Jones,Logik theol.Perspektiven 9783666562549, 3525562543, 9783525562543

125 60 6MB

German Pages [248] Year 1985

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Jones,Logik theol.Perspektiven
 9783666562549, 3525562543, 9783525562543

Citation preview

V&R

HUGH O. J O N E S

Die Logik theologischer Perspektiven: eine sprachanalytische Untersuchung

VANDENHOECK & RUPRECHT IN G Ö T T I N G E N

Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Herausgegeben von Wolfhart Pannenberg und Reinhard Slenczka Band 48

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Jones, Hugh O.: Die Logik theologischer Perspektiven: eine sprachanalytische Untersuchung / Hugh O. Jones. - Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 1985. (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie ; Bd.48) ISBN 3-525-56254-3 NE: G T H 36 Als Habilitationsschrift auf Empfehlung des Fachbereichs Evangelische Theologie Johannes Gütenberg-Universität Mainz gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. © Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1985. - Printed in Germany. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus, auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen. Gesetzt aus Garamond auf Digiset 200 Τ 2

Vorwort Wenige Tage vor seinem T o d am 12. Februar 1985 meinte H u g h Jones, als wir über die Veröffentlichung seiner Habilitationsschrift sprachen, wir sähen uns vielleicht bei der Buchmesse im Oktober wieder. Aber er wußte, daß es dazu nicht mehr kommen würde. Nach einer zunächst erfolgreichen Entfernung eines Gehirntumors im Jahr 1981 starb er an der Wiederkehr eines inoperablen Tumors im Alter von 46 Jahren. Anfang der siebziger Jahre hatte ich H u g h Jones am Knox College in Dunedin, Neuseeland, kennengelernt und konnte ihn 1973 f ü r eine Assistentenstelle in Mainz gewinnen. Er kam - mit seiner Frau Jenny und zwei kleinen Kindern - mit großen Erwartungen, lernte schnell Deutsch, durchschaute bald die Vor- und Nachteile unseres hiesigen akademischen Systems und machte sich mit der geistigen Situation vertraut. Zugleich pflegte er Kontakte mit Universitäten in England und Schottland, veröffentlichte seine Arbeiten auch in beiden Sprachen. Und wie kaum ein anderer Wahlmainzer kannte er die Umgebung der Stadt, die Bauten und Kunstschätze im Land und die Geheimnisse der Weindörfer in Rheinhessen. H u g h Jones verbarg eher seine Gefühle, aber man wußte, wieviel Freude er an schönen Gegenständen, an Bildern und Büchern und vor allem an alter Musik hatte. Sein scharfer Verstand war gefürchtet, schon in Neuseeland. Bei Rededuellen blieb er meist der Sieger, seine warme Zuwendung aber schenkte er den Studenten, besonders den Studienanfängern. In seinem Zimmer oben unter dem Dach der alten Kaserne hielt er endlose Sprechstunden ab. Er hatte sich darauf eingerichtet, hier zu bleiben. Neuseeland hat er nie wieder besucht, und doch blieb er durch und durch ein britischer Neuseeländer. In den Jahren nach der Operation zeigte sich seinen Freunden und Studenten gegenüber ein gewisser Wandel. Es kehrte eine große Milde ein, auch eine Rückkehr zur Frömmigkeit seiner Kindheit, gepaart aber mit großer Verschlossenheit. Er hat mir gegenüber Zweifel geäußert, ob duch die Publikation seiner Habilitationsschrift ein adäquates Bild seiner Gedanken aus den letzten zwei Jahren wiedergegeben würde. Er mißtraute vielleicht der rationalistischen Gewichtung seiner bisherigen theologischen Arbeit, begann mit neuem Fragen nach den zentralen Inhalten des christlichen Glaubens, engagierte sich stark in der evangelischen Auferstehungskirche in Mainz, deren lutherische Liturgie ihm als Reformiertem eigentlich fremd war. 5

Die hier vorliegende Habilitationsschrift ist gerade vor der Operation 1981 fertig geworden. In den bangen Jahren danach hat er mit großer Willensanstrengung die Habilitation abgeschlossen und die Lehrveranstaltungen wieder aufgenommen. Die Universität Mainz ernannte ihn zum Professor auf Zeit, wie wenn durch diese damals unvermeidliche Begrenzung sein Schicksal schon signalisiert worden wäre. Mit seinem Tod verlor die deutschsprachige Theologie einen der wenigen wichtigen Vermittler angelsächsischen Denkens, besonders der analytischen Philosophie. Die Studenten verloren einen engagierten Lehrer und Berater. Ich verlor einen Freund und wichtigen Gesprächspartner, der zehn Jahre lang mein Mitarbeiter gewesen war. Heidelberg April 1985

6

Dietrich Ritsehl

Inhalt Vorwort

5

Einleitung

11

Teil I: Vier M o d e l l f ä l l e perspektivischer Sprache aus der angelsächsischen R e l i g i o n s p h i l o s o p h i e

19

1. „ D a s B e m e r k e n v o n Strukturen zeitlicher Ereignisse": D i e Philosophie John Wisdoms

21.

1.0 1.1 1.2 1.3 1.4

Einleitung Die Metaphysik John Wisdoms Tatsachenfragen jenseits aller Tatsachen Das Erreichen eines Urteils und die Beilegung von Differenzen O f f e n e Fragen

.

2. D a s blik-Konzept: D e r Beitrag R. M . H a r e s 2.0 2.1 2.2 2.3 2.4

Einleitung Die Logik eines bliks Die Falsifizierbarkeit eines bliks Die Formation und Transformation eines bliks O f f e n e Fragen

3. D a s K o n z e p t John Hicks 3.0 3.1 3.2 3.3 3.4

des

„Erleben-als":

Die

Religionsphilosophie -

Einleitung Die Bedeutungstheorie Die Erkenntnistheorie Kognitive Erfahrung und religiöser Glaube O f f e n e Fragen

4. D a s K o n z e p t des „Interpretieren-als": D e r w i s s e n s c h a f t s t h e o retische A n s a t z Ian Barbours 4.0 4.1 4.2 4.3 4.4

Einleitung Die Funktion religiöser Modelle Die Funktion wissenschaftlicher und religiöser Paradigmata . . . Religiöse Paradigmata O f f e n e Fragen

21 21 23 25 31 36 36 37 40 44 45

48 48 49 53 56 66

69 69 69 73 78 82 7

N a c h b e s i n n u n g und Ü b e r l e i t u n g

84

Teil II: Sprachanalyse der perspektivischen R e d e w e i s e

87

5. A s p e k t - s e h e n und Weltbild bei L u d w i g W i t t g e n s t e i n

89

5.0 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5

Einleitung Die Kontinuität in der Philosophie Wittgensteins Die Welt richtig sehen (Die Auffassung des Tractatus) Die Wende zur Übersichtlichkeit (Die Spätphilosophie) Das Bemerken eines Aspekts Das Weltbild: Die Frage nach der Begründung einer Betrachtungsweise 5.6 Ergebnisse

Teil III: P h i l o s o p h i s c h e u n d t h e o l o g i s c h e A n w e n d u n g e n perspektivischen R e d e w e i s e

141

Einleitung Personales Erkennen Der Vertrauensrahmen O f f e n e Fragen: Personales Erkennen und die Religion

7. Eine perspektivische T h e o l o g i e : G o r d o n schichtsperspektive 7.0 7.1 7.2 7.3

D.Kaufmans

128 133

einer

6. Eine P h i l o s o p h i e der personalen Perspektive: D e r Beitrag M i chael Polanyis 6.0 6.1 6.2 6.3

89 91 93 102 106

143 143 146 151 159

Ge164

Einleitung Die Perspektive des Denkers Sinnperspektiven und die Wahrheitsfrage Analyse und Kritik der perspektivischen Redeweise Kaufmans . .

164 166 174 179

8. Story als T r ä g e r der Perspektive: D e r t h e o l o g i s c h e Entwurf Paul van Burens

188

8.0 8.1 8.2 8.3 8.4

Einleitung Die fundamentale Sprachlichkeit menschlicher Existenz Der perspektivische Ansatz van Burens Story als Träger der Glaubensperspektive Schlußbemerkung

9. Lebens-story u n d Perspektive: Ein M o d e l l 9.0 Einleitung 9.1 Die Lebens-story 8

188 191 196 202 209 212 212 213

9.2 Die Perspektive

219

9.3 Ergebnisse

229

Schlußbemerkungen

231

Anhang: Thomas Kuhns „Second Thoughts"

234

Zitierweise und Abkürzungen

238

Verzeichnis der zitierten Literatur

239

9

Einleitung In der religionsphilosophischen Diskussion unseres Jahrhunderts ist die Möglichkeit des Redens von Gott mehrfach grundsätzlich bestritten worden. Unter der Fülle von konstruktiven Vorschlägen findet sich der Versuch, eine nachanalytische natürliche T h e o l o g i e zu entwickeln. N a c h dieser Sicht ist theistischer Glaube nicht nur eine mögliche, sondern die angemessenste Weise, die Welt zu betrachten. Grundlegend für diese A u f f a s s u n g scheint ein Perspektivismus zu sein, der - in je verschiedener Weise - eine Korrelation zwischen dem individuellen Blickpunkt und der Weltwirklichkeit voraussetzt und zu entfalten versucht. Diese Arbeit befaßt sich mit den Problemen perspektivischer Sprache in der angelsächsischen Religionsphilosophie, die in ihrer analytisch orientierten Strömung seit einigen Jahren immer mehr R e s o n a n z im deutschsprachigen Raum findet 1 . Nach der perspektivischen A u f f a s sung ist religiöses Reden nicht die bloße Anwendung überlieferter Worte, sondern vielmehr ein Reden von einem bestimmten Standpunkt aus. U m dieses Reden zu verstehen, müßte man - wenigstens zum Teil - an dem jeweiligen Standpunkt teilnehmen und mit seinen Regeln und Kriterien einverstanden sein. Im Hintergrund des Versuches, Perspektivität in die Methodik der Religionsphilosophie und T h e o l o g i e einzuführen, steht u.a. David H u m e mit seiner Kritik der alten Metaphysik. Die destruktive Wirkung dieser Kritik zeigt sich besonders deutlich in der Anwendung des „Instruments", das häufig „ H u m e ' s F o r k " genannt wurde. Dieses ist die fundamentale Unterscheidung zwischen zwei Wahrheitsformen mit ihren entsprechenden Behauptungen. In seiner Untersuchung über den menschlichen Verstand legt H u m e seine A u f f a s s u n g in klassischer Einfachheit dar: „Alle Gegenstände der menschlichen Vernunft und Forschung lassen sich naturgemäß in zwei Arten zerlegen, nämlich in Beziehungen von Vorstellungen und in Tatsachen. Von der ersten Art sind die Wissenschaften der Geometrie, Algebra und Arithmetik; und kurz gesagt, 1 Aus der Fülle neuer Darstellungen angelsächsischer Religionsphilosophie sind folgende besonders zu erwähnen: Dalferth ( H g . ) , Sprachlogik; Martin, S p r a c h p r ü f u n g ; Just, Religiöse Sprache; Peukert, Wissenschaftstheorie; G r a b n e r - H a i d e r , Vernunft; T r a c k , Untersuchungen; Meyer zu Schlochtern, Glaube. Eine E i n f ü h r u n g in die Problematik perspektivischer Sprache in der Religion findet sich in Reese, Seeing-As.

11

jede Behauptung von entweder intuitiver oder demonstrativer Gewißheit" . . . „Sätze diese Art sind durch die reine Tätigkeit des Denkens zu entdecken, ohne von irgendeinem Dasein in der Welt abhängig zu sein.,, 2 Diesen Vernunftwahrheiten gegenüber gibt es Tatsachenwahrheiten, d.h. diejenigen, die nur durch die Erfahrung als mehr oder weniger wahrscheinlich festgestellt werden können: „Tatsachen, der zweite Gegenstand der menschlichen Vernunft, sind nicht in gleicher Weise als gewiß verbürgt; ebensowenig ist unsere Evidenz von ihrer Wahrheit, wenn auch noch so stark, von der gleichen Art wie bei der vorhergehenden." 3 Alle Sätze müssen nach Humes Meinung zu einem dieser beiden T y pen gehören. Für die Metaphysik bedeutet dies aber eine Katastrophe. Einerseits kann man von den Vernunftwahrheiten her nichts über gewöhnliche Ursache-Wirkung-Verhältnisse sagen. Andererseits heißt die Beschränkung auf die Erfahrung, daß man sich letzten Endes mit Unvollständigkeit, Wahrscheinlichkeit, d.h. mit dem Glauben begnügen muß. Aus diesem Grund konnte H u m e über die herkömmliche Metaphysik in folgender Weise urteilen: „Sehen wir, von diesen Prinzipien durchdrungen, die Bibliotheken durch, welche Verwüstungen müssen wir da nicht anrichten? Greifen wir irgend einen Band heraus, etwa über Gotteslehre oder Schulmetaphysik, so sollten wir fragen: Enthält er irgend einen abstrakten Gedankengang über Größe oder Zahl? Nein. Enthält er irgend einen auf Erfahrung gestützten Gedankengang über Tatsachen und Dasein ? Nein. Nun, so werft ihn ins Feuer, denn er kann nichts als Blendwerk und Täuschung enthalten." 4 Allerdings liegt das fundamentaltheologische Problem hier in der Art, wie Aussagen über Gott gebildet werden. Hume, Kant und nachkantische Tradition bis zum Logischen Positivismus dieses Jahrhunderts haben trotz aller Unterschiede darauf bestanden, daß Aussagen über Gott weder als Vernunftwahrheiten noch als Schlußfolgerungen auf Grund der Erfahrung gerechtfertigt sind 5 . Einige zeitgenössische Religionsphilosophen und Theologen haben versucht, die Konsequenzen der Humeschen Kritik zu umgehen, indem sie Religion bzw. Glaube - aus formaler Sicht betrachtet - als Perspektive, als symbolischen Bezugs2

Hume, Untersuchung, 35; Herv. von Hume. Ebd. 4 Ebd. 193; Herv. von Hume. s Bekanntlich wollte Kant über die praktische Vernunft ein vernunftgegründetes Reden von Gott gewinnen. Hier wird nur von der theoretischen Vernunft gehandelt. 5

12

rahmen verstehen, innerhalb dessen die Welt angesehen bzw. interpretiert wird. Von diesen Versuchen wird im folgenden die Rede sein. Dieser Perspektivismus stellt allerdings keine neue Einsicht dar. In § 57 seiner Monadologie weist schon Leibniz auf das Phänomen des perspektivischen Sehens hin: „Und wie ein und dieselbe Stadt, von verschiedenen Seiten betrachtet, immer wieder anders und gleichsam perspektivisch vervielfältigt erscheint, so gibt es vermöge der unendlichen Vielheit der einfachen Substanzen gleichsam ebensoviele verschiedene Welten, die indes nichts anderes sind, als - gemäß den verschiedenen Gesichtspunkten jeder Monade - perspektivische Ansichten einer einzigen." 6 Leibniz hebt somit die konstituierende und gestaltende Funktion des erkennenden Bewußtseins hervor 7 . Ohne dieses Bewußtsein gäbe es keine Wirklichkeit; denn aus dem Bewußtsein werden Welten mit Sein, Substanz und Realität geschaffen. Im Zusammenhang seiner Als-Ob-Philosophie hat der Neukantianer Hans Vaihinger auf weitere Beispiele in perspektivischen Redeweisen hingewiesen 8 . Nach Kant sind die Kategorien „nur Regeln für einen Verstand, dessen ganzes Vermögen im Denken besteht, d.i. in der Handlung, die Synthesis des Mannigfaltigen, welches ihm anderweitig in der Anschauung gegeben worden, zur Einheit der Apperzeption zu bringen" 9 . Als logische Bedingungen der Erfahrung weisen sie die Abhängigkeit der Erkenntnis von der Beschaffenheit des Erkennenden auf. Bei Nietzsche kommt die Mannigfaltigkeit noch extremer und ohne apriorische Kategorien zum Ausdruck: „Ursprünglich Chaos der Vorstellungen. Die Vorstellungen, die sich miteinander vertrugen, blieben übrig, die größte Zahl ging zugrunde - und geht zugrunde." 1 0 Die Realität ist nach dem Wirklichkeitsverständnis Nietzsches der „Wille zur Macht", d.h. ein Chaos von Kraftzentren. Jedes einzelne Kraftzentrum organisiert, vereinfacht und interpretiert eine Welt f ü r sich selbst, indem es aus dem Chaos seiner Empfindungen jene Elemente hervorhebt, die es angehen. Dementsprechend gibt es keine Welt an sich, die unabhängig von der strukturstiftenden Perspektive existiert. Nietzsche formuliert seinen Perspektivismus folgendermaßen:

' Leibniz, Hauptschriften II, 448; Herv. von Leibniz. 7 Vgl. dazu Ortega y Gasset, Wahrheit, 15. 8 Vaihinger, Philosophie, 771 ff. D a z u s. auch Grimm, Nietzsche's Theory, bes. Kap. 4; Röttges, Nietzsche, 219 ff. 9 Kant, Kritik d.r.V., Β 145. 10 Nietzsche, Nachlaß, in: Werke III, 872.

13

„ Der Perspektivismus ist nur eine komplexe Form der Spezifität. Meine Vorstellung ist, daß jeder spezifische Körper danach strebt, über den ganzen Raum H e r r zu werden und seine Kraft auszudehnen ( - sein Wille zur Macht) und alles das zurückzustoßen, was seiner Ausdehnung widerstrebt." 1 1 Dieser Perspektivismus, ein zentrales Merkmal vom „Willen zur Macht", geht über die Auffassung Kants hinaus, indem er die perspektivische Bindung auch aller vernünftigen Wesen stark betont. Der menschliche Intellekt kann nach Meinung Nietzsches nicht umhin, „sich selbst unter seinen perspektivischen Formen zu sehen und nur in ihnen zu sehen" 1 2 . Dies bedeutet, daß es kein denkendes Subjekt an sich gibt, das die Mannigfaltigkeit der Perspektive überblicken könnte: „Wir können nicht um unsere Ecke sehen: es ist eine hoffnungslose Neugierde, wissen zu wollen, was es noch für andere Arten Intellekt und Pespektive geben könnte ... Aber ich denke wir sind heute zum Mindesten ferne von der lächerlichen Unbescheidenheit, von unserer Ecke aus zu dekretieren, daß man nur von dieser Ecke aus Perspektiven haben dürfe." 1 3 Es dürfte klar sein, warum Nietzsche das Perspektivische als die „Grundbedingung alles Lebens" bezeichnet. Für ihn gibt es „nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches .Erkennen'" 1 4 . Fragt man nach der Welt, die gesehen, erkannt wird, würde Nietzsche sagen, daß die Welt unsere Interpretation, unsere selbsterschaffene Perspektive ist. Wie beim erkennenden Subjekt handelt es sich hier um eine Fiktion: „Wir, die Denkend-Empfindenden, sind es, die wirklich und immerfort etwas machen, das noch nicht da ist: die ganze ewig wachsende Welt von Schätzungen, Farben, Gewichten, Perspektiven, Stufenleitern, Bejahungen und Verneinungen. Diese von uns erfundene Dichtung wird fortwährend von den sogenannten praktischen Menschen . . . eingelernt, eingeübt, in Fleisch und Wirklichkeit, ja Alltäglichkeit übersetzt." 1 5 Solche Fiktionen sind letzten Endes falsch - im Sinne der Korrespondenztheorie der Wahrheit 1 6 - , auch wenn sie uns ermöglichen, aus der Vielheit von Kraftquanten eine einheitliche Welt zu konstruieren und 11

Ebd. 705. Nietzsche, D i e fröhl. Wissenschaft, in: Werke II; 250: Herv. von Nietzsche. 13 Ebd. 14 Siehe die „Vorrede" zu Jenseits von Gut und Böse, in: Werke II, 566 sowie Zur Genealogie der Moral, in: ebd. 861. 15 D i e fröhl. Wissenschaft, 177. 16 Zum Wahrheitsverständnis Nietzsches s. z.B. Müller-Lauter, Nietzsche, Kap.5. 12

14

zu gestalten. Jedes Erkennen ist d e m z u f o l g e der gelungene Versuch, sich in Beziehung zu etwas zu setzen. Für N i e t z s c h e heißt dies alles Interpretation und somit perspektivische „Verfälschung". O h n e die Interpretation gibt es keine Welt; denn, wie Grimm sagt 1 7 , spricht die perspektivische Interpretation nicht von oder über etwas. D a s „Etwas" besteht im Gegenteil aus einer perspektivischen Interpretation durch ein Kraftzentrum. Indem er die Lebernsnotwendigkeit „fälschender" Perspektiven so stark hervorhebt, bereitet N i e t z s c h e den W e g für andere Versuche, das Selbst, die Welt, den Glauben usw. als Fiktionen zu betrachten. Vaihingers A l s - O b - P h i l o s o p h i e z u m Beispiel bezieht sich explizit auf das „bewußte Gewolltsein" in N i e t z s c h e s Perspektivenlehre 1 8 . N u n zeigen sich schon einige der Probleme perspektivischer Redeweisen, mit denen sich die f o l g e n d e Erörterung beschäftigen wird. Wenn alle Interpretationen bzw. Wertschätzungen Formen der Selbstüberwindung im Dienste des Willens zur Macht sind, müssen sie nicht auch überwunden werden? Müßte dies nicht zur Aufhebung der Perspektiven durch eine noch übergreifende Perspektive führen? Könnte andererseits ein konsequent durchgeführter Perspektivismus nicht einen radikalen begrifflichen und historischen Relativismus bedeuten " ? Noch andere Probleme entstehen aus dem bewußten Gebrauch von Perspektiven. Zunächst gibt es das begriffliche Problem, wie sich das Reden von der bewußten Aufstellung einer Interpretation zum Reden von perspektivischem Sehen verhält. Ist Interpretation mit perspektivischem Sehen gleichzusetzen? Oder bestehen wichtige Unterschiede zwischen den Erfahrungsbegriffen „Sehen", „perspektivisches Sehen" und „Interpretieren" 2 0 ? Ein zweites Problem des bewußten Gebrauchs von Perspektiven bzw. Interpretationen ist: Sind diese letzteren mit der Hypothesenbildung gleichzusetzen 2 1 ? Für glaubende Menschen wäre dies wohl ein unmöglicher Gedanke; denn sie verstehen ihre fundamentalen Aussagen über Gott, den Menschen und die Welt nicht als Hypothesen, die in der Tat falsch sein mögen. H ö r t Glaube nicht auf, Glaube zu sein, wenn er sich als Konstruktion bzw. Fiktion versteht? Diese und ähnliche Probleme werden uns in dieser Arbeit begleiten müssen. Ein weiterer Vorteil des Verweises auf N i e t z s c h e und den Perspektivismus überhaupt ist es, daß die folgende Erörterung Wittgensteinscher 17 Nietzsche's T h e o r y , 184. D a z u s. die Auffassung Bernd Magnus, daß Wissen für N i e t z s c h e ein rekonstruierter T e x t sei, während die Welt das verlorene Original darstelle, in: Imperative, 26 ff. " D a z u s. Grimm, 66 ff. Für eine Kritik an Vaihingers Nietzsche-Interpretation s. auch W . K a u f m a n , Nietzsche, 126 A n m . 6 . " D a z u s. z . B . Trigg, Reason, Kap. 1 - 2 und die Diskussion der Auffassung G o r d o n Kaufmans in Kap. 7.1.1 unten. 20 Vgl. die Analyse im zweiten Teil dieser Arbeit. 21 Für dieses Problem bei N i e t z s c h e s. Müller-Lauter, 135 ff. Vgl. auch die Auseinandersetzung zwischen John W i s d o m und D . Z . Phillips; dazu s.u. 1.4.

15

perspektivischer Sprache in einem breiteren ideengeschichtlichen Rahmen gesehen werden kann. In der T a t scheint die Anwendung der Philosophie Wittgensteins in angelsächsischer Religionsphilosophie und Theologie - abgesehen von Hinweisen auf H u m e und den Logischen Positivismus - o f t ohne historische Zusammenhänge und darum einseitig zu sein. Vielleicht ist diese Rezeption Wittgensteins dadurch bedingt, daß seine überragende Gestalt f ü r viele angelsächsische Religionsphilosophen nicht nur einen Wegweiser, sondern das Paradigma philosophischen Denkens überhaupt darstellt. Fritz Buri hat zu Recht darauf hingewiesen, daß Wittgenstein eine ähnliche Rolle in der angelsächsischen Sprachphilosophie spielt wie Heidegger in der deutschen „und zwar nicht nur in formaler, sondern auch materialer Hinsicht" 2 2 . Es ist darum erfreulich, daß seit einigen Jahren Versuche gemacht worden sind, ein fruchtbares Gespräch zwischen der angelsächsischen analytisch orientierten Philosophie und der von Heidegger beeinflußten deutschen hermeneutischen Tradition in Gang zu bringen 2 3 . Ähnlichkeiten und gemeinsame Interessen lassen sich leicht belegen in der Wittgensteinschen Metaphysik von Peter Winch, Thomas S.Kuhn, N o r m a n Hanson, Dewi Phillips u. a. und den europäischen phänomenologischen und hermeneutischen Traditionen. Wie Robert Hollinger zu Recht bemerkt, ist dies nicht überraschend, denn sie sind alle Varianten des nachkantischen Idealismus 24 . Im ersten Teil dieser Arbeit wird versucht, das Problemfeld perspektivischer Sprache in der angelsächsischen Religionsphilosophie zu sichten. Die kaum zu überschauende Vielzahl der Ansätze in diesem Bereich zwingt uns dazu, nur einige der wichtigsten Anreger einer perspektivischen Religionsphilosophie und Theologie auszuwählen 2 5 . Die Arbeit beginnt mit zwei klassisch gewordenen Ansätzen: John Wisdoms Erörterung des „Bemerkens von Strukturen zeitlicher Ereignisse" (Kapitel 1) und Richard Hares berühmten blik-Konzept (Kapitel 2). Zu den Anregern des Perspektivismus in der Religionsphilosophie gehört auch John Hick, dessen erkenntnistheoretische Bemühungen um das Erleben 22

Buri, Problem der Sprache, 126. D a z u s. z. B. die Bemühungen Karl-Otto Apels, in: Wittgenstein, Kommunikationsgemeinschaft; D i e erkenntnis-anthropologische Funktion. Siehe auch Track, Untersuchungen, 106-109; Just, Religiöse Sprache, 153-161. 24 Hollinger, Aspect Seeing. Hollinger betrachtet Wittgensteins Spätphilosophie als eine Art neukantischen Idealismus, der der Tranzendentalphänomenologie des späten Husserls ähnelt. Siehe auch Winch, Social Science; Kuhn, Scientific Revolutions; H a n s o n , Patterns; ders., Perception; Phillips, Religion. 25 Besonders erwähnenswert wären z . B . auch Ramseys Auffassung von „Erschließungssituationen" („disclosure situations"), D . Evans Diskussion der Rolle von „onlooks" in religiöser Sprache und der Perspektivismus von Phillips. Zu Ramsey s.u. Kap. 8 A n m . 2 . Siehe auch Evans, Logic, 121-141 und pass, sowie Phillips, Death, 4 9 f . und Religion, 69 ff., 167 ff. 23

16

menschlicher Existenz als Pilgerfahrt grundlegende Einsichten und Probleme dieser Redeweise aufweisen (Kapitel 3). Mit der Ausdehnung der religiösen perspektivischen Sprache auf die Interpretation durch religiöse Modelle und Paradigmata hat Ian Barbour die Diskussion in einen wissenschaftstheoretischen Zusammenhang gesetzt (Kapitel 4). Im zweiten Teil wird auf dem Hintergrund der Erörterung dieser Ansätze eine sprachanalytische Untersuchung perspektivischer Redeweisen unternommen. Als Gesprächspartner ist aus zwei Gründen Ludwig Wittgenstein gewählt worden: Zum einen weisen die unten zu diskutierenden Ansätze entweder implizit oder explizit den Einfluß seiner Philosophie auf. Zum anderen bietet sich die Philosophie Wittgensteins an, da sie in einigen ihrer maßgebenden Themen - wie etwa „Sagen und Zeigen", „Übersichtlichkeit", „Das Bemerken eines Aspekts", „Das Weltbild" - eine perspektivische Philosophie darstellt und die notwendigen Analyseinstrumente f ü r eine perspektivische Religionsphilosophie bzw. Theologie entwickelt (Kapitel 5). Im dritten Teil werden einige philosophische und theologische Konsequenzen gezogen. Der erkenntnistheoretische Ansatz Michael Polanyis stellt eine Philosophie der personalen Perspektive dar, die eine notwendige Ergänzung zur Auffassung Wittgensteins sowie neue Einsichten hinsichtlich des Redens von Gott enthält (Kapitel 6). Auf der Basis seiner Analyse der Geschichtsperspektive entfaltet Gordon Kaufman eine perspektivische Theologie, die sowohl Möglichkeiten als auch Schwächen dieser Redeweise deutlich erkennen läßt (Kapitel 7). Die Theologie Paul van Burens zeigt die schöpferischen Möglichkeiten einer Verbindung zwischen perspektivischer Sprache und dem Reden über die menschliche „story" (Kapitel 8). Das abschließende neunte Kapitel enthält die Entfaltung eines Denkmodells, das durch die Korrelation von Perspektive, Lebens-story und Geschichtlichkeit die Humesche Einengung des Redens von Gott umgehen will.

17

Teil I Vier Modellfälle perspektivischer Sprache aus der angelsächsischen Religionsphilosophie

Kapitel 1 „Das Bemerken von Strukturen zeitlicher Ereignisse": Die Philosophie John Wisdoms 1 1.0

Einleitung

Der Philosoph John Wisdom hat eine nun als klassisch anerkannte Darstellung gegeben 2 , wie der Mensch nicht nur einzelne Dinge, sondern auch die Welt als Ganzes als etwas sieht. Für unsere Zwecke ist es nicht nötig, die ganze philosophische Position Wisdoms zu behandeln 3 . Es darf aber gesagt werden, daß es diesem subtilen und schöpferischen Nachfolger Wittgensteins gelungen ist, die o f t verstreuten Beobachtungen seines berühmten Vorgängers auf konsequentere Weise mit aktuellen philosophischen Anliegen in Verbindung zu bringen. Eine kurze Darstellung seiner Metaphysik soll näher an das Spezialthema dieser Arbeit führen. Im zweiten Teil muß das Bemerken von Strukturen und Zusammenhängen jenseits der Tatsachen diskutiert werden. In einem dritten Teil müssen das Erreichen eines Urteils über die gesehenen Tatsachen und die Beilegung von Differenzen in den Betrachtungsweisen berücksichtigt werden. Nach dieser Analyse wird eine Reihe von offenen Fragen weiter in die Problematik dieser Arbeit führen. 1.1 Die Metaphysik John

Wisdoms

Wir sind geneigt, so zu verfahren, als ob es nur zwei Typen von Entdekkungen gäbe: wissenschaftliche Entdeckung durch Beobachtung und Experimentieren und deduktive Entdeckung, die streng nach allgemein anerkannten Methoden geschieht. Demnach sind sinnvolle Sätze nur diejenigen, die sich entweder durch Beobachtung und Experimente 1 Für die verwendeten Titelabkürzungen s.o. („Zitierweise und Abkürzungen"). D i e vollständigen bibliographischen Angaben sind im Literaturverzeichnis enthalten. 2 S o z . B . Richmond, in: T h e o l o g y , 51 ff. 3 Siehe dazu z . B . T h o m s o n , W i s d o m , 3 2 4 - 3 2 6 ; Warnock, Philosophie, 102ff.; U r m son, Analysis, 7 6 - 8 5 , 169-182; Bambrough (Hg.), W i s d o m . Zum T h e m a „Die Metaphysik John Wisdoms" (s.u. 1.1) s. auch Bambrough, Reason, Kap.5; Phillips, Wisdom's Gods; Churchill, Flew; Martin, Sprachprüfung, 116-120; Just, Religiöse Sprache 113-120; Richmond, T h e o l o g y , 5 2 - 6 5 ; Gill, Possibility, 197-201.

21

oder durch rationale Überlegung verifizieren lassen. Wenn ein Satz nicht verifiziert werden kann, dann müßte er Ausdruck eines Gefühls, ein Gedicht o. ä. sein, aber eigentlich keine Aussage. Denn eine Aussage ist etwas, das die Wahrheit aufdecken soll, und w o f ü r oder wogegen Gründe angegeben werden können. Dieser Auffassung gegenüber konzentriert sich Wisdom auf „Fragen, die weder weitere Beobachtung und Erfahrung noch weiteres Nachdenken erledigen werden" (PD ix). Diese Fragen, die „keine Antworten haben", sind keineswegs nutzlos. Sie können zum Beispiel Probleme aufzeigen, die Lösungen haben und die noch wichtigere Funktionen haben, auf gewisse Unzulänglichkeiten in unserer Wahrnehmung von Situationen und Dingen hinzuweisen. Bei diesem metaphysischen Nachdenken bemerkt man manchmal, was schon lange vor Augen war. Das heißt: durch ein gleichsam „metaphysisches Doppeltsehen" bemerkt man Zusammenhänge, Muster oder „die Strukturen zeitlicher Ereignisse, . . . die einem leicht entgehen" (G 154) 4 . Auch wenn wir hier das Gefühl haben, daß wir die gleiche Realität zweimal vor Augen führen und daß es sich beim zweiten Male um etwas Uberflüssiges handelt, kann das metaphysische Denken in den vertrauten Sachen neue Zusammenhänge bzw. Strukturen entdekken. Um diese Wahrnehmung mitteilen zu können, brauchen wir oft paradoxe Ausdrücke, denn die alten Namen f ü r solche Situationen oder Dinge haben häufig die Entdeckung der neuen Zusammenhänge verhindert. Durch metaphysisches Denken bekommen wir daher eine neue Sicht von dem, was möglich ist, und manchmal auch von dem, was wirklich ist. Zu der Familie metaphysischer Fragen gehören Fragen wie „Schuf jemand die Welt?", „Gibt es jemanden, der hinter allem steht?" und „Was ist der Sinn des Lebens?" (PD 5, 38-42). Solche Fragen scheinen sich den üblichen Verfahren von Beobachtung und Induktion, Deduktion und Aufklärung der Sprache zu entziehen. Man würde normalerweise meinen, es gäbe nur Sätze über Tatsachen, d. h. kognitive Sätze, die sich durch die üblichen Methoden verifizieren oder falsifizieren lassen, und nichtkognitive Sätze, die Gefühle usw. ausdrücken. Nach Wisdom gibt es aber Tatsachenfragen jenseits aller Tatsachen, Fragen, die sich keineswegs in das Schema kognitiv/nichtkognitiv einordnen lassen. Sie können uns sogar zu einem tieferen Verständnis von Erfahrung und Wirklichkeit führen und daher die üblichen Alternativen objektiv/subjektiv, rational/emotional, kognitiv/nichtkognitiv als unzulänglich erweisen. Dies bedeutet, daß es echte Urteilsdifferenzen zwischen Menschen geben kann, auch wenn alle Tatsachen vorliegen und die konven4 D a z u s. die Einleitung zu W i s d o m s P D , bes. S. ix u n d die A u f s ä t z e : M e t a p h y s i c s a n d V e r i f i c a t i o n ; P h i l o s o p h y , M e t a p h y s i c s and P s y c h o a n a l y s i s ; A Critical N o t i c e , in: ders., P h i l o s o p h y . Siehe a u c h G a s k i n g , P h i l o s o p h y , bes. 18 f f .

22

tionellen Verifikationsmethoden angewendet worden sind. Um diese Sicht zu erläutern, wenden wir uns jetzt einigen konkreten Beispielen Wisdoms zu. 1.2 Tatsachenfragen

jenseits

aller

Tatsachen

Wisdoms berühmtester Aufsatz im Bereich der Religionsphilosophie „Götter" 5 handelt von den „Differenzen zwischen Atheisten und Theisten, soweit diese nicht den Glauben an ein künftiges Leben betreffen"