John Stuart Mill: Über die Freiheit 9783050094731, 9783050060385

This work provides an interpretation of John Stuart Mill’s On Liberty (1859)and elucidates the fundamental principles of

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John Stuart Mill: Über die Freiheit
 9783050094731, 9783050060385

Table of contents :
Inhalt
1 Einleitung
2 The Right to Liberty
3 Über die Freiheit des Denkens und der Diskussion
4 Das Ideal der Individualität und seine Begründung
5 Mills deontische Konkretisierung des Freiheitsprinzips
6 Freiheit durch Erziehung und Erziehung zur Freiheit
7 „Grounds different from, though equally solid with“ – Wirtschaftliche und gesellschaftliche Freiheit in On Liberty
8 Vorgeschichte und Querverbindungen: Der Einfluss Benthams und Humboldts auf Mill
9 Freiheit, Paternalismus und die Unterwerfung der Frauen
10 Ein systematischer Rückblick auf John Stuart Mills Denken
Auswahlbibliographie
Personenregister
Sachregister
Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

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John Stuart Mill: Über die Freiheit

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Herausgegeben von Herausgegeben von von Herausgegeben Otfried Höffe Otfried Höffe Höffe Otfried Band 48 36 Band Band 45

Herausgegeben von Otfried Höffe

Band 47

Otfried Höffe ist Leiter der Forschungsstelle Politische Philosophie an Otfried Höffe ist Leiter der Forschungsstelle Politische Philosophie der Universität Tübingen. an der Universität Tübingen. Otfried Höffe ist o. Professor für Philosophie an der Universität Tübingen

John Stuart Mill: Über die Freiheit Herausgegeben von Michael Schefczyk und Thomas Schramme

ISBN 978-3-05-006038-5 e-ISBN (PDF) 978-3-05-009473-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038070-5 ISSN 2192-4554 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/ Boston Titelbild: Bettmann/Corbis Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Michael Schefczyk und Thomas Schramme 1 Einleitung   1 Jonathan Riley 2 The Right to Liberty 

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Peter Niesen 3 Über die Freiheit des Denkens und der Diskussion 

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Thomas Schramme 4 Das Ideal der Individualität und seine Begründung 

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Markus Stepanians 5 Mills deontische Konkretisierung des Freiheitsprinzips  Jean-Claude Wolf und Catherine Buchmüller-Codoni 6 Freiheit durch Erziehung und Erziehung zur Freiheit 

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Michael Schefczyk 7 „Grounds different from, though equally solid with“ – Wirtschaftliche und gesellschaftliche Freiheit in On Liberty   115 Frauke Höntzsch 8 Vorgeschichte und Querverbindungen: Der Einfluss Benthams und Humboldts auf Mill   137 Christoph Schmidt-Petri 9 Freiheit, Paternalismus und die Unterwerfung der Frauen  Otfried Höffe 10 Ein systematischer Rückblick auf John Stuart Mills Denken   193 Auswahlbibliographie  Personenregister   199 Sachregister   201 Hinweise zu den Autorinnen und Autoren 

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Michael Schefczyk und Thomas Schramme

1 Einleitung

John Stuart Mill gehört zu den wichtigsten britischen Philosophen. Seine Schrift Über die Freiheit, die in diesem Kommentarband ausführlich diskutiert wird, ist ein klassischer Text des Liberalismus – einer politischen Theorie und Praxis, welche den Schutz der Freiheit des Individuums in den Mittelpunkt des staatlichen und gesellschaftlichen Handelns stellt. Für Mill ist das Ziel allerdings keineswegs eine Gesellschaft von unverbundenen Einzelnen, die sich in erster Linie um sich selbst kümmern und soweit wie möglich von anderen unbehelligt ihr Leben führen, sondern eine Gemeinschaft von gegenseitig interessierten und sich helfenden, charakterlich eigenständigen und selbstbewussten Individuen. Unter anderem diese Stoßrichtung, seine Verbindung von liberalen und kommunitären sowie zum Teil sozialistisch anmutenden Elementen, macht seine Schrift für die heutige Zeit so interessant. Mill war nicht nur theoretisch tätiger Philosoph, sondern auch politisch aktiv. Er war, wie man das heute nennen würde, ein öffentlicher Intellektueller; er mischte sich in gesellschaftliche Debatten ein. Als Mittel der Überzeugung benutzte er ausgiebig die rhetorische Kraft des Wortes. Dies macht sein Werk kraftvoll und entfaltet für den Leser einen unwiderstehlichen Sog, den man insbesondere in seiner Freiheitsschrift spüren kann. All dies macht ihn allerdings auch zu einem beliebten Ziel der philosophischen Kritik, und es ist leider zu vermerken, dass Mill keineswegs immer die Bedeutung zugesprochen wurde, die er verdient. Dieser Band setzt sich zum Ziel, die Leser in unvoreingenommener Weise anhand eines wesentlichen Werks mit einem bedeutenden Sozialphilosophen vertraut zu machen. Dabei orientieren sich die einzelnen Beiträge grundsätzlich an der Kapitelstruktur des diskutierten Werks Über die Freiheit, suchen aber darüber hinaus nach Verbindungslinien zu weiteren Werken Mills sowie zu anderen philosophischen Autoren und Strömungen.

1.1 Entstehung und Ziele eines Klassikers John Stuart Mills Über die Freiheit erschien erstmals im Februar 1859, rund drei Monate nach dem Tod seiner Frau in Avignon. Seit ihrer Heirat im Jahre 1851 hatten John Stuart und Harriet Taylor Mill eine enge intellektuelle Arbeitsgemeinschaft gebildet und sich aus dem gesellschaftlichen Leben Londons weitgehend zurückgezogen. Sie besprachen Projekte, tauschten Ideen aus und feilten gemeinsam an Texten. Bei der Freiheitsschrift war ihre Zusammenarbeit nach Auskunft der

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Autobiographie besonders eng. Mill berichtet, er habe mit seiner Frau zwei Jahre an dem Werk gearbeitet (Autobiographie, AW 2, S. 188; CW I, S. 257), bevor er 1858 seinen Dienst bei der East India Company quittierte. Für den Winter 1858/1859 war eine letzte Revision geplant, zu der es nicht mehr kam. Mill gab das Manuskript ohne weitere Änderung an den Herausgeber John Parker. Die Schrift Über die Freiheit war im unmittelbaren und buchstäblichen Sinne des Wortes mehr unsere gemeinsame Arbeit als irgendetwas, was meinen Namen trägt, denn es ist kein Satz darin, der nicht mehrmals von uns gemeinsam durchgegangen, nach allen Richtungen erörtert und von allen Fehlern, die wir im Gedanken oder in der Diktion entdecken konnten, bereinigt worden wäre. (Autobiographie, AW 2, S. 188; CW I, S. 257)

Der Plan zu diesem gemeinsamen Projekt ging auf die Jahre 1854/1855 zurück. Mill, der an Tuberkulose litt, rechnete im Frühjahr 1854 mit seinem baldigen Tod. Im Winter verließ er London Richtung Italien, um eine Besserung seines Gesundheitszustands zu erreichen. Von Rom aus schreibt er im Januar 1855 einen Brief an seine Frau, in dem er auf ihre gemeinsame Idee zu einem Werk über die gesellschaftliche Freiheit zurückkommt: So viele Dinge könnten darin aufgenommen werden, & nichts scheint nötiger zu sein – und es ist umso nötiger, als die Haltung der Freiheit gegenüber immer mehr zum Negativen tendiert & fast alle Projekte der Sozialreformer heutzutage wirklich liberticide sind – Comtes ganz besonders. [...] Wenn sie das auch so sieht, werde ich versuchen, diese Abhandlung im Jahre 1856 zu schreiben & zu veröffentlichen, falls meine Gesundheit das, wie ich hoffe, zulässt. (Briefwechsel, AW 1, S. 264–265; CW XIV, Letters 1849–55 [Italien und Sizilien, 1854–55])

Einen Monat später bekräftigt Mill seinen Plan und stellt dem zu schreibenden Buch über die Freiheit eine optimistische Prognose. Je mehr er darüber nachdenke, desto wahrscheinlicher scheine es ihm, „dass es gelesen werden und Aufsehen erregen wird“ (Briefwechsel, AW 1, S. 271; CW XIV, Letters 1849–55 [Italien und Sizilien, 1854–55). In dieser Hoffnung sollte sich Mill nicht täuschen. Über die Freiheit ist bis heute seine am meisten gelesene Schrift. Die im Brief ge­äußerte Besorgnis über die freiheitsfeindlichen Tendenzen bei den Sozialreformern, namentlich Comte, äußert er auch in der veröffentlichten Fassung des Freiheitsbuchs. In seinem System der positiven Politik, so heißt es, entwerfe Comte eine „Zwingherrschaft der Gesellschaft über das Individuum [...], die alle Entwürfe der starrsten Zuchtmeister des Altertums weit hinter sich lässt.“ (Freiheit, AW 3.1, S. 321; CW XVIII, S. 227) Zwar vertritt Comte, wie Mill weiß, eine philosophische Extremposition ohne akute gesellschaftliche Wirkung. Doch sein Extremismus ist die Zuspitzung der „wachsenden Neigung, die Gewalt der Gesellschaft über den Einzelnen ungebührlich zu erweitern“ (Freiheit, AW 3.1, S. 321; CW XVIII, S. 227). Die wachsende



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Intensität der Herrschaft der Gesellschaft über die Einzelnen, so glaubt Mill, sei kein Übel, das von selbst verschwinden werde, sondern eines, „das immer gefährlicher zu werden droht.“ (Freiheit, AW 3.1, S. 321; CW XVIII, S. 227) Die Bedrohung der Freiheit geht dabei nicht nur und nicht vorrangig von staatlichen Stellen aus, die strafbewehrte Vorschriften erlassen. Vielmehr sei die soziale Tyrannei am meisten zu fürchten, die „viel tiefer in das tägliche Leben eindringt und die Seele selbst versklavt.“ (Freiheit, AW 3.1, S. 310; CW XVIII, S. 219) Die These, dass soziale Kontrolle und Anpassung in der modernen Gesellschaft neue und intensiviere Formen der Unfreiheit hervorzubringen drohten, versucht die Freiheitsschrift weder als Befund empirisch zu untermauern noch durch theoretische Überlegungen zu erklären. Ansatzpunkte für letzteres finden sich aber in früheren Schriften Mills, insbesondere in seinem zweiten Artikel zu de Tocquevilles Demokratie in Amerika (1840). Wie der große französische Denker ist Mill überzeugt, dass sich die modernen Gesellschaften in einem Prozess der Demokratisierung befinden. Demokratisierung bezeichnet einen Trend zunehmender Gleichheit zwischen den Menschen hinsichtlich ihrer Fähigkeiten, aber auch hinsichtlich ihres sozialen und politischen Status. Als die treibende Kraft der Demokratisierung sieht Mill die vom wissenschaftlich-technologischen Fortschritt bestimmte Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft, die zu einer Entwertung der Grundlagen ständischer Ordnung, zu einer Ermächtigung des intellektuellen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Unternehmertums und zu einer Intensivierung von Arbeitsteilung und Kooperation führt. Die technologischen Mittel vernetzen und synchronisieren die Mitglieder der Gesellschaft.1 Zunehmend sind die Einzelnen befähigt, eigene Vorstellung zu entwickeln, öffentlich zu artikulieren, sich zu organisieren und auf die Ausübung politischer Herrschaft einzuwirken.2 Demokratisierung im Sinne wachsender Gleichheit muss nach Mill aber weder zwangsläufig in einer demokratischen politischen Ordnung münden, noch in einer Gesellschaft, deren Mitglieder sich gleichermaßen frei entfalten können. Die Aufhebung der Autorität ständischer Grenzen, vorgegebener Glaubenssätze und althergebrachter Tradition vermag ebenso zu Formen der totalen

1 „The newspapers and railroads are solving the problem of bringing the democracy of England to vote, like that of Athens, simultaneously, in one agora [...] and are making us more than ever (what is the first condition of a powerful public opinion) a homogeneous people.“ (Democracy II, CW XVIII, S. 165) 2 „It is [...] one of the commonplaces of the age, that knowledge and intelligence are spreading [...]. [...] The knowledge which is power, is not the highest description of knowledge only; any knowledge which gives the habit of forming an opinion, and the capacity of expressing that opinion, constitutes a political power; and if combined with the capacity and habit of acting in concert, a formidable one.“ (Democracy II, CW XVIII, S. 165)

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Herrschaft führen, in der alle Einzelheiten des Lebens durch Staat oder Partei und eine willig sich einfügende Bevölkerung diktiert werden. Wenn Mill in der Autobiographie schreibt, die Freiheitsschrift sei „eine Art Lehrbuch für eine einzige Wahrheit“, nämlich die „Wichtigkeit für den Menschen und die Gesellschaft, dass die Charaktere so verschieden sind und dadurch der menschlichen Natur volle Freiheit gegeben werde, sich in unzähligen und widerstreitenden Richtungen zu entfalten“ (Autobiographie, AW 2, S. 189; CW I, S. 258), so geht es nicht nur um die positive Vision einer Gesellschaft, die Diversität und Individualität gutheißt und von beidem profitiert, sondern auch um die Abwendung eines sich als Möglichkeit abzeichnenden massenmedial gleichgeschalteten Totalitarismus.3 Daraus ergibt sich das Ziel der Freiheitsschrift, der Macht von Staat und Gesellschaft über die Einzelnen Grenzen zu setzen und die Kräfte individueller Selbstbestimmung rhetorisch und theoretisch zu bestärken.

1.2 Mill und der britische Liberalismus im neunzehnten Jahrhundert Einer geläufigen Vorstellung zufolge war das neunzehnte Jahrhundert in Großbritannien die Zeit des Manchesterliberalismus. Die Bezeichnung geht auf eine Prägung des späteren konservativen Premierministers Benjamin Disraeli zurück, der die Lehren der Hauptprotagonisten der Anti-Corn Law League, Richard Cobden und John Bright, als „Schule von Manchester“ apostrophiert hatte (Grampp 1960, S. 3). Zwischen 1838 und 1846 verfolgte die „Schule“ offiziell nur ein einziges Ziel: die sofortige Abschaffung der Getreidegesetze. Die gegen die Großgrundbesitzer gerichtete Agitation der Liga war außerordentlich wirksam und trug wesentlich dazu bei, Großbritannien auf die Grundsätze der Freihandelslehre zu verpflichten. Daneben gehörte auch der Kampf gegen die Fabrikgesetze zu deren Anliegen, mit dem die Liga allerdings weniger Erfolg hatte. Dies hing zum einen mit Meinungsverschiedenheiten über die Schutzbedürftigkeit der Fabrikarbeiterschaft zusammen, so dass in der Liga ein einheitlicher politi-

3 Bereits im ersten Artikel zu de Tocqueville von 1835 hatte Mill geschrieben: „The universal aim, therefore, should be, so to prepare the way for democracy, that when it comes, it may come in this beneficial shape; not only for the sake of the good we have to expect from it, but because it is literally our only refuge from a despotism resembling not the tempered and regulated absolutism of modern times, but the tyranny of the Caesars. [...] Where all are equal, all must be alike free, or alike slaves.“ (Democracy I, CW XVIII, S. 57)



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scher Wille fehlte. Zum anderen musste selbst ein Radikaler, wie Bright, zugestehen, dass ein strikter Anti-Interventionismus in Fällen wie der Kinderarbeit nicht durchzuhalten ist (Grampp 1960, S. 88). Die Zustände in den Fabriken brachten die Minimalstaats-Ideologie an ihre Grenzen. Zwar waren Getreidezölle und Fabrikgesetze gleichermaßen staatliche Eingriffe. Doch die politische Öffentlichkeit war in der Lage und willens, zwischen der Protektion grundherrlicher Interessen und dem Schutz von Fabrikarbeitern einen Unterschied zu machen. Die Differenzierungsarbeit zwischen unterschiedlichen und unterschiedlich guten Gründen staatlicher Intervention begann bereits im neunzehnten Jahrhundert, und insofern ist die Vorstellung, die Minimalstaatsideologie der Schule von Manchester habe seinerzeit die politische Agenda Großbritanniens dominiert, nicht ganz zutreffend. Um die Jahrhundertmitte äußerte der Philosoph und Soziologe Herbert Spencer in seiner Schrift „Over-Legislation“ (1853) sein Unverständnis darüber, dass die Öffentlichkeit ständig nach dem Staat rufe und damit eine immer weitere Ausdehnung seiner Zuständigkeit provoziere – und dies obwohl der Staat sich wieder und wieder als unfähig erweise, die beklagten Probleme effektiv zu lösen, und mit seinem Eingreifen nur private Initiativen und Unternehmen verdränge, die weit besser in der Lage seien, Abhilfe zu schaffen (Spencer 1853/1981, S. 265–329). Der Minimalstaats-Liberalismus des neunzehnten Jahrhunderts war bereits eine Weltanschauung in der Defensive, die sich wütend gegen die Tendenz der Zeit hin zu einem allzuständigen Staat stemmte. Spencers Social Statics (1851) war entsprechend kein Ausdruck der herrschenden Staatsideologie, sondern eine das Herrschaftsrecht des Staates in Frage stellende Schrift. Das Grundprinzip besagt, dass jeder Mensch das Recht habe, zu tun, was er wolle, vorausgesetzt, dass die Freiheit anderer nicht eingeschränkt werde (Spencer 1851/1860, S. 103). Dieses Grundprinzip gibt Spencer zufolge den Einzelnen das moralische Recht zum Gesetzesbruch (voluntary outlawry), wenn der Staat die Freiheit über Gebühr einschränke.4 Während Spencer den Liberalismus gedanklich in eine anarchisch-revolutionäre Richtung trieb, arbeitete Mill an einem differenzierteren Verständnis staatlicher Machtmöglichkeiten. Die beiden Männer standen in einem freundlichen, wenn auch nicht freundschaftlichen Verhältnis, das getragen war von einer grundlegenden Einigkeit in vielen politischen und philosophischen Angelegenheiten. In einem Brief an Spencer vom März 1859 schreibt Mill, er fühle sich in der Erwartung bestätigt, dass Spencer das Anliegen der Freiheitsschrift von Herzen unterstütze, dass ihm, Spencer, die Arbeit jedoch nicht weit genug gehe (Brief

4 „If every man has freedom to do all that he wills, provided he infringes not the equal freedom of any other man, then he is free do drop connection with the state – to relinquish its protection, and to refuse paying towards its support.“ (Spencer 1851/1860, S. 206)

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an Spencer, CW XV, S. 603). Die Differenzen, so betont Mill, seien aber aus seiner Sicht Detail- und keine Prinzipienfragen. Keine von Spencers Schriften bewundere er so sehr wie dessen „Over-Legislation“ (Brief an Spencer, CW XV, S. 603) So sehr Mill jedoch davon überzeugt war dass die Betroffenen ihre eigenen Angelegenheiten in aller Regel besser regeln können als Bürokratien, weil sie besser informiert und motiviert sind, so sehr sah er auch die Grenzen des minimalstaatlichen Laisser-Faire-Prinzips. In einem Brief an John Plummer vom Oktober 1863 grenzt Mill seine Position scharf von der Spencers in Social Statics ab. Spencer treibe seine Feindseligkeit gegenüber staatlichem Handeln über jedes vernünftige Maß hinaus (Brief an Plummer, CW XV, S. 888). Im letzten Kapitel seiner Prinzipien der politischen Ökonomie habe er, Mill, sich um eine korrektere Abwägung der Gründe auf beiden Seiten bemüht. Im Gegensatz zu Spencer und modernen Vertretern einer Minimalstaats-Ideologie argumentiert Mill dort, dass das Laisser-Faire-Prinzip als eine Art Deliberationsregel betrachtet werden müsse und sich der Staat der Eingriffe in die Transaktionen der Gesellschaft zu enthalten habe, solange nicht gewichtige Gründe geltend gemacht werden könnten: „Laisser-faire, in short should be the general practice: every departure from it, unless required by some great good, is a certain evil.“ (Principles, CW III, S. 945) Mill begründet, was man seinen deliberativen Beweislastliberalismus nennen könnte, in einer Weise, die zentrale Ansichten der Freiheitsschrift bereits vorwegnimmt: Dass Respekt vor der Freiheit und Würde der Einzelnen gebiete, sie nicht durch Anwendung von Zwang von Handlungen abzuhalten, die nur sie selbst betreffen; und dass soziale Handlungen nur dann Gegenstand staatlicher oder gesellschaftlicher Kontrolle werden dürften, wenn dies dazu diene, die Schädigung Dritter abzuwenden (Principles, CW III, S. 938) Sofern es nicht der individuellen Freiheit ins Gehege komme, entfalle ein grundsätzliches Bedenken gegen das staatliche Handeln. Dies sei etwa der Fall, wenn der Staat eine Leistung aus Gebühren finanziere, andere Wettbewerber nicht durch Verbot ausschließe und kein Abnahmezwang der Leistung bestehe (Principles, CW III, S. 939). Zudem nennt Mill eine Reihe von Ausnahmen vom Laisser-Faire-Prinzip, die gegenüber dem Minimalstaats-Liberalismus von Spencer zu einer bedeutenden Ausweitung der legitimen staatlichen Eingriffsmacht führen: Fälle, in denen die Konsumenten unfähig seien, die Qualität einer Leistung zu beurteilen; Fälle, in denen Personen vor der Macht anderer Schutz bedürfen; Fälle, in denen Personen hilfsbedürftig sind, um nur einige zu nennen (Principles, CW III, S. 947–971).5

5 Zu ähnlichen Differenzierungen wie Mill gelangt Henry Sidgwick 1891 in seinen Elements of Politics (siehe: Sigdwick 1891, S.121–160).



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Wegen seines Abrückens vom konzessionslosen Dogma der Minimalstaatlichkeit, haben die Libertären des zwanzigsten Jahrhunderts in Mill einen philosophischen Wegbereiter des expansiven Staates gesehen. Während Friedrich von Hayeks Haltung nicht frei von Ambivalenzen ist, er Mill aber in The Constitution of Liberty (1960) noch überwiegend als großen Liberalen kommentiert, sehen ihn Murray Rothbard und insbesondere Ludwig von Mises als gefährlichen Sozialisten, dessen Einfluss viel verheerender gewesen sei als der von Karl Marx.6 Tatsächlich finden sich bei Mill bereits die wesentlichen Aspekte des so genannten New Liberalism, der gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts entsteht und zunehmend die politische Agenda bestimmt und der liberale mit demokratischen und sozialistischen Ideen verbindet. Zwar sahen manche seiner aus dem Britischen Idealismus kommende Protagonisten in Mill einen Vertreter des alten Laisser-Faire-Liberalismus. Doch zeigt sich bei genauerer Betrachtung, dass sich der dem Britischen Idealismus zugehörige Thomas H. Green und John Stuart Mill in grundlegenden philosophischen und politischen Fragen einig sind: Beide sind überzeugt, dass Natur und Reichweite staatlicher Verantwortung im Lichte einer perfektionistischen Theorie des Guten zu entscheiden ist; und beide waren davon überzeugt, dass der Staat positive Pflichten hat, um die individuelle Selbstentfaltung zu ermöglichen (Brink 2013, S. 254–255).

1.3 Die Modernität des Werks Liest man Mills Freiheitsschrift zum ersten Mal, wird einem auffallen, wie aktuell die dort verhandelten Fragen sind, obwohl das Buch vor mehr als 150 Jahren erschien. Diese Modernität ist allerdings vielleicht insofern nicht allzu überraschend, als das Verhältnis zwischen Individuum und Staat beziehungsweise Gesellschaft immer wieder neu ausgehandelt werden muss. Der individuelle Freiheitsspielraum verändert sich in modernen Gesellschaften auch durch technische Veränderungen – denken wir nur an das Internet –, und so werden die Grenzen der Freiheit immer neu gezogen und erstritten. Da Mill bereits die Grundprobleme und Lösungsansätze präsentiert, ist seine Schrift auch heute noch von großer Aktualität und unschätzbarem Wert für eine gelungene gesellschaftliche

6 „Ohne gründliches Studium Mill’s (sic.) ist es unmöglich, die Geschichte der beiden letz­ten Menschenalter zu verstehen. Denn Mill ist der große Anwalt des Sozialismus, alle Argu­mente, die zugunsten des Sozialismus geltend gemacht werden könnten, sind von ihm mit liebevoller Sorgfalt ausgearbeitet worden. Neben Mill gehalten sind alle übrigen sozialistischen Schriftsteller – auch Marx, Engels und Lasalle – kaum von Belang.“ (Mises 1927, S. 170)

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und politische Auseinandersetzung über Wert und Grenzen der individuellen Freiheit. Das Studium seiner Überlegungen führt dem Leser auch deutlich vor Augen, wo die schwierigen philosophischen Fragen lauern, an denen man sich abarbeiten muss. Vielleicht am deutlichsten treten die Schwierigkeiten in Mills „sehr einfachem Prinzip“ auf, dem sogenannten Schadens- oder Freiheitsprinzip. Dieses lässt eine einzige Begründung für Eingriffe in die individuelle Freiheit zu und erscheint damit maximal freiheitserhaltend: Dieses Prinzip lautet, dass der einzige Zweck, der die Menschheit berechtigt, vereinzelt oder vereinigt, jemandes Handlungsfreiheit zu beeinträchtigen, der Selbstschutz ist; dass der einzige Zweck, der rechtfertigt, Macht über irgend ein Mitglied einer zivilisierten Gemeinschaft gegen seinen Willen auszuüben, der ist, die Schädigung anderer zu verhüten. Sein eigenes Wohl, das leibliche wie das moralische, ist kein ausreichender Grund dafür. (Über die Freiheit, AW 3.1, S. 316; CW XVIII, S. 223–24)

Wie in diesem Band immer wieder zu sehen sein wird, ist dieses grundlegende Prinzip, so einfach und einleuchtend es erscheinen mag, keineswegs frei von schwierigen Interpretationsfragen, insbesondere der immer wieder in der Literatur angesprochenen Frage, was genau denn als Schädigung anderer gelten könne. Hier zeigt sich eine Eigenschaft des Mill’schen Denkens, die manchen Leser frustriert, andere anspornt: seine oft im Vagen verbleibenden Formulierungen, die gleichwohl – oder vielleicht gerade deshalb – eine begriffliche Dynamik entfalten, die zum eigenen Nachdenken anregt. Ein Grund für Mills Vagheit könnte sein, dass er immer bemüht war, die Dinge so klar zu fassen, wie es der Gegenstand eben zuließ und er außerdem ein deutlich praktisches, beziehungsweise politisches Interesse verfolgte. Verengende Formulierungen mögen klarer sein, aber zum einen der Sache nicht angemessen und zum anderen praktische Ziele unterlaufen, da die Zeiten sich ändern. So könnte entsprechend auch sein Schadensbegriff dynamisch verstanden werden, als Chiffre für einen immer wieder im Detail gesellschaftlich auszuhandelnden Grund für Freiheitsbeschränkungen. Mill ist keineswegs der Meinung, dass eine Gesellschaft, die ausgedehnte Freiheiten gewährt, gegenseitig desinteressierte Individuen hervorbringt, die ihre privaten Interessen verfolgen und andere vollständig „in Ruhe lassen“ müssen – ein verbreitetes Missverständnis seiner Position. Denn Mill geht es um sanktionsbewehrte Eingriffe in die Freiheit – diese gilt es nach dem genannten Prinzip zu beschränken. Dabei schließt er nicht aus, mit anderen auch über deren selbstbezogenes, also für andere nicht schädliches Verhalten (oder für andere nicht schädliche Lebensweisen) zu streiten, beziehungsweise anders auf andere Menschen Einfluss zu nehmen, etwa indem man sie – in letzter Konsequenz –



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meidet. Gesellschaftlicher Druck ist Mill keineswegs fremd oder zuwider, aber er will bestimmte Arten der Einflussnahme beschränken, nämlich solche, die tatsächlich Handlungsoptionen nehmen. Auch hier ergeben sich Interpretationsspielräume, denn inwiefern das gesellschaftliche Ausgrenzen, das Vermeiden einer Person oder das Kritisieren von Lebensweisen nicht ebenfalls wieder als Sanktion und signifikante Freiheitsbeschränkung angesehen werden muss, ist keineswegs von Vornherein ausgemacht. Mill selbst redet in diesem Zusammenhang von „natürlichen Strafen“ (natural penalties). Erneut sollte Mills Argumentation im Kontext seiner Zeit gesehen werden, alleine schon weil die technischen Möglichkeiten des Anprangerns von Menschen und ihren Lebensweisen sich seit dem Viktorianischen Zeitalter natürlich stark verändert hat. Gleichwohl finden sich in seiner Freiheitsschrift wichtige Hinweise für eine zivile Streitkultur, wie wir das heute wohl nennen würden. Mill ist häufig missverstanden worden. Wie kaum ein anderer Denker der Philosophie wurde er außerdem unterschätzt. Manchen gilt er als zweitklassischer Philosoph, und es ist auch bezeichnend, dass der hier vorliegende Band erst als 47ter einer Reihe zu klassischen Werken der Philosophie erscheint. Möglicherweise hat die rhetorische Wucht der Freiheitsschrift ihrer philosophischen Akzeptanz speziell im deutschsprachigen Raum tatsächlich geschadet, da dort einer allzu praxisorientierte und gemeinverständlichen Philosophie – die man durchaus im Unterschied zu einer populistischen Herangehensweise sehen muss  – mit akademischen Naserümpfen begegnet wird. Im angelsächsischen Sprachraum ist On Liberty hingegen Pflichtlektüre für Philosophiestudierende. Hinzu kommt, dass Mill in der Moralphilosophie als Utilitarist bekannt ist, was hierzulande ebenfalls zu einem Reputationsnachteil führt, um es milde auszudrücken. Häufig wurde Mill vorgeworfen, seine utilitaristische Grundausrichtung sei mit den Gedanken der Freiheitsschrift unvereinbar. Dies ging so weit, dass Interpreten von zwei Mills sprachen, einem Mill des Utilitarismus und einem des Liberalismus. Gegen diese Aufspaltung wurde er zwar verteidigt, mitunter aber so, dass interessante Formen des Utilitarismus als Teil seines Gedankengebäudes aufgegeben werden mussten. Dies wird wiederum kritisiert und die aktuelle Forschung, insbesondere in Person von Jonathan Riley, verteidigt Mill als einen konsistenten liberalen Utilitaristen. In der Tat ist für Mill die politische Ordnung des Liberalismus bevorzugenswert nicht aufgrund von abstrakten moralischen Rechten, sondern weil sie am ehesten das Glück der Menschen befördert. Um Mill verstehen zu können, muss man seine Schriften im Zusammenhang studieren. Daher ist zu wünschen, dass in der Zukunft weitere Kommentare zu seinem Werk erscheinen werden und seine Wahrnehmung sich in der deutsch-

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sprachigen philosophischen Fachwelt gemäß seiner Bedeutung verändert. Der hier vorliegende Band soll insbesondere einer jüngeren und „unvorbelasteten“ Generation von interessierten Lesern dazu eine interpretatorische Grundlage geben.

Literatur Brink, David (2013): Mill’s Progressive Principle. Oxford: Clarendon Press. Grampp, William (1960): The Manchester School of Economics. Stanford: Stanford University Press. Mises, Ludwig von (1927): Liberalismus. Jena: Fischer. Sigdwick, Henry (1891): The Elements of Politics. London: MacMillan. Spencer, Herbert (1853/1981): „Over-Legislations“. In: The Man versus The State. With Six Essays on Government, Society, and Freedom. Foreword by Eric Mack, Introduction by Albert Jay Nock. Indianapolis: Liberty Classics. Spencer, Herbert (1851/1869): Social Statics or, The Conditions Essential to Human Happiness specified, and the First of Them Developed. London; New York: Kelley.

Jonathan Riley1

2 The Right to Liberty 2.1 Harm and the self-regarding sphere Mill says that his aim in On Liberty is “to assert one very simple principle,” namely: “That the only purpose for which power can be rightfully exercised over any member of a civilized community, against his will, is to prevent harm to others” (CW XVIII, S. 223). Since prevention of harm to others is a necessary – although not always sufficient – condition for legitimate coercive interference, it follows that the individual has a moral right to freely perform any action that is harmless to others even though it may be harmful to the agent himself. If conduct harmless to others is called purely self-regarding, then the individual has a moral right to choose as he pleases among his self-regarding actions: “In the part [of his conduct] which merely concerns himself, his independence is, of right, absolute” (CW XVIII, S. 224). Society has no legitimate authority to even consider coercive interference with his self-regarding actions. “A person should be free to do as he likes in his own concerns” (CW XVIII, S. 301). Instead, other persons, including public officials, have equal moral duties not to interfere which are correlative with the individual’s right. Indeed, social coercion may be legitimately employed to enforce their duties if they will not voluntarily fulfill them. While this simple maxim that the individual has a moral right to absolute liberty of self-regarding conduct is of central importance, its key terms require clarification. Mill clarifies things a bit when he tells us that the individual’s selfregarding conduct is “conduct which affects only himself, or if it also affects others, only with their free, voluntary, and undeceived consent and participation” (CW XVIII, S. 225). By implication, the individual can rightfully choose to harm others with their genuine consent and participation. This shows that Mill does not intend to prevent all harm to others: society should not even consider using coercion to prevent or punish consensual harm. As it turns out, he does not even aim to prevent all non-consensual harm to others. But society always legitimately considers whether coercion may be expediently employed to prevent or punish non-consensual harm to others in any situation.

1 This work was undertaken while I held the visiting J.S.Mill Chair in Social Philosophy at the University of Hamburg during 2013. I am grateful to Peter Niesen, Molly Rothenberg, Michael Schefczyk, and Thomas Schramme for helpful conversations as well as comments on earlier drafts. Responsibility for the views expressed remains mine alone.

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Further conceptual clarification is needed. There is no doubt that, for Mill, liberty means “doing as we like,” (CW XVIII, S. 226) “doing what one desires,” (CW XVIII, S. 294) “act[ing] according to [one’s] own inclination and judgment.” (CW XVIII, S. 260). And there is no doubt that, for him, a moral right is a claim on society to protect some vital interest of the individual: “When we call anything a person’s right, we mean that he has a valid claim on society to protect him in the possession of it, either by the force of law, or by that of education and opinion” (CW X, S. 250). The right to self-regarding liberty protects the vital interest in selfimprovement, or individuality, since liberty is “the only unfailing and permanent source of improvement” (CW XVIII, S. 272). This right is not merely a moral permission in the sense of having no duty not to choose this or that self-regarding action: such a permission is compatible with other people having no duties not to obstruct or compete with the individual’s self-regarding choices. Rather, the right is a claim on society to protect the individual from others’ obstruction and competition so that he can freely make self-regarding choices in accordance with his own judgment and inclinations, discover whether he enjoys or regrets the outcomes, learn from his mistakes, and develop his higher mental faculties including his intellect and imagination as well as his desires and sentiments.2 Thus, Mill speaks of “a just claim [of individuals] to carry on their lives in their own way” (CW XVIII, S. 270, emphasis added). By insisting that “over his own body and mind, the individual is sovereign,” (CW XVIII, S. 224) he is urging us to recognize the individual’s valid claim to choose as he pleases among his self-regarding actions so that he can cultivate his own development, which is “the same thing” (CW XVIII, S. 267) as individuality, “one of the principal ingredients of human happiness” (CW XVIII, S. 261).3 It is worth emphasizing that Mill does not say that the cultivation of individuality reveals some unique essence or nature of the individual, and indeed he repudiates such talk as a fantasy of “metaphysics, that fertile field of delusion propagated by language” (CW VII, S. 127).

2 Mill recognizes the distinction between a claim and a permission or privilege in “Use and Abuse of Political Terms,” CW, Vol. 18, pp. 9–10. He also remarks that confusion results because these distinct things are both called rights, not only in law but also in morality. Nearly a century later, Hohfeld presented his well-known analysis of distinct jural positions and argued that even judges cause confusion by indiscriminately referring to claims, permissions, powers and immunities as rights (See Hohfeld 1919). 3 This does not imply that every individual recognizes the importance of her interest in individuality or that she agrees that the rights of liberty and individuality are necessary for a good life. Mill admits that many people may not care about those rights so he provides various reasons why such people should nevertheless endorse them (CW XVIII, S. 267–75)



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At this point, we can confirm that Mill is defending equal claims for all competent adults to manage their self-regarding affairs as they please, recognizing that self-regarding conduct does not inflict any non-consensual harm on others. But what does he mean by harm? Admittedly, he is not as clear as he might have been about the meaning of harm and this has led to confusion and controversy. The dominant revisionist reading defines harm as the violation of moral rights so that self-regarding conduct is conduct that respects others’ claims, although the individual must be permitted to harm himself by waiving his own claims. As a result, the simple maxim of liberty becomes the maxim that competent adults have a moral right to have some set of claims and powers: the individual’s “independence is, by right, absolute” in the sense that he is completely free from coercive interference as long as he acts in accordance with his rights and duties to others. This turns Mill into a proto-libertarian. But his texts cannot be squared with such a reading.4 Even if we ignore the inconsistencies with his texts, it becomes puzzling why he does not clarify in On Liberty his enlarged utilitarian theory of moral rights, and does not discuss how “utility in the largest sense” relates to property rights or political rights or rights to a fair trial. What Mill does make clear in On Liberty is that harm as he understands it does not include mere dislike or disgust, that is, subjective hurt without any accompanying perceptible injury. This is hardly surprising: if the individual is to have the liberty of doing as he likes in his self-regarding affairs, then he must be guaranteed by right that his likes will not be overridden by the contrary likes of other people with respect to his self-regarding affairs. Others must have duties to mind their own business. By contrast, if conduct that others merely dislike is said to cause them non-consensual harm, then self-regarding conduct is reduced to conduct that others either like or are indifferent to. The simple liberty maxim becomes the maxim that the individual has a right to make any personal choices that others either like or do not care about, and this would be absurd. Liberals can only regard such a maxim of liberty as useless and dangerous because it gives the individual no protection from majority tyranny in his personal affairs. Standard utilitarians may see nothing objectionable in it. But Mill is not a standard utilitarian. Rather, as a liberal, he believes that individuals have

4 One of many important differences between Mill’s utilitarian liberalism and modern liber­ tarianism relates to our duties to help others. For him, the right to choose as one pleases among self-regarding actions does not protect any liberty to choose between a self-regarding action and an other-regarding one. Moreover, the individual may have no control over the occurrence of the latter choice situations. Thus, a person may have utilitarian duties to help others, which require him to exit his self-regarding sphere to avoid failing to prevent serious harms befalling others, even though the harms are not caused by his own actions.

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the power to shape their own likes and dislikes and so are responsible for personal actions which they choose on the basis of their likes and dislikes, except in dire circumstances where they effectively have no choice but to do what they do. Thus, if a person merely feels dislike at another’s self-regarding conduct, he can choose to avoid the source of his dislike or to tolerate it, without being obstructed in the pursuit of his own personal lifestyle. He has no reason to claim that his own self-regarding liberty has been coercively interfered with or that he has been harmed against his wishes. The idea of harm that fits best with the main argument of On Liberty is a broad descriptive idea of “perceptible hurt,” a term which Mill occasionally uses in the essay (see, e. g., CW XVIII, S. 282). This term needs to be unpacked. In A System of Logic, he defines a “perception” as the direct recognition of an external object and says that it amounts to an intuitive belief – a belief held to be self-evident – that the object exists as the source of “certain sensations which I receive from it” (CW VII, S. 52–54).5 So perceptible hurt is damage in an external object that can in principle be directly recognized by any suitably situated observer. And, by perceptible hurt to an individual’s interests, Mill apparently means damage in any external thing which the individual has a reason to be concerned about, including her body, mobility, residence, finances, contracts, reputation, friendships and so on, since noticeable changes in those objects alter her personal circumstances and thus affect her capacity to make her own choices and to cultivate her higher faculties. It is worth emphasizing that this idea of harm is descriptive rather than normative. There is no implication that the individual should dislike the perceptible damage, for instance, or that she ought to find it undesirable, all things considered. She has a reason to be concerned about it but perhaps that reason is outweighed by other considerations for her so that she consents to the damage to her interests. Moreover, even when the damage is non-consensual, her reason for concern may not be morally justified. Her reason may be decisive in terms of her selfish interests so that she opposes the damage in the objects of her concern. But it does not follow that she has a moral claim on society to prevent or punish others’ actions that cause the damage or that fail to intercept it. Whether she does have such a claim is a separate question to be answered by a moral theory. But at least her reasonable concern for her self-interest must be among the consider-

5 Mill accepts that a perception is a distinct feeling or state of consciousness only because he wishes to avoid as much as possible entangling his theory of logic with controversial metaphysical views. He provides a lengthy discussion of his own metaphysical views, including his view that perceptions do not exist, in An Examination of Hamilton’s Philosophy, CW, IX



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ations which a moral calculus will take into account. Society or its representatives may properly decide, however, that the non-consensual damage to her interests is not of a kind that everyone needs to be protected by equal right from suffering.6 By contrast, the individual’s mere dislike is not a reason to consider coercive interference with another’s conduct, a point Mill repeatedly emphasizes throughout the essay. As he puts it: “But to be restrained [by others] in things not affecting their good, by their mere displeasure [mere dislike], developes [sic] nothing valuable, except such force of character as may unfold itself in resisting the restraint” (CW XVIII, S. 266). Given that coercion based on mere dislike develops nothing valuable, individuals who seek happiness “grounded on the permanent interests of man as a progressive being” have no reason to be concerned about protecting each other from experiencing mere dislike. Mill’s main line of argument is structured around this crucial distinction between mere dislike and harm as perceptible injury, the first being no reason whereas the second is a reason for society to consider interfering with an individual’s conduct as it affects others without their consent. In brief, he argues early on that naked preferences – mere likes and dislikes – are not reasons for coercive interference (CW XVIII, S. 220–23). He adds that custom has a “magical influence” because it lulls the individual into blindly obeying rules which embody the mere likes and dislikes of the majorities that made them: “people are accustomed to believe [...] that their feelings [respecting the propriety of binding rules of conduct] are better than reasons, and render reasons unnecessary” (CW XVIII, S.  220). He complains that people have been “encouraged in the belief by some who aspire to the character of philosophers,” (CW XVIII. See, also, CW XVIII, S. 283–84) a complaint that still has resonance as philosophers continue to encourage people to trust their gut feelings and intuitions to discover what is right and wrong and when coercion is appropriate. He then insists that the simple maxim of self-regarding liberty is grounded on reason, and not on the mere likes and dislikes of the majority or its representatives (CW XVIII, S. 223). In illustration, he remarks that coercive interference with discussion to prevent individuals from merely feeling offended is not justified (CW XVIII, S. 258–59).

6 The list of objects with which an individual has reason to be concerned may seem similar to Rawls’s list of “primary goods” (Rawls (1999), S. 54). Dale Miller thinks that it makes sense to attribute to Mill a belief in something like Rawlsian primary goods (Miller 1999, S. 120–21). Perceptible damage in her primary goods is certainly a reason for the individual’s concern. But she may well be concerned about things besides primary goods. Moreover, in a Millian context, the particular rights, liberties and fair opportunities which Rawls considers as primary goods must be viewed as pre-moral instruments, not yet endorsed by any utilitarian calculus. Mill’s utilitarian moral theory may reject some Rawlsian rights and prescribe others, for example.

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Then, further to his earlier remarks, he claims that “the magical influence” (CW XVIII, S. 260–65) of custom is “despotic” (CW XVIII, S. 272–75) since under that influence the individual sees no need to ask for a reason why she should obey or choose for herself, even in what concerns only herself. He emphasizes that the individual should assert herself and choose as she likes in her self-regarding concerns, rather than blindly obey rules that reflect the mere preferences of others (CW XVIII, S. 265–71). He admits that it is neither possible nor desirable to prevent an individual’s self-regarding conduct from affecting other people’s feelings but reiterates that this by itself is not a reason for coercive interference with the conduct (CW XVIII, S. 278). And he goes on to say that the individual must be prepared to experience “natural penalties” (CW XVIII, S. 277–80) which are inseparable from others’ mere dislike of her self-regarding conduct, and which are thus inseparable from a scheme of self-regarding liberty in which each person has a moral right to choose what she likes and avoid what she dislikes.7 It is fair to conclude that Mill is defending equal rights to complete liberty of self-regarding conduct, recognizing that self-regarding conduct does not inflict any non-consensual perceptible damage on others even though they may feel mere dislike or disgust at the conduct. At the same time, given that prevention of perceptible damage to others is a necessary condition for legitimate coercive interference, enforceable duties not to act in ways that others merely dislike are ruled out as illegitimate. Such duties, and correlative rights not to feel displeasure at others’ actions, are incompatible with the special Millian right to complete liberty of self-regarding conduct. As he also explains in the course of outlining the individual’s sphere of selfregarding conduct, the right of complete self-regarding liberty encompasses a variety of liberties insofar as there are various self-regarding activities. To have a right of self-regarding liberty is to have the right to choose among many selfregarding actions as one pleases, choosing to do one thing at one time and then doing another thing later if one likes, reverting to the first activity after that, and so forth. More specifically, the self-regarding liberties include

7 Mill emphasizes that “natural penalties” are inseparable from dislike: a person who merely dislikes another’s self-regarding conduct will naturally or spontaneously avoid the other person, warn friends and acquaintances of her supposedly disgusting self-regarding qualities, deny her the perks and “optional good offices” of friendship, and so on. It is not quite right to say that the agent inflicts such harms on herself, as I said in my early work. Rather, others inflict the natural penalties on the agent in reaction to her self-regarding conduct but she suffers those harms consensually so long as she chooses to persist in the conduct.



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the liberty of conscience [...]; absolute freedom of opinion and sentiment on all subjects [...]; the liberty of expressing and publishing opinions [...]; liberty of tastes and pursuits; [...] of doing as we like [...] without impediment from our fellow-creatures, so long as what we do does not harm them, even though they should think our conduct foolish, perverse, or wrong [...]; [and] freedom to unite, for any purpose not involving harm to others (CW XVIII, S. 225–26).8

Thus, self-regarding actions include forming opinions and feelings (including feelings of like and dislike), discussing them with other people, choosing careers, lifestyles (including sexual lifestyles) and commitments (including artistic and spiritual projects) that do not force others to experience perceptible injury even though others may dislike them, consuming any products and services (including drugs, alcohol, and so forth) that can be used in self-regarding ways, and forming voluntary associations that do not inflict non-consensual harm on non-members. Competent adults should by right have complete liberty to choose any of these self-regarding actions: “No society in which these [self-regarding] liberties are not, on the whole, respected, is free, whatever its form of government; and none is completely free in which they do not exist absolute and unqualified” (CW XVIII, S. 226, emphasis added). For Mill, the self-regarding sphere is “the appropriate region of human liberty” (CW XVIII, S. 225). It is important to remember that he means liberty in the positive sense of choosing to do whatever one pleases in accordance with one’s own judgment. “In this department, therefore, of human affairs, Individuality has its proper field of action [...] [I]n each person’s own concerns, his individual spontaneity is entitled to free exercise” (CW XVIII, S. 277). Mere dislike of another’s conduct is counted in Mill’s unusual utilitarianism: each individual has an equal right to avoid whatever he merely dislikes, as long as he does not cause any non-consensual harm to others. But mere dislike is never counted as a reason for coercive interference: “We have a right [...] to act upon our unfavourable opinion of any one, not to the oppression of his individuality, but in the exercise of ours” (CW XVIII, S. 278). The self-regarding sphere is also a minimum sphere of freedom in the distinct negative sense of freedom from coercive interference, a minimum which justice demands for any competent member of a civilized society. This minimum

8 Mill allows that conduct which would otherwise be self-regarding is taken out of the selfregarding sphere if it indirectly leads the agent to violate his recognized duties to others (CW XVIII, S. 281–82). Thus, he explains that when he says the individual’s self-regarding conduct affects “only himself, I mean directly, and in the first instance: for whatever affects himself, may affect others through himself” (CW XVIII, S. 225)

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of negative freedom is guaranteed by moral right for each and every competent person capable of rational persuasion. The moral claim guarantees that society will protect the individual’s vital interest in positive liberty and individuality, by enforcing others’ correlative duties not to interfere with his self-regarding actions. By choosing self-regarding actions as he likes, the individual can develop the higher faculties exercised in making a choice and learn from his choices what makes him happy or unhappy, all without causing any form of non-consensual perceptible damage to the interests of others. This is why Mill emphasizes in his Autobiography that “the leading thought of the book” on liberty is its “championship” of “the doctrine of the rights of individuality, and the claim of the moral nature to develope [sic] itself in its own way” (CW I, S. 260) But the self-regarding sphere is only one part of the individual’s life and conduct. The other part is his “social” or other-regarding sphere. Equal rights of positive liberty and individuality are not possible in the social sphere because one person’s social action affects other people without their consent, and some individuals must prevail over others to settle the conflicts in these matters of joint concern. Nevertheless, as it turns out, negative freedom from coercion is sometimes an expedient policy for society to adopt with respect to the social sphere, even though the positive freedom to do as one pleases cannot be guaranteed for each individual by moral right.9

2.2 Justified Sanctions The simple maxim of liberty is the main focus of On Liberty but it applies solely to the self-regarding portion of an individual’s conduct. There is more to the essay than the simple maxim of liberty. A complementary maxim, which might be called the simple maxim of social authority, applies to the other-regarding or “social” portion of an individual’s conduct, that is, conduct that causes perceptible damage to others’ interests without their genuine consent and participation, or poses a significant risk of doing so. Thus, Mill speaks of “the two maxims which together form the entire doctrine of this essay” and offers “specimens of application” (CW XVIII, S. 292) to clarify them and to help us judge which of the two is applicable in hard cases.

9 Isaiah Berlin seriously misleads us by stressing that Mill defends negative freedom to the neglect of positive liberty. Berlin rejects Mill’s distinction between self-regarding and social conduct, and so he ignores what is of immense importance to Mill, namely, the moral right to positive liberty with respect to self-regarding conduct.



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The liberty maxim says that “the individual is not accountable to society” for his self-regarding actions. Rather, the individual has a moral right to complete liberty because his self-regarding actions do not cause any non-consensual perceptible damage to others, although others may feel mere subjective pain at the actions.10 By contrast, the social authority maxim says that “the individual is accountable” to society for his social actions because they cause, or pose a definite risk of causing, some form of non-consensual perceptible damage to other assignable individuals or to the public at large, and so society may legitimately use coercion to prevent or punish such conduct if competent people or their political representatives decide that coercion “is requisite” for their “protection” or “security” (CW XVIII, S. 292).11 In other words, society has legitimate authority to consider using coercion to interfere with any type of social conduct; but it should employ coercion if and only if employing it to prevent or punish the conduct is justified according to the utilitarian criterion, with the crucial caveat that the criterion must be Mill’s enlarged utilitarian criterion involving “utility in the largest sense,” which requires that “the proper allowance [be] made for kind” (CW XVIII, S. 257) or quality of pleasant feeling including relief from suffering. Mill emphasizes that society’s political representatives, after due deliberation, may properly decide not to use coercion to interfere with some types of social conduct because the enlarged utilitarian criterion does not justify the use of force to prevent the kind of non-consensual harm inflicted on others by that sort of conduct: “it must by no means be supposed, because damage, or probability of damage, to the interests of others, can alone justify the interference of society, that therefore it always does justify such interference” (CW XVIII, S. 292). Even though the winning sellers in a competitive market conducted without force or fraud succeed at the expense of the losers, for example, the non-consensual harms suffered by the losers are properly considered not to be of a wrongful kind: “In other words, society admits no right, either legal or moral, in the disappointed competitors, to immunity from this kind of suffering; and feels called on

10 Consistently with this, society may legitimately check that others’ consent and participation is genuine in the case of self-regarding actions that harm others. But once it has been ascertained that anyone being harmed is genuinely consenting, that is the end of the matter: society has no legitimate authority to even consider whether to use coercive interference 11 Both the liberty maxim and the social authority maxim are implied by the “one very simple principle” as stated by Mill. It is important that, for him, coercion is actually “justifiable only for the security of others” (CW XVIII, S. 224, emphasis added). Security is tied to the prevention or punishment of wrongful harm and not non-consensual perceptible damage in the descriptive sense.

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to interfere, only when means of success have been employed which it is contrary to the general interest to permit – namely, fraud or treachery, and force” (CW XVIII, S. 293, emphasis added). Aggregate happiness is promoted by the broad laissez-faire policy, which allows for important exceptions where government intervention in the market is justified to prevent or punish injustice. Similar remarks apply to public expression, which, like trade, is admittedly social rather than self-regarding activity, even though Mill treats discussion in practice as if it were self-regarding.12 Thus, even non-consensual harm to others is not always sufficient to justify coercive interference. But Mill also emphasizes that coercion is justified to prevent or punish other types of social actions that inflict other kinds of non-consensual harm on others, to wit, forms of non-consensual perceptible damage which people who are competently acquainted with different kinds of painful feelings or sufferings agree ought to be prevented or retaliated against for the security of the members of society. In other words, according to his enlarged utilitarian criterion, political officials rightfully establish a binding social code of justice whose rules distribute and sanction equal rights not to suffer grievous harms of this wrongful kind: “As much compression as is necessary to prevent the stronger specimens of human nature from encroaching on the rights of others, cannot be dispensed with” (CW XVIII, S. 266). Any civilized society establishes such a binding code of justice, which ought to be constructed and enforced so as to maximize the pleasant feelings of security experienced by competent individuals, who have developed the intellectual and moral faculties required to experience that moral kind of pleasure, under the recognized rules and rights. Since every individual is to count for one under the utilitarian criterion, enforceable equal rights are assigned by an optimal code of justice. An optimal code of justice also distributes and sanctions “specific duties to the public” which are not correlative with individual rights, such as the duty to help defend the country against foreign aggressors, the duty to pay one’s fair share of the taxes needed to support the government, the duty to serve on juries, and the duty not to pollute the environment by, say, defecating on city streets. The individual who fails to fulfill these public duties causes perceptible damage

12 As with trade or exchange, Mill says that “expressing and publishing opinions [...] belongs to that part of the conduct of an individual which concerns other people” (CW XVIII, S. 225–26). Thus, it is incorrect to interpret him as claiming that sellers consent to be driven into bankruptcy or that speakers consent to be deprived of an audience by competing speakers with different opinions. Nor is it correct to read him as claiming that consumers consent to buy faulty products from sellers or that listeners consent to be misled by speakers.



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to the interests of the public at large rather than to those of assignable individuals. Such perceptible damage to the public interest is deemed non-consensual and wrongful by the political representatives of the polity. These public duties help to resolve certain puzzles that arise if the term ‘harm to others’ is mistakenly confined to harm to other assignable individuals. In this regard, there can be perceptible damage to the public at large which is imperceptible with respect to the interests of any assignable member of the public. Conduct that appears to be harmless to the interests of any other particular individual, may yet cause perceptible hurt to the public if it is performed by many individuals simultaneously or in succession. One individual may fail to pay his fair share of taxes without any perceptible effect on another assignable individual, for instance, and yet if many or all people did the same, perceptible damage to the public treasury would be the result. Such perceptible damage to the public is observable but not necessarily wrongful: it may be permissible for many people to trample over the vegetation in designated areas of a national park, for example, and it might even be praiseworthy for many people to refuse to pay taxes to support a government that engages in unjustified military strikes against innocent civilians around the world. According to Mill’s utilitarian criterion, some forms of perceptible damage to the public at large are unjust and thus deserving of punishment. Any action that would, if performed repeatedly by many people, cause such perceptible damage, ought to be prevented to promote the aggregate feelings of security of the public. Political representatives have legitimate power to protect the public by creating duties not to cause such perceptible damage: the duties signal that the public’s representatives regard the damage as non-consensual and wrongful. For instance, such duties may include duties not to endanger the public health by defecating in the city streets, even though any isolated act of public defecation may not seem to endanger the health of any assignable individual. The enlarged utilitarian criterion thereby generates specific public duties not to engage in conduct that might otherwise be mistaken for self-regarding conduct if we only considered its effects on the interests of other assignable individuals. But duties not to do things which others merely dislike remain illegitimate: the people and its representatives have no legitimate power to create them. Mill tells us as well that an optimal binding code of justice is justified not only by the aggregate security it produces but “even in the point of view of human development: The means of development which the individual loses by being prevented from gratifying his inclinations to the injury of others, are chiefly obtained at the expense of the development of other people” (CW XVIII, S. 266). Indeed, the use of coercion to enforce rules of justice is justified even in terms of self-development:

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And even to himself there is a full equivalent in the better development of the social part [as opposed to the self-regarding part] of his nature, rendered possible by the restraint put upon the selfish part. To be held to rigid rules of justice for the sake of others, developes [sic] the feelings and capacities which have the good of others for their object (CW XVIII, S. 266, emphasis added).

Thus, it is not the case that liberty in the sense of doing as one pleases is the only source of self-improvement, even though it is “the only unfailing and permanent source” (CW XVIII, S. 272) of it. Being forced if necessary to comply with rules of justice is also a source of self-development, indeed, a source that cultivates one’s sociality and moral improvement as part of one’s individuality. Ideally, if everyone develops his desire to do right and habitually follows the recognized social rules of justice, the need for coercion will disappear. What Mill calls a “Greek ideal” of character, which is the ultimate target of the process of self-development, exhibits a due balance between complete liberty of self-regarding conduct and voluntary obedience to reasonable rules of justice that govern social conduct for the sake of others (CWXVIII, S. 266).13 Such a well-developed and balanced character reflects his understanding of Wilhelm von Humboldt’s doctrine “that ‘the end of man, or that which is prescribed by the eternal or immutable dictates of reason, and not suggested by vague and transient desires, is the highest and most harmonious development of his powers to a complete and consistent whole’” (CW XVIII, S. 261). It is undeniable that Mill prescribes a social code of justice that distributes and sanctions familiar liberal rights such as the right not to be attacked without provocation, the right to a fair trial, private property rights including rights of contract, and so on. His innovation is to argue that every civilized society ought to recognize the right to absolute liberty of self-regarding conduct and, as a consequence, refuse to recognize any rights not to suffer mere dislike or disgust at what others do. For him, individuals have enforceable duties not to obstruct each other’s self-regarding choices: “the obligations of justice” include the obligation not to hinder another “in his freedom of pursuing his own good” (CW X, S. 256). Society may legitimately employ coercion to prevent or punish any person’s invasion of another’s self-regarding sphere. Any coercive interference with another’s self-regarding conduct constitutes a “wrongful exercise of power” over the other person. Such interference is a form of non-consensual perceptible damage to the other’s interests, specifically, his interest in individuality, which political officials properly decide is of a wrongful kind.

13 For further discussion of the “Greek ideal of self-development” which Mill associates with Pericles (see Riley (2013), S. 97–125).



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Nevertheless, Mill allows that political officials properly decide at times not to employ coercion to prevent or punish even an unjust action. Even though the action inflicts a kind of non-consensual harm on others that is rightfully considered wrongful and thus deserving of punishment, it may still be inexpedient to employ legal penalties or public stigma to deter the action, for example, the breach of a secret promise between friends. While external sanctions are inexpedient, however, justice demands that the wrongdoer ought to punish himself with guilt: “the conscience of the agent himself should step into the vacant judgment seat, and protect those interests of others which have no external protection; judging himself all the more rigidly, because the case does not admit of his being made accountable to the judgment of his fellow-creatures” (CW XVIII, S.  225).14 Unfortunately, some individuals have not developed a strong conscience, or desire to do right, and so may escape from all forms of punishment in these situations. Thus, not only will all individuals sometimes have negative liberty to do wrongs such as obstructing the self-regarding actions of others, but some individuals may also actually do wrong and not feel guilty for their wrongdoing in these cases. Despite its employment of legal penalties and public stigma wherever effective, then, a civilized society must still expect some degree of noncompliance with recognized moral rules that cannot be effectively enforced with external sanctions. It should take steps to promote widespread moral improvement but recognize in the meantime that imperfect compliance with the rules of justice is the best we can hope for. In light of this discussion, we can see that many scholars, including revisionists but also traditionalists such as Isaiah Berlin, distort Mill’s treatment of social conduct apart from dismissing or ignoring his prescription of the moral right to complete liberty of self-regarding conduct. According to these scholars, he conceives of liberty as negative freedom, and he thinks that the individual should have such freedom from coercive interference to act in accordance with his rights and to fulfill his duties to others whereas society properly uses force to deter him from acting otherwise. For them, the sphere of liberty is just the logical complement of the sphere of morality and law. But this does not capture Mill’s view. True, he thinks that the individual should be free from coercive interference within his self-regarding sphere. But such negative liberty is not the same thing as liberty in the positive sense of choosing to do whatever one pleases. While he should sometimes be left free from interference to do wrong because society cannot expediently employ external sanctions, for instance, the individual still

14 Mill states that punishment includes “the reproaches of [the individual’s] own conscience” (CW X, S. 246)

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ought to fulfill his duties to others and to punish himself with guilt if he fails to fulfill them. He ought not to do as he likes if he likes to do wrong. Mill’s view is that the individual should be free from coercion even within the sphere of morality at times because society cannot expediently employ legal penalties or public stigma to prevent him from causing non-consensual harm of a wrongful kind to others. But he does not claim that the individual has a moral right to be free from coercive interference to do as he pleases in these cases. By contrast, he argues that the individual should be protected by right from coercive interference within his self-regarding sphere so that he can choose among his self-regarding actions to get any self-regarding outcome he likes. The individual is not similarly protected by moral right with respect to his social actions. He may at times be left free from coercion to do wrong but he has no right to do wrong as he pleases: society merely has no expedient way to interfere with his wrongdoing in these cases.

2.3 Kinds of harm It emerges that Mill identifies three different kinds of harm, each associated with a distinctive sphere of conduct, and argues that a civilized society should adopt different ways of reacting to these different types of perceptible damage so as to promote the aggregate happiness “both in point of quantity and quality” (CW XVIII, S. 214). The common view that he recommends a simple harm principle in On Liberty is a misinterpretation foisted upon him by commentators who do not appreciate the subtleties of his philosophy. Consensual perceptible damage is the kind of harm associated with the sphere of self-regarding conduct. A competent individual has a moral right to choose as he likes any self-regarding action that causes perceptible damage to himself alone, provided the self-harm does not in turn cause him to violate his recognized duties to others. Similarly, the individual has a right to choose as he pleases any action that causes perceptible damage only to other consenting adults, provided that the consensual harm does not in turn cause them to violate their duties to third parties. And the individual has a right to avoid anyone (though not to “parade the avoidance” (CW XVIII, S. 278)) whose self-regarding conduct displeases him and who refuses to alter her behavior despite his attempts to persuade her to do so. True, he harms her by withdrawing his friendship, denying her the perks of friendship such as free tickets to the football game, warning friends and acquaintances of her self-regarding faults, and so forth. But she consents to such natural penalties by choosing to persist in the self-regarding conduct which he warns her he dislikes. As Mill points out, the natural penalties are “strictly inse-



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parable from the unfavourable judgments of others,” (CW XVIII, S. 278) and thus are inseparable from equal rights of self-regarding liberty. No coercion is involved, though the individual must not stir up oppressive public opinion by advertising in the mass media his dislike of another’s self-regarding faults, organizing groups to protest or boycott her business, and the like. A second kind of harm is non-consensual but permissible perceptible damage, which is associated with the sphere of competitive freedom, itself a part of the sphere of social or other-regarding conduct. Society legitimately considers whether to use coercion to prevent or punish social actions that cause this kind of harm to others but properly decides not to interfere because permitting a free competition conducted without force or fraud is a utilitarian policy. In other words, the harms are of a kind reasonably judged morally and legally permissible because they are outweighed by social benefits in the estimation of competent though fallible political representatives. The permission to compete does not guarantee to any individual that he will be a successful competitor; others may win the competition, and the losing individual suffers non-consensual perceptible damage in the form of wasted exertions, disappointed expectations, and other losses. True, the permission is backed up by just claims. The individual has a right that a competitive market, for example, shall be conducted without force or fraud. So he has a right that others not force him out of the competition, whether by physical intimidation or by stealing his goods or by threatening his customers with violence unless they take their business elsewhere. Nevertheless, assuming the competition is conducted within recognized bounds of justice, society properly decides not to use force to protect individuals from suffering competitive losses against their wishes. Such harms, though non-consensual, are not wrongful under Mill’s utilitarian criterion. Non-consensual and wrongful perceptible damage is yet another kind of harm, which is associated with the remaining part of the sphere of social conduct, namely, the sphere of morality and law. Society properly decides to use force to prevent or punish social actions that cause this wrongful kind of perceptible damage to others because prevention or punishment is necessary for the protection or security of the members of society. In other words, the harm is of a grievous kind which any individual has an equal right not to suffer according to the enlarged utilitarian criterion. Permitting social actions that cause this wrongful kind of non-consensual perceptible damage to others can never promote aggregate happiness as Mill conceives it because such harm violates their rights and thereby causes insecurity. Instead, society must establish and enforce social rules of justice that distribute equal “perfect” duties not to cause this kind of harm to others. In effect, revisionist scholars restrict their attention to this wrongful kind of harm to the neglect of the other kinds.

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It must be recognized that there are merely expedient laws that, by themselves, are not moral rules. As critics such as H. L. A. Hart complain, a law that subsidizes farmers to grow certain crops, or a law that permits foreigners to work in domestic coal mines, or a law that prohibits imports at dumped prices, or a law that directs people with an infectious disease into quarantine, does not on its own constitute a fundamental rule of justice that implicates a moral right (see Hart 1982). For Mill, however, once such expedient laws are combined with penal laws that impose legal penalties for non-compliance, the combination does constitute a moral rule: it in effect extends morality in a direction which, as judged by competent though fallible public officials, is expedient. Thus, once some form of legal punishment is threatened for taking a subsidy without growing the relevant crops, or for taking a work permit but failing to work in the designated industry, or for defying the ban on dumped imports, or for refusing to enter or remain in quarantine, these illegal activities are brought within the sphere of morality, which is demarcated by the deservingness of punishment for failing to fulfill one’s recognized duties to others including the public at large. So Mill really proposes three different harm principles in On Liberty, each of which is applicable to its own distinctive sphere of conduct. One harm principle says that society should not even consider coercive interference with selfregarding actions that cause consensual perceptible damage to the interests of others. A second harm principle says that society should decide, after due consideration, not to employ coercion to interfere with competitive social actions that cause non-consensual but morally permissible perceptible damage to the interests of others. And the third harm principle says that society should decide, after due consideration, that coercion is legitimately used to prevent or punish unjust social actions that cause non-consensual and wrongful perceptible damage to the interests of others, although even in this case external sanctions will be inexpedient in some situations. Mill’s treatment of harm is far more sophisticated than commonly allowed. I cannot discuss here in any detail the application of his doctrine of individual liberty and social coercion but a couple of points should be highlighted. First, given that harm does not include mere dislike or disgust, Mill is never concerned to prevent or punish actions that other people merely dislike or feel offended at. Rights not to feel mere dislike or disgust are not needed for anyone’s protection or security. It is always necessary to identify some form of non-consensual perceptible damage to others before coercive interference with an individual’s actions can even be legitimately considered. Second, it is fair to ask whether a competent individual can genuinely consent to suffer grave perceptible damage. Can he really consent to be robbed, or to sell himself into slavery, or even to be killed? If so, self-regarding conduct must include consensual robbery, voluntary



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slavery and assisted suicide. Does this not blur or even threaten to remove the line between self-regarding conduct and wrongful actions by others? In general, a civilized society assumes that competent people do not consent to be victims of such grievously harmful actions, and confines to public officials the decisions to investigate, prosecute and punish the wrongdoers. That social practice makes sense to prevent offenders from intimidating their victims to give fake consent to crimes.

2.4 Mill’s extraordinary utilitarianism Mill’s version of hedonistic utilitarianism is extraordinary in various respects, and it is important to get an idea of how the argument of On Liberty, including its sophisticated treatment of the different kinds of harms, is grounded in his utilitarianism. The most extraordinary aspect of its structure flows from his insistence that there are different kinds of pleasant feelings, of different qualities, such that a higher kind is intrinsically more valuable as pleasure than a lower kind, regardless of quantity. In effect, the relative superiority of the higher kind is unlimited or infinite: even a bit of the higher feeling is preferable to any amount of the lower kind, however large, in the judgment of those – if not all, then at least a majority of them – who are competently acquainted with both feelings insofar as they have developed the higher mental faculties required to experience the higher feelings. There is not a shadow of doubt that this is what Mill means by a difference of quality in pleasures.15 Mill holds that the pleasures of lowest kind, of least quality, are the inchoate physical sensations of pleasure registered by our body, that is, by our “animal nature” when assumed to be “disjoined” from our higher mental capacities (CW X, S. 213). Humans, like other animals, experience simple physical sensations automatically through the nervous system, independently of the will, the rational faculty, and the creative imagination including the ability to imagine oneself in the places of others. These elementary tingles and surges of pleasure, considered in isolation, are simple states of consciousness disjoined from any thoughts of objects and from any sentiments whose ingredients include various thoughts. Mental pleasures are said to be superior in quality to the simple physical sensations of pleasure. Any mental pleasure is a complex state of mind. It is a quasichemical compound of various ingredients, including a thought of some external object or activity together with physical sensations of pleasure, or their traces in

15 This may seem an overly strong claim but see Riley (2014), S. 170–191.

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memory and imagination, caused by that object or activity. These various ingredients melt together so that the mental pleasure feels like a whole new feeling with its own emergent properties, including the property of qualitative superiority over the pleasant physical sensations among its ingredients. The ingredients vanish from our consciousness as separate elements: the pleasant physical sensations become inseparably associated with the idea of the object or activity so that we are unaware that the pleasure and the idea are separate elements, unless the mental pleasure is subjected to a psychological analysis. Mill’s stated view is that any person capable of experiencing the mental kind of pleasures will not voluntarily sacrifice even a bit of mental pleasure for any amount of the mere bodily kind of pleasure. Since mental pleasures are complex feelings that already include pleasant physical sensations or their traces among other ingredients, however, the only way mental and bodily kinds can come into conflict is when mental pleasure must be sacrificed altogether in return for a greater amount of the physical sensation of pleasure which is already a component of the mental pleasure. In short, the issue is: would anyone who can exercise his mental faculties voluntarily give them up, along with the mental pleasure they make possible, in return for any amount of the purely sensual pleasure above and beyond that already contained in his mental pleasure? Mill’s negative answer is plausible, keeping in mind his admonition that people may involuntarily sacrifice mental pleasures for physical sensations because they have become incapable of exercising their higher faculties or of making choices as a result of abuse, disease, or neglect (CW X, S. 211–14). Within the broad category of mental pleasures, some kinds are qualitatively superior to others. Certain emotional kinds of pleasures are superior in quality to other mental pleasures. The latter pleasures might be named everyday mental pleasures or pleasant thoughts, that is, a kind of pleasant feeling fused with ideas of objects or activities that we find useful or merely expedient for our daily life, keeping in mind that these things may relieve us of suffering as well as give us delight. By contrast, the emotional pleasures are far more complex and require more subtle and extensive exercise of our higher faculties. Thus, Mill suggests that the kind of pleasant feeling associated with the moral emotions, of which the sentiment of justice is the most important and sets the tone for the others such as the sentiment of charity or kindness, is qualitatively superior to any competing kinds of pleasures. This higher moral kind of pleasure, which he calls a feeling of security, grows up around the idea of justice understood as a set of equal rights and duties distributed and sanctioned by a fundamental social code, in the construction of which each individual or her political representative has a voice. The pleasure of security is caused by perceptible improvement or at least no perceptible dete-



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rioration in that special external object of reasonable concern to the public at large, to wit, a working code of justice. After explaining that security depends on the continuous “active play” of the “machinery” of justice, he argues that any suitably competent individual feels that this pleasure, including relief from suffering, is higher in kind than the everyday mental pleasures: the pleasant feelings of security are “so much more intense than those concerned in any of the more common cases of utility, that the difference in degree (as is often the case in psychology) becomes a real difference in kind” (CW X, S. 251). To competently experience this higher pleasure of justice and morality, the individual must develop his capacities to imaginatively sympathize with other people and even with other species of animals, to construct and obey rules designed to protect any human or any sentient creature from suffering harms reasonably judged to be wrongful, to direct resentment and punishment against those who intentionally, knowingly, recklessly or negligently break the moral rules, and so forth. Even so, the kind of pleasure associated with aesthetic emotions of beauty and sublimity might be qualitatively supreme if genuine aesthetic pleasures never conflict with moral pleasures. For Mill, aesthetic pleasure is apparently associated with lofty ideas or ideals of harmony, symmetry, infinity and so forth that direct our attention to an imaginary more perfect world or utopia or heaven that transcends the imperfect world of our experience. This ranking of the different kinds of pleasures in terms of increasing quality, from purely physical sensations through intellectual and moral feelings up to aesthetic emotions, deserves careful consideration. It is a very special sort of ranking, namely, a lexicographical (or lexical) ranking. The lexical ranking is special because it captures the discontinuities of intrinsic value produced by the infinite superiority of higher pleasures over lower ones: no quantity of lower pleasure, however large, can ever be equal in value as pleasure to even a bit of higher pleasure. A key implication of the ranking, for instance, is the absolute importance of social rules of justice within Mill’s extraordinary version of hedonistic utilitarianism. Indeed, as I understand it, his doctrine confines the aggregation procedure to the higher pleasures of justice: a binding social code of equal rights and duties is constructed in accordance with a democratic social choice process, and individuals are then free from coercion to pursue other kinds of pleasures in accordance with their recognized rights and duties.16

16 Mill nowhere assumes the rich cardinal comparable utility information which is needed to run a standard utilitarian aggregation procedure. Instead, he apparently assumes only purely ordinalist utility information, an informational environment in which the standard utilitarian process reduces to a democratic process (See Riley (1990), S. 335–348 and Riley (2007), S. 221–249).

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To properly appreciate the implications of this unusual hedonistic utilitarianism for the argument of On Liberty, we must turn to the hierarchy of different kinds of painful feelings which corresponds to the hierarchy of different kinds of pleasures. The pains of lowest kind, of least quality, are the simple physical sensations of pain registered by the body, when assumed to be “disjoined” from our higher mental faculties. Mental pains are complex states of mind that are qualitatively worse than the simple bodily sensations of pain because we understand that certain objects about which we are reasonably concerned are damaged, and the damage is the source of our painful sensations. We are aware that our body or some other thing that we have a reason to be concerned about is associated with our mental pain. Everyday mental pains are a kind of painful feeling or thought in which sensations of pain, or their traces, are fused with ideas of perceptible damage in objects or activities that we find useful or merely expedient for our daily life. The damage is regarded as the source of this merely inexpedient kind of mental pain. Emotional kinds of pains are even worse in quality than everyday mental pains. The kind of moral suffering associated with injustice and violations of anyone’s equal rights (not only our own) involves subtle and extensive exercise of our higher faculties, and is felt to be worse in quality than any competing kinds of pains by people who have developed the intellectual and moral capacities needed to competently experience the different kinds of painful feelings. Even so, the kind of aesthetic or spiritual suffering associated with a loss of one’s ideals and commitments, or with a sense that one’s life has lost its purpose and become ugly or hateful, may be worst in quality, especially if it is conjoined with moral suffering. Remarkably, physical sensations of pain are not involved in feelings of mere dislike or disgust. The latter feelings are entirely concoctions of the higher mental faculties. They do not have perceptible sources in external reality but instead are creations of the will and the creative imagination. The imagination, powered by the will, takes simple images or copies of painful sensations stored in memory and associates these traces with things, either real or imaginary, that do not cause the sensations. So feelings of mere dislike are not feelings of pain with a basis in external reality. In other words, they are merely subjective pains as opposed to objective pains caused by perceptible damage in objects of reasonable concern to the victim or to the public at large: objectively painful feelings of all kinds involve sensations of pain that emanate from some such perceptible damage. Thus, feelings of mere dislike and disgust cannot be regarded as feelings of harm in the sense of perceptible damage to one’s interests. A person’s mere dislikes include feelings in which he merely imagines that another’s self-regarding conduct causes physical sensations of pain to him against his wishes. In fact, however, a self-regarding action does not cause any



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sensations of pain to others, or, if it does, only with their consent and participation. It cannot cause non-consensual sensations of pain because it does not cause any non-consensual perceptible damage in the objects and activities which the other person has a reason to be concerned about. Sensations of pain are only experienced as a result of perceptible damage in these external sources: all sensations are conveyed into consciousness through the body, which is itself an external object, independently of the will. Non-consensual sensations of pain cannot arise if there is no non-consensual perceptible damage in the external sources, including his body, which the individual cares about.

2.5 Conclusion Against both traditionalists and revisionists, I have argued that Mill’s extraordinary hedonistic utilitarianism provides a solid foundation for a protected self-regarding sphere of individual liberty in the positive sense of doing as one pleases. With reference to any civil society, the simple maxim of liberty says that any individual capable of rational persuasion has a moral right to choose among self-regarding actions as he likes whereas a complementary maxim of social authority says that society may legitimately use coercion to enforce the correlative duties so as to protect the individual’s permanent interest in individuality or selfimprovement. As a result, the individual’s pleasant feeling of security caused by the ongoing maintenance and improvement of the “machinery” of equal justice and rights can coexist with the enjoyment he feels from asserting himself and developing his mental capacities in self-regarding activities that do not cause any non-consensual perceptible damage to the interests of others, although others may feel mere dislike or disgust at the activities. This is the central message of On Liberty, even if much else, including a sophisticated treatment of different kinds of harm involving three distinct harm principles, is also implicit in the essay. More generally, keeping in mind that Mill defends other equal rights besides the special right of complete self-regarding liberty, “man as a progressive being” is best understood as a being with a permanent interest in securing a basic subsistence and, to the extent possible, a flourishing life for himself, his family, his fellow citizens, and, indeed, all sentient creatures; and also as a being with a permanent interest in improving his intellectual, imaginative and moral capacities so that he can discover how this ideal social outcome might eventually be approached if not realized in practice. Remarkably, this grand liberal vision of mankind, which emphasizes our permanent interests in security and individuality or self-improvement, is rooted in an extraordinary hedonistic utilitarianism.

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References Hart, H. L. A. (1982): “Natural Rights: Bentham and John Stuart Mill”. In his Essays on Bentham: Jurisprudence and Political Theory. Oxford: Clarendon Press. Hohfeld, Wesley N. (1919): Fundamental Legal Conceptions, ed. W. W. Cook. New Haven: Yale University Press. Miller, Dale E. (1999): J. S. Mill: Moral, Social and Political Thought. Cambridge: Polity Press. Rawls, John (1999): A Theory of Justice, rev. ed. Cambridge, MA: Belknap Press of Harvard University Press. Riley, Jonathan (1990): “Utilitarian Ethics and Democratic Government”. In: Ethics 100. Riley, Jonathan (2007): “Mill’s Neo-Athenian Model of Liberal Democracy“. In: N. Urbinati and A. Zakaras (Hrsg.): J.S. Mill’s Political Thought: A Bicentennial Reassessment. Cambridge: Cambridge University Press. Riley, Jonathan (2013): “Mill’s Greek Ideal of Individuality”. In: Demetriou K. N./Loizides, A. (Hrsg.): John Stuart Mill: A British Socrates. London: Palgrave Macmillan. Riley, Jonathan (2014): “Different Kinds of Pleasures”. In Antis Loizides (Hrsg.): Mill’s System of Logic: Critical Appraisals. London: Routledge.

Peter Niesen

3 Über die Freiheit des Denkens und der Diskussion Im zweiten Kapitel von On Liberty setzt sich John Stuart Mill systematisch mit den Grundlagen der Äußerungsfreiheit auseinander. Die Beweisführung des Kapitels ist breit angelegt und unterhält vielfältige Beziehungen mit den vorangehenden und folgenden Kapiteln desselben Werks, aber auch mit Mills früheren Veröffent­ lichungen zum Thema. Mills klar geschnittene, radikale Position entfaltet hohe Überzeugungskraft, ihre Begründung fällt aber merkwürdig überdeterminiert aus. Seine Überlegungen stehen im Kontext utilitaristischer und erkenntnistheo­ retischer ebenso wie individualethischer und demokratietheoretischer Überle­ gungen, so dass aufgeklärt werden muss, auf welche Prämissen er sein Argument für eine möglichst weitgehende Äußerungsfreiheit stützt. Ebenso offen ist, worauf sich seine Beweisführung richtet. Als Thema des zweiten Kapitels von On Liberty wird häufig die Verteidigung der Meinungs­ freiheit angegeben (Rinderle 2000, S. 93). Der Ausdruck hat sich nicht zuletzt deshalb eingebürgert, weil er die Formulierung des Grundgesetzes des Bundes­ republik Deutschland in Art. 5 aufgreift, demzufolge jeder das Recht hat, seine Meinung in Wort und Schrift frei zu äußern. „Meinungsfreiheit“ steht daher meist kurz für „Meinungsäußerungsfreiheit“. Andere Autoren sprechen von Rede- oder Ausdrucksfreiheit (freedom of speech; freedom of expression: Jacobson 2000; Brink 2008). Doch geht es in On Liberty um Meinungsfreiheit oder allgemeiner um Redefreiheit). Wie verhält sich die verteidigte Konzeption zu dem älteren Verständnis einer Presse- oder Publikationsfreiheit? Und wie lässt sich erklären, dass weder Meinungs-, noch Rede- oder Publikationsfreiheit im Titel des Kapitels stehen, sondern „die Freiheit des Denkens und der Diskussion“? Erst in der Betrachtung des Verhältnisses zwischen Äußerungsfreiheit einerseits, der Freiheit des Denkens und der Diskussion andererseits, können ihre jeweiligen Grundlagen aufgespürt werden. Auf dieser Basis lässt sich auch etwas über die Grenzen von Mills Konzeption sagen: schließt sie nur Meinungs­ äußerungen ein, oder umfasst sie ebenso die Behauptung von (wahren oder falschen) Tatsachen (3.1)? Worin sind mögliche Einschränkungen der Äuße­ rungsfreiheit begründet, und wie hängt der identifizierte Bereich geschützter Äußerungsfreiheit mit dem übergreifenden Argument von On Liberty, insbe­ sondere dem Schädigungsprinzip (harm principle) und der persönlichen Frei­ heitssphäre, die nur die Person selbst angeht, zusammen (3.2)? Abschließend ist zu fragen, wie die gesellschaftliche Dimension der Äußerungsfreiheit zur rechtlich-politischen hinzutritt und welche institutionellen Folgerungen sich

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über die schiere Einschränkungsfreiheit von Äußerungen hinaus aus Mills Kon­ zeption ziehen lassen (3.3).

3.1 Mills Argument für die Freiheit der Meinungsäußerung in On Liberty Mill nutzt die einleitenden Worte des zweiten Kapitels, um sich von einer älteren Problemstellung abzugrenzen, die für sein gegenwärtiges Thema kaum noch Relevanz habe. Dies ist die Diskussion um die Pressefreiheit (liberty of the press), die willkürliche Durchgriffe der Regierung in das Leben und den Überzeugungs­ haushalt der Bürger abwehren soll. Unter der Pressefreiheit versteht Mill die Freiheit „politischer Diskussion“, die er von einer allgemeineren „öffentlichen Diskussion“ unterscheidet, die erst zu etablieren wäre (CW XVIII, S. 228, vgl. S. 228 fn.). Dass Mill die Freiheit der Presse für intellektuell durchgesetzt und auch für institutionell weitgehend gewährleistet hält, deutet er schon in der Überschrift an, in der er sich implizit von Jeremy Bentham, dem Begründer der utilitaristischen Tradition der Äußerungsfreiheit, abgrenzt. Anstelle der Liberty of the Press, and Public Discussion, die Bentham 1822 eingefordert hatte, geht es Mill um „Liberty of Thought and Discussion“ (Bentham 2012, 1–52; Mill CW XVIII, S. 227). Als bekennende philosophic radicals hatten die frühen Utilitaristen ihre Hoffnung in die Rationalisierung der politischen Verhältnisse durch Redefrei­ heit gelegt. John Stuarts Vater James Mill fasst in seinem Eintrag „Liberty of the Press“ in den Ergänzungsbänden zur Encyclopedia Britannica ihre Position wie folgt zusammen: Ein Volk kann niemals in Sicherheit leben, wenn irgend jemandem gestattet wird, seine Meinungen für es auszuwählen. Es gibt keine Merkmale, an denen man ablesen könnte, welche Meinungen wahr und welche falsch sind. Es muss daher dieselbe Freiheit bestehen, alle Meinungen bekannt zu geben; und wenn alle Meinungen, die wahren wie die falschen, gleichermaßen bekannt gegeben wurden, wird sich die Zustimmung der größeren Anzahl dort, wo ihre Interessen dem nicht entgegenstehen, immer auf Seiten der wahren Meinun­ gen erwarten lassen (James Mill 1992, S. 122, Übs. PN).

Der Schutz falscher Meinungen vor Kontrolle und Verfolgung verdankt sich einem Defizit unserer Erkenntnisfähigkeiten: unserem fehlenden Vermögen, um die Wahrheit oder Falschheit von Meinungen bereits vor ihrer Veröffentlichung zu wissen. Es ist die freimütige Bekanntgabe aller Meinungen, nicht die Aus­ einandersetzung zwischen ihnen, der wir zutrauen dürfen, die Spreu vom Weizen zu trennen. Bentham und James Mill sind allerdings weit entfernt davon, eine



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gesetzlich völlig uneingeschränkte Publikationsfreiheit zu fordern, da die Presse durchaus in der Lage sei, Schaden anzurichten (James Mill 1992, S. 97–110). Der konsequentialistischen Abwägung von Vor- und Nachteilen einer völlig freien Presse schließt sich auch der junge John Stuart Mill in seinem Aufsatz „Law of Libel and Liberty of the Press“ von 1825 an, in dem er festhält, dass „die Verge­ hen, die die Presse begehen kann, in der Tat nahezu deckungsgleich sind mit dem gesamten Feld der Delinquenz“ (CW XXI, S. 4). An der freihändigen Aufrechnung problematischer Handlungsfolgen, die aus Veröffentlichungen hervorgehen und solchen, die durch ganz andere Formen der Einwirkung entstehen, lässt sich ablesen, dass der junge John Stuart Mill ebenso wenig wie Bentham oder James Mill einen freiheitstheoretisch relevanten Unterschied zwischen Redeäußerungen und anderen Handlungen sieht. Ein Schaden ist ein Schaden, und ein Vergehen ein Vergehen: Angesichts von Verletzungen (violations) oder Rechtswidrigkeiten (offences, CW XXI, S. 4, S. 34) sei es gleichgültig, ob sie durch die Presse oder auf anderem Wege verursacht werden. In Bezug auf die erkenntnisstiftende Funk­ tion der Äußerungsfreiheit hegt der junge Mill ebenso optimistische Annahmen wie sein Vater. Auf lange Sicht bestimme stets „das jeweilige Gewicht der Argu­ mente“ – und nicht etwa Spott oder Missgunst – die Willensbildung der Mehr­ heit (CW XXI, S. 15). Schließlich folgt Mill seinen utilitaristischen Vorläufern auch darin, dass er systematisch zwischen der Veröffentlichung falscher Meinungen und falschen Tatsachenbehauptungen unterscheidet. Erstere, nicht aber letztere sollen den Schutz der Äußerungsfreiheit genießen: Es muss eingeräumt werden, dass sich die Fälle von Tatsachen und von Meinungen nicht präzise gleichen. Falsche Meinungen müssen zugunsten der wahren zugelassen werden: weil es unmöglich ist, eine Linie zu ziehen, die wahre und falsche Meinungen voneinander scheidet. Es gibt keinen parallelen Grund für die Zulassung falscher Tatsachenbehauptun­ gen. (CW XXI, S. 14)

Wahrheit hänge nicht von Meinungen ab, sondern von Belegen (evidence, CW XXI, S. 14). Ihre Ermittlung könne daher getrost den Gerichten überantwortet werden, die auch in anderen Fällen für die Ermittlung der Tatsachenwahrheit zuständig sind. Doch auch die Veröffentlichung wahrer Tatsachenbehauptungen muss nicht unproblematisch sein. Konflikte entstehen dort, wo ein Interesse am Schutz der Privatsphäre gegen die Veröffentlichung einer Tatsache spricht, das Interesse an öffentlicher Information dagegen dafür. „Die Wahrheiten, die die Öffentlichkeit am meisten interessieren, sind zugleich die schmerzhaftesten für die Individuen, deren Laster und Grillen sie zur Schau stellen.“ (CW XXI, S. 15) In solchen Fällen sei es oft wünschenswert, wenn andere Mechanismen als staatli­ che Verfolgung und Sanktion zur Verfügung stehen, um eine Veröffentlichung zu verhindern, denn „niemand kann die Entscheidung darüber anvertraut werden,

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welche die nützlichen, welche die unbedeutenden Wahrheiten sind“ (CW XXI, S. 15). Selbst auf die Gefahr hin, die früh-utilitaristischen Positionen allzu sehr über einen Leisten zu schlagen, lassen sich doch wichtige gemeinsame Merkmale her­ vorheben. Die Pressefreiheit dient als Sturmgeschütz der Kritik an einer kleinen Gruppe von Herrschenden, die der breiten Masse der Untertanen vorschreibt, was sie glauben soll, und ihr vorenthält, was sie nicht wissen soll. Publikationen leisten einen Dienst an der Wahrheit, die sich zwangsläufig aus unbehinderter Rede herausschäle. Falsche Tatsachenbehauptungen dagegen genießen keinen Schutz, und dort, wo gesellschaftliche Nachteile zu verzeichnen sind, werden Eingriffe freihändig und ohne Rekurs auf Prinzipien befürwortet. In On Liberty stellt Mill seinen systematischen Neuaufbruch ins Zeichen der Denk- und Diskussionsfreiheit. Er trifft zunächst eine zweifache Fallunterschei­ dung zwischen richtigen und falschen Meinungen, die er in der Durchführung des Arguments zu einer dreifachen Unterscheidung zwischen richtigen, teilweise richtigen und falschen Meinungen ausdifferenziert. Die Unterdrückung einer Meinung kann folglich aus drei Gründen abgelehnt werden: 1. Eine unterdrückte Meinung könnte wahr sein. 2. Eine unterdrückte Meinung könnte falsch sein, aber einen wahren Teil ent­ halten. 3. Eine unterdrückte falsche Meinung könnte geeignet sein zu verhindern, dass die entgegengesetzte wahre Auffassung nur mehr als Dogma akzeptiert wird und damit ihre Bedeutung verliert (CW XVIII, S. 258). Wenden wir uns zunächst der Annahme zu, eine unterdrückte Meinung könne wahr sein. Wer die Äußerung möglicherweise zutreffender Meinungen verbietet, beraube die Menschheit nicht allein wahrer Überzeugungen, sondern maße sich selbst Unfehlbarkeit an (CW XVIII, S. 229). Während das Argument, die Unter­ drückung einer wahren Meinung entziehe der Diskussion einen möglicherweise entscheidenden Beitrag, unmittelbar einleuchtet, erscheint die Unterstellung der Unfehlbarkeit nicht zwingend. Bereits in den frühesten Kritiken von On Liberty wird eingewandt, dass die Zensur problematische Äußerungen auch dann unter­ drücken kann, wenn sie die Möglichkeit vernünftiger Zweifel einzuräumen bereit ist (Stephen [1873] 1968; Brink 2008, S. 45). Um Gefahren abzuwehren, stellen Gesetzgeber häufig auf die beste verfügbare Entscheidungsgrundlage ab, ohne für sich Unfehlbarkeit zu beanspruchen. So braucht ein Gesetzgeber nicht die Richtigkeit oppositionellen Gedankenguts zu bestreiten, solange er beansprucht, nachteilige Auswirkungen ihrer öffentlichen Erörterung zu bekämpfen. Mill versucht, den Kritikern seiner Unfehlbarkeitsthese den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem er der Zensur in solchen Fällen unterstellt, dass sie sich eine Unfehlbarkeit höherer Ordnung anmaßt (CW XVIII, S. 233). Wenn sie



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Meinungen als schädlich verbietet, ohne deren immerhin mögliche Richtigkeit in Betracht zu nehmen, so erkläre sie sich doch damit für unbelehrbar darin, deren gesellschaftlichen Nutzen zu beurteilen. Entsprechend ließe sich versu­ chen, den Vorwurf unterstellter Unfehlbarkeit zu retten: Der Sprecher reklamiere nicht unfehlbares Wissen über die Richtigkeit seiner eigenen Ansicht, sondern darüber, was zu glauben für andere das Beste ist (O’Rourke 2001, S. 83). Mit Anspruch auf Unfehlbarkeit bestreite er nicht die mögliche Wahrheit unterdrück­ ter Meinungen, sondern ihre mögliche Nützlichkeit. Tatsächlich wendet sich Mill in On Liberty strikt gegen die Auffassung, man könne die Beurteilung der Wahr­ heit und die der Nützlichkeit von Meinungen voneinander trennen: Die Wahrheit eines Gedankens ist Teil seines Nutzens. Wollen wir wissen, ob es wünschens­ wert ist oder nicht, dass man eine Behauptung glaubt, können wir dann die Frage, ob sie wahr ist oder nicht, ausschließen? Nach der Überzeugung nicht schlechter, sondern der besten Menschen kann kein Glaube, der der Wahrheit widerspricht, wahrhaft nützlich sein. (CW XVIII, S. 233)

Der relativierende Nachsatz, in dem Mill sich der Rückendeckung durch die besten Autoritäten vergewissert, wirft jedoch die Frage auf, ob er seiner vor­ schnellen Identifizierung von falschen mit nutzlosen Überzeugungen hier selbst völlig vertraut. Gegen die früheren Rechtfertigungen der Äußerungsfreiheit von Bentham bis zum jungen John Stuart Mill grenzt sich On Liberty, wie gleich zu zeigen sein wird, durch die Annahme ab, dass sich falsche Überzeugungen zumindest als öffentlich vertretene mittelbar nützlich machen können. Und selbst wenn die Freiheit öffentlicher Diskussion stets in einem einleuchtenden Zusammenhang zur Wahrheitsfindung stehen mag, ist damit die weitergehende Frage doch noch nicht beantwortet, ob sie damit auch stets im Dienste der Nütz­ lichkeit in dem Sinne steht, in dem On Liberty sie für allein verbindlich erklärt, nämlich als „Nützlichkeit im weitesten Sinne, begründet in den ewigen Inter­ essen des Menschen als eines sich entwickelnden Wesens (progressive being)“ (CW XVIII, S. 224). Indem Mill die Wahrheitsfunktionalität der Meinungsfreiheit in den weiteren Zusammenhang seiner charakteristischen Version eines qualita­ tiv bestimmten Utilitarismus stellt,1 macht er deutlich, dass sich das Argument des zweiten Kapitels nicht mit dem Beitrag begnügt, den Meinungsäußerungen zur Erkenntnis der Wahrheit leisten, sondern ihren Beitrag in einen Zusammen­ hang mit der Verwirklichung der Interessen des Menschen an eigener Vervoll­ kommnung und dem Fortschritt der Gattung stellt. Bevor wir dieser Spur im Falle

1 Vgl. zum Begriff eines „qualitativen Utilitarismus“ den Beitrag von Thomas Schramme in die­ sem Band.

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falscher Meinungsäußerungen weiter nachgehen, muss aber zunächst der spe­ zifische Sinn, in dem Meinungen wahr oder falsch sein können, näher erläutert werden. Aus heutiger Perspektive kann Mills Kognitivismus2 in Bezug auf Meinun­ gen fast als Provokation gelten. Heute verstehen wir unter Meinungsäußerungen hauptsächlich Aussagen, die, in einer einprägsamen Wendung des Bundesver­ fassungsgerichts, durch „Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens, des Meinens“ charakterisiert sind (BVerfGE 61, 1, Rdnr. 15). Dies gibt der Meinungs­ freiheit einen subjektivistischen Anstrich, ganz als ob es in öffentlicher Diskus­ sion nur um persönliches Fürwahrhalten, nicht um intersubjektiv verbindliches Wissen und das Ausräumen von Irrtümern gehen könne (so Luhmann 1983, S. 9). Im Kontext der anderen Kapitel von On Liberty hätten Mill die begrifflichen Res­ sourcen zur Verfügung gestanden, auch unter einem non-kognitivistischen Ver­ ständnis für die Zulassung aller Meinungen zu argumentieren: aus Respekt vor den Formen des Selbstausdrucks, in denen sich die Individualität einer Person zeigt.3 Während aber im dritten Kapitel die Freiheit des Selbstausdrucks (expression of [one’s] own nature, CW XVIII, S. 264) im Dienste des authentischen Charak­ ters einer unverwechselbaren Persönlichkeit steht, stellt Mill im zweiten Kapitel die Freiheit, seine Meinung zu äußern (freedom of the expression of opinion, CW XVIII, S. 258) stets in den Zusammenhang der Wahrheit und Falschheit proposi­ tionaler Überzeugungen. Die Meinungsfreiheit ist nicht dafür vorgesehen, sich zu äußern, sondern etwas zu äußern. Es ist daher irreführend, Mill als Vertreter eines Konzepts einer bloßen Ausdrucksfreiheit (freedom of expression) zu porträ­ tieren, der es auf Wahrheitssuche nicht mehr ankomme (O’Neill 2004, S. 4). Dass Mill die Wahrheitsfähigkeit von Meinungen voraussetzt, um die Wahr­ heitserheblichkeit der öffentlichen Auseinandersetzung zu begründen, bedeutet aber nicht, dass er Meinungen mit Tatsachenüberzeugungen identifizierte. Im Kampf der Meinungen können Tatsachen (facts) die Sache zugunsten der Wahr­ heit entscheiden (CW XVIII, S. 234). Während Meinungen in der Diskussion auf Tatsachen aufbauen und auf die Präsentation von Tatsachen reagieren können, gelten wahre Meinungen nicht selbst als Fakten. Mill sieht vielmehr eine Arbeits­ teilung zwischen der Welt der Tatsachen und der Welt der Meinungen am Werk. So

2 Unter Kognitivismus versteht man die Eigenschaften von Urteilen, wahr oder falsch sein zu können. Mill legt sich in On Liberty nicht darauf fest, dass alle Arten von Meinungen wahr oder falsch sein können, verteidigt ihre uneingeschränkte Äußerungsfreiheit aber nur unter dieser Annahme. Zu Mills Kognitivismus in der Moral vgl. Macleod 2013. 3 Zu den Freiheitsansprüchen, die sich aus dem Streben nach Individualität ergeben, vgl. aber­ mals den Beitrag von Thomas Schramme in diesem Band.



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wie Meinungen auf eine faktische Grundlage abstellen müssen, sind Fakten auf Meinungen angewiesen, denn sie können ohne diskursive Einbettung, Deutung und Kommentierung keinen Einfluss auf das Denken der Menschen nehmen: There must be discussion, to show how experience is to be interpreted. Wrong opinions and practices gradually yield to fact and argument: but facts and arguments, to produce any effect on the mind, must be brought before it. Very few facts are able to tell their own story, without comments to bring out their meaning. (CW XVIII, S. 234)

Alle Erfahrung muss interpretiert werden, und Fakten kommen in Diskussionen kaum je in reiner Form vor. Fast immer sind sie in Deutungen eingekleidet, ohne die ihr Verständnis kaum möglich sein wird. Mill schlägt mithin Tatsachen interpretierende Äußerungen dem Feld der Meinung zu und unterstellt sie dem Schutz der Meinungsfreiheit (vgl. Rühl 1998, S. 289). Dass Interpretationen von Fakten als Meinungen gelten sollen, bedeutet aber nicht, dass reine Tatsachenbehaup­ tungen notwendigerweise an deren Schutz partizipierten. Auf diesen Gesichts­ punkt komme ich am Ende dieses Abschnitts zurück. Die zweite Provokation des zweiten Kapitels liegt in der Behauptung, dass Äußerungen richtiger und falscher Meinungen denselben Grad an Schutz genie­ ßen sollen. Mill hält nicht mehr, wie noch sein Vater, die mangelnde Unterscheid­ barkeit wahrer und falscher Auffassungen für das maßgebliche Argument, um im Windschatten wahrer auch falschen Meinungen nolens volens Schutz zu gewäh­ ren. Er stützt die Freiheit, falsche Auffassungen zu äußern, mit zwei substanti­ ellen Argumenten. Auch falsche Meinungen können einen zutreffenden Aspekt enthalten; und im Falle von vollständig und unrettbar falschen Meinungen diene die Auseinandersetzung mit ihnen dazu, dass der Sinn der entsprechenden richtigen Meinung nicht verloren geht und wir ihn „deutlicher“ und „lebhafter“ erkennen können (CW XVIII, S. 243). Am Schutz falscher Meinungen zeigt sich, wie weit Mill in On Liberty vom Ansatz seines Vaters und von seinen eigenen früheren Überlegungen abrückt. Beide hatten aus wahrheitsfunktionalen Gründen für eine Publikationsfreiheit argumentiert, die eine verlässliche output-Qualität erzeugt. Man füttere den Mechanismus der Pressefreiheit mit wahren und falschen Aussagen, und als Resultat werden sich zunehmend wahre Auffassungen ergeben. Eine solche Auf­ fassung ist verwundbar gegenüber dem Einwand, auf die Meinungsfreiheit ließe sich dort verzichten, wo es alternative, etwa von Experten durchgeführte Verfah­ ren der Wahrheitsfindung gibt. Mills Verteidigung falscher Meinungsäußerungen in On Liberty zeigt dagegen, dass er sich nicht auf eine bloß wahrheitsfunktionale Rechtfertigung der Äußerungsfreiheit verlässt. Es ist der Wert geistiger Auseinan­ dersetzung als solcher, die ihn jede Privilegierung wahrer Meinungen vermeiden lässt. Die Bedeutung anhaltender Konfrontation mit alternativen Auffassungen,

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vor allem die sukzessive Entkräftung falscher Grundlagen, die uns zu Meinungs­ änderungen bewegen wird, geht weit über das Erlangen wahrer Überzeugungen hinaus (vgl. CW XVIII, S. 241). Das permanente, geduldige, vor allem selbsttätige Durcharbeiten falscher Überzeugungen ist das Merkmal eines gesicherten, nicht bloß zufälligen Wissens, und lässt den Sinn wichtiger Überzeugungen anschau­ licher, lebhafter und vollständiger erfassen. Sich alternativen und darunter auch falschen Meinungen auszusetzen und die eigenen Auffassungen gegen sie ver­ teidigen zu müssen, ist das wesentliche Mittel für das „lebendige Begreifen der Wahrheit“ (CW XVIII, S. 247). In der Ideengeschichte der Äußerungsfreiheit ist dies ein entscheidender, wenn auch kein neuer Gedanke. Erst in der Konfronta­ tion mit zurückgewiesenen Auffassungen, so hatte John Milton in seiner Areopagitica argumentiert, erwirbt man den Anspruch darauf, Überzeugungen als eigene zu charakterisieren. Mill ergänzt, dass man keinen Anspruch darauf habe, „die eigene Meinung für besser als die beliebiger anderer zu halten“, wenn man sie nicht Einwänden ausgesetzt habe (CW XVIII, S. 232, vgl. Milton 2003, S. 270). Wer sich nicht dem Prozess der Diskussion aussetzt, verfügt nicht über die Chance, Überzeugungen anders als unbefragt und unverstanden zu übernehmen. Dieser Überschuss, den freies Denken und freie Diskussion über die reine Produktion von Wissen hinaus erzeugen, lässt sich an den Figuren von Jesus und Sokrates erläutern. Sie treten in On Liberty als Märtyrer einer vorenthaltenen Äußerungsfreiheit auf, spielen aber durchaus verschiedene Rollen in Mills Argu­ ment. Jesus fungiert als Vertreter einer weitgehend zutreffenden, aber radikal unvollständigen Lehre, die nur um den Preis ihrer Einseitigkeit und Musealisie­ rung vor teilweise oder vollständig irrigen Herausforderungen geschützt werden kann. Die Praxis des Sokrates dagegen, der seine Landsleute über ihre gedan­ kenlose Übernahme von Überzeugungen aufklärt, ist weniger teleologisch auf korrekte Einsichten als auf die Aktivität des Ausräumens falscher Auffassungen, das Verständnis von Problemen und auf den Eigenwert der Auseinandersetzung gerichtet (CW XVIII, S. 235; Rosen 2013, S. 39f.). Versteht man unter Delibera­ tion die argumentative Suche nach wohlverstandenen Überzeugungen und ver­ nünftigen Handlungsplänen, so lässt sich daher sagen, dass der Sinn der Mei­ nungsfreiheit bei Mill darin liegt, neben der Gewinnung wahrer Überzeugungen die freie individuelle und kollektive Deliberation zu ermöglichen (vgl. Brink 2008, S. 46–49). Indem wir neben dem Wert der Wahrheitssuche auch den der individuellen Deliberation anerkennen, lässt sich das Verhältnis zwischen der Freiheit des Denkens und der Diskussion einerseits, der Meinungsäußerungs­ freiheit andererseits aufklären. Während die Meinungsäußerungsfreiheit im Dienste eines unabhängigen und selbstbestimmten Vollzugs des Denkens und der Diskussion steht, gibt dieser den Grund dafür ab, warum es Meinungsfreiheit überhaupt geben soll. Der selbsttätige Vollzug individueller und kollektiver Deli­



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beration ist es, der die bedingungslose Einschränkungsfreiheit der Meinungs­ äußerung erfordert. Es ist wichtig, sich der Bedeutung des Ausdrucks „frei“ zu vergewissern, wenn als Kernbotschaft des zweiten Kapitels festgehalten wird: Die Meinungs­ äußerung muss jederzeit frei sein, damit Menschen frei denken und diskutie­ ren können. Die „Freiheit des Denkens und der Diskussion“ muss hier in zwei Bedeutungen verstanden werden. Einerseits bezieht sich der Ausdruck auf die Einschränkungsfreiheit einer Praxis des Denkens und der Diskussion, ganz par­ allel zur Einschränkungsfreiheit der Meinungsäußerung. Mill hatte beide im ersten Kapitel von On Liberty für verwandt erklärt, aber analytisch voneinander unterschieden (CW XVIII, S. 225f.). Auf die Freiheit des Denkens kommt er, im Kontrast zur Einschränkungsfreiheit der Meinungsäußerung, im zweiten Kapitel nicht zurück. Wir können also annehmen, dass in der politischen Praxis die Ein­ schränkungsfreiheit der Meinungsäußerung Mills Strategie ist, die Einschrän­ kungsfreiheit des Denkens und der Diskussion gleichsam zu operationalisieren: Wer einschränkungsfreies Denken ermöglichen möchte, der lasse alle Arten von Meinungsäußerungen zu. Andererseits ist die „Freiheit des Denkens und der Dis­ kussion“ der Grund für die Einschränkungsfreiheit der Meinungsäußerung. In diesem Zusammenhang ist es ein stärkerer Freiheitsbegriff, auf den Mill zurück­ greift: Er bezieht sich auf ein praktisches Vermögen, auf die unabhängige und selbstbestimmte Art und Weise des Vollzugs von Denken und Diskussion (vgl. Shiffrin 2011, S. 287). Geht es um den Wert freien Denkens und freier Diskussion, beruft sich Mill nicht auf ihren einschränkungsfreien Vollzug allein, sondern auf dessen unabhängigen, selbstbestimmten Charakter. Der interne Zusammenhang der Meinungsfreiheit mit der positiven Bedeu­ tung der Freiheit des Denkens lässt sich an der Taxonomie der Freiheiten belegen, die Mill im ersten Kapitel von On Liberty einführt. Er skizziert hier das „Gebiet der menschlichen Freiheit“ als das eines persönlichen Bereichs von Auffassun­ gen und Tätigkeiten. An erster Stelle stehen die Freiheiten des „Bewusstseins“ (consciousness), wozu Mill die Freiheit des Gewissens, die Freiheit des Denkens und Fühlens, die Freiheit der Meinung und der Gesinnung, sowie die Freiheit, Meinungen zu äußern und zu veröffentlichen, zählt (CW XVIII, S. 225). Bei der Freiheit des Denkens und den Freiheiten, Meinungen zu haben und Meinungen zu äußern, handelt es sich also um verschiedene Freiheiten. Unter den genannten Freiheiten des „Bewusstseins“ ist es nun allein die Freiheit des Denkens, die Mill herausgreift, wenn er betont, dass sie mit der Freiheit der Meinungsäußerung aufs Engste zusammenhängt und von ihr „praktisch untrennbar“ ist (CW XVIII, S. 226). Wenn auch in der Theorie unterscheidbar, sind die Freiheit des Denkens und Freiheit der Meinungsäußerung in der Praxis untrennbar, weil die Extension der Handlungen, die unter die jeweilige Freiheit fallen, weitgehend dieselbe ist,

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solange wir uns auf die Operationalisierung der Freiheit des Denkens durch die Meinungsfreiheit verlassen. In der abschließenden Passage des ersten Kapitels, in der zwischen Freiheit als solcher und ihren „Zweigen“ unterschieden wird, wiederholt Mill die Formel von der Untrennbarkeit von Freiheit des Denkens und der ihr gleichursprünglichen (cognate) Freiheit in Wort und Schrift (CW XVIII, S. 227). Die letztgenannte Freiheit wird hier aber nicht als ein zweiter Zweig ver­ standen, der aus demselben Freiheitsstamm sprösse, sondern als Teil desselben Zweiges der Freiheit. Dass die Freiheit der Meinungsäußerung wie die Freiheit des Denkens in einen ausschließlich persönlichen Handlungsbereich falle, wird von Mill aber sogleich relativiert: sie scheine unter einen „andersartigen Grund­ satz zu fallen“, sei aber „fast ebenso bedeutsam“ und beruhe „zum großen Teil auf denselben Gründen“ (CW XVIII, S. 226). Fällt die Freiheit der Meinungsäuße­ rung nun unter einen anderen Grundsatz als die persönlichen Freiheiten, darun­ ter die Freiheit des Denkens, oder nicht? Diese Konfusion lässt sich aufklären, wenn man berücksichtigt, dass sich die Freiheit des Denkens und der Meinungs­ äußerung nicht immer auf derselben logischen Ebene begegnen. Als Handlungs­ klassen sind freie Äußerungen und Manifestationen freien Denkens weitgehend ko-extensional, aber nicht immer ist mit „Freiheit des Denkens“ eine geschützte Handlungsklasse gemeint. In ihrer Bedeutung als Unabhängigkeit und Selbst­ bestimmung ist die Freiheit des Denkens zugleich der Grund für die Einschrän­ kungslosigkeit des Denkens und der Meinungsäußerung. Abschließend soll noch kurz auf die Grenzen der Meinungsfreiheit eingegan­ gen werden. Grenzen und Schranken, um die es im folgenden Abschnitt gehen wird, lassen sich danach unterscheiden, ob es überhaupt einen Anspruch auf Freiheit gibt (der dann gegebenenfalls beschränkt werden kann). Oben hatte ich festgehalten, dass Mills Argument, auch wenn es auf einer kognitivistischen Interpretation von Meinungen beruht, die Freiheit der Tatsachenbehauptung nicht von vornherein mit umfasst. Mit ihm ist zumindest verträglich, dass weder wahre noch falsche Tatsachenbehauptungen Schutz genießen. On Liberty ent­ kräftet aber nicht die einleuchtende Ansicht aus „Law of Libel“, dass wahre Meinungen ihre Basis in zutreffenden faktischen Überzeugungen haben werden. Mit den Zielen der Korrektheit wie der Unabhängigkeit des Denkens wäre es unverträglich, den Denkenden Fakten vorzuenthalten, so dass auch unter den Annahmen von On Liberty starke, wenn auch mittelbare Gründe für den Schutz wahrer Tatsachenbehauptungen vorliegen.4 Ein mögliches Gegenbeispiel, das für einen abgestuften Schutz wahrer Tatsachenbehauptungen angeführt werden

4 Auch das Bundesverfassungsgericht weitet aus diesem instrumentellen Grund den Schutz der Meinungsfreiheit auf die zutreffende Behauptung von Tatsachen aus; vgl. Grimm 2009.



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kann, ist die Veröffentlichung zutreffender Informationen aus der Privatsphäre, die bereits der junge John Stuart Mill als Problem beschrieben hatte. Kann auch On Liberty zufolge die Publikation von privaten Informationen über andere, etwa die Weitergabe von Fotos aus der Intimsphäre, untersagt werden? Jonathan Riley interpretiert den Fall, in dem jemand Nacktaufnahmen einer früheren Partne­ rin an die Presse gibt, als Meinungsäußerung, als „act of expressing and publi­ shing without her consent his sincere and undistorted opinions of their sex life“, und kommt zu dem Ergebnis, ihr Recht auf eine selbstbestimmte Entscheidung darüber, welche Informationen sie über ihre Privatsphäre verbreitet sehen will, obsiege in diesem Fall über seinen Anspruch auf freie Meinungsäußerung (Riley 2005, S. 167). Eine alternative Lesart erspart uns die schwierige Abwägung zwi­ schen der Meinungsfreiheit und anderen schützenswerten Ansprüchen, an der bereits der junge Mill in „Law of Libel“ gescheitert war. Die Weitergabe privater Fotos ist nämlich nur sehr forciert als Meinungsäußerung zu deuten. Plausibler ist ihre Interpretation als zutreffende Tatsachenbehauptung (Weitergabe wahrer Informationen), die unter der neuen Begründung der Redefreiheit als Mittel und Teil der Freiheit des Denkens nicht in gleichem Maß und nicht in jedem Fall an deren Schutz partizipieren muss. Wie verhält es sich mit unrettbar falschen Tatsachenbehauptungen? Diese Frage wird heute hauptsächlich im Hinblick auf zwei Fälle gestellt, in Bezug auf üble Nachrede sowie auf die Leugnung historischer Tatsachen, etwa von Mensch­ heitsverbrechen wie dem Völkermord an den europäischen Juden unter dem Nationalsozialismus. Während die prinzipielle Zulässigkeit der Verfolgung übler Nachrede von niemandem bestritten wird, ist das Verbot der Leugnung histori­ scher Tatsachen nach wie vor kontrovers. Dies lässt sich am Beispiel von § 130 Abs. 3 des Strafgesetzbuches der Bundesrepublik Deutschland illustrieren, der seit 1994 die Leugnung, Billigung und Verharmlosung von Verbrechen, die unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangen wurden, unter Strafe stellt. Das Bundesverfassungsgericht hält das Verbot für verträglich mit dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit (Grimm 2009), während On Liberty meist so verstanden wird, dass das im zweiten Kapitel ausgeführte Argument völlig unverträglich ist mit dem Verbot der Holocaustleugnung, -billigung und -verharmlosung (Dietz 1995, S. 217). Unsere Interpretation hat ergeben, dass die letztere Feststellung teilweise zutrifft, aber nur auf die Billigung und die Verharmlosung des Völkermords, die im Gegensatz zur Leugnung wohl nicht anders denn als Tatsachen interpretie­ rende Meinungsäußerungen verstanden werden können. Das Verbot der Leug­ nung dagegen betrifft einen in On Liberty nicht thematisierten Fall, die erwiesen oder bewusst unwahre Tatsachenbehauptung (Peonidis 2008, S. 64). Mill hat in On Liberty seine Position aus „Law of Libel“ nicht ausdrücklich geändert, noch hat er Gründe vorgebracht, die ihn von der prinzipiellen Einschränkungsfähig­

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keit falscher Tatsachenbehauptungen abrücken lassen müssten. Man wird kaum ernsthaft behaupten können, zutreffende Meinungsbildung sei im instrumentel­ len Sinn ebenso auf falsche wie auf wahre Tatsachenbehauptungen angewiesen. Die Gewinnung zutreffender Ansichten über Andere oder über die Vergangenheit wird nicht dadurch unterstützt, dass man falsche Informationen unter Schutz stellt, und es wäre abwegig, wollte jemand, der wissentlich falsche Angaben über die Tragfähigkeit einer Brücke macht, sich auf die Bedeutung einer solchen Praxis für die Freiheit des Denkens berufen (vgl. CW XVIII, S. 294). Aber was ist mit dem möglichen Einwand, Mills Grund für die Zulassung falscher Meinungsäußerungen, nämlich dass sie im Dienste eines lebhaften und umfassenden Verständnis der entgegengesetzten Meinung stünden, lasse sich auf falsche Tatsachenbehauptungen übertragen? Soll auch die Tatsachen­ welt nicht nur kritisch erschlossen, sondern bis hinab zu den ersten und letzten Fragen einer eigenständigen Denkbewegung unterworfen werden, um wie in Fragen der religiösen und politischen Lebensführung bloß formale Bekenntnisse durch grundlegendes Verständnis zu ersetzen? In seiner Auseinandersetzung mit Auguste Comte, sechs Jahre nach der Veröffentlichung von On Liberty, tritt Mill Comtes Provokation, ein „‚absolutes Recht auf Untersuchung (examination), oder das Dogma einer unbeschränkten Gewissensfreiheit‘“ existiere weder „in der Astronomie, der Physik, der Chemie, noch der Physiologie“ (CW X, S. 301f.) auf eigentümlich gedämpfte Weise entgegen. Wenngleich sich Comte und Mill übereinstimmend dafür aussprechen, die Aussage, dass „zwei und zwei zehn ergeben“, rechtlich zu tolerieren (CW X, S. 304), widerspricht Mill Comte, der eine universelle Freiheit des Denkens und der Diskussion in Fragen wissenschaftli­ cher Expertise radikal leugnet, nicht auf direkte Weise. Er behauptet weder, dass in wissenschaftlichen Fragen eine gesellschaftliche Notwendigkeit, noch dass ein unbedingter moralischer Sinn in der eigenständigen Überzeugungsbildung analog den politischen, religiösen und moralischen Fragen bestehe. Mill könnte darauf verweisen, dass das selbsttätige Durcharbeiten falscher Tatsachenüber­ zeugungen (in der Arithmetik, der Astronomie, der Geschichtswissenschaft) nicht im selben Maß unverzichtbar für die Gestaltung eines selbstbestimmen Lebens innerhalb einer progressiven Gattungsentwicklung ist wie die Deliberation über Meinungen und Interpretationen, solange sichergestellt ist, dass innerwissen­ schaftliche Kontroversen und ihre gesellschaftliche Kommunikation auf Dauer gestellt sind. Heutige, funktional differenzierte Gesellschaften scheinen einer solchen Einschätzung Rechnung zu tragen, indem sie arbeitsteilig vorgehen, die permanente Befragung der Tatsachenwelt ins Wissenschaftssystem auslagern und nicht als Meinungs-, sondern als Wissenschaftsfreiheit schützen.



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3.2 Vorrang und Schranken der Meinungsfreiheit Mill wendet sich in On Liberty gegen jede Unterdrückung von Meinungen, ver­ teidigt aber gleichwohl kein absolut einschränkungsfreies Modell der Meinungs­ freiheit. Ein nur auf den ersten Blick offensichtlicher Beispielfall findet sich am Beginn des dritten Kapitels: Wer einen erzürnten Mob vor dem Haus eines Getrei­ dehändlers durch die Behauptung aufwiegelt, dass Getreidehändler die Armen aushungern, begeht eine Straftat. An der Oberfläche löst hier das Schädigungs­ prinzip (harm principle) den Konflikt zwischen dem Anspruch auf Meinungs­ äußerung und den Ansprüchen der Betroffenen. Meinungsäußerungen können dort, wo sie Schäden hervorrufen, keinen Schutz genießen – nicht anders hatten James Mill und der junge John Stuart Mill argumentiert. In On Liberty verteidigt Mill die Verfolgung inkriminierter Äußerungen, indem er zwischen zulässiger Rede und strafbarer Handlung unterscheidet: „Handlungen, welcher Art auch immer, die ohne gerechtfertigten Anlass andere schädigen, können durch das aktive Einschreiten der Menschen unterbunden [...] werden; in den wichtigeren Fällen müssen sie es sogar“ (CW XVIII, S. 260). Während die Veröffentlichung einer Meinung in der Presse stets frei sein muss, kann die Äußerung derselben Meinung in einem Kontext, in dem sie als Aufwiegelung zu einem Verbrechen gelten muss, verboten und verfolgt werden. Durch den naheliegenden Einwand, alles Sprechen sei Handeln, muss Mill sich nicht beeindrucken lassen.5 Er kann darauf verweisen, dass er eigentlich zwischen verschiedenen Handlungstypen unterscheidet. Während so etwas wie eine „zu verbietende Meinung“ nicht exis­ tiert, kann ihre Äußerung als Diskussionsbeitrag zulässig, als Aufwiegelung, Volksverhetzung oder Hochverrat strafbar sein. Die Literatur zu möglichen Einschränkungen der Meinungsfreiheit bei Mill lässt sich grob in zwei Gruppen einteilen. Die erste versteht die Verteidigung der Äußerungsfreiheit als Spezialfall einer allgemeinen Theorie grundlegender Freiheiten und schreibt ihr keinen Sonderstatus zu. Die Ausübung der Meinungs­ freiheit erfolge weitgehend innerhalb eines persönlichen Schutzraums. Ebenso wie andere Freiheiten, die nur die handelnde Person selbst betreffen, sei aber die Äußerungsfreiheit nur insofern geschützt, als sie nicht gegen das Schädigungs­ prinzip verstößt (CW XVIII, S 226, vgl. Riley 2008, Brink 2008). Die entgegenge­ setzte Deutung sieht Meinungsfreiheit als Sonderfall an, der sich von den anderen Freiheiten in seiner Ausdehnung und Begründung unterscheidet. Der zweiten Interpretation zufolge steht die Äußerungsfreiheit bei Mill auf eigenen Beinen,

5 Eine sprechakttheoretische Rekonstruktion der Meinungsfreiheit bei Mill legt in Ansätzen Daniel Jacobson (2000, S. 286) vor.

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ganz unabhängig von den Argumenten, die sich aus dem Schädigungsprinzip und der Unterscheidung zwischen Verhaltensweisen, die nur eine Person selbst angehen und denen, die auch andere betreffen, gewinnen lassen. Man könne dem Schädigungsprinzip zustimmen oder es verwerfen, ohne die Verteidigung der Äußerungsfreiheit aufs Spiel zu setzen, auch wenn diese offensichtlich nicht allein die äußernde Person betrifft (Skorupski 1991, S. 376). Damit ist die These verbunden, dass der Meinungsfreiheit unter den anderen grundlegenden Frei­ heiten ein besonders begünstigter Status zukommt. Thomas Scanlon formuliert in einem berühmten Aufsatz zur Redefreiheit ein Prinzip, das er auf Mill zurück­ führt, um zu verdeutlichen, dass schädliche Handlungsfolgen, die ansonsten ausreichen würden, um gesetzliche Einschränkungen beliebiger Handlungsfrei­ heiten vorzunehmen, nicht als Gründe eingesetzt werden dürfen, um Meinungs­ äußerungen einzuschränken (Scanlon [1972] 2003, S. 14). Von der rivalisierenden Deutung wird diese Unterscheidung als eine „Art von Aberglauben“ zurückge­ wiesen (Riley 2008, S. 65). Im Folgenden bezeichne ich die erstgenannte Lesart als Zusammenhangsthese, da sie die Schranken der Äußerungsfreiheit aus ihrem Zusammenhang mit anderen Freiheiten, dem Schädigungsprinzip und der These eines nur die Person selbst betreffenden Verhaltens erwachsen sieht, die zweite als Unabhängigkeitsthese. Die Zusammenhangsthese kann beim ersten Kapitel von On Liberty anset­ zen. Hier führt Mill, wie wir gesehen haben, die „Freiheit, Meinungen in Wort und Schrift zu vertreten“ gemeinsam mit der Freiheit des Denkens als Freihei­ ten ein, die unter dem Schutz ein und desselben Prinzips stehen. Dieses Prinzip besagt, dass Handlungsweisen, die die Innenseite eines persönlichen Bereichs nicht durchstoßen, nur die Person selbst etwas angehen und vor Eingriffen des Staates geschützt sein sollen. Die Meinungsfreiheit wird unter den persönlichen Freiheiten aufgeführt, da sie „zum großen Teil“ auf den gleichen Gründen beruhe (CW XVIII, S. 226). Daher kündigt Mill am Ende des ersten Kapitels von On Liberty die Erörterung der Freiheit des Denkens und der Meinungsäußerung als proto­ typisch für die weiteren Freiheiten an. Der grundlegende Status, den Mill der Auseinandersetzung mit der Freiheit des Redens und Schreibens und der Freiheit des Denkens für die Analyse weiterer Freiheiten zuspricht, stützt die Annahme, dass sie allgemeine freiheitstheoretische Gehalte transportiere, und damit die Zusammenhangsthese. Schließlich lässt sich, wie wir gesehen haben, auch der Fall des Getreidehändlers so deuten, als würden Ausdehnung und Schranken der Äußerungsfreiheit entlang abzusehender Schädigungen Anderer, also durch das Schädigungsprinzip bestimmt. Die Unabhängigkeitsthese behauptet dagegen, dass sich Mill von seiner frühen Position, die alle zu erwartenden Schäden über einen Kamm scherte, völlig emanzipiert hat. Im vorangegangenen Abschnitt wurde deutlich, dass



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Mills Begründung für die Äußerungsfreiheit in der Bedeutung liegt, die die Kor­ rektur von Überzeugungen und selbstbestimmte Deliberation für eine „progres­ sive“ Gattung haben, ohne dass das Schädigungsprinzip oder die Idee eines nur die Person selbst betreffenden Verhaltens eine Rolle gespielt hätte. Im zweiten Kapitel kommen sie weder ausdrücklich noch dem Sinn nach vor. Der individu­ alistische Zug des ersten und dritten Kapitels von On Liberty kontrastiert mit der auf gemeinsame Erkenntnis und gesamt-gesellschaftliche Entwicklung bezoge­ nen Perspektive des zweiten Kapitels. Darüber hinaus scheint es irreführend, die im öffentlichen Raum angesiedelte Freiheit der Meinungsäußerung und der Dis­ kussion unter die Handlungsweisen zu gruppieren, die nur das Individuum selbst betreffen. Auch wenn er sie zu den persönlichen Freiheiten zählt, gilt Mill doch die Meinungsfreiheit als eine, „die andere Leute mit angeht“ (CW XVIII, S. 226). Was bei der Wahl zwischen beiden Deutungen auf dem Spiel steht, lässt sich durch ein Gedankenexperiment verdeutlichen. Stellen wir uns eine Gesellschaft vor, in der Mills Unterscheidung zwischen erhitzter Aufwiegelung in einer kon­ kreten Gefahrensituation und kühler Erörterung in der Presse nur einen gradu­ ellen Unterschied markierte. Nehmen wir an, man müsste als Reaktion auch auf diskursive Presseartikel typischerweise damit rechnen, dass einzelne Individuen Schädigungen durch Dritte erlitten, auch wenn diese häufig ausblieben. Dies ist nicht so unrealistisch, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Auch in Gesell­ schaften, die sich im Allgemeinen lernfähig zeigen (CW XVIII, S. 224), können Konflikte in Bezug auf einzelne sensible Materien, etwa religiöse oder moralische Überzeugungen, eskalieren. Den Vertretern der Zusammenhangsthese dürfte es unter diesen Bedingungen schwerfallen, die Institution einer freien Presse auf­ rechtzuerhalten, und es liegt auf der Hand, wie James Mill und der frühe John Stuart optiert hätten. Für die Vertreter der Unabhängigkeitsthese dagegen wäre es unmöglich, allein unter Verweis auf die zu erwartenden Schäden Einschränkun­ gen der Äußerungsfreiheit vorzunehmen. Jonathan Riley vertritt eine Variante der Zusammenhangsthese. Er schreibt Mill ein allgemeines Prinzip des Eingriffsverzichts zu, das erst dort durch gesell­ schaftliche und politische Sanktionen durchbrochen werden kann, wo Handlun­ gen andere ohne deren Einverständnis auf so schwerwiegende Weise schädigen, dass die Gesellschaft Rechte gegen solche Verletzungen einzurichten bereit ist (Riley 2008, S. 68). Dass nicht jeder beliebige Schaden, sondern nur die Verlet­ zung von Rechten als Einschränkungsgrund zählen kann, ist eine bedenkens­ werte Interpretation, aber mit den begrifflichen Ressourcen von On Liberty, wo Mill ausdrücklich davon absieht, abstrakte Rechtskategorien zu seinen norma­ tiven Grundbegriffen zu zählen (CW XVIII, S. 224), kaum herzuleiten. Während Mills Utilitarismus besonders stringente Ansprüche in Form subjektiver morali­ scher Rechte formuliert, verzichtet On Liberty darauf, seine Argumentation in der

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Sprache der Rechte durchzuspielen. Die schwierige Frage, inwiefern Meinungs­ äußerung als ein nur die Handelnden selbst betreffendes Verhalten gelten kann, beantwortet Riley, indem er zwischen der Aktivität von Hörern und der Aktivi­ tät von Sprechern unterscheidet (Riley 2005, S. 174). Ist eine Äußerung einmal in der Welt, könnten Sprecher sich nicht darauf berufen, dass ihr Verhalten nur sie selbst anginge. Sie könnten daher im Schädigungsfall zur Verantwortung gezogen werden. Ihre potentiellen Hörer aber, die die Äußerungen bloß (selbst­ bezogen) konsumieren, müssten weiterhin absolut einschränkungsfreien Zugang zu ihnen haben. Diese Konstruktion verkennt aber, dass Auffassungen, die nach einem inkriminierten Äußerungsakt für Hörer weiterhin zugänglich bleiben, etwa im Falle eines beleidigenden Schlüsselromans, dennoch Dritten einen anhal­ tenden oder besonders schwerwiegenden Schaden zufügen können, so dass es gute Gründe dafür geben könnte, Dritte vor solchen Schäden zu schützen und beliebigen Hörern den Anspruch darauf, einmal verfügbare Äußerungen weiter­ hin zu konsumieren, zu entziehen. Rileys Interpretation steht mithin vor einem Dilemma. Entweder ist die Menge der nur eine Person selbst betreffenden Hand­ lungen schon definitorisch dagegen gefeit, schwerwiegende, mittels Rechten abzuwehrende Schäden anzurichten. Oder aber es ist eine empirische Frage, welche Handlungstypen welche Schäden hervorrufen, dann spielt aber die Kate­ gorie des eine Person selbst betreffenden Handelns keine rechtfertigende Rolle. Auch David O. Brink vertritt eine Version der Zusammenhangsthese, wenn er die Beziehung zwischen der Freiheit der Meinungsäußerung und der Freiheit, auf experimentellem Wege ein authentisches, individuelles Leben zu suchen, als außerordentlich eng darstellt. Brink sieht Mills Verteidigung beider Typen von Freiheit aus dem menschlichen Interesse an Selbstbestimmung und Autonomie, an deliberativen und expressiven Praktiken, hervorgehen, ohne dass er einem ein­ schränkungsfreien Absolutismus der grundlegenden Freiheiten das Wort redete (Brink 2008, S. 50). Für Brink signalisiert die Verletzung des Schädigungsprinzips, dass Meinungsäußerung nur in abgestuften Schranken zulässig sein kann. Rein expressive, nicht-deliberative Interessen, wie sie etwa in rassistischer Hassrede (hate speech) zum Ausdruck kommen, würden direkt vom Schädigungsprinzip übertrumpft.6 Eine Verfolgung schädigender Äußerungen erscheine in solchen Fällen geboten. Weiterhin sei Zensur dort zulässig, wo Meinungsäußerungen die zukünftigen deliberativen Fähigkeiten einer Person zu unterminieren drohen. Brink zieht hier eine Parallele zu Mills qualifizierter Befürwortung eines harten Paternalismus, demzufolge Personen daran gehindert werden dürfen, sich selbst

6 Auch Riley (2008, S. 76) sieht spezielle Regeln für Meinungsäußerungen vor, die nicht als Beiträge zur „Diskussion“ verstanden werden können.



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in die Sklaverei zu verkaufen.7 Gegen einen selbstauferlegten Paternalismus mit autonomie-stärkender und deliberationsfördernder Funktion habe Mill nichts einzuwenden; er erlaube ihm ein Verbot von übler Nachrede und aggressiven Formen von Beleidigung (fighting words, vgl. Brink 2008, S. 56). Brinks Versuch, die Schranken der Meinungsfreiheit an deren deliberativen Zielen auszurichten, ist aber dadurch erkauft, dass er die Selbständigkeit freier Meinungsäußerung und der für sie ins Feld geführten Argumente missachtet. Im voranstehenden Abschnitt haben wir den Schutz der Meinungsfreiheit als dienstbare Freiheit zur Stützung der Unabhängigkeit des Denkens und der Diskussion, und damit der wahrheits- und verständnisorientierten individuellen und kollektiven Delibera­ tion gedeutet. Brink ist zuzustimmen, dass Äußerungen dort, wo sie zu diesem Zweck nicht beitragen können oder ihm sogar aktiv entgegen arbeiten, ihren Schutz verlieren müssen. Dabei muss allerdings das Missverständnis vermieden werden, eine Meinungsäußerung trage nur dort zur Freiheit des Denkens und der Diskussion bei, wo sie selbst einen gehaltvollen Beitrag im deliberativen Modus leiste und mehr zu bieten habe als „the shouting of slogans or abuse“ (Acton 1987, 460 Fn 11). Eine solche elitäre Einstellung verfehlte Mills Argument, das sich nicht auf die Ebene der einzelnen Meinungsäußerung und ihrer jeweiligen Qualität hinunter begibt, sondern das gesamte System eines wechselseitigen Austauschs im Blick hat. Unter Mills Konzeption genießen nicht-deliberative, schlecht und unbegründete Meinungsäußerungen daher Schutz, solange wir davon ausgehen können, dass solche polemischen, disruptiven Interventionen ihrerseits in der Lage sein können, einen dogmatisch versteinerten, auf allzu homogener Diät von Beiträgen beruhenden Meinungsstreit, und damit auch die Bedeutung der Über­ zeugungen, um die es in ihm geht, neu zu beleben. Selbst ein Fluch zur rechten Zeit kann zur deliberativen Öffnung eines scholastisch gewordenen Dialogs bei­ tragen (Fairman 2007). Für die Vertreter der Unabhängigkeitsthese stellt das Schädigungsprinzip das Problem dar, nicht seine Lösung. Scanlon formuliert ein „Mill’sches Prinzip“ (Millian Principle) als „natürliche Erweiterung der These, die Mill im zweiten Kapitel von On Liberty verteidigt“ (Scanlon 2003, S. 14). Es besagt, dass bestimmte Klassen von Schädigungen nicht für eine Einschränkung der Äußerungsfreiheit herangezogen werden können, nämlich Schäden, die daraus erwachsen, dass Personen aufgrund von Meinungsäußerungen falsche Überzeugungen gewonnen oder nachteilige Handlungsvorsätze angenommen haben. Das bedeutet, dass es unzulässig ist, Äußerungen zum Schutz vor deliberativ vermittelten Schädigun­ gen zu unterbinden. Das Mill’sche Prinzip basiert auf der Unterstellung, dass

7 Vgl. den Beitrag von Christoph Schmidt-Petri in diesem Band.

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Personen sich und einander als autonom ansehen: „[A] person must see himself as sovereign in deciding what to believe and in weighing competing reasons for action“.8 Eine Person, die dem politischen Gesetzgeber zutrauen würde, für sie zu entscheiden, welche Meinungen ihr vorenthalten werden können und welche nicht, gäbe entsprechend die Unabhängigkeit ihres Denkens und ihre Autorität darüber auf, was sie als wahr und falsch anerkennen möchte. Zwar folgt aus Scanlons Mill’schem Prinzip keine absolute Einschränkungsfreiheit für Mei­ nungsäußerungen, da es mit kontextgebundenen Restriktionen verträglich ist. Ort, Zeit sowie die Art und Weise von Meinungsäußerungen dürfen dem Prinzip zufolge reguliert werden. Niemals dürfen jedoch auf paternalistische Weise allein meinungs-induzierte Schädigungen verhindert werden. John Skorupski hat die Unabhängigkeitsthese am klarsten durchgeführt und alle normativen Verbindungen zwischen dem zweiten Kapitel und dem Rest von On Liberty gekappt, um die Freiheit der Meinungsäußerung strikter und selbständiger abzusichern als andere Handlungsfreiheiten. Der Schutz der Meinungsfreiheit beruhe auf der gesellschaftlichen Bedeutung von „Dialog“, das heißt, von ungehinderter Wahrheitssuche in der Diskussion. Der Schutz öffentlichen Dialogs verdanke sich direkt dessen gesellschaftlicher Nützlich­ keit; er sei nicht auf indirektem Wege über die Nützlichkeit der Freiheitsansprü­ che von Individuen vermittelt (Skorupski 2006, S. 56–57). Während die Vertre­ ter der Unabhängigkeitsthese starke Argumente für den Vorrangcharakter der Äußerungsfreiheit auf ihrer Seite haben, ist damit die Frage jedoch noch nicht beantwortet, ob sie eine plausible Rekonstruktion für Fälle ihrer legitimen Ein­ schränkung geben können. Beispielsweise ist schwer zu sehen, wie auf der Basis der Unabhängigkeitsthese gegen abstraktere Formen von Volksverhetzung, etwa die planvolle Agitation zugunsten der rassistischen Diskriminierung von Min­ derheiten, vorgegangen werden könnte. Den Fall des Getreidehändlers rekonst­ ruieren Scanlon und Skorupski nicht als einen, in dem das Schädigungsprinzip uns zu einer einschränkungsaffinen Position bewegt, sondern als einen, der durch unzureichende Gelegenheit zur Deliberation in der Hörerschaft gekenn­ zeichnet ist. Wo wir, wie im Falle des erzürnten Mob, nicht erwarten können, dass auf Meinungsäußerungen denkend und diskutierend reagiert werden kann, resultiert die zu erwartende Schädigung nicht aus Überlegung und Deliberation und kann ohne Weiteres auf der Basis schadensbezogener Argumente verfolgt werden (Skorupski 2006, S. 59; Scanlon 2003, S. 20). Die Unabhängigkeitsthese ist damit in der Lage, einige Schranken der Äußerungsfreiheit, die aus der Pers­

8 Scanlon 2003, S. 15 – eine Anspielung auf Mills Slogan aus On Liberty, „Over himself, over his own mind and body, the individual is sovereign“ (CW XVIII, S. 224).



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pektive der Zusammenhangsthese als permanente Beschränkungen der öffent­ lichen Diskussion erscheinen, aus den deliberativen Defiziten bestimmter Situ­ ationen zu erklären. Andererseits muss sie sich dazu bekennen, inhalts- oder standpunktbasierte Disqualifikationen von Meinungen dort abzulehnen, wo aus reiflicher Überlegung manifeste Schäden resultieren können. Sie akzentuiert so nicht nur den Abstand, den Mill in On Liberty zwischen sich und die simple kon­ sequentialistische Schadensabschätzung in den Schriften seines Vaters gelegt hat, sondern auch die Privilegierung der Äußerungsfreiheit über alle anderen dort verhandelten Freiheiten hinaus.

3.3 Gesellschaftliche und institutionelle Aspekte der Meinungsfreiheit Mills Ansatz in On Liberty geht auch in einem weiteren Aspekt über frühere Kon­ zeptionen hinaus. Mill ist bewusst, dass die Abwesenheit rechtlicher Einschrän­ kungen noch keine hinreichenden Bedingungen dafür stiftet, dass sich Freiheit des Denkens und der Diskussion notwendig einstellen werde. Abschließend sind daher einige Bemerkungen zu den kulturellen und institutionellen Kontexten nachzutragen, in denen eine weitgehend einschränkungsfreie Äußerungsfrei­ heit zur Freiheit des Denkens beitragen kann. Mill legt Wert darauf, nicht bei einer rein juristischen Konzeption der Meinungsfreiheit stehenzubleiben. Die freie Äußerung von Gedanken und Meinungen sei nicht nur einem repressiven Staat, sondern auch einer konformistisch erstarrten Gesellschaft abzuringen (CW XVIII, S. 229, vgl. CW XVIII, S. 219–222). Damit verweist er auf die Notwendig­ keit einer lebendigen politischen Kultur und der positiven Ausgestaltung von kommunikativen Institutionen. Zunächst setzt Mill an die Stelle eines bisher exklusiv politischen Verständnisses der Äußerungsfreiheit eine umfassendere Würdigung anderer Themen des öffentlichen Diskurses wie Religion, Kultur und Moral. Allerdings darf der Fortschritt in dieser Hinsicht nicht überbetont werden. Dem jungen Mill und seinen utilitaristischen Vorläufern war stets klar, dass der Bereich politischen Dissenses außerordentlich weit zu verstehen ist, da die Mechanismen politischer Repression auch scheinbare Gewissensfragen wie die der Religion und der Moral mit umfassen. Auch Mills weiterer Schritt über die Vorläufer hinaus scheint auf den ersten Blick bedeutsamer, als er ist. Im einlei­ tenden Kapitel hatte Mill ausgeführt, dass er sich nicht allein gegen staatliche Bevormundungen richtet, seien doch die „Mittel der Tyrannei nicht auf Maßnah­ men beschränkt, die die Gesellschaft mit Hilfe ihrer politischen Funktionsträger verwirklichen kann.“ (CW XVIII, S. 220) Öffentliche Konformität wird aber erst

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dadurch wahrhaft unausweichlich, dass sie durch demokratische Mechanismen in repressives Recht umgesetzt wird (CW XVIII, S. 223). Ein repressives staatli­ ches Äußerungsregime ist aber kein historisch neues Problem, auch wenn es nicht mehr den Gegensatz zwischen einer kleinen Gruppe von Herrschenden und der breiten Masse der Unterworfenen verkörpert, sondern den Konflikt zwischen einer Bevölkerungsmehrheit, die mit Mitteln des Zwangsrechts moralische und politische Konformität erzwingen will, und dissentierenden Minderheiten oder Individuen, die sich dagegen auflehnen. Über das bestehende rechtspolitische Paradigma hinaus weist erst Mills Ansicht, dass Äußerungsfreiheit bereits gegen die Macht der Öffentlichkeit geltend gemacht werden muss, noch bevor diese sich der In­strumente staatlicher Repression bedient, und ihr auf direktem Wege gegen­ steuern soll. Der informelle Druck der Mehrheitsmeinung kann Mill zufolge Befehl­ scharakter annehmen, und ein besonders intensiver Grad gesellschaftlicher Miss­ billigung kann als unzulässiger Zwang oder gar als Strafe fungieren. Umfassende Freiheit des Denkens und der Diskussion kann es mithin nur dort geben, wo sie durch eine tolerante öffentliche Kultur flankiert wird (vgl. CW XVIII, S. 220). Wenn sich die Äußerungsfreiheit nicht nur gegen gesetzliche, sondern auch gegen infor­ mell-moralische Repression richtet, die eine „Versklavung der Seele“ bis tief ins Privatleben hinein anstrebe (CW XVIII, S. 220), entsteht ein Problem, das die frühe­ ren Utilitaristen nicht hatten. Während für Bentham und James Mill der informelle Druck einer einheitlichen öffentlichen Meinung im permanenten Antagonismus mit der Staatsgewalt nicht stark genug sein konnte, muss Mill nun angeben, wo die Grenzen zwischen einer abzulehnenden „moralischen Zwangsausübung“ (moral coercion), zwischen „Zwang und Kontrolle“ (compulsion and control) durch gesell­ schaftliche Kräfte einerseits und nicht-zwingenden Formen öffentlicher Missbilli­ gung, etwa „Vorhaltungen“ andererseits liegen, die ihrerseits für moralische und politische Auseinandersetzungen konstitutiv sind (CW XVIII, S.  223f.). Intensive moralische Zurückweisung, ablehnende Stellungnahmen und der Ausdruck von Missachtung können ebenso sehr als Ausdruck wie als Bedrohung eines nonkon­ formistischen öffentlichen Meinungsaustauschs fungieren, je nachdem, ob sie die gesellschaftliche Mehrheitsmeinung auf ihrer Seite haben und selbst Konformitäts­ druck ausüben. Eine einheitliche öffentliche Meinung könnte so dominant werden, dass sie gesellschaftlichen Dissens unterbindet. Kann im Grenzfall der Druck der öffentlichen Meinung selbst zum Grund einer Einschränkung der Meinungsfreiheit werden, diesmal auf Seiten der Mehrheit, die alle Gegenpositionen zu ersticken droht? Will Mill hier paradoxe Folgen vermeiden, so kann er darauf verweisen, dass nicht alle gesellschaftlichen Probleme dazu geeignet sind, mit Mitteln des Rechtszwangs bearbeitet zu werden. Manchen Zwangslagen, zu denen wir auch die konformistische „Versklavung“ durch die Mehrheitsmeinung zählen können, soll ausschließlich moralische Missbilligung entgegengehalten werden (CW XVIII,



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S. 220). Statt auf Rechtszwang kann sich Mill gegen die Repression der Masse auf zivilgesellschaftliche Mechanismen und solche der Selbstbindung stützen: So könnten sich Verbreitungsmedien, um ein früheres Beispiel wieder aufzugreifen, professionell selbst verpflichten, nicht um des puren Skandals willen die Privatoder Intimsphäre von Personen der Öffentlichkeit preis zu geben. Dass nicht mit rechtlichen Einschränkungen auf moralischen Druck reagiert werden soll, um nicht das gesteckte Ziel einer Freiheit des Denkens und der Dis­ kussion zu gefährden, bedeutet aber nicht, dass nicht auch staatliche Maßnah­ men ergriffen werden können, um moralischem Konformitätsdruck entgegenzu­ arbeiten. Die Diskussion über zulässige nicht-repressive Interventionen findet in On Liberty wenig Raum. Die Ausgestaltung von Institutionen der Freiheit des Denkens und der Diskussion kann aber nicht allein unter der Leitidee negativer Freiheit stehen, sondern muss die Bedeutung selbsttätiger Deliberation würdi­ gen, die als Bedingung ihres Gedeihens die Konfrontation mit vielfältigen, alter­ nativen Weisen des Denkens voraussetzt. Modelle einer pluralistischen Medien­ ordnung finden somit Rückhalt in Mills durchgängigem Bezug auf eine Maxime Wilhelm von Humboldts, die „Freiheit und Vielfalt“ (freedom, and variety of situations) fordert (CW XVIII, S. 261). Unterschiedliche, einander widersprechende Auffassungen dürfen nicht bloß abstrakt verfügbar sein; sie müssen sich so präsent geltend machen, dass ein Mitglied der Gesellschaft gar nicht vermeiden kann, sich ihr auszusetzen. Dass dies eine steuerfinanzierte Aufgabe sein kann, lässt sich Mills Eintreten für eine staatliche Unterstützung der Künste und Wis­ senschaften in den Principles of Political Economy entnehmen (CW III, S. 968ff., vgl. Brink 2008, S. 59; Peonidis 2002). Eine Politik, die die Freiheit des Denkens begünstigt, muss monopolistische Entwicklungen in den Medien verhindern (etwa durch das Kartellrecht), den Zugang zu Kommunikationsmedien und -posi­ tionen einigermaßen egalitär ermöglichen (etwa durch ein entwickeltes Gegen­ darstellungsrecht) und schließlich institutionell absichern, dass eine Vielzahl von gesellschaftlichen Positionen in den Medien repräsentiert wird (etwa durch das Modell der Rundfunkräte im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, in denen ‚rele­ vante‘ gesellschaftliche Gruppen vertreten sind). Das Vorliegen einer breiten Palette unterschiedlicher Meinungen ist von Staats wegen nicht nur zu tolerieren, sondern zu garantieren und womöglich aktiv zu befördern – die Repräsentation einer Vielzahl verschiedener Standpunkte, die deren Vorzüge überdies lebhaft anschaulich macht, kann geradezu als öffentliche, zumindest aber öffentlich zu verantwortende Aufgabe angesehen werden.9

9 Ich danke den Herausgebern und den TeilnehmerInnen des Lüneburger Autorenworkshops, von deren Anregungen der Beitrag sehr profitiert hat.

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4 Das Ideal der Individualität und seine Begründung Im dritten Kapitel finden sich Überlegungen zum Ideal der Individualität, die für John Stuart Mills Analyse und Begründung der individuellen Freiheit sowie generell für seine sozialphilosophische Theorie von zentraler Bedeutung sind. Speziell der im Begriff der Individualität angelegte Aspekt der Selbstentwicklung zeigt sich in Mills Argumentation als wesentlich. Alan Ryan etwa stellt zum Abschluss seiner ausführlichen Studie fest: „Mill’s concern with self-development and moral progress is a strand in his philosophy to which almost everything else is subordinate“ (Ryan 1970, S. 255; vgl. Donatelli 2006, S. 151; Ball 2010). Mill selbst führt seiner Freiheitsschrift ein Zitat aus Wilhelm von Humboldts Idee zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen voran, das ebenfalls belegt, wie zentral ihm der Gedanke der menschlichen Entwicklung erschien: „Nach dem ganzen Räsonnement kommt schlechterdings alles auf die Ausbildung des Menschen in der höchsten Mannigfaltigkeit an“ (Humboldt 1967, S. 69; Mill AW III.1, S. 304; CW XVIII, S. 215). Der Wert der Freiheit ist für Mill unmittelbar mit dem Wert der Individualität verbunden. Menschen bedürfen – so könnte man den Grundgedanken zusammenfassen – einen vor Eingriffen geschützten Freiraum; nur wenn dieser garantiert ist, können Individuen sich selbst entwickeln und sie selbst sein. Freiheit ist demnach eine notwendige Bedingung von Selbstverwirklichung, und Selbstverwirklichung wiederum ist ein Bestandteil des Glücks. Da Menschen sich in ihren Vorstellungen vom guten Leben unterscheiden, müssen möglichst viele „Lebenspläne“ bzw. „Lebensexperimente“ (AW III.1, S. 370, 379, 435; CW XVIII, S. 262, 281, 306) in der Gesellschaft möglich sein; nur so kann jede Person individuelles Glück erreichen. Denn genauso wie ein Mensch nur stark werden kann, wenn er die Möglichkeit hat, seine Muskeln zu trainieren, so kann er nur dann einen Charakter ausbilden, wenn er seine individuellen Fähigkeiten betätigen kann (AW III.1, S. 370; CW XVIII, S.  262). Menschliche Individualität, so könnte man sagen, ist für Mill das bestmögliche Ergebnis der Gewährung von Freiheit. Wie zu sehen sein wird, ist Freiheit (des Denkens und Handelns) dabei nicht nur das Mittel für das Erreichen von Individualität – obwohl es auch dies ist –, sondern Individualität ist selbst Ausdruck menschlicher Freiheit. Der Mensch kann sich selbst in der Welt verwirklichen, aber er kann sich auch – in gewissen Grenzen – selbst formen. Freiheit ist somit für Mill nicht nur ein klassisch liberales Ideal der Abwesenheit von Zwang, sondern immer auch Entwicklungsziel, ein Ideal der individuellen Selbstbestimmung.

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Eine entfesselte Individualität könnte allerdings im Gegensatz stehen zum moralisch geforderten Handeln oder zur Vorstellung von gesellschaftlich geteilten Wertvorstellungen. Dieses Bedenken wurde schon früh gegen Mill Schrift eingewendet (Pyle 1994, xivf.; Rees 1956, S. 14ff.). In diesem Kapitel wird jedoch zu sehen sein, dass für Mill Individualität und Sozialität bzw. Moralität keineswegs in einem Spannungsverhältnis stehen (vgl. Berger 1984, S. 231; Riley 1988, S.  231ff.; Riley 2010; Höntzsch 2010). Eine weitere wichtige Frage in diesem Zusammenhang lautet, ob nicht Individualität im Gegensatz zum guten Leben stehen kann – entgegen Mills harmonistischer Auffassung – weil Menschen sich möglicherweise in schädlicher, wenn auch selbst gewählter Weise bestimmen könnten. An dieser Stelle wird in der Folge auch die philosophische Debatte über den Paternalismus thematisch (vgl. Buchmüller/Wolf, in diesem Band). Mill scheint der optimistischen Ansicht anzuhängen, dass Menschen, sollten die sozialen Bedingungen entsprechend eingerichtet sein, nichts Schlechtes für sich selbst wählen würden. Entsprechend verteidigt er konsequent eine anti-paternalistische Position. Die Grundlage dieser Auffassung liegt in seinem spezifischen Verständnis der Selbstentwicklung, das wiederum gekoppelt ist an seine Theorie höherer Freuden. Da diese Werttheorie nicht in der Freiheitsschrift, sondern in seinem Essay Utilitarianism ausgearbeitet wird, muss in der vorliegenden Darstellung auf diese Schrift Bezug genommen werden. Auch im abschließenden Buch seiner voluminösen Logik finden sich wertvolle Hinweise. Wie in vielen neueren Interpretationen zeigt sich dabei, dass Mills Theorie als kohärent verstanden werden kann, wenn man die entsprechenden weiteren Werke heranzieht (vgl. Riley und Einleitung, in diesem Band; Schefzyk 2011).

4.1 Mills komplexer Utilitarismus Wie auch in anderen Kapiteln lässt Mill es im dritten Kapitel – kritisch gewendet – an begrifflicher Schärfe missen. Weniger tadelnd ausgedrückt, ist er in seiner Darstellung eben so genau, wie es der Gegenstand seiner Untersuchung zulässt. Individualität kann zunächst so verstanden werden, wie wir den Begriff im Alltag verwenden: Auf Personen bezogen bedeutet er, eine eigenständige Persönlichkeit zu besitzen; einen Charakter, der jeweils von der Person selbst geformt wurde. Die Nähe des Begriffs der Individualität zur Idee der Selbstbestimmung macht verständlich, warum für Mill gerade dieser Aspekt die Sphäre der individuellen Freiheit zentral betrifft. Den Wert, welchen Individualität für Individuen und die Gesellschaft besitzt, gilt es zu bewahren. Der Bereich des Denkens und Handelns, der nur uns selbst betrifft, muss vor Eingriffen geschützt werden, so dass Menschen sich entwickeln können. Die von Mill verwendete Metapher des Wachstums



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eines Baums illustriert diesen Gedanken (AW III.1, S. 373; CW XVIII, S. 263): Der Mensch wächst wie ein Baum nur dann zu einem besonderen, unverwechselbaren Individuum heran, wenn er nicht beschnitten und damit „in Linie“ gebracht wird. Erst wenn diese Freiheit des Wachstums gewährleistet ist, kann eine Person sie selbst sein und gemäß ihrer eigenen Natur leben. Der von Mill hervorgehobene intrinsische Wert der Individualität führt zu einem möglichen Konflikt mit den Grundprämissen des Utilitarismus. Viele Autoren behaupten, dass Mill im dritten Kapitel tatsächlich nicht utilitaristisch argumentiert (vgl. Ladenson 1977, S. 167f., für entsprechende Verweise), da dieser Doktrin zufolge ausschließlich Glück über einen Eigenwert verfüge und das Nützlichkeitsprinzip nur diejenigen Handlungen als richtig auszeichne, die das Glück beförderten. Insofern scheinen die Werthaftigkeit und ein weitgehender Schutz der Individualität nicht begründbar über den Weg utilitaristischer Annahmen. Denn letztlich könnten Manifestationen von Individualität, etwa in Form von ungesunden, unangenehmen oder störenden Verhaltensweisen, das Glück der handelnden Person selbst und auch anderer Personen unterminieren. Nicht nur angesichts der in den letzten Jahrzehnten anschwellenden Literatur, die eine Vereinbarkeit von Mills Freiheitsschrift in allen ihren Aspekten mit den utilitaristischen Überzeugungen Mills feststellen (vgl. Riley, in diesem Band), sollte dieser mögliche Konflikt beachtet, aber nicht vorschnell als tatsächlich bestehend konstatiert werden. Ein Hinweis für die Vereinbarkeit von Utilitarismus und Befürwortung eines Eigenwerts der Individualität findet sich bereits in der Überschrift des zur Debatte stehenden Kapitels: Mill bezeichnet Individualität als einen Bestandteil des menschlichen Wohls (well-being). Letzterer Begriff wird von ihm offenbar bedeutungsgleich mit dem Ausdruck „Glück“ (happiness) verwendet. Somit ergibt sich eine Lesart, wonach Individualität als Element oder „Zutat“ (ingredient) des menschlichen Glücks gelten kann und daher, indem der Freiraum der Charakterentwicklung geschützt wird, das menschliche Glück befördert wird (CW XVIII, S. 261). Auch in der Einleitung verweist Mill bereits darauf, dass er Nützlichkeit (utility) als die letztgültige Instanz in ethischen Fragen versteht, dabei aber „Nutzen im umfassendsten Sinne“ verstanden werden müsse, als begründet „in den beständigen Interessen des Menschen als eines entwicklungsfähigen Wesens“ (AW III.1, S. 317–318; CW XVIII, S.  224). Auch in seiner Utilitarismus-Schrift kommt Mill zum Ergebnis, dass Aspekte des menschlichen Lebens, etwa die Tugendhaftigkeit, Teile des Glücks werden können. Die Bestandteile des Glücks haben nicht nur instrumentellen, sondern einen Eigenwert (AW  III.1, S.  483; CW X, S. 235; vgl. Bogen & Farrell 1978). Insofern ist Mills Begründung des Werts menschlicher Individualität zumindest mit seiner Version des Utilitarismus nicht unvereinbar. Wobei zugestanden werden muss, dass einige Aspekte der Diskussion von Individualität bei

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Mill in einem gewissen Spannungsverhältnis zu den üblichen Lesarten des Utilitarismus stehen (vgl. Ten 1980, S. 77). Das zweite Kapitel, in dem Mill die Meinungsfreiheiten untersucht und begründet, ist deutlich utilitaristisch geprägt (vgl. Niesen in diesem Band). Mill verweist dort auf den Aspekt der Nützlichkeit solcher Freiheiten. Das dritte Kapitel beginnt er mit der Überlegung, ob der Schutz der Individualität – und damit der individuellen Freiheit – nicht in gleicher Weise begründet werden könnte. Auch wenn er es im Sinne einer Frage formuliert, wird deutlich, dass Mill genau diese analoge Begründung anstrebt (Clor 1985, S. 21f.; Ten 2008, S. 7). Es liegt hier also ebenfalls eine Begründung über utilitaristisches Gedankengut nahe. Die Analogie hilft außerdem, bestimmte Aspekte der Deutung und des Werts von individueller Handlungsfreiheit zu sehen, etwa wenn der Ausdruck der eigenen Individualität als Meinungsäußerung im Bereich der Lebensweisen verstanden wird. Mill versteht die verschiedenen Ausprägungen von Individualität als „Lebensexperimente“. So wie Meinungen aufeinanderprallen können und sich dadurch die Wahrheit ihren Weg bahnen kann, ist es möglich, in den Bereichen, die selbst eventuell keiner eindeutigen Wahrheit zugänglich sind, nämlich solchen, die normative Fragen betreffen, Lebensexperimente aufeinandertreffen zu lassen und damit den gesellschaftlichen Fortschritt zu befördern (AW III.1, S. 379; CW XVIII, S. 267). Es wird noch zu diskutieren sein, ob eine solche Deutung zu einer, dem Mill’schen Denken wohl fremden – weil den Wert des Pluralismus unterminierenden – Idee der langfristigen Konvergenz von Lebensexperimenten führen würde. An dieser Stelle reicht indes der Hinweis auf die interessante Parallelführung der Argumentation Mills im zweiten und dritten Kapitel. Im Folgenden wird zunächst der Begriff der Individualität genauer untersucht (2). Mills Konzeption der Individualität enthält meiner Lesart zufolge eine normativ geprägte Auffassung der Selbstentwicklung, also ein bestimmtes Ideal der Art und Weise, wie man sich selbst bestimmen sollte (vgl. auch Scanlan 1958, S. 205). In einem weiteren Schritt (3) wird dieses Ideal verbunden mit Mills qualitativen Hedonismus – der Auffassung, wonach bestimmte höhere Fähigkeiten notwendig zum Glück des Menschen gehören. Im Anschluss (4) wird das Problem der möglichen Konvergenz von Lebensexperimenten thematisiert und insbesondere die Rolle von Sitten, Gebräuchen und Konventionen (customs) in der Mill’schen Sichtweise kritisch hinterfragt. Zum Ende (5) wird dann noch einmal der genaue Wert von Individualität und Freiheit diskutiert, wie er sich aus dem dritten Kapitel der Freiheitsschrift ergibt.



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4.2 Der Begriff der Individualität Mills Auffassung von „Individualität“ ist nicht leicht zu entziffern. Der Begriff changiert zwischen den Ideen der Bildung, Unkonventionalität, Authentizität und Vortrefflichkeit. Offenbar übernimmt Mill zunächst die Deutung von Humboldts, wenn er zustimmend zitiert: „Der wahre Zweck des Menschen – nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welche die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt – ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.“ (Humboldt 1967, S. 22)1 Der Aspekt der Individualität steckt hier in der personenbezogenen, je eigenen Bildung bzw. Entwicklung. Mill hängt wie Humboldt der Auffassung an, dass es nicht eine bestimmte Lebensweise für Menschen gibt, die für alle passend sein könnte (zum Einfluss Humboldts auf Mills Denken siehe Höntzsch, in diesem Band).2 Individualität bezeichnet demnach die „Eigentümlichkeit“ (Humboldt), in der sich die Bildung eines Menschen jeweils vollzieht und zu der sie führt. Hierzu passt Mills Metapher der Formkörper (moulds), in die Individuen nicht hineingepresst werden sollten, sowie seine weitere Metapher von Menschen als Bäumen, die in jeweils verschiedener Weise wachsen: „Menschliche Natur ist keine Maschine, die nach Modell gebaut und eingesetzt wird, um genau die Arbeit zu tun, die für sie vorgesehen wurde, sondern ein Baum, der wachsen und sich zu allen Seiten entfalten muss, entsprechend der Anlage seiner inneren Kräfte, die ihn zu einem Lebewesen machen.“ (AW III.1, S. 373; CW XVIII, S. 263) Aus diesem Aspekt der Individualität ergibt sich eine mögliche Deutung, wonach Individualität gleichbedeutend ist mit Idiosynkrasie, Unkonventionalität bzw. Nonkonformität, Einzigartigkeit sowie Exzentrizität (Stephen 1967, S. 83ff.; Anschutz 1953, S. 25; Wolff 1968, S. 19). Wenn Mill der Individualität einen so bedeutenden Stellenwert zuschreibt, scheint er allerdings in Bezug auf diesen

1 Die Mill zur Verfügung stehende Übersetzung von Joseph Coulthard, die 1854 erschienen war, lautet: „The end of man or that which is prescribed by the eternal or immutable dictates of reason, and not suggested by vague and transient desires, is the highest and most harmonious development of his powers to a complete and consistent whole“. In dieser Übersetzung fehlt zunächst die Bezeichnung des festgestellten Zwecks des Menschen als wahrer Zweck, sodann wird die Rede von einem „Ganzen“ ausgeschmückt durch die Adjektive „complete and con­ sistent“, die nicht im Original zu finden sind. Zudem sei hervorgehoben, dass „Bildung“ mit „development“ übersetzt wird. 2 Vielleicht ist es hilfreich, an dieser Stelle noch einmal zu betonen, dass hier der Kontext der selbstbezogenen Handlungen gemeint ist. Auch Mill zufolge kann es durchaus für alle Menschen verbindliche Aspekte des Handelns geben, speziell moralische Regeln (vgl. Ten 1980, S. 79; Riley, in diesem Band).

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Gesichtspunkt den Bogen zu überspannen. Warum sollte Exzentrizität als solche schon wertvoll sein? Nur um der Abweichung von den üblichen Lebensformen willen scheint sich keine werthafte Individualität zu ergeben, vielmehr wird „Eigentümlichkeit“ hier zur bloßen „Befremdlichkeit“. Gleichwohl feiert Mill mehrfach den exzentrischen Individualisten, der sich nicht um die Meinungen anderer kümmert und über Konventionen und Traditionen hinwegsetzt. Allerdings ergibt sich hieraus keine unplausible Konsequenz oder gar Inkonsistenz der Mill’schen Argumentation, denn es ist deutlich, dass Mill den Wert des unkonventionellen „Genies“ in bestimmten historischen Momenten sieht. Der soziale Nutzen der Exzentrizität liegt darin, einer passiven und retardierenden Gesellschaft die Bedeutung von Individualität überhaupt erst (wieder) nahezubringen (AW III.1, S. 383; CW XVIII, S. 269). Mill verfährt hier also ganz analog zum zweiten Kapitel, wo er ebenfalls unter bestimmten Umständen einen Wert in vermeintlich Unnützem entdeckt hatte, nämlich hier in der Verbreitung von unwahrer Meinung. Wo die wahre Meinung zum toten Dogma wurde, gilt es, sich der Gegenrede zu bedienen, um diese Wahrheit wieder deutlich hervorzukehren. Ähnlich nun mit der Individualität – wobei hier über die „Wahrheit“ und „Falschheit“ der Lebensexperimente bzw. der Sitten und Gebräuche nichts ausgesagt sein soll. Wo bestimmte Lebensführungen zu unhinterfragten, „bloßen“ Traditionen geworden sind, benötigt die Gesellschaft Exzentriker, die ihnen die Bedeutung alternativer Lebensexperimente vor Augen führt (Ladenson 1977, S. 170). Ein weiterer Aspekt der Individualität ist die Authentizität. Ein Mensch mit einem eigenen Charakter zu sein verlangt, genau diesen zu verwirklichen und sich nicht zu „verbiegen“. Dazu gehört, für sich selbst zu wählen und nicht blind vorgegebenen Handlungsweisen zu folgen. Hierzu passt auch die eingangs erwähnte Idee der Freiheit als Betätigung von Fähigkeiten, die es einzuüben gilt, etwa Verstand, Urteilsvermögen, geistige Aktivität, Unterscheidungsvermögen und moralische Neigungen (AW III.1, S. 272; CW XVIII, S. 262). Genau wie wir eine Wahrheit nur dann wirklich verinnerlichen, wenn wir sie für uns „durchgearbeitet“ haben, so können wir unser Leben nicht nach den Vorgaben von außen leben, sondern müssen den passenden Lebensstil für uns selbst finden.3 Dass nicht eine bestimmte richtige Lebensweise für Menschen existiert, ergibt sich aus deren Verschiedenheit und der Tatsache, dass Lebensexperimente zu den gegebenen Umständen passen müssen. Doch die Selbstwahl ist nicht nur in dem

3 Die Rede von „Stil“, der sich Mill ebenfalls bedient (AW III.1, S. 407; CW XVIII, S. 286), passt zur allgemeinen Idee der Lebenskunst (Art of Life), die Mill im letzten Teil seiner Logik einführt. Ein individueller, unverwechselbarer Künstler zu sein heißt, seinen eigenen Stil zu haben.



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in­strumentellen Sinn wertvoll, dass wir jeweils selbst die besten Experten für das für uns jeweils Gute zu sein scheinen, sondern die eigene Wahl selbst ist gut für uns in dem Sinne, dass wir darin unsere Individualität ausdrücken. Selbst wo eine Person ihr Wohl verfehlt, kann dennoch die Tatsache, dass sie es war, die eine missliche Handlung wählte, wertvoll sein, da nur so überhaupt Individualität und die Ausbildung eines Charakters möglich ist (Riley 1991, S. 224). Unser Lebensplan soll also Mill zufolge unserem Charakter gemäß entworfen sein (AW III.1, S. 319; CW XVIII, S. 226). Doch hieraus ergibt sich eine Problematik, die er scheinbar unterschätzt. Wir kennen aus unserer Erfahrung Lebensweisen von Menschen, die durchaus authentisch, aber sicherlich nicht gut sind, weder für sie selbst noch für die Gemeinschaft. Ohne irgendeine normative Begrenzung authentischer Selbstwahl scheint Mills Konzeption ins Leere zu laufen und Individualität letztlich einen unplausiblen – weil unbedingten – Eigenwert zu er­halten. Doch Mill verfolgt einen weiteren Aspekt der Individualität, der eben die gewünschte normative Begrenzung von Lebensstilen bereithält. Schließlich wird mit dem Ideal der Selbstentwicklung ein Rahmen festgesteckt, innerhalb dessen gelingende Lebensexperimente stattfinden. Für Mill gibt es abzulehnende Lebensstile, nämlich solche, welche die Fähigkeiten untergraben, die selbst notwendig für die Selbstwahl sind. Wie einige Kommentatoren festhalten (Gray 1996, S. 78; Berkowitz 1998), übernimmt Mill hier eine an Kant erinnernde Argumentation, indem er die Voraussetzungen der menschlichen Freiheit selbst – im Sinne einer Tätigkeit der Selbstbestimmung – thematisiert. Selbstentwicklung bedeutet, für den Menschen wesentliche, „höhere“ Fähigkeiten auszubilden. Diese Überlegung wiederum scheint ihn nahe an Aristoteles und dessen teleologische Konzeption einer spezifischen Tätigkeit des Menschen zu bringen. Mill ist überzeugt, dass „Individualität und Entwicklung eins sind“ (AW III.1, S. 379; CW XVIII, S. 267). Um Mills Argumentation in dieser Hinsicht gerecht zu werden, gilt es, weitere seiner Schriften zu studieren, insbesondere das zweite Kapitel seines Essays Utilitarismus, in welchem er seine Werttheorie begründet – hierzu gleich mehr. An dieser Stelle ist es wichtig festzuhalten, dass der hier diskutierte Aspekt der Individualität in direkter Weise mit dem Begriff der Freiheit verbunden ist, da sich Mill zufolge Selbstentwicklung in der freien, also selbstgewählten Betätigung der individuell ausgeprägten menschlichen Fähigkeiten manifestiert. Mill diskutiert Freiheit nicht mehr nur als negative Freiheit, als die Abwesenheit von Zwang: Diese ist und bleibt eine Voraussetzung von Selbstentwicklung. Doch Selbstbestimmung bzw. Autonomie ist selbst auch eine Form der individuellen Freiheit. Damit gibt Mill der menschlichen Freiheit eine positive, substantielle Deutung, also eine, die über die negative Beschreibung des klassischen Liberalismus hin-

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ausgeht (Semmel 1984, S. 166; Baum 2000, S. 25ff.; vgl. auch Berger 1984, S. 229). Allerdings ist Mills Theorie der positiven Freiheit selbst wiederum minimalistisch in dem Sinne, dass sie keinen bestimmten Lebensstil als den richtigen vorgibt, sondern nur solche ausschließt, welche die Betätigung spezifisch menschlicher Fähigkeiten verhindern bzw. stark beschränken. Die spezifisch menschlichen Fähigkeiten wiederum sind solche, welche die Ausübung von Freiheit ermöglichen, aber auch erfordern (AW III.1, S. 373; CW XVIII, S. 262f.).

4.3 Perfektionistische Werttheorie? Mills Ausführungen zur Individualität und zu den spezifisch menschlichen Fähigkeiten sind im Zusammenhang mit seinen werttheoretischen Überlegungen zu sehen, die er 1861 in seiner Schrift Utilitarianism veröffentlichte. Auch wenn diese Publikation zwei Jahre nach der Freiheitsschrift erfolgte, so waren Mills Überlegungen zu den sogenannten „höheren Freuden“ gleichwohl zum früheren Zeitpunkt bereits weitgehend ausgereift. Schon in einem Tagebucheintrag von 1853 hatte er den Grundgedanken des „qualitativen Hedonismus“ in einer frühen Variante zusammengefasst.4 Die wesentliche Überlegung seiner Theorie des Guten für den Menschen kann man so beschreiben, dass es menschliche Fähigkeiten gibt, die notwendigerweise zu einem gelingenden Leben gehören, und die daher für die Idee der Selbstentwicklung eine zentrale Funktion besitzen. Anders als Aristoteles bestimmt Mill diese höheren Fähigkeiten allerdings nicht durch eine Theorie der eigentümlichen Leistung (ergon) des Menschen, also einer Art essentialistischen Theorie des menschlichen Wesens, sondern er sieht sie inhaltlich determiniert durch die Präferenzen von Personen, die mit zu vergleichenden Freuden vertraut sind. Die letzte Quelle der Werthaftigkeit also, so könnte man sagen, liegt bei Mill immer in der menschlichen Einstellung.5

4 „The only true or definite rule of conduct or standard of morality is the greatest happiness, but there is needed first a philosophical estimate of happiness. Quality as well as quantity of happiness is to be considered; less of a higher kind is preferable to more of a lower. The test of quality is the preference given by those who are acquainted with both. Socrates would rather choose to be Socrates dissatisfied than to be a pig satisfied. The pig probably would not, but then the pig knows only one side of the question: Socrates knows both“ (23 March 1854; Diaries and Letters, XXVII, S. 38). 5 Die genaue Deutung und Überzeugungskraft der Mill’schen Werttheorie ist selbst Gegenstand von Auseinandersetzungen, die hier nicht dargestellt werden können. Ich bemühe mich hier um eine Deutung, die Mills Ansatz in „Der Utilitarismus“ mit der Freiheitsschrift in konsistenter Weise zusammenbringt; diese ist nicht unumstritten.



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Mills Darstellung seiner Werttheorie findet nicht im luftleeren Raum statt; vielmehr ist seine Schrift in erster Linie eine Verteidigung des Utilitarismus. Dies gilt es zu beachten, wenn man sich die einzelnen Argumentationsschritte vergegenwärtigt. Der Vorwurf der Schweinephilosophie spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der abschließenden Bewertung des klassischen Utilitarismus. Nicht wenige sind der Meinung, dass Mill zwar diesen Vorwurf zurückweisen kann, dabei aber die Grundlagen seiner Version des Utilitarismus derart unterwandert, dass sein Theoriegebäude letztlich zusammenbricht. Diese Bewertung überträgt sich dann in ähnlicher Weise auf seine Freiheitsschrift und insbesondere die Idee der Selbstentwicklung. Der Vorwurf der Schweinephilosophie ergibt sich aus dem Bezug auf Lust als Endzweck des Lebens, den Mill als Grundgedanken des Utilitarismus einführt; dies sei „eine Lehre, die nur Schweinen würdig ist“ (AW III.1, S. 450; CW X, S. 210). Der Vorwurf selbst ist alt, wie auch Mill hervorhebt, und traf bereits Epikur. Zu Mills Zeit wurde er von Thomas Carlyle vorgebracht, einem schottischen Essayisten, mit dem Mill einige Zeit befreundet war und dessen Urteil er hoch schätzte (Reeves, S. 121ff.). Zum Kontext ist hinzuzufügen, dass Bentham ein paar Jahre zuvor berüchtigterweise festgestellt hatte, Poesie hätte, wenn man das Ganze vorurteilsfrei beurteile, den gleichen Wert wie push-pin, ein Kegelspiel (Bentham 1825, Buch III, Kap. i, S. 206). Für Mills eigenen Denkweg wird Benthams vermeintlich skandalöse Aussage eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben. Wie gleich zu sehen sein wird, hat sie allerdings auch die Interpreten Mills möglicherweise allzu stark beeinflusst. Mill zufolge unterstellt der Vorwurf der Schweinephilosophie ein zu simples Verständnis der Quellen der Lust für Menschen. Im Gegensatz dazu hätten Menschen tatsächlich höhere bzw. entwickeltere Fähigkeiten als Tiere und diese seien Bestandteile ihres Glücks. Es gelte, so Mill, anzuerkennen, dass es unterschiedliche Qualitäten von Freuden gebe – bessere bzw. wertvollere –, dass demnach ihr Wert nicht bloß durch quantitative Kriterien festgelegt sei, wie sie Bentham zugrunde gelegt hatte – etwa Intensität und Dauer. Als Kriterium für die komparative Unterscheidung von höheren und niedrigeren Freuden führt Mill nun – ganz im Stile eines Empiristen – einen Test ein, der die Präferenzen derjenigen Menschen involviert, welche mit beiden der zu vergleichenden Freuden vertraut sind: „Wird von zwei Freuden die eine von allen, oder nahezu allen, welche beide durch eigene Erfahrung kennen, entschieden bevorzugt, und zwar ohne Rücksicht auf irgendein Gefühl moralischer Verpflichtung, sie vorziehen zu sollen, so ist diese die wünschenswertere Freude.“ (AW III.1, S. 451; CW X, S. 211) Nun sei aber festzustellen, so Mill, dass Menschen derjenigen Lebensweise den Vorzug geben würden, welche die höheren Fähigkeiten (faculties) einschließt. Kein Mensch, so die Verteidigung gegen den Vorwurf der Schweinephilosophie,

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würde ein Schwein sein wollen, oder metaphernfrei gesprochen: Kein Mensch, der einmal in den Genuss der höheren Fähigkeiten gekommen ist, wäre freiwillig bereit, auf diese zu verzichten. Mill nimmt einen weiteren Vorwurf vorweg, wenn er hinzufügt, dass das Leben, welches die höheren Fähigkeiten mit umfasst, nicht unbedingt zu größerer Zufriedenheit (content) führen müsse, da die höheren Fähigkeiten vergleichsweise schwerer zu erreichen und auszuüben seien (AW III.1, S. 451; CW X, S. 212). Das Glück des Menschen, so könnte man Mill paraphrasieren, ist prekärer als das des Schweins, weil das menschliche Glück durch seine höheren Ansprüche mehr benötigt, um erreicht zu werden. Das Schwein zu befriedigen, es gewissermaßen in der Ausübung seiner hedonistischen Potentiale zu sättigen, ist vergleichsweise einfach. Doch der Mensch will mehr und er wäre nicht glücklich, würde er wie ein Schwein leben; Glück und Zufriedenheit gelte es also zu differenzieren. So kommt Mill zu seinem berühmten Ausspruch: „Es ist besser, ein nicht vollständig zufriedener Mensch zu sein, als ein restlos zufriedenes Schwein – besser, ein nicht vollständig zufriedener Sokrates als ein restlos zufriedener Narr.“ (AW III.1, S. 453; CW X, S. 212) Die Rede von höheren Fähigkeiten und der damit einhergehenden These, es gebe höhere und entsprechend niedrigere Freuden, unterstellt scheinbar einen perfektionistischen und potentiell elitären Ansatz. Dies wird insbesondere in dem Vergleich von Sokrates mit dem Narren deutlich. Denn was sind höhere Fähigkeiten und damit höhere Freuden? Es sind offensichtlich intellektuelle Fähigkeiten bzw. geistige Freuden ganz allgemein. Mill sagt das ausdrücklich und es liegt nahe, wie einige Interpreten es tatsächlich tun, dies als Seitenhieb auf Benthams Gleichsetzung der intellektuellen Freude an der Lektüre eines Gedichts mit der körperlichen Freude des Kegelspiels anzusehen. Zugegeben, Mills Liste höherer Freuden umfasst an einer Textstelle neben den Freuden des Intellekts auch solche der Empfindung, der Vorstellungskraft sowie des sittlichen Gefühls (AW III.1, S. 450; CW X, S. 211). Doch es bleibt dabei: die „bloße Sinnlichkeit“ (mere sensation), wie er sich ausdrückt, scheint den höheren Freuden untergeordnet. Mill wird entsprechend bisweilen als typisch viktorianischer Engländer beschrieben, der einem genusslosen, prüden Leben im wahrsten Sinne des Wortes ein Qualitätssiegel verpasse. Dass dieser Vorwurf nicht zutreffend ist, ergibt sich schon daraus, dass Mill nirgendwo behauptet, man solle auf körperliche Freuden generell verzichten. Man sollte nicht vergessen, dass sich Mill an dieser Stelle seines Essays mit einer bestimmten Kritik herumplagt, nämlich dem Vorwurf der Schweinephilosophie. Um diesen Vorwurf zurückzuweisen, muss er nicht mehr demonstrieren, als er tatsächlich versucht. Denn er zeigt nicht mehr und nicht weniger, als dass kein Mensch freiwillig auf die Ausübung intellektueller Fähigkeiten generell ver-



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zichten würde. Hier stehen gewissermaßen Existenzweisen zum Vergleich, nicht einzelne Freuden (McPherson 1982, S. 270; Miller 2010, S. 65). Aus der bisher erfolgten Deutung Mills ergibt sich, dass Aussagen bezüglich der Höherwertigkeit von Freuden auf einen sehr kleinen Objektbereich bezogen werden müssen. Die Rede von qualitativen Differenzen der Freuden ist gebunden an ein nahezu einmütiges Bevorzugen von Freuden. Menschen, so Mills These und Antwort auf den Vorwurf der Schweinephilosophie, würden auf die Ausübung ihrer intellektuellen und moralischen, eben ihrer höheren Fähigkeiten nicht verzichten wollen, denn sie bevorzugen diese gegenüber einfachen Freuden. Diese Aussage harmonisiert mit Mills Spekulationen bezüglich des Ursprungs dieser Einstellung: Er glaubt nämlich, dass ein Gefühl der Würde, „a sense of dignity“ (AW III.1, S. 452; CW X, S. 212), Menschen davon abhielte, das Leben eines Schweins führen zu wollen. Dieses Gefühl in Anschlag zu bringen, wenn es um die Frage ginge, ob Gedichte lesen wertvoller als Kegeln sei, erschiene überzogen. Zudem harmonisiert diese Deutung, wonach Mill nur eine eingeschränkte Menge höherer Freuden erwartet, mit der Grundlage der anti-paternalistischen Grundhaltung Mills in seiner Freiheitsschrift, in der er den Menschen, wie vorher gesehen, als „progressive being“ (AW III.1, S. 317f.; CW XVIII, S. 224) ansieht. Sich selbst zu entwickeln, ist ein grundlegendes Bedürfnis des Menschen, aber um dieses Ziel zu erreichen, muss man nicht bestimmte Tätigkeiten vollziehen, sondern grundlegende menschliche Fähigkeiten ausbilden (Capaldi 2004, S. 274; Donner 1991, S. 118ff.). Man kann Mills Gedanken nun folgendermaßen zusammenfassen: Es wäre für Menschen nicht vereinbar mit ihrer Idee eines gelingenden Lebens, wenn sie ihre Fähigkeit zur Selbstentwicklung nicht ausüben könnten. Insofern kann man Mill durchaus als Vertreter eines Perfektionismus ansehen. Es geht ihm allerdings nicht darum, in elitärer Manier Inhalte des menschlichen Glücks durch Expertentests herbeizuführen, sondern darum, die Minimalbedingungen eines gelingenden Lebens für Menschen in ihrer Verfasstheit als entwicklungsfähige und entwicklungswillige Wesen zu bestimmen.6 Auch diese elementaren Bestanteile eines menschenwür-

6 Zu der Idee, dass Menschen tatsächlich willig sind, sich zu entwickeln, wird an späterer Stelle noch mehr zu sagen sein. Mill muss hier gewissermaßen im Modus des Theoretikers gelesen werden, der allgemeine Aussagen über den Menschen trifft. Natürlich war ihm durchaus bewusst, dass viele Menschen sich de facto gerade nicht selbst entwickeln wollen – dies war vermutlich sogar ein wesentliches Motiv, seine Freiheitsschrift zu verfassen. Mill sah die Gefahr, dass der Wunsch zur Selbstentwicklung verschwindet, weil Menschen ihre (positive) Freiheit nicht betätigen und sich sozusagen in die selbstgewählte Unmündigkeit begeben. In diesen gesellschaftlichen Situationen werden Eingriffe in die Handlungsfreiheit nicht mehr unbedingt als problematisch angesehen (Friedman 1966, S. 289f.). Man darf nicht vergessen, dass Mill

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digen Lebens sind letztlich bestimmt durch die Präferenzen der Menschen selbst. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich folgendes Bild: Für Mill sind Menschen sich selbst entwickelnde Wesen. Diese orientieren sich – in Bezug auf das nur sie betreffende Handeln – an ihren eigenen Präferenzen und an ihrer individuellen Vorstellung vom Glück. Allerdings gibt es Lebensweisen, die insofern als schlecht angesehen werden können, als sie die höheren Fähigkeiten des Menschen verfehlen bzw. unterminieren. Diese höheren Fähigkeiten sind solche der Empfindung, der Vorstellungskraft sowie des sittlichen Gefühls. Sie können ebenfalls selbst wieder in Verbindung mit der Selbstbestimmung, dem Treffen von Wahlentscheidungen, gesehen werden. Insofern ist ein schlechtes Leben eines, das nicht durch die Person selbst, also durch ihre eigenen Entscheidungen determiniert wird. Es bleibt hier das Unbehagen, das einige Kritiker Mills verspüren, nämlich ob diese eher formale, an zentralen menschlichen Fähigkeiten orientierte normative Aufladung des Begriffs der Selbstentwicklung ausreicht, oder ob nicht stärkere inhaltliche Vorgaben an ein gelingendes menschliches Leben gemacht werden müssen. Dieses Problem erforderte eine weitergehende Beschäftigung mit dem Bereich des legitimen Paternalismus, die hier nicht durchgeführt werden kann. Mill war offenbar der Meinung, dass Menschen, wo sie ihre höheren Fähigkeiten betätigen – sich also wirklich selbst bestimmen sowie die entsprechende, an Angeboten für verschiedene Lebensweisen reichhaltige Umgebung genießen  – im Großen und Ganzen das für sie Beste tun werden. Ob dieser Einschätzung ein unzureichender Optimismus zugrunde liegt, wäre für Mill wohl selbst wieder eine empirische Frage.

4.4 Pluralismus und Konvergenz von Lebensexperimenten Mill ist sowohl Zeitdiagnostiker als auch Theoretiker; für ihn hängen beide Sichtweisen unmittelbar zusammen. Die Idee der Selbstentwicklung ist immer auch verstanden als Bezugspunkt für reale Menschen Hier und Heute. Dabei vertritt Mill mitunter auch ideale, geradezu utopisch anmutende Vorstellungen über die Entwicklungsfähigkeiten von Menschen. Gleichwohl ist ihm anzumerken, dass er ein realisierbares Ideal entwickeln will. Damit Menschen ein gelingendes Leben nicht verfehlen, müssen bestimmte äußere und innere Umstände erreicht sein.

das Freiheitsprinzip beschränkt auf Gesellschaften, die einen bestimmten Entwicklungsstand erreicht haben (AW III.1, S. 316f.; CW XVIII, S. 224).



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Es bedarf gewissermaßen entgegenkommender Lebensverhältnisse. Wir hatten bereits gesehen, dass Mill überzeugt ist, dass Menschen nicht freiwillig ein Leben wählen würden, welches die höheren Fähigkeiten ausschlösse – sie wollen nicht das Leben eines „Narren“ führen. Dies gilt aber nur unter bestimmten bereits erreichten gesellschaftlichen Entwicklungsständen, etwa unter der Bedingung, dass Menschen überhaupt in die Lage versetzt wurden, die höheren Fähigkeiten genießen zu können. In einer Gesellschaft, in der beispielsweise extreme materielle Not leidet, wird es vergleichsweise schwieriger sein, moralische Fähigkeiten wie Rücksichtnahme und Solidarität auszubilden. Insofern liegt Mills Idee der individuellen Entwicklung auch ein Modell der gesellschaftlichen Entwicklung zugrunde. Dieser letztere Aspekt wird immer wieder in Mills – heutzutage möglicherweise befremdlichen, weil „kulturimperialistisch“ wirkenden – Äußerungen zu „rückständigen“ Zivilisationen deutlich (vgl. auch die Beiträge von Schefczyk und Höntzsch in diesem Band). Zwar äußerte sich Mill durchaus sehr kritisch gegenüber dem imperialen Großbritannien seiner Zeit, aber er hielt doch offensichtlich die viktorianische Gesellschaft für deutlich weiterentwickelt als etwa die Kulturen, die er in den damaligen britischen Kolonien sah. Dabei ist es wichtig, sich an diesen Stellen als heutiger Leser zu vergegenwärtigen, dass Mill eben immer den Blick auf die de facto vorfindlichen Lebensverhältnisse richtete – nicht etwa auf permanente Eigenschaften von Nationen –, weil diese Bedingungen seiner Meinung nach für die individuelle Entwicklung einen erheblichen Einfluss haben. Kurz gesagt, in einer rückständigen Gesellschaft wird es keine individuellen Charaktere geben. Aus dieser, wenn man so will, historischen Indexikalität der Mill’schen Überlegungen ergeben sich Folgefragen. Zunächst die Frage, die in diesem Kapitel nicht geklärt werden kann (s. aber den Beitrag von Buchmüller und Wolf in diesem Band), inwiefern in der möglichen Rückständigkeit von Individuen und Gesellschaften ein (begründeter) Anlass bestehen könnte, in die Freiheit zu Gunsten der Betroffenen einzugreifen; also paternalistisch zu handeln. Zweitens wäre zu fragen, ob sich durch gesellschaftliche und damit einhergehende individuelle Entwicklungen eine Konvergenz von Lebensexperimenten ergeben würde. Mill scheint ein fast schon evolutionstheoretisch zu nennendes Modell der Entwicklung vorzuschweben, welches wiederum nahelegen würde, dass sich bestimmte Lebensstile und kulturelle Entwicklungen als vorteilhaft und damit als zu bevorzugen erweisen könnten, wodurch insgesamt eine langfristige Konvergenz zu erwarten wäre. In Bezug auf diese Frage ergibt sich eine gewisse interpretatorische Spannung, da einerseits genau diese Konvergenz zu erwarten wäre, Mill aber andererseits den Pluralismus von Lebensentwürfen als notwendig und erstrebenswert ansieht – gerade darin scheint ja die Idee der Individualität aufzugehen – und sich außerdem in Bezug auf die gesellschaftlichen

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Bedingungen gegen eine Orientierung an den Sitten bzw. Bräuchen (customs) ausspricht. Wie kann man diese Spannung zwischen Individualität und Konvergenz beheben? Zunächst soll an den bereits erwähnten Punkt erinnert werden, dass Mill Individualität nicht als bloße Nonkonformität verstanden wissen will. Wenn also jemand aufgrund von tatsächlicher Erfahrung und kritischem Nachdenken ein Leben bevorzugt, wie es die Tradition in seiner Gesellschaft vorsieht, so folgt er dieser nicht blind, sondern bewusst und reflektiert. Mehr noch, zumindest einige Aspekte von Sitten und Bräuchen können in entwickelten Gesellschaften als destillierte Erfahrungen verstanden werden – also als langfristig durch viele Lebensexperimente bestätigte Auffassungen, wie zu leben sei.7 Insofern wären diese Aspekte – analog zur epistemischen Wahrheit – als eine Art praktischer Wahrheit zu verstehen. Gleichwohl gilt es festzuhalten, dass aus einer Mill’schen Perspektive, aufgrund der unterschiedlichen individuellen Naturen von Menschen, wohl anzunehmen ist, dass der Umfang dieser für alle bevorzugenswerten Lebensaspekte sehr klein sein wird. Wir haben bereits gesehen, dass die Idee der höheren Fähigkeiten wiederum einen Anhaltspunkt liefern könnte, um eine überzeugende Interpretation der Auffassung Mills anzudeuten – letztlich ist er in seinen Ausführungen nicht explizit genug, um eine abschließende Deutung zuzulassen. Dieser Interpretation zufolge wären die höheren Fähigkeiten der Konvergenzpunkt der entwickelten Gesellschaften. Unter diesen Lebensverhältnissen würden dann Lebensexperimente, die nicht die höheren Fähigkeiten verwirklichten, ausgeschlossen bzw. abgelehnt, weil sie nicht den überkommenen und kritisch überprüften gesellschaftlichen Erfahrungen entsprächen. Der Mill immer wieder unterstellte geschichtsphilosophische Optimismus (Bouton 1965; Ladenson 1977, S. 180; vgl. López 2012)8 schiene damit auch weniger stark uto-

7 Lebensexperimente können somit selbst wieder Sitten und Gebräuche hervorbringen, auch hier offenbar einer Art evolutionären Prinzips folgend: „Ich habe erklärt, dass es wichtig sei, ungewöhnlichen Dingen so viel freien Spielraum wie nur möglich zu gewähren, damit sich mit der Zeit herausstellen kann, welche von diesen sich eignen, zu festen Gewohnheiten gewandelt zu werden.“ (Hervorhebung hinzugefügt; AW III.1, S. 383; CW XVIII, S. 269; vgl. auch Riley 1991, S. 230ff.; Donner und Fumerton 2009, S. 64: „Individuality properly understood is not at odds with the accumulated wisdom of human experience.“) 8 Der Glaube an die Entwicklungsfähigkeit von Individuen und Gesellschaften im Denken Mills wird immer wieder deutlich. Ein starker Beleg dieses Fortschrittglaubens findet sich in seiner (dreistündigen) Antrittsrede als gewählter Rektor der Universität von St. Andrews aus dem Jahre 1867. Hierin hielt er fest: „All true political science is, in one sense of the phrase, à priori, being deduced from the tendencies of things, tendencies known either through our general experience of human nature, or as the result of an analysis of the course of history, considered as a progressive evolution“ (CW XXI, S. 237).



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pisch, als er vielleicht zunächst wirkt, denn Mills Ideal zufolge wäre eben keine starke Konvergenz vonnöten. Vielmehr wäre nach wie vor ein großer Pluralismus von Lebensstilen zu erwarten – innerhalb eines minimalistisch bestimmten normativen Rahmens. Metaphorisch gesprochen, wären in Mills idealer Gesellschaft die individuellen und sozialen Pathologien beseitigt, nicht aber ein bestimmtes „gesundes“ Lebensexperiment oder bestimmte gesellschaftliche Lebensverhältnisse vorherrschend. Eine eher positive, substantielle Beschreibung des Konvergenzpunktes von Lebensexperimenten wäre die Idee einer liberalen Person (Riley, 1988, S. 193; vgl. auch Donner 2010, S. 93). Die „beständigen Interessen des Menschen“ (AW III.1, S. 317–318; CW XVIII, S. 224) zielen auf die Selbstentwicklung und damit auf die Einrichtung entgegenkommender Lebensverhältnisse. Zu diesen gehört notwendig die Gewährung von individuellen Freiheiten. Insofern besteht der Konvergenzpunkt in einem Charakterideal eines wenigstens liberalen Menschen, der in einer liberalen Gesellschaft lebt, aber als moralische Person nicht nur sein individuelles Gutes anstrebt, sondern das Gute für alle. Der letztgenannte Aspekt, die Ausrichtung auf das Gemeinwohl, wird immer wieder in Spannung gesehen zum individualistischen Charakterideal Mills. Doch für Mill besteht – hier in erstaunlicher Nähe zur Tugendethik – kein essentieller Konflikt zwischen moralischen Dispositionen und der Verfolgung des eigenen Wohls. Vielmehr gehören die moralischen Fähigkeiten zu den höheren Fähigkeiten des Menschen, die es auszuprägen gilt, um ein gutes Leben führen zu können.

4.5 Der Wert von Freiheit und Individualität Abschließend sei noch einmal ausdrücklich auf den Wert und die Arten von Werthaftigkeit hingewiesen, die Mill der Individualität und damit der individuellen Freiheit zuschreibt. Mill beginnt das dritte Kapitel, wie bereits dargestellt, mit einer Argumentation, die so gelesen werden kann, dass er hier Individualität einen intrinsischen Wert zuschreibt, indem er sie als Bestandteil des menschlichen Wohls ansieht – wie auch in der Kapitelüberschrift deutlich wird. Dies scheint sein primäres Argumentationsziel zu sein. Dabei zeigt sich auch, dass die Argumentation nicht mit seiner utilitaristischen Grundüberzeugung im Konflikt liegt, wonach das richtige Handeln sich danach bemisst, ob es das menschliche Wohl befördert. Wir steigern das allgemeine Wohl, indem wir Menschen die Bedingungen garantieren, unter denen sie sich zu Individuen entwickeln können; was in erster Linie heißt, eigene Wahlentscheidungen treffen zu können. Negative Freiheit, die Abwesenheit von Zwang, ist daher ein zentrales Ziel des Utilitarismus. Darüber hinaus gilt es allerdings zu beachten, dass nicht einfach

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die empirisch vorfindlichen Entscheidungen geachtet werden sollen, sondern solche, die ein Minimum an Fähigkeiten zur Wahl, und damit eine bestimmte Betätigung der Freiheit voraussetzen. Freiheit im Sinne der aktiven Entscheidung hat nur dort intrinsischen Wert, wo sie zur Identifikation einer Person mit ihren Handlungsmotiven führt, wo sie mit der Fähigkeit einhergeht, seinen eigenen Charakter zu wählen. Mills These lautet, dass Menschen nicht unter allen Umständen verlässlich wissen, worin das Gute für sie besteht, sondern nur dann, wenn sie bereits eine bestimmte Entwicklungsstufe erreicht haben. Dieses Niveau ist allerdings nicht allzu anspruchsvoll, es besteht in erster Linie darin, die Fähigkeit zur Selbstbestimmung entwickelt zu haben, welche als die Summe der genuin menschlichen, höheren Fähigkeiten gelten kann. Ist diese Stufe erreicht, bleibt es dem Individuum überlassen – im Rahmen des Prinzips, andere nicht zu schädigen –, wie es sein Leben leben will. Der Wert der Primärentwicklung – wie man die Ausbildung der notwendigen Fähigkeiten zur individuellen Selbstentwicklung nennen könnte – kann selbst nicht mehr durch Argumente aufgezeigt werden; hier gibt es keinen „Beweis“. Vielmehr geht Mill, ähnlich wie in Bezug auf das Nützlichkeitsprinzip, davon aus, dass Menschen diesen Wert immer schon in sich tragen9, wenn er auch nicht immer als solcher erkannt wird, weil er beispielsweise durch blindes Folgen der Sitten und Gebräuche oder auch durch gesellschaftliche Umstände verdeckt wird. Es handelt sich eben um die „beständigen Interessen des Menschen“ (AW III.1, S. 317–318; CW XVIII, S. 224; vgl. Donner 1987); Interessen müssen sich nicht in entsprechenden Wünschen manifestieren oder zwingend erkannt werden. Im Anschluss an diese Argumentation verharrt Mills Text kurz und geht dann über in eine Überlegung, welche den instrumentellen Wert der Individualität hervorhebt. Dieser Wert besteht darin, dass Lebensexperimente dem gesellschaftlichen Fortschritt dienen können (AW III.1, S. 379; CW XVIII, S. 267). Der genaue Zusammenhang zwischen dem ersten und zweiten Teil der Mill’schen Argumentation ist nun einfacher nachzuvollziehen (s. Friedman 1966, S. 296ff.): Diejenigen, die er auf den folgenden Seiten überzeugen will, sind die Menschen, die den intrinsischen Wert der Individualität noch nicht erkannt haben.10 Sie benötigen

9 „Der leitende Gedanke hat der Menschheit wahrscheinlich seit dem Beginn der Zivilisation nie ganz gefehlt, obschon er viele Jahrhunderte hindurch auf einzelne Denker beschränkt blieb.“ (AW II, S. 190; CW I, S. 260) 10 Eine kleine Komplikation sei an dieser Stelle erwähnt. Wenn von „intrinsischem“ Wert gesprochen wird, kann entweder das Gegenteil von einem „instrumentellen“ oder von einem „extrinsischen Wert“ gemeint sein. Ersteres bezieht sich auf die Art des Werts, letzteres auf die Quelle der Werthaftigkeit. Wenn hier vom intrinsischen Wert der Individualität gesprochen wird, dann ist die erste Bedeutung gemeint, d. h. Individualität ist ein letzter Zweck oder Eigenwert.



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am meisten der Überzeugung, weil sie noch zweifeln; sie sind gleichgültig gegenüber dem Zweck der Individualität (AW III.1, S. 370f.; CW XVIII, S. 261) bzw. ausdrücklich ablehnend eingestellt. Mill tritt nun also an, um diesen Zweiflern – die selbst in diesem Sinne „unentwickelt“ sind – aufzuzeigen, inwiefern sie selbst durch die Gewährung individueller Freiheit nutznießen können. Ähnlich wie die Wahrheit befördert wurde, indem vermeintlich „Verrückte“ wie Galileo Galilei ihre Meinung kund taten, so kann die Gesellschaft von ungewöhnlichen und zunächst befremdlich bzw. exzentrisch wirkenden Lebensexperimenten profitieren. Da gerade die Selbstentwicklung für Mill immer die moralische Befähigung mit einschließt, wird deutlich, dass die Gewährung von Individualität auch zu sozial harmonischeren Lebensbedingungen führen wird. Diesem Ziel kommt man dann näher, wenn sich Menschen „immerzu gegenseitig zu vermehrter Ausübung ihrer höheren Fähigkeiten anspornen“ (AW III.1, S. 393; CW XVIII, S. 277).

4.6 Schluss Es sei abschließend noch einmal betont, dass dieser Beitrag eine bestimmte Interpretation des dritten Kapitels, besonders des Konzepts der Individualität, vorschlägt, die nicht unumstritten sein wird. In erster Linie war die Absicht, Mill als konsistenten Denker zu präsentieren. So wie er Individualität konzipiert, als normativ eingehegte Selbstentwicklung, ist sein Ideal unmittelbar anschlussfähig an die Auffassung von Individualität in heutigen Gesellschaften. Vielen Lesern wirkt daher seine Schrift in ungewöhnlicher Weise modern, obwohl sie doch in einem Zeitalter entstand, das sich von unserer heutigen Lebenswelt stark unterscheidet. Mill sah jedes menschliche Wesen veranlagt, die höheren Fähigkeiten zu entwickeln und ein seinen eigenen Vorstellungen gemäßes und damit gelingendes Leben erreichen zu können. Dazu gilt es aber, Mill zufolge, die entsprechenden Bedingungen zu schaffen, was sowohl die Ausbildung zumindest dieser dem Menschen eigentümlichen Fähigkeiten verlangt als auch gesellschaftliche Rahmenbedingungen, welche die eigenen Wahlentscheidungen ermöglichen.11

(Freiheit wiederum ist in seiner negativen Lesart ein notwendiges Instrument zur Garantie von Individualität, im positiven Sinne ist Freiheit ein Ausdruck der Individualität.) Legt man die zweite Bedeutung von „intrinsisch“ zugrunde, ist Individualität hingegen ein extrinsischer Wert, weil er sich letztlich aus dem Nutzen herleitet, wobei „Nutzen“ im weitesten Sinne verstanden werden muss, wie oben bereits erläutert wurde. 11 Zu den genannten Fähigkeiten gehören folgende: „Beobachtung (...), um zu sehen, logisches Denken und Urteilskraft, um vorauszuschauen, Aktivität, um Material für Entscheidungen zu sammeln, Unterscheidungsvermögen, um sich zu entscheiden, und wenn er eine Entscheidung

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Wenn dies gegeben ist, in einer höheren Entwicklungsphase der Zivilisation, dann existiert kein prinzipieller Gegensatz zwischen individuellem und allgemeinem Interesse. Mill war sich klar darüber, dass der Übergang in diese Entwicklungsstufe noch nicht gegeben war (vgl. Schmidt-Petri, in diesem Band). Seine Freiheitsschrift ähnelt einem politischen Pamphlet, indem sie Werbung betreibt für die liberale Sache. Sie ist gleichzeitig aber auch ein besonders gelungenes Beispiel einer politischen Philosophie, die den tatsächlichen Gegebenheiten ins Auge blickt. Mill interpretierte seine Zeit als eine des Übergangs (CW XVIII, S. 54) und wie in diesem Kapitel deutlich wurde, sah er dabei insbesondere die genuine Wertschätzung der Individualität innerhalb der viktorianischen Gesellschaft auf dem Spiel stehen. So gab es einerseits positive – insbesondere ökonomische – Entwicklungen, welche Individualität eher ermöglichten als noch vorher. Gleichzeitig aber war der Wert der Individualität prekär, da ihn viele Menschen nicht verspürten, und insofern musste er verteidigt werden. Nimmt man sich als heutiger Leser diese Einstellung zu Herzen, so wird man unterschiedlicher Meinung sein können, ob unsere zeitgenössischen Gesellschaften den Fortschritt verzeichnen, den Mill sich erhoffte.

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getroffen hat, Festigkeit und Selbstbeherrschung, um zu seinem wohlüberlegten Schluss zu stehen.“ (AW III.1, S. 373; CW XVIII, S. 263).



Das Ideal der Individualität und seine Begründung 

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Markus Stepanians

5 Mills deontische Konkretisierung des Freiheitsprinzips1 5.1 Schädigung als Verletzung dreier Typen von Pflichten In Kapitel IV schickt Mill sich an, die Hauptfrage von Über die Freiheit nach der inhaltlichen Grenze legitimer gesellschaftlicher Macht abschließend zu beantworten: „Worin also bestehen die rechtmäßigen Grenzen der Souveränität des Individuums über sich selbst? Wo beginnt die Autorität der Gesellschaft?“ (CW XVIII, S. 276).2 Mit anderen Worten: Wo endet das moralische Recht des Individuums auf freie Selbstkultivierung?3 Wo beginnt das moralische Kontrollrecht4 der Gesellschaft, dem Einzelnen Pflichten aufzuerlegen und Gehorsam zu erzwingen? Die zweite Frage erinnert daran, dass Mills Freiheitsprinzip „den Umgang der Gesellschaft mit dem Individuum durch Zwang und Kontrolle […] absolut zu regeln“ beansprucht (CW XVIII, S. 223; meine Hervorh.); und dass Gesellschaften

1 Ein erster Entwurf dieses Textes wurde im Mai 2013 auf einem Mill-Workshop an der Universität Lüneburg präsentiert, zu dem Michael Schefczyk eingeladen hatte. Eine zweite Fassung wurde im April 2014 auf dem Berner Forschungskolloquium für Praktische Philosophie diskutiert. Den Teilnehmern beider Diskussionsrunden möchte ich dafür herzlich danken. Besonderen Dank für besonders detaillierte Kommentare und Anmerkungen schulde ich Claus Beisbart, Michael Schefczyk und Thomas Schramme. 2 Alle Übersetzungen aus dem Englischen stammen von mir. 3 In seiner Autobiografie bezeichnet Mill Über die Freiheit rückblickend als „philosophisches Lehrbuch einer einzigen Wahrheit […]: die Bedeutung, für Mensch und Gesellschaft, einer gro­ ßen Vielfalt an Charaktertypen und des Einräumens voller Freiheit der menschlichen Natur, sich in zahllose und konfligierende Richtungen zu entfalten“ (Mill 1873, S. 259). Das, so Mill an gleicher Stelle, sei die Hauptpointe seiner „Lehre von den Rechten [rights] der Individualität und des Anspruchs der moralischen Natur [des Menschen], sich auf eigene Weise zu entwickeln“ (Mill 1873, S. 260). Denselben Punkt bringt das Motto von Über die Freiheit zum Ausdruck. 4 Für Mill besteht die Autorität einer Gesellschaft in einem moralischen Recht, ihre Mitglieder durch Auferlegung und Durchsetzung von Pflichten zu kontrollieren. Dieses gesellschaftliche Kontrollrecht – „the right to control“ CW XVIII, S. 279; 283 – zerfällt in eine Befugnis, Pflich­ten aufzuerlegen und in eine Erlaubnis, diese Befugnis auszuüben und die resultierenden Pflichten gege­benenfalls mit Zwang durchzusetzen. Diese gesellschaftliche Befugnis ist das moralische Ge­genstück zu einer Hohfeldschen „power“, der seitens des Bürgers eine (erneut moralisch zu verstehende) Hohfeldsche „liability“ – Mill spricht von „amenability“ (CW XVIII, S. 223; 224) – korrespondiert. Vgl. Hohfeld 1913.

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autoritativen Zwang und autoritative Kontrolle durch Auferlegung und Durchsetzung positiv-rechtlicher und positiv-moralischer Regeln ausüben. Wir können Mills Kernfrage daher äquivalent, aber präziser so reformulieren: Welche verpflichtenden Zwangsregeln darf eine Gesellschaft ihren Mitgliedern moralisch gerechtfertigt aufbürden? Oder auch: Welche positiven Pflichten darf sie für ihre Bürger gerechtfertigt setzen? In seiner Antwort in Kapitel IV präzisiert und differenziert Mill den in seiner ersten, noch provisorischen Formulierung des Freiheitsprinzips in Kapitel I (CW XVIII, S. 223) verwendeten Begriff der Schädigung [harm] durch die Unterscheidung dreier Typen gesellschaftlicher Pflichten [social obligations] und ihrer Verletzung. Um welche Typen gesellschaftlicher Pflichten geht es? Betrachten wir sie der Reihe nach. Als erstes nennt Mill die grundlegende Pflicht jedes Bürgers, „die Interessen anderer nicht zu verletzen; oder vielmehr gewisse Interessen, die, entweder durch eine explizite rechtliche Vorschrift oder durch stilles Einverständnis, als Rechte betrachtet werden sollten“ (CW XVIII, S. 276). Wohlgemerkt: Nicht alle, sondern nur „gewisse Interessen“ sollten als Rechte betrachtet werden. An welche Unterklasse menschlicher Interessen denkt Mill hier? Offenbar vor allem an jene „Nützlichkeiten im weitesten Sinne“, die „in den dauerhaften Interessen des Menschen als eines fortschrittlichen Wesens“ gründen (CW XVIII, S. 224). Gesellschaften, so Mill, sind die „Beschützer all ihrer Mitglieder“ (CW XVIII, S. 280). Sie sollen die Interessen ihrer Mitglieder schützen. Das ist ihre Primärfunktion, und wenn es um die „dauerhaften“ und „vitalen“ Interessen der Bürger geht, wird dieses Sollen zu einem „Müssen“, d. h. zu einer gesellschaftlichen Schutzpflicht (CW X, S. 251). Das ist die Pointe der oben zitierten Bemerkung Mills, dass die Gesellschaft – kollektiv und individuell – „gewisse Interessen“ des Einzelnen durch „explizite rechtliche Vorschrift“ oder „stillschweigendes Einverständnis“ als zwangsbewehrte Rechte anzuerkennen habe. Die Gesellschaft manifestiert ihre Anerkennung bestimmter vitaler Interessen als moralische Rechte, indem sie ihren Mitgliedern korrelative positiv-rechtliche oder positiv-moralische Schutzpflichten auferlegt.5 Da die positiven Pflichten dieses ersten Pflichttyps dem

5 Warum sollte, ja, muss die Gesellschaft bestimmte moralischen Rechte ihrer Mitglieder aner­ kennen und positivieren? Mills Antwort ist klar: „Wenn ein Kritiker fragt, warum sie es sollte, kann ich ihm keinen anderen Grund geben als allgemeine Nützlichkeit“ (CW X, S. 250). Dass moralische Rechte des Einzelnen in allen Gesellschaften positiv-rechtlich anerkannt und de jure durchgesetzt werden sollten, ist jedoch logisch verträglich damit, dass sie de facto nirgends anerkannt oder durchgesetzt werden. Die Existenz der zu positivierenden moralischen Rechte ist von ihrer gesellschaftlichen Anerkennung und faktischen Positivierung unabhängig. Denn ihr Besitz – und somit ihre Existenz – folgt aus einer „gewissen Klasse moralischer Regeln, welche die Notwendigkeiten [essentials] menschlichen Wohls näher betreffen“ (CW X, S. 255). Sie folgt



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Schutz vitaler, „in den dauerhaften Interessen des Menschen als eines fortschrittlichen Wesens“ (CW XVIII, S. 224) fundierter Interessen dienen, liegt es nahe, sie als „vitale Schutzpflichten“ zu bezeichnen. Welchen Inhalt haben vitale Schutzpflichten des ersten Pflichttyps? Sie fordern mehrheitlich (passive) Unterlassungen: nicht zu morden, nicht zu stehlen, nicht zu betrügen, etc. Mill erkennt jedoch auch vitale Schutzpflichten an, die ihren Trägern (aktive) Akte der Begünstigung abverlangen. Denn, so Mill, eine „Person kann anderen nicht nur durch ihr Tun, sondern auch durch ihre Untätigkeit Übel verursachen und in beiden Fällen ist sie ihnen für die Verletzung zu Recht verantwortlich“ (CW XVIII, S. 225). Mill denkt hier an „gewisse Akte individueller Begünstigung, wie die Rettung des Lebens eines Mitmenschen oder das Dazwischengehen zur Verteidigung der Wehrlosen gegen Missbrauch“ (CW XVIII, S. 225). Aktive Begünstigungen dieser Art sind nicht supererogatorisch, sondern erogatorisch, weil sie direkt aus einem moralischen Recht des Opfers folgen.6 Halten wir fest, dass nicht nur Unterlassungen, sondern auch Begünstigungen für Mill zu den vitalen Schutzpflichten des ersten Pflichttyps gehören. Bei beiden handelt es sich um vollkommene Pflichten der Gerechtigkeit, „kraft derer sich in einer oder mehreren Personen ein korrelatives Recht [a correlative right] befindet“ (CW X, S. 247). Auch die Instanziierungen des zweiten von Mill genannten Pflichttyps sind vollkommene Pflichten der Gerechtigkeit. Auch sie dienen letztlich dem Schutz vitaler Interessen. Allerdings auf indirekte Weise, insofern sie sich aus institutionellen Notwendigkeiten ihrer direkten Sicherung ergeben. Denn ein wirksamer, effektiver Schutz vitaler Interessen, so Mill, erfordere eine institutionelle „Maschinerie zu deren Bereitstellung“ (CW X, S. 251). Die Institutionalisierung dieser „Maschinerie“ und ihr reibungsloses Arbeiten habe jedoch ihre Kosten: Sie sei mit „Mühen und Opfern“ verbunden, die eine Gesellschaft durch Auferlegung vollkommener Pflichten auf ihre Mitglieder umlegen darf. Die Gesellschaft könne verlangen, „dass jede Person ihren (durch einen Billigkeitsgrundsatz zu bestimmenden) Beitrag leistet zu den Mühen und Opfern, die bei der Verteidigung der Gesellschaft und ihrer Mitglieder gegen Verletzung und Belästigung anfallen“ (CW XVIII, S. 276). Als Beispiele institutioneller Pflichten des Bürgers „zum Wohl anderer, zu deren Erfüllung er berechtigt gezwungen werden darf,“ nennt Mill:

aus den Regeln der Gerechtigkeit, die für Mill dadurch definiert sind, dass sie individuelle Rechte generieren (CW X, S. 255). 6 Das heißt natürlich nicht, dass Mill die Existenz supererogatorischer Handlungen bestreiten würde: „Es gibt ein Maß an Altruismus, das allen abverlangt werden sollte, und eine Stufe, über die hinaus er nicht obligatorisch ist, aber verdienstvoll“ (Mill 1865a, S. 337; meine Hervorh.).

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Vor „Gericht als Zeuge auszusagen; seinen fairen Anteil an der gemeinsamen Landesverteidigung zu tragen; oder an irgendeinem anderen gemeinschaftlichen Vorhaben im Interesse der Gesellschaft, deren Schutz er genießt“ (CW XVIII, S. 225). Mills wiederholter Hinweis auf die Rolle der Gesellschaft als „Beschützer all ihrer Mitglieder“ macht klar, dass es sich auch hier durchweg um Pflichten handelt, deren Erfüllung letztlich der Sicherung vitaler Interessen dient. Auch sie sind vollkommene Pflichten, auf deren pünktliche Erfüllung jeder, der seinen fairen Anteil zur Aufrechterhaltung der Schutzinstitutionen leistet, gegenüber allen ein Recht hat, die von ihrem Schutz profitieren. Mill unterstreicht die peremptorische Dringlichkeit dieser institutionell bedingten Pflichten, wenn er sagt, dass die Gesellschaft berechtigt sei, „diese Bedingungen um jeden Preis gegenüber jenen durchzusetzen, die sich anschicken, ihre Erfüllung zu verweigern“ (CW XVIII, S. 276; meine Hervorh.). Wie schon die vitalen Schutzpflichten des ersten Typs sollten daher auch die institutionellen Pflichten des zweiten Typs positiviert und mit Zwang bewehrt werden. Worin unterscheiden sich die vollkommenen institutionellen Pflichten des zweiten Typs von den vollkommenen vitalen Schutzpflichten des ersten Typs? Warum betrachtet Mill die Pflichten zur Sicherung der Funktionstüchtigkeit gesellschaftlicher Institutionen des zweiten Typs als Pflichten eigener Art? Einen möglichen Grund hatte ich schon genannt: Während vitale Schutzpflichten des ersten Pflichttyps direkt aus der moralischen Notwendigkeit der Sicherung vitaler Interessen erwachsen, entstehen die institutionellen Pflichten des zweiten Typs erst im Zuge von Institutionalisierungen. Beispielsweise setzt die institutionelle Pflicht, vor Gericht als Zeuge auszusagen, die Existenz eines Justizwesens voraus. Die Zeugnispflicht findet ihre unmittelbare Rechtfertigung zunächst in den unmittelbaren Bedürfnissen dieser Institution. Insofern jedoch ein reibungslos funktionierendes Justizwesen den vitalen Interessen aller dient, ist die institutionelle Zeugnispflicht in einem gewissen Sinne auch eine vitale Schutzpflicht – wenn auch nur in einem indirekten, institutionell vermittelten Sinne. Ein weiterer Grund, der Mill dazu bewogen haben könnte, institutionelle Pflichten als Pflichten sui generis zu betrachten, ist dieser. Nach Mill kommt das absichtliche Wecken von Erwartungen bei anderen Menschen oft einem impliziten Versprechen gleich, das zu brechen ungerecht ist, weil es jemandes Recht verletzt: Es ist „ungerecht, jemandem die Treue zu brechen: eine ausdrückliche oder implizite Verabredung [engagement] nicht einzuhalten oder Erwartungen zu enttäuschen, die wir durch unser eigenes Verhalten geweckt haben, zumindest, wenn wir sie wissentlich geweckt haben“ (CW X, S. 242 f.; Hervorh. i. Orig.). Schon der passive Genuss der Annehmlichkeiten, die ein Leben im Schutz der Gesellschaft bietet, so Mill, weckt in unseren Mitmenschen legitime Erwartungen, die



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Rechte für sie und korrelative Pflichten für uns generieren: In „dem Maße, in dem jeder, der von den Vorteilen einer Gesellschaft profitiert, andere dazu veranlasst, von ihm all die guten Dienste und selbstlosen Leistungen zu erwarten, welche der moralische Fortschritt der Menschheit gebräuchlich gemacht hat, verdient er moralische Vorwürfe, wenn er, ohne guten Grund, diese Erwartung enttäuscht“ (Mill 1865a, S. 338). Das dynamische, pflichtengenerierende „Prinzip“, auf das Mill hier anspielt, ähnelt einem Gerechtigkeitsgrundsatz, den H. L. A. Hart berühmt gemacht hat, und der heute meist „Fairnessprinzip“ genannt wird. Hart formuliert ihn so: „Wenn eine Anzahl von Personen irgendein gemeinsames Vorhaben nach Regeln durchführt und folglich ihre Freiheit einschränkt, haben diejenigen, die sich diesen Beschränkungen nötigenfalls unterworfen haben, ein Recht [a right] auf eine ähnliche Unterwerfung seitens derer, die von ihrer Unterwerfung begünstigt wurden.“7 Demnach hat jeder, der sich zur Realisierung „gemeinschaftlicher Vorhaben im Interesse der Gesellschaft“ (CW XVIII, S. 225) freiwillig Regeln unterwirft, ein moralisches Recht darauf, dass andere es ihm gleichtun. Es liegt nahe, die durch das Fairnessprinzip generierten korrelativen Pflichten als „Fairnesspflichten“ zu bezeichnen. Sollte es sich bei Mills Pflichten des zweiten Typs um Hartsche Fairnesspflichten handelt, dann würde ein signifikanter Unterschied zu den vitalen Schutzpflichten des ersten Typs deutlich, der ihre Klassifikation als Pflichten eigener Art rechtfertigen würde. Auf die Erfüllung vitaler Schutzpflichten haben alle Menschen ein Recht, weil sie auf ihren natürlichen Interessen als selbstkultivierende Wesen beruhen und von kontingenten Leistungen und Umständen unabhängig sind. Vitale Schutzpflichten sind universal und statisch, weil sie in den „dauerhaften“ Interessen aller Menschen fundiert sind. Hingegen haben wir Fairnesspflichten nur gegenüber jenen, die durch ihren fairen Beitrag zur Funktionstüchtigkeit gesellschaftlicher Institutionen ein Recht auf ihre Erfüllung erworben haben. Fairnesspflichten sind partikular und dynamisch, denn sie entstehen und vergehen mit den legitimen Erwartungen, die wir in unseren Mitmenschen durch unser fortgesetztes Tun und Lassen wecken: „Aufgrund dieses Prinzips erweitert sich der Bereich der moralischen Pflichten in einer sich verbessernden Gesellschaft ständig“ (Mill 1865a, S. 338). Wir können an dieser Stelle offen lassen, wie plausibel das so verstandene Fairnessprinzip ist. Klar ist, dass die Gesellschaft in Mills Augen das moralische Recht hat, ihren Mitgliedern zwei Typen positiv-rechtlicher und positiv-morali-

7 Hart 1955, S. 185. – Die heute geläufigen Bezeichnungen „Fairnessprinzip“ oder „Grundsatz des Fair Play“ scheint Rawls geprägt zu haben. Vgl. Rawls 1964; 1971, Kapitel II, 18.

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scher Pflichten aufzuerlegen. Der erste Typ umfasst universale und weitgehend statische Pflichten zum Schutz vitaler und dauerhafter menschlicher Interessen. Hingegen besteht der zweite Typ aus Pflichten, die sich erst aus der Etablierung und Aufrechterhaltung von Institutionen zur Sicherung vitaler Pflichten des ersten Typs ergeben. Dieser Pflichttyp enthält institutionelle Fairnesspflichten, die vergleichsweise partikular und dynamisch sind.8 Nach Mills Überzeugung ist die Gesellschaft nicht nur zur Positivierung und Durchsetzung dieser zwei Pflichttypen befugt. Mill erkennt in Kapitel IV von Über die Freiheit einen dritten Pflichttyp an, dessen Instanzen nur durch positivmoralische, aber nicht durch positiv-rechtliche Maßnahmen erzwungen werden dürfen. Die Gesellschaft dürfe mit den Mitteln der positiven Moral Handlungen verbieten und bestrafen, die zwar niemandes Rechte verletzen, aber dennoch den Interessen einiger abträglich seien: Die Handlungen eines Individuums können für andere schmerzlich sein, oder es an der gebotenen Rücksicht für ihr Wohl missen lassen, ohne so weit zu gehen, ihre etablierten Rechte [constituted rights]9 zu verletzen. Der Missetäter kann dann berechtigt durch die [öffentliche] Meinung bestraft werden, aber nicht durch das [positive] Recht (CW XVIII, S. 276; meine Hervorh.).

Da diese (nur positiv-moralisch) strafbaren Rücksichtslosigkeiten niemandes Rechte verletzten, kann es sich nicht um Verletzungen vollkommener Pflichten handeln. Sind sie also unvollkommene Pflichten, für die charakteristisch ist, dass „die speziellen Anlässe zu ihrer Erfüllung in unserem Ermessen liegen“ (CW X, S. 247)? Schwerlich, denn die Anlässe rücksichtsvollen Verhaltens sind nicht in unser Ermessen gestellt. Gewiss sollten wir immer gegenüber allen unseren Mitmenschen rücksichtsvoll zu sein, die unser Verhalten tangiert. Wie es scheint, haben wir es hier mit einer dritten Klasse moralischer Pflichten zu tun, die weder

8 Wie weit die Ähnlichkeiten zwischen Mills institutionellen Pflichten und Harts Fairness­ pflichten reichen, muss hier offen bleiben. Harts Fairnessprinzip ist kontrovers, und auch Mills Assimilation des wissentlichen Weckens von Erwartungen an Versprechen ist mit guten Gründen kritisiert worden. Siehe z. B. Lyons 1994, S. 84. 9 Apropos „constituted rights.“ Mill schreibt: „The acts of an individual may be hurtful to others, or wanting in due consideration for their welfare, without going the length of violating any of their constituted rights.“ Der Kontext macht klar, dass Mill mit „constituted rights“ jene durch Regeln der Gerechtigkeit etablierten Rechte meint, von denen er fünf Zeilen zuvor sagt, dass sie als positive Rechte anzuerkennen seien. „Constituted rights“ sind also weder Verfassungsrechte noch überhaupt positive Rechte, sondern durch Regeln der Gerechtigkeit konstituierte moralische Rechte, die positiviert – „anerkannt“ – werden sollten, aber es nicht notwendig sind.



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vollkommen noch unvollkommen sind.10 Ihre Übertretung ist ein „gesellschaftliches Vergehen“ (CW XVIII, S. 282), das mit Verstößen gegen unvollkommene Pflichten gemein hat, dass dadurch keine Rechte verletzt werden. Aber wie bei den vollkommenen Pflichten können wir uns das Wann, Wo und Wie ihrer Erfüllung nicht aussuchen. „Wer es an der Rücksicht mangeln lässt, die allgemein den Interessen und Gefühlen anderer geschuldet ist … ist Gegenstand moralischer Missbilligung für diese Verfehlung“ (CW XVIII, S. 281). Was wären Beispiele für moralisch strafwürdige Rücksichtslosigkeiten dieser Art? Nach Mill ist in diesem Sinne rücksichtslos, wer z.  B. gewohnheitsmäßig gegenüber seinen Mitmenschen unfreundlich oder undankbar ist. Dasselbe gilt für die „Kultivierung von Angewohnheiten, die für sich genommen nicht lasterhaft sind“, für die der Einzelne jedoch bestraft werden darf, „wenn sie schmerzhaft sind für die, mit denen er sein Leben verbringt, oder für die, die aufgrund persönlicher Bindungen in ihrem Wohl von ihm abhängen“ (CW XVIII, S. 281). Ähnliches dürfte für „Verstöße gegen den Anstand“ gelten, die Mill so beschreibt: „Es gibt viele Handlungen, die […] nicht rechtlich verboten werden sollten, die jedoch, wenn sie öffentlich getan werden, eine Verletzung guter Umgangsformen darstellen, und die daher, als zur Kategorie der Vergehen gegen andere gehörig, mit Recht bestraft werden dürfen. Von dieser Art sind Verstöße gegen den Anstand“ (CW XVIII, S. 295). Möglicherweise denkt Mill bei dieser Kategorie an das öffentliche Gebaren von Exzentrikern wie Diogenes von Sinope (†323 v. u. Z.), von dem berichtet wird, er habe zum großen Verdruss seiner Athener Mitbürger in aller Öffentlichkeit auf dem Marktplatz masturbiert, uriniert und seine Notdurft verrichtet. Es liegt nahe, diese Klasse legitimer gesellschaftlicher Forderungen als „Pflichten der Rücksichtnahme“ zu bezeichnen. Allerdings dürfen Rücksichtslosigkeiten dieser Art in Mills Augen nicht kriminalisiert, sondern nur durch positiv-moralischen Druck erzwungen werden. Denn ihre Durchsetzung dient nicht der (direkten oder indirekten) Sicherung vitaler Interessen, sondern primär der Aufrechterhaltung und Kultivierung eines angenehmen gesellschaftlichen Milieus. Mit der Auflistung und Erläuterung dieser drei Typen von Pflichten beschließt Mill die inhaltliche Bestimmung des gesellschaftlichen Kontrollrechts. Diese und nur diese drei Typen von Pflichten darf die Gesellschaft ihren Mitgliedern moralisch gerechtfertigt auferlegen. Wir können die provisorische Formulierung des

10 Das ist insofern problematisch, als Mills Erläuterungen des naturrechtlichen Pflichten­dua­ lismus’ in Kap. V von Utilitarismus den Eindruck erwecken, dass er in seinen Augen den Bereich des Moralischen erschöpft, dass also alle moralischen Pflichten entweder vollkommene oder unvollkommene sind: CW X, S. 247 f.

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Freiheitsprinzips aus Kapitel I von Über die Freiheit nun durch eine deontisch konkretisierte Fassung ersetzen. Der „einzige Zweck“, so Mills ursprüngliche Formulierung in Kapitel I, „zu dem Macht mit Recht über ein Mitglied einer zivilisierten Gemeinschaft gegen seinen Willen ausgeübt werden darf, [besteht] in der Verhinderung einer Schädigung anderer“ (CW XVIII, S. 223; meine Hervorh.). Durch Ersetzung des vagen Schädigungsbegriffs durch Mills dreifache Unterscheidung zwischen natürlichen Pflichten, Fairnesspflichten und Pflichten der Rücksichtnahme und deren jeweilige Verletzung erhalten wir Mills deontisch konkretisiertes Freiheitsprinzip: Der einzige Zweck, zu dem normative Autorität mit Recht über ein Mitglied einer zivilisierten Gemeinschaft gegen seinen Willen ausgeübt werden darf, besteht in der (positiv-rechtlichen bzw. positiv-moralischen) Setzung und Durchsetzung von vitalen Pflichten, Fairnesspflichten und Pflichten der Rücksichtnahme. Diese drei Typen von Pflichten erschöpfen das, was Mill als die Sphäre „gesellschaftlicher Moralität, als Pflicht gegenüber anderen“ (CW XVIII, S. 283) bezeichnet. Ich werde daher im Folgenden die von Mill diskutierten drei Typen von Pflichten summarisch als „die gesellschaftlichen Pflichten“ bezeichnen.

5.2 Drei Einwände gegen das konkretisierte Freiheitsprinzip Demnach besteht bürgerliche Freiheit in einer moralischen Immunität gegen die gesellschaftliche Auferlegung und zwangsweise Durchsetzung von Pflichten, die weder vitale Pflichten noch Fairnesspflichten oder Pflichten der Rücksichtnahme sind. Mit dieser Formulierung des konkretisierten Freiheitsprinzips in Kapitel IV beschließt Mill das Hauptargument von Über die Freiheit. Der Rest von Kapitel IV ist der Verteidigung und Erläuterung dieser Auffassung von Autorität und Freiheit gewidmet. Zunächst formuliert und diskutiert Mill der Sache nach drei mögliche Einwände gegen „diese Lehre“ (CW XVIII, S. 276). Betrachten wir sie der Reihe nach.

Der Vorwurf „selbstsüchtiger Gleichgültigkeit“ gegenüber anderen Der erste Vorwurf lautet, dass Mills konkretisiertes Freiheitsprinzip implizit zu einer Einstellung „selbstsüchtiger Gleichgültigkeit“ gegenüber dem Wohl anderer auffordere, weil es Zwang nur gegen Handlungen vorsieht, die unser Eigeninteresse gefährden. Ist damit nicht gesagt, dass die Mitglieder einer Gesellschaft



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„sich um das Wohlergehen und Wohlsein anderer solange nicht kümmern sollten als ihre eigenen Interessen nicht berührt sind“? (CW XVIII, S. 276f.) Bedeutet dies nicht, dass die Gesellschaft kein Recht hat, in die Lebensführung ihrer Bürger einzugreifen, solange sie durch ihr Treiben ausschließlich ihr Eigenwohl beeinträchtigen? Mill beeilt sich zu versichern, dass diese Interpretation des konkretisierten Freiheitsprinzips ein „grobes Missverständnis“ wäre. Die Gesellschaft habe sehr wohl ein Recht, auch dem rein selbstschädigenden Verhalten ihrer Mitglieder entgegenzutreten und zu diesem Zweck in ihre private Lebensführung einzugreifen. Er fordert sogar, dass die Gesellschaft von diesem Recht weit mehr Gebrauch machen sollte, als sie es – selbst im viktorianischen England seiner Zeit! – de facto tut: „Anstelle einer Verminderung bedarf es einer erheblichen Steigerung desinteressierter Anstrengungen zum Wohl anderer“ (CW XVIII, S. 277). Die Gesellschaft sollte vermehrt eingreifen, weil die rein selbstbezüglichen Tugenden für das Gemeinwohl (fast) ebenso bedeutsam seien wie die, die sich in der habituellen Erfüllung gesellschaftlicher Pflichten manifestiert: „Ich bin der Letzte, der die selbstbezüglichen Tugenden unterschätzt: Hinsichtlich ihrer Bedeutung sind sie nur zweitrangig, wenn sie es denn sind, gegenüber den gesellschaftlichen“ (CW XVIII, S. 277). Aus diesem Grund schulden wir einander Unterstützung auch bei der Realisierung unseres rein privaten Glücks: „Die Menschen schulden einander Hilfe bei der Unterscheidung des Besseren vom Schlechteren und Ermutigung, Ersteres zu wählen und Letzteres zu meiden. Sie sollten einander fortwährend anregen zur gesteigerten Ausübung ihrer höheren Fähigkeiten und zur gesteigerten Ausrichtung ihrer Gefühle und Zwecke auf weise anstatt auf törichte, auf erhebende anstatt auf erniedrigende Gegenstände und Betrachtungen“ (CW XVIII, S. 277). Worin also besteht das „grobe Missverständnis“ des konkretisierten Freiheitsprinzips, vor dem Mill warnt? Es besteht darin, es als ein moralisches Prinzip aufzufassen, das wohlmeinende Eingriffe in die private Lebensführung mündiger Mitbürger reifen Alters tout court untersagt. In Wahrheit fordert das konkretisierte Freiheitsprinzip keinerlei Abstriche beim Ziel der allgemeinen Glücksbeförderung. Es beschneidet lediglich die Wahl der dafür zulässigen Mittel. Da es nur beansprucht, den Umgang der Gesellschaft mit dem Individuum durch Zwang und Kontrolle zu regeln, beschränkt es allein das gesellschaftliche Kon­trollrecht, Befehle zu geben und Gehorsam zu erzwingen. Grundsätzlich ist das konkretisierte Freiheitsprinzip mit einem beliebigen Maß zwangloser, rein beratender Einmischung in alle Lebensbereiche anderer Menschen verträglich, einschließlich ihres Privatlebens. Denn, so Mill, „desinteressiertes Wohlwollen kann andere Instrumente finden, die Leute zu ihrem eigenen Wohl zu überreden, als Peitschen und Knuten, der buchstäblichen oder der metaphorischen Sorte“ (CW XVIII,

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S.  277). Einem sich in Ratschlägen, Überredungsversuchen, Warnungen, Bitten und Flehen u. dgl. artikulierendem desinteressierten Wohlwollen sind in Mills Augen keine moralischen Grenzen gesetzt – solange ihr Adressat das letzte Wort behält: „Hilfe bei der Urteilsfindung, Ermahnungen zur Willensstärkung mögen [einer Person] von anderen angeboten, sogar aufgedrängt werden; aber sie bleibt der letzte Richter“ (CW XVIII, S. 277; meine Hervorh.). Entscheidend ist, ob das „desinteressierte Wohlwollen“ der Gesellschaft sich in Befehlen und Drohungen artikuliert oder in bloßen Ratschlägen, deren Ablehnung ungestraft bleibt. Denn die Befolgung eines Rats ist dem Adressaten freigestellt, während einem autoritativen Befehl gehorcht werden muss. Salopp gesprochen sind Befehle Angebote, die man nicht ablehnen kann, während es zum Wesen eines Rats gehört, dass er straflos zurückgewiesen werden kann und darf.11

Die „großartige Pflicht zur Selbstkultivierung“ Mills Klarstellung provoziert einen neuen, diesmal gegen die Absolutheit des konkretisierten Freiheitsprinzips gerichteten Vorbehalt. Gewiss, so ließe sich einwenden, kann desinteressiertes Wohlwollen oft andere Mittel zur „Einschärfung“ [inculcation] der selbstbezüglichen Tugenden finden als Peitsche und Knute. Aber vielleicht nicht immer? Will Mill etwa sagen, dass es moralisch gefordert sei, diejenigen ihrem traurigen Schicksal zu überlassen, die unseren wohlmeinenden Rat ignorieren und an ihren selbstzerstörerischen Lebensweisen festhalten? Mit anderen, nämlich Mills eigenen Worten: „Sollte die Gesellschaft diejenigen ihrer eigenen Lebensführung überlassen, die dazu offenkundig unfähig sind? Wenn Glücksspiel oder Trunkenheit oder Hemmungslosigkeit oder Faulheit

11 Mill rekurriert hier auf die alte Unterscheidung zwischen Befehl und Rat, die Hobbes so expliziert: „Um daher richtig zu verstehen, was es heiße Befehlen, Ratgeben und Zureden, so muß die Definition dieser Wörter so bestimmt werden: Befehlen ist, wenn jemand zu demjenigen sagt, welcher weiß, daß der Grund von dem, was er tun soll, im Willen dessen, der redet, besteht: tue das oder tue das nicht; folglich muß der Befehlende seinen eigenen Vorteil zur Absicht haben, weil er verlangt, daß sein Wille als hinreichender Grund angenommen werden soll. Und will jemand etwas, so setzt dies allemal voraus, daß er darunter seinen Vorteil sucht. – Rat gibt man alsdann, wenn man zwar auch sagt: tue das oder tue es nicht; aber zur Ursache dabei hat, daß es demjenigen, zu welchem man es sagt, zum Vorteil gereiche. Der Ratgeber sucht folglich das Beste des andern“ (Leviathan, Kap. XXV: Vom Ratgeben; Hervorh. i. Orig.) – Natürlich behaupte ich nicht, dass Mill sich Hobbes’ Explikation dieser Unterscheidung zu eigen macht.



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oder Unreinlichkeit12 für das Glück und die Verbesserung [eines Menschen] ein ebenso großes Hindernis bilden wie die meisten rechtlich verbotenen Handlungen, warum sollte (so mag man fragen) nicht das Recht bemüht sein, so weit es durchführbar und gesellschaftlich nützlich ist, auch sie zu unterdrücken? Und sollte nicht, in Ergänzung der unvermeidlichen Unvollkommenheiten des Rechts, zumindest die [öffentliche] Meinung eine mächtige Polizei gegen diese Laster bilden und streng mit gesellschaftlichen Strafen diejenigen heimsuchen, die sie praktizieren?“ (CW XVIII, S. 280 f.) Wären diesen Fragen zu bejahen, dann könnte das im Freiheitsprinzip artikulierte Verbot positiv-rechtlicher und positiv-moralischer Zwangsmittel für die gesellschaftliche Einschärfung auch selbstbezüglicher Tugenden zumindest nicht in der von Mill geforderten Absolutheit gelten. Wahrscheinlich denkt Mill bei diesem zweiten Einwand gegen das konkretisierte Freiheitsprinzip an seinen Lehrer Jeremy Bentham.13 Bentham hätte ein Verbot gesellschaftlichen Zwangs für den Privatbereich, wie Mills konkretisiertes Freiheitsprinzip es vorsieht, abgelehnt. Denn in Benthams Augen bildet die Erfüllung auch rein selbstbezüglicher Pflichten einen zentralen Bestandteil der Ethik: Was die Ethik im Allgemeinen angeht, hängt das Glück eines Menschen in erster Linie von den Anteilen seines Verhaltens ab, an denen niemand anderes als er selbst interessiert ist; an zweiter Stelle von denjenigen Anteilen, die das Glück seiner Mitmenschen beeinflussen. In dem Maße, indem sein Glück von den erstgenannten Verhaltensanteilen abhängt, sagt man, dass es von seiner Pflicht gegenüber sich selbst abhängt. Folglich kann die Ethik als Kunst der Anleitung menschlichen Verhaltens in dieser Hinsicht als die Kunst der Erfüllung unsrer Pflicht uns selbst gegenüber bezeichnet werden: und die Qualität, die ein Mensch mit der Erfüllung dieser Art von Pflicht […] beweist, ist die der Klugheit.14

12 „Unreinlichkeit“ [uncleanleness] im hier einschlägigen Sinne hat nichts mit Duschfrequenz und Seifenverbrauch zu tun, sondern ist ein viktorianischer Euphemismus für Promiskuität. 13 Aber vielleicht nicht nur, denn Mill antizipiert damit auch die Reaktion seines (ehemaligen) Freundes Thomas Carlyle. In einem Brief vom 04. Mai 1859 berichtet Carlyle seinem Bruder John von seiner ersten Lektüre von Über die Freiheit: „Habe ich Dir nicht Mills Essay Freiheit geschickt? […] In meinem ganzen Leben habe ich noch nie einen ernsten geistreichen klaren logischen Essay mit vollkommener und tieferer Ablehnung seiner Grundlagen und der Mehrzahl seiner Schlussfolgerungen gelesen. […] Als ob es Sünde wäre, menschliches Schwein in jeder Form zu kontrollieren oder zu besseren Weisen zu zwingen […] Ach Gott im Himmel!“ (Zit. n. http://carlyleletters.dukejournals.org, TC-JAC, 4 May. MS: NLS 516.69. Quot: A. Carlyle, NL 2:196. – Carlyles abschließender Stoßseufzer: „Ach Gott im Himmel!“ ist im Original auf Deutsch. 14 Bentham 1789, Kap. XVII, §6; Hervorh. i. Orig. – In Kapitel XVI bezeichnet Bentham den Verstoß gegen eine selbstbezügliche Pflicht als ein „selbstbezügliches Delikt“ [a self-regarding offence], das prinzipiell ebenso strafbar ist wie die Verletzung fremdbezüglicher Pflichten (Bent­ ham 1789, Kap. XVI, § 15).

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Mills Frage, ob nicht – „soweit es durchführbar und gesellschaftlich nützlich ist“ – selbstschädigendes Verhalten mitunter sogar mit positiv-rechtlichen Mitteln unterdrückt werden sollte, wird von Bentham ausdrücklich bejaht. Zwar gebe es, so Bentham, nur „wenige Fälle, in denen es zweckmäßig wäre, eine Menschen dafür zu bestrafen, dass er sich selbst verletzt“ (Bentham 1789, Kap. XVII, §18; Hervorh. i. Orig.). Aber grundsätzlich dürften, so Bentham, auch „Delikte gegen das eigene Selbst“ bestraft und die Erfüllung von „Pflichten gegenüber dem eigenen Selbst“ von der Gesellschaft rechtlich erzwungen werden. In Mills Augen beweist Bentham mit dieser Haltung ein tiefes und folgenreiches Missverständnis der „großartigen Pflicht der Selbstkultivierung“. In einer zwei Jahrzehnte vor Über die Freiheit erschienenen Kritik an Benthams Moralphilosophie wirft Mill seinem Lehrer in scharfem Ton vor, die moralische Pflicht zur Selbstkultivierung ignoriert zu haben: Es ist unnötig, sich über die Mängel eines Systems der Ethik zu verbreiten, das nicht beansprucht, Individuen bei der Charakterbildung zu unterstützen; das einen Wunsch nach Selbstkultivierung nicht anerkennt, ja nicht einmal ein Vermögen dazu als in der menschlichen Natur existierend; und das, selbst wenn es ihn anerkennen würde, nur wenig Hilfestellung bei der Erfüllung dieser großartigen Pflicht leisten könnte […] Die Moral [morality] besteht aus zwei Teilen. Eines von ihnen ist Selbsterziehung; die Schulung, durch den Menschen selbst, seiner Affekte und seines Willens. Dieser Teil bleibt leer in Benthams System (Mill 1838, S. 98).

Auf den ersten Blick erscheint Mills Vorwurf, dass Selbstkultivierung in Benthams Ethik keine Rolle spiele, überraschend: Haben wir nicht gerade gesehen (s. das Zitat oben), dass Bentham selbstbezügliche Pflichten explizit anerkennt und einen Teilbereich der Ethik geradezu als „Kunst der Erfüllung unserer Pflicht uns selbst gegenüber“ bezeichnet? In der Tat. Aber Mills Kritik richtet sich nicht gegen ihr Fehlen, sondern gegen Benthams Verkennung der überragenden Bedeutung dieser „großartigen Pflicht“ (s.  o.) für menschliche Selbstkultivierung. Mill bemängelt, dass das, was Bentham als „selbstbezügliche Pflichten“ bezeichnet, nichts mit tugendhafter Charakterbildung und Selbstkultivierung zu tun habe. Denn für Bentham erschöpfen sich selbstbezügliche Pflichten in bloßen Geboten der Klugheit: Man sollte eben keine Dummheiten begehen, die dem eigenen Glück abträglich sind. Für Mill hingegen gehen selbstbezügliche Pflichten weit über die bloße Vermeidung von Dummheiten hinaus. Ihr Gegenstand ist die aktive Verbesserung des eigenen Selbst: die Erziehung, Bildung und Kultivierung der eigenen Persönlichkeit gemäß einem „Ideal der Vervollkommnung der menschlichen Natur“ (CW XVIII, S. 278). Denn die möglichst weitgehende Verwirklichung dieses „griechischen Ideals der Selbstentwicklung“ (CW XVIII, S. 266) bildet für Mill einen der „Hauptbestandteile menschlichen Glücks



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und durchaus den Hauptbestandteil individuellen und gesellschaftlichen Fort­ schritts.“15 In Kapitel IV von Über die Freiheit kommt Mill auf diesen Punkt zurück. Contra Bentham betont er dort erstens, dass selbstbezügliche Pflichten „nicht gesellschaftlich verpflichtend“ seien und daher von der Gesellschaft nicht erzwungen werden dürften; und zweitens, dass die Klasse der selbstbezüglichen Pflichten neben Klugheitspflichten mindestens auch – und vor allem – die „großartige“ Pflicht zur Selbstkultivierung umfasse: Was Pflichten uns selbst gegenüber genannt wird, ist nicht gesellschaftlich verpflichtend, es sei denn, die Umstände machen sie zugleich zu Pflichten gegenüber anderen. Der Term Pflicht gegenüber sich selbst, wenn damit mehr als Klugheit gemeint ist, bedeutet Selbstrespekt oder Selbstentwicklung: und für keines von diesen ist man seinen Mitmenschen verantwortlich, weil es für keines von ihnen zum Wohl der Menschheit ist, dass man verantwortlich gemacht wird.16

Von entscheidender Bedeutung ist hier, dass „Selbstkultivierung“ für Mill nicht nur Kultivierung des eigenen Selbst meint, sondern vor allem Kultivierung durch das eigene Selbst. Sie ist wesentlich „Selbsterziehung; die Schulung, durch den Menschen selbst, seiner Affekte und seines Willens“ (Mill 1838, S. 98; meine

15 CW XVIII, S. 261; vgl. den Beitrag von Schramme, im vorliegenden Band. 16 CW XVIII, S. 279. – Mills distanzierende Formulierung „was Pflichten gegenüber uns selbst genannt wird“ wird oft als Beleg dafür angeführt, dass Mill in Über die Freiheit nicht mehr bereit ist, selbstbezügliche Pflichten als genuin moralische Pflichten anzuerkennen. An­gesichts der unzweifelhaften Bedeutung, die Mill der Sache nach der „großartigen Pflicht zur Selbstkultivierung“ auch in Über die Freiheit beimisst, scheint jedoch klar, dass Mills Unbehagen rein terminologischer Natur ist. Er hält es zur Zeit der Abfassung von Über die Freiheit für zweckmäßiger, den Pflichtbegriff mit dem Bereich des „gesellschaftlich Verbindlichen“ zu identifizieren. Während Mill in seiner Benthamkritik von 1838 es – Bentham folgend – noch für zweckmäßiger hielt, den Bereich der Moral in einen fremd- und einen selbstbezüglichen Bereich aufzuteilen (s. das Zitat oben), hält er es nun – um 1859 – für angemessener, innerhalb des übergreifenden Gebiets der „Lebenskunst“ [art of living] das Teilgebiet der „Moral“ zu unterscheiden und allein die „gesellschaftlich verbindlichen“ Forderungen der Lebenskunst als „Pflichten“ zu bezeichnen. Wie wir sahen, geht diese terminologische Verschiebung für Mill nicht einher mit einer inhaltlichen Abwertung dessen, was Bentham und Mills früheres Selbst „Pflichten gegenüber sich selbst“ genannt haben. Das zeigt sich auch daran, dass Mill wenige Jahre nach der Veröffentlichung von Über die Freiheit sich erneut der Terminologie von „Moral“ und „Pflicht“ bedient, wenn er einmal mehr die überragenden Bedeutung der Selbstkultivierung für Menschen als entwicklungsfähige Wesen betont: „Wir haben eine moralische Verpflichtung, die Verbesserung unseres Charakters zu erstreben“ (Mill 1865b, 466; meine Hervorh.; vgl. a. Mill 1874, S. 397: „[D]ie Pflicht des Menschen ist hinsichtlich seiner eigenen Natur dieselbe wie hinsichtlich der Natur aller anderen Dinge, nämlich nicht, ihr zu folgen, sondern sie zu ver­bessern“ [Hervorh. i. Orig.].

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Hervorh.). Was Mill in der oben zitierten Benthamkritik als „großartige Pflicht zur Selbstkultivierung“ bezeichnet, ist in einem doppelten Sinne selbstbezüglich: Nicht nur ist ihr Gegenstand das eigene Selbst, sondern dem Selbst allein obliegt ihre Erfüllung in exklusiver, souveräner Eigenverantwortlichkeit. Eben deshalb hat die Gesellschaft in Mills Augen kein Recht, die Pflicht zur Selbstkultivierung des Einzelnen zu erzwingen. Aber gehört es Mill zufolge nicht „zur Vorstellung der Pflicht in jeder ihrer Formen, dass eine Person berechtigt gezwungen werden darf, sie zu erfüllen“ (CW X, S. 246; meine Hervorh.)? Wenn das Freiheitsprinzip der Gesellschaft die Durchsetzung selbstbezüglicher Pflichten untersagt, wer darf sie dann berechtigt erzwingen? Nur das Individuum selbst. Wenn es um Selbstkultivierung geht, ist allein der Selbstzwang durch die „inneren Sanktionen“ des eigenen Gewissens legitim. Auch die für die Fortentwicklung der inneren Sanktionen nötige „Schulung“ der eigenen Affekte und des eigenen Willens geht in Mills Augen mit dem Erreichen der Mündigkeit vollständig auf das Individuum über und ist gesellschaftlichen Zwangsmaßnahmen fortan entzogen.17 Eben darin besteht für Mill die Hauptpointe des konkretisierten Freiheitsprinzips: Dass

17 Die unabsichtlichen „natürlichen Strafen“, die Mill in Kapitel IV erwähnt, sind in seinen Augen ebenso wenig echte Strafen wie Gummi-Enten echte Enten, und die mit ihnen verknüpfte rein kausale Nötigung ist kein wirkliches Zwingen im hier relevanten intentionalen Sinne. Wie Mill in Kapitel IV erläutert, kann es passieren, dass eine Person durch rein selbstbezügliches Verhalten de facto schwere Übel erleidet, obwohl sie keine der im konkretisierten Freiheitsprinzip genannten gesellschaftlichen Pflichten verletzt. Denn nach Mill ist es nicht nur möglich, sondern naturgesetzlich unvermeidlich, dass wir – nolens volens – anderen Menschen auch für ihre rein selbstbezüglichen Fehler schweres Leid zufügen: „Es gibt ein Ausmaß an Torheit und ein Ausmaß an […] Niedrigkeit und Verderbtheit des Geschmacks, das, obwohl es keine Schädigung der Person, die es an den Tag legt, rechtfertigt, sie notwendig und zu Recht zu einem Gegenstand des Missfallens, oder, in Extremfällen, sogar der Verachtung machen […] Obwohl sie niemandem Unrecht tut, kann eine Person sich so verhalten, dass sie uns nötigt [compel] sie urteilend und fühlend als Narren oder als Wesen niederen Ranges anzusehen […] Auf diese verschiedenen Weisen kann eine Person sehr schwere Strafen durch die Hand anderer erleiden für Fehler, die direkt nur sie selbst betreffen; aber sie erleidet diese Strafen nur insoweit sie natürlich und sozusagen die unwillkürlichen Folgen der Fehler selbst sind, nicht weil sie ihnen absichtlich zum Zweck der Bestrafung zugefügt würden“ (CW XVIII, S. 278; meine Hervorh.). Diese „natürlichen Strafen“ sind keine genuinen Bestrafungen, eben weil sie nicht absichtlich zu diesem Zweck zugefügt werden. Bestenfalls sind sie Übel, die sich wie genuine Strafen anfühlen. Auch werden sie nur insofern „von der Hand anderer erlitten“, als sie das letzte Glied einer Kausalkette bilden, zu deren Zwischengliedern die (nach Mill unvermeidliche, weil aufgrund psycho-physiologischer Gesetze erzwungene) kognitive und gefühlsmäßige Verurteilung des betreffenden Verhaltens durch andere Personen gehört. Die Kausalkette geht gewissermaßen durch die Psyche anderer Personen hindurch, aber sie wird dabei in ihrem Verlauf und in ihrer Wirkung von diesen Personen nicht willentlich kontrolliert.



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der Einzelne nicht nur eine Immunität, sondern darüber hinaus einen moralischen Anspruch darauf hat, für die Zwecke der Kultivierung seines Selbst durch sein Selbst von gesellschaftlichem Zwang verschont zu bleiben. Fassen wir zusammen. Mill bekräftigt in seiner Replik auf den zweiten Einwand, dass wir einem Mitbürger, der unseren wohlmeinenden Rat konsequent ignoriert und an seinen selbstzerstörerischen Lebensweisen festhält, letztlich seinem traurigen Schicksal überlassen sollten. Zumindest gilt dies für einen mündigen Bürger reifen Alters: „Alle Fehler, die er entgegen allem Rat und aller Warnung wahrscheinlich begehen wird, werden bei Weitem aufgewogen durch das Übel einer Erlaubnis anderer, ihn zu dem zu zwingen [constrain], was sie als sein Wohl erachten“ (CW XVIII, S. 277). Die mit der erforderlichen Toleranz verbundenen sozialen Einbußen und Kosten, so Mill, muss eine freiheitliche Gesellschaft aushalten: Diese „Unannehmlichkeit ist eine, welche eine Gesellschaft um des größeren Guts der Freiheit Willen ertragen kann“ (CW XVIII, S. 282).

Kein Mensch ist eine Insel Ein dritter von Mill diskutierter Einwand gegen das konkretisierte Freiheitsprinzip betrifft eine Distinktion, die Mill in Kapitel I von Über die Freiheit so erläutert: Es „gibt eine Handlungssphäre, an der die Gesellschaft, wenn überhaupt, im Unterschied zum Individuum nur ein indirektes Interesse hat; sie umfasst den gesamten Anteil des Lebens einer Person und ihres Verhaltens, der nur sie selbst betrifft, oder sofern sie auch andere betrifft, nur mit ihrem freien, willigen und ungetäuschten Einverständnis und ihrer Beteiligung. Wenn ich ‚nur sie selbst’ sage, dann meine ich direkt und in erster Linie: denn was immer sie betrifft, kann auch andere durch sie betreffen; und der Einwand, der auf dieser Möglichkeit beruht, wird in der Folge betrachtet werden“ (CW XVIII, S. 225). Mills Beschreibung der individuellen Freiheitssphäre suggeriert, dass alle Handlungen, die eine Person in ihrem Leben vollzieht, genau einer von zwei Klassen angehören: Selbstbezügliche Handlungen, deren Konsequenzen „direkt und in erster Linie“ nur ihre eigenen Interessen berühren; und solche Handlungen, die nicht selbstbezüglich sind, weil sie „direkt und in erster Linie“ – die Interessen anderer Personen tangieren (CW XVIII, S. 225). Die erste Klasse selbstbezüglicher Handlungen bildet die „Domäne der Freiheit“. Sie werden vom Freiheitsprinzip gegen gesellschaftlichen Zwang immunisiert. Die zweite Klasse bilden Handlungen, die gesellschaftliche Pflichten verletzen und für die das Freiheitsprinzip die Anwendung von Zwang und Kontrolle legitimiert. Diese zweite Klasse fremdbezüglicher Handlungen bilden die Pflichtsphäre der „Moralität und des Rechts“ (CW XVIII, S. 282; vgl. CW XVIII, S. 225; S. 276).

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Sein Versprechen aus Kapitel I, „in der Folge“ den diesbezüglichen Einwand zu diskutieren, löst Mill in Kapitel IV ein. Zunächst reformuliert er den Einwand: „Die hier aufgezeigte Unterscheidung zwischen dem Anteil des Lebens einer Person, der nur sie selbst und dem Anteil, der andere betrifft, werden viele Personen nicht einzuräumen bereit sein. Wie (so mag man fragen) kann irgendein Teil des Verhaltens eines Gesellschaftsmitglieds den anderen Mitgliedern gleichgültig sein? Kein Mensch ist ein isoliertes Wesen; es ist unmöglich, dass eine Person sich irgendeine ernstliche oder dauerhafte Verletzung zufügt, ohne dass Unheil [mischief] nicht zumindest die Nahbeziehungen erreicht und oft darüber hinausgeht“ (CW XVIII, S. 280; vgl. CW XVIII, S. 225). Kurz, der Vorwurf lautet, dass Mills Distinktion zwischen selbst- und fremdbezüglichen Handlungen de facto eine Unterscheidung ohne Unterschied ist, weil jede selbstbezügliche Handlung sich unweigerlich kausal auch auf andere Personen auswirkt und daher immer zugleich fremdbezüglich ist. Der Einwand wäre, sollte er triftig sein, für Mills Freiheitsprinzip fatal, weil die Klasse rein selbstbezüglicher Handlungen in diesem Fall leer wäre. Alles Tun und Lassen würde zur Pflichtsphäre gehören und wäre als solche gesellschaftlicher Kontrolle prinzipiell unterworfen. Eine befriedigende Replik auf diesen dritten Einwand muss zeigen, dass die Klasse der rein selbstbezüglichen Handlungen nicht leer ist und dass das konkretisierte Freiheitsprinzip ein praktikables Kriterium zu ihrer Identifikation bereitstellt. In Kapitel I von Über die Freiheit formuliert Mill einen Kausaltest für Selbstbezüglichkeit: Eine Handlung betreffe „nur [die handelnde Person] selbst“, wenn ihre Primärfolgen direkt nur sie berühren und sich auf andere Personen bestenfalls durch sie, d. h. als Sekundärfolgen der Primärfolgen auf andere auswirke: „Wenn ich ‚nur sie selbst’ sage, dann meine ich direkt und in erster Linie: denn was immer sie betrifft, kann auch andere durch sie betreffen“ (CW XVIII, S. 225; meine Hervorh.). Wie mit Blick auf Mills konkretisiertes Freiheitsprinzip zu erwarten ist, wird dieser Kausaltest in Kapitel IV durch ein deontisches Kriterium in Begriffen gesellschaftlicher Pflichten ersetzt: Ich gestehe vollkommen zu, dass Unheil, welches eine Person sich selbst zufügt, diejenigen, die mit ihr eng verbunden sind, und in geringerem Maße die Gesellschaft als Ganze, durch deren Sympathien und deren Interessen ernstlich beeinflussen kann. Wird durch ein Verhalten dieser Art eine Person dazu gebracht, eine distinkte und zuordenbare Pflicht [a distinct and assignable obligation] gegenüber irgendeiner anderen Person oder anderen Personen zu verletzen, fällt der Fall aus der selbstbezüglichen Klasse heraus und ist moralischer Missbilligung im eigentlichen Wortsinn ausgesetzt.18

18 CW XVIII, S. 281; meine Hervorh. – Abgesehen von der prinzipiellen Unklarheit der Unter­ scheidung zwischen Primär- und Sekundärfolgen ist das Kausalkriterium aus Kapitel I schon



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Es ist unklar, was genau „distinkte und zuordenbare Pflichten gegenüber irgendeiner anderen Person oder anderen Personen“ sind. Aber Mills Beispiele scheinen zu bestätigen, dass er hier an die gesellschaftlichen Pflichten denkt, mit denen er wenige Seiten zuvor den Inhalt des Freiheitsprinzips konkretisiert hatte. Ist dies korrekt, dann können wir das von Mill angedeutete Identifikationskriterium für selbstbezügliche Handlungen so formulieren: Eine Handlung ist nicht selbstbezüglich und gehört der Pflichtensphäre an, wenn sie als Verletzung einer gesellschaftlichen Pflicht (re)formulierbar ist. Andernfalls ist sie selbstbezüglich und ein Element der Freiheitssphäre. Betrachten wir zur Erläuterung abschließend die von Mill in Kapitel IV diskutierten Beispiele. Das ist zunächst der Mann, der durch Akte der „Verschwendung und Ausschweifung“ unfähig wird, seine Familie zu ernähren und seine Schulden zu bezahlen. Solange sein Tun nur verschwenderisch und ausschweifend ist, so Mill, ist es selbstbezüglich und freigestellt. Sobald seine Ausschweifungen ihn jedoch zu Verletzungen gesellschaftlicher Pflichten treiben oder sein Tun von vornherein als pflichtverletzend beschrieben werden kann, „wird er verdientermaßen verdammt und kann gerechtfertigt bestraft werden; aber für die Pflichtverletzung […] nicht für die Ausschweifung“ (CW XVIII, S. 281; meine Hervorh.). Dasselbe gilt für schlechte, „für sich genommen nicht bösartige“ Angewohnheiten eines Menschen, die jedoch in dem Augenblick zu Verletzungen gesellschaftlicher Pflichten der Rücksichtnahme werden, wenn sie „schmerzhaft sind für die, mit denen er sein Leben verbringt, oder die aufgrund persönlicher Bindungen in ihrem Wohl von ihm abhängen“ (CW XVIII, S. 281). Jedoch macht auch ein solcher Mensch sich allein für die Pflichtverletzung, nicht für die Laster strafwürdig, die zu ihr geführt haben. Und schließlich: „Keine Person sollte für Trunkenheit bestraft werden; aber ein Soldat oder ein Polizist sollte bestraft werden für Trunkenheit im Dienst“ (OL, 282). Erneut kommt es auf die Beschreibung an: Trunkenheit ist für sich genommen kein legitimer Gegenstand gesellschaftlichen Zwangs, aber Trunkenheit-im-Dienst ist es. Entscheidend ist, ob die Handlung zur Verletzung einer gesellschaftlichen Pflicht führt oder – wie im letzten Fall – direkt als eine solche beschrieben werden kann.

deshalb unbrauchbar, weil Mill bestimmte Handlungen, die andere auch direkt, z. B. im öko­ no­mischen Wettbewerb, kausal schädigen, ausdrücklich zulässt: CW XVIII, S. 293. – Ferner: Ist es überhaupt möglich, wie Mill behauptet, durch „Untätigkeit Übel zu verursachen“ (CW XVIII, S. 225)? Wie kann die Abwesenheit eines Tuns – ein Mangel, ein Nichts – ursächlich sein? Das ist das Problem der Kausalität von Unterlassungen. Aber selbst wenn wir annehmen, dass Abwesenheiten ursächlich sein können: Wie können wir bei ihnen zwischen Primär- und Sekundärwirkungen unterscheiden?

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Mills konkretisierende, auf den vagen Schädigungsbegriff verzichtende Reformulierung des Freiheitsprinzips in Begriffen gesellschaftlicher Pflichten in Kapitel IV ist sein letztes Wort in Über die Freiheit zur „praktischen Frage, wo die Grenze zu ziehen ist – wie der passende Abgleich zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlicher Kontrolle vorzunehmen ist“ (CW XVIII, S. 220). Alles, was über die gesellschaftliche Durchsetzung vitaler Pflichten, Fairnesspflichten und Pflichten des Anstands hinausgeht, ist „usurpierte“, d.  h. missbräuchlich angemaßte Autorität (CW XVIII, S. 283). Es ist jedoch zu beachten, dass missbrauchte Autorität für Mill ebenso wenig Autorität ist wie gefälschte Banknote eine Banknote. Fälschlich angemaßte gesellschaftliche Autorität zur Auferlegung von Pflichten ist keine besondere Form von Autorität, sondern deren Abwesenheit. Weil „usurpierte Autorität“ normativ wirkungslos ist – „null und nichtig“ – erzeugt sie keine Pflichten für den Bürger. In der Freiheitssphäre des Bürgers besitzt die Gesellschaft keine autoritative Setzungsbefugnis, und diese Nicht-Befugnis korreliert seitens des Bürgers mit einem moralischen Zustand der Immunität.

Literatur Bain, Alexander (1882): John Stuart Mill. A Criticism with Personal Recollections. London: Longmans, Green & Co. Bentham, Jeremy (1907): An Introduction to the Principles of Morals and Legislation. 1789; zit. n. der Oxforder Ausgabe. Oxford: Clarendon Press. Hart, H. L. A.(1955): „Are There Any Natural Rights?“.In: The Philosophical Review 64, 2, S. 175–191. Hobbes, Thomas [1651] (2011): Leviathan, oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen oder und staatlichen Gemeinwesens. Berlin: Suhrkamp. Hohfeld, Wesley N. (1913): „Some Fundamental Legal Conceptions as Applied in Legal Reasoning“. In: The Yale Law Journal 23, 1, S. 16–59; in deutscher Übersetzung in Stepanians (2007). Lyons, David (1994): Rights, Welfare, and Mill’s Moral Theory. New York [u. a.]: Oxford Univ. Press. Rawls, John (1964): „Legal obligation and the duty of fair play“. In: Hook, S. (Hrsg.): Law and Philosophy: A Symposium. New York: New York University Press, S. 3–18. Rawls, John (1971): A Theory of Justice. Cambridge, Mass: Belknap Press of Harvard Univ. Press. Stepanians, Markus (Hrsg.) (2007): Individuelle Rechte. Paderborn: Mentis.

Jean-Claude Wolf und Catherine Buchmüller-Codoni1

6 Freiheit durch Erziehung und Erziehung zur Freiheit 6.1 Titel und Methode des Kapitels Der Titel „applications“ kann irreführend sein, wenn er so verstanden würde, als ginge es in diesem Kapitel darum, einen in sich wahren und selbstevidenten Grundsatz (das Prinzip der erlaubten Verhütung der Schädigung anderer, kurz: Schädigungsprinzip) mechanisch anzuwenden, nach dem Schema der Subsum­ tion von Einzelfällen unter eine allgemeine Regel. Mill geht es um Illustrationen, Erläuterungen oder „Spezifikationen“ der beiden Maximen, des Schädigungs­ prinzips und des Paternalismusverbots, die nun explizit unterschieden werden (vgl. CW XVIII, S. 292); diese Maximen sind zwar einfach zu formulieren und insofern plausibel, aber sie sind nicht selbstevident, und es sind keine absolu­ ten Regeln, die immer unmittelbar ausführbar wären und ohne Ausnahme gelten würden. Mill selber gibt eine verbindliche Anleitung, wie dieses Kapitel zu lesen ist: als Illustration und als Angabe von Anwendungsbeispielen2. Würde man solche Leseanleitungen ernst nehmen, ließen sich Debatten über das Theorie­ verständnis und die Methode des Utilitarismus in die richtigen Bahnen lenken. Schädigungsprinzip und Paternalismusverbot sind „mittlere Axiome“3 des Utilitarismus und entsprechen einer praktischen Priorität des „negativen Utilita­ rismus“, welcher die Verhütung und Verringerung von Leiden und Kosten, insbe­ sondere Freiheitseinbußen in den Vordergrund stellt. Ein liberaler Utilitarismus baut nicht direkt und ausschließlich auf den Imperativ auf, Lust und Glück in der Welt mit allen Mitteln zu maximieren. Als Sanktionsprinzipien unterstehen die beiden Maximen der utilitaristischen Theorie der Gerechtigkeit, die Mill im fünften Kapitel der Utilitarismusschrift entwirft. Es sind nicht direkte Handlungs­ regeln (wie die Regeln, nicht zu töten oder Verträge nicht zu brechen), sondern höherstufige Regeln zur Legitimierung und Begrenzung der Anwendung von ein­

1 Für Hinweise und Kürzungsvorschläge bedanken wir uns bei den Herausgebern. 2 „[S]pecimens of application“ (CW XVIII, S. 292). 3 Diesen Ausdruck hat Mill von Bacon übernommen und sich positiv angeeignet, vgl. A System of Logic, Buch VI, Kapitel V; in: CW VIII, S. 870–874. Im Utilitarianism, Kapitel 2, spricht Mill von „sekundären Prinzipien“, und in Kapitel 5 klärt er ihren Status als den solider (nicht bloß provisorischer) Prinzipien, die mit äusseren und inneren Sanktionen (also denen des Gewissens) verknüpft sind, allerdings nicht unbedingt mit den Sanktionen, die tatsächlich bestehen, son­ dern mit Sanktionen, die nach dem utilitaristischen Standard bestehen sollten.

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 Jean-Claude Wolf und Catherine Buchmüller-Codoni

schneidenden, die Freiheit ernsthaft einschränkenden Sanktionen. Die beiden Maximen beziehen sich auf eine nach Mill wesentliche Komponente des Wohls des Individuums, seine uneingeschränkte Freiheit, selber zu entscheiden und danach zu handeln. Diese Dimension des Wohls ist nach Mill mit der Souverä­ nität, Entwicklungsfähigkeit (Fortschritt, Bildung) und Selbstachtung des Indi­ viduums verknüpft. Das Schädigungsprinzip ist nicht aus dem Nutzenprinzip „deduziert“, sondern steht als Anwendungsprinzip zwischen dem Nutzenprinzip und den Erwägungen zur Anwendung von Sanktionen. Es ist gleichsam ein „libe­ raler Filter“ für die politische Umsetzung der utilitaristischen Moral. Es struktu­ riert und begrenzt die dem (negativen) Utilitarismus inhärierende Tendenz zum Präventionismus. (Purer Präventionsimus wäre z. B. ein System von Strafen ohne Schuldnachweis, die viel diskutierten „Strafen Unschuldiger“ im Dienste einer Schadensbegrenzung.) Positiv formuliert: Das Schädigungsprinzip „filtert“ jene Interventionen heraus, die überhaupt in Frage kommen. Die „Anwendungen“ dieses Prinzips (oder dieser beiden Maximen) zeigen, dass es nicht auf alle Fragen einfache oder definitive Antworten gibt und dass insbesondere die Frage der detaillierten Autorisierung und Begrenzung staatli­ chen Handelns nicht Gegenstand einer strengen (deduktiven oder induktiven) Wissenschaft ist, sondern einer Kunst, der Kunst des Regierens4. (Vgl. CW XVIII, S. 308–309) Ihre Methode unterliegt der Logik der „moralischen Wissenschaften“. Methodologisch bewegt sich dieses Kapitel nicht im Bereich einer „harten“ Wissenschaft, sondern einer Kunstlehre, in der (historisch gebildetes) Urteils­ vermögen, Fingerspitzengefühl und eine Bereitschaft zur Abwägung komplexer Gesichtspunkte gefragt sind. Zur Methode gehört auch jene der Analogie, die es erlaubt, ähnliche Fälle ähnlich zu behandeln. Damit wird, wie Paul Feyerabend beobachtet hat, oft nicht die Lösung selber gefunden, sondern es wird skizziert, welche Lösungen für welche Fälle möglich sind. (Vgl. Feyerabend 1975) Die hier greifende Methode hat mehr mit der Herstellung einer Kohärenz unter den Prinzipien und den kasuistischen Lösungsvorschlägen als mit einer letzten Fundierung des (normativen) Wissens zu tun.

6.2 Das Beispiel der Erziehung Mill fasst zu Beginn des fünften Kapitels von On Liberty die beiden Maximen aus den vorangehenden Kapiteln, das Schädigungsprinzip und das Paternalismusver­ bot, wie folgt zusammen: Der Einzelne ist der Gesellschaft für sein Handeln keine

4 „[A]rt of government“ (CW XVIII, S. 309).

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Rechenschaft schuldig, sofern seine Handlungen nur ihn selbst und nicht auch andere betreffen. Außenstehende dürfen zwar ihr Missfallen und ihre Meinung über seine Taten ausdrücken und versuchen, ihn zu beeinflussen; sie dürfen aber keinesfalls Zwang ausüben. Dies ändert sich, sobald seine Handlungen auch andere betreffen. In diesem Fall muss er sich für die Folgen verantworten und es können gesellschaftliche oder gesetzliche Sanktionen verhängt werden, wenn die Gesellschaft dies zu ihrem Schutz für notwendig hält. (Vgl. CW XVIII, S. 292; vgl. dazu auch die Beiträge von Jonathan Riley und Markus Stepanians in diesem Band.) In diesem letzten Kapitel diskutiert Mill unter anderem ein Beispiel, das die Pflicht von Eltern gegenüber ihren Kindern hinsichtlich deren Erziehung und Ausbildung betrifft; ein Beispiel, das weite Kreise zieht. Es stellt sich die Frage, inwieweit das Familienoberhaupt absolut über die Geschicke der Familie bestim­ men kann und die ihm untergeordneten Mitglieder der Familie (Ehefrau und Kinder) sich ihm zu fügen haben. Mill zeigt, dass die Erfüllung der Pflichten der Eltern und vor allem des Vaters (als Familienoberhaupt) im Interesse der Gesell­ schaft liegen, d. h. diese auf den ersten Blick private Angelegenheit der Erziehung wird von Mill im Lichte der gesellschaftlichen und politischen Interessen aller betrachtet. Auch Themen wie die politische und gesellschaftliche Integration der untersten sozialen Schichten werden behandelt, was z. B. auch die Frage des Wahlrechts für Arbeiter und Frauen beinhaltet. (Vgl. dazu auch den Beitrag von Christoph Schmidt-Petri in diesem Band.) Die elterliche Pflicht, den Kindern Erziehung angedeihen zu lassen, ist im Schlusskapitel von On Liberty ein Beispiel dafür, dass die Gesellschaft in die Angelegenheiten des Einzelnen eingreifen darf. Eltern haben gegenüber ihren Kindern Pflichten, und es ist nicht allein ihre Sache, ob sie diese Pflichten erfüllen oder nicht. Man darf Eltern dazu zwingen, ihre Verpflichtungen gegenüber ihren Kindern zu erfüllen, wenn sie diese aus vermeidbaren Gründen wie Trunkenheit oder Trägheit vernachlässigen. Die Durchsetzung darf auch mittels Zwangsarbeit geschehen. (Vgl. CW XVIII, S. 295) Der Staat muss die Macht, die er Einzelnen überträgt, um sie über andere auszuüben, kontrollieren. Gerade wenn es um die Familie geht, sieht Mill Hand­ lungsbedarf. Ganz abgesehen von der Ehefrau, die man dem Mann unterstellt, werden die Kinder oft behandelt, als wären sie tatsächlich ein Teil des Vaters, und es ist ein gesellschaftliches Tabu, die Freiheit der Kinder zu schützen, indem man die Macht des Vaters beschränkt. Die Pflicht zur Erziehung und Bildung würde eine solche Beschränkung darstellen und überließe diese wichtige Entscheidung über die Zukunft der Kinder nicht der Willkür des Vaters. In Mills Augen zeigt die Verteidigung der Allmacht des Familienvaters über die seinen, dass Macht inner­ halb der Gesellschaft mehr Anerkennung genießt als Freiheit. Der Staat ist aber in

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der Pflicht: Kinder, die als seine Bürger geboren werden, sollen Zugang zu Erzie­ hung erhalten, und diese soll der Staat für die Kinder erzwingen können (vgl. CW XVIII, S. 301) – nicht nur, weil er für die unmündigen Kinder als seine künftigen Bürger verantwortlich ist, wie wir im Folgenden sehen werden.

6.3 Staat und Erziehung Der Staat muss ein lebhaftes Interesse an der Erziehung seiner Kinder haben. Mill spricht hier von Bürgern und nicht von Untergebenen, was zeigt, dass die Bildung des Einzelnen einen wesentlichen Einfluss auf die Geschicke aller hat; denn der Bürger entscheidet in einer Demokratie mit über die Zukunft seiner Mitmenschen. Die Erziehung des Einzelnen hat also gesellschaftliche und poli­ tische Auswirkungen. So erklärt Mill, dass es ihm nicht um die Beschränkung der Freiheit des Einzelnen, in diesem Beispiel wäre das der Vater, geht, wenn er mit drastischen Mitteln wie Zwangsarbeit die Erziehung der Kinder durchsetzen will. Es geht vielmehr um den Nutzen, den ein solches Eingreifen für die Regie­ rung selbst, vor allem aber für die Gesellschaft hätte. Der Staat soll nicht primär im Interesse der betroffenen unmündigen Kinder handeln, sondern in seinem eigenen. Mill betont, dass die, die Kinder in die Welt gesetzt haben, ihnen auch die Erziehung geben müssen, damit sie im Leben die Pflichten gegen sich selbst und gegen andere erfüllen können (vgl. CW XVIII, S. 302), sie also zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft werden. Mills Vorschlag der staatlich erzwingbaren Verpflichtung aller Eltern, für die Erziehung der Kinder Sorge zu tragen, muss klar von der Forderung nach einem staatlichen Bildungssystem unterschieden werden. Im staatlichen Bildungssys­ tem sieht Mill eine Gleichschaltung, die es unbedingt zu vermeiden gilt. Denn woher sollen die Individuen kommen, die die Gesellschaft voranbringen, wenn Despotismus über die Geister herrscht? Hierbei ist es für Mill ganz gleichgül­ tig, ob ein Monarch, Aristokraten, Priester oder einfach die Mehrheit über die Schulbildung entscheiden. Eine einheitliche, d. h. gleichförmige, Erziehung ist in seinen Augen der Tod der Meinungsvielfalt und der freien Entwicklung des Individuums. (Vgl. CW XVIII, S. 302; vgl. dazu auch den Beitrag von Thomas Schramme in diesem Band.) Wie Mill in Kapitel III von On Liberty ausführt, ist es für die Entwicklung der Gesellschaft entscheidend, dass Menschen frei denken und leben dürfen, sofern sie Dritten keinen Schaden zufügen. So werden neue Wahrheiten entdeckt, die zum Fortschritt aller dienen. Genies sind in der Minder­ heit, aber von großer Wichtigkeit für die Gesellschaft. Sie können sich nur in einer Atmosphäre der Freiheit entfalten, also muss man den Boden pflegen, auf dem sie gedeihen. (Vgl. CW XVIII, S. 267) Dies zeigt die beiden Komponenten der von

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Mill beabsichtigten Erziehung: Zunächst sollen alle künftigen Bürger über eine gute Bildung verfügen und ihr Potenzial entfalten. Die Vielfalt an Schulen und Bildungswegen sowie die von Mill geforderte Meinungsfreiheit und die individu­ elle Lebensgestaltung werden dann aus einzelnen von ihnen die Genies machen, die die Gesellschaft zu neuen Entwicklungen anregen und den Fortschritt der Gemeinschaft sichern. Mill möchte, dass es den Eltern überlassen bleibt, in welcher Art sie ihre Kinder ausbilden oder ausbilden lassen. Auf jeden Fall muss der Staat diese Pflicht den Eltern übertragen, damit er nicht selbst verpflichtet ist, für die Aus­ bildung zu sorgen. Auch soll es finanzielle Unterstützung für die geben, die sich Erziehung selbst nicht leisten können. (Vgl. CW XVIII, S. 302) Der Staat wird ledig­ lich eine Prüfung für Kinder je nach Alter durchführen, um die Lernfortschritte sicherzustellen. In diesen Prüfungen müssen sie Rechenschaft über ihre Allge­ meinbildung ablegen, was sich aber klar auf Fakten beschränken soll. So sind gerade „heikle“ Themen wie Religion oder Politik Fächer, die zwar wichtig sind, bei denen aber die Kinder nicht zu weltanschaulichen Fragen geprüft werden dürfen. Wollen Eltern religiöse Erziehung für ihre Kinder, müssen sie diese privat organisieren. Sie kann nicht Sache der Schule sein, schon gar nicht der Öffent­ lichkeit, die allen Bürgern gerecht werden muss. Im Hinblick auf die Ausbildung ihrer Kinder können Eltern zwar finanziell unterstützt werden, aber es gibt auch die Möglichkeit, sie mit einem Bußgeld zu belegen, sollte der Bildungsstand ihrer Kinder bei den Prüfungen nicht genügen. (Vgl. CW XVIII, S. 303) Hier stellt sich die Frage, wo Mill die Grenze dieser prü­ fungspflichtigen Bildung zieht. Die elementare Bildung wie Lesen und Schreiben gehört zweifellos dazu. Er spricht aber nur davon, dass Prüfungen, die über das Minimum an Stoff, das der Staat verlangen soll, hinausgehen, freiwillig sind. Es geht um eine grundlegende Bildung für alle; in den dafür notwendigen Fächern sollten Prüfungen des Wissens obligatorisch sein. Höhere Bildung und die Prü­ fungen, um Kenntnisse darin zu beweisen, sollen freiwillig bleiben (vgl. CW XVIII, S. 304). Für Mill ist nicht wichtig, wie und wo die Kinder die Kenntnisse erwerben, sondern nur, dass sie sie erwerben. Es ist allerdings fraglich, ob eine Trennung von Wissen und Überzeugungen, wie Mill sie für „heikle“ Fächer wie Religion und Politik fordert, wirklich möglich ist. Mill will, dass im Fach Politik beispielsweise die verschiedenen Standpunkte und ihre Begründungen Teil des Prüfungsstoffes der von ihm vorgeschlagenen allgemeinen Prüfungen sind. Können diese in der von ihm gewünschten „neutra­ len“ Weise vermittelt und in einer Prüfung abgefragt bzw. vom Schüler ausgeführt werden? Und lassen sich gerade im Unterricht oder in Prüfungen über Religion Fakten und persönlicher Glauben auseinanderhalten? Eine klare Trennung von

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„Fakten“ und „Weltanschauungen“ scheint schwierig, sowohl für den Lernenden als auch für den Lehrenden, für den Prüfling als auch für den Prüfer. Mill anerkennt eine Ausnahme, bei der er staatlich organisierte Schulbildung für zulässig erachtet. Im Falle einer Gesellschaft, in der es nicht genügend Per­ sönlichkeiten gibt, die die erwünschte vielfältige Erziehung gewährleisten, darf der Staat diese in die Hand nehmen und organisieren. Sonst darf der Staat zwar Schulen betreiben, diese sollte es aber nur als eine von vielen Schulformen und in Konkurrenz zu diesen aus privaten, kirchlichen oder anderen Initiativen ent­ standenen Bildungseinrichtungen geben. (Vgl. CW XVIII, S. 302) Bildung in Mills Sinne soll sicherstellen, dass die Einzelnen Kenntnisse besitzen, die sie befä­ higen, in einer Frage gültige Schlüsse zu ziehen und möglichst angemessen zu urteilen. (Vgl. CW XVIII, S. 303)

6.4 Geistige, politische und nationale Erziehung Im Zusammenhang der hier aufgeworfenen Fragen lohnt es sich, die diversen Aspekte von Mills Erziehungsbegriff genauer anzusehen. Erziehung („education“) umfasst nicht nur Erziehung im schulischen Sinne, deren Qualität mit Prüfungen sichergestellt wird. Es geht auch um Unterricht und Ausbildung für die Seele5. Abgesehen von dieser Textstelle (CW XVIII, S. 302) operiert Mill meist mit dem Begriff Erziehung („education“), allerdings in unterschiedlichster Bedeutung. In der Folge sollen die Dimensionen etwas geordnet und die ganze Tragweite von Mills Erziehungskonzept aufgezeigt werden. Wichtig ist dabei zu sehen, dass im Deutschen die Differenzierung in Bildung und Erziehung möglich ist, wie die Ausführungen in diesem Text bereits gezeigt haben; diese Begrifflichkeiten sind im Englischen im Wort „education“ enthalten, was die beiden folgenden Kompo­ nenten einschließt: die Erziehung und Bildung durch Eltern, Schule, etc. sowie die Selbstentfaltung und Selbstbildung, die sich der Mensch durch Erfahrung selbst aneignet (vgl. Ackermann und Schmidt (Hrsg.) 2013, S. 17, Anmerkung 4). Zu Beginn der Rede Inaugural Address Delivered to the University of St. Andrews6 präzisiert Mill, was er unter Erziehung versteht. Not only does it [education] include whatever we do for ourselves, and whatever is done for us by others, for the express purpose of bringing us somewhat nearer to the perfection of our nature; it does more: in its largest acceptation, it comprehends even the indirect effects

5 „[I]nstruction and training for its mind“ (CW XVIII, S. 302). 6 Deutsch unter dem Titel Rektoratsrede bekannt. (Vgl. z.  B. Ackermann und Schmidt (Hrsg.) 2013, S. 299–363)

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produced on character and on the human faculties, by things of which the direct purposes are quite different; by law, by forms of government, by the industrial arts, by modes of social life; nay even by physical facts not dependent on human will; by climate, soil, and local position. Whatever helps to shape the human being; to make the individual what he is, or hinder him from being what he is not – is part of his education. And very bad education often is; requiring all that can be done by cultivated intelligence and will, to counteract its tendencies. (CW XXI, S. 217)

Im Folgenden begrenzt er die Ausführungen, die er in dieser Rede machen will, auf die Erziehung im engeren Sinne, d. h. auf die Bildung, die jede Generation ihren Nachkommen weitergibt, um das Niveau des Fortschritts weiterhin aufrecht erhalten zu können. (Vgl. CW XXI, S. 218) Wichtig ist auch, dass Mill sich zur Rolle der universalen Bildung der Men­ schen äußert. Denn die Universität ist für ihn, wie die Schule zuvor, kein Ort, an dem eine Berufsausbildung stattfindet. Menschen sind Menschen, bevor sie Anwälte oder Ärzte werden. Die Bildung, dieses von ihren Vorfahren vermittelte Wissen, die sie als Menschen erfahren, macht sie zu den gebildeten und entwi­ ckelten Wesen, zu Menschen eben. Diese Bildung ermöglicht ihnen eine ganz andere Ausübung des Berufs, den sie später lernen. Denn Anwälte oder Ärzte müssen Wissen beherrschen; dieses ist für die Gesellschaft wichtig, aber kein Wissen, das alle erwerben müssen, um die Weiterentwicklung der Gesellschaft zu gewährleisten. Auch wenn Mill sich hier mit der Bildung an den Universitäten auf die höchste Stufe allgemeiner Bildung bezieht (vgl. CW XXI, S. 219), erhellen seine Aussagen der Inaugural Address, was er unter Bildung versteht und weshalb es für ihn absolut zentral ist, Menschen so viel Allgemeinbildung wie möglich zu vermitteln, ganz unabhängig davon, welchen Beruf sie später erlernen. So wird es in Bezug auf die Ausführungen zu Kindern und der Prüfung ele­ mentarer Fähigkeiten deutlich, dass Mill in On Liberty von grundlegender Schul­ bildung in Lesen, Schreiben etc. spricht. Weiter gibt es Bildung in den für ihn schon etwas problematischen Fächern wie Religion und Politik. Dieses Wissen soll die jungen Menschen befähigen, gültige Schlüsse zu ziehen und ein Urteils­ vermögen zu entwickeln, das für die Mitwirkung in der Demokratie entschei­ dend ist. Außerdem spricht er von moralischer Bildung: Eltern sollen Kindern die Erziehung geben, die es ermöglicht, dass sie die Pflichten gegenüber anderen und sich selbst erfüllen können. Erziehung endet aber nicht mit dem Verlassen der Schule oder dem Erreichen der Volljährigkeit. Mill spricht gegen Ende des fünften Kapitels in On Liberty von der nationalen Erziehung, ebenso von der politischen (vgl. CW XVIII, S. 305). Hier geht es nicht um theoretische Bildung. Vielmehr muss es das Ziel der Regierung sein, ihre Bürger so viel wie möglich selber erledigen zu lassen, auch wenn Beamte

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das effizienter tun würden. So lernen die Einzelnen, im Sinne der Gemeinschaft zu denken und entwickeln sich geistig weiter. Dies ist Teil der geistigen Erziehung, die entscheidend ist für das Leben unter einer freien Verfassung und mit dem Denken im Sinne der Gemeinschaft die soziale Komponente von Bildung abdeckt. Es handelt sich also um den praktischen Teil der politischen Erziehung, der auf theoretischer Bildung und Erziehung der Kinder- und Jugendjahre basiert. Die Erfahrungen, die die Bürger in der politischen Selbstverwaltung machen, dauern das ganze Leben lang an. Der Staat soll es den Menschen erleichtern, anhand von Experimenten und Erfahrungen ihre Selbsterziehung weiterzuverfolgen. Ziel ist es, die Menschen an die Freiheit zu gewöhnen. Mill geht von einer Demokratie aus und vom Zustand einer Gesellschaft, die diese Form der Selbstverwaltung zulässt, da die Bürger dazu bereit sind – aufgrund ihrer Erziehung im weiteren Sinn. Erziehung als Verbindung aus theoretischer Bildung und praktischer Erfah­ rung hat wesentliche Nebeneffekte, nämlich Entwicklung und Fortschritt. Und je mehr Bürger an die eigene Verwaltung ihrer Angelegenheiten gewöhnt sind, je selbstbestimmter sie sind, desto weniger werden sie sich unterdrücken lassen, was wiederum die Demokratie sichert. (Vgl. CW XVIII, S. 307–308) Der Staat soll also nicht erziehen, sondern seinen Bürgern nur die Freiheit zur eigenständigen Entwicklung und Selbsterziehung lassen. So sichert die Demokratie ihr Fortbe­ stehen.

6.5 Elterliche Verantwortung, die Arbeiterklasse und Geburtenkontrolle Eltern, die die Verantwortung für die Erziehung der Kinder nicht wahrnehmen, zu sanktionieren, ist für Mill legitim, wie wir gesehen haben. Außerdem themati­ siert er im letzten Kapitel von On Liberty eine Frage weit größerer Dimension: die Begrenzung der Nachkommenschaft für gewisse Teile der Gesellschaft. The fact itself, of causing the existence of a human being, is one of the most responsible actions in the range of human life. To undertake this responsibility – to bestow a life which may be either a curse or a blessing – unless the being on whom it is to be bestowed will have at least the ordinary chances of a desirable existence, is a crime against that being. (CW XVIII, S. 304)

Gerade Länder, die unter Überbevölkerung leiden, dürfen die Geburtenzahl beschränken, da sonst auf lange Sicht die Löhne aufgrund der zu hohen Anzahl Arbeitskräfte sinken werden. Zu viele Kinder sind also ein Nachteil für alle, die vom Lohn ihrer Arbeit leben müssen. Dass gewisse Länder auf dem Kontinent

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Menschen, die nicht die Mittel nachweisen können, um eine Familie zu ernähren, die Heirat verbieten, ist deshalb, so Mill, gerechtfertigt. (Vgl. CW XVIII, S. 304) Hier argumentiert Mill, dass die Freiheit des Einzelnen zugunsten der Vermei­ dung von Schaden für andere unbedingt beschränkt werden muss. Die Menschen verlangen so sehr nach der Freiheit – und missverstehen diesen Begriff dabei als „grenzenlose“ Freiheit – dass es scheint, als wäre Freiheit nur auf Kosten anderer zu haben. (Vgl. CW XVIII, S. 304) When we compare the strange respect of mankind for liberty, with their strange want of respect for it, we might imagine that a man had an indispensable right to do harm to others, and no right at all to please himself without giving pain to anyone. (CW XVIII, S. 304–305)

Über die Wirkung bzw. den Nutzen solcher Beschränkungen der Geburtenzahl macht Mill keine klaren Aussagen, diese hängen seiner Ansicht nach von weite­ ren Umständen im jeweiligen Land ab. Verwerflich seien solche Beschränkungen jedoch nicht, seien es Gesetze oder bloß gesellschaftliche Missbilligung gegen­ über diesen Eltern. (Vgl. CW XVIII, S. 304) Doch im Sinne Mills scheint ein Verbot nicht zu sein, bedenkt man die Aus­ führungen, die wir bis jetzt gesehen haben. Staatliches Eingreifen ist schließlich soweit als möglich zu vermeiden. Deshalb sollen hier einige weitere von Mills Gedanken über die arme Bevölkerung, die ein solches Verbot betreffen könnte, Klarheit schaffen. Auch wenn Mill auf die Solidarität der anderen Klassen der Gesellschaft zählt, kann es nicht das Ziel sein, die Arbeiter in Abhängigkeit zu halten. Niemand kann ihre Ziele so gut vertreten wie sie selbst. In diesem Sinne sollen sie durch mora­ lische und intellektuelle Bildung aus ihrer unwürdigen Situation befreit werden, bzw. sich selber befreien können. Mill ist dabei zwar skeptisch, was ihre aktu­ elle Erziehung betrifft, sieht sich aber als „Anwalt“ ihrer Interessen, die er darin sieht, sie quasi durch Hilfe zur Selbsthilfe zu emanzipieren und ihre Situation zu verbessern. (Vgl. Ten 1998, S. 372; S. 377; S. 384) […] subjecting them to various influences, including the influences, though not the direc­ tion, of abler persons, in order to advance their mental cultivation and thereby to broaden their interests. (Ten 1998, S. 372)

Mill unterstützte und befürwortete Initiativen im Parlament, die eine Ausweitung des Wahlrechts für Arbeiter zum Ziel hatten.7 Für ihn ist in den Considerations on Representative Government zentral, dass die Arbeiter im Parlament Einsitz

7 Für Details zu Mills Tätigkeit als Abgeordneter vgl. Kinzer et al. 1992.

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nehmen und ihre eigenen Interessen vertreten können, aber nicht zur Mehrheit, die alle anderen dominieren, werden.8 Der weit wichtigere Effekt der Integration in die politische Arbeit ist in der auch in On Liberty angesprochenen Erfahrung und in dem erzieherischen Effekt solch aktiver Beteiligung am politischen Leben zu sehen. Menschen, die lernen nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Gemeinschaft zu denken und zu handeln, erlangen ein hohes Maß an Erfahrung und Kompetenz, wovon die Gesellschaft nur profitieren kann. Um die Arbeiter aus ihrer Isolation, in die sie sich als Gegenspieler der Arbeitgeber und der Besit­ zenden begeben haben, zu befreien, ist ihre Mitwirkung am politischen Leben ideal. Sie profitieren davon, mit gebildeten Leuten Umgang zu pflegen und von ihnen zu lernen. Sie bekommen Einblick in die Realität anderer und lernen, ihre Interessen zu erkennen und zu vertreten. Schließlich profitiert die ganze Gemein­ schaft von der Integration aller Klassen der Bevölkerung; Spannungen werden abgebaut und im Parlament können Diskussionen über die Verbesserung der Situation für alle geführt werden. (Vgl. Ten 1998, S. 372; S. 376–377) Für Mill ist entscheidend, dass die Veränderung der Lebensumstände nur durch die Betroffenen selbst in dauerhafter Weise erreicht werden kann. (Vgl. CW XIX, S. 405–406) Die Tatsache, dass Mill das Recht auf Fortpflanzung allein von den finanzi­ ellen Mitteln abhängig macht, stellt die Frage nach der gleichberechtigten Stel­ lung aller in der Demokratie. Darf ein Reicher, der seine Kinder zwar ausbildet, sie aber vielleicht misshandelt, unbeschränkt Familie haben, während liebevolle arme Eltern keine oder nur ein Kind haben dürfen? Gerade Mill, ist man versucht weiter auszuführen, müsste doch aus eigener Erfahrung wissen, dass eine Kind­ heit, die nur aus Bildung auf höchstem Niveau besteht, nicht alles ist, was für Kinder wichtig ist. Die folgenden Beispiele aus weiteren Schriften zeigen, dass Mill wohl andere Lösungen vor Augen hat als ein Verbot. In der Autobiography zeichnet Mill ein scheinbar negatives Bild der Arbeiter­ schaft seiner Zeit, beschreibt sie als unwissend, selbstsüchtig und roh: We were now much less democrats than I had been, because so long as education continues to be so wretchedly imperfect, we dreaded the ignorance and especially the selfishness and brutality of the mass: […]. (CW I, S. 239)

8 Mill plädiert in den Considerations on Representative Government für eine proportionale Verteilung der Sitze im Parlament, die es keiner Schicht der Bevölkerung erlauben soll, die anderen zu dominieren. Deshalb sollen gut Ausgebildete beispielsweise auch eine stärker ge­ wichtete Stimme erhalten als die schlechter ausgebildeten. Eine Übersicht über Mills For­ derungen findet sich z. B. in Ten 1998. Weitere Ausführungen zu dieser Forderung finden sich in diesem Beitrag im Abschnitt „Elite, politische Teilhabe und Erziehung“.

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Dieses negative Urteil bezieht sich aber auf die aktuelle Situation und sagt nichts über das Potenzial der Angehörigen dieser sozialen Schicht aus. Mill ist über­ zeugt, dass die Arbeiter mit Hilfe universaler Bildung und der Teilhabe am poli­ tischen Leben schnell Fortschritte in moralischer und intellektueller Hinsicht machen und auch ihre materielle Situation verbessern können. Und davon wird die ganze Gesellschaft profitieren. (Vgl. Ten 1998, S. 394) In seinen Principles of Political Economy behandelt Mill Beispiele, die in seinen Augen vielversprechend sind, um die Lage der einfachen Menschen9 zu verbessern und sie mit einfachen Veränderungen zu verantwortungsvollen und selbständigen Mitgliedern der Gesellschaft zu machen. Dieses Beispiel10 – Mill beschreibt die Lage der Arbeiter in verschiedenen Ländern – scheint ganz über­ einzustimmen mit Mills Bild der Menschen, die sich selbst weiterentwickeln und Verantwortung übernehmen können. In diesem Fall geht es nicht um die Industriearbeiter, sondern um Landarbeiter. Mill beschreibt den Unterschied der besitzenden Kleinbauern im Gegensatz zu Tagelöhnern und den positiven Effekt, den diese Verantwortung zeitigt. Während Tagelöhner und Arbeiter im Allgemeinen nicht in die Zukunft planen und zur Verschwendung neigen, sind besitzende Kleinbauern11 und solche, die es werden möchten, an der Zukunft interessiert und neigen zum Sparen, ja manchmal fast zu Geiz. (Vgl. CW II, S. 261) Sie übernehmen also Verantwortung und planen ihre Zukunft, was sich positiv auf die Gesellschaft auswirkt. Dies zeigt sich auch bei der Familienpla­ nung. Bauern, die nicht nur gerade so viel besitzen, um in Armut darauf zu exis­ tieren, sondern genug, um es zu einem gewissen Wohlstand zu bringen, werden sich Gedanken über den Erhalt und die Vermehrung ihrer Mittel machen. Und da im Falle vieler Kinder das Land aufgeteilt wird oder es nicht möglich ist, allen gleichermaßen etwas zu vererben (in Fällen, in denen nur ein Kind das Land erbt), machen sich solche Familien auch Gedanken über die Anzahl Nach­ kommen, die sie sich leisten können. (Vgl. CW II, S. 262) M. E. Bradley formuliert es als Zusammenhang von Produktivität, Familiengröße und Wohlstand. Jeder Eigentümer oder Pächter mit einem langfristigen Vertrag wird das Verhältnis von Arbeitskräften (also Familienmitgliedern), Produktivität und Wohlstand optimieren und je nach Lebensumständen mehr oder weniger Kinder haben wollen – gerade auch, um den erworbenen Wohlstand nicht aufs Spiel zu

9 Mill war sich der Probleme der Armen durchaus bewusst; dies war der Grund dafür, dass er sich ausführlich mit dem Sozialismus auseinandersetzte. (Vgl. Ten 1998, S. 389) 10 Vgl. Principles of political economy, Book II, in: CW II. Für die Frage des Bevölkerungswachstums ist vor allem Kapitel 7 dieses zweiten Buches interessant. 11 Mill spricht hier von „peasant proprietor“. (Vgl. z. B. CW II, S. 261)

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setzen. (Vgl. Bradley 1987, S. 187–189) Während Arbeiter oder Tagelöhner immer in Armut leben, da die Einkommen so gering sind, dass nichts anderes möglich ist, haben diese Landbesitzer im kleinen Rahmen die Möglichkeit, sich Wohl­ stand zu erarbeiten. Dieses Beispiel soll zeigen, dass Mill keineswegs nur schlecht über die unterste Gesellschaftsschicht dachte. Er war sich wohl bewusst, dass die Situ­ ation der Arbeiter und Tagelöhner auch kaum ein anderes Handeln erlaubte, da sie aufgrund ihres spärlichen Einkommens niemals in der Lage waren, ihr Leben zu verändern oder Ersparnisse anzulegen; weshalb hätten sie also über die Zahl ihrer Nachkommen nachdenken sollen? Mill legitimiert zwar im Falle drohender Überbevölkerung das Eingreifen des Staates, es ist aber für ihn ein Thema gewis­ ser Länder auf dem Kontinent. (vgl. CW XVIII, S. 304) Für England macht er keine Aussage, und aufgrund seines Plädoyers für Bildung und Selbstverantwortung leuchtet ein, dass das Prinzip der kleinbäuerlichen Landbesitzer ganz in seinem Sinne ist. Dafür spricht auch, dass Mill die Zukunft der Arbeiter in einer aktiven demo­ kratischen Rolle sieht. Dies soll auch die Vertretung ihrer Interessen innerhalb der Unternehmen einschließen. Seiner Ansicht nach wird Bildung und politische Beteiligung zu einer Stärkung der Arbeiterschaft und ihrer Verbände führen. Mills Ideal ist aber nicht ein Gegeneinander von Arbeitern und Besitzenden, sondern ein Miteinander. Die Arbeiter sollen in Kooperation mit den Eigentümern der Unternehmer aktiv die Lohnpolitik gestalten und ihre Interessen vertreten. So sind sie nicht nur Angestellte, sondern übernehmen Verantwortung für die Zukunft des ganzen Unternehmens. (Vgl. Baum 2007, S. 113–114; vgl. Ten 1998, S. 386–388) Die Zeiten, in denen die Eigentümer und Besitzenden die Arbeiterschaft bevormundeten, sind für Mill vorbei. The poor have come out of leading strings, and cannot any longer be governed or treated like children […] Modern nations will have to learn the lesson, that the well-being of a people must exist by means of the justice and self-government […] of individual citizens. (CW III, S. 763, zitiert in Baum 2007, S. 113)

In diesem Zusammenhang steht auch wieder das Thema der Überbevölkerung im Raum. Die verbesserte Bildung der Arbeiter wird auch einen Einfluss auf die Geburtenzahl haben. Frauen werden sich nicht mehr nur als Mütter sehen, sondern auch ihren Platz in der Arbeitswelt wahrnehmen wollen. (Vgl. Ten 1998, S. 385) Diesen Gedanken könnte man im Sinne des Beispiels der Landarbeiter weiterführen. Arbeiter, die an den finanziellen Geschicken ihres Unternehmens beteiligt werden (für Mill wäre auch eine Art Teilhaberschaft denkbar (vgl. Baum 2007, S. 113–114)) haben ebenso die Möglichkeit, einen gewissen, wenn vermut­

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lich auch bescheidenen, Wohlstand zu erwirtschaften.12 D. h. auch hier würde ein Punkt erreicht, an dem die Frage nach der Anzahl Kinder eine Rolle zu spielen beginnt. Eltern werden sich genauer überlegen, wie viele Kinder sie ernähren können und auch, wie viel ihres Wohlstandes sie für weitere Kinder aufzugeben bereit sind. Abschließend lässt sich sagen, dass die Beschränkung der Geburtenzahl für ärmere Bevölkerungsschichten, liest man die oben genannten Texte, nicht Mills bevorzugtes Mittel ist, um die Lage überbevölkerter Nationen zu verbessern, sondern vielmehr Bildung als Nährboden für Selbsthilfe. Bildung und Selbstver­ antwortung sind demnach der Weg zu einer moderaten Bevölkerungsentwick­ lung. Mill, der dafür plädiert, bedürftige Eltern finanziell zu unterstützen, damit sie ihre Kinder ausbilden können, kann also in dem Sinne gelesen werden, dass eine solche Unterstützung weiterhin möglich sein soll, die armen Bevölkerungs­ schichten aber möglichst aus dieser Abhängigkeit befreit werden sollen, um ihre Interessen selber zu vertreten.

6.6 Freiheit, Entwicklung und Fortschritt Die Freiheit, wie Mill sie anstrebt, soll die Menschen befähigen, nützliche Mitglie­ der der Demokratie zu werden. Erziehung ist die Basis des Fortschritts, da sich der Mensch, wie oben aufgezeigt, nur durch sie weiterentwickelt. Entwicklung muss es auf allen Ebenen der menschlichen Natur geben: die rationalen Fähig­ keiten müssen geschult, „kultiviert“, werden, aber ebenso die moralischen und sozialen. (Vgl. Donner 2007, S. 256–257) Während in der Kindheit die Erziehung durch Lehrpersonen erfolgt (die hier wohl im weitesten Sinne zu verstehen sind), wird der Einzelne im Erwachsenenalter selbst für seine weitere Entwicklung, seine Selbsterziehung, verantwortlich sein. (Vgl. Donner 2007, S. 256) Ein positiver Effekt der Selbstverwaltung der Bürger – neben der Aneig­ nung praktischer Erfahrung – ist, dass der Einfluss des Staates beschränkt wird, nachdem er in Sachen Erziehung und Bildung gerade auf den vorangehenden Seiten des fünften Kapitels von On Liberty etwas erweitert wurde.13 Die Experimen­

12 Angesichts der prekären Lage der untersten Schichten der Bevölkerung befasste sich Mill mit Sozialismus und Kommunismus, distanzierte sich in aber in vielen Punkten von diesen Ideologien. (Vgl. Baum 2007; vgl. Ten 1998) 13 Der Staat darf ja zugunsten der Kinder ins Familienleben eingreifen und Eltern bestrafen, die ihren Kindern Bildung nicht im ausreichenden Mass ermöglichen. Ebenso muss der Staat Familien

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tierfreude, die für Mill unabdingbar für den Fortschritt ist, darf nicht Monopol des Staates sein. Bürger und Verbände sollen verschiedenste Erfahrungen machen dürfen (und diese sind nicht nur auf den Bereich politischer Selbstverwaltung beschränkt), während der Staat lediglich die Aufgabe hat, diese Erfahrungen zu sammeln und anderen zugänglich zu machen. (Vgl. CW XVIII, S. 305–306) Der Staat ist somit ein Gefäß des Wissens für alle, er darf aber keine aktive Rolle in der Erfahrungsfindung spielen. Er darf auch nicht handeln, eingreifen oder ein­ schränken, sofern keine Gefahr für die Gesellschaft besteht. Ob der Verwaltung und der Verfassung in einer repräsentativen Demokratie nicht eine aktivere Rolle zugedacht werden sollte, mag hier dahingestellt bleiben. Teil des Fortschritts ist gerade auch das Verhältnis von Arbeitern und Besit­ zenden, wie es oben besprochen wurde. Der Fortschritt entwickelt sich hier dank der neuen kooperativen Zusammenarbeit von Arbeitern und Arbeitgebern, die Mill als moralische Revolution sieht und viel höher gewichtet als die materiellen Verbesserungen, die die Arbeiter zu erwarten haben. (Vgl. Ten 1998, S. 387) It is scarcely possible to rate too highly this material benefit, which yet is as nothing com­ pared with the moral revolution in society that would accompany it: the healing of the standing feud between capital and labour; the transformation of human life, from a conflict of classes struggling for opposite interests to a friendly rivalry in the pursuit of a common good to all, the elevation of the dignity of labour; a new sense of security and independence in the laboring class; and the conversion of each human being’s daily occupation into a school of the social sympathies and the practical intelligence. (CW III, S. 792)

Diese Zusammenarbeit in Form einer freundschaftlichen Rivalität verändert das Zusammenleben der Menschen verschiedener Gesellschaftsschichten und schult die sozialen Sympathien. Für Entwicklung und Fortschritt bedarf es nicht nur der Erziehung, sondern auch der Freiheit, so zu leben und zu denken, wie es einem entspricht. Wie oben erwähnt, ist für Mills Fortschritt wesentlich, dass einzelne herausragende Geister die anderen instruieren und ihnen aufgrund ihrer Lebensexperimente im wei­ testen Sinn, die sie auf der Suche nach ihrem persönlichen Lebensglück gewagt haben (vgl. Ackermann 2010, S. 817–18), neue Wahrheiten aufzeigen. Es geht nicht darum, anderen die Meinung aufzuzwingen – dies wäre die Haltung eines Despoten – es geht darum, den Leuten neue Erkenntnisse zugänglich zu machen. Zusätzlich zur Freiheit, so zu leben und zu denken, wie es einem entspricht, ist

unterstützen, die finanziell nicht in der Lage sind, ihren Kindern Bildung zu ermöglichen, wie wir in den vorangehenden Abschnitten dieses Beitrags gesehen haben.

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die freie Diskussion dazu unbedingt notwendig. (Vgl. Donner 2007, S. 255–256; vgl. dazu auch den Beitrag von Peter Niesen in diesem Band.)

6.7 Elite, politische Teilhabe und Erziehung Im Zusammenhang mit Entwicklung und Fortschritt stellt sich die Frage nach Mills Elitedenken, das ihm oft vorgeworfen wird. (Vgl. z.  B. Garforth 1980) Im Schlusskapitel von On Liberty erklärt Mill, dass es äußerst schlecht wäre, würde der Staat die begabtesten und fähigsten Köpfe in seine Dienste nehmen. Denn diese könnten die anderen leicht dominieren und somit stünde die Bürokratie über allem, läge in den Händen der Intelligenz des Landes, die die übrigen bevor­ mundeten. Und das Volk wäre daran gewöhnt, sich auf diese zu verlassen. Die Menschen würden also nicht zur Freiheit und Selbstverwaltung, sondern zum Verwaltet-Werden erzogen. (Vgl. CW XVIII, S. 306–307) Ist dies nun als elitär abzutun, als Denken, in dem Mill an der Idee der intel­ lektuellen Macht der Mittelklasse hängt? Das Recht auf Erziehung, das für alle ebenso gelten soll wie das Recht auf eine eigene Meinung zeigt, dass Mill die Gleichheit der Menschen ins Zentrum stellt. Er setzt auf das Potenzial des Einzel­ nen, das er nicht an der Herkunft festmacht, wie sein Bild des Menschen als sich entfaltender Baum verdeutlicht, sondern das in jedem Individuum steckt (vgl. CW XVIII, S. 263). Nun ist nur die Frage, welchen Nährboden der einzelne Baum hat, um sich voll entfalten zu können. Die im vorangehenden Abschnitt besprochenen Ansichten über die Arbei­ terklasse scheinen auch gegen das elitäre Bild zu sprechen. Mill sagt, dass die gebildeten Menschen sich nicht als Lehrer oder Vormund der Arbeiter aufspielen sollen, sie sollen Einfluss nehmen. Dies sollte eher als Anregung zum Denken und zur Weiterentwicklung der noch kaum gebildeten Arbeiter gesehen werden, nicht als elitäre Einstellung, dass man die einfachen Leute wie Kinder belehrt. Mill geht hier von seinen eigenen Erfahrungen aus, wie er sie in der Autobiography beschreibt, und sieht die Erziehung, wie sein Vater sie seinen Kindern angedeihen ließ, als Vorbild. Diese wird von ihm vor allem wegen ihrer mora­ lischen Qualitäten geschätzt, wie der Erziehung zu Sittlichkeit, Bescheidenheit und Toleranz. Auch die Tatsache, dass er in Bezug auf Religion „neutral“ erzogen wurde, ist für Mill hinsichtlich Erziehung allgemein zentral. (Vgl. CW I, S. 45) In diesem Zusammenhang muss kritisch angemerkt werden, dass das Beispiel gerade zeigt, wie sehr eine solch „ideale“ Erziehung von den Eltern abhängig ist: Ohne die notwendigen Mittel ist es den Eltern nicht möglich, sich den Kindern so intensiv zu widmen. Ebenso müssen sie selbst gebildet sein und bestimmte Cha­ raktereigenschaften mitbringen, um diese Rolle so ausfüllen zu können (und aus­

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füllen zu wollen). Außerdem steht dieses Erziehungsmodell im Kontrast zu den Erziehungsvorstellungen der Eltern, denen die Vermittlung ihrer Religion an ihre Kinder ein Anliegen ist, was, wie bereits oben angesprochen, sich nicht gänzlich von den zu lernenden Fakten trennen lassen dürfte – oder die Eltern eine solche Trennung gar nicht wollen. Zu Mills Verteidigung kann angeführt werden, dass er sich, wie er in der Autobiography schreibt, sehr wohl bewusst war, dass eine gute und unentgeltli­ che (vom Staat nicht vergütete) Ausbildung ein Privileg ist. So achtete sein Vater streng darauf, dass die Bildungsvorteile seines Sohnes nicht zum Bildungsdün­ kel wurden. (Vgl. CW I, S. 35–37) Ebenso betont Mill, wie wichtig die Erfahrung für ihn war, im Ausland andere Ansichten kennengelernt zu haben. Dies hat ihn davor bewahrt, alles nur vom englischen Standpunkt aus zu betrachten, eine Schwäche, die er sogar seinem Vater zuschrieb. (Vgl. CW I, S. 63) Mill sieht also durchaus, dass Bildung nicht allen möglich ist und die Herkunft und die Möglich­ keiten, die sich dadurch eröffnen, einen Einfluss auf das Bildungsniveau haben. Zu ergänzen wäre hier auch, dass mit John Stuart und James Mill, die beide hoch gebildet waren, zwei außergewöhnlich begabte Persönlichkeiten im Fokus stehen (Vgl. Cavenagh 1969, viii). Ihnen fielen das Lernen und die intellektuelle Arbeit leicht, sie konnten die ihnen gebotenen Möglichkeiten in bester Weise nutzen. Mill kritisiert allerdings auch die Methode seines Vaters, der mit Demütigung und Angst seine Kinder zum Lernen anhielt, wie wir gesehen haben. Mills Aussage zur politischen Selbstverwaltung, im Rahmen derer der Ein­ zelne unter anderem seine Selbsterziehung fortführen soll, führt zur Frage, inwie­ weit dies in England zu seiner Zeit für den Einzelnen möglich war. Dasselbe gilt für den Zugang zu Bildungseinrichtungen. Im 19. Jahrhundert waren in England kei­ neswegs alle Männer wahlberechtigt. Der Kreis der Wahlberechtigten wurde zwar immer wieder erweitert, aber erst 1918 wurden alle Männer ab 21 zur Wahl zuge­ lassen. Die Frauen wurden ihnen erst ab 1928 gleichgestellt, denn 1918 galt das Wahlrecht nur für Frauen ab 30 Jahren. Der Kreis der wahlberechtigten Männer wurde im 19. Jahrhundert nur langsam und zunächst aufgrund des Besitzstandes erweitert; Vermögen und Eigentum bestimmten also den Kreis derer, die mitre­ gierten. (Vgl. Dvorak 2001, S. 184–187) National organisierte Bildung wurde in England erst fünfzig Jahre später eingeführt als auf dem Kontinent. Es gab zwar in gewissen Regionen ein Netz an Grundschulen, diese wurden aber weder auf ihre Qualität geprüft noch gab es eine geregelte Lehrerausbildung oder einen Lehr­ plan. Andere Länder wie Preußen waren hier weit voraus. Die Zahl der erwach­ senen Analphabeten in England lag auch im Jahr 1850 noch um 30 %, und damit hinter den USA und Preußen zurück. (Vgl. Green 1990, S. 6–11; S. 24) Schulen und Erziehung sind also nicht für alle erreichbar, ebenso wie poli­ tische Teilhabe und die durch diese Partizipation gewonnene Selbsterziehung

Freiheit durch Erziehung und Erziehung zur Freiheit 

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nicht allen zugänglich sind. In diesem Sinne muss Mills Bild der Erziehung als idealistisch gelten. Eltern zur Erziehung der Kinder zu verpflichten würde auch bedingen, dass Schulen in Reichweite sein müssten, zumindest für alle, deren Eltern nicht wie Mills Vater die Erziehung selbst übernehmen können. Zur Ver­ teidigung Mills muss man anführen, dass seine Vision sicherlich in die Zukunft gerichtet ist und nicht an seiner Gegenwart gemessen werden sollte.14 Dennoch: Lässt nicht gerade Mills in den Considerations on Representative Government angeführte Forderung nach höherem Stimmengewicht für gut ausge­ bildete Menschen auf eine elitäre Grundeinstellung schließen? (Vgl. Anmerkung 8 in diesem Text.) Ryan verteidigt Mill, indem er darauf verweist, dass es sein Ziel ist, die bestehenden aristokratischen Seilschaften durch eine Aristokratie zu ersetzen, zu der man sich die Zugehörigkeit durch Verdienste und nicht durch Vererbung sichert.15 Gerade die Möglichkeit, sich durch Kompetenz und Bildung Zugang zu diesem Kreis der führenden neuen „Aristokraten“ zu verschaffen, soll Anreiz für die Menschen aller Schichten sein, sich um Bildung und Erziehung zu bemühen. Denn auch den ärmsten Mitgliedern der Gemeinschaft soll der Weg in diese Elite offenstehen, wenn sie über die Fähigkeiten und die Bildung verfügen. (Vgl. Ryan 2013, S. 210) Ryan betont, dass Mill die neuen Leistungsaristokraten als hochgebildete Experten sieht, die bei der Umsetzung von politischen Strate­ gien die in ihrem Fachgebiet erworbenen Kompetenzen und ihr Wissen einbrin­ gen.16 Das heißt, dass je nach Fragestellung die einen oder anderen Spezialisten mit der Bearbeitung einer Thematik betraut werden. Mill sieht diese neuen Aris­ tokraten aber nicht nur als hochgebildete Experten. Sie haben sich absolut dem öffentlichen Interesse zu verpflichten und müssen einen untadeligen Ruf haben. Er unterscheidet sie von den Politikern, wenn er fordert, dass die Legislative nicht die Gesetze entwerfen soll, da Politikern die neutrale Sicht darauf fehle. Gerade hier sollen Fachleute, die selbst nicht emotional in das politische Alltagsgeschäft verstrickt sind17, mit all ihren Kompetenzen und ihrem Engagement für die Allge­ meinheit eingesetzt werden. (Vgl. Ryan 2013, S. 211–212) Dies ist im Einklang mit

14 Dennoch wäre es interessant, sich zu fragen, wer unter Mills Bürgerbegriff fällt und wer nicht. Denn er fordert, wie weiter oben erwähnt, die Sicherstellung der Bildung für alle Kinder, die als Bürger des Staates geboren werden. Dies zu diskutieren würde hier zu weit führen. 15 Ryan verwendet den Ausdruck Mills „aristocracy of merit“. (Ryan 2013, S. 211) 16 „[T]ask-oriented competence“ (Ryan 2013, S. 211). 17 Ryan bezieht sich darauf, dass Mill leidenschaftloses Expertenwissen fordert, wenn es z. B. um die Ausarbeitung von Gesetzen geht. „His [Mill’s] respect for expertise appeared again when he insisted that it was not the job of parliament to draft legislation; that required a dispassionate expertise that ‚political men‘ did not possess.“ (Vgl. Ryan 2013, S. 212)

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seiner bereits erwähnten Forderung, dass die Arbeiter ihre Belange selber in die Hand nehmen sollten, da sie selbst die Experten ihrer Situation seien.18 Diese neue Klasse von „Leistungsaristokraten“ ist für Mill entscheidend, wenn es um die Lenkung der öffentlichen Meinung in der Demokratie geht. Sie sind verantwortlich dafür, dass die öffentliche Meinung liberal und aufgeklärt ist und eben nicht reaktionär und repressiv. (Vgl. Ryan 2013, S. 211) Liest man also die obengenannte Forderung nach stärkerem politischem Gewicht der gut Aus­ gebildeten gemäß Ryans Interpretation, darf Mill kein elitäres Denken unterstellt werden; es unterstreicht aber, beachtet man die Fakten zum Zugang zu Bildung und politischer Partizipation, die oben gemachte Aussage, dass Mills Forderun­ gen zukunftsorientiert zu lesen sind. Ebenso scheint er bei seinem demokrati­ schen Ansatz einer Leistungsaristokratie, der eben Mitglieder aller Schichten angehören können, sofern sie genug Bildung besitzen, auch darauf zu setzen, dass diese untadeligen Experten ihre Kompetenzen im Sinne aller einsetzen werden.

6.8 Fazit: Erziehung zum Nutzen aller Bildung und Erziehung des Einzelnen in all ihren Facetten sind die Grundpfeiler des größtmöglichen Glücks für alle. Mill geht es hier um den Nutzen, den die Erziehung der Menschen für die Gesellschaft als Ganze hat. Denn wie er in der Einleitung erwähnt, ist die Nützlichkeit das Kriterium für die Entscheidung ethi­ scher Fragen. Diese Nützlichkeit soll aber im weitesten Sinn verstanden werden und immer im Hinblick auf den Menschen als ein sich kontinuierlich entwickeln­ des Wesen. (Vgl. CW XVIII, S. 224) Im Zusammenhang mit Mills Ausführungen überrascht jedoch, dass Kinder bevormundet werden müssen – stellt er sich doch sonst gegen jede Art von Beschränkung der individuellen Freiheit. Er begründet dies damit, dass sie vor den Folgen ihres eigenen Handelns geschützt werden müssen, da sie nicht die Reife haben, selbst zu urteilen. (Vgl. CW XVIII, S. 224) Francis Schrag interpretiert dies auch im Hinblick auf das Erreichen des größtmöglichen Glücks für alle. Man darf ein Kind zwingen, zu lernen, da es unmöglich in seinem Interesse liegen kann, unwissend und ungebildet zu sein. Spätestens als Erwachsener, als „reife“ Person, würde es dies ebenso bewerten. Auch ist es nicht so, dass das Kind schlechter dasteht und jemand anders auf

18 Vgl. den Abschnitt „Elterliche Verantwortung, die Arbeiterklasse und Geburtenkontrolle“ in diesem Text.

Freiheit durch Erziehung und Erziehung zur Freiheit 

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seine Kosten profitiert, wenn man es zum Lernen zwingt und bevormundet. Dies trägt zum Glück aller bei, auch zu dem der Kinder. (Vgl. Schrag 1977, S. 174–175; in dieser Art auch bei Nordenbo 1987, S. 175) Des Weiteren geht es um den Nutzen für die Gesellschaft. Sie kann, will sie weiter als Demokratie (basierend auf einer freien Verfassung) funktionieren, sich keine völlig ungebildeten Mitglieder leisten. Damit die Erwachsenen ihre soziale und politische Verantwortung und ihre Selbsterziehung wahrnehmen können, brauchen sie als Kinder zumindest eine minimale Erziehung. In diesem Sinne ist Mills Aussage zu verstehen, dass Eltern, die ihren Kindern keine Erziehung ermöglichen, auch wenn sie sie kostenlos bekommen könnten, nicht nur ein Verbrechen am Kind begehen, sondern auch ein moralisches Ver­ brechen19 an der Gesellschaft. (Vgl. CW XVIII, S. 302) Einerseits werden die Kinder im Hinblick auf ihr späteres Wesen geschädigt, andererseits verliert die Gesellschaft Menschen, die fähig sind, zu urteilen und im Sinne aller zu denken und zu handeln. Dies ist aber unabdingbar, sollen Demokratie und freiheitliche Verfassung weiter bestehen. Die Unterteilung in Kinder und Erwachsene erfolgt in Bezug auf die Erzie­ hung folgendermaßen: Kinder werden ausgebildet und lernen, während es das Privileg der Erwachsenen ist, das Erlernte und ihre Erfahrungen auf eigene Weise zu interpretieren und das Erlernte oder die Erfahrung anzuwenden, die in ihrem spezifischen Falle nützlich ist. (Vgl. CW XVIII, S. 262) Mill strebt also mit seinem Modell der Erziehung eine Erziehung zur Freiheit an; diese Freiheit ist wiederum wichtig für die Erziehung der nächsten Generation usw. Kinder sind also die Ausnahme, ihnen gegenüber dürfen sich Erwachsene paternalistisch verhalten, während Erwachsene dem antipaternalistischen Prinzip unterstehen. Dies wird in der Einleitung von On Liberty folgendermaßen begründet: It is, perhaps, hardly necessary to say that this doctrine is meant to apply only to human beings in the maturity of their faculties. We are not speaking of children, or of young persons below the age which the law may fix as that of manhood or womanhood. Those who are still in the state to require being taken care of by others, must be protected against their own actions as well as against external injury. (CW XVIII, S. 224)

Ridha Chaïbi führt aus, dass gerade dieses Kriterium, dass Kinder noch unter der Aufsicht von Erwachsenen stehen müssen, zentral ist. Denn Kinder können noch keine Verantwortung für ihr Handeln übernehmen, sie lernen erst, sich verant­ wortungsvoll zu verhalten. Ohne die Anleitung eines Erwachsenen können sie

19 „[M]oral crime“ (CW XVIII, S. 302).

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sich nicht entwickeln. Deshalb ist es wichtig, sie zu beaufsichtigen und anzu­ leiten  – zu ihrem eigenen Wohl. Denn ihre Unreife könnte auch jenen nützen, die ihre Unwissenheit missbrauchen und sie ausnutzen wollen (vgl. Chaïbi 2008, S. 226); denkbar wäre hier, um ein Beispiel zu nennen, dass Fabrikbesitzer Kinder20, die kaum Bildung genossen haben und so ihre Rechte nicht kennen, zu ungesetzlichen Bedingungen für sich arbeiten lassen, weil die Kinder angesichts ihrer mangelnden Bildung keine Möglichkeit haben, sich zu wehren. Dieses Bei­ spiel zeigt auch, was bereits in den vorangehenden Abschnitten besprochen wurde: Kinder haben ein Recht auf Erziehung, um ein erstrebenswertes Leben zu führen, d. h. um gerade nicht in eine solche Lage der Ausbeutung durch Arbeit­ geber zu kommen. Das Eingreifen in die Handlungen von Kindern hat einerseits zum Ziel, dass ihre Interessen ebenso wie die Interessen der Allgemeinheit wahrgenommen werden – etwas, das ein Kind noch nicht ermessen kann. Andererseits ist das Eingreifen eine erzieherische Maßnahme, denn so lernen Kinder auch, ihre Inter­ essen wahrzunehmen und zu verteidigen. (Vgl. Chaïbi 2008, S. 230) Die Kinder zu bevormunden, hat bei Mill den Sinn, ihnen auf den Weg der Selbständigkeit zu helfen. Sie sollen Verantwortung übernehmen und für andere Sorge tragen können. Dies heißt aber nicht, dass Mill ein abschätziges Bild von Kindern hatte. (Vgl. Chaïbi 2008, S. 234) Gerade die Verteidigung ihres Rechts auf Erziehung gegenüber der väterlichen Übermacht, die Durchsetzung dieses Rechts mit fast allen Mitteln, zeigt doch, dass Mill Kinder als Personen ernstund wahrnimmt. Niemand darf sich verhalten, als seien sie sein Besitz und Teil seiner selbst. Gerade weil sie ihre Rechte nicht wahrnehmen, d. h. ihren Zugang zu Bildung und Erziehung nicht selbst erstreiten können, ist es die Pflicht der Gesellschaft, sich für sie einzusetzen. Sonst wird gerade die Gesellschaft am meisten darunter leiden, keine handlungsfähigen Bürger hervorzubringen. Mills Bild der Erziehung schließt, und dies soll hier abschließend noch einmal betont werden, ein immenses Spektrum mit ein. Es geht um Kultivierung der Fähigkeiten und des Wissens im weitesten Sinne, um Wissen, Gefühle und Moral. Mill schließt sein letztes Kapitel von On Liberty mit der Feststellung, dass der Wert eines Staates dem Wert der Individuen entspricht. (Vgl. CW XVIII, S. 310) Und dieser Wert, den der Einzelne durch die Erfüllung seiner Pflicht gegenüber

20 Hier müssen die Kinder nicht mehr unbedingt Kinder sein. Sie können auch bereits Ju­gend­ liche oder Erwachsene sein, das Problem der Ausbeutung ist ähnlich. Allerdings ist die Lage der Kinder besonders prekär, weil sie aufgrund ihrer Unreife noch ungeschützter sind. Aber auch Erwachsene, die kaum Bildung genossen haben, sind eher Opfer von Ausbeutung und haben kaum Möglichkeiten, sich zu wehren.

Freiheit durch Erziehung und Erziehung zur Freiheit 

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der Gesellschaft erbringt, wird vor allem über die Erziehung des Individuums bestimmt. Mill stellt seinem Text ein Zitat von Wilhelm von Humboldt voran: The grand, leading principle, towards which every argument unfolded in these pages directly converges, is the absolute and essential importance of human development in its richest diversity. (CW XVIII, S. 215)

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Michael Schefczyk

7 „Grounds different from, though equally solid with“ – Wirtschaftliche und gesellschaftliche Freiheit in On Liberty Bereits in den ersten Sätzen der Freiheitsschrift gibt Mill bekannt, dass Über die Freiheit der Erläuterung und Verteidigung des Gedankens bürgerlicher oder sozialer Freiheit (AW III.1, S. 306; CW XVIII, S. 217) gewidmet ist.1 Doch erst im fünften und letzten Kapitel spricht er die Frage an, wie sich gesellschaftliche und wirtschaftliche Freiheit zueinander verhalten. Dort heißt es zunächst, dass Handel „ein gesellschaftlicher Akt“ (AW III.1, S. 416; CW XVIII, S. 293), eine soziale Interaktion sei; er fällt somit in den Bereich, in den Staat und Gesellschaft unter bestimmten Bedingungen eingreifen dürfen. Doch merkt Mill an, dass sich nach langen Auseinandersetzungen die Ansicht durchgesetzt habe, für Qualität und Preisgünstigkeit von Gütern sei am besten gesorgt, wenn deren Herstellung und Verkauf völlig frei geschehe und allein durch den Wettbewerb um Nachfrage kontrolliert werde. Es folgt der Satz: „Das ist die sogenannte Freihandelslehre, die auf anderen, aber ebenso belastbaren Gründen beruht wie das Prinzip individueller Freiheit, das in dieser Abhandlung verfochten wird.“2 (AW III.1, S. 416) Wenig später im Text hält Mill fest: „So wie das Prinzip der individuellen Freiheit nicht in der Freihandelslehre enthalten ist, so wenig hat es auch mit den meisten Fragen zu tun, die sich in Bezug auf die Grenzen dieser Lehre stellen, wie zum Beispiel, welches Ausmaß öffentlicher Kontrolle zulässig ist, um den Betrug durch Produktfälschung zu vermeiden, inwieweit die Arbeitgeber zu hygienischen Vorsorgemaßnahmen oder zu Maßnahmen zum Schutz von Arbeitern, die gefährlichen Berufen nachgehen, verpflichtet werden sollen.“ (AW III.1, S. 417; CW XVIII, S. 293) Das zentrale exegetische Problem besteht darin, dass Mill schreibt, die Freihandelslehre beruhe weder auf dem Prinzip individueller Freiheit, noch werde

1 Für kritische Anmerkungen und Verbesserungsvorschläge danke ich Angela Marciniak sowie den Teilnehmerinnen und Teilnehmern einer Konferenz zur Freiheitsschrift an der Leuphana Universität Lüneburg und eines Workshops zu Mill am Lehrstuhl für Praktische Philosophie der Universität Köln. 2 Im Original heißt es: „This is the so-called doctrine of Free Trade, which rests on grounds different from, though equally solid with, the principle of individual liberty asserted in this Essay.“ (CW XVIII, S. 293; Hervorhebung MS)

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sie durch dieses eingeschränkt.3 Dies erweckt den Anschein, als gebe es nach Mill zwei miteinander harmonierende, aber in Gehalt und Begründung unabhängige liberale Theorien: Auf der einen Seite eine Theorie des Wirtschaftsliberalismus, die auf Gründe gestützt ist, die Mill in Über die Freiheit nicht weiter spezifiziert, auf der anderen Seite einen gesellschaftlichen Liberalismus, der auf dem Freiheitsprinzip fußt. Man könnte dies als die These vom Zwei-Kammern-Liberalismus bezeichnen – und die in Gehalt und Begründung weitgehend im Dunkeln bleibende wirtschaftsliberale Theorie als Theorie X. Eine solche Interpretationsweise entspräche in manchen Hinsichten weltanschaulichen Tendenzen unserer Tage. Während das Prinzip gesellschaftlicher Freiheit kaum je offen kritisiert wird, gilt der ökonomische „Neoliberalismus“ in Europa zunehmend als eine durch schlechte Erfahrungen desavouierte Theorie.4 Die These vom Zwei-KammernLiberalismus würde erlauben zu sagen: Worin immer sie bestehen mag – Mills Theorie X muss (wie wir aufgrund unserer Erfahrungen mit Deregulierung und Privatisierung wissen) fehlerhaft sein; seine Rechtfertigung gesellschaftlicher Freiheit hat dagegen in Grundzügen Bestand. Demgegenüber möchte ich im Laufe der folgenden Ausführungen verdeutlichen, dass Mill keinen Zwei-Kammern-Liberalismus vertritt. Die Theorie X lässt sich unter Rückgriff auf Mills Prinzipien der Politischen Ökonomie bestimmen, und dabei zeigt sich, dass Begründung und Gehalt des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Liberalismus bei Mill nicht nur kompatibel, sondern über weite Strecken sogar kongruent sind.

3 Mill stellt nicht klar, ob er mit dem „Prinzip individueller Freiheit“ (Prinzip) meint, (a) dass das Individuum der Gesellschaft für rein selbstbezügliche Handlungen keine Rechenschaft schulde, oder (b) die beiden Grundsätze (maxims) (AW III.1, S. 415; CW XVIII, S. 292) meint, die zusammengenommen das „sehr einfache Prinzip“ (AW III.1, S. 315; CW XVIII, S. 223) bilden, das sein Essay verteidigt. Aus dem Kontext scheint mir aber eindeutig hervorzugehen, dass das Prinzip letzteres bezeichnet. 4 Als Neoliberalismus bezeichne ich eine politische Agenda, die durch folgende Merkmale gekennzeichnet ist: (1) Ablehnung expliziter verteilungspolitischer (egalitärer) Zielsetzungen; (2) Ablehnung einer hohen Staats- und Abgabenquote; (3) Befürwortung möglichst weitgehender Privatisierung und Deregulierung der Wirtschaft. Zu den Vordenkern des Neoliberalismus zählen Friedrich Hayek (1960/1978) und Milton Friedman (1962/1982), deren Ideen vor allem über die Mont Pèlerin Society und das Institute of Economic Affairs politisch wirksam geworden sind (siehe hierzu Cockett 1994, S. 100 ff.). Zum Reputationsverlust des Neoliberalismus siehe: Habermas 2008, Streeck 2013.



„Grounds different from, though equally solid with“ 

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7.1 Was versteht Mill in Über die Freiheit unter „Freihandelslehre“? Von der „Freihandelslehre“ (Lehre) lässt sich in einem engen und einem weiten Verständnis sprechen. Im engen Verständnis besagt die Lehre, dass der internationale Warentausch nicht durch Zölle und andere Hemmnisse von staatlicher Seite beschränkt werden sollte. Die theoretische Begründung für die Vorteilhaftigkeit freien internationalen Handels für alle Beteiligten geht auf das siebte Kapitel von David Ricardos Principles of Political Economy and Taxation (1817) zurück und gehört zu den politisch nachhaltig wirksamen Analysen der Klassischen Politischen Ökonomie. Freier Handel führe dazu, dass jedes Land seine Faktoren Kapital und Arbeit in jenen Wirtschaftszweigen einsetze, in denen es relativ kostengünstig produzieren könne: Wein in Portugal und Frankreich, Getreide in den USA und Polen, Gerätschaften in England (Ricardo 1817/1951, S. 133, S. 134). Als der achtzehnjährige Mill 1824 mit einem kraftvollen Essay im Westminster Review zur Debatte um die Abschaffung der Getreidezollgesetze beitrug, meinte er bereits davon ausgehen zu können, dass es nicht mehr nötig sei, einen Nachweis für die positiven Auswirkungen des Freihandels im Allgemeinen zu führen (Mill 1825/1967, S. 47–48). Dass es im Interesse der Nation sei, Güter dort günstiger zu kaufen, wo sie mit geringeren Kosten herzustellen seien, erklärt der jugendliche Mill für „self-evident“ (Mill 1825/1967, S. 47–48). In den Prinzipien fügt er neben diesem „direkten Vorteil“ des Freihandels weitere indirekte hinzu: Freihandel bringt ein differenzierteres System der internationalen Arbeitsteilung hervor, damit aber ein höheres Innovationstempo und schnellere Verbreitung von Technologien weltweit (CW III, S. 593). Der Handel mit wirtschaftlich avancierten Nationen kann weniger entwickelten Ländern Fortschrittsimpulse geben (CW III, S. 593–594). Die Intensivierung des Welthandels fördert das Lernen von anderen Kulturen und verwandelt die Einstellung gegenüber anderen Staaten: Weil jedes Land vom Freihandel profitiert, profitiert auch jedes Land vom Wohlergehen aller anderen Länder – über die Gemeinschaft der Interessen vermag sich möglicherweise so etwas wie eine kosmopolitische Solidarität zwischen den Mitgliedern der Weltbevölkerung entwickeln (CW III, S. 594). Wenn Mill in Über die Freiheit von der Lehre spricht, versteht er sie jedoch in einem weiteren Sinne als in dem üblichen und gerade beschriebenen. Sie betrifft in diesem Verständnis nicht nur den internationalen Handel, sondern Handelsbeschränkungen und Regulierungen der Produktion für Handelszwecke überhaupt: „Mittlerweile ist [...] anerkannt worden, wenngleich erst nach einem langem Kampf, dass beides, die Wohlfeilheit und die gute Qualität von Waren, am ehesten garantiert werden kann, wenn den Produzenten und Verkäufern vollkommen freie Hand gelassen wird, mit

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dem einzigen Vorbehalt, dass die Käufer gleichermaßen frei sind, sich selbst anderswo zu versorgen. Das ist die sogenannte Freihandelslehre [...]“ (AW III.1, S. 416; CW XVIII, S. 293, Hervorhebung MS)

Die Freihandelslehre im weiten Sinne besagt, dass für angemessene Güterpreise und -qualität am besten gesorgt ist, wenn in Produktion und Handel echter Wettbewerb herrscht und die Nachfragenden ihren Präferenzen entsprechend zwischen verschiedenen Angeboten wählen können. Ob Produkte aufgrund ihrer Eigenschaften oder ihrer Herstellungsweise fragwürdig sind oder ob ihr Preis zu hoch ist, sollen nicht hoheitliche Stellen bestimmen. Solche Urteile sind vielmehr Gegenstand der „souveränen Entscheidungen der Konsumierenden“, die über ihre Nachfrage Billigung oder Missbilligung von Preisen, Produkten und Produktionsprozessen zum Ausdruck bringen. Formelhaft gesprochen: Die Lehre im weiten Verständnis postuliert, dass die Kontrolle der unternehmerischen Entscheidungen in Handel und Produktion allein über die Konsum-Nachfrage stattfinden soll.

7.2 Lehre, Nichteinmischungs-Präsumtion und Kompetenzbegründung Was Mill in Über die Freiheit „Freihandelslehre“ nennt, stellt einen Anwendungsfall des Laisser-Faire- oder Nichteinmischungs-Prinzips (Non-Interference Principle) dar, das er recht ausführlich in den Prinzipien der Politischen Ökonomie erörtert. Dort argumentiert er zugunsten einer möglichst weitgehenden Einschränkung der Eingriffsbefugnis staatlicher Stellen in die Angelegenheiten der Gemeinschaft (CW III, S. 944) und scheint sich damit in völligem Einklang mit der Laisser-Faire-Haltung seiner Zeitgenossen zu befinden. Bei näherer Betrachtung zeigen sich aber in Gehalt und Begründung tiefe Differenzen zwischen Mill und dem Libertarismus seiner Zeit. Zwar teilt er die anti-interventionistische Grundhaltung seiner Landsleute, jedoch ist für ihn Laisser-Faire lediglich eine allgemeine Regel, von der Abweichung erlaubt oder sogar geboten sein kann (CW III, S. 944). Die so genannte „laisser-faire school“, die staatliches Handeln – ähnlich wie im zwanzigsten Jahrhundert Robert Nozicks Anarchy, State, and Utopia (1974/1999) – auf den Schutz der Person und des Eigentums vor Gewalt und Betrug einschränken möchte, beurteilt Mill als eine unhaltbare Extremposition. Mill sieht die Staatsskepsis seiner Zeit nicht als Ausdruck einer theoretisch ausformulierten politischen Weltanschauung, sondern als Resultat schlechter Erfahrungen. Zum einen habe das



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Land unter Regierungen gelitten, deren Machtgebrauch nicht am Gemeinwohl orientiert war; zum anderen seien ungeduldige Reformer nicht bereit gewesen, auf die Veränderung von Haltungen in der Gesellschaft zu warten, sondern hätten versucht, Fortschritt(e) unter Rückgriff auf die staatlichen Machtmittel gleichsam tyrannisch zu erzwingen. Mill führt diesen Punkt in den Prinzipien nicht weiter aus, merkt aber zumindest an, dass bestimmte Ziele nur über gesellschaftliche Debatten und daraus resultierende Einstellungsveränderungen erreicht werden könnten und nicht über staatlichen Zwang. Neben politischen Akteuren, die – mit Bentham gesprochen – „sinister interests“ verfolgen (siehe hierzu Schofield 2006, S. 109 ff.), zieht Mill also auch „sincere lovers of improvement“ und „impatient reformers“ (CW III, S. 799) als Gründe der vor allem in England zu beobachtenden Staatsskepsis in Betracht. Obwohl Mill (wie für einen Empiristen nicht anders zu erwarten) die epistemische Autorität schlechter Erfahrungen anerkennt, hält er die radikalen Schlüsse, die von vielen seiner Zeitgenossen daraus gezogen werden, für unangebracht. Insbesondere wäre es grundfalsch, Mill als Vertreter einer radikalen Ideologie der Minimalstaatlichkeit einzuordnen. Freilich, so merkt er an, werde eine solche Extremposition auch durch niemanden ernsthaft vertreten, weil sie einige Funktionen ausschlösse, die allgemein als unabdingbare Regierungsaufgaben angesehen würden (CW III, S. 936). Zu solchen notwendigen Staatsfunktionen zählt Mill all jene Aufgaben, die entweder im Begriff des Staates liegen oder die üblicher- und unstrittiger Weise von Regierungen übernommen werden. Zu den notwendigen Funktionen rechnet er die Definition von Eigentums- und Nutzungsrechten an privaten und gemeinschaftlichen Gütern (CW III, S. 801), die Verhinderung von Gewalt, Verrat und Betrug, die Durchsetzung von Verträgen, die gesetzliche Festlegung der Menge staatlich durchsetzbarer Vertragsformen (loc cit.), den Erlass von Formvorschriften für Verträge (CW III, S. 803), die Etablierung einer Gerichtsbarkeit und die Sorge um Unmündige (CW III, S. 803). Hinzu kommen die Produktion von Geld und die Festlegung von standardisierten Maßen, der Aufbau und die Aufrechterhaltung einer Straßen-Infrastruktur, der Bau von Häfen, Dämmen und Leuchttürmen sowie die Erhebung von Daten zur Produktion von ordentlichen Karten und Darstellungen: „Examples might be indefinitely multiplied without intruding on any disputed ground.“ (CW III, S. 803) Für den Umfang notwendiger Staatstätigkeit gibt es keinen „ring-fence of any restrictive definition“ (CW III, S. 304); die Gemeinsamkeit der notwendigen Staatsaufgaben besteht allein darin, dass sie durch Nutzenerwägungen zu rechtfertigen sind (CW III, S. 803–804). Von den notwendigen unterscheidet Mill die optionalen Staatsfunktionen. Mit „optional“ ist nicht gemeint, dass es im Belieben des Staates stehe, sich der entsprechenden Aufgaben anzunehmen oder nicht. Vielmehr bedarf es auch hier einer Nutzenbegründung – anders als bei den not-

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wendigen Staatsaufgaben ist aber die Erforderlichkeit einer staatlichen Aufgabenerfüllung „a subject on which diversity of opinion does or may exist.“ (CW III, S. 800). Mit anderen Worten, optional sind staatliche Aufgabenübernahmen, hinsichtlich derer grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten herrschen; notwendige Staatsaufgaben sind solche, bei denen kein vernünftiger Zweifel an der Nützlichkeit der staatlichen Regelungskompetenz besteht. Das Nichteingriffs-Prinzip versteht Mill entsprechend als eine Präsumtion, durch die Begründungslasten beim Nachdenken über optionale Staatsaufgaben verteilt werden. Es legt die Begründungslast auf die Schultern derjenigen, die für eine staatliche Aufgabenübernahme eintreten (CW III, S. 944). Seine Theorie der Staatsaufgaben lässt sich daher als deliberativer Beweislast-Liberalismus bezeichnen. Im Lichte des Beweislast-Liberalismus besagt die Lehre: Die Kontrolle der unternehmerischen Entscheidungen in Handel und Produktion soll allein über die Konsum-Nachfrage stattfinden, es sei denn, dass Nutzenüberlegungen für eine staatliche Regelung sprechen: Diejenigen, die für staatliche Eingriffe plädieren, haben starke Gründe dafür vorzulegen, inwiefern zu erwarten ist, dass dies zu wünschenswerteren Ergebnissen führt als ein Nicht­ eingreifen. Ein zentrales Argument für die Nichteingriffs-Präsumtion könnte man die Kompetenzbegründung nennen. So schreibt Mill in den Prinzipien: „(P)eople understand their own business and their own interests better, and care for them more, than the government does, or can be expected to do.“ (CW III, S. 942) In Über die Freiheit greift er diese Begründung auf, wenn es heißt: „Allgemein gesprochen gibt es niemanden, der so geeignet wäre, irgendein Geschäft zu leiten oder zu entscheiden, wie und von wem es geleitet werden soll, als diejenigen, die ein persönliches Interesse daran haben. Dieses Prinzip verurteilt alle die früher so üblichen Einmischungen der Gesetzgebung oder der Regierungsbeamten in die alltäglichen gewerblichen Vorgänge.“ (AW III.1, S. 433–434; CW XVIII, S. 305) Entgegen der anfänglichen Auskunft der Freiheitsschrift (AW III.1, S. 416; CW XVIII, S. 293), dass sich die Gründe für das Prinzip individueller Freiheit und für die Freihandelslehre unterschieden, macht Mill im weiteren Verlauf des fünften Kapitels die Kompetenzbegründung sowohl für das Prinzip als auch für die Lehre geltend. Wenn die Individuen ihre eigenen Interessen und Angelegenheiten besser verstehen als andere und zudem stärker motiviert sind, sich um sie zu kümmern, so werden sie in ihrer Rolle als Konsumenten in einer funktionsfähigen Wettbewerbsordnung effektivere Kontrolle über Handel und Produktion hinsichtlich Preis und Qualität von Gütern ausüben als Regierungen. Für Entscheidungen außerhalb der Sphäre wirtschaftlicher Transaktionen gilt Entsprechendes.



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Mill unterstreicht aber im Sinne seines deliberativen Beweislast-Liberalismus, dass die Kompetenzbegründung die Lehre lediglich im Sinne einer allgemeinen Regel stützt. Sind Nachfrager nicht in der Lage, Preis und Qualität von Gütern angemessen zu beurteilen, so kann staatliches Eingreifen gefordert sein, um deren Interessen zu schützen (CW III, S. 947ff.). Was die Freihandelslehre im engen Sinne betrifft, so ergänzt Mill die Kompetenzbegründung durch Analysen der Schädlichkeit von Schutzzöllen zugunsten der einheimischen Produzenten und von anderen Einschränkungen des freien internationalen Handels. Als weitere Beispiele schädlicher staatlicher Einmischungen nennt er in den Prinzipien die Gewährung von Monopolmacht – wobei er temporäre Monopole in Form von Patenten ausdrücklich ausnimmt (CW  III, S. 928–929) –, sowie Preiskontrollen oder Gesetze gegen vermeintlichen Zinswucher (CW III, S. 922–926). In allen genannten Fällen kann nach Mill gezeigt werden, dass der angestrebte Interventions-Zweck nicht erreicht wird – und insofern gilt, was er in Über die Freiheit sagt: Abweichungen vom Freihandel „sind nur deshalb nicht richtig, weil sie nicht wirklich die Ergebnisse hervorbringen, die gewünscht werden.“ (AW III.1, S. 417; CW XVIII, S. 293). Mit anderen Worten, die Lehre beruht einerseits auf der Kompetenzannahme, anderseits auf Argumenten, denen gemäß Versuche, im Interesse der Konsumierenden für günstige Preise und gute Produkte auf dem Wege autoritativer Eingriffe in den Marktprozess zu sorgen, nicht die erhofften Wirkungen zeitigen.

7.3 Nichteingriffs-Präsumtion und deliberativer Beweislast-Liberalismus Für das Verständnis des Beweislast-Liberalismus ist nun wichtig, dass Mill zwischen zwei Interventionsformen differenziert, namentlich autoritativen (Gehorsam fordernden) und nicht-autoritativen Eingriffen („authoritative“ und „unauthoritative interventions“ (CW III, S. 936 ff.)), die mit unterschiedlichen Begründungsanforderungen verbunden sind. Autoritative Eingriffe sind solche, bei denen der Staat sanktionsbewehrte Vorschriften oder Verbote erlässt; im Fall von nicht-autoritativen Eingriffen macht der Staat hingegen keinen direkten Gebrauch von seiner Zwangsgewalt, sondern beeinflusst das Handeln der Bevölkerung durch die Verbreitung von Ratschlägen und Informationen oder durch die Gründung von Einrichtungen, von deren Leistungen die Bevölkerung aus freien Stücken Gebrauch machen kann. Mill betont, dass autoritative Formen staatlichen Eingreifens über stärkere Rechtfertigungsgründe verfügen müssen als nicht-autoritative. In den Prinzipien

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spricht er von „absoluter Notwendigkeit (CW III, S. 938) und der „Bürde starker Gründe“ (CW III, S. 944), die erforderlich seien, um autoritative Einschränkungen der individuellen Freiheit zu rechtfertigen. In vollständiger Übereinstimmung mit den Ausführungen in Über die Freiheit postulieren die Prinzipien, dass autoritative Eingriffe in die persönliche Sphäre in jedem denkbaren Falle illegitim seien. Hier stößt die Nutzung der autoritativen Staatsmacht auf ein absolutes Interventionsverbot. Den absolut geschützten Bereich des Individuums umschreibt Mill dabei in beiden Schriften fast deckungsgleich: „Rechenschaft schuldet jemand der Gesellschaft nur für Handlungen, die andere betreffen. In dem, was nur ihn angeht, ist seine Unabhängigkeit, mit völligem Recht, absolut. Über sich selbst, über seinen Körper und Geist, ist der Einzelne der Souverän.” (AW III.1, S. 316; CW XVIII, S. 224; vergleiche CW III, S. 938) Sowohl in den Prinzipien als auch in Über die Freiheit geht er jedoch davon aus, dass nicht-autoritative Eingriffe in die persönliche Sphäre auf dem Wege des Überredens oder Überzeugens legitim sein können (siehe AW III.1, S. 316; CW XVIII, S. 224). Mill macht also auch in den Prinzipien von dem Gedanken rein selbstbezüglicher Handlungen Gebrauch und erklärt, wie in Über die Freiheit, dass Staat und Gesellschaft kein Recht haben, diese Handlungen zu verbieten oder vorzuschreiben. Doch ist – wie gesagt – auch für Handlungen, die sich auf die Interessen Anderer auswirken, der Interventionsrahmen eng gesteckt. Zum einen sind die autoritativen Eingriffsbefugnisse nach Mill auf Fälle „absoluter Notwendigkeit“ beschränkt – damit dürfte einerseits gemeint sein, dass (a) der Eingriff der Abwehr einer Schädigung anderer oder der Bereitstellung eines öffentlichen Gutes dient und (b) beides nur durch einen solchen Eingriff zu bewerkstelligen ist; andererseits reicht es nicht aus, solche Notwendigkeit zu behaupten. Vielmehr müssen die Befürworter autoritativer Eingriffe – wie gesagt – den Nachweis führen, dass nur auf diesem Wege die Schädigung anderer abzuwenden oder das allseitig gewünschte Gut zu erlangen ist. Man hat Mill immer wieder vorgehalten, dass es kaum Handlungen gebe, die nicht auch andere beträfen (siehe etwa: Hayek 1960/1978, 145). Wende man Mills Kriterium an, so gerate die Sphäre, innerhalb derer die Individuen souverän über ihr Leben verfügen könnten, sicherlich entschieden kleiner, als dies seinen Vorstellungen entsprochen hätte. Zudem fragt sich, ob das Prinzip nicht die Regulierung fast jeden Handelns legitimieren könnte. Wenn nahezu alle Handlungen Wirkungen auf andere haben – und unter diesen wiederum unabsehbar viele die Interessen anderer Personen in je unterschiedlicher Form verletzen – so scheint aus dem Prinzip eine beinahe unbegrenzte Interventionsbefugnis zu folgen. Diese Schwierigkeit lässt sich durch zwei Hinweise abmildern. Zum einen verlangt Mill von Schädigungen, dass sie jemandes „Interessen“ berühren (AW III.1, S. 415; CW  XVIII, S. 292); den Begriff des Interesses wiederum präzisiert er als äußere



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Güter und Relationen, die Bedingungen des Wohlergehens einer Person sind.5 Bloßes Missfallen über die Erscheinung, die Ansichten oder Lebensweise anderer fällt insofern nicht unter den Begriff der Schädigung. Sind Interessen betroffen, so ist nach Mill zu prüfen, ob deren Schutz durch die moralische Gemeinschaft oder das Rechtssystem angebracht ist. Dies ist dann der Fall, wenn solcher Schutz der Allgemeinheit dient (AW III.1, S. 415–416; CW XVIII, S. 292–293). Gegen Ende des ersten Kapitels von Über die Freiheit nennt Mill einen Katalog von grundlegenden Rechten, der sich in die geistigen Freiheiten, die Lebensführungsfreiheiten und die Vereinigungsfreiheiten unterteilen lässt (AW III.1, S. 319; CW XVIII, S. 225–226). Diese Freiheitsrechte ermöglichen die autonome Bildung von Erwartungen und Plänen hinsichtlich des eigenen Lebens, deren Absicherung – um Mills markante Formulierung aus Utilitarismus aufzugreifen – jene „besonders wichtige() und bemerkenswerte() Art von Nützlichkeit“ (AW III.1, S. 505; CW X, S. 250–251) darstellt, die lexikographischen Vorrang vor weniger wichtigen und beeindruckenden Nutzenformen genießt. Die hochrangigen Interessen der Individuen werden darüber hinaus auch durch gesetzliche Rechte geschützt, deren Beständigkeit ihnen die Planung ihres Lebens erlaubt. Schädigungen bestehen somit in der ungerechtfertigten Verletzung oder Einschränkung der grundlegenden moralischen sowie der gesetzlichen Rechte eines Individuums. So hat der unterlegene Wettbewerber zwar unter Umständen ein schweres Schicksal, doch argumentiert Mill, dass er sich nicht auf die Schädigungsmaxime berufen könne, da der erfolgreiche Wettbewerber keines seiner moralischen Rechte verletze, sofern er sich an die Regeln gehalten und weder Betrug oder Zwang eingesetzt habe (AW III.1, S. 416; CW XVIII, S. 293). Zusammenfassend ergibt sich folgendes Bild: Mill bestimmt Schädigungen (im Sinne der Schädigungsmaxime) als Verletzungen individueller Rechte der Person und ihrer Freiheit. Daraus ergibt sich, dass staatliche Regulierungen nur dann legitim sind, wenn sie dem Schutz dieser Rechte dienen. Weil die Schädigungsmaxime als allgemeines Prinzip gedacht ist, muss sie auch für Einschränkungen der wirtschaftlichen Dispositionsfreiheit gelten. Darauf aufbauend lassen sich durch folgende drei Beweislastprinzipien Art und Gewicht der Nutzenerwägungen genauer bestimmen, die Abweichungen von der Nichteingriffs-Präsumtion rechtfertigen: 1. Der behauptete Netto-Eingriffsnutzen muss hochrangig sein. Dies ist dann der Fall, wenn durch die Intervention individuelle Rechte geschützt werden oder wenn allgemein gewünschte öffentliche Leistungen nur auf dem Wege des staatlichen Eingreifens zu erlangen sind. (Prinzip der Hochrangigkeit) 2. Der Eingriff muss notwendig sein in dem Sinne,

5 Siehe hierzu den Beitrag von Riley in diesem Band.

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dass der gewünschte Nutzen weder (a) durch ein nicht-autoritatives Staatshandeln noch (b) durch einen weniger intensiven autoritativen Eingriff in die Sphäre sozialer Selbstorganisation erreicht werden kann (Prinzip der geringsten EingriffsIntensität).6 3. Die Nutzenerwägungen müssen einen hohen Sicherheitsgrad aufweisen. Der Netto-Eingriffsnutzen – der sich aus der Verrechnung von Kosten (einschließlich Opportunitätskosten) und Nutzen ergibt – muss durch solide wissenschaftliche Gründe plausibel gemacht werden. Ein bloß behaupteter oder möglicherweise eintretender Netto-Regulierungsnutzen reicht nicht aus. (Prinzip des erwiesenen Netto-Nutzens). Für die Abschätzung des Netto-Regulierungsnutzens ist nach Mill auch zu bedenken, welche Effekte die staatliche Verantwortungsübernahme auf die Haltungen in der Bevölkerung haben. Er knüpft hier an Motive aus von Humboldts Ideen, zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1792) und Tocquevilles De La Démocratie En Amérique (1835) an, die beide tiefen Eindruck auf ihn gemacht haben. Eine freie Gesellschaft ist eine Gesellschaft von freien Menschen. Je mehr Verantwortung und Befugnisse der Staat an sich ziehe, desto mehr wachse die Gefahr, dass die Individuen die Fähigkeit verlören, für sich zu sorgen. Auf längere Sicht sei zu befürchten, dass die schöpferischen Kräfte eines Landes insgesamt erlahmen und die Bevölkerung für die Lösung aller Probleme den Staat herbeirufe (CW III, S. 943). Als letzten Punkt, den es bei der Abschätzung des Netto-Regulierungsnutzens zu bedenken gilt, sei der Machtzuwachs des Staates genannt. Mill warnt in Über die Freiheit nachdrücklich vor einer Situation, in der alle Bereiche des öffentlichen Lebens in staatlicher Hand seien. Wenn der Staat Kontrolle über alle Ämter und Positionen ausübe, dann würde auch die freieste Verfassung und Presse nichts daran ändern, dass die Gesellschaft nur dem Namen nach frei sei (AW III.1, S. 435ff.; CW XVIII, S. 306ff.). Mit diesem Zwischenergebnis können wir nun die weiteren Fragen in Angriff zu nehmen: Wie stehen Lehre und Prinzip zueinander? Was meint Mill damit, dass die Gründe für die Lehre und für das Prinzip von vergleichbarer Stärke seien? Und

6 Die Intensität eines autoritativen Eingriffs lässt sich beispielsweise daran bemessen, in wel­ chem Grade versucht wird, den Zugang zu einem Gut für die Konsumierenden zu erschweren und damit kostspielig zu machen: „Jede Preissteigerung ist ein Verbot für diejenigen, deren Mittel für den erhöhten Preis nicht ausreichen; und für diejenigen, deren Mittel ausreichen, ist es eine Geldstrafe, die ihnen für die Befriedigung eines besonderen Geschmacks auferlegt wird.“ (AW III.1, S. 423; CW XVIII, S. 298)



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wie stellt sich das Verhältnis von gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Freiheit, von politischem und wirtschaftlichem Liberalismus insgesamt bei Mill dar?

7.4 Verhältnis von Lehre und Prinzip Mill schreibt in Über die Freiheit, dass die Lehre weder auf dem Prinzip individueller Freiheit beruhe, noch durch dieses eingeschränkt werde (AW III.1, S. 416; CW XVIII, S. 293). In Abschnitt 2 hatte ich erwähnt, dass der Freihandelslehre zufolge Interventionen falsch seien, weil sie in der Regel nicht die Ergebnisse zeitigten, die sie zeitigen sollten, namentlich für gute Qualität und günstige Preise von Gütern zu sorgen. Dass die entsprechenden Analysen und Argumente nicht auf das Freiheitsprinzip gestützt sind, ist vermutlich der Grund dafür, dass Mill bemerkt, die Lehre beruhe auf anderen Gründen als das Prinzip. Doch hat sich auch gezeigt, dass das zentrale positive Argument für den Freihandel im weiten Sinne – die Kompetenzbegründung – auch die Nichteingriffs-Präsumtion außerhalb der Sphäre wirtschaftlicher Transaktionen argumentativ stützt. Zudem nennt Mill in Über die Freiheit als Beispiele für staatliche Regelungen Maßnahmen wie die Verhinderung von Betrug und Produktfälschung sowie Hygiene- und Sicherheitsvorschriften für die Angestellten. Bei solchen Regelungen ist unklar, warum Mill meint, dass deren Begründung sich nicht auf das Freiheitsprinzip beziehen kann und muss. (1) Zum einen stellt sich die Frage, warum beispielsweise Gesetze gegen Produktfälschungen (als Einschränkungen der Handlungsmöglichkeiten in Produktion und Handel) nicht als Schutz der Freiheit der Konsumenten gesehen werden sollten. Derartige Gesetze sollen ja unter anderem vermeiden helfen, dass jemandes Entscheidung auf falschen Annahmen beruht und insofern nicht den gewünschten Effekt hat. Wenig später im Text führt Mill das viel diskutierte Brückenbeispiel ein, auf das ich in Abschnitt 6 genauer eingehen werde. An ihm illustriert er seine Auffassung, dass Freiheit darin bestehe, den eigenen Wünschen entsprechend zu handeln. Folglich scheint der Freiheitsschutz der Konsumierenden durchaus als ein Grund für Gesetze gegen Produktfälschungen oder Betrug in Betracht zu kommen. Denn derartige Gesetze helfen den Konsumierenden die Wahl zu treffen, die sie treffen wollen. (2) Mill leitet seine Ausführungen zum Handel in Über die Freiheit mit der Bemerkung ein, „Handel ist ein gesellschaftlicher Akt“ (AW III.1, S. 416; CW XVIII, S. 293). Handel und – wie man ergänzen darf – arbeitsteilige Produktion sind soziale Tätigkeiten und unterliegen daher der gesellschaftlichen Regelungsbefugnis. In einer an die Nichteingriffs-Präsumtion gemahnenden Weise bemerkt er, Fragen der Freiheit seien beim Handel insofern berührt, als es, ceteris paribus, besser sei, die Menschen ihrem eigenen Urteil folgen zu lassen. Einschränkun-

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gen des Handels seien, qua Einschränkung, von Übel (AW III.1, S. 416; CW XVIII, S. 293). Doch beträfen Handelsbeschränkungen „nur den Teil des Verhaltens, den die Gesellschaft einzuschränken berechtigt ist“ (AW III.1, S. 417; CW XVIII, S. 293.). In Verbindung mit der Bemerkung, dass das Freiheitsprinzip für die Frage der Einschränkung des Handels keine Rolle spiele, könnte der Eindruck entstehen, Mill unterscheide zwischen der Privat- sowie der gesellschaftlichen Sphäre einerseits und der wirtschaftlichen Sphäre andererseits: Während die Privatsphäre durch ein absolutes Interventionsverbot und die Interaktion in der gesellschaftlichen Sphäre durch das Schädigungsverbot geschützt sei, darf die wirtschaftliche Sphäre einfachen Gesamt-Nutzenerwägungen gemäß durch Staat und Gesellschaft geregelt werden. Doch dies war weder in den Prinzipien noch in Über die Freiheit Mills Auffassung. Denn Mill verlangt von Eingriffen generell – auch von denen in wirtschaftliche Zusammenhänge – „absolute Notwendigkeit“ und „besonders starke Gründe“; das Schädigungsverbot präzisiert, welcher Typ von Gründen diese Anforderung erfüllt. Staatliche Regulierungen von Handel und Produktion sind dann erlaubt oder sogar geboten, wenn dies notwendig ist, um die Schädigung von Personen zu verhindern. Daher fragt sich, was Mill meint, wenn er schreibt, das Prinzip individueller Freiheit habe nichts mit den „meisten Fragen zu tun, die sich in Bezug auf die Grenzen dieser Lehre (der Freihandelslehre, MS) stellen [...]“ (AW III.1, S. 417; CW XVIII, S. 293). Wie bereits erwähnt, ergibt sich eine Reihe wichtiger Argumente für die Nichteingriffs-Präsumtion aus dem jeweiligen Nachweis kontraproduktiver Effekte staatlichen Handelns. Doch obwohl diese Argumente tragende Säulen für die Begründung der Präsumtion darstellen, scheint es aus den genannten Gründen verfehlt, wenn Mill behauptet, das Freiheitsprinzip trüge nicht zu ihrer Stützung bei. Die Irritation löst sich zu einem gewissen Grade auf, wenn man davon ausgeht, dass Mills Bemerkung, die Freihandelslehre beruhe auf anderen, aber ebenso belastbaren Gründen wie das Prinzip der individuellen Freiheit (AW III.1, S. 416; CW XVIII, S. 293), sich auf die Seite der Händler und Produzenten bezieht und nicht auf die der Nachfragenden. Mill möchte nicht sagen, dass die Begründung von Sicherheits- und Hygienevorschriften keinen Bezug zum Freiheitsgedanken hätte – dies wäre im Rahmen seiner Argumentation wenig plausibel. Sein Punkt scheint vielmehr zu sein, dass solche Einschränkungen der Handlungsmöglichkeiten von Anbietern nicht deren Freiheitsrechte verletzen. Hierfür spricht, dass er seine Aussage Handel sei ein gesellschaftlicher Akt und falle als solcher unter die „Rechtsprechung der Gesellschaft“ (AW III.1, S. 416; CW III, S. 293) mit Blick auf Händler erläutert (AW III.1, S. 416; CW XVIII, S. 293). Mit Blick auf die Käufer stellt Mill dagegen klar, dass die Regulierung des Handels sehr wohl die Freiheitsmaxime berühre. Man kann diese Überlegung



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auch auf diejenigen ausdehnen, die im Produktionsprozess oder im Handel durch Hygiene- und Sicherheitsvorschriften geschützt werden sollen. Mill argumentiert hier der Sache nach gegen radikale Laisser-Faire-Positionen, die geltend machen, derartige Regulierungen seien unzulässige Eingriffe in die Vertragsfreiheit der betroffenen Parteien. Da Vertragsschlüsse in die soziale Sphäre gehören, unterliegen sie nach Mill keinem absoluten Interventionsverbot. Die Gesetzgebung hat jedoch von der Nichteingriffs-Präsumtion auszugehen und nur dann Regeln vorzuschreiben, wenn es gilt, die Rechte einer Vertragspartei oder dritter Personen zu schützen – beispielsweise um Vertragsbedingungen zu verbieten, die nur aufgrund von materieller Not oder Unwissenheit akzeptiert werden. In beiden Fällen kommt es zur illegitimen Nutzung von Markmacht, deren Einschränkung Mill im vierten Kapitel von Über die Freiheit als legitimen Eingriffsgrund aufführt (AW III.1, S. 396; CW XVIII, S. 279). Mill geht davon aus, dass eine Pflicht besteht, anderen – im Rahmen der gesellschaftlichen Möglichkeiten – faire Bedingung der Kooperation anzubieten, und dass eine Missachtung dieser Pflicht eine verbotene Schädigung darstellt. Anders als für libertäre Positionen, hat für Mill Zustimmung oder das Eingehen eines Vertrags nur normative Autorität, wenn gerechte Rahmenbedingungen vorliegen.7 Aus dieser Sicht wären kommerzielle Surrogatschwangerschaften oder Organhandel nur dann akzeptabel, wenn ausgeschlossen werden könnte, dass es sich um „unfair or ungenerous use of advantage“ handelte (s. a. Arneson 1992).

7.5 Vertragsfreiheit und gewerkschaftliche Organisation Während Mill in Über die Freiheit Sicherheits- und Hygienebestimmungen als Beispiele für legitime staatliche Eingriffe anführt, verurteilt er in den Prinzipien scharf jene Gesetze, die in Frankreich bis ins Jahr 1864 die Bildung von Gewerkschaften verboten haben (CW III, S. 929). Mills Argumentation lautet, dass die Bildung von Gewerkschaften Ausdruck der Vereinigungsfreiheit ist. So wie der Abschluss von Verträgen gehört die Gründung von Vereinigungen in die soziale Sphäre und unterliegt daher keinem absoluten Interventionsverbot – doch müsste ein Verbot durch die Verletzung individueller Rechte oder anderer hochrangiger Nutzenüberlegungen gerechtfertigt werden. Mill sieht gewerkschaftliche Zielsetzungen wie höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten im Einklang mit

7 Siehe hierzu auch Die Unterwerfung der Frauen, AW I, S. 439–560; CW XXI, S. 259–340.

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dem öffentlichen Wohl. Anders steht es mit Versuchen vieler Gewerkschaften, Lohndifferenzen zwischen gelernten und ungelernten Arbeitern oder den Stücklohn abzuschaffen (CW III, S. 933), die er für sozial schädlich hält. Es ist bemerkenswert, dass Mill selbst in einem solchen Fall, in dem er keinen Zweifel an der Schädlichkeit der strikt egalitaristischen Zielsetzung jener Gewerkschaften hat, sich ab der zweiten Auflage der Prinzipien gegen ein Verbot ausspricht. Mill weist Eingriffe in die Wirtschaft, wie Schutzzölle, mit einfachen Nutzenüberlegungen zurück – warum wendet er solche Überlegungen nicht auch zur Rechtfertigung eines Vereinigungsverbotes für egalitaristische Gewerkschaften an? Zunächst ist festzuhalten, dass eine Einschränkung der Vereinigungsfreiheit besonders gewichtige Gründe auf ihrer Seite haben müsste. Eine zu erwägende Rechtfertigung wäre, dass jene Gewerkschaften individuelle Rechte verletzen – doch dies scheint weder bei den Mitgliedern der Fall (sofern die Mitgliedschaft auf Freiwilligkeit beruht)8 noch bei den Kapitalisten. Mill geht jedoch noch einen Schritt weiter. Er stellt knapp fest, dass ökonomische Experimente – zu denen er jene egalitaristischen Gewerkschaften offenbar zählt – zum Besten der Menschheit seien. Damit scheint gemeint, dass beim jetzigen Wissenstand über die Möglichkeiten menschlicher Motivation nicht auszuschließen ist, dass egalitaristische Präferenzen und intrinsische Arbeitsmotivation so sehr an Stärke gewinnen, dass Mehreinkommen keine zusätzlichen Anreize setzt, mehr oder besser zu arbeiten.9 Da er es als eine offene Frage betrachtet, wie ein Leben in einer egalitaristischen Gesellschaft ausfiele und ob es wünschenswert wäre, plädiert Mill – im Einklang mit der Argumentationsweise von Über die Freiheit – für die Möglichkeit von „economical experiments“. Während der deliberative Beweislast-Liberalismus im Fall des Protektionismus zu dem Ergebnis führt, dass nicht nur keine starken Gründe für Schutzzölle sprechen, sondern dass sie Schaden anrichten, argumentiert Mill im Fall der egalitaristischen Gewerkschaft, dass sie sich – entgegen der Einschätzung beim gegenwärtigen Stand der Entwicklung – als wegweisend für den Fortschritt der Menschheit erweisen könnten. Die Gründe für ihr Verbot haben daher nicht das von Mill geforderte Gewicht einer „absoluten Notwendigkeit“. Weder verletzen auf Freiwilligkeit beruhende egalitaristische Gewerkschaften individuelle Rechte; noch lässt sich mit letzter Gewissheit sagen, ob sie auf längere Sicht dem gesamtgesellschaftlichen Wohlergehen abträglich sind.

8 Daher sagt Mill: „It is, however, an indispensable condition of tolerating combinations, that they should be voluntarily.“ (CW III, S. 933). 9 Siehe hierzu auch seine Chapters on Socialism, CW V, S. 703–753.



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7.6 Beispiele für legitime Handels und Produktionsbeschränkungen Mill erörtert im fünften Kapitel von Über die Freiheit eine Reihe von Anwendungsbeispielen seiner Maximen auf die Gewerbefreiheit. Da ist erstens der Handel mit giftigen Substanzen oder – allgemeiner gesprochen – mit Gütern, die sich für kriminelle Zwecke einsetzen lassen oder gefährlich für die Nutzer sein können. Obwohl die Verhütung von Verbrechen und Unfällen zu den notwendigen Aufgaben des Staates gehört, sind ihr durch die Freiheit der Individuen auch Grenzen gesetzt. Eine exzessive Verbrechensprävention führt in einen Polizei- und Überwachungsstaat. Daher sind Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen und Güterabwägungen unvermeidlich. Wenn giftige Substanzen niemals einen anderen als verbrecherischen Gebrauch hätten, wäre es nach Mill richtig, ihre Herstellung und ihren Vertrieb zu untersagen (AW III.1, S. 418; CW XVIII, S. 294). Aber es gibt andere Nutzungen, und daher wäre jedes generelle Verbot eben auch eine Freiheitsberaubung und möglicherweise eine Verringerung des Gemeinwohls – etwa wenn aus der Substanz nutzenstiftende Güter gewonnen werden können. Der staatliche Eingriff soll daher in Fällen einer vielfältigen Nutzbarkeit nicht in einem Handels- und Produktionsverbot bestehen, sondern einerseits in der Kennzeichnung von gefährlichen Produkten um Unfälle zu vermeiden, andererseits in dem Führen eines Handelsregisters, um im Fall kriminellen Missbrauchs die Käufer nachverfolgen zu können (AW III.1, S. 419; CW XVIII, S. 294). Kennzeichnungs- und Aufzeichnungspflicht schreiben Produzenten und Händlern Vorkehrungen vor und stellen Zuwiderhandlungen unter Strafe. Sie stellen insofern autoritatives Staatshandeln dar, weil sie die Anbietenden zwingen, zusätzlichen Aufwand zu betreiben. Ob Kennzeichnung- und Aufzeichnungspflichten auch aus Sicht der Nachfragenden als autoritatives Staatshandeln wirken, hängt von den Kosten ab. Mill geht davon aus, dass Kostensteigerung wie Verbote wirken können, indem sie diejenigen vom Konsum ausschließen, die nicht in der Lage sind, die Mehrkosten zu tragen (AW III.1, S. 423; CW XVIII, S. 298). Weder die Kennzeichnungs-, noch die Aufzeichnungspflicht dürften aber die Handelskosten, und damit die Kosten der Nachfragenden und deren Freiheit, merklich einschränken. Ein etwas anderes Bild bietet sich, wenn wir Mills bekanntes Brückenbeispiel, das er im Kontext seiner Diskussion des Handels mit giftigen Substanzen einführt, genauer betrachten (s. a. Feinberg 1986, S. 124–125). Im Exempel ist keine Zeit mehr, eine Person davor zu warnen, über eine unsichere Brücke zu gehen. Daher meint Mill, die Polizei oder irgendjemand sonst dürfe „ihn wohl packen und zurückziehen, ohne dass dies wirklich einen Eingriff in die Freiheit darstel-

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len würde.“ (AW III.1, S. 418; CW XVIII, S. 294). Obwohl die Staatsgewalt durch die Ausübung von körperlichem Zwang in den souveränen Herrschaftsbereich des Individuums eingreift, liegt nach Mill keine Verletzung des absoluten Interventionsverbots vor, wenn der Eingriff im Einklang mit den vernünftigerweise anzunehmenden und tatsächlich bestehenden Wünschen ist (AW III.1, S. 418; CW XVIII, S. 294). Im Brückenbeispiel macht Mill zwei Annahmen: Zum einen geht er davon aus, dass das Ereignis ohne den Eingriff nicht nur wahrscheinlich, sondern mit Sicherheit eingetreten wäre; zum anderen nimmt er an, dass die am Handeln gehinderte Person dieses Ereignis als Schaden betrachtet und dessen Eintritt nicht gewünscht hätte. Besteht in beiden Hinsichten keine Gewissheit, so verneint Mill die Berechtigung des Staates, in die Sphäre souveräner Selbstbestimmung einzugreifen. Angewendet auf den Fall des Handels mit giftigen Substanzen ergibt sich aus dem Brückenbeispiels der Schluss, dass die Herstellung oder der Handel mit bestimmten Gütern nur dann verboten werden dürfte, wenn deren Konsum mit höchster Wahrscheinlichkeit unfreiwillig geschähe, beispielsweise weil Nachfrage nur zustande käme, wenn den Kaufenden relevante Wirkungen und Eigenschaften nicht bekannt wären. Nur wenn klar ist, dass die Substanzen in jedem Fall bestimmte Effekte haben; und nur wenn Gewissheit besteht, dass diese Effekte vom Handelnden selbst nicht gewollt würden, darf der Staat den Handel mit diesen für Anbietende und Nachfragende unter Strafe stellen. Ist hingegen die Nutzung eines Gutes lediglich mit Risiken verbunden, so soll der Staat bloß dafür sorgen, dass auf das Bestehen der Risiken hingewiesen wird, so dass die wählende Person eine informierte Entscheidung fällen kann (AW III.1, S. 418; CW XVIII, S. 294). Entsprechende Vorschriften qualifiziert Mill nicht als Freiheitsberaubungen. Die Befürworter von Verboten, bestimmte Güter und Dienstleistungen nachzufragen, müssten den Beweislastprinzipien gemäß plausibel machen, dass (a) der Konsum des betreffenden Gutes oder der betreffenden Dienstleistung tatsächlich unfreiwillig geschähe und dass (b) weder ein weniger intensiver autoritativer Eingriff noch eine nicht-autoritative Maßnahme den angestrebten Zweck der Freiheitsbewahrung erreichen würde. Es ist anzunehmen, dass beide Bedingungen nur in seltenen Fällen erfüllt sind. Denn wenn ein nicht-autoritativer Eingriff – etwa eine von staatlicher Seite geschehende Aufklärung über die Wirkung des Gutes oder der Dienstleistung auf die Nachfragenden – die betreffende Person nicht vom Konsum abhält: Mit welchem Recht ließe sich dann noch behaupten, sie konsumiere unfreiwillig? Auch wenn eine solche Begründung in vielen Fällen aussichtslos scheint, gibt es doch eine wichtige Klasse von Regulierungen, in denen aufgrund des Suchtpotentials und der Wirkungen eines Gutes anzunehmen ist, dass es nicht freiwillig konsumiert wird. Dies ist in hohem Maße bei bestimmten Drogen, wie



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Heroin (Nutt et. al. 2007), der Fall. Suchtpotential haben aber auch Automatenund andere Glücksspiele oder bestimmte Lebensmittel, so dass auch in diesem Bereich Regulierungen erlaubt oder geboten sein können – und zwar Regulierungen, die darauf gerichtet sind, die potentiellen Suchteffekte mit der am wenigsten intensiven Form staatlichen Eingreifens so zu neutralisieren, dass der verbleibende tatsächliche Konsum im Regelfall auf eine freiwillige Entscheidung des Individuums zurückgeht. Ein von Mill weniger ausführlich besprochener Regelungsgrund betrifft die Herstellung von Gütern oder Leistungen. Wenn Personen in der Produktion geschädigt werden oder übermäßigen Gefahren ausgesetzt sind, so stellt dies einen Grund für staatliches Eingreifen dar, sofern die Betroffenen der tatsächlichen oder möglichen Schädigung nicht wirksam zugestimmt haben. Zu denken wäre an Vorschriften, die Kinderarbeit verbieten, Arbeitszeit regeln, für Arbeitssicherheit sorgen oder die Ausbringung oder Nutzung schädlicher Substanzen untersagen. Verbote schädigender Produktionsweisen können durch Handelsverbote ergänzt werden. Dies vermag zum einen der besseren Durchsetzung des Schutzzwecks dienen, zum anderen aber notwendig sein, weil die entsprechenden Güter oder Leistungen nicht innerhalb der eigenen Jurisdiktion produziert werden und sich daher entsprechenden nationalen Regelungen entziehen. Eine mit Blick auf die Debatte über „liberale Neutralität“ interessante Position nimmt Mill ein, wenn er bei der Frage der Besteuerung einen „schwachen Paternalismus“ zulässt. Seine Überlegung ist folgende: Staaten brauchen zur Erfüllung ihrer Aufgaben Mittel, die sie durch Zwangsabgaben bei der Bevölkerung eintreiben. Wie auch immer der Staat die Zwangsabgaben ausgestaltet, werden sie zu ungleichen Lasten führen.10 Werden besondere Verbrauchsteuern erhoben, so werden diejenigen belastet, die auf den Konsum nicht verzichten wollen oder können. Besteuert man dagegen den Konsum aller Güter gleich, so haben wegen der Regression die Ärmeren an der Steuerlast besonders schwer zu tragen. Für manche wird bereits die geringste Steuer zu einem effektiven Ausschluss vom Konsum führen. Weil Besteuerung in ihren Wirkungen nicht neutral ist, kann der Staat gar nicht umhin, in Erwägung zu ziehen, „auf welche Waren die Konsumenten am ehesten verzichten können“ (AW III.1, S. 423; CW XVIII, S.  298).

10 Dass mit „Neutralität“ nicht eine Eigenschaft staatlichen Handelns gemeint ist, sondern eine Eigenschaft der Rechtfertigung für staatliches Handeln, gehört zu den Standardannahme der Debatte (siehe Sher 1997, S. 23). Nicht-neutrale Rechtfertigungen sind solche, die sich auf Konzeptionen des Guten stützen, hinsichtlich derer vernünftige Meinungsverschiedenheiten bestehen (siehe Larmore 1996, S. 126). Perfektionistische Gründe sind somit nicht per se durch den Neutralitätsgedanken ausgeschlossen; entscheidend ist, ob hinsichtlich solcher Gründe vernünftige Meinungsverschiedenheiten bestehen.

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Hierfür bieten sich nach Mill Stimulantien an, weil ihr übermäßiger Konsum für die betreffende Person schädlich sei: „Besteuerung von Genussmitteln ist also bis hin zu dem Punkt, der den höchsten Betrag an Einkünften erbringt (vorausgesetzt, dass der Staat alle Einkünfte benötigt, die diese abwirft), nicht nur zulässig, sondern sogar zu begrüßen.“ (AW III.1, S. 424; CW XVIII, S. 298) Man kann diese Position als „schwachen Paternalismus“ bezeichnen, insofern Mill seinem Vorschlag einerseits Werturteile zugrunde legt, die von den betroffenen Personen nicht unbedingt geteilt werden, andererseits aber offenbar überzeugt ist, dass das Abwägungsergebnis zwischen (a) einer besonderen Belastung der Ärmsten und (b) einer besonderen Belastung der Konsumenten der einschlägigen Genussmittel kein Gegenstand vernünftiger Meinungsverschiedenheiten sein kann. Die Besteuerung ist aus Perspektive der Betroffenen möglicherweise bevormundend, jedoch ohne das Prinzip liberaler Neutralität zu verletzen – dies scheint zumindest Mills Auffassung zu sein.

7.7 „We have a warning example in China“ Bekanntlich hielt Mill – ebenso wie Jeremy Bentham – den Gedanken natürlicher (oder wie er sagt: abstrakter) Rechte, aus denen sich ein starrer Katalog von staatlichen Kompetenzen ergeben würde, für eine leere Phrase; entsprechend unterscheidet sich seine Position klar von naturrechtlichen Begründungen von Minimalstaatlichkeit, wie man sie im zwanzigsten Jahrhundert im Werk von Robert Nozick ausformuliert findet. Mills Rechtfertigung der gesellschaftlichen Freiheit im Allgemeinen und der wirtschaftlichen Freiheit im Besonderen fußt letztlich auf Überlegungen zu den sozio-kulturellen Voraussetzungen menschlicher Entwicklung, den „beständigen Interessen des Menschen als eines entwicklungsfähigen Wesens“ (AW III.1, S. 317–318; CW XVIII, S. 224). In Über die Freiheit unterstreicht Mill die Gefahren, die von dem wachsenden Konformitätsdruck in den Gesellschaften Frankreichs und Großbritanniens ausgehen. Dieser neue europäische Konformismus ist nicht oder nicht nur der Konformismus angestammter Gewohnheiten, die keine Abweichung von den eingeübten Mustern erlauben. Er ist vielmehr auch und vor allem das Diktat der Mode und der Anpassung an Neuerungen, die sich aus technologischen oder organisatorischen Entwicklungen ergeben. Die Individuen treffen ihre Entscheidungen nicht auf der Grundlage von wohlerwogenen Gründen oder inneren Tendenzen; sie entscheiden nicht, weil ihnen ein Kleidungsstil gefällt oder sie eine Neuerung für sinnvoll halten, sondern weil man mit der Zeit gehen und sein muss wie die anderen. Der Konformismus der neuen Zeit ist dynamisch und beruht auf der Anpassungsbereitschaft und inneren Leere außengeleiteter Charaktere, um David Riesmans Begriff



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zu bemühen. Mill lässt keinen Zweifel daran, dass er einen solchen dynamischen Konformismus für ebenso bedrohlich hält wie einen statischen. Wie schon in seiner 1840 erschienenen zweiten Rezension von Tocquevilles Amerikabuch sieht er in China das Inbild einer zum Stillstand gekommenen Entwicklung des menschlichen Potentials. Und er befürchtet, dass Europa eine neue Art China werden könnte. Bewahrt habe den Kontinent vor diesem Schicksal seine Vielfältigkeit, das Erproben unterschiedlicher Möglichkeiten menschlichen Lebens. Doch würde sich die Tendenz zum Konformismus stetig verstärken (AW III.1, S. 389; CW XVIII, S. 274). Wie in der Tocqueville-Rezension geht nach Über die Freiheit die Vereinheitlichung des Denkens und Lebens von dem aus, was Mill das Regime der öffentlichen Meinung nennt (AW III.1, S. 389; CW XVIII, S. 274). Die öffentliche Meinung gibt gleichsam vor, an was sich das Kollektiv der außengeleiteten Charaktere anzupassen hat. Es lässt sich hier fragen, ob Mill mit seiner Rede von einer „neuen Art China“ andeuten wollte, dass steigender wirtschaftlicher Wohlstand dauerhaft nur bei gleichzeitiger Individualisierung möglich sei und der kapitalistische Prozess zum Erliegen komme, wenn die Gesellschaft in Konformität erstarre. Die von ihm beschriebenen Lebensformexperimente sind aus ökonomischem Blickwinkel sowohl treibende Kraft für unternehmerische Innovationen als auch mehr oder weniger kreative Antworten auf neue Möglichkeiten des wirtschaftlichtechnologischen Fortschritts. Hieraus ergibt sich eine weitere Begründung für die Lehre: Die Kontrolle der unternehmerischen Entscheidungen durch die MarktNachfrage stellt im Idealfall sicher, dass die Wirtschaft die materiellen Bedingungen für Lebensformexperimente bereitstellt. Zu einer freien Gesellschaft gehört, dass die Beschaffenheit der Waren- und Güterwelt durch die autonom gebildeten Wünsche und Bedürfnisse der Nachfragenden geprägt ist – und nicht die Menschen in ihrer Rolle als Konsumentinnen und Konsumenten sich an das anzupassen haben, was ihnen angeboten wird. Wie gesagt, sah Mill die medial erzeugte öffentliche Meinung als konformitätsstiftende Kraft. Entscheidend für die Pluralität und Diversität der Gesellschaft ist daher die Pluralität und Diversität der Foren autonomer öffentlicher Meinungsbildung. In einer interessanten Passage der zweiten Tocqueville-Rezension anerkennt Mill auf der einen Seite, dass der „kommerzielle Geist“ (CW XVIII, S. 197) einen wesentlichen Beitrag zur Befreiung des menschlichen Potentials geleistet habe – dass aber sein einseitiges Vorherrschen eine Ära der Stagnation oder sogar des Niedergangs einleiten könnte. Letzteres ist häufig als konservativer Topos aufgefasst worden (Brady 1977, xxiii). Fasst man aber die Passagen in Über die Freiheit und der zweiten TocquevilleRezension zusammen, in denen Mill auf die Möglichkeit verweist, dass Europa eine „neue Art China“ werden könne, so ergibt sich ein anderes Bild. Die Vorherr-

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schaft des kommerziellen Geistes erschiene nicht aufgrund eines „Coleridgean conservatism“11 als problematisch, sondern weil die Kontrolle des öffentlichen Lebens durch kommerzielle Interessen Lebensformexperimente erstickt – damit aber auf mittlere Sicht auch die sozio-kulturelle Ressource wirtschaftlicher Entwicklung.

Literatur Zitierte Werke aus John Stuart Mill: Ausgewählte Werke (AW) Mill, John Stuart, 1840/2014, „Coleridge“, in: John Stuart Mill: Ausgewählte Werke Band III.1, herausgegeben, kommentiert und eingeleitet von Michael Schefczyk & Christoph SchmidtPetri, Hamburg: Murmann Verlag, S. 173–236. Mill, John Stuart, 1859/2014, Über die Freiheit, in: John Stuart Mill: Ausgewählte Werke Band III.1, herausgegeben, kommentiert und eingeleitet von Michael Schefczyk & Christoph Schmidt-Petri, Hamburg: Murmann Verlag, S. 303–440. Mill, John Stuart, 1863/2014, Utilitarismus, in: John Stuart Mill: Ausgewählte Werke Band III.1, herausgegeben, kommentiert und eingeleitet von Michael Schefczyk & Christoph SchmidtPetri, Hamburg: Murmann Verlag, S. 441–517. Mill, John Stuart, 1869/2012, Die Unterwerfung der Frauen, John Stuart Mill: Ausgewählte Werke Band I, herausgegeben und eingeleitet von Ulrike Ackermann, Hamburg: Murmann Verlag, S. 439–560. Mill, John Stuart, 1873/2013, Autobiographie, John Stuart Mill: Ausgewählte Werke Band II, herausgegeben und eingeleitet von Hans Jörg Schmidt, Hamburg: Murmann Verlag, S. 25–229.

Weitere zitierte Literatur Arneson, Richard J (1992): „Commodification and Commercial Surrogacy“. In: Philosophy & Public Affairs 21, Nr. 2, S. 132–164. Bain, Alexander (1882): John Stuart Mill. A criticism with personal recollections. London: Longman et al. Brady, Alexander (1977): „Introduction“: In: Robson, John (Hrsg.): The Collected Works of John Stuart Mill, vol. XVIII. Toronto: Toronto UP, S. ix–lxx.

11 Mill hatte dem konservativen Philosophen und Schriftsteller Samuel Taylor Coleridge im Jahre 1840 einen ausführlichen Aufsatz gewidmet, in dem er versuchte, dessen für die politisch Progressiven wertvolle Einsichten herauszuarbeiten (s. AW III.1, 173–236; CW X, S. 117–163). Bei seinen politischen Weggefährten führte die Arbeit zu Irritationen, weil der Eindruck entstand, Mill wende sich dem Konservatismus zu. Siehe hierzu auch: AW II, 167.



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Cockett, Richard (1994): Thinking the Unthinkable. Think-Tanks and the Economic CounterRevolution, 1931–1983. London: Fontana Press. Feinberg, Joel (1986): Harm to Self. The Moral Limits of the Criminal Law Vol. III. Oxford: Oxford University Press. Friedman, Milton (1962/1982): Capitalism and Freedom. With the Assistance of Rose D. Friedman. Chicago & London: University of Chicago Press. Habermas, Jürgen (2008): „Nach dem Bankrott“, Interview mit Thomas Assheuer. In: Die Zeit 46 (06.11.2008). Hayek, Friedrich (1960/1978): The Constitution of Liberty. Chicago & London: University of Chicago Press. Humboldt, Wilhelm von (1851/1967): Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, geschrieben 1792. Stuttgart: Reclam. Nozick, Robert (1974/1999): Anarchy, State, and Utopia. Oxford: Blackwell. Nutt, David/Leslie King/William Saulsbury/Colin Blakemore (2007): „Development of a rational scale to assess the harm of drugs of potential misuse“. In: The Lancet 369 (issue 9566), S. 1047–1053. Ricardo, David, (1817/1951): On the Principles of Political Economy and Taxation. In: Sraffa, Piero with the Collaboration of M. H. Dobb: The Works and Correspondence of David Ricardo Vol. 1. Cambridge: Cambridge University Press. Rosen, Frederick (2013): Mill. Founders of Modern Political Thought (Series Editor Mark Philp). Oxford: Oxford University Press. Schofield, Philip (2006): Utility & Democracy. The Political Thought of Jeremy Bentham. Oxford: Oxford University Press. Sher, George (1997): Beyond Neutrality. Perfectionism and Politics. Cambridge: Cambridge University Press. Stephen, Leslie (1900): The English Utilitarians III: John Stuart Mill. Reprint of ed. London. Bristol [u. a.]: Thoemmes [u. a.]. Streeck, Wolfgang (2013) Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus (Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2012). Frankfurt: Suhrkamp. Thaler, Richard & Cass R. Sunstein,(2008): Nudge. Improving Decisions About Health, Wealth and Happiness. London: Penguin Books. Tocqueville, Alexis de (1835/2000): Democracy in America, translated, edited, and with an introduction by Harvey C. Mansfield and Delba Winthro., Chicago & London: University of Chicago Press.

Frauke Höntzsch

8 Vorgeschichte und Querverbindungen: Der Einfluss Benthams und Humboldts auf Mill John Stuart Mill war ein undogmatischer Denker, der sich mit den unterschiedlichsten Theorien befasst und verschiedenste Einflüsse in seine Überlegungen aufgenommen hat. Folglich sind Jeremy Bentham (1748–1832) und Wilhelm von Humboldt (1767–1835) nicht die einzigen Autoren, die Mills Denken geprägt haben, doch lassen sich, so die These des vorliegenden Beitrags, Genese und Spezifik von Mills Liberalismus in Auseinandersetzung mit diesen beiden Denkern besonders gut verdeutlichen. Der Einfluss Benthams und Humboldts auf Mill unterscheidet sich quantitativ und qualitativ: Während Benthams utilitaristische Lehre Ausgangspunkt für Mills Denken ist, dient ihm Humboldts Humanismus zur Abgrenzung von seinem Lehrer (8.1). Die Modifikation der orthodoxen Lehre Benthams durch Humboldts Gedanken zu Bildung und Individualität manifestiert sich in Mills Menschenbild, das die individuelle und soziale Entwicklung des Einzelnen zur Voraussetzung des Wohles Aller erklärt (8.2). Dieses progressiv-duale Menschenbild führt zur Konzeption einer komplexen negativen Freiheit, die über Humboldts individualistische Variante hinausweist, ohne wie Bentham die Freiheit dem Glück unterzuordnen (8.3). Das hat auch Auswirkungen auf das Staatsverständnis: Während Humboldt einen Minimalstaat fordert, Bentham dagegen auch wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen befürwortet, impliziert Mills Konzept negativer Freiheit mehr soziale Kontrolle als in Humboldts klassisch liberaler Variante, ohne deshalb wie Bentham staatliche Beschränkungen der Freiheit in Kauf zu nehmen (8.4). Mill nimmt folglich eine Mittlerposition zwischen Benthams utilitaristischem Ziel des allgemeinen Glücks und Humboldts humanistischem Lob der Individualität ein und formuliert durch die Synthese beider Ansätze einen genuin sozialen Liberalismus.

8.1 Einfluss: zwischen Abgrenzung und Affirmation Die Auseinandersetzung mit den Einflüssen, denen ein Denker ausgesetzt war und die Eingang in sein Denken fanden, ist oftmals mühsam und überdies spekulativ; v. a. die Frage, wie die fremden Gedanken verstanden und in das eigene Denken integriert wurden, ist kaum zu beantworten. Im Fall von John Stuart Mill aber

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 Frauke Höntzsch

liegt mit der Autobiography (1873) eine Quelle vor, die zeigt, wie Mill selbst den Einfluss verstanden hat, zumindest aber, wie er ihn verstanden wissen wollte. Der Einfluss, den Bentham und Humboldt auf Mill ausgeübt haben, ist, das wird hier deutlich, von unterschiedlicher Art und unterschiedlichem Umfang: Während Mills Auseinandersetzung mit und Emanzipation von Benthams Denken in der Autobiographie (wie in seinem gesamten Werk) allgegenwärtig ist und auch Gegenstand zweier kleinerer Schriften – „Remarks on Bentham’s Philosophy“ (1833) und „Bentham“ (1838) –, in denen er seinen Lehrer teils scharf kritisiert, erwähnt Mill Humboldt in seiner Autobiographie lediglich in Zusammenhang mit On Liberty (vgl. CW I, S. 259–261), hier jedoch in exponierter und rein affirmativer Form. Humboldts Bedeutung für On Liberty, besonders das Konzept der individuellen Entwicklung, zeigt sich auch daran, dass Mill ihn in der Freiheitsschrift mehrmals zitiert und sogar namentlich nennt. Benthams Einfluss auf Mill ist kaum zu überschätzen – seine Lehren sind der Ausgangspunkt und das Fundament von Mills Überlegungen, die er seiner eigenen Aussage nach auch nie völlig verworfen, sondern nur korrigiert hat: I found the fabric of my old and taught opinions giving way in many fresh places, and I never allowed it to fall to pieces, but was incessantly occupied in weaving it anew. [...] When I had taken in any new idea, I could not rest till I had adjusted its relation to my old opinions, and ascertained exactly how far its effect ought to extend in modifying or superseding them. (CW I, S. 163/5)

Doch so sehr Mills Denken durch Bentham geprägt ist, ist dessen Einfluss in Hinblick auf On Liberty ein nur mittelbarer, insoweit die ethischen (und assoziationspsychologischen) Voraussetzungen auch hier Gültigkeit behalten. Mills Bestätigung der utilitaristischen Ethik in On Liberty markiert dabei zugleich die Differenz zu Bentham. Auch in On Liberty bezeichnet Mill das Glück als letzten Maßstab des Handelns, doch spricht er hier von der Nützlichkeit im weitesten Sinne: „grounded on the permanent interests of man as a progressive being“ (CW XVIII, S. 224). Diese Modifikation verdeutlicht zugleich den Einfluss Humboldts, dessen Schrift über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates das Motto für On Liberty entnommen ist (CW I, S. 261): The grand, leading principle, towards which every argument unfolded in these pages directly converges, is the absolute and essential importance of human development in its richest diversity (CW XVIII, S. 215).1

1 Die zentrale Bedeutung der Entwicklung für Mills gesamtes politisches Denken wird er­ staunlicherweise von den meisten Interpreten vernachlässigt; Ausnahmen bilden Robson (1968),



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Der entscheidende Unterschied zur Doktrin Benthams liegt in Mills Menschenbild, hier orientiert sich Mill an Humboldts humanistischem Entwicklungsideal, wodurch nicht nur sein Glücks-, sondern auch sein Freiheits- und Staatsverständnis eine Modifikation erfahren.2 Isaiah Berlin unterschätzt jedoch Mills Eigenleistung (und auch Benthams Einfluss auf Mills Entwicklungsideal), wenn er unter Verweis auf Humboldt festhält: „Mills ideal is not original. It is an attempt to fuse rationalism and romanticism“ (Berlin 1991, S. 154).3 Zwar bestätigt Mill selbst in der Autobiographie die Nähe zu Humboldt, weist aber zugleich unmissverständlich auf die Grenzen der Gemeinsamkeiten hin: As the book which bears my name claimed no originality for any of its doctrines, and was not intended to write their history the only author who had preceded me in their assertion of whom I thought it appropriate to say anything, was Humboldt [...]. It is hardly necessary here to remark that there abundant differences in detail, between the conception of the doctrine by any of the predecessors I have mentioned, and that set forth in the book. (CW I, S. 260/261)

Mag auch die Synthese, wie Berlin anmerkt, nicht neu sein, so ist ihr Ergebnis im Rahmen von Mills Überlegungen doch in hohem Maße originell. Mills Originalität liegt in der Entwicklung einer spezifischen Form des Sozialliberalismus, der die klassisch liberale Lehre nicht einfach durch soziale Elemente erweitert, sondern die soziale Dimension in das Konzept der negativen Freiheit integriert (vgl. Höntzsch 2011). Mills spezifisch sozialliberaler Ansatz gründet – so die These  – nicht zuletzt in der Verbindung der utilitaristisch-kollektivistischen Theorie Bent­hams mit Humboldts humanistisch-individualistischem Ideal.

Donner (1991) und in neuerer Zeit Brink (2013); vgl. auch den Beitrag von Thomas Schramme in diesem Band. 2 Wie Andrew Valls (1999) zeigt, spielt die Selbstentwicklung in Humboldts und Mills Denken gleichermaßen eine zentrale Rolle, führt aber (v.  a.) aufgrund der Unterschiede hinsichtlich der Konzeption der Selbstentwicklung zu unterschiedlichen politischen Schlussfolgerungen. Dem ist grundsätzlich zuzustimmen, wobei ich im Folgenden die These vertreten werde, dass die abweichenden politischen Schlussfolgerungen in der Synthese gründen, die Humboldts Entwicklungsideal im Rahmen von Mills Denken mit Benthams Utilitarismus eingeht. 3 Ähnlich bei John Gray (2000), der hier ausnahmsweise der vornehmlich von traditionellen Interpreten geäußerten Kritik folgt; er hält Mills Ideal der persönlichen Entwicklung für in­ konsistent, weil zwischen zwei Philosophien gefangen: „Mill spent much of his life trying to reconcile his Enlightenment project of universal civilization with his post-Romantic suspicion that it endangered freedom and diversity“ (S. 29).

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8.2 Menschenbild und moralisches Ideal: zwischen Individualismus und allgemeinem Glück Mills Kritik am orthodoxen Utilitarismus und dessen verkürzten Verständnis des Glücks gründet in Benthams beschränkter Auffassung der menschlichen Natur: „Man, that most complex being, is a very simple one in his eyes“ (CW X, S. 96). In der Tat ist Benthams Menschenbild durch größtmögliche Einfachheit und Ab­straktheit gekennzeichnet: „NATURE has placed mankind under the governance of two sovereign masters, pain and pleasure. It is for them alone to point out what we ought to do, as well as to determine what we shall do“ (Works I, S. 1). Mills ������������������������������������������������������������������������ Kritik an Benthams Menschenbild zielt zunächst auf die darin angenommene Fixierung menschlicher Regungen4 und in der Folge auf die Tatsache, dass Bentham diese auf selbstinteressierte Regungen beschränkt: „Mr. Bentham was a believer in the predominance of the selfish principle in human nature“ (CW X, S. 14). In der Tat denkt Bentham das Interesse der Gemeinschaft zwar mit, doch handelt es sich hierbei nicht um eine eigenständige Größe, sondern um ein Produkt egoistischer Interessen. „The interest of the community then is, what? – the sum of the interests of the several members who compose it“ (Works I, S. 2). ����������������������������������������������������������������������� Das Glück ist, entsprechend dem Bild vom Menschen als egoistischen Nutzenmaximierer, primär ökonomisch zu verstehen: „Money is the instrument of measuring the quantity of pain or pleasure. Those who are not satisfied with the accuracy of this instrument must find out some other that shall be more accurate, or bid adieu to politics and morals.“ (Economic Writings I, S. 117). Der Wert einer Handlung und damit das Ziel aller Politik bemisst sich laut Bentham am „größten Glück der größten Zahl“ (vgl. Works I, S. 227), zu dessen Durchsetzung er zunächst auf das Eigeninteresse der Individuen vertraut. Wo dieses nicht trägt, setzt er infolge des egoistischen, statisch-mechanistischen Menschenbilds auf äußere Sanktionen. Um den Einzelnen dazu zu bringen, sein Verhalten entsprechend dem größten Glück der größten Zahl zu gestalten, „there is nothing by which a man can ultimately be made to do it, but either pain or pleasure“; Bentham unterscheidet vier Quellen aus denen Freuden und Leiden entspringen – physische, politische, moralische und religiöse: „[I]nasmuch as the pleasures and pains belonging to each of them are capable of giving a binding force to any law or rule of conduct, they may all of them be termed sanctions“;

4 Vgl. CW X, S. 95: „Man is never recognised by [Bentham] as a being capable of pursuing spiritual perfection as an end; of desiring, for its own sake, the conformity of his own character to his standard of excellence, without hope of good or fear of evil from other source than his own inward consciousness.“



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wobei die drei Letzteren auf Ersterer gründen und nicht ohne sie wirksam sein können (Works I, S. 14/15). Bentham baut folglich auf die künstliche Herstellung des größten Glücks, die auf dem Nutzenkalkül basiert und den Egoismus privilegiert. Anders als Bentham ist Humboldt der Ansicht, „dass der Zweck des Menschen im Menschen liegt, in seiner inneren moralischen Bildung“ (GS I, S. 76), nicht etwa in seinem Nutzen für die Gesellschaft; er löst sich, wie Christina Sauter darlegt, „vom utilitaristischen Menschenbild der Spätaufklärung“ (Sauter 1989, S. 310). Ziel der Bildung ist für Humboldt die individuelle Originalität. Sie erwächst aus der inneren, sich aus sich selbst heraus entwickelnden Kraft5 des Einzelnen unter Einwirken der mannigfaltigen Verschiedenheit der Individuen (vgl. GS I, S. 107f.): „Denn der isolierte Mensch vermag sich ebenso wenig zu bilden, als der in seiner Freiheit gewaltsam gehemmte.“ (GS I, S. 298) Die Bildung lässt sich nach Humboldt nur in der Interaktion mit anderen Menschen realisieren, doch damit ist keine gesellschaftliche, sondern private, interindividuelle Interaktion gemeint. So hält Battisti zu Recht fest, dass hierin keine Überwindung des Individualismus zu sehen ist (Battisti 1987, S. 79); Ausgangs- und Zielpunkt der Entwicklung bleibt das Individuum: „Das höchste Ideal des Zusammenexistierens menschlicher Wesen wäre mir dasjenige, in dem jedes nur aus sich selbst und um seiner selbst willen sich entwickelte.“ (GS I, S. 109). Entsprechend der individualistischen Zielsetzung ist für Humboldt „der wahren Moral erstes Gesetz [...]: bilde dich selbst und nur ihr zweites: wirke auf andere durch das, was du bist“ (Brief an Georg Forster v. 16.8.1791). Im Zuge der Abweichung vom Menschenbild der Spätaufklärung gelangt Humboldt zu einer neuen Bewertung der Sinnlichkeit, die ihren defizitären Charakter verliert und einen Eigenwert zugesprochen bekommt. Die Moral ist für Humboldt nicht durch äußere Sanktionen durchzusetzen, er weist vielmehr „dem Gefühl die Aufgabe zu [...], den Menschen zum Gehorsam gegenüber seinen moralischen Verpflichtungen anzuleiten“ (Sauter 1989, S. 351). Während Bentham auf äußere Sanktionen zur Durchsetzung der utilitaristischen Moral setzt, lehnt Humboldt ganz im Gegenteil jede Lenkung von außen ab, weil sie für die Bildung des Menschen, das Ziel aller Politik, unzuträglich ist: „Alle Bildung hat ihren Ursprung allein in dem Inneren der Seele, und kann durch äußere Veranstaltungen nur veranlasst, nie hervorgebracht werden.“ (GS I, S. 70). Mill verwirft Benthams statisch-mechanistisches Bild vom Menschen und folgt Humboldt in der Annahme der Entwicklungsfähigkeit des Menschen. Er behält aber die soziale Zielsetzung Benthams bei und integriert sie in das von

5 Vgl. für eine ausführliche Erörterung Menze 1965, S. 96–105.

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Humboldt übernommene humanistische Entwicklungsideal, sprich er erweitert die individualistische Lehre Humboldts durch eine soziale Komponente und versöhnt sie so mit dem Utilitarismus. Dadurch ändert sich zum einen die inhaltliche Ausgestaltung des gemeinschaftlichen Ziels, das nun weniger ökonomisch als humanistisch verstanden wird, zum anderen geht Mill davon aus, dass sich das Wohl Aller nur durch die individuelle und soziale Entwicklung der Einzelnen aus sich selbst erreichen lässt. Mill formuliert ein progressiv-duales Menschenbild (vgl. Höntzsch 2010, S. 22–35). Er versteht den Menschen als „progressive being“ (CW XVIII, S. 224) und geht mit Humboldt davon aus, dass der Mensch ein Potential zur Entwicklung höherer Fähigkeiten in sich trägt. Den Wunsch zur Entwicklung sieht Mill, in Abgrenzung zu Bentham, als grundlegenden Bestandteil der menschlichen Natur. Folgt Mill Humboldt also in der Annahme der menschlichen Entwicklungsfähigkeit (ebenso wie der zentralen Bedeutung des Gefühls), so führt sein Festhalten an der utilitaristischen Ethik doch zu einem entscheidenden Unterschied hinsichtlich des Entwicklungsideals (vgl. Valls 1999, S. 255f.): Während Humboldts individualistisches Ideal in seiner Anlage jegliche inhaltliche Bestimmung der Entwicklung unmöglich macht, hat Mill durchaus eine Vorstellung von der „ideal conception embodied in (human beings)“ (CW XVIII, S. 265) bzw. der „ideal perfection of human nature“ (CW XVIII, S. 278). Mills Entwicklungsideal vereint die Vielfalt individueller Lebenswege und die Universalität der Moral und integriert so das utilitaristische Ziel in das Menschenbild. Das Wohl Aller ist für Mill ein mittels der Ausbildung der Individualität und der sozialen Tugend indirekt zu erreichendes Ziel. Anders als Bentham betont Mill die Dualität der menschlichen Natur, er sieht im Menschen kein rein selbstinteressiertes Individuum, sondern zugleich die Anlage zum sozialen Wesen [social being]: „The social state is at once so natural, so necessary, and so habitual to man, that [...] he never conceives himself otherwise than as a member of a body“ (CW X, S. 231), wobei der Ausgangspunkt der sozialen Regungen das natürliche Mitfühlen (sympathy), ein natürliches, spontanes Gefühl des Mitfreuens bzw. -leidens mit unserem Gegenüber als einem derselben Gattung angehörenden Wesen ist. Mill denkt die individuelle und soziale Entwicklung des Einzelnen unauflöslich zusammen und geht davon aus, dass die Entwicklung der höheren Fähigkeiten der Einzelnen und das damit einhergehende Anwachsen der sozialen Gefühle idealerweise dazu führt, dass der Mensch das Wohl Aller freiwillig verfolgt. Auch mit Blick auf die Durchsetzung der Moral gehen die Ansichten Benthams und Humboldts bei Mill gewissermaßen eine Synthese ein, wenn Mill die äußere Sanktionierung Benthams mit der Pflichterfüllung mittels der Ausbildung der Individualität (bzw. des Gefühls) bei Humboldt verbindet. Mill setzt auf die natürliche Übereinstimmung der Interessen durch die Bindung des individuellen Nutzens an



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das Wohl Aller mit Hilfe der inneren Sanktion der Gewissenhaftigkeit, sprich er internalisiert die Sanktionen Benthams. Das Pflichtgefühl ist allerdings (wie alle moralischen Gefühle) nicht angeboren, sondern erworben, seine Entwicklung bedarf der äußeren Unterstützung: „[A] complete web of corroborative association is woven round it, by the powerful agency of the external sanctions“ (CW X, S. 232). Daraus folgt keine Beliebigkeit, denn künstlichen Moralvorstellungen fehlt, anders als der utilitaristischen Moral, die Grundlage in einem „powerful natural sentiment“: „This firm foundation is that of the social feelings of mankind; the desire to be in unity with our fellow creatures“ (CW X, S. 231). Ziel der moralischen Entwicklung ist es, das Pflichtgefühl zu stärken und es auf das Wohl Aller, als vernünftig einsichtiges und dem natürlichen Gefühl der sympathy entsprechendes Ziel, auszurichten. Dazu bedarf es der Entwicklung der individuellen Fähigkeiten und der Ausbildung der sozialen Gefühle als Grundlage der inneren Sanktion. Strebt das egoistische Individuum in Benthams Augen nach ökonomischer Nutzenmaximierung und fördert so das kollektivistische Ziel des größten Glücks der größten Zahl, im Zweifelsfall korrigiert durch äußere Sanktionen, ist Humboldts humanistische Zielsetzung die Entwicklung der individuellen Originalität, die nur aus dem Einzelnen selbst heraus erfolgen kann. Mill integriert das kollektivistische Ziel Benthams in das humanistische Menschenbild Humboldts. Er geht davon aus, dass der Mensch ein sich individuell und sozial entwickelndes Wesen ist, das durch die Entwicklung dahin gelangt, das Wohl Aller freiwillig zu verfolgen und löst dadurch den dem Utilitarismus attestierten Widerspruch (vgl. Höffe ³2003, S. 16f.) zwischen egoistischer Motivationsstruktur und altruistischer Norm auf.

8.3 Freiheitsverständnis: zwischen Freiheit und Sicherheit Die Begründung und Konzeption der Freiheit divergieren entsprechend der Unterschiede hinsichtlich des Menschenbildes und der damit verbundenen Zielsetzung der Freiheit. Während die negative Freiheit für Bentham nur ein (wenn auch zentrales) Mittel unter anderen zum Zweck (zur Maximierung des Glücks) und folglich relativierbar ist, gilt sie für Humboldt als Voraussetzung der „Bildung“ uneingeschränkt. Wie Humboldt begründet auch Mill die negative Freiheit mit der Ermöglichung der menschlichen Entwicklung, doch konzipiert er sie aufgrund der Synthese des humanistisch-individualistischen Entwicklungsideals mit der utilitaristisch-kollektivistischen Zielsetzung komplex. Mill entwickelt ein gehaltvolles Konzept negativer Freiheit, das als größte Innovation

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im Rahmen seines politischen Denkens gelten kann und die Spezifik seines sozialen Liberalismus ausmacht. Mit Blick auf Benthams Freiheitsverständnis scheint es sinnvoll, zwei Verwendungsweisen des Begriffs der Freiheit zu unterscheiden: Bentham kontrastiert die gesetzlose, d. h. uneingeschränkte Freiheit (die Freiheit alles zu tun, was man will), die aber zugleich Unfreiheit gegenüber den Mitmenschen bedeutet, mit der durch Gesetzen gesicherten Freiheit, die allein Freiheit im Rahmen der Gesellschaft gewährleisten kann: „We know what it is for man to live without government – and living without government, to live without rights [...] – liberty as against regular control, the control of laws and government – perfect; but as against all irregular control, the mandates of stronger individuals, none.“ (Works II, S. 500). Bentham stellt keine Verbindung zwischen natürlicher und gesellschaftlicher Freiheit her, in dem Sinne, dass die Freiheit von einem Natur- in den Gesellschaftszustand überführt und dort nur anders zu sichern wäre. Ganz im Gegenteil bedeutet die uneingeschränkte Freiheit letztlich Unfreiheit und ist weitestgehend zu begrenzen. Die uneingeschränkte, gesetzlose Freiheit ist nur in dem Umfang zuzulassen, wie sie dem größten Glück dient oder zumindest nicht abträglich ist: „The liberty which the law ought to allow of, and leave in existence, leave uncoerced, unremoved, is the liberty which concerns those acts only, by which, if exercised, no damage would be done to the community upon the whole: that is, either no damage at all, or none but what promises to be compensated by at least equal benefit“ (Works II, S. 505/506, Herv. d. Verf.)

Bentham vertritt ein negatives Freiheitsverständnis, wenn er Freiheit als einen „Zweig der Sicherheit“ definiert: „personal liberty is security against a certain species of injury which affects the person; whilst, as to political liberty, it is another branch of security – security against the injustice of the members of the Government“ (Works I, S. 302; vgl. auch Works II, S. 918). Wie Long treffend festhält, bedeutet für Bentham „to ‚perfect‘ liberty [...] not to maximize it but to secure it“, wünschenswert sei „not simple liberty, but assured liberty, which is to say security“ (Long 1947, S. 8). Gesetze ������������������������������������������� sind in dieser Logik die Voraussetzung wahrer, sprich gesicherter Freiheit und bedeuten zugleich notwendig die Beschränkung der unbeschränkten Freiheit: „In the same proportion as it creates obligations, the law curtails liberty [...]. ������������������������������������������ These curtailments of liberty are inevitable. It is impossible to create rights, to impose obligations, to protect the person, life, reputation, property, subsistence, or liberty itself, but at the expense of liberty“ (Works I, S. 301; vgl. auch Works II, S. 917). Formuliert Bentham mit dem Hinweis auf die mit dem Gesetz notwendig einhergehende Freiheitsbeschränkung ebenso wie mit der Notwendigkeit dieser Beschränkung ein klassisch liberales Freiheitsverständnis, so lehnt er die libe-



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rale Definition „Liberty consists in the power of doing every thing which does not hurt another“ (Works I, S. 301) und damit den hier implizierten Umfang der Beschränkung auf das für die Gewährleistung der Freiheit Notwendige ab. Die klassische Definition trifft seiner Ansicht nach weder auf die ungebundene noch auf die durch Gesetze gesicherte Freiheit zu. Auf die ungebundene Freiheit trifft sie nicht zu, weil diese ja gerade dadurch gekennzeichnet ist, durch Gesetze nicht beschränkt zu sein, also auch die „Freiheit, Böses zu tun“ umfasst; auf die durch Gesetze gesicherte Freiheit trifft sie nicht zu, weil was als Verletzung gilt erst durch das Gesetz definiert wird, und weil die mit gesetzlicher Regelung einhergehende Strafe per se eine Verletzung mit sich bringt und also in Widerspruch zur Freiheit stünde (vgl. Works I, S. 301). Benthams Konzept der Freiheit wurde oftmals kritisiert, weil die Freiheit bei Bentham aufgrund von Nützlichkeitserwägungen beschränkt werden kann – wie das in diesem Zusammenhang gerne zitierte Diktum „Call them soldiers, call them monks, call them machines, so long as they be happy ones, I shall not care“ (Works IV, S. 64) zu belegen scheint. In der Tat gilt mit Blick auf die Freiheit, was dem Gesetzgeber ganz allgemein aufgetragen ist: „In accordance with the principle of utility, he ought never to impose a burden but that he may confer a benefit of a greater value.“ (Works I, S. 301). Laut Bentham muss Freiheit als ein Bereich der Sicherheit zugunsten der allgemeinen Sicherheit zurücktreten, da es kein Gesetz geben kann, das nicht auf Kosten der Freiheit geht. „It is impossible, then, to obtain the greatest good, but by sacrifice of some subordinate good.“ (Works I, S. 303). Doch muss man deshalb nicht notwendig von einer „illiberalen Verteidigung der Freiheit“ sprechen (Long 1947, S. 10) oder Bentham autoritäre Tendenzen unterstellen (Halévy 1971), denn die Freiheit ist mit Bentham keineswegs willkürlich einzuschränken. Zwar ist die Freiheit für Bentham kein Selbstzweck und auch an sich keine Quelle von Lust oder Unlust: „But every restraint imposed upon liberty is liable to be followed by a natural feeling of pain, more or less great, independent of an infinite variety of inconveniences and sufferings which may result from the particular mode of this restraint“ (Works I, S. 301). Jedes Gesetz muss folglich nicht nur im speziellen, sondern auch mit Blick auf seinen allgemeinen, die Freiheit beschränkenden, Charakter gerechtfertigt werden (vgl. Works I, S. 301). Zu Recht weist Rosen so in seiner sehr differenzierten Erörterung die Kritik an Benthams Freiheitsverständnis zurück. Demnach habe Bentham die Freiheit vor dem Hintergrund des Zeitgeschehens nur anders gefasst: „As security, liberty played the most fundamental role as the main end of legislation, and as a component of the principle of utility itself. Security established the framwork within which each person could realize his or her own happiness.“ (Rosen 1990, S. 60/61). Ist der Zurückweisung der Illiberalität Benthams in ihrer Einsei-

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tigkeit auch zuzustimmen, so lässt sich doch die Ambivalenz in seinem politischen Denken, das Changieren zwischen Utilitarismus und Liberalismus, nicht in eine Richtung auflösen. Bentham, so scheint es, ist in erster Linie Utilitarist, das Ausmaß der Freiheit ist am Nutzen orientiert, allerdings hält er – und das macht wiederum seine Liberalität aus – möglichst wenig Freiheitsbeschränkungen dem größten Glück der größten Zahl für besonders förderlich. Die inhaltliche Bestimmung der Freiheit bei Humboldt ähnelt auf den ersten Blick derjenigen Benthams, wenn Humboldt Sicherheit und „Gewissheit der gesetzmäßigen Freiheit“ (GS I, S. 179) gleichsetzt. Doch anders als bei Bentham ist die Sicherheit bzw. gesetzliche Einschränkung der Freiheit auf das Minimum des für die Garantie der negativen Freiheit (als Voraussetzung der Bildung) Notwendigen zu beschränken: „[N]ur wirkliche Verletzungen des Rechts bedürfen einer andren Macht, als die ist, welche jedes Individuum besitzt; nur was diese Verletzungen verhindert, bringt der wahren Menschenbildung reinen Gewinn“ (GS I, S. 180). Ausgangspunkt ist bei Humboldt anders als bei Bentham die in dessen Unterscheidung uneingeschränkte Freiheit, Humboldts Ziel ihre maximale Garantie. Die negative Freiheit zielt bei Humboldt auf die positive, individuelle Freiheit „sich aus sich selbst, in seiner Eigentümlichkeit zu entwickeln“ (GS I, S. 111); der gesellschaftliche Mehrwert dieser Entwicklung und damit auch der gesellschaftliche Mehrwert der negativen Freiheit dagegen ist für Humboldt anders als für Bentham nur von sekundärer Bedeutung. Entsprechend ist auch der Status der negativen Freiheit ein anderer, sie ist absolut gültig und nicht relativierbar: „Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste, und unerlässliche Bedingung“ (GS I, S. 106). Die Freiheit ist unverzichtbar, weil die Finalität des Bildungsprozesses unbestimmt und individuell verschieden ist. Für die minimale Beschränkung der Freiheit spricht auch die zweite Bedingung für die Entfaltung der Individualität, die „Mannigfaltigkeit der Situationen“, denn: „Auch der freiste und unabhängigste Mensch, in einförmige Lagen versetzt, bildet sich minder aus.“ (GS I, S. 106) Diese Mannigfaltigkeit ist für Humboldt einerseits Folge der Freiheit, sie kann aber nicht nur durch die Unterdrückung des Menschen, sondern auch durch die Vereinheitlichung der Dinge, die den Menschen umgeben, gestört werden (vgl. GS I, S. 106). So sind Freiheit und Mannigfaltigkeit „gewissermaßen eins und dasselbe“, der Klarheit des Gedanken wegen behandelt Humboldt sie aber getrennt. Wie Battisti formuliert, erweist sich die Mannigfaltigkeit der Situationen „als Bedingung für die Aktualisierung potentieller Freiheit“ (Battisti 1987, S. 78). Allerdings fordert auch Humboldt Freiheit nicht um jeden Preis, vielmehr müssen Grad der Bildung und der Freiheit sich entsprechen. „Nur freilich heißt es nicht Freiheit geben, wenn man Fesseln löst, welche der noch nicht, als solche, fühlt, welcher sie trägt.“ (GS I, S. 241). Zu leisten ist diese Annäherung



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von Bildung und Freiheit wiederum nur durch Freiheit, denn „durch nichts wird diese Reife zur Freiheit besser befördert, als durch Freiheit selbst.“ (GS I, S. 241). Den Menschen ist also immer nur soviel Freiheit zu gewähren, als der weiteren Reife zu dieser zuträglich ist; Ziel aber bleibt die maximale Freiheit. Mill ist wie Bentham und Humboldt ein Verfechter negativer Freiheit, doch weder ist diese dem allgemeinen Glück untergeordnet noch zielt sie alleine auf die Entwicklung der Individualität. Aufgrund der geänderten Zielsetzung konzipiert Mill eine komplexe negative Freiheit (vgl. Höntzsch 2010, S. 87–97). Wie Humboldt und in Abgrenzung zu Bentham sieht Mill in der Entwicklung der menschlichen Natur das Ziel negativer Freiheit; anders als Humboldt fasst Mill aber das Ziel der Entwicklung letztlich utilitaristisch, wodurch Mills Vorstellung des Ergebnisses – zumindest der sozialen Entwicklung – nicht, wie bei Humboldt, völlig unbestimmt ist: Das Ziel ist das Wohl Aller, nun allerdings zu erreichen über die Ausbildung von Individualität und Soziabilität, wozu die rein individuell verstandene negative Freiheit nicht ausreicht. Mill rechtfertigt die Freiheit mit der progressiven Natur des Menschen, der Schlüssel zum Verständnis ihrer inhaltlichen Konzeption liegt in der Dualität der menschlichen Natur: Um dem Menschen die Entwicklung zu ermöglichen, muss das Freiheitsprinzip inhaltlich so konzipiert sein, dass es die individuelle wie die soziale Seite der menschlichen Natur vor Schädigung schützt. Man schadet dem Menschen als einem sich entwickelnden Wesen nicht nur durch die Einschränkung des individuellen Aktionsraums, sondern auch durch die Einschränkung der sozialen Interaktion. Mill will Rahmenbedingungen schaffen, in denen sich die menschliche Natur als Ganze entwickeln kann. Auch Mill fordert zunächst die individuelle negative Freiheit, wie sie sich sowohl bei Bentham als auch bei Humboldt findet und in der sich die Bedeutung der negativen Freiheit im klassisch liberalen Verständnis weitestgehend erschöpft. Mill differenziert allerdings bereits hier zwischen dem Schutz des Individuums vor staatlichen und gesellschaftlichen Eingriffen, denn die soziale Tyrannei lässt weniger Möglichkeiten zu entkommen, da sie viel tiefer in das private Leben eindringt und die Seele selbst versklavt (CW XVIII, S. 220). Die individuelle Freiheit reicht nun aber aufgrund der geänderten Zielsetzung laut Mill nicht aus: Will man nicht nur die individuelle, sondern auch die soziale Entwicklung des Einzelnen ermöglichen, muss man zugleich die gesellschaftliche (inklusive politische) Sphäre vor Schädigung schützen. Genauer: Die in der gesellschaftlichen Sphäre agierenden Menschen müssen vor Schädigung durch den Einfluss selbstsüchtiger Interessen bewahrt werden. Die gesellschaftliche Sphäre untergliedert sich in zwei Interaktionsbereiche, denen jeweils eine Dimension negativer Freiheit entspricht: die Interaktion zwischen Menschen hinsichtlich individueller Belange und die Interaktion hinsichtlich sozialer, alle Gesellschaftsmitglieder betreffender Belange. Die individuell-

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soziale negative Freiheit umfasst den Schutz jener menschlichen Interaktion, die sich auf individuelle Belange bezieht, sprich die zivilgesellschaftliche Kooperation und die gesellschaftliche Organisation individueller Interessen. Diesen Bereich gilt es doppelt zu schützen. Einerseits vor Übergriffen des Staates (das findet sich auch im Rahmen des klassischen Liberalismus), und wiederum erweitert Mill: auch vor gesellschaftlichen Übergriffen. Andererseits müssen die interagierenden Individuen aber auch vor individueller Selbstsucht geschützt werden; hier geht es um die Forderung des fairen Umgangs miteinander. Die kollektivsoziale Freiheit schließlich meint den Schutz sowohl des Staates als auch der Gesellschaft bzw. der im Rahmen gesellschaftlicher und politischer Strukturen hinsichtlich sozialer Ziele kooperierenden Menschen vor individueller Willkür bzw. vor selbstsüchtigen Interessen. Mill will so den von Gewohnheit, Gefühl und Wünschen des jeweils Macht habenden Teils der Gesellschaft geleiteten, sprich willkürlichen Entscheidungen über die Regeln des menschlichen Zusammenlebens, die nichts oder wenig mit den Interessen der Gesellschaft zu tun haben, ein Ende bereiten (vgl. CW XVIII, S. 221). In Mills Augen kann nur die komplex konzipierte negative Freiheit den Menschen umfassend vor Willkür schützen und ihm die individuelle und soziale Entwicklung ermöglichen. Auch Mill will, wie Humboldt, ganz in liberaler Tradition die Freiheit nur so weit beschränken, wie dies zu ihrer Garantie unbedingt notwendig ist. Doch ist die negative Freiheit bei Mill aufgrund der utilitaristisch definierten bzw. sozialen Zielsetzung komplexer gefasst. Zu ihrer Garantie zählt in Mills Verständnis – und das ist die Besonderheit an Mills Konzept negativer Freiheit – auch die Gewährleistung der Möglichkeit zur freien sozialen Interaktion, sowohl hinsichtlich individueller Angelegenheiten, als auch hinsichtlich sozialer Angelegenheiten. Der Schutz der kollektiv-sozialen Freiheit ist dabei Voraussetzung nicht nur für den Schutz der individuell-sozialen Freiheit, sondern auch für den Schutz der individuellen Freiheit; denn nur wenn die sozialen Angelegenheiten vor individueller Selbstsucht geschützt sind, lässt sich der Bereich individueller Angelegenheiten vor ungerechtfertigten Übergriffen durch Staat und Gesellschaft schützen. So erfährt die individuelle Freiheit mehr Einschränkungen als bei Humboldt, anders als bei Bentham führt dies jedoch nicht zu einem Widerspruch zwischen Freiheit und Glück, weil die Einschränkungen der individuellen Freiheit in Mills Konzept keine Einschränkungen darstellen, sondern die Freiheit erst umfänglich garantieren, so dass die Geltung der Freiheit dadurch nicht relativiert wird.6

6 Mill vertritt einen perfektionistischen Liberalismus. Dieser fällt zwar unter die von Wall in seiner Abhandlung „Liberalism, perfectionism and restraint“ (1998) als gemeinsamen Nenner



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8.4 Staatsverständnis: zwischen Minimal und Wohlfahrtsstaat Wie auch mit Blick auf die Freiheit schwankt Benthams Position hinsichtlich der Rolle des Staates zwischen liberalen und utilitaristischen Annahmen – „oscillating between laissez-faire liberalism and welfare state“ (Pitkin 1990, S. 105). Die Zweiseitigkeit der Argumentation wird im folgenden Zitat deutlich, das sowohl auf die utilitaristische Zielsetzung und die dafür erforderlichen Maßnahmen inklusive Freiheitsbeschränkungen als auch auf die nötige individuelle Eigenleistung und den dazu erforderlichen individuellen Freiraum verweist: The sole object of government ought to be the greatest happiness of the greatest possible number of the community. [...] The care of providing for his enjoyments ought to be left almost entirely to each individual; the principal function of government being to protect him from sufferings. It fulfils this office by creating rights which it confers upon individuals: rights of personal security; rights of protection for honour; rights of property; rights of receiving assistance in case of need. [...] The citizen, therefore, cannot acquire any right without the sacrifice of a part of his liberty. (Works I, S. 301/302)

Das Ziel des größten Glücks der größten Zahl ist, das wird hier noch einmal deutlich, am ehesten mittels egoistischer Nutzenmaximierung zu erreichen und damit mittels Freiheit (nicht nur, aber) vor allem im wirtschaftlichen Bereich. Wo die egoistische Nutzenmaximierung aber in Widerspruch zum größten Glück gerät, sind Eingriffe des Staates legitim und geboten. Bentham nennt vier Bestandteile des Glücks, die das Gesetz garantieren soll: Subsistence, Abundance, Equality und Security, wobei er die Sicherheit als Hauptgegenstand des Gesetzes bezeichnet (Works I, Kap. II).7 Das größte Glück bedarf in allererster Linie der Bereitstellung von Sicherheit und Subsistenz: „without security, equality itself could not endure a single day. Without �������������������������� subsistence, abundance cannot exist. The two first ends are like life itself: the two last are the orna-

aller perfektionistischen Theorien formulierte These, „that political authorities should take an active role in creating and maintaining social conditions that best enable their subjects to lead valuable and worthwhile lives“ (Wall 1998, S. 8); dies muss jedoch nicht zwangsläufig eine Einschränkung der Freiheit bedeuten, sondern kann, wie Marneffe zeigt, gerade durch die Gewährleistung der Freiheit geschehen: „If [...] human excellence would be promoted most effectively over time by government observance of a principle that prohibits it from limiting the liberty of competent adults for their own good, then teleological perfectionism in its rule form would warrant the principle of antipaternalism.“ (Marneffe 1998, S. 105). 7 Vgl. auch Works VII, S. 522: „Security is the political blessing I have in view: security as against malefactors on one hand – security as against the instruments of the government, on the other“.

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ments of life.“ (Works I, S. 303) Ohne hier ins Detail gehen zu können,8 macht die Hierarchisierung der Gegenstände des Gesetzes deutlich, dass die Staatstätigkeit dem Freiheitsverständnis entsprechend nicht per se auf ein Minimum zu beschränken ist, sondern dort auszuweiten ist, wo es der Nutzen erfordert – der Staat ist nicht auf die Gewährleistung der Freiheit festgelegt, sondern kann diese, wie am Beispiel der Subsistenz ersichtlich, beschränken. So setzt Bentham zwar auch mit Blick auf die Subsistenz zunächst auf Hilfe zur Selbsthilfe: „What can the law do relative to subsistence? Nothing directly“ (Works I, S. 303): „security for the labourer – security for the fruits of labour“ (Works I, S. 304); er fordert jedoch zugleich die Einführung einer Abgabe für die Bedürfnisse der Armen und damit einen Eingriff in die Eigentumsrechte der Reichen: the title of indigent, as indigent is stronger than the title of the proprietor of a superfluity, as proprietor; since the pain of death, which would finally fall upon a neglected indigent, will always be a greater evil than the pain of disappointed expectation, which falls upon the rich when limited portion of his superfluity is taken from him. (Works I, S. 316)

Bentham befürwortet also entsprechend der gemeinschaftlichen Zielsetzung und damit einhergehenden möglichen Beschränkung der Freiheit, wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen – wenn auch nur in beschränktem Umfang. Wie für Bentham hat der Staat auch für Humboldt instrumentellen Charakter, wobei er dessen Funktion unmittelbar aus seinem Menschenbild ableitet: „Alle Gesetzgebung muss von dem Gesichtspunkte der Bildung des Bürgers, als Menschen, ausgehen. Denn der Staat ist nichts, als ein Mittel, diese Bildung zu befördern oder vielmehr die Hindernisse wegzuräumen, die ihr im außergesellschaftlichen Zustande im Wege stehen würden.“ (GS I, S. 69) Humboldt vertritt ein klassisch-liberales Staatsverständnis, eines dass, wie Werner Gembruch festhält, vom Resultat betrachtet mit Lockes Verständnis vergleichbar, jedoch ganz anders motiviert ist, da es „nicht den Interessen eines Homo oeconomicus, sondern der Humanitätsidee des deutschen Idealismus“ verpflichtet ist (Gembruch 1986, S. 90). Hierin liegt auch der entscheidende Unterschied zu Bentham, dessen Staatsverständnis wie das von Locke den Interessen des Homo oeconomicus verpflichtet ist – wobei Bentham sie aber, wie gesehen, anders als dieser nicht durch den unbedingten Schutz des Eigentums zu wahren gedenkt (vgl. dazu Rosen 1990, S. 67). Laut Humboldt kann der Zweck des Staates ein doppelter sein: „er kann Glück befördern oder nur Übel verhindern wollen “ (GS I, S. 111). Humboldt setzt

8 Für eine ausführliche Erörterung vgl. Hoffmann 2002, S. 244ff.



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Letzteres als Sicherheit bzw. „das negative Wohl der Bürger“ (GS I, S. 247) dem Zweck des positiven Wohlstands bzw. dem „positive(n) Wohl der Bürger“ (GS I, S. 246) entgegen. Die Staatstätigkeit ist laut Humboldt auf die Garantie der Sicherheit zu beschränken, den Wohlfahrtsstaat lehnt er ab, worunter er das Bemühen versteht, den positiven Wohlstand der Nation zu erhöhen, [...] aller Sorgfalt für die Bevölkerung des Landes, den Unterhalt der Einwohner teils geradezu durch Armenanstalten, teils mittelbar durch Beförderung des Ackerbaus, der Industrie und des Handelns [...], endlich alle Veranstaltungen zur Verhütung oder Herstellung von Beschädigungen durch die Natur, kurz von jeder Einrichtung des Staates, welche das physische Wohl der Nation zu erhalten oder zu befördern die Absicht haben. (GS I, S. 112/113)

Gegen den Wohlfahrtsstaat führt Humboldt gleich mehrere Gründe an (vgl. GS I, S. 113–128), v.a. aber die daraus resultierende Einförmigkeit im Denken und Handeln9 und die Schwächung der „Kraft“. Er kommt zu dem Ergebnis: „der Staat enthalte sich aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand der Bürger und gehe keinen Schritt weiter als zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst und gegen auswärtige Feinde notwendig ist; zu keinem anderen Endzwecke beschränke er ihre Freiheit.“ (GS I, S. 129). Was positive Staatstätigkeit zum Ziel hat, sollen bei Humboldt „Nationalanstalten“, freiwillige Zusammenschlüsse von Individuen zu einem bestimmten Zweck, leisten – sie haben nicht nur den Vorteil, dass sie kein Gewaltmonopol besitzen, das sie wie der Staat missbrauchen könnten, sondern auch, dass die mitwirkenden Bürger hier im Sinne ihrer Selbstverwirklichung tätig werden (vgl. GS I, S. 131f.). Gleichwohl gilt, ebenso wie hinsichtlich der Freiheit, auch mit Blick auf die Forderung eines Minimalstaates die Einschränkung, dass die Menschen bereits einen entsprechenden Bildungsstand erreicht haben müssen: „Staatsverfassungen lassen sich nicht auf Menschen, wie Schösslinge auf Bäume pfropfen. Wo Zeit und Natur nicht vorgearbeitet haben, da ist’s, als bindet man Blüten mit Fäden an. Die erste Mittagssonne versengt sie.“ (GS I, S. 80) Auch mit Blick auf das Staatsverständnis nimmt Mill eine Mittlerposition zwischen Bentham und Humboldt ein. Weder ist er als Vertreter eines Minimal- doch ebenso wenig als Verfechter eines Wohlfahrtsstaates, in dessen Rahmen Freiheitsbeschränkungen zur aktiven Beförderung des Wohles Aller legitim wären, zu verstehen. Das Mehr an Kontrolle, das Mill gegenüber klassisch-liberalen Positionen und auch gegenüber Humboldts Minimalkonzeption des Staates formuliert, entspricht dem komplexen Verständnis der negativen Freiheit: Die soziale Kon­trolle

9 Vgl. GS I, S. 113: „Gleichförmige Ursachen haben gleichförmige Wirkung. Je mehr also der Staat mitwirkt, desto ähnlicher ist nicht bloß alles Wirkende, sondern auch alles Gewirkte.“

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gewährleistet die individuelle Freiheit, aber auch die Freiheit in der sozialen Interaktion. Mill fasst das Minimum an staatlicher Kontrolle weiter als Humboldt, ohne dafür wie Bentham Freiheitsbeschränkungen in Kauf zu nehmen. Positive, autoritative Eingriffe des Staates (und auch der Gesellschaft) zum Wohle des Individuums lehnt Mill gänzlich ab; hier schließt er sich zunächst Bentham an, wenn er mit der Urteilsüberlegenheit der jeweils von einer Handlung primär Betroffenen argumentiert. Der jeweils Betroffene kann seine eigenen Umstände nicht nur am besten beurteilen, er hat auch das größte Interesse an der besten Lösung: He is the person most interested in his own well-being: the interest which any other person, except in cases of strong personal attachment, can have in it, is trifling, compared with that which he himself has: the interest which society has in him individually (except as to his conduct to others) is fractional, and altogether indirect: while, with respect to his own feelings and circumstances, the most ordinary man or woman has means of knowledge immeasurably surpassing those that can be possessed by any one else. (CW XVIII, S. 277)

Nicht nur die Annahme des überlegenen Urteils des primär Betroffenen als Meistinteressierten findet sich bereits bei Bentham; wie er hält Mill Zwang grundsätzlich für schädlich und will Zwangsmaßnahmen auf das Nötigste beschränken (vgl. Ryan 1974, S. 131–33). Doch Mills Argumentation geht über die klassische utilitaristische Argumentation hinaus, wodurch seine Argumentation im Gegensatz zu Benthams, die nur trägt, solange die Freiheit den größeren Nutzen bringt, einen prinzipiellen Charakter erhält. Mill bezeichnet Zwang als „irksome or degrading“ (CW III, S. 939): Nicht nur ist unrechtmäßiger Zwang ‚lästig‘, weil weniger effektiv als die private Initiative des meistinteressierten Betroffenen, er ist zugleich ‚entwürdigend‘ für den Menschen als ein nach Vervollkommnung strebendes Wesen. Mills über die utilitaristische hinausgehende Argumentation gegen autoritatives Regierungshandeln schließt also an Humboldts Argumentation an. Mill fasst jedoch den als legitim erachteten Umfang autoritativer Staatstätigkeit infolge seines Freiheitsverständnisses weiter als Humboldt. So sind die von Mill in den Principles und in Kapitel I und V von On Liberty vermeintlich formulierten „Ausnahmen“ von der absoluten Gültigkeit des Freiheitsprinzips, die staatliche Eingriffe legitimieren, vor dem Hintergrund der komplexen Konzeption negativer Freiheit zu verstehen. Die Beispiele, die Mill anführt, sind keine Ausnahmen von der Gültigkeit des Freiheitsprinzips, sondern Beispiele, in denen es Schaden erstens aufgrund fehlender Urteilsfähigkeit des Betroffenen oder zweitens aufgrund fehlender Urteilsüberlegenheit infolge fehlender (primärer) Betroffenheit des Handelnden zu verhindern gilt. Greift der Staat hier ein, handelt es sich um durch das Nützlichkeitsprinzip gerechtfertigte und im Sinne des Freiheitsprinzips legitime Eingriffe.



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In Fällen fehlender Urteilsfähigkeit findet das Freiheitsprinzip (noch) keine Anwendung – staatliche Eingriffe sind gerechtfertigt, um die zukünftige Entwicklung zu ermöglichen; hier ähnelt Mills Argumentation derjenigen Humboldts, wonach die Begründung für die Freiheit als notwendige Bedingung für die Entwicklung hier keine Anwendung erfährt.10 Das Freiheitsprinzip gilt laut Mill weder für urteilsunfähige Einzelpersonen noch für „backward states of society“ (CW XVIII, S. 224): „Liberty, as a principle, has no application to any state of things anterior to the time when mankind have become capable of being improved by free and equal discussion“ (XVIII, S. 224). Wie Humboldt (vgl. GS I, 181) schließt Mill Kinder und „Geisteskranke“ deshalb aus dem Geltungsbereich der Freiheit aus (vgl. CW XVIII, S. 224 und S. 280) und erlaubt, wie dieser, Regierungseingriffe, um die Erziehung als Voraussetzung für potentielle Selbstkultivierung zu garantieren, wenn auch nicht inhaltlich zu bestimmen:11 „The objections which are urged with reason against State education, do not apply to the enforcement of education by the State, but to the State’s taking upon itself to direct that education: which is a totally different thing“ (CW XVIII, S. 302). Als weiteren Fall fehlender Urteilsfähigkeit nennt Mill den Abschluss ewiger Verträge, wobei Mill hier vor allem die Ehe im Blick hat und wie Humboldt (vgl. GS I, S. 121f.), wenn aus anderen Gründen, für die Möglichkeit ihrer Auflösung plädiert, weil der zukünftige Wille zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses nicht vorhersehbar ist (vgl. CW III, S. 953 und CW XVIII, S. 300). Fälle fehlender primärer Betroffenheit sind – anders als Fälle fehlender Urteilsüberlegenheit – eindeutig durch das Freiheitsprinzip geregelt, da hier Interessen anderer betroffen sind. Entsprechend erörtert Mill keinen dieser Fälle in On Liberty, sondern sämtlich in den Principles – als Ausnahmen vom laissez-faire Prinzip. Hierzu gehören Maßnahmen wie die Armenfürsorge, Arbeiterrechte, oder die Bereitstellung öffentlicher Güter (vgl. CW III, S. 954–971). Ist die primäre Betroffenheit des Handelnden nicht gegeben, so ist staatliche Intervention bzw. soziale Kontrolle gerechtfertigt, weil hier Individuen Handlungen ausführen, die

10 Andrew Valls meint, Humboldt formuliere hier Ausnahmen von seiner generellen Regel, nach der der Staat darauf beschränkt sei, Sicherheit zu gewährleisten (vgl. ders. 1999, S. 271) und hält nicht zuletzt aus diesem Grund Mills Ansatz, die Selbstentwicklung zu ermöglichen, für plausibler (vgl. 1999, S. 274); doch scheint es sich auch bei Humboldt in den genannten Fällen im eigentlichen Sinne nicht um Ausnahmen zu handeln, insofern auch bei Humboldt die Argumente für die Freiheit hier keine Anwendung finden, „da sie doch immer den Menschen in seinen gewöhnlichen Kräften voraussetzen“ (GS I, S. 181). 11 Die Maßnahmen, die Mill zu diesem Zweck vorsieht (vgl. CW XVIII, S. 302ff. und CW III, S. 947f.), reichen gleichwohl weiter als diejenigen die Humboldt befürwortet (vgl. GS I, S. 145).

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die Interessen anderer Individuen oder der Gesellschaft als Ganzer betreffen.12 In den von Mill in diesem Zusammenhang genannten Fällen geht es primär um den Schutz sozialer Angelegenheiten vor individuellen Vorlieben. Anders als bei Bentham, der wohlfahrtstaatliche Maßnahmen als Freiheitsbeschränkungen zugunsten des größeren Nutzen begründet, sind diese Fälle bei Mill durch die komplexe Konzeption des Freiheitsprinzips geregelt und führen daher nicht zu einem Widerspruch zwischen Freiheit und dem Wohl Aller, sondern befördern das Wohl Aller durch den Schutz der Freiheit. Für Mill handelt es sich hier um Fälle zwangsbewehrter Regierungseingriffe, die durch das Freiheitsprinzip gerechtfertigt sind. Nicht nur erlaubt das komplexe Freiheitsverständnis mehr autoritative Staatstätigkeit, auch lehnt Mill nicht-autoritative Staatstätigkeit nicht prinzipiell ab,13 anders als Humboldt, der den Staat auf die Garantie der Sicherheit beschränkt. Doch selbst wenn nicht-autoritative Eingriffe durch die Regierung in Mills Augen nicht der Ermöglichung des Fortschritts schaden, so scheinen sie ihm dort, wo ein gewisses Zivilisationsniveau erreicht ist, eher ab- als zuträglich. In On Liberty behandelt Mill abschließend Fälle nicht zwangsbewehrter Regierungseingriffe zum Wohle der Betroffenen, in denen die Gründe gegen Einmischung nicht aus dem Freiheitsprinzip folgen (vgl. CW XVIII, S. 305ff.): Er begründet die Ablehnung positiven Regierungshandelns zum Wohl der Betroffenen hier, wie auch in den Principles, durch Urteilsüberlegenheit und Selbstkultivierung. Die private

12 Etwa Handlungen von Individuen, die „though intended solely for their own benefit, involve consequences extending indefinitely beyond them, to interests of the nation or of posterity, for which society in its collective capacity is alone able, and alone bound, to provide“ (PE: S. 963) oder Fälle, „in which those acts of individuals with which the government claims to interfere, are not done by those individuals for their own interest, but for the interest of other people. This includes, among other things, the important and much agitated subject of public charity. Though individuals should, in general, be left to do for themselves whatever it can reasonably be expected that they should be capable of doing, yet when they are at any rate not to be left to themselves, but to be helped by other people, the question arises whether it is better that they should receive this help exclusively from individuals, and therefore uncertainly and casually, or by systematic arrangements, in which society acts through its organ, the state.“ (PE: S. 960) 13 Vgl. CW III, S. 937: „intervention which is not authoritative: when a government, instead of issuing a command and enforcing it by penalties, adopts the course so seldom resorted to by governments, and of which such important use might be made, that of giving advice, and promulgating information; or when, leaving individuals free to use their own means of pursuing any object of general interest, the government, not meddling with them, but not trusting the object solely to their care, establishes, side by side with their arrangements, an agency of its own for a like purpose. [...] It is one thing to provide schools or colleges, and another to require that no person shall act as an instructor of youth without a government licence.“



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bzw. gesellschaftliche Initiative des bzw. der meistinteressierten Betroffenen ist dem staatlichen Handeln in den meisten Fällen überlegen. Doch selbst wenn die Regierung bestimmte Dinge effizienter lösen könnte, ist die private Verrichtung vorzuziehen, weil sie der individuellen und damit zugleich der gesellschaftlichen Entwicklung dient, indem der einzelne hier seine Fähigkeiten stärken und einüben kann (vgl. CW XVIII, S. 305). Deshalb ist auch nicht-autoritatives Regierungshandeln im Normalfall abzulehnen. Während Bentham zwar grundsätzlich ein Befürworter des laissez-fairePrinzips ist, aber nur, solange es dem größten Glück der größten Zahl am besten dient, lehnt Humboldt jegliche Staatstätigkeit, die über die Sicherheit gegenüber äußeren Feinden und der Bürger untereinander hinausgeht, prinzipiell ab, weil sie der individuellen Entwicklung abträglich wäre. Auch Mill geht es in Hinblick auf die Staatstätigkeit, wie schon hinsichtlich des Freiheitsverständnisses, um die Ermöglichung der Entwicklung des Einzelnen, doch insofern diese Entwicklung die individuelle und soziale Natur umfasst und damit ein zumindest formales Ideal beinhaltet und nicht wie bei Humboldt völlig unvorhersehbar ist, erfordert dies auch ein Mehr an Staatstätigkeit. Diese ist aber nicht wie bei Bentham als Einschränkung der Freiheit zugunsten von Nützlichkeitserwägungen zu verstehen, sondern durch das Freiheitsprinzip in seiner komplexen Konzeption gerechtfertigt.

8.5 Mills Sozialliberalismus: zwischen Bentham und Humboldt Mills politisches Denken entzieht sich eindeutigen Zuordnungen, auch weil Mill die Überlegungen verschiedenster Schulen und Richtungen in seine Überlegungen aufgenommen hat. Infolgedessen entwickelt Mill eine spezifische Form des Liberalismus, die sich als Produkt der Synthese des utilitaristisch-kollektivistischen Ideals Benthams mit Humboldts humanistisch-individualistischem Entwicklungskonzept verstehen lässt. Ausgehend von seinem progressiv-dualen Menschenbild formuliert Mill ein komplexes Konzept negativer Freiheit, das über das klassisch liberale Verständnis eines Minimalstaates hinausweist, ohne die negative Freiheit zu relativieren. Im Rahmen des Menschenbildes geht das Humboldtsche Ideal der Individualität in Mills Denken eine Synthese ein mit der altruistischen Zielvorstellung des Utilitarismus, die Mill in das humanistische Entwicklungsideal integriert: Das Wohl Aller realisiert sich Mill zufolge durch die individuelle und soziale Entwicklung jedes Einzelnen. Entsprechend dieser Zielvorstellung begründet Mill, wie Hum-

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boldt, die negative Freiheit durch die Entwicklung, definiert die negative Freiheit aber inhaltlich im Sinne der dualen Natur des Menschen komplex: Damit sich der Mensch in seiner individuellen und sozialen Natur entwickeln kann und so das Wohl Aller befördert, ist nicht nur die individuelle, sondern auch die (individuelle und kollektive) soziale Freiheit zu sichern. Dies impliziert zwar ein Mehr an Staatstätigkeit als im klassischen Liberalismus, führt jedoch, auch wenn Mill in der Sache teils ähnliche Beschränkungen der individuellen Freiheit vorsieht wie Bentham, nicht zu einer Unterordnung der Freiheit unter das Glück, weil die Freiheit durch die Integration der utilitaristischen Komponente ins Menschenbild nicht relativierbar ist. Auch wenn Mills Entwicklungsideal aufgrund der sozialen Komponente nicht völlig unbestimmt ist, bleibt die Freiheit unbedingt gültig, weil sich das Wohl Aller nur aus dem Einzelnen heraus verwirklichen lässt. Da die komplexe Freiheit in Mills Augen ausreicht, um die Selbstentwicklung des Einzelnen zu ermöglichen, soll sich der Staat auf deren Garantie beschränken. So lehnt Mill zwar wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen im Sinne Benthams ab, die komplexe negative Freiheit impliziert gleichwohl mehr staatliche Kontrolle als im Rahmen der klassisch-liberalen Minimalstaatskonzeption, wie sie Humboldt vertritt. Das Ergebnis der Synthese, die Benthams Utilitarismus und Humboldts Humanismus in Mills Denken eingehen, ist eine spezifische Form eines genuin sozialen Liberalismus, der die negative Freiheit komplex fasst und dadurch weder, wie andere Sozialliberale (Bentham), die Freiheit einem übergeordneten Ziel opfert noch, wie klassische Liberale (Humboldt), die soziale Komponente vernachlässigt.

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Christoph Schmidt-Petri

9 Freiheit, Paternalismus und die Unterwerfung der Frauen 9.1 Einleitung John Stuart Mills leidenschaftliche Verteidigung persönlicher Freiheit in Über die Freiheit schien seit jeher und trotz seiner anderslautenden Beteuerungen in einem klaren Widerspruch, zumindest aber in einer gewissen Spannung, zu seiner Neufassung der ihm schon als Kind aufgezwungenen utilitaristischen Lehre in Utilitarismus zu stehen. Dies wird gerade in solchen Fällen deutlich, in denen Menschen im Begriff sind, sich selbst einen Schaden zuzufügen. Da nur zur Abwehr von Fremdschädigung gesellschaftlicher Zwang ausgeübt werden darf, so Mills Schadensprinzip in Über die Freiheit, ist selbstschädigendes Verhalten ausdrücklich gestattet. Selbstschädigungen werden damit natürlich weder be­fürwortet noch als moralisch neutral dargestellt, als unzulässig befunden wird dennoch nur, tatsächliche oder – in der Praxis aufgrund differierender Vorstellungen darüber, was die Komponenten eines guten Lebens sind, ungleich wichtiger – vermeintliche Selbstschädigungen durch Zwang zu unterbinden. Aber bereits dieser liberale Anti-Paternalismus erscheint für sehr viele Fälle problematisch. Schließlich möchte Mill in Utilitarismus das Wohlergehen der Menschen befördert sehen, und dieses Anliegen, so sagt er, sei auch die wesentliche Grundlage des Schadensprinzips. Zwar kann man der Meinung sein, dass es tatsächlich häufig oder sogar meistens wohlergehensförderlich ist, den Menschen viele persönliche Freiheiten zuzugestehen, statt sie zwangszubeglücken  – Utilitarismus und Liberalismus sind also nicht klarerweise widersprüchlich  – aber ein konsequenter Utilitarist kann doch Selbstschädigungen nicht zulassen wollen, insofern sie denn effizient, also wohlergehensbefördernd nach Be­ rücksichtigung aller Vor- und Nachteile, verhindert werden können. In einigen Ausnahmefällen erscheint dies möglich. Mill scheint diese Spannung auch bemerkt zu haben, ohne sie jedoch theoretisch sauber auflösen zu können.1 So schränkt er in seinem ‚Sklavenbeispiel‘ im fünften Kapitel von Über die Freiheit seinen Liberalismus durch ein explizites Verbot der Selbstversklavung ein, das, um die Lage noch verzwickter zu machen,

1 So erscheint es zumindest auf den ersten Blick. Es wurden bereits diverse Vorschläge gemacht, wie die Spannung doch aufgelöst werden kann, z. B. von Riley (1998).

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geradezu dogmatisch und weder klarerweise liberal noch utilitaristisch begründet erscheint – wenn auch an sich zweifellos plausibel: Die Ursache der Nichteinmischung in das freie Handeln eines Menschen – außer wenn die Sache einen Dritten betrifft – ist die Achtung vor seiner Freiheit. Seine freie Wahl beweist genügend, dass ihm das, was er gewählt hat, auch wünschenswert oder mindestens erträglich erscheint, und für sein Wohl ist im allgemeinen am besten gesorgt, wenn man ihm erlaubt, es mit seinen eigenen Mitteln zu fördern. Verkauft er sich aber als Sklave, so entsagt er seiner Freiheit und verzichtet damit auf allen künftigen Gebrauch außer diesem letzten. Er vernichtet also in seinem Fall den eigentlichen Zweck, der die Erlaubnis, über sich selbst zu verfügen, rechtfertigt. Er ist nicht mehr frei, sondern von nun an in einer Lage, die nicht länger mehr dieselben Voraussetzungen für sich hat, als wenn er freiwillig in ihr bliebe. Das Prinzip der Freiheit kann nicht fordern, dass er die Freiheit haben sollte, nicht frei zu sein. Es ist nicht Freiheit, sich seiner Freiheit entschlagen zu dürfen (291; CW XVII, S. 300).2

Aber wieso ist es denn „nicht Freiheit, sich seiner Freiheit entschlagen zu dürfen“? Diese vielleicht rhetorisch eindrucksvolle Figur kann als Begründung für ein Verbot der Selbstversklavung kaum überzeugen. Denn wenn der Verkauf in die Sklaverei vielleicht auch besonders radikal erscheint, ist ‚Sklaverei auf Zeit‘ doch gang und gäbe, beispielsweise in Arbeitsverträgen (die zwar grundsätzlich aber nicht deswegen jederzeit kündbar sind).3 Man könnte sogar sagen, dass jeder Vertragsschluss bedeutet, dass man sich seiner Freiheit gerade in dem Maße selbst beraubt, in dem man dies als zweckmäßig ansieht, und ein wahrer Liberaler doch die Zulässigkeit jeglicher Verträge befürworten muss – auch wenn er persönlich den fraglichen Vertrag vielleicht nicht geschlossen hätte. Beim Verbot der freiwilligen Selbstversklavung scheint also der Utilitarist in Mill, der in gewissen Ausnahmefällen eben doch dem Paternalismus nicht abgeneigt ist, zum Zuge zu kommen, um den potentiellen Sklaven vor sich selbst schützen zu wollen. So die gängige Meinung. Mills bemerkenswerte Ausführungen zur Sklaverei in Über die Freiheit (von nun an Freiheit) lassen sich, wie ich in Abschnitt 2 zeigen möchte, mit Kenntnis seines mindestens ebenso leidenschaftlichen Werks zur Frauenemanzipation The Subjection of Women merklich anders lesen. Das in der bisher verbreiteten Übersetzung irreführend als Die Hörigkeit der Frau bekannte, kürzlich aber als Die Unterwerfung der Frauen (von nun an Unterwerfung) veröffentlichte Werk4 kann,

2 Alle Verweise zu Über die Freiheit beziehen sich auf die zweisprachige Ausgabe bei Reclam. Die Collected Works werden als Ergänzung ebenfalls angeführt. 3 Siehe Buyx 2007 für eine Kritik gängiger Argumente gegen die Zulässigkeit der Selbst­ver­skla­ vung, die eine solche Strategie verfolgt. 4 Im ersten Band der Ausgewählten Werke, AW I.



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so meine These in diesem Aufsatz, nicht nur Licht auf einige unklare Passagen in Freiheit werfen, in denen Mills Liberalismus inkohärenterweise eingeschränkt zu werden scheint, sondern dadurch gleichzeitig auch das Verhältnis von Freiheit zu Utilitarismus erhellen. Die Sklaverei ist in Unterwerfung ein wiederkehrendes Thema. Mill sagt dort explizit, dass Ehefrauen die Sklavinnen ihrer Männer sind (oder, vorsichtiger ausgedrückt, im viktorianischen England von ihren Ehemännern wie Sklavinnen gehalten werden dürfen). Viele Frauen entscheiden sich aber offensichtlich freiwillig für dieses Schicksal, denn Zwangsehen im engeren Sinne gab es in England damals nicht. Diese eigentlich überraschende Beobachtung – möchten denn so viele Frauen gerne versklavt werden? – ist der Schlüssel zu der Interpretation, die ich hier vorstellen möchte. Mill sieht es als gegeben an, dass kein Mensch, Mann oder Frau, wenn er es denn vermeiden kann, Sklave werden möchte. Mill ist folgerichtig auch der Meinung, dass keine viktorianische Frau, wenn sie es denn vermeiden könnte, eine Ehe schließen wollen würde, die den damals geltenden Gesetzen entspricht. Dass sie aber dies anscheinend dennoch wünschen illustriert, wie Mill eindeutig erkannt hat, welche fast unbegrenzte Macht die individuelle Erziehung im Einklang mit der öffentlichen Meinung ausüben kann. Macht wird ‚normalen‘ Sklaven gegenüber gewaltsam ausgeübt, nämlich durch die unfreiwillige Versklavung und (u. a.) die Einschränkung der Bewegungsfreiheit; gegenüber den Frauen jedoch geschieht dies weniger offenkundig, wenn auch letztlich nicht unbedingt weniger brutal, nämlich durch ihre ‚Erziehung‘. Diese lässt die ‚Versklavung‘ der Frauen durch die Eheschließung freiwillig erscheinen, sie ist aber letztlich doch nur Auswirkung der vorangegangenen unfreiwilligen Versklavung des Geistes. Freiheit und Unterwerfung wenden sich somit beide gegen den Missbrauch der Macht von Erziehung und öffentlicher Meinung. Freiheit formuliert abstrakt (mit dem Schadensprinzip) die wünschenswerten Grenzen dieser Macht, Unterwerfung zeigt die Überschreitung dieser Grenzen in einem konkreten Fall auf. In Unterwerfung, das am Ende von Mills Leben erscheint, nach vielen erfolglosen Anstrengungen, die Emanzipation zu fördern,5 kommt somit völlig konsequent

5 Bemerkenswert ist insbesondere der von Mill, damals Parlamentarier für Westminster, im rein männlichen Parlament 1867 eingebrachte Gesetzesvorschlag zur Ausweitung des Wahlrechts auf Frauen, der kläglich scheiterte. Mill verlor sein Mandat in den Wahlen von 1868. Dies war übrigens nicht die erste Petition, den Frauen das Wahlrecht zuzugestehen, wie häufig gedacht wird (z. B. Nussbaum 2010, S. 133), denn bereits 1833 hatte Henry Hunt eine solche eingebracht. Erst 1928 wurde in Großbritannien den Frauen gleiches Wahlrecht zugestanden. Siehe http:// www.parliament.uk/about/living-heritage/transformingsociety/electionsvoting/womenvote/ overview/petitions/ (letzter Zugriff 15.5.2014).

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das Schadensprinzip von Freiheit im speziellen Fall der ‚Versklavung‘ der Frauen zur Anwendung. Das oben erwähnte Sklavenbeispiel in Freiheit illustriert somit das Los der Frauen, die eine Ehe schließen.6 Mills Hoffnung auf eine bessere Welt, in der Erziehung und öffentliche Meinung nicht mehr zur Unterwerfung der Frauen eingesetzt werden, sondern zur egalitären Förderung des Wohlergehens aller Menschen, zeigt sich auch in seinen Überlegungen zur Repräsentativen Demokratie (von nun an Demokratie), die ich in Abschnitt 3 diskutieren werde. Wie auch in Freiheit ringt Mill hier vor allem mit dem Problem, wie die prinzipiell erstrebenswerte Gleichberechtigung aller Menschen befördert werden kann. Diese Gleichberechtigung zeigt sich natürlich nicht nur in der Familie, die aber viele wichtige gesellschaftliche Einstellungen entscheidend prägt, sondern auch in den herrschenden politischen und ökonomischen Verhältnissen. Zu vermeiden ist dabei insbesondere, dass Gleichberechtigung durch die ‚Tyrannei der Mehrheit‘ dazu führt, dass die Positionen der Minderheiten (bzw. der politisch schwächeren Hälfte der Bevölkerung, wie im Fall der Frauen) vernachlässigt werden. Diese Tyrannei kann sich leider auch in prinzipiell legitimen Institutionen herausbilden, wenn diese wie die Demokratie auf Mehrheitsverhältnissen aufgebaut sind. Dass der Utilitarist Mill dem Minderheitenschutz solche Aufmerksamkeit widmet, wird gerne übersehen.7 Eine Methode, die er befürwortet, nämlich die ungleiche Stimmengewichtung bei demokratischen Wahlen, scheint uns heute einer wirklichen Gleichberechtigung zu widersprechen. Es zeigt sich hier jedoch nur besonders deutlich, dass Mill bei (gerade damals) noch so utopisch anmutender Unterstützung von Freiheit und Gleichberechtigung die Realität nie aus den Augen verlor: man kann es nicht einfach als gegeben annehmen – wie sein Vater James Mill und dessen Mitstreiter Jeremy Bentham es taten – dass repräsentative Demokratie das Patentrezept überhaupt und die an und für sich ideale Staatsform für alle Länder oder gesellschaftliche Umstände ist.8 Sie funktioniert nämlich nur dann, wenn die Wähler hinreichende politische Kompetenz aufweisen, die sich nicht von sich aus einstellt. Die vorschnelle Institutionalisierung demokratischer Prozesse kann dazu führen, dass ignorante Mehrheiten die fortschrittlichen Minderheiten unterdrücken. Mill war erklärtermaßen nicht der Auffassung, dass die Meinung von

6 Bereits Shanley (1981) hat beschrieben, dass das Eingehen der Ehe nicht freiwillig ist. Sie hat jedoch den Zusammenhang zu Freiheit nicht erkannt und somit auch nicht, dass das Schadensprinzip greift. 7 Als locus classicus dieses unberechtigten Vorwurfs muss heute Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit von 1971 gelten, insbesonders § 5. 8 Repräsentativ ist hier James Mills Essay on Government von 1820, den ich in Abschnitt 3 er­ örtere.



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Analphabeten in der politischen Gestaltung eines Landes das gleiche Gewicht haben sollte wie die hochgebildeter Menschen, die sich, so Mill, aufrichtig für das Gemeinwohl engagieren und über politische und ökonomische Umstände sorgfältig nachgedacht haben. Diese Einstellung, die ihm gerne als hochnäsig und elitär vorgehalten wird,9 ist gewissermaßen die Kehrseite von Mills aufklärerischer Fortschrittsgläubigkeit, die bei ihm mit gesundem Realismus einhergeht – niemand muss Analphabet bleiben, niemand muss Egoist bleiben, keine Frau muss bevormundet werden. Aber Analphabetismus, Egoismus und das Patriarchat sind eben – noch – Teil unserer Welt. Und durch institutionalisiertes Wunschdenken wird sich daran nichts ändern. Wie in Demokratie ausgiebig erörtert, haben politische Institutionen nicht nur die Aufgabe, das Zusammenleben der Menschen zu organisieren, wo sich aufgrund divergierender Interessenlagen nicht von selbst ein harmonisches Miteinander einstellt, wie sein Vater es in seinem Essay on Government (1820) in aller Nüchternheit beschrieben hatte, sondern sie auch in der für ihre eigene intellektuelle und emotionale Entwicklung erforderliche Art und Weise zu erziehen. Wie sich auch und gerade in Unterwerfung aufs eindrücklichste zeigt, ist der für den Utilitaristen Mill erstrebenswerte Zustand also keineswegs einer, in dem nur alle derzeitigen Wünsche erfüllt sind; ganz im Gegenteil, auch Wünsche lassen sich utilitaristischer Kritik unterziehen.10 Genau so, wie sich die Lebensziele der Frauen mit der Eröffnung bisher verschlossener Lebenswege verändern werden, werden sich die politischen und moralischen Einstellungen der Bürger durch Teilhabe und Teilnahme an demokratischen Institutionen weiterentwickeln. Dies ist auch wünschenswert, denn, so Mill, wird derzeit nicht nur das Wohlergehen der Frauen mit den Füßen getreten, das Gemeinwohl leidet auch unter der Kurzsichtigkeit und Beschränktheit der politischen Einstellungen. Die spezielle Aufgabe der demokratischen Institutionen im Bereich dieser allgemeinen Erziehung ist vor allem, dass sie allen Bürgern die Möglichkeit bietet, sich systematisch Fragen vor Augen zu führen, die über ihre persönlichen Interessen und Lebenslagen hinausgehen. So befähigt eine Mill’sche repräsentative Demokratie ihre Bürger

9 Wie auch im Kontext der laut Kritikern typisch viktorianischen (also konventionell und bieder) aber laut Mill angeblich empirisch untermauerten Entscheidung, welche Freuden denn nun die ‚höheren‘ und welche die ‚niederen‘ seien. Vgl. auch Schmidt-Petri (2003). 10 Die vermeintliche Unfähigkeit der utilitaristischen Ethik, Fälle von sogenannten ‚adaptiven Präferenzen‘ zu berücksichtigen, wird häufig als durchschlagendes Argument gegen den Uti­ litarismus als Moraltheorie vorgebracht, beispielsweise von Martha Nussbaum und Amartya Sen (z. B. Nussbaum 2001, für eine gelungene Erwiderung siehe Wessels (2011, Kap. 6)). Mill kann mit diesem Argument nicht getroffen werden, sondern er zeigt vielmehr sehr deutlich, dass ein klassischer Utilitarist erklären kann, was an adaptiven Präferenzen problematisch ist.

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dazu, ihren Intellekt wie auch ihre Gefühle auf Objekte zu richten, die die genuin menschlichen Fähigkeiten auf bestmögliche Art auszubilden helfen.

9.2 Die Unterwerfung der Frauen, Freiheit und Utilitarismus Als Mill 1869 die Unterwerfung der Frauen als gesundheitlich angeschlagener 63-jähriger Witwer veröffentlichte, musste er auf die öffentliche Meinung keine Rücksicht mehr nehmen. Damals war er einer der ersten Männer (und in der Geschichte des Feminismus ist er noch heute der einzige bedeutende männliche Philosoph), der sich so nachdrücklich für die Gleichberechtigung der Geschlechter einsetzte. Er wurde daher gerne als ‚Frauenversteher‘ karikiert,11 hatte aber als öffentlicher Intellektueller, anerkannter Ökonom, hoher Beamter, Parlamentarier und Rektor12 der bedeutenden schottischen Universität von St. Andrews gesellschaftlich höchst respektierte Positionen inne. Seine für damalige Verhältnisse völlig skandalöse Beziehung zu Harriet Taylor, geborene Hardy, die er 1830 kennenlernte und 1851, zwei Jahre nach dem Tod ihres elf Jahre älteren Ehemannes heiratete, und die bereits 1858 in Avignon verstarb, hatte ihn für fast vierzig Jahre zum Gespött nicht nur konservativer Kreise werden lassen (das nach der Eheschließung keineswegs verstummte). Was ‚man tut‘ und was ‚sich nicht gehört‘ hatte Mill sehr ausgiebig erfahren. Durch die öffentliche Beargwöhnung der Beziehung zu seiner späteren Ehefrau, aber sicher auch durch seine Erfahrungen in der eigenen Familie hatte Mill zwangsläufig ein gutes Gespür dafür entwickelt, welch subtiler aber auch welch eklatanter Despotismus (sogar) innerhalb der Familie möglich ist, durch öffentliche Meinung befördert wie auch ausgeübt wird und durch Gesetze abgesichert werden kann, die von Gerichten tatsächlich durchgesetzt werden. Die von Mill erfahrene autoritäre Erziehung durch seinen Vater, der ihm Kontakt mit

11 In satirischen Zeitschriften und Zeitungen erschienen zahlreiche Karikaturen, die sich vor allem auf Mills Vorschlag bezogen, in einem Gesetzestext das tendenziell männliche ‚man‘ (vergleichbar mit dem deutschen ‚Man‘) durch das geschlechtsneutrale ‚person‘ (also ‚Person‘) zu ersetzen (siehe Robson 1990). 12 Ein Amt, das damals wie heute jedoch nicht mit dem Rektor einer deutschen Universität zu vergleichen ist, sondern eher mit einem (externen) Vorsitzenden des Allgemeinen Studie­ren­ denausschusses. Der Rektor der Universität Glasgow ist derzeit Edward Snowden.



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Kindern aus anderen Familien erst mit vierzehn Jahren gestattete,13 wäre heutzutage glücklicherweise undenkbar; seine Mutter Harriet wird in seiner Autobiographie bekanntlich nicht einmal erwähnt. Die Legitimität von Macht und die trotz allem durchaus positive Kraft von Erziehung – denn auch diese hatte Mill am eigenen Leib erfahren14 – waren zentrale Themen von Mills Leben und Schaffen, und in der ein oder anderen Form durchziehen sie viele seiner Texte, ganz besonders die Unterwerfung. Die juristischen Aspekte der Unterwerfung der Frauen lassen sich noch am einfachsten exakt beschreiben. Für Frauen, die in die Ehe eintreten wollten, galt damals u. a.: sie haben in der Ehe kein Recht auf Privateigentum, etwaiges vorher vorhandenes Vermögen wird durch Eheschließung Eigentum des Mannes; Einkünfte der Frau fallen vollständig dem Mann zu (wobei die möglichen Beschäftigungen der Frauen ohnehin stark eingeschränkt waren, Universitäten durften sie natürlich nicht besuchen); das Sorgerecht für die Kinder hat der Mann, es geht auch nach seinem Tod nicht automatisch auf die Frau über; Frauen haben keine Möglichkeit, die Ehe scheiden zu lassen; noch haben sie das Recht, vor Gericht überhaupt eine Klage einzureichen; häusliche Gewalt wird praktisch nicht geahndet; Vergewaltigung in der Ehe wird als geradezu konzeptionell ausgeschlossen angesehen, da Frau und Mann schließlich durch Eheschließung ‚eins‘ wurden. Für Männer war die Scheidung zwar rechtlich möglich (falls sie von ihrer Frau betrogen wurden), aber teuer und aufwendig, da für jeden einzelnen Fall im Unterhaus ein sogenannter ‚private bill‘ beschlossen werden musste, ein Dokument von Gesetzeskraft, das nur für die beiden beteiligten Personen galt. Nur Einzelfälle sind belegt.15 Absurde und empörende Ungerechtigkeiten, wie wir heute wohl denken. Ganz eindeutig ist zu konstatieren, dass den Frauen der Zugang zu vielen der Möglichkeiten verwehrt bleibt, die sie u.  a. für die freie Ausbildung ihres Charakters und all den damit verbundenen Chancen auf Selbstverwirklichung benötigen. Alle Entscheidungen mussten vom Ehemann abgesegnet werden. In

13 Für seine eigenen acht Geschwister wurde der erstgeborene Mill aber schon bald als Hilfs­ lehrer seines Vaters eingeteilt, denn alle Kinder wurden zu Hause unterrichtet. 14 Wie er gleich am Anfang seiner Autobiographie ausführt (in AW II; CW I, siehe auch Ball 2010). 15 Der Matrimonial Causes Act von 1857 (der fast unverändert bis 1937 galt) muss also als geradezu revolutionär gelten, denn er gestattete die zivilrechtliche Scheidung auch auf Ver­ langen der Frau – jedoch nur, wenn ihr Mann sie nachweislich betrogen und geschlagen hatte; pikanterweise war allerdings die Frau selbst als Zeugin nicht zugelassen. Susan Moller Okin schreibt, dass im gesamten neunzehnten Jahrhundert nur ungefähr hundert Scheidungen ge­ nehmigt wurden, davon vier von Frauen ersuchte (Moller Okin 1988, S. 35).

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Unterwerfung bezeichnet Mill das Verhältnis von Mann und Frau in der Ehe daher folgerichtig als Sklaverei:16 Das Gesetz der Unterwerfung in der Ehe ist ein ungeheuerlicher Widerspruch, ein Hohn gegen alle Prinzipien der modernen Welt wie gegen alle Erfahrungen, durch welche diese Prinzipien langsam und mühsam erworben worden sind. Jetzt, wo die Sklaverei der Neger aufgehoben wurde, ist es der einzige noch existierende Fall, dass ein menschliches Wesen im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte der Gnade eines andern Menschen ausgeliefert wird in der Hoffnung, dieser werde die ihm eingeräumte Macht lediglich zum Besten des ihm Unterworfenen anwenden. Die Ehe ist die einzige wirkliche Leibeigenschaft, die unser Gesetz kennt. Es gibt keine Sklaven mehr außer den Herrinnen jedes Hauses. (AW I: S. 534; CW XXI, S. 323)

Kurz und bündig: die Männer fügen den Frauen einen Schaden zu.17 Unterwerfung beschreibt damit eine Situation, auf die das Schadensprinzip von Freiheit anzuwenden wäre, und genau dies tut Mill, wenn auch implizit. Unterwerfung ist somit als eine der Anwendungen der Freiheitsschrift anzusehen, die aufgrund ihrer politischen und nicht zuletzt menschlichen Bedeutung eine separate umfangreichere Behandlung verdient hatte als die anderen Fälle, die sich im fünften Kapitel von Freiheit finden. Die Eheschließung ist dieser Lesart zufolge ein Baustein in einer komplexen Schädigung ‚der Frauen‘ durch ‚die Männer‘, die sich u. a. staatliche Einrichtungen zu Hilfe nehmen. Sie entspricht in der Analogie der Sklaverei der Versklavung.18 Nun wurde der Abolitionismus wohl kaum deswegen so bedeutsam, dass er Grund für einen Bürgerkrieg werden konnte (oder zumindest als Vorwand für einen taugte), und wurde auch die Institution der Sklaverei letztlich kaum deswegen abgeschafft, weil sie vielen Menschen eine Gelegenheit zur Selbstschädigung

16 Wobei festzuhalten ist, dass auch Sklavenhalter gewisse Fürsorgepflichten gegenüber ihren Sklaven hatten. Für eine Übersicht über die Verhältnisse in der Antike siehe Knoch (2012). 17 Für Mill war ‚Schaden‘ nicht nur positiv-rechtlich zu verstehen, sondern relativ zu den Rechten, die eine Person aus moralischen Gründen haben sollte – also relativ zu etwas, was man auch als die ‚moralischen Rechte‘ einer Person bezeichnen kann – (vgl. Freiheit, Kap. 4. (besonders S. 87, S. 103; CW XVIII, S. 239, S. 243–44)), Stepanians und Riley in diesem Band, und Utilitarismus Kap.  5, in dem ausgeführt wird, dass das Vorenthalten dieser Rechte als Ungerechtigkeit anzusehen ist). Nur wenn ‚Schaden‘ so verstanden wird, kann das Schadensprinzip als Mittel der Kritik der rechtlichen Verhältnisse eingesetzt werden, wie es Mill in Freiheit tut. Ein Ehemann konnte sich also Mill zufolge nicht zur Verteidigung seines Verhaltens darauf berufen, dass er nur das tat, was ihm von Rechts wegen zustand. 18 Mit dieser drastischen Wortwahl wollte auch Mill nicht bestreiten, dass Ehefrauen nicht zwangsläufig wie Sklavinnen behandelt werden, da selbst damals natürlich nicht alle Ehemänner alle ihre Rechte auch ausreizten.



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durch Selbstversklavung bot, sondern wohl weil sie Sklavenhaltern die rechtlich abgesicherte Möglichkeit bot, anderen Menschen durch die Versklavung ungestraft einen Schaden zuzufügen. Wenn wir also, wie Mill in Freiheit wie weiter oben zitiert fordert, niemandem das Recht einräumen wollen, sich selbst in die Sklaverei zu verkaufen, lässt sich dies am plausibelsten so verstehen, dass wir nicht nur oder nicht primär – vielleicht sogar gar nicht – potentielle Selbstschädigungen potentieller Sklaven unterbinden möchten (denn dieser Fall dürfte kaum eintreten), sondern deren Schädigung durch den Sklavenhalter, also Fremdschädigung. Potentiellen Sklaven das Recht zu verwehren, sich in die Sklaverei zu verkaufen stellt also, wie Mill vermeintlich paradoxerweise ausführt, gar keine Einschränkung der Freiheit potentieller Sklaven dar, denn niemand möchte sich in die Sklaverei verkaufen – dies ist eine für Mill offenbar nicht weiter diskutable Annahme.19 Und Mill stellt klar, dass in seinem Sprachgebrauch „Freiheit [darin] besteht, zu tun, was man will“ (132; CW XVIII, S. 252). Ganz im Gegenteil handelt es sich hier zwar sehr wohl um eine Einschränkung der Freiheit, aber nicht um die der potentiellen Sklaven, sondern um die der potentiellen Sklavenhalter, die nun keine Sklaven mehr kaufen können. Diese Einschränkung ist jedoch legitim, weil sie durch das Schadensprinzip gerechtfertigt wird. Ein Verkauf in die Sklaverei mag für den Sklavenhalter vielleicht einen Gewinn bedeuten, für den Sklaven stellt sie jedoch einen erheblichen Schaden dar. Ähnliche Szenarien sind auch in anderen Schriften Mills zu finden. So sagt er in den Principles of Political Economy von 1848: Labouring for too many hours in the day, or on work beyond their strength, should not be permitted to [children], for if permitted it may always be compelled. Freedom of contract, in the case of children, is but another word for freedom of coercion […] (CW III, S. 952; Buch V, Kapitel XI, § 9)

Wenn es Kindern also rechtlich gestattet ist, für zu viele Stunden am Tage zu harte körperliche Arbeit zu verrichten, können sie, insofern auf sie Zwang ausgeübt

19 Die natürlich bestritten werden kann. In einer Situation, in der ein Vater nur durch Selbst­ versklavung an die Medikamente gelangen kann, die den Tod seines Kindes abwenden können, wäre es für den Vater vielleicht wirklich wünschenswert, sich versklaven lassen zu können. Da es Mill aber, wie ich meine, um die tatsächliche Lage der Frauen ging, können solche hypo­ thetischen Schreckensszenarien extremer Notlagen, die weder mit der damaligen Realität der Lage der Frauen noch mit der der Sklaven etwas zu tun haben, vernachlässigt werden. Wie in Utilitarismus ausführlich erörtert, gibt es keine moralische Regel, die keine Ausnahmen zulässt, insofern die Umstände nur abwegig genug sind. In diesem Szenario läge es sicherlich auch näher, die Versorgung mit lebenswichtigen Medikamenten anders zu organisieren.

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werden kann, auch zu solchen Tätigkeiten gezwungen werden. Es muss wiederum kaum erwähnt werden, dass zu harte körperliche Arbeit Kindern einen Schaden zufügt. Da auf Kinder sehr leicht Zwang ausgeübt werden kann (auch dies muss kaum separat gezeigt werden), gilt es, Kinder vor diesem Schaden dadurch zu schützen, dass ihnen diese Art von Beschäftigung grundsätzlich untersagt wird. Kinderarbeit sollte also verboten werden und von Kindern geschlossene Arbeitsverträge sind grundsätzlich als nichtig anzusehen. Auch hier greift eindeutig das Schadensprinzip, denn es handelt sich um Fremdschädigung der Kinder – durch, wie zu befürchten ist, ihre eigenen Eltern. Dieses Verbot ist also, genauso wie das Verbot, sich selbst in die Sklaverei zu verkaufen, nicht als Ausdruck von Paternalismus zu verstehen. Die Kinder müssen nicht vor sich selbst geschützt werden, sie müssen vor den Menschen geschützt werden, die sie zu diesen sie schädigenden Arbeiten zwingen können. Da sie Kinder sind, können sie sich nicht selbst vor Zwang schützen; mitunter können sie gar nicht erkennen, dass sie sich schützen müssten.20 Was bedeutet dies für die Ehe? Der Fall der Frauen erscheint auf den ersten Blick kaum analog. Frauen können doch (im viktorianischen England) sicher nicht zwangsverheiratet werden? Wieso sollten sie freiwillig die Ehe mit einem Mann eingehen, wenn ihnen während der Ehe und damit durch die Eheschließung ein Schaden zugefügt werden kann, sie jedoch, wie Mill ergänzend hinzufügt, ‚im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte‘ sind – anders vielleicht als Kinder? Auch auf diese Frage hat Mill eine prägnante Antwort: Alle Männer, nur mit Ausnahme der tierisch rohesten, wollen in der mit ihnen auf das innigste verbundenen Frau keine gezwungene, sondern eine freiwillige Sklavin […] Zu diesem Zweck ist alles angewendet worden, um den weiblichen Geist niederzuhalten. Die Herren aller übrigen Sklaven verlassen sich, um ihre Sklaven zum Gehorsam zu zwingen, auf die Wirkungen der Furcht […]. Die Herren der Frauen verlangten mehr als einfachen Gehorsam, und sie wandten die ganze Macht der Erziehung an, um ihren Zweck zu erreichen. Jede Frau wird von frühester Jungend an erzogen in dem Glauben, das Ideal eines weiblichen Charakters sei ein solcher, welcher sich gerade im Gegensatz zu dem des Mannes befinde; kein eigener Wille, keine Herrschaft über sich selbst durch Selbstbestimmung, sondern Unterwerfung, Fügsamkeit in die Bestimmung anderer. (AW I: S. 457; CW XXI, S. 271)

20 Von der Sache her ist es irrelevant, ob den Kindern/Sklaven etwas verboten oder den Erwachsenen/Sklavenhaltern, die die andere Seite des Vertrages darstellen. Entscheidend ist, dass der Vertrag nicht zustande kommt. Dies entspricht dem Beispiel in Freiheit (251ff; CW XVIII, S. 287), in dem der Verkauf von Alkohol (für Mill illegitimerweise) verboten wird, um den Kauf und damit den Konsum zu unterbinden. Es wäre in der Praxis ja kaum möglich, den Verkauf zuzulassen, den Konsum jedoch zu unterbinden. Wie gleich gezeigt wird, ist es für Mill rhetorisch vorteilhaft, die Perspektive des ‚freiwilligen Sklaven‘ einzunehmen.



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Mill nimmt hier also kein Blatt vor den Mund.21 Ehefrauen sind zwar im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte, aber genau dadurch zeigt sich das eigentliche Problem nur besonders eindrucksvoll: nämlich, dass die geistigen Kräfte der Frauen häufig fremdbestimmt und manipuliert sind. Verheiratete Frauen sind Sklavinnen und sie werden dazu erzogen, ihr Sklavendasein nicht nur zu akzeptieren, sondern es sogar für sich als natürlich und erstrebenswert anzusehen. Für den typischen Mann ist dies ein besonders vorteilhafter Zustand, kann er doch die Macht eines Sklavenhalters ausüben ohne sich als solchen aufführen oder verstehen zu müssen. Die typische Frau fügt sich in Ermangelung einer Alternative in ihr Schicksal, wenn sie es nicht sogar aktiv befördert.22 Männern wie Frauen mag diese Geschlechterrolle nämlich gar nicht als anerzogen sondern (bei ‚geglückter‘ Erziehung) vielmehr als ganz ‚natürlich‘ erscheinen – ein Gedankengang, der auch heute noch gerne propagiert wird. Mill als überzeugter Empirist hielt jedoch nicht viel von Argumenten, die Zustände oder Verhalten als ‚natürlich‘ bezeichneten, ohne dass dies mit wissenschaftlichen Methoden, also empirisch, zu überprüfen wäre. Gerade hinsichtlich der Frage, was der weiblichen oder der männlichen ‚Natur‘ entspreche, können wir in Ermangelung von Erfahrungen, wie das Verhältnis zwischen Mann und Frau ohne den bisher vorherrschenden

21 Wobei William Thompson bereits 1825 sehr prominent von Sklaverei gesprochen hatte, und Mill sich mit Thompsons Schrift – eine Kritik an seinem Vater – wohl intensiv auseinandergesetzt hat und ihr inhaltlich sogar zustimmte. So sagt Mill 1825, also mit 19 Jahren und noch einige Jahre, bevor er Harriet kennengelernt hatte, in einer Rede: „We [the utilitarians] are not the advocates of negro slavery; nor does Mr Thompson himself lament more deeply than we, that miserable thraldom in which the weaker half of our species are held, by the tyranny of the stronger, aided and encouraged by their own abject and slavish submission [...]“ (CW XXVI, S. 314) – wobei mit ‚the weaker half‘ natürlich die Frauen gemeint sind. Auch William Johnson Fox, in dessen Kreis sich Mill und Harriet kennenlernten, drückte sich schon 1832 in seiner unitaristischen Zeitschrift Monthly Repository ganz ähnlich aus: „Under the present order of things, a large proportion of [women] must remain as they are, fools to be cajoled, toys to be sported with, slaves to be commanded and in ignorant pride that they are so …“ (zitiert in Mineka 1944, S. 287). 22 Bereits Thompson hatte beschrieben, wieso für Frauen keine realistische Alternative zur Ehe bestand. So schreibt er (1825, S. 97): „[...] are women kindly told, ‚they are free to marry or not‘. Things are so arranged, knowledge, property, civil as well as political exclusions, man’s public opinion, that the great majority of adult women must marry on whatever terms their masters have willed, or starve: or if not absolutely starve, they must renounce at least all the means of enjoyment monopolized by the males. Under these circumstances, man makes it a condition, under which he admits women into a participation – always limited however by his uncontrolled will – of his means of happiness dependent on wealth, that woman shall, like the negro slave, surrender to him all control over her actions.“

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Zwang aussehen könnte, rein gar nichts aussagen.23 Uns fehlen hier die auch in Freiheit geforderten ‚Experimente‘ der Lebensstile (wiederum im Sinne von wissenschaftlichen Experimenten), die anderen Menschen als Vorbild dienen könnten, um herausfinden zu können, wie ein ihrer Individualität entsprechendes Leben aussehen könnte. Was also selbst den Frauen als ‚natürlich‘ vorkommen mag, nämlich die Unterwerfung unter den Ehemann, beruht, wenn man die Entstehungsbedingungen aller Wünsche der Frauen genauer betrachtet, gar nicht auf einer Entscheidung, die man als freiwillig bezeichnen könnte, sondern ist vielmehr Ausdruck von systematischem und langfristig angelegtem tiefgreifenden Zwang, der die gesamte Gesellschaftsstruktur durchzieht.24 Wie man also in Anlehnung an Simone de Beauvoir sagen könnte: Frauen werden nicht als Sklaven geboren, sondern sie werden zu Sklaven gemacht. Mill wollte die Institution der Ehe jedoch nicht vollständig abschaffen sondern sie nur verändern.25 Anlässlich seiner eigenen Eheschließung distanzierte er sich von vielen der Rechte, die er de jure nun gewonnen hatte.26 Die von

23 Dies unterscheidet ihn beispielsweise von Mary Wollstonecraft, die 1792 die Gleichberechtigung von Mann und Frau mit dem Argument gefordert hatte, dass die Fähigkeiten von Männern und Frauen gleich seien, was sich aber u. a. aufgrund ungleicher Bildungschancen nicht (in voller Deutlichkeit) manifestieren könne. Mill bezieht sich trotz vieler Übereinstimmungen nicht auf Wollstonecraft, die wohl durch ihren ‚jakobinitischen‘ Extremismus in gemäßigteren Kreisen in Ungnade gefallen war. Selbst Thompson warf ihr vor, durch ihre Radikalität der Sache der Frau eher geschadet zu haben (vgl. Urbinati 2001, S. xiif). Mills bezeugter Agnostizismus hinsichtlich der Frage, ob die Fähigkeiten der Frauen den der Männern als ‚gleich‘ oder ‚ungleich‘ (also als minderwertig, wie es auch die klassische Tradition hatte) betrachtet werden sollen, kann auch als strategisches Manöver verstanden werden. So hängt die Emanzipation der Frauen nicht mehr von einer empirisch schwer wenn nicht gar unmöglich zu überprüfenden und somit politisch anfälligen Annahme ab. Die erforderliche Überprüfung, die dann aber im vermeintlichen Inter­ esse beider streitenden Parteien ist, würde jedoch bereits einen Schritt in Richtung Emanzipation bedeuten, denn nur, wenn sich die Fähigkeiten der Frauen so frei entfalten können wie die der Männer, kann man sehen, ob und wie sie sich von denen der Männer unterscheiden. 24 Wiederum sehr deutlich auch in den Principles of Political Economy: „Women are as capable as men of appreciating and managing their own concerns, and the only hindrance to their doing so arises from the injustice of their present social position. [… ] there is some ground for regarding every act done by [a wife] as done under coercion.“ (CW III, S. 952; Buch V, Kapitel XI, § 9) Für den Erfolg der Mill’schen Argumentation ist es entscheidend, dass es sich um eine Art von Zwang handelt, denn laut Mill ist eine legitimierende Zustimmung zu einer Handlung möglich, die ohne Zustimmung als Schädigung und damit als illegitim zu gelten hätte (S. 215; CW XVIII, S. 276). Ich danke Peter Niesen für die Klarstellung dieses Punkts. 25 Die Sklaverei im eigentlichen Sinne wurde in England bereits 1772 abgeschafft, der Skla­ venhandel und Sklaverei in anderen Teilen des Empires jedoch erst mit dem Slavery Abolition Act von 1833 und in den USA sogar erst 1865 durch das dreizehnte Amendment der Verfassung. 26 Siehe AW I: S. 214; CW XIV, Letters 1849–55, 1850, S. 41.



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Mill als erforderlich angesehenen Veränderungen sind umfangreich und umfassen vor allem die Gleichbehandlung vor dem Gesetz (S. 297; CW XVIII, S. 296). Ziel dieser Veränderungen muss sein, den Frauen die gleichen Chancen wie den Männern zu eröffnen, ein erfülltes Leben führen zu können. Eine freiwillig eingegangene Ehe kann – muss aber nicht – Teil eines solchen Lebens sein. Damit eine Ehe aber als genuin freiwillig eingegangen angesehen werden könnte, müssten für Frauen zwei Alternativen als gesellschaftlich realistisch durchführbare Handlungsoptionen bestehen: erstens ein Leben als unverheiratete Frau, zweitens die Auflösung einer bestehenden Ehe. Nur dann kann mit hinreichender Gewissheit davon ausgegangen werden, dass in jedem konkreten Fall erstens die Eheschließung und zweitens das Verbleiben in der Ehe wirklich freiwillig geschieht, also von der Frau gewünscht wird und dies als – wenn auch fallibles – Anzeichen gelten kann, dass die Ehe das Wohlergehen der Frau befördert.27 Es ist also wesentlich die Unmöglichkeit einer Scheidung, die die Ehe in ihrer bisherigen Form zur Sklaverei machen kann. Harriet, die seit 1833 in Trennung von ihrem Ehemann lebte, mit dem sie drei Kinder hatte, hatte sich, wie Mill selbst auch, schon in diesen Jahren Gedanken darüber gemacht, wie eine Ehe durch Scheidung zu beenden wäre.28 Teil der umfangreichen persönlichen Korrespondenz zwischen Mill und Harriet waren zwei Texte, die sie gleichzeitig und jeweils in Unkenntnis der ausformulierten Positionen ihres Gegenübers verfassten, anscheinend um sich ohne jegliche Beeinflussung ihre aufrichtigen Meinungen offenbaren zu können. Diese (auch in Englisch) erst 1951 veröffentlichten29 Texte zeigen, dass sowohl Harriet wie auch Mill sich der Tragweite eines solchen Schrittes stets bewusst waren. Mill, dessen Text bereits wichtige Überlegungen von Unterwerfung enthält, berücksichtigt besonders das Wohl der Kinder, die aus einer Ehe hervorgegangen sein mögen und denen durch die Scheidung ihrer Eltern unzumutbares Leid zugefügt werden könnte. Er sagt aber auch, dass gemeinsame Kinder Scheidungen nicht grundsätzlich unmöglich werden lassen sollten. Er plädiert interessanterweise bereits hier dafür, eine Ehe nicht als profanen Vertrag zwischen Mann und Frau anzusehen, der, wie andere Verträge, wenn auch vielleicht nicht durch einseitige Erklärung nur eines Vertragspartners zumindest aber durch beiderseitiges Einvernehmen aufgehoben werden kann,

27 Analoges gilt natürlich für die Perspektive des Mannes. 28 Die Ehe der Taylors endete 1849 mit dem Tod des offenbar sehr verständnisvollen John Taylors, der Mill als Partner seiner Frau nach anfänglichen Streitigkeiten wohl akzeptierte und einer einvernehmlichen Scheidung vielleicht zugestimmt hätte, wäre sie juristisch möglich und nicht unehrenhaft gewesen. 29 In F. A. Hayeks Sammlung privater Korrespondenz (Hayek 1951); nun auf Deutsch als „Über Ehe und Scheidung“ abgedruckt in AW I.

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wie er es später auch in Freiheit (S. 291ff.; CW XVIII, S. 300) in Abgrenzung zu Wilhelm von Humboldt tun sollte, der in Über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates (ursprünglich von 1792, aber auf Deutsch wie auch auf Englisch erst 1851 veröffentlicht) gerade dies behauptet hatte. Mill sieht klar, dass die Ehe für die Ehepartner auch komplexe implizite Verpflichtungen mit sich bringt und kontinuierlich neue generiert (und zwar nicht nur, wenn durch Fortpflanzung gewissermaßen ‚neue Vertragspartner‘ ins Leben gerufen werden), denen ein simpler aufgestülpter juristischer Rahmen nicht gerecht werden kann. Die Unmöglichkeit, die Ehe als einfachen Vertrag aufzufassen bedeutet jedoch nicht, dass dem Vertragsgedanken keinerlei Bedeutung zukommen darf. In den Principles beschreibt Mill, wie sehr weit in die Zukunft reichende Verträge grundsätzlich nur nach höchsten Anforderungen an die Willensbildung der Vertragspartner als bindend angesehen werden sollten, und bezieht diese Überlegungen auch explizit auf die Ehe: A second exception to the doctrine that individuals are the best judges of their own interest, is when an individual attempts to decide irrevocably now, what will be best for his interest at some future and distant time [...] When persons have bound themselves by a contract, not simply to do some one thing, but to continue doing something for ever or for a prolonged period, without any power of revoking the engagement, the presumption which their perseverance in that course of conduct would otherwise raise in favour of its being advantageous to them, does not exist; and any such presumption which can be grounded on their having voluntarily entered into the contract, perhaps at an early age, and without any real knowledge of what they undertook, is commonly next to null. The practical maxim of leaving contracts free, is not applicable without great limitations in case of engagements in perpetuity; and the law should be extremely jealous of such engagements; should refuse its sanction to them, when the obligations they impose are such as the contracting party cannot be a competent judge of; if it ever does sanction them, it should take every possible security for their being contracted with foresight and deliberation. […] These considerations are eminently applicable to marriage, the most important of all cases of engagement for life. (CW III, S. 953f., Buch V, Kapitel XI, § 10)30

Ein ‚Vertrag‘, mit dem man sich bis zum Lebensende bindet, sollte juristisch also nur dann möglich sein, wenn hinreichend guter Grund zu der Annahme besteht,

30 Der letzte Satz wurde erst in der dritten Ausgabe (1852) hinzugefügt, wobei durch den Bezug auf das ‚early age‘ und ‚without any real knowledge‘ klar scheint, dass Mill schon in der ersten Ausgabe (1848) hier auch an die Ehe gedacht hat, die sicher paradigmatisch für diese Art von Vertrag ist. Mill sagt nicht, wie manchmal behauptet wird (z.  B. Riley 1998, S. 106), dass ‚contracts in perpetuity‘ in keinem Fall sanktioniert werden sollten. Wie hier gezeigt, ist diese Annahme nicht erforderlich, um die Illegitimität der Sklaverei zu demonstrieren.



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dass die Vertragspartner den Vertragsinhalt auch beurteilen können. Genau hiervon kann man bei Frauen zum jetzigen Zeitpunkt nicht ausgehen. Interessanterweise wird das Thema der Scheidung in Unterwerfung aber nicht wieder detailliert aufgegriffen.31 Mill, der sich nie als ein Wissenschaftler verstand, der ohne Rücksicht auf die gesellschaftlichen Konsequenzen seiner Schlussfolgerungen seine Überzeugungen kundtun konnte, war offenbar davon überzeugt, dass die Gleichberechtigung der Frauen nicht primär dadurch befördert würde, dass man für sie das Recht auf Scheidung einfordert (wobei ihnen auch dies sicherlich zugestanden werden sollte, wobei die Ausgestaltung noch nicht sinnvollerweise festzulegen war32). Nach Mills fundamentaler Kritik an der Erziehung der Frauen hätte sich ja ergeben, dass praktisch jede Ehe auf Zwang zurückzuführen wäre und daher legitimer Grund zur Scheidung bestünde. Da die Frauen selbst aufgrund der ‚geglückten‘ Erziehung dies meist nicht so sehen dürften, also selbst an einer Scheidung meist kein Interesse zeigen, würde die Forderung auf ein Recht zur Ehescheidung zumindest ins Leere laufen, vielleicht sogar lächerlich wirken. Das Augenmerk sollte wohl weniger auf das Ende einer unglücklichen Ehe zwischen Mann und Frau fallen, als vielmehr auf den Anfang einer glücklichen Ehe. Ganz ähnlich entwickelt auch die Analogie zur Sklaverei, und insbesondere die zur anscheinend freiwilligen Selbstversklavung, erst nach dem Ende der Sklaverei im buchstäblichen Sinne, die zu Mills Lebzeiten in den USA noch gängige Praxis war, ihre volle rhetorische Kraft.33

31 Kurz jedoch auf den Seiten AW I: S. 477, 490, 497; CW XXI, S. 285, S. 293, S. 298. 32 Auch in Mills privater Korrespondenz mit Auguste Comte in den Jahren 1841–1847 war die methodisch angemessene theoretische Erörterung der Zulässigkeit von Scheidungen ein wichtiges Thema. Comte, der von seiner Ehefrau verlassen wurde, vertrat eine deutlich weniger liberale Position als Mill. Comte war, wie Mill (und vor ihnen Wollstonecraft), zwar ebenfalls der Meinung, dass die Familie als Modell der Gesellschaft diene, gelangte aber, anders als Mill, aufgrund der von ihm konstatierten natürlichen Überlegenheit der Männer (die sich angeblich vor allem durch phrenologische Untersuchungen gezeigt hätte) zu der Überzeugung, dass Gesellschaft und Familie patriarchalisch organisiert sein müssten (siehe Guillin 2009). 33 Dies mag, neben einem gewissen Taktgefühl gegenüber John Taylor bzw. Mills Freunden unter den Radikalen, die nicht alle glücklich verheiratet waren, ein Faktor gewesen sein, der Mills öffentliches Schweigen zum Thema der Scheidung und die späte Veröffentlichung der Unterwerfung erklären könnte. Es wäre schließlich als offensichtlich ‚interessengeleitet‘ zu diskreditieren gewesen, hätte Mill noch während Harriets Ehe mit John Taylor das Recht auf Scheidung gefordert; bald nach dem Tod seiner Ehefrau hätte man es dann als larmoyant be­ trachten können.

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9.3 Selbstentfaltung, Demokratie und das Gemeinwohl In den Considerations on Representative Government, die zeitgleich mit Freiheit und Unterwerfung entstanden, werden mehrere Themen fortgeführt, die für das Verhältnis der drei Texte interessant sind. Unterwerfung und Demokratie verbindet vor allem Mills Unterstützung des Wahlrechts für Frauen, Freiheit und Demokratie verbindet einerseits die positiv zu beurteilende Rolle staatlicher Institutionen in der Beförderung der Selbstentfaltung aller Bürger, andererseits die kritisch zu beleuchtende Gefahr der illegitimen Herrschaft in legitimen Institutionen. Wie erwähnt hatte sich Mill stets für das Wahlrecht der Frauen engagiert. Sein Vater James Mill hatte 1820 in seinem Essay on Government noch die damals weitverbreitete Meinung vertreten, dass selbstverständlich auch die Interessen aller Frauen (wie die der minderjährigen Kinder) politisch berücksichtigt werden sollten, sie aber durch die wahlberechtigten Männer mit vertreten würden. Da es zu jeder Frau immer auch einen relevanten Mann gab, seien dies nun ihre Ehemänner oder Väter (1820, S. 27), war ein individuelles Wahlrecht für Frauen überflüssig. Dieser Ansatz entsprach den weiter oben beschriebenen Regeln der sogenannten coverture, der zufolge durch Eheschließung die rechtliche Einheit der Ehepartner (und ggf. auch der natürlich nicht außerehelich geborenen Kinder) durch den Mann als Familienoberhaupt repräsentiert wurde. Für James Mill war das Thema Frauenwahlrecht daher völlig nebensächlich, die dringend nötige Ausweitung des Wahlrechts unter der männlichen Bevölkerung von vorrangiger Bedeutung. Voll Begeisterung beschrieb er ein System, die repräsentative Demokratie, in dem endlich die Interessen der Bevölkerung gegenüber den sinister interests der Herrschenden dadurch geschützt werden können, dass die (nach seinen Vorstellungen gesamte relevante) Bevölkerung selbst die Regierung wählen darf und diese periodisch auch wieder abgelöst würde, so dass nie die Versuchung aufkommen könnte, die Macht für andere Zwecke als die Beförderung des allgemeinen Wohlergehens zu missbrauchen. Das Mehrheitsprinzip der Demokratie entsprach fast ideal dem utilitaristischen greatest happiness principle, und musste nur in kleineren Details modifiziert werden. Die doch auffällige Inkonsistenz dieses Ansatzes – wenn das Gute an der Demokratie ist, dass sie durch das Mehrheitsprinzip die Interessen der Bevölkerung widerspiegeln kann, dann sollten doch einerseits sicher alle Bürger ihre Interessen auch zum Ausdruck bringen dürfen; wenn aber andererseits die Interessen der Frauen (und die der Kinder, Angestellten, Armen etc.) auch durch andere Wähler zum Ausdruck gebracht werden können, dann ist Demokratie



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vielleicht gar nicht erforderlich – blieb Mills Zeitgenossen nicht verborgen.34 Verglichen mit dem damals geltenden System, in dem das Wahlrecht auf knapp zehn Prozent der volljährigen männlichen Bevölkerung beschränkt war (und zwar die wohlhabendsten zehn Prozent), waren Mills Forderungen der Ausdehnung des Wahlrechts auf alle Männer, die auch nur ein geringes Vermögen hatten, mit dem Ziel, die Interessen der Bevölkerung als entscheidende Kraft der Regierung zu etablieren, jedoch bereits so revolutionär, dass bereits sie keinerlei realistische Chance auf Umsetzung hatten. Die Ausweitung der Forderungen auf das Wahlrecht auch für die Frauen wäre von den eigentlichen Adressaten des Texts als maßlos übertrieben angesehen worden. Sicherlich war James Mill auch aufrichtig der Meinung, dass die Interessen der Frauen durch ihre Ehemänner oder Väter repräsentiert würden, so dass zumindest innerhalb der Familien keine bedeutsamen Interessenkollisionen vorlagen.35 In Demokratie denkt John Stuart Mill einige Schritte weiter als sein Vater, verfolgt aber ähnliche Ziele. Auch er ist der Meinung, dass wirklich alle Interessen der Bevölkerung repräsentiert sein sollen, betont aber, dass es dem demokratischen Mehrheitssystem immanent ist, dass die Minderheiten nicht repräsentiert würden, und zwar diffizilerweise sogar die Minderheiten unter den Wahlberechtigten, nicht nur die ‚Minderheit‘ der nicht-Wahlberechtigten. Dieser wahltheoretische Einwand ist besonders bedeutsam, da er selbst dann noch stichhaltig ist, wenn das Wahlrecht auf alle volljährigen Männer und Frauen ausgedehnt würde. Er zeigt somit eine deutliche Schwäche der Demokratie als solcher auf, nicht nur eine Schwäche der gegenwärtigen politischen Verhältnisse. Im Mehrheitswahlrecht (das in Großbritannien auch heute noch praktiziert wird) ist es ja bei knappen Mehrheitsverhältnissen in den einzelnen Wahlkreisen (deren irrationaler Zuschnitt ein weiteres Problem war) rechnerisch möglich, dass nur 51 % aller Wähler überhaupt im Parlament repräsentiert würden, so dass das Ergebnis zwar demokratisch legitimiert, dennoch aber keine ‚wahre‘ Demokratie wäre, die die gesamte Bevölkerung repräsentieren müsste. Tatsächlich herrscht nämlich ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung – ein Problem, das durch ein eingeschränktes Wahlrecht zwar zusätzlich verschärft aber nicht verursacht wird. Mill spricht sich daher sowohl für den Vorschlag von Thomas Hare (1859) aus, der eine Art von Verhältniswahlrecht vorgeschlagen hatte, wie auch für eine Ausweitung des Wahlrechts auf Frauen. Ersteres ist für Mill in Demokratie jedoch von größerem

34 Insbesondere Thompson (1825) und Macaulay (1829). 35 James Mill war also offensichtlich nicht der Meinung, dass die Frauen in die Ehe gezwungen wurden oder in der Ehe Sklavinnen waren. Auch dies mag für seinen Sohn Teil der relevanten empirischen Datenlage gewesen sein.

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Interesse. Das Frauenwahlrecht nimmt eine untergeordnete Position ein, da es theoretisch – wenn auch nicht politisch – ein vergleichsweise leicht zu lösendes Problem darstellt. Die Situation ist für Mill völlig eindeutig: In the preceding argument for universal, but graduated suffrage, I have taken no account of difference of sex. I consider it to be as entirely irrelevant to political rights, as difference in height, or in the colour of the hair. All human beings have the same interest in good government; the welfare of all is alike affected by it, and they have equal need of a voice in it to secure their share of its benefits. If there be any difference, women require it more than men, since, being physically weaker, they are more dependent on law and society for protection. (CW XIX, S. 479)

Wichtiger sind für Mill also Probleme, die sich direkt auf das Mehrheitsprinzip der Demokratie zurückführen lassen. Er sieht klar, dass eine Demokratie nicht notwendigerweise legitime Herrschaft hervorbringt. Denn selbst die repräsentativsten Mehrheiten in einer Demokratie können auf Vorurteilen, Partikularinteressen und Schlimmerem beruhen, die Macht der Mehrheit ist daher per se nicht besser legitimiert als die Macht des Stärkeren. Diesem prinzipiell kaum lösbaren Problem versucht Mill mit einer Stimmengewichtung zu begegnen, gut formuliert auch in den Thoughts on Parliamentary Reform von 1859: When all have votes, it will be both just in principle and necessary in fact, that some mode be adopted of giving greater weight to the suffrage of the more educated voter; some means by which the more intrinsically valuable member of society, the one who is more capable, more competent for the general affairs of life, and possesses more of the knowledge applicable to the management of the affairs of the community, should, as far as practicable, be singled out, and allowed a superiority of influence proportioned to his higher qualifications. (CW XIX, S. 326f.)

Mill geht offensichtlich davon aus, dass das Interesse für das Gemeinwohl wie auch die Fähigkeit, die geeigneten Mittel zu seiner Beförderung abzuschätzen, keinesfalls, wie das damals geltende Wahlrecht implizit annahm (wenn man es wohlwollend interpretiert), vom Reichtum sondern vielmehr vom Grad der Bildung abhänge. Im gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustand würde diese Forderung zwar bedeuten, dass ungelernte Arbeiter eine Stimme bekämen, Rechtsanwälte, Chirurgen und Universitätsabsolventen hingegen mindestens fünf, aber die Einrichtung eines funktionierenden Bildungssystems könnte diese Abstufung bald überflüssig machen. Auch muss jeder, der sein Wahlrecht ausüben will, einige weitere Anforderungen erfüllen: er muss lesen, schreiben und rechnen können, in Lohn und Brot stehen, und seine Steuern bezahlt haben (CW XIX, S. 471ff.).36

36 Für eine weitreichendere Erörterung vgl. Niesen 2011.



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Mills vergleichsweise seltsame Forderungen lassen sich durch die tiefsitzende Furcht vor Machtmissbrauch erklären, die auch den Antipaternalismus von Freiheit nährt und deren Angebrachtheit in Unterwerfung demonstriert wird. Denn er versteht das aktive Wahlrecht als Macht über das Leben anderer, die auszuüben dem Bürger in einer wohlüberlegten Entscheidung zugestanden wird – oder eben auch nicht. Denn niemand kann ein natürliches Recht haben, über andere zu herrschen: We must never lose sight of the truth, that the suffrage for a member of Parliament is power over others, and that to power over others no right can possibly exist. Whoever wishes to exercise it, is bound to acquire the necessary qualifications, as far as their acquisition is practicable to him. I have expressed my conviction that in the best possible system of representation, every person without exception would have a vote; but this does not imply that any one should have it unconditionally; only that the conditions should be such as all could fulfil. The greatest amount of education which can be fairly regarded as within the reach of every one, should be exacted as a peremptory condition from all claimants of the franchise. (CW XIX, S. 326f.)

Wenn diese Forderungen aus heutiger Perspektive als rückschrittlich anzusehen sind, liegt dies sicherlich auch daran, dass wir heute in der glücklichen Lage sind, allen Menschen die von Mill geforderte allgemeine Schulbildung nicht nur gewähren zu können, sondern durch die allgemeine Schulpflicht auch sicher sein können, dass alle Wähler ein Mindestmaß an Bildung genossen haben. Bedeutender aber für das Verständnis von Freiheit sind die positiven Eigenschaften, die Mill einer funktionierenden repräsentativen Demokratie zuschreibt. Wenn in Freiheit vor allem beschrieben wird, wo die Grenzen des Staates liegen sollten, also in welcher Beziehung ein Staat nicht in das Leben der Bürger eingreifen darf, zeigt sich in Demokratie, welche positiven Auswirkungen auf das Leben der Menschen eine legitime repräsentative Demokratie haben kann. Diese mannigfaltigen Effekte sind ein weiteres Argument dafür, das Wahlrecht so weit wie nur vernünftig möglich auszudehnen. Gute politische Institutionen müssen auf die Bevölkerung abgestimmt sein und vom historisch kontingenten Entwicklungsstand ausgehend gilt, dass „the most important point of excellence which any form of government can possess is to promote the virtue and intelligence of the people themselves“ (CW XIX S. 390).37 Für die Beförderung der intellektuellen Fähigkeiten und der Tugendhaftigkeit bietet die Demokratie mehrere Ansatzpunkte. Von größter Wichtigkeit ist,

37 Daher müssen sie auch nicht zwangsläufig demokratische Institutionen sein, wie z. B. die britische Herrschaft über Indien illustriert.

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wie die Teilnahme an gesellschaftlichen Entscheidungen (besser noch: das Übernehmen öffentlicher Ämter) den Geist auf Umstände richtet, die nicht nur von direkt persönlichem und alltäglichem Interesse sind, sondern den Horizont der Bürger erweitern. Wer sich so als aktiver Mitgestalter politischer Institutionen, die die Interessen vieler Menschen berücksichtigen müssen, und nicht nur als passiver Empfänger von Anweisungen verstehen kann, kann den im täglichen Leben üblichen Egoismus hinter sich lassen und damit einen moralisch höheren Standpunkt einnehmen, der sein ganzes Leben positiv beeinflussen kann.38

9.4 Zusammenfassung Über die Freiheit, Mills Manifest des Liberalismus, zeigt sich unter Berücksichtigung von in anderen Schriften weiter ausgeführten Gesichtspunkten als ein kohärentes Werk philosophischer Theorie, die durch sozialpolitische Analyse motiviert wird. Aus der Unterwerfung der Frauen lernen wir, dass für genuin freie Entscheidungen die Entstehungsbedingungen der relevanten Wünsche berücksichtigt werden müssen. Es kann sich dann zeigen, dass vermeintlich freie Entscheidungen auf subtile oder auch eklatante Manipulationen zurückzuführen sind, die den Entscheidern selbst nicht bewusst sind. Wenn diesen dann die so künstlich schmackhaft gemachten Handlungsoptionen genommen werden, wie z. B. die der Selbstversklavung in Freiheit (und, mit einigen Modifikationen, die der Selbstversklavung in der Ehe in Unterwerfung) lässt sich ein solches Verbot völlig ohne paternalistische Bevormundung rechtfertigen. Da davon auszugehen ist, dass niemand sich selbst versklaven lassen möchte, wenn er denn die Tragweite einer solchen Handlung versteht und realistische Alternativen bestehen, wird durch ein solches Verbot die Freiheit, die laut Mill darin besteht, das tun zu können, was man tun möchte, nicht eingeschränkt, sondern nur Missbrauch verhindert. Denn der Staat verwehrt so zwar dem Sklavenhalter die Freiheit, Sklaven zu halten, da der Gebrauch dieser Freiheit aber den Sklaven einen Schaden zufügt, ist das Verbot klarerweise durch das Schadensprinzip legitimiert und auch aus dieser Perspektive unproblematisch. Das Sklavenbeispiel stellt daher keine Abweichung von Mills Antipaternalismus dar. Vielmehr dient es, gerade wenn es im Kontext von Unterwerfung gelesen wird, zur Veranschaulichung der (zumindest juristisch) desolaten Lage der Ehefrauen.

38 Mill lobt hier ausdrücklich die USA, wie er sie durch die Lektüre Tocquevilles kennengelernt hatte, in denen bereits 1820 fast alle (weißen) Männer das Wahlrecht erhalten hatten.



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Wie in Unterwerfung fordert Mill auch in den Überlegungen zur Repräsentativen Demokratie das volle Wahlrecht für Frauen. Das wesentliche Bindeglied zu Freiheit liegt aber in dem alle drei Texte durchziehenden Thema der legitimen Machtausübung. Freiheit soll die legitimen Grenzen der Macht des Staats über das Individuum aufzeigen, Unterwerfung illustriert u. a. die illegitime Machtausübung über die Frauen, und Demokratie beschreibt eine Lösung, wie Minderheiten auch in einem demokratischen Mehrheitssystem den ihnen zustehenden Anteil an der politischen Macht erhalten können. Mills Utilitarismus liegt allen Texten zugrunde – denn Ziel der Emanzipation der Frauen, der systematischen Beschränkung der Staatsmacht als auch der angemessenen Ausgestaltung des Wahlrechts ist, allen Menschen den gleichen Zugang zu den Dingen zu verschaffen, die für menschliches Wohlergehen erforderlich sind.

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Otfried Höffe

10 Ein systematischer Rückblick auf John Stuart Mills Denken John Stuart Mill, nicht nur Philosoph, sondern auch Wirtschaftstheoretiker und Sozialreformer, ist der einflussreichste britische Denker des 19. Jahrhunderts und zugleich einer der intellektuellen Wortführer der Zeit nach dem Deutschen Idealismus. Andere Wortführer sind Arthur Schopenhauer, Søren Kierkegaard und Karl Marx. Sie alle antworten mit ihrem Denken auf Krisenphänomene der Epoche. Dass schon ihre Diagnosen höchst unterschiedlich ausfallen, verweist auf die Vielschichtigkeit der Krisenphänomene, weshalb die Antwort darauf, die Therapievorschläge, nicht minder unterschiedlich aussehen. Im Fall von Mill verdienen mindestens vier Themenbereiche bis heute eine kritische Aufmerksamkeit. Mein knapper systematischer Rückblick beginnt mit Mills am wenigsten überzeugenden Beitrag und nimmt sich dann sukzessive die zunehmend überzeugenderen Themen vor. Zweifellos sind weitere Themen aktuell. Sie bleiben hier aber unberücksichtigt, so die von Mills Stieftochter Helen Taylor unter dem Titel Drei Essays über Religion zusammen herausgegebenen Essays über die Natur, über die Nützlichkeit der Religion und über den Theismus.

10.1 Radikaler Empirismus In der neueren philosophischen Debatte haben empiristische Positionen ein großes Gewicht. Selbst für sie ist aber Mills im System der deduktiven und induktiven Logik (1843) vertretene empiristische Wissenschaftstheorie nur als eine Extremposition interessant, gegen die man sich lieber absetzt. Damals allerdings fand Mills Empirismus viele Anhänger. Innerhalb von knapp drei Jahrzehnten erhält sein System der Logik den Rang eines wissenschaftstheoretischen Standardwerks, das in sieben Neuauflagen erscheint. Mill nennt die von ihm abgelehnte Philosophie polemisch die „deutsche Schule der Philosophie“ (vgl. Rinderle 2000, S. 9). Dieser Passus könnte für die in Großbritannien immer wieder dominierende Aversion gegen das Denken von Kant und dem Deutschen Idealismus mitverantwortlich sein. Man darf ihn aber nicht überbewerten. Denn schon in seinem qualitativen Hedonismus, noch mehr in seiner Freiheitsschrift ist Mill von Wilhelm von Humboldt, über ihn von Kant, mithin von deutschen Philosophen beeinflusst. Humboldts Einfluss auf die Freiheitsschrift wird von unserem Philosophen mehrfach ausdrücklich gewürdigt. Im Coleridge-Aufsatz tritt eine fast ungewöhnliche Offenheit für die deutsche Phi-

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losophie zutage. Und in der Logik greift er positiv auf die Sprache der „German metaphysics“ zurück (CW VIII, S. 949f.) Nach Mills Version, einem „absolutem“ oder „radikalem“ Empirismus, gibt es keinerlei apriorische, sondern lediglich aposteriorische Erkenntnis. Selbst die Mathematik und die Logik sollen auf Erfahrungen und deren induktiven Verallgemeinerungen beruhen. Dass die Mathematiker eine andere Methode praktizieren, überdies ein anderes Selbstverständnis pflegen, weiß Mill durchaus. Trotzdem vertritt er die klare Gegenposition, nach der die Notwendigkeit mathematischer Aussagen nur psychologischer Natur sei: Weil es für mathematische Aussagen außergewöhnlich viele empirische Belege gebe, entstehe der Anschein von Notwendigkeit. Mill lehnt übrigens die Möglichkeit genuin apriorischer Aussagen nicht nur aus wissenschaftstheoretischen, sondern auch aus politischen Gründen ab, denn apriorisches Denken stütze falsche Doktrinen und schlechte Institutionen. Während der radikale Empirismus in Mills Logik und Wissenschaftstheorie heute nur noch philosophiegeschichtlich von Bedeutung, systematisch gesehen aber allenfalls als abzulehnende Kontrastposition interessant ist, haben sich einige Elemente bis in aktuelle Debatten erhalten, etwa Mills Prinzipien der Induktion und die Theorie der Kausalität. Drei weitere Themenbereiche dürften aber noch stärker eine nähere Diskussion verdienen. In der fachphilosophischen Wirkungsgeschichte ist die utilitaristische Ethik nachdrücklich präsent, sozialgeschichtlich und sozialtheoretisch ist die Reformpolitik und für die Theorie von Gesellschaft und Politik sind Mills Gedanken zur politischen Freiheit vermutlich besonders wichtig.

10.2 Utilitaristische Ethik Da Mill apriorische Aussagen grundsätzlich ablehnt, schließt er sie auch für die Ethik aus. Als konsequenter Empirist lehnt er eine erfahrungsfreie Begründung moralischer Verbindlichkeiten und Werte ab. Im Gegensatz zu jeder „apriorischen“ oder „intuitionistischen Schule“ setzt er sich für eine „induktive Schule der Ethik“ ein (CW X, S. 206f.), sieht sie in dem von Bentham vorgegebenen Utilitarismus vertreten und verfasst für ihn den über viele Generationen wirkungsmächtigsten Text. Obwohl sich dieser Text, der Utilitarismus (1861), als vielfach zu kritisieren, daher letztlich als abzulehnen erweist, handelt es sich um eine naheliegende Position, die daher eine nähere Untersuchung aufdrängt. Nicht ohne Grund sind die beiden Kerngedanken des Utilitarismus, die Beurteilung allen Handelns von seinen Folgen her und die Verpflichtung der Folgen auf das Wohlergehen aller Betroffenen, sehr alt. Einzelne Elemente lassen sich bis



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in die antike Ethik und in der Neuzeit bis zu den Anfängen, namentlich Thomas Hobbes, zurückverfolgen. Später vertreten die britischen Philosophen David Hume und John Priestley und der italienische Rechtstheoretiker und Strafrechtsreformer Cesare Beccaria deutlich utilitaristische Gedanken. Der erste Autor jedoch, der den Utilitarismus ausdrücklich zum Prinzip einer wahrhaft praktischen, nämlich auf soziale und politische Reformen drängenden Philosophie macht, ist Mills wichtigstes philosophisches Vorbild der Ethik, Jeremy Bentham. (Die für ihn entscheidende Gleichsetzung von Nutzen mit Glück und von Glück mit Lust schreibt Bentham aber schon Helvétius zu.) Benthams einschlägiger Text, die Introduction into the Principles of Morals and Legislation (1789), versteht sich ausdrücklich als die theoretische Grundlage einer weitgespannten Reformpolitik. Wegen der Radikalität ihrer Forderungen werden die Anhänger Benthams „Philosophical Radicals“ genannt. In der Tat können sie auf eine Reihe bemerkenswerter sozialer und politischer Reformen stolz sein. Der allzu berechtigte gesellschaftskritische Impuls verbindet sich jedoch mit hochproblematischen Annahmen zur Ethik. (Zu Texten des klassischen und zeitgenössischen Utilitarismus s. Höffe 2013.) Die Probleme des Benthamschen Utilitarismus beginnen beim utilitaristischen Prinzip, dem „größten Glück der größten Zahl“. Selbst wenn sich dieses Glück empirisch bestimmen lässt, ist nämlich die Verpflichtung allen Handelns auf dieses Glück kein Erfahrungselement, sondern eine Vorgabe für die Erfahrung. Sie hat also den nicht bloß von Mill, sondern auch von Bentham verfemten apriorischen Charakter, weshalb eine apriorische Begründung ausdrücklich abgelehnt wird. Bedenklich ist ferner die hedonistische Definition des Glücks. In einer auf Gassendi zurückgehenden Tradition steht Bentham zufolge die Menschheit unter der Herrschaft zweier souveräner Gebieter, pain and pleasure, Leid und Freude, die erstaunlicherweise zwei konkurrierende Aufgaben übernehmen sollen. In normativer Hinsicht – ethischer Hedonismus – haben sie aufzuzeigen, was wir tun sollen, und in der letztlich empirischen Hinsicht – psychologischer Hedonismus – obliegt ihnen festzustellen, was wir tun werden. Wer es faktisch tut, braucht aber für den Hedonismus kein Sollen; wer dagegen ein Sollen benötigt, folgt dem Hedonismus nicht immer aus sich heraus und von allein. Ein weiteres Problem wirft Benthams methodisches Instrument auf, der hedonistische Kalkül, demzufolge die nötigen Reformen quantitativ exakt bestimmbar seien. Problematisch ist schon, dass im Begriff „Wohlergehen aller Betroffenen“ („all those whose interest is in question“; Bentham 1789, Kap. I.2) eine präzise Bestimmung des Begriffs „Betroffener“ fehlt: Wie sind die direkt Betroffenen im Verhältnis zu den indirekt Betroffenen, wie die nachfolgenden Generationen im Vergleich zur gegenwärtigen Generation zu bewerten? Eine weitere Schwierigkeit

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liegt im stillschweigend angesetzten Postulat der Messbarkeit und Vergleichbarkeit der Vorteile und Nachteile aller Folgen beziehungsweise der positiven und negativen Gratifikationen. Das von Bentham vorgeschlagene Verfahren der Addition und Subtraktion von Gratifikationswerten setzt nämlich eine gemeinsame Maßeinheit von Freude und Schmerz voraus, was sich selbst – wie Bentham nicht leugnet – im einfachsten, wirtschaftlichen Bereich als hoffnungslos realitätsfremd erweist. Der Kalkül setzt ferner voraus, dass die Grundlage der Kalkulation, die Bedürfnisse und Interessen der Betroffenen, hinreichend genau bekannt ist. In seinem wirtschaftswissenschaftlichen Essay Defense of Usury (1787) glaubt Bentham, jeder vermöge seine eigenen Interessen am besten selbst zu beurteilen. Tatsächlich können jedoch die eigenen Urteile über die Interessen durch kognitive, emotionale und soziale Täuschungen, sowohl Selbst- als auch Fremdtäuschungen, vielfach gebrochen und verzerrt sein. Ohne eine Aufgabe, die Bentham gar nicht in den Blick nimmt, ohne überdies komplizierte Prozesse des Verstehens, Beurteilens und gelegentlich auch der Kritik der eigenen Interessen, fehlt der Kalkulation eine sachgemäße Grundlage. Außerdem sollte man nicht alle Interessen gleicherweise berücksichtigen. Denn sozial engagierten Interessen wie der Hilfsbereitschaft und der Toleranz sollte man ein größeres Gewicht als Neid, Eitelkeit und Herrschsucht einräumen, und Interessen, denen Aggression, Destruktion und Sadismus zugrunde liegen, sollte man besser entgegentreten als sie zu berücksichtigen. Nicht zuletzt darf man nicht übersehen, dass der utilitaristische Leitbegriff, das Wohlergehen beziehungsweise das Glück, nicht rein empirischer Natur ist. Dort, wo man weder zwischen artikuliertem und tatsächlichem Interesse noch zwischen vermeintlichem und wohlverstandenem, noch zwischen naturwüchsig vorhandenem und sozial vertretbarem Interesse unterscheidet, lässt sich das menschliche Glück nicht vernünftig bestimmen (vgl. Höffe 1985, Kap. 4.3). Im Wissen um diese und weitere Probleme versucht Mill in seinem Essay dem Utilitarismus eine überzeugendere Fassung zu geben. In seiner Schrift wendet er sich ausdrücklich nicht nur an gelehrte Fachkollegen, sondern ebenso an eine weitere, sittlich-politisch interessierte, überdies philosophisch gebildete Öffentlichkeit. Und im Gegensatz zum trockenen, oft schwerfälligen Stil von Benthams Einführung legt Mill ein gut lesbares, fast elegant geschriebenes Plädoyer für den Utilitarismus vor. Nach einem schon bei Bentham anklingenden, später von G. E. Moore und anderen Philosophen geliebten Topos will Mill den als beklagenswert behaupteten Zustand der Moralphilosophie überwinden und diese mit Hilfe des utilitaristischen Prinzips endlich auf den Pfad der Wissenschaft führen. Wie schon Bentham und später Moore dürfte sich Mill aber mit beiden Ansprüchen über-



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heben, sowohl mit der Diagnose, alle bisherige Moralphilosophie sei beklagenswert, als auch mit der Therapie, durch den Utilitarismus würde die Moralphilosophie endlich zu einer Wissenschaft, gemäß Mills Logik also einer empirischen Wissenschaft. Trotz der Kritik, die die beiden Ansprüche verdienen, gehört der Utilitarismus im 19. und 20. Jahrhundert zu den einflussreichsten, allerorten gelesenen, in der anglophonen Welt sogar von Fachphilosophen hochgeschätzten Schriften zur Ethik. Erst durch John Rawls’ in A Theory of Justice (1971) vorgetragene Kritik und dem von Kant inspirierten Alternativentwurf tritt der Utilitarismus in den Hintergrund und wird fast nur noch von einigen Vertretern angewandter Ethik wie Peter Singer (1993) weiterhin vertreten, dabei erstaunlicherweise, ohne sich den gravierenden Kritikpunkten zu stellen. Um die angedeuteten Schwierigkeiten zu lösen, weicht Mill vom „orthodoxen“, Benthamschen Utilitarismus vor allem in drei Punkten ab: in der Modifikation des nicht näher qualifizierten zu einem qualifizierten Hedonismus; im Versuch, den bei Bentham fehlenden Beweis des utilitaristischen Prinzips zu liefern; und im Versuch, das utilitaristische Prinzip als mit dem Standpunkt der Gerechtigkeit vereinbar zu erweisen. Allerdings überzeugt keiner der drei Verbesserungsversuche. Mit der bedeutsamsten Veränderung, dem nicht mehr quantitativen, sondern qualitativen Hedonismus, will Mill dem früh erhobenen Vorwurf begegnen, der Utilitarismus sei eine Ethik des Genussmenschen, zugespitzt im Einwand des englischen Schriftstellers und Historikers Thomas Carlyle, der Utilitarismus sei eine Philosophie für Schweine (pig philosophy). Dem berühmt-provokatorischem Aphorismus, den Mill in seinem Essay „Bentham“ (1838) seinem Vorgänger zuschreibt, „quantity of pleasure being equal, push-pin is as good as poetry“ (bei gleicher Qualität der Lust ist ein anspruchsloses Kinderspiel so gut wie Poesie; Collected Works X, S. 113) zählen die qualitativen Unterschiede zwischen den verschiedenen Anlässen und Arten von Freude ausdrücklich nicht. Außerdem denkt man beim Ausdruck „pleasure“ (Lust, Freude) zuerst an körperliche Freuden (des Essens und Trinkens, der Sexualität und des Ausspannens), Freuden, die sich ohne besondere Anstrengung und Erziehung bei jedermann einstellen und für die ein intensiver, aber vergleichsweise kurzlebiger Genuss charakteristisch ist. Hält man nun diese „körperlichen“ Freuden für das Kriterium moralisch richtigen Handelns und gibt den „geistigen“ Freuden aus intellektuellen, kreativen oder sozialen Tätigkeiten keinen besonderen Wert, so ist der Vorwurf, der Utilitarismus sei nur eine Ethik für Genussmenschen, fraglos berechtigt. Gegen dieses Bentham nicht ganz fremde, aber doch vulgarisierte Verständnis des Hedonismus vertritt Mill die klare Gegenthese, es sei besser, ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedenes Schwein (CW X, S. 210). Zu Recht klingt

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in dieser These an, dass es verschiedene Qualitäten von Lust gibt, die sich im Unterschied zu Bentham (Bentham 1789, Kap. II) nicht in eine allein quantitativ bestimmte Reihenfolge bringen lassen. Vor allem wehrt sie den Eindruck ab, der Utilitarismus, gegen den Wert wissenschaftlicher, künstlerischer und humanitärer Beschäftigungen gleichgültig, verstehe unter Glück das, was die Mehrheit der Menschen sich im Allgemeinen wünsche. Einem Hedonismus momentaner sinnlicher Wunschbefriedigung (ob tatsächlich die Mehrheit der Menschen diesem Hedonismus anhängt, sei dahingestellt) widerspricht Mill vehement, indem er dem quantitativ höchsten Genuss den humanen Rang der Freuden, also eine qualitative Betrachtung, vorzieht. Zweifellos ist dieser humane und humanitäre Blick ehrenwert. Man muss sich aber fragen, ob er mit einem utilitaristischen Begriff des Glücks vereinbar ist. Problematisch ist schon die Übernahme der darin anklingenden traditionellen dualistischen Alternative von körperlichen oder geistigen Freuden und die Bewertung der beiden alternativen Optionen als niedrigere und höhere Arten. Wie schon Bentham so erkennt auch Mill an, dass sich die geistigen Freuden quantitativ, nämlich wegen eines höheren Maßes an Dauer und Sicherheit sowie eines geringeren Maßes an „Kosten“, als überlegen erweisen. Zusätzlich führt er aber eine nicht-quantitative, mit dem Begriff der inneren Natur des Menschen arbeitende Bewertung ein. Bei geistigen Freuden, so lässt sich das interpretieren, sei man in einem höheren Maße Mensch als bei sinnlichen Freuden (vgl. Brink 2013 und die Zusammenfassung in Kuenzle/Schefczyk 2009). Diese von Humboldt beeinflusste These setzt eine bestimmte, von Mill jedoch nicht entfaltete Anthropologie voraus. Zudem muss man sich fragen, inwiefern diese Anthropologie Mills rein empirischem Wissenschaftsbegriff genügt: Welche Art von Erfahrung kann die Überlegenheit der geistigen Freuden rechtfertigen? Selbst wenn man Mills Kriterium akzeptiert – entscheidend seien die Menschen, die beide Arten von Freuden kennen – bleiben zwei Bedenken. Zum einen muss nicht jeder, der beide Arten kennt, die geistigen Freuden den körperlichen vorziehen, die er eventuell wegen ihrer Intensität höher schätzt. Zum anderen muss man – im Sinne von Mills viertem hier behandeltem Thema, der politischen Freiheit – es den Menschen überlassen, welche Arten von Freuden sie in welchem Maße vorziehen. Darin taucht schon die weitere Frage auf, wie sich der qualitative Hedonismus mit dem von Mill bekräftigten hedonistischen Glücksbegriff vertragen soll, demzufolge allein die Freude und die Abwesenheit von Schmerz in sich wertvoll seien. Mill bezieht sich zwar wie gesagt auf die entschiedene Vorliebe derjenigen, die mit beiden Arten von Freude Erfahrung haben. Denn nur sie seien für eine vergleichende Bewertung kompetent, und sie werden, nimmt Mill weiterhin an, die geistigen Freuden höher, vielleicht sogar unvergleichlich höher als die sinn-



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lichen Freuden bewerten. Damit geht er aber von einer Vergleichbarkeit aus, die sich quantitativ als „mehr oder weniger hoch bewertet“ interpretieren lässt. Auch wenn die Bewertung der verschiedenen Freuden nicht mehr mit dem übermäßig vereinfachten Instrumentarium von Benthams hedonistischem Kalkül auskommen mag, bleibt zumindest im Hintergrund der sachlich und methodisch problematische quantitative Begriff von Glück anerkannt. Kritik verdient ferner Mills Versuch in Kap. II, das utilitaristische Prinzip zu beweisen. Der Philosoph lehnt zwar die Möglichkeit eines direkten Beweises zu Recht ab, weil Prinzipien als schlechthin erste Sätze per definitionem nicht beweisbar sind. Gleichwohl hält er eine rationale Stützung des utilitaristischen Prinzips für möglich. Seine Argumentation hat aber genau die Form, die Ableitung im Sinne einer Deduktion, die er aus beweistheoretischen Gründen ablehnt. Dass die in zwei Schritten skizzierte Argumentation sich in ihren beiden Schritten als fehlerhaft erweist, überrascht daher nicht: Der erste Schritt will aus einem empirisch-psychologischen, insofern objektiven Hedonismus ‚Freude bzw. Glück sind das einzige, was Menschen um ihrer selbst willen erstreben‘ einen sowohl subjektiven als auch normativ legitimen, ethischen Hedonismus ableiten: ‚Das, woran ein jeder Freude hat, ist für ihn auch gut‘. Zusätzlich bleibt der methodische Status der Prämisse unklar, denn der psychologische Hedonismus scheint nicht bloß eine empirische, sondern auch eine analytische Wahrheit zu sein, was unter den Interpreten allerdings strittig ist (vgl. Skorupski, 1989, S. 286). Im Anschluss an den ersten Argumentationsschritt wird aus der vorgeblichen Konklusion das Prinzip eines objektiv-ethischen Hedonismus abgeleitet: ‚Das allgemeine Glück ist für alle gut‘. Dem ersten Argumentationsschritt liegt ein empiristischer Fehlschluss zugrunde: ‚Was tatsächlich erstrebt wird, ist auch wert, erstrebt zu werden‘. Und das zweite Argument setzt das für individuelle Klugheitserwägungen zutreffende Kriterium, das persönliche Glück, mit dem für moralisches Handeln gültigen sozialen Kriterium, dem Glück aller Betroffenen, gleich. Tatsächlich folgt aus der angenommenen Prämisse lediglich, dass für jeden Betroffenen irgendein Teil des allgemeinen Glücks beziehungsweise dass jeder Teil des allgemeinen Glücks für irgendjemanden gut ist. Für die moralphilosophisch unverzichtbare Aufgabe, das utilitaristische Prinzip rational zu stützen, gibt es freilich andere Möglichkeiten. Zuvor muss man allerdings zwei Probleme unterscheiden. Vorausgesetzt, man hält das utilitaristische Prinzip für die angemessene Formulierung des Moralprinzips, lautet die Frage: „Warum soll ich überhaupt moralisch handeln?“ Darauf kann man mit Klugheitserwägungen der Art antworten: Aufgrund der emotionalen und politischen Abhängigkeit der Menschen untereinander richtet sich ein rationales Streben auf das allgemeine Wohlergehen. Hier erscheint das moralische Handeln als Weg zum eigenen langfristigen Vorteil. Je nach dem näheren Argument gilt

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es als Mittel gegen Schuldgefühle, gegen Rache oder soziale Desintegration oder aber, positiv, als Weg zum eigenen Wohl. Eine solche Legitimationsstrategie interpretiert jedoch den Grund moralischer Verpflichtung zu eng. Um die andere Frage zu beantworten, die nach der Angemessenheit des utilitaristischen Prinzips, könnte man entweder einen empirischen Nachweis zu erbringen versuchen, nämlich von den meisten uns bekannten Verhaltenskodizes zeigen, dass sie genau das verbieten, was durch utilitaristische Überlegungen disqualifiziert wird: das Töten, das Lügen und Betrügen, das Brechen von Versprechen usf. Darüber hinaus, könnte man behaupten, würden die Kodizes genau das hochschätzen, was auch der Utilitarismus verlange, eine Förderung des Wohlergehens der Mitmenschen. Ein dazu alternativer Beweisversuch könnte den Gegner in einen Selbstwiderspruch führen versuchen, ihm nämlich zeigen, dass jede argumentative Ablehnung des utilitaristischen Prinzips sich auf Argumente beruft, die nur unter Annahme des Prinzips selbst triftig sind. Auf diese Weise würde sich der Utilitarismus als alternativenlos richtig er­weisen. Eine nähere Betrachtung sieht aber beide Legitimationsstrategien scheitern. Insbesondere misslingt der Versuch, den aus gutem Grund Mill im letzten und umfangreichsten Kapitel seines Utilitarismus unternimmt, nämlich von einer so elementaren Moralforderung wie der Gerechtigkeit zu zeigen, dass sie mit dem Utilitarismus verträglich ist. Die Gerechtigkeit räumt nämlich jeder einzelnen Person Rechte ein, die im Falle einer Kollision mit dem Prinzip des Kollektivwohls klaren Vorrang beanspruchen. Beispielsweise darf man weder Unschuldige bestrafen noch Verdächtige foltern, auch wenn es dem Kollektivwohl dient. In dieser Weise widerspricht der Utilitarismus anerkannten moralischen Verbindlichkeiten.

10.3 Reformpolitik Wie schon Bentham so verstand sich auch Mill nie als reiner, man kann auch sagen: als bloßer Philosoph. Als Anhänger der „philosophischen Radikalen“ wollte er nichts weniger, als mit Hilfe der Philosophie, einige Jahre auch als Unterhausabgeordneter der liberalen Whigs auf dem Weg tiefgreifender sozialer und politischer Reformen die Welt verbessern, namentlich in Großbritannien feudale Restbestände überwinden. Allerdings versucht er daher, stillschweigend, vermutlich auch unbemerkt verschiedenartige, sogar konkurrierende Ansätze, insbesondere Utilitarismus, Liberalismus und Sozialismus, miteinander zu versöhnen. Wie ansatzweise im Utilitarismus, nämlich im qualitativen Hedonismus, so erscheint Mill noch weit mehr in den reformpolitischen Schrif-



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ten als ein Ekklektizist, was „Mill-Freunde“ freilich, nicht ganz unbegründet, zurückweisen. Von Adam Smith beeinflusst und unter Rückgriff auf neuere volkswirtschaftliche Erkenntnisse, namentlich von David Ricardo und Mills Vater, James Mill, wendet sich Mill in einem weiteren Werk, das bald zu einem Standardwerk avanciert, in den Grundsätzen der politischen Ökonomie (1848), gegen utopische Sozialisten, die den Staat an die Stelle des freien Wettbewerbs setzen wollen. Weil die einzelnen Menschen eigennützig handelten und zugleich ihre Interessen selber am besten beurteilen könnten, bringe die staatliche Nichteinmischung („laisserfaire“) eine doppelte Optimierung zustande: die für einen Utilitaristen wichtige effizienteste Staatstätigkeit und in liberaler Perspektive den stärksten Anreiz zur Entwicklung des einzelnen. Die „ökonomistische“ Ansicht vom Vorrang der Wirtschaft lehnt Mill allerdings ab. Den Primat räumt er allein der Politik ein. Für Mill als Anhänger des Hedonismus versteht sich, dass die Anhäufung von Reichtum kein Selbstzweck ist; aller Wohlstand hat vielmehr dem (richtigen) Genuss der Gegenwart zu dienen. Und als Moralphilosoph fordert Mill eine gerechte Verteilung der Güter, wobei im Gegensatz zum Kommunismus eine maßvolle Ungleichheit bei der Verteilung gerecht sei. In die dritte Auflage der Politischen Ökonomie geht ein neues Kapitel über die Arbeiterklassen ein („On the Probable Future of the Labouring Classes“), das unter dem Einfluss der Revolution von 1848 große Sympathien für den Sozialismus hegt. Später, im „Chapter on Socialism“, kühlen sich freilich diese Sympathien stark ab. In seinem nachdrücklichen Reforminteresse überträgt Mill dem Gemeinwesen eine Reihe von Aufgaben, mit denen die Politik über den frühliberalen „Nachtwächterstaat“ weit hinauswächst. Beispielsweise soll der Staat zwar nicht selber Schulen gründen, aber die Eltern zwingen, ihre Kinder in eine Schule zu schicken. Auch sei die Kinderarbeit durch Gesetz einzuschränken. Ferner soll der Staat, um Ausbeutung und Gesundheitsschäden zu verhindern, die Arbeitszeit der Bürger überwachen. Ferner soll er die Armut bekämpfen, aber ohne neue Abhängigkeiten zu schaffen. Und mit der Förderung von Auswanderung soll er der Überbevölkerung, da sie den sozialen Frieden gefährde, entgegensteuern. Dass der damit verbundene Kolonialismus an der dortigen Bevölkerung Unrecht übt, sieht Mill freilich nicht. Im Gegenteil hält er, der 35 Jahre als Beamter in der mächtigen Englisch-Ostindischen Kompanie, einer Gesellschaft mit dem Handelsmonopol für Indien, tätig ist, die Kolonialisierung, namentlich deren Einführung einer rationalen Verwaltung, für ein zivilisatorisches Geschenk. Zu einem anderen Thema, der Todesstrafe, ändert Mill im Laufe seines Lebens die Meinung. Zunächst wie Bentham ihr Gegner, spricht er sich mittels utilitaristischer Argumente später gegen die Abschaffung der Todesstrafe aus. Sie sei nämlich die humanste und mit dem geringsten menschlichen Leid verbun-

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dene Strafe. – Eine weitere Staatsaufgabe sieht Mill im gesetzlichen Verbot von Tierquälerei und im Überwachen karitativer Treuhandschaften. Unter Einfluss seiner Lebensgefährtin und späteren Frau Harriet Taylor und unter Einfluss von Anhängern des französischen Sozialphilosophen Claude Saint-Simon, beschäftigt sich Mill zunehmend stark mit den sozialen Fragen seiner Zeit und übernimmt gewisse sozialistische Gedanken. Er setzt sich für eine schrittweise Umwandlung des Privateigentums in genossenschaftliches Eigentum und in Staatseigentum ein, er fordert die politische Gleichberechtigung der Arbeiterschaft, ihre Vereinigungsfreiheit und ihre Beteiligung an den Betrieben sowie eine Brechung der wirtschaftlichen und politischen Vormacht des grundbesitzenden Adels. Mit besonderem Nachdruck verlangt Mill, die fast despotische Macht der Männer über die Frauen zu brechen und zwar dadurch, dass den Frauen dieselben Rechte und derselbe Rechtsschutz gewährt werde (CW XXI). Vom Ergebnis, der schließlichen Gleichstellung der Frau in Familie und Gesellschaft, erwartet er sogar einen Fortschritt an moralischer Gesinnung, der eine „moralische Regeneration der Menschheit“ mit sich führe. In seinem Plädoyer für die Gleichberechtigung der Frau setzt sich Mill mit zwei verbreiteten Gegenargumenten auseinander, mit der angeblichen natürlichen Unterlegenheit der Frauen und mit der vermeintlichen Freiwilligkeit ihrer Unterwerfung. Das erste Gegenargument entlarvt er als Produkt gesellschaftlicher Umstände, und dem zweiten Gegenargument widerspricht er mit dem Argument, sich seiner Freiheit entäußern zu dürfen, gehöre nicht zur Freiheit.

10.4 Politische Freiheit Mills sozial- und rechtsphilosophisches Hauptwerk Über die Freiheit (CW XVIII) ist in diesem kooperativen Kommentar ausführlich analysiert worden. Zu diesem wirkungsmächtigen Manifest für Freiheit genügen daher hier wenige Bemerkungen. Der Text, eine Kampfschrift gegen den Puritanismus der viktorianischen Gesellschaft, erweitert Mills sozialen Wirtschaftsliberalismus um einen politischen Liberalismus. Dieser beginnt mit einem radikalen Rechtsliberalismus, denn Mill fordert Gedanken- und Meinungsfreiheit ein und verteidigt in seinem leidenschaftlichen Plädoyer dabei das Recht jedes Menschen, seine Überzeugungen frei zu bilden und nach diesen Überzeugungen das eigene Leben frei zu gestalten. Niemand schulde der Gesellschaft eine Rechenschaft für Handlungen, bei denen nur die eigenen Interessen auf dem Spiel stehen. Mill glaubt, dass in der Demokratie ein Gesinnungsterror droht, den er mit allem Nachdruck als eine „Tyrannei der Mehrheit“ ablehnt. Diese Tyrannei der



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Mehrheit kann sich auch außerhalb demokratischer Formen entwickeln, wenn Kräfte gesellschaftlicher Konformität wirken. Damit lässt Mill im Gegensatz zu einem schlichten, nur auf faktische Mehrheiten verkürzten Verständnis von Demokratie den Gedanken einer konstitutionellen Demokratie anklingen. Zu Mills Plädoyer für politische Freiheit gehört die scharfe Kritik an Auguste Comtes Gedanken einer Zwangsherrschaft der Gesellschaft über das Individuum (CW X). Denn dann werde nicht jeder von sich selbst, sondern jeder von allen anderen, und das kann zudem heißen: jeder von einer ungebildeten Masse, regiert. Auch wenn sich Comte selber so nicht bezeichnet, kann man ihn einen qualifizierten Utilitaristen nennen. Denn der französische Philosoph verpflichtet alles Handeln auf ein Kollektivwohl, das bei ihm freilich auf das Staatswohl festgelegt und verkürzt wird. Demgegenüber verteidigt Mill, für ihn in Übereinstimmung mit seinem Utilitarismus, die Meinungsfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht jedes einzelnen. Mill, der von seinem Vater James Mill, einem allzu treuen Meisterschüler Benthams, eine streng auf den Utilitarismus verpflichtete Erziehung durchlaufen hat, verteidigt jetzt kompromisslos die Freiheit zur persönlichen Lebensentfaltung: „Der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitgliedes einer zivilisierten Gesellschaft rechtmäßig ausüben darf, ist es, die Schädigung anderer zu verhüten“ (CW XVIII, S. 223). Nach Mill darf der Staat lediglich Rahmenbedingungen festlegen, und zwar nur Rahmenbedingungen, die dem einzelnen erlauben, seine Entscheidungen wohlinformiert selber zu treffen. Überdies liegt auch darin, in der kompromisslosen Parteinahme für Freiheit und Unparteilichkeit, ein Mills Wissenschaftstheorie widersprechendes apriorisches Element. In seinem Plädoyer gegen die Unterwerfung der Frauen räumt es Mill sogar selber ein. Für die Spannung, die in der Freiheitsschrift zwischen Utilitarismus und Liberalismus besteht, könnte die – laut Mills Widmung – Mitautorin der Schrift, Harriet Taylor, mitverantwortlich sein. Demnach bleibe Mill zwar Utilitarist, lasse aber in On Liberty dem von Taylor favorisierten liberalistischen Gedankengut großen Raum – ohne sich über die daraus folgende Inkonsistenz im Klaren zu sein. Ein konsistentes Plädoyer für die soziale und politische Freiheit jedes einzelnen müsste jedenfalls beide Gedankenstränge voneinander trennen und sich dann entscheiden, für welche Seite es sich einsetzen will, für den der Individualität verpflichteten Liberalismus oder für den am Kollektivwohl orientierten Utilitarismus. Eine Würdigung von Mills politischem Liberalismus darf nicht wie häufig den zweiten politischen Essay übergehen. In dem bald nach der Freiheitsschrift erschienenen Werk Considerations on Representative Government (1861; Deutsch als Betrachtungen über die repräsentative Demokratie) weist Mill zwei Grundauffassungen über das Wesen der Politik als einseitig zurück, sowohl die voluntaristische Auffassung, nach der der Staat das Produkt menschlichen Willens für

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bestimmte Zwecke sei, als auch die historistische Auffassung, die das Gemeinwesen als „eine Art organisches Gebilde“ versteht, das „aus der Natur und dem Leben des betreffenden Volkes erwächst“. Eine sachgerechte Theorie müsse nämlich beide Auffassungen miteinander verbinden. Gemäß der voluntaristischen Ansicht gebe es bei der Gestaltung der politischen Institutionen durchaus Freiheit. Diese sei aber, was zugunsten der historischen Ansicht spreche, durch drei Bedingungen begrenzt: durch die Anerkennung seitens des Volkes, durch einen aktiven Beitrag zur Erhaltung der Verfassung und durch ein verantwortliches Handeln der Amtsträger. Mill begnügt sich nicht mit einer Wesensbestimmung von Politik. Er sucht auch nach einem Kriterium für gute Politik und sieht es in der Per-Saldo-Zunahme der geistigen, sittlichen und praktischen Fertigkeiten der Bürger gegeben. Nach diesem Maßstab, also nicht grundsätzlich und bloß meistens sei als Staatsform die Demokratie zu bevorzugen. Zudem bindet Mill die Bevorzugung an eine Bedingung, die öffentliche Stimmabgabe. Denn allein sie gewährleiste, dass man nicht im eigenen Interesse, sondern gemäß dem Gemeinwohl abstimme. Dass die öffentliche Stimmabgabe eine Tyrannei der Mehrheit befördern, damit einem seiner Grundinteressen widersprechen könnte, sieht Mill nicht. In seinen Betrachtungen über die repräsentative Demokratie plädiert Mill für ein gewähltes Parlament auf der Grundlage von Volkssouveränität und für eine Gewaltenteilung mit Kontrolle der Regierung. Im Unterschied zum heutigen Verständnis von repräsentativer Demokratie überträgt er dem Parlament aber nicht die gesetzgebende Gewalt. Die Gesetze sollen vielmehr von einem Ausschuss erarbeitet und beschlossen werden. Für diesen knappen systematischen Rückblick auf Mills Denken empfiehlt sich nicht, eine Bilanz zu ziehen, außer vielleicht dieser: Gemäß Aristoteles’ berühmter These, das Ziel liegt nicht im Wissen, sondern im Handeln (Nikomachische Ethik I 1, 1095a5f.), ist John Stuart Mill ein im emphatischen Sinn praktischer und politischer Denker. Während er damit ein Vorbild für Philosophen ist, empfiehlt es sich nicht, an seiner Wissenschaftstheorie sich auszurichten. Auch gegen Mills Utilitarismus sprechen zu viele Argumente. Der Versuch, mittels philosophischer Überlegungen die soziale und politische Wirklichkeit zu verbessern, bleibt dagegen nachahmenswert. Und das facettenreiche Plädoyer für einen politischen Liberalismus verdient in vieler Hinsicht, nicht nur erinnert, sondern auch gedanklich ernst genommen zu werden.1

1 Für zahlreiche Hinweise danke ich Michael Schefczyk.



Ein systematischer Rückblick 

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Literatur Aristoteles: Nikomachische Ethik, übers. u. hrsg. v. Ursula Wolf. Reinbek bei Hamburg 2006: Rowohlt; griech. Ethica Nicomachea, hrsg. v. Ingram Bywater. Oxford 1890: Oxford University Press, zahlreiche Nachdrucke. Bentham, Jeremy (1789): An Introduction to the Principles of Moral and Legislation, hrsg. v. J.H. Burns und H. L. A. Hart. Oxford: Oxford University Press. Brink, David O. (2013): Mill’s Progressive Principles. Oxford: Clarendon Press. Höffe, Otfried (1985): Strategien der Humanität. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Höffe, Otfried (Hrsg.) (52013): Einführung in die utilitaristische Ethik. Tübingen/ Basel: A. Francke. Kuenzle, Dominique/Schefczyk, Michael (2009): John Stuart Mill zur Einführung. Hamburg: Junius. Rawls, John (1971): A Theory of Justice. Cambridge/MA: Harvard University Press; dt. Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt/M. 1975: Suhrkamp. Rinderle, Peter (2000): John Stuart Mill. München: C.H.Beck. Singer, Peter (21994): Praktische Ethik, überarb. Auflage, Stuttgart: Reclam; orig. Practical Ethics, Cambridge 1979: Cambridge University Press. Skorupski, John (1989): John Stuart Mill. London: Routledge.

Auswahlbibliographie Mills Schriften Robson, John (Hg.) (1963–1991): Collected Works of John Stuart Mill, 33 Bände. Toronto & Buffalo: University of Toronto Press. Mills Collected Works sind im Internet in der Online Library of Liberty kostenlos abrufbar unter http://oll.libertyfund.org). In diesem Band zitierte Werke der Collected Works (CW) Autobiography. In: Collected Works I, S. 1–290. Principles of Political Economy with Some of their Applications to Social Philosophy. In: Collected Works II & III. „The Corn Laws“. In: Collected Works IV, S. 45–70. „Chapters on Socialism“. In: Collected Works V, S. 703–753. A System of Logic: Ratiocinative and Inductive. In: Collected Works VII–VIII. An Examination of Sir William Hamilton’s Philosophy. Collected Works IX, S. 1–504. „Remarks on Bentham’s Philosophy“. In: Collected Works X, S. 3–18 „Bentham“. In: Collected Works X, S. 75–115. Utilitarianism. In: Collected Works X, S. 203–255. „Auguste Comte and Positivism“. In: Collected Works X, S. 261–368. „Three Essays on Religion“. In: Collected Works X, S. 369–489. On Liberty. In: Collected Works XVIII, S. 213–310. De Tocqueville on Democracy in America [1]. In: Collected Works XVIII, S. 47–90. De Tocqueville on Democracy in America [2]. In: Collected Works XVIII, S. 153–204. Essays on Politics and Society Part 2. In: Collected Works XIX. That the Ideally Best Form of Government is Representative Government. In: Collected Works XIX, S. 399–423. Law of Libel and Liberty of the Press. In: Collected Works XXI, S. 3–34. „Inaugural Address Delivered to the University of St. Andrews“. In: Collected Works XXI, S. 215–257. The Subjection of Women. In: Collected Works XXI, S. 259–340 Gomperz, Theodor (Hrsg.) (1869–1880): Gesammelte Schriften von John Stuart Mill, 12 Bände, Leipzig. Nachdruck 1968, Aalen: Scientia Verlag. Ackermann, Ulrike & Hans Jörg Schmidt (Hrsg.) (2012–2016): John Stuart Mill. Ausgewählte Werke, 5 Bände, Hamburg: Murmann Verlag.

Deutsche Textausgaben von On Liberty Deutsch/Englisch, Übersetzung von Bruno Lemke. Mit Anhang und Nachwort herausgegeben von Bernd Gräfrath, Stuttgart: Reclam 2009. Auf der Grundlage der Übersetzung von Else Wentscher neu herausgegeben von Horst D. Brandt, Hamburg: Meiner 2011.

196 

 Auswahlbibliographie

Ausgewählte Werke, Bd. III.1, Neuübersetzung von Angela Marciniak (unter Mitarbeit von Robin Becker). Hamburg: Murmann Verlag 2014, S. 303–440.

Sekundärliteratur Baum, Bruce (2000): Rereading Power and Freedom In J. S. Mill. Toronto u. a.: University of Toronto Press. Berger, Fred R. (1984): Happiness, justice, and freedom. The moral and political philosophy of John Stuart Mill. Berkeley: University of California Press. Brink, David O. (2013): Mill’s Progressive Principles. Oxford: Oxford University Press. Carlisle, Janice (1991): John Stuart Mill and the writing of character. Athens, Ga: University of Georgia Press. Claeys, Gregory (2013): Mill and Paternalism. Cambridge: Cambridge University Press. Claeys, Gregory (Hrsg.) (1987): Der soziale Liberalismus John Stuart Mills. Baden-Baden: Nomos. Demetriou, Kyriakos N./Loizides, Antis (Hg.) (2013): John Stuart Mill: A British Socrates. Hampshire, Basingstoke [u. a.]: Palgrave Macmillan. Devigne, Robert (2006): Reforming liberalism. J. S. Mill’s use of ancient, religious, liberal, and romantic moralities. New Haven [Conn.]: Yale University Press. Donner, Wendy (1991): The liberal self. John Stuart Mill’s moral and political philosophy. Ithaca, N.Y: Cornell University Press. Donner, Wendy/Fumerton, Richard A. (2009): Mill. Malden, MA: Wiley-Blackwell. Dworkin, Gerald (Hrsg.) (1997): Mill’s On Liberty. Critical essays. Lanham, Md: Rowman & Littlefield Publishers. Eggleston, Ben/Miller, Dale E./Weinstein, D. (Hrsg.) (2011): John Stuart Mill and the art of life. Oxford, New York: Oxford University Press. Eisenach, Eldon J. (Hrsg.) (1998): Mill and the moral character of liberalism. University Park, Pa: Pennsylvania State. Fitzpatrick, John R. (2006): John Stuart Mill’s political philosophy. Balancing freedom and the collective good. London. New York: Continuum. Gray, John (1996): Mill on liberty. A defence. London, New York: Routledge. Gray, John/Smith, G. W. (Hrsg.) (1991): J. S. Mill On Liberty in focus. London, New York: Routledge. Habibi, Don A. (2001): John Stuart Mill and the ethic of human growth. Dordrecht, Boston: Kluwer Academic. Halliday, R. J. (1976): John Stuart Mill. London: George Allen & Unwin. Hamburger, Joseph (1999): John Stuart Mill on liberty and control. Princeton, NJ: Princeton University Press. Heydt, Colin (2006): Rethinking Mill’s ethics. Character and aesthetic education. London, New York: Continuum. Himmelfarb, Gertrude (1974): On liberty and liberalism. The case of John Stuart Mill. New York: Knopf. Höntzsch, Frauke (2010): Individuelle Freiheit zum Wohle Aller. Die soziale Dimension des Freiheitsbegriffs im Werk des John Stuart Mill. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Höntzsch, Frauke (Hrsg.) (2011): John Stuart Mill und der sozialliberale Staatsbegriff. Stuttgart: Steiner.



Auswahlbibliographie 

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 Auswahlbibliographie

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Personenregister Aristoteles 61f., 192

Lasalle, Ferdinand 7

Beauvoir, Simone de 170 Bentham, Jeremy 34f., 37, 52, 63f., 85–87, 119, 132, 137–152, 154–156, 162, 182–189, 191 Berlin, Isaiah 18, 23, 139 Bradley, M. E. 103f. Bright, John 4f. Brink, David O. 33, 36, 40, 45, 48f., 53, 138, 186

Marx, Karl 7, 181 Milton, John 40, 116 Mill, James 34f., 45, 47, 52, 108, 162, 174f., 189, 191 Miller, David 15, 65 Moller Okin, Susan 165 Moore, G. E. 184 Mises, Ludwig von 7

Carlyle, Thomas 63, 85, 185 Chaïbi, Ridha 111, 112 Cobden, Richard 4 Comte, Auguste 2, 44, 173, 191 Coulthard, Joseph 59 Diogenes von Sinope 81 Disraeli, Benjamin 4 Engels, Friedrich 7 Epikur 63 Gassendi, Pierre 183 Gray, John 57, 61, 139 Green, Thomas Hill 7, 108 Hart, H. L. A. 26, 79 Hayek, Friedrich von 7, 116, 122, 171 Hobbes, Thomas 84, 183 Hohfeld, Wesley Newcomb 12, 75 Humboldt, Wilhelm von 22, 53, 55, 59, 113, 124, 137–139, 141–143, 146–148, 150–156, 172, 181, 186 Hume, David 183 Hunt, Henry 161 Jacobson, Daniel 33, 45 Johnson Fox, William 169 Kant, Immanuel 61, 181, 185 Kierkegaard, Søren 181

Nozick, Robert 118, 132 Nussbaum, Martha 161, 163 Parker, John 2 Plummer, John 6 Priestley, John 183 Rawls, John 15, 79, 162, 185 Ricardo, David 117, 189 Riley, Jonathan 9, 22, 27, 29, 43, 45–48, 56, 59, 61, 68f., 95, 123, 159, 166, 172 Ryan, Allan 55, 109f., 152 Sauter, Christina 141 Scanlon, Thomas 46, 49f. Schrag, Francis 110f. Sen, Amartya 163 Smith, Adam 189 Sokrates 40, 64 Spencer, Herbert 5–7 Taylor, Helen 181 Taylor, John 171 Taylor Mill, Harriet 1, 134, 164, 173, 181, 190f. Thompson, William 169, 170, 175 Tocqueville, Alexis de 3, 124, 133, 178 Urbinati, Nadia 170 Valls, Andrew 139, 142, 153 Wollstonecraft, Mary 170, 173

Sachregister Altruismus, altruistisch 77, 143 Anti-Paternalismus 56, 159 Arbeiterklasse 100, 107, 110 Äußerungsfreiheit 33–35, 37–40, 45–47, 49, 50–52 Autobiographie 2, 4, 138f., 165 Autonomie, autonom 48, 50, 61, 123, 133 Autorität 11, 18f., 31, 145, 164 Beweislast-Liberalismus 120f., 128 Bildung 12, 59, 86, 94–105, 108–110, 112, 123, 127, 137, 141, 143, 146f., 150, 153, 176f. Britischer Idealismus 7 Brückenbeispiel 125, 129f. Bürokratie 6, 107 community, siehe auch Gemeinschaft 11, 140, 144, 149, 176 Deliberation 40f., 44, 47, 49f., 53, 172 Demokratie, demokratisch 3f., 7, 29, 52, 96, 99f., 102, 104–106, 110f., 162f., 174–177, 179, 190–192 Demokratietheorie 33 Diversität 4, 133 East India Company 2 egalitär, siehe auch Gleichheit 53, 116, 162 Egoismus 141, 163, 178 Ehe 153, 161f., 165f., 168–173, 175, 178 Eigeninteresse 82, 140 Einschränkung(en) 33, 45–47, 49–53, 118, 121–123, 125–128, 146–148, 151, 155, 161, 167 Elite 102, 107, 109 Eltern 95–102, 105, 107–109, 111, 168, 171, 189 Emanzipation 138, 161, 170, 179 empirisch 3, 69, 163, 169f., 183 equal rights, siehe auch Rechte, Gleichheit 16, 20, 25, 28–31 Erziehung 86, 94–102, 105–113, 153, 161– 165, 168f., 173, 185, 191

Extremismus 2, 170 Frauenwahlrecht 174, 176 Freihandelslehre 4, 115, 117f., 120f., 125f. Freiheitsbeschränkungen 8, 146, 149, 151f., 154 Freiheitsprinzip 8, 65, 75, 82f., 85, 88–90, 116, 125f., 147, 153–155 Freuden 56, 62–64, 65, 140, 163, 185f. Geburtenkontrolle 100, 110 Gemeinschaft 1, 8, 61, 82, 97, 100, 102, 109, 117f., 123, 140 Gerechtigkeit, gerecht 17, 20–23, 25f., 28f., 31, 61, 76f., 80, 93, 97, 104, 127, 162, 172, 185, 188f. Gesellschaft, gesellschaftlich 1f., 8f., 33, 36, 44, 47, 52f., 67, 69–71, 75, 82f., 85, 89, 92, 95f., 101, 115, 119, 126, 141, 146–148, 155, 162 Gesellschaftlicher Druck 9 Gewalt 2, 118f., 165, 192 Gewerkschaft 127f. Gleichheit, siehe auch egalitär 3, 107, 149 Glück 10, 55, 57f., 64, 66, 85f., 93, 111, 137f., 140, 144, 146–150, 155f., 183f., 186f. Glücksbeförderung 83 happiness, siehe auch Glück, Wohlergehen 12, 15, 18, 20, 24f., 57, 62, 145, 149, 169, 174 Hedonismus 27, 29–31, 58, 62, 181, 183, 185–189 Herrschaft 3f., 43, 168, 174, 176f., 183 higher mental faculties 12, 27, 30 ideal 22, 31, 102, 139, 142, 174 Idealismus 7, 150, 181 Ideologie 119 Individualität 4, 7f., 38, 40, 55–62, 67–72, 75f., 97, 123, 128, 137, 141–143, 146–149, 152, 155f., 161, 170, 187, 191 individuell 4, 41, 58, 60, 71, 77, 92, 115f., 120, 123, 125–127, 142, 147f.

202 

 Sachregister

intellektuell 1, 3, 34, 64, 65, 107, 164, 177, 181, 185 kapitalistisch 3, 133 Kinder 95–97, 100, 102f., 105, 107–112, 153, 165, 168, 171, 174, 189 Kognitivismus 38 kollektive Deliberation 40 Kommunismus 105, 189 kommunitär 1 konservativ 4, 133, 134, 164 Kontrolle 3, 6, 34, 52, 75f., 83, 89f., 92, 115, 118, 120, 124, 133f., 137, 151–153, 156, 192 Kritik 1, 9, 36, 64, 80, 86, 108, 116, 138–140, 145, 160, 163, 166, 169, 173, 182, 184f., 187, 191 Kultivierung 81, 86f., 89, 112 kulturimperialistisch 67 Laisser-Faire 6, 20, 118, 149, 153 Lebensexperimente 55, 58, 60f., 66–71, 106 Lebenskunst 60, 87 Lebensweise 9, 58, 59–61, 63, 66, 84, 89, 123 legitim 75 liberal 1, 7, 9, 13, 22, 31, 69, 72, 93f., 110, 116, 131f., 137, 139, 144, 147–149, 155, 159f., 173, 188, 189 Liberalismus 1, 4, 6f., 9, 10, 13, 61, 116, 125, 137, 144, 146, 148f., 155, 156, 159, 161, 178, 188, 190–192 Logik 14, 56, 60, 94, 181f., 185 logisch 23

Metaphysik, metaphysisch 12, 14, 182 Minimalstaat, minimalstaatlich 6, 137 Moderne, modern 3f., 6, 7f., 13, 71, 166 Moral, moralisch 11–16, 18–20, 22–26, 28, 29, 30f., 38, 51f., 55, 62, 80, 86f., 94, 106, 112, 141–143, 187 moralische Rechte 11–13, 16, 18f., 23f., 26, 31, 76, 80 negative Freiheit 18, 23, 61, 69, 143, 146– 148, 155f. Nützlichkeit 13, 19, 29, 57, 145 Nützlichkeitsprinzip 57, 70, 152 Öffentlichkeit, öffentlich 3, 5, 11, 19–21, 23, 24–27, 29f., 35, 37, 52f., 81, 97, 154, 169, 184 Ökonomie, ökonomisch 6, 72, 116–118, 128, 140, 142, 163, 189 Ordnung 3, 9, 36

Paternalismus, paternalistisch 48–50, 56, 66f., 111, 131f., 160, 168, 178 Perfektionismus, perfektionistisch 7, 64f., 148 pleasure, siehe auch Freuden 20, 27–30, 140, 183, 185 Pluralismus 58, 66f., 69 political representatives 19, 21, 25 Politik, politisch 1–3, 13, 19–23, 25, 28, 53, 68, 97, 99, 103, 109, 116f., 134, 140f., 144, 148f., 162, 169f., 174, 176, 182, 189, 191 Macht 3f., 7f., 11, 14, 21f., 52, 75, 82, 95, 107, positive Freiheit 18 145f., 148, 161, 165f., 168f., 172, 174, 176f., Pressefreiheit 34, 36, 39 Protektionismus 128 179, 190 public duties 20f. majority tyranny 13 public stigma 23f. Manchesterliberalismus 4 Mannigfaltigkeit 55, 146 Realismus 163 Mehrheit 35, 52, 96, 102, 162, 176, 186, Rechte 12f., 15f., 18, 20, 22f., 25, 28–31, 47f., 190–192 Meinungsfreiheit 33, 37–43, 45–47, 49–52, 75f., 79–81, 112, 123, 127f., 132, 144, 149, 97, 190, 191 166, 170, 176, 188, 190 Menschenbild 137, 139, 140, 141, 142, 143, Redefreiheit 33f., 43, 46 150, 155f. Religion 51, 97, 99, 107, 108, 181 menschliche Natur 4, 75, 86, 105, 140, 142, 147 Sanktionen 9, 35, 47, 88, 93–95, 140f., 143

 Schaden 11, 13–15, 17, 19–21, 23–26, 29, 30f., 33, 45, 76, 101 Schädigungsprinzip 24, 26, 31, 33, 45–50, 93f. Scheidung 165, 171, 173 Schutzpflichten 76–79 Schweinephilosophie 63–65 Selbstbestimmung 4, 42, 48, 55, 56, 61, 66, 70, 130, 168 Selbstentfaltung 7, 98, 174 Selbstentwicklung 21f., 55f., 58, 61–63, 65f., 69–71, 86f., 139, 153, 156 self-development 21f., 55 self-regarding sphere 11, 13, 17f., 22–24, 31 Sicherheit 19–21, 25f., 28f., 31, 34, 106, 130, 143–146, 149–151, 153–155, 172, 186 Sklaven 4, 160f., 166–170, 178 Sklaverei 26f., 49, 160, 161, 166–173 Sklavinnen 161, 166, 169, 175 slavery 26f., 169 Souverän 12, 50, 122, 140 sovereign 12, 50, 140 Sozialismus 1, 7, 103, 105, 188f. Staat, staatlich 1, 3–8, 46, 51, 55, 94–98, 100, 104–109, 112, 115, 119–122, 124, 126,

Sachregister 

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129–132, 138, 148–154, 156, 172, 177f., 189, 191f. Strafe(n) 9, 43, 52, 85, 88, 94, 129f., 145, 190 Toleranz 44, 53, 89, 107, 184 Totalitarismus 4 Tugenden, Tugendhaftigkeit 57, 83–85, 177 Tugendethik 69 Tyrannei, tyrannisch 3f., 13, 51, 119, 147, 162, 169, 190, 192 Ungerechtigkeit, ungerecht 20f., 23, 26, 30, 144, 170 Vernunft 14–17, 22, 30f., 59, 153 Weltanschauung(en) 5, 98, 119 Wohlfahrtsstaat 149, 151 Würde 6, 65, 93 Wohlergehen 83, 117, 128, 159, 163, 171, 179, 182–184, 187 Zwang 6, 11, 15, 18–26, 29, 31, 52, 55, 61, 69, 75f., 78, 82f., 89, 95, 119, 123, 130, 152, 159, 167f., 170, 173, 191

Hinweise zu den Autorinnen und Autoren Catherine Buchmüller-Codoni studierte Philosophie, Französische Literatur und Linguistik in Zürich. Sie ist seit 2009 wissenschaftliche Assistentin und Doktorandin im Fachbereich Ethik und politische Philosophie an der Universität Fribourg, Schweiz. Dissertationsprojekt zu Politik, Religion und Erziehung bei Giuseppe Mazzini. Weitere Interessen: politisches Denken im 19. Jahrhundert; Demokratie und Mehrsprachigkeit; Demokratie und Erziehung; Existentialismus. Otfried Höffe ist Leiter der Forschungsstelle Politische Philosophie an der Universität Tübingen und ständiger Gastprofessor für Rechtsphilosophie an der Universität St. Gallen. Er war bis 2011 Professor für Philosophie an der Universität Tübingen. Buchveröffentlichungen (Auswahl): Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles (1971, 32008); Strategien der Humanität (1975, 21985); Ethik und Politik. Grundmodelle und -probleme der praktischen Philosophie (1979, 62008), Immanuel Kant (1983, 82014); Politische Gerechtigkeit (1987, 42003), Kategorische Rechtsprinzipien. Ein Kontrapunkt der Moderne (1990, 31995); Aristoteles (1996, 42014); Demokratie im Zeitalter der Globalisierung (1999, 22002); Staatsbürger – Wirtschaftsbürger – Weltbürger (2004); Ist die Demokratie zukunftsfähig? (2009); Thomas Hobbes (2010); Kants Kritik der praktischen Vernunft. Eine Philosophie der Freiheit (2012); Die Macht der Moral im 21. Jahrhundert (2014); Kritik der Freiheit. Das Grundproblem der Moderne (2015). Herausgeber u. a. der Reihe „Denker“ und „Klassiker Auslegen“. Frauke Höntzsch ist Akademische Rätin auf Zeit am Lehrstuhl für Politikwissenschaft/Politische Theorie der Universität Augsburg. Zu ihren Veröffentlichungen zählen u. a. Individuelle Freiheit zum Wohle Aller. Die soziale Dimension des Freiheitsbegriffs im Werk des John Stuart Mill (Wiesbaden 2010), John Stuart Mill und der sozialliberale Staatsbegriff (Hg., Stuttgart 2011) sowie diverse Artikel zum politischen Denken John Stuart Mills. Ihre Forschungsgebiete sind: Politische Theorie und Ideengeschichte, Methoden der politischen Ideengeschichte, Politische Philosophie des Liberalismus, Politikwissenschaftliche An­thropologie, Menschenrechte, Widerstandsrecht. Peter Niesen ist Professor für Politische Theorie an der Universität Hamburg. Er ist der Autor von Kants Theorie der Redefreiheit. Baden-Baden, 2. Auflage 2008, und der Herausgeber von Jeremy Bentham: Unsinn auf Stelzen. Schriften zur Französischen Revolution. Berlin 2013. Zahlreiche Aufsätze zur politischen Philosophie der Meinungsfreiheit und Assoziationsfreiheit, darunter „Banning the Former

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 Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

Ruling Party“, Constellations: An International Journal of Critical and Democratic Theory, 19, 4, 2012, 540–561. Jonathan Riley ist Professor für Philosophie und Politische Ökonomie an der Tulane University und einer der Gründungsherausgeber der Zeitschrift Politics, Philosophy and Economics. Er hat zahlreiche Publikationen zu Mills Philosophie vorgelegt. Außerdem erhielt er mehrere wichtige Forschungspreise, u. a. Killam, NEH, NHC, and Rockefeller Fellowships, und er war Gastprofessor an den Universitäten von Chicago, St. Andrews, Princeton und Hamburg. Seine jüngsten Publikationen sind Mill on Liberty, new ed. (Routledge, 2015) und Mill’s Radical Liberalism (Routledge, 2015). Michael Schefczyk ist Professor für Praktische Philosophie am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Er ist der Mitautor von John Stuart Mill. Zur Einführung und Mitherausgeber der Teilbände III.1, III.2 und IV von John Stuart Mill. Ausgewählte Werke, Hamburg 2014–2016. Zahlreiche Artikel zu John Stuart Mill, z.  B. „John Stuart Mill: Ethics“ (http://www.iep.utm.edu/mill-eth/) Thomas Schramme ist Professor für Praktische Philosophie an der Universität Hamburg. Er ist u. a. Autor des Buchs Gerechtigkeit und soziale Praxis und zahlreicher Artikel in Zeitschriften wie Social Philosophy and Policy, Ethical Theory and Moral Practice und Environmental Politics. Christoph Schmidt-Petri hat an der London School of Economics Philosophie und Volkswirtschaft studiert. In seiner Doktorarbeit hat er sich mit Mills Utilitarismus auseinandergesetzt. Nach Stationen an der Universität Glasgow und mehreren deutschen Universitäten ist er derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Er ist Mitherausgeber von drei Bänden der Ausgewählten Werke Mills und Autor zahlreicher Veröffentlichungen in Fachzeitschriften wie Philosophy of Science, dem Philosophical Quarterly und dem Journal of Value Inquiry. Markus Stepanians hat an der Universität Hamburg und in Harvard studiert und lehrt als Professor für Politsche Philosophie an der Universität Bern. Jean-Claude Wolf ist Ordinarius für Ethik und politische Philosophie an der Universität Freiburg, Schweiz. Veröffentlichungen: Kommentar zu Mills ‚Utilitarismus‘ 2. Auflage 2011; Utilitarismus, Pragmatismus und kollektive Verantwortung, 1993; John Stuart Mill: Die Autobiographie, übersetzt und mit einer Einleitung von J.-C. Wolf, 2011. Forschungsprojekte zum Atheismus und zur Mystik der Neuzeit.