sonst bestimmten Stelle ausgeführt. 5. Soweit die Entscheidungen des Vollstreckungsleiters nicht jugendrichterliche Entscheidungen sind (§ 83 Abs. 1), nimmt der Jugendrichter als Vollstreckungsleiter Justizverwaltungsaufgaben wahr. Er ist insoweit weisungsgebunden. Über Beschwerden gegen andere als jugendrichterliche Entscheidungen des Vollstreckungsleiters wird im Verwaltungswege entschieden, falls nicht nach §§ 455, 456, § 458 Abs. 2 und § 462 Abs. 1 StPO das Gericht des ersten Rechtszuges oder nach § 83 Abs. 2 Nr. 1 die Jugendkammer zuständig ist. 6. Auf die Vollstreckung finden die Vorschriften der Strafvollstreckungsordnung nur Anwendung, soweit nichts anderes bestimmt ist (§ 1 Abs. 3 StVollstrO). Die Leitung der Vollstreckung obliegt dem Jugendrichter. Dem Rechtspfleger werden die Geschäfte der Vollstreckung übertragen, durch die eine richterliche Vollstreckungsanordnung oder eine die Leitung der Vollstreckung nicht betreffende allgemeine Verwaltungsvorschrift ausgeführt wird. Das Nähere wird durch Anordnung der Landesjustizverwaltung bestimmt. Vollstreckung bei Erziehungsmaßregeln 1. Sind Weisungen erteilt worden, so übersendet der Vollstreckungsleiter der Jugendgerichtshilfe oder in Bewährungsfällen dem Bewährungshelfer eine beglaubigte Abschrift des Urteils mit dem Ersuchen, die Befolgung der Weisungen zu überwachen, erhebliche Zuwiderhandlungen mitzuteilen (§ 38 Abs. 2) und, falls eine Änderung der Weisungen oder ihrer Laufzeit oder die Befreiung von ihnen angebracht erscheint (§ 11 Abs. 2), solche Maßnahmen anzuregen. 2. Ist Hilfe zur Erziehung im Sinne von § 12 angeordnet worden, so übersendet der Vollstreckungsleiter die Strafakten mit der Bescheinigung der Rechtskraft des Urteils dem zuständigen Vormundschaftsrichter (§ 82 Abs. 2; vgl. auch §§ 30 und 34 SGB VIII). Vollstreckung von Verwarnung und Auflagen 1. Die Verwarnung wird erteilt, sobald das Urteil rechtskräftig geworden ist, möglichst unmittelbar im Anschluss an die Hauptverhandlung. Es ist zu prüfen, ob die Anwesenheit von Erziehungsberechtigten angebracht ist. 2. Sind Auflagen erteilt worden, so übersendet der Vollstreckungsleiter der Jugendgerichtshilfe oder in Bewährungsfällen dem Bewährungshelfer eine beglaubigte Abschrift des Urteils mit dem Ersuchen, die Erfüllung der Auflagen zu überwachen und erhebliche Zuwiderhandlungen mitzuteilen (§ 38 Abs. 2). In geeigneten Fällen wird der Vollstreckungsleiter die Erfüllung der Auflagen selbst überwachen. Vollstreckung des Jugendarrestes 1. Ist der zunächst als Vollstreckungsleiter zuständige Jugendrichter nicht selbst Vollzugsleiter (vgl. § 90 Abs. 2 Satz 2), so gibt er die Vollstreckung an diesen ab. Mit Zustimmung des Vollzugsleiters kann er zunächst die Ladung zum Antritt des Jugendarrestes veranlassen. Bei Abgabe der Vollstreckung übersendet er dem neuen Vollstreckungsleiter die Strafakten oder, falls diese noch nicht entbehrlich sind, das Vollstreckungsheft. 2. Die Einweisung in die Jugendarrestanstalt oder in die Freizeitarresträume der Landesjustizverwaltung geschieht durch ein Aufnahmeersuchen des Vollstreckungsleiters. Er gibt dabei die in der Ladung zum Antritt des Jugendarrestes vorgeschriebene Zeit oder, falls sich Verurteilte nicht auf freiem Fuße befinden, die Anstalt an, aus der sie übergeführt werden. Nach Möglichkeit teilt er in dem Ersuchen ferner die Umstände mit, die für die Festsetzung der Entlassungszeit von Bedeutung sein können (z.B. Arbeits- oder Schulbeginn). 3. Der Vollstreckungsleiter lädt auf freiem Fuße befindliche Verurteilte durch einfachen Brief unter Verwendung des eingeführten Vordrucks zum Antritt des Jugendarrestes. Die Zeit des Antritts ist nach Tag und Stunde vorzuschreiben, die voraussichtliche Entlassungszeit ist mitzuteilen. Bei der Festsetzung der Antrittszeit sind die Berufsverhältnisse der Verurteilten und die Verkehrsverhältnisse zu berücksichtigen. 4. Falls das Urteil sofort rechtskräftig wird und der Vorsitzende des Gerichts entweder selbst Vollzugsleiter ist oder das Einverständnis des Vollzugsleiters herbeiführen kann, wird die Ladung nach Möglichkeit im Anschluss an die Hauptverhandlung ausgehändigt. In geeigneten Fällen kann im Anschluss an die Hauptverhandlung eine mündliche Ladung zum sofortigen Antritt des Jugendarrestes erfolgen.

§ 85

2. Teil. Jugendliche

5.

VI.

Hinweise über den Ersatz der Fahrtkosten zur Jugendarrestanstalt oder zu den Freizeitarresträumen können sich aus den Jugendarrestgeschäftsordnungen der Länder ergeben. 6. Zugleich mit der Ladung sind die Erziehungsberechtigten, in Fällen der Hilfe zur Erziehung nach § 34 SGB VIII das Jugendamt von der Ladung zu benachrichtigen und zu ersuchen, für rechtzeitigen Antritt des Jugendarrestes zu sorgen. Auch der Leiter der Berufsausbildung bzw. der Arbeitgeber des Jugendlichen und der Leiter der Schule oder Berufsschule, die der Jugendliche besucht, sollen davon unterrichtet werden, wo und in welcher Zeit der Jugendliche Jugendarrest zu verbüßen hat. Dem Jugendlichen kann auch aufgegeben werden, die Ladung den bezeichneten Personen vorzulegen und von ihnen auf der Ladung die Kenntnisnahme bescheinigen zu lassen. Die Unterrichtung soll unterbleiben, wenn der Arrest in der Freizeit oder während des Urlaubs bzw. der Ferien des Jugendlichen vollzogen wird und ihm aus der Mitteilung unerwünschte Nachteile für sein Fortkommen entstehen könnten. 7. Folgen Verurteilte der Ladung zum Antritt des Jugendarrestes ohne genügende Entschuldigung nicht oder zeigen sie sich bei fristloser Ladung nicht zum Antritt des Jugendarrestes bereit, so veranlasst der Vollstreckungsleiter, dass sie sofort dem Vollzug zugeführt werden. Für die Zwangszuführung kann sich der Vollstreckungsleiter der Hilfe der Polizei oder anderer geeigneter Stellen bedienen. Die Polizei ist darauf hinzuweisen, dass eine Beförderung im Gefangenensammeltransport nicht in Betracht kommt. 8. Für die Berechnung der Arrestzeit wird auf § 25 JAVollzO hingewiesen. Vollstreckung der Jugendstrafe 1. Der Erziehungserfolg der Jugendstrafe kann durch die Verzögerung der Vollstreckung in starkem Maße gefährdet werden. Sogleich nach Eintritt der Rechtskraft des Urteils sollen daher auf freiem Fuße befindliche Verurteilte zum Antritt der Jugendstrafe geladen und in Untersuchungshaft befindliche oder einstweilen untergebrachte (§ 71 Abs. 2, § 72 Abs. 4) Verurteilte in die zuständige Vollstreckungsanstalt eingewiesen werden. Der Umstand, dass das Urteil noch nicht mit den Gründen bei den Akten ist, rechtfertigt einen Aufschub der Vollstreckung nicht. In den Fällen, in denen dem Aufnahmeersuchen eine Abschrift des vollständigen Urteils nicht beigefügt werden kann, ist die Abschrift der Vollzugsanstalt nachzureichen, sobald das Urteil abgefasst ist. Auch hierbei ist Beschleunigung geboten, da die Kenntnis des Urteilsinhalts für die wirksame Gestaltung des Vollzugs unentbehrlich ist. 2. Bei über 24 Jahre alten Verurteilten kann die Vollstreckung nach § 85 Abs. 6 abgegeben werden. Für die weiteren Entscheidungen im Rahmen der Vollstreckung ist dann die Strafvollstreckungskammer zuständig. Ihr sind die Vorgänge so rechtzeitig zur Prüfung der Aussetzung des Restes der Jugendstrafe nach § 88 Abs. 1 vorzulegen, dass die Fristen nach § 88 Abs. 2 unter Beachtung von § 88 Abs. 3 eingehalten werden können. 3. Der Vollstreckungsleiter weist den Verurteilten in die zuständige Justizvollzugsanstalt ein und führt die Vollstreckung so lange, bis der Verurteilte in die Jugendstrafanstalt aufgenommen worden ist. Dem Aufnahmeersuchen sind stets drei Abschriften des vollständigen Urteils beizufügen oder nachzusenden. War gegen den Verurteilten früher Hilfe zur Erziehung nach § 12 angeordnet worden, so ist dies der Vollzugsanstalt unter Angabe der mit der Durchführung der Erziehungsmaßregel befassten Behörde mitzuteilen. 4. Zugleich mit der Ladung sind die Erziehungsberechtigten, in Fällen der Hilfe zur Erziehung nach § 34 SGB VIII das Jugendamt von der Ladung zu benachrichtigen und zu ersuchen, für rechtzeitigen Antritt der Jugendstrafe zu sorgen. Auch der Leiter der Berufsausbildung bzw. der Arbeitgeber des Jugendlichen und der Leiter der Schule oder Berufsschule, die der Jugendliche besucht, sollen davon unterrichtet werden, wo und in welcher Zeit der Jugendliche Jugendstrafe zu verbüßen hat. Dem Jugendlichen kann auch aufgegeben werden, die Ladung den bezeichneten Personen vorzulegen und von ihnen auf der Ladung die Kenntnisnahme bescheinigen zu lassen. Die Unterrichtung soll unterbleiben, wenn die Jugendstrafe in der Freizeit oder während des Urlaubs bzw. der Ferien des Jugendlichen vollzogen wird und ihm aus der Mitteilung unerwünschte Nachteile für sein Fortkommen entstehen könnten. 5. Mittellosen Verurteilten, die sich auf freiem Fuße befinden und zum Vollzug einer Jugendstrafe in eine mehr als 10 km von ihrem Wohnort entfernt liegende Jugendstrafanstalt eingewiesen werden, kann der Vollstreckungsleiter für die Fahrt zur Jugendstrafanstalt eine Fahrkarte oder, soweit das Gutscheinverfahren üblich ist, einen Gutschein für die Fahrkarte aushändigen. 6. Sobald der Vollstreckungsleiter Nachricht von der Aufnahme von Verurteilten in die Jugendstrafanstalt erhält (Strafantrittsanzeige), übersendet er die Strafakten oder das Vollstreckungsheft an denjenigen Jugendrichter, auf den die Vollstreckung nach § 85 Abs. 2 oder 3 mit der Aufnahme übergegangen ist. Die Jugendstrafanstalt legt dem neuen Vollzugsleiter unverzüglich eine Durchschrift der Strafantrittsanzeige, das mit der Strafzeitberechnung versehene Zweitstück des Aufnahmeersuchens und zwei der ihm mit dem Aufnahmeersuchen übersandten Urteilsabschriften vor.

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Abgabe und Übergang der Vollstreckung

§ 85

7.

Der nach § 85 Abs. 2 oder 3 zuständige Vollstreckungsleiter macht sich mit der Wesensart der einzelnen Jugendlichen vertraut und verfolgt deren Entwicklung im Vollzug. Er hält mit der Anstaltsleitung und den Vollzugsbediensteten Fühlung und nimmt an Vollzugsangelegenheiten von größerer Bedeutung beratend teil. 8. Im Falle der Aussetzung eines Strafrestes zur Bewährung wird sich die Zurück- oder Weitergabe der Vollstreckung (§ 85 Abs. 5) dann empfehlen, wenn der Vollstreckungsleiter mit Verurteilten oder Bewährungshelfern wegen weiter Entfernung nicht mehr Fühlung halten kann. Wird die Vollstreckung zurückoder weitergegeben, so soll sich der bisher zuständige Vollstreckungsleiter über die Führung des Verurteilten während der Bewährungszeit auf dem laufenden halten, damit er vor einem Widerruf der Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung die Vollstreckung wieder an sich ziehen kann. In der Regel wird es zweckmäßig sein, dass sich der Vollstreckungsleiter bei der Abgabe der Vollstreckung ausdrücklich vorbehält, die Vollstreckung wieder zu übernehmen, bevor über den Widerruf der Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung entschieden wird. VII. Vollstreckung von Maßregeln der Besserung und Sicherung 1. Die Zuständigkeit für die Vollstreckung von Maßregeln der Besserung und Sicherung richtet sich nach §§ 84 und 85 Abs. 4 (siehe Abschn. I Nr. 1 und 2). Wird bei Heranwachsenden allgemeines Strafrecht angewendet, richtet sich die Zuständigkeit nach den Vorschriften der Strafvollstreckungsordnung. 2. Wegen der Vollstreckung von Führungsaufsicht wird auf § 54a der Strafvollstreckungsordnung hingewiesen.

Schrifttum Bauer Nochmals: Die StA als Vollstreckungsorgan in JSachen, Rpfl. 92, 145; Dehne-Niemann Ist die Entscheidung über die Aussetzung einer RestJStrafe (§ 88 JGG) bei erw. Verurteilten nach den Kriterien des § 57 StGB zu treffen?, StraFo 20, 267; Hamann Die StA als Vollstreckungsorgan in JSachen, Rpfl. 91, 406; Kühn Vollstreckung nach Herausnahme aus dem JVollzug, NStZ 91, 526; Wohlfahrt Die Vollstreckung jrichterlicher Arrestentscheidungen, StraFo 17, 438; ders. Die Vollstreckung der JStrafe. Die immerwährende Zuständigkeit nach den §§ 84, 85 JGG u. ihre Rechtsfolgen, StraFo 20, 272.

Übersicht 1. 2. 3. 4. 5.

Die nachfolgende Vollstreckungszuständig1 keit 2 Bei JArrest 3 Bei JStrafe 6 Verlegung auf Dauer Bei Maßregeln der Besserung und Siche8 rung

6. 7. 8. 9.

Einweisung und Vollzug in einer ErwVollzugsan12 stalt Jugendrechtlicher Vollstreckungsleiter bis zur 13 Abgabe Abgabe der Vollstreckung nach dem 24. bzw. 14 21. Lebensjahr 18 Allgemeine Abgabe

1. Die nachfolgende Vollstreckungszuständigkeit § 85 betrifft die nachfolgende (sekundäre) Zuständigkeit (§ 84, 1) des Vollstreckungsleiters, die 1 nur aus der ursprünglichen hervorgehen kann. Wo die ursprüngliche und die nachfolgende Zuständigkeit zusammenfallen, bleibt es für die ganze Vollstreckung bei der ursprünglichen Zuständigkeit; gleiches gilt, wenn kein Fall der nachfolgenden Zuständigkeit vorliegt (§ 84 III). Kraft Gesetzes geht die Vollstreckungszuständigkeit aber nur bei Aufnahme in eine JStrafanstalt (Rn 3) oder bei Vollstreckung einer Maßregel der Besserung und Sicherung, die mit Freiheitsentzug verbunden ist (Rn 8), oder bei dauernder Verlegung in eine andere Anstalt (Rn 6, 10) über. Bei JA muss die Vollstreckung abgegeben werden (Rn 2), was auch sonst aus wichtigen Gründen geschehen kann (Rn 18).

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§ 85

2. Teil. Jugendliche

2. Bei JArrest 2 Soll JA vollstreckt werden, so gibt der ursprünglich zuständige Vollstreckungsleiter nach Abs. I die Vollstreckung an den JRichter ab, der am Ort der JA-Anstalt oder der Freizeitarresträume als Vollzugsleiter tätig ist (§ 90 II 2), es sei denn, es fallen ursprüngliche und nachträgliche Zuständigkeit zusammen (Rn 1; RL V 1 S. 1; Grundsatz der Vollzugsnähe). Die Abgabe erfolgt zweckmäßig ab Rechtskraft1 unter gleichzeitiger Übersendung der Unterlagen (RL V 1 S. 3). Die Einweisung und Ladung (RL V 2, 3, 5, 6) nimmt dann der neue Vollstreckungsleiter vor (s. aber RL V 1 S. 2; V 4; auch § 10, 35; § 16, 25). Dieser veranlasst grds. auch die Zwangszuführung (RL V 7; zur Zulässigkeit der zwangsweisen Zuführung § 16, 26). Zum Arrestantritt ist grds. unter Einhaltung einer angemessenen Frist zu laden. Die sofortige Vollstreckung kann nicht auf einen Verdacht wegen einer anderen Tat gestützt werden, der nicht dringend ist und deshalb keinen Haftbefehl rechtfertigt2. Der neue Vollstreckungsleiter trifft die Entscheidungen nach § 86 und § 87 III. Die Anfechtung gegen Anordnungen, Verfügungen oder sonstige Maßnahmen des Vollzugsleiters richtet sich nach §§ 92, 110 I. Streit zweier JGerichte, wo der JA zu verbüßen sei, ist Justizverwaltungsfrage3, Rechtspflegern und Beamten fehlt die Befugnis zu derartigen gerichtlichen Entscheidungen4. Zum Vollzug des JA während des Wehrdienstes § 112c, 3. Zur Zuständigkeit der StA Rn 22.

3. Bei JStrafe 3 Soll JStrafe vollstreckt werden, so geht kraft Gesetzes die Zuständigkeit des ursprünglichen Vollstreckungsleiters mit Abschluss der Aufnahme des Verurteilten in die JStrafanstalt in die nachfolgende Zuständigkeit des Vollstreckungsleiters über, in dessen Bezirk diese JStrafanstalt liegt (Abs. II 1; vgl. Rn 4 u. 5)5, es sei denn ursprüngliche und nachfolgende Zuständigkeit fallen zusammen (Rn 1). Unterhält die Anstalt Außenstellen, ist für die Zuständigkeit nach Abs. II der Sitz der Hauptanstalt maßgeblich6. Kraft Gesetzes wechselt die Vollstreckungszuständigkeit aber nur bei Aufnahme in eine JStrafanstalt, nicht in eine ErwStrafanstalt (s. auch Rn. 12)7. Der gem. Abs. II eingetretene Zuständigkeitsübergang wird nicht dadurch rückgängig gemacht, dass ein anderes (unzuständiges) Gericht später einen Beschluss nach § 456a I StPO erlässt8. Zur sachlichen und örtlichen Zuständigkeit des Vollstreckungsleiters für die Einleitung der Vollstreckung von JStrafe: § 84, 3, 4. Zur dauernden Verlegung in eine andere JStrafanstalt: Rn 6. Alle Maßnahmen (vgl. RL VI 4, 5; II 4) bis zur Aufnahme in die JStrafanstalt trifft der nach § 84 berufene Vollstreckungsleiter, alle späteren der Vollstreckungsleiter nach Abs. II und III (Grundsatz der Vollzugsnähe; RL VI 7). Bes. die Einweisung ist zu beschleunigen (RL VI 1). Wegen der Übersendung der Unterlagen RL VI 6; wegen eines späteren Zuständigkeitswechsels RL VI 8 u. Rn 13. Der nach § 85 II zuständige Vollstreckungsleiter entscheidet über die Entlassung zur Bew., ist für die im Rahmen der Bew. erforderlichen jrichterlichen Aufgaben zuständig (auch dann, wenn nicht er, sondern möglicherweise ein nicht zuständiges Gericht über die Reststrafenaussetzung entschieden hat)9 und trifft auch etwaige die Führungsaufsicht betreffende Entscheidungen einschließlich der Abgabe der Vollstreckung nach Entlassung gemäß Abs. V an 1 2 3 4 5 6 7 8 9

Eisenberg/Kölbel 5a. LG Oldenburg StV 08, 120. BGH Beschl. v. 8.5.1981 B NStZ 82, 416. BGH Beschl. v. 4.12.1981 aaO. BGH StV 17, 718. BGH NStZ 94, 204. BGHR zu § 85 II, Übergang 1; BGH NStZ 95, 567; Wohlfahrt StraFo 20, 273. BGH NStZ 05, 167. BGH B NStZ 91, 524, vgl. auch BGH NStZ 92, 454. 556

Abgabe und Übergang der Vollstreckung

§ 85

den Wohnort des Verurteilten10. Er entscheidet auch über die Abkürzung der Sperrfrist bei einer mit der JStrafe verbundenen Entziehung der Fahrerlaubnis11. Die nachfolgende Zuständigkeit gemäß Abs. II 1 ergibt sich unmittelbar aus dem Gesetz. 4 Zugleich werden in Abs. II 2 die Landesregierungen ermächtigt, selbst oder durch die von ihnen wiederum durch RechtsVO ermächtigten Landesjustizverwaltungen (Abs. II 3) im Wege einer RechtsVO auch einen anderen Vollstreckungsleiter – als Amtsträger, nicht als Person12 – zu bestimmen, wenn dies aus verkehrsmäßigen Gründen günstiger erscheint. Diesem bes. Vollstreckungsleiter fällt dann mit der Aufnahme des Verurteilten in die von ihm betreute JStrafanstalt die nachfolgende Zuständigkeit kraft Gesetzes zu. Falls die JStrafanstalt eines Landes auf dem Gebiet eines anderen Landes liegt (z.B. die 5 Hamburger JVA Hanöfersand), können nach Abs. III die beteiligten Länder die Zuständigkeit eines Vollstreckungsleiters des Landes vereinbaren, das die JStrafanstalt unterhält. Es gelten nach Abs. III 3 u. 4 dann die gleichen Ermächtigungen wie in Rn 4 ausgeführt.

4. Verlegung auf Dauer Mit dauernder Verlegung in eine andere JStrafanstalt wechselt kraft Gesetzes nach Abs. II erneut 6 der Vollstreckungsleiter. Denn der Begriff der „Aufnahme“ umfasst auch eine derartige der Erstaufnahme folgende Verlegung13. Es besteht kein Anlass, den Begriff der Aufnahme im JRecht abweichend vom ErwRecht zu interpretieren, zumal gerade der Grundsatz der Vollzugsnähe gewahrt bleibt. Die Verlegung muss dauerhaft sein. Wird ein nach § 89b aus dem JStrafvollzug Herausgenommener vor Verlegung in die allg. Vollzugsanstalt für wenige Tage in eine andere JStrafanstalt verlegt, bleibt der ursprüngliche Vollstreckungsleiter nach Abs. II weiter zuständig14. Die Abgrenzung zwischen nur vorübergehender und dauernder Verlegung ist unschwer zu ziehen und gefährdet die notwendig klare Bestimmung der Zuständigkeit nicht15. Bei Verlegung in den ErwVollzug s. Rn 12. Hat der nach §§ 82, 84 ursprünglich zuständige allg. Vollstreckungsleiter gem. § 85 II seine 7 Zuständigkeit verloren, so lebt diese auch nach Entlassung aus der JStrafanstalt oder dem Maßregelvollzug oder nach Ausnahme aus dem JStrafvollzug nicht wieder auf16.

5. Bei Maßregeln der Besserung und Sicherung Abs. IV lässt für die Vollstreckung der Maßregeln nach § 61 Nr. 1 u. 2 StGB mit der Aufnahme des 8 Verurteilten in ein psychiatrisches Krankenhaus oder in eine Entziehungsanstalt kraft Gesetzes die nachfolgende Vollstreckungszuständigkeit wie bei der Vollstreckung von JStrafe (Rn 3–6) auf den Vollstreckungsleiter übergehen, in dessen Bezirk diese Anstalt liegt17. Mit der Ortsnähe wird diesem bes. Vollstreckungsleiter der notwendige Kontakt zur besseren Beurteilung der Persönlichkeit und Entwicklung des Untergebrachten und auch zu den Ärzten ermöglicht, die münd10 11 12 13

BGH B NStZ 82, 415; 97, 483; zust. Ostendorf/Rose 11. OLG Frankfurt NStZ-RR 96, 285. Gottwald DRiZ 54, 118. BGH 26, 278 im Anschluss an BGH 26, 162; OLG Düsseldorf MDR 75, 863; OLG Frankfurt NStZ-RR 02, 380, 381; OLG Stuttgart NJW 76, 249 u. NJW 77, 1074 für Strafvollstreckungskammer; Begr. RegE eines 1. JGGÄndG, BT-Drs. 11/ 5829, S. 34, 35. 14 BGH B NStZ 94, 532. 15 BGH NJW 90, 264 (zu § 462a I 1 StPO): „abgesehen von vorübergehenden Verschiebungen tatsächlicher Aufenthalt in einer JVA“. 16 BGH NStZ 94, 205; OLG Hamm MDR 84, 166. 17 Für Zuständigkeit der JKammer für Entscheidungen nach §§ 67d II u. VI, 67e StGB de lege ferenda Neßeler ZJJ 19, 152. 557

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liche Anhörung erleichtert und die Einheitlichkeit nachfolgender Entscheidungen unter Beachtung medizinischer Aspekte sichergestellt. Abs. IV, VI bewahren dem Vollstreckungsleiter seine Zuständigkeit bis zur Vollendung des 24. Lebensjahres des Verurteilten. Dies gibt, soweit hier möglich, jgemäßen Einwirkungs- und Beurteilungskriterien weiteren Raum und nützt Erfahrungen im bisherigen Vollzug. Nach Abschluss einer Maßnahme nach § 67h StGB bleibt das Gericht, das die Maßregel zur Bewährung ausgesetzt hat, für die Bewährung zuständig18. Zur Unterbringung von Hw. s. § 110, 1. 9 Nach Vollendung des 24. Lebensjahres des Untergebrachten kann (nicht muss) der Vollstreckungsleiter die Vollstreckung der Maßregel gem. Abs. VI an die nach allg. Vorschriften zuständige Vollstreckungsbehörde abgeben, wenn der Maßregelvollzug voraussichtlich noch länger dauern wird und die bes. Grundgedanken des JStrafrechts bei der Persönlichkeit des Untergebrachten nicht mehr maßgebend sein können. Das wahrt einerseits die Entscheidungsfreiheit des Vollstreckungsleiters und berücksichtigt andererseits die hohe durchschnittliche Verweildauer der im psychiatrischen Krankenhaus Untergebrachten – bei Stichtagserhebungen beträgt die durchschnittliche bisherige Unterbringungszeit 4–6 Jahre19 –, die zumeist ins ErwAlter führt. Bei den über 24-jährigen sind ErzVersuche idR nicht mehr angebracht, auch kaum mehr erfolgversprechend. Zudem kommt es bei Prüfung der Fortdauer der Unterbringung oder der Entlassung wesentlich auf ärztliche Gutachten an, die auf eingehender Beobachtung des nun Erw. in der Anstalt beruhen. Die Aufgabe des Vollstreckungsleiters wird mehr und mehr atypisch, sodass er mit der Abgabe im Regelfall keine jgemäßen Positionen mehr aufgibt20. Die Abgabe ist bindend (Abs. VI 1 HS 2). Das weitere Verfahren richtet sich nach den Vorschriften der StPO und des GVG (Abs. VI 2). 10 Wird der Untergebrachte auf Dauer (vgl. Rn 6) in eine andere Anstalt verlegt, so geht die Zuständigkeit kraft Gesetzes auf den dann nach Abs. II iVm Abs. IV zuständigen Vollstreckungsleiter über. 11 Einzelne Maßnahmen im Maßregelvollzug unterliegen der gerichtlichen Überprüfung nach §§ 92 I-V, VI, 110 I. Der jrechtliche Vollstreckungsleiter ist lediglich für die Frage sachlich zuständig, ob die neben der JStrafe angeordnete Maßregel vollstreckt werden soll, und für die in diesem Zusammenhang stehenden Folgeentscheidungen21.

6. Einweisung und Vollzug in einer ErwVollzugsanstalt 12 Die Vollstreckungszuständigkeit geht nach Abs. II nur dann über, wenn JStrafe in einer JStrafanstalt vollzogen wird (Rn 3). Wird der Verurteilte vom JStrafvollzug nach § 89b ausgenommen, so fällt damit die Vollstreckungszuständigkeit aber nicht kraft Gesetzes an den allg. Vollstreckungsleiter nach § 84 zurück (vgl. Rn 7)22. Es bleibt vielmehr der für die JStrafanstalt zuständige Vollstreckungsleiter nach § 85 II hiervon in seinen Rechten und Pflichten unberührt23. Er kann aus dem Gesichtspunkt der Vollzugsnähe die Vollstreckung nach § 85 V an den JRichter abgeben, in dessen Bezirk die ErwVollzugsanstalt liegt, in welcher die JStrafe nach § 89b vollzogen wird24 (vgl. auch § 89a, 1). Dieser JRichter ist nicht befugt, seinerseits die Vollstreckung an einen anderen JRichter abzugeben. Für diese Entscheidung bleibt vielmehr der Vollstreckungsleiter nach § 85 II zuständig (Rn 20).

18 19 20 21 22 23 24

OLG Jena NStZ 10, 283. Kröber in ders./H.-J. Albrecht, Hrsg., Verminderte Schuldfähigkeit u. psychiatrische Maßregel, 2001, S. 154. Brunner JR 80, 469. BGH 26, 163; OLG Karlsruhe JR 80, 468 mit Anm. Brunner. BGH 24, 332; 27, 329; 28, 351; BGH NStZ 95, 567; OLG Dresden NStZ-RR 98, 61. BGH NStZ 97, 255. BGH 30, 9; BGH NStZ 85, 92; 95, 567; BGH NStZ-RR 04, 58; OLG Frankfurt NStZ-RR 02, 380, 381. 558

Abgabe und Übergang der Vollstreckung

§ 85

7. Jugendrechtlicher Vollstreckungsleiter bis zur Abgabe Die Vollstreckung der JStrafe bleibt bis zu deren Abschluss (Rn 15) in Händen des jrechtlichen 13 Vollstreckungsleiters nach §§ 84, 85 II. Dazu näher § 89a, 1–6. Falls der jrichterliche Vollstreckungsleiter nicht selbst nach Vollendung des 21. oder 24. Lebensjahres des Verurteilten unter den in Abs. VI und § 89a III normierten Voraussetzungen die Vollstreckung an die Vollstreckungsbehörde des allg. Rechts abgibt (Rn 14–16), bleibt die Vollstreckung bei dem JRichter, der den Verurteilten und seine Entwicklung gut kennt und mit seinen bes. Kenntnissen und Erfahrungen den Vollzug erz. gestalten und nicht zuletzt die notwendigen stützenden Maßnahmen bei vorzeitiger Entlassung am besten treffen kann. Diese Gesichtspunkte schwinden mit fortschreitendem Alter mehr und mehr, was zur Regelung des Abs. VI 1 und des § 89a III geführt hat (Rn 14 u. 15).

8. Abgabe der Vollstreckung nach dem 24. bzw. 21. Lebensjahr Hat der Verurteilte sein 24. Lebensjahr vollendet und ist er vom JStrafvollzug nach § 89b ausge- 14 nommen (§ 89b, 2), so kann (nicht muss) der nach Abs. II und III zuständige (Rn 3–6) Vollstreckungsleiter (nicht der ursprüngliche Vollstreckungsleiter nach § 84 und der JRichter nach Abs. V)25 nach Abs. VI 1 die Vollstreckung der JStrafe an die nach den allg. Vorschriften ständige Vollstreckungsbehörde abgeben, wenn der Strafvollzug voraussichtlich noch länger dauern wird und die bes. Grundgedanken des JStrafrechts nicht mehr maßgebend sein können. Das entspricht den Erkenntnissen, dass mit zunehmendem Alter ein Entwicklungsstand eintritt, in welchem der Verurteilte mit den bes. Maßnahmen des JStrafvollzugs nicht besser zu fördern ist und es auf die Beachtung jgemäßer Aspekte nicht mehr ankommen kann26. Die Abgabe ist bindend (Abs. VI 1 HS 2); bei Fehlen der gesetzlichen Voraussetzungen (Alter des Verurteilten, Erwachsenenvollzug) ist die Abgabe jedoch unwirksam und bindet sie nicht27. Das weitere Verfahren richtet sich nach den Vorschriften der StPO und des GVG (Abs. VI 2). Auch § 454 II S. 1 Nr. 2 StPO ist anwendbar28. Mit der Abgabe der Vollstreckung an die StA wird für die Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung eines Restes der JStrafe die Strafvollstreckungskammer zuständig29. Die Strafvollstreckungskammer ist jedoch nur dann zuständig, wenn der Verurteilte sich im Vollzug der JStrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel befindet oder befand; wurde der maßgebliche Straf- und Maßregelausspruch auch nicht teilweise vollstreckt, ist für die BewÜberwachung und die insoweit erforderlichen nachträglichen Entscheidungen grds. das Gericht zuständig, das die bedingte Aussetzung bewilligt hat, entweder als Gericht des 1. Rechtszuges oder im Falles des § 66 II 4 als Vollstreckungsleiter30. Vgl. weiter § 89a 2 ff. Für die Entscheidung über die Strafrestaussetzung ist weiterhin § 88 JGG und nicht § 57 StGB maßgeblich (RL VI 2 S. 3)31. § 85 VI 2 verweist nur auf die Vorschriften der StPO und des GVG über die

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Hamann Rpfl. 91, 407; Maaß NStZ 08, 129, 130; Wohlfahrt StraFo 20, 277. OLG Dresden NStZ-RR 98, 60 f; Brunner JR 77, 259 u. JR 80, 464. OLG Dresden NStZ-RR 98, 60; OLG Jena NStZ-RR 00, 221; Hamann Rpfl. 91, 407; Wohlfahrt StraFo 20, 278. OLG Celle NStZ-RR 08, 355 mit Anm. Rose NStZ 10, 95; OLG Dresden NStZ-RR 10, 156; OLG Karlsruhe NStZ-RR 18, 30 = StV 19, 472 mit insoweit abl. Anm. Dehne-Niemann; Immel JR 07, 185; aA OLG Frankfurt NStZ-RR 99, 91. 29 OLG Düsseldorf NStZ 92, 606; MDR 92, 1078; MDR 93, 171; OLG Jena StV 22, 51. 30 BGH NStZ 97, 100 mit zust. Anm. Brunner. 31 BGH 64, 273 = NStZ 21, 374 mit Anm. Laue = ZJJ 20, 196 mit Anm. Eisenberg; OLG Hamm StV 96, 277 = NStZ 96, 405 (Leitsatz); NStZ-RR 00, 92; OLG Zweibrücken B NStZ 96, 481; OLG Frankfurt NStZ-RR 99, 91; OLG Düsseldorf [3. Strafsenat] NStZ-RR 03, 377; OLG Schleswig bei Döllel/Dreeßen SchlHA 04, 262; OLG Dresden ZJJ 06, 322; OLG Karlsruhe NStZ 09, 46; NStZ-RR 18, 30 = StV 19, 472 mit insoweit zust. Anm. Dehne-Niemann; OLG Stuttgart Justiz 11, 106; 559

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2. Teil. Jugendliche

Strafvollstreckung und nicht auf das StGB32. Die in § 88 enthaltene Besserstellung hinsichtlich des frühestmöglichen Zeitpunkts der Prüfung der Reststrafenaussetzung darf dem Verurteilten nicht ohne sachlichen Grund genommen werden33. Besonderheiten wie das höhere Alter des Verurteilten können bei der nach § 88 zu treffenden Ermessensentscheidung berücksichtigt werden34. Der Vorrang der materiell-rechtlichen Vorschriften des JGG gilt auch für die sonstigen Entscheidungen hinsichtlich der zur Bew. ausgesetzten RestJStrafe wie die Berechnung und Verlängerung der BewZeiten35. Die Abgabe der Vollstreckung ist keine jrichterliche Entscheidung iSv § 83 I, sondern ein Justizverwaltungsakt, sodass dagegen nicht sofortige Beschwerde, sondern nach der Vorschaltbeschwerde gem. § 21 StrVollstrO der Rechtsweg nach §§ 23 ff EGGVG gegeben ist36. 15 Ist aber neben JStrafe auch Freiheitsstrafe zu vollstrecken und wird die JStrafe bereits in einer ErwStrafanstalt vollzogen, so kann der auch in diesem Fall zuständige (vgl. Rn 12) jrichterliche Vollstreckungsleiter die Vollstreckung bereits nach Vollendung des 21. Lebensjahres des Verurteilten an die nach den allg. Vorschriften zuständige Vollstreckungsbehörde abgeben (§ 89a III). Dies kommt einer einheitlichen Vollstreckungsleitung während des weiteren Vollzugs in der ErwStrafanstalt zugute (dazu § 89a, 2 u. 5). 16 In beiden Fällen (Rn 14 u. 15) kann, aber nicht muss der Vollstreckungsleiter abgeben. Er kann auch aus bes. Gründen davon absehen, wenn gerade eine Verzögerung der Persönlichkeitsentwicklung ihm im Einzelfall Chancen einer jgemäßen Einwirkung nahe legt. Dann kann der Vollstreckungsleiter auch nach Vollendung des 24. bzw. 21. Lebensjahres des Verurteilten die Vollstreckung noch nach Abs. V abgeben, so, wenn die Aussetzung der Vollstreckung bevorsteht und für die weiteren Entscheidungen, also auch für die Vorbereitung der Entlassung, der JRichter am Wohnsitz des Verurteilten sich eher anbietet. Zu den Erwägungen des Vollstreckungsleiters vgl. auch § 89a, 1 aE, 2, 4, 5 aE, 9 u. 10 aE. 17 Zu den gesetzlichen Regelungen für Entscheidungen über die Reihenfolge der Vollstreckung u. Unterbrechung bei Zusammentreffen von J- mit Freiheitsstrafen u. zur Aussetzung der JStrafe neben Freiheitsstrafe § 89a.

9. Allgemeine Abgabe 18 Jeder Vollstreckungsleiter (der ursprüngliche oder der nachfolgende) kann gem. Abs. V ohne Rücksicht auf die Art der zu vollstreckenden Maßnahme, also auch bei der Einziehung des Wertes von Taterträgen37, die Vollstreckung ab-, weiter- oder zurückgeben (RL VI 8). Dieses Recht steht aber nur dem Vollstreckungsleiter (§§ 84, 85 I, II) selbst zu, nicht einem anderen, nur gem. Abs. V eingeschalteten Richter38; will letzterer abgeben, muss er beim Vollstreckungsleiter, OLG Celle NStZ-RR 12, 293; OLG Jena NStZ-RR 12, 187; OLG Hamburg StraFo 13, 349; OLG Jena StV 22, 51; LG Karlsruhe NStZ-RR 11, 155; DSS/Sonnen 16; Eisenberg/Kölbel 22; Ostendorf/Rose § 88, 1; Bauer Rpfl. 92, 146; Böhm NStZ 96, 481; Kühn NStZ 92, 527; Neubacher GA 06, 737, 746; Immel JR 07, 185; Rose NStZ 10, 95, 96; Dehne-Niemann StraFo 20, 268; aA KG DVJJ-J 02, 467; NStZ-RR 11, 357; OLG Düsseldorf [1. Strafsenat] JR 97, 212 mit abl. Anm. Böhm = StV 98, 348 mit abl. Anm. Rzepka; StraFo 12, 470; OLG Düsseldorf [2. Strafsenat] NStZ-RR 09, 123; OLG München StraFo 09, 125; OLG Nürnberg NStZ-RR 10, 156; LG Kleve NStZ-RR 15, 58 = ZJJ 15, 76 mit abl. Anm. Eisenberg; Heinrich NStZ 02, 188; Hamann Rpfl. 91, 407: Geltung von § 57 StGB; von Hamann wohl aufgegeben in Rpfl. 92, 147. Für die Anwendung der jeweils im Einzelfall günstigsten Alternative für den Verurteilten Wohlfahrt StraFo 20, 278. 32 BGH 64, 273, 281. 33 AaO, 279 f. 34 AaO, 278. 35 OLG Celle NStZ-RR 12, 293. 36 BGH 64, 273, 279; LG Koblenz NStZ-RR 97, 533; DSS/Sonnen § 85, 16. 37 BGH ZJJ 19, 397. 38 BGH NStZ 83, 139; NStZ-RR 03, 29; NStZ 05, 644; NStZ-RR 05, 246; StraFo 07, 258; OLG Frankfurt NStZ-RR 96, 88; Wohlfahrt StraFo 17, 440; 20, 273 f. 560

Abgabe und Übergang der Vollstreckung

§ 85

der nach Abs. V abgegeben hat, eine entspr. Änderung anregen, denn dieser ist weiterhin Herr des Verfahrens (§ 58, 9)39. Vgl. Rn 21. Nur so wird die gebotene Übersichtlichkeit der Vollstreckung gewahrt. Der Vollstreckungsleiter aber behält das Recht und die Pflicht, bei Änderung der Verhältnisse ggf. die Übertragung rückgängig zu machen und ein anderes Gericht mit den weiteren Aufgaben zu betrauen40. Der angegangene JRichter ist zur Übernahme nicht verpflichtet. Ggf. entscheidet das gemeinsame obere Gericht (§ 14 StPO bzw. § 42 III 2 entspr.)41; anders aber bei Rn 9 u. 14; nur wenn keine echten jrichterlichen Entscheidungen mehr in Frage kommen, wird auf dem Verwaltungsweg entschieden. Die Zustimmung der StA ist für die Abgabe nicht erforderlich42. Voraussetzung für die Abgabe sind wichtige Gründe, bes. die Rücksicht auf die Vollzugsnä- 19 he43. Bei Weisungen ist die Abgabe der Vollstreckung an das Wohnortgericht zumal unter dem Gesichtspunkt des § 11 II idR zweckmäßig44. Nach der Einfügung von Abs. IV ist auch bei der Vollstreckung von Maßregeln der Besserung und Sicherung die Ortsnähe als wichtiger Grund anzusehen45. Entscheidend ist stets der Einzelfall46. Eine Entfernung von 20 km erschwert nach OLG Düsseldorf47 noch nicht als „wichtiger“ Grund die Kommunikation. Die Abgabe ist unzweckmäßig, wenn der Verurteilte in einer Entfernung von 8 km vom abgebenden Gericht wohnt48 oder wenn der Vollstreckungsleiter wichtiges Erfahrungswissen aber das Vollzugsverhalten des Gefangenen hat sammeln können und die Entfernung zur neuen Vollzugsanstalt die Kommunikation nicht wesentlich erschwert49. IdR sind die Voraussetzungen bei Entlassung zur Bew. gegeben (RL VI 8; § 88, 9: Abgabe an den JRichter des Aufenthaltsortes)50, auch für alle weiteren Maßnahmen nach Entlassung aus der Strafanstalt51. Die Abgabe nach Strafrestaussetzung an den JRichter des Aufenthaltsorts ist insbes. sachgerecht, wenn der Verurteilte in diesem Bezirk mit seiner Familie wohnt und Kontakt zur dortigen BewHilfe unterhält52. Vgl. auch Rn 3 aE (Führungsaufsicht) u. Rn 12 aE53. Wird die Bew. der RestJStrafe widerrufen und verbüßt der Entlassene nun eine Freiheitsstrafe in einer ErwAnstalt, so gibt der Vollstreckungsleiter nach Abs. V die weitere Vollstreckung der JStrafe zweckmäßigerweise an einen Richter ab, in dessen Bezirk diese ErwAnstalt liegt54. Ist die Strafvollstreckung nach § 35 BtMG zurückgestellt und sind Entscheidungen nach § 36 I BtMG zu treffen, kann aus wichtigem Grund die Vollstreckung an das Gericht des ersten Rechtszuges abgegeben werden (vgl. § 17, 59)55. Kein wichtiger Grund ist das Absehen von weiterer Vollstreckung der RestJStrafe bei Ausweisung gem. § 456a StPO; für die Vollstreckung der Reststrafe, worauf nach § 456a StPO nicht verzichtet wird, bleibt der nach § 85 II berufene Vollstreckungsleiter zuständig56. 39 BGH 24, 332 u. 27, 25 unter Aufgabe von BGH Zbl. 63, 624; BGH NStZ 05, 644; NStZ-RR 05, 246; OLG Hamm MDR 84, 166.

40 BGH 28, 351; BGH NStZ-RR 05, 246; StraFo 07, 258; StV 17, 718; OLG Düsseldorf JMBl. NRW 89, 275. 41 BGH bei Herlan GA 61, 358; BGH 24, 332; BGH ZJJ 19, 397; OLG Frankfurt NStZ-RR 02, 380 f; Dallinger/Lackner 18; Eisenberg/Kölbel 16; Wohlfahrt StraFo 17, 440; 20, 273; aA Ostendorf/Rose 14 „Übernahme verpflichtend“. BGH B NStZ 92, 529; Wohlfahrt StraFo 17, 440; 20, 273. BGH B NStZ-RR 05, 294 f; BGH NStZ 05, 167, 644. BGH StV 17, 719. Böhm NStZ 91, 524. OLG Frankfurt NStZ-RR 02, 380. MDR 90, 1937. BGH NStZ 94, 205. OLG Frankfurt NStZ-RR 02, 380. Potrykus B 5. BGH B NStZ 82, 415. BGH B NStZ 92, 529. Siehe auch Brunner JR 81, 481 (Unterbringung); insgesamt zust. Ostendorf/Rose 15. OLG Frankfurt B NStZ 87, 444. BGH 32, 58; BGH StraFo 07, 258. OLG Hamm MDR 83, 602; Eisenberg/Kölbel 9a; Ostendorf/Rose 15.

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2. Teil. Jugendliche

Die Abgabe ist stets (unverzichtbar)57 widerruflich; deshalb hat der abgebende JRichter Anspruch auf eine angemessene Unterrichtung, jedoch kein Kontrollrecht58. Der abgebende JRichter hat das Recht und die Pflicht, bei Änderung der Verhältnisse seine Entscheidung nachzuprüfen und ggf. die Übertragung rückgängig zu machen und einen anderen JRichter mit den weiteren Aufgaben zu betrauen (näher § 58, 9)59. Ist der Verurteilte nach Übertragung auf den ortsnäheren JRichter unbekannten Aufenthalts, hat der abgebende JRichter die Vollstreckungsleitung zurückzunehmen60. Der JRichter, an den nach Abs. V abgegeben worden ist, hat nicht die Berechtigung, seinerseits die Vollstreckung an einen anderen JRichter abzugeben (Rn 18). War einem Richter die Vollstreckung nach Abs. V übertragen und wird der Verurteilte vom 21 JStrafvollzug ausgenommen und in eine ErwStrafanstalt eingewiesen, ändert sich an der Zuständigkeit nichts61 (vgl. Rn 12). Wurde dem JRichter die Vollstreckung nach Abs. V für einen Verurteilten übertragen, der JStrafe bereits gem. § 89b im ErwVollzug verbüßt (vgl. Rn 12)62, so wird er dadurch für die weiteren Entscheidungen zuständig63. Setzt er die JStrafe zur Bew. aus, so kann er seine nun infolge der Aussetzung erforderlich werdenden Entscheidungen (§ 88 VI 1, 2) weiter übertragen (erweiterte Zuständigkeit gem. § 88 VI 3, § 58 III 2)64. Diese begrenzte – zusätzliche – Zuständigkeit endet mit dem Widerruf der Strafaussetzung65. Die nach Abs. V begründete Zuständigkeit bleibt auch nach Wegfall der auf § 88 VI beruhenden Zuständigkeit bestehen66. Die noch verbleibende Zuständigkeit nach Abs. V berechtigt ihn zwar, erneut die Vollstreckung der JStrafe einzuleiten (§ 58, 1)67, er kann sie aber nicht selbst weiter übertragen (Rn 20)68. Zuständigkeit des Vollstreckungsleiters beim Widerruf nach § 88 s. § 88, 19. Zur Vollstreckungshilfe nach dem IRG § 1, 7 f. Auch bei Übergang der Zuständigkeit des Vollstreckungsleiters bleibt die der StA bestehen 22 (Abs. VII iVm § 451 III StPO). Das gilt selbst dann, wenn die JStrafanstalt in einem anderen Bundesland liegt69. Der ursprünglich und weiterhin zuständige StA kann aber seine Zuständigkeit auf die für den amtierenden Vollstreckungsleiter zuständige StA übertragen, wenn dies im Interesse des Verurteilten geboten erscheint und die angegangene StA zustimmt (§ 451 III 2 StPO). Auch bei der Vollstreckung von JA richtet sich die Zuständigkeit der StA nach Abs. VII und nicht nach § 143 GVG70.

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BGH 7, 319. BGH 7, 321; Eisenberg/Kölbel 19; Ostendorf/Rose 13. BGH 27, 331; 28, 353; BGH NStZ 05, 644; OLG Zweibrücken B NStZ 89, 524. BGH StV 17, 718. BGH 27, 25; BGH BGHR § 85 II Übergang 1; OLG Düsseldorf JMBl. NRW 89, 274. OLG Karlsruhe JR 80, 468 mit zust. Anm. Brunner; OLG Karlsruhe Justiz 83, 162 = B NStZ 83, 450. BGH 30, 9; Brunner JR 81, 481; OLG Karlsruhe aaO. BGH 24, 332; BGH Beschl. v. 20.7.1982 – 2 ARs 134/82; Ostendorf/Rose 13. BGH 27, 25; OLG Karlsruhe aaO. OLG Düsseldorf JMBl. NRW 89, 274. BGH 27, 25; OLG Karlsruhe aaO. BGH 28, 351; OLG Karlsruhe aaO u. OLG Düsseldorf je aaO; Eisenberg/Kölbel 13; vgl. auch BGH 24, 26 u. 24, 332 zu § 58 III 2. 69 Für ErwRecht Meyer-Goßner/Schmitt § 451 StPO 20. 70 AG Wiesloch NStZ-RR 96, 153; Eisenberg/Kölbel § 87, 8a; aA AG Müllheim DVJJ-J 91, 434; DSS/Sonnen 21. 562

Zweiter Unterabschnitt Jugendarrest § 86 Umwandlung des Freizeitarrestes Der Vollstreckungsleiter kann Freizeitarrest in Kurzarrest umwandeln, wenn die Voraussetzungen des § 16 Abs. 3 nachträglich eingetreten sind. 1. Hw.-JRecht: § 110 I, RL 1; § 85 RL I 3. – 2. ErwG: § 104, 1.

Diese jrichterliche Entscheidung (§ 83, 7) ist keine Korrektur des rechtskräftigen Urteils (Be- 1 schluss nach §§ 65, 66), sondern die Anpassung an nachträglich veränderte Verhältnisse. Die Verhältnisse müssen sich also zu einem Zeitpunkt geändert haben, in dem ihre Berücksichtigung bei der Entscheidung tatsächlich oder rechtlich (§ 57, 4) nicht mehr möglich war; ob die bes. Verhältnisse dem Gericht damals unbekannt waren, ist ohne Bedeutung1. Die rechtskräftige Entscheidung darf nicht geändert werden, also 1 Freizeitarrest = 2 Tage Kurzarrest, 2 = 4, jedoch niemals 1 oder 3 Tage (§ 16 III 2)2. Auch Teilumwandlung (von vornherein oder nach Teilverbüßung) ist möglich, doch nur ausnahmsweise angebracht (z.B. 2 Freizeiten = 1 Freizeit + 2 Tage). Die Voraussetzungen des § 16 III 1 müssen vorliegen; Gründe des Vollzugs sind unbeacht- 2 lich; doch kann eine Verzögerung der Vollstreckung bei Überbelegung des Freizeitarrestes ein erz. Grund sein3. Die Umwandlung liegt im pflichtgemäßen Ermessen des – grds. nachträglich zuständigen (§ 85, 2) – Vollstreckungsleiters, darf aber nicht das Ermessen des erkennenden JRichters „ersetzen“4. Wegen Verfahren, Entscheidung, Anfechtung s. § 83, 8; gem. § 55 I kann mit der sofortigen 3 Beschwerde nur gerügt werden, dass die Voraussetzungen der Umwandlung nicht vorgelegen hätten5. Diese Beschwerde hat keine aufschiebende Wirkung (§ 83, 8), die Vollstreckung kann also nach Erlass des Umwandlungsbeschlusses fortgesetzt werden. Mitteilung an ErzRegister unterbleibt; § 60 I Nr. 2 BZRG spricht nur von Anordnung; eine Mitteilung der Umwandlung ist auch sachlich unnötig6.

§ 87 Vollstreckung des Jugendarrestes (1) Die Vollstreckung des Jugendarrestes wird nicht zur Bewährung ausgesetzt. (2) Für die Anrechnung von Untersuchungshaft auf Jugendarrest gilt § 450 der Strafprozeßordnung sinngemäß. (3) 1Der Vollstreckungsleiter sieht von der Vollstreckung des Jugendarrestes ganz oder, ist Jugendarrest teilweise verbüßt, von der Vollstreckung des Restes ab, wenn seit Erlaß des Urteils Umstände hervorgetreten sind, die allein oder in Verbindung mit den bereits bekannten Umständen ein Absehen von der Vollstreckung aus Gründen der Erziehung rechtfertigen. 2Sind seit Eintritt der Rechtskraft sechs Monate verstrichen, sieht er von der Vollstreckung ganz ab, wenn dies aus Gründen der Erziehung geboten ist. 3Von der Vollstreckung des Jugendarrestes kann er ganz absehen, wenn zu erwarten ist, daß 1 2 3 4 5 6

Zust. Nothacker S. 217 FN 641; zweifelnd Eisenberg/Kölbel 3. Dallinger/Lackner 8; Eisenberg/Kölbel 4. Eisenberg/Kölbel 3. Vgl. Nothacker S. 217 FN 641. Eisenberg/Kölbel 7. Eisenberg/Kölbel 6.

563 https://doi.org/10.1515/9783110686401-113

§ 87

2. Teil. Jugendliche

der Jugendarrest neben einer Strafe, die gegen den Verurteilten wegen einer anderen Tat verhängt worden ist oder die er wegen einer anderen Tat zu erwarten hat, seinen erzieherischen Zweck nicht mehr erfüllen wird. 4Vor der Entscheidung hört der Vollstreckungsleiter nach Möglichkeit das erkennende Gericht, die Staatsanwaltschaft und die Vertretung der Jugendgerichtshilfe. (4) 1Die Vollstreckung des Jugendarrestes ist unzulässig, wenn seit Eintritt der Rechtskraft ein Jahr verstrichen ist. 2Im Falle des § 16a darf nach Ablauf von drei Monaten seit Eintritt der Rechtskraft der Vollzug nicht mehr begonnen werden. 3Jugendarrest, der nach § 16a verhängt wurde und noch nicht verbüßt ist, wird nicht mehr vollstreckt, wenn das Gericht 1. die Aussetzung der Jugendstrafe widerruft (§ 26 Absatz 1), 2. auf eine Jugendstrafe erkennt, deren Verhängung zur Bewährung ausgesetzt worden war (§ 30 Absatz 1 Satz 1), oder 3. die Aussetzung der Jugendstrafe in einem nachträglichen Beschluss ablehnt (§ 61a Absatz 1). 1. Hw.-JRecht: § 110 I RL 1; § 85 RL I 3. – 2. ErwG: § 104, 1. – 3. Sold. Rn 11; § 112c II; 112c, 2.

Schrifttum Domzalski JA-Aussetzung zur Bew. – Wird Potrykus Recht behalten? ZJJ 12, 51; Rose/Friese Das Absehen von der Vollstreckung des JA nach § 87 III JGG: Erz. große Gestaltungsmöglichkeiten durch eine bislang wenig genutzte Norm, ZJJ 16, 10.

1 Soll der JA seinen pädagogischen Zweck erreichen, so muss er möglichst rasch nach Rechtskraft des Urteils vollstreckt werden. Gerade bei J verwischt ein längerer Zeitablauf zwischen Urteil und Reaktion den Bezug zwischen Tat und Sanktion und die Chance einer erz. Einwirkung (vgl. auch Rn 2; Hinweise zu Beschleunigungsmöglichkeiten § 10, 35; § 16, 25). Die Vollstreckung des JA ist deshalb nach Abs. IV 1 nicht mehr zulässig, wenn seit Eintritt der Rechtskraft ein Jahr verstrichen ist. Es kommt für die Jahresfrist auf die formelle Rechtskraft der Anordnung (auch nach §§ 65, 66) an. Die Frist wird nach §§ 186 ff BGB berechnet, dabei jedoch zugunsten des Verurteilten § 79 VI StGB entsprechend angewendet1. Ein Ruhen der Vollstreckungsverjährung (§ 79a StGB) tritt nicht ein; dies würde nur den Zweck vereiteln; überdies können die allg. Vorschriften nicht gelten, weil Abs. IV ein Vollstreckungsverbot enthält, nicht etwa die Vollstreckungsverjährung regelt2. Die Jahresfrist darf der Vollstreckungsleiter nicht bewusst verstreichen lassen, auch wenn er den JAVollzug nicht mehr für sinnvoll hält; hier kann Abs. III 1 oder 2 (Rn 9 u. 3) eingreifen oder es muss der Gnadenweg beschritten werden (Erlass; § 13, 7)3. Nach Ablauf der Jahresfrist ist auch ein inzwischen begonnener JAVollzug abzubrechen. 2 Gemäß Abs. IV 2 muss bei EinstiegsJA nach § 16a innerhalb von 3 Monaten nach dem Eintritt der Rechtskraft mit dem Vollzug begonnen werden. Andernfalls greift ein Vollstreckungsverbot. Bei Beginn des Vollzugs innerhalb der Frist kann er auch danach noch abgeschlossen werden.4 EinstiegsJA darf nach Abs. IV 3 auch nach Widerruf der Aussetzung der JStrafe (§ 26 I), Ausspruch einer JStrafe, deren Verhängung zur Bewährung ausgesetzt war (§ 30 I 1), und Ablehnung der Aussetzung der JStrafe in einem nachträglichen Beschluss (§ 61a I) nicht mehr vollstreckt werden, weil er in diesen Fällen den Zweck der Förderung des Bewährungserfolgs nicht mehr erreichen kann5.

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DSS/Diemer 10; Ostendorf/Rose 16. Dallinger/Lackner 14; Eisenberg/Kölbel 10; Wohlfahrt StraFo 17, 445. Eisenberg/Kölbel 10b. Begr. RegE, BT-Drs. 17/9389, S. 20; Wohlfahrt StraFo 17, 445. Wohlfahrt StraFo 17, 446. 564

Vollstreckung des Jugendarrestes

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Aber auch die Jahresfrist (Rn 1) kann, gerade bei den Entwicklungssprüngen sehr junger Menschen, zu groß sein, der J, der die Tat begangen hat, kann von dem J, der die Sanktion dafür erleiden muss, schon so weit entfernt sein, dass der JA, statt erz. zu wirken, nur noch schadet. Deshalb sieht der Vollstreckungsleiter von der Vollstreckung des JA auch schon dann ganz ab (Abs. III 2), wenn seit dem Eintritt der Rechtskraft 6 Monate verstrichen sind und Gründe der Erz. dies gebieten. Im Übrigen gilt das Rn 1 Gesagte entsprechend. Weiterhin sieht der Vollstreckungsleiter von der Vollstreckung des JA ganz oder nach Teilverbüßung von der Vollstreckung des Restes ab, wenn seit Erlass des Urteils Umstände hervorgetreten sind, die dies allein oder iVm den bereits bekannten Umständen aus Gründen der Erz. rechtfertigen (Abs. III 1). Nach §§ 11 III 3, 15 III 2 sieht der Richter von der Vollstreckung des Ungehorsamsarrestes ab, wenn der J nach dessen Verhängung der Weisung oder Auflage nachgekommen ist. Hat der J erst begonnen, der Weisung oder Auflage nachzukommen, so entscheidet der Richter nach pflichtgemäßem Ermessen, ob er die vollständige Erfüllung abwarten oder die Vollstreckung einleiten will. Leitet er die Vollstreckung ein und kommt der J dann nach Abgabe der Vollstreckung der Weisung oder Auflage vollständig nach, so bleibt § 11 III anwendbar (§ 11, 10)6. Zuständig für diese Entscheidung ist auch dann der Richter des ersten Rechtszuges (§ 11, 10 mwN). Aus den Rn 1 und 2 dargelegten Gründen verbietet Abs. I, den JA zur Bew. auszusetzen. Dieses Verbot gilt unbedingt, weil es aus dem Wesen des JA abzuleiten ist (§ 16, 1); es entspricht der Forderung, gerade beim JA die Vollstreckung dem Urteil möglichst rasch folgen zu lassen (§ 4 JAVollzO)7. Das strikte Verbot kann nicht einmal durch das Verschlechterungsverbot beseitigt werden (vgl. § 55, 42)8. Weil die Aussetzung von JA zur Bew. ein Rechtsverstoß ist, kann sie ohne die Beschränkung des § 55 I angefochten werden9, und zwar mit Berufung oder Revision, nicht mit der sofortigen Beschwerde des § 59 I (§ 55, 21; § 59, 2)10. Dieses Verbot der Aussetzung gilt allerdings nicht für die Gnadeninstanz; doch ist hier dem Zweck der Vorschrift und der Entscheidungsferne Rechnung zu tragen und äußerste Zurückhaltung geboten. Letzteres gilt auch für Aufschub und Unterbrechung der Vollstreckung im Verwaltungsweg (vgl. § 5 III JAVollzO, §§ 455, 456 StPO entsprechend) und im Gnadenweg; solche Maßnahmen können aus gesundheitlichen Gründen (so bei fortgeschrittener Schwangerschaft und während der Stillzeit) getroffen werden, evtl. auch bei sozialer Gefährdung11. Die Praxis lehrt, dass bisweilen auch nur das Vollstreckungsverbot des Abs. IV erreicht werden soll. Von der sofortigen Vollstreckung soll nur ausnahmsweise abgesehen werden12. Abs. II bringt den § 450 StPO auch für JA zur Geltung13. Die so berücksichtigte UHaft wird fiktiv als JAVollzug („Vollstreckungshaft“) behandelt, so als wäre in dem in § 450 StPO bestimmten Zeitpunkt die formelle Rechtskraft eingetreten14. Hierbei handelt es sich nur um eine Frage der Berechnung (§ 83, 7). Wegen Anrechnung der UHaft allg. § 52a, 8. Das gänzliche Absehen von der Vollstreckung (Abs. III 1, 1. Alt., 2, 3) und vom Rest nach teilweisem Vollzug (Abs. III 1, 2. Alt.) sind jrichterliche Entscheidungen (§ 83, 7). Abs. III 4 bringt eine Einschränkung des Zwanges (§ 33 StPO) zur Anhörung der StA und fordert zusätzlich „nach Möglichkeit“ – doch regelmäßig – die Anhörung des erkennenden JRichters und der JGH.

6 Böttcher/Weber NStZ 91, 8. 7 Für Einführung der JAAussetzung zur Bew. Domzalski ZJJ 12, 51. 8 OLG Düsseldorf NJW 61, 891; OLG Frankfurt NJW 63, 969; OLG Hamburg NJW 63, 67; OLG Hamm NJW 71, 1666 = JR 72, 73 mit Anm. Brunner; LG Nürnberg-Fürth NJW 68, 120; DSS/Diemer 2; Eisenberg/Kölbel 2; Grethlein S. 120; aA Potrykus NJW 61, 863. 9 OLG Düsseldorf NJW 61, 891. 10 OLG Düsseldorf NJW 61, 891; OLG Frankfurt NJW 63, 669. 11 Recht weitgehend Eisenberg/Kölbel 3. 12 Wohlfahrt StraFo 17, 443. 13 Löwe/Rosenberg/Graalmann-Scheerer27 § 450 StPO 25. 14 Eisenberg/Kölbel 5; Ostendorf/Rose 6. 565

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2. Teil. Jugendliche

Grds. ist Einvernehmen mit dem erkennenden JRichter anzustreben15. Zur zuständigen StA § 85, 22. Im Übrigen gilt für das Verfahren § 83, 8; Mitteilung an das ErzRegister erfolgt nicht. 9 Wenn auch der JA möglichst rasch nach Rechtskraft des Urteils vollstreckt werden soll, so können sich doch gerade bei J Entwicklungen und Situationen sehr rasch ändern (vgl. Rn 1 u. 3). Es können nach Erlass des Urteils Umstände hervortreten, die allein oder iVm den bereits bekannten ein Absehen von der Vollstreckung des JA rechtfertigen, mehr noch: fordern16. Denn es kann die Vollstreckung bei Würdigung dieser Umstände unbillig hart und damit erzwidrig wirken oder gar Schaden stiften. So kann sich dem längere Zeit arbeitslosen J eine Arbeitsoder Ausbildungsstelle, auch ein Umschulungskurs anbieten oder einem J die Möglichkeit sich eröffnen, seine abgebrochene Schulausbildung fortzusetzen. Die wegen bes. Erziehungsschwierigkeiten mühsamer werdende Versorgung zweier Kinder kann einen Umstand darstellen, der nach Abs. III 1 ein Absehen von der Vollstreckung des JA gegen die allein erziehende Mutter rechtfertigen kann17. Aus diesen Beispielen geht hervor, dass es sich zumeist nur um Dauerarrest handeln kann. Es darf aber auch nicht verkannt werden, dass eine Arbeitsstelle oder die Möglichkeit, eine Schulausbildung fortzusetzen, nur dann eine Chance sein kann, wenn der J auch willens und imstande ist, diese anzunehmen und sie sich zu erhalten. Dies zu erkennen, ist gerade deshalb so schwierig, weil die J im Dauerarrest heute zumeist recht schwierige, bereits erheblich kriminell gefährdete Persönlichkeiten sind. Sieht der Vollstreckungsleiter bei notwendig großzügiger Beurteilung eine vernünftige Chance, so kann er nach Abs. III 1 von der Vollstreckung ganz oder, wenn ein völliger Verzicht nicht gerechtfertigt erscheint, nach Teilverbüßung von der Vollstreckung des Restes absehen. Das sollte aber nicht zu einer halbherzigen Lösung führen, die ggf. nach Sachlage ähnlichen Schaden anrichten kann wie völlige Verbüßung. Andererseits kann die sog. „Anvollstreckung“18 auch erz. durchaus sinnvoll sein und kann uU zeitlich so abgestimmt werden, dass die Chance in der Lebensentwicklung nicht verspielt wird. Absehen von der Restvollstreckung wird insbes. dann in Betracht kommen, wenn die bes. Umstände dem Vollstreckungsleiter erst während des Vollzugs bekannt werden. Es kann auch sein, dass der Vollzug die erstrebte Wirkung (Selbstbesinnung, Besserungswille) schon vor der im Urteil festgesetzten Zeit hat; danach kann dann leicht eine Abstumpfung eintreten. Doch ist die Anordnung grds. nur gerechtfertigt, wenn der Erfolg erreicht oder wenn der Zweck des JA nicht erreichbar ist, was sich erst im Vollzug herausstellen kann. Bei allem ist zu berücksichtigen, dass die Fiktion der „gutgearteten“ Täter nicht (mehr) der Realität entspricht, weil bei diesen Diversions- und ambulante Maßnahmen eingeleitet werden (vgl. Einf. 102; § 45, 7) und im Dauerarrest zum größten Teil J und Hw. sind, die sich auf dem Weg in eine delinquente Karriere befinden (§ 16, 3, 12)19. 10 Das LG Hamburg20 hat die vorzeitige Entlassung (Abs. III) eines nicht grds. arrestungeeigneten J, welcher die Führung einer Ausländergruppe übernommen, die Mitarrestanten unterdrückt und Angst verbreitet hatte, mit der Begründung aufgehoben, die Entlassung komme einer Belohnung für Fehlverhalten gleich. Der JA müsse neben der praktizierten Gruppenerziehung. auch ein Konzept für J bereithalten, die nicht gruppenfähig seien oder wegen ihrer autoritären Persönlichkeitsstruktur negativen Einfluss auf ihre Mitarrestanten ausüben. Vgl. auch § 90, 2 u. 3; Einf. 56. Abs. III 3 verlegt eine dem § 154 II StPO vergleichbare Vorschrift in die Vollstreckung, abge11 stimmt auf den erz. Zweck des JA. Bei zu erwartenden Strafen (alle strafgerichtlich ausgesprochenen Rechtsfolgen einschließlich Zuchtmitteln, § 13 III gilt insoweit nicht)21 ist zu bedenken, 15 16 17 18 19 20 21

Eisenberg/Kölbel 8a. Franzke RdJ 18, 443 f. LG Heidelberg DVJJ-J 92, 147. Begr. RegE eines 1. JGGÄndG, BT-Drs. 11/5829, S. 35. Vgl. bereits Eisenhardt Gutachten über den JA, 1989, S. 125. B NStZ 89, 524; zust. Wohlfahrt StraFO 17, 443. DSS/Schatz 7; Eisenberg/Kölbel 7; Wohlfahrt StraFo 17, 444. 566

Vollstreckung des Jugendarrestes

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dass die Entscheidung nach Abs. III 3 endgültig ist. Hat der erkennende JRichter gem. § 31 III 1 davon abgesehen, schon abgeurteilte Straftaten in die neue Entscheidung einzubeziehen, und auch von § 31 III 2 nicht Gebrauch gemacht, wird es im Regelfall erz. wenig sinnvoll sein, wenn der Vollstreckungsleiter dann seinerseits von der Vollstreckung absieht; in solchen Fällen ist Verständigung und Einvernehmen mit dem erkennenden JRichter (Abs. III 4) bes. wichtig. Von der Vollstreckung des JA wird insbes. dann ganz abzusehen sein, wenn der Verurteilte wegen neuer Straftaten eine höhere JStrafe oder gar als Hw. nach ErwRecht Freiheitsstrafe zu erwarten hat oder zu dieser verurteilt ist. In solchen Fällen erwies sich JA als erz. sinnlos, solche Arrestanten sind häufig zu schädlichen Fremdkörpern in der JAAnstalt geworden. Wegen des Absehens vom JA Vollzug bei Soldaten mit Rücksicht auf die Besonderheiten 12 des Wehrdienstes § 112c, 2. Zur Zuständigkeit der StA bei der Vollstreckung von JA § 85, 22.

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Dritter Unterabschnitt Jugendstrafe Vor § 88 1 Die Vorschriften regeln Besonderheiten der Vollstreckung der JStrafe. § 88 schaltet als Sondervorschrift § 57 StGB aus. Sonst gelten die allg. Vorschriften (Vor § 82, 3), bes. aber die §§ 82–85 mit RL, vor allem § 85 RL VI.

§ 88 Aussetzung des Restes der Jugendstrafe (1) Der Vollstreckungsleiter kann die Vollstreckung des Restes der Jugendstrafe zur Bewährung aussetzen, wenn der Verurteilte einen Teil der Strafe verbüßt hat und dies im Hinblick auf die Entwicklung des Jugendlichen, auch unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit, verantwortet werden kann. (2) 1Vor Verbüßung von sechs Monaten darf die Aussetzung der Vollstreckung des Restes nur aus besonders wichtigen Gründen angeordnet werden. 2Sie ist bei einer Jugendstrafe von mehr als einem Jahr nur zulässig, wenn der Verurteilte mindestens ein Drittel der Strafe verbüßt hat. (3) 1Der Vollstreckungsleiter soll in den Fällen der Absätze 1 und 2 seine Entscheidung so frühzeitig treffen, daß die erforderlichen Maßnahmen zur Vorbereitung des Verurteilten auf sein Leben nach der Entlassung durchgeführt werden können. 2Er kann seine Entscheidung bis zur Entlassung des Verurteilten wieder aufheben, wenn die Aussetzung aufgrund neu eingetretener oder bekanntgewordener Tatsachen im Hinblick auf die Entwicklung des Jugendlichen, auch unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit, nicht mehr verantwortet werden kann. (4) 1Der Vollstreckungsleiter entscheidet nach Anhören des Staatsanwalts und des Vollzugsleiters. 2Dem Verurteilten ist Gelegenheit zur mündlichen Äußerung zu geben. (5) Der Vollstreckungsleiter kann Fristen von höchstens sechs Monaten festsetzen, vor deren Ablauf ein Antrag des Verurteilten, den Strafrest zur Bewährung auszusetzen, unzulässig ist. (6) 1Ordnet der Vollstreckungsleiter die Aussetzung der Vollstreckung des Restes der Jugendstrafe an, so gelten § 22 Abs. 1, 2 Satz 1 und 2 sowie die §§ 23 bis 26a sinngemäß. 2 An die Stelle des erkennenden Richters tritt der Vollstreckungsleiter. 3Auf das Verfahren und die Anfechtung von Entscheidungen sind die §§ 58, 59 Abs. 2 bis 4 und § 60 entsprechend anzuwenden. 4Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Beschluß, der die Aussetzung des Strafrestes anordnet, hat aufschiebende Wirkung. 1. Hw.-JRecht: § 110 I, RL 1; § 85 RL I 3. – 2. ErwG: § 104, 1; § 82, Vorb. 2.

Richtlinie zu §§ 88 und 89 Auf die Verwaltungsvorschriften zum Jugendstrafvollzug (VVJug) und auf die Beseitigung des Strafmakels nach § 100 wird hingewiesen.

Schrifttum Dehne-Niemann Ist die Entscheidung über die Aussetzung einer RestJStrafe (§ 88 JGG) bei erw. Verurteilten nach den Kriterien des § 57 StGB zu treffen? StraFO 20, 267; Müller/Richter Wege aus der Haft – Befragung junger Inhaftierter zu ihren Zukunftsperspektiven nach der Haft, BewH 15, 43; Plewig Projekt RESI senkt die Rückfallquote nach dem JStrafvollzug auf 13 Prozent, ZJJ 15, 395; Pruin/Hentschel/von der Wense Übergangsmanagement im JStrafvollzug aus der Sicht der Fachkräfte im Vollzug, ZJJ 16, 247; Röthel Vorzeitige Entlassung aus dem JStrafvollzug, 2007. 568 https://doi.org/10.1515/9783110686401-115

Aussetzung des Restes der Jugendstrafe

§ 88

Übersicht 1. 2. 3. 4.

Voraussetzungen 1 9 Sperrfrist Zuständigkeit und Verfahren Zeitpunkt der Entscheidung

10 13

5. 6. 7.

15 Beschwerde 16 Nebenentscheidungen Aussetzung des Strafrestes bei Drogentä22 tern

1. Voraussetzungen Voraussetzung ist Teilverbüßung (Abs. II) der JStrafe. Immer muss bei JStrafe über 1 Jahr mindes- 1 tens 1/3 verbüßt sein (Abs. II 2), diese Grenze zu unterschreiten erlauben auch nicht wichtige Gründe nach Abs. II 1. Die Berechnung erfolgt nach allg. Grundsätzen. Angerechnete UHaft und andere Freiheitsentziehung (§ 52a, 1) zählt als verbüßte Strafzeit (vgl. § 57 IV StGB)1. Dies gilt auch bei gnadenweiser Anrechnung von UHaft, nicht aber bei gnadenweiser Anrechnung von Strafunterbrechung2, weil sie keine Vollstreckung ist. Im Übrigen aber sind hier wegen der beschränkten erz. Möglichkeiten der UHaft die sachlichen Voraussetzungen und die übrigen Gesichtspunkte (Rn 8) bes. sorgfältig zu prüfen. Dies war auch schon die Verpflichtung des erkennenden JRichters nach § 52a S. 3; s. § 52a, 15. Wie sich aus der Neufassung des entsprechend anwendbaren § 57 IV StGB durch das 23. StRÄndG v. 13.4.1986 ergibt, gilt auch eine nach § 26 III 2 angerechnete Leistung als verbüßte Strafe iSd § 88 I3. Wenn infolge Bildung einer Einheitsstrafe (§§ 31, 66) eine bei einer einbezogenen JStrafe bewilligte Strafaussetzung zur Bew. entfällt, muss eine erbrachte Leistung – soweit zulässig (vgl. § 26a, 12) – angerechnet werden (vgl. § 31, 15). Grds. sollen mindestens 6 Monate verbüßt sein (Abs. II 1), weil sonst idR eine wirksame erz. 2 Beeinflussung nicht möglich ist (§ 18 I). Die Sechsmonatsgrenze zu unterschreiten (Abs. II 1) erlauben nur „bes. wichtige Gründe“, die über die sachlichen Voraussetzungen der Aussetzung hinausgehen4; möglich z.B. bei außergewöhnlichen Leistungen, schweren Schicksalsschlägen, einmaliger Gelegenheit zur Resozialisierung in Freiheit, schädlichen Einwirkungen des Vollzugs auf die Persönlichkeitsentwicklung oder Vorwegvollzug einer Freiheitsstrafe5. Bei der Drittelstrafe des Abs. II 2 gilt diese Ausnahme aber nicht. Entgegen dem LG Bonn6 ist bei JStrafe wegen Schwere der Schuld § 57 StGB nicht entsprechend zu berücksichtigen7. Zur Auswirkung auf das Verschlechterungsverbot § 55, 55 aE. Da die bes. wichtigen Gründe nicht mehr nur „ausnahmsweise“ eingreifen sollen, ist damit eine großzügige Auslegung geboten. – Beide Voraussetzungen (Abs. II) sind unabhängig voneinander. Bei einer JStrafe von 15 Monaten müssen mindestens 5 Monate verbüßt sein (Abs. II 2), Entlassung im 6. Monat ist dann aus bes. wichtigen Gründen möglich. Bei einer JStrafe von 18 Monaten und mehr ist die allg. Grenze von 6 Monaten gegenstandslos; bei JStrafe bis zu 1 Jahr gilt nur die Sechsmonatsgrenze des Abs. II 18. Wird eine Maßregel der Besserung und Sicherung vor der JStrafe vollzogen (aber § 5 III; 3 § 5, 2), so werden infolge der Anrechnung (§ 67 IV StGB) für die Berechnung des Teilvollzugs

1 BGH 6, 215; OLG Köln NJW 54, 205. 2 OLG Hamburg MDR 77, 771; Ostendorf/Rose 2. 3 Eisenberg/Kölbel 4; Ostendorf/Rose 2; DSS/Sonnen 6; LK/Hubrich § 57 StGB 8; Lackner/Kühl/Heger § 57 StGB 4; aus der älteren Rechtsprechung für Wertung als Teilverbüßung OLG Hamburg MDR 78, 592; OLG Saarbrücken MDR 79, 609; OLG Zweibrücken MDR 82, 246; dagegen OLG Koblenz MDR 80, 597; OLG Düsseldorf MDR 80, 951; OLG Karlsruhe MDR 82, 770. 4 Eisenberg/Kölbel 5; Ostendorf/Rose 3. 5 Dazu OLG Schleswig bei Döllel/Dreeßen SchlHA 04, 262; OLG Stuttgart Justiz 11, 106; LG Bonn NJW 77, 2226. 6 StV 84, 255 mit abl. Anm. Tondorf. 7 OLG Schleswig bei Lorenzen/Schiemann SchlHA 98, 197; OLG Düsseldorf StV 01, 184; Böhm NStZ 84, 447; Eisenberg/Kölbel 19; Ostendorf/Rose 3; Stein BewH 85, 88. 8 Eisenberg/Kölbel 6. 569

§ 88

2. Teil. Jugendliche

(Rn 1) beide zusammengenommen9. Bei umgekehrter Reihenfolge gilt § 67c StGB. Bei Anrechnung von Drogentherapie auf JStrafe tritt an die Stelle der Voraussetzungen des § 88 die Zweidrittelregelung des § 36 I 3 BtMG10. Vgl. aber auch § 17, 59. 4 Der Verurteilte muss nicht im Strafvollzug sein (z.B. bei Strafunterbrechung oder noch vor Strafantritt bei angerechneter UHaft in entsprechender Höhe)11. Doch ist hier sorgfältige Prüfung geboten. Vor Strafantritt gilt § 57. Sachliche Voraussetzung der Strafrestaussetzung ist nach der Neufassung des Abs. 1 5 durch das G zur Bekämpfung von Sexualdelikten u. anderen gefährlichen Straftaten v. 26.1.1998, dass die Aussetzung im Hinblick auf die Entwicklung des J, auch unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit, verantwortet werden kann. Mit der Ersetzung der früheren Formulierung „verantwortet werden kann zu erproben, ob er außerhalb des JStrafvollzugs einen rechtschaffenen Lebenswandel führen wird“ durch die Neufassung ist keine inhaltliche Verschärfung der Anforderungen an die günstige Prognose verbunden12. Vielmehr hat die Änderung nur klarstellende Bedeutung13. Weiterhin sind die unter erz. Gesichtspunkten für eine Restaussetzung sprechenden Gesichtspunkte mit den Risiken abzuwägen, die sich aus einer vorzeitigen Entlassung für die Allgemeinheit ergeben können. Die Anforderungen an die günstige Prognose sind hierbei umso höher anzusetzen, je schwerer die in Betracht kommenden Taten sind14. Die Aussetzung setzt die nahe liegende Chance künftiger Straffreiheit voraus; Gewissheit ist nicht erforderlich15. 6 Bei der Entscheidung über diese Voraussetzung hat große Bedeutung die Entwicklung im Strafvollzug, was auch bei viel Erfahrung nur mit sehr viel Vorsicht gewertet werden kann16. Bedeutsam ist insbes. das Verhalten bei Vollzugslockerungen17. Von Bedeutung ist auch die Aufarbeitung deliktsursächlicher Persönlichkeitsdefizite und Einstellungen18. Die Haftentlassung setzt nicht notwendig voraus, dass der Verurteilte seine Straftat vollumfänglich einräumt, Leugnen kann aber abhängig von sonstigen Umständen ein ungünstiger Prognosefaktor sein19. Das gilt auch für das Unterbleiben von Wiedergutmachungsbemühungen20. Bes. wichtig und im Ergebnis oft entscheidend sind aber die Verhältnisse, in die der Verurteilte nach der Entlassung kommt (Rn 13). Zur Prognoseerstellung Einf. 73–78. Über die Ermittlungen Rn 11. Der JRichter muss sich klar sein, dass das Risiko eines Misserfolges hier größer als bei Aussetzung gem. §§ 21, 27 ist, weil hier regelmäßig schädliche Neigungen erheblicheren Umfangs vorlagen und die Angst vor dem Vollzug möglicherweise nicht mehr so groß ist21. Eine zu große Zurückhaltung bei der bedingten Entlassung ist aber deshalb nicht angebracht, weil die zur notwendigen Umprägung der Persönlichkeit erforderlichen psychischen Kräfte zum überwiegenden Teil aus der konkreten Aussicht eines erreichbaren Vorteils bezogen werden. Diese positiven Kräfte können aber in der erforderlichen Dynamik nur innerhalb eines verhältnismäßig kurzen Zeit-

9 OLG Frankfurt GA 81, 40 mwN. 10 Insgesamt Ostendorf/Rose 14 unter Hinweis auf OLG Stuttgart StV 86, 111; OLG Celle StV 83, 113; Kreuzer/Oberheim NStZ 84, 557 gegen LG Nürnberg-Fürth NStZ 84, 175.

11 BVerfG ZJJ 13, 315, 317; BGH 6, 215; Eisenberg/Kölbel 7; Ostendorf/Rose 4. 12 OLG Frankfurt NStZ-RR 99, 91; OLG Düsseldorf ZJJ 03, 306, 307; DSS/Sonnen 14; Dessecker StV 99, 682; Dölling in Egg, Hrsg., Sexueller Mißbrauch von Kindern, 1999, S. 33; Hammerschlag/Schwarz NStZ 98, 323; Schönberger NStZ 99, 103; eine Verschärfung sehen dagegen Schöch NJW 98, 1258 u. Röthel S. 97. 13 Begr. RegE, BT-Drs. 13/8586, S. 6; Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drs. 13/9062, S. 5. 14 BGH NStZ-RR 18, 126; OLG Düsseldorf ZJJ 03, 306, 307; OLG Karlsruhe StV 07, 12, 13. 15 OLG Düsseldorf u. OLG Karlsruhe aaO. 16 Dallinger/Lackner 16; Eisenberg/Kölbel 9; Ostendorf/Rose 6; je mwN. 17 OLG Karlsruhe StV 07, 12, 13. 18 BGH NStZ-RR 18, 126. 19 BGH aaO. 20 AG Berlin-Tiergarten StV 19, 482 mit abl. Anm. Kölbel/Eisenberg = ZJJ 19, 173 mit abl. Anm. Walter. 21 Abel BewH 64, 121. 570

Aussetzung des Restes der Jugendstrafe

§ 88

raums (1, höchstens 1 ½ Jahre) mobilisiert werden22. Stand ein Hw. zur Tatzeit noch einem J gleich, kommt der Aufarbeitung der Reifeverzögerung während des Vollzugs bes. Gewicht zu23. Der Gesetzgeber hat die Grundsätze des § 57 StGB nicht in § 88 übernommen und damit dem pflichtgebundenen Ermessen des JRichters den im Interesse des J verantwortungsbewusst auszufüllenden Freiraum belassen (vg. Einf. 83)24. Gleichwohl wird nicht unbeachtet bleiben dürfen, dass nach § 57 II StGB im ErwRecht dem Verurteilten nunmehr idR nach der Hälfte der Strafe Strafaussetzung zu bewilligen ist, falls die übrigen Voraussetzungen vorliegen25. Dass die Strafe zunächst zur Bewährung ausgesetzt war (§§ 21 ff), aber widerrufen wurde, 7 oder dass schon früher – bes. bei langen Strafen – eine Entlassung zur Bewährung gem. § 88 erfolgt war, diese aber widerrufen wurde, steht einer neuen Entscheidung nicht im Wege. Diese richtet sich allein nach § 88; die verfahrensrechtliche Vorschrift des § 89a I 4 enthält keine materiell-rechtliche Mindestverbüßungsanordnung26. Nur ist in einem solchen Fall bes. sorgfältig zu prüfen, ob eine erneute Entlassung zur Bewährung verantwortet werden kann. Liegen die in Rn 1 bis 7 aufgeführten Voraussetzungen vor, entscheidet der Richter nach 8 pflichtgemäßem Ermessen27. So kann die Entlassung unterbleiben, wenn sie noch nicht genügend vorbereitet ist28, was jedoch durch Abs. III 1 (Rn 13) absolute Ausnahme sein sollte. Die Aufhebung der Entscheidung nach Abs. III 2 (Rn 14) rechtfertigt dies aber keinesfalls. Sehr bestritten ist, ob Zurückstellung der Entlassung bei sonst vorliegenden Voraussetzungen zulässig ist aus dem Gedanken des Schuldausgleichs bei Strafen, die wegen der Schwere der Schuld verhängt wurden (vgl. zur Sühnefunktion der JStrafe § 18, 17)29. Das kann nur in extremen Fällen bes. schwerer Schuld in Betracht kommen30. Das OLG Bamberg31 fordert bei Erw. für die Prognose eine Prüfung und Berücksichtigung von Schuldeinsicht und Schuldverarbeitung als Voraussetzung für erfolgreiche Resozialisierung, was für das JRecht aber nicht ohne Einschränkung übernommen werden kann. Nach dem BGH dürfen bei einem im Zeitpunkt der Verurteilung 38 Jahre alten Gefangenen bei der Entscheidung nach § 88 auch Gesichtspunkte der Generalprävention und der Verteidigung der Rechtsordnung berücksichtigt werden32. Die Notwendigkeit, im objektiven Interesse des Verurteilten eine begonnene Ausbildung oder pädagogische Behandlung zu einem gewissen Abschluss zu führen, kann berücksichtigt werden33. Zurückhaltung wird jedenfalls geboten sein. Dabei sind die Ziele der Entlassung zur Bew. zu berücksichtigen, insbes. Anreiz für gute Führung nach Entlassung und Erleichterung des Übergangs in die Freiheit durch Aufsicht und Hilfe, die nahezu immer eine vorzeitige Entlassung ratsam sein lassen, aber auch Belohnung für gute Leistungen in der Anstalt und nachträgliche Anpassung des Urteils (§ 18, 13) hinsichtlich der Strafzumessung nach neuem Stand. Da es sich bei der Aussetzungsentscheidung um eine Ermessensentscheidung im Einzelfall handelt, ist auch bei JStrafen wegen Schwere der Schuld eine schematische Bestimmung der erforderlichen Teilver22 Graßberger Österreichische JZ 61, 173; Noll Die ethische Begründung der Strafe, 1962, S. 23 FN 48. 23 OLG Karlsruhe StV 07, 12. 24 Vgl. OLG Schleswig SchlHA 19, 372: Aussetzung kommt auch bei prognostischen Zweifeln gerade aus erz. Gründen in Betracht, nicht aber, wenn konkrete Tatschen bezüglich zu befürchtender bes. schwerer Delikte entgegenstehen; Böhm NJW 77, 2198; Eisenberg/Kölbel 19. 25 OLG Düsseldorf JR 88, 292 mit zust. Anm. Zipf – Ermessensreduktion aus dem Kontext von Abs. I u. II. Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Prognoseentscheidung s. BVerfG NJW 00, 501, 502 zu § 57 StGB. 26 OLG Dresden NStZ 16, 109; OLG Stuttgart StV 20, 701, 703. 27 BGH GA 58, 305; NJW 20, 1152, 1153. 28 Loesch BewH 54/55, 145. 29 LG Bonn NJW 77, 2226; Eisenberg/Kölbel 18. 30 OLG Schleswig bei Lorenzen/Schiemann SchlHA 98, 196; OLG Düsseldorf StV 01, 183 mit abl. Besprechung Hoffmann StV 02, 449; LG Berlin NStZ 99, 102 mit abl. Anm. Schönberger. 31 StV 90, 27 mit krit. Anm. Müller-Dietz. 32 BGH NJW 20, 1152, 1155 (in BGH 64, 273 nicht abgedruckt); dagegen Laue NStZ 21, 379; Eisenberg ZJJ 20, 200 f; Dehne-Niemann StraFo 20, 269. 33 Vgl. BGH StV 87, 306 in § 18, 7b; Böhm NJW 77, 2199; aA Ostendorf/Rose 7 „keine speziellen Strafziele des JGG“. 571

§ 88

2. Teil. Jugendliche

büßungszeit nach Deliktsgruppen (z.B. zwei Drittel bei Raub und drei Viertel bei Mord) nicht zulässig34.

2. Sperrfrist 9 Der Vollstreckungsleiter kann – nicht: muss (vgl. auch § 57 VI StGB) – ggf. mehrfach Sperrfristen von höchstens 6 Monaten festsetzen, vor deren Ablauf ein Antrag des Verurteilten, den Strafrest zur Bewährung auszusetzen, unzulässig ist (Abs. V). Die Setzung einer solchen Sperrfrist ist nicht mehr an eine Ablehnung eines Entlassungsantrages gebunden, dies aber wird zumeist der Anlass sein. Die Frist gilt nur für den Verurteilten, nicht für die StA35. Die Dauer richtet sich nach Höhe des Strafrestes und der Entlassungsreife; die Frist darf nur für die Zeit festgesetzt werden, in der eine günstige Veränderung der Täterprognose nicht zu erwarten ist36. Die Fristsetzung ist selbständig gem. § 83 I, III mit sofortiger Beschwerde (§ 83, 8) anfechtbar. Ein Antrag des Verurteilten ist zwar während der Sperrfrist unzulässig, kann aber als Anregung zu einem Verfahren von Amts wegen führen, sodass der Vollstreckungsleiter – entgegen Bedenken Nothackers37 – trotz Sperre auf günstige Sozialisierungsmöglichkeiten jederzeit flexibel reagieren kann.

3. Zuständigkeit und Verfahren 10 Zuständig ist der zZ der Entscheidung als Vollstreckungsleiter amtierende JRichter (Rn 17; § 84; § 85, 1 ff, insbes. 21). Zur Zuständigkeit beim Widerruf Rn 19. 11 Es handelt sich um ein jrichterliches Verfahren; wegen der Einzelheiten, auch der Anfechtbarkeit § 83, 8. Wegen der bes. Bedeutung gelten wichtige Anhörungs-Pflichten (Abs. IV): Der Vollzugsleiter muss gehört werden, am besten aufgrund einer Beamtenkonferenz; dieser legt seine Meinung (nicht die der Mehrheit der Konferenz) schriftlich nieder. Der Verurteilte muss mündlich gehört werden, möglichst unter vier Augen (anders bei gesetzlichen Vertretern und ErzBerechtigten; § 67 schreibt nicht die Art der Anhörung vor); er erhält dadurch Gelegenheit zu umfassender Äußerung, der JRichter zur ergänzenden Persönlichkeitserforschung; gegen den Willen des Verurteilten sollte die Entlassung grds. nicht angeordnet werden38. Dem Verteidiger ist die Teilnahme an der mündlichen Anhörung zu gestatten39. Der Vollstreckungsleiter muss den J selbst anhören; nur ausnahmsweise ist Anhörung durch einen anderen JRichter im Wege der Rechtshilfe vertretbar40. Dem Verurteilten, seinen gesetzlichen Vertretern und den ErzBerechtigten müssen alle Tatsachen mitgeteilt werden, die gegen eine Entlassung vom Vollzugsleiter oder von der JStA vorgebracht wurden. Nimmt die JStA auch alle vom Vollzug vorgebrachten ungünstigen Umstände ohne Erwähnung der Quelle in ihre Stellungnahme auf, wird das rechtliche Gehör ohne Belastung des Vollzugs gewährt. Das BVerfG41 erwägt Beschränkungen des rechtlichen Gehörs nur, wenn konkrete Anhaltspunkte einer Gefahr für Leib und Leben des Anstaltspersonals vorliegen oder der Zweck des Freiheitsentzuges vereitelt würde; das Gericht lässt offen, ob die Ablehnung mit der Begründung, es lägen keine auf innere Wandlung hinweisenden Anzeichen vor, auch ohne Mitteilung der entsprechenden Äußerung des Anstaltsleiters möglich ist, wenn der entscheidende Richter den J 34 35 36 37 38

OLG Schleswig bei Lorenzen/Schiemann SchlHA 98, 197; OLG Düsseldorf StV 01, 184. DSS/Sonnen 23; Eisenberg/Kölbel 35; Ostendorf/Rose 10. OLG Stuttgart Justiz 76, 212; OLG Düsseldorf MDR 83, 247. S. 228, 274, 275. Im Ergebnis ebenso Eisenberg/Kölbel 17; Ostendorf/Rose 11, die aber „mündliche Verhandlung“ in Gegenwart aller Beteiligten vorschlagen. 39 LG Bielefeld ZJJ 20, 401; Eisenberg/Kölbel 28. 40 Eisenberg/Kölbel 27; Ostendorf/Rose 11. 41 NJW 64, 293. 572

Aussetzung des Restes der Jugendstrafe

§ 88

oder Hw. mündlich gehört hat42. Das Ergebnis der Anhörung des J ist jedenfalls durch einen Aktenvermerk oder die Wiedergabe in den Gründen des Beschlusses über die Aussetzung aktenkundig zu machen43. Zur Mitwirkung eines Verteidigers s. § 68, 27. – Die notwendige Anhörung der JStA (Zuständigkeit: § 143 I GVG; § 85 VII; § 36, 14; § 85, 22) erfolgt zweckmäßig nach Abschluss der Ermittlungen aufgrund der Akten schriftlich. Der Richter entscheidet nach eingehender weithin selbst vorzunehmender (§ 85 RL VI 7) 12 Persönlichkeitserforschung. Die Pflicht zur Einschaltung eines Gutachters nach § 454 II StPO besteht im Verfahren nach § 88 nicht, weil der dieses Verfahren speziell regelnde § 88 IV nicht um eine entsprechende Regelung ergänzt worden ist44. Anders ist es gem. § 83 I iVm § 463 III StPO bei der bedingten Entlassung aus dem Maßregelvollzug45. Zum Fall der Abgabe nach § 85 VI s. § 85, 14. Wird ein Gutachten eingeholt, das zu Zweifeln Anlass gibt, ist eine mündliche Anhörung des Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens erforderlich46. Die jrichterliche Entscheidung (§ 83) ist nach § 34 StPO zu begründen (zur Anfechtung Rn 15).

4. Zeitpunkt der Entscheidung Wird der Strafrest zur Bew. ausgesetzt (Abs. I u. II), so sind die J und Hw. gerade unmittelbar 13 nach der Entlassung aus dem Vollzug bes. gefährdet und bedürfen der Betreuung, damit die Erprobung nicht gleich von Anfang an scheitert. Ebenso entscheiden häufig über den Erfolg der Bew. die Verhältnisse, unter denen der Entlassene nun leben muss. Dem dienen die Entlassungsvorbereitungen in und außerhalb der Anstalt. Das Übergangsmanagement ist – wie Heinz47 ausgeführt hat – „unverzichtbarer Bestandteil der Bemühungen um Resozialisierung“. Die Bemühungen der Vollstreckungsleiter werden durch das Gesetz ausdrücklich gestützt, indem Abs. III 1 sie nachdrücklich anweist, die Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes zur Bew. so frühzeitig zu treffen, dass die erforderlichen Maßnahmen zur Vorbereitung des Verurteilten auf sein Leben nach der Entlassung durchgeführt werden können. Denn nur eine möglichst frühzeitige Entscheidung sichert die notwendige sorgfältige und gezielte Vorbereitung und ermöglicht es dem gleichzeitig bestellten BewHelfer, durch Wohnungs- und Arbeitsbeschaffung die schwierige Anfangsphase zu erleichtern. Eine sinnvolle Zusammenarbeit des bestellten BewHelfers mit den Sozialdiensten in der JStrafanstalt in der Zeit bis zur Entlassung kann leicht, muss aber auch abgesprochen werden, um die Hilfen zu koordinieren. Die Sollvorschrift des Abs. III 1 bindet den Vollstreckungsleiter nicht an eine bestimmte Frist, um ihm eine flexible Handhabung zu ermöglichen, die dem Einzelfall und den verschiedenen Forderungen und Möglichkeiten gerecht werden kann. Für den Zeitpunkt wird auch das Rn 8 u. 11 Gesagte zu berücksichtigen sein, außerdem, dass Bew- und Betreuungszeit durch den BewHelfer auseinander fallen (Rn 16) und bereits mit der Rechtskraft der Aussetzungsentscheidung zu laufen beginnen (§ 22 II 1)48. Art. 2 II 2 GG gewährleistet iVm dem Rechtsstaatsprinzip dem Verurteilten einen Anspruch auf angemessene Beschleunigung des Verfahrens49. Der Vollstreckungsleiter kann nach Abs. III 2 bis zur tatsächlichen Entlassung seine Ent- 14 scheidung wieder aufheben, wenn das Verhalten des Verurteilten in der die Entlassung vorbereitenden Phase ernstlichen Anlass gibt, an einer positiven Sozialprognose zu zweifeln, und die 42 Vgl. auch OLG Hamm MDR 60, 424; Eisenberg/Kölbel 27; Ostendorf/Rose 13; Schütz u. Heiss NJW 61, 582 u. 1094. 43 OLG Schleswig bei Lorenzen/Schiemann SchlHA 98, 197. 44 OLG Frankfurt NStZ-RR 99, 91; Dessecker StV 99, 682; Ostendorf NJW 00, 1091 f; Röthel S. 106; aA Erdmann/ Degenhardt SchlHA 99, 296. Dessecker aaO; Ostendorf aaO, 1092. LG Zweibrücken StV 02, 434. S. 80. OLG Stuttgart NJW 80, 1346. BVerfG NJW 01, 2707.

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Aussetzung deshalb nicht iSd Abs. I verantwortet werden kann. Diese Phase kann leicht dazu verführen, anstaltsangepasstes Verhalten „verfrüht“ abzulegen.

5. Beschwerde 15 Gegen die anordnende und die ablehnende Entscheidung nach § 88 I ist sofortige Beschwerde zulässig (§ 83 III). Die Beschwerde der StA hat nach Abs. VI 4 aufschiebende Wirkung, um zu vermeiden, dass der J zunächst vorzeitig entlassen wird und auf Beschwerde hin wieder in den Strafvollzug kommt. Auch dies wird der Vollstreckungsleiter bei der zeitlichen Einordnung des Beschlusses (Rn 13) zu berücksichtigen haben.

6. Nebenentscheidungen 16 Für die Nebenentscheidungen gilt bei Entlassung zur Bew. gem. Abs. VI iVm § 22 I, II 1 und 2 sowie §§ 23–26a dasselbe wie bei Strafaussetzung zur Bew. mit der Maßgabe, dass an die Stelle des erkennenden Richters der Vollstreckungsleiter tritt. Die Betreuungszeit wird auf höchstens 2 Jahre festgesetzt (§ 24 I 1), die BewZeit auf höchstens 3 Jahre (§ 22 I). Der Vollstreckungsleiter kann aber in beiden Fällen dem Verlauf der Bew. folgend neue Entscheidungen treffen (§§ 22 II 2, 24 II). Bei der Aufsicht und Leitung durch den BewHelfer überwiegt hier das Fürsorge-Element; als Nebenentscheidungen kommen vor allem Weisungen hinsichtlich Aufenthalt (aber kein Wiedereinreiseverbot für Ausländer)50, Arbeit und Zusammenarbeit mit dem BewHelfer in Betracht; denn das Unrecht der Tat und das Einstehen dafür sind durch den Strafvollzug schon nachdrücklich vor Augen geführt. Die Weisungen müssen der Resozialisierung des Täters dienen, ihm bei straffreier Lebensführung helfen51. Zur Ausgestaltung der Weisungen § 23, 1 ff. Steht der Entlassene auch unter Führungsaufsicht, gelten nach § 68g I StGB für die Erteilung von Weisungen nur die §§ 68a und 68b StGB52. Zu Anfechtung (auch Teilanfechtung) § 59, 653. 17 Zuständig ist der Vollstreckungsleiter (§ 85 II oder § 84 I, II). Dieser bleibt auch zuständig, wenn die JStrafe nach den Vorschriften des ErwStrafvollzugs vollzogen wird, unabhängig davon, dass der Verurteilte zwischenzeitlich nach ErwStrafrecht zu teilweise bereits vollstreckten Freiheitsstrafen verurteilt worden ist54. Er kann die Vollstreckung und damit auch die in Abs. VI erwähnten Entscheidungen gem. § 85 V aus wichtigen Gründen widerruflich abgeben; die Entlassung zur Bew. stellt regelmäßig einen wichtigen Grund dar. Begrüßenswert ist die weithin geübte Praxis, dass sich der abgebende Vollstreckungsleiter die Entscheidung über den Widerruf der Entlassung zur Bew. und über den endgültigen Erlass der JStrafe vorbehält. Es sollte jedoch nicht übersehen werden, dass der Kontakt des Vollstreckungsleiters zum J mit der Zeit immer schwächer wird; nur der Gesichtspunkt der Einheitlichkeit und Gleichmäßigkeit der für die Aussetzung wesentlichen Maßnahmen rechtfertigt dann noch den Vorbehalt. Diese Vorbehalte kann das übergeordnete Gericht nicht nachprüfen, da es sich um Ermessensentscheidungen handelt55. Auch diese Teil-Übertragung kann als Übertragung von Entscheidungen des Vollstreckungsleiters jederzeit widerrufen werden56. Der übernehmende JRichter kann seinerseits in keinem Falle weiter- oder zurückübertragen (§ 85, 21; § 58, 9)57. Der abgebende Vollstreckungs50 51 52 53 54 55 56 57

OLG Koblenz NStZ 87, 24 mit zust. Anm. M.-K. Meyer. OLG Koblenz aaO. LG Hildesheim NdsRpfl. 10, 180. Zu Weisungen an Ausländer Einf. 53 mit OLG Koblenz aaO; LG Freiburg JR 88, 523. BGH 28, 251; OLG Hamm JMBl. NRW 82, 138. BGH 7, 321. BGH 7, 318; 24, 332. BGH 24, 332. 574

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leiter bestimmt idR selbst die Bew.- und Betreuungszeit (vgl. Rn 13 u. 16), den BewHelfer und die ersten BewAuflagen, was sich aus Abs. III 1, VI 1 ergibt und sicherstellt, dass die Betreuung mit der Entlassung beginnen kann58, der Übernehmende aber stellt dann den endgültigen BewPlan auf. Es kann aber jeder Fall die ihm angemessene Lösung fordern. Zusammenarbeit zwischen dem Vollstreckungsleiter und den Betreuungsstellen ist geboten. Zur Koordinierung der Arbeit des BewHelfers u. der Sozialdienste der JStrafanstalt in der Zeit zwischen Beschluss u. tatsächlicher Entlassung Rn 13. Zum Widerruf ist der Vollstreckungsleiter auch dann berufen, wenn sich der Verurteilte bei Widerrufsantrag durch die StA in anderer Sache in Strafhaft befindet und insoweit die Strafvollstreckungskammer zuständig geworden ist59. Die Widerrufsgründe des § 26 I Nr. 2 setzen für die Besorgnis, der Proband werde neue Straftaten begehen, konkrete und objektivierbare Verdachtsmomente voraus, die sich gerade auf das Verhalten nach der bedingten Entlassung beziehen (§ 26a, 5)60. Hat die Strafvollstreckungskammer anstelle des nach § 88 zuständigen Vollstreckungsleiters eine Strafaussetzung als unzuständiges Gericht61 ausgesprochen, so wird sie hierdurch nicht nach § 462a I 2 StPO für den Widerruf der Strafaussetzung zuständig62. Wegen der bes. Anordnungen bei Entlassung zur Bew. u. Erlass des Strafrestes RL; § 100, 4; wegen der Mitteilungen an das Zentralregister § 13 Abs. 1 Nr. 2 bis 6 BZRG; wegen sonstiger Mitteilungen MiStra Nr. 31–35, bes. 32. Zu Aussetzung u. Vollstreckung von JStrafe neben Freiheitsstrafe u. von mehreren JStrafen § 89a. Aussetzung des Strafrestes zur Bew. ist auch im Gnadenweg möglich. Doch sollte hier gerichtlichen Entscheidungen weder vorgegriffen noch sollten diese gar in erz. bedenklicher Weise beseitigt werden. Ebenso Eisenberg/Kölbel63, die diese Möglichkeit empfehlen, wenn die zeitlichen Schranken des Abs. II ausgeschaltet werden sollen. Aber auch dies kann bedenklich sein. Ostendorf/Rose64 wollen auf solchem Wege auch Zweifeln an der Richtigkeit des Urteils begegnen. Bei einem derartigen Eingriff in richterliche Entscheidungen ist jedoch größte Zurückhaltung geboten, zumal die Gnadenbehörde nach Aktenlage entscheidet. Die Gnadenentscheidung eines Justizministeriums eröffnet nicht die Möglichkeit zu gerichtlichen Entscheidungen nach §§ 22, 23, 26, 26 a65. Zur Übertragung nach § 58 in diesem Falle § 58, 14.

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7. Aussetzung des Strafrestes bei Drogentätern Mit Drogentätern muss in JStrafanstalten therapeutisch gearbeitet werden (näher § 17, 41, 42), 22 was auch für die Entscheidung der Aussetzung des Strafrestes gilt. Gerade das JGG gestattet eine erwünschte flexible Entlassungspraxis. Dabei wird im Rahmen des gesetzlich Möglichen und des erz. Erforderlichen beachtet werden müssen, dass nach sehr langer Strafzeit kaum mehr Therapiebereitschaft erwartet werden kann. Auch bei Erreichung des Therapieziels während der Strafzeit ist eine Nachsorge nicht entbehrlich, weil der Verurteilte nach der Entlassung erst mit Situationen der Verführung konfrontiert wird66. Die gezielte, rechtzeitige Aussetzung des Strafrestes kann nach intensiver Vorbereitung den Drogentäter durchaus motivieren, nun der Droge zu widerstehen. Entsprechende stützende Auflagen (§ 21, 23; § 10, 49) müssen eine helfende Nachsorgephase sichern. 58 59 60 61 62 63 64 65 66 575

Loesch BewH 54/55, 14. OLG Stuttgart MDR 76, 75. OLG Hamburg MDR 76, 946. BGH 27, 329; 28, 351. OLG Zweibrücken OLGSt zu § 462a StPO S. 67. 22. 4. BGH NJW 84, 2541. Zur Betreuung drogenabhängiger Gefangener nach der Entlassung Burgheim BewH 95, 456.

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Zur Zurückstellung der Strafvollstreckung bei Betäubungsmittelabhängigen: § 17, 40 ff, bes. 59; allg. Einf. 66–71.

§ 89 Jugendstrafe bei Vorbehalt der Entscheidung über die Aussetzung 1 Hat das Gericht die Entscheidung über die Aussetzung der Jugendstrafe einem nachträglichen Beschluss vorbehalten, darf die Jugendstrafe vor Ablauf der nach § 61a Absatz 1 maßgeblichen Frist nicht vollstreckt werden. 2Dies gilt nicht, wenn die Aussetzung zuvor in einem auf Grund des Vorbehalts ergangenen Beschluss abgelehnt wurde.

1. [Hw.-JRecht]: § 110 I. – 2. ErwG: § 104, 1; § 82 Vorb. 2.

1 Bei einer Vorbehaltsentscheidung nach § 61 besteht nach § 89 S. 1 bis zum Ablauf der in § 61a I für die Entscheidung über die Aussetzung geregelten Frist ein Vollstreckungshindernis. Hat das Gericht allerdings bereits vor Ablauf dieser Frist die Ablehnung der Aussetzung beschlossen, kann die Vollstreckung beginnen (S. 2). Hierfür muss der Beschluss rechtskräftig sein1. Wird in dem Beschluss nur die sofortige Aussetzung abgelehnt und bleibt der Vorbehalt einer nachträglichen Entscheidung aufrechterhalten, entfällt das Vollstreckungshindernis nicht2.

§ 89a Unterbrechung und Vollstreckung der Jugendstrafe neben Freiheitsstrafe (1) 1Ist gegen den zu Jugendstrafe Verurteilten auch Freiheitsstrafe zu vollstrecken, so wird die Jugendstrafe in der Regel zuerst vollstreckt. 2Der Vollstreckungsleiter unterbricht die Vollstreckung der Jugendstrafe, wenn die Hälfte, mindestens jedoch sechs Monate, der Jugendstrafe verbüßt sind. 3Er kann die Vollstreckung zu einem früheren Zeitpunkt unterbrechen, wenn die Aussetzung des Strafrestes in Betracht kommt. 4Ein Strafrest, der auf Grund des Widerrufs seiner Aussetzung vollstreckt wird, kann unterbrochen werden, wenn die Hälfte, mindestens jedoch sechs Monate, des Strafrestes verbüßt sind und eine erneute Aussetzung in Betracht kommt. 5§ 454b Abs. 4 der Strafprozeßordnung gilt entsprechend. (2) 1Ist gegen einen Verurteilten außer lebenslanger Freiheitsstrafe auch Jugendstrafe zu vollstrecken, so wird, wenn die letzte Verurteilung eine Straftat betrifft, die der Verurteilte vor der früheren Verurteilung begangen hat, nur die lebenslange Freiheitsstrafe vollstreckt; als Verurteilung gilt das Urteil in dem Verfahren, in dem die zugrundeliegenden tatsächlichen Feststellungen letztmals geprüft werden konnten. 2Wird die Vollstreckung des Restes der lebenslangen Freiheitsstrafe durch das Gericht zur Bewährung ausgesetzt, so erklärt das Gericht die Vollstreckung der Jugendstrafe für erledigt. (3) In den Fällen des Absatzes 1 gilt § 85 Abs. 6 entsprechend mit der Maßgabe, daß der Vollstreckungsleiter die Vollstreckung der Jugendstrafe abgeben kann, wenn der Verurteilte das einundzwanzigste Lebensjahr vollendet hat. 1. Hw-JRecht: § 85 RL I 3; § 110 I, RL 1. – 2. Sold. § 85, 13, § 112 c.

1 Begr. RegE, BT-Drs. 17/9389, S. 20; HK-JGG/Kern 3; Ostendorf/Rose 2. 2 Begr. RegE u Ostendorf/Rose aaO; HK-JGG/Kern 2. 576 https://doi.org/10.1515/9783110686401-117

Unterbrechung und Vollstreckung der Jugendstrafe neben Freiheitsstrafe

§ 89a

Schrifttum Siehe zu § 85.

Übersicht 1.

Zuständigkeit zur Vollstreckung von JStra1 fen Zuständigkeit zur Vollstreckung von Freiheits7 strafen

2.

3. 4. 5. 6.

Mehrere J- oder mehrere Freiheitsstrafen 10 Reihenfolge der Vollstreckung 12 Unterbrechung der JStrafe JStrafe und lebenslange Freiheitsstrafe

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1. Zuständigkeit zur Vollstreckung von JStrafen Für die Vollstreckung (Definition Vor § 82, 1) von JStrafe – damit zugleich für deren Unterbrechung und Aussetzung – ist stets der jrichterliche Vollstreckungsleiter zuständig (§ 85, 13), auch wenn sie im ErwVollzug vollstreckt wird (§ 85, 12; § 89b, 2 aE)1 und nach Entscheidung des Vollstreckungsleiters sogar über das 21., ggf. auch das 24. Lebensjahr hinaus (Rn 2 u. 3). Das gilt auch, wenn neben J- noch Freiheitsstrafe zu vollstrecken ist (näher Rn 7 zu letzterer). Diese perpetuierte Zuständigkeit des Vollstreckungsleiters hinsichtlich der JStrafen2, verbunden auch mit der Möglichkeit, nach seiner Beurteilung die Vollstreckung nach Vollendung des 21. oder 24. Lebensjahres des Verurteilten doch an die Vollstreckungsbehörde des allg. Rechts abzugeben (Rn 2–6; § 85, 14–16), entspricht der Bedeutung und Zielsetzung der JStrafe, der Eigenständigkeit ihrer Vollstreckung (vgl. § 88, 17)3, dem Grundgedanken der Erz. als Basis aller Regelungen des JStrafrechts4 und auch dem Grundsatz der Reaktionsbeweglichkeit (Einf. 106 u. 108). Weitere Gründe § 85, 13. Der zuständige Vollstreckungsleiter (vgl. § 85, 3 u. 6) kann – nicht muss – aber auch nach Abs. III iVm § 85 VI die Vollstreckung der JStrafe an die nach den allg. Vorschriften zuständige Vollstreckungsbehörde des ErwRechts (§ 85, 14) abgeben, wenn der Verurteilte das 21. Lebensjahr vollendet hat und zugleich gegen ihn Freiheitsstrafe zu vollstrecken ist (§ 85, 15, 16). Hat der Verurteilte das 24. Lebensjahr vollendet und ist er nach § 89b vom JStrafvollzug ausgenommen (§ 89b, 2), wird die JStrafe also in einer ErwStrafanstalt vollstreckt, so kann – nicht muss (Rn 4 u. 6) – der Vollstreckungsleiter nach § 85 VI die Vollstreckung an die nach den allg. Vorschriften zuständige Vollstreckungsbehörde (§ 85, 14) bindend (§ 85 VI 1 HS 2) abgeben. Zu den Entscheidungserwägungen des Vollstreckungsleiters § 85, 14 u. 16; auch § 89b, 2. Nach Abgabe der Vollstreckung nach Vollendung des 21. oder 24. Lebensjahres des Verurteilten an die Vollstreckungsbehörde des ErwRechts gelten für ihn die Verfahrensvorschriften des ErwRechts, und die Zuständigkeit auch für Unterbrechung und Aussetzung der Reststrafe – auch der JStrafe – liegt in einer Hand. Bis zum 21. Lebensjahr des zu JStrafe Verurteilten und weiterhin, wenn der Vollstreckungsleiter davon absieht, die Vollstreckung an die ErwVollstreckungsbehörde abzugeben (Rn 2 u. 3; § 85, 16), gelten für die Vollstreckung der JStrafe die Vorschriften des JGG und für die der Freiheitsstrafe die des allg. Rechts. Für die Vollstreckung der JStrafe (einschließlich Unterbrechung und Aussetzung der RestJStrafe) ist in diesen Fällen der Vollstreckungsleiter (Rn 1) und hinsichtlich der Freiheitsstrafe die Strafvollstreckungskammer zuständig (näher Rn 7). Dies kann zu Schwierigkeiten führen. In den naturgemäß wenigen Fällen, in denen noch vor Vollendung des 21. Lebensjahres des Verurteilten über die Aussetzung der Vollstreckung 1 2 3 4

BGH NStZ 89b, 2 aE. OLG Dresden NStZ-RR 98, 60. Siehe auch OLG Hamm JMBl. NRW 82, 138. BGH 28, 351; BGH 36, 37 = JR 89, 519 mit zust. Anm. Brunner; OLG Karlsruhe MDR 80, 1037.

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zur Bew. sowohl der JStrafe wie auch der Freiheitsstrafe unabhängig voneinander zu entscheiden ist, kann und muss deshalb ein formloses Einvernehmen des Vollstreckungsleiters und der ErwVollstreckungsbehörde erreicht werden. Denn gerade bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres ist der JRichter geeignet und berufen, die bes. Gesichtspunkte der Entwicklungsphasen zu beachten und möglichst in beide Entscheidungen, auch in die nach ErwRecht, einzubringen. Denn der bes. ErzVollzug legt die weitere Entwicklung des Verurteilten offen und gewährt einen größeren Beurteilungsspielraum. 6 Ist neben JStrafe auch Freiheitsstrafe zu vollstrecken, so liegt es im pflichtgemäßen Ermessen des Vollstreckungsleiters, ob er nach Vollendung des 21. Lebensjahres des Verurteilten die weitere Vollstreckung an die nach allg. Vorschriften für die Vollstreckung von Freiheitsstrafe zuständige Vollstreckungsbehörde (Rn 7 u. § 85, 14) nach Abs. III iVm § 85 VI abgibt (§ 85, 15 u. 16) und damit die Entscheidung über die Aussetzung des Restes beider Strafen in eine Hand legt. Dabei wird der Vollstreckungsleiter das Rn 5 aE, 10 aE und § 85, 16 Ausgeführte sorgsam zu erwägen haben. Zur Abgabe nach Vollendung des 24. Lebensjahres Rn 3 u. § 85, 14.

2. Zuständigkeit zur Vollstreckung von Freiheitsstrafen 7 Für die gerichtlichen Entscheidungen bei der Vollstreckung von Freiheitsstrafen ist entweder das Gericht des 1. Rechtszuges (§ 462a II StPO) oder die Strafvollstreckungskammer (§ 462a I StPO) zuständig. Das gilt auch, wenn Freiheitsstrafe neben JStrafe zu vollstrecken ist5. Dem steht § 462a IV StPO nicht entgegen; denn der Gesetzgeber hat – auch bei Einführung des § 462a StPO – davon abgesehen, die Vollstreckung von Freiheits- und JStrafen in einer Hand zu vereinen. Mangels einer solchen Konzentrationsregelung ist für die Vollstreckung der JStrafe der jrichterliche Vollstreckungsleiter6, für die Freiheitsstrafe die Vollstreckungsbehörde des allg. Rechts zuständig, auch wenn beide zu vollstrecken sind7.

3. Mehrere J- oder mehrere Freiheitsstrafen 8 Das Prinzip der Einheitsstrafenbildung lässt ein Zusammentreffen mehrerer JStrafen an sich nicht zu (§§ 31, 66, 105 II). Wird aber aus erz. Gründen nach § 31 III von der Einbeziehung einer JStrafe abgesehen, so können ausnahmsweise mehrere JStrafen nebeneinander zur Vollstreckung anstehen. Das lässt, auch bei Strafnachlass wegen unterbliebener Bildung einer Einheitsstrafe, Nachteile für den Verurteilten befürchten. Diese können und müssen bei Entscheidungen über Aussetzung des Strafrestes zur Bew. gesehen und ausgeglichen werden, denn das Absehen von der Einbeziehung einer JStrafe aus erz. Gründen darf insoweit keinesfalls zusätzlich sich zum Nachteil des J auswirken (vgl. Einf. 91)8. In Rechtsanalogie zu Abs. I und § 454b StPO hat daher bei der zuerst vollstreckten JStrafe eine Unterbrechung zum Zeitpunkt des Abs. I zu erfolgen9. 9 Für das Zusammentreffen mehrerer Freiheitsstrafen oder von Freiheits- und Ersatzfreiheitsstrafen hat der Gesetzgeber mit der Einführung des § 454b StPO10 bestimmt, dass die Entscheidung über die Aussetzung eines Strafrestes nach § 57 StGB gleichzeitig über die Reste aller Strafen erfolgen muss. Eine solche Regelung bestand für das Zusammentreffen von J- und Frei-

5 BGH 28, 351 im Anschluss an BGH 27, 329 gegen BGH 26, 375. 6 OLG Düsseldorf VRS Bd. 82 (92), 135. 7 OLG Frankfurt NStZ-RR 00, 95; OLG Celle StV 20, 701. 8 Begr. RegE eines 1. JGGÄndG, BT-Drs. 11/5829, S. 36, 37. 9 Bauer Rpfl. 92, 147. 10 Durch das 23. StrÄndG v. 13.4.1986. 578

Unterbrechung und Vollstreckung der Jugendstrafe neben Freiheitsstrafe

§ 89a

heitsstrafen zunächst nicht. Hier greift der durch das 1. JGGÄndG v. 30.8.1990 eingefügte § 89a ein.

4. Reihenfolge der Vollstreckung § 89a bestimmt, dass die JStrafe bei Zusammentreffen mit einer Freiheitsstrafe idR vorweg zu 10 vollstrecken ist, und stellt mit der Möglichkeit der Unterbrechung (Rn 13) sicher, dass faktisch über die Aussetzung des Restes aller Strafen einheitlich und in einem gewissen zeitlichen Zusammenhang entschieden wird (Rn 17). Der zumeist obligatorische Vorwegvollzug der JStrafe gewährleistet, dass der ErzVollzug frühestmöglich und bei der hier zu erwartenden Altersstruktur gerade noch rechtzeitig und wirksam einsetzen kann. Es wird eine zielgerichtete Planung des ErzVollzugs im Hinblick auf die Unterbrechung und damit auf den späteren Entlassungszeitpunkt ermöglicht und zugleich die mögliche und gegenüber der ErwRegelung der §§ 56, 57 StGB deutlich frühere Aussetzung des JStrafrestes zur Bew. berücksichtigt. Zusätzlich werden dem Vollstreckungsleiter die Entscheidungen nach Abs. I 2–5 (Rn 2 u. 6) oder nach Abs. III iVm § 85 VI (Rn 3; § 85, 14 u. 16) eröffnet. Der bei der Vollstreckung von JStrafe gebotene absolute Vorrang des Vollstreckungsleiters wird gewahrt, ihm aber auch die Möglichkeit gegeben, die JStrafanstalt und sich – zugunsten der übrigen Verurteilten – zu entlasten, wenn der Verurteilte mit Maßnahmen des JVollzugs nicht mehr sonderlich gefördert werden kann11. Die entgegen dem ursprünglichen RegE12 vom Bundesrat vorgeschlagene und einverständ- 11 lich Gesetz gewordene13 Einschränkung in Abs. I 1 (in der Regel) wahrt die gerade im JKriminalrecht erwünschte Flexibilität, weil in Einzelfällen auch eine andere Lösung besser sein kann. Das vom Bundesrat gegebene Beispiel14 überzeugt, denn bei Widerruf der Strafaussetzung einer JStrafe während des Vollzugs einer Freiheitsstrafe etwa muss deren obligatorische und sofortige Unterbrechung nicht immer sinnvoll sein15.

5. Unterbrechung der JStrafe Beim Zusammentreffen mehrerer nicht gesamtstrafenfähiger Freiheitsstrafen (auch mit lebens- 12 langen) sind die Voraussetzungen der Aussetzung des Strafrestes zur Bew. nach §§ 57, 57a StGB für jede dieser Freiheitsstrafen gesondert zu prüfen16. Das gilt auch für das Zusammentreffen von Freiheitsstrafe und JStrafe. Der Vorausvollzug der JStrafe löst aber das Problem der Vollstreckung von J- und Freiheits- 13 strafe noch nicht. Eine einheitliche (End-)Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes der J- und auch der Freiheitsstrafe kann nur dadurch erreicht werden, dass die Vollstreckung der zuerst zu verbüßenden JStrafe (Rn 10) unterbrochen wird, sobald sie nach den Vorschriften des JGG zur Bew. ausgesetzt werden kann. § 89a I ermöglicht durch ins Einzelne eingehende Unterbrechungsregelungen die Entscheidung über die Aussetzung des Restes aller Strafen zur Bew. im zeitlichen Zusammenhang. Die Zeitpunkte der Unterbrechung der zuerst zu vollstreckenden JStrafe entsprechen der Regelung des § 88. Eine Unterbrechung der Vollstreckung der JStrafe ist allerdings erst mit Eintritt der Rechtskraft und damit Vollstreckungsfähigkeit der Verurteilung zu Freiheitsstrafe möglich. Wird dem Vollstreckungsleiter der Eintritt der Rechtskraft erst später bekannt, ist die JStrafe rückwirkend an dem Tag des Eintritts der Rechtskraft der 11 12 13 14 15 16 579

Für einen Zuständigkeitswechsel kraft Gesetzes Ostendorf Grdl. zu §§ 82–85, 7. BT-Drs. 11/5829, S. 8. AaO, S. 45, 48. AaO, S. 45. Zu weiteren Ausnahmen Hamann Rpfl. 91, 408. OLG Düsseldorf NStZ 82, 467; Meyer-Goßner/Schmitt § 454b StPO 2.

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2. Teil. Jugendliche

Freiheitsstrafe zu unterbrechen17. Hierauf aufbauend ist fiktiv der Zeitpunkt der Verbüßung der Anschlussstrafe zu berechnen18. Nach Abs. I 2 unterbricht der Vollstreckungsleiter – bei Abgabe nach Abs. III und § 85 VI die StA19 – die Vollstreckung der JStrafe im Regelfall spätestens, wenn die Hälfte, mindestens jedoch 6 Monate verbüßt sind. Für eine Unterbrechung erst zu einem späteren Zeitpunkt in Orientierung an § 57 StGB ist kein Raum20. Wird die Vollstreckung entgegen Abs. I 2 nicht nach Verbüßung der Hälfte unterbrochen, so ist es bei guter Prognose ein bes., eine Halbstrafentlassung aus der nach allg. Strafrecht verbüßten Freiheitsstrafe rechtfertigender Umstand, wenn bei rechtzeitiger Unterbrechung der JStrafe bereits zwei Drittel der Freiheitsstrafe verbüßt wären21. Nach Abs. I 3 kann die Vollstreckung „wenn die Aussetzung des Strafrestes in Betracht“ kommt, also entsprechend § 88 II 1, ausnahmsweise22 sogar noch vor Verbüßung von 6 Monaten (bei JStrafe von mehr als 1 Jahr nach Verbüßung von mindestens einem Drittel der Strafe, § 88 II 2) unterbrochen werden, wenn bes. wichtige erz. Gründe (§ 88, 2) diese günstige Regelung zulassen23. Nach Abs. I 4 kann auch ein Strafrest, der aufgrund eines Widerrufs seiner Aussetzung vollstreckt wird, unterbrochen werden, wenn die Hälfte, mindestens aber 6 Monate dieses Strafrestes verbüßt sind und eine erneute Aussetzung aus erz. Gründen in Betracht kommt (dazu § 88, 7). Damit geht das Gesetz über das allg. Strafrecht hinaus, nach dem Strafreste, deren Aussetzung widerrufen worden ist, nicht unter die Unterbrechungsregelung des § 454b II StPO fallen24. Da nach Abs. I 4 eine Unterbrechung aber mindestens die Verbüßung von (weiteren) 6 Monaten voraussetzt, kommen auch nach der Neuregelung zu Recht Fälle nicht in Betracht, bei denen nur noch ein kleiner Strafrest zur Vollstreckung ansteht25. Abs. I 4 gilt beim Widerruf einer im Urteil erfolgten Strafaussetzung auch dann nicht, wenn U-Haft anzurechnen ist; vielmehr ist dies ein Fall des Abs. I 226. Abs. I 4 ist eine rein verfahrensrechtliche Regelung ohne materiell-rechtlichen Gehalt i.S. einer Mindestverbüßungsanordnung; ob der Strafrest erneut ausgesetzt wird, richtet sich allein nach § 8827. Vollstreckt die StA einen widerrufenen JStrafrest entgegen Abs. I 1 nicht vor, sondern nach weiteren Freiheitsstrafen, findet Abs. I 4 keine Anwendung, weil keine Unterbrechung vorliegt28. Im Fall des § 85 VI gilt nicht Abs. I 4, sondern § 454b II 2 StPO29. Abs. I 5 ermöglicht durch sinngemäße Anwendung des § 454b IV StPO, dass über die Aussetzung des Restes aller Strafen in einem gewissen zeitlichen Zusammenhang entschieden werden kann30. Unter den Voraussetzungen von Abs. III und § 85 VI kann die Entscheidung über die Reste aus J- und Freiheitsstrafe in eine Hand gelegt werden. Über die Aussetzung der Strafreste ist somit entweder gleichzeitig oder – bei nicht zustande gekommener Abgabe – in engem zeitlichen Zusammenhang zu entscheiden (Grundsatz der Einheitlichkeit und Gleichzeitigkeit)31. Wird die Freiheitsstrafe zuerst vollstreckt, ist die Vollstreckung der Freiheitsstrafe spätestens zu ihrem Zweidrittelzeitpunkt zu unterbrechen. Eine Entscheidung über die Aussetzung 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31

LG Wiesbaden B NStZ 93, 529; LG München I StV 99, 665. LG München I aaO. OLG Dresden NStZ-RR 00, 381; OLG Karlsruhe NStZ 09, 46; OLG Schleswig ZJJ 09, 59. OLG Dresden aaO. OLG Zweibrücken B NStZ 94, 532. Vgl. Begr. RE v. Juli 1987, S. 68. OLG Schleswig bei Döllel/Dreeßen SchlHA 04, 262. BGH 57, 155, 158. Vgl. Begr. RegE eines 1. JGGÄndG, BT-Drs. 11/5829, S. 37. OLG Frankfurt NStZ-RR 02, 28. OLG Dresden NStZ 16, 109; OLG Stuttgart StV 20, 701, 703. LG Karlsruhe NStZ-RR 11, 155. OLG Dresden NStZ 16, 109. Begr. RegE aaO, S. 37. OLG Karlsruhe Justiz 98, 602. 580

Ausnahme vom Jugendstrafvollzug

§ 89b

des letzten Drittels kommt aber erst dann in Betracht, wenn entweder gemeinsam über die Aussetzung beider Reste entschieden werden kann oder bei fehlender Aussetzbarkeit des Restes der JStrafe wegen Abs. I 4, wenn der Zeitpunkt der möglichen Entlassung für die Beurteilung der Entlassungssituation nahe genug bevorsteht32. Entscheidungen des JRichters über die Unterbrechung der JStrafe sind nach § 83 I jrichterli- 18 che Entscheidungen, die gemäß § 83 III mit sofortiger Beschwerde angefochten werden können. Entscheidet die StA als Vollstreckungsbehörde über die Unterbrechung, kann eine Entscheidung des Gerichts nach § 458 II StPO herbeigeführt werden33.

6. JStrafe und lebenslange Freiheitsstrafe Ist außer JStrafe lebenslange Freiheitsstrafe zu vollstrecken, wird nach Abs. II 1 HS 1 nur die 19 lebenslange Freiheitsstrafe vollstreckt, wenn die letzte Verurteilung eine Straftat betrifft, die der Verurteilte vor der früheren Verurteilung begangen hat. Diese Regelung rechtfertigt sich daraus, dass die lebenslange Freiheitsstrafe den Schwerpunkt der Bestrafung bildet und auf diese Weise am ehesten dem Grundgedanken des § 55 I StGB entsprochen werden kann34. Dabei gilt nach Abs. II 1 HS 2 als Verurteilung das Urteil in dem Verfahren, in welchem die zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen letztmals geprüft werden konnten, also das Urteil der letzten Tatsacheninstanz. Diese Abweichung von den in Abs. I getroffenen Regelungen berücksichtigt neben dem ausschlaggebenden Gewicht einer Verurteilung zu lebenslanger Strafe auch, dass einem vor Verbüßung von lebenslanger Strafe einsetzenden ErzVollzug keine vernünftige Chance eingeräumt werden kann, zumal entweder ein bereits Erw. zu dieser schwersten Strafe verurteilt oder bei einem Hw. auf Anwendung von ErwRecht und trotz Berücksichtigung von § 106 I auf lebenslange Strafe erkannt wurde. Dazu kommt, dass eine mögliche Aussetzung des Strafrestes zur Bew. idR mindestens eine Verbüßung von 15 Jahren Freiheitsstrafe nach § 57a I StGB voraussetzt. Setzt das Gericht die Vollstreckung des Restes einer lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bew. 20 aus, so erklärt es zugleich die Vollstreckung der JStrafe für erledigt (Abs. II 2). Das wird an sich schon den Intentionen des aussetzenden Gerichts entsprechen, dies fordern der Zeitablauf, der Sinn des JVollzugs und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (vgl. auch § 93a, 9). Wurde die Straftat der letzten Verurteilung nach der früheren Verurteilung begangen, gilt Abs. I35.

§ 89b Ausnahme vom Jugendstrafvollzug (1) 1An einem Verurteilten, der das 18. Lebensjahr vollendet hat und sich nicht für den Jugendstrafvollzug eignet, kann die Jugendstrafe statt nach den Vorschriften für den Jugendstrafvollzug nach den Vorschriften des Strafvollzuges für Erwachsene vollzogen werden. 2Hat der Verurteilte das 24. Lebensjahr vollendet, so soll Jugendstrafe nach den Vorschriften des Strafvollzuges für Erwachsene vollzogen werden. (2) Über die Ausnahme vom Jugendstrafvollzug entscheidet der Vollstreckungsleiter. 1. Hw.-JRecht: § 110 I, RL 2. – 2. ErwG: § 104 I.

32 33 34 35

OLG Celle NdsRpfl. 92, 95; OLG Karlsruhe aaO; OLG Frankfurt NStZ-RR 00, 95; OLG Jena NStZ 05, 167. OLG Dresden NStZ-RR 00, 381; Kühn NStZ 92, 527. Begr. RegE eines 1. JGGÄndG, BT-Drs. 11/5829, S. 37. Hamann Rpfl. 91, 408.

581 https://doi.org/10.1515/9783110686401-118

§ 89b

2. Teil. Jugendliche

Richtlinie zu § 92 aF Auch wenn zu Jugendstrafe Verurteilte das 18. Lebensjahr bereits vollendet haben, werden sie in der Regel zunächst in die Jugendstrafanstalt eingewiesen. Die Entscheidung über die Eignung von Verurteilten für den Jugendstrafvollzug (§ 92 Abs. 2) wird dann von dem nach § 85 Abs. 2 oder Abs. 3 zuständigen Vollstreckungsleiter getroffen. Lediglich in den Fällen, in denen der Mangel der Eignung für den Jugendstrafvollzug offenkundig ist, werden über 18 Jahre alte Verurteilte sogleich in die zuständige Justizvollzugsanstalt eingewiesen.

Schrifttum Stelzel/Kerner Die Anwendung der Ausnahme vom JStrafvollzug nach § 89b JGG, ZJJ 14, 246.

1 Grds. ist jede JStrafe (ggf. auch Freiheitsstrafe bei jungen Verurteilten: § 114) in einer JStrafanstalt oder einer sonstigen für den Vollzug der JStrafe vorgesehenen Einrichtung zu vollziehen (§ 17 I). Auch bei Unterbrechung der UHaft ist die Vollstreckung der JStrafe in einer UHaftund Aufnahmeanstalt rechtswidrig1. Ausnahmen (Rn 2) von diesem Grundsatz kann in allen Fällen nur der Vollstreckungsleiter anordnen (Abs. II; RL S. 2); zu den Aufgaben des Vollzugsleiters gehört das in keinem Fall (vgl. § 85 RL VI 3 u. 6). Ob und in welchem Umfang Ausnahmen möglich sind, richtet sich nach dem Alter zZ der 2 Entscheidung (Abs. I); Berechnung: § 1, 22. Bei J bis 18 Jahren gibt es keine Ausnahme vom JStrafvollzug. Ist der zu JStrafe Verurteilte schon 24 Jahre oder älter, kann er im allg. mit den Methoden des JStrafvollzugs nicht mehr erzogen werden. Hier muss grds. (Ausnahmen in Sonderfällen, etwa zum Abschluss einer Ausbildung oder Therapie oder bei einem noch kurzen Strafrest2, sind möglich) die JStrafe in einer ErwVollzugsanstalt verbüßt werden (dazu § 114, 7); die Vollstreckung kann dann nach § 85 VI abgegeben werden (RL VI 2 S. 1 zu §§ 82–85). Zu JStrafe Verurteilte zwischen 18 und 24 Jahren können ausnahmsweise sogleich in die ErwVollzugsanstalt eingewiesen werden, wenn sie für den JVollzug offenkundig ungeeignet sind (RL S. 3), im Übrigen aus dem JStrafvollzug herausgenommen werden, wenn sie für diesen nicht geeignet sind (RL S. 1, 2), nämlich wenn die erz. Einwirkung bei ihnen keinen Erfolg verspricht (sehr schwere Prognose mit vielen Fehlerquellen; kein Schaden durch Belassen im JStrafvollzug) oder wenn sie den JStrafvollzug aktiv oder passiv so erheblich stören oder voraussichtlich stören werden, dass die Erz. der Mitgefangenen gefährdet wird3. Weitere Gründe für eine Ausnahme gibt es nicht; auch die genannten Gründe sind eng auszulegen4, da dem J durch die Ausnahme vom JStrafvollzug ein anderes (§ 17, 1) als das gegen ihn verhängte Strafübel auferlegt wird. Bei einer Ausnahme vom JStrafvollzug fällt die Vollstreckungszuständigkeit nicht kraft Gesetzes an den allg. Vollstreckungsleiter (§ 84) zurück5. Vgl. § 85, 12. Zur Rückübertragung § 85, 19. Der Vollstreckungsleiter kann nach pflichtgemäßem Ermessen, insbes. aus Gründen der Vollzugsnähe, nach § 85 V die Vollstreckung an den JRichter abgeben, in dessen Bezirk die ErwAnstalt liegt6. Die Entscheidung des Vollstreckungsleiters (= JRichters) nach Rn 2 ist eine jrichterliche 3 Ermessensentscheidung (§ 83 I), bei der auch die Möglichkeiten der jeweiligen JStrafanstalt zu berücksichtigen sind. Sie erfordert wegen der einschneidenden Bedeutung sorgfältigste Vorbereitung (eingehende Beobachtung in der JStrafanstalt; Gutachten der JStrafanstalt; grds. Anhörung des Verurteilten, der gesetzlichen Vertreter und ErzBerechtigten, ggf. der JGH)7; deshalb müssen auch 18–24-jährige zur Verbüßung einer JStrafe grds. zunächst in die JStrafanstalt eingewiesen werden (RL). Die Entscheidung trifft der Vollstreckungsleiter auf Grund eines gerichtli1 2 3 4 5 6 7

KG NJW 78, 284 mit Anm. Frenzel. Wohlfahrt StraFo 20, 275. LG Berlin StV 03, 462; Wohlfahrt aaO. BGH 29, 33; LG Berlin aaO; Eisenberg/Kölbel 3; Ostendorf/Rose 1. BGH 24, 332;27, 329; 28, 351. BGH 30, 9. Wohlfahrt StraFo 20, 275. 582

Ausnahme vom Jugendstrafvollzug

§ 89b

chen Verfahrens in richterlicher Unabhängigkeit. Es gilt, auch hinsichtlich der Anfechtbarkeit, das in § 83, 8 Gesagte. Auch die regelmäßige Herausnahme aus dem JVollzug nach Abs. I 2 setzt eine Entscheidung des Vollstreckungsleiters nach Abs. II voraus; solange sie nicht ergangen ist, gelten für den Vollzug die Regeln des JStrafrechts8. Die Herausnahmepraxis variiert in den Bundesländern9. Häufig erfolgt die Herausnahmeentscheidung bereits in der Zugangsabteilung der JStrafanstalt10. Mit der Anordnung der Ausnahme weist der Vollstreckungsleiter den Verurteilten in die zuständige ErwVollzugsanstalt ein. Zur Zuständigkeit des Vollstreckungsleiters Rn 2 aE u. § 85, 1 ff. Trifft der Vollstreckungsleiter die Anordnung nach Abs. II, so wirkt sich das nicht nur auf die Art und Weise des Vollzugs, sondern auch auf die Anfechtung der Vollzugsmaßnahmen aus. Über einen Antrag auf gerichtliche Entscheidungen gegen eine Vollzugsmaßnahme entscheidet hier die Strafvollstreckungskammer (§ 92 VI iVm §§ 109 ff StVollzG)11, da Rechtsregelungen auch der sachgemäßen Arbeitsteilung dienen und so nach Möglichkeit vermieden wird, dass gleichartige Maßnahmen innerhalb einer Vollzugsanstalt nach der Person des Gefangenen unterschiedlich behandelt werden. Tatsächlich wird in der Praxis der JStrafvollzug eher zum „Hw.-Vollzug“ und zum Jungerw.- 4 Vollzug12. Diese Entwicklung beruht auf verschiedenen Gründen: Die JGerichte erkennen auf JStrafe weniger gegen J als weit überwiegend, damit auch der Kriminalitätsbelastung folgend, gegen Hw. Von der Herausnahme Verurteilter zwischen 18 und 24 Jahren aus dem JStrafvollzug wird zu Recht (Rn 2) – auch individuell und lokal unterschiedlich13 – sehr zurückhaltend Gebrauch gemacht. Schließlich wirken sich auch die – an sich leider recht wenigen – Fälle14 aus, in denen nach § 114 an Erw., welche das 24. Lebensjahr noch nicht vollendet haben und bei denen noch persönlichkeitsfördernde Entwicklungen erwartet und genützt werden können (§ 114, 8), Freiheitsstrafen in der JStrafanstalt vollzogen werden; zumeist geschieht dies allerdings nur bei Anschlussstrafen (§ 114, 1). Wenn die Vorschrift des § 114, welche zwangsläufige Unsicherheiten bei der Reifeentscheidung nach § 105 auszugleichen vermag, wie wünschenswert häufiger angewendet wird, gerät die Gruppe der J in der JStrafanstalt noch mehr in die Minderheit. Dass weniger J den Strafvollzug erleiden müssen, ist ein weiter zu fördernder Erfolg wissenschaftlicher Forschung und jrichterlicher Bemühung. Die Gesamtheit dieser Feststellungen aber legt nahe, dass der JVollzug insbes. und wirksam auf die über 18 Jahre alten Hw. ausgerichtet sein muss. Auch Ostendorf/Rose15 stellen fest, dass nach der Altersstruktur der JStrafvollzug mehr und mehr zu einem Jungerw.-Vollzug geworden ist.

8 LG Rottweil StV 01, 185. 9 Stelzel/Kerner ZJJ 14, 247; Heinz S. 52. 10 Stelzel/Kerner aaO, 246. 11 BGH 29, 33. 12 Matzke Der Leistungsbereich bei JStrafgefangenen, Diss. Berlin 1982, S. 33; Mey/Wirth FS Böhm, 1999, S. 607; Heinz aaO.

13 Vgl. Matzke aaO, S. 3. 14 Matzke aaO, S. 18 ff. 15 Grdl. zu §§ 89b u. 92, 4. 583

Vierter Unterabschnitt Untersuchungshaft § 89c Vollstreckung der Untersuchungshaft (1) 1Solange zur Tatzeit Jugendliche das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, wird die Untersuchungshaft nach den Vorschriften für den Vollzug der Untersuchungshaft an jungen Gefangenen und nach Möglichkeit in den für junge Gefangene vorgesehenen Einrichtungen vollzogen. 2Ist die betroffene Person bei Vollstreckung des Haftbefehls 21, aber noch nicht 24 Jahre alt, kann die Untersuchungshaft nach diesen Vorschriften und in diesen Einrichtungen vollzogen werden. (2) 1Hat der Jugendliche das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet, darf er mit jungen Gefangenen, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, nur untergebracht werden, wenn eine gemeinsame Unterbringung seinem Wohl nicht widerspricht. 2Mit Gefangenen, die das 24. Lebensjahr vollendet haben, darf er nur untergebracht werden, wenn dies seinem Wohl dient. (3) 1Die Entscheidung nach Absatz 1 Satz 2 trifft das Gericht. 2Die für die Aufnahme vorgesehene Einrichtung und die Jugendgerichtshilfe sind vor der Entscheidung zu hören. 1. Hw.: § 110 II. – 2. ErwG: § 104, 1.

Schrifttum Friedrich Die Normierung des UHaftvollzugs, 2004; Güttler UHaft für junge Gefangene. Konzeption u. Wirklichkeit der JUHaft in der JVA Iserlohn, FS 16, 95; Hinz UHaft u. Erz., 2004; Ostendorf Neuregelung des UHaftvollzugsrechts, ZJJ 09, 341; s. auch die Literatur zu § 72.

1 Siehe zunächst § 72b, 1. Die Vorschrift betrifft Grundlagen des Vollzugs der UHaft an zur Tatzeit J. Die Gesetzgebungszuständigkeit leitet der Bund daraus her, dass sich die Vorschrift nicht auf die von den Ländern zu regelnde konkrete Ausgestaltung des Vollzugs der UHaft bezieht, „sondern auf die übergeordnete Art des Vollzugs der Untersuchungshaft an jungen Gefangenen im Hinblick auf die gebotene jugendgemäße Ausgestaltung des Strafverfahrens“1. Nach Abs. I 1 wird die UHaft an zur Tatzeit J, die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet 2 haben, zwingend nach den Vorschriften über den Vollzug der UHaft an jungen Gefangenen vollzogen. Diese Vorschriften sind landesgesetzlich geregelt, vgl. §§ 69–80 Buch 2 JVollzGB-Baden-Württemberg v. 10.11.20092, Art. 29–40 UVollzG Bayern v. 20.10.20113, §§ 66–75 UVollzG Berlin v. 3.12.20094, §§ 66–75 UHaftVollzG Brandenburg v. 8.7.20095, §§ 66–75 UVollzG Bremen v. 2.3.20106, §§ 72–83 UVollzG Hamburg v. 15.12.20097, §§ 43–53 UVollzG Hessen v. 1.11.20108, §§ 66– 75 UVollzG Mecklenburg-Vorpommern v. 17.12.20099, §§ 157–166 Nieds. JVollzG v. 14.12.200710, 1 Begr. RegE eines G zur Änderung des UHaftrechts, BT-Drs. 16/11644, S. 36; zust. Jung-Pätzold/Pruin/Jetter-Schröder ZJJ 10, 305: „Grundsatzfrage des Untersuchungshaftrechts, die richtigerweise durch den Bund u. nicht durch die Länder geklärt werden muss“; die Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes verneinend Egerer FS 10, 35. 2 GBl. 545. 3 GVBl. 678. 4 GVBl. 686. 5 GVBl. I 271. 6 GBl. 191. 7 GVBl. 473. 8 GVBl. 185, 208. 9 GVOBl. 763. 10 GVBl. 720. 584 https://doi.org/10.1515/9783110686401-119

Vollstreckung der Untersuchungshaft

§ 89c

§§ 48–53 UVollzG Nordrhein-Westfalen v. 27.10.200911, §§ 66–75 LUVollzG Rheinland-Pfalz v. 15.9.200912, §§ 66–75 UVollzG Saarland v. 1.7.200913, §§ 66–75 UVollzG Sachsen v. 14.12.201014, §§ 66–75 UVollzG Sachsen-Anhalt v. 22.3.201015, §§ 66–75 UVollzG Schleswig-Holstein v. 16.11.201116 und §§ 66–75 UVollzG Thüringen v. 8.7.200917. Außerdem hat der Vollzug nach Möglichkeit in den für junge Gefangene vorgesehen Einrichtungen (bes. JUHaft-Vollzugsanstalten, räumlich getrennte Abteilungen von allg. UHaft-Anstalten oder JStrafanstalten) zu erfolgen. Ausnahmen kommen z.B. in kleineren Ländern ohne bes. Einrichtung, aufgrund geringer Anzahl etwa weiblicher junger Untersuchungshäftlinge, zur „Tätertrennung“ oder zur Förderung des J (bestimmte Bildungsmaßnahme in einer ErwAnstalt) in Betracht18. Ist der zur Tatzeit J 21, aber noch nicht 24 Jahre alt, kann die UHaft gem. Abs. I 2 nach den 3 Vorschriften für den Vollzug der UHaft an jungen Gefangenen und in den für junge Gefangene vorgesehenen Einrichtungen vollzogen werden. Eine entsprechende Ausübung des Ermessens ist insbes. geboten, wenn der Häftling durch die Maßnahmen in der JUHaft noch gefördert werden kann. Die Entscheidung trifft nach Abs. III 1 das Gericht, also der Jugendrichter nach §§ 125 f StPO, 34 I. Nach Abs. III 2 sind die für die Aufnahme vorgesehene Einrichtung und die JGH vor der Entscheidung zu hören. Für Hw. gelten nach § 110 II § 89c I und III entsprechend (s. § 110, 2). Abs. II wurde durch das G zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im JStraf- 4 verfahren v. 9.12.2019 (dazu Einf. 136) zur Umsetzung von Art. 12 Abs. I, III und IV der Richtlinie (EU) 2016/800 eingefügt. Nach S. 1 darf ein J, der zum Zeitpunkt der Vollstreckung der UHaft das 18 Lebensjahr noch nicht vollendet hat, mit jungen Gefangenen, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, nur untergebracht werden, wenn eine gemeinsame Unterbringung seinem Wohl nicht widerspricht. Eine strengere Voraussetzung gilt nach S. 2 für die gemeinsame Unterbringung mit Gefangenen, die das 24. Lebensjahr vollendet haben. Sie ist nur zulässig, wenn die gemeinsame Unterbringung dem Wohl des J dient, ihn also aus erz. Sicht fördert19. Über die von Erw. getrennte Unterbringung ist der J gem. § 70a III Nr. 1 zu unterrichten. Die Entscheidungen über die Ausgestaltung des UHaftvollzugs obliegen nach den Lan- 5 desgesetzen der UHaftvollzugsanstalt20. Gegen die Entscheidungen kann der Untersuchungsgefangene Beschwerde einlegen (vgl. etwa § 68 Buch 2 JVollzG-BW) und gemäß § 119a StPO Antrag auf gerichtliche Entscheidung stellen.

11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 585

GVBl. 540. GVBl. 317. Amtsblatt des Saarlands 1219. GVBl. 414. GVBl. 157. GVO Bl. 322. GVBl. 553. Begr. RegE in Rn 1. DSS/Diemer 3. Krit. Eisenberg/Kölbel 10.

Zweiter Abschnitt Vollzug Vor § 90 1 Das JGG regelte bis 2007 in § 90 den Vollzug des JA und in § 91 den Vollzug der JStrafe. § 92 enthielt den Grundsatz, dass JStrafe in JStrafanstalten vollzogen wird, und regelte Ausnahmen hiervon. Mit dem Vollzug der UHaft und der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt befassten sich die §§ 93 und 93a. Durch die Föderalismusreform ist mit Wirkung v. 1.9.2006 die Gesetzgebungszuständigkeit 2 für den Strafvollzug auf die Länger übergegangen. Das BVerfG hat mit Urteil v. 31.5.20061 entschieden, dass die bisherigen gesetzlichen Regelungen des JStrafvollzugs verfassungsrechtlich nicht ausreichten und dem Gesetzgeber für eine Neuregelung eine Übergangsfrist bis Ende 2007 eingeräumt. Die Länder haben 2007 Gesetze über den JStrafvollzug erlassen, sodass der Vollzug der JStrafe seit 1.1.2008 durch Landesgesetze geregelt ist, vgl. Buch IV JVollzGB Baden-Württemberg v. 10.11.20092, BayStVollzG v. 10.12.20073, JStVollzG Brandenburg v. 18.12.20074, JStVollzG Bremen v. 27.3.20075, JStVollzG Hessen v. 19.11.20076, JStVollzG Mecklenburg-Vorpommern v. 14.12.20077, Niedersächsisches JustizVollzG v. 14.12.20078, JStVollzG NRW v. 20.11.20079, LandesJStVollzG Rheinland-Pfalz v. 3.12.200710, JStVollzG Saarland v. 30.10.200711, JStVollzG Sachsen v. 12.12.200712, JStVollzG Sachsen-Anhalt v. 7.12.200713, JStVollzG Schleswig-Holstein v. 19.12.200714 und JStVollzG Thüringen v. 20.12.200715. Nach dem BVerfG hat für den JStrafvollzug das Ziel der Befähigung des Gefangenen zu einem straffreien Leben in Freiheit bes. hohes Gewicht und ist der Vollzug so auszustatten, wie es zur Verwirklichung des Vollzugsziels erforderlich ist16. Der Bund hat durch das 2. JGGÄndG v. 13.12.200717 und das G zur Änderungen des Untersuchungshaftrechts v. 29.7.200918 in Ausübung seiner fortbestehenden Gesetzgebungszuständigkeit für die Strafvollstreckung und das gerichtliche Verfahren (Art. 74 Nr. 1 GG) die Ausnahme vom JVollzug in § 89b und die Rechtsbehelfe im Vollzug in § 92 geregelt. Die §§ 90 und 93a gelten weiter. Für die UHaft gelten die §§ 72b und 89c. Die §§ 91 und 93 aF wurden aufgehoben.

1 BVerfGE 116, 69. 2 GBl. 545. 3 GVBl. 866. 4 GVBl. I 348. 5 GBl. 233. 6 GVBl. I 280. 7 GVOBl. 427. 8 GVBl. 720. 9 GVBl. 539. 10 GVBl. 252. 11 Abl. 2370. 12 GVBl. 558. 13 GVBl. 368. 14 GVBl. 563. 15 GVBl. 221; näher zu den einzelnen Gesetzen Eisenberg NStZ 08, 250; Höynck ua ZJJ 08, 159; Ostendorf, Hrsg., JStrafvollzugsrecht, 4. Aufl. 2022; Sußner JStrafvollzug u. Gesetzgebung, 2009; Schneider Strafvollzug u. JStrafvollzug im Bayerischen StrafvollzugsG, 2010; Kühl Die gesetzliche Reform des JStrafvollzugs in Deutschland im Licht der European Rules for Juvenile Offenders Subject to Sanctions or Measures (ERJOSSM), 2012. 16 BVerfGE 116, 69, 85 ff; zur Entwicklung des JStrafvollzugs nach dem Urteil des BVerfG von 2006 s. Dünkel/Geng BewH 12, 115; Werner JStrafvollzug in Deutschland, 2012; Jehle/Werner FS Heinz, 2012, S. 426. 17 BGBl. I S. 2894. 18 BGBl. I S. 2274. 586 https://doi.org/10.1515/9783110686401-120

Jugendarrest

§ 90

§ 90 Jugendarrest (1) 1Der Vollzug des Jugendarrestes soll das Ehrgefühl des Jugendlichen wecken und ihm eindringlich zum Bewußtsein bringen, daß er für das von ihm begangene Unrecht einzustehen hat. 2Der Vollzug des Jugendarrestes soll erzieherisch gestaltet werden. 3Er soll dem Jugendlichen helfen, die Schwierigkeiten zu bewältigen, die zur Begehung der Straftat beigetragen haben. (2) 1Der Jugendarrest wird in Jugendarrestanstalten oder Freizeitarresträumen der Landesjustizverwaltung vollzogen. 2Vollzugsleiter ist der Jugendrichter am Ort des Vollzugs. 1. Hw.-JRecht: § 110 I. – 2. ErwG: § 104, 1. – 3. Sold. Rn 12; § 112c, 3.

Richtlinie zu § 90 Für den Vollzug des Jugendarrestes in Vollzugseinrichtungen der Landesjustizverwaltungen bestimmt die Jugendarrestvollzugsordnung das Nähere.

Schrifttum Arndt Kriminologische Untersuchungen zum JA, Diss. Göttingen, 1970; Benninghoff-Giese/Wessiepe Evaluation im JA. Zusammenarbeit von JHilfe u. Justizvollzug in der JAA Wetter, FS 12, 99; Bihs Annäherungen an eine Didaktik des JA, FS 14, 326; dies. Pädagogisches Personal im JA, ZJJ 14, 120; Borchert Kurzzeit- u. Erlebnispädagogik im JA, ZJJ 16, 291; Dünkel Freiheitsentzug für junge Rechtsbrecher, 1990; Eisenhardt Gutachten über die kriminalpolitische u. kriminalpädagogische Zweckmäßigkeit u. Wirksamkeit des JA, 1974; ders. Gutachten über den JA, 1989; ders. Der JA. Eine Chance der Kriminalprävention, 2010; Endres/Breuer Warnschuss oder Wegweiser? Konzeptionelle Überlegungen zur Ausgestaltung des JA nach § 16a JGG, ZJJ 14, 127; Gernbeck Soziales Training im (Warnschuss-)Arrest – Evaluation eines Modellprojekts in Baden-Württemberg, in DVJJ-BW, JKriminalität – Prävention u. Reaktionen, 2014, S. 27; dies. Soziales Training im (Warnschuss-)Arrest – Ergebnisse der Begleitforschung zu einem Modellprojekt in Baden-Württemberg, RdJ 16, 457; dies. Stationäres Training im (Warnschuss-)Arrest. Implementation u. Evaluation eines Modellprojekts in Baden-Württemberg, 2017; Goeckenjan Der Vollzug des JA, ZJJ 13, 67; Goerdeler Neuer Entwurf für ein JAVollzugsgesetz in Schleswig-Holstein, FS 13, 231; Hinrichs Die Durchführung des JA in den alten Bundesländern, DVJJ-J 93, 58; ders. Praxis des JA, DVJJ-J 95, 96; ders. Auswertung einer Befragung der JAAnstalten in der Bundesrepublik Deutschland 1999, DVJJ-J 99, 267; Hochleitner Die Rechtsstellung der j. u. hw. Rechtsbrecher beim Vollzug des JA, Diss. Hamburg 1976; Jaath Die VO zur Änderung der JAVollzO, JZ 77, 196; Jaeger Zur Notwendigkeit und Ausgestaltung eines JAVollzugsgesetzes, 2010; Kaplan Neue JAVollzugsgesetze – neuer JA? NK 18, 77; Kaplan/Schneider Bildung im Zwangskontext – Ergebnisse einer Machbarkeitsstudie im JA, ZJJ 16, 384; Köhler/Bauchowitz Was wissen Psychologen u. Sozialarbeiter eigentlich über JAAnstalten? ZJJ 12, 272; Köhler/Müller Zur psychischen Gesundheit vom männlichen J u. Hw. im JStrafvollzug u. JA in Deutschland, BewH 16, 157; Kruse Zum Referentenentwurf einer neuen JAVollzO, JSchutz 76, 41; Kunze/Decker Musterentwurf für ein JAVollzugsgesetz, FS 14, 262; Lobitz/Wirth Dauerarrest. Quantitative Entwicklungen u. pädagogische Maßnahmen, FS 18, 326; McKendry/Otte Die JAAbteilung bei der JStrafvollzugsanstalt Regis-Breitingen in Sachsen, ZJJ 14, 137; Ostendorf Mindeststandards zum JAVollzug, ZRP 10, 20; Pantke-Ehlers Projekt „Liebe, Porno, Sex –was geht?“ Ein sexualpädagogisches Projekt im JA, ZJJ 16, 59; Roestel ErzHilfen im Arrestvollzug, RdJ 76, 99; Schenker Neuordnung d. JAVollz. Zbl. 76, 193; Schneemann Beobachtungen zum JAVollzug u. der Bew. entlassener Dauerarrestanten, Diss. Göttingen 1970; Schwegler Dauerarrest als ErzMittel für j. Straftäter, 1999; Speer/Menger/Jende Nicht warten bis zum Knast. Aggressionsschwellentraining mit rechtsextremen Gewalttätern im JA, UJ 12, 242; Wulf Diskussionsentwurf für ein Gesetz über stationäres soziales Training („JAVollzugsgesetz“), ZJJ 10, 191; ders. JAVollzug: Quo vadis? in DVJJ-BW, Freiheitsentzug im JStrafrecht, 2011, S. 29. Vgl. auch das Schrifttum zu § 16.

Im JA ergeben sich bes. Schwierigkeiten daraus, dass in der Arrestanstalt völlig heterogene 1 Gruppen von Arrestanten zusammenkommen: Freizeit- und Dauerarrestanten, Arrestanten verschiedenster Vollzugsdauer, Ungehorsamsarrestanten, vorbelastete und nicht vorbelastete Ar-

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§ 90

2. Teil. Jugendliche

restanten (§ 16, 3)1. Die Fiktion der „gutgearteten“ Täter entspricht nicht der Realität, denn bei diesen kommen idR Diversions- und ambulante Maßnahmen zur Anwendung (vgl. § 45, 7). Nach dem Ergebnis einer Analyse von Eisenhardt2 befanden sich im Dauerarrest zum größten Teil J und Hw., die auf dem Weg in eine delinquente Karriere waren; der Anteil der Ersttäter war äußerst gering. Nach Schwegler3 wiesen jedoch 30 % der von ihr untersuchten Dauerarrestanten keine Vorbelastung auf. Bei größeren Diskrepanzen unter den Anstalten fand Eisenhardt4 unter den Freizeitarrestanten ca. 10–20 % mehrfach Vorbelastete (meist Weisungen und Auflagen, vereinzelt aber sogar JStrafe), unter den Dauerarrestanten bis ca. 40 % mehrfach Vorbelastete (bis zu 10 Verurteilungen) und ca. 15–20 % bereits zu JStrafe (vereinzelt sogar zweimal) Verurteilte. Kurze Arreste überwogen, und auch die Dauerarreste waren im Vergleich zu 1974 kürzer geworden5. Dünkel6 stellt für die achtziger Jahre eine Verdoppelung des Anteils von mit stationären Sanktionen vorbelasteten Arrestverbüßern fest. Klatt/Bliesener7 ermittelten 2018 für den niedersächsischen JAVollzug, dass 68 % der Arrestanten vorbelastet waren. Die Hinwendung der Praxis zu ambulanten Rechtsfolgen für weniger gefährdete Täter hat zu einem erheblichen Belegungsrückgang der Arrestanstalten und zur Schließung einiger Anstalten geführt8. Befragungen der JA-Anstalten 1993 und 1999 ergaben noch erhebliche Unterschiede in der Ausgestaltung des JAVollzugs und beträchtliche Mängel in der personellen und sachlichen Ausstattung9. Die Arrestanstalten haben sich jedoch in den letzten Jahren zu Recht verstärkt um einen aufgelockerten und sozialpädagogisch ausgerichteten Vollzug bemüht10 und leiten heute in einem erheblichen Umfang Förder- und Unterstützungsmaßnahmen ein11. 2 Diese Feststellungen müssen die Richter veranlassen, die Tätervoraussetzungen sorgfältig zu beachten (§ 16, 15 u. 16) und im Vollzug die erz. Gesichtspunkte zu verstärken. Dem entspricht auch, dass die S. 2 u. 3 des Abs. I als Sollvorschrift die erz. Ausgestaltung des JAVollzugs fordern, um dem J zur Bewältigung seiner Schwierigkeiten Hilfen anzubieten (dazu Rn 9) und um das in Abs. I 1 umschriebene Arrestziel zu erreichen. Dazu fordert Eisenhardt12, auch wegen der deliktischen Belastung eines großen Teils der Arrestanten (Rn 1), den JAVollzug „äußerlich wie innerlich“ vom Strafvollzug zu trennen13, den „Gefängnischarakter“ abzuschwächen, die Arrestantengruppen untereinander zu trennen14, die Zahl der Mitarbeiter zu verstärken15 und bes. das ErzPersonal zu erhöhen und fortzubilden16.

1 Eisenhardt 1989, S. 123; vgl. auch Schwegler 1999, S. 219 ff, die 1997 eine sehr heterogene Zusammensetzung der Dauerarrestanten in der JAAnstalt Nürnberg ermittelte; Endres/Lauchs BewH 18, 400 („vielfältige Unterschiede“ der JAArrestanten der bayerischen JAAnstalten 2015/16); Ernst Der JA, 2020, S. 232 (sehr heterogene Zusammensetzung der Arrestanten der JAAnstalt Gelnhausen). 2 Eisenhardt 1989, S. 125. 3 AaO, S. 220. 4 1989, S. 123. 5 S. 124. 6 1990, S. 343. 7 Evaluation des JAVollzuges in Niedersachsen, KFN-Forschungsbericht Nr. 153, 2020, S. 29. 8 Dünkel aaO, S. 336 ff. 9 Hinrichs DVJJ-J 95, 96; 99, 267. Kritik an der Vollzugspraxis auch bei Koepsel FS Böhm, 1999, S. 622 ff. 10 Kaplan FS 18, 316; Lobitz/Wirth FS 18, 328 f. 11 Klatt/Bliesener (Fn. 7), S. 35 ff, 62 f, 96 f. 12 1989, S. 125. 13 S. 130. 14 S. 133. 15 S. 131. 16 S. 32. Zu bes. schwierigen Fällen LG Hamburg B NStZ 89, 524 in § 87, 9. Zu Mindeststandards für den JA Vollzug s. Ostendorf ZRP 10, 20; zur Ausgestaltung eines JAVollzG vgl. Jaeger S. 231 ff u. Wulf ZJJ 10, 191. 588

Jugendarrest

§ 90

Eisenhardt17 geht davon aus, dass Dauerarrest „strafend“ wirke18 und die Vollzugssituation insgesamt belaste, aber die Einsperrung auch eine Bereitschaft bewirke, neue Inhalte zu akzeptieren, sodass ein inhaltlich sinnvoll genutzter Dauerarrest einen neuen Anfang für die Ausbildung und eine Chance für einen Neubeginn bedeuten könne. Kern eines erz. ausgerichteten Vollzugs mit strukturierten Behandlungsprogrammen müsse die Aufarbeitung und sozialtherapeutische Bearbeitung der Problem- und Konfliktlagen des Arrestanten sein, die zu den Straftaten geführt haben19. Das Gesetz folgt in Abs. I 2 u. 3 Erkenntnissen und Forderungen von Praxis und Wissenschaft, setzt damit den Weg fort, der mit der JAVollzO 1976 (Rn 6) begangen wurde, und verstärkt das Postulat der erz. Ausgestaltung des JAVollzugs, indem es diesen Grundsatz in den § 90 hineinnimmt. Das bezieht auch Verhängung und die Praxis der Anordnung des JA mit ein und ist ein unüberhörbarer Appell nicht nur an StAe und Richter, sondern an alle Verantwortlichen, einen inhaltlich effektiven JAVollzug auch dadurch zu stützen, dass die „Raum-, Personalund Belegungssituation“ (vgl. Rn 1 aE) der Umsetzung des ErzGedankens entsprechend gestaltet wird20. Das begrenzte Ziel der Zuchtmittel allg. und die Kürze des Vollzugs aber machen deutlich, dass eine grundlegende Umgestaltung der Persönlichkeit weder erreicht noch erstrebt und eine tief greifende Fehlentwicklung im JAVollzug nicht korrigiert werden kann21. Die begrenzten Möglichkeiten des JA sollte schon der Richter bedenken, um diese J nicht ohne Aussicht auf Erfolg und die JAAnstalten nicht unnötig zu belasten. Dies definiert und begrenzt zugleich den ErzAuftrag. Hinweise auf Möglichkeiten, die gesetzlich u. erz. gebotene rasche Vollstreckung zu erreichen, § 10, 35; § 16, 25. Zum Begriff „Vollzug“ Vor § 82, 1. Die VO zur Änderung der JAVollzO v. 18.8.197622, Bekanntmachung der Neufassung v. 30.11.197623, ergänzt durch die von den Landesjustizverwaltungen einheitlich erlassenen Richtlinien zur JAVollzO – RiJAVollzO –24 hat die noch in der JAVollzO v. 12.8.1966 vorherrschende Strenge vermieden und versucht, den mehr Gefährdeten Hilfen zu geben; dies umfasst „den verstärkten Einsatz erz. befähigter Mitarbeiter im Hauptamt, nebenamtlich oder auch ehrenamtlich, die Ausrichtung der Anstaltsorganisation auf die zu leistenden ErzHilfen und die Integration der erz. Fachkräfte, die Normalisierung des Lebens in der Anstalt, um institutionsbedingte Hindernisse für die ErzArbeit möglichst gering zu halten“25. Inzwischen haben die Bundesländer JAVollzG erlassen, vgl. JArrGesetz Baden-Württemberg v. 25.11.201426, Bayerisches JAVollzG v. 26.6.201827, JAVollzG Berlin v. 27.9.202128, JAVollzG Brandenburg v. 10.7.201429, JAVollzG Hamburg v. 26.12.201430, JAVollzG Hessen v. 27.5.201531, JAVollzG Niedersachsen v. 17.2.201632, JAVollzG Mecklenburg-Vorpommern v. 27.5.201633, JAVollzG Nordrhein-Westfalen v. 30.4.201334, LandesJAVollzG Rhein-Pfalz 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 589

1989, S. 155. S. 156. S. 158; vgl. auch Eisenhardt 2010, S. 99 ff. Begr. RegE eines 1. JGGÄndG, BT-Drs. 11/5829, S. 38. Begr. RegE eines 1. JGGÄndG, aaO. BGBl. I S. 2349. BGBl. I S. 3270. Z.B. Bayern Bekanntmachung v. 14.5.1979, BayJMBl. 79, 93. Begr. RE 1975, S. 16. Gbl. 582. GVBl. 438. GVBl. 1135. GVBl. I Nr. 34. GVBl. 542. GVBl. 223. GVBl. 38. GVOBl. 302. GV. 201.

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v. 6.10.201535, JAVollzG Saarland v. 20.1.201636, Sächsisches JAVollzG v. 5.3.201937, Drittes Buch Justizvollzugsgesetzbuch Sachsen-Anhalt – Vollzug des JA v. 11.11.202038, JAVollzG Schleswig-Holstein v. 2.2.201439 und Thüringer JAVollzG v. 19.3.201940. 7 Der JRichter trägt als Vollzugsleiter die Gesamtverantwortung für alle Entscheidungen im JAVollzug (§ 90 II 2). Wenn Anordnung, Vollstreckung und Vollzug des JA, wie häufig, nicht in einer Hand liegen, werden Schwierigkeiten nur dadurch vermieden, dass der Vollzugsleiter mit den JRichtern des Einzugsbereiches seiner Anstalt kooperiert und diese die Möglichkeit und Grenzen des Vollzugsprogramms kennen und nützen. Hier hat sich ein regelmäßiger Erfahrungsaustausch in der Vollzugseinrichtung bewährt. Ist die Arresteinrichtung mit einer JVA organisatorisch verbunden, so versteht sich gute Zusammenarbeit mit dem Anstaltsleiter von selbst. Innerdienstlich kann und soll der Vollzugsleiter bestimmte Aufgaben an einzelne oder mehrere Mitarbeiter (z.B. Psychologen, Sozialpädagogen oder Sozialarbeiter) übertragen (vgl. § 33 I 2 JArrG BW, das hier u. im Folgenden beispielhaft herangezogen wird), um die Fachkräfte in eigenverantwortlicher Tätigkeit stärker in Entscheidungsprozesse der Anstalt einzubeziehen. Regelmäßige Besprechungen (§ 4 I 2 JArrG BW) sollen Informationsfluss und Zusammenarbeit aller an der Erz. Beteiligten fördern. Jeder Mitarbeiter hat wichtige Wahrnehmungen unverzüglich dem Vollzugsleiter, ggf. auch anderen Mitarbeitern, zu melden (§ 34 III JArrG BW). Werden ehrenamtliche Kräfte herangezogen, muss ihre Verschwiegenheit gewährleistet sein. Dem Vollzugsleiter und allen mit der Erz. befassten Mitarbeitern ist eine alsbaldige differenzierte Persönlichkeitserforschung auferlegt, welche die notwendigen erz. Hilfen ermitteln soll (§§ 10 II 1, 11 I JArrG BW), wobei auch auf Vorarbeiten für Hilfen nach der Entlassung Bedacht zu nehmen ist41. Hierfür bedarf es ausreichend haupt-, neben- und ehrenamtlichen Personals und rechtzeitiger Unterrichtung der Personensorgeberechtigten, des JAmtes u. sonstiger Stellen, welche nach der Entlassung den J betreuen (vgl. § 27 II JArrG BW). Zur ErzArbeit im JA gehört auch die Auseinandersetzung mit der Tat (§ 2 I JArrG BW)42. Der Vorbereitung der ersten Aussprache kann es nach RL zu § 7 JAVollzO dienen, dass der J seinen Lebenslauf niederschreibt und sich schriftlich mit seiner Tat auseinandersetzt. 8 Die ErzArbeit wird gefördert durch die Auflockerung der getrennten Unterbringung von männlichen und weiblichen J zur Teilnahme an erz. Maßnahmen (§ 12 III 1 JArrG BW), Unterrichtungspflicht bei der Aufnahme (§ 10 I JArrG BW), Einzelunterbringung (mit Ausnahmen) nur noch bei Nacht (§ 12 I JArrG BW; bei Tage nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen – § 12 III 2 JArrG BW), und Möglichkeiten des Verkehrs mit der Außenwelt (§ 18 ff JArrG BW). Zur Kritik § 16, 6–8. 9 Die Aussprache mit dem Vollzugsleiter, welche Bedeutung sie auch im Einzelfall gewinnen kann, ist aus dem Mittelpunkt der nun interdisziplinären ErzArbeit gerückt. Entsprechend der Persönlichkeitserforschung (§§ 10 II 1, 11 I JArrG BW) sollen soziale Einzelfallhilfe, Gruppenarbeit, Unterricht und andere Behandlungsmethoden (§§ 5 ff JArrG BW) dem Einzelnen gezielt helfen, Konflikte zu bewältigen und Handlungsalternativen zu gewinnen. Darüber hinaus sollen Hilfen geleistet werden bei Problemen in der Schule und am Arbeitsplatz, beim Umgang mit Behörden, bei Schuldenregulierung, Freizeitgestaltung und Anknüpfung von Kontakten nach außerhalb. Um das aber überhaupt zu können, muss erreicht werden, dass der J sich vertrauensvoll eröffnet.

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GVBl. 354. ABl. 132. GVBl. Nr. 4, S. 158. GVBl. 644. GVOBl. 356. GVBl. 9. Vgl. zu den Gesetzen Kaplan NK 18, 77. Vgl. Bihs FS 14, 330. BeckOK-JGG/Pütz 5. 590

Rechtsbehelfe im Vollzug

§ 92

Der J hat die notwendigen Maßnahmen zum Gesundheitsschutz und zur Hygiene zu unterstützen (§ 16 1 JArrG BW) und ist zu motivieren, sich am Sport zu beteiligen (§ 9 II 2 JArrG BW). Um ein verändertes Freizeitverhalten (Einf. 29) anzuregen, wird der J angeleitet, die Freizeit sinnvoll zu verbringen (§ 9 I JArrG BW). Bei Ausübung der Disziplinarmaßnahmen ist Einfühlungsvermögen, ggf. aber auch rasches Durchgreifen, geboten. Ggf. können Gespräche oder Maßnahmen der Streitbeilegung ausreichen (vgl. § 22 JArrG BW). Die verstärkte erz. Fachbetreuung mit verbesserten diagnostischen Möglichkeiten sollte auch der zumeist sehr wichtigen Fürsorge für die Zeit nach der Entlassung (§ 6 II JArrG BW; vgl. § 88, 6) und dem Schlussbericht (§ 26 JArrG BW) zugutekommen, der bei Rückfall bedeutsame Hinweise geben kann. Der JAVollzug ist eine Angelegenheit der Verwaltung. Die Einrichtung der JA-Anstalten und der Freizeitarresträume ist Sache der Länder (§ 90 II 1 JGG). – Vollzugsleiter ist der JRichter am Ort des Vollzugs (§ 90 II 2 JGG), der insoweit Verwaltungsbeamter ist, dem Vorstand einer Strafanstalt vergleichbar. Wo kein JRichter ist oder mehrere JRichter sind, wird ein JRichter von der höheren Vollzugsbehörde zum Vollzugsleiter bestellt (§ 33 II 2 JArrG BW). Dieser JRichter ist auch Vollstreckungsleiter (§ 85 I JGG). Gegen Maßnahmen des Vollzugs kann nach § 92 Antrag auf gerichtliche Entscheidung der JKammer gestellt werden. Während des Vollzugs sind die zu JA Verurteilten Gefangene iSd §§ 120, 121 StGB, 115 OWiG43. Haftkosten fallen nicht an. JAAnstalten und Freizeitarresträume dürfen nicht in Straf- oder Untersuchungshaftanstalten eingerichtet werden (§ 32 I JArrG BW). Zur Zulässigkeit der zwangsweisen Zuführung zum Arrest § 16, 26. Bei Soldaten wird JA auf Ersuchen des Vollstreckungsleiters durch die Behörden der Bundeswehr wie Strafarrest vollzogen (Art. 5 II EGWStG; näher § 112c, 2). Zum JA-Vollzug durch die Bundeswehr auch § 112a, 12; zum Strafarrest § 112a, 13.

§ 91 (aufgehoben) Siehe die Kommentierung zu § 89b.

§ 92 Rechtsbehelfe im Vollzug (1) 1Gegen eine Maßnahme zur Regelung einzelner Angelegenheiten auf dem Gebiet des Jugendarrestes, der Jugendstrafe und der Maßregeln der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt (§ 61 Nr. 1 und 2 des Strafgesetzbuches) oder in der Sicherungsverwahrung kann gerichtliche Entscheidung beantragt werden. 2Für die Überprüfung von Vollzugsmaßnahmen gelten die §§ 109 und 111 bis 120 Abs. 1 des Strafvollzugsgesetzes sowie § 67 Absatz 1, 2 und 5 und § 67a Absatz 1 entsprechend; das Landesrecht kann vorsehen, dass der Antrag erst nach einem Verfahren zur gütlichen Streitbeilegung gestellt werden kann. (2) 1Über den Antrag entscheidet die Jugendkammer, in deren Bezirk die beteiligte Vollzugsbehörde ihren Sitz hat. 2Die Jugendkammer ist auch für Entscheidungen nach § 119a des Strafvollzugsgesetzes zuständig. 3Unterhält ein Land eine Einrichtung für den Vollzug der Jugendstrafe auf dem Gebiet eines anderen Landes, können die beteiligten Länder vereinbaren, dass die Jugendkammer bei dem Landgericht zuständig ist, in dessen Bezirk die für die Einrichtung zuständige Aufsichtsbehörde ihren Sitz hat.

43 Dallinger/Lackner 34; Potrykus B 3. 591 https://doi.org/10.1515/9783110686401-123

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§ 92

2. Teil. Jugendliche

(3) 1Die Jugendkammer entscheidet durch Beschluss. 2Sie bestimmt nach Ermessen, ob eine mündliche Verhandlung durchgeführt wird. 3Auf Antrag des Jugendlichen ist dieser vor einer Entscheidung persönlich anzuhören. 4Hierüber ist der Jugendliche zu belehren. 5Wird eine mündliche Verhandlung nicht durchgeführt, findet die Anhörung in der Regel in der Vollzugseinrichtung statt. (4) 1Die Jugendkammer ist außer in den Fällen des Absatzes 2 Satz 2 mit einem Richter besetzt. 2Ein Richter auf Probe darf dies nur sein, wenn ihm bereits über einen Zeitraum von einem Jahr Rechtsprechungsaufgaben in Strafverfahren übertragen worden sind. 3Weist die Sache besondere Schwierigkeiten rechtlicher Art auf oder kommt ihr grundsätzliche Bedeutung zu, legt der Richter die Sache der Jugendkammer zur Entscheidung über eine Übernahme vor. 4Liegt eine der Voraussetzungen für eine Übernahme vor, übernimmt die Jugendkammer den Antrag. 5Sie entscheidet hierüber durch Beschluss. 6 Eine Rückübertragung ist ausgeschlossen. (5) Für die Kosten des Verfahrens gilt § 121 des Strafvollzugsgesetzes mit der Maßgabe, dass entsprechend § 74 davon abgesehen werden kann, dem Jugendlichen Kosten und Auslagen aufzuerlegen. (6) 1Wird eine Jugendstrafe gemäß § 89b Abs. 1 nach den Vorschriften des Strafvollzugs für Erwachsene vollzogen oder hat der Jugendliche im Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßnahme das vierundzwanzigste Lebensjahr vollendet, sind die Absätze 1 bis 5 nicht anzuwenden. 2Für die Überprüfung von Vollzugsmaßnahmen gelten die Vorschriften der §§ 109 bis 121 des Strafvollzugsgesetzes. 1. Hw.-JRecht: § 110 I. – 2. ErwG: § 104, 1.

Schrifttum Kamann Vollstreckung u. Vollzug der JStrafe. Verteidigung u. Rechtsschutz, 2009.

1 Nach dem BVerfGE1 genügte der früher als Rechtsbehelf gegen Maßnahmen im JA und JStrafvollzug vorgesehene Antrag auf gerichtliche Entscheidung des OLG nach §§ 23 ff EGGVG den Anforderungen des Art. 19 IV GG an einen wirksamen Rechtsschutz nicht. Dem Umstand, dass die im JStrafvollzug Inhaftierten typischerweise im Umgang mit Institutionen und Schriftsprache bes. ungeübt sind, wurde die Verweisung auf ein regelmäßig ortsfernes OLG ohne bes. Vorkehrungen für die Möglichkeit mündlicher Kommunikation nicht gerecht. Durch das 2. JGGÄndG v. 13.12.2007 wurde deshalb der gerichtliche Rechtsschutz gegen Vollzugsmaßnahmen neu geregelt. Die Vorschrift betrifft Maßnahmen zur Regelung einzelner Angelegenheiten auf dem Gebiet 2 des JA, der JStrafe und der Maßregeln der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, in einer Entziehungsanstalt oder in der Sicherungsverwahrung. Rechtsbehelf gegen diese Maßnahmen ist der Antrag auf gerichtliche Entscheidung der JKammer. Dieser Rechtsbehelf ist in den Abs. I–V näher ausgestaltet. Wird eine JStrafe gem. § 89b nach den Vorschriften für Erwachsene vollzogen oder hat der J im Vollzug der genannten Maßregeln das 24. Lebensjahr vollendet, sind nach Abs. VI die Abs. I bis V nicht anzuwenden, sondern gelten für den Antrag auf gerichtliche Entscheidung die §§ 109 bis 121 StVollzG. Es entscheidet also die Strafvollstreckungskammer. 3 Abs. I eröffnet den Rechtsweg gegen Maßnahmen zur Regelung einzelner Angelegenheiten auf den dort genannten Gebieten. Dieser Begriff ist wie in § 109 I StVollzG auszulegen. Die angegriffene Handlung muss also Regelungscharakter haben, dh ein Lebensverhältnis rechtlich gestalten2. Das kann auch bei einem Realakt, z.B. einer Durchsuchung des Haftraums, der Fall sein3. Die Regelung muss einen Einzelfall betreffen, sodass etwa gegen allg. Verwaltungs1 116, 69, 88 f. 2 LNNV/Bachmann Abschnitt P Rn 29. 3 SBJL/Laubenthal, § 109 StVollzG 18. 592

Rechtsbehelfe im Vollzug

§ 92

vorschriften nicht mit dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung vorgegangen werden kann4. Schließlich muss die Regelung im Vollzug des JA, der JStrafe oder der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus, in einer Entziehungsanstalt oder in der Sicherungsverwahrung ergehen. Nach Abs. I 2 iVm §§ 109 und 115 StVollzG kommen Anträge auf Aufhebung einer Maßnahme oder die Verpflichtung zum Erlass einer abgelehnten oder unterlassenen Maßnahme oder bei Vorliegen eines berechtigten Interesses auf Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Maßnahme in Betracht. Der Antrag ist nach Abs. I 2 iVm § 109 II StVollzG nur zulässig, wenn der Antragsteller geltend macht, durch die Maßnahme oder ihre Ablehnung oder Unterlassung in seinen Rechten verletzt zu sein. Für diese Antragsbefugnis ist erforderlich und ausreichend, dass der Antragsteller Tatsachen vorträgt, welche die Verletzung eines subjektiven Rechts als möglich erscheinen lassen5. Nach Abs. I 2 HS 2 kann das Landesrecht vorsehen, dass der Antrag erst nach einem Verfahren zur gütlichen Streitbeilegung gestellt werden kann. Von dieser Möglichkeit hat § 87 IV des saarländischen JStVollzG Gebrauch gemacht. Für Form und Frist gelten die §§ 112 und 113 StVollzG. Der Antrag hat keine aufschiebende Wirkung, das Gericht kann aber nach Abs. I 2 iVm § 114 StVollzG vorläufigen Rechtsschutz gewähren. Zuständig ist nach Abs. II 1 die JKammer, in deren Bezirk die beteiligte Vollzugsbehörde ihren Sitz hat. Diese trifft auch Entscheidungen nach § 119a StVollzG (Abs. II 2). Für den Fall, dass ein Land eine Einrichtung für den Vollzug der JStrafe auf dem Gebiet eines anderen Landes unterhält, trifft Abs. II 3 eine dem § 78a III GVG entsprechende Zuständigkeitsregelung. Die JKammer ist mit einem Richter besetzt (Abs. IV 1), der nur dann Richter auf Probe sein darf, wenn ihm bereits ein Jahr Rechtsprechungsaufgaben in Strafverfahren übertragen worden sind (Abs. IV 2). Sachen mit bes. Schwierigkeiten rechtlicher Art oder von grundsätzlicher Bedeutung legt der Richter der JKammer vor und übernimmt diese durch Beschluss (Abs. IV 3 bis 5). Eine Rückübertragung ist nach S. 6 ausgeschlossen. Auf Antrag des J ist dieser vor der Entscheidung persönlich anzuhören; hierüber hat der Richter den J zu belehren (Abs. III 3, 4). Ansonsten steht es im Ermessen des Richters, ob eine mündliche Verhandlung durchgeführt wird (Abs. III 2). Er wird mündlich verhandeln, wenn Aufklärungsbedarf auf dem Schriftweg nicht zu decken ist6 oder aus den Schriftsätzen ersichtlich ist, dass der J sich nicht hinreichend schriftlich äußern kann. Die Elternrechte des § 67 I, II und V und des § 67a I gelten gem. Abs. I 2 entsprechend. Nach Abs. I 2 iVm § 120 I 2 StVollzG sind – soweit keine Spezialregelung besteht – die Vorschriften der StPO entsprechend anzuwenden. Es gilt also die Amtsaufklärungspflicht des § 244 II StPO. Zur notwendigen Verteidigung in Strafvollzugssachen s. § 68, 28. Die JKammer entscheidet nach Abs. III 1 durch Beschluss. Gem. Abs. V gilt für die Kosten des Verfahrens § 121 StVollzG mit der Maßgabe, dass entsprechend § 74 davon abgesehen werden kann, dem J Kosten und Auslagen aufzuerlegen. Das kommt namentlich in Betracht, „wenn die Kostenbelastung dem Vollzugsziel widersprechen und die Eingliederung der Gefangenen behindern würde“7. Gegen den Beschluss der JKammer ist unter den Voraussetzungen der §§ 116 ff StVollzG die Rechtsbeschwerde zum OLG gegeben. Sie ist nach § 116 I StVollzG nur zulässig, wenn die Überprüfung der Entscheidung der JKammer zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geboten ist. Neben dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung bestehen weitere Möglichkeiten, Abänderungen von Vollzugsentscheidungen zu erreichen, z.B. durch Beschwerde beim Anstaltsleiter, Eingabe an den Anstaltsbeirat oder durch eine Petition.

4 5 6 7

LNNV/Bachmann Abschnitt P Rn 30. LNNV/Bachmann Abschnitt P Rn 32. Begr. RegE, BT-Drs. 16/6293, S. 11. AaO.

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§ 93

2. Teil. Jugendliche

§ 93 Gerichtliche Zuständigkeit und gerichtliches Verfahren bei Maßnahmen, die der vorherigen gerichtlichen Anordnung oder der gerichtlichen Genehmigung bedürfen 1

Beim Vollzug des Jugendarrestes, der Jugendstrafe und der Maßregeln der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt oder in der Sicherungsverwahrung ist, soweit nach den Vollzugsgesetzen eine Maßnahme der vorherigen gerichtlichen Anordnung oder der gerichtlichen Genehmigung bedarf, das Amtsgericht zuständig, in dessen Bezirk die Maßnahme durchgeführt wird. 2Unterhält ein Land eine Einrichtung für den Vollzug der in Satz 1 genannten Freiheitsentziehung auf dem Gebiet eines anderen Landes, können die beteiligten Länder vereinbaren, dass das Amtsgericht zuständig ist, in dessen Bezirk die für die Einrichtung zuständige Aufsichtsbehörde ihren Sitz hat. 3 Für das Verfahren gelten § 121b des Strafvollzugsgesetzes sowie § 67 Absatz 1, 2 und 5 sowie § 67a Absatz 1, 3 und 5 entsprechend. 1. Hw. – JRecht: § 110 I. – 2. ErwG: § 104, 1.

1 Die jetzige Norm wurde durch das G zur Stärkung der Rechte von Betroffenen bei Fixierungen im Rahmen von Freiheitsentziehungen v. 19.6.20191 eingefügt. Mit dem G wurden Vorgaben des BVerfG2 umgesetzt, wonach nicht nur kurzfristige Fixierungen im Freiheitsentzug ua dem Richtervorbehalt des Art. 104 II GG unterliegen. Die Vorschrift gilt nach § 110 I auch für Hw., wenn auf diese JStrafrecht angewendet wurde, und gilt auch für durch ein ErwGericht verurteilte J (§ 110, 3). S. 1 sieht für den Vollzug aller freiheitsentziehenden Sanktionen des JStrafrechts vor, dass für 2 vorherige gerichtliche Anordnungen oder gerichtliche Genehmigungen, denen nach den Vollzugsgesetzen eine Maßnahme bedarf, das Amtsgericht zuständig ist, in dessen Bezirk die Maßnahme durchgeführt wird. Für den Vollzug der UHaft und der einstweiligen Unterbringung gelten die §§ 126 V und 126a II StPO. Die Vorschrift betrifft nicht nur Fesselungen, sondern alle nach den Vollzugsgesetzen unter einen Richtervorbehalt gestellten Maßnahmen, z.B. Zwangsbehandlungen3. Zuständig ist nach § 34 I der JRichter4. Durch den Bereitschaftsdienst muss jedenfalls für den Zeitraum von 6.00 Uhr bis 21.00 Uhr die Erreichbarkeit des zuständigen Richters sichergestellt sein5. Für Maßnahmen in einer Vollzugseinrichtung eines Landes auf dem Gebiet eines anderen Landes können die beteiligten Länder nach S. 2 die Zuständigkeit des Amtsgerichts vereinbaren, in dessen Bezirk die für die Einrichtung zuständige Aufsichtsbehörde ihren Sitz hat. 3 Nach S. 3 gilt für das Verfahren § 121b StVollzG, der wiederum auf das FamFG, insbes. auf die für Unterbringungssachen nach § 312 Nr. 4 FamFG anzuwendenden Bestimmungen, verweist. Außerdem ordnet die Vorschrift die entsprechende Geltung der Rechte der ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter auf Beteiligung und Unterrichtung nach § 67 I, II und V sowie § 67a I, III und V an.

§ 93a Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (1) Die Maßregel nach § 61 Nr. 2 des Strafgesetzbuches wird in einer Einrichtung vollzogen, in der die für die Behandlung suchtkranker Jugendlicher erforderlichen besonderen therapeutischen Mittel und sozialen Hilfen zur Verfügung stehen. 1 2 3 4 5

BGBl. I, 840. NJW 2018, 2619. DSS/Baur 4; Eisenberg/Kölbel 6. Die analoge Anwendung des § 92 IV 2 erwägend bzw. befürwortend DSS/Baur 8; Eisenberg/Kölbel 7. BVerfG NJW 2018, 2619, 2626; Begr. RegE, BT-Drs. 19/8939, S. 17. 594

https://doi.org/10.1515/9783110686401-125

Unterbringung in einer Entziehungsanstalt

§ 93a

(2) Um das angestrebte Behandlungsziel zu erreichen, kann der Vollzug aufgelockert und weitgehend in freien Formen durchgeführt werden. 1. Hw.-JRecht: § 110 I. – 2. ErwG: § 104, 1.

Schrifttum Dessecker/Egg, Hrsg., Die strafrechtliche Unterbringung in einer Entziehungsanstalt, 1995; Frey/Leygraf/Schalast ADHS als Problem u. Thema der Behandlung in der Entziehungsanstalt, FPPK 19, 239; Häßler/Keiper/Schläfke Maßregelvollzug für J, ZJJ 04, 24; Heckmann, Hrsg., Drogentherapie in der Praxis, 1991; Höffler Jugendliche im Maßregelvollzug: zwischen Entwicklung u. Krankheit, zwischen Pädagogik u. Medizin, FS Eisenberg zum 80. Geburtstag, 2019, S. 225; Kröber Standards u. offene Probleme des psychiatrischen Maßregelvollzugs. Anmerkungen zu den DGPPN-Standards für die Behandlung im Maßregelvollzug, FPPK 18, 126; Kühne Staatliche Therapie auf dem Prüfstand, 1985; Müller ua Standards für die Behandlung im Maßregelvollzug nach §§ 63 u 64 StGB. Interdisziplinäre Task-Force der DGPPN, FPPK 18; 93; Pniewski/Elsner/König Behandlungsevaluation im JMaßregelvollzug. Ergebnisse zu Veränderungsprozessen u. zum Stationsklima aus unterschiedlichen Perspektiven, FPPK 19,282; Schalast Suchtkranke Rechtsbrecher, in Hdb. d. For. Psychiatrie Bd. 3, 2006, S. 326; Stöver/Weissbeck/Wendt Wo steht der JMaßregelvollzug in Deutschland aktuell? FPPK 08, 255; Täschner Therapie der Drogenabhängigkeit, 1983; Tessenow/Ostendorf Maßregelvollzug bei J in Deutschland – erste Einblicke in eine verborgene Praxis, NK 03, 59; Weissbeck JMaßregelvollzug in Deutschland, 2009.

Übersicht 1. 2. 3.

Probleme der Durchführung 1 4 Dynamische Rehabilitation 6 Einzelfragen zur Vollstreckung

4. 5.

Vollzugsentscheidungen Entziehungsanstalten

10 12

1. Probleme der Durchführung § 93a versucht der vielschichtigen Problematik rauschmittelabhängiger Täter, insbes. bei Dro- 1 gensucht, durch eigene Anstalten für J und Hw. mit bes. therapeutischen Mitteln und sozialen Hilfen gerecht zu werden. Allg. zu Drogen (einschl. Alkohol) Einf. 65–71; zu JStrafe u. Entziehungsanstalt § 5, 2; zur Entziehungsanstalt § 7, 4–8; Auflistung der Hinweise auf Drogenproblematik bei den einzelnen Vorschriften Einf. 721. Bei Drogenabhängigen können Apathie, Unzuverlässigkeit2, Kontaktschwäche, Misstrauen, 2 Egozentrik und enge Gruppenbezogenheit, geringe Frustrationstoleranz, starke Stimmungslabilität und fehlende Ausdauer, aber uU auch extrem gesellschaftskritische Einstellung die Therapiebemühungen gefährden. Gleichwohl ist es in nicht wenigen Fällen möglich, Krankheitseinsicht und Heilungswillen zu fördern und hierdurch Möglichkeiten für einen Weg aus der Abhängigkeit zu eröffnen. Dies macht offenbar, dass zu medizinischen Maßnahmen gleichwertig Bemühungen um 3 Stabilisierung der Persönlichkeit und ihrer sozialen Beziehungen treten müssen. An die Struktur der Station, an Zahl, Ausbildung, Zusammenarbeit und Fortbildung des gesamten Personals sind damit ganz bes. Anforderungen gestellt. Diese Patienten werden viel Zeit, Geduld und guten Willen beanspruchen, bis sie zu dem notwendigen Vertrauensverhältnis zum Behandlungsteam finden.

1 Vgl. auch Brunner Zbl. 71, 243; 74, 378, 383; 80, 415; Dessecker/Egg, Hrsg., Die strafrechtliche Unterbringung in einer Entziehungsanstalt, 1995.

2 Kreuzer Zbl. 74, 214. 595

§ 93a

2. Teil. Jugendliche

2. Dynamische Rehabilitation 4 In Form einer Therapiekette reihen sich Diagnose, Entgiftung, Gesprächs-, Beschäftigungs-, Arbeitstherapie, Außenbeschäftigung, Freigang bis zu Entlassungsvorbereitungen und Fortsetzung der Therapie in Übergangsheimen und Selbsthilfeeinrichtungen aneinander3. Der notwendigen dynamischen Rehabilitationsarbeit, der stufenweisen Behandlungsform in schließlich teilweiser Freiheit oder Übergangsheimen (Behandlungskette), auch der unbürokratischen Umsetzung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse dient Abs. II. Der Unterbringung sollte sich stets eine ausreichend lange Nachsorge in geeigneter Form anschließen, um das Erreichte zu sichern und die Persönlichkeit zu stärken4. Die Maßregel nach § 64 StGB dient dem Schutz der öffentlichen Sicherheit durch Besse5 rung des Täters5. Sie ist weder ein Mittel der bloßen Suchtfürsorge, noch darf die Fürsorge unsachgemäß in den Vordergrund treten6. Diese auf Erw. abgestellte Auffassung wird für J (Hw.) modifiziert durch den allg. ErzCharakter des JGG, der vor allem auch den Vollzug einschließt, durch die bes. Persönlichkeitsstruktur der J (Hw.), vor allem aber durch die Vorschrift des § 93a II, welche ausdrücklich freie Formen – im Rahmen der justiziell und therapeutisch vertretbaren Grenzen – zulässt (Rn 4). Nach §§ 64 S. 2, 67d V 1 StGB und von Verfassung wegen7 sind Anordnung und Vollzug der Maßregel nach § 64 StGB an die Voraussetzung geknüpft, dass eine hinreichend konkrete Aussicht besteht, den Süchtigen zu heilen oder doch über eine gewisse Zeitspanne vor dem Rückfall in die akute Sucht zu bewahren8.

3. Einzelfragen zur Vollstreckung 6 Das Gericht muss nach § 5 III von der Verhängung jstrafrechtlicher Maßnahmen absehen, wenn die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt dies entbehrlich macht (§ 5, 2)9. Erkennt das Gericht aber neben Unterbringung auf JStrafe, so kann es nach § 67 II StGB abweichend von der Regel des Vorwegvollzugs der Maßregel (§ 67 I StGB) die JStrafe vor der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt vollziehen, wenn bei sorgfältiger Prüfung der Persönlichkeit des J, der Länge der Strafzeit und der Art der notwendigen Behandlung Leidensdruck günstigere Voraussetzungen für die anschließende Entziehung erwarten lässt10 (vgl. dazu aber auch § 7, 3). So kann z.B. die in der UHaft gezeigte Protest- und Verweigerungshaltung den Mangel des Durchhaltewillens für die vorgesehene harte Langzeittherapie dartun, während die Möglichkeit, im Vollzug den Hauptschulabschluss nachzuholen, die Erfolgschancen für die anschließende Therapie steigert11. Bei einer JStrafe von über 3 Jahren soll nach § 67 II 2, 3 StGB der Vorwegvollzug eines Teils der Strafe angeordnet werden. Die Ansicht, der Vollzug könne die Motivation zur Therapie fördern12, bezweifeln Eisenberg/Kölbel13 (vgl. auch § 7, 3). Richtschnur bei der Entscheidung ist das Rehabilitationsinteresse des Verurteilten14. Die Entscheidung muss zumindest da3 Vgl. Kühne Staatliche Therapie auf dem Prüfstand, 1985, S. 125; Heckmann, Hrsg., Drogentherapie in der Praxis, 1991; Täschner Therapie der Drogenabhängigkeit, 1983. 4 Zu Mindestanforderungen an den JMaßregelvollzug s. Weissbeck S. 134. Zur Diskussion über Strafe oder (und) nichtstrafrechtliche Unterbringung Katholnigg GA 90, 193. 5 BVerfGE 91, 1, 28; BGH 28, 327, 332; LK/Cirener § 64 StGB 1 ff. 6 BGH aaO; LK/Cirener § 64 StGB 4. 7 BVerfGE 91, 1. 8 Krit. zu BVerfGE 91, 1 Müller-Dietz JR 95, 353. 9 BayObLG 89, 48 = JR 90, 210 mit zust. Anm. Brunner. 10 BGH H MDR 81, 98; BGH NJW 83, 240; BGH B NStZ 88, 493. 11 BGH NStZ 82, 132. 12 Z.B. BGH NStZ 90, 52. 13 § 7, 27. Dazu auch BGH NStZ 90, 78. 14 BGH NStZ-RR 01, 93. 596

Unterbringung in einer Entziehungsanstalt

§ 93a

durch mitbegründet sein, dass so der Zweck der Maßregel leichter erreicht wird15. Der BGH16 hat teilweisen Vorwegvollzug der Strafe gebilligt, wenn eine Vorgehensweise nach §§ 35, 36 BtMG dem Rehabilitationsinteresse dient oder wenn bei schwerer seelischer Störung der Entlassung die Behandlung unmittelbar vorausgehen soll17. Zu Rechtsmittelfragen § 7, 2 aE. Nach dem BGH18 darf wegen eines fehlenden Therapieplatzes die JStrafe oder Freiheits- 7 strafe nicht vorweg vollzogen werden. Das LG Bonn19 hat dies allerdings getan, weil kein Verurteilter darauf Anspruch habe, dass die Vollstreckung einer Strafe deshalb unterbleibt, weil die gleichzeitig angeordnete Maßregel mangels eines Therapieplatzes nicht vollzogen werden kann, und ist hierin vom BVerfG20 bestätigt worden21. Allerdings rechtfertigen es nach dem OLG Hamm22 Belegungsschwierigkeiten, die Überstellung für eine angemessene Frist zurückzustellen, es sei denn, als weniger einschneidende Maßnahme wird § 67a StGB angewendet. Das OLG Hamm23 hat es zugelassen, mangels eines Platzes in einer Entziehungsanstalt die Entziehung in einem psychiatrischen Krankenhaus zu vollziehen. Nach dem OLG Celle24 darf jedoch der Maßregelvollzug in einer Entziehungsanstalt nicht wegen Platzmangels durch die Unterbringung in der geschlossenen Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses ersetzt werden, wenn dort keine Suchtbehandlung stattfindet25. Besteht im Maßregelvollzug entgegen einer anfänglich positiven Prognose keine hinrei- 8 chend konkrete Aussicht mehr auf einen Behandlungserfolg, muss der JRichter (§§ 82, 84, 85 IV, V) nach § 67d V 1 StGB die Unterbringung beenden. Bei der Prüfung der Behandlungsaussichten sind auch nicht unmittelbar suchtbezogene Umstände in Betracht zu ziehen26. Auch wenn sich nach dem Vollzug der Strafe herausstellt, dass der Verurteilte krankheitsbedingt nicht therapiefähig ist, ist die Unterbringung in der Entziehungsanstalt für erledigt zu erklären.27 Auch auf alleiniges Rechtsmittel des Angeklagten darf das Rechtsmittelgericht erstmals auf 9 Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (oder in einem psychiatrischen Krankenhaus) erkennen, ohne gegen das Verschlechterungsverbot zu verstoßen (näher § 55, 50). Auch neben lebenslanger Freiheitsstrafe ist die Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt zulässig28.

4. Vollzugsentscheidungen Die wichtigeren Entscheidungen trifft der Vollstreckungsleiter (§§ 82, 84, 85 IV, V), insbes. zu 10 Beginn, Fortdauer und Aussetzung der Vollstreckung (§ 83 I iVm §§ 462a, 463 StPO)29.

15 BayObLG NJW 81, 1522; OLG Schleswig MDR 80, 1038; vgl. auch OLG Hamm B NStZ 85, 447. Zum Vorwegvollzug der Strafe nach § 67 II StGB auch BGH 33, 285; BGH NStZ 86, 140; BGH GA 86, 119; BGH MDR 90, 96 zum Vorwegvollzug der Strafe bei notwendiger stationärer Langzeit-Drogenentwöhnung. 16 NStZ 90, 102. 17 BGH MDR 90, 350. 18 NStZ 81, 492 mit krit. Anm. Scholz; vgl. auch BGH NStZ 82, 132; OLG Dresden NStZ 93, 511; LG Hamburg MDR 81, 778; Ostendorf § 7, 13. 19 NJW 77, 345. 20 JMBl. NRW 77, 22. 21 Zum Vorrang der Maßregel auch BGH NJW 83, 240. 22 MDR 81, 70. 23 MDR 78, 950. 24 NStZ 95, 255 = JR 96, 81 mit Anm. Bringewat. 25 Zur Vollstreckung von Maßregel u. Strafe auch BGH StV 90, 260, 261. 26 BGH NStZ 90, 78. 27 OLG Zweibrücken MDR 89, 179. 28 BGH NJW 90, 3281. 29 Vgl. BGH 26, 164; Ostendorf/Drenkhahn 8. 597

§ 93a

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2. Teil. Jugendliche

Die Ausgestaltung des Vollzugs richtet sich nach Abs. II, den Strafvollzugs- und den Maßregelvollzugs- bzw. Unterbringungsgesetzen der Länder30. Gegen Vollzugsmaßnahmen in der Entziehungsanstalt ist grds. der Rechtsweg zur JKammer eröffnet (§ 92 I, II, VI).

5. Entziehungsanstalten 12 In Bayern arbeitet seit 1980 in Parsberg/Oberpfalz, in Niedersachsen in Brauel seit 1981 eine Entziehungsanstalt nach § 93a. Hinzugekommen ist die Anstalt in Marsberg/NRW31. In den anderen Bundesländern wird die Maßregel des § 64 StGB teilweise in psychiatrischen Krankenhäusern auch bei J und Hw. durchgeführt32. Vgl. auch § 10, 42. Weitere Hinweise Rn 1.

30 Für spezielle gesetzliche Bestimmungen zum JMaßregelvollzug TondorfTondorf ZJJ 09, 54, 56. 31 HK-JGG/Wulf 7. 32 Kühne Staatl. Drogentherapie auf dem Prüfstand, 1985, S. 82 zu Parsberg; Stromberg DRiZ 83, 189 zu Brauel; sehr negativ Quensel KrimJ 82, 81. 598

Viertes Hauptstück Beseitigung des Strafmakels §§ 94 bis 96 (weggefallen)

Vor § 97 Schrifttum Ernst Erweiterung der eintragungspflichtigen Entscheidungen nach JStrafrecht in das Bundeszentralregister, ZJJ 17, 365.

Übersicht 1. 2. 3. 4.

BZRG und Erziehungsziel des JGG 4 Erziehungsregister 14 Zentralregister 27 Akteneinsicht

1

5. 6. 7.

34 Dateiregelungen Länderübergreifendes staatsanwaltliches Verfah38 rensregister 39 Datenschutz nach dem SGB VIII

1. BZRG und Erziehungsziel des JGG Die begünstigenden Sondervorschriften hinsichtlich der Registrierung jstrafrechtlicher Maßnah- 1 men enthält ausschließlich das Gesetz über das Zentralregister und das ErzRegister (BundeszentralregisterG – BZRG) v. 18.3.1971 in der Neufassung v. 21.9.1984. Das BZRG wird ergänzt durch die Erste Allg. Verwaltungsvorschrift zur Durchführung des BZRG v. 24.5.1985 (1. BZRVwV)1. Durch das BZRG wurden die §§ 94–96 JGG aufgehoben, § 100 JGG wurde, durch das EGStGB 2 neu gefasst, wieder eingefügt. Das ErzZiel des JGG, spezialpräventiv auf den jungen Straftäter einzuwirken und ihn in 3 die Gesellschaft einzugliedern, kann durch die Registrierung von Tat und Folgen verfehlt werden, wenn der noch ungefestigte junge Mensch durch die Reaktion der über seine Bestrafung unterrichteten Gesellschaft in seinem Fortkommen behindert oder gar in eine sozialisationswidrige und damit letztlich kriminalitätsfördernde Isolation getrieben wird. Andererseits ist die Registrierung zu Zwecken der JHilfe, vor allem aber für die Persönlichkeitserforschung in späteren JStrafverfahren, schließlich auch zur Rechtsfolgenbemessung unerlässlich. Dieser Interessenwiderstreit soll durch günstigere registerliche Behandlung für J und Hw. erträglich gemacht werden.

2. Erziehungsregister Dem beim Bundeszentralregister geführten ErzRegister werden die in § 602 aufgeführten Ent- 4 scheidungen mitgeteilt und dort eingetragen. Welche ausländischen Verurteilungen eingetragen werden, wie dabei zu verfahren ist und wie die Eintragungen zu behandeln sind, regeln §§ 53a–58. 1 BAnz Nr. 99. 2 Im Rahmen dieser Vorbemerkung sind §§ ohne Bezeichnung solche des BZRG. Weitere Hinweise auf Vorschriften des BZRG finden sich bei den einzelnen Anmerkungen zu den entsprechenden JGG-Vorschriften. 599 https://doi.org/10.1515/9783110686401-127

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Werden vom JRichter nur ErzMaßregeln, Zuchtmittel, Nebenstrafen und Nebenfolgen ausgesprochen, so werden sie in das ErzRegister eingetragen. Werden sie jedoch mit einem Schuldspruch nach § 27 JGG, einer JStrafe oder einer Maßregel der Besserung und Sicherung verbunden, so werden sie in das Zentralregister eingetragen (§§ 60 I, 5 II). Damit finden sich in jedem Register vollständige Eintragungen; s. auch Rn 18 aE. Auch der Ungehorsamsarrest nach § 11 III JGG wird in das ErzRegister eingetragen. Dies ist durch das 7. BZRGÄndG v. 29.7.2017 ausdrücklich in § 60 I Nr. 2 geregelt, sodass der frühere Streit über die Eintragung erledigt ist3. Nicht eingetragen wird hingegen Ungehorsamsarrest nach § 98 II OWiG4. Mit Götz5 lässt sich die Nichteintragung damit begründen, dass weder bei J noch bei Erw. eine Zuwiderhandlung gegen Vorschriften des Ordnungsrechts eintragungspflichtig ist und dies auf dem Umweg über § 98 II OWiG dann faktisch doch geschähe (dazu auch § 82, 19). In den Fällen des Absehens von der Verfolgung nach §§ 45 III JGG oder der Einstellung des Verfahrens durch den JRichter nach §§ 47 I 1 Nr. 3 JGG ist auch die getroffene Maßnahme einzutragen (§ 60 II). Einstellung des Verfahrens oder Freispruch wegen fehlender Verantwortlichkeit nach § 3 JGG werden nur in das ErzRegister eingetragen (§ 60 I Nr. 6, § 11 II). Bei fehlender Schuldfähigkeit eines J nach § 20 StGB wird in das Zentralregister eingetragen (§ 11 Nr. 1). Die Auskunft aus dem ErzRegister regelt § 61 abschließend und nur für genau bezeichnete Zwecke. Bei der Einholung von Auskünften ist § 41 IV zu beachten. Die obersten Landes- und Bundesbehörden haben kein Recht auf Auskunft aus dem ErzRegister6. Das Bundesamt für Justiz kann aus dem ErzRegister (und dem Zentralregister) unbeschränkte Auskunft für wissenschaftliche Forschungsvorhaben gestatten (§ 42a iVm § 61 I). Jedem J wird auf Antrag mitgeteilt, welche Eintragungen über ihn im Register sind (§ 42 I S. 1). Eintragungen im ErzRegister werden entfernt, sobald der Betroffene das 24. Lebensjahr vollendet hat (§ 63 I). Mit Eintritt der „Entfernungsreife“ darf die Tat gem. §§ 63 I, IV, 51 nicht mehr zum Nachteil des Betroffenen verwertet werden. Die strafschärfende Verwertung früherer Verurteilungen zu ErzMaßregeln oder Zuchtmitteln ist daher unzulässig, wenn der Angeklagte am Tag der Urteilsverkündung das 24. Lebensjahr vollendet hat7. Ist aber im Zentralregister eine Freiheitsstrafe, Strafarrest, JStrafe oder eine freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung eingetragen, so bleiben bis zu deren Tilgungsreife auch die Eintragungen im ErzRegister bestehen (§ 63 II). Die nicht in das Zentralregister einzutragende Verurteilung zu JA entfaltet diese Wirkung nicht8. Wurde eine Eintragung entgegen § 63 BZRG nicht aus dem ErzRegister entfernt, darf sie in einem späteren Verfahren bei der Strafzumessung nicht verwertet werden. Wertet ein Gericht zum Nachteil des Angeklagten, er sei „bereits mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten“, obwohl diese Einträge im ErzRegister nach § 63 I BZRG zu entfernen gewesen wären, hat der Strafausspruch keinen Bestand9. Eintragungen aus dem ErzRegister und die ihnen zugrunde liegenden Sachverhalte braucht der Betroffene nur den Gerichten oder Behörden zu offenbaren, die ein Recht auf Auskunft aus dem ErzRegister haben (Rn 9), falls er hierüber belehrt wird (§ 64 I, II). Aus dem unterschiedlichen Wortlaut der §§ 53 I und 64 I wird man nicht schließen dürfen, dass der nur im ErzRegister Vermerkte weniger Rechte als der im Zentralregister haben sollte, zumal Einträge aus dem ErzRegister nicht in ein Führungszeugnis aufzunehmen sind (§§ 32 I, 61), was ua eine Vorausset3 4 5 6 7 8 9

Siehe dazu Ernst ZJJ 17, 367 f. Eisenberg/Kölbel § 11, 27. GA 73, 195. Tolzmann BZRG, 5. Aufl. 2015, § 61, 13. BGH B NStZ 95, 538; BGH StraFo 12, 423, 424. BGH B NStZ 95, 538, BGH StraFo 12, 423, 424. BGH H MDR 84, 445; BGH B NStZ 84, 448; BGH StV 91, 425; NStZ 91, 591 mit Anm. Kalf; BGH B NStZ-RR 01, 327; BayObLG 72, 157. 600

Zentralregister

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zung für die Rechte aus § 53 I ist. Es wird sich also auch der nur im ErzRegister Vermerkte als unbestraft bezeichnen dürfen, was bei Nachfragen und bei Einstellungsfragebögen wichtig werden kann. Nach Böhm10 soll es sogar erlaubt sein, zur Verdeckung der Strafzeiten für die „weißen Flecken im Lebenslauf“ Beschäftigungen zu erfinden (positive Lebenslüge). Das ist zwar konsequent, aber doch bedenklich. Den J über seine begrenzte Offenbarungspflicht zu belehren, bietet sich als bes. Aufgabe der JGH oder dem BewH an. In das Führungszeugnis werden Einträge aus dem ErzRegister nicht übernommen (§§ 32 I, 12 61). Driest11 schlägt vor, das BZRG dahin zu ergänzen, dass auch ausländische Urteile gegen J oder Hw. nicht in das Führungszeugnis aufgenommen werden. Wer im Einzelfall die Mitteilungen an das ErzRegister zu machen hat, regelt § 2 der 13 1. BZRVwV.

3. Zentralregister Welche Entscheidungen bei Anwendungen von JStrafrecht dem (Bundes-)Zentralregister mitzuteilen und dort einzutragen sind, ergeben die §§ 4 I Nr. 1, 2, 4; 5 II; 6; 7 I, III; 8; 13. Wegen § 3 JGG s. Rn 8; wegen mehreren verschieden registerpflichtigen Verurteilungen Rn 5. In das Zentralregister werden JStrafen (§ 17 JGG) und der Schuldspruch nach § 27 JGG eingetragen (§ 4 I Nr. 1, 4). Die EinheitsJStrafe (§ 31 I JGG) wird nach § 6 eingetragen. Wird eine bereits rechtskräftig gewordene JStrafe in eine weitere Verurteilung nach § 31 II JGG einbezogen, so sind beide Urteile einzutragen. Wird nachträglich nach § 66 JGG eine einheitliche Strafe gebildet, so ist die neue einheitliche Strafe zusätzlich zu den bereits eingetragenen Verurteilungen einzutragen. Werden bei der Einbeziehung ErzMaßregeln oder Zuchtmittel aufrechterhalten, so sind sie auch in das Zentralregister einzutragen (§ 5 II). Zum Schuldspruch nach § 27 JGG bei Einbeziehung Rn 18. Wird die Vollstreckung einer JStrafe zur Bew. ausgesetzt oder die Entscheidung über die Aussetzung vorbehalten, so wird dies im Zentralregister eingetragen und das Ende der BewZeit bzw. der vom Gericht für die Entscheidung über die Aussetzung gesetzten Frist, die nicht der gesetzlichen Höchstfrist entspricht, vermerkt (§ 7 I). Dies gilt auch, wenn dies nachträglich nach §§ 57, 61a JGG geschieht (§ 13 I Nr. 1), und in den Fällen des § 88 JGG (§ 13 I Nr. 2). Auch Abkürzung oder Verlängerung der BewZeit (§§ 22 II 2, 28 II 2, 88 V 2 JGG) sowie Erlass und Teilerlass einer JStrafe (§§ 26a, 88 VI 1 JGG) werden eingetragen (§ 13 I Nr. 3, 4), wie auch der Widerruf dieser Entscheidungen und der Beseitigung des Strafmakels nach § 101 JGG (§ 13 I Nr. 6). Mit der Eintragung des Schuldspruchs nach § 27 JGG (§ 4 Nr. 4) wird zugleich das Ende der BewZeit eingetragen (§ 7 III). Wird der Schuldspruch nach § 30 II JGG getilgt, so wird die Eintragung aus dem Zentralregister entfernt (§ 13 II 2 Nr. 1) und nach der ab 31.8.2020 geltenden Neufassung des § 60 der Schuldspruch gem. § 60 I Nr. 3 im ErzRegister eingetragen; wird nach § 30 I JGG auf JStrafe erkannt, so wird diese zusätzlich zum Schuldspruch eingetragen (§ 13 II 1); wird der Schuldspruch nach §§ 31 II, 66 JGG in eine Entscheidung einbezogen, die in das ErzRegister einzutragen ist, so wird er aus dem Zentralregister entfernt (§ 13 II 2 Nr. 2) und in das ErzRegister eingetragen (§ 60 I Nr. 3). Wird der Schuldspruch in eine EinheitsJStrafe einbezogen, ist auch diese in das Zentralregister einzutragen. Die Eintragung von Gnadenerweisen und Amnestien regelt § 14. Die JGerichte haben dem Bundeszentralregister die einzutragenden Entscheidungen, Feststellungen und Tatsachen mitzuteilen (§ 20). Diese Mitteilung obliegt idR dem Beamten beim Vollstreckungsleiter (vgl. RL II Nr. 4 zu §§ 82–85 JGG). – Wer die Mitteilungen an das Zentralre-

10 Einf. in das JStrafrecht, 3. Aufl. S. 254. 11 StV 89, 458. 601

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gister im Einzelfall zu bewirken hat, bestimmt § 1 der 1. BZRVwV. Über die Hinweispflichten der Registerbehörde an Gerichte u. Behörden s. § 22. In das Führungszeugnis werden Einträge aus dem ErzRegister nicht aufgenommen (§ 61 I). Welche Verurteilungen nach JStrafrecht aus dem Zentralregister nicht in das Führungszeugnis aufgenommen werden, bestimmt § 32 II Nr. 2, 3, 4, 7, 8. Vgl. auch Rn 12. Sind im Zentralregister mehrere Verurteilungen eingetragen, so werden alle in das Führungszeugnis aufgenommen, solange eine von ihnen dort aufzunehmen ist (§ 38 I). Die jstrafrechtlichen Verurteilungen nach § 32 II Nr. 2, 3 und 4 werden aber ebenso wenig mitgezogen (§ 38 II Nr. 2) wie alle Eintragungen aus dem ErzReg. (§§ 32 I, 61). Das Bundesamt für Justiz kann unter bestimmten Voraussetzungen die Nichtaufnahme von Verurteilungen in das Führungszeugnis anordnen (§ 39). Welchen Gerichten und Behörden unbeschränkt Auskünfte über Eintragungen aus dem Zentralregister, die in ein Führungszeugnis nicht aufgenommen werden, erteilt werden dürfen und die Voraussetzungen hierzu bestimmt § 41. Wenn bei JStrafe der Strafmakel beseitigt ist, wird sie auch diesen Behörden nicht mitgeteilt (§ 41 III; § 100 JGG). Zu ausdrücklichen Auskunftsersuchen nach § 41 III u. IV auch RiStBV Nr. 16 III u. § 101 JGG 8. Über Tilgung von Verurteilungen nach JStrafrecht s. § 46; über Feststellung und Berechnung der Fristen § 4712; zur Anordnung der Tilgung in bes. Fällen §§ 48, 49. Ist die Eintragung über eine Verurteilung im Register getilgt worden oder ist sie zu tilgen, dürfen Tat und Verurteilung dem Betroffenen im Rechtsverkehr nicht mehr vorgehalten und nicht zu seinem Nachteil verwertet werden (§ 51 I)13, über Ausnahmen § 52. § 51 I verbietet auch die strafschärfende Erwägung, dass der Vollzug der von dem Verwertungsverbot betroffenen Strafe nicht ausreichte, um den Täter von weiteren Straftaten abzuhalten, und erstreckt sich auch auf Umstände, die eng mit der nicht verwertbaren Tat zusammenhängen, z.B. hohe Rückfallgeschwindigkeit14 (vgl. auch Rn 10). Der Verurteilte darf sich als unbestraft bezeichnen und braucht den der Verurteilung zugrunde liegenden Sachverhalt nicht zu offenbaren, wenn die Verurteilung nicht im Register einzutragen, nicht in das Führungszeugnis aufzunehmen oder zu tilgen ist (§ 53 I). Soweit Gerichte und Behörden ein Recht auf unbeschränkte Auskunft haben, kann er aus § 53 I ihnen gegenüber keine Rechte herleiten, falls er hierüber belehrt wird (§ 53 II). Siehe auch Rn 11.

4. Akteneinsicht 27 Für die Datenverarbeitung und den Datenschutz im JStrafverfahren gelten zunächst die speziellen Vorschriften des JGG, der StPO und des EGGVG (vgl. § 1 II 1 BDSG). Zum Datenschutz nach dem SGB VIII s. § 38 JGG 47. Ergänzend greifen insbes. die Bestimmungen des 3. Teils des BDSG (§§ 45 ff) ein, welche die Richtlinie (EU) 2016/680 v. 27.4.201615 über den Datenschutz bei der Strafverfolgung umsetzen16. Die EU-Datenschutzgrundverordnung gilt nicht für die Strafverfolgung (s. Art. 2 II d) EU-DSGVO). Während des Verfahrens haben die Verfolgungsbehörden (unbeschränkt nur die StA) und 28 der Verteidiger des Beschuldigten Akteneinsicht (§ 147 I StPO). Dem Verteidiger kann sie aber von der StA versagt werden, wenn sie den Abschluss der Ermittlungen noch nicht in den Akten vermerkt hat (§ 169a StPO) und der Untersuchungszweck gefährdet sein könnte (§ 147 II StPO;

12 Dazu OLG Hamburg MDR 77, 162. 13 BGH B NStZ 84, 448; BGH StV 90, 348; BGH B NStZ-RR 01, 327. 14 BGH NStZ 06, 587. Zu den Grenzen des Verwertungsverbots OLG Frankfurt NJW 76, 1410; zur indiziellen Verwertung einer getilgten Vortat BGH 27, 108. Zu § 52 OLG Düsseldorf VRS Bd. 54 (78), 50. 15 Amtsblatt der EU L 119/89. 16 Näher Johannes/Weinhold Das neue Datenschutzrecht bei Polizei u. Justiz, 2018. 602

Akteneinsicht

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vgl. auch Rn 29 u. 37). Diese Grundsätze gelten auch für den Beistand des J (vgl. § 69, 8). Zur Überprüfung der Ablehnung der Akteneinsicht Rn 29 aE. Zum Strafregisterauszug Rn 37. Der verteidigte Beschuldigte (Angeklagte) selbst kann Akteneinsicht nicht beanspruchen17. Hat er keinen Verteidiger, ist er nach § 147 IV 1 StPO zur Akteneinsicht befugt, soweit der Untersuchungszweck, auch in einem anderen Strafverfahren, nicht gefährdet werden kann und nicht überwiegende schutzwürdige Interessen Dritter entgegenstehen18. Spätestens mit Beginn seiner Vernehmung zur Sache müssen dem Beschuldigten die Verdachtsgründe mitgeteilt werden, um ihm Gelegenheit zu geben, sie auszuräumen19. Der Informationsvorsprung der StA rechtfertigt sich aus den Erfordernissen einer wirksamen und funktionstüchtigen Strafrechtspflege20. Dies kann auch bei Abwägung der Gründe für Gewährung von Akteneinsicht durch den Verteidiger (§ 147 II StPO) zu berücksichtigen sein. Gegen die Versagung der Akteneinsicht kann in den Fällen des § 147 V 2 StPO gerichtliche Entscheidung beantragt werden. Im Übrigen ist nach hM die Versagung der Akteneinsicht im Ermittlungsverfahren eine Prozesshandlung, die im Verfahren nach §§ 23 ff EGGVG nicht überprüft werden kann21. Nach dem OLG Frankfurt22 ist die Versagung ein Justizverwaltungsakt, Überprüfung nach §§ 23 ff EGGVG aber gleichwohl unzulässig, weil der durch die StPO gewährte Rechtsschutz ausreicht, es sei denn, die StA habe objektiv willkürlich gehandelt. Werden Auskünfte an den nicht verteidigten Beschuldigten abgelehnt, gilt nach § 147 VII 2 StPO die Vorschrift des § 147 V 2 StPO über den Antrag auf gerichtliche Entscheidung entsprechend. Vgl. auch § 70 JGG 11. Rechtsgrundlagen für die Erteilung von Auskünften und die Gewährung von Akteneinsicht an nicht am Verfahren Beteiligte enthalten die durch das JuMiG und das StrafverfahrensänderungsG 1999 (§ 70 JGG 3) geschaffenen §§ 474 ff StPO, 12 ff EGGVG. Nach § 475 I 1, II und IV StPO sind Privatpersonen Auskünfte zu erteilen und ist Rechtsanwälten ggf. Akteneinsicht zu gewähren, soweit sie hierfür ein berechtigtes Interesse darlegen. Nach § 475 I 2 StPO sind Auskünfte jedoch zu versagen, wenn der hiervon Betroffene ein schutzwürdiges Interesse an der Versagung hat. Diese Vorschrift ermöglicht es, bei der Entscheidung über die Datenübermittlung den Persönlichkeitsrechten der J und Hw. und dem ErzGedanken des JGG angemessen Rechnung zu tragen. Gerichte, Staatsanwaltschaften und andere Justizbehörden enthalten nach § 474 I StPO Akteneinsicht, wenn dies für Zwecke der Rechtspflege erforderlich ist. Die Informationsübermittlung von Amts wegen für Zwecke der Strafverfolgung, der Vollstreckung von Strafen, Maßnahmen, Erziehungsmaßregeln und Zuchtmitteln, den Vollzug von freiheitsentziehenden Maßnahmen und Entscheidungen in Straf-, Bußgeld- und Gnadensachen ist in § 477 StPO geregelt. Für die Übermittlung personenbezogener Daten an andere öffentliche Stellen enthalten die §§ 474 II, 476 StPO und 12 ff EGGVG Rechtsgrundlagen. Einschränkungen der Zulässigkeit der Informationsübermittlung, die auch die Berücksichtigung der Schutzinteressen J und Hw. ermöglichen, enthalten die §§ 479 StPO und 13 II, 14 II EGGVG. So darf nach § 479 III StPO in Verfahren mit Freispruch, Ablehnung der Eröffnung, Einstellung oder einer Verurteilung, die nicht in ein Führungszeugnis für Behörden aufgenommen wird (Rn 12) und bei der seit Rechtskraft mehr als 2 Jahre verstrichen sind, Auskunft an nicht öffentliche Stellen nur unter engen Voraussetzungen erteilt werden. Das dem Rechtsanwalt gewährte bes. Akteneinsichtsrecht für den Verletzten nach § 406e StPO besteht auch im JStrafverfahren23. Wenn schutzwürdige Interessen des J entgegenstehen – 17 18 19 20 21 22 23

KG JR 65, 69; Meyer-Goßner/Schmitt § 147 StPO 3. Dazu Meyer-Goßner/Schmitt § 147 StPO 31, 32. BVerfG MDR 84, 284. BVerfG aaO. OLG Hamburg MDR 84, 514; Meyer-Goßner/Schmitt § 147 StPO 40. MDR 89, 93. Dölling in Weisser Ring, Hrsg., Täterrechte – Opferrechte, 1996, S. 76; KMR/Stöckel Vor § 406d StPO 7; Löwe/ Rosenberg/Hilger26 Vor § 406d StPO 6; Stock MKrim. 87, 358; Kondziela Opferrecht im JStrafverfahren, 1991, S. 159; für erhöhte Einschränkungen des Akteneinsichtsrechts Eisenberg/Kölbel § 2, 54; Beulke/Swoboda Rn 867. 603

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und das kann in Anbetracht der umfangreichen Persönlichkeitsermittlungen leicht der Fall sein und muss jedenfalls stets vor der Entscheidung sorgfältig geprüft werden –, kann Akteneinsicht nach § 406e II 1 StPO versagt oder entsprechend eingeschränkt werden. Es können also auch Aktenstücke vor der Einsichtnahme entfernt werden, insbes. auch die Auskunft aus dem BZRG (vgl. RiStBV 16 II 2). Ob im Einzelfall eine andere Entscheidung geboten sein kann, mag dahingestellt sein, der Sinngehalt des JGG jedenfalls spricht für die J. § 406e I 2 StPO, nach dem es in den in § 395 StPO genannten Fällen der Darlegung eines berechtigten Interesses für die Akteneinsicht nicht bedarf, ist im Verfahren gegen J nur in den Fällen anwendbar, in denen die Nebenklage nach § 80 III zulässig ist24. Für den Verteidiger gelten Rn 28 u. 37. Auf Mitnahme der Akten hat der Rechtsanwalt keinen Anspruch25. Als Bestandteil der Akten ist auch der JGHBericht zugänglich (vgl. § 38, 34), diesen von der Einsicht auszunehmen, liegt aber im Interesse des J und beeinträchtigt die Interessen des Verletzten idR nicht. Inwieweit das Akteneinsichtsrecht des Verletzten in Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen nach § 406e II 2 StPO eingeschränkt werden kann, ist umstritten26.

5. Dateiregelungen 34 Nach den durch das StrafverfahrensänderungsG 1999 (§ 70 JGG 3) eingeführten §§ 483 ff StPO können die Justizbehörden Dateien für Zwecke des Strafverfahrens und der Vorgangsverwaltung, die Strafverfolgungsbehörden auch für Zwecke künftiger Strafverfahren errichten und nutzen. Damit ist ua eine Rechtsgrundlage für die EDV-geführten Dateien der örtlichen StA (Zentrale Namenskartei, Js- und UJs-Register, Vorgangsverwaltung in der Hauptregistratur) geschaffen. Die Zentrale Namenskartei und die anderen genannten Register sind ua Hilfsmittel für die 35 Aktenführung. Sie vermitteln lediglich Hinweise, ersetzen nicht die Auskunft aus dem Bundeszentralregister bzw. ErzRegister oder die Einsicht in die einschlägigen Beiakten und dienen nicht als Grundlage für eine Entscheidung. Nach § 487 I StPO dürfen die in den Dateien nach §§ 483 bis 485 StPO (Rn 34) gespeicherten Dateien den zuständigen Stellen übermittelt werden, soweit dies für die in diesen Vorschriften genannten Zwecke, für Zwecke eines Gnadenverfahrens oder der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen erforderlich ist. Die Auskunftserteilung an Dritte richtet sich gem. § 487 II StPO nach den Vorschriften der StPO über Akteneinsicht und Auskunft aus den Akten (Rn 30 ff). 36 Für die Datenweitergabe nach § 487 I StPO lässt § 488 StPO die automatisierte Datenübermittlung zu. Die Löschung gespeicherter Daten ist in § 489 StPO geregelt. Die Pflicht zur Berichtigung unrichtiger Daten folgt unmittelbar aus § 75 BDSG27. Zum Auskunftanspruch des Betroffenen vgl. § 491 StPO. Entgegen dem LG Hildesheim28 hat der Verteidiger das Recht auf Einsicht in den bei den 37 Akten befindlichen Strafregisterauszug29. Dem stehen weder Grundsätze des Datenschutzes entgegen30 noch die vertrauliche Behandlung der Auskünfte nach § 44 BZRG31.

Löwe/Rosenberg/Hilger26 aaO. Meyer-Goßner/Schmitt § 406e StPO 8. Vgl. OLG Hamburg NStZ 15, 105 einerseits u. OLG Braunschweig NStZ 16, 129 mit zust. Anm. Schöch andererseits. Meyer-Goßner/Schmitt/Köhler § 489 StPO 2. NStZ 83, 88. Ausdrücklich BVerfG NJW 83, 1046. Schmid abl. Anm. zu LG Hildesheim in NStZ 83,89. BVerfG aaO. Ebenso nach dem Grundsatz der Aktenvollständigkeit OLG Frankfurt NJW 60, 1731; Löwe/Rosenberg/Jahn27 § 147 StPO 68.

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6. Länderübergreifendes staatsanwaltliches Verfahrensregister Die Regelungen über das durch das VerbrechensbekämpfungsG von 1994 eingeführte Länder- 38 übergreifende staatsanwaltliche Verfahrensregister32 befinden sich nach dem StrafverfahrensänderungsG 1999 in den §§ 492–495 StPO. In das Register sind ua die Personendaten des Beschuldigten, die Einleitung und die Erledigung des Verfahrens einzutragen; Auskünfte dürfen grds. nur Strafverfolgungsbehörden für Zwecke eines Strafverfahrens erteilt werden (§ 492 StPO). Ergibt sich aus dem Bundeszentralregister, dass eine nach § 20 BZRG mitteilungspflichtige Entscheidung ergangen ist, sind die Daten im Verfahrensregister zu löschen (§ 494 II 1 StPO). Das Verfahrensregister ist also dem Bundeszentralregister vorgelagert. In das Verfahrensregister sind auch Verfahren gegen J und Hw. einzutragen. Zwar mag dies in manchen Fällen unverhältnismäßig erscheinen. Die Anwendbarkeit der §§ 474 ff StPO folgt aber aus § 2 II JGG. Landesinterne Register bleiben von den Regelungen über das länderübergreifende Register unberührt33.

7. Datenschutz nach dem SGB VIII Zur Problematik des Datenschutzes nach dem SGB VIII, bes. im Verhältnis zu den Aufgaben der 39 JGH, § 38 JGG 47.

§ 97 Beseitigung des Strafmakels durch Richterspruch (1) 1Hat der Jugendrichter die Überzeugung erlangt, daß sich ein zu Jugendstrafe verurteilter Jugendlicher durch einwandfreie Führung als rechtschaffener Mensch erwiesen hat, so erklärt er von Amts wegen oder auf Antrag des Verurteilten, des Erziehungsberechtigten oder des gesetzlichen Vertreters den Strafmakel als beseitigt. 2Dies kann auch auf Antrag des Staatsanwalts oder, wenn der Verurteilte im Zeitpunkt der Antragstellung noch minderjährig ist, auf Antrag des Vertreters der Jugendgerichtshilfe geschehen. 3Die Erklärung ist unzulässig, wenn es sich um eine Verurteilung nach den §§ 174 bis 180 oder 182 des Strafgesetzbuches handelt. (2) 1Die Anordnung kann erst zwei Jahre nach Verbüßung oder Erlaß der Strafe ergehen, es sei denn, daß der Verurteilte sich der Beseitigung des Strafmakels besonders würdig gezeigt hat. 2Während des Vollzugs oder während einer Bewährungszeit ist die Anordnung unzulässig. 1. Hw.-JRecht: § 111. – 2. ErwG: § 104, 1.

Richtlinien zu § 97 1.

2.

Wird wegen einer Jugendstrafe eine Vergünstigung nach §§ 39, 49 BZRG erbeten, so ist das Gesuch in der Regel zunächst dem nach § 98 zuständigen Jugendgericht vorzulegen, damit dieses prüfen kann, ob die Beseitigung des Strafmakels durch Richterspruch angebracht ist. Wird der Strafmakel als beseitigt erklärt, so ist dem Verurteilten zu eröffnen, dass sein Gesuch als damit erledigt angesehen wird. Wegen der Eintragung der Entscheidung nach § 97 in das Zentralregister wird auf § 13 Abs. 1 Nr. 5 BZRG hingewiesen.

Nach § 32 II Nr. 2, 3 BZRG werden Eintragungen im Zentralregister über eine Verurteilung nach 1 § 27 und über Verurteilungen zu nicht mehr als 2 Jahren JStrafe, bei der die Vollstreckung der 32 Dazu Lemke BewH 99, 135. 33 König/Seitz NStZ 95, 5. 605 https://doi.org/10.1515/9783110686401-128

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Strafe oder eines Strafrestes zur Bew. ausgesetzt oder nach § 35 BtMG zurückgestellt und diese Entscheidung nicht widerrufen worden ist, nicht in das Führungszeugnis aufgenommen. Dies entspricht den Wirkungen der früheren „Anordnung der beschränkten Auskunft aus dem Strafregister“ und nicht voll den Wirkungen der Beseitigung des Strafmakels (Rn 10–14 u. § 100, 1). Deshalb konnte § 96, I, II aF entfallen, § 96 III 1 aF wurde inhaltlich in § 100 übernommen. Nach § 97 I beseitigt der Richter auch in den von § 100 nicht erfassten Fällen bei J und Hw., die zu JStrafe verurteilt sind, den Strafmakel durch unabhängige jrichterliche Entscheidung (§§ 98 f), wenn bestimmte Voraussetzungen vorliegen. Über die starren Fristen des BZRG hinaus können so die bes. Situation junger Menschen berücksichtigt, die Rehabilitation erleichtert, die Fernwirkungen der Strafe beseitigt (entwicklungsbedingte Tat, Gefährdung der Berufsausbildung; Vorb. 3 u. Einf. 22, 28) und ein bes. Anreiz zu einwandfreier Führung gegeben werden. Bei folgenden Voraussetzungen muss (Abs. I: „erklärt … als beseitigt“) die Beseitigung des Strafmakels angeordnet werden: Verurteilung des J oder Hw. (§ 111) auch durch ein ErwGericht (§ 104, 1) zu JStrafe von mehr als 2 Jahren oder zu voll zu verbüßender JStrafe bis zu 2 Jahren (sonst § 100). Neben der JStrafe angeordnete ErzMaßregeln, Zuchtmittel, Nebenstrafen, Nebenfolgen oder Maßregeln der Besserung und Sicherung hindern die Beseitigung des Strafmakels nicht1. Die Erklärung ist jedoch nach dem durch das G zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten v. 26.1.1998 eingefügten Abs. I 3 unzulässig, wenn es sich um eine Verurteilung nach den §§ 174 bis 180 oder 182 StGB handelt2. Die Eintragung darf noch nicht getilgt oder tilgungsreif sein, denn die schon eingetretene Wirkung braucht und kann nicht noch einmal herbeigeführt werden. Der Verurteilte muss also noch leben, da Eintragungen über Tote aus dem Zentralregister entfernt werden (§ 24 I BZRG). Die JStrafe muss verbüßt, endgültig erlassen oder amnestiert sein. Läuft noch eine BewZeit (auch im Gnadenweg), ist die Beseitigung des Strafmakels ebenso ausgeschlossen wie während Strafunterbrechung, -aufschub oder gar während des Vollzugs (Abs. II 2). Eine laufende Bew. in anderer Sache hindert nicht die Beseitigung des Strafmakels für eine vorgehende Strafe, deren Bew. abgelaufen ist3, wird aber zu ernster Prüfung Anlass geben (Rn 7). Grds. müssen 2 Jahre (Abs. II 1) seit vollständiger Verbüßung oder Erlass, also seit Zustellung des Beschlusses nach § 26a4, Ausspruch des Gnadenerweises, Inkrafttreten des Amnestiegesetzes, abgelaufen sein. Ausnahmen sind bei außergewöhnlichen Leistungen möglich, wenn diese ohne die sonst notwendige längere Beobachtung des J ein Abrücken des Täters von seiner früheren Einstellung deutlich zeigen. Rechtschaffenheit5, bewiesen durch einwandfreie Führung (Abs. I 1). Straffreies Verhalten genügt nicht6; gefordert wird eine positiv betätigte, die Rechtsordnung bejahende Gesinnung7, z.B. Verhalten und Leistungen in Beruf, Familie, Nachbarschaft, bei Unglücksfällen oder für die Allgemeinheit. Für die Bejahung oder Verneinung dieser Voraussetzung müssen bestimmte Tatsachen angeführt werden8. Grds. Antrag (Abs. I) des Verurteilten oder des gesetzlichen Vertreters oder ErzBerechtigten eines J. Denn diese können am besten beurteilen, ob der Strafvermerk nachteilig ist; überdies kann das die Vorgänge wieder aufwühlende Verfahren uU mehr schaden als nützen. – JStA und JGH sollten deshalb nur in Ausnahmefällen und nur nach Anhörung des Verurteilten und seiner Angehörigen ihr Antragsrecht ausüben. Gleiches gilt für die Einleitung eines Verfahrens von 1 2 3 4 5 6 7 8

Dallinger/Lackner 6; Eisenberg/Kölbel 10; DSS/Schatz 21. Krit. dazu Eisenberg/Kölbel 4; Dessecker StV 99, 683; zust. DSS/Schatz 6. AG Höxter B NStZ 88, 493; vgl. auch Hohendorf UJ 88, 132. Dallinger/Lackner 13; aA Eisenberg/Kölbel 8; Ostendorf/Goerdeler/Rose 5; DSS/Schatz 29 „aktenmäßiger Erlass“. Dallinger/Lackner 8–10; krit. dazu Eisenberg/Kölbel 11 iVm § 5, 4. So aber Ostendorf/Goerdeler/Rose 7. Dallinger/Lackner 8. Eisenberg/Kölbel 12. 606

Verfahren

§ 98

Amts wegen durch das Gericht9. – Gesetzlicher Vertreter, ErzBerechtigter und JGH können den Antrag nur bei noch Minderjährigen stellen (§ 67, 29 u. § 97 I 2). Im Übrigen ist das Alter des Verurteilten im Zeitpunkt des Verfahrens ohne Bedeutung. – Wegen Wiederholung eines abgewiesenen Antrags § 99, 1 aE; wegen Behandlung eines Antrags nach §§ 39, 49 BZRG RL 1. Die Anordnung der Beseitigung des Strafmakels ist dem Zentralregister mitzuteilen (§§ 13 I Nr. 5, 20 BZRG; RL II Nr. 4 zu §§ 82–85). § 22 BZRG ist nicht entsprechend anwendbar10. Die Anordnung der Beseitigung des Strafmakels bewirkt: Die Verurteilung bleibt zwar im Zentralregister vermerkt, wird aber nicht mehr in das Führungszeugnis aufgenommen (= beschränkte Auskunft, § 32 II Nr. 4 BZRG). Dies gilt auch, wenn von anderen eingetragenen oder später noch einzutragenden Verurteilungen eine in das Führungszeugnis aufzunehmen ist (§ 38 II Nr. 2 BZRG), sie wird also nicht „mitgezogen“. Die Verurteilung wird nur noch den Strafgerichten und Staatsanwaltschaften für ein Strafverfahren gegen den Betroffenen mitgeteilt (§ 41 II 1 BZRG), aber nicht den in § 41 I BZRG aufgezählten Behörden. Um diese Auskunft muss ausdrücklich und mit dem Hinweis, dass es zum Zwecke der Strafverfolgung geschieht, ersucht und sie darf nur für diesen Zweck verwertet werden (§ 41 III BZRG). Diese Auskunftsbefugnisse sollten zurückhaltend und keinesfalls bei unbedeutenden Strafverfahren ausgeübt werden; vgl. aber Rn 13 u. § 101, 6. Der Verurteilte darf sich als unbestraft bezeichnen und braucht den der Verurteilung zugrunde liegenden Sachverhalt nicht mehr zu offenbaren (§ 53 I Nr. 1 BZRG), dies gilt aber nicht gegenüber Staatsanwaltschaften und Gerichten, falls er hierüber belehrt wird (§ 53 II BZRG). Vor § 97, 11 u. 26. Ein in anderer Sache entscheidender Richter ist nicht gehindert, die entsprechende Verurteilung im Rahmen der Strafzumessung zu berücksichtigen11. Die Tilgungsfrist beträgt 5 Jahre (§ 46 I Nr. 1 f BZRG). Für Feststellung und Berechnung der Frist gelten § 47 I und für deren Ablaufhemmung § 47 II, III BZRG. Die Beseitigung des Strafmakels beschränkt nicht das aus § 47 III 1 BZRG folgende Tilgungsverbot12. Bis zur Tilgung oder Tilgungsreife besteht kein Verwertungsverbot13. Die Beseitigung des Strafmakels kann widerrufen werden (s. § 101).

§ 98 Verfahren (1) 1Zuständig ist der Jugendrichter des Amtsgerichts, dem die familiengerichtlichen Erziehungsaufgaben für den Verurteilten obliegen. 2Ist der Verurteilte volljährig, so ist der Jugendrichter zuständig, in dessen Bezirk der Verurteilte seinen Wohnsitz hat. (2) 1Der Jugendrichter beauftragt mit den Ermittlungen über die Führung des Verurteilten und dessen Bewährung vorzugsweise die Stelle, die den Verurteilten nach der Verbüßung der Strafe betreut hat. 2Er kann eigene Ermittlungen anstellen. 3Er hört den Verurteilten und, wenn dieser minderjährig ist, den Erziehungsberechtigten und den gesetzlichen Vertreter, ferner die Schule und die zuständige Verwaltungsbehörde. (3) Nach Abschluß der Ermittlungen ist der Staatsanwalt zu hören. 1. Hw.-JRecht: Abs. I S. 2; Rn 2; § 111. – 2. ErwG: § 104, 1.

9 Dallinger/Lackner 17; Potrykus B 3; Eisenberg/Kölbel 5; DSS/Schatz 18; aA Ostendorf/Goerdeler/Rose 8. 10 Eisenberg/Kölbel 13; Ostendorf/Goerdeler/Rose 11. 11 BGH H MDR 82, 972; BGH NStZ-RR 19, 190; Ostendorf/Goerdeler/Rose 12; Bedenken bei Eisenberg/Kölbel § 100, 3a.

12 BGH NStZ-RR 09, 291; BVerwG ZJJ 14, 293, 294. 13 BVerwG ZJJ 14, 293, 295. 607 https://doi.org/10.1515/9783110686401-129

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§ 99

2. Teil. Jugendliche

Richtlinien zu § 98 1. 2.

In dem Verfahren zur Beseitigung des Strafmakels empfiehlt es sich in der Regel, außer den Strafakten und den Vollstreckungsvorgängen die Personalakten der Vollzugsanstalt heranzuziehen. Bei der Erteilung von Ermittlungsaufträgen empfiehlt es sich, die beauftragte Stelle auf die Notwendigkeit schonender Durchführung der Ermittlungen hinzuweisen. Es muss vermieden werden, dass die Verurteilung Personen bekannt wird, die bisher darüber nicht unterrichtet waren.

1 Die Verfahrensvorschriften der §§ 98, 99 beziehen sich nur auf die Beseitigung des Strafmakels durch Richterspruch nach § 97. Dies ergibt sich schon aus der allg. Fassung der Überschrift des Vierten Hauptstückes und daraus, dass der Gesetzgeber die Beseitigung des Strafmakels nach Erlass einer Strafe als § 100 nach diesen Vorschriften eingefügt hat. Da der Richter bei der Entscheidung nach § 100 keinen Ermessensspielraum hat, bedarf es weder bes. Ermittlungen noch der Anfechtbarkeit (§ 100, 5). 2 Zuständig (Abs. I) ist immer der JRichter. Örtlich zuständig ist für J der JRichter des AG, dem die familiengerichtlichen ErzAufgaben für diesen obliegen (Abs. I 1; § 152 FamFG), für den (volljährigen) Hw. – zZ des Eingangs des Antrags bei Gericht oder der Einleitung des Amtsverfahrens – der JRichter, in dessen Bezirk jener seinen Wohnsitz hat (Abs. I 2)1. Herr der Ermittlungen ist der JRichter (Abs. II 2). Im Hinblick auf die erforderliche einge3 hende Aufklärung der persönlichen Verhältnisse (§ 97, 7) sind gründliche Ermittlungen geboten; der JRichter hat aber alles zu tun, um eine schonende Durchführung sicherzustellen (RL 2 u. § 97, 8). Der JRichter wird zunächst durch Aktenbeiziehung (RL 1) und Anhörung des Verurteilten, 4 ggf. der gesetzlichen Vertreter oder ErzBerechtigten, feststellen, wie weit bes. Ermittlungen nötig sind. Sind sie nicht zu vermeiden, ist grds. die JGH (§ 38 II 9) oder der BewHelfer mit der Durchführung unter Hinweis auf bes. schonende Handhabung (RL 2) und regelmäßig mit einem bestimmten Ermittlungsauftrag einzusetzen (Abs. II 1). Weiter sind stets die vom Verurteilten zZ besuchte öffentliche Schule unter Hinweis auf 5 Wesen und Sinn dieses Verfahrens und die nach Landesrecht zuständige untere Verwaltungsbehörde (grds. Landkreis) zu hören; falls noch nicht geschehen, auch der Verurteilte, gesetzliche Vertreter und ErzBerechtigte (Abs. II 3). Auch JGH, Familiengericht, Vollstreckungsleiter, JAmt, Polizei können ggf. gehört werden. Ostendorf/Goerdeler/Rose2 regen an, der Schule den Grund der Anfrage nicht mitzuteilen. Gerade das aber fordert falsche Schlüsse heraus. Vorsicht aber bleibt geboten (näher § 70, 7). Das Verfahren kennt keine mündliche Verhandlung. Doch ist zur Aufklärung mündliche 6 Anhörung möglich und beim Verurteilten meist zweckmäßig. Erst nach Abschluss aller Ermittlungen werden die Akten der für das Gericht zuständigen 7 JStA zur Stellungnahme zugeleitet (Abs. III); diese stellt einen bestimmten Antrag.

§ 99 Entscheidung (1) Der Jugendrichter entscheidet durch Beschluß. (2) Hält er die Voraussetzungen für eine Beseitigung des Strafmakels noch nicht für gegeben, so kann er die Entscheidung um höchstens zwei Jahre aufschieben. (3) Gegen den Beschluß ist sofortige Beschwerde zulässig. 1. Hw.-JRecht: § 111. – 2. ErwG: § 104, 1.

1 Eisenberg/Kölbel 3; Ostendorf/Goerdeler/Rose 3. 2 5. 608 https://doi.org/10.1515/9783110686401-130

Beseitigung des Strafmakels nach Erlaß einer Strafe oder eines Strafrestes

§ 100

§ 99 gilt nur für die Beseitigung des Strafmakels nach § 97 (näher § 98, 1). Der Beschluss kann einen dreifachen Inhalt haben. Entweder er erklärt (1) den Strafmakel für beseitigt, wenn die Voraussetzungen vorliegen (§ 97, 2), oder (2) er schiebt die Entscheidung gem. Abs. II auf, wenn nur die zeitlichen Voraussetzungen (§ 97, 5, 6) nicht gegeben sind oder wenn für das Urteil „rechtschaffener Mensch“ (§ 97, 7) noch weiterer Beweis erforderlich erscheint. Nach Ablauf der gem. Abs. II gesetzten Frist muss das Verfahren fortgesetzt und durch Beschluss abgeschlossen werden. Eine Einstellung (Rn 2) ist ausgeschlossen1; eine weitere aufschiebende Entscheidung ist nur möglich, wenn der Aufschub insgesamt 2 Jahre nicht übersteigt2. Oder (3) der JRichter weist den Antrag als unbegründet (oder ggf. als unzulässig) zurück, wenn eine positive Entscheidung in absehbarer Zeit nicht zu erwarten ist. Für einen neuen Antrag müssen neue Tatsachen vorliegen (Rechtskraft)3. Ein von Amts wegen eingeleitetes Verfahren wird bei Zurückweisung des Antrags durch eine Verfügung formlos eingestellt. Zwar ist auch ein feststellender Beschluss dahin möglich, dass die Voraussetzungen nicht vorliegen, doch im Amtsverfahren grds. nicht angebracht4. Einem Antrag allerdings muss auch ein Beschluss gegenüberstehen. Der Beschluss ist zu begründen (§ 34 StPO) und gem. §§ 35 II, 41 StPO, 67a I JGG mit Rechtsmittelbelehrung (§ 35a StPO) zuzustellen. Wegen Mitteilung des rechtskräftigen Beseitigungsbeschlusses an das Zentralregister § 97, 9. Die Einstellungsverfügung (Rn 2) ist nur mitzuteilen (§ 35 II StPO). Gegen jeden Beschluss ist die sofortige Beschwerde (Abs. III, § 311 StPO) zur JKammer gegeben, die in vollem Umfang nachprüft. Weitere Beschwerde ist nicht zulässig (§ 310 StPO). Die Einstellungsverfügung kann nicht angefochten werden; sie hindert einen neuerlichen Antrag nach § 97 I nicht. Beschwerdeberechtigt sind der Verurteilte, bei J auch der gesetzliche Vertreter oder ErzBerechtigte, ggf. ein Verteidiger; der Antragsteller bei Ablehnung der Beseitigung oder Aufschub, die JStA immer, außer wenn auf ihren Antrag die Beseitigung angeordnet wurde (hier keine Beschwerde; hätte Antrag zurücknehmen können). Kosten und Auslagen werden nicht erhoben. Die §§ 464 ff StPO umfassen dieses Verfahren nicht, eine ausdrückliche gesetzliche Kostentragungspflicht fehlt5.

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§ 100 Beseitigung des Strafmakels nach Erlaß einer Strafe oder eines Strafrestes 1 Wird die Strafe oder ein Strafrest bei Verurteilung zu nicht mehr als zwei Jahren Jugendstrafe nach Aussetzung zur Bewährung erlassen, so erklärt der Richter zugleich den Strafmakel als beseitigt. 2Dies gilt nicht, wenn es sich um eine Verurteilung nach den §§ 174 bis 180 oder 182 des Strafgesetzbuches handelt.

1. Hw.-JRecht: § 111. – 2. ErwG: § 104, 1.

Richtlinie zu § 100 Wegen der Eintragung in das Zentralregister wird auf § 13 Abs. 1 Nr. 5 BZRG hingewiesen.

Die Einfügung des § 100 war aus folgenden Gründen erforderlich: In das Führungszeugnis wer- 1 den zwar gleichermaßen nicht aufgenommen der Schuldspruch nach § 27, Verurteilungen zu 1 2 3 4 5

Eisenberg/Kölbel 5; Ostendorf/Goerdeler/Rose 1, 4; Dallinger/Lackner 6. Eisenberg/Kölbel 5; Ostendorf/Goerdeler/Rose 4; aA Dallinger/Lackner 6. Eisenberg/Kölbel 3; aA Ostendorf/Goerdeler/Rose 3. Eisenberg/Kölbel 7; aA Ostendorf/Goerdeler/Rose 1. Eisenberg/Kölbel 11; Ostendorf/Goerdeler/Rose 5.

609 https://doi.org/10.1515/9783110686401-131

§ 101

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2. Teil. Jugendliche

JStrafe von nicht mehr als zwei Jahren, wenn die Vollstreckung der Strafe oder eines Strafrestes zur Bew. ausgesetzt und diese Entscheidung nicht widerrufen worden ist, und JStrafe, wenn der Strafmakel beseitigt und die Beseitigung nicht widerrufen ist (§ 32 II Nr. 2–4 BZRG). Von Eintragungen, die in das Führungszeugnis nicht aufgenommen werden, wird aber nach § 41 I Nr. 1–14 BZRG neben Gerichten und StA für Zwecke der Rechtspflege auch weiteren (in Nr. 1– 14 aufgeführten) Behörden Kenntnis gegeben. Über Verurteilungen zur JStrafe, bei welcher der Strafmakel beseitigt ist, wird jedoch nur den Strafgerichten und Staatsanwaltschaften für ein Strafverfahren gegen den Betroffenen Auskunft erteilt (§ 41 II BZRG). Dies ist ein weiterer, resozialisationsfördernder Schutz für den Verurteilten, der nur nach Beseitigung des Strafmakels eintritt und lediglich vordringliche Zwecke der JKriminalrechtspflege berücksichtigt. Vgl. weiter § 97, 11 bis 13. Bei Verurteilung zu nicht mehr als 2 Jahren JStrafe soll der Verurteilte also, wenn diese oder ein Strafrest derselben zur Bew. ausgesetzt war, nach Erlass der Strafe durch Beseitigung des Strafmakels besser gestellt sein und ihm, der sich ja schon bewährt hat, weiteres rechtschaffenes Leben erleichtert werden. Der Strafmakel darf jedoch nach den durch das G zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten eingefügten S. 2 nicht als beseitigt erklärt werden, wenn es sich um eine Verurteilung nach den §§ 174 bis 180 oder 182 StGB handelt1. Erlässt der Richter diese Strafe oder einen Strafrest derselben, muss (kein Ermessensspielraum) er zugleich den Strafmakel als beseitigt erklären. Diese Erklärung ist eine jrichterliche Entscheidung. Zuständig für die Entscheidung ist das nach §§ 57, 58 III zuständige Gericht, welches die Aussetzung angeordnet hatte, möglicherweise nach Vorentscheidungen gem. § 88 der Vollstreckungsleiter (§ 57, 4; § 58, 5, 6; § 88, 17). Dass die Zuständigkeitsregelung des § 98 I nicht eingreifen kann, ergibt sich aus der allg. Fassung der Überschrift des Vierten Hauptstückes, aus der Einfügung der Regelung des früheren § 96 III als § 100 nach § 98 und schließlich auch daraus, dass mit dem Erlass der Strafe „zugleich“, und zwar im gleichen Beschluss, der Strafmakel zu beseitigen ist. Die Entscheidung ergeht zugleich, also in demselben Beschluss wie der Erlass der Strafe. Die Anhörungspflichten fallen mit den beim Straferlass notwendigen zusammen; bes. Ermittlungen bedarf es im Gegensatz zu § 97 nicht, weil der Richter keinen Ermessensspielraum hat. Die Entscheidung nach § 100 ist nicht anfechtbar (§ 59 IV entsprechend); anders als bei §§ 97, 99 III besteht hier kein Bedürfnis für die Möglichkeit einer Anfechtung, weil zugleich mit dem Straferlass der Strafmakel beseitigt werden muss. Wirkung der Beseitigung des Strafmakels Rn 1, § 97, 10–14; § 13 I Nr. 5 BZRG; Widerruf § 101. Beachte bes. § 97, 13.

§ 101 Widerruf 1 Wird der Verurteilte, dessen Strafmakel als beseitigt erklärt worden ist, vor der Tilgung des Vermerks wegen eines Verbrechens oder vorsätzlichen Vergehens erneut zu Freiheitsstrafe verurteilt, so widerruft der Richter in dem Urteil oder nachträglich durch Beschluß die Beseitigung des Strafmakels. 2In besonderen Fällen kann er von dem Widerruf absehen.

1. Hw.-JRecht: § 111. – 2 ErwG: § 104, 1.

1 Krit. Eisenberg/Kölbel 2a. 610 https://doi.org/10.1515/9783110686401-132

Widerruf

§ 101

Richtlinie zu § 101 Wegen der Eintragung in das Zentralregister wird auf § 13 Abs. 1 Nr. 6 BZRG hingewiesen.

Voraussetzung des Widerrufs ist eine erneute Verurteilung wegen eines Verbrechens oder vorsätzlichen Vergehens zu JStrafe oder Freiheitsstrafe. „Freiheitsstrafe“ iSd § 101 ist nicht nur die des StGB, sondern zugleich die JStrafe als einzige Rechtsfolge des JGG mit dem Charakter einer Kriminalstrafe1. Wenn erneut auf Freiheitsstrafe oder wegen schädlicher Neigungen oder Schwere der Schuld auf JStrafe erkannt werden musste, ist offenbar, dass die Beseitigung des Strafmakels nicht gerechtfertigt war oder nicht mehr ist und letztlich auch die registerliche Sonderbehandlung ihren Sinn verfehlt. In gleichwohl noch denkbaren bes. Fällen hilft S. 2 (Rn 5). Nicht zum Widerruf führen Verurteilungen zu ErzMaßregeln oder Zuchtmitteln und die Aussetzung der Verhängung der JStrafe nach § 27. Letzteres muss deshalb gelten, weil die Aussetzung der Verhängung nicht der Verhängung einer „Freiheitsstrafe“ gleichgesetzt werden kann und diese „bedingte Verurteilung“ gerade auch den Strafmakel ersparen soll. Mit dieser Einschränkung der Widerrufsgründe ist gewährleistet, dass nur ein kriminell gefährdeter Täter bei schwerwiegenden Straftaten die rehabilitationserleichternde registerliche Hilfe verliert. Ein Widerruf aus anderen als den Rn 1 ausgeführten Gründen ist unzulässig2. Die neue Verurteilung muss „erneut“, also nach Anordnung der Beseitigung des Strafmakels, ausgesprochen sein; wann die zugrunde liegende Tat begangen wurde, ist ohne Bedeutung3. Der Widerruf unterbleibt, wenn bereits Tilgungsreife4 eingetreten ist; die Feststellung der Tilgungsreife trifft die Registerbehörde bindend5. Auch bei Vorliegen der Widerrufsgründe kann in bes. Fällen vom Widerruf abgesehen werden (S. 2). Fälle einer unbilligen Härte sind auch nach Einschränkung der Widerrufsvoraussetzungen noch denkbar, bedürfen aber sorgfältiger Prüfung und Begründung. Absehen vom Widerruf rechtfertigt sich etwa bei einem bes. leichten und anders gearteten vorsätzlichen Vergehen oder wenn der Widerruf das Fortkommen ungerechtfertigt behindern würde und mit der neuen Tat kein schwerwiegender Strafmakel verbunden ist. Zuständig ist das Gericht (auch ErwGericht) des neuen Strafverfahrens6. Wegen des Auskunftsersuchens an das Zentralregister Vor § 97, 23; es empfiehlt sich ein ausdrückliches Auskunftsersuchen iSd § 41 III BZRG (16 III RiStBV). Zur Frage der Geltung des § 22 BZRG bei Mitteilungen über die Beseitigung des Strafmakels § 97, 9. Die Entscheidung kann im neuen Urteil – der Widerruf im Tenor – getroffen werden; sie kann dann mit den allg. Rechtsmitteln (Berufung, Revision) angefochten werden, und zwar auch beschränkt auf die Widerrufsentscheidung. Sonst wird nachträglich ohne weitere mündliche Verhandlung durch zu begründenden (§ 34 StPO) und gem. §§ 35 II, 41 StPO; 67a I JGG formlos mitzuteilenden Beschluss entschieden, der mit der einfachen Beschwerde (§ 304 StPO) angefochten werden kann7. Auch der Widerrufsbeschluss muss vor Tilgungsreife ergehen. Der Beschluss darf auch dann nicht unterbleiben, wenn nicht widerrufen werden soll; denn es muss Klarheit herrschen8.

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DSS/Schatz 2; Ostendorf/Goerdeler/Rose 2; Bedenken bei Eisenberg/Kölbel 2. Eisenberg/Kölbel 2. Eisenberg/Kölbel 3. Allg. RG 64, 146, 147. RG 56, 75. Eisenberg/Kölbel 6; Dallinger/Lackner 14, 15; Potrykus B 1. Dallinger/Lackner 14; Eisenberg/Kölbel 8; Ostendorf/Goerdeler/Rose 7; aA Potrykus B 2: entspr. § 99 III sofortige Beschwerde. 8 Eisenberg/Kölbel 7; aA Ostendorf/Goerdeler/Rose 5: nicht erforderlich. 611

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§ 101

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2. Teil. Jugendliche

Der Widerruf ist dem Zentralregister mitzuteilen (§ 13 I Nr. 6 BZRG); es entfallen rückwirkend alle Wirkungen der Beseitigung des Strafmakels9. Die Verurteilung wird wieder den in § 41 I Nr. 1–14 BZRG aufgeführten Gerichten, StA und Behörden mitgeteilt, bei der Berechnung der Tilgungsfrist bleibt die widerrufene Beseitigung des Strafmakels unberücksichtigt (§ 46 II BZRG).

9 Eisenberg/Kölbel 9; Ostendorf/Goerdeler/Rose 6. 612

Fünftes Hauptstück Jugendliche vor Gerichten, die für allgemeine Strafsachen zuständig sind Vor § 102 Verfehlungen J und Hw. (§ 112 S. 1) können nur in bes. Fällen durch die ErwGerichte abgeurteilt werden, nämlich durch BGH, OLG (§ 102) sowie durch die Staatsschutzkammer oder die Wirtschaftsstrafkammer bei Verbindung mit Verfahren gegen Erw. (§ 103 II 2, 3) oder bei Widerklage gegen den j. oder hw. Privatkläger (§ 80, 6; § 112, 1). Weitere Ausnahmen gibt es nicht. Wenn also mehrere Taten oder die Einzelakte eines Dauerdelikts teils vor, teils nach Vollendung des 21. Lebensjahres begangen sind, ist bei gemeinsamer Verhandlung immer das JGericht zuständig, ohne dass es darauf ankommt, ob das Schwergewicht bei Taten liegt, die nach JStrafrecht zu beurteilen wären (§ 103, 26, 27)1. Allerdings besteht kein Zwang zu gemeinsamer Verhandlung2 (vgl. aber auch § 32, 18; § 103, 26 u. 27; auch § 36, 5); sogar nach Verbindung kann das Verfahren dadurch getrennt werden, dass die Revision auf Taten einer bestimmten Altersstufe beschränkt wird3. Jedoch darf und kann ein ErwGericht, bei dem mehrere Taten angeklagt sind, die der Täter teils als J oder Hw., teils als Erw. begangen hat, seine Zuständigkeit nicht dadurch begründen, dass es das Verfahren wegen der vor Vollendung des 21. Lebensjahres begangenen Taten gem. § 154 StPO einstellt, denn dies verstößt gegen die Kompetenz-Kompetenz des JGerichts nach § 209a Nr. 24. Ebenso unzulässig ist eine Zuständigkeitsbegründung des ErwGerichts durch Einstellung von Einzelakten einer fortgesetzten Handlung oder eines Dauerdelikts nach § 154a StPO5. Die Abtrennung von im Joder Hw-Alter begangenen Taten durch ein ErwGericht ist wegen Ermessensmissbrauchs rechtsfehlerhaft, wenn sie ausschließlich erfolgt, um die Zuständigkeit für die im ErwAlter begangenen Taten herbeizuführen und damit die jgerichtliche Zuständigkeit zu umgehen (vgl. auch § 32, 15)6. – Für die Frage, ob Taten in verschiedenen Altersstufen vorliegen, kommt es zunächst auf die Sachlage nach dem Eröffnungsbeschluss an; doch kann der Angeklagte eine Revision nicht darauf stützen, dass das ErwGericht das Verfahren unter Verletzung der oben dargelegten Grundsätze eröffnet hat, wenn das Gericht im Urteil nur Taten als erwiesen ansieht, die er nach Vollendung des 21. Lebensjahres begangen hat7. – Auch wenn ein Teil der Taten nach Vollendung des 21. Lebensjahres begangen wurde, gilt die eigene Regelung der sachlichen und örtlichen Zuständigkeit des JGG gem. §§ 39–42, 108. Das Verfahren des allg. Gerichts gegen J und Hw. ist in §§ 104, 112 S. 2 geregelt. – Welche Folgen es hat, wenn ein allg. Gericht ohne gesetzliche Grundlage gegen J oder Hw. tätig wird, ist in § 33b, 28 behandelt. Über den umgekehrten Fall, dass Erw. vor JGerichte kommen, § 47a, 1, 4, 5, 7; § 103, 3 u. das JSchutzverfahren Anh. § 125, 5, 6. Zuständigkeit der JStA oder ErwStA § 36, 11–13.

1 BGH 7, 26; 8, 349; 10, 64; 25, 50; BGH B NStZ 83, 450; BGH bei Kusch NStZ 94, 230; BGH StV 03, 454; NStZ 20, 299; BayObLG 57, 1; 66, 119; OLG Karlsruhe Justiz 99, 142; Eisenberg/Kölbel § 103, 28 ff, § 107, 5.

2 BGH 10, 101; 18, 238. 3 BGH 10, 101. 4 Drees NStZ 95, 482; Baumhöfener ZJJ 14, 159; aA BGH NStZ 91, 503 mit abl. Anm. Eisenberg/Sieveking NStZ 92, 295; BGH NStZ 96, 244.

5 BayObLG 66, 199; aA BGH NStZ 05, 650. 6 BGH NStZ 20, 299. 7 BGH 10, 64. 613 https://doi.org/10.1515/9783110686401-133

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§ 102

2. Teil. Jugendliche

§ 102 Zuständigkeit 1 Die Zuständigkeit des Bundesgerichtshofes und des Oberlandesgerichts werden durch die Vorschriften dieses Gesetzes nicht berührt. 2In den zur Zuständigkeit von Oberlandesgerichten im ersten Rechtszug gehörenden Strafsachen (§ 120 Abs. 1 und 2 des Gerichtsverfassungsgesetzes) entscheidet der Bundesgerichtshof auch über Beschwerden gegen Entscheidungen dieser Oberlandesgerichte, durch welche die Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung angeordnet oder abgelehnt wird (§ 59 Abs. 1).

1. Hw.: Rn 2; § 112 S. 1. – 2. ./.

1 Die OLG sind gegen J und Hw. zuständig, soweit sie als Gerichte erster Instanz berufen sind (§§ 120 bis 120b GVG). Zur Einbeziehung der Urteile dieser Gerichte in eine Einheitsstrafe durch ein JGericht § 41, 551. Der Umstand, dass die Angeklagten J oder Hw. sind, ist bei der Prüfung der bes. Bedeutung iSv § 120 II GVG zu berücksichtigten2. Eisenberg3 hält § 120 I GVG für verfassungsrechtlich bedenklich und eine bes. Bedeutung nach § 120 II GVG in Verfahren gegen J und Hw. in verfassungskonformer Auslegung nur in Ausnahmefällen für gegeben. Auch wenn dem nicht gefolgt wird4, muss die Gefahr gesehen und ihr entgegengewirkt werden, dass bei Verhandlungen vor ErwGerichten die jstrafrechtlichen Gesichtspunkte beeinträchtigt werden können5. Der BGH ist als Revisionsgericht gegen J und Hw. gem. § 135 I GVG und als Beschwerdegericht gem. § 135 II GVG und § 102 S. 26 zuständig. Die OLG sind gegen J und Hw. als Revisionsgerichte gem. § 121 I Nr. 1 GVG und als Beschwerdegerichte gem. § 120 III, IV, § 121 I Nr. 2 GVG zuständig. 2 Mit dem StVÄG 1979 ist der absolute Vorrang der Staatsschutzkammer in ihrem Zuständigkeitsbereich (§ 74a GVG) gegenüber den JGerichten entfallen. Auch in Staatsschutzsachen sind die JGerichte nun in vollem Umfange von Anfang an zuständig, wenn nur J und Hw. beschuldigt sind. Werden gleichwohl J und Hw. allein zur Staatsschutzkammer angeklagt, so hat diese das Verfahren vor JRichter oder JSchöffengericht zu eröffnen oder der JKammer zur Übernahme vorzulegen (s. § 41, 25 ff; näher § 103, 6). 3 Sind zu einem Verfahren gegen J (Hw.) aber auch Erw. verbunden, so ist für den Erw. die Staatsschutzkammer zuständig und der Erw. zieht dann auch die J und Hw. vor diese Kammer (§ 103 II 2, 3); der Erw. verschafft der Staatsschutzkammer für die Prüfung der Zuständigkeit auch die Kompetenzkompetenz (§ 103, 6). Das gilt auch für die Wirtschaftsstrafkammer. 4 Da die Staatsschutzkammer oder Wirtschaftsstrafkammer für J und Hw. zuständig ist, wenn ein Erw. die mit seinem Verfahren verbundenen J (Hw.) vor diese ErwKammer mit bes. Zuständigkeit zieht, kann der für dieses Spezialgebiet im Übrigen zuständige StA auch tätig werden, wenn ausnahmsweise J (Hw.) mit Erw. vor der Staatsschutzkammer oder Wirtschaftsstrafkammer angeklagt werden müssen7. Hierdurch werden die bes. Kenntnisse und Erfahrungen dieses StA genutzt. Zwingend ist seine Zuständigkeit jedoch nicht. Die Sachen wird daher je nach Lage des Einzelfalls oder der Besetzung der Abteilungen der JStA oder der ErwStA (mit bes. Fachkompetenz und Erfahrung) bearbeiten. Wo angängig, sollte der Vorrang des JStA gewahrt bleiben,

1 Zur eng begrenzten Strafverfolgungskompetenz des Bundes nach § 120 II 1 Nr. 3 a GVG bei Katalogtaten rechtsoder linksextremistischer Gewalttäter s. BGH 46, 238 mit Bespr. Schaefer NJW 01, 1621; BGH NJW 02, 1889. BGH 46, 256; BGH ZJJ 16, 410, 411 mit Anm. Eisenberg/Wolf. NStZ 96, 267. Vgl. Schoreit NStZ 97, 69. Siehe Lempp MKrim. 98, 125; Lederer StV 16, 745. BGH NStZ-RR 20, 261. Ostendorf/Goerdeler/Rose § 103, 7.

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Verbindung mehrerer Strafsachen

§ 103

zumal über das GVG hinaus die Spezialabteilungen bei den Staatsanwaltschaften und Gerichten sich häufen. Vgl. auch § 36, 3.

§ 103 Verbindung mehrerer Strafsachen (1) Strafsachen gegen Jugendliche und Erwachsene können nach den Vorschriften des allgemeinen Verfahrensrechts verbunden werden, wenn es zur Erforschung der Wahrheit oder aus anderen wichtigen Gründen geboten ist. (2) 1Zuständig ist das Jugendgericht. 2Dies gilt nicht, wenn die Strafsache gegen Erwachsene nach den allgemeinen Vorschriften einschließlich der Regelung des § 74e des Gerichtsverfassungsgesetzes zur Zuständigkeit der Wirtschaftsstrafkammer oder der Strafkammer nach § 74a des Gerichtsverfassungsgesetzes gehört; in einem solchen Fall sind diese Strafkammern auch für die Strafsache gegen den Jugendlichen zuständig. 3Für die Prüfung der Zuständigkeit der Wirtschaftsstrafkammer und der Strafkammer nach § 74a des Gerichtsverfassungsgesetzes gelten im Falle des Satzes 2 die §§ 6a, 225a Abs. 4, § 270 Abs. 1 Satz 2 der Strafprozeßordnung entsprechend; § 209a der Strafprozeßordnung ist mit der Maßgabe anzuwenden, daß diese Strafkammern auch gegenüber der Jugendkammer einem Gericht höherer Ordnung gleichstehen. (3) Beschließt der Richter die Trennung der verbundenen Sachen, so erfolgt zugleich Abgabe der abgetrennten Sache an den Richter, der ohne die Verbindung zuständig gewesen wäre. 1. Hw.: RL 3; § 112 S. 1. – 2. ./.

Richtlinien zu § 103 1.

2.

3.

Die Verbindung von Strafsachen gegen Jugendliche und Erwachsene ist im Allgemeinen nicht zweckmäßig. Sie ist namentlich dann nicht angebracht, wenn der Jugendliche geständig und der Sachverhalt einfach ist oder wenn es sich bei den Erwachsenen um die Eltern des Jugendlichen handelt. Die Staatsanwaltschaft beantragt die Trennung der verbundenen Sachen, sobald sich die gesonderte Bearbeitung als zweckmäßig erweist (z.B. wenn gegen die erwachsenen Beschuldigten in Abwesenheit des Jugendlichen verhandelt und Urteil erlassen worden ist oder wenn der Durchführung des Verfahrens gegen die erwachsenen Beschuldigten für längere Zeit Hindernisse entgegenstehen). § 103 gilt auch im Verfahren gegen Heranwachsende (§ 112 Satz 1).

Übersicht 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Mehrere Taten eines J 1 2 Taten mehrerer J 3 Verbindung mit Verfahren gegen Erw. Jugendrechtliche Voraussetzungen der Verbin9 dung Verbindung und Trennung durch (bei) Eröff12 nung des Hauptverfahrens Verbindung nach Eröffnung des Hauptverfah16 rens Trennung nach Eröffnung des Hauptverfah18 rens

615 https://doi.org/10.1515/9783110686401-135

8. 9. 10. 11. 12. 13.

14.

Restverfahren nur mit Erw. 20 21 Trennung nur bei Jugendlichen 22 Zuständigkeit im Instanzenzug Zurückverweisung durch das Rechtsmittelge23 richt Verfahren in den verbundenen 25 Sachen Verbindung von in verschiedenen Altersstufen begangenen Taten bei ein und demselben Tä26 ter 28 Straftat und Ordnungswidrigkeit

§ 103

2. Teil. Jugendliche

1. Mehrere Taten eines J 1 Wegen mehrerer Taten eines J oder Hw. sollte grds. nur ein Verfahren durchgeführt werden (§§ 2–4, 13, 237 StPO; 25 RiStBV; vgl. § 70 I S. 2), weil die Einwirkung auf den einen Täter, nicht die Sühne der mehreren Taten im Vordergrund steht (§ 43, 2; §§ 31 ff). Nur so kann der in § 31 I niedergelegte Grundsatz der Einheitsstrafenbildung verwirklicht werden; die Verbindung erfolgt zum höheren Gericht (§§ 2–4, 13 StPO; vgl. RiStBV Nr. 25). Das gilt im Hinblick auf § 32 (§ 32, 9) bes. bei Taten desselben Täters in mehreren Altersstufen, insbes. auch dann, wenn er bei einem Teil der Taten bereits Erw. war (vgl. Vor § 102, 2; bes. Rn 26; auch § 32, 9; 36, 5)1. Für solche Verfahren ist stets ein JGericht zuständig (Rn 26). Betrifft die Verbindung nicht nur die örtliche, sondern auch die sachliche Zuständigkeit, kann sie nicht durch Vereinbarung der beteiligten Gerichte nach § 13 II StPO, sondern nur durch Entscheidung des gemeinschaftlichen oberen Gerichts (§ 4 II StPO) herbeigeführt werden2. Doch zwingt das Gesetz nie zu einer Verbindung; diese und die Trennung stehen im pflichtgemäßen Ermessen der Gerichte3 (vgl. Rn 26; für StA § 36, 5; für Gericht § 32, 5 u. Vor § 102, 2). Gegen eine sachgemäße Verbindung kann der Angeklagte nicht einwenden, er werde dadurch seinem gesetzlichen Richter entzogen4. Bei der Trennung allerdings können im Einzelfall Bedenken erwachsen (näher § 32, 10).

2. Taten mehrerer J 2 Bei Beteiligung mehrerer J – und/oder – Hw. ist die Verbindung der Verfahren nach allg. Grundsätzen möglich (§§ 2, 4, 13, 237 StPO, Nr. 25 RiStBV). Eine Verbindung innerhalb der Abteilungen eines Gerichts für die Hauptverhandlung kann schon vor Eröffnung des Hauptverfahrens erfolgen, wenn nur Anklage erhoben ist (§ 237 StPO)5. Dabei ist es rechtlich nicht von Bedeutung, ob es sich um ein Verfahren 1. Instanz oder ein zurückverwiesenes Verfahren handelt (§§ 328 II; 354 II StPO)6; vgl. § 41, 49 aE. Die große JKammer kann auch erstinstanzliche und Berufungssachen verbinden7. Einzelnen Angeklagten eines verbundenen Verfahrens kann gestattet werden, sich während einzelner Teile der Verhandlung zu entfernen, wenn sie von diesen Verhandlungsteilen nicht betroffen sind (§ 231c StPO)8. Der beurlaubte Angeklagte kann gleichwohl in dieser Sache nicht Zeuge sein9. Es ist aber stets das § 51, 2 Gesagte zu beachten.

3. Verbindung mit Verfahren gegen Erw. 3 Die Verbindung von Strafsachen gegen J (Hw.) und Erw. ist nicht, wie früher, nach dem Prinzip des Schwergewichts geregelt, sondern mittels des Grundsatzes der Spezialität. Bei Verbindung von J (Hw.) mit ErwSachen sind zu Recht grds. die JGerichte zuständig (§ 103 II 1), es sei denn, es liegen die in Abs. II 2 normierten Ausnahmen vor (Rn 6). Die JGerichte prüfen neben ihrer Zuständigkeit nach §§ 103 II, 39 I 2, 41 I, II JGG, § 209a StPO; § 74e GVG auch das Vorliegen der

1 2 3 4 5 6 7 8 9

Eisenberg/Kölbel 32. BGH NStZ 00, 435. BGH 10, 101; 18, 238; BGH H MDR 77, 639. OLG Nürnberg OLGSt S. 1 zu § 13 StPO; so aber Fahl NStZ 83, 309 zur Verbindung von Erw. zu J. BGH 20, 219; 26, 27. BGH 20, 219. Meyer-Goßner/Schmitt § 237 StPO 4. Vgl. näher BGH NStZ 83, 34 u. BGH 32, 271. Meyer-Goßner/Schmitt § 237 StPO 8. 616

Verbindung mehrerer Strafsachen

§ 103

bes. jrechtlichen Voraussetzungen des Abs. I (Rn 9). Abs. II bestimmt auch für den Erw. den gesetzlichen Richter (Revisionsgrund)10. Für eine derartige Verbindung durch Anklage an das für zuständig erachtete Gericht ist die JStA berufen (§ 36, 11), was sich daraus herleitet, dass dem JGericht für die Verbindung die Kompetenz-Kompetenz zukommt. Die JStA richtet die Anklage an das JGericht, welches für den J (Hw.) und zugleich für den Erw. zuständig ist (vgl. § 41, 9, 13 u. 19), und verbindet die Verfahren, indem er sie zusammen anhängig macht, da über § 2 II auch § 2 StPO gilt. Zum zuständigen StA, wenn ein Erw. die mit seinem Verfahren verbundenen J (Hw.) mit vor die Staatsschutz- oder Wirtschaftsstrafkammer (Rn 6) zieht, § 102, 4. Da der Erw. einen Anspruch darauf hat, auch bei Verbindung vor ein JGericht zu kommen, das der funktionellen Ordnung des ErwGerichts entspricht, zieht der Erw. die verbundenen J (Hw.) in solchem Falle mit vor ein JGericht höherer Ordnung (§ 33b, 7; § 41, 9, 13 u. 19). Würde das mit Sachen gegen J (Hw.) verbundene Verfahren gegen einen Erw. die ErwSchwurgerichtskammer zuständig machen, so geht nach § 41 I Nr. 1 iVm § 74e Nr. 1 GVG die JKammer vor (§ 41, 11). Während für J und Hw. allein auch im Verhältnis zu den ErwStrafkammern mit gesetzlicher Zuständigkeitskonzentration (§ 74e GVG) stets die JGerichte wegen ihrer bes. Aufgaben zuständig sind, bleiben für einen zum Verfahren verbundenen Erw., dessen Straftat zur bes. Zuständigkeit der Wirtschafts- oder Staatsschutzkammer gehört, stets diese ErwKammern vorrangig zuständig (§ 103 II 2, 3). Er zieht dann die mit seiner Sache verbundenen J (Hw.) mit zu diesen ErwKammern. Insoweit gelten als einzige Ausnahmen die Wirtschafts- und die Staatsschutzkammer der JKammer gegenüber als Gerichte höherer Ordnung iSd § 209a StPO, § 74a GVG, sodass in diesem Umfang Nr. 1 des § 209a StPO der Nr. 2a dieser Vorschrift vorgeht (§ 103 II 3 HS 2). Hat in solchem Falle die JStA zur JKammer angeklagt, so muss diese, wenn sie anderer Ansicht ist, das verbundene Verfahren der Wirtschaftsstraf- oder Staatsschutzkammer zur Übernahme vorlegen, die auch über die bes. jrechtlichen Verbindungsvoraussetzungen (Rn 9) zu entscheiden hat11. Verneinen im umgekehrten Falle Wirtschaftsstraf- oder Staatsschutzkammer ihre Zuständigkeitsmerkmale, so eröffnen diese das Verfahren vor der JKammer, der gegenüber sie als Gerichte höherer Ordnung gelten12. Verdrängt aber die Zuständigkeit der Schwurgerichtskammer den Vorrang der Wirtschafts- oder Staatsschutzkammer (§ 74e GVG), so wird dadurch die JKammer für das Gesamtverfahren zuständig (§ 41 I Nr. 1; § 41, 11, § 112, 1). Zur Wirkung der Eröffnung vor dem niedrigeren Gericht § 41, 28, zur Wirkung der Vorlage zur Übernahme beim höheren Gericht § 41, 27. Zur Zuständigkeit der StA § 102, 4; § 36, 11. Es können also im Ergebnis vor der JKammer alle Verfahren verbunden werden, bei denen für den J (Hw.) vor JRichter und JSchöffengericht und für den Erw. vor der allg. Straf- und der Schwurgerichtskammer eine Zuständigkeit begründet ist. Ist für die Strafsache des Erw. die Wirtschaftsstraf- oder Staatsschutzkammer zuständig, so gilt dann für diese ErwKammern die gleiche umfassende Zuständigkeit, welche im Falle der Verbindung auch J und Hw. umfasst. Weil diese bes. Strafkammern ausnahmsweise für Verbindung und Trennung zuständig sind, muss das JGericht vor Eröffnung des Hauptverfahrens von Amts wegen nach § 209 II StPO und nach Eröffnung sich für unzuständig erklären (vor Beginn der Hauptverhandlung nach § 225a StPO, nach deren Beginn nach § 270 I StPO), wenn der Erw. bis zum Beginn seiner Vernehmung zur Sache in der Hauptverhandlung die Unzuständigkeit rügt (§ 6a StPO). Für den umgekehrten Fall Rn 19. Vgl. dazu § 47a, 2. Eine Verbindung unter Verletzung der Bestimmungen über die sachliche Zuständigkeit ist nicht zulässig. Dem beugen die §§ 39 I 2, 41 I Nr. 3 ausdrücklich vor (§ 41, 9, 13 u. 19).

10 BGH H MDR 80, 456. 11 Zu den „bes. Kenntnissen“ des Wirtschaftslebens iSd § 74c I Nr. 6 GVG OLG München JR 80, 77 mit Anm. Rieß. 12 LG Berlin NStZ 82, 203; Löwe/Rosenberg/Stuckenberg27 § 209a StPO 30. 617

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§ 103

2. Teil. Jugendliche

4. Jugendrechtliche Voraussetzungen der Verbindung 9 Ein Zwang zur Verbindung von Strafsachen besteht nicht13, obgleich eine Verbindung im JStrafrecht fast immer wegen § 32 (§ 32, 7) und iSd § 103 zweckmäßig und wünschenswert ist14. Unterbleibt die Verbindung mit den uU hieraus fließenden nachteiligen Folgen, so stellt doch insoweit fehlerhaftes Verhalten der StA allein den Strafanspruch nicht zur Disposition15. Bei Verbindung von Verfahren gegen J (Hw.) mit solchen gegen Erw. müssen über die allg. Voraussetzungen (Rn 2) hinaus zusätzlich die bes. jrechtlichen Voraussetzungen des Abs. I vorliegen, und zwar auch und gerade dann, wenn J (Hw.) dem Erw. ausnahmsweise vor die Wirtschaftsstraf- oder Staatsschutzkammer folgen (Abs. II 2, 3; Rn 6). Notwendig sind wichtige sachliche Gründe, z.B. Wahrheitserforschung (Abs. I), etwa bei auseinander gehenden Aussagen mehrerer Mittäter16 oder Erhebung umfangreicher Beweise17. Eine umfangreiche Beweisaufnahme mit jeweiligem Rollentausch von Angeklagten und Zeugen zu wiederholen, wäre praxisfremd und würde den J wie auch die Gerichte unnötig belasten und die Gefahr widersprechender Entscheidungen begründen18. Abgesehen von den Fällen, in denen eine Verbindung rechtlich nicht zulässig ist (Rn 8), sollte auch sonst Zurückhaltung geübt werden (RL 1 S. 1)19, bes. wenn der J geständig und der Sachverhalt einfach ist oder es sich bei den Erw. um die Eltern des J handelt (RL 1 S. 2)20. Es ist stets sorgfältig zu prüfen, ob eine gemeinsame Verhandlung mit Erw. den J und Hw. nicht Schaden bringen kann (vgl. z.B. Einf. 62). Eine Verbindung darf nur erfolgen, wenn die besseren Gründe dafür sprechen21. Allerdings verlieren die Gründe gegen eine Verbindung mit zunehmendem Alter des jungen Angeklagten an Gewicht22. Reine Zweckmäßigkeitserwägungen23 oder lediglich Gründe der Prozessökonomie rechtfer10 tigen es für sich allein nicht, Verfahren zu verbinden oder einen weiteren Anklagepunkt gegen nur einen der Beschuldigten (Angeklagten) einzubeziehen, gehen aber in die Abwägung mit ein24. Eine weitere Straftat aber, die einem der Beschuldigten zur Last gelegt wird, kann sehr wohl einen persönlichen Zusammenhang iSd § 3 StPO begründen und eine gemeinsame Bewertung und Aburteilung fordern, insbes. wenn gewisse kriminologisch fassbare Zusammenhänge (z.B. Gewaltausübung) das Persönlichkeitsbild des Beschuldigten bes. kennzeichnen und bei der Gesamtbewertung von Taten und Täter im Rahmen der Strafbemessung bedeutsam werden können25. Eine umfassende und einheitliche Verhandlung gegen alle Beschuldigten kann auch die Rolle des Einzelnen im Gesamtgeschehen, die Schuld und deren Maß klären26 und damit wesentlich zur Verhängung schuldangemessener Sanktionen für die einzelnen Beteiligten beitragen27. Auch bei nur teilweise gemeinschaftlicher Tatbegehung kann Verbindung gerechtfertigt sein, da hierdurch der persönliche Eindruck in der Hauptverhandlung eine gerechtere Straf13 14 15 16 17

BGH 36, 294 mwN = JR 90, 523 mit zust. Anm. Brunner. BGH NStZ 20, 299, 300; Schoreit NStZ 89, 462. BGH aaO; Foth NJW 84, 221. BGH 10, 329; BGH H MDR 82, 972; OLG Stuttgart Zbl. 95, 297; OLG Köln NStZ-RR 00, 314; KG NStZ-RR 18, 91, 92. KG NStZ 06, 521, 522 mit abl. Anm. Eisenberg; NStZ-RR 18, 91; OLG Celle NdsRpfl. 08, 194; OLG Hamm StV 11, 593, 594; OLG Stuttgart Justiz 11, 217, 218. 18 KG NStZ 06, 521, 522; NStZ-RR 18, 91, 92. 19 Ebenso Fahl NStZ 83, 309. 20 OLG Stuttgart Zbl. 95, 298; Justiz 11, 217, 218; OLG Hamburg Zbl. 04, 431, 434; LG Köln ZJJ 09, 382. 21 KG NStZ-RR 18, 91. 22 KG NStZ-RR 18, 91, 92; DSS/Schatz 19. 23 Vgl. BGH 10, 329; KG NStZ-RR 18, 91, 92. 24 OLG Hamburg Zbl. 04, 431. 25 OLG Karlsruhe MDR 81, 693. 26 OLG Koblenz NJW 82,604 = JR 82, 479 mit zust. Anm. Brunner für einen Fall abredegemäßer Strafvereitelung durch gemeinschaftlichen Meineid; OLG Stuttgart Zbl. 95, 297; OLG Hamburg Zbl. 04, 431, 434; OLG Karlsruhe ZJJ 13, 211, 212 mit krit. Anm. Eisenberg/Höynck ZJJ 13, 320; KG NStZ-RR 18, 91, 92. 27 OLG Köln NStZ-RR 00, 314; OLG Hamm StV 11, 593, 594. 618

Verbindung mehrerer Strafsachen

§ 103

zumessung ermöglicht und eine nachträgliche Einheits- oder Gesamtstrafenbildung mit problematischer Gesamtbewertung vermieden wird28. Auch Gründe des Opferschutzes, insbes. die Vermeidung einer Schädigung durch wiederholte Vernehmungen, können für eine Verbindung sprechen29. Gegenargumente können im Einzelfall eine unangemessene Verfahrensverlängerung für den J oder dessen bes. Gefährdung durch den Verfahrensgegenstand oder die Mitbeschuldigten sein30. Vgl. auch Einf. 62. Das Verfahren gegen einen J mit relativ geringem Tatvorwurf über einen Sachzusammenhang mit einer schwerwiegenden Straftat und einer Vielzahl von Beschuldigten zu verbinden, um eine Übernahme der JKammer nach §§ 40 II, 41 I Nr. 1 herbeizuführen, kann nicht gebilligt werden31. Der begrüßenswerte Wegfall der Schwergewichtsprüfung kann andererseits die JGerichte in 11 erheblichem Maße mit Verfahren auch gegen Erw. belasten, was sich wegen deren stärkerer Inanspruchnahme von Rechtsmitteln auch auf die Berufungsgerichte auswirkt (Rn 20; § 41, 49; anders aber im Revisionsverfahren § 41, 48) und damit insgesamt die JGerichte mit an sich sachfremden Verfahren überlastet und sie ihren eigentlichen Aufgaben entzieht. Die jrechtlichen Voraussetzungen sind deshalb bes. streng zu prüfen und nicht zuletzt auch die allg. ErzAufgabe des JGG zu erwägen, an der sich die Entscheidungen messen lassen müssen. Wenn der Erw. etwa ein gerissener Krimineller oder bei ihm Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zu erwarten ist, sprechen mögliche ungute Wirkungen verschiedener Art auf den J gegen eine Verbindung (vgl. § 41, 9, 13 u. 19). Dazu kommt, dass nach Ausscheiden der J (Hw.) das JGericht für die Erw. idR zuständig bleibt (Rn 18, 20; § 47a, 4) und mit deren Berufung dann auch die JKammer belastet wird (§ 41, 49). Solches von Anfang an bei einer beabsichtigten Verbindung zu berücksichtigen, ist eine wichtige Aufgabe der JStA (vgl. § 36, 5).

5. Verbindung und Trennung durch (bei) Eröffnung des Hauptverfahrens Mit dem Eröffnungsbeschluss entscheidet das JGericht (in dem Ausnahmefall des Abs. II 2, 3 12 die Wirtschaftsstraf- oder Staatsschutzkammer; Rn 6 u. 15), dass die von der JStA durch Anhängigmachen eingeleitete Verbindung für das Hauptverfahren aufrechterhalten bleibt (§§ 4 II 1, 209a StPO). Das JGericht kann aber auch das Verfahren hinsichtlich der J (Hw.) vor sich eröffnen und 13 hinsichtlich der Erw. die Trennung beschließen, weil es die bes. Verbindungsvoraussetzungen des Abs. I verneint. Ist für das Restverfahren ein ErwGericht gleicher oder niedrigerer Ordnung zuständig, so eröffnet das JGericht, wenn die sonstigen Voraussetzungen vorliegen, gem. §§ 209 I, 209a Nr. 2 StPO bei diesem32. Der dem scheinbar widersprechende Wortlaut des § 103 III steht dem nicht entgegen33. Die JGerichte sind vielmehr gehalten, die ihnen nun zuerkannte Eröffnungskompetenz voll auszunutzen und mit dem Trennungsbeschluss zugleich die abgetrennte ErwSache vor dem für zuständig erachteten ErwGericht niedrigerer Ordnung (§ 209 I StPO) oder vor dem ErwGericht gleicher Ordnung zu eröffnen (§ 209a Nr. 2 StPO) oder dem ErwGericht höherer Ordnung durch Vermittlung der StA zur Übernahme vorzulegen (§ 209 II StPO)34. Gegen die Verfahrenstrennung steht der StA die einfache Beschwerde zu35. Die Eröffnung vor dem

28 29 30 31 32

OLG Karlsruhe aaO; vgl. auch für ErwRecht BGH 12, 7 u. BGH NJW 75, 126. KG NStZ-RR 18, 91, 92; DSS/Schatz 16. OLG Stuttgart Zbl. 95, 298; Justiz 11, 217, 218. Vgl. Eisenberg/Kölbel § 40, 9. OLG Koblenz NJW 82, 604 = JR 82, 479 mit zust. Anm. Brunner; KG StV 85, 408; OLG Düsseldorf NStZ 91, 145; OLG Stuttgart Justiz 11, 217, 218. 33 Löwe/Rosenberg/Stuckenberg27 § 209a StPO 26. 34 KG StV 85, 408. 35 OLG Köln NStZ-RR 00, 314. 619

§ 103

2. Teil. Jugendliche

ErwGericht kann die StA mit sofortiger Beschwerde anfechten36. Bei gleichzeitiger Verfahrenstrennung und Eröffnung vor dem ErwGericht ist einheitlich die sofortige Beschwerde gegeben37. Trifft das JGericht hinsichtlich der abgetrennten ErwSache keine der vorerwähnten Entscheidungen, sondern gibt sie nur an ein ErwGericht ab, kann die ausstehende Entscheidung mit der Beschwerde (§ 304 StPO) erzwungen werden, die zur vollen Nachprüfung der angefochtenen Entscheidung einschließlich der Untersuchung auf Ermessensfehler führt38. Werden die Angeklagten vor der Trennung nicht gehört (§ 33 II, III StPO), so kann unter bestimmten Voraussetzungen39 das Urteil der Revision verfallen. 14 Wäre für das Restverfahren gegen den Erw. ein ErwGericht höherer Ordnung zuständig, müsste das JGericht das Verfahren dorthin abgeben. Die bes. Zuständigkeitsregelungen in §§ 39 I 2, 41 I 3 (§ 41, 9 u. 13) dürften dies nur selten praktisch werden lassen40. Im Falle des Abs. II 2, 3 muss jedes JGericht das gesamte verbundene Verfahren der Wirt15 schaftsstraf- oder Staatsschutzkammer vorlegen (Rn 6), die auch über die Voraussetzungen des Abs. I entscheidet. Hier sollte die JStA sehr sorgfältig arbeiten, um nicht J (Hw.) unnötigerweise vor diese ErwSpezialkammern kommen zu lassen (Rn 9; § 36, 5).

6. Verbindung nach Eröffnung des Hauptverfahrens 16 Nach Eröffnung des Hauptverfahrens werden zusammenhängende Strafsachen verbunden – oder getrennt (Rn 18) – auf Antrag der StA oder des Angeklagten oder auch von Amts wegen durch gerichtlichen Beschluss (§ 4 I StPO). Für diesen Verbindungsbeschluss ist bei Gerichten gleichen Bezirks das Gericht höherer Ordnung zuständig (§ 4 II 1 StPO). Werden Erw. zu J (Hw.) verbunden, so beschließt stets das JGericht die Verbindung nach § 4 II 1 StPO, soweit nicht die Ausnahmeregelung des § 103 II 2, 3 eingreift (Rn 3, 5, 6), wobei das JGericht gegenüber einem sonstigen ErwGericht gerichtsverfassungsgemäß gleicher Ordnung als das höhere Gericht gilt41. Zum negativen Kompetenzkonflikt gleichrangiger Gerichte (JKammer lehnt Übernahme ab) § 33b, 30. Sollen Verfahren verbunden werden, die bei Gerichten verschiedener Bezirke anhängig 17 sind, so entscheidet nach § 4 II 2 StPO das gemeinschaftliche obere Gericht, dessen Bezirk alle beteiligten Gerichte angehören. Es ist dies für 2 AG desselben LG-Bezirks das LG, sonst ein OLG – nie ein LG –, sofern alle beteiligten Gerichte seinem Bezirk angehören, sonst (wie im Falle beteiligter OLG) der BGH42.

7. Trennung nach Eröffnung des Hauptverfahrens 18 Will das JGericht nach Eröffnung des Hauptverfahrens das Verfahren, soweit es sich gegen Erw. richtet, abtrennen, so kann es das Verfahren insoweit nicht an ein ErwGericht niedrigerer oder gleicher Ordnung abgeben, weil § 47a gegenüber § 103 III lex specialis ist43. Ein gerichtsverfassungsgemäß gleichgeordnetes ErwGericht kann aber die J (Hw.) abtrennen und an das gerichts-

36 37 38 39 40 41

OLG Stuttgart Zbl. 95, 297. OLG Hamburg Zbl. 04, 431, 432. OLG Koblenz u. OLG Düsseldorf (FN 32). BGH bei Pfeiffer NStZ 82, 188. Löwe/Rosenberg/Stuckenberg27 § 209a StPO 27. Vgl. aber LG Berlin NStZ-RR 99, 154: Bei gemeinsamer Anklage gegen einen Erw. u. einen J vor dem ErwGericht kann dieses das Verfahren insgesamt, also auch gegen den Erw., mit bindender Wirkung gem. § 270 I StPO an das JGericht verweisen. 42 Zur unterschiedlichen Wirkung der Verbindung nach § 4 I u. § 237 StPO im ErwRecht vgl. BGH MDR 90, 448. 43 BayObLG 80, 958; Eisenberg/Kölbel 21; Ostendorf/Goerdeler/Rose 9, 10. 620

Verbindung mehrerer Strafsachen

§ 103

verfassungsgemäß gleichgeordnete JGericht zur Übernahme vorlegen, da dieses ihm gegenüber als Gericht höherer Ordnung gilt. Eine nach § 209a StPO einem Gericht höherer Ordnung gleichgestellte Spezialstrafkammer 19 kann auch nach Eröffnung des Hauptverfahrens den zu Erw. verbundenen J oder Hw. abtrennen und das Verfahren insoweit an das JGericht abgeben, das ohne die Verweisung zuständig gewesen wäre (Verweisung in § 103 II 3 HS 2 auf § 209a StPO)44. Eine Vereinbarung beider Gerichte ist für den Übergang der Zuständigkeit nicht erforderlich45. Zum negativen Kompetenzkonflikt § 33b, 30.

8. Restverfahren nur mit Erw. Scheiden nach Eröffnung des Hauptverfahrens aus einem verbundenen Verfahren alle J und 20 Hw. aus oder wird das Urteil allein gegen die J (Hw.) rechtskräftig, dann bleibt für die noch nicht abgeurteilten Erw. idR das JGericht zuständig46. Denn § 47a S. 1 lässt es nicht zu, dass ein JGericht sich nach Eröffnung des Hauptverfahrens für unzuständig erklärt, weil die Sache vor ein für ErwStrafsachen zuständiges Gericht gleicher oder niedrigerer Ordnung gehöre (§ 47a, 1, 4)47. Infolge der für die verbundenen Erw. geltenden bes. Zuständigkeitsvorschriften des § 39 I 2 (§ 41, 9) und des § 41 III (§ 41, 13) wird in dieser Phase des Verfahrens für den Erw. kaum ein ErwGericht höherer Ordnung zuständig sein. Auch die Ausnahmevorschrift des § 47a S. 2 iVm § 103 II 2, 3 (Rn 6 und § 47a, 4) wird kaum je eine Vorlage des sich nur noch gegen Erw. richtenden Restverfahrens ermöglichen, im Übrigen bedürfte es hierzu auch noch des Unzuständigkeitseinwandes des Erw., der nur bis zum Beginn seiner Vernehmung zur Sache in der Hauptverhandlung wirksam erhoben werden kann (§ 6a StPO). Die Erw. des Restverfahrens werden also zumeist dem JGericht verbleiben, es weiterhin unnötig belasten. Zur Entscheidung des Revisionsgerichts bei verbliebenen Erw. Rn 23 u. § 47a, 7.

9. Trennung nur bei Jugendlichen Sind nur Verfahren mit J und Hw. verbunden, so kann das JGericht jederzeit (Abs. III) die Verfah- 21 ren trennen, wenn es die Voraussetzungen der Verbindung nicht mehr für gegeben hält. Mit der Trennung wird das abgetrennte Verfahren an das JGericht abgegeben, das ohne Verbindung zuständig gewesen wäre; erneute Verbindung bleibt möglich. Diese Abgabe ist die Vorlage an das allein zuständige Gericht (also anders als bei anderen Abgaben, die eine neue Zuständigkeit begründen, z.B. gem. §§ 42 III 2, 58 II 3, 65 I 3). Durchaus sinnvoll hat das Gesetz hier die Anrufung eines höheren Gerichts nicht vorgesehen48. Die ordentliche Abwicklung des Verfahrens kann ja durch Beschwerde gegen die Nichtanberaumung der Hauptverhandlung erzwungen werden. Nur wenn alle zuständigen Gerichte ihre Zuständigkeit in unanfechtbaren Entscheidungen verneint haben, kommt die Anrufung des gemeinschaftlichen oberen Gerichts in Ausfüllung einer Lücke in Betracht49. Gibt ein JGericht ein Verfahren nach Trennung an ein ErwGericht gleicher oder niedrigerer Ordnung ab, so hat es zugleich über die Eröffnung des Verfahrens zu entscheiden (§§ 207, 209, 209a Nr. 2a StPO)50.

44 45 46 47 48 49 50 621

OLG Karlsruhe NStZ 87, 375 für die Wirtschaftsstrafkammer. OLG Karlsruhe aaO. OLG Koblenz VRS Bd. 71 (86), 462. BGH 30, 260; BayObLG 80, 46. Eisenberg/Kölbel 20; Ostendorf/Goerdeler/Rose 9. Vgl. BGH 18, 384; LG Kiel NJW 71, 159; Ostendorf/Goerdeler/Rose 9. OLG Koblenz NJW 82, 604 = JR 82, 479 m. zust. Anm. Brunner; Ostendorf/Goerdeler/Rose 10.

§ 103

2. Teil. Jugendliche

10. Zuständigkeit im Instanzenzug 22 Diese Zuständigkeitsregelungen gelten jedoch nur im Verfahren der ersten Instanz. Bei Rechtsmitteln entscheidet allein der allg. Instanzenzug, da für diesen nur maßgebend ist, welches Gericht in der vorhergehenden Instanz entschieden hat51. Legt nur der Erw. gegen das Urteil des JGerichts Berufung ein, so entscheidet darüber die JKammer (vgl. Rn 20). Über die Berufung eines versehentlich vom ErwStrafrichter verurteilten J entscheidet die kleine ErwStrafkammer52 und verweist die Sache unter Aufhebung des angegriffenen Urteils an den zuständigen JRichter zurück53. Vgl. allg. zum negativen Kompetenzkonflikt § 33b, 30.

11. Zurückverweisung durch das Rechtsmittelgericht 23 Für das Berufungsgericht gilt nichts Besonderes. Das Revisionsgericht kann das Verfahren des „übrig gebliebenen“ Erw. an ein ErwGericht oder ein JGericht zurückverweisen (näher § 47a, 7; auch § 41, 48). Hat infolge Verbindung oder Trennung ein unzuständiges Gericht entschieden, so hebt das Revisionsgericht das Urteil von Amts wegen auf54. Zur Entscheidung – auch des Berufungsgerichts –, wenn ein J vom ErwGericht oder ein Erw. vom JGericht verurteilt worden ist, § 33b, 24 ff. 24 Zum Verfahren nach Einspruch gegen einen Strafbefehl § 109, 13.

12. Verfahren in den verbundenen Sachen 25 Ist gem. Abs. II 2, 3 das ErwGericht mit seiner Spezialzuständigkeit zugleich zur Verhandlung gegen J und Hw. berufen, so gelten für diese die §§ 104, 112. Zum zuständigen StA vgl. § 102, 4. Vor den JGerichten werden die Erw. nach allg. materiellen Strafrecht abgeurteilt. Für das Verfahren gilt JRecht, wenn sich nicht aus den Bestimmungen selbst (z.B. §§ 43, 45, 47, 55, 76) das Gegenteil ergibt oder das Gesetz ausdrücklich eine bes. Regelung trifft (§ 48 III). Zur Nebenklage gegen Erw. § 109, 7; zum Adhäsionsverfahren § 109, 12.

13. Verbindung von in verschiedenen Altersstufen begangenen Taten bei ein und demselben Täter 26 Zur Aburteilung eines Täters, der Teilakte einer Dauerstraftat oder rechtlichen Bewertungseinheit teils als Hw., teils als Erw. begangen hat, ist das JGericht zuständig (Vor § 102, 2; § 32, 5)55. Bandemer56 leitet die Zuständigkeit aus dem Grundsatz „in dubio pro reo“ her, weil das JGG auch in diesem Falle den umfangreicheren und sorgsameren Weg zur Entscheidungsfindung57 weise. Zu den Schwierigkeiten bei Anwendung dieses Grundsatzes gerade im JStrafrecht § 105,

51 BGH 22, 48. 52 BGH 18, 79; BayObLG 71, 35 im Anschluss an BGH 22, 48; anders noch BGH 13, 159. 53 Zum Sonderfall der Wirtschaftsstrafkammer als Berufungsgericht (negativer Kompetenzkonflikt) vgl. OLG München JR 80, 77 mit krit. Anmerkung Rieß. 54 KG StV 85, 408; Eisenberg/Kölbel 24b. 55 BGH H MDR 80, 456; BGH B NStZ 83, 450; BGH StV 03, 454; OLG Oldenburg NJW 81, 1384; OLG Düsseldorf JR 83, 479 mit zust. Anm. Brunner; OLG Hamburg StV 85, 158; Eisenberg/Kölbel 33, 10, § 107, 5; Beulke/Swoboda Rn 628 mit zum Teil unterschiedlichen Begründungen. 56 Zbl. 89, 319 mwN. 57 AaO, 321. 622

Verfahren gegen Jugendliche

§ 104

3158. Ob vor oder nach dem 21. Lebensjahr begangene Straftaten ein und desselben Täters diesen vor den JRichter führen, hängt davon ab, welche Anforderungen an Verbindung und Trennung gestellt werden59. Vgl. auch Vor § 102, 2; § 32, 5. Die Verbindung ist geboten, um das Gesamtverfahren dem JRichter zuzuweisen und ihm die notwendige Gesamtschau und die Möglichkeit für eine Entscheidung nach § 32 zu geben60. Die JStA ist berufen, dem JRichter durch Verbindung, ggf. durch Unterlassen der Trennung, 27 in solchen Fällen die Zuständigkeit über das Gesamtverfahren und die Möglichkeit für eine Entscheidung nach § 32 zu verschaffen61 (Rn 4; § 36, 5; vgl. auch § 32, 5). Das Ermessen zur Verbindung (Vor § 102, 2)62 verdichtet sich nach Ostendorf63 entgegen der hM64 aufgrund des Anliegens einer einheitlichen Entscheidung sogar zu einer Verpflichtung.

14. Straftat und Ordnungswidrigkeit Verfolgt die StA eine Ordnungswidrigkeit neben einer zusammenhängenden Straftat (§ 42 28 OWiG), so erstreckt sich die Zuständigkeit des Gerichts für die Straftat auch auf die Ordnungswidrigkeit, bei J oder Hw. also die des JGerichts. Das Gericht kann ggf. die Eröffnung des Hauptverfahrens wegen der Ordnungswidrigkeit ablehnen65, eine Trennung der Straf- und Bußgeldsache ist dem Gericht jedoch versagt, weil eine selbständige gerichtliche Zuständigkeit allein für die Ahndung einer Ordnungswidrigkeit ohne Vorschaltverfahren fehlt; die §§ 2 II, 13 III StPO scheiden hier nach Eröffnung des Hauptverfahrens aus66. Im Einspruchsverfahren gegen einen Bußgeldbescheid darf und muss der Richter ggf. ins Strafverfahren übergehen67. Zu einer Strafsache gegen einen Erw eine damit zusammenhängende Ordnungswidrigkeit gegen einen J oder Hw. oder umgekehrt zu übernehmen, wird sich idR aus den bes. Voraussetzungen des § 103 I verbieten. Geschieht dies doch, so ist das ErwGericht zuständig, weil eine Zuständigkeit des JGerichts für Ordnungswidrigkeiten nur im Einspruchsverfahren besteht, die §§ 103 II und 112 deshalb nicht eingreifen68. Zum Verschlechterungsverbot § 55, 62; zum Verbindungsbeschluss des höherrangigen Gerichts § 41, 40.

§ 104 Verfahren gegen Jugendliche (1) In Verfahren gegen Jugendliche vor den für allgemeine Strafsachen zuständigen Gerichten gelten die Vorschriften dieses Gesetzes über 1. Verfehlungen Jugendlicher und ihre Folgen (§§ 3 bis 32), 2. die Heranziehung und die Rechtsstellung der Jugendgerichtshilfe (§§ 38, 46a, 50 Abs. 3), 3. den Umfang der Ermittlungen im Vorverfahren (§ 43),

58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68

Vgl. auch Böhm/Feuerhelm S. 63 ff. Miehe FS Stutte, 1979, S. 241. Näher Brunner JR 80, 262. Brunner JR 80, 262 u. JR 83, 480. BGH 10, 101; 18, 238. § 32, 17. Vgl. nur BGH 36, 294 = JR 90, 523 mit zust. Anm. Brunner. Göhler/Gürtler/Thoma § 42 OWiG 23. Göhler/Gürtler/Thoma § 45 OWiG 4. BayObLG 76, 117. Göhler/Gürtler/Thoma § 45 OWiG 5; Eisenberg/Kölbel 3; enger Ostendorf/Goerdeler/Rose 3. Zur Frage Rechtsmittel nach StPO oder Rechtsbeschwerde BayObLG 73, 190; OLG Hamm NJW 69, 500. 623 https://doi.org/10.1515/9783110686401-136

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2. Teil. Jugendliche

4.

das Absehen von der Verfolgung und die Einstellung des Verfahrens durch den Richter (§§ 45, 47), 4a. den Ausschluss der Öffentlichkeit (§ 48 Absatz 3 Satz 2), 5. die Untersuchungshaft (§§ 52, 52a, 72, 89c), 6. die Urteilsgründe (§ 54), 7. das Rechtsmittelverfahren (§§ 55, 56), 8. das Verfahren bei Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung und der Verhängung der Jugendstrafe (§§ 57 bis 64), 9. die Beteiligung und die Rechtsstellung der Erziehungsberechtigten und der gesetzlichen Vertreter (§ 50 Absatz 2, § 51 Absatz 2 bis 7, §§ 67, 67a), 10. die notwendige Verteidigung (§§ 68, 68a), 11. Mitteilungen an amtliche Stellen (§ 70), 11a. die Unterrichtung des Jugendlichen (§ 70a), 11b. Belehrungen (§ 70b), 11c. die Vernehmung des Beschuldigten (§ 70c), 12. die Unterbringung zur Beobachtung (§ 73), 13. Kosten und Auslagen (§ 74), 14. den Ausschluß von Vorschriften des allgemeinen Verfahrensrechts (§§ 79 bis 81) und 15. Verfahren und Entscheidung bei Anordnung der Sicherungsverwahrung (§ 81a). (2) Die Anwendung weiterer Verfahrensvorschriften dieses Gesetzes steht im Ermessen des Gerichts. (3) Soweit es aus Gründen der Staatssicherheit geboten und mit dem Wohl des Jugendlichen vereinbar ist, kann das Gericht anordnen, dass die Heranziehung der Jugendgerichtshilfe unterbleibt und dass die in § 67 Absatz 1 und 2 genannten Rechte der Erziehungsberechtigten und der gesetzlichen Vertreter ruhen. (4) 1Hält das Gericht Erziehungsmaßregeln für erforderlich, so hat es deren Auswahl und Anordnung dem Familiengericht zu überlassen. 2§ 53 Satz 2 gilt entsprechend. (5) Dem Jugendrichter, in dessen Bezirk sich der Jugendliche aufhält, sind folgende Entscheidungen zu übertragen: 1. Entscheidungen, die nach einer Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung erforderlich werden; 2. Entscheidungen, die nach einer Aussetzung der Verhängung der Jugendstrafe erforderlich werden, mit Ausnahme der Entscheidungen über die Festsetzung der Strafe und die Tilgung des Schuldspruchs (§ 30); 3. Entscheidungen, die nach dem Vorbehalt einer nachträglichen Entscheidung über die Aussetzung der Jugendstrafe erforderlich werden, mit Ausnahme der vorbehaltenen Entscheidung selbst (§ 61a). 1. Abs. I–III und V: Hw.: § 112 S. 1, 2; – Abs. IV: [Hw.]: Rn 10; § 112 S. 3. – 3. Sold. § 112e.

Richtlinie zu § 104 Als Verfahrensvorschriften, deren Anwendung nach Absatz 2 im Ermessen des Gerichts steht, kommen z.B. § 51 (zeitweise Ausschließung von Beteiligten), § 69 (Beistand), § 71 (vorläufige Anordnung über die Erziehung) und § 72 Abs. 4 (Unterbringung in einem Heim der JHilfe an Stelle von Untersuchungshaft) in Betracht.

1 Unmittelbar gelten auch vor ErwGerichten: die §§ 1, 2 (vgl. Stellung im Gesetz), die §§ 82–101, 112c, bei denen es nur darauf ankommt, ob eine Unrechtsfolge des materiellen JRechts angewendet wurde (s. § 85 RL I 1b u. Vor § 82, 2)1 und die §§ 102, 103 (vgl. Stellung im Gesetz)2.

1 OLG München MDR 57, 437; Dallinger/Lackner § 82 Vorb. 21; Potrykus § 82 Vorb. 5. 2 Ebenso Eisenberg/Kölbel 28–30. 624

Verfahren gegen Jugendliche

§ 104

Über die unmittelbar geltenden Vorschriften (Rn 1) hinaus gelten stets und uneingeschränkt die in Abs. I Nr. 1–15 aufgeführten Vorschriften, sowie nach § 112e die §§ 112a und 112d. Nach Ermessen des ErwGerichts gelten: § 44 (RL 1 S. 2 zu § 44; § 44, 6); § 46 (RL 2 zu § 46; Eisenberg/Kölbel3 regen an, dass die StA den § 46 gerade bei Anklagen zum ErwGericht beachtet); § 48 I (§ 48, 4, 5 u. 7); § 50 I (§ 50, 5); § 51 I (RL; RL S. 1 zu § 51; § 51, 19); § 66 (§ 66, 13); § 69 (RL); § 71 (RL; § 71 RL 5); § 72 IV (RL; vgl. aber Abs. I Nr. 5)4. Gegen J kann immer nichtöffentlich verhandelt werden (§ 48, 4 u. 5)5. Bei gemeinsamer Verhandlung auch gegen Hw. oder Erw. ist gem. Abs. I Nr. 4a stets der Öffentlichkeitsausschluss nach § 48 III 2 zu prüfen. Dagegen gelten niemals, auch nicht entsprechend (Abs. II) oder in abgeänderter Form (Abs. III–V): §§ 33–37; §§ 39–42; §§ 76–786; § 34 I; § 53 (durch Abs. IV ersetzt; Rn 9). Zu Abs. IV u. V Rn 8 u. 97. Die Geschäftsverteilung kann den JRichter jedoch auch für Vernehmung J zum Rechtshilferichter bestellen, wenn das Verfahren vor dem ErwGericht anhängig ist (§ 34 RL 1 S. 2)8. Wegen der sachlichen Zuständigkeit § 41, 5. Abs. III gibt dem ErwGericht die Möglichkeit, aus Gründen der Staatssicherheit die Beteiligung der JGH (§§ 38, 50 III, 70, auch 43) einzuschränken oder diese ganz von der Teilnahme am Verfahren auszuschließen, wenn dies mit dem Wohl des J vereinbar ist. Bei der Bedeutung gerade der Einschaltung der JGH in der JGerichtsbarkeit und der meist geringen Erfahrung der ErwGerichte in JSachen sind jedoch solche Beschränkungen nur ausnahmsweise und höchstens für die Hauptverhandlung selbst angebracht; auf die Ermittlungen der JGH zur Persönlichkeit (§§ 38, 28) sollte nie ganz verzichtet werden. Vgl. § 48, 3–8; § 51, 8; auch oben Rn. 3. Nach Abs. III kann das Gericht aus Gründen der Staatssicherheit bei Vereinbarkeit mit dem Wohl des J auch anordnen, dass die in § 67 I und II genannten Rechte der ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter ruhen. Der früher mögliche generelle Ausschluss der Beteiligung der ErzBerechtigten und gesetzlichen Vertreter ist nach der Änderung des Abs. III durch das G zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im JStrafverfahren v. 9.12.2019 nicht mehr zulässig, weil er mit der Richtlinie (EU) 2016/800 nicht vereinbar ist9. Wird das Ruhen der Rechte nach § 67 I und II angeordnet, kann neben der notwendigen Verteidigung nach § 68 Nr. 1 iVm § 140 I Nr. 1 StPO auch eine solche gem. § 68 Nr. 2 angenommen werden10. Wegen der Voraussetzung „aus Gründen der Staatssicherheit“ vgl. die Kommentare zu § 172 GVG. Bei der Regelung der Abs. IV und V muss zwischen J und Hw. unterschieden werden. Bei J gilt Folgendes: ErzMaßregeln (Weisungen, ErzBeistandschaft, Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2) darf das ErwGericht bei J – auch wenn es gleichzeitig auf JStrafe erkennt – nicht selbst anordnen (§ 53, 1). Es muss (RL zu § 53) insoweit an das Familiengericht abgeben. Denn es schaltet der weitergehende Abs. IV den § 53 aus, dessen S. 2 aber gilt entsprechend (Abs. IV S. 2; § 53, 7–10). Das ErwGericht darf auch keinen Ungehorsamsarrest anordnen (§ 65, 4). Für Hw. aber gilt Rn 10. Auch alle Maßnahmen nach Aussetzung der Verhängung oder Vollstreckung einer JStrafe zur Bewährung oder dem Vorbehalt einer nachträglichen Entscheidung über die Aussetzung – ausgenommen das Nachverfahren gem. § 30 und die vorbehaltene Entscheidung nach § 61a – darf das ErwGericht nicht anordnen. Stattdessen hat es die Entscheidungen an das JGericht, in dessen Bezirk sich der J aufhält, zu übertragen (Abs. V). Dieses JGericht und nicht das ErwGericht ist im Fall eines Aufenthaltswechsels des J für eine Weiter3 4 5 6 7 8

21. Ebenso Eisenberg/Kölbel 20–27. Eisenberg/Kölbel 9a. BGH 18, 176 zu § 42 III. Ebenso Eisenberg/Kölbel 31–35. Eisenberg/Kölbel 32; Dallinger/Lackner 35; Ostendorf/Goerdeler/Rose 23 halten sogar in allen Fällen ein Rechtshilfeersuchen an den JRichter für zulässig. 9 Begr. RegE, BT-Drs. 19/13837, S. 72. 10 Dallinger/Lackner 20; Potrykus B 4; DSS/Schatz 18; Eisenberg/Kölbel 14. 625

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2. Teil. Jugendliche

übertragung nach § 58 III 2 zuständig (§ 58, 11). Bei der sonst nicht vorgesehenen (§ 62, 6) Abgabe der Bewährungsentscheidungen nach Aussetzung der Verhängung einer JStrafe und nach dem Vorbehalt einer nachträglichen Entscheidung kann § 58 III 2, 3 entsprechend angewendet werden. 10 Bei Hw. gilt Abs. V in vollem Umfang. Von den in Abs. IV genannten ErzMaßregeln scheiden bei Hw. Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2 und ErzBeistandschaft aus, weil diese bei Volljährigen nicht angeordnet werden können (§ 105 I; § 105, 35 u. § 12, 8). Es bleiben nur die Weisungen nach § 10. Aber entsprechend Abs. IV bei Hw., also bei Volljährigen, gleichwohl das Familiengericht einzuschalten, wäre sinnwidrig (vgl. § 109 II 1: bei Hw. § 53 auch nicht entsprechend anwendbar). Hält der ErwRichter Weisungen für erforderlich, so hat er daher deren Auswahl und Anordnungen nach § 112 S. 3 dem JRichter zu überlassen, in dessen Bezirk der Hw. sich aufhält. Insoweit gibt er das Verfahren entsprechend § 58 II 2, 3 ab. Der zuständige JRichter muss übernehmen und ist für alle weiteren Entscheidungen, auch für eventuelle Weiterübertragung, zuständig11. Das ErwGericht ist mit Person und Sache nicht mehr befasst (vgl. § 58, 11 u. 12). 11 Hat ein ErwGericht entgegen § 104 Verfahrensvorschriften des JGG nicht angewendet, kann das Urteil angefochten werden, wenn diese Vorschrift revisibel ist12. Zur Verbindung vor Spezialgerichten § 103, 25.

11 BGH 25, 85 = JR 73, 206 mit zust. Anm. Brunner; aA insoweit Ostendorf/Goerdeler/Rose 13. 12 Eisenberg/Kölbel 36. 626

Dritter Teil Heranwachsende Erster Abschnitt Anwendung des sachlichen Strafrechts § 105 Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende (1) Begeht ein Heranwachsender eine Verfehlung, die nach den allgemeinen Vorschriften mit Strafe bedroht ist, so wendet der Richter die für einen Jugendlichen geltenden Vorschriften der §§ 4 bis 8, 9 Nr. 1, §§ 10, 11 und 13 bis 32 entsprechend an, wenn 1. die Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters bei Berücksichtigung auch der Umweltbedingungen ergibt, daß er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand, oder 2. es sich nach der Art, den Umständen oder den Beweggründen der Tat um eine Jugendverfehlung handelt. (2) § 31 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 ist auch dann anzuwenden, wenn der Heranwachsende wegen eines Teils der Straftaten bereits rechtskräftig nach allgemeinem Strafrecht verurteilt worden ist. (3) 1Das Höchstmaß der Jugendstrafe für Heranwachsende beträgt zehn Jahre. 2Handelt es sich bei der Tat um Mord und reicht das Höchstmaß nach Satz 1 wegen der besonderen Schwere der Schuld nicht aus, so ist das Höchstmaß 15 Jahre. 1. ./. – 2. ErwG: § 112, 6.

Richtlinien zu § 105 1.

2.

Die strafrechtliche Verantwortlichkeit Heranwachsender kann nicht wegen mangelnder Reife nach § 3 ausgeschlossen sein; sie wird nur nach den allgemeinen Vorschriften beurteilt. Gröbere Entwicklungsmängel können Anlass zu der Prüfung geben, ob die Schuldfähigkeit nach §§ 20 bzw. 21 StGB ausgeschlossen oder vermindert ist. Hilfe zur Erziehung (§ 9 Nr. 2, § 12) kann gegen Heranwachsende nicht angeordnet werden. Stattdessen kommt namentlich die Weisung in Betracht, sich einem Betreuungshelfer zu unterstellen (§ 10 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5).

Schrifttum Bauer/Remschmidt Forensisch-psychiatrische Begutachtung von Kindern u. J, Handb. d. For. Psychiatrie Bd. 1, 2007, S. 464; Blau Zur Frage der partiellen strafrechtlichen Vollreife Hw., MDR 59, 717; ders. Der Hw. im Verkehrsstrafrecht, RdJ 62, 289, 310; Brauneck Die Jugendlichenreife nach § 105 JGG, ZStW 65, 209; Bresser Zur Problematik des § 105 JGG, NJW 60, 1385; ders. Noch immer: Die Problematik des § 105 JGG, FS Schaffstein, 1975, S. 323; Busch Rechtspsychologische Begutachtung delinquenter Hw., 2006; ders. Evidenzbasierte Entscheidungsalgorithmen zur strafrechtlichen Zuweisung gemäß § 105 JGG, ZJJ 06, 264; Busch/Scholz Neuere Forschung zum § 105 JGG, MKrim 03, 421; dazu Esser/Wyschkon/Schmidt MKrim. 04, 458; Doermer Abgrenzungsprobleme zwischen JStrafrecht u. ErwStrafrecht bei Straftaten Hw., Diss. Hamburg 1963; Dölling Zur strafrechtlichen Behandlung der Hw., FS Kreuzer, 2. Aufl. 2009, S. 119; DVJJ, Hrsg., Die Rechtsbrüche der 18- bis 21-jährigen Hw. Bericht über die Verhandlungen des 10. JGerichtstages, 1959; DVJJ, Denkschrift über die kriminalrechtliche Behandlung junger Volljähriger, 1977; Dünkel Hw. im (J-)Kriminalrecht, ZStW 93, 137; ders. Hw. im JStrafrecht in Deutschland u. im europäischen Vergleich, DVJJ-J 03, 19; Eickmeyer Die strafrechtliche Behandlung der Hw. nach § 105 des JGG, 1963; Esser Sind die Kriterien der sittlichen Reife des § 105 JGG tatsächlich reifungsabhängig? DVJJ-J 99, 37; Esser/Fritz/Schmidt Die Beurteilung der sittlichen Reife Hw. iSd § 105 JGG – Versuch einer Operationalisierung, MKrim. 91, 356; Freisleder Rechtsfragen bei Kindern, J u. Hw., in Müller/Nedopil Forensische Psychiatrie, 5. Aufl. 2017, S. 97; Günter Der § 105 JGG: Entwicklungspsychologische Erkenntnisse u. gutachterliche Praxis, FPPK 08, 169; ders. Strafrechtliche Begutachtung von J u. Hw., in Venzlaff/Foerster/Dreßing/Habermeyer, Psychiatrische Begutachtung, 7. Aufl. 2021, S. 643; Günter/Karle Anwendung des 627 https://doi.org/10.1515/9783110686401-137

§ 105

3. Teil. Heranwachsende

JStrafrechts auf Hw., in Handb. d. For. Psychiatrie Bd 2, 2010, S. 581; Händel Die Reifeprüfung nach § 105 JGG in der Gerichtspraxis, MKrim. 64, 256; Häßler Die Einbeziehung Hw. in das JStrafrecht aus kinder- u. jpsychiatrischer Sicht, DVJJ-J 03, 15; Heinz Die Einbeziehung der Hw. in das JStrafrecht – einige rechtstatsächliche Befunde, GS Walter, 2014, S. 301; ders. Junge Volljährige im Prozess strafrechtlicher Sozialkontrolle, ZJJ 17, 115; Hinrichs Zur Anordnung von JStrafrecht nach dem § 105 JGG aus der Sicht der Betroffenen, MKrim. 01, 466; Hinrichs/Schütze Der § 105 I JGG aus jpsychiatrischer Sicht, DVJJ 99, 27; Janssen Hw. im JStrafverfahren, 1980; Knauer JStrafrecht u. Terrorismus. Zur Anwendung des JStrafrechts auf terroristische Straftaten von Hw. gem. § 105 I JGG, FS Eisenberg zum 80. Geburtstag, 2019, S. 259; Konrad/Huchzermeier/Rasch Forensische Psychiatrie und Psychotherapie, 5. Aufl. 2019; Kühling Zur Kriminologie u. strafrechtlichen Behandlung Hw., MKrim. 59, 157; Kuhn Grundlagen u. Kriterien bei der Beurteilung des Entwicklungsstandes Hw. gem. § 105, med. Diss. Tübingen 1974; Laue Die Rechtsprechung des BGH zu § 105 JGG, ZJJ 17, 108; Lederer Reifebeurteilung im Rahmen des § 105 I JGG mit bes. Blick auf „junge Jihadisten“, StV 17, 748; Lempp Zur Problematik des § 105 JGG, NJW 60, 1384; ders. Gerichtl. Kinder- u. JPsychiatrie 1983; Lohmar Die strafrechtliche Behandlung der Hw. nach § 105 JGG, 1966; Loesch Die strafrechtliche Behandlung der Hw., Schriften des Fliedner-Vereins Rockenberg H 6; Masche Entwicklungspsychologische Überlegungen zu wesentlichen Stationen u. Kompetenzen während des JAlters DVJJ 99, 30; Miehe Die neue Entwicklung der Altersgruppenfrage im Strafrecht u. Strafprozeßrecht, Zbl. 82, 82; Mitsch Teilnahme u. versuchte Beteiligung beim Mord im JStrafrecht, GA 13, 137; ders. Probleme des § 105 III S. 2 JGG, FS Beulke, 2015, S. 1181; Neubacher Der kriminalrechtliche Umgang mit Hw. – Stimmiges, Unstimmiges, Unbekanntes, in: BMJ, Hrsg., Berliner Symposium zum JKriminalrecht u. seiner Praxis, 2017, S. 121; Ottinger Die bedingte strafrechtliche Reife (§§ 3, 105 JGG), in Blau/Müller-Luckmann, Hrsg., Gerichtliche Psychologie, 1962, S. 192; Palmowski Sanktionierung u. Rückfälligkeit von Hw., 2019; Potrykus/Middendorff Die Rechtsbrüche der Hw., ihre Kriminologie u. ihre Behandlung, RdJ 56, 353; Pruin Die HwRegelung im deutschen JStrafrecht, 2007; dies. Gereift in 53 Jahren? Die Reformdebatte über die deutsche HwRegelung, ZJJ 06, 257; dies. Hw. im Strafrecht, BewH 11, 213; Sauer Die strafrechtliche Behandlung der Hw. (Strafe oder Maßnahme), 1968; Schaffstein Die Behandlung der Hw. im künftigen Strafrecht, ZStW 62, 1; ders. Zur jstrafrechtlichen Behandlung der Hw. Die Problematik des § 105 JGG, NJW 55, 1577; Schmidt Die Anwendung des JStrafrechts auf Hw. – Erfahrungen zu § 105 JGG, in Warnke/Trott/Remschmidt,Hrsg., Forensische Kinder- u. Jugendpsychiatrie, 1997, S. 221; Schmitz Die kontinuierliche Problematik des § 105 JGG, MKrim. 74, 65; Schneider Kriminologie u. Behandlung hw. u. jungerw. Rechtsbrecher, RdJ 63, 1, 24; Schnitzerling § 105 JGG in der höchstrichterlichen Rechtsprechung u. das Verkehrsdelikt als JVerfehlung, UJ 57, 228 (vgl. auch DAR 56, 96 ff; 62, 208, 209 u. 66, 38); Schütze/Schmitz Strafrechtliche Verantwortlichkeit, Strafreife u. schädliche Neigungen, in Lempp/Schütze/Köhnken, Hrsg., Forensische Psychiatrie u. Psychologie des Kindes- u. JAlters, 1999, S. 127; Specht Neurotische Störungen u. Entwicklungskrisen im JAlter, in Venzlaff/Foerster Psychiatrische Begutachtung, 2. Aufl. 1994, S. 379; Suttinger Die Beurteilung des Entwicklungsstandes Hw., in Undeutsch, Hrsg., Forensische Psychologie, Handbuch der Psychologie Bd. 11, 1967, S. 296; Swoboda Die Bemessung der JStrafe bei Mordtaten von Hw., ZStW 13, 86; Thomae Das Problem der sozialen Reife von 14–20jährigen, 1973; Toker Die Beurteilung der Reife gem. § 105 JGG in der interkulturellen Begutachtung DVJJ-J 99, 41; Walter Welches Recht für Hw.? ZJJ 07, 400; ders. Hw. als strafrechtliche Problemgruppe, GA 07, 503; Walter/Eckert Zunehmende Anwendung des JRechts gegenüber Hw, MKrim. 85, 69; Wegener Der „vorzeitige Abschluß der Entwicklung“ bei minderbegabten Straftätern, MKrim. 60, 147; Weiss Die Anwendbarkeit von JStrafrecht auf Hw., 2021; ders. Zur Auslegung der Voraussetzungen des § 105 I JGG, ZJJ 21, 213.

Übersicht Vorbemerkungen 1 2 1. Abgrenzungsfragen 2. Voraussetzungen für die Anwendung von JStraf3 recht 3. Anhaltspunkte für den Entwicklungs5 stand 4. Anlage-, Entwicklungs- und Verwahrlosungstä14 ter 15 5. Jtypische und jfremde Straftatbestände 16 6. Indiz in Zweifelsfällen 7. Gesamtwürdigung der Täterpersönlich17 keit

8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15.

Unbehebbare Entwicklungsrück23 stände 24 Die Jugendverfehlung 28 Die Entscheidung 31 Unbehebbare Zweifel Besonderheiten bei der Anwendung materiellen 32 JStrafrechts EinheitsJStrafe mit Verurteilungen nach Erw39 Recht Abstimmung, Begründung, Anfechtung und Bin40 dung 45 Drogentäter

628

Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende

§ 105

Vorbemerkungen Wer Hw. ist, sagt § 1 II. Es kommt auf das Alter zZ der Tat an1. Auch nach Herabsetzung des 1 Volljährigkeitsalters verwehrt das GG es dem Gesetzgeber nicht, bei Hw. die ErzHilfe des Staates fortbestehen zu lassen (Einf. 94)2. Die interdisziplinär erarbeiteten Erkenntnisse der JKriminologie (Einf. 1 ff) und die Erfahrungen der Praxis fordern die Anwendung des JRechts auf Hw., wenn nicht ausnahmsweise eindeutig (vgl. aber Rn 31) zu erkennen ist, dass ihre Entwicklung schon weithin abgeschlossen ist. Für eine solche Auslegung spricht, dass auch die Marburger Richtlinien3 bei sorgsamer Beachtung fast bei allen Hw. die Anwendung des JStrafrechts geboten erscheinen lassen. Der Anteil der nach JStrafrecht verurteilten Hw. stieg von 21 % 1954 auf 67 % 20124 und betrug 2020 59 %5. Zu Kritik u. Weiterentwicklung des § 105 Einf. 124–129. Zu Zweifeln hinsichtlich des Alters zur Tatzeit § 1, 23.

1. Abgrenzungsfragen § 105 betrifft nur die Straffrage (s. auch Rn 43)6. Ob ein Hw. strafrechtlich verantwortlich ist, 2 richtet sich nach allg. Recht7. Eine bes. Schuldvoraussetzung gibt es nicht; § 3 gilt für Hw. nicht (RL 1). Bei erheblichen Reifeverzögerungen kann jedoch Ausschluss oder Verminderung der Schuldfähigkeit (§§ 20, 21 StGB; RL 1) oder Verbotsirrtum (§ 17 StGB) gegeben sein. – Die Reifegradentscheidung nach § 105 I muss bei allen Verfehlungen (§ 1, 1) Hw. getroffen werden. Im Rahmen des OWiG aber stehen Hw. den Erw. gleich; jgemäße Vollstreckung ist jedoch möglich (§ 98 OWiG). Bei recht erheblichen regionalen Unterschieden, auch zwischen Stadt und Land, wird heute auf Hw. insbes. bei schweren Taten überwiegend JStrafrecht angewendet8. Zur „Entschärfung“ der Problematik des § 105 Einf. 1259. Zur Abgrenzung „junger Volljähriger“ des § 41 SGB VIII u. „Hw.“ des JGG vgl. § 12, 8; § 45, 29.

2. Voraussetzungen für die Anwendung von JStrafrecht § 105 will „im Interesse des Hw. alles das dem JStrafrecht … unterstellen, was durch jugendli- 3 ches Verhalten und Erscheinungsbild gekennzeichnet ist“10. Materielles JRecht ist deshalb auch gegen Hw. anzuwenden bei noch nicht abgeschlossener Entwicklung oder bei einer JVerfehlung, also immer, wenn Täter oder Tat jgemäße, dh entwicklungsbedingte Züge tragen. Eine Vermutung für die Anwendung des J- oder des ErwRechts besteht nicht (s. aber Rn 31). Doch hat die Praxis ergeben, dass häufig JRecht anzuwenden ist. Die Entscheidung muss jeweils auf Grund der Besonderheiten des Einzelfalls getroffen 4 werden. So wenig es bestimmte Straftatbestände gibt, die stets eine JVerfehlung darstellen, so wenig gibt es einen bestimmten, fest abgrenzbaren Typ des J, des typischen 14–17-jährigen. Das Leben des Einzelnen verläuft nicht in klar erkennbaren, allgemeingültigen Entwicklungsab1 2 3 4 5

BGH 6, 354; 22, 24. BVerfG NStZ 87, 275. MKrim. 55, 60. Heinz S. 27. Stat. BA, S. 18. Näher zur Anwendungspraxis des § 105 Pruin Die HwRegelung, S. 55 ff. Zur ungleichmäßigen Anwendung des JStrafrechts auf Hw. Janssen 1980, S. 79, 219; Heinz in JStrafrecht an der Wende, S. 79 ff; Palmowski S. 453, 577. 6 BGH 5, 209; BGH NStZ 05, 644. 7 BGH 12, 116. 8 Vgl. Walter/Pieplow MKrim. 85, 96. 9 Siehe auch BGH StV 87, 307; BayObLG GA 84, 478. 10 BGH 36, 37, 40 = JR 89, 519 mit zust. Anm. Brunner = NStZ 89, 519 mit krit. Anm. Walter/Pieplow. 629

§ 105

3. Teil. Heranwachsende

schnitten, die durch feste Altersgrenzen bestimmt werden (Einf. 80 f. u. 125)11. Man muss deshalb mit Potrykus12 unter „J“ iSd Abs. I Nr. 1 abweichend von der Legaldefinition (§ 1 II) entsprechend dem materiellen Inhalt den noch ungefestigten, in der Entwicklung stehenden, noch prägbaren Menschen verstehen, bei dem „Entwicklungskräfte noch in größerem Umfang“ wirksam sind13. Maßgebend ist, ob sich der einzelne Hw. noch in einer für J typischen Entwicklungsphase befindet14. Dies bedeutet nicht, dass der Hw. in seiner Entwicklung zurückgeblieben sein15 oder dass er das Bild eines noch nicht 18-jährigen bieten muss16. Erforderlich ist eine Gesamtwürdigung der Persönlichkeit unter Berücksichtigung der sozialen Lebensbedingungen17.

3. Anhaltspunkte für den Entwicklungsstand 5 Anhaltspunkte für die Entscheidung, die nur im Zusammenhang richtig gewürdigt werden können (Rn 17), sind im Folgenden dargestellt. 1955 wurden von der DVJJ und der Deutschen Vereinigung für JPsychiatrie die rechtlich unverbindlichen „Marburger Richtlinien“ erarbeitet18. Nach Eisenberg/Kölbel19 stießen die Richtlinien „mit Blick auf die fallkonkret verlässliche Feststellbarkeit der Merkmale auf Skepsis“; es liege die Frage nahe, „ob es sich möglicherweise weniger um Kennzeichen für einen jgemäßen Entwicklungsabschnitt als vielmehr um Zuschreibungen bei (auch erw.) strafrechtlich registrierten Personen handle“. Nach Ostendorf20 stehen die Marburger Richtlinien „nur zum Teil unter richtigem Vorzeichen“. Gegen die Richtlinien wird neben dem weiten Interpretationsspielraum auch ihr teilweise moralisch wertender Charakter sowie der Umstand angeführt, dass die Kriterien teilweise auch für nicht entwicklungsbedingte Persönlichkeitsstörungen zutreffen21. Immerhin enthalten die Richtlinien Hinweise, die dem Hilfen geben können, der nicht meint, mit einem oder einigen dieser Anzeichen ohne übergreifende Gesamtwürdigung der Persönlichkeit unter Einbeziehung der Umweltbedingungen (Rn 19) bereits diese schwierige, schwankender Beurteilung unterliegende Entscheidung (vgl. Einf. 125) treffen zu können22. 6 Nach den Marburger Richtlinien legt das Fehlen folgender Züge es nahe, einen Hw. einem J gleichzustellen: eine gewisse Lebensplanung; Fähigkeit zum selbständigen Urteilen und Entscheiden; Fähigkeiten zum zeitlich überschauenden Denken; Fähigkeit, Gefühlsurteile rational zu unterbauen; ernsthafte Einstellung zur Arbeit und eine gewisse Eigenständigkeit zu anderen Menschen. Charakteristisch jtümliche Züge könnten z.B. sein: ungenügende Ausformung der Persönlichkeit; Hilflosigkeit, nicht selten hinter Trotz und Arroganz versteckt; naiv vertrauensseliges Verhalten; Leben im Augenblick; starke Anlehnungsbedürftigkeit; spielerische Einstel11 BGH 36, 37. 12 B 2; ähnlich Dallinger/Lackner 15; Schaffstein NJW 55, 1577. 13 BGH 12, 118; BGH 36, 37; BGH H MDR 90, 888; BGH StV 94, 607, 608; NJW 98, 3655; NStZ-RR 99, 26; 03, 186; NStZ 04, 295; NStZ-RR 11, 218 = ZJJ 11, 201 mit zust. Anm. Eisenberg; NStZ 13, 289; NStZ-RR 19, 217; StV 20, 695; NStZ 22, 558; OLG Hamm StV 01, 182; StV 05, 71; OLG Celle NStZ 12, 576; OLG Karlsruhe ZJJ 22, 60; Eisenberg/Kölbel 15; Böhm/Feuerhelm S. 48; krit. Thomae S. 19; Ostendorf 7 „abstrahierende Betrachtung“; gegen das Erfordernis des Wirkens von Entwicklungskräften in größerem Umfang BeckOK-JGG/Schlehofer 6 f u. Weiss ZJJ 21, 217 f, die darauf abstellen, ob der Hw. noch nicht die sittlich-geistige Reife eines schuldfähigen 21-Jährigen erreicht hat. 14 BGH 22, 42; 36, 37; BGH NStZ 13, 289; StV 20, 695; NStZ 22, 558. 15 BGH NStZ 08, 696; Brauneck ZStW 65, 209. 16 BGH 36, 37; BGH NStZ 13, 289. 17 BGH StV 20, 695, 696. 18 MKrim. 55, 60. 19 22. 20 10. 21 Freisleder S. 100; Lempp 1983 S. 219 f; Konrad/Huchzermeyer/Rasch S. 155. 22 Für Heranziehung der „Marburger Richtlinien“ auch HK-JGG/Remschmidt/Rössner 26 ff. 630

Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende

§ 105

lung zur Arbeit; Neigung zum Tagtraum; Hang zu abenteuerlichem Handeln; sich Hineinleben in selbsterhöhende Rollen und mangelhafter Anschluss an Altersgenossen. Esser/Fritz/Schmidt23 haben auf der Grundlage der Marburger Richtlinien empirisch 10 Rei- 7 fekriterien herausgearbeitet, die zur Beurteilung des Einzelfalls herangezogen werden können: realistische Lebensplanung; Eigenständigkeit gegenüber den Eltern; Eigenständigkeit gegenüber Gleichaltrigen und Partner; ernsthafte Einstellung gegenüber Arbeit und Schule; äußerer Eindruck; realistische Alltagsbewältigung; gleichaltrige oder ältere Freunde; Bindungsfähigkeit; Integration von Eros und Sexus und konsistente, berechenbare Stimmungslage. Eine Nachuntersuchung der Probanden nach 7 Jahren ergab bei allen 10 Reifekriterien einen Alterszuwachs24. Dies spricht dafür, dass mit den Kriterien Reife beschrieben werden kann25. Busch26 entwickelte durch Befragung von Juristen, Medizinern und Psychologen über Unterschiede zwischen J und Erw. 10 Skalen zur Beurteilung des Entwicklungsstands von Hw.: soziale Autonomie und Autonomie in der Lebensführung, Qualifikation und Ziele (bezogen auf Schule und Beruf), Problemund Konfliktmanagement, Werte und Normen, soziale Beziehungen und Partnerschaft, Kommunikation und Reflexivität, Emotionalität und Impulsivität, Umweltbedingungen, Umstände der Tat und Beweggründe der Tat27. Auch diese Kriterien können herangezogen werden28. Lempp29 stellt insbes. auf die Bewältigung der Pubertät ab. Zeichen einer unreifen, noch in der Entwicklung stehenden Persönlichkeit können – 8 nicht müssen – daher unter Berücksichtigung der Rechtsprechung sein: Vorherrschen des Gefühls- und Trieblebens (Besitz-, Geschlechtstrieb, sinnlose Zerstörungswut, Lust am Quälen) mit Launen und allg. Unausgeglichenheit; Ausweichen vor Belastungen, Leben in den Tag hinein und Labilität30. Die Handlungen entspringen der Gelegenheit, nicht der Planung, und sind ohne Verbindung zu tieferen Schichten der Persönlichkeit, weshalb den Verlockungen nicht genügend Widerstand entgegengesetzt werden kann; hierher zählen auch die Primitivreaktionen bes. der geistig Retardierten. Drang zur unvorbereiteten Selbständigkeit mit Lösung der familiären Bindungen. Eine Ehe- 9 schließung kann auf solchen typisch j. Motiven beruhen; sie ist deshalb nicht notwendig ein Zeichen geistiger und sittlicher Reife31. Auch ist zu beachten, dass frühe Selbständigkeit in ungünstiger Umgebung die Entwicklung des mit einem charakterlich problematischen Mann verheirateten Mädchens nicht fördert; das naive Zutrauen einer noch nicht starken und sicheren Persönlichkeit kann eher das Gegenteil bewirken32. Nach dem BayObLG33 sprechen Bindung und Einordnung zum Elternhaus für sich noch keineswegs für eine „sittlich-seelische“ Unreife und mangelnde Selbständigkeit, da sie ebenso gut die selbstsichere Reife eines bereits gefestigten Charakters zur Grundlage haben können. Anders ist es, wenn sich der Hw. ein Leben im eigenen Haushalt nicht zutraut34. Der aus finanziellen Gründen häufig vorkommende Umstand, dass ein Student noch bei seinen Eltern wohnt, lässt für sich allein noch keinen Rückschluss auf eine verzögerte Persönlichkeitsentwicklung zu35. Nach dem BGH36 spricht es nicht für die 23 24 25 26 27

MKrim. 91, 356. Esser DVJJ-J 99, 37. Bauer/Remschmidt S. 473 ff. Rechtspsychologische Begutachtung, S. 106 ff, 187. Vgl. auch Busch/Scholz MKrim 03, 401; Busch ZJJ 06, 264 u. dazu kritisch Esser/Wyschkon/Schmidt MKrim. 04, 458. 28 BGH NStZ 11, 218, 219 = ZJJ 11, 201 mit zust. Anm. Eisenberg. 29 1983, S. 220. 30 BGH StV 94, 607 f; LG Kaiserlautern ZJJ 15, 76. 31 BGH StV 20, 695, 696; Eisenberg/Kölbel 32. 32 BGH 12, 120. 33 Bei Rüth DAR 75, 205. 34 LG Bielefeld ZJJ 19, 291, 292. 35 OLG Düsseldorf NJW 99, 1200. 36 NStZ 11, 90. 631

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3. Teil. Heranwachsende

Anwendung von JStrafrecht, dass ein beruflich integrierter Hw. noch bei seinen Eltern lebt und keine eigene Familie hat. Dagegen sprechen mehr für Unreife und Entwicklungsstörungen die – oft – vorzeitige Ablösung vom Elternhaus, der Drang, frühzeitig sein „eigener Herr“ sein zu können, die Nichtbeachtung elterlicher Weisungen und das schnelle Aufgeben eines schmalen Verdienstes; Widerstand gegen bisherige positive erz. Einflüsse, ja gegen jede Autorität; Suche nach neuen, meist bedingungslos anerkannten Vorbildern (ungute Freunde; Medien); Wunsch, anerkannt zu werden, bes. nicht als feige zu gelten; Stimmungslabilität37; eine durch Überforderung, Naivität und Vertrauensseligkeit geprägte Tatsituation38. Fehlt im Berufsweg Kontinuität und ernsthafte Lebensplanung39 (vgl. dazu Rn 13 u. 20), zeigt sich Durchsetzungsvermögen lediglich in den Straftaten, so ist Reife zu bezweifeln40. Hat der Hw. weder seine Lebensführung verselbständigt noch einen beruflichen Standort gefunden, spricht dies für Unreife41. Den Entschluss, „sich praktisch vom Lehrbub zum selbständigen Unternehmer emporzuschwingen“, bezeichnet der BGH42 als jtümlich. Ebenso können für Anwendung von JStrafrecht sprechen problematische Familienverhältnisse in den entscheidenden Entwicklungsjahren, frühe Kontakte mit Kriminellen43, Mangel an Schulausbildung und die Tatsache, dass der Hw. als junger Mensch in einen ihm völlig fremden Kulturkreis geraten ist und sich dem Drogenkonsum zugewandt hat44. Eine Integration in die Drogenszene ist kein Ausdruck von Reife45. Dass der Hw. aufgrund seines Lebensweges keine echte Chance auf eine positive Entwicklung hatte, führt aber noch nicht zur Anwendung von JStrafrecht46. 10 Hang zum Abenteuer und Phantastischen; Leidenschaft für die Technik (Kfz-Entwendungen zu Spazierfahrten als Ausfluss des starken Reizes der Technik)47; Verkehrsdelikte aus puberaler motorischer Enthemmung, aus Geltungsstreben, Selbstbestätigungs- und Erlebnisdrang oder aus Mangel an Verantwortungsbewusstsein48; längerer Besitz der Fahrerlaubnis begründet die Anwendung des ErwRechts nie49; Sucht, in aller Mund zu sein, Angeberei, Kraftmeierei; Raub von Geld, um sich Kleidungsstücke zu kaufen, weil auch die Bekannten „so gut angezogen“ sind50 (s. auch Rn 24). Unsicherheit gegen die noch nicht verstandene Ordnung der Erw., oft verborgen in Arro11 ganz und Trotz; Auflehnung gegen Bestehendes51, Anlehnung und Vertrauensseligkeit gegenüber Fremden, auch Nachahmung und „Herdentrieb“, wobei Überlegenheit auf geistig-sittlichem Gebiet für die Reifeentscheidung ohne Bedeutung ist52; Mitwirkung bei Banden (zur Differenzierung Einf. 58–64); verführter Einzeltäter; falsch verstandene Kameradschaft oder „Ritterlichkeit“. Das OLG Zweibrücken53 hat zur Verurteilung eines Skinheads zutreffend ausgeführt, dass die Hinwendung zu einer Gruppe Gleichgesinnter, verbunden mit Unterordnung und

37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49

BGH H MDR 77, 283. BGH NStZ 03, 538. BGH B NStZ 89, 524; OLG Hamm StV 01, 182. BGH StV 84, 254; 94, 607. LG Bielefeld ZJJ 19, 291, 292. B NStZ 89, 523. BGH StV 83, 378. OLG Bremen StV 93, 536; vgl. auch LG Hannover ZJJ 21, 385, 388. OLG Rostock ZJJ 04, 82 mit zust. Anm. Pollähne. BGH NStZ 03, 495. BGH EJF C I 43. OLG Hamm NJW 60, 1966; zur Verkehrsdelinquenz Hw. s. Kölbel Zbl. 98, 10. OLG Saarbrücken Justizblatt des Saarlandes 61, 35; ähnlich OLG Hamm aaO; Blau RdJ 62, 289, 310; Petersen NJW 61, 493. 50 BGH StV 91, 424. 51 BGH StV 94, 608. 52 BGH EJF C I 43. 53 NStZ 87, 86 mit Anm. Molketin. 632

Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende

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Preisgabe individueller Freiräume, aber dem Gefühl solidarischer Geborgenheit, Ausdruck mangelnder Reife sein kann (nicht muss). Zur Drogenabhängigkeit Rn 45. Gerade j oder hw. Überzeugungstäter sind oft von Nachahmungs- oder Herdentrieb moti- 12 viert; ihre Taten weisen idR Züge von Schwärmerei, Abenteuerlust und „Romantik“ auf54. Vgl. auch Einf. 61. Das OLG Hamburg55 hat jedoch wegen der äußerst planvollen Lebensgestaltung einer Hw. gerade im terroristischen Bereich (ua 2 Mordversuche an Polizeibeamten) die Gleichstellung mit einer Jugendlichen verneint56. Eingeschränkte sprachliche Ausdrucksfähigkeit des Hw. kann Folge und Indiz einer retardierten geistigen Entwicklung sein57. Die Tatsache, dass ein Hw. nach ordnungsgemäßem Schul- und Lehrabschluss einer geregelten Arbeit nachgeht, muss (bei Körperverletzung mit Todesfolge in Trunkenheit, um nach 9 Monaten „eine alte Rechnung zu begleichen“) einer Anwendung des § 105 I Nr. 1 nicht im Wege stehen58. Die selbständige Einreise nach Deutschland ist kein aussagekräftiges Indiz für die Reife des Täters59. Eine gewisse „Stimmungslabilität“ kann stets darauf hinweisen, dass die Persönlichkeit noch nicht voll ausgereift ist60. Demgegenüber können – nicht müssen – Zeichen einer weitgehend abgeschlossenen Ent- 13 wicklung sein: gewisse Lebensplanung mit ernsthafter Einstellung zur Arbeit (vgl. aber auch Rn 12); Fähigkeit zu selbständigem, rational unterbauten Urteilen und Entscheiden sowie zu zeitlich überschauendem Denken; gewisse Eigenständigkeit gegenüber anderen Menschen61; Leistungsehrgeiz (im Gegensatz zum Geltungsehrgeiz des J); Eheschließung nur, wenn die Ehe in sittlicher Verantwortung eingegangen worden ist62. – Zu bes. Schwierigkeiten bei der Reifeentscheidung bei jungen Ausländern Einf. 50.

4. Anlage-, Entwicklungs- und Verwahrlosungstäter Wird eine Unterscheidung nach Anlage-, Entwicklungs- und Verwahrlosungstätern zugrunde 14 gelegt (krit. dazu Ostendorf63 wegen Gefahr der Diskriminierung und Diffamierung), gilt Folgendes: Hw. Anlagetäter sind regelmäßig schon in ihrer kriminellen Haltung verfestigt; für sie gilt idR allg. Recht64. – Gegen Entwicklungstäter (Einf. 14 u. 22; Tat aus Reifungsvorgängen, ohne feststellbare Anlage- oder Milieu-Schäden) ist grds. JRecht anzuwenden65; der einem Erw. gleichstehende Hw. hat dagegen „Sturm und Drang“ im Wesentlichen hinter sich. – Auf Verwahrlosungstäter (schädliche Umwelteinflüsse, dissozialer Lebensstil) ist großzügig JRecht anzuwenden66, da gerade wegen dieser Gruppe § 105 geschaffen wurde; doch muss ErwRecht gelten, wenn die schon abgeschlossene Entwicklung zu einem negativen Persönlichkeitsbild geführt hat, das unabhängig von den schädlichen Einflüssen in sich gefestigt ist67. Zu unbehebbaren Entwicklungsrückständen Rn 23. Eine Minderbegabung allein, selbst iSd § 21 StGB, ist nicht unbedingt ein Zeichen, dass die Entwicklung auf geistigem Gebiet noch nicht abgeschlos-

54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 633

BGH 8, 90; Molketin MDR 80, 1044. MDR 80, 338. Unter Zustimmung von Molketin aaO. Vgl. hierzu auch BGH 8, 163; BayObLG 76, 73. BGH B NStZ 81, 25. BGH H MDR 82, 104. OLG Hamm StV 05, 71, 72. BGH H MDR 77, 283: Hw. 19 Jahre 4 Monate, Mord; JKammer hatte ErwRecht angewandt. Ambivalent, s. BayObLG in Rn 9. Ambivalent, s. BGH in FN 31. 10. Dallinger/Lackner 29; krit. Eisenberg/Kölbel 38. Dallinger/Lackner aaO. BGH StV 94, 607; 608. OLG Karlsruhe GA 80, 151.

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3. Teil. Heranwachsende

sen ist68; verhindert lediglich eine erhebliche Minderbegabung eine weitere geistige und sittliche Entwicklung zum Erw. hin, so ist § 105 I nicht anwendbar69. Es kommt auf die Gesamtwürdigung der Täterpersönlichkeit (Rn 17), auf die Reife im Ganzen an. Doch vertreten medizinische Sachverständige häufig die Auffassung, dass auf Debile und Imbezile70 und auf Hw. mit frühkindlichen Hirnschäden (Einf. 18) grds. JRecht anzuwenden sei. Vgl. dazu Rn 23. Der BGH71 hat ein Urteil aufgehoben, weil ein Gehirnschaden und seine möglichen Auswirkungen auf die Schuldfähigkeit und die geistige und sittliche Entwicklung des Hw. nicht erörtert und vom Gutachten abgewichen wurde72.

5. Jtypische und jfremde Straftatbestände 15 Als Taten entsprechen der Vorstellungswelt eines in der Entwicklung stehenden jungen Menschen vor allem Diebstahl (bes. Banden, Warenhaus), Sexualdelikte, Taten aus technischem Interesse (unbefugter Kfz-Gebrauch), Gewaltakte (Sachbeschädigung, Tierquälerei, Brandstiftung; ggf. Raub, Totschlag)73. Dagegen entsprechen idR nicht Untreue, Hehlerei (bes. gewerbsmäßig), komplizierte Betrügereien (anders z.B. Fahrkartenschwindel), Urkundenfälschungen und Zuhälterei74. Die meisten Taten sind aber selbst einer so groben Eingliederung nicht zugänglich. Gleichförmige Tatausführungen und Wiederholungen nach Freiheitsentzug sind weder ein Indiz für noch gegen die ErwReife75.

6. Indiz in Zweifelsfällen 16 Ein wichtiges Indiz in Zweifelsfällen, sonst aber eine stets beachtenswerte Kontrolle bietet die Frage, welche Rechtsordnung die für diesen Täter am besten geeignete Maßnahme enthält. Die Rechtsordnung ist stets, gerade aber mit § 105 bestrebt, für jeden Täter die geeignete Maßnahme zur Verfügung zu stellen76. Bei Eisenberg/Kölbel77 Bedenken, weil die Frage nach der geeigneten Rechtsfolge als Kontrolle für die Beurteilung zu einer ergebnisorientierten Personenbeurteilung einlade. Die Untersuchungen Janssens78 haben den entscheidenden Einfluss der relevanten Sanktionsziele für die Wahl des JStrafrechts durch den Richter erwiesen. Bei verbleibenden Zweifeln: Rn 31.

7. Gesamtwürdigung der Täterpersönlichkeit 17 Ob eine verzögerte Entwicklung vorliegt (Abs. I Nr. 1), ist auf Grund einer Gesamtwürdigung der Täterpersönlichkeit – auch der Umweltbedingungen – zu entscheiden, ein einzelner Wesenszug genügt nicht79. Es kommt auf die Reife im Ganzen, nicht nur in Bezug auf die konkrete Tat 68 69 70 71 72 73 74 75 76

BGH NJW 59, 1500; OLG Karlsruhe aaO. BGH 22, 42; BGH NJW 59, 1500; OLG Karlsruhe aaO. Wegener MKrim. 60, 147. H MDR 78, 459. Vgl. BGH 26, 67 u. OLG Karlsruhe aaO. Vgl. BayObLG VRS Bd. 62 (82), 55; s. aber zur Sachbeschädigung OLG Düsseldorf NJW 99, 1200 bei Rn 26. BGH NStZ 03, 495. BGH H MDR 82, 972. Dallinger/Lackner 5; Schaffstein NJW 55, 1578; Beulke/Swoboda Rn 209; Schmitz MKrim. 74, 65; Lempp 1983, S. 223. 77 18. 78 Hw. im JStrafrecht, 1980. 79 BGH NJW 98, 3655; NStZ 03, 493; NStZ-RR 11, 218 = ZJJ 11, 201, 202 mit zust. Anm. Eisenberg; NStZ 19, 217. 634

Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende

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an80. Der Versuch, eine partielle Vollreife zu konstruieren81, widerspricht dem Gesetz. Es muss nachdrücklich davor gewarnt werden, auf das Vorliegen einzelner (bei Rn 8–13) beispielhaft angeführter Umstände allein die Entscheidung zu stützen oder nur auf die Tat und ihre Begleitumstände abzustellen82; der Tat entnommene Kriterien (Dreistigkeit, Planung) besagen zum Reifegrad nichts83. Es geht hier um die Prüfung, wieweit die dritte Reifephase, die Adoleszenz (etwa 18./20. Jahr), abgeschlossen ist, der das „Trotzalter“ (ca. 12./13. Jahr) und die Pubertät (etwa 14./ 17. Jahr) vorausgegangen sind. Diese Zeiträume verschieben sich zunehmend, sodass Jahreszahlen nur einen groben, nicht immer sicheren Anhaltspunkt ergeben. Nach dem Abbau bisheriger Bindungen und dem allg. Umbruch in der Entwicklung bedeutet die Adoleszenz die Konsolidierung zum Erwachsenen (Einf. 22). „Der“ Hw. ist also regelmäßig weder ganz reif noch ganz unreif. Die zu entscheidende Frage ist, ob diese Konsolidierung bei diesem Täter so weit erfolgt ist, dass das Gesamtbild nicht mehr dem eines jungen, unreifen Menschen entspricht. Dieser Stand der Entwicklung tritt umso später ein, je differenzierter die soziale Welt ist, in die der Hw. hineinwächst, ein wesentlicher Grund für die zunehmende Verzögerung der Reife auf geistigsittlichem Gebiet (Einf. 127). Die nur schwach untermauerte Feststellung, ein zur Tatzeit 20 Jahre 7 Monate alter Hw. entspreche „dem Durchschnitt seiner Altersgenossen in vergleichbaren Situationen“, trägt die Anwendung von ErwRecht nicht84; ebenso wenig genügt bei Schwierigkeiten des Angeklagten in Schule und Berufsleben sowie fortdauernder Abhängigkeit von der Mutter der bloße Hinweis, die Tat sei ein Jahr vor Vollendung des 21. Lebensjahres erfolgt, und die nicht näher begründete Annahme, eine Reifeverzögerung sei nicht festzustellen85. Vgl. auch Rn 20. Zu den bes. Schwierigkeiten bei jungen Ausländern Einf. 5086. Es kommt nur auf die für das soziale Verhalten entscheidende Entwicklung auf geistigem 18 und sittlichem Gebiet an87. Es genügt aber, wenn die sittliche oder die geistige Entwicklungsreife fehlt88. Doch ist eine stark verzögerte körperliche Entwicklung idR ein Indiz dafür, dass auch die geistige und sittliche Entwicklung zurückgeblieben ist, nicht umgekehrt89; sexuelle Frühreife verzögert häufig die geistig-sittliche Reifung. Rasche körperliche Entwicklung lässt zumeist die charakterliche Reife zurückbleiben. Fehlt, wie meist, nur die sittliche Reife, doch in erheblichem Umfang, darf auch eine fortgeschrittene geistige (intellektuelle) Entwicklung nicht darüber hinwegtäuschen, dass die gesamte Persönlichkeitsentwicklung noch der eines J entspricht. Für die Persönlichkeitsentwicklung haben die Umwelteinflüsse oft entscheidendes Gewicht 19 und müssen deshalb eingehend erforscht und bei der Entscheidung berücksichtigt werden. Steht fest, dass die Ursachen der Tat eines Hw. ausschließlich ErzMängel, erz. ungünstige Umwelteinflüsse uä sind, liegt es nahe, dass der Täter mindestens in seiner sittlichen Entwicklung zurückgeblieben ist und grds. nach JRecht abgeurteilt werden muss90, ohne dass es noch darauf ankäme, ob diesem Einfluss alle Gleichaltrigen ausgesetzt waren91. Jedoch bleiben die Umwelteinflüsse außer Betracht, welche die Persönlichkeitsentwicklung nicht beeinflusst haben92. Es sind dies schwer zu treffende Feststellungen, die häufig zweifelhaft bleiben müssen (Einf. 17). 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91

OLG Karlsruhe GA 80, 151; Beulke/Swoboda Rn 198. Blau MDR 59, 717. Beulke/Swoboda aaO. Munkwitz MKrim. 55, 41. BGH StV 83, 378. BGH B NStZ 94, 532. Siehe auch BGH H MDR 90, 888 zu sozialer Entwurzelung. Beulke/Swoboda Rn 199. BGH NJW 56, 1408; Dallinger/Lackner 14; Eisenberg/Kölbel 16. Lempp 1983, S. 225. BGH MDR 54, 694. BGH 8, 91. Siehe auch OLG Hamm StV 01, 182: mehrfacher Umzug mit den Eltern in Gebiete mit unterschiedlichen sozialen, kulturellen u. rechtsethischen Anschauungen. 92 Dallinger/Lackner 33. 635

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3. Teil. Heranwachsende

Wichtige Aufschlüsse geben oft der Lebenslauf, bes. auffällige Änderungen, Schicksalsschläge oä, auch Mängel geistiger oder körperlicher Art sowie Fehler im Entwicklungsgang (falscher Beruf; Einf. 28). So bedürfen nach dem BGH93 bei der Begründung der Reifeentscheidung als Anhaltspunkte für Reifeverzögerung der Erörterung problematische Familienverhältnisse in den entscheidenden Entwicklungsjahren (Einf. 23), unregelmäßiger Schulbesuch ohne Abschluss (Einf. 27) und fortdauernde Abhängigkeit von der Mutter (Rn 9). Besteht zwischen Fähigkeiten, Neigungen, Interessen und Plänen bes. in der Leitthematik des Lebens weitgehend Harmonie, ist die 3. Reifungsphase abgeschlossen. In der Praxis spielt das bloße Alter eine hin und wieder weit überschätzte und damit nicht un21 gefährliche Rolle, die leicht zu Fehlbeurteilungen führen kann. Geht der Richter davon aus, der Hw. sei zur Tatzeit 19 und 20 Jahre alt gewesen, war dieser aber 17 und 18 Jahre alt, so führt dieser Fehler allein schon zur Aufhebung des Urteils94. – Bei einer fortgesetzten Tat95, bei deren Beginn der Täter kurz vor Vollendung des 18. Lebensjahres stand und bei deren Ende er 18 ½ Jahre alt war, ist bes. sorgfältig zu prüfen, ob die Reife bei den letzten Tatteilen vorlag96. Dass die Tat über das 21. Lebensjahr hinaus fortgesetzt wurde, schließt die Anwendung des § 105 nicht aus97. Entscheidend ist immer die Reife zZ der Tat; notfalls müssen darüber bes. Ermittlungen 22 angestellt werden (Rn 28)98. Der Feststellung, ein Hw. sei zur Tatzeit ein in der Entwicklung stehender Mensch gewesen, steht das Vorhandensein von Reiferückständen auch noch im Zeitpunkt der Verurteilung des inzwischen 22 Jahre alten Angeklagten nicht entgegen; denn auch eine spätere Nachreifung, wenn sie etwa bis zum 25. Lebensjahr erwartet werden kann, rechtfertigt die Annahme einer Entwicklung, wie sie das JGG im Auge hat99. Zu Prägbarkeit, persönlicher u. spezialpräventiv zu nützender Ansprechbarkeit der Hw. Einf. 124–129.

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8. Unbehebbare Entwicklungsrückstände 23 Unbehebbare Entwicklungsrückstände (Intelligenzminderung, charakterliche Fehlhaltung), welche den Hw. über den Entwicklungsstand eines J niemals hinauskommen lassen, berechtigen nicht zur Anwendung des JStrafrechts100. Jedoch kann eine solche Prognose – auch vom Sachverständigen – nur in Ausnahmefällen gestellt werden101, denn es findet fast immer eine Nachreifung statt. Deshalb ist eine so negative Prognose praktisch kaum möglich. Dass der Entwicklungsrückstand wahrscheinlich nicht behoben werden kann, steht der Anwendung von JRecht nicht entgegen102, zumal durch jstrafrechtliche Rechtsfolgen zumindest eine gewisse Anpassung erzielt werden kann103. Wird eine Persönlichkeitsstörung durch eine Alkoholproblematik beeinflusst, die keine chronische Erkrankung darstellt, liegt die Möglichkeit einer Nachreifung bei erfolgreicher Bekämpfung des Alkoholmissbrauchs keineswegs fern. Die Anwendung von JStrafrecht wird wesentlich von den Therapieaussichten bestimmt104. 93 94 95 96 97 98

StV 83, 378. BGH B NStZ 84, 447. Vgl. aber BGH 40, 13. BGH EJF C I 43. OLG Koblenz u. OLG Hamburg gegen OLG Frankfurt jeweils bei Wagner GA 62, 14. BGH 12, 120; OLG Köln Zbl. 79, 116; LG Arnsberg ZJJ 10, 424: Anwendung von JStrafrecht auf einen zur Tatzeit Hw. bei Verurteilung wegen Mordes 23 Jahre nach der Tat. 99 BGH B NStZ 92, 530. 100 BGH 22, 41; BGH NJW 59, 1500; 02, 75; OLG Karlsruhe GA 80, 151; OLG Zweibrücken StV 86, 306; OLG Köln NStZ-RR 11, 288; AG Kiel NJW 56, 35; abl. Ostendorf 8; MK-StGB/Laue § 105 JGG 26; Weiss ZJJ 21, 217 f. 101 BGH NJW 02, 76 = NStZ 02, 204 mit Anm. Walter = ZJJ 03, 194 mit Anm. Breymann; Bespr. Kudlich JuS 02, 1164; BGH NStZ-RR 03, 186; NStZ 04, 295 f; OLG Köln NStZ-RR 11, 288. 102 Grethlein NJW 59, 542; ähnlich Eisenberg/Kölbel 39. 103 Beulke/Swoboda Rn 212. 104 BGH B NStZ 93, 530. 636

Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende

§ 105

9. Die Jugendverfehlung Eine JVerfehlung ist ein mindestens partieller Rückfall eines altersgemäß entwickelten Hw. in 24 die Verhaltensweise eines J105, wenn sie nicht überhaupt noch dem ganzen Wesen eines in der Entwicklung zurückgebliebenen Hw. entspricht (Rn 8)106, eine Tat also, die charakteristisch für einen in der Entwicklung begriffenen jungen Menschen ist, wie er in Rn 4 beschrieben ist, die Merkmale jugendlicher Unreife aufweist107. Der BGH108 formuliert: „Eine JVerfehlung liegt ua dann vor, wenn die Tat ihrem äußeren Erscheinungsbild nach kennzeichnend für Verfehlungen ist, wie sie bei J oft vorkommen“, also auch bei „gutgearteten“ J109. Der BGH würdigt hier eine Kfz-Entwendung allein zur Spazierfahrt unter dem Einfluss unguter Freunde. Es ist nicht auf den individuellen Täter, sondern die Tat abzustellen110. Hierbei dürfen die Beweggründe nicht übersehen werden. Die JVerfehlung muss – entgegen den im Gesetzestext nicht zum Ausdruck gekommenen, also unbeachtlichen Vorstellungen des Gesetzgebers – nicht notwendig eine Tat geringer Bedeutung sein; auch die schwerste Tat kann eine JVerfehlung sein111. Eine typische JVerfehlung wird eine Vergewaltigung aber nur dann sein, wenn sich puberale Schwierigkeiten des Täters direkt ausgewirkt haben112. Maßgebend für die Würdigung als JVerfehlung sind die äußeren Tatumstände und die Beweggründe des Täters113. Es kommt darauf an, ob die Motive oder das äußere Erscheinungsbild oder auch nur die Begleitumstände der Tat eine Verhaltensweise zeigen, wie sie bei J üblich ist114. Dass solche Straftaten von Tätern aller Altersklassen begangen werden, schließt die Annahme einer JVerfehlung nicht aus115; maßgeblich ist, dass die konkret begangene Tat auf jugendlichen Leichtsinn, Unüberlegtheit oder soziale Unreife zurückzuführen ist116, dass sie durch einen Mangel an Ausgeglichenheit, Besonnenheit und Hemmungsvermögen gekennzeichnet ist117. Konrad/Huchzermeier/Rasch/118 nennen als Kennzeichen von JKriminalität, dass die Tat Ausdruck einer Krise innerhalb des Bemühens um Verselbständigung ist, der Täter aus einem unsicheren Realitätsbezug heraus handelt oder die Tat am Normensystem der j. Subkultur einer Peer-Group orientiert ist. Handelt es sich bei dem gehehlten Gut um ein Fahrrad, das der knapp 20 Jahre alte Angeklagte auf einem Parkgelände hinter einer Schule spontan auf das Angebot eines flüchtigen Bekannten hin angekauft hat, muss die Frage einer JVerfehlung eingehend geprüft werden119. Eine Verfehlung ist schon dann jtümlich, wenn sie Antriebskräften der Entwicklung entspringt120. Gegen eine JVerfehlung 105 106 107 108 109 110

Dallinger/Lackner 35; Potrykus B 5. BGH NStZ 87, 366. BGH NStZ 08, 696; 14, 408. EJF C I 43 mit Anm. Kohlhaas. Kohlhaas aaO. BGH aaO; OLG Düsseldorf VRS Bd. 30 (66), 175 = Zbl. 67, 91; OLG Hamm MDR 69, 601 lässt dagegen offen, ob der Begriff der JVerfehlung nicht auf den individuellen Täter, sondern auf die Tat zu beziehen ist. 111 BGH H MDR 86, 977; vgl. BGH NJW 54, 1775 für Meineid; BGH StV 81, 183; OLG Celle NJW 79, 341 für Vergewaltigung; BayObLG StV 81, 527 für einen schweren Gewaltakt; BGH NStZ 86, 549 für Körperverletzung mit Todesfolge; BGH NStZ 87, 366 für schweren Raub; BGH B NStZ 95, 538 für die Beauftragung eines „Killers“; BGH NStZ 01, 102 für versuchten Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung; BGH NStZ 08, 696 für Totschlag; AG Rudolstadt StV 20, 679: Sexualdelikt; Dallinger/Lackner 36; Eisenberg/Kölbel 44; Beulke/Swoboda Rn 216, 217. 112 Beulke/Mayerhofer JuS 88, 138. 113 BGH 8, 90; BGH StV 87, 307; BayObLG aaO; OLG Zweibrücken StV 89, 314 zu entwicklungsbedingter Unüberlegtheit, Mangel an Besonnenheit. 114 BGH NStZ 86, 549. 115 BGH NStZ 01, 102; AG Rudolstadt StV 13, 43; 764, 765; 16, 706, 707. 116 BGH 8, 90; BGH NStZ-RR 99, 26; BGH NStZ 01, 102; BGH ZJJ 07, 415, 416; BayObLG StV 84, 520; LG Gera StV 98, 346; StV 99, 662; AG Saalfeld NStZ 94, 89, 90; StV 05, 65, 66; 07, 15; AG Rudolstadt StV 16, 706, 707. 117 BGH NStZ 14, 408. 118 S. 155 f. 119 OLG Zweibrücken B NStZ 93, 530. 120 BGH 8, 90. 637

§ 105

3. Teil. Heranwachsende

spricht, dass die Tat mit einem hohen Maß an Organisationsvermögen begangen wurde121. Man kann mit Beulke/Swoboda122 § 105 I Nr. 1 als „täterbezogen“, § 105 I Nr. 2 als mehr „tatbezogen“ bezeichnen. Raubt ein Hw. Geld, um sich Kleidungsstücke zu kaufen, weil auch seine Bekannten „so gut angezogen“ sind, wird eine j Unreife erkennbar, die sowohl auf einen Entwicklungsrückstand als auch auf eine JVerfehlung hindeuten kann123. 25 Jtypisches Verhalten ist insbes. gekennzeichnet durch Mangel an Ausgeglichenheit, Besonnenheit, Hemmungsvermögen und Beherrschung, auch durch volles Ausleben von Zorn und Wut124. Die Anwendung von Gewalt und „rowdyhaftes Benehmen“ kann als JVerfehlung (§ 105 I Nr. 2) Vorstellungen von „Heldenhaftigkeit, Mutbeweis und Imponiergehabe“ entsprechen und sich aus Mangel an Mitgefühl, Selbstsicherheit und Hemmungskraft erklären125. Tatumstände bei einer gefährlichen Körperverletzung wie Alkoholgenuss, Auseinandersetzung zwischen jungen Leuten in einem Festzelt, provozierende Sprüche, Imponiergehabe müssen ebenso wie verbale Auseinandersetzungen zwischen jungen Besuchern einer Diskothek und ein eskalierender Streit in Gegenwart von Freunden und Freundinnen beider Seiten Anlass zu einer sorgfältigen Erörterung des Vorliegens einer JVerfehlung sein126. Auch Handeln aus falsch verstandener Solidarität und infolge eines Gruppenzwangs kann für eine JVerfehlung sprechen127. 26 Nach dem OLG Düsseldorf128 haben Sachbeschädigungen allg., aber auch solche in Form des Graffiti-Sprühens nichts JTypisches an sich; auch der Anreiz, etwas Verbotenes zu tun, bestehe nicht nur bei J. Spricht j. Leichtsinn, Unüberlegtheit oder soziale Unreife für eine JVerfehlung129, so schließt andererseits überlegtes, zweckgerichtetes Handeln den jtypischen Charakter einer Tat nicht grds. aus130. Es können lediglich die Beweggründe der Tat und ihre Veranlassung eine JVerfehlung kennzeichnen131, aber auch Umstände, die außerhalb des eigentlichen Tatgeschehens auf j. Leichtsinn hindeuten132. So schließt auch die Absicht, Haschisch gewinnbringend zu verkaufen, Abenteuerlust und jtümliche Beweggründe für eine „Ankaufsreise“ nicht grds. aus133. Auch Verstöße gegen die Abgabenordnung können eine JVerfehlung sein134. 27 Ein Verkehrsvergehen scheidet nicht deshalb als JVerfehlung aus, weil derartige Vergehen von Tätern aller Altersklassen begangen werden135. Es darf nicht eine vom Gesetz nicht vorgesehene Regel- und Ausnahmeprüfung dahin stattfinden, dass bei Verkehrsdelikten idR von ErwStrafrecht ausgegangen wird136. Aus der Innehabung der Fahrerlaubnis allein lässt sich 121 122 123 124

BGH NStZ 14, 408. Rn 217. BGH StV 91, 424. BGH NStZ 86, 549; OLG Zweibrücken StV 89, 314; BayObLG VRS Bd. 62 (81), 56 für falsch verstandenen Ehrbegriff eines Hw., der eine vorangegangene Beschimpfung seiner Mutter durch das Tatopfer rächen wollte; OLG Hamm StV 01, 182: spontaner Entschluss, in den eskalierenden Streit des Vaters mit einem anderen Mann einzugreifen. 125 OLG Zweibrücken NStZ 87, 89 mit Anm. Molketin, der darauf hinweist, dass gerade bei Aggressionsdelikten die mitunter erschreckend große Unfähigkeit des Täters offenkundig wird, Konflikte mit anderen Mitteln als mit krimineller Gewalt zu lösen; AG Rudolstadt StV 13, 43; 764, 765, 766; 16, 706, 707. 126 BGH NStZ 01, 102 mit Besprechung Hoffmann StV 01, 196; OLG Zweibrücken B NStZ 91, 524; 93, 530. 127 AG Rudolstadt ZJJ 17, 284, 285. 128 NJW 99, 1200 mit krit. Anm. Behm NStZ 99, 511. 129 BGH NStZ 86, 549; BayObLG StV 84, 520. 130 BGH StV 83, 377; OLG Hamm StV 05, 71, 72; KG StV 13, 763, 764; AG Saalfeld StV 07, 15. 131 BGH H MDR 86, 977; OLG Zweibrücken B NStZ 89, 524; OLG Hamm StV 05, 71, 72; AG Saalfeld StV 07, 15: uneidliche Falschaussage aus falsch verstandener Kameradschaft. 132 BGH StV 89, 311. 133 BGH aaO. 134 KG StV 13, 763. 135 BayObLG VRS Bd. 62 (82), 56; OLG Frankfurt NJW 70, 1958; OLG Saarbrücken NStZ-RR 99, 284; AG Saalfeld VRS Bd. 106 (04), 280, 281; 282, 285; ZJJ 05, 211, 212; StV 05, 65, 66; StV 07, 15. 136 LG Gera StV 99, 662; AG Saalfeld NStZ 94, 89, 90; VRS Bd. 108 (05), 366, 367; aA OLG Frankfurt ZJJ 21, 251, 260 mit abl. Anm. Ernst/Eisenberg. 638

Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende

§ 105

nicht auf das Vorliegen von Erwachsenenreife schließen137. Vielmehr kommt es darauf an, ob die Tat auf j Leichtsinn, Unüberlegtheit oder soziale Unreife zurückzuführen ist, wobei die Beweggründe des Täters von bes. Bedeutung sind138. Auch eine Trunkenheitsfahrt kann eine JVerfehlung sein139. Wenn das OLG Düsseldorf140 auf die Trunkenheitsfahrt (1,19 ‰) eines Hw. aus Geltungsbedürfnis gegenüber Mädchen ErwRecht mit der Begründung angewandt hat, solches treffe man gleicherweise bei J, Hw. und Erw., so begegnet dies Bedenken (vgl. Rn 24). Ein reifer und verantwortungsbewusster Mann kann und wird das Geltungsbedürfnis auch in angetrunkenem Zustand zügeln. Der Unreife verkennt und missachtet dagegen die Gefahr. Nach der Rechtsprechung kann eine JVerfehlung nicht deshalb abgelehnt werden, weil auch Erw. nicht selten so handeln. Auch beim Fahren ohne Fahrerlaubnis kann eine JVerfehlung vorliegen141, ebenso bei einer fahrlässigen Tötung im Straßenverkehr142. Beim Vollrausch nach § 323a StGB als JVerfehlung143 muss sich dieser, nicht die im Rausch begangene Tat, als JVerfehlung darstellen, weil jener bestraft wird, während letztere nur Bedingung der Strafbarkeit ist144. Zur Rangfolge der Prüfung von § 105 I Nr. 1 u. 2: Rn 30. Zum „Überzeugungstäter“ Rn 12 u. Einf. 61. Die formelhafte Urteilsbegründung, die Tat stelle sich als typische JVerfehlung dar, ist unzureichend145.

10. Die Entscheidung Die schwere Entscheidung nach Abs. I Nr. 1 kann immer146, die Entscheidung nach Abs. I Nr. 2 28 jedenfalls nur dann nach eingehender Persönlichkeitserforschung (Rn 40; § 43) getroffen werden, wenn es auf das Tatmotiv ankommt147. Deshalb wird eine Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten – auch bei Verkehrsdelikten – nur selten möglich sein (dazu aber auch § 109, 11)148. Wichtige Aufschlüsse können aus bisherigem Lebensweg und Umwelt gewonnen werden (Einf. 17). Der Eindruck in der Hauptverhandlung gestattet nur die Feststellung der körperlichen, allenfalls der geistigen Entwicklung, niemals der Entwicklung in sittlicher Hinsicht149. Doch wird bei leichten Delikten, die offenbar nicht Ausdruck einer gestörten Persönlichkeit sind, der Eindruck in der Hauptverhandlung genügen können150. Nur wo schon die äußeren Lebensumstände zeigen, dass der Hw. eine entwickelte, ausgereifte Persönlichkeit ist151, können die in § 43 vorgeschriebenen Ermittlungen unterbleiben (anders ggf. bei § 106). Dies gilt nicht umgekehrt bei klar erkennbar zurückgebliebener Entwicklung, weil in diesem Fall jedenfalls für die Auswahl der Maßnahme Ermittlungen nach § 43 notwendig sind. Zum Strafbefehl s. § 109, 13. Gegenstand einer Absprache kann die Anwendung von JStrafrecht nicht sein (§ 18, 11). Um den Stand der Persönlichkeitsentwicklung zur Tatzeit (Rn 22) feststellen zu können, 29 sind ggf. Zeugen zu vernehmen, die den Angeklagten zu dieser Zeit gut gekannt haben152. Ggf. 137 AG Saalfeld StV 07, 15, 16; Kühn NK 08, 131. 138 OLG Saarbrücken NStZ-RR 99, 284. 139 BGH NStZ 87, 366; BayObLG VRS Bd. 62 (82), 55; StV 84, 520; NStZ 88, 122; OLG Zweibrücken StV 89, 314; OLG Hamm NJW 60, 1966; AG Saalfeld NStZ 94, 89; ZJJ 05, 211; Grethlein NJW 67, 838. 140 VRS Bd. 30 (66), 175 = Zbl. 67, 91. 141 AG Saalfeld ZJJ 05, 211, 212. 142 AG Lübeck StV 13, 759, 760. 143 OLG Zweibrücken OLGSt S. 65, 68 f zu § 330a StGB. 144 LG Nürnberg-Fürth MDR 55, 566. 145 OLG Zweibrücken B NStZ 90, 531. 146 Potrykus NJW 56, 658. 147 BayObLG StV 81, 527. 148 OLG Hamburg NJW 63, 67. 149 BGH MDR 54, 694; BayObLG DAR 56, 19; OLG Hamm MDR 69, 601. 150 OLG Hamburg NJW 63, 67. 151 Vgl. BGH 6, 329. 152 BGH 12, 120; BGH MDR 54, 694; OLG Köln Zbl. 79, 116 nennen verschiedene Ermittlungsmöglichkeiten. 639

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können Anhaltspunkte aus früheren Urteilen gewonnen werden153. Zur Aufgabe der JGH hierbei § 38, 6, 28, 43–46. Der BGH hat seine Rechtsprechung154 erhärtet, wonach das JGericht zur Reifeentscheidung nach § 105 I einen Sachverständigen nur dann einschalten muss, wenn er Anlass zu Zweifeln über eine normale Reifeentwicklung des Hw. hat, wofür insbes. Auffälligkeiten in der sittlichen und geistigen Entwicklung sprechen können155. Nach dem BGH156 ist die Heranziehung eines Sachverständigen nicht veranlasst, wenn die JGH und die BewHelferin gehört worden sind und der Bericht der UHaftAnstalt hierfür keinen Anlass gibt. Diese Grundsätze sind auch bei Berücksichtigung schwankender Bewertungen vertretbar, zumal heute überwiegend JStrafrecht auf Hw. angewendet wird (Rn 1; Einf. 124–126). Diese Leitlinie hilft aber auch eine ausufernde Einschaltung von Sachverständigen einzudämmen, zumal hierdurch der Richter nicht von seiner Verantwortung für die Entscheidung entbunden wird und die gebotene Beschleunigung des JGerichtsverfahrens leiden kann. Dass andererseits der JRichter auf den helfenden Sachverstand eines Fachgutachters nicht leichtfertig verzichten darf und wird, sollten sein interdisziplinäres Engagement und auch die Bescheidenheit garantieren, welche der Erfahrung und der Last der Verantwortung entspringt157. Hinsichtlich der Auswahl des Sachverständigen ist nach dem BGH davon auszugehen, dass sich die Kompetenzen des allg. Psychiaters und des JPsychiaters überschneiden, das Gericht deshalb bei der Entscheidung über die Fachrichtung des zu bestellenden Gutachters frei ist und der JPsychiater im Verhältnis zum allg. Psychiater ein weiterer Sachverständiger iSd § 244 IV S. 2 StPO ist158. Allg. zur Auswahl des Sachverständigen § 43, 15; zum Abweichen vom Sachverständigengutachten § 43, 20159. 30 Abs. I Nr. 1 und 2 sind selbständige Tatbestände, wenn sie sich auch häufig decken160. Es ist zunächst das Vorliegen einer JVerfehlung zu prüfen, weil deren Voraussetzungen enger und daher regelmäßig leichter festzustellen sind als der Stand der vielschichtigen Entwicklung161. Ist die Tat schon nach ihren äußeren Umständen, der Art ihrer Begehung oder nach den Beweggründen des Täters als JVerfehlung erkennbar, so ist die schwierige und zeitraubende individuelle Prüfung des Reifegrades des Täters – wie Beulke/Swoboda162 zu Recht ausführen – weder erforderlich noch zulässig. Eisenberg/Kölbel163 und Nothacker164 schränken ein, empfehlen aber auch, mit der Prüfung des Abs. I Nr. 2 zu beginnen.

11. Unbehebbare Zweifel 31 Die Anwendung von J- oder ErwStrafrecht auf Hw. steht nicht in einem Regel-Ausnahme-Verhältnis; § 105 stellt keine Vermutung für die grds. Anwendung des einen oder des anderen 153 OLG Köln VRS Bd. 23 (62), 386. 154 Urt. v. 11.10.1956 – 4 StR 375/56. 155 BGH NStZ 84, 467 mit zust. Anm. Brunner u. Eisenberg NStZ 85, 84; BGH NStZ-RR 99, 26; ebenso OLG Koblenz ZJJ 10, 332 = NStZ-RR 10, 358 [LS]: in der frühen JZeit diagnostizierte ADHS-Erkrankung.

156 B NStZ 91, 524. 157 Zur Notwendigkeit, einen jpsychologischen Sachverständigen zuzuziehen, auch BGH NStZ 85, 184. 158 BGHR StPO § 244 IV 2 Zweitgutachter 4 im Anschluss an BGH 34, 356 f; 39, 52; aA Eisenberg/Kölbel § 43, 44, die im Übrigen für die Beurteilung des Entwicklungsstandes Hw. einen klinisch u. forensisch erfahrenen [Entwicklungs]Psychologen empfehlen; Lempp DVJJ-J 97, 51, der im Verhältnis zum allg. Psychiater für § 105 I ausschließlich den JPsychiater als zuständig ansieht. 159 Zur Abgrenzung von (verwertbarer) eigener richterlicher Sachkunde u. (unerlaubter) Vorwegnahme des Gutachtenergebnisses eines Sachverständigen über den geistigen u. sittlichen Entwicklungsstand OLG Köln Zbl. 79, 116. 160 BGH NStZ 01, 102; DSS/Sonnen 24. 161 Ostendorf 28. 162 Rn 215. 163 3. 164 S. 183. 640

Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende

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Rechts auf165. Nur wenn sich nach Ausschöpfung aller Möglichkeiten trotz eingehender Ermittlungen die Zweifel nicht beseitigen lassen, ist das JRecht anzuwenden166, das wegen seiner reichen Auswahl und großen Anpassungsfähigkeit den Vorzug verdient, zumal seine ungerechtfertigte Anwendung – im Gegensatz zum umgekehrten Fall – grds. nicht schadet167. Doch darf sich das nicht zum Nachteil des Täters auswirken. Die Rechtsfolge nach JRecht ist daher so auszuwählen, dass sie den Verurteilten nicht härter trifft als die Sanktion, die bei Anwendung von ErwRecht gegen ihn zu verhängen wäre168. Nach der Gegenansicht169 ist je nachdem, welche Rechtsfolge im konkreten Fall leichter ist, JRecht oder ErwRecht anzuwenden. Für die Anwendung von JRecht in Zweifelsfällen spricht auch die weniger stigmatisierende Wirkung einer Verurteilung nach JRecht.

12. Besonderheiten bei der Anwendung materiellen JStrafrechts Wenn die Voraussetzungen des § 105 I Nr. 1 oder 2 vorliegen, muss auch bei Hw. materielles 32 JRecht angewendet werden. Es gelten aber folgende Ausnahmen: Die HöchstJStrafe beträgt bei allen Delikten mit Ausnahme von Mord 10 Jahre (Abs. III 1; 33 abweichend von § 18 I 1, 2). Eine JStrafe von mehr als 5 Jahren ist aber gegen Hw. entsprechend dem Grundgedanken des § 18 I 2 nur dann gerechtfertigt, wenn auch das allg. Recht eine Strafe in dieser Höhe zuließe; denn eine Strafe über 5 Jahre dient weniger der Erz. als dem Schuldausgleich und dem Schutzbedürfnis der Allgemeinheit (näher § 18, 6–32)170. Dem erz. Bedürfnis kann hier nur und erst durch Aussetzung des Strafrestes zur Bew. nach Verbüßung von mindestens einem Drittel der Strafe Rechnung getragen werden (§ 88)171. Nach dem durch das G zur Erweiterung der jgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten v. 34 4.9.2012 eingefügten Abs. III 2 beträgt das Höchstmaß der JStrafe bei Mord 15 Jahre, wenn das Höchstmaß von 10 Jahren wegen der bes. Schwere der Schuld nicht ausreicht. Diese Erhöhung soll es ermöglichen, bei schwersten Mordverbrechen einer bes. schweren Schuld angemessen Rechnung zu tragen172. Auf dieses Merkmal sind die zu § 57a I 1 Nr. 2 StGB entwickelten Maßstäbe anzuwenden173. Nach dem BGH kommt hier dem Gebot des gerechten Schuldausgleichs gegenüber dem ErzGedanken Vorrang zu174. Die Vorschrift wird nur in wenigen Einzelfällen eingreifen175, z.B. bei einem Massenmord aus ideologischen Gründen176. Sie ist aber nach dem BGH auch in Versuchsfällen anwendbar177. Nach Mitsch178 muss sich bei mehreren Taten die bes. Schwere der Schuld aus einer einzelnen Mordtat und nicht aus einer Gesamtschau aller Taten

165 BGH 12, 118; BGH 36, 37 = JR 89, 519 mit zust. Anm. Brunner u. krit. Anm. Walter/Pieplow NStZ 89, 574; BGH NJW 98, 3656; 02, 75 = NStZ 02, 204 mit Anm. Walter; BGH NStZ-RR 03, 186; NStZ 04, 294; KG StV 13, 763.

166 BGH 12, 116; 36, 37; BGH H MDR 82, 104; BGH StV 83, 377; 84, 254; NJW 02, 75; NStZ-RR 03, 186; NStZ 04, 294; KG StV 13, 763. 167 BGH aaO; Dallinger/Lackner 37; Potrykus B 3, 4; Schnitzerling DAR 63, 208; Schöch in JStrafrecht an der Wende, S. 134. 168 Ostendorf 29. 169 OLG Hamm StV 20, 696; Eisenberg/Kölbel 48; Beulke/Swoboda Rn 211; Kinzig FS Eisenberg, 2009, S. 396. 170 Eisenberg/Kölbel 53–55; aA BGH MDR 55, 372. 171 Beulke/Swoboda Rn 471. 172 Begr. RegE, BT-Drs. 17/9389, S. 20; für Verfassungswidrigkeit der Vorschrift Swoboda ZStW 20, 828, 837, 844. 173 BGH 61, 193 = NStZ 16, 685 mit Anm. Laue = JR 17, 118 m. Anm. Müller. 174 AaO, 196. 175 Begr. RegE, aaO, S. 3. 176 Ostendorf 32a. 177 BGH NJW 20, 3537 = NStZ 20, 741 mit abl. Anm. Eisenberg = JR 21, 223 mit Anm. Mitsch = StV 22, 46 mit abl. Anm. Bachmann; ebenso LG Würzburg ZJJ 18, 155, 158 f. mit Anm. Kölbel; aA Ostendorf 32a. 178 FS Beulke, 2015, S. 1187. 641

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ergeben. Die Feststellung der bes. Schwere der Schuld erfolgt nicht im Tenor, sondern in den Urteilsgründen179. Da Hw. volljährig sind, kann Hilfe zur Erz. nach §§ 9 Nr. 2, 12 gegen sie nicht mehr angeordnet werden (Wegfall der §§ 9 Nr. 2, 12 aus der Aufzählung in § 105 I; RL 2). Dies entspricht dem Grundgedanken des Volljährigkeitsalters, weil mit der ErzBerechtigung der Eltern auch die diese ergänzende oder ersetzende des Staates endet (näher zur Frage der Erz. der Hw. Einf. 94 f). Ähnliche und dem Entwicklungsstand des Hw. angemessenere Hilfen bietet dem Richter die Betreuungsweisung (RL 2; § 10, 19). Zu ungeeigneten Weisungen § 10, 7; auch § 55, 21. Die §§ 4 bis 8, 9 Nr. 1, 10, 11 und 13 bis 32 sind auch bei Hw. entsprechend anzuwenden (Abs. I); doch ergeben sich schon aus dem höheren Lebensalter, bes. aber infolge der Volljährigkeit der Hw. Besonderheiten, die bei den Einzelvorschriften behandelt sind. Allg. tritt mit fortschreitendem Alter der ErzGedanke mehr zurück, der Gedanke des Schuldausgleichs und zugleich der Schuldbewältigung mehr hervor180. Nach Ostendorf181 kommt es auf die positive Individualprävention an. Verwarnung ist zumeist nicht mehr angebracht, bei der Auswahl der Weisungen ist Vorsicht geboten (§ 10, 7), die Auflage, sich beim Verletzten zu entschuldigen (§ 15, 14), wird nur selten angebracht und nur in Einzelfällen erz. wirksam sein. Die Auflage, einen Geldbetrag zu zahlen, gewinnt bei Hw. mehr an Bedeutung, zumal sie über mehr Mittel als J verfügen, was insbes. für Straßenverkehrsdelikte gilt (§ 15, 2, 15). JA kann bei geeigneten Hw. noch angebracht sein. Zurückhaltung ist aber ua dann geboten, wenn er im Einzelfall als unangemessen empfunden werden könnte (§ 16, 18). Für JStrafe, Aussetzung der Verhängung der JStrafe und Strafaussetzung zur Bew. gilt im Wesentlichen das Gleiche wie bei J. Auch bei einem zur Tatzeit fast 21 Jahre alten Angeklagten muss dem ErzGedanken die ihm zukommende Beachtung geschenkt werden182. Vgl. auch Rn 35 aE. Wo allg. Recht angewendet wird, kann gem. § 106 gemildert werden. Auch sonst kann bei der Strafzumessung der Entwicklungsstand des gerade dem JRecht Entwachsenen und seine bes. Lage berücksichtigt werden. Einem hw. Schüler z.B. darf die Umwandlung einer Freiheitsin eine Geldstrafe nicht allein deshalb versagt werden, weil er mittellos ist und eine Geldstrafe voraussichtlich seinem Vater zur Last fällt; denn einmal könnte der erz. Zweck der Strafe durch das Gefühl ungerechter Behandlung vereitelt, zum anderen könnten Berufspläne unberechtigt durch den Makel der Freiheitsstrafe gefährdet werden183. Wegen der Strafzumessung bei Straftaten unter Alkohol- u. Drogeneinfluss Rn 45 u. § 3, 15. Wegen Taten in verschiedenen Alters- u. Reifestufen § 32.

13. EinheitsJStrafe mit Verurteilungen nach ErwRecht 39 Bei Anwendung von JRecht kann mit bereits rechtskräftigen, noch nicht vollständig erledigten Verurteilungen nach allg. Strafrecht – auch nachträglich (§§ 109 II 2, 66; § 109, 14) – eine einheitliche Maßnahme oder EinheitsJstrafe gebildet184, aber auch aus erz. Gründen davon abgesehen werden (Abs. II; § 31 II 1, III). Zur Anwendung des § 105 II vgl. § 32, 8–10 u. 14. Zur Ablehnung einer Gesamtstrafe nach § 55 StGB aus J- u. Freiheitsstrafe durch die Rechtsprechung § 32, 11– 16. Eine EinheitsJStrafe kann auch dann gebildet werden, wenn eine Strafe nach allg. Strafrecht für eine Tat verhängt worden ist, die der Täter nach der jetzt abzuurteilenden Tat, auch als Erw.,

179 BGH 61, 302. 180 BGH StV 98, 334; NStZ 18, 662, 663 f; 728, 729 mit Anm. Eisenberg = JR 19, 38 mit Anm. Kölbel; Dallinger/ Lackner 59; einschränkend Eisenberg/Kölbel 54. 181 31. 182 BGH StV 98, 334. 183 BayObLG 64, 106. 184 BGH B NStZ 81, 251; 97, 483; B NStZ-RR 01, 323. 642

Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende

§ 105

begangen hat185. Ein Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens hindert die Einbeziehung nicht (vgl. § 360 I StPO)186. § 105 II setzt aber voraus, dass der JRichter die Wahlmöglichkeit hat, bei einem Hw. J- oder ErwStrafrecht anzuwenden, und dass trotz vorausgegangener Verurteilung nach ErwStrafrecht auf Grund genauerer Persönlichkeitserforschung nunmehr JStrafrecht zum Zuge kommt, weil dann die Voraussetzungen des § 105 I dem in § 31 bes. verankerten ErzGedanken entsprechen (§ 31, 37; auch § 66, 12; § 109, 14)187. Wird aber nach rechtskräftiger Verurteilung nach ErwStrafrecht nachträglich wegen einer vor dem 18. Lebensjahr begangenen Straftat zwangsläufig JStrafrecht angewendet, liegen nach der Rechtsprechung188 weder die Voraussetzungen des § 32 noch des § 105 II vor. Nach Ostendorf189 ist es gleichgültig, ob der zweiten Verurteilung eine J- oder Hw.-Verfehlung zugrunde liegt. § 105 II erweitert sinnvoll die erz. Eingriffsmöglichkeiten des JRichters, verhütet ungute Behelfslösungen und kann vorgehende Fehlentscheidungen ausgleichen, zumal oft erst später und durch neue Straftaten – auch rückblickend – mehr Klarheit gewonnen werden kann. Zum gegenpoligen Fall – rechtskräftige Sanktionen nach JStrafrecht, dann Verurteilung nach ErwStrafrecht – s. § 32, 11–16, auch Rn 44.

14. Abstimmung, Begründung, Anfechtung und Bindung Die Reifegradentscheidung wird nahezu immer auf Grund einer Hauptverhandlung in Anwe- 40 senheit des Angeklagten (Rn 28)190, ggf. bei ganz leichten Delikten auch im summarischen Verfahren (§ 109, 13) getroffen. Über diese Frage ist gesondert abzustimmen. Die Entscheidung erfordert 2/3-Mehrheit191. 41 Wird diese nicht erreicht, sind gem. § 196 III GVG die im Einzelfall nach ErwRecht und JRecht verwirkten Maßnahmen festzusetzen und gegeneinander abzuwägen (wegen der Vergleichsmaßstäbe s. § 55, 54–59); die mildere ist auszusprechen; das JRecht ist nicht generell milder (Rn 31); die Frage, welche Maßnahme milder ist, wird ggf. mit einfacher Mehrheit entschieden192. Die Entscheidung nach § 105 I ist stets eingehend zu begründen (§ 54, 15; auch Rn 27 aE). 42 Dem Tatgericht ist ein erheblicher Beurteilungsspielraum eingeräumt193, er muss aber die äußeren Tatumstände und die Beweggründe des Täters umfassend würdigen194. Der Tatrichter muss im Einzelnen die tatsächlichen Umstände angeben, aus denen er seine rechtlichen Schlüsse gezogen hat, und die Erwägungen erkennbar machen, die ihn zu seinen Folgerungen geführt haben195. In jedem Fall sind Angaben, die eine Beurteilung des Entwicklungsstandes auf der Grundlage einer Gesamtwürdigung der Persönlichkeit ermöglichen, unerlässlich196. Der bloße

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BGH B NStZ 92, 529; BGH StV 18, 423. BGH 27, 297. Zur Gesamtfreiheitsstrafe BGH 36, 270. BGH NJW 78, 348; NStZ 87, 24; NJW 90, 523. § 32, 12; § 105, 33. OLG Hamburg NJW 63, 67. Dallinger/Lackner 49; Potrykus B 7; NJW 54, 822; Lackner GA 55, 36. Dallinger/Lackner 49; Lackner GA 55, 36; Eisenberg/Kölbel 66; Ostendorf 29. BGH 36, 38; BGH StV 91, 424; NJW 92, 2104; BGH B NStZ 93, 530; BGH NStZ-RR 99, 26; NJW 02, 75 = NStZ 02, 204 mit Anm. Walter; BGH NStZ-RR 03, 186, 187, 188; NStZ 04, 295; NStZ 11, 90; NStZ-RR 11, 218 = ZJJ 11, 201 mit zust. Anm. Eisenberg; NStZ 13, 289; 15, 230 = ZJJ 14, 387 mit abl. Anm. Eisenberg; NStZ 19, 217; StV 20, 695, 696; BayObLG NStZ 05, 645; OLG Koblenz ZJJ 10, 332 = NStZ-RR 10, 358 (LS); OLG Celle NStZ 12, 576; ZJJ 21, 384 mit abl. Anm. Eisenberg; KG StV 13, 763; OLG Hamm NStZ 20, 748 f; OLG Karlsruhe ZJJ 22, 60. 194 BGH NStZ 87, 366. 195 BayObLG NStZ 05, 645; OLG Hamm StV 01, 182; NStZ 20, 748, 749; OLG Celle ZJJ 21, 384; OLG Karlsruhe ZJJ 22, 60. 196 OLG Zweibrücken B NStZ 91, 524; OLG Celle NStZ 12, 576, 577; OLG Hamm NStZ 20, 748, 749. 643

§ 105

3. Teil. Heranwachsende

Gesetzeswortlaut genügt auch in Verkehrsstrafsachen nicht197. Allein der Eindruck in der Verhandlung und etwa die Feststellung, dass der Täter Kfz-Mechaniker im väterlichen Betrieb ist, reicht auch in diesen Fällen nicht198. Vielmehr müssen auch hier bestimmte Tatsachen und Rechtsfolgerungen angegeben werden, die erkennen lassen, dass alle Möglichkeiten berücksichtigt wurden, die zur Anwendung von JStrafrecht führen können199. Die Bemerkung, es seien keine „Anhaltspunkte gegeben, die den Schluss auf irgendwie geartete Reifeverzögerungen des Angeklagten zuließen“, reicht zur Ablehnung des JStrafrechts ebenso wenig200 wie die Feststellung, der Angeklagte sei (erstmals) nach ErwStrafrecht zu verurteilen201. Vielmehr bedarf der Ausschluss des JStrafrechts hinreichender tatsächlicher Feststellungen, die eine Überprüfung durch das Revisionsgericht ermöglichen202. Die Ausführungen eines Sachverständigen sind grds. darzulegen203, ebenso die Stellungnahme der JGH204. Das Vorliegen einer JVerfehlung kann nicht mit der Begründung abgelehnt werden, derartige Delikte würden von Tätern aller Altersgruppen begangen, da jede Tat nach den Umständen und Beweggründen eine JVerfehlung sein kann (Rn 24). Schlüsse aus den dargestellten Umständen hat das Revisionsgericht aber hinzunehmen, wenn sie möglich sind205. Wegen der Ermittlungspflicht Rn 17, 28 u. 29. 43 Die Anfechtung und Aufhebung des Urteils kann auf die Straffrage, nicht aber auf die Frage des § 105 allein beschränkt werden206. Die Entscheidung nach § 105 wird nach dem OLG Frankfurt auch dann von der Teilrechtskraft erfasst, wenn eine auf abtrennbare Teile der Straffrage beschränkte Berufung (z.B. Bew.) nur solche erfasst, die erst nach der Entscheidung zu § 105 zur Überprüfung anstehen, und auch nur insoweit aufgehoben wird207. § 105 ist aber nach dem BGH dann zu überprüfen, wenn ein nach ErwStrafrecht verurteilter Hw. seine Berufung auf das Strafmaß oder die Strafaussetzung zur Bew. beschränkt hat, weil das JStrafrecht weitergehende Strafmilderungen erlaubt208. Die Anwendung von ErwStrafrecht kann daher von einem auf den Rechtsfolgenausspruch beschränken Rechtsmittel nicht ausgenommen werden209. Sind die für die Reifebeurteilung maßgeblichen tatsächlichen Umstände und die hieraus gezogenen rechtlichen Schlussfolgerungen im Urteil dargelegt, ist die unterbliebene Mitteilung der Stellungnahme der JGH nach der Rechtsprechung kein sachlich-rechtlicher Mangel, sondern ein Verfahrensmangel, der mit der Aufklärungsrüge geltend zu machen ist210. Zur Sachrüge gegenüber einem Gutachten zur Reifebeurteilung § 43, 17. Da die Entscheidung nach § 105 keine Feststellung, sondern das Ergebnis eines Wertungsakts ist, nimmt sie nicht an der innerprozessualen Bindungswirkung nach Aufhebung des Strafausspruchs durch das Revisionsgericht teil211. Wegen der Wirkung des Verschlechterungsverbots bei Aufhebung wegen falscher Anwendung des § 105 u. wegen des Verhältnisses von ErwStrafrecht zu den Maßnahmen des JGG § 55, 54– 59.

197 BGH MDR 54, 694; KG VRS Bd. 22 (62), 373; OLG Hamburg NJW 63, 67; OLG Hamm NJW 60, 1966; OLG Zweibrücken OLGSt S. 65, 68 zu § 330a StGB. 198 BayObLG DAR 56, 19. 199 BGH StV 83, 377; OLG Schleswig SchlHA 57, 211. 200 OLG Zweibrücken B NStZ 93, 530; OLG Hamm StV 01, 182; KG StV 13, 763, 764. 201 OLG Saarbrücken NStZ-RR 99, 285. 202 OLG Rostock ZJJ 04, 82 mit zust. Anm. Pollähne. 203 BGH NStZ 04, 295. 204 OLG Celle ZJJ 21, 384 mit abl. Anm. Eisenberg ZJJ 21, 391. 205 BGH NJW 89, 1490. 206 BGH bei Herlan GA 64, 135; BGH H MDR 79, 807; OLG Celle NStZ-RR 14, 229; Dallinger/Lackner 34; Schäfer NStZ 98, 331. 207 OLG Frankfurt NJW 56, 233; mit zust. Anmerkung Schnitzerling aA Eisenberg/Kölbel 68. 208 BGH B NStZ 84, 447. 209 OLG Celle NStZ-RR 14, 229. 210 OLG Celle ZJJ 21, 384 mit abl. Anm. Eisenberg ZJJ 21, 391. 211 BGH NStZ 05, 644. 644

Milderung des allgemeinen Strafrechts für Heranwachsende; Sicherungsverwahrung

§ 106

In späteren Verfahren besteht keine Bindung an die Reifegradentscheidung (§ 105 I) des 44 früheren Verfahrens212; das OLG Köln213 hat bei 2 Autodiebstählen innerhalb 12 Wochen Bindung verneint. Dieser wichtigen Entscheidung des JGerichts kommt Abs. II entgegen, wonach mit rechtskräftigen Verurteilungen nach ErwRecht Einheitsstrafen gebildet werden können (Rn 39). Die Vorentscheidung ist aber oft ein – wenn auch sehr vorsichtig zu wertendes – Indiz (Rn 28)214.

15. Drogentäter Auf hw. Drogentäter ist Anwendung von JStrafrecht durchweg deshalb geboten, weil der chro- 45 nische Drogenkonsum die Ausreifung der Persönlichkeit und die Sozialisation behindert215, uU auch unterbricht, und die vom JGG zur Verfügung gestellten, sich ergänzenden und der Entwicklung folgenden ErzMaßregeln und therapeutischen Hilfen (vgl. § 93a) sich bes. anbieten216. Zur Absicht, Haschisch gewinnbringend zu verkaufen, Rn 26. Insbes. bei leichten Fällen, wie neugierigen Erstprobierern, kann eine typische JVerfehlung vorliegen (Rn 24)217. Allg. zu Drogentätern Einf. 66–71.

§ 106 Milderung des allgemeinen Strafrechts für Heranwachsende; Sicherungsverwahrung (1) Ist wegen der Straftat eines Heranwachsenden das allgemeine Strafrecht anzuwenden, so kann das Gericht an Stelle von lebenslanger Freiheitsstrafe auf eine Freiheitsstrafe von zehn bis zu fünfzehn Jahren erkennen. (2) Das Gericht kann anordnen, daß der Verlust der Fähigkeit, öffentliche Ämter zu bekleiden und Rechte aus öffentlichen Wahlen zu erlangen (§ 45 Abs. 1 des Strafgesetzbuches), nicht eintritt. (3) 1Sicherungsverwahrung darf neben der Strafe nicht angeordnet werden. 2Das Gericht kann im Urteil die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorbehalten, wenn 1. der Heranwachsende zu einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt wird wegen eines oder mehrerer Verbrechen a) gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder die sexuelle Selbstbestimmung oder b) nach § 251 des Strafgesetzbuches, auch in Verbindung mit § 252 oder § 255 des Strafgesetzbuches, durch welche das Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt oder einer solchen Gefahr ausgesetzt worden ist, und 2. auf Grund der Gesamtwürdigung des Heranwachsenden und seiner Tat oder seiner Taten mit hinreichender Sicherheit feststellbar oder zumindest wahrscheinlich ist, dass bei ihm ein Hang zu Straftaten der in Nummer 1 bezeichneten Art vorliegt und er infolgedessen zum Zeitpunkt der Verurteilung für die Allgemeinheit gefährlich ist.

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BGH NJW 59, 160 = 12, 116; dort ist dieser Teil nicht abgedruckt. VRS Bd. 23 (62), 386. OLG Köln aaO; Eisenberg/Kölbel 18; Munkwitz MKrim. 55, 56; abl. Ostendorf 25. OLG Köln MDR 76, 684; Eisenberg/Kölbel 28; Ostendorf 16. Vgl. OLG Köln aaO; zur Notwendigkeit, frühen u. massiven Drogenkonsum in die Gesamtwürdigung einzubeziehen, s. BGH StV 94, 608. 217 Ostendorf 23. Vgl. dazu auch Brunner Zbl. 71, 342; Zbl. 74, 378, 383; Zbl. 80, 415, 418. 645 https://doi.org/10.1515/9783110686401-138

§ 106

3. Teil. Heranwachsende

(4) Unter den übrigen Voraussetzungen des Absatzes 3 Satz 2 kann das Gericht einen solchen Vorbehalt auch aussprechen, wenn 1. die Verurteilung wegen eines oder mehrerer Vergehen nach den §§ 176a und 176b des Strafgesetzbuches erfolgt, 2. die übrigen Voraussetzungen des § 66 Absatz 3 des Strafgesetzbuches erfüllt sind, soweit dieser nicht auf § 66 Absatz 1 Satz 1 Nummer 4 des Strafgesetzbuches verweist, und 3. es sich auch bei den maßgeblichen früheren und künftig zu erwartenden Taten um solche der in Nummer 1 oder Absatz 3 Satz 2 Nummer 1 genannten Art handelt, durch welche das Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt oder einer solchen Gefahr ausgesetzt worden ist oder würde. (5) 1Wird neben der Strafe die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorbehalten und hat der Verurteilte das siebenundzwanzigste Lebensjahr noch nicht vollendet, so ordnet das Gericht an, dass bereits die Strafe in einer sozialtherapeutischen Anstalt zu vollziehen ist, es sei denn, dass die Resozialisierung des Täters dadurch nicht besser gefördert werden kann. 2Diese Anordnung kann auch nachträglich erfolgen. 3Solang der Vollzug in einer sozialtherapeutischen Anstalt noch nicht angeordnet oder der Gefangene noch nicht in eine sozialtherapeutische Anstalt verlegt worden ist, ist darüber jeweils nach sechs Monaten neu zu entscheiden. 4Für die nachträgliche Anordnung nach Satz 2 ist die Strafvollstreckungskammer zuständig. 5§ 66c Absatz 2 und § 67a Absatz 2 bis 4 des Strafgesetzbuches bleiben unberührt. (6) Das Gericht ordnet die Sicherungsverwahrung an, wenn die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Tat oder seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung bis zum Zeitpunkt der Entscheidung ergibt, dass von ihm Straftaten der in Absatz 3 Satz 2 Nr. 1 oder Absatz 4 bezeichneten Art zu erwarten sind; § 66a Absatz 3 Satz 1 des Strafgesetzbuches gilt entsprechend. (7) Ist die wegen einer Tat der in Absatz 3 Satz 3 Nr. 1 bezeichneten Art angeordnete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 67d Abs. 6 des Strafgesetzbuches für erledigt erklärt worden, weil der die Schuldfähigkeit ausschließende oder vermindernde Zustand, auf dem die Unterbringung beruhte, im Zeitpunkt der Erledigungsentscheidung nicht bestanden hat, so kann das Gericht die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nachträglich anordnen, wenn 1. die Unterbringung des Betroffenen nach § 63 des Strafgesetzbuchs wegen mehrerer solcher Taten angeordnet wurde oder wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer solcher Taten, die er vor der zur Unterbringung nach § 63 des Strafgesetzbuches führenden Tat begangen hat, schon einmal zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt oder in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht worden war und 2. die Gesamtwürdigung des Betroffenen, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung bis zum Zeitpunkt der Entscheidung ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut Straftaten der in Absatz 3 Satz 2 Nr. 1 bezeichneten Art begehen wird. 1. ./. – 2. ErwG: § 112, 6.

Schrifttum Freuding Das Sanktionssystem des § 106 JGG bei Schwerstverbrechen hw. Täter, NStZ 10, 251; Goerdeler Sicherungsverwahrung auch für Hw.? ZJJ 03, 185; Kinzig Entwicklung, Stand u. Perspektiven einer Sicherungsverwahrung für J u. Hw., RdJ 07, 155; Schulz Sicherungsverwahrung im Wandel, SchlHA 05, 247; Werner-Eschenbach JStrafrecht – Ein Experimentierfeld für neue Rechtsinstitute, 2005; Wüstenhagen Sicherungsverwahrung gegen Hw. u. J, 2008.

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Milderung des allgemeinen Strafrechts für Heranwachsende; Sicherungsverwahrung

§ 106

Übersicht 1.

Milderung des allgemeinen Strafrechts

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2.

Sicherungsverwahrung

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1. Milderung des allgemeinen Strafrechts Auch bei altersgemäß entwickelten Hw., die nach allg. Recht abgeurteilt werden müssen, ist 1 idR die Reifeentwicklung noch nicht völlig abgeschlossen (vgl. § 114; Einf. 124–129); sie können erhebliche Sozialisationsmängel aufweisen, sind aber noch prägbar und spezialpräventiv ansprechbar. Bei ihnen ist häufig nach entsprechenden erz. Bemühungen eine Wiedereingliederung noch zu erwarten, auch wenn sie schwer gefehlt haben. Deshalb ermöglicht Abs. I statt auf lebenslange Freiheitsstrafe auf eine zeitige von 10–15 Jahren zu erkennen1. Hierüber ist nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, wobei Entwicklungsfähigkeit und mögliche Wiedereingliederung des Hw. in die Gesellschaft gegen Sicherungs- und Vergeltungsbelange der Allgemeinheit abzuwägen sind2. Der BGH hat der Wiedereingliederung des Hw. einen hohen Stellenwert beigemessen3, dem leitenden Gesichtspunkt der möglichen Wiedereingliederung den Sühnezweck klar untergeordnet4 und dabei auf die Persönlichkeit des Täters abgestellt: auf Beweggründe, Ausnahmesituation, Erregung und, auch bei „Ansätzen für eine weit angelegte Lebensplanung“, auf eine gewisse Stimmungslabilität des noch nicht voll Ausgereiften. Diese Rechtsprechung, welche den Zukunftschancen des nach ErwRecht verurteilten Hw. „bes. Gewicht auch bei schwerer Schuld zuweist“, hat der BGH5 zu Recht präzisierend fortgeführt und es untersagt, den Hw. auf Kriterien zu verweisen, die außerhalb der von der Rechtsprechung erarbeiteten Anwendungsmaßstäbe liegen, z.B. auf § 57a StGB, der jedem zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Erw. nach 15 Jahren eine Chance auf Freiheit eröffnet; diese noch unsichere Möglichkeit kann nicht zugleich als die nach § 106 I nur Tätern im HwAlter eröffnete Milderung etikettiert werden. Die Frage der Wiedereingliederung stellt der BGH6 deshalb in den Vordergrund, weil „auch bei altersgemäß entwickelten Hw. die Altersentwicklung noch nicht so hoffnungslos abgeschlossen ist, dass bei entsprechenden erz. Bemühungen eine spätere Wiedereingliederung nicht mehr möglich wäre“. Daher sind bei der Frage, ob gegen einen Hw. eine lebenslange Freiheitsstrafe zu verhängen ist, gemäß § 46 I S. 2 StGB die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben in der Gesellschaft zu erwarten sind, regelmäßig eingehend zu prüfen7. Soll § 106 I nicht angewendet werden, weil eine Wiedereingliederung nicht zu erwarten sei, so bedarf dies sorgfältiger Begründung, insbes. bei einem nicht vorbestraften Hw., bei dem sich zwar nach dem Gutachten des Sachverständigen ungünstige Persönlichkeitsmerkmale verfestigt haben, aber doch entwicklungsbedingte Züge erkennbar sind8. Von den Milderungsangeboten des § 106 sollte sehr großzügig Gebrauch gemacht werden, weil sie Hw. helfen, auf welche nach einer anerkannt schwierigen, durchaus schwankender Beurteilung unterliegenden Entscheidung (vgl. Einf. 125) ausnahmsweise allg. Strafrecht aus den Strafrahmen für Erw. angewendet wird. Allerdings muss nach dem BGH9 bei einem Täter mit weitgehend ausgereifter dissozialer Persönlichkeitsstruktur die günstige Prognose auf eine tragfähige Tatsachengrundlage

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BGH StV 94, 609; NStZ 05, 166. BVerfG ZJJ 09, 260, 261. BGH 7, 356. BGH H MDR 77, 283; BGH NStZ-RR 18, 327. 31, 189; NStZ 83, 218 mit zust. Anm. Brunner; vgl. auch Eisenberg JZ 83, 507; Ostendorf/Drenkhahn 4. NStZ 88, 498; StV 94, 609; NJW 08, 3297, 3298. BGH StV 94, 609; NStZ 03, 495. BGH B NStZ 83, 451. BGH NJW 08, 397, 398 mit abl. Anm. Eisenberg; s. auch Freuding NStZ 10, 254 f, der in der Entscheidung eine Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung sieht. 647

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gestützt werden, die geeignet ist, der weitgehend gefestigten dissozialen Persönlichkeitsstruktur gewichtige Argumente entgegenzusetzen. Außerdem darf der Sühnezweck nicht völlig außer Betracht bleiben10. Nach dem BVerfG11 soll die Strafmilderung Ausnahmecharakter haben. Zu Taten vor und nach Vollendung des 21. Lebensjahres § 32, 10 aE. Ist lebenslange Freiheitsstrafe wegen einer Strafrahmenverschiebung nach allg. Recht nicht verwirkt, kann § 106 I nach dem BGH12 nicht darüber hinaus zu einer Strafrahmenverschiebung führen; der Grundgedanke des § 106 I ist dann bei der Bemessung der zeitigen Freiheitsstrafe zu berücksichtigen13. Nach der Gegenmeinung ist eine doppelte Strafrahmenmilderung möglich, weil sonst bei Einschlägigkeit allg. Milderungsgründe Hw. mit Erw. weitgehend gleichgestellt würden14. Zur Strafzumessung bei Taten nach Alkohol- oder Drogengenuss § 3, 15. Bei Verurteilung wegen eines Verbrechens zu Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr kann der Richter anordnen, dass der damit gem. § 45 I StGB verbundene Verlust der Fähigkeit, öffentliche Ämter zu bekleiden und Rechte aus öffentlichen Wahlen zu erlangen, nicht eintritt (Abs. II). Dies wird im Interesse der Wiedereingliederung idR geboten sein. Vgl. für den Fall des Verschlechterungsverbotes § 55, 55. Hinsichtlich der Kann-Bestimmungen des § 45 II und V StGB erübrigte sich eine Regelung in § 106, weil die bes. Situation des hw. Täters ohnedies berücksichtigt werden kann. Die Anwendung des § 106 I, II liegt – grds. nach Anhörung der JGH (§ 38, 44) – im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts – auch des ErwGerichts (§ 112, 8) –, das diese Frage aber erkennbar prüfen muss. Die ablehnende Entscheidung bedarf stets einer ⅔-Mehrheit (§ 263 I StPO); die Urteilsgründe müssen jedenfalls in den Fällen, in denen eine Milderung in Betracht kommt, erkennen lassen, dass das Gericht sich seiner Befugnis bewusst war15. Bei Milderung nach § 106 wird im Tenor nur auf die gemilderte Strafe erkannt (Abs. I) oder die an sich verwirkte Nebenfolge nicht angeordnet (Abs. II). In den Gründen ist auszuführen, welche Strafe oder Maßregel an sich verwirkt wäre (das ist der Ausgangspunkt der Entscheidung nach § 106) und warum das Gericht gemildert hat. § 106 I, II enthalten eine abschließende Regelung16. Sonstige Rechtsfolgen des allg. Strafrechts sind grds. anwendbar (zur Sicherungsverwahrung Rn 8 ff). Inwieweit der Grundgedanke des § 106 bei der Frage der Strafaussetzung zur Bew. berücksichtigt werden kann, ist zweifelhaft. Dem OLG Köln17, das bei der Trunkenheitsfahrt eines Hw. unter Berücksichtigung des Grundgedankens des § 106 Strafaussetzung gab, wird jedenfalls dahin zuzustimmen sein, dass dem ErzGedanken (Wiedereingliederung) der Vorrang vor der Verteidigung der Rechtsordnung (§ 56 III) gebührt, falls nicht ganz gewichtige Gründe dagegen sprechen18.

2. Sicherungsverwahrung 8 Sicherungsverwahrung darf gegen Hw. (Alter zZ der Tat) auch bei Anwendung von ErwStrafrecht nicht unmittelbar im Urteil angeordnet werden (Abs. III 1). JStrafen aber entsprechen der Verurteilung und Verbüßung von Strafen, wie sie § 66 StGB fordert19. Dazu § 17, 12; zur Ein-

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BGH, aaO. ZJJ 09, 260, 261. NStZ 05, 166 = JR 05, 81 mit abl. Anm. Eisenberg; ebenso MK-StGB/Laue § 106 JGG 4. BGH, aaO, 167. Eisenberg/Kölbel 5; Ostendorf/Drenkhahn 3. BGH v. 19.8.1958 – 5 StR 262/58. BGH bei Herlan GA 56, 347 zur alten Fassung. NJW 67, 838 mit Anm. Grethlein. Ebenso Eisenberg/Kölbel 3; Ostendorf/Drenkhahn 18. BGH 26, 55; Fischer § 66 StGB 26; abl. Eisenberg/Kölbel § 17, 62. 648

Milderung des allgemeinen Strafrechts für Heranwachsende; Sicherungsverwahrung

§ 106

heitsstrafe § 31, 18. Hat das JGericht über Taten zu entscheiden, die ein Täter teils als J oder Hw., teils als Erw. begangen hat, so ist es nicht gehindert, wegen einer nach Vollendung des 21. Lebensjahres begangenen Tat bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen auf Sicherungsverwahrung zu erkennen20. Während die Sicherungsverwahrung bis 2003 gegen Hw. überhaupt nicht zulässig war, wurde durch G v. 27.12.2003 der Vorbehalt der Sicherungsverwahrung (Abs. III 2 aF) und durch Gesetz v. 23.7.2004 die nachträgliche Sicherungsverwahrung (Abs. V, VI aF) gegen nach allg. Strafrecht verurteilte Hw. ermöglicht. Mit Urteil v. 4.5.201121 hat das BVerG die damaligen Vorschriften über die Sicherungsverwahrung für mit Art. 2 II 2 iVm Art. 104 I GG unvereinbar erklärt. Durch G v. 5.12.2012 ist daher § 106 in der Weise geändert worden, dass nun – abgesehen von dem Sonderfall des Abs. VII – nur noch vorbehaltene Sicherungsverwahrung zulässig ist. Zur vorbehaltenen Sicherungsverwahrung gegen nach JStrafrecht verurteilte Hw. s. § 7, 16 ff. Gemäß § 316 f I EGStGB gilt die Neuregelung für nach dem 31.5.2013 begangene Taten. In allen anderen Fällen ist nach Maßgabe von § 316 f II und III EGStGB das frühere Recht (dazu 12. Aufl.) anzuwenden. Der Vorbehalt der Sicherungsverwahrung kann nach der Neuregelung unter den Voraussetzungen des Abs. III 2 oder des Abs. IV angeordnet werden. Die für die einschneidende Maßregel der Sicherungsverwahrung erforderliche Gefährlichkeitsprognose ist bei jungen Tätern sehr schwierig. Ihre Bejahung kommt nur in sehr wenigen Einzelfällen in Betracht. Der Vorbehalt der Sicherungsverwahrung nach Abs. III 2 setzt voraus: Der Hw. muss eines oder mehrere der in Nr. 1 genannten Verbrechen begangen haben, durch welche das Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt oder einer solchen Gefahr ausgesetzt worden ist. Diese Voraussetzung entspricht der des § 7 II, s. dazu § 7, 17. Der Hw. muss wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu einer Einzel- oder Gesamtfreiheitsstrafe von mindesten 5 Jahren verurteilt werden. Die Gesamtwürdigung von Täter und Taten muss zumindest mit Wahrscheinlichkeit ergeben, dass er infolge eines Hanges zu solchen Straftaten für die Allgemeinheit gefährlich ist. Der Hang ist ein eingeschliffener innerer Zustand des Täters, der ihn immer wieder neue Straftaten begehen lässt; der Täter ist dauernd zu Straftaten entschlossen oder wird aufgrund einer fest eingewurzelten Neigung immer wieder straffällig, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet22. Der Hw. ist für die Allgemeinheit gefährlich, wenn er durch auf seinem Hang beruhende Taten zukünftig den Rechtsfrieden erheblich stören wird23. Dies ergibt sich vielfach schon aus der Feststellung des Hanges24. Hang und Gefährlichkeit müssen sich auf die in Nr. 1 genannten Verbrechen beziehen. Hang und Gefährlichkeit müssen mit hinreichender Sicherheit feststellbar oder zumindest wahrscheinlich sein. Erforderlich ist eine überwiegende Wahrscheinlichkeit, die aber unter der in § 7 II geforderten hohen Wahrscheinlichkeit liegt25. Die abgeurteilten Taten müssen Symptomcharakter für Hang und Gefährlichkeit haben26. Nach Abs. IV kommt der Vorbehalt der Sicherungsverwahrung auch in Betracht, wenn der Hw. eines oder mehrere Vergehen nach den §§ 176a und 176b StGB begangen hat (Nr. 1) und die übrigen Voraussetzungen des Abs. III 2 (schwere seelische oder körperliche Schädigung des Opfers oder entsprechende Gefahr, Hang und Gefährlichkeit) vorliegen. Hinzukommen müssen die übrigen Voraussetzungen des § 66 III StGB (abgesehen von dem Verweis auf die Prognoseklausel des § 66 I Nr. 4 StGB) (Nr. 2). Neben der Fallgruppe des § 66 III 1 StGB kommt auch diejenige des § 66 III 2 StGB in Betracht27. Bei den danach maßgeblichen früheren und künftig 20 21 22 23 24 25 26 27 649

BGH 25, 51. BVerfGE 128, 326 = NJW 11, 1931. BGH NStZ 03, 201; 05, 265 zu § 66 StGB; Fischer § 66 StGB 47. BGH NStZ-RR 03, 108 f; Lackner/Kühl/Heger § 66 StGB 15. BGH NStZ 07, 464). HK-JGG/Rössner 10. BGH NStZ 03, 107. BGH 52, 216, 320 f = JR 09, 37 mit zust. Anm. Rau/Zschiescheck = ZJJ 09, 379 mit krit. Anm. Eisenberg.

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3. Teil. Heranwachsende

zu erwartenden Taten muss es sich um solche der in Abs. IV Nr. 1 oder Abs. III 2 Nr. 1 genannten Art handeln, durch welche das Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt oder einer solchen Gefahr ausgesetzt worden ist oder würde (Nr. 3). Liegen die Voraussetzungen vor, entscheidet die JKammer (§ 108 III 2) über den Vorbehalt der Sicherungsverwahrung nach pflichtgemäßem Ermessen. Kommt der Vorbehalt in Betracht, ist in der Hauptverhandlung ein Sachverständiger zu vernehmen (§§ 2 II JGG, 246a StPO). Sind die nach Abs. III 2 oder IV erforderlichen formellen Voraussetzungen gegeben und liegt die Feststellung eines Hanges nahe, muss sich das Gericht mit dem Vorbehalt der Sicherungsverwahrung in den Urteilsgründen auseinandersetzen28. Wird neben der Strafe die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorbehalten, ordnet das erkennende Gericht bei Verurteilten unter 27 Lebensjahren nach Abs. V 1 grds. an, dass bereits die Strafe in einer sozialtherapeutischen Anstalt zu vollziehen ist. Die Anordnung unterbleibt, wenn dadurch die Resozialisierung nicht besser gefördert werden kann. Die Anordnung kann auch nachträglich – durch die Strafvollstreckungskammer (S. 4) – erfolgen (S. 2). Solange eine solche Anordnung nicht ergangen oder der Gefangene noch nicht in eine sozialtherapeutische Anstalt verlegt worden ist, ist darüber jeweils nach 6 Monaten neu zu entscheiden (S. 3). Nach S. 5 bleiben § 66c II StGB (Angebot einer Betreuung iSd § 66c I Nr. 1 schon im Strafvollzug) und § 67a Abs. II bis IV (Möglichkeit der Überweisung aus dem Strafvollzug in ein psychiatrisches Krankenhaus oder eine Entziehungsanstalt) unberührt. Die Entscheidung über die Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung trifft nach §§ 109 I, 81a I iVm §§ 74 f I und 120a I GVG der Spruchkörper (JKammer bzw. der Strafsenat des OLG), der die Sicherungsverwahrung vorbehalten hat. Die Entscheidung ist gem. Abs. VI iVm § 66a III 1 StGB bis zur vollständigen Vollstreckung der Freiheitsstrafe zu treffen. Sie soll nach § 81a iVm § 275a V StPO spätestens 6 Monate vor der vollständigen Vollstreckung ergehen. Nach § 81a iVm § 275a IV 1, 3 StPO holt das Gericht das Gutachten eines Sachverständigen ein, der nicht im Rahmen des Vollzugs der Strafe oder Unterbringung mit der Behandlung des Verurteilten befasst war. § 81a iVm § 275a VI 3 StPO ermöglicht den Erlass eines Unterbringungsbefehls bis zur Rechtskraft des Urteils. Den Maßstab für die Anordnung der Sicherungsverwahrung enthält Abs. VI. Danach müssen aufgrund einer Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung bis zum Zeitpunkt der Entscheidung von ihm Straftaten der in Abs. III 2 Nr. 1 oder Abs. IV bezeichneten Art zu erwarten sein. Diese Prognose muss nicht auf substantiell neuen Tatsachen beruhen. Vielmehr ist erforderlich und ausreichend, dass die ungünstige Prognose unter Einbeziehung neu hinzutretender Umstände nunmehr eindeutig positiv begründet werden kann29 (vgl. § 7, 21). Abs. VII ermöglicht die Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung, wenn die wegen einer Tat iSv Abs. III 2 Nr. 1 angeordnete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 67d VI StGB für erledigt erklärt worden ist, weil der Zustand nach den §§ 20, 21 StGB, auf dem die Unterbringung beruht, nicht oder nicht mehr bestanden hat. Voraussetzung ist, dass die Unterbringung nach § 63 StGB entweder wegen mehrerer solcher Taten angeordnet wurde oder – bei Unterbringung wegen nur einer solchen Tat – dieser eine oder mehrere andere solche Taten vorausgingen, wegen derer der Betroffene zu einer Freiheitsstrafe von mindestens 3 Jahren verurteilt oder nach § 63 StGB untergebracht worden war. Hinzukommen muss die ungünstige Prognose, dass erneute Straftaten der in Abs. III 2 Nr. 1 bezeichneten Art wahrscheinlich sind. Für das Verfahren und die Entscheidung über die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung ordnen §§ 109 I, 81a die sinngemäße Anwendung der §§ 275a StPO und 74 f, 120a GVG an. Die Entscheidung trifft nach § 74 f I, II die JKammer mit 3 Berufsrichtern (§ 74 f III 2. HS GVG) und 2 Schöffen, wenn diese oder – entgegen § 108 III – das Amtsgericht die Ausgangsverurteilung ausgesprochen hat; bei tatrichterlicher Entscheidung durch einen Strafsenat des OLG entscheidet dieser über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung 28 BGH 52, 316, 319. 29 BGH 65, 319, 324 zu § 66a III 2 StGB. 650

Milderung des allgemeinen Strafrechts für Heranwachsende; Sicherungsverwahrung

§ 106

(§ 120a I GVG). Liegen mehrere Anlassverurteilungen vor, gilt § 462a III 2, 3 StPO entsprechend (§§ 74 f III 1. HS, 120a II GVG). Erforderlich sind Gutachten von 2 Sachverständigen, die im Rahmen des Vollzugs der Strafe oder der Unterbringung nicht mit der Behandlung des Verurteilten befasst gewesen sein dürfen (§ 275a IV 2, 3 StPO). Unter den Voraussetzungen des § 275a VI 1 StPO kann bis zur Rechtskraft des Urteils ein Unterbringungsbefehl erlassen werden.

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Zweiter Abschnitt Gerichtsverfassung und Verfahren § 107 Gerichtsverfassung Von den Vorschriften über die Jugendgerichtsverfassung gelten die §§ 33 bis 34 Abs. 1 und §§ 35 bis 38 für Heranwachsende entsprechend. 1. ./. – 2. [ErwG]: nur § 38 gilt; § 112, § 104 I Nr. 2; Rn 2.

1 Unabhängig vom Alter zZ der Aburteilung und unabhängig davon, ob JRecht oder allg. Recht angewendet wird (§ 105) und welche Verfahrensvorschriften gelten (§ 109), kommen Hw. ebenso wie J vor das JGericht (§ 33b, 18), auch bei Zweifeln, ob der Täter zZ der Tat noch Hw. war (§ 105, 31; § 1, 23)1 und bei einheitlicher Tat oder mehreren Taten teils vor und nach dem 21. Lebensjahr (Vor § 102, 2), auch wenn von vornherein die Anwendung des allg. Rechts in Betracht kommt2. Es ist nur konsequent, dass auch die JStA mitwirkt, welche ggf. auch die Möglichkeit der Strafmilderungen nach § 106 einbeziehen wird. Die JGH hat ihren Auftrag auch noch gegenüber inzwischen Erw. zu erfüllen3. Vgl. auch § 38, 43–46. Da die Volljährigkeit der Hw. zugleich mit der elterlichen ErzBerechtigung auch die diese 2 ergänzende und ersetzende des Staates beendet, sind ErzMaßnahmen des Familiengerichts, auf die § 34 II, III abhebt, bei Hw. nicht mehr zulässig. Damit verliert die in § 34 II gewünschte Verbindung JRichter–Familiengericht bei Hw. ihren Sinn. Aus gleichem Grunde sind bei Hw. die §§ 12, 53 nicht mehr anwendbar (Einf. 94 f; § 12, 8; § 53, 1; § 105, 35; § 109, 2).

§ 108 Zuständigkeit (1) Die Vorschriften über die Zuständigkeit der Jugendgerichte (§§ 39 bis 42) gelten auch bei Verfehlungen Heranwachsender. (2) Der Jugendrichter ist für Verfehlungen Heranwachsender auch zuständig, wenn die Anwendung des allgemeinen Strafrechts zu erwarten ist und nach § 25 des Gerichtsverfassungsgesetzes der Strafrichter zu entscheiden hätte. (3) 1Ist wegen der rechtswidrigen Tat eines Heranwachsenden das allgemeine Strafrecht anzuwenden, so gilt § 24 Abs. 2 des Gerichtsverfassungsgesetzes. 2Ist im Einzelfall eine höhere Strafe als vier Jahre Freiheitsstrafe oder die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus, allein oder neben einer Strafe, oder in der Sicherungsverwahrung (§ 106 Absatz 3, 4, 7) zu erwarten, so ist die Jugendkammer zuständig. 3 Der Beschluss einer verminderten Besetzung in der Hauptverhandlung (§ 33b) ist nicht zulässig, wenn die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung, deren Vorbehalt oder die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zu erwarten ist. 1. ./. – 2. [ErwG]: § 41, 5; § 104, 2; § 112.

1 Eisenberg/Kölbel 4. 2 KG bei Kotz/Rahlf NStZ-RR 02, 132. 3 BGH StV 82, 336 mit zust. Anm. Gatzweiler. 652 https://doi.org/10.1515/9783110686401-140

Zuständigkeit

§ 108

Richtlinie zu § 108 Die Staatsanwaltschaft erhebt die Anklage gegen den Beschuldigten, der sich auf freiem Fuß befindet, grundsätzlich bei dem Gericht, in dessen Bezirk er sich zur Zeit der Erhebung der Anklage aufhält. Eine Anklageerhebung bei dem für den Tatort zuständigen Gericht wird insbesondere dann in Betracht kommen, wenn – wie z.B. in Verkehrsstrafsachen – eine größere Zahl von am Tatort wohnenden Zeugen zu vernehmen sein wird.

Für die sachliche Zuständigkeit kommt es darauf an, ob materielles JRecht oder ErwRecht anzuwenden ist (§ 105). Ist die Anwendung materiellen JRechts zu erwarten, gelten die §§ 39 bis 41 uneingeschränkt (Abs. I). Für die Zuständigkeitsprüfung der JStA vor der Anklageerhebung nach Abs. I iVm § 39 ist allein § 39 I, nicht § 39 II maßgeblich (§ 41, 8)1. Wird gegen Hw. voraussichtlich eine Strafe nach allg. Recht verhängt, hat der JRichter dieselbe sachliche Zuständigkeit wie der Einzelrichter des allg. Rechts (Abs. II; § 25 GVG für die Eröffnung; für das Urteil gilt § 24 GVG)2. Die JKammer ist für Schwurgerichtssachen (Abs. I, § 41 I Nr. 1, § 74 II GVG) gegen J und Hw. gleichermaßen ausschließlich zuständig (§ 41, 11), im Wege der Verbindung auch gegen Erw. (§ 41, 11), wobei bei Erw. und bei Hw. der Strafbann auch die lebenslange Freiheitsstrafe einschließt. Die JKammer ist gegen Hw. schließlich auch dann in erster Instanz zuständig, wenn voraussichtlich ErwStrafrecht anzuwenden und auf Freiheitsstrafe von mehr als 4 Jahren oder die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in der Sicherungsverwahrung zu erkennen sein wird (Abs. III)3. Abs. III 3 stellt sicher, dass die JKammer über die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung oder in einem psychiatrischen Krankenhaus mit 3 Berufsrichtern entscheidet. Letztlich können Hw. (und auch J) in erster Instanz vor die JKammer kommen, wenn in mit Erw. verbundenen Verfahren für den verbundenen Erw. eine große Strafkammer zuständig wäre (§ 41 I Nr. 3; näher § 41, 13) und der Erw. die verbundenen J und Hw. mit vor das höhere Gericht zieht. In solchen Fällen muss also unmittelbar zur JKammer angeklagt werden oder JRichter und JSchöffengericht müssen dann das Gesamtverfahren nach § 209 II StPO der JKammer zur Übernahme vorlegen. Abgesehen von der eingreifenden Zuständigkeit des J(Einzel)Richters und den oben erwähnten Ausnahmen gehören alle übrigen Verfahren gegen Hw. vor das JSchöffengericht, dessen Strafbann bei Anwendung von ErwStrafrecht allerdings auf Freiheitsstrafe bis zu 4 Jahren beschränkt ist und das nicht auf die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in der Sicherungsverwahrung erkennen darf. Das JSchöffengericht kann auch hier ein Verfahren wegen des Umfangs der JKammer zur Übernahme vorlegen (Abs. I; §§ 40 II, 41 I Nr. 2; § 41, 47). Dadurch werden die Nachteile vermieden, die sich aus dem Fehlen des erweiterten Schöffengerichts ergeben könnten. Die Ablehnung der Übernahme hindert nicht die spätere Verweisung, wenn der Strafbann nicht ausreicht4. Lässt sich, wie oft, keine sichere Voraussage über die anzuwendende Rechtsordnung treffen, ist die Zuständigkeit in beiden Richtungen zu prüfen. Sind danach verschiedene Gerichte zuständig, muss zum höheren angeklagt bzw. vor dem höheren eröffnet werden; nur so können unnötige Verweisungen vermieden werden5. Ist das Gericht bei der Eröffnung oder später anderer Ansicht als die StA, so verfährt es, wenn die Bedenken für den Fall der Anwendung des JRechts bestehen, wie § 41, 24 ff dargestellt. Wegen Übernahme vom JSchöffengericht zur JKammer Rn 3. Hat statt der zuständigen JKammer die allg. Strafkammer entschieden, ist dies im Revisionsverfahren nur aufgrund einer Verfahrensrüge nach § 338 Nr. 4 StPO zu beachten6.

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Eisenberg/Kölbel 4; aA Ostendorf/Goerdeler/Rose 2. BGH 16, 248; BayObLG 51, 452; Eisenberg/Kölbel 9. Vgl. OLG Karlsruhe GA 75, 27. OLG Celle MDR 57, 117. Vgl. BGH 18, 1; OLG Karlsruhe ZJJ 18, 163, 164. BGH NStZ-RR 07, 282.

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§ 109

3. Teil. Heranwachsende

Die örtliche Zuständigkeit richtet sich auch bei Hw. stets nach § 42 mit der selbstverständlichen Ausnahme, dass die familiengerichtliche Zuständigkeit nach § 42 I Nr. 1 entfällt, weil bei einem Volljährigen keine familiengerichtlichen Maßnahmen zulässig sind7. Dies muss schon die StA für die Anklage beachten (§ 42 II). Nicht aber wird der nach § 84 II zuständige Vollstreckungsleiter hiervon berührt (§ 84, 4). Die örtliche Zuständigkeit beim Vollstreckungsleiter ist nur gegeben, wenn eine frühere JStrafe, nicht wenn eine frühere Freiheitsstrafe zu vollstrecken ist, und wenn die neue Tat vor Vollendung des 21. Lebensjahres begangen worden ist8. Ist eine Freiheitsstrafe von mehr als 4 Jahren zu erwarten, so ist für den Hw. Vollstreckungsleiter iSd § 42 I Nr. 3 die dem nach § 85 II zuständigen Vollstreckungsleiter übergeordnete JKammer (vgl. auch § 42, 7)9. Im allg. aber wird die JStA die Anklage vor dem Richter erheben, in dessen Bezirk sich der auf freiem Fuß befindliche Hw. zZ der Erhebung der Anklage aufhält (RL S. 1). Dies erleichtert Persönlichkeitserforschung (letzter Stand) und Verhandlung und belässt den Hw. in seiner Umgebung. Vor dem für den Tatort zuständigen Richter wird die JStA nur dann anklagen (RL S. 2), wenn eine größere Zahl am Tatort wohnender Zeugen zu vernehmen sein wird, dort ein Augenschein erforderlich ist (Verkehrsvergehen) oder ähnliche Gründe dafür sprechen (vgl. § 42, 8). 7 Auch bei Hw. kann das Verfahren nach § 42 III abgegeben werden.

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§ 109 Verfahren (1) 1Von den Vorschriften über das Jugendstrafverfahren (§§ 43 bis 81a) sind im Verfahren gegen einen Heranwachsenden die §§ 43, 46a, 47a, 50 Absatz 3 und 4, die §§ 51a, 68 Nummer 1, 4 und 5, die §§ 68a, 68b, 70 Absatz 2 und 3, die §§ 70a, 70b Absatz 1 Satz 1 und Absatz 2, die §§ 70c, 72a bis 73 und 81a entsprechend anzuwenden. 2Die Bestimmungen des § 70a sind nur insoweit anzuwenden, als sich die Unterrichtung auf Vorschriften bezieht, die nach dem für die Heranwachsenden geltenden Recht nicht ausgeschlossen sind. 3Die Jugendgerichtshilfe und in geeigneten Fällen auch die Schule werden von der Einleitung und dem Ausgang des Verfahrens unterrichtet. 4Sie benachrichtigen den Staatsanwalt, wenn ihnen bekannt wird, daß gegen den Beschuldigten noch ein anderes Strafverfahren anhängig ist. 5Die Öffentlichkeit kann ausgeschlossen werden, wenn dies im Interesse des Heranwachsenden geboten ist. (2) 1Wendet der Richter Jugendstrafrecht an (§ 105), so gelten auch die §§ 45, 47 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 und 3, Abs. 2, 3, §§ 52, 52a, 54 Abs. 1, §§ 55 bis 66, 74 und 79 Abs. 1 entsprechend. 2 § 66 ist auch dann anzuwenden, wenn die einheitliche Festsetzung von Maßnahmen oder Jugendstrafe nach § 105 Abs. 2 unterblieben ist. 3§ 55 Abs. 1 und 2 ist nicht anzuwenden, wenn die Entscheidung im beschleunigten Verfahren des allgemeinen Verfahrensrechts ergangen ist. 4§ 74 ist im Rahmen einer Entscheidung über die Auslagen des Antragstellers nach 5§ 472a der Strafprozessordnung nicht anzuwenden. (3) In einem Verfahren gegen einen Heranwachsenden findet § 407 Abs. 2 Satz 2 der Strafprozeßordnung keine Anwendung. 1. ./. – 2. Abs. I: ErwG: §§ 112, 104 Nr. 2, 3, 9, 10, 11, 12. – Abs. II: ErwG: §§ 112, 104 Nr. 5, 6, 7, 8, 13, 14.

Richtlinien zu § 109 1.

Im Gegensatz zum Verfahren gegen Jugendliche ist das Verfahren gegen Heranwachsende grundsätzlich öffentlich. Die Öffentlichkeit kann aber nicht nur aus den in §§ 171a, 171b, 172 GVG genannten Gründen, sondern auch im Interesse der Heranwachsenden ausgeschlossen werden (vgl. hierzu die Richtlinie zu § 48).

7 Eisenberg/Kölbel 18. 8 Dallinger/Lackner 17; Eisenberg/Kölbel 19; Ostendorf/Goerdeler/Rose 7. 9 BGH 18, 3; Dallinger/Lackner 17; Eisenberg/Kölbel 19; Ostendorf/Goerdeler/Rose 7; Scheunemann RdJ 56, 296. 654 https://doi.org/10.1515/9783110686401-141

Verfahren

2.

3. 4. 5.

§ 109

Gegen Heranwachsende darf ein Strafbefehl nur erlassen werden, wenn das allgemeine Strafrecht anzuwenden ist (§ 109 Abs. 2, § 79 Abs. 1). Die Staatsanwaltschaft beantragt deshalb den Erlass eines Strafbefehls gegen Heranwachsende nur, wenn sie Ermittlungen nach § 43 angestellt hat und zu der Auffassung gelangt ist, dass das allgemeine Strafrecht anzuwenden ist. Das vereinfachte Jugendverfahren ist gegen Heranwachsende nicht zulässig, wohl aber das beschleunigte Verfahren nach §§ 212 ff StPO. Privatklage und Nebenklage sind gegen Heranwachsende zulässig, unabhängig davon, ob allgemeines Strafrecht oder Jugendstrafrecht anzuwenden ist. Auch insoweit ist grundsätzlich das Jugendgericht zuständig. Die Staatsanwaltschaft wendet § 45 bei Heranwachsenden an, wenn sie aufgrund der Ermittlungen nach § 43 zu der Auffassung gelangt ist, dass Jugendstrafrecht anzuwenden ist.

Schrifttum Bartels Das Strafbefehlsverfahren bei Hw. in Theorie u. Praxis, 2007; Putzke Beschleunigtes Verfahren bei Hw., 2004.

Übersicht 1. 2. 3. 4. 5.

Verfahrensrecht und materielles JRecht 1 4 Einstellung nach § 47 5 Besonderheiten Formloses Erziehungsverfahren durch die 6 StA Verfahren gegen Jugendliche und Heranwach7 sende

6. 7. 8. 9.

Die besonderen Verfahrensarten 10 13 Strafbefehl 14 Nachträgliche EinheitsJStrafe In verschiedenen Altersstufen begangene Ta15 ten

1. Verfahrensrecht und materielles JRecht Für Hw. gilt allg. Verfahrensrecht, wo nicht eine Sonderregelung getroffen ist. Abs. I 1 fasst 1 die jrechtlichen Verfahrensvorschriften zusammen, die bei Hw. stets und unabhängig davon anzuwenden sind, ob letztendlich nach materiellem J- oder ErwRecht erkannt wird. Dies gilt auch vor ErwGerichten (§ 112, 3). Es gelten insbes. die jrechtlichen Sondervorschriften zur Persönlichkeitserforschung (§§ 43, 46a; 50 III u. IV, näher dazu § 50, 13, 15 f, 16; § 73), die Bestimmung über den Vorrang der JGerichte (§ 47a), von den Vorschriften über notwendige Verteidigung §§ 51a, 68 Nr. 1, 4 und 5, 68a, 68b, von den Mitteilungs-, Unterrichtungs- und Belehrungsvorschriften §§ 70 II und III, 70a, 70b I 1 und II sowie §§ 70c, 72a bis 73 und 81a auch in Verfahren gegen Hw. immer. Nach Abs. I 2 ist § 70a nur insoweit anzuwenden, als sich die Unterrichtung auf Vorschriften bezieht, die nach dem für Hw. geltenden Recht nicht ausgeschlossen sind. Es gelten auch die in § 70 I für J vorgesehenen Mitteilungspflichten, mit Ausnahme der Benachrichtigung des Familiengerichts, die wegen der Volljährigkeit der Hw. entfällt (Abs. I 3, 4, die aus Gründen der Übersichtlichkeit unter Verwendung des Textes des § 70 I 1,2 eingefügt sind; § 38, 43–45; § 70, 7). Die bei Anwendung materiellen JRechts notwendigen Sondervorschriften §§ 45 (Rn 6), 47 2 (Rn 4), 52, 52a, 54 I (zu § 54 II Rn 5), 55–66, 74, 79 I, 81 gelten dagegen nach Abs. II nur dann, wenn Hw. nach JRecht verurteilt werden. Schwierigkeiten entstehen nicht, weil diese Vorschriften erst bei der Entscheidung des Gerichts zur Anwendung kommen, also zu einem Zeitpunkt, in welchem auch über die Frage, welche materielle Rechtsordnung anzuwenden ist (§ 105), entschieden werden muss. Alle diese Vorschriften enthalten typisch jrechtliche Reaktionen, die auch bei Hw. zulässig und angebracht sind, wenn nach § 105 I JRecht angewendet wird. Zum staatlichen ErzRecht gegenüber den volljährigen Hw. Einf. 94 f. Im Verfahren gegen Hw. sind nicht anwendbar: § 44: Ist mit Anwendung von JStrafrecht 3 zu rechnen, so kann sich eine Vernehmung nach den allg. Vorschriften empfehlen (RL 1 S. 2 655

§ 109

3. Teil. Heranwachsende

HS 2 zu § 44)1. § 46: Der Grundgedanke ist aber zu berücksichtigen (RL 2 zu § 46; § 46, 10). § 50 I: Dem Grundgedanken ist nach richterlichem Ermessen Rechnung zu tragen2. §§ 50 II: Hat der Hw. die Tat als J begangen, kann es sich empfehlen, die Eltern zu laden entsprechend § 50 II3. Es sollte aber das Einverständnis des Hw. gesichert sein. §§ 51, 53, 67, 67a. § 69 (dazu § 69, 11). §§ 71, 72, 76–78. § 79 II: Deshalb ist unabhängig davon, ob J- oder ErwStrafrecht angewendet wird, das beschleunigte Verfahren nach §§ 417 ff StPO zulässig (RL 3). § 80: Gegen Hw. ist deshalb Privat- und Nebenklage stets zulässig, gleich ob J- oder ErwStrafrecht angewendet wird (RL 4 S. 1; RL 3 S. 2 zu § 80). Es ist aber stets der JRichter zuständig (Rn 12). Vgl. näher zu §§ 50 I, 53, 69, 54 II, auch Abs. I 5 in Rn 5.

2. Einstellung nach § 47 4 Die dem JRichter eingeräumte Möglichkeit, mit Zustimmung der StA vor oder in der Hauptverhandlung das Verfahren auch gegen Hw. nach Abs. II 1, § 47 I 1 Nr. 1, 2 und 3 einzustellen, bereichert die Reaktionsmöglichkeiten des JRichters auch gegen Hw. (dazu § 47, 1–3, 5, 7–11). Hingegen sind nach Abs. II 1 die § 47 I 1 Nr. 4 und § 47 II 4 bei Hw. nicht anwendbar, weil sie nur auf J abzielen (§ 47, 11). Der JRichter wird über § 47 I 1 Nr. 1–3 im Wesentlichen Fälle einer erz. sinnvollen Lösung zuführen, in denen die StA das formlose ErzVerfahren (Rn 6), aus welchen Gründen auch immer, nicht gewählt hat, oder in denen die Hauptverhandlung neue Erkenntnisse über die Täterpersönlichkeit bringt, die ein Vorgehen nach § 47 empfehlen.

3. Besonderheiten 5 Infolge der Volljährigkeit ist bei Hw. § 53 nicht entsprechend anwendbar, da familiengerichtliche ErzAufgaben iSv § 34 II, III bei Hw. nicht mehr in Betracht kommen (§ 105, 35; § 107, 2). Auch die Bestellung eines Beistands (§ 69) entfällt bei Hw. (näher § 69, 11). Ähnliche und dem Entwicklungsstand des Hw. angemessenere Hilfen bietet dem Richter die Weisung an den Hw., sich einem Betreuungshelfer zu unterstellen (§ 10 I 3 Nr. 5), was eine Art „BewHilfe“ ohne Strafaussetzung eröffnet (näher § 10, 19). Die Urteilsgründe müssen stets voll mitgeteilt werden (keine entsprechende Anwendung des § 54 II in Abs. II 1). – Auch wenn allein gegen Hw. verhandelt wird, kann nach Abs. I 5 die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden, soweit dies im Interesse des Hw. geboten ist. Die Gründe hierfür (s. dazu § 48, 6) fordern weite Auslegung4. Das zu berücksichtigende Interesse des Hw. wird praktisch nicht selten mit dem früher maßgeblichen „Interesse der Erz. des Angeklagten“ (§ 109 I 2 aF) identisch sein. Zum Umfang des Ausschlusses der Öffentlichkeit vgl. § 48, 25. – Eine Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten ist auch bei Hw. nur dann statthaft, wenn auch ohne seine Anwesenheit ausreichend geprüft werden kann, ob Erw.- oder JRecht anzuwenden ist5.

4. Formloses Erziehungsverfahren durch die StA 6 Die der StA eröffnete Möglichkeit, auch bei Hw. im formlosen ErzVerfahren alle Alternativen des § 45 einzusetzen (Abs. II 1), kommt erhebliche Bedeutung zu. Es kann bei geständigen Hw. auf geringfügigere Verfehlungen – insbes. nicht kriminelle Oberflächenverstöße – noch jgemäß re1 2 3 4 5

Dallinger/Lackner § 44, 13; Eisenberg/Kölbel 13. Dallinger/Lackner 24; Eisenberg/Kölbel 15. Eisenberg/Kölbel 15a; Röstel Zbl. 75, 326. Dallinger/Lackner 3; Eisenberg/Kölbel 53; Ostendorf/Goerdeler/Rose 4b. OLG Hamburg NJW 63, 67; vgl. auch BayObLG bei Rüth DAR 71, 207. 656

Verfahren

§ 109

agiert und in einem der Verfehlung angemessenen, schnellen, keinen unnötigen Aufwand bringenden Verfahren ohne Hauptverhandlung vermieden werden, dass aus einem Überschuss äußerlicher Reaktion erz. abträgliche Nebenfolgen erwachsen (Anreise zum Gerichtsort, Arbeitsausfall, häusliche Aufregung, Bekanntwerden des Verfahrens und letztlich geringe Maßnahmen nach förmlichem Verfahren und Urteil). Dem StA und dem Richter fehlt zwar idR vor seiner Entscheidung der persönliche Eindruck vom Hw., diesen kann und muss aber ein sorgfältiger Bericht der JGH ersetzen, der auch zu den Maßnahmen Stellung nehmen sollte. Im Übrigen ist Anwendung von JRecht nie schädlich. Bei den zu treffenden Auflagen (§ 45, 36, 40) sollte beachtet werden, dass es sich bei Hw. schon um volljährige „ältere“ junge Menschen handelt, Ermahnungen kaum mehr angebracht sind und zumeist nur ein Lächeln auslösen würden, und Geldbußen zwar zumutbar, aber auch spürbar sein müssen. Eigenes aktives Eingreifen der StA iS einer Diversion nach § 45 II (§ 45, 31 ff) ist gerade auch bei Hw. empfehlenswert. Durch das Vorgehen nach § 45 auch gegen Hw. werden Strafbefehle (Rn 13) ohne ernstliche Prüfung des Entwicklungsstandes eingedämmt werden können. Doch sollte das gute Instrument des § 45 bei Hw. nicht wahllos und damit im Einzelfall erzschädlich angewandt werden. In Fällen bedenklicherer Kriminalität sollten StA und JRichter unter Mitwirkung der JGH sorgsam erwägen, ob je nach Persönlichkeit und Tatverstrickung das formlose ErzVerfahren nach § 45 angemessen ist und wirksam sein kann.

5. Verfahren gegen Jugendliche und Heranwachsende Für Verfahren gegen J und Hw. (Verbindung nach allg. StPO-Grundsätzen; § 103, 2) trifft nur 7 §§ 48 III (Öffentlichkeit) eine Sonderregelung. Sonst gilt für jeden Täter das seiner Altersgruppe entsprechende Verfahrensrecht6; eine Verhandlung gegen J und Hw. zugleich ist also nur im förmlichen Verfahren möglich, nicht etwa im vereinfachten JVerfahren (nicht gegen Hw.) oder im beschleunigten Verfahren (nicht gegen J). In verbundenem Verfahren gegen J und Hw. ist bei Vorliegen einer Anschlussbefugnis bezüglich des Hw., nicht aber des J (vgl. § 80 III) eine Nebenklage gegen den Hw. – ebenso gegen einen erw. Mitangeklagten –, nicht aber gegen den J zulässig7. Auch verbundene Strafsachen bleiben in mehrfacher Hinsicht selbständig, ua hinsichtlich der Rechtsstellung Dritter8. Die differenzierte Regelung des § 109 sieht davon ab, die Einschränkung der Nebenklage auf Hw. zu erstrecken. Die Tragweite dieser Entscheidung des Gesetzes würde erheblich reduziert, wenn sie in den praktisch nicht seltenen verbundenen Verfahren gegen J und Hw. außer Kraft gesetzt würde9. Eine Vereinheitlichung der Verfahrensvorschriften hat das JGG nur in dem das Verfahren als Ganzes und nicht subjektbezogene Prozessverhältnisse betreffenden §§ 48 III vorgenommen. Die Zulässigkeit der Nebenklage gegen den Hw. sollte nicht von dem oft zufälligen Umstand abhängig gemacht werden, ob gleichzeitig gegen einen J verhandelt wird10. Da in den Fällen des § 80 III sogar eine Nebenklage gegen den J selbst erhoben werden kann, sind Nebenklagen gegen mitange-

6 Dallinger/Lackner 46; Eisenberg/Kölbel 9. 7 BGH 41, 288 für Nebenklage gegen Erw.; BGH NStZ 97, 97; NJW 03, 152; OLG Düsseldorf NStZ 94, 299 = StV 94, 605 mit abl. Anm. Ostendorf; NJW 95, 343; OLG Saarbrücken ZJJ 06, 324 mit abl. Anm. Möller; LG Duisburg NJW 94, 3305; MK-StPO/Kaspar § 80 JGG 24 f; Dölling in Weisser Ring, Hrsg., Täterrechte – Opferrechte, 1996, S. 73; Mitsch GA 98, 159; Rössner in JStrafrecht an der Wende, S. 172; Rohde Die Rechte u Befugnisse des Verletzten im Strafverfahren gegen J, 2009, S. 145; aA OLG Köln NStZ 94, 298; LG Aachen MDR 93, 679; LG Zweibrücken StV 09, 88; AG Ebersberg ZJJ 14, 297; Eisenberg/Kölbel § 80, 13a u. Eisenberg NStZ 94, 299 f; DSS/Sonnen 2; Franze StV 96, 293; Graul NStZ 96, 402; kritisch Kurth NStZ 97, 5 f; für Zulässigkeit der Nebenklage bei Verbindung von Strafverfahren gegen Erw. u. Hw. mit im JVerfahren durchgeführtem Sicherungsverfahren KG JR 95, 259 mit abl. Anm. Eisenberg/Kölbel/ Schönberger JR 95, 391. 8 OLG Düsseldorf NStZ 94, 299; KMR/v. Heintschel-Heinegg § 5 StPO 2. 9 Dölling aaO. 10 LG Duisburg aaO. 657

§ 109

3. Teil. Heranwachsende

klagte Hw. hinnehmbar11. Gefährdungen des ErzZiels können Gericht und StA entgegenwirken. Bei gegenläufigen Interessen von Nebenklage und J hat im Zweifel die Position des J den Vorrang12. Der Vorschlag von Ostendorf13, entsprechend § 48 III 2 nach Interessenabwägung im Einzelfall zu entscheiden, schafft unnötig Rechtsunsicherheit. Ist im verbundenen Verfahren gegen J und Hw. bzw. Erw. die Nebenklage gegen den Hw. (Erw.) zugelassen, ist der Nebenkläger auch berechtigt, den von dem j. Angeklagten gem. § 245 StPO präsentierten Sachverständigen wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen, sofern dieser nicht nur zur Aufklärung von Tatsachen beitragen soll, die ausschließlich den j. Angeklagten betreffen14. – Wegen Verfahren auch gegen Erw. § 103, 3 ff. 8 Wie weit die einzelnen Vorschriften des 2. Teiles des JGG auch für Hw. gelten, ist bei jedem Paragraphen nach dem Gesetzestext vermerkt (Abkürzungsverzeichnis Teil I). – Wegen des Verfahrens gegen Hw. vor dem ErwGericht § 112. 9 Grds. kommt es auf das Alter zZ der Tat an15.

6. Die besonderen Verfahrensarten 10 Auch bei Anwendung von JStrafrecht kann das vereinfachte JVerfahren (§§ 76–78) gegen Hw. nicht durchgeführt werden (Abs. II 1; RL 3), dagegen sind gegen Hw., gleichgültig, ob J- oder ErwRecht angewendet wird, das beschleunigte Verfahren (§§ 417 ff StPO; RL 3)16, Privat- und Nebenklage (§§ 374 ff, 395 ff StPO; RL 4 S. 1; Rn 12)17 und seit der Änderung des § 109 II 1 durch das 2. JuMoG v. 22.12.2006 das Adhäsionsverfahren (§§ 403 ff StPO) möglich, ebenso – wie bei J – wegen Ordnungswidrigkeiten die Verwarnung mit Verwarnungsgeld durch die Polizei (Vor § 76, 2). Nur wenn ErwRecht angewendet wird, ist auch das Strafbefehlsverfahren zulässig. Hierbei ist zu beachten, dass bei der Anwendung von JStrafrecht die Möglichkeit des Abse11 hens von der Verfolgung nach § 45 und die Einstellung des Verfahrens durch den Richter nach § 47 (Abs. II 1; Rn 4 u. 6) besteht. Nach dem durch das VerbrechensbekämpfungsG 1994 eingefügten Abs. II 3 gelten im be12 schleunigten Verfahren die Rechtsmittelbeschränkungen des § 55 nicht. Der Gesetzgeber hält sie ua wegen der vereinfachten Beweisaufnahme in dieser Verfahrensart für nicht vertretbar18. Auch für die Privatklage ist grds. der JRichter zuständig (§§ 107, 108 I, II, 33 I, 39, § 25 Nr. 1 GVG, § 109 RL 4 S. 2; anders bei Widerklage; § 80 II, RL 2). Das Gericht prüft wie auch bei der Nebenklage stets nach § 105 und ahndet entsprechend dem Ergebnis die Tat nach J- oder ErwRecht. JStrafe dürfte ausgeschlossen sein (§ 80 II 2 entsprechend: auch hier private Genugtuung). Im Adhäsionsverfahren (§§ 403 ff StPO) ist nach dem durch das 2. JuMoG v. 22.10.2006 angefügten Abs. II 4 § 74 auf eine Entscheidung über die Auslagen des Verletzten nach § 472a StPO nicht anzuwenden. Der Hw. kann also von seiner Kostenlast nach § 472a I StPO nicht befreit werden. Bei der Ermessensentscheidung nach § 472a II StPO ist das Anliegen des § 74 jedoch zu berücksichtigen19.

11 12 13 14 15 16 17 18

Noak ZRP 09, 17. BGH NJW 03, 152. StV 94, 606. OLG Düsseldorf NJW 95, 343. BGH 6, 254; 22, 24 u. BGH bei Herlan GA 63, 106 für Abs. I 4 u. § 50 III. OLG Stuttgart NStZ 05, 471; für eine verstärkte Nutzung des beschleunigten Verfahrens Putzke S. 149. BGH 15, 314. Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU u. FDP zum VerbrechensbekämpfungsG, BT-Drs. 12/6853, S. 40 f; dazu krit. König/Seitz NStZ 95, 5. 19 Begr. RegE, BT-Drs. 16/3038, S. 68. 658

Verfahren

§ 109

7. Strafbefehl Die JStA darf einen Strafbefehl gegen Hw. nur beantragen und der JRichter ihn nur erlassen, 13 wenn aufgrund sorgfältiger Ermittlungen zum Entwicklungsstand20 feststeht, dass die Voraussetzungen des § 105 I nicht vorliegen und ErwStrafrecht anzuwenden ist. Jedoch darf auch ein JRichter nicht grds. Strafbefehle gegen Hw. ablehnen, weil das Gesetz diese Verfahrensart vorsieht, wenn auch Zurückhaltung geboten ist21. Andererseits werden verfahrensökonomische Zwänge bei kleiner und Massenkriminalität in der Praxis nicht verkannt werden dürfen22. Bei Wiederholungstätern (Einf. 41–44), bei Taten mit erheblichem kriminellen Gehalt oder wo allg. nachteilige Folgen für den Hw. aus dem Verfahren entstehen könnten, ist das summarische Verfahren nicht geeignet. Da die JStA auch bei Hw. nach § 45 verfahren kann (Abs. II 1), zwingt die unbestreitbare Arbeitslast nicht zu Strafbefehlen bei Zweifeln über den Entwicklungsstand (Rn 6). Sonst ist beim Strafbefehlsverfahren zu beachten: Die JStA richtet den Strafbefehlsantrag gegen Hw. an den JRichter (§ 108 II, § 25 GVG). Ein Antrag an das JSchöffengericht scheidet aus; nach § 108 II iVm dem durch das RpflEntlG geänderten § 25 GVG ist der JRichter im Anwendungsbereich des Strafbefehlsverfahrens stets zuständig23. Ein Strafbefehl durch das JSchöffengericht kommt nur im Fall des § 408a StPO in Betracht. Eine Abgabe des Verfahrens durch den JRichter an den JRichter des Aufenthaltsortes gem. § 42 III ist erst nach Beginn der auf rechtzeitigen Einspruch anberaumten Hauptverhandlung möglich; denn erst ab diesem Zeitpunkt ist die JStA an die erhobene Anklage gebunden (näher § 42, 13)24. Hat ein ErwStrafrichter einen Strafbefehl gegen einen Hw. erlassen, so kann die JStA den Antrag noch bis zum Beginn der auf Einspruch hin anberaumten Hauptverhandlung zurücknehmen25 – danach mit Zustimmung des Angeklagten bis zur Verkündung des Urteils (§§ 411 III, 303 StPO) – und vor dem zuständigen JRichter neu erheben. Der ErwStrafrichter kann und muss je nach Verfahrensstand die Sache dem JRichter nach §§ 225a, 270, 209a Nr. 2a StPO zur Übernahme vorlegen (§ 41, 37 u. 43). Ein versehentlich gegen einen J ergangener Strafbefehl ist nicht nichtig (§ 79, 3)26. Abs. III schließt die – seit dem RpflEntlG gegen Erw. mögliche – Verhängung von Freiheitsstrafe gegen Hw. durch Strafbefehl aus27.

8. Nachträgliche EinheitsJStrafe Wurde bei Anwendung von JStrafrecht auf Hw. versäumt, eine einheitliche Maßnahme oder 14 EinheitsJStrafe mit bereits rechtskräftigen Verurteilungen nach allg. Strafrecht zu bilden, so ist dies im Verfahren nach § 66 nachzuholen (Abs. II 2). Vgl. § 105, 39; § 31, 37; § 32, 7–10; § 66, 12.

9. In verschiedenen Altersstufen begangene Taten Taten, die in verschiedenen Altersstufen begangen sind, unterfallen auch unterschiedlichen 15 Verfahrensvorschriften28. Wegen der Zuständigkeit Vor § 102, 2. Soweit möglich, sind für jede

20 21 22 23 24 25 26 27

AG Eilenburg ZJJ 20, 402. Dallinger/Lackner 33; Löwe/Rosenberg/Gössel26 Vor § 407 StPO 52. Zum Strafbefehlsverfahren gegen Hw. in der Praxis Bartels S. 122 ff. Meyer-Goßner/Schmitt § 408 StPO 5. Vgl. auch BGH 13, 186; Löwe/Rosenberg/Gössel26 Vor § 407 StPO 54. Meyer-Goßner/Schmitt § 411 StPO 8. BayObLG 57, 59. Dazu Beschlussempfehlung u. Bericht des Rechtsausschusses zum Entwurf eines RpflEntlG, BT-Drs. 12/3832, S. 45. 28 Zust. Eisenberg/Kölbel 8. 659

§ 109

3. Teil. Heranwachsende

Tat die für sie geltenden Vorschriften anzuwenden; so bleibt die für J verschärfte Anwesenheitspflicht für die Hauptverhandlung (§ 50 I) bei gleichzeitiger Verhandlung wegen später begangener Taten bestehen, weil für das JStrafrecht der persönliche Eindruck von wesentlicher Bedeutung ist. – Dagegen scheiden alle Verfahrensarten aus, die auch nur hinsichtlich einer der in einem Verfahren verbundenen Taten nicht zulässig wären; denn das Verfahren kann nach Verbindung nur einheitlich sein29. Eine entsprechende Anwendung des § 32 in der Weise, dass das Verfahren sich nach der Tat mit dem größten Gewicht richtet, kommt nicht nur deshalb nicht in Betracht, weil es an einer gesetzlichen Grundlage für die Ausschaltung der für die einzelnen Taten geltenden Vorschriften fehlt, sondern auch deshalb, weil das Schwergewicht ja erst im Verfahren festgestellt wird, die Verfahrensart aber vorher zu bestimmen ist. Auch bei Verbindung von Straftaten desselben Angeklagten ist deshalb ein Strafbefehl oder eine Privatklage für vor Vollendung des 18. Lebensjahres begangene Taten, das vereinfachte JVerfahren für nach dem genannten Zeitpunkt liegende Taten nicht möglich; notfalls muss die Verbindung wieder aufgehoben werden30. Bei Taten teils als J, teils als Hw. oder Erw. ist die Nebenklage abgesehen von den Fällen des § 80 III insgesamt unzulässig31. Bei Verbindung von Strafsachen gegen Hw. und J sind für jeden die für ihn geltenden Verfahrensvorschriften anzuwenden (Rn 7). Zur Frage des Ausschlusses der Öffentlichkeit Rn 5; § 48, 2, 11. Die Verfahrensgestaltung kann auch im Regelverfahren vor die Frage stellen, welche Verfahrensrechtsordnung gilt, etwa bei der Frage der Öffentlichkeit der Verhandlung. Hier muss abgewogen werden. Da die Interessenlage jener bei der Verbindung der Verfahren gegen mehrere Beschuldigte verschiedener Altersstufen entspricht, ist § 48 III entsprechend anzuwenden. Bei der Ausübung des Ermessens kann auch berücksichtigt werden, ob voraussichtlich die Verurteilung nach allg. oder JRecht erfolgen wird, weil im letzten Fall die publizitätsfeindlichen gesetzlichen Regelungen durch öffentliche Verhandlung weithin gegenstandslos würden. Zum Rechtsmittel vgl. § 48, 26. – Wegen der Modifizierung der §§ 232 I, 233 I StPO bei ErzMaßregeln u. Zuchtmitteln § 50, 2.

29 Dazu LG Hamburg B NStZ 89, 523. 30 Zust. Eisenberg/Kölbel 8; aA Ostendorf/Goerdeler/Rose 2, welche die jrechtlichen Vorschriften voll gelten lassen wollen, wenn eine Tat im JAlter mitverhandelt wird.

31 OLG Schleswig bei Döllel/Dreeßen SchlHA 02, 175; OLG Düsseldorf NStZ 03, 496; OLG Hamm ZJJ 05, 446; OLG Oldenburg NStZ 06, 521; OLG Hamburg StraFo 06, 117; KG NStZ 07, 44; aA Mitsch GA 98, 172 ff; für analoge Anwendung von § 32 Rohde (FN 7), S. 148; ähnlich Brocke NStZ 07, 8, 9. 660

Dritter Abschnitt Vollstreckung, Vollzug und Beseitigung des Strafmakels § 110 Vollstreckung und Vollzug (1) Von den Vorschriften über die Vollstreckung und den Vollzug bei Jugendlichen gelten § 82 Abs. 1, §§ 83 bis 93a für Heranwachsende entsprechend, soweit der Richter Jugendstrafrecht angewendet (§ 105) und nach diesem Gesetz zulässige Maßnahmen oder Jugendstrafe verhängt hat. (2) Für die Vollstreckung von Untersuchungshaft an zur Tatzeit Heranwachsenden gilt § 89c Absatz 1 und 3 entsprechend. 1. ./. – 2. ErwG: § 104, 1; § 112.

Richtlinien zu § 110 1.

2.

Wird gegen Heranwachsende das allgemeine Strafrecht angewendet, so gelten für die Vollstreckung die allgemeinen Vorschriften. Besuchen solche Heranwachsende eine Schule oder Berufsschule, so soll die Schulleitung von der Vollstreckungsbehörde über den Ort und die Zeit der von ihnen zu verbüßenden Freiheitsstrafe unterrichtet werden. Den Heranwachsenden kann auch aufgegeben werden, die Ladung der Schulleitung vorzulegen und von ihr auf der Ladung die Kenntnisnahme bescheinigen zu lassen. Die Unterrichtung kann unterbleiben, wenn die Freiheitsstrafe in der Freizeit oder während des Urlaubs bzw. der Ferien der Heranwachsenden vollzogen wird und ihnen aus der Mitteilung unerwünschte Nachteile für ihr Fortkommen entstehen könnten. Wegen der Möglichkeit des Vollzugs einer Freiheitsstrafe in der Jugendstrafanstalt wird auf § 114 und die Richtlinien dazu hingewiesen.

Die §§ 82 I, 83–89a (§ 82 II betrifft Hilfen zur Erz. nach §§ 9 Nr. 2, 12, also nie Hw.) gelten auch 1 für Hw. uneingeschränkt, wenn das Gericht JRecht angewendet und nach JGG zulässige Maßnahmen (auch §§ 6, 7) oder JStrafe verhängt hat (Abs. I). Andernfalls gelten für die Vollstreckung die allg. Vorschriften der StPO und der StVollstrO (RL 1; § 85 RL I 3) selbst dann, wenn eine Freiheitsstrafe nach § 114 in einer JStrafanstalt vollstreckt wird1. Ist gegen einen Hw. lediglich auf eine Unterbringung erkannt worden, richtet sich die Zuständigkeit für Folgeentscheidungen nach ErwRecht, wenn sich nicht aus dem Urteil ergibt, dass bei einer Schuldfeststellung JRecht anwendbar gewesen wäre2. Für den Vollzug von UHaft an zur Tatzeit Hw. gilt nach Abs. II § 89c I und III entsprechend. 2 Danach ist die UHaft bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres nach den Vorschriften für den Vollzug der UHaft an jungen Gefangenen und nach Möglichkeit in den für junge Gefangene vorgesehenen Einrichtungen zu vollziehen, ohne dass es darauf ankommt, ob auf den Hw. materielles JStrafrecht oder allg. Recht anzuwenden ist. Ist der Hw. im Zeitpunkt der Unterbringung 21, aber noch nicht 24 Jahre alt, kann die UHaft nach diesen Vorschriften und in diesen Einrichtungen vollzogen werden. Hiervon wird insbes. Gebrauch zu machen sein, wenn die Anwendung von materiellem JStrafrecht nahe liegt und der Reifungsprozess bei dem Hw. noch nicht abgeschlossen ist.3 Wo ein Hw. gem. § 105 nach JRecht abgeurteilt ist, müssen wegen des Fehlens anderer Be- 3 stimmungen für den Vollzug der bes. Maßnahmen des JGG zwangsläufig auch die Sondervor1 AA Ostendorf/Goerdeler/Rose 1. 2 OLG Celle NJW 75, 2254; OLG Hamm Beschl. v. 20.3.2008 – 3 [s] SbD I 7/08; aA Ostendorf/Goerdeler/Rose 2: im Zweifelsfall Anwendung von JStrafrecht.

3 Zur inzwischen geänderten Regelung des § 69 JVollzGB II B-W, wonach die bes. Vorschriften für junge Untersuchungsgefangene nur für zur Tatzeit Jugendliche gelten sollten, siehe die 12. Aufl. 661 https://doi.org/10.1515/9783110686401-142

§ 111

3. Teil. Heranwachsende

schriften des JGG (§§ 90, 93a) gelten (Abs. I). Ebenso gelten umgekehrt die allg. Vorschriften, wenn Strafen oder Maßnahmen des allg. Rechts gegen einen Hw. verhängt sind; doch schafft § 114 hier Ausnahmen hinsichtlich der Freiheitsstrafe (RL 2). Ist die Vollstreckungsbehörde zugleich Gnadenbehörde, so wirkt sich die Anwendung von JRecht auch auf deren Zuständigkeit aus4. 4 Bei jeder Vorschrift, die Vollstreckung oder Vollzug betrifft, ist nach dem Gesetzestext auf ihre Geltung gegenüber Hw. hingewiesen (Abkürzungsverzeichnis Teil I).

§ 111 Beseitigung des Strafmakels Die Vorschriften über die Beseitigung des Strafmakels (§§ 97 bis 101) gelten für Heranwachsende entsprechend, soweit der Richter Jugendstrafe verhängt hat. 1. ./. – 2. ErwG: § 104, 1; § 112.

1 Wird auf einen Hw. gem. § 105 materielles JRecht angewendet, gelten folgerichtig auch für ihn die Vorschriften über die Beseitigung des Strafmakels (vgl. auch § 101, 6) und, was § 111 nicht zu erwähnen brauchte, die bes. Registervorschriften des BZRG bei Eintragungen nach JStrafrecht. Die bes. örtliche Zuständigkeit für den Hw. nach § 98 I 2 folgt aus seiner Volljährigkeit, weil für ihn familiengerichtliche ErzAufgaben ausscheiden. 2 Bei Anwendung des ErwRechts gelten die entsprechenden Vorschriften des BZRG. Vgl. insgesamt Vor § 97. 3 Auf die Geltung gegenüber Hw. ist nach dem Gesetzestext in jeder einschlägigen Vorschrift hingewiesen (Abkürzungsverzeichnis Teil I).

4 Dallinger/Lackner 4; Eisenberg/Kölbel 3. 662 https://doi.org/10.1515/9783110686401-143

Vierter Abschnitt Heranwachsende vor Gerichten, die für allgemeine Strafsachen zuständig sind § 112 Entsprechende Anwendung 1 Die §§ 102, 103, 104 Absatz 1 bis 3 und 5 gelten für Verfahren gegen Heranwachsende entsprechend. 2Die in § 104 Abs. 1 genannten Vorschriften sind nur insoweit anzuwenden, als sie nach dem für die Heranwachsenden geltenden Recht nicht ausgeschlossen sind. 3Hält der Richter die Erteilung von Weisungen für erforderlich, so überläßt er die Auswahl und Anordnung dem Jugendrichter, in dessen Bezirk sich der Heranwachsende aufhält.

1. ./. – 2. ./.

Verfahren gegen Hw. kommen unter denselben Voraussetzungen vor das ErwGericht wie Verfahren gegen J (S. 1, §§ 102, 103 u. Vor § 102, 1). ErwGerichte sind also in Verfahren gegen Hw. (und J) ausschließlich in drei Fällen zuständig: (1) wenn eine Zuständigkeit des BGH oder OLG begründet ist (§ 102); (2) wenn der zum Verfahren gegen Hw. (und J) verbundene Erw. die Hw. (und J) vor die Wirtschaftsstraf- oder Staatsschutzkammer zieht (§ 103 II 2) und nicht die Zuständigkeit der Schwurgerichtskammer den Vorrang dieser Spezialkammern verdrängt (§ 74e GVG), was die JKammer für das Gesamtverfahren zuständig werden lässt (§ 41 I Nr. 1; § 41, 11; § 103, 6); (3) wenn ein Erw. gegen die Privatklage eines Hw. Widerklage erhebt (§ 80 II 1; § 80, 6; Vor § 102, 1). Über Verfahren wegen Taten in verschiedenen Altersstufen Vor § 102, 2. Wegen der Verbindung von Verfahren gegen J u. Hw. § 103, 3. Grundsatz ist auch (§ 109, 1) hier die Anwendung der Verfahrensvorschriften des allg. Rechts, soweit § 112 nichts anderes besagt. Vorschriften des JRechts gelten nur, wenn sie gem. §§ 105 I, 107, 108 I, 109 I 1, II, 110, 111 im Verfahren gegen Hw. vor dem JGericht anzuwenden wären und wenn das ErwGericht sie im Verfahren gegen J anwenden müsste (S. 2; § 104 I) oder könnte (§ 104 II; Grundgedanke des § 112 S. 2 entsprechend)1. Die Öffentlichkeit kann ausgeschlossen werden (§§ 104 II, 48 I), wenn das im Interesse des Hw. geboten ist (§ 109 I 5; § 109, 5). Stets – auch bei Anwendung von ErwStrafrecht – gelten entsprechend die §§ 38; 50 III (Einschränkung § 104 III; § 104, 5); § 43 (§ 109, 1)2; § 68 Nr. 1, 4 u. 5; § 73; § 109 I 2 u. 33. Bei Anwendung von JStrafrecht gelten nach S. 2 iVm § 104 I die §§ 45, 47 I Nr. 1–3, Abs. II, III; §§ 52, 52a; §§ 54 I, 55, 56; §§ 57–61b; §§ 62–64; § 65 (aber § 65, 4); § 66 (aber § 66, 13); §§ 74, 79 I, 81. Es gelten auch entsprechend §§ 105 II, III; 106 (Rn 8); §§ 110, 1114. Das ErwGericht muss die Auswahl und Anordnung von Weisungen wie die Entscheidungen nach Aussetzung zur Bew. (BewZeit, -Auflagen) dem JRichter übertragen, in dessen Bezirk der Hw. sich aufhält (S. 3; § 104 V; § 104, 10)5. Der zuständige JRichter muss übernehmen und ist für alle weiteren Entscheidungen, auch für eventuelle Weiterübertragung, zuständig6. Das ErwGericht ist mit Person und Sache nicht mehr befasst (vgl. § 58, 11 u. 12).

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Dallinger/Lackner 2. BGH 6, 326. Ebenso Eisenberg/Kölbel 5. Ähnlich Eisenberg/Kölbel 3, 6; Ostendorf/Goerdeler/Rose 2, 6. Dallinger/Lackner 16; Eisenberg/Kölbel 7; Ostendorf/Goerdeler/Rose 3. BGH 25, 68.

663 https://doi.org/10.1515/9783110686401-144

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§ 112

3. Teil. Heranwachsende

Die Geltung einer JGG-Vorschrift in einem Verfahren gegen einen Hw. vor einem ErwGericht ist insgesamt aus der nach dem Gesetzestext jedes Paragraphen angebrachten Kennzeichnung für die Geltung gegenüber Hw. und vor ErwGericht zu entnehmen (Abkürzungsverzeichnis Teil I). Zum UHaft-Vollzug § 110, 2. 8 Soweit das Hw.-Recht Verschärfungen des JRechts (§ 105 III) oder Milderungen des allg. Rechts (§ 106) vorsieht, gelten diese Vorschriften sinngemäß auch vor dem ErwGericht (§ 106, 4)7. Sie dienen nämlich nur der näheren Ausgestaltung des vom allg. Recht abweichenden materiellen JRechts für Hw. und fallen deshalb unter die durch § 112 gebotene entsprechende Anwendung des § 104 I Nr. 1. 7

7 Eisenberg/Kölbel 3. 664

Vierter Teil Sondervorschriften für Soldaten der Bundeswehr Schrifttum Becker Wehrstrafrecht u. Jugend, UJ 58, 54; Krieger Das Verhältnis des Allg. Strafrechts zum Wehrdisziplinar- u. Wehrstrafrecht, Diss. München 1968; Kuhnen Die Anwendung des JStrafrechts bei militärischen Straftaten, Diss. Freiburg 1970; Metz Der Bundeswehrangehörige vor dem JRichter, Zbl. 77, 94; Mrowka Minderjährige Soldaten, Hw. u. ihre militärischen Straftaten, UJ 66, 60; Potrykus Zur Entwicklung des JStrafrechts für Soldaten, RdJ 61, 278; ders. Jugend- u. wehrrechtliche Fragen, RdJ 64, 148; ders. Das Einführungsgesetz zum Wehrstrafgesetz, NJW 57, 814; ders. Das JGG u. die Bundeswehr, Zbl. 57, 229; Schnitzerling Der BewHelfer im militärischen Bereich, BewH 57, 95; Schwalm Das Einführungsgesetz zum Wehrstrafgesetz, JZ 57, 399. Vgl. auch Lingens/Korte WStG, 5. Aufl. 2012, zu § 1 u. Anmerkungen zu Art. 1 EinfG WStG.

Vor § 112a Das JGG gilt auch für Soldaten (§ 3 II WStG). Die §§ 112a ff sehen nur geringfügige Veränderungen des materiellen JRechts (§§ 112a), ein Anhörungsrecht des Disziplinarvorgesetzten in bes. Fällen (§ 112d) und Besonderheiten in der Vollstreckung (§ 112c) vor. Zum Vollzug des JA während der Wehrdienstzeit § 112c, 2. Es kommt darauf an, ob der Täter zZ des Urteils, der Vollstreckung oder des Vollzugs Soldat ist, nicht darauf, ob er zZ der Tat Soldat war. Soldat ist, wer in einem Wehrdienstverhältnis (§ 1 I 1 SoldG) aufgrund Wehrpflicht (§§ 4 I, 21, 23 I WpflG – Geltung nach § 2 WpflG nur im Spannungs- oder Verteidigungsfall) oder freiwilliger Verpflichtung (§§ 1 II, 37 ff SoldG; §§ 4 III, 54 ff WpflG) steht. Das Wehrdienstverhältnis beginnt bei einem nach § 59 ff SoldG zu Dientsleistungen herangezogenen Soldaten mit dem im Heranziehungsbescheid für den Dienstantritt festgesetzten Zeitpunkt, bei einem Berufssoldaten oder Soldaten auf Zeit mit dem Zeitpunkt der Ernennung und in allen übrigen Fällen mit dem Dienstantritt (§ 2 I SoldG). Das Wehrdienstverhältnis endet mit dem Ablauf des Tages, an dem der Soldat aus der Bundeswehr ausscheidet (§ 2 II SoldG). Ob der Dienst pünktlich angetreten wurde, ist ohne Belang. Zivildienstleistende unterfallen den §§ 112a–112e nicht (§ 1 Kriegsdienstverweigerungs-NeuordnungsG). Auf die Abweichungen oder auch nur auf Besonderheiten ist bei den einzelnen Vorschriften durch ein Sold. nach dem Gesetzestext hingewiesen (Abkürzungsverzeichnis Teil I). Soweit gem. § 2 II allg. Recht anzuwenden ist, gilt für Soldaten zunächst das WStG gem. § 3 I WStG. Bei Anwendung von JStrafrecht aber gilt folgende Reihenfolge: JGG gem. §§ 2 II JGG, 3 II WStG – WStG gem. § 3 I WStG – das sonstige allg. Strafrecht. Das JGG geht dem WStG vor und verdrängt es1; so sind etwa die bes. Regelungen über die Strafaussetzung nach § 14 WStG neben § 21 nicht anwendbar. Es gelten auch bei Anwendung von JStrafrecht nach § 2 II für J und Hw. mangels entgegenstehender Vorschriften des JGG die allg. Vorschriften der §§ 1–7 WStG (z.B. Handeln auf Befehl, aus Furcht, aus selbstverschuldeter Trunkenheit) und die bes. Deliktstatbestände der §§ 15–48 WStG (§ 2, 10). Die Regelungen über bes. Strafarten nach §§ 9–14a WStG hingegen werden durch die §§ 5, 105, 2 II JGG ausgeschlossen. Bei Anwendung allg. Rechts ist § 106 zu beachten. Bes. zusätzliche Mitteilungspflichten an militärische Stellen: MiStra 19, 20; vgl. auch MiStra 21 für Zivildienstleistende. Der Disziplinarvorgesetzte gibt nach § 33 III WDO bei Verdacht einer Straftat an die StA ab, wenn dies zur Aufrechterhaltung der militärischen Ordnung oder wegen der Art der Tat oder der Schwere des Unrechts oder der Schuld geboten ist.

1 LG Kassel Neue Zs. f. Wehrrecht 79, 34 mit Anm. Metz. 665 https://doi.org/10.1515/9783110686401-145

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§ 112a

4. Teil. Sondervorschriften für Soldaten der Bundeswehr

§ 112a Anwendung des Jugendstrafrechts Das Jugendstrafrecht (§§ 3 bis 32, 105) gilt für die Dauer des Wehrdienstverhältnisses eines Jugendlichen oder Heranwachsenden mit folgenden Abweichungen: 1. Hilfe zur Erziehung im Sinne des § 12 darf nicht angeordnet werden. 2. (weggefallen) 3. Bei der Erteilung von Weisungen und Auflagen soll der Richter die Besonderheiten des Wehrdienstes berücksichtigen. Weisungen und Auflagen, die bereits erteilt sind, soll er diesen Besonderheiten anpassen. 4. Als ehrenamtlicher Bewährungshelfer kann ein Soldat bestellt werden. Er untersteht bei seiner Tätigkeit (§ 25 Satz 2) nicht den Anweisungen des Richters. 5. Von der Überwachung durch einen Bewährungshelfer, der nicht Soldat ist, sind Angelegenheiten ausgeschlossen, für welche die militärischen Vorgesetzten des Jugendlichen oder Heranwachsenden zu sorgen haben. Maßnahmen des Disziplinarvorgesetzten haben den Vorrang. 1. Hw.-J: § 112a. – 2. ErwG: § 112e.

1 Zum Anwendungsbereich der §§ 112a ff Vorb. 1; zum Wehrdienstverhältnis (Soldat) Vorb. 2; zur Reihenfolge JGG – WStG – StGB Vorb. 4; zu den einzelnen Vorschriften des WStG Vorb. 5. Nur die Anordnung von Hilfen zur Erz. iSd § 12 ist verboten (Nr. 1). Schon bestehende 2 ErzBeistandschaft oder Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2 sollte nach Einberufung aufgehoben werden1, denn der militärische Vorgesetzte hat für den Soldaten entsprechend zu sorgen2. Wegen der Auswahl (§ 10) u. der erforderlichen Anpassung (§ 11) der Weisungen bei Solda3 ten (Nr. 3) § 10, 8; § 11, 2. Durch Weisungen und Auflagen darf der militärische Dienstbetrieb nicht gestört werden 4 (näher § 10, 8 u. § 15, 22 u. 23). Verletzt eine Weisung oder Auflage wehrrechtliche Vorschriften, so ist ohne die Rechtsmittelbeschränkung des § 55 I (soweit sie nicht lediglich im Umfang angefochten wird) das Rechtsmittel gegen die Entscheidung zulässig, in welcher sie getroffen wurde (§§ 55, 59 II, 63 II, 65 II). Der Disziplinarvorgesetzte oder eine sonstige Dienststelle der Bundeswehr können jedoch nicht anfechten, sondern nur bei JStA oder JGericht anregend vorsprechen3. Zur Abänderung von Weisungen und Auflagen an Soldaten § 11, 4 u. § 15, 23. Als bes. ErzMaßregel für Soldaten kannte das JGG die ErzHilfe durch den Disziplinarvor5 gesetzten (§§ 112 Nr. 2, 112b aF). Dieses kaum mehr angewendete Institut ist durch das Gesetz über die weitere Bereinigung von Bundesrecht von 8.12.20104 gestrichen worden, weil es als nicht mehr zeitgemäß und in der Umsetzung nicht praktikabel angesehen wird5. Möglich ist es, den J oder Hw. durch eine Weisung der Betreuung und Aufsicht durch einen Soldaten zu unterstellen. Verwarnungen sind bei Soldaten kaum angebracht (§ 14, 4)6. 6 Wegen der Auswahl der Auflagen (Nr. 3) § 15, 22; sie können abgeändert, von ihnen kann 7 ganz oder zum Teil befreit werden (§ 15 III 1; dortige Rn 20). Auch bei der Frage, ob gegen einen Soldaten JA (§ 16) zu verhängen ist, dürfen die militäri8 schen Belange nicht ganz unbeachtet bleiben7. 1 2 3 4 5 6 7

Potrykus NJW 57, 815. Schwalm JZ 57, 399; ähnlich Eisenberg/Kölbel 6. Ostendorf 9. BGBl. I 1864. Begr. RegE, BT-Drs. 17/2279, S. 39, 41. AA Eisenberg/Kölbel 31; Ostendorf 6 u. § 14, 4. Potrykus NJW 57, 817 entsprechend dem Grundgedanken des § 112c I; Eisenberg/Kölbel 31. 666

https://doi.org/10.1515/9783110686401-146

Vollstreckung

§ 112c

Für die Verhängung von JStrafe (§§ 17, 18) – mit oder ohne Strafaussetzung zur Bew. (§§ 21– 25) – und für die Aussetzung der Verhängung der JStrafe (§§ 27 ff) gelten keine Besonderheiten, auch nicht für Erlass, Widerruf und Nachverfahren (§§ 26a, 26, 30)8. Wegen der BewAuflagen (§§ 23, 29) ist § 112a Nr. 3 zu beachten. Über den BewHelfer u. seine Stellung (§§ 24, 25, 29) gegenüber Soldaten § 23, 3; § 25, 17–209. Ein wegen der gleichen Tat gegen einen Soldaten durch das Wehrdienstgericht oder idR durch den Disziplinarvorgesetzten mit Zustimmung des Truppendienstrichters verhängter und vollstreckter disziplinärer Arrest nach § 22 WDO ist voll auf die vom Strafgericht verhängte Freiheitsstrafe anzurechnen10. Dabei ist es gleichgültig, welche Entscheidung früher ergangen ist11 und ob der Arrest zugleich wegen eines anderen Vorfalls verhängt wurde12. Das Verbot der Doppelbestrafung (Art. 103 III GG) ist dadurch nicht berührt13. Auf eine Geldstrafe ist eine wegen derselben Tat verhängte Disziplinarbuße vollständig anzurechnen14. Man wird dies auch bei einem nach § 15 I Nr. 4 auferlegten Geldbetrag zumindest zu berücksichtigen haben15. Zur disziplinären Ausgangssperre gilt das in § 52a, 1 Gesagte16. Zum Rechtsmittel bei Nichtanrechnung § 55, 21. Zur Berücksichtigung strafrechtlicher Sanktionen bei Disziplinarmaßnahmen s. § 16 WDO. JA wird auf Ersuchen des Vollstreckungsleiters in Einrichtungen der Bundeswehr vollzogen (Art. 5 II EGWStG). Vollzugsregelung: BundeswehrvollzugsO v. 19.11.197217. Der jrichterliche Vollstreckungsleiter bleibt aber zuständig (§§ 82 I, 110 I). Für den Vollzug von Strafarrest nach dem WStG ist die Strafvollstreckungskammer gemäß § 462a StPO zuständig, gleich ob der Arrest in der JVA oder bei der Bundeswehr vollstreckt wird18, denn § 462a StPO gebraucht den Begriff Freiheitsstrafe in weiterem Sinne als § 38 StGB, umfasst auch JStrafe und Strafarrest. § 462a StPO tritt bei JStrafe wegen § 82 I JGG zurück, nicht aber im Wehrstrafrecht.

§ 112b (aufgehoben)

§ 112c Vollstreckung (1) Der Vollstreckungsleiter sieht davon ab, Jugendarrest, der wegen einer vor Beginn des Wehrdienstverhältnisses begangenen Tat verhängt ist, gegenüber Soldaten der Bundeswehr zu vollstrecken, wenn die Besonderheiten des Wehrdienstes es erfordern und ihnen nicht durch einen Aufschub der Vollstreckung Rechnung getragen werden kann. (2) Die Entscheidung des Vollstreckungsleiters nach Absatz 1 ist eine jugendrichterliche Entscheidung im Sinne des § 83. 8 Zur Strafbemessung u. Bew. bei Dienstflucht nach § 53 ZDG OLG Stuttgart Justiz 88, 454. 9 Vgl. auch Schnitzerling BewH 57, 95. 10 BVerfG NJW 67, 1651; BayObLG 69, 40; OLG Oldenburg Neue Zs. f. Wehrrecht 82, 157; vgl. auch OLG Frankfurt NJW 71, 852. 11 OLG Frankfurt Neue Zs. f. Wehrrecht 73, 194; OLG Hamm NJW 78, 1063; OLG Oldenburg aaO zur Anrechnung auf JA. 12 OLG Celle NJW 68, 1103. 13 BVerfG NJW 67, 1654. 14 OLG Hamm NJW 78,1063. 15 Grds. ebenso Eisenberg/Kölbel 32; Ostendorf/Schady 6 je zu § 52. 16 Allg. zum Verhältnis Kriminal- u. Disziplinarstrafe BVerfG NJW 70, 507. 17 BGBl. I 2205. 18 BGH NJW 76, 2356; OLG Stuttgart Justiz 77, 24. 667 https://doi.org/10.1515/9783110686401-148

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§ 112d

4. Teil. Sondervorschriften für Soldaten der Bundeswehr

1. Hw.-JRecht: §§ 112a, 112c. – 2. ErwG: § 112e.

1 Nur JA wegen einer vor Beginn des Wehrdienstes begangenen Tat ist ohne Rücksicht auf den Zeitpunkt der Verhängung nicht zu vollstrecken, solange die Besonderheiten des Wehrdienstes es erfordern (z.B. zusammenhängende Grundausbildung). Die Vollstreckung von Freizeitarrest wird meist möglich sein, ggf. wenigstens als Teilvollstreckung. Von der Vollstreckung darf nur dann abgesehen werden, wenn den Besonderheiten des Wehrdienstes nicht durch einen Aufschub der Vollstreckung Rechnung getragen werden kann, etwa weil die Vollstreckung dann unzulässig (§ 87 IV) oder jedenfalls erz. sinnlos (§ 87, 9) würde. – Zur Entscheidung Rn 3. 2 JA – gleich weswegen und wann verhängt – vollziehen während des Wehrdienstes auf Ersuchen des nach § 85 I, RL I 1 zu §§ 82–85 zunächst zuständigen Vollstreckungsleiters oder des Vollzugsleiters als nachträglichem Vollstreckungsleiter (zeitraubender Umweg) die Behörden der Bundeswehr (Art. 5 II EGWStG; vgl. auch § 22 III StrVollstrO). § 90 II bleibt hierdurch ausgeschlossen. Eine Übertragung der Vollstreckungsleiter-Zuständigkeit nach § 85 I findet nicht statt. Die Übersendung der Unterlagen erfolgt an den für die Bundeswehrarrestanstalt zuständigen Offizier. Der JA wird wie Strafarrest, also durch Freiheitsentziehung (§ 9 II WStG), vollzogen (Art. 5 II HS 2 EGWStG). Die Anwendung unmittelbaren Zwanges richtet sich nach den militärischen Vorschriften. Die Bundesregierung hat aufgrund Art. 7 EGWStG mit der Bundeswehrvollzugsordnung v. 29.11.19721 für den Vollzug von Freiheitsstrafe, Strafarrest, JA und Disziplinararrest durch Behörden der Bundeswehr Vorschriften erlassen, die sich auf die Art der Unterbringung, die Behandlung, die Beschäftigung, die Gewährung und den Entzug von Vergünstigungen und den Verkehr mit der Außenwelt beziehen. Nach § 5 der Bundeswehrvollzugsordnung wird JA bei Vollzug durch die Bundeswehrbehörden abweichend von § 25 JAVollzO nach Tagen berechnet. Schon eingeleiteter Vollzug darf bei zwischenzeitlicher Einberufung – unter Beachtung des Abs. I – in der Zivilanstalt, bei zwischenzeitlicher Entlassung in der Bundeswehranstalt zu Ende vollstreckt werden2. Die Entscheidung, ob JA vollstreckt wird, wenn die Tat noch in der Zivil-Zeit begangen 3 ist (Abs. I), ist eine jrichterliche Entscheidung (Abs. II). Sie ergeht in richterlicher Unabhängigkeit und unterliegt der sofortigen Beschwerde, die dem Disziplinarvorgesetzten – nicht verfahrensbeteiligt im prozessualen Sinne – nicht zusteht (vgl. § 112d, 2; auch § 83, 8)3. Hier ist auch der nächste Disziplinarvorgesetzte zu hören (§ 112d).

§ 112d Anhörung des Disziplinarvorgesetzten Bevor der Richter oder der Vollstreckungsleiter einem Soldaten der Bundeswehr Weisungen oder Auflagen erteilt, von der Vollstreckung des Jugendarrestes nach § 112c Absatz 1 absieht oder einen Soldaten als Bewährungshelfer bestellt, soll er den nächsten Disziplinarvorgesetzten des Jugendlichen oder Heranwachsenden hören. 1. Hw.-J und Hw.-JRecht: § 112a. – 2. ErwG: § 112e.

1 Um die bes. militärischen Gesichtspunkte berücksichtigen zu können, wenn eine Weisung oder Auflage erteilt (§ 112a Nr. 3), von der Vollstreckung des JA wegen der Besonderheiten des Wehrdienstes abgesehen (§ 112c) oder ein Soldat als BewHelfer bestellt (§ 112a Nr. 4) werden soll, ist der nächste Disziplinarvorgesetzte des J oder Hw. zu hören. Zur JGH Rn 3. Über die

1 BGBl. I 2205, zuletzt geändert durch G v. 16.3.1976 – BGBl. I S. 581. 2 Dallinger/Lackner 14. 3 Eisenberg/Kölbel 9. 668 https://doi.org/10.1515/9783110686401-149

Verfahren vor Gerichten, die für allgemeine Strafsachen zuständig sind

§ 112e

Eignung des Soldaten zum BewHelfer wird der Richter sich am besten auch noch auf andere Weise unterrichten. § 112d ist nur eine Soll-Vorschrift, ihre Verletzung ist unschädlich, falls nicht ausnahmsweise darin ein Verstoß gegen die allg. Aufklärungspflicht liegt1. Nur die Verfahrensbeteiligten können ggf. wegen des Verstoßes anfechten, nicht der Disziplinarvorgesetzte selbst; dieser kann sich nur an die StA wenden2. Die Anhörung des nächsten Disziplinarvorgesetzten macht die Einschaltung der JGH (§§ 38, 43, 109) auch bei hw. Soldaten nicht überflüssig3. Die Form der Anhörung richtet sich nach dem jeweiligen Stand des Verfahrens, also Vernehmung in der Hauptverhandlung als Zeuge, Besprechung mit Aktennotiz oder förmliche Niederschrift (je nach Bedeutung), ausnahmsweise schriftlicher Bericht. Nur die Anhörung wegen eines militärischen BewHelfers, die mit dem Verfahren selbst nichts zu tun hat, wird stets formlos möglich sein. Über diese gesetzliche Verpflichtung hinaus kann die Anhörung auch sonst geboten sein, bes. bei Änderungen bestehender Weisungen und Auflagen (§ 112a Nr. 3 S. 2)4, vor der Verhängung von JA (§ 112a, 8), bes. nach §§ 11 III, 15 III (ob Erfüllung dienstlich möglich war) oder bei Unterstellung eines J oder Hw. unter die Betreuung und Aufsicht eines Soldaten (§ 112a, 10). Ganz allg. ist Anhörung des Disziplinarvorgesetzten ein wichtiges Mittel der Persönlichkeitserforschung, weil dieser den Angeklagten im Regelfall aus einer längeren, intensiven Beobachtung kennt und auch genügend Vergleichsmöglichkeiten hat, um wichtige Anhaltspunkte für die Reife-Entscheidung nach § 105 geben zu können. Auch hier kann die Aufklärungspflicht verletzt werden, wenn der Disziplinarvorgesetzte nicht angehört wird. Die Bedeutung der Anhörung liegt darin, dass sie ein erz. gefährliches Neben- oder Gegeneinander richterlicher und militärischer Maßnahmen vermeiden hilft, unter dem regelmäßig der Soldat selbst am meisten zu leiden hätte. Wer nächster Disziplinarvorgesetzter ist, bestimmen §§ 27 ff WDO, grds. also der Kompaniechef, nämlich der unterste Vorgesetzte mit Disziplinargewalt, dem der Soldat unmittelbar unterstellt ist5. Bei einer Versetzung ändert sich der Disziplinarvorgesetzte.

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§ 112e Verfahren vor Gerichten, die für allgemeine Strafsachen zuständig sind In Verfahren gegen Jugendliche oder Heranwachsende vor den für allgemeine Strafsachen zuständigen Gerichten (§ 104) sind die §§ 112a und 112d anzuwenden. 1. Hw.-J: § 112a. – 2. ./.

Alle Sondervorschriften für Soldaten muss auch das ErwGericht beachten. Der in § 112e nicht 1 genannte § 112c betrifft nur die Vollstreckung des JA, der dem JRichter obliegt, soweit überhaupt ein Richter eingeschaltet ist; es ist dabei gleichgültig, ob ein JGericht oder ein ErwGericht den JA verhängt hat (§ 104, 1). Die Befugnisse des ErwGerichtes sind auch gegenüber Soldaten nicht erweitert. Dieses Ge- 2 richt darf keine ErzMaßregeln anordnen (§§ 104 IV, 112 S. 3, 112a Nr. 2) und bei Strafaussetzung zur Bewährung keine Nebenentscheidungen treffen (§ 104 V); näher § 104, 8–10; § 112, 4.

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Eisenberg/Kölbel 7; Ostendorf 4. Eisenberg/Kölbel 7; Schwalm JZ 57, 400; Potrykus NJW 57, 815. OLG Schleswig SchlHA 58, 341. Potrykus NJW 57, 815 hält hier die Anhörung entsprechend dem Gedanken der Vorschrift für stets geboten. Ebenso Eisenberg/Kölbel 4/5.

669 https://doi.org/10.1515/9783110686401-150

Fünfter Teil Schluß- und Übergangsvorschriften § 113 Bewährungshelfer 1 Für den Bezirk eines jeden Jugendrichters ist mindestens ein hauptamtlicher Bewährungshelfer anzustellen. 2Die Anstellung kann für mehrere Bezirke erfolgen oder ganz unterbleiben, wenn wegen des geringen Anfalls von Strafsachen unverhältnismäßig hohe Aufwendungen entstehen würden. 3Das Nähere über die Tätigkeit des Bewährungshelfers ist durch Landesgesetz zu regeln.

Die Vorschrift verpflichtet die Länder, durch Gesetz die Verhältnisse der hauptamtlichen Bew- 1 Helfer zu regeln. Dabei müssen die Ziele des JGG beachtet werden (§ 25, 15). Die hauptamtlichen BewHelfer sind in den meisten Ländern bei den Justizbehörden ange- 2 stellt, teilweise (so in Berlin) bei den Jugendbehörden1. Teilweise ist die BewHilfe Bestandteil eines einheitlichen Sozialen Dienstes der Justiz. In Baden-Württemberg war die Bewährungshilfe von 2007 bis 2016 der privaten Neustart gGmbH übertragen2, ab 2017 wird sie von der Landesanstalt Bewährungs- und Gerichtshilfe Baden-Württemberg wahrgenommen. Die BewHelfer haben regelmäßig eine Ausbildung als Sozialarbeiter/Sozialpädagoge3. Für die Zuständigkeit ist idR die Geschäftsverteilung maßgeblich4, wobei es zu einzelfallbezogenen Abweichungen kommt. Mit einer stadtteilorientierten BewHilfe wurden positive Erfahrungen gemacht5. Der einzelne BewHelfer hat nach DSS/Sonnen6 im Durchschnitt 70 Probanden zu betreuen, was allg. als zu hoch angesehen wird7.

§ 114 Vollzug von Freiheitsstrafe in der Einrichtung für den Vollzug der Jugendstrafe In der Einrichtung für den Vollzug der Jugendstrafe dürfen an Verurteilten, die das vierundzwanzigste Lebensjahr noch nicht vollendet haben und sich für den Jugendstrafvollzug eignen, auch Freiheitsstrafen vollzogen werden, die nach allgemeinem Strafrecht verhängt worden sind.

Richtlinien zu § 114 1.

2.

Zu Freiheitsstrafe Verurteilte unter 24 Jahre sind für den Jugendstrafvollzug geeignet, wenn die erzieherische Einwirkung in der Jugendstrafanstalt bei ihnen Erfolg verspricht und von ihrer Anwesenheit in der Jugendstrafanstalt Nachteile für die Erziehung der anderen Gefangenen nicht zu befürchten sind. Zu Freiheitsstrafe Verurteilte unter 21 Jahren werden in die Jugendstrafanstalt eingewiesen. Wenn jedoch in der Justizvollzugsanstalt eine besondere Abteilung für junge Gefangene besteht, kann die Einweisung in die Justizvollzugsanstalt erfolgen.

1 Zur Berliner JBewHilfe s. Brauchaus/Schleinecke/Gerlach/Miniers ZJJ 16, 235. 2 Dazu Dölling/Entorf/Hermann Kriminologisch-ökonomische Evaluation der fachlichen Qualität der Bewährungsu. Gerichtshilfe sowie des Täter-Opfer-Ausgleichs in Baden-Württemberg, 2015; dies. BewH 15, 249; Strobel/Schondelmaier in DVJJ-BW, Ambulante Maßnahmen u. BewHilfe im JKriminalrecht, 2010, S. 33 ff. 3 DSS/Sonnen 5. 4 Krit. hierzu Eisenberg/Kölbel 6. 5 Siehe Höll BewH 95, 110. 6 3. 7 Eisenberg/Kölbel 9. 671 https://doi.org/10.1515/9783110686401-152

§ 114

3. 4. 5.

6. 7.

5. Teil. Schluß- und Übergangsvorschriften

Zu Freiheitsstrafe Verurteilte, die das 21., aber noch nicht das 24. Lebensjahr vollendet haben, werden in der Regel in die Justizvollzugsanstalt eingewiesen. Hält die Justizvollzugsanstalt Verurteilte unter 24 Jahren für den Jugendstrafvollzug für geeignet, so überweist sie diese in die Jugendstrafanstalt und benachrichtigt hiervon die Strafvollstreckungsbehörde. Nach Anhörung des Vorsitzenden des Gerichts, das im ersten Rechtszug erkannt hat, und, falls sich der Verurteilte in Haft befindet, der Justizvollzugsanstalt kann die Strafvollstreckungsbehörde den zu Freiheitsstrafe Verurteilten, der das 21., aber noch nicht das 24. Lebensjahr vollendet hat, ausnahmsweise sogleich in die Jugendstrafanstalt einweisen, wenn seine Eignung für den Jugendstrafvollzug offenkundig ist. Dies gilt auch für Verurteilte unter 21 Jahren, die nach Nr. 2 Satz 2 in die Justizvollzugsanstalt einzuweisen wären. Die Entscheidung darüber, ob zu Freiheitsstrafe Verurteilte unter 24 Jahren in die Jugendstrafanstalt oder in die Justizvollzugsanstalt einzuweisen sind, wird dem Rechtspfleger nicht übertragen. Über die endgültige Übernahme von Verurteilten in den Jugendstrafvollzug und über ihr Verbleiben in der Jugendstrafanstalt entscheidet in allen Fällen die Leitung dieser Anstalt.

1 Die Vorschrift befasst sich mit dem Vollzug einer ErwStrafe. Sie wendet sich an den Strafrichter (auch JRichter) und StA (nicht an den Rechtspfleger; RL 6; § 25 StVollstrO; § 1 Nr. 3 VO v. 26.6.1970; Vor § 82, 8) als Vollstreckungsbehörde des allg. Rechts. Diese Vorschrift findet in der Hauptsache bei sog. Anschlussstrafen Anwendung; darüber hinaus werden kaum zu Freiheitsstrafen Verurteilte in JStrafanstalten eingewiesen1. § 114 betrifft nur Freiheitsstrafe und gilt auch für über 21-jährige, die das 24. Lebensjahr 2 noch nicht vollendet haben und durch das ErwGericht zu solcher verurteilt worden sind2, weil auch in dieser Altersgruppe noch Prozesse weiterer Persönlichkeitsentwicklung ablaufen können. Zu sehr hohen Freiheitsstrafen Verurteilte sind nie geeignet3. Andererseits sind JStrafanstalten auf eine Erz. über eine gewisse Zeit (§ 18 I 1) eingestellt und deshalb zum Vollzug kurzfristiger Freiheitsstrafen nicht geeignet. Deshalb kommen idR auch nur Freiheitsstrafen ab 6 Monaten in Betracht4. Ferner scheiden Verurteilte aus, die schon fast 24 Jahre alt sind und deshalb nur wenige Wochen oder Monate im JStrafvollzug verbleiben könnten (Rn 6)5. Entscheidend ist zunächst das Alter zZ der Vollstreckung. 3 Noch nicht 21 Jahre alte Verurteilte werden stets in die JStrafanstalt eingewiesen, falls 4 nicht eine bes. Abteilung für junge Männer in einer ErwStrafanstalt zur Verfügung steht (RL 2 S. 2; wegen einer Gegenausnahme RL 5 S. 2). Verurteilte im Alter von 21 bis etwa 23½ Jahren (Rn 7) werden in die ErwStrafanstalt einge5 wiesen (RL 3), falls nicht ausnahmsweise nach RL 5 S. 1 verfahren wird. Der Leiter der ErwVollzugsanstalt kann einen geeigneten Gefangenen (RL 1) unter Benachrichtigung der Vollstreckungsbehörde direkt in die JStrafanstalt überweisen (RL 4). Ob der nach Rn 4 oder 5 in eine JStrafanstalt Eingewiesene dort verbleibt oder (wieder) in 6 die ErwStrafanstalt kommt, entscheidet der Leiter der JStrafanstalt (RL 7), ein Verwaltungsbeamter, nach Prüfung der Eignung (RL 1)6; an die Eignung sind hier jedoch strengere Anforderungen zu stellen als bei zu JStrafe Verurteilten gem. § 89 b7. Die Entscheidung kann auch noch getroffen werden, wenn der Verurteilte schon längere Zeit in der JStrafanstalt war8. Die Entscheidung ist eine Verwaltungsentscheidung, die mit der Dienstaufsichtsbeschwerde (Generalstaatsanwalt, Ministerium) angefochten werden kann; gerichtliche Nachprüfung: Art. 19 IV GG; §§ 23 ff.

1 Böhm/Feuerhelm S. 266; Wohlfahrt StraFo 20, 276; Eisenberg/Kölbel 10, nach welchem sich je am 31.8. der Jahre 2012–2017 47, 65, 71, 60, 46 und 53 Gefangene gem. § 114 in den JStrafanstalten befanden; vgl. auch Matzke Der Leistungsbereich bei JStrafgefangenen, Diss. Berlin 1982, S. 18, 19. 2 Löwe/Rosenberg/Graalmann-Scheerer27 § 451 StPO 60. 3 Vgl. Ostendorf 3 „negative Dominanz“. 4 Krit. Eisenberg/Kölbel 5. 5 Potrykus B 3; Ostendorf 3; einschränkend Eisenberg/Kölbel 5. 6 Wohlfahrt StraFo 20, 276; aA Eisenberg/Kölbel 9: JRichter analog § 82 I 1. 7 Potrykus B 3; Eisenberg/Kölbel 10; Ostendorf 4. 8 Dallinger/Lackner 6. 672

Übergangsvorschrift

§ 121

EGGVG (vgl. § 92, 3)9. Hingegen ist die Ausnahme vom JStrafvollzug für 18–21-jährige (§ 89b) eine jrichterliche Entscheidung des Vollstreckungsleiters (§ 83 I 1). Sobald der in der JStrafanstalt Einsitzende 24 Jahre alt ist, muss er in eine ErwStrafanstalt 7 überführt werden, falls nicht nur ein unbedeutender Strafrest noch aussteht10. Dies gilt auch, wenn eine in der JStrafanstalt begonnene Berufsausbildung vollendet oder etwa das Vertrauensverhältnis zu einem Therapeuten nicht gestört werden soll. Eine Abweichung vom Vollstreckungsplan analog der Verlegungsvorschriften der Strafvollzugsgesetze ist ausgeschlossen, weil diese Vorschriften keinesfalls die Verlegung in eine JStrafstalt gestatten11. Helfen kann nur eine langfristige Vollzugsplanung, welche rechtzeitige Anträge nach § 89b gestattet. Die Regelung des § 114 beseitigt zwar die durch § 105 vorgenommene Differenzierung häu- 8 fig, wird aber umgekehrt durch die der Entscheidung nach § 105 zwangsläufig anhaftenden Unsicherheiten gerechtfertigt12. Im Übrigen hat sich erwiesen, dass gerade in der durch § 114 bezeichneten Altersgruppe noch persönlichkeitsfördernde Entwicklungen stattfinden (Einf. 127)13, die durch eine Verlegung in die ErwAnstalt gestört würden, während die fortlaufende Betreuung in der JStrafanstalt eine wesentlich günstigere Ausgangsposition sichert. Von § 114 wurde bisher in der Praxis nur wenig Gebrauch gemacht (Rn 1).

§ 115 (aufgehoben)

§ 116 Zeitlicher Geltungsbereich Das Gesetz wird auch auf Verfehlungen angewendet, die vor seinem Inkrafttreten begangen worden sind. Diese Übergangsbestimmung ist weitgehend gegenstandslos (Ausnahme: nicht verjährbare 1 Mordtaten, §§ 78 II, 211 StGB)1. Die Vorschrift gilt nicht für die neuen Bundesländer. Zu den Übergangsregelungen im Eini- 2 gungsvertrag für vor dem Beitritt begangene Taten § 1, 15.

§ 117 bis § 120 (aufgehoben)

§ 121 Übergangsvorschrift (1) Für am 1. Januar 2008 bereits anhängige Verfahren auf gerichtliche Entscheidung über die Rechtmäßigkeit von Maßnahmen im Vollzug der Jugendstrafe, des Jugendarrestes und der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entzie-

9 Wohlfahrt StraFo 20, 276. 10 Dallinger/Lackner 3; Eisenberg/Kölbel 4; Ostendorf 2. 11 Eisenberg/Kölbel 4. 12 Brunner NStZ 83, 218. 13 DVJJ, Denkschrift über die kriminalrechtliche Behandlung junger Volljähriger, 1977, S. 59. 1 Zu den Wirkungen einer vor Geltung dieses JGG verhängten Strafe gegen einen Hw. BGH NJW 56, 1408. 673 https://doi.org/10.1515/9783110686401-156

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5. Teil. Schluß- und Übergangsvorschriften

hungsanstalt sind die Vorschriften des Dritten Abschnitts des Einführungsgesetzes zum Gerichtsverfassungsgesetz in ihrer bisherigen Fassung weiter anzuwenden. (2) Für die Verfahren, die vor dem 1. Januar 2012 bei der Jugendkammer anhängig geworden sind, ist § 33b Absatz 2 in der bis zum 31. Dezember 2011 geltenden Fassung anzuwenden. (3) Hat die Staatsanwaltschaft in Verfahren, in denen über die im Urteil vorbehaltene oder die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung zu entscheiden ist, die Akten dem Vorsitzenden des zuständigen Gerichts vor dem 1. Januar 2012 übergeben, ist § 74 f des Gerichtsverfassungsgesetzes in der bis zum 31. Dezember 2011 geltenden Fassung entsprechend anzuwenden. 1 Abs. I enthält eine Übergangsregelung im Zuge der Neuregelung des Rechtsschutzes gegen Vollzugsmaßnahmen. Für die am 1.1.2008 bereits anhängigen Verfahren verbleibt es danach bei der Zuständigkeit der Oberlandesgerichte nach den §§ 23 ff EGGVG. Auch die Neuregelungen im GKG sind nur auf Rechtsbehelfe anzuwenden, die nach diesem Datum anhängig werden. 2 Abs. II und III enthalten Übergangsvorschriften hinsichtlich der am 1.1.2012 in Kraft getretenen Neuregelung der Besetzungsreduktion bei der großen JKammer.

§ 122 bis § 124 (aufgehoben)

§ 125 Inkrafttreten Dieses Gesetz tritt am 1. Oktober 1953 in Kraft.

Anhang nach § 125 Das Jugendschutzverfahren für Jugendgericht und Jugendkammer Vorbemerkungen JGerichte und JKammer werden in weitem Umfang mit sog. JSchutzsachen befasst, so dass es angebracht erscheint, an dieser Stelle eine zusammenfassende Darstellung der bes. Problematik zu bringen. Auf die §§ 26, 74b GVG wird hingewiesen.

Übersicht 1. 2. 3. 4. 5.

Begriff 1 5 JGericht und ErwGericht; JSchutzkammer Glaubwürdigkeit kindlicher und jugendlicher 17 Zeugen; Sachverständige 24 Zeugnisverweigerungsrecht 26 Zustimmung der gesetzlichen Vertreter

6. 7. 8.

Körperliche und Glaubwürdigkeitsuntersu30 chung 32 Auskünfte gegenüber Sachverständigen Nichterscheinen kindlicher Zeugen und Schwei33 gepflicht des Arztes

674 https://doi.org/10.1515/9783110686401-159

Das Jugendschutzverfahren für Jugendgericht und Jugendkammer

Anh nach § 125

1. Begriff JSchutzsachen sind Verfahren wegen Verstößen gegen Strafvorschriften, die dem JSchutz oder der JErziehung dienen, sowie Verfahren wegen Straftaten, durch die ein Kind (§ 19 StGB, also unter 14 Jahren) oder ein J (§ 1 II entsprechend) – auch mittelbar – verletzt oder – nur unmittelbar – gefährdet worden ist (§ 26 I GVG). Nicht gefordert wird, dass sich der Unrechtsgehalt des Straftatbestandes nur oder in bes. Weise gegen Kinder oder J richtet1. Der Begriff des Verletzten (vgl. § 373b StPO) ist weit zu fassen; doch ist es notwendig, dass die durch die verletzte Strafvorschrift geschützten Interessen des Kindes oder J beeinträchtigt werden: also Verletzung seines körperlichen, geistigen oder sittlichen Wohls, z.B. Körperverletzung (insbes. § 225 StGB) oder Abgabe oder Verbreitung von Betäubungsmitteln (§§ 29a I Nr. 1, 30 I Nr. 2 BtMG), von Gesundheit, Freiheit, Ehre, auch Beeinträchtigung der charakterlichen Entwicklung2. Hierher gehören auch Verletzungen der Vermögensrechte des Kindes (z.B. Verletzung der Unterhaltspflicht), aber nicht Vermögensdelikte gegen die Eltern des Kindes, die nur mittelbar dessen vermögensrechtliche Interessen beeinträchtigen3, auch nicht Tötung des Ernährers. Die Tat eines Erw., durch die ein Kind ums Leben gekommen ist, begründet die Zuständigkeit der JGerichte nicht4, da es dabei zur Beurteilung keiner bes. jrichterlichen Erfahrung bedarf. Täter kann nur ein Erw. sein; J und Hw. kommen schon nach den §§ 33 I, 107 vor das JGericht. Verletzter kann nur ein Kind (§ 19 StGB, also unter 14 Jahren) oder J (§ 1 II entspr.) sein. Straftaten gegen Hw. sind nur JSchutzsachen, wenn eine JSchutzvorschrift auch Hw. schützt. Im Wege der Geschäftsverteilung können den JGerichten alle Verfahren gegen Erw., also auch Verfahren wegen Taten, durch die Hw. verletzt wurden, übertragen werden, weil die JGerichte für den Erw. nur Spruchkörper ihres Gerichts sind; doch wäre eine solche Geschäftsverteilung wenig sinnvoll. JSchutzsachen sind nach § 26 I GVG auch Vorschriften, die dem JSchutz oder der JErz. dienen, und zwar auch dann, wenn sie sich gegen Hw. richten5. Es sind dies insbes. die §§ 174 ff; 180, 182, 235, 236 StGB, die Vorschriften des JArbeitsSchutzG v. 12.4.19766, das JSchutzG v. 23.7.20027 und die Vorschriften über die Schulpflicht.

1

2 3

4

2. JGericht und ErwGericht; JSchutzkammer In JSchutzsachen sind die JGerichte wahlweise neben den ErwGerichten zuständig. Diese Dop- 5 pelzuständigkeit verstößt nicht gegen Art. 101 I 2 GG8. Gleichwohl darf die StA nur dann zum JGericht anklagen, wenn die Voraussetzungen des § 26 II GVG vorliegen und die bes. Sachkunde und Erfahrung der JGerichte, gerade im Umgang mit jungen Menschen, genützt werden soll (vgl. auch Rn 13)9. Nach § 26 II GVG soll die StA Anklage beim JGericht erheben, wenn damit die schutzwürdigen Interessen von Kindern und J, die in dem Verfahren als Zeugen benötigt werden, besser gewahrt werden können; im Übrigen nur, wenn aus sonstigen Gründen eine Verhandlung vor dem JGericht zweckmäßig erscheint. Nach dem LG Oldenburg10 ist die Zustän-

1 Meyer-Goßner/Schmitt § 26 GVG 2. 2 Löwe/Rosenberg/Siolek26 § 26 GVG 4. 3 Löwe/Rosenberg/Siolek26 aaO. 4 OLG Hamm JMBl. NRW 63, 34; OLG Düsseldorf JMBl. NRW 63, 166; Meyer-Goßner/Schmitt § 26 GVG 2. 5 BGH 13, 53; Meyer-Goßner/Schmitt § 26 GVG 3. 6 BGBl. I 965; ÄndG v. 21.6.2005, BGBl. I 1666. 7 BGBl. I 2730; geändert durch G v. 31.10.2008, BGBl. I 2149. 8 BGH 13, 297; aA Arnold Die Wahlbefugnis der StA bei Anklageerhebung insb. in JSchutzsachen, 2007, S. 211. 9 BVerfG NStZ 07, 40. 10 ZJJ 10, 428 mit krit. Anm. Sommerfeld. 675

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5. Teil. Schluß- und Übergangsvorschriften

digkeit des JGerichts bereits gegeben, wenn die Vernehmung eines Kindes nicht völlig ausgeschlossen ist. Auch bei Vorschriften zum Schutze der Jugend und über die Schulpflicht wird nicht unbesehen das JGericht belastet und von seiner eigentlichen Arbeit abgezogen werden dürfen. Die StA kann auch bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 26 II GVG an das ErwGericht anklagen11. Drängt sich jedoch die jschutzspezifische Beurteilungskompetenz des JGerichts auf, ist vor diesem Anklage zu erheben12. Das JGericht aber wird durch die Anklage nicht gebunden (näher Rn 13–16). Nach § 26 III GVG gelten die Abs. I und II der Vorschrift auch für die Beantragung gerichtlicher Untersuchungshandlungen im Ermittlungsverfahren. 6 Die JGerichte entscheiden in ihrer durch das JGG (§§ 33–33b, 35, 37) vorgeschriebenen Besetzung mit JSchöffen; ein zweiter Berufsrichter kann also beim JSchöffengericht auch in JSchutzverfahren nicht zugezogen werden. Auch die JStA wirkt mit (§ 36, 11). Die sachliche (§§ 26 I, 74b GVG) und örtliche Zuständigkeit richtet sich nach allg. Recht (§§ 24, 25, 73, 74 GVG; 7 ff StPO)13. Statt zum (Erw.)Einzelrichter kann also zum JRichter, statt zum (Erw.)Schöffengericht zum JSchöffengericht und statt zur (großen) Strafkammer oder zum Schwurgericht14 zur (großen) JKammer angeklagt werden; die Zuständigkeit der JKammer15 ist also nicht erweitert; doch ergeben sich gewisse Abweichungen daraus, dass es ein erweitertes JSchöffengericht nicht gibt und die §§ 40 II, 41 I Nr. 2 hier nicht gelten. Eröffnet die JSchutzkammer des LG unter offensichtlichem Verstoß gegen §§ 74 I, 74b GVG das Hauptverfahren vor sich in einem vor das Amtsgericht gehörenden Fall des § 176 I StGB aF, in dem die Erheblichkeitsschwelle des § 184h Nr. 1 StGB nur gerade eben überschritten ist, handelt sie willkürlich und entzieht sie den Angeklagten seinem gesetzlichen Richter16. – Auch in JSchutzsachen muss das ErwGericht gegen Erw. stets tätig werden, wenn im allg. Recht weder das AG noch die Strafkammer zuständig sind, sondern Staatsschutzkammer, Wirtschaftsstrafkammer, OLG. Es gelten die allg. Verfahrensvorschriften. Gegen Urteile des JRichters oder des JSchöffengerichts ist die JKammer Berufungs- und Beschwerdegericht. Umgekehrt entscheidet die Strafkammer über Urteile des (Erw.)Einzelrichters und des (Erw.)Schöffengerichts. Über Berufungen gegen Urteile des JRichters entscheidet nach § 33b I die kleine JKammer. Wegen der Rechtshilfe im JSchutzverfahren § 34, 3. 7 Eine bes. JSchutzkammer neben der JKammer kann in manchen Sachen die JKammer entlasten17. Hat aber die StA gegen einen Erw. gem. § 26 GVG Anklage vor dem JRichter oder dem JSchöffengericht erhoben, ist für die Berufung die JKammer, nicht die JSchutzkammer, zuständig18, was viel der Entlastung wieder zunichte macht. Darüber hinaus werden, auch wenn eine JSchutzkammer arbeitet, weiterhin Anklagen zur JKammer erhoben werden müssen, um bei notwendiger Vernehmung von Kindern oder J als Zeugen die bes. Erfahrung und Sachkenntnis der JKammer, deren Tätigkeit als Berufungsgericht in solchen Verfahren und deren Besetzung mit JSchöffen (§ 35) zu nützen. Die Konzentrierung solcher Verfahren in der JKammer bei erfahrenen Richtern mit bewährter Verhandlungsführung erleichtert die Vernehmung kindlicher und j. Zeugen, die durch eine Sexualstraftat geschädigt wurden, und hilft sekundäre Schädigungen zu vermeiden. Die gesammelte Erfahrung einer JKammer kann oft auch die Beiziehung eines Sachverständigen ersparen19. Nach dem OLG Bamberg20 gebietet es in sog. „Kinderschänderprozessen“ das Kindeswohl, dass nur eine JSchutzkammer befasst wird, und können dadurch be-

11 12 13 14 15 16 17 18 19 20

BGH 13, 300. LG Zweibrücken NStZ-RR 13, 56. Eisenberg/Kölbel § 41, 3. BGH 42, 39 = JR 96, 390 mit zust. Anm. Brunner = NStZ 96, 346 mit abl. Anm. Katholnigg. Vgl. auch BGH JR 55, 190. BGH NJW 92, 2104; StV 95, 620. Vgl. Löwe/Rosenberg/Siolek26 § 74b GVG 1. BGH 22, 48; OLG Saarbrücken NJW 65, 2313. BGH 3, 52; BGH NJW 61, 1636. NJW 96, 1222. 676

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dingte Verzögerungen nicht zur Bejahung einer Verletzung des Gebots zur bes. Beschleunigung in Haftsachen führen. Solche Verfahren machen es bes. wichtig, den Verletzten zu schützen21. Wegen der bes. 8 Schutzbedürftigkeit von Opfer-Zeugen kann die StA nach § 24 I Nr. 3 GVG Anklage beim LG erheben22. Die StA hat in jedem Stadium des Verfahrens darauf zu achten, dass die für den Verletzten entstehenden Belastungen möglichst gering gehalten werden (RiStBV 4c), was insbes. für seine Vernehmung als Zeuge (RiStBV 19a) und für den Umfang der Unterrichtung der Öffentlichkeit gilt (RiStBV 23 I 3, 129 I 2)23. Bei der Vernehmung eines Zeugen müssen Richter (und StA) den schmalen Weg zwischen dem gebotenen Schutz des Zeugen und der Grenze finden, welche eine Behinderung der Verteidigung oder deren nicht auszuschließenden Anschein anzeigt (§ 338 Nr. 8 StPO). Besonderes Gewicht hat die Vorschrift des § 241a StPO, welche die Vernehmung von Zeugen unter 18 Jahren grds. dem Vorsitzenden vorbehält, weil gerade die möglicherweise insistierenden Vorhalte des Verteidigers oder gar Bedrängung durch den Angeklagten zu sekundärem Schaden führen können. Ergänzend gestattet § 172 Nr. 4 GVG bei Vernehmung eines Zeugen unter 18 Jahren die Öffentlichkeit auszuschließen, wobei zur Begründung der bloße Hinweis auf diese Vorschrift genügt24, und erlaubt § 171b GVG den Ausschluss der Öffentlichkeit zum Schutz der Privatsphäre eines Prozessbeteiligten, Zeugen oder Verletzten (s. auch RiStBV 131a). Unter den Voraussetzungen des § 247 StPO kann während der Vernehmung des Zeugen die Entfernung des Angeklagten aus dem Sitzungssaal angeordnet werden. Die Anordnung kann jedoch nicht allein auf den Wunsch eines Zeugen, nicht in Gegenwart des Angeklagten aussagen zu müssen25, und auch nicht darauf gestützt werden, dass ein gemäß § 1897 BGB bestellter Betreuer der Vernehmung des Betreuten in Anwesenheit des Angeklagten widersprochen hat26. Die Anordnung muss stets durch einen förmlichen Gerichtsbeschluss erfolgen, auch wenn alle Verfahrensbeteiligten mit der Anordnung einverstanden sind27. Den Einsatz der Videotechnologie bei Zeugenvernehmungen ermöglichen die §§ 58a, 255a, 58b, 168e und 247a StPO28. Nach § 247a StPO darf die Videovernehmung nur in der dort geregelten Form erfolgen (sog. Englisches Modell); andere Formen, insbes. solche, bei denen sich der Vorsitzende mit dem Zeugen außerhalb des Sitzungssaals befindet und ihn dort befragt (sog. Mainzer Modell), sind nicht zulässig29. Ist eine unmittelbare mündliche Verständigung mit dem Zeugen nicht möglich (z.B. weil dieser schwer hörgeschädigt und geistig retardiert ist), kann das Gericht eine dem Behinderten vertraute Person als Hilfsperson hinzuziehen; ob diese entsprechend einem Dolmetscher zu verpflichten ist, steht im Ermessen des Gerichts30. Die wichtigen Vorschriften zum Schutz des Verletzten und zur Wahrung seiner Rechte als 9 nun selbständiger Prozessbeteiligter, welche die Opfer- und Zeugenschutzgesetze in die StPO eingefügt haben, werden im Übrigen bei den entsprechenden Vorschriften des JGG auf ihre Gel21 Kreutz UJ 01, 18. 22 Dazu OLG Karlsruhe NStZ 11, 47; OLG Celle NStZ 17, 495. 23 Zur Gestaltung des Ermittlungsverfahrens Gebhardt/Eckhardt/Reckewell FuR 95, 124; zu Sonderdezernaten der StA Jäger Das staatsanwaltliche Sonderdezernat „Gewalt gegen Frauen“, 2000. BGH 27, 117 u. 187. BGH NStZ 15, 103. BGH NStZ 01, 46. BGH NStZ 18, 739. Vgl. dazu Dieckerhoff Audiovisuelle Vernehmung kindlicher Opferzeugen sexuellen Missbrauchs im Strafverfahren, 2008; Helmig Anwendbarkeit u. Zweckmäßigkeit der Videotechnik zum Schutz von Zeugen vor Belastungen durch das Strafverfahren, 2000; Scheumer Videovernehmung kindlicher Zeugen, 2007; Schmoll Videovernehmung kindlicher Opfer im Strafprozeß, 1999; Thoma Unmittelbarer Opferzeugenschutz, 2003; Vogel Erfahrungen mit dem ZeugenschutzG, 2003 u. die Übersicht bei Dölling in Egg, Hrsg., Sexueller Mißbrauch von Kindern, 1999, S. 38 f. Zur Anwendung des § 247a StPO bei im Ausland befindlichen Zeugen s. BGH 45, 188. 29 BGH NJW 17, 181. 30 BGH 43, 62. Zur Zuziehung des JAmtes DIV-Gutachten v. 6.3.1990, ZBl. 90, 311. Zum Umgang mit geistig behinderten Kindern u. J im Strafverfahren s. Stiller/Doll ZJJ 18, 205.

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tung im JGG-Verfahren überprüft und kommentiert. Die Fundstellen im Kommentar sind bei § 80, 16 gesammelt. 10 Lempp31 sieht als Belastung nach gewaltfreier sexueller Straftat weniger diese selbst an als vielmehr die nachfolgende Reaktionsweise der Erw., von den vorwurfsvollen Eltern über die misstrauisch erwarteten jpsychiatrischen Untersuchungen hin zu den oft quälenden Befragungen vor Gericht. Krück32 zeigt jedoch, dass die Wirkungen gewaltloser Sexualdelikte auf minderjährige Opfer sehr unterschiedlich sind und teilweise erhebliche Schädigungen eintreten. Arntzen33 kommt nach Untersuchungen in über 500 Begutachtungsfällen zu dem Ergebnis, dass entgegen vielfachen Erwartungen die Vernehmungen dann keine seelischen Schäden herbeiführen, wenn sie ruhig und behutsam vorgenommen werden. Schäden würden aber durch die Begleitumstände verursacht, wenn sexualgeschädigte Kinder und J in der Verhandlung dem Angeklagten (dem vermutlichen Täter) gegenübergestellt werden und sich mit ihm auseinandersetzen müssen, sodass das Kind seinerseits den unmittelbaren persönlichen Kontakt mit dem Angeklagten nicht vermeiden kann. Das gilt für direkte Fragen des Angeklagten, vor allem aber für Demonstrationen in körperlicher Nähe mit dem Angeklagten (z.B. Augenschein über Vergewaltigung im Kfz), was fast einem Wiedererleben gleichkommt. Nach Volbert/Pieters34 legen die wenigen vorhandenen empirischen Untersuchungen die Schlussfolgerung nicht nahe, dass Strafverfahren bei sexuell missbrauchten Kindern ebenso schwere Schädigungen auslösen wie die Straftaten selbst35. Ob eine ErwStrafkammer, der mangels Auslastung JSchutzsachen idR nur zusätzlich zu allg. Strafsachen zugeteilt werden können, derart Erfahrungen sammeln kann wie JKammern, ist zumindest fraglich. Demgegenüber darf nicht verkannt werden, dass die JGerichte und auch die JKammern 11 durch JSchutzsachen nicht ihrer eigentlichen Aufgabe in der JKriminalrechtspflege allzu sehr entzogen werden sollen. Die „Übung“ einer JKammer, JSchutzsachen nicht bei sich zu eröffnen, wenn Kinder als Zeugen zu vernehmen sind, es sei denn, das Persönlichkeitsbild eines j. Zeugen weiche von der Norm ab, ist unzulässig, weil die Ausklammerung j. Zeugen willkürlich und mit

31 32 33 34 35

NJW 68, 2265 ff. MKrim. 89, 31. Institut für Gerichtspsychologie Bochum; Untersuchungsergebnis v. 15.10.1969. Zur Situation kindlicher Zeugen vor Gericht, 1993, S. 7. Zu den durch den sexuellen Missbrauch von Kindern verursachten Schäden vgl. Bange Die dunkle Seite der Kindheit, 1992; Diesing Psychische Folgen von Sexualdelikten an Kindern, 1980; Groffmann in Blau/Müller-Luckmann, Hrsg., Gerichtliche Psychologie, 1962, S. 148; Wilmer Sexueller Mißbrauch von Kindern, 1996, S. 119 ff; Kröber FPPK 18, 303. Vgl. auch BGH StV 98, 333: Es besteht kein allg. Erfahrungssatz dahingehend, dass für kindliche Opfer eines sexuellen Missbrauchs u. ihre Angehörigen sich das Leben über längere Zeiträume völlig verändert. Zur Phänomenologie des sexuellen Kindesmissbrauchs zusammenfassend Dölling (Rn 28) S. 22 ff; Wilmer aaO, S. 73 ff. Zur Vernehmung minderjähriger Zeugen u. zur Glaubwürdigkeitsbegutachtung s. Abels in Nass, Hrsg., Kinderkriminalität, 1969, S. 130; Arntzen Psychologie der Kindervernehmung, 1970; ders. Psychologie der Zeugensaussage, 4. Aufl. 2007; Denger ZRP 91, 48; Ell Zbl. 92, 142, 189; Endres/Scholz NStZ 94, 466; Scholz/Endres NStZ 95, 6; Fegert, Hrsg., Begutachtung sexuell mißbrauchter Kinder, 2001; Greuel ua Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998; Jansen Zeuge u. Aussagepsychologie, 2. Aufl. 2011; Steller/Volbert in dies., Hrsg., Psychologie im Strafverfahren, 1997 S. 12; Volbert/Erdmann MKrim 96, 238; Volbert/Steller/Gabow Das Glaubhaftigkeitsgutachten, in Handb. d. For. Psychiatrie Bd. 2, 2010, S. 623; Zschockelt/Wegner NStZ 96, 305; die Beiträge von Steller ua in MKrim. 97, 274 ff; Blumenstein DVJJ-J 02, 28. Fegert/Gerke/Rassenhofer Nervenheilkunde 18, 525; die Beiträge von Volbert/Schemmel/Tamm ua in FPPK 19, 108 ff; Steller FPPK 20, 188; Ebner/Pfundmeier ZJJ 21, 180. Zum Einfluss von Glaubwürdigkeitsgutachten auf die Entscheidungen von StA u. Gericht Langen Der Einfluß der Ergebnisse aussagenpsychologischer Gutachten auf die Entscheidungen von StA u. Gericht, 2000 S. 147: In 26 untersuchten Verfahren keine Abweichung. Zum Ablauf von Strafverfahren mit kindlichen Opferzeugen Gunder Der Umgang mit Kindern im Strafverfahren, 1999; Kipper Schutz kindlicher Opferzeugen im Strafverfahren, 2001. Zur Opfer- u. Zeugenbetreuung Blum Gerichtliche Zeugenbetreuung im Zeichen des Opferschutzes, 2005; Kaczynski Zeugenbetreuung in der Justiz, 2000; ders. NStZ 00, 451; Schneider/Habel Psychosoziale Betreuung von Opferzeugen in Strafprozessen, 2000; U. Hartmann DVJJ-J 02, 23. Zu traumaspezifischen Therapieangeboten Huck DVJJ-J 00, 59. 678

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Sinn und Zweck des § 26 GVG nicht zu vereinbaren wäre36. Niemals darf die Zuständigkeit der JKammer, auch nicht im Wege der Geschäftsverteilung, dadurch ausgeschlossen werden, dass anstelle der JKammer die JSchutzkammer für zuständig erklärt wird; denn ein der gesetzlichen Regelung entgegenstehender Geschäftsverteilungsplan ist insoweit unwirksam37. In JSchutzsachen gelten die JGerichte ErwGerichten gleicher Ordnung gegenüber für die Zuständigkeit im Eröffnungsverfahren (§ 209 StPO) und für die Anfechtung des Eröffnungsbeschlusses (§ 210 II StPO) als Gerichte höherer Ordnung (§ 209a Nr. 2b StPO; vgl § 41, 23)38. Da die §§ 225a, 270 StPO nicht auf § 209a Nr. 2b StPO Bezug nehmen, gelten nach Eröffnung des Hauptverfahrens JSchutzgerichte und ErwGerichte gleicher Ordnung als ranggleich39. Es ist weder Abgabe noch Verweisung und auch kein Unzuständigkeitseinwand des Angeklagten statthaft40. Infolge der gleichwertigen Zuständigkeit von JGerichten und ErwGerichten in JSchutzsachen besteht auch tatsächlich kein Bedürfnis, nach Eröffnung des Hauptverfahrens eine Zuständigkeitsveränderung zuzulassen. Eine Verletzung des § 26 GVG führt deshalb nur dann zur Aufhebung des Urteils, wenn das Gericht seine Zuständigkeit willkürlich angenommen hat (Art. 101 S. 2 GG)41. Die StA prüft, ob eine JSchutzsache vorliegt und ob nach den unbestimmten Rechtsbegriffen des § 26 II GVG eine Verhandlung vor dem JGericht geboten ist, da dieses „am besten geeignet (ist), zu entscheiden, ob für die JSchutzsachen die bes. Spezialkenntnisse der JGerichtsbarkeit erforderlich sind“42 (dazu auch Rn 5). Bejaht die StA beides, wird sie Anklage vor dem JGericht erheben. Ist das mit der Anklage angegangene JGericht der Auffassung, dass eine von beiden Zuständigkeitsvoraussetzungen nicht vorliegt, eröffnet es nach § 209 I iVm § 209a Nr. 2b StPO vor dem zuständigen ErwGericht niedrigerer oder gerichtsverfassungsgemäß gleicher Ordnung in seinem Bezirk. Die Entscheidung ist für das ErwGericht bindend43. Zur Verbindung einer beim JGericht anhängigen JSchutzsache mit einer allg. Strafsache ist das JGericht zuständig (§ 4 StPO). Das mit der Anklage angegangene ErwGericht kann bei negativem Ergebnis seiner Prüfung diese Sache dem gleichrangigen JGericht nach § 209 II iVm § 209a Nr. 2b StPO zur Entscheidung der Eröffnung vorlegen, vor einem JGericht niedrigerer Ordnung aber unmittelbar eröffnen (Vorrang § 209 vor § 209a StPO). Hält bei sofortiger Beschwerde der StA gegen die Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens durch den Strafrichter beim AG die für allg. Strafsachen zuständige Strafkammer statt des Strafrichters die JSchutzkammer für zuständig, kann sie nach Aufhebung des Ablehnungsbeschlusses des Strafrichters die Sache der JSchutzkammer zur Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens vorlegen44. JSchutzgerichte sind niemals bei Strafsachen zuständig, die in die Zuständigkeit der Staatsschutzkammer, der Wirtschaftsstrafkammer oder des OLG (§ 120 GVG) fallen, da es hier nicht vorwiegend jrichterlicher Erfahrungen bedarf45. Ist die JKammer aber – wie zumeist – zugleich JSchutzkammer, so hat sie auch deren Zuständigkeit. Jede Zuleitung erfolgt durch Vermittlung der StA schon mit Rücksicht auf § 33 II StPO. § 26 II GVG stellt für die StA verbindliche Richtlinien auf, deren Einhaltung das Gericht nachprüfen darf. Vgl. dazu insbes. Rn 5. 36 37 38 39 40

OLG Nürnberg Beschl. v. 30.12.1982 – Ws 1076/82. OLG Saarbrücken NJW 65, 2313; vgl. auch BGH 22, 48. LG Zweibrücken NJW 05, 2100 [LS] = NStZ-RR 05, 153. BGH 42, 40 = JR 96, 390 mit zust. Anm. Brunner = NStZ 96, 346 mit abl. Anm. Katholnigg. Begr. RegE eines StrafverfahrensÄndG – StVÄG 1979 – BT-Drs. 8/976, S. 48; OLG Saarbrücken NStZ-RR 03, 377; Löwe/Rosenberg/Stuckenberg27 § 209a StPO 33; Rieß NJW 78, 2267. 41 BGH bei Herlan GA 71, 34; Meyer-Goßner/Schmitt § 26 GVG 6. 42 Begr. RegE (FN 40), S. 44. 43 LG Zweibrücken NJW 05, 2100 [LS] = NStZ-RR 05, 153. 44 BGH 57, 165 = JR 12, 467 mit Anm. Stuckenberg; vgl. aber auch OLG Zweibrücken NStZ 94, 48, wonach die allg. Strafkammer die Beschwerdeentscheidung zu treffen hat. 45 Löwe/Rosenberg/Siolek26 § 26 GVG 12; vgl. auch Löwe/Rosenberg/Stuckenberg27 § 209a StPO 38. 679

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3. Glaubwürdigkeit kindlicher und jugendlicher Zeugen; Sachverständige 17 Die Glaubwürdigkeit kindlicher und jugendlicher Zeugen hat in JSchutzverfahren oft entscheidende Bedeutung. Auch Kinder können belastbare Aussagen machen. So besteht kein Erfahrungssatz, dass von einem siebenjährigen Kind 3 Jahre nach dem Tatgeschehen keine sinnvolle Zeugenaussage erwartet werden könne46. Für die Glaubwürdigkeitsbeurteilung lassen sich aus der Rechtsprechung des BGH folgende Grundsätze ableiten47: Der Tatrichter ist im allg. nicht auf die Hilfe eines Sachverständigen angewiesen48, es sei 18 denn, Zeugen vor oder in der Geschlechtsentwicklung sagen über geschlechtsbezogene Dinge, namentlich als Opfer von Sexualdelikten, aus49 oder das Erinnerungsvermögen des J hängt eng mit den verfahrensgegenständlichen affektiven Erlebnissen zusammen50 oder das Kind weist dem gewöhnlichen Erscheinungsbild von Kindern dieses Alters widersprechend bes. Züge oder Eigentümlichkeiten auf51. Sogar in solchen Fällen kann das Gericht ohne Sachverständigen auskommen, wenn es mit der eigentümlichen seelischen Verfassung geschlechtlich Heranwachsender vertraut ist, etwa bei bes. Ausbildung oder langer richterlicher Erfahrung in J- oder JSchutzsachen52, oder wenn die Aussage in anderen Umständen eine gewichtige Unterstützung findet53, selbst bei einer 14-jährigen schwachsinnigen Zeugin, wenn sich ihre Aussage in den wesentlichen Punkten mit den Bekundungen unbeteiligter Zeugen deckt54. Letztlich kommt es immer auf die Eigenart und bes. Gestaltung des Einzelfalles an. Maßgeblich ist, ob der Sachverhalt solche Besonderheiten aufweist, dass Zweifel aufkommen können, ob die Sachkunde des Gerichts unter den gegebenen bes. Umständen ausreicht55. Weichen z.B. die Aussagen des jungen Zeugen bei mehreren Vernehmungen in verschiedenen Punkten (nicht nur in Randfragen) voneinander ab, hat er in einem Kernbereich die Unwahrheit gesagt, wurde er früher noch dazu ungeschickt vernommen („Hineinfragen“) oder hatte er schon vor der Tat geschlechtliche Erlebnisse, so kann die Überprüfung der Glaubwürdigkeit durch einen Sachverständigen erforderlich werden, bes. wenn das entscheidende Gericht kein JGericht ist56. Der BGH57 hielt die Zuziehung eines psychologischen Sachverständigen in einem Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs für geboten, in dem bei einem im Zeitpunkt der Hauptverhandlung 13½ Jahre alten Mädchen Wahrnehmungsfähigkeit, Gedächtnis und persönliche Zuverlässigkeit im Tatzeitpunkt, also im Alter von 7–12 Jahren, zu ermitteln waren58. Obwohl der Vater sich seit 1984 mehrmals wöchentlich und ab 1985 „fast täglich“ an dem Kind vergangen haben soll, hatte die Mutter nur einmal (1987) Verdacht geschöpft und das Kind ihr erstmals aus Anlass der Scheidungsklage davon berichtet. Auch bei einer Zeugin mit langjährigem Drogen- und Alkoholmissbrauch und einer neurotischen Persönlichkeitsstruktur kann die Heranziehung eines Sachverständigen erforderlich sein59, ebenso bei deutlichen Anhaltspunkten für eine Persönlichkeitsstörung60. 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55

BGH NStZ 15, 419. Besonders BGH NJW 61, 1636; BGH 21, 62; 45, 164. BGH 3, 27; BGH NStZ 13, 672. BGH 2, 163; OLG Düsseldorf JR 94, 379 mit Anm. Blau. BGH H MDR 80, 274. BGH NStZ 81, 400. BGH 3, 52. BGH 7, 82; BGH NStZ 98, 368; OLG Köln NJW 66, 1183. BGH NJW 67, 361. BGH NStZ 82, 42; JZ 90, 52; NStZ 98, 367; 01, 105; 10, 100; 13, 672; 15, 49; 19, 41, 42; 22, 372; Kett-Straub ZStW 05, 363. 56 BGH NJW 61, 1636. 57 JZ 90, 52. 58 Dazu auch BGH NStZ 85, 421. 59 BGH NStZ 91, 47. Vgl. auch BGH NJW 83, 404 zur Eignung eines Sachverständigen als Beweismittel u. BGH 7, 82 über die besseren Möglichkeiten des Sachverständigen. 60 BGH NStZ 22, 372. 680

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Ob ein Psychiater oder ein Psychologe herangezogen wird, ist grds. dem Tatrichter über- 19 lassen61. Leidet der Zeuge an einer geistigen Erkrankung, die sich auf seine Aussagetüchtigkeit ausgewirkt haben kann, wird allerdings in aller Regel die bes. Sachkunde eines Psychiaters benötigt; für die Beurteilung nicht krankhafter Zustände und ihrer Auswirkungen auf die Glaubwürdigkeit besitzen dagegen grds. sowohl der Psychologe als auch der Psychiater die erforderliche Sachkunde62. Für die aussagepsychologische Begutachtung hat der BGH63 Mindeststandards aufge- 20 stellt. Danach hat der Sachverständige von der sog. Nullhypothese auszugehen, dass die Aussage unwahr sei, und zur Prüfung dieser Annahme weitere Hypothesen zu bilden. Die Hypothesen sind von ausschlaggebender Bedeutung dafür, wie die Begutachtung abläuft, insbes. welche Test- und Untersuchungsverfahren eingesetzt werden. Ergibt die Untersuchung, dass die Unwahrhypothese mit den Fakten nicht in Übereinstimmung stehen kann, gilt die Alternativhypothese der Wahrheit der Aussage64. Die vom Sachverständigen eingesetzten Methoden müssen dem aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand gerecht werden65. Die Auswahl zwischen mehreren anerkannten und indizierten Testverfahren steht im pflichtgemäßen Ermessen des Sachverständigen66. Zu analysieren sind insbes. die inhaltlichen Qualitätsmerkmale der Aussage (Inhaltsanalyse hinsichtlich sog. Realkennzeichen), das gesamte Aussageverhalten (Konstanzanalyse), die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Aussage (Fehlerquellenanalyse ua bezüglich möglicher Motive für eine unzutreffende Belastung des Beschuldigten) und spezifische Kompetenzen, Erfahrungen sowie eventuelle aussagerelevante Besonderheiten der Persönlichkeitsentwicklung des Untersuchten (Kompetenzanalyse)67. Im Bereich der Sexualdelikte ist regelmäßig eine Sexualanamnese erforderlich68. Für die Darstellung des Gutachtens gilt das Gebot der Nachvollziehbarkeit und Transparenz: Die diagnostischen Schlussfolgerungen müssen nach Möglichkeit für alle Verfahrensbeteiligten nachvollziehbar dargestellt werden und es muss durch die Beteiligten – zumindest durch andere Sachverständige – überprüfbar sein, auf welchem Weg der Sachverständige zu seinen Ergebnissen gelangt ist69. Die polygraphische Untersuchung („Lügendetektor“) des Beschuldigten verstößt bei seiner freiwilligen Mitwirkung nach dem BGH zwar nicht gegen Verfassungsgrundsätze oder § 136a StPO70, hat aber in Form des Kontrollfragentests und – jedenfalls im Zeitpunkt der Hauptverhandlung – des Tatwissenstests keinerlei Beweiswert und führt deshalb zu einem völlig ungeeigneten Beweismittel iSd § 244 Abs. III S. 3 Nr. 4 StPO71. Die Aufgabe des Sachverständigen findet ihre Grenze in der Pflicht des Gerichts zur Fest- 21 stellung des Sachverhalts. Zu entscheiden, ob die Aussage wahr ist oder nicht, bleibt Kern der richterlichen Rechtsfindung. Der Sachverständige hat sich „darauf zu beschränken, die Wesenszüge der j Zeugin darzustellen und diese sowie das Verhalten der J im besonderen Falle und ihre Aussage selbst nach Inhalt und Entwicklung aus psychologischer Sicht zu erläutern … Geht er in seinen Ausführungen über diesen Rahmen hinaus und nimmt er selbst die dem Richter zustehende abschließende Beweiswürdigung vor, so ist dieser Teil seiner Darlegungen verfah-

61 BGH 23, 12; BGH NStZ 98, 367. 62 BGH 23, 12 f; BGH NStZ 98, 367. 63 45, 164 = NStZ 00, 100 mit Anm. Ziegert; dazu auch Schaefer NJW 00, 928 u. Offe NJW 00, 929; BGH NStZ 01, 45; zur Kritik an der Rechtsprechung des BGH Hohoff NStZ 20, 387. BGH 45, 167 ff. AaO, 169, 175. AaO, 169. AaO, 170 ff. Zur bes. Bedeutung der Entstehungsgeschichte der Beschuldigung bei Aussagen kindlicher Zeugen vgl. auch BGH NJW 96, 207 f. 68 BGH 45, 175 f. 69 AaO, 178 ff; vgl. auch BGH bei Dallinger MDR 76, 17. 70 BGH 44, 308, insoweit unter Aufgabe von BGH 5, 332. 71 Näher zur mangelnden Beweiseignung BGH 44, 319 ff; vgl. auch Rill/Vossel NStZ 98, 481; krit. Meyer-Mews NJW 00, 917 f.

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rensrechtlich bedeutungslos“72. Der Tatrichter ist verpflichtet, die wesentlichen Anknüpfungstatsachen u. Darlegungen des ärztlichen Sachverständigen im Urteil wiederzugeben73. Will der Tatrichter eine Frage im Widerspruch zu einem Gutachten lösen, muss er im Urteil die maßgeblichen Darlegungen des Gutachters wiedergeben und unter Auseinandersetzung damit seine Gegenansicht begründen74. Werden in einem Beweisantrag auf Einholung weiterer Gutachten konkrete Mängel des ersten Gutachtens vorgetragen, muss sich das Gericht in einem den Antrag ablehnenden Beschluss mit den Einwänden im Einzelnen auseinandersetzen75. Die Ablehnung eines Antrags auf ein weiteres Sachverständigengutachten setzt voraus, dass das Tatgericht durch das Erstgutachten vom Gegenteil der unter Beweis gestellten Tatsache sicher überzeugt ist76. Der Angeklagte kann nach § 220 StPO selbst einen Sachverständigen laden und nach § 245 Abs. 2 StPO dessen Anhörung beantragen. Kann der vom Angeklagten beauftragte Sachverständige ohne Beeinträchtigung der Arbeit des gerichtlich bestellten Sachverständigen und ohne Verzögerung der Hauptverhandlung sich vorbereiten, darf UHaft einer solchen Vorbereitung regelmäßig nicht entgegenstehen77. Die Vernehmung eines ohne Vorladung vom Angeklagten „gestellten“ Sachverständigen richtet sich nach §§ 244 II–IV StPO78. 22 Dass die Beurteilung von Kindern und J durch ihre Lehrer sehr vorsichtig gewertet werden muss, zeigt die Praxis. Die Beurteilung „kriminell gefährdet“ offenbart oftmals Fehleinschätzungen, die nur eine eingehende Befragung aufklären kann. Die kurze Bemerkung im Schülerbogen „lügt“ ist nicht nur einmal nach Vernehmung des Lehrers dahin zusammengeschrumpft, dass der Schüler rasch eine Ausrede parat hatte, um zu erklären, weshalb er sein Heft nicht dabei hatte. 23 Die Klärung der allg. Glaubwürdigkeit eines Zeugen, die Angelegenheiten außerhalb des Verfahrens betrifft, lässt nicht ohne weiteres generelle Schlüsse auf die spezielle Glaubwürdigkeit zu, die sich auf den jeweiligen Verfahrensgegenstand bezieht79. Steht Aussage gegen Aussage, müssen die Urteilsgründe ergeben, dass der Tatrichter alle für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit wesentlichen Umstände erkannt und in seine Überlegungen einbezogen und eine umfassende Gesamtwürdigung vorgenommen hat80. Werden die Angaben des Belastungszeugen durch andere unmittelbar tatbezogene Beweisergebnisse bestätigt, finden die für die Konstellation „Aussage gegen Aussage“ entwickelten strengen Anforderungen an die Beweiswürdigung keine Anwendung81. Glaubt das Gericht einer belastenden Aussage nur teilweise oder erachtet es die Aussage sogar in Teilen als bewusst falsch, kann den übrigen Angaben regelmäßig nur gefolgt werden, wenn außerhalb der Aussage Gründe von Gewicht für ihre Glaubwürdigkeit vorliegen82. Im Übrigen muss der Tatrichter bei einer Abweichung von einer früheren Tatschilderung in einem wesentlich Punkt darlegen, dass insoweit keine bewusst falschen Angaben vorgelegen haben83. Folgt das Tatgericht bei einer Änderung von Zeugenangaben den früheren Bekundungen, muss es im Allgemeinen auch die geänderte Aussage mitteilen und erkennbar machen, warum der Änderung keine durchgreifende Bedeutung zukommt84. Eine Therapie des

72 73 74 75 76 77 78 79 80

BGH 21, 63. OLG Köln GA 83, 43. BGH NStZ 94, 503; 00, 551; 19, 691; 22, 505. BGH 45, 166. BGH NStZ 20, 623. BGH 43, 171. BGH NStZ 81, 401. BGH bei Kusch NStZ 94, 228; AKStPO/Maiwald § 261 StPO 24. BGH 44, 158 f; 257; BGH NStZ 92, 347; 00, 496; 01, 161; 14, 667; 19, 42; 21, 184; 22, 372, 373; OLG Hamburg StV 22, 219. 81 KG NStZ 22, 512. 82 BGH 44, 153; 257; BGH NStZ 15, 602; 18, 116; 19, 746. 83 BGH 44, 256. 84 BGH NStZ 20, 240, 241. 682

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Zeugen kann nach dem BGH85 den Aussageinhalt beeinflussen. Für einen Beweisantrag auf Vernehmung eines weiteren Zeugen genügt die pauschale Behauptung nicht, die Vernehmung werde zeigen, dass ein gehörter Zeuge „unglaubwürdig“ sei86; das Gericht muss aber im Rahmen seiner Aufklärungspflicht auf Substantiierung der Tatsachen hinwirken, die der schlagwortartigen Beweisbehauptung zugrunde liegen87.

4. Zeugnisverweigerungsrecht Das Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 StPO steht auch Kindern und J zu88. Auch das nicht- 24 eheliche Kind ist mit dem Erzeuger und dessen Angehörigen verwandt (§ 1589 BGB) und hat deshalb ein Zeugnisverweigerungsrecht. Fehlt einem solchen Zeugen die notwendige Verstandesreife, vermag er also nicht zu erkennen, dass dem Beschuldigten wegen einer unrechten Tat Bestrafung droht und seine Zeugenaussage dazu möglicherweise beitragen kann89, so darf er erst vernommen werden, wenn er selbst nach Belehrung zur Aussage bereit ist und auch sein gesetzlicher Vertreter nach Belehrung über das Zeugnisverweigerungsrecht zustimmt (§ 52 II 1, III 1 StPO). Das gilt auch, wenn nur Zweifel darüber bestehen, ob der Zeuge die Belehrung über das Zeugnisverweigerungsrecht richtig verstehen kann90. Dazu gehört, dass der Zeuge wenigstens den Widerstreit verstandesmäßig erfasst, in den ihn die familiären Beziehungen stellen, und erkennt, dass der Angehörige etwas Unrechtes getan hat, wofür ihm Strafe droht; die Folgen der Aussage braucht er nicht zu überblicken91. Eine feste Altersgrenze, von der ab anzunehmen ist, dass diese Verstandesreife vorliegt, kann nicht gezogen werden92. Bei einem 7-jährigen Kinde fehlt sie idR93; bei einem 14-jährigen mit normaler Intelligenz94, bei 15-jährigen95 und bei 17-jährigen96 ist sie regelmäßig anzunehmen. Selbst bei einem zur Tatzeit 13-jährigen Kind kann das Gericht von dem Erfahrungssatz ausgehen, dass ein aussagetüchtiger Zeuge idR imstande ist, ein ihm zustehendes Aussageverweigerungsrecht zu begreifen und die Entscheidung in freier Entschließung zu treffen97. Der zur Zeugnisverweigerung berechtigte kindliche oder j. Zeuge ist – unabhängig von einer 25 Zustimmung der Sorgeberechtigten – vor der Exploration durch einen Sachverständigen über sein Recht zur Aussageverweigerung und die Berechtigung, die Mitwirkung an der Glaubwürdigkeitsbegutachtung abzulehnen, richterlich zu belehren98. Die von § 52 III 1 StPO vorgeschriebene Belehrung obliegt dem Richter; er kann diese Aufgabe nicht einem Sachverständigen übertragen99. Zu den Folgen des Unterbleibens der Belehrung Rn 32 aE. Ein Zeugnisverweigerungsrecht, das der Angehörige eines Beschuldigten im Verfahren gegen den Mitbeschuldigten hat, erlischt

85 NStZ 16, 122, 123. 86 BGH 37, 164. 87 BGH aaO, 166. Zu den Anforderungen an die tatrichterlichen Feststellungen bei sexuellem Missbrauch eines Kindes vgl. BGH NStZ 96, 401, zu den Anforderungen bei der Feststellung von Serienstraftaten BGH 42, 107. 88 Näher zu Kindern als Zeugen Nevermann-Jaskolla Das Kind als Opferzeuge im Strafverfahren, 2004. 89 BGH NJW 67, 360. 90 BGH 14, 24; 15, 161; 19, 86; 23, 222. 91 BGH 14, 161 f. 92 BayObLG NJW 98, 615; Löwe/Rosenberg/Ignor/Bertheau27 § 52 StPO 27. 93 BGH 14, 162; 21, 303; BayObLG aaO. 94 BGH 20, 235; BayObLG aaO. 95 BGH VRS Bd. 36 (69), 23. 96 BGH 14, 24. 97 BGH NJW 67, 360. Dazu auch BGH JZ 90, 52 in Rn 18. 98 BGH NJW 96, 206. 99 BGH NJW 91, 2432; 96, 206. 683

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mit dem rechtskräftigen Abschluss des gegen den angehörigen Beschuldigten geführten Verfahrens100 und mit dem Tod des angehörigen Beschuldigten101. Nach Belehrung über sein Zeugnisverweigerungsrecht braucht der Zeuge über sein Recht, den Verzicht auf die Verweigerung zu widerrufen, nicht noch bes. belehrt werden102. Ein Hinweis auf das Eidesverweigerungsrecht ist, wenn der Richter den Zeugen nach § 59 StPO vereidigen will, stets erforderlich; Unterlassen ist bedingter Revisionsgrund103. Ein Sachverständiger darf ein zeugnisverweigerungsberechtigtes und aussageunwilliges Kind nicht dazu drängen, an einer aussagepsychologischen Begutachtung durch Angaben zur Sache mitzuwirken104.

5. Zustimmung der gesetzlichen Vertreter 26 Die Zustimmung der gesetzlichen Vertreter zwingt den Zeugen nicht, gegen seinen Willen auszusagen, da die notwendige Zustimmung ihn nur schützen soll. Hierüber ist neben dem gesetzlichen Vertreter auch der Zeuge selbst zu belehren105. Zwar richtet sich diese Belehrung an einen Zeugen, dem das Gericht vorher eine eigene Entscheidung nicht zugemutet hat106. Die Belehrungspflicht ergibt sich jedoch aus dem eindeutigen Wortlaut des § 52 III StPO. Ohne Belehrung gewonnene Angaben unterliegen einem Verwertungsverbot107. Hat das Kind ohne die erforderliche Zustimmung seiner gesetzlichen Vertreter ausgesagt, kann diese Zustimmung nicht mehr rechtswirksam nachgeholt werden, wenn das Kind nunmehr die Aussage verweigert108. 27 Nach § 1626 BGB vertreten beide Elternteile das Kind gemeinsam und müssen einwilligen109. Zustimmung des einen genügt110. Sind beide Elternteile beschuldigt, so können sie als gesetzliche Vertreter nach § 52 II 2 StPO über die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts für den Minderjährigen nicht entscheiden, und es muss für diese Entscheidung nach dem Grundgedanken des § 67 IV JGG durch das Familiengericht gemäß § 1909 BGB ein Prozesspfleger bestellt werden. Ist nur ein Elternteil beschuldigt, so gilt für den nichtbeschuldigten Elternteil das gleiche, wenn die gesetzliche Vertretung beiden Eltern zusteht (§ 52 II 2 StPO). Hat nur der nicht beschuldigte Elternteil die gesetzliche Vertretung, so kann dieser entscheiden111. Dies zu beachten ist bereits im Ermittlungsverfahren wichtig. Für die Polizei stellt die StA den Antrag auf Bestellung eines Pflegers. Allseitige Belehrung ist vor jeder Vernehmung erforderlich (§ 52 III 1 StPO). Das Familiengericht ist an die Entscheidung der vernehmenden Stelle über die Frage der Verstandesreife des Zeugen gebunden112.

100 BGH 38, 96; BGH NJW 93, 2326. 101 BGH NJW 92, 1118. Zur Belehrung zeugnisverweigerungsberechtigter Angehöriger, die Mitwirkung an der Glaubwürdigkeitsbegutachtung zu verweigern, BGH 36, 217. Vgl. auch Hengesch ZStW 89, 611. Zum Zeugnisverweigerungsrecht des Kindes, des JAmtes und des JPflegers (§ 52 StPO) DIV-Gutachten v. 6.3.1990, ZBl. 90, 311. 102 BGH bei Dallinger MDR 69, 194. 103 BGH aaO; Meyer-Goßner/Schmitt § 61 StPO 3. 104 OLG Rostock NStZ 15, 359 = ZJJ 15, 323 mit Anm. Eisenberg. 105 BGH 21, 303 = NJW 68, 411 mit abl. Anm. Ostermeyer; BGH MDR 79, 596; NJW 91, 2432; NStZ 91, 398. 106 Vgl. die Überlegungen von BGH 12, 235, 240, 242 zu § 81c III StPO, die von BGH 21, 303 für den Fall des § 52 StPO jedoch abgelehnt werden). 107 BGH NJW 91, 2432. 108 BGH 23, 221 im Anschluss an 21, 303 = JR 70, 307 mit Anm. Peters. 109 BGH MDR 72, 293. 110 BGH MDR 57, 52. 111 OLG Nürnberg StV 10, 618; Meyer-Goßner/Schmitt § 52 StPO 20; aA KK/Bader § 52 StPO 29. 112 BayObLG NJW 98, 615. 684

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Über frühere Aussagen darf nach der Zeugnisverweigerung nur der Richter vernommen 28 werden113, auch ein Zivilrichter114, nicht aber StA, Polizeibeamter115, Protokollführer ua116. Die Vernehmung des Richters setzt voraus, dass dieser den Zeugen über sein Zeugnisverweigerungsrecht belehrt hat; eine Belehrung über die Verwertbarkeit der Aussage trotz späterer Berufung auf das Zeugnisverweigerungsrecht ist nicht erforderlich117. Auch Angaben gegenüber dem Verteidiger unterliegen einem Verwertungsverbot118. Die Literatur hält auch die Vernehmung richterlicher Verhörspersonen überwiegend für unzulässig119. Auch die bei einer nichtrichterlichen Vernehmung gemachte Aussage darf trotz Zeugnisverweigerung verwertet werden, wenn der Zeuge dies nach ordnungsgemäßer Belehrung gestattet120. Der Verwertung der Bild-Ton-Aufzeichnung einer früheren richterlichen Vernehmung nach § 255a II StPO steht § 252 StPO nicht entgegen121. Über Mitteilungen außerhalb des Verfahrens kann jeder vernommen werden, dem sich der Zeugnisverweigerungsberechtigte anvertraut hat122; das gilt auch für Polizeibeamte, denen gegenüber eine Anzeige erstattet wurde oder die um Hilfe angegangen wurden, wenn damit nicht eine förmliche Vernehmung verbunden wurde und die Äußerungen spontan gemacht wurden123. Wenn aber etwa ein von der Polizei aufgegriffenes Kind auf Befragen und zur Erläuterung seiner zunächst unbestimmten Angaben aufgefordert, den Vater belastet, so tritt das aus § 252 StPO herzuleitende Verwertungsverbot ein124, wobei unerheblich ist, ob die Aussage protokolliert worden ist125. Die Aussage eines Zeugnisverweigerungsberechtigten vor Polizei und StA ist frei verwertbar, wenn er unbekannten Aufenthalts ist126; gleiches gilt für die Aussage eines nicht belehrten Zeugen vor der Polizei, wenn er zwischenzeitlich verstorben ist127. Schriftstücke, welche der Zeuge bei seiner polizeilichen Vernehmung überreicht und zum Gegenstand seiner Aussage gemacht hat, dürfen in der Hauptverhandlung nach Verweigerung der Aussage nicht verlesen werden128. – Erwächst dem Zeugen erst nach seiner richterlichen Vernehmung ein Zeugnisverweigerungsrecht und macht er hiervon in der Hauptverhandlung Gebrauch, darf auch der Richter über die frühere Aussage nicht vernommen werden129. Verweigert der Zeuge gegen einen Angehörigen die Aussage, darf ein gegen ihn in gleicher Sache ergangenes Urteil mit seinem Geständnis nicht verlesen130, seine frühere Beschuldigtenvernehmung in eigener Sache auch dann nicht verwertet werden, wenn er vorher auf sein Zeugnisverweigerungsrecht hingewiesen worden ist131. Bei der Verwertung einer Vernehmung im Ausland ist der

113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123

BGH 2, 99; 13, 394; 45, 345 f. BGH 17, 324. BGH NJW 56, 1886 u. GA 70, 153. BGH 21, 218. BGH (Großer Senat) 61, 221. BGH 46, 1. AKStPO/Meier § 252 StPO 10 mwN. BGH 45, 203 = JR 00, 339 mit Anm. Fezer; BGH NStZ 20, 432 mit Anm. Ventzke; NStZ 21, 58. BGH 49, 72, 83; BGH NStZ 20, 181 mit Anm. Börner NStZ 20, 369. BGH JR 51, 349. BGH NJW 56, 1884; BayObLG NJW 52, 517; vgl. aber auch den gegenteilig entschiedenen Sonderfall BayObLG 82, 167 = NJW 83, 1132. 124 BGH 29, 230. 125 BGH 20, 386. 126 BGH 25, 176. 127 BGH 22, 35. 128 BGH 22, 219. 129 BGH 27, 231 im Anschluss an BGH 22, 219; BayObLG 65, 81. 130 BGH MDR 66, 161. 131 BayObLG 77, 127. Vgl. auch BGH JZ 90, 46. 685

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Rechtsgedanke des § 252 StPO auch dann zu beachten, wenn das ausländische Recht ein Zeugnisverweigerungsrecht nicht vorsieht132. 29 Die Aufklärungspflicht kann die Vorladung eines Zeugen gebieten, der in dieser Sache schon vor dem Richter ausgesagt und auf die Ladung zur Hauptverhandlung schriftlich die Aussage verweigert hat, wenn es möglich ist, dass der Zeuge irrig davon ausgeht, mit der Aussageverweigerung sei auch seine frühere Aussage unverwertbar geworden133. – Die Zeugnisverweigerung eines Angehörigen darf nicht gegen den Angeklagten verwertet werden134, auch nicht, wenn geprüft werden soll, ob die doch noch gemachten, den Angeklagten entlastenden Angaben glaubhaft sind135. – Das Gericht kann den Angeklagten durch begründeten Beschluss für die Dauer der Vernehmung des Zeugen abtreten lassen (§ 247 I 1 StPO), wenn dieser erklärt, er werde von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen, falls er in Gegenwart des Angeklagten vernommen werde136. Wegen Angaben, die dem Sachverständigen gemacht wurden, Rn 32. Die Angaben eines das Zeugnis verweigernden Angehörigen im Sorgerechtsverfahren dürfen im Strafverfahren nicht verwertet werden.

6. Körperliche und Glaubwürdigkeitsuntersuchung 30 Entsprechendes gilt für das Recht, körperliche Untersuchungen zu verweigern, gem. § 81c III StPO137. Untersuchungen ohne vorherige richterliche Belehrung138 über dieses Recht dürfen nur verwertet werden, wenn der Untersuchte, ggf. seine gesetzlichen Vertreter, nachher genehmigen139. Ist zur Verweigerung oder Zustimmung der gesetzliche Vertreter berufen (Rn 24), so braucht das Kind nicht mehr belehrt zu werden, weil es bei § 81c StPO der gesetzliche Vertreter voll vertritt140. Sagt der Zeuge in der Hauptverhandlung nach Belehrung über sein Zeugnisverweigerungsrecht aus, liegt darin eine solche Zustimmung141. Dagegen steht ein nachträglicher Widerruf der nach Belehrung gegebenen Zustimmung der Verwertung nicht entgegen, schließt jedoch weitere Untersuchungshandlungen aus142. 31 Eine psychologische Glaubwürdigkeitsuntersuchung ist stets nur mit Einwilligung zulässig143, denn § 81c StPO verpflichtet Zeugen nur zu bestimmten Untersuchungen, zu denen die für das Glaubwürdigkeitsgutachten erforderlichen nicht gehören. Bei Verweigerung der Zustimmung ist es aber zulässig, einen Sachverständigen gem. § 80 StPO an einer richterlichen Vernehmung oder der Hauptverhandlung teilnehmen und Fragen stellen zu lassen144 sowie ihm Einsicht in Unterlagen und Strafverfahrensakten zu verschaffen145. Zur Belehrung eines zeugnisverweigerungsberechtigten kindlichen oder j. Zeugen vor der Glaubwürdigkeitsuntersuchung Rn 25.

132 BGH NStZ 92, 394. Zu den Grenzen des aus § 252 StPO abzuleitenden Verwertungsverbots bei unlauterer Verfahrensmanipulation s. BGH 45, 342. 133 BGH NJW 66, 742 mit krit. Anm. Seydel. 134 BGH 22, 113, weiterführend: BayObLG JR 69, 31. 135 BGH MDR 79, 1040. 136 BGH 22, 19. 137 BGH 11, 97; 12, 240; 13, 398. 138 BGH 11, 97; 13, 394. 139 BGH aaO. 140 BGH 12, 242; 40, 336 = JR 96, 75 mit Anm. Welp = StV 95, 171 mit Anm. Eisenberg StV 95, 625. 141 BGH 20, 234. 142 BGH 11, 97. 143 BGH 13, 398; 14, 23; BGH NStZ 82, 432. 144 BGH 23, 1; Löwe/Rosenberg/Krause27 § 81c StPO 9. 145 BGH NStZ 91, 47. Dazu auch BGH JZ 90, 52 in Rn 18 aE u. BGH JZ 90, 47 in Rn 32 aE. 686

Das Jugendschutzverfahren für Jugendgericht und Jugendkammer

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7. Auskünfte gegenüber Sachverständigen Zusatz-Auskünfte, z.B. ein Geständnis,146 die dem Sachverständigen gegeben wurden, sind 32 nicht durch Erstattung des Gutachtens, sondern durch anderweitige Beweisaufnahme, idR durch Vernehmung des Sachverständigen als Zeugen, in die Hauptverhandlung einzuführen147. Allerdings neigt der 6. Strafsenat des BGH dazu, die im Rahmen der Exploration für ein aussagepsychologisches Gutachten erhobenen Tatsachen grds. als Befundtatsachen anzusehen, zu denen der Sachverständige in seiner nämlichen Funktion vernommen werden kann148. Zusatztatsachen dürfen nach Zeugnisverweigerung weder dem Gutachten zugrunde gelegt noch durch den Sachverständigen als mittelbarem Zeugen eingeführt werden, wenn nicht entweder der Untersuchung eine ordnungsgemäße richterliche Belehrung über das Zeugnisverweigerungsrecht vorausgegangen ist oder der Berechtigte die Verwertung der Auskünfte genehmigt149. Dürfen die Auskünfte oder andere Tatsachen, die dem Sachverständigen bei Durchführung des Auftrags bekannt geworden sind, vom Gericht verwertet werden (§ 43, 15), so kann er als Zeuge darüber auch dann vernommen werden, wenn er als Sachverständiger erfolgreich abgelehnt wurde; er darf dann nur keine Schlüsse aus diesen Tatsachen ziehen150. Ist er vom Gericht zur Begutachtung beauftragt, hat er kein Zeugnisverweigerungsrecht (Rn 33). – Knüpft ein Sachverständiger an ein von ihm veranlasstes Hilfsgutachten eines anderen an, so braucht das Gericht den Hilfsgutachter nicht zu vernehmen und dessen Bericht nicht zu verlesen, wenn der Hauptsachverständige auch die Verantwortung für die Ergebnisse des Hilfsgutachtens übernimmt. Ggf. kann aber die Aufklärungspflicht anderes gebieten151. Zur Bekanntgabe des Gutachtens u. Art. 103 I GG s. § 43, 19 aE. Das Unterbleiben der Belehrung eines angehörigen Zeugen über sein Recht, nach § 81c III 1 StPO die Mitwirkung an einer Begutachtung durch einen Sachverständigen zu verweigern, führt zur Unverwertbarkeit des auf der Untersuchung beruhenden Gutachtens, wenn nicht ein Ausnahmefall (nachträgliche Einwilligung nach ordnungsgemäßer Belehrung; Gewissheit der Teilnahme an der Untersuchung auch bei Belehrung) vorliegt152.

8. Nichterscheinen kindlicher Zeugen und Schweigepflicht des Arztes Während J als Zeugen unmittelbar selbst zu laden sind, werden Zeugen, die jünger als 14 Jahre 33 alt sind, über ihre ErzBerechtigten geladen153. Ordnungsmaßnahmen gegen Kinder allg. und wegen Nichterscheinens als Zeugen sind nicht zulässig. Sie könnten zwar vorgeführt werden, was aber voraussichtlich dem Kind Schaden und dem Verfahren keinen Nutzen brächte. Auch gegen Eltern, die ihre Kinder nicht als Zeugen stellen, können deswegen keine Ordnungsmaßnahmen angeordnet werden (näher § 1, 4). Ein ruhiges Gespräch zwischen Richter und Eltern vor dem Termin wird fast stets helfen. Ggf. kann zum Schutz des Kindes der Einsatz der Videotechnologie bei einer Vernehmung dienen (dazu Rn 8)154. Der Arzt hat kein Zeugnisverweige-

Löwe/Rosenberg/Krause27 § 79 StPO 21. BGH NStZ 93, 245. BGH NStZ 21, 690 mit Anm. Habetha. BGH 11, 97; 12, 242; 13, 1; 20, 234; BGH JZ 90, 47; BGH bei Kusch NStZ 94, 23. BGH 20, 222. BGH 22, 268. BGH 40, 336 = JR 96, 75 mit Anm. Welp = StV 95, 171 mit Anm. Eisenberg StV 95, 625; BGH JZ 90, 47 mit krit. Anm. Weigend; BGH NStZ 96, 275 mit Anm. Dölling NStZ 97, 77. 153 OLG Frankfurt ZJJ 06, 78. 154 Zu den Voraussetzungen, unter denen die Eltern berechtigt sind, das Erscheinen ihres Kindes als Zeuge zu verhindern u. eine Begutachtung seiner Glaubwürdigkeit zu verweigern, zugleich bei Nichterscheinen des Kindes zu den Feststellungen zu § 251 II Nr. 1 StPO (nicht zu beseitigendes Hindernis) u. zu § 244 III 2 StPO (unerreichbares Beweismittel): OLG Saarbrücken NJW 74, 1959.

146 147 148 149 150 151 152

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5. Teil. Schluß- und Übergangsvorschriften

rungsrecht, wenn er für Gericht, StA oder Polizei als Sachverständiger tätig geworden ist155, sofern der Untersuchte die Untersuchung oder den Eingriff kraft Gesetzes dulden musste (§§ 81 ff StPO) oder sich damit einverstanden erklärt hat156. Zur notwendigen Entbindung von der Schweigepflicht durch einen J § 67, 11; es wird nicht Geschäftsfähigkeit, sondern nur die natürliche Urteilsfähigkeit gefordert157. Die Entbindung des Hauptgeheimnisträgers gilt auch für dessen Hilfspersonen158. Ein Zeugnisverweigerungsrecht hat der Arzt über Tatsachen, die ihm als Sachverständigen in einem anderen Verfahren bekannt geworden waren159. Die Entbindung des Arztes von der Schweigepflicht kann jederzeit widerrufen werden160. Der falsche richterliche Hinweis auf eine angeblich fortbestehende Entbindung von der Schweigepflicht gegenüber einem zeugnisverweigerungsberechtigten Arzt führt grds. zu einem Beweisverwertungsverbot161. Ist der Arzt nicht von der Schweigepflicht entbunden, obliegt es nach der Rechtsprechung ausschließlich seiner freien Entscheidung, ob er von seinem Zeugnisverweigerungsrecht nach § 53 I Nr. 3 StPO Gebrauch macht. Der Patient hat keinen strafprozessualen Anspruch auf Aussageverweigerung des Arztes162. Das gilt auch dann, wenn der Arzt sich durch seine Angaben nach § 203 I Nr. 1 StGB strafbar macht163.

155 156 157 158 159 160 161 162 163

BGH JR 61, 111. BGHZ 40, 288; Meyer-Goßner/Schmitt 20; Löwe/Rosenberg/Ignor/Bertheau27 38 – je zu § 53 StPO. Löwe/Rosenberg/Ignor/Bertheau27 § 53 StPO 81 mwN. Meyer-Goßner/Schmitt 10; Löwe/Rosenberg/Ignor/Bertheau27 14 – je zu § 53a StPO. BGH 38, 369; dazu Cramer NStZ 96, 209. BGH 42, 75 = JR 97, 33 mit Anm. Welp. BGH 42, 78. BGH NStZ 18, 362. AaO. 688

Sachregister

A Abänderbarkeit der JG Maßnahmen: allg. Einf. 106, 108; s. auch „Abänderung“. Abänderung v. Weisungen §§ 10, 1; § 11, 2; Verf. § 65, 5; Zuständigk. § 65, 2; Anfechtg. § 65, 8; nach AO durch FamG § 53, 8; v. Auflagen § 15, 20; d. Bew.-Aufl. § 23, 5; d. Bew.-Planes § 60, 6; v. Weisungen u. Auflagen, bei Soldaten §§ 112a, 7; § 11, 4; § 15, 22; Anhörung d. Disziplinarvorgesetzten § 112d. Aberkennung d. bürgerl. Ehrenrechte s. „Verlust d. Amtsfähigkeit“. Abführung d. Mehrerlöses § 6, 5. Abgabe d. Verf. bei Aufenthaltswechsel § 42, 11; nach Schuldspruch gem. § 27: § 62, 6; d. nachträgl. Verf. bei Weisungen u. Auflagen § 65, 2, 4; bei Trennungen vorher verbundener Verf. § 103, 18; s.a. „Übertragung“. – zwischen J- und Erw.Gerichten § 41, 29; bei sachl. Unzuständigk. § 41, 26; bei örtl. Unzuständigkeit § 33b, 25; – d. Vollstr. § 85, 9, 14; Einfluss auf Ger.Stand § 42, 7. Abgrenzung von ErzM, ZuchtM und JStr. § 5, 7 f. Ablehnung d. Änderung v. Weisungen § 65, 8; d. vereinfachten JVerf. § 78, 12 ff. Ablieferung von Gegenständen (auch Kfz) als Weisung § 10, 32. Abschreckung durch JStr. § 17, 1; § 18, 21. Absehen v. Zuchtmitteln u. JStr. Einf. 102; § 5, 9; bei Unterbringung § 5, 2; § 93a, 6; v. Widerruf d. StrAzBew. § 26a, 8, 9; v.d. Einbeziehg. § 31, 21 ff; §§ 66, 6; v. Nebenfolgen § 106; v.d. Auferlegg. v. Kosten u. Auslagen § 74, v. notwendigen Auslagen § 74, 2, 9, 18; v.d. Verfolgg. § 45; § 109, 6; durch den StA § 45, 23 ff, 31 ff; durch den Richter § 45, 39 ff u. § 47; v.d. Vollstr. d. JA-Restes § 87, 9; d. JA bei Soldaten § 112c, 1; v. Widerruf d. Beseitigg. d. Strafmakels § 101, 4, 5. Absprachen im Strafprozess § 18, 11. Abstimmung zu § 105: § 105, 41; zur StrAzBew. § 57, 2; Reifegrad § 105, 41; s.a. „Mehrheit“. Aburteilung, gleichzeitige – bei Taten in verschiedenen Altersstufen § 32, 8; s.a. „Verbindung“. Abwägung d. Schweregewichts § 32, 4. Abweichung v. normalen Enwicklungsstand, Begutachtung § 73, 2; s.a. bei §§ 3, 43, 105; v. Verf. Vorschriften im vereinfachten JVerf. § 78, 18. 689 https://doi.org/10.1515/9783110686401-160

Abwendung d. Widerrufs d. StrAzBew. § 26a, 8, 9. Abwesenheit d. Angekl. in d. Verh. § 50, 1; im vereinfachten JVerf. § 78, 20; im OWiG-Verf. § 50, 6. Adhäsionsverfahren gg. J § 81, gg. Hw. § 109, 10, 12. Adoleszenz als Reifestufe § 105, 17. Aids § 25, 8. Akten, Beiziehung z. Persönlichk.Erforschung § 43, 14; Beschlagnahme § 38, 46. Akteneinsicht, allg. Beschränkg. im JRecht Vor § 97, 28; Datenschutz Vor § 97, 27 ff; Daten, SGB VIII u. JGH § 38, 21, 47; § 72a, 1, 2; durch Beistand § 69, 8; Verteidiger § 68, 7; Vor § 97, 28, 37; JGH § 38, 6; Versagung Vor § 97, 29; durch den Verletzten Vor § 97, 33. Alkohol Einf. 65; und verminderte Schuldfähigk. § 3, 15, Nachschulung § 10, 32 aE; Trunkenheitsfahrt als JVerfehlung § 105, 27. Allgemeines Strafrecht, Anwendbark. bei J § 2, 5; Vor § 33, 2; bei Hw. § 105, bei Verfehlungen in verschiedenen Alters- u. Reifestufen § 32, 2; Milderg. für Hw. § 106. Allgemeines Strafverfahrensrecht im Verf. gg. Hw. § 109. Allgemeine Strafsachen, J u. Hw. vor Ger., die für Erw. zuständig sind §§ 102 ff, 112, § 112e. Allgemeine Vorschriften, Begriff der – § 2, 10. Alter Grenzen Einf. 80; § 1, 19; zZ der Tat § 1, 20; Berechng. § 1, 22; Zweifel § 1, 23; zZ des Urteils § 1, 21; bei UHaft § 72, 7, 9; zZ d. Vollz. einer Freiheits-Str. § 114, 4, 7; einer JStr. § 89b, 2; der UHaft § 89c, 2, 3: Bedeut. im GerVerfass.- u. VerfR § 33b, 1, 19; Einfluss auf Kriminalität Einf. 10 ff. Diskussion um Strafmündigkeit Einf. 121–123 – und Reife § 105, 17 – und Schuld § 17, 26; ErzGedanke u. Sühnebedürfnis § 18, 13 ff. Altersreife bei J § 3; bei Hw. § 105, 13; Reife allg. Einf.; verfahrensm. Behandlg. d. Fehlens § 47, 11; Kosten § 74, 2, 5; Eintragg. i. ErzReg. Vor § 97, 8; keine Voraussetzung für Heimunterbringung u. ErzBeistandsch. § 12, 2. – iSd § 105 s. „Reifegradentscheidung“. Altersstufen § 1, 19 ff; Folgen rascher Einreihg. § 1, 24; s.a. „Reifegradentsch.“; Verfehlungen in verschiedenen –, Einheitsprinzip § 32; Ver-

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bindung der Verf. § 32, 8; Zuständigk. §§ 33, 39–41, 103. Altersunreife s. „Altersreife“. Ambulante intensive Begleitung § 10, 19 FN 75. Ambulante Maßnahmen im JRecht Einf. 102 u. bei den entspr. Vorschr., bes. § 10; § 45, 36, 42. Ambulante Untersuchung § 43, 18. Amnestie § 31, 7, 18; – u. Aussetzg. d. Verhängg. d. JStr. § 27, 9. Amtsanwalt im JVerf. § 36, 7. Amtshilfe s. bei Rechtshilfe. Amtsrichter als JRi.; Aufgaben § 34; Zuständigk. § 41, 8, 24; bei Hw. § 108, 2. Änderung des JGG und der RL, Aufstellung vor § 1. Sonst s. „Abänderung“; Denkschr. d. DVJJ 1977 Einf. 127; JHilfe-Entwürfe Einf. 119 u. 120. Zum JGGÄndG u. Weiterentwicklung Einf. 131 ff; § 45, 22; KJHG Einf. 137. Zur Geltung in der ehem. DDR § 1, 11 ff u. bei den einzelnen Vorschriften. Anerbieten s. „Zusagen“. Anfechtbarkeit v. Entsch. allg. § 55; v. Urteilen § 55, d. Schuldspruchs nach § 27: § 63, 1; nach vereinf. JVerf. § 78, 21; bei falscher Einordng. in eine Altersgruppe § 1, 24; § 55, 22, 33; § 105, 43; bei Strafunmündigk. § 3, 27; wegen Nichteinbeziehung § 31, 19; d. Nebenentsch. bei StrAzBew. § 59, 4 ff, d. Widerrufs § 59, 5; bei Aussetzgg. d. Verhängg. d. JStr. § 63; v. nachträgl. Entsch. nach Weisungen u. Auflagen § 65, 8; v. vorl. Maßnahmen u. d. Haftbef. nach § 453c StPO: Nach § 60, 11; v. Entsch. im Vollstr. Verf. § 83, 4, 5; j. richterl. Entsch. § 83, 8; d. Entsch. über d. Beseitgg. d. Strafmakels § 99, 5 u. d. Widerrufs § 101, 7; der Zuständigk. § 33b, 24, § 41, 45; vgl. auch bei den einzelnen Vorschriften. Anfechtungsberechtigte § 55, 3; § 67, 17. Anfechtungsrecht d. Verteidigers bei Unterbringg. § 73, 11. Angehörige, Anwesenh.i.d. Hauptverh. § 48, 13; als Zeugen § 48, 14; Ausschließung v.d. Verh. § 51, 6 ff; s.a. bei § 67. Anhörung des BewH. § 25, 1; § 58, 4; s.a. d. „Helfers“; d. Disziplinarvorgesetzten § 112d; § 43, 12; d. Erz-Ber. u. gesVertr. § 67, 13; § 43, 12; § 38, 45; s.a. § 45, 35; § 57, 5; § 58, 4; d. JHilfe-Behörde § 43, 12; d. ges. Vertr. s. bei „ErzBer.“; d. Helfers § 43, 12; § 58, 4; s.a. bei „BewH“; d. JGH § 38, 6, 11, 43; s.a. § 78, 18; § 104, 5; d. J § 67, 11; s.a. § 57, 5, 7; § 43, 12; § 65, 7; § 88, 11; d. Ausbildenden § 43, 12; d.

Ri. § 45, 23; § 87, 8; d. Sachverständigen § 73, 8; d. Schule § 43, 12; d. StA § 36, 4; s.a. § 57, 5; § 58, 4; § 65, 5; § 87, 8, § 88, 11; d. Verteidigers § 68; s.a. § 57, 5; § 73, 8; d. VollL § 88, 11; – S.a. bei d. einzelnen Entsch. „Gehör“. Anklage zu welchen Ger. §§ 41, 103; § 42, 8; JSchutzverf. Anh. § 125, 5 ff. Anklagebehörde § 46, 1, – Freiheit § 45, 1 ff. – Schrift (Inhalt, Fassg., Zustellg., Mitt.) § 46, u. RL, nach Ablehng. der Entsch. im vereinfachten JVerf. § 78, 15. Anlage (Umwelt u. Persönlichk.) Einf.; § 43, 6. Anlagetäter § 105, 14. Annahmeberufung § 55, 1. Anordnung v. ErzM § 5, 5; durch FamG § 53, im Verf. vor ErwG § 104 IV; s.a. „vorl. AO über d. Erz.“; v. Hilfen zur Erz. nach § 12: dort u. § 53, 7; bei Hw. § 104, 8, 10; § 112, 6; d. Beseitigg. d. Strafmakels s. Beseitigg. Anrechnung v. UHaft auf JStr. § 52a, 12; auf JA § 52a, 8; d. Haft nach § 453c StPO: Nach § 60, 14; v. Freiheitsentzug allg. § 52a, 1; disziplinaren Arrestes bei Soldaten § 52a, 1; § 112a, 11. – von JArrest auf JStr. im Nachverf. § 30, 14; – erbrachter Leistungen § 31, 15, § 88, 1. Anschlussverfahren s. „Adhäsionsverfahren“. Anstalt, Bezeichnung d. – bei Untersuchg. § 73, 7; s. auch „Entziehungsanstalt“. Anstiftung § 1, 29; § 3, 12. Anti-Aggressivitäts-Training s. Anti-Gewalt-Training. Anti-Gewalt-Training § 10, 21. Antrag der JStA auf Entsch. im vereinfachten JVerf. § 78, 7. Antragsrecht d. ErzBer. oder ges. Vertr. § 67, 15. Anwendung v. J- oder allgR gg. Hw. § 105; Begründg. im Urteil § 54, 15; § 105, 42. Anwendungsbereich d. JGG: persönl. u. räuml. §§ 1, 112a, 1–10; zeitl. § 116; d. einzelnen Maßnahmen d. JGG s. dort. Anwesenheit d. Angekl. i.d. Hauptverh. § 50, 1; § 105, 28, 40; § 109, 5; im OWiVerf. § 50, 6; der ErzBer. und gesVertr. in der Hauptverh. § 48, 8; § 50, 7, § 67, 16; anderer Angehöriger § 48, 13; im vereinfachten JVerf. § 78, 18, 20; – des Zeugen § 48, 14; § 51, 17. – S. auch „Ausschließung“. Anwesenheitsberechtigte i.d. nicht öffentl. Verh. § 48, 13, 14; § 51, 6, 10, 11. Anzeigeverhalten Einf. 4. 690

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Arbeit, Einstellg. zur – als Reifeanzeichen § 105, 13; im JAVollz. § 90, 9; Arbeitsweisung § 10, 13; Haftpflicht u. Unfallversicherg. § 10, 46; RL 5; im formlosen Erz. Verf. § 45, 36, 40. Arbeitseinkommen, bestimmte Verwendg. als Weisung § 10, 33. Arbeitsleistungen § 10, 13; § 15, 13; § 45, 40. Arbeitslosigkeit Einf. 32; bei Weisungen § 10, 12; bei JA § 16, 20. Arbeitsschutzgesetz § 10, 23. Arrest s. „Jugendarrest“; disziplinarer Arrest; „Anrechnung“. Aufenthalt, Ger. Stand d. – § 42, 6; Weisung, bestimmten – zu nehmen § 10, 11. Aufenthaltswechsel, Abgabe des Verf. § 42, 11; § 108, 7; § 65, 2; s.a. §§ 58 II (ggf. iVm §§ 88 V, 89 III), 85 III. Aufhebung v. einzelnen Maßnahmen d. JGG s. dort. Aufklärung z. Person § 38, 28; § 43, 1 ff; § 44, 1. Aufklärungspflicht b. Persönlichk. Erforsch. § 43, 4; § 38, 45; Untersuchg. durch Sachverständigen § 43, 9, 15; im vereinfachten JVerf. § 78, 20. Auflagen Begriff § 15, 1; bei Hw. § 15, 2; § 105, 36; bei Soldaten § 112a, 7 (s. § 112d, 1); Form der Entsch. § 13, 4; im formlosen j. richterl. Erz. Verf. § 45, 39 ff; durch StA § 45, 23 ff; als Bew.-Aufl. § 23, 2; § 88, 16, 22; Nachträgl. Änderg., Befreiung § 15, 20; bei Soldaten § 15, 22; § 112a, 7; bei Bew.-Aufl. § 23, 5; § 88, 16, 22; Überwachung § 15, 21; § 38, 41; Nichterfüllung § 15, 20; § 65; Vollstreckung § 82, 6; Wiedergutmachung § 15, 3; Urteilssatz § 54, 4. Auflage s.a. „Arbeits-“, „Bew.-“ und „Geldauflage“. Auflegung d. Vorschlagslisten d. JHilfeausschusses § 35 III S. 3, 4. Auflockerung d. Verfolgungszwanges § 45. Aufrechnung (wechselseitige Beleidigg. u. Körperverletzung) § 1, 28; § 3, 12. Aufschiebende Wirkung der Beschw. s. bei den einzelnen Vorschriften; bei Unterbringg. z. Beobachtung § 73, 10; bei Widerruf d. Bew. § 26a, 14. Aufschub d. JA Vollstr. § 87, 6. Aufsicht durch BewH § 25, 9; durch JGH § 38, 41; Betreuungsweisung § 10, 19; RL 2; (beachte § 112d, 5). Ausbildung d. hauptamtl. BewH § 25, 15; d. JRi u. JStA § 37, 9 ff. Ausbildungsleiter, Anhörg. § 43, 12. Ausbleiben von der Verhdlg., § 1, 3 f; § 55, 7; § 78, 17; von Eröffnung des BewPlanes § 60, 7. 691

Aus

Ausfall eines JSchöff. § 35, 3. Ausfertigung d. Urteils z. Vollstr. Vor § 82, 4. Aushändigung d. BewPlanes § 60, 7 (ggf. iVm § 64 S. 1). Auskunft aus dem Erz.- u. Zentralregister Vor § 97, 9, 23. Auskunftsrecht des BewH § 25, 14. Auslagen, Kosten u. – d. Verf. § 74; im Verf. zur Beseitigg. d. Strafmakels § 99, 7. Ausland, JStrafrecht im Einf. 140. Ausländer, Einf. 45; Kriminalität 45, 46; Ursachen 47; Vorverfahren, JGH, Polizei 48, 49; Hauptverhdlg., Dolmetscher, Verteidiger 51; Sanktionen 52; Vollzug 56; Geltg. des JGG § 1, 5 ff; § 2, 8. Auslandstaten, Geltg. des JGG § 1, 5; zum IRG § 1, 5. Auslegung d. JGG Einf. 80 ff; d. Str.-Tatbestände bei J u. Hw. § 2, 11. Auslieferungsrecht u. Einheitsstr. § 31, 4, 20. Auslosung d. JSchöff. § 33b, 16; § 35, 3. Ausnahme vom JStr. Vollz. § 89b, 2; § 83, 7; § 85, 4, 6 (auch Zuständigk., Verf., BeschwWeg). Aussage gegen Aussage Anh. § 125, 23. Aussagegenehmigung f. BewH § 25, 13. Aussageverweigerungsrecht J-Schutzverf. Anh. § 125, 10; d. BewH § 25, 13; d. J-Gerichtshelfer § 38, 37; bei drohender Verhängg. von ZuchtM. § 13, 5. Ausschließung v.d. Verh.; d. Angeklagten § 50, 2; § 51, 2; v. Angehörigen § 51, 6; v. Anwesenheitsberechtigten § 48, 13, 14; § 51, 6; von Zeugen § 48, 14; § 51, 17. Ausschluss d. Öffentlichk. § 48; v. Vorschriften d. allgVerfR §§ 79 ff. Ausschluss von Richtern Vor § 33, 4. Aussetzung d. Hauptverh. § 67, 27. Aussetzung z. Bew. im Vorverf. s. „Vorbewährung“; im Zwischen- u. Hauptverf. bis z. Urteil § 45, 45; § 47, 12; auch § 57, 1; d. JA (nein) § 87, 5; s.a. „- d. JStr.“ u. d. „- d. Verhängung d. JStr.“. Aussetzung d. JStr. z. Bew. §§ 21–26, 57–61. Abgrenzung z. Aussetzung d. Verhängung § 27, 3; Einbeziehg. § 31, 15, 29, 1; bei Hw. § 105, 36; BewZeit, -Aufl., -Hilfe §§ 22–25; Erlass d. JStr. § 26a, 15; Widerruf § 26a, 2; Abwendg. durch andere Maßnahmen § 26a, 8; vorl. Maßnahmen u. Haftbefehl Nach § 60, 7; Einl. d. Vollstr. § 26a, 14; Rückerstattg. v. Leistungen § 26a, 12; Verf. § 57, bei nachträgl. Entsch. § 58; Anfechtg. § 59; Verschlechterungsverbot § 55, 47; § 59, 10; BewPlan § 60.

Aus

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Aussetzung d. Verhängung d. JStr. §§ 27–30, 62– 64. Wesen, Bedeutg., Anwendungsbereich (bei Hw. § 105, 36; durch JRi. § 27, 12); Voraussetzungen (bei Amnestie § 27, 9); Verhältnis z. JStr. § 17, 35; zu Maßregeln, Nebenstr. u. -folgen § 27, 1, 3; Anrechnung v. UHaft § 27, 11; Einbeziehg. § 31, 15; aber 29; Verbindungsmöglichk. § 27, 13; Nachträgl. Entsch. Inhalt, Grundlage, Bindg. § 30. Nebenentsch. (BewZeit § 28; BewAufl., BewAufsicht, BewH § 29); Verf. u. Entsch. § 62; Anfechtbark. § 63; BewPlan § 64; Verschlechterungsverbot § 55, 43; Rechtskraft d. Schuldspruchs § 27, 4; Zentralregister Vor § 97, 18. Aussiedler, j. Einf. 57. Auswahl v. ErzM durch FamG § 53; unter mehreren GerStänden § 42, 8; § 36, 4; § 108, 5. S.a. „erz. Befähigung“. Ausweisung § 85, 19 aE. B Bagatell-Sachen, Einstellg. § 45, 15; keine ZuchtM § 13, 3; keine Aussetzg. d. Verhängg. d. JStr. § 27, 8. Bamberger Modell § 78, 8. Bandenbildung als jgem. Verhalten § 105, 11, 15; Einf. 60 f. Beamtenkonferenz § 88, 11. Beamtenrecht § 17, 13. Bedingte Verurteilung § 27; s.a. „Aussetzung d. Verhängung d. JStr.“. Beeidigung s. bei „Vereidigung“. Beendigung s. „Ende“. Befähigung z. JSchöff-Amt § 35, 3; s.a. „erz. Befähigung“. Befreiung v. einer Weisung § 11, 4; Auflage § 15, 20; BewAufl. § 23, 5. Beginn der BewZeit § 22, 2; der Unterstellungszeit § 25, 1 u. 2. Begnadigung s. „Gnadenwesen“. Begründung v. „Urteilen“ s. dort. Begünstigung § 1, 29; § 3, 12. Behandlung im JA Vollz. § 90; im JStr. Vollz. Vor § 90, 2; in d. Entziehungsanstalt § 93a. Beharrlicher Verstoß § 26a, 5. Beihilfe § 1, 29; § 3, 12; § 18, 7. Beijinger Grundsätze s. „Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen“. Beistand Stellg., Befähigg., Auswahl u. Bestellg., Aufgaben, Rechte § 69; § 55, 5; Ausschließg. v.d. Verh. § 69, 9; s.a. „Rechtsbeistand“.

Bekanntmachung, öffentl. § 6, 3; d. Urteils § 54, 18. Belehrung bei Erteilg. v. Weisungen § 11, 8; über Zweck d. JStr. § 17 RL 2, über BewPlan § 60, 7; § 64, 2; des J §§ 70a, 70b; s.a. „Rechtsmittelbelehrg.“. Beleidigung s. „Aufrechnung“. Benachteiligung J u. Hw. ggü. Erw., s. „Schlechterstellung“. Beobachtung s. „Unterbringg. z. -“. Berechnung d. Lebensalters § 1, 22; d. JStr., des JA Vor § 82, 5; d. BewZeit § 22, 2. Bereitschaft d. J z. Einhaltg. d. Weisung § 10, 4. Bericht d. JGH nach Ermittlg. § 38, 28a ff; (einschl. proz. Verwendg., Einsichtsrecht usw.), nach Überwachg. § 38, 41; des BewH § 25, 4. Berichterstattung durch Presse u. Rundfunk § 48 RL S. 3, 4. Beruf Einf. 28. Berufsausbildung d. J, Ermittlg. § 43, 6. Berufsverbot als Weisung, nein § 10, 9; bei J nicht § 7, 1. Berufung, Zulässigk. § 55, 17, 25; bei StrAzBew. § 59, 1, 2; Zuständigk. bei – gg. Urteile d. JRi. u. JSchöffG § 41, 49; nach Wegfall einer Verbindung § 103, 21, 23; s. bei den einzelnen Entsch. u. unter „Rechtsmittel“. Berufungsurteil, Anfechtbark. § 55, 30. Beschlagnahme von JAmtsakten § 38, 46. Beschleunigtes Verfahren bei J § 79, 1; bei Hw. § 109, 10; – Keine Abgabe § 42, 13. Beschleunigung d. JVerf. Einf. 109; § 18, 10; § 38, 6; § 43, 21; § 45, 18; § 55, 1; RL 1; § 72, 4, 12; § 78, 18; Vor § 82, 3. Beschluss, Einbeziehg. eines – § 31, 39; nachträgl. Einbeziehung durch – § 66, 8; Einstellg. d. Verf. durch – § 47, 17; Aussetzg. z. Bew. § 57, 7; – über Änderg. v. Weisungen u. Auflagen § 65; im Vollstr. Verf. § 83, 8; über Entlassg. z. Bew. § 88, 11; über d. Beseitigg. des Strafmakels § 99, 1 u. dessen Widerruf § 101, 7; s.a. bei den einzelnen Vorschriften. Wiederaufnahme gegen – § 55, 66; Geltung des Verschlechterungsverbotes § 55, 61. Beschlussverfahren über d. StrAzBw. § 57, 3, 7. Beschränkte Auskunft s. „Führungszeugnis“. Beschuldigtenvernehmung s. „Vernehmung“. Beschwerde, Zuständigk. d. JK § 41, 49; d. RevGer. § 59, 11; gg. AO d. Teilvollstr. § 56, 7; gg. vorl. Maßnahmen u-. Haftbef. gem. § 453c StPO: Nach § 60, 9; gg. nachträgl. Entsch. 692

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über Weisungen u. Auflagen § 65, 8; bei § 47: § 47, 17; bei Pflichtverteidigerbest. § 68a, 7; bei Unterbringg. z. Beobachtg. § 73, 10; gg. jrichterl. Entsch. nach § 83: § 83, 8; s.a. bei den entspr. Entsch. Beschwerdeweg im Vollstr. Verf. § 83, 4, 8; im JA Vollz. § 90, 13; im JStr. Vollz. § 92, 2; nach Ausnahme vom JStrVollz. § 92, 2; § 83, 7, 8; psychiatr. Krkhaus u. Entziehungsanstalt § 7, 2 aE. Beseitigung d. Strafmakels durch Richterspruch §§ 97–101, 111. Besetzung d. JG § 33b, 9; im JSchutz-Verf. Anh. § 125, 6. Besonderer Vollstreckungsleiter § 85, 2 ff. Besserungszweck d. Str. § 17, 1. Bestellung eines Beistandes § 69, 4; eines Pflegers § 67, 27; eines Verteidigers §§ 68, 68a. Bestimmtheit des Inhalts der Weisungen § 10, 4, 16. Betäubungsmittel s. Drogen. Betäubungsmittelgesetz Zurückstellung u. Absehen § 17, 40 ff; § 45, 53 ff. S. auch Drogen. Beteiligte, Anwesenheitsrecht § 48, 13, 14; Ausschließg. v.d. Verh. § 51, 6. Betreuung allg. durch JGH § 38, 8 ff u. 42; durch BewH § 25, 7. Betreuungshelfer § 10, 19; § 43, 12; § 48, 13; § 50, 15. Betreuungsweisung § 10, 19 u. 20; § 17, 39; nicht bei § 45: § 45, 42. Betrieb d. Vollstr. Vor § 82, 1. Bewährung, Möglichk. § 21, 1. „Aussetzg. d. JStr.“ z. – §§ 21 ff, „Aussetzg. d. Verhängung d. JStr.“ §§ 27 ff s. dort; bei Soldaten § 112a, 9. Nach Einbeziehg. in Einheitsstrafe § 31, 17; s. auch „Vorbewährung“. Bewährungsauflagen § 23; Ungehorsam gg. – § 26a, 5, 6; Überwachung § 23, 9; Besonderheiten bei Aussetzg. d. Verhängg. d. JStr. § 29; Verf. § 58, 1; § 62, 2; Anfechtg. § 59, 6; § 63, 4; bei Entlassg. z. Bew. § 88, 15. – Verschlechterungsverbot § 55, 48. Bewährungsaufsicht, allg. § 25; Organisatorisches § 113; Stellg. d. Ri. § 25, 1; bei Aussetzg. d. Verhängg. d. JStr. § 29, 1; bei Entlassg. z. Bew. § 88, 16. Bewährungshelfer, Organisation: § 113; Beziehungen zu Behörden usw. § 25, 12; Verhältnis z. JGH § 38, 41; Stellg. z. Ri. § 25, 3; s.a. § 23, 3; § 58, 4; hauptamtl. u. ehrenamtl. – § 25, 16; § 59, 7; Soldat als – § 25, 18; vgl. § 112d; 693

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Anwesenheitsrecht in der HVH § 48, 13; § 50, 15; § 51, 17; Eintragung des Namens in BewPlan § 60, 2; Pflichten § 25, 4 ff; kein Zeugnisverweigerungsrecht § 25, 13; Rechte § 25, 14; Hilfstätigkeit § 25, 7; s.a. BewHilfe. Bewährungshilfe § 24 f; bei Soldaten § 25, 17; bei Aussetzg. d. Verhängg. d. JStr. § 29; bei Entlassg. z. Bew. § 88, 16. Bewährungsplan § 60; Verf. § 58, 2; Zuständigk. § 60, 11; – bei Aussetzg. d. Verhängg. d. JStr. § 64. Keine Vorführung z. Aushändigung § 60, 7. Bewährungszeit § 22; s.a. § 26a, 2; Verf. Anfechtg. § 58; – bei Aussetzg. d. Verhängg. d. JStr. § 28; § 62, 2. Wirkg.: Beschränkg. d. BewAufl. § 23, 4; Ruhen d. Vollstr.- bzw. Verfolgungsverjährg. § 22, 6; § 28, 1; ggf. Absehen von der Einbeziehung § 31, 22, 29; – Verschlechterungsverbot § 55, 48. S. auch „Unterstellungszeit“. Beweisanträge, Ablehng. im vereinfachten JVerf. § 78, 20. Beweisaufnahme über JGH-Bericht § 38, 34; im vereinfachten J-Verf. § 78, 20; s.a. „Bindung“. Beweismittel, Angabe im Bericht der JGH § 38, 31; Sachverständiger als Zeuge über Bekundungen des Untersuchten Anh. § 125, 32. Bezirksjugendrichter § 33b, 17 zugleich familienger. ErzAufgaben § 34, 4. Bielefelder Informationsmodell § 45, 17 FN 70. Bindung im Nachverf. an Schuldspruch § 30, 2; bei Einbeziehung § 31, 12; des FamG nach Überweisg. § 53, 7, 8; im Rechtsmittelverf. § 55, 23; an frühere Entsch. nach § 105: § 105, 44. Binnenschiffahrt, Zuständigkeit § 42, 3. Bundesgerichtshof, Zuständigkeit § 102, 1. Bundeswehr s. „Soldaten“. Bundeszentralregistergesetz Vor § 97 u. bei den einzelnen Vorschr. sow. §§ 97–101. Bürgerliche Ehrenrechte s. Verlust der „Amtsfähigkeit …“. Buße Geldaufl. als – § 15, 15. S. bei „ZuchtM“. Bußgeldverfahren s. Ordnungswidrigkeit. D Datenschutz Vor § 97, 27–38; § 25, 13; § 38, 47; § 70,3. Dauer d. BewZeit: f. StrAzBew. u. Entlassg. z. Bew. § 22 (iVm § 88 V 2); Aussetzg. d. Verhängg. d. JStr. § 28; der Unterbringg. § 73, 5; der Weisungen § 11, 1; der Betreuungswei-

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sung § 10, 19 aE; § 11; beim sozialen Trainingskurs § 10, 22; § 11, 1; s. auch „Unterstellungszeit“ § 25, 1 u. 2. Dauerarrest § 16, 22. Dauerdelikt § 31, 2; bei verschiedenen Alters- u. Reifestufen § 32, 19; § 1, 20; § 3, 8. Dauerverbrechen s. „Dauerdelikt“. DDR s. „Neue Bundesländer“. Dienstaufsicht über BewH § 25, 3. Dienstaufsichtsbeschwerde gg. Einstellg. d. Verf. § 45, 51; § 80, 3; gg. Vollzug § 83, 4. Dissoziation der Reife Einf. 80. Disziplinarrest s. „Anrechnung“. Disziplinarmaßnahmen im JAVollz. § 90, 11. Disziplinarvorgesetzter, Anhörung, Folgen d. Nichtanhörung § 112d; s.a. § 43, 12. Diversion § 45, 6 ff; Meinungsstreit § 45, 8 ff; Rechtsfragen § 45, 16 ff. Vgl. auch „Jugendstaatsanwalt“ aE. Diversionstag § 45, 18. Dolmetscher Einf. 51; § 68, 21. Drogen Einf. 65–71; Alkohol Einf. 65; Einzelhinweise auf Ausführungen im Zusammenhang mit Drogen Einf. 72. Drogenkonsum Einf. 71 aE. Dunkelfelduntersuchungen Einf. 4. E Ehe, Bedeutung für die Altersreife § 105, 9, 13. Ehrenamtlicher Bewährungshelfer § 25, 16; Bestellg. § 58, 1. Ehrenrechte s. „Verlust d. Amtsfähigkeit …“. Eid s. „Vereidigung“. Eidesmündigkeit u. Altersreife § 3, 21. Eigenständigkeit d. JR Einf. 82; des JGerichts § 33b, 1; d. JStr. § 17, 1. Eignung f.d. JStr. Vollz. § 114 RL 1; s.a. „erz. Befähigg.“. Einbeziehung § 31, 3, 5; einer ErwStraftat § 32, 8–10; „Gesamtfreiheitsstrafe“ durch Einbez. einer JStrafe § 32, 11–16; auch § 105, 39; nachträgl. – § 66; Absehen v.d. – § 31, 21; § 66, 6; Urteilsfassung § 54, 8; s.a. „Einheitsstrafe“. Einfluss auf Lebensführg. durch Weisungen § 10, 4. Einheit, Grundsatz d. – von JRi. u. FamG § 34, 4. Einheitsprinzip s. „Einheitsstrafe“, „Einbeziehung“. – in der Vollstr. § 82, 1. Einheitsstrafe §§ 31 f, 66; Bedeutung § 31, 1; Geltungsbereich § 31, 1 ff, 37 ff; s.a. § 66, 12; § 105, 39; § 32, 8; Zuständigk. § 41, 55; gleichzeitige Aburteilung § 31, 3; § 32, 1; getrennte Aburtei-

lung § 31, 5, 21; § 32, 8; nachträgl. Bildung § 66; EinheitsJStrafe durch Einbez. einer ErwStraftat § 32, 8–10; „Gesamtfreiheitsstrafe“ durch Einbez. einer JStrafe § 32, 11–16, auch § 105, 39; § 109, 14; § 31, 37; § 66, 12; Wirkungen § 31, 17, 18; im Rechtsmittel- u. Wiederaufnahme-Verf. § 55, 10; Teilvollstr. § 56 – u. Amnestiegesetz § 31, 7, 18aE; Anfechtbark. § 31, 19. – Verschlechterungsverbot § 31, 19. Wirkung des Auslieferungsrechts § 31, 4, 16, 20. Einfluss auf lfd. Bew. § 31, 15. – S. auch „Einbeziehung“ und Rückfall oder Sicherungsverwahrung § 31, 18; – und Führungsaufsicht § 7, 12; Zuständigkeit § 41, 55. Einigungsvertrag § 1, 11–18. Einleitung der Vollstr. Vor § 82, 4, § 84; § 85 RL I, II; nach Widerruf d. StrAzBew. § 26a, 14. Einsicht in d. Akten durch JGH § 38, 21; Verteidiger § 68, 7; auch OpferschutzG § 80, 15, 16; Vor § 97, 28 ff; s. auch „Akteneinsicht“; in d. Ermittlungsbericht der JGH § 38, 34; in d. Vorschlagsliste z. JSchöffWahl § 35 III 3. S. auch „Datenschutz“. Einsichtsfähigkeit § 3, 4; Behandl. i.d. Urteilsgründen § 54, 14. Einspruch gg. JSchöff-Vorschlagsliste § 35 IV. – gegen Strafbefehl § 109, 13. Einstellung d. Verf. bei Unzuständigk. d. JGer. § 33b, 25; wg. fehlender StrMündigk. § 1, 27; mangels Altersreife § 3, 10; § 45, 1; § 47, 11; bei Betäubungsmittelabhängigen § 45, 53 ff; wg. Fehlens einer strafb. Handlg. oder mangels Beweises § 45, 1; aufgrund des Opportunitätsprinzips des allgR § 45, 3; § 47, 4; bei Hw. § 109, 6; aufgrund des Subsidiaritätsprinzips des JR § 45, 6; § 47, 5; im Verf. zur Beseitigg. d. Strafmakels § 99, 2. Einstweilige Unterbringung in einem ErzHeim § 71, 4; zur Abwendg. d. UHaft § 71, 1, 4, 5; § 72, 3. Einteilung d. Delikte § 4, 1. Eintragung in Erz Rg. u. Zentralkartei Vor § 97. Einvernehmen nach KJHG § 10, 34, 48; bes. § 12, 6 f. Einweisung in d. JA-Anstalt § 85, 2; in d. JStr.Anstalt § 85, 3. Einzelunterbringung im JA-Vollz.; § 90, 8. Einziehung § 6, 5; § 55, 52. Elektronische Fessel § 10, 11; § 23, 2. Eltern Einf. 23 ff; ErzFehler Einf. 24; Straffälligkeit Einf. 25; des Hw. § 38, 45; vgl. auch §§ 67, 67a; s. ErzBerechtigte. 694

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Ende d. BewZeit § 22, 2 (i.V. auch m. § 28, 1; § 88, 16). Endtermin bei Weisungen § 11, 1; § 54, 4. England, JStrafrecht Einf. 140 FN 619. Entbindung d. Arztes v.d. Schweigepflicht § 67, 11; Anh. § 125, 33. Entfernung d. Angekl. aus d. Verh. § 51, 1; s.a. „Ausschließung“. Entgelt d. Tat, Entziehg. durch Geldaufl. § 15, 16. Entlassung z. Bew. bei JStr. § 88 (Voraussetzungen 1 ff, Verf. 10 ff, Nebenentsch., BewAufsicht, BewH 16 ff); Behandlg. im Zentralregister Vor § 97, 17; Einbeziehung § 31, 7. Entlassungsfürsorge s. allg. „fürsorgerische Betreuung“. Entlassungsvorbereitung § 88, 13. Entlastung des VollstrLeiters durch Rechtspfleger Vor § 82, 8. Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen § 47, 18; § 72, 17; d. Verletzten § 15, 3; Verf. z. – § 81; bei Hw. § 109, 10, 12; des ErzBer. u. ges. Vertr. § 50, 7. Entschuldigung § 15, 14; s. bei „ZuchtM“. Entwicklung der J u. Hw. Einf. 80. Entwicklungsmängel bei Hw. § 105 RL 1; unbehebbare § 105, 23. S. auch „Entwicklungsstörung“. Entwicklungsstand, Ermittlg. § 43, 5; Unterbringg. z. Beobachtung d. – § 73; Bedeutung bei d. Auswahl v. Weisungen § 10, 7; allg. s. § 1, 20; s.a. „Alter“ u. ff. Stichworte. Entwicklungsstörung (krankh.bedingte) § 3, 13. – S. auch „Entwicklungsmängel“. Entwicklungstäter Einf. 22; § 105, 14. Entziehung d. Fahrerlaubnis § 7, 14; § 3, 23; Zuständigk. § 41, 8, 20; Verhältnis zu ähnlichen Weisungen § 10, 32; Nachschulung § 10, 32; Verbot d. Schlechterstellg. § 55, 51; – d. Jagdscheines § 6, 5; d. Rechte d. ErzBer. u. ges. Vertr. § 67, 24. Entziehungsanstalt, Absehen von – § 5, 2; § 7, 7; Voraussetzungen § 7, 5; auch § 10, 40, Vollzug und Therapie § 93a. – nicht im vereinf. JVerf. § 78, 3. Entziehungskur § 10, 40–43; s. auch „Urinprobe“ und „HIV-Infizierte“. Entzugserscheinungen bei Drogenabhängigen § 3, 17. Episode Einf. 5; 14 aE; 41. Erbieten zu Leistungen s. „Zusagen“. Ergänzung rechtskräftiger Entsch. bei mehrfacher Verurteilg. § 66; v. Weisungen § 11, 2, 4. 695

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Erlass der JStr., Voraussetzg. § 26a, 15; Verf. § 58, 1; Anfechtg. § 59, 8; Beseitigung d. Strafmakels bei – § 100; Einfluss auf GerStand § 42, 7. Erledigung, vollständige – v. Maßnahmen, Schuldspruch u. JStr. § 31, 7; § 66, 2. Ermahnung, Unterschied zur Verwarnung § 14, 1, 5; im formlosen jrichterl. ErzVerf. § 45, 36; bei Zuwiderhandlg. gg. Weisungen § 11, 5. Ermessen bei JStrAzBew. nein § 21, 13; § 57, 1; b. Entlassg. z. Bew. § 88, 8; b. Ausnahme v. JStrVollz. § 89b, 3; b. Milderg. d. allgR gg. Hw. § 106, 4 (nicht b. Reifegradentsch.: § 105, 32, 41); bei Beseitigung d. Strafmakels § 97, nicht bei § 100; s.a. bei den einzelnen Entsch. Ermittlungen zur Person, der JGH § 38, 28 (bei Hw. § 38, 43–45); Umfang § 43, 2, 9; s.a. § 112d, 6; zur Frage des Straferlasses § 26a, 1; wesentl. Ergebnis der – in d. Anklageschrift § 46, 5. Ermittlungsbericht d. JGH u. Verwertg. § 38, 34. Ermittlungshilfe durch JGH § 38, 28, 43. Ermittlungsverfahren §§ 43 ff; z. Beseitigg. d. Straf-makels § 98, 3 ff. Eröffnungsbeschluss Prüfg. § 47, 3; Wg. Zuständigk. s. § 41, 25; § 42, 9. Ersatz v. Schaden § 15, 3; § 81; d. notwendigen Verteidigungsauslagen § 74, 2, 5, 7; eines wegfallenden JSchöff § 35. Erstbericht des BewH § 25, 4. Erwachsenengericht §§ 102–104, 112, 112e. Beachte Hinweise nach d. GesText jeder Vorschrift. Zuständigk. gg. J u. Erw. § 103, 3; Verf. gg. J § 104, gg. Hw. § 112, gg. j. u. hw. Soldaten § 112e; wegen der Einzelfragen s. bei den einzelnen Vorschriften z.B. JGH § 104, 5; Zuständigk. § 41, 6, 13; § 103, 6; Persönlichk. Erforschg. § 43 RL 9, § 104, 5. Vernehmg. § 44 RL 1 S. 2, Verfolgungszwang §§ 45 RL 5, 47 RL 3, Öffentlichk. § 48, 3; Überweisg. an FamG § 104, 9; Rechtsmittelbeschränkg. § 55 RL 3; StrAzBew. § 58, 11; Erz.Ber. u. ges. Vertr. § 104, 6; notw. Verteidigg. § 104, 6; Mitt. § 70, 4; § 104, 6; UHaft § 72 RL 5. Erwachsenenstrafe gg. J, Folgen § 1, 24; Verhältnis z.d. Maßnahmen d. JGG § 55, 54 ff. Erwartung künftigen Wohlverhaltens § 21, 7. Erweitertes Schöffengericht § 33b, 17; im JSchutzVerf. Anh. § 125, 6. Erzieherische Befähigg. d. JRi. u. JStA § 37, 9; d. JSchöff. § 35, 3; d. Verteidiger § 68, 10. – Maßnahmen § 9, 1; als Voraussetzg. d. Einstellg. § 45, 17.

Erz

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Erziehung im JGG Einf. 83–91; Einzelhinweise auf Kommentierung Einf. 92; Erz. bei Hw. Einf. 94 f. Erz. u. Strafe Einf. 89 ff; § 17, 1; § 18, 13 ff. Erziehungsbedürftigkeit § 5, 1, 5; § 9, 4; § 10, 4. Erziehungsbeistand § 12, 2–4; Anwesenheitsrecht in der HVH § 48, 13; § 51, 17. Erziehungsbeistandschaft § 12, 2–4; nicht bei Hw. § 105, 35; § 12, 8; bei Soldaten § 112a, 2; Vollstr. § 82, 5; Ruhen § 8, 7. – S. auch „Erzmaßregeln“. Erziehungsberatungsstellen bei Heilerz. § 10, 36; bei Ermittlg. § 43, 12, 15. Erziehungsberechtigter, Begriff § 67, 1; Ausübg. der Befugnisse bei mehreren § 67, 10; – Rechtsstellung allg. § 67; bei polizeilicher Vernehmung des J § 67, 18–22; im vereinfachten JVerf. § 78, 20; im VollstrVerf. § 83, 8; vor ErwG § 104, 6; bei Hw. nicht § 67, 29. – Rechte § 67, 12–23; Anwesenheit i.d. Verh. § 48, 13; § 50, 7; Ausschließg. § 51, 6; Anhörg. im Vorverf. § 43, 12; bei Hw. § 38, 45; Einwilligg. in Weisungen § 10, 11, 23, 38, 44; Ladung § 50, 7; Mitt. § 67a, Anfechtungsrecht § 55, 4, 8, 35; § 67, 17; Entziehg. d. Rechte § 67, 24–27. S. auch „Eltern“. Erziehungscharakter d. ZuchtM § 13, 2. Erziehungsfähigkeit § 9, 4; § 10, 4. Erziehungsgedanke, Einf. 83–91. Erziehungsheim für einstweilige Unterbring. § 71, 4. Erziehungshilfe durch Disziplinarvorgesetzten § 112a, 5. Erziehungskurse s. soziale Trainingskurse. Erziehungsmaßnahmen nach § 3 S. 2: § 3, 22 ff; § 9, 2. Erziehungsmaßregeln, Begriff, Arten § 9, 2; Schuldvergeltung (Sühne) § 9, 6; Verhältnis zu ZuchtM u. JStr. § 5, 5–8 (s.a. § 21, 11), zu ErwStr. § 55, 59; gg. Hw. § 10, 7; § 105, 36; durch ErwG § 104, 8 ff; Überlassung d. Auswahl u. AO an FamG § 53; keine – nach Tilgung des Schuldspruchs § 30, 3. Rechtsmittelbeschränkg. § 55, 18; Verbot der Schlechterstellg. § 55, 38, 42; Wiederaufnahme des Verf. § 55, 65; – in Erz.- u. Zentralregister Vor § 97, 5; Vollständige Ausführg. § 31, 7. Erziehungsmethoden des JAVollz. §§ 16, 90. Erziehungsmündigkeit § 3, 1. ErzRegister Vor § 97, 1, 4–13; § 3, 26; § 13, 6; § 45, 3, 49; § 47, 19; § 65, 7. Erziehungsstrafvollzug § 17, 1 ff.

Erziehungsverfahren s. bei „formloses jrichterl. ErzVerf.“. Erziehungsziel Einf. 83–91. Erziehungszweck Einf. 83–91 u. bei Einzelvorschrif-ten. Ethische Reife § 3, 4. Etikettierungsansatz Einf. 7. EU-Richtlinie Einf. 130. F Fahrerlaubnis s. „Entziehung d. -“. Fahrlässigkeitstaten u. JStr. § 17, 31. Fahrverbot § 6, 5; § 8, 8; § 76 S. 1. Familie Einf. 23 ff; § 43, 6. Familienunterbringung als Weisung § 10, 11. Familienverhältnisse s. Familie. Fernwirkung d. Strafen, Einschränkung Vor § 97, 1 ff; keine – bei JA § 16, 1. Fluchtverdacht Voraussetzg. d. UHaft § 72, 7; Begründung § 72, 5; bei 14–15-jährigen § 72, 9; Sicherungshaftbefehl Nach § 60, 5. Flüchtlinge Einf. 47. Formel s. „Urteil“. Formloses jrichterl. ErzVerf. § 45, 1 ff; § 47, 1 ff; § 109, 6; auch JGH § 38, 27; Geltung des Verschlechterungsverbotes § 55, 60. Formulare für Bericht der JGH § 38, 29. Fortbildung der JRi. u. JStA § 37, 9, 18; § 93a, 3. Fortgesetzte Tat im JRecht § 31, 2; bei Erstreckg. über verschiedene Alters- u. Reifestufen § 32, 5, 19; § 1, 20; § 3, 8; § 105, 21. Fragebögen für JGH Bericht § 38, 29. Fragerecht d. ErzBer. u. ges. Vertr. § 67, 14. Frauen als JSchöff. § 33b, 16; s.a. § 35, 4. Freiem Fuße (auf) § 42, 6. Freiheitsdrang d. J § 18, 32. Freiheitsentziehung, Berücksichtigg. bei JA § 52a, 8 ff; Anrechng. auf JStr. § 52a, 12 ff. Freiheitsstrafe, Verhältnis z. JStrafe § 17, 1; § 55, 55; Einbeziehung § 31, 37; § 32, 8; Vollzug in d. JStrafanstalt § 114; Zuständigkeit zur Vollstr. der Freiheitsstrafe § 89a, 7; – von mehreren Freiheits- u. JStrafen § 89a, 8; Reihenfolge § 89a, 10; Unterbrechung der JStrafe zur Vollstr. der Freiheitsstr. § 89a, 12–17; lebenslange Freiheitsstrafe u. JStrafe § 89a, 19, 20. Freispruch mangels Altersreife § 3, 10; u. Verteidigungsauslagen § 74, 2, 5. Freizeit, Gestaltg. d. – Einf. 29; im JA Vollz. § 90, 10. 696

Sachregister

Freizeitarrest § 16, 20; Umwandlg. in Kurzarrest § 16, 21; § 86. Freizeitarrest-Raum § 90, 13. Frühkindliche Eindrücke Einf. 18; Hirnschädigung Einf. 18. Frustration Einf. 36. Führerschein und Altersreife § 105, 10; s. auch „Entziehung d. Fahrerlaubnis“. Führung, einwandfreie § 21, 7; z. Beseitigg. des Strafmakels § 97, 7; schlechte – bei StrAzBew. § 26a, 5, 6; bei Aussetzg. d. Verhängg. d. JStr. § 30, 9. Führungsaufsicht § 7, 9; § 82, 3. Führungszeugnis Vor § 97, 21; § 21, 20. Fürsorge s. „fürsorgerische Betreuung“. Fürsorgeerziehung s. Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2. Fürsorgerische Betreuung durch BewH § 25, 7; JGH § 38, 8–12, 42; bei Hw. u. Volljährigen § 38, 43–45; im JA Vollz. § 90, 9. Hilfen nach dem SGB VIII § 10, 34; bes. § 45, 29. Funktionelle Zuständigkeit § 41, 7, 49; s. „Zuständigk. d. JG“ u. „Zuständigkeit (funktionelle)“. Fußballfans Einf. 64. G Gaststättenverbot § 10 I Nr. 8, aber auch Rn 31. Gebote, Weisungen als – § 10, 2. Gebühren, Gericht – § 74, 6. Gebührenpflichtige Verwarnung d. die Polizei: Vor § 76, 1 ff. Geburtenrückgang § 37, 18; § 45, 8. Gefährdung einer ErzM durch JStrVollz. § 21, 11. Gefangene, zu JA Verurteilte § 90, 13. Gehilfe s. Beihilfe. Gehör, Grundsatz des – § 67, 13; im vereinfachten JVerf. § 78, 20; bei Entlassung z. Bew. § 88, 11. Geisteskrankheit u. Altersreife § 3, 13; u. JStr. § 17, 20; u. JStrR § 105, 23; Ermittlungen u. Untersuchg. § 43, 15; § 73, 4. Geisteszustand s. „Geisteskrankheit“. Geistige Entwicklung Hw. § 105, 17. Gelbe Karte § 45, 18. Geldauflage § 15, 15; Beitreib. § 15, 20. Geldbußen § 1, 2. Vgl. auch „Ordnungswidrigkeit“. Geldstrafe Einbeziehg. einer – § 32, 8; Verhältnis zu den Maßnahmen des JGG § 55, 59; gg. Hw. vgl. § 109, 13. Gelegenheitskriminalität § 16, 2; § 17, 15; s.a. § 18, 13. 697

Gew

Geltungsbereich d. JGG s. „Anwendungsbereich“. Gemeinnützige Einrichtung als Empfänger einer Geldauflage § 15, 17. Gemeinsames JSchöffG § 33b, 17; § 35, 3. Gemeinschaftstäter Einf. 58; § 105, 11. Gemeinschaftsveranstaltungen im JA Vollz. § 90, 9. Generalprävention bei JStr. § 17, 1; § 18, 21; bei StrAzBew. § 21, 12. Generalstaatsanwalt als Beschw.Instanz im Vollstr.Verf. § 83, 4. Genugtuung für Verletzten bei Privatklagedelikten § 80, 2. Gerichtsgebühren § 74, 6. Gerichtsstand, bes. – d. JG für J § 42; für Hw. § 42, 5; § 108, 6; d. allg. VerfR § 42, 1; Auswahl unter mehreren – § 42, 8; durch StA § 36, 4; Abgabe d. Verf. bei Aufenthaltswechsel § 42, 11; § 108, 7. Gerichtsverfassung d. JG §§ 33 ff. Gesamthaftung bei Kosten § 74, 6 aE. Gesamtpersönlichkeit § 43, 5; bei Hw. § 105, 17. Gesamtstrafenbildung bei Taten in verschiedenen Alters- u. Reifestufen § 32, 2, 8; nachträgl. – § 66; mit Strafen d. ErwR § 105, 39; § 109, 14; § 31, 37; § 66, 12. Geschäftsverteilung der JG § 34, 3 ff; § 41, 26; der StA § 36, 11; Geschäftsverteilungsplan § 33b, 26. Gesetzeskonkurrenz, Behandlg. bei Prüfung der Altersreife § 3, 9. Gesetzlicher Richter Vor § 33, 5. Gesetzlicher Vertreter, Begriff § 67, 1; Rechtsstellg. allg. § 67, bei Hw. keine § 67, 29; vor ErwG. § 104, 6; im vereinfachten JVerf. § 78, 20; im VollstrVerf. § 83, 8; Rechte: § 67, 12 ff; s. auch Anfechtgs.R. § 55, 4, 35; § 67, 17. Anhörung in Vorverf. § 43, 12; AnwesenheitsR § 48, 13; § 50, 7 (Ausschließg. § 51, 6); Ladung § 50, 7; Mitt. § 67a; Entziehg. d. Rechte § 67, 24; wg. Ausschließg. v.d. Verh. s. § 51, 6; s.a. § 104, 6. Zustimmung zu Aussagen von Kindern Anh. § 125, 26; bei polizeilicher Vernehmung § 67, 18 ff. Geständnis, Voraussetzg. d. formlosen jrichterl. ErzVerf. § 45, 34; s.a. „Prozessverhalten“. Gewaltkriminalität Einf. 35; s. auch Fußballfans 64, politischer Hintergrund 61, Schule 37, Vandalismus 38. Gewinn d. Tat, Entziehg. durch Geldaufl. § 15, 16.

Gla

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Glaubwürdigkeit Kindliche Zeugen Anh. § 125, 17 ff. Gleichzeitige Aburteilung mehrerer Taten aus verschiedenen Alters- und Reifestufen § 32; Zuständigk. Vor § 102, 2. Glen Mills § 71, 4 FN 8; 72, 5. Glücksspielsucht § 3, 18 FN 77. Gnadenrecht im Verhältnis z. StrAzBew. § 21, 2. Gnadenwesen, Geltg. d. Vorschriften § 2, 12; § 13, 7; § 31, 7; § 57, 4; § 58, 14; Zuständigk. Vor § 82, 7; § 87, 7; s. auch § 110, 3 aE. Graffiti-Delikte § 45, 27. Gröbliche Zuwiderhdlg. § 26a, 5. Grundgesetz und Weisungen (= BewAuflagen) § 10, 9; – ErzMaßnahmen gg. Volljährige, Einf. 94 f. Gruppenkriminalität Einf. 58 ff. Gutachten über den Entwicklungsstand s. §§ 43, 73; auch §§ 3, 105. S. auch „Sachverständige“. Gutpunktsystem § 43, 11; Einf. 76. H Haartracht in Sitzung Vor § 33, 6. Haftbefehl § 72; bei zu erwartendem Widerruf d. StrAzBew. § 453c StPO (Nach § 60); einstweilige Unterbringg. in ErzHeim statt UHaft § 71, 7; Ersetzg. des Unterbringgsbef. durch Haftbef. § 71, 4; § 72, 3. Keine weitere Beschw. bei § 453c StPO; Mitteilungen an und Hilfe durch JGH § 72, 4; § 72a; bes. Begründung bei 14- u. 15-Jährigen § 72, 5 u. 9; Fluchtgefahr § 72, 8 u. 9; weitere Haftgründe § 72, 10: Verfahren § 72, 11. Haftform im JA-Vollz. § 90, 8. Haftgericht § 33b, 17. Haftpflicht bei Weisungen u. Auflagen § 10, 46. S. auch „Versicherung“. Haftpflichtversicherung, Abschluss eines – Vertrags als Weisung § 10, 32. Haftprüfungsverfahren bei Unterbringungsbefehl § 71, 11; kein – bei Haftbefehl nach § 453c StPO: Nach § 60, 12. Hammer Modell § 45, 17 FN 70. Handlungseinheit, natürliche § 31, 2. Hauptamtlicher Bewährungshelfer, Stellung, Aufgaben, Auswahl § 25; s.a. § 113 u. bei „BewHelfer“. Hauptverfahren §§ 48–54; für vereinfachtes JVerf. § 78, 17. Hauptverhandlung, Einf. 112, auch 63; Anwesenh. des Angeklagten § 50, 1; § 51, 1; v. ges. Vertreter u. Erz. § 50, 7; § 51, 6; § 48, 13; Stellg. d. JGH

§ 50, 12; Anwesenheitsberechtigte u. Zulassg. anderer Personen § 48, 22; § 51, 17 f. Haus des JRechts § 45, 18. Hausstrafgewalt s. Disziplinarmaßnahmen. Hehlerei § 1, 29; § 67, 24; § 105, 15. Heilerzieherische Behandlung § 10, 36–39; § 57, 6. Heil- oder Pflegeanstalt s. psychiatrisches Krankenhaus. Heim, Weisung, in einem – zu wohnen § 10, 11. Heimaufenthalt, Einfluss auf GerStand § 42, 6. Helfer s. Betreuungshelfer. Heranwachsende, Allg. Einf. 94 f; Alter 124 ff.; Anwendung d. JR § 105; Volljährigkeit Einf. 94 f, 124 ff; Voraussetzungen § 105, 3; Verf. dabei § 105, 40; Besonderheiten des JR § 105, 4; Milderg. d. allg. StrR § 106. Ausdehng. d. JGerichtsbark. § 107; sachl. u. örtl. Zuständigk. § 108, 1 u. 5. Verfahren gg. Hw. § 109; Stellg. d. JGH § 38, 43 ff; Persönlichkeitserforschg. § 109, 1; Weisungen § 10, 7 u. 33; § 105, 36; § 55, 22; Urteilsgründe § 54, 15, 19; die bes. VerfArten § 109, 10; formloses ErzVerfahren § 109, 6; Verf. gg. Hw. vor dem ErwG § 112. Anwesenheit § 105, 28; EinheitsJStr. m. Str. n. allg. R § 105, 39; § 109, 14; § 31, 37; § 66, 12. Vollstr. u. Vollz. § 110; Beseitigg. des Strafmakels § 111; Reform des HwRechts Einf. 124 ff; Erz. Einf. 94 f. Herausnahme s. „Ausnahme“. Hilfe durch BewH § 25, 7; JGH § 38, 8 ff, 42. Hilfen zur Erz. s. SGB VIII. Hilfen zur Erz. nach § 12 Nr. 1 u. 2 s. § 12, 1 ff; AO im Strafverfahren § 12; durch FamG § 53, 6, 9; keine Umgehung durch Weisung § 12, 9; nicht gegen Hw. § 12, 8; § 105, 34; nicht gegen Soldaten § 112a, 2; nicht neben Aussetzung der Verhängung der JStrafe § 27, 14; Verhältnis zur JStrafe § 17, 37; Anfechtung § 55, 18; Schlechterstellung § 55, 39; Verhältnis zur ErwStrafe § 55, 58; Vollstreckung § 82, 5. Hilfsschöffen § 33b, 16; § 35, 3. HIV-Infizierte s. Aids. Höchstgrenze des JArrestes § 16; der JStr. § 18 I, bei Einheitsstr. § 31, 3, 32, 33; bei Ungehorsam § 11, 9; auch § 82, 18 für OWiG. Höchstmaß d. JStr. § 18, 3, 4; bei Einbez. § 31, 32–34. Höchststrafe d. allgR, Bedeutg. für d. JStr. § 18, 6, 28–32. Höheres Gericht, Zuständigk. § 41, 27. 698

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I Idealkonkurrenz § 31, 2. Inaussichtstellen d. Entlassg. z. Bew. Einf. 112 aE. In dubio pro reo bei Zweifeln über d. Alter § 1, 23; bei Feststellg. d. Altersreife J § 3, 11; bei der Reifegradentsch. Hw. § 105, 31. Instanzenzug § 41, 7, 49; bei verbundenen Verfahren § 103, 22. Intellektuelle Entwicklung, Einf. 27 f; § 3, 4; s.a. „geistige Entwicklung Hw.“. Intensivtäter s. Mehrfachtäter. Interlokales, internationales StrR § 1, 5. Internationale Regelwerke Einf 130. Internationales RechtshilfeG § 1, 5. Irrtum bei der Einordnung in eine Altersgruppe § 1, 24; s.a. „Tatbestandsirrtum“ u. „Verbotsirrtum“. Islamismus Einf. 61. J Jagdschein, Entziehg. § 6, 5. Jahresfrist für JA-Vollz. § 87, 1. Jugendamt, Ausübg. d. JGH u. örtl. Zuständigk. § 38, 4, 5. JugendarbeitsschutzG (bei Arbeitsweisung) § 10, 17. Jugendarrest § 16; Vollstr. § 85, 2; §§ 86 f (s. „JAVollstr.“), Vollz. § 90 (s. „JAVollz.“). Rechtsnatur § 16, 1; keine Aussetzg. z. Bew. § 87, 5; Gnadenerweis § 87, 1, 5, 6. Anwendungsbereich § 16, 2, 16; gg. Soldaten § 112a, 8 (s. 112d, 5); mehrmalige Verhängg. § 16, 15; neben Aussetzg. d. Verhängg. d. JStrafe § 27, 13 (Anrechnung d. JA im Nachverf. § 30, 14); Verhängg. bei Zuwiderhandlungen gegen Weisungen und Auflagen § 11, 5; §§ 15 III, 65; gegen BewAufl. §§ 23 I 3, 26a, 9; höchstens 4 Wochen § 11, 9; auch § 82, 18 für § 98 OWiG; Absehen v. Vollstr. § 11, 10; § 87, 3; nach Auswahl durch d. FamG § 53, 8; Formen § 16, 20; Registrierung Vor § 97, 6. S.a. „Zuchtmittel“. Berücksichtigung v. UHaft § 52a, 8; § 87, 7; Beschränkg. der Anfechtbark. § 55, 18; Verbot der Schlechterstellg. § 55, 39, 42, 49, 58. Eintragung ins ErzReg. Vor § 97, 5, 6. Jugendarrestanstalt, Begriff § 90, 13; Vollz. v. Haftstrafen § 1, 3; nicht d. Unterbringungsbefehls § 71, 4. Jugendarrestvollstreckung §§ 86 f, § 85 RL V, gg. Soldaten § 112c, 3 (s. § 112d, 5); Aufschub u. Unterbrechg. § 87, 6; VollstrVerbot § 87, 1; Ab699

Jug

sehen v. – § 87, 9; § 112c, 1, 3; Abgabe d. Vollstr. § 85, 2, 18. Jugendarrestvollzug § 90; bei Soldaten § 112c, 2. Jugendarrestvollzugsordnung § 16, 2; § 90, 6. Jugendärztliche Untersuchung § 43, 15. Jugendfragebögen für JGH Bericht § 38, 29. Jugendgemäße Tatbestandsauslegung § 2, 11. Jugendgerichte, Spezialisierg. Aufbau, Besetzg. § 33b, 1 ff; Geschäftsbereich § 33b, 19 ff; § 107; Ausnahme v.d. (funktionellen) Zuständigk. Vor § 102, 1, 2; Verhältnis zu d. ErwG § 33b, 4 ff; § 103, 5; zu d. Verwaltungsbehörden § 33b, 36; Sachl. u. örtl. Zuständigk. §§ 39–42, 108; funkt. Zust. gg. Erw. § 33b, 6; § 103, 6. Jugendgerichtsgesetz, Rückwirkg. § 116. – Änderung: Planung eines JHilferechts Einf. 119, 120; Diskussion um Strafmündigkeit Einf. 121–123; zu Hw. Einf. 124–129; Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen (Beijinger Grundsätze) Einf. 120; 122 aE, 130; § 45, 6 aE; JGGÄndG u. Weiterentwicklung Einf. 131 ff; § 45, 22; s. auch bei SGB VIII; Geltung des JGG im Gebiet der ehemaligen DDR § 1, 11 ff; s. auch DDR. Reform durch die Praxis Einf. 110; § 45, 7, 20. Siehe auch Reform. Jugendgerichtshilfe § 38, Einf. 107; Bedeutg. § 38, 1; bei Ordnungswidrigkeiten § 38, 26; bei Hw. § 38, 43–45; bei Soldaten § 112d, 3; vor ErwG § 104, 5; JAmt als Träger § 38, 4; Hilfen § 38, 8–12; § 45, 11 aE, 32, 56; § 47, 12; Hilfen zur Erz. § 38, 10, auch § 45, 29; insgesamt bei „SGB VIII“; Stellg. im Verf. § 38, 3, 6; im formlosen jrichterl. ErzVerf. § 45, 11, 19, 32, 46; § 47, 12; im vereinfachten JVerf. § 78, 18, 20; bei UHaft § 72, 4; § 72a; i.d. Hauptverh. § 38, 19; § 50, 12; Anwesenheit § 38, 19, 20; § 48, 13; § 51, 18; Folgen d. Nichtheranziehg. § 38, 22, 23; Verhältnis z. JRi., JStA § 38, 7; z. BewH § 38, 41; Bericht § 38, 28a–33. Mitt. allg. s. § 70; Mitt. durch JGH an Dritte § 43, 12; § 38, 45; Zeugnisverweigerung § 38, 37–40. Aufgaben: PersönlichkErforsch. § 38, 28; § 43, 3; bei Hw. § 38, 43–45; § 106, 4; § 107, 1; überwachende Tätigk. § 38, 41; Nachgehende Betreuung § 38, 42; Prävention und Krisenintervention § 38, 49–51; § 78, 18. Jugendgerichtsverfassung §§ 33 ff, für Hw. § 107. Jugendgerichtsverhandlung Einf. 112; Gespräch am Runden Tisch Einf. 113. Jugendgruppe, Austritt, Eintritt als Weisung § 10, 9, 31.

Jug

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Jugendhilfe, Zusammenwirken v. amtl. u. freier –, Übertragg. v. Geschäften § 38, 4; s.a. „Jugendgerichtshilfe“ u. bes. „SGB VIII“. Jugendhilfeausschuss § 35, 3, 4. Jugendhilfegesetz, Einf. 119 ff u. bes. „SGB VIII“. Jugendhilfsschöffen § 33b, 16. Jugendkammer, Besetzg. § 33b, 10; Auswahl d. Richter § 37, 9 ff; Geschäftsverteilg. am LG § 34, 2; Sachl. Zuständigk. § 41, 11; bei Hw. § 108, 1; große u. kleine JKammer § 33b, 10; im JSchutzverfahren Anh. § 125, 6; Vorlage u. Übernahme v. Sachen bes. Bedeutg. § 41, 47. Örtl. Zuständigk. § 42, 1; § 108, 6. Jugendkriminalität, Ursachen u. Formen Einf. 17 ff. Jugendpsychiater § 43, 15; Anh. § 125, 19. Jugendpsychologe § 43, 15; Anh. § 125, 19. Jugendrechtshäuser Einf. 79 FN 362. Jugendrichter §§ 34, 37, 39; § 33, 1. Aufgaben § 34, 1; Stellg. § 37, 1; Auswahl, Befähigg., Fortbildg. § 33, 1; § 37, 9–14; Freiheit u. Grenzen § 37, 1–4; Eigenschaften § 37, 5; Rechtsfolgenbestimmung § 37, 6–8; Einheit v. JRi. u. FamG § 34, 4; Bezirks- § 33b, 17. Zuständigk. (sachl.) § 41, 8–10 (Strafgewalt i.d. Hauptverh. § 41, 24); gg. Hw. § 108, 1, 2; gg. Erw. § 41, 9; § 103, 5. Im formlosen ErzVerf. § 45, 39 ff; § 47; im verfeinf. JVerf. § 78, 1 s.a. „VollstrL“ u. „VollzL“. Geburtenschwache Jahrgänge § 37, 18. Jugendrichterliche Entscheidungen im VollstrVerf. § 83, gg. Soldaten § 112c. Jugendschöffen § 33b, 16; Ersatz § 35, 3; s.a. „Hilfs-Schöff.“ u. „JSchöffG“. Jugendschöffengericht, Besetzg. § 33b, 10; Bezirks- § 33b, 17; Einheit v. JRi. u. FamG § 34, 4; Auswahl s. „JRi.“ und „JSchöff.“; Zuständigk. (sachl.) § 41, 20; gg. Hw. § 108, 1, 2; gg. Erw. § 41, 5, 22; § 42, 1; § 108, 6; im JSchutzVerf. Anh. § 125, 5. Jugendschutzkammer Anh. § 125, 1 ff. Jugendschutzsachen Anh. § 125; Geschäftskreis d. JStA dort 5, 12. Jugendschutzverfahren Anh. § 125; Glaubwürdigkeit 17; Aussage- u. Untersuchungsverweigerungsrecht 24, 30; Zustimmung d. gesetzl. Vertreters 26, Eidesfähigkeit 25 aE. S. auch „JSchutzsachen“. Jugendstaatsanwalt §§ 36, 107; Abgrenzg. d. Zuständigkeit z. allg. StA § 36, 3, 11; örtl. Zuständigk. § 36, 14; § 42, 4; Einfluss auf Zuständigk. d. Ger. (sachl.) § 41, 8; § 103, 4;

(örtl.) § 42, 8, 9; Zustimmung z. Abgabe nach Aufenthaltswechsel § 42, 12; u. Persönlichkeitserforsch. § 43, 14, 21; § 44, 4; Mitt. § 70; Stellg. im vereinfachten JVerf. § 78, 18, 21. Dateien Vor § 97, 34–38; Auskunft an andere Behörden Vor § 97, 35; Akteneinsicht Vor § 97, 27 u. 37. Aufgabe u. Verantwortung, § 33b, 1; § 37, 1; § 36, 4; Auswahl, Befähigg., Fortbildg. § 37, 9–14; Spezialreferate § 36, 3; § 103, 4; Zuständigk. § 36, 11–14; Stellg. im Verf. § 36, 4; zur Verbindung § 36, 11; § 103, 4, 8; Antragstellung § 36, 10; Zuständigk.Wahl § 36, 4; UHaft-Ersetzung § 36, 4 aE; im vereinfachten JVerf. § 78, 18; in d. Hauptverh. § 36, 9; Absehen v.d. Verfolgg. § 45; Verfolgg. von Privatklagedelikten § 80, 3; wegen Anhörg. s.d. einzelnen Vorschriften (z.B. § 57, 5; § 58, 4; § 87, 8; § 88, 11; § 98, 7). Amtsanwälte § 36, 7; Referendare § 36, 8. Diversion durch den StA: § 45, 6 ff, 23 ff; Voraussetzungen § 45, 31–35; Sanktionen § 45, 36, 37; Zuständigkeit bei Vollstr. § 85, 22 aE. Jugendstrafanstalt Vollz. d. FreiheitsStr. i.d. – § 114. Jugendstrafe §§ 17–19; 88, s.a. „Aussetzung d. JStr. z. Bew.“, „Aussetzung d. Verhängung d. JStr.“ u. „Jugendstrafanstalt“. Rechtsnatur § 17, 1; RL 2 Entwicklung u. Diskussion § 17, 3 ff; bei 14- bis 15-Jährigen § 17, 5; Vollzug in Diskussion § 17, 9; Voraussetzungen § 17, 11; schädl. Neigungen § 17, 15; Schwere der Schuld § 17, 25; bei Fahrlässigkeit § 17, 31; Abgrenzungen § 17, 35; Einf. 91. Strafbemessg. § 18, 6 ff; ErzGedanke § 18, 13; Schuldvergeltung § 18, 17 u. 23 ff; Generalprävention § 18, 21, 22; Ermöglichen der Berufsausbildung § 18, 16; Mindest- u. Höchstmaß § 18, 1 ff; Höchststrafe des allg. Rechts § 18, 28 ff; Anrechng. v. UHaft § 52a, 3, 12; Urteilssatz und -gründe § 54, 3, 11, 15; Belehrg. über Zweck § 17 RL 2; Verschlechterungsverbot § 55, 42; vollständige Verbüßg. § 31, 7; – u. Beamtenrecht § 17, 13; – u. Rückfall bei Sicherungsverwahrung § 17, 12. Vollstr. §§ 88 f, § 85 RL VI, erst nach Entsch. über StrAzBew. § 89; Übergang d. Vollstr. § 85, 3–7; Entlassg. z. Bew. § 88; Vollz. Vor § 90; wie FreiheitsStr. § 89b; Zentralregister Vor § 97, 15. Zuständigkeit zur Vollstreckung bei JStrafe § 89a, 1–6; bei Freiheitsstrafe § 89a, 7; bei mehreren J- u. Frei700

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heitsstrafen § 89a, 8; Unterbrechung der JStrafe § 89a, 12–18; – und lebenslange Freiheitsstrafe § 89a, 19, 20; – Zurückstellung der Strafvollstreckung nach BtMG § 17, 40 ff. Jugendstrafrecht. Anwendg. auf Hw. § 105; bei Verfehlungen in verschiedenen Alters- u. Reifestufen § 32, 2. Jugendstrafverfahren Einf. 108 ff; §§ 42–81, Hw. § 109, Soldaten s.a. § 112c, s. bei den einzelnen Vorschriften bes. „vereinfachtes JVerf.“; „Verf.“; Rechtsstellung des Verletzten. Jugendstrafvollzug Diskussion zum Vollzug § 17, 9; Ausnahmen vom – § 89b; Gesetzgebung Vor § 90. Jugendverfehlung, Begriff § 105, 24; Erkenntnisgrundlagen § 105, 28. Jugendvertrag, dänischer Einf. 140 FN 619. Jugendwohlfahrtsausschuss s. JHilfeausschuss. Jugendzurechnungsfähigkeit (Schuldfähigkeit) § 3; Folgen des Fehlens § 3, 10; s.a. „Altersreife“. JustizmitteilungsG Vor § 97, 30. Justizverwaltung s. „Landes-“. K Kinder § 1, 25; Kinderdelinquenz Einf. 20, 21; als Zeugen § 1, 3, 4; Anh. § 125, 17 ff. KindschaftsreformG § 34, 1; § 84, 4. KJHG (Kinder- u. JHilfeG) Einf. 137; s. SGB VIII. Klageerzwingungsverfahren § 1, 27; § 45, 2, 51; § 80, 3. Kleine Strafkammer § 33b, 9. Kommunale Kriminalprävention Einf. 79. Kompensation bei Kindern § 1, 28; bei fehlender Altersreife § 3, 12. Kompetenzkonflikt (negativer) § 33b, 30; § 103, 21 aE. Konfliktkriminalität § 17, 15; § 21, 15; Einf. 22. Konkrete Betrachtungsweise § 41, 3, 8. Kontrollinstanzen Einf. 7. Konzentration der örtl. Zuständigk. § 42, 2. Koppelung verschiedener Maßnahmen § 8. Vgl. § 27, 13–15. Koppelungsverbot § 8, 2–4; Geltg. bei Aussetzg. d. Verhängg. d. JStr. § 8, 4; ggü. FamG § 8, 3. Körperliche Entwicklung des Hw. § 105, 18. Körperliche Untersuchungen u. Eingriffe § 43, 15; § 73, 4; Anh. § 125, 30. Konsumgesellschaft Einf. 31. Kosten § 74; Begriff d. – u. Auslagen § 74, 6; notwendige Auslagen § 74, 2, 7; Anwaltskosten § 74, 2, 14; – des Bußgeldverfahrens § 74, 13; 701

Let

Vorschriften d. allg. VerfR. § 74, 1; – d. Durchführg. v. Weisungen § 10, 39, 47; § 23, 2; § 74, 10 Ausführg. vorl. AO über d. Erz. § 71, 14; Unterbringg. z. Beobachtg. § 73, 10; Verf. z. Beseitigg. d. Strafmakels § 99, 7; Absehen von der Auferlegg. § 74, 1, 3, 4; bei Hw. § 74, 1; RL 6; bei EinheitsStr. § 74 RL 2 S. 2, 3; -entsch. § 54, 7; Verbot der Schlechterstellg. § 55, 53. – der Nebenklage § 74, 9; Privatklage § 74, 18; – der Widerklage § 74, 18; im OWiG-Verf. § 74, 13. – als Wiedergutmachungsauflage § 15, 9. Kostenbeschwerde § 55, 26; § 59, 3; § 74, 16. Kraftfahrzeug-Verbot als Weisung § 10, 32; s.a. „Entziehung d. Fahrerlaubnis“. Kriminalität der jungen Ausländer Einf. 45. Kriminalpolizei s. „Polizei“. Kriminalprävention Einf. 79. Kriminologie Einf. 3–9; § 43, 5. Kurzschlusshandlungen § 16, 2; § 21, 9; Nach § 60, 5. L Labeling approach Einf. 7. Ladendiebstahl, Informationsgespräche u. Präventionskurse § 45, 32. Ladung d. ges. Vertr. u. ErzBer. § 50, 7; § 67, 16; zum JAVollz. § 85, 2. Ladungsfristen, keine – im vereinfachten JVerf. § 78, 18. Länderübergreifendes staatsanwaltliches Verfahrensregister Vor § 97, 38. Landesgesetze über d. BewH § 113. Landesjustizverwaltung, Bestellg. v. BezirksJRi. u. gemeins. JSchöffG § 33b, 17; d. bes. VollstrL § 85, 4; – als Träger der VollzEinrichtg. f. JA § 90, 13. Landesrecht (materielles) § 2, 13; § 6, 6. Lebensführung, Beeinflussg. durch Weisungen § 10, 4; -lange Freiheitsstr., Ersetzung bei Hw. § 106, 1 f; -lauf zur PersönlichkErforschg. § 43, 10, 11; -planung als Zeichen größerer Altersreife § 105, 13; -verhältnisse, Erforschg. § 43, 6. Legalitätsprinzip § 45, 2; Durchbrechg. § 45, 3; § 47, 4. Lehrer Einf. 27; § 70, 6 f; Anh. § 125, 22; s. „Schule“. Lehrherr s. Ausbildungsleiter. Lehrstelle, Weisung § 10, 33. Letztes Wort, Recht d. ErzBer. u. ges. Vertr. § 67, 13.

Leu

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Leugnen s. „Prozessverhalten“. Leumundszeugnisse § 38, 35. Lügendetektor Anh. § 125, 20. M Mädchendelinquenz Einf. 5. Marburger Richtlinien § 105, 1, 5. Massenmedien Einf. 30. Maßnahmen, allg. vergl. § 9, 1; zur Abwendg. des Widerrufs § 26a, 8; vorl. – vor Widerruf Nach § 60; vorl. – z. Erz. § 71; Erledigg. von – § 31, 7; des JGG gg. Erw., Folgen § 1, 24; s.a. „ErzMaßregeln“. Maßregeln d. Besserg. u. Sicherg. § 7, bes. § 7, 2; Zuständigk. f. AO § 41, 21; – für Vollstreckung § 85, 8–11. Einbeziehg. § 31, 8, 16; neben Aussetzg. d. Verhängg. d. JStr. § 27, 15; u. ErzRg. Vor § 97, 5; – Verschlechterungsverbot § 55, 50. – S.a. „Erz-“; Vollz. vor JStrafe § 88, 3; § 93a, 6; s. auch „Reihenfolge“. Mehrere ErzBer. § 67, 10; Anh. § 125, 27 – Straftaten § 31, in verschiedenen Alters- u. Reifestufen § 32, Verbindung Vor § 102, 2; § 103, 2; – Täter § 103, 2, 3. Mehrerlös Abführung § 6, 5. Mehrfachtäter Definition Einf. 41; Kriminolog. Bemerkungen Einf. 42; Sanktionen Einf. 43, 44. Mehrheit für StrAzBew. § 57, 2; für Schuldspruch gem. § 27: § 62, 1; für Reifegradentsch. § 105, 41; f. Aufnahme in d. JSchöff-Vorschlagsliste § 35, 3. Mehrmalige Verhängung v. JA § 16, 15; § 82, 18 für § 98 OWiG. Meineid als JVerfehlg. § 105, 24 FN 111; s. § 3, 21. Methadon § 10, 43. Milderes Gesetz im Verhältnis von J u. allgR § 1, 23; § 105, 31, 41. Mildernde Umstände s. „minder schwere Fälle“. Milderung d. allg.StrR f. Hw. § 106. Minderbegabung, Einfluss auf Reife § 3, 13; § 105, 14. Minder schwere Fälle JStr. § 18, 7. Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen Einf. 130; § 1,6 aE; § 45, 6 aE. Mindestmaß der JStr. § 18, 1; Anrechng. v. UHaft § 52a, 12. Mitteilungen § 70; bei Hw. § 109, 1; bei ErwG § 104, 2; § 70, 4; zwischen JRi u. FamG vgl. § 34, 4; zwischen Ger. u. JGH § 38, 11; § 72, 4; zw. Polizei und JGH § 38, 6, § 70, 5; an Zentral- u. Erz.Reg. Vor § 97, 20; an Schule § 70, 6; durch Schule § 70, 8; an ErzBer. u. ges. Vertr.

§ 67a; – der Urteilsgründe § 54, 18; v. Entsch. im vereinfachten JVerf. § 78, 19; d. Einstellg. d. Verf. § 45, 49. – durch JGH an Dritte § 43, 12 aE; § 38, 45, 47; BewHelfer an Dritte § 25, 13. Motivation bei Drogenabh. Einf. 68. MRK § 18, 10; § 52a, 17. Mündliche Eröffnung d. Urteilsgründe § 54, 18; Einf. 112. N Nachahmungstrieb, Kriterium f. j. Verhalten § 105, 11. Nachfolgende VollstrZuständigk. § 85. Nachschulung f. Kraftfahrer § 10, 32. Nachträgliche Abänderg. s. „Abänderung“ – AO v. BewAufl. § 23, 5; s.a. § 58. – s. BeschlVerf. über AO d. StrAzBew. § 57, 3 ff. – Entsch. über Weisungen u. Auflagen § 65. – Ergänzungsentsch. bei mehrfacher Verurteilg. § 66. – Zusammenfassg. v. ErwR u. Maßnahmen d. JGG § 32, 8; § 105, 39; § 109, 14; § 31, 37; § 66, 12. Nachtragsanklage § 46, 9. Nachverfahren nach Aussetzg. d. Verhängg. d. JStr. § 30. Nebenentscheidungen bei StrAzBew. § 58, bei Aussetzg. d. Verhängg. d. JStr. § 62 IV, bei Entlassg. z. Bew. § 88, 16. Nebenfolgen wie bei „Nebenstrafen“; s. dort; – der Freiheitsstrafe bei Hw. § 106, 3. Nebengeschäfte d. Vollstr. § 85 RL II 4; Zuständigk. Vor § 82, 13; § 84, 6. Nebenklage gg. Hw. § 109, 10; gg. J § 80, 7. – Wegen in verschiedenen Altersstufen begangener Taten § 109, 15. – Im verbundenen Verfahren gg. J u. Hw. o. Erw. § 109, 7. Nebenkläger, Minderjährige als – § 80, 13. – Kostenerstattung an – § 74, 9. Nebenstrafen § 6, f. Hw. § 106; Verbindg. § 8, 8; § 27, 15; Einheitsstrafe § 31, 8, 16; Verbot der Schlechterstellung § 55, 52. Nebenstrafrecht § 2, 6; § 6, 5 f. Neue Bundesländer Einigungsvertrag u. Geltung des JGG in den neuen Bundesländern § 1, 11 ff u. bei den einzelnen Vorschriften. Neuköllner Modell § 78, 8. Nichtanhörung d. JGH, Folgen § 38, 22; d. ges. Vertr. u. ErzBer., Folgen § 67, 13, 17; d. Disziplinarvorgesetzten, Folgen § 112d, 2. Nichterfüllung von Weisungen § 11, 5; von Auflagen § 15, 20; von BewAufl. § 23, 7; § 26a, 5, 6, 9; § 30, 9; von AO im formlosen ErzVerf. § 45, 38; § 47, 12, 15. 702

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Nichterscheinen in der Verhdlg. s. „Ausbleiben“. Nichtigkeit v. Urteilen § 1, 24; § 33b, 24. Nicht-Intervention § 45, 13; § 17, 6. Nichtöffentlichkeit s. „Öffentlichkeit“. Niederlande, JStrafrecht Einf. 140 FN 619. Normalität der JKriminalität Einf. 5. Notwendige Auslagen trotz Verurteilung § 74, 7; bei Freispruch wegen Altersunreife § 74, 2, 5; bei Einstellung gem. § 45 dort 52. Notwendige Verteidigung s. „Pflichtverteidiger“. O Oberes Gericht, Entsch. bei Übergang nach Aufenthaltswechsel § 42, 12; im VollstrVerf. § 85, 18; Verbindg. von J- u. ErwVerf. § 103; Zuständigkeitsfragen § 103, 20. Oberlandesgericht, Zuständigk. § 102, 1. Oberste Aufsichtsbehörde im JAVollz. § 90, 13. Offenbarungspflicht des Verurteilten Vor § 97, 11, 26. Öffentliche Ämter, Unfähigk. zur Bekleidg. – § 6, 2; § 106, 3. Öffentliche Bekanntmachung als Nebenstrafe § 6, 3; – d. Auflegg. d. JSchöffVorschlagsliste § 35 III 4. Öffentliche Zustellung § 2, 9. Öffentliches Interesse an der Verfolgg. v. Privatklage-Delikten § 80, 2. Öffentlichkeit, Grundsatz d. Nichtöffentlichk. im JVerf. § 48; Anwesenheitsberechtigte § 48, 13; Zulassg. anderer § 48, 22; bes. v. Schulklassen, Presse u. Rundfunk § 48, RL S. 2–4; keine Öffentlichk. bei J § 48, 11, 12; Ausschließung im Verf. gg. Hw. § 48, 3 ff; § 109, 5; im Verf. vor ErwG gg. J § 48, 3; u. gg. Hw. § 112, 3; bei gleichzeitiger Aburteilg. v. Personen verschiedener Altersstufen vor dem JG § 48, 3; bei in verschiedenen Altersstufen begangenen Taten § 109, 15; Wirkungen § 48, 25. Opferbefragung Einf. 4. OpferschutzG § 80, 8–10; § 10, 30; § 45, 49; § 48, 15–21; § 50, 15 aE; § 70, 11; auch Anh. § 125, 8; Vor § 97, 33. Auch § 15, 3–12. Vgl. auch „Rechtsstellung des Verletzten“. Opportunitätsprinzip § 45, 3; § 47, 4, 7 ff. Ordentliche Gerichtsbarkeit, JG als Teile d. – § 33b, 1. Ordnungsmaßnahmen § 1, 3. Ordnungsruf durch JA § 16, 1. Ordnungsstrafe s. „Ordnungsmaßnahmen“. Ordnungswidrigkeit Anwesenheit § 50, 6; Allgemeines § 1, 2; § 2, 15; Beschwerde § 41, 10, 703

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54; § 82, 10, 15, 18; Einstellung § 45, 48; § 47, 6; Mitteilung an gesetzl. Vertreter § 67a, 3; Anwesenheit des gesetzlichen Vertreters § 50, 6; Mitteilungen § 70, 12; Öffentlichkeit § 48, 9; Verjährung § 4, 4; Vereinfachtes JVerfahren § 78, 24; Verschlechterung § 55, 62; § 78, 25; Verwaltungsbehörde § 33b, 36; Verwarnung (polizeiliche) Vor § 76, 1 ff; Vollstreckung § 82, 8 ff; Vollstreckungsanordnung gem. § 98 OWiG § 82, 13; – im Erkenntnisverfahren § 82, 16; Ungehorsamsarrest bei § 98 OWiG § 82, 18, 19; Zusammenhang m. Strafsachen § 103, 28; Zuständigkeit § 33b, 36; § 41, 10, 54; § 42, 15; Pflichtverteidiger § 68, 17. Organisation des JAVollz. § 90, 13. OrgSta § 36, 7. Örtlicher Sitzungsvertreter der StA § 36, 9, 14; im vereinfachten JVerf. § 78, 18. Örtliche Zuständigkeit s. „Zuständigkeit (örtl.)“. Österreich, JStrafrecht Einf. 140. P Partielle Vollreife § 105, 17. Personalakten d. JStrAnstalt, Beiziehg. im Ermittlungsverf. § 43, 14; im Verf. z. Beseitigg. des Strafmakels § 98 RL 1. Personalunion zwischen JRi. u. FamG § 34, 4. Personensorge, Bedeutg. f.d. ErzRecht § 67, 1. Persönlicher Verkehr, Beschränkg. durch Weisung § 10, 31. Persönliches Gespräch im JAVollz. § 90, 9. Persönlichkeit (Anlage, Umwelt –) § 43, 5; Einf. 17. Persönlichkeitserforschung Einf. 77, 78, 107; § 43, Bedeutung allg. § 43, 2; für StA § 43, 21; im formlosen ErzVerf. § 45, 32; Leitg. u. Überwachg., Ausführg. § 43, 3; § 38, 28; Verhältnis z. Aufklärungspflicht, Folgen d. Unterbleibens § 43, 4; Verwertg. i.d. Hauptverh. § 38, 34; Gegenstand § 43, 5; Erkenntnisquellen § 43, 5; s.a. § 44, 1; Umfang § 43, 9; bei Hw. § 105, 28; § 109, 1; bei Soldaten § 112d, 6; vor ErwG §§ 104 I Nr. 3, 112; durch BewH § 25, 4; im JA § 90, 7; in UHaft § 38, 28; zur Beurteilung durch Lehrer Anh. § 125, 22. Persönlichkeitsschilderung im Urteil § 54, 11. Pflegerbestellung § 67, 27; Anh. § 125, 27. Pflichterfüllung als Weisung § 10, 33. Pflichtverteidiger Bestellung § 68a; Rechtsmittel § 68a, 7; ErzGedanke § 68, 18; Verteidigung im JStrafverfahren § 68, 1; Verkehr u. Akteneinsicht § 68, 7; Ausweitung der Vert. § 68,

Pol

Sachregister

13; Anlass § 68, 14–25; im vereinfachten JVerfahren § 68, 26; im VollstrVerf. § 68, 27; im Vollzug § 68, 28; Wahlverteidiger § 68, 4. Polamidon § 10, 43. „Politische“ Straftäter Einf. 61. Polizei Kriminal-: Einf. 107; § 2, 17 aE; Anwesenheitsrecht in nichtöffentl. Verhdlg. § 48, 13; § 51, 17; Tataufklärg. § 38, 6, 28, 49; Benachrichtigg. d. JAmtes (JGH) § 43, 3; § 38, 6; Zusammenarbeit § 45, 11 aE, 17, 18, 26; 32; Prävention (Krisenintervention) § 38, 49–51; Vernehmung u. ErzBerechtigt. § 67, 18; Pol. Verwarnung Vor § 76, 1 ff; UHaft § 72, 4. Polygraphische Untersuchung s. Lügendetektor. Präsidium des Gerichts § 34, 3; § 41, 26. Prävention Einf. 2; § 38, 49. Presse- u. Rundfunk-Berichte § 48 RL S. 3, 4. Primäre VollstrZuständigk. § 84. Privatklage gg. J unzulässig § 80, 1; gg. Hw. zulässig § 109, 10, 12. Wegen in verschiedenen Altersstufen begangener Taten § 109, 15; s. auch OpferschutzG. Privatklagedelikte J, Verfolgg. § 80, 2, 3. Privatkläger, J als – und Widerklage gg. J § 80, 6; Kosten § 74, 18. Prognose bei StrAzBew. § 21, 7; bei Entlassg. z. Bew. § 88, 5; -forschung Einf. 73–78. Projekt Chance § 17, 2. Protokollierung d. Vernehm. d. Beschuldigten § 44, 2. Prozesspfleger § 67, 27; Anh. § 125, 27. Prozessverhalten u. Strafzumessg. Einf. 112; § 21, 7. Prozessvoraussetzung, Zuständigk. d. JG als – § 33b, 27; Mindestalter v. 14 Jahren als – § 1, 27; v. 18 Jahren als – f. Strafbefehl, beschleunigtes Verf., Privatklage § 79, 1; § 80, 1. Psychiatrisches Krankenhaus, Unterbringg. z. Beobachtg. § 73, 4, 7; Zuziehg. eines Sachverständigen § 73, 8; Bestellg. eines Verteidigers § 73, 8; als Maßnahme d. Besserg. u. Sicherung § 7, 2; Verbindg. mit anderen bzw. Absehen v. anderen Maßnahmen § 7, 3; § 5, 6; Verschlechterungsverbot § 55, 50; VollstrZuständigkeit § 85, 8–11; EntschZuständigkeit § 41, 8, 13, 21. Psychopathie § 3, 13. – und Reifegradentsch. § 105, 23; s. auch JPsychiater u. JPsychologe. Pubertät als Reifestufe Einf. 22; § 105, 3, 17. Pubertätsdelikt Einf. 22; Ausdruck j. Verhaltens § 105, 17; – u. StrAzBew. § 21, 7.

Publikationsbefugnis § 6, 3. Punktsysteme (Gut- u. Schlechtpunkte) Einf. 76. Q Qualifikation u. Grundtatbestand bei Prüfg. d. Altersreife § 3, 9. R Rauschgift s. „Drogen“. Rauschtat § 3, 15; als JVerfehlg. § 105, 27 aE. Reaktion jugendlicher Täter Einf. 1 ff. Reaktionsbeweglichkeit, Einf. 106, 108–110; § 11, 2. Reaktionsmittel, JGG u. Auswahl Einf. 102; Verbindung § 8. Realkonkurrenz, Behandlg. im JRecht § 31, 1, 3. Rechtliches Gehör s. „Gehör“. Rechtsbehelfe, s. Rechtsmittel. Rechtsbeistand § 68, 6. Rechtsfolgensystem des JGG s. „Reaktionsmittel“. Rechtshilfe § 34, 3, 4; bei Aushändigg. des BewPlanes § 60, 11; bei Verwarnung § 14, 5. Internationale Rechtshilfe § 1, 5. Rechtskraft als Voraussetzg. d. Einbeziehg. § 31, 6; § 66, 2; des nachträgl. Verf. über d. StrAzBew. § 57, 4; des Nachverf. nach Schuldspruch § 62, 3; der Vollstr. Vor § 82, 4; der Überlassgsentsch. § 53, 5. Fiktion d. – bei Anrechng. v. UHaft § 87, 7. Rechtskraftwirkung des Schuldspruchs nach § 27: § 27, 4, 5; § 30, 2; d. Absehens nach §§ 45, 47: § 45, 30; § 47, 20; d. Entsch. über d. StrAzBew. § 57, 4. Rechtsmittel § 55, d. Angekl. § 55, 3, 35; Einlegg. durch ErzBer. u. ges. Vertr. § 67, 17; § 55, 3, 35. Zurückweisung unzulässiger – § 55, 36; s.a. unter „Anfechtbarkeit“, „Berufung“, „Beschwerde“, „Revision“; weiter bei d. einzelnen Entsch. (z.B. für vereinfachtes JVerf. § 78, 21 ff). Rechtsmittelbelehrung § 54, 18; ErzBer. u. ges. Vertr. § 67, 17. Rechtsmittelbeschränkung § 55, 17, 25; vor ErwG § 55 RL 3, gg. Hw. § 55, 29; (= Teilanfechtg.) § 55, 8. Rechtsmittelgericht, Zuständigk. § 41, 49; Übertragungsmöglichk. § 42, 14; keine bes. Bindg. im JRecht § 55, 23; Stellg. im vereinfachten JVerf. § 78, 22. S. auch „Revision“. Rechtsmittelverzicht § 55, 8; im Anschluss an d. Urteilsverkündg. § 67, 11; bei Verwarnung § 14, 5. 704

Sachregister

Rechtsmittelzurücknahme § 55, 8. Rechtspfleger in der Vollstreckg: Vor § 82, 8 ff; § 82, 11; § 83, 6, 9; § 85, 2; § 114 RL 6. S. auch „Amtsanwalt“ u. „örtl. Sitzungsvertreter“. Rechtspolitik Einf. 8, 9; § 37, 4. Rechtsreferendar § 36, 8; § 68, 5; § 68a, 4aE. Rechtsstaatl. Erfordernisse u. ErzAuftrag d. JGG § 2, 17. Rechtsstellung des Verletzten im JStrafverfahren § 48, 15–21; § 45, 49; Vor § 97, 33; § 109, 7. Vgl. auch „Verletzter“. Rechtstatsachenforschung Einf. 9. Rechtsverordnung über d. Vollz. d. JA § 16. 2, 3; § 90, 6. Referendar s. „Rechtsreferendar“. Reform JHilferecht Einf. 119 f, 137; § 16, 7; volle Einbeziehung der Hw. Einf. 124–129; § 16, 9; Gespräch am „Runden Tisch“ Einf. 113; s. auch „JGG“. Reformatio in peius s. „Verschlechterungsverbot“. Registerpflichtige Entsch. u. Tatsachen Vor § 97; s. auch „Akteneinsicht“; § 82, 19. Reife, allg.: Einf. 2, 80; partielle Vollreife § 105, 17; sexuelle Frühreife § 105, 18; sonst s. „Altersreife“. Reifegradentscheidung § 105, bei Zweifeln 31; Anfechtg. § 55, 21 f, 33; § 105, 43; keine Bindung an frühere – § 105, 44. Einfluss auf Entzug der Fahrerlaubnis § 7, 14. Ermittlungen § 105, 5 ff, 17, 28. – Bedeutung der Ehe § 105, 13; des Führerscheins § 105, 10; des Einflusses von Kameraden § 105, 11; einer Minderbegabung § 105, 14; bei Verkehrsdelikten einschl. Kfz-Entwendungen § 105, 10; entscheidender Zeitpunkt § 105, 22, 28. Reifephasen § 105, 17; Einf. 6, 19, 22, 80. Reifestufen s. „Altersstufen“ u. „Reifegradentscheidung“. Reihenfolge der JSchöffen § 35; des Maßregel- u. Strafvollz. § 93a, 6; der Vollstreckung von Freiheits- u. JStrafe § 89a, 10, 19, 20. Religiosität Einf. 61. Repression Einf. 90. Repressiver Charakter der ErzM § 9, 6. Resozialisierung, Einf. 82, 83 ff; in Freiheit durch BewZeit § 21, 1; im Registerrecht Vor § 97, 3. Restitution § 15, 12. Revision, Zulässigk. § 55, 17, 25; s.a. bei d. einzelnen Entsch. Übergang v. – z. Berufg. u. umgekehrt § 55, 27; Übergang v. – z. sof. 705

Sac

Beschw. bei Anfechtg. d. Entsch. z. Strafaussetzg. § 59, 2. Einzelfragen § 33b, 27; § 47a, 2 ff; § 103, 23. Revisionsgericht § 37, 12; § 102, 1; Umfang d. Nachprüfg. § 55, 16; Beachtg. eines Zuständigk.mangels § 33b, 24 ff; Teilanfechtung bei einer Einheitsstrafe § 31, 18; Zuständigk. z. Entsch. über Beschw. § 59, 3, 11. Revisionsrügen s. „Revisionsgericht“ bei „Umfang d. Nachprüfung“. Richter bei JG § 37; Verhältnis z. BewH § 25, 3; z. JGH § 38, 6; s.a. „JRi“. Richtlinien f.d. Strafverf. § 2, 12; z. JGG s. d. einzelnen Vorschriften u. allgem. Einf. 139; § 2, 13 f. Robe § 78, 18. Rollenkonflikt der JGH § 38, 8, 12, 37. Rollenfixierung Einf. 26. Rückerstattung v. Leistungen bei Widerruf § 26a, 12. Rückfall bei Einheitsstrafe § 31, 18; bei JA § 16, 13. Rücknahme d. Antrags nach § 76: § 78, 9; d. Rechts-mittels § 55, 8; – d. StrAntrags u. Kosten § 74, 18. Rückverweisung (durch Rechtsmittelgericht) § 41, 48; § 47a, 7; § 103, 23. Rüsselsheimer Modell § 47, 10. Ruhen d. ErzBeistandschaft § 8, 7; d. StrVerfolggsverjährg. nach Aussetzg. d. Verhängg. d. JStr. § 28, 1; d. Vollstr. Verjähr. bei StrAzBew. § 22, 6. Rundfunk und Presse in nichtöffentl. Verh. § 48 RL S. 3, 4. S Sachliche Zuständigkeit §§ 39–41; s. „Zuständigk. (sachl.)“. Sachverständiger, Aufgabe JSchutzverf. Anh. § 125, 19 ff; Aussage des – über Bekundungen des Untersuchten Anh. § 125, 32; über dessen Geständnis § 73, 4; Verwertung § 43, 15; Abweichen von Gutachten § 43, 17; bei Vernehmung von Kindern als Zeugen Anh. § 125, 17; Anwesenheit des – in Hauptverhandlung § 43, 15; Untersuchg. durch – § 43, 15; z. Frage d. Altersreife § 3, 11; Frage d. Reifegradentsch. s. § 105, 29; Anhörg. vor AO d. heilerz. Behandlung § 10, 38; vor EntzKur § 10, 41; vor Unterbringg. z. Beobachtg. § 73, 8; Stellg. ggüber Ger. § 43, 15, 17; Anh. § 125, 21; interdisziplinäre Probleme Anh. § 125, 19;

San

Sachregister

Vorsicht bei Bekundungen der Lehrer Anh. § 125, 22; Psychiater oder Psychologe § 43, 15 u. Anh. § 125, 19. Sanktionsforschung Einf. 8, 9. Schadensersatz § 15, 3. S. bei „ZuchtM“. Schadenswiedergutmachung § 15, 3–10; § 45, 27, 36, 40. Schädliche Neigungen § 17, 15; § 30, 7−9; Zweifel über Vorliegen – § 27, 6. Schlechterstellung J u. Hw. gegenüber Erw. Einf. 111; § 17, 3. Zur Schlechterstellung im Rechtsmittelzug s. „Verschlechterungsverbot“. Schlechtpunktsystem s. „Gutpunktsystem“. Schlussbericht d. BewH § 25, 4. Schlussverfügung d. Vollstr. Vor § 82, 10. Schöffen s. „Jugendschöffen“. Schöffenlisten § 35, 3. Schöffenwahl § 35; -ausschluss § 35, 3. Schriftliche Ermahnung § 45, 41. Schriftliche Urteilsgründe § 54, 19. Schriftverkehr s. „Verkehr“. Schuld Einf. 98; Schuldbegrenzung Einf. 98–101; § 17, 25 ff; § 18, 23 ff; als Rechtfertigg. d. JStr. § 17, 11; Schwere d. – als Voraussetzg. f. JStr. § 17, 25; dann keine Aussetzg. d. Verhängg. § 27, 8. Schuldausgleich § 17, 1 u. 29; § 18, 22, 23. Schuldfähigkeit fehlt bei Kindern § 19 StGB § 1, 25; bei J § 3, bes. 4, 10; bei Hw. § 105, 2; Voraussetzg. bei ErzM § 9, 3. Schuldfeststellung s. „Schuldspruch nach § 27“. Schuldfrage, Auswirkungen der Einheitsstrafe auf d. – bei Anfechtg. § 31, 18; § 55, 10; unbeschränkte Anfechtg. d. – § 55, 21. Schuldkonkurrenz § 3, 13. Schuldspruch Anfechtbark. des – § 55, 21. Schuldspruch nach § 27 s. § 27; Anfechtg. § 63, 1; Behandlg. im Zentralreg. Vor § 97, 18; Erledigg. d. – § 31, 7; Einbeziehg. in Einheitsstr. § 31, 11; nachträgl. Entsch. über – § 30; Bindung an – § 30, 1 f; Tilgg. d. – § 30, 6; Form d. Entsch. § 62, 1; s.a. „Aussetzung d. Verhängung d. JStr.“. Schuldunfähigkeit allg. § 3, 13; § 7, 2, 3; § 105, 2; bei Drogenabhängigkeit § 3, 16 f; Feststellung erst im Nachverfahren § 30, 12; s.a. bei „Altersreife“. Schuldvergeltung bei JStrafe § 17, 1, 11; § 18, 17, 23; Sühnefunktion der ErzMaßregeln § 5, 5; § 9, 6. Schuldvoraussetzung, Altersreife als – § 3, 10; s.a. „Schuldfähigkeit“.

Schule Kriminologische Bedeutung Einf. 27; Vandalismus Einf. 38; Anhörg. z. Persönlichkeitserforschg. § 43, 12; im Verf. z. Beseitigg. d. Strafmakels § 98, 5; gegenseitige MittPflicht § 70, 6 u. 8; Schul-Disziplinarrecht Einf. 115; s. auch Lehrer. Schulabschluss bei Dauer der JStrafe § 18, 16. Schülerbogen § 43, 14; s. auch Anh. § 125, 22. Schülergerichte § 45, 28. Schulklassen in JVerh. § 48 RL S. 2. Schulzeugnisse § 38, 35; § 43, 14. Schutzbedürftigkeit des J, bes. § 38, 28 aE. Schwachsinn u. Reifegradentsch. § 105, 23. Schweigepflicht d. Arztes u. Entbindung v.d. – § 67, 11. Anh. § 125, 33; d. BewH. § 25, 13; des JGHelfers § 38, 45, 47; s. auch „Aussageverweigerungsrecht“. Schweiz, JStrafrecht Einf. 140. Schwere der „Schuld“ s. dort. Schwergewicht bei mehreren Straftaten in verschiedenen Altersstufen § 32, 4; keine Bedeutg. f. Zuständigk. d. JG Vor § 102, 2; a. bei Verbindg. v. Erw- u. JStrVerf. § 103, 3; bei mehreren Straftaten vor u. nach Inkrafttreten des JGG § 116. Schwurgerichtliche Zuständigk. bei J u. Hw. § 41, 11. Sekundäre VollstrZuständigk. § 85. Selbstverwirklichung Einf. 22 aE. Selbstwertkonflikt Einf. 22, 60. Sexuelle Triebhaftigkeit Einf. 22; § 105, 15. Sherman-Report Einf. 79 FN 358. Sicherungshaft vor Widerruf s. Nach § 60, Anrechng. der – Übergang in Vollstr.-Haft Nach § 60, 14, § 26a, 14; Zuständigkeitsfragen Nach § 60, 15; Haftentschädigung Nach § 60, 16. Sicherungsmaßnahmen vor Widerruf Nach § 60, 7. Sicherungsverfahren gg. J u. Hw. Zuständigk. § 33b, 34; § 41, 18, 22. Sicherungsverwahrung, gg. J § 7, 16 ff; gg. Hw. § 106, 8 ff; § 17, 12; EinheitsJStrafe als Voraussetzung § 31, 18. Sicherung u. Besserung s. „Maßregel d. Besserung u. Sicherung“. Sittengesetze als Grenze d. Weisung § 10, 9. Sittliche Entwicklung J Einf. 22; § 3, 1, 4; Hw. § 105, 17. Sittlichkeitsdelikte J Einf. 22; § 3, 4; Hw. § 105, 15. Sitzungstage § 33b, 16. 706

Sachregister

Sitzungsvertreter, örtl. – d. StA § 36, 7; im vereinfachten JVerf. § 78, 18. Sofortige Beschwerde s. allg. „Rechtsmittel“; unrichtige Bezeichnung als Ber. oder Rev. bei Anfechtg. d. StrAzBew. u. Übergang § 59, 2; s. bei den einzelnen Entsch., z.B. gg. Teilvollstr. § 56, 7; gg. StrAzBew. § 59, 2, 3, 4; gg. nachträgl. Einbeziehg. § 66, 7; gg. Unterbringg. z. Beobachtg. § 73, 10; gg. jrichterl. Entsch. § 83, 8; gg. Umwandlg. d. Freizeit- in Kurzarrest § 86, 3; gg. Entsch. über Beseitigg. d. Strafmakels § 99, 5; § 100 (keine) 5; s. auch bei „Ordnungswidrigkeit“. Sofortige Verwerfung d. Berufung § 55, 7, 29. Sofortwirkungen bei JA § 16, 1. Soldaten §§ 112a–112e; Anrechnung disziplinaren Arrestes § 112a, 11; § 52a, 1; Geltg. des JGG u. d. WehrstrafGes. Vor § 112a, vor allg. Ger. § 112e; Maßnahmen gg. – § 112a u. § 112, 5; Persönlichkeitserforschung § 43, 12; Verweisungen Aufenthaltszuständigkeit § 42, 6; Anhörg. d. Disziplinarvorgesetzten § 112d; d. JGH § 112d, 3; JAVollstr. u. -Vollz. § 112c, 2, 3; jrichterl. VollstrEntsch. § 112c II; als BewH § 112a Nr. 4; § 25, 17 (s. § 112d); Weisungen u. Wehrdienst § 10, 8. Beginn und Ende des Wehrdienstes Vor § 112a, 2. Sondervorschriften, §§ des JGG als – § 2. Sorgerecht s. „Personensorge“. Sozialarbeiter Prävention u. Krisenintervention § 38, 49–51; s. auch JGerichtshilfe. Zeugnisverweigerung § 38, 37. Sozialer Trainingskurs § 10, 21–23; – nicht § 45, 36, 42. Sozialgesetzbuch VIII Einf. 137; § 10, 34, 48; § 12; § 38, 5, 47; § 43, 10; § 45, 29; § 47, 9; § 50, 14. Sozialisationsprozess Einf. 22; s. auch Vor § 97, 3 u. Erz. Spätaussiedler, j. s. Aussiedler. Sperrfrist nach Ablehng. d. Entlassg. z. Bew. § 88, 9. Sperrwirkung der Ablehng. d. StrAzBew. § 57, 4. Spezialisierung der JGerichtsbark., Einf. 107; § 33b, 1 ff; der JGH § 38, 4. Spezialitätsgrundsatz im internationalen Strafrecht § 31, 31. Sport Einf. 29. Sprungrevision § 55, 27 (WahlRev.). Staatsanwalt s. „Jugendstaatsanwalt“. Staatsschutzkammer, Zuständigkeit in JSachen, § 102, 2 ff; § 33b, 5; § 41, 14 u. 34; § 47a, 4; § 103, 6 u. 15; JStA § 102, 4; § 36, 13. 707

Str

Staatssicherheit u. Heranziehg. v. JGH, ErzBer. u. ges. Vertr. § 104, 5 f. Stationäre Untersuchg. z. Persönlichkeitsermittlg. § 43, 18; § 73. Statistik Einf. 10–16. Steuerdelikte u. JRecht § 2, 6; örtl. Zuständigk. § 42, 2. Strafantragsrücknahme, Kostenfolge § 74, 18. Strafaussetzung z. Bew. §§ 21–26, 57–61b; s.a. „Aus-setzung d. JStr. z. Bew.“. Strafbann s. „Strafgewalt“ u. „allg. sachl. Zuständigk.“. Strafbefehl nicht gg. J § 79, 1; gg. Hw. § 109, 10, 13; Persönlichkeitserforschg. § 109, 13; Abgabe § 42, 13; – Antrag auf Entsch. des JRi. § 109, 13; bei Taten in verschiedenen Altersstufen § 109, 15; Zuständigkeit § 103, 24; § 109, 13. Strafbemessung bei JStr. § 18, 13; Begründung allg. § 54, 15. Strafbescheide d. Verwaltungsbehörden § 33b, 36. Strafdrittel bei Entlassg. z. Bew. § 88, 1. Strafe s. „Jugendstrafe“, „Freiheitsstrafe“, „Erziehung“. Straferlass nach StrAzBew. § 26a, 15. Straffrage Anfechtg. d. – § 55, 10, 11; s.a. § 105, 43; Einheitsstr. u. Entsch. nach § 105 betreffen nur – § 31, 18; § 105, 2; § 54, 15. Straffreiheitsgesetz u. Schuldspruch § 27, 9; bei EinhStr. § 31, 7. Strafgewalt d. JRi. § 41, 8, 24; § 108, 1, 2; im vereinfachten JVerf. § 78, 3; d. JSchöffG § 41, 20; § 108, 1, 2; des Berufungsger. § 41, 49. Strafkammer s. „Jugendstrafkammer“. Strafmakel s. „Beseitigung d. -“. Strafmündigkeit als Prozessvoraussetzg. § 1, 27; relative – § 3, 4; Teilbark. § 3, 9; bei Hw. § 105, 2; s.a. „Altersreife“; Urteilsgründe § 54, 14. Diskussion um – Einf. 121–123. Strafrahmen d. JStr. § 18, 6 ff; s.a. „Strafdrohung“; bei Einheitsstrafe § 31, 3. Strafrechtliche Verantwortlichkeit s. „Strafmündigk.“ u. „Altersreife“. Strafregister s. „Bundeszentralregister“. Strafschärfung wegen eines Tatbestandsmerkmals § 18, 18. Straftat, Begriff § 1, 1; § 5, 5; Behandlung mehrerer – § 31, 1, 3; in verschiedenen Alters- u. Reifestufen § 32. – Bedeutung im JRecht Einf. 96, 97. Straftaxen Einf. 104.

Str

Sachregister

Straftilgung Vor § 97, 10, 24. Strafunmündigkeit § 1, 24; – im Nachverf. § 30, 12; Eintragg. in ErzRg. Vor § 97, 8; – s.a. „Straf-mündigk.“ u. „Altersreife“. Strafverfolgungsverjährung § 4, 1; s.a. „Ruhen“ u. „Verjährung“. Strafvollstreckung s. „Vollstr.“. Strafvollstreckungskammer § 82, 3, 4; § 41, 52; § 85, 6 ff; § 112a, 13. Strafvollstreckungsordnung Vor § 82, 3. Strafvollstreckungsverjährung § 4, 3; s.a. „Ruhen“ u. „Verjährung“. Strafvollzug Begriff Vor § 82, 1; JAVollz. § 90; JStrafvollz. Vor § 90; EntschZuständigk. § 93a, 10; s. auch „JStrafvollzug“ u. „Vollzug“. Strafzeitberechnung Vor § 82, 5; § 83, 5; bei JA § 87, 7; s.a. § 450 StPO; bei Teilvollstr. § 56, 9; nach Anrechng. v. UHaft auf § 52a, 18. Strafzumessung s. „Strafbemessung“. Strafzumessungspraxis bei der JStrafe § 18, 12. Strafzweck § 17, 1. Subsidiaritätsprinzip d. JRechts Einf. 102–105; § 5, 1; § 12, 5; d. JVerf. § 45, 6; § 47; auch d. Widerrufs d. StrAzBew. § 26a, 8; im Verhältnis UHaft, Unterbringg. in ErzHeim ua vorl. Maßnahmen über d. Erz. § 71, 1; § 72, 3; d. allg. Strafrechts § 2, 5. Sühne im JRecht s. Schuldausgleich. Sühneversuch kein – gg. J § 80, 1. Symboltaten Einf. 22. T Tat, Bedeutung d. – im JRecht Einf. 96, 97. Tatbestand, Auslegg. eines – d. allgR im JRecht § 2, 11. Tatbestandsirrtum u. Altersreife § 3, 19. Tatbestandsmerkmale als StrSchärfungsgründe § 18, 18. Tateinheit § 31, 1, 2; Behandlg. einer Prüfg. d. Alters-reife § 3, 9. Täterbefragung Einf. 5. Täter-Opfer-Ausgleich § 10, 24–28; § 15, 3–12; § 45, 27, 36, 40; s. auch OpferschutzG § 80, 15 u. 16. Täterpersönlichkeit, Bedeutung Einf. 107; § 43, 2; Erforschg. Einf. 73 ff; § 43; § 38, 28; gg. Hw. u. vor ErwG § 38, 43, 44, 45; § 43, RL 9. Täterstrafrecht, JRecht als – Einf. 104, 107; § 43, 2. Tatgewinn § 15, 16. Tatmehrheit § 31, 1; bei Taten in verschiedenen Alters- u. Reifestufen § 32; Bedeutg. bei Prü-

fung der Altersreife § 3, 9; d. Reifegrades § 105, 44. Tatverdacht § 45, 33, 34; § 47, 3. Tatzeit § 1, 20; Vor § 33, 1; § 105, 22. Teilanfechtung, § 55, 8; s.a. § 105, 43. Teilaussetzung, keine – d. JStr. z. Bew. § 21, 18. Teilnahme an Verfehlungen v. Kindern § 1, 29; bei fehlender Altersreife J § 3, 12. Teilverbüßung als Voraussetzg. d. Entlassg. z. Bew. § 88, 1. Teilvollstreckung einer Einheitsstr. § 56; Vor § 82, 4; Hw. § 56 RL 2. Tenor s. „Urteil“. Terminmitteilung an JGH § 50, 12; im vereinfachten JVerf. § 78, 18. Therapie-Einrichtungen, therapeutische Gemeinschaften, Anerkennung Einf. 69; § 10, 42. Tilgung allg. s. „Straftilgung“; des Schuldspruchs: Voraussetzg. d. AO § 30, 6; Form d. Entsch. § 62, 5; Anfechtg. § 63, 2; im BZRg Vor § 97, 10, 18, 24. Tilgungsreife als Hinderung d. Widerrufs der Beseitigg. d. Strafmakels § 101, 4. Trainingskurse, soziale § 10, 21–23; nicht § 45, 42. Trennung verbundener Strafsachen § 103, 13, 18, 19. Trunkenheit s. „Alkohol“. U Ubiquität Einf. 5. Übelcharakter d. ZuchtM § 13, 2. Übergang von Ber. z. Rev. u. umgekehrt § 55, 27; von Ber. oder Rev. z. sof. Beschw. § 59, 2; d. Vollstr. auf den bes. VollStrL § 85, 2, 3. Überhaft § 73, 5. Überlassung d. AO u. Auswahl d. ErzM an FamG § 53, RL. Überleitung (keine) d. vereinfachten JVerf. ins förml. Verf. § 78, 9. Übernahme von Verf. bes. Umfangs durch JK § 41, 47; bei Hw. § 108, 3; d. Verf. nach Aufenthaltswechsel § 42, 11; d. familiengerichtl. Aufgaben durch den JRi. § 34, RL 2, 3. Übertragung des Verf. § 41, 46; nach Aufenthaltswechsel § 42, 11; nach Schuldspruch § 62, 6; durch RevGericht § 41, 48; d. weiteren Entscheidg. z.B. nach StrAzBew. § 58, 6 ff; keine Weiter- § 58, 9; nach Entlassg. z. Bew. § 88, 17; § 85, 13; der Entsch. Über Uhaft § 72, 11; keine – d. Vollstr. auf Rechtspfleger Vor § 82, 8 ff; § 114, 1; d. familienge708

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richtl. ErzAufgaben auf JRi. § 34, 4; s.a. „Abgabe“ u. „Übernahme“ u. bei d. einzelnen Vorschriften. Überwachung von Weisungen § 10, 45; Auflagen § 15, 21; § 38, 41; von BewAufl. § 23, 9. Überweisung an „VormRi.“ (s. dort): Einfluss des Verschlechterungsverbotes § 55, 41. Überzeugungstäter § 105, 12. Umfangreiche Verfahren, Übernahme durch JK § 41, 17, 47; § 108, 3. Umwelt (Anlage, Persönlichk. u. –) Einf. 17; § 43, 6; § 17, 18 aE; Einfluss auf Reifegrad § 105, 19; Bedeutg. f. StrAzBew. § 21, 7. Unbrauchbarmachung § 6, 5. Unerziehbare, Bemessg. d. JStr. § 18, 30. Unfähigkeit z. Bekleidg. öffentl. Ämter § 6, 2; § 106, 3. Ungebühr § 48, 28; s. auch „Haartracht“. Ungehorsam gg. Weisungen u. Auflagen § 11, 5 iVm § 15 III, gg. BewAufl. § 23 I 1; § 26a, 5 f, 9; § 30, 9; gg. Maßnahmen des forml. ErzVerf. § 45, 47; § 47, 12; gegen VollstrAnordnungen gem. § 98 OWiG § 82, 18, 19. Ungehorsamsarrest s. „Ungehorsam“ u. „JA“. Ungültigkeit d. JSchöff-Wahl § 35, 4. Unmittelbarkeit d. Beweisaufnahme auch f. Ermittlungsbericht d. JGH § 38, 34; im vereinfachten JVerf. § 78, 20. Unsicherheit als Ausdruck j. Verhaltens § 105, 6. Unterbleiben d. Bildung einer Einheitsstrafe § 31, 21; § 66, 6. Unterbrechung der Verfolgungsverjährg. § 4, 1; – durch Vernehmg. des Beschuldigten § 44, 4; d. VollstrVerjährg. durch BewEntsch. § 22, 6; s.a. „Ruhen“; – d. Vollstr. von JA § 87, 6; – der JStrafe zur Vollstr. der Freiheitsstrafe § 89a, 12–18. Unterbringung z. Beobachtg. § 73; § 43, 18; Dauer § 73, 5; gg. Hw. u. vor ErwG § 73 RL 3; notwendige Verteidigg. § 68, 17. – einstweilige in einem ErzHeim § 71, 4; § 72, 5. – im psychiatrischen Krankenhaus § 5, 2; § 7, 2; § 41, 8, 13, 21; in EntzAnstalt § 5, 2; § 7, 4; § 41, 24; § 93a; Verbot d. Schlstellg. § 55, 51; Zuständigk. f. Vollstr. § 85, 8, 9. Unterbringung geschlossene § 12, 5. Unterbringungsbefehl f. ErzHeim § 71, 4. Unterlassungsdelikt u. Altersgrenze § 1, 20. Unterricht im JAVollz. § 90, 9. Unterrichtung d. Angeklagten nach zeitweiliger Ausschließg. § 51, 5; d. ges. Vertr. u. ErzBer. § 51, 16; d. J §§ 70a, 70b. 709

Urt

Unterstellungszeit (BewHilfe) § 25, 1. Untersuchung durch einen Sachverständigen (Aufklärungspflicht, ambulant oder stationär, erzwingbar) § 43, 15. Untersuchungshaft §§ 72, 89c; Haftpraxis, Haftfolgen § 72, 1, 2; Vollstr. § 72, 14; Subsidiarität § 71, 1; § 72, 3; bei 14- u. 15-jährigen § 72, 9; Fluchtgefahr § 72, 7; weitere Haftgründe § 72, 10; Verfahren § 72, 11; Mitteilung an u. Hilfe durch die JGH § 72, 4; § 38, 14; Vollz. § 89c, bei Hw. § 110; Anstalten § 89c, 2; Haftform § 89c, 2; Entsch. im Vollz. § 89c, 5; § 115 II, Persönlichkeitserforschung § 43 RL 3; § 38, 28; notwendige Verteidigg. § 68, 17; Anrechnung bei JStr. § 52a, 12; einzelne Anrechnungsfragen dort; bei Entlassg. z. Bew. § 88, 1; bei Aussetzung d. Verhängg. d. JStr. § 27, 11; bei Einbeziehg. § 31, 14; bei JA § 52a, 8; § 87, 7; – Verschlechterungsverb. § 55, 46. Untersuchungshandlung durch unzuständigen Ri. (Gültigk.) § 33b, 31; Anwesenheitsrecht v. ges. Vertr. u. ErzBer. § 67, 18; Ausschließg. § 67, 19. Untersuchungsverweigerungsrecht Anh. § 125, 30. UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes Einf. 130. Unzumutbare Anforderungen § 10, 10, 38; § 23, 2. Unzuständigkeit d. JG, Folgen § 33b, 24; s.a. „Zuständigkeit d. JG“. Unzuständigkeitserklärung, Wirkung § 41, 4, 25. Urinkontrollprogramm § 10, 33; § 21, 24. Urkundenbeweis z. Persönlichkeit § 38, 35; s.a. § 43, 14. Urkundliche Grundlagen d. Vollstr. Vor § 82, 4; d. Teilvollstr. § 85, RL II 3. Ursprüngliche Zuständigkeit im VollstrVerf. § 84. Urteil § 54, gg. Hw. § 105, 42; Rubrum § 54, 2; Tenor § 54, 3; Gründe u. Aufbau § 54, 11, 15; § 105, 42; Persönlichk. Schilderg. § 54, 11; abgekürzt § 54, 17; im vereinfachten JVerf. § 78, 21; Bekanntmachung, Verkündung § 54, 18; Öffentlichk. § 48, 1, 12; schriftl. Urteil, Mitt. u. Ausfertigg. § 54, 19; Rechtspolitik im – § 37, 4; Anfechtg. § 55; § 59, 1; Wiederaufnahme § 55, 65; Einbeziehg. § 54, 8; nachträgl. Einbeziehg. durch Urteil § 66, 7; Tenorierungsvorschläge § 54, 3 ff.

Van

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V Vandalismus Einf. 38. Verantwortlichkeit bei J § 3; bei Hw. § 105, 2; bei pol. Verwarng. Vor § 76, 2 f; bei Hilfen zur Erz. § 12, 10; bei Weisungen § 10, 4; bei ZuchtM § 13, 3; s.a. „Altersreife“, „Schuldfähigkeit“. Verbindung der Reaktionsmittel d. JGG § 8; bes. mit Schuldspruch § 27, 13 ff; mit NebenStr. u. -Folgen § 8, 8; mit Maßregeln der Sicherg. u. Besserg. § 7, 3, 9, 14. Verbindung der Verfahren allg. Vor § 33b, 5; örtl. Zuständigk. § 42, 9; sachl. Zuständigk. § 41, 23; wegen mehrerer Taten eines Täters § 103, 1; § 32, 18; Zuständigk. Vor § 102, 2; gg. mehrere J oder Hw. § 103, 2; Verf. bei J u. Hw. § 109, 7; gg. J oder Hw. u. gg. Erw. § 103, 3 ff; Zuständigk. § 103, 3; Verf. u. Rechtsmittelzug § 103, 12 ff; Zuständigk. nach Wegfall d. – § 103, 20; mit Schwurgerichtstaten Erw. § 41, 11; erstinstanzlicher – mit Berufungsverfahren § 41, 50 aE. Verbot der Verschlechterung s. „Verschlechterungsverbot“. Verbote, Weisungen als – § 10, 2; RL 1 S. 1. Verbotsirrtum u. Altersreife § 3, 20. Verbrauch der Strafklage durch formloses ErzVerf. § 45, 44; § 47, 20. Verbüßung, vollständige – v. JA u. JStr. § 31, 17; § 66, 2. Verdunkelungsgefahr als Voraussetzg. d. UHaft § 72, 10. Verein Austritt, Eintritt als Weisung § 10, 9. Vereinfachtes Jugendverfahren §§ 76–78; nicht gg. Hw. § 109, 10; nicht vor ErwG § 76 RL 3. Anwendungsbereich, sachl. Voraussetzung § 78, 2; Antrag d. StA als formelle Voraussetzg. § 78, 7; Wegfall d. Zwischenverf., Prüfungspflicht d. Ri., Einstellg. d. Verf., Abgabe, Ablehng. d. Eröffng. u. d. Entsch. im – § 78, 11−16. Bei in verschiedenen Altersstufen begangenen Taten § 109, 15. Durchführg., Ausgestaltg., Beschleunigg., Rechtsstellg. d. Beteiligten (JGH s.a. § 38, 27; § 43, 22); Verteidigg., Verhandlung, Beweisrecht, Urteil, Mitt., Anfechtg. § 78, 17–21; Verteidigung § 68, 26; Geltung des Verschlechterungsverbotes § 55, 60; Verf. im Rechtsmittelzug § 78, 22. Vgl. auch „Ordnungswidrigkeit“. Vereinigungen f. JHilfe § 38, 4. Vereinte Nationen s. „Mindestgrundsätze“.

Verfahren §§ 43–81a, gg. Hw. §§ 107–109, vor d. ErwG §§ 102–104, 112, 112e; bei in verschiedenen Altersstufen begangenen Taten (Arten, Gestaltung) § 109, 15; bei Strafunmündigk. § 1, 25; Stellg. d. J § 67, 11; d. „ges. Vertr.“ u. „ErzBer.“ § 67; JGH § 38, v. Verteidiger und Beistand §§ 68 ff; „Beschleunigung“ s. dort; Kosten § 74. S.a. bei „Verf.Arten“, „JStrVerf.“ u. „vereinfachtes JVerf.“ u. bei den einzelnen Vorschriften. Verfahrensarten für J Einf. 108–110; f. Hw. § 109, 10. Verfahrensauslagen, Ersatz von – als Geldaufl. § 15, 9. Verfahrensdauer, überlange § 18, 10. Verfahrensregister, länderübergreifendes staatsanwaltliches Vor § 97, 38. Verfahrensvoraussetzung s. „Prozessvoraussetzung.“ Verfall § 6, 5, 6; § 15, 16. Verfehlung § 1, 1. Für die ehemalige DDR vgl. § 1, 14. Verfolgungsverjährg. § 4, 1. Verfolgungszwang gg. J § 45, 16, 17; gg. Hw. § 109, 4, 6. Verfügung s. „jrichterl.-“ u. „Straf-“. Verführung § 105, 8. Vergeltung s. Schuldausgleich. Vergleich deutsch–deutscher Kriminalität Einf. 15 f. Verhalten, bisheriges – d. J- u. Persönlichkeitserforsch. § 43, 6; nach d. Tat u. StrAzBew. § 21, 7. Verhandlung Einf. 112; An- und Abwesenh. d. Angekl. § 50, 1–5. Verhängung d. JStr. im Nachverf. § 30, 7. Verjährung d. Strafverfolgg. § 4, 1; Unterbrechg. durch Vernehmg. d. Beschuldigten § 44, 4; Ruhen bei Aussetzg. d. Verhängg. d. Str. § 28, 1; d. Strafvollstr. § 4, 3; Ruhen bei StrAzBew. § 22, 6. Verkehr, Recht auf – für BewH, JGH, Betreuungshelfer, Verteidiger § 25, 14; § 38, 11; § 68, 7; mit d. Außenwelt im JAVollz. § 90, 8. Verkehrsdelikte, örtl. Zuständigk. § 42, 8; Altersreife bei – § 105, 15, 24; Schwere der Schuld bei – § 17, 31; Weisungen bei – § 10, 32; Massenkriminalität § 109, 6, 13; s. auch „Ordnungswidrigkeit“. Verkehrsunterricht als Weisung § 10 I Nr. 9; im formlosen ErzVerf. § 45, 40; im OWiVerf. § 82, 17. 710

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Verkündung s. bei „Urteil“. Verkürzung d. BewZeit § 22, 3; § 28, 1; der Unterstellungszeit § 25, 2. Verlängerung d. BewZeit § 22, 4; § 25, 1 u. 2; s.a. § 26a, 8; § 28, 1; – d. Unterstellungszeit § 25, 1 u. 2. Verlegung bei JStrVollstr. § 85, 1, 3, 6. Verletzter, Anwesenheitsrecht § 48, 13; § 51, 17; Entschädigg. § 81; § 109, 10; Interesse an d. Verfolgg. v. Privatklagedelikten § 80, 2. Zu den Rechten des Verletzten nach dem Opferschutzgesetz (§§ 406d ff. StPO) Einzelhinweise § 80, 15 f. Vgl. auch „Rechtsstellung des Verletzten“. Verletzung eines Kindes oder J als JSchutzVerfehlg: JSchutzverf. 1. Verlust d. Fähigk., öffentl. Ämter zu bekleiden u. Rechte aus Wahlen zu erlangen § 6, 2; § 106, 3. Verminderte Schuldfähigkeit als StrMilderungsgrund § 3, 15; § 18, 8; bei Widerruf § 26a, 8. Vernehmung d. Beschuldigten § 70c, z. PersönlichkErforschg. § 44; § 43, 14; bei Hw. u. vor ErwG § 44 RL 1 S. 2; des Sachverständigen als Zeugen über Bekundungen d. Untersuchten Anh. § 125, 32; von Verhörspersonen nach Aussageverweigerung Anh. § 125, 28, Polizeiliche Vernehmung des J u. ErzBer. § 67, 18–22. Veröffentlichungsbefugnis § 6, 3. Verschlechterungsverbot § 55, 37; ErzM § 55, 38−40, 42; ZuchtM § 55, 39, 42; Verwarnung § 55, 39, 59; ErzBeistandsch. § 55, 39, 59; Auflage, Entschuldigung, Wiedergutmachung, Bußzahlung § 55, 39; Weisungen § 55, 39, 59; ErzHilfe § 55, 39, 59; JA § 55, 39, 42, 43, 58, 59; Hilfe zur Erz. nach § 12 Nr. 2: § 55, 39, 58, 59; Überweisung an FamG (§ 53) § 55, 41; JStr.: ErzM u. ZuchtM § 55, 42, u. Aussetzung d. Verhängg. d. JStr. § 55, 42, 43, 56; JStr. § 55, 42, 44; Strafaussetzg. § 55, 47; UHaft § 55, 46; BewAuflagen, BewZeit § 55, 48; bei Einheits„strafe“ § 55, 45; Maßregeln § 55, 50 f; Unterbringg. i. psych. Krkhaus § 55, 50 f; Fahrerlaubnisentzug § 55, 51; Nebenstrafen, -folgen § 55, 52; Kosten § 55, 53. Verhältnis JRecht, ErwRecht § 55, 54; Freiheitsstrafe, Strafarrest § 55, 55; Geldstrafen § 55, 59. Im vereinfachten JVerf. § 55, 60; im formlosen ErzVerf. § 55, 60; bei Beschlüssen § 55, 61; im OWiVerf. § 55, 62; § 78, 24, 25. 711

Ver

Verschubung nach Ergreifg. § 72, RL 2. Verschulden bei Zuwiderhandlg. gg. Weisungen u. Auflagen § 11, 5, 8; § 15, 20. Verschweigungsrecht registerl. Vor § 97, 11, 26; § 38, 28. Versicherung gg. Unfälle bei Durchführung v. Weisungen u. Auflagen § 10, 46, bei heilerz. Behandlg. u. Entzkur als Kostenträger § 10, 39. S. auch „Haftpflicht“. Verstandesreife § 3, 4. Verständigung im Strafprozess, s. Absprachen. Verstoß gg. BewAufl. § 26a, 5, 6; § 29, 3; § 30, 4, 9; gg. Weisungen u. Auflagen § 11, 5; § 15, 20; § 23 I 3; § 65; § 53, 8. Versuch § 4, 1. Verteidiger § 68; für Hw. u. vor ErwG § 68 RL; § 104, 6; Wahlverteidiger § 68, 4; – s.a. „Verteidigg.“. Recht zur freien Wahl § 68, 4; § 67, 15. Bestellg. d. Pflicht-, Auswahl § 68a, 4; Erz. u. Vert. § 68, 8–13; Recht auf Anwesenheit in der HVH § 48, 13; § 51, 18; auf Verkehr § 68, 7; auf Akteneinsicht § 68, 7; Vor § 97, 28 f; Rechtsmittel § 68a, 7; Anfechtungsrecht § 55, 8; Anhörg. vor Unterbringg. § 73, 8; Fälle notwendiger Vert. § 68, 14 ff; im Ermittlungsverf. § 68a, 1; im vereinfachten JVerf. § 68, 26; Mitwirkg. im VollstrVerf. § 68, 27; im Vollzug § 68, 28. Verteidigung s. vor allem bei „Verteidiger“; Besonderheiten im JVerf. § 68, 8–13; notwendige – § 68, 2, 14 ff; § 67, 27; § 104, 6; § 83, 8; im Ordnungswidrigkeitsverfahren § 68, 17; Gebühren § 74, 14; -auslagen, Ersatz bei Freispruch wg. Altersunreife § 74, 2; allg. § 74, 7. Vertrauensseligkeit, Ausdruck j. Verhaltens § 105, 6. Verurteilung iSd Führungsaufsicht u. Sicherungsverwahrung § 17, 12; § 31, 18; § 13 III 2, iSd Wiederaufnahmevorschriften § 55, 65; d. Kostenvorschriften § 74, 5; iSd § 101 siehe dort 1. S. auch „Urteil“. Verwahrlosung Einf. 19 u. schädliche Neigungen § 17, 37; u. Bew. § 21, 1; u. Reifegradentsch. § 105, 14. Verwaltungsbehörde, Zuständigk. gg. J u. Hw. § 33b, 36; § 1, 2; § 45, 48; § 79, 4; § 82, 9; Anhörg. vor Beseitigg. d. Strafmakels § 98, 5. Verwaltungsentscheidungen bei StrVollstr. u. StrVollz. § 83, 1; § 90, 13. Verwaltungsvorschriften, Vorrang d. jrechtl. – § 2, 12.

Ver

Sachregister

Verwarnung § 14; gg. Hw. u. Soldaten § 14, 4; § 112a, 6; Vollstr. § 14, 5; § 85 RL IV 1; § 82, 6. – S.a. „Zuchtmittel“; – gebührenpflichtig und gebührenfrei durch Polizei Vor § 76, 1. Verweigerung körperl. Untersuchung Anh. § 125, 30. Verweisung bei Unzuständigk. d. JG § 41, 27 ff. Verwirkung § 67, 11. Verzicht § 55, 8; § 67, 11. Videotechnologie § 70c, 3–5; Anh. § 125, 8 aE. Volljährigkeit, Erz. des Hw. Einf. 94 f, 124 ff; § 9, 8; § 53, 1; § 105, 35; § 109, 1. Bedeutg. f. Rechtsmittel § 55, 4; VollstrZuständigk. nach – § 84, 4; im Übrigen s. bei d. einzelnen Vorschr. Vollreife, partielle § 105, 17. Vollstreckung §§ 82–89a, 110, 112c, gg. Hw. § 110; von Entsch. eines ErwG Vor § 82, 2; § 104, 1; § 84, 4; Begriff Vor § 82, 1 (auch über Betrieb d. –); -organ, -behörden § 82, 1; Entlastung d. Richters durch Rechtspfleger Vor § 82, 8; § 83, 6, 9; vgl. § 114 RL 6; Schlussverfügung Vor § 82, 10; – als Justizverwaltungsaufgabe § 83, 1, 4; Einwendungen u. Beschw. § 83, 4, 8; Nebengeschäfte § 85 RL II 4. Bei Wiederaufnahme § 55, 65; bei Teilrechtskraft § 56; über Rechtskraft u. urkundl. Grundl. s. Vor § 82, 4; Übergang, Abgabe, Rückgabe, Weitergabe, Widerruf § 85; Hilfen zur Erz. nach § 12: § 82, 5; Verwarng. § 14, 5 u. Auflagen § 15, 20; § 82, 6; JA §§ 86 f, § 85 RL V, s. „JAVollstr.“; JStr. §§ 88 f, § 85 RL VI, s. „JStr.“ unter „Vollstr.“; v. vorl. AO über die Erz. u. vorl. Unterbringg. in ErzHeim § 71, 4; Unterbringg. z. Beobachtg. § 73, 10 aE; – der Unterbringung in psych. Krankenhaus, Zuständigkeit § 85, 8, 9; in der Entziehungsanstalt § 7, 4; § 93a; Zuständigkeit für JStrafe § 89a, 1–6; für Freiheitsstrafe § 89a, 7; für mehrere J- u. Freiheitsstrafen § 89a, 8; Unterbrechung der JStrafe § 89a, 12 ff; Reihenfolge § 89a, 10; § 93a, 6; Führungsaufsicht § 7, 9; § 82, 3; vorl. Sicherungsmaßnahmen Nach § 60, 14, 15. – von Bußgeldsachen § 82, 8 ff; s. im Einzelnen bei „Ordnungswidrigkeit“. – ausländischer Urteile § 1, 7; Verteidigung im Vollstreckungsverfahren § 68, 27; nach OWiG § 82, 8 ff. Vollstreckungsleiter, Begriff § 82, 1; Stellg. § 83; Beschwerderecht § 83, 4, 5; örtl. Zuständigk. §§ 84 ff; bes. – § 85, 2 ff; bei nachträgl. Entsch. über Weisungen u. Auflagen § 65, 2;

bei nachträgl. Einbeziehg. § 66, 10; bei Entlassg. z. Bew § 88, 10 ff; bei Ausnahmen v. JStrVollz. § 89b, 3; § 83, 7; § 85, 4; Zuständigk. beim – § 42, 7; bei Vollstr. von Fr.- u. JStr. § 89a, 1–8. Vollstreckungsverjährung § 4, 3; Ruhen während BewZeit § 22, 6; § 87 IV kein Fall der – § 87, 1. Vollstreckungszuständigkeit §§ 84 f, ursprüngl. (primäre) § 84, nachfolgende (sekundäre) §§ 85; 84, 1; Einfluss d. Ausnahme v. JStr.Vollz. auf – § 89b, 2; § 85, 4. Vollzug §§ 90–93, 110, 112c, Begriff Vor § 82, 1; bei Hw. § 110, 3; bei Ausländern Einf. 56; Tätigk. d. JGH während d. – § 38, 42; d. JA § 90 s.a. „JAVollz.“; d. JStr. Vor § 90; Verteidigung im Vollzug § 68, 28; – d. Freiheitsstr. wie JStr. § 114; – d. UHaft § 89c, 2. Vollzugsbeamte (Ausbildung, Eignung, Auswahl) § 93a, 3. Vollzugsbehörde im JAVollz. § 90, 7. Vollzugsleiter, allg. Vor § 82, 1; im JAVollz. § 90, 7. Vollzugsnähe, Grundsatz § 85, 3. Vorbehalt d. Entsch. über d. Strafaussetzg. §§ 57, 61 ff. Vorbewährung §§ 57, 61 ff; § 45, 45; § 47, 12. Vorführung z. PersönlichkUntersuchung § 43, 18. – z. Aushändigung des BewPlanes § 60, 7; – z. Anhörung über Änderung v. Weisungen § 65, 7. Vorlage an die JK bei bes. umfangreichen Verf. § 41, 47; – zur Übernahme zuständigkeitshalber § 41, 27 ff. Vorläufige Anordnung über die Erz. § 71; – Maßnahmen vor Widerruf d. StrAzBew. Nach § 60. Vormundschaftsgericht (jetzt FamG) Zuständigk., § 42, 5; keine bei Hw. § 42, 5; § 108, 6; Abgabe weg. JVerf. § 42, 10; Gerichtsstand des – § 42, 5. Vormundschaftsrichter (jetzt FamG), Grundsatz der Einheit v. – u. JRi § 34, 4; Überlassg. der Auswahl u. AO v. ErzM § 53, durch ErwG § 53 RL; Stellg. im nachträgl. Verf. § 53, 7; Befugnisse auf Grd. Bürgerl. R § 53, 9; Bestellg. eines Prozesspflegers § 67, 27; Mitt. § 70. Vormundschaftsrichterl. (jetzt famg.) ErzAufgaben – Begriff, Übertragg. auf JRi § 34, 4. – Maßnahme bei fehlender Altersreife u. Begriff § 3, 22; § 9, 2; als Voraussetzung d. VerfEinstellg. § 45, 25; § 47, 8. 712

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Vorrang d. JGG § 2, 5; d. JGG Gerichtsstände § 42, 1, 8; ErzGedanke Einf. 83–91. Vorschlagsliste f.d. Wahl d. JSchöff. § 35, 3. Vorstrafe, JStrafe als – § 17, 12; nach Einbeziehung in eine Einheitsstrafe § 31, 18. Vorverfahren §§ 43–46a; Zuständigkeit § 34, 2. W Wahl d. JSchöff. § 35; – zwischen Berufung u. Revision § 55, 27. Wählbarkeit, Verlust § 6, 2; § 106, 3. Wahlrevision § 55, 27. Wahlverteidiger § 68, 4 u. 8; § 74, 14; s. auch „Pflichtverteidiger“. Wechsel d. „Aufenthalts“ s. dort. Wehrdienst §§ 112a–112e; – s.a. „Soldaten“. Wehrstrafgesetz, Vor § 112a, 4 f. Weisungen §§ 10, 11, 112a Nr. 3; § 65; § 53, 7; im formlosen ErzVerf. § 45, 40 ff; § 47, 10; Begriff § 10, 2, 4; Unterschied z. Auflagen § 15, 1; Anwendungsbereich bei Hw. § 10, 7; gg. Soldaten § 10, 8; § 11, 4 (s.a. § 112d, 1); als BewAufl. § 23, 2; Grenzen § 10, 9, 10; Auswahl § 10, 7 (bes. Bedeutg. d. Alters u. Entwicklungsstandes); Inhalt § 10, 11 ff; Arbeitsleistungen § 10, 13–16; ArbeitsschutzG § 10, 17; Betreuungsweisung § 10, 19, 20; Täter-OpferAusgleich § 10, 24–29; weitere Weisungen § 10, 31 ff; heilerz. Behandlung § 10, 36; Entziehungskur § 10, 40; Therapie-Einrichtungen § 10, 42; deren Anerkennung Einf. 69; Methadon u. Polamidon § 10, 43; Bestimmtheit § 10, 4; Dauer, Endtermin § 11, 1; § 54, 4; – u. Grundgesetz § 10, 9; vorherige Anhörg. d. JGH § 38, 41; des Disziplinarvorgesetzten § 112d; Vollstr. § 82, 6; keine zwangsweise – § 10, 44; Überwachg. § 10, 45; § 38, 41; Kosten d. Durchführg. § 10, 39, 47; Änderg., Ergänzg., Befreiung, Zuwiderhandlungen § 10, 1; § 11, 2, 5; § 65; § 53, 8; s. bei „ErzM“; Hilfen zur Erz. nach dem SGB VIII § 10, 34. Weitere Aussetzg. d. Verhängg. d. JStr. § 30, 5; – Beschwerde s. bei den einzelnen Entsch. – Entsch. nach StrAzBew. § 58, 1, Anfechtg. § 59, 2; nach Aussetzg. d. Verhängg. d. JStr. § 62, Anfechtg. § 63. Werdegang u. PersönlichkErforschg. § 43, 6. Wertersatzstrafe § 6, 4. Wesentliches Ergebnis d. Ermittlungen i.d. Anklageschrift § 46, 5; vgl. § 41, 25, 27. Widerklage gg. einen J § 80, 6; Kosten § 74, 18. 713

Zuc

Widerruf d. StrAzBew. (Zeitpunkt, Voraussetzungen, Subsidiarität) § 26a; Verf. § 58; Anfechtg. § 59, 5; d. Abgabe d. Vollstr. § 85, 20; d. Übertragg. d. Nebenentsch. § 58, 6; – nach Aussetzung eines Strafrestes § 88, 17. Widerrufsbeschluss, Vollstreckbarkeit § 26a, 14. Wiederaufnahme d. Verf. § 55, 65; s. § 1, 24; bei nachträgl. Verhängg. v. JA durch Beschl. § 55, 66; – d. Verfolgg. nach formlosen ErzVerf. § 45, 30; – nach Einstellung gem. § 47, 20. Wiedereinsetzung i.d. vorigen Stand bei Versäumg. d. Rechtsmittelfrist durch ErzBer. u. ges. Vertr. § 50, 9; § 67, 17; auch § 59, 4; bei öffentl. Zustellung § 2, 6 u. 9 FN 17; § 55, 64. Wiedergutmachung d. Schadens § 15, 3; § 81; § 109, 10, 12, s. bei „ZuchtM“. Wiederholte Unterbringg. Gesamtdauer § 73, 5. Wiederholungsgefahr als Haftgrund § 71, 7; § 72, 10; Nach § 60, 5. Willensbildungsfähigkeit § 3, 4. Wirkung d. Einbeziehg. § 31, 17, 18. Wirkungseinheit (Grundsatz) § 31, 3. Wirtschaftsstrafkammer § 33b, 30 FN 64; § 41, 14 u. 34; § 47a, 4; § 103, 6, 15, 22 FN 53; JStA § 102, 4; § 36, 3. Wohlverhalten (Prognose) § 21, 7. Wohlwollensgebot Einf. 63 FN 299. Wohnsitz d. JSchöff. § 35, 3. Z Zahlung eines Geldbetrages § 15, 15. Zeit d. Tat § 1, 20; unlösbare Zweifel § 1, 23. S.a. „Zeitpunkt“. Zeitpunkt d. Widerrufs d. StrAzBew. § 26a, 1. Maßgebender – für die Reifegradentscheidung § 105, 22, 29; – f. Verlängerung BewZeit § 22, 4; der Unterstellungszeit § 25, 1 u. 2. Zeitweise „Ausschließg.“ s. dort. Zentralregister Vor § 97; s.a. „Bundeszentralregister“, „ErzRegister“ u. bei den Einzelvorschriften. Zeugen, Ausschließg. v.d. Verh. § 48, 14, 15, 18– 21; § 51, 17; – vom Hörensagen § 38, 35. ZeugenschutzG § 10, 30; § 48, 15 ff; § 80, 15 f; Anh. § 125, 8 f. Zeugnisse § 38, 35. Zeugnisverweigerungsrecht d. BewH § 25, 13; d. JGH § 38, 37; des j. verwandten Zeugen Anh. § 125, 24 ff. Zuchtmittel § 13; Begriff, Wesen 2; Verantwortlichk., Anwendgsbereich 3; bei Hw. § 105, 36;

Zul

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Verhältnis z. ErzM u. JStr. Einf. 102; § 5, 7; § 13, 2; daneben Entziehg. d. Fahrerlaubnis § 7, 14; Verbot d. Schlechterstellg. § 55, 38, 42; Verhältnis z. ErwStr. § 55, 58, 59; Rechtsmittelbeschränkg. § 55, 17 ff; Wiederaufnahme d. Verf. § 55, 65, 66; ErzReg. Vor § 97, 3, 5, 6; § 85 RL IV, V (JA §§ 86 f, 90); vollständige Verbüßg. § 31, 7; s.a. „Auflagen“, „JA“ u. „Verwarnung“. Grund für Aussageverweigerung § 13, 5. Für die ehem. DDR vgl. § 1, 14. Zulassung nicht zur Anwesenh. Berechtigter § 48, 22; v. Schulklassen, Presse u. Rundfunk § 48, 22; RL S. 2–4. Zurechnungsfähigkeit s. „Schuldunfähigkeit“ u. „Schuldfähigkeit“. Zurücknahme s. „Rücknahme“. Zurückstellung d. Strafvollstreckung bei Betäubungsmittelabhängigen § 17, 40 ff. Zurückverweisung § 41, 48; § 47a, 7; § 103, 23. Zurückweisung unzulässiger Rechtsmittel § 55, 36. Zusagen § 23, 8; § 57, 6; § 26a, 7. Zusammenarbeit zwischen Ri. u. BewH § 25, 3 ff; Ri., StA u. JGH § 38, 7. Zusammenhang u. Zuständigk. § 41, 23; § 42, 9; d. Weisungen m. d. Tat § 10, 4. Zuständigkeit d. JG § 33; gg. Hw. § 107; bei Straftaten in verschiedenen Alters- u. Reifestufen Vor § 102, 2; Ausnahmen §§ 102 f; Vor § 102, 1; – d. BGH, ObLG, OLG, Staatsschutzkammer § 102, 1, 2; – anderer ErWG bei Verbindg. § 103; d. Verwaltungsbehörden § 33b, 36; d. FamG für Hilfen zur Erz. § 12, 2; zu nachträglicher Einheitsstrafenbildung § 66, 10 u. 11; bei Ordnungswidrigkeiten § 33b, 36; § 41, 10, 54; § 42, 15. Zuständigkeit, funktionelle zwischen d. JG § 41, 7; § 34, 3; § 102, 1 (Rechtsmittel); – des JStA § 36, 11; bei Taten vor und nach Vollendung des 21. Lebensjahres Vor § 102, 2; nach Wegfall der Verbindung § 103, 13, 18, 20; – s.a. „Zuständigk. d. JG“. S.a. „Präsidium“. – örtliche § 42, 1 ff; f. Hw. § 108, 6; in JSchutzVerf. Anh. § 125, 5 ff; Konzentration für größeren Bezirk § 33b, 17; Einwand d. Unzuständigk. § 33b, 25; § 42, 9; JStA § 36, 14; § 42, 4; d. JGH § 38, 5; d. VollstrL §§ 84 f, bes. § 84, 3; s.a. „Gerichtsstand“. – sachliche §§ 39–41, 108, 1; vor ErwG § 41, 6; im JSchutzVerf. Anh. § 125, 5 ff; d. JRi. § 41, 8, 24, 25 ff; § 108,

1; d. JschöffG § 41, 20, 25 ff; § 108, 3; d. JK § 41, 9, 11 ff, 27 ff; 46, 49, 52, 54; § 108, 2; StaatsschutzK § 41, 11, 14; Vor § 102, 1; § 102, 2 ff; § 103, 6; § 47a, 4 ff; OLG, ObLG, BGH § 41, 19; § 102, 1. – zur Bildg. einer Einheitsstrafe § 41, 55; zur AO v. Maßregeln d. Besserg. U. Sicherg. § 41, 13, 18, 21; Bedeutg. f. d. Verbindg. § 103, 3, 23; Einfluss d. StA § 41, 8 ff, 25 ff; § 103, 4, 27; Jschutzverf. Anh. § 125, 5; – in Gnadensachen Vor § 82, 7; – VollstrLeiter – VollstrKammer § 85, 11, 14. Zuständigkeit, örtliche: § 42, Binnenschifffahrt § 42, 3; Hw. § 42, 5; OWiG § 42, 15. Zuständigkeitskonzentration § 33b, 5. Zuständigkeitsprüfung, sachl.: bei Anklage § 41, 8 ff, 25 ff; vor Eröffnungsbeschl. § 41, 25 ff; im gerichtl. Verf. § 41, 35 ff; – örtl. § 42, 8, 9; beim Antrag n. § 76: § 78, 11, 15. Zustellung, öffentl. § 2, 9; vgl. auch „Wiedereinsetzung“. Zustimmung d. Betroffenen z. Weisung § 10, 4, 38, 40; § 57, 6; d. ErzBer. z. Weisung § 10, 6, 38; des gesetzl. Vertreters zur Aussage als Zeuge Anh. § 125, 24 ff; nachträgliche – z. körperl. Untersuchung 30; zur Glaubwürdigkeitsuntersuchung 31; des Besch. § 45, 35; d. StA § 47, 14; z. Abgabe § 42, 12; z. AbwesenheitsVerf. § 50, 2; § 78, 20; z. Tilgg. d. Schuldspruches durch Beschl. § 62, 5; § 63, 2; z. Einstellung gem. § 47 im vereinfachten § 78, 14. Zutrittsrecht d. Verteidigers § 68, 7; d. BewH § 25, 14; d. JGH § 38, 11; bei UHaft § 72b, 2. Zuwiderhandlung (Verhängg. v. JA bei –) gg. Weisungen u. Auflagen §§ 11 III, 15 III; § 11, 5; gg. BewAufl. § 23 I 3; § 26a, 5, 6; Verf. § 65, nach AO d. Weisung durch FamG § 53, 8; bei § 98 OWiG § 82, 18. Zwangsmaßnahmen, keine – zur Durchsetzg. v. Weisungen § 10, 44; Auflagen § 15, 20; keine – bei Anerbieten u. Zusagen § 26a, 7; keine – gg. Kinder als Zeugen, § 1, 4; im vereinfachten JVerfahren § 78, 17; keine – bei Auflagen n. § 45: § 45, 30, 38. Zweidrittelmehrheit zu. Aufnahme in die JSchöff-Vorschlagsliste § 35, 3; – z. Entsch. nach § 105: § 105, 41; vgl. „Mehrheit“. Zweifel über Tatzeit u. Alter § 1, 23; über Altersreife § 3, 11, 14; über Reifegrad § 105, 31. Zwischen-Bericht d. BewH § 25, 4.

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