Jürgen Moltmann Werke - Sonderausgabe [Band 1-9 ed.]
 9783641310912

Table of contents :
VORWORT
VORWORT
INHALT
EINLEITUNG. MEDITATION ÜBER DIE HOFFNUNG
KAPITEL I. ESCHATOLOGIE UND OFFENBARUNG
KAPITEL II. VERHEISSUNG UND GESCHICHTE
KAPITEL III. AUFERSTEHUNG UND ZUKUNFT JESU CHRISTI
KAPITEL IV; ESCHATOLOGIE UND GESCHICHTE
KAPITEL V. EXODUSGEMEINDE
ANHANG. "DAS PRINZIP HOFFNUNG" UND DIE "THEOLOGIE DER HOFFNUNG"
PERSONENREGISTER
BIBELSTELLENREGISTER
Front matter 2
Inhalt
Zur Verständigung über das Thema
I. Identität und Relevanz des Glaubens
II. Der Widerstand des Kreuzes gegen seine Deutungen
III. Die Fragen nach Jesus
IV. Der geschichtliche Prozeß Jesu
V. Der eschatologische Prozeß Jesu Christi
VI. Der »gekreuzigte Gott«
VII. Wege zur psychischen Befreiung des Menschen
VIII. Wege zur politischen Befreiung des Menschen
Namenregister
Corrigenda zur 3 Auflage
Front matter 3
INHALT
VORWORT
I. DIMENSIONEN EINER LEHRE VON DER KIRCHE HEUTE
II. DIE KIRCHE IN DER GESCHICHTE
III. DIE KIRCHE JESU CHRISTI
IV. DIE KIRCHE DES REICHES GOTTES
V. DIE KIRCHE IN DER GEGENWART DES HEILIGEN GEISTES
VI. DIE KIRCHE IN DER KRAFT DES HEILIGEN GEISTES
VII. DIE KENNZEICHEN DER KIRCHE
NACHWORT 1989
NAMENREGISTER
BIBELSTELLENREGISTER
Front matter 4
INHALT
VORWORT
I. TRINITARISCHE THEOLOGIE HEUTE
II. DIE PASSION GOTTES
III. DIE GESCHICHTE DES SOHNES
IV. DIE WELT DER TRINITÄT
V. DAS GEHEIMNIS DER TRINITÄT
VI. DAS REICH DER FREIHEIT
NAMENREGISTER
Front matter 5
INHALT
VORWORT
I. GOTT IN DER SCHÖPFUNG
II. IN DER ÖKOLOGISCHEN KRISE
III. DIE ERKENNTNIS DER SCHÖPFUNG
IV. GOTT DER SCHÖPFER
V. DIE ZEIT DER SCHÖPFUNG
VI. DER RAUM DER SCHÖPFUNG
VII. HIMMEL UND ERDE
VIII. DIE EVOLUTION DER SCHÖPFUNG
IX. GOTTES BILD IN DER SCHÖPFUNG: DIE MENSCHEN
X. »LEIBLICHKEIT IST DAS ENDE ALLER WERKE GOTTES«
XI. DER SABBAT: DAS FEST DER SCHÖPFUNG
ANHANG: SYMBOLE DER WELT
NAMENSREGISTER
BIBELSTELLENREGISTER
Front matter 6
INHALT
VORWORT
I. DAS MESSIANISCHE
II. WEGE UND WANDLUNGEN DER CHRISTOLOGIE
III. DIE MESSIANISCHE SENDUNG CHRISTI
IV. DIE APOKALYPTISCHEN LEIDEN CHRISTI
V. DIE ESCHATOLOGISCHE AUFERSTEHUNG CHRISTI
VI. DER KOSMISCHE CHRISTUS
VII. DIE PARUSIE CHRISTI
BIBELSTELLENREGISTER
NAMENREGISTER
Front matter 7
INHALT
VORWORT
EINFÜHRUNG: ANSÄTZE DER PNEUMATOLOGIE HEUTE
Teil I: Erfahrungen des Geistes
I. LEBENSERFAHRUNG- GOTTESERFAHRUNG
II. GESCHICHTLICHE ERFAHRUNG DES GEISTES
III. TRINITARISCHE ERFAHRUNG DES GEISTES
Teil II: Das Leben im Geist
IV. DER GEIST DES LEBENS
V. DIE BEFREIUNG ZUM LEBEN
VI. DIE RECHTFERTIGUNG DES LEBENS
VII. DIE WIEDERGEBURT ZUM LEBEN
VIII. DIE HEILIGUNG DES LEBENS
IX. DIE CHARISMATISCHEN KRÄFTE DES LEBENS
X. THEOLOGIE DER MYSTISCHEN ERFAHRUNG
Teil III: Gemeinschaft und Person des Geistes
XI. DIE GEMEINSCHAFT DES GEISTES
XII. DIE PERSONALITÄT DES GEISTES
BIBELSTELLENREGISTER
PERSONENREGISTER
Front matter 8
INHALT
VORWORT
I. DER KOMMENDE GOTT Eschatologie heute
II. EWIGES LEBEN Personale Eschatologie
III. REICH GOTTES Geschichtliche Eschatologie
IV NEUER HIMMEL- NEUE ERDE Kosmische Eschatologie
V HERRLICHKEIT Göttliche Eschatologie
PERSONENREGISTER
BIBELSTELLENREGISTER
Front matter 9
INHALT
VORWORT
TEIL I WAS IST THEOLOGIE?
TEIL II HERMENEUTIK DER HOFFNUNG
TEIL III SPIEGELBILDER BEFREIENDER THEOLOGIE
TEIL IV IM »WEITEN RAUM« DER TRINITÄT
EPILOG »DIE FURCHT DES HERRN IST DER WEISHEIT ANFANG« WISSENSCHAFT UND WEISHEIT
NAMENREGISTER
BIBELSTELLENREGISTER

Citation preview

W E R K E BA N D 1

Jürgen Moltmann

THEOLOGIE DER HOFFNUNG Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie

Gütersloher Verlagshaus

GÜTERSLOHER VERLAGSHAUS

Sonderausgabe 2016 Copyright © 1964 by Chr. Kaiser / Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber an den aufgeführten Zitaten ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall nicht gelungen sein, bitten wir um Nachricht durch den Rechteinhaber. ISBN 978-3-641-31091-2 www.gtvh.de

Meiner Frau

VORWORT

Dreiunddreißig Jahre "Theologie der Hoffnung" Ein Buch nach dreiunddreißig Jahren noch einmal aufzulegen und mit einem neuen Vorwort zu veröffentlichen, ist natürlich ein Risiko. Bücher haben auch ihre eigene Zeit. Aber einige Bücher haben auch ihr eigenes Schicksal, denn sie gehen ihren eigenen Weg. So ist es mit der "Theologie der Hoffnung" ergangen. Ich habe sie 1964 veröffentlicht. 1967 erschien die englische Übersetzung. Aber danach ist sie mir aus den Händen geglitten und hat ihre eigene Geschichte gemacht; eine Geschichte, die ich weder beabsichtigt noch vorausgesehen hatte, die aber in vielfältiger Form auf mich zurückgekommen ist. Ich bin der Autor des Buches und ich anerkenne und stehe zu allem, was ich damals geschrieben habe. Aber die Geschichte, die von der "Theologie der Hoffnung" beeinflußt worden ist, ist davon verschieden. In ihr bin ich nur eine Person zwischen vielen anderen. In ihr bin ich eher der erste Leser des Buches als sein Autor. Ich werde in diesem Vorwort etwas von der Entstehungsgeschichte dieser Theologie erzählen und von dem Weg, den sie dann gegangen ist. Die "Theologie der Hoffnung" ist aus den internen Diskussionen zwischen den Herausgebern der Zeitschrift EVANGELISCHE THEOLOGIE in der Zeit von 1958 bis 1964 entstanden. In jener Zeit waren wir mit der Kontroverse zwischen der "Theologie des Alten Testaments" von Gerhard von Rad und Rudolf Bultmanns "Theologie des Neuen Testaments" beschäftigt, um zu einer biblisch begründeten systematischen Theologie zu kommen. Die zentrale Frage darin war die Frage nach dem Verständnis der Geschichte. Wird die Wirklichkeit im Ganzen als "Geschichte" im Kontext oder im Gegenüber zu den Verheißungen Gottes, die menschliche Hoffnungen erwecken, erfahren? Oder gründet Geschichte in der Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz? Es war auf jenen Konferenzen damals eine sehr spezialisierte theologische Diskussion. Aber es ging um nichts Geringeres als um die Überwindung des allgemeinen Existentialismus der Nachkriegszeit, um Zukunftsperspektiven für eine gerechtere, friedlichere und menschlichere Welt zu gewinnen. Wir wollten heraus aus der Apathie und suchten Hoffnungen, mit denen man leben kann. Darum verdrängte damals der Mythos des Prometheus langsam aber sicher den Mythos des Sisyphus, den Albert Camus uns so nahe gebracht hatte. Israels Exodus aus der Sklaverei (und den Fleischtöpfen) Ägyptens ins gelobte Land der Freiheit, in

Vorwort

dem es "Milch und Honig" gibt, wurde zum neuentdeckten Thema der Theologie. Die schöpferische Erwartung des kommenden Reiches Gottes gab dem christlichen Glauben seine eigene Zukunftsorientierung zurück. Was ich damals für unsere internen Diskussionen schrieb, war anfänglich nicht mehr als ein begrenzter theologischer Beitrag. Für mich selbst aber fügten sich in der "Theologie der Hoffnung" die verschiedenen, losen Fäden der Theologie zum Muster eines neuen Teppichs für das Ganze der Theologie zusammen: die alttestamentliche Theologie der Verheißungen, die neutestamentliche Eschatologie der Parusie Christi, die holländische Theologie des Apostolats und eine revolutionäre Ethik, die diese Welt so lange verändern will, bis sie zur erkennbaren Welt Gottes wird. "Eisen ins bleiche Christenblut", so beschrieb 1967 DER SPIEGEL die Absicht der "Theologie der Hoffnung". Ich fand die wichtigsten philosophischen Kategorien für diese zukunftsorientierte Theologie in der messianischen Philosophie des (vermeintlichen) Neomarxisten Ernst Bloch. Ich entdeckte die ersten Bände seines "Prinzips Hoffnung" 1958/59, las die ostdeutsche Ausgabe während eines Urlaubs in der Schweiz 1960 und war davon so fasziniert, daß ich die Schönheit der Schweizer Berge gar nicht wahrnahm,- sehr zum Leidwesen meiner Frau. Warum hat sich die christliche Theologie die Hoffnung entgehen und nehmen lassen, die doch ursprünglich und wesentlich ihr ureigenstes Thema ist? Das war mein erster Eindruck. Dann aber fragte ich mich selbstkritisch: Wo ist der aktive, urchristliche Geist der Hoffnung heute geblieben? Ich wollte Ernst Blochs "Prinzip Hoffnung" nicht nachahmen. Ich wollte es auch nicht "taufen", wie Kar! Barth damals in Basel argwöhnte. Ich wollte eine Parallelhandlung in der Theologie auf den theologischen Voraussetzungen von Juden und Christen. Für Ernst Bloch sollte der Atheismus die aktive Hoffnung in der Geschichte begründen, wie für Jean-Paul Sartre damals der Atheismus die einzige Grundlage der menschlichen Freiheit war. Für mich aber war und ist der Gott des Exodus und der Verheißung, der Gott der Auferweckung Christi und des Auferstehungsgeistes in uns der Grund und das Motiv der in der Geschichte aktiven und im Leiden standhaften Hoffnung, des Messianismus ebenso wie der Apokalyptik. Doch jener Atheismus, der Menschen von Aberglauben und Götzendienst befreien will, und der Messianismus, der sie aus ihren äußeren und inneren Gefängnissen zur Freiheit des kommenden Reiches Gottes befreien will,- diese beiden Bewegungen müssen nicht Gegner sein, sondern können auch zusammenarbeiten. Ob wir nach Bloch "ohne Transzendenz" geschichtlich in die Zukunft transzendieren, oder, wie ich behaupte, "mit Transzendenz", das Ergebnis können wir getrost jener Zukunft überlassen, die auf uns wartet.

Vorwort

1964 traf die "Theologie der Hoffnung" offensichtlich, wenn auch unbeabsichtigt, ihren Kairos. Das Thema lag sozusagen "in der Luft". Im Zweiten Vatikanischen Konzil öffnete sich die römisch-katholische Kirche gerade für die Fragen der modernen Welt. In den USA kam die Civil-Right-Movement im Kampf gegen den Rassismus zu ihren Höhepunkten. In Osteuropa sahen wir die Entstehung eines Reformmarxismus, den man in Prag den "Sozialismus mit dem menschlichen Gesicht" nannte. In Lateinamerika erweckte die gelungene Revolution in Kuba überall die Hoffnungen der Armen und der Intellektuellen. In Westdeutschland überwanden wir die Stagnation der Nachkriegszeit mit ihrer Parole "Keine Experimente!" durch den Willen zu "mehr Demokratie" und besserer sozialer Gerechtigkeit und den "Kampf gegen den Atomtod". Diesechziger Jahre waren wirklich die Jahre des Aufbruchs und der Umkehr zur Zukunft und der Wiedergeburt der Hoffnungen. Als die "Theologie der Hoffnung" 1967 in Amerika erschien, schrieb die NEW YORK TIMESauf der ersten Seite: "Die Gott-ist-tot-Theologie verliert den Boden an die Theologie der Hoffnung". Die sechziger Jahre endeten jedoch mit bitteren Enttäuschungen der genannten Hoffnungen: Im Herbst 1968 walzten die Panzer der WarschauerPakt-Truppen den "Sozialismus mit dem menschlichen Gesicht" in Prag nieder. Der Vietnamkrieg brachte die USA in einen tragischen Konflikt mit sich selbst. 1968 erschien die Enzyklika "Humanae vitae" und beendete die Öffnung der katholischen Kirche zur Welt von heute. Im selben Jahr erreichten die ökumenischen Hoffnungen auf der Weltkirchenkonferenz in Uppsala ihren Höhepunkt mit dem Motto "Siehe, ich mache alles neu!" und gerieten danach in Konflikte mit Evangelikalen und Konservativen. Die Wirtschaftskrise 1972- die Ölkrise- machte uns allen klar, daß wir nicht im "Land der unbegrenzten Möglichkeiten" leben und auch die Zukunft nicht grenzenlos ist, sondern wir uns mit dieser Erde und ihren begrenzten Ressourcen bescheiden müssen. Damit wendete sich für viele die Hoffnung auf eine bessere Zukunft zum aktiven Widerstand gegen die realen Zerstörungen des Lebens auf dieser Erde. Die große, aber damals denn doch sehr allgemein gehaltene Hoffnung wurde in vielen kleinen und begrenzten Aktionen konkret: in der ökologischen Bewegung, in der Friedensbewegung, in der feministischen Bewegung und in anderen Bewegungen. "Konkrete Utopie" hatte Ernst Bloch das genannt, aber der Widerstand gegen die Umweltzerstörungen, die Massenvernichtungsmittel und die Unterdrückung der Frauen ging auch ohne utopische Anreize einfach aus dem Gefühl innerer Notwendigkeit heraus voran. Genau 20 Jahre nach den Enttäuschungen von 1968 haben wir dann ab 1989 auf dem so lange für hoffnungslos gehaltenen Feld der Politik die "Zeichen und Wunder" erfahren, die nie-

Vorwort

mand mehr ernstlich erwartet hatte. Die Geschichte beschämte unsere Kleingläubigkeit, als das Sowjetimperium zerfiel, als Deutschland vereinigt wurde und als das Apartheitssystem in Südafrika ohne das befürchtete große Blutvergießen sang- und klanglos verschwand. Diese gewaltfreien, friedlichen und oft so lustvollen Revolutionen gegen riesige Gewaltsysteme am Ende der achtziger und Beginn der neunziger Jahre sind für mich eine große Bestärkung der "Theologie der Hoffnung" geworden: Warum haben wir nicht größer gehofft? Der Einfluß der "Theologie der Hoffnung" in anderen Ländern geht über jeden direkten Einfluß von mir persönlich hinaus. Die "Hoffnung" kam viel mehr aus den Ländern der Dritten Welt in neuen, faszinierenden Formen auf mich zurück und beeinflußte meine weitere theologische Arbeit: in James Cones "Schwarze Theologie" in den USA, in Gustavo Gutierrez' und Jon Sobrinos "Theologie der Befreiung", in Suh Nam Dongs und Ahn Byun-Mus "Minjung-Theologie" in Korea. "Hoffnung in Aktion" wurde in viele, verschiedene politische und kulturelle Kontexte übersetzt, denn sie ist immer nur kontextuell wirksam. Aber ihr Text der biblischen Erinnerungen und Verheißungen ist überall derselbe. Ich nehme an, daß es die kohärente Perspektive auf die historische Befreiung hier und die eschatologische Erlösung dort war, welche die "Theologie der Hoffnung" auf den genannten Gebieten einflußreich gemacht hat. Die Schöpfungslehre in Beziehung zur Naturphilosophie und zu den Naturwissenschaften war kein Bereich, in dem die "Theologie der Hoffnung" eine neue theologische Architektur entwickelt hat. Um die existentialistische Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz zu überwinden, stand für uns damals die Geschichte der Welt in politischer, sozialer und ökonomischer Hinsicht im Zentrum, nicht aber die Ökologie der Erde und die Struktur des menschlichen Körpers. Jenes Feld war in den sechziger Jahren von den "Teilhardians" und den Prozeßtheologen besetzt. Erst ab 1972 drang die ökologische Krise der Erde in mein Bewußtsein und ich versuchte, in Vorlesungen und Seminaren aus der "Theologie der Hoffnug" eine neue Schöpfungstheologie zu entwickeln. Diese aber gelang mir erst, nachdem ich für mich die Trinitätslehre und das weite und weithin unbekannte Gebiet der Lehre vom Heiligen Geist entdeckte. In meinen Gifford-Lectures 1985 und dem Buch "Gott in der Schöpfung" 1985 habe ich die Theologie der Hoffnung auf die Erde, den Leib und die sinnliche Welt ausdehnen können. Dafür habe ich von der ökologischen Diskussion und von der feministischen Theologie am meisten gelernt. Mit der "Theologie der Hoffnung" habe ich für mich eine erste theologische Methode entwickelt: Das Ganze der Theologie in einem einzigen Brenn-

Vorwort

punkt. Dieser war damals die Hoffnung. 1972 habe ich sie in dem Buch "Der gekreuzigte Gott" auf das Kreuz Christi und das Leiden Gottes wieder angewendet. Wenn man die Theologie auf diese Weise auf einen einzigen Punkt zusammenzieht und alle ihre Bereiche von ihm aus beleuchtet, erkennt man Neues, aber man wird natürlich auch einseitig. "Einseitigkeit" war denn auch die meistgehörte Kritik an meinen frühen Büchern. Sie hat mich geehrt, denn wer in einer wichtigen und erregenden Diskussion das Wort ergreift, ist immer einseitig, wenn er etwas erreichen will. Er ist polemisch, überbetont bisher Vernachlässigtes und stellt seine Ansicht gegen die anderer. Aber sein eigenes Ganzes ist Teil eines größeren und weitergehenden Diskurses. Er verabsolutiert seinen Beitrag nicht, sondern bringt ihn als Vorschlag in die laufende Debatte ein. Jede irdische und geschichtliche Theologie nimmt an dem großen theologischen Diskurs teil und ist "einseitig". Vielleicht wird es im himmlischen Chor der Theologen anders werden. Doch "Allseitigkeit" und generelle "Ausgewogenheit" könnten allenfalls Eigenschaften der für uns unerreichbaren Theologie Gottes sein. Hier auf Erden aber ist christliche Theologie eine Gotteserkenntnis cum ira et studio, mit Leiden an Gott und Leidenschaft für sein Reich und seine Gerechtigkeit. Je älter und selbstkritischer man wird, desto mehr lernt man den Radikalismus seiner Jugend schätzen. "Verachte nicht die Träume Deiner Jugend", sagt der Marquis Posa in Schillers Drama "Don Charlos". Indem ich jetzt dieses Vorwort schreibe, bin ich wieder ein Herz und eine Seele mit den Visionen der "Theologie der Hoffnung" vor 33 Jahren. Tübingen, 29. Mai 1997

Jürgen Maltmann

VORWORT

Dieses Buch hat seinen Weg durch die Welt gemacht. Es wurde in acht Sprachen übersetzt und immer wieder neu aufgelegt. In zahlreichen theologischen und nichttheologischen, christlichen und nichtchristliehen Zeitschriften wurde die Theologie der Hoffnung diskutiert. Sie hat das Ihre dazu beigetragen, die theologische Arbeit auf die Geschichte des Gottes der Hoffnung zu orientieren. Sie hat im praktischen Engagement vieler Christen in sehr verschiedenen Ländern eine Umkehr zur Zukunft bewirkt. >>Hoffnung« wird seitdem nicht mehr für eine Jugendtorheit gehalten. Sie wird nicht mehr als »Schwärmerei« diffamiert. Sie wird auch nicht nur als eine der drei christlichen Tugenden genannt. Die Hoffnung auf Gottes Zukunft für die ganze, tödlich bedrohte Welt wird heute wieder als Lebenskraft der christlichen Existenz und Gemeinde erfahren. Sie ist darum auch das erkenntnisleitende Interesse der christlichen Theologie. Wir leben von der Hoffnung und sterben an den Enttäuschungen. Darum ist christlicher Glaube heute unausweichlich zur »Verantwortung der Hoffnung« herausgefordert. Wer ein Buch, das 13 Jahre alt ist, wieder herausgibt, wird gefragt, ob er sich noch mit ihm identifiziere. Der theologische Begriff, den die Hoffnung in meinem Buch bekommen hat, ist natürlich zeitbedingt und durch viele äußere und innere Faktoren des Verfassers bestimmt. Er ist darum auch kritikwürdig und wird durch sachliche und teilnehmende Kritik nur gewürdigt. Aber der Horizont der Hoffnung, der mit uns wandert und uns der Zukunft Gottes entgegenführt, geht allemal über die Bedingungen unserer Zeit und unserer Verhältnisse hinaus. Er ist selbst das wahre Kriterium der Grenzen unserer Erkenntnisse und unserer Gestaltungen. Im Sinne des alten Wappenmottos identifiziere ich mich mit diesem Buch: Dum spiro - spero! Bei einer Neuauflage eines Buches wird man auch gefragt, in welcher Richtung es denn danach weiter gegangen sei. Mit Freude und mit sowohl zustimmender wie kritischer Anteilnahme habe ich in den letzten zehn Jahren beobachtet, wie die Motive der Theologie der Hoffnung von anderen auf originelle Weise aufgenommen wurden und in ihrer eigenen Situation eigenständige Gestalt bekamen. Ich denke an die Entwicklung einer politischen Theologie in Europa und an den unvergeßlichen christlich-marxistischen Dialog, aus dem die Bewegung Christen für den Sozialismus hervorgegangen ist. Ich denke an die schwarze Theologie der

Hoffnung und der Befreiung in den USA und an die lateinamerikanische Theologie der Befreiung des Volkes. Ich denke auch an die feministische Freiheitstheologie. Die Befreiung der Unterdrückten zur Freiheit ist in der Tat die Erfahrung und die Aufgabe der Hoffenden! Es ist mir wichtig, auf die Bewegung der Gemeinde-Kirche, der Basisgemeinschaften und der Gemeinden des Volkes hinzuweisen. Wer nach der kirchlichen Gestalt der Hoffnung fragt, soll sich dort orientieren! Nicht zuletzt hat mich die Theologie der Hoffnung zu einer intensiven Arbeit an einem trinitarischen Gottesbegriff geführt, der das Leiden und die Leidenschaft des gekreuzigten Christus in seinem Zentrum hat. In die Richtungen dieser Bewegungen möchte ich mit der Neuauflage dieses Buches über dieses Buch hinausweisen. Mein eigener Weg führte mich zur »Kritik der politischen Religion« (1970) und zur »Theologie des Spiels« (1971 ), danach zu den Büchern Der gekreuzigte Gott (1972) und Die Kirche in der Kraft des Geistes (1975). Sie gehören fortsetzend und ergänzend zur Theologie der Hoffnung. Auch in Hinsicht auf diese Weiterarb~it gilt: Dum spiro- spero! Mit dieser Aufgabe der Theologie der Hoffnung gedenke ich der Freunde, die um der Hoffnungwillen der Unterdrückung und der Feigheit in ihren Ländern widerstanden und dafür in den Gefängnissen leiden. In ihrer Hingabe steckt der wahre Same der Zukunft. Tübingen, am 8. Juni 1977

Jürgen Moltmann

INHALT Einleitung: Meditation über die Hoffnung . . .

.

11

1. Welchen Logos hat die christliche Eschatologie?

11

2. Die Hoffnung des Glaubens .

15

3. Die Sünde der Verzweiflung

18

4. Betrügt die Hoffnung den MensChen um das Glück der Gegenwart?

21

5. Hoffen und Denken .

27

. .

. .

. .

. . . . . . .

KAPITEL I: ESCHATOLOGIE UND OFFENBARUNG

s s s s s s s s

1 Die Entdeckung der Eschatologie und ihre Unwirksamkeit .

31

2 Verheißung und Offenbarung Gottes .

35

3 Transzendentale Eschatologie

38

4 Die Theologie der transzendentalen Subjektivität Gottes

H

5 Die Theologie der transzendentalen Subjektivität des Menschen

51

6 Heilsgeschichtliche Eschatologie und ,;progressive Offenbarung•

61

7 "Geschichte" als indirekte Selbstoffenbarung Gottes

67

8 Die Eschatologie der Offenbarung .

74

KAPITEL II: VERHEISSUNG UND GESCHICHTE

s

1 Epiphanienreligion und Verheißungsglaube

85

§

2 Das Verheißungswort.

92

s s

3 Die Erfahrung der Geschichte

95

4 Offenbarung und Gotteserkenntnis

101

§ 5 Verheißung und Gesetz

108

s s

6 Verheißung in prophetischer Eschatologie

112

7 Die Vergeschichtlichung des Kosmos in apokalyptischer Eschatologie

120

KAPITEL III: AUFERSTEHUNG UND ZUKUNFT JESU CHRISTI

§

125

1 Evangelium und Verheißung

§ 2 Der Gott der Verheißung

129

§ 3 Paulus und Abraham .

134

§

.

4 Der urchristliche Enthusiasmus der Erfüllung und die eschatologia CCUClS

.





.



.

.













140



150

§ 5 Der" Tod Gottes" und die Auferstehung Christi § 6 Die historische Frage nach der Auferstehung Christi und die Fraglichkeit des historischen Umgangs mit der Geschichte

. .

. .

. .

156

§ 7 Die formgeschichtliche Frage nach den Osterberichten und die Fraglichkeit ihrer existentialen Interpretation .

§

. .

. .

. .

. .

166

8 Die eschatologische Frage nach dem Zukunftshorizont in der Verkündigung des Auferstandenen . .

. .

. . .

. .

. . .

.

.

173

§ 9 Die Identität des als auferstanden Erscheinenden mit dem gekreuzig179

ten Christus

§ 10 Die Zukunft Jesu Christi

184

§ 11 Die Zukunft der Gerechtigkeit

185

§ 12 Die Zukunft des Lebens .

.

189

§ 13 Die Zukunft des Reiches Gottes und der Freiheit des Menschen

197

§ 14 Zusammenfassung und Rechenschaft .

204

. .

KAPITEL IV: ESCHATOLOGIE UND GESCHICHTE

§

1 Kritik und Krise

. .

210

DAS "AUFGELÖSTE RÄTSEL DER GESCHICHTE":

§ 2 Die historische Methode

218

§

3 Historische Heuristik

220

§

4 Historiologie

225

S

5 Eschatologie der Geschichte - Geschichtsphilosophischer Chiliasmus

240

§ 6 Tod und Schuld als Triebkräfte der Historie

243

§ 7 Die Eigenart historischer Universalbegriffe

248

§ 8 Hermeneutik der christlichen Sendung

250

1. Die Gottesbeweise und die Hermeneutik

20 Sendung und Auslegung

o

0

o

250 259

o

a) Hermeneutik des Apostolates

260

b) Die Menschwerdung des Menschen in der Hoffnung der Sendung c) Die Vergeschichtlid1ung der Welt in der Sendung

262 265

d) Die Tradition der eschatologischen Hoffnung

268

KAPITEL V: EXODUSGEMEINDE Bemerkungen zum eschatologischen Verständnis der Christenheit in der modernen Gesellschaft §

1 Der Kult des Absoluten und die moderne Gesellschaft

280

§ 2 Religion als Kult der neuen Subjektivität

287

§ 3 Religion als Kult der Mitmensd1lichkeit

292

§

4 Religion als Kult der Institution

o

0

296

§ 5 Die Christenheit im Erwartungshorizont des Reiches Gottes

299

§ 6 Der Beruf der Christenheit an der Gesellschaft

304

ANHANG: ,.DAS PRINZIP HOFFNUNG" UND DIE ,.THEOLOGIE DER HOFFNUNG" Ein Gespräch mit Ernst Bloch l. Ernst Blochs "Meta-Religion"

0

313

2o Homo absconditus und Deus absconditus

317

3o Die Heimat der Identität und das Reich Gottes

321

4o Exterritorialität zum Tode und Auferstehung der Toten

326

5o Hoffnung und Zuversicht

331

Personenregister

335

Bibelstellenregister

339

EINLEITUNG MEDITATION ÜBER DIE HOFFNUNG

1. Welchen Logos hat die christliche Eschatologie?

Man nannte lange Zeit die Eschatologie die "Lehre von den letzten Dingen" oder die "Lehre von dem Letzten". Unter diesen letzten Dingen verstand man Ereignisse, die einmal am Ende der Zeit über die Welt, die Geschichte und die Menschen hereinbrechen werden. Dazu gehörte die Wiederkunft Christi in universaler Herrlichkeit, Weltgericht und Reichsvollendung, allgemeine Totenauferstehung und neue Schöpfung aller Dinge. Diese Endereignisse sollten von einem Jenseits der Geschichte ins Diesseits hereinbrechen und die Geschichte, in der sich hier alles regt und bewegt, beenden. Indem man aber diese Ereignisse auf den "jüngsten Tag" vertagte, verloren sie ihre weisende, aufrichtende und kritische Bedeutung für alle jene Tage, die man hier, diesseits des Endes, in der Geschichte zubrachte. So führten diese Lehren vom Ende ein eigentümlich steriles Dasein am Ende der christlichen Dogmatik. Sie waren wie ein loser Anhang, der in apokrypher Unwesentlichkeit verkam. Sie hatten keine Beziehung zu den Lehren von Kreuz und Auferstehung, Erhöhung und Herrschaft Christi, ergaben sich nicht folgenotwendig daraus. Sie waren davon so weit entfernt, wie die Predigten am Totensonntag von Ostern. In dem Maße, wie das Christentum zur Nachfolgeorganisation der römischen Staatsreligion wurde und harrn;ickig deren Ansprüche vertrat, überließ man die Eschatologie und ihre mobilisierende, revolutionierende und kritische Einwirkung in die jetzt zu lebende Geschichte den enthusiastischen Sekten und den revolutionären Gruppen. Indem der o~rist­ liche Glaube die ihn tragende Zukunftshoffnung aus seinem Leben ausschied und die Zukunft in ein Jenseits oder die Ewigkeit transponierte, die biblischen Zeugnisse, die er tradierte, ::tber randvoll von messianischer Zukunftshoffnung für die Erde sind, wanderte die Hoffnung gleichsam aus der Kirche aus und kehrte sich in weld1er verzerrten Gestalt auch immer gegen die Kirche. In Wahrheit aber heißt Eschatologie die Lehre von der christlichen Hoff-

12

Einleitung

nung, die sowohl das Erhoffte wie das von ihm bewegte Hoffen umfaßt. Das Christentum ist ganz und gar und nicht nur im Anhang Eschatologie, ist Hoffnung, Aussicht und Ausrichtung nach vorne, darum auch Aufbruch und Wandlung der Gegenwart. Das Eschatologische ist nicht etwas am Christentum, sondern es ist schlechterdings das Medium des christlichen Glaubens, der Ton, auf den in ihm alles gestimmt ist, die Farbe der Morgenröte eines erwarteten neuen Tages, in die hier alles getaucht ist. Denn der christliche Glaube lebt von der Auferweckung des gekreuzigten Christus und streckt sich aus nach den Verheißungen der universalen Zukunft Christi. Eschatologie ist das Leiden und die Leidenschaft, die am Messias entstehen. Darum kann die Eschatologie eigentlich kein Teilstück christlicher Lehre sein. Eschatologisch ausgerichtet ist vielmehr der Charakter aller christlichen Verkündigung, jeder christlichen Existenz und der ganzen Kirche. Es gibt darum nur ein wirkliches Problem der christlichen Theologie, das ihr von ihrem Gegenstand her gestellt ist und das durch sie der Menschheit und dem menschlichen Denken gestellt wird: das Problem der Zukunft. Denn das, was uns in den biblischen Testamenten der Hoffnung begegnet als das Andere, als das, was wir uns nicht schon aus der gegebenen Welt und unseren schon gemachten Erfahrungen mit ihr ausdenken und ausmalen können, das begegnet uns als Verheißung eines Neuen und als Hoffnung auf eine Zukunft aus Gott. Der Gott, von dem hier geredet wird, ist kein innerwel dieher oder außerweltlicher Gott, sondern der "Gott der Hoffnung" (Röm. 15, 13), ein Gott mit "Futurum als Seinsbeschaffenheit" (E. Bloch), wie er aus dem Exodus und der Prophetie Israels bekannt wurde, den man darum nicht in sich oder über sich, sondern eigentlich immer nur vor sich haben kann, der einem in seinen Zukunftsverheißungen begegnet und den man darum auch nicht "haben" kann, sondern nur tätig hoffend erwarten kann. Eine rechte Theologie müßte darum von ihrem Zukunftsziel her bedacht werden. Eschatologie sollte nicht ihr Ende, sondern ihr Anfang sein. Wie aber soll einer von der Zukunft reden, die noch nicht da ist, und von kommenden Ereignissen, bei denen er doch noch nicht dabei gewesen ist? Sind das nicht Träume, Spekulationen, Sehnsüchte und Befürchtungen, die alle im Vagen und Ungefähren bleiben müssen, da sie niemand nachprüfen kann? Der Ausdruck "Eschato-logie" ist falsch. Eine "Lehre" von den letzten Dingen kann es nicht geben, wenn unter "Lehre" eine Sammlung von Lehrsätzen verstanden wird, die man aus Erfahrungen, die immer wiederkehren und von allen gemacht werden können, versteht. Der griechische Ausdruck "Logos" bezieht sich auf Wirklichkeit, die da ist und immer ist und im ihr entsprechenden Wort zur Wahrheit

Meduation über die Hoffnung

13

gebracht wird. In diesem Sinne ist von der Zukunft kein Logos möglich, es sei denn, daß die Zukunft die Fortsetzung oder regelmäßige Wiederkehr der Gegenwart ist. Sollte aber die Zukunft etwas überraschend Neues bringen, so läßt sich darüber nichts sagen und es kann darüber auch nichts Sinnvolles gesagt werden, denn nicht im Zufällig-Neuen, sondern nur im Bleibenden und regelmäßig Wiederkehrenden kann logosgemäße Wahrheit liegen. Die Hoffnung kann Aristoteles zwar den "Traum eines Wachenden" nennen, aber sie ist für die Griechen doch ein Übel aus der Büchse der Pandora. Wie aber kann dann die christliche Eschatologie die Zukunft zur Sprache bringen? Die christliche Eschatologie redet nicht von der Zukunft überhaupt. Sie geht aus von einer bestimmten geschichtlichen Wirklichkeit und sagt deren Zukunft an, deren Zukunftsmöglichkeit und Zukunftsmächtigkeit. Christliche Eschatologie spricht von Jesus Christus und seiner Zukunft. Sie erkennt die Wirklichkeit der Auferweckung Jesu und verkündet die Zukunft des Auferstandenen. Darum ist für sie die Begründung aller Aussagen über die Zukunft in der Person und der Geschichte Jesu Christi der Prüfstein der eschatologischen und utopischen Geister. Wenn aber der gekreuzigte Christus auf Grund der Auferweckung eine Zukunft hat, so bedeutet das umgekehrt, daß alle Aussagen und Urteile über ihn zugleich etwas über die Zukunft aussagen müssen, die von ihm zu erwarten ist. Die Weise also, wie die christliche Theologie über Christus spricht, kann nicht die Weise des griechischen Logos oder der Lehrsätze aus Erfahrung sein, sondern nur die Weise der Hoffnungssätze und der Zukunftsverheißungen. Alle Christusprädikate sagen nicht nur, wer er war und ist, sondern implizieren Aussagen darüber, wer er sein wird und was von ihm zu erwarten ist. Sie alle sagen: "Er ist unsere Hoffnung" (Kol. 1, 27). Indem sie so verheißend seine Zukunft zur Welt ankündigen, weisen sie den Glauben an ihn in die Hoffnung auf seine noch ausstehende Zukunft. Die Hoffnungssätze der Verheißung greifen der Zukunft vor. In den Verheißungen kündigt sich die verborgene Zukunft schon an und wirkt durch erweckte Hoffnung in die Gegenwarr hinein. Lehrsätze finden ihre Wahrheit in ihrer kontrollierbaren Entsprechung zur vorliegenden erfahrbaren Wirklichkeit. Die Hoffnungssätze der Verheißung aber müssen in einen Widerspruch zur gegenwärtig erfahrbaren Wirklichkeit treten. Sie resultieren nicht aus Erfahrungen, sondern sind die Bedingung für die Möglichkeit neuer Erfahrungen. Sie wollen nicht die Wirklichkeit erhellen, die da ist, sondern die Wirklichkeit, die kommt. Sie wollen die Wirklichkeit, die da ist, nicht im Geiste abbilden,

14

Einleitung

sondern die Wirklichkeit, die da ist, in die Veränderung hineinführen, die verheißen ist und erhofft wird. Sie wollen der Wirklichkeit nicht die Schleppe nachtragen, sondern die Fackel voran. Damit machen sie die Wirklichkeit geschichtlich. Wird aber die Wirklichkeit geschichtlich wahrgenommen, so muß man mit]. G. Hamann fragen: "Wer will vom Gegenwärtigen richtige Begriffe nehmen, ohne das Zukünftige zu wissen?" Gegenwärtiges und Zukünftiges, Erfahrung und Hoffnung treten in der christlichen Eschatologie in Widerspruch zueinander, sodaß durch sie dem Menschen nicht Entsprechung und Einstimmigkeit mit dem Gegebenen zuteil wird, sondern er in den Widerstreit von Hoffnung und Erfahrung hineingezogen wird. "Auf Hoffnung hin sind wir gerettet. Eine Hoffnung aber, die man sieht, ist keine Hoffnung; denn was einer sieht, weshalb hofft er noch? Wenn wir dagegen hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf mit Geduld" (R.öm. 8, 24.25). Überall richtet sich im Neuen Testament die christliche Hoffnung auf das noch nicht Sichtbare, ist darum ein "Hoffen wider Hoffen" und verurteilt damit das Sichtbare und jetzt Erfahrbare zu einer gottverlassenen und zu überholenden, vergehenden Wirklichkeit. Der Widerspruch, in den die Hoffnung den Menschen zur vorliegenden Wirklichkeit seiner selbst und der Welt versetzt, ist eben der Widerspruch, aus dem diese Hoffnung selbst geboren wird, es ist der Widerspruch der Auferstehung zum Kreuz. Christliche Hoffnung ist Auferstehungshoffnung, und sie beweist ihre Wahrheit im Widerspruu.J,. der darin in Aussicht gestellten und verbürgten Zukunft der Gerechtigkeit gegen die Sünde, des Lebens gegen den Tod, der Herrlichkeit gegen das Leiden, des Friedens gegen die Zerrissenheit. Calvin hat diese Diskrepanz, in die die Auferstehungshoffnung stellt, sehr genau erkannt: "Uns wird das ewige Leben verheißen - aber uns, den Toten. Man verkündigt uns selige Auferstehung- inzwischen sind wir von Verwesung umgeben. Gerechte werden wir genannt - und doch wohnt in uns die Sünde. Wir hören von unaussprechlicher Seligkeit - inzwischen aber werden wir hier von unendlichem Elend erdrückt. überfluß an allen Gütern wird uns verheißen - reich sind wir aber nur an Hunger und Durst. Was würde aus uns, wenn wir uns nicht auf die Hoffnung stemmten, und unser Sinn auf dem durch Gottes \'V'ort und Geist erleuchteten Wege mitten durch die Finsternis hindurch über diese Welt hinauseilte!"(zu Hebr. 11, 1). In diesem Widerspruch muß die Hoffnung ihre Krafl: beweisen. Darum darf auch die Eschatologie nicht in die Ferne schweifen, sondern muß ihre Hoffnungssätze im Widerspruch zur erfahrenen Gegenwart des Leidens, des Bösen und des Todes formulieren. Es ist darum immer nur

Meditation über die Hoffnung

15

schwer möglich, eine Eschatologie für sich zu entfalten. Viel wichtiger ist es, die Hoffnung als das Fundament und als Triebfeder des theologischen Denkens überhaupt aufzuweisen und die eschatologische Perspektive in die theologischen Aussagen von Gottes Offenbarung, von der Auferstehung Christi, von der Sendung des Glaubens und von der Geschichte hineinzubringen.

2. Die Hoffnung des Glaubens

Im Widerspruch des Verheißungswortes zur erfahrbaren Wirklichkeit des Leidens und des Todes stemmt sid1 der Glaube auf die Hoffnung und "eilt über diese Welt hinaus", sagte Calvin. Er meinte damit nicht, daß der christliche Glaube weltflüchtig, wohl aber daß er zukunftssüchtig sei. Glauben, das heißt in der Tat Grenzen überschreiten, transzendieren und im Exodus stehen. So jedoch, daß damit die bedrückende Wirklichkeit nicht unterschlagen oder überschlagen wird. Der Tod ist wirklicher Tod und die Verwesung ist stinkende V crwesung. Schuld bleibt Schuld und das Leiden bleibt auch für den Glauben ein Aufschrei ohne fertige Antwort. Der Glaube übersmreitet diese Realitäten nimt ins Himmlisme und Utopische, er träumt sim nid1t in eine andere Wirklid1keit. Er kann die in Leid, Schuld und Tod vermauerten Grenzen des Lebens nur dort übersmreiten, wo sie real durchbrochen sind. Nur in der l'-bd1folge des vom Leiden, vom Sterben in der Gottverlassenheit und vom Grabe auferweckten Christus gewinnt er Aussimt ins Weite, wo keine Bedrängnis mehr ist, in die Freiheit und in die Freude. Dort, wo in der Auferweckung des Gekreuzigten die Grenzen durmbromen sind. an denen alle mensmlichen Hoffnungen sim bred1en, dort kann und muß sid1 der GhE1oe ?ur Hoffnung weiten. Dort wird er zur o:app7jota und zur :wxpo/}o!-'-[a. Dort wird seine Hoffnung zur "Leidensd1aft für das Mögliche" (Kierkegaard), weil sie Leidenschaft für das Ermöglid1te sein kann. Dort geschieht in der Hoffnung die extensio animi ad magna, wie es im Mittelalter hieß. Der Glaube erkennt den Anbruch dieser Zukunft der Weite und der Freiheit in dem Christusgeschehen. Die Hoffnung, die sie!! daran entzündet, ermißt die Horizonte, die sim damit i.iber einem verschlossenen Dasein öfinen. Der Gbubc bindet den Menschen an Christus. Die Hoffnung öffnet diesen Glauben für die umfassende Zukunft Christi. Die Hoffnung ist darum der "unzertrennlimc Begleiter" des Glaubens. "Fehlt diese Hoffnung, so mögen wir nom so geistrcid1 und geziert vom Glauben zu reden wissen - wir können uns darauf ver-

16

Einltitunr

lassen, daß wir keinen haben! Die Hoffnung ist nichts anderes als die Erwartung der Dinge, die nach der Oberzeugung des Glaubens von Gott wahrhaftig verheißen sind. So ist der Glaube gewiß, daß Gott wahrhaftig ist, und die Hoffnung erwartet, daß er zu gelegener Zeit seine Wahrheit offenbart; der Glaube ist gewiß, daß er unser Vater ist, die Hoffnung erwartet, daß er sich an uns stets als solcher erweisen wird; der Glaube ist gewiß, daß uns das ewige Leben gegeben ist, die Hoffnung erwartet, daß es einst enthüllt werden wird: der Glaube ist das Fundament, auf dem die Hoffnung ruht, die Hoffnung nährt und stützt den Glauben. Niemand kann von Gott irgendetwas erwarten, wenn er nimt zuvor seinen Verheißungen glaubt, aber ebenso muß unser smwamer Glaube, um nimt ermattet niederzusinken, dadurm unterstützt und erhalten werden, daß wir geduldig hoffen und warten. Die Hoffnung erneuert und belebt den Glauben je und je und sorgt dafür, daß er immer wieder kräftiger sich erhebt, um bis ans Ende zu beharren" (Calvin, lnstitutio 111 2, 42). So hat im mristlimen Leben der Glaube das Prius, aber die Hoffnung den Primat. Ohne die Christuserkenntnis des Glaubens wird die Hoffnung zur Utopie, die sim in leere Luft streckt. Ohne die Hoffnung aber verfällt der Glaube, wird er zum Kleinglauben und endlim zum toten Glauben. Durch den Glauben kommt der Mensm auf die Spur des wahren Lebens, aber allein die Hoffnung erhält ihn auf dieser Spur. So mamt der Glaube an Christus die Hoffnung zur Zuversimt. So macht die Hoffnung den Glauben an Christus weit und führt ihn ins Leben hinein. Glauben heißt, die Grenzen in vorgreifender Hoffnung übersmreiten, die durm die Auferweckung des Gekreuzigten durchbromen sind. Bedenken wir das, so kann dieser Glaube nimts mit Weltflucht, Resignation und Ausflucht zu tun haben. In dieser Hoffnung schwebt die Seele nimt aus dem Jammertal in einen imaginären Himmel der Seligen und löst sich aum nimt von der Erde. Denn sie setzt, mit Ludwig Feuerbam zu spremen, "an die Stelle des Jenseits über unserem Grabe im Himmel das Jenseits über unserem Grabe auf Erden, die gesmichtlime Zukunft, die Zukunft der Menschheit". (Das Wesen der Religion 1848.) Sie erkennt in der Auferstehung Christi nimt die Ewigkeit des Himmels, sondern die Zukunft eben der Erde, auf der sein Kreuz steht. Sie erkennt in ihm die Zukunft eben der Mensmheit, für die er starb. Darum ist ihr das Kreuz die Hoffnung der Erde. Darum ringt diese Hoffnung um IeiblidJen Gehorsam, weil sie leibliche Lebendigmamung erwartet. Darum nimmt sie sich in Sanftmut der zerstörten Erde und der gesmundenen Mensmen an, weil ihr das Erdreim verheißen ist. Avecrux- unica spes!

Meditation über die Hoffnung

17

Das aber bedeutet umgekehrt nichts anderes, als daß der so Hoffende sich niemals wird abfinden können mit den Gesetzen und Zwangsläufigkeiten dieser Erde, weder mit der Unausweichlichkeit des Todes noch mit dem fortzeugend Böses gebärenden Bösen. Die Auferweckung Christi ist ihr nicht nur ein Trost in einem angefochtenen und zum Sterben verurteilten Leben, sondern auch der Widerspruch Gottes gegen das Leiden und Sterben, gegen die Erniedrigung und Beleidigung, gegen die Bosheit des Bösen. Christus ist der Hoffnung nicht nur Trost im Leiden, sondern auch der P:otest der Verheißung Gottes gegen das Leiden. Wird von Paulus der Tod der "letzte Feind" genannt (1. Kor.lS, 26 ), so muß umgekehrt der auferstandene Christus und mit ihm die Auferstehungshoffnung zum Feind des Todes und einer Welt, die sich mit ihm einrichtet, erklärt werden. Der Glaube tritt in diesen Widerspruch ein und wird darum selber ein Widerspruch gegen die Welt des Todes. Darum macht der Glaube, wo immer er sich zur Hoffnung entfaltet, nicht ruhig, sondern unruhig, nicht geduldig, sondern ungeduldig. Er besänftigt nicht das cor inquietum, sondern ist selber dieses cor inquietum im Menschen. Wer auf Christus hofft, kann sich nicht mehr abfinden mit der gegebenen Wirklichkeit, sondern beginnt an ihr zu leiden, ihr zu widersprechen. Frieden mit Gott bedeutet Unfrieden mit der Welt, denn der Stachel der verheißenen Zukunft wühlt unerbittlich im Fleisch jeder unerfüllten Gegenwart. Hätten wir nur das vor Augen, was wir sehen, so würden wir uns heiter oder verdrossen mit den Dingen abfinden, wie sie eben sind. Daß wir uns aber nicht abfinden, daß es zwischen uns und der Wirklichkeit zu keiner freundlichen Harmonie kommt, das macht die unauslöschliche Hoffnung. Sie hält den Menschen unabgefunden bis zur großen Erfüllung aller Verheißungen Gottes. Sie hält ihn in statu viatoris, in jener Weltoffenheit, die, da sie durch die Verheißung Gottes in der Auferstehung Christi geöffnet ist, durch nichts als durch die Erfüllung eben dieses Gottes aufgehoben werden kann. Diese Hoffnung macht die christliche Gemeinde zu einer beständigen Unruhe in menschlichen Gesellschaften, die sich zur "bleibenden Stadt" stabilisieren wollen. Sie macht die Gemeinde zum Quellort immer neuer Impulse für die Verwirklichung von Recht, Freiheit und Humanität hier im Lichte der angesagten Zukunft, die kommen soll. Diese Gemeinde ist verpflichtet zur" Verantwortung der Hoffnung", die in ihr ist (l.Petr. 3, 15 ). Sie wird angeklagt "wegen der Hoffnung und der Auferstehung der Toten" (Act. 23, 6). Wo immer dieses geschieht, da tritt die Christenheit in ihre Wahrheit ein und wird zum Zeugen der Zukunft Christi.

18

Einleitung

3. Die Sünde der Verzweiflung Wenn der Glaube so für sein Leben auf die Hoffnung angewiesen ist, so ist die Sünde des Unglaubens offenbar von der Hoffnungslosigkeit getragen. Man sagt zwar gewöhnlich, Sünde an ihrem Ursprung sei dieses, daß der Mensch sein wolle wie Gott. Aber es ist nur die eine Seite der Sünde. Die andere Seite solchen Hochmutes ist die Hoffnungslosigkeit, die Resignation, die Trägheit und Traurigkeit. Aus ihr entstehen die tristesse und die Frustration, die alles Lebendige mit den Keimen einer süßen Verwesung erfüllen. In der Offenbarung Johannis 21, 8 werden unter den Sündern, deren Zukunft der ewige Tod ist, vor Ungläubigen, Abgöttischen, Totschlägern und anderen die "Verzagten" genannt. Für den Hebräerbrief ist der Abfall von der lebendigen Hoffnung als Ungehorsam gegenüber der Verheißung in der Bedrückung, als Weggespültwerden vom wandernden Gottesvolk, jene Sünde, die dem Hoffenden auf seinem Wege droht. Die Versuchung besteht dann nicht so sehr darin, titanenhaft wie Gott sein zu wollen, sondern in der Schwäche, im Kleinmut, in der Ermüdung, das nicht sein zu wollen, was Gott einem zumutet. Gott hat den Menschen erhöht und ihm Aussicht ins Freie und Weite geschenkt, aber der Mensch bleibt zurück und versagt sich. Gott verheißt eine Neuschöpfung aller Dinge in Gerechtigkeit und Frieden, aber der Mensch tut so, als wäre und bliebe alles beim Alten. Gott würdigt ihn seiner Verheißungen, aber der Mensch traut sich das nicht zu, was ihm zugemutet wird. Das ist die Sünde, die den Glaubenden zutiefst bedroht. Nicht das Böse, das er tut, sondern das Gute, das er unterläßt, nicht seine Untaten, sondern seine Versäumnisse klagen ihn an. Sie klagen ihn des Mangels an Hoffnung an. Denn diese sogenannten Unterlassungssünden griinden allemal in Hoffnun;;slosigkeit und Kleinglauben. "Nicht so sehr die Sünde stürzt uns ins Unheil als vielmehr die Verzweiflung", sagte Johannes Chrysostomos. Darum zählte das Mittelalter die acedia oder tristitia unter die Sünden wider den heiligen Geist, die zum Tode führen. ]oseph Pieper hat in seinem Traktat "über die Hoffnung", 1949, sehr schön gezeigt, wie diese Hoffnungslosigkeit zwei Formen annehmen kann: sie kann Vermessenheit: praesumptio, sein, und sie kann Verzweiflung: desperatio, werden. Beides sind Formen der Sünde gegen die Hoffnung. Die Vermessenheit ist eine unzeitige, eigenwillige Vorwegnahme der Erfüllung des von Gott Erhofften. Die Verzweiflung ist die unzeitige, eigenmächtige Vorwegnahme der Nichterfüllung des von Gott Er-

Mrditation über die Hoffnung

19

hofften. Beide Weisen der Hoffnungslosigkeit durch vorweggenommene Erfüllung oder durch preisgegebene Hoffnung heben das Unterwegssein der Hoffnung auf. Sie empören sich gegen die Geduld der Hoffnung, die auf den Gott der Verheißung traut. Sie wollen ungeduldig "jetzt schon" Erfüllung oder "überhaupt nid1t" Hoffnung. "In der Verzweiflung wie in der Vermessenheit erstarrt und gefriert das eigentlich Menschliche, das die Hoffnung allein in strömender Gelöstheit zu bewahren vermag" (S. 51). So setzt auch die Verzweiflung Hoffnung voraus. "Wonach wir keine Sehnsucht haben, das kann weder Gegenstand unserer Hoffnung noch unserer Verzweiflung sein" (Augustin). Der Schmerz der Verzweiflung liegt wohl darin, daß eine Hoffnung da ist, aber kein Weg zur Erfüllung sich auftut. So wendet sich die erregte Hoffnung gegen den Hoffenden und verzehrt ihn. "Leben heißt Hoffnung begraben", heißt es in einem Roman Fontanes, und es sind die "gestorbenen Hoffnungen", die er in ihm schildert. Es gehen der Glaube und die Zuversicht in den Hoffnungen verloren. Darum möchte die Verzweiflung die Seele vor Enttäuschungen bewahren. "Hoffen und Harren macht manchen zum Narren." Darum versucht man auf dem Boden der Wirklichkeit zu bleiben, "klar zu denken und nicht mehr zu hoffen" (A. Camus), und fällt doch der schlimmsten aller Utopien mit diesem sogenannten Realismus der Tatsachen anheim; der Utopie des status quo, wie R. Musil diesen Realismus genannt hat. Die Verzweiflung an der Hoffnung muß dabei nicht einmal ein verzweifeltes Gesicht zeigen. Sie kann auch die bloße, schweigende Abwesenheit von Sinn, Aussicht, Zukunft und Absicht sein. Sie kann das Gesicht lächelnder Entsagung zeigen: bonjour tristesse! Was bleibt, ist ein gewisses Lächeln derer, die ihre Möglichkeiten durchgespielt haben und nichts in ihnen fanden, das zur Hoffnung Veranlassung geben könnte. Was bleibt, ist ein taedium vitae, ein Leben, das sich selbst nur noch ein wenig mitmacht. Es gibt kaum eine Verhaltensweise, die in den Verwesungsprodukten einer nicht-eschatologischen, verbürgerlichten Christenheit und dann folgend in einer nicht mehr christlichen Welt so allgemein aufweisbar ist, wie die acedia, die tristesse, die. Kultivierung und spielerische Manipulation mit der verblichenen Hoffnung. Wo aber die Hoffnung nicht zur Quelle neuer, unbekannter Möglichkeiten findet, da endet das belanglose, ironische Spiel mit den Möglichkeiten, die man hat, in Langeweile oder in Ausbrüchen ins Absurde. Am Beginn des 19. Jahrhunderts finden wir im deutschen Idealismus an vielen Stellen die Gestalt der Vermessenheit. Für Goethe, Schiller,

20

Einleitung

Ranke, Karl Marx und viele andere wurde Prometheus der Heilige der Neuzeit. Prometheus, der den Göttern das Feuer stahl, stand gegen die Gestalt des gehorsamen Gottesknechtes. Es konnte auch Christus in eine Prometheusfigur verwandelt werden. Damit verbunden war vielfach ein philosophischer, revolutionärer Chiliasmus, der endlich jenes Reich der Freiheit und Menschenwürde zu bauen sich anschickte, das man von dem Gott jenes Gottesknechtes vergeblich erhofft hatte. In der Mitte des 20. Jahrhunderts finden wir in der existentialistischen Belletristik die andere Gestalt des Abfalls von der Hoffnung. Darum hat sich der heilige Prometheus in die Figur des Sisyphus verwandelt, der wohl den Weg kennt, den Kampf und die Entscheidung, auch die Geduld der Arbeit, aber ohne Aussicht auf Erfüllung. Hier kann der gehorsame Gottesknecht verwandelt werden in die Figur des ehrlich Gescheiterten. Es gibt keine Hoffnung und keinen Gott mehr. Es gibt nur noch jenes "klar denken und nicht hoffen" und die ehrliche Liebe und Mitmenschlichkeit wie bei Jesus. Als gewänne das Denken Klarheit ohne die Hoffnung! Als gäbe es Liebe ohne Hoffnung für das Geliebte!- Weder in der Vermessenheit noch in der Verzweiflung liegt die Kraft der Erneuerung des Lebens, sondern nur in der ausharrenden und gewissen Hoffnung. Vermessenheit und Verzweiflung zehren von dieser Hoffnung und zechen auf ihre Kreide. "Wer aber das Unverhoffte nicht erhofft, der wird es nicht finden", heißt es in einem Spruch Heraklits. "Die Uniform des Tages ist die Geduld und die Auszeichnung der armselige Stern der Hoffnung über ihren Herzen" (1. Bachmann). Allein die Hoffnung ist "realistisch" zu nennen, weil nur sie mit den Möglichkeiten, die alles Wirkliche durchziehen, ernst macht. Sie nimmt die Dinge nicht, wie sie gerade stehen oder liegen, sondern wie sie gehen, sich bewegen und in ihren Möglichkeiten veränderlich sind. Nur solange die Welt und die Menschen in ihr sich in einem unabgeschlossenen Fragment- und Experimentzustand befinden, haben irdische Hoffnungen einen Sinn. Sie greifen ins Mögliche der geschichtlichen, bewegten Wirklichkeit vor und entsd1eiden die geschichtlichen Prozesse durch ihren Einsatz. Darum sind Hoffnungen und Antizipationen der Zukunft nicht ein verklärender Schimmer über einem grau gewordenen Dasein, sondern sind realistische Wahrnehmungen der Horizonte des Real-Möglichen, die alles in Bewegung versetzen und in Veränderlichkeit erhalten. Die Hoffnung und das ihr entsprechende Denken können sich darum den Vorwurf des Utopischen nicht gefallen lassen, denn sie strecken sid1 nicht nach dem aus, was "keinen Ort" hat, sondern nach dem, "was noch keinen Ort" hat, aber einen solchen gewinnen kann. Jener Realismus der

Meditation über die Hoffnung

21

nackten Tatsachen, der ausgemachten Vorhandenheiten und Gesetzmäßigkeiten, jenes an seinen Möglichkeiten verzweifelte Kleben an der vorgefundenen Wirklichkeit, muß dagegen viel mehr den Vorwurf des Utopischen auf sich ziehen, denn für sie hat das Mögliche, das ZukünftigNeue, mithin die Geschichtlichkeit der Wirklichkeit "keinen Ort". So erweist sich die Verzweiflung, die meint, am Ende zu sein, als illusionär, solange noch nichts zu Ende ist, sondern alles noch voll von Möglichkeiten steckt. So erweist sich auch der positivistische Realismus als illusionär, solange die Welt kein Fixum von Tatsachen, sondern ein Wege· geflecht von Prozessen ist, solange die Welt sich nicht nur nach Gesetzen bewegt, sondern auch diese Gesetze selber beweglich sind, solange das Notwendige in ihr das Mögliche, nicht aber das Unabänderliche ist. Auch die Hoffnungssätze der christlichen Eschatologie müssen sich gegen die erstarrte Utopie des Realismus durchsetzen, wenn sie den Glauben am Leben erhalten und den Gehorsam in der Liebe auf den Weg zur irdischen, leiblichen, gesellschaftlichen Wirklichkeit bringen wollen. Für sie ist die Welt alles Möglichen voll, nämlich aller Möglichkeiten des Gottes der Hoffnung. Sie sieht die Wirklichkeit und die Menschen in der Hand dessen, der vom Ende her in die Gesd1ichte hineinspricht: "Siehe, ich mache alles neu", und gewinnt an diesem gehörten Verheißungswort die Freiheit zur Erneuerung des Lebens hier und zur Veränderung der Gestalt dieser Welt.

4. Betrügt die Hoffnung den Menschen um das Glück der Gegenwart?

Der härteste Einwand gegen eine Theologie der Hoffnung entspringt nicht aus Vermessenheit oder Verzweiflung, denn diese beiden Grundstellungen menschlichen Existierens setzen Hoffnung voraus, sondern er steht gegen die Hoffnung aus der Religion des demütigen Einverständnisses in die Gegenwart auf. Ist der Mensch nicht immer nur in der Gegenwart ein Seiender, ein Wirklicher, ein mit sich Gleichzeitiger, ein Einverstandener und Gewisser? Die Erinnerung fesselt ihn an das Vergangene, das nicht mehr ist. Die Hoffnung entwirft ihn auf das Zukünftige, das noch nicht ist. Er erinnert sich gelebt zu haben, aber er lebt nicht. Er erinnert sich geliebt zu haben, aber er liebt nicht. Er erinnert sich der Gedanken anderer, aber er denkt nicht. Ahnlieh scheint es ihm in der Hoffnung zu ergehen. Er hofft zu leben, aber er lebt nicht. Er erwartet, einmal glücklich zu werden, und diese Erwartung läßt ihn am Glück der Gegenwart vorübergleiten. Nie ist er in Erinnerung und Hoffnung ganz bei sich

22

Einleitung

selbst und ganz in seiner Gegenwart. Immer hinkt er ihr nach oder eilt er ihr voraus. Erinnerungen und Hoffnungen scheinen ihn um das Glück ungeteilten Gegenwärtigseins zu betrügen. Sie berauben ihn seiner Gegenwart und reißen ihn in die Zeiten hinein, die nicht mehr sind oder noch gar nicht sind. Sie übergeben ihn dem Nichtseienden und überlassen ihn dem Nichtigen. Denn diese Zeiten bringen ihn in den Strom der V ergänglichkeit. Dessen Sog aber ist das Nichts. Pascal beklagte diesen Betrug der Hoffnung: "Niemals halten wir uns an die Gegenwart. Wir nehmen die Zukunft vorweg, als käme sie zu langsam, als wollten wir ihren Gang beschleunigen; wir erinnern uns an die Vergangenheit, wie um sie aufzuhalten, da sie zu rasch entschwindet: Torheit, in den Zeiten herumzuirren, die nicht unsere sind, und die einzige zu vergessen, die uns gehört, und Eitelkeit, denen nachzusinnen, die nicht sind, und die einzige zu verlieren, die besteht . . . Kaum denken wir je an die Gegenwart, und denken wir an sie, so nur, um hier das Licht anzuzünden, über das wir in der Zukunft verfügen wollen. Niemals ist die Gegenwart Ziel, Vergangenheit und Gegenwart sind Mittel, die Zukunft allein ist unser Ziel. So leben wir nie, sond~rn hoffen zu leben, und so ist es unvermeidlich, daß wir in der Bereitschaft, glücklich zu sein, es niemals sind" (Pensees Nr. 172). Immer hat sich der Protest gegen die christliche Hoffnung und die von ihr geprägte Bewußtseinstranszendenz auf das Recht der Gegenwart, auf das doch immer naheliegende Gute und die ewige Wahrheit in jedem Augenblick versteift. Ist "Gegenwart" nicht die einzige Zeit, in der der Mensch ganz da ist, die ihm ganz und der er ganz gehört? Ist "Gegenwart" nicht Zeit und doch zugleich mehr als Zeit im Sinne des Kommens und Vergehens, nämlich ein nunc stans und insofern auch ein nunc aeternum? Nur von der Gegenwart kann man sagen, daß sie "ist", und nur gegenwärtiges Sein ist Beständigkeit in Anwesenheit. Sind wir ganz gegenwärtig - tota simul -, so sind wir mitten in der Zeit der vergänglichen und vernichtenden Zeit entrückt. So hatte es auch Goetbe sagen können: "Alles dieses Vorübergehende lassen wir uns gefallen, bleibt uns nur das Ewige jeden Augenblick gegenwärtig, so leiden wir nicht an der vergänglichen Zeit." Er hatte diese ewig ruhende Gegenwart in der "Natur" selber gefunden, weil er "Natur" als die aus sich bestehende Physis verstand: "Alles ist immer da in ihr. Vergangenheit und Zukunft kennt sie nicht. Gegenwart ist ihre Ewigkeit." Sollte darum nicht auch der Mensch wie sie gegenwärtig werden?

Meditation über die Hoffnung

23

"Willst Du immer weiter schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah! Lerne nur das Glück ergreifen, denn das Glück ist immer da." So ist die wahrhafl:e Gegenwart nichts anderes als die Ewigkeit, die der Zeit immanent ist, und es kommt darauf an, in dem Sc.l,.eine des Zeitlichen und Vori.ibergehenden die Substanz, die immanent, und das Ewige, das gegenwärtig ist, zu erkennen, sagte der junge 1-Jcgel. Nicht anders versud1te Nietzsche, die Last und den Betrug der d1ristlichen Hoffnung darin loszuwerden, daß er in der Gegenwart "das ewige Ja des .Seins" suchte und in der "Treue zur Erde" die Liebe der Ewigkeit fand. Das An-wesen des Seins selber auf die Zeit ist immer nur die Gegenwart, der Augenblick, der Kairos, das Jetzt. Es ist wie der Mittag, an dem die Sonne hoch steht und nichts mehr Schatten wirfl: noch im Schatten steht. Doch ist es nun nicht nur das Glück der Gegenwart, sondern es ist mehr, es ist der Gott der Gegenwart, der ewig-gegenwärtige Gott, es ist nicht nur das gegenwärtige Sein des Menschen, sondern mehr noch die ewige Gegenwart des Seins, um das die christliche Hoffnung zu betrügen scheint. Nicht nur der Mensch wird betrogen, sondern mehr noch Gott selbst wird betrogen, wo die Hoffnung den Menschen keine ewige Gegenwart finden läßt. Erst damit erhebt sich der Einwand der "Gegenwart" gegen die Zukunfl:shoffnung zur vollen Größe. Es ist nicht nur der Vorwurf des Lebens gegen die Qual der Hoffnung, die ihm auferlegt wird, sondern auch der Vorwurf der Gottlosigkeit im Namen jenes Gottes, dessen wesentliche Eigenschafl: das numen praesentiae ist. Dom im Namen welchen Gottes macht sich "Gegenwart" gegen die Hoffnung auf das, was noch nicht ist, geltend? Es ist im Grunde noch immer und immer wieder der Gott des Parmenides, von dem es im Fragment 8 (Diels) heißt: "Das eine Sein war niemals, niemals wird es sein, denn jetzt Ist es zumal als Ganzes" (vuv eonv OfLOÜ 1tiiv). Dieses "Sein" ist nicht "immer", wie es noch bei Homer und Hesiod hieß, sondern es "ist" und ist "jetzt". Es hat keine Erstreckung in den Zeiten, seine Wahrheit steht im "jetzt", seine Ewigkeit ist Gegenwart, es "ist" zumal und in einem (tota simul). Die Zeiten, in denen Leben entsteht und vergeht, verblassen vor der Epiphanie der ewigen Gegenwart des Seins zu bloßen Erscheinungen, in denen Sein und Nicl1tsein, Tag und Nacht, Bleiben und Vergehen vermischt sind. Im Smauen der ewigen Gegenwart aber ist "das Entstehen verloschen und verschollen der Untergang". Der Mensch wird in der Gegenwart des Seins, im ewi-

24

Einleitung

gen Heute, unsterblich, unverletzlich und unantastbar (G. Picht). Wenn, wie Plutard1 überliefert, auf dem Torbogen des delphischen Apollot~m­ pels der Name Gottes mit EI wiedergegeben wurde, so könnte auch dieses im Sinne der ewigen Gegenwart heißen: "Du bist". In der ewigen Nähe und Gegenwart des Gottes kommt es zum Erkennen des Menschseins und zur Freude an ihm. Der Gott des Parmenides ist "denkbar", weil er das ewige, eine und volle Sein ist. Nichtseiendes, Vergaugenes und Zukünftiges sind hingegen nid1t "denkbar". Im Schauen der jetzigen Ewigkeit dieses Gottes wird das Nichtseiende, werden Bewegung und Wandlung, Geschichte und Zukunft undenkbar, denn sie "sind" nicht. Das Schauen dieses Gottes ermöglidn keine sinnvolle Erfahrung der Geschichte, sondern nur die sinnvolle Negation der Geschichte. Der Logos dieses Seins befreit und enthebt von der Macht der Geschichte zur ewigen Gegenwart. Tief ist im Kampf gegen den scheinbaren Betrug der christlichen Hoffnung der Gottesbegriff des Parmenides in die christliche Theologie eingedrungen. Wenn bei Kierkegaard in dem berühmten 3. Kapitel seiner Schrift über den "Begriff der Angst" die verheißene "Fülle der Zeiten" aus dem Erwartungshorizont der Verheißung und der Geschichte herausgelöst wird, und die "Fülle der Zeiten" der "Augenblick" als das Ewige genannt wird, so befinden wir uns eher im Bannkreis des griechischen Denkens als der christlichen Gotteserkenntnis. Zwar modifiziert Kierkegaard das griechische Verständnis der Zeitlidlkeit durch die dlristlidle Einsicht in die radikale Sündhaftigkeit und steigert die griechisd1e Differenz zwischen Iogos und doxa zum Paradox, aber liegt darin wirklich mehr als eine Modifikation der "Epiphanie der ewigen Gegenwart"? "Das Gegenwärtige ist nidlt ein Begriff der Zeit. Das Ewige als das Gegenwärtige ist die aufgehobene Sukzession der Zeit. Der Augenblick bezeidlnet das Gegenwärtige als ein solches, das kein Vergangenes und kein Zukünftiges hat. Der Augenblick ist ein Atom der Ewigkeit. Er ist der erste Reflex der Ewigkeit in der Zeit, ihr erster Versuch, die Zeit gleidlsam anzuhalten." Es ist verständlidl, daß dann auch der Glaubende in Parallele zu dem nach Parmenides und Plato Schauenden besdlrieben werden muß. Es ist der Glaubende der ganz Gegenwärtige. Er ist im höchsten Sinne mit sich selbst gleichzeitig und einig. "Und daß man mit des Ewigen Hilfe mit sich selbst heute ganz und gar gleichzeitig ist, das ist der Gewinn der Ewigkeit. Der Glaubende kehrt dem Ewigen gleichsam den Rücken zu, eben, damit er es ganz bei sich habe in dem Tag heute. Der Christ glaubt und so ist er des morgenden Tages quitt." Pi..hnlidl heißt es bei Ferdinand Ebner, dessen personales Denken und des-

Meditation über die Hoffnung

25

sen Pneumatologie der Sprache die neue Theologie beeinflußte: "Das ewige Leben ist gleichsam das Leben in absoluter Gegenwart und ist tatsächlich das Leben des Menschen in seiner Bewußtheit der Gegenwart Gottes." Denn Gottes Wesen ist es, absolute Geistesgegenwart zu sein. Darum ist des Menschen "Gegenwart" nichts anderes als die Gegenwart Gottes. Er tritt aus der Zeit heraus und lebt in der Gegenwart. So lebt er "in Gott". Glaube und Liebe sind darum zeitlose Akte, die uns der Zeit entrücken, weil sie uns ganz "gegenwärtig" machen. Christlicher Glaube bedeutet dann, in die Nähe Gottes, in der Jesus lebte und wirkte, einstimmen, denn Leben im unscheinbaren, alltäglichen Heute ist ja Leben in erfüllter Zeit und Leben in der Nähe Gottes. Den nie wiederkehrenden Augenblick zu ergreifen, ganz mit sich einig, ganz bei sich selbst und bei der Sache zu sein, das bedeutet "Gott". Die Gottesbegriffe, die in der Ferne und Abwesenheit Gottes aufgestellt werden, fallen weg in seiner Nähe, sodaß ganz gegenwärtig zu sein bedeutet, daß "Gott" geschieht, denn das "Geschehen" der unverkürzten Gegenwart ist das Geschehen Gottes. Diese Seinsmystik der gelebten Gegenwart setzt eine Gottunmittelbarkeit voraus, die dem Glauben, der um Christi willen Gott glaubt, nicht zu eigen werden kann, ohne daß die geschichtliche Vermittlung und Versöhnung Gottes mit dem Menschen im Christusgeschehen und damit dann auch die Wahrnehmung der Geschichte in der Kategorie der Hoffnung verschwinden. Das ist nicht der "Gott der Hoffnung", denn dieser ist gegenwärtig, indem er seine und des Menschen und der Welt Zukunft verheißt und Menschen in die Geschichte, die noch nicht ist, sendet. Der Gott des Exodus und der Auferstehung "ist" nicht ewige Gegenwart, sondern er verheißt seine Gegenwart und Nähe dem, der seiner Sendung in die Zukunft folgt. JHWH als der Name des Gottes, der seine Gegenwart und sein Reich allererst verheißt und in die Aussidlt der Zukunft stellt, ist ein Gott "mit Futurum als Seinsbeschaffenheit", ein Gott der Verheißung und des Aufbruches aus der Gegenwart in die Zukunft, ein Gott, aus dessen Freiheit das Kommende und Neue quillt. Sein Name ist nicht eine Chiffre für die "ewige Gegenwart" und kann auch nicht mit EI, "Du bist", wiedergegeben werden. Es ist sein Name ein Wegname, ein Verheißungsname, der neue Zukunft erschließt, dessen Wahrheit in Gesd1ichte erfahren wird, sofern seine Verheißung ihren Zukunftshorizont erschließt. Es ist darum, wie Paulus sagt, der Gott, der die Toten auferweckt und das Nichtseiende ins Sein ruft (Röm. 4, 17). Dieser Gott ist gegenwärtig, wo man seiner Verheißungen in Hoffnung und Verwandlung gewärtig ist. An dem Gott, der das Nichtseiende ins Sein ruft,

26

Einleitung

wird auch das Noch-nicht-Seiende, das Zukünftige "denkbar", weil es erhoffbar wird. Das "Jetzt" und "Heute" des Neuen Testamentes ist ein anderes, als das "Jetzt" der ewigen Gegenwart des Seins bei Parmenides, denn es ist ein ,.Jetzt" und ein "Plötzliches", in dem das Neue der verheißenen Zukunft aufblitzt und einleuchtet. Es ist nur in diesem Sinne ein "eschatologisches" Heute zu nennen. "Parusie" war für die Griechen Inbegriff der Gegenwart des Gottes, Inbegriff der Anwesenheit des Seins. Parusie Christi aber wird im Neuen Testament nur in Erwartungskategorien erfaßt, meint darum nicht praesentia Christi, sondern adventus Christi, und ist nicht seine ewige Gegenwart, die die Zeit zum Stillstand bringt, sondern seine "Zukunft", wie die Adventslieder sagen, die das Leben in der Zeit eröffnet, denn das Leben der Zeit ist Hoffnung. Der Glaubende wird nicht in den hohen Mittag des Lebens gestellt, sondern in die Morgenröte eines neuen Tages, in der Nacht und Tag, Vergehendes und Kommendes miteinander ringen. Darum lebt der Glaubende nicht in den Tag hinein, sondern über den Tag hinaus in Erwartung der Dinge, die laut den Verheißungen des creator ex nihilo und des Totenerweckcrs kommen sollen. Diese Gegenwart der kommenden Parusie Gottes und Christi in den Verheißungen des Evangeliums vom Gekreuzigten entrückt nicht aus der Zeit, bringt auch nicht die Zeit zum Stillstand, sondern öffnet Zeit und bewegt Geschichte, denn sie ist nicht eine Abblendung vom Leiden am Nichtseienden, sondern eine Aufnahme und Annahme des Nichtseienden in Erinnerung und Hoffnung. Kann es denn ein "ewiges Ja des Seins" geben ohne ein Ja zu dem, was nicht mehr ist, und zu dem, was noch nicht ist? Kann es denn Einstimmigkeit und Gleichzeitigkeit des Menschen im Heute geben ohne Versöhnung durch Hoffnung mit dem Unglcichzeitigen und Uneinstimmigen? Die Liebe entrückt nicht aus dem Schmerz der Zeit, sondern nimmt den Schmerz des Zeitlichen auf sich. Die Hoffnung macht bereit, das "Kreuz der Gegenwart" zu tragen. Sie kann das Tote festhalten und das Unverhoffte erhoffen. Sie kann die Bewegung bejahen und die Geschichte wollen. Denn ihr Gott ist nicht der, der "niemals war noch je sein wird, weil er jetzt zumal als ein Ganzes Ist", sondern Gott ist der, "der da lebendig macht die Toten und ruft dem, das nicht ist, daß es sei". Der Bann des Dogmas der Hoffnungslosigkeit: ex nihilo nihil fit, wird dort gebrochen, wo der als Gott erkannt wird, der die Toten erweckt. Wo man im Glauben und in der Hoffnung auf dieses Gottes Möglichkeiten und Verheißungen hin zu leben beginnt, erschließt sich die ganze Fülle des Lebens als des geschicht\ichen und darum zu liebenden Lebens. Nur im Horizont dieses Gottes

Meditation über die Hoffnung

27

wird eine Liebe möglich, die mehr ist als philia, Liebe zum Seienden und Gleichen; nämlich agape, Liebe zum Nichtseienden, Liebe zum Ungleichen, Unwürdigen, Wertlosen, zum Verlorenen, Vergänglichen und Toten; eine Liebe, die das Vernichtende des Schmerzes und der Endußerung auf sich nehmen kann, weil sie aus der Hoffnung auf creatio ex nihilo ihre Kraft empfängt. Sie sieht nicht vom Nichtseienden weg, um zu sagen, es ist nichts, sondern sie wird selber zur Zauberkraft, die es zum Sein bringt. In ihrer Hoffnung ermißt die Liebe die eröffneten Möglichkeiten der Geschichte. In der Liebe trägt die Hoffnung alles in die Verheißungen Gottes hinein. Betrügt diese Hoffnung den Menschen um das Glück der Gegenwart? Wie sollte sie dieses tun! Ist sie doch selber das Glück der Gegenwart. Sie preist die Armen selig, nimmt sich der Mühseligen und Beladenen, der Erniedrigten und Beleidigten, der Hungernden und Sterbenden an, weil sie die Parusie des Reiches für sie erkennt. Die Erwartung macht das Leben gut, denn erwartend kann der Mensch seine ganze Gegenwart annehmen und Freude nicht nur in der Freude, sondern auch im Leide, und Glück nicht nur im Glück, sondern auch im Schmerz finden. So geht die Hoffnung durch Glück und Schmerz hindurch, weil sie Zukunft auch für das Vergehende, Sterbende und Tote an den Verheißungen Gottes erblicken kann. Darum wird es heißen, daß ohne Hoffnung zu leben, wie nicht mehr zu leben ist. Hölle ist Hoffnungslosigkeit, und nicht umsonst steht am Eingang der Hölle Dantes der Satz: "Laßt alle Hoffnung fahren, die ihr hier eintretet." Ein Ja zur Gegenwart, das deren Sterben nicht sehen kann und will, ist eine Illusion und eine Eskapade, die auch an der Ewigkeit keinen Halt findet. Die Hoffnung, die auf den creator ex nihilo gesetzt wird, wird dann zum Glück der Gegenwart, wenn sie in der Liebe allem treu wird und nichts dem Nichts überläßt, sondern allem jene Offenheit für das Mögliche aufzeigt, in dem es leben kann und wird. Das wird in Vermessenheit und Verzweiflung gelähmt und im Traum von der ewigen Gegenwart verfehlt.

5. Hoffen und Denken Nun könnte alles bisher über die Hoffnung Gesagte nichts anderes als ein hymnischer Lobpreis auf einen guten Affekt des Herzens sein. Es könnte die christliche Eschatologie auch ihre tonangebende Rolle im Ganzen der Theologie wiedergewinnen und bliebe doch ein steriles Theologumenon, wenn es nicht gelingt, die Konsequenzen für ein neues

28

Einleitung

Denken und Handeln im Umgang mit den Dingen und Verhältnissen dieser Welt daraus zu ziehen. Solange die Hoffnung nicht das Denken und Handeln von Menschen umgestaltend ergreift, bleibt sie auf dem Kopf stehen und unwirksam. Darum muß die christliche Eschatologie den Versuch machen, Hoffnung ins weltliche Denken und Denken in die Hoffnung des Glaubens zu bringen. Im Mittelalter hatte Anselm von Canterbury für die Theologie den seither maßgeblichen Grundsatz aufgestellt: fides quaerens intelleeturn- credo, ut intelligam. Dieser Grundsatz gilt auch für die Eschatologie, und es könnte sein, daß es für die christliche Theologie heute von entscheidender Bedeutung ist, dem Grundsatz zu folgen: spes quaerens intelleeturn - spero, ut intelligam. Wenn es die Hoffnung ist, die den Glauben erhält, trägt und nach vorne zieht, wenn es die Hoffnung ist, die den Glaubenden in das Leben der Liebe hineinzieht, dann wird es auch die Hoffnung sein, die das Denken des Glaubens, sein Erkennen und Bedenken des Menschseins, der Geschichte und der Gesellschaft mobilisiert und antreibt. Er hofft, um zu erkennen, was er glaubt. Darum wird alle seine Erkenntnis als eine vorgreifende, fragmentarische, die verheißene Zukunft präludierende Erkenntnis auf die Hoffnung aufgetragen sein. Darum wird umgekehrt die Hoffnung, die der Glaube an Gottes Verheißung öffnet, zum Querulanten im Denken, zur Triebkraft, zur Unruhe und zur Qual des Denkens werden. Durch die von der Verheißung Gottes immer weiter gezogene Hoffnung wird die eschatologische Ausrichtung und die eschatologische Vorläufigkeit alles Denkens in der Geschichte aufgedeckt. Führt die Hoffnung den Glauben ins Denken und ins Leben hinein, so kann sie sich als eschatologische Hoffnung nicht länger so von den kleinen, auf erreichbare Ziele und sichtbare Veränderungen im menschlichen Leben gerichteten Hoffnungen dadurch distanzieren, daß sie diese in ein anderes Reich verweist, ihre eigene Zukunft aber für überirdisch und rein geistlid1er Natur hält. Die christliche Hoffnung richtet sich auf ein novum ultimum, auf Neuschöpfung aller Dinge durch den Gott der Auferstehung Christi. Sie eröffnet damit einen umfassenden, auch den Tod umfassenden Zukunftshorizont, in den hinein sie weckend, relativierend und ausrichtend auch die begrenzten Hoffnungen auf Erneuerung des Lebens nehmen kann und muß. Sie wird die Vermessenheit in diesen Hoffnungen auf bessere Freiheit des Menschen, auf gelungenes Leben, auf Recht und Würde für den Mitmenschen, auf Beherrschung der Möglichkeiten der Natur, zerstören, weil sie in diesen Bewegungen das von ihr erwartete Heil nicht findet, weil sie sich durch diese Utopie und ihre Verwirklichung nicht mit dem Dasein versöhnen läßt. Sie wird also diese

Meditation über die Hoffnung

29

Zukunftsvisionen auf eine bessere, menschlichere, friedlichere Welt überholen auf Grund ihrer "besseren Verheißungen" (Hebr. 8, 6), weil sie weiß, daß solange noch nichts "sehr gut" ist, wie nicht "alles neu" geworden ist. Sie wird aber die Vermessenheit in diesen Hoffnungsbewegungen nicht im Namen "getroster Verzweiflung" zu zerstören suchen, denn es steckt in solchen Vermessenheiten immer noch mehr wahre Hoffnung als im skeptischen Realismus und auch mehr Wahrheit. Gegen die Vermessenheit hilft nicht die Verzweiflung, die sagt: es bleibt doch alles beim Alten, sondern nur die beharrliche, zurechtbringende Hoffnung, die sich im Denken und Handeln artikuliert. Der Realismus oder gar der Zynismus waren niemals gute Bundesgenossen des christlichen Glaubens. Wenn aber die christliche Hoffnung die Vermessenheit in den Zukunftsbewegungen zerstört, so tut sie es nicht um ihrer selbst willen, sondern um die Keime der Resignation in diesen Hoffnungen zu zerstören, die sich spätestens im ideologischen Terror der Utopien zeigen, mit dem die erhoffte Versöhnung mit dem Dasein zur erpreßten Versöhnung wird. Damit aber rücken dann die Bewegungen geschichtlicher Veränderung in den Horizont des novum ultimum der Hoffnung. Sie werden von der christlichen Hoffnung aufgenommen und weiter getragen. Sie werden zu vorlaufenden und darin auch vorläufigen Bewegungen. Ihre Ziele verlieren ihre utopische Starrheit und werden zu vorläufigen, vorletzten, darum beweglichen Zielen. Die christliche Hoffnung kann sich gegen solche Richtungsstöße in der Menschheitsgeschichte nicht auf das Vergangene und Gegebene versteifen und sich der Utopie des status quo verbünden. Sie ist vielmehr selber aufgerufen und ermächtigt zur schöpferischen Veränderung der Wirklichkeit, denn sie hat Hoffnung für die ganze Wirklichkeit. Endlich wird die Hoffnung des Glaubens selbst zur unerschöpflichen Quelle für die schöpferische, erfinderische Phantasie der Liebe werden. Sie provoziert und produziert ständig ein antizipierendes Denken der Liebe zum Menschen und zur Erde, um die neu aufbrechenden Möglichkeiten im Lichte des verheißenen Zukünftigen zu gestalten, um nach Möglichkeit hier das Bestmögliche zu schaffen, weil das Verheißene in Möglichkeit steht. Sie wird also ständig die "Leidenschaft für das Mögliche", Erfindungsgabe und Elastizität im Sichverwandeln, im Aufbrechen aus dem Alten und im Sid1einstellen auf das Neue erwecken. Immer war die christliche Hoffnung in diesem Sinne revolutionär wirksam in der Geistesgeschichte der von ihr betroffenen Gesellschaften. Nur war es oft nid1t die kirchliche Christenheit, in der ihre Impulse wirksam wurden, sondern die schwärmerische Christenheit. Das wirkte sich für beide zum Schaden aus.

30

Einleitung

Wie aber kann das Erkennen und Bedenken der Wirklichkeit aus eschatologischer Hoffnung getrieben werden? Luther hat dazu einmal eine aufblitzende Erleuchtung gehabt, die jedoch weder von ihm selber noch von der protestantischen Philosophie realisiert wurde. Er schreibt über das "Harren der Kreatur", von dem Paulus Röm. 8, 19 spricht, 1516: "Anders philosophiert und denkt der Apostel über die Dinge als die Philosophen und Metaphysiker. Denn die Philosophen richten das Auge auf die Gegenwart der Dinge und reflektieren allein die Eigenschaften und Wesenheiten. Der Apostel aber reißt unsere Augen vom Anblick der Gegenwart der Dinge weg, von ihrem Wesen und Eigenschaften, und richtet sie auf deren Zukunft. Er spricht nicht vom Wesen oder Wirken der Kreatur, von actio, passie oder Bewegung, sondern mit einer neuen, seltsamen und theologisd1en Vokabel spricht er von der Aussicht der Kreatur (exspectatio creaturae)". Wichtig ist in unserem Zusammenhang, daß er von der theologisffi verstandenen "Aussicht der Kreatur" und ihrer Erwartung her ein neues Denken und also ein der ffiristlichen Hoffnung entsprechendes Erwartungsdenken über die Welt fordert. Die Theologie wird darum von der in der Auferweckung Christi verheißenen Aussicht für die ganze Kreatur her zu einem eigenen, neuen Bedenken der Geschiffite von Menschen und Dingen kommen müssen. Die mristlime Esmatologie kann nicht auf dem Felde der \VJclt, der Geschimte und der ganzen Wirklimkeit auf den intellectus fidei et spei verzimten. Ein schöpferismes Handeln aus Glauben ist unmöglid1, ohne ein neues Denken und Entwerfen aus der Hoffnung. Das bedeutet für das Erkennen, Begreifen und Bedenken der Wirklichkeit wenigstens dieses, daß im Medium der Hoffnung die theologischen Begriffe nimt zu Urteilen werden, die die Wirklichkeit auf das fixieren, was sie ist, sondern zu Vorgriffen, die der Wirklichkeit ihre Aussimt und ihre zukünftigen Möglimkeiten aufdecken. Theologisd1e Begriffe fixieren die Wirklimkeit nimt, sondern sie werden von der Hoffnung expandiert und antizipieren zukünftiges Sein. Sie hinken niffit hinter der Wirkliffikeit her und sduuen nicht auf sie mit den Nachtaugen der Eule der Minerva, sondern sie erleumten die Wirklid1keit, indem sie ihr Zukunft vorweisen. Ihr Erkennen ist nimt vom Willen zum Beherrsmen, sondern von der Liebe zur Zukunft der Dinge getragen. "Tantum cognoscitur, quantum diligitur" (Augustin). Es sind damit Begriffe, die in Bewegung begriffen werden und praktische Bewegungen und Veränderungen hervorrufen. "Spes quaerens intellectum" ist der Ansatz zur Esffiatologie und, wo sie gelingt, wird sie zur docta spes.

KAPITEL I ESCHATOLOGIE UND OFFENBARUNG

§1 Die Entdeckung der Eschatologie und ihre Unwirksamkeit Die Entdeckung der zentralen Bedeutung der Eschatologie für die Botschaft und die Existenz Jesu und für das Urd1ristentum, die im Ausgang des 19. Jahrhunderts durch johannes Weiß und Albert Schweitzer ihren Anfang nahm, ist ohne Zweifel eines der bedeutendsten Ereignisse in der neueren protestantischen Theologie. Sie wirkte schockierend und war wie ein Erdbeben in den Fundamenten nicht nur der theologischen Wissenschaft, sondern auch der Kirche, der Frömmigkeit und des Glaubens im Rahmen der protestantischen Kultur des 19. Jahrhunderts. Lange bevor Weltkriege und Revolutionen das abendländische Krisenbewußtsein her· vorriefen, hatten Theologen wie Ernst Troeltsch den noch kaum begriffenen Eindruck: "Es wackelt alles." Die Erkenntnis des eschatologischen Charakters des Urchristentums ließ die selbstverständliche harmonische Synthese von Christentum und Kultur als Lüge erscheinen (Pranz Ovcrbeck). Jesus erschien in dieser Welt mit ihren religiösen Sicherheiten und Selbstverständlichkeiten im Denken und Wollen als ein Fremder mit einer ihr fremden apokalyptischen Botschaft. Zugleich entstand das Gefühl der Befremdung und der krisenhaften Verlorenheit dieser Welt. "Die Flut steigt - die Dämme brechen", sagte Martin Kähler. Um so erstaunlicher ist es, daß das "Neue" in der Entdeckung der eschatolo· giseben Dimension der gesamten christlichen Botschaft nur als "Krise" des überkommenen, bestehenden und vorhandenen Christentums wahrgenommen wurde, die man zu verarbeiten, zu bewältigen und ~u überwinden habe. Keiner der Entdecker hat mit seiner Entdeckung wirklich Ernst gemamt. Die sog. "konsequente Esmatologie" war niemals wirklich konsequent und hat darum bis heute ein eigentümlimes Smattendasein geführt. Smon die Begriffe, mit denen man das Eigentümliche der esmatologischen Botschaft Jesu ZU erfassen versuchte, zeigen eine typisme und fast hilflose Inkommensurabilität. Johannes Weiß gab 1892 in seinem bahnbrechenden Werk "Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes"

32

Eschatologie und Offenbarung

seine Erkenntnis mit folgenden Worten wieder: "Das Reich Gottes nach Auffassung Jesu (ist) eine schlechthin überweltliche Größe, die zu dieser Welt in ausschließendem Gegensatze steht ... Die religiös-ethische Verwendung dieser Vorstellung in der neueren Theologie, welche dieselbe völlig ihres ursprünglichen eschatologisch-apokalyptischen Sinnes entkleidet hat, (ist) unberechtigt. Man verfährt nur scheinbar biblisch, indem man den Ausdruck in einem anderen Sinne als Jesus braucht." 1 Gegenüber dem Jesusbild seines Schwiegervaters Albrecht Ritschl ist dieser Satz eine scharfe Antithese. Aber ist das "überweltliche" schon das "Eschatologische"? Jesus erscheint hier nicht mehr als Morallehrer der Bergpredigt, aber mit seiner eschatologischen Botschaft wird er zum apokalyptischen Schwärmer. "Mit dieser Welt hat er nichts mehr gemein, er steht mit einem Fuße schon in der zukünftigen." 2 So kehrte Johannes Weiß aus seinem Vorstoß in das Niemandsland der Eschatologie alsbald zum liberalen J esusbild zurück. Nicht anders erging es Albert Schweitzer. Das Große an seinem Werk lag darin, daß er mit der Fremdartigkeit Jesu und seiner Botschaft gegenüber allen liberalen Jesusbildern des 19. Jahrhunderts Ernst machte. "Mit der Eschatologie wird es eben unmöglich, moderne Ideen in Jesus hineinzulegen und sie von ihm durch die neutestamentliche Theologie wieder als Lehen zurückzuempfangen, wie es noch Ritschl ganz unbefangen tat. " 3 Das Erschreckende an Schweitzers Werk ist aber auf der anderen Seite, daß ihm jeder Sinn für Eschatologie - sowohl theologisch wie philosophisch - abging. Die Konsequenzen, die er aus seiner EntdeCkung der Apokalyptik Jesu zog, galten der endgültigen Oberwindung und Vernichtung des für illusionär gehaltenen Eschatologismus. Seine Lebensund Kulturphilosophie ist von der Oberwindung jenes quälenden Eindrucks geleitet, den er in der 1. Auflage der "Geschichte der Leben-JesuForschung" so wiedergab: "Stille ringsum. Da erscheint der Täufer und ruft: Tuet Buße! Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen! Kurz dar1. foh. Weiß, Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes, 1892, 49 f. 1. Ebd., 2. Auf!., 145. Über die Grenzen der Erkenntnis der eschatologischen Botschaft Jesu bei Joh. Weiß vgl. F. Holmström, Das eschatologische Denken der Gegenwart, 1936, 61 ff. 62: nWeiß will zwar aus der neutestamentlichen Theologie den Ritschlschen ReichGottes-Gedanken ausmerzen, doch bleibt dieser in der systematischen und praktischen Theologie immer noch ungebrochen zurück. • 71: nFür das gegenwärtige Christentum hat normative Bedeutung also nicht die eschatologische Jesusgestalt, sondern das traditionelle liberale Idealbild des sittlichen Weisheitslehrers." "Die ,zeitgeschichtliche' Schranke in Joh. Weiß' eigener Auffassung von der Bedeutung des eschatologischen Motivs ist also darin enthalten, daß er ihm in Jesu eigener Verkündigung nur ,die Bedeutung einer zeitgeschichtlichen Schranke zuerkennt. m 3. A. Schweitzer, Von Reimarus zu Wrede. Eine Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, 1. Aufl. 1906, 322.

Die Entdeckung der Eschatologie und ihre Unwirksamkeit

33

auf greift Jesus als der, welcher sich als der kommende Menschensohn weiß, in die Speichen des W eltrades, daß es in Bewegung komme, die letzte Drehung mache und die natürliche Geschichte der Welt zu Ende bringe. Da es nicht geht, hängt er sich dran. Es dreht sich und zermalmt ihn. Statt die Eschatologie zu bringen, hat er sie vernichtet. Das Weltrad dreht sich weiter und die Fetzen des Leichnams des einzig unermeßlich großen Menschen, der gewaltig genug war, um sich als den geistigen Herrscher der Menschheit zu erfassen und die Geschichte zu vergewaltigen, hängen noch immer daran. Das ist sein Siegen und Herrschen."' Das "Rad der Geschichte", die Sinnfigur der ewigen Wiederkehr des Gleichen, tritt an die Stelle der eschatologischen Pfeilrichtung der Geschichte. Die Erfahrung von zweitausend Jahren ausgebliebener Parusie macht heute Eschatologie unmöglich. Durch die Begründer der "dialektischen Theologie" wurde nach dem ersten Weltkrieg die dergestalt idealistisch verdrängte und zur Unwirksamkeit verurteilte Eschatologie in die Mitte der nicht nur exegetischen, sondern nun auch dogmatischen Arbeit gestellt. Programmatisch heißt es in der 2. Auflage des "Römerbriefs" bei Kar! Barth 1922: "Christentum, das nicht ganz und gar und restlos Eschatologie ist, hat mit Christus ganz und gar und restlos nichts zu tun. " 5 Was aber heißt hier "Eschatologie"? Nicht die Geschichte, die stumm und unabsehbar weiterläuft, bringt die eschatologische Zukunftshoffnung in eine Krise, wie Albert Schweitzer sagte, sondern umgekehrt bringt nun das transzendental einbrechende Eschaton jede Geschichte des Menschen in ihre letzte Krise. Damit aber wird das Eschaton zur transzendentalen Ewigkeit, zum transzendentalen Sinn aller Zeiten, allen Zeiten der Geschichte gleich nah und ferne. Ob man die Ewigkeit transzendental verstand, wie Barth, und vom Ungeschichtlichen, übergeschichtlichen oder "Urgeschichtlichen" sprach, ob man das Eschaton existential verstand, wie Bultmann, und vom "eschatologischen Augenblick" sprach oder ob man es axiologisch verstand, wie Paul A!thaus, und "jede Woge des Meeres der Zeit gleichsam an den Strand der Ewigkeit schlagen" sah, überall fiel man in diesen Jahren gerade im Bemi.ihen um eine Überwindung der frommen heilsgeschichtlichen und der säkularen fortschrittsgläubigen Geschichtseschatologie einer transzendentalen Eschatologie anheim, mit der die Entdeckung der urchristlichen Eschatologie wiederum eher verdeckt als entfaltet wurde. Gerade die transzendentalistische Fassung der Eschatologie hat den Durchbruch eschatologischer Dimensionen in der Dogmatik ver.o!. Ehd. 1906, 367. Diese Stelle ist in den späteren Auflagen gestrichen worden.

5. Der Römerbrief, 2. Auf!. 1922, 298.

34

Eschatologie

ut~d

Offenbarung

hindert. So bleibt als Ergebnis des "eschatologisd1en Ringens der Gegen~ wart" zunächst das unbefriedigende Resultat zu verzeidmen, daß es wohl eine christlime Esmatologie im Rahmen einer heilsgeschimtlimen Geschidmauffassung gibt, für die die Esmatologie lediglim die End- und Smlußgesd1imte betrifft, daß es wohl eine transzendentale Esmatologie gibt, für die das Eschaton soviel wie die transzendentale "Gegenwart des Ewigen" bedeutet, und daß es eine existential interpretierte Esmatologie gibt, für die das Esmaton der Kairos kerygmatischer Betroffenheit ist, daß aber die mristlime Esmatologie nom keineswegs in der Lage ist, den kategorialen Rahmen dieser Denkformen zu sprengen. Das aber ist die unabweisbare Aufgabe theologismen Denkens, wenn jener "Entdeckung" der esmatologismen Botsmaft des Urmristentums vor semzig Jahren ein angemessenes Verständnis und Konsequenzen für die Theologie und für die Existenz der Kirme folgen sollen. Nun sind diese Denkformen, in denen die eigene Sprame der Esmatologie noch heute verdeckt wird, durchweg die Denkformen des griemismen Geistes, der im Logos die Epiphanie der ewigen Gegenwart des Seins erfährt und darin die Wahrheit findet. Aud1 wo die Neuzeit kantianism denkt, ist im Grunde dieser Wahrheitsbegriff intendiert. Die eigene Sprame der mristlimen Esmatologie ist aber nimt der griemisme Logos, sondern die Verheißung, wie sie das Spremen, Hoffen und Erfahren Israels geprägt hat. Nimt im Logos der Epiphanie der ewigen Gegenwart, sondern im hoffnungsbegründenden Wort der Verheißung hat Israel Gottes Wahrheit gefunden. Darum ist hier in ganz anderer und offener Weise die Erfahrung der Gesmimte gemamt worden. Esmatologie als Wissensmaft ist darum nimt im griemismen Sinne und aum nimt im Sinne neuzeitlimer Erfahrungswissensmaft möglim, sondern nur als ein Hoffnungswissen und insofern als ein Wissen um Gesmimte und um die Gesmichtlimkeit der Wahrheit. Diese Differenzen zwischen griechismem und israelitisd1-christlichem Denken, zwismen Logos und Verheißung, zwischen Epiphanie und Apokalypsis der Wahrheit sind heute auf vielen Gebieten und mit verschiedenen Methoden aufgedeckt worden. Dennoch hat Georg Pimt remt, wenn er sagt: "Die Epiphanie der ewigen Gegenwart des Seins verstellt bis heute die esmatologisme Offenbarung Gottes. " 6 Um zu einem wirklid1en Verständnis der eschatologismen BotsmaA: zu kommen, ist es aiso notwendig, ein Verständnis und eine Offenheit dafür zu gewinnen, was mit "Verheißung" im Alten und Neuen Testament gemeint ist, und wie im weiteren Sinne ein Sprechen, Denken und Hoffen, das durch Verheißung bestimmt ist, Gott, die 6. G. PidJt, Die Erfahrung der Geschichte, 1958, 42.

Verh~ißung

und Offenbarung Gottes

35

Wahrheit, die Geschichte und das Menschsein erfährt. Es ist weiter nötig, auf die· ständigen Auseinandersetzungen zu achten, in die der Verheißungsglaube Israels mit den Epiphanienreligionen der Umwelt auf allen Gebieten des Lebens geriet und in denen seine eigene Wahrheit aufleuchtete. Diese Auseinandersetzungen durchziehen auch das Neue Testament, namentlich dort, wo das Christentum dem griechischen Geist begegnete. Sie sind der Christenheit auch heute aufgegeben, und zwar nicht nur in der Selbstdarstellung der Theologie in der Neuzeit, sondern auch im Bedenken der Welt und in der Erfahrung der Geschichte. Die christlid1e Esd1atologie in der Sprache der Verheißung wird dabei ein wesentlicher Schlüssel für die Freisetzung der christlichen Wahrheit sein. Denn immer war der Verlust der Eschatologie- nicht nur als Anhang zur Dogmatik, sondern als das Medium theologischen Denkens überhaupt - die Bedingung für die Möglichkeit der Anpassung der Christenheit an ihre Umwelt und damit der Selbstaufgabe des Glaubens. Wie im theologischen Denken die Einarbeitung des Christentums in den griechischen Geist es undeutlich werden ließ, von welchem Gott man eigentlich redete, so übernahm das Christentum in seiner gesellschaftlichen Gestalt das Erbe der antiken Staatsreligion. Es installierte sich als "Krone der Gesellschaft" und als ihre "heilende Mitte" und verlor seine beunruhigende, kritische Kraft eschatologischer Hoffnung. An die Stelle des Exodus aus den festen Lagern und der bleibenden Stadt, von dem der Hebräerbrief redet, trat der feierliche Introitus religiöser Weltverklärung in die Gesellschaft. Auc.'1 diese Konsequenzen sind zu bedenken, wenn es zu einer Freisetzung eschatologischer Hoffnung aus den Denkformen und Verhaltensweisen der überkommenen Synthesen des Abendlandes kommen soll.

§2

Verheißung und Offenbarung Gottes Mit der thematischen Zusammenstellung von "Verheißung" und "Offenbarung" soll nicht nur nach dem Verhältnis beider zueinander gefragt werden, sondern es soll ein Verständnis der "Offenbarung Gottes" entwickelt werden, das insofern "esd1atologisch" ist, als es die Sprache der Verheißung aufzudecken versucht. Die Offenbarungsbegriffe der systematischen Theologie sind durchweg geprägt durch die Aufnahme und Auseinandersetzung mit der griechischen Metaphysik der Gottesbeweise. "Offenbarungstheologie" steht darum heute betontermaßen in Antithese

36

Eschatologie und Offenbarung

zur sog. "natürlichen Theologie". Damit aber sind diese Offenbarungsbegriffe ständig befangen von der Frage nach der Beweisbarkeit oder Unbeweisbarkcit Gottes. Offenbarungstheologie kann in dieser Front eine negative, natürliche Theologie als Partner bei sich haben und sich selbst aus dem Dogma der Unbeweisbarkeit Gottes gewinnen. Einem so gewonnenen Offenbarungsbegriff droht aber der Verlust aller Inhalte. Seine Reduktion auf das Problem der Erkenntnis Gottes führt den viel beklagten Formalismus der Offenbarungstheolor;ie herauf. Nun hat aber gerade die neuere alttestamentliche Theologie gezeigt, daß die Worte und Sätze vom "Offenbaren Gottes" im Alten Testament durchgängig mit Sätzen der "Verheißung Gottes" verbunden sind. Gott offenbart sich auf die Weise der Verheißung und in der Verheißungsgeschichte. Es stellt sich von daher die Frage an die systematische Theologie, ob das sie leitende Verständnis der Offenbarung Gottes nicht von der Art und der Zielrichtung der Verheißung beherrscht sein muß. In der religionsvergleichenden Erforschung der besonderen Eigenart des israelitischen Glaubens tritt heute immer stärker die Differenz zwischen seiner "Verheißungsreligion" und den Epiphanienreligionen der offenbaren Götter der Umwelt Israels heraus. Diese Epiphanienreligionen sind alle "Offenbarungsreligionen" auf ihre Weise. Jeder Ort in der Welt kann zur Epiphanie des Göttlichen und zur bildhaften Transparenz der Gottheit werden. Der wesenhafte Unterschied liegt hier darum nicht zwischen den sog. Naturgöttern und einem Offenbarungsgott, sondern zwischen dem Gott der Verheißung und den Epiphaniengöttern. Die Differenz liegt also noch nicht in der Behauptung von göttlicher "Offenbarung" überhaupt, sondern in den verschiedenen Vorstellungen und Redeweisen vom Offenbaren und Sichzeigen der Gottheit. Es ist offensichtlich von entscheidender Bedeutung, in welchem Fragezusammenhang die Rede von Offenbarung auftaucht. Es ist etwas anderes, wenn man fragt: wo und wann wird das Göttliche, Ewige, Unvergängliche und Uranfängliche im Menschlichen, Zeitlichen und Vergänglichen epiphan? und etwas anderes, wenn man fragt: wann und wo offenbart der Gott der Verheißung seine Treue und in ihr sich selbst und seine Gegenwart? Das eine fragt nach der Gegenwart des Ewigen, das andere nach der Zukunft des Verheißenen. Ist aber Verheißung bestimmend für die Rede vom Offenbaren Gottes, so enthält jedes theologische Versdndnis der biblischen Offenbarung implizit ein leitendes Verständnis von Esd1atologie. Die christliche Lehre von Offenbarung Gottes muß dann aber explizit weder in die Gotteslehre gehören - als Antwort auf die Gottesbeweise oder auf den Beweis seiner Unbeweisbarkeit, noch in die An-

Verheiftung und Offenbarung Gottes

37

thropologie- als Antwort auf die mit der Fraglid1keit mensdllidler Existenz mitgesetzte Gottesfrage des Mensmen. Sie muß eschatologism verstanden werden, nämlim im Verheißungs- und Erwartungshorizont der Zukunft der Wahrheit'". Die Frage nam dem Verständnis der Welt aus Gott und des Mensmen aus Gott - das war das Anliegen der Gottesbeweise - kann erst beantwortet werden, wenn erkennbar wird, von weidlern Gott die Rede ist und in welmer Weise, bzw. mit welcher Absicht und Tendenz er sim offenbart. Wir werden also einigeneuere systematisme Offenbarungsbegriffe einmal auf das sie leitende Verständnis von Esdlatologie und zum anderen auf ihre immanente Verkoppelung mit herkömmlimen Gottesbeweisen hin zu untersumen haben. Die andere Veranlassung, Offenbarung von Verheißung her zu verstehen, ergibt sim aus der reformatorisdlen Theologie. Das Korrelat des Glaubens ist für die Reformatoren nid1t eine Offenbarungsvorstellung, sondern wird von ihnen als promissio Dei namhaft gemacht: fidcs et promissio sunt correlativa. Der Glaube wird durm Verheißung ins Leben gerufen und ist darum wesenhaft Hoffnung, Zuversidlt und Vertrauen auf den Gott, der nidlt lügen, sondern seinem Verheißungswort die Treue halten wird. Das Evangelium ist für die Reformatoren mit promissio geradezu identism. Erst in der protestantismen Orthodoxie wurde unter dem Zwang der Frage nam Vernunft und Offenbarung, nach Natur und Gnade, das Offenbarungsproblem zum zentralen Thema der Prolegomena der Dogmatik. Erst als ein Vernunftbegriff und ein Naturbegriff theologisch verwendet wurden, die nicht aus einem Verständnis der Verheißung gewonnen, sondern damals von Aristoteles übernommen wurden, ergab sich das Offenbarungsproblem in seiner bekannten Gestalt. Es entstand jener Dualismus von Vernunft und Offenbarung, der die theologisme Rede von Offenbarung zunehmend irrelevant für das Erkennen und den Umgang des Menschen mit der Wirklichkeit werden ließ. Aus dieser verhängnisvollen Geschichte ergibt sid1 die Aufgabe, die Rede von der Offenbarung Gottes nimt länger antithetism gegen das jeweilige Welt- und Selbstverständnis des Menschen zu setzen, sondern eben dieses Welt- und Selbstverständnis in den esmatologismen Horizont der Offenbarung als Verheißung der Wahrheit hineinzunehmen und dafür zu öffnen. Der überall auffallende Formalismus im modernen Offenbarungsbegriff gründet in dem ganz selbstverständlich erscheinenden methodischen Ansatz, den theologi~chen Gehalt von .Offenbarung" aus dem Wort .Offenbarung" zu gewinnen .• Ganz allgemein verstehen wir unter Offenbarung die Aufdeckung von Verhülltem, die Erschlieftung von 6a. So auch ä. Gloege, R.G.G. 1 IV, 1611: .Der Begriff der Offenbarung gehört der Eschatologie zu. •

38

Eschatologie und Offenbarung

Verborgenem" (R. Bultmann)1 .• Im Neuen Testament {weist) &r:oY.a).:j::-::erdings überlegen. Die Erinnerung an die ergangene Verheißung - an die Verheißung in ihrer Er-gangcnheit, nicht in Ver-gangenheit - bohrt als Stachel im Fleische jeder Gegenwart und öffnet sie für die Zukunft. In diesem Sinne wird die Offenbarung des Auferstandenen nicht durch die nolens volens weiterlaufende Geschichte "geschichtlich", sondern steht gleichsam als primum movens an der Spitze des geschichtlichen Prozesses. Die Wirklichkeit des Menschen und seiner Welt wird an ihr "geschichtlich" und die auf sie gesetzte Hoffnung macht alle Wirklichkeit als unzureichend vergänglich und überholbar. Es ist die promissio inquieta, an der das augustinische cor inquietum in Wahrheit entsteht. Es ist die promissio inquieta, die die menschliche Welterfahrung nicht zum in sich geschlossenen Kosmosbild der Gottheit werden läßt, sondern die Welterfahrung der Geschichte offen hält. Ist Offenbarung in diesem Sinne Verheißung, so ist sie auf den Prozeß zu beziehen, den die Sendung macht. Der Prozeß der Zeugen der eschatologischen Hoffnung, die jeder Gegenwart ihre Hoffnung zu verant-

Die Eschatologie der Offenbarung

79

worten haben, das Apostolat, das die Völkerwelt in diesen Prozeß verwickelt, und der Aufbruch aus der Gegenwart eines in sich verschlossenen Daseins in die verheißene Zukunft -, das ist diejenige Geschichte, die dieser Art Offenbarung hier "entspricht", weil sie von dieser Offenbarung ins Leben gerufen wird. Geschichtsbewußtsein ist Sendungsbewußtsein, und das Wissen um Geschichte ist ein Veränderungswissen. Nun ist diese Offenbarung Gottes im Verheißungsgeschehen immer nur aussagbar im Hinblick auf und in Auseinandersetzung mit der jeweiligen Welterfahrung und Existenzerfahrung des Menschen. Darin liegt die Berechtigung der dargestellten Offenbarungsverständnisse im Rahmen des Beweises Gottes aus der Existenz oder des Beweises Gottes aus dem Ganzen der Wirklichkeit. Wird Gott nicht im Hinblick auf die Selbst- und Welterfahrung des Menschen zur Sprache gebracht, so gerät die Theologie ins Ghetto, und die Wirklichkeit, mit der der Mensch umgeht, wird der Gottlosigkeit ausgeliefert. Seit der Zeit der frühchristlichen Apologeten wird die promissio Dei, von der die biblischen Schriften reden, immer in Gestalt des griechischen Logos bedacht. Doch ist zu beachten, daß zwischen den beiden extremen Möglichkeiten von Ghetto und Assimilation die promissio Dei immer als ein Ferment der Zersetzung des griechischen Logos gewirkt hat, nämlich dergestalt, daß die erhellende Wahrheit des griechischen Logos eschatologisiert und damit vergeschiehtlicht wurde. In diesem Vorgang kann die Theologie auch heute ihre Wahrheit polemisch und befreiend erweisen. Doch gerade wenn aus der Wahrnehmung der Offenbarung Gottes in der Verheißung gefragt wird, in welchem Lichte dann das Menschsein des Menschen und die Wirklichkeit der Welt erscheinen, gerät man in die Nähe der Unternehmungen der Gottesbeweise und der "natürlichen Theologie". Einer alten Definition zufolge versteht man unter "natürlicher Theologie• eine ntheologia naturalis, generalis et immediata", d. h. eine mit der Wirklichkeit mitgesetzte, allgemein zugängliche und unmittelbare, nicht vermittelte Gotteserkenntnis. Dazu gehörten die Erkenntnis, daß die Welt Gottes Welt ist oder daß das mit der Frage nach dem Ursprung oder dem Ganzen der Wirklichkeit Erfragte Gott ist, und zum anderen die Erkenntnis der Sonderstellung des Menschen im Kosmos, ein allgemeiner Begriff vom Menschsein als Gefordertsein durch das Gesetz Gottes, bzw. die Erkenntnis, daß das in der Fraglichkeit menschlichen Daseins Erfragte Gott ist. Wie immer diese Gottesbeweise oder Aufweise der Frage nach Gott als allgemein zugänglich von der d1ristlichen Theologie entworfen wurden, immer wurden sie so entworfen, daß sie eine hinweisende und passende Entspredmng zur "übernatürlichen, besonderen und geschichtlichen vermittelten" Gotteserkenntnis hergaben. Was immer in der abendländischen Theologie derart als "natürlidle Theologie" aufgenommen und entworfen wurde, war niemals "natürlich" und weder "allgemein-menschlich• noch .unmittelbar•. Genauer betrachtet enthielt die "natürliche Theologie" immer geschieht-

80

Eschatologie

ur~d

Offenbarung

lid:t vermittelte Erkenntnisse aus bestimmten geistigen Traditionen; aus der Stoa, aus Piato und Aristoteles usw. Der gesunde Mcnsd:tenverstand, auf den man rekurrierte, erweist sid:t immer als abendländisd1 geprägter und gesd:tid:ttlid1 entwickelter Mensdlenverstand. Das "Natürlime" an der "natürlidlen Theologie" war also mitnidlten "von Natur", sondern immer von Gesd:tid:tte und war eine Aufnahme dessen, was im gesellsdlaftlid:ten Sinne als natürlid:t, d. h. als selbstverständlid:t galt. Der Aristoteles, der als Kird:tenvater der natürlimen Theologie galt, ist weiterhin keineswegs identisd:t mit dem historismen Aristotelcs, sondern war ein d:tristlidl-theologisdl verarbeitetes, aristotelismes Erbe. Was als "Natur" und als "allgemeines Gottesbewußtsein" d:tristlidl namhaft gemamt wurde, war immer smon bestimmt von jenem Inhalt, auf den es als allgemeiner Rahmen weisen sollte. So ist .natürlime Theologie" in der Tat eine Voraussetzung der Orlcnbarungstheologie, nämlim in dem Sinne, daß Offenbarung sie in ihrer besonderen Gestalt sich voraus setzt, sdlaffi und entwirft. Damit ist das Gesdläft der natürlid:ten Theologie keineswegs erledigt. Sie gehört vielmehr notwendig zum Bedenken der Natur und des .Mensdlseins von der Offenbarung her. Sie gehört darum weiter notwendig zur Theologie überhaupt, wenn diese die universale Weite der Offenbarung Gottes ausspredlen will. Als Voraus-setzzmg der Theologie gehört sie aber in die Darstellung des universalen, eschatologisdlen Erwartungshorizontes der Offenbarung. In diesem Sinne hat H. j.lwand redlt mit seiner These: "Die natürlid:te Offenbarung ist nicht das, wovon wir herkommen, sondern das Lidlt, auf das wir zugehen. Das Iumen naturae ist der Abglanz des Iumen gloriae ... Die Umkehr, die heute von der Theologie gefordert ist, besteht darin, die Offenbarung unserem li.on, die natürliche Theologie aber dem kommenden Aon zuzuweisen.""" In diesem Sinne ist "natürlime Theologie", Theologie der Existenz und Theologie der Gesd:tichte ein Lichthof, ein Widersdlein des zukünftigen götdimen Lidltes .m unzureichenden Material der gegenwärtigen Wirklichkeit, ein Vorsmein und ein Vorweis der verheißenen universalen Herrlid1keit Gones, der sich allen und an allem als der Herr erweisen wird. Was als "natürliche Theologie" bezcidlnet wird, ist in Wahrheit tbeologia viatorum, Antizipation der verbeigenen Zukunft in der Gesd:tidlte durdl gehorsames Denken. Sie bleibt darum stets geschichtlich, vorläufig, wandelbar und offen. Ist sie ein Erkennen und Bedenken der Wirklichkeit, in der jeder Mensm steht, aus Glauben und Hoffnung, so hat sie darum auch nimt das Pathos in sim, daß sidl ihre Aussagen "von selbst verstehen", sondern ist wesentlim polemisd:t oder "eristisdl", wie E. Brunner sagte. Man wird die Gottesbeweise herumdrehen müssen und nidlt Gott aus der Welt, sondern die Welt aus Gott, nimt Gott aus der Existenz, sondern die Existenz aus Gott aufweisen und zwar in steter Auseinandersetzung mit anderen Wahrheitsbehauptungen und Sinncrweisungen. In diesem Sinne gehört die Arbeit der "natürlimen Theologie" nidn in die praeambula fidei, sondern in die Ii. des quaerens inteliectum.

Der Mensch, der von dieser Offenbarung Gottes in Verheißung betroffen wird, wird identifiziert - als das, was er ist - und zugleich differenziert- als das, was er sein wird. Er kommt zu "sich selbst", aber in Hoffnung, denn er ist noch nicht dem Widerspruch und dem Tode entnommen. Er findet zum Leben, aber verborgen in der verheißenen, noch nicht erschienenen Zukunft Christi. So wird der Glaubende wesentlich zum Hoffenden. Er ist "sich selbst" noch Zukunft und ist sich verheißen. Seine Zukunft hängt ganz und gar am Ausgang des Prozesses des Auferstandenen, denn er hat seine Zukunft auf die Zukunft Christi gesetzt. So wird er mit sich selbst einstimmig in spe, aber mit sich selbst uneinstimmig m 113. H. ]./wand, Namgelassene Werke, I, Glauben und Wissen, 1962,290 f.

Die Eschatologie der Offenbarung

81

re. Gerade der sich der Verheißung Anvertrauende wird sich selbst zum Rätsel und zur offenen Frage, er wird sich zum homo absconditus. Auf der Spur der Verheißung gerät er auf die Suche nach sich selbst, wird sich zur offenen Frage an die Zukunft Gottes. Darum steht gerade der Hoffende nicht einstimmig und zentrisch in sich selbst, sondern steht exzentrisch zu sich selbst in jener facultas standi extra se coram Deo, wie Luther es nannte. Er ist sich selbst in der Hoffnung auf Gottes Verheißung voraus. Das Verheißungsgeschehen bringt ihn noch nicht in eine Heimat der Identität, sondern nimmt ihn hinein in die Spannungen und Differenzen der Hoffnung, der Sendung und der Entäußerung. Begegnet ihm Offenbarung als Verheißung, so identifiziert sie ihn nicht unter Absehung vom Negativen, sondern öffnet ihn für den Schmerz, die Geduld und "ungeheure Macht des Negativen", wie Hege! sagte. Sie macht ihn bereit, den Schmerz der Liebe und der Entäußerung in dem Geiste auf sich zu nehmen, der Jesus von den Toten auferweckte und der das Tote lebendig macht. "Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes." "Die Kraft des Geistes ,st nur so groß als ihre A.ußerung, seine Tiefe nur so tief, als er in seiner Auslegung sich auszubreiten und sich zu verlieren getraut. " 114 So führt die verheißene Identität den Menschen in die Differenz der Entäußerung hinein. Er gewinnt sich selbst, indem er sich verläßt. Er findet das Leben, indem er den Tod auf sich nimmt. Er kommt zur Freiheit, indem er Knechtsgestalt annimmt. So kommt die Wahrheit zu ihm, die auf die Auferstehung der Toten vorausweist. Wenn aber das Verheißungsgeschehen der Auferstehung den Menschen identifiziert, indem sie ihn in die Entäußerung seiner selbst führt, so ·ist diese Selbsterfahrung unmittelbar verbunden mit einer entsprechenden Welterfahrung. Der Mensch gewinnt sich nicht durch Unterscheidung von "der Welt", sondern durch Entäußerung in sie hinein. In welcher Weise aber muß dann "Welt" erfahren werden? - Sie kann dann nicht als ein starrer Kosmos von ausgemachten Fakten und ewigen Gesetzen genommen werden. Denn wo nichts Neues mehr geschehen kann, endet auch die Hoffnung und verliert sie alle Aussicht auf Verwirklichung des Erhofften. Nur wenn die Welt selber "alles Möglichen voll" ist, kann die Hoffnung in der Liebe wirksam werden. Zur Hoffnung gehört das Wissen, daß draußen das Leben so wenig fertig ist wie im Ich, das an diesem draußen arbeitet. 115 So hat die Hoffnung nur dann eine Chance 114. G. W. F. Hege/, Phänomenologie des Geistes, ed. J. Hoffmeister, PhB 114, 19·49, 29 und 15. 115. E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, I, 1959, 225.

82

Eschatologie und Offenbarung

zum sinnvollen Dasein, wenn die Wirklichkeit selber geschichtlich im Fluß ist und die geschichtliche Wirklichkeit einen offenen Vorraum des Möglichen aufweist. Die christliche Hoffnung ist nur dann sinnvoll, wenn die Welt für den veränderlich ist, auf den diese Hoffnung hofft, und also für das offen ist, worauf diese Hoffnung hofft; wenn sie alles (Gott- )Möglichen voll ist und offen ist für die Auferstehung der Toten. Wäre die Welt ein in sich geschlossener Wirkungszusammenhang, so könnte die Hoffnung sie entweder für die Erfüllung selber halten oder aber sich gnostisch ins Oberweltliche transzendieren und reflektieren. Dann aber gäbe sie sich selbst preis. Aus der verheißenen Zukunll der Wahrheit wird die Welt als Geschichte erfahrbar. Der eschatologische Sinn des Verheißungsgeschehens der Auferstehung Christi öffnet in Erinnerung und Erwartung den Sinn für Geschichte. Jede Anschauung, die Welt als einen in sich geschlossenen Kosmos oder die Geschichte als ein Universum, wcld1es die göttliche Wahrheit in sich birgt und aus sich heraus zeigt, zu verstehen, wird darum zerbrochen und ins eschatologische "Noch-nicht" transponiert. Der von Verheißung und Erwartung bestimmte Charakter des Transzendierens und der Vorläufigkeit unseres Wissens als eines Hoffnungswissens nimmt den offenen Horizont der Zukunll der Wirklichkeit wahr und wahrt so die Endlichkeit menschlicher Erfahrung. Auf Grund des Verheißungsgesd1ehens der Auferstehung Christi Gott und die Geschichte zusammenzudenken, heißt nicht, Gott aus der Welt oder aus der Geschichte zu beweisen, sondern umgekehrt die Welt als gott- und zukunllsoffene Geschichte zu erweisen. Die christliche Theologie wird sich also nicht abfinden können, sondern wird sich lösen müssen von der kosmologisch-mechanistischen Denkweise, wie sie in den positivistischen Wissenschallen vorliegt; im Positivismus der wissenschallliehen Entzauberung der Welt, mit welchem die Welt nicht nur "gottlos" wird, wie Max Weber sagte, sondern auch eine Welt ohne Alternative und ohne Möglichkeiten und ohne Zukunll wird, und in den versachlichten und institutionalisierten Verhältnissen der wissenschallliehen Zivilisation der modernen Gesellschall, welcher ebenfalls mit der Zukunll auch ihre eigene Geschichtlichkeit verloren zu gehen droht. Die Theologie wird sich aber nur so davon lösen können, daß sie dieses Denken und diese Verhältnisse auflöst und in die eschatologische Bewegung der Geschichte zu stellen sich bemüht. Sie wird sich nicht so da von lösen können, daß sie sich auf eine romantische Verklärung der Wirklichkeit zurückzieht. Das "Holz" wird nicht wieder zum "Hain", die "Historie" nicht wieder zur "Heiligen Geschichte" und die Traditionen des Abendlandes werden nicht wieder zu eindeutigen, über-

Die Eschatologie dtr Offenbarung

83

lieferungsgeschichtlichen Zusammenhängen. Die Erfahrung der Welt als Geschichte ist kaum so möglich, daß man sich wieder auf die Erfahrung der Geschichte als Schicksal in jener Passivität, in der man Geburt und Tod erleidet, oder auf die Erfahrung der Geschichte als Zufall besinnt. "Das allgemeine Bestreben der menschlichen Vernunft ist auf die Vernichtung des Zufalls gerichtet", bemerkte treffend schon W. von H umboldt. Die wissenschaftlichen und technischen Bemühungen der Neuzeit sind wenigstens seit der französischen Revolution darauf aus, das Ende dieser Geschichte, das Ende der Geschichte des Zufalls, der Kontingenz, des überraschenden, Krisenhaften und Katastrophalen heraufzuführen. Diesem sich rundenden wissenschaftlich-technischen Kosmos seine eigene Geschichtlichkeit zu erweisen, heißt nicht, ihm das Krisenhafte seiner selbst aufzudecken, sondern ihm und den Menschen darin jene Geschichte aufzuweisen, die aus der verheißenen Zukunft der Wahrheit erfahren wird. Beide Formen des Geistes - die Verdinglichung der Welt und die Subjektivität der Existenz- stehen aus der Geschichte heraus, die aus der Zukunft der Wahrheit erfahren wird. "Geschichte" kann für die christliche Theologie darum nicht bedeuten, daß sie die Wahrheit Gottes wieder im Bunde mit alten Schicksals- und Zufallserfahrungen verkündet, sondern daß sie diese Welt selber in den Prozeß der Verheißung und der weitertreibenden Hoffnung stellt. Das Problem der Geschichte stellt sich in der "Neuzeit" nicht so sehr als Differenz zwischen griechischer Kosmosverklärung und biblischer Geschichtshoffnung dar, sondern als Differenz zwischen einem wissenschaftlichen und technischen Chiliasmus, der die Geschichte in der Geschichte zu beenden sucht, und einer Eschatologie der Geschichte, die aus dem Verheißungsgeschehen der Auferstehung entspringt und für die das "Ende der Geschichte" in der "Neuzeit" so wenig das verheißene und erwartete Ende ist, wie ihr die "Neuzeit" nicht die "neue Zeit" im apokalyptischen Sinne - wie dieser Ausdruck doch gemeint war - sein kann. Der Positivismus, der ursprünglich von Auguste Comte durchaus chiliastisch gemeint war, kann darum nur dadurch vergeschichtlicht werden, daß er eschatologisch durch einen neuen Erwartungshorizont transzendiert und überholt wird. Dann wird seine geschichtliche Gestalt und Bedeutung und die Endlichkeit seines Erkenntnishorizontes aufgedeckt. Die christliche Theologie kann in der Weise ihre Wahrheit an der Wirklichkeit des Menschen und der Wirklichkeit der den Menschen angehenden Welt erweisen, daß sie die Fraglichkeit des menschlichen Daseins und die Fraglichkeit der Wirklichkeit im Ganzen aufnimmt und hineinnimmt in die eschatologische Fraglichkeit des Menschseins und der Welt, die

84

Eschatologie und Offenbarung

durch das Verheißungsgeschehen geöffnet wird. "Vom Tode bedroht" und "der Nichtigkeit unterworfen": das ist der Ausdruck allgemeiner Daseins- und Welterfahrung. "Auf Hoffnung hin": das ist offenbar die Weise, in der christliche Theologie diese Fragen aufnimmt und an die verheißene Zukunft Gottes richtet.

KAPITEL li VERHEISSUNG UND GESCHICHTE

Will man dem eigentümlich vieldeutigen, unbetonten und dennoch breit gestreuten Reden von "Offenbarung" im Alten Testament auf die Spur kommen und es für die Dogmatik fruchtbar machen, so ist es nicht ratsam, davon auszugehen, daß jeder Mensch aus seiner von Chaos und Vergänglichkeit bedrohten Existenz heraus nach "Offenbarung" frage, noch bei der Frage einzusetzen, wie der verborgene Gott, der Ursprung und das Absolute, dem ihm entfremdeten Menschen offenbar werde. Vielmehr ist es notwendig, sich nicht nur Antworten, sondern auch die Fragestellungen nach Offenbarung aus dem Alten Testament selber geben zu lassen, bevor man systematische Konsequenzen zieht. Wenn dieses im folgenden versucht werden soll, so ist es natürlich unmöglich, einzelexegetische Hinweise aufzunehmen. Es muß aber um Klärung und Bestimmung der in der Exegese verwendeten Begriffe gehen. Man wird dabei oft auf religionsgeschichtliche Vorstellungen stoßen und solche auch verwenden müssen. Es sollen damit jedoch keine allgemeinen religionsgeschichtlichen Voraussetzungen impliziert werden. Die Aufgabe liegt nicht darin, die verschiedenen religiösen Vorstellungen und Glaubensweisen einem allgemeinen Religionsbegriff zu subsumieren. Aber die Konturen dessen, was Verheißung und Hoffnung heißt, treten im Angesicht der anderen Religionen und Glaubensweisen, mit denen es ringt und in Auseinandersetzung liegt, am deutlichsten zu Tage und können darum im Vergleich und Streit am besten erhellt werden.

§1 Epiphanienreligion und Verheißungsglaube Fragt man nach einer Summierung der religionsgeschichtlichen Erkenntnisse aus der Erforschung Israels und seiner orientalischen Umwelt, so zeigen sich unter diesem Gesichtspunkt die Materialien des Alten Testa-

86

Verheißung und Geschichte

mentes als "synkretistische Dokumente". "Israel hat einen Synkretismus von nomadischer und bäuerlich-kanaanäischer Religiosität vollzogen. Durch diesen Synkretismus ist es geworden, was es dann in klassischer Zeit war. " 1 Der Ausdruck "Synkretismus" bedarf dabei der näheren Klärung. Er kann keineswegs eine spannungslose Verschmelzung disparater Elemente meinen und natürlich auch kein Bündnis feindlicher Brüder gegen einen gemeinsamen dritten Gegner, wie ursprünglich bei den Kretern. Er kann nicht einmal nur Vermischung bedeuten, sondern soll den Kampfprozeß zwischen zwei miteinander nicht vereinbaren Glaubensweisen zum Ausdruck bringen. Es ist ein Prozeß, der in verschiedenen geschichtlichen Situationen an verschiedenen Konfliktstoffen entbrennt und gerade aus den verschiedenen Spannungsmomenten die Eigenart der ringenden Gegner erkennbar werden läßt. Was hier miteinander im Streit liegt, läßt sich an keiner Stelle räumlich oder zeitlich, ja auch kaum säuberlich ideologisch abgrenzen. Dennoch zeigt sich der Kampfprozeß an jeder Stelle, sowohl im Konflikt Israels mit seinen Nachbarn als auch innerhalb des empirischen Israel selber. Er kann sich in bestimmten geschichtlichen Situationen besonders klar zeigen. Er kann auch jahrhundertelang latent und bis zur Unkenntlichkeit verborgen sein. Die "religiöse Sonderstellung" Israels wird darum nur schwerlich an einer einzigartigen "Religion Israels" erhebbar, wohl aber doch darin, daß ein solcher spannungsgeladener Kampfprozeß seine ganze Geschichte durchzieht. Die allgemeine, kultur- und religionsgeschichtliche Bestimmung dieser Spannungstendenzen hat m. E. am einleuchtendsten Victor Maag in der Nachfolge von M. Buher u. a. gegeben. Er sieht die Spannung darin, daß im palästinensischen Israel die kinetisch-vektorischen Momente der alten Nomadenreligion und die statischen Momente der kanaanäischen Landesreligion aufeinandertreffen. "Nomadenreligion ist Religion der Verheißung. Der Nomade lebt nicht im Zyklus von Saat und Ernte, sondern in der Welt der Migration." 2 "Dieser inspirierende, führende, behütende Nomadengott unterscheidet sich von den Göttern der Agrarvölker in verschiedener Hinsicht ganz grundsätzlich. Die Völkergötter sind lokal gebunden. Der Transmigrationsgott der Nomaden aber ist territorial und lokal nicht gebunden. Er wandert mit, ist selber unterwegs. " 1 Daraus ergibt sich ein verschiedenes Daseinsverständnis: "Da wird das Dasein als Geschichte empfunden. Dieser Gott führt zu einer Zukunft, die 1. V. Maag, Malkut Jhwh, V. T. Suppl. VII, 1960, 137. 2. Ebd.140. 3. Ebd. 139 f.

Epiphanienreligion und Verheißungsglaube

87

nicht bloße Wiederholung und Bestätigung der Gegenwart ist, sondern Ziel der jetzt in Gang befindlichen Ereignisse. Das Ziel ist die Sinngebung für die Wanderung und ihre Nöte; und die heutige Entscheidung zum Vertrauen auf den berufenden Gott ist zukunftsträchtig. Das ist das Wesen der Verheißung in der Sicht der Transmigration." 4 Sicherlich enthält Maags Sicht der nomadischen Verheißungsreligion im Gegensatz zur mythischen und magischen Kulturlandreligion idealtypische Momente, aber sie macht doch die Spannung verständlich, in der Israel sich befand, und, was noch wichtiger ist, sie macht die Frage erheblich, wie und wodurch es gekommen ist, daß Israel beim Obergang vom nomadischen und halbnomadischen zum seßhaften Leben in Kanaan nicht wie eigentlich alle Völker und Stämme beim Schritt über diese erste Kulturschwelle der Menschheit die Nomadenreligion und den Verheißungsgott zugunsren der Land, Leben und Kultur heiligenden Epiphaniengötter preisgegeben hat, sondern den Landbesitz und das Bauen und Wohnen im Lande als eine neue Geschichtserfahrung in die ursprüngliche Verheißungsreligion einzubringen vermochte. Das Eigentümliche des geschichtlichen Israel scheint weder in seiner nomadischen Herkunft zu liegen, die es mit anderen gemeinsam hat, noch in der Landnahme und dem Obergang zu Acker- und Städtebau, welche es ebenfalls mit anderen gemeinsam hat, sondern in der Tatsache, die jenen Kampfprozeß hervorruft und sich in verschiedenen Situationen zeigt, daß die israelitischen Stämme den Verheißungsgott aus der Wüste zusammen mit dem ihm entsprechenden Daseins- und Weltverständnis im Lande mit den ganz neuen Landerfahrungen behielten und die Anstrengungen unternahmen, die neuen Erfahrungen im Lande vom Verheißungsgott her zu machen und zu bewältigen. Der damit geforderte Kampfprozeß zeigt sich sehr deutlich am Gottesverhältnis und hier wiederum an den Vorstellungen von Erscheinen und Offenbaren Gottes. Der älteste und wohl gemeinorientalische Sprachgebrauch begegnet dort, wo die Gottheit "sich zeigt" 5 , Das Niphal von raah ist terminus technicus für solche Hierophanien. Diese sind ursprünglich an einen bestimmten Ort gebunden, der dann kultisch als Ort der göttlichen Epiphanie verehrt wird. Ex. 3, 2 begegnet eine solche Wendung: "Da erschien ihm der mal'ak Jahwe in der Feuerflamme mitten aus dem Dornbusch heraus." Von solchen Erscheinungen, durch die Orte zu Kultorten geheiligt werden, ist das orientalische Kulturland randvoll. 4. Ebd.140.

5. R. Rendtorff, Die Offenbarungsvorstellungen im Alten Israel, in: Offenbarung als Geschichte, 1961, 23 f.

88

Verheißung und Gesd1ic:hte

Steine, Gewässer, Bäume, Haine, Berge usw. können zu Trägern von Hierophanien werden. Es bilden sich Kultlegenden, die die i\tiologie solcher geheiligter Orte mitteilen und Ritualien, die dem Lande ringsum und denen, die darauf wohnen und bauen, die Weihe der Götter verleihen. Solche Kultorte sind gleichsam Türen, durch die die Götter weihend auf das Land kommen und die Menschen, die darauf wohnen, die Heiligung ihrer Landkultur erfahren. Menschen werden dadurch zu "Wohngenossen der Götter" (M. Eliade) 8 • Ihre Kultur wird im Kult am Ort der Hierophanie durch Rückbindung an das heilige Urgeschehen der Kosmogonie oder durch Anschluß an das heilige Zentrum der Welt vor dem Chaos gesichert. Das Bauen und Wohnen wird geheiligt und gesichert durch mythische und magische und rituelle Entsprechungsverhältnisse zum Ewigen, Ursprünglichen, Heiligen und kosmisch Geordneten. Entsprechend wird die verfließende, Schrecken des Chaos entbergende Zeit ordnend geheiligt durch heilige Feste, die die Epiphanie, die Ankunft der Götter feiern und so die Menschen zu "Zeitgenossen der Götter" machen. Die verderbende Zeit wird regeneriert durch periodische Rückkehr zur uranfänglichen Zeit. Der Heiligung des Raumes zum Wohnen und Bauen, der vom Chaos bedroht ist, an den Epiphanienorten entspricht die Heiligung der Zeit in der zyklischen Wiederkehr der Ephiphanie der Götter in den Festzeiten8 ". Es macht dabei keinen wesentlichen Unterschied, sondern ist Fortsetzung und Sublimierung dieser Epiphanienfrömmigkeit, die um den Theos epiphanes kreist, ob diese polytheistisch eine Vielzahl von Lokalgottheiten verehrt, oder pantheistisch alle Räume und Zeiten des Göttlichen voll findet (Thales: 1tav-ra ·d~plj {)e(öv 6 "), ob das Unsichtbare, die göttliche Ursprungswelt, durch eine Stufenfolge von Zwischeninstanzen epiphan wird, ob Landesfürsten als Theos epiphanes oder Lehrer und Wundertäter als theios aner auftreten, oder ob dieses Göttliche, Absolute, EwigUrsprüngliche durch sich selbst epiphan werdend gedadlt wird. Die natürliche Theologie der griechischen Religionsphilosophie und orientalische Religionsphilosophien haben diese Epiphanienfrömmigkeit zur Voraussetzung und zur bleibenden Grundlage. Aus ihr stammt die hier ent6. M. Eliade, Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, rde 31 1957, 21 ff. und 53 ff. 6a. W. F. Otto, Die Gestalt und das Sein, 1955, 255: ~Das Fest bedeutet immer die Wiederkehr einer Weltstunde, mit der das 1\lteste, Ehrwürdigste und Herrlichste wieder da ist; eine Rückkehr des goldenen Zeitalters, wo die Ahnen so nahe mit den Göttern und Geistern verkehrten. Das ist der Sinn festlicher Erhabenheit, die, wo immer es wirkliche Feste gibt, von allem anderen Ernst und aller anderen Freude verschieden ist. • 6b. Vgl. zur grundlegenden Bedeutung dieses Satzes für die altgriechische Religion und Philosophie W.Jaeger, Die Theologie der frühen griedlischen Denker, 1953, 31 ~·

Epiphanienreligion und Verheißungsglaube

89

scheidende Frage nach dem "Sichzeigen", "Erscheinen" und "Offenbaren" des Göttlichen. Es ist dabei wichtig zu sehen, daß diese Epiphanien ihren Sinn in sich selber, in ihrem Sichereignen tragen. Denn wo sie sich ereignen, geschieht die Weihe von Ort, Zeit und Menschen in dem Geschenk der Entsprechung und der Teilhabe der immer bedrohten menschlichen Kultur an dem ewigen göttlichen Kosmos. Die Bedrohung des menschlichen Daseins von den Chaosgewalten und vom Nichtigen wird überwunden durch die Epiphanie der ewigen Gegenwart. Menschliches Sein kommt in die Deckung des ewigen Seins, versteht sich in Entsprechung und Teilhabe als geborgen von der Gegenwart des Ewigen. Es ist nun das Auffallende, daß Israel die "Erscheinungen" Jahwes in ihrem Sinngehalt nur in geringem Maße als eine solche Weihe von Ort und Zeiten verstand, sondern daß sich für Israel das "Erscheinen" Gottes unmittelbar verbindet mit dem Ergehen von göttlicher Verheißungsrede7. Wo Jahwe "erscheint", geht es offenbar nicht in erster Linie darum, Ort und Zeit seiner Erscheinung zu kultivieren. Der Sinn der Erscheinungen an bestimmte Menschen zu bestimmten Situationen liegt in der Verheißung. Die Verheißung aber weist von den Erscheinungen ihres Ergehens fort in die angesagte, noch nicht wirkliche Zukunft hinein. Der Sinn der Erscheinung liegt dann nicht in dieser selber, sondern in der Verheißung, die in ihr vernehmbar wird, und in der Zukunft, in die sie weist. In den verschiedenen überlieferungsschichten solcher Verheißungserscheinungen treten im Glauben Israels dann sogar die epiphanistischen Begleitumstände zurück hinter dem Ruf und der Weisung zur Zukunft. Damit wird der epiphanienreligiöse Offenbarungsbegriff verwandelt. Er wird dem Verheißungsgeschehen untergeordnet. Offenbarung wird von dem Verheißungsinhalt der Offenbarung her verstanden. Jahwes Offen· baren dient hier offensichtlich nicht dazu, die bedrohte Gegenwart in Deckung zu bringen mit seiner Ewigkeit, sondern bewirkt vielmehr, daß die Hörer der Verheißung deckungsungleich werden mit der sie umgebenden Wirklichkeit, indem sie sich in Hoffnung und Aufbruch ausstrecken nach der verheißenen, ncuen Zukunft. Nicht die religiöse Sanktionierung der Gegenwart, sondern der Aufbruch aus der Gegenwart zur Zukunft ist die Folge. Haben die mythischen und magischen Kulte der 7. R. Rendtorff, aaO. 24. Ebenso urteilt auch W. Zimmerli, .Offenbarung" im Alten Testament, EvTh 22, 1962, 16: .Die Heiligkeit eines Ortes soll durch den Bericht vom Erscheinen der Gottheit an dieser Stelle legitimiert werden. Dann aber ist im AT eine Geschichte zu erkennen, nach welcher immer mehr nur noch das Gerippe des l>Theologie der HoffnungSozialismus mit dem menschlichen Gesicht« in der CSSR und das Ende der civil-right-movement in den USA und dem hoffentlich nur vorläufigen Stillstand der Reformen in der ökomenischen Bewegung und der katholischen Kirche, die mit dem 2. Vaticanum und der Konferenz in Uppsala 1968 so zuversichtlich begannen, trat in das Zentrum der Hoffnung und des Widerstandes wieder das, was doch der treibende Grund aller Horizonteröffnungen in Gesellschaft und Kirche ist: das Kreuz Christi. Die soziologisch, psychologisch und ideologisch berechtigte Kritik an Kirche und Theologie, die wir zum Glück erlebt haben, kann nur durch eine kritische Theologie des Kreuzes aufgenommen und radikalisiert werden. Es gibt ein inneres Kriterium jeder Theologie und Kirche, die christlich zu sein beanspruchen, und dieses Kriterium geht weit über alle politische, ideologische und psychologische Kritik von außen hinaus: das ist der Gekreuzigte selbst. Berufen sich Kirchen und Theologien und Glaubensweisen auf ihn - und das müssen sie, wenn sie christlich sein wollen -, dann berufen sie sich auf ihren härtesten Richter und ihren radikalsten Befreier aus Lüge und Eitelkeit, aus Machtstreben und Angst. Man muß die Kirchen, die Glaubenden und die Theologien beim Wort nehmen. Und dieses Wort ist >>das Wort vom Kreuz«. Es ist das Kriterium ihrer Wahrheit und darum die Kritik ihrer Unwahrheit. Die Krise der Kirche in der gegenwärtigen Gesellschaf\: ist nicht nur eine Krise ihrer Anpassung oder ihrer Ghettoisierung, sondern eine Krise ihrer eigenen Existenz als Kirche des gekreuzigten Christus. Jede sie wirklich treffende Kritik von außen ist nur ein Hinweis auf ihre innere christologische Krise. Die Kirchenfrage, so unangenehm sie für Konservative und Progressive sein mag, ist nur ein kleines Vorspiel ihrer inneren Krise, denn nur an Christus selbst entscheidet sich, was eine christliche Kirche ist und was keine christliche Kirche ist. Ob eine Christenheit in einer entfremdeten, geteilten und bedrückenden Gesellschaft selbst entfremdet, geteilt und zum Komplizen der Unterdrückung wird, entscheidet sich zuletzt daran, ob der Gekreuzigte ihr ein Fremder oder der ihre Existenz bestimmende Herr ist. Man hat eingewandt, es sei noch zu früh, diese Frage in den Kirchen und Kirchengesellschaften aufzuwerfen, die Kirchen hätten noch nicht einmal jene Weltoffenheit gewonnen, die die Gesellschaft erreicht hätte, sie seien ideologisch und praktisch noch nicht einmal auf das Recht säkularer Freiheitsbewegungen und ihrer Kritik eingegangen, und schon wolle man sie bei ihrem eigenen Grundsatz behaften. Ich verstehe das Recht dieser taktischen Frage, glaube allerdings nicht, daß sie weiter als bis zur Anpassung veralteter Formen der Kirche an neuere führt.

Zur Verständigung über das Thema

9

Christliche Kirche und christliche Theologie werden für mich nur dann für die Probleme der modernen Welt relevant, wenn sie den >>harten Kern« ihrer Identität im gekreuzigten Christus offenbaren und durch ihn selbst zusammen mit der Gesellschaft, in der sie leben, in Frage gestellt werden. Ideologische und politische Kritik von außen können Theologie und Kirche nur dazu zwingen, ihr Eigenes zu offenbaren und sich nicht länger hinter Fremdem aus Geschichte und Gegenwart zu verstecken. Glaube, Kirche und Theologie sollen zeigen, was sie von jenem Mann aus Nazareth, gekreuzigt unter Pontius Pilatus, eigentlich glauben und erhoffen und welche praktischen Konsequenzen sie daraus ziehen wollen. Der gekreuzigte Christus ist selbst die Herausforderung der christlichen Theologie und Kirche, die sich nach seinem Namen zu nennen wagen. Welche Kreuzestheologie aber entspricht ihm und ist heute notwendig? Kreuzestheologie hat zwar eine gewisse Tradition, aber sie war nie beliebt. Sie geht von Paulus aus, dem man mit Recht ihre Begründung zuschreibt, springt über zu Luther, bei dem sie expressis verbis auftaucht, war und ist in den verfolgten Gemeinden der Armen und Unterdrückten präsent. Sie kam auf eigene Weise bei Zinzendorf wieder ins Leben. Sie prägte den besseren Teil der frühen Dialektischen Theologie und der Lutherrenaissance der zwanziger Jahre. Martin Kähler hat in einer berühmten Vorlesung von I 9 I I das Kreuz Christi zum >>Grund und Maß für die Christologie