José Martí: Teil II: Denker der Globalisierung 9783110788471, 9783110788389

On the basis of José Martí: Part I. Apostle – Poet – Revolutionary: A History of his Reception (1991), this second part

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José Martí: Teil II: Denker der Globalisierung
 9783110788471, 9783110788389

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einleitung: José Martí und das Denken der Globalisierung
1. Hauptstück: Von der Romantik im spanischen Amerika zu einem transatlantischen Verständnis Hispanoamerikas
2. Hauptstück: Die Bilder der Macht: Auf dem langen Weg in eine Transformation der amerikanischen Moderne
3. Hauptstück: Entwürfe der Modernität: Welche Moderne für Nuestra América?
4. Hauptstück: Konflikte, Kriege, Konvivenz: Der schwierige Weg von Nuestra América in die Welt
Ausleitung: José Martí und ein amerikanischer Humanismus
Bibliographie
Abbildungsverzeichnis
Personenverzeichnis

Citation preview

Ottmar Ette José Martí

Mimesis

Romanische Literaturen der Welt

Herausgegeben von Ottmar Ette

Band 100

Ottmar Ette

José Martí

Teil II: Denker der Globalisierung

ISBN 978-3-11-078838-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-078847-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-078857-0 ISSN 0178-7489 Library of Congress Control Number: 2022948380 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Meiner Insel Kuba in Freude und Zuversicht gewidmet

Vorwort Der erste Teil dieses Buches über José Martí erschien unter dem Titel Apostel – Dichter – Revolutionär: Eine Geschichte seiner Rezeption als Band 10 in der damals von Reinhold R. Grimm, Joseph Jurt und Friedrich Wolfzettel herausgegebenen Reihe Mimesis im Max Niemeyer Verlag Anno Domini 1991. Wenn ich heute nach mehr als drei Jahrzehnten den zweiten Teil unter dem Titel «Denker der Globalisierung» als Band 100 in derselben Reihe Mimesis im Verlag De Gruyter herausbringe, so schließt sich für mich ein Kreis, der mit meiner ehedem von Joseph Jurt betreuten Doktorarbeit begann, einem Band, der den Auftakt zu meinem beruflichen Leben als Romanist und Komparatist markierte. Auch wenn sie sich in ihrer Entstehung über einen Zeitraum von mehr als drei Jahrzehnten erstrecken, bilden beide Teile meines Werkes über José Martí doch eine Gesamtheit, die im Übrigen ebenso im Druck wie in der Open Access-Ausgabe gegeben ist. In all den vielbewegten Jahren, die zwischen dem ersten und dem zweiten Teil verstrichen sind und die von einer intensiven forschungs- und Publikationstätigkeit begleitet wurden, war mir der große kubanische Modernist keineswegs fremd geworden. So wie ich auch die Insel Kuba, meine erste lateinamerikanische Erfahrung, immer regelmäßig besuchte, da ich mich den Menschen dort verpflichtet fühle. In regelmäßigen Abständen habe ich immer wieder das Gesamtwerk von José Martí in meiner Tätigkeit in Forschung und Lehre behandelt und jene Linien weiter ausgestaltet, die bis zur heutigen Publikation dieses zweiten und abschließenden Teiles führen. Die ungeheure Bibliographie, die sich nicht nur in Kuba oder Lateinamerika, sondern weltweit der Figur des Dichters und Revolutionärs José Martí widmete und widmet, liest sich als Geschichte wie ein spannender Thriller, der zugleich aber die Grundlage und Voraussetzung für eine Analyse seiner Texte bildet, welche im vorliegenden zweiten Teil nunmehr geleistet und präsentiert wird. In den zurückliegenden drei Jahrzehnten hat sich die akademische Landschaft – und ganz besonders auch die Romanistik – grundlegend verändert. Wissenschaftliche Qualifikationsschriften und Forschungsarbeiten über die lateinamerikanischen Literaturen sind innerhalb des romanistischen Fächerensembles längst kein belächeltes Minderheitenphänomen mehr. Die sogenannte Neue Romania ist zu einem fundamentalen Bestandteil des romanistischen Selbstverständnisses geworden. Zugleich haben sich Theorien, Methodologien und Analyseverfahren, aber auch die fundamentalen Ausrichtungen literaturwissenschaftlicher Forschungen im universitären Teilfeld grundlegend verändert. Die vorliegende Publikation bildet selbstverständlich keine Fortsetzung der allgemeinen wie der Martí

https://doi.org/10.1515/9783110788471-202

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Vorwort

gewidmeten Forschung auf dem Stand der frühen neunziger Jahre, sondern versucht, dieser veränderten Situation Rechnung zu tragen. So ist es selbstverständlich, dass der ursprüngliche Plan für einen zweiten Teil mit dem über dreißig Jahre später vorgelegten Band nur noch entfernt zu tun hat. Es geht nicht um einen Abschluss jenes Vorhabens, das der junge Romanist im Sinn hatte und das durch ein großzügiges Stipendium der Studienstiftung des Deutschen Volkes gefördert worden war. Nach der Veröffentlichung meiner Dissertation wandten sich meine Pläne einer möglichen Habilitation im Bereich der französischen Literatur zu. Stets aber war José Martí eine Gestalt, die in meinen eigenen Theoriekonzepten wenn nicht leitend, so doch höchst präsent war und mir stets dabei half, in den Blick- und Perspektivenwechseln kontinuierlich ein sich veränderndes Martí-Bild im Auge zu behalten. Der vorliegende Band versucht, diesen Ansprüchen an eine multiperspektivische Herangehensweise, die sich mit den Jahren entwickelt hat, ebenso gerecht zu werden wie der wissenschaftlichen Herausforderung, José Martí aus seinen internationalen Relationen und Bezügen heraus zu verstehen und ihn als einen der herausragenden Denker der Globalisierung zu begreifen. Ich danke Ulrike Krauss vom Verlag De Gruyter für die jahrzehntelange Unterstützung und fruchtbare Zusammenarbeit, die alle Ortswechsel und Verlagsveränderungen unbeschadet überlebt hat und die Reihe Mimesis zu dem machte, was diese Reihe heute in der nationalen und internationalen Romanistik darstellt. Ich danke meinen seligen Eltern, Ilse und Reinhard Ette, für die freudigen Unterstützungen des ersten Teiles, und meiner Frau Doris für alle Liebe und ruhige Zuversicht, die mich den zweiten Band haben schreiben lassen. Ich danke Markus Alexander Lenz für die perfekte Betreuung des vorliegenden Bandes. Diesen zweiten Teil meiner Arbeit über den hierzulande noch viel zu wenig bekannten José Martí noch abzuschließen, war ein lange sehnlich gehegter Wunsch, der nun zur Überraschung aller dreiunddreißig Jahre nach dem Vorwort zum ersten Teil Wirklichkeit geworden ist. Ottmar Ette Potsdam, 14. Dezember 2022

Inhaltsverzeichnis Vorwort

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Einleitung: José Martí und das Denken der Globalisierung

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1. Hauptstück: Von der Romantik im spanischen Amerika zu einem transatlantischen Verständnis Hispanoamerikas 19 Das Pseudonym Orestes oder die Suche nach amerikanischen Ausdrucksformen 19 Patriotischer Kampf, Erfahrung des Exils und die Grenzen der Romantik 44 Martís romantische Dichtkunst in Mexiko 54 Martí und die Aufkündigung der Romantik in der erzählenden Prosa 100 2. Hauptstück: Die Bilder der Macht: Auf dem langen Weg in eine Transformation der amerikanischen Moderne 125 Literarische Bildersprachen, photographische Bildersprachen 125 Geschlechtermodellierungen des Modernismo und ein Exkurs zu Juana Borrero 194 3. Hauptstück: Entwürfe der Modernität: Welche Moderne für Nuestra América? 269 Die Spinne im Netz von New York 269 Modernistische Visionen Amerikas im Fin de Siglo 306 Mit Cervantes’ Don Quijote gegen die Kolonialmacht Spanien 344 4. Hauptstück: Konflikte, Kriege, Konvivenz: Der schwierige Weg von Nuestra América in die Welt 365 Die kubanische Nation, die Globalisierungsverdichtung der Karibik und ein Kolonialkrieg um die Moderne 365 Zum Problem der Konvivenz in den Amerikas 402 Die USA, Nuestra América, Europa und die Welt 422

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Inhaltsverzeichnis

Ausleitung: José Martí und ein amerikanischer Humanismus Bibliographie

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Abbildungsverzeichnis Personenverzeichnis

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Einleitung: José Martí und das Denken der Globalisierung Vielleicht mag zu Beginn dieser Einleitung eine kleine persönliche Anekdote ein zusätzliches Licht auf die im vorliegenden Band angegangene thematische Konfiguration werfen. Es ist eine Anekdote aus der eigenen Schreibwerkstatt, die mir dazu geeignet erscheint. Denn die gleichzeitige Forschung an unterschiedlichen Themen hat oft nicht allein etwas zutiefst Befriedigendes, sondern auch Befruchtendes. In meinem beruflichen Leben habe ich oft die literaturund kulturwissenschaftliche Forschung gemeinsam mit der philologischen Edition von Texten betrieben, ein arbeitstechnisches Alternieren, das einen immer wieder auf den Boden der textuellen Tatsachen zurückführt. Zeitgleich und parallel zum ersten Teil dieses Buches über José Martí arbeitete ich ab Mitte der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts an einer zuverlässigen deutschsprachigen Edition von Alexander von Humboldts Relation historique, deren erste Ausgabe im selben Jahr wie die Rezeptionsgeschichte José Martís erschien und ebenfalls mit einem Wissenschaftspreis ausgezeichnet wurde.1 Gewiss «verzögerte» sich dadurch meine Doktorarbeit über José Martí, doch war diese Verdoppelung der Arbeitsbereiche letztlich für mein romanistisches Selbstverständnis und die wissenschaftliche Beschäftigung mit beiden Feldern ein Gewinn und eine tiefe innere Befriedigung. Dies war zu Beginn dieser bisweilen sperrigen, aber stets lustvollen Arbeitsteilung noch nicht abzusehen. War diese Koinzidenz meiner Arbeit am kubanischen Nationalhelden und am illustren Wissenschaftsheroen Preußens zu Beginn sicherlich zufälliger Natur, so stellten sich im Laufe der Jahre durchaus Verbindungen her, welche sich noch nicht in diesen beiden ersten Buchprojekten niederschlagen konnten, im Verlauf der sich anschließenden Jahrzehnte aber in ihren wissenschaftlichen Konsequenzen als immer fruchtbarer erweisen sollten. Doch haben Alexander von Humboldt und José Martí wirklich etwas miteinander zu tun? Und verbindet beide Denker ein Phänomen, das man in Deutschland erst im Verlauf der neunziger Jahre als Globalisierung2 zu bezeichnen begann?

 Humboldt, Alexander von: Reise in die Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents. Herausgegeben von Ottmar Ette. Mit Anmerkungen zum Text, einem Nachwort und zahlreichen zeitgenössischen Abbildungen sowie einem farbigen Bildteil. Frankfurt am Main, Leipzig: Insel Verlag 1991.  Vgl. hierzu den Zwischenbericht der Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages «Globalisierung der Weltwirtschaft – Herausforderungen und Antworten». Drucksache 14/6910 vom 13.9.2001, S. 3. https://doi.org/10.1515/9783110788471-001

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Einleitung: José Martí und das Denken der Globalisierung

Die jahrzehntelange Auseinandersetzung mit dem Werk und dem Wirken Alexander von Humboldts führte mich immer mehr zu der Ansicht, dass das weltumspannende Denken des preußischen Kultur- und Naturforschers nicht nur mit unterschiedlichen Phasen beschleunigter Globalisierung in Verbindung gebracht werden kann. Denn bei dem Verfasser des Kosmos handelt es sich ohne Zweifel um den ersten Theoretiker der Globalisierung in einem modernen Sinne,3 um einen Forscher, der in jahrzehntelanger geduldiger Arbeit die historischen, technologischen, politischen, militärischen und ökonomischen Hintergründe, Kontexte und Zusammenhänge der ersten Phase beschleunigter Globalisierung in seinem Examen critique, in seiner Kritischen Untersuchung zur historischen Entwicklung der geographischen Kenntnisse von der Neuen Welt und den Fortschritten der nautischen Astronomie im 15. und 16. Jahrhundert studiert und aufgehellt hatte.4 Alexander von Humboldt konnte José Martí nicht kennen, starb er doch in Berlin zu einem Zeitpunkt, als José Martí in La Habana gerade erst sechs Jahre alt geworden war. Doch gilt diese Unkenntnis auch weitgehend in umgekehrter Richtung. Denn José Martí kannte zwar nachweisbar den Namen Humboldts, brachte aber den Amerika-Reisenden mit dem Linguisten und Staatsmann durcheinander, wobei er mit manchen Amerika gewidmeten Gedanken des preußischen Kulturforschers nur – wie wir noch sehen werden – über die literarische Vermittlung eines venezolanischen Freundes mehr oder minder bekannt war. Seit ich mich als junger Mann erstmals mit dem Schaffen des großen kubanischen Dichters, Essayisten und Revolutionärs beschäftigte, faszinierte mich diese kleine Verwirrung im Denken dieses lange Jahre in Manhattan ansässigen und

 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Alexander von Humboldt und die Globalisierung. Das Mobile des Wissens. Frankfurt am Main, Leipzig: Insel Verlag 2009.  Vgl. Humboldt, Alexander von: Kritische Untersuchung zur historischen Entwicklung der geographischen Kenntnisse von der Neuen Welt und den Fortschritten der nautischen Astronomie im 15. und 16. Jahrhundert. Mit dem geographischen und physischen Atlas der Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents Alexander von Humboldts sowie dem Unsichtbaren Atlas der von ihm untersuchten Kartenwerke. Mit einem vollständigen Namen- und Sachregister. Nach der Übersetzung aus dem Französischen von Julius Ludwig Ideler ediert und mit einem Nachwort versehen von Ottmar Ette. Frankfurt am Main – Leipzig: Insel Verlag 2009; sowie Humboldt, Alexander von: Geographischer und physischer Atlas der Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents. — Unsichtbarer Atlas aller von Alexander von Humboldt in der Kritischen Untersuchung aufgeführten und analysierten Karten. Frankfurt am Main, Leipzig: Insel Verlag 2009. Diese Bände erschienen gemeinsam im Schuber unter dem Titel Die Entdeckung der Neuen Welt.

Einleitung: José Martí und das Denken der Globalisierung

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international wohlinformierten kubanischen Denkers und Politikers und ließ mich irgendwie nicht mehr los.5 Wie für die meisten Lateinamerikaner verband sich für Martí der Name Humboldt natürlich mit dem des weite Teile des spanischen Kolonialreichs in Amerika bereisenden Gelehrten, in dessen Schriften sich so etwas wie die Geburtsurkunde eines vom iberischen Kolonialismus unabhängigen Amerika erkennen ließ. Für José Martí war Alexander von Humboldt aber kein wirklicher Referenzpunkt für das eigene Denken und Schreiben. Zumindest zeitweise dachte er in seinem Exil in Venezuela, der Heimat Simón Bolívars, dass dieser Mann, der so viel für die Neue Welt getan hatte, kein anderer sei als jener Gelehrte und Erforscher der baskischen Sprache (die der junge Martí etwas unglücklich als ‹dialecto› bezeichnete), von dem er ebenfalls gehört und ein wenig gelesen hatte.6 Vor diesem Hintergrund betrachtet war es wohl kaum die bestenfalls marginale Beschäftigung mit Alexander von Humboldt, welche José Martí zu einem Denker der Globalisierung werden ließ. Martí hatte in seinem Denken und Schreiben andere Bezugspunkte gefunden und besaß vor allem Dingen mit New York einen herausragenden Ausguck, von dem aus die zeitgenössischen Entwicklungen weltweit wie von kaum einem anderen Ort aus sehr präzise zu überblicken waren. Doch wenn Alexander von Humboldt intensiv die erste Phase beschleunigter Globalisierung erforschte und zugleich den Ausgang der zweiten Phase beschleunigter Globalisierung (an welcher er selbst noch einen nicht unwichtigen Anteil hatte) als seinen Beobachterstandpunkt wählte, so siedelten sich Leben und Wirken des Kubaners in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und damit zum Zeitpunkt der Entstehung und ersten Hausse der dritten Beschleunigungsphase weltumspannender Globalisierung an.7 Durch sein schon früh gewecktes Interesse an internationalen Beziehungen und seine herausragenden politischen wie sozialen Beobachterqualitäten vermochte es der kubanische Essayist und Dichter, zu dem sicherlich herausragenden Theoretiker der dritten Phase beschleunigter Globalisierung zu werden. Diese intellektuelle Entwicklung soll im vorliegenden Band näher untersucht

 Vgl. hierzu auch Ette, Ottmar: Wilhelm & Alexander von Humboldt oder: Die Humboldtsche Wissenschaft. In: Spies, Paul / Tintemann, Ute / Mende, Jan (Hg.): Wilhelm und Alexander von Humboldt: Berliner Kosmos. Köln: Wienand Verlag 2020, S. 19–23.  Vgl. hierzu u. a. die Überlegungen in Martís «Sección Constante», die am 14. Januar 1882 in La Opinión Nacional erschien, in Martí, José: Obras Completas. Bd. 23: Periodismo diverso. La Habana: Editorial de Ciencias Sociales 1975, S. 152. Im Folgenden zitiere ich nach dieser Ausgabe unter dem Kürzel OC.  Zu den verschiedenen Phasen beschleunigter Globalisierung vgl. das Einleitungskapitel von Ette, Ottmar: TransArea. Eine literarische Globalisierungsgeschichte. Berlin – Boston: De Gruyter 2012.

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Einleitung: José Martí und das Denken der Globalisierung

werden, um genauer nachvollziehen zu können, wie sich ein Denken herauszubilden vermochte, das noch längst nicht die internationale Anerkennung und das Renommee genießt, wie sie dem rastlosen Exilanten José Martí gebühren. Wenn José Martí nicht auf Alexander von Humboldt und dessen Überlegungen zu verschiedenen Beschleunigungsphasen asymmetrischer internationaler Beziehungen zurückgriff, so fügte er seinem sicherlich wichtigsten und folgenreichsten Essay Nuestra América aber doch den versteckten Hinweis auf einen deutschsprachigen Schriftsteller bei, der mit Alexander von Humboldt persönlich bekannt war und sehr wohl über die Globalisierungsphase nachgedacht, ja diese Phase literarisch gestaltet hatte, an welcher er selbst auf seiner eigenen Reise um die Welt durchaus beteiligt war. Ich meine damit keinen anderen als den in Frankreich geborenen deutschen Romantiker und Naturforscher Adelbert von Chamisso, der sich in einer erstaunlich langen Reihe deutscher Weltreisender befand.8 Erstaunlich war diese lange und intellektuell wie philosophisch anspruchsvolle Tradition deshalb, weil Preußen bis zur Gründung des Deutschen Reiches im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts – und damit zu Beginn der dritten Phase beschleunigter Globalisierung – im Konzert der großen europäischen Kolonialmächte eine trotz der zeitweiligen kolonialen Ambitionen von Brandenburg-Preußen9 völlig marginale Rolle spielte. Es handelt sich um einen vermeintlich kleinen, unbedeutenden intertextuellen10 Hinweis, dem wir aber nachgehen sollten, um seine keineswegs nur symbolische Bedeutung für das Martísche Denken zu erfassen. Dieser durchaus versteckte intertextuelle Bezug wird in seiner Bedeutung für ein Denken der Globalisierung deutlich, wenn wir uns ein erstes Mal dem incipit von José Martís Essay Nuestra América annähern. Ich möchte den sicherlich berühmtesten Essay des Kubaners nach jener kritischen Ausgabe zitieren, die 1991 und damit zur Hundertjahrfeier des Erscheinens dieser Schrift in Havanna veröffentlicht wurde. «Unser Amerika» beginnt mit der folgenden berühmten Periode:

 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Welterleben / Weiterleben. Zur Vektopie bei Georg Forster, Alexander von Humboldt und Adelbert von Chamisso. In: Drews, Julian / Ette, Ottmar / Kraft, Tobias / Schneider-Kempf, Barbara / Weber, Jutta (Hg.): Forster – Humboldt – Chamisso. Weltreisende im Spannungsfeld der Kulturen. Mit 44 Abbildungen. Göttingen: V&R unipress 2017, S. 383–427.  Vgl. hierzu auch Ette, Ottmar: «… daß einem leid tut, wie er aufgehört hat, deutsch zu sein»: Alexander von Humboldt, Preußen und Amerika. In: Carreras, Sandra / Maihold, Günther (Hg.): Preußen und Lateinamerika. Im Spannungsfeld von Kommerz, Macht und Kultur. Münster: LIT Verlag 2004, S. 31–57.  Ich verwende den Begriff des Intertextuellen im Sinne von Ette, Ottmar: Intertextualität. Ein Forschungsbericht mit literatursoziologischen Anmerkungen. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte / Cahiers d’Histoire des Littératures Romanes (Heidelberg) IX, 3–4 (1985), S. 497–522.

Einleitung: José Martí und das Denken der Globalisierung

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Es glaubt der selbstgefällige Dörfler, dass die ganze Welt sein Dorf sei, und schon billigt er die Weltordnung, wenn er Bürgermeister wird, seinen Rivalen demütigt, der ihm die Braut stahl, oder wenn die Ersparnisse in seinem Sparstrumpf anwachsen; doch er weiß weder von den Riesen, die Siebenmeilenstiefel tragen, mit denen sie ihm den Stiefel aufdrücken können, noch vom Kampf der Kometen im Himmel, die durch die schläfrige Luft ziehen und Welten verschlingen. Was von solchem Dörflergeist noch in Amerika geblieben ist, muß erwachen.11 Cree el aldeano vanidoso que el mundo entero es su aldea, y con tal que él quede de alcalde, o le mortifiquen al rival que le quitó la novia, o le crezcan en la alcancía los ahorros, ya da por bueno el orden universal, sin saber de los gigantes que llevan siete leguas en las botas, y le pueden poner la bota encima, ni de la pelea de los cometas en el cielo, que van por el aire dormido[s] engullendo mundos. Lo que quede de aldea en América ha de despertar.12

In dieser kurzen Einleitung ist noch nicht der Ort, uns ausführlich mit dieser strategisch konzipierten und lyrisch verfassten Schrift des großen Kubaners intensiv auseinanderzusetzen. Doch das von Martí wohlüberlegt und metaphernreich gestaltete incipit dieses Essays schafft von der ersten Zeile an einen Bewegungsraum, der durch den scheinbaren Gegensatz und die Bewegungen zwischen Dorf und Welt dynamisch strukturiert wird. Dieses berühmte incipit bildet das Lokale und das Globale nicht nur in derselben poetischen Periode gemeinsam ab, sondern macht auch deutlich, dass das Lokale nur noch scheinbar isoliert vom Globalen besteht und dass das Weltumspannende ganz selbstverständlich bis in das entlegenste Dorf hinein in seinen Folgen spürbar ist. Denn längst ist auch ein Dorf, das sich so gerne in seinen je eigenen Befindlichkeiten autark glaubt, nicht mehr zu begreifen, ohne es auf Entwicklungen weltweiten Maßstabs zu beziehen: Das Lokale, so Martí schon Anfang 1891, muss fortan global gedacht werden. Zugleich kann das Globale im Umkehrschluss aber auch am lokalen Beispiel verstanden und begriffen werden. Der selbstgefällige Glaube des in seiner eigenen Welt eingeschlossenen «aldeano vanidoso», diese Welt mit «el orden universal» gleichsetzen und damit verwechseln zu dürfen, erweist sich folglich nicht nur als trügerisch, sondern als höchst gefährlich.13 Denn wer weiter allein in seinen lokalen Koordinaten denkt, wird von der Geschichte hinweggespült oder ganz einfach überrollt wer-

 Vgl. Martí, José: Unser Amerika. In: Rama, Angel (Hg.): Der lange Kampf Lateinamerikas. Texte und Dokumente von José Martí bis Salvador Allende. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1982, S. 56 (Übers. O.E.).  Martí, José: Nuestra América. Edición crítica. Investigación, presentación y notas Cintio Vitier. La Habana: Centro de Estudios Martíanos – Casa de las Américas 1991, S. 13.  Ebda.

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Einleitung: José Martí und das Denken der Globalisierung

den. Zur Verdeutlichung dieser Vorstellung und einer weltweit zunehmenden Beschleunigung wählt der kubanische Lyriker das poetische Bild der Siebenmeilenstiefel, dessen intertextuelle Herkunft uns nicht gleichgültig sein kann. José Martís bewusster und oft praktizierter Rückgriff auf den ungeheuer reichen Bildervorrat der europäischen Märchenwelt bezieht auch in diesem Essay die Gattungsform des Kunstmärchens mit ein. An dieser prominenten Stelle seines Essays bezieht sich Martí vor allem auf Peter Schlemihls wundersame Geschichte des Adelbert von Chamisso. Dabei transponiert der Kubaner den Riesen mit den Siebenmeilenstiefeln – in einer dem dörflerischen Realismus entgegengesetzten Bewegung – aus einer vergangenen Welt der Fiktion in eine konkrete Gegenwart, die von Beginn an als der Zeitraum einer enormen und alles mit sich fortreißenden Beschleunigung verstanden wird. Denn die Weltgeschichte14 steht zum damaligen Zeitpunkt im Begriff, gleichsam mit Siebenmeilenstiefeln die Geschwindigkeit ihrer Entwicklungen und Prozesse zu vervielfachen. Von New York und den USA aus hatte Martí die Zeichen seiner Zeit früher als viele andere erkannt. Das einer solchen Geschwindigkeit nicht angepasste und mithin noch schlafende Amerika müsse daher aufwachen, womit Martí ganz nebenbei einen der Kampfbegriffe der spanisch-amerikanischen Independencia, der Unabhängigkeitsrevolution in den spanischen Kolonien Amerikas, wieder aufnahm. Denn wer diesen Augenblick rasanter Beschleunigung verpasst, wird von der Geschichte unvermeidlich an den Rand gespült. Doch dieser Rückgriff auf die Unabhängigkeitsbewegung in den spanischen Kolonien Amerikas zu Beginn des 19. Jahrhunderts wird von der erwähnten Bezugnahme auf jene Siebenmeilenstiefel begleitet, deren Herkunft und tiefere Bedeutung wir uns in der gebotenen Kürze vergegenwärtigen sollten. Adelbert von Chamisso zählte zweifellos zu den Bewunderern Alexander von Humboldts und insbesondere seiner Schriften zur Reise in die ÄquinoktialGegenden des Neuen Kontinents, mithin seiner berühmten Reise in die amerikanischen Tropen. In seinem Brief vom 18. Februar 1810 aus Paris an seinen Freund, den Publizisten Julius Eduard Hitzig, der fünf Jahre später entscheidend am Erfolg von Chamissos Bewerbung um die Teilnahme an der russischen Weltumsegelung beteiligt sein sollte,15 berichtete der während der Französi-

 Vgl. zum Geschichtsbewusstsein José Martís Dill, Hans-Otto: Geschichtsbewußtsein und Literaturtheorie bei José Martí. In: Beiträge zur romanischen Philologie (Berlin) XVI, 1 (1977), S. 171–174; sowie ders.: El ideario literario y estético de José Martí. La Habana: Casa de las Américas 1975; sowie neuerdings auch Weinberg, Liliana: José Martí: entre el ensayo, la poesía y la crónica. Xalapa: Universidad Veracruzana 2021, S. 37–76.  Zum biographischen Hintergrund des Dichters und Naturforschers vgl. u. a. die mit einer gewissen Regelhaftigkeit veröffentlichten und das weiter wachsende Interesse an Chamisso

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schen Revolution im Alter von elf Jahren aus Frankreich geflohene große deutsche Dichter mit bewundernder Hochachtung von den zahlreichen Aktivitäten Alexander von Humboldts: «Solche Thätigkeit, Schnelligkeit und Festigkeit ist noch nie gesehen worden».16 Adelbert von Chamisso kam bei seinem Besuch der französischen Hauptstadt, in welcher Humboldt für lange Jahre sein durchaus nomadisches Domizil aufgeschlagen hatte, aus dem Staunen nicht heraus. Der bereits weltbekannte Preuße, der durch seine Reise in die amerikanischen Tropen international für Furore gesorgt hatte, sei mit der Herausgabe seines amerikanischen Reisewerks beschäftigt, sei überdies oft bei Hofe und bereite zugleich seinen «neuen nah bevorstehenden Ausflug»17 vor. Der geschäftige Gelehrte wolle zu Beobachtungen ans Kap der Guten Hoffnung segeln und von dort nach Indien und Bengalen weiterreisen, um im Anschluss daran Tibet und das Innere Asiens zu erkunden. Auf die Tatsache, dass aus diesen Humboldt’schen Reiseplänen zunächst gar nichts wurde, muss an dieser Stelle ebenso wenig eingegangen werden wie darauf, dass Alexander von Humboldt noch mit sechzig Jahren 1829 seine asiatischen Pläne in seiner Russisch-Sibirischen Forschungsreise mit einer Verspätung von zwei Jahrzehnten doch noch in die Tat umsetzen konnte. Die angeführten Zeilen Chamissos werfen in gedrängter Form und mit großer Bewunderung ein bezeichnendes Licht auf jenen Aktions- und Bewegungsdrang des Autors der Ansichten der Natur, auf jenes Denken aus der Bewegung, auf jene Vektopie, die Humboldt zu unablässigen rastlosen Ortswechseln führte. Übrigens nicht nur im weltweiten Maßstab, sondern auch in der französischen Hauptstadt selbst: Humboldt bringe «die Nächte auf dem Observatorium zu» und bewohne nicht weniger als «drei verschiedene Häuser».18 Der nicht allein in Paris offenkundige Lebensrhythmus Humboldts war dazu angetan, nicht nur die unmittelbaren Zeitgenossen zu beeindrucken. Alexander von Humboldt hielt es selten an einem einzigen Ort: Freiheit und Wissenschaft waren für ihn ohne be-

dokumentierenden Biographien aus vier Jahrzehnten von Freudel, Werner: Adelbert von Chamisso. Leben und Werk. Leipzig: Philipp Reclam jun. 1980; Fischer, Robert: Adelbert von Chamisso. Weltbürger, Naturforscher und Dichter. Vorwort von Rafik Schami. Mit zahlreichen Abbildungen. Berlin, München: Erika Klopp Verlag 1990; Arz, Maike: Literatur und Lebenskraft. Vitalistische Naturforschung und bürgerliche Literatur um 1800. Stuttgart: M&P Verlag für Wissenschaft und Forschung 1996; Langner, Beatrix: Der wilde Europäer. Adelbert von Chamisso. Berlin: Matthes & Seitz 2009.  Chamisso, Adelbert von: Brief vom 18.2.1810 an Hitzig. In: Adelbert von Chamisso’s Werke. 5., vermehrte Auflage. Bd. 5: Leben und Briefe von Adelbert von Chamisso. Herausgegeben durch Julius Eduard Hitzig. Berlin: Weidmann’sche Buchhandlung 1842, S. 276.  Ebda.  Ebda.

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Einleitung: José Martí und das Denken der Globalisierung

ständige Bewegung nicht vorstellbar. Wir werden auf diese Thematik bei José Martí im weiteren Verlauf dieser Studie noch zurückkommen, war doch auch der kubanische Kreole ein rast- und ruheloser Geist, in dessen Leben ausgedehnte Reisen einen wichtigen Platz einnahmen. Adelbert von Chamisso erblickte in Humboldt durchaus einen Lebensstil, dem er in späteren Jahren offenkundig nacheifern sollte: Humboldts Beispiel machte Schule. Nicht umsonst bat Humboldt den – wie er in einem Brief an Chamisso Anfang 1828 formulierte – «Weltumsegler»19 in seinen Briefen um detaillierte Auskünfte und berichtete in einem Schreiben wohl vom 16. Mai 1836 von seiner Freude, wie sehr «Ihre Lebensgeschichte, Ihre Reise, Ihr so sprechend edles und festes Bild dem theuren Kronprinz einen so tiefen, wohlwollenden Eindruck gemacht» habe.20 Chamissos gerade erst erschienener Reisebericht war – wohl von keinem Anderen als Humboldt selbst, der bei Hofe als Kammerherr auch in seiner Funktion als Vorleser diente – vorgelesen worden und hatte durch die «Individualität der Darstellung den Reiz eines neuen Weltdramas»21 ausgestrahlt, verstehe es der Dichter Chamisso doch auf außergewöhnliche Weise, «unbefangen, einfach und frei Prosa schreiben» zu können.22 Der illustre Kammerherr und Vorleser am preußischen Hofe war des Lobes über den Dichter und Weltumsegler voll. Humboldt schätzte die spezifisch literarischen Aspekte jenes Welterlebens außerordentlich, das sich im Bericht von Chamissos großer Weltumsegelung so kunstvoll ausdrücke. Nicht umsonst hatte Chamisso der Erzählung einer von Christen gejagten und gefolterten Guahiba-Indianerin, die er in Humboldts amerikanischem Reisebericht der Relation historique gefunden hatte, ein bemerkenswertes Gedicht gewidmet.23 Die Ausstrahlungskraft der Humboldtschen Amerikareise nicht nur auf die deutsch-, sondern auch auf die französisch- und spanischsprachige Literatur der Zeit war zweifellos gewaltig. Alexander von Humboldt fand seinerseits in Adelbert von Chamissos reiseliterarischem Schreiben wohl jene ihm wichtige Vorstellung wieder, die er in seiner auf März 1849 datierten Vorrede zur zweiten und dritten Ausgabe seiner Ansichten  Humboldt, Alexander von: Brief an Adelbert von Chamisso [wohl Anfang 1828]. Staatsbibliothek zu Berlin, Nachlaß Adelbert von Chamisso, acc. ms. 1937, 183.  Humboldt, Alexander von: Brief an Adelbert von Chamisso [vom 16.5.1836], Staatsbibliothek zu Berlin, Nachlaß Adelbert von Chamisso, acc. ms. 1937, 183.  Ebda.  Ebda.  Vgl. zu diesem Gedicht Lamping, Dieter: «Ein armer unbedachter Gast». Adelbert von Chamissos interkulturelle Lyrik. In: Chiellino, Carmine / Shchyhlevska, Natalia (Hg.): Bewegte Sprache. Vom «Gastarbeiterdeutsch» zum interkulturellen Schreiben. Dresden: Thelen 2014, insbes. S. 20–25.

Einleitung: José Martí und das Denken der Globalisierung

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der Natur als die «Verbindung eines litterarischen und eines rein scientifischen Zweckes»24 bezeichnete. Beide Männer reflektierten auf unterschiedliche Weise intensiv über die Veränderungen, welche sich in einem weltumspannenden Sinne seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts herausgebildet hatten. Adelbert von Chamisso hatte es in seinem eigenen Reisebericht nicht versäumt, an verschiedenen Stellen seine aufrichtige Bewunderung für Alexander von Humboldt zum Ausdruck zu bringen. So schrieb er in seinem ebenso kunstvoll wie komplex angelegten Bericht von jener zweiten russischen Weltumsegelung, die er von 1815 bis 1818 an Bord der russischen Brigg Rurik unter dem Kommando des Kapitäns Otto von Kotzebue mitgemacht hatte, mit großer Hochachtung für den längst zu Weltruhm gelangten Humboldt: Don Jose de Medinilla y Pineda hatte in Peru, von wo er auf diese Inseln gekommen, Alexander von Humboldt gekannt, und war stolz darauf, ihm ein Mal seinen eigenen Hut geliehen zu haben, als jener einen gesucht, um an dem Hof des Vicekönigs zu erscheinen. Wir haben später zu Manila, welche Hauptstadt der Philippinen von jeher mit der Neuen Welt in lebendigem Verkehr gestanden hat, oft den weltberühmten Namen unseres Landsmanns mit Verehrung nennen hören, und mehrere, besonders geistliche Herrn angetroffen, die ihn gesehen oder gekannt zu haben sich rühmten.25

Der erste Theoretiker der Globalisierung genoss bereits zu Lebzeiten ein globales Renommee. Doch nicht nur der Weltruhm, sondern auch das Wissen und insbesondere die für Humboldts Denk-, Schreib- und Wissenschaftsstil so charakteristische Fähigkeit des Zusammendenkens wurden in Chamissos Reise um die Welt mit der Romanzoffischen Entdeckungs Expedition in den Jahren 1815–18 auf der Brigg Rurik immer wieder hervorgehoben, gelinge es doch einem Humboldt, «die Bruchstücke örtlicher meteorologischer Beobachtungen, welche nur noch als dürftige Beiträge zu einer physischen Erdkunde vorhanden sind, zu überschauen, zu beleuchten und unter ein Gesetz zu bringen, isothermische Linien über den Globus zu ziehen versucht, eine Hypothese zur Erklärung der Phänomene der Prüfung der Naturkundigen zu unterwerfen».26 Durch das Beispiel Alexander von Humboldts war Chamisso zu einer Einsicht in weltweite Veränderungen und zu einem Blick auf die europäische Expansionsgeschichte gelangt, die ihn dazu befähigten, nach einem ersten Dafürhalten nicht miteinander zusammenhängende Phänomene zusammenzudenken und als

 Humboldt, Alexander von: Ansichten der Natur mit wissenschaftlichen Erläuterungen. Tübingen: Cotta 1808, S. 9.  Chamisso, Adelbert von: Reise um die Welt mit der Romanzoffischen Entdeckungs Expedition in den Jahren 1815–18 auf der Brigg Rurik Kapitän Otto von Kotzebues. In (ders.): Sämtliche Werke. Band II. München: Winkler Verlag 1975, S. 224.  Ebda., Bd. II, S. 472 f.

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Phänomene dessen zu verstehen, was wir heute als Globalisierung bezeichnen. Wir werden aber sogleich sehen, dass diese Einsichten in seinem literarischen Schreiben offenkundig bereits lange Jahre zuvor angelegt waren und zum Ausdruck kamen. Der Literatur eignet stets etwas zutiefst Prospektives. Die Spuren der Verehrung, aber auch der lange Schatten Alexander von Humboldts sind an vielen Stellen von Chamissos Reise um die Welt in expliziter oder impliziter Form leicht zu bemerken. Denn er griff bei seinen eigenen Untersuchungen doch etwa auch auf die Erkenntnisse der von Humboldt entworfenen Pflanzengeographie zurück27 – was der Verfasser der von Chamisso zitierten Vues des Cordillères et Monumens des Peuples indigènes de l’Amérique28 in einem Brief an Chamisso nicht ohne den für ihn so typischen Schalk im Nacken kommentierte, habe Chamisso ihm doch in seinen «allgemeinen Reisebeobachtungen so manche Pflanzengeographische entzogen».29 Die Verweise auf die vielfältigen Verbindungen zwischen Humboldt und Chamisso ließen sich leicht in einem Lichte mehren, das uns die Entstehung eines Denkens der Globalisierung in Deutschland gegen Ende des 18. Jahrhunderts und während der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts vor Augen führt. Aus dieser Denktradition heraus bezog José Martí in poetischer Verdichtung und in Rückgriff auf den großen Dichter der deutschen Romantik sein Bild von den Siebenmeilenstiefeln, mit dem er am Ausgang des langen 19. Jahrhunderts die entscheidenden Entwicklungen deutete und das er zugleich mit der Verwandlung der Siebenmeilenstiefel in (US-amerikanische) Soldatenstiefel umdeutete. Wenn Adelbert von Chamisso bereits zum Zeitpunkt seines Studienbeginns im Jahre 1812 von einer Weltreise als Naturforscher zu träumen begann,30 dann dürften die Vektopie, der Habitus und Lebensrhythmus eines Alexander von Humboldt – wie wir sahen – an diesem Vorhaben nicht ganz unbeteiligt gewesen sein. Und wenn er in seinem 1813 an seinem Rückzugsort Kunersdorf,31 auf dem

 Vgl. u. a. ebda., Bd. II, S. 308.  Vgl. hierzu die deutschsprachige Ausgabe von Humboldt, Alexander von: Ansichten der Kordilleren und Monumente der eingeborenen Völker Amerikas. Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Ediert und mit einem Nachwort versehen von Oliver Lubrich und Ottmar Ette. Frankfurt am Main: Eichborn Verlag 2004.  Humboldt, Alexander von: Brief an Adelbert von Chamisso [wohl vom 16.5. 1836]. Staatsbibliothek zu Berlin, Nachlaß Adelbert von Chamisso, acc. ms. 1937, 183.  Vgl. Federhofer, Marie-Theres: Lokales Wissen in den Reisebeschreibungen von Otto von Kotzebue und Adelbert von Chamisso. In: Kasten, Erich (Hg.): Reisen an den Rand des Russischen Reiches: Die wissenschaftliche Erschließung der nordpazifischen Küstengebiete im 18. Und 19. Jahrhundert. Fürstenberg/Havel: Kulturstiftung Sibirien 2013, S. 111–146, hier S. 120.  Vgl. hierzu ausführlich Sproll, Monika: Adelbert von Chamisso in Cunersdorf. Frankfurt (Oder): Kleist-Museum 2014.

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Musenhof derer von Itzenplitz, entstandenen Welterfolg Peter Schlemihls wundersame Geschichte seinen Helden und Naturforscher mit «Siebenmeilenstiefel[n] an den Füßen»32 ausrüstete, so haben die gewaltigen Schritte seines Schlemihl etwas mit jener «Art philosophischer Wut»33 zu tun, von der Johann Gottfried Herder 1774 sprach, als er den Beginn der europäischen Expansion der zweiten Phase beschleunigter Globalisierung zu beschreiben suchte. Es gibt in der Tat im deutschsprachigen Raum eine lange und höchst erfolgreiche Tradition philosophischer und literarischer Auseinandersetzung mit dem, was wir heute unter Globalisierung verstehen. Hierher gehören auch die aufmerksamen Beobachtungen eines anderen deutschen Weltreisenden, der von jenen «schnellen Schritten, wo der ganze Erdboden dem Europäischen Forschergeiste offenbar werden und jede Lücke in unseren Erfahrungswissenschaften» schließen werde,34 sprach –Formulierungen, die Georg Forster bereits 1791 fand und die treffend jene zweite europäische Expansion umschreiben, in deren Zusammenhang er auch erstmals ein mögliches Ende der Geschichte in einem global die Erdkugel umspannenden Welthandel erwähnte. So hatte sich in der deutschsprachigen Literatur und Philosophie eine tiefe Einsicht in das Wesen einer Globalisierung herausgebildet, welche den Hintergrund für Peter Schlemihls wundersame Geschichte darstellte. Mit ungeheurer Intensität signalisierte Chamisso in seinem Reisebericht aus dem Jahre 1836 jenes neue Welterleben, das er zwei Jahrzehnte zuvor bereits in seiner gerade auch im englischsprachigen Bereich sehr populären Fiktion prospektiv entfaltet hatte. Denn die Siebenmeilenstiefel waren dort zum Medium einer die ganze Welt umspannenden Reiseerfahrung geworden, in welcher sich die großen Distanzen an der Erdoberfläche schnell verkleinerten und einer raschen Bewegung von Kontinent zu Kontinent den Weg bereiteten. José Martí dürfte wohl in einer englischsprachigen Ausgabe von Peter Schlemihls wundersamer Geschichte auf die Metapher der Siebenmeilenstiefel gestoßen sein und sie auf die Erfahrungen seiner Zeit, auf die im Zeichen der Dampfschiffe weiter minimierten Distanzen in der Epoche einer dritten Phase beschleunigter Globalisierung übertragen haben. Nichts hätte besser seinem

 Chamisso, Adelbert von: Peter Schlemihls wundersame Reise. In (ders.): Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 60.  Herder, Johann Gottfried: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967, S. 89.  Forster, Georg: Die Nordwestküste von Amerika, und der dortige Pelzhandel. In (ders.): Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe. Bd. V: Kleine Schriften zur Völker- und Länderkunde. Herausgegeben von Horst Fiedler, Klaus-Georg Popp, Annerose Schneider und Christian Suckow. Berlin: Akademie-Verlag 1985, S. 390.

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Anspruch entsprechen können, gleich zu Beginn von Nuestra América die Beschleunigung der Zeit und der Durchdringung alles Lokalen mit der Dimension des Globalen poetischen Ausdruck zu verleihen. Und längst hatte er die Gefahr erfasst, dass gleichsam «über Nacht» aus den Dampfschiffen die New Steel Navy US-amerikanischer Panzerkreuzer und aus den Siebenmeilenstiefeln die Soldatenstiefel der Rough Riders werden konnten, welche schon wenige Jahre später im Jahre 1898 die unterlegene spanische Kriegsflotte vor Santiago de Cuba und Manila rasch versenken und die Insel Kuba binnen weniger Tage besetzen sollten. José Martís Voraussagen im Medium der Literatur sollten sich nur allzu präzise erfüllen. Adelbert von Chamisso hatte sorgfältig in seiner Fiktion den langsamen Bewusstwerdungsprozess seines Helden dargestellt, der zunächst die seinen Stiefeln innewohnende Macht und Kraft noch nicht verstand und gleichsam Schritt für Schritt erst die Bedeutung seiner Siebenmeilenstiefel zu erfassen vermag: Ich wußte nicht, wie mir geschehen war, der erstarrende Frost zwang mich, meine Schritte zu beschleunigen, ich vernahm nur das Gebrause ferner Gewässer, ein Schritt, und ich war am Eisufer eines Ozeans. Unzählbare Herden von Seehunden stürzten sich vor mir rauschend in die Fluten. Ich folgte diesem Ufer, ich sah wieder nackte Felsen, Land, Birken- und Tannenwälder, ich lief noch ein paar Minuten gerade vor mir hin. Es war erstickend heiß, ich sah mich um, ich stand zwischen schön gebauten Reisfeldern unter Maulbeerbäumen.35

Chamissos Ich-Figur erfährt in Peter Schlemihls wundersamer Geschichte auf diese Weise staunend, wie mühelos und rasch sie sich mit ihren Stiefeln über die Erdoberfläche zu bewegen vermag. Die Erde ist unter ihren – wie Georg Forster gesagt hätte – «schnellen Schritten» plötzlich ganz klein geworden, alle Distanzen scheinen mit einem Mal geschrumpft: Es sind nur wenige Schritte von den Polkappen bis zu den Tropen. Chamisso setzt derartige Vorstellungen narrativ um und verwandelt sie in Elemente seiner kunstvollen Erzählung. Der große deutsche Dichter der Romantik verleiht in seinem Kunstmärchen jenem Gefühl der ungeheuren Beschleunigung und jener Schrumpfung der Distanzen Ausdruck, welche das Lebensgefühl zumindest der Europäer am Ausgang der zweiten Phase beschleunigter Globalisierung prägten. Folglich ist es ganz gewiss kein Zufall, dass am Ausgang des 19. Jahrhunderts der kubanische Dichter und Essayist Martí in seinem Epoche machenden und Epoche verkörpernden Essay Nuestra América auf die zentrale Metapher von Chamissos Siebenmeilenstiefeln zurückgriff.36 Denn wenn José Martí im Jahre 1891,  Chamisso, Adelbert von: Peter Schlemihls wundersame Geschichte, S. 60.  Vgl. hierzu auch Ette, Ottmar: José Martís Nuestra América oder Wege zu einem amerikanischen Humanismus. In: Röseberg, Dorothee (Hg.): El arte de crear memoria. Festschrift zum 80. Geburtstag von Hans-Otto Dill. Berlin: trafo Wissenschaftsverlag 2015, S. 75–98.

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mitten in der dritten Phase beschleunigter Globalisierung, Chamissos Siebenmeilenstiefel wieder auspackte, so wollte er sie mit Blick auf die expandierenden USA auf jenen Riesen, die Vereinigten Staaten von Amerika, übertragen, der dem südlichen Amerika bald schon seine Stiefel auf die Brust setzen und seine hegemoniale Machtstellung auf den ganzen Kontinent ausweiten sollte. Denn die in der obigen Passage sichtbare Geschwindigkeit, mit welcher der planetarische Raum durchquert werden kann, entstammt jenem Erleben einer weltweiten Beschleunigung, welche die Erde in der zweiten Phase beschleunigter Globalisierung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfasst und verändert hatte und die nun – dies sah José Martí so klar wie kein anderer vor ihm – in eine neue epochale Phase eingetreten war. José Martí brauchte folglich nicht direkt auf Alexander von Humboldt zurückzugreifen, um an ein Denken der Globalisierung anzuschließen, wie es sich unter besonderen Vorzeichen in Deutschland herausgebildet hatte. Sein zumeist übersehener, da lyrisch verdichteter Rückgriff auf Chamissos Siebenmeilenstiefel zeigt uns bereits in den ersten Zeilen von Nuestra América deutlich an, dass Martí nicht nur die Phänomene einer beschleunigten Globalisierung zutreffend erkannt hatte. Mit der Umdeutung der komplexen Metapher der Siebenmeilenstiefel machte er zugleich von Beginn an klar, dass er in diesem Essay sein eigenes Denken der Globalisierung entfalten und überdies erläutern wollte, was zu tun war, um den Herausforderungen am Ausgang des 19. Jahrhunderts aus lateinamerikanischer Sicht erfolgreich entgegentreten zu können. Die Grundstruktur unseres Bandes wird sich folglich dieser von Anfang an präsenten Leitlinie von Martís großem Essay bedienen, um die verschiedensten Aspekte seines Gesamtwerks und damit seiner Vorbereitung auf diesen poetischen Höhepunkt ästhetischen Stilwillens in der Prosa erschließen und in unsere Untersuchung einbinden zu können. José Martís Denken der Globalisierung ist eines, das mitnichten ex nihilo entstand, auch wenn der Kubaner nur selten die Bezugspunkte seiner Vorstellungen explizit benannte. Der kubanische Lyriker griff vielmehr zumeist implizit, aber sehr bewusst auf eine Reihe von Vordenkern zurück, wobei die soeben aufgezeigte deutsche Traditionslinie zweifellos eine unter vielen anderen war. Ich möchte dies an verschiedensten Stellen der nachfolgenden Analyse erläutern. Wie José Martí war Adelbert von Chamisso ein Migrant und Exilant, der an dem Ort, an dem er lebte, sich niemals gänzlich zuhause fühlte, aber in seiner französischen Heimat ein Fremder blieb. Dies mag manche Parallelen zwischen beiden Dichtern erklären, war sich Martí doch schmerzlich seiner Exilsituation bewusst, aber nicht in der Lage und bereit, auf seiner Heimatinsel Kuba unter spanischer Herrschaft in Knechtschaft zu leben. Der große Dichter der deutschen Romantik wie der große Dichter des hispanoamerikanischen Modernismo

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verarbeiteten in ihrem Schreiben diese Situation einer existenziellen Außerhalbbefindlichkeit, die sich in vielen ihrer Schriften und Gedichte findet und nachweisen lässt. Vergessen wir darüber nicht, dass Peter Schlemihls wundersame Geschichte prospektiv eine Vielzahl von Elementen aus Chamissos späterem Leben entwarf. Folgte die Serie russischer Weltumsegelungen auch noch dem Modell jener Entdeckungsreisen eines Cook oder Bougainville, mit deren Hilfe die Führungsmächte der zweiten Globalisierungsphase Anspruch auf eine globale Führungsrolle wie auf weite zu kolonisierende Landgebiete erhoben hatten, so lassen sie sich trotz ihrer Verspätung von mehreren Jahrzehnten doch noch immer jener hier phasenverschobenen Beschleunigung zurechnen, zu deren Protagonisten sich nun auch der in Frankreich geborene Immigrant aus Preußen, der auf einem russischen Kriegsschiff unter deutsch-baltischer Führung die Welt nicht zuletzt zum Nutzen der Russisch-Amerikanischen Handelskompanie umschiffte, zählen durfte. Zwischen dem Franzosen in Preußen und dem Kubaner in New York lagen gewiss Welten. Doch zugleich war ihr Leben, war ihr Schreiben von ähnlichen existenziellen Erfahrungen und einem Erleben von Wirklichkeit geprägt, das sehr wohl zueinander in Beziehung gesetzt werden kann. Russland hatte sich auf den langen Weg zur Weltmacht begeben; und der müde gewordene und seinem Tod schon nahe Chamisso veröffentlichte seine Reise um die Welt als einen Bericht, der diesen Weg zur Weltmacht reflektierte, aber zugleich eine Schlemihl’sche Reise um den Planeten wie um sein eigenes Leben war. Chamisso lebte aus dieser Perspektive das, was er zuvor geschrieben hatte. Wie könnte man dies nicht auch von dem kubanischen Dichter der Versos sencillos behaupten? Ja gilt dies nicht sogar über seinen Tod hinaus, wie wir in unserer Rezeptionsgeschichte des ersten Teiles feststellen konnten und wie es Martí selbst auch in den folgenden Versen behauptete? Denn er werde noch unter dem Grase wachsen: «Mi verso crecerá: bajo la yerba / Yo también creceré».37 Wie seine Verse also werde er noch nach seinem Tode größer werden. Zuvor aber sollte Martí, wie noch zu zeigen sein wird, ausgehend von frühen romantischen Versatzstücken seine eigene Sprache entwickeln, um seiner tragischen Exilsituation bewegenden literarischen Ausdruck zu verleihen. José Martí verfügte über keine Nation, der sich der in La Habana geborene kubanische Kreole zugehörig fühlen konnte. In ihm reifte aber über die Jahre der

 Martí, José: Antes de trabajar. In (ders.): Poesía completa. Edición crítica. Edición Centro de Estudios Martíanos. Bd. 1. La Habana: Ed. Letras Cubanas 1985, S. 126. Im folgenden zitiere ich aus dieser Ausgabe unter der Sigle OCEC.

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immer konkreter werdende Plan, seine Heimat vom spanischen Kolonialjoch zu befreien und als eigenständige Nation vor jeglicher Fremdherrschaft – insbesondere durch das Imperium des Nordens, durch die USA, wo er selbst freilich lebte – zu bewahren. In dieser Zerrissenheit an Zugehörigkeiten entfaltet sich sein gesamtes Schreiben. Er lebte also in den Eingeweiden des Ungeheuers, en las entrañas del mónstruo, wie er in seinem letzten Brief an Manuel Mercado schrieb. Wie ein roter Faden durchzieht das Oszillieren zwischen Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit zu einer Nation auch Adelbert von Chamissos Bericht von einer Weltumsegelung, die sich just zu Beginn des 19. Jahrhunderts und damit des Jahrhunderts der großen Nationalismen situiert. Adelbert von Chamisso hatte schon auf den ersten Seiten seines mit Biographemen gespickten Reiseberichts darauf hingewiesen, dass er im Jahre 1813 als gebürtiger Franzose und ehemaliger preußischer Offizier keinen «tätigen Anteil nehmen durfte»38 an der großen nationalen Erhebung gegen die Hegemonie Napoleons über Europa: «ich hatte ja kein Vaterland mehr, oder noch kein Vaterland»,39 all diese Ereignisse «zerrissen mich wiederholt vielfältig».40 Wem fiele da nicht jenes eindrucksvolle Gedicht José Martís aus den Versos libres ein, in dem wir unter dem Titel Dos patrias lesen: «Dos patrias tengo yo: Cuba y la noche. / ¿O son una las dos?»41 «Zwei Vaterländer hab’ ich: Kuba und die Nacht. / Oder sind eins die beiden?»42 Die biographisch wie historisch gewiss gänzlich anders bedingten Parallelen zur existenziellen Situation José Martís, der sein Domizil in der Hegemonialmacht der Vereinigten Staaten des Nordens, wie er sie nannte, aufgeschlagen hatte, sind bei Adelbert von Chamisso evident. Chamisso betonte, er habe sich nach Kunersdorf und in die Niederschrift seines Peter Schlemihl geflüchtet, um sich selbst «zu zerstreuen und die Kinder eines Freundes zu ergötzen».43 Doch es war vor allem eine Flucht aus einer ausweglos scheinenden existenziellen Notsituation des deutschen Franzosen. Auch bei diesem Rückzug gilt: Wie sollte man bei derartigen Aussagen nicht an den zeitweiligen Rückzug José Martís in die Catskill Mountains den Chamisso, Adelbert von: Reise um die Welt, Bd. II, S. 11.  Ebda.  Ebda.  Martí, José: Poesía Completa. Edición crítica. La Habana: Editorial Letras Cubanas 1985, S. 127. Vgl. zur Martí’schen Lyrik vom Sterben und vom Tod den sechsten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Geburt Leben Sterben Tod. Potsdamer Vorlesungen über das Lebenswissen in den romanischen Literaturen der Welt. Berlin – Boston: De Gruyter 2022.  Martí, José: Zwei Vaterländer (Übers. v. Ottmar Ette). In: Köhler, Hartmut (ed.): Poesie der Welt. Lateinamerika. Berlin: Propyläen Verlag 1986, S. 51.  Ebda.

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ken? Waren die Siebenmeilenstiefel nicht die bestmögliche literarische Umsetzung einer Vektopie, die sich kurze Zeit später mit Chamissos Reise um die Welt lebbar verwirklichen sollte? Und zeugen die poetisch verdichteten Kriegstagebücher José Martís nicht auch vom verzweifelten Versuch des Kubaners, in einem fundamentalen Sinne in dieser Welt Heimat zu finden und im besten Sinne heimisch zu werden? José Martí hätte den Dichter von Peter Schlemihls wundersamer Geschichte zweifellos sehr gut verstanden, wenn er jene auf Französisch niedergeschriebenen Wendungen gekannt hätte, die ein damals verzweifelter Chamisso, im Umkreis von Germaine de Staël lebend, niedergeschrieben hatte, glaubte er doch, nirgendwo seine Heimat finden zu können:44 Ma patrie. Je suis français en Allemagne, et allemand en France, catholique chez les protestants, protestant chez les catholiques, philosophe chez les gens religieux et cagot chez les gens sans préjugés; homme du monde chez les savants, et pédant dans le monde, jacobin chez les aristocrates, et chez les démocrates un noble, un homme de l’Ancien Régime, etc. Je ne suis nulle part de mise, je suis partout étranger – je voudrais trop étreindre, tout m’échappe. Je suis malheureux – – – Puisque ce soir la place n’est pas encore prise, permettez-moi d’aller me jeter la tête première dans la rivière … 45 Mein Vaterland. Ich bin Franzose in Deutschland und Deutscher in Frankreich, Katholik bei den Protestanten und Protestant bei den Katholiken, Philosoph bei den Gottgläubigen und Bigott bei den Leuten ohne Vorurteile; weltgewandt bei den Gelehrten und pedantischer Kleinkrämer in der Welt, Jakobiner bei den Aristokraten und bei den Demokraten ein Edelmann, ein Mann des Ancien Régime usw. Nirgendwo bin ich am rechten Platz, überall bin ich ein Fremder – ich wollte zu viel umarmen und alles entgleitet mir. Ich bin unglücklich – – – Da diesen Abend der Platz noch nicht vergeben ist, so erlauben Sie mir bitte, mich kopfüber in den Fluss zu stürzen.

Bei diesem Gedanken an Selbstmord werden Gedanken an einen möglichen Selbstmord wach, der am Ende des Lebens von José Martí stand. Doch zu dieser Frage später. Vielleicht war es gerade die in diesen dramatischen Wendungen geschilderte Außerhalbbefindlichkeit, die es Adelbert von Chamisso wie José Martí erlaubte, die Veränderungen der Welt und die Dynamik weltumspannender Prozesse mit präziseren Augen zu betrachten, als dies die allermeisten ihrer Zeitgenossen vermochten.

 Vgl. hierzu Fischer, Robert: Adelbert von Chamisso. Weltbürger, Naturforscher und Dichter. Vorwort von Rafik Schami. Mit zahlreichen Abbildungen. Berlin – München: Erika Klopp Verlag 1990, S. 98.  Chamisso, Adelbert von: Leben und Briefe. Herausgegeben von Julius Eduard Hitzig. Leipzig: Weidmann’sche Buchhandlung 1942, S. 271.

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Besaß Adelbert von Chamisso in Alexander von Humboldt, der wie er selbst stets zwischen Preußen und Frankreich pendelte, auch einen wissenschaftlich noch qualifizierteren und genaueren Beobachter dessen, was sich als verschiedene Phasen beschleunigter Globalisierung herauszuschälen begann, so musste José Martí doch nicht unmittelbar auf den Verfasser des Kosmos zurückgreifen, um sich einer Denktradition der Globalisierung anschließen zu können, welche sich insbesondere im deutschsprachigen Raum entwickelt hatte. Denn José Martí fand unzweifelhaft seinen eigenen Weg zu jenem weltumspannenden Verständnis, das ihn aus heutiger Perspektive und nach heutigem Kenntnisstand zum herausragenden Denker der dritten Phase beschleunigter Globalisierung machte. In den nachfolgenden Kapiteln wird es darum gehen, wesentliche Stationen dieses Weges nachzuzeichnen und darzustellen, warum die Literatur als Laboratorium eines zunächst individuellen, durch die intertextuellen Vernetzungen der Literaturen der Welt46 aber zugleich kollektiven Lebenswissens47 es dem Kubaner erlaubte, eine umfassende Vorstellung von den maßgeblichen politischen, ökonomischen, militärischen und kulturellen Entwicklungen seiner Zeit zu entfalten. Und warum er auf diese ebenso indirekte wie komplexe Weise dann doch noch zu einem Gesprächspartner Alexander von Humboldts wurde, der auf den ersten Blick eher zufällig zum gleichzeitigen Forschungsgegenstand eines jungen Romanisten geworden war.

 Vgl. zum Begriff der Literaturen der Welt Ette, Ottmar: WeltFraktale. Wege durch die Literaturen der Welt. Stuttgart: J.B. Metzler Verlag 2017.  Vgl. zum Begriff des Lebenswissens die Trilogie von Ette, Ottmar: ÜberLebensWissen I–III. Drei Bände im Schuber. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2004–2010.

1. Hauptstück: Von der Romantik im spanischen Amerika zu einem transatlantischen Verständnis Hispanoamerikas Das Pseudonym Orestes oder die Suche nach amerikanischen Ausdrucksformen Vielleicht verläuft der beste Weg, uns dem Denken und Schreiben des herausragenden kubanischen Dichters des 19. Jahrhunderts anzunähern, über Einschätzungen, Bilder und Vorstellungen, welche der herausragende kubanische Dichter des 20. Jahrhunderts entfaltete. Denn José Lezama Lima, der führende Kopf der kubanischen Orígenes-Gruppe, entwickelte – wie wir im ersten Teil der vorliegenden Arbeit bei unserer Beschäftigung mit der Rezeptionsgeschichte Martís sahen – eine sehr eigene Sichtweise José Martís, welche diesen in die Traditionen des spanisch-amerikanischen Unabhängigkeitskampfes integrierte und quer durch eine Romantik, welche sich zwischen zwei Welten ansiedelte,48 schließlich zu jenem Modernismo führte, der die Grundlage und Voraussetzung wiederum jener Lyrik bildete, die José Lezama Lima selbst als Dichter schuf. Überdies soll uns Lezama Lima dabei behilflich sein, eine Sichtweise Martís jenseits der eingefahrenen ideologischen Vereinnahmungen und der traditionellen Indienstnahmen José Martís zu finden, wie wir sie im ersten Teil dieser Studie zur Genüge kennengelernt haben. Am Ende seines dritten von insgesamt fünf Vorträgen, die er zwischen dem 16. und dem 26. Januar 1957 im Centro de Altos Estudios im Instituto Nacional de Cultura von Havanna hielt, versuchte der kubanische Dichter, Romancier und Essayist, die Figur José Martís ins Licht einer Tradition der Abwesenheit zu stellen, einer Abwesenheit, wie sie charakteristisch für die existenzielle Erfahrung war, die Leben und Schreiben José Martís bewegte. Dabei beendete Lezama Lima seinen überaus einsichtsreichen Durchgang durch das hemisphärische 19. Jahrhundert ganz bewusst mit der Figur José Martís, war die Lyrik und die Vorstellungswelt des jungen Martí doch noch fest mit der Gedanken- und Bilderwelt dieser transatlantischen Romantik verwoben, welche das Schaffen des Schöpfers der Versos libres noch bis in die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts

 Vgl. hierzu den Band von Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten. Potsdamer Vorlesungen zu den Hauptwerken der romanischen Literaturen des 19. Jahrhunderts. Berlin – Boston: De Gruyter 2021. https://doi.org/10.1515/9783110788471-002

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1. Hauptstück: Von der Romantik im spanischen Amerika

prägte. José Lezama Lima hatte verstanden, dass man José Martí nicht ohne die Basis einer transatlantischen Romantik denken konnte: Aber diese große romantische Tradition des 19. Jahrhunderts, die des Kerkers, der Abwesenheit, des Bildes und des Todes, erreicht es, das amerikanische Faktum zu schaffen, dessen Schicksal mehr aus möglichen Abwesenheiten als aus unmöglichen Anwesenheiten gemacht ist. Die Tradition der möglichen Abwesenheiten ist die große amerikanische Tradition gewesen, wo sich das historische Faktum ansiedelt, das erreicht worden ist. José Martí repräsentiert in einer großen verbalen Weihnacht die Fülle der möglichen Abwesenheit. In ihm kulminieren der Kerker von Fray Servando, die Frustration von Simón Rodríguez, der Tod von Francisco Miranda, aber auch der Blitz der sieben Intuitionen der chinesischen Kultur, die ihm durch die Metapher der Erkenntnis erlaubt, jenen Wirbel zu berühren und zu schaffen, der ihn selbst zerstört; das Mysterium, das die Flucht der großen Verlierer und das Oszillieren zwischen zwei großen Schicksalen nicht fixiert, welches er dadurch löst, dass er sich mit dem Haus vereinigt, das in Brand geraten wird. Seinen Tod müssen wir innerhalb des inkaischen Pachacán, des unsichtbaren Gottes, verorten. Pero esa gran tradición romántica del siglo XIX, la del calabozo, la ausencia, la imagen y la muerte, logra crear el hecho americano, cuyo destino está más hecho de ausencias posibles que de presencias imposibles. La tradición de las ausencias posibles ha sido la gran tradición americana y donde se sitúa el hecho histórico que se ha logrado. José Martí representa, en una gran navidad verbal, la plenitud de la ausencia posible. En él culmina el calabozo de Fray Servando, la frustración de Simón Rodríguez, la muerte de Francisco Miranda pero también el relámpago de las siete intuiciones de la cultura china, que le permite tocar, por la metáfora del conocimiento, y crear el remolino que lo destruye; el misterio que no fija la huida de los grandes perdedores y la oscilación entre dos grandes destinos, que él resuelve al unirse a la casa que va a ser incendiada. Su muerte tenemos que situarla dentro del Pachacámac incaico, del dios invisible.49

Es sind auf den ersten Blick rätselhafte, ja geradezu mystisch anmutende Formulierungen, welche der Dichter von Oppiano Licario mit Blick auf José Martí erfindet, in dem nach seinem Dafürhalten alle großen Traditionen des vergangenen Jahrhunderts kulminieren. José Lezama Lima, die sicherlich beherrschende Figur der kubanischen Literatur des 20. Jahrhunderts, rückte in diesen durchaus enigmatischen Überlegungen, die er wenige Tage vor dem einhundertundvierten Geburtstag José Martís unter dem Titel El romanticismo y el hecho americano entfaltete und als zentralen Essay in La expresión americana veröffentlichte, den Dichter der Versos sencillos und Gründer des Partido Revolucionario Cubano dabei nicht nur in eine «amerikanische» Tradition ein. Lezamas Verständnis des «Amerikanischen» war wesentlich weiter gefasst und bezog auch die asiatischen Traditionen und Bezüge in ihre weltumspannende Konzeption mit ein.

 Lezama Lima, José: La expresión americana. Madrid: Alianza Editorial 1969, S. 115 f.

Das Pseudonym Orestes oder die Suche nach amerikanischen Ausdrucksformen

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In dieser auf den ersten Blick etwas esoterisch anmutenden Passage zeichnet sich deshalb ab, dass sich – zumindest aus der Perspektivik Lezama Limas – das Amerikanische in José Martí nicht allein aus der hispanoamerikanischen Tradition des 19. Jahrhunderts speist, sondern sich auch in grundlegender Weise mit den amerikanischen Kulturen präkolumbischer Herkunft verknüpft. Und auf diese Weise mit jenem kulturellen Pol, der bis zum damaligen, aber auch bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt sträflich vernachlässigt worden ist. Wir werden bei unserer Analyse später noch erkennen, in welchem Maße Martí indigene Traditionen und Mythen in seine Konzeption von Nuestra América einzuweben wusste. Jenseits der drei großen Repräsentanten des Unabhängigkeitskampfes Spanisch-Amerikas und jenseits der in dieser Passage ebenfalls aufgerufenen inkaischen Traditionen schreibt der Gründer und Kopf der Zeitschrift Orígenes folglich dem Gründer der Revolutionären Partei Cubas José Martí in eine weltweite, im wahrsten Sinne universale Dimension ein, die etwa mit der Einblendung der chinesischen Kultur für die entworfene Fülle der möglichen Abwesenheit einstehen kann. Amerika erscheint somit als Hort einer neuen Universalität. Was aber ist unter dieser für Lezama Limas Schreiben so charakteristischen Formulierung zu verstehen? Und was macht diese große amerikanische Tradition der ausencias posibles mit Blick auf Martí, die zweifellos beherrschende Figur der kubanischen Literatur wie der kubanischen Geschichte des 19. Jahrhunderts, aus? Es ist nicht nur rezeptionsgeschichtlich höchst bedeutungsvoll, dass Lezama Lima in der Schlusspassage seines Vortrages die Tagebücher, die Diarios der letzten Wochen und Tage des autor intelectual des Krieges von 1895 gegen die spanische Kolonialmacht in den Mittelpunkt seiner Argumentation und seiner ganz persönlichen Suche nach José Martí rückt. Gerade die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts sind – wie wir ausführlich in unserer Rezeptionsgeschichte erläutert haben – Jahre verbissener politischer Kämpfe um den Anspruch auf das ideologische Erbe José Martís in Kuba. Ausnahmslos alle politischen Parteien und Bewegungen beriefen sich auf die Figur, auf die Ikone des längst sakralisierten «Apostels» der kubanischen Nation. Der Verweis auf die Poetizität der Martí’schen Tagebücher eröffnet in diesem Zusammenhang eine ganz andere Sichtweise, die Martís Denken und Schreiben vor keinen ideologischen Karren zu spannen versucht. Es ist vielmehr die Suche nach einer Weihnacht, nach der Geburt von etwas absolut Neuem und noch nie Dagewesenem. Von etwas noch nie Dagewesenem, das freilich durch seine Abwesenheit, durch seine ausencia glänzt. Vor den Türen seines Vortragssaales tobte indessen der Kampf um José Martí in Havanna und auf Kuba weiter. Während sich die Kämpfer gegen die Batista-Diktatur im Zeichen des Centenario von 1953 auf Martí als den geistigen Urheber ihres revolutionären Denkens und Handelns berufen und den großen

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1. Hauptstück: Von der Romantik im spanischen Amerika

kubanischen Intellektuellen schon bald in die Ikone einer Revolution verwandeln, die Martí in den nachfolgenden Jahrzehnten in unterschiedlicher Weise für die wechselnden Zwecke und Ziele einer kubanischen Machtpolitik funktionalisiert, greift Lezama auf jene Ausdrucksformen des Martí’schen Schreibens zurück, in denen sich der Wirbel, der Hurrikan bildet, der geschaffen sei, um alles mit sich fortzureißen. Martí selbst habe jene Kräfte und Naturgewalten herbeigerufen und geschaffen, die ihn von den Fesseln dieser Welt befreien und erlösen sollten. War nicht diese Befreiung, diese Erlösung selbst der Akt einer ganz bewussten Abwesenheit, die noch immer in den Traditionen der Romantik und des Romantischen stand? Lezama Lima verweist mit Bedacht auf die schöpferische Kraft dieses remolino, auf die entscheidende Bedeutung des poetischen Wissens, des «conocimiento poético»,50 auf die Relevanz der «poesía como preludio del asedio a la ciudad»,51 dem sich der Dichter von Enemigo rumor zweifellos aufs Engste verbunden wusste. Wir werden in der Dichtkunst Martís ebenfalls auf dieses poetische Wissen, auf das Wissen des Poetischen stoßen und verstehen, dass Lezama Lima hier ebenso die Lyrik Martís wie seine eigene Dichtkunst meint. Aber inwieweit war im Sinne des Autors von Paradiso die Dichtkunst wirklich das Präludium für die «Belagerung der Stadt» unter der Batista-Diktatur? So scheint am Ende des Zentralstücks von La expresión americana die Fülle des Martí’schen Schreibens und damit die Fülle des Amerikanischen just in jenem komplex verwobenen Augenblick auf, in dem José Martí als Kämpfer gegen den spanischen Kolonialismus 1895 seine jahrzehntelange Abwesenheit von Kuba beendet und zugleich sein Ende – und das Ende seines Schreibens – im kubanischen Oriente, in Dos Ríos, findet. Denn José Martí verschwand in jenem Wirbel, den er selbst geschaffen hatte, verschwand in den ersten Wochen jenes Krieges gegen Spanien, den er selbst entfacht hatte, bei einem Gefecht, bei welchem er so stürmisch vorging, dass manche auch von Selbstmord sprechen konnten. Hatte er nicht selbst von seiner eigenen Rezeptionsgeschichte gesprochen, die an Gewicht und Bedeutung nach seinem Tode zunehmen würde? Konnte sein Tod im Gefecht nicht ungeheuer zur Schaffung eines Martí-Bildes beitragen, das die Bedeutung des kleingewachsenen Kubaners ins Nationalheroische steigern musste? Denn es steht fest: Durch seinen gewaltsamen Tod, wer auch immer dafür die Verantwortung tragen mag, verwandelte sich José Martí end-

 Lezama Lima, José: La expresión americana, S. 116.  Ebda.

Das Pseudonym Orestes oder die Suche nach amerikanischen Ausdrucksformen

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gültig in die Ikone eines Unabhängigkeitskampfes, in welchem sich Kuba noch heute als Nation verwickelt sieht. José Lezama Lima greift mitten in den blutigen Kämpfen zwischen einer sich noch immer auf Martí berufenden Diktatur Fulgencio Batistas und den sehr unterschiedlich ausgerichteten revolutionären Kräften gerade diese sich gleichsam in der sinnlichen Erfahrung Kubas verwurzelnden letzten Seiten der Diarios heraus, um aus dieser letzten kubanischen Erfahrung Martís unmittelbar vor seinem Tod (oder Selbstmord) die Fülle einer Abwesenheit zu konstruieren – einer Abwesenheit freilich, die sich aus einer langen historischen Tradition speist: Die Schlussworte seiner beiden Tagebücher erinnern uns an die Vorkehrungen, welche für den Aufenthalt in den unterirdischen Gefilden im Totenbuch zu treffen sind. Er verlangt nach Büchern, er verlangt nach Krügen mit Feigenblättern. Er offeriert Lebensmittel «mit einem Stein als Pylon für die gerade Angekommenen». Das Tal scheint seine Kehlungen für den soeben Angekommenen zu schmücken, der zu erkennen und zu benennen beginnt, sich im Irrealen gemäß der Orphischen Kulte durch die Gravität des Brotes, das Gleichgewicht zwischen der Schüssel Milch und dem Gebell des Hundes orientiert. Seine Tagebücher sind die taktile Entdeckung des an Land Gegangenen, des Gerade-Angekommenen, des Tagträumers, des Ahnenden. Er wohnt zwei großen Augenblicken des amerikanischen Ausdruckes bei. Jenem, der eine Tatsache durch die Spiegelung des Bildes schafft. Und jenem anderen, dem es im mexikanischen Lied, in der ausladenden Gitarre des Martín Fierro, des theologischen Walfisches und des Whitman’schen Körpers gelingt, jenes Retabel für den Stern zu verfertigen, welcher den Akt des Gebärens verkündet. Las palabras finales de sus dos Diarios, nos recuerdan las precauciones, que se han de tomar por las moradas subterráneas según el Libro de los muertos. Pide libros, pide jarros con hojas de higo. Ofrece alimentos «con una piedra en el pilón para los recién venidos». El valle parece exornar sus gargantas para el recién venido, el cual comienza a reconocer y a nombrar, a orientarse en lo irreal, según los cultos órficos, por la gravedad del pan, el equilibrio de la escudilla de la leche y los ladridos del perro. Sus Diarios son el descubrimiento táctil del desembarcado, del recién venido, del duermevela, del entrevistó. Preside dos grandes momentos de la expresión americana. Aquel que crea un hecho por el espejo de la imagen. Y aquel que en la jácara mexicana, la anchurosa guitarra de Martín Fierro, la ballena teológica y el cuerpo whitmaniano, logra el retablo para la estrella que anuncia el acto naciente.52

Wir sind nun ganz am Ende von José Lezama Limas zentralem Essay in La expresión americana angelangt, an einem Punkt, in welchem der amerikanische Ausdruck in José Martí seine höchste Verwirklichung findet. In diesen Formulierungen eines poetischen Wissens, einer poetischen Erkenntnis, bleibt kein Raum für kurzfristige politische Funktionalisierungen Martís. Selten wohl ist

 Ebda., S. 116 f.

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auf so wenigen Zeilen, in einem «tejido tenso de alusiones y vínculos»,53 einem dichten Gewebe an Anspielungen und Verbindungen, eine solche Fülle unterschiedlichster kultureller Filiationen und Traditionen miteinander verknüpft worden wie auf dieser abschließenden Seite von El romanticismo y el hecho americano. In den sorgsam ausgewählten Zitaten und Motiven der Diarios José Martís erscheinen im kubanischen Oriente nicht nur die spanische Literatur des Siglo de Oro oder die amerikanische Populärkultur des Martín Fierro am Río de la Plata; nicht nur die kubanische Lyrik der Romantik oder die Körperlichkeit der angloamerikanischen Dichtkunst eines Walt Whitman; sondern vor allem die Präsenz des ägyptischen Totenbuches und der Orphischen Kulte, die in ihrer Pendelbewegung, ihrer oscilación zwischen dem Reich der Toten und dem Reich der Lebenden vermitteln und im Tod der Lebenden das Leben der Toten – und damit die Allgegenwart der Abwesenheit – in der Form des poetischen Wissens, des «conocimiento poético»,54 projizieren. José Martí wird in diesen Formulierungen und Formeln des großen kubanischen Dichters zu einer menschlichen und zugleich übermenschlichen Figur des Amerikanischen stilisiert, in deren Gesten und Bewegungen sich gleichsam transhistorisch die Wege der Kulturen der Welt kreuzen. Und zwar aller Kulturen der Welt, von den altchinesischen und altägyptischen bis hin zu den neuesten Schöpfungen angloamerikanischer Lyrik: Denn all dies ist Amerika, ist die expresión americana. Und José Martí ist ihre genuine Trägerfigur. Stellvertretend für diesen Ausdruck Amerikas steht für Lezama also symbolhaft und gleichsam als Figura kein anderer als José Martí. Er ist für Lezama die Inkarnation Amerikas. Der Wirbel dieses von José Lezama Lima in Bewegung gesetzten poetischen Wissens verwandelt die Figura José Martís in ihrem Oszillieren, in ihrem orphisch-kreativen Pendeln zwischen dem Reich der Lebenden und dem Reich der Toten, zwischen der Vorbereitung auf den Tod und der Transfiguration ins Leben in einen (sehr kubanischen) Kulminationspunkt des Amerikanischen. Amerikanisch aber ist das Schaffen Martís gerade nicht durch seine Beschränkung auf das Kubanische und damit (Proto-) Nationale der patria chica, auf das Hispanoamerikanische und damit Supranationale der patria grande oder auf das Kontinentale und damit Hemisphärische einer topographisch-geographischen

 Ugalde Quintana, Sergio: La biblioteca en la isla: para una lectura de «La expresión americana» de José Lezama Lima. Tesis de doctorado defendida en El colegio de México, México D.F. 2006, S. 249.  Lezama Lima, José: La expresión americana, S. 116.

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Raumkonstruktion.55 Dieses Amerikanische steht vielmehr in direkter Verbindung mit einer weltumspannenden Kraft, die sich auf dem amerikanischen Kontinent bündelt. Das poetische Wissen, die poetische Erkenntnis im Sinne Lezamas zielt nicht auf eine Essentialisierung des Amerikanischen, sondern auf dessen unterschiedliche Areas miteinander verbindende Relationalität und damit eine Poetik der Bewegung: Nicht der Raum, sondern dessen Querung, nicht die statische Präsenz, sondern die dynamische Erzeugung immer neuer möglicher Wege zählt. Sie erst vermag es, aus den Abwesenheiten stets aufs Neue die Fülle des Möglichen (in einem acto naciente) zu entbinden. Die Zukunft Amerikas und seiner kulturellen Ausdrucksmöglichkeiten ist nicht an eine einzige Zugehörigkeit, an eine einzige Herkunft, an eine einzige Identitätszuweisung zurückgebunden oder auf diese reduziert. Daher stimmen unsere nachfolgenden Überlegungen zwar durchaus der Einschätzung zu, in Martí dürfe man «la clave de Cuba, la clave de nuestra América»56 erkennen: Martí sei folglich der Schlüssel sowohl zu Kuba als auch zu Amerika. Doch jeglichem Versuch einer Identifikation des sich im Denken und Handeln Martís abzeichnenden Humanismus mit den Zielen des Marxismus und einer kubanischen «revolución socialista»,57 die bis heute den alleinigen Anspruch auf die Figur des großen Revolutionärs erhebt, gilt es die Texte, die Schriften des Autors von Nuestra América entgegenzustellen. In diesem Sinne gilt es, aus der langen und intensiv umkämpften Rezeptionsgeschichte José Martís die richtigen analytischen Folgerungen zu ziehen. Martí ist nicht auf eine einzige Ideologie reduzierbar, so verlockend dies in der Geschichte Kubas auch immer für bestimmte politische Parteien gewesen sein mag und auch weiterhin ist. Jenseits der noch immer fortgeführten ideologischen Kämpfe um das Erbe Martís wird es eine sorgfältige Analyse der Martí’schen Schreibformen wie seiner Ideen nicht zulassen, «a recuperarlas para las circunstancias actuales de esa gran patria bolivariana que Martí también soñó.»58 Das Martí gewidmete Museum im Herzen von Caracas illustriert eindrucksvoll die Behauptung einer  Vgl. zu dieser Grundproblematik der hispanoamerikanischen Literatur Dessau, Adalbert: Das Internationale, das Kontinentale und das Nationale in der lateinamerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts. In: Lateinamerika (Rostock) (Frühjahrssemester 1978), S. 43–87; sowie Ette, Ottmar: Asymmetrie der Beziehungen. Zehn Thesen zum Dialog der Literaturen Lateinamerikas und Europas. In: Scharlau, Birgit (Hg.): Lateinamerika denken. Kulturtheoretische Grenzgänge zwischen Moderne und Postmoderne. Tübingen: Gunter Narr Verlag 1994, S. 297–326.  Ubieta Gómez, Enrique: Prólogo. In: Guadarrama González, Pablo: José Martí y el humanismo en América Latina. Bogotá: Convenio Andrés Bello 2003, S. 12.  Ebda.  Guadarrama González, Pablo: José Martí y el humanismo en América Latina, S. 9.

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1. Hauptstück: Von der Romantik im spanischen Amerika

geraden ideologischen Linie, die von Simón Bolívar über (einen in der Ikonographie Lenins gestalteten) José Martí zu Fidel Castro und direkt zu Hugo Chávez führe. Die reiche Rezeptionsgeschichte Martís bietet bis heute unendlich viele Abgeschmacktheiten, die für den zweiten Teil dieser Studie freilich apotropäischen Charakter besitzen. Denn die Weite des Martí’schen Denkens passt nicht zu derartigen Einbahnstraßen, so politisch kommod sie auch immer sein mögen. Ein Ende der ideologischen Funktionalisierungen und Aktualisierungen Martís ist gewiss nicht abzusehen, was für die Aktualität und Zukunftsfähigkeit seines Denkens spricht. Umso mehr müssen unsere Überlegungen im Folgenden dem Ziel verpflichtet sein, die Aktualität des Martí’schen Denkens und Schreibens jenseits aller politisch-ideologischen Aktualisierungen aus der polysemen Praxis jenes poetischen Wissens zu entwickeln, das Martí in seinen bis heute faszinierenden Schriften entfaltete. Diese Faszinationskraft gilt gerade auch für die spezifisch amerikanische Dimension des Martí’schen Humanismus. Nicht von ungefähr erscheint Martís ganzes Schaffen, sein ganzes rastloses Tun bei Lezama Lima als unabschließbare Bewegung, als remolino und oscilación, die ihre Eigendynamik entwickeln. Diese Offenheit des Denkens soll im folgenden Durchgang durch das Gesamtwerk José Martís rekonstruiert und wiederhergestellt werden.59 Martís Schreiben ist im Sinne Lezamas gerade darum kubanisch und amerikanisch, weil es sich nicht auf das Amerikanische in seiner nationalen, supranationalen oder kontinentalen Form beschränkt, sondern eine spezifische transareale Beziehungsvielfalt zu den Kulturen der Welt herstellt. Wir wollen dabei besonders darauf achten, auf welche Weise der Autor von Nuestra América aus der Kritik an der europäischen wie an der US-amerikanischen Moderne die Grundlagen dafür gewann, die Vorstellungen von einem (latein-)amerikanischen Humanismus weiter voranzutreiben. Zweifellos können wir von José Lezama Lima lernen, die Figur Martís lebensweltlich zunächst mit der Romantik in Verbindung zu bringen, ja in einer Romantik zwischen zwei Welten zu verankern. Springen wir an dieser Stelle also von den letzten Lebenszeichen José Martís in seinen Diarios und Kriegstagebüchern sowie seiner postmortalen Rezeptionsgeschichte zurück an die Anfänge eines José Martí, der sich seiner Exilsituation und Außerhalbbefindlichkeit schmerzhaft bewusst war. Zu einem Martí, in welchem sich Lezamas ausencias posibles in einem Lebensrhythmus spiegeln, welcher der rastlosen Tätigkeit des Exilanten verbunden ist und stets verbunden bleibt.

 Vgl. hierzu Ugalde Quintana, Sergio: La biblioteca en la isla, S. 280 f.

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José Martí griff häufig – wie wir im weiteren Verlauf dieser Studie noch des öfteren beobachten werden – auf Legenden und auf Mythen ebenso aus der antiken abendländischen Welt wie aus der Welt der indigenen Kulturen Amerikas zurück. Worin aber besteht diese schriftstellerische Arbeit, die wir mit dem deutschen Philosophen Hans Blumenberg als eine Arbeit am Mythos60 begreifen dürfen? Die literarische Verarbeitung und Umformung eines Mythos lässt sich, so könnte man ganz allgemein formulieren, begreifen als «Polylog zwischen dem späteren Dichter, seinem normgebendem Vorgänger und dem Mythos als abwesendem Dritten.»61 Etwas präziser und weniger identitätsbezogen könnte man diese Beziehungen beschreiben als intertextuelle Auseinandersetzung mit und zwischen den einzelnen literarischen Konkretisationen des Mythos sowie den jeweiligen historischen, kulturellen, biographischen und lebensweltlichen Kontexten dieser Werke. Der Rückgriff auf und die Arbeit am Mythos setzt somit eine Vielzahl unterschiedlicher Texte und Kontexte gegeneinander in Marsch, deren Wege und Konfrontationen von der literaturwissenschaftlichen Analyse behutsam nachgegangen und ohne Reduktion ihres Sinnpotentials nachgezeichnet werden müssen, um die viellogische, die polylogische Strukturierung dieser fein gesponnenen Gewebe nachzeichnen zu können. Dabei ist in Rechnung zu stellen, das dieses Sinnpotential durch die Beziehung zum zeitgeschichtlichen Kontext der AutorIn wie gerade auch des Lesepublikums historisch immer neu entfaltet werden muss, um die zahlreichen vom Mythos ausgehenden Isotopien oder Bedeutungsebenen adäquat erfassen zu können. Die Komplexität sowohl der literarischen Gestaltung des mythologischen Paradigmas als auch der nachfolgenden Spurensicherung und Auslegung wird noch wesentlich dadurch erhöht, wenn sich die intertextuellen Beziehungen nicht mehr nur innerhalb der europäisch-abendländischen Traditionen, sondern quer zu diesen transareal im Bewegungsraum eines interkulturellen Polylogs bewegen. Denn dann lässt sich der Charakter eines «asymmetrischen Gesprächs» nicht nur hinsichtlich der Relation zwischen dem präsenten Text und seinen miteinbezogenen, aber nicht selbst gegenwärtigen Intertexten (dem Mythos und seinen späteren Bearbeitungen) konstatieren. Vielmehr prägt die

 Vgl. hierzu Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main: Suhrkamp 4 1986.  Jauß, Hans Robert: Befragung des Mythos und Behauptung der Identität in der Geschichte des «Amphytrion». In (ders.): Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 534.

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1. Hauptstück: Von der Romantik im spanischen Amerika

(historisch akkumulierte) Asymmetrie62 den interkulturellen Dialog zwischen einem außereuropäischen Text und seinen europäischen Bezugstexten überhaupt, wenn diese Asymmetrie sich auch im Laufe der geschichtlichen und literarischen Entwicklungen in ihren Auswirkungen verändert hat und weiterhin verändert. Dies ist in der historisch höchst ungleichen Entfaltung transatlantischer Literaturbeziehungen zwischen den (ehemaligen) amerikanischen Kolonien und den (ehemaligen) europäischen Machtzentren begründet. In der gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Diskussion hat man die Problematik dieser ebenso transareal wie transkulturell zu erforschenden Situation zu erfassen begonnen und trägt in zunehmendem Maße der Tatsache Rechnung, dass Europa «nicht mehr der alleinige Verwalter seines literarischen Erbes»63 ist und sein kann. Denn die Literaturen der Welt haben längst EigenLogiken entwickelt, nach denen sie abendländische Mythen umformen und eine Arbeit am Mythos verrichten, die in der abendländischen Programmierung des Mythos nicht vorgesehen war. Dabei ist die transatlantische Asymmetrie zwischen den unterschiedlichen Literaturen Europas und der Amerikas zwar keineswegs verschwunden, hat aber einer wesentlich größeren literarischen und kulturellen Eigenständigkeit Platz gemacht. Leben und Werk José Martís siedeln sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und damit in einem Zeitraum an, der noch vom alten System einer zentriert an Europa ausgerichteten Weltliteratur geprägt ist. Noch waren in den amerikanischen Spielarten der Romantik zwischen zwei Welten die Entwicklungen erst zu erahnen, welche die entstehenden Literaturen Lateinamerikas auf jenem Weg zurücklegen würden, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schließlich zur Herausbildung eines Systems der Literaturen der Welt führen sollte, wie es zum gegenwärtigen Zeitpunkt vorherrscht.64 Gleichwohl war sich ein José Martí durchaus jener Veränderungen bewusst, die er später von New York aus in den transatlantischen Literaturbeziehungen erkennen konnte. Nicht zuletzt der von ihm begründete oder mitbegründete hispanoamerikanische Modernismo sollte erstmals die Vektorizität der literarischen Ausstrahlungen zwischen Europa und Lateinamerika umkehren und bereits eine an der Jahrhundertwende konstatierbare Ausstrahlung von Lateinamerika auf die Literatur in Spanien ins Werk setzen.

 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Asymmetrie der Beziehungen. Zehn Thesen zum Dialog der Literaturen Lateinamerikas und Europas, S. 297–326.  Bader, Wolfgang: Von der Allegorie zum Kolonialstück. Zur produktiven Rezeption von Shakespeares «tempest» in Europa, Amerika und Afrika. In: Poetica XVm 3–4 (1983), S. 247–288, hier S. 286. Zur Wichtigkeit der TransArea Studies in diesem Zusammenhang vgl. Ette, Ottmar: TransArea. Eine literarische Globalisierungsgeschichte. Berlin – Boston: De Gruyter 2012.  Vgl. Ette, Ottmar: WeltFraktale (2019).

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Denn ohne Zweifel lassen sich derartige Veränderungen im Bereich der lateinamerikanischen Literaturen spätestens seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts parallel zur Entstehung der dritten Phase beschleunigter Globalisierung beobachten. Gerade die Untersuchung der literarischen Umsetzung von Mythen aus der griechisch-römischen Antike in Lateinamerika kann Aufschluss über Richtung und Problematik dieser Entwicklung geben, da die Mythen zum einen einen gewichtigen Teil des Fundaments der europäischen Literaturen ausmachen, zum anderen aber in ihrer Eigenschaft als soziale Gebilde eine Modellfunktion innehaben: «sie teilen mit Metaphern und wissenschaftlichen Modellen die Eigenschaft, Paradigmata oder Vorschläge zu einer allgemeinen und systematischen Weltdeutung an die Hand zu geben.»65 Wer sich also mit dem Mythos einlässt, muss sich – wie auch immer – mit dieser paradigmatischen Modellfunktion auseinandersetzen. Der produktive literarische Rückgriff auf Mythen des europäischen Abendlandes erfolgt aus nicht-europäischer Sicht stets mit der Geste der Aneignung eines literarischen und kulturellen Erbes, das genuiner Bestandteil auch des Schreibens in Lateinamerika ist. Denn die unterschiedlichen Traditionsstränge abendländischen literarischen Schreibens bilden einen grundlegenden kulturellen Pol innerhalb einer Welt, die zugleich von anderen, nicht-europäischen Kulturpolen geprägt ist.66 Diese spezifische Filiation eines kulturell abendländischen Poles, der ein wesentlicher Bestandteil der Literaturen Amerikas ist, gilt es im Kopf zu behalten, wenn wir uns jenen journalistischen Arbeiten José Martís zuwenden, in welchen der Kubaner in Mexiko auf seinen Status als Migrant und Exilant aufmerksam machte. Versetzen wir uns in José Martí zum Zeitpunkt seiner Ankunft in Mexiko: Das war ein Umhergetriebener, einer, den es von einem Land ins andere verschlug, einer, dem das Leben auf der Insel, auf der er geboren wurde, nicht länger möglich war, da er seine Heimat unter dem Joch der spanischen Kolonialherrschaft unsäglich leiden sah. Es wurde – wie wir in unserer Rezeptionsgeschichte sahen – zu einem Topos der Martíforschung, den am 28. Januar 1853 in Havanna geborenen kubanischen Essayisten, Dichter und Revolutionär als

 Frank, Manfred: Die Dichtung als «Neue Mythologie». In: Bohrer, Karl Heinz (Hg.): Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S. 19; dort finden sich auch Hinweise zur Herkunft dieser Sichtweise.  Ein Modell dieser unterschiedlichen kulturellen Pole findet sich für den Zeitraum des 19. Jahrhunderts im vierten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten (2021), S. 278 ff.

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1. Hauptstück: Von der Romantik im spanischen Amerika

einen heroischen «Ulíses perseguido»67 zu bezeichnen, als einen Odysseus, den es von einem Land zum anderen quer durch die Weltgeschichte treibe. Die Verbindung mit der Gestalt des Odysseus, der seit der griechischrömischen Antike Inbegriff des Exilierten war, von Erich Auerbach gleichsam zum Schutzpatron für sein großes, im Instanbuler Exil geschriebenes Werk Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur ausgewählt und vor dem Hintergrund der Katastrophen des Zweiten Weltkriegs und der Shoah von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno zu einer wichtigen Zwischen-Welten-Figur in ihrer Dialektik der Aufklärung stilisiert wurde,68 gründet sich dabei allein auf Martís Umherirren im Exil und bewirkt gleichsam nebenbei eine Enthistorisierung der Figur des kubanischen Schriftstellers, verwischt die Beweg-Gründe dieses umhergetriebenen Daseins noch vor dem Ende der spanischen Kolonialepoche in den Amerikas und vor dem Auftakt zu jener Globalisierungsphase, zu deren herausragendem Theoretiker der Kubaner später avancieren sollte. Dabei hat José Martí selbst die Verbindung zu einer anderen mythologischen Gestalt, zu einem anderen Bezugsmythos hergestellt, dem wir uns daher widmen sollten. Denn als er im Jahre 1875 nach mehrjährigem Exil in Spanien sich mit seiner Familie in Mexiko wiedervereinte und für die liberale Revista Universal als Journalist zu schreiben begann, wählte er nach wenigen Wochen ein Pseudonym, das ebenfalls der griechischen Mythologie entlehnt ist: Denn er signierte seine mexikanischen Boletines mit dem Namen des Orestes. Bislang wurde in der spezialisierten Martí-Forschung dieser Tatsache kaum Bedeutung beigemessen. Man begnügte sich mit ahistorisch-unverbindlichen und schöngeistig-beliebigen Vergleichen Martís mit Orest.69 Ich möchte im Folgenden versuchen, einige strukturelle Parallelen zwischen der geschichtlichen Situation Martís und dem Orest-Stoff nachzuweisen, die Funktionalisierung dieser Übertragung eines Stoffes der griechischen Antike auf die damalige lateinamerikanische Gegenwart untersuchen und nach den ästhetischen beziehungsweise kulturellen Implikationen dieser intertextuellen Bezüge fragen. Denn diese transarealen Über-

 Etwa in Pérez, Galo René: La novela hispanoamericana. Historia y crítica. Segunda edición. Madrid: Editorial Oriens 1982, S. 180.  Vgl. hierzu das Einleitungskapitel in Ette, Ottmar: ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz (ÜberLebenswissen II). Berlin: Kulturverlag Kadmos 2005.  Beispielsweise wichtige Biographen wie Baeza Flores, Alberto: Vida de José Martí. El hombre íntimo y el hombre público. La Habana: Publicaciones de la Comisión Nacional organizadora de los actos y ediciones del Centenario y del Monumento de Martí 1954, S. 242; oder Martínez Estrada, Ezequiel: Martí revolucionario. La Habana: Editorial Casa de las Américas 1967, S. 230, 271 oder 292.

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Setzungen implizieren eine ganze Reihe von Einsichten nicht allein in biographische Aspekte des Lebens Martís, sondern auch in Grundlagen seines Schreibens als Migrant und Exilant. Martís Signierung seiner Artikel mit dem Pseudonym Orest soll dabei als ein willentlicher Akt, als eine Art Pakt mit dem Leser, verstanden werden. Mit diesem Pakt beabsichtigte Martí, die Rezeption seiner in der Revista Universal veröffentlichten Artikel paratextuell70 zu steuern. Man könnte dies mit der paratextuellen Steuerung des Romans von James Joyce vergleichen, der mit dem Titel Ulysses versuchte, eine die Leserschaft steuernde Funktion auszuüben und Handlungselemente rund um seine Romanfigur in Dublin in einen direkten Zusammenhang mit Handlungselementen des Odysseus im mediterranen Kontext zu bringen, vielleicht sogar, um seine Leserschaft vor der Reduktion auf banale Handlungen in einem beliebigen Dubliner Alltag zu schützen. Denn zweifelsohne werden durch das Pseudonym Orestes die separat veröffentlichten journalistischen Texte des kubanischen Schriftstellers miteinander verbunden und in einen neuen semantischen Bezugsrahmen eingespannt. Es lassen sich eine Reihe von Strukturelementen nachweisen, die es Martí erlaubt haben könnten, eine Transposition des griechischen Mythos in den lateinamerikanischen Kontext zu vollziehen und sich dabei mit der Figur Orests zu identifizieren. Dazu zählt erstens die geographische Raumstruktur der griechischen Inselwelt, des griechischen Archipels. Sie lässt sich leicht auf diejenige der Inselwelt der Karibik, auf die archipelische Struktur der Antillen übertragen. So sprach man, um ein zynisches Beispiel zu nennen, im 19. Jahrhundert in den Vereinigten Staaten nicht nur von der «Karibischen See», sondern unverhohlen vom Amerikanischen Mittelmeer mit dem deutlichen Verweis auf das in den USA allgemein anerkannte Dogma, dass die Antillen zum direkten Einflussbereich der Vereinigten Staaten gehörten.71 An dieser Situation hat sich, wie gerade das Beispiel Kuba zeigt, nichts Wesentliches geändert. Archipelische und transarchipelische, das heißt verschiedene Archipele miteinander verbindende und querende Strukturen können sowohl als abgekapselte Insel-Welten als auch als multirelationale, miteinander vielverbundene Inselwelten verstanden werden.72 Dies gilt historisch gerade auch für das Beispiel der

 Zum Begriff der Paratextualität vgl. Genette, Gérard: Palimpsestes. La littérature au second degré. Paris: Seuil 1982.  Vgl. hierzu Wehler, Hans-Ulrich: Der Aufstieg des amerikanischen Imperialismus. Studien zur Entwicklung des Imperium Americanum 1865–1900. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1974, S. 9.  Vgl. zu dieser Scheidung Ette, Ottmar. Von Inseln, Grenzen und Vektoren. Versuch über die fraktale Inselwelt der Karibik. In: Braig, Marianne / Ette, Ottmar / Ingenschay, Dieter / Mai-

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Insel beziehungsweise des Archipels namens Kuba.73 Die Inselsituation kann aber nicht nur im geographischen sondern auch im politisch-kulturellem Sinne einer Isolation, eines kontaktlosen Nebeneinanderherlebens, verstanden werden, auf das bereits Martí wiederholt hinwies und auf das – hundert Jahre später – Darcy Ribeiros treffende Bemerkung zielt, dass auch heute noch die «Lateinamerikaner wie auf einem Archipel»74 lebten. Dies muss, aus heutiger Sicht betrachtet, kein Nachteil sein. Zweitens lastet auf dem Hause der Atriden vom Ahnherrn Tantalos her ein schrecklicher Fluch, der alle unschuldig in die gemeinsame (Erb-)Schuld verstrickt. Bei José Martí findet sich schon früh das Bewusstsein einer Urschuld oder Erbsünde, wie ein Satz aus der 1871 in Madrid veröffentlichten Anklageschrift El presidio politico en Cuba belegt: «Y cuando yo sufro y no mitiga mi dolor el placer de mitigar el sufrimiento ajeno, me parece que en mundos anteriores he cometido una gran falta que en mi peregrinación desconocida por el espacio me ha tocado venir a purgar aquí.»75 Martí trug folglich die Vorstellung mit sich herum, dass er in früheren Welten eine große Schuld auf sich geladen habe, deren Tilgung er nun hier bewerkstelligen und sich von dieser Schuld reinigen müsse. An dieser wie an vergleichbaren anderen Stellen scheint sich bereits die Fusion der christlichen Vorstellung von Leiden und Erlösung durch die Pilgerschaft mit dem Grundmotiv des Orest-Stoffes anzudeuten oder gar vollzogen zu haben: José Martí will durch seinen Kampf und sein Leiden die auf allen lastende Urschuld tilgen, scheint er doch stellvertretend für die Bevölkerung der gesamten Insel, auf der er geboren wurde, einen Schuldkomplex mit sich herumzuschleppen. Gerade die christlichen Vorstellungen vom sündigen Fleisch und den damit verbundenen Schuldkomplexen lassen sich insbesondere beim jungen Martí deutlich erkennen, ein Thema, das im weiteren Fortgang dieses Bandes mehrfach wiederaufgenommen werden wird. Drittens wird Orest als Kind auf eine andere Insel gebracht, wo er, den Mordgelüsten des Aigisthos entzogen, im Exil die Rachepläne schmieden kann, die auch Elektra als Hüterin des Rachegedankens in der Heimat, oder treffenhold, Günther (Hg.): Grenzen der Macht – Macht der Grenzen. Lateinamerika im globalen Kontext. Frankfurt am Main: Vervuert Verlag 2005, S. 135–180.  Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Cuba: zwischen Insel-Welt und Inselwelt. Von der Raumgeschichte zur Bewegungsgeschichte. In: Ette, Ottmar / Wirth, Uwe (Hg.): Nach der Hybridität. Zukünfte der Kulturtheorie. Berlin: Verlag Walter Frey – edition tranvía 2014, S. 217–250.  Vgl. den immer noch lesenswerten Essay des brasilianischen Anthropologen Ribeiro, Darcy: Gibt es Lateinamerika? In (ders.): Unterentwicklung, Kultur und Zivilisation. Ungewöhnliche Versuche. Aus dem Portugiesischen von M. Wöhlke. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980, S. 315.  Martí, José: El presidio político en Cuba. In (ders.): OCEC 1, S. 81.

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der: im heimatlichen Exil, bewegen. Orest erscheint als jene Figur, welche eine Zeit im Exil dazu nutzt, alles vorzubereiten, um der Gerechtigkeit den Sieg zu verleihen und in der Heimat wieder lebenswerte Bedingungen herzustellen. In klarer struktureller Parallele nimmt auch nach der Deportierung ins Exil Martís Plan Gestalt an, die unrechtmäßig okkupierte Heimat vom kolonialspanischen Gewaltherrscher zu befreien. Denn Orest setzt sich dafür ein, im Zeichen einer anklingenden Demokratie im Schatten des Areopag eine freiere und gerechtere Gesellschaft in seiner Heimat zu schaffen. Vergessen wir viertens dabei nicht, dass Orest den Mörder seiner Mutter, also Aigisthos, töten muss, um die mordbeladene Geschichte zu einem Ende zu bringen, die Tyrannei zu beenden und die rechtmäßigen Herrschaftsverhältnisse auf der Insel wieder herzustellen. Es bedarf also einer weiteren Bluttat, eines weiteren Mordes, um die blutige Geschichte der Atriden endgültig einem Abschluss zuzuführen und den Mythos zu beenden. Die Verantwortung für diese Fortsetzung eines mörderischen, blutbefleckten Tuns freilich liegt nicht bei dem tragischen Helden Orest. Wie Aigisthos, Klytaimnestra, Agamemnon und Orest demselben Geschlecht angehören, so ist auch José Martís Kampf gegen die spanische Republik ein – wie er in seinem spanischen Exil bemerkte – doppelter Brudermord.76 Denn es ist aus Sicht des kubanischen Kreolen in Kampf gegen einen Teil der eigenen Familie, des eigenen Selbstverständnisses, stammten seine Eltern doch aus dem spanischen Mutterland: Sein Vater Mariano Martí y Navarro war Valencianer, seine Mutter Leonor Pérez y Cabrera aus Santa Cruz de Tenerife gebürtig. Wie ein anderer Orest musste Martí die Herrschaft des kolonialen Mutterlandes, der Madre Patria Spanien, die erst durch die Eroberung und den an den indigenen Ureinwohnern verübten Genozid möglich wurde, radikal beseitigen, womit er in gewisser Weise und zunächst unausgesprochen an die vormoderne Situation vor der spanischen Conquista Amerikas anknüpfte.77 Bei dieser Implikation von Martís Arbeit am Mythos handelt es sich um einen historisch-kulturellen Gesichtspunkt, der für Leben und Schaffen des kubanischen Exilanten potentiell aktualisierbar wird und auf den in Zusammenhang mit Martís näherer Auseinandersetzung mit den indigenen Kulturen insbesondere seit seinem Exil in Guatemala wiederholt zurückzukommen sein wird. Fünftens steht in der Orestie die furchtbare Bluttat Orests, der Mord an seiner eigenen Mutter, im Mittelpunkt des tragischen Geschehens: Orest muss Kly Vgl. hierzu Martí, José: OCEC 1, S. 114.  Vgl. zu den historischen Ereignissen und zur Wichtigkeit der Funktion von Mythen und Legenden bei der Eroberung Amerikas den siebten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Erfunden / Gefunden. Potsdamer Vorlesungen zur Entstehung der Amerikas. Berlin – Boston: De Gruyter 2022.

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taimnestra töten, um Rache für seinen Vater zu nehmen. Wie dieser Konflikt sich aus der Perspektive Electras darstellen konnte, hat der kubanische Dramatiker und Erzähler Virgilio Piñera in seinem aktualisierenden, am Mythos bewusst radikal arbeitenden Theaterstück Electra Garrigó gestaltet.78 Die der Orestie des Aischylos zu Grunde liegende Problematik der von Menschenhand nicht lösbaren schuldhaften Verstrickung ist ein Thema, das bei Martí ebenfalls schon sehr früh auf einer im engsten Sinne literarischen, fiktionalen Ebene erscheint. Es geht – etwas vereinfachend gesprochen – um die Thematik des unlösbaren Widerspruchs zwischen der ethischen Verpflichtung gegenüber einerseits dem Vaterlande und andererseits der Mutter und ist häufig verbunden mit der Problematik von Inzest und Muttermord. Diese Thematik ließe sich zusammen mit der dazu gehörenden Metaphorik als obsessionelle Grundstruktur79 von José Martís frühem Drama Abdala über sein erfolgreiches mexikanisches Theaterstück Amor con amor se paga sowie sein mit deutschen Figurennamen gestaltetes Stück Adúltera bis hin zu Martís einzigem Roman Amistad funesta beziehungsweise Lucía Jerez durchgängig verfolgen und einer psychoanalytischen Interpretation, die etwa auch einen Zusammenhang zwischen Inzestverbot und Urschuldkomplex bei Martí belegen könnte, zuführen. Dieser in jeglichem Sinne verstandene Komplex bleibt jedoch außerhalb des spezifischen Erkenntnisinteresses der vorliegenden Studie und soll in diesem Zusammenhang nicht weiterverfolgt werden, zeigt diese Thematik doch andere Facetten des Schriftstellers José Martí auf, die nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit seiner kontinuierlichen Entwicklung zu einem Denker der Globalisierung stehen. Das Motiv des Muttermordes stellt aber zweifelsohne eine wichtige Verbindung zwischen José Martí und seinem Pseudonym Orestes her. Sechstens ist in der Orestie des Aischylos Orest im Grunde lediglich das Werkzeug der «neuen» Götter Apoll und Pallas Athene, die eine neue Weltordnung verkörpern und im Mythos repräsentieren. Orest kann von dem von Pallas Athene eingesetzten ersten menschlichen Gericht, dem für die Anfänge der Demokratie stehenden Areopag, weder verurteilt noch freigesprochen werden, sondern bedarf des Schutzes und der Erlösung durch eine höhere, göttliche Instanz.

 Vgl. hierzu den sechsten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Geburt Leben Sterben Tod. Potsdamer Vorlesungen über das Lebenswissen in den romanischen Literaturen der Welt. Berlin – Boston: De Gruyter 2022, S. 1013 ff.  Im Sinne von Mauron, Charles: Des métaphores obsédantes au mythe personnel. Introduction à l’analyse psychocritique. Paris 1962; vgl. hierzu Lentzen, Manfred: Charles Mauron: Psychokritik. In: Lange, Wolf-Dieter (Hg.): Französische Literaturkritik der Gegenwart. Stuttgart: Kröner 1975, S. 86–101.

Das Pseudonym Orestes oder die Suche nach amerikanischen Ausdrucksformen

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Auch auf dieser Ebene ergeben sich strukturelle Parallelen zwischen dem kubanischen Freiheitskämpfer in der Verbannung und dem griechischen Mythos. Denn auch José Martí besaß das Bewusstsein, nur auserwähltes göttliches Werkzeug zu sein, wie wir dies gleich im nachfolgenden Gedicht sehen werden. José Martí setzte hierbei gemäß seiner eigenen Erziehung und Sozialisation deutlich christliche Akzente und betonte immer wieder in den verschiedensten Texten und Versen, trotz eines beispielhaften Lebens als hombre honrado letztlich nur von einer übermenschlichen Macht, von Gott selbst, freigesprochen werden zu können. Das eigene Auserwähltsein ist eine bei Martí sehr häufig zu konstatierende Vorstellung, die den kubanischen Revolutionär sein Leben lang begleitete. So heißt es beispielsweise in einem seiner Gedichte der Flores del destierro, der Blumen des Exils, nämlich in dem kurzen, romantisch inspirierten und noch immer an Paarreimen ausgerichteten Gedicht «Señor, aún no ha caído»: Señor, aún no ha caído El roble, a padecer por ti elegido; Aún suena por su fibra Rota el eco del golpe: aún tiembla y vibra Dentro el tronco el acero, al aire el cabo: Aún es por la raíz del suelo esclavo: Señor, el hacha fiera Blande y retiemble, y este roble muera.80 Oh Herr, gefallen ist noch nicht Die Eiche, von Dir zum Leiden auserwählt; Noch klingt, was in ihren Bahnen bricht Der Widerhall des Schlages: was erzitternd quält, Im Stamme schon der Stahl, in der Luft am Ende: Noch ruht die Wurzel in versklavter Erde: Oh Herr, die Axt so stolz Erschüttert, es erbebt und stirbt das Holz.

In diesem Gedicht führt Martí seinen Leserinnen und Lesern vor Augen, dass er von Gott selbst auserwählt wurde, um in seinem Namen zu leiden. Die religiösen Isotopien, die wir in der Rezeptionsgeschichte sich weiterentwickeln sahen und die im Beinamen des Apostels ihren genuinen Ausdruck fanden, beherrschen diese Zeilen und verknüpfen sich mit einer Figur des Leidenden, der wie Jesus die Sünden der Welt zu sühnen sich bereit macht. Zugleich ist der Boden, auf dem dieser Leidende ruht, ein versklavter Boden: Es ist nicht nur ein Land, in

 Martí, José: Señor, aún no ha caído. In (ders.): OC 16, S. 282.

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1. Hauptstück: Von der Romantik im spanischen Amerika

dem durch schändliche Sklavenarbeit noch immer, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, enorme Gewinne erwirtschaftet werden, sondern der auch ein Territorium, das als solches selbst versklavt ist und einer anderen, kolonialen Macht angehört. José Martís Figur verbindet sich in diesen romantischen Versen bewusst mit der Figura des leidenden Jesus.81 Doch kehren wir zum kreativen Rückgriff auf den griechischen Mythos zurück. Eine moderne und für die vorliegende Untersuchung überaus interessante Lektüre der Orestie des Aischylos hat der italienische Schriftsteller und Regisseur Pier Paolo Pasolini mit seinem Film Appunti per un’orestiade africana aus dem Jahre 1969 vorgelegt. Diese meines Wissens erstmals geleistete explizite Übertragung des Orest-Stoffes auf die koloniale Problematik der Länder Afrikas und der Dritten Welt setzt die textuellen Elemente frei, die in der aischyleischen Orestie gleichsam abrufbereit gespeichert waren. Der Prozess der Dekolonialisierung und gleichzeitig einer kulturellen Entfremdung wird in dem Kampf zwischen Orest und den Erinnyen, welche das Irrationale, die alte, überkommene Weltordnung verkörpern, in ausdrucksstarken Bildern dargestellt. All dies gipfelt in der Einsetzung des Areopags mit dem (allerdings nicht widerspruchslosen) Beginn einer Ära wahrer Demokratie. Dieser Demokratisierungsprozess ist für Pasolini zutiefst widersprüchlich, ja schädlich und verlogen, wie aus dem im selben Jahre 1969 entstandenen Theaterstück Pilade hervorgeht. So hat sich der italienische Filmemacher und Autor gleich zweimal und in unterschiedlichen künstlerischen Gattungen und Medien mit dem Orest-Stoff auseinandergesetzt. Eine präzise intermediale und intertextuelle Analyse von Pilade und der Appunti könnte die hochkreative Auseinandersetzung Parolinis mit dem griechischen Mythos und auf seine avancierte, entkolonialisierende Arbeit am Mythos aufmerksam machen. Pier Paolo Pasolinis intertextuelle Praxis de- und refunktionalisiert die im griechischen Bezugstext gespeicherten und angelegten Elemente im Sinne einer produktiven Lektüre, die den Blick freigibt auf eine auch für die Strukturen der abhängigen, marginalisierten und noch kolonial beherrschten Territorien des entstehenden Lateinamerika paradigmatische Dimension. José Martí hat diese Dimensionen zum Teil explizit, zum Teil implizit in der Wahl seines Pseudonyms Orestes zum Ausdruck gebracht. So dient der Orest-Stoff bei ihm in nuce als Paradigma der kolonialen und kulturellen Abhängigkeit und Entfremdung auf Kuba, aber auch in vielen anderen Ländern Lateinamerikas.

 Vgl. hierzu das Einleitungskapitel in Gwozdz, Patricia A.: Ecce figura. Lektüren eines Konzepts in Konstellationen (200 n. Chr.–1924). Berlin – Boston: De Gruyter 2023 (im Erscheinen).

Das Pseudonym Orestes oder die Suche nach amerikanischen Ausdrucksformen

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Der Aufarbeitung der Motive für die Wahl des Pseudonyms Orestes soll nun eine Analyse der kulturellen Implikationen und der Gründe folgen, aufgrund derer José Martí die Verwendung des Pseudonyms zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgab. Die Symbolwelt der griechisch-römischen Antike spielte, vermittelt durch die französische Lyrik und insbesondere die Dichtkunst der Spätromantiker wie danach der Parnassiens, im hispanoamerikanischen Modernismus eine wichtige Rolle.82 Mit guten Gründen wurde schon früh eine systematische Untersuchung der spezifischen Modi der Antikerezeption in Lateinamerika und insbesondere im spanisch-amerikanischen Modernismo angemahnt:83 Sie könnte erhellen, welche Figuren der Antike in Lateinamerika besonders präsent waren und für welche Ziele sie aktualisiert wurden. Für den Beginn und die weitere Entwicklung der literarischen Bewegung des Modernismo, der zurecht als erste spezifisch hispanoamerikanische Strömung bezeichnet wird, die von Lateinamerika ausging und nicht nur auf Spanien, sondern auch in anderen Teilen der Amerikas wirkte, besitzt die Problematik des inter- und transkulturellen Polylogs zwischen unterschiedlichen kulturellen Areas sowie verschiedenen Zeitepochen eine überragende Bedeutung. Denn sie bildet die vielleicht wichtigste Vermittlungsebene zwischen der sozioökonomischen Dimension der Modernisierung (Modernización), der epochalen Dimension der Moderne (Modernidad) und der spezifisch literarhistorischen beziehungsweise literarästhetischen Dimension des Modernismo (Modernismus), die wir im weiteren Verlauf unserer Studie wiederholt untersuchen werden. Die Position José Martís gegenüber dieser kulturellen Transposition hat eine rasche Entwicklung hin zu einem wachsenden Verständnis der problematischen Situation des kolonialen Schriftstellers an der Peripherie eines zentrierten weltliterarischen Systems durchgemacht, welche in diesem Zusammenhang nur kurz an einem weiteren transarealen Beispiel aus dem Literaturtransfer einer Romantik zwischen zwei Welten angedeutet sei. Als Martí im März 1875 seine Übersetzung sozusagen den «klassischen» Fall einer Transposition – von Victor Hugos Mes fils den Leserinnen und Lesern der Revista Universal präsentierte, verwies er mit Überzeugung auf die Allgemeingültigkeit der Ideen jener «cabeza universal»,84 des universalen Kopfes, den für ihn der große Dichter der französischen Romantik darstellte.

 Vgl. zu diesen transatlantischen und zugleich transarealen Bezügen den vierten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten (2021).  Vgl. früh bereits Melis, Antonio: bilancio degli studi sul modernismo hispanoamericano. In: Lavori Ispanistici Serie II. Messina – Firenze 1970, S. 307.  Martí, José: Vorwort in OC 14, S. 16.

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1. Hauptstück: Von der Romantik im spanischen Amerika

Victor Hugo erfreute sich in Lateinamerika einer ungeheuren Beliebtheit, wobei im Falle Martís nicht zuletzt die Bewunderung für das große politische Engagement des französischen Schriftstellers hinzukam. Der Verfasser der Boletines für die Revista Universal ging dabei von der Möglichkeit und Berechtigung einer universalen Ideen- und Begriffsverpflanzung aus und übersah noch die inhärente Problematik des Kulturtransfers zwischen Metropole und kolonialer (also Kuba) oder postkolonialer (folglich Mexiko) Peripherie. Diese relative Naivität erlaubte ihm eine (zunächst unkritische) Übernahme bestimmter Grundgedanken von Mes fils, etwa des auf eine Religion naturelle hinauslaufenden Hugo’schen Religionsbegriffs, der von Martí erst später durch die synkretistische, vor allem aber transkulturelle Aufnahme autochthoner indigener Mythen in einen neuen Funktionszusammenhang gestellt wurde. Wir werden dies später nicht zuletzt in José Martís Nuestra América sehen. Bereits der Romantiker José Martí bewegte sich in einem hochgradig internationalisierten literarischen Feld, das sich unzweifelhaft zwischen zwei Welten bewegte und einen hohen Grad internationaler Wechselbeziehungen voraussetzte. Diese transareale, im Kern bereits globale Ausrichtung des kubanischen Essayisten und Dichters findet sich bereits seit den literarischen Anfängen von José Julián Martí y Pérez. Martís Verwendung des Pseudonyms Orestes zeigt nur wenige Monate später bereits klare Ansätze zu einer produktiven Rezeption – und dies heißt: Transformation – europäischer Kulturvorgaben, indem er bei seiner Transposition nach Lateinamerika eine implizite Refunktionalisierung des mythologischen Stoffes aus der griechischen Antike vollzieht. Die Funktionalisierung sowie die spätere Reund schließlich Devalorisierung des Symbolreservoirs der griechisch-römischen Tradition zeugt von Martís wachsendem Bewusstsein für die Rolle des Schriftstellers an der kulturellen und literarischen Peripherie sowie für die ästhetischen Implikationen dieser komplexen literarischen Situation innerhalb eines Systems der Weltliteratur, das zum damaligen Zeitpunkt klar eurozentrisch ausgerichtet war. Dies sind allesamt Einsichten, die ihm innerhalb des hispanoamerikanischen Modernismus eine besondere Stellung zuweisen werden. Denn er wurde sich schon früh in einem noch romantisch eingefärbten Kontext der subalternen Rolle eines Autors an den Rändern eines weltliterarischen Systems bewusst, das er mit der Initialzündung des Modernismo erstmals wenige Jahre später in Frage zu stellen wagte. Gleichwohl muss das wachsende Verständnis Martís für die kulturelle Dependenz eines in Lateinamerika verfassten Schreibens mit den zeitgenössischen Entwicklungen und Fragestellungen in seinem Exilland Mexiko in Verbindung gebracht werden, das ihm die schriftstellerische Betätigung unter nicht länger kolonialspanisch abhängigen Voraussetzungen ermöglichte und zugleich

Das Pseudonym Orestes oder die Suche nach amerikanischen Ausdrucksformen

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die Augen dafür öffnete, in einem weltliterarisch hochgradig asymmetrischen85 Beziehungszusammenhang als exilierter Schriftsteller zu schreiben. In Mexiko war, nach den Wirren der französischen Intervention, wenn auch zunächst zögerlich eine Diskussion in Gang gekommen, in der die Forderung nach einer deseuropaización, nach einer Enteuropäisierung, immer häufiger erhoben wurde.86 Wenn den kubanischen Autor auch die nationalliterarische Dimension, die Absicht einer Mexikanisierung der Literatur, nur vorübergehend interessieren konnte, da er sich aus der Erfahrung der Verbannung und des Exils an einem gesamtlateinamerikanischen Kontext zu orientieren begann, so hat doch die unter anderem von Ignacio Altamirano initiierte und in die Zeitschriften der Epoche getragene Einsicht in die Notwendigkeit, eigenständige literarische Formen und Inhalte zu schaffen und sich von der europäischen Literatur zu emanzipieren, gewiss auf die ästhetischen Positionen Martís im Sinne einer Infragestellung der Übertragbarkeit europäischer Denkmuster und Begriffe gewirkt. Für Martí konnte in einem Kontext intellektueller Mexikanisierung gleichwohl nie ein Zweifel daran bestehen, dass sich Literatur aus einem größtmöglichen internationalen Fundus unterschiedlichster Nationalliteraturen speisen musste. Doch es ging dem jungen Kubaner nicht bloß um das Spannungsverhältnis zwischen Nationalliteratur und Weltliteratur, sondern auch um die künftige Integration anderer kultureller Pole. José Martís allerdings folgenreichste Entdeckung während seines Exils in Mexiko und Guatemala war die der indigenen Vergangenheit, Gegenwart und – gerade auch in seiner Projektion etwa in Nuestra América – Zukunft. Gerade diese prospektive, zukunftsgerichtete Orientierung lag ihm in zunehmendem Maße am Herzen. Anhand seiner in der Revista Universal veröffentlichten Beiträge lässt sich gut verfolgen, wie schnell bei Martí aus einem der kolonialen Situation gewärtigen Bewusstsein das Bewusstsein des Kolonialisiert-Seins erwuchs, das nach Mitteln und Wegen fahndete, auf diese Situation produktive und kreative Antworten zu finden. Die spannungsvolle Widersprüchlichkeit dieser Entwicklung lässt sich gerade auch an dem wachsenden Raum und der veränderten Bedeutung, die das Indianerproblem in seinem Denken während seines lateinamerikanischen Exils einnimmt, nachvollziehen. Am 19. Juni 1875 erschien in der Revista Universal ein Artikel José Martís, in dem dieser, wenn auch mit Vorbehalten, die Indianerpolitik der USA verteidigte. Die Argumentationsweise Martís ist dabei aufschlussreich: «Los norteamericanos

 Vgl. zu den Implikationen dieser asymmetrischen Relationen Ette, Ottmar: Asymmetrie der Beziehungen. Zehn Thesen zum Dialog der Literaturen Lateinamerikas und Europas, S. 297–326.  Vgl. Hölz, Karl: Ancianos y modernos in Mexiko. Ein post-romantischer Konflikt und seine nationalliterarischen Folgen. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte (Heidelberg) 9 (1985), S. 415–442.

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1. Hauptstück: Von der Romantik im spanischen Amerika

combaten a los indios salvajes que los atacan [...]», die Nordamerikaner bekämpfen die wilden Indianer, welche sie angreifen. Und weiter: «No es lo mismo rechazar a unos indígenas de carácter agresivo y fiero, que esclavizar y extinguir a una raza buena y sencilla [...]».87 Es sei also nicht dasselbe, aggressive und ungezügelte Indianer zu bekämpfen, als eine einfache und gute Rasse zu versklaven und auszulöschen. José Martí hatte ganz offensichtlich (noch) nicht den genozidartigen Charakter des Indianerabschlachtens in den Vereinigten Staaten erkannt. José Martí unterscheidet in seinen Ausführungen zwischen guten da friedfertigen Indianern wie etwa der heimtückisch ermordeten (und später romantisierten88) Indianerfürstin Anacaona einerseits und den Wilden, die sich kriegerisch und aggressiv gegen die Zivilisation zur Wehr setzen würden. Die Zivilisation, so äußert sich hier Martí, ist allein die abendländische Zivilisation: Die indigenen Völker stehen für ihn zum damaligen Zeitpunkt noch auf der Ebene der Barbarei. Zugleich übernimmt er damit zu diesem Zeitpunkt implizit ein doppeltes Erklärungsmuster, das den Indianer als bon sauvage, als Edlen Wilden, oder aber als gefährlichen Wilden oder gar als Kannibalen präsentiert und brandmarkt. Mit derlei Äußerungen bekennt sich der junge José Martí, der vor seiner mexikanischen Erfahrung im Exil noch keine Gelegenheit hatte, indigene Völker kennenzulernen, zu einem Denkschema, das eurozentrisch, rassistisch und kolonialistisch geprägt ist. Sein Engagement für die indigene Bevölkerung geht zunächst von diesem europäischen Bild des guten, des Edlen Wilden aus, denn die Indios sind für José Martí eine Rasse «llena de sentimientos primitivos, de natural bondad, de entendimiento fácil», also von primitiven Gefühlen, von natürlicher Güte und von raschem Verstehen.89 Es sei vor allem entscheidend, sie aus ihrem Schlafe zu erwecken, um sie den Freuden des Kapitals, einem intelligenten und ehrenhaften sowie aufhäufenden Sparen, zuzuführen: «los placeres que produce el capital, el ahorro intelligente, honrado y acumulado».90 Martís Sichtweise der abendländischen Zivilisation klingt in derartigen Passagen aus heutigem Blickwinkel befremdlich. Aus all diesen Gründen müsse auch der Staat, so Martí, den Indianern, den indigenen Bevölkerungsgruppen, helfen durch eine Verbesserung der Bildungseinrichtungen, durch eine Priorisierung des technischen Fortschritts und an-

 Martí, José: OCEC 1, S. 267.  Zu dieser Romantisierung vgl. den vierten und den siebten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten (2021), S. 737 ff., sowie Erfunden / Gefunden. Potsdamer Vorlesungen zur Entstehung der Amerikas (2022).  Martí, José: OC 6, S. 266.  Martí, José: OC 6, S. 283.

Das Pseudonym Orestes oder die Suche nach amerikanischen Ausdrucksformen

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dere Maßnahmen, bezeichnenderweise auch nach dem Vorbild der römischen Antike: «No sea vana la enseñanza del demócrata romano; ábranse al pueblo los graneros». Das Beispiel des römischen Demokraten sei also zielführend: Möge man die Kornspeicher dem Volke öffnen.91 Dieses Zitat bildet auch ein frühes Beispiel für den Versuch, die indigene Gegenwart Amerikas mit der Vergangenheit der Antike engzuführen, eine Sichtweise der indigenen Völker, wie sie schon im Titel einem großen Werkes der neuspanischen Aufklärungsphilosophie zu Grunde liegt, der Historia antigua de México des berühmten Francisco Javier Clavijero, in welcher die indigene Bevölkerung durch den Vergleich mit den Heroen der abendländischen Antike aufgewertet wurde. Damit soll nicht Martís Engagement für die an der Peripherie doppelt marginalisierten Indigenen oder Indios in Frage gestellt, sondern die kulturellen und ideologischen Prämissen dieses Handelns im Lichte des europäisch-amerikanischen Kulturtransfers kritisch herausgearbeitet werden, um zu belegen, dass Martí zu jenem Zeitpunkt auf europäische Denkmodelle und auf Vorstellungen zurückgriff, in denen sich noch Domingo Faustino Sarmientos Dichotomie von Zivilisation und Barbarei spiegelte. Gerade die mexikanischen Jahre im Leben des Exilanten José Martí bezeichnen eine Phase, in welcher der kubanische Denker sich noch notwendig als Kind seiner Zeit darstellt und erst langsam jene Vorstellungen sich zu entwickeln vermögen, welche Martí zu einem der avanciertesten Köpfe und Denker seiner Zeit in der amerikanischen Hemisphäre machten. José Martís Aufenthalt im mexikanischen Exil konfrontierte den Verfasser der Boletines für die Revista Universal mit einer ganzen Vielzahl an intellektuellen Herausforderungen, die ihn zu diesem Zeitpunkt als einen Intellektuellen auf dem Weg, als einen Denker im Umbruch charakterisieren und die Wegstrecke zu ermessen erlauben, die der junge Kubaner noch zurücklegen musste, um die gerade erst beginnende Epoche der Moderne, die sozioökonomische Modernisierung sowie die zu schaffende Literatur des hispanoamerikanischen Modernismo zu durchdenken und anzugehen. Aus diesem Grunde soll den mexikanischen Jahren im Leben des kubanischen Migranten auch in diesem zweiten Teil unserer Martí-Studie unsere besondere Aufmerksamkeit gelten. Denn in diesem Zusammenhang verändert die intensive Beschäftigung Martís mit den indigenen Hochkulturen im mesoamerikanischen Raum gleichzeitig sein Weltbild und legt die Grundlagen für eine bewusste Abkehr von seiner implizit noch immer eurozentrischen und indianophoben Denkweise, welche sich freilich in Mexiko zu verändern beginnt und in Guatemala mit der Durchdenkung indigener Rechtspositionen an Konturen gewinnt. Durch die Entdeckung und Be-

 Martí, José: OC 6, S. 284.

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1. Hauptstück: Von der Romantik im spanischen Amerika

schäftigung mit einer eigenen Antike – José Martí sprach später, wie wir noch sehen werden, von Nuestra Grecia92 –, die durch die spanische Conquista willentlich und absichtsvoll zerstört worden sei, verändert sich Martís Vision der Zukunft für «Unser Amerika», für sein Lateinamerika, im Zeichen einer Integration ebenso der indigenen Völker als auch der indigenen Kulturen. Der Kubaner wird der Widersprüchlichkeit seines eigenen und durchaus selbstkritischen Denkens auf eine fruchtbare Weise gewahr und beginnt, das europäische «Kulturreservoir» auf seine Auswirkungen, auf seine Funktionen in Lateinamerika hin zu hinterfragen. José Martí befragt insbesondere die europäische Literatur und Philosophie nicht aus einer nationalliterarischen mexikanischen Perspektive, wie er dies in seinem Gastland Mexiko erfahren hatte, sondern in dem Bewusstsein, nur diejenigen Traditionen in sein Denken für das Amerika, das er sich erträumte, einzubeziehen, welche sich mit den vielkulturellen Traditionslinien der amerikanischen Hemisphäre verbinden ließen. Vor diesem gewandelten und sich weiter wandelnden Hintergrund gewinnt auch sein in den Boletines der mexikanischen Revista Universal verwendetes Pseudonym Orestes eine neue Bedeutung, die es in seiner grundlegenden Vieldeutigkeit und Ambivalenz erst richtig zu erkennen gilt. Denn der Mythos von Orest kann nun für Martí nicht mehr ein Symbol der Befreiung von jeglicher kolonialen Abhängigkeit sein, insofern dieser abendländische Mythos in seiner Symbolhaftigkeit ja selbst den «Kulturkatechismus»93 der Alten Welt reproduziert. Der Mythos von Orest, der Verkörperung gerade der unschuldigen Verstrickung in Schuld, entpuppt sich als ein durchaus widersprüchliches Symbol, dessen Ambivalenz darin besteht, dass selbst noch die Befreiung vom kulturellen beziehungsweise politischen Kolonialismus auf Denkvorstellungen und Mythen des Kolonialherren rekurriert und beruht. Martí wird das Pseudonym Orestes nach seiner mexikanischen Zeit in Guatemala nicht mehr verwenden. Im Allgemeinen signiert er nun seine Artikel mit dem eigenen Namen, mit dem er für seine Meinung und Überzeugung verantwortlich eintreten will.94 Als er aber im Jahre 1879, während seines kurzen Zwischenspiels in seiner karibischen Heimat Kuba, eine wichtige Rolle im verbotenen Club Revolucionario Cubano in Havanna übernimmt, wählt er einen neuen Decknamen, ein neues Pseudonym: Es ist der Name Anáhuac. In dieser Wahl der präkolumbischen Bezeichnung für die mexikanische Hochebene steckt daher wesentlich mehr als nur die Erinnerung an seinen mexikanischen Freund Manuel Mercado  Martí, José: OC 6, S. 18.  Vgl. Carew, Jan: El escritor caribeño y el exilio. In: Casa de las Américas (La Habana) 105 (1977), S. 37–53, hier S. 47 f.  Martí, José: OC 6, S. 360.

Das Pseudonym Orestes oder die Suche nach amerikanischen Ausdrucksformen

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oder ein Indiz für den Gedanken der amerikanischen Einheit, wie dies in der Martí-Biographie vermutet wurde.95 In der Ablösung des Pseudonyms Orestes durch Anáhuac kommt die Suche Martís nach dem Autochthonen, nach kultureller Dekolonialisierung, nach einer sich auf indigene amerikanische Wurzeln berufenden Seinsweise «seines» Amerika sowohl auf individueller wie auf kollektiver Ebene zum Ausdruck, eine Suche, die eben in jenem Anáhuac, in jenem Mexiko, das den Kubaner gastfreundlich aufnahm, begann. Diese Umbesetzung stand bei weitem nicht alleine. Denn diese Entwicklung des vor seinem Aufenthalt in Mexiko mit indigenen Kulturen nicht vertrauten Martí wird nicht zuletzt auch Veränderungen in seinem poetischen Symbolsystem auslösen, etwa durch die bewusst synkretistische Aufnahme von Symbolen der indigenen Kulturen,96 die als zusätzliche Isotopien erheblich erweiterte Lektüremöglichkeiten schaffen und letztlich auf die Ausformung einer neuen entkolonialisierten, amerikanischen und zugleich internationalisierten Schreibweise in Lateinamerika abzielen. Diese indigenen Isotopien ermöglichen es dem seinen Erfahrungshorizont im Exil erheblich ausweitenden Kubaner, immer umfassendere poetische Symbolsysteme zu entwickeln und damit eine komplexe Schreibweise für das von ihm konzipierte Nuestra América zu schaffen. Ohne die Erfahrung des Exils in verschiedenen Ländern Lateinamerikas ist die Formulierung und spätere Entwicklung des in Guatemala entstandenen und für Martí so wichtigen Begriffs Nuestra América schlechterdings nicht vorstellbar oder denkbar. Doch ist die Entwicklung Martís keine sprunghafte, sondern eher eine stetige und kennt zu diesem Zeitpunkt noch deutliche Grenzen. Denn 1878, zum Zeitpunkt der Entstehung des Begriffs von «Unserem Amerika» bei Martí, wird weder die schwarze Bevölkerung in diesen Begriff als wesentlicher Faktor integriert noch die Rolle der USA kritisch und ernsthaft einbezogen. Erst die weitere «peregrinación por el espacio», die weitere Wallfahrt durch den Raum, und insbesondere das Exil in den Vereinigten Staaten von Amerika wird Martís Vision von Lateinamerika nochmals verändern und radikalisieren. Gleichzeitig aber situiert sich sein literarisches wie journalistisches, sein poetisches wie essayistisches schreiben in einem deutlich internationalen oder besser internationalisierten Raum. Der kubanische Schriftsteller wird in steigendem Maße zu einem Vermittler innerhalb eines widersprüchlichen, ja antagonistischen, aber dennoch gemeinsamen transarealen Kulturraumes zwischen Europa  Baeza Flores, Alberto: Vida de José Martí, S. 306.  Vgl. hierzu etwa die Studie von Acosta, Leonardo: Martí descolonizador. Apuntes sobre el simbolismo náhuatl en la poesía de Martí. In: Casa de las Américas (La Habana) 73 (1972), S. 29–43.

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und Lateinamerika. Dafür stehen etwa die verschiedenen Zeitschriftenprojekte Martís in Guatemala und Venezuela, vor allem aber auch die sich vergrößernde Reichweite seiner Essays, die gegen Ende der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts von mehr als zwanzig lateinamerikanischen Zeitschriften abgedruckt wurden und ein großes und umfassendes gebildetes Lesepublikum in weiten Teilen der amerikanischen Hemisphäre erreichten. Charakteristisch für die Asymmetrie dieses transarealen kulturellen Raumes freilich bleibt die Tatsache, dass trotz seiner Vermittlungstätigkeit und seiner großen literarischen Bedeutung José Martí über lange Zeiträume und zweifellos bis heute in Europa ein Unbekannter blieb und dort erst spät, vermittelt in Spanien durch Miguel de Unamuno und Rubén Darío, in sehr bescheidenem Maße – wir haben dies in unserer Rezeptionsgeschichte gesehen – gelesen und rezipiert wurde. Die Exilsituation, die den Prozess der Internationalisierung der lateinamerikanischen Literatur beschleunigte und fast schon als eine Art Voraussetzung der großen amerikanischen Weltentwürfe – im 19. Jahrhundert von Andrés Bello97 über Domingo Faustino Sarmiento bis José Enrique Rodó98 – angesehen werden darf, wurde von José Martí nicht länger auf der Folie der antiken Mythologie abgebildet. Orestes hatte seinen Dienst getan. Denn der Rückgriff auf Mythen der griechischen Antike schien Martí fürderhin untauglich als Modell für die kulturelle und politische Problematik des lateinamerikanischen Subkontinents, dessen eigene Antike es erst noch zu entdecken und fruchtbar zu machen galt. Die internationalisierten Horizonte transarealer kultureller und literarischer Beziehungsebenen aber bildeten eine wohlfundierte Grundlage für die späteren Einsichten in Globalisierungsprozesse und -phänomene, mit denen wir uns im weiteren Fortgang der Studie noch auseinandersetzen werden.

Patriotischer Kampf, Erfahrung des Exils und die Grenzen der Romantik Von diesen weitgespannten Überlegungen war José Martí ganz zu Anfang seiner schriftstellerischen Aktivitäten aber noch weit entfernt. Einer der ersten Texte, die aus der Feder des jugendlichen José Martí auf uns gekommen sind, ist sein Vers-

 Vgl. zu diesen literarhistorischen Vermittlungsebenen die Analysen im vierten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten (2021), S. 663 ff.  Vgl. hierzu die kommentierte deutschsprachige Ausgabe von Rodó, José Enrique: Ariel. Übersetzt, herausgegeben und erläutert von Ottmar Ette. Mainz: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung (Reihe excerpta classica, XII) 1994.

Patriotischer Kampf, Erfahrung des Exils und die Grenzen der Romantik

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drama Abdala, das am 23. Januar 1869, wenige Tage vor dem sechzehnten Geburtstag seines Verfassers, in La Patria Libre – Semanario democrático-cosmopolita in La Habana erschien. Die für den jugendlichen Dichter in jenen Jahren einer Schulzeit im kolonialspanischen Habana zweifellos prägende Figur war die seines Lehrers, des patriotischen und romantischen kubanischen Dichters Rafael María de Mendive, des Direktors der Escuela de Instrucción Primaria Superior Municipal de Varones, die José Martí besuchte. Als der von ihm verehrte Maestro Mendive im Gefolge der revolutionären Ereignisse vom 22. Januar 1869 inhaftiert wurde, publizierte Martí im genannten ephemeren Periodikum am Folgetag sein Drama Abdala mit dem gut sichtbaren Vermerk: «Escrito expresamente para la Patria»:99 ausdrücklich für das Vaterland geschrieben. Als Besonderheit an diesem Lesedrama fällt von Beginn an die Tatsache auf, dass die Handlung in ein imaginäres Nubien verlegt wurde, eine Wüstenregion, die sich realiter im nordöstlichen Afrika zwischen Ägypten und dem Sudan ansiedelt. Selbstverständlich beabsichtigte der junge Theaterautor bei dieser Angabe, die Szenerie möglichst weit weg vom kolonialspanischen Territorium der Insel Kuba zu verlegen, um in einem romantisch umschriebenen Afrika möglichst ungestört die freiheitlichen Züge seines Helden mit dem arabisierenden Namen Abdala zur Geltung bringen zu können. Doch dieser literarische Schachzug, der zweifellos den Text vor der kolonialspanischen Zensur schützen sollte, ist insofern auch bedeutungsvoll, als der noch nicht sechzehnjährige Dichter unvermittelt Afrika ins Spiel brachte, den ursprünglichen Herkunftsort all jener Schwarzen, von denen ein hoher Anteil noch immer auf der Antilleninsel versklavt war und als völlig entrechtete Sklaven auf Plantagen wie als Haussklaven Dienste verrichten musste. Als die siempre fiel Isla de Cuba ächzte die größte der Inseln der Karibik noch immer unter dem spanischen Joch; und ein Ende der kolonialen Abhängigkeit war Jahrzehnte nach der politischen Independencia der meisten Staaten des sich herausbildenden Lateinamerika noch immer nicht absehbar. Der mit einem militärischen Patt endende Zehnjährige Krieg zwischen den kubanischen Mambises, den protonationalen Unabhängigkeitskämpfern, und den spanischen Truppen, an dessen Ende dann der Übergang zur Aufhebung der Sklaverei, die verstärkte Einfuhr zumeist asiatischer Kontraktarbeitern und das Hereinströmen US-amerikanischen Kapitals stehen sollten, hatte gerade erst begonnen und war in seinen Folgen noch nicht absehbar. Dass es einmal der kleingewachsene und damals noch jugendliche José Martí sein sollte, der zusammen mit den Kämpfern der Guerra de los Diez Años im Jahre 1895 die Zeit des Krieges von 1868 bis ins Jahr 1898 verlängern und

 Mari, José: Abdala. In: OCEC 1, S. 25.

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damit zu einem Dreißigjährigen Krieg um die kubanische Unabhängigkeit erweitern sollte, konnte zum Zeitpunkt des Erscheinens von Abdala noch niemand ahnen. Doch schon damals gehörten die letzten der dreihundertvierundfünfzig Verse Martís dem jugendlichen Protagonisten: Abdala wird zu einem Opfer der Tyrannei, doch wird sein Kampf für die gerechte Sache siegen. Dieser agonale Grundzug ist allen Texten eines sich für die Sache der Freiheit aufopfernden José Martí von Beginn an eingeschrieben: Schon laufen seh’ ich sie ... Auf die Feiglinge Werfen sich mit Macht die mutigen Krieger ... Nubien hat gesiegt! Glücklich sterb’ ich: Der Tod Ist wenig mir; denn mir gelang es, sie zu retten ... Oh! Wie süß ist’s doch zu sterben, wenn man stirbt Im kühnen Kampf, das Vaterland zu verteidigen! Ya los miro correr ... a los cobardes Los valientes guerreros se abalanzan ... Nubia venció! muero feliz: la muerte Poco me importa, pues logré salvarla ... Oh! qué dulce es morir, cuando se muere Luchando audaz por defender la patria!100

Dann fällt im Stück der Vorhang: Abdala stirbt in den Armen seiner Gefährten. Von jeher haben die Verse dieses Schlusses alle Betrachter dazu verleitet, darin die Prophezeiung des künftigen Todes von José Martí im Kampf gegen spanische Truppen in jenem Scharmützel zu sehen, welches am 19. Mai 1895 dem rastlosen Leben des künftigen kubanischen Nationalhelden ein abruptes, wenn auch wohl gesuchtes Ende bescherte. Unübersehbar ist das gesamte Leben und Schaffen des kubanischen Dichters und Freiheitskämpfers von einem agonalen Grundzug geprägt, der sich ebenso in seinen veröffentlichten wie in seinen unveröffentlichten Schriften, ebenso in seinen Gedichten wie in seinen Essay, ebenso in seinen Briefen wie in seinen Notizen als basso continuo finden lässt. Das patriotische und romantisch überhöhte Oh wie süß ist es, für das Vaterland zu sterben durchzieht sein Gesamtwerk und war dem Dichter der Versos sencillos sehr wohl bewusst. Noch in seinen Photographien werden wir diesen Grundzug Martí’schen Selbstverständnisses und Martí’scher Selbstinszenierung aufspüren können: Dulce et decorum est pro patria mori – der antike Vers des Horaz bildet ein Rückgrat des widerständigen Schreibens Martís.

 Ebda., S. 38 f.

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Doch springen wir von den Erstdrucken von Martís Abdala, die als Schätze heute in La Habana ebenso gehütet werden wie die Photographien von José Martí als politischem Strafgefangenen101 oder seine ergreifende Schrift El presidio político en Cuba,102 kurz zu einem anderen Theaterstück der siebziger Jahre, welchem Martí den bedeutungsvollen Titel Adúltera gab. Bereits in der ersten Version dieses Stückes gab der kubanische Autor den Dramatis Personae sprechende Namen, die zugleich ins Spanische übersetzt wurden: GRÖSSERMANN (hombre alto), der Ehemann; GÜTTERMANN (hombre bueno), ein Freund; PÖSSERMANN (hombre vil), der Liebhaber; und schließlich die Titelfigur des Stückes Ehebrecherin, also FLEISCH (Fleisch: carne), schlicht «die Frau».103 Während das Alter des Ehemannes von Martí mit vierzig Jahren und das seines Freundes mit dreißig Jahren angegeben werden, sind die Frau und ihr Liebhaber jeweils fünfundzwanzig Jahre alt. Während Abdala entfernt im Raum in einer afrikanischen Diegese angesiedelt wurde, ist Adúltera durch seine Namen in einer deutschsprachigen Welt und zugleich im 17. Jahrhundert situiert. Auch in diesem Theaterstück spielt der kubanische Autor folglich mit raumzeitlichen Entfernungen. Ohne an dieser Stelle auf den Ablauf des Stückes näher eingehen zu können, stellt schon die statische Rollenverteilung, welche Martí seinen Figuren bereits durch ihre charakterlich festgelegten Namenszuweisungen mitgab, ein Grundproblem der gesamten Anlage dar, wobei die an römisch-katholischen Dogmen ausgerichtete und mit mancherlei christlichen Moralvorstellungen aufgeladene Atmosphäre zugleich Elemente enthält, die man ohne jeden Zweifel als eindeutig frauenfeindlich, als klar misogyn bezeichnen muss. Daran kann auch die Tatsache nichts ändern, dass der Stückeschreiber seine Figuren in der zweiten, unvollständigen Version seines Werkes umbenannte in Grosman, Freund und Pesen, den Namen der Frau aber charakteristischerweise unverändert ließ: Sie hieß weiterhin FLEISCH. Wir werden uns in der vorliegenden Studie mit den Geschlechtervorstellungen von José Julián Martí y Pérez noch zu beschäftigen haben, dies aber nicht am Beispiel von Martís Drama Adúltera, sondern in Zusammenhang mit anderen Texten beziehungsweise Genderbeziehungen ausführlich tun. Doch wollte ich bereits in dieser frühen Phase unserer Untersuchung darauf hinweisen, dass wir auch in dieser statischen Figurenkonstellation auf einen Grundzug des Martí’schen Schreibens stoßen, der auf den ersten Blick nicht in den Zusammenhang eines

 Vgl. die Faksimile-Abbildungen dieser Dokumente am Ende des ersten Bandes der kritischen Werkausgabe der OCEC, o.P.  Vgl. hierzu den schönen ersten Teil des Bändchens von Weinberg, Liliana: José Martí: entre el ensayo, la poesía y la crónica. Xalapa: Universidad Veracruzana 2021, S. 17–35.  Martí, José: Adúltera (Primera Versión). In (ders.): OCEC 1, S. 132.

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Denkens der Globalisierung zu gehören scheint, den wir aber nicht einfach aus unserer Lektüre und aus unserem Verständnis der Schriften Martís ausblenden sollten. Wir können uns an dieser Stelle getrost von diesem im Jahre 1874 in seinem spanischen Exil in Zaragoza abgeschlossenen Stück Adúltera abwenden, nicht ohne dabei zu vergessen, dass José Martí sein Studium mit dem Titel eines Bachiller und eines Licenciado en Derecho Civil y Canónigo beschloss. Ende August schrieb er sich an der Fakultät für Filosofía y Letras für das Studium der Klassischen Philologie und insbesondere des Griechischen, für Metaphysik, für die Geschichte Spaniens sowie für das Hebräische ein. Bereits im Oktober desselben Jahres wurde er in diesem Fächerkanon examiniert und bestand alle Examina mit Bravour. So wurde er mit herausragenden Leistungen zum Licenciado im Bereich Filosofía y Letras ernannt, wobei ein bedeutender Schwerpunkt nicht ganz zufällig im Bereich der politischen Redekunst lag. Dass José Martí zu einem der herausragenden Redner der spanischsprachigen Welt avancieren würde, ließ sich damals noch nicht absehen, machte aber über lange Strecken seine große Bedeutung im politischen Feld erst möglich und stellte – wie wir im ersten Teil dieser Studie sahen – einen grundlegenden Bestandteil seiner Rezeptionsgeschichte dar. Auf diese Weise vermag es Martí, aus seiner bitteren Verbannung nach Spanien und seiner Zeit im politischen Exil auf der Iberischen Halbinsel ein Maximum an persönlichem Ertrag und Erfolg herauszuholen. Die Jahre in der kolonialen Metropole der Madre Patria sind schwierige Jahre für den kubanischen Freiheitskämpfer; aber sie gehen doch auf der individuellen Ebene versöhnlich zu Ende. Am Ausgang des Jahres 1874 beendet José Martí die Zeit seines politischen Exils in Spanien und tritt über Le Havre, Southampton und New York die Rückreise nach Lateinamerika an, wo seine Familie mittlerweile von Kuba nach Mexiko übersiedelt war. Am 8. Februar des Jahres 1875 kommt er mit dem Dampfer City of Mérida im mexikanischen Hafen von Veracruz an. Die Zeit Martís in seinem Exil in Mexiko beginnt. Wenden wir uns daher erneut jenen Schriften zu, welche der in Spanien ausgebildete junge Intellektuelle in diesem nordamerikanischen Land, dem er emotional stets nahestand, verfasste. Das Schreiben Martís während seines ersten Aufenthalts in Mexiko ist zweifellos von einer romantischen Ästhetik bestimmt, welche sich auch in jenen von Kontrasten gekennzeichneten Landschaften ausdrückt, welche der kubanische Schriftsteller entwirft. Es ist diese romantische Ästhetik und Metaphorik, welche José Martí wenige Jahre später verwandeln wird zu einem Manifest nicht mehr des Individuellen, sondern des Kollektiven. Es ist spannend, diese Entwicklung bei Martí näher zu verfolgen. In seinen Schriften bis in die ersten Monate seines mexikanischen Exils kleidete Martí gesellschaftliche Analysen häufig in landschaftliche Metaphori-

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ken von Gipfeln und Ebenen. Schon bei diesen landschaftlichen Charakterisierungen handelt es sich unverkennbar um Landschaften der Theorie.104 In einem Artikel von Juni 1875 für die Revista Universal deutet sich jedoch an, dass Martí die in Gang gekommenen Veränderungen in Politik, Gesellschaft und Ästhetik wahrgenommen hat und erkennt, dass die Metaphorik von Berg und Ebene nicht mehr die gesellschaftliche Situation wiederzugeben in der Lage sein konnte. Sehen wir uns diese Formulierungen und Wendungen, mit denen wir mit dem Vordenker Martí in Lateinamerika deutlich aus der Romantik heraustreten, etwas genauer an, um besser verstehen zu können, in welcher Weise sich der junge Kubaner ästhetisch weiterzuentwickeln begann: Das Menschengeschlecht verfügt über Berge und Ebenen, und so sprechen die Berge von der Erde mit den Höhen der Himmel, wie die Genies unter den Menschen mit den Hoheiten und Exzellenzen des Geistes reden. [...] Doch scheint es, dass so, wie die Hand des Menschen die Erhebungen der Erde zerstört, auch ich weiß nicht welch verborgene Hand sich darauf versteift, dasselbe mit den Höhen des Menschengeschlechts zu tun; und die Intelligenz macht sich gemein und verbreitet sich über die aufgegebenen Ebenen, und ganz so, wie sich im Gemeinen der Leute eine größere Sinnhaftigkeit in der Beurteilung beobachten lässt, mehr Lebhaftigkeit im Verstehen und in nützlichen Kenntnissen größerer Reichtum, so fehlen oder verbergen sich jene hohen Gipfel des Talents, die zuvor in einem einzigen Gehirn die Schicksale wie die Zukunft einer ganzen Nation enthielten. Alles verbreitet sich mit den Samen von Gerechtigkeit und Gleichheit; eine gute Tochter der Freiheit ist diese Verallgemeinerung und Häufigkeit des Talents. El género humano tiene montañas y llanuras, y así hablan las montañas de la tierra con las alturas de los cielos, como los genios entre los hombres con las altezas y las excelencias del espíritu. [...] Pero parece que, como la mano del hombre destruye las eminencias de la tierra, no sé qué mano oculta pone empeño en hacer obra igual con las del género humano;— y la inteligencia se vulgariza y se difunde por los abandonados llanos, y a la par que en lo común de las gentes se nota más sensatez en el juicio, más viveza en la comprensión, en útiles conocimientos más riqueza, escasean o se ocultan aquellas cumbres altas del talento, que antes reunían en un cerebro los destinos y el porvenir de una nación. Todo va diseminándose en justicia e igualdades; es buena hija de la libertad esta vulgarización y frecuencia del talento.105

José Martí zog in diesem Text von 1875 kulturtheoretische Konsequenzen aus jenem Unbehagen an der Kultur, das mehrfach in spätromantischen Texten lateinamerikanischer Autoren wie Eugenio María de Hostos anklingt, aber immer wieder in eine romantische Genieästhetik zurückgebogen wurde. Auch

 Vgl. zu diesem Begriff Ette, Ottmar: Roland Barthes. Landschaften der Theorie. Konstanz: Konstanz University Press 2013.  Martí, José: Asuntos para boletín. In (ders.): OC 6, S. 222.

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1. Hauptstück: Von der Romantik im spanischen Amerika

noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erscheinen häufig Markierungen des Genies, welches hoch über den Ebenen der Gemeinschaft schwebt. Hostos wie Martí:106 Beide karibische Autoren – und dies ist an sich bereits für die selbständige Area der Karibik charakteristisch – fragen jeweils universalistisch nach einer Gesetzlichkeit, welche für die gesamte Menschengattung Geltung beanspruchen und sich nach den Prämissen einer westlichen, auf Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit beruhenden Werteordnung ausrichten sollte. Dabei versteht es freilich der junge Martí, seine Landschaft der Theorie mit Blick auf das gesamte Menschengeschlecht dahingehend zu verändern, dass er sich nicht länger an den einsamen Gipfeln ausrichten mag, sondern die allgemeine Erhöhung der Ebenen uneingeschränkt begrüßt. Das kollektive Element in einer sich modernisierenden Gesellschaft interessiert den kubanischen Dichter zunehmend; dahinter tritt der Gipfel des alles andere weit überragenden Genies, in welchem eine gesamte breite Gesellschaft zusammenläuft, deutlich zurück. Dies bedeutet zumindest tendenziell, dass sich die unterschiedlichen Gesellschaften auf der kollektiven Ebene stärker miteinander vernetzen und Relationen weben, die nicht mehr von einer einzigen Figur wie alles verbindende Fäden in der Hand gehalten werden können. Die Tragweite dieser Entwicklung auf der Ebene einer Landschaft der Theorie lässt sich schwerlich überschätzen. Es stehen fortan nicht mehr die einsamen, schneebedeckten Gipfelhöhen des Genies im Vordergrund, sondern die für ganze Ebenen fruchtbaren Verbreitungen der Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Sie, so der gegen das koloniale Joch seiner Heimatinsel kämpfende Kubaner, gelte es fortan zu befördern. Der Dichter und Essayist José Martí beginnt, sich in jenen Jahren zunehmend von einer romantischen Ästhetik, zu der wir freilich noch einmal zurückkehren wollen, zu entfernen. Derselbe José Martí bringt all dies in einem Text von 1882, eben jenem Jahr des Erscheinens von Ismaelillo fast manifestartig zum Ausdruck, jenes Gedichtbandes, der als die Ouverture des Modernismo gesehen werden darf und in seinen kunstvoll einfachen Versen mit der Romantik definitiv abschließt. Es ist das berühmte Vorwort zum Poema del Niágara des mit ihm befreundeten venezolanischen Lyrikers Juan Antonio Pérez Bonalde, wo es in Überwindung derselben Berg-und-Ebene-Metaphorik prophetisch heißt: Ein großes Gebirge erscheint als kleiner, ist es von Hügeln umgeben. Und dies ist die Epoche, in welcher die Hügel sich zu den Gebirgen hin aufgipfeln; in welcher die Gipfel sich langsam in Ebenen auflösen; die jener anderen Epoche schon nahe ist, in welcher alle Ebenen Gipfel sein werden. Mit dem Abfallen der Erhebungen steigt das Niveau der Ebe-

 Vgl. hierzu den vierten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten (2021), S. 760 ff. und 1010 ff.

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nen an, was den Weg über die Erde leichter machen wird. Die individuellen Genies treten weniger hervor, da ihnen die Niedrigkeit der Umgebung fehlt, welche zuvor so sehr ihre Statur bestärkte. [...] Wir wohnen so etwas wie einer Dezentralisierung der Intelligenz bei. Das Schöne ist zum Herrschaftsbereich aller geworden. Die hohe Zahl an guten zweitrangigen Poeten erstaunt ebenso wie der Mangel an herausragenden, solitären Dichtern. Das Genie geht langsam vom Individuellen zum Kollektiven über. Der Mensch verliert zugunsten der Menschen. Die Eigenschaften der Privilegierten lösen sich auf, weiten sich zur Masse aus; was den Privilegierten von niederer Seele nicht gefallen wird, wohl aber denen von keckem und großzügigem Herzen, die wissen, dass es auf Erden, so groß man als Geschöpf auch sein mag, nicht mehr als Goldsand gibt und dass alles zur herrlichen Quelle des Goldes zurückkehrt, in welcher sich der Blick des Schöpfers spiegelt. Una gran montaña parece menor cuando está rodeada de colinas. Y ésta es la época en que las colinas se están encimando a las montañas; en que las cumbres se van deshaciendo en llanuras; época ya cercana de la otra en la que todas las llanuras serán cumbres. Con el descenso de las eminencias suben de nivel los llanos, lo que hará más fácil el tránsito por la tierra. Los genios individuales se señalan menos, porque les va faltando la pequeñez de los contornos que realizaban antes tanto su estatura. [...] Asístese como a una descentralización de la inteligencia. Ha entrado a ser lo bello dominio de todos. Suspende el número de buenos poetas secundarios y la escasez de poetas eminentes solitarios. El genio va pasando de individual a colectivo. El hombre pierde en beneficio de los hombres. Se diluyen, se expanden las cualidades de los privilegiados a la masa; lo que no placerá a los privilegiados de alma baja, pero sí a los de corazón gallardo y generoso, que saben que no es en la tierra, por grande criatura que se sea, más que arena de oro, que volverá a la fuente hermosa de oro, y reflejo de la mirada del Creador.107

Diese Formulierungen sind ebenso programmatisch wie prophetisch. In ihnen kommt eine veränderte Sichtweise einer sich ebenso rasch verändernden Welt zum Ausdruck, die just in jenen Jahren im Begriffe stand, sich in die dritte Phase beschleunigter Globalisierung zu verwandeln. Noch hatte José Martí die Mechanismen nicht verstanden, welche nunmehr den gesamten Globus zunehmend zu transformieren begannen. Vielleicht war es das poetische Gespür des Dichters, welches jenseits aller intellektuellen Kognition geradezu seismographisch die sich verändernden Bedingungen des Denkens wie des Wirtschaftens in einer allgemeinen, die ganze Welt umspannenden Landschaft der Theorie zu fassen suchte. Diese Art literarischen Verstehens war jedenfalls ihrer Zeit voraus. Gänzlich und von Grund auf verändert ist jene Landschaft der Theorie, welche in diesen selbstbewussten Wendungen für den Betrachter, für die Leserin, skizziert und ausgespannt wird. Jene Entwicklung hin zu einer Dezentralisierung der Intelligenz, zu einem Übergang von der Betonung des Individuellen hin zur Dominanz des Kollektiven, wird am Beispiel einer Landschaft vorgeführt, in welcher sich nicht nur ein einziger Parameter – etwa die Höhe der Berge –, sondern  Martí, José: Prólogo al «Poema del Niágara». In (ders.): OC 7, S. 228.

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1. Hauptstück: Von der Romantik im spanischen Amerika

alle Bezugsparameter grundlegend verändern. In sanften Übergängen, aber mit revolutionärem Inhalt wird eine Landschaft der Romantik umgestaltet, welche selbst in ihrer Malerei – wie ein Vergleich mit aktuellen Fotografien zeigen kann – die Steilheit ihrer Bergspitzen noch übersteilte, die Höhe ihrer Berge noch überhöhte, die Tiefe ihrer Täler noch übertraf.108 Selbst ein so empirisch geschulter und ausgerichteter Kopf wie Alexander von Humboldt übertrieb in seinen Skizzen der andinen Bergriesen die Steilheit der Bergflanken erheblich, um den gewünschten Eindruck beim Publikum zu erzielen. Mit Martí bricht sich eine neue Ästhetik Bahn, in welcher weitaus weniger der Kontrast zwischen den hohen Höhen und den tiefen Ebenen, sondern die Wechselwirkung zwischen allen Dingen, die sich auf ähnlichem Niveau befinden, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht. In neuerer Metaphorik könnten wir von einer spezifischen Sensibilität für die Vernetzung aller Dinge sprechen. Dieser Entwurf einer neuen Ästhetik, die sich angesichts einer sozioökonomischen Modernisierung in einer Epoche der Moderne im spanischsprachigen Amerika als Modernismo selbst bezeichnete, wird für die künftigen Jahrzehnte mitentscheidend sein. Wir werden uns mit dieser neuartigen Ästhetik noch näher auseinandersetzen. Doch es ist faszinierend zu sehen, dass diese (nietzscheanisch109 gesprochen) Umwertung aller Werte am Beispiel einer Landschaft, einer Landschaft der Theorie, metaphorisch durchgespielt und figural visualisiert werden kann. Von einer solchen modernistischen Warte aus waren die Veränderungen, die sich mit den Entwicklungen hin zu einer neuen Phase beschleunigter Globalisierung ergaben, wesentlich besser zu beurteilen als von einem romantischen Genieverständnis aus. Für einen noch romantisch denkenden José Martí war die Stimme des Genies immer rückgebunden an die Stimme Gottes, an die Stimme des Schöpfers, der stets sein Werk betrachtet. So bedeutet all dies auch nicht, dass das einsame und unerreichte Genie gänzlich aus der Vorstellungs-

 Vgl. zu diesen Grundlagen romantischer Landschaften (der Theorie) den Artikel von Gould, Stephen Jay: Church, Humboldt, and Darwin: The Tension and Harmony of Art and Science. In Kelly, Franklin / Gould, Stephen Jay / Ryan, James Anthony / Ridge, Debora (Hg.): Ferederick Edwin Church. Washington, D. C.: National Gallery of Art 1989, S. 94–107; sowie Baron, Frank: From Alexander von Humboldt to Frederic Edwin Church. Voyages of Scientific Exploration and Artistic Creativity. In: HiN – Alexander von Humboldt im Netz (Potsdam, Berlin) VI, 10 (2005), S. 9–23; und Howold, Jenns E.: Vegetation und Bergwelt Lateinamerikas. In: Expedition Kunst von C.D. Friedrich bis Humboldt. München, Hamburg: Dölling und Galitz Verlag 2003, S. 179–180.  Auf Bezüge zwischen dem Modernismo und Friedrich Nietzsche habe ich aufmerksam gemacht in Ette, Ottmar: «Así habló Próspero». Nietzsche, Rodó y la modernidad filosófica de «Ariel». In: Cuadernos Hispanoamericanos (Madrid) 528 (junio 1994), S. 48–62.

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welt des jungen Kubaners verschwunden wäre. Doch sind die Genies längst nicht mehr die einsamen Bergspitzen, die sich aus dem platten Flächen des Menschengeschlechts heraus erheben. Gerade daran, dass Martí noch lange am großen Genie und an der Vorstellung von herausragenden Schöpfern festhielt, können wir bereits ermessen, dass in Lateinamerika die Einführung einer neuen Ästhetik keineswegs mit einem radikalen Bruch mit der vorher gültigen und nun zu bekämpfenden einhergeht. Die neue Ästhetik des Modernismo wird auch bestimmte Züge des Romanticismo, da wo sie ihr genehm erschienen, integrieren, ohne doch ihren Anspruch aufzugeben, eine gänzlich neuartige Ästhetik darzustellen und die Romantik hinter sich gelassen zu haben. So werden im 20. Jahrhundert die historischen Avantgarden in Lateinamerika auch keineswegs den radikalen Bruch mit allem Vorherigen manifestieren, der für die europäischen Avantgarden insgesamt doch charakteristisch war, sondern eigene Wege beschreiten, welche ihre Eigenständigkeit gegenüber den Avantgarden Europas unterstreichen.110 Martí hat in der obigen Passage ein zweifellos zentrales romantisches Diskurselement gewählt und in seinem Sinne ästhetisch umgearbeitet. Diese Abkehr von der Romantik beinhaltet verschiedenste Facetten. Modernisierung, Disseminierung, Übergang vom Individuellen zum Kollektiven, Verbreitung von Wissen und Wahrheit, von ästhetischer Schönheit und lyrischer Kraft: Hier werden Elemente einer neuen Sichtweise geistiger Aktivität wie ästhetischer Schöpfung sichtbar, die überdies in einer neuen Sprache ihren Ausdruck finden, fernab im Übrigen von paternalistischen Bildern und Metaphern, die speziell bei Martí freilich niemals gänzlich aufgegeben werden oder verschwinden. Der Übergang vom Individuellen hin zum Kollektiven ist im sozialistischen Kuba bisweilen im Überschwang ideologischer Vorgaben als Ankündigung eines Weges gedeutet worden, der zum sozialistischen Realismus führen würde. Wir hatten uns mit diesem Aspekt der Rezeptionsgeschichte Martís beschäftigt. Eine derartige politisch und ideologisch motivierte Deutung ist sicherlich irreführend, hatte Martís modernistische Ästhetik doch nichts mit der Ästhetik eines realsozialistisch gewendeten Realismus gemein. Aber der Ausgleich zwischen den Gipfeln und den Ebenen beinhaltete sehr wohl, dass die ästhetischen Gipfelprodukte in Lyrik, Malerei oder Musik – um nur diese künstlerischen Bereiche zu nennen – nun der breiten Masse der Bevölkerung zunehmend zugänglich wurden. Im Kontext einer sozioökonomischen Mo-

 Ich habe dies ausführlich dargestellt im dritten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Von den historischen Avantgarden bis nach der Postmoderne. Potsdamer Vorlesungen zu den Hauptwerken der Romanischen Literaturen des 20. und 21. Jahrhunderts. Berlin – Boston: De Gruyter 2021.

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dernisierung, wie Lateinamerika sie ab der zweiten Hälfte der siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts erlebte, wurde es nun möglich (wenn auch nicht selbstverständlich), breiten Bevölkerungsschichten den Weg zu den Künsten zu erschließen und damit tendenziell die Ebenen auf Bergniveau zu bringen. Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Modernisierungsprozesse eröffneten nicht zuletzt ein weites Feld für Transformationen gerade der Aneignung und Rezeption von Kunst und Malerei, die nun auch in Lateinamerika immer breiteren Bevölkerungsschichten offen standen. Beobachten wir die Entwicklung und Bearbeitung dieser Metaphorik zwischen 1869, 1875 und 1882, so stellen wir fest, dass sich in dieser Zeit zumindest in der spanischsprachigen Karibik, aber auch in anderen Literaturen der hispanoamerikanischen Welt, die Vorzeichen literarischen Schaffens gewandelt hatten. Das Ende der Romantik war gekommen, ein Prozess, den wir anhand der Martí’schen Lyrik nochmals in seiner ganzen Entwicklung einzufangen versuchen wollen.

Martís romantische Dichtkunst in Mexiko Wenden wir uns daher der spannenden Entfaltung der romantisch inspirierten Lyrik José Martís in Mexiko zu, bevor wir uns mit dem kubanischen Dichter auf den Weg hin zum hispanoamerikanischen Modernismus begeben. Die Verbundenheit des kubanischen Schriftstellers mit den Ausdrucksformen der Romantik zwischen zwei Welten111 ergibt sich in den ersten anderthalb Jahrzehnten seines literarischen Schaffens in Kuba, in Spanien und in Mexiko nicht allein im Bereich der ´Dichtkunst, sondern auch auf den Feldern der erzählenden Prosa und des Essays, des nahezu alltäglichen Journalismus und der gesellschaftlichen Chronik. Und doch nimmt die Lyrik des kubanischen Migranten innerhalb aller literarischen und nicht-literarischen Gattungen eine Sonderstellung ein. Zweifellos lässt sich Martís Weg durch die Romantik zum Modernismus auch anhand anderer Gattungen überprüfen und nachvollziehen; auf der Basis früherer Untersuchungen112 wollen wir dies in einem nachfolgenden Kapitel

 Vgl. hierzu die Gesamtdarstellung der literarhistorischen Entwicklung im 19. Jahrhundert im vierten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten (2021).  Vgl. hierzu Ette, Ottmar: «Cierto indio que sabe francés»: Intertextualität und literarischer Raum in José Martís «Amistad funesta». In: Iberoamericana (Frankfurt am Main) IX, 25–26 (1985), S. 42–52; sowie (ders.): «Cecilia Valdés» und «Lucía Jerez»: Veränderungen des literarischen Raumes in zwei kubanischen Exilromanen des 19. Jahrhunderts. In: Berger, Günter / Lüsebrink, Hans-Jürgen (Hg.): Literarische Kanonbildung in der Romania. Beiträge aus dem deutschen Romanistentag 1985. Rheinfelden: Schäuble Verlag 1987, S. 199–224.

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dieses zweiten Teiles unserer Studie auch tun. Doch wird gerade im weiten Feld der Dichtkunst deutlich, dass sich auf der ästhetischen Entwicklungslinie zum Modernismo insbesondere jener Bereich in den Vordergrund schiebt, der die Entfaltung der lateinamerikanischen Gesellschaften im Zeichen der heraufziehenden dritten Phase beschleunigter Globalisierung am deutlichsten kennzeichnet: die sozioökonomische Modernisierung der noch jungen Nationen Lateinamerikas. Anders als in Spanien war in den meisten lateinamerikanischen Nationen die Dichtkunst spätestens seit Mitte der siebziger Jahre in den kontinentalen Areas, aber auch in Kuba einem starken Veränderungsdruck ausgesetzt.113 Dies lässt sich sehr schön am Beispiel der mexikanischen Lyrik José Martís aufzeigen, wobei man im Gegensatz zu dem Nicaraguaner Rubén Darío den deutlich früheren und eigenständigen Weg des Kubaners zum Modernismo als Teil einer modernistischen Genealogie und Filiation aufzeigen kann, welche vom späteren Erfolg Daríos zeitweise in den Schatten gestellt wurde und in relative Vergessenheit geriet. Nicht darüber vergessen aber sollten wir die Tatsache, dass José Martí in einer denkwürdigen Formulierung Rubén Darío einmal als seinen literarischen Sohn bezeichnet hatte.114 Vor etwa sieben langen Jahrzehnten schrieb der damals noch junge uruguayische Kritiker und Literaturtheoretiker Ángel Rama in einem Artikel mit dem bezeichnenden Titel Martí, poeta visionario anlässlich der Hundertjahrfeiern der Geburt José Martís: «Wenn wir heute aus der Perspektive, die uns diese Jahrhundertfeier gewährt, das Werk José Martís betrachten, das seit dem Tode des Helden in Dos Ríos 1895 zu wachsen nicht aufgehört hat, so überrascht uns sein unveränderlicher und tiefer poetischer Akzent, der es von anderen unterscheidet.»115 Das Verb überraschen deutet die erwähnte zeitweilige Vergessenheit an, die Angel Rama sehr bewusst war. Mit sicherem Blick konstatierte der junge Kritiker eine Geschichte der Rezeption des kubanischen Dichters, die in der Tat seit 1895, aber mit erneuerter Kraft gerade auch seit 1953 an Komplexität und überraschender Vielfalt gewann

 Vgl. hierzu die literarhistorische Darstellung im vierten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten (2021), S. 251 ff.  Zu dieser vieldiskutierten Bezeichnung im Kontext der Rezeption José Martís vgl. u. a. González, Manuel Pedro: Evolución de la estimativa martiana. In: Schulman, Iván A. / González, Manuel Pedro: Martí, Darío y el Modernismo. Madrid: Editorial Gredos 1969, S. 82.  Rama, Ángel: Martí, poeta visionario. In: Entregas de la Licorne (Montevideo) I, 1–2 (1953), S. 157: «Cuando observamos ahora, con la perspectiva que nos concede este centenario, la obra de José Martí, que no ha dejado de crecer desde la muerte del héroe en Dos Ríos el año 1895, nos sorprende el invariable y profundo acento poético que la distingue.»

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und in Lateinamerika, nehmen wir die Rezeptionsgeschichte von Simón Bolívar einmal aus, wohl nicht ihresgleichen hat. Dies zu zeigen war Aufgabe des ersten Teiles dieser Studie gewesen. In den Jahrzehnten seit dem zweiten Centenario Martís im 20. Jahrhundert im Jahre 1995 ist die Auseinandersetzung mit den Texten des großen kubanischen Lyrikers und Essayisten vielfach durch neuerliche ideologische Inanspruchnahmen und antagonistische Instrumentalisierungen überschattet worden.116 Doch sein Gesamtwerk in Vers wie in Prosa ist von einer so durchgängigen poetischen Kraft durchzogen, dass es sich auch in Zukunft vor simplen Reduktionismen ideologischer Art sicherlich schützen wird. Eine heute kaum noch zu überblickende Vielzahl von Arbeiten zu Stil, Rhythmik oder Symbolik seines Schreibens konnte zweifelsfrei belegen, dass sich das poetische Schaffen des Kubaners keineswegs auf den Bereich seiner Lyrik im engeren Sinne beschränkt oder beschränken lässt. In seine Prosa sind – beispielsweise auch in seinem Essay Nuestra América – Verse wie etwa der Achtsilber eingewoben und stellen poetische Rhythmisierungen dar, die sich bei lautem Lesen zweifelsfrei identifizieren lassen. Dass José Martí überdies als großer, ja visionärer Theoretiker der (von ihm erkannten dritten) Phase beschleunigter Globalisierung eine überragende intellektuelle Rolle spielt, bestimmt wesentlich die gesamte Perspektive und den Blickwinkel, aus dem wir das mexikanische Werk Martís beleuchten. Wir werden daher unsere besondere Aufmerksamkeit jenen Aspekten einer Wahrnehmung der Ausdrucksformen einer sozioökonomischen Modernisierung widmen, die der Exilant José Martí in Mexiko erkannte und für seine damalige mexikanische Leserschaft herauszufiltern vermochte. Wenn das Interesse am Werk dieses großen kubanischen Autors seit 1953 und rund um das Jahr 1995 auch weltweit beeindruckend zugenommen hat, so lässt sich dies gewiss nur sehr eingeschränkt für den Bereich von Martís Lyrik jenseits der beherrschenden Gedichtsammlungen behaupten. Denn innerhalb der poetischen Produktion blieben die Verse des jungen Martí gänzlich im Schatten der Gedichte seines Ismaelillo, seiner Versos libres oder seiner Versos sencillos, welche das Hauptaugenmerk der kubanischen wie der internationalen Kritik und literaturwissenschaftlichen Forschung beanspruchten. Es ist daher verlockend, sich mit Blick auf die heraufziehende Modernisierung im Norden des lateinamerikanischen Kontinents auf die frühe Lyrik der mexikanischen Zeit Martís zu konzentrieren, einer Zeit also, die wir uns auf der

 Vgl. hierzu auch Ette, Ottmar: La polisemia prohibida: la recepción de José Martí como sismógrafo de la vida política y cultural. In: Cuadernos Americanos, nueva época (México) VI, 32 (marzo – abril 1992), S. 196–211.

Martís romantische Dichtkunst in Mexiko

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Ebene der journalistischen Prosa und der Boletines Martís für die mexikanische Revista Universal bereits näher angesehen haben. Gerade die poetischen, die dichterischen Ausdrucksformen dieses Zeitraums wurden in der bisherigen Martí-Forschung sträflich vernachlässigt. Widmen wir uns also der poetischen Produktion Martís während seines Exils in Mexiko, ohne darüber die intratextuelle Beziehung zu seinen Prosaschriften zu vergessen. In der Revista Universal veröffentlichte Martí am 26. Januar 1876 seine fünfte und letzte ojeada zur Exposición Nacional de México, zur Mexikanischen Nationalausstellung, die ihre Tore dem Publikum der Hauptstadt bereits am 1. Dezember des Vorjahres geöffnet hatte. In diesem kurzen Text schreibt der seit einem knappen Jahr in Mexiko im Exil lebende junge Redakteur nicht ohne Stolz auf sein Gastland: Gestern gingen wir zum Palast und fürchteten, dort nur Dürftiges von Neuheitswert vorzufinden, doch empfanden wir zugleich Überraschung, Befriedigung und Stolz, in diesem Lande Mexiko zu leben, angesichts der Vielzahl an Zeugnissen des Reichtums, mit dem sich die Schaubereiche, das Zentrum, alle verschiedenen Orte der Ausstellung geschmückt haben. Hier findet sich reiches Holz; dort Fortschritte bei Maschinen und in der Industrie: zusammen mit dem trügerischen Produkt des Bergbaus, den vielversprechenden Instrumenten der Arbeit: Ein an sich kleiner Staat erscheint als respektabel, reich und groß: Man sieht die aufblühende Industrie sowie eine Vielzahl überquellender Produkte; und insofern man sich allem mit Engagement widmet, werden die Märkte in unserem Lande wie im Ausland überfließen. Fuimos ayer al Palacio, temerosos de hallar en él escasas cosas nuevas, y sorpresa, satisfacción, orgullo por vivir en esta tierra de México, todo esto sentimos a la vez ante las numerosas muestras de riqueza con que se han aumentado los aparadores, el centro, todos los lugares de la Exposición. Aquí rica madera; allá adelantos de la maquinaria y de la industria: junto al engañador producto de las minas, los instrumentos prometedores del trabajo: un Estado, pequeño en sí, aparece respetable, rico y grande: vese la industria que comienza, y productos tales y tan abundantes, que a ser atendidos con empeño, rebosarán los mercados en nuestra tierra y las extrañas.117

Mitte der siebziger Jahre sind in Mexiko zur Überraschung des Redakteurs bereits eine klare Aufbruchstimmung in der Industrie und ein hoffnungsvoller Beginn sozioökonomischer Modernisierung spürbar. Mit wenigen, aber wohlkalkuliert verdichteten Worten entwirft José Martí für seine Leserinnen und Leser das Panorama einer noch in den Anfängen steckenden, noch zögerlichen industriellen Entwicklung Mexikos, von den nachwachsenden Rohstoffen (den Hölzern) über die noch ausbeutbaren Lagerstätten an Edelmetallen – wobei Martí stets davor warnte, die künftige Industrialisierung auf den nach seiner Ansicht trügerischen

 Martí, José: Una ojeada a la Exposición (V). In (ders.): OCEC 2, S. 245.

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Reichtum der Bodenschätze zu gründen, der darüber hinaus auch noch unliebsam an das extraktive Wirtschaftssystem der Kolonialzeit erinnerte – bis hin zu den Industriegütern, für welche die adelantos de la maquinaria oder die instrumentos prometedores del trabajo stellvertretend stehen. José Martí spricht also lobend von den Fortschritten im Bereich des Maschinenbaus und von vielversprechenden Entwicklungen bei der Konstruktion von Arbeitsinstrumenten. Überall erblickt der kubanische Redakteur Innovationen und Verbesserungen, die sich günstig für die internationale Stellung der mexikanischen Wirtschaft auswirken würden. Auf diese Weise entsteht das Bild eines umfassenden Modernisierungsprozesses, der auch nach Ansicht Martís das Land in eine leuchtende, prosperierende Zukunft führen werde. Martí versprach sich davon einen wachsenden Wohlstand nicht allein in Mexiko, sondern auch in vielen anderen freien Ländern der lateinamerikanischen Welt. Allein die kolonial behaftete Extraktionswirtschaft mit dem für Mexiko sprichwörtlichen Silberbergbau an der Spitze schloss der Journalist der Revista Universal aus seinem Zukunftsbild entschieden aus. Die Überraschung des jungen Redakteurs ist sicherlich nicht gespielt und steht Mitte der siebziger Jahre für den Beginn eines Denkprozesses, der sich den sich verändernden Charakteristika einer neuen Epoche, der Moderne, zuwendet und in der Modernisierung ein sichtbares Zeichen dessen erkennt, was die neue Epoche auszeichnen werde. Diese auf der menschlichen Arbeit und einem modernisierten Maschinenpark aufbauende Zukunft verkörpert sich in diesem wichtigen Text in einer Reihe symbolhafter Objekte, welche zugleich Überraschung und Befriedigung im Besucher hervorrufen, der nicht damit rechnete, so vieler Schätze, so vieler Reichtümer gewahr zu werden. Denn weder auf Kuba noch in seinem spanischen Exil hatte José Martí derartige Entwicklungen bislang heraufziehen sehen. Im Folgenden möchte ich wie Martí einen wenig bekannten Bereich aufsuchen und eine noch wenig untersuchte Phase seines Schaffens analysieren in der Hoffnung, vielleicht auch hierbei überraschende Entdeckungen im reichen Schaffen des Kubaners zu machen. Dabei könnte es sich um Entdeckungen handeln, die nicht nur unsere Vorstellungen von Martís Jugendwerk, sondern seines literarischen Schaffens insgesamt bereichern. Blicken wir genauer auf die Prosa des jungen Schriftstellers, so bemerken wir deutlich, dass es nicht nur auf der Ebene des Content, auf der Ebene der technischen Innovationen, sondern auch auf jener der Form literarische Neuerungen gibt, welche deutliche Veränderungen im Martí’schen Schreiben andeuten. Denn dass Martí bei seinen frühen Chroniken und Berichten aus der Alltagswelt seines Exillandes noch auf der Suche nach neuen stilistischen und sprachlichen Möglichkeiten war, dürfte die oben angeführte Passage deutlich gezeigt haben.

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Dass dieser breite Bereich seines Oeuvre bislang noch so selten analysiert wurde, geht zumindest teilweise auf Martís eigene Haltung gegenüber seinen frühen Schriften zurück. In seinem berühmten Brief vom 1. April 1895 an seinen Vertrauten Gonzalo de Quesada y Aróstegui, der bekanntlich auch als literarisches Testament des Kubaners gilt, verurteilt er gnadenlos sein gesamtes lyrisches Schaffen vor 1882: «Von meinen Versen veröffentlichen Sie keine vor dem Ismaelillo; keiner ist einen Pfifferling wert. Danach sind sie einheitlich und ehrlich.»118 Der Verfasser der Versos sencillos warf nicht nur einen kritischen Blick auf sein lyrisches Gesamtwerk, sondern wollte die Sichtweise darauf kontrollieren und die frühen Entwicklungen aus seinem poetischen Werdegang tilgen. Diese rasche Verdammung in toto hatte Folgen, die sich nicht allein auf die Rezeption seiner poetischen Werke, sondern auch auf ein tieferes Verständnis der Entwicklungsgeschichte seines Denkens beziehen. Martís völlige Verdammung seines poetischen Frühwerks hatte allerdings keine Folgen auf der Ebene seiner von Quesada y Aróstegui und dessen Nachfolgern mit Hingabe gesammelten Werke und nachfolgenden Werkausgaben. Wenn keiner der Verse, die Martí vor der Publikation seines ersten Gedichtbandes verfasste, vor diesem überstrengen Urteil Bestand hat, so haben sich zum Glück nicht alle Martí-Forscher, vor allem aber nicht seine Herausgeber, diesem wie ich meine ungerechten Spruch gebeugt. Martí wollte einfach dafür sorgen, seit jeher als der Dichter einer lyrischen Bewegung zu erscheinen, die man als den hispanoamerikanischen Modernismo bezeichnet. Deswegen sprengte er sein poetisches Frühwerk ab. Glücklicherweise missachtete schon Quesada y Aróstegui Martís Anweisungen und rettete damit die Mehrzahl dieser Texte vor dem Vergessen. Andere, wie etwa der kubanische Lyriker Eugenio Florit119 oder der Mexikaner Alfonso Herrera Franyutti, stellten die Kriterien der Selbstbeurteilung Martís in Frage und bezogen die frühe Lyrik in ihre Untersuchungen durchaus mit ein. Für uns ist dies wichtig, wollen wir die Lyrik des Kubaners doch nicht ausschließlich auf die Ästhetik des Modernismo reduziert wissen, sondern in ihrer gesamten Entwicklung überblicken und genau den Weg verfolgen, den der kubanische Dichter vom Romanticismo zum Modernismo einschlug. So widmete Herrera Franyutti vor langen Jahrzehnten, anlässlich der wichtigen Martí-Tagung von Bordeaux, sein Augenmerk jenen Texten, die er als «la

 Martí, José: Carta a Gonzalo de Quesada y Aróstegui. In (ders.): OC 1, S. 26: «Versos míos, no publique ninguno antes del Ismaelillo; ninguno vale un ápice. Los de después, al fin, ya son unos y sinceros.»  Florit, Eugenio: Versos. In: José Martí (1853–1895). Vida y obra – Bibliografía – Antología. New York, Río Piedras: Hispanic Institute 1953, pp. 27 f.

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sencilla poesía de Martí en México»,120 als die einfache Poesie Martís in Mexiko, bezeichnete. Kommt auf diese Weise auch ein bescheidenes, aber wachsendes Interesse an der frühen Lyrik Martís zum Ausdruck, so stellt sich doch hinsichtlich der Ausrichtung der bislang zu diesem Thema publizierten Studien ein doppeltes Problem, das wir durchaus in Erinnerung rufen sollten. Zum einen werden die frühen Gedichte häufig auf die späteren poetischen Arbeiten Martís hin perspektiviert und diesen (schon von Martí selbst kanonisierten) Texten hierarchisch zu- und untergeordnet, so dass die Produktion gerade der mexikanischen Zeit ihres eigenen Wertes, ihres eigenen Ortes innerhalb des Gesamtwerkes beraubt wird. Und zum anderen wird immer wieder auf verschiedenste, aber nie konkretisierte Mängel dieser frühen Arbeiten hingewiesen, wobei die eigene Beschäftigung mit diesen Versen immer wieder damit begründet wird, dass sie von vorrangig biographischem Interesse seien: «Sie dienen dem Biographen wie dem Psychologen, der in das Leben des Helden vordringen möchte, insofern sie uns an der Hand nehmen und mit ihren Zeilen durch die biographische wie gefühlsmäßige Chronologie des Martí jener Jahre führen und ihn uns mit seinem gesamten Körper zeigen».121 Der offensichtlichen Gefahr einer solch reduktionistischen und biographistischen Sichtweise der frühen poetischen Produktion des Kubaners aber wollen wir entgehen. Trotz der nicht gänzlich zu bestreitenden Legitimation und der Verdienste derartiger autobiographischer Lektüren soll in der vorliegenden Arbeit weit weniger der Körper des damals zweiundzwanzigjährigen Martí, als vielmehr die Beziehung zwischen jenem Körper und dem Körper der Lyrik, eine Relation, wie sie die Verse jener Zeit entfalteten, herausgearbeitet werden. Denn sie erschließt uns die Komplexität der Beziehungen zwischen Geburt und Schreiben, zwischen Leben und Dichten, zwischen Sterben und agonaler lyrischer Schöpfung: Sie erschließt uns den Dichter zum Zeitpunkt der siebziger Jahre in einer Phase, in welcher er in Mexiko nach politischen, aber auch nach poetischen Orientierungen suchte. Um dieser Zielsetzung innerhalb eines nur beschränkt zur Verfügung stehenden Raumes im zweiten Teil unserer Studie gerecht werden zu können, konzentrieren wir uns im Wesentlichen auf ein Gedicht aus der Serie mexikanischer Gedichte Martís, auf De noche, en la imprenta. Dabei soll dieser bislang zweifellos unterschätzte Text freilich nicht nur in den Kontext der mexikanischen Lyrik ins-

 Herrera Franyutti, Alfonso: La sencilla poesía de Martí en México. In: En torno a José Martí. Coloquio Internacional. Bordeaux: Éditions Bière 1974, S. 341–363.  Ebda., S. 346: «sirven al biógrafo y al psicólogo que quiera penetrar en la vida del héroe, ya que estos nos llevan de la mano a través de cada una de su líneas en la cronología biográfica y sentimental del Martí de esos años, y nos lo muestran de cuerpo entero.»

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gesamt, sondern mehr noch der gesamten literarischen beziehungsweise journalistischen Produktion Martís zum damaligen Zeitpunkt gestellt werden. Denn Martís Schreiben ist eines, in welchem sich von jeher die Formen seiner escritura in Prosa und Poesie, in Presseartikeln und Privataufzeichnungen grundlegend wechselseitig beleuchten. In diesem intratextuellen Verweiszusammenhang darf nicht übersehen werden, dass dieses Poem – wie auch die anderen Gedichte der mexikanischen Zeit – im Gegensatz zu vielen der späteren Verse von Martí selbst veröffentlicht wurde. Zusammen mit anderen, ebenfalls in der mexikanischen Revista Universal abgedruckten Texten bildet sich auf diese Weise ein gut erkennbares und abgrenzbares Textkorpus heraus, dem wir uns in diesem Abschnitt unserer Studie widmen sollten. Das ins Zentrum unserer Überlegungen gestellte Gedicht – das gerade aufgrund seiner poetologischen Dimension nach meiner Ansicht eine grundlegende Zugangsmöglichkeit zum poetischen Schaffen des späteren Verfassers von Nuestra América bietet – wurde in eben dieser Revista Universal, in welcher die mit dem Pseudonym Orestes signierten Artikel erschienen, am 10. Oktober 1875 erstmals abgedruckt. Es stammt daher mitten aus der Zeit im mexikanischen Exil, eine Epoche großer Hoffnungen und mancher Rückschläge für den jungen Kubaner. Es war die Zeit, in welcher Martí versuchte, sich im schriftstellerischen Bereich, im Feld der Literatur einen Namen zu machen. Nur wenige Wochen später, am 19. Dezember 1875, sollte der junge kubanische Autor mit großem Erfolg im Teatro Principal von Mexiko-Stadt sein Theaterstück Amor con amor se paga uraufführen. In De noche, en la imprenta führt uns der Autor, den der junge Ángel Rama – wie wir sahen – als den Dichter des Lichts, der Transparenz und der Klarheit begriff, in die Nacht, zu einer Druckerei und damit zu jenem Ort und Augenblick, an dem das Schreiben sich in einen Gegenstand industrieller Produktion verwandelt. Es ist der Moment unmittelbar bevor der dann gedruckte Text zu einem öffentlichen «Ereignis» wird, das sich der Vielfalt der Lektüren und Deutungen öffnen muss und öffnet. In diesem Augenblick fließen Produktion, Distribution und Rezeption bereits zusammen: der prozesshafte Charakter einer Produktion wird zumindest auf technischer und industrieller Ebene in ein abgeschlossenes Produkt überführt. Ein Buch ist entstanden. Martís Gedicht markiert damit einen grundlegenden Vorgang der buchtechnischen Verfertigung von Literatur. Innerhalb einer so im Kommunikationsraum des Kulturellen und damit gerade auch in ihrer sozialen Dimension verankerten Literatur markiert das Gedicht De noche, en la imprenta einen für das gesamte literarische Schaffen Martís überaus wichtigen Aspekt, dessen vorrangig poetologische Konsequenzen im folgenden überdacht und entfaltet werden sollen. Dabei

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spielt im Hintergrund die Frage der sozioökonomischen Modernisierung durchaus eine Rolle. Denn anhand dieses Gedichts wird es möglich sein, nicht allein die Übergänge von einer romantischen zu einer binnen weniger Jahre modernistischen Ästhetik zu untersuchen, sondern den jungen Intellektuellen José Martí bei seiner Entwicklung als Schriftsteller und Denker zu begleiten und dabei die Körperlichkeit seines Schreibens näher in Augenschein zu nehmen. Es ist ein Martí, der noch im Orbit des Romanticismo zum Denker und Vordenker der heraufziehenden Epoche der Moderne, der Modernidad in Lateinamerika, wird. De noche, en la imprenta ist aus intratextueller Perspektive Teil einer Serie in der Revista Universal veröffentlichter Gedichte, die mit einer lyrischen Reflexion der Trauer über den Tod von Martís Lieblingsschwester «Ana» einsetzt. Mariana Matilde war am 5. Januar 1875 gestorben, also nur wenige Wochen vor Ankunft des Exilierten in seinem ersten lateinamerikanischen Gastland im Hafen von Veracruz am 8. Februar desselben Jahres. Mit der Publikation dieses Gedichts am 7. März in der Sektion Variedades setzen Martís Beiträge für die liberale, an den Positionen des damaligen mexikanischen Präsidenten Lerdo de Tejada orientierte Zeitung ein. Nur kurz kann ich in diesem Zusammenhang aus jenem Gedicht zitieren, das den Reigen der mexikanischen Gedichte des kubanischen Poeten eröffnet. Das auf den 28. Februar 1875 datierte Poem erschien am 7. März desselben Jahres unter dem Titel Mis padres duermen in der Revista Universal. Nur wenige Verse vom Ausgang dieser Schöpfung sollen uns ein Gespür für diese Dichtkunst der Zeit verschaffen: Oh Mutter, wie Du sie mit den weißen Knochen siehst, Wie weiß sie aufsteigt, wie sie verschönt das Leben, Du fühlst genau, wie sie Dich innig küsst, In Deinem Herzen ist sie wie ein schlafend Beben! — Oh Lippen, welche die Luft so sehr genießen, Die ihre jungfräulich Lippen einst geatmet! — [...] Und da’s wahr ist, dass sie schläft so ferne — So sagt mir, warum ich hier bin und so wach! — ¡Oh, madre, que la ves de la honda huesa Alzarse blanca, embellecer la vida, Y sientes el instante en que te besa Y en que en tu corazón está dormida! — ¡Oh, labios que el postrer aire gozaron Que sus vírgenes labios respiraron! — [...]

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Y — puesto que es verdad que lejos duerme — ¡Decidme cómo estoy aquí despierto! —122

In Mis padres duermen kommt die ganze persönliche Verzweiflung des jungen Dichters zum Ausdruck, der bei seiner Ankunft seine Lieblingsschwester nicht mehr lebend antraf, sondern nur noch ihren Tod beklagen kann. Er kleidet diese abgrundtiefe Zerrissenheit in von der Romantik tradierte Bilder, in denen das Herz sich mit dem Schmerz des Dichters vermengt und ein Bild der Toten evoziert, das sie als Tote noch immer im Leben sieht – ein Bild, in dem die jungfräulichen Lippen von Ana noch immer ihre Lungen füllen, während das lyrische Ich in seiner Verzweiflung wacht. So ist die tote Schwester noch lebendig, während ihr lebendiger Bruder schon ein halber Toter ist. Wir werden auf diese Bilder zwischen Leben und Tod auch bei jenem Gedicht stoßen, das aus demselben Zeitraum stammt und im Zentrum unseres Interesses steht. Unter höchst schwierigen persönlichen wie gesellschaftlichen Bedingungen gelingt es dem jungen Exilanten, in seinem mexikanischen Gastland wirtschaftlich und bald auch literarisch Fuß zu fassen. Wenige Monate später, nach dem Abdruck dieses ersten mexikanischen Gedichts und zum Zeitpunkt des Erscheinens von De noche, en la imprenta, erfreut sich der kubanische Exilant bereits einer wirtschaftlich recht gesicherten Position: Längst ist er auch offiziell zu einem der fest angestellten Redakteure der Revista Universal aufgestiegen. Als am 7. Mai das erste Boletín unter dem Pseudonym Orestes abgedruckt wurde, erschien zugleich sein Name erstmals auf der Liste der Redakteure des liberalen mexikanischen Blattes. Schon kurz nach seiner Erstveröffentlichung wird das Gedicht De noche, en la imprenta erneut – am 20. Dezember 1875 – abgedruckt, diesmal aber nicht in der mexikanischen, sondern in der venezolanischen Hauptstadt, und zwar unter bis heute wenig geklärten Begleitumständen in der dortigen (und für Martís späteres Schaffen so wichtigen) Tageszeitung La Opinión Nacional. Die wiederholte Veröffentlichung dieses Gedichts verweist auf die große Bedeutung, die der noch junge Dichter seinem Poem beimaß: Der frühe Martí zweifelte anders als der späte nicht an der Qualität seiner romantisch inspirierten Verse. Gleichwohl gab es auch damals schon Einschränkungen. Die den «versos del poeta mexicano José Martí» beigefügte «Aclaración» ist bemerkenswert: «Obwohl in ihnen literarische Mängel sichtbar sein mögen und in ihnen das sie unterscheidende romantische Kolorit offenkundig ist, drucken wir diese Verse

 Martí, José: Mis padres duermen. In (ders.): Poesía Completa. Edición crítica. La Habana: Editorial Letras Cubanas 1985, S. 54. Ich kürze diese Ausgabe im Folgenden mit der Sigle PCEC ab.

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erneut ab, in denen der Dichter es vermochte, die harte und raue Aufgabe der Arbeiter in der Druckerei zu deuten, sind sie doch wahre Märtyrer, die stets für die Erlangung der erhabensten Ideen kämpfen, sich für den menschlichen Fortschritt aufopfern und dabei am Ende ihrer Laufbahn noch den Dolch des Hasses und das Gift des Elends erhalten. Trotz allem aber liest man diese Verse mit Freude.123 Diese Worte, die zweifellos aus der Feder des kubanischen Lyrikers stammen, sprechen bereits mit einer gewissen Einschränkung vom romantischen Charakter und Kolorit der Verse von De noche, en la imprenta. José Martí hatte sich bereits von der Romantik ebenso in Europa wie in Lateinamerika abzuwenden begonnen und suchte nach neuen ästhetischen Ausdrucksformen. Dieses Zeugnis einer frühen Lektüre des Martí’schen Gedichts zumindest teilweise wohl durch den Dichter selbst, die vom künftigen Ruhm des Modernisten noch nichts ahnen kann, kehrt die soziale und politische Dimension dieses Textes hervor. Denn die Arbeiter setzen sich für den Fortschritt – der zweifellos zentrale Begriff des Abschnitts – und für das Gemeinwohl der Gesellschaft ein. Die bewusste Betonung der thematischen Ebene, die Herausstellung des schweren Loses der Arbeiterschaft und ihres ruhelosen Einsatzes als Märtyrer für den Fortschritt der Menschen geht einher mit der Kritik an einer in Lateinamerika schon verbrauchten Romantik sowie an einer Reihe nicht näher erläuterter literarischer Mängel, für die Martí gleichwohl keine Abhilfe schuf. Der Kubaner hatte sich in Mexiko wiederholt für die Situation der mexikanischen Arbeiterschaft in den unterschiedlichsten Bereichen eingesetzt und stand ersten Organisationsformen der Arbeiter in diesem nordamerikanischen Land sehr nahe. Martí sympathisierte mit den vom Sozialismus geprägten Zielen der Arbeiterschaft in Mexiko. Die Lektüre von Carlos Ripoll, dessen Forschungen die Kenntnis dieses Textes zu verdanken ist, legt sich gleichsam über diese erste Deutungsschicht und hebt zusätzlich die dem ersten Kommentator offensichtlich noch völlig unbekannte autobiographische Dimension heraus: Das Gedicht wird so als Dokument von Martís «comienzos difíciles como empleado de imprenta», als «testimonio

 Zitiert nach Ripoll, Carlos: Un poema de Martí proletario. In (ders.): José Martí. Letras y Huellas Desconocidas. New York: Eliseo Torres & Sons 1976, S. 31 f: «A pesar de que no carecen de defectos literarios, y del colorido fuertemente romántico que los distingue, reproducimos estos versos en que el poeta ha sabido interpretar el ímprobo y rudo afán de los obreros de la prensa, verdaderos mártires que luchando siempre por las ideas más sublimes y sacrificándose por el progreso humano sólo recogen al fin de su carrera el puñal del odio y el veneno de la miseria. A pesar de todo, esos versos serán leídos con agrado.»

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poético, hasta ahora olvidado»,124 präsentiert, es zeuge von Martís schwierigen Anfängen als Gehilfe in der Druckerei und stelle ein bislang vergessenes lyrisches Zeugnis dar. In den Augen Ripolls – und hier liegt die eigentliche Problematik dieser Rezeption – stellt De noche, en la imprenta ein bislang unbekanntes Dokument und Zeugnis dar, es bezeuge eine biographische Etappe und wird nicht als eigentliches poetisches Kunstwerk gelesen. Als solches wollen wir es in der Folge aber lesen, es genau untersuchen und uns dabei nicht wie bislang mit einer ganzen Serie von Gedichten auseinandersetzen, sondern ein einziges Gedicht des Dichters beispielhaft herausgreifen, auch wenn es zwischen De noche, en la imprenta und den anderen Gedichten der mexikanischen Epoche – wie wir mit Blick auf Mis padres duermen noch sehen werden – zahlreiche Bezüge und Entsprechungen gibt. Spät machte die gleichwohl verdienstvolle Studie von Carlos Ripoll auf die Existenz dieses Martí’schen Gedichts aufmerksam. In der Tat hatten sich die Spuren des Gedichts nach dem Abdruck in La Opinión Nacional verloren: De noche, en la imprenta findet sich daher auch in keiner der zahlreichen Obras Completas vor der kritischen (und bereits im ersten Teil unserer Studie besprochenen) Werkausgabe von 1985. Auch Herrera Franyutti erwähnte das Gedicht in seinem bereits angeführten Vortrag in Bordeaux nicht. In der sich anschließenden Diskussion aber verwies Ernesto Mejía Sánchez damals auf diese «composición que alude al trabajo personal de Martí como periodista y aún como corrector de pruebas»,125 es stelle sozusagen einen lyrischen Rückblick auf Martís Zeit als Fahnenkorrektor dar. 1975 schließlich wurde das Gedicht von Herrera Franyutti veröffentlicht, wobei der mexikanische Martí-Forscher darauf verwies, dieses Gedicht schon während der Vorbereitung seines Buches Martí en México gelesen zu haben. Diese Lektüre hinterließ offensichtlich Spuren, denn die «tristes y potentes imágenes permanecían vagas pero imborrables en mi memoria», hätten sich also durch traurige und starke Bilder unauslöschlich in sein Gedächtnis eingeprägt. Genau ein Jahrhundert nach seiner Erstveröffentlichung wird damit jenes Gedicht gleichsam exhumiert, das auch für Herrera Franyutti vorrangig autobiographisch zu lesen war: «nos habla de horas amargas para el poeta»,126 spreche das Gedicht doch von bitteren Stunden des Poeten. So waren es in gewisser Weise diese tristes y potentes imágenes, die das Gedicht vor dem endgül Ebda, S. 34.  Vgl. Discusión. In: En torno a José Martí, S. 362.  Herrera Franyutti, Alfonso: Una poesía desconocida de José Martí. In: Casa de las Américas (La Habana) XVI, 93 (noviembre – diciembre 1975), S. 87.

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tigen Vergessen retteten. Wir werden unser Augenmerk daher auf diese starke Bildhaftigkeit des Gedichts richten müssen. All dies aber verweist auf eine Qualität, die jenseits des bloß Autobiographischen liegt: auf eine ästhetische Kraft, die unauslöschliche (visuelle) Spuren im Gedächtnis der Leserschaft dieses Gedichts zu hinterlassen vermag. Bereits mit den ersten beiden Versen schafft Martí jenen Spannungsraum, der das gesamte Gedicht beherrschen wird. Doch möchte ich Ihnen im Folgenden gleich das Gedicht in seiner Gänze vorstellen, ein Gedicht, das schon im Titel in der Nacht angesiedelt ist und damit in jenem bevorzugten Projektionsraum der Romantiker, in dem deren Bilderwelt eine besondere Kraft erlangte: Im Haus der Arbeit tobt ein Lärm, der mir wie tödlich Stille scheint. Sie arbeiten, sie machen Bücher; es ist, als ob sie machten einem Manne seinen Sarg. Nacht ist’s; ein rötlich leuchtend Licht erhellt des Arbeiters Erschöpfung; doch scheinen diese schwankend Lichter Sankt-Elms-Feuer mir so flüchtig, Und tot ist mir das Herz und so scheint alles um mich stumm und tot. Der Drucker Arbeit ist Mysterium: ist Ausbreitung der Geister und offen für Irrtum, der uns prüft, wie Ruhm und alles, was der Seele Himmel gibt, wenn Pflicht und Ehrsamkeit sich paaren, wenn Liebe sich immens vervielfacht. Die Druckerei ist Leben und mir scheint, die Werkstatt wie ein weiter Friedhof. Der Leichnam setzte sich an meine Seite, drückt mir die Hand mit seinen Knochen nieder, macht meine Lieb’, mir der ich liebte, kalt und selbst mein Hirn, mit dem ich denke! Denn der Tod in seiner Form des Elends aß an meinem Tisch und schlief in meinem Bett. Um mich her gibt es Menschen; doch die Seele weltflüchtig ist, so weit entfernt dass in dem Kampf am Platze bleibend mir die Seel’ entfleucht, ohne sie bleibt. Lichter! In mir Schatten aber; Helle in allem, in mir Schmerz und schwere Rätsel. Wach bin ich, doch bald schon werd ich schlafen,

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denn schlafen lässt mich des Schmerzes Lied. Die Stirn gesenkt über den breiten Tisch; das Licht zu löschen streck’ ich meine Hand, ich lösch es aus, doch Schatten seh ich nicht, denn tief in mir ist alles Licht erloschen. Stehend schlaf’ ich; oft ist das Leben dies erloschene Licht und dieser Traum. Die Augen falln mir zu, unter der Stirne besiegt vom Eifer sind sie, vom Gewicht, weil an der Stirne es mich so sehr quält von vielen Leben Trübsale ich trage. Es arbeitet der Drucker, macht ein Buch; im Leben arbeit ich, mach einen Toten. Leben heißt Handel treiben; alles belebt der nützlich Austausch und der Handel: sie geben Brot, ich gebe Seele: ich gab soviel zu geben ich hab: Was sterb’ ich nicht? Von einem Leben ohne Brot ich Bilder sehe, wenn des Verstandes Rest dies sehen kann, warum versagst, König der Finsternisse mir was zu träumen Recht ich habe? Nacht ist’s: ein rötlich leuchtend Licht flieht und schwankt wie töricht Feuer: Kerzen des Todes bild ich mir ringsum ein; ich höre das mysteriöse Tuscheln, das glücklich im Alkoven des Todgeweihten das erste Leichentuch des Kranken ist, und alles schwankt im Tanze um mich her in seltsam stumm berührender Bewegung. Es scheinen mir die Hände, die sich regen, wie Hände, die der Trauer Sarg zunageln; All jene, die hier arbeiten, die seh ich als trauervoll versammelte Gemeinde, und auf des Lebens allerhöchstem Gipfel wohn ich, lebendig Leichnam, eignem Begräbnis bei. Mein Herz, das legt ich in mein Grab: Ich trag die Wunde, die die Brust mir quert: Blut fließt heraus; wer sich mir nähert wird an den Rändern lesen, was ich lese: «Vom Elend eines Tages hier zerbissen ward dieser Lebende zerrissen und lebendig tot, weil des Elends Zahn hier tödlich zugebissen, der tödlich Gift an seiner Spitze bot.»

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Wenn einen gemeinen Mann Du triffst, halt ein und frag, ob Elend ihm die Brust aufriss, und ist es wahr, geh weiter und verzeih: Schuld trägt er nicht: Ihn fraß nur dieses Gift! Hay en la casa del trabajo un ruido Que me parece fúnebre silencio. Trabajan; hacen libros: — se diría Que están haciendo para un hombre un féretro. Es de noche; la luz enrojecida Alumbra la fatiga del obrero; Parecen estas luces vacilantes Las lámparas fugaces de San Telmo, Y es que está muerto el corazón, y entonces Todo parece solitario y muerto. Es la labor de imprenta misteriosa: Propaganda de espíritus, abiertos Al Error que nos prueba, y a la Gloria, Y a todo lo que brinda al alma un cielo, Cuando el deber con honradez se cumple, Cuando el amor se reproduce inmenso. Es la imprenta la vida, y me parece Este taller un vasto cementerio. Es que el Cadáver se sentó a mi lado, Y la mano me oprime con sus huesos, Y me hiela el amor con que amaría, Y hasta el cerebro mismo con que pienso! Es que la muerte, de miseria en forma, Comió a mi mesa y se acostó en mi lecho. Hay hombres en mi torno; pero el alma Fugitiva del mundo, va tan lejos Que en esta lucha por asirla al poste, De mí se escapa y sin el alma quedo. Hay luces, y en mí sombras; claridades En todo, en mi dolor graves misterios. Despierto estoy, más dormiré muy pronto, Porque al arrullo del dolor me duermo. La frente inclino sobre la ancha mesa; Para extinguir la luz, la mano extiendo, Y la extingo, y la sombra no apercibo, Porque apagada en mí toda luz llevó. Duermo de pie: la vida es muchas veces Esta luz apagada y este sueño.

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Los ojos se me cierran, de la frente Vencidos al afán y rudo peso, Porque en la frente que me agobia tanto De muchas vidas pesadumbre tengo. Trabaja el impresor haciendo un libro; Trabajo yo en la vida haciendo un muerto. Vivir es comerciar; alienta todo Por los útiles cambios y el comercio: Me dan pan, yo doy alma: si ya he dado Cuanto tengo que dar ¿por qué no muero? Si de vida sin pan imagen formo, Si verla aún puede de mi juicio el resto, ¿Por qué negarme, oh rey de la tiniebla, Lo que para soñar tengo derecho? Es de noche: la luz enrojecida Huye y vacila como fatuo fuego: Cirios de muerte me imagino en torno; Escucho el misterioso cuchicheo Que en la alcoba feliz del moribundo Es el primer sudario del enfermo, Y todo vaga en mi redor, en danza Confusa, extraña, y sordo movimiento. Parécenme esas manos que se mueven Manos que clavan enlutado féretro; Esos, los que trabajan, comitiva Ceremoniosa y funeraria veo, Y es que en el colmo de la vida asisto, Vivo Cadáver, a mi propio entierro. Mi corazón deposité en la tumba: Llevo una herida que me cruza el pecho: Sangre me brota; quien a mí se acerque En los bordes leerá como yo leo: «Mordido aquí de la miseria un día Quedó esté vivo desgarrado y muerto, Porque el diente fatal de la miseria Lleva en la punta matador veneno.» Cuando encuentres un vil, para y pregunta Si la miseria le mordió en el pecho, Y si el caso es verdad, sigue y perdona: Culpa no tiene, –¡le alcanzó el veneno!127

 Martí, José: De noche, en la imprenta. In (ders.): PCEC 2, S. 101–103.

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Die durchgängige Isotopie dieses Gedichts betrifft die Austauschprozesse zwischen Leben und Tod: Wie in Mis padres duermen, das von Martís Vision des Todes seiner Lieblingsschwester erzählt, finden wir auch hier eine Vielzahl von Überkreuzungen, die uns lebendige Tote und tote Lebendige präsentieren. Die Grenze zwischen Leben und Tod ist daher nicht eindeutig und klar gezogen, sondern verschiebt sich aus der Sicht des lyrischen Ich. Doch beginnen wir mit dem Anfang von De noche, en la imprenta. In diesen beiden endecasílabos der ersten, aus zehn Versen bestehenden Strophe des spanischsprachigen Originals ist der erste vermittelte Sinneseindruck akustischer Natur. Die Antithese von Lärm und Stille löst ihrerseits sekundäre Oppositionen aus, etwa zwischen Dichter und akustisch-räumlichem Kontext oder zwischen der Arbeit als Symbol des Lebens und der Ankündigung des nahenden Todes. Denn der Tod ist in seiner Allgegenwart das beherrschende Element. Die gesamte Szenerie ist in tiefe Nacht gehüllt, die ebenso wie der Traum das Element einer klassisch romantischen Literaturlandschaft bildet. Denn erst in der Nacht und erst im Traum erhellen schwankende Lichter und Elmsfeuer eine Seelenlandschaft, in welcher der Lebendige sich als tot und der Tote sich als lebendig erweist. Schnell wird der Tanz zum Totentanz, in welchem eine Trauergemeinde sich um einen lebendig fast schon Begrabenen schart. Es sind Bilder einer schwarzen Romantik, die eindrucksvoll die Nacht mit ihrem schwankenden Licht erhellen. An deren Ende freilich – und auch dies ist charakteristisch für einen stets um die soziale Dimension bemühten Martí – steht wie so oft eine moralische Sentenz, mit welcher das Gedicht sein Lesepublikum entlässt. Wir befinden uns unzweifelhaft in einem Arbeitermilieu. Die Schaffung eines spezifischen Raumes, der «casa del trabajo», wird verbal, im Ausdruck der Tätigkeit, im dritten Vers konkretisiert: «Trabajan; hacen libros»: Wir sind in einer Druckerei, in welcher das lyrische Ich wohl beschäftigt ist. Gleich zu Beginn des Gedichts werden die Seme Raum, Arbeit, Hören, Leben und Tod eingeführt und komplex miteinander so verschaltet, dass die Welt der Bücher und die Welt der außersprachlichen Realität ineinander übergehen. Sie beherrschen die semantische Strukturierung des gesamten lyrischen Textes und bilden einen poetischen Bewegungs-Raum, welcher ebenso die gesellschaftliche Dimension der Arbeit wie die körperliche Dimension des Ich mit starken Bildwerten umgreift. Das Schreiben Martís erfolgt während der Zeit im mexikanischen Exil – aber auch in späteren Jahren – häufig inmitten von Getriebe und Lärm, wie uns dies José Martís Orestes etwa in seinem Boletín vom 15. Juli 1875 mitteilt: «Eine anspruchsvolle Aufgabe ist es, zwischen dem Lärmen der Presse, dem Redefluss des hinausgehenden Abgeordneten, der glänzenden Profanität des gerade Hereinkommenden und dem gravitätischen und sentenzenhaften Sprechen des-

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sen der hinausgeht, zu schreiben.»128 Der Ort des Schreibens ist kein ruhiger, zurückgezogener Ort, sondern ein Kreuzungspunkt mitten im Getriebe der Welt, an dem sich alle Stimmen überschneiden. Es ist, als schreibe das Subjekt in einer Echokammer, in der von allen Seiten Stimmen einströmen. Der Raum dieses Schreibens am Tage aber verwandelt sich nachts im Gedicht in einen Raum, der von fast übernatürlichen Bildern, Erscheinungen und Visionen beherrscht wird, die im Gedicht von Las lámparas fugaces de San Telmo ausgehen, dem in der Romantik häufig verwendeten Motiv des Elmsfeuers, das mit der eingeführten Todesthematik verknüpft wird: «Trabajan; hacen libros: – se diría / Que están haciendo para un hombre un féretro.» (V. 3–4) Das Irrlichtern des Sankt-Elms-Feuers bildet zusammen mit den Lichtern und Lampen der Maschinen eine visuelle Kulisse, welche die Grenzen zwischen Nacht und Tag, zwischen Traum und Realität, zwischen Tod und Leben durchlässig macht. Es gibt keine klaren Scheidungen, keine eindeutigen Oppositionen und Antagonismen mehr. Die in diesem Verwirrspiel beobachtbaren Veränderungen auf rhythmischer Ebene weisen bereits auf die «luces vacilantes» (V. 7) voraus, welche das Thema des Todes mit dem Übernatürlichen verknüpfen, eine semantische Fusion, die zweifellos eine der Konstanten in der Lyrik José Martís darstellt. Die Todesthematik ist Teil der Martí’schen Bilderwelt und einer grundlegenden Symbolik, der die einzelnen Symbolelemente zugeordnet sind. Das Haus der Arbeit, wo die Arbeiter im Höllenlärm der Maschinen Bücher herstellen, wird zum Haus des Todes, in dem wir später zur «alcoba feliz del moribundo» (V. 57) gelangen. Schon von Beginn des Gedichts an aber ist das Schweigen, ist die Stille des Todes präsent. Der Lärm ist diese Stille. Wie sich auf akustischer Ebene der Lärm in Stille verwandelt, so wird auf der wichtigen Ebene der optischen Phänomene aus dem Licht, das die Szenerie der Drucker und ihrer Maschinen beleuchtet, die Erscheinung der «lámparas fugaces de San Telmo» beherrschend. Ebenso die akustischen wie die visuellen Sinneseindrücke des Dichters werden in eine Irrealität düsterer und geradezu apokalyptischer Vorahnungen getaucht. Denn sind es Bücher, die hier gedruckt werden, oder beschäftigen sich die Arbeiter mit der Herstellung eines Sarges? Das Ich vermag auch dies nicht zu entscheiden. Das Ende der ersten Strophe mit der durch Wiederholungen betonten Einführung des toten Herzens projiziert die (prekäre) Trennung zwischen innerer

 Martí, José: OCEC 2, S. 129: «Es afanosa tarea está, escribir entre el bullicio de las prensas, la conversación del diputado saliente, la brillante facundia del que viene, el habla grave y sentenciosa del que se va.»

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und äußerer Realität und kündigt zugleich die Einheit derer, die zusammen im «Haus der Arbeit» beschäftigt sind, auf. Aus der Gemeinschaft entsteht die Erfahrung der Einsamkeit (welche sich nach einer neuen Gemeinschaft sehnt), und zugleich wird – im Bild des toten Herzens – das semantische Leitthema des zerstückelten Körpers eingeführt, eines Körpers, der sich als Körper-Leib, als ein Körper-Haben und ein Leib-Sein, besser verstehen lässt.129 Es ist ein Ineinanderverwobensein von Körper und Leib, das sich aus der philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners heraus begrifflich bestens fassen und verstehen lässt. Kehren wir zur zentralen Isotopie, zu jener Bedeutungsebene zurück, in der sich alle symbolischen Linien von De noche, en la imprenta kreuzen. Die grundlegende Dualität von Leben und Tod, die in der ersten Strophe bereits erscheint, wird in der zweiten Strophe aufgenommen und erreicht in deren Zentrum ihren Höhepunkt mit der im selben Vers vorgenommenen prononciert antithetischen Gegenüberstellung von «ser» und «parecer», von Sein und Schein: «Es la imprenta la vida, y me parece / Este taller un vasto cementerio.» (V. 17–18) In der kritischen Werkausgabe des Centro de Estudios Martíanos – die nicht immer nur in einem philologischen Sinne kritisch ist – fehlt der zwanzigste Vers, der sowohl in der von Herrera Franyutti kontrollierten Fassung als auch in der von Ripoll zitierten Version von La Opinión Nacional sehr wohl vorhanden ist. Dieser wohl durch ein Versehen verloren gegangene Vers, den ich in der angeführten spanischen Fassung ergänzt und auch ins Deutsche übersetzt habe, lautet: «Y la mano me oprime con sus huesos». Es handelt sich damit um eine Strophe von vierzehn und nicht von dreizehn Versen, welche die Strophenform des Gedichts erheblich beeinträchtigt hätte. Auf diesen gravierenden Fehler ließen sich im übrigen die Verse eben dieser zweiten Strophe beziehen, wo «la labor de la imprenta» ebenso dem Ruhm wie «Al Error que nos prueba» (V. 13) offensteht. Unnötig zu sagen, dass unsere Verszählung selbstverständlich den in der Edición crítica fehlenden Vers berücksichtigt. Vor dem bedrohlichen Hintergrund dieses «Hauses des Todes» erscheint die Gleichsetzung von Druckerei und Druckerpresse mit dem Leben selbst nur dann als gültig «Cuando el deber con honradez se cumple, / Cuando el amor se reproduce inmenso.» (V. 15–16) Wird die Pflicht in der mühseligen Arbeit auch erfüllt, so bleibt die Liebe doch unerfüllt: denn das Herz des Dichters ist bereits tot und mit ihm jene Kraft der Liebe, die in ihm ihren Sitz hatte. In der romanti Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Mit Haut und Haar? Körperliches und Leibhaftiges bei Ramón Gómez de la Serna, Luisa Futoransky und Juan Manuel de Prada. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte / Cahiers d’Histoire des Littératures Romanes (Heidelberg) XXV, 3–4 (2001), S. 429–465.

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schen Körper-Topik nimmt das Herz eine zentrale Stellung ein, da in ihm der Sitz aller Gefühle verortet wird. Damit bleibt die Stelle des Herzens leer und mit ihr die Liebe, die ebenso in der Philosophie Martís wie auch in seiner Lyrik die zentrale Kraft darstellt und überhaupt erst Grundlage und Voraussetzung jeglicher im vollen Sinne menschlichen Tätigkeit bildet. Diese menschlichen Tätigkeiten in einer sich modernisierenden Gesellschaft aber sind es, die in eine offene Opposition zu den intimen Bedürfnissen des lyrischen Ich treten. Dieser Gegensatz wird in die Opposition zwischen Mensch und Maschine überführt. Auf diese Weise entsteht eine (auf den ersten Blick recht konventionell anmutende) Topographie des menschlichen Körpers, wobei der Körper des Dichters von einer klaffenden, blutenden Wunde gekennzeichnet, markiert ist, einer Wunde, die sich nicht mehr zu schließen vermag. Ich darf Sie an die entsprechende Strophe erinnern: Mein Herz, das legt ich in mein Grab: Ich trag die Wunde, die die Brust mir quert: Blut fließt heraus; wer sich mir nähert wird an den Rändern lesen, was ich lese: «Vom Elend eines Tages hier zerbissen ward dieser Lebende zerrissen und lebendig tot, weil des Elends Zahn hier tödlich zugebissen, der tödlich Gift an seiner Spitze bot.» Mi corazón deposité en la tumba: Llevo una herida que me cruza el pecho: Sangre me brota; quien a mí se acerque En los bordes leerá como yo leo: «Mordido aquí de la miseria un día Quedó esté vivo desgarrado y muerto, Porque el diente fatal de la miseria Lleva en la punta matador veneno.» (V. 67–74)

Auf diese Weise wird die Isotopie des Körpers nicht nur mit dem (auf der Liebe beruhenden) Akt des Schreibens verbunden; sie wird zugleich mit einer Art doppelter Lektüre verknüpft, wobei sich an diesem Lesevorgang sowohl der Dichter als auch andere Leserinnen und Leser beteiligen. Liebe und Lesen sind topisch eng miteinander verbunden.130 Der zweite Teil dieser zweigeteilten Strophe wird erst an den Rändern der klaffenden Wunde lesbar, die somit zum

 Vgl. hierzu den zweiten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: LiebeLesen. Potsdamer Vorlesungen zu einem großen Gefühl und dessen Aneignung. Berlin – Boston: De Gruyter 2020.

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Ort des Schreibens wie des Lesens wird. Ebenso der Körper-Leib wie dessen Verstümmelung werden lesbar und durch das Gedicht kommunizierbar. Der Körper wird zur Fläche, auf der sich die Schrift einschreibt und lesbar ist, er dient damit als ein Objekt, als ein Körper-Haben ebenso für das Schreiben wie für die verdoppelte Lektüre der am Rande der klaffenden, blutenden Wunde eingeschriebenen Verse. Zugleich wird das Gelesene graphisch durch die Anführungszeichen als gleichsam fremder Text markiert, als wäre dort etwas eingeschrieben, das nicht autograph, sondern allograph und damit von fremder Hand verfasst ist. Dieses «Fremdsein» akzentuiert noch zusätzlich Grausamkeit und Brutalität des (zum Lesen) dargebotenen Körperbildes, in welchem sich Körper-Haben und LeibSein, der Körper als Schreibfläche der Schrift und der Körper als Ort des Schmerzes und des Erleidens sich überschneiden und ineinander verschränken. Der Körper-Leib des Dichters erscheint nicht nur als märtyrerhaft gequält und verstümmelt; gleichzeitig dient er auch als materieller Träger einer «fremden» Schrift, die sich im Ambiente einer sich modernisierenden Industriegesellschaft an den Rändern der Wunde, einer gleichsam maschinell hergestellten Wunde, zeigt. Eine zusätzliche, intratextuell verankerte Bedeutung erhält die Folterung des Körpers durch die Tatsache, dass sich gerade in den poetologischen Gedichten Martís mit besonderer Gewalt Bilder von Folter und körperlicher Zerstückelung häufen. An dieser Stelle will ich auf ein einziges dieser recht zahlreichen poetologischen Gedichte verweisen, das zugleich auf die gewaltige Distanz aufmerksam macht, welche der kubanische Lyriker auf dem Weg von der Romantik zum Modernismo hinter sich ließ. Es ist zugleich ein Gedicht, das vielleicht der in diesem Kontext behandelten Thematik zugänglichste und nahestehendste dichterische Werk aus der Feder Martís darstellt. Es handelt sich um das den Versos libres entstammende Gedicht Crin hirsuta, dem ich in meiner vor langen Jahren entstandenen Übertragung den Titel Borstge Mähne gab: Dass wie die borstge Mähne vor Schrecken zitternden Pferdes, welches auf dürrem Baumstumpf erblickt Zähne, Klauen furchterregenden Wolfs Sträubend sich mein zerfetzter Vers aufrichtet? ... Ja, doch er richtet sich auf! Und in der Art Wie, wenn sich das Messer in den Hals des Stieres senkt, blutger Strahl gen Himmel aufsteigt. Die Liebe allein gebiert die Melodien.131

 Martí, José: Crin hirsuta. In: Poesie der Welt. Lateinamerika. Herausgegeben von Hartmut Köhler. Berlin: Edition Stichnote im Propyläen Verlag 1986, S. 49.

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Que como crin hirsuta de espantado Caballo que en los troncos secos mira Garras y dientes de tremendo lobo, Mi destrozado verso se levanta ... ? Sí,: pero se levanta! —a la manera Como cuando el puñal se hunde en el cuello De la res, sube al cielo hilo de sangre:— Sólo el amor, engendra melodías.132

In dieser meisterhaften, ungemein vielschichtigen Komposition dominiert einerseits die Liebe in all ihrer Ambiguität den rhythmisch stark abgesetzten Schlussvers des Gedichts und weist damit erneut auf die das Schreiben Martís organisierende, alles zusammenhaltende Kraft der Liebe hin. Es ist die Liebe, die als Urkraft allen menschlichen Lebens immer wieder die Schöpfung vorantreibt – auch und gerade in einer Welt, in welcher sich eine wilde Natur dem Tun des Menschen entgegenstellt. Mit dem Abstand einiger Jahrzehnte würde ich heute in meiner Übertragung mit Blick auf den letzten Vers des Gedichts die Geburtsmetapher verändern in eine Zeugungsmetapher, verwendete Martí doch im abschließenden Vers kein spanisches nacer, sondern ein für seine Bildsprache viel charakteristischeres engendrar und betonte damit den männlichen Zeugungsakt, dem das gen Himmel aufsteigende Blut deutlich besser entspricht. Die Vorstellung freilich, dass aus dem Tod ein neues Leben ersteht und eine neue Kunst mit neuen Melodien aus dem gewaltsamen Tod hervorgeht, bleibt bestehen. Dass die Liebe im Spanischen männlich ist, passt perfekt in die Metaphorik eines männlichen Zeugungsaktes. Andererseits wird auch in diesem deutlich später entstandenen Gedicht des sich längst einer modernistischen Ästhetik bedienenden Kubaners die Brutalität und Gewalt der poetologischen Bilder auf Körper projiziert, wenn auch hier auf Körper von Tieren, die einem dichterischen, an der Transzendenz ausgerichteten Opferritual unterzogen werden. Dem entspricht eine formale Seite, in welcher Vers und Rhythmus deutlich zerrissen sind und erst im Schlussvers wieder in eine geradezu klassisch romantische Form überführt werden. Doch von einer romantischen Ästhetik ist Crin hirsuta längst nicht mehr gekennzeichnet. Im Gegensatz zu diesem programmatischen modernistischen Gedicht erfolgt das Opfer in De noche, en la imprenta am Körper des Dichters selbst, dort, wo sich das Herz befindet beziehungsweise einst befand. Von dort fließt in Strömen das Blut, jene lebensspendende Flüssigkeit, die Martí – wie auch in Crin hirsuta – stets mit seinem eigenen Schreiben in Verbindung brachte.

 Martí, José: Crin hirsuta. In (ders.): PCEC 1, S. 99.

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Eben diese Verbindung wird José Martí am Ende seines Lebens auch in dem bereits erwähnten Brief an seinen späteren Herausgeber und literarischen Erbeverwalter Quesada y Aróstegui herstellen, dem er kurz vor seiner Einschiffung nach Kuba, kurz vor seinem Aufbruch in die nach ihm benannte Guerra de Martí von 1895, noch einmal schrieb. Wenige Wochen vor seinem Tod überdenkt Martí vielleicht ein letztes Mal die Vielzahl seiner Texte und formt dabei retrospektiv das Korpus seines Werkes, wobei es sich deutlich um eine Konstruktion und keineswegs um eine Rekonstruktion handelt: allzu deutlich sind schon die abgetrennten Teile dieses Textkörpers markiert. Die von Martí miteinbezogenen Teile dieses Text-Korpus sind zweifellos von großer Wichtigkeit, sollten uns aber nicht daran hindern, das Gesamtwerk des kubanischen Literaten zu rekonstruieren und in seinen ästhetischen Wechselbeziehungen wiederherzustellen. Innerhalb dieses Panoramas lyrischer Entwicklungsschübe nimmt De noche, en la imprenta eine herausragende Rolle innerhalb des gesamten dichterischen Schaffens José Martís ein. Denn auch in diesem Brief an seinen Vertrauten Quesada y Aróstegui stellt José Martí sich die Frage, was er denn geschrieben habe, ohne dabei zu bluten, was er gemalt habe, ohne es zuvor mit eigenen Augen gesehen zu haben: «¿Qué habré escrito sin sangrar, ni pintado sin haberlo visto antes con mis ojos?133» Diese enge semantische Beziehung zwischen dem Blut des eigenen Körpers, der Ebene der visuellen Wahrnehmung und dem Schreiben bei Martí führt uns zum Herzen der Martí’schen Poetik und zu seiner Sichtweise vom Körper der Dichtkunst. Nicht allein mit Hilfe bestimmter verstechnischer Verfahren, die nicht auf Reimen sondern auf Rekurrenzen syntaktischer, semantischer oder phonischer Natur (insbesondere als Rekurrenz von Endvokalen) basieren, sondern weit mehr noch aufgrund der poetologischen und damit verbunden körperlichen, leibhaftigen Dimension steckt De noche, en la imprenta ein weites Experimentierfeld ab, in welchem viele Bedeutungsebenen der später entstandenen Versos libres bereits angelegt, mitunter aber auch schon deutlich entfaltet sind. Martí verabschiedet sich von der Romantik und ist doch noch gänzlich in ihr verankert. Martí bricht in eine Moderne auf und ist doch noch gänzlich jenen Denkformen verpflichtet, welche der Zeit vor den starken Modernisierungsschüben angehören. Martís Lyrik ist eine Lyrik der Körperlichkeit wie der Leibhaftigkeit: Sie übersetzt künstlerisch ein Schreiben, das sich des Körpers als Erkenntnis- und Schöpfungsinstruments bedient.

 Martí, José: OC 1, S. 27.

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Eines jener ästhetischen Zentren, in denen sich eine Reihe von Isotopien bündeln, bildet somit der menschliche Körper. Zur Fundierung der bereits dargelegten Antithese, die Mitte der zweiten Strophe kulminiert, wird vom lyrischen Ich eine Kausalverbindung zu den unmittelbar folgenden Versen hergestellt. Ich rufe Ihnen diese Verse kurz in Erinnerung: Der Leichnam setzte sich an meine Seite, drückt mir die Hand mit seinen Knochen nieder, macht meine Lieb’, mir der ich liebte, kalt und selbst mein Hirn, mit dem ich denke! Es que el Cadáver se sentó a mi lado, Y la mano me oprime con sus huesos, Y me hiela el amor con que amaría, Y hasta el cerebro mismo con que pienso! (V. 19–22)

Das Erscheinen beziehungsweise die Erscheinung des Cadáver, der bei Martí mit dem in der späteren Lyrik so wichtigen Thema des doble – des Doppelgängers oder des doppelten Ich – verbunden ist, und die Fusion der wichtigen Bedeutungsebenen von Körperlichkeit, Tod und Übernatürlichem führt eine Entwicklung ein, deren narrative Gestaltung erst in der bereits zitierten vorletzten Strophe endet. Auch die Thematik des Doppelgängers bildet eines jener Motive, die in der Romantik höchst populär wurden, die Martí aber auch noch in seiner modernistischen Poesie weiterhin pflegte. Denn der doble gestattete ihm, wie in zwei entgegengesetzten Ansichten Leben und Tod, Sterben und Zeugen oder Gebären je nach Blickwinkel oszillierend darzustellen. Auch in diesem Zusammenhang lässt sich leicht erkennen, dass die Literaturen Lateinamerikas keiner Ästhetik des Bruches gehorchen,134 sondern dass die neuen Entwicklungen stets auf einer Vielzahl literarischer Traditionen beruhen. Zu Beginn dieser im Gedicht entfalteten Handlung ergreift der Kadaver, der Leichnam, die Hand des Dichters und unterdrückt («oprime») damit genau jenen Teil des Körpers, der dem Schreiben, der Niederschrift dient, wobei diese Berührung rasch aber auf das Herz übergreift («el amor con que amaría») und schließlich das Gehirn, den Ort des Denkens, ebenfalls erfasst. Die Kälte des Kadavers, die dem wallenden Blut des lyrischen Ich entgegenwirkt, setzt einen Prozess in Gang, der den Körper des lyrischen Ich beziehungsweise des Dich Vgl. zu diesem Charakteristikum der lateinamerikanischen Literaturen den dritten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Von den historischen Avantgarden bis nach der Postmoderne. Potsdamer Vorlesungen zu den Hauptwerken der Romanischen Literaturen des 20. und 21. Jahrhunderts. Berlin – Boston: De Gruyter 2021, S. 188 ff.

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ters in einen «Vivo cadáver», der der Bestattung seines eigenen Herzens beiwohnt, verwandeln wird, ein Oxymoron, das den Gegensatz zwischen Leben und Tod in Frage stellt und zugleich potenziert. die von den ersten Strophen des Gedichts an erkennbare Bewegung des Oszillierens zwischen den Gegensätzen kommt auch in diesen Versen deutlich zum Ausdruck. In diesem Zusammenhang ist von größter Bedeutung, dass dieser Transformationsprozess gerade an jenen drei Stellen des (zerstückelten) Körpers einsetzt, die im gesamten literarischen Werk Martís mit dem Schreiben, der escritura, aufs engste verbunden sind, nämlich Hand, Herz und Gehirn. Sie bilden das magische Dreieck, in welchem das Schreiben zustande kommt. Nur in einer auf die Lyrik Martís oder des hispanoamerikanischen Modernismo spezialisierten Untersuchung wäre es möglich zu zeigen, dass diese drei Teile des Körpers bei Martí mit drei sehr unterschiedlichen Orten des Schreibens und – in überaus komplexer und origineller Weise – mit den verschiedenen, von ihm jeweils bevorzugten literarischen Gattungen verbunden sind. Ich werde auf diese Problematik noch zurückkommen. An dieser Stelle unserer Analyse des Gedichts erscheint es mir jedoch als wichtiger, der bisherigen Deutung von De noche, en la imprenta noch weitere und für unsere Themenstellung wesentliche Akzente hinzuzufügen. Für die weitere Interpretation dieses faszinierenden Gedichts mag einstweilen die Feststellung genügen, das der durch die Berührung mit dem Cadáver am meisten in Mitleidenschaft gezogene Teil des Körpers die Brust und genauer noch, in ihr das Herz ist, mit dessen Blut gleichsam die Lyrik Martís geschrieben ist. Dieser Ursprung der erkalteten Herzensschrift ist für Martí, in durchaus romantischer Tradition, der Ort der Lyrik, der Ort der Poesie. So sind es auch Verse, die am Rande der blutenden Wunde in der Brust des Dichters zu lesen sind und von der dichtenden, verdichtenden Arbeit eines Körpers zeugen. Eine wichtige, aber – soweit ich sehe – gleichwohl nie zitierte Passage eines Textes Martís vom 29. August 1875 zu den Versos de Pedro Castera belegt, dass dies der Ort nicht nur der Dichtkunst, sondern auch ihrer Leserschaft ist: «La poesía es una e idéntica, y duerme escondida en el fondo del más miserable corazón»:135 Die Dichtkunst ist einig und identisch, sie schläft verborgen am Grunde selbst des elendesten Herzens. Das Herz, so ließe sich sagen, ist Martís Urgrund der Dichtkunst. Aus dieser Perspektive erklären sich auch Martís häufige Attacken gegen jene Lyrik, die er als «poesía cerebral» abtat:136 Diese zerebrale Dichtkunst un-

 Martí, José: OC 6, S. 372.  Vgl. hierzu auch Santí, Enrico Mario: «Ismaelillo», Martí y el modernismo. In: Revista iberoamericana (Pittsburgh) 137 (octubre – diciembre 1986), S. 827.

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terbinde jenen direkten Kontakt zwischen Dichter und Publikum, einen Kontakt, den Martí stets anstrebte, ja – denken wir nur an seine gebieterischen, keinen Widerspruch duldenden Einladungen etwa zur ersten (privaten) Lesung seiner Versos sencillos in New York – obsessiv und mit sanfter Gewalt suchte. So schrieb er auch in seiner ebenso herzlichen wie programmatischen Cartaprólogo zu den Poesías von José Joaquín Palma: «Es gibt Verse, die im Hirn gemacht werden: – Doch diese zerbrechen über der Seele: Sie verletzen sie, aber dringen nicht in sie ein. Andere gibt’s, die im Herzen entstehen. Von ihm gehen sie aus, ihm fliegen sie zu. Allein das, was in der Seele an Kriegerischem, an Beredtem, an Poetischem sprießt, kommt in der Seele an.»137 Für José Martí besteht mit Blick auf die Gattung der Lyrik eine klare, eindeutige Verortung im Körper; und über das Herz ist dieser Körper mit dem Blut und über das Blut mit dem lyrischen Schreiben verbunden, das – ebenso mit Blick auf seine Prosa wie auf seine Reden – die Basis der Martí’schen écriture bildet. Dass auf dieser symbolischen Ebene eine unmittelbare Verbindung Martís mit dem Martír, dem Märtyrer und Blutzeugen besteht, ist unbezweifelbar und spielte – wie wir im ersten Teil dieser Studie sahen – für die Rezeptionsgeschichte Martís eine wichtige Rolle. Der Wunde des Dichters entspricht die Wunde des Lesers und der Leserin. Nur was – in einem ganz körperlichen Sinne – der Dichter aus sich herausholt, aus der Tiefe seines Herzens an die Oberfläche bringt, dringt auch in die Leserschaft ein: in deren Seelen und in deren Herzen. Das körperliche Organ dichterischer Schöpfung und das körperliche Organ literarischer Aufnahme entsprechen sich. Im Vordergrund der vorliegenden Überlegungen soll freilich der Körper des Schreibenden stehen. Doch vergessen wir dabei nicht, dass das lyrische Ich sich gemeinsam mit der Figur des Lesers über die Wunde beugt und an der offenen Wunde des Herzens gemeinsam mit diesem Leser die poetischen Verse zu dechiffrieren vermag. Es gibt eine direkte körperliche Wechselbeziehung zwischen dem Produzenten und dem Rezipienten der Dichtkunst: Bei Martí sind beide miteinander aufs Engste verbunden und kommunizieren unmittelbar. In der dritten Strophe entflieht die Seele dem Körper des Dichters, auch dies ein Motiv, das Martí der romantischen Tradition entlehnte und mehrfach in seiner mexikanischen Lyrik verwendete. So wird beispielsweise in dem Gedicht Patria y mujer, dessen Publikation in der Revista Universal unmittelbar jener von De noche, en la imprenta folgte, die schon im Titel deutliche Aufspaltung fortgeführt: «Podría encender tu beso mi mejilla, / Pero lejos de aquí mi

 Martí, José: OC 5, S. 94: «Hay versos que se hacen en el cerebro: – éstos se quiebran sobre el alma: la hieren, pero no la penetran. Hay otros que se hacen en el corazón. De él salen y a él van. Sólo lo que del alma brota en guerra, en elocuencia, en poesía, llega al alma.»

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alma me espera.»138 / «Dein Kuss könnte meine Wange wohl entzünden, / doch weit von hier erwartet meine Seele mich». Auf die enge Beziehung zwischen der Seele des Dichters und der weit entfernten Heimat des Exilierten werden wir noch später zurückkommen. Martís Verbannung aus Kuba ist in jedem Falle allgegenwärtig. All dies verstärkt noch die bereits erwähnte Aufspaltung zwischen der äußeren Realität und jener inneren Wirklichkeit des lyrischen Ich. Dem in der vorangehenden Strophe zweifach verwendeten «amor» antwortet in der dritten Strophe, in der Art eines Echos, fast eines Schreis, das ebenfalls wiederholte «dolor», wodurch gleichsam eine Art Binnenreim zwischen den jeweiligen Versen und Strophen entsteht. Diese Echowirkungen sind bewusst und verstärken die Aufspaltungen des dichterischen Ich weiter: Das lebendige Tot-Sein und das tote Lebendig-Sein oszillieren in der Spaltung des Dichter-Ichs, das nicht zur Ruhe kommt. Gleichzeitig wird in diesen Versen die semantische, thematische und narrative Entwicklung des Gedichtes deutlich. Bereits in seinen vor dem Aufenthalt in Mexiko verfassten Texten hatte Martí den dolor zu einem zentralen Konzept seiner noch stark von der spanischen wie kubanischen Romantik bestimmten Ästhetik gemacht. So findet sich etwa in der ersten, von uns bereits gestreiften Fassung seines Dramas Adúltera von 1874 eine Definition des Dichters, der den Worten der bezeichnenderweise Güttermann genannten Figur zufolge jener Mensch sei, der an den Schmerzen der anderen, «los dolores ajenos», leide; und Grössermann antwortet ihm: «A más, que si a mí me preguntan qué es vivir, yo diría – el dolor; el dolor es la vida.–»139 Der Schmerz also ist das Leben, das Leben ist Schmerz – wenn auch, so könnte man hinzufügen, ein Schmerz, der sich mit der Liebe reimt. Sehr früh, schon lange vor Adúltera, erscheint in José Martís Schreiben ein agonales Element, das sich durch sein gesamtes Schaffen in Lyrik und Prosa zieht. Der Schmerz ist daher für Martí keineswegs eine gänzlich oder auch nur überwiegend subjektive, auf das eigene Ich beschränkte Kategorie, sondern enthält vielmehr eine wesentliche gesellschaftliche Dimension, die etwa auch in Martís Rückgriff auf den Prometheus-Mythos deutlich wird. Denn mit Prometheus identifiziert der junge Kubaner, auch hier in unverkennbarer Anlehnung an die romantische Tradition in Lateinamerika, den schöpferischen Menschen, den Dichter in seiner Rolle unendlichen Wiederbeginnens und unabschließbarer Arbeit.140 Leben steht für Martí nicht im Zeichen der Freude, sondern der  Martí, José: PCEC 2, S. 104.  Martí, José: Adúltera. In: OCEC 1, S. 136.  Vgl. hierzu auch Rivera-Rodas, Oscar: Martí y su concepto de poesía. In: Revista iberoamericana (Pittsburgh) 137 (octubre – diciembre 1986), S. 843–856.

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unablässigen Anstrengung. Und in einem seiner gelungensten Texte aus der Serie der in der Revista Universal veröffentlichten Gedichte, dem am 1. Juni 1875 abgedruckten «Haschisch», heißt es: Nicht Statue mit sehnsuchtsvollem Antlitz ist die Seele eines Dichters: sondern Sonne voll Schmerzen, unheilbare Seele in geheimer, weltumspannender Krankheit ist er, spürend in sich die Hitze [...] No es estatua de lánguida figura El alma de un poeta: Es un sol de dolor: alma sin cura De universal enfermedad secreta:En sí tiene el hervor [...]141

Es un sol de dolor – hier wird das verdoppelte O von dolor im O der Sonne gespiegelt und zusätzlich verstärkt. Zugleich wird in dieser unverhohlenen Kritik am konventionellen Bild des an seinem eigenen Leiden sich labenden romantischen Poeten durch Martí dieser Figur – wie in De noche, en la imprenta – die Gestalt eines Dichters entgegengestellt, in dem sich das Leiden und die Schmerzen der anderen bündeln. Diese Bündelung erfolgt durch eine Sonne an Schmerzen im weltumspannenden Dolor, wozu eine kollektive Dimension tritt, die in den nochmals zitierten Versen aus De noche, en la imprenta angeführt sei: Die Augen fallen mir zu, unter der Stirne besiegt vom Eifer sind sie, vom Gewicht, weil an der Stirne es mich so sehr quält von vielen Leben Trübsale ich trage. Los ojos se me cierran, de la frente Vencidos al afán y rudo peso, Porque en la frente que me agobia tanto De muchas vidas pesadumbre tengo. (V. 39–42)

Die narrative Entwicklung des Eingangsbildes ist in diesen Versen deutlich. Denn auf diese die langsamen Bewegungen akzentuierende Weise wird die Bewegung der zweiten Strophe («La frente inclino sobre la ancha mesa») fortgeführt, indem zugleich die aufrechte Körperhaltung in eine zunehmend horizontale Position überführt wird. Es ist eine Überführung aus dem Leben in das Sterben, hin zum Tod.

 Martí, José: Haschisch. In (ders.): PCEC 2, S. 77.

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Denn mit dem Herabsinken der Stirne, des Ortes des Denkens beziehungsweise des Kognitiven (so wie die Brust der Ort des Herzens wie der Seele ist) und dem stets von den spanischen Mystikern akzentuierten Schließen der Augen setzt eine Bewegung ein, die zunächst den Arbeitstisch unter sich begräbt und dann den Körper des Dichters immer mehr der endgültigen Position des Sterbenden der fünften Strophe und schließlich des (lebendigen) Leichnams annähert. Er wird in der sechsten Strophe sein eigenes Herz zu Grabe tragen. Die agonale Isotopie wird in dieser Bewegung langsamer Selbsttransformation als eine thematische Leitlinie Martí’scher Dichtkunst deutlich. Parallel hierzu wird die soziale (und gesellschaftspolitische) Dimension ausgeführt, die seit der ersten Strophe von De noche, en la imprenta präsent war und in welcher sich frühzeitig eine Trennung zwischen den Arbeitern an der Druckerpresse und dem einsamen Ich am Schreibtisch abzeichnete. Denn dieses Ich ist keineswegs ein Arbeiter in diesem «Haus der Arbeit». In immer komplexerer Weise gelangt dieser deutliche Gegensatz zwischen den Arbeitern in der Druckerei und dem Dichter-Ich zu einem Höhepunkt in den beiden Schlussversen der vierten Strophe: «Trabaja el impresor haciendo un libro; / Trabajo yo en la vida haciendo un muerto.» (V. 43–44) Leben und Tod werden in diesen agonalen Versen enggeführt. Das semantische Feld, das die Arbeiter mit dem Dichter verbindet, ist die Armut, das alle um die Druckerpresse Versammelten gleichermaßen bedrohende soziale Elend: die ökonomische miseria. In seinen in Mexiko, in seinem Exilland verfassten journalistischen Texten hatte Martí einen bedeutenden Teil seiner Aufmerksamkeit auf die soziale Frage verwandt. Es sind für die mexikanischen Arbeiter wichtige, wenn auch – denken wir an die kommende porfiristische Diktatur – noch nicht entscheidende Jahre, in denen sie versuchen, ihre gewerkschaftlichen Organisationen zu gründen beziehungsweise dieselben schlagkräftiger auszugestalten. Die sich herausbildenden Arbeitergewerkschaften sind eine Antwort auf die sich abzeichnende sozioökonomische Modernisierung, die sich mit unterschiedlichen Verzögerungen in verschiedenen Ländern Lateinamerikas im Verlauf der siebziger Jahre bemerkbar macht. In Mexiko machen sich diese Veränderungen um die Mitte der siebziger Jahre bemerkbar. Der erste bundesweite mexikanische Arbeiterkongress fand im Jahre 1876 statt. Der verdienstvolle französische Martí-Forscher Paul Estrade charakterisierte diese Zeit, während derer Martí in Mexiko lebte, sehr zutreffend: «el bienio 1875–1876 aparece como el auge del movimiento obrero mexicano en el siglo XIX».142 Der Aufenthalt José Martís in Mexiko fällt folglich mit

 Estrade, Paul: Un «socialista» mexicano: José Martí. In: En torno a José Martí, S. 234.

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einem ersten Höhepunkt der mexikanischen Arbeiterbewegung zusammen, einer Bewegung, die Martí in ihrer Bedeutung erst langsam, Schritt für Schritt erkannte und die er erst später in einen hemisphärischen und danach weltumspannenden Zusammenhang zu bringen wusste. Wir können in der Lyrik wie in der Prosa des Kubaners in Mexiko den langsamen Bewusstwerdungsprozess nachvollziehen, der Martí am Ende zu einem herausragenden Denker dieser Phase der Globalisierung werden ließ. José Martí bezieht in den heraufziehenden Auseinandersetzungen zwischen Arbeit und Kapital, zwischen nationaler Arbeiterschaft und internationalem Finanzkapital Position als Delegierter eines Gewerkschaftskongresses wie vor allem auch als Redakteur der Revista Universal. Dabei nimmt er keine Rücksicht auf seinen eigenen prekären Status als kubanischer Exilant in seinem mexikanischen Gastland. Beispielsweise beginnt er sein Boletín vom 10. Juni 1875 über den Streik der Hutmacher mit einem für seine ethische Haltung bezeichnenden Satz: «La fraternidad no es una concesión, es un deber.»143 Brüderlichkeit ist folglich keine Konzession für Martí, sondern schlicht eine Pflicht. Der Redakteur der Revista Universal begrüßt die Entwicklung des «artesano que comienza a tener conciencia de su propio valer, se rebela contra el capitalista dominante»,144 womit Martí einen Gegensatz zwischen den sich ihrer Funktion immer bewussteren Handwerkern beziehungsweise Arbeitern und den herrschenden Kapitalisten konstatiert. Eine gänzlich andere Haltung aber nimmt er ein, als vier Wochen später ein Druckerstreik gleichsam sein eigenes «Haus der Arbeit» betrifft: «Nosotros hemos defendido la huelga de los sombrereros, y defenderíamos la de los impresores, si éstos tuvieran igual razón que aquéllos.»145 Warum aber haben in diesem Falle die Drucker zu ihrem Streik kein Recht? In Martís Sichtweise hätten die Drucker in diesem Konflikt nicht jenes Recht, das Martí den Hutmachern eingeräumt hatte, sondern verhielten sich nach seinem Dafürhalten schädlich und negativ. Martí verwickelt sich in Widersprüche, denn er ist in diesem Konflikt Partei. Der Direktor der Revista Universal hatte fristlos jene Drucker entlassen, die bei der Arbeit fehlten, weil sie gerade an einer gewerkschaftlichen Versammlung, an einer «reunión de tipo sindical»,146 teilgenommen hatten. Und Martí verteidigte diese Position des Direktors seiner Zeitung unzweideutig: «Wir sahen uns gezwungen, sie aus unserer Einrichtung zu entlassen: Sie wussten sehr gut, was sie taten, und aus wohl-

   

Martí, José: OCEC 2, S. 68. Ebda., S. 69. Ebda., Bd. 2, S. 121. Ebda., S. 237.

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überlegtem Vorsatz erfüllten sie nicht ihre Pflicht.»147 Sah sich Martí in dieser Frage als einfacher Redakteur und Angestellter gezwungen, pro domo zu argumentieren? Oder sah er die Pflicht verletzt, welche die Arbeiter in einer Druckerei auf sich genommen hatten? Barsch kritisierte er jedenfalls die Undankbaren («no agradecidos operarios») und erklärte jene Streiks für ungerecht, die von einem «odio injusto al capital»,148 einem ungerechten Hass auf das Kapital, ausgelöst worden seien. Dieselbe Problematik sah Orestes auch in seinem bereits zitierten Boletín vom 15. Juli 1875: «Das Recht des Arbeiters darf niemals der Hass auf das Kapital sein: Es ist vielmehr die Harmonie, die Versöhnung, die gegenseitige Annäherung beider Seiten.»149 Der kubanische Redakteur sprach von Arbeit und Kapital – aber war er darum ein Sozialist? José Martí in diesen Auseinandersetzungen in Mexiko ein klassenkämpferisches Bewusstsein zu unterstellen, wie dies bisweilen in der langen Rezeptionsgeschichte versucht wurde, scheint mir ideologisch motiviert und letztlich irreführend. Der sozialen Frage aber stand der Kubaner in seinem Exilland höchst aufmerksam gegenüber und knüpfte daran in den achtziger Jahren Überlegungen, welche deutlich über die Welt Lateinamerikas hinausführten. Innerhalb des Kontexts unserer Studie zur Herausbildung dieses Denkers der Globalisierung interessiert die sich an solchen Positionen entzündende kurze Polemik Martís mit El Socialista nur wenig. Von großer Wichtigkeit für die Interpretation von De noche, en la imprenta jedoch ist, dass sich Martí in diesem Artikel, in welchem er vom Lärm berichtete, der ihn beim Schreiben in der Redaktion umgab, mit dem politischen Leben («Como que se siente crecer un hombre con la representación de los demás»), mit dem Streik der Drucker (die seiner Ansicht nach die Erfüllung der «comunes deberes»150 vernachlässigten) sowie den sozialen Problemen der Arbeiter intensiv auseinandersetzte, insbesondere mit den «medios de procurar el adelanto y bienestar de los obreros del ramo», wobei dies stets «en armonía justa con los elementos y estado presente del capital»151 zu geschehen habe. Martí versuchte, mit den sich in seinem Gastland entwickelnden ökonomischen und sozialen Problematiken intellektuell Schritt zu halten. Die obigen Zitate zeigen: José Martí blieb bei seiner Linie und war sich auch bezüglich seiner einmal eingeschlagenen Argumentation selbst treu: Er

 Ebda., S. 122: «Nos hemos visto obligados a despedirlos de nuestro establecimiento: sabían bien lo que hacían, y con propósito deliberado han faltado a su deber.»  Ebda., S. 123.  Ebda., Bd. 2, S. 133: «El derecho del obrero no puede ser nunca el odio al capital: es la armonía, la conciliación, el acercamiento común de uno y de otro.»  Ebda., S. 130.  Ebda., S. 131.

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betonte Harmonie und Ausgleich, Pflicht und Arbeit. Nicht ohne Widersprüche zeigte er sich humanistischen Werten verpflichtet, denen er in seinem Boletín vehement Ausdruck verlieh. All diese Themen werden wenige Wochen später152 in der lyrischen Modellierung von De noche en la imprenta wiederkehren, so dass man mit Blick auf diese intratextuelle Beziehung geradezu von einem Prätext in Prosa sprechen könnte: Der junge Kubaner verdichtete seine jüngsten Erfahrungen und Auseinandersetzungen nun in poetischer Form mit den Mitteln einer noch im Romanticismo gründenden Ästhetik, die doch in vielerlei Hinsicht auf die künftige Entwicklung des Poeten vorausweist. Wie sollte man nicht im 15. Vers des Gedichts («Cuando el deber con honradez se cumple») eine intratextuelle Anspielung auf die Probleme und Polemiken im Umfeld des nur kurz zurückliegenden Druckerstreiks bei der Revista Universal erblicken? Die soziale Dimension des Gedichtes ist aber – im Gegensatz zu Einschätzungen, wie sie sich schon im frühesten Kommentar in La Opinión Nacional (Caracas) finden lassen – keineswegs auf Armut und soziales Elend, die als drohende Gefahren den Schlussteil dieses Textes beherrschen, beschränkt. Mit Beginn der fünften Strophe wird eine Problematik ausgeführt, die bis zu diesem Zeitpunkt nur unterschwellig, implizit enthalten war. Sie erlangt aber nun eine entscheidende Bedeutung, die es erst ermöglicht, das Gedicht in seiner ganzen poetologischen Dimension zu erfassen. Zitieren wir nochmals die entsprechenden Verse: Leben heißt Handel treiben; alles belebt der nützlich Austausch und der Handel: sie geben Brot, ich gebe Seele: ich gab soviel zu geben ich hab: Was sterb’ ich nicht? Vivir es comerciar; alienta todo Por los útiles cambios y el comercio: Me dan pan, yo doy alma: si ya he dado Cuanto tengo que dar ¿por qué no muero? (V. 45–48)

Die semantische und rhythmisch betonte Rekurrenz von «comercio»/ «comerciar» zu Beginn der längsten Strophe des Gedichts153 beharrt auf dem grundle-

 In Herrera Franyuttis Fassung erscheint am Ende des Gedichts eine Datierung auf den 29. September; in der (wie betont nicht unproblematischen) kritischen Werkausgabe fehlt nicht nur dieses Datum, sondern auch jeglicher Hinweis darauf in einer etwaigen Fußnote.  In der Fassung des Gedichts, wie es La Opinión Nacional in Caracas abdruckte – und die im Übrigen auch die Lesart «oh rey de la tiniebla» (V. 51) (und nicht wie in der wirklich kriti-

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genden Warencharakter der Literatur, welcher die Aktivitäten professionellen Schreibens in einer kapitalistischen Gesellschaft regelt. Diese mexikanische Gesellschaft befand sich zum damaligen Zeitpunkt – dies machten auch die eingangs zitierten Passagen der journalistischen Texte Martís deutlich – in einem Prozess beginnender sozioökonomischer Modernisierung, welcher selbstverständlich vor dem Feld der Literatur nicht halt machte. Die journalistische beziehungsweise literarische Produktion wird unter solchen Umständen zu einem bloßen Produkt degradiert, einem kommerzialisierbaren Gegenstand also, der endgültig vom produzierenden Subjekt, von dessen Körper-Leib, von dessen Seele, von dessen Herz getrennt ist. Martí weist darauf hin: Literatur ist zu einer Ware in der Warenökonomie des Kapitalismus geworden. Zweifellos ist das Konzipieren und Verfassen von Literatur ein hochkomplexer und in all seinen Teilen lebendiger Vorgang mit unterschiedlichsten Etappen, die aufeinander abgestimmt sein müssen. Am Ende dieses Prozesses steht der gedruckte Text oder, wie es anschaulicher noch im Gedicht heißt, das fertige Buch, die Inkarnation der käuflichen Ware. Was aber hat dieses abgeschlossene Produkt noch mit dem Leben zu tun? Auch an dieser Stelle stoßen wir auf die Lexemrekurrenz von Leben, die sich mit hoher Intensität quer durch De noche, en la imprenta zieht. Das Schreiben von Literatur ist zweifellos ein lebendiger Vorgang, in welchem Formen und Normen des Lebenswissens154 zum Ausdruck kommen. Dieses fertige Buch aber stellt schon durch seine äußere Form ein abgeschlossenes Produkt dar, dessen Bild in der Vision des lyrischen Ich die Konturen eines Sarges (mit seinem Buch-Deckel) annimmt. Das Bild dieses (doppelten) Sarges löst im Dichter einen Schrecken aus, der in den rhythmischen Wechseln jener beiden Verse zum Ausdruck kommt, welche mit dem proparoxytonischen «féretro» enden (V. 4 u. 62). Kann das Leben sich aber in einem solchen Erzeugnis, in einer derartigen in sich abgeschlossenen Ware vergegenständlichen? Das technische Medium, das diese zugleich kommunikative und kommerzielle, menschliche Erkenntnis verbreitende und menschliche Arbeit ausbeutende Dimension erst ermöglicht, ist die Druckerpresse, die im Zentrum dieses

schen Ausgabe «hoy rey de la tiniebla») zu bestätigen scheint – erscheint die fünfte Strophe zweigeteilt: eine neue Strophe setzt mit Vers 53 ein. Da dieser, von der Interpunktion einmal abgesehen, den fünften Vers der ersten Strophe wiederaufnimmt, erscheint eine solche Gliederung keineswegs als unwahrscheinlich. Vgl. diese Fassung des Gedichts in Ripoll, Carlos: Un poema de Martí proletario, S. 33.  Vgl. hierzu ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2004; sowie ders., (Hg.): Wissensformen und Wissensnormen des ZusammenLebens. Literatur – Kultur – Geschichte – Medien. Berlin – Boston: De Gruyter 2012.

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«Hauses der Arbeit» steht. In einem am 4. Juni 1875 in der Revista Universal veröffentlichten Artikel unterstreicht Martí die Zunahme an nützlichen Kenntnissen («útiles conocimientos») bei der breiten Bevölkerung, beklagt aber auch eine wachsende Nivellierung: «escasean o se ocultan aquellas cumbres altas del talento, que antes reunían en un cerebro los destinos y el porvenir de una nación».155 Wir stoßen an dieser Stelle auf eine Verbindung, auf die wir bereits im Zusammenhang mit der literarhistorischen und ästhetischen Entwicklung hin zum hispanoamerikanischen Modernismus gestoßen waren. So wundert sich der kubanische Dichter darüber, dass sich nicht mehr in einem einzigen Hirn die Gesamtheit aller Fähigkeiten eines Volkes vereinigt, wobei der Kubaner dies in das Landschaftsbild eines hohen Berges übersetzt, in dem gleichsam alle Linien und alle anderen Erhebungen zusammenlaufen. Wir hatten diese spezifisch romantische Landschaft der Theorie bereits diskutiert und deren perspektivische Veränderungen hin zum Modernismo bei Martí gesehen. Doch träumte Martí von einem patriarchalischen System, in welchem ein großer Mann an der Spitze des von ihm geleiteten Staates stehen sollte? Steckte auch in seinem Denken der Keim jener Verehrung für einen großen Caudillo, der in ganz Lateinamerika im Verlauf des Jahrhunderts der Romantik schon so große Schäden verursacht hatte? Wir sollten dieses Landschaftsbild nicht zu sehr auf eine politische Semantik reduzieren. Denn zweifellos handelt es sich hier um Überlegungen, die bereits auf die brillanten Formulierungen Martís in seinem berühmten Prólogo al Poema del Niágara von Pérez Bonalde vorausweisen, einer Schrift, die als das große Manifest einer neuen hispanoamerikanischen Lyrik verstanden werden darf. Diese Schrift bildete das Manifest einer Dichtkunst, die sich der modernen Zeit und ihrer Herausforderungen, aber auch ihrer eigenen Modernisierungen bewusst sein wollte: einer Modernisierung nicht allein im sozioökonomischen Sinne, sondern vor allem auf künstlerischer, ästhetischer Ebene einer poetischen Ausdrucksweise, die neue Formen, aber auch neue Normen zu schaffen beabsichtigte. Dort wird Martí von jener schon nahen Epoche sprechen «en que todas las llanuras serán cumbres»: einer Zeit, in welcher alle Ebenen Gipfel sein sollten; in dieser nicht mehr weit entfernten Epoche sollte eine Art Dezentralisierung der Intelligenz («descentralización de la inteligencia») stattfinden, zu welcher sich José Martí bekannte. Denn das Genie gehe Stück für Stück vom Individuum auf das Kollektiv über: «El genio va pasando de individual a colectivo.»156

 Martí, José: OC 6, S. 222.  Martí, José: Prólogo al Poema del Niágara. In (ders.): OC 7, S. 228.

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In diesen die modernistische Ästhetik bereits gestaltenden Formulierungen zeigen sich die Nähe wie auch manche Unterschiede zwischen den Texten von 1875 und 1882, dem Jahr der Veröffentlichung des ersten modernistischen Gedichtbandes Ismaelillo. Schon in dem zitierten Artikel vom 4. Juni 1875 schloss Martí jedoch auf eine künftig noch größere Verbreitung des Wissens: «Todo va diseminándose en justicia e igualdades; es buena hija de la libertad esta vulgarización y frecuencia del talento.»157 Alles, so Martí, disseminiere sich in Gerechtigkeit und Gleichheit; die Vulgarisierung und Vervielfachung des Talents sei eine gute Tochter der Freiheit. José Martí hielt an seiner Grundidee von 1875 fest und weitete diese im mexikanischen Exil entwickelte Vorstellung lediglich zu einem Leitprinzip des gesellschaftlichen wie des künstlerischen Lebens in der Gegenwart aus. Diese scheinbar kleine, unauffällige, aber signifikante Veränderung wirft nicht allein ein bezeichnendes Licht auf literarästhetische Verschiebungen, sondern auch auf die künftigen Verstehenshorizonte eines Denkens, das zu einem sehr frühen Zeitpunkt die Herausforderungen der heraufziehenden und sich beschleunigenden Globalisierungsphase zu erkennen begann. Just in diesem Denkhorizont ordnet sich das Buch, ordnet sich die Literatur ein. Die Druckerpresse als Medium dieser Dissemination, Vulgarisierung und Dezentralisierung kann bei dem kubanischen Denker zu jenem Ort werden, an dem – wie es in der zweiten Strophe des Gedichts heißt – «el amor se reproduce inmenso» (V. 16). Aus dieser Perspektive erscheint die Druckerei als der privilegierte Ort eines Nachdenkens über Funktion, Rolle und Bedingungen des Schriftstellers innerhalb einer Gesellschaft, die einem freilich gerade erst einsetzenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modernisierungsprozess unterworfen ist. Die Druckerei ist aber auch der Ort, an dem der Körper-Leib des Dichters eliminiert wird, wo der Schreibprozess gleichsam in einem kalten Produkt gerinnt, das vom Blut von der Kälte des Cadáver erfasst wird. So wird die Druckerei, das Haus der Arbeit, zum Schauplatz eines ungleichen Kampfes zwischen KörperLeib und Druckerpresse,158 eines Kampfes, der kulturgeschichtlich wie literarhistorisch von höchstem Interesse ist. Denn das Haus der Arbeit wird zum Haus des Todes: die Druckerpresse obsiegt und bemächtigt sich des menschlichen Körper-Leibes. Die Hand des Dichters wird vom Cadáver unterdrückt und durch die Hände jener Arbeiter ersetzt, die bereits die Arbeit der Presse («la labor de imprenta») abschließen: «Parécenme esas manos que se mueven / Manos que clavan enlutado féretro»  Martí, José: OC 6, S. 222.  Vgl. hierzu Gumbrecht, Hans Ulrich: The body versus the printing press: media in the early modern period, mentalities in the reign of Castile and another history of literary forms. In: Poetics. International Review for the Theory of Literature XIV, 3–4 (august 1985), S. 209–228.

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(V. 61–62). Unter dem Druck seiner ökonomischen Abhängigkeit scheint der Autor zu einer Arbeit ohne Ende verurteilt, zu einer Arbeitsform, welche dem Bild des romantischen, den Kuss der Musen erwartenden Dichters hart und unvermittelbar entgegengestellt wird. Ein schlecht entlohnter Arbeiter tritt an die Stelle des von den Musen geküssten Dichters. Der Dichter ist in einer sich modernisierenden Gesellschaft an ökonomische Zwänge gebunden, die längst das Bild des frei über den Dingen schwebenden und melancholisch in die Vergangenheit blickenden romantischen Dichters ersetzt haben. Martí wird sich dieser fundamentalen Umbesetzung, die später im Modernismo bei Rubén Darío in dessen Erzählung El Rey burgués – wenn auch mit anderer ästhetischer Zielrichtung – offen thematisiert wird.159 Innerhalb der Entwicklungsgeschichte des Schreibens im sich konstituierenden Lateinamerika war zweifellos José Joaquín Fernández de Lizardi in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts der erste Berufsschriftsteller, der von seinem eigenen Schreiben leben konnte.160 Die Entwicklungsgeschichte einer Professionalisierung des Schreibens verlief im Jahrhundert des Romanticismo in den ehemals spanischen Kolonien aber keineswegs kontinuierlich. Der Dichter erscheint in den ausgehenden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts bei Martí als nichts anderes mehr als ein Produzent kommerzialisierbarer Waren, die anonym an ein Lesepublikum verkauft werden müssen. Doch welche Konsequenzen waren für ihn daraus zu ziehen? Der Literat ist nicht mehr als ein Glied in einer Kette, die allein an der Herstellung eines materiell immer identischen, auf dem Markt der Literatur verkäuflichen Produkts ausgerichtet ist. Der Körper-Leib des Dichters aber zeigt die Spuren dieses Kampfes mit der Druckerpresse: In seine Haut, an den Rändern der klaffenden Wunde ist jener Text eingeschrieben, der zum Gegenstand der Lektüre wird: einer doppelten Lektüre, die endlich Dichter und Leser einander annähert, ja bald schon miteinander im selben Leseprozess vereinigt: «quien a mí se acerque / En los bordes leerá como yo leo» (V. 69–70). Gibt es aus dieser neuen kommerziellen Konstellation ein entrinnen? Wenn der Dichter zuvor nur eine utopische Lösungsmöglichkeit gesehen hatte – außerhalb der ökonomischen Tauschbeziehungen, aber auch außerhalb der gesellschaftlichen Realitäten seiner Zeit («Si de vida sin pan imagen formo» (V. 49)) –, so wird nun das Entziffern der dem Körper eingeschriebenen Zeichen zu dem so ersehnten direkten Kontakt zwischen dem Dichter und seinem Publikum führen.

 Vgl. hierzu das abschließende Kapitel im vierten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten (2021).  Vgl. ebda., S. 285–334.

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Im verdoppelten Lesevorgang verbinden sich Autor und Leser in einer Lesegemeinschaft, die vielleicht doch noch – selbst in einer Gesellschaft, die allein am Brot und damit am Geldverdienen ausgerichtet ist – eine Gesellschaft neuen Typs erzeugen könnte. In den Elfsilblern, welche mit ihren syntaktischen und klanglichen Rekurrenzen die letzte Strophe des Gedichts fast harmonisch beschließen, ist das «quien a mí se acerque» zu einem Du geworden: Wenn einen gemeinen Mann Du triffst, halt ein und frag, ob Elend ihm die Brust aufriss, und ist es wahr, geh weiter und verzeih: Schuld trägt er nicht: Ihn fraß nur dieses Gift! Cuando encuentres un vil, para y pregunta Si la miseria le mordió en el pecho, Y si el caso es verdad, sigue y perdona: Culpa no tiene, -¡le alcanzó el veneno! (V. 75–78)

Damit sollte deutlich geworden sein, dass die im Gedicht entfaltete soziale Dimension keineswegs auf die gesellschaftliche Lage der Arbeiterschaft beschränkt bleibt, wenn eine solche Einschätzung auch durch den didaktischen, etwas belehrenden Ton der letzten Verse erzeugt worden sein mag, der sich so häufig in den Schriften Martís nicht nur der mexikanischen Jahre findet. Das Gedicht kann als poetische und poetologische Meditation über den Ort des Schreibens, ja mehr noch: der Dichtkunst überhaupt in einer Modernisierungsprozessen unterworfenen Gesellschaft gelesen werden, wobei hinsichtlich dieser Prozesse zurecht von einer für Lateinamerika charakteristischen modernidad periférica161 gesprochen werden kann. Die zu Beginn unserer Beschäftigung mit der mexikanischen Lyrik angeführten Textbeispiele hatten gezeigt, dass Martí – zu seiner eigenen Überraschung – eine einsetzende Modernisierung auf industriellem beziehungsweise allgemein wirtschaftlichem Gebiet in Mexiko hatte konstatieren können. Diese sozioökonomische Modernisierung aber erzwang literarische und ästhetische Konsequenzen, an denen sich die entstehende neue Poetik Martís in den folgenden Jahren abarbeitete. Der kubanische Dichter begriff, dass diese sozioökonomische Modernisierung nach neuen ästhetischen Formen rief, die es zu finden und zu erfinden galt.  Vgl. Hierzu insbesondere Sarlo, Beatriz: Una modernidad periférica: Buenos Aires 1920 y 1930. Buenos Aires: Ediciones Nueva Visión 1988, sowie Ramos, Julio: Desencuentros de la modernidad en América Latina. Literatura y política en el siglo XIX. México: Fondo de Cultura Económica 1989.

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Gewiss ist die mexikanische «casa del trabajo», wie sie De noche en la imprenta zeichnet, noch längst nicht auf jenem Entwicklungsstand, der etwa ein Jahrzehnt später ein anderes Periodikum, La Nación in Buenos Aires, für das Martí dann als Korrespondent von New York ausarbeiten sollte, in die modernste, alle damaligen technologischen Möglichkeiten ausschöpfende Zeitung Lateinamerikas verwandeln wird.162 Die in Martís Gedicht evozierte Druckerei trägt noch deutliche Züge eines taller geradezu handwerklichen Typs, einer Werkstatt, die noch weit entfernt von industriellen Fertigungsprozessen ist. Gleichwohl erlaubt sie dem Dichter, die Problematik jener Beziehungen zu entwerfen, die kurze Zeit später, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, sich zwischen Schriftstellern, Literatur und literarischem Markt in Lateinamerika herausbilden sollten. Zusätzlich ist dieses letzte Jahrhundertdrittel dadurch gekennzeichnet, dass in ihm diese Modernisierungsprozesse verstärkend sich die dritte Phase beschleunigter Globalisierung entfalten wird, die mit den USA in der Geschichte weltweiter Globalisierung ihren ersten außereuropäischen Player haben sollte. Aber greifen wir den Ereignissen nicht vor: Die künftige Entwicklung der Vereinigten Staaten von Amerika konnte José Martí aus der mexikanischen Perspektive Mitte der siebziger Jahre sicherlich noch nicht voraussehen und nicht ahnen, wie rasch der Aufstieg der USA zur imperialen Macht163 nicht nur hemisphärische, sondern weltweit sicht- und spürbare Folgeerscheinungen zeitigen würde. Gewiss lässt sich die mexikanische Lyrik Martís noch nicht jener Ästhetik zuordnen, die der Modernist wenige Jahre später in eine prägnante Metaphorik fassen sollte: «Jeder Absatz muss wie eine exzellente Maschine angeordnet sein, und jedes einzelne Teil muss in die anderen Teile mit solcher Vollkommenheit eingepasst sein und eingreifen, dass bei einem Herausbrechen die anderen Teile wie Vögel ohne Flügel scheinen und nicht funktionieren, oder wie ein Gebäude, aus dem man eine tragende Mauer entfernt hätte. Die Komplexität der Maschine steht für die Vollkommenheit der Arbeit.»164 In der romantischen Ästhetik von De noche, en la imprenta steht die Maschine noch in scharfer Opposition zu dem um seinen dichterischen Ausdruck ringenden Poeten.

 Ebda., Sp. 95 ff.  Vgl. hierzu nochmals Wehler, Hans-Ulrich: Der Aufstieg des amerikanischen Imperialismus. Studien zur Entwicklung des Imperium Americanum 1865–1900. Göttingen 1974.  Martí, José: OC 22, S. 156: «Debe ser cada párrafo dispuesto como excelente máquina, y cada una de sus partes ajustar, encajar con tal perfección entre las otras, que si se la saca de entre ellas, éstas quedan como pájaros sin ala, y no funcionan, o como edificio al cual se saca una pared de las paredes. Lo complicado de la máquina indica lo perfecto del trabajo.»

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Denn im Gegensatz zu derartigen Vorstellungen, die Martí – wie im Falle dieser eindrücklichen Maschinenmetaphorik165 – mehr als zehn Jahre später während seines Aufenthalts in New York entwickelte, erscheint die Maschinerie im Gedicht von 1875 gerade nicht in ihrer ästhetischen Dimension. Die Druckerpresse steht vielmehr für eine Bedrohung des Menschlichen, des Humanen. Vom ersten Vers an produziert sie in erster Linie einen infernalischen Lärm. Zwischen diesem Höllenlärm und der tödlichen Stille versucht die Stimme des Dichters, sich Gehör zu verschaffen und der eigenen Ästhetik Raum und Körper zu geben. Und es ist diese Stimme, die in der letzten Strophe von De noche, en la imprenta die Lektüre des dem Körper-Leib eingeschriebenen, aufgedruckten Textes in einen direkten Kontakt zwischen Dichter und Leser, zwischen Autor und Publikum verwandelt. Das erst in dieser Strophe erscheinende Du versucht, das wiederherzustellen, was die Druckerpresse ausgeblendet hatte: eine face-to-face communication, eine menschliche, direkte sprachliche Interaktion zweier einander gegenwärtiger Körper, die sich im Akt des Lesens zusammenfinden. Das noch tief in einer romantischen Ästhetik verwurzelte Gedicht De noche, en la imprenta endet mit dieser verzweifelt hoffnungsvollen, aber gleichwohl aporetischen Suche nach der Präsenz des Anderen, des tú, im Gedicht – eine Suche nach dem ethisch fundierten lebendigen Wort,166 so wie das Gedicht selbst durch die Lexemrekurrenz von vida und vivir diese lebendige, da menschliche Interaktion immer wieder erstrebt. Es ist der lyrische Versuch einer Annäherung an eine direkte, unvermittelte Kommunikation, welche José Martí als großer Freund des Theaters vielleicht mit mehr Nachdruck noch in einer anderen literarischen Gattung unternahm, die daher wohl auch nicht zufällig den Höhepunkt seines spezifisch literarischen Erfolgs in Mexiko markiert. Gemeint ist hier die bereits erwähnte und überaus erfolgreiche Aufführung seines «proverbio en un acto» Amor con amor se paga am 19. Dezember 1875 im Teatro Principal der mexikanischen Hauptstadt. Auch hier sind es die letzten Verse dieses Stückes, die den dialogischen Bezug zum Publikum herausstellen und mit einer das gesamte Stück zusammenfassenden Sentenz enden:

 Es handelt sich um das Fragment No. 258, das Ángel Rama in einem seiner überzeugendsten Essays kommentierte; vgl. Rama, Ángel: José Martí en el eje de la modernización poética: Whitman, Lautréamont, Rimbaud. In: Nueva Revista de Filología Hispánica (Madrid) XXXII, 1 (1983), p. 102.  Zurecht wies Ángel Rama darauf hin, dass Martí es vermocht habe, eine «escritura que refleja, con exactitud, la entonación de su voz» zu schaffen; vgl. Rama, Ángel: Martí, poeta visionario, S. 158.

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Nichts Besseres vermag zu geben Wer ohne Vaterland muss leben, Ohne Frau, für die zu sterben, Wen der Hochmut immer reut, Leidet, schwankt und sich erfreut Dass ein gutes Publikum spürt, wie alles zu dem Spruche führt: Liebe wird mit Lieb beglichen. Nada mejor puede dar Quien sin patria en que vivir, Ni mujer por quien morir, Ni soberbia que tentar, Sufre, y vacila, y se halaga Imaginando que al menos Entre los públicos buenos Amor con amor se paga.167

Die bereits angedeutete intratextuelle Beziehung zu Patria y mujer, das in der Serie der in der Revista Universal publizierten Gedichte unmittelbar auf De noche, en la imprenta folgte, könnte belegen, dass auch im letztgenannten Gedicht die politisch-autobiographische Dimension des im Exil Leidenden und für die Unabhängigkeit seiner Heimat Kämpfenden nicht fehlt. Die spezifisch politische Isotopie ist in der gesamten escritura Martís, ebenso in der Lyrik wie in der Prosa oder im Theater, allgegenwärtig und verknüpft mit dem Leiden des Ich. Darüber hinaus dürfte es keineswegs ein Zufall sein, dass De noche, en la imprenta an einem 10. Oktober abgedruckt wurde, einem für den kubanischen Patrioten José Martí geradezu sakrosankten Tag, der an den Beginn des damals noch immer fortdauernden militärischen Kampfes erinnerte, der als Guerra de los Diez Años, als der Zehnjährige Krieg in die kubanische Geschichte eingehen sollte. Vergessen wir dabei nicht, dass Martí diesem Tag in seiner alles andere als weit zurückliegenden frühen Jugend eines seiner seltenen Sonette gewidmet hatte: «¡10 de Octubre!» Genauso wenig war es ein Zufall, dass José Martí in einer Hommage an den ebenfalls im mexikanischen Exil lebenden Dichter Luis Victoriano Betancourt und dessen kurz zuvor verstorbenen Vater José Victoriano in derselben Ausgabe der Revista Universal, in welcher De noche, en la imprenta erschien, die folgenden Zeilen schrieb: «Der Respekt vor einer Gastfreundschaft, die wir stören könnten, verschließt uns die Lippen; doch möge es weder mütterliche Segnung noch den Himmel Kubas noch ein ruhiges Gewissen geben für jenen

 Martí, José: Amor con amor se paga. In (ders.): OC 18, S. 126 f.

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unter uns, der an diesem geheiligten Tage nicht betet, nicht liebt, sich nicht die Stirne mit Asche bedeckt, nicht aufstöhnt und nicht weint!»168 Es ist folglich wichtig, die kotextuelle, also im selben Medium zum gleichen Zeitpunkt veröffentlichte Kopräsenz unterschiedlichster Texte miteinzubeziehen, welche für unser Verstehen weitere wichtige Indizien liefern können. Aber die in der Serie seiner mexikanischen Gedichte so wichtige Bedeutungsebene von Heimat und Exil ist in dem hier untersuchten Text nur auf intratextuelle und – durch die in derselben Zeitungsnummer abgedruckte Schrift – kotextuelle Weise präsent, so dass sich in De noche, en la imprenta der Blick auf die im engeren Sinne poetologische Ebene öffnen kann. Das Patriotische, das Poetologische und das Körperliche schließen sich selbstverständlich keineswegs gegenseitig aus, wie Martí später, in den Versos libres, mit seinem Gedicht Dos patrias eindrucksvoll aufzeigen sollte. Auch im Herzen dieses Gedichts wird der Ort der Lyrik, der Ort des Dichtens, ein weiteres Mal formuliert und in überaus ähnlicher Weise modelliert: Und leer Ist meine Brust, zerfetzt und leer der Ort, Wo einst das Herz mir schlug. Schon ist es Zeit, Das Sterben zu beginnen. Gut ist die Nacht, Um Abschied nun zu nehmen.169 Está vacío Mi pecho, destrozado está y vacío En donde estaba el corazón. Ya es hora De empezar a morir. La noche es buena Para decir adiós.170

Die beiden Vaterländer, Kuba und die Nacht, verweisen auf das nächtliche Setting der Romantik, das wir in De noche, en la imprenta kennengelernt haben, aber auch auf die Unerreichbarkeit der kubanischen Heimat, auf ein Kuba, das ganz in Schwarz gehüllt sei. Dabei wird der leere, zerfetzte Ort des Herzens von beiden Isotopien her ins Zentrum gerückt und gleichsam am Brustkorb, am Körper des Märtyrers, festgemacht. Die agonale Grundstruktur auch dieses Ge-

 Martí, José: Obras Completas, Bd. 6, S. 376: «¡El respeto a una hospitalidad que pudiéramos turbar, cierra nuestros labios; pero no haya bendición de madre, cielo de Cuba, ni calma de conciencia, aquel de nosotros que en este día sagrado no venere, no ame, no se cubra la frente con ceniza, no gima y no llore!».  Vgl. meine Übersetzung des Gedichts «Zwei Vaterländer» in Poesie der Welt, S. 51.  Martí, José: PCEC 1, S. 127.

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dichts ist offensichtlich. Ich werde auf dieses wichtige Martí’sche Gedicht noch einmal in einem anderen Zusammenhang zurückkommen. Das lyrische Ich erscheint in De noche, en la imprenta nicht nur mit den Attributen des Märtyrers versehen, sondern gleicht – und man kann dies in einer langen romantischen Literaturtradition in Lateinamerika nachverfolgen171 – vor allem Jesus Christus. Darauf verweisen etwa die sich neigende Stirn, das Schweißtuch und Leichentuch oder die Wunde an seiner Brust. Der Profanierung des Sakrosankten wirkt die Sakralisierung gerade des Dichters im 19. Jahrhundert entgegen: Martí ging als junger Schriftsteller durchaus konform mit den epochenspezifischen Umbrüchen und Umbesetzungen seiner Zeit und ihrer Ästhetiken. Wirkt dieses Bildnis des Dichters auch romantisch geprägt, insoweit es – wie wir gerade sahen – in einer Tradition der De- und Resakralisierung christlicher Symbolik steht, so darf darüber nicht vergessen werden, dass die zum damaligen Zeitpunkt in Mexiko als «sozialistisch» bezeichneten Vorstellungen eine überaus starke und bestimmende religiöse Ausprägung besaßen, wobei Begrifflichkeit und Ausdrucksweise dieses Diskurses wesentlich von einem Vokabular christlicher Provenienz bestimmt waren.172 Mit diesem Vokabular verstand José Martí seit seinen frühesten Texten überaus geschickt umzugehen. Weiterhin darf nicht – wie dies schon so oft geschah – übersehen werden, dass auch im Vorwort zum Poema del Niágara, das sich (wie bereits betont) als Manifest des hispanoamerikanischen Modernismus lesen lässt, das Bild Jesu, des «Cristo crucificado, perdonador, cautivador, al de los pies desnudos y los brazos abiertos»,173 also des Gekreuzigten, der mit seinen offenen Armen alles verzeiht, jenseits aller Sozialromantik ständig präsent ist. Und selbst noch in Martís sogenanntem literarischen Testament finden wir diese Sakralisierung des Profanen als durchgängige Leitlinie Martí’schen Schreibens: «Am Kreuze starb der Mensch an einem Tage: Doch es gilt zu lernen, alle Tage am Kreuze zu sterben.»174 Die agonale Grundstruktur wird poetisch mit der Semantik des Gekreuzigten und Erlösers aufgeladen. Dass diese Doppelrolle als Märtyrer und Erlöser oder Befreier ein Licht auf die Selbstdeutung Martís wirft und selbst noch in seinen letzten Tagen in seinen Kriegstagebüchern wie in seinem Tod in Kuba präsent ist, erscheint als evident.

 Vgl. hierzu den vierten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten (2021), insb. S. 251 ff.  Vgl. Estrade, Paul: Un «socialista» mexicano, S. 252 ff.  Martí, José: OC 7, S. 226.  Martí, José: OC 1, S. 28: «En la cruz murió el hombre en un día: pero se ha de aprender a morir en la cruz todos los días.»

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Die vektorielle Bewegung der Martí’schen Lyrik folgt gleichsam der Bewegung des Publizierens und beschreibt damit einen Weg, der von einem Drinnen nach einem Draußen strebt. Martí freilich formuliert diese Bewegung um und radikalisiert sie. Dass er dabei im Anklang an seinen Familiennamen das Märtyrertum hervorkehrt und der Dichter Martí zum Märtyrer wird – in Vorwegnahme einer Linie der Rezeption, die sich über lange Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart hinein verfolgen lässt – entspricht der in seiner Lyrik eingeschlagenen Linie und Symbolik. Die Rezeptionsgeschichte Martís, die wir im ersten Teil dieser Studie analysierten, wirft damit ein klares Licht auf die vielfältigen Strukturen in Martís Lyrik und in seinem Schreiben: Es handelt sich um Textelemente, die einer derartigen jahrzehntelangen und bis heute nicht gänzlich verschwundenen Deutung Vorschub leisteten. Wenn in De noche, en la imprenta das Blut aus der Herzenswunde strömt, wenn die Seele in einem (von Rivera-Rodas175 analysierten) Fragment mit der Leber des Prometheus verglichen wird, wenn ein Gedicht der Versos libres mit dem Vers «Yo sacaré lo que en el pecho tengo» beginnt, und wenn schließlich in den Versos sencillos das lyrische Ich seine Verse förmlich aus sich herausschleudern will («echar mis versos del alma»), dann zeigt dies an, dass für Martí die Lyrik immer – wie es an anderer Stelle heißt – «pedazo de nuestras entrañas»176 ist: ein Stück aus unseren Eingeweiden. José Martís Dichtkunst ist eine höchst körperliche Kunst. Auch wenn sich die Augen des Dichters in De noche, en la imprenta schließen (V. 39), so erhöht dies wie in der Tradition der spanischen Mystik, mit welcher José Martí bestens vertraut war, nur die visuelle, ja die visionäre Kraft, welche erst durch das Schließen der Augen (gr. mystein) ermöglicht wird. Ganz wie Orestes dies am 21. September 1875, also acht Tage vor der im Gedicht angegebenen Datierung, einem Freunde in den Mund legte: «Man fühlt sehr wohl das Unendliche, innerhalb des endlichen Körpers: Wie man seltsame Dinge sieht, wenn man die Augen schließt. Mit geschlossenen Augen sehe ich; und in mir selbst eingeschlossen, empfange und konzipiere ich, was nicht eingeschlossen ist.»177 Die Lyrik Martís ist stets ein Hervorbrechen, ein oft abrupt wirkendes Herausschleudern, in eben jener Form, in der Martí in einem seiner mexikanischen Essays die kommende lateinamerikanische Literatur erahnte: «la América es el

 Vgl. Rivera-Rodas, Oscar: Martí y su concepto de poesía, S. 843–856.  Martí, José: Obras Completas, Bd. 7, S. 417.  Martí, José: OCEC 2, S. 190: «Se siente bien lo ilímite, dentro del cuerpo limitado: cómo se ven cosas extrañas cerrando los ojos. Con los ojos cerrados veo; y encerrado en mí, concibo lo que no se cierra.»

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exabrupto, la brotación, las revelaciones, la vehemencia»:178 Lateinamerika als Vehemenz, als Aufbrechen, als urplötzliche Enthüllung. Martís mexikanische Lyrik versuchte, die ästhetischen Konzeptionen des Essayisten und Dichters einzulösen und nicht hinter diesen zurückzustehen – selbst wenn ihr dies nicht immer und in allen Gedichten gelungen sein mag. Doch finden sich in dieser Lyrik jene Bewegungen, welche Martí in seiner rapiden Entwicklung hin zum Modernismo auf neue Weise zu entfalten vermag. De noche, en la imprenta ist eine dichte und schmerzhafte Meditation und Reflexion über die vielfältigen Beziehungen zwischen Körper und Schreiben innerhalb des Kontexts einer Gesellschaft, die von einem fremdgesteuerten Modernisierungsprozess bestimmt wird, der seinerseits die Entwicklung eines beschränkten, aber erstmals existenten literarischen Marktes für Texte lateinamerikanischer Autoren in Lateinamerika möglich machte. Er situiert sich an dem zum damaligen Zeitpunkt noch kaum zu erahnenden Beginn einer neuen Phase beschleunigter Globalisierung, die auch den Literaturen Lateinamerikas im 20. Jahrhundert neue und vielversprechende Horizonte eröffnen sollte. José Martí gehörte in der amerikanischen Hemisphäre zweifellos zu den allerersten Autoren, welche diese neuen Entwicklungen erahnten und sie als Herausforderungen für das eigene Denken und Schreiben begriffen. Der erwähnte didaktische Grundton der letzten Strophe des Gedichts mag belegen, dass Martí am Ende dieser Meditation das Ethische mit dem Ästhetischen noch nicht völlig zu verschmelzen vermochte und es sicherlich ästhetische Defizite in seiner mexikanischen Lyrik gab, die den kubanischen Dichter in seinem literarischen Testament zu einer pauschalen Verurteilung derselben führten. Diese Defizite kann ein Vergleich mit seinen späteren, insbesondere seinen modernistischen Gedichten, die Martí – wie wir sahen – in seinem literarischen Testament als «unos y sinceros» ansah, deutlich machen. Daher werden wir uns mit Martís modernistischer Lyrik im weiteren Fortgang unserer Studie noch auseinandersetzen. Die für uns spannende Frage aber ist, ob Einheit, Ehrlichkeit und nicht zuletzt der Reiz der mexikanischen Lyrik Martís nicht gerade in der Heterogenität einer Stimme zu suchen wären, die sich ihrer eigenen spannungsgeladenen Körperlichkeit bewusst zu werden begann und versuchte, die Totalität des Lebens – des eigenen wie des kollektiven Lebens – in diese Dichtung einzufügen. Die mexikanische Zeit Martís ging abrupt zu Ende. Angesichts der bevorstehenden Machtübernahme und Diktatur von Porfirio Díaz – eines weiteren «starken Mannes» in der an autoritären Herrschern reichen Geschichte Lateinamerikas – wird Martí, kurz vor dem Verlassen Mexikos zu einem Zeitpunkt,

 Martí, José: OC 2, S. 217.

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1. Hauptstück: Von der Romantik im spanischen Amerika

als die liberale Revista Universal ihr Erscheinen bereits eingestellt hatte, in einem letzten Artikel, der am 10. Dezember 1876 in El Federalista erschien, das menschliche Denken als etwas stets Kommunikatives kennzeichnen, das an einen spontanen Impuls geknüpft sei, welcher nach außen dränge: «hacia fuera, fuera de nosotros.»179 Für Martí war das Denken (wie auch das Schreiben) immer eine Form sozialer Praxis, der möglichst direkten Berührung mit seinem Lesepublikum, einer möglichst unvermittelten Interaktion. Doch es gab zugleich eine andere, unkörperliche Dimension in Martís Vorstellungen vom Denken. Für den fast durchweg im Exil lebenden Kubaner, den man zurecht als «poeta de la emigración»,180 als Dichter der Emigration, bezeichnete, war das Denken nicht von ungefähr etwas, das dem bindenden Bezug zum Boden, zum Körperlichen entzogen schien: Es erschien ihm als unkörperlich, als «incorpóreo, porque está hecho para la reflexión hacia la eterna vida, para el esparcimiento, anchura y ascensión»:181 Denn das Denken sei gemacht für eine Reflexion in Richtung auf das ewige Leben, für ein Aufsteigen des Geistes gen Himmel und jenseits des Irdischen und mehr noch des Territorialen. Dies aber galt in der Vorstellungswelt des kubanischen Exilanten niemals für die Lyrik, die für José Martí stets einen Körper-Leib, ja etwas Leibhaftiges besaß. Die Lyrik war für Martí keineswegs allein abstrakter, vom Körperlichen entbundener Geist und geistiger Inhalt, sondern ganz wesentlich auch Form, in welcher sich Inhalte poetisch verdichtet ausdrücken und zu ihrem fraktal182 miniaturisierten Ausdruck gelangen. Im dichterischen Schaffen Martís ist der Körper der Lyrik stets ein zum Leiden, zum Leben, zum Anderen hin geöffneter: Der Körper des Dichters, der Körper des Gedichts ist der Ort der eigenen Märtyrerschaft, in welcher sich der Kubaner stets als Blutzeuge fühlte, wie der eigenen, nach Veräußerung und Verausgabung strebenden Transzendenz. Doch zugleich verstand er all dies auch als einen Körper, welcher den Körper des Anderen sucht. Diese Konfiguration verändert sich auch nicht mit der Schaffung von Grundlagen einer modernistischen Ästhetik. Selbst in Martís Vorwort zu Ismaelillo heißt es, an den Sohn gerichtet: «Esos riachuelos han pasado por mi corazón. ¡Lleguen al tuyo!»:183 Dieses Strömen ging durch mein Herz, möge es zu dem Deinen gelangen. Das poetisch verdichtete Schreiben ist auch noch unter modernis-

 Martí, José: OCEC 2, S. 291.  Armas, Emilio de: José Martí, poeta de la emigración. In: Unión (La Habana) XV, 2 (1976), S. 161–173.  Martí, José: OCEC 2, S. 291.  Vgl. hierzu Ette, Ottmar: WeltFraktale. Wege durch die Literaturen der Welt. Stuttgart: J.B. Metzler Verlag 2017.  Martí, José: Ismaelillo. In (ders.): PCEC 1, S. 17.

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tischen Vorzeichen für Martí die Kunst, eine unmittelbare Verbindung zwischen Herz und Herz zu schaffen. Auch in seinem Gedicht Dos patrias sahen wir, wie beständig der Appell an das Herz selbst unter veränderten ästhetischen Vorzeichen blieb. Doch auch in Martís Briefen suchte die schreibende Hand die Hand des Lesenden – wie etwa in jenem letzten Brief an Gonzalo Quesada y Aróstegui, in dem der Kubaner seine frühen Verse (wie wir sahen) in toto verurteilte. Nachdem er dort das Korpus seiner Texte – einen Körper, dem er bestimmte Formen gab, andere Formen oder Glieder aber negierte oder abtrennte – und damit sein literarisches Oeuvre gebildet hatte, das ihn überleben sollte, verabschiedete er sich von seinem Freund und späteren treuen Editor mit den folgenden, in einem auch körperlichen Sinne ergreifenden Worten: «Ich wollte nicht meine Hand von diesem Papier heben, als hätte ich die Ihre in meinen Händen; doch höre ich nun auf, aus Angst davor, der Versuchung zu erliegen, in meine Worte Dinge zu geben, welche nicht in sie gehören.»184 Es ist eine Hand, die sich zum Abschiedsgruß hebt, eine Hand, mit der sich der kubanische Dichter von seinem Vertrauten für immer verabschiedete, eine Hand, die in der Niederschrift einer Lyrik, welche stets von einem agonalen Zug gekennzeichnet blieb, doch immer die Nähe zum Lesepublikum suchte und fand. Es ist eine Hand, wie sie die junge Hannah Arendt in einem ihrer frühen Gedichte entwarf: IN MICH VERSUNKEN Wenn ich meine Hand betrachte – Fremdes Ding mit mir verwandt – Stehe ich in keinem Land, Bin an kein Hier und Jetzt Bin an kein Was gesetzt. Dann ist mir als sollte ich die Welt verachten. Mag doch ruhig die Zeit vergehen. Nur sollen keine Zeichen mehr geschehen. Betracht ich meine Hand, Unheimlich nah mir verwandt, Und doch ein ander Ding.

 Martí, José: OC 1, S. 28: «No quisiera levantar la mano del papel, como si tuviera la de Vd. en las mías; pero acabo, de miedo de caer en la tentación de poner en palabras cosas que no caben en ellas.»

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1. Hauptstück: Von der Romantik im spanischen Amerika

Ist sie mehr als ich bin Hat sie höheren Sinn?185

Martí und die Aufkündigung der Romantik in der erzählenden Prosa Zum Abschluss dieses ersten Hauptstücks des zweiten Teiles dieser Studie sollten wir uns nicht länger mit der Lyrik, sondern mit anderen Formen fiktionalen Schreibens bei José Martí beschäftigen. Wir waren von seinem Essay Nuestra América aus den neunziger Jahren ausgegangen und hatten uns mit den romantischen Anfängen des kubanischen Dichters und Essayisten in den sechziger und siebziger Jahren beschäftigt. Nun soll am Ende unserer Untersuchung des Martí’schen Schreibens in diesem Hauptstück eine Erweiterung unseres Blickes insoweit erfolgen, als im Gesamtwerk des kubanischen Migranten jetzt die Bedeutung fiktionaler Prosa erkundet werden muss. Aber ist die fiktionale Prosa für das Schaffen des Apostels, Dichters und Revolutionärs José Martí überhaupt von Bedeutung? Kann sie etwas darüber aussagen, auf welchen Wegen der 1853 in La Habana Geborene noch in den achtziger Jahren zu einem Denker der Globalisierung werden konnte? Nach der Verbannung nach Spanien hatte das Exil des Kubaners in Mexiko eine Zeit der Professionalisierung seines Schreibens als Journalist der mexikanischen Revista Universal und zugleich eine Periode des intensiven lyrischen Dichtens heraufgeführt, das durch die Möglichkeit der Veröffentlichung seiner Gedichte im selben Periodikum beflügelt wurde. Als Theaterautor wie als Journalist, als Essayist wie als Lyriker war José Martí unverkennbar in einer romantischen Ästhetik verankert, deren Grenzen er freilich erkannte und deren Weiterentwicklung er anzugehen versuchte. Bei seinem essayistischen wie bei seinem poetischen Schreiben waren ihm um die Mitte der siebziger Jahre in Mexiko zunehmend Phänomene einer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modernisierung aufgefallen, welche die Frage nach Veränderungen im ästhetischen Bereich mit besonderer Dringlichkeit aufwarfen. Stellte da nicht der Bereich der narrativen Fiktion eine Möglichkeit dar, mit politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturel-

 Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. For Love of the World. New Haven – London: Yale University Press 1982; hier zitiert nach (dies.): Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit. Aus dem Amerikanischen von Hans Günter Holl. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2000, S. 374. Vgl. hierzu Ette, Ottmar: «Unheimlich nahe mir verwandt»: Hand-Schrift und Territorialität bei Hannah Arendt. In: Potsdamer Studien zur Frauen- und Geschlechterforschung (Potsdam) V, 1–2 (2001), S. 41–54.

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len Aspekten zu experimentieren, um neue Wege des Verstehens all jener Phänomene herauszufinden, welche diese Epoche des zu Ende gehenden Jahrhunderts charakterisierte? Gestehen wir es gleich zu Beginn unserer Überlegungen zur fiktionalen Prosa ein: Das erzählerische Werk José Martís tritt im Bereich der Fiktion weit hinter der enormen Bedeutung des lyrischen Schreibens zurück. An dieser Einschätzung lässt sich bei aller Wertschätzung dieses eher kleinen Teiles seines immensen Gesamtwerkes nicht rütteln, auch wenn es gilt, die spezifischen Ausdrucksformen zu erfassen, die Martís Versuchen auf diesem Gebiet zukommen. Denn handelt es sich bei dem Kubaner nicht um einen äußerst versierten Schriftsteller? José Martís einziger Roman Amistad funesta erschien im Jahre 1885, mithin ein ganzes Jahrzehnt nach der soeben von uns hauptsächlich fokussierten mexikanischen Periode. Der Roman blieb nur durch eine Reihe glücklicher Umstände der Nachwelt erhalten und fand während langer Zeit kaum Beachtung beim Publikum und in der Literaturwissenschaft. Letzterer diente er vor allem als materialreiche Fundgrube für biographische Spekulationen im Umkreis hagiographischer bis psychoanalytischer Martí-Lektüren,186 die letztlich zu einer nur noch schwer entwirrbaren Vermischung von Tatsachen und Text, von Leben und Legende José Martís führten. Blenden wir an dieser Stelle einige Momente aus Martís Rezeptionsgeschichte ein. Seit dem Vortrag Enrique Anderson Imberts auf dem Congreso de Escritores Martíanos im Martí-Jahr 1953 fand ein gewisser Umschwung187 in der Bewertung dieses Romans statt, der zu seiner Aufnahme in einschlägige lateinamerikanische Literaturgeschichten188 führte, wenn auch damit, so darf vermutet werden, Martís Roman keinesfalls breite Leserschichten erreichen konnte. In der Folge wurde Amistad funesta gar als Ausgangspunkt des modernistischen Romans schlechthin

 Vgl. zum Beispiel Martínez Estrada, Ezequiel: Martí revolucionario. La Habana: Editorial Casa de las Américas 1967; Rodríguez, Aníbal: Una interpretación psicológica de Martí. In: Pensamiento y acción de José Martí. Conferencias y ensayos ofrecidos con motivo del primer centenario de su nacimiento, en la Universidad de Oriente. Santiago de Cuba: Universidad de Oriente Ed. 1953, S. 381–419.  Anderson Imbert, Enrique: La prosa poética de José Martí. A propósito de «Amistad funesta». In: Memoria del Congreso de Escritores Martíanos. La Habana: Publicaciones de la comisión Nacional de los Actos y Ediciones del Centenario y del Monumento de Martí 1953, S. 570–616.  Zum Beispiel Pérez, Galo René: La novela hispanoamericana. Historia y crítica. Madrid: Editorial Oriens 21982; sowie Meyer-Minnemann, Klaus: José Martí: «Amistad funesta». Zur Vorgeschichte des modernistischen Romans in Lateinamerika. In: Romanistisches Jahrbuch 22 1971, S. 306–318; sowie ders.: Der spanisch-amerikanische Roman des Fin de siècle. Tübingen: Max Niemeyer 1979.

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bezeichnet,189 was der anhaltenden Diskussion für und wider die Zurechnung seines Autors zum hispanoamerikanischen Modernismus neuen Zündstoff gab. Das Feld ist folglich bereitet, um den Weg José Martís zum Modernismus nicht ausschließlich auf der Grundlage seiner Lyrik zu beobachten – was wir bereits mit dem Kommentar zu seinem Vorwort zum Poema del Niágara von Pérez Bonalde und dem kanonischen Hinweis auf seinen Gedichtband Ismaelillo getan haben –, sondern in der Prosa selbst nach jenen Ausdrucksformen zu suchen, welche Martís Abkehr von romantischen Ästhetiken vor Augen führen. Von der kuriosen Entstehungsgeschichte des Romans sei nur die hier wichtige Tatsache festgehalten, dass Martí zunächst seinen Roman als Auftragsarbeit im Feuilleton der kurzlebigen New Yorker Zeitschrift El Latino Américano unter einem Pseudonym veröffentlichte. Er wählte damit eine Publikationsweise, die jener vieler seiner Essays analog ist und darauf abzielt, wie der europäische Feuilletonroman des 19. Jahrhunderts in möglichst kurzer Zeit einen möglichst breiten Leserkreis zu erreichen. Der Roman befindet sich dadurch in einer Art Mittelstellung zwischen einerseits den essayistischen und andererseits den im engeren Sinne «literarischen» Publikationen und insbesondere der Lyrik Martís. Mit guten Gründen könnte man an dieser Stelle einwenden, dass es nur bedingt Sinn mache, bei José Martí eine klare Unterscheidung zwischen literarischen und nichtliterarischen Schriften einzuführen, zumal in den lateinamerikanischen Literaturen insgesamt eine solche Distinktion mehr als fragwürdig ist.190 Doch lässt sich aus dieser vermittelnden Stellung von Amistad funesta mit nicht weniger triftigen Gründen ableiten, dass Martís einziger Roman eine Scharnierfunktion innerhalb des Martí’schen Gesamtwerkes zukommt, weshalb ich der Entfaltung der narrativen Prosa mit Blick auf den Modernismo eine hohe Bedeutung zuerkennen möchte. Ohne eine Untersuchung dieser bedeutungsvollen Veränderungen in der erzählenden Prosa ließe sich wohl nicht adäquat beschreiben, wie Martí zu einer so herausragenden und überraschenden Prosa hätte finden können, wie er sie nur wenige Jahre später beispielsweise in seinem Essay Nuestra América vorzulegen verstand.

 Vgl. etwa Anderson Imbert, Enrique: Historia de la literatura hispanoamericana. Bd. 1: La colonia. cien años de república. México: fondo de Cultura Económica2 1970, S. 356 f; sowie Henríquez Ureña, Max: Panorama histórico de la literatura cubana. Bd. 2. La Habana: Editorial Arte y Literatura 1979, S. 204 f.  Vgl. zu diesem Aspekt Rincón, Carlos: El cambio actual de la noción de literatura y otros estudios de teoría y crítica latinoamericana. Bogotá: Instituto Colombiano de Cultura 1978.

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Für die beschränkte und eher abwertende Rezeption des Romans191 war nicht zuletzt die negative Beurteilung durch den kubanischen Schriftsteller selbst verantwortlich, der seine Leser nicht ohne Schalk im Nacken um Verzeihung bat, wolle er so etwas doch nie wieder tun: «Pequé, Señor, pequé, sean humanitarios, pero perdónenmelo. Señor: no lo haré más.»192 In der Tat sollte er keinen weiteren Roman mehr schreiben. Vor allem aber brachte er sein Unbehagen an der Gattung Roman mit ihrem Zwang zur anhaltenden Fiktion, zur «ficción prolongada»,193 zum Ausdruck. Denn ein kurzes Liebäugeln mit den Möglichkeiten der Fiktion findet sich in Martís Prosa allenthalben; komplexe fiktionale Werke aber sind in seinen Obras Completas Mangelware. Ich denke nicht, dass es an dieser Stelle zwingend wäre, die Aussagen des Kubaners gänzlich ernst zu nehmen und den ironischen Grundton zu überhören, mit dessen Hilfe sich Martí eine gewisse Distanz und einen Schutz vor Reaktionen aller Art gegenüber einem der damals bereits wichtigsten Vertreter des kubanischen Exils sichern wollte. Freilich wurden trotz ihres ambivalenten und sehr ironischen Grundtons die Bemerkungen Martís im Vorwort zur später von ihm geplanten Buchausgabe wörtlich genommen und dabei zumindest zwei wichtige Aspekte geflissentlich übersehen. Zum einen lag diesem Vorwort immerhin der Entschluss José Martís zur tatsächlichen Publikation von Amistad funesta zugrunde, was angesichts seiner überaus zurückhaltenden Veröffentlichungspraxis in diesem Bereich eine durchaus deutliche Sprache gegenüber seiner eigenen (vorgeschobenen) Abwertung dieses Textes zur «noveluca»194 spricht; und zum anderen dürften die spezifischen Lebensumstände Martís zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seine defensive Argumentation, seine Gewissensbisse aufgrund des unnützen Charakters seiner literarischen Sünde, zumindest mitbedingt haben. Es gibt folglich gute Gründe dafür, José Martís einzigem Roman eine ästhetisch sehr wohl ernstzunehmende Stellung zuzuerkennen und daher danach zu fragen, welche Bedeutung diesem Roman für den hispanoamerikanischen Modernismo zukommt.

 Vgl. hierfür beispielsweise Iduarte, Andrés: Martí escritor. La Habana: Publicaciones del Ministerio de Educación 21951, S. 173 ff; Baeza Flores, Alberto: Vida de José Martí. el hombre íntimo y el hombre público. La Habana: Publicaciones de la Comisión Nacional organizadora de los actos y ediciones del Centenario y del Monumento de Martí 1954, S. 472; oder auch Portuondo, José Antonio: La voluntad de estilo en José Martí. In (ders.): Martí, escritor revolucionario. La Habana: Editorial Política 1982, S. 102.  Martí, José: Amistad funesta. In: OC 18, S. 192.  Ebda.  Ebda., S. 191.

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Die im Herbst 1884 von José Martí selbst vollzogene spektakuläre Trennung von den vom Volk verehrten Caudillos des ersten kubanischen Unabhängigkeitskrieges von 1868, Máximo Gómez (1836–1905) und Antonio Maceo (1845– 1896), hatte seine vorübergehende politische Marginalisierung eingeleitet und stellte damit den Erfolg seiner vergangenen Aktivitäten ebenso in Frage wie nun seine politische Zukunft kompromittiert schien. Seine Analyse der politischen Situation hatte klar ergeben, dass Gómez und Maceo sich nicht an demokratische Spielregeln halten und wie andere lateinamerikanische Caudillos nach der Macht greifen würden, wäre erst einmal ein militärischer Sieg im Freiheitskampf gegen die spanischen Truppen erreicht. Dass der politische Instinkt den einer jüngeren Generation angehörenden kubanischen Dichter nicht trog, steht heute außer Frage: Er erkannte sehr wohl ein für die Geschichte Lateinamerikas charakteristisches Problem, dass nämlich aus ehemaligen Freiheitskämpfern rasch die Gewaltherrscher von morgen entstehen. Martís schon im Exil in Mexiko wie in Guatemala offenkundige und wohlbegründete Angst, in seinem gesellschaftspolitischen Engagement von den künftigen Caudillos bei Bedarf als Träumer und Poet abqualifiziert zu werden, damit diese im richtigen Augenblick die Macht an sich reißen konnten, darf gerade in jenen schwierigen Jahren in New York nicht unterschätzt werden, warf man dem noch jüngeren Martí doch in kubanischen Patriotenkreisen Furchtsamkeit und Großsprecherei vor. Martí musste erst mit derlei Angriffen umgehen lernen. Zum ersten Male tauchte dieser Vorwurf bereits während des mexikanischen Exils in der Polemik zwischen Martí und der pro-spanisch orientierten Zeitschrift La Colonia auf, die ihm vorwarf, zur Zeit des Befreiungskrieges in Kuba vom «apacible lugar» in Mexiko aus feige die weitere Entwicklung abzuwarten.195 Um derlei für ihn höchst gefährlichen und rufschädigenden Vorwürfen entgegenzutreten, dürfte Martí jene taktisch kluge Argumentationsstrategie gewählt haben, deren Analyse außerhalb dieses Kontexts zu Fehleinschätzungen führen musste und in der Tat auch führte. José Martís Roman Amistad funesta, nach eigenen Angaben in gerade einmal sieben Tagen trotz dauernder Unterbrechungen entstanden, ist keine triviale novela rosa zur Erbauung vor allem weiblicher Lesergruppen, wie die New Yorker Zeitschrift sie wohl von Martí erwartet hatte.196 Sicherlich orien-

 Vgl. Martí, José: OCEC 1, S. 269 f; weitere zeitgenössische Vorwürfe gegenüber dem «Literatendünkel» Martís vgl. Ibarra, Jorge: José Martí. Dirigente político e ideólogo revolucionario. La Habana: Editorial Ciencias Sociales 1980, S. 73 ff.  Vgl. zu diesem Aspekt García Marruz, Fina: Amistad funesta. In: Vitier, Cintio / García Marruz, Fina (Hg.): Temas martianos. La Habana: Biblioteca Nacional José Martí 1969, S. 283.

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tierte sich Martí am Erwartungshorizont seiner Zeitschriftenleserinnen und -leser,197 hielt sich auch bezüglich der Plotstruktur an diese im Vorwort explizit aufgeführten Orientierungswerte: «ganz viel Liebe; bisweilen Tote; viele Mädchen, keinerlei sündige Leidenschaft; und rein gar nichts, was nicht zur besten Zufriedenheit der Familienväter und der Herren Priester gewesen wäre».198 Die Vorgaben für eine solche narrative Prosafiktion waren folglich eng gezogen und schienen für den auf Einkünfte jeglicher Art angewiesenen Migranten zwingend. Doch schuf der kubanische Schriftsteller trotz dieser engen Rahmenbedingungen den kreativen Raum, innerhalb dessen sich ein komplexes und originelles Symbolsystem, eine in ihrer strukturellen Anlage polyphone und in ihren Vorstellungen polylogische Schreibweise sowie eine geradezu paradigmatische Situierung des eigenen Schreibens in Bezug auf präzise herausgearbeitete Koordinaten einer Welt-Literatur sich konfigurieren konnten. Der Roman musste überdies hispanoamerikanisch sein: «había de ser hispanoamericano».199 All diese Aspekte stehen im Zentrum der Untersuchungen in diesem Teil unserer MartíStudie. Bis Anfang der siebziger Jahre situieren sich die Martí’schen Texte in einem bipolaren Spannungsfeld, das sich aus dem Gegensatz zwischen Kuba und Spanien, zwischen Kolonie und Metropole, herleitet. Die literarisch, politisch und menschlich sicherlich beeindruckendste Schrift, die Martí aus diesem Spannungsfeld heraus verfasste, war sein El presidio político en Cuba. Es ist ein rhetorisch geschickt aufgebautes Zeugnis des Schmerzes,200 der aus dieser tiefen Zerrissenheit des ehemaligen Sträflings und jetzigen Verbannten resultiert. El presidio político en Cuba ist ein Gemälde des Leidens der Opfer der spanischen Kolonialherrschaft, aber auch der Leidenschaft, mit der der junge Kubaner in seinem spanischen Exil gegen dieses oppressive, unterdrückerische Kolonialregime ankämpfe. Aus der Erfahrung des Lebens im Exil unterliegt diese recht statische bipolare Ausgangssituation mehrfachen Veränderungen. José Martí nutzte seinen fast vierjährigen Zwangsaufenthalt in Spanien zur intensiven Auseinandersetzung mit der kulturellen Entwicklung und politischen Geschichte Spaniens, aber auch für eine ausgedehnte Beschäftigung mit der abendländischen Kunst

 Vgl. Meyer-Minnemann, Klaus: José Martí, «Amistad funesta», S. 313.  Martí, José: Amistad funesta, S. 192: «mucho amor; alguna muerte; muchas muchachas, ninguna pasión pecaminosa; y nada que no fuese del mayor agrado de los padres de familia y de los señores sacerdotes.»  Ebda., S. 192.  Vgl. hierzu Weinberg, Liliana: José Martí: entre el ensayo, la poesía y la crónica, S. 17–35.

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und Literatur insgesamt. Sein Bildungs- und Lektürehorizont erweiterte sich sprunghaft. Denn seine Beschäftigung reichte von der griechischen Antike über die spanischen Klassiker des Siglo de Oro bis hin zur zeitgenössischen französischen Literatur, was sich nicht zuletzt anhand seiner Cuadernos de apuntes, seiner in die Obras Completas aufgenommenen Notizbücher, nachweisen lässt. Diese vorwiegend rezeptive Auseinandersetzung Martís mit den abendländischen beziehungsweise europäischen Kulturen erhält seit seiner Ankunft 1875 in Mexiko einen neuen Stellenwert, insoweit sie sich nun im Kontext einer Vermittlung nach Mexiko und Lateinamerika darstellt. Ein erstes wichtiges Beispiel dafür ist seine noch im Jahre 1875 veröffentlichte und in anderem Zusammenhang bereits kurz erwähnte Übersetzung von Mes fils des Zeit seines Lebens von Martí hochgeschätzten Victor Hugo. Dieser Text bot Martí gerade durch seine Behandlung der Exilproblematik und eine erstaunliche Vielzahl biographischer Parallelen zu Victor Hugos Sohn Charles eine leichte Identifikationsmöglichkeit, die der Hugo-Text ganz allgemein, das heißt auf einer auf den impliziten Leser abzielenden Ebene, auch durchaus intendierte,201 eine Identifikationsmöglichkeit, die es Martí nahelegte, in sehr idealistischer Weise eine interkulturelle Übertragbarkeit und universale Gültigkeit von Ideen im Vorwort zur Übersetzung zu postulieren. Martí schrieb in diesem «Vorwort» zu seiner eigenen Übersetzung: «Wo auch immer ich diese Ideen finde, befinde auch ich mich.»202 Dies verführte ihn dazu, die Problematik des Kulturtransfers vom kulturellen Zentrum Paris an die lateinamerikanische Peripherie nicht eigens in Rechnung zu stellen und jene Asymmetrie der Beziehungen203 zu übersehen, die doch gerade für die Literaturbeziehungen zwischen Alter und Neuer Welt im 19. Jahrhundert grundlegend war. Gleichzeitig lieferte dieser Text, an dem Martí laut seinem Vorwort im Übrigen auch zum ersten Mal die bedeutungstragende Funktion der Form erkannte, aber auch Vorstellungen wie beispielsweise den Hugo’schen Religionsbegriff, die Martí zu einem  Vgl. Hugo, Victor: Œuvres Complètes. Edition chronologique publiée sous la direction de Jan Massin. Paris: Le Club français du livre 1970, Bd. 15, S. 563. Zur näheren Bestimmung des Lesers vgl. Iñigo Madrigal, Luis: Martí, novelista (acerca de «Amistad funesta»). In: Lengua – Literatura – Folklore. Estudios dedicados a Rodolfo Oroz. Santiago de Chile 1967, S. 237; dort wird darauf hingewiesen, dass sich der Erzähler mehrfach an einen «léctor ficticio» wende, der Hispanoamerikaner sein müsse.  Martí, José: Amistad funesta, S. 15: «allí donde las [d. h. ideas] hallo, yo me hallo».  Vgl. hierzu die Überlegungen in Ette, Ottmar: Asymmetrie der Beziehungen. Zehn Thesen zum Dialog der Literaturen Lateinamerikas und Europas. In: Scharlau, Birgit (Hg.): Lateinamerika denken. Kulturtheoretische Grenzgänge zwischen Moderne und Postmoderne. Tübingen: Gunter Narr Verlag 1994, S. 297–326.

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späteren Zeitpunkt, nach seiner Entdeckung von indianischer Geschichte und Kultur in Mexiko und Guatemala, in einen neuen Funktionszusammenhang stellen und integrieren konnte. Dieser neue Funktionszusammenhang war mit der Entwicklung des Konzepts von Nuestra América in Guatemala entstanden und besaß im Denken Martís eine ungeheure Tragweite. Auch Martís Verwendung des Pseudonyms Orestes für seine in der liberalen mexikanischen Revista Universal veröffentlichten Boletines siedelt sich innerhalb der Problematik des Kulturtransfers zwischen Europa und Lateinamerika an, wobei Martí unübersehbar eine bewusste Transposition des Orest-Stoffes durch eine implizite geographische Fixierung und Historisierung dieses Mythos aus der griechischen Antike vornahm. Mit dieser Arbeit am Mythos löste er sich erstmals aus einer rein rezipierenden Haltung gegenüber den abendländischen Kultursträngen und ihrem Vorbild gebenden Literatur- und Mythenreservoir, welches innerhalb der transatlantischen Asymmetrie der Beziehungen nicht nur tonangebend, sondern beherrschend war. José Martís Blick weitet sich über die bipolare Spannung zwischen kubanischer Patria und spanischem Unterdrücker und über die nationale Dimension Mexikos hinaus auf zunehmend transareale Relationen, welche sich freilich fürs Erste vor allem im transatlantischen Kulturraum konzentrieren. Noch ist er weit davon entfernt, ein globaler Denker beziehungsweise ein Denker der Globalität zu sein. Doch spätestens seit dem Jahre 1878 hat José Martí die Problematik des Kulturtransfers, die entscheidende kulturelle und interkulturelle Bedeutung der Literatur erkannt und gleichzeitig den Raum, innerhalb dessen sich seine Schriften und Vorstellungen, auch die Konzeption von Nuestra América, ansiedeln, signifikant erweitert: die Opposition Spanien versus Kuba hat der ebenfalls noch bipolaren Relation Europa versus Lateinamerika Platz gemacht, Sein Denken ist in einen ständigen Erweiterungsprozess eingetreten.204 Auch wenn sich Martís Lebensumstände in seinen unterschiedlichen Gastländern immer wieder erheblich veränderten: Seit seiner Verbannung nach Spanien begleitet die fundamentale Außerhalbbefindlichkeit Denken, Schreiben und Leben des Migranten. Die Exilsituation bleibt zweifelsohne auch weiterhin Motor der Entwicklung der Martí’schen Konzeptionen und liefert den wohl entscheidenden Hintergrund für die Analyse des innerliterarischen (Bewegungs-)Raumes und seiner intertextuellen Relationen in diesem im US-amerikanischen Exil entstandenen Roman Martís.  Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Weiter denken. Viellogisches denken / viellogisches Denken und die Wege zu einer Epistemologie der Erweiterung. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte / Cahiers d’Histoire des Littératures Romanes (Heidelberg) XL, 1–4 (2016), S. 331–355.

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Die nachfolgende Analyse dieses Romans versucht, die Entwicklung und Weiterentwicklung Martís ebenso retrospektiv – in Beziehung zu den siebziger Jahren – wie auch prospektiv – mit Blick auf die neunziger Jahre – offenzuhalten. Amistad funesta gliedert sich in drei Kapitel, die auf inhaltlicher, funktionaler und stilistischer Ebene deutlich voneinander getrennt sind. Ist diese so offensichtliche Heterogenität des Martí’schen Erzähltextes Programm? In diesem Gesamtzusammenhang erfüllt das erste Kapitel in ganz traditioneller Manier eine expositorische Funktion, indem die dramatis personae vorgestellt und innerhalb des erlesenen Ambiente einer luxuriösen Villa in einem zunächst nicht näher spezifizierten Land Lateinamerikas – klare Indizien sind die Hinweise auf «nuestros países»205 wie auf «hispanoamericanos»206 – situiert werden. Dabei bedient sich der textexterne Autor, in deutlicher Parallele zu einer der Hauptpersonen des Romans, der sublimen Ana, einer ausgefeilten Symbolik. Denn Ana verkörpert die poetische Symbolaufladung als Verfahren innerhalb des Romans, steht sie doch für ein «simbolizar el carácter en una flor»,207 für ein Symbolisieren eines Figurencharakters mit Hilfe von Blumen. Mit Hilfe dieser Blumensymbolik gelingt es ihr – und mit ihr dem außerhalb des Textes befindlichen Autor –, die letzten Endes romantisch gezeichneten und überaus statischen Romanfiguren – wie in Martís frühem Theaterstück Adúltera könnte man von eindeutigen Typen sprechen – zu charakterisieren. Die Blumensymbolik bildet damit eine chiffrierte, aber leicht zu dechiffrierende Sprache, mit deren Hilfe Personen, Personenkonstellationen und nachfolgende Konflikte angedeutet und bezeichnet werden können. Daneben werden die einzelnen Charaktere auch durch Tiere symbolisiert, ganz im Sinne der Martí’schen Äußerung in seinem späteren Essay über Ralph Waldo Emerson: «Cada cualidad del hombre está representada en un animal de la naturaleza.»208 Jede Qualität eines Menschen wird folglich durch ein Tier aus der Natur repräsentiert. In diesem Zusammenhang scheint mir die expositorische Funktion des ersten Kapitels noch auf einer anderen, literarästhetischen Ebene von großer Bedeutung zu sein. Deren Relevanz wird bezüglich der sich an ästhetizistische und noch näher zu spezifizierende Vorbilder anlehnenden Beschreibung des Intérieurs, bei der auch eine Bibliothek nicht fehlen durfte, deutlich. Doch wie sieht das Intérieur dieser vornehmen Villa in Spanisch-Amerika, in deren erlesenem Ambiente die Handlung des Romans angesiedelt ist, aus?

   

Martí, José: Amistad funesta, S. 196. Ebda., S. 198. Ebda., S. 212. Martí, José: OC 12, S. 26.

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In harmonischem Einklang mit Gemälden spanischer und italienischer Maler des 19. Jahrhunderts thront inmitten dieses Kunst- und Bildungstempels eine Büste von Goethes Mignon, «un aéreo busto de la Mignon de Goethe».209 Ein heutiger Leser ist ob dieser Situierung des Geschehens rund um die Büste einer literarischen Figur verblüfft, fühlt er sich doch im weiteren Verlauf des Modernismo an die Büste des Ariel erinnert, welche den Handlungsraum von José Enrique Rodós gleichnamigem Programmtext aus dem Jahre 1900 beherrscht.210 Dass in Martís Roman von 1884 die Büste der Mignon auch noch als aéreo bezeichnet wird und damit jener des airy spirit Ariel sehr nahe kommt, kann zu dieser Verblüffung nur zusätzlich beitragen. Wie in Rodós an der Shakespeare’schen Figur des Ariel ausgerichtetem Text ist auch in Martís Roman alles in eine heitere, lichterfüllte Atmosphäre rund um die Büste der Goethe’schen Mignon getaucht. Die schöne Ana bringt ehrerbietig Jasmin und Lilien der Marmorbüste Mignons dar, in deren Umkreis alles an ihr ausgerichtet ist. Denn hier gab es weder Bücher noch Gemälde, die nicht Episoden aus dem Leben des traurigen Mädchens gewesen wären, und sie ordneten sich an der Wand wie ein Halo um diese Büste an: «no había libros, ni cuadros que no fuesen grabados de episodios de la vida de la triste niña, y distribuidos como un halo en la pared en derredor del busto».211 Johann Wolfgang von Goethes Wilhelm Meister ist selbstverständlich in einer wertvollen, mit (allegorisch auf die Eigenschaften des Hermaphroditen bezogenen) Edelsteinen reich gestalteten und in Paris gefertigten Ausgabe präsent, welche dieses Werk seinerseits zum Kultbuch macht und an Joris-Karl Huysmans À rebours aus dem Jahre 1884 denken lässt. In seinem Exil in den Vereinigten Staaten von Amerika war José Martí hervorragend über Entwicklungen in den europäischen Literaturen informiert. Seine tägliche Lektüre verschiedener US-amerikanischer Zeitungen und Periodika sorgte dafür, dass New York für ihn zum idealen transatlantischen Ausguck werden konnte – auch und gerade in literarischen Angelegenheiten. Noch heute erstaunt, wie sorgsam Martí trotz seiner politisch-patriotischen Aktivitäten die internationalen Entwicklungen der Literatur im Auge behielt. Dazu zählten insbesondere auch literarhistorisch bedeutsame Umbesetzungen, über die der Kubaner erstaunlich gut im Bilde war.

 Martí, José: Amistad funesta, S. 205.  Vgl. hierzu meinen ausführlichen Kommentar in meiner Übersetzung und Ausgabe von Rodó, José Enrique: Ariel. Übersetzt, herausgegeben und erläutert von Ottmar Ette. Mainz: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung (Reihe excerpta classica, XII) 1994.  Martí, José: Amistad funesta, S. 205.

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Klaus Meyer-Minnemann zieht in seiner Studie des Martí’schen Romans die Verbindung zu Huysmans, bezweifelt aber Martís Kenntnis des großen Décadent.212 Doch wie hätte Martí die großes internationales Aufsehen erregende Bibel der Dekadenten, den Roman À rebours, nicht zumindest aus den Zeitungen kennen sollen? Sicherlich ist zutreffend, das der Name Huysmans’ im gesamten Werk Martís nicht auftaucht; dies spricht jedoch nicht gegen die Möglichkeit, dass Martí Huysmans’ Roman, der kurz vor seiner eigenen Niederschrift von Amistad funesta erschien, gekannt haben könnte, ja gekannt haben müsste. Die Indizien für eine solche Kenntnis von À rebours sind bei näherer Betrachtung und in Anbetracht der Informationslage Martís erdrückend. Die auffälligen Parallelen gerade bezüglich einer Bibliothek mit zahlreichen erlesenen Bänden, bezüglich eines Intérieur, wie es in Amistad funesta entfaltet wird, oder auch hinsichtlich einer künstlerischen Edelsteinsymbolik im ersten Kapitel scheinen mir hierfür mehr als ein deutliches Indiz zu sein. Gerade bezüglich der zeitgenössischen französischen Literatur verfügte José Martí über hervorragende Informationen, die es ihm – auf welchem präzisen Wege wird wohl unklar bleiben – beispielsweise erlaubten, bereits zwei Monate nach dem Tode Gustave Flauberts und noch vor der Veröffentlichung von Bouvard et Pécuchet den Leserinnen und Lesern der New Yorker The Sun einen überaus interessanten und gut dokumentierten Essay über Flauberts letztes Werk vorzulegen.213 In seinem gut informierten Essay über Gustave Flaubert wertet Martí im übrigen auch Émile Zolas Nana ab. Der Kubaner stand dem Zola’schen Naturalismus überhaupt sehr skeptisch gegenüber, was auch im geplanten Vorwort zum Roman deutlich zum Ausdruck kam. Wie sollte er nicht von der in À rebours so spektakulären Trennung Joris-Karl Huysmans vom Zola’schen naturalistischen Romanmodell erfahren haben? In seinem Essay bescheinigte José Martí im übrigen dem von ihm verehrten Flaubert, mit Bouvard und Pécuchet universale Gestalten, «citizens of the whole world»,214 geschaffen zu haben.215 Doch die vielen Parallelen zur Bible des Décadents bilden nur einen Auftakt für die Vielzahl an intertextuellen Verweisen, die sich in impliziter, aber auch in expliziter Form in Amistad funesta finden lassen. Edgar Ellen Poes The

 Vgl. Meyer-Minnemann, Klaus: José Martí, «Amistad funesta», S. 311.  Vgl. hierzu Carpentier, Alejo: Martí en Francia. In (ders.): La novela latinoamericana en vísperas de un nuevo siglo y otros ensayos. México: Siglo XXI Editores 1981, S. 240 f.  Martí, José: OC XV, S. 209.  Zur Literaturkritik Martís vgl. Jorge Viera, Elena: José Martí, el método de su crítica literaria. La Habana: Editorial Letras Cubanas 1984; dabei handelt es sich um eine interessante Studie, die allerdings darunter leidet, ein literaturkritisches beziehungsweise ästhetisches System Martís aufdecken zu wollen, das Hippolyte Taines System überlegen gewesen sei.

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Raven, in einer von Gustave Doré illustrierten Ausgabe, findet in dieser Bibliothek ebenso einen Ehrenplatz wie Alfred de Mussets Les Nuits und die Rubaiyat des persischen Philosophen und Dichters Omar Chayyam (oder nach anderer Transkription Khayyam oder Hayyam) aus dem 11. beziehungsweise 12. Jahrhundert, die just in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die großen europäischen Kultursprachen – so erschien die erste englische Übersetzung 1859 – übertragen worden waren. Martís Interesse an den Literaturen der Welt war auch außerhalb des transatlantischen Beziehungsgeflechts deutlich gestiegen. Die Auswahl dieser Texte im Roman ist keineswegs zufällig. Poe, Musset und vor allem Goethe gehören zu den von Martí meistzitierten Schriftstellern. Die Herausstellung gerade dieser vier Werke im ersten Kapitel wirkt wie ein Rahmen, innerhalb dessen sich Martís Roman selbst situiert und definiert. Die in diesem ersten Kapitel in Szene gesetzten Werke erschienen im 19. Jahrhundert – Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre freilich bereits 1795/96 – und bilden die Koordinaten eines Universums der Texte, das durch den Verweis auf Poe und Chayyam den Literaturraum über den der europäischen Literaturen hinaus auf eine weltliterarische Ebene hin erweitert. Hatte Goethe in den Gesprächen mit Eckermann wohl zum ersten Mal – und relativ vieldeutig – den Begriff der Weltliteratur geprägt,216 so überträgt nun Martí diesen weltliterarischen Raum in den literarischen Mikrokosmos der Bibliothek im Roman. Es ist ein Versuch, den Ort des eigenen Schreibens wie den Ort der Literaturen Lateinamerikas in einem weltweiten Zusammenhang zu bestimmen und Schlüsse für das eigene Denken und Schreiben daraus zu ziehen. Dieser Gedanke soll nun bei der Analyse des zweiten Kapitels von Amistad funesta weitergeführt und problematisiert werden. Dieses zweite Kapitel setzt mit dem zeitlichen Hinweis «veinte años antes de la historia que vamos narrando»217 ein und erzählt auf zwei Jahrzehnte zurückblickend die Geschichte des spanischen Liberalen D. Manuel del Valle, dessen Tochter Leonor – die im ersten (mit Ausnahme des Endes) und dritten Kapitel unter dem Namen Sol del Valle erscheint – die Rolle des reinen Opfers zugedacht ist. Die Namenswechsel gaben Enrique Anderson Imbert Anlass zu der Vermutung, Martí habe seinem Roman nicht mehr die «toques definitivos»,218 also ein endgültiges Finish, geben können, so dass das Werk insgesamt wohl als unabgeschlossen zu gelten habe. Zu diesem Schluss könnte auch die in der Martí-Forschung mit Recht gemachte Beobachtung verleiten, dass der Stil dieses zweiten Kapitels «en pleno

 Vgl. das Auftaktkapitel in Ette, Ottmar: WeltFraktale (2017).  Martí, José: Amistad funesta, S. 215.  Anderson Imbert, Enrique: La prosa poética de José Martí. A propósito de «Amistad funesta», S. 580.

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realismo español»,219 ganz im Stile des spanischen Realismus also, gehalten sei. Inkongruenz der Namen, Divergenz des Stils – ist Martís Roman ein Torso? Dem ist zum einen entgegenzuhalten, dass sich eine Verdoppelung, ja Verdreifachung der Namen auch in anderen literarischen Texten Martís findet. Als Beispiel hierfür könnte man etwa in seinem mexikanischen Theaterstück Amor con amor se paga aus dem Jahre 1875 derartige Namenswechsel anführen; gerade auch in Zusammenhang mit dem Namen Leonor, dem Namen der Mutter Martís, tauchen derartige Umstellungen des Öfteren auf. Und vergessen wir nicht, dass der Name Ana der Name von Martís in Mexiko verstorbener Lieblingsschwester war. Zum anderen ist die Frage nach Sinn und Funktion des zweiten Kapitels, das sich stilistisch so schroff von den beiden anderen abhebt, in bisherigen Untersuchungen kaum aufgetaucht und behandelt worden. Im Rahmen der hier zu analysierenden intertextuellen Problematik scheint mir eine Antwort aber dringend und wichtig, soll gerade die Beziehung des Martí’schen Schreibens zum spanischen Realismus beleuchtet werden. In diesem Zusammenhang bleibt zunächst festzuhalten, dass das zweite Kapitel eine chronologische Retrospektive mit einer räumlichen Veränderung und damit einer kompletten diegetischen Wandlung verbindet: Der Rückblick setzt zwanzig beziehungsweise fünfundzwanzig Jahre vor dem eigentlichen Romangeschehen ein und spielt nicht in Lateinamerika, sondern in Spanien. Auffällig ist dabei, dass im Gegensatz zu den im ersten Kapitel aufgeführten Werken des 19. Jahrhunderts keiner der in diesem Kapitel explizit eingeführten vier Autoren dem Jahrhundert der Romantik angehört: Saavedra Fajardo,220 Pindar221), Cervantes222 und Jovellanos223 blenden Martí besonders beeindruckende Werke der Vergangenheit224 oder Autoren einer breit ausgelegten spanischen Aufklärung ein. Auf die besondere Beziehung José Martís zu Miguel de Cervantes’ Don Quijote de la Mancha wird noch in einem späteren Kapitel dieser Studie einzugehen sein. Während der Verweis auf die «evangélica quijotería» des «Pindarito» Manuelillo, einem der Doubles Martís, eher anekdotischen Charakter trägt und in  So etwa García Marruz, Fina: Amistad funesta, S. 290; vgl. dieselbe Beobachtung dieser wunderbaren Dichterin bei ihrem Ehemann Vitier, Cintio: Sobre Lucía Jerez. In: Anuario del Centro de Estudios Martíanos (La Habana) 2 (1979), S. 237.  Ebda., S. 218.  Ebda., S. 219.  Ebda., S. 220.  Ebda., S. 223.  Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Aus ferner Nähe. Die hispanoamerikanischen Modernisten und Miguel de Cervantes’ «Don Quijote». In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte / Cahiers d’Histoire des Littératures Romanes (Heidelberg) XXX, 1–2 (2006), S. 177–208.

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diesem Zusammenhang nicht weiterverfolgt werden muss, ist die zweifellos autobiographisch zu deutende Lektüresucht225 eben dieses Manuelillo, des Bruders Leonors, an einem Beispiel genauer spezifiziert: den Empresas (eigentlich: Idea de un príncipe político cristiano representada en cien empresas) des Diplomaten und Literaten Diego de Saavedra Fajardo aus dem Jahre 1640, die Manuelillo zur Identifikation mit großen historischen Gestalten der Vergangenheit anregen. In deutlicher Opposition zur Bibliothek Don Manuels, aus der ein Brief Johannas der Wahnsinnigen und das Manuskript einer Szene des Delincuente Honrado (1774) von Gaspar Melchor de Jovellanos anläßlich des Ausverkaufs des väterlichen Besitzes Erwähnung finden. Dabei ist der intertextuelle Verweis auf den Delincuente Honrado von Jovellanos aufschlussreich, erlaubt uns dieser Einbau doch, ein weiteres, bislang ausgespartes Stück aus Martís Biographie in unsere Studie zu integrieren. Jovellanos’ Text behandelt das Thema der großherzigen Übernahme aller Schuld durch einen Unschuldigen, der dadurch von den Anderen alle Gefahr abzuwenden hofft. Dieser Ethik der Selbstaufopferung für andere folgt Manuelillo im Text, wie dies auch José Martí selbst anlässlich jener berühmten Gerichtsverhandlung im März 1870, die zu seiner Verurteilung zu Zuchthaus mit Schwerstarbeit und schließlich zu seiner Verbannung nach Spanien führte, gegenüber seinem Freund Fermín Valdés Domínguez getan haben soll. Wie etwa in seinen Gedichten benutzte Martí die Fiktion als eine Möglichkeit, Szenen und Anekdoten seines eigenen Lebens in die literarischen Diegesen einzubauen und gleichsam als intime Wasserzeichen zu verwenden. Leben oder Text, Leben als Text, Leben im Text und Text im Leben: Es handelt sich gewiss um ein für Martís Ethik bezeichnendes Motiv, das durch diesen intertextuellen Verweis in den Romanablauf von einer nicht spezialisierten Leserschaft notwendig unerkannt einbezogen und akzentuiert wird. Selbst noch auf der Ebene seiner imaginären Bibliothek gelingt es José Martí in Amistad funesta, ein komplex vermitteltes Lebenswissen und Überlebenswissen in die Fiktion miteinzubeziehen. Der diegetische Rahmen des zweiten Kapitels findet schriftstellerisch konsequent seine unmittelbare Entsprechung in den aufgeführten Werken, die intertextuell die spanische Literaturtradition einweben, was aus dieser Perspektive die stilistische Zurechnung des zweiten Kapitels zum spanischen Realismus stützt. Diese diegetische Anpassung findet sich im Übrigen auch bei den in den Roman eingeblendeten Werken der Malerei, wobei zu den Schätzen Don Manuels unter anderem auch Originale von Alonso Cano oder Francisco de Goya zählen. Auf diese kunstvolle Art wird der chronologische und diegetische beziehungsweise

 Martí, José: Amistad funesta, S. 218.

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geographische Wechsel auf der Ebene der durch direkte Verweise eingearbeiteten Literaturtradition wie auch auf der allein für dieses Kapitel verwandten stilistischen Textebene durchgeführt. Dieses zweite Kapitel lässt sich folglich als Pastiche verstehen, das sich im Sinne Gérard Genettes durch Imitation einem intertextuellen Modell auf kreative Weise annähert226 und zugleich – im Sinne Marcel Prousts – einen gewissen apotropäischen Charakter besitzt, insofern es durch die Niederschrift eines gewissen Stiles den Schriftsteller davor schützt, ungewollt in derartige Stillagen zu verfallen. Es wäre daher sicherlich denkbar, hinter dieser Pastiche-Praxis die kathartische Absicht eines Schriftstellers, der auf der Suche nach einem eigenen Stil sich von einem fremden Stil zu befreien suchte, zu vermuten, war José Martí doch zweifellos bestrebt, in seinen Texten nicht in die Schreibweise des spanischen Realismus zu verfallen. Er könnte sich von dieser Gefahr durch ein schriftstellerisches Pastiche befreit haben. Doch scheint mir ein Erklärungsversuch, der sich mit der Funktion des Pastiche im Text selbst auseinandersetzt, von noch größerer Wichtigkeit für eine adäquate Deutung der textuellen Heterogenität in Amistad funesta. Denn es ließe sich annehmen, Martí betreibe ähnlich wie später Proust in seinen Pastiches eine critique en action und damit eine Art kritischer Auseinandersetzung, von modernistischer Warte aus, mit der realistischen écriture etwa eines Juan Valera, zu dessen Romanen Doña Luz und vor allem Pepita Jiménez sich deutliche stilistische und thematische Bezüge herstellen ließen. Bei der Fragwürdigkeit einer Zurechnung Martís zum Modernismus in dieser Übergangsepoche und seiner noch immer gegebenen Verhaftetheit in Elementen romantischer und realistischer Tradition scheint es mir jedoch aufschlussreicher, diese Funktion des Martí’schen Pastiche innerhalb der Textentwicklung selbst zu verorten. Dies würde parallel zu einer Bemerkung Jurij M. Lotmans (anlässlich der Lyrik Lermontovs), verstanden als eine «gegenseitige Projizierung» verschiedener stilistischer Perspektiven, wobei zum «Träger der Bedeutung [...] nicht irgendeine stilistische Schicht, sondern der Mengendurchschnitt vieler kontrastierender Stile (Blickpunkte)»227 angegeben werde. Wenn überdies der moderne Roman im Sinne Michail M. Bachtins als ein «Mikrokosmos der Redevielfalt» verstanden wird und jede Sprache im Roman ein Standpunkt, ein «sozioideologischer Horizont realer gesellschaftlicher Grup-

 Vgl. Genette, Gérard: Palimpsestes. La littérature au second degré. Paris: Éditions du Seuil 1982, S. 84 ff. Vgl. hierzu auch Ette, Ottmar: Intertextualität. Ein Forschungsbericht mit literatursoziologischen Anmerkungen. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte / Cahiers d’Histoire des Littératures Romanes (Heidelberg) IX, 3–4 (1985), S. 497–522.  Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. München: Wilhelm Fink Verlag 21981, S. 71 f.

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pen und ihrer Repräsentanten»228 ist, dann wird er als Inszenierungsort einer stilistischen Vielstimmigkeit zum einen immun gegen jegliche Reduzierung auf einen ideologischen Diskurs und jedweden wie auch immer gearteten Reduktionismus. Darüber hinaus verweist diese polyphone Struktur von Amistad funesta aber auch gleichzeitig auf die literarische Epochenschwelle, das heißt auf die Entwicklung hin zum hispanoamerikanischen Modernismus. Dabei könnte man mit Boyd G. Carter229 den Modernismus 1876 mit Gutièrrez Nájera beginnen lassen, mit Adalbert Dessau230 auf den dialektischen Prozess der Überwindung der Romantik mit Martís Ismaelillo von 1882 verweisen oder erst Rubén Daríos Azul ... von 1888 als erstes großes Werk des Modernismo herausstellen. In jedem Falle aber wird weder die Differenz des Modernismus gegenüber der Romantik noch gegenüber Postmodernismus und Postmoderne von Bruchlinien gebildet:231 Man könnte vielmehr von schleifenden Schnitten oder sanften Übergängen und Überhängen sprechen. Die Bedeutung des Romans Amistad funesta liegt – wie deutlich wurde – nicht in der simplen romantischen Story, die er erzählt, sondern in seiner ästhetischen, poetologischen Signifikanz innerhalb einer literarhistorischen Entwicklung. Die Komplexität der intertextuellen Bezüge, die stilistische Kontrastierung, die in die Chronologie des Romangeschehens integriert ist, sowie vor allem der Aufbau eines weltliterarischen Paradigmas, innerhalb dessen sich der Roman ansiedelt, machen ihn über seine Relevanz für die Untersuchung der ästhetischen Positionen Martís hinaus zu einem wichtigen Text in der Entwicklung der lateinamerikanischen Literatur, auch wenn der Roman selbst über Jahrzehnte verschollen blieb und daher nicht direkt wirken konnte. Die Vorstellung, die Martí bezüglich eines weltliterarischen Systems entwickelt, sind weit von jeder naiven Harmonisierung entfernt. Es ist charakteristisch für diesen Roman, dass Martí in ihm die Last des kolonialen Erbes232 wie auch die Problematik des (entfremdeten) kulturellen Schaffens an der kolonialen Peripherie thematisiert: «como con nuestras cabezas hispanoamericanas, cargadas de ideas de Europa y Norteamérica, somos en nuestros propios países

 Bachtin, Michail M.: Das Wort im Roman. In (ders.): Die Ästhetik des Wortes. Herausgegeben und eingeleitet von Rainer Grübel. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1979, S. 290.  Carter, Boyd G.: Gutiérrez Nájera y Martí como iniciadores del modernismo. In: Revista iberoamericana (Pittsburg) 28 (1962), S. 303.  Dessau, Adalbert: Stellung und Bedeutung José Martís in der Entwicklung der lateinamerikanischen Literatur. In: Beiträge zur romanistischen Philologie 11, 2 (1972), S. 202.  Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Modernismus, Konvivenz, Postmodernität. Von Pfropfung und Mestizaje zum transarchipelischen Zusammenleben in den Amerikas (im Druck).  Martí, José: Amistad funesta, S. 197.

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a manera de frutos sin mercado [...].»233 Mit unseren hispanoamerikanischen Köpfen, die vollgestopft mit lauter Ideen aus Europa und Nordamerika sind, erscheinen wir in unseren eigenen Ländern wie Früchte ohne jeden Markt. José Martí verstand sehr wohl die Asymmetrie der Beziehungen zwischen Lateinamerika und Europa im literarischen wie im kulturellen Bereich. Wenn auf einer allgemeinen Ebene kulturellen Austausches keine Egalität, sondern ein Machtgefälle, eine radikale Abhängigkeit bestand, die durch Übernahme fremder Formen letztlich zu kultureller Selbstentfremdung führen musste, so gilt dies auch und gerade für den skizzierten transarealen Raum der transatlantischen Literaturen, wie Martí – ebenfalls noch im ersten Kapitel – am Beispiel jenes «caballerete que ha venido de París, con sus versos copiados de François Coppée, y su política de alquiler»,234 jenes Stutzers, der aus Paris hierher kam, mit seinen von François Coppée kopierten Versen und seiner Einfädelungspolitik, vorführt. Ich würde dabei nicht ausschließen, dass Martí damit nicht zuletzt sich selbst in einer frühen Phase seines Schaffens meinte und sich zuallererst selbst karikiert haben könnte.235 Zugleich machte er damit auf die enge Beziehung aufmerksam, die zwischen den transarealen Kulturbeziehungen und den Selbstfindungsprozessen in Lateinamerika bestand und besteht. Die lateinamerikanische Literatur kann sich nicht, wie Martí auch in früheren Schriften schon ab dem Jahre 1875236 betonte, als Kopie der europäischen Literatur entwickeln: Sie muss, ohne diese auszuschließen, eigenständige ästhetische Lösungen anstreben. Wie sieht aber jener konkrete Bewegungsraum aus, der im Roman durch explizite Verweise auf andere literarische Schöpfungen aufgespannt wird? José Martí baute etwa Longfellows Excelsior in seinen Romanerstling ein: «No te sonrías: yo sé que sabes tú latín: ‹!Más alto›!»237 – lächle nicht, ich weiß dass Du Latein kannst: Höher!; es dient ohne Zweifel Juan Jerez als literarisches Modell für den eigenen Lebensweg und greift damit aktiv in Entwicklung und Handlung des Romans ein. Daneben wird der bereits erwähnte explizite Bezug zu Goethes Mignon ein weiteres Mal hergestellt, deren nochmalige Erwähnung im Roman auf die besondere Bedeutung, die diese Gestalt für Amistad funesta besitzt, aufmerksam macht. Doch auf die polyseme Dynamisierung des Romangeschehens durch bestimmte intertextuelle Verweise kann an dieser Stelle unserer Analyse nur aufmerksam gemacht werden, zumal im dritten Kapitel nur noch zwei weitere

 Ebda., S. 198.  Ebda., S. 203.  Vgl. hierzu auch García Espinosa, Juan M.: En torno a la novela del apóstol. In: ULH 29 (1965), S. 60.  Vgl. etwa Martí, José: OC 6, S. 329.  Martí, José: Amistad funesta, S. 239.

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Romane explizit in Amistad funesta auftauchen. Die Erwähnung dieser beiden Romane aber hat es in sich und lässt auf signifikante Erweiterungen des literarischen Horizontes bei José Martí und auf seine wachsende Einsicht in die Wichtigkeit der Entfaltung der lateinamerikanischen Literatur(en) schließen. Denn in angedeuteter Parallele zur gemeinsamen lustvollen Lektüre von Paolo und Francesca in Dantes Commedia, Inferno, 5,238 aber ohne deren infernalische Wirkungen und Konsequenzen, liest Pedro seinem Idol Sol del Valle aus José Mármols Amalia (1851) und Jorge Isaacs’ María (1867) vor.239 Wenn man mit guten Gründen davon ausgeht, dass das Buch im Buch eines der entscheidenden Instrumente der Verständigung über die komplexen Selbstfindungsprozesse in Lateinamerika ist, und in Rechnung stellt, dass sich die Protagonisten lateinamerikanischer Romane des 19. Jahrhunderts in einer Romantik zwischen zwei Welten ansonsten fast ausschließlich der Lektüre europäischer Literatur verschrieben haben, dann kann man sicherlich der Auffassung Thomas Bremers mit Blick auf den einzigen Roman Martís zustimmen: «Ein wichtiger Schritt literarischer Identitätsfindung ist vollzogen: Amalia liest, Amalia wird gelesen.»240 Und man darf – jenseits einer begrifflich unscharfen Identitätssuche – hinzufügen: Für José Martí ist der bewusste Einbau zweier großer Romane der romantischen Tradition in Lateinamerika Programm. José Martí schätzte Jorge Isaacs und José Mármol als Schriftsteller sehr. Insbesondere der Letztgenannte war ein Leidensgenosse von Martí, zählte er doch als einer der berühmten argentinischen Proscritos zu jenen Autoren, die aus ihrer Exilerfahrung literarisches Kapital zu schlagen versuchten und am Ende siegreich in ihre vom Diktator Juan Manuel de Rosas gesäuberte Hauptstadt Buenos Aires einziehen konnten. Mit José Mármol verband den kubanischen Exilanten folglich ein ähnliches Schicksal und überdies eine parallele Auffassung von Rolle und Funktion der Literatur, die als Waffe im politischen Kampf genutzt werden musste. Gewiss unterschieden ihn von dem argentinischen Proscrito nicht nur die Tatsache, dass sein Kuba anders als Argentinien kein bereits unabhängiger Nationalstaat war, sondern einer Kolonialmacht unterworfen blieb,

 Vgl. hierzu ausführlich den zweiten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: LiebeLesen. Potsdamer Vorlesungen zu einem großen Gefühl und dessen Aneignung. Berlin – Boston: De Gruyter 2020, S. 7 f. und passim.  Zu beiden Romanen vgl. den vierten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten (2021), S. 659 ff. u. 733.  Bremer, Thomas: Funktionen des Lesens im lateinamerikanischen Roman des 19. Jahrhunderts und die Rezeption der europäischen Romantik (das Buch im Buch). In: López de Abiada, José Manuel / Heydenreich, Titus (Hg.): Iberoamérica. Historia – Sociedad – Literatura. Festschrift für Gustav Siebenmann. Band 1. München: Wilhelm Fink Verlag 1983, S. 158 f.

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sondern auch das ästhetische Faktum, dass sich Martí von der Romantik durch seinen ästhetizistischen Stilwillen abwandte. Doch erschien José Mármol dem kubanischen Autor zweifellos als eine repräsentative Gestalt der in Entstehung begriffenen lateinamerikanischen Literatur241 und als ein Autor, der von Lateinamerika aus neue, genuin amerikanische Akzente innerhalb der Romantik zu setzen vermochte.242 Zu beiden Romanen könnten sehr leicht thematische Bezüge hergestellt werden: so beispielsweise die Beschreibung des reichen und für die Bildungsstufe dieses Teils der argentinischen Gesellschaft stellvertretenden Intérieurs des Hauses Amalias im zweiten Kapitel des ersten Teils; oder die – romantisch vermittelte – Krankheit Marías in Jorge Isaacs Roman. Doch erscheint mir innerhalb der in unserer Studie ausgespannten Problematik allein schon die explizite Aufnahme zweier hispanoamerikanischer Romane in die Reihe der in Martís Roman in Szene gesetzten Werke, innerhalb derer sich Amistad funesta selbst definiert, von der größten Bedeutung und Signifikanz zu sein. Denn Martís Roman kann bereits auf eine eigene Geschichte verweisen und sich bewusst innerhalb einer lateinamerikanischen Literaturtradition ansiedeln. Dabei ist einmal mehr nicht nur auf der Ebene der Literatur, sondern auch auf jener der Malerei in Amistad funesta ein paralleler Vorgang zu beobachten, insofern der mexikanische Maler Manuel Ocaranza den Kreis der europäischen wie auch der US-amerikanischen Maler im Roman erweitert.243 Dieser Manuel Ocaranza war in der Zeit des mexikanischen Exils ein Freund José Martís, war er doch zuvor mit dessen früh verstorbener Lieblingsschwester Ana liiert, welche der gleichnamigen Figur in Amistad funesta im Übrigen wesentliche Züge verlieh. Dies mag als ein weiteres Beispiel dafür gelten, wie dicht ästhetische, literarische, biographische und autobiographische Aspekte und Hintergründe in Martís Roman miteinander verwoben sind. Ebenso auf dem Gebiet der Malerei wie auf jenem der Literatur schließen die Länder Lateinamerikas folglich zu den noch immer vorbildgebenden Modellen vor allem aus Europa, teilweise nun aber auch aus den USA auf. Diese Bestimmung der Position des eigenen Schreibens durch Martí findet sich schließlich explizit unmittelbar vor dem tragischen Ende jener todbringenden Freundschaft, jener Amistad funesta zwischen Lucía und Sol, als die Gäste aus der Stadt zu dem zu Ehren Anas veranstalteten Fest aufs Land reisen und dabei Halt machen in den «ciudades antiguas donde aún hay alegres posadas, y cierto indio que sabe  Vgl. etwa Martí, José: OC 7, S. 1976; 7, S. 352; sowie 22, S. 165.  Vgl. hierzu das José Mármol gewidmete Kapitel im zweiten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: LiebeLesen (2020), S. 496.  Martí, José: Amistad funesta, S. 210.

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francés».244 Martí siedelt die vielleicht entscheidende Handlung seines Romans in jenen alten Städten an, in denen es noch immer fröhliche Unterkunftsmöglichkeiten und einen gewissen Indio gebe, der Französisch spricht. Dies scheint eine bedeutungslose Anekdote im Roman zu sein, die semantisch nicht ins Gewicht fallen sollte.245 Die Französischkenntnisse jenes Indio blieben außerhalb des hier verfolgten Lektüreinteresses, wenn nicht das Wörtchen cierto als «allusion-marker»246 fungieren würde. Denn es handelt sich in der Tat um ein Selbstzitat Martís, das auf den 1878 erschienenen ungemein wichtigen Essay Guatemala verweist, in dem Martí die Einheit Lateinamerikas beschwor und auf das entstehende kulturelle und insbesondere literarische leben in Guatemala einging, das es mit der eigenen lateinamerikanischen Natur und Gesellschaft zu versöhnen («americanizar»247) gelte. In diesem Essay ließ José Martí keinen Zweifel an seiner Exilsituation, die er folgendermaßen in seinen Text einführte – und ich zitiere diese Passage, weil sie sehr deutlich auf die veränderten stilistischen Merkmale der Prosa Martís aufmerksam macht: Als ich vor einem Jahr mit von Träumen belebter Stirne und wegen der Verbannung kaltem Herzen aus dem heißen Izabal ins gemäßigte Guatemala kam, in einen Weiler, den sie hier Jícaro nennen, da sah ich zunächst in strahlendem Ritte de Hofstaat zweier lustiger Brautleute vorüberziehen, wonach ich meinen Fuß ins Haus eines Ladino setzte, der entscheidungsfreudig, großsprecherisch, belesen und einäugig war; es war das letzte Haus, das in seinem Charakter mehr Wichtigkeit als jene besitzt, welche man ihm allgemein zubilligt. Cuando yo venía, un año hace, animada de sueños la frente y frío del destierro el corazón, del caluroso Izabal a la templada Guatemala, en una alchuela que llaman el Jícaqro, luego que hube visto pasar, en brillante cabalgata, el cortejo de dos risueños novios, eché pie en tierra en casa de un ladino, decidor, fanfarrón, letrado y tuerto; casa esta última que tiene en el carácter más importancia que la que le es generalmente concedida.

José248 Martí charakterisiert sich in diesem Zitat von Beginn an als einen Exilanten, der einmal mehr aus einem Gastland wegen dessen schwindender Demokratie verjagt nach einer neuen Bleibe sucht. Martí hatte am 2. Januar Mexiko über den Hafen von Veracruz verlassen und war unter seinen Zweitnamen Julián Pérez am 6. Januar im Hafen von La Habana angekommen, von wo aus er am  Ebda., S. 270.  Darf ich an dieser Stelle autobiographisch einfügen, dass ich bei meinem ersten Besuch in Guatemalas alter Hauptstadt Antigua und in der dortigen Universität einen indigenen Führer hatte, der sich mit mir unbedingt auf Französisch unterhalten wollte?.  Perri, Carmela: On alluding. In: Poetics 7 (1978), S. 290.  Martí, José: Guatemala. In: OC 7, S. 143.  Ebda., S. 142.

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1. Hauptstück: Von der Romantik im spanischen Amerika

24. Februar an Bord der City of Havana in Richtung Guatemala aufbrach, ausgestattet mit einem Empfehlungsschreiben des Vaters seines Freundes Fermín Valdés Domínguez für den guatemaltekischen Präsidenten Justo Rufino Barrios. Weit mehr noch als in Mexiko kam der Kubaner in Guatemala in Kontakt und intensiven Austausch mit den unterschiedlichsten Gruppen der indigenen Bevölkerung seines neuen zentralamerikanischen Exillandes, in welchem er freundschaftlich aufgenommen wurde und bald schon unterrichtende Tätigkeiten an Schulen und Universitäten ausübte. So war es zweifellos in Guatemala, dass Martí im vollen Sinne der indigene Charakter dessen aufging, was er schon bald als Nuestra América zu benennen begann. Dass die Einbeziehung der indigenen Bevölkerung in seine Konzepte keineswegs ohne Widersprüche erfolgte, wurde bereits erwähnt. Doch entscheidend ist, dass er fortan den unterschiedlichsten indigenen Gruppen einen wichtigen Platz in seinen Entwürfen und Konzeptionen für Lateinamerika einräumte. In diesem Essay, der mit Recht als Beginn einer neuen stilistischen Ausdrucksweise Martís bezeichnet und verstanden werden kann,249 taucht jener Indio auf, von dem in Amistad funesta die Rede ist: Dort aber, in der Antigua, gibt es wunderbar saubere Dörfer, die einem indigenen Gouverneur gehorchen, der Zeitungen liest, der Französisch spricht, der mit seinem Beispiel und seinen Worten Tugenden sät und auf dem einfachen Lande Schulen gründet und aufrecht erhält. Allá, por la Antigua, hay limpísimos pueblos que obedecen a un gobernador indígena, que lee periódicos, que sabe francés, que con el ejemplo y la palabra enseña virtudes, y en el humilde campo estableció y mantiene escuelas.

Dieses250 verdeckte Selbstzitat lässt sich zunächst als ein an die Adresse ‹seiner› Leser gerichtetes Augenzwinkern des Autors begreifen, das gleichzeitig aber auch dazu dient, neben anderen Indizien wie etwa der Vulkanlandschaft, der indigenen Bevölkerung und vielem mehr das Romangeschehen geographisch zu verorten. Zugleich bleibt auch weiterhin ein gesamtlateinamerikanischer Zusammenhang im Roman bestehen, gerade in Hinsicht auf den zitierten Essay Guatemala. Denn hatte Martí dort nicht entscheidend den Schwerpunkt darauf gelegt, dass alle Bevölkerungsschichten an der Zukunft beteiligt werden müssten? In stark verdichteten Wendungen formulierte Martí:

 Vgl. hierzu auch Schulman, Iván A.: Martí y Darío frente a Centroamérica: perspectivas de realidad y ensueño. In: Anuario Martíano (La Habana) 1 (1969), S. 74.  Martí, José: Guatemala. In: OC 7, S. 140.

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Die Zukunft liegt darin, dass alle es wollen. Alles gilt es zu tun; aber alle, aus dem Schlafe aufgewacht, sind zur Hilfe bereit. Die Indianer sind bisweilen widerständig; doch man wird die Indianer erziehen. Ich liebe sie, und um es zu tun, werde ich es tun. El porvenir está en que todos lo desean. todo hay que hacerelo; pero todos, despiertos del sueño, están preparados para ayudar. Los indios a las veces se resisten; pero se educará a los indios. yo los amo, y por hacerlo haré.251

Die Parallelen zu Martís späterem Essay Nuestra América sind evident. Auch dort wird Martí gleich zu Beginn vom notwendigen Aufwachen sprechen, um den künftigen Gefahren begegnen zu können. Doch in seinem Essay über Guatemala geht es zunächst einmal darum, wie die indigene Bevölkerung adäquat in ein neues Konzept von Lateinamerika integriert werden kann und wie die Vision für eine Zukunft Lateinamerikas auszusehen habe. Ich möchte das obige Zitat in seinem unmittelbaren Fortgang noch einmal aufnehmen, um den veränderten Stilwillen des Kubaners und dessen Konzeptionen in seinem Essay Guatemala abschließend zu beleuchten: Ach! sie sind die so schreckliche Bestrafung, welche diejenigen erleiden müssen, die dies provozieren! Sie sind heute das Hindernis, morgen aber die große Masse, welche die jugendliche Nation antreiben wird. Man verlangt von denen die Seele eines Menschen, denen von ihrer Geburt an die Seele ausgerissen wird. Man will, dass diejenigen Bürger seien, die einzig als Lasttiere vorbereitet waren. Ach! Die Tugenden schlafen ein, die menschliche Natur ist entstellt, die großzügigen Instinkte hören auf zu strahlen, der wahre Mensch erlischt. Ein beispielgebender Freiraum und eine Bewässerung durch Erziehung brauchen die unterdrückten Pflanzen. Freiheit und Intelligenz sind die natürliche Atmosphäre des Menschen. ¡Ah! Ellos son ¡terrible castigo que deberán sufrir los que lo provocaron! ellos son hoy la rémora, mañana la gran masa que impelerá a la juvenil nación. Se pide alma de hombre a aquellos a quienes desde el nacer se va arrancando el alma. Se quiere que sean ciudadanos los que para bestias de carga son únicamente preparados. ¡Ah! las virtudes se duermen, la naturaleza humana se desfigura, los generosos instintos se deslucen, el verdadero hombre se apaga. Aire de ejemplo, riego de educación necesitan las plantas oprimidas. La libertad y la inteligencia son la natural atmósfera del hombre.252

Diese Passagen machen deutlich, wie sehr José Martí auf die verändernde Kraft der Erziehung setzte und wie sehr er darauf vertraute, dass die indigene Bevölkerung letztlich zum Motor dieser noch jugendlichen Gesellschaften werden würde. Es galt folglich, die indigene Bevölkerung aus ihrer jahrhundertealten Marginalisierung durch die weiße Oberschicht herauszuholen und an der Ge-

 Ebda., S. 157.  Ebda.

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1. Hauptstück: Von der Romantik im spanischen Amerika

sellschaft und deren Zukunftsvorstellungen einer Konvivenz zu beteiligen. Diese erhoffte Konvivenz zu erzielen ist freilich eine Aufgabe, die im überwiegenden Teil des heutigen Lateinamerika noch immer einer Lösung harrt. Doch kehren wir ein letztes Mal zurück zu Martís Roman Amistad funesta, in welchem die Formulierung von einem gewissen Indianer eine verborgene Ebene erhoffter gesellschaftlicher Partizipation, wie sie Martí in Guatemala entwickelte, in den Romantext einblendet. Die Herstellung eines intratextuellen Bezuges zwischen zwei eigenen Werken schafft eine wechselseitige Relationalität zwischen diesen Texten Martís, die zum einen den einzigen Roman in Martís Gesamtwerk integriert, zum anderen aber auch den Essay Guatemala zu einer Dimension des Romantextes selbst macht, ihn in die Romanentwicklung sozusagen hereinholt. Durch dieses intratextuelle Verfahren wird eine gesellschaftspolitische Ebene und eine Vision für ein künftiges Lateinamerika auf eine wesentlich umfassendere, elegantere und glaubwürdigere Weise in den Roman integriert, als dies in mehreren Versuchen der Fall war, welche Amistad funesta als eine Widerspiegelung gesellschaftlicher Realitäten interpretieren und als «vehículo del pensamiento del apóstol» deuten wollten.253 Dergestalt bestimmt sich der Roman Martís ebenso durch seine immanente Inter- und Intratextualität wie durch seine (dynamische, veränderbare) Position innerhalb der Konstellation aufgerufener Texte.254 Martís Amistad funesta öffnet durch diese inter- und intratextuellen Relationen einen mobilen Literaturraum, der die lateinamerikanische Literatur weder gegenüber der Weltliteratur beziehungsweise den Literaturen der Welt abzukapseln versucht noch sie der epigonenhaften Nachahmung europäischer Modelle ausliefert. Martí verortet so das eigene Schreiben auf neue Weise und macht seinen Roman dadurch – und nicht durch die literarische Verarbeitung eines in Lateinamerika vorgefallenen fait divers – zu einem hispanoamerikanischen Roman im eigentlichen Sinne. Zugleich bildet Amistad funesta eine metaliterarische Standortbestimmung zu einem Zeitpunkt, als sich die Ausläufer spätromantischer Ästhetiken in Schreibformen und Schreibnormen des hispanoamerikanischen Modernismo verwandelten. Die Thematisierung der Problematik des kolonialen Erbes, der komplexen Bewusstwerdung eigener Selbstfindungsprozesse und der Gefahr eines fixierten

 Vgl. etwa die etwas mühsame Stilisierung von Amistad funesta zu einem großen sozialkritischen Roman in Fernández Rubio, Francisco: Importancia de «Amistad funesta» como reflejo de las inquietudes sociales de Martí. In: Anuario Martíano (La Habana) 5 (1974), S. 113.  Vgl. in diesem Zusammenhang Stierle, Karlheinz: Werk und Intertextualität. In: Schmidt, Wolf / Stempel, Wolf-Dieter (Hg.): Dialog der Texte. Hamburger Kolloquium zur Intertextualität. Wien: Wiener Slawistischer Almanach 1983, S. 8 f.

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und entfremdeten Kulturtransfers bedeutet zwar noch nicht notwendigerweise eine ästhetisch gelungene Lösung dieser Probleme innerhalb des lateinamerikanischen Romans Martí’scher Prägung. Doch deutet all dies einen weltbewussten Schritt auf der Suche nach eigenständigen lateinamerikanischen Ausdrucksformen an, den Martí trotz des engen vorgegebenen Publikationsrahmens mit seinem Roman ging. Die Exilsituation José Martís in der US-amerikanischen Metropole New York sowie seine bereits 1875 aufgenommene und in den achtziger Jahren räumlich ausgeweitete Tätigkeit der Kulturvermittlung im Dreieck zwischen Lateinamerika, den Vereinigten Staaten von Amerika sowie Europa dürften in großem Maße verantwortlich sein für den klaren Bewusstwerdungsprozess des Kubaners. Die signifikante Erweiterung seines Raumkonzeptes in Hinblick auf die Diversität der Kulturen und Literaturen Lateinamerikas und die damit markierte Beschleunigung des Prozesses einer Internationalisierung255 der lateinamerikanischen Literaturen öffnet seinen unruhigen Blick auf Phänomene einer Beschleunigung jener Globalisierung,256 welche er in der US-amerikanischen Metropole weit präziser als an anderen Orten in der amerikanischen Hemisphäre beobachten konnte.

 Vgl. hierzu die Theorien Alejandro Losadas, u. a.: La internacionalización de la literatura del Caribe en las metrópolis complejas. In (ders., Hg.): La Literatura Latinoamericana en el Caribe. Berlin: LAI 1983, S. 266–351.  Vgl. hierzu den theoretischen Entwurf in Ette, Ottmar: TransArea. Eine literarische Globalisierungsgeschichte. Berlin – Boston: De Gruyter 2012.

2. Hauptstück: Die Bilder der Macht: Auf dem langen Weg in eine Transformation der amerikanischen Moderne Literarische Bildersprachen, photographische Bildersprachen Kehren wir zum Anfang von José Martís wohl berühmtesten Essay zurück, der zum ersten Mal in La Revista Ilustrada de Nueva York am 1. Januar des Jahres 1891 erschien. Ihm eignet damit dieselbe Geste, sich am Anfang eines neuen Zyklus zu platzieren, die ein anderer der großen hispanoamerikanischen Modernisten seinem ebenfalls kurzen und nicht minder einflussreichen Text mitgab. Denn sehr bewusst ließ der uruguayische Essayist José Enrique Rodó seine kulturphilosophische Schrift Ariel zu Beginn des Jahres 1900 und damit zum Anfang nicht nur eines Jahres, sondern eines neuen Jahrhunderts erscheinen. Überblickt man die intellektuelle Biographie des lateinamerikanischen 20. Jahrhunderts, so darf man Martís Nuestra América freilich in nicht geringerem Maße bescheinigen, ein neues Jahrhundert der Reflexion über die spezifische Lage Lateinamerikas im amerikanischen wie im globalen Kontext eröffnet zu haben. Nuestra América eröffnet damit ein neues Zeitalter des Nachdenkens über Lateinamerika innerhalb eines weltumspannenden Zusammenhangs, den sich der Kubaner in seinen unterschiedlichen Exilländern Stück für Stück erarbeitete. Rufen wir noch einmal die berühmte Anfangsperiode in Erinnerung und setzen diese berühmten Wendungen fort: Es glaubt der selbstgefällige Dörfler, dass die ganze Welt sein Dorf sei, und schon billigt er die Weltordnung, wenn er Bürgermeister wird, seinen Rivalen demütigt, der ihm die Braut stahl, oder wenn die Ersparnisse in seinem Sparstrumpf anwachsen; doch er weiß weder von den Riesen, die Siebenmeilenstiefel tragen, mit denen sie ihm den Stiefel aufdrücken können, noch vom Kampf der Kometen im Himmel, die durch die schläfrige Luft ziehen und Welten verschlingen. Was von solchem Dörflergeist noch in Amerika geblieben ist, muß erwachen. Dies sind nicht die Zeiten, sich mit einem Tuch auf dem Kopf hinzulegen; es gilt vielmehr, wie die Männer von Juan de Castellanos zu handeln, deren Kopf nur auf Waffen ruhte – auf den Waffen der Vernunft, die andere Waffen besiegen. Schützengräben aus Ideen sind denen aus Stein überlegen.257

 Vgl. Martí, José: Unser Amerika. In: Rama, Ángel (Hg.): Der lange Kampf Lateinamerikas. Texte und Dokumente von José Martí bis Salvador Allende. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1982, S. 56 (Übers. O.E.). https://doi.org/10.1515/9783110788471-003

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2. Hauptstück: Die Bilder der Macht

Cree el aldeano vanidoso que el mundo entero es su aldea, y con tal que él quede de alcalde, o le mortifiquen al rival que le quitó la novia, o le crezcan en la alcancía los ahorros, ya da por bueno el orden universal, sin saber de los gigantes que llevan siete leguas en las botas, y le pueden poner la bota encima, ni de la pelea de los cometas en el cielo, que van por el aire dormido[s] engullendo mundos. Lo que quede de aldea en América ha de despertar. Estos tiempos no son para acostarse con el pañuelo a la cabeza, sino con las armas de almohada, como los varones de Juan de Castellanos: las armas del juicio, que vencen a las otras. Trincheras de ideas, valen más que trincheras de piedras.258

Das von Martí wohlüberlegt und metaphernreich gestaltete incipit dieses Essays schafft von der ersten Zeile an einen Bewegungsraum, der durch den scheinbaren Gegensatz und die Bewegungen zwischen Dorf und Welt dynamisch strukturiert wird. Wir haben gesehen, welch große Bedeutung das dörflerische Leben gerade in Guatemala für Martí besaß und wie sehr diese Isoliertheit kleiner Weiler ihn beeindruckte. Doch längst war auch ein Dorf, das sich so gerne in seinen je eigenen Befindlichkeiten autark glaubt, nicht mehr zu begreifen, ohne es auf Entwicklungen weltweiten Maßstabs zu beziehen: Selbst eine abgelegene Lokalität, dies war die Einsicht, welche Martí an den Anfang seines sicherlich einflussreichsten Essays stellte, muss im Kontext des Globalen gedacht werden. Mit dem Rückgriff auf Adelbert von Chamissos Peter Schlemihls wundersame Geschichte konstruiert Martí wie etwa in seinem Roman Amistad funesta ein intertextuelles Netzwerk, das unmittelbar mit Fragen und Themen der Globalisierung verknüpft ist. Denn die Weltgeschichte steht im Begriff, gleichsam mit Siebenmeilenstiefeln die Geschwindigkeit ihrer Entwicklungen und Prozesse zu vervielfachen: Es gilt, mobile Konzepte zu entwickeln, welche mit dieser rasanten Geschwindigkeit mithalten können und flexibel genug sind, um sich raschen Veränderungen anzupassen. Bereits in seinem Essay Guatemala hatte der Kubaner auf die Metaphoriken des Aufwachens zurückgegriffen, welche seit der Independencia immer wieder die Freiheitsdiskurse lateinamerikanischer Denker begleiteten. Doch nun, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seines Essays Nuestra América, war die Bedrängnis für Lateinamerika viel größer und ein Ausgreifen der USA auf den Subkontinent imminent. Es ist kein Zufall, sondern Ausdruck eines sorgfältigen literarischen Aufbaus, dass noch im selben Eröffnungssatz dem Rekurs auf die Märchen und Fiktionen Europas ein Verweis auf indigene Vorstellungswelten an die Seite gestellt wird, blendet die Rede vom Kampf der Kometen am Himmel doch indianische Mythen ein, wie sie Martí wenige Jahre zuvor, in einer Serie von Artikeln des Jahres 1884 – beispielsweise in seinem Text El hombre antiguo de América y sus artes  Martí, José: Nuestra América. Edición crítica. Investigación, presentación y notas Cintio Vitier. La Habana: Centro de Estudios Martíanos – Casa de las Américas 1991, S. 13.

Literarische Bildersprachen, photographische Bildersprachen

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primitivas – reflektierte. Aus seiner Zeit in Guatemala vor allem stammt das besondere Interesse Martís für die indigenen Kulturen und sein Versuch, seine Konzeptionen um das indigene Element zu erweitern. Der Antike Mensch Amerikas und seine primitiven Künste erschien erstmals im April 1884 ebenfalls in New York, in der Zeitschrift La América.259 Diese Artikel gehören damit zum zeitlichen Umfeld der Veröffentlichung von Amistad funesta und machen ein weiteres Mal darauf aufmerksam, dass uns Martís Roman ein weites Panorama an Textverbindungen erschließt, die seine anfänglich bipolare kulturelle Ausrichtung in unterschiedlichste Richtungen erweiterte. Hatten wir in unserer ersten Annäherung an den Auftakt von Nuestra América die Beziehungen zu Adelbert von Chamisso herausgearbeitet, so wird nun erkennbar, dass der Kubaner zeitgleich die indigenen Kulturen mit in seinen Gesellschaftsentwurf einbezog. Auf diese Weise schuf Martí bereits im incipit seines Essays einen kulturellen (und zugleich literarischen) Bewegungsraum, der ebenso die europäisch-abendländische wie die amerikanische Welt einschließlich ihrer präkolumbischen Kulturen umfasst. Die Adressierung gerade des kulturellen Poles der indigenen Kulturen ist bei diesem kubanischen Autor seit den achtziger Jahren Programm. Innerhalb dieses Spannungsfeldes wird von Martí in einem dritten Schritt dann das lyrische Schaffen eines Juan de Castellanos (1522–1607) situiert, dessen Elegías de varones ilustres de Indias im Jahre 1589 in Nueva Granada entstanden waren und ein Schreiben vor Augen führen, das sich in der humanistischen Tradition des spanischen Siglo de Oro weiß, zugleich aber entstehungsgeschichtlich wie thematisch in den Indias, in den amerikanischen Überseekolonien, verortet ist. Es geht folglich wesentlich um ein Schreiben aus einer amerikanischen Perspektive, um ein Schreiben in den Amerikas, das weit davon entfernt ist, europäische Modelle und Vorgaben in die Amerikas zu transplantieren.260 Hieran knüpfen die Ideen (und die Schützengräben) José Martís im letzten Satz des obigen Zitats an. Mit einer beeindruckenden literarischen Dichte, die sehr wohl mit der von Lezamas La expresión americana vergleichbar ist, wo diese sich auf José Martí bezieht,261 lässt der 1853 in Havanna geborene Lyriker, Essayist und Revolutio-

 Wieder abgedruckt in Martí, José: OC 8, S. 332–335. Cintio Vitier hat in seiner kritischen Edition von Nuestra América (S. 27) auf diese Beziehung aufmerksam gemacht.  Ette, Ottmar / Wirth, Uwe (Hg.): Kulturwissenschaftliche Konzepte der Transplantation. Unter Mitarbeit von Carolin Haupt. Berlin – Boston: De Gruyter 2019.  Vgl. hierzu das entsprechende Kapitel im dritten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Von den historischen Avantgarden bis nach der Postmoderne. Potsdamer Vorlesungen zu den Hauptwerken der Romanischen Literaturen des 20. und 21. Jahrhunderts. Berlin – Boston: De Gruyter 2021, S. 745 ff.

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2. Hauptstück: Die Bilder der Macht

när einen ungeheuer komplexen kulturellen und literarischen Verweisungszusammenhang entstehen, der – wie von Beginn an signalisiert wird – ebenso die abendländische wie die amerikanische Antike einblendet und für das Schreiben in Amerika einen spezifischen Ort ausmacht, den Martís Essay selbst konstruiert, verkörpert und performativ in Szene setzt: Dieser Ort ist unser Amerika. Denn das Konzept von Nuestra América signalisiert den Bewegungsraum, von wo aus geschrieben, aber auch den vektoriellen Raum, der näher bestimmt und für den im bevorstehenden Kampf Partei ergriffen wird. Das Epochenbewusstsein, das Martís Text von seinem ersten Abschnitt an zu entwerfen und zu durchdenken sucht, ist das einer sich rapide beschleunigenden Zeit, einer Epoche, in der sich die grundlegenden historischen Ereignisse förmlich überschlagen und eine bislang unbekannte Konfiguration auf der weltpolitischen Bühne entsteht. Martí ist sich gewiss: Die Expansion der USA wird nur mehr eine Frage der Zeit sein; und sie wird sich gen Süden, nach Lateinamerika, wenden. Die Siebenmeilenstiefel aus Adelbert von Chamissos Erzählung können sich unversehens in Soldatenstiefel verwandeln, die eine neue – und keineswegs gute – Weltordnung errichten. Martís hintergründiges Spiel mit dem Lexem bota schlägt eine Engführung zwischen einer auf militärischer Übermacht beruhenden Besatzung und Fremdherrschaft einerseits und einer globalen Beschleunigung andererseits vor, die aus der gegenwärtigen Perspektive einer mittlerweile längst abgeschlossenen vierten Phase beschleunigter Globalisierung durchaus nachvollziehbar ist. Früh erkannte Martí – und weitaus früher als andere – die Zeichen seiner Zeit. Martí entwickelt sich Schritt um Schritt zum amerikanischen Denker der Globalität. Und der Beschleunigung einer Globalisierung, deren Anfänge er aus der Perspektive seines New Yorker Exils sehr präzise wahrnahm und analysierte. Die Rede von den Riesen mit den Siebenmeilenstiefeln deutet – wie wir bereits gesehen haben – unter Rückgriff auf die zweite Phase beschleunigter Globalisierung auf eine in Gang befindliche, eine dritte Phase beschleunigter Globalisierung, die sich im Verlauf der beiden letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts entwickelte und insbesondere dadurch gekennzeichnet war, dass erstmals neben europäische Staaten eine außereuropäische Macht, die Vereinigten Staaten von Amerika, als Impulsgeber der Globalisierung trat.262 José Julián Martí y Pérez’ Rückgriff auf Adelbert von Chamisso, der in seinem Peter Schlemihl die zweite Phase beschleunigter Globalisierung im Auge hatte, ist dabei

 Zu dem auf den Literaturen der Welt aufruhenden Konzept verschiedener Phasen beschleunigter Globalisierung vgl. das Auftaktkapitel von Ette, Ottmar: TransArea. Eine literarische Globalisierungsgeschichte. Berlin – Boston: De Gruyter 2012.

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findig. Auch wenn diese neuerliche Beschleunigung verspätet ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit rückte, so war sich José Martí durch seinen langen Aufenthalt im US-amerikanischen Exil doch sehr früh, spätestens in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts, dieser veränderten welthistorischen und weltpolitischen Lage bewusst geworden. Sein Konzept von Nuestra América trug dem Rechnung. Dieser Essay darf als ein zentraler Text zur zeitgenössischen Globalisierung und als frühes Zeugnis ihrer Beschleunigung auch und gerade in den Amerikas verstanden werden. Mit dem Jahre 1891 beginnt die letzte Phase in Martís so intensivem, sich ständig beschleunigenden und hemmungslos verzehrenden Leben. Gemeinsam mit anderen Schriften der neunziger Jahre bilden diese Wendungen den Kulminationspunkt eines Denkens, das sich in höchster poetischer Verdichtung unterschiedlicher Symbolsprachen bedient. Die neunziger Jahre stehen im Zeichen der Vorbereitung der später nach ihm benannten Guerra de Martí, jenem Krieg von 1895, mit dem der kubanische Revolutionär die Frage der Unabhängigkeit Kubas mit seiner Analyse der ungleichen Entwicklung der amerikanischen Hemisphäre zu verbinden trachtete. Seine Kriegserklärung an die Adresse der alten Kolonialmacht Spanien warnte zugleich vor dem Aufkommen einer neuen Hegemonialmacht, den Vereinigten Staaten von Amerika. Martí hatte die Gefahr erkannt. Die Guerra de Martí ist die große Tragik im Leben des kubanischen Revolutionärs. Denn die USA ergriffen nur wenige Jahre nach dem Tode Martís die Chance zur Intervention in den kubanischspanischen Freiheitskampf. Der von ihm wesentlich geplante und vorangetriebene Krieg gegen Spanien suchte gleichsam dem Vordringen der USA mit der kubanischen Independencia einen Riegel vorzuschieben, schuf aber letztlich wider Willen für die neue Macht auf der Bühne der Globalisierung eine ausgezeichnete Gelegenheit, zu einem Zeitpunkt des militärischen Patts zwischen kubanischen und spanischen Kräften unter einem Vorwand gezielt in die Kämpfe einzugreifen und die technologische Überlegenheit der eigenen Seestreitkräfte gegen die hoffnungslos unterlegene spanische Flotte vor Santiago de Cuba und vor den Philippinen auszuspielen. In dieser Konstellation und in der Tatsache, dem Vordringen der USA nichts entgegensetzen zu können, liegt die unbestreitbare Tragik des hellsichtigen kubanischen Denkers und politischen Agitators, der trotz seiner Weitsicht dem imperialistischen Übergriffen der USA auf Kuba ohnmächtig gegenüberstand. Die Guerra de Martí ist mit guten Gründen – und ich werde darauf zurückkommen – als der erste transatlantische Medienkrieg beschrieben worden. Das Eingreifen der US Navy vor der Küste von Manila erweiterte dies um eine transpazifische Dimension, in welcher Bilder und Nachrichten vom Krieg eine unmittelbare Wirkung auf die jeweils nationalen Bevölkerungen hatten. Doch dass die

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2. Hauptstück: Die Bilder der Macht

medialen Vorzeichen dieses Krieges wesentlich weiter in der Zeit zurückreichen und sich dabei um ein Bild des geistigen Urhebers dieses Krieges scharen, geriet bei derartigen Analysen gerne aus dem Fokus. José Martí war im kubanischen Exil in den USA, auf den Antillen, in Mittelamerika und weiteren Ländern Lateinamerikas unbestritten die führende Figur, auf welche sich die Hoffnungen der Kubanerinnen und Kubaner richteten. Wie war es hierzu gekommen? Die Bilder der charismatischen Figur des kubanischen Revolutionärs übten auf weite Bereiche der Bevölkerung eine unwiderstehliche Kraft aus, die wir bereits im ersten Teil unserer Studie ausführlich analysiert haben. Hieran möchte ich im Folgenden anknüpfen. Versuchen wir also, die über die Bilder des Apóstol entfaltete Faszinationskraft in der notwendigen Kürze zu rekonstruieren und zugleich zu verstehen, in welchem Maße Martí geschickt das von ihm im Umlauf befindliche Bild steuerte und für seine Ziele einsetzte. Dass wir auch in diesem Zusammenhang erneut auf die Problematik der Moderne stoßen, sollte uns dabei nicht überraschen, siedelt sich das gesamte Denken und Handeln Martís doch unter den Bedingungen technologischer und sozioökonomischer Modernisierung und zugleich in einer Epoche an, die wir als die Moderne bezeichnen. Am 2. Dezember 1881 schrieb der kubanische Essayist und Revolutionär in einem der Texte für seine Kolumne Sección Constante in der venezolanischen Zeitung La Opinión Nacional über die jüngsten Fortschritte auf dem Feld der Photographie. In der großen Tageszeitung von Caracas hatte er die technologischen Entwicklungen dieser neuen Kunst aufmerksam studiert und an seine Leserinnen und Leser in Venezuela weitergegeben: Es war ein unermesslicher Fortschritt, als es gelang, die Bilder zu fixieren, die man durch die Camera obscura erhielt, doch ist es nicht weniger gewiss, dass der Mensch sich nicht mit diesen Vorstößen zufrieden gab, welche durch die Photographie erzielt wurden. Seit fast einem halben Jahrhundert sucht man mit Verbissenheit, die Fixierung ebenso der Farben, also Bilder mit ihrer eigenen Farbgebung zu erhalten. Diese große Erfindung, die schon wiederholt als erreicht verkündet wurde, aber die man doch noch nie erzielte, scheint endlich durch ein Verfahren bewerkstelligt, das von den Herren Cros und Carpentier erdacht wurde, welche der Pariser Akademie der Wissenschaften Photographien eines Aquarells präsentierten, wo die Einzelheiten und die Farbgebungen des Originals genauestens reproduziert sind. Progreso inmenso fue el conseguir fijar las imágenes obtenidas en la cámara oscura, pero no es menos cierto que el hombre no se ha manifestado satisfecho con todos los adelantos realizados por la fotografía. Cerca de medio siglo hace que se está buscando con empeño el conseguir fijar también los colores, o sea obtener las imágenes con su coloración propia. Este gran invento, repetidas veces anunciado como conseguido, pero nunca realizado, parece al fin resuelto por un procedimiento ideado por M. M. Cros y Carpentier, quienes aca-

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ban de presentar a la Academia de Ciencias de París fotografías de una acuarela, en las que se notan exactamente reproducidos los detalles y colores del original.263

Diese Passage bot dem lateinamerikanischen Lesepublikum eine detailgenaue Beschreibung der technischen Abläufe dessen, was der französische Dichter und Erfinder Charles Cros erstmals vorgestellt hatte und was später als Additivtechnik bei der Kolorierung photographischer Aufnahmen bekannt werden sollte. Dieser Beitrag Martís erreichte die führende Zeitung der venezolanischen Hauptstadt allerdings schon von New York aus, wo sich der kubanische Autor nach seiner Abreise aus Venezuela am 28. Juli 1881 niedergelassen hatte. José Martí blieb bis 1895 – dem Jahr seiner Rückkehr nach Kuba im Rahmen des von ihm gegen die spanische Kolonialmacht entfesselten Krieges, in dem er bereits in den ersten Monaten, am 19. Mai 1895, fallen sollte – in der nordamerikanischen Metropole, von wo aus er fortan aufmerksam die wichtigsten politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und technologischen Entwicklungen weltweit verfolgte und an seine Leserschaft in Lateinamerika zu vermitteln suchte. Bereits im August 1881 hatte der aus Kuba Verbannte seine ersten Beiträge an La Opinión Nacional übermittelt und nutzte von da an seinen privilegierten Beobachtungsposten in New York, der Stadt, die wie keine zweite über die modernsten Kommunikationsmittel der Epoche verfügte und ein hautnahes Erleben jener Modernisierungsprozesse bot, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts den gesamten amerikanischen Kontinent – wenn auch in regional sehr unterschiedlicher Weise – erfasst hatten. New York war so etwas wie die Speerspitze der Modernisierung in den Amerikas; und Martí war ein herausragender Beobachter. Martí beendete damit vorläufig seine Migration durch zahlreiche Länder Lateinamerikas und nutzte seinen durch das Exil geförderten weiten Erfahrungshorizont zur Entwicklung neuer politischer, sozialer und nicht zuletzt kultureller Konzepte, die im 20. Jahrhundert nicht nur für Kuba wegweisend werden sollten. Dabei griff er auf die damaligen transatlantischen Informations- und Kommunikationsnetze von New York aus zurück, um seinerseits ein Beziehungsnetz zu knüpfen, mit dessen Hilfe er seine zahlreichen Artikel in den wichtigsten lateinamerikanischen Zeitungen der Zeit veröffentlichen und zu einem der einflussreichsten Essayisten Hispanoamerikas werden konnte. Die wichtigsten Periodika druckten die Essays und Chroniken des Kubaners in ganz Lateinamerika ab und ließen Martí zu einer wichtigen Stimme der amerikanischen Hemisphäre werden. Seine Schriften prägten das Bild, das sich die Lateinamerikaner ebenso von den

 Martí, José: OC 23, S. 103.

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2. Hauptstück: Die Bilder der Macht

USA wie von Europa – und damit auch von der Moderne insgesamt – machten, in grundlegender Weise. Das politisch-kulturelle Moderne-Projekt Martís zielte darauf ab, die lateinamerikanischen Länder von gleich zu gleich in eine Welt zu integrieren, die von starken Ungleichgewichten zwischen den Hegemonialmächten und jenen Ländern gekennzeichnet war, denen innerhalb der Modernisierungsschübe der zweiten Jahrhunderthälfte eine lediglich marginale Rolle zufiel. Um diese historisch gewachsenen Asymmetrien264 zu überwinden, versuchte Martí, Lateinamerika zunächst in die Informationssysteme zwischen und über die Hegemonialmächte einzugliedern, um den verschiedenen Ländern in einem zweiten Schritt die Chance zu eröffnen, einen eigenen, ihrer historisch-kulturellen Lage angemessenen Standpunkt zu entwickeln. Dieses Moderne-Projekt beinhaltete nicht zuletzt, den Hauptinformationsstrom (zwischen Europa und Amerika) um ein interamerikanisches Informationsnetz zu ergänzen, insbesondere um ein Netz zwischen den lateinamerikanischen Ländern und ihrem mächtigen nordamerikanischen Nachbarn. Im Rahmen der wachsenden ökonomischen wie kulturellen Internationalisierung, die man als die beginnende dritte Phase beschleunigter Globalisierung in der Neuzeit bezeichnen könnte, wollte Martí Lateinamerika einen spezifischen Ort zuweisen, der die Interessen und Bedürfnisse jener Region berücksichtigen sollte, die er stets als Nuestra América bezeichnete. Im Folgenden kann der Grundzug einer (im Sinne Blochs) konkreten Utopie im Denken Martís ebenso wenig vertieft werden wie die Folgen dessen, was man mit Julio Ramos als die verpassten Chancen der Moderne in Lateinamerika265 bezeichnen könnte. Doch gilt es zu betonen, wie symptomatisch die sich vor allem in der ersten Hälfte der 1880er Jahre häufenden Anmerkungen des kubanischen Schriftstellers und Journalisten über die Photographie für sein kulturelles Projekt waren. Denn in diesem Projekt stehen seine ästhetischen Konzeptionen – sein spanisch-amerikanischer Modernismus –, seine Urteile über die sozioökonomische Modernisierung und sein Empfinden, in der Moderne zu leben, in dialektischer Beziehung zueinander. José Martí war davon überzeugt, in einer zukunftsoffenen Epoche des Übergangs und der Transformation zu leben, einer «época de elaboración y transformación espléndidas»,

 Vgl. zu dieser historischen Entwicklung Ette, Ottmar: Asymmetrie der Beziehungen. Zehn Thesen zum Dialog der Literaturen Lateinamerikas und Europas. In: Scharlau, Birgit (Hg.): Lateinamerika denken. Kulturtheoretische Grenzgänge zwischen Moderne und Postmoderne. Tübingen: Gunter Narr Verlag 1994, S. 297–326.  Vgl. Ramos, Julio: Desencuentros de la modernidad en América Latina. Literatura y política en el siglo XIX. México: Fondo de Cultura Económica 1989.

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wie er dies in seinem berühmten Vorwort zum Poema del Niágara von Pérez Bonalde formulierte,266 auf das ich bereits verwiesen hatte. Nicht umsonst hatte der Begriff des Fortschritts, der die oben angeführte Passage eröffnete, den Grundakkord für Martís Überlegungen angeschlagen, und so entwarf auch der sich an die technische Beschreibung der soeben erst in Paris vorgestellten Erfindung anschließende Satz einen neuen Horizont für künftige Entwicklungen auf dem Gebiet der Lichtschrift: «Es wäre wirklich magisch, Photographien zu erhalten, in denen die exakte Kopie der Natur mit Blick auf deren Linien nun mit der Lebendigkeit und Animation der Farbgebung verbunden werden könnte.»267 In der Tat sollten schon wenige Wochen später die «Lebhaftigkeit» und Bewegtheit von Bildern das Interesse Martís wie das seiner lateinamerikanischen Leserschaft wecken, wenn es auch nicht die viveza y animación der Farbgebung, sondern die der Bewegung waren, mit deren photographischer Wiedergabe Eadweard Muybridge, unterstützt von dem Multimillionär und Universitätsgründer Leland Stanford, seit 1878 experimentiert hatte, indem er mehrere Kameras in einer Reihe postierte und damit sich an ihnen entlang bewegende Menschen und Tiere aufnahm.268 In seinem Korrespondentenbericht für La Opinión Nacional vom 18. Januar 1882 feierte der Kubaner diese und andere «außerordentliche Triumphe»269 der Photographie und der Möglichkeit, Bewegungen photographisch zu studieren und zu analysieren. Die «Entdeckung von Muybridge»270 in Kalifornien, die seinem Bericht kaum vier Jahre vorausging, sei mittlerweile von verschiedenen europäischen Photographen weiterentwickelt und perfektioniert worden: Immer neue Möglichkeiten erschienen so im technologischen Bereich. Die Erläuterung der technischen Verfahren der Photographie im Bereich der Kolorierung wie auch der Vorstufen späterer kinematographischer Entwicklungen ermöglichte es den lateinamerikanischen Leserinnen und Lesern, einerseits Schritt für Schritt den jüngsten Erfindungen zu folgen; andererseits führten ihnen die essayistischen Momentaufnahmen Martís zugleich die enorme Wichtigkeit der transatlantischen wie der hemisphärischen Informationskanäle vor Augen,

 Martí, José: OC 8, S. 224.  Martí, José: OC 23, S. 104: «Será verdaderamente mágico conseguir fotografías en que a la exacta copia de la naturaleza en cuanto a las líneas se consiga unir la viveza y animación del colorido.»  Vgl. hierzu die aufschlussreichen Kommentare von Kittler, Friedrich: Grammophon Film Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose 1986, S. 178 ff.  Martí, José: OC 23, S. 158.  Ebda.

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2. Hauptstück: Die Bilder der Macht

die den Rhythmus der wissenschaftlichen Fortschritte und Entdeckungen beschleunigten. Es sollte uns nicht überraschen, dass Martí in diesen kurzen Skizzen nicht auf die eigentlich künstlerische Dimension dieser neuen Entdeckungen einging. Es war ihm vor allem um die Dokumentation wissenschaftlicher Errungenschaften und nicht um das zu tun, was Walter Benjamin später als die Dimension der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerkes ins Zentrum seiner bahnbrechenden Überlegungen rücken sollte.271 Dennoch hatte die Photographie, zumindest die ihrer herausragenden Vertreter, für den kubanischen Dichter bereits den Status einer Kunst mit ihren eigenen ästhetischen Regeln und ihren spezifischen Charakterzügen erlangt. Nicht ohne Grund nannte er in einem anderen Beitrag für La Opinión Nacional vom 14. Dezember 1881 den seinerzeit bekanntesten Photographen Félix Nadar «den großen Nadar».272 Die technologischen Entwicklungen hatten für Martí einer neuen Kunst den Weg bereitet, einer Kunst, die ein Kind der Moderne war. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte sich das Photographieren – vor allem dank der Leistungen Nadars, Disderis und Carjats – bereits als künstlerische Ausdrucksform etabliert und machte der Malerei bereits den Rang streitig. Eine neuere Potsdamer Ausstellung in der Villa Barberini zeigte überzeugend auf, dass es sich bei den Motiven der Maler und bei den Motiven der Photographen oftmals um dieselben handelte. Nadar selbst hatte für das photographische Porträt als Maßstab den (damals notwendigen) Vergleich zwischen Photograf und Maler gezogen, seien doch beide in der Lage, «le sentiment intime et artistique» ihres Modells wiederzugeben.273 Das Interesse, ja die Begeisterung Martís für diese neue künstlerische Ausdrucksform, die zu seiner Zeit die modernste war und zur massentauglichen Kunstform schlechthin führte, zum Film, ist durch zahlreiche Schriften der 1880er Jahre belegt. Martí verstand die enormen künstlerischen und dokumentarischen Möglichkeiten des neuen Mediums, obwohl in dieser Studie auf die komplexen Beziehungen zwischen seinem politisch-kulturellen Projekt, den li-

 Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [Erste und zweite Fassung]. In (ders.): Gesammelte Schriften. Bd. I, 2. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980, S. 431–508. Schon häufig wurde auf die Tatsache hingewiesen, dass die von Muybridge festgehaltenen Bewegungen eines Pferdes – auf die sich auch Martí bezog – seit den achtziger Jahren die Repräsentation von Tierbewegungen in den Bildenden Künsten radikal veränderte.  Martí, José: OC 23, S. 115.  Nadar: Les histoires du mois. In: Musée français-anglais 22 (octobre 1856), S. 7; zit. nach Straub, Enrico: Der Porträtist Félix Nadar. In: Lendemains (Köln) 23 (1981), S. 62.

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terarischen Konzepten der Modernisten und den ästhetischen Implikationen einer demokratisierten Kunst (die noch keine demokratische war) nur aufmerksam gemacht werden274 kann. Es sei jedoch festgehalten, dass das Interesse des kubanischen Autors für die camera obscura und deren Technik bereits vor den 1880er Jahren und damit vor den hier zitierten Texten geweckt worden war. Denn schon vor seiner ersten Deportation nach Spanien im Jahre 1871 hatte der junge Kubaner seine Begeisterung für dieses neue künstlerische Medium zum Ausdruck gebracht. Vor dem Hintergrund dieses Interesses und des Wissens Martís über die Entwicklungen der (künstlerischen) Photographie verfolge ich im nachfolgenden Teil dieser Studie drei Ziele. Erstens möchte ich zeigen, dass in bisherigen Untersuchungen – selbst in den empirisch reich unterfütterten Arbeiten von John M. Kirk über den «image-building-process»275 – die Bedeutung der Figur Martís und deren Inszenierung auf Photographien, Plakaten und anderen Bildmedien nicht in ausreichendem Maße erkannt worden ist. Es liegt meines Erachtens auf der Hand, dass insbesondere die Photographien José Martís die Rezeption seines Werkes entscheidend mitgeprägt haben und noch immer prägen: Das Bild besitzt einen starken Einfluss auf die Lektüren der Schriften. Hier liegt die spezifische Bedeutung der Kanonisierung bestimmter Photographien, der Arbeit an diesen Bilddokumenten sowie der Wichtigkeit gerade auch der Ränder der Martíschen Ikonographie, verschwanden doch bestimmte photographische Darstellungen des kubanischen Revolutionärs zeitweise oder dauerhaft aus dem öffentlichen Raum beziehungsweise dem öffentlichen Bewusstsein. Zweitens scheint es mir wichtig, die innere semantische Struktur der Photos zu analysieren, die wir heute vom kubanischen Héroe Nacional besitzen. Diese Porträts sind keine Fenster, die uns den Blick auf «die Realität» öffnen, sondern komplexe Kreationen, denen im Verlauf von Martís Leben eine immer deutlicher spürbare Zielgerichtetheit anzumerken ist. In seiner ebenso energischen wie ambivalenten Martí-Biographie beschäftigte sich der Argentinier Ezequiel Martínez Estrada ausführlich mit den Photographien des kubanischen Revolutionärs.276 Leider werden dort Martís Photos ebenso wie seine Schriften ausschließlich als charakterologische Dokumente, als Ausdruck seines Charakters

 Zu dieser Differenz vgl. Rama, Ángel: Las máscaras democráticas del modernismo. Montevideo: Fundación Angel Rama 1985, Kap. 2.  Vgl. Kirk, John M.: From «Inadaptado sublime» to «Líder revolucionario»: some further thoughts on the presentation of José Martí. In: Latin American Research Review (Albuquerque) XV, 3 (1980), S. 127–147.  Martínez Estrada, Ezequiel: Martí revolucionario. Bd. I. La Habana: Casa de las Américas 1967, S. 426–443 («Retratos»).

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begriffen, als Porträts einer Persönlichkeit und nicht als bewusste und interessegeleitete Repräsentationen. Dies führte zu gewissen Fehleinschätzungen bei Martínez Estrada, die überdies durch seine Identifikation mit dem kubanischen Revolutionär verstärkt wurden: Er war stolz darauf, im ersten Teil seines Familiennamens den Namen des Martír zu tragen. Seine Beobachtungen sind ein auch rezeptionsgeschichtlich interessantes Zeugnis eines begeisterten «Lesers» der Martí’schen Photos, aber kein substantieller Beitrag zur semiotischen Analyse der Ikonographie des Kubaners. Die Aufnahme eines Porträtphotos war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – der vielleicht reichsten Epoche des photographischen Porträts – ein höchst intensiver Akt, der nichts mit der heute vorherrschenden automatisierten Wahrnehmung zu tun hat, die unsere immer weiter zunehmende Bilderflut erzeugt.277 Der Porträtierte war sich seiner Selbst-Darstellung zudem in der Regel weitaus bewusster, denn die Technik machte es erforderlich, dass er Zeuge langwieriger Vorbereitungen wurde und während einer langen Belichtungszeit stillzusitzen hatte, was Momentaufnahmen nach heutigem Verständnis unmöglich machte. Darum geben diese Photos nicht das alltägliche Gesicht wieder, sondern die Züge einer photographierten Person, eines Menschen, der sich seinen Zeitgenossen zu lesen geben will. Aus diesem Grund kann (und muss) eine Pose, die schon aus technischen Gründen sehr bewusst eingenommen wurde, als willentlicher Akt einer Interpretation oder Selbstinterpretation «gelesen» werden. Drittens möchte ich auf die Bedeutung der intermedialen Beziehungen eingehen, die zwischen den Photographien Martís – anders gesagt: seinen ikonischen Texten – und seinen geschriebenen Texten bestehen, wobei ich mich aus der Blickrichtung der Intermedialität auf einige intratextuelle beziehungsweise paratextuelle Relationen beschränken möchte, die ich mit Gérard Genette in einem weiten Sinne verstehe.278 In diesem Zusammenhang begreife ich die Produktion auf schrifttextlicher («Martí als Schriftsteller»), auf aktantieller oder handelnder («Martí als Revolutionär») und auf ikonischer Ebene («Martí als Porträt») als eine stets prekäre, aber gleichwohl funktionale und evidente Einheit, deren Untersuchung im Folgenden nur angerissen werden kann und die Aufgabe einer spezialisierten Forschungsarbeit sein sollte. Für Martí beruhte jeglicher politischer, sozialer oder kultureller Fortschritt auf Veränderungen, die vom beziehungsweise im Individuum ausgelöst werden muss Vgl. hierzu die Einleitung von Robert Sobieszek in One mind’s eye. The portraits and other photographs of Arnold Newman. Foreword by Beaumont Newhall, introduction by Robert Sobieszek. London 1974, S. VI–IX.  Vgl. Genette, Gérard: Seuils. Paris: Seuil 1987, S. 7–16.

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ten, ohne dass ihn dies bekanntlich zu einer Geringschätzung kollektiver Prozesse geführt hätte. Aus dieser Perspektive erklärt sich die Bedeutsamkeit der Bilder jenes Mannes, der schon Jahre vor seinem Tod öffentlich «Maestro» oder «Apóstol» genannt wurde.279 Die öffentliche Figur Martí – und vor allem all jenes an ihr, das nicht-ephemerer Natur schien – war weit mehr als eine Figur des öffentlichen Lebens: Martí wollte und musste ein Vorbild sein und, mehr noch, sich zu einem Vorbild machen.280 Dem Vorbildcharakter Martís aber lag früh schon ein bewusst gezeichnetes Bild zu Grunde. Folglich schließt das Gesamtwerk des großen kubanischen Schriftstellers nicht nur seine Schrift-, sondern gerade auch seine Bildtexte als integralen Bestandteil seines Oeuvre mit ein.

Abb. 1: Portrait von Martí in Gefängniskleidung, nachdem er wegen Untreue zu sechs Jahren Haft verurteilt wurde, 1870.

Der nun in der Abfolge vorgeschlagene Parcours durch die Ikonographie José Martís folgt dem zuvor genannten dreifachen Interesse. Die Martí-Porträts aus der Zeit vor 1870 – vom ersten Schulphoto mit der stolz ins Bild gerückten Ehrenmedaille der Oberschule San Anacleto in Havanna bis zum Porträt mit Fermín Valdés Domínguez, der ein Leben lang sein Freund bleiben sollte – sind für meine Fragestellung von geringerer Bedeutung. Es sind eher konventionelle Aufnahmen, die einen dokumentarischen und biographischen Wert besitzen, aber noch nicht der eng umrissenen Funktion eines eigentlichen (Selbst-)Porträts gehorchen.

 Vgl. hierzu den ersten Teil dieser Studie, Kapitel 2.2.  Diesen Aspekt berührte bereits Yuri Guirin: «Martí supo hacerlo: él creó la imagen del ideal histórico con su propia personalidad, su propio comportamiento, al modelar una personalidad ideal en la persona real.» Guirin, Yuri: La idiosincrasia de la literatura hispanoamericana y la individualidad creadora de José Martí. In: América Latina (Moskau) 12 (Oktober 1982), S. 109.

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Dies änderte sich jedoch grundlegend mit jener Aufnahme, die 1870 im Zuchthaus von Havanna entstand. Sie zeigt den jungen Martí in Sträflingskleidung, mit rasiertem Schädel, einen Hut und einer überdimensional wirkenden Gefängniskette, die hinsichtlich seiner Lage als Strafgefangener keine Zweifel an seiner Verurteilung aufkommen lässt (Abb. 1). Es ist laut Martínez Estrada sehr wahrscheinlich, dass Martí zunächst eine Erlaubnis beantragte und dann den Photographen ins Zuchthaus kommen ließ, um ein Porträt von sich anfertigen zu lassen. Wir wissen aber nichts darüber, ob es an diesem infernalischen Ort, an dem viele Sträflinge ihr Leben ließen, einen besonderen Platz für die Aufnahme von Photographien gab. Fest steht aber, dass der damals siebzehnjährige Häftling Martí seinen linken Arm auf einer dorischen Säule abstützt, einer durchaus üblichen und zeittypischen Requisite, die aber wohl zu groß sein dürfte, als dass sie der Photograph aus dem Atelier mitgebracht haben könnte. Inmitten eines Raumes, in dem ihn die kolonialspanische Obrigkeit auf Kuba eingekerkert hatte, präsentiert sich uns der junge Martí in einer Pose, deren Konventionalität, ja Alltäglichkeit etwas Anrührendes hat, aber auch viel über die ikonographischen Konventionen einer Gesellschaft aussagt, die aus nichtigem Anlass einen gerade erst sechzehn Jahre alt gewordenen überzeugten Anhänger der Unabhängigkeit Kubas für sechs Jahre in ein Gefängnis mit verschärfter Zwangsarbeit steckte. Zwei Aufschriften finden sich auf diesem Photo, das der junge Mann seiner Mutter widmete. Unter dem Bild lässt sich die Eintragung «1. Brigade – 113»281 entziffern, womit die Kennung des Gefangenen bezeichnet ist. Und auf der Rückseite findet sich ein Gedicht, das Martí ebenfalls seiner Mutter zueignete: Schau mich an, Mutter, und weine nicht um Deine Liebe: Wenn ich als Sklave meines Alters und meiner Doktrinen Dein Märtyrerherz so sehr mit Dornen füllte Dann Denk’ dass zwischen Dornen Blumen blühen. Mírame, madre, y por tu amor no llores: Si esclavo de mi edad y mis doctrinas, Tu mártir corazón llené de espinas, Piensa que nacen entre espinas flores.282

 Zitiert nach Quesada y Miranda, Gonzalo de: Iconografía martiana. La Habana: Oficina de Publicaciones del Consejo de Estado y Editorial Letras Cubanas 1985, S. 16.  Martí, José: I Brigada-113. In (ders.): PCEC 2, S. 15. Die in der Iconografía von Quesada y Miranda angegebene Fassung des Gedichts enthält eine Unterschrift («J. MARTI»), die in dieser kritischen Ausgabe seiner Lyrik fehlt.

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Das Ineinandergreifen von Bild- und Schrifttext, von Photographie und Gedicht, schafft einen Ikonotext im engsten Sinne, eine intermediale Bild-TextVerbindung, in der beide «Schrift»-Medien, Tinten- und Lichtschrift, nicht mehr auseinandergerissen werden können. Diese poesía circunstancial, diese Gelegenheitsdichtung also, ist zusätzlich mit der Angabe «Presidio, 28 de agosto de 1870», versehen, als müsste die Authentizität des Zuchthausaufenthalts noch einmal bestätigt werden. In der dichterischen Widmung aber fällt der sakralisierende Gestus ins Auge, der zugleich ein biographisches Element (das geringe Alter des Sohnes) und die intellektuelle Dimension (die Überzeugungen des Häftlings) hervorhebt, um die geliebte Mutter zu trösten. So wird eine intime Wechselbeziehung zwischen dem «mártir corazón» der Mutter und dem Sohn hergestellt, dessen Photo seinen eigenen Zustand als Opfer und Märtyrer gut einfängt – eine Wechselbeziehung, von welcher der Vater des Gemarterten ausgeschlossen bleibt. Die klangliche Nähe zwischen «mártir» und dem Nachnamen des Dichters evoziert außerdem einen Nachklang, der die selbstbezügliche, (auto)biographische Emotionalität des Gedichtes noch steigert. Die Bezeichnung der Mutter als Märtyrerin reflektiert akustisch den Namen ihres Sohnes, der schon bald nach seinem Tod und bis heute als Martír bezeichnet werden sollte.283 Es zeigen sich keinerlei Brüche zwischen Photographie, Gedicht und realer Person: Die mit bild- und schrifttechnischen Mitteln hergestellte Identifikation scheint vollständig.284 Einen weiteren Abzug des Bildes schickte Martí an seinen jungen Freund Fermín Valdés Domínguez, der mit ihm festgenommen und in La Cabaña inhaftiert worden war. Er trägt das gleiche Datum, die gleiche Ortsangabe, und die Widmung bestand aus den folgenden vier Zeilen: Bruder im Schmerz, sieh doch niemals In mir den Sklaven, der feige weint: – Bick’ auf das starke Bild von meiner Seele Und auf die schöne Seite meiner Geschichte.

 Vgl. hierzu den ersten Teil dieser Studie, Kapitel 2.2.  Eine vergleichbar enge Verbindung zwischen Schrift- und Bildtext findet sich bereits in der ersten mit Widmung versehenen Photographie, von der wir wissen. Sie stammt vom 12. Juni 1869 und enthält eine Widmung an die Tochter seines verehrten Lehrers Rafael María de Mendive; ihre beiden letzten Verse lauten: «Como un testigo a su virtud le envío / Mi pobre canto y el retrato mío.» Martí, José: A Paulina. In (ders.): PCEC 2, S. 11. Erstaunlicherweise ähnelt dieses Portrait den anderen Bildern kaum; die Widmung aber lässt keinen Zweifel an Martís Identität. Die photographische Repräsentation scheint sich aus dieser Sicht der schriftstellerischen geradezu unterzuordnen.

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2. Hauptstück: Die Bilder der Macht

Hermano de dolor, – no mires nunca En mí al esclavo que cobarde llora; – Ve la imagen robusta de mi alma Y la página bella de mi historia.285

In gewisser Weise erhellen sich die beiden Widmungen gegenseitig, indem die zweite jenen Status eines «Sklaven» leugnet, den die Widmung an die Mutter gerade unterstrichen hatte. Die Variation einiger lexikalischer Elemente, die in den Anfangsversen beider Widmungen vorkommen («mirar», «llorar», «esclavo») belegen, dass sich Martí seiner Verantwortung vor der eigenen Geschichte wohl bewusst war.286 So tritt die photographische Darstellung neben Martís Handeln und seine Verse: Der skripturale, aktantielle und ikonische Text bilden eine Einheit, die unauflöslich zu sein scheint und ein Spezifikum nicht nur der Martí’schen Gefängnisliteratur ausmacht. Überdies schreibt sich die biographische Emotionalität in einen größeren Kontext ein, indem ein vergänglicher Augenblick als Momentaufnahme in die Perspektivik – und den plot – eines ganzen Lebens eingerückt wird.287 Gerade diese Projektion aber ist der Schlüssel zu der fiktionalen Dimension, die sich subversiv in die Dokumentation einer realen Aktion und einer realen Passion hineinschmuggelt. Sie stellt die identitätsstiftende Einheit der drei Textarten in Frage, und zwar von der Seite des Schrifttextes her: Dieser stellt den flüchtigen Augenblick in den Rahmen der Geschichte, folglich in eine interessengeleitete, über die Fakten gespannte Konstruktion, die dem Partikularen den wahren, allgemeinen Sinn verleihen soll. An dieser Stelle rückt, diesmal von der Seite des ikonischen Textes her, ein weiteres verstörendes Element in den Vordergrund: die Pose. Die von der ikonographischen Konvention erzeugte Spannung hat ähnlich wie der geschriebene Text etwas Irritierendes, was – von Martí ungewollt – die Spontaneität und Authentizität des Photos untergräbt, ohne sie doch ganz zu zerstören. Auf

 Martí, José: [A Fermín Valdés Domínguez]. In (ders.): Poesía completa. Edición crítica, a.a. O., S. 15; in der Iconografía martiana erscheint auch dieses Gedicht mit der Unterschrift «J. MARTI».  Im letzten Vers des Widmungsgedichtes an Fermín Valdés Domínguez könnte man eine Anspielung auf jene Anekdote (oder Legende) erkennen, der zufolge der gemeinsam mit seinem Freund angeklagte Martí die ganze Schuld auf sich genommen habe.  Diese Einheit existierte noch nicht in der ersten Photographie, die Martí aus der Haft seinem Freunde widmete. Mit größter Wahrscheinlichkeit handelte es sich hierbei um ein Photo, das vor jenen Ereignissen gemacht wurde, die den jungen Kubaner ins Gefängnis und danach in die Verbannung führen sollten. Hier erscheint die dramatische Einheit, wie sie in der Widmung vom 9. Juni 1870 zum Ausdruck kommt, zwar als angestrebt, wird aber noch nicht erreicht. Möglicherweise führte dieses Ungenügen zum Entschluss Martís, sich im Gefängnis selbst photographieren zu lassen.

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Abb. 2: Variante von Abb. 1. In: Martínez Estrada, Ezequiel: Martí revolucionario. La Habana 1967, zwischen S. 16 u. 17.

Abb. 3: Variante von Abb. 1. In: Zéndegui, Guillermo de: Ambito de Martí. La Habana: Publicaciones de la Comisión Nacional Organizadora de los Actos y Ediciones del Centenario y del Monumento de Martí 1954, S. 42.

diese Weise enthüllt oder – phototechnisch gesprochen – entwickelt das Photo den Bruch, der Artefakt und Existenz, Inszenierung und Inszenierten voneinander trennt: Sein Charakter als Re-Präsentation wird augenfällig. Die Pose ist jenes Element, das – erst einmal bewusst geworden – die Illusion des Betrachters zunichtemacht, Zeuge eines Fragmentes der Realität zu sein. Dies betrifft sogar die schwergewichtige Kette des Sträflings und führt zu etwas, das wir die Dramatik, wenn nicht gar die Theatralik dieses Porträts nennen könnten. Dies wirft auch ein erhellendes Licht auf die Verwandlungen, die dieses Porträt im Prozess der Ikonographie Martís erfahren hat. Manchmal wird einfach die Säule wegge-

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lassen, wodurch Martís linker Arm in der Luft schwebt. Diese leicht absurde Haltung bildete die Voraussetzung und den Anreiz dafür, einen neuen ikonographisch auswertbaren Kontext zu schaffen, der den jungen Gefangenen direkt an den Ort seiner Qualen versetzte, die Steinbrüche der Canteras de San Lázaro (Abb. 2 u. 3),288 die Martí in seinem 1871 im madrilenischen Exil veröffentlichten El presidio político en Cuba so meisterhaft beschrieben hat.289 In diesem Text, der nicht nur zum Verständnis des jungen Martí, sondern auch der ethischen und psychologischen Basis seines politischen wie dichterischen Diskurses grundlegend ist, vertiefte der aus Kuba in die Madre Patria Verbannte jene Thematik, die in den beiden erwähnten Widmungen zu seinem Sträflingsbild bereits angeklungen war. Auf den letzten Seiten des Presidio häufen sich die Verweise auf die Märtyrer in den Steinbrüchen, denn: «In der Tat ist das Martyrium etwas Göttliches» (OCES I, 86). Doch ist es die Anrufung der Mutter (und die Anrufung aller Mütter von Märtyrern), mit der der letzte Abschnitt des Buches, das zwölfte Kapitel, anhebt: Ach, und so viele sind gestorben! Und so viele Söhne gehen im Schatten der Nacht in die Steinbrüche zum Weinen, dort, unter dem Stein, von denen sie annehmen, dass der Geist ihrer Eltern ruht! Und so viele Mütter haben den Verstand verloren! Mutter, Mutter! Und wie fühle ich Dich in meiner Seele leben! Wie inspiriert mich die Erinnerung an Dich! Wie verbrennt meine Wangen die bitterste Träne Deines Gedächtnisses! Mutter! Mutter! So viele Mütter weinen, so wie Du weintest! So viele verlieren den Glanz ihrer Augen, wie Du ihn verloren hast! Mutter! Mutter! ¡Y tantos han muerto! ¡Y tantos hijos van en las sombras de la noche a llorar en las canteras sobre la piedra bajo la que presumen que descansa el espíritu de sus padres! ¡Y tantas madres han perdido la razón! ¡Madre, madre! ¡Y cómo te siento vivir en mi alma! ¡Cómo me inspira tu recuerdo! ¡Cómo quema mis mejillas la lágrima armaguísima de tu memoria! ¡Madre! ¡Madre! ¡Tantas lloran como tú lloraste! ¡Tantas pierden el brillo de sus ojos como tú lo perdiste! ¡Madre! ¡Madre! 290

 Es existieren mindestens zwei Fassungen einer Resituierung Martís in den Steinbrüchen von San Lázaro: vgl. Schnelle, Kurt: José Martí. Apostel des freien Amerika. Leipzig – Jena – Berlin: Urania-Verlag 1981, S. 39; sowie Zéndegui, Guillermo de: Ambito de Martí. La Habana: Publicaciones de la Comisión Nacional Organizadora de los Actos y Ediciones del Centenario y del Monumento de Martí 1954, S. 42.  Vgl. hierzu Weinberg, Liliana: José Martí: entre el ensayo, la poesía y la crónica, S. 17–35.  Martí, José: OCEC 1, S. 85.

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Vergessen wir nicht, dass sich hinter der moralischen Anklage einer Anrufung der Mutter die Tatsache versteckt, dass Martí beschloss, in Spanien Rechtswissenschaften zu studieren, und zwar nicht, um ein reicher Rechtsanwalt zu werden, sondern um juristisch geschult die Unterdrückten verteidigen zu können.291 In El presidio político en Cuba befindet sich Martí in der Rolle des Anklägers gegen den spanischen Staat. Auf die Anrufung der Mutter antwortet, als wäre es ein fernes Echo der Widmung, ein siebenmal wiederholtes «Schaut, schaut!». Diese Ausrufe richten sich nicht mehr an die Mutter, sondern an die Spanier, die im Text als bluttriefende Gestalten erscheinen, gezeichnet von ihren Verbrechen in ihrer kubanischen Kolonie.292 Der im Widmungsgedicht so augenfällige Imperativ («Mírame, madre» – «Sieh mich an, Mutter»), der die Leserin des Gedichts und der Photographie innerhalb des sakralisierten Kontextes zur Augenzeugin eines Schicksals, einer individuellen Geschichte machen wollte, wird jetzt zu einem bitteren Schrei («Mirad, mirad»), gerichtet an ein ganzes Volk, das die Freiheit eines anderen Volkes missachtet. Es sind dieselben lexikalischen Elemente, die im Widmungsgedicht an die Mutter wie in El presidio político en Cuba, – wenn auch dort innerhalb eines weiter gespannten (kolonial-)politischen Kontexts – die gleiche semantische Aufladung bei der Vermittlung autobiographischer Zusammenhänge erzeugen, und sie stellen eine sehr direkte intratextuelle und zugleich intermediale Beziehung her zwischen dem Photo, den Widmungen und der im Exil veröffentlichten politischen Schrift. Vor diesem Hintergrund erklärt sich die große Versuchung, den jungen Martí auf dem Photo gleich in die Steinbrüche zu verfrachten, seine Pose zu vertuschen und auf diesem Weg Text und Leben in eins zu setzen. Bei diesem Vorgehen, bei der Dekontextualisierung und der nachfolgenden Rekontextualisierung des Sträflings, wird ein neuer Rahmen geschaffen, in dem das Martí-Bild neu definiert wird und eine zusätzliche Ausstrahlungskraft erlangt. Damit aber wirft die vertuschte Pose die Frage nach der Problematik des Rahmens auf. Mit dem Bild von Martí in Sträflingskleidung wird nicht nur eine Linie oder Serie innerhalb seiner Ikonographie begründet; vielmehr offenbart sich uns hier eine grundlegende Schwierigkeit, die es zu behandeln gilt, will man die ikonischen Texte Martís ad-

 Weinberg, Liliana: José Martí, S. 33.  In diesen Ausrufen und Schreien schwingt eine Drohung mit, die sich in dem bereits 1868 begonnenen Krieg gegen Spanien, der später als der Zehnjährige Krieg in die Geschichtsbücher eingehen sollte, konkretisiert: «y las lágrimas de los mártires suben en vapores hasta el cielo, y se condensan; y si no la detenéis, el cielo se desplomará sobre vosotros.» (OCEC 1, S. 87).

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äquat verstehen: die theoretisch problematische Problematik des Rahmens und der Rahmung.293 Innerhalb einer gesamten Ikonographie können die Unschärfen oder Leerstellen ebenso wichtig sein wie die existierenden Photographien selbst. So auch bei José Martí. Wir besitzen kein einziges Photo vom ihm mit seinem Vater oder seiner Mutter. Kein Bild zeigt ihn mit seinen Schwestern oder mit seiner Frau Carmen Zayas Bazán, die er Ende 1877 in Mexiko heiratete, und auch keines, das ihn zusammen mit Carmen Miyares porträtiert hätte, jener Frau, mit der er über Jahre in ihrem Haus in New York zusammenlebte. Ein wichtiger Teil seines Lebens, vor allem der der Liebe in all ihren Facetten, scheint dem Objektiv der camera obscura verschlossen geblieben zu sein oder wurde ganz einfach wegretuschiert. Fraglos müssen wenigstens einige Bilder des jungen Ehepaares existiert haben, als das spätere eheliche Zerwürfnis noch nicht abzusehen war. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich sowohl die Leerstellen wie die auch ikonographischen Dokumente, über die wir heute verfügen, denselben Intentionen verdanken. So besehen muss man sich fragen, ob Martí, der spätere Kopf des antikolonialen Kampfes und als solcher zentrale Figur des öffentlichen Lebens im kubanischen Exil, nicht der erste Zensor seiner selbst gewesen ist. In seiner Analyse von Martís berühmten Versos sencillos schrieb der uruguayische Literatur- und Kulturtheoretiker Ángel Rama, der nicht im Verdacht steht, eine Liebes- und Skandalbiographie des kubanischen Nationalhelden im Schilde zu führen, wir wüssten kaum etwas über dieses Intimleben des Dichters.294 Und er fügte hinzu, die Heiligsprechung des Helden Martí könne erklären, warum es an psychoanalytischen Lektüren seines Werkes mangele.295 Dies darf man sicherlich auf die gesamte Ikonographie Martís ausdehnen: Das Bild des Maestro, des Apostels, des Märtyrers, des Helden ließ keinen Raum für die Dokumentation des familiären wie des intimen, des ehelichen wie des außerehelichen Lebens. Weiteste Teile des Lebens Martís sind bewusst aus seiner Ikonographie ausgeblendet, das sie nicht ins Bild des Apostels, des Märtyrer, des politischen Denkers und Streiters im antikolonialen Kampf zu passen schienen.

 Vgl. zum theoretischen Hintergrund etwa Carroll, Sandra / Pretzsch, Birgit / Wagner, Peter (Hg.): Framing Women. Changing Frames of Representation from the Enlightenment to Postmodernism. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2003.  Rama, Ángel: Indagación de la ideología en la poesía (Los dípticos seriados de Versos sencillos). In: Revista iberoamericana (Pittsburgh) XLVI, 112–113 (julio–diciembre 1980), S. 384: «Poco sabemos de esta zona íntima de la vida del poeta […].»  Ebda.: «La sacralización del héroe Martí puede explicar la escasez de lecturas psicoanalíticas de su obra.»

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In der öffentlichen Figur Martís war bildhaft die figura einer späteren figuralen Geschichtsdeutung296 bereits angelegt. Aber es gibt Ausnahmen. Die erste mag – wenn auch nur auf den ersten Blick – eine metaphorische sein. Es handelt sich um jene Photographien, auf denen Martí ab 1869 gemeinsam mit Fermín Valdés Domínguez erscheint. Martís Widmungen formen diese Männerfreundschaft zu einer wahren Bruderschaft um: In jener vom 12. Juni 1869 sprach er von Fermín als «dem besten Freund, dem guten Bruder»,297 und die bereits erwähnte Widmung seines Sträflingsphotos beginnt damit, dass er ihn als seinen «Schmerzensbruder» («Hermano de dolor») bezeichnet.298 Familie, das heißt für Martí nicht nur Blutsverwandtschaft, sondern auch die Beziehung zu dem guten Freund, mit dem er Leid und Ideale teilt. Die Photographien mit Fermín Valdés Domínguez passten sehr gut in das angestrebte Bild eines unermüdlichen Kampfes für die Unabhängigkeit Kubas und blieben so in der Ikonographie Martís erhalten.

Abb. 4: Martí mit seinem Sohn José Francisco, Zinkographie, angefertigt in La Habana, 1879. In: Quesada y Miranda, Gonzalo de (Hg.): Iconografía Martiana, La Habana: Editorial Letras Cubanas La Habana 1985, S. 31.

Ebenso kann es kein Zufall sein, dass in vielen Texten Martís der Männerfreundschaft die gleiche Wichtigkeit zugeschrieben wird wie der (ehelichen, physischen oder – im Sinne Martís – «fleischlichen») Liebe, wobei im Verlauf seines Lebens die Freundschaft immer mehr an Gewicht gewann. Bereits in der ersten Fassung

 Zum Begriff der Figuraldeutung vgl. Auerbach, Erich: Figura. In (ders.): Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie. Bern – München: Francke Verlag 1967, S. 55–92. Vgl. hierzu die neuere, von Auerbach ausgehende Potsdamer Habilitationsschrift von Gwozdz, Patricia: Ecce figura (2022), die 2023 in der Reihe Mimesis erscheinen wird.  Quesada y Miranda, Gonzalo de: Iconografía martiana, S. 10.  Ebda., S. 16.

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2. Hauptstück: Die Bilder der Macht

Abb. 5: Variante von Abb. 4. In: Mariel (New York) 11, 8 (invierno de 1985), S. 1.

Abb. 6: Zinkographie von Martí mit seinem Sohn José Francisco, angefertigt wahrscheinlich in New York, 1880.

seines Theaterstückes Adúltera verweisen die Namen der auftretenden Personen, wie wir sahen, auf die (ethische) Bewertung der menschlichen Beziehungen; die vier dramatis personae sind: der Ehemann namens Grössermann, der Freund namens Güttermann, der Liebhaber Pössermann, und die Frau heißt bezeichnenderweise Fleisch.299 In der zweiten, unvollendeten Fassung von Adúltera lauten die

 Martí, José: OCEC 1, S. 132.

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Abb. 7: Photographie von Martí mit seinem Sohn José Francisco, aufgenommen in New York, 1885.

Namen dann Grosman, Freund, Pesen und – bezeichnenderweise die einzige Konstante in Martís Namensgebungen – wiederum Fleisch. Auf misogyne Aspekte im Denken Martís werde ich zurückkommen. Dass Martí die Männerfreundschaft in seinen späteren Lebensjahrzehnten zum eigentlichen Ideal erhob, ist unbestreitbar. Doch schon früh schrieb er in einem seiner Bolletines unter dem Pseudonym Orestes, das das antike Ideal der Männerfreundschaft zwischen Orest und Pilades aufruft: «Die Freundschaft ist ebenso schön wie die Liebe: Sie ist die Liebe selbst, aber ohne die bezaubernden Veränderlichkeiten der Frau.»300 Die zweite Ausnahme von der Ausblendung der Familiensphäre aus seiner Ikonographie betrifft die Bilder, die Martí mit seinem Sohn zeigen und mit jenem Mädchen, das er oftmals mi hijita, «mein Töchterchen», nannte. Das erste Photo dieser Serie wurde in Havanna aufgenommen und zeigt ihn mit seinem Sohn José Francisco. Es ist das vielleicht «intimste»301 Bild von Martí: Es präsentiert ihn mit

 Martí, José: OCEC 2, S. 171: «La amistad es tan hermosa como el amor: es el amor mismo, desprovisto de las encantadoras volubilidades de la mujer.»  Dies dürfte der Grund dafür sein, warum diese Photographie mehrfach in unterschiedlichen Rahmen verwendet wurde. So erscheint dieses Bild beispielsweise auf der ersten Seite der Martí gewidmeten Sondernummer der exilkubanischen Zeitschrift Mariel (II, 8, invierno de 1985). Die Absicht, ein neues Martí-Bild zu entwerfen, könnte die Herausgeber der Zeitschrift bewogen haben, dieses Photo zu dekontextualisieren. Dabei wurde dieses Bild nicht nur spiegelverkehrt abgedruckt, sondern grundlegend «bearbeitet»: Mit Hilfe der Magie des Retuschierens ist das Söhnchen gänzlich verschwunden und überlässt einem Martí das Feld, der weitab des ursprünglichen Rahmens lächelt (Abb. 5). Auf die Problematik des Rahmens in der Ikonographie Martís komme ich später ausführlicher zurück.

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entspannten Zügen, wie er mit dem Kind auf den Knien spielt (Abb. 4). Nach einem Porträt, das – wie Gonzalo de Quesada y Miranda vermutete302 – wohl 1880 in New York (Abb. 6) in Zinktechnik angefertigt wurde, gibt es ein drittes und letztes Bild von Vater und Sohn, das aus der Zeit der Ehekrise stammen und wohl um 1885 wiederum in New York aufgenommen sein dürfte (Abb. 7). Es ist das konventionellste der drei Bilder Martís mit seinem Söhnchen, und es wirkt offiziell, weil die beiden im Kontext der wie selbstverständlich arrangierten Standardaccessoires der Zeit ein wenig wie Fremdkörper wirken, hineingestellt in die Konventionen ihrer Zeit. José Francisco war zu jener Zeit bereits zu einer literarischen Figur geworden. Ihm hatte Martí nicht ein Photo, sondern einen ganzen Gedichtband gewidmet, Ismaelillo. Diese innerhalb der Geschichte des hispanoamerikanischen Modernismo später berühmt gewordene Gedichtsammlung, die 1882 in New York erschien, war das Ergebnis seines politischen wie emotionalen Exils, wobei die ersten Gedichte wohl noch in die Zeit der Übersiedlung des Kubaners nach Caracas zurückverweisen. Das Bändchen beginnt mit folgender Widmung: Mein Sohn: Von allem entsetzt, suche ich Zuflucht bei Dir. Ich glaube an die Verbesserung des Menschen, an das zukünftige Leben, an die Nützlichkeit der Tugend, und an Dich. Sagt Dir jemand, dass diese Seiten anderen Seiten gleichen, so sag ihnen, dass ich Dich zu sehr liebe, um Dich derart zu profanieren. So, wie ich Dich hier male, so haben Dich meine Augen gesehen. Mit diesen Galaauftritten bist Du mir erschienen. Hörte ich auf, Dich in einer Form zu sehen, hörte ich auf, Dich zu malen. Diese Sturzbäche sind durch mein Herz geflossen. Mögen Sie zu dem Deinen gelangen. Hijo: Espantado de todo, me refugio en ti. Tengo fe en el mejoramiento humano, en la vida futura, en la utilidad de la virtud, y en ti. Si alguien te dice que estas páginas se parecen a otras páginas, diles que te amo demasiado para profanarte así. Tal como aquí te pinto, tal te han visto mis ojos. Con esos arreos de gala te me has aparecido. Cuando he cesado de verte en una forma, he cesado de pintarte. Esos riachuelos han pasado por mi corazón. Lleguen al tuyo! 303

Optische und visuelle Metaphern evozieren das Bild – oder genauer noch: eine Bilderserie – des geliebten Sohnes. Und der Text hinterlässt denselben Eindruck wie eine von Martís Widmungen auf der Rückseite einer seiner Photogra-

 Quesada y Miranda, Gonzalo de: Iconografía martiana, S. 32.  Martí, José: PCEC 1, S. 17.

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phien. Indem der Dichter betont, «was meine Augen gesehen haben», hebt er einerseits die autobiographische Dimension seines Gedichtbandes hervor, um ihm dann andererseits eine gleichsam sakrale Konnotation mitzugeben, die eine direkte Verbindung zwischen den Herzen von Vater und Sohn herstellt. Die christlich geprägte Sakralsprache des Dichters, in welcher von möglichen und abzuwehrenden Profanierungen des Sohnes die Rede ist, ist ebenso auffällig wie bedeutungsvoll. Die ins Auge fallenden Parallelen zu der Widmung des Sträflings an die Mutter sollten uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei dieser Zueignung jenseits des Autobiographischen zugleich um eine immanente Poetik handelt. Wenn die Zeilen des Eröffnungsgedichts von Ismaelillo eine autobiographische Lesart nahelegen («Para un príncipe enano / Se hace esta fiesta»304), wird die poetologische Lesart von hijo um so deutlicher, wenn man sich die symbolische Komplexität vor Augen hält, die der Dichter ab den Zeilen «El para mí es corona, / Almohada, espuela»305 entfaltet. Dies wird in der Gesamtschau des programmatischen Gedichts deutlich: Für einen Zwergenfürsten Ist dieses Fest. Wie ist ein Schöpfchen so blond, Blond und so weich; Über die weißen Schultern Fällt weit sein Haar. Die beiden Äuglein gleichen Schwarzem Gestirn: Sie fliegen, glitzern, sie schwingen, Blitzen hervor! Mir ist er Krone Und Kissen und Sporn. Meine Hand, die sonst doch zähmt Pferde, Hyänen, Folgt, zahm und brav, ganz allein Seinem Gebot. ein düsterer Blick lässt mich fürchten; Wenn er gar klagt,— Wechselt mein Antlitz zu Schnee, Als wär’ ich ein Weib: Sein Blut gießt mir neues Leben In schwache Adern:

 Ebda., S. 19.  Ebda.; vgl. auch Hammitt, Gene M.: Función y símbolo del hijo en el «Ismaelillo» de Martí. In: Revista iberoamericana (Pittsburgh) XXXI, 59 (1965), S. 71–81.

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Mit seiner Lust schwillt mein Blut Oder versickert! Für einen Zwergenfürsten Ist dieses Fest.306

Noch mag im Vorwort das Herz an die Sprache der Romantik erinnern – wir hatten bereits gesehen, dass Martí Topik wie Symbolik des Herzens weitgehend unberührt lässt. Doch in diesen Versen lässt José Martí allen romantischen Gestus hinter sich, führt eine neue Rhythmik und Prosodie ein, entfaltet eine Symbolsprache, die auf Visualisierung setzt, was nur auf den ersten Blick als leichter zugänglich erscheint. Die Sprache einer scheinbaren Einfachheit, ganz wie in seinen berühmten Versos sencillos, ist gefunden. Martís Poetik, die der kubanische Lyriker etwa in seinem Gedicht «Musa traviesa» meisterhaft zu entfalten wusste, führt in ein Paradox, eingefärbt von einem sehr persönlichen Orientalismus, der sich schon im Titel des Werkes andeutet und der die üblichen und konventionalisierten Vater-Sohn-Metaphern umkehrt: «Hijo soy de mi hijo! / El me rehace!»307 – Sohn bin ich meines Sohnes / Er macht mich neu. Ich möchte mich hier nicht mit der Frage nach der Autorität zwischen Vater und Sohn auseinandersetzen, die in diesen Versen aufscheint und poetologisch die Infragestellung von Autorschaft und Autorität des Dichters über sein Buch und seine Gedichte impliziert. Vielmehr will ich unterstreichen, dass die hier vorgeschlagene «Lektüre» der Photos weder die reiche Symbolik des Martí’schen Werkes reduziert noch sich darauf beschränkt, Berührungspunkte zwischen Schrift- und Bildtext aufzuzeigen.308 Im Gegenteil, Hier soll der Zugang zu einer  Martí, José: Príncipe enano / Zwergenfürst (Übers. von Ottmar Ette). In: Köhler, Hartmut (Hg.): Poesie der Welt. Lateinamerika. Berlin: Edition Stichnote im Propyläen Verlag 1986, S. 41.  Ebda., S. 28.  In einer klugen Studie von Martís Ismaelillo erwähnte Enrico Mario Santí die Beziehung zwischen der Zinkographie von 1880 und Martís Gedichtband von 1882, wobei er sich auf Grund der Zielsetzung seiner Arbeit auf eine eher anekdotische Dimension beschränkte: «El motivo central del libro, acaso inspirado en una zincografía de la época en que aparece Martí con su hijo al hombro, es que el niño actúa como el escudo del padre.» Santí, Enrico Mario: «Ismaelillo», Martí y el Modernismo. In: Revista iberoamericana (Pittsburgh) 137 (octubre–diciembre 1986), S. 822. Selbstverständlich wäre es möglich, eine mimetische Beziehung zwischen der erwähnten Zinkographie und einem wichtigen Symbol in der Lyrik Martís herzustellen, wenn man auf eines der beiden existierenden Manuskripte der Zueignung von Ismaelillo zurückgreift. Dort heißt es: «Pasa en poesía, como en pintura. Se debe copiar del natural, y no hacer las figuras de memoria.» (Martí, José: PCEC, S. 48.) Doch würde eine solche Lektüre die Poetik Martís außer Acht lassen, die auch hier bei weitem eine lediglich mimetische Relation übersteigt. Das ut pictura poesis dieser Zeilen verweist bereits auf die hohe poetologische Komplexität dieser intermedialen Beziehungen.

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Abb. 8: Martí und María Mantilla. Tin-type, aufgenommen in der Nähe von Bath Beach, Long Island, New York, 1890.

Abb. 9: Gruppenphoto in Bath Beach, Long Island, New York, 1890.

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Abb. 10: Einziges, von Martí existierendes Ölgemälde des schwedischen Malers Herman Norrman, entstanden 1891.

vergessenen Dimension des Martí’schen Werkes eröffnet werden, zum komplexen Reichtum der intermedialen Beziehungen zwischen geschriebenem und ikonischem Text. Und dies keineswegs ausschließlich in den politischen Texten, wo dieser Zusammenhang leichter zutage tritt, sondern auch in seinem lyrischen Werk, in welchem es zwischen Bild- und Schrifttext zahlreiche, wenn auch meist verborgene ikonotextuelle Bezüge gibt. Vor dem Hintergrund dieser poetologisch motivierten Bild-Text-Relationen lässt sich die relative Häufigkeit der Photos mit den Kindern in Martís Ikonographie besser einordnen und erklären. Denn sie bilden im Kern nicht nur die autobiographischen Bezüge ab, sondern in erster Linie die poetologischen Dimensionen Martí’schen Schreibens. Zu den drei genannten Porträts kommen noch zwei weitere hinzu, die den kubanischen Dichter mit María Mantilla zeigen, jenem Mädchen, das als Tochter von Carmen Miyares gewissermaßen zu seiner eigenen hijita wurde. Wir werden uns mit dieser «familiären» Beziehung später noch ausführlicher zu beschäftigen haben. Beide erhalten gebliebenen Aufnahmen stammen vom selben Ausflug 1890 nach Bath Beach auf Long Island. Das Bild von Vater und Tochter (Abb. 8) wiederholt und variiert in gewisser Weise das Schema vom Kind als Schild des Vaters, wobei der Stern der offenen Hand Martís, die das Mädchen hält, diese Position auf bewegende Weise unterstreicht. Die Nähe der Gesichter von Vater und Kind, die auf der Zinkphotographie von 1880 ganz bewusst gesucht wurde, wiederholt sich auf recht natürliche Weise zehn Jahre später. Dies ist das letzte Zeugnis der Intimität zwischen Vater und Tochter in der Ikonographie José Martís, werden die beiden auf dem zweiten Bild von Bath Beach doch von den Verwandten des Mädchens gleichsam getrennt, wenngleich sich der Kopf des

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Mädchens auch auf derselben Höhe wie jener des Vaters befindet (Abb. 9). Die auf einem Familienausflug nach Bath Beach porträtierte Menschengruppe suggeriert keinerlei familiäre Atmosphäre; in dieser Aufnahme wird eher das Fehlen familiärer Intimität, das Fehlen eines wirklichen Zuhause im Leben des Migranten José Martí deutlich. Das Leben Martís war eine Abfolge von Exilsituationen und Migrationen. Innerhalb der gesamten Ikonographie des großen kubanischen Schriftstellers gibt es nur ein Bild, das den Autor schreibend zeigt: ein einziges Bild, das uns zugleich einen Ort des Schreibens präsentiert, sein New Yorker Büro in 120 Front Street. Es handelt sich um ein kleines Ölgemälde, das nur 30 mal 43 Zentimeter groß ist,309 ein Bild des schwedischen Malers Hermann Norrman aus dem Jahre 1891. Es zeigt Martí am Schreibtisch in seinem Büro (Abb. 10). Die Hauptachse des Gemäldes bilden Martís breite Stirn und seine Hand in Schreibhaltung,310 wobei zugleich ein Spannungsverhältnis zwischen schreibender Hand und Faust ins Blickfeld rückt, auf das noch ausführlicher zurückzukommen sein wird. Zahlreiche dickleibige Bände füllen den linken Bildhintergrund, während im Vordergrund die Hand José Martís die Feder über ein Blatt Papier führt. Die Bücher auf Kopfhöhe sind nicht nur schmückendes Element, sondern verweisen traditionsgemäß auf Kultur und Bildung des Porträtierten. Die Kombination ruft außerdem die direkte Beziehung zwischen dem durch die Lektüre erworbenen Wissen und dem Akt des Schreibens selbst auf. Dieses Bildschema, das bei Schriftstellerporträts häufig zu finden ist, hat dennoch einige Merkmale, die ihm einen besonderen künstlerischen (und menschlichen) Wert verleihen. Das erste Merkmal betrifft bereits die Haltung des Porträtierten. Der sichtbare Teil des Körpers von Martí ist nach vorne gebeugt, als säße er an der Kante eines Stuhles, der freilich nicht zu sehen ist. Schon Nils Hedberg hat in seiner bereits zitierten Untersuchung festgestellt, man bekomme den Eindruck, als ob der Porträtierte aufrecht stünde. Da er zudem seinen immer gleichen Anzug trägt – ein ikonographisches Element, auf das ich noch ausführlich zurückkommen werde –, wirkt Martí, als wäre er bereit, jeden Augenblick hinaus auf die Straße zu gehen. Es ist ganz ohne Zweifel das Porträt eines Mannes, der ständig auf dem Sprung ist.

 Vgl. Quesada y Miranda, Gonzalo de: Iconografía martiana, S. 94; einige vorbereitende Überlegungen und Untersuchungen finden sich in Kapitel 2.5 im ersten Teil dieser Studie.  Nils Hedberg widmete dem Maler und seinem Gemälde eine eher enttäuschende Studie: José Martí y el artista Norrman. Comentarios sobre un retrato. Madrid: Insula 1958; siehe auch Vignier Mesa, Enrique: Norrman: pintor del alba. In: Revolución y Cultura (La Habana) 101 (1981), S. 61–63.

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Das zweite und noch wichtigere Merkmal ist auf den ersten Blick nicht oder nur schwer zu erkennen. An Martís linker Hand erblickt man einen Ring, auf den das Wort Cuba eingraviert ist. Der Autor von El presidio político en Cuba hatte ihn aus seiner Sträflingskette fertigen lassen, eben jener Sträflingskette, die wir auf einer von Martís frühen Photographien so prominent gesehen hatten. Der Porträtierte trägt mithin nicht irgendwelchen Schmuck, sondern ein Zeugnis seines patriotischen Kampfes und seiner fast ehelichen Verbindung mit seiner Heimatinsel, ein Zeichen, das sicher all jenen bekannt war, die sich an seiner Seite für die Unabhängigkeit Kubas engagierten. 1891 war Martí gerade mit der Überwindung der letzten Hindernisse bei der Gründung des Partido Revolucionario Cubano beschäftigt, jener Partei, die in der Tat sein ureigenstes Werk (und Werkzeug) war und dem revolutionären Prozess zur Befreiung aus kolonialer Abhängigkeit die entscheidenden Impulse geben sollte. Nach El presidio político en Cuba zeugt dieses Ölgemälde aus dem Beginn der neunziger Jahre von der kontinuierlichen antikolonialen Spannung des Kubaners zwischen seiner Heimatinsel und der NochKolonialmacht Spanien. Auf eine internationale Ausweitung von Martís Denken weisen lediglich der Entstehungsort des Ölgemäldes und verschiedene Details, die auf das New Yorker Exil aufmerksam machen. An dieser Stelle ist freilich ein kurzer Einschub unvermeidlich. Denn im Jahre 1895, als der vom kubanischen Dichter vorbereitete Krieg ausbrach, kündigte die in Tampa erscheinende Zeitschrift Cuba Martís Ankunft auf der Insel mit der Veröffentlichung einer illustrierten Seite über den Gründer des PRC, des Partido Revolucionario Cubano, an. Gezeigt wurde das Bild eines Gefangenen in Ketten, wenn auch mit falschen Zeitangaben (Abb. 11).311 Selbstverständlich handelte es sich um die uns bereits bekannte Photographie des Sträflings Martí, der zwei weitere Photos beigegeben wurden, die vermutlich aus dem Jahre 1871 stammten.312 Diese Bilder werden von einem Arrangement gerahmt, das aus der Kubanischen Fahne besteht, dem Stern der Unabhängigkeit, verschiedenen Flinten, Gewehren, Bajonetten und Macheten der Befreiungskämpfer vor dem Hintergrund einer stilisierten Landschaft, in der die Königspalme dominiert, jenes Symbol Kubas, das auch in Martís Schriften stets von so großer Bedeutung war. Das Fundament dieser Bildmontage stellt ein Buch dar, in dem man die Bases del Partido Revolucionario Cubano erkennen kann, die im Wesentlichen von Martí verfasst und im Januar 1892 von den kubanischen Emigranten von Cayo  Vgl. Iconografía del apóstol José Martí. Editada por la Secretaría de Instrucción Pública y Bellas Artes. La Habana: Impr. El Siglo XX 1925, Bild 30.  Diese Photographien wurden reproduziert in Quesada y Miranda, Gonzalo de: Iconografía martiana, S. 19 und 21.

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Abb. 11: Illustriertes Blatt aus der Zeitschrift Cuba, das die Ankunft Martís auf der Insel ankündigt, 1895.

Hueso (Key West) und Tampa angenommen wurden. Der darüber sichtbare Händedruck einer weißen und einer schwarzen Hand symbolisieren die Einheit beider ethnischer Gruppen im Kampf um die Unabhängigkeit Kubas; diese Einheit erschien Martí als unabdingbar, um nicht die Fehler des Zehnjährigen Krieges zu wiederholen. Unter dieser Bildmontage erklärt eine Inschrift, deren biographische Daten ungenau sind: «JOSE MARTI: mit 17 Jahren im Zuchthaus; mit 19 Jahren Abschluss des Philosophie- und Literaturstudiums, und mit 21 deportiert nach Spanien.» Schon zu Lebzeiten Martís wurden Versatzstücke seiner revolutionären Biographie (wahrscheinlich nicht ohne sein Einverständnis) benutzt, um seine Ansprüche auf die Lenkung der politischen Bewegung wie der Befreiungskriege insgesamt zu untermauern.313 Bei der Durchsicht der vorhandenen Zeugnisse

 Zumindest ein weiteres Beispiel sei erwähnt: Im Dezember 1891 veröffentlichte das «Comité Organizador» aus Anlass des bevorstehenden Besuchs Martís in Cayo Hueso ein Manifest, in dem es hieß: «[…] nuestro ilustre compatricio JOSE MARTI, cuya simple historia es sufici-

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findet sich immer wieder, wie häufig ein derartiger Rekurs auf die Vita des Apostels und Märtyrers war, um zugleich Ansprüche auf eine Führungsrolle Martís oder seines Partido Revolucionario Cubano geltend machen zu können. Damit begegnete Martí gleichzeitig Vorwürfen, er habe sich in seinem Exil in Mexiko fein aus der Guerra de los Diez Años herausgehalten, Vorwürfe freilich, die von Martí feindlich gegenüberstehenden Gruppen immer wieder gerne gegen ihn in Stellung gebracht wurden. In diesen Dokumenten und Zeugnissen wie auch anderswo wurde stets jene Einheit hervorgehoben, die ich als Einheit zwischen schriftlichem, ikonischem und aktantiellen Text bezeichnet habe. In der hier beschriebenen Montage der Zeitschrift aus Tampa versucht das ikonographische Schema nicht zufällig, an Hand biographischer Daten und seiner Photos eine Lebensphase zu illustrieren, die von Martís Feinden häufig angegriffen wurde. Vor allem die Veteranen des Zehnjährigen Krieges machten Martí immer wieder seine Abwesenheit im Krieg von 1868 bis 1878 zum Vorwurf und bezogen sich auf einige, ihrer Ansicht nach dunkle Flecken in der Biographie des Gründers des PRC. Man kann ohne Übertreibung sagen: Derlei Vorwürfe verfolgten Martí seit seinem Exil in Mexiko, wo er mehrfach öffentlich angegriffen wurde, bis in seine letzten Lebensjahre und bis zu seinem Tode. Innerhalb dieses Kontexts ist die Polemik zwischen Martí, Roa und Collazo von besonderem Interesse;314 aus Raumgründen kann dem aber nicht weiter nachgegangen werden. Aus all diesen Gründen und Motiven versteht sich besser das Bestreben des illustrierten Blattes, gerade diese drei gezeigten Momente – Gefangenschaft, Studium, Deportation – mit Hilfe «repräsentativer» Photographien zu belegen. Der historische Rahmen (die ikonographische Komposition) wie der biographische Rahmen (die Textinschrift) dominieren die Photos und bewerkstelligen eine sehr wohl intendierte semantische Überdeterminierung. So ließe sich nicht nur erklären, warum gerade Photographien des jungen Martí – und dies ist vielleicht vor allem für den heutigen Betrachter oder die heutige Betrachterin erstaunlich – herangezogen wurden, sondern auch die Tatsache begreifen, dass die Pose des Sträflings und mehr noch die konventionelle Pose des Studenten zumindest in den Augen der exilkubanischen Redakteure in Tampa nicht die revolutionäre Stoßrichtung der gesamten ikonischen Montage unterliefen.

ente á justificar su idoneidad para servirnos de mentor y guía. En los primeros años de su juventud, mereció MARTI la distinción de vestir el traje y de arrastrar la cadena del presidiario político […]»; zit. nach Delofeu y Leonard, Manuel: ¡Souvenir! Remembranzas de un proscripto. Tampa: Imprenta M’Cluney y Co 1900, S. 66.  Vgl. Toledo Sande, Luis: «A pie, y llegaremos». Sobre la polémica Martí-(Roa)-Collazo. In: Anuario del Centro de Estudios Martíanos (La Habana) 9 (1986), S. 141–212.

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Gleichzeitig wirft die Verwendung dieser Photographien das Problem der Verteilung der Martí’schen Photographien im kubanischen Exil auf, ein Aspekt, über den wenig bekannt ist, der aber eindeutig auf das zumindest kooperative Einverständnis des kubanischen Revolutionärs weist. In jedem Falle aber dürfte es sehr unwahrscheinlich sein, dass derartige Photographien, die zwanzig Jahre vor der nochmals verstärkten Arbeit des Delegado des Partido Revolucionario Cubano angefertigt wurden, ohne das Einverständnis und Zutun José Martís zirkulierten. Gleichzeitig stellte die Propagandamontage eine direkte Beziehung her zwischen Studium und Schreiben einerseits und revolutionärer Tat andererseits. Als Grundlage der Republik in Waffen wurden die Bases des PRC Martís proklamiert, des Mentors und Führers der Kubaner, um die Worte des zitierten Delafeu zu gebrauchen. In den nächsten Untersuchungsschritten aber werden wir schon bald sehen, dass dieses ikonographische Schema von 1895 bereits ein Jahr zuvor mit noch größerer Klarheit (und vielleicht auch Überzeugungskraft) angewandt worden war. Aber kommen wir noch einmal abschließend auf das kleine und so aussagekräftige Ölgemälde Norrmans zurück. José Martís Ring315 führt in dieses künstlerische Porträt ein privates, fast intimes und zugleich ein öffentliches und öffentlichkeitswirksames Element ein. Der Ring symbolisiert über die quasi-eheliche Verbindung mit Kuba gleichzeitig die Grundlage eines individuellen Kampfes für Kubas Unabhängigkeit wie auch die kollektive Dimension von Martís antikolonialistischem Handeln. Dabei geht es um die Aktivitäten eines Schriftstellers, eines Denkers, den das Bild mit der Feder in der Hand zeigt. Der Ort des Schreibens, den das Bild konstruiert, ist unspezifisch, und es wäre für einen unvorbereiteten Betrachter unmöglich, diesen Raum geographisch zu situieren. Das Schreiben findet an einem geschlossenen Ort statt, der so gut in Lateinamerika wie in Europa oder den Vereinigten Staaten liegen könnte. Das aus heutiger Sicht auffällige Fehlen jeglicher klärender Hinweise zum Ort des Porträtierten zeigt, dass dieses Detail für Autor und/oder den Maler nicht sonderlich wichtig war. Kein Indiz verrät uns, dass dieser Schreibtisch in Manhattan stand: Wir können dies lediglich aus den historischen Entstehungsbedingungen des Gemäldes rekonstruieren. Kein Fenster öffnet sich nach außen auf eine urbane Landschaft und lässt Straßenzüge, Wasserstraßen oder Wohnblocks erscheinen. Der einzig aufgerufene geographische Raum ist der der abwesenden Heimat – und eben hierin darf man den entscheidenden Punkt erkennen. So fängt dieses Ölge-

 Zur Geschichte dieses Ringes vgl. u. a. Zacharie de Baralt, Blanca: El Martí que yo conocí. La Habana: Editorial Trópico 1945.

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mälde einen Ort des Schreibens ein, der zugleich keinen geographischen Ort hat:316 Es ist das Porträt eines Umhergetriebenen, eines Exilierten. Doch kommen wir nun zu späteren Photographien, die wiederum eine eindeutig politische Bildsprache bedienen. Auf der bereits erwähnten und bei Ausbruch des Unabhängigkeitskrieges sehr verbreiteten Photographie von 1894 erscheint José Martí an der Seite von Máximo Gómez (Abb. 12). Martí sitzt an einem Tisch, den Kopf leicht auf die rechte Hand gestützt, während die Faust des hinter ihm stehenden Gómez auf zwei Büchern ruht, die auf dem Tisch liegen. Wie für jeden Betrachter deutlich zu erkennen ist, befinden sich in seiner unmittelbaren Nähe ein Exemplar der Zeitschrift Patria, ein geöffnetes Buch sowie ein Tintenfass mit Feder. Diese Gegenstände, die wie auf Norrmans Ölbild auf einen Ort des Schreibens verweisen könnten, fungieren hier zunächst als emblematische Verweise auf das Schreiben und die intellektuelle Tätigkeit ganz allgemein. Die Bücher und die Zeitung verweisen nicht auf das Schreiben, auf die Produktion, sondern auf das Produkt, folglich die Ergebnisse des Schreibens: den antikolonialen Kampf.

Abb. 12: Martí und General Máximo Gómez in New York, 1894.

Einerseits war die Zeitung Patria bekanntermaßen das offizielle Parteiorgan des Partido Revolucionario Cubano. Ihr Herausgeber und Redakteur war kein anderer als José Martí selbst. Die leicht identifizierbare Ausgabe dieser Zeitung evoziert

 Keine Photographie, keine Zeichnung präsentiert uns einen Martí, der – wie er dies so oft tat – während seiner Reisen im Zug oder auf dem Dampfschiff schrieb. Wir besitzen allein eine Zeichnung von Bernardo Figueredo Antúnez, die uns einen Martí zeigt, der auf seiner politischen Reise durch Florida auf seinem Sitzplatz im Zug eingeschlafen ist; vgl. Quesada y Miranda, Gonzalo de: Iconografía martiana, S. 101.

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zusammen mit den Schreibutensilien die Autorschaft Martís, eine sehr direkte und transparente Anspielung für alle Kubanerinnen und Kubaner, die auch nur entfernt etwas mit der Unabhängigkeitsbewegung zu tun hatten. Andererseits sollten wir die Landkarte Kubas nicht vergessen, die hinter den beiden an der Wand hängt und aus der Kameraperspektive General Gómez näher ist. Erneut fehlt jeglicher Hinweis auf den Ort, an dem sich die beiden Personen befinden könnten: Der einzige Raum, auf den angespielt wird, ist das abwesende Vaterland, doppelt aufgerufen durch die Karte an der Wand und den Zeitungstitel Patria auf dem Tisch. Wenn das erste Produkt des Schreibens ein Buch oder eine Zeitschrift ist, so sind diese doch nichts weiter als ein Zwischenschritt zum zweiten, dem eigentlich angestrebten Ergebnis, dem letzten Ziel des Schriftstellers: die Befreiung des abwesenden Vaterlandes Kuba vom Exil aus. Máximo Gómez und José Martí blicken in die Ferne: der General mit offenen Augen und entschlossenem Blick; der Schriftsteller vielleicht etwas versonnen und in sich gekehrter. Sowohl die Haltung des dominikanischen Militärführers, der schon im Zehnjährigen Krieg gegen die Spanier und für Kubas Unabhängigkeit gekämpft hatte, als auch die Haltung des jüngeren Schriftstellers suggerieren im Einklang mit den emblematischen Gegenständen nicht nur die entschlossene Einheit zwischen den Kämpfern von 1868 bis 1878 und denen, die Martí einmal die pinos nuevos, die jungen Pinienbäume nannte; sie verweisen auch auf die Komplementarität der revolutionären Anstrengungen dieser beiden Leitfiguren des antikolonialen Kampfes. José Martí erscheint auf dieser Photographie (beziehungsweise Photomontage) als der Kopf der Bewegung,317 während Gómez die Faust des Krieges um die Befreiung der Insel verkörpert, jene Faust, die allerdings auf dem Buch als der Grundlage, gleichsam den Bases, allen Handelns ruht. Wir haben es mit einer willentlich und intentional ins Bild gesetzten Einheit von Denken und Handeln zu tun. Es gibt nicht den geringsten Zweifel daran, dass es sich bei dieser Photographie um eine Propagandaaufnahme handelt. Bei einer aufmerksamen Untersuchung dieser Darstellung zeigt sich, dass das Bild möglicherweise aus zwei Photographien zusammengestellt oder montiert wurde. Die Autorschaft zweier Photographen, aber auch eine ganze Reihe weiterer Indizien könnten diese These leicht erhärten.318 Eines dieser Indizien ist eine senkrecht hinter Martís

 Ich kann an dieser Stelle leider nicht auf die aufschlussreiche Beziehung zwischen dieser Funktion und dem Selbstbildnis Martís eingehen, das den kubanischen Schriftsteller mit einem absichtsvoll vergrößerten Kopf darstellt; vgl. Quesada y Miranda, Gonzalo de: Iconografía martiana, S. 113.  Vgl. hierzu bereits die diesbezüglichen Anmerkungen in der frühen Iconografía del apóstol José Martí, Bild 20, wo es heißt: «Ciertos detalles de la fotografía hacen pensar que se no se

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Kopf verlaufende Linie, die wohl die Ecke des Raumes markieren, aber auch die verräterische Spur einer geschickten Montage sein könnte.319 Möglicherweise handelt es sich auch – wie in der Iconografía del apóstol José Martí angedeutet – um die Kopie der Zeichnung eines gewissen Fräulein Bosch, die in diesem Fall über ein Photo José Martís verfügt haben muss, das als solches nicht erhalten blieb.320 Sollte eine dieser beiden Hypothesen – Photomontage oder Kopie einer Zeichnung – zutreffen, so würde sie die oben vorgeschlagene Interpretation zusätzlich unterstützen, da es sich in diesem Falle unzweifelhaft um eine Darstellung im Dienste der Kriegs- und Unabhängigkeitspropaganda handelt. Erstmals wird hier ein Grundmuster aufgerufen, das viele Jahre später für die kubanische Revolution enorm wichtig werden sollte: die Präsentation José Martís als geistigem Autor der Revolution. Der Begriff der nach 1959 hundertfach wiederholten Rede vom autor intelectual findet in dieser Montage seine ikonische Entsprechung.

Abb. 13: Fulgencio Batista.

trata realmente de un grupo tomado directamente, sino de una composición fotográfica que sirvió a la señorita Bosch para dibujar su creyón. El hecho de que haya dos fotógrafos que pueden disputar la impresión de la plancha original, robustece la idea de que se trate de una composición y no de una fotografía directa.»  Diese Linie ist in allen von mir herangezogenen Fassungen sichtbar, tritt aber am deutlichsten in einer (allerdings inversen) Reproduktion dieser Photographie in La Gran Enciclopedia Martíana (Edición de Ramón Cernuda, con ilustraciones. Bd. I. Miami: Editorial Martíana 1978, S. 217) auf.  So die zutreffende Anmerkung von Gonzalo de Quesada y Miranda in seiner Iconografía martiana, S. 82.

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Abb. 14: Fidel Castro.

Abb. 15: Konterrevolutionäre Kommandanten in einem Ausbildungslager in Florida.

Auch wenn es in diesem zweiten Teil unserer Studie nicht um die Rezeptionsgeschichte Martís geht, sei doch der Hinweis erlaubt, dass dieses nach 1959 immer wiederkehrende Bildmuster einer figuralen Geschichtsdeutung, die Martí nachträglich in den Vorläufer Fidel Castros verwandelte, bereits von Martís Partido Revolucionario Cubano genutzt wurde. Vom Porträt Gómez-Martí ließe sich über das bereits besprochene Arrangement der Zeitschrift Cuba eine Linie ziehen zu späteren Rückgriffen auf dieses Schema ebenso beim Diktator Fulgencio Batista (Abb. 13) wie beim jungen Fidel Castro (Abb. 14) oder bei Kommandeuren konterrevolutionärer Verbände (Abb. 15). Blieb das semantische Schema im Grunde auch unverändert, so ist das ikonographische Schema dieser drei nach-

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folgenden Variationen vom autor intelectual José Martí doch insoweit bemerkenswert modifiziert, als an die Stelle der Karte an der Wand das Porträt Martís hinter dem Kopf dessen gerückt ist, der ihn für sich als Quelle seiner (revolutionären) Inspiration reklamiert. Auf diese Weise gelang die figurale Übertragung Martís auf spätere Generationen, ein wichtiger Aspekt, der in der langen Rezeptionsgeschichte Martís seine ganze Bedeutsamkeit erhielt. Der Gedanke einer Aufteilung zwischen geistigen Urheber und militärischen Führer fand sich bereits mehrfach innerhalb des PRC. General Máximo Gómez etwa versuchte immer wieder, Martí davon abzuhalten, selbst am Krieg in Kuba teilzunehmen, solle der Dichter die Unabhängigkeitsbewegung doch besser von New York aus politisch vertreten. Martí weigerte sich jedoch und kehrte zusammen mit Gómez auf die Insel zurück, um damit zugleich einen der Fehler des 1868 begonnenen Unabhängigkeitskrieges zu vermeiden. So gesehen verweist die ikonische Anspielung auf Patria lediglich auf die Position Martís in seinen zahlreichen Artikeln für sein Parteiorgan. Auf dieser Ebene aber war die Einheit der beiden Führer des antikolonialen Kampfes gegen Spanien schon seit langem brüchig. Allerdings scheint das gemeinsame Porträt nur im Nachhinein betrachtet auf Grund seiner intratextuellen und intermedialen Bezüge die Gefahren einer Trennung und Aufgabenteilung, die den gemeinsamen Kampf in der Tat behindern sollte, bereits in sich zu tragen. Für Ezequiel Martínez Estrada war diese Aufnahme das seltsamste Bild und «die vielleicht künstlichste und geschmackloseste Photographie von allen».321 Höchstwahrscheinlich erklärt sich dieses negative Urteil aus dem Ansatz des großen argentinischen Essayisten, der ja aus den Photos das tiefe Sein Martís herauslesen wollte, durch die leicht erkennbaren Posen, welche die beiden Revolutionäre eingenommen hatten. Der auf die Hand gestützte Kopf sowie der auf einem aufgeschlagenen Buch ruhende Unterarm José Martís verkörpern gewiss sehr schematisch die Haltung des Denkers. An Tiefenpsychologie ist da nicht viel herauszulesen. Denn Natürlichkeit und Spontaneität körperlichen Ausdrucks werden hier der Einstimmigkeit einer politischen Botschaft geopfert. Es handelt sich mit Blick auf beide Akteure ganz offenkundig um eine Inszenierung; und so könnte man – um das Urteil Martínez Estradas zu präzisieren – die Ansicht vertreten, dass es mit Ausnahme der Photographie des Sträflings Martí im gesamten Werk kein Bilddokument gibt, das ihn in einer «künstlicheren» Pose zeigte. Ungeachtet der Frage, ob dieses Bild das Ergebnis einer Photomontage war oder nicht, lässt sich ohne jeden Zweifel sagen, dass es sich bei der Darstellung um ein be-

 Martínez Estrada, Ezequiel: Martí revolucionario, S. 428.

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wusst und wohlberechnet hergestelltes Artefakt handelt, das diese künstliche Bedingtheit, ja sein gesamtes Gemacht-Sein, ja gar nicht verbirgt. In einem modernen Sinne handelt es sich letztlich um ein Propagandaplakat, das gerade einmal ein Jahr vor Beginn des Krieges zum Einsatz kam. Intermedial betrachtet ist die relative Komplexität dieses Plakats zweifelsohne aufschlussreich. In autoreferentieller und intratextueller Hinsicht verweist das Bild nicht nur auf die Zeitschrift Patria im allgemeinen, sondern auf einen Artikel, der in dieser von Martí ebenso aufopferungs- wie absichtsvoll gestalteten Zeitschrift am 16. August 1893 unter dem Titel General Gómez erschienen war. Dieser Artikel aus der Feder José Martís, der die Geschlossenheit der kubanischen Revolutionsbewegung hervorheben sollte, schloss mit dem textuellen Bild des endlich erreichten Sieges: «Und dann wird der ruhmreiche Säbel neben dem Buch der Freiheit liegen.»322 In gewisser Weise nimmt dieses textuell evozierte Bild das spätere photographische Bild vorweg: Es projiziert dieses Bild in einer geradezu kinematographischen Bewegung hinein in die leuchtende Zukunft der später so benannten Guerra de Martí, in welcher ihr Urheber gleich zum Beginn ums Leben kommen sollte. Das Wort Patria, so arrangiert, dass man es leicht entziffern kann, und die Kuba-Karte an der Wand drücken dem Photo seinen propagandistischen Stempel auf. Die Rahmung (das heißt die Bücher, die Zeitschrift, die Karte, der Schreibtisch, die Schreibutensilien) determinieren das Bild semantisch und weisen auf den unausweichlichen Krieg. Es ist ein Bild der künftigen Macht, die bereitsteht, die tatsächliche Macht in Kuba zu übernehmen. Die akratische Ordnung versucht, zur enkratischen zu werden und dabei dem Buchstaben des Geschriebenen, der Bases, getreu zu bleiben, um die neue Patria zu errichten. Dank einer vom Rahmen gesteuerten unilateralen Semantisierung versucht das Bild der Macht die Macht des Bildes zum eigenen Nutzen zu funktionalisieren. Dabei handelt es sich um eine Macht, die – wie die Photos von Batista, Castro oder der Contra in unserer Rezeptionsgeschichte gezeigt haben – gerade wegen ihrer schematischen Schlichtheit auf die kollektive Bildwelt nachhaltig einzuwirken vermochte. Der hier benutzte Begriff des Rahmens bedarf der Klärung. Man könnte ihn – und so habe ich ihn bislang verwendet – im Sinne von Kontext gebrauchen. Der Rahmen bildet eine Art vorgegebener Struktur von (Bild-) Elementen, in die sich ein weiteres Element einschreibt, das man berechtigter- oder unberechtigterweise als zentral begreift, und welches die fixierende Struktur in eine potentiell offene Strukturierung verwandelt. Anders als bei der Problematik unterschiedlicher Kontextualisierungen soll in der vorliegenden Studie jedoch

 Martí, José: General Gómez. In: OC 4, S. 451.

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keine Textmetaphorik Verwendung finden, sondern auf einen Begriff der bildenden Künste zurückgegriffen werden. Was läge hier näher als die Begriffe von Rahmen und Rahmung? Jahrhundertelang wurde der Rahmen in der Kunstgeschichte als das am besten geeignete Instrument verstanden, um das Innere vom Äußeren zu scheiden, oder – denkt man an seinen sakralen Ursprung in der jüdisch-christlichen Tradition – um das Heilige vom Profanen zu trennen. Zugleich aber überwand der Rahmen seine simple Eigenschaft als Trennlinie und wurde zum bevorzugten Ort der Subversion seines trennenden Charakters.323 Wenn der Rahmen in der Kunst im Laufe der Jahrhunderte viel von seiner Wichtigkeit eingebüßt hat, so scheint er in der Photographie nur selten eine wirklich bewusste Bedeutung gehabt zu haben. Denn das Photo benötigt keinen Rahmen, um zu zirkulieren, um gesehen und analysiert werden zu können: Der (zumeist fehlende) Rahmen wird zu einem unbewussten Element, ja bleibt weitgehend unbemerkt. Ich vermute daher, dass es den Leserinnen und Lesern der Iconografía martiana des Jahres 1985 kaum aufgefallen sein dürfte, dass die Bilder, die zumeist über keinen Originalrahmen verfügten, mit einer schmalen schwarzen Linie gerahmt wurden, die sie vom Rest der jeweiligen Seite absetzt. Offenbar ist der Rahmen in der westlichen Kultur für die BeobachterInnen etwas ebenso Unbewusstes wie Notwendiges. Selbstverständlich werde ich mich nicht auf eine Betrachtung des Rahmens in einem engen materiellen Sinne beschränken. Es scheint mir vielmehr wichtig, die Überlegungen Jaques Derridas heranzuziehen, welche er dieser Problematik in seiner Studie La vérité de la peinture gewidmet hat. Im Verlauf seiner Auseinandersetzung mit der Kant’schen Konzeption des Parergon (im Sinne von Beiwerk) übertrug Derrida seine dezentralisierenden Konzepte auf den Bereich der Malerei und hinterfragte die Funktion des Rahmens, die auf den ersten Blick so einfach scheint: das Essentielle vom Nebensächlichen zu scheiden, das Kunstwerk von dem, was nicht zu ihm gehört, abzutrennen: Ich weiß nicht, was in einem Werk essentiell und was zusätzlich ist. Und vor allem weiß ich nicht, was dieses Ding ist, das weder essentiell noch zusätzlich, weder eigen noch uneigen ist, welches Kant als Parergon bezeichnet, zum Beispiel der Rahmen. Wo findet der Rahmen statt. Findet er statt. Wo beginnt er. Wo endet er. Was ist seine interne Grenze. Externe Grenze. Und seine Oberfläche zwischen den beiden Grenzen. Je ne sais pas ce qui est essentiel et accessoire dans une œuvre. Et surtout je ne sais pas ce qu’est cette chose, ni essentielle ni accessoire, ni propre ni impropre, que Kant appelle

 Vgl. hierzu besonders das dritte, mit dem Titel «frame-works» versehene Kapitel der schönen Studie von Wagner, Peter: Reading Iconotexts. From Swift to the French Revolution. London: Reaktion Books 1994.

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parergon, par exemple le cadre. Où le cadre a-t-il lieu. A-t-il lieu. Où commence-t-il. Où finit-il. Quelle est sa limite interne. Externe. Et sa surface entre les deux limites.324

Derridas Fragen sind beunruhigend. Sie eröffnen ganz allgemein neue Wege für einen anderen Blick auf optische Phänomene. seien sie gerahmt oder nicht. Man müsste sie übertragen auf den Bereich der Photographie, wo die Frage des Rahmens eher marginal behandelt wurde. Nach meinem Verständnis des Begriffes, das sich an Derrida orientiert, ist der Rahmen nichts, was der Photographie äußerlich wäre. Der Rahmen ist keine stabile Struktur, die fest gefügt die Wahrheit oder die Wirklichkeit eines Gegenstandes garantieren könnte, indem sie ihn gegen das Außen schützt, gegen das Nebensächliche, das Flüchtige, das Zusätzliche. Er ist vielmehr eine fragile und dynamische Strukturierung, die eine auf den ersten Blick sich aufdrängende (intendierte) Wahrheit unterlaufen kann, indem sie den Betrachter zum Augenzeugen macht. Zugleich ist der Rahmen in der Lage, von «außen» her seine Wahrheit aufzudrängen. Unsere Analyse des Doppelporträts von Máximo Gómez und José Martí als dem Kopf und der Hand des kubanischen Unabhängigkeitskampfes sollte zu einem besseren Verständnis für die Bedeutung jener Gegenstände führen, die die beiden historischen Gestalten umgeben. Es sind gerade diese Gegenstände, die der Anordnung, der Dispositio der Körper Sinn verleihen, ja ihren Sinn aufzwingen. Sie funktionieren wie ein determinierender Rahmen, der seine wahre semantische Funktion kaschiert, indem den Betrachtern des Photos suggeriert wird, das Essentielle sei eine den beiden Führern der Unabhängigkeitsbewegung innewohnende Qualität, welche in diesen dargestellten Figuren zum Ausdruck kommt. Um dieses Verständnis vom Rahmen und seiner Funktionsweise noch einmal zu veranschaulichen, soll ein weiteres Beispiel angeführt werden. In seiner Untersuchung der Bilder Martís beschrieb Ezequiel Martínez Estrada ein Photo, das während eines Aufenthaltes auf Jamaika aufgenommen wurde: Aus Kingston stammt auch die Photographie auf der Rednertribüne, zum Auftakt einer seiner dort gehaltenen Propagandareden, mit der kubanischen Fahne über das Rednerpult gespannt. auf einer anderen Photographie dieses Ortes sieht man ihn mit fünf Personen, die Mitglieder des Rates sind. De Kingston es también la fotografía en la tribuna, al iniciar uno de los discursos de propaganda pronunciados allí, con la bandera cubana tendida sobre la cátedra. En otra fotografía de ese lugar está con cinco personas miembros del Consejo.325

 Derrida, Jacques: La vérité en peinture. Paris: Flammarion 1978, S. 73.  Martínez Estrada, Ezequiel: Martí revolucionario, S. 429.

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Das zweite von Martínez Estrada erwähnte Photo ist Teil der Iconographia martiana, nicht jedoch das erste.326 Sollte es sich nicht um eine heute unbekannte oder verlorene Photographie handeln, so dürfte es wahrscheinlich identisch sein mit jenem Photo, das Martí 1892 im Kreis einer Gruppe von Emigranten in Kingston zeigt (Abb. 16a und 16b). Diese Variante, die in der Martí-Literatur zumeist angenommen wird, zeigt ihn alleine hinter einem Tisch stehend, auf dem die kubanische Fahne ausgebreitet liegt (Abb. 17). Geschickte Scherenschnitte haben alles entfernt, was nebensächlich wirken könnte: Nur der Tisch blieb übrig, aus naheliegenden Gründen, denn er verdeckt einen Teil von Martís Körper. So entsteht daraus beinahe ein anderes Photo. Der Tisch mit der kubanischen Flagge, zusätzlich betont durch die Geste der rechten Hand des Revolutionärs, 327 ist zum einzig verbliebenen Rahmen geworden, der den Porträtierten mit einem nicht näher spezifizierten patriotischen Geist umgibt. Der Titel, den der kubanische Lyriker Eugenio Florit diesem Photo gegeben hat, ist bezeichnend: «Martí conferenciante, en 1892.»328

Abb. 16a und 16b: Martí mit Mitgliedern des Cuerpo de Consejo de Kingston, Jamaica, 1892.

 Zumindest wenn wir sie nicht mit einer anderen Photographie identifizieren, die in Kingston aufgenommen wurde (Quesada y Miranda, Gonzalo de: Iconografía martiana, S. 67), die aber nicht mit der uns von Martínez Estrada gegebenen Beschreibung übereinstimmt. Oder sollte es sich hier um ein rein ekphrastisches Problem handeln?.  Die Hand jener zur Rechten Martís befindlichen Person, die sich in der ursprünglichen Photographie auf dem Tisch abstützte, wurde ebenfalls wegretuschiert.  Florit, Eugenio: Versos. In: José Martí (1853–1895). Vida y obra – Bibliografía – Antología. New York – Río Piedras: Hispanic Institute 1953, S. 51.

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Abb. 17: Variante von Abb. 16b.

Ursprünglich zeigte das von Juan Bautista Valdés aufgenommene Photo Martí zusammen mit sechs kubanischen Emigranten in einer Art Hütte, die man für die photographische Aufnahme notdürftig geschmückt hatte. Martí erscheint als die zentrale Figur der Gruppe. Die Hütte mit ihrer Dekoration sowie die Gruppe der ihn umgebenden Männer situieren die Figur Martí an einen konkreten Ort im Verlauf einer revolutionären Propagandareise. Die Emigranten gruppieren sich um den Delegado des Partido Revolucionario Cubano. Erst einmal dieses Rahmens beraubt wird das Photo viel abstrakter, indem es einen Martí zeigt, der einen Vortrag zum Wohle des zukünftigen Vaterlandes hält. Hinzu kommt die implizit sakralisierende Komponente des Rahmens, sobald man den Tisch als Altar begreift und an den Titel einer anderen Bearbeitung des Photos denkt: «José Martí, der Apostel, der den ‹gerechten und notwendigen Krieg› zur Erreichung der Unabhängigkeit Kubas predigt».329 Für eine fundamentale Sakralisierung der Figur des Apostels Martí hatten wir in unserer Rezeptionsgeschichte eine ungeheure Vielzahl von Beispielen gefunden. Die konkrete historische Dimension geht bei derartigen Prozessen der Sakralisierung verloren. Doch dafür entsteht etwas Anderes: Martí ist nicht mehr nur eine Figura, er ist – und dies ist ganz wörtlich zu verstehen – zu einer Ikone geworden, die auch in seiner bildhaften Präsenz aufblitzt. Die recht zahlreichen Bilder, die Martí innerhalb einer Gruppe zeigen, mit der er seine revolutionäre Arbeit voranzutreiben sucht, lassen sich in zwei

 Agramonte, Roberto D.: Martí y su Concepción de la Sociedad. 2. Patria y Humanidad. Teoría martiana de la sociedad. Con 20 ilustraciones y un apunte de Almeida Crespo. San Juan, Puerto Rico: Editorial de la Universidad de Puerto Rico 1984, S. 4.

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Grundtypen unterscheiden. Im ersten sitzt Martí unabänderlich und gleichsam unverrückbar im Zentrum des Bildes zwischen zwei weiteren sitzenden Personen und vor einer Reihe von Männern, die hinter ihm stehen. Die Tatsache, dass Martí nur 1,55 Meter groß war, mag seine Vorliebe für dieses Arrangement erklären, das jeden unvorteilhaften Eindruck wirksam vermied. Der Prototyp dieses Bildschemas, auf dem sich die zentrale Position Martís am besten zeigen lässt, ist das Bild mit dem Organisationskomitee der Patrioten von Cayo Hueso, auf dem alle ein weißes Band am Kragen tragen (Abb. 18). Martí hatte auf diesem Symbol bestanden, das «die Reinheit der Absichten aller Beteiligten» sichtbar machen sollte.330 Dieses Photo war ebenso für Martí wie für die Geschichte Kubas von großer Bedeutung: Es war 1891 entstanden und belegte bereits für diesen Zeitpunkt die Gründung des PRC. Es handelt sich also um ein Porträt von zugleich hohem politischen und symbolischen Wert, weil auf ihm das Projekt Martís physisch greifbar wird und Gestalt angenommen hat.331

Abb. 18: Gruppenphoto aufgenommen in Key West, Florida, im Dezember 1891, mit den Mitgliedern des Organisationskomitees der kubanischen Patrioten in dieser Stadt.

 Vgl. hierzu den Kommentar zur Photographie 32 in der Iconografía del apóstol José Martí.  Die Wichtigkeit dieses physischen, menschlichen Rahmens wird offenkundig, sobald man damit das Porträt Martís außerhalb dieser Gruppe vergleicht; vgl. Iconografía del apóstol José Martí, Bild 15. Ich möchte diesen Aspekt aber nicht nochmals betonen.

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Abb. 19: Martí mit einer Gruppe von kubanischen revolutionären Emigranten am Eingang der Zigarrenfabrik von Vicente Matínez Ybor in Ybor City, Tampa, Florida, 1892.

Neben diesem ersten Typus, auf dem alle Abgebildeten identifizierbar sind, gibt es einen zweiten, bei dem die Personen auf Grund ihrer großen Zahl meist nicht mehr identifizierbar sind und weitgehend anonym bleiben. In gewisser Weise handelt es sich um die Erweiterung des ersten Typus. Auch diese Photos dokumentieren die revolutionäre Arbeit, die Reisen in die Zentren der Emigration in Florida oder Jamaika, und auch sie zeigen Martí fast immer im Bildmittelpunkt. Der Prototyp dieser zweiten Serie ist ein Photo, das 1892 in Ybor City, einem Zentrum der Tabakindustrie bei Tampa, aufgenommen wurde (Abb. 19). Inmitten einer kleinen Gruppe von Menschen, die – wie etwa José Dolores Poyo oder General Serafín Sánchez – enger in sein Befreiungsprojekt einbezogen waren, sehen wir José Martí im Eingang der Tabakfabrik von Vicente Martínez Ybor umringt von kubanischen Tabakarbeitern stehen, die für den PRC nicht nur finanziell so etwas wie das Rückgrat darstellten. Indem sie eine Art Dreieck bilden, das auf die gut und mit dem ganzen Körper sichtbare Figur Martís zu-

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2. Hauptstück: Die Bilder der Macht

läuft, schaffen die Tabakarbeiter jenen Rahmen, welcher der Zentralfigur ihren Sinn verleiht.332 Denn in der Tat hatte Martís Projekt Gestalt angenommen: Es hatte sich ausgeweitet, und man war dabei, die nötigen Mittel für den ersehnten Unabhängigkeitskrieg endlich zusammenzubringen. Die dokumentarischen und propagandistischen Photographien zu diesem politischen Prozess zeigen unveränderlich, dass José Martí während der gesamten Entwicklung im kubanischen Exil der neunziger Jahre nicht allein in den USA eine zentrale Bedeutung einnimmt und daher stets auch als Zentralfigur visualisiert und sichtbar gemacht wird. Alles ist am kubanischen Unabhängigkeitskampf ausgerichtet. In diesen Jahren – der Essay Nuestra América entstammt just demselben Jahr 1891 wie die zuletzt kommentierte Photographie – entwickelt sich José Martí zwar zugleich zum frühesten amerikanischen Denker der Globalisierung; doch dies bleibt aus diesen Photographien ausgespart, welche lediglich das vorherrschende Ziel verfolgen, Martí als den Denker des antikolonialen Kampfes gegen Spanien zu portraitieren. wir sollten folglich nicht vergessen, dass es eine Inszenierung José Martís als eigentlichem Denker der Globalisierung aufgrund der Vordringlichkeit des politisch antikolonialen Kampfes gegen Spanien schlicht nicht gibt. Andere Photographien aus der gleichen Serie entsprechen dem soeben analysierten Schema. Alle sind in die antikolonialistische Zielsetzung eingebunden und werden zu recht effizienten Vehikeln dieses Kampfes. José Martí ist immer leicht identifizierbar: stets im Zentrum, stets unverändert. Die beiden Photos, die wahrscheinlich in der Tabakfabrik von Temple Hall in der Nähe von Kingston aufgenommen wurden, rekonstruieren unter der kubanischen Fahne den geographischen, historischen und menschlichen Raum der zahllosen Martí’schen Reisen. Gleichzeitig projizieren sie ein glaubwürdiges Bild vom Fortschreiten der von Martí erwünschten und herbeigesehnten Revolution auch auf den anderen Inseln der Karibik. Der Gründer des PRC absolvierte ein fast übermenschliches Programm an Reisen, Besuchen und Ortsveränderungen, das zweifellos an seinen Kräften gezehrt haben muss, da er während der Reisen selbst auch noch fast unablässig schrieb. Das letzte Photo dieser Serie stammt aus dem Jahre 1893. Es zeigt eine Gruppe bewaffneter Männer (Abb. 20). Auf diesem Dokument verschwindet Martí, mit seiner Melone auf dem Kopf, beinahe zwischen den Männern mit ihren Gewehren, die für die Aufnahme ihre Schießübungen unterbrochen haben. In gewissem Sinne hat der Rahmen das Bild überlagert. Der Befreiungskrieg scheint unmittelbar bevorzustehen. Nun verschwindet der geistige Urheber (autor intelectual)

 In gewisser Weise kehrt hier die Dreiecksform des ersten Typus in inverser Form wieder.

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Abb. 20: Martí mit einer Gruppe kubanischer Emigranten bei Schießübungen im alten Martello Tower Fort in Key West, Florida, 1893.

gleichsam hinter der von ihm ins Leben gerufenen Bewegung, hinter diesem Wirbel, von dem der große kubanische Dichter des 20. Jahrhunderts, José Lezama Lima, so bewegend schrieb: In einer großen verbalen Weihnacht repräsentiert José Martí die Fülle der möglichen Abwesenheit. In ihm kulminieren der Kerker von Fray Servando, die Frustration von Simón Rodríguez, der Tod von Francisco Miranda, aber auch der Blitz der sieben Intuitionen der chinesischen Kultur, was ihm durch die Metapher des Wissens erlaubt, den Wirbel zu berühren und zu schaffen, der ihn zerstört […]. José Martí representa, en una gran navidad verbal, la plenitud de la ausencia posible. En él culmina el calabozo de Fray Servando, la frustración de Simón Rodríguez, la muerte de Francisco Miranda pero también el relámpago de las siete intuiciones de la cultura china, que le permite tocar, por la metáfora del conocimiento, y crear el remolino que lo destruye […].333

 Lezama Lima, José: El romanticismo y el hecho americano. In (ders.): La expresión americana. Madrid: Alianza Editorial 1969, S. 116.

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2. Hauptstück: Die Bilder der Macht

In diesem poetischen Bild repräsentiert José Martí das gesamte 19. Jahrhundert im spanischen Amerika334 und löst dieses auf in jenen von ihm selbst geschaffenen Wirbel, in jenen Hurrikan, der ihn selbst als einen der ersten mit sich fortreißen und zerstören sollte. Eine Vielzahl an Bildzeugnissen dokumentiert die unermüdliche Arbeit José Martís an der Erzeugung dieses gigantischen Wirbels. Die populärsten und meistverbreiteten Photographien des Gründers des Partido Revolucionario Cubano sind jene, auf denen Martí nur mit dem Oberkörper zu sehen ist: allein, einer Büste gleich. Nach den ersten drei bereits erwähnten Porträts dieses Typs – dem Schülerbild und den beiden Porträts aus dem Jahre 1869 – taucht eine Serie von zwölf Photographien auf, die zwar durchaus den ikonographischen Konventionen der Zeit gehorchen, aber doch einen sehr individuellen und dadurch aussagekräftigen Zug aufweisen. Diese Serie beginnt mit einem Photo, das 1875 während seines Aufenthalts im mexikanischen Exil aufgenommen wurde, und endet wenige Monate vor seinem Tod ebenfalls mit einem Bild aus Mexico im Jahre 1894, der Zeit seines letzten Aufenthaltes in seinem ersten lateinamerikanischen Gastland. Alle in diesem Abschnitt zu analysierenden Photographien zeigen Martí gleichsam nur als Büste. Das erste Bild in der Form eines Medaillons zeigt uns den jungen Journalisten und Theaterautor sehr gut, beinahe elegant gekleidet (Abb. 21).335 Zehn Jahre später, während seiner selbstgewählten Trennung von den Generälen Gómez und Maceo und der sich daraus ergebenden und bereits erwähnten politischen Isolierung innerhalb der kubanischen Exilgemeinde, ließ sich Martí in New York von dem «Photo Artist»336 W. F. Bowers porträtieren. Dieser präsentierte Martí als gut gekleideten Mann, die Arme vor der Brust verschränkt. Das Photo (Abb. 22) stammt aus dem gleichen Jahr 1885, in dem Martí unter Pseudonym seinen Roman Amistad funesta veröffentlichte. Seit diesem Porträt von 1885 wird der Raum auf Martís Gesichtszüge und seinen Oberkörper begrenzt, ein Bildschema, das auch auf einem weiteren New Yorker Porträt aus dem Jahre 1888 zu finden ist. Die Widmungen Martís auf der Rückseite – an seine Mutter oder an einige Freunde – sind persönlich gehalten: Es

 Vgl. hierzu die ausführlichen Passagen zu José Martí im vierten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten (2021).  Im Gegensatz zu vielen Martí-Photographien, die später in Medaillon-Form präsentiert wurden (vgl. hierzu die Mehrzahl der Abbildungen in Schnelle, Kurt: Apostel des freien Amerika, passim sowie Cuetos, Laviana: José Martí. Madrid: Quinto Centenario 1988, S. 28 f.), wurde diese Darstellungsform von Beginn an gewählt. Eine Reproduktion dieses Porträts im Originalrahmen findet sich in Marinello, Juan: José Martí, escritor americano. Martí y el Modernismo. México: Editorial Grijalbo 1958, S. 65.  Quesada y Miranda, Gonzalo de: Iconografía martiana, S. 36.

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handelt sich um herzliche Grüße in Versform oder Gefühlsbekundungen aus der damaligen Phase seines Lebens. Das wichtigste Porträt aus dieser Büsten-Reihe ist vielleicht jenes aus dem Jahr 1891, aufgenommen in Washington am Rande der Sitzung der Comisión Monetaria Internacional Americana, bei der Martí – und ich werde auf diese internationalen Verflechtungen noch zurückkommen – das südamerikanische Land Uruguay diplomatisch vertrat (Abb. 23). Hierbei handelt es sich allerdings um ein Bild, das Martí nicht gefallen zu haben scheint. Offenbar hielt er «die vom Photographen gewählte Haltung für höchst stutzerhaft».337 Was mag ihn an dieser Haltung, an dieser Pose gestört haben?

Abb. 21: Portrait von Martí, aufgenommen 1875 in México.

Martí blickt direkt in die Kamera, den Kopf leicht nach rechts geneigt und auf die Hand gestützt, auf einem Stuhl sitzend, von dem man nur den oberen Teil der Lehne erkennen kann. Betrachtet man seine späteren Einlassungen, so war es weniger die Position selbst, die ihm missfiel, als vielmehr die Visualisierung, die Sichtbarwerdung der Pose. Nach diesem Bild wird Martí eine Reihe von Änderungen in seiner Selbst-Darstellung vornehmen, die zu dem führen, was wir das definitive Martí-Bild nennen dürfen, das seine größte Wirkung nicht nur bei seinen Leserinnen und Lesern, sondern auch ganz allgemein im öffentlichen Leben seiner Heimatinsel Kuba entfalten sollte. Welche Modifizierungen waren das? Zunächst einmal verschwinden die Hände aus dem Bild. Denn die Pose ist eng verknüpft mit den Händen, die ihr Eigenleben besitzen. Man kann nicht mit Sicherheit sagen, ob das Fehlen der Hände  Ebda., S. 44.

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2. Hauptstück: Die Bilder der Macht

Abb. 22: Portrait von Martí, aufgenommen 1885 von W.F. Bowers, New York.

Abb. 23: Portrait von Martí, aufgenommen 1891 in Washington.

auf dem bekannten Porträt von Jamaica von 1892, auf dem sein ganzer Körper zu sehen ist, mit diesen Modifikationen in Verbindung steht beziehungsweise mit diesen etwas zu tun hat. Fest steht, dass aus seinen Porträts als Büste die Hände, die Handwerksinstrumente des Schriftstellers, nun definitiv ausgeblendet werden. Der zweite Wechsel besteht darin, dass sämtliche Gegenstände außerhalb der Büste verschwinden. Es ist aufschlussreich zu sehen, wie der Stuhl in der Martí’schen Ikonographie von Mal zu Mal mehr verschwindet, zumindest bei den Wiederabdrucken in Kuba. Dies kann nicht allein an der nachlassenden Qualität der Reproduktionen oder dem Verblassen der Negative liegen. Vergleicht man

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beispielsweise das Porträt aus dem Werk von Schnelle von 1981 (Abb. 24)338 mit jenem aus der Iconografía martiana von 1985, so fällt auf, dass nicht nur durch den anders gewählten Bildausschnitt ein Teil des Stuhles wegfällt, sondern dass dieser Stuhl sich auch im Rand des Bildes aufzulösen scheint.339

Abb. 24: Variante von 23. In: Schnelle, Kurt: José Martí. Apostel des freien Amerika. Leipzig – Jena – Berlin: Urania-Verlag 1981, S. 118.

Der Stuhl weckt selbstverständlich den je nach Kontext unschönen Gedanken an ein Photo-Atelier mit seinen «klassischen» Gegenständen und Requisiten, die speziell zur Hervorhebung der Wichtigkeit des Porträtierten dienen. Sobald dieser Stuhl nicht mehr sichtbar oder kaum noch erkennbar ist, wirkt die Pose natürlicher und weniger gestellt. In gewissem Sinne verschwindet die Pose sogar. Dies wäre ein gutes Beispiel dafür, welches Eigenleben selbst auf den ersten Blick nebensächliche Objekte entwickeln, tauchen sie erst auf einem Photo auf, in dem sie einen zentralen Bildgegenstand rahmen. In Kant’schen Sinne sind sie lediglich parergon (Beiwerk); aber indem sie wie ein Rahmen funktionieren, beeinflussen sie das, was sie «nur» zu präsentieren, ins Zentrum zu rücken vorgeben. Der dritte Wandel nach dem Porträt von Washington betrifft die Art sich zu kleiden. bezüglich des symbolischen Gehalts der Kleidung war Martí besonders  Das Porträt von Washington erscheint mit etwas breiter gewähltem Bildausschnitt, wenn auch in inverser Darstellung, mit sehr gut sichtbarem Stuhl bzw. Rückenlehne in Agramonte, Roberto D.: Martí y su Concepción de la Sociedad, S. 255.  In mehreren Buchpublikationen ist dieser Prozess bereits abgeschlossen: Der offenkundig störende Stuhl ist gänzlich verschwunden, so etwa auf dem Titelbild des vom Centro de Estudios Martíanos herausgegebenen Bandes Siete enfoques marxistas sobre José Martí. La Habana: Editora Política 1978.

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2. Hauptstück: Die Bilder der Macht

sensibel. In vielen seiner Schriften – in seinem einzigen Roman Amistad funesta wie in seinem bekanntesten Essay Nuestra América – gebrauchte er eine komplexe Kleidersymbolik, um seine Figuren zu charakterisieren und seine Visionen zu entfalten. Sein eigener Kleidungsstil während seiner letzten Lebensjahre als Revolutionär erregte bei vielen Zeitgenossen Aufsehen, denn es eignete ihm etwas Religiöses und geradezu Transzendentes.340 Sein alter Freund Fermín Valdés Domínguez beschrieb das Äußere der nicht unumstrittenen Leitfigur des kubanischen Exils mit den Worten «Reinheit», «Armut», «Strenge» und «Familiarität».341 Im letzten seiner langen Briefe an seine erwähnte hijita María Mantilla erläuterte Martí seine Gedanken über Kleidung, um die junge Frau, die er zärtlich «mein Töchterchen» nannte, von seinen sehr rigorosen Vorstellungen zu überzeugen. Wir werden uns im nachfolgenden Abschnitt ausführlicher mit dieser Transformation genderbezogener Bildersprachen auseinandersetzen. Doch vorausgeschickt sei bereits an dieser Stelle eine Einordnung der Vorstellungen Martís zur weiblichen Kleidung und damit zum Bild der Frau in der streng patriarchalischen Vorstellungswelt Martís. Der folgende Auszug stammt aus einem am 9. April 1895 in Cabo Haitiano verfassten Brief, in dem der große Vordenker der kubanischen Unabhängigkeitsbewegung wenige Stunden, bevor er sich auf dem deutschen Dampfer Nordstrand nach Kuba einschiffte und seinem Schicksal entgegenfuhr, seiner geliebten María mit väterlichem Unterton noch mitteilte: Die Eleganz der Kleidung – ich meine die große und wahrhaftige – liegt in der Hoheit und Stärke der Seele. Eine ehrenhafte Seele, intelligent und frei, vermittelt dem Körper mehr Eleganz und damit der Frau mehr Macht als die reichsten Moden der Boutiquen. Viel Boutique, wenig Seele. Wer viel drinnen besitzt, braucht draußen wenig. Wer viel draußen trägt, besitzt wenig drinnen und will das Wenige weg lügen. Wer seine Schönheit fühlt, die innere Schönheit, sucht keine geborgte äußere Schönheit: Man weiß sich als schöne Frau, und diese Schönheit verstrahlt Licht. La elegancia del vestido, – la grande y verdadera,- está en la altivez y fortaleza del alma. Un alma honrada, inteligente y libre, da al cuerpo más elegancia, y más poderío a la mujer, que las modas más ricas de las tiendas. Mucha tienda, poca alma. Quien tiene mucho adentro, necesita poco afuera. Quien lleva mucho afuera, tiene poco adentro, y quiere disimular lo poco.342

 Vgl. hierzu etwa Vargas Vila, José María: José Martí, apóstol y libertador. París: Ed. Hispano-América 1938, S. 23: «[…] descuidado en el vestir, ora porque era pobre, de una pobreza franciscana […]».  Vgl. Valdés Domínguez, Fermín: Martí. Ofrenda de hermano. In: El Triunfo (La Habana) (19./20.5.1908); wiederabgedruckt in Revista Cubana (La Habana) XXIX (julio 1951 – diciembre 1952), S. 261.  Martí, José: Cartas a María Mantilla. La Habana: Centro de Estudios Martíanos y Editorial Gente Nueva 1982, S. 88–90.

Literarische Bildersprachen, photographische Bildersprachen

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In diesen Überlegungen, anhand derer sich überzeugend sein didaktisches Vorgehen wie auch unbestreitbare paternalistische Tendenzen seines Denkens erläutern ließen, betonte Martí die ethische Dimension der Schönheit. Er tat dies in diesem Schreiben aus den letzten Wochen seiner Existenz nicht allein aus seiner Sichtweise weiblichen Lebens, sondern in einem allgemeinen, menschlichen Sinne, doch war seine Verankerung in seinen später noch zu untersuchenden männlichen Geschlechtervorstellungen und -modellierungen unverkennbar. Es handelt sich in diesen Passagen zweifelsohne um eine Ästhetik der Armut, die auf einer menschlichen und unkorrumpierbaren Ethik basiert. Die aus der Rezeptionsgeschichte oben angeführte Vorstellung vom Franziskanischen bei Martí entstand daher nicht aus dem Nichts. Die Seele, die hier als sichtbares und beinahe physisch greifbares Element erscheint, verleiht dem Körper nicht nur jene Art von Eleganz, die selbst luxuriöseste Kleidung nicht erzeugen könnte; sie vermittelt auch etwas, das Martí «poderío», also Macht oder Stärke nennt. In seiner Unterscheidung zwischen Äußerem und Innerem, zwischen Falschem und Wahrhaftigem, zwischen Schein und Sein, zwischen dem, was man kauft, und dem, was man ist, stellt Martí eine umgekehrte Beziehung zwischen Reichtum der Kleidung und Reichtum der Seele her. Letztendlich ist es gerade die Armut der Kleidung, die auf die Ehrbarkeit und die Kraft der Seele verweisen kann. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass der unter höchst beschränkten finanziellen Rahmenbedingungen lebende Delegado des Partido Revolucionario Cubano dieses Ideal auch lebte. Das mit den Mitteln größter Zurückhaltung, ja äußerster Armut zu erzielende Bild übt nach Martí poderío auf seine Betrachterinnen und Betrachter aus, eine Stärke und Macht, die natürlich nicht nur der optischen Erscheinung von Frauen zukommt. Es ist eine weniger sichtbare Form der Macht, die laut Martí darum aber nicht weniger effizient ist. Es ist die Macht des Bildes, in dem die Seele klar zu erkennen sei: die Macht, die aus einer wohlreflektierten Einfachheit und Schlichtheit kommt. Auch an dieser Stelle stößt man folglich auf das Ideal der Schlichtheit und Einfachheit, wie es poetologisch beispielsweise in den Versos sencillos zum Ausdruck kommt. Die Photographien aus den neunziger Jahren, als sich der Exilant ganz und gar der Vorbereitung der Revolution verschrieb, zeigen einen gleichsam transfigurierten Martí, ernst, mit strengem Blick, der bisweilen den Betrachter fixiert, bisweilen in die Ferne schweift. Mit dem Porträt von Cayo Hueso aus dem Jahre 1891 schließlich fand Martí sein definitives Bild innerhalb der Serie der Büsten (Abb. 25). Es verkörpert die Anziehungskraft und im Sinne Martís die Stärke und Macht der Einfachheit geradezu idealtypisch. Denn Martí ist einfach gekleidet, erscheint im dunklen Straßenanzug mit Frégoli-Kragen und gibt so, wie er in seinen Versos sencillos schrieb, das Bild eines

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2. Hauptstück: Die Bilder der Macht

Abb. 25: Portrait von Martí, aufgenommen 1891 in Key West, Florida. Martí trägt die weiße Schleife an seinem Revers.

hombre honrado ab, dem jegliches Streben nach materiellem Wohlstand fernzuliegen scheint. Mit diesem Bildschema von 1891, das Martí nur noch wenig variieren und das sich bis zu seinem Tod ikonenhaft wiederholen sollte, wird der Delegado des PRC lesbar wie eine Ikone – vor allem wenn man seine Bilder vergleicht mit denen anderer Zeitgenossen aus dem Umkreis des hispanoamerikanischen Modernismus wie Rubén Darío, José Enrique Rodó oder – um im kubanischen Umfeld zu bleiben – Julián del Casal oder die Brüder Uhrbach. Gerade Julián del Casal, der in Havanna lebende Dichter des Modernismo, erscheint auf seinen Photographien immer elegant, bisweilen sogar extravagant gekleidet à la Baudelaire, mit Schnurrbart, gestutzt nach neuester europäischer und insbesondere französischer Mode, stets auf sein Äußeres in all seinen Details achtend. Diese Photographien vermitteln das Bild des übersensiblen Dichters, dem alle Wirklichkeit fremd zu sein scheint, der ganz im Ästhetischen und der Ästhetisierung aller Lebenselemente aufgeht. Welch eine Differenz im sorgfältig kontrollierten Erscheinungsbild liegt zwischen diesen beiden letztlich doch so komplementären Antipoden des kubanischen Modernismus! An anderer Stelle habe ich bereits auf die Wechselbeziehungen zwischen den Bildern Martís und Casals sowie auf deren unterschiedliche Positionen in den literarischen Feldern Kubas auf der Insel und im Exil hingewiesen.343 Julián del Casal versuchte, sich vom bedrückenden Ambiente der ihn umgebenden spa-

 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Un diálogo diferido: observaciones en torno a tres etapas del campo literario cubano en los siglos XIX y XX. In: Apuntes postmodernos / Postmodern notes (Miami) (fall 1993), S. 20–31.

Literarische Bildersprachen, photographische Bildersprachen

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nischen Kolonialgesellschaft abzusetzen, während José Martí mit seinem Verzicht auf jede Art von Luxus kraft einer reflektierten Kleidersymbolik seine Aufrichtigkeit und seine völlige Hingabe an das Ideal der Revolution, an das Ideal des antikolonialen Kampfes, unterstrich. Damit verzichtete er zugleich auf etwas, was Ángel Rama in einem brillanten, von Nietzsche inspirierten Essay «die historische Garderobe der bürgerlichen Gesellschaft» nannte.344 In der Tat ging es bei Casal und bei Martí aus gegensätzlichen Blickpunkten um diese historische Garderobe des Bürgertums in kolonialen wie postkolonialen Gesellschaften. José Martí beteiligte sich nicht an der eifrig betriebenen Maskerade der Literaten des Modernismo, die nach Ángel Ramas Auffassung jene Masken und Verkleidungen benutzten, welche die hegemonialen Zentren ihnen zur Verfügung stellten. Doch liegen die Dinge so einfach? Wäre nicht auch denkbar, dass dieses karnevaleske Spiel trotz allem dazu beitrug, die lateinamerikanischen Literaten durch ludische und ironische Verstellung zumindest graduell von ihrer kulturellen Abhängigkeit zu befreien? Während auch das Bild von Martí sehr wohl als eine Maske verstanden werden könnte, die sich gerade in Abgrenzung zu den Masken des europäischen Bürgertums definieren ließe? Schlussendlich ist auch das photographische Bild Martís nichts Natürliches, sondern ein – wie wir gesehen haben – in einem langen Verfahren entstandenes Artefakt, eine Konstruktion, die er im Verlauf seines Lebens, seiner politischen und literarischen Laufbahn entwickelte. Dieses Bild ist ganz und gar nicht spontan entstanden, wenn dies Ezequiel Martínez Estrada auch immer wieder behauptete.345 Das Bild der eigenen Person, wie es Martí insbesondere in den kubanischen Unabhängigkeitskampf immer wieder einzustreuen versuchte, ist mit vielen Elementen und Symbolen seiner lyrischen wie essayistischen Bilder- und Symbolsprache verbunden, so dass sich die beiden Konstruktionen, die literarische wie die ikonische, nicht leicht voneinander ablösen lassen, sondern aufs Engste miteinander verwoben sind. Wir werden dieses enge Verwobensein von Bild-Text und Text-Bild noch später, bei unserer Analyse der Passage Eramos una visión – Wir waren eine Vision aus Nuestra América, erneut aufnehmen und weiter vertiefen.  «La guardarropía histórica de la sociedad burguesa» lautet der Titel des dritten Kapitels von Angel Ramas Buch Las máscaras democráticas del modernismo, S. 76 ff.  Wir sollten nicht vergessen, daß Photographie für Martí nicht zuletzt ein Medium war, um seinem Bild Dauer zu verleihen; vgl. hierzu die folgende Passage aus Martínez Estrada, Ezequiel: Martí revolucionario, S. 426: «Las fotografías de Martí, en ropa de calle, en traje de oficinista, no tiene ninguna arrogancia, ni expresa un concepto elevado de sí; viste con negligencia aunque sin descuido, como si lo que fijara la placa no es lo que aparenta sino lo que es. Lo que es, tampoco digno de exhibirse en apostura buscada, en «pose». Esas fotografías no son poses en el sentido artístico que le dan los fotógrafos. Martí no se coloca ante la máquina como ante la posteridad, sino como ante un instante de su vida que perdurará mucho tiempo.»

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2. Hauptstück: Die Bilder der Macht

Es lohnt sich, noch einen Augenblick beim Verhältnis von Bild und Text zu verweilen. Seit dem Porträt von 1891, auf dem Martí das weiße Band der Unabhängigkeit trägt, das wir bereits auf dem Photo mit dem Organisationskomitee von Cayo Hueso gesehen haben (Abb. 18), verändern sich auch die Widmungen, die von Martí erhalten geblieben sind. Fast hat es den Anschein, als zeigte dieses Photo nicht nur ein neues ikonographisches Schema, sondern würde auch den Beginn eines neuen Lebensabschnittes markieren, der in die nachweislich wirkungsmächtige Apotheose seines Todes überleiten sollte. Die Widmungen, die bis zu diesem Zeitpunkt vor allem herzlich gehalten waren, wurden verstärkt patriotisch und politisch, indem sie die Brüderschaft all derer betonen, die für die Unabhängigkeit kämpfen: Martís Familie weitet sich spürbar aus.346 Martí geht nun gänzlich im von ihm geplanten und konzipierten Krieg gegen Spanien auf. Er ist von der Idee erfüllt und geradezu obsessiv erfasst, dass er selbst beziehungsweise der Partido Revolucionario Cubano die Formen des Krieges wesentlich bestimmen müsse, um die Fehler des Zehnjährigen Krieges oder gar die Herrschaft einzelner möglicher Caudillos wie Gómez oder Maceo zu vermeiden. Man könnte durchaus kritisch hinzufügen, dass Martí um sich zentrierte autoritäre Strukturen schafft, um andere autoritäre Strukturen herkömmlicher lateinamerikanischer Tradition im Zeichen von Caudillos zu verhindern. Die Gründung und Entfaltung des PRC und dessen textuelle wie visuelle Entfaltung ist dabei seine hauptsächliche Waffe. In einer Bilderserie, die im Vergleich mit der von Cayo Hueso aus dem Jahre 1891 als nahezu identisch erscheint, in der aber das weiße Band nicht wieder auftaucht (Abb. 26),347 wiederholt sich das Bild mit nur kleineren Varianten, die sich etwa auf die Richtung seines Blickes oder die Höhe beziehen, in der sein Oberkörper, seine «Büste», abgeschnitten ist (Abb. 27 und 28). Einen ikonischen Sonderfall stellt die Ganzkörperphotographie dar, die 1892 in Jamaica von jenem Mann aufgenommen wurde, den man wohl als den besten (uns am besten bekannten) Photographen José Martís bezeichnen könnte, Juan Bautista Valdés. Es ist daher kein Zufall, dass der kubanische Revolutionär ihm eine Kopie des von diesem angefertigten Porträts widmete, auf der er die künstlerische Qualität der Arbeiten von Valdés hervorhob. In dieser – soweit wir wissen – einzigen Wid-

 Vgl. Quesada y Miranda, Gonzalo de: Iconografía martiana, S. 46 und 68; vgl. hiermit auch die Widmung eines anderen «Büsten-Porträts», in der Martí 1894 von «la familia de mi corazón» (ebda., 80) sprach.  Es handelt sich um eine Photographie, die wohl ebenfalls im Dezember 1891 in Cayo Hueso aufgenommen wurde. Es existiert gleichwohl die Reproduktion eines Martí-Porträts in Form eines Medaillons, die leichte Unterschiede aufweist, aus demselben Jahr stammt, aber in Washington angefertigt wurde; sie findet sich nicht in der Iconografía martiana, wohl aber in Seminario Juvenil de Estudios Martíanos: Orientación y Bibliografía. La Habana [o.V.] 1974, S. 7.

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mung Martís an einen Photographen lesen wir: «An einen Sohn von sich selbst, Beispiel und Ehre seines Vaterlandes: Für einen feinen und gewissenhaften Künstler, den brüderlichen Freund Juan Bautista Valdés, von seinem / JOSE MARTI».348

Abb. 26: Portrait von Martí, ebenfalls bei seinem ersten Besuch in Key West im Dezember 1891 aufgenommen.

Abb. 27: Martí in Kingston, Jamaica, 10. Oktober 1892.

Doch zurück von diesem Sonderfall zu den Büsten-Porträts Martís. Auf diesen ist jeglicher Kontext getilgt. Sie zeigen Martí stets allein und stets mit derselben

 Zit. nach Quesada y Miranda, Gonzalo de: Iconografía martiana, S. 56. «A un hijo de sí mismo, ejemplo y honra de su patria; a un artista fino y concienzudo, el fraternal amigo Juan Bautista Valdés, de su / JOSE MARTI».

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2. Hauptstück: Die Bilder der Macht

Abb. 28: Martí in Mexiko, 1894.

Schlichtheit gekleidet. Die Macht und Stärke (poderío) dieser Bildkomposition, deren sich Martí sicherlich bewusst war, basiert auf dem Fehlen jeglicher Art von schmückendem Ornament. Es scheint keinerlei Rahmen mehr zu geben, wie ihn andere Menschen oder Gegenstände im gewählten Ausschnitt bilden könnten. Der Gründer und Chef oder sogenannte Delegado des Partido Revolucionario Cubano steht in diesen Porträts ganz für sich allein, weil er die vielen, allen voran die kubanischen Tabakarbeiter, repräsentiert. Die Photographien dieser Büsten-Porträts scheinen ein Gesicht in seiner ganzen Nacktheit zu zeigen. Die BetrachterInnen konzentrieren sich ganz auf José Martí, den Führer der kubanischen Unabhängigkeitsrevolution. Doch ein Rahmen ist weiterhin vorhanden. Das weiße Band der Unabhängigkeit war scheinbar eine letzte Spur des sichtbaren Rahmens: Auch sie wurde freilich aus den letzten Porträts getilgt. So bleibt allein noch der schwarze Anzug, der immer im Hintergrund, immer bescheiden bleibt – ein keineswegs nebensächliches Detail, wenn wir uns an Martís Gedanken zu Kleidern und Kleidung erinnern. Der Anzug, der sich im Weiß des retuschierten Hintergrundes der letzten Porträts verliert, wir zum neuen Rahmen des Gesichts. Er gibt diesem nackten Gesicht seinen tieferen, seinen eigentlichen Sinn. Martís Blick beeindruckte und faszinierte seine Zeitgenossen, wie etwa der folgende Kommentar zeigt: Nehmt ein gutes Porträt von Martí und verweilt einen Augenblick bei der Analyse der Wirkung, den sein Blick hervorruft, und so werdet Ihr schließlich davon überzeugt sein, seine wirkung bestehe darin, dass er nichts anblickt; dass seine Augen aus süßester Indifferenz verschleiert sind, so als ob er träumte; denn sogar gegenüber der photographischen Linse ist Martí am Denken […].

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Coged un buen retrato de Martí y deteneos un rato en el análisis del efecto que produce su mirada, y quedaréis convencidos de que el efecto es que no mira nada; que sus ojos están velados por dulcísima indiferencia, como si soñara; y es que Martí hasta frente al lente fotográfico está pensando […].349

Die verschleierten Augen Martís sind so etwas wie das Faszinosum innerhalb der Rezeptionsgeschichte des Kubaners. Man könnte leicht zeigen, in welcher Weise Martís Augen seinen Betrachtern über die Jahre seiner Rezeption hinweg als Projektionsraum ihrer eigenen Sichtweise, ja ihrer eigenen Vision von Martí gedient haben. Versteht man die Augen als den letzten Rückzugsraum der Subjektivität, den intimsten Ort des Seins, dann übten sie im Falle von Martí eine sehr große quasi-religiöse Macht und Ausstrahlungskraft auf seine Betrachterinnen und Betrachter aus. Doch was überhaupt ist ein Gesicht? Folgt man den Interpretationen von Gilles Deleuze und Félix Guattari, so setzt sich jedes Gesicht aus zwei Grundelementen zusammen: der weißen Oberfläche der Wand und zwei schwarzen Löchern.350 Eine derartige Grundkombination projiziert das, was die beiden französischen Theoretiker Visagéité nennen, auf alles, was auf einem Bild das Gesicht umgibt. Auch wenn man nicht alle Vorstellungen der beiden französischen Philosophen gutheißen muss, so trifft eine ihrer zentralen Schlussfolgerungen doch sicherlich zu: «Das Gesicht ist Politik.»351 Wie kaum ein anderer belegt der Fall Martí dies gleich in zweifacher Hinsicht: zum einen in seiner Eigenschaft als Schöpfer seines eigenen Bildes als Dichter und Revolutionär, und zum anderen mit Blick auf seine einzigartige Rezeptionsgeschichte. An diesem politischen Punkt spezifischer Gesichtlichkeit überkreuzen sich in ihrer Geschichtlichkeit nicht nur Text-Bild und Bild-Text, Bilder in der Literatur und die Literatur der Bilder, sondern auch literaturwissenschaftliche Analyse und Rezeptionsgeschichte, mit anderen Worten: Teil 1 und Teil 2 unserer vorliegenden Studie. Sie tun dies, obwohl sich bei Martí die Politik des Gesichts, die entstehende Macht des Bildes hauptsächlich jenseits von Propagandabildern wie jenem mit General Máximo Gómez vollzog. Es ist weniger das Bild der Macht als vielmehr die Macht des Bildes, die bei Martí die Politik des Gesichts, die Politik seines Gesichts, zum Ausdruck bringt und verkörpert. Wenn Kuba, wie häufig gesagt

 Garrigó, Roque E.: América: José Martí. Obra premiada con medalla de oro y regalo del honorable Presidente de la República por el Colegio de Abogados de la Habana. La Habana: Imprenta y Papelería de Rambla y Bouza 1911, S. 180 f.  Vgl. Deleuze, Gilles / Guattari, Félix: Das Jahr Null – Gesichtlichkeit. In: Bohn, Volker (Hg.): Bildlichkeit. Internationale Beiträge zur Poetik. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 430–467.  Ebda., S. 451.

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2. Hauptstück: Die Bilder der Macht

wurde, ein Land um einen einzigen Mann ist, dann fällt das Gesicht dieses Mannes, wenn wir es mit Deleuze und Guattari als Landschaft betrachten, mit dem Gesicht Kubas ineins. Denn auch hier ist das Bild Kubas, ist die Landschaft Kubas, ist die Landkarte Kubas – denken wir noch einmal an das Propagandabild von Martí und Gómez – pure Politik. All dies erklärt die Wichtigkeit dieses Gesichts beziehungsweise des Bildes, das von ihm gezeigt wird. Es mag zutreffen, dass wir über die Geschichte der Martí-Photographien noch relativ wenig wissen; aber es lässt sich sehr wohl sagen, dass in der Martí’schen Ikonographie spektakuläre Ereignisse fehlen, wie man sie etwa aus jener Lenins kennt.352 Hält man sich aber die Bedeutung der Martí’schen Ikonographie in der bisherigen Geschichte seines Landes vor Augen, dann fiele es schwer zu behaupten, dass die Zukunft in dieser Hinsicht nicht noch einige Überraschungen bereithalten könnte.

Abb. 29: Martí zusammen mit drei Landsleuten, wahrscheinlich um 1891 oder 1892.

 Vgl. hierzu die teilweise spektakulären Ergebnisse der Recherchen von Jaubert, Alain: Le commissariat aux archives. Paris: Editions Bernard Barrault 1986.

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Bis zum heutigen Tage lassen sich in der Ikonographie des Schriftstellers und Revolutionärs nur eine Reihe leichter Retuschen eher kosmetischer Art sowie manche interessegeleitete Versuche feststellen, ihn zu de- oder rekontextualisieren, mit diesem oder jenem Rahmen zu versehen. Die wohl wichtigste (Selektions-)Arbeit bestand darin, bestimmte Photographien zu kanonisieren und andere zu marginalisieren oder ganz auszuscheiden. Beide Arten der Bearbeitung folgen derselben Intention und versuchen, je nach Epoche, je nach politischem oder literarischem Kontext, ein den eigenen Wünschen oder Bedürfnissen genehmes dominantes Martí-Bild zu verbreiten. Es ist bisweilen schwierig, bei dem, was ich die Ränder der Martí’schen Ikonographie genannt habe, zu einem klaren Urteil zu gelangen. In einer kleinen Sammlung aus dem Jahre 1975 findet sich ein Bild Martís, das ich in keiner späteren Veröffentlichung, auch nicht in der Iconografía martiana gefunden habe, die doch vorgibt, alle zu seinen Lebzeiten entstandenen Bilder zu präsentieren. Das Bild zeigt Martí zusammen mit drei Landsleuten (1891–1892) (Abb. 29)353 – und über diesen Titel hinausgehende Informationen erhält man nicht. Wo wurde das Photo aufgenommen, wenn es sich überhaupt um ein Photo handelt?354 Wen zeigt es? Warum taucht es nicht in den «offiziellen» Bildersammlungen auf? Noch schwieriger stellt sich ein Abschnitt bei Martínez Estrada dar, in welchem er zwei Photos kommentiert, die ebenfalls in der Iconografía von 1985 fehlen: Im Hause Petronia Ecke Duval in Key West erscheint Martí, als er als Caballero de la Luz in die Freimaurerloge aufgenommen wird. Eine sinistre Photographie ist jene, die ihn uns mit entstelltem Antlitz im Sarg zeigt, nachdem man ihm auf dem Friedhof von Remanganaguas exhumierte, um ihn ihn nach Santiago de Cuba zu überführen. En la casa Petronia esquina Duval, Key West, Martí aparece al ser iniciado como Caballero de la Luz, en una logia masónica. Photografía siniestra es la que nos lo muestra con el rostro desfigurado, en el ataúd, al exhumárselo en el cementerio de Remanganaguas para ser conducido a Santiago de Cuba.355

 Seminario Juvenil de Estudios Martíanos: Orientaciones y Bibliografía, S. 7.  In manchen Publikationen Bilder abgedruckt, die Photographien zu sein scheinen, in Wirklichkeit aber Zeichnungen oder Gemälde sind. Bisweilen sind derlei «Verwechslungen» durchaus beabsichtigt, so etwa bezüglich einer photographieähnlichen Darstellung der «Ankunft» Martís auf Kuba, die unter dem Titel Desembarco de José Martí y Máximo Gómez abgedruckt wurde in Mayor General Máximo Gómez Baez. Sus campañas militares. Bd. II. La Habana: Editorial Política 1986, S. 116. Es gibt «apokryphe» Photographien Martís ganz so, wie es «apokryphe» Zitate Martís gibt, von denen einige sich bis heute einer weiten Verbreitung und Beliebtheit erfreuen.  Martínez Estrada, Ezequiel: Martí revolucionario, S. 430.

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2. Hauptstück: Die Bilder der Macht

Welches ist das erstgenannte Bild Martís als Freimaurer, von dem der Argentinier spricht und das er noch während seines Kuba-Aufenthaltes in den ersten Jahren der Revolution eingesehen haben will? Bei dem zweiten Bild, das nach Martís Tod entstanden ist, handelt es sich um ein Bilddokument, das nur selten veröffentlicht wurde:356 Martís Gesicht war wohl zu sehr entstellt, als dass man seine Veröffentlichung für opportun gehalten hätte. Dieses für immer zerstörte Gesicht legte offen, was nach Roland Barthes jedem Photo innewohnt, nämlich jene ein wenig schreckliche Sache, die Rückkehr des Toten: «cette chose un peu terrible qu’il y a dans toute photographie: le retour du mort.»357 An dieser Stelle ist das ça a été jeglichen photographischen Bildes auf die spitze getrieben: Der Tod bricht gleichsam aus jedem Detail der Photographie polternd hervor und breitet sich über die gesamte Fläche des Photographierten aus. Nicht nur das Gesicht, auch das Verschwinden des Gesichts ist Politik. Und Martí sollte nicht verschwinden, ja, er durfte ganz einfach nicht verschwinden. Denn mit seinem Gesicht sollte noch mehr als ein Jahrhundert lang auf Kuba Politik betrieben werden. Die am häufigsten dekontextualisierten Bilder von Martí waren genau jene Bilder, die sich am leichtesten in neue Kontexte einfügen ließen. Es sind Bilder, auf denen der Apostel oder der Delegierte, auf denen der Parteigründer oder der Dichter unmittelbar erkennbar ist. Die Beispiele hierfür sind zu zahlreich und offensichtlich, als dass sie noch einmal dargestellt werden müssten. Für unsere Problemstellung wesentlich aufschlussreicher ist der Blick darauf, was man die absichtsvolle Arbeit am Rahmen nennen könnte. Bei der Erläuterung dieser Arbeit möchte ich mich auf vier Beispiele beschränken. Im Jahre 1956 erschien ein Buch über Martís Religiosität, auf dessen Titelblatt mit Hilfe eines Kruzifixes und einer Bibel, wenn auch eher plump, die bei Martís Kleidung immer latent vorhandene sakrale Dimension betont wurde (Abb. 30).358 Ein weiteres Beispiel für eine nicht weniger schematische Bearbeitung des Rahmens wäre das Plakat für den Dokumentarfilm La guerra necesaria («Der notwendige Krieg») von Santiago Alvarez (Abb. 31): Hier wurde die Ikone Martí dem bekannten «Porträt von Jamaica» entnommen und an Bord der Yacht «Granma» montiert, so dass sich die revolutionären Überfahrten José Martís und Fidel Castros gemäß einer figuralen Geschichtsdeutung, wie sie die Kubanische Revolution entwickelte und sakralisierte, anschaulich überlagerten. Der Dekontextualisierung

 Eine Reproduktion findet sich etwa in García Martí, Raúl: Martí. Biografía familiar. La Habana: Imprenta Cárdenas y Cía 1938, sowie im Bildteil des ersten Bandes von La Gran Enciclopedia Martíana, S. 244.  Barthes, Roland: La chambre claire. Note sur la photographie. Paris: Editions de l’Etoile – Gallimard – Seuil 1980, S. 23.  Entralgo Cancio, Alberto: Martí ante el proceso de Jesús. La Habana: Ed. La Verdad 1956.

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entspricht eine rasche semantische Rekontextualisierung, welche das Bildmaterial, im Kern das Gesicht Martís, zu vereindeutigen sucht. Die beiden letzten Beispiele zeigen wiederum, dass die Ausgaben gerade seines lyrischen Werkes versuchen, sich mit Bildern zu schmücken, die mehr oder weniger unveröffentlicht sind. Dies gilt für eine Edition seiner sogenannten lira íntima (Abb. 32)359 ebenso wie für die letzte Ausgabe seiner Versos libres (Abb. 33),360 die Martí beide auf recht subtile Weise rekontextualisieren, indem sie mit Elementen seiner Kleidung spielen und auf diese Weise den Rahmen bearbeiten. Interessanterweise wird im zweiten Fall nicht nur das weiße Band der Unabhängigkeit zum luxuriösen Diamantschmuck; auch die leichte Modifikation seines Schnurrbarts verändert mehr als sein Gesicht: Sie verändert die Bedeutung dieses Gesichts. Und es wird erkennbar, wie leicht eine solche Arbeit am Rahmen ist, die zur Arbeit am Gesicht übergeht. An dieser Stelle zeigt sich sehr eindrücklich, wie im Kontext modernistischer Lyrik die Masken des Modernismo – im Sinne Ángel Ramas – Martí noch immer verfolgen; und es lässt sich in der hier vorgeschlagenen Betrachtungsweise erkennen, wie ein Element des Gesichts selbst sich in einen Teil des Rahmens verwandeln kann und die Funktionen einer Rahmung erfüllt. Damit aber tauchen die beunruhigenden Fragen von Jacques Derrida wieder auf: Wo endet der Rahmen? Und was ist überhaupt dieser Rahmen? Denn wenn die Elemente, die das Gesicht bilden – die Wand im Sinne von Deleuze und Guattari –, sich ebenfalls in Bestandteile des Rahmens, mithin in Elemente, die das für essentiell Gehaltene umgeben oder umschließen, verwandeln können, dann bleiben nur noch zwei anziehende Löcher, die Augen (von Martí) in dieser Gesichtlichkeit (Visagéité) übrig. Doch die Augen des Maestro, des Apostels, des Märtyrers reflektieren nur den Betrachter, der dieses Gesicht, diese beiden Löcher, anblickt. So glaubte Ezequiel Martínez Estrada kurz vor seinem eigenen Tod in einer identifikatorischen Bewegung hin zum Gegenstand seiner Analyse in den Augen Martís Erschöpfung und nahenden Tod zu lesen: «Ojos cansados de leer, de escribir, de gastarse a la luz de las lámparas.»361 Augen also, die des Lesens wie des Schreibens müde sind, ermüdet davon, sich im Lichte der Lampen zu verbrauchen. Was eben noch essentiell schien, wandelt sich zum Spiegel.

 Martí, José: Obras completas. Ordenadas y prologadas por Alberto Ghiraldo. Bd. 2. Madrid: Editorial Atlántida 1925.  Martí, José: Versos libres. Edición, prólogo y notas de Ivan A. Schulman. Barcelona: Editorial Labor 1970.  Martínez Estrada, Ezequiel: Martí revolucionario, S. 436.

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2. Hauptstück: Die Bilder der Macht

Abb. 30: Cover von Entralgo Cancio: Martí ante el proceso de Jesús. La Habana: La Verdad 1956.

Kehren wir ein letztes Mal zurück zu den Photographien José Martís, an deren Entwicklung wir in diesem Abschnitt unserer Studie zugleich zentrale Biographeme aus dem Leben des kubanischen Revolutionärs buchstäblich vor Augen zu führen versuchten. In einem brillanten Essay formulierte W.J.T. Mitchel, dass wir ein Bild niemals erfassen könnten, solange wir nicht begreifen, auf welche Art es uns zeigt, was man nicht sieht.362 Vergessen wir also nicht, dass die Photos von Martí nur einen winzig kleinen Teil jener Welt zeigen, in der er sich tatsächlich bewegte und die er uns zu lesen geben wollte. Die Lichtschrift von Martís Photographien taucht in ein grelles Licht all das, was seinen Unabhängigkeitskampf für Kuba illustrieren konnte, um in derselben Bewegung all das im Dunkel verschwinden zu lassen, was sich nicht dieser Ausrichtung einpassen ließ. So betrachtet können uns die Photographien auch das sehen lassen, was sie uns gerade nicht zeigen. Die ikonographischen Leerstellen «verstecken» keineswegs nur seine Familie. Abgesehen von jenen Photographien, die ihn zusammen mit kubanischen Emigranten während seiner Propagandaarbeit in Florida oder  Mitchell, W.J.T.: Was ist ein Bild? In: Bohn, Volker (Hg.): Bildlichkeit, S. 50.

Literarische Bildersprachen, photographische Bildersprachen

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Abb. 31: Plakat zum Dokumentarfilm La guerra necesaria von Santiago Alvarez, 1980.

auf den Antillen zeigen, besitzen wir kein Porträt aus anderen Etappen seines langjährigen Exils etwa in Mittelamerika oder Venezuela. Was ist mit dem Martí in Guatemala, was mit dem Martí in Caracas? Die Orte des Schreibens, die in den Texten Martís wie für deren Verständnis so wichtig sind, verschwinden beinahe in seiner Ikonographie: Selbst ein an emblematischen wie symbolischen Gegenständen so reiches Bild wie das Ölgemälde von Norrman lässt uns über die geographische Verortung von Martís Büro im unklaren. Martí war stets auf dem Sprung: Dies ist zweifellos eine der zentralen Botschaften des Gemäldes aus der New Yorker Front Street. Was nun Martís Arbeit als kritischer Begleiter der Modernisierung der lateinamerikanischen und nordamerikanischen Gesellschaften – gerade bezüglich des Aufbaus neuer interamerikanischer Informationsnetze – angeht, so existiert kein einziges Bild, das ihn in einer Zeitungsredaktion zeigen würde oder mit einem der Symbole dieser Modernisierung, dem Telegrafen, einem Zug oder – warum nicht? – mit der Brooklyn Bridge, die er in seinen Chroniken so wunderbar beschrieb. Es gibt Gedichte Martís über seine Arbeit in Redaktionen und Druckereien, von denen wir uns eines der sicherlich ausdrucksstärksten aus seiner mexikanischen Zeit be-

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2. Hauptstück: Die Bilder der Macht

Abb. 32: Illustration zu Martís Obra poética in der Edition der Obras completas von 1925.

Abb. 33: Illustration zu Martís Versos libres in der Edition von Ivan A. Schulmann, 1970.

reits zur Analyse vorgenommen haben. Es gibt Gedichte und Texte aus der Feder Martís, aber keine Photographien, welche der Gründer des Periodikums Patria des Partido Revolucionario Cubano hätte zirkulieren lassen.

Literarische Bildersprachen, photographische Bildersprachen

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Gleichermaßen gibt es auch kein Photo, auf dem er in einer der modernisierten Städte des Nordens, in einer Industrieanlage oder auf einem Hauptbahnhof zu sehen wäre und wo man je nach Aufnahme vermuten könnte, dass er gerade seine Chroniken nach Buenos Aires oder nach Caracas durchkabelt. Die Frage scheint nie gestellt und bislang auch nie beantwortet zu sein, warum wir keine Bilddokumente aus diesen (und vielen anderen) Bereichen, die doch für Leben und Werk Martís so wichtig gewesen sind, besitzen. Ist es nicht auffällig, dass Martí, der mit den zu seiner Zeit modernsten Medien arbeitete und darüber brillant reflektierte, gerade die historische Moderne aus seinen Bildern verbannt hat? So gut wie alles, was nicht mit seinen Kindern oder direkt mit seiner revolutionären Arbeit zu tun hatte, fand keinen Eingang in seine Ikonographie: Martí – so ließe sich nun mit guten Gründen sagen – war in der Tat wohl der erste Zensor seines eigenen (ikonographischen) Werkes. Er wollte, dass seine Schrift-, Bild- und Handlungstexte stets und ausschließlich sein patriotisch-revolutionäres Projekt vermitteln und wenig mehr. Einen José Martí als Denker der Globalisierung können wir auf der Ebene des vorhandenen Bildmaterials bestenfalls sekundär, durch eine bewusste Arbeit am Rahmen, erzeugen und in Szene setzen. José Martí scheint bezüglich seiner Ikonographie eine klare, unmissverständliche Leitlinie gehabt zu haben: Es durfte aus seinem Leben im Exil nur das erscheinen, was ihn mit seiner Heimat Kuba verband und was sich unmittelbar auf den antikolonialen Befreiungskampf bezog. Beinahe fünfzehn Jahre lang lebte er in New York, wo er viele Facetten des modernen Lebens studierte, die in seinen Photographien aber niemals erscheinen. Wenn Modernität in seinen Augen alles Flüchtige und Vergängliche war, dann war das Bild von sich, das er der Nachwelt hinterlassen wollte, das eines – wie es in den Versos sencillos heißt – hombre honrado, eines ehrenhaften Mannes, der jenseits wechselnder Moden existiert und außerhalb all jener Kontexte lebt, die ihn von seiner Insel trennen. So verschwindet aus seinen Büsten alles (oder beinahe alles), was vergänglich sein könnte. Sie sind bereits Büsten: Denkmäler eines Menschen, der stets sein Nachleben mitbedachte: berechnet auf eine Zeit, die weit über seine eigene Zeit hinausging. All dies erklärt die Macht seines Bildes, die Macht der von ihm geschaffenen Ikone. Es ist das Bild eines engagierten Menschen, das bereits auf originelle Weise zu einem Kunstwerk und einem Denkmal zugleich geworden ist, in welchem Subjekt und Objekt des Werkes miteinander verschmelzen und verfließen. Vielleicht beruhte Martís Traum – ähnlich dem eines anderen großen Modernisten, des Uruguayers José Enrique Rodó – auf dem Glauben an den erzieherischen, an den ethischen Wert seines Bildes, das in gewisser Weise so funktionieren sollte wie das Bild Ariels, von dem uns Próspero am Ende seiner Rede in Rodós einfluss-

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2. Hauptstück: Die Bilder der Macht

reichen Band aus dem Jahre 1900 erzählte. Auch dieser Rodó’sche Diskurs war ein Diskurs, der ein Jahrhundert abschloss, um sich damit umso effizienter auf ein neues Saeculum öffnen zu können, genauer: um dieses Jahrhundert kraft eines Bildes prägen zu können: Ich will, dass das leichte und anmutige Bild dieser Bronze sich von nun an dem sichersten Orte im Inneren Eures Geistes einprägt. […] Möge das Bild dieser Bronze – in Eure Herzen gestanzt – dieselbe unscheinbare, aber entscheidende Rolle in Eurem Leben spielen. Möge es während der lichtlosen Stunden der Niedergeschlagenheit in Eurem Bewußtsein die Begeisterung für das wankende Ideal wiedererwecken, Eurem Herzen die Wärme der verlorenen Hoffnung zurückgeben.363 Yo quiero que la imagen leve y graciosa de este bronce se imprima desde ahora en la más segura intimidad de vuestro espíritu. […] Pueda la imagen de este bronce – troquelados vuestros corazones con ella – desempeñar en vuestra vida el mismo inaparente pero decisivo papel. Pueda ella, en las horas sin luz del desaliento, reanimar en vuestra conciencia el entusiasmo por el ideal vacilante, devolver a vuestro corazón el calor de la esperanza perdida.364

Die Macht des von dem uruguayischen Modernisten José Enrique Rodó in seinem Ariel gewählten Bildes ist, wie die breiten Feierlichkeiten aus Anlass der Hundertjahrfeiern seines Todes weltweit zeigten, schwächer geworden, aber nicht gänzlich verblasst.365 Anders als bei dem uruguayischen Essayisten ist die Aktualität José Martís auf der Ebene der Relevanz seines Denkens eher noch gewachsen – wenn auch sicherlich gerade in jenen Bereichen, die außerhalb der Lichtkegels seiner von ihm kanonisierten Lichtschriften liegen. In den Gesellschaften des 21. Jahrhunderts, in denen die Macht der Bilder ungebrochen ist und immer weiter zu wachsen scheint, könnte auch die Macht des Bildes José Martís weiter wachsen, wenn wir denn lernen, dass sich das Denken Martís keineswegs allein auf die koloniale Zerreißprobe zwischen Kuba und Spanien beschränkte oder konzentrierte. Es gilt, in und neben den Photographien José Martís jene Bereiche zu sehen, auf denen wir im Sinne Mitchells

 Rodó, José Enrique: Ariel. Übersetzt, herausgegeben und erläutert von Ottmar Ette. Mainz: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung 1994, S. 186 f.  Rodó, José Enrique: Ariel. In (ders.): Ariel. Motivos de Proteo. Prólogos Carlos Real de Azúa. Edición y Cronología Angel Rama. Caracas: Biblioteca Ayacucho 1976, S. 54 f.  Vgl. hierzu etwa die internationalen Aufsätze in Podetti, José Ramiro (Hg.): Lecturas contemporáneas de José Enrique Rodó. Montevideo: Sociedad Rodoniana 2018; sowie Ette, Ottmar: Archipelisches Schreiben und Konvivenz. José Enrique Rodó und seine «Motivos de Proteo». In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte / Cahiers d’Histoire des Littératures Romanes (Heidelberg) XLII, 1–2 (2018), S. 173–201.

Literarische Bildersprachen, photographische Bildersprachen

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erkennen, was auf den ersten Blick nicht zu sehen ist, was in jedem Falle aber durch das Bild aufgezeigt werden kann. So können wir ein neues Bild José Martís entstehen lassen – und dies trotz einer gegenläufigen Bewegung, die laut Roland Barthes auf Grund der schieren Masse von Bildern und Illustrationen in den heutigen massenmedialen Gesellschaften die ethische Dimension des Bildes auszulöschen droht: Was die sogenannten fortgeschrittenen Gesellschaften charakterisiert ist, dass diese Gesellschaften heute Bilder und nicht mehr wie jene von früher Glaubensüberzeugungen konsumieren; sie sind daher liberaler, weniger fanatisch, aber auch «falscher» (weniger «authentisch») – dies ist etwas, das wir im gängigen Bewusstsein mit dem Eingeständnis des Eindrucks ekelerregender Langeweile übersetzen, so als ob das Bild, indem es sich universalisiert, eine Welt ohne Differenzen (eine indifferente Welt) hervorbrächte […]. Ce qui caractérise les sociétés dites avancées, c’est que ces sociétés consomment aujourd’hui des images, et non plus, comme celles d’autrefois, des croyances; elles sont donc plus libérales, moins fanatiques, mais aussi plus «fausses» (moins «authentiques») – chose que nous traduisons, dans la conscience courante, par l’aveu d’une impression d’ennui nauséeux, comme si l’image, s’universalisant, produisait un monde sans différences (indifférent) […].366

Die sorgsam entwickelte und in Szene gesetzte Bilderwelt José Martís scheint diesem Prozess der In-Differenz bislang einen Widerstand entgegenzusetzen, der auf der Macht, dem – wie er an María Mantilla schrieb – poderío367 des von ihm projizierten Bildes beruht. Den Lichtkegel dieses machtvollen Bildes, dieser übermächtigen Licht-Schrift von Martís Photographien, müssen wir verlassen, um das zu verstehen, was sein Bild zugleich zeigt, verhüllt und uns zu lesen gibt. All dies beinhaltet die Notwendigkeit, die dunkleren Stellen dieses machtvollen Bildes ebenfalls zur Geltung zu bringen und zugleich ein Bild des Denkers diesseits wie jenseits der in seinen Bildern zentral gestellten Unabhängigkeit seiner Heimatinsel Kuba zu entfalten. Dies ist im Sinne des vorliegenden Bandes das Bild des Denkers der Globalisierung, das im nachfolgenden Hauptstück entfaltet werden soll.

 Barthes, Roland: La chambre claire, S. 183.  Martí, José: Cartas a María Mantilla, S. 88.

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Geschlechtermodellierungen des Modernismo und ein Exkurs zu Juana Borrero Die zurückliegenden Überlegungen und Untersuchungen haben es uns gezeigt: Die Zärtlichkeit, mit welcher der Kubaner José Martí seinen Sohn José alias Ismaelillo umgab, ist im gleichnamigen Gedichtband, dem ersten lyrischen Fanal der neu entstehenden Bewegung des hispanoamerikanischen Modernismus, offenkundig. Die verschiedenen Photographien José Martís hatten uns zudem vor Augen geführt, dass Martí diese väterliche Beziehung auch im Bild festgehalten wissen wollte und dass die Vater-Sohn-Beziehung, welche durch die zerbrechende Ehe mit Carmen Zayas Bazán sowie deren überstürzte Rückkehr in das von Spanien kolonialisierte Kuba bis zum Lebensende des kubanischen Freiheitskämpfers unterbrochen worden war, für den eine Rückkehr auf die Insel nur unter den Vorzeichen einer Eröffnung des militärischen Kampfes gegen den kolonialen Usurpator möglich war, für den Verfasser des Ismaelillo unverändert fortbestand. An die Stelle der immer auswegloser gewordenen Beziehung zur eigenen Ehefrau waren nach deren von spanischen Stellen eifrig vermittelten Übersiedlung nach Kuba mit der Zeit im Manhattaner Exil andere zarte Bande getreten, welche José Martí als öffentliche Figur in einer christlich-katholisch geprägten Gemeinschaft freilich nicht offizialisieren konnte. Und an die Stelle des eigenen Sohnes von Fleisch und Blut war eine Tochter im übertragenen Sinne getreten, für welche die Führungsfigur des kubanischen Exils in steigendem Maße Verantwortung übernahm und ebenfalls große Zärtlichkeit empfand. Dies belegen die zahlreichen Briefe José Martís an seine kleine Tochter. «Trabaja. Un beso. Y espérame»368 – Arbeite; ein Küsschen; und wart auf mich: Mit dieser Schlussformel endet ein auf Cabo Haitiano, den 9. April 1895 datierter Abschiedsbrief, der zugleich einer der ergreifendsten Liebesbriefe der kubanischen Literaturgeschichte ist. Denn der Delegado des Partido Revolucionario Cubano wusste zu diesem Zeitpunkt sehr wohl, dass er seine junge Briefpartnerin im fernen Manhattan nicht mehr wiedersehen würde. Denn José Martí war längst in einer anderen Welt, war längst innerhalb jenes Wirbels, jenes Hurrikans, den er selbst geschaffen hatte und der ihn zerstören sollte. Nach der Unterzeichnung einer Kriegserklärung, die manches von einer Liebeserklärung hat und unter dem Titel Manifiesto de Montecristi eher in die Literatur- als in die Militärgeschichten Eingang finden sollte, stand der Absender  Martí, José: Cartas a María Mantilla. La Habana: Editorial Gente Nueva – Centro de Estudios Martíanos 1982, S. 102. Dieser neuere, in einem Kinder- und Jugendbuchverlag erschienene, aber nicht nur für jugendliche Leser gedachte Faksimileband bietet zugleich und vor allem die entsprechenden Transkriptionen der handschriftlichen Briefe Martís.

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dieses Briefes im Begriff, zusammen mit Máximo Gómez und wenigen Getreuen ins benachbarte Kuba überzusetzen; und der Autor des Briefes wusste nur zu genau, dass ihn dort sein eigener Tod erwarten konnte, ja erwarten musste. Nach den Worten des kubanischen Dichters José Lezama Lima369 tauchte Martí in den von ihm selbst geschaffenen Wirbel des Krieges ein, ohne jede Aussicht auf Rückkehr in die Welt eines globalen Denkens, die er sich von Manhattan aus geschaffen hatte. Martí war auf einer atemlosen Reise und hatte eigentlich keine Zeit, um seinem Töchterchen ausführliche Liebesbriefe zu schreiben. Doch er nahm sich diese Zeit. Das Leben, so der Verfasser von Nuestra América,370 habe er auf der einen Seite des Tisches, den Tod auf der anderen sowie ein ganzes Volk in seinem Rücken: Und doch schreibe er seiner geliebten María so viele Seiten.371 Es sollten die letzten neunzehn Seiten dieses Briefwechsels des kubanischen Dichters, Revolutionärs und Essayisten mit seiner hijita werden,372 fiebrige Seiten, deren sich verändernde Handschrift eine schöne Faksimileausgabe deutlich erkennbar zeigt. In der für ihn extremen existenziellen Situation gab er seiner Briefpartnerin eine Aufgabe, verbunden mit der erpresserischen Formel, sie solle sie erfüllen, wenn sie ihn liebe, und übergehen, wenn sie ihn nicht liebe.373 Denn José Martí bat seine María, jeden Tag eine Seite aus zwei französischsprachigen Büchern, die sich mit der Geschichte der Menschheit und der Geschichte der Pflanzen beschäftigen, zu übersetzen. Wozu dieses Insistieren, wozu diese kleine Erpressung? Die aufschlussreichen Überlegungen zur Kunst des Übersetzens, die der kubanische Intellektuelle, der schon in jungen Jahren selbst – wie wir sahen – einen Text von Victor Hugo, Mes fils, ins Spanische übertragen hatte, seiner nachhaltig formulierten Bitte folgen ließ, sollen uns weniger beschäftigen als die auf den ersten Blick erstaunliche Tatsache, dass hier ein Mann im Angesicht des eigenen Todes einem jungen Mädchen Ratschläge zur Praxis des Übersetzens gibt. Warum aber maß Martí dem Übersetzen in der Erziehung von María Mantilla eine solch hohe Bedeutung bei? Denn bedeutungsvoll ist es sehr wohl, welch große Relevanz der Tätigkeit des Übersetzens und damit einer interkulturellen Fähigkeit und Kompetenz in

 Vgl. hierzu die Bände drei und sechs der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Von den historischen Avantgarden bis nach der Postmoderne (2021); sowie ders.: Geburt Leben Sterben Tod (2022).  Vgl. hierzu den vierten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten (2021).  Martí, José: Cartas a María Mantilla, S. 84.  Vgl. zur Rezeptionsgeschichte des kubanischen Nationalhelden Ette, Ottmar: José Martí. Teil I: Apostel – Dichter – Revolutionär. Eine Geschichte seiner Rezeption. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1991.  Martí, José: Cartas a María Mantilla, S. 72.

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dieser dringlichen Bitte kurz vor dem eigenen Tode des Briefeschreibers zugewiesen wird. José Martís Menschenbild war gerade an dieser Fähigkeit in besonderem Maße orientiert, blieb er sich doch stets der enormen Bedeutung bewusst, die der interkulturellen Vermittlung gerade in der kubanischen Kultur zukam.374 Er wusste sehr genau, dass Kultur in der Moderne – und in seinem geliebten Nuestra América mehr als anderswo – Translation ist: Kultur als Übersetzung, als Übertragung: als Transplantation, als Transformation. Dies hatte sehr viel mit Martís Einsicht in die Bedingungen des Schreibens in der Epoche der Moderne zu tun. Die neue, im hispanoamerikanischen Modernismo im Entstehen begriffene Sprache Amerikas musste das Ergebnis ständiger Übersetzungsvorgänge sein, um nicht zur Imitation eines bestimmten Sprachzustandes zu verkommen. Wir kommen nicht umhin, dem translatorischen Aspekt in Martís Entwurf des modernen Subjekts eine herausragende Stellung einzuräumen. Wir hatten diese internationale Orientierung an fremdländischen Kulturen spätestens seit Abdala und damit von Beginn seines romantischen Schreibens an gesehen. So konnte, ja so musste fast aus dem Abschiedsbrief an das geliebte Mädchen eine Schule der Übersetzung werden, eine Schule in der Fähigkeit, Sprache und damit Realitäten zu bilden, die sich aus verschiedenen Kulturen und ihren Übersetzungsvorgängen zusammensetzen. Aber wer ist María Mantilla? Bei der jungen Dame, deren Photographie Martí auf seiner letzten Reise stets mit sich führte und die er noch bei seinem Tod in Dos Ríos bei sich trug, handelt es sich um die Tochter von Manuel Mantilla und Carmen Miyares, die nach dem Tode ihres Mannes in den Jahren des zweiten New Yorker Exils zur Lebenspartnerin des Kubaners wurde, nachdem Martís Frau Carmen Zayas Bazán ihm den Rücken gekehrt und ihren gemeinsamen Sohn zurück nach Kuba gebracht hatte. So handelt es sich bei den Briefen an María Mantilla um Briefe an ein zum damaligen Zeitpunkt noch nicht fünfzehnjähriges Mädchen, für das José Martí zum geistigen Vater geworden war, obwohl der Ton seiner Briefe bis auf den heutigen Tag Anlass zu Spekulationen gab, es könnte sich bei María auch um die uneheliche Tochter des kubanischen Autors handeln. Ich werde mich nicht auf unfruchtbare biographische Spekulationen einlassen, die ohnehin auf höchst zweifelhaften Konstruktionen beruhen. Wie dem auch sei: Die Tochter von Carmen Miyares machte den Autor des 1882 seinem Sohn gewidmeten Gedichtbandes Ismaelillo – und zwischen diesen Gedichten und den Briefen an María gibt es eine Vielzahl bislang unent-

 Vgl. zu dieser Bedeutung aus heutiger Perspektive Pérez Firmat, Gustavo: The Cuban Condition. Translation and Identity in Modern Cuban Literature. Cambridge: Cambridge University Press 1989.

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deckter Bezüge – ein zweites Mal zum Vater. José Martí nahm diese Rolle mit enormem Enthusiasmus und mit großer Zärtlichkeit für das junge Mädchen an. All dies blieb nicht ohne Folgen. In ihrer Gesamtheit sind die uns überlieferten Briefe von einem eigenartigen Wechsel zwischen väterlicher Strenge und verliebter Leidenschaft geprägt, die oft genug um die Geschlechterdifferenz kreist. Denn diese Briefe sagen uns sehr viel über José Martís Verständnis und Sichtweise von Frauen, geben uns Einblicke in seine Vorstellungen von Geschlechterbeziehungen und der jeweiligen Rollen, die Männer und Frauen nach seinem Dafürhalten in ihrem wechselseitigen Umgang und in der Gesellschaft zu übernehmen hatten. Immer wieder kommt Martí dabei auf Fragen der Bildung und Erziehung zu sprechen und entwirft ganz nebenbei ein weibliches Erziehungsbild, das er nicht nur auf María Mantilla projizierte. Dabei durften Überlegungen zur Frage der Kleidung nicht fehlen. Ich möchte dabei aus anderem Blickwinkel auf ein Zitat zurückkommen, das im vorausgehenden Abschnitt schon einmal kurz beleuchtet wurde. Darin gab der patriarchalisch denkende Martí der kleinen María Mantilla mit auf den Weg: Die Eleganz der Kleidung – ich meine die große und wahrhaftige – liegt in der Hoheit und Stärke der Seele. Eine ehrenhafte Seele, intelligent und frei, vermittelt dem Körper mehr Eleganz und damit der Frau mehr Macht als die reichsten Moden der Boutiquen. Viel Boutique, wenig Seele. Wer viel drinnen besitzt, braucht draußen wenig. Wer viel draußen trägt, besitzt wenig drinnen und will das Wenige weg lügen. Wer seine Schönheit fühlt, die innere Schönheit, sucht keine geborgte äußere Schönheit: Man weiß sich als schöne Frau, und diese Schönheit verstrahlt Licht. La elegancia del vestido, — la grande y verdadera, — está en la altivez y fortaleza del alma. Un alma honrada, inteligente y libre, da al cuerpo más elegancia, y más poderío a la mujer, que las modas más ricas de las tiendas. Mucha tienda, poca alma. Quien tiene mucho adentro, necesita poco afuera. Quien lleva mucho afuera, tiene poco adentro, y quiere disimular lo poco. Quien siente su belleza, la belleza interior, no busca afuera belleza prestada: se sabe hermosa, y la belleza echa luz.375

José Martí entfaltet in diesen Zeilen einen Diskurs der Schönheit, aber deutlich weniger der Formen als vielmehr der Normen von weiblicher Schönheit. Wenn er der Frau das Element der Schönheit zuweist, welches dieser Macht über andere und speziell über Männer vermittelt, so bindet er seine Schönheitsnorm zurück an den Gegensatz zwischen Äußerem und Innerem, zwischen Äußerlichkeit und Innerlichkeit. Und dabei optiert der kubanische Revolutionsführer eindeutig für die inneren Qualitäten, gleichsam für eine Schönheit, die von innen kommt.

 Martí, José: Cartas a María Mantilla, S. 88–90.

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2. Hauptstück: Die Bilder der Macht

José Martís Diskurs über die (weibliche) Kleidung und über die Mode ist ein zutiefst moralisierender Diskurs, der scharf zwischen einem Innen der wahren Werte und einer Äußerlichkeit unterscheidet, die nur Fassade bleibt. Alles, was modische Kleidung angeht, ist in seinen Augen nur ein Verkleiden der Fassade, nur ein Verstecken jener wahren Schönheit, die von innen, von der Schönheit der Seele kommen muss. Der (äußerlichen) Kleidung, die als Mode für Martí gerade nicht das Moderne, sondern bestenfalls das Ephemere und Oberflächliche, ja maskenhaft Verstellte repräsentiert, wird ein essentialistischer Diskurs der Innerlichkeit entgegengestellt, in dessen Zentrum die Seele steht, die erst dem weiblichen Körper Eleganz, Macht (poderío) und Licht zu geben vermöge. Dieser männliche Diskurs über weibliche Schönheit ist normativ, moralisch und patriarchalisch zugleich geprägt. Überhaupt ist Martís Diskurs über weibliche Kleidung nicht von Martís Bild der Frau zu trennen. Die Kleidung der Frau unterliegt den Vorgaben des Mannes, der eine gut sichtbare, in Szene gesetzte weibliche Schönheit als pure Fassade abtut. Die Schönheit der Frau müsse eine natürliche, moralische Schönheit sein und nicht die Schönheit ihres Fleisches, ihrer äußeren Reize. Dieses Frauenbild war schon in Martís frühen Schriften – etwa seinem Theaterstück Adúltera – immer von einer fundamentalen (und topischen) Ambivalenz geprägt, insoweit die Reinheit der Frau als Jungfrau, Mutter und Engel stets von der Fleischlichkeit und Sünde bedroht schien. Nicht zufällig hieß bereits in der ersten Fassung des genannten Theaterstücks die einzige Protagonistin (im spanischen Original) Fleisch, ein Name, der im Gegensatz zu denen der männlichen Protagonisten auch in der zweiten Fassung beibehalten wurde. Es ist das Fleischliche, das die Ehrbarkeit und damit die konjugale Schönheit der Frau bedroht und sie gegebenenfalls für den Ehebruch empfänglich macht. Martís Frauenbild ist das Frauenbild eines lateinisch geprägten Amerika. Die Erfahrungen im US-amerikanischen Exil führten keineswegs zufälligerweise dazu, in dieses Frauenbild eine (inter-)kulturelle Opposition einzuführen, die er der in New York lebenden María Mantilla in einem Brief aus Mexiko, wo er seinem Freund Manuel Mercado und dessen Töchtern einen Besuch abstattete, wie folgt erläuterte: Aber hier ist das Bewundernswerte die Scham der Frauen, nicht wie dort, wo sie den Männern eine zu hautnahe und hässliche Haltung zubilligen. Dies hier ist ein ganz anderes Leben, meine geliebte Maria. Und sie sprechen mit ihren Freunden mit aller nötigen Freiheit; aber mit Abstand, ganz wie der Abstand zwischen Blume und Wurm.376

 Ebda., S. 28–30: «Pero lo admirable aquí es el pudor de las mujeres, no como allá, que permiten a los hombres un trato demasiado cercano y feo. Esta es otra vida, María querida. Y hablan con sus amigos, con toda la libertad necesaria; pero a distancia, como debe estar el gusano de la flor.»

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Für die Frau müsse die Scham, müsse eine auf Abstand berechnete Schamhaftigkeit sprechen, die sehr wohl in Kontakt mit den Männern stehe, diese zugleich aber auf Distanz halte und sich nicht wie in den USA der Promiskuität ergebe. Der spätere kubanische Nationalheld will die Frauen durchaus nicht in Unwissenheit und völliger Abhängigkeit von den Männern wissen. Deshalb räumt er gerade der weiblichen Erziehung eine besondere Bedeutung ein, welche freilich aus der Perspektive des Mannes beurteilt und geprägt werden müsse. Dabei beharrt er auf klaren Trennungen, auf fundamental unterschiedlichen Geschlechtermodellierungen im spanisch-amerikanischen Raum, welche sich auch in der unterschiedlichen Erziehung von Knaben und Mädchen ausdrücken müssten. Mit anderen Worten: Martí setzt auf die Bildung der Frau und ihre eigene berufliche Tätigkeit, will sie aber getrennt von der Männerwelt wissen, die sie in ihrer Reinheit bedroht. Dabei übernimmt das Martí’sche Frauenbild eine Vielzahl männlicher Heterostereotypen, wie sie im Geschlechterdiskurs in Lateinamerika an der Tagesordnung waren. Das Frauenbild in den Vereinigten Staaten des Nordens gerät ihm dabei zur Negativfolie, waren die Frauen in den USA für ihn doch bei weitem zu unabhängig und an ihren eigenen Karrieren ausgerichtet. Vor einer solchen kulturellen Integration versuchte Martí seine María in Manhattan zu bewahren. Stets wird die Frau bei Martí topisch auf das Innere von Räumen, aber auch auf die Innerlichkeit bezogen, so dass es nicht verwundert, wenn sich in den Briefen an María Mantilla bisweilen liebevolle, bisweilen auch bedrohliche Metaphern einer Allgegenwart des Liebhabers und einer väterlichen Überwachung finden lassen, die Martí seiner María immer wieder vor Augen führt. Auch in der erzwungenen Abwesenheit versucht der geistige Vater für seine Tochter präsent, ja allgegenwärtig zu sein. So fragt er nicht nur, wie er es anstellen könnte, ganz klein zu werden und im eigenen Briefe mitzureisen «a darte un abrazo»,377 sondern stellt dem jungen Mädchen noch eine weitere Frage: «Siehst Du dort den großen Kirschbaum, der den Hühnerställen Schatten spendet? Nun, der bin ich, mit so vielen Augen, wie es Blätter an ihm gibt, und mit so vielen Armen, Dich zu umarmen, wie es Zweige an ihm hat. Und alles, was Du tun und denken magst, werde ich sehen, so wie es der Kirschbaum sieht. Du weißt, dass ich ein Hexer bin und dass ich die Gedanken selbst aus der Ferne errate.»378 Das Ziel Martís war es gewiss nicht,

 Ebda., S. 46.  Ebda., S. 16: «¿Ves el cerezo grande, el que da sombra a la casa de las gallinas? Pues ese soy yo, con tantos ojos como tiene hojas él, y con tantos brazos, para abrazarte, como él tiene ramas. Y todo lo que hagas, y lo que pienses, lo veré yo, como lo ve el cerezo. Tú sabes que yo soy brujo, y que adivino los pensamientos desde lejos […].»

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dem jungen Mädchen Angst einzujagen, wohl aber, seine väterliche Autorität auch aus der Ferne zu etablieren. Auch in diesen Briefen an María Mantilla sehen wir den kubanischen Dichter am Werk. Er entwirft machtvolle Bilder, mit deren Hilfe er diesmal keine heterogene Zuhörerschaft, sondern ein junges Mädchen fesseln will. Dabei entwirft der Lyriker naturbezogene Bilder von komplexer Ausstrahlungskraft wie das poetische, literarische Bild des Kirschbaumes, der das Mädchen mit all seinen Blättern, mit all seinen Augen observiert und an sich bindet. Doch alles ist in einen liebevollen väterlichen Diskurs eingebettet, einen Diskurs, der das Patriarchalische als gleichsam «natürlich» erscheinen lässt. Aber die lyrischen Klang- und Bedeutungsspiele zwischen ojos und hojas, zwischen brazo und abrazo sind ebenso schön wie gefährlich und verweisen darauf, dass der Dichter hier die Macht seiner lyrischen Sprach-Bilder einsetzt. Und José Martí ist sich der Macht nicht nur seiner photographischen, sondern vor allem seiner literarischen Bilder höchst bewusst. Dabei ist der Dichter variantenreich und vielgestaltig. Zwischen Freund und Vater, zwischen Liebhaber und Hexenkünstler schwanken die Rollenmasken, die sich Martí in seinen Briefen an María Mantilla selbst überzieht. Doch stehen sie stets im Zeichen einer paternalistischen Omnipräsenz und Ubiquität, die sich gerade durch die andere Rolle, die sich in seinen Augen die Frauen in den Vereinigten Staaten erobert hatten, bedroht sah. Martí aber blieb seinem patriarchalischen Frauenbild treu und versuchte, in diesem Sinne auf die geschlechterspezifische Erziehung von María Mantilla Einfluss zu nehmen. In einem auf den 17. Oktober 1886 in New York datierten Korrespondentenbericht für die in Mexiko erscheinende einflussreiche Tageszeitung El Partido Liberal, der dort am 7. November 1886 abgedruckt wurde, schilderte Martí seinen mexikanischen Leserinnen und Lesern den unerschrockenen Einsatz von Lucy Parsons, einer «mestiza de indio y mexicano»,379 einer Mestizin aus Indianer und Mexikaner, welche die USA bereise und überall versuche, die öffentliche Meinung zugunsten ihres zum Tode verurteilten Mannes zu mobilisieren. Aber war das in den Augen des Kubaners statthaft? Trotz aller Bewunderung, die Martí für eine Frau empfinden musste, die sich mit aller Macht gegen die Vollstreckung des Todesurteils an den Anarchisten von Chicago einsetzte, überwogen doch die negativen Qualifizierungen einer in den USA fälschlich als «Mulattin» titulierten Frau, da ihre Aktivitäten

 Martí, José: Correspondencia particular de «El Partido Liberal»: La mujer norteamericana. In (ders.): Nuevas cartas de Nueva York. Investigación, introducción e índice por Ernesto Mejía Sánchez. México: Siglo XXI 1980, S. 81.

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in krassem Widerspruch zu Martís eigenem Frauenbild standen. Martí machte ihr nicht zum Vorwurf, dass sie sich für ihren Mann einsetzte, sondern wie sie sich für ihren Mann einsetzte. Denn Lucy Parsons hatte ihren ihr angestammten und von den Männern zugedachten Ort als Frau verlassen – und eben dies war es, was Martí der engagierten Lucy vorwarf. So folgten geradezu zwangsläufig der Berichterstattung allgemeine Anmerkungen über die Rolle der Frau in den USA, die sich auch in anderen Publikationen Martís finden lassen. Selten aber kommen sie in so unmissverständlicher Form zum Ausdruck und zeigen sich so ungeschminkt wie in der nachfolgenden längeren Passage: Ein einzigartiges Spektakel ist das dieser Frau, die quer durch die Vereinigten Staaten reist und dabei von den Bühnen herab, auf den Bürgersteigen und von den öffentlichen Plätzen aus Gerechtigkeit fordert für ihren eigenen Ehemann, der zum Tode verurteilt wurde. Doch es erscheint als gar nicht so seltsam, zieht man die höchst bemerkenswerte herausragende Stellung in Betracht, welche die Frau im nordamerikanischen Leben spielt. Es handelt sich nicht allein um jene rüde Ungezwungenheit und hässlich anzusehende Freiheit, welche die Frau hier genießt; sondern um ihre Kondensierung im Verlaufe der Zeit in einer männlichen Stärke, die sich in ihren Wirkungen und in ihren Methoden mit der Stärke des Mannes vermengt. Diese Bedingung, die nützlich für das Individuum, aber todbringend für die Spezies ist, entsteht aus der Häufigkeit, mit der sich hier die Frau sich selbst überlassen sieht durch die schnellen Veränderungen des Schicksals in diesem Lande von Wagnissen und des Ungewissen der ehelichen Beziehungen. Jene bezaubernde Abhängigkeit unserer Frauen, welche derjenigen, die leidet, eine solche Herrlichkeit verleiht und so sehr den Mann dazu stimuliert, sie dankbar zu stimmen, verwandelt sich hier im allgemeinen durch das Interessegeleitete der Geister in eine feindliche Beziehung, in welcher das Morgengrauen der Hochzeitsnacht zerstiebt und der Mann nicht mehr sieht als die Verpflichtung und die Frau nicht mehr als ihre Bequemlichkeit und ihren Rechtsanspruch. Und so weicht die Frau auch nicht so süß und vollständig ihrer Mission der Selbstaufgabe, so wie sich das Licht der Sterne der Nacht hingibt […]. Singular espectáculo, el de esa mujer que recorre los Estados Unidos pidiendo desde los escenarios, desde las aceras, desde las plazas públicas, justicia para su propio esposo condenado a muerte. Pero no parece tan raro si se observa la prominencia curiosísima de la mujer en la vida norteamericana. No se trata sólo de aquel rudo desembarazo y libertad afeadora de que aquí la mujer goza; sino de la condensación de ellas, con el curso del tiempo, en una fuerza viril que en sus efectos y métodos se confunde con la fuerza del hombre. Esta condición, útil para el individuo y funesta para la especie, viene de la frecuencia con que la mujer se ve aquí abandonada a sí misma, de lo mudable de la fortuna en este país de atrevimiento, y de lo inseguro de las relaciones conyugales. Aquella encantadora dependencia de la mujer nuestra, que da tanto señorío a la que la sufre, y estimula tanto al hombre a hacerla grata, aquí se convierte en lo general por lo interesado de los espíritus en una relación hostil, en que evaporada el alba de la boda, el hombre no ve más que la obligación, y la mujer más que su comodidad y su derecho. Ni cede la

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mujer tan dulce y ampliamente a su misión de darse, como se da a la noche la luz de las estrellas […].380

José Martí rühmt die süße und so schöne Abhängigkeit der Frau in den spanischsprachigen Ländern Amerikas und setzt von diesem idyllischen Frauenbild eines sich als selbstverständlich erachtenden Patriarchats die unabhängige und freie Stellung der Frau in den USA ab, die nicht ihrem Manne ergeben sei und auf ihre eigenen Rechte achte. Um wieviel schöner ist es doch da, im Süden des Kontinents weiterhin in traditionellen Verhältnissen leben zu können, in welchen die Abhängigkeit der Frauen auf so süße und dem Manne gefällige Weise fortbesteht. Die zu große Unabhängigkeit der Frau mache diese hässlich, eine Formulierung, die Martí auch in seinem Brief an María Mantilla fand. Martís Sichtweise und Verständnis von Lucy Parsons’ Engagement im öffentlichen Raum wird von einem Phänomen «gestört», das eine essentielle Dimension dessen ausmacht, was die US-amerikanische Philosophin und Feministin Judith Butler in ihrem vielleicht einflussreichsten Buch als Gender trouble bezeichnet hat.381 Martí empfand diesen Gender trouble und schilderte ihn. Das Verstehbare, Intelligible am Geschlechtlichen wird von seinem natürlichen Platz gleichsam deplatziert und wirkt daher auch deplatziert, scheint seine innere Wahrheit als Wahrheit des Inneren verloren zu haben: No longer believable as an interior «truth» of dispositions and identity, sex will be shown to be a performatively enacted signification (and hence not «to be»), one that, released from its naturalized interiority and surface, can occasion the parodic proliferation and subversive play of gendered meanings. This text continues, then, as an effort to think through the possibility of subverting and displacing those naturalized and reified notions of gender that support masculine hegemony and heterosexist power, to make gender trouble, not through the strategies that figure a utopian beyond, but through the mobilization, subversive confusion, and proliferation of precisely those constitutive categories that seek to keep gender in its place by posturing as the foundational illusions of identity.382

Der Trouble besteht hier in der verdoppelten Deplatzierung von Kulturen und Geschlechtern, welche die kulturell erzeugten und zugewiesenen Identitäten in einer Bewegung unterlaufen, die an die semiologische Dekodierung des scheinbar «Natürlichen» in Roland Barthes’ Mythologies erinnert.383 Denn was als

 Ebda., S. 83.  Cf. Butler, Judith: Gender trouble. Feminism and the subversion of identity. New York, London: Routledge 1990.  Ebda., S. 33 f.  Cf. Barthes, Roland: Mythologies. Paris: Seuil 1957.

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natürlich erscheint, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als kulturelle Setzung, als reine Kultur, die sich als Natur bloß tarnt, um noch effizientere Wirkungen auszulösen. so ist auch in den Briefen an María Mantilla die väterliche Setzung nur scheinbar natürlich, wird diese Setzung doch auf kurzem Wege zum patriarchalischen Gesetz. Die Frauen, so musste Martí feststellen, hatten in den Vereinigten Staaten von Amerika die Innenräume verlassen, die öffentlichen Plätze «erreicht» und zugleich ein Rollenverhalten entwickelt, das dem in vielerlei Hinsicht traditionalistischen und paternalistischen Frauenbild des Kubaners nicht nur zuwider lief, sondern als «unnatürlich» zuwider war. Zugleich verstand Martí sehr wohl, dass diese andere Position der Frau in der Gesellschaft eng mit der Ausbildung anderer Geschlechterrollen verknüpft war, die auf die ökonomischen und sozialen Veränderungen innerhalb der angloamerikanischen Gesellschaft zurückverwies. Die Veränderungen der Frauenrollen in den USA standen folglich – und dies wusste Martí – in engstem Verhältnis mit jenen Prozessen sozioökonomischer Modernisierung, welche er so aufmerksam beschrieb. Doch all diesen Veränderungen im Verständnis des Frauenbildes stand der Verfasser von Nuestra América skeptisch bis ablehnend gegenüber. Er erstrebte für Nuestra América eine Moderne, in welcher sich das traditionelle Frauenbild des Südens nicht verändern sollte. Wir hatten dies bereits in seinem Roman Amistad funesta gesehen. Martí hatte sehr wohl die Hintergründe dafür verstanden, warum sich das Verständnis der Rolle der Frau in den USA so stark verändert hatte. Die in dieser Einsicht zugleich enthaltene Zivilisationskritik beleuchtete nicht allein das Frauenbild Martís, das nach der Lektüre eines wenige Monate später, am 3. Januar 1887 in der renommierten Bonaerenser Tageszeitung La Nación erschienenen Artikels bereits von dem argentinischen Schriftsteller und Politiker Domingo Faustino Sarmiento kritisiert wurde, solle der Kubaner doch weniger mit einer spanischen als mit einer nordamerikanischen Sichtweise die Stellung der Frau in seinen Chroniken beschreiben, sondern zeigte ebenso auf, wie sehr der kubanische Essayist und Kulturtheoretiker das Projekt einer Moderne zu entwickeln trachtete, die sich grundlegend von der so erfolgreich in den USA praktizierten unterscheiden sollte. Denn Martí war sehr wohl für die Modernisierung der Gesellschaften und ihrer technologischen Möglichkeiten wie ihrer sprachlichen Diskurse, wandte sich aber deutlich gegen jede Veränderung einer den Traditionen verpflichteten Rolle der Frau. Schon als Jugendlicher hatte er klare Geschlechterbilder von Frauen entworfen, die er später in seinen Theaterstücken konkretisierte. An diesen patriarchalischen und bisweilen misogynen Vorstellungen hielt der kubanische Schriftsteller Zeit seines Lebens fest und war nicht bereit, von seinem paternalistischen Frauenbild signifikant abzuweichen. Effekte der Modernisie-

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2. Hauptstück: Die Bilder der Macht

rung durften die Geschlechterbeziehungen, die Beziehungen zwischen Mann und Frau, nach seinem Dafürhalten nicht grundlegend verändern. Schon der nicht gerade für feministische Positionen bekannte Argentinier Domingo Faustino Sarmiento hatte bemängelt, dass Martís Sichtweise der nordamerikanischen Frau für seinen Geschmack zu sehr von der «conciencia sudamericana, española, latina»,384 also von einem südamerikanischen, spanischen oder lateinischen Bewusstsein geleitet sei. Dabei verbarg sich hinter Sarmientos Kritik unüberhörbar eine andere Sichtweise der Moderne, die sich stärker am nordamerikanischen Vorbild orientieren wollte: «Quisiera que Martí nos diera menos Martí, menos latino, menos español de raza y menos americano del Sur, por un poco más del yankee, el nuevo tipo del hombre moderno»:385 Martí solle gefälligst etwas weniger Martí auftischen, weniger die Sichtweise eines Südamerikaners, eines wackeren Spaniers, eines Latino vertreten, sondern bei seinen renommierten Korrespondentenberichten aus den USA vielmehr die Sichtweisen eines Yankee, des modernen Menschen- oder Männertypus präsentieren. Martí aber blieb Martí: Die Freiheit und Unabhängigkeit US-amerikanischer Frauen blieb ihm zutiefst suspekt, ja erschien ihm als gesellschaftlich bedrohlich. Es ist spannend und herausfordernd zugleich, José Martí in diesem Punkt mit Domingo Faustino Sarmiento zu vergleichen. Bild der Frau und Bild der Moderne sind bei den beiden großen Essayisten aufs Engste miteinander verknüpft. Doch Martí hätte Sarmientos Kritik, wäre sie ihm denn zu Ohren gekommen, nur schwerlich verstanden: Zu natürlich wären ihm seine eigenen Bedenken erschienen, zu naturgemäß kam ihm eine dienende, sich unterordnende und hingebende Rolle der hispanoamerikanischen Frau vor. Immer wieder stoßen wir in seinen Chroniken wie in seinen fiktionalen Texten vom erwähnten Adúltera bis hin zu seinem einzigen Roman Lucía Jerez alias Amistad funesta auf dieses traditionalistische und paternalistische Bild der Frau, das Martí für Nuestra América unverändert vorsah. José Martí war ohne jeden Zweifel ein entschlossener Revolutionär, der für die radikale Veränderung der kolonialen Dependenz seiner Heimatinsel eintrat. Er wollte seine Heimat weder in Abhängigkeit von der damaligen Kolonialmacht Spanien noch von den Vereinigten Staaten des Nordens sehen. Doch seine politisch in vielerlei Hinsicht revolutionäre Position erstreckte sich nicht auf die Problematik der Geschlechter, erstreckte sich nicht auf die Rolle der

 Sarmiento, Domingo Faustino: La mujer en los Estados Unidos [inédito]. In (ders.): Obras Completas. Bd. XLVI. Buenos Aires: Páginas Literarias 1953, S. 162.  Ebda., S. 159.

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Frau, versuchte er doch nachdrücklich, jeglicher Veränderung von Frauenrollen in seinem Wirkungskreis entgegenzuwirken. Sicherlich bilden die persönlichen Erfahrungen des kubanischen Dichters eine wichtige Hintergrundfolie für seine geschlechterspezifischen Vorstellungen. Es ist keineswegs so, dass hinter seinen Aussagen zur Rolle der Frau eine erfüllte patriarchalische Abhängigkeitsbeziehung gestanden hätte, die ihn an ein derartiges Ideal hätte glauben lassen können. Martí war vielmehr von seiner eigenen Zweierbeziehung zutiefst enttäuscht, fand er doch in seiner Ehe keine Brücke mehr zu seiner Ehefrau Carmen Zayas Bazán, die ihn zusammen mit seinem Sohn in Richtung Kuba verließ. Sein Menschenbild blieb Männerbild nicht nur, wo er wie in Nuestra América männliche Protagonisten wählte, sondern gerade auch dort, wo er über die Rolle der Frauen in einer künftigen Gesellschaft sprach. Fast will es scheinen, als ob Friedrich Nietzsches Worte aus seiner Gaya Scienza auf Martí gemünzt wären: Aller große Lärm macht, dass wir das Glück in die Stille und Ferne setzen. Wenn ein Mann inmitten seines Lärms steht, inmitten seiner Brandung von Würfen und Entwürfen: da sieht er auch wohl stille, zauberhafte Wesen an sich vorübergleiten, nach deren Glück und Zurückgezogenheit er sich sehnt, – es sind die Frauen. Fast meint er, dort bei den Frauen wohne sein besseres Selbst: an diesen stillen Plätzen werde auch die lauteste Brandung zur Totenstille, und das Leben selber zum Traume über das Leben.386

Mit unverkennbar misogynem Unterton können wir diese Passage Nietzsches weiterverfolgen: Jedoch! Jedoch! Mein edler Schwärmer, es gibt auch auf dem schönsten Segelschiffe so viel Geräusch und Lärm, und leider so viel kleinen, erbärmlichen Lärm! Der Zauber und die mächtigste Wirkung der Frauen ist, um die Sprache der Philosophen zu reden, eine Wirkung in die Ferne, eine actio in distans: dazu gehört aber, zuerst und vor allem – Distanz!387

An der – so Martís denkwürdige Formulierung – bezaubernden Abhängigkeit, an der «encantadora dependencia de la mujer nuestra» sollte sich aus Martís Sicht im künftigen Nuestra América nichts ändern; die «bezaubernde Abhängigkeit» sollte vielmehr zu einem konstitutiven Element einer kulturellen Differenz gegenüber dem Norden Amerikas, gegenüber den USA werden, deren beschleunigte, soziale Modernisierung die biologische Differenz (sex) auf der Ebene der Geschlechteridentität (gender) zunehmend zu unterlaufen schien.

 Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft. In (ders.): Werke in vier Bänden. Bd. IV. Salzburg: Verlag Das Bergland-Buch 1985, S. 38.  Ebda.

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2. Hauptstück: Die Bilder der Macht

Doch diese Welle einer geschlechterbezogenen Modernisierung durfte nicht in sein Amerika herüberschwappen. All dies erschien dem Kubaner – durchaus im Sinne Sigmund Freuds – als unheimlich, ja als für ihn und seine Zukunftsvorstellungen bedrohlich. Martís Menschenbild war ohne Zweifel ein Männerbild, das er für natürlich und selbstverständlich hielt. Jegliche Abweichung davon erschien ihm als unnatürlich und suspekt, stellte die Grundregeln menschlichen Zusammenlebens in Frage. Die Subjektwerdung war innerhalb des Martí’schen Entwurfs der Moderne männlich gelenkt und männlich bestimmt, im Possessivpronomen von Nuestra América wird die männliche Determination der mujer nuestra zwar nicht mitgedacht, aber mitgeschleppt. Fragwürdig ist das Martí’sche Subjekt der Moderne dort, wo es für die Frau zu sprechen vorgibt, aber anstelle der Frau spricht. Auch dies dürfte Martí einmal mehr als natürlich erschienen sein. Das weibliche Subjekt wird zum Objekt einer männlich modellierten Moderne: Sie spricht nicht, sondern wird gesprochen. Vieles von dem kommt in den zärtlichen Briefen von José Martí an die noch minderjährige María Mantilla zum Ausdruck. In diesem Zusammenhang sollten wir nicht vergessen, dass José Martí die Schlüsselfigur einer Figuraldeutung der kubanischen Geschichte im Sinne Erich Auerbachs388 darstellt: Sein Leben und sein Handeln, vielleicht mehr noch aber sein spezifischer Mythos wurden auf vielerlei Weise dazu benutzt, «eine» kubanische «Identität» immer wieder aufs Neue zu entwerfen, die den jeweiligen Interessen der an der Macht befindlichen Regierungen und Regimes angepasst war und dienen sollte. Wir haben diesen Prozess in allen Details im ersten Teil unserer Studie nachvollzogen und analysiert. Martí wurde zur Figura der gesamten kubanischen Geschichte. In diesem Sinne ist die Figura des geistigen Vaters und des intellektuellen Autors tief in all ihren Dimensionen mit der Konstruktion von (männlicher und weiblicher) Subjektivität in der kubanischen Gesellschaft verbunden. Die Rolle Martís für die Modellierung der Geschlechterbeziehungen im 20. Jahrhundert kann für die Insel nur schwerlich überschätzt werden. Wie sollte es da möglich sein, diese patriarchalische Figura aus weiblichem Blickwinkel zeitgenössisch zu beleuchten? Und mehr noch: Wie ließe sich vorstellen, gleichsam ein weibliches Gegenmodell zu José Martí zu finden, das im selben Zeitraum – und wäre

 Vgl. Auerbach, Erich: Figura. In (ders.): Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie. Herausgegeben von Fritz Schalk und Gustav Konrad. Bern, München: A. Francke Verlag 1967, S. 55–92.

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es im Sinne eines Scheiterns389 – ein Gegenmodell zum apostolischen Führer der kubanischen Unabhängigkeitsbewegung entfaltet hätte? Es mag erstaunlich klingen, aber ein derartiges Gegenmodell existiert. Daher soll im Folgenden ein zeitgleich vorgetragenes Lebensprojekt aus weiblicher Sicht in eine dialogische Beziehung zu jener individuellen und kollektiven Identitätsbestimmung gestellt werden, die in den Essays, aber auch den Briefen des Maestro zum Ausdruck kam. Um die Konzeptionen Martís aus weiblicher Perspektive ausleuchten zu können, soll diesem weiblichen Gegenmodell auch etwas Raum innerhalb unserer Studie gegeben werden. Dieses weibliche Lebensprojekt trägt einen Namen, der zweifellos in den kommenden Jahrzehnten immer heller erstrahlen wird: den der so jung verstorbenen kubanischen Dichterin Juana Borrero.390 Im Februar 1895, zu einem Zeitpunkt also, zu dem José Martí intensiv und ruhelos mit den Vorbereitungen seines Krieges und der Invasion Kubas beschäftigt war, ohne seine gerade erst vierzehn Jahre alte María Mantilla zu vergessen, notierte eine junge Frau des Nachts in ihrem Tagebuch: Ich habe sehr schnell und ohne mich aufzuhalten die Verse von Federico gelesen. Sie faszinieren mich. Aber ich weiß nicht, warum mich Carlos … mich mit seinem rätselhaften und traurigen Aussehen anzieht. Ich lese noch einmal seine Strophen. Eingeschlossen … Wird er aufrichtig sein?! Oh mein Gott, so sieht der Mann aus, von dem ich geträumt! Warum hast Du ihn so weit entfernt von mir gestellt? […] Nacht. Es ist halb drei Uhr. Ich habe nicht geschlafen und werde es auch nicht. Ich habe gerade etwas Unerhörtes, Unmögliches, Hochgewagtes gedacht. Hör zu, Carlos. Noch ehe zwei Monate vorüber sind, wirst Du mein sein oder ich tot. He leído de prisa y sin detenerme las rimas de Federico. Me fascinan. Pero Carlos … no sé por qué me atrae con su semblante enigmático y triste. Vuelvo a leer sus estrofas. Enclaustrado … ¿será sincero! ¡Oh Dios mío así es el hombre que yo he soñado! ¿Por qué lo has colocado tan lejos? […] Noche. Son las dos y media. No he dormido ni dormiré. Acabo de pensar algo inaudito, imposible, temerario. Oye Carlos. Antes de dos meses tú serás mío o yo estaré muerta.391

 Zur Produktivität des Scheiterns vgl. In: Ingold, Felix Philipp / Sánchez, Yvette (Hg.): Fehler im System. Irrtum, Defizit und Katastrophe als Faktoren kultureller Produktivität. Göttingen: Wallstein Verlag 2008.  Vgl. die vor kurzem in der Reihe Mimesis erschienene Potsdamer Dissertation zu dieser kubanischen Modernistin in Kern, Anne: Juana Borrero. Choreografien einer Künstlerin. Berlin – Boston: De Gruyter 2023 (im Erscheinen).  Borrero, Juana: Epistolario. 2 Bde. La Habana: Academia de Ciencias de Cuba 1966–1967, hier Bd. I, S. 41.

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Das sind wahrhaft starke Worte, von einem unbändigen Willen getragen. In diesen Tagebuchzeilen fällt zunächst die Entschlossenheit auf, mit der eine junge Frau agiert und den Partner ihrer Liebe anhand seines Photos, aber auch aufgrund seiner Verse ohne jede Rücksprache und ohne jedes Einverständnis des Mannes auswählt. Der Mann auf einer Photographie: ein Objekt weiblichen Begehrens. Gewiss haben wir es mit einer weiblichen Declaración de amor zu tun, ohne dass das männliche Liebesobjekt auch nur in der Nähe wäre. Es ist eine Liebeserklärung (an sich selbst), aber zugleich eine Herrschaftserklärung (an den Liebespartner). Juana Borrero ist gerade einmal drei Jahre älter als María Mantilla. Die siebzehnjährige Juana Borrero sollte das sich selbst gegebene Versprechen, die dem Mann in Abwesenheit entgegengeschleuderte Herausforderung einlösen und Carlos Pío Uhrbach schon bald zu dem Ihren machen. Ohne freilich die gegen das eigene Ich geschleuderte Todesdrohung gänzlich aufzuheben. Es ist verlockend, sich einen Briefwechsel José Martís nicht nur mit María Mantilla, sondern auch mit Juana Borrero vorzustellen. Wie anders wäre dieser Briefwechsel verlaufen. Doch einen solchen Briefwechsel hat es nie gegeben: Nie hat eine Photographie José Martís auch nur das geringste Begehren von Juana Borrero ausgelöst. Und doch sind die beiden einander nicht unbekannt geblieben. Rufen wir uns kurz einige wenige Biographeme Juana Borreros ins Gedächtnis. Die Tagebucheinträge der am 18. Mai 1877 geborenen Kubanerin, die aus einer Familie von Literaten stammte,392 bereits mit vier Jahren erste Gedichte schrieb, mit fünf Jahren die beeindruckende Zeichnung einer Nelke und einer Rose mit dem Titel «Romeo y Julieta» versah393 und seit Ende der achtziger Jahre als Lyrikerin wie als Malerin zu den großen Hoffnungen der kubanischen Kunst der Jahrhundertwende zählte, hatte ihr Bild des Geliebten aus der Literatur bezogen und mit dem Bild des von ihr erträumten Mannes in Übereinstimmung zu bringen versucht. Alles beginnt wie ein literarisches Spiel mit einer nächtlichen Bettlektüre, die aber rasch zum spielerischen und letztlich tödlichen Ernst wird. Und wir werden es mit weiblichen Geschlechtermodellierungen zu tun bekommen, die radikal anders als jene Martís sind und von jener «süßen Abhängigkeit» der Frau, von der Martí sprach, ganz bestimmt nichts wissen wollen.

 Vgl. hierzu Cuza Malé, Belkis: El clavel y la rosa. Biografía de Juana Borrero. Madrid: Ediciones Cultura Hispánica 1984.  Diese später berühmt gewordene Zeichnung, die auch der im Exil lebenden kubanischen Lyrikerin Belkis Cuza Malés Borrero-Biographie den Namen gab, findet sich auf Umschlag und Titelseite der beiden Bände des angeführten Epistolario.

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Als Juana Borrero wenige Monate zuvor den soeben erschienenen Gedichtband Gemelas der beiden kubanischen Lyriker Carlos Pío und Federico Uhrbach erhielt, fragte sie sich bereits vor der Lektüre, die sie sich für die Nacht vornahm: «¿Será un compañero de mis insomnios?»394 Wird er ein Gefährte meiner schlaflosen Nächte sein? Schien damit zunächst das Buch gemeint zu sein, so sprang die Sehnsucht nach einem Gefährten der schlaflosen Nächte schnell auf den älteren der beiden Uhrbach-Brüder über, dessen Verse sie ebenfalls faszinierten und unwiderstehlich anzogen. In einer Literatenfamilie erzogen, von einem sie zärtlich liebenden, aber strengen patriarchalischen Vater überwacht, wählte die junge Dichterin ihre imaginären und bisweilen allzu realen männlichen Liebespartner aus dem Kreis jener Dichter aus, die sich im Umfeld der Borrero-Familie bewegten. Das rasch sich bei der jungen Malerin durch die Lektüre hypotypotisch einstellende Bild und Porträt war sicher und unsicher zugleich: Ich habe mehrere Seiten gelesen, oh Carlos!, und ich kann Dir jubilierend sagen, dass ich keinerlei Enttäuschung fühlte. In diesen Versen ist etwas Originelles, das faszinierend anzieht und anziehend … fasziniert. Das erste Portrait … ! Es ist ein stolzes Antlitz. Carlos muss wohl bleich sein, ein Kranker. Da ist auf seiner edlen Stirne ein unmerklicher Zug von Überdruss. Vielleicht täusche ich mich — Ich werde heute Nacht nicht weiterlesen … Ich nehme an, dass ich ganz im ersten Teil des Bandes verweilen werde. Carlos muss wohl leiden … Aber alles in allem, was kümmert mich das … ? Denn ich werde ihn niemals sehen noch wird er jemals wissen, dass ich jetzt beim Einschlafen seinen Namen murmele … He leído varias páginas ¡oh Carlos! y puedo decir con júbilo que no he experimentado un desengaño. Hay en estas rimas algo original que atrae fascinando y fascina … atrayendo. El primer retrato … ! Es un rostro altivo. Carlos debe ser pálido, un enfermo. Hay en su frente noble un rictus imperceptible de tedio. Quizás me engañe — No leeré más esta noche … Presumo que me quedaré en la primera parte del libro. Carlos debe sufrir … Después de todo ¿qué me importa … ? Ni lo he de ver jamás ni él sabrá jamás que yo me duermo ahora murmurando su nombre … 395

Wieder springt die wilde Entschlossenheit der jungen Frau ins Auge. Sie wählt die Gedichte, die sie lesen will, so aus, wie sie auch ihren möglichen künftigen Liebespartner auswählt – und zwar gemäß der ihm von ihr zugedachten Charaktereigenschaften. Der Liebespartner selbst spielt eine untergeordnete Rolle. Sie sieht ihn bereits als einen Leidenden, und sie wird ihn zu einem Leidenden machen. Ist die teilweise auftretende Agrammatikalität – die nicht mit einem krankhaften Agrammatismus zu verwechseln ist – Beleg einer raschen Niederschrift  Borrero, Juana: Epistolario, Bd. I, S. 39.  Ebda.

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oder des Stils dieser Tagebuchaufzeichnung, der in den Bereich des stream of consciousness rückt? In jedem Falle können wir festhalten – und dies ist ein recht spannender Fall von Gender trouble: Juana Borreros Männerideal ist idealerweise kein Mann: «Además ¿realizará él el ideal del hombre que he soñado? sus rimas lo prometen, pero ¿acaso no es un hombre?»396 Ist er denn vielleicht kein Mann? Diese Formel verrät viel über das paradoxe Verhältnis von Leben, Lesen und Lieben,397 das sich um den imaginierten Mann aufbaut und Juana Borrero bis zu ihrem tragischen Tod im US-amerikanischen Exil im März 1896 nicht mehr loslassen sollte. Dabei die von der bulgarisch-französischen Literaturtheoretikerin und Psychoanalytikerin Julia Kristeva vorgetragene Behauptung ebenso denkwürdig wie in ihrer Absolutheit fragwürdig, wenn sie nämlich nach der Art und Weise fragt, wie eine Frau liebt: «Qu’est-ce aimer, pour une femme, la même chose qu’écrire.»398 Was heißt lieben für eine Frau, dasselbe wie schreiben. Und Juana Borrero schrieb ihre Liebesbriefe, Texte und Gedichte an Carlos Pío Uhrbach fiebrig. Auf die Agrammatikalität dieser Sätze sei ebenfalls nur hingewiesen. Wurde Juana Borrero zu einem simplen Opfer der Lektüre in der Nachfolge von Dantes Paolo und Francesca oder Gustave Flauberts Madame Bovary? Fast will es so scheinen, zumal die Nähe zur romantischen Disposition imaginierter Männlichkeit gerade durch einen Vergleich mit der in Puerto Príncipe, dem heutigen Camagüey – auch Juanas Vater, der Lyriker und Arzt Esteban Borrero stammte von dort – geborenen Gertrudis Gómez de Avellaneda deutlich wird. Nicht umsonst war Juana Borrero mit der berühmten kubanischen und spanischen Dichterin der Romantik verwandt. Doch nicht nur mit der selbstbewussten Tula war die junge Kubanerin verwandt. Juana Borrero war in einer Dynastie von Lyrikern und Künstlern aufgewachsen, und ihre Sozialisation als junges Mädchen im damaligen Kuba dürfte deutlich unter diesen künstlerisch-literarischen Vorzeichen gestanden haben. Das Leben war für sie die Literatur; und die Literatur war ein ganz wesentlicher Bestandteil ihres Lebens. Ihr Lebenswissen speiste sich in erheblichem Maße aus Büchern, und Bücher waren es, die ihr dabei halfen, das Leben in seiner Komplexität zu entziffern. Ihr Lieben entwickelte sich – um mit Julia Kristeva zu sprechen – ganz im Rhythmus des Schreibens; und das Schreiben gab ihrer

 Ebda., S. 40 f.  Vgl. zu dieser Konfiguration den zweiten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: LiebeLesen (2020).  Kristeva, Julia: Histoires d’amour. Paris: Editions Denoël 1983, S. 296.

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Liebe und ihren Liebesansprüchen den Rhythmus vor. Leben, Lesen und Lieben verbanden sich in ihrem Schreiben zu einer unzertrennlichen Einheit. Wie Emma Bovary suchte und fand Juana Borrero ihr Lebenswissen in Bänden der Romantik und insbesondere bei den romantischen Lyrikerinnen und Lyrikern, auf die sie schon in ihrer eigenen Familiengeschichte stieß. Bis in die Liebesmetaphorik hinein verband gewiss vieles die große Vertreterin und Hoffnung des «primer modernismo entre nosotros»399 mit den Lyrikerinnen und Lyrikern des Romanticismo; doch hatten sich trotz aller Kontinuitäten die ästhetischen Parameter zwischen Juana Borrero und einer Romantik zwischen zwei Welten geändert. Die paradoxe Konstruktion der Lese-, Liebes- und Lebensverhältnisse Juana Borreros warf hierauf bereits ein erstes Licht, insofern ihre erste große literarische Liebe, der kubanische Dichter Julián del Casal, kein Romantiker mehr war, sondern als Verfasser von Chroniken wie als hochsensibler Dichter eine modernistische Ästhetik pflegte. Ein erster Schritt der Romantikerin Juana Borrero hin zum Modernismo war ihre stürmische jugendliche Beziehung zu Julián del Casal. Dies implizierte auch ihre geschlechterbezogenen Modellierungen von Männern. Denn so, wie sich der von ihr erträumte Mann, Carlos Pío Uhrbach, zumindest über einen langen Zeitraum bemühte, dem auf ihn projizierten Männerbild eines Nicht-Mannes zu entsprechen, so sah Juana Borrero ihr eigenes Bild und mehr noch ihr eigenes Schicksal durch ein Gedicht vorgeformt, das just ihre erste große literarische Liebe, der große Dichter des inselkubanischen Modernismo, Julián del Casal, unter dem Titel Virgen triste, Traurige Jungfrau, mit Blick auf die junge Kubanerin veröffentlicht hatte. Die letzte Strophe dieses Gedichts wurde ihr zur Weissagung des eigenen frühen Todes – und auch dies war ein Versprechen der Literatur, welches das Leben einlöste – ein Lebenswissen, das zugleich auch ein Todeswissen war: Ach, ich werde stets Dich wie ein Bruder anbeten, Nicht allein, weil Du alles als eitel beurteilst Und den himmlischen Ausdruck Deiner Schönheit zeigst, Sondern weil ich in Dir bereits die Trauer sehe Jener Wesen, die früh schon sterben müssen! ¡Ah, yo siempre te adoro como un hermano, no sólo porque todo lo juzgas vano y la expresión celeste de tu belleza,

 Vitier, Cintio: Las cartas de amor de Juana Borrero. In: Borrero, Juana: Epistolario. Bd. I, S. 31.

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sino porque en ti veo ya la tristeza de los seres que deben morir temprano!400

In einer Juana Borrero gewidmeten Studie, die zunächst in La Habana Literaria erschien und von Casal später in seine berühmten Bustos y Rimas aufgenommen wurde, beschrieb der 1893 kurz vor seinem dreißigsten Geburtstag jung verstorbene Dichter, wie er nach einem Besuch im Hause Borrero in Puentes Grandes vor den Toren Havannas erstmals ihr literarisches Porträt auf dem Nachhauseweg («esbocé su retrato por el camino401») gleichsam im Gehen entworfen habe. Auch hier lag der Schwerpunkt des Gedichts in dessen letzter Strophe, die kurz angeführt sei: Zwölf Jahre! Doch in ihren Zügen Zeigte sich in tiefer Bitterkeit Die allzu verfrühte Traurigkeit Der großen, großen Herzen. ¡Doce años! Más sus facciones Veló ya de honda amargura La tristeza prematura De los grandes corazones.402

Juana Borrero bewegte sich voll und ganz in einer Welt, die sich aus dem Lebenswissen der Literatur speiste. All ihre Männerträume, all ihre Männerbeziehungen waren in Tinte getaucht. Frühe Gemälde der jungen Borrero zeigen sie mit ihren Schwestern bei der Lektüre. Alles Wissen vom Leben und über das Leben war ihr ein Wissen, das sie bevorzugt aus der lyrischen Verdichtung gewann und das sie selbst wiederum in ihre eigene Dichtung verwandelte. Systole und Diastole ihres Lebens waren Lesen und Schreiben, Lesen und Lieben (wie bei der Entdeckung der Gemelas der Uhrbachs) sowie Schreiben als Lieben (wie in ihren eigenen Cartas de amor). Juana Borrero war aus Versen gemacht. Und zugleich war sie eine körperlich höchst präsente junge Frau. Ein Wesen aus Versen: Man kann diesen Prozess einer Anverwandlung des Intertextuellen bei ihr auf Schritt und Tritt beobachten. Denn Intertexte verwandeln sich in Lebenstexte, kondensieren sich zu Lebenswissen, das nach dem Handeln im Leben drängt. Und dieses Bild ermöglicht uns zugleich zu ver-

 Casal, Julián del: Poesías. Edición del Centenario. La Habana: Consejo Nacional de Cultura 1963, S. 189.  Casal, Julián: Juana Borrero. In (ders.): Prosas. Edición del Centenario. Bd. I. La Habana: Consejo Nacional de Cultura 1963, S. 266.  Ebda., S. 267.

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stehen, dass das Schreiben von Gedichten für sie dasselbe, ja weitaus mehr noch war als das Lieben in einem Leben, das letztlich Lesen war um des Liebens willen. Das Spiel der Literatur mit dem Leben und der Liebe blieb hierbei freilich nicht stehen, «antwortete» doch gleichsam die erste Strophe des von Julián del Casal in seiner Studie als erstes zitierten Gedichts Juana Borreros unter dem Titel «¡Todavía!» auf dieses literarische Porträt mit der eigenen Feder: Warum so früh, oh Welt!, schenktest Du mir ein Dein bitterstes und tödlichstes Gift … ? Warum gefällt es Dir, von meiner Kindheit noch Das offene Linnen zu zerreissen? ¿Por qué tan pronto ¡oh mundo! me brindaste Tu veneno amarguísimo y letal … ? ¿Por qué de mi niñez el lino abierto Te gozas en tronchar?403

Diese Echowirkungen der Literatur über das Leben verliehen Juana Borrero von Beginn an eine im doppelten Wortsinn gemeinte literarische Existenz, welche den Interpretationen ihres umfangreichen Schaffens als Künstlerin des Pinsels und der Feder eine grundlegende und bei den bis heute wenig zahlreichen Deutungen unverrückte Leitlinie vorgab, die Literatur Juana Borreros mit ihrem Leben kurzzuschließen und geradezu unausweichlich einer ausschließlich autobiographischen Lektüre zuzuführen. Ich will dieser Neigung im Folgenden widerstehen und den Schwerpunkt meiner Überlegungen darauf legen, wie die Geschlechterkonzeptionen von Juana Borrero im radikalen Gegenlicht die Geschlechtervorstellungen José Martís beleuchten und ausleuchten. Mit Ausnahme der genannten Potsdamer Dissertation von Anne Kern gilt die autobiographische Schrägseite für die bereits zitierten Studien ebenso wie für neuere Arbeiten, die mit einem eher dilettantischen Rückgriff auf den französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan operieren.404 Aus einer Perspektive, welche die ausschließliche Orientierung an einer autobiographischen Lesart hinterfragt, wäre auch die Ansicht Cintio Vitiers kritisch zu beleuchten, Juana Borreros Liebesbriefe seien «su mayor obra», weil sie «su confesión mayor», ihr größtes Geständnis darstellten.405 Ist hier nicht eine eher paternalistische Lesart im Spiele?  Ebda., S. 268.  Vgl. Hauser, Rex: Juana Borrero: The Poetics of Despair. In: Letras Femeninas (Ithaca) XVI, 1–2 (primavera–otoño 1990), S. 113–120.  Vitier, Cintio: Las cartas de amor de Juana Borrero, S. 25.

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Denn Cintio Vitiers Einschätzung läuft Gefahr, die künstlerische, ästhetische Dimension einem ausschließlich autobiographischen Interesse zu opfern, das wiederum unter dem Verdacht überbordender Weiblichkeit steht. Es gilt aber, die Verschränktheit und Interdependenz von Leben und Kunst, von Kunst als Leben und Leben als Kunst im Gesamtwerk der kubanischen Autorin wieder zum Vorschein zu bringen. Die literarisch-künstlerische Schaffensdichte der kubanischen Dichterin sollte daher im Mittelpunkt jeder literaturwissenschaftlichen Analyse stehen. Wir sollten uns überdies vor der Fehldeutung hüten, Juana Borrero hätte einem von Männern entworfenen Frauenbild nur nachgeeifert, ihre Subjektwerdung gar an einem romantischen Gemeinplatz ausgerichtet. Ihre Liebeskonzeption sei rein männlichen Vorbildern geschuldet, sie habe sich als Frau nur von derartigen virilen Vorstellungen leiten lassen. Irrte sich Julián del Casal auch mit seiner Einschätzung, die junge «artista de tan brillantes facultades» werde binnen kurzer Zeit «la marca candente de la celebridad» empfangen, so gab er den künftigen Leserinnen und Lesern dieser bis heute noch immer kaum bekannten Lyrikerin einen wichtigen Hinweis, als er abschließend betonte, aller Erfolg werde Juana Borrero niemals von ihrem «más absoluto desprecio» und der «más profunda indiferencia» gegenüber den «opiniones de los burgueses de las letras»406 abbringen. Die bourgeoisen Geister der Literatur seien niemals in der Lage, die kubanische Lyrikerin von ihrer tiefen Verachtung herkömmlicher und traditioneller Meinungen und Vorstellungen abzubringen. Und in der Tat blieb Juana Borrero in ihren Überzeugungen bis hinein in ihren Tod radikal. Julián del Casal hatte sehr wohl begriffen, wer sich da in ihn verliebt hatte. Denn Juana Borreros Kunstauffassung war überraschend direkt, genauer noch: absolut. In eine nur bürgerliche Kunstauffassung, in eine nur bürgerliche Lebensauffassung ließ sich ihr Lebensprojekt nicht einzwängen. Die Dreiecksbeziehung von Lesen, Lieben und Leben lässt sich quer durch ihr gesamtes Schaffen verfolgen und findet sich auch personifiziert in Konstellationen, die den Vorrang der Literatur in allen Lebensdingen radikal und absolut einklagen. In einem ihrer berühmtesten Texte407 führte sie vor Augen, wie vehement sie sich in ihrem mit dem eigenen Blut geschriebenen Brief gegen das Eindringen des kubanischen Freiheitskampfes in ihr Leben wehrte und wie vehement sie

 Casal, Julián del: Juana Borrero, S. 271.  Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Die Fremdheit (in) der Mutterzunge. Emine Sevgi Özdamar, Gabriela Mistral, Juana Borrero und die Krise der Sprache in Formen des weiblichen Schreibens zwischen Spätmoderne und Postmoderne. In: Kacianka, Reinhard / Zima, Peter V. (Hg.): Krise und Kritik der Sprache. Literatur zwischen Spätmoderne und Postmoderne. Tübingen – Basel: A. Francke Verlag 2004, S. 251–268.

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ihrem Carlos Pío Uhrbach verbot, sich an dieser von Martí geschaffenen Unabhängigkeitsbewegung gegen ihren blutig zu Papier gebrachten Willen zu beteiligen. Die Patria sah sie dabei nur als eine Rivalin ihres absoluten Liebesanspruches an.408 In der von dem Modernisten José Martí angeführten Bewegung der kubanischen Independencia vermochte sie nichts anderes als eine große Gefahr für ihren eigenen Absolutheitsanspruch zu erkennen. Denn in ihrem blutroten Brief vom 11. Januar 1896 verflüssigte die modernistische Lyrikerin ihren absoluten Anspruch auf ein Leben und auf ein Lieben, das sich nach ihren eigenen Vorstellungen als Frau zu richten hatte. Sie ging dabei das Risiko ein, mit einem einzigen Schlage Leben, Liebe und Lesen für immer zu liquidieren. Es war der Versuch, die sie als Frau vollständig umschließende patriarchalische Verklammerung mit einem Schlage aufzusprengen und gegen das allgegenwärtig «Natürliche» ihre Ansprüche als Liebende, ihre Ansprüche als Frau, ihre Ansprüche als Dichterin vollständig und ohne Abstriche zu setzen. Doch das Leben schrieb diesmal die Geschichte anders, denn Juana sollte als erste im Exil sterben, bevor noch Carlos Pío, der sich schließlich den aufständischen Truppen anschloss, am Weihnachtstag des folgenden Jahres – wie lange vor ihm Martí, den Juana in Begleitung ihres Vaters bei einer velada in New York kennengelernt hatte – fiel. Die großen Figuren der kubanischen Lyrik erlebten die Jahrhundertwende – und damit die Gründung der kubanischen Republik – nicht mehr. Es gibt ein Schweigen in der kubanischen Geschichte und Kultur, das wir vom Anfang des 20. Jahrhunderts an nicht länger überhören sollten, ein Schweigen, das sich ohne jeden Zweifel durch die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zieht, aber selbst heute noch hörbar ist. Mit ihrem Blut unterstrich Juana Borrero buchstäblich ihren mehrfach geäußerten Anspruch, (wie Martí) in ihrer Gänze in den Briefen anwesend zu sein. Der Dichter und Literaturwissenschaftler Cintio Vitier hat zutreffend darauf hingewiesen, dass die Verwandlung der handschriftlichen Briefe in ein gedrucktes Buch mit identischen Druckbuchstaben eine mediale Übertragung darstellt, bei der ungeheuer viel verloren gehe – nicht zuletzt auch die zahlreichen Tränen, die Flecke auf dem Briefpapier hinterließen und die Seiten der Borrero in fragile dreidimensionale Kunstwerke verwandelten. Und der Lyriker, der einst der kubanischen Orígenes-Gruppe um José Lezama Lima angehörte, fügte einfühlsam hinzu: El hecho de pasar esas letras en que vibra apresado el pulso de la mano y el corazón que las escribió, esas letras tantas veces mojadas por lágrimas cuyas huellas oscurecen el papel y destiñen la tinta, esas febriles, diminutas, irrestañables letras cierta vez escritas

 Borrero, Juana: Epistolario, S. 257.

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con sangre de las venas cortadas y siempre con sangre del alma, a la letra abstracta de la máquina o la imprenta, equivale a trasladar el texto de una lengua viva al hieratismo de una escritura muerta.409

Man könnte diese poetische Passage vielleicht dadurch am besten übersetzen, dass die lebendigen, mit der Tinte des Körpers oder der Tinte der Seele geschriebenen Buchstaben noch voller Leben waren, ein Leben, das aus den toten Gestalten der Druckbuchstaben aber gewichen war. Juana Borreros Briefe bilden die literarische Körperlichkeit der Künstlerin und Dichterin, sie sind eine Art Body Art avant la lettre. Als erkaltete Herzensschrift nahm die Literatur ihren Körper auf und verwandelte ihren Frauenkörper in Literatur. Das von Juana Borrero verschriftlichte Herzblut stellt eine nochmalige Radikalisierung eines körperlichen Schreibens mit einer anderen Körperflüssigkeit, jener der Tränen dar, welche bis heute sichtbar das Briefpapier der kubanischen Künstlerin punktieren. Eine Grenze wird hier überschritten, die lebensgefährlich ist für den Lesenden wie für die Liebende und (noch) Lebende, wird damit doch ihr Blut aus dem Kreislauf herausgepresst, um in der Schrift, den toten Druckbuchstaben, zu erstarren. In einer Schrift allerdings, die der radikale Ausdruck des Lebenswissens einer Frau ist, die sich jedwedem männlichen Herrschaftsanspruch verweigert und dabei auf das Wissen der Literatur – und nicht der Literaten – setzt. Nur vor einem solchen Horizont kann es als geradezu moderat erscheinen, dass Juana Borrero ihrem Carlos Monate zuvor das Versprechen abnötigte, ihre rein(e) symbolhafte Liebe niemals körperlich zu vollziehen. Jeglicher Besitzanspruch des Mannes wird abgelehnt. Das weibliche Subjekt schützt sich davor, zum weiblichen Objekt zu werden, indem es «sein» Liebesobjekt zugleich vergöttlicht und fest-stellt, für immer in der Unkörperlichkeit des Nicht-Mannes in ihrem eigenen Niemannsland fixiert. Der Mann wird mit seinen Ansprüchen damit stillgestellt, gleichsam ent-mannt. In den ersten Junitagen des Jahres 1895, als José Martí längst in dem von ihm entfesselten Krieg gestorben war – ob den Heldentod oder den Freitod, war – wie unsere Rezeptionsgeschichte im ersten Teil unserer Studie zeigte – in Abhängigkeit von der jeweiligen ideologischen Position in Kuba seit jeher umstritten –, schickte die keusche Ehefrau, die süße Braut, «tu casta esposa», «tu dulce novia», «tu Yvone»410 Carlos Pío Uhrbach einen Brief, der mit der Gebets-

 Vitier, Cintio: Las cartas de amor de Juana Borrero, S. 8.  Borrero, Juana: Epistolario, Bd. I, S. 158.

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formel «Oh Maria! ¡bendita eres entre todas las mujeres!»411 absichtsvoll marienhaft begann. Die Formel «Gebenedeit seist Du unter allen Frauen» war gut gewählt, wurde im nachfolgenden Brief doch gleichsam ein Ehevertrag als unverzichtbares Dokument (als «un documento indispensable»412) bekräftigt und unterzeichnet, das als Eheversprechen den (körperlichen) Vollzug der Ehe auf immer aussetzte. Beunruhigt erkundigte sich Juana Borrero bei ihrem Mann, ob er verstanden habe, dadurch auf «la lógica de tus derechos», auf die Logik seiner Rechte, zu verzichten, um sofort hinzuzufügen: «Quiero que seas siempre mi ídolo …»:413 Ich will, dass Du immer mein Idol bleibst. Und triumphierend fügte sie hinzu: Verstehst Du mich? … Für dann ist es! … Denke und überlege. […] Du hast Recht! Du und ich, wir sind außergewöhnliche Wesen … Wir haben die Verbindung zwischen Körper und Seele zerbrochen, wir haben das dumpfe und degradierende Joch der körperlichen Heimsuchungen abgeworfen … Wir können stolz darauf sein, rein zu sein … aus einer anderen Erde als die Allgemeinheit gemacht zu sein! Me comprendes? … ¡Para entonces! … Piensa y reflexiona. […] Tienes razón! tú y yo, somos seres excepcionales … Hemos roto el vínculo del cuerpo y el alma, hemos quebrantado el yugo abrumador y degradante de las solicitaciones corporales … ¡Podemos estar orgullosos de ser puros … de ser de otro barro que la generalidad!414

Im Ausdruck des Glücks über die «nupcia ideal, celeste de dos almas gemelas que se entregan una a otra seguras de sí mismas»,415 über die ideale Hochzeit, in welcher sich zwei sich sichere Eheleute miteinander vermählen, war jene ideale Liebesformel gefunden, die nicht nur die sakralisierte Jungfräulichkeit Marias,416 sondern auch die Literatur der Gemelas – jenes Lyrikbandes der Brüder Uhrbach,  Ebda., S. 155.  Ebda.  Ebda.  Ebda.  Ebda., S. 157.  Oder wäre diese Jungfräulichkeit, die einen langen dogmengeschichtlichen Streit innerhalb der Katholischen Kirche auslöste, der erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Verkündung des Dogmas von der unbefleckten Empfängnis Mariens kirchenrechtskräftig entschieden wurde, ein schlichter Übersetzungsfehler? «Il semblerait que l’attribut ‹vierge› pour Marie soit une erreur de traduction, le traducteur ayant remplacé le terme sémitique désignant le statut sociolégal d’une jeune fille non mariée, par le terme grec parthenos qui spécifie quant à lui une situation physiologique et psychologique: la virginité. On pourra y déchiffrer la fascination indo-européenne, analysée par Dumézil, pour la fille vierge comme dépositaire du pouvoir paternel; on peut y voir aussi une conjuration ambivalente, par spiritualisation excessive, de la déesse mère et du matriarcat sous-jacent avec lequel se débattaient la culture grecque et le

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der Juanas Liebe nicht auslöste, aber ihr eine neue Richtung gab – in die erträumte Lebenspraxis überführte. Das also war es, was Juana Borrero der als natürlich angenommenen «süßen Abhängigkeit» der Frau im Sinne Martís jedem Manne entgegenzusetzen hatte, der auf welche Weise auch immer Besitz von ihr ergreifen wollte. Auch im Rückgriff auf den Titel dieses Lyrikbandes erweist sich die absichtsvolle Vernetzung von Lesen, Leben, und Lieben in Juana Borreros Denken und Schreiben. Diese Selbstbemächtigung des weiblichen Subjekts, diese Subjektwerdung lässt zugleich die ästhetische Tragweite jener paradoxen Verschränkung hervortreten, die Leben, Lieben und Lesen in Juana Borreros Lebenswerk bilden und die am treffendsten vielleicht in einem ihrer berühmtesten Gedichte, dem Sonett Apolo, zum Ausdruck kommen: Marmorn, stolz, strahlend und schön, Als Krone dieses Antlitzes die Süße Und in die Stirne falln wie Himmels Grüße Die Locken ihm, so herrlich anzusehn. Meine Arm’ um seinen Hals ich schlingend stöhne Und seine strahlend Schönheit ich dann küsse, Lechzend nach Glück umfass ich seine Füße, Die weiße Stirn bekränzen meiner Lippen Töne. Seine unbewegliche Brust an mich gedrückt Bet’ ich sie an, oh teilnahmslose Schönheit, Will sie beleben, doch verzweifelt und bedrückt Merk’ ich, wie liebend ich verspüre, Trotz Tausender Küsse voller Zärtlichkeit, Wie sie vergehn und ich am Marmor friere! Marmóreo, altivo, refulgente y bello, Corona de su rostro la dulzura, Cayendo en torno de su frente pura En ondulados rizos sus cabellos. Al enlazar mis brazos a su cuello Y al estrechar su espléndida hermosura

monothéisme juif. Toujours est-il que la chrétienté occidentale orchestre cette ‹erreur de traduction›, qu’elle y projette ses propres fantasmes et y produit une des constructions imaginaires les plus puissantes que l’histoire des civilisations ait connues.» Kristeva, Julia: Histoires d’amour, S. 298 f.

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Anhelante de dicha y de ventura La blanca frente con mis labios sello. Contra su pecho inmóvil, apretada Adoré su belleza indiferente, Y al quererla animar, desesperada, Llevada por mi amante desvarío, Dejé mil besos de ternura ardiente Allí apagados sobre el mármol frío!417

Das erotische in diesem ganz im Sinne Nietzsches Apoll und nicht Dionysos gewidmeten Sonett, in dem die bildhauerische Plastizität des französischen Parnasse unüberhörbar mitschwingt, wird die Schönheit eines Männerbildes vorgetragen, das in die Regungslosigkeit eines «ídolo» oder – wie sich Juana Borrero in ihrem Tagebuch ausdrückte – eines «ideal del hombre que he soñado»,418 der als Mann kein Mann mehr wäre, überführt wurde. Auch in diesem Sinne ist ihr Apoll indifferent: indiferente und teilnahmslos. Die Umwandlung des Männerbildes in ein Marmorbild, die Verwandlung der erotischen Umarmung in das Versiege(l)n tausender Küsse, die chromatische Einbettung einer Regungslosigkeit, die durch die Betonung von «indiferente»419 psychologisiert, aber vergeblich animiert wird, überlässt dem lyrischen Ich jenen Spielraum, in dem die Gesten und mehr noch die Figuren der Liebe420 erprobt und in Szene gesetzt werden können. In dieser Choreographie der Liebe, die das «sujet amoureux»421 zugleich konstituiert und aufführt, wird das männliche liebende Subjekt zugleich fest-gestellt und kalt-gestellt, entfaltet die «ternura ardiente» ihr Liebesspiel doch auf der plastischen Oberfläche des «mármol frío», des kalten Marmors, auf dem die Tausende von heißen Küssen rasch verglühen. Die romantische Überhitzung der Figuren wird in die distante Chromatik modernistischer Ästhetik übersetzt, ohne doch ihr Göttliches, ihr «ídolo» aus dem Blick zu verlieren. Juana Borrero zieht in diesem wunderbaren Sonett alle Register

 Borrero, Juana: Apolo. In (dies.): Poesías, S. 77. Die von Casal in seinem Portrait Juana Borreros zitierte Fassung weist eine Reihe interessanter Varianten auf; vgl. Casal, Julián del: Juana Borrero, S. 269.  Borrero, Juana: Epistolario, Bd. I, S. 40.  Die von Casal zitierte Fassung des Gedichts betonte das in Versendstellung hervorgehobene «indiferente» durch eine Lexemrekurrenz noch zusätzlich, indem sie bereits im ersten Vers ein «indiferente» enthält, das später (?) durch «refulgente» ersetzt wurde. Die Dichtkunst Juana Borreros steckt voll derartiger intertextueller Echowirkungen.  Barthes, Roland: Fragments d’un discours amoureux. Paris: Seuil 1977, S. 7.  Ebda., S. 11.

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ihres lyrischen Könnens und entwirft ein Gegenbild nicht nur zur Romantik, sondern zu einem dominanten patriarchalischen System, das die Frauen zur Passivität verurteilt. Ihre Protagonistin aber ist höchst aktiv, von ihr geht alle Wärme, von ihr geht alles Leben aus. Die modernistische Kunst der jungen Kubanerin gestaltet hier ein Leben, das sich selbst als Kunstwerk inszeniert und gerade darum immer schon Leben ist: Leben erzeugt Kunst, und Kunst erzeugt Leben in einer Welt, deren Geschlechterverhältnisse radikal – und man darf in heutiger Diktion sicherlich hinzufügen: feministisch – umgedacht werden. Auch wenn aus dem hier gewählten Blickwinkel die Spannbreite modernistischen Schreibens allein in Kuba schon als gewaltig erscheint, sollten wir doch nicht vergessen, dass José Martí, Julián del Casal und Juana Borrero ein Absolutheitsanspruch eint, der die Kunst stets in das Leben eingreifen lässt und umgekehrt das Leben als ein Kunstwerk inszeniert. Nicht anders sah es José Martí, der sein eigenes Leben zu einem patriotischen Kunstwerk stilisierte, um breit in die Gesellschaft hineinwirken zu können. Denn auch ein Martí selbst verstand sein eigenes Leben als ein Kunstwerk, das er seiner Nachwelt möglichst vollkommen überlassen wollte. Lyrik und Leben waren auch beim kubanischen Nationaldichter aufs Engste und so miteinander verwoben, dass er nach seinem Tode noch unter dem Grase wachsen würde: «Mi verso crecerá: bajo la yerba / Yo también creceré»422 – Mein Vers wird wachsen; und unter dem Grase werde auch ich wachsen. Martí wollte seine postmortale Rezeptionsgeschichte befeuern und sah sie in nuce voraus. Mit José Martí und Juana Borrero stoßen wir ins Zentrum opponierender Geschlechtermodellierungen des Modernismus auf Kuba vor. Um ein gerechtes Bild des kubanischen Modernismo zu entfalten, ist eine Betonung dieser Wechselbeziehung zwischen beiden Antipoden notwendig. Um diese faszinierende Grundstruktur zu rekonstruieren, sollten wir uns nicht von der Tatsache ablenken lassen, dass José Martí bereits zu Lebzeiten über eine immense Rezeption als Dichter wie als Patriot verfügte und Juana Borrero den meisten Kubanern sicherlich unbekannt war. Denn gerade mit Blick auf die Modellierungen der Geschlechter entfaltet Juana Borrero ein klares Gegenmodell zu Martí, auch wenn sie sich in keiner Weise auf den Gründer des Partido Revolucionario Cubano bezog, sondern das Frauenbild und die Geschlechtervorstellungen anging, die in der kubanischen Gesellschaft vorherrschten. Auf die Objektivierung der Frau durch den Mann antwortet die Objektivierung des Mannes durch die Frau. Stets herrscht höchste

 Martí, José: Antes de trabajar. In (ders.): Poesía completa. Edición crítica. Edición Centro de Estudios Martíanos. Bd. 1. La Habana: Ed. Letras Cubanas 1985, S. 126.

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Kontrolle über die Bilder, gleichviel, ob es sich um das Bild des Kämpfers für das Vaterland, das Bild des filigranen Dekadenten oder das kreativ und mit letzter Konsequenz angeeignete Bild der Virgen triste handelt: José Martí, Julián del Casal und Juana Borrero einte ihre gemeinsame Aufmerksamkeit für die von diesen drei Modernisten erzeugten Bilder. So unterliegt den Versos libres Martís, den Bustos y Rimas Casals und den Rimas Juana Borreros das gleiche ästhetische Streben, die Absolutheit des Anspruchs auf Subjektwerdung in ein selbstgewähltes Lebensprojekt zu transfigurieren, das in der Reinheit, der pureza des selbstbestimmten Zieles Baudelaires Diktum vom absoluten Modernsein in die zeitgenössischen Kontexte übersetzt. Stets ist dieses Modernsein nicht nur politisch, sondern auch geschlechterpolitisch modelliert. Just an dieser Stelle wird der Gender trouble, der nur zum Teil ein «Unbehagen» der Geschlechter ist, von größter Wichtigkeit für Juana Borrero, Julián del Casal oder José Martí, ist diese Art des Trouble doch stets auf bestimmten Ebenen mit Revolte, Rebellion oder Revolution verknüpft. So heißt es bei Judith Butler: To make trouble was, within the reigning discourse of my childhood, something one should never do precisely because that would get one in trouble. The rebellion and its reprimand seemed to be caught up in the same terms, a phenomenon that gave rise to my first critical insight into the subtle ruse of power: The prevailing law threatened one with trouble, even put one in trouble, all to keep one out of trouble. Hence, I concluded that trouble is inevitable and the task, how best to make it, what best way to be in it.423

An die Stelle der Beziehung zwischen den Kulturen tritt bei Juana Borrero der Versuch, die Beziehung zwischen den Geschlechtern neu zu regeln, ohne dass ihr dabei der Fund eines Amerika in der ersten Person Plural vergönnt gewesen wäre. Selbst ihre Krankheit zum Tode, der sie symbolhaft erst im Exil erlag, war noch das Signum einer Rebellion, die keine männliche Stimme, auch nicht jene Julián del Casals, an die Stelle ihrer eigenen Stimme treten ließ und duldete. Juana Borreros Tod ist ein Tod aus Erschöpfung, durchaus vergleichbar mit dem Tode Martís, der sich in seinem Kampf mit den alten Caudillos des Zehnjährigen Krieges, die ihn politisch kaltstellen wollten, erschöpft hatte. Ihre Stimme war die einer anderen, der männlichen Variante entgegengestellten Moderne, deren Impuls machtvoll aus dem Gender trouble kam. In Juana Borreros Schreiben manifestiert sich mit nicht geringerem Nachdruck als in jenem Martís ein Anspruch auf eine eigene Teilhabe an der Moderne und am hispanoamerikanischen Modernismo. Sie suchte nach einer Lyrik jenseits der männlichen Dominanz. Da ist kein Zweifel möglich: Der Gender  Butler, Judith: Gender trouble, S. vii.

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trouble wirft ein neues Licht auf José Martís und Juana Borreros (poetische) Weltsicht und ihre divergierenden Beziehungen zwischen Leben, Lieben und Lesen. Denn beide sind herausragende Stimmen der Moderne, denen es in unterschiedlichen künstlerischen und existenziellen Genres, die sich in ihren wechselseitigen Überlagerungen verstärken, gelang, die verschlungenen Bezüge zwischen Modernismo, Modernización und Modernidad zu Gehör zu bringen.424 Als die Kubanische Republik entstand, waren diese kreativen Stimmen längst verstummt. An ihre Stelle traten im einen Fall ein ungeheures Echo und im anderen ein nicht weniger ungeheures Schweigen. Wenn es bisweilen auch schwer, aber doch unverzichtbar ist, José Martís Stimme durch eine lange Geschichte von Übersetzern und Bauchrednern noch zu vernehmen, dann fordern Juana Borreros Briefe und Verse weit geöffnete Ohren, um gemeinsam die Rhythmen eines anderen – und noch immer möglichen – Kuba zu hören, la isla posible. Versuchen wir, es an dieser Stelle auf den Punkt zu bringen: Das Thema der Konvivenz, folglich die Frage nach den Formen und Normen des Zusammenlebens,425 bildet ohne jeden Zweifel eine der großen, entscheidenden Lebensfragen im Schaffen der bedeutenden kubanischen Dichterin und Malerin. Die am 18. Mai 1877 geborene und zusammen mit ihren zahlreichen Geschwistern426 im elterlichen Haus in Puentes Grandes unweit der kubanischen Hauptstadt aufgewachsene Künstlerin, die bereits im Alter von achtzehn Jahren in Cayo Hueso, dem US-amerikanischen Key West am 9. März 1896 im kubanischen Exil verstarb, hat dieses Thema in ihrem Schreiben, aber auch in ihrem Malen immer wieder von neuem liebevoll, bisweilen aber auch mit der ganzen Wucht des Aufeinanderprallens unterschiedlicher Lebensentwürfe auf faszinierende Weise gestaltet. Bleiben wir noch in unserem Exkurs bei der großen kubanischen Künstlerin Juana Borrero, um die gesamte Spannbreite geschlechterpolitischen Den-

 Vgl. zur Unterscheidung zwischen diesen drei Begriffen im Kontext der Diskussionen um den Modernismo den vierten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten (2021).  Zu Begriff und Problematik der Konvivenz vgl. Ette, Ottmar: ZusammenLebensWissen. List, Last und Lust literarischer Konvivenz im globalen Maßstab (ÜberLebenswissen III). Berlin: Kulturverlag Kadmos 2010; sowie (ders.): Konvivenz. Literatur und Leben nach dem Paradies. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2012.  Die Namen der Geschwister von Juana Borrero (1877–1896) und deren ermittelbare Lebensdaten sind Manuel (1874 [?]–1875 [?]), Dolores «Lola» (1876 [?]–1934), Elena (1879–[?]– 1946), Sara de los Angeles «Sarita» (1880–1890), Dulce María «Dulcita» (1883–1945), Ana María (1884–1947), Esteban «Estebita» (1889 [?]–[?]), Mercedes «Mercita» (1892–1980), Manuel Antonio Adolfo (1894 [?]–1914) sowie Carlos Manuel (1895–1958).

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kens zu diesem Zeitpunkt zu erfassen und für Martís Moderne-Verständnis eine wichtige Hintergrundfolie zu erhalten. Das Wunderkind Juana Borrero war für viele ihrer kubanischen Zeitgenossen Faszinosum und Rätsel zugleich. Dies betrifft auch ihre frühen Bilder – nicht ihre Photographien wie bei Martí, sondern ihre Zeichnungen, Aquarelle, Gemälde. Bei diesen beeindruckt immer wieder die scheinbare Schlichtheit, mit der die junge Kubanerin ihre künstlerischen Bildentwürfe ästhetisch durchformte. Das Museo Nacional de Bellas Artes in Havanna zeigt bis heute eines ihrer wohl gelungensten Ölgemälde, das wohl im Jahre 1895 entstand und unter dem Titel Las niñas zu den wohl bekannteren Werken der früh verstorbenen Künstlerin zählt. Es ist eine der Lektüreszenen, von denen bereits die Rede war. Es zeigt uns vier in etwa vier- oder fünfjährige Mädchen, die wie kleine Puppen vor einem aufgeschlagenen Buch sitzen, in ihrer linearen Reihung entweder in das überproportional scheinende Buch blickend oder direkt ihre Betrachter anschauend, sich in einer eigenartig konzentrierten Spannung befinden. Das Gemälde ist eine tiefgründige Reflexion über die Lektüre und über die Erziehung junger Mädchen. Nur auf den ersten Blick handelt es sich bei dem wenig kommentierten und noch weniger eingehend analysierten Gemälde um die ebenso kunst- wie liebevolle Darstellung einer Idylle. Auch wenn die geradezu serielle Anlage der vier Mädchenköpfe, deren geschwungene Höhe in der raffinierten Bildkomposition gemeinsam mit dem Buch eine flache Ellipse konfigurieren und eine lippenartige Struktur bilden, die sich quer über die gesamte Leinwand erstreckt, so ist doch angesichts des gewählten Sujets auffällig und augenfällig, dass sich nur schwerlich die vom Thema her im Grunde erwartbare Heiterkeit der Szenerie, dieser kleinen Idylle kindlich-mädchenhafter Unschuld, einstellen mag. Nicht nur, weil sich unter den Mädchen kaum ein wechselseitiger Austausch herzustellen scheint, nicht nur, weil das am äußeren rechten Rand und am weitesten aus dem Umfeld des aufgeschlagenen Bandes heraustretende Mädchen, das wohl mit der damals knapp vierjährigen Mercedes Borrero identifiziert werden kann,427 mit eher traurigen Augen die Betrachter oder auch die Malerin anblickt: Es handelt sich vielmehr insgesamt um eine wohldurchdachte und höchst hintergründige Kom-

 Vgl. hierzu den Kommentar zur Wiedergabe des Gemäldes in Borrero, Juana: Poesías. Ordenación y notas a cargo de Fina García Marruz y Cintio Vitier. Prólogo de Fina García Marruz. La Habana: Academia de Ciencias de Cuba 1966, S. 200. Dieser Schwester von Juana ist es zu verdanken, dass die Liebesbriefe an Carlos Pío Uhrbach für die Öffentlichkeit freigegeben und ediert werden konnten; vgl. Borrero y Piedra, Mercedes: Al lector. In: Borrero, Juana: Epistolario. Ordenación y notas a cargo de Fina García Marruz y Cintio Vitier. Prólogo de Cintio Vitier. 2 Bd. La Habana: Academia de Ciencias de Cuba 1966, hier Bd. I, S. 37–38.

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position, in der die körperliche Nähe der vier ausdrucksstarken Mädchenbilder eine Kommunikation der weiblichen Figuren und Figurationen wohl nur über das Buch vermitteln und herstellen kann. In gewisser Weise wird somit das Buch zum eigentlichen Protagonisten dieses Gemäldes. Es ist, als wäre die Kindheit in das Licht einer vergangenen Zukunft eingetaucht, die ihre Versprechen auf ein künftiges Leben nicht einzulösen vermochte. Die autobiographische Dimension im Blick der achtzehnjährigen Malerin auf ihre eigene vergangene Kindheit ist ebenso unübersehbar wie die Kritik an der spezifischen Erziehung der Mädchen im Hause Borrero. Las niñas präsentiert uns vier kleine Kubanerinnen, die in ihrer Serialität und Seriosität höchst diszipliniert, ja mehr noch: einer strengen Disziplin und Verhaltensnorm unterworfen erscheinen. José Martís poetisch-paternalistisches Bild erscheint, wie er es seiner María mit dem Kirschbaum ausmalte, der das junge Mädchen mit tausend blättern wie tausend Augen von ihrem spirituellen Vater betrachtet und überwacht. Blicken wir hier nicht schon in Frauengesichter eines kubanischen Fin de Siglo428? Die niñas (und dieser Begriff ist für Juana Borrero hochgradig semantisiert) sind sehr wohl individuell gezeichnet und gestaltet, aber in eine Ordnung eingebettet, die nicht allein ihre gleichförmige Haartracht und Kleidung, sondern auch ihre Körper wie ihre Gesichter ergriffen und eingeregelt, normalisiert hat. Die ganze Unerbittlichkeit dieser Geschlechterordnung wird auf einen Schlag spürbar. Es sind Kinder, die geschlechterspezifisch ihre Rolle im Leben bereits gelernt zu haben scheinen, und sie sind von dieser Rolle allesamt nicht nur ergriffen, sondern auch gezeichnet. Konfrontieren wir diese niñas mit dem zweiten Ölgemälde Juana Borreros, das im selben Museo Nacional de Bellas Artes unter dem Titel Los pilluelos ausgestellt ist, so erkennen wir in diesem letzten Gemälde, das die Künstlerin wenige Wochen vor ihrem Tod 1896 in Cayo Hueso schuf, eine gänzlich andere, wenngleich nicht weniger durchdachte Anlage, in der die drei dargestellten Kinder stark miteinander interagieren, sehr unterschiedlich gekleidet sind und von einer gemeinsamen Fröhlichkeit getragen werden. Aus dem Kontrast zwischen beiden Werken erhellt zugleich: Die vier kubanischen niñas, die wir zuerst betrachteten, sind weiß und gehören anders als Los pilluelos in einer Gesellschaft, in der erst wenige Jahre zuvor zumindest offiziell die Sklaverei abgeschafft wurde, einer gehobenen Gesellschaftsschicht an. Sie sind die (trauri-

 Zum Begriff des Fin de Siglo in der hispanoamerikanischen Literatur vgl. noch immer die Studien von Meyer-Minnemann, Klaus: Der spanisch-amerikanische Roman des Fin de siècle. Tübingen: Niemeyer 1979; sowie ders.: La novela modernista hispanoamericana y la literatura europea del «fin de siglo»: puntos de contacto y diferencias. In: Schulman, Ivan A. (Hg.): Nuevos Asedios al Modernismo. Madrid: Taurus Ediciones 1987, S. 246–261.

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gen) Produkte dieser patriarchalischen bürgerlichen Gesellschaft, die noch immer in rassistischen Begriffen denkt. Sie sind als Mädchen bereits von ihrer künftigen Rolle in einer kolonialspanisch geprägten kubanischen Gesellschaft also buchstäblich gezeichnet und – durchaus vergleichbar mit Las Meninas von Diego Velázquez, wenn auch in einer gänzlich anderen Bildkomposition – an ihrem jeweiligen gesellschaftlichen Platz festgeheftet und fixiert. Nichts haben sie mit den jugendlichen Schwarzen gemein. Vergessen wir nicht, dass Juana Borrero schon seit dem Jahre 1886, lange vor ihrem zehnten Geburtstag also, bei der angesehenen Malerin Dolores Desvernine Zeichen- und Malunterricht genommen hatte und sich schon bald, im Folgejahr, an der renommierten Academia de Bellas Artes de San Alejandro in La Habana, wo ihre engagierte Lehrerin unterrichtete, einschreiben durfte. Hier studierte sie bei dem berühmten kubanischen Maler Armando Menocal wie auch bei anderen herausragenden Vertretern der kubanischen Kunst des ausgehenden 19. Jahrhunderts.429 Sie gelangte so im Bereich der bildenden Kunst in den Genuss einer ausgezeichneten Ausbildung, die ihr künstlerisches Talent maßgeblich förderte und sie bereits in jungen Jahren zu einer beeindruckenden Bildchronistin jener kolonialspanischen Gesellschaft werden ließ, die sie – darin durchaus vergleichbar mit Julián del Casal, aber selbstverständlich nicht mit José Martí – als einzige kannte. Gewiss war die junge Juana Borrero hochtalentiert; doch übersieht man angesichts des bis heute strapazierten Topos vom Wunderkind, von der niña prodigiosa, leicht, dass sie ebenso im Bereich der Schönen Künste wie auf dem Gebiet der Literatur hochgebildet (und dies heißt auch: bestens ausgebildet) war. Nicht von ungefähr hat Roland Barthes sich in seinen 1957 erschienenen Mythologies auch dem Mythos des Wunderkinds in der Form des «enfant-poète»430 zugewandt, um mit seiner mythenkritischen Ironie sogleich darauf zu verweisen, dass es sich hierbei um «le mythe central de l’art bourgeois» handle: «celui de l’irresponsabilité (dont le génie, l’enfant et le poète ne sont que des figures sublimées)».431 Die Rede vom Wunderkind bildet in den Worten des französischen Gesellschaftskritikers den zentralen Mythos einer bürgerlichen (und phallogozentrischen) Gesellschaft, die für Barthes zwar eine europäische war, was freilich

 Vgl. hierzu Morán, Francisco: La pasión del obstáculo. Poemas y cartas de Juana Borrero. Madrid: Stockcero 2005, S. xv f.; sowie Cuza Malé, Belkis: El clavel y la rosa. Biografía de Juana Borrero. Madrid: Ediciones Cultura Hispánica 1984, S. 55–57.  Barthes, Roland: La Littérature selon Minou Drouet. In (ders.): Œuvres complètes. Édition établie et présentée par Eric Marty. 3 Bde. Paris: Seuil 1993–1995, hier Bd. I, S. 657.  Ebda.

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in diesem Falle aber auch leicht auf die an den europäischen Gesellschaften orientierte kubanische Kolonialgesellschaft übertragen werden kann. Bis zum heutigen Tag wird Juana Borrero immer wieder mit dem Begriff des Wunderkinds belegt. Wir sollten angesichts von Barthes’ Warnung aber behutsam mit diesem Versatzstück der Rede vom Wunderkind umgehen, da es dessen Tun zugleich jegliche Verantwortung und Verantwortlichkeit entzieht, agiert das Wunderkind doch direkt, unvermittelt und gleichsam inspiriert. Denn das Kind der Wunder, über die sich eine konformistische bürgerliche Kunstauffassung wundere, werde letztlich zum Opfer der Gesellschaft und von dieser – wie die kleine Minou Drouet – zur Märtyrerin gemacht und verschlungen: Das sühnende Opfer wird geopfert, damit die Welt klar sei, damit die Dichtung, das Genie und die Kindheit, in einem Worte: die Unordnung, zu guter Letzt gezähmt werden, und damit auch die wahre Revolte, sobald sie erscheint, ihren Ort in den Tageszeitungen finde, Minou Drouet ist das Märtyrerkind des Erwachsenen, dem es an poetischem Luxus mangelt, sie ist die Entführte oder Gekidnappte einer konformistischen Ordnung, welche die Freiheit auf das Wunder reduziert. Victime propitiatoire sacrifiée pour que le monde soit clair, pour que la poésie, le génie et l’enfance, en un mot le désordre, soient apprivoisés à bon compte, et que la vraie révolte, lorsqu’elle paraît, trouve déjà la place prise dans les journaux, Minou Drouet est l’enfant martyr de l’adulte en mal de luxe poétique, c’est la séquestrée ou la kidnappée d’un ordre conformiste qui réduit la liberté au prodige.432

Das enfant poète folglich als enfant martyr? Diese These des französischen Mythenkritikers und Kulturtheoretikers ist aufschlussreich, zeigt sie doch den Mechanismus auf, mit der sich eine konformistische Weltordnung die Unordnung der Welt vom Leibe hält. Versuchen wir also, die junge Kubanerin davor zu bewahren, was ihr zu Lebzeiten und während weiter Teile ihrer bisherigen Rezeptionsgeschichte433 widerfuhr: als Wunderkind zugleich bewundert und entschärft, in die alles dominierende Ordnung der Gesellschaft und der Geschlechter, in die herrschende Ordnung der Künste und der Kultur zurückgeholt und daher ihrer Eigenverantwortung wie ihrer so eigenen Revolte entkleidet zu werden. Denn Juana Borrero war nicht das Kind, war nicht das Mädchen, als das es so oft dargestellt worden ist, sondern eine ihrer weiblichen Geschlechterrollen höchst bewusste Frau, welche gegen diese Rollenansprüche einer phallogozentrischen Gesellschaft aufbegehrte.

 Ebda., S. 661.  Vgl. Rivero, Eliana: Pasión de Juana Borrero y la crítica. In: Revista Iberoamericana (Pittsburgh) 56 (1990), S. 829–839.

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Versuchen wir also, Juana Borrero nicht als Ausnahme-Wunderkind zu sehen, sondern die Kontexte ihrer Bildung und Erziehung, ja ihres ganzen Lebens genauer rekonstruieren und zu analysieren. Denn das in Puentes Grandes inmitten einer damals durchaus noch idyllischen Landschaft aufgewachsene Mädchen ist nicht vom Himmel gefallen, sondern in einer Künstlerfamilie erzogen worden, in der große Ambitionen nicht nur mit Blick auf Kunst und Literatur, sondern auch auf den politischen Kampf um die Unabhängigkeit Kubas von Spanien vorherrschten. Juana Borreros radikale Revolte bezog sich ebenfalls auf eine Unabhängigkeit: und zwar vordringlich ihre eigene, ihre eigene Unabhängigkeit als Frau. Die Frage dieser Unabhängigkeit stellte sich folglich für sie weniger im kolonialpolitischen als im geschlechter- und körperpolitischen Bereich, kurz: in alledem, was sie direkt und hautnah als werdende und selbstreflexive Frau anging. Halten wir gegen den bis heute zäh verteidigten Mythos vom Wunderkind also fest: Juana Borrero war weder als Malerin noch als Lyrikerin eine Autodidaktin, sondern verfügte in ihrem gesamten künstlerisch-literarischen Ausbildungsprozess über eine ausgezeichnete Schulung, stammte sie doch aus einer Familie, in welcher ebenso väterlicher- wie mütterlicherseits zwei jeweils mehrere Generationen übergreifende Dichtergenealogien zusammenflossen. Das Mädchen war zweifellos hochbegabt, aber kein vom Himmel gefallenes Wunderkind. In ihrer Familie gab keineswegs allein ihr Vater Esteban Borrero, der als Dichter in der zeitgenössischen Literaturszene Kubas mit seinen Werken wie mit seiner literarischen Tertulia zweifellos eine wichtige Position einnahm und über beste Kontakte verfügte,434 den poetischen Pol in der Familie vor. Die fraglos weit überdurchschnittlichen künstlerischen und literarischen Fähigkeiten der kleinen Juana wurden von Beginn an systematisch gefördert, ihre Arbeiten wurden diskutiert und bald schon weit über den Familienkreis hinaus bekannt gemacht. Man versteckte sie nicht, sondern war stolz auf sie und stellte sie gleichsam ins Schaufenster; zugleich versuchte man, sie möglichst an genaue (und eher konformistische) Verhaltensregeln zu gewöhnen und sie vor allzu zudringlichen Verehrern ihrer Kunst zu schützen. Juana Borrero nahm daher früh schon eine Sonderrolle innerhalb ihrer Familie ein. Selbst in der exilkubanischen Gemeinschaft in den USA war Juana, das Wunderkind, bald schon keine Unbekannte mehr, sondern gleichsam ein Symbol für die hohe Intelligenz und Kunstfertigkeit eines kubanischen Volkes, das nicht mehr länger unter dem spanischen Joch leben durfte. Denn ihr Vater war

 Vgl. etwa Toledo, Arnaldo: Esteban Borrero y «El ciervo encantado». In: Islas (Santa Clara) 79 (1989), S. 51–70.

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als Vertreter der Unabhängigkeit Kubas und als Parteigänger José Martís bekannt. Ihre Gedichte erschienen seit 1891 in den damals renommiertesten literarischen Periodika wie La Habana Elegante, La Revista Cubana, El Fígaro, La Habana Literaria oder Gris y Azul435 und wurden einem größeren zeitgenössischen Publikum bekannt. Juana Borrero wurde von allen Seiten bewundert und verehrt. Ahnte sie, dass sie als enfant poète bald schon zu einem enfant martyr werden würde? In einem wesentlich von Männern beherrschten und geprägten kulturellen Kontext im finisekularen kolonialspanischen Kuba wurde Juana Borrero zu einem Wunderkind und einem Naturtalent hochgelobt und abgestempelt, wie dies mit den besten Absichten etwa der renommierte kubanische Kritiker Aniceto Valdivia tat, der unter seinem nom de plume Conde Kostia als einflussreicher Kritiker gleich zu Beginn seiner Einleitung in Juana Borreros erstem (und zu Lebzeiten einzigen) Gedichtband, der mit Unterstützung ihres Vaters 1895 in der wichtigen Biblioteca de Gris y Azul in Havanna erschien, jene Formulierungen fand, die für lange Jahrzehnte die Rezeptionsgeschichte der kubanischen Lyrikerin prägen sollten: Das Musen-Mädchen, die mädchenhafte Magierin, die geweiht mit dem süßen Öle ihrer Prosa alles den bleichen Erzengel der Poesie widmete, der einen ewigen Schlaf in seiner Krypta aus Marmor schläft und ein ewiges Leben in seinen Bustos wie in seinen Reimen lebt. Sie ist die Blüte der Dichtkunst, welche alle Lüfte einer anhebenden Popularität in Balsam tunkt und dem initialen Wohlgerüche weitere Wohlgerüche beimengt. La niña-musa, la niña-maga, que consagró, ungiéndola con el óleo dulce de su prosa, el pálido arcángel de la poesía que duerme sueño eterno en su cripta de mármol y vive vida eterna en sus Bustos y rimas. La flor de poesía que todas las brisas de una popularidad naciente embalsaman, añadiendo perfumes al perfume inicial.436

Bereits in diesen ersten Zeilen des damaligen kubanischen Literaturpapstes wird die junge Frau zum Mädchen, zur niña verkleinert, die sich als Muse und Magierin, aber vor allem als «inspirada niña»437 in einer Szenerie bewegt, deren Ordnung von den Männern, vom Kritiker Conde Kosta, vom Vater Esteban Borrero oder vom damals bereits verstorbenen Verfasser der Bustos y rimas, Julián del Casal, der als Erzengel der Poesie aus dem Jenseits grüßt, bestimmt wird. Von allen Seiten wird das Mädchen von Männern umgeben, die ihr Porträt bestim-

 Vgl. hierzu Vitier, Cintio: Las cartas de amor de Juana Borrero. In: Borrero, Juana: Epistolario, Bd. 1, S. 44.  Conde Kostia [Aniceto Valdivia]: Juana Borrero. In: Borrero, Juana: Poesías, S. 59.  Ebda., S. 60.

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mend und patriarchalisch rahmen. Anhand derartiger Formulierungen lässt sich ermessen, welche enorme semantische Aufladung das schlichte Lexem niña für Juana Borrero beinhalten musste und wie es in eine von Männern beherrschte Gesellschaft integriert werden konnte. Just aus jenem Jahr, in dem ihre Rimas erschienen und sie dem Lesepublikum einmal mehr als wundersame niña vorgestellt wurde, stammt jenes Ölgemälde, jener óleo, mit dem die hochtalentierte, aber zugleich auch hochgebildete Juana Borrero ihre vier niñas wie Püppchen in Serie bildlich festhielt. Die niñamaga wusste sehr genau, was das Schicksal der niñas in einer Gesellschaft zu sein pflegte, deren patriarchalisches System ein Konvivenzmodell vorhielt, in das sich die braven, wohlerzogenen und wohlangezogenen Mädchen zu fügen hatten. sie hatten dieser männlich beherrschten Welt als Schmuck und als Zierde, aber auch als biologisches Lebensreservoir zu dienen und sich ansonsten aus allen wichtigen Entscheidungen herauszuhalten. Vor diesem Hintergrund erst kann die ganze Wut verstanden werden, mit welcher Juana Borrero die einsame Entscheidung von Carlos Pío Uhrbach aufnahm, in den Unabhängigkeitskrieg José Martís zu ziehen. Las niñas präsentiert und repräsentiert mit aller denk- und fühlbaren Eindringlichkeit jene auf den ersten Blick harmlos wirkenden weiblichen Geschlechtermodelle, gegen die Juana Borrero gerade gegen Ende ihres Lebens so virulent aufbegehrte und jenen im Sinne Judith Butlers438 verstandenen Gender trouble auslöste, welcher sie gegen die Formen und Normen439 ihrer Zeit auf der Ebene der Geschlechterbeziehungen rebellieren ließ. Dabei suchte Juana Borrero nach ihrer Form der Revolte, nach ihrer – um mit Barthes zu sprechen – Unordnung gegen eine konformistische Ordnung, die sie unterdrückte. Dafür aber gab es einen Raum nur in Kunst und Literatur, genauer: in den zu findenden oder zu erfindenden experimentellen Zonen des kolonialspanischen Kulturbetriebs auf Kuba. Und Juana Borrero versuchte, ihre Revolte als Frau, als Dichterin, als Malerin zu leben: und wenn es sein musste, auf Kosten ihres eigenen Lebens. Die stark autobiographische Einfärbung ihres Gemäldes Las niñas ist folglich nicht allein aufgrund der Darstellung von Juanas jüngerer, 1892 geborener Schwester Mercedes («Mercita») offenkundig, verstärkt durch die Tatsache, dass Juana neben der bereits 1890 verstorbenen Schwester Sarita mit Dolores, Elena, Dulce María und Ana María noch vier weitere Schwestern besaß, die

 Vgl. Butler, Judith: Gender trouble. Feminism and the subversion of identity. New York, London: Routledge 1990.  Vgl. Ette, Ottmar (Hg.): Wissensformen und Wissensnormen des ZusammenLebens. Literatur – Kultur – Geschichte – Medien. Berlin – Boston: De Gruyter 2012.

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zwischen 1876 und 1892 auf die Welt gekommen waren. Diese Schwestern tauchen nicht nur im umfangreichen Briefwerk Juanas, sondern auch in all ihren anderen Schöpfungen immer wieder auf und sind bis in Juanas letztes Gedicht, ihre «Ultimas rimas»,440 die sie wenige Tage vor ihrem Tod ihrer Schwester Elena diktierte, allgegenwärtig. Auch wenn die anderen niñas aus der BorreroFamilie, die mit ihr auf sehr intime Weise verbunden sind, nicht nur in der Liebe einen anderen, normenkonformeren Weg wählten, sind die Schwestern in all ihrem Denken und all ihrem Tun ganz im Gegensatz zu ihren Brüdern omnipräsent. Die Konvivenz im Hause Borrero ist auch auf der Ebene der zahlreichen Geschwister nicht geschlechterneutral, sondern spiegelt deutlich die vorherrschenden Geschlechterhierarchien einer phallogozentrischen kolonialen Gesellschaft. Das Haus der Borreros war keine Idylle. Ganz so, wie das große und bis auf wenige klägliche Reste heute längst verschwundene stattliche Gebäude der Familie Borrero vor den Toren Havannas einerseits als Idylle und herrschaftlicher Wohnsitz einer vielköpfigen und kunstbeflissenen Dichterfamilie beschrieben werden konnte, während es andererseits aber auch mit Blick auf einige tragische Ereignisse, die sich im Hause abspielten, weit mehr jedoch auf die Abgeschlossenheit, in der insbesondere die Bewohnerinnen des Hauses dort unter väterlicher Kontrolle lebten, als ein Gefängnis und als eine Wohnstätte im Zeichen von Mord und Selbstmord bezeichnet worden ist,441 so zeichnet sich auch Juanas Ölgemälde Las Niñas durch jene hochgradige Ambivalenz aus, die das gesamte Schaffen der Künstlerin durchzieht. Das Gemälde führt uns eine Konvivenz vor Augen, die gewiss im Zeichen des Buches und der Lektüre, im Zeichen von Kunst und Literatur steht, die zugleich aber auch in ihren inneren Spannungen wie in ihrer aufoktroyierten Ordnung deutlich erkennbar ist. Diese Ordnung ist wie das Gemälde seriell. Denn es handelt sich dabei um eine Ordnung, die sich in Las Niñas gleich in mehreren Augenpaaren, in den Pupillen der Puppen, selbst reflektiert, simultan zeigt und verbirgt. In ihrer durchdachten Anordnung bilden die aufgereihten niñas zusammen mit dem vor ihnen aufgeschlagenen Buch eine geradezu sinnlich geschwungene lippenförmige Einheit; doch ist ihr Zusammenleben weit von jener Freude und Heiterkeit entfernt, von denen jene noch kindlichen und fröh-

 Vgl. Borrero, Juana: Ultimas rimas. In (dies.): Poesías, S. 94. Dieses Gedicht erschien erstmals in El Fígaro (La Habana) XI, 16 (1896), S. 184 mit dem in Klammern hinzugesetzten Hinweis: «(Escrito días antes de morir en Key West.)».  Vgl. hierzu Morán, Francisco: La pasión del obstáculo. Poemas y cartas de Juana Borrero, S. 14 f.

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lichen Figuren erfüllt sind, die Juana Borrero – als hätte sie das komplementäre Gegen-Bild zu Las niñas zu entwerfen gesucht – kurze Zeit vor ihrem eigenen Tod in Key West in Gestalt von Los pilluelos malte. Beim Malen des «zweiten» muss Juana Borrero ihr «erstes» Ölgemälde im Sinn gehabt haben. Die Gelassenheit und Heiterkeit, ja die Apatheia dieses doch gewiss im Angesicht des eigenen Todes fertiggestellten Gemäldes berühren noch heute zutiefst. Kein Zwang scheint auf diesen Gesichtern, auf diesen Körpern unmittelbarer Nachfahren von Sklaven, die uns als Einheit aus sehr unterschiedlichen Haltungen anblicken, zu lasten: ein Bild entspannter Konvivenz, ein Bildnis lustvollen Zusammenlebens, das in seinem Kontrast zum geordneten Leben der weißen niñas die ganze Revolte der Juana Borrero als Mädchen und als Frau zum Ausdruck bringt. Nein, die Konzeption der von José Martí ersehnten Unabhängigkeit konnte bei der gleichzeitig von ihm apostrophierten süßen Abhängigkeit der Frau nicht vollständig sein. Graphische Entwürfe begleiten und durchdringen als Visualisierungen Juana Borreros ganzes Leben – und ganz gewiss auch ihr Schreiben. Die so oft (und so gefährlich) als Wunderkind apostrophierte Tochter von Esteban Borrero und Consuelo Pierra y Agüero, die bereits mit vier Jahren ihre ersten Gedichte verfasste, entwarf mit fünf Jahren schon jene kunstvolle Zeichnung einer Rose und einer Nelke, der sie selbst – so wird überliefert – den Titel «Romeo y Julieta» gab.442 Die stilisierten Umrisse der beiden Blumen, die sich berühren, eröffnet den langen Reigen jener Liebespaare, der von Romeo und Julia über Heloïse und Abaelard bis hin zu Dantes Paolo und Francesca reicht und damit eine Konvivenz in den Mittelpunkt rückt, die im Zeichen nicht mehr einer elterlichen oder geschwisterlichen, sondern einer geschlechtlichen Liebe steht, einer Liebe, die mit aller Intensität vor allem das literarische Oeuvre der kubanischen Schriftstellerin prägt und durchzieht. Die Formen und Normen der geschlechtlichen Liebe, aber auch deren Entsagung und Transzendenz avancieren insbesondere im Spätwerk der Achtzehnjährigen zum großen Thema ihrer literarischen Ausarbeitungen zwischenmenschlicher Konvivenz. Einer Konvivenz, die stets nicht nur Konflikt und Krise, sondern Re-

 Die kubanische Lyrikerin und Essayistin Belkis Cuza Malé hat in ihrer bereits erwähnten (und bislang einzigen) Biographie Juana Borreros El clavel y la rosa diese berühmt gewordene Zeichnung als Titel ihres Buches gewählt. Nelke und Rose finden sich ebenso auf dem Umschlag der bereits angeführten Ausgabe der Poesías Juana Borreros wie in der ebenfalls von Fina García Marruz und Cintio Vitier besorgten Ausgabe ihrer Briefe; vgl. hierzu Borrero, Juana: Epistolario. 2 Bd. La Habana: Academia de Ciencias de Cuba 1966–1967.

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volte und Katastrophe sowie das Signum versuchter Befreiung als Frau in sich trägt.443 Das Buch, das die vier Mädchen in Las niñas vor sich haben und das die Betrachterinnen und Betrachter des Ölgemäldes nicht einsehen können, hat es in sich: Es steht für eine eigene Welt von Literatur und Kunst, welche das Spannungsverhältnis zu der im Gemälde unübersehbaren Ordnung – einer Geschlechterordnung, der die vier Mädchen längst ausgesetzt sind – konstituiert. Im Dreieck von Liebe, Leben und Literatur beziehungsweise Kunst spiegeln sich die ersten Arbeiten der vier- oder fünfjährigen Dichterin und Zeichnerin im Gemälde der etwa gleichaltrigen Mädchen, welche die reife, wenn auch erst achtzehnjährige Künstlerin im letzten Jahr ihres Lebens als Szenerie keineswegs nur kindlicher Konvivenz entwarf. Einer Konvivenz, in der Juana sich selbst spiegeln und einem ganzen Leben, ihrem eigenen Leben in seiner Gesamtheit, ästhetisch wie aisthetisch444 begegnen und ebenso abstrakt wie sinnlich gegenübertreten konnte. Wie die Literatur, wie die Dichtkunst ist auch die Mal- und Zeichenkunst ein Experimentierraum, in dem sich die frühreife kubanische Künstlerin in unterschiedlichen Rollen und mit verschiedenen Gesichtern erproben konnte. Eine hohe Kontinuität der Symbolsprache findet sich nicht allein im poetischen Schaffen José Martís. Sie lässt sich auch bei Juana Borrero beobachten. Rose und Nelke begegnet man im lyrischen Werk der kubanischen Dichterin immer wieder. Am Ende ihrer 1895 erschienenen Rimas mag das Gedicht Himno de vida dafür beispielhaft stehen: Im Mysterium, im blätterdichten Walde, Breitet die Liebe aus ihr herrschend Reich: Dort entbrennt auf der duftend Nelke am Teich In Leidenschaft der Schmetterling schon balde. Dass von der geschäft’gen Biene flink erhalte Den köstlichen Honig aus der Lilie so bleich, Den befruchtend Pollen trägt die Aura gleich Zum jungfräulich Kelch der Rose in der Falte.

 Vgl. hierzu Ette, Ottmar / Kasper, Judith (Hg.): Unfälle der Sprache. Literarische und philologische Erkundungen der Katastrophe. Wien – Berlin: Verlag Turia + Kant 2014.  Vgl. hierzu auch Kern, Anne: «¿Adónde van mis locos sueños?» Paisajes soñados en la obra poética de Juana Borrero. In: Ette, Ottmar / Müller, Gesine (Hg.): Paisajes sumergidos, Paisajes invisibles. Formas y normas de convivencia en las literaturas y culturas del Caribe. Berlin: edition tranvía – Verlag Walter Frey 2015, S. 117.

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Hörst Du die Lerche, wie sie jauchzend schlägt Wie aus der Ferne ein Konzert ertönt, Wenn strahlend sich das Licht des Tages hebt? In diesem hellen Licht erglühet die Natur Und wird von ihrer süßen Stimm verwöhnt, Unterm Gestirne blitzt’s lebendig nur! En el misterio de la selva hojosa Extiende amor su imperio dominante: Allí al posarse en el clavel fragante ¡Se enciende de pasión la mariposa! Allí la abeja ardiente y afanosa Liba la miel del lirio palpitante Y el aura lleva el polen fecundante Al cáliz virgen de la fresca rosa. ¿Oís ese rumor, que de la umbría, Como vago concierto se levanta Cuando aparece el luminar del día? Es que a su luz enciéndese Natura, Y en dulce voz su desposorio canta Con el astro que vívido fulgura!445

Es ist unschwer zu erkennen, dass es sich bei diesem Hymnus an das Leben um ein romantisches Naturgedicht handelt, das die Allgegenwart des Lebens feiert und zugleich über die weibliche Rose und die (im Spanischen männliche) Nelke hinaus erotisch aufgeladen ist. Dieses an das Ende des Gedichtbandes von 1895 und damit in eine besonders hervorgehobene Position gerückte Sonett ist auf 1893 datiert, erschien aber in differierenden Varianten bereits 1892 in El Fígaro446 sowie in dem unter der Schirmherrschaft der Excma. Señora Doña Manuela Herrera de Herrera 1893 herausgegebenen Band Escritoras cubanas,447 nicht zuletzt aber – und dort datiert auf 1891 in New York – in der Familienanthologie der Borreros, die unter dem Titel Grupo de Familia448 in La Habana vorgelegt wurde. Die-

 Borrero, Juana: Himno de vida. In (dies.): Poesías, S. 81.  Vgl. ebda.: El Fígaro (La Habana) VIII, 34 (1892), S. 2.  Herrera de Herrera, Manuela (Hg.): Escritoras cubanas. Composiciones escogidas de las más notables autoras de la Isla de Cuba. La Habana: Imprenta La Universal 1893.  Die Gedichte Juana Borreros finden sich hier in Borrero Echeverría, Estéban: Grupo de Familia. Poesías de los Borrero. Prólogo de Aurelia Castillo de González. Habana: Imprenta La

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ser Lebenshymnus zeigt uns eine von Liebe erfüllte Natur, in der sich Flora und Fauna in einer sinnlichen, erotisch aufgeladenen Umgebung liebevoll befruchten. Und in der Tat sind Rose und Nelke, la rosa und el clavel, noch immer als heterosexuelles Paar präsent, und lassen das blätterbewehrte magische Mysterium des Lebens im Glanz der Liebe, im Glanz des Lichts erstrahlen. Alles in diesem Gedicht ist – wie in Juana Borreros Zeichnung von Romeo und Julia – geradezu unschuldig erotisiert. In dieser «selva hojosa» ist freilich neben «el clavel fragante» und «la fresca rosa» auch die Lilie, «lilio palpitante», hinzugetreten, was die in Vers- und Strophenendstellung besonders hervorgehobene weibliche Rose mit ihrem weit geöffneten Kelch jungfräulich resemantisiert. Flora und Fauna wirken intensiv zusammen, um die Fruchtbarkeit all dieser Liebesvereinigungen mit Schmetterling und jener fleißigen Biene, die niemals fehlen darf, noch zu verstärken. Die Erotisierung der gesamten Landschaft dieses blätterreichen Waldes, ja Urwaldes lässt eine Landschaft der Theorie entstehen,449 in der geradezu topisch die Überfülle der Natur in einem Hymnus an das Leben gefeiert wird. Alles ist von Liebe («amor»), Leidenschaft («pasión») und Fruchtbarkeit («fecundante») erfüllt, alles ist in dichte Düfte («fragante»), ekstatische Bewegungen («palpitante») und in einen Honig («miel») gehüllt, so dass in Naturas Reich der Liebe («amor su imperio dominante») sich alles in Klängen und Gesängen auf der Erde wie in den Sphären des Kosmos orchestriert und ganz dem sinnlichen Erleben hingibt. Dieser Hymnus an das Leben ist zugleich ein Hymnus an die Liebe, die zweifellos im Zentrum der gesamten Lebenssymbolik der Juana Borrero steht.450 Von einer aufkeimenden Rebellion gegen die Romantik, von einer beginnenden Revolte gegen die weiblichen Geschlechterrollen ist in diesem Gedicht, dessen Entstehung bis ins Jahr 1891 und damit in das vierzehnte Lebensjahr der Dichterin zurückreicht, wenig zu spüren. Mit Blick auf die frühe Zeichnung von «Romeo y Julieta» könnte man hier geradezu von einer transmedialen Übersetzung und einer kosmischen Auswei-

Moderna 1895, S. 55–70. Zu den Varianten vgl. die Kommentare von Cintio Vitier und Fina García Marruz in Borrero, Juana: Poesías, S. 81.  Vgl. zu diesem Begriff der Landschaft der Theorie Ette, Ottmar: Roland Barthes. Landschaften der Theorie. Konstanz: Konstanz University Press 2013; sowie die Akten zweier diesem Thema gewidmeter Symposien: Ette, Ottmar / Müller, Gesine (Hg.): Paisajes vitales. Conflictos, catástrofes y convivencias en Centroamérica y el Caribe. Un simposio transareal. Berlin: Verlag Walter Frey – edition tranvía 2014; sowie Ette, Ottmar / Müller, Gesine (Hg.): Paisajes sumergidos, Paisajes invisibles. Formas y normas de convivencia en las literaturas y culturas del Caribe. Berlin: Verlag Walter Frey – edition tranvía 2015.  Vgl. zur Beziehung Juana Borreros zur Liebe den zweiten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: LiebeLesen (2020), S. 552 ff.

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tung eines so früh schon bei Juana Borrero präsenten Themas sprechen, das hier freilich in einer Art jungfräulicher Erotisierung in eine ganze Landschaft der Liebe überführt wird. Wenn auch die Jungfräulichkeit als Hymen in diesen Hymnus eingebaut ist: Alles ist hier mit allem verbunden und im Gesang des Lebens als treibender Kraft verfangen. Zugleich bot das Gedicht den Vorteil, sich eher konventionellen, die Erotisierung übergehenden Lektüremustern zu öffnen und damit alles als die Bilder eines reimenden Wunderkindes abzutun. Für diese dominante Lesart jedenfalls spricht die mehrfache Veröffentlichung des Sonetts in unterschiedlichen Publikationen. Welch einen Gegensatz bildet dieses der Natur verpflichtete und die Natura direkt ansprechende Sonett zu jenem bereits besprochenen Gedicht der kubanischen Lyrikerin, das sich in der Wendung an Apoll in gänzlich anderem Lichte zeigt! Denn dort, nur wenige Seiten zuvor im selben Band, findet sich in Juana Borreros Rimas ein ganz anderes der Kultur verpflichtetes Gedicht mit einer gänzlich anderen Landschaft der Theorie, die sich in Apolo als kalte Körperlandschaft präsentiert, auf der die tausend heißen Küsse am fest-gestellten Männerbild verglühen. In diesem weiten Spannungsfeld entfaltet sich die Dichtkunst der Kubanerin, die zu ihrer Malkunst doch immer in wechselseitig sich erhellender Beziehung steht. An diesen beiden Gedichten kann man das gesamte literarische, aber auch literaturgeschichtliche und ästhetische Spannungsfeld abmessen, innerhalb dessen sich Juana Borreros lyrisches Schaffen bewegte. Dieses Feld oszillierte ganz offenkundig zwischen den ästhetischen Polen der Romantik und des Modernismus. Denn anders als in dem dionysischen Natura-Bild einer erotisierten Landschaft, in der nicht nur eine Theorie der allbefruchtenden Liebe, sondern eine ästhetisch weitgehend der Romantik verpflichtete Literatur-, Natur- und Kunstauffassung zu uns spricht, stehen wir in Apolo vor einem zweifellos von der Plastizität des französischen Parnasse geprägten modernistischen Männerbildnis, das uns die Landschaft eines männlichen, aber nicht menschlich belebten Körpers enthüllt: ein Männerbild, welches von den Lippen eines weiblichen Ich in Besitz genommen wird. So lässt sich aus dem Kontrast zum Naturgedicht des Hymnus an das Leben eine zusätzliche Isotopie gewinnen, welche ein neues Licht auf das fordernde und herausfordernde weibliche Ich des modernistischen Sonetts wirft. Die distante, kühle, zum Objekt des weiblichen Blicks gewordene Schönheit des Männerbildes entspricht ganz jenem männlichen Ideal, das Juana Borrero in einem Tagebucheintrag von 1894 im Zeichen der Lektüre des Gedichtbandes Gemelas von Federico und Carlos Pío Uhrbach mit Blick auf den letzteren in ihrem

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Schwanken zwischen verschiedenen Varianten eines (hundert Jahre nach ihrer Geburt in Frankreich zusammengeführten) Diskurses der Liebe451 so formulierte: Wie denn? Kann ich denn hoffen, ihn eines Tages kennenzulernen und seine Freundin zu werden? Ich bin hochfahrend genug, als dass ich mich durch ein Gefühl besetzen ließe, das mich versklavt. Nicht daran zu denken! Wird er im Übrigen das Ideal des von mir erträumten Mannes verwirklichen? Seine Verse versprechen es, aber ist er vielleicht kein Mann? Alles in allem übertreibe ich. Ich bewundere ihn, nichts weiter. Was für eine Einbildungskraft ich habe! ¿Qué! ¿acaso puedo esperar conocerlo y ser su amiga? Soy lo bastante altiva para dejarme invadir por un sentimiento que me esclavice. ¡No hay que pensar en eso! Además ¿realizará él el ideal del hombre que he soñado? Sus rimas lo prometen, pero ¿acaso no es un hombre? Después de todo yo exagero. Lo admiro y nada más. Qué imaginación la mía!452

Die Abkehr von jeglichem versklavenden Gefühl – eine fürwahr starke Metapher auf einer Insel, die unter kolonialen Bedingungen gerade erst die Sklaverei zumindest de iure abgeschafft hatte! – und damit gegenüber jeglicher Liebe, die eine vollständige Abhängigkeit vom geliebten Manne mit sich bringt, führt hier in diesen Tagebucheinträgen von 1894 zur Herausbildung eines Ideals von Mann, der zwar Gedichte schreiben darf (und soll), aber kein Mann (und damit auch kein Herr oder Amo) ist. Auf keinen Fall darf er das Recht besitzen, seine Frau in seine Abhängigkeit zu bringen und zu seiner Sklavin oder gar Liebessklavin zu machen. Apoll: Ein Bild von einem Mann, ganz gewiss, aber kein Mannsbild. Carlos Pío Uhrbach: ein schöner Dichter, aber bloß kein richtiger Mann! Juana Borrero sieht sich sogleich in der Gefahr, durch ein solches Mannsbild versklavt zu werden, zu einer gänzlich abhängigen und auf den Mann angewiesenen Sklavin zu werden, die ihren eigenen Willen, ihre eigene Entscheidungskraft verliert. Doch als Sklavenhalter hat Apoll, hat Eros, schon bei Juana Borrero ausgedient. Bereits in Borreros Apolo lässt sich viel von jener weiblichen Macht über den männlichen Körper nicht nur erahnen, sondern unübersehbar demonstrieren, ergreifen hier doch die weiblichen Lippen Besitz von einem Gott, der so apollinisch erscheint, wie ein Friedrich Nietzsche – der im hispanoamerikanischen Modernismo so breiten Widerhall erfuhr453 – ihn sich nur hätte erträumen können. Doch wäre er in seinem patriarchalisch vorstrukturierten Blick dann nicht der Peitsche in der Hand der Frau, des Weibes, ansichtig geworden?

 Vgl. Barthes, Roland: Fragments d’un discours amoureux. Paris: Seuil 1977.  Borrero, Juana: Epistolario, Bd. I, S. 40.  Vgl. hierzu Ette, Ottmar: «Así habló Próspero». Nietzsche, Rodó y la modernidad filosófica de «Ariel». In: Cuadernos Hispanoamericanos (Madrid) 528 (junio 1994), S. 48–62.

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Dem weiblichen Ich ist Apoll, ihr Apoll, als aktiver (und damit potentiell versklavender) Spielpartner in-different geworden. Juana Borrero fragt sich von Beginn ihrer Bettlektüre der Gemelas an, wie sie eine erotische Verbindung zu Carlos Pío Uhrbach bewerkstelligen könnte, in welcher nicht länger der Mann die Forderungen stellt und die Frau diejenige ist, die ihr Ja-Wort zögernd schenkt und ihren eigenen, unabhängigen Willen damit verschenkt. Wir hatten dies zu Beginn unserer Lektüre von Juana Borreros Tagebucheinträgen bereits in Umrissen gesehen und als radikale weibliche Entschlossenheit gekennzeichnet. Nun wissen wir mehr, welche erotischen und geschlechterspezifischen Modellierungen in dieser von der Frau geradezu erzwungenen heterosexuellen Beziehung vorherrschen. Einer heterosexuellen Beziehung freilich ohne Sexualität, ohne jede intime körperliche Nähe. Noch einmal zu dem Apoll und seinem Marmorbildnis gewidmeten Sonett, das einen so ganz anderen Charakter entfaltet als das dem romantischen Kanon weitaus mehr verpflichtete Natur-Gedicht. In seinem Zentrum steht in der Kühle der französischen Parnassiens die Marmorstatue, weiß und unnahbar. An seiner kühlen Oberfläche zeigt sich keinerlei männliche Regung – und soll sich auch nicht zeigen. Apoll ist kühl und keusch. Die Umwandlung des Männerbildes in ein Marmorbild, die Verwandlung der erotischen Umarmung in das Versiege(l)n eines Kusses, die chromatische Einbettung einer Regungslosigkeit, die durch die Betonung von «indiferente»454 psychologisiert, aber vergeblich reanimiert wird, überlässt dem lyrischen Ich jenen Spielraum, in dem die Gesten und mehr noch die Figuren der Liebe455 wie in einem Labor literarisch erprobt und experimentell in Szene gesetzt werden können. Borrero allerdings weiß (und hierauf weist ganz deutlich auch das angeführte Zitat aus ihrem Tagebuch): Die Potenz des Mannes bleibt potentiell präsent und könnte rasch das weibliche Spiel durchkreuzen. Die Frau muss vor dem Manne auf der Hut sein, ist dessen Macht doch noch lange nicht gebrochen. Wann ist ein Mann ein Mann? Ist es nicht ein solches Experiment, das Juana Borrero im Labor ihres Gedichts am distanten und doch nahen, aber entschärften Objekt Mann vielleicht zum ersten Male durchführt, ganz jener extremen Einsamkeit des Liebesdiskurses bewusst, die Roland Barthes seinen Fragments d’un discours amoureux voranstellte:

 Die von Casal zitierte Fassung des Gedichts betonte das in Versendstellung hervorgehobene «indiferente» durch eine Lexemrekurrenz noch zusätzlich, indem sie bereits im ersten Vers ein «indiferente» enthält, das später (?) durch «refulgente» ersetzt wurde.  Barthes, Roland: Fragments d’un discours amoureux. In (ders.): Œuvres complètes, Bd. III, S. 461–463. Die Beziehungen zur Barthes’schen Liebeskonzeption und seinen Figuren der Liebe erscheinen im zweiten Band der reihe Aula in Ette, Ottmar: LiebeLesen (2020).

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Die Notwendigkeit dieses Buches beruht auf der folgenden Beobachtung: dass nämlich der Liebesdiskurs heute von einer extremen Einsamkeit ist. Dieser Diskurs wird vielleicht von Tausenden von Subjekten (wer weiß das schon?) gesprochen, doch er wird von niemandem gestützt; er ist gänzlich von den umgebenen Sprachen aufgegeben: Er wird entweder ignoriert oder verachtet, oder aber sie machen sich darüber lustig, abgeschnitten ist er nicht nur von der Macht, sondern auch von ihren Mechanismen (den Wissenschaften, Wissensfeldern, Künsten). Wird ein Diskurs auf diese Weise von seiner eigenen Kraft in ein Abdriften ins Inaktuelle gezogen, wird er außerhalb jeglichen Herdenverhaltens verschlagen, dann bleibt ihm nichts anderes mehr übrig, als zum Ort, so verengt dieser auch sein mag, einer Affirmation zu werden. La nécessité de ce livre tient dans la considération suivante: que le discours amoureux est aujourd’hui d’une extrême solitude. Ce discours est peut-être parlé par des milliers de sujets (qui le sait?), mais il n’est soutenu par personne; il est complètement abandonné des langages environnants: ou ignoré, ou déprécié, ou moqué par eux, coupé non seulement du pouvoir, mais aussi de ses mécanismes (sciences, savoirs, arts). Lorsqu’un discours est de la sorte entraîné par sa propre force dans la dérive de l’inactuel, déporté hors de toute grégarité, il ne lui reste plus qu’à être le lieu, si exigu soit-il, d’une affirmation.456

Juana Borreros Liebesdiskurs ist zweifellos von einer extremen Einsamkeit des weiblichen Subjekts geprägt. Vielleicht können wir aus Barthes’ Einführung in den Liebesdiskurs ersehen, dass der Diskurs der Juana Borrero zunächst und vor allem eine Affirmation des eigenen liebenden Ichs ist. Oder, um mit Augustinus zu sprechen, ein amabam amare umschreibt.457 Der Liebesdiskurs erscheint auf diese Weise als paradoxe Affirmation des liebenden Subjekt. Dem bliebe nur hinzuzufügen, dass diese Affirmation des Subjekts, die wir anhand von Juana Borreros Liebesbriefen an Carlos Pío Uhrbach nachvollziehen können, zugleich auch eine Revolte beinhaltet gegen jene Formen und mehr noch Normen des Diskurses einer Liebe, die versklavt, gerade weil sie der (bei Barthes im Übrigen immer nietzscheanisch gedachten) grégarité, weil sie dem Herdentrieb folgt und tut, was alle tun, und liebt, wie alle lieben. Eine Sklavin aber wollte Juana Borrero nicht werden: Sie wollte sich auf keinen Fall einem Manne unterordnen, sondern suchte nach anderen Formen nichtpatriarchalischer Konvivenz. Die Konvivenz der Körper muss folglich neu oder zumindest gegen oder mehr noch jenseits einer diskursiven oder sexuellen Gregarität in der Konvivenz der Körper geregelt werden – und eben dies deutet sich in Juana Borreros Sonett Apolo aus der hier eingenommenen Perspektive unverkennbar an. Alles in der Natur ist erfüllt von Liebe, wie der Himno a la vida zeigt;

 Barthes, Roland: Fragments d’un discours amoureux, S. 459.  Zum Amabam amare vgl. ausführlich den zweiten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: LiebeLesen (2020).

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alles in der Kultur ist – wie Apolo demonstriert – erfüllt von Relationen, von Abhängigkeiten, welche die Vektorizität der Liebe und das Liebesspiel beherrschen. Juana Borrero suchte nach einer Position, die wir heute als feministisch bezeichnen dürfen, die es auf der kolonialspanischen Insel aber nirgendwo gab. All dies bedeutet freilich nicht, dass Liebe in der konkreten Kultur ab initio in einer solchen Gesellschaft zum Scheitern verurteilt wäre. Denn Juana Borreros Apolo blieb kein reines Lippenbekenntnis. Wenn das Sonett Himno de vida für einen im Zeichen der Romantik verfassten literarischen Diskurs steht, so weist Apolo in eine Richtung der Moderne, die sich zwar ebenfalls dem Baudelaire’schen Gebot des Absolut-modern-Seins verpflichtet weiß, aber dem männlich dominierten hispanoamerikanischen und kubanischen Modernismo458 eine Position gegenüberstellt, die als Affirmation des weiblichen Subjekts zugleich eine Revolte dieses weiblichen Subjekts gegen jegliche Form der Versklavung – ob als Haussklavin oder als Liebessklavin – beinhaltet. Juana Borrero wollte keines von beiden sein. All dies bringt und bedeutet Gender trouble – und ist doch im Zeichen von Ästhetik und Revolte wesentlich mehr. Denn in dieser im Sonett Apolo erprobten Choreographie der Liebe, die das liebende Subjekt zugleich konstituiert und affirmiert, wird das männliche liebende Subjekt mit ein und derselben Geste festgestellt und kalt-gestellt, entfaltet die «ternura ardiente» ihr Liebesspiel doch auf der plastischen Oberfläche eines «mármol frío» so, dass sich das männliche Subjekt in ein göttliches Objekt der Frau, die nicht zur abhängigen Liebessklavin verkommen will, verwandelt. Die sinnenfrohe romantische Überhitzung der Figuren wird in die distante, kühle Chromatik modernistischer Ästhetik übersetzt, ohne doch «ihr» Göttliches, die Transzendenz ihres «ídolo», aus dem Sinne(n) zu verlieren: jene Transzendenz, welche sich jenseits des Liebesobjekts eröffnet, jenseits des Körpers mit Haut und Haaren.459 Die poetische Kunst der jungen Dichterin gestaltet hier ein Leben, das sich selbst als Kunstwerk inszeniert und gerade darum immer schon Leben ist, das weiter gelebt werden will und doch immer schon in seiner Kunst, in seiner Dichtung fort- und weiterlebt. Die Konvivenz der Körper setzt ein Spiel in Gang, welches das Leben im ernsten Spiel als Kunst begreift, welche als Lebens-Kunst Leben, Lieben und Lesen miteinander zu einem magischen Dreieck zu verbin-

 Vgl. hierzu die Einschätzung des Modernismus-Spezialisten Schulman, Iván A. (Hg.): Nuevos Asedios al Modernismo. Madrid: Taurus Ediciones 1987, S. 246–261.  Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Mit Haut und Haar? Körperliches und Leibhaftiges bei Ramón Gómez de la Serna, Luisa Futoransky und Juan Manuel de Prada. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte / Cahiers d’Histoire des Littératures Romanes (Heidelberg) XXV, 3–4 (2001), S. 429–465.

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den vermag. Bereits im Februar 1895 war die Entscheidung über dieses Spiel, das zumindest für Juana Borrero ein Spiel auf Leben und Tod war und kein Lippenbekenntnis bleiben durfte, gefallen: Passage à l’acte. So erklärt sich Juana Borreros geradezu wilde Entschlossenheit, Carlos Pío Uhrbach zu dem Ihren zu machen. Mit dem Tagebucheintrag der jungen Frau hat das ernste Spiel einer Liebe zum Tode eben erst begonnen. Es ist ein Experiment, das an die Grenzen des Schreibens, der Liebe, aber auch des Lebens gehen und – soweit die Kräfte reichen – weit darüber hinausführen wird. Kommen wir daher nochmals kurz auf die ersten Tagebucheintragungen der Kubanerin zurück. Denn wie in einer ganz bewusst konstruierten Versuchsanordnung legt sich Juana Borrero den mit einer persönlichen Widmung versehenen Band Gemelas der Brüder Uhrbach zurecht, um ihn erst dann zu öffnen, wenn alle Bewohnerinnen («todas») des Hauses bereits schlafen. Denn Einsamkeit wird zur Grundlage allen Liebens: die Einsamkeit des weiblichen Ich. Ausgangspunkt des Experimentes, dieses radikalen Selbstversuches, ist so das (gleichsam verdoppelte) Buch des Brüderpaares, das zum «compañero» werden und damit auf dem Weg der Lektüre in eine Konvivenz einrücken soll, deren Koordinaten und Körper noch unbestimmt sind. Und zu Beginn sind auch die Vektoren der Liebe zwischen beiden Brüdern noch nicht fixiert: Amor scheint seine Pfeile noch nicht verschossen zu haben. Doch am Anfang – wenn es denn einen Anfang des Liebeswissens der Literatur gibt – war die Sehnsucht der Juana Borrero nach Liebe: eine zweifellos grenzenlose Sehnsucht. Diese Sehnsucht nach einem Zusammenleben auf einer distant intertextuellen Ebene (die bereits mit den ersten Zeilen des Tagebucheintrages begonnen hat) öffnet sich über die handschriftliche (und damit körper-schriftliche) Widmung der Brüder auf die beiden Verfasser der Gemelas selbst, die der jungen Frau nur durch wenige Verse, aber nicht persönlich bekannt sind. Eine persönliche Bekanntschaft hätte zu diesem Zeitpunkt wohl eher gestört. Dann folgt die zweite Szene des ersten Aktes. Die intertextuelle Beziehung wandelt sich in eine verdoppelte heterosexuelle, nachdem zuvor alle anderen potentiellen Leserinnen, die Juana über die Schulter hätten schauen können, ausgeschlossen wurden, bevor sich im Folgenden der entstehende Diskurs der Liebe, des Begehrens und des Besitzanspruchs auf ein einzelnes Objekt, den kränklicher wirkenden der beiden unverstandenen Barden, mithin Carlos Pío Uhrbach, richtet und fixiert. Wir haben uns diese Stelle gleich zu Beginn unserer Beschäftigung mit der kubanischen Dichterin angesehen. So fällt die Wahl folglich auf Carlos Pío Uhrbach: Eine freie Wahl des Liebespartners und weit mehr als bloße systemaffirmierende Damenwahl. Es ist die abstrakte und zugleich absolute Wahl durch die Frau.

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Wie in Las niñas ist die Präsenz des Buches Ausgangspunkt einer (wie auch immer zu gestaltenden) Konvivenz, die das Subjekt freilich nicht aus seiner Einsamkeit befreit und auch nicht wirklich befreien soll. Vielmehr wird das Buch zum Beginn eines asymmetrischen Dialogs, in dem der Liebesdiskurs von diesem lyrischen Anfang an ganz im Sinne von Roland Barthes von einer absoluten Einsamkeit bestimmt ist. Diese fundamentale oder – mit Barthes gesprochen – extreme Einsamkeit konstituiert aber auch das liebende Subjekt als Subjekt. Ohne dass es auch nur zu einem einzigen Treffen oder persönlichen Gespräch mit Carlos Pío Uhrbach gekommen wäre, wird gleichsam in vitro, wie in einer künstlichen In-vitro-Fertilisation, und ausgehend von einem noch ungelesenen Gedichtband eine Liebesbeziehung gezeugt, die im Zeichen ihres Mottos Alles oder Nichts, eines Todo o Nada460 steht und in dem es um Leben und Lieben oder Sterben und Tod gehen wird, ohne dass der ausgewählte Liebespartner zu Beginn auch nur das Geringste davon hätte ahnen können. Das Liebesspiel hat begonnen: Die Frau allein bestimmt. Mag sein, dass Juana Borrero in Carlos Pío Uhrbach eine Figura oder gar eine Figuration von Julián del Casal erblickte. Doch ihre Wahl eines «compañero de mis insomnios»,461 eines Gefährten meiner Schlaflosigkeit, als Partner ihres Selbstversuches hätte auch andere betreffen oder treffen können. Das Umschlagen des Intertextuellen ins Heterosexuelle sowie das Kippen der Selbstaffirmation des isolierten Ich in ein Alles oder Nichts öffnet sich auf eine Experimentanordnung, innerhalb derer die an die Adresse von Carlos geschleuderte (aber diesem niemals so mitgeteilte) Herausforderung die erträumte Konvivenz mit dem erwählten männlichen Objekt mit einer (allerdings noch impliziten) Suiziddrohung verbindet. Diese öffnet sich ihrerseits hin auf eine (im Tagebuch freilich noch nicht ausgeführte, aber im Briefwerk des Epistolario sehr früh schon präsente) Transzendenz. Die Faktoren und Bedingungen des Experiments sind damit festgelegt: Es ist ein Selbstversuch am offenen Herzen. Und die Aufschreibesysteme,462 künstlerischen Medien und Diagramme stehen bereit. Wenn sich die Lyrik in ihrer langen und viellogischen, unterschiedlichste Kulturen und Sprachen querenden Geschichte insgesamt als verdichtete Bewegung463 verstehen lässt, so erfüllte das poetische, verdichtende Schreiben für

 Vgl. hierzu Vitier, Cintio: Las cartas de amor de Juana Borrero. In: Borrero, Juana: Epistolario, Bd. 1, S. 18 f.  Ebda., Bd. 1, S. 39.  Vgl. hierzu ausführlich die Habilitationsschrift von Kittler, Friedrich: Grammophon Film Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose 1986.  Vgl. hierzu Ette, Ottmar: La lírica como movimiento condensado: miniaturización y archipelización en la poesía. In: Ette, Ottmar / Prieto, Julio (Hg.): Poéticas del presente. Perspectivas

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Juana Borrero früh schon die Aufgabe, das Imaginierbare in das Imaginierte, das Denkbare in das Gedachte, das Schreibbare in das Geschriebene, das Lesbare in das Gelesene und das Lebbare in das Gelebte im Wechselspiel von Literatur und Leben zu übersetzen. Dadurch wird all das, was als «inaudito, imposible, temerario»464 bezeichnet wird, aus dem Bereich des Unerhörten und Unmöglichen in den des Möglichen und Lebbaren überführt, so dass das scheinbar unüberwindliche Hindernis465 zur eigentlichen Herausforderung wird, um das eigene Leben mit den Mitteln einer verdichtenden und verdichteten Sprache weiter (und auch gewagter) so zu gestalten, dass die Formen und Normen eines tradierten, herkömmlichen Lebenswissens, Erlebenswissens, Überlebenswissens und Zusammenlebenswissens deutlich überschritten werden. Welche Art von Wissen aber strebte die kubanische Modernistin Juana Borrero an? Versuchen wir zunächst, uns in verschiedenen Zwischenschritten an die Antwort auf diese Frage heranzutasten. Das Unerschrockene («temerario») liegt bei Juana Borrero darin, dass sie dabei Literatur und Lyrik nicht nur als ein abstraktes Experimentierfeld, sondern zugleich als höchst konkretes Labor ihres Lebens begreift und dieses eine Leben als Einsatz einsetzt. In diesem extremen, geradezu absoluten Anspruch, Literatur und Leben in einen direkten und unbeugsamen Zusammenhang zu bringen, ist sie mit den beiden anderen großen kubanischen Modernisten José Martí und Julián del Casal sehr wohl vergleichbar: Auch der Dichter der Versos libres wie jener der Bustos y rimas betrachteten ihr Leben selbst als Kunstwerk und ihre Literatur als eine mit ihrem Leben aufs Engste verzahnte künstlerisch-politische Lebensform. Ich hatte bereits auf diese Gemeinsamkeiten innerhalb der Dichtkunst des kubanischen Modernismo hingewiesen. In seinem absoluten Willen, der die Gestaltung des eigenen Ich an erster Stelle einschloss, dürfte José Martí hinter Juana Borrero nicht nachgestanden haben. Doch war Martí nicht der politischste der drei Modernisten? Allzu simpel wäre es, Juana Borrero diese politische Dimension abzuerkennen oder grundsätzlich zu verweigern, weil sie für solche politische Positionierungen noch nicht alt oder reif genug gewesen wäre. Denn entfalten ihre Reflexionen über die Konvivenz der Körper und die Versklavung durch den männlichen Beherrscher nicht eine körperpolitische Tragweite, die das Politische (le politique) ihres Denkens nicht auf die Politik (la politique) ihrer Zeit reduzierbar macht?

críticas sobre poesía hispanoamericana contemporánea. Madrid – Frankfurt am Main: Iberoamericana – Vervuert 2016, S. 33–69.  Borrero, Juana: Epistolario, Bd. I, S. 41.  Vgl. hierzu Morán, Francisco: La pasión del obstáculo. Poemas y cartas de Juana Borrero. Madrid: Stockcero 2005, S. ix–xxvi.

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Das poetische Schreiben von Juana Borrero lässt sich gewiss auf die skizzierte modernistische Tradition, die sich außerhalb Kubas auch bei so unterschiedlichen Autoren wie José Enrique Rodó, Rubén Darío oder Manuel Gutiérrez Nájera finden lässt, beziehen. Gleichwohl ist Juana Borrero zugleich, wie Judith Moris Campos zutreffend formulierte, eine der rätselhaftesten Figuren innerhalb der kubanischen Dichtkunst, also «una de las figuras más enigmáticas de la literatura cubana»466 und eine Autorin, deren Werk aus einer psychoanalytisch fundierten Perspektive im Zeichen einer künstlerischen Neurose lesbar gemacht werden könnte. Aus diesen Motiven kann man mit einigem Grund von einer «pasión neurótica»,467 von einer neurotischen Leidenschaft, sprechen und von Juana als einer «neurotischen Geliebten».468 Doch sollte man sich zugleich auch der Tatsache bewusst sein, dass eine Pathologisierung ihres künstlerischen Lebensanspruches – wie dies im übrigen auch mit Blick auf Julián del Casal und weit mehr noch auf José Martí immer wieder einmal unternommen wurde – Gefahr läuft, die hochbegabte junge Frau an eine angenommene Normalität zurückzubinden und ihren ästhetischen wie aisthetischen Absolutheitsanspruch, Leben, Lieben und Literatur miteinander so eng und unmittelbar als irgend möglich zu verflechten und vertexten, auf einen Ausfluss des Neurotischen zu reduzieren. Für Juana Borrero, aber auch für die anderen Modernisten ist dies unangebracht. Davon sollten wir uns gerade vor dem Hintergrund der Überlegungen, die wir auf den Spuren von Roland Barthes zum Begriff des Wunderkindes angestellt haben, ferne halten und von jeglicher Pathologisierung Abstand nehmen. Juana Borrero bewegte sich ästhetisch und mit vollem Herzen in einem modernistischen Umfeld. Nicht umsonst wandte sich Juana Borreros unbedingte Liebe zwei modernistischen Dichtern ihrer Zeit zu, zunächst Julián del Casal und nach dessen Tod Carlos Pío Uhrbach. Der hispanoamerikanische und kubanische Modernismo stellte die ästhetischen Voraussetzungen dafür bereit, neue Lebensformen und gewiss auch neue Lebensnormen zu entwickeln, wie sie sich in den höchst unterschiedlichen Lebens-Welten von José Martí, Julián del Casal, Carlos Pío Uhrbach und Juana Borrero entfalteten.

 Moris Campos, Judith: La ¿«virgen triste»? Hacia una retórica de la corporalidad en el «Epistolario» de Juana borrero. In: Calafell, Nuria / Farrúz Antón, Beatriz (Hg.): Escribir con el cuerpo. Barcelona: UOC 2009, S. 185.  Ebda.  Identische Formulierungen finden sich verschiedentlich in anderen Beiträgen derselben Autorin; vgl. u. a. Moris Campos, Judith: La saga / fuga de J.B. El mito de la crítica en torno a Juana Borrero. In: Revista Encuentro (Madrid) 51–52 (invierno–primavera 2009), S. 105.

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Es ging dabei freilich um Lebens-Welten, die in ihrer ästhetisch fundierten Unbedingtheit jenseits aller Pathologisierung durchaus miteinander vergleichbar waren. Für Juana Borrero formulierte ihre Kunst, formulierte ihre Literatur den Anspruch, ihr Leben weiter zu leben als jenes Repertoire an Lebensnormen, welche die kolonialspanische Gesellschaft auf Kuba für sie als Frau bereithielt. Sie versuchte entschlossen, aber auch mit einem wachsenden Grad an Verzweiflung, mit Hilfe literarisch-lyrischer sowie künstlerischer Mittel das ihr von der Literatur und ihrer Familie bereitgestellte Lebenswissen wo irgend möglich zu durchbrechen und weiter gespannte Spiel-Räume des weiblichen Lebens, eines Lebens als Frau, in der Moderne zu erkunden. Denn die Normen der kolonialspanischen Gesellschaft lasteten schwer auf der jungen Dichterin. Mit dieser Normalität wie auch mit der ständigen Überwachung durch ihren durchaus liebevollen aber strengen Vater konnte sie sich nicht zufrieden geben. Dies bedeutete nicht nur eine unentwegte Arbeit an der Sprache ebenso im Bereich der Lyrik wie der Prosa, wo Juana Borrero immer wieder die sprachlichen und orthographischen Ausdrucksmöglichkeiten zu erweitern und die Fremdheit (in) der eigenen Vater- und Muttersprache darzustellen suchte.469 Ihr Streben nach Erweiterung470 implizierte vielmehr den vielfachen und immer wieder anders in Stellung gebrachten Versuch, der völligen Ausradierung einer weiblichen Subjektivität nicht mit einer einzigen weiblichen Subjektkonstruktion, sondern mit möglichst vielen, also einer Proliferation weiblicher Rollen, zu begegnen. So entstand ein gesellschaftliches und genderspezifisches Rollenspiel, das wir noch heute in ihrer Kunst – ebenso der visuellen wie der literarischen – bewundern können. All dies als Zeichen einer Neurose zu deuten, dürfte deutlich zu kurz greifen und Juana Borrero als Künstlerin nicht gerecht werden. Es handelt sich vielmehr um ein sehr bewusst unternommenes Streben nach einer Ausweitung an möglichen Lebensformen, das in den Briefen Juanas deutlich signalisiert wird und ebenso ikonisch wie textuell zum Ausdruck kommt. Denn unablässige Spiegelungen, Verdoppelungen und Kombinatoriken prägen die Schreibweise

 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Die Fremdheit (in) der Mutterzunge. Emine Sevgi Özdamar, Gabriela Mistral, Juana Borrero und die Krise der Sprache in Formen des weiblichen Schreibens zwischen Spätmoderne und Postmoderne. In: Kacianka, Reinhard / Zima, Peter V. (Hg.): Krise und Kritik der Sprache. Literatur zwischen Spätmoderne und Postmoderne. Tübingen, Basel: A. Francke Verlag 2004, S. 251–268, hier S. 260–265.  Vgl. zum epistemologischen Komplex der Erweiterung Ette, Ottmar: Weiter denken. Viellogisches denken / viellogisches Denken und die Wege zu einer Epistemologie der Erweiterung. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte / Cahiers d’Histoire des Littératures Romanes (Heidelberg) XL, 1–4 (2016), S. 331–355.

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der kubanischen Schriftstellerin, die ihre Liebesbriefe bisweilen mit ihrem eigenen Namen, aber nicht selten auch mit Carlota oder Desdemona und häufiger noch mit Yvone, der Protagonistin eines romantischen Gedichts des Kolumbianers Abraham Z. López Penha unterzeichnet. Ganz anders als ein José Martí, der von sich selbst ein einziges und eindeutiges Bild vermitteln wollte, liebte es Juana, sich in unzähligen weiblichen Gestalten und Rollen zu spiegeln. Juana Borrero zeigt uns dabei ebenso in Texten wie in Zeichnungen die verschiedenartigsten Gesichter. Es sind unterschiedlichste Frauenrollen, die Juana in ihren Briefen an Carlos Pío Uhrbach einnimmt, Frauenrollen, die sie mit Vorliebe aus der Literatur der Romantik wie des Fin de siècle bezieht, die es ihr erlauben, dem männlichen Objekt ihres Begehrens bisweilen mit sadistisch, bisweilen mit masochistisch eingefärbten Lust- und Qualvorstellungen zu begegnen. Stets aber entziehen sie sich immer wieder dem fixierten, festgestellten männlichen Objekt. Juana Borrero ließ sich nicht auf eine einzige weibliche Rolle, nicht auf eine wie auch immer definierte «normale» Identität reduzieren: Denn «Normalität» meinte patriarchalisch fixierte rollennormierte Geschlechteridentität. Doch aus dieser schlüpfte sie behänd heraus. Immer wieder machte Juana Borrero in ihren insgesamt mehr als zweihundertdreißig oft sehr umfangreichen Liebesbriefen,471 die zwischen März 1895 und ihrem Tod im März 1896 entstanden, ihren Carlos auf diese ständigen Verknüpfungen und Rollenwechsel aufmerksam. Beständig erweiterte sie ihr Repertoire, erkor sich neue Frauengestalten für ihre Rollen aus. So schrieb sie neben der bereits erwähnten Verwendung unterschiedlichster durchsichtiger Pseudonyme beispielsweise in einer besonders prägnanten Formulierung an ihren distanten Geliebten erklärend und herausfordernd zugleich: «yo sé ser santa y sé ser pantera»:472 Ich kann eine Heilige sein, aber auch eine Pantherin. Immer wieder hat Juana Borrero nicht nur diese oft komplementären weiblichen Subjektkonstruktionen literarisch ausgearbeitet und sich buchstäblich einverleibt, sondern auch wiederholt graphisch ins Bild gesetzt und kunstvoll gezeichnet. So zeigt etwa eine auf 1895 datierte Zeichnung in Habitus und Aus-

 Vgl. auch die nach der Veröffentlichung des zweibändigen Epistolario edierten Briefe in Borrero, Juana: Espíritu de estrellas. Nuevas cartas de amor. Compilación y prólogo de María del Rosario Díaz. La Habana: Editorial Academia 1997; vgl. auch die Ausgabe von Borrero, Juana: Poesías y cartas. Ordenación, prólogo y notas a cargo de Fina García Marruz y Cintio Vitier. La Habana: Editorial Arte y Letras 1977.  Vgl. hierzu auch Moris Campos, Judith: «Yo sé ser santa y sé ser pantera»: realidad y ficción en el «Epistolario» de Juana Borrero. In: Regueiro Salgado, Begonia / Rodríguez, Ana María (Hg.): Lo real imaginado, soñado, creado. Realidad y literatura en las letras hispánicas. vigo: Editorial Academia del Hispanismo 2009, S. 224–235.

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druck wohl das Antlitz einer Heiligen, während andere Frauenbildnisse deutlich romantischen wie finisekularen literarischen Vorlagen entsprechen und das Portrait einer Königin, aber auch einer in erotisierter Körperdarstellung entworfenen femme fatale bildhaft zu lesen geben. Es ist, als ob Juana Borrero diese Vervielfachung von Subjektpositionen schon am Beispiel eines kleinen vierjährigen Mädchens in Las niñas ikonotextuell, mithin aus einer engen Verwebung von Bild und Text heraus, künstlerisch durchgespielt und uns zugleich im Verbund mit anderen Arbeiten vor Augen geführt hätte, wie eng begrenzt doch das Arsenal an zur Verfügung stehenden Frauenbildern war. Doch sie wollte zu dessen Bereicherung für ihr eigenes Leben unbedingt beitragen. So wurden Literatur und Kunst zu ihren bevorzugten Erprobungsräumen für ihr eigenes Leben. Denn auch an dieser Stelle ist es zweifellos notwendig, die Vervielfachung derartiger Frauenbilder und Frauenrollen nicht aus der Perspektive einer Pathologisierung, sondern als literarische und künstlerische Versuchsanordnungen von Entwürfen eigener weiblicher Subjektaffirmation zu verstehen, die sich in ihren Kombinatoriken immer wieder in den Liebesbriefen finden und versuchen, jedweder Versklavung weiblicher Subjektivität, jedweder Reduktion auf angestammte Rollen durch ihre oft überraschende Kombinatorik entgegenzuwirken. Juana Borrero wollte Gender trouble machen – und zwar ebenso in der Kunst wie im Leben. Pinsel, Stift und Feder werden unter ihren Händen zu Werkzeugen in einem Laboratorium, in dem das (literarisch wie lebensweltlich) Vorgefundene gemeinsam mit dem Erfundenen zum Erlebten und – riskanter noch – zum Lebbaren und Gelebten wird. Wie das Dreieck von Lesen, Lieben und Leben wird dieses zweite Dreieck von Vorfinden, Erfinden und Erleben zur Keimzelle jener ungeheuren Dynamik, die Juana Borrero immer rascher vorwärts treibt. Wie José Martí, nur auf einer anderen, individuellen und geschlechterspezifischen Ebene schafft Juana Borrero den Wirbel, in dem sie selbst vergehen, in dem sie selbst verglühen sollte. Und auch dies stellte eine jener zahlreichen Parallelen dar, die sich zwischen den beiden kubanischen Modernistas herstellen lassen, Parallelen, die einem oberflächlichen Blick zumeist verborgen bleiben. Immer wieder werden die Liebesbriefe an Carlos Pío Uhrbach zu Experimentierflächen für neue Gedichte oder für das Umschreiben zuvor bereits veröffentlichter Verse. Beispielsweise setzt Juana ihrem neunten, aus den ersten Wochen der Korrespondenz stammenden Brief an Carlos Pío Uhrbach die beiden Terzette des uns bereits bekannten und in ihre Rimas aufgenommenen Himno de vida voran, die sie freilich gänzlich umstrukturiert und mit ihren Initialen «J.B.» versieht:

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Hörst Du sie, die süßesten Harmonien, Die aus dem Schoße dieses Waldes hierher klingen, Wenn das Licht erscheint, die Schatten fliehen? Denn in dem gütigen Lichte erstrahlt in Dur Und in des Morgens Früh erschauernd singt Den Hymnus allumfassender Liebe die Natur! ¿Oís esa dulcísima armonía Que del seno del bosque se levanta, Cuando aparece el luminar del día? Es que a su luz que plácida fulgura al despertar estremecida canta Himno de amor universal Natura!473

In diesen beiden Terzetten kombiniert Juana die in der zuvor schon gedruckten Fassung des Hymnus vorhandenen Lexeme neu, so dass sich der Himno de vida in einen Himno de amor, in den Hymnus einer allumfassenden Liebe, verwandelt. Neue Kombinatoriken eines quasi vorgefundenen Materials eröffnen auch hier neue Semantiken: gewiss ein für J.B. wichtiges Schreibverfahren, von dem sie in ihrer Dichtung wie in ihrer Prosa des Öfteren Gebrauch machte. Juana Borrero war eine experimentierfreudige Dichterin, ebenso auf ihrer romantischen wie auf ihrer modernistischen Seite. Die Terzette des Hymnus gehen gleich zu Beginn des Briefes über in eine morgendliche Naturstimmung («Amanece … las estrellas palidecen, el espacio se aclara poco a poco …»474), die Sterne verdunkeln und machen dem Tageslicht Platz, um sich dann in einer verdichteten, poetischen Prosa an die «Naturaleza»475 wie an das Leben zu wenden, bevor die Anrufung des Schöpfers der Natur, der sehr bewusst als «Supremo Artista»,476 als Allerhöchster Künstler, apostrophiert wird, folgt. Die geradezu klassische Wendung an den literarischen Geliebten («¡Oh amor mío!»477) leitet über zur Anbindung des Liebesdiskurses an die eigene Einsamkeit: «¡Por qué entre tanta vida estoy sola?»478 (wie bin ich denn allein in all

     

Borrero, Juana: Epistolario, Bd. I, S. 62. Ebda. Ebda. Ebda., S. 63. Ebda. Ebda.

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2. Hauptstück: Die Bilder der Macht

dem Leben?) – und zugleich wird das eigene Leben von der Liebe des Anderen abhängig gemacht: «Sin ti no quiero la vida … sin ti para qué vivir?»479: ohne Dich will ich das Leben nicht, da ich ohne Dich nicht leben kann. In dem von Yvone unterzeichneten Brief wird vor der abschließenden Bitte, geliebt und angebetet zu werden, in den angeführten Versen des Gedichts Pedro Abelardo des spanischen Dichters Emilio Ferrari das Liebespaar Héloise und Abaelard beschworen, um die Worte von «Eloysa» mit der Liebe des weiblichen Ich zu vergleichen480 und mehr noch zu vermengen. Es handelt sich um einen Liebesbrief, der in seiner höchst komplizierten Konstruktion eine Kombinatorik unterschiedlichster Stimmen entfaltet, so als ginge es hier um eine möglichst durchkonstruierte Verbindung, eine möglichst komplexe Kombinatorik von Fragmenten einer Sprache der Liebe. Klare Grenzen zwischen dem Vorgefundenen, dem Erfundenen und dem Erlebten sind nicht länger zu ziehen: Lesen, Lieben und Leben sind im Schreiben vielstimmig (und auch vieldeutig) miteinander verwoben. Daraus entsteht der lyrische Gesang einer allumfassenden Liebe, welche freilich vom männlichen Du auch vehement eingefordert wird. Bereits in diesem geradezu klassisch durchkomponierten Brief Juana Borreros wird deutlich, wie rasch die Sprecherpositionen zwischen J.B. und Yvone, zwischen der Autorin der Rimas und Emilio Ferrari, zwischen der schreibenden Juana und dem angesprochenen Geliebten hin- und herwechseln, als ginge es um die Orchestrierung eines literarischen discours amoureux, einer lyrischen Sprache der Liebe, die von mehreren Stimmen gleichzeitig vorgetragen würde. Die Subjektposition des Mannes aber geht in all diesen Wechseln verloren und wird vom weiblichen Subjekt in den eigenen Liebes- und Lebensdiskurs übernommen: «so schau denn, mein Gut, so liebe ich Dich! Und so möchte ich, bei Gott!, dass Du mich liebst! Vergiss mich nicht, vergiss mich nicht! Du bist mein, mein allein, selbst wenn Du nicht wolltest, ich habe Dich mit meiner Zärtlichkeit versklavt … Du gehörst mir, von Rechts wegen als Eroberung. So ist wahr, dass Du mein bist?»481 In dieser denkwürdigen Passage ist die im Tagebuch gleich zu Beginn formulierte Herausforderung («Antes de dos meses tú serás mío»482) bereits nach wenigen Briefen eingelöst: Das männliche Objekt ist erobert, in Besitz gebracht und wird in der Folge nach Belieben besessen. Juana Borreros absoluter Wille ist ein-

 Ebda.  Ebda.  Ebda.: «¡Pues mira bien mío, así te amo yo! Y así quisiera ¡oh Dios! que tú me amaras! ¡No me olvides, no me olvides! Eres mío, mío aunque no quisieras serlo, te he esclavizado con mi ternura … me perteneces por derecho de conquista. Verdad que eres mío?».  Ebda., S. 41.

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gelöst, ihre Strategie aufgegangen, ihre Eroberung gemacht. Dabei wird die starke Formel der Versklavung nun weg vom weiblichen Subjekt auf das männliche Objekt projiziert und somit ein Besitzanspruch propagiert, der dem vom Ich Besessenen keine eigene wirksam werdende Subjektposition mehr einräumt. Carlos Pío Uhrbach ist Juana Borreros Sklave: Sie hat ihn versklavt. Was also mit der Umwandlung des Himno de vida in einem Himno de amor und die Naturlandschaften eines Morgens in Puentes Grandes so filigran und zurückhaltend begann, ist wenig später in die Versklavung des Liebesobjekts, dem ein eigener Diskurs rechtmäßig abgesprochen wird, umgeschlagen. Carlos Pío Uhrbach wird sich aus dieser Umklammerung durch einen discours amoureux, der in seiner Radikalität wie in seiner Revolte immer den Tod vor Augen hat, bis zu seinem eigenen Tode kaum mehr zu lösen vermögen. Auch Juana Borrero wird sich aus ihrer eigenen Chronik eines angekündigten Todes nicht mehr selbst befreien können. Aber hätte sie sich eine derartige Befreiung überhaupt gewünscht oder erhofft? Wie und wo hätte sie weiter leben können als in der Literatur? Denn vergessen wir nicht, dass im Tagebucheintrag als Alternative das «o yo estaré muerta»483 stand: Oder ich werde tot sein. Wie ein José Martí kalkuliert sie von Anfang an ihren eigenen Tod mit ein, konstruiert eine Figur, die in ihrem eigenen Absolutheitsanspruch auch das eigene Ableben miteinbezieht. Diese Präsenz des Todes, dieses Schreiben im Angesicht des eigenen Todes aber wird durch die Inbesitznahme des Geliebten keineswegs verschwinden, sondern sich im Verlauf des gesamten letzten Lebensjahres (und Liebesjahres) Juana Borreros vielmehr verzweigen und vervielfachen, wie eine unaufhaltsame Proliferation alles überwuchern, was da noch an anderem Leben ist. Selbstverständlich auch das kollektive Leben und den antikolonialen Freiheitskampf der Insel Kuba, die – wie wir sahen –höchstens noch als Rivalin in der Liebe angesehen wird. Ebenso José Martí wie Juana Borrero sind bereit, für eine radikale Unabhängigkeit ihr Leben zu opfern: Beiden eignet ein agonaler Grundzug. Der Tod ist folglich nicht nur in vielen Texten und Gedichten José Martís, sondern auch in den Liebesbriefen Juana Borreros allgegenwärtig. Er taucht in den unterschiedlichsten Figuren und Figurationen auf, bindet sich oft an den labilen und sich verschlechternden Gesundheitszustand der Schriftstellerin, wird im Rückgriff auf die Krankheit bisweilen auch zur Todesdrohung, unabhängig davon aber auch zur obsessiv wiederkehrenden Inszenierung des eigenen Selbstmordes, der im Übrigen auch immer wieder zum Mittel der Erpressung, zum Mit-

 Borrero, Juana: Epistolario. 2 Bde. La Habana: Academia de Ciencias de Cuba 1966–1967, hier Bd. I, S. 41.

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2. Hauptstück: Die Bilder der Macht

tel sadistischer Lust, zum Mittel der Versklavung des Partners in diesem so ins Außer-Ordentliche gesteigerten Liebesspiel wird. Carlos Pío wurde zum Sklaven Juanas gemacht: Er ist ihr Sklave. Aber ist all dies im Grunde nicht ein literarisch verdichtetes todernstes Spiel, das zum Leben wird und jede bestehende Ordnung – allen voran die bestehenden Geschlechterordnungen – radikal in Frage stellt? Eine Umstürzung aller Geschlechterverhältnisse, dies war Juana Borrero höchst bewusst, konnte ihr Schreiben, konnte ihr Lieben, konnte ihr Leben in der Wirklichkeit nicht bewirken. Auf faszinierende Weise lässt sich jene Liebe zum Tode, die Juanas Epistolario umschreibt, als eine Liebe lesen, die auch ein Leben und Lieben nach dem Tode miteinbezieht, ja mehr noch: gerade darauf abzielt. Dabei sind die von Juana literarisch gestalteten Phantasmen des Todes höchst vielfältig und variantenreich. Von besonderer ästhetischer Kraft484 ist dabei die Gestaltung eines Traumes, den Juana «ihrem» Carlos in einem Brief vom 7. September 1895 wie folgt erzählt: Jetzt werde ich Dir meinen Traum erzählen, meinen traurigen Traum von letzter Nacht. Ich träumte, Du wärest nicht nach Matanzas gezogen, sondern würdest nun am Strand … von Marianao leben. Seit einem Monat schon hatte ich Dich nicht mehr gesehen. Plötzlich fehlten mir Deine Briefe. Mir fehlte das Licht … wenig später fehltest Du mir. Eines Tages erfuhr ich, dass Du Dich verheiratet hattest … Ich fand die genaue Adresse Deines Hauses heraus und eines Nachts, während Du und sie sorglos aßen, schlich ich in das Schlafgemach und versteckte mich hinter den Vorhängen. Dort wartete ich. Mit vor Angst zitternden Lippen und einem kleinen Dolch zwischen den Fingern, einer Art langem Messer, das mir Tage zuvor Rosalía geschenkt hatte. So hörte ich Dich kommen und vernahm das Schleifen ihres Rockes über den Teppich. Solange ich lebe werde ich niemals jene Frau vergessen, jene nicht existierende Unbekannte, die auf Deine Schulter gestützt ging. Zwei Minuten gingen vorüber. Ihr gingt langsam und ins Gespräch vertieft. Ich hob die Hand und versenkte den Dolch im Herzen. Danach geschah etwas, dessen Erinnerung mich erschreckt … Jene Frau war ich selbst. In einem Anflug wilder Eifersucht hatte ich mich soeben selbst umgebracht. Das Leid Deiner Verzweiflung und das unerklärliche Gefühl, mich selbst auf immer tot zu sehen, waren so heftig, dass ich schluchzend hochschreckte. Welch seltsamer Traum! Ich, wie ich mich selbst umbringe und meinen eigenen Leichnam betrachte. Träume sind manchmal wahrhaftig dunkel und rätselhaft. Ahora voy a contarte mi sueño, mi triste sueño de anoche. Soñé que te habías ido a vivir – no a Matanzas – sino a la playa … de Marianao. Hacía un mes que no te veía. De repente me faltaron tus cartas. Me faltó la luz … poco después me faltaste tú. Un día supe que te habías casado … Averigüé la dirección de tu casa y una noche, mientras tú y ella

 Vgl. zum Begriff der ästhetischen Kraft Menke, Christoph: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008.

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comían descuidados me introduje en la alcoba y me oculté detrás de los lambrequines. Allí esperé. Con los labios trémulos de angustia y entre los dedos un puñal pequeño, especie de daga que días antes me había regalado Rosalía. Así te sentí llegar y escuché el roce de su falda sobre las alfombras. Jamás, mientras viva se me olvidará aquella mujer, aquella desconocida que no existe y que caminaba apoyada en tu hombro. Pasaron dos minutos. Ustedes caminaban despacio conversando en voz baja. Levanté la mano y le hundí el puñal en el corazón. Entonces pasó algo cuyo recuerdo me horroriza … Aquella mujer era yo misma. En un arranque de celos salvajes acababa de matarme. El pesar de tu desesperación y la sensación inexplicable de verme muerta para siempre fueron tan violentos que me desperté sollozando. ¡Qué sueño tan extraño! Yo misma asesinándome y contemplando mi propio cadáver. A la verdad los sueños son a veces sombríamente enigmáticos.485

Wie in einem Brennspiegel kreuzen sich in diesem rätselhaften Traum eine Vielzahl von Motiven, welche die Liebesbriefe an Carlos Pío Uhrbach, aber auch das gesamte Schaffen der kubanischen Autorin durchziehen. Der Brief steckt voller Ängste, die immer wieder in Juana Borreros Schreiben geradezu obsessiv auftauchen. Da sind zum einen die «celos salvajes», die ständigen Ausdrucksformen einer wilden Eifersucht, die Teil des Liebesdiskurses sind und dem versklavten Liebenden immer wieder als Druckmittel entgegengeschleudert werden. Da ist das Motiv jenes Dolches, jener kleinen «daga», die wohl ein Geschenk von Julián del Casal für die in ihn verliebte Juana war, ein Motiv, das sich in den verschiedensten Briefen findet, aber wohl auch jenem kleinen Dolch entspricht, den die kubanische Lyrikerin bisweilen des nachts unter ihr Kopfkissen legte. Es handelt sich folglich um eine Fülle an biographischen Details, die wir aus Platzgründen nicht ausführlicher aufarbeiten können, Elemente aber, die aus dem realen Leben wie aus dem Gelesenen Eingang in das Schreiben von Juana Borrero finden und zu wichtigen Bestandteilen eines literarisch bestimmten Lebenswissens werden, das nach den Ausdrucksformen einer abgrundtiefen Verzweiflung sucht. Weiterhin stoßen wir in dieser Passage auf das Motiv der Vervielfachung der Subjektposition, die bedeutet, dass sich das Ich verdoppelt als Mordende und Ermordende, als Meuchlerin und Selbstmörderin sieht. Damit wird der Mord an der anderen Geliebten, an der überdies mit Carlos Pío verheirateten Rivalin, zum Mord an sich selbst, mithin zum mörderischen Selbstmord – ein im Übrigen durchaus literarisches Motiv, das über eine lange Tradition verfügt. Das Ich bleibt tot auf dem Boden liegen, «muerta para siempre». Doch ist das Ich nicht tot, sondern betrachtet sich als (schöne486) Leiche, deren langer Rock

 Borrero, Juana: Epistolario, Bd. I, S. 371 f.  Vgl. hierzu Bronfen, Elisabeth: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik. München: Kunstmann 1994; sowie dies. (Hg.): Die schöne Leiche. Weibliche Todesbilder in der Moderne. München: Goldmann 1992.

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2. Hauptstück: Die Bilder der Macht

doch gerade noch den Teppich flirrend berührt hatte, nun aber auf dem Boden hingestreckt erscheint. Das Ich ist tot, «tot für immer», und lebt zugleich doch weiter im Schrecken dieses Todes. Juana Borreros Auffassung von Kunst und Literatur, vor allem aber von einer alles verdichtenden Sprache zielt, wie wir sahen, auf eine Weitung, Ausweitung und Erweiterung jener Lebensformen und Lebensnormen, die ihr in der kubanischen Gesellschaft am Ausgang des 19. Jahrhunderts möglich waren. Sie kämpfte mit den Mitteln ihres Schreibens, mit den Mitteln ihrer Kunst um eine Weitung ihrer Wahrnehmung, um ein erweitertes Bewusstsein, um eine Ausweitung ihres Blickes wie ihrer Visionen über die Zwänge des Alltäglichen hinaus.487 Ihre künstlerische Kreativität erlaubte es ihr, ihr eigenes Leben weiter zu leben, als es ihr in ihren konkreten Lebensverhältnissen jemals möglich gewesen wäre. Zugleich aber tritt zu dieser Ausweitung der Lebensformen durch Literatur und Kunst ein Weiterleben, das just auf der eigenen Schöpfung, auf Literatur und Kunst beruhen sollte. Die Parallelen zu José Martí sind auch an dieser Stelle offensichtlich, beschwor der Revolutionär und modernistische Dichter doch sein eigenes Leben nach dem Tode: «Mi verso crecerá: bajo la yerba / Yo también creceré».488 Wie seine Verse also werde er noch nach seinem Ableben weiter wachsen. Ganz ähnlich die Zukunftshoffnungen Juana Borreros: Es ist der Wunsch nach einem Weiterleben im Medium der Literatur, in den Ausdrucksformen, Wendungen und Bildern, welche die Präsenz der kubanischen Dichterin perpetuieren. Dieses Motiv eines Weiterlebens findet sich schon sehr früh bei ihr. Früh schon wurde in ihrer Kunst die Verewigung des eigenen Namens durch die Lyrik, durch die Malerei im Zeichen des Lorbeers als eine Möglichkeit gefeiert, dem Vergessen und damit dem unwiderruflichen Tod zu entgehen und den eigenen Namen im Gedächtnis der Nachwelt lebendig zu halten. Vor allem in die Schrift ist der Wunsch nach Weiterleben tief eingesenkt. Der agonale Grundzug beider kubanischer Modernistas schlägt in die Hoffnung auf ein literarisches Weiterleben um. Folglich stand Juana Borrero unter den kubanischen Modernisten mit ihrem Wunsch nach einem literarischen Weiterleben in der Nachwelt nicht allein. José

 Vgl. zu einer Poetik der Erweiterung Ette, Ottmar: Weiter denken. Viellogisches denken / viellogisches Denken und die Wege zu einer Epistemologie der Erweiterung. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte/Cahiers d’Histoire des Littératures Romanes (Heidelberg) XL, 1–4 (2016), S. 331–355.  Martí, José: Antes de trabajar. In (ders.): PCEC 1, S. 126.

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Martí zählte zu jenen großen modernistischen Autoren, die nicht nur während ihrer Lebenszeit mit ungeheurer Energie ebenso für ihre politischen wie für ihre ästhetischen Ideale kämpften, sondern zugleich auch auf die Nachwelt setzten. Wir haben dieses Streben des kubanischen Nationalhelden nach einem Weiterleben in seiner Dichtung wie in seinem politischen Wirken bereits erwähnt und untersucht. Die Geschichte seiner langen und fruchtbaren Rezeption, ebenso im politischen wie im literarischen Bereich, sollte ihm recht geben.489 Bei Juana Borrero tat sich die Nachwelt deutlich schwerer mit dem Nachleben, mit dem literarischen Weiterleben der Dichterin als bei José Martí. Und doch haben sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und erneut zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Zeugnisse gehäuft, die für die wachsende Resonanz ihres so kurzen Lebens, vor allem aber ihrer Literatur und Kunst sprechen. Ihre Hoffnung also auf ein Weiterleben ihres Schreibens und Malens, weit über ihren physischen Tod hinaus, war nicht unbegründet: Das Schaffen von J.B. ist heute lebendiger denn je und wird, so lässt sich unschwer prognostizieren, in Zukunft noch deutlich wichtiger werden. Doch die Frage hinsichtlich eines Weiterlebens nach dem Tode bleibt bei ihr keineswegs auf den Bereich eines Weiterlebens in Literatur und Kunst begrenzt. In einem Brief vom Oktober 1895 berichtet die Schriftstellerin in ihrer Epistel von einer Vision, die sie gleichsam heimgesucht habe: Ah! Du wirst mich verstehen! Jener Schwindel verschwand zuletzt, und in der Nacht der Rückkehr vom letzten Tanze fühlte ich das definitive Erzittern, das mich für immer zu einer Anderen machte. Am anderen Tage kam ich wieder nach Hause. ´Ich ging auf mein Zimmer und sah von neuem meine Bücher meine Gemälde meine Reime … Von all diesen Objekten ging ein jungfräulicher Windstoß aus, der meinen Geist süß umwehte. Ich setzte mich auf den Bettrand und weinte, als ich mich alleine sah, die bittersten Tränen meines Lebens! Es war gegen sechs Uhr abends. Eines traurigen und regnerischen Abends, der den Träumereien günstig war. Ich kniete unwillentlich nieder und betete lange Zeit in Gebet, an das ich mich nicht erinnere … . Es war etwas so angsterfüllt Flehendes wie am Ende von Cecrepitud. Hörten sie mich? … Ich weiß nur, dass ich damals die definitive Erscheinung des Glückes hatte, das wir in die Wirklichkeit umsetzten. Mit geschlossenen Augen und den Kopf zwischen meinen Händen verharrte ich lange Zeit. Wozu sollte es gut sein, die Visionen zu definieren, die meinen Geist heimsuchten? … . Ich erblickte Maria, weißer als alle Lilien, wie sie aus den Nebeln meiner Delirien auftauchte, mit ihren Augen übervoll von einem sanften Sternenlichte. Glaube nicht, dass ich poetisiere … Jene Vision begleitet mich immer, immer. Wie schön war sie! Ihre Haare umschloss ein silberner Nimbus, ein wenig ins Opalfarbene spielend, das den Nebel der Nacht um Selene gürtet. Ihr Blick war anfangs streng und wurde so süß, dass ich beim Erinnern nur fühle, wie

 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: José Martí. Teil I: Apostel – Dichter – Revolutionär. Eine Geschichte seiner Rezeption. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1991.

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2. Hauptstück: Die Bilder der Macht

mich die Ekstase erfasst … Sie sagte mir ich weiß nicht was. Sie verkündete mir die Ankunft eines Wesens wie ich, ganz rein, und dann löste sie sich in der Luft auf, wobei sie in meiner Seele ein Sternenfunkeln hinterließ! Seither bin ich wie ich bin. Ich habe niemals herausbekommen, ob die Vision, die mich damals heimsuchte, eine Verwirrung war, die Ausgeburt meines von vielfältigen Empfindungen verwirrten Gehirns … . Jedenfalls war jene Erscheinung von entscheidendem Einfluss auf unser Schicksal! Bisweilen denke ich, wenn ich mich daran erinnere, dass es Deine Seele war, die als weiße Botin Deiner Leidenschaft zu mir kam. Seit jenem Tage lebte ich das Leben des Geistes, ich floh in meine Träume und trat zum ersten Male in den Heiligenraum meiner Seele ein. Ah! tú podrás comprenderme! Aquel vértigo se disipó al fin y una noche de regreso del último baile sentí el estremecimiento definitivo que me hizo otra para siempre. Al otro día me vine a mi casa. Entré a mi cuarto y vi de nuevo mis libros mis cuadros mis rimas … De todos estos objetos se desprendía una ráfaga virgen, que me regrigeró deliciosamente el espíritu. Me senté en el borde del lecho y lloré al verme sola las lágrimas más amargas de mi vida! Eran las seis de la tarde. De una tarde triste y lluviosa propicia a los ensueños. Me arrodillé involuntariamente y recé mucho tiempo una oración que no recuerdo. … . Era algo tan angustiosamente suplicante como el final de Decrepitud. ¿Me oyeron?. … . Sólo sé que entonces tuve la revelación definitiva de la dicha que hemos realizado. Con los ojos cerrados y la cabeza entre las manos permanecí mucho tiempo. Para qué intentar definir las visiones que asaltaron mi espíritu?. … . Vi a María, más blanca que todos los lirios, surgir entre la bruma de mis delirios, con los ojos llenos de suave luz astral. No creas que poetizo … Aquella visión me acompaña siempre, siempre. Qué bella era! Tenía la cabellera circundada de un nimbo argentado, de ese color opalino que la niebla de la noche ciñe alrededor de Selene. Su mirada al principio severa se hizo tan dulce que al recordarla sólo siento que me invade el éxtasis … Me dijo no sé qué. Me anunció la venida de un ser como yo, puro, y se desvaneció en el aire dejando en mi alma un reguero de estrellas! Desde entonces soy como soy. Nunca he averiguado si la visión que me visitó entonces fue un desvarío, hijo de mi cerebro exaltado por las múltiples sensaciones recibidas. … . De todos modos, el caso es que aquella aparición fue de una influencia decisiva en nuestro destino! A veces cuando la recuerdo pienso que fue tu alma que vino a mí como emisaria blanca de tu pasión. Desde ese día viví la vida del espíritu, me refugié en mis sueños y entré por vez primera en el santuario de mi alma.490

In dieser langen Passage stoßen wir erneut auf eine ganze Reihe charakteristischer Motive und Verfahren, die in Juana Borreros verdichteter Sprache von zentraler Bedeutung sind. Dazu gehört nicht nur das uns bereits bekannte Doppel-Motiv einer Verwandlung, einer Transformation des Ich, das ergänzt wird durch die Verwandlung in eine Andere, die zugleich von innen und von außen gesehen wird: in eine Andere, die letztlich das eigene Ich festlegt und so sein lässt wie sie selbst ist. Dabei ist das «no sé qué» – ganz wie in der langen Lite-

 Borrero, Juana: Epistolario, Bd. II, S. 86 f.

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raturgeschichte der Formel des je ne sais quoi491 – ein Indikator der Präsenz jenes unauflösbaren irrationalen Rests, der kenntlich gemacht und zugleich in seiner Opazität dem Leser als letztlich unauflösbar präsentiert wird. Doch soll dieser Leser, mithin Carlos Pío Uhrbach, vor allem in das eigene literarische und lebenspraktische Spiel des Ich unentwirrbar verwickelt werden. Denn die Vision Mariens gipfelt in der Ankündigung eines anderen Ich, des männlichen Ich, eines Carlos Pío Uhrbach, der nicht als Mann, sondern als vergeistigte und gleichsam transzendente Seele erscheint und in dieser Verkündigungsszene kein Geschlecht besitzt. Denn die Erscheinung der Jungfrau Maria, die hier als Vision bei geschlossenen Augen – und damit ganz der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs der «Mystik» entsprechend – narrativ entfaltet wird, bildet die Szene einer Verkündigung, die Juana mahnend an ihren virginalen Zustand erinnert. Es ist kein Zufall, dass in dieser Passage jene beiden Lexeme «virgen» und «triste» erscheinen, die den Titel jenes Gedichtes bildeten, mit dem Julián del Casal ein hochgradig literarisches, lyrisch stark verdichtetes Bildnis der jungen Juana Borrero schuf, das nicht nur bei den Zeitgenossen, sondern bis in unsere Gegenwart hinein eine – wie wir bereits sahen – starke Wirkung in der Rezeptionsgeschichte entfaltete.492 So vermengt sich die Verkündigung Mariens und das mariologische Prinzip mit jener Ankündigung eines frühen Todes, den Julián del Casal Juana Borrero prophezeite. Casals «traurige Jungfrau» wird mariologisch affiziert. In ihrer Vision der Erscheinung Mariens werden ihre eigene, von Casal geradezu in einen literarischen Topos verwandelte triste Jungfernschaft und die Möglichkeit ihres frühen Todes in eine sakrale, mystische Atmosphäre gehüllt und zugleich auf den längst zum Objekt gewordenen Nicht-Mann Carlos Pío Uhrbach übertragen. Denn in Marias Verkündigung erscheint nicht allein die Jungfräulichkeit der jungen Frau, sondern auch die Reinheit und Keuschheit des Mannes in einem transzendenten Licht, gegen welches irdische Argumente kaum noch etwas auszurichten vermochten. Und die (heidnische) Göttin Selene taucht als Mondgöttin überdies alles in ein opalfarbenes Licht. Schon früh war in Juana Borreros Schreiben die Isotopie der Jungfräulichkeit in Verbindung mit der Keuschheit aufgetaucht. Wir hatten in ihrem Himno de vida gesehen, wie sich zwischen Rose und Nelke, ihren frühen Symbolblumen der geschlechtlichen Liebe, die Lilie als Repräsentantin der Keuschheit

 Vgl. zu dieser spannenden Literaturgeschichte den Aufsatz von Köhler, Erich: «Je ne sais quoi». Ein Kapitel aus der Begriffsgeschichte des Unbegreiflichen. In (ders.): Esprit und arkadische Freiheit. Aufsätze aus der Welt der Romania. Frankfurt am Main: Athenäum 1966, S. 230–286.  Vgl. Hierzu Moris Campos, Judith: La saga / fuga de J.B. El mito de la crítica en torno a Juana Borrero, S. 104–113.

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2. Hauptstück: Die Bilder der Macht

stellte, jene Lilie, die als topische Metapher in der Erzählung von der Erscheinung der Jungfrau Maria wiederkehrt und in der poetischen Sprache des Briefes als «lirios» mit den «delirios» des Ich in einen Echoeffekt eingebunden wird. Mit einem immer stärker werdenden Drängen suchte Juana in ihren Briefen auch ihren Carlos auf diese Keuschheit einzuschwören, wobei sie schließlich von ihm das Versprechen abverlangte, im Falle der von ihr durchaus angestrebten Heirat niemals die Ehe geschlechtlich vollziehen zu wollen, um auf diese Weise als ein «reines Paar» gleichsam den Sündenfall von Adam und Eva493 (der bekanntlich aber nicht in der von Gott ja gemäß der Genesis gewollten Geschlechtlichkeit bestand) rückgängig zu machen. Hätte dies Juana nicht die Möglichkeit geboten, die geschlechtliche mit der keuschen, jungfräulichen Liebe zu kombinieren und damit die Liebe in heterosexueller Ungeschlechtlichkeit als (freilich höchst relative) Neuerfindung an ihren eigenen wie an Carlos’ Namen zu binden sowie literarisch unsterblich zu machen? Juanas Vision Mariens umfasst daher auf sehr direkte Weise ihren Brief und potentiellen Ehepartner: Er wird hier in eine Weissagung und Verkündigung miteinbezogen, der zufolge das geforderte Keuschheitsgebot nun nicht mehr nur irdisch, sondern himmlisch eingefordert wird. In dieser sakralen Überhöhung wird wohl der Grund dafür zu sehen sein, dass die junge Frau ihrem Liebhaber diese Vision mitteilte und ihm dabei zugleich untersagte, ihre Worte als eine Poetisierung zu verstehen. Juana Borrero wollte in ihrem Liebesbrief wortwörtlich genommen werden und ihrem Liebespartner keine Chance lassen, sich bei seiner Deutung ins Metaphorische zu flüchten. Die junge kubanische Lyrikerin eröffnet auf diese Weise die Dimension einer Transzendenz, die auch dem Tod, ihrem eigenen, literarisch so oft durchgespielten Tod, eine wesentlich weitere, fundamental ausgeweitete und in den astralen Himmelsraum reichende Semantik eröffnet. Denn das Weiterleben von Juana erhält in dieser mystischen Schau, in diesem ganz im Sinne von Santa Teresa de Jesús verstandenen mystischen Sehen mit geschlossenen Augen, die Dimension einer Transzendenz, in der die Konvivenz in eine allem Irdischen entrückte Transvivenz übersetzt werden kann. Der brennende Wunsch, weiter zu leben, ist längst zum absoluten Wunsch geworden, auf literarische wie auf transzendente Weise weiterzuleben. Spätestens an dieser Stelle unserer Überlegungen, die wir mit Blick auf den Exkurs zu Juana Borrero nun zu einem Ende führen müssen, wird deutlich, in welchem Maße die Kunst, vor allem aber die Literatur jenes Laboratorium dar-

 Vgl. hierzu auch Moris Campos, Judith: «Yo sé ser santa y sé ser pantera»: realidad y ficción en el «Epistolario» de Juana Borrero, S. 234.

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stellt, mit Hilfe dessen Juana Borrero eine Weitung ihrer Wahrnehmung und eine fundamentale Ausweitung der spezifischen Denk- und Realisierungsmöglichkeiten ihres eigenen Lebens zu erproben vermag. In ihrer Lyrik hat Juana Borrero – vergleichbar mit Julián del Casal, vergleichbar aber auch mit José Martí – die Grenze bearbeitet, welche die Literatur vom Leben zu trennen pflegt, und gerade im Bereich sehr unterschiedlicher Konzeptionen der Liebe – von der elterlichen und geschwisterlichen über die platonischen und geschlechtlichen Liebesentwürfe bis hin zu einer göttlichen und transzendenten Liebeskonzeption – jene Möglichkeiten identifiziert, Lesen, Lieben und Leben, aber auch Vorfinden, Erfinden und Erleben auf eine höchst unmittelbare, bisweilen auch unvermittelte Weise miteinander in Austausch zu setzen. Dass all dies im Lichte einer irdischen Unverwirklichbarkeit erscheinen musste, störte die kubanische Dichterin und Malerin nicht wirklich: Sie wusste, dass sich ihr eigenes Schicksal früh erfüllen musste. Die Aufhebung einer Trennung zwischen Literatur und Leben, wie sie nur wenige Jahre später die europäischen wie die lateinamerikanischen Avantgardistinnen und Avantgardisten einfordern sollten, ist für Juana Borrero in jenem Übergang von der Romantik zum hochgradig divergierenden, aber nicht selten absoluten Moderneversprechen des hispanoamerikanischen Modernismo frühzeitig angelegt. In ihr keimt etwas auf, rebelliert etwas zutiefst, das wir später etwa bei einer Alfonsina Storni im Süden des Kontinents in deutlich feministischer Prägung erkennen können. Im Verlauf einer früh schon erkennbaren, sich aber erst in ihren beiden letzten Lebensjahren radikalisierenden Revolte hat sich das einstige Wunderkind mit den Mitteln ihrer Künste aus einer ihr zugedachten Rolle als weibliches Objekt männlicher Fixierung befreit und eine Subjektbildung entfaltet, die in der soeben angeführten Passage der Vision Mariens in einem nicht umsonst hervorgehobenen, unverkennbar trotzigen und dann schon transzendent begründeten «soy como soy»494 kulminiert. Diese Selbstaffirmation der Liebenden bildet wohl den Kernsatz der Borrero’schen Lebenslehre. Denn sie signalisiert ihrem Carlos, dass ihr eigener Subjekt- und Selbstwerdungsprozess seit dieser Vision der Jungfrau Maria gleichsam auf göttlichen Zuruf und im Zeichen einer heiligen, göttlichen Jungfrau abgeschlossen ist. Daran kann ein Mensch, daran kann ein Mann nicht mehr rütteln. Juana Borreros Lebenswissen ist zugleich ein Todeswissen, das transzendente Züge aufweist. In dieser die Literatur, die Liebe und das Leben untrennbar miteinander verbindenden Bewegung weiblicher Subjektwerdung hat sich

 Borrero, Juana: Epistolario, Bd. II, S. 87.

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Juana Borrero dabei selbstverständlich nicht allein mit der Grenze zwischen Literatur und Leben, sondern auch mit jener zwischen Leben und Tod auf intensive Weise auseinandergesetzt, war ihr doch selbst ein früher Tod literarisch prophezeit, dessen Kommen sie sich wie in einer für sie unentrinnbaren selffulfilling prophecy ausgesetzt sah. Wie aber schreibt man, wenn einem ein früher Tod geweissagt ist? Wie schreibt man, wenn man sich als Auserwählte fühlt, einen eigenen frühen Tod zu sterben? Juana Borreros Ausgesetzt-Sein umschreibt und beschreibt keineswegs einen passiven Zustand, sondern ein höchst aktives und ästhetisch hochkomplexes Revoltieren und Dagegenhalten, dem sehr bald schon auch jede klare und strikte Grenzziehung zwischen Leben und Tod zum Opfer fällt. Denn sie begriff, wieviel ästhetische Kraft in einer vergangenen Zukunft wie jener von Las niñas ebenso vorhanden ist wie in einer künftigen Vergangenheit, aus der sie ihr vergangenes Leben aus der Perspektive ihres eigenen Todes immer stärker literarisch zu bearbeiten lernte. Ihr künstlerisches Ausdrucksvermögen wuchs und entwickelte sich an der Erfahrung ihres eigenen, unfehlbar nahen Todes. Während Martí nach Kuba heimkehrte, um im kubanischen Oriente sein Leben zu lassen, ging Juana mit ihrer Familie ins US-amerikanische Exil, wo sie der Tod ereilte. Der Tod der kubanischen Modernistin kam weder überraschend noch plötzlich. Mit guten Gründen ließe sich daher sagen, dass Juana Borrero gerade in ihrem Epistolario nicht allein in ihren wiederholten Drohungen, sich das Leben zu nehmen, und in ihren vielfältigen Repräsentationen des eigenen Todes wie ihres Selbstmordes jene Grenze zwischen Leben und Tod von einer klaren Linie in eine breite Fläche des Überganges verwandelte, in welcher der Tod im Leben ebenso allgegenwärtig ist wie das Leben im Tod und mehr noch nach dem Tod. Der Tod wird nicht nur zu einem Teil des Lebens, sondern das Leben auch zu einem Teil des Todes als ein Leben durch den Tod hindurch. Es ist faszinierend, auf diesem Gebiet die Parallelen zwischen Juana Borrero und José Martí zu beobachten: Denn auch dieser verstand es, einen Selbstmord nicht wirklich auszuführen, sondern diesen so zu inszenieren, dass er als ein Tod in einem Schusswechsel mit spanischen Truppen postum überhöht werden konnte. Weit über seinen eigenen Tod hinaus war Martí um ein kämpferisch-patriotisches Bild seiner selbst bemüht. Denn er wusste, dass auch dies ein Bild seiner Macht sein würde. Juana Borrero und José Martí: Es handelt sich im Grunde um zwei parallele Todesarten kubanischer Dichter des Modernismo. Der Literatur, so ließe sich an dieser Stelle hinzufügen, ist es ohnehin gegeben, in ihren Narrativen und verdichteten Entwürfen gerade in jene Bereiche vorzustoßen, die unserem individuellen menschlichen Bewusstsein weitestgehend entzogen sind. So erlaubt uns die Literatur, in das unserem eigenen Bewusstsein offene Erleben unserer eigenen Geburt wie in das Erleben und Reflektieren unseres eigenen Todes einzudrin-

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gen und damit ein Leben in seiner Gesamtheit einschließlich seiner pränatalen und postmortalen Dimensionen bei höchstem Bewusstsein durcherleben495 zu können. Literatur verschiebt die Grenzen des Todes und verwandelt diesen in einen Bestandteil des Lebens. In diesem existenziellen Zusammenhang ist das interaktiv gespeicherte Lebenswissen der Literaturen der Welt496 ohnehin seit ihren verschiedensten Anfängen und spätestens seit dem Gilgamesch-Epos in der Lage, unser Lebenswissen als ein Erlebenswissen so zu orchestrieren, dass es sich zugleich als ein Überlebenswissen497 und ein Zusammenlebenswissen zu entfalten vermag. Gibt es aber auch, so drängt sich an dieser Stelle unserer Reflexionen die Frage auf, ein Weiterlebenswissen, das sich in den Literaturen der Welt jenseits eines Überlebenswissens, das die Grenze zwischen Leben und Tod noch respektiert, entfaltet hat und weiter zu entfalten vermag? Vor dem hier skizzierten Fragenhintergrund dieses Teiles unserer MartíStudie ließe sich begreifen, auf welch faszinierende Weise Juana Borrero die Chronik ihres eigenen angekündigten Todes zu leben verstand und durch das literarisch gestaltete Leben ihres Todes die Entfaltung einer Transvivenz vorzuführen suchte. Auch an dieser Stelle mangelt es nicht an Parallelen zu Martí. Diese Transvivenz implizierte zugleich die Präsenz ihres Lebens nach dem Tod und die Entwicklung eines diesseitigen Weiterlebenswissens. Mit anderen Worten ließe sich eine Antwort auf die Frage nach dem Schreiben im Angesicht des eigenen Todes bei Juana Borrero wohl am besten so formulieren: Die Grenze zwischen Leben und Tod wird von der kubanischen Künstlerin zwar immer wieder signalisiert, aber nicht länger respektiert. Dies ist weit mehr als ein bloßes Aufbegehren gegen den Tod als fundamentalen Bestandteil des Lebens. Juana Borrero bediente sich eine zweifellos traditionellen, vorwiegend christlich geprägten Arsenals an Vorstellungen und Symbolen. Durchaus naheliegende Überlegungen, in welch starkem Maße – und dies mögen ihre Ausführungen zur Erscheinung und Verkündigung der Jungfrau Maria belegt haben – die Vorstellungen Juana Borreros in einer auf Kuba verbreiteten christlichen Spiritualität und

 Vgl. Dilthey, Wilhelm: Goethe und die dichterische Phantasie. In (ders.): Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing – Goethe – Novalis – Hölderlin. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht16 1985, S. 139.  Vgl. Ette, Ottmar: TransArea. A Literary History of Globalization. Translated by Mark W. Person. Berlin – Boston: De Gruyter 2016; sowie (ders.): Writing-Between-Worlds. TransArea Studies and the Literatures-without-a-fixed-Abode. Translated by Vera M. Kutzinski. Berlin – Boston: De Gruyter 2016.  Vgl. hierzu Ette, Ottmar: ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2004.

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Mystik verankert sind, können wohl kaum in Zweifel gezogen werden. Doch erfasst dies nur einen Teil von Juanas komplexer, kombinatorischer Vorstellungswelt. Denn ihr Stoßgebet zum Himmel stammt durchaus nicht aus der christlichen Tradition der Fürbitten, sondern verweist – wie wir im obigen Zitat sahen – auf «el final de Decrepitud».498 Hierbei aber handelt es sich um ein Sonett von Carlos Pío Uhrbach, das Juana in dem initialisierenden Gedichtband Gemelas gelesen hatte und dessen abschließende Terzette – um auch den modernistischen Dichter zuletzt ebenfalls zu Wort kommen zu lassen – lauten: In meiner Angst, oh Herr, verlass’ mich nicht, Gib mir zurück der Illusionen Licht, So wie am Baume frische Blätter grünen, Oh, lass’ in des Todes dichtem Schatten Die Härten allen Schicksals schnell ermatten, Das ich mit tödlicher Furcht muss sühnen. En mi angustia, Señor, no me abandones, haz que vuelvan a mí las ilusiones cómo brotan del árbol nuevas hojas, O que la densa sombra de la Muerte esfume los rigores de la suerte que me abruman con fúnebres congojas.499

Mag dieses Sonett von Carlos Pío Uhrbach auch seinerseits in einer langen Tradition christlicher Spiritualität und Rhetorik stehen: Es ist doch ein Gedicht und kein Gebet, und wäre dies selbst apokrypher Natur. Längst ist im langen 19. Jahrhundert die Kunst an die Stelle der Religion gerückt und hat in einem komplexen Prozess den Künstler zum Schöpfer500 und den «eigentlichen» Créateur, den göttlichen Schöpfer, zum – wie Juana Borrero es im obigen Zitat ausdrückte – «Supremo Artista»,501 zum allerhöchsten Künstler, gemacht. Dieses chassé-croisé zwischen sakraler und profaner Sphäre hat Folgen: Im Dichter wird der Schöpfer und im Schöpfer wird der Dichter verehrt und angebetet. Das Sakrale ist profan und das Profane jetzt sakral geworden.

 Borrero, Juana: Epistolario, Bd. II, S. 87.  Zit. nach ebda.  Vgl. hierzu u. a. Jurt, Joseph: La réception de la littérature par la critique journalistique. Lectures de Bernanos 1926–1936. Paris: Editions Jean-Michel Place 1980, S. 13–16; sowie den vierten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten (2021).  Borrero, Juana: Epistolario, Bd. I, s. 63.

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Der Tod ist in der angeführten Herausforderung an die Adresse von Carlos Pío Uhrbach noch vor Beginn des Briefwechsels, noch vor Beginn der zweihundertdreißig Liebesbriefe, präsent. Hören wir noch einmal Juanas Worte: «Oye Carlos. Antes de dos meses tú serás mío o yo estaré muerta.»502 Aber dieser Tod wird im Verlauf der Briefe immer stärker nicht als ein Ende, sondern als eine Kontinuität gedacht, die nicht die Alternative zur Versklavung des männlichen Liebesobjekts, sondern zur treuen Begleiterin eines in extremer Einsamkeit konzipierten und vorgetragenen Liebesdiskurses wird. Aus dem trotzigen «Ich will Dich besitzen oder sterben» wird ein viel tieferes «Ich will dich besitzen und werde sterben». Aus Juana Borreros Fragmenten eines Diskurses der Liebe ist der Tod, der keinen Endpunkt mehr darstellt, nicht mehr herauszulösen: Tod und Liebe sind miteinander inniglich verwoben.503 Die Briefe der Juana Borrero arbeiten konsequent und unbeugsam, mit einer oft selbstzerstörerischen ästhetischen Kraft, an der Grenze von Literatur und Leben, an der Grenze von Leben und Tod sowie an der Grenze von Lyrik und Prosa als lebensverdichtenden Diskursivitäten. Stets durchdringen sich in der erhitzten Glashausatmosphäre der Liebe die Prosa der Briefeschreiberin und die Lyrik der Dichterin, aber auch die Gedichte aus den Gemelas ihres Geliebten wie aus einer langen Tradition europäischer Lyrik unauflöslich auf Seiten, die sich auf unterschiedliche Papierqualitäten erstrecken – bis hin zum Trauerpapier, das Juana mit großer Entschlossenheit gezielt einsetzt. Die Materialität des Schreibens sowie die Materialität des Trägers der Schrift gehen in die Sinnbildungsprozesse ein, wie wir dies bereits anhand des mit blutroter Tinte verfassten Liebesbriefes Juana Borreros gesehen hatten. Die Besiedelungstechniken jeder einzelnen Seite erzeugen und ergeben ein höchst verschiedenartiges Bild, insofern sich unterschiedlich ruhige oder fieberhafte Handschriften mit eingewobenen Versen und Strophen, aber auch mit einer Vielzahl an Zeichnungen und Ausschmückungen von der Hand der jungen Künstlerin bereichern. Auf besonders kunstvolle Weise hat die Malerin beispielsweise ein Blumengebinde in ihre so genannte Misiva floreal eingefügt, die von einer großen und ihr selbst höchst bewussten künstlerischen Erfahrung in der Besiedelungstechnik ihrer Briefseiten zeugt. Damit verweist sie ein ums andere Mal auf den Kunstcharakter ihrer Briefe, die sich gleichwohl nicht vom Leben abkoppeln. Kunst, Literatur und Leben durchdringen sich in ihren Korrespondenzen wechselseitig und bilden eine Einheit zur Liebe, eine Einheit zum Tode, eine Einheit zum Weiterleben.

 Ebda., Bd. I, S. 41.  Vgl. hierzu den zweiten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: LiebeLesen (2020).

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Zugleich aber hat Juana Borrero auch Briefkunstwerke geschaffen, die über das Sagbare und Verstehbare weit hinausweisen und darüber in der Tat auch in bewusster, kühner Erweiterung hinausgehen. So schickte Juana an Carlos etwa einen Brief, in dem eine «reine Graphie der Leidenschaft»504 eine von jeder Alphabetschrift abgelöste abstrakte, absolute Graphie der Zeichen zum Aufscheinen bringt, ohne dass diesen graphischen Signifikanten noch ein Signifikat entspräche: folglich ohne dass diesen reinen Zeichen der Schrift eine in konkrete Worte einer Sprache auflösbare Sinnkette gegenüberzustellen wäre. Es handelt sich um Schrift in ihrer rein ikonischen Seite, losgelöst von jeder double articulation. Doch wo hört die Schrift auf und wo fängt das Bild an? Um eine «Carta sin sentido»,505 um einen Brief ohne Sinn, wie die Bildlegende der bislang einzigen Ausgabe uns glauben machen will, handelt es sich ganz gewiss nicht. Und dies nicht nur, weil diesem Brief eine Note beigefügt ist: «Misiva ‹transcendental›. Para mi Carlos de su Yvone. Contéstame esta con sinceridad. Sé franco conmigo. Enteramente franco: no me ocultes nada y perdóname si esta carta te hace sufrir.»506 Carlos solle ihr verzeihen, wenn diese transzendente Botschaft ihn leiden lasse, doch müsse er ehrlich, ganz ehrlich zu ihr, zu seiner Yvonne, sein: Er solle ihr aufrichtig antworten. Die wiederholt geäußerte Forderung nach absoluter Transparenz des Liebespartners geht mit der selbstbehaupteten Transzendenz des eigenen Schreibens als opakem, hermetischem Nicht-Schreiben im Modus der Kunst (und nicht etwa des Sudelns) einher. Die der Misiva trascendental beigefügte Note ist nicht nur für eine bestimmte Umgangsform und einen Umgangston von Juana in ihren Briefen an Carlos charakteristisch, insofern hier mit Carlos in Befehlsform umgegangen und er zu Handlungen aufgefordert wird, die auf einem höchst paradox – da keinen Widerspruch duldenden – Zwang zur absoluten Transparenz und Aufrichtigkeit beruhen. Diese Anweisungen lassen auch erkennen, dass die Schaffung rein graphischer Zeichen, die auf keine wortkonkreten Bedeutungen in einer Einzelsprache zurückgeführt werden können, einen Absolutheitsanspruch affirmieren, der zu Verletzungen und zum Leiden des Adressaten zu führen vermag. Doch dieses Leiden des männlichen Objekts ist für das weibliche Subjekt nicht ausschlaggebend, nicht von entscheidender Bedeutung.

 Vitier, Cintio: Las cartas de amor de Juana Borrero, S. 9: «esa especie de grafía pura de la pasión.»  Kommentar in Borrero, Juana: Epistolario, Bd. I, Bildanhang.  Borrero, Juana: Epistolario, Bd. I, ebda.

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Die Sprache der Kunst (und nicht mehr die spanische Sprache) affirmiert: soy como soy. Ich bin so, wie ich bin: So bin ich eben. Darüber hinaus aber belegt diese Misiva trascendental, auf welch radikale Weise Juana Borrero an die Grenzen von Kunst und Literatur, von Zeichnen und Schreiben, von Graphie und Schrift zu gehen versteht, um einen transzendenten Sinnhorizont heraufzuführen und sinnlich präsent zu machen, der gewiss von dieser Welt ist, aber zugleich in eine Transzendenz weist. Eine Transzendenz freilich, die Kunst und Schöpfung ist und voller Leben: voller Leben zum Tode.507 Juana Borrero schuf sich mit ihren Gedichten und vielleicht mehr noch mit ihren Liebesbriefen eine eigene Welt, die freilich niemals von der kubanischen «Außenwelt» abgetrennt sein konnte. Längst hatte José Martí seinen Krieg für die Unabhängigkeit Kubas auf die Insel geholt, längst war die «Guerra de Martí» entbrannt und hatte zu einem erbitterten Kampf zwischen der Kolonialmacht Spanien und den kubanischen Mambises geführt; und längst hatte José Martí – den Worten José Lezama Limas zufolge – in diesem gewaltigen Wirbel, den er selbst geschaffen hatte, sein Leben gelassen und den Tod gefunden. José Martí hatte als Künstler und als Dichter das vermocht, was wohl kein anderer zu leisten imstande gewesen wäre: «crear el remolino que lo destruye».508 Doch einen solchen Wirbel, der sie selbst verschlang, wusste – wie wir sahen – auch Juana Borrero hervorzubringen. Und es ist faszinierend, diese Frau und Dichterin, die in ihren Vorstellungen von Geschlechterverhältnissen in einem derartigen Oppositionsverhältnis zum Schöpfer von Nuestra América steht, hinsichtlich dieser Parallele zwischen beiden kubanischen Modernistas weiterzuverfolgen. Denn auch Juana Borrero, die José Martí als kleines Mädchen einst bei einer Velada in New York kennengelernt hatte, als sie ihren Vater Esteban Borrero auf einem konspirativen Treffen mit dem geistigen Führer des kubanischen Exils in die USA begleitete, hatte mit Erfolg versucht, sich in jenen karibischen Orkan aufzulösen, den sie selbst erdacht und in Bewegung gesetzt hatte. Wie bei José Martí kann man bezüglich ihres Todes nicht von Selbstmord sprechen, jedoch einen solchen Suizid auch nicht rundweg ausschließen. Viele Jahre waren vergangen, seit das kubanische Wunderkind den Mitgliedern der exilierten und auf Unabhängigkeit sinnenden kubanischen Comunidad in den USA als Zeichen der Zukunft vorgeführt worden war und ihr Vater stolz einige ihrer Zeichnungen José Martí übergeben hatte. Was wird wohl aus diesen Zeichnungen geworden sein? Nun aber, gegen Ende des ersten Kriegsjahres,

 Zu dieser Dimension des Lebens und des Lebenswissens vgl. den sechsten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Geburt Leben Sterben Tod (2022).  Lezama Lima, José: La expresión americana. Madrid: Alianza Editorial 1969, S. 116.

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2. Hauptstück: Die Bilder der Macht

musste die Familie Borrero aufgrund der fortgesetzten konspirativen Tätigkeit des Vaters, der weiterhin für die Unabhängigkeit der Insel eintrat, um Leib und Leben fürchten und aus Gründen der persönlichen Sicherheit ins Exil im nahen Florida übersetzen. Man verließ Kuba wohl zu Beginn des Jahres 1896 in Richtung Florida, wo Juana wenige Wochen später, am 9. März 1896, gänzlich entkräftet und von Fieber geschüttelt in Cayo Hueso (Key West) versterben sollte. Sie war weit über die körperlichen Grenzen hinausgegangen, die ihr physisch gesetzt waren. Zu diesem Zeitpunkt war José Martí bereits zehn Monate tot und eine demokratisch fundierte Unabhängigkeit Kubas nicht mehr in Sicht. Die Militärexperten, die Caudillos, hatten übernommen. Die Hoffnungen der kubanischen Modernisten waren dahin geschwunden, ja hatten sich zerschlagen. Juana Borrero verstarb als die einzige große Dichterin, die der kubanische Modernismo hervorgebracht hatte, noch bevor sich ihr Werk in seiner Gänze zeigen konnte. Immer wieder war in ihrem Briefwechsel mit Carlos Pío Uhrbach am Horizont von der politischen Situation die Rede gewesen; immer wieder war auch die alles bedrohende Möglichkeit aufgetaucht, Kuba überstürzt verlassen zu müssen. Der Krieg hatte alles verändert und längst auch die Konvivenz in der scheinbar zurückgezogenen Idylle von Puentes Grandes erreicht. In dieser bedrohlichen Situation schrieb Juana Borrero, sich dem Ende ihres Lebens bereits nahe fühlend, am 11. Januar des Jahres 1896 – also keine zwei Monate vor ihrem Tod – Carlos Pío Uhrbach jenen bereits eingangs zitierten Brief, der auf erschütternde Weise vor Augen führt, dass die Betonung von Jungfräulichkeit und Keuschheit nicht etwa den Körper zum Verstummen bringt und aus den Seiten ihres Briefwechsels verbannt, sondern mit ungeheurer Wucht und Gewalt gerade in diese Seiten presst und ihn im tiefsten Wortsinne verflüssigt und liquidiert. Nach zwei Terzetten in blutroter Farbe, die ihrer Verzweiflung509 und dem Zweifel an ihrem Geliebten Ausdruck verleihen, erläutert die junge Frau mit jener sachlichen Präzision, die ihr der ärztliche Blick ihres Vaters wohl bei allen Körperbeschreibungen einzuhalten gelehrt hatte: Mein einziges Gut meiner Seele, niemals habe ich mich, wenn ich Dir zu schreiben begann, so traurig gefühlt. Niemals war die Sprache unbeugsamer und niemals war sie ebenso unzureichend. Aus diesem Grunde wollte ich Dir in dieser Art von Tinte schreiben, welche Dir die Hälfte meiner Gedanken nahelegen wird … Ich habe mir die Venen des linken Armes geöffnet, des Armes, der so sehr der Deinige ist und den ich so vertrauens-

 Vgl. Hauser, Rex: Juana Borrero: The Poetics of Despair. In: Letras Femeninas (Ithaca) XVI, 1–2 (primavera–otoño 1990), S. 113–120.

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voll und zärtlich stets auf Deine Schulter stütze. Dies wird Dir meine absolute Unerschütterlichkeit angesichts physischer Folter beweisen. Mit derselben Indifferenz wirst Du es von meiner Stirne oder aus meinem Herzen laufen sehen. Darüber hinaus will ich, dass Du die Worte dieses Briefes niemals mehr vergisst. Único bien de mi alma jamás me he sentido tan triste al comenzar a escribirte. Jamás el lenguaje ha sido más indócil ni más insuficiente tampoco. Por eso te he querido escribir en esta clase de tinta que te sugerirá la mitad de mis pensamientos … Me he abierto las venas del brazo izquierdo de ese brazo tan tuyo y que tan confiada y tiernamente reclinó siempre en tu hombro. Esto te probará mi absoluta impasibilidad ante la tortura física. Con la misma indiferencia la vería correr de mi frente o de mi corazón. Además quiero que las palabras de esta carta no se te olviden nunca.510

Mit ihrer sehr individuellen Interpunktion und einer erschütternden Präzision sind die Bedingungen des Schreibens eines langen Briefes mit dem Eigenen Blut umrissen und zugleich die Anordnungen erteilt, denen Carlos Folge zu leisten hat. Die Sprache hebt das Ungenügen der Sprache hervor, um den Körper, um den Lebenssaft für die Dichterin sprechen zu lassen. Nichts, auch nicht der Umschlag selbst, lässt an dem Absolutheitsanspruch der jungen Frau Zweifel aufkommen: «Für den, der alles für mich ist. Für meinen Carlos von der, die ihn wirklich liebt. Von der, die kein anderes Gewissen, kein anderes Ideal, keine andere Religion und kein anderes Vaterland hat als ihre Liebe. Von seiner Juana.»511 Wir stoßen in diesen Zeilen Juana Borreros auf den höchsten Ausdruck ihrer Liebe – aber eben ihrer Liebe, ihrer Form von Liebe, die sich in ihrer Liebe liebt und deutlich vom erwähnten Amabam amare herrührt. Dieser mit der Substanz des Lebens, ihrem eigenen Blut, geschriebene Brief stellt den Empfänger, der sich den kubanischen Aufständischen auf der Insel anschließen will, vor eine ausweglose Lebens- und Liebesalternative, da für Juana nur ihre eigene Liebe und keine anderen Liebesobjekte wie das Vaterland zählen. In gewisser Weise tritt ihr eigenes Ideal mit dem Ideal Martís in Konflikt. Wir haben die Alternative, vor die die kubanische Modernistin ihren modernistischen kubanischen Liebhaber stellte, bereits zitiert: Der Kreis unserer Überlegungen zu Juana Borrero schließt sich mit diesem Zusammenprall der Absolutheitsansprüche José Martís und Juana Borreros.

 Borrero, Juana: Epistolario, Bd. II, S. 256.  Ebda., Bd. II, S. 258: «Para el que lo es todo para mí. Para mi Carlos de la que lo ama de veras. De la que no tuvo ni más conciencia, ni más ideal ni más religión ni más patria que su amor. De su Juana.»

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2. Hauptstück: Die Bilder der Macht

Im Schreiben der Dichterin geht es nicht um Cuba, la patria, sondern um Juana: Und der Vorname der Dichterin wird als die alte, frühere Bezeichnung für die größte der Antilleninseln zum Schlachtruf ihrer eigenen Liebe, mit der sie Carlos Pío Uhrbach für immer an sich binden will. Die Flüssigkeit des Blutes geht in die Schriftzüge des Briefes ebenso ein wie die Flüssigkeit der Tränen, die auf das Papier tropfen und in aller Radikalität den Körper Juana Borreros zu Papier bringen. Juana Borreros Schreiben ist eine an ihre extremsten Grenzen geführte Body Art, eine Körper-Kunst, die noch einmal verzweifelt gegen die süße Abhängigkeit ihres weiblichen Geschlechts in einer männlich beherrschten Gesellschaft revoltiert. Juana Borreros Briefe an Carlos Pío Uhrbach sind ein Experimentierfeld des Wissens vom Leben im Leben, jenes Wissens, wie man leben und erleben kann. Die kubanische Dichterin und Malerin treibt dieses Wissen an seine äußersten Grenzen, an jenen Punkt, wo ein Lebenswissen zum Todeswissen gerinnt und in einem Blutverlust koaguliert, der dem Leben keine Chance mehr lässt. Lesen, Leben und Lieben werden in einen Blutkreislauf überführt, der in seiner Absolutheit und Radikalität dem Überleben selbst keine Bedeutung mehr zuweist, jegliches Überlebenswissen folglich verabschiedet. Ein Körper wird liquidiert, dem in dieser Welt nur noch wenige Wochen bleiben, um das Absolute, eine transzendente Unsterblichkeit in einer nur schemenhaft erkennbaren Transvivenz zu erreichen. Die blutroten Züge von Juanas Schrift zeigen an, wie dieser Körper mit den Mitteln der Schrift wie mit den Mitteln der Kunst in ein Weiterleben katapultiert werden kann, das noch heute in jenem Brief vom 11. Januar 1896 den verflüssigten Körper der kubanischen Künstlerin wie in einer Reliquie, wie bei einem neapolitanischen Blutwunder, kunstvoll enthält. Juana Borrero entfaltet in der letzten Phase ihres kurzen Lebens ein Wissen von der Transvivenz, das als Weiterlebenswissen die Grenzen zwischen Leben und Tod verflüssigt. Dies geht weit über ein Weiterleben in der Literatur hinaus und bleibt auch bei einer Körperlichkeit (corporéité) nicht stehen, die uns in den Tränen der Augen, die uns in der Flüssigkeit eines Blutes, das Juanas Körper-Schrift und Körper-Bild formt, in all seiner Materialität noch mehr als ein Jahrhundert nach Juana Borreros Tod ganz materiell und nicht zu Staub zerfallen entgegentritt. Die blutrote Herzensschrift der Romantik512 öffnet sich bei der Modernistin Juana Borrero auf eine Transzendenz, von der bereits die Romantiker träumten. Denn hatte nicht auch José Martí in seinem in Mexiko entstande-

 Vgl. hierzu den vierten und den sechsten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten (2021); sowie ders.: Geburt Leben Sterben Tod (2022).

Geschlechtermodellierungen des Modernismo und ein Exkurs zu Juana Borrero

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nen Gedicht De noche, en la imprenta von jener Schrift des Herzens gesprochen, die unter dem Druck der Druckerpresse ihre Lebensflüssigkeit verliert? Die Herzensschrift war bei José Martí mit seiner eigenen Märtyrerschaft, seiner eigenen Blutzeugenschaft verbunden. Immer wieder spricht auch Juana Borrero in ihren Briefen in der Metaphorik des Märtyrertums, in jenen Bildern von Blutzeugen, deren Blutzeugenschaft stets auf ein Jenseits und ein Leben in diesem Jenseits gerichtet ist. Das kubanische Wunderkind ist, um es mit den angeführten Worten aus Roland Barthes’ Mythologies zu sagen, vom enfant poète zum enfant martyr geworden. Doch geschah dies mit den Mitteln ihrer eigenen Kunst, die ihr erlaubte, weiter zu leben und weiterzuleben: Geschlechtermodellierungen vorzunehmen, die in der kolonialspanischen Gesellschaft und auch noch lange in der unabhängigen kubanischen Nation keinen Platz haben würden. Denn Vorstellungen, wie sie José Martí in seinen zärtlichen Briefen an die nur wenige Jahre jüngere María Mantilla entwickelte, konnten für sie nicht gelten: Sie rebellierte offen dagegen. Juana Borreros Transzendenz mag christlich inspiriert und zugleich in der Sprache ihrer Zeit verankert sein, betrachtete sich doch auch José Martí letztlich als Märtyrer im christlichen Sinne und wurde in einer langen Rezeptionsgeschichte auch als solcher verehrt. Beide entwickelten ihre lyrischen Symbolsysteme, aber auch die Ausdrucksformen der von ihnen selbst geschaffenen Bilder innerhalb dieses in Lateinamerika gegebenen kulturellen Kontexts. Juana Borreros Transzendenz aber bildete kein von uns getrenntes Jenseits, sondern eine Transvivenz, welche die scharfe Linie, die vermeintlich den Tod vom Leben trennt, als Grenze kennzeichnet, aber entschlossen missachtet und auf ein weiteres Wissen hin öffnet. Ihr Schreiben wie ihr Malen erkundet die Grenzen des Lebens und die Grenzen des Todes und wirft ein grelles Licht auf jene Geschlechtervorstellungen einer Moderne, wie sie ein José Martí in seinen Briefen und in seinen Schriften auf geschlechterpolitischer Ebene vertrat.

3. Hauptstück: Entwürfe der Modernität: Welche Moderne für Nuestra América? Die Spinne im Netz von New York Seit José Martí an einem 3. Januar 1880 in seinem ersten Exil in den USA im Hafen von New York angekommen war und wenige Monate später für die Periodika The Hour und The Sun zu schreiben begann – eine Epoche, in welcher María Mantilla das Licht der Welt erblickte –, rückten die Vereinigten Staaten von Amerika in den Mittelpunkt all seiner Überlegungen zur Entfaltung der Moderne in der amerikanischen Hemisphäre. Auch wenn wir ihn im März 1881 für einige Monate in Venezuela wiederfinden, wird sich an diesem enormen Interesse des kubanischen Journalisten und Essayisten an diesem großen Land des Nordens nichts Entscheidendes ändern. Ganz so, wie Alexander von Humboldt aus europäischem Blickwinkel am Ende der zweiten Phase zum Theoretiker der ersten Phase beschleunigter Globalisierung wurde,513 so entwickelte sich der Kubaner José Martí aus US-amerikanischer Perspektive inmitten der dritten Phase beschleunigter Globalisierung zu deren sicherlich herausragenden Theoretiker. Doch so weit sind wir im Fortgang unserer Studie noch nicht. Denn dazu musste der kubanische Schriftsteller erst ein weites Korrespondentennetz in New York und in den USA, vor allem und in erster Linie aber in den großen Ländern Lateinamerikas von Mexiko über Venezuela bis nach Argentinien aufbauen und zu einer der meistgehörten Stimmen in ganz Lateinamerika werden. Mit anderen Worten: Er musste in New York zuerst zur Spinne im internationalen Netzwerk der Informationen und Wissensströme werden, um sich intellektuell so weiterentwickeln zu können, dass es neben dem kleingewachsenen Exil-Kubaner keinen anderen Intellektuellen in den Amerikas gab, der mit seinem avancierten Informations- und Wissensstand hätte mithalten können. Dazu brauchte Martí etwa ein Jahrfünft. Doch der Weg dorthin war lang. Denn Martí musste erst einmal dieses weitgespannte internationale Netzwerk aufbauen, um finanziell in New York überleben und von seiner Feder leben zu können. Dazu waren ungeheure Anstrengungen notwendig. Neben all diesen Aktivitäten wollte er zugleich versuchen, das kriegsmüde kubanische Exil in den USA für einen weiteren Feldzug gegen die spanische Kolonialmacht aufzurütteln und zu mobilisieren. Doch erst in seiner Rolle als klu-

 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Alexander von Humboldt und die Globalisierung. Das Mobile des Wissens. Berlin: Suhrkamp Verlag (Suhrkamp Taschenbuch, 4967) 2019. https://doi.org/10.1515/9783110788471-004

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3. Hauptstück: Entwürfe der Modernität: Welche Moderne für Nuestra América?

ger Kundschafter für ein gesamtlateinamerikanisches Publikum entwickelte der rastlose Kubaner jene Vorstellungen von Modernität und Moderne, von Globalität und Globalisierung, die seinem Denken eine andere, weit über die Frage der politischen Unabhängigkeit Kubas hinausweisende Stoßrichtung gaben. Denn wenn seine Photographien und – allgemein gesprochen – sein öffentliches Bild auch dem kommenden Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien nahezu ausschließlich verpflichtet blieben – und das vorausgehende Hauptstück hat hierfür eindrucksvolle Belege geliefert –, so entfaltete sein Denken doch Horizonte, die er außerhalb der Vereinigten Staaten von Amerika wohl niemals hätte entwickeln können. José Martí wusste sehr gut, warum er New York allen anderen Städten als Wohnsitz seines Lebens ohne festen Wohnsitz vorzog. In seinen politischen wie in seinen ästhetischen Schriften, in seinen Chroniken über die USA wie in seinen Artikeln über Europa, in seinen militanten Aufrufen und Erklärungen wie in seinen literarischen Reden erwies sich Martí aus dieser Perspektive als ein hochkompetenter Denker des Globalen und der Globalität.514 Martís Denken entwickelte sich im Verlauf der achtziger Jahre immer stärker im Lichte des großangelegten Versuchs, die lateinamerikanische Bevölkerung aufzurütteln, die er auf die Chancen, aber auch auf die Risiken und Gefahren der unmittelbar bevorstehenden Entwicklungen im weltweiten Maßstab aufmerksam machen wollte. So kommt es nicht von ungefähr, dass José Martí – wie wir sahen – den Auftakt seines berühmten Essays Nuestra América mit einem Verweis auf ein dörflerisches Bewusstsein begann, mit dem nun endgültig Schluss sein müsse. Die Kraftlinien der unzähligen Texte aus der Feder des sechs Jahre vor Humboldts Tod auf Kuba geborenen Dichters und Essayisten, Intellektuellen und Revolutionärs kommen sicherlich am eindrucksvollsten in seinem zweifellos berühmtesten Essay zur Geltung, der programmatisch am 1. Januar 1891 in der neuen Kapitale der Moderne, in der für die spanischsprachige Community publizierten La Revista Ilustrada de Nueva York, erschien, bevor dieser Essay dann in Mexiko sowie später in anderen Ländern nachgedruckt wurde. José Martís Einsicht in die globale Beschleunigung war gleichbedeutend mit dem zentralen Verstehen der Unentwirrbarkeit von Lokalem und Globalem, das der kubanische Denker zum Ausgangspunkt eines strategischen Entwurfes nahm, der ebenso visionär wie auf genauer Detailkenntnis beruhend ein Ausgreifen der USA nach Süden prognostizierte und diese Expansion aus einer zwar spezi-

 Vgl. hierzu das José Martí gewidmete Kapitel im vierten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten (2021).

Die Spinne im Netz von New York

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fisch lateinamerikanischen, zugleich aber unverkennbar welthistorischen und globalgeschichtlichen Perspektive in ihren Konsequenzen durchdachte. Für José Martí war der Kampf gegen die Kuba noch immer unterdrückende Kolonialmacht Spanien fast schon ein Kampf mit der Macht einer vergangenen Zeit: Denn längst hatte der Autor der Versos sencillos verstanden, dass an die Stelle Spaniens, der beherrschenden Macht der ersten Globalisierung, nun ein neuer Protagonist getreten war, der die dritte Phase beschleunigter Globalisierung dominieren sollte: die Vereinigten Staaten von Amerika. Martí erkannte es von innen und mit zunehmender Klarsicht: Die USA machten sich bereit, die Herrschaft über die gesamte amerikanische Hemisphäre zu übernehmen. Zugleich griffen sie am Ende dieses Jahrhunderts mit der Eroberung der Philippinen bereits in den pazifischen Raum und nach Asien aus. José Martí hatte diese Expansion der USA, die letztlich nach Weltherrschaft strebten, bereits in den frühen achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts in ihren Grundlinien erkannt. Der exilierte Journalist und Essayist, der Dichter und Revolutionär versuchte, diese Entwicklung nicht nur zu analysieren, sondern zugleich auch ein Konzept gegen die – aus seiner Sicht von 1891 bald schon bevorstehende Expansion der USA – zu entwickeln. Zur Modellierung seiner Konzeptionen analysierte er zupackend in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre die innenpolitischen Ereignisse und Debatten in den Vereinigten Staaten, um das künftige Verhalten des «Kolosses des Nordens» überblicken und im Rahmen der Möglichkeiten voraussagen zu können. Wir wissen heute, dass die Martí’schen Befürchtungen zutrafen und die Vereinigten Staaten noch vor dem Ende des Jahrzehnts, in dem Martí 1895 den Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien nach Kuba trug, in den kubanisch-spanischen Krieg eingriffen und sich die noch verbliebenen Reste des spanischen Weltreichs – Puerto Rico, Kuba und die Philippinen – militärisch holten und sicherten. Hatte Martí seine Möglichkeiten, mit der Guerra de Martí den USA die geplante Expansion verbauen zu können, überschätzt, mit dem Anzetteln dieses Krieges vielleicht sogar die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass das Imperium des Nordens sich schneller als geplant nach Süden ausbreiten konnte? Als Kubaner war Martí überdies von der besonderen geostrategischen Rolle seiner Heimatinsel überzeugt, die seit der ersten Phase beschleunigter Globalisierung stets in gewisser Weise ein Global Player – wenn auch nur als Objekt europäischer Kolonialpolitiken – gewesen war. Noch in den ersten Jahrzehnten der Kubanischen Revolution war dieses Erbe José Martís außenpolitisch deutlich spürbar und bestimmte das Lebensgefühl vieler Kubaner. Wie sehr José Martís Entwurf darauf abzielte, vor dem Hintergrund seiner hemisphärischen Konstruktion des Kontinents einen eigenständigen, also auf eigenen, neuweltlichen Traditionen aufruhenden amerikanischen Humanismus

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3. Hauptstück: Entwürfe der Modernität: Welche Moderne für Nuestra América?

zu entwickeln, soll an dieser Stelle noch nicht erörtert werden. Dies sei dem letzten Abschnitt dieser Studie vorbehalten. Doch bahnbrechend ist sein Versuch, die von ihm aus dem Denken des 19. Jahrhunderts übernommene Zweiteilung des amerikanischen Kontinents in eine neue Vision, in eine neue Erfindung zweier Amerikas umzuschmelzen. Diese beiden Amerikas hätten jeweils eigene Formen der Moderne entwickelt und stünden einander nicht notwendig feindlich gegenüber. Erst während der Berichterstattung der späten Jahre verfestigte sich in dem Korrespondenten Martí die Ansicht, dass ein Konflikt zwischen beiden Amerikas unausweichlich sein würde. Zuvor stand der Kubaner den Vereinigten Staaten von Amerika, seinem Exilland, durchaus freundlich, offen und mit großer Neugier gegenüber. Nicht weniger wichtig für die in diesem zweiten Teil unserer Martí-Studie verfolgte Fragestellung erscheint mir die Tatsache, dass sich der hispanoamerikanische Modernist mit der dritten Phase beschleunigter Globalisierung nicht auseinandersetzte, ohne die beiden vorgängigen Phasen – zu denen er schon früher zahlreiche Artikel verfasst hatte – in seine stets poetische und nicht selten lyrisch verdichtete Analyse miteinzubinden. Vor dem Hintergrund des für sein Schreiben und Handeln charakteristischen Epochenbewusstseins einer rapide an Fahrt aufnehmenden Zeit, in der sich die Siebenmeilenstiefel von Adelbert von Chamissos Schlemihl rasch in Soldatenstiefel einmarschierender Besatzungstruppen verwandeln konnten (und verwandeln sollten), entfaltet Martí sein vehementes Plädoyer, die Staaten unseres Amerika müssten sich so rasch als möglich – und bevor es zu spät sei – zu einer kompakten Einheit verbinden «como quienes van a pelear juntos».515 Denn schon bald werde man zusammen gegen den sich rüstenden und vordringenden Feind kämpfen müssen. Was vorwiegend auf die damalige Situation der neunziger Jahre bezogen scheint, ist doch ganz aus der historischen Entwicklung des amerikanischen Kontinents heraus gedacht. José Martí zog mit seiner Aufforderung zum Zusammenschluss die Lehren aus der ersten Globalisierungsphase, als ein militärtechnologisch überlegener und entschlossener, aber zahlenmäßig weit unterlegener Gegner bei seinen Eroberungen von der Uneinigkeit und Zerstrittenheit der indigenen Völker Amerikas profitierte. Wir haben dies mit zahlreichen Details etwa bei der Eroberung von Anáhuac beziehungsweise Tenochtitlán durch Cortés mit maßgeblicher Unterstützung durch indigene Hilfstruppen konstatieren können.516

 Martí, José: Nuestra América, S. 13.  Vgl. hierzu den siebten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Erfunden / Gefunden. Potsdamer Vorlesungen zur Entstehung der Amerikas. Berlin – Boston: De Gruyter 2022.

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Dass dies keineswegs ein neuer Gedanke war, sondern bereits in den Zirkeln der hispanoamerikanischen Aufklärung diskutiert wurde, die letztlich die politische Unabhängigkeit der damals spanischen Kolonien vorbereitet hatten, sollte am Beispiel von Francisco Javier Clavijero, aber auch anderer Denker der Amerikas517 deutlich vor Augen stehen. José Martís Analysen erweisen sich vor diesem historischen wie literarhistorischen Hintergrund als vollauf zutreffend, da sie auf der Höhe der tagespolitischen Entscheidungen in den USA, auf einer vertieften Kenntnis unterschiedlicher Literaturen unter Einschluss der US-amerikanischen, aber auch der globalgeschichtlichen Entwicklungen de longue durée beruhten. Erneut aber konstatierte Martí einerseits einen hohen Grad an Uneinigkeit zwischen den verschiedenen Nationen und Regionen Süd- und Mittelamerikas sowie der Karibik; und andererseits zweifelte er nicht an der militärtechnologischen Überlegenheit – insbesondere der gezielt aufgerüsteten, hochmodernen Kriegsflotte – der Vereinigten Staaten von Amerika. Schon im Gründungsjahr des Modernismo, in einer auf New York am 15. Juli 1882 datierten Chronik für La Nación in Buenos Aires hatte Martí seine Leserschaft darauf aufmerksam gemacht, dass sich im US-Kongress eine veränderte Politik abzeichne, die mit Blick auf den Süden Amerikas, aber auch auf rivalisierende europäische Mächte auf den raschen Aufbau und Ausbau einer hochmodernen Kriegsflotte setze: Die Republikaner führen überdies an, dass diese Nation bereits in ihr Erwachsenenalter und dass das Amerika des Südens in eine Epoche endgültiger Etablierung eingetreten seien: dass diese Nation für die Notwendigkeiten ihrer Expansion eine große Summe benötige, um in kürzester Frist ein großes Heer auszuheben und eine furchterregende Armada aufzustellen. Sie führen ferner an, dass entweder durch den Wunsch nach höchster Autorität im Kanal von Panamá oder durch das Anwachsen englischer Macht in Amerika die Situation eines Krieges mit England heraufziehen könne, das ja eine große Seemacht darstelle. Und so konnte der seltene Fall eintreten, dass der Kongress eine gewaltig angewachsene Summe für Verbesserungen der Armada bewilligte, auf Bitten und hartnäckiges Beharren jenes Marineministers, der in den Zeiten von Grant Hunderte Millionen und mehr in konfuse oder unnötige oder gänzlich unaufgeklärte Manöver investierte. Alegan además los republicanos que ya entró esta Nación en edad de mayoría, y la América del Sur, en época de definitivo establecimiento: que para las necesidades de su expansión ha menester de gran suma, que pueda levantar súbitamente gran ejército, y temible armada. Alegan que pudiera venirse, o por querer autoridad suprema en el Canal de Panamá, o por impedir el crecimiento del poder inglés en América, a una guerra con Inglaterra, que es gran poder naval. Y se ha dado el caso extraño de que el Congreso vote suma crecidísima para las reparaciones de la armada, a petición y por tenaz empeño de

 Vgl. hierzu den fünften Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Aufklärung zwischen zwei Welten. Potsdamer Vorlesungen zu den Hauptwerken der romanischen Literaturen des 18. Jahrhunderts. Berlin – Boston: De Gruyter 2021.

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3. Hauptstück: Entwürfe der Modernität: Welche Moderne für Nuestra América?

aquel Secretario de Marina que en tiempos de Grant empleó, en gestos confusos o innecesarios, o totalmente inexplicados, cientos y más millones.518

Seit diesem frühen Zeitpunkt – noch war selbst sein einziger Roman Amistad funesta nicht geschrieben! – verfolgte der kubanische Essayist mit großer Aufmerksamkeit und wachsender Beunruhigung die weitere Aufrüstung jener Kriegsflotte, die 1898, im ersten transkontinentalen Medienkrieg der Moderne, die spanische Flotte sowohl in der Karibik vor Santiago de Cuba als auch im Pazifik vor Manila dank der technischen Überlegenheit ihrer aus Stahl gefertigten Panzerkreuzer mit Leichtigkeit ausschalten sollte. Martí war sich sehr früh der großen Gegensätze zwischen «los dos factores continentales»,519 den beiden kontinentalen Faktoren, bewußt geworden und zweifelte nicht daran, dass in den USA «la hora del desenfreno y la ambición»520 obsiegen und damit der Beginn einer gewaltsamen Expansion nach Süden näherrücken werde. Denn der Kubaner hatte im Kongress zu Washington bereits 1882 einen Stimmungsumschwung beobachtet, der in ihm durchaus Befürchtungen weckte, die Vereinigten Staaten von Amerika könnten versucht sein, auf dem amerikanischen Kontinent eine hegemoniale Rolle zu übernehmen und die Länder Lateinamerikas zu majorisieren. Denn diese Länder hatten durchweg schwierige Entwicklungen im 19. Jahrhundert aufzuweisen und hatten viele Entwicklungsmöglichkeiten durch innere Zwistigkeiten und hartnäckige Bürgerkriege verspielt. Martí wusste sehr wohl, dass für viele der jungen lateinamerikanischen Nationen das Jahrhundert der Romantik ein verlorenes Jahrhundert gewesen war. Zugleich war die Zeit der Entgrenzung und der hochfliegenden Ambitionen in den USA schon nahe: Längst hatte man damit begonnen, weit über die Grenzen des expandierenden Staatswesens hinauszuschauen und sich auf militärische Auseinandersetzungen einzustimmen, welche die USA auf ihrem Weg zur Rolle als Hegemon Amerikas würden bestehen müssen. Doch nichts von einer derartigen Entwicklung war in den jungen Nationen des Südens zu bemerken. Sie waren sehr viel stärker mit innenpolitischen Auseinandersetzungen, ja mit den Kriegen ihrer Caudillos oder Warlords beschäftigt und grenzten sich wechselseitig durch ihre politisch geschürten Nationalismen aus. Der kubanische Dichter und Revolutionär sah, wie sich die Zweiteilung des Kontinents nicht nur ökonomisch und kulturell, sondern auch machtpolitisch und militärisch verfestigte. Und der Dichter der Einfachen Verse versuchte alles, um diese Entwicklung noch aufzuhalten und seine lateinameri-

 Martí, José: Carta de los Estados Unidos. In (ders.): OC 9, S. 325 f.  Martí, José: Nuestra América, S. 23.  Ebda.

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kanischen Lesergruppen auf eine geopolitisch brenzlige Situation vorzubereiten, die noch in kaum einem der lateinamerikanischen Länder als Gefahr erkannt worden war. Sehr zeitig, wenn auch nicht mehr rechtzeitig – aber dies war ihm nicht zur Last zu legen – begriff er, dass mit den Vereinigten Staaten von Amerika erstmals ein außereuropäischer Faktor die Entwicklungen zunächst auf dem amerikanischen Kontinent, bald aber auch im globalen Kontext wesentlich mitbestimmen würde. Die Vereinigten Staaten von Amerika waren auf dem Sprung zum Global Player und ihrer künftigen Rolle als Weltmacht gewiss. Noch einen Tag vor seinem Tod im Freiheitskampf schrieb der Autor von Ismaelillo an seinen mexikanischen Freund Manuel Mercado, er habe nicht nur die Unabhängigkeit Kubas im Auge gehabt, sondern es auch für seine Pflicht gehalten, «de impedir a tiempo con la independencia de Cuba que se extiendan por las Antillas los Estados Unidos y caigan, con esa fuerza más, sobre estas tierras de América».521 Mit der Unabhängigkeit Kubas habe er das weitere Vordringen der USA in den karibischen Raum und die dadurch verstärkte Übermacht der USA verhindern wollen, die – so sah es Martí – zu unvermeidlichen Übergriffen auf den Süden des Kontinents führen musste. Der weitsichtige Kubaner sollte mit Blick auf die Expansion der USA und deren Ambitionen auf einen Status als Weltmacht Recht behalten. All dies aber war eingebettet in eine Gesamtanalyse, innerhalb derer der Frage der Kultur wie der kulturellen (und literarischen) Modernisierung eine eminente Bedeutung zukamen. Für die hispanoamerikanischen Modernisten war die Frage der zumindest kulturellen, aber auch der politischen Einheit dessen, was José Martí als Nuestra América bezeichnete, von fundamentaler Bedeutung. Wir haben bereits gesehen, dass José Martí dies als eine der wichtigsten Lehren aus der Conquista und damit der ersten Phase beschleunigter Globalisierung verstand. In diesem transarealen kulturellen Zusammenhang überrascht es keineswegs, dass es die Modernistas waren, die erstmals und erfolgreich versuchten, eine Vielzahl von Verbindungen und verbindenden Zeitschriften zwischen den verschiedenen Areas der riesigen hispanoamerikanischen Welt ins Leben zu rufen. Alle großen Modernisten wie José Martí, Rubén Darío oder José Enrique Rodó bemühten sich um eine Beeinflussung internationaler Informations- und wissensströme. Nicht von ungefähr legte der Uruguayer José Enrique Rodó – und wir werden diese Frage noch eingehender untersuchen – seinen Ariel so an, dass er vor dem Hintergrund der Epochenerfahrung des Ausgreifens der Vereinigten Staaten nach Süden als Abgrenzung, ja als intellektuelle Kampfansage gegen den Koloss des Nordens gelesen werden konnte. Er griff damit zwei-

 Martí, José: A Manuel Mercado. In (ders.): OC 4, S. 167.

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3. Hauptstück: Entwürfe der Modernität: Welche Moderne für Nuestra América?

fellos Vorstellungen José Martís auf, die dieser freilich mehr als ein Jahrzehnt zuvor – wenn auch mit anderer Zielrichtung – zu Papier gebracht hatte. Zugleich richteten sich die Konzeptionen der hispanoamerikanischen Modernisten und allen voran des Uruguayers Rodó an den großen europäischen Denkern der Moderne aus und versuchten, deren Vorstellungen nach Lateinamerika zu übersetzen und entsprechend anzupassen.522 In den Amerikas wie in Europa war eine Veränderung in der Grundstimmung, ja ein gewisses Epochenbewusstsein einer unaufhaltsamen Beschleunigung aller Dinge, deutlich zum Ausdruck gekommen, ein epochales Bewusstsein, welches sich gerade auch in der zeitgenössischen Philosophie niederschlug. Wir sind daher gut beraten, wenn wir immer wieder einen Blick gerade auf einen in Lateinamerika so populären Philosophen wie Friedrich Nietzsche werfen, der in seiner fröhlichen Wissenschaft die folgenden Sätze niederschrieb, die eine Art amerikanischer Rast- und Ruhelosigkeit ausmalen: Es ist eine indianerhafte, dem Indianer-Blute eigentümliche Wildheit in der Art, wie die Amerikaner nach Gold trachten: und ihre atemlose Hast der Arbeit – das eigentliche Laster der Neuen Welt – beginnt bereits durch Ansteckung das alte Europa wild zu machen und eine ganz wunderliche Geistlosigkeit darüberzubreiten. Man schämt sich jetzt schon der Ruhe; das lange Nachsinnen macht beinahe Gewissensbisse. Man denkt mit der Uhr in der Hand, wie man zu Mittag ißt, das Auge auf das Börsenblatt gerichtet, – man lebt wie einer, der fortwährend etwas «versäumen könnte». […] Denn das Leben auf der Jagd nach Gewinn zwingt fortwährend dazu, seinen Geist bis zur Erschöpfung auszugeben, im beständigen Sich-Verstellen oder Überlisten oder Zuvorkommen: die eigentliche Tugend ist jetzt, etwas in weniger Zeit zu tun als ein anderer. Und so gibt es nur selten Stunden der erlaubten Redlichkeit: in diesen aber ist man müde und möchte sich nicht nur «gehen lassen», sondern lang und breit und plump sich hinstrecken. Gemäß diesem Hange schreibt man jetzt seine Briefe; deren Stil und Geist immer das eigentliche «Zeichen der Zeit» sein werden.523

Mit diesen Worten suchte Friedrich Nietzsche, von dessen Begegnung mit wirklichen Indianern nichts überliefert ist, im vierten Buch von Die fröhliche Wissenschaft der Tatsache Rechnung zu tragen, dass das Leben (auch) im alten Europa im Verlauf des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts unter einen ungeheuren Beschleunigungsdruck geraten war, der alle Lebensbereiche – auch und gerade jene des Geisteslebens – ergriffen hatte und mit sich fortriss. Dass er die Gründe für diese Beschleunigung fernab im Westen, in Amerika suchte und fand, ist durchaus à titre folklorique bemerkenswert.  Vgl. hierzu Ette, Ottmar: «Así habló Próspero». Nietzsche, Rodó y la modernidad filosófica de «Ariel». In: Cuadernos Hispanoamericanos (Madrid) 528 (junio 1994), S. 48–62.  Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft. In (ders.): Werke in vier Bänden. Bd. IV. Salzburg: Verlag Das Bergland-Buch 1985, S. 99.

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Der Aufstieg der Arbeit zum alles beherrschenden Wert, an dem sich alle Lebenspraktiken und das Bewusstsein selbst zu orientieren hatten, und die Abwertung von Muße und Müßiggang innerhalb eines Prozesses, der zweifellos von einer fundamentalen sozioökonomischen Modernisierung bestimmt wurde, schienen dem Autor einer eigenen Gaya Scienza ihre Impulse aus einer Neuen Welt zu erhalten, die der zur alten gewordenen den weiteren Entwicklungsgang vorzugeben begann. Ähnlich sah auch José Martí die Urgründe für all jene Beschleunigungen, welche die Länder des Südens erfasst hatten, in der alles überragenden Hast eines gierigen Nordens begründet. Dass Friedrich Nietzsche als (allzu) guter Hegel-Schüler Amerika als den Kontinent der Zukunft mit den Vereinigten Staaten von Amerika verwechselte, braucht uns dabei nicht zu überraschen. Dies war der gute Brauch seiner Zeit schon damals in Europa. Denn bereits im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts hatte sich spätestens mit Alexis de Tocquevilles De la démocratie en Amérique in Europa die Auffassung durchgesetzt, dass eine Reise in die USA einer Zeitreise gleichkomme, die es dem reisenden Europäer ermögliche, einen Blick in die Zukunft des eigenen Kontinents zu werfen. Die Vereinigten Staaten von Amerika, aber wohlgemerkt nicht ganz Amerika galten fortan als der Kontinent der Zukunft. Demgegenüber erscheinen die spanischen Kolonien in Amerika im Dämmerlicht einer Zurückgebliebenheit, das in den Augen der Europäer auch nicht durch den langen Unabhängigkeitskampf im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts erhellt wurde. Der Norden Amerikas war zum Subjekt geworden, der Süden (einschließlich seines mexikanischen Nordens) blieb Objekt der Geschichte. Reisen in den Süden der Hemisphäre wurden – wie schon für Tocquevilles Landsfrau und Zeitgenossin Flora Tristan in ihren Pérégrinations d’une paria – zu Reisen in eine Vergangenheit,524 die im besten Falle – wie in Alejo Carpentiers Roman Los pasos perdidos – für den abendländischen Menschen ein Potential erotischer Verlockung und Befreiung aus den Zwängen der Moderne bereithielt. Und doch haben die verschiedenen lateinamerikanischen Nationalstaaten, die aus dem gewaltigen iberischen Kolonialreich hervorgingen, just zu jenem Zeitpunkt, als Nietzsche seine Beobachtungen niederschrieb und über die Folgen dieser Beschleunigung für das Denken spekulierte, einen zwar regional unterschiedlich ausgeprägten, in seiner Gesamtheit aber beeindruckenden Modernisierungsschub verzeichnet, dessen Folgen in der Tat in allen Lebensbereichen,

 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Literatur in Bewegung. Raum und Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens in Europa und Amerika. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2001, insbes. Kap. 2.

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3. Hauptstück: Entwürfe der Modernität: Welche Moderne für Nuestra América?

von der Architektur über Kunst und Kommunikation bis hin zur Zeiterfahrung, spürbar (und nachweisbar) waren. Friedrich Nietzsches Überlegungen zur konstatierbaren Veränderung des Denkens durch die (und in der) Bewegung könnte nicht nur auf Europa, sondern auch auf den Nord- wie den Südteil des amerikanischen Kontinents gemünzt sein: Wir denken zu rasch, und unterwegs, und mitten im Gehen, mitten in Geschäften aller Art, selbst wenn wir an das Ernsthafteste denken; wir brauchen wenig Vorbereitung, selbst wenig Stille: – es ist als ob wir eine unaufhaltsam rollende Maschine im Kopfe herumtrügen, welche selbst unter den ungünstigsten Umständen noch arbeitet. Ehemals sah man es jedem an, dass er einmal denken wollte – es war wohl die Ausnahme! –, dass er jetzt weiser werden wollte und sich auf einen Gedanken gefaßt machte: man zog ein Gesicht dazu wie zu einem Gebet und hielt den Schritt an; ja man stand stundenlang auf der Straße still, wenn der Gedanke «kam» – auf einem oder auf zwei Beinen. So war es «der Sache würdig»!525

Friedrich Nietzsche konstatiert eine epochale Veränderung: Nicht nur die Ergebnisse des Denkens, das Denken selbst ist in Bewegung geraten. Es findet nicht mehr an Ort und Stelle, sondern in der Bewegung, beim Gehen wie beim Reisen, statt. Aus der Erfahrung einer beschleunigten Zeit und – gerade in Deutschland – einer beschleunigten Geschichte seit dem Ende der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts können wir nicht nur besonders sensibel für derartige, im doppelten Wortsinne zu verstehende Zeit-Diagnosen sein, können auf der Ebene der Kommunikation unsere heutigen E-Mails als Zeichen der Zeit im Sinne Nietzsches verstehen, sondern sind in einem höheren Maße befähigt und in der Lage, Rückschlüsse daraus auf das (Selbst-) Verständnis der Moderne zu ziehen. Diese Folgerungen sollten sich freilich nicht auf den europäischen Horizont beschränken: Nietzsche selbst leitet sie ja aus der Neuen Welt ab. Die Moderne hat als Epochenbegriff so viele Gesichter wie Definitionen. Aus dem Blickwinkel unterschiedlicher Deutungsmuster und Interessen konnte sie als das Zeitalter des Christentums oder als die Neuzeit im Sinne der temps modernes, als das Projekt der (Spät-)Aufklärung oder die mit der Französischen Revolution einsetzende historische Epoche, als französische modernité der Mitte oder als angelsächsischer modernism des Ausgangs des 19. Jahrhunderts gedeutet oder mit den historischen Avantgarden wie den Neoavantgarden nach Ende des Zweiten Weltkriegs gleichgesetzt werden. Das heilige Jahr der Geburt Christi oder das annus mirabilis 1492, 1789 oder 1848, 1888, 1909 oder 1945 wurden und werden als Epochendaten der Moderne gehandelt. Wie ist aus alledem noch eine gemeinsame und befriedigende Begriffsverwendung zu gewinnen?

 Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft, S. 17 f.

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Wir müssen heute ohne jeden Zweifel mit den unterschiedlichsten Moderne-Definitionen leben, welche den jeweiligen Standpunkten, wissenschaftlichen Disziplinen und Erkenntnisinteressen Rechnung tragen. Eine Studie über Leopardis Unendlichkeiten wurde mit der folgenden, unterschiedlichste Zeithorizonte einblendenden Affirmation eröffnet: Die Moderne kam in der Französischen Revolution zur Welt. Zwar wurde ihr Protagonist, das moderne Subjekt, in langer gedanklicher und gesellschaftlicher Zeugung vorgebildet. Dennoch fiel dieses Kind der menschlichen Selbstbemächtigung keineswegs so aus, wie es sich seine aufklärerischen Väter gedacht hatten.526

Ein solch mutiger und zugleich diffundierender Eröffnungs-Satz «kopfüber in die Moderne» teilt mit den historiographischen Untersuchungen Reinhart Kosellecks, den wissenschaftsgeschichtlichen Überlegungen Wolf Lepenies’ oder den geschichtsphilosophischen Entwürfen Jürgen Habermas’ zweifellos mehrere (wenn auch sicherlich nicht alle) Grundüberzeugungen, zu deren unausgesprochenen eine sich auf Europa beschränkende, in gewisser Weise frankozentrische Perspektivierung zählt, die mit Blick auf Leopardis Lyrik und (Selbst-)Bestimmung des modernen Subjekts ohne Zweifel als Ausgangspunkt einer überzeugenden Analyse dienen kann. Allein einem Moderne-Begriff, der sich transareal in verschiedensten Teilen der Welt applizieren ließe, würde ein derart klar europazentrischer Definitionsversuch nicht gerecht. Denn er ließe – um nur diesen einen Punkt zu benennen – die Tatsache außer Betracht, dass für die Amerikas keineswegs nur die Französische Revolution, sondern auch die Unabhängigkeitsrevolution der USA, die Haitianische Revolution oder die Unabhängigkeitsbewegungen spanischen Amerika mit Blick auf die Moderne(n) epochale Geltung beanspruchen dürfen. Und ging nicht die Revolution in den USA der Revolution in Frankreich voraus? Im Folgenden gilt es mit Blick auf unsere Fragestellung, diesen Ausgangspunkt einer Einsicht in divergierende Modernen zu erweitern. Freilich lässt die Geburtsmetaphorik nicht nur jene Frage offen, die den Römern, denen allein die Mutterschaft leicht nachprüfbar schien, stets als die am leichtesten zu beantwortende galt; sie schränkt zugleich die Polygamie ideeller Zeugenschaft auf einen Kreis von Aufgeklärten ein, die Europa – und vor allem Frankreich – entstammen. Wie also, wenn die Moderne nicht nur viele Väter, sondern Väter und Mütter aus unterschiedlichen Weltregionen und kulturellen Traditionen besäße, wenn sie nicht nur viele Gesichter und Hautfarben, sondern viele Geschichten und Geburten hätte, wenn sie also nicht anders als der Kollektivsingular Ge-

 Wehle, Winfried: Leopardis Unendlichkeiten. Zur Pathogenese einer «poesia non poesia: «L’Infinito» / «A se stesso». Tübingen: Narr 2000, S. 7.

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3. Hauptstück: Entwürfe der Modernität: Welche Moderne für Nuestra América?

schichte eine Sprachschöpfung wäre, hinter der sich die Vielfalt der sich voneinander unterscheidenden Modernen verbirgt? In der Tat: Moderne lässt sich heute bereits mit Blick auf den Ausgang des 19. Jahrhunderts nicht länger im Singular denken. Mit Blick auf die Geschlechterdifferenz und die Geschlechterpolitiken hatten wir dies eindrucksvoll in der Abgrenzung José Martís gegenüber Frauenrechtsbewegungen in den USA gesehen. Martís Text zu Lucy Parsons und zu den Rechten von Frauen in den Vereinigten Staaten hatte deutlich gemacht,527 wo für den kubanischen Politiker die klare Grenze gegenüber der Ausübung von Rechten durch Frauen lag. Und die verzweifelte Unbedingtheit, mit welcher Juana Borrero gegen ihre eigene Versklavung als Frau kämpfte, wies uns darauf hin, in welch aussichtsloser Position sich für eine Gleichberechtigung der Geschlechter kämpfende Frauen in Lateinamerika befanden. Dass die Rede von den Modernen gemäß unserer aktuellen Sprachgewohnheiten einzelne Individuen und Subjekte aufzurufen scheint, belegt nur, dass diese Pluralbildung noch weitgehend ungedacht, keineswegs aber, dass sie undenkbar ist. Mit Blick auf den hispanoamerikanischen Modernismo stechen zweifellos die großen männlichen Gestalten wie Martí, Darío oder Rodó hervor. Doch längst ist eine Diskussion über die peripheren, ja über divergierende Modernen weltweit entbrannt, welche sich nicht mehr nur an den großen Figuren orientiert. Die Vielgestaltigkeit der Moderne(n) manifestiert sich gerade vor dem Hintergrund aktueller Globalisierungsdiskussionen zunehmend in ihrer ganzen vielkulturellen und vielräumlichen Dimension.528 Dies aber hat Auswirkungen auf die Beantwortung der Frage nach dem fragwürdigen Subjekt, nach den Menschenbildern in der Moderne – und nach den Männer- und Frauenbildern, welche diesen Vorstellungen zugrunde liegen. Denn fragwürdig ist nicht nur das Subjekt, sondern auch die Moderne, mehr noch: Das moderne Subjekt können wir als Subjekt in der Moderne nur dann verstehen, wenn wir zuvor klären, von welcher Moderne und vor allem von welchen Modernen die Rede ist. Und dies ist gerade bei Martí von entscheidender Bedeutung.  Vgl. Martí, José: Correspondencia particular de «El Partido Liberal»: La mujer norteamericana. In (ders.): Nuevas cartas de Nueva York. Investigación, introducción e índice por Ernesto Mejía Sánchez. México: Siglo XXI 1980, S. 81.  Vgl. aus den zurückliegenden Jahrzehnten hierzu auch Borsò, Vittoria / Goldammer, Björn (Hg.): Moderne(n) der Jahrhundertwenden. Spuren der Moderne(n) in Kunst, Literatur und Philosophie auf dem Weg ins 21. Jahrhundert. Akten des Kongresses «Moderne der Jahrhundertwende(n)», 24.–27. November 1998 an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. BadenBaden: Nomos Verlagsgesellschaft 2000; sowie Tetzlaff, Rainer (Hg.): Weltkulturen unter Globalisierungsdruck. Erfahrungen und Antworten aus den Kontinenten. EINE Welt – Texte der Stiftung Entwicklung und Frieden. Bonn: Verlag Dietz Nachfolger 2000.

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Gehen wir dabei getrost von einer Sicherheit aus: Nicht nur die Moderne, auch das moderne Subjekt ist ohne eine Einbeziehung außereuropäischer Dimensionen und Fragestellungen heute nicht mehr zu denken. Daraus ergibt sich zwingend die Notwendigkeit, die Problematik der Moderne inter- und transkulturell zu reflektieren und zu bearbeiten. Dabei soll nicht – wie die Begriffsbildung es nahelegen könnte – die Moderne in Hispanoamerika mit dem Modernismo identifiziert, sondern dieser als ein die Beschleunigung der Moderne zugleich aufnehmendes und weitertreibendes Moment verstanden werden. Anders gewendet: Die Moderne in Spanisch-Amerika setzt nicht mit dem Modernismo ein, erreicht mit ihm aber eine neue Phase und Qualität, die wir mit Blick auf das Verständnis von Globalisierungsphänomenen berücksichtigen müssen. Denn die Moderne ist engstens mit der Frage der Globalisierung verbunden. Auch in den spanischen Kolonien entfaltete sich unter Aneignung, Transformation und Ver-Stellung europäischer Konzepte und Denkmuster eine Aufklärungsliteratur, die – wie etwa in der neuspanischen Ilustración – ein spezifisches, ein eigenes, auf die Verhältnisse und Traditionen Amerikas zugeschnittenes und daher variantenreiches «Projekt der Moderne» entwarf.529 Wenn wir nach einem historischen und politischen Datum suchen, das – vergleichbar mit der Französischen Revolution – die philosophischen, ideengeschichtlichen und literarischen Vorgaben politisch, gesellschaftlich und ereignisgeschichtlich konkretisierte, dann ist dies zweifellos der lange, widersprüchliche, in einzelne Phasen zerfallende und doch als geschichtliche Einheit empfundene Prozess der Independencia oder, wie wir auch sagen könnten, der Unabhängigkeitsrevolution. Dieser ist ohne eine vorgängige Aufklärung zwischen zwei Welten schlechterdings nicht vorstellbar. Die politische ging zwar zu keiner wirtschaftlichen Unabhängigkeit über, führte Geschichte aber als einen prozesshaften, ergebnisoffenen und vom Menschen zu beeinflussenden Vorgang vor, der in den meisten soziokulturellen Areas Süd-, Mittel- und des südlichen Nordamerikas der spanischen Kolonialherrschaft nicht nur ein Ende, sondern zugleich einem neuen Denken den Weg bereitete. Dieses neue historische Denken fußte auf einer neuen Sichtweise und mehr noch einer neuen Praxis von Geschichte, welche – wenn auch fast ausschließlich auf der Ebene gesellschaftlicher Eliten – die kolonialen Subjekte keineswegs über Nacht in postkoloniale, moderne Subjekte verwandelte. Die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika hatte noch vor der Französischen Revolution den Blick für diesen neuen Begriff und mehr

 Vgl. hierzu ausführlich den fünften Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Aufklärung zwischen zwei Welten (2021).

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3. Hauptstück: Entwürfe der Modernität: Welche Moderne für Nuestra América?

noch für eine neue Praxis von Geschichte geöffnet: Die Zukunftsoffenheit von Geschichte war eindrucksvoll und für alle sichtbar unter Beweis gestellt. Die Modernität dieser Subjekte und ihrer Subjektentwürfe – von denen hier stellvertretend für den gesamten spanischsprachigen Raum nur auf Simón Rodríguez, Francisco Javier Clavijero, Fray Servando Teresa de Mier, José Joaquín Fernández de Lizardi, Simón Bolívar oder Andrés Bello verwiesen sei530 – ist ebenso evident wie ihre Differenz gegenüber den fortgeschrittensten Staaten Europas. Was aber geschah mit Europas Blick auf Amerika? Wurde es sich dieser Differenzen und, mehr noch, dieser anderen Moderne nicht bewusst? Dies war keineswegs der Fall. Denn diese Differenzen und Differenzierungen blieben so aufmerksamen Betrachtern wie Alexander von Humboldt durchaus nicht verborgen. Sein Projekt einer anderen Moderne,531 das die Moderne der Anderen ungeachtet aller Widersprüche hätte miteinbeziehen können, blieb jedoch ein Entwurf, dem sich ebenso der aufkommende Nationalismus wie die wirtschaftliche Expansion der nachiberischen Kolonialmächte entgegenstellten. Humboldts Weltbewusstsein wurde für lange Jahrzehnte zu einer verschütteten Tradition, deren Existenz man sich nicht mehr bewusst war. Dieses Projekt der Moderne ist es, das bis heute unvollendet blieb. Kann es jemals, auch in seinen ökologischen Dimensionen, noch verwirklicht werden? Die dominante Entfaltung einer kapitalistischen Weltordnung verlief anders als das Humboldt’sche Projekt. Nur allzu rasch wurden die postkolonialen Subjekte auf kollektiver wie individueller Ebene zu Objekten eines zunächst an den Interessen Europas ausgerichteten Welthandels, eines Weltverkehrs und einer Weltpolitik, die nicht den Vorstellungen des Verfassers der Ansichten der Natur entsprachen. Mit der Marginalisierung, mit der Verdrängung von Humboldts Ansichten aber verschwand seit Ende des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts, spätestens aber mit dem Ableben des preußischen Naturforschers die Offenheit, auch von Europa aus eine Moderne außerhalb Europas zu denken. Aller amerikanischen Revolutionen zum Trotz: Die Moderne wurde in Philosophie und Literatur, Kunst und Ästhetik gleichsam nach Europa «zurück»-geholt und zurückgedacht – bis weit hinein in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Modernisierungen mochten anderswo durchgeführt werden, die Moderne aber schien

 Vgl. hierzu auch Verf.: «Tres fines de siglo» (Teil I). Kulturelle Räume Hispanoamerikas zwischen Homogenität und Heterogenität. In: Iberoromania (Tübingen) 49 (1999), S. 97–122; sowie die Bände fünf und vier der Reihe Aula von Ette, Ottmar: Aufklärung zwischen zwei Welten (2021) sowie Romantik zwischen zwei Welten (2021).  Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Weltbewusstsein. Alexander von Humboldt und das unvollendete Projekt einer anderen Moderne. Mit einem Vorwort zur zweiten Auflage. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2020.

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Europa fortan für sich gepachtet zu haben. Europas Moderne erschien wieder als vorbildgebend. Gewiss: Eine Konzeption des Projekts der Moderne, die sich allein an europäischen, genauer noch westeuropäischen und insbesondere französischen Verhältnissen ausrichtet, kann für Untersuchungen, die sich Phänomenen dieser Regionen zuwenden, in Abhängigkeit vom jeweiligen Erkenntnisinteresse ausreichend sein, genügt aber keinesfalls für ein Verständnis von Moderne schlechthin. Nicht nur mit Blick auf die USA lässt sich sagen, dass die (Vielfalt der) Moderne Europa nicht allein gehört und die Moderne keine Norm darstellt, die von Europa aus in alle Welt exportiert würde. Ein allein an Europa ausgerichtetes Modernekonzept ist hochgradig defizitär und – auch wenn es hierzulande munter fortgeschrieben wird – längst bankrott. Bereits die Aufklärung war ein transatlantisches Projekt, das in seiner Gänze nur als ein transareales zu begreifen ist: Aufklärung zwischen zwei Welten! Eine Bestimmung des modernen Subjekts und des Subjekts in der Moderne bleibt ohne die Einbeziehung Amerikas – und damit ist nicht die längst landläufig gewordene Verwechslung mit den USA gemeint, die allein als weltpolitisches Subjekt ernstgenommen wurden – notwendigerweise unvollständig. Mehr als anderswo wurde in Lateinamerika ebenso im kolonialen wie im postkolonialen Kontext die Beziehung zwischen verschiedenen Kulturen und kulturellen Traditionen zu einem grundlegenden Bestandteil der Reflexion über die Moderne, eine Tatsache, die für unser Verständnis von Moderne(n) heute, vor dem Erfahrungshintergrund der von verschiedensten geographischen Orten aus geführten Debatten um die Postmoderne, von kaum zu überschätzender Bedeutung ist. Monokulturelle Bearbeitungen der Moderne-Reflexion haben, so scheint mir, zu einer unverkennbaren Erschöpfung und Verengung des Konzepts geführt. Sie perpetuieren eine Selbstermächtigung Europas, die ebenso monologisch wie anachronistisch bleibt. Vor allem aber lassen sie jenen Fragehorizont außer Acht, der die politischen wie akademischen, gesellschaftlichen wie intellektuellen Auseinandersetzungen der zurückliegenden Jahrzehnte grundlegend geprägt hat: die Frage nämlich nach dem künftigen Dialog und mehr noch Polylog zwischen den Kulturen. Wenn sich die Moderne anders entwickelte, als ihre europäischen Väter sie sich gedacht hatten, dann vor allem deshalb, weil sich im Rückblick der im 18. Jahrhundert gesuchte Polylog mit außereuropäischen Kulturen mehr denn je als eine vertane Chance darstellt. Denn diese integrative Konvivenz verschiedenster Kulturen, wie Alexander von Humboldt sie sich erhofft hatte, gelang nicht. In Lateinamerika wurde früh schon eine Reihe von interkulturellen und transkulturellen Fragestellungen aufgeworfen, die in Europa in dieser Radikali-

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tät erst wesentlich später (wieder) auftauchten.532 Wurde in der Französischen Revolution die im Verlauf des 18. Jahrhunderts breit geführte Diskussion um Kosmopolitismus beziehungsweise Weltbürgertum in eine neue Höhe getrieben, so brachte die nachrevolutionäre und vor allem die napoleonische Zeit ein solches Denken zunehmend zum Verstummen. Im Zeichen französischer Hegemonialansprüche regte sich überall in Europa jener aufkeimende Nationalismus, der das Jahrhundert bestimmen sollte. Die Ideen der Aufklärung machten daher bald eingängigen Fiktionen nationaler Identität Platz. Voltaires Vorstellungen über den citoyen de l’univers,533 Immanuel Kants Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784),534 die Entwürfe des jungen Fichte oder des bald vergessenen Georg Forster verschwanden rasch im Strudel der aufkommenden Nationalismen, die sich an (Trug-) Bildern nationaler und kultureller Homogenität ausrichteten.535 Analoges geschah in Lateinamerika mit jenen Vorstellungen, die Philosophen wie Francisco Javier Clavijero, Simón Rodríguez oder Fray Servando Teresa de Mier entwickelt hatten. Die nachhaltige Diskreditierung eines kosmopolitischen Bewusstseins, das weit mehr als ein nur europäisches Denken war, hatte Folgen, die bis heute anhalten. Allzu schnell traten Einheitsvorstellungen an die Stelle jener festgefügten weltlichen und religiösen Systeme, die mit den Revolutionen in Europa und Amerika zwischen dem letzten Drittel des 18. und dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts verdrängt worden waren. Selbst auf Europa beschränkte interkulturelle Fragestellungen, wie sie etwa Germaine de Staëls De la littérature considérée dans ses rapports avec les institutions sociales (1800) und mehr noch ihr umfang Hier wäre Peter V. Zima zuzustimmen, der – ausgehend von Fichte und Novalis – eine Neigung des romantischen Diskurses «zu Homogenität, zur stilistisch-ästhetischen Einheit und zum Monolog» herausarbeitete; vgl. Zima, Peter V.: Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne. Tübingen, Basel: Francke UTB 2000, S. 417. Zur Besonderheit Lateinamerikas aus sprachphilosophischer Sicht vgl. auch Schütz-Buenaventura, Ilse: Globalismus contra Existentia. Das Recht des ursprünglich Realen vor dem Machtanspruch der Bewußtseinsphilosophie: Die hispanoamerikanische Daseinssemantik. Wien: Passagen Verlag 2000.  Vgl. Voltaire: Dictionnaire philosophique. Bd. IV (Oeuvres complètes de Voltaire, Bd. XX). Paris: Garnier Frères 1879, S. 185 f.  Kant, Immanuel: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. In (ders.): Werkausgabe. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Bd. XI. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 31–50.  Vgl. hierzu u. a. Kleingeld, Pauline: Six Varieties of Cosmopolitanism in Late EighteenthCentury Germany. In: Journal of the History of Ideas (Baltimore) LX, 3 (july 1999), S. 505–524; sowie Ette, Ottmar: Der Wissenschaftler als Weltbürger: Alexander von Humboldt auf dem Weg zur Kosmopolitik. In: Ette, Ottmar / Bernecker, Walther L. (Hg.): Ansichten Amerikas. Neuere Studien zu Alexander von Humboldt. Frankfurt am Main: Vervuert 2001, S. 231–261.

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reiches De l’Allemagne (1813) prägen – das sich nicht nur als folgenreicher Entwurf der deutsch-französischen Kulturbeziehungen, sondern auch einer künftigen Entwicklung Europas lesen lässt –, verschwanden keineswegs, traten aber deutlich in den Hintergrund.536 Man darf die im Zeichen der Postmoderne geführten Diskussionen um multi-, inter- und transkulturelle Beziehungen sicherlich als Zeichen einer Wiederkehr des Verdrängten deuten und in Xenophobie und Antisemitismus bis heute anhaltende Symptome der Ausbürgerung weltbürgerlicher Traditionen aus den europäischen Projekten der Moderne erkennen. Nach dem Ende der vierten Phase beschleunigter Globalisierung um die Mitte des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts haben sich alle Protektionismen, Nationalismen und Chauvinismen verstärkt; so ist die Kriegsgefahr weltweit, aber auch in Europa spürbar angestiegen. Viele europäische Länder tappen in die Falle neuer (uralter) Nationalismen, welche einer friedlichen Konvivenz den Rücken kehren und politischen Figuren dienlich sind, welche auf Polarisierung und Emotionalisierung setzen. Die Affizierung davon zunächst unbeteiligter Staaten ist eine Frage der Zeit. Wir werden im weiteren Fortgang unserer Studie noch sehen, wie erfolgreich sich das Martí’sche Moderneprojekt solchen Nationalismen und Rassismen entgegenstellte und eine Konvivenzpolitik vorantrieb, die neue Chancen für die Zukunft offerierte. Doch war im Kern des (europäischen) Projekts der Moderne eine monokulturelle Ausrichtung nicht zwingend angelegt, und die Betrachtung der Ränder, der europäischen wie vor allem der außereuropäischen Peripherien dieser westeuropäischen Moderne mag uns davon überzeugen, dass von einer essentiellen Notwendigkeit einer monokulturellen Konzeption und Praxis der Moderne nicht die Rede sein kann. Die Moderne ist nicht von Beginn an – und daher gewiß auch nicht in ihrem Wesen – monologisch und eurozentrisch. Die Existenz anderer Projekte der Moderne, wie wir sie bei José Martí studieren können, zeigt dies in aller Deutlichkeit. Auch wenn es in Hispanoamerika zwischen einem epochenspezifischen Begriff der Modernidad, einem sozioökonomischen Begriff der Modernización und einem literarhistorischen und literarästhetischen Begriff des Modernismo zu unterscheiden gilt, ist es doch unvermeidlich, den hispanoamerikanischen Modernismus vor dem Hintergrund einer sich erst entwickelnden relativen Autonomie der Literatur und damit aus seinem gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Kontext heraus zu verstehen. Setzt er ästhetisch mit José Martís Ismaelillo

 Vgl. zu dieser großen europäischen Figur den vierten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten (2021), S. 493 ff.

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3. Hauptstück: Entwürfe der Modernität: Welche Moderne für Nuestra América?

(1882) und Rubén Daríos Azul … (1888) mit der Entfaltung einer neuen Sprache und eines neuen Rhythmus in Lyrik und Prosa ein, so lässt sich diese genuin hispanoamerikanische Entwicklung, die rasch die gesamte spanischsprachige Welt Amerikas erfassen sollte, bevor sie nach Spanien übersprang und damit als erste literarische Bewegung den Atlantik in umgekehrter Richtung überquerte, nicht außerhalb der von verschiedenen regionalen Zentren ausgehenden ökonomischen und sozialen Modernisierungsprozesse verstehen. Der Modernismo bildet sich als ästhetisches Phänomen in den Literaturen Hispanoamerikas unter dem Eindruck breit angelegter Modernisierungsprozesse als ästhetisch überzeugende Antwort in den beiden letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts heraus. Es ist höchst aufschlussreich, dass José Martí mit seinem Gedichtband Ismaelillo diese literarästhetische Entwicklung just im selben Jahr 1882 einleitete, in welchem er die expansive Kraft der USA und erstmals die mögliche Bedrohung der jungen Nationen Amerikas durch eine Aufrüstung der American Steel Navy erkannte. Beide Entwicklungen scheinen auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun zu haben. Doch werden wir bald erkennen, dass die ästhetischen und soziopolitischen Fragen und Herausforderungen im Zeichen der sich beschleunigenden Globalisierung über viele Austauschflächen verfügen. Die Erfahrungen einer umfassenden Modernisierung und einer allgemeinen Akzeleration waren wesentlich umfassender und weltumspannender, als José Martí dies zu Beginn der achtziger Jahre erfassen und denken konnte. Jene Beschleunigung, deren Ursprung Friedrich Nietzsche zwar mit schlechten Gründen, aber nicht grundlos in den USA vermutete, und die eine zweite Phase innerhalb der Entwicklung der Moderne(n) signalisierte, führte nicht nur zu einer getrennten Akzeleration in den verschiedenen Teilen des amerikanischen Kontinents, sondern auch zu einer Verschärfung der Interessengegensätze zwischen dem Norden und dem Süden Amerikas, die sich am Ende des 19. Jahrhunderts in einem lange vorbereiteten imperialistischen Ausgreifen der USA nach Süden niederschlugen. Das American Empire wurde nun rasch zu einer Tatsache.537 Der Untergang der spanischen Flotte im Desastre von 1898 vor der Küste im Osten Kubas und vor den Philippinen538 war nicht nur der erste von den modernen Medien und einer Massenberichterstattung mitbeeinflusste Krieg; er markierte zugleich den endgültigen Untergang Spaniens als Kolonialmacht in

 Vgl. hierzu die noch immer lesenswerte Studie von Wehler, Hans-Ulrich: Der Aufstieg des amerikanischen Imperialismus. Studien zur Entwicklung des Imperium Americanum 1865–1900. Göttingen 1974.  Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Visiones de la guerra / guerra de las visiones. El desastre, la función de los intelectuales y la Generación del 98. In: Iberoamericana (Frankfurt am Main) XXII, 71–72 (1998), S. 44–76.

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Amerika, den Aufstieg der USA zur Weltmacht des 20. Jahrhunderts und die unaufschiebbare Notwendigkeit der jungen lateinamerikanischen Staaten, die eigene Geschichte zu überdenken und eine neue Positionsbestimmung nicht nur gegenüber Europa, sondern vor allem gegenüber den übermächtigen Vereinigten Staaten vorzunehmen. José Martí erkannte diese veränderten Bedingungen sehr früh und mit aller notwendigen Schärfe. Am Vorabend dieser hier nur kurz skizzierten weltpolitisch bedeutsamen Entwicklungen nahm sich dieser kubanische Dichter und Exilant, dessen Figur bis heute die kubanische Geschichte beherrscht und das Denken im Lateinamerika des 20. Jahrhunderts entscheidend mitgeprägt hat, dieser Aufgabe an, obwohl er sich selbst in einer höchst prekären Lage befand. Durch seinen Kampf gegen das spanische Kolonialregime, seine Deportation nach Spanien, die späteren langen Aufenthalte des Exilierten in Mexiko, Guatemala, Venezuela und vor allem den USA vermochte er, geschult aufgrund seiner politischen Aktivitäten bei der Vorbereitung des kubanischen Freiheitskampfes und dank seiner direkten Teilnahme als Diplomat an Verhandlungen zwischen den USA und Lateinamerika die heraufziehenden Gefahren früher als andere zu erkennen und vor ihnen zu warnen. Als Denker befand er sich im Zentrum eines Spinnennetzes an Informations- und Wissensflüssen, das nirgendwo anders in den Amerikas so reichhaltig war wie in New York. Martí war sich dieser Tatsache bewusst. Aus nächster Nähe mit den sozialen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen in den vereinigten Staaten vertraut, schrieb der am 19. Mai 1895 und damit zu Beginn des von ihm entfesselten Freiheitskampfes gegen Spanien auf Kuba Gefallene unermüdlich an Essays und Theaterstücken, an Manifesten und Gedichten, an Übersetzungen und unzähligen Briefen, Texte, die ganz im Sinne von Nietzsches Beobachtung nicht nur in der Ruhe und Stille eines Arbeitszimmers, sondern im Gehen und Stehen, während Dampfer- und Eisenbahnfahrten, während der politischen Agitation und des militärischen Feldzugs entstanden. José Martí war ständig auf dem Sprung; und er kommentierte als Journalist und Korrespondent für seine breit gefächerte lateinamerikanische Leserschaft alles, was ihm in New York oder auf seinen Reisen vor die Augen kam. Bei keinem anderen lateinamerikanischen Schriftsteller seiner Zeit wechselten die Orte des Schreibens und mit ihnen die Perspektiven, nicht aber die Grundüberzeugungen so rasch wie beim Verfasser des Manifiesto de Montecristi,539 jener denkwürdigen Kriegserklärung, die der Gründer und Lenker des

 Vgl. die Faksimile-Ausgabe der Academia de la Historia de Cuba: Facsímil del Original del Manifiesto de Montecristi, firmado por Máximo Gómez y José Martí el 25 de marzo de 1895. La Habana: Academia de la Historia de Cuba 1961.

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3. Hauptstück: Entwürfe der Modernität: Welche Moderne für Nuestra América?

Partido Revolucionario Cubano zusammen mit dem militärischen Führer des Krieges, Máximo Gómez, kaum acht Wochen vor seinem Tod unterzeichnete. Dies wird in diesem Teil der Studie noch näher beleuchtet werden. Doch José Martís Aufmerksamkeit richtete sich nicht nur auf die militärischen oder politischen Aspekte all jener Veränderungen, welche den Ausgang des 19. Jahrhunderts prägten. In seinem im kontinentalem Maßstab rezipierten Essay Nuestra América540 zeigte Martí die unmittelbaren, konkreten Gefahren eines Eingreifens der USA auf, richtete sein Hauptaugenmerk aber auf den mit geschichtlicher Erfahrung gesättigten und kulturtheoretisch fundierten Entwurf «Unseres Amerikas», das er den Vereinigten Staaten vor dem Hintergrund einer historisch anders verlaufenen Geschichte selbstbewusst und sorgenvoll zugleich entgegenstellte: Wir waren eine Vision: die Brust eines Athleten, die Hände eines Gecken und die Stirn eines Kindes. Wir waren eine Maske: Kniehosen aus England, Weste aus Paris, Sakko aus Nordamerika und Stierkämpfermütze aus Spanien. Der Indio ging stumm um uns herum; dann ging er hoch zum Berg, zur spitze des Berges, um seine Kinder zu taufen. Der Schwarze sang, von oben beobachtet, in der Nacht die Musik seines Herzens, allein und unbekannt, zwischen Wellen und wilden Tieren. Der Bauer, der Schöpfer, wandte sich, blind vor Empörung gegen die verächtliche Stadt, gegen sein Geschöpf. Wir waren Epauletten und Togen, in Ländern, die mit Handschuhen an den Füßen und Stirnband im Haar auf die Welt kamen. […] Weder das europäische noch das Buch der Yankees waren in der Lage, das Rätsel Spanisch-Amerikas zu lösen. Man versuchte es mit Haß, doch ging es den Ländern jedes Jahr noch schlechter. Erschöpft vom unnützen Haß, vom Kampf zwischen Buch und Lanze, Vernunft und Altarleuchter, Stadt und Land, und von der unmöglichen Herrschaft ausgezehrt, die die miteinander verfeindeten städtischen Kasten über die natürliche Nation, die einmal stürmisch, ein andermal leblos scheint, errichten, beginnt man, ohne sich dessen recht bewusst zu sein, es mit der Liebe zu versuchen. Die Völker richten sich auf und sie grüßen sich. «Wie sind wir?», fragen sie sich; und sie sagen einander, wie sie sind. Wenn ein Problem in Cojímar auftaucht, so suchen sie nicht in Danzig nach dessen Lösung. Aus Frankreich stammen zwar noch die Gehröcke; das Denken jedoch besinnt sich langsam auf seine Zugehörigkeit zu Amerika. Die Jugend Amerikas krempelt sich die Ärmel hoch, taucht ihre Hände in den Teig und formt ihn mit der Hefe ihres Schweißes. Sie versteht: zu vieles ist Nachahmung, die Rettung liegt im eigenständigen Erzeugen. Erzeugen ist das Losungswort dieser Generation. […] Die Lyrik stutzt ihre Zorrillamähne und hängt endlich ihre buntgescheckte Weste an den Baum des Ruhmes. Geläutert erstrahlt die Prosa im Gedankenreichtum. In den Staaten der Indios lernen die Staatsmänner die Sprache der Indios.541

 Vgl. die aus Anlass der Hundertjahrfeier vorgelegte Ausgabe von Martí, José: Nuestra América. Edición crítica. Investigación, presentación y notas Cintio Vitier. La Habana: Centro de Estudios Martianos – Casa de las Américas 1991.  Martí, José: Unser Amerika. In: Rama, Angel: Der lange Kampf Lateinamerikas, S. 62–64 (Übersetzung O.E.).

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Eramos una visión, con el pecho de atleta, las manos de petimetre y la frente de niño. Eramos una máscara, con los calzones de Inglaterra, el chaleco parisiense, el chaquetón de Norteamérica y la montera de España. El indio, mudo, nos daba vueltas alrededor, y se iba al monte, a la cumbre del monte, a bautizar sus hijos. El negro, oteado, cantaba en la noche la música de su corazón, solo y desconocido, entre las olas y las fieras. El campesino, el creador, se revolvía, ciego de indignación, contra la ciudad desdeñosa, contra su criatura. Eramos charreteras y togas, en países que venían al mundo con la alpargata en los pies y la vincha en la cabeza. […] Ni el libro europeo, ni el libro yanqui, daban la clave del enigma hispanoamericano. Se probó el odio, y los países venían cada año a menos. Cansados del odio inútil, de la resistencia del libro contra la lanza, de la razón contra el cirial, de la ciudad contra el campo, del imperio imposible de las castas urbanas divididas sobre la nación natural, tempestuosa o inerte, se empieza, como sin saberlo, a probar el amor. Se ponen en pie los pueblos, y se saludan. «¿Cómo somos?» se preguntan; y unos a otros se van diciendo cómo son. Cuando aparece en Cojímar un problema, no van a buscar la solución a Dantzig. Las levitas son todavía de Francia, pero el pensamiento empieza a ser de América. […] La poesía se corta la melena zorrillesca y cuelga del árbol glorioso el chaleco colorado. La prosa, centelleante y cernida, va cargada de idea. Los gobernadores, en las repúblicas de indios, aprenden indio.542

An späterer Stelle, im nächsten Abschnitt, werde ich auf Teile dieser ungeheuer verdichteten Passage zurückkommen. Doch soviel schon jetzt: In dieser wichtigen, lyrisch durchrhythmisierten Passage, die verschiedentlich vertont worden ist,543 stellt José Martí nicht nur eine Selbstbeschreibung seiner Dichtung und Prosa vor, die in der Feststellung vom Anbruch einer neuen, nun von Hispanoamerika aus vorgetragenen literarischen Bewegung – in deren Kern eine «Ideenliteratur» stehe – gipfelt, sondern entwickelt in der Rückschau wie in einem Kaleidoskop jene Visionen, die ein außenbestimmtes und außenorientiertes Fremd- und Selbstbild entwerfen. Es ist das Selbstbild und Fremdbild eines Zusammengewürfelt-Seins und einer maskenhaften Entfremdung einer hispanoamerikanischen Elite, von der sich die Angehörigen aller anderen Kulturen und Bevölkerungsgruppen mit Schaudern abwenden. Die Heterogenität dieser Visionen, Projektionen und Masken, in denen das Ungleichzeitige und das Nicht-Zusammengehörige wie in jenem Kinderspielzeug kombiniert wird, bei dem der Kopf eines Krokodils mit dem Körper eines Jaguars und den Beinen eines Elefanten zu einem «Krogufanten» werden, wird dabei durch die Verwendung europäischer, anglo- und lateinamerikanischer Kleidungs-

 Martí, José: Nuestra América. In (ders.): OC 6, S. 20 f.  Vor allem durch die Nueva Trova, allen voran Pablo Milanés mit seinem «Eramos una visión», enthalten in: Versos: José Martí. Cantados por Pablo Milanés. Langspielplatte. La Habana: Empresa de Grabaciones y Ediciones Musicales – Areito o.J.; sowie Versos: José Martí. Cantados por Sara González. La Habana: Empresa de Grabaciones y Ediciones Musicales – Casa de las Américas 1975.

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3. Hauptstück: Entwürfe der Modernität: Welche Moderne für Nuestra América?

stücke geschickt in ein Spannungsverhältnis zu den Vertretern bislang marginalisierter Gesellschaftsgruppen, die unverkleidet erscheinen, gesetzt. Denn diesem maskenhaft entfremdeten Wesen standen insbesondere die indigene und die schwarze Bevölkerung in ihrer Schlichtheit ablehnend gegenüber. Doch nicht auf Konfrontation und Hass, sondern auf Kommunikation und Liebe beruht die Konzeption eines neuen Bildes von Nuestra América, in welchem die Pluralität des Possessivpronomens mit der singulären Einheit eines von einem anderen abgegrenzten eigenen Amerika verschmolzen wird. Der Blick zurück in die Vergangenheit erlaubt es zu verstehen, wo die Fehler liegen, die man in den jungen lateinamerikanischen Republiken nicht wiederholen dürfe, wolle man dem ungeheuren Vorwärtsstreben in den Vereinigten Staaten etwas entgegensetzen. Die Politiker, die ein Land regieren wollen, müssen die Sprachen ihrer Bevölkerungen kennen, um die Probleme von Ländern zu verstehen, die nicht mit der Elle Europas ausgemessen werden können. Die vormalige Außenorientierung verwandelt sich in einen beschleunigten Binnenaustausch, der das bislang Unverbundene und Marginalisierte jenseits alter Gegensatzpaare in ein neues Menschenbild integriert. Denn José Martí entwirft in diesen langen, komplex rhythmisierten Perioden das Bild von einem neuen Subjekt der Moderne, das Bild von einem neuen Menschen, dessen Grundlage nicht länger ein nationalistischer Hass, sondern eine alles umspannende Liebe sein werde. Im Wir von Unserem Amerika finden sich die abendländischen Kulturstränge in ihren iberischen wie nicht-iberischen Varianten unter Einbeziehung der USamerikanischen Entwicklungen wieder, werden nun aber mit den indianischen, schwarzen und mestizischen Kulturtraditionen verbunden. Nicht mehr allein die städtische Hochkultur, sondern auch die ländlichen und bäuerlichen Populärkulturen, nicht mehr allein die europäischen, sondern auch die indigenen Sprachen, nicht mehr nur die ausländischen Bücher, sondern auch autochthone Wissensbestände werden in dieses neue Menschenbild des «hombre real»,544 wie Martí ihn auch nennt, aufgenommen. Dieses neue Martí’sche Menschenbild beruht auf der Realität eines Amerika, das die verschiedenartigsten heterogenen Bestandteile in sich aufnahm, aber die unterschiedlichen kulturellen, sozialen, ökonomischen und politischen Differenzen nicht miteinander zu vermitteln verstand. Martís Menschenbild zielt auf ein Subjekt, das seine Geschichte in die eigenen Hände nimmt, die Heterogenität der eigenen Herkunft erkennt und dank eines langen Prozesses der Mestizisierung in eine in die Zukunft projizierte Einheit, die sich im Konzept von «nuestra América

 Martí, José: Nuestra América, S. 20.

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mestiza»545 auch auf kollektiver Ebene abzeichnet, verwandelt. So tritt an die Stelle eines zuvor an Europa ausgerichteten Menschen ein wirkliches Subjekt, das sich seiner Rolle in seiner eigenen Geschichte bewusst ist: das Subjekt einer eigenständigen und nicht-angelsächsischen Moderne. Die eigene Kultur soll eine Verschmelzung verschiedenster Kulturen sein, tendenziell bereits jene «raza cósmica», von der José Vasconcelos wenige Jahrzehnte später sprechen sollte.546 Diese neue Identitätskonstruktion bindet die individuelle mit der kollektiven Subjektwerdung zusammen, gilt es doch, dem äußeren Feind selbstbewusst zu trotzen und in gleichberechtigte Beziehungen mit ihm einzutreten, die den Subkontinent nicht länger als Objekt, sondern künftig als Subjekt einer selbstgestalteten Geschichte verstehen. Denn das Subjekt einer Moderne von Nuestra América muss sich auf Augenhöhe mit jenem amerikanischen Subjekt befinden, das nicht Unserem Amerika angehört. Das Possessivpronomen Nuestra ist Entwurf, Behauptung, Programm und Anspruch zugleich. Die Selbstermächtigung eines Subjekts, das sich selbst als Projekt in die Zukunft projiziert, siedelt sich daher programmatisch auf individueller wie auf kollektiver Ebene an. Die Subjektwerdung basiert auf einer gewollten Gestaltung inter- und transkultureller Beziehungen, in welcher den Sprachen eine grundlegende vermittelnde Funktion zufällt – ebenso beim Rückgriff auf indigene Idiome wie bei der Bildung einer neuen Sprache, derer sich Poesie und Prosa in Amerika bedienen. In dieser Anrufung einer neuen Lyrik, aber auch einer neuen funkelnden Prosa erkennen wir die ganze Bedeutung, welche José Martí den veränderten, von ihm wesentlich mitgeschaffenen modernistischen Ausdrucksformen beimaß. Selten lagen Poetik und Politik, Moderne und Modernismus so nahe beieinander. Die Kleidermetaphorik, der das Äußerliche einer Verkleidung anhaftet, wird durch ein Menschenbild ersetzt, in dem ein höchst fragwürdiges, inkohärentes Subjekt durch ein modernes Subjekt ersetzt wird, das zur Verkörperung der Fusion des Heterogenen und des Hybriden geworden ist und sich einer Sprache bedient, welche der Moderne im vollen Sinne adäquat ist. Organizistische Metaphern treten hier an die Stelle der vestimentären Symbolik der Verhüllung: «Injértese en nuestras repúblicas el mundo, pero el tronco ha de

 Ebda., S. 19.  Vgl. Vasconcelos, José: La raza cósmica (Fragmento, 1925). In (ders.): Obra selecta. Estudio preliminar, selección, notas, cronología y bibliografía Christopher Domínguez Michael. Caracas: Biblioteca Ayacucho 1992, S. 83–115. Vgl. hierzu auch den dritten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Von den historischen Avantgarden bis nach der Postmoderne (2021).

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ser él de nuestras repúblicas.»547 Man pfropfe auf unsere Republiken die Welt, doch der Stamm müsse aus unseren Republiken stammen: Mit der Metaphorik des Pfropfens entfaltet Martí eine ganze Metaphorologie des Umtopfens, Verpflanzens und Verbindens, die seine Vorstellungswelt von Nuestra América durchzieht. Unermüdlich betonte Martí immer und immer wieder, dass es gelte, mit größter Dringlichkeit jene Einheit in unserem Amerika zu schaffen, die erst die unabdingbare Voraussetzung dafür wäre, nicht – wie in der ersten Phase beschleunigter Globalisierung – aufgrund innerer Kämpfe und Zwistigkeiten den neuen Konquistadoren zu unterliegen, sondern die eigene Unabhängigkeit und Selbstbestimmung zu bewahren. Es ging Martí durchaus um eine Konvivenz in Differenz, aber stets auf eine strategische Einheit aller Nationen Unseres Amerika bezogen. Sein Aufruf zur Einheit der lateinamerikanischen Länder ist dringlich: «hemos de andar en cuadro apretado, como la plata en las raíces de los Andes.»548 Wie das zusammengepresste Silber in den Anden müssten die Lateinamerikaner zusammenstehen: Es wird noch zu zeigen sein, wie José Martí diese supranationale Einheit konzipierte und propagierte. Die Natursymbolik dieses Aufrufes verbindet eine geologische, anorganische Isotopie mit einer organischen, wobei die Wurzeln der Anden jenes Element einer Verwurzelung einspielen, das in der Martí’schen Symbolwelt von so großer Bedeutung ist. Wenn es José Martí gelang, von Beginn seines überragenden Essays an die intertextuellen Verweissysteme auf die europäischen Literaturen durch den Verweis auf «la pelea de los cometas en el cielo»,549 auf den Kampf der Kometen am Himmel und damit – wie wir bereits sahen – auf indigene Traditionen und Vorstellungswelten zu öffnen, die den gesamten Essay durchlaufen und an seinem Ende mit dem Verweis auf den «Gran Semí» und damit den Mythos von Amalivaca kulminieren, dann führt uns das literarische Gemacht-Sein dieses Textes in seinem Verwoben-Sein vor, wie Martí sich eine derartige Einheit vorstellte: als Konvivenz der unterschiedlichsten amerikanischen und europäischen Traditionen. Denn im Herzen von Martís Essay Nuestra América steht ein konvivenzpolitischer Entwurf. Die im Folgenden schon einmal vorgezogenen Schlusssätze von Nuestra América lassen keinen Zweifel an der ebenso die unterschiedlichen Epochen wie die verschiedenartigen Kulturen querenden Ausrichtung des Martí’schen Entwurfes:

 Martí, José: Nuestra América, S. 18.  Ebda., S. 14.  Ebda., S. 13.

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Denn schon ertönt einmütig die Hymne; die jetzige Generation folgt dem Weg ihrer erhabenen Väter und trägt auf ihrem Rücken das Amerika der Arbeiter. Auf des Kondors Rücken saß der Große Semí und warf den Samen, vom Río Bravo bis zur Magellan-Straße, über die romantischen Nationen des Kontinents wie auch die schmerzensreichen Inseln des Meeres – den Samen des Neuen Amerika!550 ¡Porque ya suena el himno unánime; la generación real lleva a cuestas, por el camino abonado por los padres sublimes, la América trabajadora; del Bravo a Magallanes, sentado en el lomo del cóndor, regó el Gran Semí, por las naciones románticas del continente y por las islas dolorosas del mar, la semilla de la América nueva!551

José Martí war – wie bereits kurz erwähnt – durch die Schriften seines venezolanischen Freundes Arístides Rojas gleichsam aus zweiter Hand aus die Beschreibung indigener Mythen durch Alexander von Humboldt und Pater Filippo Salvatore Gilli gestoßen552 und fügte diese von Europäern nacherzählten mündlich tradierten Mythen der indigenen Bevölkerung Amerikas seinem Text ein. Im Bild des neuen Amerika erscheint Nuestra América als der erhoffte Ort eines Zusammenlebens der Traditionen, einer Konvivenz der Kulturen, die sich einem angelsächsisch dominierten Norden entgegenstellt, welcher seine indigene Bevölkerung längst zum allergrößten Teil ausgerottet oder in Reservaten zusammengepfercht hatte. Transkulturelle Dimensionen, wie sie im weiteren Verlauf unserer Überlegungen noch zu diskutieren sein werden, zeichnen sich in diesen Überlegungen bereits ab. Welchen Vorstellungen und Leit-Bildern aber folgte Martí, wenn er die erstrebte künftige Konvivenz in ihrer Schaffung, in ihrer Genese zu beschreiben suchte? Welche Metaphoriken nutzte er, um seine Bilder des Zusammenlebens evozieren zu können? Zweifellos stehen im Zentrum der von Martí in den Fokus genommenen grundlegenden und langfristigen Entwicklungsprozesse in Politik und Gesellschaft, in Kultur und Ökonomie die Ideen und ein Wissen, das freilich gegenüber dem traditionellen (da bislang vorherrschenden) europäischen Wissen signifikante Veränderungen erfährt: Erkennen heißt lösen. Das Land kennenzulernen und gemäß dieser Kenntnis zu regieren ist die einzige Möglichkeit, es von Tyranneien zu befreien. Die europäische Universität muss der amerikanischen weichen. Die Geschichte Amerikas von den Inkas bis heute muss in allen Einzelheiten vermittelt werden, auch wenn man auf die Geschichte der griechischen Archonten verzichten müsste. Unser Griechenland ist dem Griechenland vorzu-

 Martí, José: Unser Amerika, S. 66 f.  Ebda., S. 24 f.  Vgl. Vitier, Cintio: Una fuente venezolana de José Martí. In (ders.): Temas martianos. Segunda serie. La Habana: Editorial Letras Cubanas – Centro de Estudios Martianos 1982, S. 105–113.

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3. Hauptstück: Entwürfe der Modernität: Welche Moderne für Nuestra América?

ziehen, das eben nicht das unsere ist. Für uns nämlich ist es von größerer Notwendigkeit. Den Interessen der Nation verpflichtete Politiker müssen die am Ausland orientierten ersetzen. Möge man ruhig die Welt auf unsere Republiken pfropfen – der Stamm muss jedoch der unserer Republiken sein. Und möge der Besserwisser schweigen, er ist besiegt: Auf kein Vaterland kann ein Mann stolzer sein als auf unsere schmerzensreichen Republiken Amerikas.553 Conocer es resolver. Conocer el país, y gobernarlo conforme al conocimiento, es el único modo de librarlo de tiranías. La universidad europea ha de ceder a la universidad americana. La historia de América, de los Incas a acá, ha de enseñarse al dedillo, aunque no se enseñe la de los arcontes de Grecia. Nuestra Grecia es preferible a la Grecia que no es nuestra. Nos es más necesaria. Los políticos nacionales han de reemplazar a los políticos exóticos. Injértese en nuestras repúblicas el mundo; pero el tronco ha de ser el de nuestras repúblicas. Y calle el pedante vencido; que no hay patria en que pueda tener el hombre más orgullo que en nuestras dolorosas repúblicas americanas.554

Die humanistische Ausrichtung des kubanischen Schriftstellers findet in dieser Passage ihren genuinen Ausdruck. Kenntnis und Erkenntnis sowie ein möglichst hoher Wissensstand, der sich konkret auf die jeweiligen Länder bezieht, bilden das Rückgrat für ein besseres Regieren in den Ländern Lateinamerikas, zugleich aber auch die beste Versicherung – und Martí wusste, wovon er sprach – gegen jedweden Rückfall in Tyrannei und Autoritarismus. Denn er sah die Gefahr, dass sich die Fehler der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den jungen Nationen Amerikas nun noch einmal mit den Heerführern, Caudillos und Warlords in Kuba wiederholen würden. Die humanistische Bildung wollte Martí in den verschiedenen Ländern von Nuestra América jedoch umkrempeln. Veränderte Bildungs- und Ausbildungskonzepte, die sich an der eigenen Geschichte, an den jeweiligen Kulturen und den spezifischen Bedürfnissen der einzelnen Länder Amerikas ausrichten mußten, sollten die simplen Übertragungen europäischer Konzepte auf den amerikanischen Kontinent ersetzen. Dies hatte insbesondere für jene Republiken zu gelten, die einen hohen indigenen Bevölkerungsanteil verzeichneten. Zentral in dieser Passage aber ist jene organische Metaphorik, die Martí für die Umsetzung seines Programms wählte. Sie ließe sich auch mit einer kleinen Variante ins Deutsche übersetzen: «Möge man ruhig die Welt unseren Republiken einpfropfen – der Stamm aber muss der unserer Republiken sein.» Was ist mit dieser Begrifflichkeit und Metaphorologie des Pfropfens und Einpfropfens555 gemeint?  Martí, José: Unser Amerika, S. 60.  Martí, José: Nuestra América, S. 17 f.  Vgl. hierzu Ette, Ottmar / Wirth, Uwe, Hg.): Kulturwissenschaftliche Konzepte der Transplantation. Unter Mitarbeit von Carolin Haupt. Berlin – Boston: De Gruyter 2019.

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Im Bild der Pfropfung entfaltet der kubanische Denker die so oft von ihm benutzte und gepflegte organische, an Wurzeln und Verwurzelungen orientierte Vorstellungswelt, die sich mit ihren agrikulturellen Metaphoriken des Wachstums und der Kultivierung an einer langen abendländischen Tradition des Kultivierens ausrichtet.556 Dabei zentriert Martí die landwirtschaftliche Methode der Pfropfung von Bäumen557 freilich durch das Bild eines Stammes und seiner Verwurzelung, wobei diese Verwurzelung die von außen, aus einer fremden Welt kommenden Elemente gleichsam territorialisiert und im amerikanischen Wurzelgrund verankert. Wie an vielen Stellen seines gewaltigen Werkes evoziert Martí die Metaphorologie der Wurzeln wie der Verwurzelung, um keinen Zweifel an der territorialen Bezogenheit seiner Überlegungen aufkommen zu lassen und um zu signalisieren, dass es sich hierbei um einen organischen Prozess des Wachsens und der Pflege, der pfleglichen Kultivierung handeln müsse. Ein gemeinsames Zusammenleben gründet für den kubanischen Denker mithin auf einem Zusammenwachsen. Eine Kultur des Zusammenlebens setzt damit ein Kulturmodell des Zusammenwachsens voraus, das in der Kulturtechnik der Pfropfung, folgen wir dieser für Martí wichtigen Metaphorik, seinen adäquaten Ausdruck findet. Diese Pfropfung betrifft für Martí ebenso die politischen wie die kulturellen, die sozialen wie die ökonomischen, die biopolitischen wie die lebenswissenschaftlichen Aspekte einer Konvivenz, die es gerade auch nach den großen Auseinandersetzungen auf den Weg zu bringen gelte und die er selbst mit seiner Guerra de Martí bereits in der offiziellen Kriegserklärung von Montecristi auf den Weg zu bringen suchte. Ich werde auf diese Außergewöhnlichste aller Kriegserklärungen noch ausführlicher zurückkommen. Der antikoloniale Krieg gegen Spanien sollte dabei dem Ausgreifen der USA in den karibischen Raum zuvorkommen und damit Ziele erfüllen, die weit über den Kampf gegen die Kolonialmacht Spanien hinausgingen. Der weitsichtige Globalisierungstheoretiker schrieb in einer berühmt gewordenen Formulierung in seinem Brief vom 18. Mai 1895, einen Tag vor seinem Tod also, aus Dos Ríos  Vgl. hierzu Böhme, Hartmut: Vom Cultus zur Kultur(wissenschaft). Zur historischen Semantik des Kulturbegriffs. In: Glaser, Renate / Luserke, Matthias (Hg.): Literaturwissenschaft – Kulturwissenschaft. Positionen – Themen – Perspektiven. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 48–68; vgl. auch Wirth, Uwe: Vorüberlegungen zu einer Logik der Kulturforschung. In (ders., Hg.): Kulturwissenschaft. Eine Auswahl grundlegender Texte. Frankfurt am Main: suhrkamp 2008, S. 9–67.  Zur kulturtheoretischen Relevanz der Pfropfung vgl. insbesondere Wirth, Uwe: Kultur als Pfropfung. Pfropfung als Kulturmodell. Prolegomena zu einer allgemeinen Greffologie (2.0.). In (ders., Hg.): Impfen, Pfropfen, Transplantieren. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2011, S. 9–27; sowie Ette, Ottmar / Wirth, Uwe (Hg.): Nach der Hybridität. Zukünfte der Kulturtheorie. Berlin: Verlag Walter Frey – edition tranvía 2014.

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3. Hauptstück: Entwürfe der Modernität: Welche Moderne für Nuestra América?

im Oriente Kubas an seinen mexikanischen Freund Manuel Mercado jene Worte, die ich erneut in Erinnerung rufen möchte. Er habe es – über das Ziel der Schaffung einer kubanischen Nation hinaus – für seine Pflicht gehalten, «de impedir a tiempo con la independencia de Cuba que se extiendan por las Antillas los Estados Unidos y caigan, con esa fuerza más, sobre estas tierras de América. Cuanto hice hasta hoy, y haré, es para eso».558 All seine Aktivitäten hätten sich an dem Ziel ausgerichtet, ein Ausgreifen der USA in den karibischen Raum zu verhindern und damit der weiteren Expansion des Imperiums des Nordens in den Südteil des Kontinents massive Widerstände entgegenzusetzen. Martí brachte damit die hemisphärische Zielsetzung seines antikolonialen Kampfes gegen eine überkommene spanische Kolonialmacht auf den Punkt. Er ahnte, dass längst die hochgerüstete Kriegsflotte der Vereinigten Staaten auf eine Möglichkeit zum Eingreifen lauerte. Ein simpler Vorwand sollte wenige Jahre später dazu dienen, diese bereits aufgezogene Kriegsmechanik in Bewegung zu setzen. Die angeführte Passage zur Pfropfung steht in Einklang mit der von Martí häufig benutzten Kulturmetaphorik des mestizaje,559 also der nicht-pflanzlichen aber darum nicht weniger lebendigen organischen Verbindung zwischen unterschiedlichen ethnischen Gruppen, die Nuestra América für Martí letztlich immer als «unser mestizisches Amerika (nuestra América mestiza)»560 erscheinen und begreifen lassen. Hier zeigen sich Vision und Ausgestaltung, aber auch mancherlei Grenzen und Gefahren, die das politische wie kulturelle Projekt des großen Dichters des hispanoamerikanischen Modernismus charakterisieren. Denn Martí versuchte, für sein Konzept von Nuestra América, das Amerika im Plural seiner Herkünfte («unser») und im Singular seiner Einheit («Amerika») denken wollte, durch die Veränderung der Bildungsinstitutionen neue Herkünfte aus der Geschichte des Kontinents ins Bewusstsein zu heben, um damit neue Zukünfte entfalten zu können. Die Vergangenheit Amerikas musste anders gedacht werden, um künftige Perspektiven des Kontinents neu denken zu können. In der Formel nuestra Grecia reklamiert er für die amerikanische Antike im Vergleich mit der abendländischen Antike einen Status auf Augenhöhe, der vor dem Hintergrund einer differenten Vergangenheit Amerika auch

 Martí, José: A Manuel Mercado. In (ders.): OC 4, S. 167.  Vgl. zum Begriff des mestizaje beziehungsweise des métissage u. a. Toumson, Roger: Mythologie du métissage. Paris: Presses Universitaires de France 1998; sowie Schumm, Petra: «Mestizaje» und «culturas híbridas» – kulturtheoretische Konzepte im Vergleich. In: Scharlau, Brigitte (Hg.): Lateinamerika denken. Kulturtheoretische Grenzgänge zwischen Moderne und Postmoderne. Tübingen: Gunter Narr Verlag 1994, S. 59–80.  Martí, José: Nuestra América, S. 19.

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das Recht auf eine andere, divergierende Moderne zugestehen musste. Eine andere, amerikanische Antike – und wir finden dieses Bild von der eigenen Antike Amerikas bereits bei Francisco Javier Clavijero561 – beinhaltete eine andere, eine amerikanische Moderne für den (globalen) Süden des Kontinents. Denn weder die sozioökonomische Modernisierung (Modernización) noch die epochale Ausgestaltung der Moderne (Modernidad) und schon gar nicht die ästhetischen Ausdrucksformen des Modernismus (Modernismo) durften sich für ihn in einer Übertragung europäischer Modelle und Vorbilder, so brillant sie auch immer scheinen mochten, erschöpfen. Auf diesem Gebiet musste Nuestra América neue, eigene Wege beschreiten, um aus anderen Vergangenheiten neue Zukunftsmöglichkeiten zu schöpfen. In gewissem Maße waren Pfropfungen erlaubt, doch mussten sie sich für Martí an den Wurzeln Amerikas ausrichten und den Verhältnissen in den Ländern des Südens entsprechen. Gewiss finden sich die Vorstellungen von einer amerikanischen Antike auf Augenhöhe mit der griechisch-römischen Antike im Kern bereits in den Reaktionen auf die Conquista weiter Teile Amerikas in der ersten Phase beschleunigter Globalisierung, hatte doch schon der 1539 in Cuzco geborene und 1616 im spanischen Córdoba verstorbene Garcilaso de la Vega el Inca in einer berühmten Wendung gleich im Proemio al lector seiner Comentarios reales betont, dass seine Geburtsstadt zu Zeiten der Incas «otra Roma en aquel imperio»,562 also ein anderes Rom gewesen sei. Ähnlich stellte auch bereits der Titel der 1780 im italienischen Exil und in italienischer Übersetzung erschienenen Historia antigua de México, deren Verfasser der 1731 im neuspanischen Veracruz geborene Francisco Javier Clavijero563 war, im sogenannten Disput um die Neue Welt,564 der während der zweiten Phase beschleunigter Globalisierung mit größter Ve-

 Vgl. hierzu das Kapitel im fünften Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Aufklärung zwischen zwei Welten (2021).  Garcilaso de la Vega el Inca: Comentarios reales de los Incas. Ed. al cuidado de César Pacheco Vélez. Lima: Biblioteca Peruana 1985, S. 4. Vgl. hierzu ausführlich Ette, Ottmar: Viellogische Philologie. Die Literaturen der Welt und das Beispiel einer transarealen peruanischen Literatur. Berlin: Verlag Walter Frey – edition tranvía 2013, S. 76–90.  Vgl. Clavijero, Francisco Javier: Historia antigua de México. Prólogo de Mariano Cuevas. Edición del original escrito en castellano por el autor. México, D.F.: Editorial Porrúa 7 1982, S. xxv–xxxvii.  Vgl. hierzu die längst klassische Studie von Gerbi, Antonello: La disputa del nuovo mondo. Storia di una polemica: 1750–1900. Nuova edizione a cura di Sandro Gerbi. Con un profilo dell’autore di Piero Treves. Milano, Napoli: Riccardo Ricciardi editore 1983; sowie Bernaschina, Vicente / Kraft, Tobias / Kraume, Anne (Hg.): Globalisierung in Zeiten der Aufklärung. Texte und Kontexte zur «Berliner Debatte» um die Neue Welt (17./18. Jh.). Teil 1. Frankfurt am Main – Bern – New York: Peter Lang Edition 2015.

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hemenz geführt wurde, unübersehbar die tendenzielle Gleichrangigkeit zwischen einer europäischen und einer mexikanischen und damit amerikanischen Antike klar heraus. Als Martí seine Rede von nuestra Grecia in seinem Essay Nuestra América formulierte, musste er nicht alles ex nihilo erfinden. Der Modernist José Martí konnte auf diesem Gebiet folglich auf eine lange, wenn auch lange Zeit verschüttete Tradition transatlantischer Auseinandersetzung zurückgreifen, die freilich an der scharfen Asymmetrie zwischen der ungleichen Wertschätzung altweltlicher und neuweltlicher Geschichte nur wenig verändert hatte.565 Der Kubaner zog daraus die notwendigen Konsequenzen und entwickelte ein Kulturmodell und eine Sichtweise beschleunigter Globalisierung, welche aus den Diskussionen seiner Zeit deutlich herausragen und geopolitisch wie geokulturell höchst avancierte Positionen markieren. Die Rede von nuestra Grecia hatte ebenso bildungspolitische wie kulturgeschichtliche, aber auch identitätspolitische Folgen, blieb bis heute aber bei den kreolischen Führungseliten in Politik und Wirtschaft höchst umstritten. Denn diese Eliten lernten auch nicht – was Martí ebenso eingefordert hatte – die indigenen Sprachen ihrer jeweiligen Länder. Zweifellos machte der kubanische Kreole in seinen Schriften Ernst mit der Bekämpfung allein an Europa orientierter Ideen und Vorstellungen, eines allein am Modell einer abendländischen Geschichte ausgerichteten Geschichtsverständnisses, das in seiner scharfen Asymmetrie ein jahrhundertealtes Erbe der transatlantischen Kolonialbeziehungen sowie der herrschenden Machtverhältnisse war. Die Anfänge seines Umdenkens und einer stärkeren Einbeziehung indigener Kulturtraditionen führten, wie wir sahen, bis in die siebziger Jahre und insbesondere in sein Exil in Guatemala zurück und lassen den langsamen Bewusstwerdungsprozess begreifen, der in Nuestra América zum Ausdruck kam. Doch die bei Martí immer wieder durchschlagende Scheidung zwischen Eigenem und Fremdem, zwischen einem eigenem und einem fremden Griechenland verstellt allzu leicht den Blick dafür, dass das kulturelle Erbe der Bewohner dieses Amerika – wie der Kubaner sehr wohl wissen musste – an beiden Griechenlands, an beiden Antiken partizipiert. Hatte er nicht selbst auch Klassische Philologie studiert und Autoren wie Horaz oder Vergil im Original gelesen? So stand folglich außer Frage: Nur im Sinne einer eingeschränkten territorialen Herkunft ließe sich die griechische oder römische Antike in den Amerikas als etwas Fremdes bezeichnen, bildet sie doch eine wesentliche Kulturtradition, auf deren Basis sich Latein Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Asymmetrie der Beziehungen. Zehn Thesen zum Dialog der Literaturen Lateinamerikas und Europas. In: Scharlau, Birgit (Hg.): Lateinamerika denken. Kulturtheoretische Grenzgänge zwischen Moderne und Postmoderne. Tübingen: Gunter Narr Verlag 1994, S. 297–326.

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amerika über Jahrhunderte kulturell und bildungspolitisch – man denke nur an den immensen Einfluss jesuitischer Bildungsinstitutionen bis zur Vertreibung der Jesuiten aus den spanischen Kolonien im 18. Jahrhundert – entwickelte. Weder in der Fusionsmetaphorik der Mestizisierung, des Mestizaje, noch im metaphorischen Rückgriff auf die Kulturtechnik der Pfropfung wird das kulturtheoretische Modell Martís freilich der Komplexität und der Dynamik jener kulturellen Entwicklungen gerecht, für die Nuestra América beispielhaft stehen mag. Weder in der Fusionsrhetorik einer Verschmelzung der Ethnien und der Kulturen noch in der Pfropfung auf an einem in der Erde verwurzelten Stamm lassen sich jene dynamischen, unterschiedliche Kulturen querenden Prozesse abbilden, die sich nicht auf simple Wesenheiten, nicht auf statische Vorstellungen eigener und fremder Kultur zurückführen lassen. An dieser Stelle der Martí’schen Reflexionen lassen sich sehr leicht Beziehungen zu dem Anthropologen Fernando Ortiz oder dem Schriftsteller José Lezama Lima herstellen, die nicht umsonst in Kuba bestens mit den Schriften José Martís vertraut waren. Auf diese Verbindungen möchte ich im weiteren Verlauf dieser Studie immer wieder aufmerksam machen. Zweifellos zählte Martís Verständnis der Kulturen auf dem amerikanischen Doppelkontinent zu den fortgeschrittensten seiner Zeit und ließ den großen Theoretiker der damaligen Globalisierungsphänomene zu einem Denker werden, dessen kulturtheoretische wie kulturpolitische Einsichten die Positionen anderer Modernisten wie Rubén Darío oder José Enrique Rodó deutlich hinter sich ließen. Dazu verfügte er als Spinne im Netz der sich in New York überkreuzenden Informationen und Wissensströme über zu herausragende Wissensvorsprünge, welche dieser geokulturell exzellenten Position geschuldet waren. Zweifellos lässt sich Martí in eine Traditionslinie antillanischen beziehungsweise karibischen Denkens einfügen, insofern er den «islas dolorosas del mar»566 nicht nur im archipelischen, sondern in einem weltumspannenden Sinne eine große kulturelle und nicht nur geostrategische Bedeutung beimaß.567 Doch schon bald sollten seine Kulturmodelle und Entwürfe zwar nicht aus politischer, wohl aber aus kulturtheoretischer Sicht durch Ansätze just aus jenem geokulturellem Raum, dem sich das Schaffen des kubanischen Lyrikers und Essayisten verdankt, deutlich überflügelt werden. Dies zu konstatieren bedeutet keinesfalls, José Martí vorzuwerfen, kein Fernando Ortiz oder José Lezama Lima gewesen zu sein. Wir dürfen vielmehr nicht übersehen, dass seit dem Denken José Martís  Martí, José: Nuestra América, S. 25.  Vgl. hierzu auch Wood, Yolanda: José Martí: Imaginario cultural antillano, caribeño y nuestro americano. In: Cuadernos Americanos (México) 154 (octubre – diciembre 2015), S. 11–38.

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3. Hauptstück: Entwürfe der Modernität: Welche Moderne für Nuestra América?

der karibische Raum zu einem der vielleicht wichtigsten Produzenten weltumspannend gedachter Kulturtheorien wurde. Denn nicht umsonst war der Raum der Karibik nicht allein in der ersten und zweiten, sondern auch in der dritten Phase beschleunigter Globalisierung einer der weltweit verdichtetsten Zonen weltumspannender Austausch- und Transformationsprozesse. Die Kombination zwischen karibischer Herkunft und Ausguck im New Yorker Spinnennetz verschaffte dem kleinen Kubaner einen Informationsvorsprung, der ihn über das Denken seiner amerikanischen Zeitgenossen hinauskatapultierte. Zugleich erlaubte er der Karibik, nicht mehr nur bloßes Objekt, sondern Subjekt kulturtheoretischer Betrachtungen und Reflexionen zu sein. José Martís kulturhistorisch und kulturtheoretisch verankerte Vorstellungen waren schon vor dem Hintergrund der von ihm erwarteten militärischen Auseinandersetzungen mit den USA auf Einheit angelegt. Das spezifisch amerikanische Element, das nicht mit dem indigenen zu verwechseln ist, sondern auch die schwarzen Kulturen miteinschließt, sollte im Verbund mit anderen Bevölkerungsgruppen und Kulturen gestärkt werden, um den hombre real, das nicht mehr verkleidete und mit unterschiedlichsten Masken ausgestattete Subjekt, hervorzubringen. Diesen realen Menschen von Nuestra América galt es mit Blick auf die heraufziehenden Konflikte zu stärken. Doch hatte sich eine Lücke in diesen Diskurs einer Subjektwerdung eingeschlichen, die in der geschlechtlichen Determination der Protagonisten dieses Prozesses unverkennbar aufscheint und auch der Baummetaphorik des tronco mit seinen Pfropfungen nicht fremd ist. Denn die Wesensbestimmung des hombre real Martís erscheint stets männlich bestimmt, verdankt sich und gehorcht einer männlichen Logik, von der Martí zu keinen Zeitpunkt absieht. Martís modernes Subjekt ist männlich dominiert und patriarchalisch gedacht. Es erscheint mir daher als wichtig, Martí an diesem neuralgischen Punkt in den Kontext seiner großen modernistischen Zeitgenossen zu stellen. Denn diese Aussage darf auch für das Werk José Enrique Rodós gelten, dessen Menschenbild – expliziter noch als beim oft als Maestro verehrten Martí – aus dem Sprechen eines Respekt heischenden Lehrmeisters entsteht. Denn das Bild des uruguayischen Essayisten und Kulturtheoretikers verschmolz seit der im Jahre 1900 erfolgten Veröffentlichung seines sicherlich erfolgreichsten Textes Ariel mit jenem der von ihm geschaffenen Figur des «viejo y venerado maestro»568 Próspero.

 Rodó, José Enrique: Ariel. In: Obras Completas. Editadas, con introducción, prólogos y notas, por Emir Rodríguez Monegal. Madrid: Aguilar 21967, S. 206.

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Diese Verwechslung führte bis heute zu mancherlei Fehldeutung, war aber durchaus intendiert und wurde von Rodó bewusst gefördert, trug die Projektion des Bildes der von ihm geschaffenen Figur des Lehrmeisters Próspero auf ihn selbst doch wesentlich dazu bei, seinem eigenen Wort in der Form des verehrten Meisters mehr Gewicht zu verschaffen. Allerdings betrachtete der autodidaktisch hochgebildete Rodó die amerikanische Hemisphäre aus der Perspektive von Montevideo und verfügte weder über den vielkulturellen Hintergrund der Karibik noch über den Mirador von New York, von wo aus José Martí seine vielsprachigen Informationen über die Welt sortierte. Die Übereinstimmungen zwischen Martí und Rodó sind gleichwohl zahlreich. Rodós Ideal einer «moderna literatura de ideas»,569 einer modernen Ideenliteratur, das in Ariel mit kritischem Seitenblick auf Nietzsche entwickelt und vorgeführt wird, steht dem Bemühen José Martís um eine «prosa, centelleante y cernida», die «cargada de idea»570 sein müsse, unverkennbar nahe. Rodó war wie Martí von der Notwendigkeit einer modernistischen Erneuerung der amerikanischen Prosa zutiefst überzeugt, ließen sich doch nur auf der Grundlage einer derartigen Erneuerung neue Ideen und Konzeptionen aus amerikanischer Perspektive fassen. Weitere Übereinstimmungen zwischen dem kubanischen und dem uruguayischen Modernisten ließen sich leicht mehren. Die Lichtgestalt des airy spirit Ariel, der gemeinsam mit Próspero und Calibán die aus Shakespeares The Tempest bezogene und mit Hilfe von Ernest Renans Bearbeitungen veränderte Figurenkonstellation bildet, steht in einer komplexen Beziehung zu Friedrich Nietzsches Zarathustra, dem Rodós Text auf seiner letzten Seite ein unüberhörbares Also sprach Próspero («Así habló Próspero»571) entgegenschleudert. Die Statue Ariels beherrscht von Beginn an die Lehrstunde Prósperos, der sich in seiner Rede ein letztes Mal an seine Schüler wendet, und bildet ein selbstbewusstes Gegenbild zu Nietzsches ebenfalls beflügelter und beflügelnder Gestalt, von der es hieß: Zarathustra der Tänzer, Zarathustra der Leichte, der mit den Flügeln winkt, ein Flugbereiter, allen Vögeln zuwinkend, bereit und fertig, ein Selig-Leichtfertiger: – Zarathustra der Wahrsager, Zarathustra der Wahrlacher, kein Ungeduldiger, kein Unbedingter, Einer, der Sprünge und Seitensprünge liebt […].572

 Ebda., S. 229.  Martí, José: Nuestra América, S. 21.  Rodó, José Enrique: Ariel, S. 249.  Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. In (ders.): Werke. 6. Abt., 1. Bd.: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen (1883–1885). Berlin: De Gruyter 1968, S. 362. Vgl. hierzu ausführlicher Ette, Ottmar: «Así habló Próspero». Nietzsche, Rodó y la modernidad filosófica de «Ariel». In: Cuadernos Hispanoamericanos (Madrid) 528 (junio 1994), S. 49–62.

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Der in Ariel von Rodó erstmals kohärent vorgetragene Entwurf einer anderen Moderne, in den die historische Erfahrung mit dem von Martí entfesselten Krieg – der bekanntlich mit der Intervention der USA 1898 nur wenige Monate vor der Niederschrift dieses Textes zu Ende gegangen war – einging, will jenseits der zeitgenössischen Nordomanía einer Ausrichtung am Modell der Vereinigten Staaten einen anderen Weg in die Moderne aufzeigen, aus dem Calibán als Verkörperung des Materiellen, Rohen und Utilitaristischen von Anfang an573 ausgebürgert ist. Wie Martí sucht auch Rodó nach den amerikanischen Grundlagen für eine Moderne-Konzeption, welche nicht am alles beherrschenden Moderne-Konzept der Vereinigten Staaten ausgerichtet sein darf. Und wie Martí suchte auch Rodó nach einer Alternative, ja mehr noch nach einer Frontstellung zum Moderneverständnis der Vereinigten Staaten. Denn Rodós literarischer Entwurf einer lateinamerikanischen Moderne grenzt sich explizit von den USA, denen ein eigenes, innerhalb der langen Rezeptionsgeschichte Ariels höchst folgenreiches Kapitel gewidmet ist, ab und bezieht sich aus humanistischer Perspektive auf eine abendländische Traditionslinie, innerhalb derer die Kulturen der Antike gemeinsam mit dem Christentum und der kulturellen Entwicklung der lateinischen Völker Europas verknüpft und in ein Menschenbild überführt werden, das individuelle und kollektive Charakteristika ähnlich wie bei Martí untrennbar miteinander verschmilzt. Dass dieses Menschenbild zweifelsfrei ein Männerbild war, wird schon an der dem Text zugrunde liegenden und von Shakespeares The Tempest übernommenen und umgeformten Figurenkonstellation erkennbar. Anders als bei José Martí ist jedoch in dem der Jugend Amerikas gewidmeten und vom Panlatinismus stark geprägten Text Rodós von keiner Fusion zwischen abendländischen und nicht-abendländischen Kulturtraditionen die Rede. Aus der Perspektive des europäischen Einwandererlands Uruguay wird den indigenen, schwarzen und mestizischen Kulturen kein bestimmender Platz innerhalb eines Modernekonzepts zugewiesen, das auf das Amerika südlich der USA – in den Worten Martís zwischen dem Río Bravo und der Magellan-Straße – projiziert wird. Das Andere dient in Rodós Ariel vorrangig dazu, als Gegenbild die eigene Identitätsbestimmung als Bestimmung der Identität eines homogenen Eigenen zu stützen, aus dem das Andere weitgehend verdrängt wurde, auch wenn es – wie Calibán zeigt – seine Spuren hinterlassen hat. Anders als die auf einer Konvivenzpolitik beruhenden Modernevorstellungen Martís basiert Rodós Entwurf auf einer schmerzlichen Exklusion indigener und schwarzer Kulturen.

 Rodó, José Enrique: Ariel, S. 207.

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Am Ende seiner Rede, am Ende seiner Lehre versucht der Maestro – eine ebenso auf Martí wie auf Rodó gemünzte Bezeichnung – seinen Schülern das Bild der Statue Ariels unauslöschlich «einzuprägen».574 Dieser Akt des Einprägens ist mit einem gewissen Recht als eine Gewalttätigkeit gedeutet und in eine sicherlich hinterfragbare Beziehung zu autoritären bis diktatorialen Herrschaftsformen gerückt worden.575 Auch wenn man sich einer solchen Auffassung nicht in aller Konsequenz anschließen mag, so bleibt doch unverkennbar, dass die Homogenität und Zentriertheit des Raumes, in dem Próspero zu seinen Jüngern spricht, von einer Marginalisierung, ja Beseitigung alles Anderen und aller anderen Herkünfte begleitet wird. Die Verschmelzung aber mit dem vorgestellten Ideal wird auch hier unter mehrfachem Rückgriff auf die spanische Mystik und insbesondere Santa Teresa de Jesús576 im Modus einer Unio mystica inszeniert, indem Prósperos Schüler am Ende in eine Ekstase verfallen, die zur kosmischen Welterkenntnis und transzendenten Seelenerfahrung gerät. Der kollektive wie individuelle Selbstfindungsprozess dieser Gruppe, der in der Tatsache zum Ausdruck kommt, dass die Stimme eines ihrer Mitglieder erstmals hörbar wird und den Text sogar abschließt, grenzt sich noch am Ende von Ariel ein letztes Mal von einem Anderen, der Menge und Masse, der «muchedumbre» und «multitud»,577 ab. So wird der sicherlich berühmteste Text des uruguayischen Autors zum Entwurf einer lateinamerikanischen Moderne, die sich selbstbewusst den Projekten Europas und mehr noch der USA entgegenstellt, ihre eigene Seinsbestimmung aber auf eine Reihe von Ausgrenzungen gründet, die auf der kulturellen Ebene der Martí’sche Moderneentwurf nicht kannte. Es geht bei José Enrique Rodó nicht wie bei Martí um ein Con todos, y para el bien de todos. Doch eine weitere Ausbürgerung verbindet den kubanischen Maestro mit dem uruguayischen: die weitgehende Ausblendung der weiblichen Stimme als selbstbestimmtem Subjekt. Ihr liegt in der Regel eine implizite Gleichsetzung des Menschlichen mit dem Männlichen zu Grunde, wie sie im Lexem hombre

 Ebda., S. 248.  Vgl. González Echevarría, Roberto: The Case of the Speaking Statue: «Ariel» and the Magisterial Rhetoric of the Latin American Essay. In (ders.): The Voice of the Masters. Writing and Authority in Modern Latin American Literature. Austin: University of Texas Press 1985, S. 8–32.  Vgl. Ette, Ottmar: «La modernidad hospitalaria»: Santa Teresa, Rubén Darío y las dimensiones del espacio en «Ariel», de José Enrique Rodó. In: Ette, Ottmar / Heydenreich, Titus (Hg.): José Enrique Rodó y su tiempo. Cien años de «Ariel». Frankfurt am Main – Madrid: Vervuert – Iberoamericana 2000, S. 73–93.  Rodó, José Enrique: Ariel, S. 249.

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3. Hauptstück: Entwürfe der Modernität: Welche Moderne für Nuestra América?

zum Ausdruck kommt. Sie findet sich auch in dem sicherlich anspruchsvollsten Text José Enrique Rodós, seinen zwischen 1904 und 1909 entstandenen Motivos de Proteo, die ein nochmals verändertes, vor allem aber dynamisiertes und in ständiger, unabschließbarer Bewegung befindliches Menschenbild entwerfen. In diesem faszinierenden, aber längst in Vergessenheit geratenen TextMobile,578 das aus einer ungeheuren Sammlung unterschiedlichster kleiner Texte in Form von Aphorismen, Exempla, Mikroerzählungen und Sentenzen besteht, bekräftigt Rodó seine Absicht, sich von den dominanten europäischen Literaturen innerhalb eines in Entstehung begriffenen weltliterarischen Systems nicht auf den Ausdruck des Regionalen, des Lateinamerikanischen, des Partikularen abdrängen zu lassen, sondern eine eigene Sichtweise des Universellen zu entwickeln. Zugleich wird anhand des von diesem Text aufgespannten expliziten literarischen Raumes, des unmittelbaren Anspielungshorizontes, deutlich, wie sehr der uruguayische Autor seiner Orientierung an einer kreativen Aneignung nahezu ausschließlich abendländisch-europäischer Kulturmodelle und Texte treu geblieben ist. Das moderne Subjekt aber ist, auch wenn es am männlich Menschlichen ausgerichtet blieb, in Bewegung geraten. So heißt es gleich zu Beginn des 1909 veröffentlichten Bandes: «Jeder Einzelne von uns ist sukzessiv nicht einer, sondern viele. Und diese sukzessiven Persönlichkeiten, von denen die einen aus den anderen hervorgehen, pflegen untereinander die seltensten und erstaunlichsten Kontraste aufzuweisen.»579 Die Motivos de Proteo machen Proteus alle Ehre und entwerfen ein Persönlichkeitsbild, das anders als in Ariel in ständiger Bewegung und in beständiger Veränderung ist.580 All dies beinhaltet im Sinne Rodós keine Dezentrierung des Subjekts, wohl aber eine Infragestellung einer durchgängigen, für immer feststehenden Identität, wie sie im selben Zeitraum in Europa etwa auch von Marcel Proust in seiner Vorstellung von den moi successifs hinterfragt wurde. Die ästhetische Antwort auf diese veränderte Wesensbestimmung, die noch immer die Geschichte des

 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: «Una gimnástica del alma»: José Enrique Rodó, Proteo de Motivos. In: Ette, Ottmar / Heydenreich, Titus (Hg.): José Enrique Rodó y su tiempo, S. 173–202.  Rodó, José Enrique: Motivos de Proteo. In (ders.): Obras Completas, S. 310: «Cada uno de nosotros es, sucesivamente, no uno, sino muchos. Y estas personalidades sucesivas, que emergen las unas de las otras, suelen ofrecer entre sí los más raros y asombrosos contrastes.»  Vgl. Ette, Ottmar: Archipelisches Schreiben und Konvivenz. José Enrique Rodó und seine «Motivos de Proteo». In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte / Cahiers d’Histoire des Littératures Romanes (Heidelberg) XLII, 1–2 (2018), S. 173–201.

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menschlichen Herzens, die «historia del corazón humano»,581 zu fassen sucht, ist der Versuch, ein umfangreiches Werk durch eine Vielzahl kurzer und kürzester Texte (die nicht nur am Schreibtisch, sondern oft und ganz im Sinne Friedrich Nietzsches auch beim Gehen verfasst wurden) zu einem Ganzen zusammenzufügen. Im Zeichen des Proteus sollen der Leserschaft die Bewegungen und Veränderungen des Subjekts in der Moderne durch eine Literatur in Bewegung vorgeführt werden, die verschiedenste lineare wie nicht-lineare Lesemuster und damit eine aktive Rolle der Leserschaft zulässt und fördert. Der explizite Rückgriff auf Proteus ist folglich Programm. Bereits die klangliche Nähe der Namen Próspero und Proteo, welche die erste Silbe und die Vokalfolge, nicht aber den Akzent teilen, signalisiert Kontinuität und Wandel, Beharren und Umakzentuierung zugleich. Rodós Motivos wollen «un libro en perpetuo ‹devenir›, un libro abierto sobre una perspectiva indefinida»582 sein. In diesem Buch in ständigem Werden, das sich auf eine unendliche Perspektive hin öffnet, soll sich das (abendländische) Subjekt der (hispanoamerikanischen) Moderne nicht mehr zu einer ein für alle Mal fixierten Identität verfestigen, sondern sich in beständiger Umformung befinden. In einer gewaltigen Textmaschine, die nach einer aktiven, die unterschiedlichen Textpartikel immer wieder neu aufeinander beziehenden Leserschaft verlangt, wird das Leben weniger re-präsentiert als vielmehr simuliert. Wie ein immenses lebendiges Gedächtnis, das die gesammelten, «aufgehobenen» Elemente immer neuen kombinatorischen Möglichkeiten zuführt und auf diese Weise durch Kombination wie Kontamination selbst verändert, entsteht das Bild eines sich ständig verändernden Menschen. Hinzu kommt das Epochenbewusstsein einer sich immer noch weiter verstärkenden Beschleunigung, welchem José Enrique Rodó eine enorme Bedeutung einräumt: Dieser unermessliche moralische Organismus der Welt, der für unsere Großväter in nationale Seelen wie in die Inseln eines Archipels unterteilt war, hat die Kommunikation beständig und leicht, hat den Ideenaustausch, die religiöse Toleranz, die kosmopolitische Neugierde, den Telegraphendraht, die Dampfschifffahrt hervorgebracht, welche uns in ein Netz beständig wechselnder Herausforderungen einbinden. Este inmenso organismo moral que del mundo, para nuestros abuelos dividido en almas nacionales, como en islas del archipiélago, han hecho la comunicación constante y fácil, el intercambio de ideas, la tolerancia religiosa, la curiosidad cosmopolita, el hilo del telégrafo, la nave de vapor, nos envuelve en una red de solicitaciones continuas y cambiantes.583

 Rodó, José Enrique: Motivos de Proteo. In (ders.): Obras Completas, S. 310.  Ebda., S. 309.  Ebda., S. 408.

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3. Hauptstück: Entwürfe der Modernität: Welche Moderne für Nuestra América?

In einer Welt, in der die Archipelsituation der Völker und Nationen mit Hilfe von Telegraph und Dampfschiff, den Emblemen der Moderne gerade in Amerika, zunehmend überwunden wird, ist eine wechselseitige Bezüglichkeit entstanden, deren relationale Struktur den gemeinsamen Seinsgrund der Moderne keineswegs überdeckt, sondern noch stärker ins Bewusstsein treten lässt. Diese Relationalität manifestiert sich im ästhetischen Entwurf der Motivos de Proteo, bildet zugleich aber auch die Grundlage für ein Bewusstsein jener Epoche der Moderne, die zugleich die Epoche der dritten Phase beschleunigter Globalisierung war. Das Epochenbewusstsein, in einer solchen sich immer weiter beschleunigenden Epoche zu leben, die für Rodó weit entfernt von den USA eher eine Epoche des Aufbruchs und für Martí im Kampf gegen Spanien und im Fadenkreuz der USA eher eine Epoche der Bedrohung war, teilten die beiden Modernisten ganz ohne Zweifel. Doch unterscheiden sich die geostrategischen und geokulturellen Blickwinkel beider großer Essayisten in grundlegender Weise voneinander. Denn José Martí konnte von New York aus weit besser und früher als Rodó von Montevideo aus erkennen, welch fundamentale Expansion den nördlichen Teilen von Nuestra América unmittelbar bevorstand. Der Krieg gegen die heruntergekommene iberische Kolonialmacht verdeckte die Auseinandersetzung mit einem Riesen, der – und dies konnte Martí in allen Details erkennen – seine Siebenmeilenstiefel längst angeschnallt hatte.

Modernistische Visionen Amerikas im Fin de Siglo Die großen hispanoamerikanischen Modernisten gingen in aller Regel von einer Zweiteilung des Kontinents aus, die sich auf den verschiedensten Ebenen äußerte. In Rubén Daríos berühmter Ode A Roosevelt etwa bemerken wir eine sich im Raumkonzept verbergende Vielfalt der Kulturen, wobei allerdings die kulturelle Kontinuität lyrischer Schöpfung von Netzahualcóyotl bis hin zur Aktualität Daríos im Grunde nur so lange funktionieren kann, wie sie sich im Gegenlicht der USA zu spiegeln vermag. Diese Opposition ist ebenso fundamental wie strukturell. Denn nur vor diesem Repräsentanten des Anderen wird die hispanoamerikanische Identitätskonstruktion als homogene Einheit konfigurierbar. Betrachten wir einige Auszüge aus dem berühmten Gedicht des nikaraguanischen Modernisten: Mit der Stimme der Bibel, mit den Versen Walt Whitmans sollte ich kommen zu Dir, oh Jäger, primitiv und modern, einfach und komplex, mit ’nem bisschen Washington und vier Teilen Nemrod. Du bist die Vereinigten Staaten, Du stehst für die künftigen Invasoren

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des naiven Amerika, das indigenes Blut besitzt, das noch immer Jesuschristus anbetet, noch immer Spanisch spricht. […] Du glaubst, das Leben sei Brand, dass der Fortschritt ein Ausbruch ist, wohin Du Deine Kugel richtest, dort wächst die Zukunft. Nein. […] Doch unser Amerika, das seit Netzahualcoyotls längst vergangenen Zeiten Dichter besitzt, das die Spuren bewahrt von des großen Bacchus Füßen, das Pans Alphabet vor langer Zeit erlernte; das die Sterne befragte, das Atlantis kannte, dessen Name uns aus Platons Schriften schallt, das seit seines Lebens fernsten Augenblicken lebet vom Licht, vom Feuer, vom Duft, von Liebe, das Amerika des großen Montezuma, des Inka, das duftende Amerika des Christoph Columbus, das katholische Amerika, das spanische Amerika, das Amerika, wo der edle Guatemoc einst sprach: «Nicht auf Rosen bin ich gebettet»; dies Amerika, das vor Hurricanes zittert und von Liebe lebt, Männer mit sächsischen Augen, barbarischer Seele: Es lebt. Und es träumt. Und liebt und bebt, ist Tochter der Sonne. Gebet acht. Das spanische Amerika lebt! Tausend Junge hat der Spanische Löwe um sich. Ihr müsstet, oh Roosevelt, beim Gotte selbst sein der furchtbare schütze, der machtvolle Jäger, uns zu halten mit eisernen Krallen Ihr. Mit allem Ihr rechnet, doch eines fehlt: Gott! ¡Es con voz de la Biblia, o verso de Walt Whitman, que habría que llegar hasta tí, Cazador! Primitivo y moderno, sencillo y complicado, con un algo de Washington y cuatro de Nemrod. Eres los Estados Unidos, eres el futuro invasor de la América ingenua que tiene sangre indígena, que aún reza a Jesucristo y aún habla en español. […]

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3. Hauptstück: Entwürfe der Modernität: Welche Moderne für Nuestra América?

Crees que la vida es incendio, que el progreso es erupción; en donde pones la bala el porvenir pones. No. […] Mas la América nuestra, que tenía poetas desde los viejos tiempos de Netzahualcoyotl, que ha guardado las huellas de los pies del gran Baco, que el alfabeto pánico en un tiempo aprendió; que consultó los astros, que conoció la Atlántida, cuyo nombre nos llega resonando en Platón, que desde los remotos momentos de su vida vive de luz, de fuego, de perfume, de amor, la América del gran Moctezuma, del Inca, la América fragante de Cristóbal Colón, la América católica, la América española, la América en que dijo el noble Guatemoc: «Yo no estoy en un lecho de rosas»; esa América que tiembla de huracanes y que vive de amor, hombres de ojos sajones y alma bárbara, vive. Y sueña. Y ama, y vibra; y es la hija del Sol. Tened cuidado. ¡Vive la América española! Hay mil cachorros sueltos del León Español. Se necesitaría, Roosevelt, ser Dios mismo, el Riflero terrible y el fuerte Cazador, para poder tenernos en vuestras férreas garras. Y, pues contáis con todo, falta una cosa: Dios!584

Der Gegensatz zwischen den beiden Amerikas hätte kaum schärfer formuliert werden können als in diesem Gedicht A Roosevelt aus den Cantos de vida y esperanza. Der Adressat der Ode, der spätere Präsident der Vereinigten Staaten hatte mit seinen Rough Riders am Krieg von 1898 teilgenommen und stand symbolisch für den Triumph der angelsächsischen USA über das spanische Amerika. Mit dem Untergang Spaniens als Kolonialmacht beginnt paradoxerweise der Wiederaufstieg Spaniens zur Kulturmacht in den ehemaligen Kolonien. Die Fronten klären sich nun auf andere Weise: Mit dem militärischen Eingreifen der USA auf Kuba, Puerto Rico und den Philippinen wurden Fakten geschaffen, die man in Lateinamerika nicht mehr vergaß.

 Darío, Rubén: A Roosevelt. In (ders.): Obras Completas. Bd. V. Madrid: Afrodisio Aguado 1953, S. 878.

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So wird die amerikanische Hemisphäre von dem nicaraguanischen Dichterfürsten bewusst in zwei Teile geteilt: Auf der einen Seite das spanischsprachige Amerika, das in seinen indigenen und spanischen Traditionen lebt und Spanisch spricht; und auf der anderen Seite die Vereinigten Staaten, die an den Mammon glauben und für den materiellen Fortschritt stehen. Dem blonden und großen Amerika steht ein dunkles, schwarzhaariges Amerika gegenüber, das indigene Züge besitzt, wie sie auch das Antlitz des nicaraguanischen Dichters selbst prägen. So erstaunt es nicht, dass er seine eigene Lyra bis in die Zeiten Netzahualcóyotls zurückführt und damit eine kulturelle Tradition beschwört, deren geschichtlichem Tiefgang die Vereinigten Staaten nichts Vergleichbares entgegenzustellen vermögen. Doch die Stunde des «Besuches», vor der José Martí in Nuestra América gewarnt hatte, die Stunde der Invasion durch Truppen der USA rückte nun auch für den nicht-karibischen Rest Lateinamerikas näher: Sie war für Kuba, Puerto Rico und die Philippinen schon gekommen, doch andere Länder rückten nun verstärkt ins Fadenkreuz US-amerikanischer Panzerkreuzer. Rubén Darío war sich der Tatsache bewusst, an einer Zeitenwende zu stehen, in der sich das Schicksal seines Amerika entscheiden würde und in der «Sein» Amerika möglicherweise die spanische Sprache aufgeben könnte. Im Zeichen des römischen Katholizismus und des Lateinischen greift Darío anders als Martí auf den kulturellen und politischen Panlatinismus zurück, der die Völker lateinischer Herkunft unter der Führung Frankreichs vereinigte und die Einheit dieser Völker beschwor. Darío war wie Rodó wesentlich stärker als Martí an einer geistigen Führungsmacht von Frankreich oder besser Paris ausgerichtet. Gleichwohl blieb für ihn das Spanische Grundlage allen Dichtens, allen Sprechens: die Grundlage einer von den Vereinigten Staaten differierenden Kultur. Aus diesem panlateinischen Hintergrund rührt die mehrfache Berufung auf die christlich-katholische Religion der Indios wie der Spanier in dieser Ode, aber auch die Betonung der spanischen Sprache selbst. Rubén Darío fürchtete – und diese Angst hatte durchaus einen konkreten kulturhistorischen Hintergrund –, dass durch eine Invasion von US-amerikanischen Truppen die Länder Lateinamerikas das Spanische aufgeben und zum Englischen überwechseln könnten. Vergessen wir dabei nicht, dass just zum gleichen Zeitpunkt die USA mit ihrer Ausbreitung über die Philippinen nicht nur die Herrschaft Spaniens, sondern auch des spanischen beseitigten und das Englische auf dem pazifischen Archipel an die Stelle des Kastilischen trat. Ein Schriftsteller wie José Rizal, der parallel zu José Martí sein Leben für den Kampf gegen Spanien ließ,

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3. Hauptstück: Entwürfe der Modernität: Welche Moderne für Nuestra América?

wurde zu einem Nationalhelden, der in einer Sprache schrieb, aus der die Nationalliteratur der Philippinen gewichen war.585 Wie nach ihm Rubén Darío hatte auch der 1853 in Havanna in kleinbürgerliche Verhältnisse hineingeborene José Martí die heterogene Vielfalt der lateinamerikanischen Nationen konstatiert und versucht, Schlüsse daraus für eine künftige Konzeption einer Einheit der jungen Nationen zu ziehen. Bei aller Bewunderung für Simón Bolívar, für die sich bei Martí zahlreiche Hinweise finden, wusste der Kubaner doch genau, dass das panamerikanische Vorhaben des Libertador nicht mehr wiederzuerwecken war. Die Sattelzeiten der Independencia waren für die überwiegende Mehrzahl der entstandenen Nationalstaaten Lateinamerikas vorüber und eine politische Vereinigung südlich des Territoriums der Vereinigten Staaten längst nicht mehr in Sicht. Wenn wir das gesamte Schaffen von José Martí überblicken, so können wir in ihm einen Denker erkennen, der die Heterogenität Lateinamerikas zu reflektieren in der Lage war und aus all diesen auseinander strebenden Elementen eine Einheit zu bilden versuchte. Er war sich freilich der Tatsache bewusst, dass diese Einheit noch längst nicht erreicht war, dass sie in möglichst naher Zukunft aber erreicht werden musste, wollte man nicht den expandierenden USA zum Opfer fallen und zur leichten Beute des im Aufbau befindlichen Imperium Americanum werden. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum Martí zu einem der großen Denker des Mestizaje wie der Globalisierung werden konnte. Er erblickte in der Fusionsmetaphorik der Mestizisierung die einzige Möglichkeit, schnell zu der ersehnten Einheit zu gelangen, die im politischen Bereich panamerikanistisch nicht mehr zu erreichen war. Diese in Martí sich entfaltende komplexe Einsicht, so scheint mir, bildet den sicherlich anspruchsvollsten gesellschaftlichen und biopolitischen Entwurf aller Modernisten für Lateinamerika und zielt auf eine Konvivenzpolitik ab, deren weitere Implikationen wir noch ersehen werden. Denn an oberster Stelle standen für ihn die Integration möglichst aller Teile der hispanoamerikanischen Heterogenität und eine fundamentale Konvivenz in einer Gemeinschaft, die sich ihrer Opposition zu den USA gewiss sein konnte. José Martí grenzte nicht etwa die verschiedenen kulturellen Pole aus, wie dies nach ihm ein José Enrique Rodó tun sollte, wenn wir etwa an die indigene Bevölkerung Amerikas denken. Und er befürchtete auch nicht, Hispanoamerika vor der Kontrastfolie der Vereinigten Staaten wie Rubén Darío in eine defensive Position gedrängt zu sehen, in welcher das spanischsprachige Amerika selbst

 Vgl. zur Rolle Rizals und seiner Literatur auf den Philippinen den vierten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten (2021), S. 1038 ff.

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seine Sprache und selbstverständlich seine komplexe Kultur verlieren könnte, um sich bald nur noch auf Englisch zu verständigen. Der kubanische Dichter und Essayist entfaltete vielmehr in seinen Schriften ein prospektives Bild des südlichen Teiles Amerikas, in das sich die unterschiedlichsten Kulturen und Ethnien einbringen und partizipieren könnten, ohne zu einem bloßen multikulturellen Sammelsurium unterschiedlicher Kulturen zu verkommen. Es ging Martí um Konvivenz: um ein Zusammenleben, nicht um ein Zusammenwürfeln. Man könnte es auch anders formulieren: Martí versuchte, aus seiner Erfahrung der konkreten Heterogenität Hispanoamerikas diese nicht etwa in der Gegenwart zu leugnen; doch skizzierte und erträumte er sich einen Prozess des Mestizaje, in welchem diese Einheit bald schon hergestellt sein werde. Mit Hilfe des (Zauber-)Schlüssels des Mestizaje sollte die Heterogenität von heute möglichst rasch in die ersehnte Homogenität von morgen überführt werden, ein ebenso kulturpolitischer wie machtpolitischer Schachzug, der zugleich die nationalstaatliche Zielvorgabe des Kubaners umriss. Aber war dies in der Situation, in der sich Martí politisch wie existenziell als Exilant in den USA befand, überhaupt realistisch? Denn wir sollten bedenken: José Martí musste zum einen militärisch dafür kämpfen, dass die letzten spanischen Kolonien in Amerika ihre Unabhängigkeit erreichen und damit eins werden konnten mit den längst unabhängigen Republiken Hispanoamerikas; und zum anderen musste er ein kulturelles Projekt entwerfen, das es ermöglichen sollte, die künftige Modernität des Subkontinents im Zeichen der Homogenität der existentiellen und kulturellen wie politischen und sozialen Bedingungen darzustellen. Dieses Projekt ist nichts anderes als die Vision von Nuestra América, die nur vor dem komplexen Hintergrund der auf Martí einwirkenden Zwänge, Gegebenheiten und Notwendigkeiten verständlich wird. Diese Vision war eine konkrete Utopie. So ist sein Ziel ein mestizisches Amerika, la América mestiza; doch liegt seiner Projektion eine komplexe Analyse der gesellschaftlichen, ethnischen, kulturellen Differenzen in Amerika zugrunde. Denn es geht auch um die Integration von la América trabajadora, um das Amerika der arbeitenden Bevölkerung. Im ersten Hauptstück war deutlich geworden, wie Martí in seinem mexikanischen Exil sich mehr und mehr der Arbeiterschaft angenähert hatte und Positionen bezog, die auf dem Gegensatz von Kapital und Arbeit fußten. Nun aber ging es ihm darum, weniger eine konkrete Gesellschaft als vielmehr eine integrative Gemeinschaft zu schaffen, die im Zeichen der Konvivenz aufgebaut werden musste. Wir hatten im obigen Zitat aus Martís Essay Nuestra América gesehen, welch zusammengewürfelte Kombinatoriken jener Maske entsprachen, mit welcher die Länder Lateinamerikas sich der Welt gezeigt hatten, und welches die verschiedenartigen Ingredienzien waren, welche diese falsche Vision eines la-

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3. Hauptstück: Entwürfe der Modernität: Welche Moderne für Nuestra América?

teinischen Amerika bildeten. José Martí gelang es, in dieser poetisch verfassten und durchrhythmisierten Prosa eine Vielzahl jener Grundprobleme zu evozieren, welche die koloniale wie die postkoloniale Geschichte der ehemaligen Kolonien Spaniens charakterisierten: «Eramos una visión, con el pecho de atleta, las manos de petimetre y la frente de niño. Eramos una máscara […].»586 Die syntaktische Parallelstellung der einzelnen Satzelemente zeigte uns die inhaltlichen Schwerpunkte an, die durch Appositionen rhythmisiert und so semantisch, von ihrer Bedeutung her, profiliert werden. Ich möchte noch einmal kurz auf diese eindrückliche Passage zurückkommen. Denn es handelt sich um die verdichtete Darstellung einer Vision, deren Objekt ein Wir ist, das wir mit den Bewohnern der ehemals und teilweise noch in Martís Gegenwart unter dem kolonialspanischen Joch stehenden Gebiete Amerikas identifizieren dürfen. Gegenstand dieser Vision ist in erster Linie der bekleidete Körper, der hier, ganz im Sinne des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan, als corps morcelé, als zerstückelter Körper, vorgeführt wird. Dies ist die häufig von Martí benutzte Metaphorik für eine geistige und kulturelle Entfremdung, die wir bereits in seinem frühen mexikanischen Gedicht De noche, en la imprenta, kennengelernt hatten. Diese Symbolik von Kleidung und Verkleidung war uns auch in den Briefen Martís an María Mantilla aufgefallen, insofern sie mit deutlich moralisierend erhobenem Zeigefinger thematisiert wurden. Unter der Kleidung verbirgt sich wie hinter einer Maske das eigentliche, das «wahre» Sein des Menschen für Martí. Die Beschreibung der einzelnen Teile des Körpers betreffen erstaunlicherweise genau jene drei Körperteile, deren Wichtigkeit für das Schreiben Martís wir in seiner Lyrik von 1875 festgestellt hatten: Es sind Brust, Hand und Stirn. Martí blieb sich in seiner Symbolik stets treu und modifizierte allenfalls die von ihm verwendeten Symbole semantisch, um sie zugunsten immer komplexerer Isotopien seinem sich verändernden Denken anzupassen. So wird in diesem Zusammenhang etwa die Brust, der Sitz des Herzens und nach romantischer Doktrin damit des Gefühls und Ort jenes Organs, das uns Schreiben als erkaltete Herzensschrift zeigt, zu einer Athletenbrust, der jegliche Spiritualität und Tiefe abgeht. Doch halten wir an dieser Stelle rückblickend fest: Es ist noch immer im Grunde dieselbe Symbolik wie in De noche, en la imprenta: eine Symbolik von existenzieller Tragweite, in der es um die fundamentale Existenz des Menschen geht. Doch die Brust ist nur der erste Teil des zerstückelten Körpers, der sich in dieser Passage den Blicken preisgibt. Die Hände, die beim Schriftsteller die

 Martí, José: Nuestra América. In (ders.): OC 6, S. 20.

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Worte zu Papier bringen und damit schaffend und schöpferisch materialisieren, sind zu unnützen Instrumenten eines Gecken, eines Stutzers geworden, der mit ihnen weder schafft noch schöpft, sondern sie höchstens – so wie es der Athlet mit seiner Brust tut – zum Vorschein bringt und zeigt. Die Stirne schließlich, mithin der Sitz des Denkens und der Cerebralität des Schreibens (das bei Martí jedoch niemals das der Lyrik sein kann) ist die Stirne eines Kindes, eines unschuldigen, aber auch noch unerfahrenen Geschöpfes, das sich der künftigen Probleme nicht bewusst sein kann. Auch passen die unterschiedlichen Körperteile nicht zusammen, insofern über der Brust eines Athleten kein Kindergesicht thronen kann. Zweifellos kann ein Kind, kann ein Niño, durchaus positive Züge tragen und gerade in der am Fin de siglo häufigen Rede vom Pueblo niño oder vom jugendlichen Kontinent positiv markiert und prospektiv in die Zukunft gedacht sein. Freilich geht der Diskurs vom Pueblo niño sehr leicht und schnell in die Rede vom Pueblo enfermo, vom «kranken Kontinent», über: Später, an geeigneterer Stelle, soll dies kurz aufgezeigt werden. Wir können anhand der radikalen Heterogenität der zerstückelten Körperteile aber bereits feststellen, dass diese von Martí an dieser Stelle skizzierte Vision schon in ihrem Grundsatz falsch und verfälschend ist und weder eine Einheit zwischen den einzelnen Körperteilen entsteht noch die einzelnen Teile selbst in sich befriedigt ruhen. Es handelt sich um einen radikal zerstückelten Körper ohne Zusammenhang und innere Einheit: Für Martí ein Bildnis der historisch gewachsenen Probleme seines Amerika. Diese Vision eines Körpers, eines Kontinents, wird in einem zweiten Schritt zur Maske. Die Kniehosen aus England, das Westchen aus Paris, das Sakko aus Nordamerika und die Stierkämpfermütze aus Spanien symbolisieren die verschiedenen, ebenfalls zusammengestückelten Bestandteile der kulturellen Herkünfte, die nicht zueinander passen wollen. Es ist das Bildnis einer fundamentalen Heterogenität, eines vollständigen Zusammengewürfelt-Seins. Dabei gibt es keine eigene Substanz, welche all diese Ingredienzien zusammenführen und miteinander vereinen könnte, keinen gemeinsamen Boden für eine anzustrebende Gemeinschaft. Denn andere Kulturen wie etwa diejenigen der indigenen Bevölkerung oder der (ehemaligen) schwarzen Sklaven spielen unter dieser bunten Maske keinerlei Rolle: Sie kommen schlicht nicht vor. Die Kleidung, die als topische Metapher innerhalb der literarischen Tradition des Abendlandes, aber auch Lateinamerikas häufig als das die Essenz, das «Wahre» und «Authentische» Verhüllende und Verbergende erscheint und – ähnlich wie die Schminke – bestenfalls noch im Kontext der antiken Rhetorik ihren positiven Platz findet, gerät unverkennbar zum Mittel der Verhüllung eines Körpers, dessen Zerstückeltheit und Nicht-Zusammengehörigkeit dem Le-

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3. Hauptstück: Entwürfe der Modernität: Welche Moderne für Nuestra América?

sepublikum zuvor bereits vor Augen geführt wurde. Die Kleidung ist so in Einzelteile zerstückelt und disparat wie der Körper selbst. Die einzelnen kolonialen Imperien wie Spanien oder postkolonialen Mächte(wie Frankreich, England oder die USA werden hier als Lieferanten einer kulturellen Maskerade identifiziert, deren gemeinsamer Nenner ebenfalls eine fundamentale Entfremdung und Abhängigkeit ist. Nicht zufällig stammen die einzelnen Bestandteile von Mächten, die wesentlich verschiedene Phasen beschleunigter Globalisierung als Führungsmächte vorangetrieben haben. Allerdings werden Vision und Maske einer Vergangenheit überantwortet, – nicht umsonst heißt es im spanischen Original éramos –, so dass der Weg in eine bessere Zukunft noch immer gestaltbar und offen ist. Aus dieser künstlichen Gemeinschaft des Wir ist der Indio ausgeschlossen, der zum einen außerhalbbefindlich, also marginalisiert ist, zum anderen aber zur Spitze des Berges geht inmitten der Natur, um dort seine Kinder zu taufen. Damit wird wie später bei Rubén Darío die indigene Bevölkerung dem römischen Katholizismus und der christlichen Religion zugeschlagen. José Martí legt in diesen Wendungen den Finger in die Wunde des postkolonialen Konstrukts der Kreolen, welche die indigene Bevölkerung weitestgehend aus ihrer Unabhängigkeitsrevolution ausschlossen. Er selbst wird bei seiner eigenen Zukunftskonstruktion diesen Fehler der kreolischen Eliten nicht mehr begehen, hatte er doch schon spätestens seit seiner Zeit in Guatemala der indigenen Bevölkerung seine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Dass er dabei vor allem zu Beginn durchaus paternalistische Züge an den Tag legte, hatte ich kritisch angemerkt und damit auf einen Aspekt aufmerksam gemacht, der auch beim späten Martí nicht ganz selten zu beobachten ist. In Nuestra América ist die Stellung des Indianers, ist die Stellung der indigenen Bevölkerung durchaus ambivalent. Die Bewegungen des Indio verweisen zum einen auf die direkte Beziehung des Indianers zum Göttlichen, zum anderen aber auch auf einen Prozess der Christianisierung, der hier die Untertöne des Mestizaje erklingen lässt. Wie sonst ließe sich verstehen, dass Martí den Indianer gerade mit einer Handlung vorführt, die nicht auf die radikale Differenz, sondern auf die grundlegende Einheit im Glauben und in Christen verständlichen Ritualen hinweist? Der Indio, so könnten wir festhalten, repräsentiert in diesem kurzen Satz sowohl das Andere, die kulturelle und ethnische Alterität, als auch das Eigene, ähnlich wie das zuvor besprochene Wir, nur dass ihm nicht die Zeichen kultureller Entfremdung – denn als Entfremdung dürfen wir den Akt des Taufens nicht werten – eingeschrieben sind. Im Grunde haben wir es noch immer mit cierto indio que sabe francés zu tun, einem Indigenen, der vor dem Hintergrund der Martíschen Erfahrung in Guatemala die Zeichen der Akkulturation trägt

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und die Verbindung zum ersten Hauptstück des zweiten Teiles unserer Studie herstellt. Bei Martí blendet der Indio vor allem die indigene Dimension der Kulturen in Lateinamerika ein, die – wie wir sahen – aus vielen Projekten auch der Modernisten wie etwa des Uruguayers José Enrique Rodó de facto ausgeblendet blieben. El indio führt vor, dass die Präsenz der marginalisierten Kulturen unübersehbar geworden ist und nach gleichberechtigter Integration verlangt, um ein stabiles Zusammenleben, eine robuste Konvivenz sicherzustellen. Diese Funktion erfüllt auch der Schwarze, der für eine weitere kulturelle Dimension der Amerikas steht und gleichsam – wie einmal bemerkt wurde – die importierten Indigenen vertritt. Beide Bevölkerungsgruppen, die indigene wie die schwarze, bilden in vielen der neuen Staaten der Amerikas keineswegs Minderheiten, wurden aber aus dem kreolischen Projekt der Independencia machtbewusst ausgegrenzt. Der Schwarze ist zugleich der Ausgegrenzte und der Eingegrenzte, er wird von oben beobachtet (oteado), er wird bewacht, beaufsichtigt und kontrolliert. Doch ist gerade er es, der in einem schöpferischen Zusammenhang erscheint und die Musik seines Herzens sich aus dem Leibe singt. Das romantisch konnotierte Adjektiv der Einsamkeit wird dabei mit dem Unbekannten, dem Anonymen gekoppelt, so dass seine kulturellen Äußerungen letztlich als anonyme und gleichwohl verbreitete, geradezu natürliche, aus dem Herzen kommende Kultur erscheint. An einem derartigen echar mis versos del alma ist die Dichtkunst der Versos sencillos dieses frühen kubanischen Modernisten orientiert. Der Schwarze vertritt damit in gewisser Weise auch die volkskulturellen Elemente, freilich jene nicht-iberischer Herkunft, in jedem Falle aber Elemente, die nicht in die am abendländischen Kulturpol orientierte offizielle sogenannte «Hochkultur» eingingen.587 José Martí war es in seinem Essay Nuestra América darum zu tun, eine integrative Sichtweise der lateinamerikanischen Zukunft zu entwickeln und möglichst zahlreiche Kulturen auf Augenhöhe an seiner eigenen Vision eines künftigen Amerika zu beteiligen sowie diesen Zugang zu respektierten kulturellen Ausdrucksformen zu gewähren. Die evidente Marginalisierung schwarzer Kulturen wird zudem mit einer gefährlichen Einengung konnotiert, befindet sich der Schwarze doch zwischen den Wellen und den wilden Tieren, zwischen dem Element des Wassers also, das ihm – beispielsweise auf den Zuckerrohrinseln wie etwa in Martís Heimat – den Fluchtweg und auch die Rückkehr nach Afrika abschneidet, und den wil-

 Vgl. zum Vergleich die Ausführungen zu dem vielpoligen kulturellen Kräftefeld, welches bereits das lateinamerikanische 19. Jahrhundert geprägt hat im vierten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten (2021).

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den Tieren, die man zur Jagd auf entflohene schwarze Sklaven hetzte. Damit wird zugleich auch ein Unterschied zwischen Indianern und Schwarzen deutlich: Werden die ersteren nur ausgegrenzt, so sind die aus Afrika brutal deportierten Sklaven nichts anderes als Hilfsmittel, Instrumente, Arbeitsmittel der weißen Herren, die in dieser Passage im Übrigen nicht gesondert erscheinen. An ihre Stelle tritt jedoch ein dritter Marginalisierter, der Bauer, der hier mit dem höchsten Epitheton versehen wird, erscheint er doch als Creador, als Schöpfer, dessen Geschöpf auch die Stadt ist, die ihn letztlich ausgegrenzt hat. Der Bauer, der Campesino, ist für Martí stets – und hierin mag auch noch spät physiokratisches Gedankengut mitschwingen – der Vertreter einer intakten Kultur und vor allem einer Produktion, die in intimem Einklang mit der Natur steht und entsteht. In diesem letzten Satz der hier gewählten Passage erscheint unübersehbar der für weite Teile der ehemaligen Kolonien charakteristische Stadt-Land-Gegensatz, nun aber vor dem Hintergrund einer Ausgrenzung, einer Marginalisierung, deren Opfer nicht nur der weiße Landbewohner, sondern auch Indianer und Schwarzer sind. Dass Martí eine unverkennbare Neigung zu kleinbäuerlichem Besitz besaß, der in strikter Opposition zur Plantagenwirtschaft und zum Großgrundbesitz stand, it ohnehin evident. Kulturelle, ethnische und soziale Fragestellungen werden so in eine neuartige Vision von Amerika einbezogen, die zunächst von vorgängigen Identitätsentwürfen beziehungsweise Erfindungen und Visionen Amerikas ausgeht, diese befragt und als hohl, als fremd und entfremdet vorführt. An die Stelle einer derartigen Vision, deren Ergebnis notwendig nicht die Integration, sondern die Ausgrenzung breiter Teile der Bevölkerung ist, wird Martí eine andere Konzeption setzen, die bewirken soll, dass eine wirkliche politische und auch wirtschaftliche Unabhängigkeit ins Werk gesetzt werden kann. Auf diese Weise sollen Entfremdung und Ausgrenzung beendet werden und eine neue integrale Einheit, eine wirkliche Gemeinschaft entstehen: eben jene von Nuestra América: keine Gesellschaft, sondern eine Gemeinschaft, die auf einem friedlichen Zusammenleben all ihrer Kulturen und all ihrer Menschen gründet. Unter Bezug auf eine Studie von Julio Ramos588 möchte ich aber nun auf eine andere kulturelle Dimension in den Amerikas aufmerksam machen, welche sich im Schreiben José Martís im New Yorker Exil abzeichnet und für das damals bevorstehende 20. Jahrhundert von größter Bedeutung werden wird: Ich spreche vom kulturellen Pol der Massenkultur, die sich bereits zum damaligen Zeitpunkt der fortgeschrittensten Medien zugunsten einer internationali-

 Vgl. Ramos, Julio: Desencuentros de la modernidad en América Latina. Literatura y política en el siglo XIX. México: Fondo de Cultura Económica 1989.

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sierten Verbreitung im Kontext der dritten Phase beschleunigter Globalisierung bediente. Denn unter den Bedingungen eines sich rasch globalisierenden Erwartungshorizonts bildeten sich im großstädtischen Raum Strukturen heraus, deren Charakteristika José Martí mit größter Aufmerksamkeit zur Kenntnis nahm. Bereits am 3. Dezember 1881 erschien in La Pluma in Bogotá eine, so ließe sich sagen, frühmodernistische Chronik, die José Martí von seinem ersten New Yorker Exil aus, dem er bald, wenn auch nur vorübergehend, den Rücken kehren sollte, geschrieben und nach Kolumbien geschickt hatte. Es ist eine jener Chroniken, die ein Martí, der seine lateinamerikanischen Pressenetzwerke erst noch aufbauen musste, für ein südamerikanisches Lesepublikum schrieb, um es über die Entwicklungen in den USA aus erster Hand zu informieren. Martí steht noch ganz am Anfang des von ihm mit großem Einsatz geknüpften hemisphärischen Netzwerks. In diesem kurzen Text begleiten wir den kubanischen Exilanten auf einem Ausflug in den berühmten Vergnügungspark von Coney Island, nicht ohne zuvor freilich vom Autor der folgenden Zeilen eine grundlegende Erläuterung hinsichtlich der spezifischen Bedeutung Nordamerikas für unsere hispanoamerikanischen Völker vorausgeschickt zu bekommen: In der menschlichen Prachtentfaltung gleicht nichts der wundervollen Prosperität der Vereinigten Staaten des Nordens. Ob es bei ihnen einen Mangel oder nicht an tiefen Wurzeln gibt; ob bei den Völkern jene Verbindungen, welche Aufopferung und geteilter Schmerz schaffen, dauerhafter sind als jene, welche ein gemeinsames Interesse erzeugt; ob diese kolossale Nation in ihren Eingeweiden wilde und furchterregende Elemente besitzt oder nicht; ob die Abwesenheit des weiblichen Geistes, der Ursprung des künstlerischen Sinnes und die Ergänzung des nationalen Wesens, das Herz dieses erstaunlichen Volkes verhärtet und korrumpiert, wird erst die Zeit uns sagen. En los fastos humanos, nada iguala a la prosperidad maravillosa de los Estados Unidos del Norte. Si hay o no en ellos falta de raíces profundas; si son más duraderos en los pueblos los lazos que ata el sacrificio y el dolor común que los que ata el común interés; si esa nación colosal, lleva o no en sus entrañas elementos feroces y tremendos; si la ausencia del espíritu femenil, origen del sentido artístico y complemento del ser nacional, endurece y corrompe el corazón de ese pueblo pasmoso, eso lo dirán los tiempos.589

Wir finden in dieser Eingangspassage von 1881 bereits eine Vielzahl von Elementen, die die Denker und Dichter des Fin de siècle Hispanoamerikas ausformulieren und insbesondere im Arielismo politisch umsetzen sollten. Noch ist für José Martí ungewiss, in welche Richtung sich die USA entwickeln und ob sie zu einer Bedrohung für die Länder im Süden des Doppelkontinents heranreifen würden. Doch die kulturellen und gesellschaftlichen Unterschiede zwischen

 Martí, José: Coney Island. In (ders.): OC 9, S. 123.

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den Vereinigten Staaten des Nordens – wie Martí die USA gerne nennt – und den ehemals spanischen Kolonien Amerikas stehen für ihn außer Frage. Die Kultur der USA sei durch das Fehlen des weiblichen Elements gekennzeichnet, worunter der Kubaner freilich das Fehlen einer Weiblichkeit verstand, welche nicht seinem eigenen, bereits besprochenen Bild der Frau entsprach. Martí betrachtet den Norden vor dem Hintergrund des Südens und sagt damit in seinen den Modernismo ankündigenden Wendungen ebenso viel über den Norden als über den Süden des amerikanischen Kontinents aus. Die Zweiteilung in seinem Denken der Amerikas ist offenkundig. José Martí benennt bereits einige jener Grundzüge, welche den Norden aus Sicht des Südens auszeichnen, hält eine Entscheidung fürs erste zumindest aber noch offen, indem er der Zukunft – und damit letztlich der Geschichte – ein abschließendes Urteil über die Vereinigten Staaten nicht von Amerika, sondern des Nordens überlässt und überantwortet. In diesen und ähnlichen Formulierungen führt der kubanische Migrant in New York immer wieder seinem Lesepublikum vor Augen, dass der Name Amerika keinesfalls gleichbedeutend mit den USA ist und dass sich diesem Amerika ein anderes, weiteres Amerika gegenüberstellen lässt. Auch wenn sich Martí mit dieser adäquaten Sprachregelung nicht durchsetzen konnte, scheint mir sein Anliegen doch bis heute höchst bedenkenswert. Der Begriff Amerika wird in der vorliegenden Studie daher niemals mit den USA gleichgesetzt oder identifiziert. Noch verfügt Martí in diesem Artikel nicht über die Begrifflichkeit und mehr noch seine Konzeption von Nuestra América. Das hispanoamerikanische Lesepublikum – und auf dieses zielt dieser Text – ist aber damit bereits eingestimmt auf eine Begegnung mit dem Anderen in Form Nordamerikas, eine Begegnung, die letztlich eigene Identitätsentwürfe konturierende Züge erhalten wird und die notwendige Präsenz der USA im Denken Hispanoamerikas veranschaulichen soll. Dass Mexiko aus geographischer Sicht zu Nordamerika zählt, ließ der kubanische Essayist in diesen Wendungen außer Betracht. Der Besuch von Coney Island, das noch vor vier Jahren nichts anderes als ein Haufen Erdmasse, nichts als ein «montón de tierra abandonado hace cuatro años»590 gewesen und heute aber bereits berühmt geworden sei, steht gleichsam im Zeichen einer Entdeckungsreise, die nun den Hispanoamerikaner nicht mehr zum Objekt, sondern zum Subjekt dieser Reise und dieser Entdeckung werden lässt. Nicht der Norden besucht mehr allein den Süden; auch der Süden ist nun in der Lage, den Norden zu erkunden und sich über diesen Norden sein eigenes

 Ebda.

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Bild zu machen. Und Martí wird zum Cicerone seines südamerikanischen Lesepublikums auf dem Weg zu einer Erkundung der US-amerikanischen Moderne. Dies scheint mir insoweit bedeutsam, als nun – im Rahmen der neugeschaffenen Möglichkeiten einer erstarkten lateinamerikanischen Presse, die Auslandskorrespondenten unterhält – Lateinamerikaner für Lateinamerikaner über andere Regionen und deren Bewohner schreiben, eine Situation, die (denkt man an Sarmientos Reiseberichte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts591) nicht völlig neuartig ist, die aber unter den hispanoamerikanischen Modernisten eine neue Funktion und Wichtigkeit erhält. Ebenso Rubén Darío wie auch José Enrique Rodó, der sicherlich am wenigsten Reisende der drei großen Modernisten, verfassten Reiseberichte, wobei der Uruguayer am Ende seines Lebens unter günstigen finanziellen Konditionen ebenfalls für ein Bonaerenser Periodikum und Publikum vor allem aus Spanien und Italien berichten sollte. Das Auftauchen dieser reiseliterarischen Gattung ist insofern bedeutungsvoll, als sich ein lateinamerikanisches Publikum nun durch Lateinamerikanerinnen und Lateinamerikaner vor Ort Informationen aus erster Hand über die Vereinigten Staaten oder über Länder Europas verschaffen konnte. Doch dies ist erst eine Entwicklung, die sich im Zeichen der Modernisierung vieler lateinamerikanischer Staaten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts massiver abzeichnete und die Informationsflüsse auf dem amerikanischen Kontinent veränderte. Diese Veränderungen waren allein möglich unter den sich rasch transformierenden Bedingungen der dritten Phase beschleunigter Globalisierung. Man könnte durchaus die Behauptung wagen, dass an der Wende zum 20. Jahrhundert die lateinamerikanische Presse unabhängiger von den «Lieferungen» aus den USA und Europa war als sie es heute ist, dass also die Zirkulationen des Wissens transareal weniger fremdgesteuert waren als in unserer heutigen Zeit. Rolle und Funktion der hispanoamerikanischen Modernisten werfen auf diese Tatsache ein ebenso erhellendes wie bezeichnendes Licht. Wie auch immer man diese Entwicklungen beurteilen mag: Die fremdkulturelle Differenz wurde damit in die eigenkulturelle Sichtweise dergestalt eingebracht, dass die Bewohner der ehemals iberischen Kolonien Amerikas nicht mehr nur die Objekte der früheren Chronisten des 16. Jahrhunderts oder der europäischen Reiseschriftsteller des 19. Jahrhunderts waren, sondern nun selbst aktiv werden und über unbekannte Gebiete und deren Merkwürdigkeiten berichten konnten. Sicherlich gab es für diese Situation Vorläufer, wie etwa die Schriften

 Vgl. zu Domingo Faustino Sarmiento das entsprechende Kapitel im vierten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten (2021), S. 627 ff.

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3. Hauptstück: Entwürfe der Modernität: Welche Moderne für Nuestra América?

von Fray Servando Teresa de Mier über Europa zeigen.592 Doch brachte der hispanoamerikanische Modernismo eine fundamentale und strukturelle Transformation mit sich, die in der gewachsenen Relevanz Lateinamerikas im internationalen Kontext gegen Ende des 19. Jahrhunderts zum Ausdruck kam. Denn in der Epoche des Modernismo veränderten sich die transarealen Zirkulationen des Wissens auf dem amerikanischen Kontinent in grundlegender Weise. Auch dies scheint mir ein wichtiger Aspekt des hispanoamerikanischen Modernismus zu sein, betrachtet man ihn in seiner Gesamtheit und beschränkt man ihn nicht, wie doch allzu oft geschehen, auf die Lyrik einiger weniger modernistischer Vertreter. Denn all dies ging einher mit grundlegenden Veränderungen nicht allein bezüglich der Schnelligkeit der transozeanischen Informationsübermittlungen, sondern auch im Bereich des gesamten Pressewesens und von Druckerzeugnissen im ehemals iberischen Amerika. Doch kehren wir zurück zu jener Chronik, jenem Reisebericht von einem Ausflug vor die Tore von New York im Jahre 1881, der uns eine Reihe neuer Aspekte mit Blick auf die Problematik liefern soll, welche Moderne(n) es für Nuestra América zu wählen galt. Was beeindruckt nun den Reisenden, was erstaunt ihn? José Martí selbst gibt uns eine zugleich detailreiche und umfassende Antwort auf diese Fragen, indem er alle seine Beobachtungen in den Kontext einer überragenden Moderne-Sicht stellt, welche ganz selbstverständlich auf gestärkten globalisierten Relationen und massenkulturellen Entwicklungen beruht: Was dort erstaunt ist die Größe, die Menge, das unverzügliche Resultat menschlicher Aktivität, dieses unermessliche Ventil an Vergnügungen, das einem unermesslichen Volke offen steht, diese Speiseräume, die von weitem betrachtet wie hochgereckte Heere aussehen, diese Wege, die in zwei Meilen Entfernung nicht Wege sind, sondern weite Teppiche von Köpfen; dieses tägliche Sich-Ergießen eines machtvollen Volkes über einen Machtvollen Strand; diese Mobilität, dieses Vorwärtsstreben, dieses Sich-Beeilen, diese Veränderung in der Form, diese fiebrige Rivalität des Reichtums, dieser monumentale Anblick der Gesamtanlage, die es als würdig erscheinen lässt, dass jenes badebegeisterte Volk mit der Majestät der alles tragenden Erde, mit dem alles liebkosenden Meere und mit dem alles krönenden Himmel wettstreite, diese ansteigende Flut, diese atemberaubende und nicht zu kontrastierende, feste und frenetische Expansivität, und diese Natürlichkeit im Wunderbaren; dies ist es, was dort erstaunt. Lo que asombra allí es, el tamaño, la cantidad, el resultado súbito de la actividad humana, esa inmensa válvula de placer abierta a un pueblo inmenso, esos comedores que, vistos de lejos, parecen ejércitos en alto, esos caminos que a dos millas de distancia no son caminos, sino largas alfombras de cabezas; ese vertimiento diario de un pueblo por-

 Vgl. zu diesem Autor den vierten (S. 335 ff.) wie den fünften Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Aufklärung zwischen zwei Welten (2021), S. 516 ff.

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tentoso en una playa portentosa; esa movilidad, ese don de avance, ese acometimiento, ese cambio de forma, esa febril rivalidad de la riqueza, ese monumental aspecto del conjunto que hacen digno de competir aquel pueblo de baños con la majestad de la tierra que lo soporta, del mar que lo acaricia y del cielo que lo corona, esa marea creciente, esa expansividad anonadora e incontrastable, firme y frenética, y esa naturalidad en lo maravilloso; eso es lo que asombra allí.593

Die Leserinnen und Leser dieser Ausführungen fühlen sich an die fast zeitgleichen Beobachtungen Friedrich Nietzsches erinnert, welche die Atemlosigkeit und nie stillstehende Bewegung der Epoche mit dem Verweis auf Amerika begründet hatten. Wenn Nietzsches Verweis auf das «indianische» Element vor dem Hintergrund des Wissens Martís auch mehr als unpassend (und im Übrigen auch als rassistisch) erscheinen mag, so betreffen die übereinstimmenden Schilderungen und Bemerkungen des deutschen wie des kubanischen Philosophen doch eine transareale Veränderung, welche ebenso die europäische wie die amerikanische Seite des Atlantik betraf. So unterschiedlich und in Teilen gegensätzlich diese beiden Denker der Moderne auch sein mochten: Sie stimmten doch in ihrer Beobachtung wie in manchen ihrer Anmerkungen völlig überein, eine Übereinstimmung, die wir schon mit Blick auf die Beziehung zwischen Nietzsche und José Enrique Rodó hatten konstatieren können. Diese drei Denker eint ein vergleichbares Epochenbewusstsein und die Sensibilität für eine Akzeleration, die in allen Bereichen des Lebens ebenso in der Alten wie in der Neuen Welt spürbar war. Höchst beeindruckend und aufschlussreich ist am Ende dieser bei Martí wie Wellen hereinbrechenden Syntax, denen der Wellenbrecher eines simplen Satzes kontrastiv entgegengestellt wird, die Tatsache, dass der Kubaner Martí die Szenerie vor den Toren New Yorks im Zeichen des maravilloso, des Wunderbaren, also fast wie ein Chronist des 16. Jahrhunderts in umgekehrter Blickrichtung, erfährt und für seine Leserinnen und Leser erfahrbar und mehr noch mit- und nacherlebbar macht. Es ist ein Wissen über die Moderne, das in ein narratives Wissen594 verwandelt dem Lesepublikum Lateinamerikas gleichsam die Gelegenheit schenkt, an diesem Erleben der US-amerikanischen Moderne teilzuhaben, alles gleichsam vor Ort, vor den Toren New Yorks, mitzuerleben. Alles in dieser frühmodernistischen Prosa drückt die Bewegung, drückt die Mobilität aus und verweist ebenso auf die Kräfte der Natur wie Ebbe und Flut wie auf die Kräfte des Menschen, der menschlichen Aktivität, um die Dinge in unablässige Bewegung zu versetzen. Auf diese Weise entsteht ein bewegendes

 Martí, José: Coney Island. In: OC 9, S. 125.  Vgl. hierzu die kognitionswissenschaftlich und nur wenig literaturwissenschaftlich ausgerichtete Studie von Breithaupt, Fritz: Das narrative Gehirn. Was unsere Neuronen erzählen. Berlin: Suhrkamp Verlag 2022.

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3. Hauptstück: Entwürfe der Modernität: Welche Moderne für Nuestra América?

Bewegungsbild der Vereinigten Staaten des Nordens, in dem es keine Ruhepausen, sondern nur ein ständiges Vorwärtsstreben gibt. Diesen Bewegungen der Moderne entspricht eine bewegliche modernistische Prosa. Es ist insbesondere das Gefühl und die Wirkung der menschlichen Massen, jener ständig bewegten Köpfe und Körperteile, die José Martí im Zeichen des Vergnügungsparks von Coney Island wie ein gigantisches Ventil der Lust erscheint. Es unterscheidet sich nicht mehr ein Individuum von einem anderen: Alle bilden ein Muster, das mit seinen Köpfen wie ein Teppich, ja wie ein Wandteppich wirkt, der mit der Farbgebung impressionistischer beziehungsweise pointillistischer Malerei ausgeführt wäre. Martí malt modernistische Bilder in einer Sprache, die an syntaktischer wie semantischer Komplexität kaum noch zu übertreffen ist. Dabei verschieben die parallel anbrandenden Satzrhythmen den metaphorischen Bezug von der Ebene der Kultur (mit ihren alfombras aus Köpfen) deutlich zum Bereich der Natur, wobei eine Verbindung zwischen jenem großen Volk des Nordens und der Majestät seiner Natur hergestellt wird. In der Ikonographie595 José Martís gibt es Photographien, die ihn in Coney Island zeigen: nicht in den großen Restaurants, nicht inmitten der Massen auf den Wegen, sondern am Strand, am Rande der unzähligen Holzbuden, die Coney Island vor den Toren New Yorks säumen. Die metropolitane Großstadterfahrung, die für Martí zum damaligen Zeitpunkt in New York nach Aufenthalten in Havanna, Madrid, Paris und Mexiko-Stadt neu war, dennoch aber in diesem Kontext erregend blieb, bereitet literarischen Ausdrucksformen den Weg, die derartigen Menschenmassen syntaktisch wie semantisch literarische Form und ästhetischen Ausdruck zu geben versuchen. Martís Prosa verändert sich grundlegend, verlässt endgültig ihre von der Romantik ererbte Tradition und begibt sich hinein in den Taumel einer Bewegung, welche an die Leserschaft weitergegeben wird und diese in erlebte und nacherlebte Erschütterung versetzen soll. Die New Yorker Grunderfahrung einer sozioökonomischen Modernisierung verwandelt sich und gewinnt ästhetische Form in einer Prosa, welche mit ihrer Rhythmik den Weg des hispanoamerikanischen Modernismo zu Beginn der achtziger Jahre – und damit zum Zeitpunkt der anhebenden dritten Phase beschleunigter Globalisierung – eröffnet. Die in diesen Jahren aufkommende Prosa lässt sich sehr wohl als Antwort des kleingewachsenen Kubaners auf die große Ge-

 Vgl. zur Martí’schen Ikonographie Ette, Ottmar: Imagen y poder – poder de la imagen: acerca de la iconografía martiana. In: Ette, Ottmar / Heydenreich, Titus (Hg.): José Martí 1895 / 1995. Literatura – Política – Filosofía – Estética. 10° Coloquio interdisciplinario de la Sección Latinoamérica del Instituto Central de la Universidad de Erlangen-Nürnberg. Frankfurt am Main: Vervuert Verlag 1994, S. 225–297.

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schichte mit ihren globalisierten Herausforderungen begreifen. Sie ist die Sprache, die ihrer Epoche am besten entspricht. All dies macht José Martí seinen kolumbianischen Leserinnen und Lesern – für die er zum Vergleich auch auf die Architektur Bogotás zurückgreift – quasi durch seine Formgebung deutlich, wobei sich zeigt, dass gegenüber diesem nordamerikanischen Volk, das sich nur vom Besitz eines Vermögens, von der «posesión de la fortuna» leiten lasse,596 ein Wir, ein nosotros, antagonistisch aufbaut. Dieses sich im Süden des Kontinents aufbauende Wir tauscht die fremdkulturelle Differenz unverzüglich in eigenkulturelle Sichtweisen um: «Andere Völker – und wir zählen dazu – leben verzehrt von einem sublimen inneren Daimon, welcher uns unermüdlich zur Verfolgung eines Ideals der Liebe oder des Ruhmes drängt».597 Und Martí weiter: «Die Sehnsucht nach einer überlegenen spirituellen Welt erfüllt und bedrückt uns»,598 was zu tiefer Melancholie und der etwas raschen Einsicht führe, dass jenes große Land des Nordens leer von Geist sei.599 Es sind Vorstellungen, wie sie auch Rubén Darío und vor allem José Enrique Rodó prägen werden. Dabei wusste der kubanische Essayist sehr wohl, dass die spirituelle, dass die philosophische und literarische Landschaft der USA keineswegs leer und an Geist verarmt war. In seinem großartigen, am 19. Mai 1882 in La Opinión Nacional in Caracas erschienenen Essay über Ralph Waldo Emerson zeigte er die Gedankenwelt des US-amerikanischen Philosophen ebenso sensibel auf,600 wie er in seinem auf den 19. April 1887 datierten und in El Partido Liberal in Mexiko erschienenen Essay El poeta Walt Whitman eine kongeniale Einführung in die dichterische Welt des Schöpfers der Leaves of Grass gab.601 Diese wie viele andere literarische Dokumente bezeugen, mit welchem Interesse und mit welcher Neugier, aber auch mit welcher philosophisch-literarischen Offenheit sich der Verfasser der Versos sencillos der Geisteswelt in den Vereinigten Staaten von Amerika zuwandte, um seinen Leserinnen und Lesern in verschiedenen Ländern Lateinamerikas ein möglichst vielschichtiges Bild der USA zu bieten. Die literarische Darstellung der philosophischen Komplexität des Naturbegriffs bei Ralph Waldo Emerson hielt José Martí freilich nicht davon ab, wie später José Enrique Rodó auf geistig-spiritueller Ebene einer Zweiteilung des amerikanischen

 Martí, José: Coney Island. In (ders.): OC 9, s. 126.  Ebda.: «Otros pueblos – y nosotros entre ellos – vivimos devorados por un sublime demonio interior, que nos empuja a la persecución infatigable de un ideal de amor o gloria.»  Ebda.: «la nostalgia de un mundo espiritual superior nos invade y aflige.»  Ebda.  Martí, José: Emerson. In (ders.): OC 13, S. 15–30.  Martí, José: El poeta Walt Whitman. In: OC 13, 129–143.

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3. Hauptstück: Entwürfe der Modernität: Welche Moderne für Nuestra América?

Kontinents das Wort zu reden. Bisweilen gerät ihm die Gegenüberstellung der beiden Hälften eines zweigeteilten Kontinents aber auch zum Klischee: «Jene Menschen verspeisen Masse, wir Klasse.»602 Doch Martí ist förmlich begeistert, ja elektrisiert angesichts des nächtlichen Lichtermeers der Millionenstadt wie auch des Vergnügungsparks von Coney Island. Gleichzeitig wird die kulturelle Alterität von Martí auch anhand der Geschlechterbeziehungen vorgeführt, wundert sich der in seinem spanisch-kanarischen Elternhaus katholisch erzogene Martí doch darüber, wie viele verheiratete Frauen bei diesem Spektakel ohne die Begleitung ihrer Männer zugegen sind. An dieser Stelle werden einmal mehr die wertkonservativen, patriarchalischen Vorstellungen Martís von traditionellen Geschlechterbeziehungen überdeutlich und belegen, wie kontinuierlich Martí diesen phallogozentrischen Überzeugungen und Maßstäben nachhing. Zeitlebens blieb er seinen traditionalistischen und machistischen Vorstellungen in seiner Sichtweise der Frau treu. Die Vision der Vereinigten Staaten erhält unter dem Eindruck der Vergnügungszentren und der Großstadterfahrung durchaus ambivalente Züge, welche sich freilich klaren Negativsetzungen, die sich immer wieder finden lassen, letztlich doch entziehen. Coney Island ist, als pars pro toto der gesamten Vereinigten Staaten, für Martí ein einziges Faszinosum, das er seiner südamerikanischen Leserschaft lebendig vermitteln will: Die elektrischen Lichter, welche mit einer zärtlichen und magischen Helligkeit die Plätze vor den Hotels, den englischen Gärten, den Konzertpavillons, ja selbst den Strand überfluten, an dem man in jenem lebendigsten Lichte die Sandkörner zählen könnte, erscheinen von weitem wie unruhige höhere Geister. […] wie am helllichten Tage liest man überall Zeitungen, Programme, Plakate, Briefe. Dies ist ein Volk von Sternen; und so sind die Orchester, die Tanzveranstaltungen, das Stimmengewirr, das Geräusch der Wellen, das Geräusch der Menschen, der Chor von Gelächter, das Schmeicheln der Luft, die lauten Schreie, die Schnellzüge, die leichten Kutschen, bis in der Stunde der Rückkehr, gleich einem Monstrum, das seine Eingeweide am hungrigen Schlunde eines anderen Monstrums entleerte, sich jene kolossalen Menschenmassen sich zusammengepresst und kompakt an den Zugängen zu den Zügen verkeilen, welche wimmelnd von Menschen und ächzend, als wären sie von ihrem Wege erschöpft, diese durch die Einsamkeit retten, worauf sie später ihre aufgewühlte Last in die gigantischen Dampfer entlassen, welche von Harfen und Violinen belebt sie zu den Landungsstegen leiten, um die ermüdeten Ausflügler in tausend Kutschen und tausend von ihnen überquerte Wege zu gießen, so als wären dies Venen aus Eisen eines schlafenden New York. Las luces eléctricas que inundan de una claridad acariciadora y mágica las plazuelas de los hoteles, los jardines ingleses, los lugares de conciertos, la playa misma en que pudieran contarse a aquella luz vivísima los granos de arena parecen desde lejos como espíri-

 Ebda., S. 127: «Aquellas gentes comen cantidad; nosotros clase.»

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tus superiores inquietos. […] Como en día pleno, se leen por todas partes periódicos, programas, anuncios, cartas. Es un pueblo de astros; y así las orquestas, los bailes, el vocerío, el ruido de olas, el ruido de hombres, el coro de risas, los halagos del aire, los altos pregones, los trenes veloces, los carruajes ligeros, hasta que llegadas ya las horas de la vuelta, como monstruo que vaciase toda su entraña en las fauces hambrientas de otro monstruo, aquella muchedumbre colosal, estrujada y compacta se agolpa a las entradas de los trenes que repletos de ella, gimen, como cansados de su peso, en su carrera por la soledad que van salvando, y ceden luego su revuelta carga a los vapores gigantescos, animados por harpas y violines que llevan a los muelles y riegan a los cansados paseantes, en aquellos mil carros y mil vías que atraviesan, como venas de hierro, la dormida Nueva York.603

Die Prosa Martís wird atemlos, kennt kaum Ruhepausen, überschlägt sich und springt gerade dann wieder auf, wenn wir sie zu einem Ende gekommen glaubten. In ihr finden wir die Embleme der sozioökonomischen Modernisierung, die in gedrängter Form die Besonderheit einer Nation beleuchten, deren Modernität ebenso außer Frage steht wie deren Faszinationskraft gerade für Nationen, die sich auf den Weg zu ihrer eigenen Moderne gemacht haben. Noch der Weg zum Spektakel und zurück vom Spektakel wird selbst zum Spektakel, das nach Atem ringt, das nach Ausdrucksformen sucht, das sich in den Bewegungen der Massen vervielfacht. Zugleich ist es höchst spannend zu beobachten, dass in dieser Passage aus dem Jahre 1881 vielleicht zum ersten Male und mit Blick auf die Vereinigten Staaten des Nordens jener Begriff erscheint, mit welchem José Martí kurz vor seinem Tod in dem bereits zitierten Brief an seinen mexikanischen Freund Manuel Mercado die USA belegte: mit dem Begriff eines Monstrums, dessen Eingeweide er selbst bestens kenne. Doch noch ist der Blick José Martís auf die Vereinigten Staaten des Nordens nicht jener, der in seinem letzten Lebensjahrzehnt entstehen sollte. Wir werden noch weitere Stationen dieses Weges hin zu einer veränderten Sichtweise der USA kennenlernen und in Zusammenhang damit noch genauer verstehen, wie ein verändertes Verständnis der USA mit Blick auf deren internationale Stellung Martís Begreifen der Beschleunigungsprozesse der Globalisierung grundlegend transformierte. José Martí vermittelt seinen kolumbianischen Leserinnen und Lesern eine lange Liste der Embleme der Moderne: Elektrisches Licht, Züge, Schiffe, konsumierbare Musik, die Kulturlandschaft der Hotels und Vergnügungsorte, aber auch die ständige Präsenz der Leseprozesse, die nicht zuletzt am Ende dieses Zeitungsartikels auch die Zeitung selbst gleichsam autoreferentiell in den eigenen Text einblenden. Wir haben es mit einem ungemein sorgsam konstruierten

 Ebda., Bd. 9, S. 128.

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3. Hauptstück: Entwürfe der Modernität: Welche Moderne für Nuestra América?

Textgewebe zu tun, welches sich überdies auf einer poetischen Ebene wie ein verdichteter Gedichttext verhält und von einer lyrischen Rhythmisierung durchzogen ist. Coney Island ist der Versuch, die neuen Vergnügungslandschaften und die entstehende Massenkultur in den USA im Lichte der Modernisierungsprozesse zu verstehen und daraus mit Hilfe einer neuartigen modernistischen Prosa die künftigen Wege der Moderne in den USA abzuleiten. Die in diesem Artikel, in dieser Chronik von Martí vorgelegte Prosa ist bemerkenswert. José Martís Sätze finden keine Ruhe, sondern öffnen sich immer weiter auf neue Perioden, die oft in logisch kaum mehr nachvollziehbaren Schritten von anderen Entwicklungen, anderen Themen, anderen Bewegungen überlagert werden. Zwischen der allmächtigen Präsenz des Lustorts und dem Aufbruch ins nächtliche New York sowie der dortigen Ankunft gliedert keine Satzgrenze die atemlose Periode, die die dargestellte Bewegung in sich selbst aufnimmt und der Lektüre einer gleichsam atemlosen Leserschaft geradezu aufzwingt. Martís modernistische Prosa wird an dieser Stelle suggestiv, ganz so, wie die semantisch hochkomplexen Reden des Kubaners ihr präsentes Publikum weniger rational überzeugten als durch ihre wirbelnden Bilder quasi hypnotisierten. Hier schreibt kein Reporter, sondern ein stilbewusster (modernistischer) Chronist, der als Chronist in einem doppelten Wortsinne auch an jene Tradition anknüpft, die im 16. Jahrhundert Amerika zum Objekt eines faszinierten Schreibens und einer nicht weniger faszinierten europäischen Leserschaft machte. Martís literarisches Oeuvre ist in mehr als einem Sinne die Antwort der dritten Phase beschleunigter Globalisierung auf die noch immer schmerzenden Herausforderungen einer ersten Phase, die nicht mehr ist und doch nicht aufhören kann zu sein. Gleichwohl hielt die faszinierende Präsenz von Coney Island und New York José Martí in späteren Schriften, in Essays insbesondere der späten achtziger und der neunziger Jahre, nicht davon ab, das sich ankündigende Ausgreifen der Vereinigten Staaten nach Süden zu prognostizieren und seine Landsleute davor zu warnen: auf der Hut zu sein vor jenen Siebenmeilenstiefeln, die sich den iberisch geprägten Ländern des Kontinents immer mehr näherten. Angesichts der globalpolitischen Lage wuchsen José Martís Sorgen im Verlauf dieses Zeitraums beträchtlich. Keiner hat wie Martí mit solcher Deutlichkeit früh schon die sich abzeichnenden wirtschaftlichen, sozialen, aber auch politischen und militärischen Prozesse gesehen, die den Ausgang des Jahrhunderts und einen beträchtlichen Teil des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts bestimmen und prägen sollten. Der im US-amerikanischen Exil lebende Kubaner fürchtete die Dominanz, die Hegemonie und das Machtstreben der USA, gleichviel, ob diese Vorherrschaft später im Zeichen des Big Stick oder des Good Neighbourhood stehen sollte.

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Immer stärker verkörpert das Mónstruo mit seinen Eingeweiden die Gefahren, die nach seinem Dafürhalten von den Vereinigten Staaten des Nordens für die Länder des Südens ausgingen. Aber Keiner hat wie Martí auch so erfolgreich und nachhaltig in Kuba den Widerstand gegen das Vorrücken der nordamerikanischen Interessen bei gleichzeitiger Bekämpfung der alten spanischen Herrschaft vorbereitet und organisiert. Auf der kulturellen Ebene war sich der Kubaner darüber im Klaren, dass die USA weit mehr als die europäischen Nationen – von Spanien einmal ganz zu schweigen – eine Modernität repräsentierten, welche Martí zwar ablehnte, deren Machtentfaltung er aber nur ebenso bewundernd wie dramatisch schildern konnte. Er war sich vor allem darin bewusst, dass dies nicht die Modernität Hispanoamerikas sein konnte und sein durfte. Es galt daher, einen eigenen Weg zu einer ebenso von der europäischen wie von der US-amerikanischen Modernität unterschiedenen Modernidad zu finden, um eine eigenständige und der eigenen Traditionen bewusste Moderne für Nuestra América zu schaffen. Dass diese Sichtweise auch sehr direkt die Geschlechterrollen und Geschlechterbeziehungen im Zeichen eines Paternalismus beinhaltete, sollte in den vorangehenden Kapiteln deutlich geworden sein. Wie aber konnte dieser Weg insgesamt aussehen? Wir hatten bei unserem kurzen Exkurs zu José Enrique Rodó bereits gesehen, dass die Modernitätsentwürfe Hispanoamerikas am Ausgang des 19. Jahrhunderts unmöglich abstrahieren konnten von dieser massiven Präsenz der Modernität im Norden, von jener beschleunigten, atemlosen Bewegung, von der auch der letzte (und soeben zitierte) Satz aus Martís Essay über Coney Island kündigt. Die alles beschleunigende Infrastruktur verkürzte nicht nur die Distanzen des kubanischen Reisenden in den USA, sondern auch die schützende Entfernung zwischen dem Norden und dem Süden der amerikanischen Hemisphäre. Für Martí bedeutete dies, dass der Zeitpunkt einer gefährlichen Visita – wie er sich in Nuestra América ausdrücken sollte – mit Riesenschritten näher rückte. Die New Steel Navy der USA hatte längst die Kanonen ihrer Schlachtschiffe auf diesen Süden als leichte Beute gerichtet, musste sich zuvor aber noch der spanischen Kolonialmacht in der Nachbarschaft entledigen. José Martí war sich dieser Tatsache wie auch ihrer Hintergründe innerhalb jener beschleunigten Globalisierung, deren weltweite Konturen er immer schärfer erkannte, sehr bewusst. Denn in diesem Zusammenhang war für den kubanischen Migranten klar, dass diese Distanz und damit der mit ihr verbundene Schutz nicht vom Süden, sondern vom Norden her verkürzt und unterlaufen werden sollte. Die Epoche direkter Konflikte und Auseinandersetzungen mit den Vereinigten Staaten des Nordens rückte gefährlich nahe, wie zu betonen er niemals müde wurde. Die Lateinamerikaner mussten dringend handeln: Ihr Dorf, das noch im Zeichen

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3. Hauptstück: Entwürfe der Modernität: Welche Moderne für Nuestra América?

des aldeano vanidoso stand, musste aufwachen angesichts jener Städte, die die Entwicklung des Nordens trugen und die Interessen wie die Habgier des Nordens über die Grenzen des großen Imperiums, des großen Kolosses, nach Süden schwappen ließen. Einheit, Hoffnung und Handeln: Dies sind die Eckpunkte des Martí’schen Entwurfes für das künftige Nuestra América: Aus all seinen Gefahren errettet sich Amerika. Über einigen Republiken schläft noch die Krake […]. Ihr Anstand als Republik setzt dem Amerika des Nordens vor den aufmerksamen Völkern des Universums eine Bremse, welche weder die kindische Provokation oder die zur Schau gestellte Arroganz oder der vatermörderische Streit in unserem Amerika aufheben wird, denn die dringliche Pflicht unseres Amerika ist es, sich so zu zeigen, wie es ist, einig in Seele und Absicht, rasch siegreich über eine erstickende Vergangenheit, alleine vom Blute als einem Dünger befleckt, der den Händen den Kampf mit den Ruinen entreißt und jenen mit den Venen, welche unsere Herren uns zerstochen hinterließen. Die Verachtung des machtvollen Nachbarn, der es nicht kennt, ist die größte Gefahr für unser Amerika; und es ist dringlich, insofern der Tag des Besuches naht, dass der Nachbar es kennenlernt, es bald kennenlernt, damit er es nicht verachte. Durch Unwissenheit käme er vielleicht dazu, es zum Ziel seiner Habsucht zu machen. De todos sus peligros se va salvando América. Sobre algunas repúblicas está durmiendo el pulpo […]. Como su decoro de república pone a la América del Norte, ante los pueblos atentos del Universo, un freno que no le ha de quitar la provocación pueril o la arrogancia ostentosa, o la discordia parricida de nuestra América, el deber urgente de nuestra América es enseñarse como es, una en alma e intento, vencedora veloz de un pasado sofocante, manchada sólo con la sangre de abono que arranca a las manos la pelea con las ruinas, y la de las venas que nos dejaron picadas nuestros dueños. El desdén del vecino formidable, que no la conoce, es el peligro mayor de nuestra América; y urge, porque el día de la visita está próximo, que el vecino la conozca, la conozca pronto, para que no la desdeñe. Por ignorancia llegaría, tal vez, a poner en ella la codicia.604

Die poetischen Formulierungen José Martís in seinem Essay Nuestra América sind überaus zurückhaltend, aber doch deutlich von den Erfahrungen der Internationalen Währungskonferenz und dem Panamerikanischen Kongress der Jahre 1889 und 1890 geprägt. Es sind diese Jahre diplomatischer Tätigkeiten, die es Martí erlaubten, einen tiefen Einblick in die internationalen Mechanismen der Politik und insbesondere der Währungs- und Wirtschaftspolitik zu erhalten. Martí hatte unter anderem als Delegierter aufmerksam zur Kenntnis genommen, dass es innenpolitische Interessen wie außenpolitische Notwendigkeiten gab, welche die Vereinigten Staaten des Nordens dazu veranlassen konnten, das Erbe Spaniens auf dem Kontinent in neuen Formen anzutreten und so der

 Martí, José: Nuestra América. In (ders.): OC 6, S. 21 f.

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zu Ende gegangenen Kolonialzeit – die in Kuba und Puerto Rico sowie auf den Philippinen noch fortbestand – ein neues Kapitel ökonomischer wie politischer Abhängigkeit nun nicht mehr von einer europäischen, sondern von einer amerikanischen Macht aufzuschlagen. Die Anreize für die Vereinigten Staaten, einen derartigen Schritt zu wagen, wurden mit jedem Tage größer: Martí war sich über diese immer deutlichere sich abzeichnende Situation im Klaren. Der kubanische Exilant fürchtete sehr wohl, dass die USA jeden Vorwand nutzen könnten, um ihre militärische Expansion nach Süden zu tragen. Er spürte ebenso, dass seine eigenen Kriegsvorbereitungen gegen Spanien in der Gefahr standen, den Vereinigten Staaten diesen Vorwand für ein Eingreifen zu bieten. Doch sah er keine andere Möglichkeit als die, durch einen möglichst raschen Krieg die spanische Kolonialmacht zu beseitigen, um einer aggressiven Außenpolitik der USA nicht in die Hände zu spielen. Die Tragik der Martí’schen Vorgehensweise bestand darin, dass der von ihm nach Kuba getragene Krieg sich wie der Zehnjährige Krieg als höchst langwierig erweisen sollte und keineswegs – wie von ihm erhofft – von kurzer Dauer war. Die USA sollten diese Zeit für eine Präzisierung ihres Imperium Americanum und die Planung eines Eingreifens in den kubanisch-spanischen Krieg entschlossen nutzen.605 Doch Martí sann nicht allein über die militärischen Konsequenzen seiner fieberhaften Vorbereitungen eines Krieges gegen Spanien nach. Der Informationsfluss und vor allem die Zirkulation des Wissens standen im Zentrum der Überlegungen Martís; und er sah, wie sehr die grundlegende Überzeugung von der notwendigen Einheit von Nuestra América drängte. Die Vereinigten Staaten konnten eine Vielzahl von Konflikten zwischen den Ländern Lateinamerikas für ihre Ziele nutzen und dank ihrer New Steel Navy eine Intervention rasch und erfolgversprechend auf den Weg bringen. Die Republiken von Unserem Amerika mussten zwingend den Informationsfluss kontrollieren und sich selbst mit ihren Fähigkeiten und Interessen im Bewusstsein der USA porträtieren. Oberstes Ziel dieser neuen Informationspolitik musste es sein, die Einheit dieser Länder gegenüber den Vereinigten Staaten des Nordens überzeugend zu dokumentieren. Wie wir sahen, gründete sich diese Einheit für José Martí auf den jahrhundertelangen Prozess des Mestizaje, in den auch die schwarzen und indianischen Kulturen miteingebunden sein mussten. Es galt, diese Kulturen zu einer gleichberechtigten Partizipation an der gesellschaftlichen und politischen, aber auch

 Vgl. hierzu grundlegend die klassische Studie von Wehler, Hans-Ulrich: Der Aufstieg des amerikanischen Imperialismus. Studien zur Entwicklung des Imperium Americanum 1865–1900. Göttingen 1974.

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kulturellen Macht in den iberisch geprägten Ländern zu führen, mit anderen Worten: ihre bisherige weitgehende Marginalisierung zu überwinden. Daher steht nicht von ungefähr am Ende des Essays über ein künftiges Nuestra América ein indigener Schöpfungsmythos. Dieser bewusste Schlusspunkt steht für Martís seit seinen Zeiten in Guatemala unumstößlichen Willen, die indigene Bevölkerung gezielt in die Entwicklung der lateinamerikanischen Staaten einzubinden und ihr einen wichtigen Platz innerhalb der Nationalstaaten einzuräumen. Auch dieser Aspekt beinhaltete, dass sich Martí mit einer Vielzahl supranationaler Strukturen auseinandersetzen musste. Denn das Verhältnis zu den indigenen Bevölkerungen war keineswegs ein jeweils nur nationales Problem, sondern betraf die meisten jungen Nationalstaaten Lateinamerikas. Nicht weniger bedeutsam und aufschlussreich ist dabei die Tatsache, dass Martí diesen Mythos – wie bereits erwähnt – über die Humboldtianas des Venezolaners Arístides Rojas bezog und damit indirekt auf eben jenes grundlegende Reisewerk Alexander von Humboldts zurückgriff, das in gewisser Weise den Prozess der politischen Independencia der hispanoamerikanischen Länder begleitete, teilweise sogar leitete und orientierte. Auf diese indirekte Weise griff der herausragende Theoretiker der dritten Phase beschleunigter Globalisierung auf den wohl ersten Globalisierungstheoretiker zurück, auch wenn sich eine direkte Kenntnis des Humboldt’schen Opus Americanum606 bei dem kubanischen Dichter und Denker nicht nachweisen lässt. Nuestra América, dies stand für Martí fest, musste eine Einheit in der Vielheit bilden, die auch im kulturellen Sinne ein Gegenprojekt darstellen sollte zu jener US-amerikanischen Modernität, in welcher er ein völlig anders geartetes Programm erblickte, das auf wirtschaftliche, auf materielle Bereicherung abzielte. Der Motor dieser US-amerikanischen Modernität war für ihn das wirtschaftliche und finanzielle Interesse zunehmend kleinerer und mächtigerer Gruppen innerhalb der USA, die er in seinen Escenas norteamericanas beschrieb. Im Grunde stellte der Kubaner viele jener Fehler und Defekte im demokratischen System der Vereinigten Staaten des Nordens fest, auf welche mit großem, bis heute erstaunlichem Weitblick schon ein Alexis de Tocqueville607 aufmerksam gemacht hatte. Die Tatsache, dass sich eine ganze Reihe dieser schon von dem jungen Franzosen beobachteten Fehler noch heute ausmachen

 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Weltbewusstsein. Alexander von Humboldt und das unvollendete Projekt einer anderen Moderne. Mit einem Vorwort zur zweiten Auflage. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2020.  Vgl. zu diesem französischen Denker den vierten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten (2021), S. 471 ff.

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lassen, spricht dafür, dass es sich dabei nicht um Kinderkrankheiten, sondern um systemische Probleme handelte. José Martí war trotz seines offen zur Schau getragenen Optimismus, dass sich diese Länder aus allen Gefahren erretten würden, zunehmend von der realen Situation auf hemisphärischer Ebene bedrückt. In vielen ursprünglich nicht für eine Publikation vorgesehenen Briefen und Texten Martís bemerken wir unschwer eine grundlegende Skepsis hinsichtlich des Erfolgs eines solchen Projekts angesichts der zunehmend übermächtigen Nation im Norden. Immer mehr erschienen ihm diese Vereinigten Staaten als ein Monstrum im negativen Sinne, als ein Ungeheuer, das den Rest des Kontinents zu verschlingen bereit war, um seinen unersättlichen Hunger nach Macht zu stillen. Er erkannte daher, dass ein Kampf gegen einen im Grunde übermächtigen Gegner zu führen war, eine zweifellos bittere Erkenntnis, auf die ich später noch zurückkommen werde. Martí erkannte des Weiteren die Bedeutung der internationalen Verflechtungen der USA für deren konkretes außenpolitisches Handeln. Denn der lange Zeit im US-amerikanischen Exil lebende und mit den politischen Verhältnissen seines Exillandes bestens vertraute Dichter und Politiker sah klar die innenpolitischen Zwänge und auch die Notwendigkeit der USA, ein wirtschaftliches Hinterland für den eigenen Export von massiv produzierten Waren zu schaffen. Er beschleunigte seine Vorbereitungen des Krieges gegen Spanien; doch wissen wir heute, dass dieser Krieg keine ausreichend schnellen Fortschritte zeitigte, um ein unabhängig gewordenes Kuba als eigenständige Kraft der expandierenden Macht der Vereinigten Staaten entgegenzustellen. So aber bot die Guerra de Martí den USA den willkommenen Anlass, um sich in Kuba, Puerto Rico und den Philippinen an die Stelle der ehemaligen Kolonialmacht zu setzen und zur Hegemonialmacht in der amerikanischen Hemisphäre aufzusteigen. Die Skepsis, ja bisweilen Niedergeschlagenheit Martís erwies sich in gewisser Weise als durchaus realistische Einschätzung der tatsächlichen Kräfteverhältnisse und hemisphärischen Entwicklungschancen. Martí stand mit seiner tiefen Skepsis jedoch nicht allein, wie sich anhand verschiedener Beispiele lateinamerikanischer Denker sogleich zeigen wird. Bevor wir jedoch nach anderen Beispielen für eine eher skeptische Beurteilung der politischen Situation des amerikanischen Kontinents fahnden und dabei zur Metapher vom kranken Kontinent vorstoßen werden, möchte ich noch ein letztes Mal auf die von Martí gestellte und in Nuestra América eindrucksvoll beantwortete Frage nach möglichen Lösungen zurückkommen. Wir hatten gesehen, dass Martí seinem Entwurf für ein künftiges Amerika, welches er Nuestra América zurechnete, in ganz wesentlicher Weise bislang ausgegrenzte und marginalisierte Kulturen und ethnische Gruppen hinzufügte, welche für ihn wesentliche Eckpfeiler einer hispanoamerikanischen Selbstbestimmung – oder

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einer noch zu bildenden hispanoamerikanischen Selbstfindung – darstellten. Das Faszinierende an Martí ist ja gerade, dass er im Gegensatz zu vielen anderen Dichtern und Denkern seiner Zeit versucht, die gesamte kulturelle Vielpoligkeit der jungen hispanoamerikanischen Nationen zu erkennen, zu denken und in konkretes politisches Handeln umzusetzen. Eben dies macht die integrative Konvivenzpolitik des Kubaners aus. Sicherlich ist es so, dass José Martí zu jenen Autoren gehörte, die durch Reisen, Exilerfahrungen und Aufenthalte in mehreren sehr unterschiedlichen Ländern Hispanoamerikas, aber auch in Europa und den USA einen großen Erfahrungsschatz bezüglich der Unterschiedlichkeit kultureller, ethnischer, wirtschaftlicher und politischer Faktoren gewonnen hatten. Anders als die meisten anderen Autorinnen und Autoren des 19. Jahrhunderts verfügte der kubanische Dichter über einen hemisphärischen und globalpolitischen Erfahrungshorizont, wie ihn wohl nur noch zu seiner Zeit der philippinische Nationalheld José Rizal überblickte.608 Martí hatte dadurch gelernt, dass sich die Probleme Guatemalas und Mexikos in grundlegender Weise von denen Kubas oder auch Venezuelas unterschieden. Seine spätere Tätigkeit als Diplomat im Auftrag Uruguays fügte diesen persönlich gemachten Erfahrungen vor Ort weitere hinsichtlich der unterschiedlichen politischen Interessenlagen der Länder des Cono Sur hinzu. José Martí verfügte damit über ein Lebenswissen und zweifellos auch Zusammenlebenswissen,609 das ihm den Entwurf großer hemisphärischer wie globalpolitischer Zusammenhänge ermöglichte. Andere Lateinamerikaner verfügten nicht annähernd über die weitgespannten Lebenserfahrungen des kleinen Kubaners, der sich auch trotz seiner Skepsis und selbst in ausgesprochenen Depressionen niemals in seinem politischen Handeln entmutigen ließ. Folglich war kaum ein anderer Denker und politischer Akteur gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Amerika so befähigt, diesen Erfahrungsschatz mit den Lebenserfahrungen in den Vereinigten Staaten so kreativ und wegweisend zu verbinden wie José Martí. Überdies ermöglichte ihm sein Aufenthalt in New York, sozusagen am Puls der Zeit und am Motor von Modernisierung und Modernität zu sein sowie alle diesbezüglichen Veränderungen in den USA wahrzunehmen. Dabei spielte das indigene Element innerhalb seiner Konzeption eines neuen Amerika, das dem Amerika der Anderen eine eigene Modernität entgegenstellen sollte und wollte, eine entscheidende Rolle: nicht zuletzt als Differenzmerkmal gegenüber der weitgehenden Ausrottung und nachfolgenden Reduktion der indige Vgl. zu José Rizal das entsprechende Kapitel im vierten Band der reihe Aula in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten (2021), S. 1038 ff.  Vgl. hierzu die Triologie von Ette, Ottmar: ÜberLebensWissen I–III. Drei Bände im Schuber. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2004–2010.

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nen Völker in den Vereinigten Staaten des Nordens. Für Martí war eine möglichst gleichberechtigte Integration der unterschiedlichen indigenen Bevölkerungsgruppen ein für das künftige Nuestra América wichtiges, ja entscheidendes Ziel. Ein Umgang mit Indigenen, ja eine durchgängige Indianerpolitik, wie sie in den USA gepflegt wurde, war für ihn Ausdruck eines machtgierigen und hemmungslosen Rassismus. Die Sichtweise indigener Kulturen ist bei Martí differenziert zu betrachten. Lassen sich in einem seiner frühen Theaterstücke aus den siebziger Jahren in Guatemala sowie in weiteren im guatemaltekischen Exil entstandenen Schriften noch all jene Züge einer paternalistischen Indio-Sicht erkennen, wie sie sich bei aller Sympathie gegenüber der indigenen Bevölkerung, aber aus einer Außensicht etwa im Werk der peruanischen Autorin Clorinda Matto de Turner610 abgezeichnet hatte, so räumt er den indigenen Völkern und Gruppen – ohne freilich eine gewisse paternalistische Note zu verlieren – eine aktive Rolle bei der Gestaltung der entstehenden Gesellschaften von Nuestra América ein. Vehement und mit Nachdruck versucht er, den Fehler der kreolischen Unabhängigkeitsrevolution nicht zu wiederholen, sondern die indigene Bevölkerung in den Aufbau einer künftigen amerikanischen Gesellschaft und Gemeinschaft miteinzubeziehen. Wäre Martí in Kuba geblieben, so wäre es gewiss fraglich, ob er den indigenen Völkern eine solche Rolle zugewiesen hätte, waren die Indios auf seiner karibischen Heimatinsel doch nur noch ein historisches Überbleibsel und Schmuckstück, das etwa in Gertrudis Gómez de Avellanedas Roman Sab kurz aufblitzte oder in Santo Domingo von Manuel de Jesús Galván in seinem Enriquillo idealisiert und historisch vergoldet wurde.611 Mit solchen Romantisierungen aber hatte Martí wenig zu tun. Denn keine derartige Idealisierung und Exotisierung indigener Gruppen konnte das Ziel sein, sondern deren integraler Einbau mit vollständiger Partizipation in eine nationale Gemeinschaft, die dieses Namens würdig sein sollte. José Martí aber war keineswegs der einzige hispanoamerikanische Intellektuelle, der die indigenen Bevölkerungen miteinzubeziehen versuchte. Denn es war just in jener Übergangszeit der Jahrhundertwende, dass die Vorbereitungen für einen Übergang vom Indianismus zum Indigenismus geschaffen und die Grundlagen für den modernen Indigenismo des 20. Jahrhunderts gelegt wurden. Dass dies vorwiegend von Denkern und Essayisten aus Ländern der andinen Area geleistet wurde, darf uns nicht überraschen: Hierin zeigt sich einmal mehr die Unterschiedlichkeit der einzelnen kulturellen Areas in Lateinamerika, wel-

 Vgl. zu Clorinda Matto de Turner das entsprechende Kapitel im sechsten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Geburt Leben Sterben Tod (2022), S. 924 ff.  Vgl. zu beiden Romanen ebenfalls den vierten Band der Reihe Aula.

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3. Hauptstück: Entwürfe der Modernität: Welche Moderne für Nuestra América?

che aber doch immerhin ins transareale Blickfeld von Autoren wie Martí rückte. Die sicherlich herausragende Figur war bei diesen Entwicklungen hin zum Indigenismo der peruanische Autor Manuel González Prada. Mit diesem peruanischen Politiker, Literaturwissenschaftler und Intellektuellen verlassen wir nur teilweise und kurz den Kreis von Martí und der wichtigsten hispanoamerikanischen Modernisten. Dabei möchte ich mich auf zwei Autoren beschränken, die ich nur schlaglichtartig beleuchten will: Manuel González Prada und César Zumeta. Ihre Namen fehlen häufig in den Geschichten der lateinamerikanischen Literaturen, da sie nicht einfach und bündig auf die Hauptlinien der literarischen Entwicklung bezogen werden können. Nicht immer aber sind die Hauptlinien das wirklich Interessanteste an den literaturgeschichtlichen Prozessen; und so können wir uns einen kleinen Ausflug erlauben, um zusätzliches Licht auf José Martís Konzeptionen zu werfen. Den am 5. Januar 1844 in Lima geborenen und am 22. Juli 1918 ebendort verstorbenen peruanischen Politiker, Schriftsteller und Intellektuellen José Manuel González Prada hat der angesehene uruguayische Literaturtheoretiker Angel Rama in seiner noch immer lesenswerten Einführung zu der von ihm selbst herausgegebenen Anthologie Der lange Kampf Lateinamerikas nicht ohne Grund einen «der gebildetsten und über das geistige Leben in Europa am besten informierten Intellektuellen»612 genannt. Er war zugleich auch Begründer des radikalen, in Teilen anarcho-radikalen Denkens in Peru:613 seine politischen Aktivitäten entfaltete er in deutlicher Nähe zu anarchistischen, liberalen und freidenkerischen Positionen. Kaum einer hat wie er, der einen völligen Neuanfang und damit einen klaren Bruch mit der Vergangenheit vorschlug, so vehement auf die implizit oder explizit rassistischen Vorstellungen reagiert, welche die kreolische Unabhängigkeitsbewegung wie die Modernisierungsbewegungen der hispanoamerikanischen Länder prägten. Gerade auch im Kontrast zu den USA, wo die indigene Bevölkerung keinerlei Rolle mehr spielte, sondern völlig entrechtet in Reservaten dahinvegetierte, unternahm er den Versuch einer Integration der indigenen Völker, die freilich in den Moderne-Konzeptionen vieler lateinamerikanischer Intellektueller – und wir hatten als Beispiel den Uruguayer José Enrique Rodó gesehen – nicht mehr vorkamen. Dabei löste sich González Prada unverkennbar von paternalistischen Vorstellungen, wie sie sich selbst bei einem Autor wie José Martí finden lassen,

 Vgl. Rama, Ángel: Einleitung: Ein Volk auf dem Weg. In (ders., Hg.): Der lange Kampf Lateinamerikas, S. 13.  Ebda., S. 417.

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und forderte die Indianer offen zur Rebellion gegen das herrschende System auf. Seinen Vorstellungen lag eine tiefe Überzeugung von der eigenen Kreativität und Handlungsbereitschaft der Pueblos originarios zu Grunde; so formulierte er 1988: «der Indio wird sich dank seiner eigenen Kraft erlösen und nicht durch die Humanisierung seiner Unterdrücker. Jeder Weiße ist mehr oder weniger ein Pizarro, ein Valverde oder ein Arche.»614 Dies war Ausdruck einer deutlichen Sprache. Sie entstand freilich aus der Erfahrung des wieder neu entfachten Rassismus, der letztlich stets interessegeleitet die kreolischen Führungsschichten durchdrang, beruhte ihre Herrschaft in den Gesellschaften mit hohem indigenen Bevölkerungsanteil doch wesentlich auf der wirtschaftlichen Ausbeutung der Indios. Das Land Peru war für diese seit der Independencia unveränderte Herrschaft der Kreolen ein charakteristisches nationalstaatliches Beispiel. Diese Konstellation ließ Manuel González Prada auch zu der Einsicht kommen, dass das rassistische Problem, dem die indigene Bevölkerung ausgesetzt war, letztlich ein soziales Problem sei, das auch vordringlich als soziales Problem bekämpft werden müsse. Beispielhaft hierfür ist ein Zitat aus seinem Essay über die indigene Bevölkerung aus dem Jahre 1888, in welchem der peruanische Autor festhielt: Nehmen wir zum Beispiel die Rasse als einen der Punkte, über den die Autoren völlig unterschiedlicher Meinung sind. Während einige sie als den entscheidenden Faktor der sozialen Dynamik ansehen und die Geschichte als einen Kampf der Rassen zusammenfassen, begrenzen andere den ethnischen Wirkungsradius dermaßen, dass sie mit Durkheim wiederholen: Wir kennen kein soziales Phänomen, das unter der unbestreitbaren Abhängigkeit von der Rasse eingeordnet ist.615

Vehement, ja wütend trat Manuel González Prada Vorstellungen entgegen, die Vereinigten Staaten könnten hier als einzige mit ihrer Ausgrenzungspolitik eine Lösung innerhalb einer Situation herbeiführen, die im Szenario des künftigen Rassenkriegs, der lucha de razas, gipfeln würde. Diese Überlegungen von 1888 lassen sich sehr wohl mit jenen José Martís verbinden, sind gleichwohl aber angesichts der konkreten Situation Perus entstanden, dessen indigene Dimension bis heute in den peruanischen Führungsschichten größtenteils paternalistisch und letztlich entmündigend gedacht worden ist. Als Beispiel hierfür kann in neuerer Zeit noch ein Mario Vargas Llosa angeführt werden, der eine solch paternalistische Haltung wider Willen noch in sei-

 González Prada, Manuel: Unsere Indios (1888). In: Rama, Ángel: Der lange Kampf Lateinamerikas, S. 81.  Ebda., S. 68.

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3. Hauptstück: Entwürfe der Modernität: Welche Moderne für Nuestra América?

ner Präsidentschaftskampagne von 1990 an den Tag legte und selbst in seiner Körpersprache mitunter zum Ausdruck brachte. Es gibt Texte des Kandidaten der Fredomo und des sich für eine liberale Marktwirtschaft einsetzenden großen peruanischen Literaturnobelpreisträgers, in welchen er bestritt, dass die indigenen Völker von ihrer Kultur her noch viele Möglichkeiten besäßen, Zugang und Anschluss zur Modernität, zu einer westlich geprägten Moderne, zu finden. Derartige Vorurteile sind noch heute und nicht nur in Lateinamerika weit verbreitet: Wir sollten dies bei unserer Beurteilung der Vorstellungen José Martís sehr wohl im Blick behalten. Auch wenn es anders ausgerichtete Texte von Mario Vargas Llosa gibt: Es ist beeindruckend, aber auch beschämend, wie aktuell die Fragestellungen eines Manuel González Prada bis heute in Lateinamerika geblieben sind. Die Einschätzungen des peruanischen Politikers und Intellektuellen stimmen nicht optimistisch, denn: «Das Tier mit der weißen Haut, wo immer es geboren wird, lebt gequält vom Übel des Goldes und gibt schließlich dem Instinkt der Raubgier nach.»616 Manuel González Prada setzte sich überaus kritisch mit dem von Charles Darwin in die Diskussion eingebrachten Theorem des Struggle for Life auseinander, das im Zeichen des Sozialdarwinismus gerade in Hispanoamerika auf fruchtbaren Boden gefallen war. Man kann in den Literaturen Lateinamerikas, insbesondere bei dem argentinischen Romancier Eugenio Cambaceres,617 sehr genau sehen, wie ein solches Denken Eingang fand in die Romanschöpfung. Für González Prada aber herrscht dort, wo dieser Kampf ums Überleben verkündet wird, schlicht die «Barbarei»618 vor. Er kehrte damit den Kampfbegriff von Domingo Faustino Sarmiento gegen die weißen Kreolen um und deklarierte ein der eigenen Superiorität sicheres und gewisses Denken der herrschenden Elite der Kreolen um in das, was es in der Tat war: purer Rassismus. Doch Manuel González Prada bemerkte auch eine Umwertung des gesamten politischen und gesellschaftlichen Systems der Inkas in seinem Heimatland Peru. Die politische und soziale Organisation des Inkareichs werde heute nicht zuletzt von europäischen Reformatoren und Revolutionären bewundert,619 die über einen nicht geringen Einfluss in Lateinamerika verfügten. Unverkennbar ist an derartigen Stellen, dass solche Überlegungen eigentlich nicht auf eine Reform oder besser ein ständiges Reformieren, sondern vielmehr auf einen revolutionären Umsturz der hispanoamerikanischen Gesellschaften zielen, den

 González Prada, Manuel: Unsere Indios, S. 75.  Vgl. zu Eugenio Cambaceres auch das entsprechende Kapitel im vierten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten (2021), S. 984 ff.  González Prada, Manuel: Unsere Indios, S. 77.  Ebda.

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die Independencia bekanntlich niemals geleistet hatte. Denn diese Unabhängigkeitsrevolution stürzte nur die spanische Elite, um eine kreolische Elite an ihre Stelle zu heben. Die kreolische Unabhängigkeitsbewegung befreite – grob gesprochen – nur die kreolische Führungsschicht von der spanischen Bevormundung, ließ ansonsten aber die sozialen und ethnischen wie auch kulturellen Hierarchien intakt. An eben diese Problematik schloss Martí mit seiner Inklusion der indigenen wie anderer marginalisierter Bevölkerungen an. Manuel González Prada war zweifellos ein peruanischer Modernist, bei dem sich jedoch bereits die Schwerpunkte der heraufziehenden lateinamerikanischen Avantgarden bemerkbar machten. Mit Blick auf indigenistische Positionen waren seine Forderungen nach einem Bruch mit dem bisherigen Gesellschaftssystem eindeutig: «Dem Indio», so schloss González Prada, dürfe «nicht Demut und Resignation gepredigt werden, sondern Stolz und Rebellion».620 Dieses Denken sollte später von José Carlos Mariátegui in seinen Siete ensayos de interpretación de la realidad peruana in ein neues theoretisches Konzept überführt werden, das deutlich revolutionär-marxistische Züge trägt und mit einer Inwertsetzung der kulturellen Kreativität der indigenen Gruppen verbindet. Auch außerhalb der den Modernisten zugerechneten Denker gab es viele, welche die Selbstfindungsprozesse Hispanoamerikas beziehungsweise Lateinamerikas Besonderheit im Zeichen der USA ausloteten und letztlich zu negativen, ja verheerenden Schlüssen für die Zukunft der amerikanischen Völker des Südens gelangten. Am Ende eines Jahrhunderts, das doch so hoffnungsvoll mit der Independencia begonnen hatte, stand die bittere Erkenntnis, dass es gegenüber dem machtvollen Nachbarn im Norden ein Jahrhundert des Zurückfallens, ja des aussichtslosen Zurückbleibens gewesen war. Man musste die Vorherrschaft der Vereinigten Staaten des Nordens auf wirtschaftlichem und militärischem, aber auch auf politischem Gebiet zähneknirschend anerkennen. Denn in vielen Belangen waren die hispanoamerikanischen Länder politisch noch immer fragil: Zu einer politischen Einheit, wie sie José Martí sich gewünscht hatte, ja zu einem supranationalen Staatenbund, wie ihn Simón Bolívar sich erträumte, war es niemals gekommen. Und auch die wirtschaftliche Entwicklung ließ angesichts der langen Zermürbung durch die Unabhängigkeitskriege und die sich anschließenden unaufhörlichen Bürgerkriege im Zeichen der ubiquitären Caudillos noch nicht mehr als hoffnungsvolle Entwicklungen erahnen. So stellten sich am Ende des Jahrhunderts viele lateinamerikanische Intellektuelle die bange Frage: auf welchem Stand steht und welche Zukunft hat Lateinamerika?

 Ebda., S. 81.

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3. Hauptstück: Entwürfe der Modernität: Welche Moderne für Nuestra América?

Die sozioökonomische Modernisierung hatte eingesetzt, doch war sie an ein überkommenes System der Herrschaft einer kleinen Elite gebunden, die bestenfalls eine jederzeit fragile Modernität zuließ und nicht bereit war, etwas von ihrer Macht, etwas von ihren ererbten Privilegien abzugeben. Gesellschaftliche Teilhabe breiter Bevölkerungsschichten lag nie im Interesse der führenden Machteliten. Soziale Aufstiegschancen gab es, doch fielen diese insgesamt betrachtet spärlicher aus als vergleichsweise in den USA. Aus dem jungen Kontinent war in den Augen vieler Intellektueller rund um die Jahrhundertwende ein kranker Kontinent geworden. Ein herausragendes Beispiel für ein derartiges Denken ist der mittlerweile weitgehend vergessene Venezolaner César Zumeta, der am 19. März 1860 im venezolanischen San Felipe das Licht der Welt erblickte und hochbetagt am 28. August 1955 in Paris aus dieser Welt schied. Er war sicherlich einer der einflussreichsten venezolanischen Journalisten, Politiker und Schriftsteller, dem noch José Enrique Rodó ein Exemplar seines Ariel mit einer Widmung, die das gemeinsame lateinamerikanische Erbe beschwor, geschickt hatte. César Zumeta ist heute weitgehend aus den Literaturgeschichten verschwunden; und doch hat sein 1899 erschienener Essay El continente enfermo zum damaligen Zeitpunkt eine große Ausstrahlungskraft besessen, bevor sich in der Rezeption schon wenige Jahre später Rodós Ariel mit einer gänzlich anderen Ausrichtung an seine Stelle setzte. Doch auch ein César Zumeta gehörte mit seinem erfolgreichen Essay zum Umfeld des Modernismo in Hispanoamerika und vermag uns noch heute zu erläutern, in welchem intellektuellen Umfeld sich das Denken José Martís innerhalb eines gesamtlateinamerikanischen Kontexts bewegte. César Zumetas Essay El continente enfermo kann uns heutzutage als Garant für eine Strömung innerhalb der Intellektuellen Lateinamerikas dienen, die als negative, skeptische Unterströmung selbst noch das nachfolgende Jahrhundert begleitete. Der Venezolaner Zumeta gehörte zweifellos zu jenen hervorstechenden modernistischen Schriftstellern, die letztlich selbst autoritären oder diktatorischen Regierungen dienten. so war Zumeta Senator und Minister in den Regierungen des venezolanischen Diktators Juan Vicente Gómez, in dessen Auftrag er auch diplomatische Aufgaben wahrnahm und sein Land im Ausland vertrat. César Zumeta war gleichwohl für die Denker seiner Zeit eine wichtige, wenngleich noch junge Orientierungsfigur, so etwa auch für den Dominikaner Pedro Henríquez Ureña, der ihn in einem 1904 erschienenen und für die Rezeptionsgeschichte wichtigen Essay über Rodós Ariel lobend erwähnt. Blickte José Enrique Rodós Próspero erwartungsfroh und optimistisch in die Zukunft, so sah Zumeta nicht so sehr voraus ins Künftige als vielmehr zurück auf ein Jahrhundert, das er von grundlegenden und noch nicht auskurierten Krankheiten

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gekennzeichnet sah. Und in der Tat war das 19. Jahrhundert für viele lateinamerikanische Staaten ein verlorenes Jahrhundert, das aufzuholen unter den fortwirkenden soziopolitischen Bedingungen zunehmend schwerer fallen musste. César Zumetas Metapher vom «kranken Kontinent» hat freilich eine Geschichte, die weit in die Diskussion um das eigentliche «Wesen» der Neuen Welt zurückführt. Innerhalb dieser Geschichte kommt zunächst den spanischen Chronisten, dann aber seit Beginn des 18. Jahrhunderts verstärkt von Europa aus schreibenden und die amerikanische Tropenwelt nicht kennenden Philosophes der Aufklärung die wenig überzeugende Rolle zu, die Neue Welt ins gleißende Licht einer unaufhebbaren Inferiorität zu stellen. Autoren wie Montesquieu oder Buffon, wie de Pauw oder Raynal kannten diese Neue Welt zwar nicht aus eigener Erfahrung, ließen aber nichts unversucht, der ihnen unbekannten Neuen Welt positive Qualitäten abzusprechen.621 Im transarealen Disput um die Neue Welt622 spielte die Metapher vom kranken Kontinent schon sehr früh eine wichtige Rolle. Montesquieus Klimatheorie, die gewiss ihre Vorbilder in der Antike besaß,623 verwehrte noch sehr allgemein den Tropen beziehungsweiße den heißen Klimaten eine eigene Höherentwicklung, eine Überzeugung, die von Buffon in seiner Histoire naturelle sozusagen wissenschaftlich unterfüttert und gestützt wurde und in Vorstellungen gipfelte, die das Wachstum von Flora und Fauna in Amerika als stets schwächer und kränklicher erscheinen ließ als in der normgebenden Alten Welt. Derartige Vorstellungen richteten über mehr als ein Jahrhundert verheerende Schäden im Fremdbild wie im Selbstbild der Länder des neuen Kontinents an. Von solchen Thesen aus war es nur ein kleiner Schritt – der sich bei Buffon bereits andeutete – bis hin zur Überzeugung von der physischen und psychischen Unterlegenheit der Amerikaner der Tropen und Subtropen: Sie alle würden von zahlreichen Krankheiten heimgesucht, die selbst jene in Europa geborenen

 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Réflexions européennes sur deux phases de mondialisation accélérée chez Cornelius de Pauw, Georg Forster, Guillaume-Thomas Raynal et Alexandre de Humboldt. In: HiN – Alexander von Humboldt im Netz. Internationale Zeitschrift für Humboldt-Studien (Potsdam – Berlin) XI, 21 (2010), S. 1–28 (http://www.hin-online.de).  Vgl. hierzu die klassische Studie von Gerbi, Antonello: La Disputa del Nuovo Mondo. Storia di una polemica 1750–1900. Milano – Napoli 1955; sowie Ette, Ottmar: Die «Berliner Debatte» um die Neue Welt. Globalisierung aus der Perspektive der europäischen Aufklärung. In: Bernaschina, Vicente / Kraft, Tobias / Kraume, Anne (Hg.): Globalisierung in Zeiten der Aufklärung. Texte und Kontexte zur «Berliner Debatte» um die Neue Welt (17./18. Jh.). Teil 1. Frankfurt am Main – Bern – New York: Peter Lang Edition 2015, S. 27–55.  Vgl. zu Montesquieu auch den fünften Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Aufklärung zwischen zwei Welten (2021), S. 111 ff.

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3. Hauptstück: Entwürfe der Modernität: Welche Moderne für Nuestra América?

Europäer deformierten, welche sich in diese heißen Gebiete Amerikas vorwagten. Der vielleicht avancierteste Vertreter derartiger Thesen war der in Amsterdam geborene, auf Französisch in Berlin publizierende und noch von Napoleon in Xanten mit einer Gedenkpyramide geehrte philosophische Erfolgsschriftsteller Cornelius de Pauw.624 Denn er verstand es, diese Thesen noch einmal rhetorisch zuzuspitzen und in der entstehenden aufklärerischen Öffentlichkeit wirksam gegen die Amerikaner zu wenden. Selbstverständlich waren derartige Vorstellungen europäischer Philosophes des Aufklärungszeitalters vom Leben in der Neuen Welt interessegeleitet und ganz im Sinne europäischer Kolonialmächte, die nach Begründungen und Rechtfertigungen ihrer Herrschaft über die Kolonien suchten. Nicht von ungefähr wurden derartige Vorurteile der Inferiorität auf Kreolen, auf Indigene wie auf Schwarze projiziert, trafen aber besonders die Kreolen hart, insoweit man ihnen aus europäischer Sicht jedweden gesellschaftlichen Führungsanspruch aberkannte. Die Gründe, die das europäische 19. Jahrhundert für diese strukturelle Unterlegenheit Amerikas sah, lagen auf der Hand und manifestierten sich in einer langen Geschichte zunehmender wirtschaftlicher Abhängigkeiten. Erst die Zweiteilung des Kontinents, die man am Beispiel einer zukunftszugewandten Sichtweise des Nordens bei Alexis de Tocqueville und einer rückwärtsgewandten Blickrichtung bei Flora Tristan beispielhaft überprüfen kann,625 sorgten dafür, dass der Norden des amerikanischen Kontinents von der Verdammung der Inferiorität erlöst wurde. Doch das Inferioritätsdogma blieb für den Süden Amerikas bestehen und festigte sich auch in den USA als Topos gegenüber dem Süden des Kontinents. Martís warnender Aufruf, an diesen Vorurteilen gegenüber Nuestra América dringend durch neue Informationspolitiken etwas zu ändern, verdankt sich dieser Tatsache. Doch waren es nicht allein die Äußerungen in Guillaume-Thomas Raynals Histoire des deux Indes oder später die von Cornelius de Pauw bezogenen Ausführungen Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der den südlichen Teil Amerikas im Gegensatz zum Norden unter ein negatives Vorzeichen stellte, sondern vor allem die Thesen des Grafen Joseph Arthur de Gobineau von 1853 und 1855, die sich aus nunmehr unverblümt rassistischer Position ins Selbstbewusstsein der kreolischen Führungsschichten unangenehm einprägen und verankern sollten. Rassis-

 Vgl. u. a. Ette, Ottmar: Wörter – Mächte – Stämme. Cornelius de Pauw und der Disput um eine neue Welt. In: Messling, Markus / Ette, Ottmar (Hg.): Wort Macht Stamm. Rassismus und Determinismus in der Philologie (18. / 19. Jh.). Unter Mitarbeit von Philipp Krämer und Markus A. Lenz. München: Wilhelm Fink Verlag 2013, S. 107–135.  Vgl. hierzu die Ausführungen im vierten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten (2021), S. 438 ff.

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tische Überzeugungen von der Ungleichheit der sogenannten Menschenrassen fassten allenthalben Fuß und vermischten sich mit älteren Vorstellungen, die lange Phasen des Denkens über Amerika geprägt hatten und von einer fundamentalen Krankheit vor allem des tropischen Südens Amerikas ausgingen.626 Rassistische Vorstellungen prägten im 19. Jahrhundert auch die Sichtweise verschiedener europäischer Völker. Des französischen Grafen Gobineaus Rassismus bedeutete in diesem Zusammenhang eine pseudowissenschaftliche biologische Erklärung für die Überlegenheit der Angelsachsen, welche schließlich auch den französischen Reformpädagogen und Essayisten Edmond Demolins 1897 zu der in Buchform gekleideten Frage bewegte A quoi tient la supériorité des Anglo-Saxons? Derartige Fragestellungen zur Superiorität der Angelsachsen erfreuten sich vor allem am Ausgang des 19. Jahrhunderts unter dem Eindruck zahlreicher militärischer Niederlagen des Panlatinismus627 und damit der lateinischen beziehungsweise romanischen Nationen einer großen Beliebtheit. Der Venezolaner César Zumeta übernahm, sicherlich weniger kritiklos als im selben Zeitraum so einflussreiche Autoren wie Alcides Arguedas oder Carlos Octavio Bunge, die Metapher vom kranken Kontinent und die damit verbundene «Einsicht» in eine gleichsam naturgemäß schlechtere Ausgangsposition der Lateinamerikaner, wenn er derlei Vorstellungen auch einen aktionistischen Überbau, auf verstärkten Handel zielende Vorschläge, beigab. Dabei lag seinem Essay von 1899 die Überzeugung zu Grunde, dass «die Ära, die in unserem Amerika mit dem Sieg von Ayacucho begann, mit den Tagen von Manila und Santiago zu Ende» gegangen sei.628 Er spielte damit auf die vernichtenden Niederlagen der technisch weit unterlegenen spanischen Flotte vor Santiago de Cuba und Manila gegen die hochgerüstete New Steel Navy der Vereinigten Staaten von Amerika an, sah aber auch jenseits dieser krachend verlorenen Seeschlachten die Völker des Panlatinismus weltweit in ihrer militärischen Unterlegenheit gegenüber angelsächsischen und germanischen Gegnern. César Zumetas Essay ist folglich der literarische Versuch, die neue, nun offenkundige Rolle der USA als Hegemonialmacht für Lateinamerika aus lateinamerikanischer Perspektive zu durchdenken und daraus konkrete Handlungsvorschläge

 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Diskurse der Tropen – Tropen der Diskurse: Transarealer Raum und literarische Bewegungen zwischen den Wendekreisen. In: Hallet, Wolfgang / Neumann, Birgit (Hg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Bielefeld: transcript Verlag 2009, S. 139–165.  Vgl. hierzu die Ausführungen im vierten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten (2021), S. 942 ff.  Zumeta, César: Der kranke Kontinent (1899). In: Rama, Ángel (Hg.): Der lange Kampf Lateinamerikas, S. 83.

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3. Hauptstück: Entwürfe der Modernität: Welche Moderne für Nuestra América?

abzuleiten. Im Zeichen einer von der Monroe-Doktrin geprägten Entwicklung im 19. Jahrhundert schätzt Zumeta die bisherige Handlungsweise der Lateinamerikaner negativ ein, ginge das Jahrhundert nun doch zu Ende, ohne dass die Nationen des Südens ihre Pflichten getan hätten.629 José Martí hätte solchen Überlegungen keinesfalls zugestimmt, wandte er sich doch explizit gegen alle Versuche, die aktuelle Situation am Ausgang des 19. Jahrhundert im Lichte eines Rassedenkens zu begreifen. durch seinen frühen Tod im Kampf gegen Spanien fehlte seine Stimme jedoch in der modernistischen Polyphonie des Fin de siglo. Durchaus bemerkenswert ist, dass César Zumeta in seinen Erörterungen zunächst eine lange «schwarze Liste» von Vorwürfen gegenüber Lateinamerika entrollte, wie sie sich zum damaligen Zeitpunkt in zeitgenössischen USamerikanischen Publikationen und Periodika fand. Zumeta konstatierte wie Martí die von der eigenen Superiorität geprägte Abwertung des Südens in den US-amerikanischen Medien. Eigenartig berührt aber, dass der Venezolaner dann explizit auf José Martí – den er während seiner Zeit in New York noch persönlich kennengelernt hatte – rekurrierte; dieser habe als Entschuldigung für das Versagen angeführt, «dass wir dafür noch nicht die Zeit hatten, da wir noch immer damit beschäftigt sind, das unreine Erbe aus unserem Blute zu tilgen».630 Dieser bewusst verstellende Rückgriff auf Martí zeigt deutlich, über welchen international herausragenden Ruf631 der längst im Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien Gefallene verfügte, wird dem Denken des kubanischen Dichters und Essayisten aber keinesfalls gerecht. In solchen Passagen sehen wir sehr deutlich die Verbindungslinien zwischen bestimmten Aspekten des Martí’schen Diskurses und der verbreiteten Rede vom kranken Kontinent. Bei César Zumeta wird das «kindliche Volk», das Pueblo niño, in der Tat ganz im Gegensatz zu José Enrique Rodó nicht positiv gedeutet, sondern rückübersetzt in biologische und implizit rassistische Werturteile, die dennoch auf einen Diskurs der Einheit Lateinamerikas – wenn auch nunmehr im Zeichen einer alles überdeckenden Krankheit – zurückgreifen. Vergessen wir dabei nicht, dass auch ein Rubén Darío in seiner angeführten Ode An Roosevelt das Volk des Südens als ingenuo bezeichnet hatte, mithin einer gewissen kindlichen Naivität bezichtigte. Das Pueblo niño ist da nicht ferne. Die Vorstellung von einer zu erstrebenden Einheit der noch jungen lateinamerikanischen Staaten weist gleichsam ein letztes Mal in diesem Jahrhundert

 Ebda., S. 86.  Ebda., S. 90.  Vgl. zur bewegten Rezeptionsgeschichte José Martís den ersten Teil der vorliegenden Studie.

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auf die Anfänge der Independencia und die Ideenwelt Simón Bolívars zurück. Sehen wir uns dazu abschließend die folgende Passage aus Zumetas Feder an: Im Übrigen bleibt hinzuzufügen, dass der Grund, weshalb auf diesen Seiten die Idee eines Bundes aller amerikanischen Staaten, dessen überzeugte Anhänger wir sind, keine Erwähnung findet, darin zu suchen ist, dass dieser Bund, selbst wenn wir ihn für unabdingbar halten, seit den Tagen, als ihn Frankreich und Russland beim Kongress von Verona fürchteten und ihn die große Stimme Bolívars forderte, ein solches Scheitern erfahren hat, dass er in der Welt der Politik nur mehr als Traum gilt, ebenso irreal wie der Traum von der edlen und schönen Allianz aller Völker, die im alten Rom ihre gemeinsame Mutter erkennen – eine starke und großmütige Allianz aller Söhne der Wölfin gegen alle Söhne des Leoparden. Die sofortige Bewaffnung ist unsere Pflicht. […] Bereiten wir uns 75 Jahre nach Ayacucho, wie Bolívar schon am Tag nach seinem Sieg, «auf einen glänzenden, aber äußerst langwierigen und mühseligen Krieg von größter Bedeutung» vor. Die Starken verschwören sich gegen unsere Unabhängigkeit, während der Kontinent an Schwäche erkrankt ist. Das Eisen bringt Stärkung. Bewaffnen wir uns. Allein mit dieser Vorsichtsmaßnahme können wir der Gefahr ausweichen, ja selbst die Katastrophe bannen. Unser Schicksal hängt von uns selbst ab.632

Es lässt sich in diesem Auszug ohne weiteres erkennen, dass panamerikanistische Vorstellungen, wie sie Simón Bolívar entwickelte – und die nicht mit den unter dem gleichen Titel firmierenden und in den achtziger Jahren skizzierten panamerikanistischen Plänen des US-amerikanischen State Department zu verwechseln sind –, sehr wohl noch eine Anhängerschaft unter den lateinamerikanischen Intellektuellen des Fin de siglo besaßen. Bolívars Vermächtnis war noch lebendig, nicht aber mehr einfach an die politischen Verhältnisse anzupassen, in denen die Hegemonialmacht auf dem Kontinent nicht länger Spanien, sondern USA hieß. César Zumeta zeigt in seinem Essay über den kranken Kontinent zugleich, dass es sehr wohl neben Martí weitere Stimmen gab, die eine militärische Antwort auf die lange betriebene Hochrüstungspolitik im Norden des amerikanischen Kontinents zumindest im Sinne einer allgemeinen Bewaffnung forderten. Darüber hinaus aber zeigte sich, dass die Metaphorik vom kranken Kontinent die Vorstellungswelt der Lateinamerikaner sehr wohl erreichte und ihr Selbstverständnis erschütterte. Den Gedanken an eine zukünftige und erträumte Einheit aber hat all dies nur weiter verstärkt. Es wäre ein Leichtes, eine Vielzahl lateinamerikanischer Texte aufzutürmen, welche das Denken insbesondere der Mo Zumeta, César: Der kranke Kontinent, S. 94.

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dernistas in diesem Punkt gemäß der soeben angeführten Grundlinien belegen könnten. Die Selbstfindungsdebatten, welche den Ausgang des 19. Jahrhunderts im Zeichen der US-amerikanischen Modernität, der hispanoamerikanischen Modernisierung und der militärischen Expansion des Ungeheuers im Norden prägten, wurden von José Enrique Rodó in eine Metaphorik umgedeutet, die das lateinische Amerika nicht länger im Zeichen der Krankheit, sondern im Zeichen von Jugend und spirituell eingefärbter Zukunft sah. Eine derart optimistische, zukunftsbejahende Sichtweise freilich finden wir ein knappes Jahrzehnt vor Ariel in José Martís Essay Nuestra América, in welchem der kubanische Essayist den Versuch unternahm, Unser Amerika im Zeichen einer integrativen Konvivenz zu denken und zugleich als militärische Gegenmacht zu den USA zu etablieren. Auch Martí plädierte für eine gezielte Bewaffnung der lateinamerikanischen Länder. Der Gründer des Partido Revolucionario Cubano und Organisator des Unabhängigkeitskrieges gegen Spanien verstand etwas von Waffen und wusste bei seinen Einschätzungen sehr wohl, dass die militärische Hochrüstung der Vereinigten Staaten nicht kurzfristig aufgeholt werden konnte. Dass er angesichts seiner Konvivenzpolitik und vor diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund jeglichen Rassismus aus seinem Denken explizit verbannte und zugleich den Schwerpunkt auf die ideelle und kulturelle Einheit von Nuestra América legte, ist zweifellos als eine herausragende Besonderheit des Martí’schen Denkens zu verstehen und bedarf unter verändertem Blickwinkel einer erneuten Annäherung.

Mit Cervantes’ Don Quijote gegen die Kolonialmacht Spanien An dieser Stelle unserer Untersuchung erscheint es mir als wichtig, eine literarische Beziehung José Martís zu einem Roman einzublenden, dessen Bedeutung für Nuestra América nicht gerade offen zu Tage liegt. Doch wird sich der Hintergrund dieser sehr speziellen Intertextualität gewiss sehr rasch erschließen, zumal wir im ersten Teil unserer Studie bereits erkennen konnten, dass Martí in der langen Rezeptionsgeschichte gleichsam «von außen» mit diesem Roman in Verbindung gebracht wurde. Blickt man vom Standpunkt der Vierhundertjahrfeiern aus Anlass des erstmaligen Erscheinens des ersten Teiles von Miguel de Cervantes’ Meisterwerk auf den Zeitraum zwischen 1605 und 2005 zurück, so darf man ohne jede Übertreibung feststellen: Wer immer sich heute mit der langen und faszinierenden Wirkungsgeschichte des Don Quijote de la Mancha beschäftigt, wird nicht umhin können, der hispanoamerikanischen Welt in dieser wechselvollen (Erfolgs-) Geschichte einen wichtigen Platz einzuräumen. Mit Recht wurde formuliert, dass

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Cervantes’ Versuche, ein Amt in den Überseekolonien zu ergattern, zwar allesamt scheiterten, dass er selbst aber sehr rasch in Gestalt seiner Bücher in die Neue Welt gelangte.633 Denn die spanischsprachigen Leser in den amerikanischen Kolonien mussten nicht lange auf den Ritter von der traurigen Gestalt warten. Die noch 1605, also im Jahre der Erstveröffentlichung in die amerikanischen Kolonien verschifften 361 Exemplare634 des Quijote begründeten eine Wirkungsgeschichte, die bisweilen fast utopische Züge trägt und auf Grund ihrer Faktizität wohl am besten als eine der gelungensten konkreten Utopien der Literaturgeschichte umschrieben werden kann. Rasch wurde der Quijote zu einem transarealen Phänomen. Adolfo Saldías dürfte den sympathischsten und schönsten Grund für diese dauerhafte Beschäftigung Hispanoamerikas mit dem Quijote benannt haben, als er in einer 1893 erscheinenden Studie auf die Tatsache aufmerksam machte, «que los hombres de pensamiento de la revolución argentina y los que a éstos se siguieron, han conceptuado el Quijote, a pesar del cambio fundamental que se ha venido operando en esta nueva sociabilidad».635 Dass sich also gerade die Männer der hispanoamerikanischen Independencia, die sich gegen die Truppen der spanischen Kolonialmacht erhoben, für den großen Roman des Miguel de Cervantes interessierten und sich von diesem begeistert zeigten, bleibt ein bemerkenswertes Phänomen angesichts der unstrittigen Tatsache, dass wohl kein anderer Roman in seiner Gesamtheit in höherem Maße stellvertretend für Spanien stehen könnte als der Quijote selbst. Die Männer der Unabhängigkeitsrevolution hätten aber mit großer Begeisterung diesen Roman gelesen, da Cervantes für sie «un eco amigo que les hablaba de libertad»,636 also ein freundschaftliches Echo der Freiheit für sie gewesen sei. Don Quijote de la Mancha sei so zum «único vínculo que quedó entre la metrópoli y sus colonias luego que éstas se declararon independientes»,637 also zur einzigen Bande zwischen der kolonialen Metropole und den Kolonien geworden, die sich gerade von der spanischen Herrschaft lossagten. Der Quijote war für die

 Vgl. hierzu Armas Wilson, Diana de: Cervantes and the New World. In: Cascardi, Anthony J. (Hg.): The Cambridge Companion to Cervantes. Cambridge: Cambridge University Press 2000, S. 206.  Vgl. hierzu Parkinson de Saz, Sara M.: Cervantes en Hispanoamérica: Fernández de Lizardi y Juan Montalvo. In: Criado de Val, Manuel (Hg.): Cervantes: Su obra y su mundo. Actas del I Congreso internacional sobre Cervantes. Madrid: EDI 1981, S. 10–59.  Saldías, Adolfo: Cervantes y el Quijote. Buenos Aires: Félix Lajouane 1893, S. 264.  Ebda., S. 260.  Ebda., S. 239.

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Männer der Unabhängigkeitsbewegung zur Verkörperung der anzustrebenden Freiheit geworden.638 Der Name José Martís findet sich zwar nicht oder kaum einmal auf den Listen jener amerikanischen Autoren, die sich intensiver mit dem Don Quijote auseinandersetzten,639 doch findet sich über das Martí’sche Gesamtwerk verstreut eine Vielzahl von (Lese-)Spuren, die sich ebenso auf Cervantes wie auf dessen Don Quijote beziehen. Diese Zeugnisse der Präsenz des Quijote tauchen beim Verfasser von Nuestra América freilich nicht selten gerade dort auf, wo man sie am wenigsten erwarten würde. Dies zeigt schon ein erstes Beispiel. So ging der kubanische Autor in seiner im Juni 1891 in der Sociedad Literaria Hispanoamericana von New York gehaltenen Rede zunächst aus der Perspektive eines schmerzensreichen Reisenden und Pilgers, eines «pasajero doloroso» und «peregrino»640 in sehr lyrischer Weise auf die Landschaften und Länder Zentralamerikas ein, um dann aus einer nur kurz skizzierten Kosmologie die Geschichte der Unterwerfung der indianischen Völker Mittelamerikas und den langen Weg dieser so oft vergessenen Region zur politischen Unabhängigkeit zu entwickeln. In Formulierungen, die an Martís eigenen Aufenthalt in Guatemala und speziell in La Antigua, der alten Haupt- und Universitätsstadt, nicht ohne Anklänge an den bereits behandelten cierto indio que sabe francés erinnern, entwarf Martí ein ebenso buntes wie spannungsvolles Bild einer sich auflösenden Kolonialgesellschaft, die sich auf die Ära der Unabhängigkeit hin öffnete: Und das Leben ward Öllämpchen und Prozessionen wie etwa jener der Festspiele der Universität über die «Liebeshändel von Italien, Frankreich und Spanien», bei dem vorneweg die Trommler gingen und hernach auf Maultieren die Studenten und Hidalgos, dann die Doctores und der Klerus, und ihnen folgte ein prächtiger Standartenträger mit dem blumenumkränzten und ausgemalten Thema und hernach Bedienstete in Livree, danach Soldaten – und zeitig schritten in die Stadt die langen Reihen der Indios mit ihrer Stirne, die schon ans Geschirr eines Lasttieres gewöhnt war, und der Gerichtsdiener nahm einen Kreolen gefangen, weil dieser den Quijote gelesen. Es bewegte sich die Welt; es lebte Karl III.; in die Kommandantur kam die Encyclopédie, versteckt unter einem spanischen Mantel; und vom Tische eines andalusischen Kanonicus brach die herrschaftliche Jugend auf, für die Unabhängigkeit den Willen des spanischen Generals zu gewinnen; und noch heute ist es ein Festtag in Mittelamerika, ein sublimer Tag reiner Freude, jener Tag im September!

 Ebda., S. 240.  Vgl. etwa Correa-Díaz, Luis: América como Dulcinea: la «salida» transatlántica de Cervantes. In: Hispanic Journal (Bloomington, Indiana) XXI, 2 (fall 2000), S. 460.  Martí, José: Discurso pronunciado en la velada en honor de Centroamérica de la Sociedad Literaria Hispanoamericana. In (ders.): OC 26, S. 113.

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y era la vida candil y procesiones, como aquella del certamen de la Universidad, sobre la «Contienda Amorosa de Italia, Francia y España», cuando iban delante los atabaleros, y luego en mulas los estudiantes e hidalgos, y los doctores y la clerecía, y luego un señorón de portaestandarte, con el tema muy floreado entre pinturas, y luego criados de librea, y luego soldados —a tiempo que entraba en la ciudad la hilera de indios, con la frente ya hecha al mecapal de la bestia de carga, y el ministril se llevaba preso a un criollo, porque leía el Quijote. Se movió el mundo; vivió Carlos III; entró en la Capitanía la Enciclopedia, bajo una capa española; y de la mesa de un canónigo andaluz salió la juventud del señorío a ganar a la independencia la voluntad del general español; ¡y aún hoy es día de gala en Centroamérica, de gozo puro y sublime, aquel día de septiembre!641

In dieser Prozession einer poetisch verdichteten Geschichte zieht wie im Zeitraffer eine Zeitenwende vorbei, deren Scharnier – zwischen beiden Zeiten wie beiden Absätzen der obigen Passage – die Lektüre des Quijote bildet. Wegen seiner Lektüre von Cervantes’ Don Quijote de la Mancha wird ein Kreole ins Gefängnis der Kolonialmacht geworfen, ein Akt der Unterdrückung, der im Umkehrschluss den Quijote als Botschaft der Freiheit zu identifizieren erlaubt. Denn dieser Leseakt öffnet sich im neuen Abschnitt auf weitere Leseakte (etwa der Encyclopédie Diderots und d’Alemberts), aber auch auf den Befreiungsakt einer Independencia, die das Jahrhundert eröffnete. Am Ende dieses langen Jahrhunderts aber stand Martí: wie stets im schmerzhaften Bewusstsein der noch immer andauernden kolonialen Abhängigkeit seines kubanischen Vaterlandes. Im Zentrum dieser Passage situiert sich folglich der koloniale Leser des Quijote und seine Lektüre: ein Leseakt, der – als erübrigte sich jegliche Begründung – direkt in den spanischen Kerker führt. Wie der obige Verweis auf die erstaunlich hohe Zahl an Exemplaren belegt, die vor mehr als vierhundert Jahren den Weg in die Neue (Lese-)Welt fanden: An Leserinnen und Lesern hatte der Quijote in den spanischen Kolonien Amerikas von Beginn an keinerlei Mangel. Ein kleiner historiographischer Exkurs ist an dieser Stelle angezeigt. Denn die Dunkelziffer transatlantischer Buchsendungen dürfte noch deutlich höher gelegen haben, war doch Der Schmuggel mit Büchern während der gesamten Kolonialzeit ein einträgliches Geschäft. Schon 1531 hatte eine Real Cédula unter Androhung von Strafe verboten, «libros de romances, de historias vanas o de profanidad» in die Kolonien auszuführen:642 ein Verbot jeglicher Fiktion. Und ein weiteres Dekret von 1543 präzisierte, man müsse besonders darauf achten, dass dergleichen Bücher nicht in die Hände von lesekundigen Indianern fielen,

 Ebda., S. 114 f.  Albistur, Jorge: Cervantes y América. In: Cuadernos hispanoamericanos (Madrid) 463 (enero 1989), S. 65–72, hier S. 72.

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würden sie diese doch von der Heiligen Schrift entfremden und zu schlechten Gewohnheiten und Lastern verleiten.643 Freilich verhinderten diese Dekrete nicht, dass sich gerade auch die Ritterromane in Neu-Spanien größter Beliebtheit erfreuten. Dies mag auch erklären, warum der Don Quijote auf das große Interesse gerade einer überseeischen Leserschaft stieß, die mit dem dort parodierten Genre bereits bestens vertraut war. Gleichviel, ob man in der Figur des Quijote auch die Gestalten der spanischen Konquistadoren erkennen und gleichfalls parodiert sehen will644 oder nicht: Cervantes’ Roman hatte aller Verbote zum Trotz von Beginn an den Sprung über den Atlantik geschafft und begeisterte Leserinnen und Leser gefunden. Glücklicherweise fand sich nicht jeder dieser Leser später im Gefängnis und in Kerkerhaft wieder. In Martís Rede wird der Lektüre des Quijote jedoch eine staatsgefährdende, subversive Funktion zugeschrieben. Die Gründe, die der Kubaner hierfür ins Feld führen konnte, werden in seinem Diskurs nicht thematisiert. Bekannt ist immerhin, dass die zeitgenössischen Leserinnen und Leser noch zumindest bis weit ins 18. Jahrhundert Cervantes’ Roman vor allem als ein die Lachmuskeln strapazierendes Buch verstanden und sich einer derartigen Lektüre auch gerne in der Öffentlichkeit hingaben.645 Martí jedoch war der Erbe eines historisch längst gewandelten Verständnisses dieses cervantinischen Romans und unterstellte der Lektüre des Quijote eine nicht nur die Lachmuskeln, sondern vor allem eine den Geist anregende und befreiende Wirkung. Er hatte die Gründe dafür verstanden, warum die Generationen der Unabhängigkeitsrevolution in Amerika Cervantes’ urspanischen Don Quijote de la Mancha als ein Symbol ihres gegen die koloniale Abhängigkeit von Spanien gerichteten Freiheitswillens lasen. Diese Auffassung lässt sich gerade in Lateinamerika bis heute sehr kontinuierlich nachweisen. So formulierte etwa der peruanische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa in seiner Beschäftigung mit jenem Roman, der für ihn im Bereich dieser Gattung noch immer das Maß aller Dinge darstellte, die Fiktion in der direkten Nachfolge des Quijote übe eine zutiefst befreiende Wirkung aus: «Dank ihrer sind wir mehr und sind wir andere, ohne

 Ebda.  Auf die enge Verflechtung des Romans mit der spanischen Expansion macht aufmerksam u. a. Armas Wilson, Diana de: Cervantes and the New World, S. 221.  Vgl. hierzu die häufiger angeführte Anekdote des spanischen Königs Felipe III, der einen Studenten ein Buch lesen und so hemmungslos lachen sah, dass er sich sicher war, dieser sei entweder verrückt oder lese den Don Quijote de la Mancha; s. Albistur, Jorge: Cervantes y América, S. 72 sowie Elizalde, Ignacio: El Quijote y la novela moderna. In: Criado de Val, Manuel (Hg.): Cervantes: Su obra y su mundo. Actas del I Congreso internacional sobre Cervantes. Madrid: EDI 1981, S. 949–959, hier S. 949.

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doch aufzuhören, dieselben zu sein. In ihr lösen wir uns auf und vervielfachen wir uns, indem wir viele weitere Leben leben als das, was wir haben und was wir leben könnten, wären wir an das Wahrhaftige gekettet und im Kerker der Geschichte gefangen.»646 Führt bei Martí die in die Kolonialzeit projizierte Lektüre des Quijote ins historische Gefängnis hinein, so führt die Lektüre fiktionaler Literatur in der Nachfolge von Cervantes laut Vargas Llosa aus dem Gefängnis der Geschichte heraus. Die vom Autor von La casa verde betonte lebenswichtige Funktion der Fiktion eröffnet einen Raum der Freiheit, den Diktaturen und Totalitarismen jeglicher Couleur stets zu unterdrücken versuchen. Die Literatur – und vor allem der Roman – als ein Ort der Freiheit, in dem der Mensch ein anderes Leben zu führen vermag als das, was ihm in der ihn umgebenden Wirklichkeit aufgezwungen ist, entspricht aber nicht nur der Auffassung von Vargas Llosa. Es handelt sich vielmehr um eines der Grundthemen von Cervantes’ Lektüreroman Don Quijote de la Mancha, jenes Romans über einen Caballero andante, der dieses Reich der Fiktion im wahrsten Sinne in sein wahrstes Leben verwandelt. Einschränkend müssen wir an dieser Stelle hinzufügen, dass unsere Analyse von Martís einzigem Roman Amistad funesta zeigte, wie sehr Martí selbst die Fiktion nicht ganz geheuer war. Seine Exkursionen in dieses Reich der Freiheit bilden innerhalb seines Gesamtwerks mit Ausnahme der Dichtkunst eher sporadische Ausflüge. Doch ist es zweifellos faszinierend, dass sich diese Thematik einer vom Gefängnis der Geschichte befreienden Lektüre ebenfalls bei José Martí findet. Nicht zufällig geht es dabei just um ein Lesen, das sich dem Don Quijote im Gefängnis zuwendet. Denn in einer anderen Rede vor der Sociedad Literaria Hispanoamericana in New York, die uns nur in Bruchstücken erhalten blieb, machte Martí ohne Namensnennung auf einen Freund aufmerksam, der von «los dueños de un país vecino, de cuyo nombre no quiero acordarme» ins Gefängnis geworfen worden war und dem ein Soldat mit spitzen Fingern – «en las puntas de los dedos» – auf mehrfache Bitte hin ein Buch reichte: eben das Buch über den Ritter von der traurigen Gestalt.647 Auch hier bildet die politisch motivierte Kerkerhaft – die in Martís Leben, aber auch in seinem Schreiben schon früh eine so zentrale

 Vargas Llosa, Mario: Cervantes y la ficción. In: Mejías López, William (Hg.): Morada de la palabra. Homenaje a Luce y Mercedes López-Baralt. Encuentro Hispánico Internacional. Vol. II. Areciba, Puerto Rico: Universidad de Puerto Rico 2002, S. 1668: «Gracias a ella somos más y somos otros sin dejar de ser los mismos. En ella nos disolvemos y multiplicamos, viviendo muchas más vidas de la que tenemos y de la que podríamos vivir si permaneciéramos confinados en lo verídico, sin salir de la cárcel de la historia.»  Martí, José: Fragmentos de un discurso. In (ders.): OC 19, S. 455.

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Bedeutung erhielt – den Rahmen für eine Lektüreerfahrung, die ein bezeichnendes Licht auf jenes Land wirft, an dessen Namen sich Martí – wie vor ihm der mehrfach ins Gefängnis geworfene Cervantes – nicht erinnern will. Auch hier steht der Quijote für einen unbändigen Freiheitswillen und die Gewissheit, gerade auch im Gefängnis für jene Unabhängigkeit und Freiheit des Geistes einzustehen, die Cervantes’ Caballero andante emblematisch verkörpert. Die beiden ersten Beispiele zeigen unverkennbar: Der Don Quijote de la Mancha ist für José Martí ein Buch der Sehnsucht des Menschen nach Freiheit. Bei diesen ersten Beispielen für den Rückgriff Martís auf Cervantes und seinen berühmtesten Roman fällt auf, dass Don Quijote de la Mancha für den kubanischen Modernisten nicht – wie dies vielleicht zu erwarten gewesen wäre – in erster Linie die Inkarnation des Spanischen und der Hispanidad darstellt. War die noch immer in Kuba herrschende Kolonialmacht Spanien einfach ein Land, an dessen Namen sich Martí nicht erinnern wollte? Die Gründe für Martís Deutung und Situierung des Quijote reichen jedoch tiefer. Um dies zu präzisieren, ist eine Analyse weiterer Beispiele der Präsenz des Quijote unter der Feder Martís unumgänglich. Die überraschende Komplexität der Martí’schen Vorstellungen zeigt sich deutlich in einem auf den 13. Januar 1890 in New York datierten und am 12. März desselben Jahres in La Nación in Buenos Aires veröffentlichten Korrespondentenbericht, in dem Martí seinen hispanoamerikanischen Leserinnen und Lesern vorwiegend von neuen literarischen und gesellschaftlichen Ereignissen in den Vereinigten Staaten von Amerika berichtet. Nachdem er zunächst ein flammendes Plädoyer für das Studium nicht der toten, sondern der modernen, «lebenden» Fremdsprachen gehalten hatte – «Aber um zu leben, lerne man das Lebendige in den lebenden Fremdsprachen, in denen heute das Neue wie das Alte enthalten ist»648 –, ging er auf die Notwendigkeit ein, sich nicht auf eine einzige (National-)Literatur samt ihrer Verzweigungen und Wiedergeburten, ihrer «ramajes y renacimientos»,649 zu beschränken, sondern «ponerse fuera de ellas, y estudiarlas con mente judicial a todas».650 Es gelte also, mit anderen Worten, sich gleichsam außerhalb dieser Sprachen zu stellen und sie allesamt mit feinem Gespür zu studieren: Wo könnte man die Präzision besser lernen als im Englischen? Ist an Anmut und Sauberkeit das Französische nicht das Beste? Und sagt man, was man mit Wahrhaftigkeit und

 Martí, José: En los Estados Unidos. In (ders.): OC 13, S. 458: «Pero para vivir, apréndase lo vivo en las lenguas vivas, donde se contiene hoy lo nuevo y lo viejo.»  Ebda.  Ebda.

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nicht in allerlei Windungen und Blumengebinden, mit Glöckchen und falschen Manieren denkt, welche Sprache lehrt uns da mehr und diszipliniert uns besser als die eigene? Precisión, ¿dónde se aprende mejor que en el inglés? En gracia y limpieza, lo francés ¿no es lo mejor? Y si se dice lo que se piensa con verdad, y sin churrigueras ni florianes, sin cascabeles ni pasamanerías, ¿qué lengua enseña más ni disciplina mejor que la propia?651

José Martí fordert in dieser Passage eine zwischen verschiedenen Literaturen und Sprachen vergleichende und die jeweiligen Qualitäten nutzende Position ein, ohne darüber die vertiefte Beschäftigung mit der eigenen Sprache und Literatur zu vernachlässigen. Vielsprachigkeit ist für Martí der Schlüssel zu einem umfassenden Weltbewusstsein, das sich nicht auf den Horizont einer einzigen Sprache beschränken will, sondern verschiedenste Blickpunkte für ein besseres Verständnis der Welt nutzen möchte. Wie sehr man auch immer die Zuordnungen Martís als Stereotypen ansehen mag: Ein vielsprachiges, freilich an den europäischen Weltsprachen orientiertes literarisches System wird skizziert, innerhalb dessen sich die einzelnen Literaturen wechselseitig als Korrektiv benutzen lassen. Damit bezieht Martí einen Standpunkt, den er bereits 1882 in einem für die Entwicklung des hispanoamerikanischen Modernismo wegweisenden Essay über Oscar Wilde eingenommen hatte. Dort versuchte er von der ersten Zeile an, sich aus einer monolingualen Literaturwelt zu befreien, um daraus eine unabhängige transareale Position gleichsam zwischen den Literaturen, zwischen den Welten zu gewinnen: Wir leben alle, die wir das Kastilische sprechen, voll und ganz von Horaz und Vergil, und es scheint, dass die Grenzen unseres Geistes diejenigen unserer Sprache seien. Warum aber sollten für uns die fremdsprachigen Literaturen eine quasi verbotene Frucht sein, sind sie heute doch so überreich an natürlichem Ambiente, ernsthafter Kraft und aktuellem Geiste, was in der modernen spanischen Literatur jedoch fehlt? Vivimos, los que hablamos lengua castellana, llenos todos de Horacio y de Virgilio, y parece que las fronteras de nuestro espíritu son las de nuestro lenguaje. ¿Por qué nos han de ser fruta casi vedada las literaturas extranjeras, tan sobradas hoy de ese ambiente natural, fuerza sincera y espíritu actual que falta en la moderna literatura española?652

José Martí forderte daher in diesem im Januar 1882 in El Almendares in Havanna und im Dezember desselben Jahres in La Nación in Buenos Aires veröffentlichten Artikel eine dezidiert komparatistische Position ein, die seinem Bedürfnis nach einer Moderne entsprach, die nicht länger auf die Welt des Spanischen beschränkt bleiben dürfe:

 Ebda.  Martí, José: Oscar Wilde. In (ders.): OC 15, S. 361.

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Die Kenntnis verschiedener Literaturen ist die beste Art, sich aus der Tyrannei einer einzigen dieser Literaturen zu befreien; so wie es keine bessere Art und Weise gibt, sich vor dem Risiko zu retten, blind einem einzigen philosophischen System zu folgen, als sich von allen zu ernähren […]. Conocer diversas literaturas es el medio mejor de libertarse de la tiranía de algunas de ellas; así como no hay manera de salvarse del riesgo de obedecer ciegamente a un sistema filosófico, sino nutrirse de todos […].653

Von diesem Standpunkt einer spanischsprachigen Literatur aus, die sich ihrer Herkunft und ihrer Traditionen, aber auch ihrer eigenen transatlantischen Vielfalt bewusst ist, ordnete Martí in seinem Korrespondentenbericht En los Estados Unidos von Januar 1890 auch den Quijote in ein multilinguales und einzelne Nationalliteraturen übergreifendes Literatursystem ein, indem er Cervantes’ Roman mit einem damals vielbesprochenen, erstmals 1889 erschienenen Roman von Mark Twain, A Connecticut Yankee in King Arthur’s Court, in Beziehung setzte. Martí wählte damit bewusst einen komparatistischen Ansatz, indem er den ersten europäischen Roman der Moderne mit einem Roman einer modernistischen Epoche in den USA verglich. Seiner Begeisterung für den Erzähltext des US-amerikanischen Schriftstellers gab er dabei schon dadurch Ausdruck, dass er ihn auf dieselbe Höhe stellte wie den Roman des Cervantes: In den Bibliotheken ist der Quijote wohlgelitten, zusammen mit dem Yankee. Schilde und Rüstungen gibt’s in beiden, und sie ähneln einander im großartigen Spott; aber der Quijote ist das, was er ist, ein kluges und schmerzliches Gemälde des Lebens des Menschen, und der Yankee, angetrieben von der Indignation, ist eine Schlacht wie von Viehtreibern […]. En las bibliotecas, el «Quijote» estará bien, y el «Yanqui» junto. Hay adargas y viseras en los dos, y se parecen en la burla magnífica; pero el «Quijote» es lo que es, pintura sabia y dolorosa de la vida del hombre, y el «Yanqui», esforzado por la indignación, es una batalla a lo vaquero […].654

Es ist gerade nicht die Hispanität – und auch nicht die Großartigkeit der Parodie, der burla –, sondern das überragende Vermögen des Quijote, das Leben des Menschen, die conditio humana, zu porträtieren: All dies macht Cervantes’ Roman für Martí zu einem kanonischen Text, der in keiner Bibliothek655 fehlen dürfe. In diesem Sinne äußerte er sich schon in seinen Grüßen zum Neuen Jahr 1890 an seinen Vertrauten im Kampf gegen Spanien, Gonzalo de Quesada, dem er den Yankee ans Herz legte, weil er ganz wie der Quijote das Menschliche so

 Ebda.  Martí, José: En los Estados Unidos. In (ders.): OC 13, S. 460.  Ähnlich auch in einem Fragment von Martí, José: OC 22, S. 147.

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befördere. Neben der Freiheit steht Cervantes’ Roman in den Augen des Kubaners für den literarischen Ausdruck einer fundamentalen Humanität auf höchstem weltliterarischem Niveau. Im Licht dieser weltliterarischen Dimension zeichnet sich eine doppelte Perspektivik des kubanischen Autors ab. José Julián Martí y Pérez sah den Don Quijote zugleich von innen und von außen: aus der Perspektive der Zugehörigkeit zur spanischen Literatur und der spanischen Sprache, derer er sich selbst bediente, und darüber hinaus von jener gleichzeitigen Außerhalbbefindlichkeit aus, welche wir mit guten Gründen als geistig postkolonial, als gegen den spanischen Kolonialismus gerichtet bezeichnen dürfen. Für Martí bliebe daher eine simple Zurechnung des wohl berühmtesten Romans der Weltliteratur zu Spanien gänzlich unbefriedigend. Denn für den alerten Kubaner ist der Don Quijote de la Mancha ein spanisches Werk von zugleich weltliterarischer und allgemein menschlicher Dimension, ein absoluter Vergleichspunkt, an dem sich letztlich jeder Roman, ob in Europa oder in Amerika geschrieben, messen lassen müsse. Nicht umsonst hielt Martí – wie er im Januar 1888 in einem Beitrag für El Economista Americano in New York schrieb – Miguel de Cervantes für einen «temprano amigo del hombre que vivió en tiempos aciagos para la libertad y el decoro»,656 also einen frühen Freund des Menschen, der in schwierigen Zeiten für Freiheit und Anstand gelebt habe. Er habe mit dem Quijote eine Figur geschaffen, die zugleich die Verzückung der Literatur und einen der schönsten Charaktere der Geschichte darstelle: «a la vez deleite de las letras y uno de los caracteres más bellos de la historia».657 Neben Freiheit und Humanität tritt eine künstlerische Perfektion, bei der sich ästhetische und moralisch-ethische Schönheit in einer Romanfigur miteinander verbinden. Diese Verbindung von Ethik und Ästhetik, von Literatur und Freiheitsdrang, die Martí in Cervantes Oeuvre erkennt, ist zweifellos Teil seines eigenen Idealbildes von der Rolle der Literatur wie des Literaten in der heraufziehenden Gesellschaft der Moderne. Ethik und Ästhetik sind für Martí nicht voneinander zu trennen. Deshalb auch sein großes Lob für den Yankee von Mark Twain. Miguel de Cervantes erscheint gleichsam als Modellcharakter, als Vorbild eines Schriftstellers, dem auch die Widerwärtigkeiten des Lebens (und so mancher Gefängnisaufenthalt) nicht jenen Freiheitswillen nehmen konnten, den sein Roman als Lebenswissen enthält und an seine Leserinnen und Leser – und säßen diese im Gefängnis – weitergibt.

 Martí, José: Seis conferencias. In (ders.): OC 5, S. 120.  Ebda.

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Die große Literatur wie die große Philosophie müssen für Martí – wie er in seinem Essay über Oscar Wilde formulierte – jene «noble inconformidad con ser lo que es»,658 jene edle Inkonformität mit dem Ist-Zustand – eine Formulierung, die Mario Vargas Llosa begeistert hätte – repräsentieren, welche für den Kubaner den Kern der menschlichen Freiheit und sein Streben nach ständiger Verbesserung der conditio humana ausmachen. Der Don Quijote verkörperte für José Martí folglich die kreative Unzufriedenheit mit einem Status quo und das Bestreben des Menschen, die Verhältnisse grundlegend zu verändern und zu verbessern. Dieses Streben des Menschen, sich nicht mit einem bestimmten IstZustand zufrieden zu geben, sondern beständig nach Verbesserungen Ausschau zu halten, kennzeichnet das gesamte Schaffen José Martís. Literatur wird folglich zur ästhetisch gelingenden und ethisch verpflichtenden Ausdrucksform dieses Sich-nicht-zufrieden-Gebens mit dem Bestehenden. Man kann bei Martí auch von einem generellen Aufbegehren gegen die bestehenden Verhältnisse sprechen, gegen die er schon in seiner Jugend beständig ankämpfte und die ihn zu einem minderjährigen Strafgefangenen im kolonialspanischen Arbeitslager machten. Eben diese noble inconformidad sah Martí in Cervantes’ Meisterwerk verwirklicht: Ihr fühlte er sich verpflichtet. Daher stehen der Don Quijote de la Mancha und sein Autor für den Kubaner für ein zutiefst humanes Lebenswissen, das in der Literatur seinen verdichteten und zugleich höchsten Ausdruck findet und ein Wissen vom Leben – aber auch ein Wissen des Lebens von sich selbst – transportiert, wie es keinem philosophischen System(denken) gelingen kann. Denn dieses Wissen vom Leben ist Teil des Lebens selbst und zugleich Dimension einer Fiktion, welche Lewen simuliert und in all seinen Aspekten mit spielerischer Ernsthaftigkeit testet. Auch wenn José Martí nicht ständig auf Cervantes’ Oeuvre rekurriert: Don Quijote de la Mancha ist in diesen Bereichen für den kubanischen Revolutionär ein absoluter Maßstab für das Humane und stets für die Freiheit des Menschen Rebellierende. Es ist aufschlussreich, wie früh Martí die Kraft des Quijote, nicht die Menschen, sondern den Menschen schlechthin zu repräsentieren, hervorhebt und für seine eigenen Literaturinterpretationen nutzt. So zieht er in einem seiner ersten englischsprachigen Beiträge für die New Yorker Zeitung The Sun eine Verbindung zwischen Flauberts Bouvard et Pécuchet und Cervantes’ Don Quijote und bemerkt zu den Protagonisten von Flauberts letztem großen Roman: They do not represent men, they represent man – possibly the bourgeois Don Quixote. The hero of La Mancha crossed the desolate plains with lance under his arm, helmet on his head, and a hand gloved in iron, seeking wrongs to right, widows to defend, and the

 Martí, José: Oscar Wilde. In (ders.): OC 15, S. 361.

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unfortunate to aid. Bouvard and Pécuchet pass through the life of the nineteenth century, by no means a plain, seeking that repose of soul, and that happiness which cannot exist in great cities. Alas! happiness is not the fruit of time! They return, bruised and torn, and die like Quixote.659

Wieder vergleicht José Martí Cervantes’ Don Quijote mit einem Werk der absoluten Moderne, dem letzten Roman von Gustave Flaubert, der erst posthum zur Veröffentlichung gelangte. Und wie bei seinem Vergleich mit Mark Twains A Connecticut Yankee in King Arthur’s Court steht im Vordergrund das zutiefst Humane und zugleich das zutiefst Moderne literarischer Kreativität. In den Vergleichen mit den beiden großen Romanen von Mark Twain und Gustave Flaubert erweist sich der Quijote bei Martí als ein wahrhaft überzeitliches Meisterwerk, dem es überdies gelingt, die Werke der europäischen wie der amerikanischen Moderne in ein hochaktuelles Licht zu rücken. Schon der kubanische Romancier Alejo Carpentier, der sehr wohl von Martís Begeisterung für den Don Quijote wusste, wunderte sich über die Tatsache, dass Martís Artikel am 8. Juli 1880 zu einem Zeitpunkt in The Sun erschien, als der unvollendet gebliebene Roman des am 8. Mai 1880 verstorbenen Gustave Flaubert noch gar nicht erschienen war. Und doch habe Martí, so Carpentier voller Bewunderung, den nachgelassenen Text mit erstaunlicher Klugheit, «con asombrosa sagacidad»,660 analysiert und seine Protagonisten auf ihrem mühevollen Weg durch die Labyrinthe des Wissens, «a través del vasto laberinto de los Conocimientos»,661 klug mit Don Quijote und Sancho Panza verglichen. Es ist ein Vergleich, der dieses rätselhafte und zugleich konsequente Spätwerk Gustave Flauberts, das die Autoren des französischen Nouveau roman so verehrten, bis heute in einem überraschenden, ja wunderbar zeitlosen Licht einer gleichsam historischen Überzeitlichkeit erscheinen lässt. Nicht weniger überraschend aber ist es, dass José Martí gerade Bouvard und Pécuchet, nicht aber Emma Bovary, diesen zugleich weltlichen und weiblichen Quijote, mit den Helden des cervantinischen Romans verglich.662 Man könnte mit guten Gründen die These wagen, dass er den Kern von Cervantes’

 Martí, José: Flaubert’s last work. In (ders.): OC 15, S. 207.  Carpentier, Alejo: Martí y Francia. In (ders.): La novela latinoamericana en vísperas de un nuevo siglo y otros ensayos. México: Siglo XXI 1981, S. 241.  Ebda.  Vgl. zu diesem längst «klassischen» Vergleich u. a. Schulz-Buschhaus, Ulrich: Stendhal, Balzac, Flaubert. In: Brockmeier, Peter / Wetzel, Hermann H. (Hg.): Französische Literatur in Einzeldarstellungen. Bd. II: Von Stendhal bis Zola. Stuttgart: Metzler 1982, S. 7 ff; sowie Fox, Soledad Carmen: Cervantes, Flaubert, and the Quixotic counter-genre. Ph.D. City University of New York 2001.

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3. Hauptstück: Entwürfe der Modernität: Welche Moderne für Nuestra América?

Meisterwerk weniger in der «burla magnífica» des Verwirrspiels mit der Literatur als in der bedingungslosen Suche nach einer absoluten Wahrheit sah, die ihr Freiheitsversprechen nicht aufzugeben gewillt schien. Sah Martí auch seine späteren Vorstellungen von Nuestra América in diesem unbeirrbar rebellischen und zugleich utopischen Licht? Die für Martís Schreiben sehr charakteristische und über sein Gesamtwerk verstreute diskrete Präsenz des Don Quijote de la Mancha mag ein wenig mit dazu beigetragen haben, dass der Gründer des Partido Revolucionario Cubano nach seinem Tode in einer langen Rezeptionsgeschichte selbst zum Quijote wurde. Denn eine Reihe von Autoren warf ihm – wie wir in unserer Rezeptionsgeschichte sahen – quijotesken Utopismus vor. So bezeichnete ihn – und es seien hier nur wenige Beispiele genannt – kein Geringerer als der spanische Dichter Juan Ramón Jiménez in seinem aus dem Jahre 1940 stammenden Prosatext José Martí (1895) als einen quasi überzeitlichen fahrenden Ritter, als «un caballero andante enamorado, de todos los tiempos y países, presentes y futuros».663 Und der spanische definierte den kubanischen Schriftsteller bündig als kubanischen Quijote im Zeichen des Spanischen und Ideellen: «Quijote cubano, compendia lo espiritual eterno, y lo ideal español.»664 So scheint aus spanischer Sicht im kubanischen Quijote doch immer noch das Spanische auf, ein Ineinandergreifen von Zugehörigkeit und Außerhalbbefindlichkeit, das mit Blick auf Martí in der Feder des Autors von Españoles de tres mundos665 wie selbstverständlich auftaucht. José Julián Martí y Pérez, ein spanischer Quijote in einer zweiten oder dritten Welt? Aus gänzlich anderer Perspektive hatte bereits 1938 Alfonso Bernal del Riesgo in einer Ansprache anläßlich einer Cena Martiana – über die Bedeutung dieser Abendessen hatte uns die Rezeptionsgeschichte aufgeklärt – in Guanabacoa den Freiheitskämpfer in die Nähe von Don Quijote gerückt und versucht, vom Körperbau Martís auf dessen Psyche zurückzuschließen, die er dem «tipo suprahormónico de marcado acento tiroideo» zuordnete.666 Martí erscheint hier in teilweise quijotesker Pathologie, ein Befund, auf den man vor der kubani Jiménez, Juan Ramón: José Martí (1895). In (ders.): Juan Ramón Jiménez en Cuba. Compilación, prólogo y notas de Cintio Vitier. La Habana: Editorial Arte y Literatura 1981, S. 33; der Text erschien erstmals in Repertorio americano (San José, Costa Rica) am 6.4.1940 und wurde verschiedentlich wieder abgedruckt.  Ebda.  In diese einflussreiche Sammlung nahm Jiménez sein Portrait Martís kurze Zeit später (Buenos Aires: Losada 1942) auch auf.  Bernal del Riesgo, Alfonso: Estampa psíquica de Martí. In: Revista bimestre cubana (La Habana) XLI (ler semestre 1938), S. 235. Vgl. zum zeitgeschichtlichen Kontext derartiger biographischer Versuche das Kapitel 5.6 im ersten, rezeptionsgeschichtlichen Teil dieser Studie.

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schen Revolution auf der Insel immer wieder stoßen konnte. Es handelt sich dabei um eine Linie der Rezeptionsgeschichte, die schon zu Lebzeiten des Modernisten begann und den Dichter gerne als Träumer und Traumtänzer abtat. Aber auch im Bereich einer ernstzunehmenden Literaturwissenschaft finden sich nicht selten Vergleiche Martís mit Don Quijote. So zögerte etwa der innerhalb der Rezeptionsgeschichte Martís einflussreiche Manuel Pedro González in einem 1967 verfassten Aufsatz nicht, den kubanischen Schriftsteller und Revolutionär mit dem Ritter von der traurigen Gestalt zu vergleichen.667 In Rückgriff auf Ezequiel Martínez Estradas monumentale Studie Martí revolucionario, in der mit essayistischen und philologischen, aber auch charakterologischen und selbst graphologischen Mitteln die Psyche Martís untersucht und seine Einsamkeit kommentiert wurde, sprach González von jenem anderen, amerikanischen Quijote, jenem «otro Quijote americano»,668 der – von den Sancho Panzas kubanischer Tabakarbeiter abgesehen – von seinen Zeitgenossen niemals wirklich verstanden worden sei. So wurde José Martí zu einem Don Quijote stilisiert, der für die einen das spanische Erbe, für die anderen eine höchst unterschiedlich bestimmbare Pathologie und für die Dritten schließlich die Einsamkeit eines illusionären Denkers verkörperte, dessen Träumereien letztlich zum Scheitern verurteilt gewesen seien. José Martí, der amerikanische Leser des Don Quijote, wurde im Verlauf des 20. Jahrhunderts selbst in einen amerikanischen und kubanischen Don Quijote transfiguriert. Dies war beileibe kein Zufall. Denn Martí verstand sich selbst nicht zuletzt als poeta en actos, als ein Dichter, der durch seine Handlungen die Welt ebenso poetisch wie revolutionär verändern wollte.669 Sein literarisches Schreiben zielte stets auf das Leben, suchte den «calor de la vida»,670 eine zugleich lebensgesättigte und lebensverändernde literarische Form, die am spezifischen Wissen der Literatur ausgerichtet war. Martís Schreiben erschöpft sich nicht in einem pragmatischen Kampf für koloniale Unabhängigkeit und Freiheit, sondern zielte auf das Humane ab, wie es im diskursiven Bereich der Künste wohl allein die Literaturen der Welt zu entfalten vermögen. Denn sie enthalten und

 González, Manuel Pedro: Radiografía espiritual de José Martí. In: Anuario Martiano (La Habana) 2 (1970), S. 501.  Ebda.  Vgl. hierzu Ramos, Julio: Desencuentros de la modernidad en América Latina. Literatura y política en el siglo XIX. México: Fondo de Cultura Económica 1989, S. 77.  Vitier, Cintio: Prólogo. In (ders., Hg.): La crítica literaria y estética en el siglo XIX cubano. Prólogo y selección de Cintio Vitier. Bd. 2. La Habana: Biblioteca Nacional José Martí 1970, S. 47.

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3. Hauptstück: Entwürfe der Modernität: Welche Moderne für Nuestra América?

entfalten ein Wissen vom Menschen nicht in dessen abstrakten Definitionen, sondern in seinen Lebenskontexten und in seinem lebendigen Sein als Mensch. Vor diesem Hintergrund sollten wir nicht vergessen, dass der von Cervantes erfundene Mann aus der Mancha nicht umsonst zu einem Schutzpatron der Revolutionäre werden konnte. Denn seit den Unabhängigkeitskriegen gegen Spanien – und wir hatten gesehen, dass Martí selbst auf diese Tatsache im ersten der hier zitierten Beispielstexte zurückgriff – war der Quijote zum Sinnbild eines Aufbegehrens und Freiheitswillens geworden, mit dem sich seither in Hispanoamerika viele Revolutionäre verbunden fühlten. Nicht nur Che Guevara, Fidel Castro oder der Subcomandante Marcos,671 sondern schon Simón Bolívar und manche seiner Weggefährten hatten ihren Don Quijote intensiv gelesen und wiedergelesen. Der Libertador freilich – so wird erzählt – identifizierte sich am Ende seiner Wege auf eine eher bittere Weise mit dem Caballero andante, habe er doch – wie der Peruaner Ricardo Palma später schrieb – auf seinem Totenbett gesagt: «Los tres grandísimos majaderos hemos sido Jesucristo, don Quijote y … yo.»672 Die drei allergrößten Bekloppten seien Jesus Christus, Don Quijote und schließlich er selbst gewesen. Sah sich Martí selbst als Quijote? Bei der Beantwortung dieser Frage müssen wir uns stets vor Augen halten, dass José Julián Martí y Pérez auf die Mittel der Kunst zurückgriff, um seine pragmatischen Ziele zu verfolgen und dass er es nicht einer pragmatischen, diskursiven Sprache überließ, jene menschlichen Gestalten zum Ausdruck zu bringen, die sein Denken und Fühlen beherrschten und stets an erster Stelle der Freiheit verpflichtet waren. Einer Freiheit, die allen Dimensionen eines Lebenswissens, eines Erlebenswissens und eines Zusammenlebenswissens Ausdruck gab, wie sie Martí in seinem Schreiben zu entfalten trachtete. Cervantes’ Don Quijote de la Mancha, in dunklen Zeiten (und dies hieß für Martí nicht zuletzt: in Zeiten kolonialer Unterdrückung) entstanden, verkörperte für den Autor von Ismaelillo eine derartige auf das Leben bezogene und das Leben verändernde Kunst. José Martí bezog damit eine gegenüber der QuijoteSicht der spanischen Noventaiochistas673 und Modernistas – die den Idealismus,

 Vgl. Correa-Díaz, Luis: América como Dulcinea: la «salida» transatlántica de Cervantes, S. 460 u. 472 f.  Zit. nach Parkinson de Saz, Sara M.: Cervantes en Hispanoamérica: Fernández de Lizardi y Juan Montalvo, a.a.O., S. 1061; vgl. hierzu auch Benedetti, Giovanna: «El camino de los andantes»: Bolívar y Don Quijote. In: Revista cultural Lotería (Panamá) 414 (septiembre – octubre 1997), S. 9.  Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Visiones de la guerra / guerra de las visiones. El desastre, la función de los intelectuales y la Generación del 98. In: Iberoamericana (Frankfurt am Main) XXII, 71–72 (1998), S. 44–76.

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den humanitären Geist, die religiöse Sensibilität und das Künstlertum674 ins Zentrum rückten – sehr eigenständige Positionen, die seiner tiefen Verbindung mit der spanischen Literatur- und Kulturtradition wie zugleich seinem unbedingten Freiheitswillen, aber auch seiner Suche nach absoluter Modernität literarischen Ausdruck verliehen. Denn zweifellos verfügte kein anderer der großen hispanoamerikanischen Modernisten über eine vergleichbar ausgeprägte und kenntnisreiche Verwurzelung des eigenen Schreibens in der spanischen Literatur wie José Martí.675 Er verkörperte insbesondere den spanischen Pol innerhalb der breiten Palette eines Modernismo, der als eine komplexe und spannungsvolle, bisweilen auseinanderstrebende Ästhetik, die auf enorme sozioökonomische Modernisierungsprozesse – und zwar vor dem Hintergrund der dritten Phase beschleunigter Globalisierung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts – reagierte, verstanden werden muss. Und José Martí fühlte sich der alten spanischen Literaturtradition des Quijote, aber insbesondere auch der spanischen Mystik wie des Siglo de Oro verpflichtet. Zugleich aber war seine modernistische Konzeption einer in Nuestra América verankerten Literatur und Kultur der Zukunft gerade an der Vorstellung ausgerichtet, den literarischen Horizont – wie wir sahen – auf möglichst viele und verschiedensprachige Literaturen hin zu öffnen, damit die Literaturen Hispanoamerikas hier ihren eigenen Platz, ihre eigene Entwicklungsmöglichkeit finden konnten. José Martí hatte diese literatur- und vor allem kulturtheoretisch fundierten Überzeugungen romantechnisch – wie wir in diesem zweiten Teil unserer Studie sahen – überzeugend in seinen erstmals 1885 unter dem Titel Amistad funesta veröffentlichten Roman sehr subtil eingeschmuggelt und einen innerhalb der hispanoamerikanischen Romangeschichte neuartigen inter- und intratextuellen Bewegungsraum modernistischer Prägung entfaltet.676 Denn die explizit in seinen Roman eingeblendeten Bezugstexte stammen aus verschiedenen Literaturen Europas, beziehen aber auch die Literatur der  Vgl. hierzu Suárez, Ana: Cervantes ante modernistas y noventayochistas. In: Criado de Val, Manuel (Hg.): Cervantes. Su mundo y su obra, S. 1049.  Vgl. hierzu u. a. Schulman, Ivan A.: Poesía modernista. Modernismo / modernidad: Teoría y poiesis. In: Iñigo Madrigal, Luis (Hg.): Historia de la literatura hispanoamericana. Bd. II: Del neoclasicismo al modernismo. Madrid: Cátedra 1987, S. 526; García Espinosa, Juan M.: En torno a la novela del apóstol. In: Universidad de La Habana (La Habana) 29 (1965), S. 92–99; sowie Marinello, Juan: Españolidad literaria de José Martí. In (ders.): Ensayos. La Habana: Editorial Arte y Literatura 1977, S. 101–127.  Vgl. hierzu Ette, Ottmar: «Cecilia Valdés» y «Lucía Jerez»: cambios del espacio literario en dos novelas cubanas del siglo XIX. In: Balderston, Daniel (Hg.): The Historical Novel in Latin America. A Symposium. Gaithersburgh: Hispamérica 1986, S. 85–96.

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3. Hauptstück: Entwürfe der Modernität: Welche Moderne für Nuestra América?

USA sowie weitere außereuropäische Texte mit ein. Entscheidend jedoch war, dass in diesen gleichsam weltliterarischen Horizont erstmals sehr bewusst hispanoamerikanische Romane integriert wurden, ohne dass diese in den Kontext einer epigonalen Nachahmung europäischer Vorbilder gestellt worden wären. Am Ausgang des 19. Jahrhunderts begann das spanische Amerika, das Mapping der Literaturen der Welt zu verändern und sich selbst als Aktivposten in ein neu entstandenes System einzutragen und zu integrieren. Vor diesem Hintergrund ist für unsere Fragestellung nicht uninteressant, dass José Martí auch in seinem Roman Amistad funesta – und zwar im mittleren, an Spanien ausgerichteten Teil dieses dreiteiligen Romans – auf einen augenzwinkernden Verweis auf Don Quijote nicht verzichten zu können glaubte. Die Erzählerstimme nuanciert den erneut mit einem unbändigen Freiheitswillen konnotierten Verweis auf Don Quijote jedoch in einer Weise, die durchaus auf eine autobiographische Dimension sowie auf die spätere Rezeption Martís als Quijote cubano vorausweist. Denn eine der Romanfiguren, der unglückliche Manuelillo, ist nicht umsonst «comido de aquellas ansias de redención y evangélica quijotería que le habían enfermado el corazón al padre, y acelerado su muerte».677 Manuelillo ist gleichsam zerfressen von jenem Streben nach Erlösung und evangelisierender Quijoterie, die schon seinen Vater ins Grab geführt hatten. In Amistad funesta also taucht auch bei Martí jene quijotería oder quijotez auf, auf die in der soeben zitierten Anekdote um Simón Bolívar angespielt wurde, und die in Hispanoamerika wohl erstmals mit Fernández de Lizardis La Educación de las Mujeres o La Quijotita y su prima 1818/1819 ganz im Zentrum eines hispanoamerikanischen (Erziehungs-)Romans stand. Auch Martí war sich folglich dieser Dimension des Quijote-Bildes nicht nur im spanischsprachigen Amerika sehr bewusst; mehr noch: Er legte in der Gestaltung seines Manuelillo eine Spur, die diskret zumindest zu einem Teil seines eigenen idealistischen Selbstverständnisses und seines Freiheitswillens führte. Und wie bei Bolívar findet sich zumindest in dieser Passage seines Romans jene Sakralisierung eines revolutionären Quijotismus, den wir von der Independencia bis zu Che Guevara in Hispanoamerika verfolgen können.678 All dies bedeutet gleichwohl nicht, dass sich Martí zum Quijote stilisiert hätte, zumal dies für den späteren Gründer des Partido Revolucionario Cubano auch einem politischen Selbstmord gleichgekommen wäre. Denn Martí wusste sehr wohl, dass die Versuche mancher seiner Gegner, ihn zu einem realitätsfer-

 Martí, José: Amistad funesta. In (ders.): OC 18, S. 220.  Zu den semantischen Wandlungen des «Quijotesken» vgl. u. a. Armas Wilson, Diana de: Cervantes and the New World, S. 218.

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nen Dichter abzustempeln, sehr gefährlich werden und seine revolutionäre Autorität untergraben konnten. Doch eines augenzwinkernden autobiographischen Verweises in seinem fiktionalen Romantext konnte er sich in einer für ihn schwierigen politischen Phase dann doch nicht enthalten. Wir hatten gesehen, in welch auffallend starkem Maße José Martí bei seiner wiederholten Beschäftigung mit dem Don Quijote versuchte, sich trotz seiner Ausrichtung gerade an der spanischen Literatur des Siglo de Oro von der spezifisch spanischen, emblematisch für die hispanidad stehenden Bedeutungsebene des fahrenden Ritters zu lösen. Wir sollten jedoch an dieser Stelle möglichst klar zwischen der Auseinandersetzung mit dem Don Quijote de la Mancha, dem großen Roman Miguel de Cervantes’, und einem Quijotismo unterscheiden, die historisch und rezeptionsgeschichtlich sicherlich eng miteinander verbunden, ja verflochten sind, gleichwohl aber eine unterschiedliche Diskursivität entfaltet haben. Denn anders als die Beschäftigung mit dem Don Quijote ist der Quijotismo in Hispanoamerika in einer Diskurstradition verwurzelt, die (oft diffus) kulturgeschichtlich argumentierend eine Rückbindung des hispanoamerikanischen Seins an die Hispanität betonte. Insofern konnte der Quijotismo im Zeichen ererbter Hispanität zu einem nicht unwichtigen Bestandteil von Identitätsdiskursen in Hispanoamerika werden. Er fand sich im 19. und 20. Jahrhundert hierbei ebenso in positiver, den Idealismus der hispanischen Raza betonender wie in pejorativer, einen fehlenden Realitätsbezug beklagender Weise. In seinem 1950 vorgelegten Examen del quijotismo bestätigte der kubanische Kulturtheoretiker und Essayist Jorge Mañach eine doppelte diskursive Tradition des Quijotismo insoweit, als auch er eine essentialistische, gleichsam genetische Verbindung der Hispanoamerikaner mit dem aus Spanien ererbten Geist des Don Quijote sah: «In unserem Blute ererbten wir Hispanoamerikaner alles, was es im Quijotismo an Natur und nicht wenig an Geschichte gibt.»679 Doch er ging noch einen Schritt weiter: «All dies also, ebenso die natürliche Anlage wie die geschichtliche Prägung, haben wir Hispanoamerikaner ererbt. Und wir haben uns daran erfreut und haben darunter gelitten im Verhältnis zu unserem spanischen Blute, aber auch bis dorthin, wo uns dies ein neues physisches und kulturelles Umfeld erlaubte.»680 Aus dieser Perspektive ist es nicht

 Mañach, Jorge: Examen del quijotismo. Buenos Aires: Editorial Sudamericana 1950, S. 152: «Con la sangre heredamos los hispanoamericanos todo lo que en el quijotismo hay de naturaleza, y no poco de lo que tuvo de historia.»  Ebda., S. 155: «Todo eso, pues, incitación natural e impronta histórica, lo heredamos los hispanoamericanos. Y lo hemos gozado y padecido en la proporción de nuestra sangre española, pero también hasta donde un nuevo ámbito físico y cultural lo permitía.»

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verwunderlich, wenn Mañach seinen heute nur noch wenig beachteten Band im Doppelklang von Don Quijote und Sancho Panza enden lässt, habe es Cervantes doch gewollt, dass beide Figuren gemeinsam und nicht getrennt voneinander lebten.681 Hierin, so der kubanische Kulturtheoretiker in geistiger Anlehnung an Martí, liege die Zukunft von Nuestra América. José Martí fühlte sich trotz all seiner Kriegsbemühungen gegen die spanische Kolonialmacht kulturell und literarisch eng mit Spanien verbunden. Diese enge Verbindung ergibt sich allein schon aus der besonderen Beziehung, die der Kubaner zu Cervantes’ Don Quijote de la Mancha pflegte: Sie ist symptomatisch für seinen ausgeprägten Hispanismus. Doch die Geschichte zwang ihn, alles in seiner Kraft Stehende zu tun, um möglichst rasch die letzten Reste des spanischen Kolonialreichs in Amerika zu beseitigen und seine Heimatinsel zu befreien. Doch die enge Verbindung zu Spanien deutete sich in gewisser Weise selbst noch in jener bis heute beeindruckenden Kriegserklärung an, die der eigentliche Kopf des letzten Aktes der später als Dreißigjähriger Krieg bezeichneten Unabhängigkeitsrevolution wenige Wochen vor seinem eigenen Tod verfasst hatte. So hieß es in dem von José Martí und Máximo Gómez auf das dominikanische «Montecristi, 25 de Marzo de 1895»682 datierten Manifiesto de Montecristi: Der Krieg richtet sich nicht gegen den Spanier, der in der Sicherheit seiner Kinder und in der Achtung vor dem sich erzeugenden Vaterlande in vollem Respekt, ja sogar geliebt die Freiheit genießen können wird, welche allein diejenigen überwältigen soll, die sich ihr ohne Weitblick in den Weg stellen. […] In den spanischen Bewohnern von Kuba wird die weder umschmeichelnde noch fürchtende Revolution anders als im unehrenhaften Zorne des ersten Krieges eine hoffentlich so freundliche Neutralität oder wahrhaftige Unterstützung finden, so dass aus diesen Gründen der Krieg kürzer, seine Katastrophen geringer und der Friede einfacher und freundschaftlicher sein wird, in welchem Väter und Söhne gemeinsam leben werden. La guerra no es contra el español, que, en el seguro de sus hijos y en el acatamiento a la patria que se ganen, podrá gozar respetado, y aun amado, de la libertad que sólo arrollará a los que le salgan, imprevisores, al camino. […] En los habitantes españoles de Cuba, en vez de la deshonrosa ira de la primer guerra, espera hallar la revolución, que ni lisonjea ni teme, tan afectuosa neutralidad o tan veraz ayuda, que por ellas vendrán a ser la guerra más breve, sus desastres menores, y más fácil y amiga la paz en que han de vivir juntos padres e hijos.683

 Ebda., S. 162.  Ich zitiere nach der eindrucksvollen Faksimile-Ausgabe von Martí, José: Manifiesto de Montecristi. El Partido Revolucionario Cubano a Cuba. La Habana: Editorial de Ciencias Sociales 1985, S. 30.  Ebda., S. 6 u. 16.

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Oberstes Ziel des Krieges gegen Spanien sollte es folglich sein, eine Nation zu schaffen, die auf der Grundlage der Konvivenz, eines friedlichen Zusammenlebens aller Bevölkerungsteile unter Einschluss der Spanier errichtet werden musste. Diese nicht nur aus kriegsstrategischen Gründen beschworene Einheit der hispanischen Familie, die Martí, der Sohn valencianisch-kanarischer Eltern, zu Beginn eines «Krieges ohne Hass»684 gegen die spanische Kolonialmacht proklamierte, schlägt angesichts der desaströsen Niederlage der Madre Patria schon bald nach Martís Tod und dem Ende des Krieges bei so großen Modernisten wie Rubén Darío und José Enrique Rodó rasch um in eine kulturelle Aufwertung, ja Liebe gegenüber der ehemaligen Kolonialmacht Spanien. Die Konvivenzpolitik José Martís, der anders als im Zehnjährigen Krieg nicht auf eine hasserfüllte und zähe, langanhaltende Auseinandersetzung, sondern auf einen raschen Feldzug setzte, trug sehr wohl ihre Früchte. Das scheinbare Paradoxon, dass Martí Krieg gegen ein Land führen musste, dessen Kultur und dessen Literatur er sich so verbunden fühlte, löst sich im Zeichen der Freiheit auf, die José Martí am Ausgang dieses Krieges aufleuchten sah. Denn diese Libertad war noch immer die Freiheit des Don Quijote, der im Sinne Martís davon träumte, die Welt zu einer besseren zu machen. Das in den wesentlichen Teilen von Martí verfasste Manifiesto de Montecristi aber ist das fortbestehende und im besten Sinne literarische Zeugnis einer humanistischen Haltung, die mit Spanien gegen Spanien auf künftige Konvivenz, auf ein friedliches Zusammenleben aller Völker und Kulturen auf Kuba wie in den Amerikas setzte.

 Ebda., «sin odio».

4. Hauptstück: Konflikte, Kriege, Konvivenz: Der schwierige Weg von Nuestra América in die Welt Die kubanische Nation, die Globalisierungsverdichtung der Karibik und ein Kolonialkrieg um die Moderne Kuba entstand als Nation in der Literatur.685 Lange Jahrzehnte, bevor die Unabhängigkeitskriege gegen Spanien entflammten, hatte sich Kuba als nationale Einheit in der Literatur erfunden und zugleich die unablässige Bewegung zum eigentlichen Movens der kubanischen Geschichte und Literaturgeschichte gemacht. Mit Blick auf diese Literaturgeschichte ist es faszinierend zu sehen, dass die sicherlich herausragenden Vertreter dieser sich früh als Nationalliteratur konstituierenden Schreib- und Publikationspraktiken sich stets zumeist aufgrund politischer Verfolgungen zwischen mindestens zwei verschiedenen Räumen bewegten: der romantische Dichter José María Heredia zwischen Kuba und Mexiko, die große Dichterin der kubanischen wie der spanischen Romantik Gertrudis Gómez de Avellaneda zwischen Kuba und Spanien, der Romancier des kubanischen Nationalepos Cecilia Valdés o La Loma del Angel Cirilo Villaverde zwischen Kuba und den USA und der Lyriker, Essayist und Revolutionär José Martí zwischen Kuba und Spanien, Mexiko, Guatemala, Venezuela und schließlich den USA.686 Die Gründung einer kubanischen Nationalliteratur ging der Etablierung des kubanischen Nationalstaats um ein ganzes Jahrhundert voraus. Vergleichbar mit der Entwicklung im deutschsprachigen Raum entfaltete sich Kuba zunächst in der entstehenden Nationalliteratur als Bildungsnation, bevor all jene politischen und militärischen Prozesse eingeleitet wurden, die 1902 zur Konstituierung eines kubanischen Nationalstaates führten. Dieser junge Nationalstaat war freilich ein Staatswesen von den Gnaden der Vereinigten Staaten, die sich in der kubanischen Verfassung ein Recht auf jederzeitige Intervention garantieren ließen. Doch sollten wir bei der Betrachtung dieser historischen Entwicklung nicht übersehen, dass von den USA aus José Martí der  Vgl. zu einer allgemeinen Einführung in die Problemstellungen Kubas Ette, Ottmar: Kuba – Insel der Inseln. In: Ette, Ottmar / Franzbach, Martin (Hg.): Kuba heute. Politik, Wirtschaft, Kultur. Frankfurt am Main: Vervuert Verlag 2001, S. 9–25.  All diese verschiedenen Schriftstellerinnen und Schriftsteller habe ich im vierten Band der Reihe Aula ausführlich besprochen; vgl. hierzu Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten. Potsdamer Vorlesungen zu den Hauptwerken der Romanischen Literaturen des 19. Jahrhunderts. Berlin – Boston: De Gruyter 2021. https://doi.org/10.1515/9783110788471-005

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4. Hauptstück: Konflikte, Kriege, Konvivenz

entscheidende Schlag gegen die letzten Reste des spanischen Kolonialreiches in der Karibik und auf den Philippinen gelang: Die Guerra de Martí läutete für das einst so mächtige Imperium Spaniens das Totenglöcklein. Man kann Martí in einem Atemzug mit José Rizal nennen,687 der als ebenso weitgereister Intellektueller wie Martí und nicht als Kreole, sondern als «chinesischer Mestize» das Kolonialreich Spaniens auf dem philippinischen Archipel in Flammen setzte und ebenso wie Martí zu einem Nationalhelden wurde. Vor dem Hintergrund dieser beeindruckenden Geschichte der kubanischen Nationalliteratur ließe sich mit guten Gründen sagen, dass sich die kubanische Literatur – und sie nimmt hier viele Entwicklungen vorweg, die sich innerhalb eines zum Teil sehr differenten politischen und ökonomischen Kontexts in der weiteren postkolonialen Geschichte der Karibik manifestieren sollten – als eine Literatur ohne festen Wohnsitz konstituiert und gerade hierin einen grundlegenden und prägenden Zug entfaltet, der sie bis heute als Nationalliteratur auszeichnet. Die kubanische Literatur ist dabei in gewisser Weise Exception culturelle und kulturelles Paradigma zugleich. Denn auch für die weitere Entwicklung der kubanischen Letras im 20. wie im beginnenden 21. Jahrhundert gilt, dass es absurd wäre, sie allein auf die Territorialität der Insel Kuba zu reduzieren, wurde doch seit Beginn des 19. Jahrhunderts unter verschiedenartigsten politischen Konstellationen ein wesentlicher, ja maßgeblicher Teil der kubanischen Literatur fernab der Insel geschrieben und veröffentlicht.688 Innerhalb dieser Entwicklung ist José Martí zweifellos eine Schlüsselfigur. Denn die kubanische Literatur ist trotz aller Versuche, sie immer wieder zu reterritorialisieren und an den Raum der größten der Antillen-Inseln zu binden, eine Literatur, die gleichsam mit dem Wasserzeichen Martís bis heute weltweit geschrieben wird. Die verschiedenen Orte des Schreibens José Martís, die wir im Verlauf unserer Studie betrachten konnten – also Kuba, Spanien, Mexiko, Guatemala, Venezuela und die USA, aber auch die unterschiedlichsten Reiseepisoden Martís in Europa, in der Karibik, in Mittelamerika oder den Vereinigten Staaten – legen Zeugnis von dieser bemerkenswerten Tatsache ab.

 Vgl. hierzu auch Ette, Ottmar. Worldwide: Living in Transarchipelagic Worlds. In: Ette, Ottmar / Müller, Gesine (Hg.): Worldwide. Archipels de la mondialisation. Archipiélagos de la globalización. A TransArea Symposium. Madrid, Frankfurt am Main: Iberoamericana, Vervuert 2012, S. 21–59.  Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Eine Literatur ohne festen Wohnsitz. Fiktionen und Friktionen der kubanischen Literatur im 20. Jahrhundert. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte / Cahiers d’Histoire des Littératures Romanes (Heidelberg) XXVIII, 3–4 (2004), S. 457–481.

Die kubanische Nation und die Globalisierungsverdichtung der Karibik

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Wenn die kubanische Literatur ihre Zukunftsfähigkeit bis heute gerade daraus entfaltete, dass sie sich als Nationalliteratur vor allem jenseits des Nationalstaats und vielleicht mehr noch des nationalen Territoriums entwickelte, weist sie als Literatur ohne festen Wohnsitz auf die Risiken, vor allem aber auch – mit Blick auf ihre so erfolgreiche Geschichte – auf die Chancen einer derartigen transarealen Literaturentwicklung. José Martí ist ohne jeden Zweifel ein Modellfall für einen Schriftsteller ohne festen Wohnsitz, der zugleich seine Transarealität in einen überragenden Wissens- und Kenntnisstand ummünzte. Ohne eine Berücksichtigung dieser Hintergründe wäre seine herausragende Bedeutung als Denker der Globalisierung nicht adäquat zu erfassen. Kuba bildet über lange Phasen der lateinamerikanischen Literaturgeschichte eine Ausnahme, eine Exception culturelle. Denn die über lange Zeiträume tragische Geschichte der Insel Kuba hat im Gegenzug eine herausragende Literatur hervorgebracht, die sich ebenso archipelisch wie transarchipelisch manifestiert. Autoren wie Reinaldo Arenas oder die Dichterinnen und Dichter im Umkreis der Generación de Mariel rund um die Zeitschrift Mariel689 haben es selbst unter widrigsten Umständen vermocht, literarische Lebenszeichen auszusenden, die in einer intensiven Wechselbeziehung mit den großen Dichtern der kubanischen Literaturgeschichte standen. Diese zukunftsgerichteten Dimensionen der Figura José Martí gilt es zu erfassen, wenn wir der ganzen Bedeutung des kubanischen Nationalhelden gerade im Bereich der Literatur – und weit über den Modernismo hinaus – gerecht werden wollen. Denn dass diese spezifische Konfiguration einer nationalen Literatur ohne festen Wohnsitz bis heute zu einem Erfolgsmodell geworden ist, welches der kubanischen Literatur einen großen und wichtigen Platz innerhalb der Literaturen der Welt einbrachte, dürfte sich wohl kaum bestreiten lassen. Dies ist ebenso auf dem Feld der Dichtkunst mit Dichterinnen und Dichtern von Gertrudis Gómez de Avellaneda oder José María Heredia über Juana Borrero und José Martí bis hin zu José Lezama Lima oder Dulce María Loynaz der Fall wie im Bereich des Romans oder der Erzählkunst, für die stellvertretend nur Autoren wie Cirilo Villaverde, Alejo Carpentier, Miguel Barnet, Virgilio Piñera oder Reinaldo Arenas genannt seien. Kuba ist freilich kein absoluter Einzelfall innerhalb der Karibik. Denn diese Area zählt global zu den verdichtetsten Weltgebieten der Literatur überhaupt. Die Literaturen der seit der Wende zum 16. Jahrhundert hochgradig globalisierten Karibik haben sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts – und hier ging die kubani Vgl. hierzu Ette, Ottmar: La revista «Mariel» (1983–1985): acerca del campo literario y político cubano. In: Bremer, Thomas / Peñate Rivero, Julio (eds.): Hacia una historia social de la literatura latinoamericana. Tomo II. Actas de AELSAL 1985. Giessen – Neuchâtel 1986, S. 81–95.

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4. Hauptstück: Konflikte, Kriege, Konvivenz

sche Literatur allen anderen voran – nicht allein zu einem der produktivsten Literaturräume der Welt entwickelt, sondern zugleich auch die außerordentliche Kreativität und Produktivität von Literaturen ohne festen Wohnsitz unter Beweis gestellt. Diese sperren sich gegen jeglichen Versuch einer simplen Territorialisierung, gegen jede reduktionistische Zuordnung zu einem bestimmten Territorium, ohne doch zugleich darauf zu verzichten, einer Nationalliteratur (oder protonationalen Literatur) zuzugehören. Erfahrungen des Exils und diasporische Schreibformen gehören ganz selbstverständlich zur Literaturgeschichte der karibischen Literaturen, für die das gesamte Schaffen von José Martí nicht nur ein herausragendes Exempel bildet, sondern Modellcharakter beanspruchen darf, auch wenn er sich nur selten translingualer Schreibformen bediente. Die Transferprozesse, die den karibischen Raum seit seiner erzwungenen Integration in welthistorische und weltumspannende Entwicklungen, wie sie bereits die Karte des Jahres 1500 von Juan de la Cosa690 dokumentiert, zutiefst geprägt haben, stellen an uns die Herausforderung, weltliterarische Prozesse künftig auch und gerade vor dem Hintergrund der karibischen Literatur(en) wie der karibischen Theoriebildungen auf eine neue Weise zu begreifen. Wir müssen sie uns künftig eingebunden denken in viellogische, relationale Austauschbeziehungen jenseits nationalliterarischer Konzepte traditioneller europäischer Provenienz. Auch hierfür bildet das Denken und Schreiben José Martís ein lebendiges Modell, ist doch sein Publizieren wie sein Handeln stets nicht an Territorialitäten, sondern an ständigen Bewegungen und Wissensflüssen ausgerichtet. Sein Beispiel einer internationalen Vernetzung mit wichtigen Periodika in ganz Lateinamerika führt uns vor Augen, wie seine aufopferungsvolle Tätigkeit als Spinne im Netz der Wissensflüsse in New York an einer mobilen Transarealität ausgerichtet ist, welche sich nicht auf ein Land allein konzentriert. Die herausragende Bedeutung des 19. Jahrhunderts für die Zirkulationen und Zirkulationsformen des Wissens im transatlantischen wie im transpazifischen Raum steht außer Frage, haben doch im Bereich der gesamten amerikanischen Hemisphäre und in ganz spezifischem Maße in der Karibik die Migrationen aus verschiedensten Teilen Europas und die Deportationen aus verschiedensten Teilen Afrikas, aber auch die Einwanderungen etwa aus China, aus Indien und aus der arabischen Welt hochkomplexe transareale Kulturbeziehungen entstehen lassen,691 die nicht von ungefähr gerade im karibischen Raum – und insbeson Vgl. hierzu die Bände eins und fünf der Reihe Aula in Ette, Ottmar: ReiseSchreiben (2020), S. 57 ff.; sowie Erfunden / Gefunden (2022), S. 105 ff.  Vgl. hierzu Ette, Ottmar / Müller, Gesine (Hg.): Worldwide. Archipels de la mondialisation. Archipiélagos de la globalización. A TransArea Symposium. Madrid, Frankfurt am Main: Iberoamericana Vervuert 2012.

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dere in Kuba – noch am Ausgang des 19. Jahrhunderts sowie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Kulturtheorien entstehen ließen, die sich zur Transkulturalität hin öffneten. Das 19. Jahrhundert kann in den Amerikas insgesamt als ein Erprobungsraum transkultureller Migrationsbewegungen und Biopolitiken verstanden werden, in welchem sich jene Prozesse ankündigen, die unsere Gegenwart noch heute entscheidend prägen. Die Konvivenzpolitik eines José Martí war eine adäquate Antwort auf diese Herausforderungen, wie sie die verschiedenen Phasen beschleunigter Globalisierung entfaltet hatten. Sie zielte auf die Ermöglichung eines friedlichen Zusammenlebens in Differenz. Es wäre ein Leichtes, eine Vielzahl derartiger Prozesse und Entwicklungen anhand der Texte des sicherlich herausragenden Beobachters und Theoretikers der dritten Phase beschleunigter Globalisierung, anhand der Schriften also des Kubaners José Martí, zu beleuchten und eine Theorie dieser dritten Phase aus seinen überragenden Texten insbesondere über die Vereinigten Staaten von Amerika zu gewinnen. Auf einige dieser Texte werde ich in diesem abschließenden Hauptstück noch zurückkommen. Sein gesamtes Werk ist wohl die früheste und zugleich entschlossenste Antwort auf die hier skizzierten Globalisierungsphänomene nicht nur aus kubanischer und karibischer, sondern auch aus lateinamerikanischer wie hemisphärischer Sicht. José Martí beobachtete die Entwicklungen in seinen jeweiligen Exil- und Gastländern und gerade auch in den Vereinigten Staaten des Nordens mit großer Weitsicht. Er war zweifellos der schärfste und kritisch hinterfragendste Beobachter einer veränderten Außen- und Militärpolitik der USA, was ihn gleichsam subkutan ablaufende politische und militärische Prozesse zu erkennen erlaubte, die erst ein Jahrzehnt später für die breite Öffentlichkeit sichtbar wurden. Mit ihrer Politik einer militärischen Aufrüstung und insbesondere des gezielten Aufbaus einer American Sea Power seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts hatten die Vereinigten Staaten damit begonnen, ihre zuvor an kontinentaler Territorialität und vorrückender Frontier ausgerichtete raumgeschichtliche Politik an einer vektoriellen, unübersehbar bewegungsgeschichtlich deutbaren Praxis auszurichten, die rasch zur unverzichtbaren Grundlage und Voraussetzung ihres imperialen Ausgreifens werden sollte. José Martí erkannte die gezielte Schaffung der Voraussetzungen eines Imperium Americanum und die sich daraus ergebenden Handlungszwänge, die sich aus dieser neu sich herausschälenden Zielsetzung für die herrschenden Politiker und Wirtschaftskapitäne in den USA ergaben. Martí lebte in New York und verstand, welch große Bedeutung das hegemoniale Auftreten der USA, aber auch die internationale Expansionspolitik vieler europäischer Staaten für Nuestra América erhalten könnten. Als Delegierter der 1891 in Washington stattfindenden Comisión Monetaria Internacional Americana

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4. Hauptstück: Konflikte, Kriege, Konvivenz

verstand er die ökonomischen Zwänge, welche die Vereinigten Staaten auf die Staaten Lateinamerikas ausüben wollten, um sich eine finanzpolitische Grundierung ihrer hegemonialen Vorherrschaft auf dem amerikanischen Kontinent sowie sichere Absatzmärkte innerhalb der eigenen Einflusssphäre zu sichern. In seinem zuerst im Mai 1891 in der Revista Ilustrada von New York erschienenen Artikel La Conferencia Monetaria de las Repúblicas de América definierte er die Politik als «arte de combinar»,692 als eine Kunst des Kombinierens, wobei er versuchte, auf die unterschiedlichen und notwendig ins Kalkül zu ziehenden Faktoren aufmerksam zu machen, um die «alma aldeana».693 Den dörflerischen Geist in Lateinamerika, wachzurütteln. Diesem Dörflertum, das er schon in seinem incipit von Nuestra América verurteilt hatte, setzte er ein massives Bild der Vereinigten Staaten entgegen, das er in rhetorisch dicht gedrängten Kaskaden als Warnung vor dem Eroberungsgeist der Bewohner der USA allen Lateinamerikanern ins Stammbuch schrieb: Weder derjenige, der weiß und sieht, kann ehrlich sagen – weil dies allein sagt, wer weder weiß noch sieht oder aus eigenem Interesse weder wissen noch sehen will –, dass in den Vereinigten Staaten heute zumindest jenes menschlichere und männlichere Element vorherrscht, auch wenn es stets egoistisch und auf Eroberung aus ist, bei jenen rebellischen Kolonisten, die entweder der zweiten Adelsgeneration oder dem puritanischen Bürgertum entstammen; sondern dass dieser Faktor, der die ursprüngliche Rasse aufbrauchte, die Sklaverei einer anderen Rasse förderte und von ihr lebte und die benachbarten Länder reduzierte oder ausraubte, sich verschärfte, anstatt schwächer zu werden, mit dem beständigen Aufpfropfen der Massen aus Europa, die eine tyrannische Ausgeburt des politischen und religiösen Despotismus sind, deren einzige gemeinsame Qualität der Heißhunger darauf ist, über alle anderen die Autorität auszuüben, die einst über sie ausgeübt wurde. Sie glauben an die Notwendigkeit und an das barbarische Recht als einziges Recht: «Dies wird unser sein, weil wir es brauchen.» Sie glauben an die unvergleichliche Überlegenheit «der angelsächsischen Rasse über die lateinische Rasse». Sie glauben an die Niedrigkeit der schwarzen Rasse, welche sie gestern versklavten und die sie heute benachteiligen, sowie der indianischen Rasse, welche sie ausrotten. Sie glauben, dass die Völker Hispanoamerikas sich hauptsächlich aus Indianern und Schwarzen zusammensetzen. Ni el que sabe y ve puede decir honradamente, — porque eso sólo lo dice quien no sabe y no ve, o no quiere por su provecho ver ni saber, — que en los Estados Unidos prepondere hoy, siquiera, aquel elemento más humano y viril, aunque siempre egoísta y conquistador de los colonos rebeldes, ya segundones de la nobleza, ya burguesía puritana; sino que este factor, que consumió la raza nativa, fomentó y vivió de la esclavitud de otra raza y redujo o robó los países vecinos, se ha acentrado, en vez de suavizarse, con el injerto con-

 Martí, José: La Conferencia Monetaria de las Repúblicas de América. In (ders.): OC 6, S. 158.  Ebda.

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tinuo de la muchedumbre europea, cría tiránica del despotismo político y religioso, cuya única cualidad común es el apetito acumulado de ejercer sobre los demás la autoridad que se ejerció sobre ellos. Creen en la necesidad, en el derecho bárbaro, como único derecho: «esto será nuestro, porque lo necesitamos». Creen en la superioridad incontrastable de «la raza anglosajona contra la raza latina». Creen en la bajeza de la raza negra que esclavizaron ayer y vejan hoy, y de la india, que exterminan. Creen que los pueblos de Hispanoamérica están formados, principalmente, de indios y de negros.694

Diese Passage zeigt nicht nur die ausgefeilte und zugleich hochkomplexe Rhetorik, derer sich José Martí bediente, um in poetisch gedrängter Form in wenigen Sätzen langfristige historische Entwicklungen zu rekapitulieren und vor den Augen seiner Leserinnen und Leser vorüberziehen zu lassen. Sie zeigt nicht nur, welch hohe Anforderungen der Dichter an seine Leserschaft stellte und warum manche Anhänger Martís nach seinen Reden – wie wir im ersten Teil dieser Studie sahen – seine Versammlungen verließen und sagten, sie hätten so gut wie nichts verstanden, aber seien jederzeit bereit, sich für ihn einzusetzen und wenn notwendig aufzuopfern. Diese Passage zeigt vor allem, dass sich zu Beginn der neunziger Jahre José Martís Bild der Vereinigten Staaten von Amerika entscheidend und zum Negativen hin verändert hatte. Denn die Bevölkerung der USA scheint nach den Worten Martís nicht nur dem Dschungelgesetz und dem Recht des Stärkeren zu huldigen, scheint nicht nur die Nachbarländer auszurauben oder – wie im Falle Mexikos – große und fremde Territorien sich ohne jedes Recht anzueignen. Die Bewohner der USA seien auch von der Überlegenheit der angelsächsischen Rasse gegenüber der Indigenen Bevölkerung überzeugt, so dass sie gewissenlos die ursprünglichen Bewohner dieses weiten Landes ausraubten und ausrotteten. Sie seien ebenso zutiefst davon überzeugt, dass die Schwarzen weit unter ihnen stünden, so dass sie sie mit gutem Recht versklavt hätten und nach dem Ende der Sklaverei noch immer diskriminierten und benachteiligten. Den realhistorischen Hintergrund für diese Annahmen und Überzeugungen haben wir im zurückliegenden Hauptstück gesehen. Dies sind fundamentale Elemente eines Rassismus, den wir auch hundertdreißig Jahre nach Martís Tod noch immer in den USA beobachten können, wo die Spuren dieses Rassismus gegenüber der schwarzen Bevölkerung und der entrechteten indigenen Restbevölkerung noch immer – wenn auch etwas vermindert – allenthalben sichtbar und spürbar sind. Vor allem stellte José Martí bei der US-amerikanischen Bevölkerung eine fundamentale Unkenntnis der lateinischen Länder des Kontinents fest, die sich in einem Überlegenheitsgefühl und einem Superioritätsdenken niederschlug, die ihrerseits auf rücksichtslose Eroberung und Ausplünderung angelegt seien.  Ebda., OC 6, S. 159 f.

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4. Hauptstück: Konflikte, Kriege, Konvivenz

Das europäische Bevölkerungselement habe sich in keiner Weise mäßigend auf den barbarischen Durchsetzungswillen ausgewirkt, insofern die Aufpfropfung – und auch hier stoßen wir wieder auf diese Metaphorik – Bevölkerungen in die USA gespült habe, die unter der Despotie in Europa aus politischen oder religiösen Gründen gelitten hätten und diese Unrechtserfahrung nun in den USA zu ihren Gunsten verändern und ausleben wollten. Auf diese Weise sei eine Bevölkerung vorherrschend und meinungsbildend geworden, die nach außen extrem aggressiv agiere und im Grunde nach dem Gesetz des Dschungels handele. Und es sei noch immer eine ungeheure Bereitschaft zu konstatieren, sich den Besitz anderer Länder anzueignen, sich diese Länder gefügig zu machen und zu unterwerfen. Dass Martí in seinen Prognosen durchaus richtig lag, sollten die folgenden Jahrzehnte mit Dutzenden militärischer Interventionen in den Ländern des Südens und mit einer Big Stick Policy der Vereinigten Staaten belegen, die zur gezielten Ausplünderung all jener Länder führte, die Martí als Nuestra América bezeichnete. Darüber hinaus erkannte der kubanische Parteigründer bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt, dass die atlantische und pazifische Expansion der USA schon bald zu einem vehementen Konflikt mit der alten Kolonialmacht Spanien führen musste. Seine eigene politische Ausrichtung der Zukunft Kubas und des karibischen Raumes richtete er an dieser überaus zutreffenden und hellsichtigen Analyse aus. Martís Vorhersagen sollten sich bereits wenige Monate nach seinem eigenen Tod im Kampf gegen die spanische Kolonialmacht erfüllen. Wohlkalkuliert hatte der neue unter den «gigantes que llevan siete leguas en las botas»,695 also der neue Riese mit den Siebenmeilenstiefeln, 1898 den ersten eigentlichen Medienkrieg der Geschichte entfesselt und militärisch konsequent zugeschlagen, um die Reste des einstigen spanischen Weltreiches unter seine Militärstiefel, seine hochgerüstete Armee, zu zwingen. Eine der gleich zu Beginn von Nuestra América zum Ausdruck gebrachten Hoffnungen, noch rechtzeitig diese Expansion verhindern zu können, war damit bereits wenige Jahre später zunichte gemacht: «Die Bäume müssen in Reih’ und Glied treten, damit der Riese mit den Siebenmeilenstiefeln nicht hindurch kann! Dies ist die Stunde des Nachprüfens und des vereinten Vorgehens: in dicht gedrängten Reihen müssen wir marschieren, wie das Silber im Schoß der Anden.»696 Diese Worte blieben ein bloßer Traum.

 Martí, José: Nuestra América, S. 13.  Martí, José: Unser Amerika, S. 56 f; vgl. Marti, José: Nuestra América, S. 14: «¡los árboles se han de poner en fila, para que no pase el gigante de las siete leguas! es la hora del recuento, y de la marcha unida, y hemos de andar en cuadro apretado, como la plata en las raíces de los Andes.»

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Am Ausgang seines im Mai 1891 veröffentlichten Artikels La Conferencia Monetaria de las Repúblicas de América formulierte José Martí seine Warnungen an die Länder von Nuestra América verbunden mit dem Hinweis, vorsichtig und auf keinen Fall einladend und gastfreundlich zu sein: Sich aufnahmefreundlich bis hin zur Schwäche zu zeigen wäre nicht die beste Art und Weise, sich aus den Gefahren zu erretten, denen man sich in einem wirtschaftlichen Handel mit einem drängenden und überbordenden Volke mit der Fama der Schwäche aussetzt. Es ist nicht vernünftig, diese Fama der Schwäche zu bestätigen, sondern die Gelegenheit zu ergreifen, sich ohne Gefahr energisch zu zeigen. Und in derlei Gefahren ist das am wenigsten Gefährliche, eine günstige Stunde zu wählen und mit Maß zu nutzen, um energisch zu sein. Wer könnte auf Schlangen ganze Völker errichten? Mostrarse acomodaticio hasta la debilidad no sería el mejor modo de salvarse de los peligros a que expone en el comercio, con un pueblo pujador y desbordante, la fama de debilidad. La cordura no está en confirmar la fama de débil, si no en aprovechar la ocasión de mostrarse enérgico sin peligro. Y en esto de peligro, lo menos peligroso, cuando se elige la hora propicia y se la usa con mesura, es ser enérgico. Sobre serpientes, ¿quién levanta pueblos?697

José Martí plädierte in den Verhandlungen mit der großen Macht des Nordens für eine sorgsame und wohlüberlegte Vorgehensweise, die den Ländern des Südens erlauben sollte, die Vorurteile der schwäche zu entkräften, die man im Norden über all diese lateinischen Länder hegte. Dem Gefühl der Superiorität durfte man nicht mit Gesten der Inferiorität begegnen. Er riet angesichts des rassistisch begründeten Überlegenheitsdünkels zu einer energisch vorangetriebenen Politik, die gegenüber den USA an den eigenen Interessen ausgerichtet und entschlossen sein müsse, um nicht dem aufstrebenden Imperium Americanum zum Opfer zu fallen. Es gelte – und hier ist die Symbolik des modernistischen Dichters in der bilderreichen Prosa spürbar – nicht auf Schlangen zu bauen, sondern hohe, erhabene Ziele zu setzen, an denen man sich ausrichten und nach oben ziehen müsse. Kein anderer Schriftsteller hat zum damaligen Zeitpunkt mit derselben Konsequenz und Pertinenz die Chancen, aber auch die Risiken jener Beschleunigung durchdacht, die dies Martí bereits wenige Monate zuvor gleich zu Beginn seines Essays Nuestra América unternahm. Der Verweis auf andere, zeitnahe Texte soll verdeutlichen, dass Nuestra América keineswegs einen isolierten Text darstellt, sondern sich in ein Umfeld ähnlich ausgerichteter Martí’scher Schriften einfügt. Ähnlich wie als Delegierter Uruguays bei der Washingtoner Währungskonferenz

 Martí, José: La Conferencia Monetaria de las Repúblicas de América. In (ders.): OC 6, S. 167.

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4. Hauptstück: Konflikte, Kriege, Konvivenz

reflektierte der Kubaner gleichsam für ganz Lateinamerika von seinem Wohnort New York aus, wie man am besten den Gefahren aus dem Weg gehen könne, die für den Süden des Kontinents aus der allenthalben erkennbaren Beschleunigung erwachsen würden. Doch aus schmerzlicher Erfahrung wusste er, dass die Vereinigten Staaten von Amerika zunächst weniger auf die Länder des Cono Sur am südlichen Ende des Kontinents blicken, sondern sich auf die dem eigenen Territorium nahe liegenden Länder und Gebiete konzentrieren würden. José Martís Warnungen waren seit den frühen achtziger Jahren mehr oder minder ergebnislos in den Ländern Lateinamerikas verhallt. Durch die verschiedenen Abdrucke seiner Essays in unterschiedlichen Periodika suchte er gleichwohl, eine gesamtlateinamerikanische Öffentlichkeit für seine Ideen von Einheit, Zusammenhalt, Konvivenz und Vorsicht, aber auch für eine aktivere und forderndere Rolle von Nuestra América auf der internationalen Bühne zu werben. Es galt, ein Gegengewicht zu den USA zu schaffen, das am Ausgang des 19. Jahrhunderts freilich zu keinem Zeitpunkt zustande kam. Der aldeano vanidoso, der eitle Dörfler ließ sich nicht so einfach wachrütteln und in Bewegung setzen. In Martís Essay Nuestra América stoßen wir auf Reflexionen buchstäblich im Angesicht einer ungeheuer raschen Entwicklung, innerhalb derer mit den USA auch erstmals ein nicht-europäischer (wenn auch europäisch geprägter) Protagonist in die Reihe der Weltmächte, der globalen Riesen mit den Siebenmeilenstiefeln trat. Der Weck- und Warnruf José Martís war zugleich nicht das Einzige, was der Politiker und Revolutionär unternahm, um die Geschicke von Kuba wie des südlichen Amerika doch noch in seinem Sinne zu beeinflussen. Sein Leitspruch dabei war: «Schützengräben aus Ideen sind denen aus Stein überlegen.»698 Oder im Original: «Trincheras de ideas, valen más que trincheras de piedras.»699 Aber auch die echten, die wirklichen Schützengräben vernachlässigte er nicht, sondern bereitete seinen Krieg gegen Spanien umso dringlicher vor. Dazu bedurfte es aber der Übersicht, auch wenn ihm die Zeit davonzulaufen schien. José Martí darf zweifellos als derjenige karibische Autor gelten, der die Herausforderungen, die das 19. Jahrhundert an das heraufziehende 20. Jahrhundert im Weltmaßstab stellte, mit größter Weitsicht und mit allergrößter Courage analysierte. Mit Enthusiasmus, aber auch mit der notwendigen Skepsis beur-

 Vgl. Martí, José: Unser Amerika. [Übersetzung Ottmar Ette]. In: Rama, Angel (ed.): Der lange Kampf Lateinamerikas. Texte und Dokumente von José Martí bis Salvador Allende. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1982, S. 56.  Martí, José: Nuestra América. Edición crítica. Investigación, presentación y notas Cintio Vitier. La Habana: Centro de Estudios Martianos Casa de las Américas 1991, S. 13.

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teilte er dabei die Handlungsmöglichkeiten und die Realpolitiken der einzelnen lateinamerikanischen Länder. Wenn Martí auf Adelbert von Chamisso und dessen Peter Schlemihls wundersame Geschichte mit dem Element der Siebenmeilenstiefel zurückgriff, dann tat er dies, um eine bereits heraufgezogene Phase beschleunigter Globalisierung im Lichte einer früheren Expansionsphase zusätzlich zu beleuchten und um klarzumachen, dass sich die Siebenmeilenstiefel der Chamisso’schen Erzählung rasch in Militärstiefel von Truppen verwandeln konnten, welche die geballte Militärmacht der USA zunächst in den karibischen Raum, später aber auch in andere Areas von Nuestra América tragen würde. Daher rüstete er militärisch im karibischen Raum auf, wobei er all dies von den USA aus organisieren musste. Dass Spanien wie die USA seine Aktivitäten misstrauisch beäugten, musste ihm dabei klar sein und zeigte sich auch in der noch zu erwähnenden Episode des sogenannten Plan de Fernandina wenige Monate vor dem tatsächlichen Ausbruch des von ihm vorbereiteten Krieges. Martí verfügte nicht über die Möglichkeiten eines Staates; seine Macht als Gründer und Delegierter des Partido Revolucionario Cubano war begrenzt und basierte auf der Macht über das Wort. Im Grunde war er nur ein Dichter und Intellektueller, der politische Zielsetzungen verfolgte und sich zu deren Durchsetzung mit bestimmten Gruppen, vor allem maßgeblichen Teilen des kubanischen Exils unter Einschluss der kubanischen Tabakarbeiter in Florida, verbündete. All dies war wenig, aber erlaubte ihm zumindest, die großen historischen Linien des Konflikts vor seinen Anhängern immer wieder auszuziehen. All dies bedeutete, dass Martí die gegenwärtigen Handlungsoptionen stets im Lichte der historischen Vergangenheit betrachtete und aus diesen historisch gewordenen Kausalketten bevorzugt ableitete, welche früheren Fehler man in der aktuellen Phase tunlichst vermeiden müsse. Aus dieser Vergangenheitsbefragung leitete er Folgerungen für eine prospektive Sichtweise künftiger Geschichtsverläufe in den Amerikas ab – und dies stets in einer modernistischen Prosa, die ungeheuer komplexe Perioden konstruierte, um hochkomplexe Sachverhalte nicht zu trivialisieren. Nein, ein einfach verständlicher Denker war dieser José Martí, der Dichter der Versos sencillos, sicherlich nicht: Er verlangte seiner Leserschaft wie dem Publikum seiner Reden und Ansprachen viel ab. Aber sein Denken und Handeln richtete sich ganz konkret auf die Zukunft: Dies spürten nicht zuletzt die zahlreichen kubanischen Tabakarbeiter, die in Florida den Gründer des Partido Revolucionario Cubano mit ihren Spenden tatkräftig unterstützten und die Waffenkäufe finanzierten. Sie folgten der Zukunftsvision Martís mit größtem Vertrauen. Denn die von Martí gewählten Bilder und Symbole führten die jetzige wie die künftige weltpolitische Situation plastisch vor Augen.

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4. Hauptstück: Konflikte, Kriege, Konvivenz

Diese in vielen Texten Martís entfaltete Vision der künftigen Geschichte entsprach ziemlich genau den Ereignissen, die mit dem Desastre über Spanien700 und nach dem Krieg von 1898 über Lateinamerika hereinbrechen sollten. Anders als andere Modernisten, die wie Rubén Darío oder José Enrique Rodó erst unmittelbar nach 1898 auf die neue Wendung der Dinge reagierten, hatte er früh den künftigen Verlauf der Geschichte prognostiziert und im Rahmen seiner bescheidenen Möglichkeiten Maßnahmen ergriffen, um den Lauf der Ereignisse noch zu verändern. José Martí war vollumfänglich – und dies ist vielleicht nicht im ausreichenden Maße gesehen worden – ein karibischer, ein antillanischer Denker. Nicht umsonst sprach der Dichter der Versos libres und des Ismaelillo am Ausgang seines berühmtesten Essays von den «schmerzensreichen Inseln des Meeres».701 Er hegte gegen Ende seines Lebens noch die Hoffnung, die Inselketten der Karibik einer aus dem Norden des Kontinents vorrückenden neuen Weltmacht als Bollwerk entgegenstellen und damit die Expansion der Vereinigten Staaten noch verhindern oder zumindest verlangsamen zu können. So schrieb er in einem berühmten, auf den 18. Mai 1895 – und damit wenige Stunden vor seinem Tod – datierten, aber unvollendet gebliebenen (und bereits kurz angeführten) Brief an seinen mexikanischen Freund Manuel Mercado aus dem Campamento de Dos Ríos unweit des Ortes, an dem ihn der Tod ereilen sollte: Alle Tage schon bin ich der Gefahr ausgesetzt, mein Leben für mein Land und für meine Pflicht hinzugeben – denn so verstehe ich es und bin beseelt davon, alles so in die Tat umzusetzen –, um mit der Unabhängigkeit Kubas rechtzeitig zu verhindern, dass sich die Vereinigten Staaten über die Antillen ausbreiten und um diese Kraft verstärkt über unsere Länder Amerikas herfallen. Alles, was ich bis heute getan und tun werde, ist dafür. ya estoy todos los días en peligro de dar mi vida por mi país y por mi deber — puesto que lo entiendo y tengo ánimos con que realizarlo — de impedir a tiempo con la independencia de Cuba que se extiendan por las Antillas los Estados Unidos y caigan, con esa fuerza más, sobre nuestras tierras de América. Cuanto hice hasta hoy, y haré, es para eso.702

Jedoch gelang es Martí nicht, «impedir que en Cuba se abra, por la anexión de los Imperialistas de allá y los españoles, el camino que se ha de cegar, y con

 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Visiones de la guerra / guerra de las visiones. El desastre, la función de los intelectuales y la Generación del 98. In: Iberoamericana (Frankfurt am Main) XXII, 71–72 (1998), S. 44–76.  Martí, José: Unser Amerika, S. 67.  Martí, José: OC 4, S. 156.

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nuestra sangre estamos cegando, de la anexión de los pueblos de nuestra América, al Norte revuelto y brutal que los desprecia».703 Er wolle also mit seinem eigenen Blut den Imperialisten des Nordens den Weg verlegen, der diese zur Annektion weiterer Länder des Südens führen und die vorherrschende Stelle dieses aufgewühlten und brutalen Nordens über den Süden des Kontinents zementieren würde. Trotz aller Truppen, die er gegen Spanien sammelte, trotz aller Waffen, die er für den Krieg organisierte, verfügte er nicht über die Macht, dem brutalen und entfesselten, den Süden verachtenden Norden jenen Zugang zu versperren, der diesen durch die imperialistische Annektion weiter Länder als Global Player zu einem neuen Weltreich führen sollte. Als antillanischer Denker stand Martí stets vor der Situation, über kein großes Territorium, über keine hohe Bevölkerungszahl, über keine nennenswerten Wirtschaftskomplexe und über keine große militärische Macht verfügen oder auf diese zurückgreifen zu können. Auch wenn Kuba die größte der Antilleninseln ist, so ist es letztlich doch eine Insel, deren militärische Möglichkeiten – zumindest zum damaligen Zeitpunkt – höchst begrenzt waren. Und Martí war nur ein kleines Rädchen im weltweiten Getriebe machtpolitischen Pokerns. Dass die Mambises Spanien und damit immerhin einer Kolonialmacht die Stirn bieten konnten, mag durchaus beeindrucken; aber an einen Kampf mit den USA, den Vereinigten Staaten des Nordens, war nicht zu denken. Hatte José Martí in seinen letzten Tagen die eigene Ausweglosigkeit erkannt? Hatte er in La mejorana nicht nur verstanden, dass es mehr als schwierig sein würde, die alten Haudegen des Zehnjährigen Krieges nach Abschluss eines erfolgreichen Feldzuges gegen Spanien wieder von der politischen Macht zu verdrängen? Hatte er darüber hinaus verstanden, dass das längerfristige Ziel, das er sich selbst gesetzt hatte, nicht zu erreichen war, dem imperialen Vordringen der Vereinigten Staaten des Nordens massiven Widerstand entgegenzusetzen und gewichtige Hindernisse in den Weg zu legen? Sicherlich könnte man mit guten Gründen behaupten, dass José Martí mit dem antikolonialen Krieg gegen Spanien den Kriegseintritt der USA noch beschleunigte und damit deren Ausbreitung über jene Antillen förderte, von denen die neue Weltmacht die alte Kolonialmacht Spanien vertrieb. Freilich fiel die US-amerikanische Intervention in den kubanisch-spanischen Kolonialkrieg in eine Zeit, in welcher José Martí schon seit mehreren Jahren tot war und unter der Erde lag: gleichviel, ob wir seinen Tod in Dos Ríos als einen Tod im Gefecht, als einen von ihm gesuchten und herbeigesehnten Tod oder als einen glatten Selbstmord betrachten wollen, auf den manches in seinen Kriegstagebüchern

 Ebda., S. 168.

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hindeutet. Martí war sich der Macht seines Wortes und der Ohnmacht seines Handelns durchaus bewusst; doch seine Waffe hieß Hoffnung. Wenn man die Sichtweise José Martís von den Antillen mit jener des bereits erwähnten José Rizal von den Philippinen vergleicht, so werden rasch die Parallelen zwischen beiden Denkern deutlich und verständlich, warum Archipele und Insel-Welten in besonderem Maße der Expansion der USA ausgesetzt waren. Im Zeichen einer auch lebensweltlich spürbaren Akzeleration, die José Martí wie José Rizal dank ihrer weltläufigen Perspektivik weitaus früher und klarer als andernorts beobachten und begreifen konnten, wird nämlich erkennbar, in welchem Maße sich aus Insel-Welten transareale Inselwelten bilden mussten, wollten Kubaner und Filipinos Richtung und Geschwindigkeit innerhalb dieses transarealen Bewegungs-Raumes eigenständig mitbestimmen. Doch es war ein verzweifelter und letztlich zum Scheitern verurteilter Kampf gegen eine marode Kolonialmacht, die sich selbst noch ein letztes Mal ihrem absehbaren Untergang mit aller Kraft entgegenstemmte, vor allem gegen ein militärisch hochgerüstetes Imperium, das äußerst zielgerichtet ebenso Kuba und Puerto Rico wie die Philippinen ins Visier genommen und als erste, leicht erreichbare Ziele der eigenen Expansion gewählt hatte. Der Riese mit den Siebenmeilenstiefeln hatte sich in Bewegung gesetzt und war gewillt, mit Hilfe seiner stählernen Navy seine brutal auf das Gesetz des Stärkeren setzende Kanonenbootpolitik zum Erfolg zu führen. José Martí wusste – wie er in einem seiner sicherlich berühmtesten Gedichte schrieb –, dass er zwei Vaterländer besaß: Kuba und die Nacht: «Dos patrias tengo yo: Cuba y la noche. / ¿O son una las dos?»704 Doch wurde die Literatur bei ihm stets zu jenem Ort, von dem aus das Neue nicht nur denkbar und lesbar, sondern als ästhetisches Erlebenswissen sinnlich erfahrbar werden konnte. Seine Waffe war die Hoffnung; und seine Hoffnung gründete sich auf die Macht des literarischen Wortes, auf die Kraft einer modernistischen Sprache, auf jene Schützengräben aus Ideen, an denen er unentwegt baute. Die Literatur gab ihm Hoffnung und Kraft. Bei ihm entfaltete das Schreiben jene nicht unterdrückbare Sehnsucht nach einer künftigen Freiheit, nach einer besseren, gerechteren Welt, die in der Realität zu ihrer Zeit unter den kolonialen Verhältnissen noch nicht verwirklichbar schien. Am Beispiel von Cervantes’ Don Quijote de la Mancha und dessen Deutung durch Martí wurde deutlich, in welchem Maße das Streben nach einer Verbesserung der conditio humana für Martí ein zentrales Anliegen des eigenen Schreibens wie einer über die Zeit hinausreichenden Literatur war.

 Martí, José: PCEC 1, S. 127. Vgl. zur Martí’schen Lyrik vom Sterben und vom Tod den sechsten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Geburt Leben Sterben Tod (2022).

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José Martí hatte in den verschiedensten literarischen Gattungen versucht, seiner tiefen ethischen Überzeugung ästhetischen Ausdruck zu verleihen, dass eine gerechtere, von kolonialen Abhängigkeiten befreite Welt allen Widrigkeiten und Hindernissen zum Trotz doch möglich war. Zugleich lassen Martís wie Rizals Strategien erkennen, dass bei beiden eine Umwandlung von multi- in transarchipelische Strukturen stattfand, wie sie im Grunde erst an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert – denken wir etwa an den Eloge de la Créolité705 von Jean Bernabé, Patrick Chamoiseau und Raphaël Confiant oder vielleicht mehr noch an weltumspannende Entwürfe, wie sie Amin Maalouf in Romanform in seinen Origines706 vorstellte – entfaltet werden konnten. Doch bedurfte es noch eines Kulturtheoretikers und Anthropologen wie des Kubaners Fernando Ortiz, um diese multirelationale und transarchipelische Vielverbundenheit im Zeichen des Konzepts der Transkulturalität entscheidend weiterzudenken. Doch die Zeit für die Verwirklichung vielverbundener und archipelischer wie transarchipelischer Vorstellungen war zu Lebzeiten José Martís noch nicht gekommen. Denn derartige Vorstellungen zerbrachen – auch weit über den spanischsprachigen Bereich hinaus – die Logik jenes jahrhundertealten kolonialen Kaleidoskops, an dem diese beiden avancierten Autoren aus unterschiedlichen Archipelen selbst noch zerbrechen sollten.707 Martís Literatur aber war längst im besten Sinne des Begriffes zu einer Literatur ohne festen Wohnsitz geworden, die ihre Visionen von verschiedensten Punkten, aus der Perspektivik unterschiedlicher Kulturen und auf der Folie vielsprachiger Ausdrucksmöglichkeiten entfaltete und damit an die langen historischen Traditionen der vielvernetzten Karibik anschloss. Denn seit dem Beginn der ersten Phase beschleunigter Globalisierung war die Karibik der Bewegungsraum, in welchem sich die unterschiedlichsten Wege des Wissens708 aus Afrika und Europa, aus Süd-,

 Bernabé, Jean / Chamoiseau, Patrick / Confiant, Raphaël: Eloge de la Créolité. Paris: Gallimard Presses Universitaires Créoles 1989.  Maalouf, Amin: Origines. Paris: Editions Grasset & Fasquelle 2004; vgl. hierzu auch Ette, Ottmar: Von Paris über Beirut nach Havanna. Transareale Reisebewegungen im literarischen Schaffen Amin Maaloufs. In: Klein, Wolfgang / Fähnders, Walter / Grewe, Andrea (Hg.): Dazwischen. Reisen – Metropolen – Avantgarden. Festschrift für Wolfgang Asholt. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2009, S. 107–133.  Vgl. hierzu Ette, Ottmar / Müller, Gesine (Hg.): Caleidoscopios coloniales. Transferencias culturales en el Caribe del siglo XIX. Kaléidoscopes coloniaux. Transferts culturels dans les Caraïbes au XIXe siècle. Madrid – Frankfurt am Main: Iberoamericana – Vervuert 2010.  Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Wege des Wissens. Fünf Thesen zum Weltbewusstsein und den Literaturen der Welt. In: Hofmann, Sabine / Wehrheim, Monika (Hg.): Lateinamerika. Orte und Ordnungen des Wissens. Festschrift für Birgit Scharlau. Tübingen: Gunter Narr Verlag 2004, S. 169–184.

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Mittel- und Nordamerika, aus Indien und China oder von den Philippinen querten und überkreuzten. Daher dürfte es wohl kaum einen anderen Großraum, eine andere Area auf diesem Planeten geben, die intensiver und über längere historische Zeiträume als diese Weltregion mit anderen Areas vernetzt war und vernetzt blieb. Vor diesem Hintergrund konnte der karibisch denkende José Martí gerade deshalb für den großen kubanischen Poeten José Lezama Lima zur Inkarnation der expresión americana, der amerikanischen Ausdruckswelt, werden, weil er sich nicht auf eine wie auch immer geartete kontinentale Territorialität Amerikas reduzieren ließ, sondern neue, weltumspannende Horizonte für das Denken und Schreiben in spanischer Sprache erschloss. Es ist diese zugleich kubanische und fundamental transareale Sichtweise von Geschichte, Kultur und Literatur, welche die beiden kubanischen Dichter auf intime Weise miteinander verband. Vielleicht wurde gerade deshalb Lezama Lima zum sicherlich feinsinnigsten Deuter der letzten Lebensäußerungen Martís in seinen berühmten Diarios, in seinen so poetischen Kriegstagebüchern, welche er mit größter Sorgfalt als transhistorische Ausdrucksformen einer die Insel weit übersteigenden Dichterpersönlichkeit las und verstand. Er betonte zwar, dass Martí – wie bereits zitiert – in jenem Wirbel, den er selbst geschaffen hatte, wieder verschwand; doch er machte zugleich darauf aufmerksam, dass es diese letzten dichterischen Äußerungen eines im Krieg befindlichen Schriftstellers waren, die von einer grundlegenden, an einem amerikanischen Humanismus ausgerichteten Liebe gegenüber den Menschen durchdrungen blieben. Während sich die Kämpfer gegen die Batista-Diktatur im Zeichen der Jahrhundertfeiern auf Martí als den geistigen Urheber ihres revolutionären Denkens und Handelns beriefen und den großen kubanischen Intellektuellen schon bald in die Ikone einer Revolution verwandelten, die Martí in den nachfolgenden Jahrzehnten in unterschiedlicher Weise für die wechselnden Zwecke und Ziele einer kubanischen Machtpolitik funktionalisieren sollte,709 griff Lezama Lima auf jene Ausdrucksformen des Martí’schen Schreibens zurück, in denen sich der Wirbel, der Hurrikan herausbildete, der geschaffen sei, um alles einschließlich dessen, der ihn hervorrief, mit sich fortzureißen. Entscheidend dabei ist in Lezamas La expresión americana die Berufung auf ein spezifisches Wissen der Dichtkunst, auf ein allein der Literatur zugängliches Wissen, das sehr wohl in die konkrete Umgestaltung von Wirklichkeit umschlagen kann, wie es das Beispiel von José Martí selbst demonstriert. Denn bei keinem anderen Dichter sei-

 Vgl. hierzu den ersten Band der vorliegenden Studie.

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ner Zeit ist dieser Umschlag des poetischen Wissens in ein revolutionäres Handeln in solchem Maße ausgeprägt wie bei José Martí. Kommen wir daher noch einmal von einer anderen Perspektivik her auf jenes Manifest zu sprechen, das eine Kriegserklärung und zugleich auch eine Liebeserklärung im Zeichen künftiger Konvivenz darstellte. In einer der wohl folgenreichsten, bewegendsten und paradoxesten Kriegserklärungen, von denen die Militärgeschichte, aber auch Literatur- und Kulturgeschichte zu berichten wissen, hat der kubanische Dichter, Essayist und Revolutionär der spanischen Kolonialmacht jenen Krieg erklärt, der 1898 letztlich zur Niederlage Spaniens führte, als das Desastre in die Annalen einging und der spanischen Kolonialherrschaft, die symbolisch am 12. Oktober 1492 mit der Ankunft des Christoph Columbus in der sogenannten Neuen Welt begann, ein abruptes und unwiderrufliches Ende bereitete. Bei aller Konzentration auf das Schicksal der Insel Kuba darf dieses globalgeschichtliche Faktum nicht vernachlässigt oder kleingeredet werden. Martí beendete ein langes Kapitel der Kolonial- wie der Weltgeschichte. Nur wenige Wochen vor seinem Tod in Dos Ríos am 19. Mai des Jahres 1895 hatte der charismatische Gründer des Partido Revolucionario Cubano die von ihm und dem militärischen Oberbefehlshaber Máximo Gómez im dominikanischen Montecristi unterzeichnete und auf den 25. März 1895 datierte710 offizielle Kriegserklärung verfasst, die sich als das Manifiesto de Montecristi in die Geschichte der transatlantischen wie der hemisphärischen Beziehungen auf so besondere Weise einschreiben sollte. Dank einer Faksimile-Ausgabe können wir anschaulich in der Handschrift Martís verfolgen, mit welcher poetischen Spannung dieser Prosatext in einer menschlichen Extremsituation verfasst und niedergeschrieben wurde. Gewiss: Spanien wurde der Krieg erklärt, doch wussten die Führer der kubanischen Unabhängigkeitsrevolution noch nicht einmal, wie sie von der Dominikanischen Republik, der Heimat von Máximo Gómez, nach Kuba gelangen sollten. Erst wenige Tage nach der Abfassung dieser Kriegserklärung gelang den beiden Anführern der neuerlichen Erhebung dank des zufälligen Verbeifahrens des deutschen Frachters Nordstrand die Überfahrt in den Osten von Martís Heimatinsel. Das Manifiesto erfüllt den Zweck einer Kriegserklärung, aber stellt zugleich zweifellos einen der schillerndsten und faszinierendsten Texte des hispanoamerikanischen Modernismus dar. Denn letztlich ist auch diese Kriegserklärung ein Stück Literatur. Geprägt von einem nicht allein auf die europäischen Traditionen rückführbaren Humanismus, der im Sinne Martís genuin auf dem amerikani-

 Ich zitiere nach der Faksimile-Ausgabe von Martí, José: Manifiesto de Montecristi. El Partido Revolucionario Cubano a Cuba. La Habana: Editorial de Ciencias Sociales 1985, S. 30.

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schen Kontinent Wurzeln geschlagen hatte,711 formulierte die herausragende literarische, philosophische und politische Gestalt des kubanischen 19. Jahrhunderts in rasch, bisweilen fiebrig hingeworfenen Schriftzügen und in Wendungen, welche die Entschlossenheit zum Kampf, aber auch die Liebe zum spanischen Volk sehr deutlich werden lassen, eine Kriegserklärung, die in manchen Passagen zugleich als Liebeserklärung an das kubanische, aber auch an das spanische Volk gelesen werden kann. Die von Martí gefundenen Formulierungen dieses Manifests faszinieren bis heute, sind sie doch gleichermaßen von einer starken Poetizität, einem unbeugsamen Willen zum Kampfe und einer Sehnsucht nach einem friedlichen Zusammenleben durchdrungen. Knüpfen wir an das obige Zitat aus dem Manifiesto an: Von den spanischen Bewohnern Kubas erhofft sich die weder schmeichelnde noch zaudernde Revolution, anders als im unehrenhaften Zorn des ersten Krieges, eine so freundlich gesinnte Neutralität oder eine so wahrhaftige Hilfe, dass der Krieg dadurch verkürzt, seine Katastrophen vermindert und der Friede leichter und freundschaftlicher wird, in dem Eltern und Kinder zusammenleben werden. Wir Kubaner beginnen den Krieg, und Kubaner und Spanier werden ihn beenden. Misshandelt uns nicht, und Ihr werdet nicht misshandelt werden. Erweiset Respekt, und Euch wird Respekt erwiesen werden. Dem Stahle antworte der Stahl und die Freundschaft der Freundschaft. In der antillanischen Brust herrscht kein Hass; und der Kubaner grüßt im Tode den Spanier, den die Grausamkeit des aufgezwungenen Heeres von seinem Hause und von seinem Lande wegriss, um hierher zu kommen und in der Männerbrust die Freiheit zu ermorden, die sich der Spanier doch selbst erhofft. Weit mehr als ihn im Tode zu grüßen wünscht sich die Revolution, ihn im Leben aufzunehmen; und die Republik wird eine ruhige Heimstätte sein für all jene Spanier, die sich in Arbeit und Ehre in ihr der Freiheit und aller Wohltaten erfreuen, derer sie noch nicht teilhaftig sind. En los habitantes españoles de Cuba, en vez de la deshonrosa ira de la primer guerra, espera hallar la revolución, que ni lisonjea ni teme, tan afectuosa neutralidad o tan veraz ayuda, que por ellas vendrán hacer la guerra más breve, sus desastres menores, y más fácil y amiga la paz en que han de vivir juntos padres e hijos. Los cubanos empezamos la guerra, y los cubanos y los españoles la terminaremos. No nos maltraten, y no se les maltratará. Respeten, y se les respetará. Al acero responda el acero, y la amistad a la amistad. En el pecho antillano no hay odio; y el cubano saluda en la muerte al español a quien la crueldad del ejército forzoso arrancó de su casa y su terruño para venir a asesinar en pechos de hombre la libertad que él mismo ansía. Más que saludarlo en la muerte, quisiera la revolución acogerlo en vida; y la república será tranquilo hogar para cuantos españoles de trabajo y honor gocen en ella de la libertad y bienes que no han de hallar aún.712

 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: José Martís Nuestra América oder Wege zu einem amerikanischen Humanismus. In: Röseberg, Dorothee (Hg.): El arte de crear memoria. Festschrift zum 80. Geburtstag von Hans-Otto Dill. Berlin: trafo Wissenschaftsverlag 2015, S. 75–98.  Martí, José: Manifiesto de Montecristi, S. 16.

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Der zentrale Begriff dieser Passage ist das vivir juntos, das Zusammenleben, die Konvivenz derer, die sich gerade feindlich gegenüberstehen. Ist dies wirklich eine Kriegserklärung? Ein Krieg, von dessen Verkürzung schon bei Kriegsausbruch gesprochen wird? Die Katastrophen eines Krieges, die möglichst von Beginn an vermieden oder doch vermindert werden sollen? Und das Heraufziehen eines Friedens, der erleichtert und geradezu freundschaftlich gestaltet werden soll, vor allem aber von Anfang an auf das Zusammenleben abzielt? Da gibt es keinen Zweifel: Die Kriegserklärung von José Martí, dessen Vater aus Spanien und dessen Mutter von den Kanaren stammten, zielte von Beginn an auf eine künftige friedliche Konvivenz, die der auf Kuba geborene Kreole nicht umsonst in das Bild einer Genealogie von Eltern und Kindern fasste. Das Manifiesto de Montecristi ist das Manifest eines erhofften künftigen Zusammenlebens der unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen in einem demokratisch verfassten Gemeinwesen, der Republik Kuba. Es ist das Dokument eines ZusammenLebensWissens,713 das der Verfasser der Versos sencillos im Verlauf eines kurzen, aber ungeheuer intensiven Lebens entwickelt hatte und das auf die Einheit eines künftigen Kuba, ja jener hemisphärischen Konstruktion714 abzielte, die Martí liebevoll als Nuestra América bezeichnete, ein Begriff, der historisch die seit dem 17. Jahrhundert wachsende Identifikation der Kreolen mit dem amerikanischen Kontinent belegt. Eben diese Identifikation liegt auch noch dem Martí’schen Begriff zu Grunde. Die gewiss nicht nur aus kriegstaktischen Gründen beschworene Einheit der hispanischen Familie, die Martí zu Beginn eines «Krieges ohne Hass (sin odio)» 715 gegen die spanische Kolonialmacht proklamierte, zeigt unverkennbar, wie es dem Vordenker der kubanischen Unabhängigkeit selbst noch in dieser teilweise paradoxen Kriegserklärung darum zu tun war, das künftige Zusammenleben aller in den Krieg verwickelten Gruppen in den Mittelpunkt des erst noch aufzubauenden Gemeinwesens zu rücken. Denn wie sollte die zu schaffende Republik beschaffen sein? Für Martí ließ sich diese Frage eher leicht beantworten. Denn über allem sollte in dieser Republik Freiheit und ein grundlegender Wert vorherrschen, den er immer wieder beschwor. Friedvolle Konvivenz steht – selbst an der Schwelle

 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: ZusammenLebensWissen. List, Last und Lust literarischer Konvivenz im globalen Maßstab (ÜberLebenswissen III). Berlin: Kulturverlag Kadmos 2010; sowie (ders.): Konvivenz. Literatur und Leben nach dem Paradies. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2012.  Vgl. zum Begriff der hemisphärischen Konstruktion Birle, Peter / Braig, Marianne / Ette, Ottmar / Ingenschay, Dieter (Hg.): Hemisphärische Konstruktionen der Amerikas. Frankfurt am Main: Vervuert Verlag 2006.  Martí, José: Manifiesto de Montecristi, S. 16.

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zu dem im Wesentlichen von ihm vorbereiteten Krieg – für Martí an erster Stelle: Sie erst macht eine lebenswerte Zukunft im Zeichen eines Humanismus möglich, der sich an der Einheit, Gleichheit und Freiheit aller Menschen auszurichten hatte, gleichviel, ob all diese Menschen kubanischer oder spanischer, amerikanischer oder europäischer, antillanischer oder asiatischer Herkunft sein mochten. Es galt, all diese Menschen zu vereinigen und aus ihnen eine Gemeinschaft zu machen. Die Guerra de Martí sollte anders als der im angeführten Zitat erwähnte Zehnjährige Krieg, die so verlustreiche und in einem Patt zwischen kubanischen und spanischen Truppen endende Guerra de Diez Años, nicht in wechselseitigem Hass, nicht in gegenseitiger Vernichtung enden, sondern als antikolonialer Unabhängigkeits- und Freiheitskrieg ein neues Staatswesen begründen, das nicht wieder in die Fehler des lateinamerikanischen, aber auch speziell kubanischen Caudillismo zurückfallen durfte. Dabei musste es sich für Martí folglich um eine wahrhaftige revolución, um eine Umstürzung der gesellschaftlichen Verhältnisse handeln, wie der Gründer des Partido Revolucionario Cubano zu betonen nicht müde wurde. Zeit seines Lebens hatte Martí nach neuen Formen und Normen friedlichen und freiheitlichen Zusammenlebens Ausschau gehalten: ein langes Leben im Exil, das bereits im Wirbel der ersten Wochen des Krieges sein vorzeitiges, wenn auch von Martí selbst ins Auge gefasstes und von Beginn an mitbedachtes Ende fand. Bis in den Tod hinein dürfte ihn die Hoffnung geleitet haben, durch sein Leben wie seinen Tod Modell und Maßstab zu sein für ein künftiges Kuba, das niemals mehr im Zeichen kolonialer oder imperialer Unterdrückung, aber auch niemals mehr unter der Unterdrückung durch eigene Generäle und Gewaltherrscher leiden sollte: «Mi verso crecerá: bajo la yerba / Yo también creceré.»716 Denn unter dem Grase wollte er wachsen und für seine Inselrepublik, für seinen Teilkontinent ein ethisches Vorbild werden, an dem sich die Menschen ausrichten konnten. Inwieweit ihm dies auf eindrucksvolle Weise durchaus gelang, wie sehr er aber auch von nachfolgenden Parteien und Interessen einseitig reklamiert wurde, hat unsere Rezeptionsgeschichte Martís im ersten Teil dieser Studie zu zeigen versucht. Es ist bekannt, dass José Martís Name, sein Werk wie seine Wirkungen in der Tat nach seinem Tod und wohl noch bis zum heutigen Tage sehr wohl wuchsen, die mit der Kriegserklärung verbundenen Hoffnungen auf ein friedvolles Zusammenleben in Freiheit und Differenz aber Träume blieben. Dabei war der Kubaner alles andere als ein Träumer und Utopist. Doch scheiterten seine Vorstellungen

 Martí, José: Antes de trabajar. In (ders.): PCEC 1, S. 126.

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ebenso mit Blick auf einen Spanisch-Kubanischen Krieg, der gerade nicht wie der vorausgegangene Krieg in eine jahrelange Patt-Situation einmünden sollte, wie hinsichtlich der militärischen Elite, die sich der politischen Führung des Partido Revolucionario Cubano keineswegs unterzuordnen gedachte und in der Verfolgung eigener Machtinteressen nicht das Martí’sche Ideal einer Republik zum Wohle aller –«Para todos y para el bien de todos»717 – anstrebte. In dieser am 26. November 1891 gehaltenen Rede im Liceo Cubano in Tampa (Florida) formulierte der Kubaner am Ende in einer rhetorisch durchgeformten Passage vor den dort versammelten kubanischen Tabakarbeitern: Erheben wir uns also mit einem Male, mit einem letzten Ruck der Herzen, erheben wir uns so, dass die Freiheit beim Triumph nicht durch Unordnung oder aus Ungeschicklichkeit oder aus Ungeduld bei deren Vorbereitung in Gefahr gerät; erheben wir uns, damit wir die wahre Republik, die wir für unsere Leidenschaft für das Recht und durch unsere angestammte Gewohnheit der Arbeit zu erhalten wissen werden; erheben wir uns, um den Helden ein Grab zu geben, deren Geist beschämt und einsam durch die Welt schweift; erheben wir uns, damit eines Tages unsere Kinder ein Grab haben werden! Und setzen wir rund um den Stern, auf die neue Flagge, diese Formel der triumphierenden Liebe: «Mit allen und zum Wohle aller.» ¡Pues alcémonos de una vez, de una arremetida última de los corazones, alcémonos de manera que no corra peligro la libertad en el triunfo, por el desorden o por la torpeza o por la impaciencia en prepararla; alcémonos, para la república verdadera, los que por nuestra pasión por el derecho y por nuestro hábito del trabajo sabremos mantenerla; alcémonos para darles tumba a los héroes cuyo espíritu vaga por el mundo avergonzado y solitario; alcémonos para que algún día tengan tumba nuestros hijos! Y pongamos alrededor de la estrella, en la bandera nueva, esta fórmula del amor triunfante: «Con todos, y para le bien de todos».718

In versteckten, aber letztlich klar herauszufilternden Worten warnte Martí davor, nach einem Triumph im Krieg gegen Spanien könne dennoch die Freiheit verloren gehen, wobei er sich gleichwohl davor hütete, die Gefahr direkt unter Verweis auf bereit stehende Caudillos beim Namen zu nennen. Er war vielmehr daran interessiert, möglichst keine neuen Grenzziehungen aufzubauen, sondern alle unter seiner Führung mitzunehmen und eine Einheit der Revolution unter der Flagge Kubas, unter dem einsamen Stern, zu schaffen.

 Martí, José: Para todos y para el bien de todos. In (ders.): OC 4, S. 267–279. Vgl. zur machtpolitischen Ausrichtung auch González-Ocaña, Jaime: Diálogo entre Martí y Maquiavelo: lectura de «Nuestra América» bajo el prisma de «El Príncipe». In: Cuadernos Americanos (México) 154 (octubre – diciembre 2015), S. 53–65.  Martí, Jose: Con todos, y para el bien de todos. In (ders.): OC 4, S. 279.

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Gegen alle äußeren wie inneren Gefahren und Bedrohungen setzte der Gründer des Partido Revolucionario Cubano die Hoffnung, in der künftigen Republik mit allen und für alle zu kämpfen, also ein Gemeinwesen zu schaffen, das auf den Schultern aller und damit auf einem Zusammenleben, auf einer Konvivenz aufruhen müsse, welche niemanden aus dieser angestrebten Gemeinschaft ausschließen dürfe. Martí wusste, dass nicht alle Kubaner für die Unabhängigkeit von Spanien waren und dass es verschiedenste politische Optionen für die Zuckerinsel gab; doch er vertraute darauf, in der zu gründenden Republik letztlich alle mit allen vereinen zu können. Martí wusste darüber hinaus sehr wohl um die Gefahren, die seinem Projekt Con todos y para el bien de todos drohten. Die in ihrer Ausrichtung durchaus unterschiedlichen Caudillos, die auch über weite Strecken des 20. Jahrhunderts und bis in die Gegenwart hinein die Geschichte Kubas prägen sollten, beriefen sich zwar gern und unentwegt auf José Martí, dachten aber nicht im Traum daran, den Träumen des kubanischen Dichters von einem friedvollen, freiheitlichen Zusammenleben nachzuhängen oder sie gar in die kubanische Wirklichkeit umzusetzen. Die Rezeptionsgeschichte José Martís im ausgehenden 19. und im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat all diese Dimensionen deutlich hervortreten lassen. Halten wir jedoch noch einmal im Rückblick auf die Geschichte Kubas seit dem Ausgang des Jahrhunderts Martís unmissverständlich fest: Man wird weder die militärischen Führer von 1895 noch gar José Martí für das vom Autor von Nuestra América früh erkannte Eingreifen der USA in den Kolonialkrieg zwischen Spanien und seiner «siempre fiel isla de Cuba» und damit für jenes Desastre verantwortlich machen können, das eine Katastrophe nicht nur für Spanien, sondern auch für Kuba selbst darstellte, geriet man doch nun von einer kolonialen in eine imperiale Abhängigkeit, die erst mit dem Zusammenbruch der Diktatur Fulgencio Batistas und dem Heraufziehen der Kubanischen Revolution, die auf tragische Weise rasch in einen neuen Autoritarismus anderen Zuschnitts einmünden sollte, beendet werden konnte. Wieder einmal hatte die kubanische Geschichte einen anderen Verlauf als die der meisten anderen lateinamerikanischen Länder genommen.719 Auch dies ist in keinem Falle José Martí anzulasten, bemühte sich dieser doch gerade darum, Kuba eine politische Unabhängigkeit von Spanien nach dem Vorbild der meisten lateinamerikanischen Republiken zu verschaffen und ansonsten

 Zur kubanischen Geschichte vgl. Zeuske, Michael / Zeuske, Max: Kuba 1492–1992. Kolonialgeschichte, Unabhängigkeitskriege und erste Okkupation durch die USA. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 1998; sowie Zeuske, Michael: Insel der Extreme. Kuba im 20. Jahrhundert. Zürich: Rotpunktverlag 2000.

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eine Einheit von Nuestra América zu zimmern, die den zu erwartenden Angriffen von Seiten der USA widerstehen können würde. José Martí hatte schon früh erahnt und weitblickend beschrieben, was nach dem Epochenjahr 1898 und damit nach dem Tod des kubanischen Intellektuellen für den Nicaraguaner Rubén Darío wie für den Uruguayer José Enrique Rodó sehr schnell zu einer geschichtlichen Tatsache werden sollte. Denn das die Jahrhundertwende dominierende Faktum war die Expansion der USA, in deren Bewusstsein die großen Vertreter des hispanoamerikanischen Modernismo geradezu verzweifelt nach Lösungen suchten und um Antworten rangen. Vergegenwärtigen wir uns nochmals in Kürze und aus verändertem Blickwinkel die modernistische Konstellation nach dem Tode Martís. Mit seinem bewusst zum neuen Jahrhundert veröffentlichten literarischen Entwurf Ariel griff Rodó auf die Shakespeare’sche Figurenkonstellation von Prospero, Caliban und Ariel aus The Tempest sehr eindrucksvoll zurück, um im Zeichen eines kulturellen, an Frankreich orientierten Panlatinismus und nicht zuletzt eines aus hispanoamerikanischer Perspektive gelesenen Friedrich Nietzsche720 jener Nordomanie (nordomanía),721 die nunmehr von den Eliten des spanischsprachigen Amerika Besitz zu ergreifen begann, intellektuell die Stirn bieten zu können. Der Uruguayer Rodó sah spätestens mit dem Jahre 1898 nicht nur die politischen und ökonomischen, sondern auch die kulturellen Fundamente des lateinischen Amerika in Gefahr und versuchte, der wachsenden Präponderanz des US-amerikanischen Wirtschaftsund Gesellschaftsmodells ein kulturelles Gegen-Modell in Form des Luftgeistes Ariel entgegenzustellen, der sich dem stumpfen Utilitarismus eines mit den Vereinigten Staaten identifizierten Caliban nicht zu unterwerfen bereit war. Damit schuf Rodó ein genuin lateinisch-europäisches Moderne-Konzept, welches er – wie vor ihm José Martí – dem nun imperialen beziehungsweise imperialistischen Koloss des Nordens entgegenstellte. Das Desastre von 1898 bildete angesichts des militärisch aggressiven Ausgreifens der USA eine Herausforderung für ganz Lateinamerika oder – um mit Martí zu sprechen – für die Länder von Nuestra América. Die Ängste Rodós vor einer zunehmenden Hegemonie der Vereinigten Staaten bald auch im kulturellen Bereich waren alles andere als unbegründet, hatte doch auch der große modernistische Dichter Rubén Darío die einschneidende Bedeutung des bereits

 Vgl. Ette, Ottmar: «Así habló Próspero». Nietzsche, Rodó y la modernidad filosófica de «Ariel». In: Cuadernos Hispanoamericanos (Madrid) 528 (junio 1994), S. 48–62.  Rodó, José Enrique: Ariel. In (ders.): Obras Completas. Editadas, con introducción, prólogos y notas, por Emir Rodríguez Monegal. Madrid: Aguilar 21967, S. 232; vgl. hierzu die deutschsprachige Edition von Rodó, José Enrique: Ariel. Übersetzt, herausgegeben und erläutert von Ottmar Ette. Mainz: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung 1994, S. 137.

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zum damaligen Zeitpunkt als geradezu unaufhaltsam scheinenden Vorrückens des großen Nachbarn im Norden erkannt. Führen wir daher unsere kurze Rekapitulation beim dritten der modernistischen Tre Corone weiter. In seinem berühmten, seinen Cantos de vida y esperanza zugehörigen Gedicht A Roosevelt wandte sich Darío direkt an den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, der wenige Jahre zuvor – und noch vor seiner Präsidentschaft – mit seinen Rough Riders spektakulär in den KubanischSpanischen Krieg 1898 eingegriffen hatte. Vergegenwärtigen wir uns einen zentralen Teil seiner Ode: Du bist die Vereinigten Staaten, Du bist die künftige Invasion des naiven Amerika, das indigenes Blut besitzt, das noch immer Jesus Christus anbetet und noch immer auf Spanisch spricht. Eres los Estados Unidos, eres el futuro invasor de la América ingenua que tiene sangre indígena, que aún reza a Jesucristo y aún habla en español.722

Wie José Enrique Rodó hob auch Rubén Darío die Prägung durch die spanische Sprache wie den Katholizismus hervor, brachte aber auch die indigene Dimension ins Spiel, welche Rodó in seinem arielistischen Entwurf völlig vernachlässigt hatte. In den Fragen des Gedichts Daríos verdichteten sich die Fragen einer ganzen modernistischen Generation nach dem Tode Martís, die durch den Ausund Übergriff der US-amerikanischen Expansion und die militärische Überlegenheit einer Flotte, welche die einst so stolze spanische Flotte fast zeitgleich vor Santiago de Cuba und vor Cavite auf den Philippinen im Meer versenkt hatte, zutiefst verunsichert worden war. In diese Verunsicherung und in diese Selbstzweifel der Lateinamerikaner gehören letztlich die Thesen vom kranken Kontinent und von der Schwäche der lateinamerikanischen Nationen, die anhand des Verweises etwa auf César Zumeta anschaulich geworden waren. Es ist müßig zu betonen, dass durch die raschen militärischen Erfolge der Vereinigten Staaten das dortige angelsächsische Superioritätsdenken nochmals gefördert und verstärkt wurde. Das Desastre von 1898 und die eklatante Niederlage gegen die New Steel Navy markiert den Untergang Spaniens als Kolonialmacht und den Wiederaufstieg Spaniens zur Kulturmacht. In dieser neuen Konfiguration war es dann

 Darío, Rubén: A Roosevelt. In (ders.): Obras Completas. Bd. V. Madrid: Afrodisio Aguado 1953, S. 878.

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auch geradezu folgerichtig, dass der hispanoamerikanische Modernismus in Spanien viele Leser fand und einen wechselseitigen und höchst lebendigen Austausch insbesondere mit der spanischen Generación del 98 in Gang setzte: Eine der fruchtbarsten literarischen Epochen zwischen Spanien und Hispanoamerika hatte begonnen. Denn die brennenden spanischen Schiffe, deren Bilder in diesem ersten transkontinentalen Medienkrieg um die Welt gingen, wurden nun weniger als Zeichen des Untergangs der alten spanischen Kolonialmacht denn als Symbole der eigenen Bedrohtheit durch eine Übermacht aus dem Norden verstanden. In Spanien sah man nun nicht mehr die Kolonialmacht, sondern das Bruderland in einer hispanischen Schicksalsgemeinschaft. Das bange Fragezeichen war dem spanischsprachigen modernistischen Schwan – dem Wappentier all jener Dichter und Erzähler im Umfeld von Rubén Darío, die sich als Modernisten begriffen – buchstäblich auf den weißen Leib geschrieben: Werden wir den hochmütigen Barbaren ausgeliefert sein? Werden wir, so viele Millionen, auf Englisch sprechen? ¿Seremos entregados a los bárbaros fieros? ¿Tantos millones de hombres hablaremos inglés?723

Dies waren keineswegs nur die Befürchtungen eines der großen spanischsprachigen Dichterfürsten. Viele aus dieser Generation fürchteten, die Expansion der Vereinigten Staaten nach Süden könne – ganz wie in den ehemaligen mexikanischen Territorien, die Mitte des 19. Jahrhunderts durch einen räuberischen Krieg von den USA einverleibt worden waren – die Grundlagen der spanischsprachigen Kultur im Süden des Kontinents erschüttern oder gar zerstören. Drohte eine ‹Texifizierung› der gesamten iberischen Welt Lateinamerikas? Erst aus heutiger Perspektive lässt sich in vollem Umfange erkennen, dass das Spanische nicht nur im Süden des amerikanischen Doppelkontinents als Weltsprache mit einer großen Widerstandskraft ausgestattet ist und dem Englischen in vielen Bereichen sehr wohl Paroli zu bieten vermag. Auch in den Vereinigten Staaten selbst hat sich das Spanische als höchst widerstandsfähig erwiesen, denn sein Anteil an den in den USA gesprochenen Sprachen steigt beständig. Nach der Jahrhundertwende aber war die Angst, es könne wie auf den Philippinen zu einem vollständigen Sprachwechsel und Kulturwandel kommen, sehr verbreitet.

 Darío, Rubén: Qué signo haces, oh Cisne. In (ders.): Obras Completas, S. 890.

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Denn eine stabile und resistente Entwicklung des Spanischen war an der Wende zum 20. Jahrhundert noch nicht absehbar. Im hispanoamerikanischen Modernismus zeichnet sich deutlich der reflektierte Versuch ab, angesichts der stark veränderten geopolitischen und geoökonomischen Situation, in der mit einer weiteren Expansion der USA nach der Jahrhundertwende zu rechnen war, neue geokulturelle Frontlinien zu ziehen, die letztlich dazu führten, dass man spätestens seit 1898 von zwei diametral einander entgegengesetzten Amerikas sprechen konnte. José Martí hatte eine solche geokulturell fundierte Entwicklung vorhergesehen und vorweggenommen. Gerade die drei Großen unter den hispanoamerikanischen Modernisten waren es, die in diesem Fin de siglo Kampfpositionen absteckten, welche in gewiss weiterentwickelter Form noch heute die kulturellen Diskursgegensätze zwischen der angelsächsischen und einem lateinisch geprägten Amerika ausmachen. Das Epochenjahr 1898 markiert wie kein anderes die langanhaltenden Selbst- und Fremdbilder der beiden Amerikas724 und erschließt uns den historischen Augenblick, in welchem sich die politischen, wirtschaftlichen und militärischen, aber auch kulturellen und imagologischen Gegensätze zwischen den beiden Amerikas verfestigten. José Martí war ohne jeden Zweifel als politischer wie als geschichtsphilosophischer Denker seinen Zeitgenossen weit voraus, entwickelte er sich doch schon früh zum großen Theoretiker jener dritten Phase beschleunigter Globalisierung,725 in deren Verlauf die Vereinigten Staaten von Amerika zu den europäischen Kolonialmächten aufschlossen und mit diesen rivalisierende weltumspannende Vorhaben und Ziele verfolgten. Seit 1898 war für alle offenkundig, dass diese Ziele nicht nur transatlantisch, sondern auch transpazifisch und damit weltumspannend definiert waren. Seit Anfang der achtziger Jahre hatte José Martí, der eher unscheinbare Migrant in den Straßenschluchten von New York, aus der US-amerikanischen Perspektive diese veränderte weltpolitische Situation sehr klar sich abzeichnen gesehen und aus seiner Sicht alles dafür getan, die Länder von Nuestra América vor diesen für sie unheilvollen Entwicklungen zu warnen. Vergleicht man die Stimmen von Intellektuellen der achtziger und neunziger Jahre in Lateinamerika unter diesem Gesichtspunkt, so wird schnell klar: Niemand hat diese weltpolitischen und geostrategischen Veränderungen mit schärferem Blick erfasst als jener Kubaner, der die fundamentalen Umbesetzungen aus seinem Exil in verschiedenen Ländern Spanisch-Amerikas sowie in den  Zur weiteren Entwicklung dieses Verhältnisses vgl. den dritten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Von den historischen Avantgarden bis nach der Postmoderne (2021).  Vgl. zu den vier Phasen beschleunigter Globalisierung das Auftaktkapitel in Ette, Ottmar: TransArea. Eine literarische Globalisierungsgeschichte. Berlin – Boston: De Gruyter 2012.

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USA aufmerksam beobachtete, in unterschiedlichen literarischen Formen festhielt und kritisch analysierte. Martís Moderneverständnis und seine Sichtweise jener Beschleunigung, die mit der – und ich komme darauf gleich zurück – velociferischen Kraft der Globalisierung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einherging, waren nicht voneinander zu trennen. Zudem begriff der exilkubanische Lyriker und Politiker rasch, dass die großen Transformationen in den Vereinigten Staaten nicht ohne tiefgreifende Auswirkungen auf die jungen Staaten Lateinamerikas bleiben konnten. Vor diesem Hintergrund war es dringlich notwendig, ein eigenes, genuin von Nuestra América ausgehendes Verständnis von Moderne, Modernisierung und Modernismus zu entwickeln, um innerhalb dieser Phase beschleunigter Globalisierung nicht zum bloßen Objekt der Geschichte zu werden. Denn bereits in einer auf New York am 15. Juli 1882 datierten Chronik für die einflussreiche argentinische Zeitung La Nación in Buenos Aires hatte Martí seine lateinamerikanische Leserschaft darauf aufmerksam gemacht, dass sich im USKongress eine veränderte Politik abzeichnete, die mit Blick auf Südamerika, aber auch auf rivalisierende europäische Kolonialmächte auf den raschen Aufbau und Ausbau einer technologisch überlegenen und schlagkräftigen Kriegsflotte setze. Zugleich wuchs in ihm das Bewusstsein dafür, dass die US-amerikanische Industrie längst Wirtschafts- und Massengüter produzierte, die allein auf dem eigenen Binnenmarkt der Vereinigten Staaten nicht mehr abgesetzt werden konnten. Dabei stand es Martí überdeutlich vor Augen, dass eine derartige Aufrüstung nicht auf innenpolitische Belange oder auf reine Sicherheitsinteressen der Vereinigten Staaten abzielte, sondern ganz offenkundig den außenpolitischen Interessen der USA dienen und diesen letztlich zu einer hegemonialen Stellung in politischer und militärischer, aber auch in wirtschaftlicher Hinsicht auf dem amerikanischen Kontinent verhelfen sollte. Dergestalt lässt sich unter der Feder des jungen Kubaners gleichsam im Gründungsjahr des Modernismo, im Jahr des Erscheinens seines Gedichtbandes Ismaelillo, eine erste Skizze jener Entwicklungen erkennen, welche in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts und bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges die dritte Phase beschleunigter Globalisierung charakterisieren sollten. Neben der abdankenden Kolonialmacht Spanien rangen Großbritannien und Frankreich, aber auch Deutschland und das aufstrebende Australien um weltpolitische Interessen und Einflusssphären, wobei sich zum Beispiel das immer stärker werdende Deutsche Reich nicht auf seine Interessen in Afrika konzentrierte, sondern darüber hinaus auch Ziele im Pazifik verfolgte, die mit anders gearteten Interessenlagen insbesondere der USA, aber auch Australiens und in jedem Falle ebenso der Briten und Franzosen kollidieren konnten. In diese welt- und kolonialpolitische Gemengelage wollten die USA mit einer

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schlagkräftigen Marine eingreifen, um einerseits gegen andere Kolonialmächte gerüstet zu sein, zugleich aber Lateinamerika im Sinne der Monroe-Doktrin für Amerika und dies heißt für sich zu reklamieren. Warnend wies Martí auf die in aller Öffentlichkeit diskutierten Überlegungen der politischen «Aristokratie» in den USA hin, unter ihrer direkten Einflussnahme in Zentralamerika eine interozeanische Kanalverbindung zu schaffen726 und möglichst schnell eine schlagkräftige Kriegsflotte aufzubauen, um die Interessen der USA gegenüber anderen Nationen wo nötig mit Gewalt durchsetzen zu können.727 Als politischer Berichterstatter formulierte Martí deutlich, machte aber auch keinen Hehl aus seiner Auffassung einer kritischen Presse, als deren Vertreter er sich in diesem Bericht aus den USA zeigte, um auf für die Moderne charakteristische Entwicklungen hinzuweisen: Und der befremdliche Fall ist eingetreten, dass der Kongress auf Antrag und hartnäckiges Nachhaken jenes Marineministers eine überwältigende Summe für die Aufrüstung der Armada bereitstellte, der schon zur Zeit von Grant mit verwirrten, unnötigen oder völlig ungeklärt gebliebenen Gesten mehrere Hundert Millionen locker machte. [...] Die Presse kann in diesen Zeiten der Schöpfung kein bloßes Vehikel von Nachrichten, keine bloße Dienerin von Interessen, keine bloße Entäußerung der exuberanten und blätterreichen Imagination sein. Die Presse ist Vinci und Angelo, eine Schöpferin des neuen großen und unsichtbaren Tempels, in welchem der reine und arbeitsame Mensch der wackere Priester ist. Y se ha dado el caso extraño de que el Congreso vote suma crecidísima para las reparaciones de la armada, a petición y por tenaz empeño de aquel Secretario de Marina que en tiempos de Grant empleó, en gestos confusos o innecesarios, o totalmente inexplicados, cientos y más millones. [...] La prensa no puede ser, en estos tiempos de creación, mero vehículo de noticias, ni mera sierva de intereses, ni mero desahogo de la exuberante y hojosa imaginación. La prensa es Vinci y Angelo, creadora del nuevo templo magno e invisible, del que es el hombre puro y trabajador el bravo sacerdote.728

Es sind Zeiten der Schöpfung, in denen Martí schreibt, Zeiten einer Moderne, die noch nach ihrem Antlitz sucht. So klagt Martí in seinem Korrespondentenbericht nicht allein vehement die Verschwendung von Millionen von Dollar für die Aufrüstung insbesondere der Marinestreitkräfte der USA an, sondern zugleich auch eine Presse ein, die auf der Höhe der Zeit sein müsse und keinesfalls bestimmten Interessen dienen und nur Nachrichten verbreiten, sondern ein Tempel des ehrenhaften und arbeitsamen Menschen sein müsse. Wir stoßen an dieser Stelle wieder auf jenen Martí, der in seinem mexikanischen Gedicht De noche, en la im-

 Martí, José: De Año Nuevo. In (ders.): OC 10, S. 365 f.  Ebda., S. 366.  Martí, José: Carta de los Estados Unidos. In (ders.): OC 9, S. 325 f.

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prenta die Arbeiterschaft ins Zentrum gerückt und zugleich die ethische Verpflichtung des Menschen in der Druckerei, im Buchwesen wie im Journalismus, herausgestellt hatte – und der überdies, wie wir sahen, so weit gegangen war, den Druckereiarbeitern das Recht auf einen Streik abzusprechen. Nun aber erschien diese ethische Verpflichtung im Lichte weltpolitischer Veränderungen, welche den gesamten amerikanischen Kontinent betrafen und umgestalten sollten. José Martí hatte damit Anfang der achtziger Jahre schon das globale Webmuster erkannt, das die Vereinigten Staaten fortan ihrer zunehmend aggressiven Außenpolitik zugrunde zu legen gewillt waren. Fortan beobachtete er das weitere Fortschreiten der Bemühungen, eine New Steel Navy aufzubauen, welche die geostrategische Reichweite des US-Kongresses entscheidend vergrößerte und eine wesentliche Grundlage für die Verwandlung der Vereinigten Staaten in einen Global Player schuf, mit Argwohn und wachsender Sorge um die Zukunftschancen seines Amerika. Denn die hemisphärischen Konsequenzen einer derartigen Politik standen Martí plastisch vor Augen: Er zweifelte nicht daran, dass das große Land im Norden schon bald seine militärische Übermacht nutzen und, je nach Interessenlage, in unterschiedlichen Regionen des Südens eingreifen würde. Die sich verändernden Kräfteverhältnisse auf globaler Ebene mussten früher oder später, so lautete schon bald seine Erkenntnis, Rückwirkungen auf eine Politik haben, die – getragen von einem angelsächsischen Superioritätsdenken – allein auf die eigene Stärke vertraute und diese auch militärisch einzusetzen gewillt war. Dies hatte Rückwirkungen auf Martís eigene hemisphärische Konstruktionen. Denn eine bei Konflikten auf friedliche Mittel zählende Konvivenz war auf kontinentaler Ebene zutiefst gefährdet. Genau an diesem für die Entwicklungsgeschichte des amerikanischen Doppelkontinents neuralgischen Punkt entfaltete sich das Denken José Martís zu einer Globalisierungstheorie, die für lokale Analysen stets globale Szenarien durchzudenken begann und sich der Tatsache bewusst blieb, dass sich im kontinentalen wie im globalen Maßstab neue Beschleunigungsprozesse bereits mit großer Deutlichkeit abzeichneten. Spätestens seit der Interamerikanischen Konferenz von Washington, an der er aufgrund seiner zahlreichen politischen Aktivitäten im lateinamerikanischen Kontext 1889/1890 offiziell als Delegierter teilnahm, wusste José Martí nicht nur, dass die Vereinigten Staaten unbeirrbar auf Expansionskurs blieben, sondern dass es mit der Einheit der lateinamerikanischen Länder nicht zum Besten bestellt war. Nuestra América, dies wusste der nicht nur geschichtlich, sondern auch geschichtsphilosophisch denkende Kubaner, war denkbar schlecht auf die heraufziehenden Konflikte und Kriege vorbereitet.

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José Martí versuchte, seine herausgehobene Position innerhalb der lateinamerikanischen Presse verantwortungsvoll für seine Ziele zu nutzen und die Öffentlichkeit in Lateinamerika vor den sich ankündigenden fundamentalen Veränderungen mit Hilfe detaillierter Berichte aus den USA, seinen sogenannten Escenas norteamericanas, zu warnen. Den Vereinigten Staaten von Amerika stand keine Einheit, sondern ein zerstrittenes, mit internen Konflikten beschäftigtes Lateinamerika gegenüber, das die Gefahren, die es bedrohten, noch nicht einmal wirklich erkannt hatte. Martí war sich dieser brenzligen und für Lateinamerika gefährlichen Situation schon seit den frühen achtziger Jahren bewusst. Die Frage der Einheit – und damit auch der Konvivenz – wurde für Martí im Vorfeld heraufziehender militärischer Konflikte und drohender Katastrophen zur Überlebensfrage: Dies erklärt, warum der der Konvivenz selbst noch in der von ihm verfassten Kriegserklärung von Montecristi eine solch entscheidende Bedeutung zuwies. Gleich im ersten Teil seines meisterhaften Essays Nuestra América gab José Martí seiner großen Sorge ob der mangelnden Einheit der Lateinamerikaner Ausdruck und nährte zugleich ihre Hoffnung, mit ihren Ideen und Vorstellungen im Kriegsfalle auch gegen Panzerkreuzer bestehen zu können: Kein Schiffsbug kann eine Wolke aus Ideen durchschneiden. Eine energische, entschlossene Idee, die rechtzeitig vor aller Welt aufflammt, hält, dem mystischen Banner des Jüngsten Gerichts gleich, eine Flotte von Panzerkreuzern auf. Die untereinander noch unbekannten Völker müssen sich wie Männer, die zusammen kämpfen werden, rasch kennenlernen. Diejenigen, welche sich wie neidische Brüder mit Fäusten bedrohen – etwa weil beide das gleiche Land beanspruchen oder der eine, der nur ein kleines Häuschen besitzt, den anderen um dessen Haus beneidet –, müssen einander beide Hände reichen, so dass sie zu einer einzigen werden. Diejenigen, welche im Schutze einer verbrecherischen Tradition mit dem Säbel, der doch vom Blute ihrer eigenen Adern gerötet ist, das Land des besiegten und weit über seine Schuld hinaus bestraften Bruders beschnitten, müssen ihrem Bruder seinen Besitz zurückgeben, wenn sie nicht vom Volk Diebe genannt werden wollen. [...] Dies ist die Stunde des Nachprüfens und des vereinten Vorgehens: In dicht gedrängten Reihen müssen wir marschieren, wie das Silber im Schoß der Anden.729 No hay proa que taje una nube de ideas. Una idea enérgica, flameada a tiempo ante el mundo, para, como la bandera mística del juicio final, a un escuadrón de acorazados. Los pueblos que no se conocen, han de darse prisa para conocerse, como quienes van a pelear juntos. Los que se enseñan los puños como hermanos celosos, que quieren los dos la misma tierra, o el de casa chica, que le tiene envidia al de casa mejor, han de encajar, de modo que sean una, las dos manos. Los que, al amparo de una tradición ciriminal, cercenaron, con el sable tinto en la sangre de sus mismas venas, la tierra del hermano

 Martí, José: Unser Amerika. In: Rama, Angel (Hg.): Der lange Kampf Lateinamerikas, S. 56 f. [Übers. OE].

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vencido, del hermano castigado más allá de sus culpas, si no quieren que les llamen el pueblo ladrón, devuelvanle sus tierras al hermano. [...] Es la hora del recuento, y de la marcha unida, y hemos de andar en cuadro apretado, como la plata en las raíces de los Andes.730

Diese Passage beginnt mit der dichterischen Vorstellung des kubanischen Poeten, dass eine Welt der Ideen weitaus mächtiger sei als der mächtigste Schiffsbug und dass selbst Panzerkreuzer nichts ausrichten könnten gegen geteilte Überzeugungen und Ideen, wenn diese denn aus einer Einheit heraus vorgetragen würden. Man mag sicherlich anmerken und einräumen, wie idealistisch derlei Vorstellungen waren und wie schnell sich binnen weniger Jahre zeigen sollte, wie effizient jene Panzerkreuzer militärisch vorgingen, die im Auftrage der USA ein lateinamerikanisches Land nach dem anderen im Verlauf der folgenden Jahrzehnte bedrohten. Die New Steel Navy war ein Machtfaktor, dem die Länder Lateinamerikas militärisch wenig entgegenzusetzen hatten. Doch Martís Aufgabe war es in diesem Teil seines Essays, die Hoffnung unter den Lateinamerikanern zu verbreiten, gegen den großen und mächtigen Feind im Norden bestehen zu können, solange denn die Einheit der eigenen Reihen gewährleistet wäre. Martís Waffe war sein Conocimiento poético, seine im Sinne Lezama Limas zu verstehende poetische Erkenntnis. Denn es ist kein Zufall, dass Martís Verstehen des fundamentalen Wandels in der US-amerikanischen Außen- und Rüstungspolitik mit dem Durchbruch zu einem ersten eigenen modernistischen Gedichtband zusammenfiel. Diese Passage schließt sich an das berühmte und bereits gedeutete incipit von Nuestra América unmittelbar an. Dort hatte der Schwerpunkt darauf gelegen, jeglichen dörflerischen Geist schnellstmöglich abzulegen, um international und global denken zu können. Dorf, Welt und Weltall stehen seit den ersten Zeilen dieses Essays in einem dynamischen Interaktionsverhältnis, das eine abgeschlossene Lokalität des Lokalen nicht länger zulässt. Das Lokale müsse fortan global gedacht werden, wolle man nicht einer völligen Fehleinschätzung anheimfallen, die eine Vielzahl großer Gefahren mit sich bringe. Denn selbst das Lokale könne man nur vor einem weltpolitischen Hintergrund begreifen, könne man folglich nur richtig verstehen, wenn man auch die weltumspannenden Prozesse im Auge behalte. Für diese Gefahren stehen jene Giganten, jene Riesen, die sich mit Siebenmeilenstiefeln nähern und daher für den «selbstgefälligen Dörfler» bei lokaler Betrachtung noch nicht einmal am Horizont auszumachen sind. Doch die poetische Erkenntnis Martís hatte sie er-

 Martí, José: Nuestra América. Edición crítica. Investigación, presentación y notas Cintio Vitier. La Habana: Centro de Estudios Martianos Casa de las Américas 1991, S. 13 f.

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kannt. Und nun näherten sie sich, wie Martí in einer lyrisch verdichteten modernistischen Sprache darlegte, mit ungeheurer Geschwindigkeit, wie es ein anderer Dichter, Adelbert von Chamisso, in seiner denkwürdigen Fiktion über die zweite Phase beschleunigter Globalisierung ersonnen hatte. Doch diesem Riesen mit den Siebenmeilenstiefeln, diesen stahlbewehrten Panzerkreuzern gelte es, mit der Einheit von Ideen und Werten entschlossen entgegenzutreten. Wir hatten gesehen, wie geschickt José Martí in einem intertextuellen Verweisspiel auf die gerade auch in der angelsächsischen Welt sehr populäre Erzählung Peter Schlemihls wundersame Geschichte zurückgriff, mit der Adelbert von Chamisso noch vor seiner großen Reise um die Welt im Bild der Siebenmeilenstiefel auf all jene Beschleunigungen literarisch reagierte, welche die zweite Phase beschleunigter Globalisierung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit ihren großen europäischen Entdeckungsreisen mit sich gebracht hatte.731 Der im preußischen Exil lebende deutsche Romantiker und Dichter Adelbert von Chamisso hatte mit seiner Fiktion eine poetische Erkenntnis entfaltet, noch bevor er selbst auf eine Weltreise gehen und an Bord des russischen Kriegsschiffes Rurik als Naturforscher eine weltumspannende Forschungsreise antreten sollte. Denn was der aus Frankreich stammende preußische Dichter an seinem Rückzugsort Kunersdorf am «Musenhof» derer von Itzenplitz im Jahre 1813 entworfen hatte,732 wurde von Martí in der nunmehr dritten Beschleunigungsphase der Globalisierung von einem europäischen in einen amerikanischen Kontext übersetzt. Eine poetische Erkenntnis wurde in eine andere poetische Erkenntnis transferiert. Dabei würzte er diese Übertragung mit einem Verweis auf eine indigene amerikanische Mythologie, welche ebenfalls in die von ihm so genannte nube de ideas, in diese Ideenwolke aufgenommen wurde. Auch die indigenen Mythen projizieren eine Beschleunigung, in welcher ganze Welten verschlungen werden. Es sind Bilder einer im Goethe’schen Sinne geradezu velociferischen733 Akzeleration, die alles im weiteren Fortgang dieses

 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Welterleben / Weiterleben. Zur Vektopie bei Georg Forster, Alexander von Humboldt und Adelbert von Chamisso. In: Drews, Julian / Ette, Ottmar / Kraft, Tobias / Schneider-Kempf, Barbara / Weber, Jutta (Hg.): Forster – Humboldt – Chamisso. Weltreisende im Spannungsfeld der Kulturen. Mit 44 Abbildungen. Göttingen: V&R unipress 2017, S. 383–427.  Vgl. hierzu ausführlich Sproll, Monika: Adelbert von Chamisso in Cunersdorf. Frankfurt (Oder): Kleist-Museum 2014.  Vgl. zu der bei Goethe insbesondere zwischen 1825 und 1827 wiederholt auftauchenden Rede von einem «velociferischen Zeitalter» im Zusammenhang mit Goethes Konzept einer Weltliteratur Bohnenkamp, Anne: «Den Wechseltausch zu befördern». Goethes Entwurf einer Weltliteratur. In: Goethe, Johann Wolfgang: Ästhetische Schriften 1824–1832. Über Kunst und Altertum V–VI. Hg. v. Anne Bohnenkamp. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1999, S. 937–964.

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symbolisch aufgeladenen Textes mit sich reißt. Die notwendige Einheit aber, so erkannte Martí, müsse aus der Vereinigung dieser heterogenen Elemente entstehen, so wie die Beschleunigung der Globalisierung anhand europäischer wie amerikanischer Erzählungen erläutert wurde. Auf dieselbe Weise müsse es nunmehr gelingen, die zerstrittenen Brüder, wie sie etwa die kreolischen und die indigenen Bewohner der lateinamerikanischen Länder darstellen, wieder zu vereinen und zu einer kompakten Masse umzuformen, was Martí in der Symbolik des Silbers im Schosse der Anden ästhetisch verdichtete. In einer andinen Natursymbolik suchte Martí nach einer lyrischen Ausdrucksform für die Vereinigung im Grunde heterogener Elemente. Seine Erkenntnis war eine poetische Erkenntnis in dem Sinne, den wir gleich zu Beginn des ersten Hauptstückes entfaltet hatten. Gelänge diese angestrebte Einheit nicht, so sah José Martí das Amerika des Südens dieser raschen Beschleunigung des Nordens schutzlos ausgeliefert. Denn was sich seit mehr als einem Jahrzehnt in den Vereinigten Staaten des Nordens an Militärmacht zusammengebraut hatte, musste sich nicht nur aus militärischen und politischen, sondern auch aus wirtschafts- und handelstechnischen Gründen baldmöglichst entladen. Denn es galt für die USA, möglichst offene und zugleich abhängige Absatzmärkte zu schaffen, welche für die überquellende moderne Massenproduktion des Nordens aufnahmefähig wären. Die Vereinigten Staaten von Amerika benötigten dringend Märkte für ihre Waren. Für Martí war es dringlich, nicht wie in der ersten Phase beschleunigter Globalisierung aufgrund innerer Zwistigkeiten den spanischen Konquistadoren zu unterliegen, sondern nun in dieser neuerlichen Beschleunigung angesichts des Heranrückens des scheinbar übermächtigen Feindes auf der Grundlage einer breiten Konvivenz zwischen unterschiedlichsten Elementen – und wäre es nur mental – so etwas wie die Vereinigten Staaten des Südens zu schaffen. Für diese Vereinigten Staaten des Südens schlug er als Bezeichnung den Begriff Nuestra América vor, wobei die plurale Vielfalt von Nuestra in die Einheit dieses América übergehen müsse. Es ging Martí durchaus um eine Konvivenz in Differenz, aber stets auf eine strategische Einheit des Ganzen bezogen. Seinem Aufruf zur Einheit haftet angesichts der ihm vor Augen stehenden historischen Zwistigkeiten zwischen unterschiedlichen Ländern, unterschiedlichen Kulturen und unterschiedlichen Interessen fast schon etwas existenziell Verzweifeltes an. Como la plata en las raíces de los Andes: Die Natursymbolik dieses Aufrufes verbindet eine geologische, anorganische Isotopie mit einer organischen, wobei die Wurzeln der Anden jenes Element einer Verwurzelung einspielen, das in der dichterischen Symbolwelt Martís von so großer Bedeutung ist. Der Text von Nuestra América führt vor, was er selbst bezwecken will: Denn es gelang José Martí,

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von Beginn seines Essays an die intertextuellen Verweissysteme auf die europäischen Literaturen durch den Hinweis auf «la pelea de los cometas en el cielo»734 und damit auf indigene Traditionen und Vorstellungswelten zu öffnen, die den gesamten Essay durchlaufen und an seinem Ende mit dem Verweis auf den «Gran Semí» und damit den Mythos von Amalivaca kulminieren. Wir hatten diesen indirekten Rückgriff auf Alexander von Humboldt bereits zu einem früheren Zeitpunkt herausgestellt. Auch hier ist die Erkenntnis eine poetische, ein Conocimiento poético. Zweifellos soll uns das literarische Gemacht-Sein dieses Textes in seinem Verwobensein von europäischen literarischen und indigenen amerikanischen Bezugstexten vor Augen führen, wie Martí sich eine derartige Einheit vorstellte: als Konvivenz der unterschiedlichsten amerikanischen und europäischen Traditionen, ohne dass jene von Martí beschworene Vision eines ZusammengewürfeltSeins entstünde. Die Schlusssätze von Nuestra América lassen keinen Zweifel an der ebenso die unterschiedlichen Epochen wie die verschiedenartigen Kulturen querenden Ausrichtung des Martí’schen Entwurfes und gipfeln in jener Figur des auf dem Rücken des Kondors sitzenden Gran Semí: Dieser «warf den Samen, vom Río Bravo bis zur Magellan-Straße, über die romantischen Nationen des Kontinents wie auch die schmerzensreichen Inseln des Meeres – den Samen des Neuen Amerika!»735 Martí musste sich der Tatsache bewusst sein, dass in diesem Schlussbild von Nuestra América erst der Samen ausgeworfen wurde, aus dem dann künftig ein «neues Amerika» entstehen werde. Man dürfte wohl kaum in der Annahme irren, dass Martí sich mit seinem Essay selbst in der Position des «Großen Semí» sah und darauf abzielte, eine Zukunft zu säen, die für Nuestra América eine Ära von Freiheit und Unabhängigkeit heraufführen werde. Im Bild des «neuen Amerika» erscheint Nuestra América als der erhoffte Ort eines Zusammenlebens der Traditionen, einer Konvivenz der Kulturen, die sich einem angelsächsisch dominierten Norden entgegenstellt, welcher seine indigene Bevölkerung längst zum allergrößten Teil ausgerottet oder in Reservaten zusammengepfercht hatte. Wir hatten diesen berechtigten Vorwurf Martís bereits zu einem früheren Zeitpunkt diskutiert und gesehen, dass sich der Kubaner vehement gegen jegliche Art von Rassismus aussprach, wie er ihn im angelsächsischen Norden anprangerte. In diesen Passagen aus Nuestra América zeichnen sich bereits gewisse transkulturelle Dimensionen ab. Welchen Vorstellungen und Leit-Bildern aber folgte Martí, wenn er die erstrebte künftige Konvivenz in ihrer Schaffung, in

 Martí, José: Nuestra América, S. 13.  Martí, José: Unser Amerika, S. 67.

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ihrer Genese zu beschreiben suchte? Welche Metaphoriken nutzte er, um seine Bilder des Zusammenlebens evozieren zu können? Wie setzte er sich etwa mit dem Rassismus seiner Zeit auseinander und welche Argumente verwendete er, um den Rassismus aus dem Denken seiner Zeitgenossen zu vertreiben? Zweifellos stehen im Zentrum der von Martí in den Fokus genommenen grundlegenden und langfristigen Entwicklungsprozesse in Politik und Gesellschaft, in Kultur und Ökonomie die Ideen und ein Wissen, das freilich gegenüber dem traditionellen (da bislang vorherrschenden) europäischen Wissen signifikante Veränderungen erfahren muss. Der europäische wie der US-amerikanische Kolonialismus und Imperialismus beruhten jeweils auf pseudowissenschaftlich fundierten rassistischen Vorurteilen, die der Kubaner aber kurzerhand ad absurdum führte: Es gibt keinen Rassenhass, weil es keine Rassen gibt. Die schwächlichen Schreibtischlampendenker denken sich diese Buchladenrassen aus oder wärmen die Machwerke anderer wieder auf, Rassen, die ein Reisender ohne Vorurteile oder ein Beobachter mit Herz vergeblich in der gerechten Natur sucht, wo sich in siegreicher Liebe und wildem Drang die weltumspannende Identität des Menschen deutlich zeigt. Gleichheit und Ewigkeit der Seele strahlen aus Körpern, deren Form und Farbe verschieden ist. Gegen die Menschheit sündigt also, wer Rassenkampf und Rassenhass schürt und verbreitet.736 No hay odio de razas, porque no hay razas. Los pensadores canijos, los pensadores de lámparas, enhebran y recalientan las razas de librería, que el viajero justo y el observador cordial buscan en vano en la justicia de la naturaleza, donde resalta, en el amor victorioso y el apetito turbulento, la identidad universal del hombre. El alma emana, igual y eterna, de los cuerpos diversos en forma y en color. Peca contra la humanidad, el que fomente y propague la oposición y el odio de las razas.737

Immer wieder hatte der spanische Kolonialismus auf die Karte des Rassenkrieges, der Guerra de razas, gesetzt, damit etwa auf der Insel Kuba die Kreolen davor zurückschreckten, nach größerer Unabhängigkeit zu streben, weil sie von der Angst getrieben befürchten mussten, dass sich wie auf der Nachbarinsel in Haiti die schwarzen Sklaven erheben und ihre ehemaligen Herren massakrieren könnten. Der Rassismus war daher nicht allein eine Waffe bei der Unterwerfung ganzer Bevölkerungsschichten, sondern auch bei der Erhaltung bestehender kolonialer Machtverhältnisse, die durch einen Sklavenaufstand notwendig umgeworfen werden müssten. Dies ist der konkrete Hintergrund dafür, dass sich José Martí vehement gegen rassistische Überzeugungen, wo auch immer er sie antraf, wandte.

 Martí, José: Unser Amerika, S. 66.  Martí, José: Nuestra América, S. 24.

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Folglich wandte er sich ebenso gegen einen Rassismus, wie er ihn in der modernen Gesellschaft der USA bemerkte und brandmarkte. Dort wurde er als Herrschaftsinstrument gegen die zwar nicht mehr versklavten Schwarzen eingesetzt, die immer noch als Menschen zweiter Klasse angesehen wurden, sowie gegen die indigenen Völker, die rücksichtslos in Reservate gepfercht und umerzogen wurden, wo sie nicht brutal ausgelöscht und exterminiert worden waren. In Martís Vorstellung von einer eigenen Moderne für Nuestra América sollte der allgegenwärtige Rassismus keinerlei Platz mehr finden, wobei ihm mit Blick auf Kuba und den gegen Spanien zu entfachenden Krieg eine Einheit zwischen Menschen schwarzer und weißer Hautfarbe vordringlich erschien. Dafür setzte Martí auf ein Höchstmaß an allgemeiner Bildung, die möglichst großen Teilen der Bevölkerung zugänglich sein sollte. Kenntnis und Erkenntnis sowie ein möglichst hoher Wissensstand, der sich konkret auf die jeweiligen Länder zu beziehen hatte, bilden das Rückgrat für ein besseres Regieren in den Ländern Lateinamerikas, zugleich aber auch die beste Versicherung – und Martí wusste, wovon er sprach – gegen jedweden Rückfall in Caudillismo und Tyrannei. Veränderte Bildungs- und Ausbildungskonzepte, die sich an der eigenen Geschichte, an den jeweiligen Kulturen und den spezifischen Bedürfnissen der einzelnen Länder Amerikas ausrichten mussten, sollten die simplen Übertragungen europäischer Konzepte auf den amerikanischen Kontinent ersetzen. Im Herzen des Martí’schen Moderneprojekts steht eine an Lateinamerika ausgerichtete Bildungskonzeption. José Martí versuchte, für sein Konzept von Nuestra América, das Amerika im Plural seiner Herkünfte («unser») und im Singular seiner Einheit («Amerika») denken wollte, durch die Veränderung der Bildungsinstitutionen neue Herkünfte aus der Geschichte des Kontinents ins Bewusstsein zu heben, um damit neue Zukünfte entfalten zu können. Konvivenz der unterschiedlichen Kulturen und Verschiedenheit der Herkünfte stehen dabei für ihn an oberster Stelle. Denn Martí war klar: Wer über andere Herkünfte als in Europa oder den USA verfügt, der musste auch das Recht auf andere Zukünfte und dies hieß von den genannten Mächten divergierende Modernen haben. Weder die sozioökonomische Modernisierung (Modernización) noch die epochenspezifische Ausgestaltung der Moderne (Modernidad) und schon gar nicht die literarästhetischen Ausdrucksformen des Modernismus (Modernismo) durften sich für ihn in einer Übertragung europäischer Modelle und Vorbilder, so brillant sie auch immer scheinen mochten, erschöpfen. An dieser Stelle musste Nuestra América neue, eigene Wege beschreiten, um aus anderen Vergangenheiten neue Zukunftsmöglichkeiten zu schöpfen beziehungsweise zu generieren.

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Zweifellos machte der kubanische Kreole in seinen Schriften Ernst mit der Bekämpfung allein an Europa orientierter Ideen und Vorstellungen, eines allein am Modell einer abendländischen Geschichte ausgerichteten Geschichtsverständnisses, das in seiner scharfen Asymmetrie ein jahrhundertealtes Erbe der transatlantischen Kolonialbeziehungen war.738 Doch die bei Martí immer wieder durchschlagende Scheidung zwischen Eigenem und Fremdem, so etwa zwischen einem eigenem und einem fremden Griechenland verstellt allzu leicht den Blick dafür, dass das kulturelle Erbe der Bewohner dieses Amerika – wie der Kubaner sehr wohl wissen musste – an beiden Griechenlands, an beiden Antiken partizipierte. Nur im Sinne einer eingeschränkten territorialen Herkunft ließe sich die griechische oder römische Antike in den Amerikas als etwas Fremdes bezeichnen. Dass dieses abendländisch-antike Erbe nicht allen Kulturen eingepflanzt war und offen stand, ist evident; dies gilt aber auch für das indigene Griechenland, das ebenfalls nicht allen in Amerika vorhandenen Kulturen gegenwärtig oder gar Teil von ihnen war. Kulturtheoretisch neue Dimensionen sollten sich erst unter bewegungsgeschichtlichen Aspekten mit dem Werk eines anderen Kubaners eröffnen, der im Übrigen mit den Schriften José Martís (wie auch Alexander von Humboldts) bestens vertraut war. In seinem erstmals im Jahre 1940 vorgelegten Grundlagenwerks Contrapunteo cubano del tabaco y el azúcar739 richtete der kubanische Anthropologe und Kulturforscher Fernando Ortiz sein Augenmerk auf die Komplexität all jener Deportationen, Migrationen und Bewegungen, welche die Insel Kuba inmitten der Karibik prägten und als kulturellen Kreuzungspunkt herausbildeten. Und damit öffnete sich eine neue, bislang unbekannte Türe zu einem weiteren Verständnis der kulturellen Prozesse in den Amerikas: Es gab für die Kubanität keine transzendenteren menschlichen Faktoren als diese kontinuierlichen, radikalen und kontrastierenden geographischen, wirtschaftlichen und sozialen Transmigrationen der Kolonisten, als diese beständige Vergänglichkeit an Vorhaben und als dieses Leben immer aus der Entwurzelung von der bewohnten Erde, in einem ständigen Auseinanderklaffen gegenüber der aufrecht erhaltenen Gesellschaft. Menschen, Ökonomien, Kulturen und Sehnsüchte, alles fühlte sich hier fremd, provisorisch, veränderlich an, wie «Zugvögel» über dem Land, an seiner Küste, stets seinem Willen und Wollen entgegen. Mit den Weißen kamen die Schwarzen, zuerst aus Spanien, dann in einer Ausbreitung von Guinea- und Kongosklaven, schließlich aus ganz Nigritien. Mit ihnen kamen

 Ette, Ottmar: Asymmetrie der Beziehungen. Zehn Thesen zum Dialog der Literaturen Lateinamerikas und Europas. In: Scharlau, Birgit (Hg.): Lateinamerika denken. Kulturtheoretische Grenzgänge zwischen Moderne und Postmoderne. Tübingen: Gunter Narr Verlag 1994, S. 297–326.  Ortiz, Fernando: Contrapunteo cubano del tabaco y el azúcar. Prólogo y Cronología Julio Le Riverend. Caracas: Biblioteca Ayacucho 1978.

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ihre verschiedenartigen Kulturen, einige so wild wie die der Siboneyes, andere von fortgeschrittener Barbarei wie die der Tainos, einige aus größerer wirtschaftlicher und sozialer Komplexität wie etwa die Mandingas, die Woloffs, Haussas, Dahomeys und Yorubas, andere wieder mit Ackerbau, Sklaven, Geld, Märkten, Außenhandel sowie zentralisierten und effizienten Regierungsmächten über Territorien und Ansiedlungen, die so groß wie Kuba waren; Kulturen, die in der Mitte zwischen denen der Tainos und der Azteken lagen; schon mit Metallen, aber noch ohne Schrift. No hubo factores humanos más trascendentes para la cubanidad que esas continuas, radicales y contrastantes transmigraciones geográficas, económicas y sociales de los pobladores, que esa perenne transitoriedad de los propósitos y que esa vida siempre en desarraigo de la tierra habitada, siempre en desajuste con la sociedad sustentadora. Hombres, economías, culturas y anhelos, todo aquí se sintió foráneo, provisional, cambiadizo, «aves de paso» sobre el país, a su costa, a su contra y a su malgrado. Con los blancos llegaron los negros, primero de España, entonces cundida de esclavos guineos y congos, y luego de toda la Nigricia. Con ellos trajeron sus diversas culturas, unas selváticas como la de los ciboneyes, otras de avanzada barbarie como la de los taínos, y algunos de más complejidad económica y social, como los mandingas, yolofes, hausas, dahomeyanos y yorubas, ya con agricultura, esclavos, moneda, mercados, comercio forastero y gobiernos centralizados y efectivos sobre territorios y poblaciones tan grandes como Cuba; culturas intermedias entre las taínas y las aztecas; ya con metales, pero aún sin escritura.740

Als Bewegungs-Raum einer höchsten Verdichtung unterschiedlicher Globalisierungsphasen wurde Kuba mit José Martí zu einer Insel globaler Kulturtheorie, eine Tradition, welche sich mit Figuren wie Fernando Ortiz oder José Lezama Lima fortsetzte und sich im Übrigen auch innerhalb der gesamten spanisch-, französisch- oder englischsprachigen Antillen verbreitete. Wie aber konnten, wie aber sollten all diese unterschiedlichen und teilweise gegensätzlichen Elemente und Faktoren zu einem wahrhaftigen Zusammenleben in Differenz finden?

Zum Problem der Konvivenz in den Amerikas Niemand reflektierte tiefgründiger als der im US-amerikanischen Exil lebende Kubaner, der in den Vereinigten Staaten zeitweise als Konsul die Interessen Argentiniens und Paraguays sowie als Delegierter der Comisión Monetaria Internacional Americana jene Uruguays wahrnahm, mit welcher Geschwindigkeit sich die weltpolitische Situation in jenen Jahren veränderte. Er konstatierte früher  Ebda., S. 95. Zu einer umfassenden literatur- und kulturwissenschaftlich ausgerichteten Auseinandersetzung mit Fernando Ortiz im Kontext des 20. Jahrhunderts vgl. den dritten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Von den historischen Avantgarden bis nach der Postmoderne (2021), S. 741 ff.

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als alle anderen Beobachter, wie sich die entscheidenden Faktoren für eine neue Phase beschleunigter Globalisierung herauskristallisierten und eine neue Großmacht nicht allein auf hemisphärischer Ebene, sondern auch in einem weltweiten Kontext auf der weltpolitischen Bühne erschien: die Vereinigten Staaten von Amerika. Der Dichter der Versos sencillos wusste, wie im dortigen Kongress um die einzuschlagende außenpolitische Richtung gerungen wurde und wie einflussreiche Trusts die Entscheidungen der Regierungen durch gezielte Lobbyarbeit und Bestechungen beeinflussten. Mit ihrem Eingreifen von 1898 in den kubanisch-spanischen Krieg lösten die USA dann entschlossen jene europäische Macht ab, die zusammen mit Portugal die erste Phase beschleunigter Globalisierung beherrscht hatte.741 Wie auch bei späteren Gelegenheiten, produzierten die Geheimdienste der Vereinigten Staaten selbst den Vorwand für eine militärische Intervention. Dieses Modell erwies sich als höchst erfolgreich und wurde daher noch häufig angewandt. Das Ende der spanischen Kolonialmacht auf dem amerikanischen Kontinent beendete eine lange historische Phase. Spanien hatte im Zeitraum zwischen dem Ende des 15. und der Mitte des 16. Jahrhunderts nicht nur die militärischen, politischen und wirtschaftlichen, sondern auch die mentalitätsgeschichtlich relevanten Asymmetrien zwischen Alter und Neuer Welt vorgeprägt, deren Folgen und Auswirkungen bis heute und bis in unsere vor wenigen Jahren zu Ende gegangene Phase beschleunigter Globalisierung deutlich spürbar sind.742 José Martí war sich dieser Asymmetrien und der längst peripheren Bedeutung, die den iberisch beziehungsweise lateinisch geprägten Ländern des amerikanischen Kontinents zukam, höchst bewusst, gab sich aber nicht mit dieser Situation, mit diesem Ist-Zustand, zufrieden. Zugleich schätzte er die kulturellen Traditionen, die mit der spanischen Sprache und der Rezeption der Antike in den amerikani-

 Zu den verschiedenen Phasen beschleunigter Globalisierung vgl. Ette, Ottmar: Wege des Wissens. Fünf Thesen zum Weltbewusstsein und den Literaturen der Welt. In: Hofmann, Sabine / Wehrheim, Monika (Hg.): Lateinamerika. Orte und Ordnungen des Wissens. Festschrift für Birgit Scharlau. Tübingen: Gunter Narr Verlag 2004, S. 169–184. Ich habe diese Überlegungen ausgebaut und systematisiert in Ette, Ottmar: TransArea. Eine literarische Globalisierungsgeschichte (2012). Zum Prozesa der Globalisierung aus etwas schematischer und die literarischen Quellen nicht berücksichtigender geschichtswissenschaftlicher Sicht vgl. Osterhammel, Jürgen / Petersson, Niels: Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen. München: Verlag C.H. Beck 2003.  Zu den mentalitätsgeschichtlich relevanten Ausprägungen dieser Phase vgl. u. a. Todorov, Tzvetan: La conquête de l’Amérique. La question de l’autre. Paris: Seuil 1982; sowie Greenblatt, Stephen: Marvellous Possessions. The Wonder of the New World. Oxford: Clarendon Press 1992.

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schen Ländern des lateinischen Europa – eine Formulierung von Alexander von Humboldt – mit all ihrer Ausstrahlungskraft vorherrschten, sehr hoch ein. Die bis in die Antike zurückreichende Komplexität der Martí’schen Vorstellungen zeigt sich deutlich in einem auf den 13. Januar 1890 in New York datierten und am 12. März desselben Jahres in La Nación in Buenos Aires veröffentlichten Korrespondentenbericht,743 in dem Martí seinen hispanoamerikanischen Leserinnen und Lesern vorwiegend von neuen literarischen und gesellschaftlichen Ereignissen in den Vereinigten Staaten berichtete. Dabei ging Martí auf die Notwendigkeit ein, sich nicht auf eine einzige (National-) Literatur samt ihrer «ramajes y renacimientos»744 zu beschränken, sondern «ponerse fuera de ellas, y estudiarlas con mente judicial a todas».745 Es gehe folglich – um dies noch einmal zu betonen – darum, den Blick auf verschiedensprachige Literaturen zu weiten, um die Literaturen der Welt nicht aus der beschränkten Perspektive einer einzigen zu erfassen. Dies sollte auch über den Bereich der Literatur hinaus Folgen haben. Das Studium möglichst vieler verschiedener Literaturen war das ebenso selbstgesteckte wie selbstverständliche Ziel des kubanischen Modernisten, eine Einstellung, die zeigt, dass es durchaus Bezüge zwischen dem hispanoamerikanischen Modernismo und der Position eines Jorge Luis Borges gibt, der in El escritor argentino y la tradición bekanntermaßen betonen sollte, dass allein die Argentinier (und vielleicht auch die Lateinamerikaner insgesamt) eine Vorstellung davon hätten, was die europäische Literatur sei, da ihre Kenntnisse sich nicht – wie die der Europäer – auf eine oder zwei Nationalliteraturen beschränkten.746 Unter Rückgriff auf seine Studien unter anderem der Klassischen Philologie in Spanien bezog der Kubaner dabei bewusst die kulturellen Kontinuitäten bis zurück in die abendländische Antike mit ein: Die von literarischer Berufung mögen alles lernen, weil es kein vergleichbares Vergnügen gibt, als Homer im Original zu lesen, was so ist, als ob man die Augen auf den Morgen der Welt öffnete, und keine Lektüre, welche einem mehr nutzt als die des eleganten Catull, bei dem alles geordnet und genau ist, oder die eines Horaz, des Meisters der Ruhepause. Um aber zu leben, lerne man das Lebendige in den lebendigen Sprachen, in denen heute das Neue wie das Alte enthalten ist, anders als in den toten Sprachen, in denen

 Martí, José: En los Estados Unidos. In (ders.): OC 13, S. 456–462.  Ebda, S. 457.  Ebda.  Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Die Literaturen der Welt. Transkulturelle Bedingungen und polylogische Herausforderungen eines prospektiven Konzepts. In: Lamping, Dieter / Tihanov, Galin (Hg.): Vergleichende Weltliteraturen / Comparative World Literatures. DFG-Symposion 2018. Unter Mitwirkung von Mathias Bormuth. Stuttgart: J.B. Metzler Springer 2019, S. 115–130.

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man nur auf das Alte stößt, was weniger ist von dem, was man lernen muss und daher weniger wichtig ist, insofern außerhalb der Kuriositäten jener Zeiten von Lesbias und Phalamos und jener Gewissheit, dass der Mensch sich immer gleich war und heute nicht weniger ist und sicher auch nicht viel mehr als die Römer, zu fragen bleibt: Was lernt man, wenn man den ganzen Plinius und den ganzen Quintus Ennius lernt? Vergleicht man es unparteiisch, beobachtet man für sich selbst und spricht man mit Ordnung, Strenge und Musik, so ist es dies, was es zu lernen gilt; und dies kommt nicht von einer Literatur allein oder von ihr und ihren Verzweigungen und Wiedergeburten, sondern von der Notwendigkeit, sich aus ihnen heraus zu begeben und sie alle mit klugem Kopfe zu studieren. Los del oficio literario, apréndanlo todo, porque no hay goce como el de leer a Homero en el original, que es como abrir los ojos a la mañana del mundo, ni lectura que beneficie más que la de Catulo elegante, por lo ordenado y preciso, o la de Horacio, el maestro del reposo. Pero para vivir, apréndase lo vivo en las lenguas vivas, donde se contiene hoy lo nuevo y lo viejo, y no en las muertas, donde sólo lo viejo está, que es menos de lo que se debe aprender, y lo que menos importa, puesto que fuera de las curiosidades de aquellos tiempos de Lesbias y Falernos, y la certeza de que siempre fue igual a sí propio el hombre y no vernos hoy menos, ni mucho más que los romanos, ¿qué aprende de veras, con aprenderse todo Plinio, y todo Ennio? A comparar con imparcialidad, a observar por sí, y a decir con orden, vigor y música, es lo que se ha de aprender; y eso no viene de una literatura sola, o de ella y sus ramajes y renacimientos, sino de ponerse fuera de ellas, y estudiarlas con mente judicial a todas.747

José Martí fordert in dieser Passage, die uns erneut einen charakteristischen Eindruck seiner modernistischen Sprachgewalt verschaffen kann, eine zwischen verschiedenen Literaturen und Sprachen vergleichende und die jeweiligen Qualitäten nutzende Position ein, ohne die vertiefte Beschäftigung mit der eigenen Sprache und Literatur zu vernachlässigen. Wie sehr man auch immer die inhaltlichen Zuordnungen Martís als Stereotypen ansehen mag: Ein vielsprachiges, freilich an den europäischen Weltsprachen orientiertes literarisches System wird skizziert, innerhalb dessen sich die einzelnen Literaturen wechselseitig als Korrektiv benutzen lassen und erst in ihrer Gesamtheit das Denken und Schreiben der Menschheit vor Augen führen. Es geht dem Kubaner um eine Konvivenz der Literaturen und Traditionen. Denn in seinem Korrespondentenbericht für La Nación entfaltet José Martí nicht nur ein flammendes Plädoyer für das Studium unterschiedlicher moderner Fremdsprachen. Sein Blick richtet sich vielmehr auf die Literaturen der Welt. Keine dieser unterschiedlichen Sprachen, keine dieser Literaturen hat für sich allein Ästhetik und Wahrheit gepachtet: Das Bild einer Vielzahl von Literaturen und Logiken entsteht, in welchem sich José Martí nicht für eine einzige,

 Martí, José: En los Estados Unidos, S. 458.

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sondern für viele Logiken gleichzeitig auszusprechen scheint. So wie sich Martí in New York ganz selbstverständlich als Spinne im Netz zwischen vielsprachigen Informations- und Wissensströmen bewegte, so wollte er auch das System der Literaturen der Welt verstanden wissen: vielstimmig und polylogisch. José Martí plädierte in seinem Artikel En los Estados Unidos für das Studium zumindest dreier Sprachen, die nicht zufällig Sprachen der Globalisierung sind. Er erkannte die Notwendigkeit, andere Kulturen und Zivilisationen in deren Sprachen zu verstehen, um sich ein eigenes und nicht nur übersetztes Bild von diesen zu verschaffen. Mag sein, dass es sich dabei um eine Reaktion auf die dritte Phase beschleunigter Globalisierung handelt, insofern Martí die zeitgenössische Dominanz des Englischen, aber auch das Französische wie das Spanische als vorherige Sprachen früherer Globalisierungsphasen präsent und im Bewusstsein halten wollte. José Martí hatte spätestens Ende der achtziger Jahre verstanden, dass sich eine neue Phase der Beschleunigung konstatieren ließ, war stets aber darum bemüht, die aktuellen Phänomene im Kontext ihrer geschichtlichen Entwicklung darzustellen und zu begreifen – und dies ebenso geschichtlich wie geschichtsphilosophisch. Aus diesem Grunde dürfte er wohl die drei Sprachen des Spanischen, Französischen und Englischen ausgewählt haben, da sie ihm gerade für die Geschichte und Kultur des amerikanischen Kontinents als ausschlaggebend erschienen. Denn diese drei Sprachen mit ihren Kulturen und Literaturen formten wesentlich das Bild der Amerikas nach ihrer Entdeckung durch die Europäer. Es überrascht daher nicht, dass der kubanische Dichter als Globalisierungstheoretiker avant la lettre in seine Chroniken, Essays und Artikel wiederholt die beiden vorgängigen Phasen beschleunigter Globalisierung in ihren direkten Auswirkungen auf die Völker Amerikas einblendete. Drei Jahrhunderte lang habe Amerika unter dem Befehl eines despotischen Kolonisators,eines «colonizador despótico y avieso» gestanden.748 Denn hatte die zweite Phase beschleunigter Globalisierung, die sich vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nun nicht mehr unter der Führung von Spanien und Portugal, sondern von Frankreich und England entwickelte, für die Bewohner des spanischen Amerika letztlich auch den Weg in die Unabhängigkeit geebnet, indem sie ein an der Vernunft orientiertes Denken und Handeln dank des aus Europa importierten Buches, des «libro importado»,749 vorbereitete, so überwogen aus gesamtamerikanischer Sicht doch die Kontinuitäten der Abhängigkeit: «La colonia continuó viviendo en

 Martí, José: Nuestra América, S. 19.  Ebda., S. 16.

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la república»:750 Die Kolonie habe auch in den unabhängigen Republiken weitergelebt. Martís ethisch fundierte Haltung war dabei glasklar: Mit den Unterdrückten musste man sich vereinen, um ein System zu stützen, das den Interessen und Machtgewohnheiten der Unterdrücker entgegensteht. Vom Feuer erschreckt, kehrt der Tiger nachts an den Ort der Beute zurück. Er stirbt mit feuersprühenden Augen und geöffneten Klauen. Man hört ihn nicht kommen, kommt er doch auf Samtpfoten. Wenn die Beute aufwacht, ist der Tiger schon über ihr. Die Kolonie lebte in der Republik weiter; doch ist unser Amerika im Begriff, sich von seinen großen Irrtümern – dem Hochmut der Hauptstädte, dem blinden Triumph der verachteten Bauern, der übermäßigen Einfuhr fremder Ideen und Formeln, der ungerechten und unklugen Verachtung der Eingeborenen – kraft einer moralischen Überlegenheit zu befreien, für die es notwendiges Blut vergießen musste; es ist die moralische Überlegenheit der Republik, die gegen die Kolonie kämpft. Der Tiger kauert hinter jedem Baum, lauert an jeder Ecke. Mit geöffneten Klauen und feuersprühenden Augen wird er sterben.751 Con los oprimidos había que hacer causa común, para afianzar el sistema opuesto a los intereses y hábitos de mando de los opresores. El tigre, espantado del fogonazo, vuelve de noche al lugar de la presa. Muere, echando llamas por los ojos y con las zarpas al aire. No se le oye venir, sino que viene con zarpas de terciopelo. Cuando la presa despierta, tiene al tigre encima. La colonia continuó viviendo en la república; y nuestra América se está salvando de sus grandes yerros, – de la soberbia de las ciudades capitales, del triunfo ciego de los campesinos desdeñados, de la importación excesiva de las ideas y fórmulas ajenas, del desdén inicuo e impolítico de la raza aborigen, – por la virtud superior, abonada con sangre necesaria, de la república que lucha contra la colonia. El tigre espera, detrás de cada árbol, acurrucado en cada esquina. Morirá, con las zarpas al aire, echando llamas por los ojos.752

Erneut kleidet der kubanische Modernist seine Gedankengänge in eine Natursymbolik, in welcher der Tiger – wie schon in Domingo Faustino Sarmientos Facundo. Civilización y barbarie753 – das Brutale und Gewalttätige in der Natur, aber auch im Lebenskampf repräsentiert. Martí bemüht diese dichterische Sprache, um in ihr das Conocimiento poético, die dichterische Erkenntnis, zum Tragen zu bringen. Der Tiger nähert sich lautlos an, ohne dass seine Beute dies gewahr würde; und er greift im Schutz der Dunkelheit an, wenn seine Beute sich sicher glaubt und eingeschlafen ist. Wird sie dann durch seinen Angriff wach, ist es schon zu spät, um noch an Rettung zu denken. Das dringliche Aufwachen, das Martí im incipit seines berühmtesten Essays reklamierte, wird hier

 Ebda., S. 20.  Martí, José: Unser Amerika, S. 62.  Martí, José: Nuestra América, S. 19 f.  Vgl. hierzu auch den vierten Band der Reihe Aula in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten (2021), S. 627 ff.

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in eine Tiersymbolik gekleidet, in welcher die Rollen von Angreifer und Opfer klar verteilt sind. Es ist höchste Zeit, dass sich Nuestra América vor möglichen Angreifern schützt und den leisen Samtpfoten des Tigers nicht traut. Zugleich steht Martí in diesem Essay wie in seinem gesamten Schreiben und Handeln auf der Seite der Unterdrückten, der von der Geschichte Benachteiligten. Dies betrifft ebenso die Kolonie, die von ihren Kolonialmächten ausgeplündert wird, wie all jene Oprimidos, die wie die Raza aborigen von ihren Peinigern ausgebeutet und ausgehend von ihren Machtgewohnheiten an den Rand der Gesellschaft verbannt werden. Nuestra América müsse dringend aus seinen Fehlern lernen, welche Martí hier in gedrängter Reihung benennt; doch es sei schon auf dem besten Wege, aus all seinen Fehlern zu lernen, habe es doch allzu lange versäumt, gegen das Weiterleben der Kolonie unter der unabhängigen Republik im 19. Jahrhundert anzugehen. Diese Fehler rächen sich schwer, während laut Martí aber noch zu beheben; doch der kubanische Schriftsteller und Politiker blieb hinsichtlich seiner Erwartungen skeptisch. Zwar sah Martí folglich durchaus, dass sich Nuestra América aus seinen Irrtümern befreien und die Lehren aus einem verlorenen Jahrhundert ständiger interner Auseinandersetzungen ziehen könne. Jedoch wusste der Verfasser von Nuestra América nur zu gut, in welch starkem Maße die aus der Kolonialzeit ererbten und in der Independencia mitgeschleppten Probleme fortbestanden: Der sich weiterhin verschärfende Gegensatz zwischen Stadt und Land, die unveränderte Verachtung gegenüber der «raza aborigen»754 sowie die «importación excesiva de las ideas y fórmulas ajenas»755 bildeten aus seiner Sicht die größten strukturellen Hindernisse für eine eigenständige Modernisierung, die den Menschen – und vor allem auch den marginalisierten und entrechteten Menschen – ins Zentrum allen politischen Handelns stellen sollte. Eben diesen simplistischen, auf traditionellen Asymmetrien beruhenden und exzessiven Ideenimport aber sollte es fortan nicht mehr geben: Es ging im Sinne José Martís vielmehr darum, eine eigene Moderne zu entfalten, von amerikanischen Köpfen in Amerika ausgedacht und eigens für die Länder von Nuestra América gemacht. Denn diese Ideen – dies hatte Martí schon am Ende des ersten Abschnitts seines Essays betont – galt es zu verändern, wollte man in der dritten, nun wesentlich von den USA mitgeprägten Phase der Globalisierung in vollständiger Unabhängigkeit bestehen. Seine eigene Position als Mensch, der sich speziell für unterdrückte und marginalisierte Menschen einsetzt, war ihm dabei jenseits

 Martí, José: Nuestra América, S. 20.  Ebda.

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jeglicher Ehrsucht stets als ethische Leitlinie gegenwärtig. So schrieb er in einem Brief aus New York am 7. Juli 1894 an José Dolores Poyo: Die einzige wahrhaftige Herrlichkeit des Menschen – wenn ein wenig Ruhm in der Zusammensetzung eines so weiten Werkes wie der Welt überhaupt etwas wäre – bestünde in der Summe an Hilfestellungen, die er über seine eigene Person hinweg den Anderen zugutekommen ließe. [...] Ich bin kein sitzender Mensch mehr: Ich war es noch nie: und weniger noch, wo wir jetzt im Begriffe stehen, die Ernte für unsere Geduld und Weitsicht einzufahren: heute also weniger denn je. La única gloria verdadera del hombre, – si un poco de fama fuera cosa alguna en la composición de obra tan vasta como el mundo, – estaría en la suma de servicios que hubiese, por sobre su propia persona, prestado a los demás. [...] Yo ya no soy hombre sentado: nunca lo fui: menos, cuando empezamos a recoger la cosecha de nuestra paciencia y previsión: menos que nunca, hoy.756

José Martís rastlose Tätigkeit und sein unbedingtes Verlangen, unter seiner persönlichen Führung die Weichen dafür zu stellen, dass Kuba und die Antillen, aber auch das gesamte lateinische Amerika nicht länger die Fehler der Independencia begehen sollten und eine wirkliche Unabhängigkeit auch von den Vereinigten Staaten im Norden verwirklichten: Diese rastlose Aktivität zehrte an den Kräften des kleingewachsenen Kubaners, ja ging deutlich über diese Kräfte hinaus. Eine Vielzahl von Zeugnissen insbesondere aus den letzten Lebensjahren Martís offenbart uns die enorme Erschöpfung des rastlosen Poeten. José Martí verausgabte sich nicht nur in diesen ständigen Auseinandersetzungen und Kriegsvorbereitungen, sondern verzehrte sich buchstäblich in dem beständigen Versuch, die Einheit der von ihm geschaffenen Unabhängigkeitsrevolution zu bewahren und immer wieder neu zu schaffen. Allein die Redaktion seiner Zeitschrift Patria und die Leitung seines Partido Revolucionario Cubano, die mit ständigen Reisen von New York nach Florida, in den karibischen Raum und bisweilen nach Zentralamerika verbunden war, forderte von Martí geradezu übermenschliche Kräfte. So kam es schon bald nach der Abfassung des Manifiesto de Montecristi und dem Überwechseln in den militärischen Befreiungskampf auf Kuba sowie den sich abzeichnenden Auseinandersetzungen mit der militärischen spitze der von ihm geschaffenen Bewegung zu jenen lyrischen Todesszenen, die José Lezama Lima anhand der Feldtagebücher Martís, seiner beiden Diarios, eindrucksvoll unter anderem in La expresión americana beschrieb. Es ging dem Gründer der Orígenes-Gruppe nicht zuletzt um die Ergründung des Conocimiento poético beim späten Martí.  Martí, José: A José Dolores Poyo. In (ders.): OC 3, S. 226.

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Indem sich José Lezama Lima, der Schöpfer der Figur José Cemí in Paradiso, in der Schlusspassage seines Vortrages vom 22. Januar 1957 die Tagebücher, sich auf die Diarios der letzten Wochen und Tage des autor intelectual des Krieges von 1895 gegen die spanische Kolonialmacht konzentrierte und die polyseme Poetizität von Martís Schreiben in den Mittelpunkt rückte, griff er auf jene Ausdrucksformen des Martí’schen Schreibens zurück, in denen sich der Wirbel, der Hurrikan bildet, der geschaffen sei, um alles einschließlich dessen, der ihn hervorrief, mit sich fortzureißen und zu verschlingen. Hielt der letzte Martí den Schlüssel für ein Verständnis seines gesamten Schaffens und Handelns bereit? Wie bei dem kubanischen Anthropologen Fernando Ortiz in dessen Ausführungen zum Transkulturalitätsbegriff handelt es sich bei dem von Lezama konstatierten Wirbel nicht um einen Sturm der Natur, sondern um einen der Kultur; und wie in Shakespeares The Tempest wird er vom Menschen selbst erzeugt, freilich nicht, um wie Prospero die eigene Macht zu entfalten, sondern sich selbst in eine gleichsam allgegenwärtige Abwesenheit, jene ausencia posible, in der Lezama die Ausdrucksweise des Amerikanischen erblickte, zu verwandeln. José Martí wurde für José Lezama Lima gerade in den Tagen und Wochen vor seinem Tod durch seine Kriegstagebücher zur Verkörperung dessen, was der kubanische Dichterfürst der Orígenes-Gruppe unter der expresión americana, unter der Ausdrucksform des Amerikanischen, verstand. Lezama Lima verwies dabei mit Bedacht auf die schöpferische Kraft dieses remolino, auf die entscheidende Bedeutung des «conocimiento poético»,757 der poetischen Erkenntnis also, auf die Relevanz der «poesía como preludio del asedio a la ciudad»,758 welchem sich der Dichter von Enemigo rumor in seiner Abscheu gegenüber den herrschenden Verhältnissen zweifellos aufs Engste verbunden wußte. Denn wie der Revolution des José Martí stand Lezama zu Beginn auch der Revolution des Fidel Castro durchaus positiv und mit hoffnungsvoller Erwartung gegenüber. Mit Blick auf die literarische Kunst des José Martí ist in diesen Ausführungen Lezama Limas entscheidend die Berufung auf ein spezifisches Wissen der Dichtkunst, auf ein wohl nur der Literatur zugängliches Wissen, das – wie die Formulierungen zeigen – sehr wohl in die konkrete Umgestaltung von Wirklichkeit umschlagen kann. In José Martí erkannte Lezama einen Verwandler der dichterischen Erkenntnis in politisches, gesellschaftliches Handeln, einen Dichter, der es vermochte, das mit Hilfe der Literatur erzielte Wissen in die Realität

 Lezama Lima, José: La expresión americana, S. 116.  Ebda.

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seiner Insel, seines Landes, seines Kontinents umzusetzen. Hatte all dies nicht das Martí’sche Beispiel eindrucksvoll ebenfalls in der Geschichte des Kontinents, in der Geschichte der Hemisphäre demonstriert? Was aber ist unter diesem poetischen Wissen, dieser poetischen Erkenntnis zu verstehen? In der lezamianischen Lektüre759 der sorgsam ausgewählten Zitate und Motive der Diarios, die bekanntlich von den letzten Vorbereitungen und den ersten Manövern des von José Martí, Máximo Gómez und anderen nach Kuba getragenen Krieges gegen die spanische Kolonialmacht und damit von einem Kampf auf Leben und Tod berichten, erscheinen im kubanischen Oriente nicht nur die spanische Literatur des Siglo de Oro oder die amerikanische Populärkultur am Río de la Plata, nicht nur die kubanische Lyrik der Romantik oder die Körperlichkeit der angloamerikanischen Dichtkunst eines Walt Whitman, sondern vor allem die Präsenz des ägyptischen Totenbuches und der orphischen Kulte, die in ihrer Pendelbewegung, ihrer oscilación zwischen dem Reich der Toten und dem Reich der Lebenden vermitteln und im Tod der Lebenden das Leben der Toten – und damit die Allgegenwart der Abwesenheit – in der Form des poetischen Wissens, der poetischen Erkenntnis («conocimiento poético»760), projizieren. José Martí wird bei José Lezama Lima zu einer menschlichen und zugleich übermenschlichen Figur des Amerikanischen stilisiert, in deren Gesten und Bewegungen sich gleichsam transhistorisch die Wege der Kulturen der Welt kreuzen und in dieser überzeitlichen Figura kulminieren.761 So wird gerade in der intimen Bindung und Verbindung des aus dem Exil heimgekehrten Martí mit dem Lokalen, mit der Erde Kubas, die weltumspannende Dimension des kubanischen Dichters für Lezama überdeutlich. Vor allem aber wird der schon von seinen Schülern als Apostel bezeichnete Dichter zum Inbegriff und zur Inkarnation dessen, was im Sinne Lezamas Ausdruck des Amerikanischen ist: die verdichtende Konfluenz weltweiter Traditionslinien im Zeichen eines Kontinents, im Zeichen einer Insel, die als Teil eines karibischen, aber auch weltweiten Archipels gleichsam eine Insel der Inseln ist.762 Kuba im Schnittpunkt aller Geschichte(n), aller Kulturen: Martí hätte sich einer derartigen Sichtweise kaum verweigert. Der Wirbel dieses von José Lezama Lima in Bewegung gesetzten poetischen Wissens verwandelt die Figur José Martís in ihrem Oszillieren, in ihrem orphisch-

 Vgl. ebda., S. 116 f.  Ebda., S. 116.  Vgl. hierzu Gwozdz, Patricia A.: Ecce figura. Lektüren eines Konzepts in Konstellationen (100 v. Chr.–1946). Berlin – Boston: De Gruyter 2023.  Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Kuba – Insel der Inseln. In: Ette, Ottmar / Franzbach, Martin (Hg.): Kuba heute. Politik, Wirtschaft, Kultur. Frankfurt am Main: Vervuert Verlag 2001, S. 9–25.

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kreativen Pendeln zwischen dem Reich der Lebenden und dem Reich der Toten, zwischen der Vorbereitung auf den Tod und der Transfiguration ins Leben in einen gerade durch den weltweiten Ausgriff sehr kubanischen Konfluenz- und Kulminationspunkt des Amerikanischen und der expresión americana. Jener José Julián Martí y Pérez, der in dem von ihm geschaffenen Wirbel verschwand, lebt in anderer Form weiter und erfüllt die Insel Kuba mit seiner Abwesenheit als Präsenz. Um diese im Sinne Lezama Limas zu verstehende ausencia posible, die man auch als ein Glänzen durch Abwesenheit und damit als abwesende Anwesenheit verstehen kann, geht es in dieser Form des Weiterlebens – und somit auch in dieser Form eines Weiterlebenswissens, in welchem das Weiter763 sich über Zeit und Raum ausbreitet. Dies schließt die transkulturelle Transzendierung Martís durch Lezama im Zeichen des conocimiento poético, im Zeichen der poetischen Erkenntnis, mit ein. Denn Martí sah ohne Zweifel kommen, was sich bereits in der militärischen Führung anbahnte: der alte lateinamerikanische Caudillismo war in den Militärkreisen von Nuestra América ungebrochen. Wir wissen nicht, ob Martí dies wusste: Doch er hatte es geahnt. Im Zentrum der von Martí angestrebten fundamentalen und langfristigen Veränderungen stehen nicht die Waffen, stehen nicht die Soldaten, sondern die Ideen, steht das Wissen, wie er dies schon in seiner oben angeführten Wendung von den trincheras de ideas, den ideellen Schützengräben am Ende des incipits von Nuestra América angedeutet hatte. Ergänzend dazu führte er aus, was er unter Kenntnis und Erkenntnis verstand – denn diese besaßen für Martí eine unverkennbar pragmatische und an den Interessen seines Amerika ausgerichtete Funktion: Erkennen heißt lösen. Das Land kennenzulernen und gemäß dieser Kenntnis zu regieren ist die einzige Möglichkeit, es von Tyranneien zu befreien. [...] Unser Griechenland ist dem Griechenland vorzuziehen, das nicht das unsere ist. Für uns ist es von größerer Notwendigkeit. Den Interessen der Nation verpflichtete Politiker müssen die am Ausland orientierten ersetzen. Möge man ruhig die Welt unseren Republiken aufpfropfen – der Stamm aber muß der unserer Republiken sein.764 Conocer es resolver. Conocer el país, y gobernarlo conforme al conocimiento, es el único modo de librarlo de tiranías. [...] Nuestra Grecia es preferible a la Grecia que no es nuestra. Nos es más necesaria. Los políticos nacionales han de reemplazar a los políticos exó-

 Vgl. hierzu die epistemologischen Überlegungen von Ette, Ottmar: Weiter denken. Viellogisches denken / viellogisches Denken und die Wege zu einer Epistemologie der Erweiterung. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte / Cahiers d’Histoire des Littératures Romanes (Heidelberg) XL, 1–4 (2016), S. 331–355.  Martí, José: Unser Amerika, S. 60.

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ticos. Injértese en nuestras repúblicas el mundo; pero el tronco ha de ser el de nuestras repúblicas.765

Diese Passage zeigt in ihrer durchaus widersprüchlichen Anlage vielleicht am deutlichsten den Entwurf und die Vision, aber auch manche Grenzen und Gefahren des Martí’schen Konzepts von Nuestra América auf. Denn höchst innovativ zielt José Martí mit diesen Sätzen auf eine grundlegende Veränderung des Bildungswesens in den Ländern «unseres Amerika» ab, indem er die Zukunft dieser Länder durch eine veränderte Sichtweise ihrer Herkünfte umzugestalten sucht. Die klassische Antike ist für Martí in Amerika nunmehr die amerikanische Antike. In einer der für den Martí’schen Stil so charakteristischen Wendungen stellt er die präkolumbische Vergangenheit in der Formel «nuestra Grecia» zunächst auf dieselbe Stufe mit dem antiken Griechenland, reklamiert folglich für die indianische Antike ein vergleichbares Prestige, einen vergleichbaren vorbildhaften Status wie den der abendländischen Antike. Wir hatten bereits gesehen, welche Bedeutung der dem Rückgriff auf die antiken abendländischen Autoren von Homer bis Horaz einräumte. José Martí musste sich der Verluste dieses Schwenks hin zu einer amerikanischen Antike also durchaus bewusst sein. Ich hatte bereits darauf aufmerksam gemacht: In nuce findet sich diese Vorstellung bereits in den Reaktionen auf die Conquista weiter Teile Amerikas in der ersten Phase beschleunigter Globalisierung, hatte doch schon der 1539 in Cuzco geborene und 1616 im spanischen Córdoba verstorbene Garcilaso de la Vega el Inca in einer berühmten Wendung gleich im Proemio al lector seiner Comentarios reales betont, dass seine Geburtsstadt zu Zeiten der Incas «otra Roma en aquel imperio»766 gewesen sei, ein anderes und damit gleichgestelltes Rom in jenem Reiche. Martí nahm derartige Vorstellungen, wie sie im Zeitalter der Aufklärung unter anderem schon im Titel der 1780 im italienischen Exil und in italienischer Übersetzung erschienenen Historia antigua de México von Francisco Javier Clavijero zum Ausdruck kamen, auf seine eigene Programmatik um, die zielgerichtet auf ein zwar weltbewusstes, vor allem aber sich seiner eigenen Geschichte und seiner eigenen Herkünfte gegenüber selbstbewusstes Amerika gerichtet war. Er Kubaner führte damit in gewissem Sinne die Disputa del Nuovo Mondo zwischen Europa und den Amerikas in einem neuen Kapitel fort.767

 Martí, José: Nuestra América, S. 17 f.  Garcilaso de la Vega el Inca: Comentarios reales de los Incas. Ed. al cuidado de César Pacheco Vélez. Lima: Biblioteca Peruana 1985, S. 4.  Vgl. hierzu die längst klassische Studie von Gerbi, Antonello: La disputa del nuovo mondo. Storia di una polemica: 1750–1900. Nuova edizione a cura di Sandro Gerbi. Con un profilo dell’autore di Piero Treves. Milano, Napoli: Riccardo Ricciardi editore 1983.

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Mit alledem war eine klare Aufwertung der indigenen Vergangenheit Amerikas gegenüber der abendländischen, also griechisch-römischen Antike verbunden. José Martí bestand darauf, diese amerikanische Antike auf derselben Augenhöhe zu behandeln wie die mediterrane Antike der Alten Welt. Der Verfasser von Amistad funesta konnte auf diesem Gebiet folglich auf eine lange Tradition der Auseinandersetzung zurückgreifen, welche freilich an der scharfen Asymmetrie zwischen der ungleichen Wertschätzung altweltlicher und neuweltlicher Geschichte nur wenig verändert hatte. Hier setzte der kubanische Denker an; und wenn der klassische Humanismus auf dem Rückgriff auf die griechische und römische Antike aufruhte, so konzipierte Martí einen Humanismus mit amerikanischen Vorzeichen, der die indigene Vergangenheit ungemein aufwertete. In seinem Essay Nuestra América unternahm José Martí folglich entschlossen den Versuch, mehr als ein Jahrhundert nach Clavijero und mehr als zweieinhalb Jahrhunderte nach dem Inca Garcilaso de la Vega die Konsequenzen aus dieser lang anhaltenden Debatte zu ziehen und die amerikanische Geschichte auf Augenhöhe mit der europäischen zu platzieren. Er forderte nun ganz offen eine Neuorientierung des Geschichtsverständnisses wie des Geschichtsunterrichts in Amerika am Wissen von den präkolumbischen Kulturen – und dies bis hin zu einem Verzicht auf die Berücksichtigung «jenes Griechenlands, das nicht das unsere ist». Die Radikalität dieser Position ist deutlich erkennbar, gehorcht sicherlich auch den Notwendigkeiten der unumgänglichen polemischen Zuspitzung von Argumenten innerhalb höchst umstrittener Bildungskonzeptionen, wirft aber eine Vielzahl kulturtheoretischer und identitätspolitischer Fragen und Probleme auf. In seinem bemerkenswerten Artikel für das Periodikum La América hob José Martí bereits im April 1884 die Tatsache hervor, welch ungeheuren kulturellen Verlust, welch eine «desdicha histórica» und welch ein «crimen natural» die Conquista mit sich gebracht hätte: «¡Robaron los conquistadores una página al Universo!»768 – die Konquistadoren hätten eine ganze Seite der Globalgeschichte gestohlen. Dabei versuchte der kubanische Denker, den indigenen Kulturen einen neuen und respektierten Platz einzuräumen, der entgegen der althergebrachten Asymmetrien769 nicht länger hinter den kulturellen Entwick-

 Marti, José: El hombre antiguo de América y sus artes primitivas. In (ders.): OC 8, S. 335.  Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Asymmetrie der Beziehungen. Zehn Thesen zum Dialog der Literaturen Lateinamerikas und Europas. In: Scharlau, Birgit (Hg.): Lateinamerika denken. Kulturtheoretische Grenzgänge zwischen Moderne und Postmoderne. Tübingen: Gunter Narr Verlag 1994, S. 297–326.

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lungen der Alten Welt zurückstehen sollte. Die indigenen Kulturen Amerikas präsentieren und repräsentieren vielmehr etwas auf der Welt Einzigartiges: Nicht mit der Schönheit von Tetzcontzingo, Copán und Quiiguá, nicht mit dem verschwenderischen Reichtum von Uxmal und Mitla sind die ungestalten Dolmen Galliens oder die rauen Zeichnungen geformt, mit denen die Normannen von ihren Reisen erzählen; ebenso wenig die vagen, unentschlossenen, schüchternen Linien, mit denen selbst die erleuchteten Völker im Süden Italiens den Menschen der elementaren Zeitalter malten. Was ist die Intelligenz der Amerikaner anderes als ein zur Sonne hin geöffneter Kelch, als spezielle Gunst der Natur? Manche Völker suchen, wie die Germanen; andere bauen, wie die Sachsen; andere verstehen, wie die Franzosen; wieder andere malen farbig aus, wie die Italiener; allein dem Menschen in Amerika ist es gegeben, in solchem Maße die sichere Idee in leichten, strahlenden und wunderbaren Schmuck zu hüllen, als wäre dies ihre natürliche Kleidung. No con la hermosura de Tetzcontzingo, Copán y Quiriguá, no con la profusa riqueza de Uxmal y de Mitla, están labrados los dólmenes informes de la Galia; ni los ásperos dibujos en que cuentan sus viajes los noruegos; ni aquellas líneas vagas, indecisas, tímidas con que pintaban al hombre de las edades elementales los mismos iluminados pueblos del mediodía de Italia. ¿Qué es, sino cáliz abierto al sol por especial privilegio de la naturaleza, la inteligencia de los americanos? Unos pueblos buscan, como el germánico; otros construyen, como el sajón; otros entienden, como el francés; colorean otros, como el italiano; sólo al hombre de América es dable en tanto grado vestir como de ropa natural la idea segura de fácil, brillante y maravillosa pompa.770

Die Einforderung der Anerkennung einer gleichrangigen, ja teilweise überlegenen Stellung für die präkolumbischen amerikanischen Völker im Vergleich mit der Entwicklung bestimmter europäischer Nationen zielt fraglos auf die grundlegende Infragestellung eines an der kulturgeschichtlichen Entwicklung der Völker Europas ausgerichteten Bewertungsschemas. Martí lässt keinen Zweifel daran, dass jedes Volk für etwas Einzigartiges stehe und dass sich die Kulturen der Welt folglich auf Differenz gründen und durch Differenz bereichern. Der kubanische Denker war angesichts des verbreiteten Rassismus seiner Zeit und der vorherrschenden eurozentrischen Maßstäbe nicht länger bereit, sich einem an der Geschichte Europas ausgerichteten Wertesystem und Kulturverständnis zu unterwerfen. 1884 führte der kubanische Schriftsteller in einer ganzen Serie von Artikeln eine gegenüber traditionell eurozentrischen Darstellungen dezidiert kritische Blickrichtung in die kontinentale amerikanische Essayistik ein. Wenn Martí auch zuvor die Vielfalt der präkolumbischen Kulturen und die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen – also das zeitgleiche Vorkommen höchst

 Marti, José: El hombre antiguo de América y sus artes primitivas. In (ders.): OC 8, S. 334 f.

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unterschiedlicher kultureller Entwicklungsstufen771 betonte, so zögerte er doch nicht, eine Amerikanizität herauszudestillieren, die er den unterschiedlichen – aber jeweils hochgradig stereotypisierten – europäischen Nationen entgegenstellte. In seiner Schlusspassage, in welcher er von den später in Nuestra América gleich zu Anfang eingeblendeten «cometas orgullosos» sprach, hob Martí hervor, die indigenen Völker hätten anders als die Hebräer nicht «a la mujer hecha de un hueso y al hombre hecho de lodo» imaginiert: «¡sino a ambos nacidos a un tiempo de la semilla de la palma!»:772 Die Frau sei folglich nicht aus der Rippe und der Mann aus Schlamm geformt, sondern beide gleichzeitig (und gleichberechtigt) aus dem Samen der Palme hervorgegangen. Die Bezüge zum Schlussbild von Nuestra América sind evident. José Julián Martí y Pérez, der in Kuba geborene Sohn eines valencianischen Vaters und einer kanarischen Mutter, hatte die strategische Relevanz einer Umdeutung, ja einer Umwertung der präkolonialen Vergangenheit erkannt und die politische Notwendigkeit verstanden, die indigene Bevölkerung zu einer gleichberechtigten Partizipation in den Amerikas – oder zumindest in Nuestra América – zu bringen. Die Sicherstellung einer grundlegenden Partizipation der indigenen Völker an den politischen oder kulturellen Entscheidungen in den Ländern von Unserem Amerika schien ihm die notwendige und unhintergehbare Grundlage einer Konvivenzpolitik zu sein, welche zugleich die Einheit und Einigkeit all dieser Nationen heraufführen werde. Es ging Martí im Kern darum, als Grundlage eines friedlichen Zusammenlebens in Differenz den Zugang aller Bevölkerungsgruppen in Unserem Amerika zur repräsentativen politischen Macht sicherzustellen. In seiner den Artikel von 1884 abschließenden Wendung, in der – wie Cintio Vitier bereits betonte – die Schlusspassage von Nuestra América anklingt, lässt sich erneut eine gegenüber eurozentrischen Vorstellungen höchst kritische Position ausmachen, die in ihrem scharf konturierten Antagonismus freilich die Gefahr eines kulturellen Schematismus und Essentialismus in sich birgt. Diese im Übrigen oft bei Martí beobachtbare Neigung bestätigt und verfestigt sich auch knapp sieben Jahre später in Nuestra América, haben wir es doch auch in der bereits angeführten Passage mit einer Gegenüberstellung zwischen einem eigenen und einem fremden Griechenland zu tun, die allzu leicht den Blick dafür verstellt, dass das kulturelle Erbe der Bewohner dieses Amerika – wie der Kreole sehr wohl wissen musste – an beiden Griechenlands, an beiden Antiken partizipiert. Doch im Kern ging es Martí um etwas Anderes.

 Ebda., S. 333.  Ebda., S. 335.

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Denn entscheidend freilich ist, dass José Martí diese Konvivenzpolitik für eine eigene Modernekonzeption für Nuestra América als zentral erachtete, während er in ungezählten Artikeln und Chroniken kritisierte, wie die Vereinigten Staaten mit Minderheiten wie der schwarzen Bevölkerung oder den indigenen Völkern umgehen und wie diese systematisch diskriminiert und vom Zugang zu Rechtsstaatlichkeit ausgeschlossen werden. Gegen ein derartiges Moderneverständnis der Ausgrenzung setzte Martí – wie wir sahen – sein Con todos, y para el bien de todos und damit ein Konzept, dem man sicherlich eine gewisse Unschärfe vorwerfen kann, das zugleich aber über die notwendige Offenheit und Durchlässigkeit verfügt, um eine gesellschaftliche Vielverbundenheit mit den unterschiedlichsten Sektoren heterogenster Bevölkerungen sicherzustellen. Zugleich legte José Martí den Finger in die Wunde und versuchte, die in den Ländern von Nuestra América sichtbare Abwesenheit der indigenen Bevölkerung ebenso im politischen, sozialen und kulturellen Leben wie im Selbstbild und Selbstverständnis der im 19. Jahrhundert unabhängig gewordenen hispanoamerikanischen Republiken zu thematisieren und zu problematisieren. Anders als im Modernekonzept des Uruguayers José Enrique Rodó kam in seinem Denken der Zukunft der Amerikas der Inklusion indigener Gruppen und Völker in die neu zu konzipierenden Gesellschaften der Moderne eine entscheidende Bedeutung zu. Hierin unterschied sich der kubanische Modernist von anderen Modernisten, welche ebenfalls ihre Visionen von einem künftigen Amerika an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert verbreiteten. Denn anders als «la América del Norte, que ahoga en sangre a sus indios», anders als ein Nordamerika, das seine Indianer in Blute ertränkt, müsse sich «nuestra América» gegenüber seiner indigenen Bevölkerung anders verhalten: «ha de salvarse con sus indios»:773 Rettung gebe es nur in Gemeinschaft mit der indigenen Bevölkerung. Damit verteidigt Martí nicht nur eine amerikanische gegenüber einer europäischen Antike, sondern grenzt sein eigenes Amerika deutlich von den USA ab, die an ihrer indigenen Bevölkerung ein Genozid verübt hatten und weiter verübten. Der Kubaner wusste, wovon er sprach, hatte er doch sehr genau die Indianerpolitik beobachtet, welche der US-amerikanische Kongress skrupellos und ohne Rücksicht auf die originären Völker ins Werk setzte. Er wusste wohl, dass es auch im Süden des Kontinents, in den Weiten Argentiniens, ein vergleichbares Genozid an indigenen Völkern gab, sah aber zugleich, dass sich die Indianerpolitiken in vielen Ländern Lateinamerikas grundlegend von jenen in den USA unterschieden, insofern dort offen die Beseitigung indigener Völker betrieben und zudem der Kampf gegen diese Wilden heroisiert wurde.

 Ebda., S. 15.

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Auf diese anhand seiner Texte leicht nachvollziehbare Weise wird ein verändertes Bild der präkolumbischen Vergangenheit im Verbund mit einer erwünschten integrativen Indianerpolitik in Gegenwart und Zukunft für Martí zum Ausgangspunkt für den Entwurf einer eigenen Moderne, die sich weder am europäischen noch am US-amerikanischen Modell zu orientieren brauche, sondern eigene Wege entwickeln und beschreiten müsse. Diese doppelte Frontstellung hat freilich Konsequenzen. Von Beginn an lässt sich in José Martís Nuestra América eine Opposition zwischen unserem Amerika und dem Amerika des Nordens beobachten, die überdies im Zeichen einer sich abzeichnenden und schon bald bevorstehenden militärischen Konfrontation steht.774 Der Kubaner war sich der Unausweichlichkeit kriegerischer Konflikte zwischen beiden Amerikas bewusst. Er sah kaum eine Möglichkeit, einen derartigen militärischen Konflikt zu vermeiden, hoffte allerdings, dass die USA noch länger zögern würden, ihre militärische Macht in die Waagschale zu werfen. Martís Plädoyer, die unterschiedlichsten Staaten und Völker unseres Amerika müssten sich möglichst rasch zu einer kompakten Einheit von Gruppen, die zusammen kämpfen sollten, verbinden «como quienes van a pelear juntos»,775 zog die Lehren aus der Erfahrung der ersten Phase beschleunigter Globalisierung, als ein militärtechnisch überlegener Feind bei seiner Eroberung so weiter Gebiete von der Uneinigkeit und Zerstrittenheit der indianischen Völker Amerikas profitierte – ein Gedanke, der sich wiederholt bereits in Clavijeros Historia antigua de México finden lässt.776 Der Schlüssel zu einer solchen Einheit der Völker des südlichen Amerika musste eine veränderte Konvivenzpolitik sein. Zumal andere Optionen wie ein politischer Einigungsprozess nicht als wahrscheinlich und binnen kurzer Frist durchführbar erschienen. Die aus der Binnensicht der USA wahrgenommene beschleunigte Globalisierung seiner Zeit hatte ganz offenkundig Martís Bewusstsein dafür geschärft, dass ethnische und kulturelle Heterogenität und daraus resultierende mangelnde Geschlossenheit einem entschlossenen Gegner Tür und Tor für eine Beherrschung der gesamten Hemisphäre öffnen würden. So erkannte Martí in einer mangelhaften Konvivenzpolitik nichts anderes als ein enormes Sicherheitsrisiko für die Länder südlich der Vereinigten Staaten des Nordens. In der Konvivenzpolitik erkannte er ein politisches Operationsfeld, auf dem die drin-

 Ebda., S. 13 f.  Ebda., S. 13.  Vgl. Clavijero, Francisco Javier: Historia antigua de México, S. 65: Das Ergebnis interner Auseinandersetzungen und Zwistigkeiten sei stets die «ruina común».

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gend benötigten Erfolge rascher erzielt und Lehren aus der Vergangenheit gezogen werden konnten. Dieses Risiko einer mangelnden Einheit der Völker Lateinamerikas aber galt es zu minimieren, sollte der Aufbau einer politisch unabhängigen und ethisch fundierten, an den Bedürfnissen aller Bürger ausgerichteten menschlicheren Gesellschaft – deren Bild in den Martí’schen Schriften der achtziger und frühen neunziger Jahre immer wieder als Leitidee erscheint – nicht schon im Keim erstickt werden: Con todos, y para el bien de todos. Die Herstellung einer auf ein einvernehmliches Zusammenleben gegründeten Einheit unseres Amerika erschien ihm daher als unabdingbar und zugleich als politisch zumindest teilweise erreichbar. Auf diese Einheit hatten sich bereits seine Bemühungen als lateinamerikanischer Diplomat bei den Washingtoner Konferenzen konzentriert. Als Delegierter der damaligen Konferenz erkannte er sehr rasch die Schwachpunkte im Aufbau der lateinamerikanischen Staaten, welche die USA zur Durchsetzung ihrer hegemonialen Pläne zweifellos für sich nutzen würden. Die kritische und selbstkritische Reflexion darüber, dass sich die neuen Republiken Amerikas höchst heterogen aus «factores tan descompuestos»777 zusammensetzen, durchzieht nicht von ungefähr leitmotivartig den gesamten Essay von 1891. Martí zufolge war es auch jenen Vorstellungen, die aus dem französisch- wie dem englischsprachigen Raum der Revolutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts stammten, auf Grund ihrer nicht an den spezifischen Verhältnissen in unserem Amerika ausgerichteten Methoden nicht möglich gewesen, die auseinander strebenden Komponenten von Gesellschaften wieder zusammenzuführen, welche – wie wir heute sagen könnten – von einer hochgradigen kulturellen und wechselseitig exkludierenden Heterogenität geprägt waren. Der kubanische Denker war davon überzeugt, dass in diesen philosophischen und kulturellen Faktoren die Gründe dafür zu sehen waren, warum nach der politischen Unabhängigkeitsrevolution in den Amerikas die Kolonie in den nunmehr unabhängigen Staatswesen fortlebte und sich beständig auf allen staatlichen wie gesellschaftlichen Ebenen reproduzierte. So leide Amerika – und der Begriff steht seit dem angeführten incipit häufig für das, was Martí als «nuestra América mestiza»778 und damit als «unser mestizisches Amerika» bezeichnet – unter der «fatiga de acomodación entre los elementos discordantes y hostiles que heredó de un colonizador despótico y avieso, y las ideas y formas importadas».779 Es gelte also, das von den Zeiten der Con-

 Martí, José: Nuestra América, S. 15.  Ebda., S. 19.  Ebda.

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quista ererbte koloniale und postkoloniale Gefüge in seinen widerstrebenden Faktoren zu einer Einheit umzubilden. Stets habe der Import von Ideen zu neuen Visionen und Sichtweisen geführt, die sich nur wenig an den tatsächlichen Lebensbedingungen in den Amerikas orientiert hätten. Wie in einem Kaleidoskop bilden sich in Martís Nuestra América immer wieder neue Bilder des durch verschiedene Globalisierungsphasen akkumulierten Heterogenen, das unter dem Einfluss importierter Ideen niemals zu einem mestizischen Amerika zusammenwachsen könne. In immer neuen Bildern symbolisiert der kubanische Dichter jene Maske, die sich aus den unterschiedlichsten Teilen und Herkünften zusammensetzt und die kein einheitliches Gesicht, keinen zusammenhängenden Körper ergeben will, sondern nur Elemente aus unterschiedlichen Zeiten und Räumen: Wir waren Epauletten und Togen, in Ländern, die mit Hanfschuhen an den Füßen und Stirnband im Haar auf die Welt kamen. Eine Tat von genialer Größe wäre es gewesen, mit der Wohltätigkeit des Herzens und dem Wagemut der Gründer Haarband und Toga brüderlich zu vereinen, den Indio in seiner Entwicklung zu fördern, dem fähigen Schwarzen genügend Platz einzuräumen und die Freiheit nach den Bedürfnissen derer auszurichten, die sich erhoben und für sie siegten. Uns blieben Oberrichter, General, Gelehrter und Pfründer. Die engelhafte Jugend wandte wie aus den Armen einer Krake ihren wolkengekrönten Kopf gen Himmel und fiel mit sinnlosem Glanze zu Boden. Das natürliche Volk übernahm, von seinem Instinkt geleitet und seinem Triumph verblendet, die goldenen Stäbe der Herrschaft. Weder das europäische noch das Buch der Yankees waren in der Lage, das Rätsel Spanisch-Amerikas zu lösen.780 Eramos charreteras y togas, en países que venían al mundo con la alpargata en los pies y la vincha en la cabeza. El genio hubiera estado en hermanar, con la caridad del corazón y con el atrevimiento de los fundadores, la vincha y la toga, — en desestancar al indio — en ir haciendo lado al negro suficiente — en ajustar la libertad al cuerpo de los que se alzaron y vencieron por ella. Nos quedó el oidor, y el general, y el letrado, y el trebendado. La juventud angélica, como de los brazos de un pulpo, echaba al Cielo, para caer con gloria estéril, la cabeza coronada de nubes. El pueblo natural, con el empuje del instinto, arrollaba, ciego del triunfo, los bastones de oro. Ni el libro europeo, ni el libro yankee, daban la llave del enigma hispano-americano.781

Es sind hier die strahlenden Bilder eines Dichters, die in verdichteter Form die Geschichte Hispano-Amerikas noch einmal vor Augen führen und zeigen, dass weder das Wissen Europas noch das Wissen der USA Lösungen bereitzustellen vermochten, um die komplexen historischen und kulturellen Problematiken von Nuestra América zu lösen. Es sind Entwürfe einzelner Bevölkerungsgrup-

 Marti, José: Unser Amerika, S. 63.  Martí, José: Nuestra América, S. 21.

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pen, die niemals auf eine Einheit, sondern nur auf die Herrschaft der jeweils eigenen Gruppe abzielen. Doch mit alledem lässt sich kein Staat machen. Das Geniale, so Martí, hätte darin bestanden, all diese unterschiedlichen und gegensätzlichen Elemente in einer gelungenen Konvivenz zu vereinigen. Dies war nicht geschehen; und dies galt es nun so rasch als möglich nachzuholen. Was konnte einer solchen Vision des nicht Zusammenpassenden entgegengesetzt werden? Gegen diese Körper- und Kleidermetaphorik des Heterogenen stellte Martí eine Metaphorik der Einschmelzung und des Mestizaje, die an der Schaffung einheitlicher Strukturen und Erscheinungsformen ausgerichtet werden sollte. Wir haben dies an anderer Stelle ausführlich gesehen. Hinter der Verschmelzungsmetaphorik des Mestizaje steht freilich auch die Hoffnung Martís, alles in eine Einheit umschmelzen zu können, in welcher die einzelnen Ingredienzien dieses Verschmelzungsprozesses nicht länger als solche erkennbar wären. Doch die Hoffnung auf eine derartige Fusion hat bei Martí auch Grenzen. Denn zugleich ist von Beginn an ein Diskurs der Ausschließung beobachtbar, der alle betrifft, die sich innerhalb der traditionellen beziehungsweise bisherigen Eliten diesem von Martí entworfenen Gegenbild Amerikas widersetzen könnten, ein Ausschließungsdiskurs, der mitunter gewalttätige Bilder erzeugt: «Die Schiffe muss man vollstopfen mit diesen Schädlingen, die dem Vaterland, das sie doch ernährt, an den Knochen nagen.»782 Dies sind Bilder der Gewalt, die sehr wohl dem Ideal des Con todos, y para el bien de todos widersprechen. So gibt es also Grenzen in Martís Visionen eines künftigen Zusammenlebens aller. Allerdings: Diesem Exklusionsdiskurs wird ein Inklusionsdiskurs gegenübergestellt, der die vom Denken des Humanismus deutlich geprägte Notwendigkeit betont, bisherige soziale Randgruppen wie die indigene oder die schwarze Bevölkerung, aber auch die Bauernschaft in ein grundlegend reformiertes und weder am «libro europeo» noch am «libro yankee»783 orientiertes Staatswesen zu integrieren. Ähnlich wie José Enrique Rodó dies wenige Jahre später in seinem Ariel tun sollte, setzt Martí seine ganzen Hoffnungen auf die Jugend Amerikas, deren Losungswort nicht mehr «imitar», sondern vielmehr «crear» sei.784 Es gehe nicht mehr darum, europäische oder andere Vorbilder nachzuahmen, sondern selbst schöpferisch zu sein, um die Grundlagen für ein neues Zusammenleben, für eine neue gelingende Konvivenz, für eine wirkliche Gemeinschaft zu legen.

 Martí, José: Unser Amerika, S. 57; vgl. Martí, José: Nuestra América, S. 14: «Hay que cargar los barcos de esos insectos dañinos, que le roen el hueso a la patria que los nutre.»  Ebda., S. 21.  Ebda., S. 22.

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Kritik sei jederzeit erlaubt, denn Kritik sei unverzichtbar, solange sie aus einem Geist der Einheit heraus formuliert werde: «pero con un solo pecho y una sola mente.»785 José Martís Diskurs ist akratisch, doch strebt er zweifellos danach, möglichst rasch enkratisch zu werden und die eigenen Prinzipien in für alle geltende Leitlinien künftigen Zusammenlebens zu verwandeln. Dass akratische und enkratische Herrschaftsformen durch ein unsichtbares Band zusammengehalten werden, sollten wir darüber nicht vergessen.

Die USA, Nuestra América, Europa und die Welt José Martí dachte Nuestra América ebenso als Kontinent wie als eine Reihe von Inseln beziehungsweise als Archipel. Nicht umsonst spracht er im letzten Satz seines großen Essays einerseits von «las naciones románticas del continente»,786 womit er die in der Epoche der Romantik unabhängig gewordenen jungen Republiken Lateinamerikas meinte, und andererseits von «las islas dolorosas del mar»,787 womit in diesem Bild von den schmerzensreichen Inseln diese Eilande wie die Perlen eines Rosenkranzes aufgereiht erscheinen. Ganz so, wie er zwischen diesen beiden Epistemologien788 pendelte, so pendelte er auch zwischen den literarischen Formen der Prosa und jenen der Lyrik, wobei er in seine durchrhythmisierte Prosa oft dichterische Formen einstreute, so dass wir in seinen Schriften nicht selten ganze Verse, insbesondere Achtsilber, aber auch Elfsilber, finden können. Nicht umsonst wurden Teile von Nuestra América etwa durch die Nueva Trova vertont. Als karibischer, antillanisch denkender Autor war José Martí an einer Vielverbundenheit ausgerichtet, welche die isolierte Insel-Welt, also die Insel als eigene, für sich abgeschlossene und isolierte Welt, mit der archipelischen Inselwelt kombinierte,789 welche an einer Multirelationalität und diskontinuierlichen Vielverbundenheit ausgerichtet sein musste. Aus dieser Sicht war es kein Zufall, dass

 Ebda.  Martí, José: Nuestra América, S. 25.  Ebda.  Vgl. zur epistemischen Ausrichtung am Archipelischen sowie am Kontinentalen Ette, Ottmar: La lírica como movimiento condensado: miniaturización y archipelización en la poesía. In: Ette, Ottmar / Prieto, Julio (Hg.): Poéticas del presente. Perspectivas críticas sobre poesía hispanoamericana contemporánea. Madrid, Frankfurt am Main: Iberoamericana Vervuert 2016, S. 33–69.  Vgl. zu dieser für ein archipelisches Denken grundlegenden Unterscheidung Ette, Ottmar: Von Inseln, Grenzen und Vektoren. Versuch über die fraktale Inselwelt der Karibik. In: Braig, Marianne / Ette, Ottmar / Ingenschay, Dieter / Maihold, Günther (Hg.): Grenzen der Macht – Macht der Grenzen. Lateinamerika im globalen Kontext. Frankfurt am Main: Vervuert Verlag 2005, S. 135–180.

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er die Insel Manhattan zu seinem Domizil machte, von wo er aus insbesondere in den neunziger Jahren rasch mit dem Dampfboot zu den Tabakarbeitern in Florida, in die Cayos oder Keys an der Südspitze Floridas oder in die Karibik aufbrechen konnte. Diese mobile Vielverbundenheit wäre von einem kontinentaleren Standort in den Vereinigten Staaten aus nicht ohne weiteres möglich gewesen. Innerhalb der Phase beschleunigter Globalisierung, die er auf allen Ebenen erlebte, nutzte José Martí all jene Möglichkeiten einer diskontinuierlichen Mobilität, die ihm die Akzeleration seiner Epoche anbot. So berichtete er nicht nur über den militärischen Ausbau einer modernen US-amerikanischen Kriegsflotte aus Stahl: Er wählte selbst die hochmodernen Transportmöglichkeiten, die sich ihm von New York, von Manhattan aus boten. Ohne diese hochmoderne Infrastruktur wäre die Vielzahl an Reisen, die Martí in seinem letzten Lebensjahrzehnt durchführte, nicht möglich gewesen. Im Zeichen dieser lebensweltlich und im Alltag spürbaren Akzeleration, die Martí von seinem New Yorker Exil weitaus besser als von anderswo aus beobachten und begreifen konnte, wird erkennbar, in welchem Maße sich aus Insel-Welten transareale Inselwelten790 bilden mussten, wollten etwa Kubaner im US-amerikanischen Vorhof der Karibik oder beispielsweise die Filipinos in einem bald schon von den USA übernommenen Teil des Pazifik Richtung und Geschwindigkeit innerhalb dieses Bewegungsraumes eigenständig mitbestimmen. Doch die von Martí prognostizierte Beschleunigung des Besuches durch die Truppen der USA kam allzu rasch, so dass der Organisator und Denker hinter dem kubanischen Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien noch der alten Kolonialmacht zum Opfer fiel, die binnen kürzester Frist vom entstehenden Imperium Americanum791 hinweggewischt werden sollte. Martís Pläne erwiesen sich als Blaupausen eines aussichtslosen Kampfes, den es für ihn gleichwohl auszufechten galt. Denn hinter dem Rücken dieser alten Kolonialmacht Spanien hatten sich längst ein neues Kräfteverhältnis und eine neue weltpolitische Situation abgezeichnet. Freilich hat Martís Schreiben vieles von dem einer ästhetischen Erfahrung zugänglich gemacht, was der mit der Befreiung von den kolonialspanischen Ketten beschäftigte Essayist auf der politischen Ebene noch nicht in Gang zu setzen vermochte. Er verstand es, unzähligen seiner Leserinnen und Leser in ganz La-

 Vgl. zum Begriff der Transarealität und den verschiedenen Phasen beschleunigter Globalisierung Ette, Ottmar: TransArea. Eine literarische Globalisierungsgeschichte. Berlin – Boston: De Gruyter 2012.  Vgl. zum Aufbau dieses Imperiums Wehler, Hans-Ulrich: Der Aufstieg des amerikanischen Imperialismus. Studien zur Entwicklung des Imperium Americanum 1865–1900. Göttingen 1974.

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teinamerika all jene Entwicklungen sinnlich vor Augen zu führen, von denen man in den meisten lateinamerikanischen Ländern noch wenig wusste. Der politische basso continuo seiner Chroniken war daher nicht immer leicht herauszuhören. Die heutigen Leserinnen und Leser der Martí’schen Texte können auf diese Weise literarästhetisch sehr gut nachvollziehen, welches die damals entscheidenden weltpolitischen Veränderungen waren und welche lebensweltlichen Umstellungen sie am Ausgang des 19. Jahrhunderts auslösen mussten. Das literarische und essayistisch-politische Schaffen José Martís lässt eine Umwandlung von multi- in transarchipelische Strukturen erkennen, wie sie im Grunde erst im 20. Jahrhundert wirklich entfaltet werden konnte. José Martí dachte und schrieb nicht nur in diesen Strukturen: Mit seinen ständigen Reisen von Norden nach Süden und zurück erlebte und lebte er buchstäblich diese modernisierten Infrastrukturen des Transports und der Ströme an Waren, Ideen und Informationen. Sein Denken und Schreiben ohne festen Wohnsitz bildete hierfür die ideale Voraussetzung. Doch die Zeit für eine vollumfängliche Verwirklichung eines solchen transarchipelischen Denkens von weltumspannenden Dimensionen war zu Lebzeiten Martís noch nicht gekommen. Und überdies musste er sich auf Kuba und Puerto Rico konzentrieren, um seine mit immer größerer Präzision geplanten Schläge gegen das zermürbte und marode spanische Kolonialimperium auszuführen. Als im Januar 1895 durch Verrat sein sogenannter Plan de Fernandina scheiterte, der darin bestand, mit Hilfe der drei Dampfschiffe Amadís, Lagonda und Baracoa drei Expeditionen nach Kuba zu führen, stärkte dies letztlich seine Position im Exil, da nun allen vor Augen stand, welch ernstzunehmender Organisator dieser Dichter, dieser Utopist José Martí doch war. Mit einem geradezu übermenschlichen Netzwerk an Reisen in den karibischen und mittelamerikanischen Raum hatte Martí diesen Plan und die Finanzierung der drei Expeditionen auf den Weg gebracht. Und es gelang ihm, binnen weniger Monate erneut Männer und Waffen zusammenzustellen, die fähig waren, das spanische Kolonialsystem ernsthaft zum Wanken zu bringen. Doch seine Wirkung beschränkte sich nicht auf jene Guerra de Martí, die schon wenige Monate später ausbrach und deren Kriegserklärung er so wortreich und auf Konvivenz bedacht verfasst hatte. José Martí starb – wie auf den Philippinen José Rizal – durch eine spanische Kugel; doch beider Literatur entfaltete vor allem im Bereich des Kubaners ein Denken und Umdenken, das eine Vielzahl von Konsequenzen im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts heraufführen sollte. Beider Tod bedeutete keineswegs das Ende ihres gesellschaftlichen und politischen wie ihres literarischen und ästhetischen Wirkens. Weit mehr noch als Rizal verwandelte sich José Martí nach seinem Tod

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in jene Figura, um welche die kubanische Geschichte des gesamten 20. Jahrhunderts kreiste.792 Dass José Martís Vorstellungen angesichts des Vorrückens einer gewaltigen militärischen und ökonomischen Übermacht, die schon bald ihren Siebenmeilenstiefel in Form eines Soldatenstiefels auf die Unabhängigkeitsbestrebungen seiner Heimatinsel drücken sollte, nicht zur direkten Befreiung seiner Insel von kolonialer wie neokolonialer Abhängigkeit führte, ist dem kubanischen Globalisierungstheoretiker nicht anzulasten. Bereits zu kolonialspanischen Zeiten war Kuba längst in den Sog und in eine wirtschaftliche Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten von Amerika geraten. US-amerikanisches Kapital hatte die Zuckerproduktion auf der Insel erheblich penetriert. Folglich waren seine Artikel und Chroniken aus diesem Machtzentrum der Vereinigten Staaten von besonderer Bedeutung ebenso für sein Denken und Schreiben wie für sein Handeln in einem hemisphärischen und weltweiten Sinne. In einem auf den 2. Juli 1886 datierten und am 15. August 1886 erschienenen Korrespondentenbericht für La Nación in Buenos Aires mit dem Titel Nueva York en junio beurteilte er die militanten Auseinandersetzungen der vergangenen Monate zwischen den Arbeitern und den Trusts in den USA aus einer zurückhaltenden Perspektive, welche die moderaten Gewerkschaftsführer zu Aposteln des sozialen Ausgleichs in den Vereinigten Staaten stilisierte: Man muss in Freundschaft aus dem Zusammentreffen der einander bedrohenden Heere herauskommen. Die Arbeiter wurden gewiss in ihren schlecht beratenen Aufständen in diesem Frühjahr besiegt. Noch fehlt ihnen, mit jener Einheit an Vorsätzen zu operieren, welche ihr Aufbegehren gegen die herrschende gesellschaftliche Verfassung widerstandsfähig machen muss. In der in diesem Monat stattgefundenen Versammlung sah man, dass die isolierten Gremien, welche jeweils nur für die Mitglieder eines einzigen Berufsstandes arbeiten, ihre Souveränität nicht zugunsten der allgemeinen Ordnung der Ritter der Arbeit aufgeben und nicht den Auseinandersetzungen, Niederlagen und Abgaben derselben ausgeliefert sein wollen. Doch diese Ordnung ist in den Händen von Aposteln, und durchlöchert. Hay que salir en amistad al encuentro de los ejércitos amenazantes. Los trabajadores fueron vencidos, ciertamente, en sus levantamientos mal aconsejados de esta primavera. Mucho les falta todavía para obrar con aquella unión de propósito que ha de hacer tan robusta su arremetida a la constitución social vigente. En la convención que tuvieron este mes, se vio que los gremios aislados que trabajan cada uno para el bien de los miembros de un mismo oficio, no quieren ceder su soberanía a la orden general de los Caballeros del Trabajo, ni estar sujetos a los lances, derrotas y contribuciones de ella. Pero la orden está en manos de apóstoles, y horada.793

 Vgl. hierzu den ersten Teil der vorliegenden Studie.  Martí, José: Nueva York en junio. In (ders.): OC 11, S. 18.

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4. Hauptstück: Konflikte, Kriege, Konvivenz

Man fühlt sich in diesem Artikel Martís an seine Boletines in der mexikanischen Revista Universal der siebziger Jahre erinnert, wo der junge Orestes stets für den Ausgleich zwischen Arbeit und Kapital eintrat und wenn nötig die streikenden Arbeiter in der Druckerei an ihre Pflichten gegenüber der gesamten Gemeinschaft der Lesenden erinnerte. Im soeben angeführten Bericht plädiert Martí ebenfalls für sozialen Ausgleich und für eine Freundschaft zwischen Arbeitern und Kapital, der gewiss nichts Sozialrevolutionäres anhaftet. Die gesellschaftliche Ordnung müsse auf einer Konvivenz beruhen, in welcher auf Seiten der Arbeiter nicht die gewerkschaftlichen Einzelinteressen, sondern eine schlagkräftige und robuste Einheitsgewerkschaft vorherrschen müsse, welche alle Arbeiter und nicht bloß Einzelinteressen vertrete. Seine auf Ausgleich bedachte Argumentation kleidete der kubanische Journalist und Chronist in eine bemerkenswerte Symbolik. Denn die Führer dieser Ritter der Arbeit bezeichnet Martí als Apostel, träten sie doch für das richtige Maß und für eine Balance zwischen den Interessen von Arbeit und Kapital ein. Martí beendete seinen Korrespondentenbericht für die große Zeitung am Río de la Plata nicht zufällig mit einem Verweis auf die Prozession christlicher Chinesen, die in Seide gekleidet am Arm ihrer US-amerikanischen Freundinnen zu einer Dankfeier zu Ehren ihrer Konvertierung zum wahren Glauben schritten.794 Mit einem stärkeren Bild gesellschaftlichen Zusammenlebens und gelebter Brüderlichkeit hätte der Kubaner seinen Bericht aus New York kaum abschließen können, zumal ihm die gesellschaftliche Eingliederung chinesischer Coolies in die US-amerikanische Gesellschaft stets als ein gefährliches und dringliches Problem erschien. Doch schon in einem auf den 13. November 1887 datierten und am 1. Januar 1888 veröffentlichten Korrespondentenbericht wiederum an La Nación spricht Martí von einem sozialen Krieg in Chicago, von einer tatsächlichen «guerra social».795 Mit starken Symbolen beklagt er das Auseinanderklaffen der US-amerikanischen Gesellschaft, die in Reiche und Arme zerfalle796 und letztlich bereits vergleichbar sei mit einer Monarchie,797 da sie den Raum republikanischer Tugenden verlassen habe. Er kritisierte die vor allem unter Einfluss der Deutschen stehenden anarchistischen Arbeiter von Chicago scharf, machte zugleich aber auf die enormen Gegensätze in der US-amerikanischen Gesellschaft aufmerksam und betonte, wie sehr die Gesellschaft in gegensätzliche Kasten mit gegenläufigen Interessen zerfalle.    

Ebda., S. 21. Martí, José: Un drama terrible. In (ders.): OC 11, 331. Ebda., S. 334. Ebda., S. 335.

Die USA, Nuestra América, Europa und die Welt

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Noch in einem am 7. Januar erneut in La Nación von Buenos Aires veröffentlichten Korrespondentenbericht hatte er über die Wahlen in den USA berichtet und bei aller Kritik doch seine große Bewunderung für ein demokratisch verfasstes Staatswesen zum Ausdruck gebracht. Für Martí waren Staatsbürger, die wählen dürfen, schlicht Könige, da sie ihr eigenes Schicksal bestimmen könnten: Nicht umsonst gehen wir, die wir in anderen Völkern auf die Welt kamen, durch diese Masse an Königen, indem wir süße Tränen des Glückes vergießen angesichts dieser erlösten, heiteren und strahlenden Menschen, oder auch Tränen, welche die Wangen verbrühen, Tränen, die selbst noch die Knochen angreifen und die unsichtbare Hände haben und die zum Himmel schreien, Tränen der Verzweiflung und der Scham! Oh! Viele Stimmen sind gekauft; aber mehr sind es, die nicht gekauft werden. ¡No en vano, los que en pueblos diferentes nacimos, ambulamos por entre esa muchedumbre de reyes, ya vertiendo dulces lágrimas de gozo, de ver a los hombres redimidos, serenos y resplandecientes, ya lágrimas que escaldan las mejillas, lágrimas que muerden hasta el hueso, y tienen manos invisibles, y claman a los cielos, lágrimas de desesperación y de vergüenza! ¡Oh! muchos votos se venden; pero hay más que no se venden.798

Die autobiographischen Akzente dieser Passage sind unüberhörbar, träumte Martí doch davon, dereinst in einem Lande zu leben, das frei und unabhängig über seinen eigenen Weg abstimmen und seine Zukunft demokratisch bestimmen könne. Daran aber war in der kolonialen Verfasstheit Kubas nicht zu denken. Martí sah wohl, dass viele Stimmen bei den Wahlen in den USA gekauft würden, doch stellte er gegen diesen Missbrauch die Situation des Lateinamerikaners, gerade auch des Kubaners, die aus Ländern kommen, in denen es keine Wahlen und kein Wahlrecht gibt und wo die Masse an Menschen keine Masse an Königen sei, die frei ihr Schicksal wählen könnten. In diesem Vergleich mit Ländern Lateinamerikas stehen die USA als demokratische Nation bei Martí noch weitaus besser da als einige Jahre später, als er mit Bitterkeit die Wahlen und das Wahlrecht in den USA kritisiert und all jene Machenschaften anprangert, mit deren Hilfe schon in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts Wahlen in den Vereinigten Staaten von Amerika gewonnen wurden. Doch schon am 16. Juli 1886 veröffentlichte La Nación einen Bericht Martís aus New York, in welchem er den öffentlichen Wahlbetrug anprangerte, der in diesem Falle in New York freilich noch juristisch und mit aller Härte verfolgt worden sei. Vor Gericht sei der Verbrecher erschienen: «Der Unglückliche, noch schön in seinen Luxuskleidern, hörte mit gesenktem Kopfe zu. Dann fiel der Richterspruch auf

 Martí, José: Cartas de Martí. In (ders.): OC 10, S. 123.

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4. Hauptstück: Konflikte, Kriege, Konvivenz

ihn herab [...].»799 Und Martí zeigt seinen argentinischen Leserinnen und Lesern den des Betrugs Überführten am Ende seines Artikels schließlich mit kahlgeschorenem Kopf und in Sträflingskleidung, um im Schlusssatz warnend hinzuzufügen: «Así acaban los que venden la justicia.»800 So also endet, wer die Gerechtigkeit verkauft. Doch auch Martís Vertrauen in die US-amerikanische Justiz schmolz schon bald. Denn im weiteren Verlaufe der achtziger Jahre verdunkelte sich zunehmend die Sichtweise der Vereinigten Staaten bei José Martí. Immer deutlicher stand ihm vor Augen, welche Mächte und Kräfte die US-amerikanische Gesellschaft beherrschten. Gegen Ende des Jahrzehnts ist er vom massiven Wahlbetrug ebenso überzeugt wie von den immer stärker zugespitzten gesellschaftlichen Gegensätzen, die ihm einer wahren Republik nicht länger als würdig erscheinen. Und als immer gefährlicher erscheint ihm ein Land, das den gesamten Handel in den Amerikas zu beherrschen sucht und das immer unverhohlener seine hegemonialen Ansprüche ebenso im politischen wie im wirtschaftlichen Bereich mit brachialer Gewalt durchzusetzen vermag. Sein kritischer Blick richtet sich zunehmend von innenpolitischen Auseinandersetzungen in den USA auf mögliche außenpolitische Konsequenzen einer Politik, die Martí als höchst aggressiv und von der eigenen Superiorität überzeugt empfand. Über seine Erfahrungen bei der Teilnahme an der Conferencia monetaria de las repúblicas de América, die er im Mai 1891 in der New Yorker La Revista Ilustrada veröffentlichte, warnte der kubanische Politiker und Essayist die lateinamerikanischen Länder eindringlich vor einer wirtschaftlichen Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten des Nordens: Wer wirtschaftliche Union sagt, sagt politische Union. Das Volk, das kauft, befielt, das Volk, das verkauft, dient. Es gilt, ein Gleichgewicht im Handel zu erzielen, um die Freiheit sicherzustellen. Das Volk, das sterben will, verkauft an ein einziges Volk, und jenes, das sich erretten will, verkauft an mehr als eines. Der überzogene Einfluss eines Landes auf den Handel eines anderen verwandelt sich in politischen Einfluss. Die Politik ist das Werk von Menschen, die ihre Gefühle zugunsten des Interesses aufgeben oder dem Interesse einen Teil ihrer Gefühle aufopfern. Wenn ein starkes Volk einem anderen zu essen gibt, so lässt es sich von diesem bedienen. Wenn ein starkes Volk ein anderes bekämpfen will, ruft es zur Allianz und zum Dienste diejenigen, die von ihm abhängen. Das erste, was ein Volk tut, um ein anderes beherrschen zu können, besteht darin, dieses von den anderen Völkern zu trennen. Das Volk, das frei sein will, sei in seinen Geschäften frei. Es möge seine Geschäfte auf gleichermaßen starke Völker verteilen. Wenn es eines zu bevorzugen hat, so möge es das bevorzugen, was es am wenigsten braucht, was es am wenigsten verachtet.

 Martí, José: Célebre proceso por cohecho. In (ders.): OC 10, S. 470: «El infeliz escuchaba, bello aún en sus ropas de lujo, con la cabeza baja. La sentencia le caía encima [...].»  Ebda., S. 471.

Die USA, Nuestra América, Europa und die Welt

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Weder Verbünde von Amerika gegen Europa noch mit Europa gegen ein Volk von Amerika. Der geographische Fall, in Amerika zusammen zu leben, zwingt außer im Geiste irgendeines Kandidaten oder irgendeines Abiturienten nicht zu einer politischen Union. Der Handel richtet sich an der Erde und am Wasser und daran aus, wer etwas zu tauschen hat, sei es eine Monarchie oder eine Republik. Die Vereinigung mit der Welt und nicht bloß mit einem Teil davon; nicht mit einem Teil davon gegen einen anderen. Wenn die Familie der Republiken Amerikas irgendeinen Seins-Grund besitzt, so besteht dieser nicht darin, mit einer von ihnen gegen die zukünftigen Republiken gemeinsame Sache zu machen. Quien dice unión económica, dice unión política. El pueblo que compra, manda. El pueblo que vende, sirve. Hay que equilibrar el comercio, para asegurar la libertad. El pueblo que quiere morir, vende a un solo pueblo, y el que quiere salvarse, vende a más de uno. El influjo excesivo de un país en el comercio de otro, se convierte en influjo político. La política es obra de los hombres, que rinden sus sentimientos al interés, o sacrifican al interés una parte de sus sentimientos. Cuando un pueblo fuerte da de comer a otro, se hace servir de él. Cuando un pueblo fuerte quiere dar batalla a otro, compele a la alianza y al servicio a los que necesitan de él. Lo primero que hace un pueblo para llegar a dominar a otro, es separarlo de los demás pueblos. El pueblo que quiere ser libre, sea libre en negocios. Distribuya sus negocios entre países igualmente fuertes. Si ha de preferir a alguno, prefiera al que lo necesite menos, al que lo desdeñe menos. Ni uniones de América contra Europa, ni con Europa contra un pueblo de América. El caso geográfico de vivir junto en América no obliga, si no en la mente de algún candidato o algún bachiller, a unión política. El comercio va por las vertientes de tierra y agua y detrás de quien tiene algo que cambiar por él, sea monarquía o república. La unión, con el mundo, y no con una parte de él; no con una parte de él, contra otra. si algún oficio tiene la familia de repúblicas de América, no es ir de arria de una de ellas contra las repúblicas futuras.801

Diese von vielen parataktischen Passagen gekennzeichneten Ausführungen José Martís sind eine Konsequenz und eine Lehre aus jenen internationalen Verhandlungen, an denen der Kubaner – im Übrigen gegen den Willen der USA – als Delegierter teilnahm. Es handelte sich dabei um Verhandlungen, welche die Vereinigten Staaten mit den Staaten Lateinamerikas führten, um diese letzteren noch wesentlich stärker an sich zu binden. José Martí durchschaute dieses Kalkül der US-amerikanischen Delegation bereits zu einem frühen Zeitpunkt und mobilisierte dagegen in zahlreichen Reden und Artikeln. Denn er hatte Taktik und Strategie der Vereinigten Staaten des Nordens erkannt und versuchte, die lateinamerikanischen Staaten wachzurütteln. Sicherlich lässt sich trefflich darüber streiten, ob ein Volk, das kauft, wirklich befiehlt, und ein anderes, das verkauft, wirklich dient. Einem wirtschaftswissenschaftlich auch nur annähernd geforderten komplexen Denken entsprechen diese Aussagesätze wohl nicht. Doch lassen wir diese Problematiken einer einsei-

 Martí, José: La conferencia monetaria de las repúblicas de América. In (ders.): OC 6, S. 160.

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4. Hauptstück: Konflikte, Kriege, Konvivenz

tigen Importabhängigkeit wie einer gegenläufigen Exportabhängigkeit einmal beiseite und richten wir unseren Fokus auf die weltpolitischen Leitgedanken des kubanischen Diplomaten. Die sich in diesen Zeilen profilierende Grundidee Martís, dass sich die Republiken Amerikas auf die Welt öffnen müssten – auf die gesamte Welt und nicht nur auf einen Teil dieser Welt –, ist ein grundlegender und guter Ratschlag nicht nur in Zeiten einer beschleunigten Globalisierung, wie sie die Welt in jenen Jahrzehnten erlebte. Zu einem Zeitpunkt, zu dem sich in unserer Gegenwart die Welt wieder in gegensätzliche Blöcke spaltet und sich Länder entscheiden müssen, mit welchem Machtblock sie sich enger verbinden sollten, ist dieser Ratschlag des kubanischen Politikers und Revolutionärs leicht nachvollziehbar und keineswegs inaktuell. Martí wandte sich entschieden gegen eine zu große Abhängigkeit des Außenhandels der Länder des amerikanischen Südens von den Vereinigten Staaten. Zielbewusst versuchten die USA, die Länder Lateinamerikas vom Handel mit Europa abzubringen, um sie ganz fest mit der eigenen Wirtschaft zu verbinden und so für diese Wirtschaft Absatzmärkte zu schaffen, welche den Vereinigten Staaten in der Zukunft noch wachsende und vor allem sichere Einflussmöglichkeiten garantieren würden. Gegen das leichtfertige und seit dem in der ersten Jahrhunderthälfte verkündeten Inkrafttreten der Monroe-Doktrin wohlfeile Argument, dass Amerika den Amerikanern gehören müsse, setzt Martí auf eine Wirtschaft und auf einen Handel, die sich nicht auf ein einziges Land konzentrieren sollten, sondern möglichst vielfältige Wirtschaftsbeziehungen zu möglichst vielen Ländern dieser Erde etablieren mussten. Er fordert vor dem Hintergrund weltweiter Entwicklungen dazu auf, in diesen Zeiten beschleunigter Globalisierung politische und wirtschaftliche Beziehungen zu europäischen wie amerikanischen Ländern transatlantisch aufzubauen, um einer einseitigen Abhängigkeit von den USA zu entgehen und um Relationen gleichgültig und unabhängig davon aufzubauen, ob es sich bei den Partnerländern um Republiken oder um Monarchien handelte. José Martí empfahl auf diese Weise den lateinamerikanischen Nationen nicht den Abschluss bilateraler Verträge mit einem einzigen Partner – eben den Vereinigten Staaten von Amerika –, sondern die Entfaltung multirelationaler Beziehungen zu möglichst vielen Ländern auf der ganzen Erde. Es könne nicht darum gehen, mit einem Teil der Erde gegen einen anderen Teil der Erde zu paktieren und die Welt folglich in Blöcke zu spalten. Eine Aufteilung der Welt in unterschiedliche Einflusssphären war ihm zuwider. Denn es könne nicht angehen, sich von einem Teil der Erde abzuwenden, um sich einem anderen Teile zuzuwenden, ohne dabei auf die eigenen möglichen Abhängigkeiten zu sehen

Die USA, Nuestra América, Europa und die Welt

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und für das jeweils eigene Land eine grundlegende Flexibilität bezüglich zukünftiger Partnerschaften zu erhalten. José Martís Plädoyer war ein entscheidender Schritt zugunsten eines Multilateralismus, der sich gegen bilaterale Verträge wendet, die allein im Interesse eines großen und starken Landes liegen, das jeweils in eigene Verhandlungen mit einer Vielzahl kleinerer Staaten einzutreten gewillt ist, um aus der eigenen Größe und Stärke zusätzliche Vorteile zu ziehen. Taktik und Strategie der damaligen US-Administration sind in Zeiten, in denen die USA vor wenigen Jahren erst eine Politik verfolgten, den Multilateralismus aufzukündigen, Verbünde kleinerer Partner zu zerstören und zu bilateralen Verhandlungen zu kommen, trotz der veränderten Weltlage leicht nachvollziehbar und keineswegs inaktuell. José Martí deutet auch in diesem Punkt auf Traditionen, welche die Geschichte der Vereinigten Staaten durchziehen und selbst in unserer Gegenwart noch beobachtbar sind. Dem Verfasser von Nuestra América – denn beide Texte entstammen derselben Periode – war es folglich darum zu tun, die jungen Republiken Lateinamerikas davor zu bewahren, sich in eine einseitige wirtschaftliche wie politische Dependenz von den Vereinigten Staaten zu begeben. Denn er war davon überzeugt, dass die USA diese dann entstehenden Asymmetrien binnen kurzer Frist für sich nutzen würden. Die schwächeren Länder Lateinamerikas wären dann gezwungen, an der Seite der USA in Konflikte einzutreten, die für sie selbst von keinerlei Interesse oder sogar kontraproduktiv wären. Spätestens seit diesem Zeitpunkt – und unsere Studie sollte zeigen, wie komplex sich dieser Entwicklungsprozess bei diesem im Exil lebenden Kubaner gestaltete – wurde José Martí zu einem herausragenden Denker der Globalisierung, der sein Denken auch in ein konkretes Handeln umzuwandeln versuchte. Seine Tätigkeit als Diplomat und Delegierter zeigte ihm, wie in konkreten Wirtschafts- und Finanzverhandlungen Weltpolitik gemacht wurde. Ausgehend von den Erfahrungen bei der Washingtoner Konferenz plädierte Martí aus guten Gründen mit Blick auf die Länder von Nuestra América für eine Öffnung der Wirtschaft, des Handels und der politischen Beziehungen dieser Länder auf die gesamte Welt, um einer Beschränkung auf einen einzigen Teil unserer Erde zu entgehen. Denn nur multilaterale Beziehungen würden die Länder Lateinamerikas vor einer Abhängigkeit vom Koloss des Nordens schützen, der die dritte Phase beschleunigter Globalisierung in der Tat dazu nutzte, eine Vielzahl amerikanischer Nationen von sich abhängig zu machen und zu einem der großen Global Player dieser Epoche aufzusteigen. Es sollte in der vorliegenden Studie deutlich werden, dass Martí bei dieser zukünftigen Entwicklung auf eine Eigenständigkeit von Nuestra América setzte, die keine Isolierung wie in einer Insel-Welt, sondern eine Vielverbundenheit

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4. Hauptstück: Konflikte, Kriege, Konvivenz

mit der Welt sein musste. Es ging ihm nicht um eine politische wie wirtschaftliche Abschottung, die angesichts des Vordringens der USA ohnehin gefährlich gewesen wäre, sondern um eine multirelationale Verbundenheit mit unterschiedlichsten Teilen dieses Planeten. Die Äußerungen des kubanischen Dichters zur notwendigen Beschäftigung mit verschiedenartigen Literaturen hatten unseren Blick für die Art und Weise geschärft, wie Martí sich diese globale Vielverbundenheit dachte. Die Metaphorik der Pfropfung hatte überdies gezeigt, dass er von einer klar an einem mestizischen Amerika und damit an einer Integration der tatsächlich in Nuestra América beheimateten und lebenden Völker und Kulturen ausgerichtet war. Dabei sollte weder das libro europeo noch das libro yankee unter den heterogenen Bedingungen der Amerikas ausschlaggebend sein, um in Unserem Amerika einen eigenen Weg in die Moderne zu finden. José Martís Moderne-Projekt für Nuestra América versucht, in der beiderseitigen Abgrenzung gegenüber dem europäischen wie dem US-amerikanischen Buch einen eigenen Raum zu schaffen, der historisch von einer hochgradigen Heterogenität, zugleich aber von einer künftig zu schaffenden Einheit und Eigenständigkeit geprägt sein sollte. Die Länder des amerikanischen Südens sollten sich nicht isolieren und sich nur mit ihren eigenen Literaturen beschäftigen, sondern sich als offen gegenüber möglichst vielen Literaturen zeigen, ohne dabei die eigenen Traditionslinien außer Acht zu lassen. Allein diese Offenheit, das Sich-Einlassen auf verschiedene Sprachen und Logiken, ermöglichten eine bewusste Entscheidung im Sinne einer eigenen Unabhängigkeit. So wie Martí im Bereich der Literaturen und Sprachen dachte, so reflektierte er auch auf anderen Ebenen. Von diesem so definierten Zwischenraum oder besser noch Bewegungsraum aus entwickelt Martí einen neuen AmerikaDiskurs, der im Schlussteil von Nuestra América unübersehbar den Gegensatz zu den USA – «la diferencia de orígenes, métodos e intereses entre los dos factores continentales»802 – weiter akzentuiert. Auf kontinentaler Ebene trennt Martí deutlich in zwei einander gegenüberstehende Mächte, die sich durch ihre unterschiedlichen Herkünfte, Methoden und Interessen voneinander unterscheiden. Es erschien ihm für Nuestra América als vital, nicht dem ModerneProjekt des Nordens zu folgen und einer Nordomanía (wie Rodó sich wenige Jahre später ausdrücken sollte) zu huldigen, sondern eine eigene Konzeption der Moderne voranzutreiben. Eine hemisphärische Konstruktion entsteht, die Amerika freilich nicht als einen von stabilen Gegensätzen zwischen Norden und Süden geprägten Konti-

 Martí, José: Nuestra América, S. 23.

Die USA, Nuestra América, Europa und die Welt

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nent skizziert, sondern als dynamischen Bewegungs-Raum begreift, innerhalb dessen sich ein unmittelbar bevorstehendes, aber vielleicht noch rechtzeitig abwendbares kriegerisches Ausgreifen der USA nach Süden abzeichne. Der Tag des Besuches – «el día de la visita»803 – sei nahe, und es gelte, möglichst rasch dem von einem militärischen, ökonomischen und politischen Superioritätsdenken erfaßten Nachbarn im Norden ein einheitliches Bild von nuestra América, «una en alma e intento»,804 entgegenzustellen. Martí vertraute und hoffte darauf, die Informations- und Wissensströme in seinem Sinne noch rechtzeitig verändern zu können, um der Geschichte einen anderen Lauf, eine andere Richtung zu geben. José Martí unternimmt daher den ebenso schriftstellerischen wie politischen Versuch, im Verlauf seines eine unglaubliche Vielzahl an von ihm ausgearbeiteten Ideen und Vorstellungen integrierenden Essays mit diskursiven Mitteln jene «trincheras de ideas», jene Schützengräben an Ideen zu errichten beziehungsweise auszuheben, die er gleich in seinem incipit von Nuestra América so vehement gefordert hatte.805 Denn nur eine eigen erdachte Antwort unseres Amerika auf die Modernisierungsschübe könne eine selbstbestimmte Zukunft für diese Länder heraufführen und sicherstellen, dass diese nicht in den gewaltigen Hurrikan hineingezogen würden, den die Großmacht im Norden zu entfesseln im Begriff stand. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass José Martí die weltpolitischen Dimensionen der von ihm selbst in den Vereinigten Staaten von Amerika beobachteten Veränderungen zutreffend beurteilte und verstand, dass die von ihm so häufig hervorgehobene Erfahrung der Beschleunigung enorme Verschiebungen auf dem amerikanischen Kontinent mit sich bringen würde. Bereits in einer auf den 12. November 1881 datierten und am 26. November desselben Jahres unter dem Pseudonym M. de Z. in La Opinión Nacional in Caracas veröffentlichten Chronik betonte Martí, dass das Leben in unseren Zeiten Schwindel hervorrufe: «Vivir en nuestros tiempos produce vértigo.»806 Wer heutzutage auf seinem Weg innehalte, «pueblo u hombre», werde einfach zu Boden geworfen.807 Bereits ab Anfang der achtziger Jahre begann der Bewusstwerdungsprozess José Martís, der zunehmend diese von ihm beobachtete und beschriebene Akzeleration mit weltumspannenden Entwicklungen in Verbindung brachte. Das Conocimiento poético war für ihn dabei gleichzeitig Mittel der Erkenntnis und Mittel der Ver-

    

Ebda., S. 24. Ebda. Ebda., S. 13. Martí, José: Carta de Nueva York. In (ders.): OC 9, S. 105. Ebda.

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4. Hauptstück: Konflikte, Kriege, Konvivenz

breitung dieser Ideen, die nach seinem Dafürhalten selbst Panzerkreuzer aufhalten könnten. Martís Chroniken für verschiedene Periodika des spanischsprachigen Amerika hielten immer wieder künstlerisch verdichtete, gleichsam atemlos wirkende Bilder dieser rasanten Entwicklung fest, die der Kubaner mit anfänglicher Bewunderung, bald aber schon mit zunehmender Ambivalenz gegenüber den USA entwarf. Ich habe im zweiten Teil der vorliegenden Studie versucht, anhand beispielhafter Texte die schrittweisen Veränderungen der Martí’schen Sichtweise im Verlauf der anderthalb Jahrzehnte bis zu seinem Tode im Jahre 1895 festzuhalten und exemplarisch vor Augen zu führen. Als eine besondere Voraussetzung und Bedingung für die frühe Erkenntnis einer Beschleunigung ebenso des Modernisierungs- wie des Globalisierungsprozesses hatten wir den Aufenthalt des kubanischen Migranten in New York erkannt, wo er gleichsam wie eine Spinne im Netz die Informations- und Wissensströme seiner Zeit reflektieren konnte. Aus seiner privilegierten New Yorker Perspektive gelangte er schon früh zu dem Schluss, längst sei aus der Geld-Aristokratie eine politische Aristokratie geworden, die über Zeitungen und Zeitschriften gebiete, nach Belieben die Wahlen gewinne und sich des heiligen Buches des Vaterlandes, des «libro sagrado de la patria»,808 bemächtigt habe. Er sprach damit eine oligarchische Verfasstheit der Vereinigten Staaten an, die sich hinter der demokratischen Fassade immer deutlicher breitmache und letztlich den Interessen dieser Finanz- und Wirtschaftskaste diene. Die Worte Martís in seiner Carta de Nueva York vom 26. November 1881 wogen schwer und gaben bereits die Richtung vor, in welche sich Martís Kritik an den Vereinigten Staaten des Nordens bewegen sollte. Er entwickelte bereits einzelne Problemstellungen so tiefgründig und weit, dass er mitten in seiner Chronik ausrief, warum dies ein Artikel in einem Periodikum und kein richtiges Buch sei.809 Doch am Ende seines Artikels blitzen in atemloser Abfolge all die Themen und Gegenstände auf, die der Chronist noch unbedingt hätte behandeln müssen, um die Breite und Intensität des dramatisch beschleunigten Lebens in New York darzustellen, von dem er seinen Leserinnen und Lesern in Lateinamerika ein möglichst exaktes und plastisches Bild zu vermitteln suchte: Und jetzt, was nun? Wozu noch erzählen, dass sich ein armer chinesischer Student, der sich in ein wankelmütiges Geschöpf verliebte, das Leben entriss, das er unfähig, es zu genießen, für unnütz erachtete? Wozu mit den amerikanischen Zeitungen wiederholen, wie mitten in der Auseinandersetzung der Wahlen in einer regelrechten Schlacht vier weiße

 Ebda., S. 108.  Ebda., S. 115.

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Männer unter den Schüssen von bewaffneten Farbigen starben? Wozu auch noch sagen, da es nicht ohne Schmerz gesagt werden kann, dass am selbigen Tage, an welchem diese Zeilen geschrieben werden, drei Männer wegen verschiedener Verbrechen in unterschiedlichen Bezirken dieses Landes am Galgen starben; und dass von einer aufgebrachten Menge ein an einem schweren Verbrechen schuldiger Farbiger vor den Augen der Justizbeamten förmlich zerrissen wurde? Schon nähert sich nach einer angemessenen Vorbereitung der noblen Verteidiger der Tag des Justizprozesses gegen den elenden Übeltäter, der aus niedrigen Beweggründen eigener Vorteilsnahme die Vereinigten Staaten eines illustren Führers beraubte: Schon nähert sich der Tag der Ruhe und der öffentlichen Sammlung, der Tag des Dankes an den generösen Macher für all die Verdienste, die er für dieses unermüdliche und arbeitsame Volk geleistet. Y ahora, ¿qué viene? ¿A qué contar que un mísero estudiante chino, prendado de una veleidosa criatura se ha arrebatado la que ya estimaba, por incapaz de goces, inútil vida? ¿A qué repetir con los periódicos americanos, cómo en contienda electoral, murieron en formal batalla, a manos de hombres armados, de color, cuatro hombres blancos? ¿A qué decir, si no ha de poder ser dicho sin dolor, que en el día mismo en que se escriben estas líneas, tres hombres han perecido ahorcados por crímenes distintos en comarcas diversas de esta tierra; y por la muchedumbre enfurecida ha sido un hombre de color, culpable de grave delito, despedazado a la vista de los oficiales de justicia? Ya se acerca, tras adecuada preparación de los nobles defensores, el proceso del mísero malhechor que, por ruin motivo de provecho propio, privó a los Estados Unidos de un ilustre jefe: ya se acerca el día de huelga y recogimiento público, el día de gracias al Hacedor magnánimo por los beneficios que en el año dispensa a este pueblo infatigable y laborioso.810

Dies ist nicht nur eine Aufzählung all jener Dinge, die in einer Zeitung unter Vermischtes abgedruckt werden könnten. Es ist nicht nur eine Auflistung unterschiedlichster Gewalttaten, die das Alltagsleben in den USA zum damaligen Zeitpunkt charakterisierten. Dies ist vielmehr ein exemplarischer Auszug aus all jenen Ereignissen, die zwischen persönlichen Tragödien und öffentlichem Wahlbetrug, zwischen politischen Morden und Lynchjustiz das atemlose Leben eines Volkes bestimmen, das für José Martí zu diesem Zeitpunkt noch immer ein arbeitsames und rechtschaffenes Volk war, das freilich in einem Umfeld ruheloser Gewalt lebt. Über all diese Themen und Problematiken schrieb Martí an anderer Stelle in Hunderten von Chroniken und Korrespondentenberichten. Rassenhass und Arbeitsliebe, Ruhelosigkeit und dankbare Andacht für einen ermordeten politischen Führer prägen jedoch den abschließenden Teil dieser Chronik, in welcher José Martí seinem lateinamerikanischen Lesepublikum aus der turbulenten Metropole im Norden berichtete und ein möglichst lebensnahes und in

 Ebda., S. 120.

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einem entstehenden modernistischen Stil abgefasstes literarisches Panorama vermitteln wollte. Doch José Martí erschienen die USA zunehmend als eine durch und durch korrupte und oligarchisch durchsetzte Republik, in der nicht wirklich das Volk demokratisch bestimmte, sondern in der die Wahlen stets massiv beeinflusst wurden. Die Präzision seiner Analysen insbesondere in seinen Escenas norteamericanas erstaunt ebenso wie die Aktualität überrascht, sobald wir diese Analysen auf die heutigen USA mit ihrem finanzoligarchischen Trumpismus (auch jenseits der Person Donald Trump) beziehen. Für Martí waren anders als für Alexis de Tocqueville, den der Kubaner zu Beginn seiner Untersuchungen noch sehr schätzte, die Vereinigten Staaten kein Vorbild mehr in Sachen Demokratie. Die Konvivenz zwischen den verschiedenen Kasten und rassistisch ausgegrenzten Bevölkerungssektoren schien ihm zudem allzu brüchig, als dass sie ein Modell für die Staaten südlich der USA hätte sein können. Sein eigenes Moderne-Projekt richtete sich daher nicht nur in der Frage des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern, sondern auch in Sachen Demokratie, Wirtschaftsbeziehungen, Finanzsystem, Außenpolitik, aber auch Rassismus und dringlich zu erreichender Konvivenz in Gesellschaft und Gemeinschaft gegen das System der USA, das der Kubaner genauestens studiert hatte. Gewiss gab es vieles, was Martí an den USA beeindruckte und schätzte; doch seine Vision einer anderen, einer eigenen Moderne für die Länder des Südens war konvivenzpolitisch völlig anders und antirassistisch untersetzt. Es finden sich in Martís Berichten aus den USA immer wieder explizite wie implizite Hinweise auf nicht selten dramatische Beschleunigungsphänomene, die die unterschiedlichsten Bereiche der US-amerikanischen Gesellschaft, aber auch die private Lebensführung der Bürgerinnen und Bürger grundlegend veränderten. So hieß es in einer am 17. Februar 1886 in La Nación in Buenos Aires veröffentlichten Chronik: «Acá apenas se tiene tiempo para vivir.»811 Man finde nicht einmal mehr Zeit zum leben. Mehr noch als selbst in Paris seien alle und alles von einer Neurose erfaßt: «Nadie se duerme, nadie se despierta, nadie está sentado: todo es galope, escape, asalto, estrepitosa caída, eminente triunfo.»812 Das ganze Leben in den USA sei ein einziger Galopp, ein rennen, Straucheln, Wiederaufstehen, Weiterrennen und Fallen. Wir hatten gesehen, dass der Kubaner von sich behaupten konnte, kein sitzender Mensch und gleichsam immer auf dem Sprung zu sein.

 Martí, José: De Año Nuevo. In (ders.): OC 10, S. 363.  Ebda.

Die USA, Nuestra América, Europa und die Welt

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Der Schriftsteller José Martí verfügte zu diesem Zeitpunkt bereits vollständig über die verschiedensten modernistischen Stilregister, um seine Leserinnen und Leser in Lateinamerika diesen Lebensrhythmus gleichsam hautnah mitund nacherleben zu lassen. Analog zu der sich immer weiter beschleunigenden Zeit, in der man – und die Parallelen zu Friedrich Nietzsche sind offenkundig – immer in Bewegung denke und niemals ruhend verharre, hatte der Kubaner literarische Ausdrucksformen gefunden, die einer solchen Epoche entsprechen und ihm alle Möglichkeiten gaben, eine derart ruhelose, atemlose Bewegung in komplexen Satzbauten von seiner Leserschaft nachempfinden zu lassen. Parallel zu den sich rasch verändernden Lebensbedingungen und den damit verbundenen künstlerischen Ausdrucksformen wies Martí warnend auf die in aller Öffentlichkeit diskutierten Überlegungen der politischen Aristokratie in den USA hin, in Zentralamerika eine interozeanische Kanalverbindung zu schaffen813 und – wie bereits erwähnt – möglichst schnell eine schlagkräftige Kriegsflotte aufzubauen, um die Interessen der USA gegenüber anderen Nationen wo nötig mit Gewalt durchsetzen zu können.814 Der Bau des Panamá-Kanals selbst schien den Vereinigten Staaten strategisch die Rechtfertigung dafür an die Hand zu geben, durch eine Flotte schneller und robuster Kriegsschiffe aus Stahl ihre eigenen wirtschaftlichen und politischen Interessen zu schützen. Martí begriff, dass eine solche Flotte schon bald machtpolitisch gegen einzelne Länder von Nuestra América, aber auch gegen die marode Kriegsflotte der spanischen Kolonialmacht eingesetzt werden konnte. Allenthalben waren in den USA Stimmen zu vernehmen, die den Schutz US-amerikanischer Interessen jenseits der eigenen Grenzen forderten. Es fiel ihm zunehmend schwerer, dahinter noch jene Werte zu erkennen, für welche die auch von ihm bewunderten Gründerväter der US-amerikanischen Demokratie einst eingetreten waren. Das von ihm einst als unermüdlich und arbeitsam bezeichnete Volk der USA wirkte auf ihn zunehmend als besitzergreifend und machtgierig, zumal es von Politikern regiert wurde, die auf eine wie auch immer geartete Expansion der Vereinigten Staaten drängten und vorzüglich die Interessen US-amerikanischer Oligarchen vertraten. Die Lehren aus all diesen Beobachtungen waren für den keineswegs bloß an die Belange seiner Heimatinsel Kuba denkenden Dichter leicht zu ziehen. Früh schon verstand Martí, dass die von ihm kritisch reflektierte Beschleunigung sich nicht auf den nationalen Raum der USA beschränken, sondern rasch auf der internationalen Weltbühne tiefgreifende soziale, politische und wirt-

 Ebda., S. 365 f.  Ebda., S. 366.

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4. Hauptstück: Konflikte, Kriege, Konvivenz

schaftliche, aber auch kulturelle und nicht zuletzt militärische Konsequenzen zeitigen würde. Welche Werte konnten einer derartigen Entwicklung auf dem amerikanischen Kontinent, aber auch im globalen Maßstab entgegengesetzt werden? Nuestra América ist im Verbund mit anderen Schriften Martís der Versuch, auf die massiven Indizien für eine neue Phase der Globalisierung, an der die USA und damit der gesamte amerikanische Kontinent in aktiver Weise beteiligt sein würden, eine ebenso kompetente wie programmatische Antwort zu geben. Daran, dass die Vereinigten Staaten als Hegemonialmacht in der amerikanischen Hemisphäre, aber auch als Global Player weltweit eine Rolle zu spielen beabsichtigten, zweifelte der Kubaner nicht. In seinem berühmten, unvollendet gebliebenen Brief vom 18. Mai 1895 aus Dos Ríos schrieb José Martí einen Tag vor seinem Tod an Manuel Mercado,815 sein ganzes Wirken habe darauf abgezielt, die gewaltsame Ausbreitung der USA über die Welt der Antillen und Nuestra América zu verhindern und mit der Unabhängigkeit Kubas die Weichen dafür zu stellen, dieser Expansion der Vereinigten Staaten etwas entgegenzusetzen. Nur allzu gut wusste er, dass die alte und verbrauchte Kolonialmacht Spanien dazu längst nicht mehr in der Lage war. Halten wir deshalb noch einmal vergleichend fest: Keiner der anderen hispanoamerikanischen Modernisten hat mit einer vergleichbaren Weitsicht die unterschiedlichsten Phänomene weltweiter Akzeleration und die sich daraus ableitenden Konsequenzen für die politische oder soziale wie für die kulturelle oder literarische Entwicklung erkannt wie José Martí. Wir dürfen ihn mit guten Gründen als den großen lateinamerikanischen Theoretiker der dritten Phase beschleunigter Globalisierung und als den herausragenden lateinamerikanischen Denker dieser Globalisierung bezeichnen. Seine Reaktion auf diese Akzeleration aller Dinge und ein sich veränderndes Machtgefüge in den USA bestand nicht nur in der Beschleunigung aller Vorbereitungen, um den Krieg gegen die alte Kolonialmacht Spanien nach Kuba tragen zu können, sondern gerade auch in seinem Versuch, die ihm in New York zugänglichen Informationen auszuwerten, neue Kanäle für die Zirkulation des Wissens zu schaffen und vor allem einen neuen Amerika-Diskurs zu entwickeln. Mit José Martí und in seiner Nachfolge mit den hispanoamerikanischen Modernisten verändert sich die Vektorisierung der (hemisphärisch zu verstehenden) binnenamerikanischen und insbesondere transatlantischen Informationsflüsse auf grundlegende Weise.

 Martí, José: A Manuel Mercado. In (ders.): OC 4, S. 167.

Die USA, Nuestra América, Europa und die Welt

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Zugleich verändern sich im Kontext der Martí’schen Konvivenzpolitik, die sich selbst noch in seiner denkwürdigen Kriegserklärung an Spanien, in seinem Manifiesto de Montecristi, deutlich zu erkennen gibt, die in Amerika anwendbaren Werte, die im Sinne des Kubaners zielführend für ein politisches Handeln werden konnten. José Martí wusste, wie schwer es war, an die Geschichte der indigenen Kulturen anzuknüpfen, war ihm doch bewusst, mit welcher Gewalt der Sturm der ersten Globalisierungsphase über die Amerikas und speziell die Inselwelt der Antillen hereingebrochen war. Denn dieser Hurrikan hatte alles hinweggefegt und eine Spur der Verwüstung hinterlassen, welche die indigenen Kulturen ins Mark traf und viele ihrer Zeugnisse vernichtete. Gleichzeitig aber waren unendlich viele Elemente einer anderen Kultur und Zivilisation in dieser Neuen Welt erschienen. So hätte Martí mit seinem kubanischen Landsmann und Anthropologen Fernando Ortiz dessen in Contrapunteo cubano del tabaco y el azúcar getroffene Analyse unterschreiben können, der zufolge über die Jahrhunderte hinweg die zentripetalen Migrationsbewegungen antillanischer wie kontinentaler Indianer, Spanier, Afrikaner, Juden, Portugiesen, Briten, Franzosen, Nordamerikaner und Asiaten unterschiedlichster Breitengrade durch einen «huracán de cultura», einem Wirbelsturm der Kultur,816 ausgelöst worden waren, den wir als erste Phase beschleunigter Globalisierung bezeichneten: Danach dann ein Wirbelsturm der Kultur: Europa. Es kamen zusammen und in rauen Mengen das Eisen, das Schießpulver, das Pferd, der Stier, das Rad, das Segel, die Magnetnadel, das Geld, der Lohn, der Buchstabe, die Druckerpresse, das Buch, der Herr, der König, die Kirche, der Bankier ... Und ein revolutionärer Schwindel schüttelte die indigenen Völker Kubas und fegte ihre Institutionen hinweg und zerstörte ihre Leben. Luego, un huracán de cultura; es Europa. Llegaron juntos y en tropel el hierro, la pólvora, el caballo, el toro, la rueda, la vela, la brújula, la moneda, el salario, la letra, la imprenta, el libro, el señor, el rey, la iglesia, el banquero ... Y un vértigo revolucionario sacudió a los pueblos indios de Cuba, arrancando de cuajo sus instituciones y destrozando sus vidas.817

Angesichts dieser Zerstörungen und Verwüstungen war es folglich nicht leicht, an die Kulturen und an die Werte der indigenen Völker der Amerikas anzuknüpfen und eine genuin amerikanische, ihrer unterschiedlichen Kulturen bewusste Tradition zu entwickeln, welche angesichts all dieser massiven Globalisierungsphänomene für etwas Eigenständiges einstehen könnte. José Martí versuchte, jene Vision («Eramos una vision»818) abzulegen, welche die Lateinamerikaner in

 Ortiz, Fernando: Contrapunteo cubano del tabaco y el azúcar, S. 94.  Ebda.  Martí, José: Nuestra América. In (ders.): OC 6, S. 20.

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4. Hauptstück: Konflikte, Kriege, Konvivenz

eine heterogene Mischung der unterschiedlichsten Globalisierungsphasen verwandelte und sie hinter einer Maske («Eramos una máscara»819) verschwinden ließ, welche fremde und ferne Reflexe spiegelte. Wie aber ließe sich Martís Denken der Globalisierung als Ansatz für die Zukunft deuten und bezeichnen? Immer wieder wurde insbesondere innerhalb der inselkubanischen MartíRezeption – wie wir im ersten Teil dieser Studie sahen – von einem Humanismus gesprochen, der den Stempel des Pragmatischen, einer individuellen wie kollektiven Praxis als Reaktion auf sich rasch verändernde Umstände, trage.820 Ohne José Martí als Vorläufer des Kuba Fidel Castros zu etikettieren,821 muss es heute darum gehen, eine wesentlich komplexere Sichtweise Martís als Denker einer Globalität zu entwickeln, die unverkennbar im Zeichen seines amerikanischen Humanismus stand. Aber war José Martí als Denker der Globalisierung nicht wesentlich mehr als ein weiterer unter so vielen Humanisten? Verwischt diese Bezeichnung nicht sein antikolonialistisches Denken und Handeln im Kampf für die politische Unabhängigkeit Kubas wie für eine freie und zukunftsgerichtete Entfaltung von Nuestra América in einer dramatischen Phase beschleunigter Globalisierung? Diese neue Sichtweise sollte den Martí’schen Humanismus nicht als eine zum Teil christlich inspirierte, vor allem aber mit aufklärerischem Optimismus versetzte praktische Philosophie verstehen,822 sondern der Tatsache Rechnung tragen, dass sich dieser Humanismo keineswegs auf eine ideologisch-politische Dimension reduzieren lässt, sondern die unterschiedlichsten, aber stets auf ein Lebenswissen bezogenen ethischen, ästhetischen und kulturtheoretischen Aspekte beinhaltet. Martí gab dem Humanismus ein amerikanisches Antlitz, ja mehr noch: Er verwandelte den Humanismus in etwas genuin Amerikanisches, in einen Teil einer amerikanischen Ausdruckswelt.

 Ebda.  Vgl. hierzu besonders Guadarrama González, Pablo: Humanismo práctico y desalienación en José Martí. In: Ette, Ottmar / Heydenreich, Titus (Hg.): José Martí 1895 / 1995. Literatura – Política – Filosofía – Estética. 10° coloquio interdisciplinario de la Sección Latinoamérica del Instituto Central (06) de la Universidad de Erlangen-Nürnberg. Frankfurt am Main: Vervuert Verlag 1994, S. 34 f.  Guadarrama González, Pablo: José Martí y el humanismo en América latina, S. 97.  Ebda. Vgl. hierzu auch die Studie von Guadarrama González, Pablo: Raíces humanistas y vigencia martiana del proceso revolucionario cubano. In: Anuario del Centro de Estudios Martianos (La Habana) XXII (1999), S. 202–215.

Ausleitung: José Martí und ein amerikanischer Humanismus Halten wir am Ausgang dieses zweiten Teiles unserer über mehr als drei Jahrzehnte lang entstandenen Studie fest: Martís Kritik an einer sich beschleunigenden sozioökonomischen Modernisierung (Modernización) und an einem nicht mehr nur europäisch, sondern zunehmend angelsächsisch geprägten Moderne-Begriff (Modernidad) führte ihn seit Anfang der achtziger Jahre – und damit parallel zu seiner Einsicht in jene grundlegenden Veränderungen, die wir der dritten Phase beschleunigter Globalisierung zurechnen können – zur Entwicklung einer literarästhetisch und kulturtheoretisch fundierten Konzeption eines Schreibens in den Zeiten der Moderne (Modernismo). Das modernistische Schreiben war für ihn nicht bloßer Schmuck und Zierrat, war für ihn nicht in erster Linie Ausdruck eines ausgeprägten Stilwillens (voluntad de estilo), sondern poetische Ausdrucksform eines dichterischen Erkennens, welches Literatur und Dichtkunst als Formen eines Wissens vom Leben in einer Welt der Moderne und einer alles akzelerierenden Globalisierung verstand. In seinem erstmals 1882 als Vorwort zu El Poema del Niágara von Juan Antonio Pérez Bonalde veröffentlichten Text lässt sich aus heutiger Sicht – und diese Studie hat versucht, dies im Kontext einer Vielzahl anderer Martí’scher Schriften nachzuweisen – die zweifellos früheste Programmschrift des hispanoamerikanischen Modernismus erkennen. Sie öffnet den Blick auf ein Denken beschleunigter Globalisierung, wie es sich in den darauf folgenden Jahren bei ihm entfaltete. Diese modernistische Programmschrift Martís geht davon aus, dass eine neue Zeit, eine «época de elaboración y transformación espléndidas»823 angebrochen sei, in der es weder «obra permanente» noch «caminos constantes»824 gebe. Alles in dieser Epoche beständiger Elaboration und Transformation von Menschenhand Geschaffene unterliegt ständiger und nunmehr beschleunigter Veränderung, in welcher allein die Umformung permanent sein könne. Dabei könnte man mit guten Gründen in Martís verdichteten Wendungen – «Sólo lo genuino es fructífero. Sólo lo directo es poderoso»825 – bereits die Vorformulierung für jenen verdoppelten Auftakt sehen, den José Lezama Lima ein Dreivierteljahrhundert später La expresión americana geben sollte, denn: «Allein das Schwierige stimuliert / Sólo lo difícil es estimulante.»:826    

Martí, José: El Poema del Niágara. In (ders.): OC 7, S. 224. Ebda., S. 225. Ebda., S. 230. Lezama Lima, José: La expresión americana, S. 9.

https://doi.org/10.1515/9783110788471-006

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Ausleitung: José Martí und ein amerikanischer Humanismus

Allein das Schwierige stimuliert; allein die uns herausfordernde Widerständigkeit ist in der Lage, unsere Potenz der Erkenntnis heraufzuführen, zu erwecken und aufrechtzuerhalten, aber in Wirklichkeit: Was ist das Schwierige? Allein das Überspülte, in den mütterlichen Wassern des Dunklen? Das Originäre ohne Kausalität, Antithese oder Logos? Es ist die Form im Werden, in der eine Landschaft einem Sinn entgegen geht, eine Interpretation oder eine einfache Hermeneutik, um danach ihrer Rekonstruktion zuzustreben, welche definitiv ihre Effizienz oder ihren Nichtgebrauch, ihre zuchtmeisterliche Kraft oder ihr verklungenes Echo markiert, das ihre historische Vision ist. Sólo lo difícil es estimulante; sólo la resistencia que nos reta es capaz de enarcar, suscitar y mantener nuestra potencia de conocimiento, pero en realidad ¿Qué es lo difícil? ¿lo sumergido, tan sólo, en las maternales aguas de lo oscuro? ¿lo originario sin causalidad, antítesis o logos? Es la forma en devenir en que un paisaje va hacia un sentido, una interpretación o una sencilla hermenéutica, para ir después hacia su reconstrucción, que es en definitiva lo que marca su eficacia o desuso, su fuerza ordenancista o su apagado eco, que es su visión histórica.827

In dieser Lezama Limas Prosaband eröffnenden Passage wird auf grammatikalischer wie auf stilistischer, auf inhaltlicher wie thematischer Ebene deutlich, dass es das in Bewegung und Entwicklung Befindliche, das Unabgeschlossene und mithin die forma en devenir, die Form im Werden, innerhalb einer Landschaft und gerade nicht deren vermeintliche Gegebenheit und Starrheit sind, die den Essayisten, Dichter und Romancier mit ihrer sinnlichen und sinnhaltigen Offenheit anziehen. Es geht um das estimulante, um den Stimulus, ja selbst den schmerzenden Stich, der das Denken anreizt, in Bewegung setzt und nicht in erster Linie am Ankommen, am Fest-Stellen ausgerichtet ist. José Martí war ein Denker auf dem Sprung. So geht es auch dem Conocimiento poético, der dichterischen Erkenntnis, nicht um ein stabiles, ein für alle Mal fixiertes Wissen, sondern gleichsam um ein hochgradig dynamisches Wissen, ja einen Wirbel des Wissens, der gerade dem Schwierigen seinen Bewegungsimpuls verdankt: Sólo lo difícil es estimulante. Für José Martí war die dichterische Erkenntnis zentral. Das 1882 zum Ausdruck kommende Epochengefühl einer Zeit des Übergangs und des Aufbruchs, in der auf die Menschen auf den verschiedensten Gebieten die zentrale Frage nach dem Geheimnis des Lebens stellen – «demandando a la vida su secreto»,828 wie es der Schlusssatz von Martís Vorwort formuliert –, ist weniger als ein Jahrzehnt später, in Nuestra América, der unübersehbaren Sorge gewichen, unser Amerika könne durch den bevorstehenden Besuch durch das Amerika des Nordens bald schon in eine neue, diesmal postkoloniale Abhängigkeit

 Ebda.  Martí, José: El Poema del Niágara, S. 238.

Ausleitung: José Martí und ein amerikanischer Humanismus

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geraten. Denn Martí verstand, dass die imperialistische Expansion der USA Teil jener weltumspannenden Beschleunigung war, die er mit dichterischer Sensibilität schon so früh erkannte. Adelbert von Chamissos Siebenmeilenstiefel bedrohten nun in Form der USA die lateinamerikanische Welt und versuchten, sich Nuestra América aufzudrücken. Was war zu tun? Martí macht in seinem Essay vom 1. Januar 1891 auf diese Gefahr aufmerksam, entwickelt zugleich aber einen Diskurs, der sich vehement nicht nur jeglicher Form der Abhängigkeit und Unterdrückung, sondern auch des Rassismus entgegensetzt und «la identidad universal del hombre»829 – und damit ein zutiefst menschliches Prinzip – als Leitlinie betont. Es geht ihm um das Humanum, um den Menschen, aber auch – wie wir mit Blick auf María Mantilla und Juana Borrero sagen könnten – um den hombre, um den Mann, der im Sinne Martís die Richtung vorgeben und bestimmen müsse. Wir haben uns ausführlich mit dieser rückwärtsgewandten Dimension seines Denkens beschäftigt. Der kubanische Lyriker und Essayist signalisiert bewusst die Gefahr, dass sich das längst in den USA entwickelte Überlegenheitsdenken gegen die als «perecederas e inferiores»830 erachteten Völker unseres Amerika richten könnte, und wendet sich im Namen der Menschheit wie der Menschlichkeit gegen jegliche Fremdbestimmung und Abhängigkeit: «Peca contra la Humanidad el que fomente y propague la oposición y el odio de las razas.»831 Martí stellt sich folglich jeglichem Rassenhass entgegen: Wer solches tue, versündige sich an der Menschheit. In logischer Konsequenz entsteht auf den letzten Zeilen von Nuestra América ein alternatives Moderne-Konzept, das nicht an der Durchsetzung eines einzigen Modernisierungsmodells, nicht an der Begrifflichkeit einer einzigen Moderne-Konzeption ausgerichtet ist: Denken heißt dienen. Auch dem blonden Volk des Kontinents darf man nicht aus dörflicher Antipathie eine angeborene und unabwendbare Bösartigkeit unterstellen, bloß weil es unsere Sprache nicht spricht, das Haus anders sieht, als wir dies tun, oder uns in seinen politischen Mängeln nicht ähnelt, da diese sich von den unsrigen unterscheiden; sicherlich: Es schätzt weder heißblütige noch dunkelhäutige Menschen, und es blickt keineswegs barmherzig von seiner noch unsicheren Position auf diejenigen herab, denen die Geschichte weniger günstig gesinnt war und die nun in heldenhaften Etappen den Weg zur Republik erklimmen. Und schließlich dürfen die bekannten Faktoren dieses Problems, das sich durch eine sinnvolle Forschungsarbeit und eine stillschweigende, heute so dringliche Einigung der Seele des Kontinents lösen ließe, nicht verheimlicht werden, hängt davon doch die Schaffung eines dauerhaften Friedens ab. Denn schon ertönt ein-

 Martí, José: Nuestra América, S. 24.  Ebda.  Ebda.

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Ausleitung: José Martí und ein amerikanischer Humanismus

mütig die Hymne; die jetzige Generation folgt dem Weg ihrer erhabenen Väter und trägt auf ihrem Rücken das Amerika der Arbeiter. Auf des Kondors Rücken saß der Große Semí und warf den Samen, vom Río Bravo bis zur Magellan-Straße, über die romantischen Nationen des Kontinents wie auch die schmerzensreichen Inseln des Meeres – den Samen des Neuen Amerika!832 Pensar es servir. Ni ha de suponerse, por antipatía de aldea, una maldad ingénita y fatal al pueblo rubio del continente, porque no habla nuestro idioma, ni ve la casa como nosotros la vemos, ni se nos parece en sus lacras políticas, que son diferentes de las nuestras; ni tiene en mucho a los hombres biliosos y trigueños, ni mira caritativo, desde su eminencia aún mal segura, a los que, con menos favor de la historia, suben a tramos heroicos la vía de las repúblicas: ni se han de esconder los datos patentes del problema que puede resolverse, para la paz de los siglos, con el estudio oportuno, —y la unión tácita y urgente del alma continental. ¡Porque ya suena el himno unánime; la generación real lleva a cuestas, por el camino abonado por los padres sublimes, la América trabajadora; del Bravo a Magallanes, sentado en el lomo del cóndor, regó el Gran Semí, por las naciones románticas del continente y por las islas dolorosas del mar, la semilla de la América nueva!833

Die Schlusszeilen dieses Essays entwerfen das Bild von einem anderen, einem neuen Amerika, dessen Entfaltung durch das Denken («pensar») für Martí ein Dienst («servir») ebenso an Amerika als auch an der Menschheit insgesamt darstellt. In der Wiederaufnahme der dörflerischen Metaphorik («aldea») schließt sich der gedankliche Bogen, der von den ersten zu den letzten Zeilen des Essays reicht, um sich zugleich auf eine Vision des Neuen hin zu öffnen, die sich der alten Vision («Eramos una visión»834) entschieden entgegenstellt. Der neue Diskurs für Nuestra América entwirft für die in der Romantik unabhängig gewordenen Staaten wie für die antillanischen Inselwelten neue, nachromantische und in eigener Weise moderne Zukünfte, in welchen auch die durch den Verweis auf den Amalivaca-Mythos präsenten indigenen Kulturen ihren selbstverständlichen Platz finden sollten. Martís hemisphärische Konstruktion (der) Amerikas unterscheidet deutlich zwischen zwei ethnisch, sprachlich, politisch, wirtschaftlich und kulturell unterschiedlichen Areas, die sich freilich nicht feindlich gegenüberstehen müssten. Die transarealen, also beide Räume querenden Beziehungen werden von Martí hier in höchst auffälliger Weise weitestgehend ausgeblendet – auch wenn er als Kubaner im New Yorker Exil für Zeitungen und Zeitschriften in New York, in Mexico (wo die wichtige zweite Veröffentlichung von Nuestra América am 30. Januar 1891 in El Partido Liberal erfolgte) und insbesondere auch in Buenos Aires schrieb. Es sind

 Marti, José: Unser Amerika, S. 66 f.  Martí, José: Nuestra América, S. 24 f.  Ebda., S. 21.

Ausleitung: José Martí und ein amerikanischer Humanismus

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unverkennbar taktische Gründe, die Martí bewogen haben dürften, unser Amerika gleichsam als einen eigenen Kontinent («continente») zu konstruieren, der – geographisch ebenso wenig haltbar wie politisch oder kulturell – als eine im etymologischen Sinne zusammenhängende und zusammengehörende Einheit vom Río Bravo bis zur Magellanstraße unter besonderem Einschluss der archipelischen karibischen’ Inselwelt in Szene gesetzt wird. Auf diesen Raum gründet sich der Martí’sche Humanismus, ein lateinamerikanischer Humanismus an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Soll die kontinentale Einheit der hier lebenden Völker auch eine «stille» sein und nicht durch supranationale Strukturen Bolívar’scher Prägung erzeugt werden, so ist es doch für Martí unumgänglich, eine Symbolfigur zu schaffen, um die im Begriff von Nuestra América bereits anschauliche Verknüpfung von Plural und Singular, von Vielfalt und Einheit zusammenbinden und repräsentieren zu können. So ist die den gesamten Essay abschließende Figur des Gran Semí, die Martí über die Schriften seines venezolanischen Freundes Arístides Rojas indirekt aus den Werken von Alexander von Humboldt und Pater Filippo Salvatore Gilli bezog,835 ein direkter Rückgriff auf die Welt indigener Mythen, die – wie wir sahen – bereits im ersten Abschnitt des Essays programmatisch eingeblendet worden war. Damit stellt sich am Ausgang dieses zweiten Teils unserer Martí-Studie eine Verbindung zur «Einleitung» dieses zweiten und abschließenden Teiles her. Vor diesem mythengeschichtlichen Hintergrund dient der auf die Tamanaken im heutigen Venezuela zurückgehende Mythos von Amalivaca dazu, eine transhistorische und transkulturelle, verschiedene Epochen querende geschichtliche und kulturelle Dimension zu eröffnen, die sowohl die im Zeitraum der Romantik entstandenen unabhängigen Nationen und die zum größten Teil in schmerzhafter kolonialer Abhängigkeit verbliebenen Inseln der Karibik, aber auch Völker mit und ohne indigenen Bevölkerungsanteil zu einer einzigen Konfiguration – wenn auch nicht Konföderation – zu vereinen. Es ist wichtig, nochmals zu betonen, dass Martí alle kulturellen Pole, die wir für die Amerikas auflisten können, zusammenzuführen sucht: Martí zielt auf eine integrative Konvivenzpolitik ab. Bis heute wurde eine solche Konvivenzpolitik niemals verwirklicht. José Martí unternimmt den entschlossenen Versuch einer grundlegenden Entkolonialisierung überkommener Vorstellungen und Bildwelten.836 Mit dieser

 Vgl. Vitier, Cintio: Una fuente venezolana de José Martí. In (ders.): Temas martianos. Segunda serie. La Habana: Editorial Letras Cubanas Centro de Estudios Martianos 1982, S. 105–113.  Vgl. hierzu Weinberg, Liliana: Literatura latinoamericana. Descolonizar la imaginación. México, D.F.: Universidad Nacional Autónoma de México 2004, S. 67–80; sowie die MartíStudie derselben Autorin: José Mari: entre el ensayo, la poesía y la crónica. Xalapa: Universidad Veracruzana 2021.

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Ausleitung: José Martí und ein amerikanischer Humanismus

von Martí verschiedentlich vorgetragenen Kritik an einem Fortbestehen kolonialer Denk- und Handlungsmuster verbindet sich in Nuestra América vor dem Hintergrund wiederum beschleunigter Globalisierungsprozesse eine tiefgreifende Kritik an einer Moderne, die ausschließlich europäisch geprägten Mustern folgt und bestenfalls noch vom libro yankee beeinflusst ist. Dem auf militärische, wirtschaftliche und politische Expansion angelegten Moderne-Projekt der USA setzt Martí – aus der Perspektive der Länder und Kulturen unseres Amerika – das Projekt einer anderen Moderne entgegen, die sich nicht des Englischen – als Sprache der dritten (wie der vierten) Phase beschleunigter Globalisierung – bedienen will, sondern zusätzlich zu den europäischen Sprachen Spanisch und Portugiesisch beziehungsweise Französisch (die sich in Amerika der ersten beziehungsweise zweiten Phase beschleunigter Globalisierung verdanken) auch die indigenen Sprachen miteinzubeziehen verspricht: «Los gobernadores, en las repúblicas de indios, aprenden indio.»837 Wo die Bevölkerung indigene Sprachen spricht, sollen diese auch von den Regierenden gesprochen werden – eine Zielsetzung, die in den meisten Ländern Lateinamerikas bis heute ebenfalls nicht verwirklicht ist. Doch sie ist Teil der Martí’schen Modernekonzeption, die im genderpolitischen Bereich ihre fundamentalen Schwachstellen besitzt, ansonsten aber in vielen Aspekten noch immer aktuelle Impulse zu geben vermag. José Martís Rückgriff auf die indigenen Kulturen, Sprachen und Mythen ist ein unverkennbares Zeichen für die in seiner Deutung des Schreibens in der Moderne programmatische Öffnung der kulturellen Horizonte. Dabei sind es freilich nicht allein die aktuellen indianischen Sprachen, sondern auch die längst historisch gewordenen Kulturen der präkolumbischen Völker, die von entscheidender Bedeutung für unser Verständnis von Nuestra América werden sollten. Denn diese Schöpfung einer der abendländischen gleichgestellten und zugleich entgegengestellten amerikanischen Antike lässt sich begreifen als ein Bekenntnis zu einem nicht länger eurozentrischen Verständnis einer einzigen, universalistisch zu begreifenden Moderne. Die «identidad universal del hombre»,838 die Martí jeglicher Form von Rassismus entgegenstellte, bedeutet keineswegs, dass sich sein Humanismus auf eine abstrakt-universalistische Position zurückzöge, von der aus sich alle kulturelle oder areale Differenz auflöste. Martí klagt in Nuestra América vielmehr auf sehr konkrete Weise die spezifisch amerikanische Dimension seines Denkens einer Globalität in der dritten Phase beschleunigter Globalisierung ein. Seine

 Martí, José: Nuestra América, S. 22.  Martí, José: Nuestra América, S. 24.

Ausleitung: José Martí und ein amerikanischer Humanismus

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Antwort auf die verschärften Spannungen dieser Phase war eine beschleunigte Integrationspolitik im Zeichen einer fundamentalen Konvivenz, die an die frühen Begegnungen des Kubaners mit schwarzen wie mit indigenen Kulturen erinnert und daran geschichtsphilosophisch reflektiert anknüpft. Über das sich hieraus notwendig ergebende Verständnis einer Pluralität der Modernen hinaus darf man den Rückgriff auf eine amerikanische Antike auch begreifen als ein grundlegendes Zeichen für die Herausbildung eines amerikanischen Humanismus, der nach eigenen Quellen, eigenen Bezugspunkten sucht und sich nicht (allein) auf Europa stützt. Lässt sich der europäische Humanismus – ein Konzept, das sich als Epochenbegriff im übrigen erst im 19. Jahrhundert durchsetzte – vielleicht am prägnantesten bestimmen als «Rückgriff auf die Ursprünge in der Antike zum Zweck der Entwicklung der eigenen Kultur»,839 so könnte man die von José Martí in Nuestra América entfaltete Konzeption als einen ebenso an der Menschheit wie am Ideal der Menschlichkeit ausgerichteten amerikanischen Humanismus in den Zeiten nicht der Regelästhetik, sondern der Herausbildung eigenständiger und divergierender, multipler Modernen begreifen. Anders als ein José Enrique Rodó, der – wie wir in der gebotenen Kürze sahen – aus der Perspektive des Cono Sur ein modernistisches Moderne-Projekt entwarf, in dem sehr wohl die abendländische Antike, nicht aber die indigenen Kulturen der Vergangenheit wie der Gegenwart enthalten waren, entwarf Martí ein zukunftsoffenes Konzept, das in der Folge von lateinamerikanischen Autoren wie Alfonso Reyes,840 Jorge Luis Borges oder José Lezama Lima im Zeichen einer weltoffenen expresión americana weiterentwickelt wurde. Martís Rückgriff auf die Ursprünge einer amerikanischen Antike zum Zwecke der Entwicklung einer eigenen Moderne ist noch immer eine Herausforderung für jegliches Verständnis von Moderne wie von Humanismus in den Amerikas. Vielleicht ermöglichen uns Martís Wege zu einem amerikanischen Humanismus eine im besten Sinne divergierende Humanismuskonzeption, die nicht allein auf die abendländische Antike zurückgreift, sondern kulturell wesentlich breiter und zutiefst transkulturell ausgerichtet ist. Denn der Humanismus ist nicht das Erbe und die Verpflichtung einer einzigen kulturellen Filiation, auch wenn diese begriffsprägend war. Im Zeichen seiner sich entfaltenden Konvivenzpolitik wurde sich José Martí dieser Tatsache bewusst, die für unsere Gegenwart und Zukunft noch immer eine offene Verpflichtung ist.

 Lehnert, Gertrud: Europäische Literatur. Köln: DuMont 2006, S. 40.  Vgl. hierzu die Potsdamer Habilitationsschrift von Ugalde Quintana, Sergio: Filología, Creación y Vida: Alfonso Reyes y los estudios literarios. Universität Potsdam 2022.

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Ausleitung: José Martí und ein amerikanischer Humanismus

Martís modernistische Prosa mag mit ihrer von einer modernistischen Lyrik geprägten Symbolsprache und Syntax vielleicht historisch geworden sein. Auch seine genderpolitischen Positionierungen sind geradezu einer geschichtlichen Vor-Zeit überantwortet. Doch in vielen anderen Aspekten gilt dies nicht für den Denker der Globalisierung, welcher dem Moderne-Verständnis der Vereinigten Staaten eigene Auffassungen in Sachen Demokratie und Politik, Finanz-, Währungs- und Wirtschaftssystem, aber auch Kultur und Konvivenz entgegenstellte. Martí entwarf für Nuestra América einen anderen Weg in die Moderne sowie ein anderes Verständnis dessen, was eine Gesellschaft in der Moderne sein sollte. Zugleich lässt uns in der aktuellen Epoche nach dem Ausgang einer Phase erneuter beschleunigter Globalisierung Martís Nuestra América die Begrenztheit, zugleich aber auch die potentielle Offenheit erkennen, welche die philosophischen und ästhetischen, die kulturellen und literarischen Räume eines bis heute dominanten Verständnisses von Humanismus prägen. Auch dies ist ein Aspekt, der dem Conocimiento poético nahesteht und verpflichtet ist. Im Zeichen einer weltumspannenden Globalisierung ist der Humanismus das Erbe und die Sache der gesamten Menschheit und nicht bloß eines Teiles von ihr. Keine einzelne kulturelle Area hat den ausschließlichen Anspruch auf ein humanistisches Denken. Humanismus ist ein der gesamten Menschheit zugehöriger Begriff jenseits eines (möglicherweise noch immer an Europa ausgerichteten) universalistischen Denkens. José Martí ist in diesem Sinne nicht nur für die Neue Welt, sondern gerade auch für die Alte Welt ein eminent wichtiger Gesprächspartner, in dessen Schriften die wesentlichen Traditionslinien eines 19. Jahrhunderts zwischen zwei Welten zusammenlaufen. Die Entstehung und Ausprägung jener Welt, in der wir heute leben, hat der Verfasser von Nuestra América gesehen, bezeugt und mit seinem Denken und Schreiben eine Perspektive geschaffen, die unserer nach dem Ende der vierten Phase beschleunigter Globalisierung in zwei Teile zerbrechenden Welt neue und hilfreiche Ansichten vermittelt. Sein Denken hilft bei dem Versuch, jenseits aller monochromen Universalismen Globalisierung multiperspektivisch für die gesamte Menschheit zu denken. Als Denker der Globalisierung war Martí ein Denker für die Welt.

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Abbildungsverzeichnis Abb. 1

Abb. 2 Abb. 3

Abb. 4

Abb. 5 Abb. 6

Abb. 7

Abb. 8

Abb. 9

Abb. 10

Abb. 11

Abb. 12

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https://doi.org/10.1515/9783110788471-008

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Abbildungsverzeichnis

Abb. 13

Fulgencio Batista In: Cuetos, Laviana: José Martí. Madrid: Quinto Centenario 1988, S. 97 160 Fidel Castro. In: Cuetos, Laviana: José Martí. Madrid: Quinto Centenario, S. 97 161 Konterrevolutionäre Kommandanten in einem Ausbildungslager in Florida. In: Ungeheuer, Barbara: Ein Contra für die Familie. In: Die Zeit (Hamburg) 28 (5.7.1985), S. 50 161 Martí mit Mitgliedern des Cuerpo de Consejo de Kingston, Jamaica, 1892. In: Quesada y Miranda, Gonzalo de (Hg.): Iconografa Martiana. La Habana: Editorial Letras Cubanas La Habana 1985, S. 67 166 Martí mit Mitgliedern des Cuerpo de Consejo de Kingston, Jamaica, 1892. In: Quesada y Miranda, Gonzalo de (Hg.): Iconografía Martiana. La Habana: Editorial Letras Cubanas La Habana 1985, S. 61 166 Variante von Abb. 16b. In: Florit, Eugenio: Versos. In: José Martí (1853–1895). Vida y obra – Bibliografía – Antología. New York, Río Piedras: Hispanic Institute 1953, S. 51 167 Gruppenphoto aufgenommen in Key West, Florida, im Dezember 1891, mit den Mitgliedern des Organisationskomitees der kubanischen Patrioten in dieser Stadt. Sitzend, von links nach rechts: Gualterio García, Martí und Ángel Peláez. Stehend: Genaro Hernández, Serafín Bello, Aurelio C. Rodríguez, José G. Pompez, Frank Bolio und Francisco María González. Alle tragen das weiße Band an ihrem Revers. In: Quesada y Miranda, Gonzalo de (Hg.): Iconografía Martiana. La Habana: Editorial Letras Cubanas La Habana 1985, S. 49 168 Martí mit einer Gruppe von kubanischen revolutionären Emigranten am Eingang der Zigarrenfabrik von Vicente Matínez Ybor in Ybor City, Tampa, Florida. Foto, aufgenommen 1892 von José María Aguirre während einer der Reisen Martís, die der revolutionären Propaganda und dem Sammeln von Spenden für den neuen Unabhängigkeitskrieg gewidmet waren. In: Quesada y Miranda, Gonzalo de (Hg.): Iconografía Martiana. La Habana: Editorial Letras Cubanas La Habana 1985, S. 54 169 Martí mit einer Gruppe kubanischer Emigranten bei Schießübungen im alten Martello Tower Fort in Key West, Florida, 1893. Martí erscheint mit einer Melone in der zweiten Reihe von links. In: Quesada y Miranda, Gonzalo de (Hg.): Iconografía Martiana. La Habana: Editorial Letras Cubanas La Habana 1985, S. 73 171 Portrait von Martí, aufgenommen 1875 in México von Valleto y Cía., Primera de San Francisco no. 8. In: Quesada y Miranda, Gonzalo de (Hg.): Iconografía Martiana. La Habana: Editorial Letras Cubanas La Habana 1985, S. 27 173 Portrait von Martí, aufgenommen 1885 von W.F. Bowers, Photo Artist – 340 Fulton Street, Head of Court St. Brooklyn, New York. In: Quesada y Miranda, Gonzalo de (Hg.): Iconografía Martiana. La Habana: Editorial Letras Cubanas La Habana 1985, S. 37 174 Portrait von Martí, das nach Angaben des puertoricanischen Patrioten Sotero Figueroa 1891 in Washington aufgenommen wurde, als die Amerikanische Internationale Währungskommission tagte, in der Martí

Abb. 14 Abb. 15

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die Republik Uruguay vertrat. In: Quesada y Miranda, Gonzalo de (Hg.): Iconografía Martiana. La Habana: Editorial Letras Cubanas La Habana 1985, S. 45 174 Variante von Abb. 23. In: Schnelle, Kurt: José Martí. Apostel des freien Amerika. Leipzig – Jena – Berlin: Urania-Verlag 1981, S. 118 175 Portrait von Martí, aufgenommen in Key West, Florida, vom Fotografen Andrés I. Estévez, während des ersten Besuchs des Maestros in dieser Stadt im Dezember 1891. Martí trägt die weiße Schleife an seinem Revers. In: Quesada y Miranda, Gonzalo de (Hg.): Iconografía Martiana. La Habana: Editorial Letras Cubanas La Habana 1985, S. 47 178 Portrait von Martí, das ebenfalls bei seinem ersten Besuch in Key West im Dezember 1891 aufgenommen worden zu sein scheint. In: Quesada y Miranda, Gonzalo de (Hg.): Iconografía Martiana. La Habana: Editorial Letras Cubanas La Habana 1985, S. 53 181 Portrait von Martí in Kingston, Jamaica, aufgenommen am 10. Oktober 1892 von Juan Bautista Valdés. In: Quesada y Miranda, Gonzalo de (Hg.): Iconografía Martiana. La Habana: Editorial Letras Cubanas La Habana 1985, S. 67 181 Portrait von Martí in Mexiko, Juli 1894, aufgenommen von Manuel Torres. In: Quesada y Miranda, Gonzalo de (Hg.): Iconografía Martiana. La Habana: Editorial Letras Cubanas La Habana 1985, S. 89 182 Martí zwischen drei Landsleuten, wahrscheinlich um 1891 und 1892. In: Seminario Juvenil de Estudios Martíanos: Orientación y Bibliografía. La Habana 1974, S. 7 184 Cover von Entralgo Cancio: Martí ante el proceso de Jesús. La Habana: La Verdad 1956 188 Plakat zum Dokumentarfilm La guerra necesaria von Santiago Alvarez, 1980 189 Illustration zu Martís Obra poética in der Edition der gesammelten Werke von Alberto Ghiraldo. In: Martí, José: Obras completas. Ordenadas y prologadas por Alberto Ghiraldo. Bd. 2. Madrid: Editorial Atlántida 1925 190 Illustration zu Martís Versos libres in der Edition von Ivan A. Schulmann, 1970. In: In: Martí, José: Versos libres. Edición, prólogo y notas de Ivan A. Schulman. Barcelona: Editorial Labor 1970 190

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Personenverzeichnis Abaelard 231, 248 Adorno, Theodor W. 30 Alvarez, Santiago 186, 189 Anacaona 40 Anderson Imbert, Enrique 101, 102, 111 Arenas, Reinaldo 367 Arguedas, Alcides 341 Auerbach, Erich 30, 145, 206

Chayyam, Omar 111 Clavijero, Francisco Javier 41, 273, 282, 284, 297, 413, 414, 418 Collazo, Enrique 156 Columbus, Christoph 307, 381 Confiant, Raphaël 379 Coppée, François 116 Cros, Charles 131

Bachtin, Michail M. 114, 115 Barnet, Miguel 367 Barrios, Justo Rufino 120 Barthes, Roland 49, 186, 193, 202, 219, 225, 226, 229, 234, 236–238, 241, 243, 267 Batista, Fulgencio 23, 160, 161, 386 Bello, Andrés 25, 44, 282 Bernabé, Jean 379 Bernal del Riesgo, Alfonso 356 Betancourt, José Victoriano 93 Betancourt, Luis Victoriano 93 Bolívar, Simón 3, 26, 56, 282, 310, 337, 343, 358, 360 Borges, Jorge Luis 404, 447 Borrero, Esteban 210, 222, 227, 228, 231, 233, 263 Borrero, Juana 194–267, 280, 367, 443 Borrero, Mercedes 222, 223, 229 Bowers, W. F. 172, 174 Bremer, Thomas 117, 367 Buffon, Georges-Louis Leclerc de 339 Bunge, Carlos Octavio 341 Butler, Judith 202, 221, 229

Dante 117, 210, 231 Darío, Rubén 44, 55, 89, 115, 120, 178, 243, 275, 280, 286, 299, 303, 306, 308–310, 314, 319, 323, 342, 363, 376, 387–389 Darwin, Charles 52, 336 De la Cosa, Juan 368 De la Vega el Inca, Garcilaso 297, 413 Del Casal, Julián 178, 211, 213, 214, 220, 221, 225, 228, 241, 242, 243, 251, 255, 257 Deleuze, Gilles 183, 184, 187 Del Valle, Manuel 111, 117 Demolins, Edmond 341 De Pauw, Cornelius 339, 340 Derrida, Jaques 164, 165, 187 Dessau, Adalbert 25, 115 Desvernine, Dolores 225 Díaz, Porfirio 97 Disdéri, André Adolphe-Eugène 134 Doré, Gustave 111 Drouet, Minou 225, 226

Cano, Alonso 113 Carjat, Étienne 134 Carpentier, Alejo 110, 130, 277, 355, 367 Carter, Boyd G. 115 Castellanos, Juan de 125–127 Castro, Fidel 26, 161, 163, 186, 358, 410, 440 Cervantes, Miguel de 112, 344–363 Chamisso, Adelbert von 4, 6–17, 126–128, 272, 375, 396, 443 Chamoiseau, Patrick 379 Chávez, Hugo 26

Fernández de Lizardi, José Joaquín 89, 282, 345, 358, 360 Ferrari, Emilio 248 Fichte, Johann Gottlieb 284 Flaubert, Gustave 110, 210, 354, 355 Florit, Eugenio 59, 166 Forster, Georg 4, 11, 12, 284, 339, 396

https://doi.org/10.1515/9783110788471-009

Eckermann, Johann Peter 111 Emerson, Ralph Waldo 108, 323

Genette, Gérard 31, 114, 136 Gilli, Filippo Salvatore 293, 445 Gobineau, Arthur de 340, 341

470

Personenverzeichnis

Goethe, Johann Wolfgang von 109, 111, 259, 396 Gómez, Juan Vicente 338 Gómez, Máximo 104, 158, 159, 162, 163, 165, 172, 180, 183–185, 195, 287, 288, 362, 381, 411 Gómez de Avellaneda, Gertrudis 210, 333, 365, 367 González, Manuel Pedro 55, 357 González Prada, José Manuel 334–337 Goya, Francisco de 113 Guattari, Félix 183, 184, 187 Guevara, Ernesto Che 358, 360 Gutiérrez Nájera, Manuel 115, 243 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 277, 340 Henríquez Ureña, Pedro 102, 338 Heredia, José María 365, 367 Herrera de Herrera, Manuela 233 Herrera Franyutti, Alfonso 59, 60, 65, 72, 85 Hitzig, Julius Eduard 6, 7, 16 Horaz 46, 298, 351, 404, 413 Horkheimer, Max 30 Hostos, Eugenio María de 49, 50 Hugo, Victor 26, 37, 38, 106, 195 Humboldt, Alexander von 1–4, 6–10, 13, 17, 52, 269, 270, 282–284, 293, 330, 339, 396, 398, 401, 404, 445 Huysmans, Joris-Karl 109, 110 Isaacs, Jorge 117, 118 Jiménez, Juan Ramón 356 Johanna I. (Kastilien) 113 Jovellanos, Gaspar Melchor de 112, 113 Joyce, James 31 Kant, Immanuel 164, 284 Kirk, John M. 135 Kotzebue, Otto von 9, 10 Kristeva, Julia 210, 218 Lenin 26, 184 Lermontow, Michail J. 114

Lezama Lima, José 19–24, 26, 171, 195, 215, 263, 299, 367, 380, 395, 402, 409–412, 441, 442, 447 López Penha, Abraham Z. 245 Lotman, Jurij M. 114 Loynaz, Dulce María 367 Maalouf, Amin 379 Maceo, Antonio 104, 172, 180 Mañach, Jorge 361, 362 Mantilla, María 151, 152, 176, 193–200, 202, 203, 206–208, 267, 269, 312, 443 Mariátegui, José Carlos 337 Mármol, José 117, 118 Martí, José 1–17, 19–32, 34–123, 125–163, 165–189, 191, 193–208, 215, 216, 220, 221, 225, 231, 242, 243, 245, 246, 249, 252, 253, 257–259, 263, 264, 266, 267, 269–275, 277, 280, 285–303, 306, 309–334, 337, 342–344, 346–363, 365–388, 390–433, 435–448 Martí, José Francisco 145–148 Martí, Mariano 33 Martínez Estrada, Ezequiel 30, 101, 135, 136, 138, 141, 162, 165, 166, 179, 185, 187, 357 Martínez Ybor, Vicente 169 Matto de Turner, Clorinda 333 Mejía Sánchez, Ernesto 65, 200, 280 Mercado, Manuel 15, 42, 57, 116, 198, 275, 296, 325, 376, 402, 438 Meyer-Minnemann, Klaus 101, 105, 110, 224 Mitchel, W.J.T. 188 Miyares, Carmen 144, 152, 196 Montesquieu, Charles de Secondat de 339 Mussets, Alfred de 111 Muybridge, Eadweard 133, 134 Nadar, Félix 134 Napoleon I. 15, 340 Nietzsche, Friedrich 52, 179, 205, 219, 236, 276–278, 286, 287, 301, 305, 321, 387, 437 Norrman, Hermann 152, 153, 157, 158, 189

Personenverzeichnis

Ocaranza, Manuel 118 Ortiz, Fernando 299, 379, 401, 402, 410, 439 Palma, José Joaquín 79 Palma, Ricardo 358 Parsons, Lucy 200–202, 280 Pasolini, Pier Paolo 36 Pérez Bonalde, Juan Antonio 50, 87, 102, 133, 441 Pérez y Cabrera, Leonor 33 Pindar 112 Piñera, Virgilio 34, 367 Plessner, Helmuth 72 Poe, Edgar Ellen 111 Poyo, José Dolores 169, 409 Proust, Marcel 114, 304 Quesada y Aróstegui, Gonzalo de 59, 76, 99 Rama, Angel 5, 55, 61, 92, 125, 135, 144, 179, 187, 192, 288, 334, 335, 341, 374, 394 Ramos, Julio 90, 132, 316, 357 Raynal, Guillaume Thomas François 339, 340 Reyes, Alfonso 447 Ribeiro, Darcy 32 Ripoll, Carlos 64, 65, 72, 86 Rizal, José 309, 310, 332, 366, 378, 379, 424 Roa, Ramón 156 Rodó, José Enrique 44, 52, 109, 125, 178, 191, 192, 236, 243, 275, 276, 280, 299–306, 309, 310, 315, 319, 321, 323, 327, 334, 338, 342, 344, 363, 376, 387, 388, 417, 421, 432, 447 Rodríguez, Simón 20, 101, 171, 245, 282, 284, 300, 387 Rojas, Arístides 293, 330, 445 Roosevelt, Theodore 306–308, 342, 388 Rosas, Juan Manuel de 117 Saavedra Fajardo, Diego de 112, 113 Saldías, Adolfo 345 Sánchez, Serafín 65, 169, 200, 207, 280 Sarmiento, Domingo Faustino 41, 44, 203, 204, 319, 336, 407

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Shakespeare, William 28, 109, 301, 302, 387, 410 Staёl, Germaine de 16, 284 Stanford, Leland 133 Storni, Alfonsina 257 Subcomandante Marcos 358 Teresa de Jesús 256, 303 Teresa de Mier, Servando 282, 284, 320 Tocqueville, Alexis de 277, 330, 340, 436 Tristan, Flora 277, 340 Trump, Donald 436 Twain, Mark 352, 353, 355 Uhrbach, Carlos Pío 178, 208–212, 215–217, 223, 229, 235–238, 241, 243, 245, 246, 249, 251, 255, 260, 261, 264, 266 Uhrbach, Federico 209, 235 Unamuno, Miguel de 44 Valdés, Juan Bautista 167, 180, 181 Valdés Domínguez, Fermín 113, 120, 137, 139, 140, 145, 176 Valdivia, Aniceto 228 Valera, Juan 114 Vargas Llosa, Mario 335, 336, 348, 349, 354 Vasconcelos, José 291 Velázquez, Diego 225 Vergil 298, 351 Villaverde, Cirilo 365, 367 Vitier, Cintio 5, 104, 112, 126, 127, 211, 213–216, 223, 228, 231, 234, 241, 245, 262, 288, 293, 356, 357, 374, 395, 416, 445 Whitman, Walt 24, 92, 306, 307, 323, 411 Wilde, Oscar 351, 354 Zayas Bazán, Carmen 144, 194, 196, 205 Zola, Émile 110, 355 Zumeta, César 334, 338, 339, 341–343, 388